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Full text of "Archiv für klinische Chirurgie"

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m m 

•^  BOSTON  ^ 

MEDICAL  LIBRARY 


IN  THE 

Francis  A.Countway 
Library  of  Medicine 

t=,  BOSTON  ,=j 


L 


ARCHIV 


FÜR 


[LINISCHE  CHIRURGIE. 


BEGRÜNDET 
▼on 

Dr.  B.  von  LANGENBECK, 

«-pü.   Wirklirhem  Geh.  Ruth  niid  Profpsnor  der  Chlrurfcie. 


HERAUSGEGEBEN 


VON 


1 7.  BEMMANN,      Dr.  E.  ftURLT,      De.  C.  &USSENBAÜER, 

*(  *»r  Cblniruie  in  Rerlin.  Prof.  der  OliiriirKi«  in  Berlin.  Prof.  der  Ohirnrjfie  in  Wien. 


SIBBRNIINDPINPZICSTKR  BAND. 

Mit  4  Tafeln  nnd  anderen  Aiibildiingen  im  Text. 


BERLIN,  1898. 
VERLAG  VON  AUGUST  HIRSCHWALD. 

N.W.  Unter  den  Lindell  No.  88. 


^    JAN  5  1899  ^ 


Inhalt. 


Seite 


1.  Beiträge  zur  Patholog;ie  und  Therapie  des  Darpa verschlusses, 
zweiter  Th eil,  enthaltend  Krankengeschichten  mif  Bemerkungen. 
(Aus  der  Chirurg.  Klinik  zu* Greifs'vald. .  Prof.  Helfcrich.) 
Von  Professor  Dr.  L.  Heidenhain.     (Mit  11  Figuren.)  ...         1 

II.   Der    äussere    Schenkelbruch.       Von    Dr.    Ferdinand    Bahr. 

(Mit  4  Figuren.) 59 

III.  üeber  die  Behandlung  der  Urach usfistel.  (Aus  der  chirurg. 
Ünivcrsitäts-Klinik    des    Herrn    Geheimrath    von   Bergmann.) 

Von  Dr.  E.  Lexer 73 

IV.  üeber   Arteriitis  obliterans   und    ihre  Folgen.     Von  Professor 

A.  A.  Wvedensky 98 

V.    üeber  operative  Versuche,  die  pathologische  Schulterstellung  bei  ^  a. 

Dystrophia  musculorum  progrediens   zu  verbessern.     Von  Pro-  t^^ 

fessor  Dr.  A.  Freiherr   von    Eiseisberg.      (Mit   6    Figuren.)     118 
VI.    üeber   die   Dermoide    des   Beckenbmdegewebes.      Von    Dr.    F. 

de  Quervain     . 129 

VII.   Experimentelle  Untersuclmngen    über   die  Entstehung   der  Er- 
krankungen    der    Luftwege    nach    Aethernarkose.      Von    Dr. 

Richard  Hölscher 175 

Vlll.    Characteristischer  Meteorismus   bei  Volvulus    des   S  romanum. 

Von  Professor  Dr.  Carl  Bayer.     (Mit  4  Figuren.)      ....     233 
IX.    üeber  die  neuesten  Bestrebungen,  die  aseptische  Wundbehand- 
lung zu  vervollkommnen.     Von  Professor  Dr.  J.  Mikulicz      .     243 
X.    Die    Ursachen    des    Misslingens    der   Asepsis.      Von    Professor 

Dr.  Landerer 280 

XI.  Die  aseptische  Versorgung  frischer  Wunden,  unter  Mittheilung 
von  Thierversuchen  über  die- Auskeimungszeit  von  Infections- 
erregern  in  frischen  Wunden.    Von  Prof.  Dr.  P.  L.  Friedrich. 

(Mit  2  Figuren.) 188 

XII.    üeber  peritoneale  Resorption  und  Infection.  Von  Dr.  W.  N  o e  t  z e  I.     311 
XI If.    üeber  Wundsecret  und  Bacterien  bei  der  Heilung  per  primam. 
(Aus  der  chirurg.  Klinik  des  Professor  Wolf  1er  in  Prag.)  Von 
Dr.  Hermann  Schloffer 322 


IV  Inhalt. 

Seite 

XIV.  Locale  Analgesie  bei  Operationen.     Von  Dr.  Hacke nbruch   .     345 

XV.  Gastro enterostomia  et  Enteroanastomosis,  ein  neues  vereinfachtes 
Verfahren.     Von    Professor   Dr.  A.  P od  res.     (Mit  4  Figuren.)     358 

XVI.  Experimentelle    Untersuchungen    und    Erfahrungen    über    Inß- 
trationsanästhesie.      Von    Privatdocent  Dr.    H.    Braun.      (Mit 

2  Figuren.) 370 

XVII.    Erfahrungen    über    lokale  Anästhesie  in  der  Breslauer  chirurg. 

Klinik.     Von  Dr.  Georg  Gottstein 409 

XVIII.    Neue  Experimente  zur  firzeugung  von  Pankreatitis  haemorrhagica 

und  von  Fettnekrosen.     Von  Professor  Dr.  Hildebrand     .     .     435 
XIX.    Ein    neues  Verfahren    der    Blasennaht    nach  Sectio    alta.     Von 

Professor  Dr.  W.  Rasumowsky.     (Mit  eincJ  Figur.).     •     •     •     438 

XX.    Ucber    die    bisherigen  Erfahrungen   bei  der  radicalen  Operation 
des  Magencarcinoms    (der  Magenrcsection  und  der  Magenexstir- 
pation)    an    der  Züricher  chirurgischen  Kliuik.     (Aus  der  chir- 
urgischen Klinik  in  Zürich.)     Von  Professor  Dr,  Krön  lein      .     449 
XXI.    Ueber  Regeneration    des  Magens    nach  totaler  Rescction.     Von 

Professor  Dr.  Schuchardt.     (Mit  2  Figuren.) 449 

XXII.  Die  neueren  Magenoperationen  in  der  Czerny 'sehen  Klinik  und 
die  bisherigen  Dauererfolge.  Von  Stabsarzt  Dr.  Steudel. 
(Mit  3  Figuren.) 454 

XXIII.  Eine    neue  Methode    der  Pylorus-    und    Darm-Rcscction.     Von 

Dr.  Doyen 460 

XXIV.  Beitrag  zur  Anwendung  des  Murphy -Knopfes.    Von  Dr.  Storp.     465 
XXV.    Einiges   über   die  Anwendung  der  Darmknöpfe.     Von  Professor 

Dr.  Anton  Wolf  1er.     (Mit  einer  Figur.) 475 

XXVI.  Die  anatomischen  Veränderungen  nach  Calot'schem  Redresse- 
ment,  mit  Demonstration  experimentell  gewonnener  Präparate; 
Angabe  einer  schonenderen  Methode.  (Aus  der  chirurgischen 
Universitäts-Klinik  zu  Halle  a.  S.).  Von  Dr.  L.  Wu listein. 
(Hierzu  Tafel  L) 485 

XXVII.    Zur  Technik    des   Redressements    und    des  Verbandes    an    der 

gibbösen  Wirbelsäule.     Von  Dr.  Vulpius 498 

XXVIII.    Die  Galot 'sehe  Behandlung  der  tuberkulösen  Spondylitis.    Von 

Professor  Dr.  Hoffa  .     .     .' 501 

XXIX.    Ein    Vorschlag  zur  Modification    des   Calot'schen   Verfahrens. 

Von  Professor  Dr.  Schede.     (Mit  4  Figuren.) 507 

XXX.  Ein  Fall  von  Fractur  der  Diaphyse  des  Oberarms  mit  bisher 
noch  nicht  beobachteter  Wirkung  des  Streck  verbau  des.  (Aus 
der  Chirurg.  Klinik  des  Herrn  Prof.  von  Bramann  zu  Halle  a.  S.) 
Von  Dr.  Ramrastedt.     (Mit  2  Figuren.) 517 

XXXI.    Beiträge  zur  Technik  der  Operation  des  Magencarcinoms,    Von 

Professor  Dr.  J.  Mikulicz 524 


Inhalt.  V 

Seite 

XXXII.  lieber  die  histologischeD  VorgäDge  nach  der  Implantation  von 
Elfenbein  und  todtem  Knochen  in  Schädeldefecten.  Von  Dr. 
Max  David.    (Hierzu  Tafel  II.) 588 

XXXIII.  Erfahrungen  über  die  Behandlung  veralteter  Empyeme.    (Aus 

der  Chirurg,  Klinik  zu  Heidelberg.)    Von  Professor  Dr.  Jordan    546 

XXXIV.  Beiträge   zur  Chirurgie   der  Lunge  und  der  Pleura.    Von  Dr. 
Karewski 555 

XXXV.   Ueber  den   angeborenen  Verschluss   des  Dünndarms  und  seine 

Behandlung.     Von  Dr.  Felix  Franke 591 

XXXVI.    Inhumane  Kriegsgeschosse.    Von  Professor  Dr.  vonBruns     .    602 
XXXVII.    Ueber   Schussverletzungen    des    Gehirns.     Von    Professor   Dr. 

Tilmann 608 

XXX  VIU.  Die  Behandlung   des  Lupus   mit  Röntgen -Strahlen   und  mit 

concentrirtem  Licht.     Von  Dr.  Hermann  Kümmell     .    .    .    680 
XXXIX.   Ueber  Peritonitis  chronica    non  tuberculosa   und   ihre  Folgen: 
Verengerung  des  Darmes   und  Dislocation    der  rechten  Niere. 

Von  Proiessor  Dr.  Riedel.     (Mit  einer  Figur.) 645 

XL.    Ueber  dauernde  Spiritusverbände.    Von  Dr.  Saizwedel     .    .    685 

XLI.    Utrber  einen  Fall  von  5  Darmresectionen  uregen  Scbussverletzung. 

(Aus  der  Chirurg.  Klinik  zu  Giessen.)  Von  Professor  Dr.  P  op p ert.     691 
XLII.   Neue  Methode  zur  blutigen  Einrichtung  der  angeborenen  Hüft- 

geienksluxation.     Von  Dr.  Doyen   .    .     .         699 

XUII.    Zur  chirurgischen  Behandlung  der  chronischen  Mittelohreiterung. 

Von  Sanitätbrath  Dr,  Lud  ewig 708 

XLIV.   Ueber  die  operative  Entfernung  ausgedehnter  Ge&ichtscarcinome. 

(Aus  der  Hallenser  Chirurg.  Klinik).  Von  Dr.  med.  U.  Grosse. 

(Mit  2  Figuren) 711 

XLV.   Ueber  Oesophagus-Resection  und  Oesophagoplastik.  Von  Professor 

Dr.  C.  Garre 719 

XLVL   Ueber  Rectoscopie   und   einige   kleinere   operative  Eingriffe  im 

Rectum.     Dr.  J.  v.  Fedoroff 728 

XL VII.   Ueber  Craniectomieen    nebst   einigen  Betrachtungen    über   die 
Heilung   grosser   Operationsdefecte    am   Schädel.     Von    Dr.   J. 

V.  Fedorolf 727 

XLVIU.    Operationen  an  dem  Brustabschnitt  der  Speiseröhre.  Von  Professor 

Dr.  Rehn 733 

XLIX.    Zur  Operation  des  Stimböblönempyems.  Von  Professor  Dr.  Barth. 

(Mit  8  Figuren.) 750 

L.  Ueber  die  operative  Behandlung  der  Radialislähmung  nebst  Be- 
merkungen über  die  Sehnenüberilanzung  bei  spastischen  Läh- 
mungen.    Von  Dr.  Felix  Franke 763 

LI.    Der  erworbene  Hochstand  der  Scapula.    Von  Professor  Dr.  Th. 

Kölliker 778 


VI  Inhalt. 

Seile 

LH.  Heber  die  Beseitigung  von  Gebärmutterblutungen  durch  die  lo- 
cale  Anwendung  des  Dampfes  (Vaporisation  nach  Sneguireff). 
Von  Dr.  Dührssen 780 

LI II.    Beiträge  zui  Sorumtherapie  bei  Diphtherie.     Von  Dr.  Riese    .     785 

LIV.    Zur  Frage    über  Bauchwandschnitte    bei   Laparotomieen.      Von 

Privatdocent  Dr.  Nicolai  Wolkowitsch 795 

IjV.  Ueber  die  traumatische  Lösung  der  Koplepiphyse  des  Femur 
und  ihr  Verhältniss  zur  Coxa  vara.  Von  Professor  Dr.  Sprengel. 
(Hierzu  Tafel  IIl  und  IV  und  5  Abbildungen  im  Text.)       .     .     807 

LVl.    Die   Achseudrehaugen    des    Coecums.      Von    Dr.    von  Zoege- 

M  an  teuf  fei 841 

LVll.    Eine  neue  Methode  temporärer  Gaumeu-liesection.    Von  Professor 

Dr.  Partscli 847 

LVIU.    Multiple  Knochen- und  Knorpelgcschwülste.  Von  Dr.von  Kryger     859 

LIX.    Ueber  die  Narkose  mit  Aethy  Ichlorid.  Von  Dr.  GeorgLotheissen. 

(Mit  2  Figuren.; 865 

LX.    Ueber  entzündliche  Tumoren  der  Submaxillarspcicheldrüse.    Von 

Dr.  Küttner 873 

LXl.    Mittheilungen  über  Hirn-Chirurgie.     Von  Dr.  Doyen.     .     .     .     87G 

LXIL  Zur  Kenntniss  der  Streptokokken-  und  Pneumokokken-Osteo- 
myelitis. (Aus  der  Chirurg.  Universitäts-Klinik  des  Herrn  Ge- 
heimrath  von  Bergmann.)  Von  Dr.  E.  Lexer.  (Mit  3  Figuren.)  879 
LXIII.  Die  Verbreitung  der  Krebserkrankung,  die  Häufigkeit  ihres  Vor- 
kommens an  den  einzelnen  Körpertheilen  und  ihrer  chirurgischen 
Behandlung.     Von  Dr.  Georg  Hei  mann 911 


ARCHIV 


FÜR 


KLINISCHE  CHIRURGIE. 


bbgrOndbt 

von 

Dr.  B.  von  LANGENBECK, 

weil.  WlrUiohein  Qeh.  Rath  and  Profenor  der  Chtfurgie. 


HERAUSGEGEBEN 


VON 


Db.  1.  T.  BEMMANlSr,      Sb.  £.  &TTELT,      Bb.  G.  &irSS£lf BAUER 

Fret  der  Cfafaiugie  in  Berlin.  Prof.  der  Chirurgie  In  Berlin.  Prof.  der  Chirurgie  in  Wien. 


8IKBBNI]NDPtNFZI«8TBR  BAND. 

ERSTES  HEFT. 

Mit  26  AbbUdungen  im  Toxi. 


BERLIN,  1898. 
VERLAG  VON  AUGUST  fflRSCHWALD. 

N.W.  Unter  den  Linden  No.  68. 


Inhalt. 


Seite 

I.   Beiträge   zur  Pathologie   und  Therapie   des  Darmverschlusses, 

zweiter  Theil,  enthaltend  Krankengeschichten  mit  Bemerkungen. 

(Aus   der   Chirurg.  Klinik    zu  Greifswald.     Prof.  Helfer  ich.) 

Von  Professor  Dr.  L.  Heidenhain.    (Mit  11  Figuren.)  ...        1 

U.   Der   äussere    Schenkelbruch.      Von    Dr.    Ferdinand    Bahr. 

(Mit  4  Figuren.) 59 

UL   Ueber   die  Behandlung   der  ürachusfistel.     (Aus   der   chirurg. 
Universitäts-Klinik   des  Herrn   Geheimrath   von  Bergmann.) 

Von  Dr.  E.  Lexer 78 

rV.   Ueber   Arteriitis  obliterans   und   ihre  Folgen.     Von  Professor 
^  A.  A.  Wwedensky 98 

V.  Ueber  operative  Versuche,  die  pathologische  Schulterstellung  bei 
Dystrophia  musculorum  progrediens  zu  verbessern.  Von  Pro- 
fessor  Dr.  A.  Freiherr   von   Eiseisberg.      (Mit   6   Figuren.)     118 

VI.  Ueber  die  Dermoide  des  Beckenbindegewebes. .  Von  Dr.  F. 
de  Quervain 129 

VII.   Experimentelle  Untersuchungen   über   die  Entstehung   der  Er- 
krankungen   der    Luftwege    nach    Aethernarkose.      Von    Dr. 

Richard  Hölscher 175 

VIII.    Characteristischer  Meteorismus   bei  Volvulus    des   S  romanum. 

Von  Professor  Dr.  Carl  Bayer.    (Mit  4  Figuren.)      ....    283 


I. 

(Aus  der  chirurg.  Klinik  zu  Greifswald.    Prof,  Helferich). 

Beiträge  zur  Pathologie  und  Therapie  des 

Darmverschlusses,  zweiter  Theil,  enthaltend 

Krankengeschichten  mit  Bemerkungen'). 

Von 

Pr«fess«r  Dr.  Et.  Heldenhaln 

in  Worms,  frUher^m  Secandäranst  obiger  Klinik. 

(Mit  12  Figuren.) 


Leider  gestattet  es  meine  Zeit  erst  jetzt,  die  nachfolgenden 
Beobachtungen,  welche  die  Grundlage  zu  meinen  Ausführungen  auf 
dem  letzten  Chirurgen-Congresse  bilden,  in  extenso  mitzutheilen. 
Ich  thue  dies,  trotzdem  Krankengeschichten  im  Allgemeinen  nur 
von  Wenigen  gelesen  werden,  um  dem  Leser  meiner  ersten  Arbeit 
eine  ausreichende  Kritik  meiner  Darlegungen  zu  ermöglichen.  Und 
die  Kritik  sowohl  seitens  der  internen  Kliniker,  wie  auch  der  Fach- 
genossen wird  wohl  nicht  auf  sich  warten  lassen.  Auf  dem  Ge- 
biete der  Diagnose  und  Therapie  des  Darmverschlusses  sind  noch 
so  viele  imklare  Punkte,  dass  meines  Erachtens  eine  Förderung 
nur  zu  erreichen  ist  durch  das  Studium  und  die  kritische  Betrach- 
tung gut  beobachteter  Krankengeschichten,  welche  womöglich  die 
Autopsie  in  vivo  vel  in  mortuo  enthalten  müssen.  Den  Haupt- 
grund der  weitgehenden  Meinungsverschiedenheiten  zwischen  den 
Chirurgen  und  den  internen  Klinikern  über  die  Behandlung  dieser 
Erkrankungen  glaube  ich  darin  finden  zu  müssen,  dass  bisher  kein 
interner  Kliniker  den  Versuch  gemacht  hat,  seine  Erfahrungen  auf 
diesem  Gebiete  zu  sammeln  und   mitzutheilen.     Wenigstens    findet 


>)  Siehe  dieses  Archiv,  Bd.  55,  Heft  1. 

ArohiT  fttr  kUn,  Chimrgie.    67.  Bd.    Heft  1. 


2  Dr.  L.  Heidonhain, 

sich  nirgends  das  Beobachtungsmatcrial  der  internen  Kliniker,  die 
über  den  Ileus  sprachen  oder  schrieben,  in  extenso  mitgetheilt. 
Von  Chirurgen  haben  ihre  gesammten  Erfahrungen,  und  zwar  ein 
grösseres  Material,  bisher  mitgetheilt  Kümmell,  Lauenstein, 
Obalinski  und  L.  Rehn.  Ich  muss  sagen,  dass  ich  aus  diesen 
Arbeiten,  sowie  an  prägnanten  Beispielen  aus  der  englischen  und 
amerikanischen  Literatur  ausserordentlich  viel  gelernt  habe,  vor 
AUem  zur  Stellung  der  Diagnose,  sodann  in  der  Technik  der  ope- 
rativen Therapie  und  Nachbehandlung. 

Ich  glaube  nach  einer  Erfahrung  an  nunmehr  38  selbstbeob- 
achteten Fällen^)  nicht,  dass  im  Allgemeinen  die  Stellung  einer 
für  die  Entscheidung  ausreichenden  Diagnose  so  schwierig  ist,  wie 
gewöhnlich  zu  lesen.  Eine  genaue  Anamnese,  sorgfältige  Unter- 
suchung mit  Inspection,  schwacher  Percussion  und  Palpation  von 
aussen,  wie  per  vaginam  und  per  rectum,  sowie  schliesslich,  und 
das  ist  fast  der  wichtigste  Punkt,  Vergleichung  des  vorliegenden 
Falles  in  Gedanken  mit  anderen,  die  man  gesehen  oder  gelesen, 
führen  in  sehr  vielen  Fällen  zu  einer  ausreichenden  Erkenntniss, 
häufig  sogar  zu  einer  nach  allen  Richtungen  zutrefifenden  Diagnose. 

Fast  nicht  zu  verfehlen  ist  die  Diagnose  in  den  Fällen  von 
tiefem  Danuverschluss  durch  ein  Carcinom  im  S  romanum  oder 
eine  Narbenstrictur  daselbst.  Der  langsame  Verlauf  über  Wochen, 
die  andauernden  Stuhlgangsbeschwerden,  die  der  Ausbildung  des 
vollen  Verschlusses  vorhergehen,  das  Alter  des  Kranken  schliess- 
lich lassen  die  Diagnose  mit  Sicherheit  stellen,  selbst  dann,  wenn 
man  den  Kranken  erst  mit  einem  ad  maximum  ausgedehnten 
„Fassbauche"  zu  sehen  bekommt,  an  welchem  der  fabelhaften 
UeberfüUung  der  Intestina  halber  gar  nichts  mehr  zu  percutiren 
und  zu  fühlen  ist,  was  auf  den  Sitz  des  Hindernisses  hinwiese. 
Um  nicht  langweilig  zu  werden,  gebe  ich  die  Krankengeschichten 
dieser  allgemein  bekannten  Fälle  nicht,  mit  Ausnahme  von  No.  1, 
welche  aus  anderen  Gründen  beachtcnswerth  ist,  sondern  will  nur 
erwähnen,  dass  es  uns  gegangen  ist,  wie  Schede:  wir  haben  alle 
sechs  Kranken  in  extremis  bekommen,  und  alle  sind  gestorben, 
entweder  im  unmittelbaren  Anschlüsse  an  die  Enterostomie  oder 
im  Verlaufe    an  Erschöpfung,    Pneumonie  und  dergleichen  Formen 


0  33  in  Greifswald  und  5  in  Worms. 


Beiträge  zur  Pathologie  and  Therapie  des  acuten  Darmverschlusses.       8 

des  Endes  bei  todeskranken  Leuten,  oder  an  der  nachträglichen 
Resection  des  Krebses  (2  Fälle).  Fortgelassen,  als  des  Interesses 
entbehrend,  ist  ebenfalls  die  Greschichte  eines  Kindes  von  unter 
einem  Jahre,  das  mit  einer  per  rectum  deutlich  fühlbaren  Invagi- 
nation  sterbend  in  die  Klinik  eingeliefert  wurde.  Demnach  ge- 
langen hier  27  unserer  33  Beobachtungen  zum  Abdruck. 

Die  diagnostischen  Erwägungen,  welche  wir  anstellten,  wie  die 
Gründe,  welche  uns  im  einzelnen  Falle  zur  Operation  bewogen, 
sind  in  den  Krankengeschichten  so  ausführlich  wiedergegeben, 
dass  eine  besondere  Zusammenstellung  dieser  Punkte  wohl  nicht 
notiiig  ist. 

Voraussichtlich  wird  meine  Angabe,  dass  rein  functionelle 
Störungen  der  Darmperistaltik,  vor  Allem  ein  Enterospasmus,  das 
Symptomenbild  eines  acuten  Darmverschlusses  hervorzurufen  ver- 
möchten, lebhaft  angegriffen  oder  wenigstens  stark  bezweifelt  wer- 
den. Ich  hatte  mich  bemüht,  durch  eigene  Erfahrungen,  wie  durch 
Mittheilung  sorgfältig  ausgesuchter  Fälle  aus  der  Literatur  das  In- 
teresse für  diese  merkwürdigen  Erkrankungen  wachzurufen.  Wie 
ich  von  vornherein  nicht  bezweifelt  habe,  ist  man  meinen  Dar- 
legungen recht  ungläubig  gegenübergetreten.  Das  ist  kein  Wunder, 
denn  bisher  sind  sichere  Anhaltspunkte  für  die  Entstehung  eines 
Darmverschlusses  durch  Störungen  der  Peristaltik  allein 
nie  zu  gewinnen  gewesen.  Es  haben  mir  z.  B.  schon  auf  dem 
Chirurgen-Congresse  die  Herren  F.  König,  Gussenbauer,  Ger- 
suny und  manche  Andere  gesagt,  dass  sie  sich  nach  ihren  grossen 
Erfahrungen  die  Möglichkeit  eines  spastischen  Darmverschlusses 
nicht  vorstellen  könnten,  und  dass  sie  geneigt  seien,  an  Beobach- 
tungsfehler  zu  glauben,  die  bei  so  complicirten  Operationen  leicht 
gemacht  werden  könnten.  Eine  Knickung  oder  Umdrehung  des 
Darmes  z.  B.  könne  sich  im  Augenblicke  der  Eröffnung  des  Leibes, 
che  man  etwas  sehe,  lösen,  und  selbstverständlich  habe  man  dann 
bei  der  weiteren  Fortsetzung  der  Operation  keinen  Befund,  welcher 
den  schweren  Symptomencomplex,  der  zur  Operation  veranlasste, 
erklären  könne.  Ich  kann  derartige  Zweifel  nicht  übel  nehmen. 
Die  ganze  Frage  ist  darum  besonders  schwierig,  weil  die  Physio- 
logen isolirte  spastische  Contractionen  eines  bestimmten,  umschrie- 
benen Darmabschnittes  nicht  kennen  und  bisher  experimentell  am 
Thiere  nicht  haben   erzeugen    können.     Reizung   löst    beim  Thiere 


4  Dr.  L.  Heidenhain, 

nur  Peristaltik  aus.  Unter  diesen  Umständen  ist  es  dringend 
wünschenswerth,  dass  sichere  Beobachtungen  am  Menschen  ge- 
sammelt werden.  Letzten  Sommer  hatte  John  B.  Murphy  die 
Freundlichkeit,  mir  einen  Sonderabdruck  ^)  über  Heus  zuzusenden, 
in  welchem  ich  den  folgenden  Fall  fand,  der  meine  Darstellung 
aufs  beste  zu  unterstützen  geeignet  ist.  Er  folge  hier,  wörtlich 
übersetzt,  mit  Zufügung  der  Originalabbildung  von  Murphy. 

„Mann,  40  Jahre,  aufgenommen  im  Alexian  Brothers  Hospital 
am  10.  Juni  1894  und  mir  zur  Operation  überwiesen  durch  den 
inneren  Arzt  vom  Dienst.  Der  Kranke  gab  folgende  Kranken- 
geschichte: Vor  5  Tagen  erlitt  er  einen  Anfall  krampfhafter 
Schmerzen  im  Bauche,  welcher  von  Erbrechen  und  der  Unmög- 
lichkeit, zu  Stuhle  zu  gehen,  gefolgt  war.  Der  Leib  dehnte  sich 
stark  aus,  und  diese  Symptome  hielten  an  bis  zur  Aufnahme. 
Alle  Anstrengungen,  durch  Abfühniiittel,  Magen-  und  Darmaus- 
spülungen Stuhlgang  zu  erzielen,  waren  vergeblich.  Der  innere 
College,  welcher  ihn  zuvor  mehrfach  an  Anfällen  von  Bleikolik 
behandelt  hatte,  glaubte,  dass  dieser  Anfall  sich  wesentlich  von 
den  fmhcren  unterschiede,  besonders  durch  seine  schon  fünftägige 
Dauer  und  durch  den  Verfall  (degi-ee  of  depression). 

Die  physikalische  Untersuchung  zeigte  das  Abdomen  tympa- 
nitisch,  und  es  liess  sich  eine  erweiterte  Darmschlinge  erkennen, 
welche  zu  der  Gegend  des  rechten  Rippenbogens  aufstieg  und  dort 
plötzlich  endete.  Der  Kranke  lokalisirte  den  Schmerz  an  diesen 
Punkt. 

Wir  kamen  zu  der  Entscheidung,  dass  eine  Laparotomie  we- 
niger gefährlich  sein  würde,  als  Aufschub,  da  möglicher  Weise  ein 
mechanischer  Verschluss  vorläge.  Nach  Einschnitt  in  der  Mittel- 
linie und  Hervorziehen  des  Netzes  ging  die  Hand  ein  nach  der 
Gegend  des  rechten  Rippenbogens,  ergriff  die  erweiterte  Danti- 
schlinge  und  zog  sie  in  die  Wunde.  Mit  ihr  kamen  8  Zoll  eines 
contrahirten  Darmantheiles  zum  Vorschein,  welcher 
einem  soliden  Stricke  von  7g  Zoll  Durchmesser  glich 
und  so  steif  war,  wie  ein  Tau  von  diesem  Durchmesser 
(siehe  Fig.  1). 


^)  Journal  of  the  americ.  med.  assoeiation.     Jan.  4  und  11.  1896. 


Beiträge  zur  Pathologie  und  Therapie  des  acaten  Daimverschlosses.       5 
Fig.  1. 


Zuerst  glaubte  ich,  es  sei  ein«  organische  Striktur.  Der 
Darm  oberhalb  inass  über  2^j^  Zoll  im  Durchmesser  und 
war  ausgedehnt  durch  Gas  imd  flüssige  Fäces.  Unterhalb  war 
der  Darm  leer,  weich  und  faltbar.  Nachdem  der  Darm 
10  Minuten  der  Luft  ausgesetzt  war,  begann  der  Spasmus  am 
proximalen  Ende  zu  weichen  und  die  Dilatation  sehiitt  allmälig 
dem  distalen  Ende  zu.  Nach  zwanzig  Minuten  hatte  sich  dci 
Darm  zu  einem  Durchracs.ser  von  ungefähr  einem  Zoll  ausgedehnt, 
ward  zurückgebracht  und  der  Bauch  geschlossen.  Innerhalb  diei 
Stunden  trat  Stuhlgang  ein.  Der  Kranke  hatte  nicht  ein  unanarc- 
nehmes  Symptom    und    verliess  nach   10  Tagen  das  Krankenhaus 

Die  Theorie  der  vorgeschrittenen  Bleikolik  ist,  da^s  sie  die 
Folge  einer  tonischen  Contraction  der  Darmmuskulatui  sei.  Aber 
nach  einer  oberflächlichen  Uebersicht  d(  r  Literatur  über  diesen 
Punkt  kann  ich  keinen  Fall  mitgetheilt  finden,  in  welchem  die.se 
Theorie  durch  Beobachtung  und  Prüfung  des  conlrahirtcn  Darm- 
antheiles  selbst  bestätigt  worden  wäre,  wie  es  in  diesem  Fall 
geschah". 

Die  Beobachtung  von  Murphy  beweist,  was  ich  auch  be- 
hauptete, dass  beim  Menschen  isolirte  spastische  Contracturen  um- 
schriebener Darm  abschnitte  vorkommen,  welche  .so  fest  .sind,  dass 
ein  regelrechter  Darmverschluss,  den  Symptomen  nach,  durch  sie 
verursacht  werden  kann.    Was  alles  eine  solche  Contractur  lier\  or- 


6  Dr.  L.  Heidenhain, 

inifen  kann,  bleibt  zu  erforschen.  Im  ersten  Teile  dieser  Arbeit 
wies  ich  auf  verschiedene  Möglichkeiten  hin.  Ich  betone,  dass  an- 
scheinend nicht  nur  Contracturen,  sondern  auch  Lähmungen  um- 
schriebener Darmabschnitte  vorkommen,  oder  lähmungsartige  Schwä- 
chen, welche  die  Symptome  eines  Darm  verschlusses  zu  erzeugen 
geeignet  sind.  (Yergl.  den  Fall  von  Keen  auf  S.  14  des  ersten 
Theiles  dieser  Arbeit.)  Ich  wäre  sehr  zufrieden,  wenn  ich  mit 
diesen  Zeilen  erreichte,  dass  den  rein  functionellen  Störungen  der 
Darmperistaltik  mehr  Beachtung  geschenkt  wird,  als  bisher,  wenn- 
gleich ich  vollkommen  anerkenne,  dass  es  sehr  schwer  ist,  be- 
weisende Beobachtungen  auf  diesem  Gebiete  zu  sammeln.  Am 
meisten  erhoffe  ich  noch  von  der  genauen  Analyse  von  Ileuslapa- 
rotomien  ohne  Befund,  die  sich  gewiss  gelegentlich  ereignen. 

Danach  mögen  unsere  Beobachtungen  über  den  Darmverschluss 
und  seine  Behandlung  folgen. 

I.   Beobachtungen^  welche  das  gelegentUehe  Yorkommen 
eines   spastischen  Darmverschlusses   als   wahrscheinlich   er- 
scheinen lassen  (3  Fälle). 

1.  Johann  Bergwitz,  67  J.  Aufgen.  23.  8.  Gest.  28.  8.  92.  Darmverschluss 
durch  hohe  Rectalstrictur,  Operation,  Spasmus  eines  Theiles  des  Dünndarms. 

Leidet  seit  12  Wochen  an  hartnäckiger  Verstopfung:  Zunächst  auf  hohe 
Einlaufe  seitens  seines  Arztes  Besserung.  Seit  6  Wochen  fast  vollkommene 
oder  vollkommene  Verstopfung:  der  Leib  schwoll  zusehends  an;  ausser  etwas 
Milch  und  Wein  wurde  alle  Nahrung  erbrochen.  W^iederholte  hohe  Einlaufe 
vergeblich.  Auf  die  innere  Station  aufgenommen  am  20.  8.  Von  dort  am 
23.  8.  auf  die  chirurgische  Station  verlegt. 

Am  22.  8.  Abends  wurde  ich  zu  dem  Kranken  konsaltirt  und  fand  das 
Abdomen  fast  ad  maximum  ausgedehnt.  In  der  Oberbauchgegend  eine  stark 
gefüllte  Darmschlinge  etwas  deutlicher  abgezeichnet;  peristaltische Bewegungen 
weder  zu  sehen  noch  durch  Reizung  der  Bauchwand  zu  erzielen.  Abdomen 
lieferte  bei  der  Palpation  keinen  abnormen  Befund;  bei  der  Percussion  überall 
voll  tympanitisoher  Klang  bis  auf  die  beiden  gedämpft  tympanitisch  schallenden 
Lumbaigegenden.  Letzterer  Befund  wurde  auf  gefüllte  Darmschlingen  bezogen, 
da  Ascites  sich  nicht  nachweisen  Hess.  Bei  der  Untei'suchung  per  Rectum 
fand  sich  ein  am  Vormittag  gegebenes  Nährklystier  noch  vollständig  im  Mast- 
darm vor.  Sonst  nichts  Abnormes  zu  fühlen.  Zunge  sehr  trocken.  Im  Laufe 
des  Tages  einmal  Erbrechen. 

Diagnose:  Dickdanncarcinom  zweifelhaft  ob  in  dem  S  romanum  oder 
an  der  Klappe,  wegen  des  Alters  des  Patienten  am  wahrsoheinlichsten.  Die 
dringend  angerathene  Operation  erst  für  nächsten  Morgen  zugestanden. 


Beitrage  zur  Pathologie  nnd  Therapie  des  acuten  Darmyerschlusses.       7 

23.8.  Temp.  Morgens  38,20.  Pnls  kräftig,  Zange  trocken.  Keine  Peristaltik. 

Laparotomie  in  der  Mittellinie  unterhalb  des  Nabels.  Abfliessen  einer 
geringen  Menge  seröser  Flüssigkeit;  vorliegende  Dünndannschlingen  sehr  stark 
gebläht  und  injicirt.  Die  eingeführte  Hand  findet  weder  in  der  linken,  noch 
in  der  rechten  Bauchseite,  noch  im  Becken  einen  Tumor.  Um  womöglich  das 
Hindernisa  zu  entdecken,  wird  jetzt  die  vorliegende  Dünndarmschlinge  aus- 
treten gelassen  (Verfahren  von  G.  Smith).  Der  eine  Theil  derselben  tritt 
schnell  heraas,  während  der  andere  Schenkel  im  Bauche  bleibt,  anscheinend 
fibdrt  ist  Beim  Hervorziehen  des  im  Abdomen  verbliebenen  Schenkels  der 
Schlinge  kommen  vollkommen  leere,  kollabirte  oder  kontrahirte  Darmschlingen 
zum  Vorschein,  und  die  genauere  Untersuchung  ergiebt ,  dass  am  Uebergange 
der  stark  gefüllten  in  die  völlig  leere  Schlinge  kein  mechanisches  Hinderniss 
besteht:  die  Darmgase  lassen  sich  aus  der  gefüllten  mit  Leichtigkeit  in  die 
leere  Schlinge  hinüberdrücken.  Die  Wand  der  leeren  Schlingen  ist  unverändert, 
insbesondere  zeigt  sich  keine  stärkere  Injection  des  Peritoneums  an  ihnen. 
Reposition  der  Dünndarmschlingen.  Hervorholung  einer  stark  gefüllten  Dick- 
darmscblinge  aus  der  rechten  Bauchseite.  Anlegung  eines  Anus  praeter- 
naturalis (seitliche  Fistel).  Für  die  Enterostomie  kein  Chloroform  mehr 
gegeben.  Verlässt  den  Tisch  mit  gutem  Puls.  (Befund  unmittelbar  post. 
ob.  dictirt.) 

In  der  Folge  reichliche  Entleerungen,  aber  dauerndes  Steigen  der  Tem- 
peratur und  Auftreten  von  Lungen  Symptomen.    Gestorben  28.  8.  Abends. 

Section:  Keine  Peritonitis.  Anus  artif.  am  S  romanum  !  20  cm 
oberhalb  des  Afters  eine  geschwürig-narbige  Strictur  desRectums,  wahrscheinlich 
Koth-Decubitusgeschwür;  oberhalb  der  Strictur  noch  ein  zweites  Geschwür. 
In  beiden  Lungen  multiple  bronchopneumonische  Herde.  In  der  Mitte  des 
rechten  Unterlappens  ein  kleiner  gangränöser  Herd.  Pleura  dieses  Lappens 
mit  dicken  fibrinös-eiterigen  Auflagerungen  bedeckt.  In  den  Bronchien  schleimig- 
eiterige  Massen  bei  stark  gerötheter  Schleimhaut. 

Epikritisch  ist  zu  dem  Falle  noch  zu  bemerken,  dass  wir  oft, 
namentlich  in  mehreren  Yolvuluslallen,  das  geblähte  S  romanum 
in  der  rechten  Beckenschaufel  liegend  fanden.  Gelegentlich  ist  die 
Schlinge  an  ihrer  Form  und  Verlauf  als  Flexur  zu  erkennen 
(TCi^l.  Volvulus). 

2«  Eduard  Kalnowski,  30  Jahre,  Arbeiter.  Schlatkow  bei  Anklam. 
Aufgen.  22.  9.,  entl.  29.  10.  96.  Volvulus  des  S  romanum  mit  spa- 
stischem Dunndarmverschluss.  Laparotomie, Dctorsion, Fixation.  Geheilt. 

Früher  stets  gesund  gewesen,  insbesondere  kein  Typhus,  keine  Ruhr, 
keine  Quetschung  des  Bauches,  keine  Perityphlitis.  Schnupft  nicht,  hat,  soviel 
zu  ermitteln,  nichts  mit  Blei  zu  thun  gehabt. 

Stuhlgang  bisher  regelmässig  und  täglich.  War  am  19.  9.  noch  völlig 
gesund.  Hat  den  Tag  über  gearbeitet.  Nachts  gut  geschlafen.  20.  9.  früh 
letzter  Stuhlgang.  Vormittags  während  der  Arbeit  wurde  ihm  übel.  Trotzdem 
hat  er  noch  Mittag  gegessen.     Mit  dem  ersten  Spatenstich  nach  dem  Mittag- 


8  Dr.  L.  Heidenhain, 

essen  begannen  heftige  Schmerzen  im  Leibe,  welche  seitdem  angeblich  gleich - 
massig  ohne  Unterbrechungen  angehalten  haben  and  als  Krampf  bezeichnet 
werden.  Seitdem  kein  Stuhl,  noch  Winde.  Nachmittags  schon  Erbrechen, 
welches  seitdem  „immerzu^'  dagewesen  ist. 

Befund  22.  9.  Nachmittags  6Y4  Uhr:  Mittelgrosser,  kraftig  gebauter 
Mann.  Frische  Gesichtsfarbe,  etwas  eingefallene  Wangen,  tiefliegende  Augen, 
starke  Kopfschmerzen.  Letztes  Erbrechen  Vormittags.  Puls  511!,  ziemlich 
kräftig.  Rectaltemperatur  38,5.  Leberdämpfung  schneidet  mit  dem  Kippen- 
bogen ab.  Bruchpforten  frei.  Die  Mitte  des  Abdomens  und  zwar  die  rechte 
Seite  eine  Kleinigkeit  mehr  als  die  linke,  ist  massig  hervorgewölbt.  Epiga- 
strium  flach  muldenförmig  vertieft.  Die  Vorwölbuug  des  Abdomens  beginnt  in 
der  Mitte  zwischen  Nabel  und  Schwertfortsatz,  erstreckt  sich  nach  links  eine 
Kleinigkeit  über  den  Rand  des  Rectus  abdom. ,  nach  rechts  hingegen  bis  in 
die  Lumbaigegend ,  welche  zweifelsohne  ein  wenig  mehr  ausgefüllt  ist  als  die 
linke,  dergestalt,  dass  der  äussere  Rand  des  Rectus  abdom.,  welcher  links 
sich  deutlich  abhebt,  rechts  kaum  erkenntlich  ist.  Im  Grossen  und  Ganzen 
liegt  die  Hervorwölbung  in  einem  Umkreise  von  10—12  cm  um  den  Nabel 
herum;  die  stärkste  Hervorwölbung  liegt  rechts  auf  der  Verbindungslinie 
zwischen  Nabel  und  Spina  ant.  sup.,  etwa  3  Finger  breit  vom  Nabel  entfernt. 
Magen  im  Traube 'sehen  Raum  schallt  tympanitisch.  Auch  das  Abdomen 
liefert  überall  gleichmassigen  tympanitischen  Schall  bis  auf  die  fast  völlig  ge- 
dämpften Lumbaigegenden.  Bei  Lagerung  auf  die  rechte  Seite  bleibt  der  ge- 
dämpfte Schall  in*  der  linken  Lumbaigegend.  Bei  Lagerung  auf  die  linke  Seite 
hellt  sich  der  Schall  in  der  rechten  Lumbaigegend  auf.  Palpation  liefert  nichts 
Besonderes.  Per  Rectum  ist  durch  die  vordere  Mastdarm  wand  links  dicht 
oberhalb  der  Prostata  ein  empfindlicher,  kleinfingerdicker,  runderStrang  durch- 
zufühlen, welcher  für  eine  collabirte  Dünndarm  schlinge  angesprochen 
werden  müsste,  wenn  nicht  die  Consistenz  eine  auffallend  harte 
wäre. 

Diagnose:  Acuter  Dünndarm  verschluss  durch  Incarceration  (Meckel- 
sches  Divertikel  oder  dergl.)  Die  erhöhte  Temperatur  ist  wohl  weniger  von 
beginnender  Peritonitis,  als  von  der  Kothstauung  und  etwas  Ascites  abhängig. 
(Dictat  ante  op.) 

Sofortige  Operation  war  dringend  indicirt.  In  Vertretung  von  Herrn 
Prof.  Helfer  ich  schloss  ich  sie  sofort  an.  Magen  ausspülnng  ante  operationem 
entleert  nichts. 

Laparotomie  in  der  Mittellinie  zwischen  Nabel  und  Symphyse.  Nach 
Eröffnung  des  Peritoneum  drängt  sich  sofort  ziemlich  stark  geblähter  Dickdarm 
in  die  Wunde.  Dieser  wird  bei  Seite  geschoben;  ein  Grifi  in  das  kleine  Becken 
bringt  eine  leere,  sehr  fest  contrahirte  Dünndarmschlinge  hervor.  Ein  Griff 
nach  der  Radix  mesonterii  und  an  dieser  aufwärts  orientirt  über  die  Verlaufs- 
richtung des  Dünndarms.  Nach  Verlängerung  des  Bauchschnittes  aufwärts 
bis  zur  Mitte  zwischen  Schwertfortsatz  und  Nabel  (erwies  sich,  um  Uebersicht 
zu  erlangen  und  schnell  zum  Ziele  zu  kommen,  durchaus  nöthig)  wurde  an 
dem  leeren  Dünndarm  in  die  Höhe  gegangen  unter  Hervorziehen  und  sofortigem 


Beiträge  znr  Pathologie  und  Therapie  des  acuten  Darm  verschlusses.        9 

Wiederversenken  der  Darmschlingen.  Nach  einiger  Zeit  gelangte  ich  an  gering 
und  noch  weiter  aufwärts  an  etwas  starker,  aber  noch  immer  schlaff  gefüllte 
Dönndarmschlingen,  so  dass  einen  Augenblick  die  Vermuthung  auftauchte, 
durch  das  Hervorziehen  sei  der  Dünndarm  aus  einer  Incarceration  befreit 
worden.  Allein  der  Uebergang  der  ganz  fest  contrahirten  in  die  gefüllten 
Schlingen  war  ein  ganz  allmäliger,  Schnürfurchen  waren  nicht  zu  sehen  und 
schliesslich  war  dafür  auch  die  Füllung  des  Darms  zu  gering.  Ich  kam  bis 
zum  Beginne  des  schlaff  gefüllten  Jejunum,  ohne  ein  Hindemiss  zu  finden. 
Reposition  der  letzten  Dünndarmschlinge.  Das  Colon  transversum  war  sehr 
stark  gebläht.  Darum  wurde  nun  die  im  unteren  Wundwinkel  gelegene  ge- 
blähte Dickdarmschlinge  hervorgezogen,  und  es  zeigte  sich  sofort,  dass  es  sich 
om  einen  Volvulus  des  50— 60cm  langen  S  romanum  handele  (Drehung  des  zu- 
führenden um  den  abführenden  Schenkel,  Umdrehungspunkt  unmiitelbar  oberhalb 
des  Promontorium,  Fusspunkte  der  Schlinge  3—4  Finger  breit  vonei  nander  ent- 
fernt, Mesenteiium  ohne  narbige  Veränderungen).  Rückdrehung  der  Schlinge. 
Einlegung  eines  Dannrohres  in  das  Rectum,  worauf  das  S  romanum  sich  theil- 
weise  entleert.  Fixation  der  Convexität  der  Schlinge  mit  8  Seidenknop&iähten 
an  der  medianen  Peritonealwunde.  Catgut-Etagennaht  des  Bauchschnittes 
neben  einigen  starken,  durch  die  ganze  Dicke  der  Bauchwand  laufenden  Seiden- 
nähten. —  Operationsdauer  1  Stunde. 

Während  des  Schlusses  der  Bauchwunde  hörte,  nachdem  sie 
etwas  flacher  geworden,  die  Athmung  vollkommen  auf,  während  der  Puls 
nur  wenig  nachliess  und  die  Lippen  anfänglich  noch  frisch  roth  waren.  Nach 
etwa  10  Secanden  begann  cyanotische  Färbung  des  Gesichts  und  Erweiterung 
der  Papillen.  Etliche  Comprossionen  des  Thorax  genügten,  um  wieder  spon- 
tane Athmung  herbei  zu  führen.    Puls  am  Ende  der  Operation  60. 

Am  Abend  nach  der  Operation  (22.  9.)  Temperatur  36,9,  Puls  58.  Keine 
W^inde ,  kein  Stuhl.  Schwarzer  Kaffee  mit  Ricinusöl  gegeben ,  sowie  0,01  g 
Morphin  wegen  Schmerzen. 

23.9.  Temperatur  36,7.  Puls  60  und  57.  Hoher  Einlauf  mit  Ricinus : 
Einlauf  zurück  mit  wenig  Koth.  Bauch  gleichmässig  schmerzhaft, 
etwas  gespannt.  Kein  Stuhl,  keine  Flatus.  Abends  10g  Glycerin  per  anum 
ohne  Erfolg.    0,01g  Morphium. 

24.  9.  In  der  Nacht  Patient  ziemlich  unruhig.  Temp.  37,3  und  36,9. 
Puls  voll,  kräftig,  56  und  60.  Keine  Winde.  Kein  Stuhl.  Hoher  Einlauf 
mit  kaltem  Wasser  und  Ricinus  kommt  zurück  mit  wenig  Koth.  Dann  0,015  g 
Morphium,  worauf  am  Nachmittag  reichlich  Stuhl.  Abends  Opium  pur.  0,04. 

25.  9.  In  der  Nacht  zweimal  reichlich  Stuhl.  Temp.  37,1.  Puls  60  und 
56.  Keine  Bauchschmerzen  mehr.  Bauch  weich.  Appetit  gering.  Zunge 
belegt:  Mundspülungen.    Morgens  und  Abends  Opium  pur. 

26.  9.  zweimal  Opium:  Ein  Stuhlgang.     27.  9.    Opium.    2  Stuhlgänge. 

Vom  28.  9.  ab  regelmässiger  Stuhlgang,  beschwerdefrei.  Opium  fort- 
gelassen. Wundheilung  per  primam.  9.  10.  Nähte  entfernt.  Erst  am  29.  10. 
entlassen,  weil  die  Anfertigung  der  Bauchbinde  sehr  lange  dauerte. 

In  der  Zeit  vom  28. 9.  bis  2.  10.  schwankte  bei  Achselhöhlentemperaturen 


10  Dr.  L.  Heideohain, 

von  36,1 — 36,5—36,9  der  Puls  von  51—54—57.    Später  war  er  dauernd  auf 
60.    Pulszahlung  hört  leider  vom  4.  10.  ab  auf. 

3.  Karl  Mann,  30  Jahre,  Fischer,  Stahlbrode.    Aufgen.  25.  2.    Entl. 

18.  3.  1896.   Spastischer  Darmverschluss  erzeugt  durch  einen  Spulwurm. 

Früher  nie  krank  gewesen.  Stuhlgang  immer  normal.  Am  16.  2.  noch 
völlig  wohl.  Am  17.  2.  trat  Schwindel,  Uebelkeit  und  heftiges  Erbrechen  ein ; 
das  Erbrochene  war  gelbgrän  und  roch  sehr  übel.  Appetit  war  seitdem  sehr 
schlecht  (Fat.  hat  in  5  Tagen  nichts  zu  sich  genommen),  Stuhlgang  und  Winde 
gingen  nicht  ab;  Schmerzen  im  Leibe  waren  nicht  vorhanden.    Seit  dem 

19.  2.  mehrfach  Einlaufe,  welche  stets  faculent  verfärbt,  jedoch  ohne  eigent- 
liche Kothmassen  zurückkamen. 

22.  2.  Aufnahme  in  die  innere  Klinik  (Geheimrath  Mosler),  welcher  ich 
die  vorstehende  Anamnese  und  die  nachstehende  Krankengeschichte  bis  zur 
Verlegung  in  die  chirurgische  Klinik  danke. 

Befund  am  22.  2.  Fat.  macht  durchaus  keinen  schwer  kranken  Eindruck. 
Herz  und  Lungen  normal.  Fuls  64,  kräftig  und  voll;  etwas  Schwindelgefühl; 
Zunge  stark  belegt  und  starker  Foetor  ex  ore;  andauernde  Uebelkeit  und  Brech- 
neigung, ohne  dass  es  zum  Erbrechen  kommt.  Leib  nicht  aufgetrieben,  eher 
noch  etwas  eingesunken;  Bauchdecken  stark  gespannt;  Falpation  ergiebt  nichts 
abnormes,  namentlich  nirgends  Schmerzhaftigkeit.  Exploratio  per  anum  ergiebt 
nichts  als  Druckschmerz  links  oben.  Urin:  reichlich  Urate,  Spuren  Eiweiss, 
kein  Zucker,  kein  Indican. 

Zunächst  Magenausspülung  mit  warmem  Wasser;  bei  derselben  Erbrechen; 
das  Erbrochene  und  das  Spülwasser  sind  durch  etwas  Blut  röthlich  gefärbt. 
Hoher  Einlauf  von  2500  ccm  lauwarmen  Wassers  mit  etwas  Kochsalz  geht 
nach  kurzer  Zeit  fast  ganz  klar  wieder  ab.  Mehr  wie  oben  genannt  konnte 
man  wegen  sehr  heftiger  Schmerzen  nicht  einlaufen  lassen. 

23.  2.  Hat  wenig  geschlafen.  Befinden  leidlich,  Brechneigung  etwas 
geringer.  Hoher  Einlauf  von  800  ccm  Oel,  welches  im  Jjaufe  des  Abends  ohne 
Kothmassen  wieder  abgeht.  Am  Nachmittage  und  in  der  Nacht  hat  Fat  6  mal 
erbrochen;  Erbrochenes  grünlich,  enthält  keinen  Gallenfarbstoff.  —  24.  2. 
Wenig  geschlafen.  Befinden  unverändert  schlecht.  10  Uhr  Einlauf  von  600  ccm 
Oel.  12  '/2  ^^^  Einlauf  von  1500  ccm  lauen  Wassers  mit  etwas  NaCl,  worauf 
etwas  Koth  entleert  wird.  Im  Laufe  des  Tages  mehrmals  Erbrechen  brauner, 
säuerlich  riechender  Massen.  Abends  hoher  Einlauf  von  Wasser  mit  NaCI, 
kommt  faculent  gefärbt  ohne  Kothmassen  zurück.  —  25.  2.  Befinden  nicht  ge- 
bessert. Schlaf  war  schlecht,  Erbrechen  besteht  fort,  Temp.  bisher  normaL 
Wegen  zunehmender  Schwäche  Verlegung  nach  der  chirurgischen  Station.  — 

26.  2.  Laparotomie  in  Chi. -Narkose.  Schnitt  vom  Schwertfortsatz  bis  etwas 
unter  den  Nabel;  der  in  die  Bauchhöhle  eingeführte  Finger  gelangt  nirgends 
auf  eine  geblähte  Darmschlinge,  einen  Tumor,  Strang  oder  irgend  eine  Abnor- 
mität. Dickdarm  massig  mit  Gas  und  flüssigen  Massen  gefüllt.  Absuchun^ 
des  Dünndarms:  derselbe  ist  völlig  leer  und  zusammengefallen;  an 
einer  Stelle  findet  sich  —  überaus  deutlich  durch  die  Wandung  fühlbar  —  ein 
Spulwurm  in  seinem  Innern.  Schluss  der  Bauchwunde  mit  dem  Gefühl  einer 


Beiträge  zur  Pathologie  und  Therapie  des  acuten  Darmverschlusses.      11 

unnützen  und  vergeblichen  Operation.  Im  Laufe  des  Tages  kein  Erbrechen. 
Narkosenachwirkungen  leicht;  Morphin  für  die  Nacht.  —  27.  2.  0,01  Mor- 
phium, im  Laufe  des  Tages  3  mal  Brühe  mit  Ei  und  2  mal  Milch.  Puls  be- 
schleunigt. Temperatur  normal.  Bei  leisem  Druck  auf  den  Leib  angeblich 
Schmerzen.  Kein  Stuhl,  keine  Winde,  kein  Erbrechen.  —  28.  2.  Status  unver- 
ändert, kein  Stuhl,  keine  Winde.  Peptoncacao,  Brühe,  Milch  ohne  Erbrechen 
behalten.  Morphin  0,01  fiir  die  Nacht  wegen  Schlaflosigkeit.  —  29.  2.  Be- 
finden wie  gestern;  fieberfrei,  Puls  112;  Abends  Morphium. 

In  der  Nacht  zum  1.  3.  erster  spontaner  Stuhlgang,  am  4.  3.  der  zweite, 
seitdem  glatte  Genesung.  Abgang  des  Spulwurms  hier  nicht  beobachtet.  Ge- 
wichtszunahme vom  7.— 14.  3.  von  123  auf  131  Pf.  Geheilt  entl.  18.  3.  1896. 

Pat.  stellte  sich  am  16.  1.  1897  in  blühendem  Gesundheitszustande  vor; 
er  ist  seit  der  Entlassung  ans  der  Klinik  stets  gesund  gewesen  und  hat  nicht 
die  geringsten  Störungen  seitens  der  Verdauung  gehabt.  Dass  ihm  ein  Einge- 
weidewurm abgegangen  sei,  hat  er  nicht  bemerkt. 

U.   6  FUle  Ton  Einklemmimg: 

4  innere  Einkleramungen,  davon  3  geheilt,  1  gestorben;  2  ver- 
borgene Hernien,  davon  1  geheilt,  1  gestorben. 

Die  Beobachtungen  sind  hier,  wie  in  der  Folge,  chronologisch 
angeordnet. 

4.  König,  Amalie,  34  J.,  Anklam.  Aufgen.  1.  5.   Entl.  13.  6.  1891. 

Hemia  femor.  dext.  incarcerata.  Laparotomie  wegen  Annahme  inneren 
Dannverschlusses.   Heilung. 

Vor  2  Tagen  beim  Spaziergange  plötzlich  innerlicher  Schmerz,  Unver- 
mögen, sich  weiterhin  aufrecht  zu  erhalten.  Im  Laufe  des  heutigen  Tages 
wiederholt  Kothbrechen.  Heute  Abend  Aufnahme  in  die  Klinik. 

Befund  1.  5.  Abends:  Korpulente  Frau  von  wenig  kollabirtem  Aus- 
sehen, klagt  über  Schmerzen  im  Abdomen  und  lokalisirt  dieselben  ganz  be- 
stimmt auf  eine  Stelle  zwischen  Nabel  und  Spina  ant.  sup.  sin.  Hier  ist  in 
der  Tiefe  und  undeutlich  ein  Tumor  zu  fühlen,  bei  dessen  Palpation  Pat.  in- 
tensive Schmerzen  angiebt.  Durch  eine  sofortige  Magenausspülung  werden 
reichliche  Fäkalmassen  entleert.  Nach  der  Entleerung  fühlt  Patr  sich  be- 
deutend wohler;  der  schmerzhafte  Tumor  ist  verschwunden,  die  Ge- 
gend desselben  auf  Druck  nicht  mehr  schmerzhaft.  Von  weiterem  Eingreifen 
wird  in  Folge  dessen  Abstand  genommen.  —  2.  5.  Ueber  Nacht  leidliches 
Befinden,  etwas  Aufstossen,  kein  Erbrechen.  Morgens  9  Uhr  Erbrechen  kothiger 
Massen;  wiederum  Lokalisation  von  Schmerzen  an  der  bekannten  Stelle;  Tumor 
in  der  Tiefe  nicht  so  deutlich  wie  gestern. 

Laparotomie  (Helferich)  sofort  ausgeführt.  Schnitt  median  in  Nabel- 
hohe. Nach  Eröffnung  der  Bauchhöhle  quillt  stark  geblähter  Dünndarm  hervor. 
Bei  Verfolgung  dieses  kommt  man  schliesslich  an  ganz  koUabirten  Darm.  In 
der  rechten  Leistengegend  fühlt  man  von  innen  her  den  Darm  in  die  Pforto 


12  Dr.  L.  Heidenhain, 

einer  äusseren  Hernie  eintreten.  Provisorischer  Schluss  der  Baachwunde. 
Bruchschniti  über  einer  ganz  geringen  flachen  Resistenz  an  der  rechten  Schen- 
kelbruchpforte. Hier  findet  sich  eine  kleine  Darmschlinge  eingeklemmt,  glück- 
licher Weise  noch  lebensfähig.  Radikaloperation  des  Braches  und  Schluss  der 
Bauchwunde.  Heilung  afebril  und  glatt. 

Epikrise  von  Prof.  Helferich:  „Der  Fall  bestätigt  die 
alte  Regel,  dass  zunächst  nach  incarcerirten  Hernien  geforscht  und 
der  Bruchschriitt  gemacht  werden  muss,  wenn  nur  die  geringsten 
Zeichen  auf  eine,  solche  deuten.  Hier  war  eine  ganz  geringe,  flache 
Resistenz  rechts  an  der  Schenkelbruchpforte  (etwa  wie  ein  Stück- 
chen Netz)  aber  ohne  allen  Schmerz,  sowohl  spontanen,  wie  bei 
Berührung.  Es  erschien  eine  feine  und  gut  gesicherte  Diagnose 
eine  innere,  intraperitoneale  Ursache  des  Ileus  anzunehmen.  Aber 
die  Sache  entpuppte  sich  als  einfacher  Schenkelbruch!'* 

Die  Beobachtung  ist  auch  noch  dadurch  von  Interesse,  dass 
sie  zeigt,  wie  geblähter  Dünndarm  durch  eine  Magenaus- 
spülung völlig  entleert  werden  kann.  Die  schmerzhafte 
Schwellung  in  der  linken  Bauchseite,  welche  am  Abend  der  Auf- 
nahme zu  fühlen  war,  entsprach  doch  sicher  dem  geblähten  zu- 
führenden Dünndarm.  Nach  der  Magenspülung,  welche  reichliche 
fäculente  Massen  entleerte,  waren  Schwellung  und  Schmerz  ver- 
schwunden; für  ca.  12  Stunden  trat  ziemliches  Wohlbefinden  ein. 

5.  Johann  Walter,  54  J.,  Arbeiter,  Wieck  bei  Gutzkow,  aufgenommen 
am  16.  5.,  gestorben  18.  5.  94. 

Acute  innere  Einklemmung,  Laparotomie  und  Enterostomie.     Tod. 

Ist  früher  stets  gesund  gewesen,  hat  insbesondere  nie  Bauchfell- 
entzündung oder  irgend  eine  Unterleibserkrankung  gehabt.  Seit  18  Jahren 
besteht  eine  rechtsseitige  Leistenhernie,  die  durch  Bruchband  zurück- 
gehalten wurde  und  nie  Beschwerden  machte.  Stuhlgang  war  stets  regel- 
mässig. Am  13.  5.  Abends  erkrankte  Pat.  plötzlich  mit  heftigen  Leibschmerzen 
und  dem  Gefühl  schwerer  Erkrankung.  Es  gingen  keine  Winde  noch  Stuhl  ab ; 
beim  Versuche  zu  essen  erbrach  er.  Am  folgenden  Tage  Erbrechen  häufiger, 
soll  auch  kothig  gewesen  sein.  Aufnahme  16.  5.  Abends  gegen  10  Uhr;  vor  dem 
Transport  hatte  Pat.  eine  Morphiumeinspritzung  erhalten. 

Befund  bei  der  Aufnahme:  Leib  ziemlich  stark  aufgetrieben,  Leber- 
dämpfung etwas  verkleinert.  Ueber  der  Symphyse  und  in  beiden  Lumbai- 
gegenden gedämpfter  Schall.  Kräftigeres  Klopfen  ist  über  dem  ganzen  Leibe 
schmerzhaft,  besonders  in  der  rechten  Bauchseite  etwas  unterhalb-  der  Nabel- 
höhe. In  derselben  Gegend  über  die  Mittellinie  hin  sich  verlierend,  besteht 
leichtes  Hautödem,  sodass  Fingereindrücke  eben  noch  als  bleibende  Delle  za 
sehen  sind.  Rechter  Leistenring  für  eine  Fingerkuppe  durchgängig,  frei;  beim 


Beiträge  znr  Pathologie  aod  Therapie  des  acuten  Darm  verschlusses.     13 

Husten,  welches  keine  ScbmerzeD  macht,  fühlt  man  in  ihm  das  Anprallen  von 
BanchinhalL    Allgemeinbefinden  gut,  Pols  kräftig  aad  voll,  94.    Nachtwache. 

17.  5.  War  während  der  ganzen  Nacht  ruhig,  hat  etwas  geschlafen,  kein 
Erbrechen  gehabt.  Erst  Morgens  5  Uhr  auf  einen  Schluck  Wasser  heftiges 
kothiges  Erbrechen;  10  Uhr  dasselbe  nochmals.  Um  9  Uhr  waren  auf  einen 
Einlanf  etwas  Stuhl  und  einige  Winde,  ohne  wesentliche  Erleichterung 
in  bringen,  abgegangen.  Nochmalige  Untersuchung  Vormittags  ergiebt  den 
gleichen  Befand  wie  Abends  Torher;  per  rectum  fühlt  man  nach  links  hin  eine 
geblähte  Daimschlinge,  nach  rechts  einige  leere  Schlingen.  Bis  4  Uhr  noch 
zweimal  Erbrechen,  deshalb  4  Uhr  bei  dauernd  gatem  Pulse  (zwischen  80  und 
90)  Laparotomie  (Heidenhain}. 

Aethemarkose.  Medianschnitt  unter  dem  Nabel.  Nach  EröfTnang  der 
Banchhöhle  lliesst  ziemlich  viel  röthliche  seröse  Flüssigkeit  ah.  Die  eingeführte 
fland  füblt  kein  Hindemiss.  Beim  Absuchen  des  Bauches  findet  sich  in  der 
rechten  Bauchseite  etwas  unter  Nabelhöhe  eine  stark  sugillirte,  etwas  blau- 
rdtblich  vererbte,  15  cm  lange  Dnnndannschlinge  mit  zahlreichen  Ecchymosen 
unter  der  Serosa.  Ein  Schnürring  findet  sich  nicht.  Die  Schlinge  erscheint 
lebensfähig.  Offenbar  ist  dennoch  die  Schlinge  eingeklemmt  gewesen.  Um 
den  Eingriff  sohneil  zu  beenden,  wird  nach  dem  Hindemiss  nicht  weiter  ge- 
sucht. Wegen  der  ziemlich  starken  Blähnng  des  Leibes  wird  der  Diinndarm 
dicht  oberhalb  der  eingeklemmt  gewesenen  Schlinge  an  die  Baucbwand  ange- 
näht und  nach  Schluss  der  Baucbwunde  eräffnet;  es  fliesst  nur  etwas  flüssiger 
Koth  und  wenig  Luft  ab. 

Fig.  2. 


Unter  Fortdauer  der  Einklemmnngserscheinungen  und  ohne  dass  aus  der 
Enterostomie wunde  genügende  Mengen  Darminhalt  entleert  werden,  geht  Pat. 
am  Abend  des  folgenden  Tages  zu  Grunde. 

Die  Seclion  wies  nach,  dass  ein  Dünndanndivertikel  und  der  Wurm- 
fortsatz durch  einen  dünnen  peritonitischen  Strang  zu  einem  King  verbunden 


14  Dr.  L.  Heidenhain, 

waren,  in  welchen  3  Dunndarmschlingen  hineingeschlüpft  waren.  Dieselben 
fanden  sich  gangränös.  Eine  vierte,  tiefste  Schlinge,  welche  direct  in  das 
Coecum  abführte,  trug  die  Enterostomiewunde.  Auch  sie  war  zum  Theil 
nekrotisch ;  offenbar  war  auch  sie  eingeklemmt  gewesen  und  bei  der  Operation 
durch  irgend  welchen  Zug  befreit  worden.    Vergl.  Bild  2. 

Die  Krankengeschichte  zeigt,  dass  man  Lotterie  spielt,  wenn 
man  bei  leidlichem  Pulse,  die  wegen  acuten  Darmverschlusses  er- 
öffnete Bauchhöhle  wieder  schliesst,  ohne  sich  mit  aller  Sicherheit 
überzeugt  zu  haben,  dass  die  Einklemmung  gelöst  ist.  Ich  hatte 
bei  der  Operation  angenommen,  dass  in  der  That  die  Einklemmung 
durch  einen  zufälligen  Zug  an  der  eingeklemmten  Sclilinge  gelöst 
sei  und  nach  dem  Sitze  der  Einklemmung  nur  darum  nicht  mehr 
forschen  woUen,  weil  ich  den  Kranken  gern  so  schnell  wie  mög- 
lich in  das  Bett  bringen  wollte.  Wie  leicht  wäre  es  gewesen,  die 
noch  fortbestehende,  unmittelbar  benachbarte  Einklemmung  zu 
finden!  Die  Enterostomie  am  Dünndann  nach  anscheinend  gelöster 
Einklemmung  geschah,  um  den  überfüllten  Darm  möglichst  schnell 
zu  entleeren.  Denn  schon  damals  hatte  ich  die  üeberzeugung,  dass 
ein  sehr  grosser  Theil  der  an  Darmverschluss  operirten  Kranken 
an  nichts  anderem,  als  der  ungenügenden  Entleerung  des  Darmes 
mit  ihren  Folgen  zu  Grunde  geht.  Im  Verlaufe  der  practischen 
Erfahrung  bin  ich  dann  zur  Entleerung  des  Darmes  auf  dem  Tische 
und  zur  baldigen  Verabreichung  eines  Laxans  nach  der  Operation 
übergegangen.  Gerade  die  Enterostomirten  sind  mir  alle  gestorben 
—  allerdings  wohl  ein  ZufaU. 

6.  Grimm,  54  J.,  Eigenthümerfrau ,  Teterin  bei  Anklam,  aufgenommen 
am  3.  3.  entlassen  am  6.  4.  95.    Innere  Einklemmung  durch  Strang. 

Vor  9  Jahren,  angeblich  beim  Uebersteigen  eines  Grabens,  entstand  ein 
wallnussgrosser  Schenkelbruch,  der  sich  stets  zurückbringen  Hess.  Bruchband 
nicht  getragen.  1.  3.  Abends,  als  sie  sich  zu  Bette  legte,  bemerkte  sie  den 
Bruch  nicht  mehr.  Ueber  Nacht  schon  stellton  sich  Leibschmerzen  und  Er- 
brechen ein.  Zur  Klinik  gesendet  von  Dr.  Brüning- Anklam. 

Befund  am  3.  3.:  Kann  unter  Schmerzen  noch  gehen,  sieht  verfallen 
und  elend  aus;  Puls  schwach,  Herz  und  Lungen  normal. 

Rechterseits  ein  offener,  für  einen  Finger  durchgängiger  Cruralkanal; 
keine  Hernie  fühlbar.  Abdomen  ungleichmässig  gefüllt.  In  seiner  rechten 
Seite  lagert  ein  grösseres  Packet  von  Darmschlingen,  welche  die  Bauch- 
wandung etwas  hervorwölben.  Hier  sind  auch  stark  gefüllte  Schlingen  durch- 
tastbar. 

Bei  dem  klaren  Befund  unmittelbar  in  Aethemarkose  Eröffnung  des 
Leibes  am  rechten  Rectusrande  (Helferich),     llinderniss  schnell  gefunden: 


Beiträge  zur  Pathologie  und  Therapie  des  acaten  Darm  verschlusses.     15 

die  unterste  15  cm  lange  Ileamschlinge  ist  durch  einen  peritonitischen  Strang 
eingeklemmt  and  um  180^  gedreht.  Vergl.  Bild  3.  Rückdrehung,  Trennung 
des  Stranges.  Abführender  Schenkel  geht  direct  in  das  Coecum  über.  Koth- 
passage  erfolgt  sofort.  Verlauf  glatt:  erste  Flatus  am  folgenden  Tage;  spon- 
taner Stahlgang  am  4.  Tage  post  op.    Geheilt  entlassen  am  6.  4.  95. 

Fig.  3. 


^fÜTTm^ 


7.  Alwine  Müller,  45  J.,  Usedom,  aufgenommen  am  7.  9.,  gestorben  am 
8.  9.  95.  Ileus  durch  gangränösen  interstitiellen  Leistenbruch  (Darmwand- 
bruch).   Tod. 

Nie  krank  gewesen.  Am  2.  9.  Nachmittags  Leibschmerzen,  die  keinen 
bevorzugten  Sitz  hatten.  Von  da  ab  Stuhl  und  Flatus  angehalten.  Erbrechen 
schon  in  der  folgenden  Nacht;  andauernde  Steigerung  desselben;  6.  9.  Koth- 
erbrechen. Vom  Hausarzt  wiederholt  verordnete  Abführmittel  riefen  nur  grössere 
Schmerzen  hervor  und  wirkten  nicht.   7.  9.  zur  Klinik  gesandt. 

Befand  7.  9.:  Grosse,  fettleibige,  kräftige  Frau.  Gesiohtsaasdruck  sehr 
leidend,  Augen  tiefliegend,  Stimme  klanglos;  Fat.  ist  sehr  matt;  Puls  100, 
massig  kräftig;  Kotherbrechen.  Leib  aufgetrieben,  links  etwas  mehr,  als 
rechts,  giebt  lauten  tympanitischen  Schall;  Lebergrenze  am  Rippenbogen; 
Spannung  des  Leibes  noch  nicht  trommelartig.  Ileocoecalgegend  nicht  be- 
sonders druckempfindlich.  Alle  Bruchpforten,  auch  obturatoria,  frei.  In  der 
Ileocoecalgegend  hört  man  Darmgeräusche,  die  auf  Reiben  des  Leibes  deut- 
licher und  zahlreicher  werden. 

Diagnose:  Innere  Einklemmung,  Sitz  ganz  unsicher. 

Bei  der  Laparotomie  (Hei den hain)  drängen  sich  mit  Eröffnung  des 
Leibes  sofort  einige  weit  aufgeblähte  Dünndarmschlingen  hervor,  neben  welchen 
eng  contrahirte,  hundedarmähnliche  sichtbar  sind.  Der  geblähte  Darm  zieht 
nach  der  rechten  Leistengegend  und  ist  in  der  Nähe  der  Leistenbruchpforte, 
anscheinend  spitzwinkelig,  abgeknickt,  fest  an  die  Bauchwand,  geheftet.  Bei 
näherem  Zusehen  und  Zufühlen  ergiebt  sich  eine  Hernie,  welche  durch  eine 
noch  nicht  bleistiftstarke  Bruchöifnung  ausgetreten  ist;  von  aussen  lässt  sich 
wegen  der  Dicke  der  sehr  fetten  Bauohdecken  nichts  von  der  Hernie  fühlen. 
Umstopfung  der  Brachpforte  von  innen  und  Incision  des  eingeklemmenden 
Ringes.  Entwickelung  eines  brandigen  Darmwandbruohes,  Eröffnung 
des  interstitiell  gelegenen  Bruchsackes  von  aussen  her  und  Durchziehen  eines 


16  Dr.  L.  Heidenhain, 

Jodoformmullstreifens  durch  ihn  (Drainage)  von  innen  her;  (Brachsack  eben- 
falls nekrotisch).  Schluss  der  Baachwande  anter  Anheftung  der  nekrotischen 
Schlinge  an  die  Bauchwand  and  Enter ostomie,  am  den  Darminhalt  mög- 
lichst zu  entleeren.  Trotz  baldiger  Verabreichung  von  schwarzem  Oaffee  mit 
Ricinus  entleert  sich  aus  der  Enterostomie  nur  wenig  Koth;  die  Herzschwäche 
nimmt  trotz  starker  Excitation  immer  mehr  zu.  Tod  8  Stunden  nach  Beendigung 
der  Operation. 

Diese  Beobachtung  ist  ohne  weiteres  als  innere  Einklemmung, 
wenigstens  vom  praktischen  Standpunkte  aus  zu  rechnen.  Einen 
eingeklemmten  interstitiellen  Darmwandbruch  bei  einer  fetten  Frau 
kann  wohl  Niemand  diagnosticiren.  Fünftägige  Einklemmung,  be- 
handelt mit  Abführmitteln,  Dann  brandig,  allgemeiner  Verfall:  die 
Kranke  war  nicht  zu  retten.  Narkose  und  Operation  waren  nicht 
die  Todesursache.  Leute  mit  brandigen  Hernien  im  Spätstadium 
sterben,  wenn  man  sie  ohne  Narkose  operirt,  auch  meist.  Die 
Operation  ging  schnell.  Wir  setzten  die  Hoffnung  auf  schleunige 
Entleerung  des  Darmes,  allein  derselbe  war  schon  paralytisch;  es 
entleerte  sich  durch  die  Enterostomie  wenig  mehr. 

Der  folgende  Fall  von  innerer  Einklemmung  mit  Achsendrehung 
des  Darmes  nach  Dickdarmresection  wegen  Carcinoma  coeci,  ist 
schon  im  Centralblatt  für  Chiinirgie,  1896,  No.  46,  mitgetheilt. 

8.  Der  43jährige  Arbeiter  Wilhelm  Schröder  aus  Verchen  wurde  am 
11.  6.  96  durch  Herrn  Kreisphysikus  Dr.  Di  et  er  ich  wegen  eines  Tumors  in 
der  Coecalgegend  der  chirurgischen  Klinik  zugesendet.  Bei  der  am  15.  6.  vor- 
genommenen Operation  (Prof.  Helfer  ich)  ergab  sich  derselbe  als  ein  Car- 
einem  des  Coecums.  Coecum  und  Colon  asc.  bis  zur  Flexura  coli  hepatica 
mussten  entfernt  werden.  Das  Colon  transversum  wurde  blind  vernäht  und  das 
getrennte  Ileum  seitlich  in  das  Colon  implantirt.  JodoformmuUtampon  auf  die 
Nahtstelle,  im  Uebrigen  primärer  Schluss  der  Bauchwunde.  Darmnaht  hielt; 
glatte  Heilung.  Entlassen  nach  vollkommener  Vernarbung  der  Wunde  und 
ohne  Bauch  brach  am  1.  8.  96. 

Sonntag,  9.  8.  %  Morgens,  bekam  Pat.  plötzlich  heftige  stechende  und 
schneidende  Schmerzen  im  Leibe,  und  zwar  um  den  Nabel  herum  und  links 
unterhalb  desselben.  Er  musste  sich  zu  Bett  legen.  Stuhl  und  Winde  waren 
angehalten,  es  trat  Erbrechen  ein.  Pat.  konnte  gar  nichts  gemessen.  Dieser 
Zustand  dauerte  bis  Mittwoch,  an  welchem  Tage  einige  Flatus  und  wenig  Stuhl 
abgingen.  Allein  die  Schmerzen  dauerten  nur  wenig  abgeschwächt  fort.  Appetit- 
losigkeit hielt  an ;  von  Zeit  zu  Zeit  wurden  noch  geringe  schleimige  Massen  er- 
brochen. Letzter  spärlicher  Stuhl  Sonnabend  15.  8.,  Morgens.  Am  Abend  dieses 
Tages  Aufnahme  in  die  Klinik.  Hier  wurde  sofort  ein  hoher  Einlauf  gemacht, 
aber  ohne  Erfolg. 

Status  vom  16.  8.  Morgens  10 Yg  Uhr:  Mittelgrosser  Mann  mit  gut  ent- 


Beiträge  idt  Pathologie  und  Therapie  des  acuten  Darniverscblus 


17 


wickelterHuskalaturuad  gutem  Fettpolster,  initgntem,  nur  wenig  beschleunigtem 
Pulse.  An  der  rechten  Seite  des  Abdomens  zieht  ungefähr  in  der  HammillarHoie 
Tom  Rippenbogen  bis  znr  Spina  ant.  sup.  die  Narbe  der  ersten  Operation. 
Etwa  alle  5  Hinuten,  gelegentlich  auch  nach  längerer  Pause,  treten  lebhafte 
,  Kolikscbmerzen  ein.  Die  gesammte  untere  Hälfte  des  Abdomens  vom  Nabel 


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an  abwärts  ist  stark  halbkugelig  hervorgewölbt,  ohne  dass  besondere  Einwl- 
heiten  an  dieser  Hervorwölbnng  zu  bemerken  sind.  Gelegentlich  sieht  man  hier 
nad  da  sich  lebhaft  bewegende  Darmschlingen.  Das  Epigastrium  bis 
inm  Kabel  herunter  ist  flach :  unterer  Hand  der  Leberdümpfung  am  Rippen- 
bogen. In  beiden  Lendengegenden  fast  völlig  gedämpfter  Schall,  der  bei  Seiton- 
lage sich  aufhellt,  also  Ascites.  Palpation  des  Abdomens  ergiebt  nichts  Be- 
sonderes; Rectalantersucbung  verabsäumt.  Unmittelbar  nach  der  Untersuchung 
reichliches  kothiges  Erbrechen. 

lidilT  »r  klln.  Chirurgie.     Bd.  67.    Haft  I.  2 


18  Dr.  L.  Heidenhain, 

Bei  der  schon  8  Tage  langen  Dauer  der  Erkrankung  war  nicht  anzu- 
nehmen, dass  ohne  Operation  Heilung  eintreten  werde,  zumal  da  der  hohe  Ein- 
lauf völlig  erfolglos  gewesen.  Im  Gegentheil  wies  der  Ascites  darauf  hin,  dass 
die  Prognose  sich  schon  ernst  gestalte.  Ich  nahm  an,  dass  an  der  Operations- 
stelle sich  ein  Dunndarmverschluss  irgend  welcher  Art  finden  werde  und  fährte  . 
in  Vertretung  von  Prof.  Helferich  die  Operation  sofort  aus. 

11 V2  Uhr  nach  Magenausspülung  Chlorofonnnarkose ,  welche  nach  Ein- 
treten der  Anästhesie  durch  Aether  fortgesetzt  wird.     Hautschnitt  parallel  der 
Narbe  und  2  Finger  breit  medial  von  dieser.     Die  Eröffnung  der  freien  Peri- 
tonealhöhle macht  etliche  Schwierigkeiten,  da  von  der  medialen  Seite  her  Netz 
und  von  der  lateralen  her  Dünndarmschlingen  der  Bauchwand  adhärent  sind. 
Es  drängen  sich  sofort  etliche  stark  geblähte  Dünndarmschlingen  in  die  Wunde 
und  um  einige  Uebersicht  zu  erlangen,  muss  der  Bauchschnitt  bis  zum  Rippen- 
bogen und  zum  Lig.  Pouparti  verlängert  werden.    Im  oberen  Wundwinkel  liegt 
jetzt  der  Stumpf  des  Colon  transversum,  in  welchen  der  Dünndarm  einmündet. 
Ungefähr  4  cm  vor  der  Einmündung  in  das  Colon  ist  der  Dünndarm  bis  zum 
Verschwinden  des  Lumens  um  seine  eigene  Längsachse  gedreht.     Von  diesem 
Umdrehungspunkte  aus  zieht  nach  abwärts,  rückwärts  und  medialwärts  ein 
stark  gespannter  Strang,  welcher  sich  beim  näheren  Zusehen  als  der  freie  Rand 
des  Mesenterium  erweist.     (Trennungsstelle  des  Mesenterium  bei  der  Darm- 
resection.)    Diesseits,  d.  i.  central  von  der  Torsionsstelle,  sind  die  Dünndarm- 
sohlingen stark  gebläht.     Diese  nächstgelegen cn  starken  Dünndarmschlingen 
werden  aus  dem  Bauche  hervorgezogen,  und  es  zeigt  sich  nun,  dass  eine  etwa 
75cm  lange  Darmschlinge  durch  einen  zwischen  dem  freien  Mesenterialrande 
und  dem  Colonstumpf  verbliebenen  Spalt  hin  durchgeschlüpft  ist,  wodurch  die 
oben  geschilderte  Torsion  entstand  (vergl.  Bild  4)*).    Die  hindurchgeschlüpfte 
Schlinge  ist  im  Uebrigen  nicht  oder  nur  ausserordentlich  wenig  in  dem  Spalt 
comprimirt,  so  dass  der  Darmverschluss  allein  durch  die  Torsion  hervorgerufen 
wurde.    Circulationsstörungen  bestehen  trotzdem:  die  vorliegenden  Dünndarm- 
schlingen sind  geröthet;  die  Bauchhöhle  enthält  nicht  unbeträchtliche  Mengen 
blutigen  Ascites.    Lösung  der  Torsion  von  etwa  270^  durch  Hervorziehen  der 
Schlinge  aus  dem  Spalt.    Ante  reductionem  lag  die  Schlinge  lateral  vom  Me- 
senterium, zwischen  diesem  und  der  seitlichen  Bauchwand  und  obenauf,  be- 
deckte den  übrigen  Dünndarm.    Eine  vollkommene  Reduction  der  Schlinge  ist 
nicht  möglich,  da  ihr  zuführender  Schenkel  gleichzeitig  mit  einem  2  faust- 
grossen    Convolut    geblähter    Dünndarmschlingen    durch    untrennbare    Ver- 
wachsungen an  der  seitlichen  Bauchwand  fixirt  ist.    (Eine  Lösung  dieser  würde 
jedenfalls  den  Fortgang  der  Operation  ungebührlich  aufgehalten  haben.)     Es 
entspricht  diese  Stelle  ungefähr  der  Wundfläche,  welche  durch  Exstirpation 
des  obersten  Theiles  des  Colon  asc.  entstand  (vergl.  Bild  5).     Es  wird  nun 
zunächst  der  freie  Mesenterialrand  mit  einer  fortlaufenden  Catgutnaht  an  die 
Wand  des  zuführenden  fixirten  Schiingenschenkels  der  Länge  lang  festgenäht, 
um  den  Mesenterialspalt  zu  schliessen.    Demnächst  Eröffnung  des  zuführenden 


*)  Diese  Skizzen    sind  stark    schematisch;    sie  mussten  Dinge    darstellen, 
die  nicht  zu  sehen,  sondern  nur  zu  fühlen  waren,  wie  die  Radix  mesenterii. 


Beiträge  zur  Pathologie  nnd  Therapie  des  acuten  Darmverschlnsses.     19 

fixirten  Schlingenschenkels  durch  einen  Querschnitt  an  der  Convexität,  um  die 
stark  gefüllten,  deshalb  auch  kaum  reponirbaren  Dünndarmschlingen  zu  ent- 
leeren: Abfliessen  einer  Menge  Gase  und  eines  Eiterbeckens  flüssigen  Darm- 
inhaltes; Reposition  der  grossen  eventrirten  Schlinge.  Wegen  Gefahr  einer 
demnächstigen  Compression  des  zuführenden  fixirten  Schlingenschenkels  durch 
sich  entwickelnde  Narbenmassen  wird  mit  dem  Murphy  knöpf  unter  Benutzung 
des  schon  vorhandenen  Einschnittes  eine  laterale  Anastomose  zwischen  dem 
zuführenden  fixirten  Schlingenschenkel  und  der  abführenden  Schlinge  dicht 
oberhalb  der  Einmündung  in  das  Colon  hergestellt.  Die  Verwendung  des 
Knopfes  war  zur  Aufrechterhaltung  der  Asepsis  dringend  nothwendig.  Es 
ragte  nämlich  (s.  Bild  5)  von  der  zuführenden  Schlinge  nur  die  Kuppe  hervor, 
und  aus  dem  Einschnitt  entleerte  sich  fortdauernd  Darminhalt,  da  es  un- 
möglich war,  die  zuführende  Schlinge  durch  Digitalcompression  oder  gar 
anders  sicher  abzuschli essen.  Durch  Einführung  einer  vorläufig  verstopften 
Knopfhälfte  wurde  der  Darminhalt  zurückgehalten.  Leider  zeigte  sich  nach 
Schluss  des  Murphy,  dass  ein  stecknadelkopfgrosses  Stückchen  Schleimhaut 
noch  nach  aussen  hervorragte;  zudem  war  die  laterale  Wand  des  zuführenden 
fixirten  Schlingenschenkels  durch  einen  ziemlich  tiefen  Einriss  beschädigt. 
Die  begonnene  üebernähung  der  beiden  gefährdeten  Stellen  musste  ich  auf- 
geben ,  weil  dadurch  das  Darmlumen  um  den  Knopf  herum  zu  völligem  Ver- 
schwinden gebracht  worden  wäre.  Doch  wiesen  diese  Stellen  nach  aussen; 
ringsum  war  die  Anastomose  sicher.  —  Jodoformmulltampon  gegen  die  gefähr- 
dete Stelle.  Schluss  der  übrigen  Bauchwunde  durch  Etagennähte.  Operations- 
dauer 2  Stunden,  Ende  lV2Uhr.    Befinden  am  Schlüsse  gut. 

2  Stunden  nach  dem  Erwachen  schwarzer  Kaffee  mit  Ricinusöl  gegeben; 
Abends  6  Uhr  Magen ausspülung  zur  Entlastung  des  Darmes,  da  noch  kein 
Flatus  abgegangen. 

Auch  am  folgenden  Tage,  17.  August,  noch  keine  Flatus  bei  gutem  Be- 
finden ohne  Erbrechen;  deswegen  eine  Magenausspülung.  Es  war  sicher, 
dass  der  Murphy  die  Passage  wesentlich  hemmte.     (Vergl.  Fall  15.) 

18.  August  erste  Flatus.   Nachmittags  mehrfach  Stuhlgang. 

In  den  folgenden  Tagen  Durchfall.  Bei  fieberlosem  Verlaufe  entwickelte 
sich  die  erwartete  Darmfistel,  durch  welche  am  26.  8.  der  Knopf  extrahirt  wird. 

Schluss  der  Darmfistel  durch  Naht  in  2  Etagen  am  28.  Sept.  in  Narkose. 

31.  October  geheilt  in  vortrefflichem  Ernährungszustande  entlassen. 

Ein  analoger  Fall  von  Darmeinklcmmung  in  dem  Mesenterial- 

spalte  ist  kurz  nach  dem  meinen  von  Braun- Göttingen  mitgetheilt 

worden.      Es    ist    zweifelsohne  nöthig,    dass    in  jedem  Falle    von 

Darmresection    der  entstandene  Mesenterialspalt    geschlossen  wird, 

um  so    unangenehmen  Ereignissen    zuvorzukommen.      Die  bei  Re- 

section  des  Coecum  und  Colon  asc.  entstandene,  recht  breite  Spalte 

lässt  sich,  wie  ich  neulich  in  praxi  nach  Resection  einer  chronischen 

Invagination    erprobt  habe,    sehr  leicht    und  gut  durch  Einnähung 

eines  Tbeiles    des  dicht  anliegenden   grossen  Netzes  verschliessen. 

2* 


20  Dr.  L.  Heidenhain, 

ü.  Johanna  Parow,  69  J.,  Wieck  a.  D.  Aufgen.  23.  9.  Entl.  14.  10.  1896. 

Innere  Einklemmung  in  eine  abnorme  Peritonealtasche  an  der  rechten 
Seite  der  Harnblase.  Laparotomie;  Heilung. 

Geschickt  von  Herrn  Dr.  Reinecke-Prerow  a.  D.  Rechtsseitiger  Leisten- 
bruch besteht  seit  2  Jahren,  war  bisher  nie  eingeklemmt.  Stuhl  bisher  immer 
regelmässig;  nie  krank  gewesen,  insbesondere  keine  Bauchfellentzündungen, 
kein  Kindbettfieber.  Am  21.  9.  96  Mittags  klemmte  sich  der  Leistenbruch  an- 
geblich ein:  Pat.  hatte  ihn  jedoch  bei  Ankunft  des  CoUegen  schon  selbst  re- 
ponirt;  Schmerzen  und  Einklemmungsersch einungen  fehlten  vollständig.  In 
der  Nacht  zum  22.  9.  viel  Schmerzen,  mehrmals  Erbrechen,  keine  Winde.  Seit 
dem  22.  9.  besteht  auch  Urindrang;  es  kann  dabei  nur  wenig  gelassen  werden 
und  gleichzeitig  treten  Schmerzen  in  der  rechten  Leistengegend  auf.  Wider 
den  dringenden  Rath  des  Herrn  Collegen  wurde  die  Ueberführung  in  die  Klinik 
noch  einen  ganzen  Tag  verzögert. 

Befund  am  23.  9.  Nachmittags:  alte  Frau,  massig  kollabirt.  Puls  80 
und  schwach  gespannt,  Bronchitis,  jammert  viel  über  Leibschmerzen.  Leib 
nicht  aufgetrieben,  einzelne  Darmschlingen  zeichnen  sich  äusserlich  nicht  ab; 
öfters  Kollern  und  dabei  Kolikschmerzen;  Erbrechen;  Stuhl  und  Winde  völlig 
angehalten.  Rechte  Leistenbruchpforte  für  eine  Zeigefingerspitze  durchgängig 
und  frei.  Bei  Husten  und  Pressen  drängt  sich  eine  Darmschlinge  mit  der 
Kuppe  in  den  Leistenkanal,  geht  aber  leicht  zurück,  ebenso  ein  rundes,  in  die 
Bauchhöhle  sich  fortsetzendes  Gebilde  von  weicher  Consistenz.  Letzteres  bleibt 
aber  auch  nach  Reposition  im  Grunde  der  Bruchpforte  eben  fühlbar;  es  ist 
nicht  druckempfindlich.  Per  vaginam  fühlt  man  im  Abdomen  in  der  Gegend 
der  rechten  Leistenbruchpforte  eine  pralle,  druckempfindliche  Resistenz:  bei 
bimanueller  Untersuchung  kommt  man  hier  mit  den  Fingerspitzen  nicht  zu- 
sammen. Ob  dies  eine  gespannte,  ev.  eingeklemmte  Darmschlinge  sei,  ist  durch 
das  Gefühl  nicht  zu  entscheiden.  Urin  wird  unter  Drang  und  Schmerzen  nur 
ganz  wenig  auf  einmal  gelassen. 

Diagnose:  Reposition  en  bloc  oder  Hernia  praeperitonealis. 

Operation  sofort  (Heidenhain)  in  Chloroformnarkose.  Schnitt  am 
äusseren  Rande  des  rechten  Rectus,  endend  am  Lig.  Poupartii.  Nach  Eröffnung 
des  Peritoneums  fühlt  man  an  der  vorderen  Wand  des  Beckens  zur  rechten 
Seite  der  Blase  einen  fast  faustgrossen  Tumor.  Bei  näherem  Zusehen  zeigt 
sich,  dass  durch  eine  ungefähr  in  der  Höhe  des  Lig.  Poupartii  oder  etwas 
unter  ihm  liegende  ca.  zweimarkgrosse  Oeffnung  eine  Darmschlinge  in  eine 
anscheinend  präperitoneal  gelegene  Tasche  eintritt  und  in  dieser  Oeffnung 
fest  eingeklemmt  ist.  Abschliessung  der  freien  Bauchhöhle  durch  Tücher. 
Einkerbung  des  einklemmenden  Ringes  nach  oben,  worauf  sofort  Bruch wasser 
hervorstürzt.  Bei  ausgiebiger  Erweiterung  der  Bruchpforte  wird  die  Art.  epi- 
gastrica,  welche  aussen  und  oben  am  einschnürenden  Ringe  ver- 
läuft, durchschnitten.  Es  wird  eine  10  cm  lange,  stark  sugillirte  Dünndarm- 
schlinge mit  massigen  Schnürfurchen  entwickelt,  deren  Peristaltik  schnell 
wiederkehrt.  Die  Untersuchung  des  abnormen  Bruchsackes  zeigt  Folgendes : 
er  verläuft  nach  medial  und  abwärts  und  ist  der  rechten  Wand  der  Harn- 


Beiträge  zur  Pathologie  und  Therapie  des  acuten  Darm  verschlusses.     21 

blase,  welche  nach  rechts  lateral  verlagert  and  in  Form  eines 
grossen  Divertikels  ausgezogen  ist,  angelagert.  Die  Tasche  liegt  an- 
scheinend intraperitoneal  und  zwar  ist  sie  gebildet  medial  durch  das  Peri- 
toneum der  Blase,  nach  vorn  durch  das  Peritoneum  parietale  des  Beckens, 
nach  rückwärts  und  nach  lateralwärts  durch  eine  Peritonealduplicatur.  Der 
Grund  der  Tasche  liegt  tief  im  kleinen  Becken,  ca.  15  cm  von  der 
Oberfläche  entfernt.  Leistenbruchpforte  frei.  Leider  ist  über  die  genaue  Lage 
dieser  zu  der  abnormen  Tasche  keine  Notiz  gemacht.  Doch  ist  ganz  sicher, 
dass  der  Eingang  in  die  letztere  medial  von  der  Epigastrica  lag.  Der  untere 
Rand  des  einschnürenden  Ringes  (obere  Rand  der  Peritonealduplicatur)  war 
scharf  halbmondförmig  und  narbig  weiss. 

Die  eingeklemmte  Schlinge  konnte  versenkt  werden.  Die  Peritonealwunde 
wurde  ganz  geschlossen,  die  Umrandung  des  Bruchsackes  in  den  unteren 
Wandwinkel  eingenäht  und  der  Sack  drainirt,  die  Bauchwunde  bis  auf  den 
unteren  Winkel,  durch  welchen  das  Drain  herausging,  mit  Etagennähten  ge- 
schlossen. Glatter  afebriler  Verlauf.  Da  bei  sonst  gutem  Befinden  keine  Winde 
abgingen,  am  Tage  post  op.  Mittags  Ol.  Ricini;  darauf  Nachts  zahlreiche 
Stühle.   Vernarbt  entl.  14.  10.  1896. 

Diese  Krankengeschichte  ist  schon  in  der  Dissertation  von 
Otto  Kaufmann^)  „Ueber  abnorme  Bauchfelltaschen  und  einen 
Fall  von  Hemia  interna  paravesicalis  incarcerata"  mitgetheilt. 
Ueber  die  anatomischen  Verhältnisse  dieser  abnormen  Taschen  ist 
dort  eine  recht  gute,  wenn  auch  kurze  Uebersicht  gegeben.  Ich 
möchte  hier  noch  darauf  aufmerksam  machen,  dass  die  gründliche 
Untersuchung  per  vaginam  und  per  rectum  uns  häufig  sehr  wesent- 
liche Aufschlüsse  gegeben  hat.  Bald  fühlt  man  durch  die  vordere 
Wand  des  Mastdarms  leere,  hart  contrahirte  Dünndarmschlingen, 
als  ein  Zeichen,  dass  der  Verschluss  im  Dünndarm  liegt,  bald  ein 
Convolut  stark  druckempfindlicher  Darmschlingen,  welche  ganz  fest 
liegen  und  oflfenbar  die  eingeklemmten  selbst  sind,  wie  in  diesem  Falle, 
oder  deneingeklemmten  unmittelbar  benachbart.  Wir  haben  bei  solchem 
positiven  Befunde  das  sofortige  Eingreifen  nie  zu  bereuen  gehabt. 

III.   8  FfUle  Ton  Darmstenosen 

durch  verschiedenartige  peritoneale  Bänder  und  Stränge. 

4  geheilt,  i  gestorben. 

Der  erste  der  nachfolgenden  Fälle  ist  im  ersten  Theile  meiner 
Arbeit  fälschlich  unter  die  „Darmlälimungen"  gerechnet.  Es  ist 
bei  genauerer  Betrachtung  des  Sectionsbefundes  wohl  kein  Zweifel, 


>)  Greiiswald  1897. 


22  Dr.  L.  Heidenhain, 

dass  eine  winklige  Abknickung  des  Darms  durch  Adhäsion  die 
Ursache  der  Erkrankung  gewesen  ist. 

In  den  ersten  drei  Fällen  begann  die  Erkrankung  acut  mit 
heftigen  und  andauernden  Schmerzen,  ganz  wie  bei  einer  Incarce- 
ration.  Ich  glaube,  dass,  wenn  unter  innerer  Therapie  eine  ver- 
meintliche innere  Einklemmung  zur  Heilung  kommt,  und  dass  dies 
möglich  sei,  wird  ja  vielfach  behauptet,  es  sich  allemal  um  eine 
Darmstenose  mit  acutem  Einsetzen  der  Verschlusssymptome  ge- 
handelt hat.  Im  vierten  Falle  (No.  13)  waren  die  Symptome 
ähnlich,  jedoch  die  Stenose  im  Gegensatze  zur  Einklemmung  schon 
mit  aller  Sicherheit  zu  erkennen.  Bei  No.  14  fehlt  eine  genauere, 
zur  Diagnose  gut  verwerthbare  Anamnese,  in  den  Fällen  15 — 17 
war  die  Darmstenose  unverkennbar.  Der  Kranke  Erdmann  (No.  11) 
hatte  5  Jahre  vor  der  tödtlichen  Erkrankung  schon  einmal  eine 
ähnliche,  ebenfalls  acut  beginnende,  aber  in  Genesung  ausgehende, 
durchgemacht.  In  der  Zwischenzeit  zwischen  den  beiden  Erkran- 
kungen war  er  völlig  gesund.  Wer  den  inneren  Einklemmungen 
nachspürt,  die  er  durch  innere  Therapie  geheilt  hat,  wird  in  vielen 
FäUen  finden,  dass  die  Kranken  an  einem  Recidiv  zu  Grunde  ge- 
gangen sind.     Davon  bin  ich  fest  überzeugt. 

Sehr  bemerkenswerth  ist,  dass  in  nur  zwei  unserer  8  Fälle 
von  Darmstenose  durch  chronische  Peritonitis  (No.  H,  Hernie  und 
No.  17,  Peritonitis  tuberculosa)  sich  die  Ursache  der  chronischen 
Bauchfellentzündung  ermitteln  Hess.  Die  Kranken  hatten  weder 
Perityphlitis,  noch  Verletzungen  des  Bauches,  Typhus,  Ruhr  oder 
eine  ähnliche  Erkrankung  durchgemacht.  Es  ist  also  bei  Stellung 
der  Diagnose  auf  einen  negativen  Ausfall  dieses  Theiles  der 
Anamnese  kein  Werth  zu  legen.  Beachtenswerth  ist  schliesslich  die 
Häufigkeit  dieser  Form  von  Darmstenosen:  wir  haben  sie  8  Mal 
unter  dreissig  operirten  Fällen  gesehen. 

W.  Wilhelmine  Gärtner,  74  J.,  aufgenommen  28.  5.,  gestorben  30.  5.  91. 

Acuter  Darmverschloss  zweifelhafter  Genese. 

Fat.  warde  in  hiesiger  Augenklinik  an  Kerato-Iritis  sin.  behandelt.  Gestern 
Morgen  plötzlich  heftige  Schmerzen  im  Leibe  und  Erbrechen ;  heute  Morgen  Er- 
brechen von  Koth. 

Aufnahmebefand  28.  5.  Mittags:  Senile  schwächliche  Frau  von  kollabirtem 
Aussehen.  Abdomen  massig  aufgetrieben ;  ein  intensives  Schmerzgefühl  wird 
angegeben  bei  Palpation  eines  Punktes  zwischen  Nabel  und  Spina  ant.  sup. 
sin.,  ohne  dass  daselbst  etwas  Abnormes  zu  fühlen  wäre.     In  der  rechten 


fieiträge  zur  Pathologie  and  Therapie  des  acuten  Darmverschiasses.     23 

Sohenkelbeuge  ist  ein  länglicher,  derber,  schmerzloser  Wulst  za  fühlen,  der 
schräg  über  die  Gewisse  verläuft  und  unterhalb  des  Lig.  Poupartii  ziemlich 
verschieblich  ist.  Er  scheint  sich  in  die  Bauchhöhle  fortzusetzen  and  ist  in 
der  That  per  rectum  deutlich  zu  fühlen. 

Sofortige  Magenausspülung  fördert  gelblich-grünliche  Massen ;  hoher  Darm- 
einlanf  fordert  nichts.  Patient  fühlt  sich  hiernach  bedeutend  besser;  die 
Schmerzhaftigkeit  des  Abdomens  ist  geschwanden.  Abends  wiederum  Schmerzen 
im  Abdomen  und  Aufstossen  gefolgt  von  kothigem  Erbrechen.  Narkose,  Lapa- 
rot4)mie  in  der  Mittellinie  (Helferich).  Nach  Eröffnung  des  Peritoneums  wölbt 
sich  stark  aufgetriebener  Dünndarm  hervor,  der  hervorgezogen  und  abgesucht 
wird;  die  Dünndarmschlingen  zeigen  an  verschiedenen  Stellen  Auflagerungen 
und  Verklebungen.  Allmälig  werden  sie  immer  dünner  und  gehen  in  blasse, 
kollabirte  Schlingen  über,  ohne  dass  ein  Hindemiss  erschienen  wäre.  Bei  der 
Palpation  der  rechten  Leisten öffnang  ergiebt  sich,  dass  ein  Zipfel  Netz  nach 
aussen  durchgeht:  Herniotomie,  Lösung  dieses  adhärirenden  Netzstranges;  der- 
selbe wird  abgebunden.  Mit  ihm  zugleich  wird  in  der  Herniotomiewunde  ein 
woisslicher,  platter,  solider,  federkieldicker  Strang  isolirt,  der  auch  in  die 
Bauchhöhle  verläuft.  Durchtrennung  desselben  nach  doppelter  Unterbindung. 
Schluss  der  Wanden.  29.  5.  Morgens  leidliches  Wohlbefinden;  kein  Erbrechen 
über  Nacht,  jedoch  Schmerzen  im  Bauch.  Keine  Flatus,  trotz  hoch  in  den  Mast- 
darm vorgeschobenen  Darmrohres.  Leib  etwas  aufgetrieben.  Verband  muss 
Mittags  etwas  gelockert  werden.  Abends  6  Uhr  Schmerzen  im  Leib,  Erbrechen 
missfarbiger,  nicht  fäculent  riechender  Massen.  Dabei  keine  Flatus.  In  der 
Vorstellung,  dass  ein  Hindemiss  übersehen  sein  könne,  wird  der  Leib  noch- 
mals eröffnet.  Der  Darm  zeigt  an  seiner  Oberfläche  deutliche  Zeichen  von 
Peritonitis,  ist  bis  zum  Colon  asc.  mit  Koth  gefüllt  und  aufgebläht,  von  da  ab  bis 
zum  Mastdarm  leer,  ohne  irgend  ein  Zeichen  von  Unwegsamkeit.  Schluss  der  Bauch- 
wunde. Unter  Zunahme  der  peritonitischen  Erscheinungen  Nachts  Yg^  ^^^  "^^^^ 

Section  (Dr.  Kruse):  Magere  weibliche  Leiche  mit  dürftiger  Muskulatur 
und  massiger  Totenstarre.  Das  Abdomen  ist  aufgetrieben.  Vom  Schwertfort- 
satz  abwärts  ist  eine  durch  Nähte  geschlossene  Laparotomiewunde  sichtbar. 
Die  Wundränder  zeigen  nach  Lösung  der  Nähte  eine  verwaschen  röthiiche 
Färbung.  Das  parietale  Peritoneum  ist  an  der  vorderen  Bauchwand  vonHäroorr- 
bagien  durchsetzt.  Nach  Eröffnung  der  Bauchhöhle  sieht  man  stark  ausgedehnte 
Dunndarmschlingen,  welche  unter  einander  durch  zarte  Fibrinmassen  verklebt 
sind.  Netz  stark  geröthet,  gleichfalls  am  Dünndarm  festgelöthet,  am  rechten 
Rande  mit  zwei  Ligaturen  versorgt.  Die  Verklebungen  des  Dünndarms  lassen 
sich  leicht  lösen.  Die  Fai'be  der  Darmschlingen  ist  grauroth  bis  röthlich,  ihre 
Oberfläche  an  vielen  Stellen  mit  einem  zarten  Fibrinbelage  versehen.  Beim 
Loslosen  des  Darmes  vom  Mesenterium  zeigt  sich,  dass  der  Dünndarm  in  seiner 
ganzen  Ausdehnung  bis  auf  die  letzten  zwei  Centimeier  des  Ileum  durch  Gas 
and  flüssigen  Inhalt  stark  erweitert  ist.  Auf  dem  Boden  des  kleinen  Beckens 
finden  sich  einige  ccm.  trüber,  röthlicher  Flüssigkeit.  Das  Cöcum,  Colon  asc. 
und  der  grösste  Theil  des  Colon  transversum  sind  stark  erweitert.  S  romanum 
und  Kectum  retrahirt  und  leer.  Stand  des  Zwerchfells  rechts  vierte,  links  fünfte 


24  Dr.  L.  Heidenhain, 

Rippe.  Im  Colon  asc.  einige  kleine  Kothballen.  2Y2  Meter  oberhalb  der 
Bauhini 'sehen  Klappe,  etwa  2  cm  vom  Mesenterialansatze  entfernt  findet  sich 
auf  der  Aussenfläohe  des  Darmes  ein  mit  Catgntligatar  versorgter  Stumpf  um- 
geben von  stark  gefüllten  kleinsten  Blutgefässen.  Die  weitere  Umgebung  dieser 
Stelle  zeigt  eine  verwaschen  grauröthliche  Farbe.  Die  Basis  des  Stumpfes  selbst 
sieht  opak  grau  aus.  Die  Serosa  ist  matt  mit  einem  zarten  Fibrinbelag,  die 
Schleimhaut  an  der  entsprechenden  Stelle  lebhaft  geröthet.  In  der  rechten 
Inguinalgegend  eine  durch  Nähte  verschlossene  Operationswunde  von  gutem 
Aussehen.  Ihr  entspricht  innen  eine  gleichfalls  gut  aussehende  Nahtstelle  im 
Peritoneum,  aus  deren  Grunde  ein  Stück  fetthaltiges  Gewebe  herausragt. 

Das  Rectum  ist  leer.  Ungefähr  10  cm.  oberhalb  des  Anus  befindet  sich 
eine  16  Mm.  lange,  ungefähr  7  Mm.  breite  Oeffnung,  durch  welche  man  in  eine 
kleine  Höhle  gelangt,  in  der  ein  halbes  Fingerglied  reichlich  Platz  hat.  Beim 
Aufguss  von  Wasser  flottiren  die  Ränder.  Am  oberen  und  unteren  Ende  sieht 
man  in  der  Tiefe  zarte,  weisse,  querverlaufende  Streifen.  Der  Grund  der  Höhle 
ist  von  grauröthlichem  Blut  und  gelblichem  Fettgewebe  gebildet,  in-  welchem 
man  Blutgefässe  verlaufen  sieht.  Die  Schleimhaut  der  Umgebung  zeigt  einen 
schwachen  Grad  von  Röthung.  Die  übrige  Schleimhaut  ist  grau.  Auf  der 
Aussenfläche  des  Rectums  entspricht  der  Höhle  eine  Stelle  der  Vorderwand, 
im  Douglas,  5  cm.  über  dessen  tiefstem  Punkte  gelegen.  Man  sieht  hier  in 
einem  Kreise  von  etwa  einem  Centimeter  Durchmesser  zarte,  mit  Blut  gefüllte 
Gefasschen,  sonst  keine  Veränderung  der  Serosa. 

AnatomischeDiagnose.  Laparotomia,  Peritonitis  fibrinosa,  Nekrosis 
circumscripta  in  testin  i,  Resectio  omenti  maj.,  Oedema  pulmonum,  Broncho- 
pneumonia  pulmon.  d.  inf. ,  Haemorrhagiae  subpleurales  et  subpericardiales, 
Endocarditis  chron.  deformans,  Hypertrophia  ventriculi  sin.  oordis,  Cicatrices  et 
ulceraventriculi,  Endocarditis  coronaria,  Cicatrices  renüm,  Atrophiafusca  hepatis. 

II.  Wilhelm  Erdmann,  39  J.  Alt-Plestlin,  aufgen.  8.  10.  gest.  9.  10.  91. 

Dai-m verschluss  durch  alte  peri tonitische  Stränge.  Laparotomie.  Tod  an 
Lungenoedem. 

Ist  bis  vor  5  Jahren  nie  krank  gewesen.  Damals  erkrankte  er 
an  Magenschmerzen  (der  Pommer  bezeichnet  mit  „Magen"  das  ge- 
sammte  Abdomen!)  und  Erbrechen;  der  Stuhlgang  blieb  acht  Tage  aus  und 
erfolgte  erst  auf  Verabreichung  einer  Medicin.  Danach  besserte  sich  sein  Be- 
finden sehr  schnell.  Die  folgenden  5  Jahre  war  Fat.  gesund.  Am  23.  9.,  also 
vor  15  Tagen,  erkrankte  er  plötzlich  unter  heftigen  Leibschmerzen  mit  Er- 
brechen, der  Leib  schwoll  in  den  nächsten  Tagen  an,  Stuhlgang  erfolgte  trotz 
Einnahme  von  Abführmitteln  nicht  bis  zum  4.  10.,  an  welchem  Tage  er  in  die 
medicinische  Klinik  aufgenommen  wurde.  4.  10.  Einlauf,  kein  Stuhlgang; 
5.  10.  Einlauf,  wenig  Stuhl;  7.  10.  wenig  Stuhl  unter  starken  Schmerzen  im 
Leibe.  Oleum  ricini  mit  Ol.  crotonis  ohne  Erfolg.  Wegen  Steigerung  der 
Schmerzen  auf  die  chirurgische  Klinik  verlegt.  (Die  letzte  Medication  war  in 
Abwesenheit  des  Directors  der  med.  Klinik  durch  einen  jungen  Assistenten  auf 
eigene  Faust  eingeschlagen). 

8.  10.  Abends  7  Uhr  liegt  Pat.  wegen  Koliken  andauernd  stöhnend  im 


Beiträge  zur  Pathologie  and  Therapie  des  acuten  Darmverscblusses.     25 

Bette.  Temp.  36,  Puls  ca.  80,  massig  kräftig.  Auf  dem  Betttischchen  stehen 
ca.  500  ccm  dünner  iaculenter  Flüssigkeit,  die  eben  erbrochen  wurde.  Bauch 
stark  aufgetrieben;  die  Umrisse  einzelner  Darmschlingen  zeichnen  sich  durch 
die  Bauchdecken  deutlich  ab,  hier  und  da  sind  peristal tische  Bewegungen  an 
ihnen  zu  erkennen.  Oberhalb  des  Nabels  läuft  quer  durch  den  Bauch  eine  stark 
gespannte,  sich  hervorwölbende  Darmschlinge,  welche  das  Quercolon  zu  sein 
scheint.  Perkutorisch  in  der  oberen  und  der  linken  Hälfte  des  Bauches  hoch 
tympani  tisch  er  Schall,  während  in  dem  rechten  unteren  Viertel  sich  stark  ge- 
dämpft tympanitischer  Ton  findet.  Per  Rectum  fühlt  man  im  Douglas  ein  Packet 
ziemlich  prall  gespannter,  auf  Druck  sehr  emp6ndlichor  Darmschlingen  von 
anscheinend  stark  Faustgrösse.  Diffuse  Schmerzhaftigkeit  des  Bauches  besteht 
nicht.  Pat.  kann  sich  nicht  entsinnen,  dass  ihm  in  den  letzten  Tagen  Winde 
abgegangen  seien. 

Der  Verlauf  im  Verein  mit  der  Anamnese  sprach  ziemlich  deutlich  für 
eine  D ärmsten  ose.  In  Anbetracht  der  schon  15tägigen  Dauer  des  Ileus,  des 
Untersuch ongsbefundes  per  Rectum,  des  noch  guten  Pulses,  der  fehlenden  Peri- 
tonitis wird  sofortige  Laparotomie  beschlossen. 

8  Uhr  nach  Bad  und  Magenausspülung,  die  nur  wenig  entleerte,  in 
Morphinm-Chloroformnarkose  bei  Beckenhochlagerung  Bauchschnitt  (Heiden- 
hain)  in  der  Mittellinie  von  der  Symphyse  bis  etwas  über  den  Nabel.  Nach 
Eröffnung  des  Leibes  drängten  sich  sofort  einige  bis  zu  einem  Durohmesser  von 
drei  Fingerbreiten  aufgetriebene  Darmschlingen  hervor.  Die  Untersuchung  mit 
der  eingeführten  Hand  zeigte,  dass  die  rechte  Seite  des  ganzen  grossen  und 
der  Eingang  des  kleinen  Beckens  mit  geblähten  Dünndarmschlingen  erfüllt  war. 
Dieselben  wurden  rasch  eventrirt.  In  der  Tiefe  des  kleinen  Beckens  lagen  leere 
Dänndarmschlingen.  Die  erste  sich  präsentirende  dieser  wurde  hervorgezogen 
and  mit  ihr  kam  der  Uebergang  des  gefüllten  in  den  leeren  Darm  zum  Vorschein. 
Es  erschien  zweifellos,  dass  die  erste,  oberhalb  der  Stenose  liegende  Darm- 
schlinge sich  um  das  Mesenterium  gedreht  und  so  einen  Volvulus  gebildet 
hatte.  Dieser  löste  sich,  sowie  die  betreffende  Schlinge  aus  dem  Bauche  hervor- 
gezogen wurde.  Die  stenosirte  Schlinge  wurde  fixirt,  die  übrigen  eventrirten 
Schlingen  rasch  reponirt.  Die  weitere  Untersuchung  ergab  einen  sehr  compli- 
cirten  Befund,  den  zu  entwirren  rechte  Schwierigkeit  machte.  Es  fand  sich 
der  Uebergang  von  der  gefüllten  in  die  leere  Darmschlinge  von  zahlreichen 
peritonitischen  Bändern  und  Strängen  umgeben.  Ein  ziemlich  starkes  Band, 
welches  nach  der  Gegend  des  rechten  inneren  Leistenringes  zog,  fixirte  die 
Schlinge  so  stark  an  der  Bauchwand,  dass  sie  nur  wenig  aus  der  Bauchwunde 
hervorgezogen  werden  konnte.  Es  schien,  dass  diese  Fixation  den  Drehpunkt 
für  den  Volvulus  abgegeben  hatte.  Nach  Trennung  des  Stranges  zwischen  zwei 
Ligaturen  Hess  sich  die  Schlinge  weiter  hervorziehen,  und  es  zeigte  sich  nun 
das  Darmrohr  comprimirt  durch  einen  starken  Strang,  welcher  vom  Mesenterium 
in  der  Gegend  des  Ansatzes  an  den  Darm  ausgehend  rund  um  das  Darmrohr 
herum  wieder  zum  Mesenterium  zog  und  das  Darmlumen  auf  höchstens  Bleistift- 
slarke  verengert  hatte.  Zudem  war  der  comprimirte  Theil  des  Darmrohrs  und 
ein  Theil  der  abfuhrenden  Schlinge  durch  den  Zug  alter  peritonitischer  Ad- 


26  Dr.  L.  Heidenbain, 

häsionon  so  um  seine  Längsachse  rotirt,  dass  der  dem  Mesenterialansatze  gegen- 
über! ief^onde  Theil  des  Darmrohres  an  die  Seitenfläche  des  Mesenteriums  fixirt 
war.  Die  Blutung  nach  Trennung  der  Stränge  und  Adhäsionen  war  minimal. 
An  3  Stellen  wurde  sie  durch  Uebemahung  gestillt.  Der  Darm  zeigte  eine  tiefe 
Schnürfurche,  doch  trat  sofort  Darminhalt  in  den  leeren  Schlingentheil  über. 
Kurze  Revision  der  Umgebung  zeigte  keine  weiteren  Stränge  und  lehrte,  dass 
die  Stenose  etwa  30  cm.  über  der  Bauhinschen  Klappe  gelegen  hatte.  Schluss 
der  Bauohwunde  mit  Nähten  durch  die  ganze  Dicke  der  Bauchwand,  da  der 
starken  Spannung  wegen  eine  gesonderte  Vernähung  mit  Gatgutetagen  nicht 
möglich  war. 

Operationsdauer  bis  zum  Beginn  der  Bauchnaht  Y^  Stunde,  von  da  an 
kein  Chloroform  mehr.  Während  der  Naht  erbrach  Pat.  sehr  reichliche  Mengen 
fäüulontor  Flüssigkeit,  die  bei  der  Beckenhochlage  unschädlich  abflössen.  Pat.. 
kam  wonig  abgekühlt  mit  kräftigem  Pulse  ins  Bett,  erwachte  schnell.  Morgens 
gegen  4  Uhr  ging  flüssiger  Stuhl  ab.  Etwas  später  stellten  sich  Erscheinungen 
von  Lungenödem  ein.  Morgens  8  Uhr  bestand  schon  hochgradige  Athemnoth 
und  trotz  energischer  Anwendung  von  Analepticis  ging  Pat.  um  12  Uhr  Mittags 
zu  Grunde. 

Seotion:  Vorliegende  Dünndarmschlingen  mit  einem  dünnen  Fibrin- 
schloior  bedeckt  und  etwas  mit  einander  verklebt.  Stelle  der  Stenose  äusser- 
lioh  nur  noch  an  einer  Ligatur  zu  erkennen.  Dünndarm  oberhalb  stark  dilatirt, 
seine  Muscularis  hypertrophisch.  Auf  derSchleimhaut  an  der  Stelle  der  Stenose 
eine  kleine  Vcrschorfung.  Massiger,  etwas  getrübter  Erguss  in  der  rechten 
Pleurahöhle.  Schwei'es  Lungenödem  mit  etwas  Hypostase.  Myocard  grauroth 
mit  trüben  Stellen. 

Die  Art  der  hior  vorliegenden  Stenose,  Umschnürung  des  Darms 
d\iroh  oiii  nu\siMileriale.s  Band  nebst  Rotation  des  Darms  um  seine 
l^'ingsai'hse  war  sehr  merkwürdig.  Wir  haben  eine  fast  identische 
Dannstonose  gleichfalls  mit  Volvuius  noch  einmal,  im  Falle  P. 
(^No.  13^  gesehen.  Es  war  dies  meine  erste  oder  zweite  lleusope- 
ratitM\.  Da^ss  der  Kranke  trotz  schneller  Beendigung  derselben  an 
Krlahmun:r  des  Herzens  zu  Gnmde  Ärinsr,  hat  mir  einen  tiefen  Ein- 
druck  gtMuachi,  Ich  halte  damals  schon  den  Eindruck,  dass  der 
Kranke  nii'hl  an  der  Operation,  sondern  an  der  ungenügenden  Ent- 
leerung des  Djurmes  zu  Grunde  gegangiMi  sei.  Die  Spannung  bei 
Schluss  des  Bauchschnittes  war  recht  stark.  Der  andauernd  hohe 
intiaahdoniinalc  Druck  hat  wohl  das  Her/  erlahmen  lassen.  Von 
meinem  jct/igvn  Standpniikte  muss  ich  s;igcn,  da^*^  die  Operation 
zunächst  nicht  haue  in  Beckenhoi^hla^rcruni:  ^nnacht  werden  dürfen. 
Die  gx^^lahten  und  gerülUeu  Darmschlinireiu  welche  auf  dem  Zwerch- 
fell labilen,  ersch\\eriM>  die  ller/arhcii  uni!ehuhrlioh.  Ich  habe  darum 
auch  die  TrendelenburgVohe  U^e  sei:!cm  Km  IleusojHTationen 


Beiträge  zur  Pathologie  und  Therapie  des  acuten  Darm  verschlusses.     27 

nicht  wieder  verwendet,  so  sehr  sie  auch  die  Arbeit  erleichtert; 
Herr  Prof.  Helferich  hat  sie  dabei  überhaupt  nie  angewandt. 
Zum  zweiten  musste  bei  einem  so  lange  bestehenden  Darraverschlusse 
schon  axif  dem  Operationstische  der  Darm  entleert  werden.  Das 
zweckmässigste  wäre  gewesen,  entweder  nach  Lösung  der  Stränge 
den  Darm  einzuschneiden,  zu  entleeren,  wieder  zu  nähen  und  zu 
versenken,  oder  nach  Lösung  eine  Enterostomie  oberhalb  der  Stenose 
anzulegen.  Die  Enterostomie  zu  machen  und  die  Lösung  der  Stenose 
auf  eine  zweite  Operation  zu  verschieben,  ist  darum  nicht  recht 
zweckmässig,  weil  die  geblähten,  injicirten,  entzündeten  Darmschlingen 
oberhalb  der  Stenose  schon  innerhalb  14  Tagen  unter  einander  und 
mit  der  Bauchwand  so  fest  verwachsen  können,  dass  eine  Lösung 
des  Knäuels  fast  unmöglich  ist.  Umgehung  der  Stenose  durch 
Enteroanastomose  hätte  in  diesem  Falle  länger  gedauert,  als  eine 
Lösung  der  Adhäsionen,  welche  sich  schnell  bewerkstelligen  liess. 
Sie  hätte  bei  der  Erlahmung  der  Triebkraft  des  Darmes  denselben 
auch  nicht  schnell  genug  entleert.  Der  Kranke  wäre  trotzderlStägigen 
Dauer  der  Erkrankung  zu  retten  gewesen.  Er  war  in  keinem  schlech- 
teren Zustand,  als  mancher  andere,  den  wir  seitdem  durchbrachten. 

U.  Schröder,  19  J.,  aufgenommen  am  26.  3.,  gestorben  am  27.  3.  94. 
Dünndarmverschlass  durch  peritonitische  Bänder.    Laparotomie.    Tod. 

Pat.  wird  am  26.  3.  Ton  der  inneren  Klinik  auf  die  chirurgische  verlegt. 
Die  von  dem  Assistenzarzt  der  inneren  Klinik  gegebene  Anamnese  lautet  dahin, 
dass  Pat.  am  17.  3.  im  Anschluss  an  eine  Hochzeitsfeier  acut  mit 
Schmerzen  in  der  rechten  (Jnterbauchgegend  erkrankt  ist.  Stuhlgang  ist 
seitdem  nicht  eingetreten.  Am  18.  oder  19.  trat  Erbrechen  auf.  Der  zu  Rathe 
gezogene  College  gab  ein  Laxans,  welches  das  Erbrechen  nur  verstärkte,  aber 
keinen  Stuhl  brachte.  Darauf  gab  er  am  21.  3.  Opium  und  sandte  den  Kranken 
der  medicinischen  Klinik  zu.  Pat.  hat  in  den  letzten  5  Tagen  täglich  drei  hohe 
Einlaufe  in  Knieellenbogenlage  erhalten,  ohne  dass  Stuhl  zu  erzielen  war  mit 
Ausnahme  einer  ganz  unbedeutenden  Menge  heute  früh.  Seit  Pat.  auf  der 
Klinik  beobachtet  wird,  hat  er  alle  5 — 10  Minuten  einen  Schmerzanfall  gehabt, 
welcher  von  der  rechten  Unterbauchgegend  ausging.  Erbrechen  war  häufig. 
Der  Puls,  bis  dahin  gut,  liess  gestern  Abend  etwas  nach,  hob  sich  aber  auf 
Kampfer  wieder.  Temperatur  anfangs  normal,  gestern  früh  37,6^,  Abends  38,1  ^, 
beute  früh  37,7  ". 

Aufnahmebefund  26.  3.  Morgens  10  Uhr.  Nicht  sehr  kräftig  gebauter, 
etwas  magerer  19jähriger  Bursche,  welcher  entschieden  nicht  den  Eindruck 
eines  Schwerkranken  macht.  Gesichtsfarbe  frisch  roth,  Augen  nicht  einge- 
fallen, Puls  ruhig  und  ziemlich  kräftig.  Abdomen  flach ;  in  beiden  Lumbar- 
gegenden Dämpfung:  wahrscheinlich  ist  das  eben  gegebene  hohe  Clysma  noch 


28  Dr.  L.  Heidenhain, 

nicht  ganz  abgeflossen.  Sonst  über  dem  Abdomen  normaler  tympanitischer 
Schall  bis  auf  einen  der  Lage  des  Wurmfortsatzes  genau  entsprechenden  Punkt 
auf  der  Verbindungslinie  zwischen  Spina  ant.  sup.  und  Nabel,  etwa  50  mm 
einwärts  von  der  Spina,  an  \felchem  Punkte  sich  ausgeprägter  Hetallklang 
findet.  Nach  Angabe  des  Kranken  gehen  von  diesem  Punkte  die  regelmässigen 
Schmerzanfälle  aus.  Bei  der  Palpation  zeigt  sich  keine  nennenswerthe  Empfind- 
lichkeit dieser  Gegend.  Durch  die  Percussion  und  Palpation  wurde  indessen 
ein  Schmerzanfall  ausgelöst,  während  dessen  die  betreffende  Gegend  sich 
etwas  stärker  hervorzuwölben  scheint.  Darauf  ergiebt  die  Percussion  hier  und 
in  der  nächsten  Umgebung  nicht  mehr  Metallklang,  sondern  fast  völlige 
Dämpfung  mit  einer  Spur  von  tympanitischem  Beiklange.  Es  wird  die  Dämpfung 
darauf  bezogen,  dass  im  Schmerzanfalle  eine  gefüllte  Darmschlinge  sich  der 
Bauchwand  anlege  und  jene  metallklingende  Gegend  überlagere.  Im  Uebrigen 
ergab  die  Palpation  der  ganzen  rechten  Unterbauchgegend  keine  Besonderheiten. 
Laparotomie  nach  den  üblichen  Vorbereitungen  sofort  angeschlossen. 
Bauchschnitt  am  äusseren  Rande  des  rechten  Rectus  abdom.  (FJeidenhain).- 
Einige  massig  gefüllte  Dünndarmschlingen  zeigen  sich.  Die  eingeführte  Hand 
fühlt  weder  in  der  Gegend  des  Wurmfortsatzes,  noch  in  der  des  aufsteigenden 
Dickdarmes,  noch  medial  nach  dem  Nabel  zu  etwas  Abnormes.  Darauf  wurde 
nach  Greig  Smith  die  vorliegende  Dünndarmschlinge  austreten  gelassen. 
Ihr  nach  aufwärts  gelagerter  Schenkel  entwickelt  sich  schnell,  der  untere  ver- 
bleibt im  Abdomen.  Indem  man  diesem  fixirten  Schlingenschenkel  nachgeht, 
gelangt  man  ca.  10  cm  abwärts  auf  einen  peritonealen  Strang,  der  von  dem 
Mesenterium  einer  benachbarten  Schlinge  kommend  sich  umgefähr  an  der  Con- 
vexität  der  Schlinge  ansetzt,  sie  fixirt  und  massig  comprimirt.  Er  wird 
zwischen  2  Ligaturen  getrennt.  Bei  Verfolgung  des  Darmes  nach  der  einen 
Richtung  wird  die  Füllung  und  Injection  der  Schlingen  geringer,  doch  findet 
sich  ca.  50  om  von  dem  ersten  Strange  entfernt  ein  zweiter,  welcher  vom 
Mesenterium  des  Darmes  ausgeht,  um  den  Darm  herum  läuft,  sich  wieder  an 
das  Mesenterium  ansetzt  und  den  Darm  ein  wenig  comprimirt,  doch  nicht  so 
stark,  dass  hierdurch  eine  Behinderung  des  Laufes  des  Darminhaltes  hätte 
stattfinden  können.  Das  Band  ist  ziemlich  fein,  wird  ebenfalls  getrennt^). 
Demnächst  wird,  da  der  Darm  nach  dieser  Richtung  hin  entschieden  an 
Füllung  abnimmt,  wieder  nach  der  entgegengesetzten  Richtung  am  Darm  ent- 
lang gegangen.  Es  kommen  immer  stärker  gefüllte  Schlingen  zum  Vorschein, 
schliesslich  solche,  die  beinahe  die  Stärke  eines  leidlich  gefüllten  Dickdarmes 
haben.  Zugleich  erweist  es  sich,  will  man  einige  Uebersicht  behalten,  als  un- 
möglich, die  stark  gefüllten  Schlingen  zu  reponiren.  Es  lag  ungefähr  1  m  Darm 
vor,  als  die  letzte  Schlinge,  nach  der  Mittellinie  etwas  unterhalb  des  Nabels  ver- 
laufend und  sehr  stark  gefüllt,  sich  nur  mit  einiger  Mühe  herausholen  liess.  Es 
zeigte  sich,  dass  diese  unmittelbar  in  ein  vollkommen  leeres  Darm  stück  überging, 
dessen  Caliber  so  gering  war,  dass  man  versucht  sein  konnte,  es  als  Wurmfortsatz 

0  Ganz  wie  im  vorigen  Falle.  Diese  Form  der  Darmstenose  muss  häufig 
sein;  ich  habe  sie  auch  schon  als  Küster'scher  Assistent  in  Berlin  einmal 
gesehen. 


Beitrage  zur  Pathologie  und  Therapie  des  acuten  Darmverschlusses.     29 

anzusprechen.  Die  genauere  Betrachtung  zeigte  jedoch,  dass  die  leere  und  die  volle 
Schlinge  demselben  Mesenterium  angeheftet  waren,  d.  i.  unmittelbar  in  einander 
übergingen.  An  der  Uebergangsstelle  fand  sich  eine  Art  Schnürfurche;  ein 
Darmlumen  war  dort  nicht  mehr  vorhanden.  Die  Schnürfurche  sah 
schwärzlich  verfärbt  aus,  wie  geschwürig;  minimale  frische  Adhäsionen  hefteten 
die  beiden  ungleichen  Theile  der  Schlinge  an  einander.  Beim  weiteren  Hervor- 
ziehen der  Schlinge  riss  die  Schnürfurche  ein  und  trotz  sofortiger  Compression 
der  beiden  Darmtheile  lief  aus  der  gefüllten  Schlinge  etwas  dünner  Darminhalt 
aas  und  zwar  dem  Mesenterium  entlang  in  die  Bauchhöhle  hinein.  Säuberung  des 
Mesenteriums  und  der  Schlinge.  Verschluss  der  beiden  Lumina  durch  2  am 
Mesenterialansatze  hindurchgeführte  Fäden.  Der  Darm  war  an  der  Schnürstelle 
quer  völlig  durchrissen.  Nach  Lage  der  Verhältnisse  konnte  zunächst  nur  von 
der  Anlegung  eines  künstlichen  Afters  zur  Entleerung  des  Darmes  die  Rede 
sein.  Resection  hätte  zu  lange  gedauert,  wäre  bei  der  sehr  ungleichen  Weite 
der  Darmlumina  sehr  schwierig  und  wegen  der  starken  Füllung  des  zuführenden 
Darmes  sehr  gefahrlich  gew^esen.  Unter  Fixirung  der  Trennungsstelle  ausser- 
halb wurde  die  Reposition  der  vorliegenden  geblähten,  einstweilen  von  warmen 
Handtüchern  umhüllten  Därme  versucht,  sie  erwies  sich  jedoch  auch  mit  dem 
Kümmeirschen  Handgriff  unmöglich.  So  wurden  denn  die  Schlingen  wieder 
eingehüllt,  die  Bauchhöhle  durch  eingestopften  sterilen  Mull  und  übergelegte 
aseptische  Tücher  fest  abgeschlossen  und  durch  Eröffnung  des  geblähten 
Darmes  dicht  an  der  Durch reissungsstelle  der  Darminhalt  entleert.  Ein  Liter 
flüssiger  Inhalt  mochte  abgeflossen  sein,  dann  gelang  die  Reposition.  Fixation 
der  beiden  Darmenden  ausserhalb  der  Bauchhöhle  durch  ein  mit  Jodoformmull 
umwickeltes  Drain,  welches  durch  das  Mesenterium  gezogen  wui'de;  Um- 
stopfang  der  Darmrohre  mit  etwas  Jodoformmull ;  Verkleinerung  der  Bauch- 
wunde durch  etliche  Nähte;  dickes  Gummirohr  in  den  zuführenden  Darm; 
Verband.  Operationsdauer  ca.  IY2  Stunde;  verliess  den  Tisch  mit  frisch 
rother  Gesichtsfarbe  und  recht  leidlichem  Pulse. 

Der  Operationsbefund  liess  es  am  wahrscheinlichsten  erscheinen,  dass  es 
sich  um  eine  stark  stricturirende  Tuberculose  gehandelt  hatte,  die  einerseits 
an  einer  Stelle  das  Darmlumen  fast  ganz  verschloss,  andererseits  dicht  daneben 
im  zuführenden  Theil  durch  fortschreitende  ülceration  die  Dannwand  durch- 
brach. Für  eine  länger  dauernde  Entzündung  des  Darmes  sprachen  auch  die 
peritonealen  Bänder  und  Adhäsionen,  die  im  Beginne  der  Operation  gefunden 
werden.  Für  Tuberculose  sprach,  dass  in  der  Serosa  der  zuerst  zu  Tage 
tretenden  Darmschlingen  sich  zwei  hanfkomgrosse  Knötchen  fanden,  die  ganz 
den  Eindruck  verkalkter  Tuberkel  machten.  Die  Nachmittags  vom  Vater  auf- 
genommene Anamnese  ergab  keine  hereditäre  Belastung;  Fat.  war  stets  gesund; 
Stahlgang  sei  stets  regelmässig  gewesen;  seit  einem  Jahre  habe  er  ge- 
legentlich über  Schmerzen  im  Leibe  geklagt.  In  der  Folge  floss  aus 
dem  eingelegten  Drain  kein  Darminhalt  ab.  Pat.  verfiel  allmählich  und  starb 
18  Stunden  post  operationem. 

Section  (Dr.  Busse):  Schlanke,  männliche  jugendliche  Leiche  mit 
zartem  Knochenbau,   guter  Musculatur  und  reichlichem  Fettpolster.     In  der 


30  Dr.  L.  Heidenhain, 

rechten  Ileocoecalgegend  ein  etwa  15  cm  lange  Schnittwunde,  deren  Enden 
genäht  sind.  Aus  deren  Mitte  ragen  zwei  freie  Darmenden  heraus,  von  deren 
Lumen  das  eine  sehr  weit,  ca.  7  cm.  im  Durchschnitt,  das  andere  sehr  eng, 
etwa  3  cm,  ist;  sie  sind  mit  flüssigem  Kothe  bedeckt.  Die  Serosa  beider  ist 
mit  zarten,  fibrinoiden  Auflagerungen  bedeckt.  Beim  Schnitte  vom  Kinn  zur 
Symphyse  zeigt  sich,  dass  das  Peritoneum  parietale  mit  dem  P.  viscerale 
überall  in  leicht  lösbarer  Weise  verklebt  ist.  Ein  Darmabschnitt  wird  ange- 
schnitten; aus  ihm  entleert  sich  gallig  gefärbter,  flüssiger  Koth.  Nach  weiterer, 
vorsichtiger  Ablösung  des  Peritoneum  parietale  zeigt  sich,  dass  überall  bis 
tief  ins  kleine  Becken  hinein  die  Darmschlingen  mit  einander  verklebt  sind; 
doch  sind  die  Adhäsionen  sehr  leicht  löslich.  Im  Becken  befinden  sich  100  ccm 
trüber  röthlioh-gelber  Flüssigkeit. 

Es  werden  nun  die  weit  aufgeblähten  Dünndarmschlingen  vorsichtig  von 
einander  gelöst  und  abgetrennt.  Hierbei  zeigt  sich,  dass  das  Ende  des  Dünn- 
danns,  welches  in  die  Wunde  eingelagert  ist,  ungefähr  15  cm  oberhalb  des 
Coecum  liegt.  Die  Serosa  ist  überall  matt,  mit  leicht  löslichen  Fibrinnieder- 
schlägen bedeckt.  An  einzelnen  Stellen  sind  bis  linsengrosse  weisse  Knötchen 
unter  der  Serosa  sichtbar,  die  beim  Durchschneiden  mit  dem  Messer  knirschen. 
(Mikroskopisch :  total  verkalkte  Drüsen).  An  anderen  Stellen  trifft  man  weiss- 
liche  Verdickungen  des  Bindegewebes  der  Serosa,  an  deren  einer  eine  Catgut- 
Unterbindung  befestigt  ist ;  missfarbige  Verfärbung  sieht  man  an  diesen  Stellen 
nicht.  Wohl  aber  läuft  ein  solcher  missfarbener  Streifen  unterhalb  des  künst- 
lichen Afters  um  den  Darm  herum  und  in  diesem  befindet  sich  eine  etwa  1  cm 
im  Durchmesser  betragende  Perforation.  Die  Oeffnung  senkt  sich  krater- 
förmig  von  der  Serosa  in  die  Schleimhaut.  —  Der  unterste  Theil  des  Ileum, 
sowie  der  Dickdarm  sind  fast  ohne  jeden  Inhalt,  eng  contrahirt  und  ohne  krank- 
hafte Veränderungen  in  ihrem  Innern.  Die  Schleimhaut  ist  grauweiss.  Anders 
die  des  höher  gelegenen  Theiles  des  Dünndarmes.  Hier  ist  die  Schleimhaut 
durchweg  intensiv  dunkelroth  und  ödematös  geschwollen.  Im  ganzen  Ileum 
zeichnen  sich  die  Peyer'schen  Haufen  als  ganz  umschriebene  hellrothe  Gebilde 
ab,  die  im  Ganzen  etwas  über  die  Schleimhaut  hervorragen,  aber  einige  linsen- 
grosse Vertiefungen  mit  missfarbenem  Grunde  zeigen.  15  cm  oberhalb  des 
künstlichen  Afters  nimmt  die  dunkle  Färbung  des  Darmes  noch  zu.  Die 
Schleimhaut  sieht  aus,  wie  mit  Kleie  bestreut:  zahlreiche  matte  weisse  Pünkt- 
chen heben  sich  darin  ab.  An  drei  Stellen  dieser  Gegend  ist  die  Oberfläche 
in  etwas  grosserem  Bezirke  graugrün  gefärbt.  —  Im  Magen  sind  reichliche 
I^ngsfalten,  auf  deren  Höhe  sich  Hamorrhagieen  finden.  In  der  Nähe  der 
Cardia  findet  sich  eine  7  cm  messende  runde  Stelle  mit  grosseren,  unregcl- 
mässig  gestellten  Hamorrhagieen.  Die  Schleimhaut  ist  mit  zähem  Schleim  be- 
deckt. —  Magen,  wie  der  ganze  Dünndarm  sind  mit  reichlichem  flüssigem  In- 
halt erfüllt.    Lungen,  Herz,  Leber,  Nieren  normal. 

Anatomische  Diagnose:  Peritonitis  universalis  fibrinosa  et  puralenta; 
gangräna  et  perforatio  intestini:  ulcera  diphtherica  ilei  etc. 

Dieser  Fall    bietet    dai>    typische  Bild    des    acuten    Darmver- 

sohlusses  bei  chronischer  Pöimdanusienose.    Die  Anamnese  ei^ebt 


Beiträge  zur  Pathologie  und  Therapie  des  acuten  Darmverschlusses.     31 

zunächst  nichts  über  vorausgegangene  Verdauungsstörungen, 
Koliken  etc.  Ei-st  nach  der  Operation  giebt  der  Vater  an,  sein 
Sohn  habe  gelegentlich  im  letzten  Jahre  über  Leibschmerzen  ge- 
klagt. Die  Compensation  ist  also  sehr  gut  gewesen.  Die  Erkrankung 
setzt  acut  ein  nach  reichlicher  Mahlzeit  (vergl.  Fall  13)  und  zwar 
mit  Erbrechen  und  Kolikschmerzen.  Letztere  halten,  anfallsweise 
alle  5 — 10  Minuten  wiederkehrend,  durch  9  Tage  an,  bis  der  Kranke 
endlieh  zur  Operation  gebracht  wird!  Befund  vor  der  Operation 
ermöglicht  eine  sichere  Diagnose  des  Sitzes  des  Hindernisses.  Be- 
fund bei  derselben:  multiple  Bänder  und  Stränge,  Nekrose  des  um- 
schnürten Dünndarmes.  (Section:  nach  abwärts  von  der  circulären 
Nekrose  eine  Darmperforation.)  Tod  durch  Peritonitis,  weil  aus  dem 
zerreissenden  Darme  bei  der  Operation  Koth  auslief.  Sehr  beachtens- 
weith  sind  die  mächtigen  hämorrhagischen  Infiltrationen,  welche 
sich  oberhalb  des  Verschlusses  in  der  gcsammten  Schleimhaut  des 
Magen-Darmkanales  fanden  und  stellenweise  schon  zur  Geschwürs- 
bildung geführt  hatten.  Diese  Veränderungen  des  zuführenden 
Darmes  sind  ein  weiterer  Grund,  operirte  Darm  verschlusse  mit  Ab- 
führmitteln zu  behandeln. 

Der  folgende  Fall  ist  schon  von  P.  Jacoby  (Dissert.  Greifs- 
wald 1895)  mitgetheilt.  Er  ist  ebenfalls  sehr  charakteristisch  durch 
Art  der  Entstehung  der  Erkrankung  und  Verlauf  derselben. 

IS.  R.  P.,  28  Jahre,  Inspector  aus  P.  26.  10.  — 7.  12.  94.  Dünndarm- 
toItuIus,  veranlasst  durch  peritonitische  Adhäsionen  des  Darmes  am  Mesen- 
terium. 

Früher  gesund  gewesen,  wurde  in  diesem  Sommer  6  Wochen  lang  und 
zwar  mit  gutem  sabjectivem  Erfolge  an  einem  Magenkatarrhe  diätetisch  behan- 
delt. Am  24.  10.  hat  er  tüchtig  gekneipt;  am  folgenden  Tage  ass  er  unter 
anderem  Kohl,  welchen  er  erfahrungsgemäss  nur  schwer  verdauen  konnte.  Er 
bekam  Aufstossen  und,  nachdem  er  sich  sonst  den  Tag  über  wohl  gefühlt 
hatte,  am  Abend  Krämpfe  im  Bauch,  besonders  in  der  Nabelgegend.  Diese 
worden  in  der  Nacht  sehr  stark.  Am  folgenden  Tage  hatte  er  etwas  Stuhl- 
gang, auch  Abgang  von  Flatus ;  die  Schmerzen  Hessen  etwas  nach.  Am  27. 
stellte  sich  Verhaltung  von  Stuhl,  Winden  und  Urin  ein ;  er  bekam  Schmerzen 
in  der  Blasengegend.    Aufnahme  am  28.  10.  94. 

Aufnahmebefnnd :  Gesunder,  kräftiger  Mann,  Herz  und  Lungen  ohne 
Befand.  Gonorrhoe  mit  geringem  Ausfluss,  zwei  Urethralstricturen,  die  noch 
passirbsr  sind ;  Urin  nur  40  com  entleert,  ist  stark  eiweisshaltig.  Bauch  etwas 
aufgetrieben,  ohne  besonderen  Befund,  Stuhl  und  Winde  angehalten,  Brech- 
netgoDg.    Bruchpforten  frei.  —  Abwartendes  Verhalten. 

2.  11.    Die  Auttrefbnng  des  Leibes  hat  etwas  zugenommen,  obgleich  in 


32 


Dr.  L.  Heidenhain, 


der  Nacht  etwas  Fäces,  allerdings  keine  Winde  abgegangen  sind.  Urin  muss 
durch  Katheter  entleert  werden,  gewonnen  400  ccm,  stark  eiweisshaltig. 

3.  11.  Die  Auftreibung  des  Leibes  ist  noch  weiter  vorgeschritten;  Winde 
und  Stuhl  sind  nicht  abgegangen;  faculehtes  Erbrechen,  namentlich  nach  der 
Aufnahme  von  Nahrungsmitteln,  dabei  starke  Kolikschmerzen.  Gesammte 
Bauchfläche  gleichmassig  schmerzhaft.  Palpatorisch  nichts  Besonderes  am  Ab- 
domen festzustellen. 

Laparotomie  (Helferich)  wegen  der  andauernden  Verschlechterung 
am  3.  11.  Medianschnitt  über  dem  Nabel.  In  die  Wunde  drängen  sich  stark 
geblähte  Dünndarmschlingen.  Da  der  tastende  Finger  nichts  fühlt,  Verlänge- 
rung des  Bauchschnittes  vom  Schwertfortsatz  bis  zur  Symphyse.  Eventration 
der  gesammten  geblähten  Dünndarmschlingen.  Es  zeigt  sich  sofort  die  Ueber- 
gangsstelle  der  gefüllten  in  leere  Schlingen.  An  der  Grenze  beider  besteht 
eine  Fixation  des  Dünndarmes  an  seinem  eigenen  Mesenterium  durch  etliche 
peritoni tische  Adhäsionen:  der  Darm  hat  sich  gleichsam  auf  seinem  Mesen- 
terium aufgerollt  und  ist  in  dieser  Stellung  durch  Verwachsungen  fixirt.  Dazu 
ist  noch  eine  Umdrehung  der  Schlinge  gekommen ,   welche   sich  bei  der  Er- 


Fig.  6. 


Fig.  7. 


Fixation    des  Dünudarmes   an   seinem  eigenen 
Mesenterium,   wodurch    eine  Drehung   um   die 
L&ngsaehse  des  Darmes  und  damit  eine  Veren- 
gerung entsteht. 


Die  gefüllte   zuführende  Schlinge   ist   um   die 
tUirte  und  verengte  Stelle  B  nach  ahwftrte  ge- 
klappt,  so  dass  vollkommener  Versohluss  ein- 
getreten ist. 


Öffnung  der  Bauchhöhle  spontan  wieder  löste.  Der  Darm  wird  an  der  Adhä- 
sionsstelle abgelöst  und  zur  Verhütung  der  Rückkehr  in  die  falsche  Lage  an 
der  entgegengesetzten  Seite  des  Mesenteriums  durch  zwei  Knopfnähte  fixirt. 
Schluss  der  Bauchhöhle. 

4.  11.  Heute  Winde  abgegangen.  Temperatur  normal,  Urinmenge 
1275  ccm,  Eiweissgehalt  desselben  geringer.  5.  11.  Reichlicher  Stuhl  und 
zwar  etwas  diarrhoisch.  Urin  1600  ccm,  eiweissfrei.  8.  11.  Opium  wegen  noch 
bestehenden  Durchfalles.  Durchfall  hörte  am  8.  11.  auf;  von  da  an  glatte 
Genesung.    7.  12.  entlassen. 


Beiträge  zur  Pathologie  und  Therapie  des  acuten  Darm  verschlusses.     33 

Die  Beobachtung  ist  wiederum  recht  charakteristisch:  Dünn- 
darmstenose bei  einem  Menschen,  der  nie  an  Stuhlgangsstörungen, 
aber  an  „Magenkatarrh"  gelitten,  acute  Erscheinungen  nach  einem 
Excesse  in  Alkohol,  dem  am  folgenden  Tage  eine  Kohlmahlzeit 
folgt.  Plötzliches  Einsetzen  mit  Koliken,  Verschluss  nicht  voll- 
ständig im  Anfange,  wird  aber  vollkommen.  Post  operationem 
einige  Tage  Durchfälle,  eine  Folge  der  durch  die  Stauung  entstan- 
denen Enteritis,  bei  der  dann  Opium  natürlich  unwirksam  bleibt. 

Technisch  war  bei  der  starken  Füllung  der  Dünndärme  ohne 
Eventration  das  Hinderniss  gewiss  nicht  so  im  Nu  zu  finden,  wie 
das  hier  vor  sich  ging.  Der  Fall  ist  uns  immer  ein  besonderer 
Beweis  für  die  Vorzüglichkeit  des  Kümm eil' sehen  Verfahrens 
gewesen. 

Herr  F.  Jacobi  hat  Versuche  über  den  ursächlichen  Zusammen- 
hang zwischen  der  hier  gefundenen  Fixation  des  Darmes  an  seinem 
eigenen  Mesenterium  und  der  gleichzeitig  bestehenden  Achsendrehung 
gemacht.  Fixirte  er  an  der  Leiche  den  Darm  so  an  seinem  eigenen 
Mesenterium,  wie  es  hier  am  Lebenden  der  Fall  gewesen  und  füllte 
dann  die  zuführende  Schlinge  mit  Wasser  an,  so  klappte  diese 
Schlinge  über  die  durch  die  Verkürzung  des  Mesenteriums  ein- 
geknickte und  fixirte  Stelle  hinweg  und  es  entstand  ein  völliger 
Verschluss.  Einen  fast  genau  gleichen  Fall  von  Dünndarmvolvulus 
haben  wir  in  dem  Falle  11  gesehen. 

14.  S.,  Johann,  60  Jahre.  Vorbein.  Aufgenoramen  7.  12.  94,  gestorben 
am  selben  Tage.  Darmverschluss  durch  Knickung  und  Verwachsung  des 
Dünndarms. 

Anamnestisch  ist  von  dem  sehr  kranken  und  schwachen  Patienten  wenig 
zu  erfahren.  Er  will  seit  8  Tagen  krank  sein  und  Schmerzen  im  Bauche  ge- 
habt haben.  Winde  sind  abgegangen,  auch  Stuhlgang  bis  vor  etwa  2  Tagen; 
seitdem  kein  Stuhl,  keine  Winde  und  Auftreten  von  Erbrechen,  welches  bis 
Jetzt  nicht  aufgehört  hat. 

7.  12.  94.  Aufnahmebefand:  Schwacher,  alter,  abgemagerter  Kranker; 
Erbrechen;  Bauch  trommelartig  aufgetrieben;  Puls  kaum  zu  fühlen.  Links 
eine  fast  kindskopfgrosse,  rechts  eine  etwa  hühnereigrosse  Leistenhernie,  beide 
leicht  reponibel.  Kirschengrosse  reponible  Ilernia  lineae  albae  fingerbreit  unter 
dem  Nabel.    Käthe terisirter  Urin  eiweissfrei. 

Ohne  Narkose  Einschnitt  am  Aussenrande  des  linken  M.  rectus  abd. 
(I[elferich).  Die  den  Bauch  abtastende  Hand  findet  von  hier  aus  keine  Er- 
klärung für  den  Darmverschluss,  insbesondere  nicht  an  der  linken  Bruchpforte. 
Zweiter  Einschnitt  an  der  symmetrischen  Stelle  rechts:  von  hier  aus  findet  der 
lasteode  Finger  ein  gut  faustgrosses  Convolut  verwachsener  Diinndarmschlingen. 

Areliir  mr  klin.  Chirurgie.    57.  Bd.   Heft  1.  3 


34  Dr.  L.  Heidenhain, 

Da  dieses  durch  keinen  der  bestehenden  Einschnitte  aus  dem  Bauche  heraus- 
gebracht werden  kann,  dritter  Einschnitt  in  der  Mittellinie;  es  zeigt  sich  nun, 
dass  die  in  das  Convolut  eintretende  Dünndarmschlinge  roth  und  gebläht  ist, 
die  abführende  leer.  Es  kandelt  sich  um  drei  unter  einander  und  mit  ihrem 
Mesenterium  verwachsene  Dünndarmschlingen,  welche  alle  drei  durch  Schrum- 
pfung des  Mesenteriums  eine  theils  stärkere,  theils  leichtere  Einknicknng  nach 
dem  Fusspunkte  des  Mesenteriums  zw  erfahren  haben.  Lösung  der  Verwach- 
sungen unmöglich  und  nicht  versucht.  Enteroanastomose  durch  Naht  und 
Schluss  der  Bauch  wunde. 

Patient  hatte  sich  während  der  Operation  besser  befunden,  als  nach 
seinem  fast  moribunden  Zustand  erwartet  werden  konnte,  collabirte  aber  gegen 
Ende  der  Operation  plötzlich  und  starb  bald  nach  Schluss  derselben. 

Section:  Arteriosklerose,  braune  Herz-  und  Leberatrophie,  Lungen- 
emphysem mit  katarrhalischer  Bronchitis. 

15.  G.,  Wilhelm,  42  Jahre,  Birkenwerder.  23.  7.-26.  8.  96.  Ileus 
durch  Abknickung  einer  adhärenten  Dünndarmschlinge.  Enteroanastomose  mit 
Knopf.    Geheilt. 

Allgemeine  Anamnese  ohne  Bedeutung.  Leidet  seit  Mitte  Mai  d.  J.  an 
Schmerzen  im  Leibe,  Druckschmerz  und  Koliken,  dazu  unregelmässigem  Stuhl- 
gang. Zunahme  der  Beschwerden.  Aerztliche  Behandlung  beseitigte  dieselben, 
allein  da  die  strenge  Diät  nicht  befolgt  wurde,  kehrten  die  Beschwerden  wieder, 
worauf  Herr  Dr.  B erg ansky- Masse w  i.  P.  die  Aufnahme  in  die  Klinik  ver- 
anlasste. 

Befund  24.  7.  96:  Stark  abgemagerter  Mann;  Haut  feucht,  normal  ge- 
färbt, keine  Oedeme.  Herz,  Lungen,  Urin  normal.  Puls  ziemlich  kräftig,  96. 
Zunge  massig  belegt.  Appetit  gering,  kein  Stuhl,  keine  Flatus,  kein  Erbre- 
chen, noch  Aufstossen.  Abdomen  durch  Gasansammlung  im  Darm  aufgetrieben. 
Kein  Ascites.  Milz  nicht  zu  percutiren;  untere  Lebergrenze  in  die  Höhe  ge- 
rückt. Im  Gebiete  des  ganzen  Abdomens  sieht  man  von  Zeit  zu  Zeit  peristal- 
tische  Bewegungen  der  Därme  durch  die  Bauchdecken  hindurch,  dabei  Bauch- 
kneifen. Percussion  und  Palpation  ergeben  nirgends  Dämpfung  oder  stärkere 
Resistenz.  Tiefer  Druck  wird  in  der  linken  Unterbauchgegend  dicht  neben  der 
Mittellinie  schmerzhaft  empfunden;  sonst  ist  der  Leib  nicht  druckempfindlich. 

Auf  Ricinus  kein  Stuhlgang.  Das  Bild  der  chronischen  Darmstenose 
war  hier  so  klar,  dass  man  ein  Abführmittel  wohl  versuchen  konnte.  Einlauf 
geht  mit  wenig  Koth  wieder  ab.    Bad. 

25.  7.  Ueber  Nacht  reichliches  Erbrechen  übelriechender  Massen. 
Morgens  5  Uhr  Einlauf,  wird  mit  wenig  Koth  wieder  entleert.  7  Uhr  Bad, 
10  Tropfen  Tct.  opii.    8  Uhr  Kochsalzinfusion  von  600  ccm,  Magenausspülung. 

9  Uhr  Laparotomie  (Helfe rieh):  Schnitt  median  unterhalb  des 
Nabels.  Es  drängen  sich  zunächst  einige  ausserordentlich  erweiterte  Dünn- 
darmschlingen hervor.  Nach  einiger  Orientirung  findet  man  rechts  unter  und 
hinter  diesen  einige  ganz  zusammengefallene  Dünndarmschlingen.  Die  erwei- 
terten Schlingen  sind  intensiv  gefärbt,  etwas  livid,  haben  6— 8  cm  Durch- 
messer; die  leeren,  völlig  collabirten  Schlingen  sind  ganz  blass.     Verlange- 


Beiträge  zur  Pathologie  und  Therapie  des  acuten  Darmverschlusses.     35 

rang  des  Baucbschnittes  bis  zum  Schwertfortsatz.  Es  zeigt  sich  nun,  dass 
eine  der  erweiterten  Dünndarmschlingen  in  die  Coecalgegend  zieht  und  dort 
medial  Tom  Coecum  an  der  Linea  innominata  durch  alte  peritonitische  Adhä- 
sionen fixirt  ist.  Es  besteht  hier  eine  spitzwinklige  Abknickung  des  Darms : 
die  Fortsetzung  bildet  eine  der  collabirten  Schlingen. 


Fig.  8. 


Anastomose 


Dirertikel 


CoeeniB 


Fig.  9. 


Bei  den  weiteren  Manipulationen  füllen  sich  die  völlig  leeren  Schlingen 
za  einem  Theile  wieder  mit  Inhalt,  welcher  aus  den  erweiterten  in  sie  über- 
tritt. Durch  die  Ricinusgabe  ist  wahrscheinlich  das  obere. Darmstück  noch 
weiter  gedehnt  und  eine  völlige  Abknickung  an  der  Yerwachsungsstelle  zu 
Stande  gekommen.  Ausserdem  findet  sich  noch  an  dem  dünneren  Darmabschnitt, 
dicht  an  der  Abknickungsstelle,  ein  Meckel'sches  Diveilikel.  Die  letztere 
liegt  nicht  weit  oberhalb  der  Klappe  im  unteren  Ileum. 

Wegen  der  starken  Verwachsung  .wird  zur  schnelleren  Beendigung  des 
Eingriffs  mit  dem  Murphyknopf  eine  Enteroanastomose  am  Dünndarm 
ca.  15  cm  ober-  und  unterhalb  der  Abknickung  ausgeführt  (vergl.  Bild  8). 
Dabei  wird  zunächst  der  geblähte  Dünndarm  aufgeschnitten  und 
so  weit  als  möglich  entleert,  dann  erst  die  Anastomose  angeschlossen. 
Darauf  Bauchnaht  in  Etagen,  CoUodium verband ;  Heisswasserkissen.  Wärm- 
flaschen. 

Die  theilweise  Entleerung  der  überfüllten  Därme  auf 

dena    Operationstische    hat   mit  Wahrscheinlichkeit    dem 

Kranken  das  Leben  gerettet,  denn  im  weiteren  Verlaufe 

zeigte  es  sich,  dass  der  Murphyknopf  die  Passage  stark 

hemmte,   wie  wir  das  kurz  darauf  in  noch  einem  zweiten 

3* 


36  Dr.  L.  Heidenhain, 

Falle  gesehen  haben  (vergl.  No.  8).  Wie  sehr  bei  mangelnder 
Triebkraft  von  oben  der  Knopf  die  Passage  hemmt,    zeigt  Bild  9. 

Am  Abend  des  Operationstages  Temperatur  normal,  keine  Flatus; 
leichter  Schmerz  auf  Druck.    Nährklysnia.    0,01  Morphium  zur  Nacht. 

26.  7.  Allgemeinbefinden  gut.  Keine  Flatus,  hier  und  da  Bauch- 
kneifen ohne  Erfolg.  Ricinus  ohne  Erfolg.  Kleiner  Einlauf  ohne  Er- 
folg.  3  Nährklysraen ;  per  os  Getränke  (schwarzer.  Kaffee  mit  Ei,  Wein,  Cacao). 

27.  7.  Status  idem.    Einlauf  ohne  Erfolg.    2  g  Glycerin  ohne  Erfolg. 

28.  7.  10g  Glycerin.  3  Flatus.  Sonst  Status  idem.  29.  7.  10g  Glycerin, 
keine  Winde,  kein  Stuhlgang.  30.  7.  Flatus,  kein  Stuhl.  Nach- 
mittags Einlauf,  danach  Stuhlgang.  31.  7.  Nachts  zwei  reichliche 
Stühle. 

Von  da  an  glatte  Genesung.  Der  gesammte  Verlauf  war  afebril.  Wund- 
heilung p.  pr. ;  Knopf  am  15.  8.  abgegangen.    26.  8  geheilt  entlassen. 

Diese  Beobachtung  ist  ein  recht  deutlicher  Beweis  dafür, 
wie  ungünstig  Abführmittel  bei  Darmverschlüssen  wirken. 
Es  handelte  sich  bei  der  Aufnahme  des  Kranken  sicher  um  eine 
chronische  Stenose,  und  die  Beschwerden  waren  nur  massige.  Auf 
Ricinusöl  trat  reichliches  Erbrechen  ein  und  der  Verschluss  wurde 
vollständig. 

Der  nachfolgende  Fall  chronischer  Dickdarmstenose  durch 
einen  Strang  hatte  im  Laufe  einiger  Wochen  zu  vollkommenem 
Versclilusse  geführt.  Wenn  auch  im  Augenblicke  der  Operation 
keine  unmittelbar  bedrohlichen  Zeichen,  namentlich  kein  Erbrechen, 
bestanden,  so  gehiirt  der  Fall  vom  practischen  Standpunkte  aus 
betrachtet,  doch  hierher. 

16.  Luise  Verchow,  36  J.,  Eiji^entliümersfrau,  Torpelow,  aufgenommen 
am  4.  9.,  entlassen  am  9.  10.  96.  Darm  verschluss  bei  massiger  Compression 
des  Quorcolon  durch  einen  Strang  und  ausgesprochener  Darmatonie. 

Ist  Mutter  von  10  Kindern,  deren  7  leben ;  früher  niemals  krank  gewesen. 
Das  jetzige  Leiden  begann  Anfang  Juli  96  mit  heftigen  Schmerzen  in  der 
rechten  Bauchseite,  die  gegen  den  Nabel  und  das  Brustbein  hin  ausstrahlten. 
Auf  dem  Höhepunkte  der  anfallsweise  kommenden  Schmerzen  trat  heftiges  Er- 
brechen ein.  Entleerung  harter,  schwarz  aussehender  Massen  und  Durchfalle 
wechselten  mit  3-  5  Taj^e  anhaltender  Verstopfung.  Seit  etwa  4  Wochen  be- 
steht fast  völlige  Verstopfung;  nur  3 mal  ist  auf  reichliche  Gaben  von  Olivenöl 
innerlich  (zweistündlich  5  Esslöffel)  Stuhlgang  eingetreten.  Häufige  und  sehr 
starke,  täglich  vielfach  auftretende  kolikartige  Schmerzan fälle  zwangen  zur 
Darreichung  grosser  Gaben  Morphium  (3-  4mal  täglich  3  cg).  SeitS— lOTagen 
ist  die  Kranke  etwas  gelb.  Der  behandelnde  Arzt  überweist  sie  der  Klinik, 
weil  kein  Stuhlgang?  mehr  zu  erzielen  war  und  er  die  Ueberzeugung  eines 
baldificen  schlechten  Ausganges  hat,  wenn  nicht  operativ  eingegriffen  werde. 


Beiträge  zur  Pathologie  und  Therapie  des  acuten  Darmverschlussos.     37 

Die  Kranke  verneint  aufs  entschiedenste  je  einen  Typhus,  Ruhr,  Bauchfell- 
entzündung, Magengeschwür,  Gelbsucht  gehabt  zu  haben. 

Aufnahmebefund  am  4.  9.  96:  Kräftig  gebaute,  korpulente  Frau.  Herz 
und  Lungen  ohne  Befund.  Leichter  Icterus  der  Haut  und  sichtbaren  Schleim- 
häute. Leib  stark  aufgetrieben,  grosse  Rectusdiastase.  Es  zeichnen  sich 
deutlich  einige  geblähte  Darmschlingen  ab,  indessen  etwas  genaueres  lässt 
sich  durch  Palpation  nicht  ermitteln,  da  der  ganze  Leib  ein  gleichmässig 
weiches  Gefühl  darbietet.  Die  Stauung  ist  nicht  sehr  hochgradig.  Der  Per- 
cussionsschall  ist  auf  der  Höhe  des  Abdomens  überall  tief  tympanitisch,  in  den 
abhängigsten  Theilen  gedämpft  mit  tympanitischem  Beiklang.  Lagewechsol 
ändert  die  Dämpfungsgrenzen  nicht.  Bei  Betasten  und  Beklopfen  des  Leibes 
ist  mehrfach  Kollern  hörbar;  dabei  treten  Schmerzen  auf,  Peristaltik  würd 
sichtbar  und  die  Spannung  des  Leibes  nimmt  zu.    Einlauf  erfolglos. 

Operation  am  selben  Tage  (Hei  den  ha  in).  In  Aether-Chloroformnarkose 
Bauchschnitt  in  der  Mittellinie  und  Nabelhöhe.  Nach  Eröffnung  des  Peritoneums 
liegt  stark  geblähtes  Colon  transversum  vor,  während  die  Dünndärme  nur 
massig  gefüllt  sind.  Das  Colon  descendens  ist  vollkommen  leer  und  contrahirt 
bis  zur  Flexura  lienalis  hinauf.  An  dieser  Stelle  sind  in  der  Umgebung  des 
leeren  Darmes  einige  harte  Knoten  fühlbar.  Die  Uebergangsstelle  des  leeren  in 
den  gefüllten  Darm  ist  nicht  zu  fühlen.  Colon  transvers.  ascend.  und  Coecum 
sind  bis  zur  Breite  von  4  Querfingern  gebläht. 

Diagnose:  Carcinom  des  Colon  in  der  Gegend  der  Flexura  lienalis. 
Deshalb  Enterostomie  in  der  Mitte  des  Quercolon. 

Sehr  auffallend  war  in  den  folgenden  Tagen,  dass  aus  der 
Enterostomiewunde  sich  trotz  aller  erdenklichen  Bemühungen 
weder  Flatus,  noch  Koth  in  auch  nur  einigermaassen  genügender 
Menge  entleeren  wollten.  Es  dauerte  eigentlich  eine  vollkommene  Ver- 
haltung  weiter  an.  Dabei  bestand  eine  sehr  starke  Aufblähung  des 
Coecum  und  Colon  asc,  welche  unter  häufigen  heftigen  Kolik- 
anfällen eine  starke  Spannung  annahmen.  Der  Abilominalbefund  war 
derartig,  dass  ich  vermuthete,  in  der  Gegend  der  Flexura  hepatica  bestehe  eine 
zweite  Stenose  und  sehr  überlegte,  ob  ich  nicht  an  dem  Colon  asc.  eine  zweite 
Enterostomie  anlegen  solle.  Diese  Erwägungen  wurden  erst  am  4.  Tage  post 
operationem  durch  einen  spontanen  Stuhl  per  anum  hinfällig.  Im  ein- 
zelnen war  der  Verlauf  wie  folgt: 

5.  9.  Bisher  noch  kein  Koth  aus  der  Enterostomiewunde  abgeflossen, 
aach  nur  spärlich  Winde.  Mehrfache  Morphiuminjectioncn  wegen  Schmcrz- 
anfällen.  Morgens  einmal  Erbrechen.  Ausspülung  des  Darmes  von  der  Wunde 
aas  fördert  nur  krümelige  Kothbröckel;  darauf  Oelein lauf  durch  den  künst- 
lichen Anus.  Mittags  einmal  Erbrechen  reinen  Mageninhaltes.  Da  der  Oelein- 
lauf  nicht  gewirkt  bat,  Faradisation  und  Erschütterungsmassage  des  Bauches, 
worauf  unter  deutlichem  Eintreten  von  Peristaltik  einige  Blähungen  und  etwas 
Koth  abgehen.  Darauf  subjective  Erleichterung.  Kein  weiteres  Erbrechen. 
Nahrungsaufnahme  Tags  über  befriedigend.  6.  9.  Schlaf  Nachts  mit  Morphium 
gut.    Darmaasspülung  vom  Anus  praeternat.  aus  ergiebt  nur  wenig  Koth,  fast 


38  Dr.  L.  Hoidenhain, 

UDT  gefärbtes  Wasser,  dazu  einEelne  Gssblasen.  All  gern  cinbcfi  öden  gat, 
Nabmog  betialten,  kein  Erbrechen,  Gasfüllung  des  Colon  asc.  anverändert. 
NachinittAgs  einige  Flatns  spontan.  7.  9.  Allgemeinbefinden  leidlich.  Etliche 
Flatus,  liein  Koth,  kein  Erbrechen.  GasRlIInng  des  Coecum  nnd  Colon  asc. 
noch  immer  sehr  stark:  das  beistehende  Bild  10  zeigt  den  Percnssions- 
befund. 

Rg.  10. 


Frau  Vercbo«:  Percusaionsbefand    vom    3.    Tage  post  enterostoroiaro :    enorme 
Blähung  des  Coecum  und  Colon  ascendens. 

8.  9.  Leidliches  Allgemeinbefinden,  verschiedentlich  Flatus  aus  der 
Entcroslomiewunde  und  per  anum.  Mittags  spontan  reichlich  Stuhl  per 
an  um,  später  reichliche  Entleerung  aus  der  Fistel  und  damit  Nachlass 
der  Schmerzen.  14.  9.  Seit  dem  8.  9.  ist  täglich  Stuhl  auf  natürlichem  Wege 
erfolgt,  theils  spontan,  theils  auf  Einlauf  oder  Oleum  Ricini  per  os.  Aus  der 
Fistel  hat  sich  nur  wenig  Gas  entleert.  Es  bestehen  noch  dauernd  missige 
Koltksch merzen,  vornehmlich  in  der  rechten  Bauchseite.  Wenn  der  Schmerz- 
anfall auf  der  Höhe  ist,  erfolgt  eine  Entleerung  von  Ga,s  durch  die  Fistel.  Der 
Icterus  ist  seit  dem  10.  9.  verschwunden.     Naht  verheilt. 

16.  9.  Laparotomie  !:ur  Beseitigung  der  Rindernisse  (Heiden- 
hain).    Zunächst  Bauchschnitt  am  Aussenrando  des  linken  Rectus 


Beiträge  zur  Pathologie  und  Therapie  des  acuten  Darm  verschlusses.     39 

abd.:  Colon  leer,  Plexura  lienalis  gesund.  Keine  Veränderung  der  Darmwand. 
Mesenterium  stark  fetthaltig,  starke  Appendioes;  letztere  sind  bei  der  ersten 
Operation  wohl  für  einen  Tumor  gehalten  worden.  Colon  transyersum  eben- 
falls leer.  Am  Uebergange  dieses  in  die  Plexura  lienalis  zieht  ein  Strang  von 
der  Dicke  eines  starken  Bleistiftes,  der  von  einem  Appendix  zum  Netz  verläuft 
quer  über  das  Colon  hinweg.  Dieser  Strang  liegt  dem  Colon  so  lose  auf,  dass 
der  jetzt  leere  Darm  durch  ihd  gamicht  comprimirt  wird.  Auch  bei  gefülltem 
Darm  kann  er  nur  eine  sehr  massige  Behinderung  geschaffen  haben.  Darm- 
wand daselbst  normal.  Ein  weiteres  Hinderniss  ist  in  dieser  Bauchhälfte  nicht 
zu  finden.  Trennung  des  Stranges  und  Uebernähung  der  Stümpfe.  Schluss  der 
Banchwunde. 

Darauf  Bauchschnitt  am  Aussenrande  des  rechten  Rectus: 
Trennung  einiger  feiner  Adhäsionen  zwischen  Colon  transyersum  und  Leber. 
Gallenblase  gesund  und  ohne  Adhäsionen.  Federkieldicker  Strang,  der  von 
dem  Colon  transv.  zur  grossen  Cnrvatur  des  Magens  verläuft,  getrennt  und  die 
Stampfe  übemäht.  Bauchnaht. 

Schliesslich  Schluss  des  Anus  praeternaturalis  durch  Ablösung 
der  Schleimhaut  und  genaue  Naht  In  der  Folge  hat  die  chronische  Ob- 
stipation und  Darmatonie  mit  Vorhaltung  von  Winden  und  leb- 
haften Kolikschmerzen  noch  manche  Mühe  gemacht.  Erst  vom  29.  9. 
ab  erfolgte  täglich  spontaner  Stuhl. 

9. 10.  %.  Entlassen  in  gutem  Allgemeinbefinden.  Alle  Wunden  vernarbt 
bis  auf  eine  Fünipfennigstückgrosse  Granulationsfiäche  an  der  Stelle  der 
Enterostomie.  Spontaner  Stuhl  hat  angehalten.  Der  gesammte  Krankheits- 
Terlauf  war  afebril. 

Die  Beobachtung  hat  eine  wesentliche  Bedeutung  dadurch, 
dass  sie  zeigt,  wie  bei  atonischem  Darm  (Obstructio  alvi  chron.) 
schon  geringfügige  ffindeniisse  die  schwersten  Erscheinungen  aus- 
lösen können. 

17.  Alma  Sehlke,  10 V2  J«?  Candelin,  aufgenommen  am  11.  9.,  entlassen 
am  10.  10.  9G.  Darmverschi uss  durch  Bänder  und  Stränge  bei  Mesenterial- 
drüsentuberculose  und  Peritonitis  tuberculosa.    Laparotomie.    Heilung. 

Herr  Dr.  Palleske-Loitz  schrieb  uns  bei  der  Uebersendung  der  Kranken: 
Pat.  ist  am  1.  9.  unter  heftigem  Erbrechen  und  Leibschmerzen  erkrankt,  seit 
etwa  8  Tagen  in  meiner  Behandlang.  Eltern  gesund.  Status  im  Wesentlichen : 
Ascites,  Obstructio  alvi,  Erbrechen  mit  zeitweise  faculentem  Geruch,  kein 
Fieber.  Ich  fasse  das  Leiden  als  Mesenterialtuberculose  auf.  Das  Kind  ist  an 
dem  gleichen  Zustande,  wie  jetzt,  schon  im  vorigen  Sommer  von  meinem  ver- 
storbenen Vorgänger  R.  behandelt  worden.  Als  Residuen  der  damals  über- 
standenen  Peritonitis  fand  ich  vor  Entstehung  des  ilscites  um  den  Nabel  herum 
einen  flachen  handtellergrossen  Tumor.  Stuhlgang  habe  ich  weder  durch 
innere  Mittel,  noch  durch  Eingiessüngen  von  Wasser  oder  Oel  erzielen  können. 
—  Ich  halte  die  Laparotomie  für  geboten.  —  Von  einer  Function  versprach 
ich  mir  nichts,  habe  sie  unterlassen. 


40  Dr.  L.  Heidenhain, 

11.  9.  Aufnahraebefund:  Blasses,  ihrem  Alter  entsprechend  aus- 
sehendes Kind.  Lungen  und  Hera  ohne  Befund.  Puls  120,  massig  gespannt. 
Leib  stark  und  gleichmassig  aufgetrieben,  subcutane  Venen  ausgedehnt.  Nabel 
etwas  vorgetrieben.  Um  den  Nabel  herum  eine  spindelförmige,  weissliche, 
narbenartige  Stelle,  ca.  5  cm  lang  und  2 Y2  cm  breit ,  deutlicher  Rand  einer 
Bruchpforte  daselbst  nicht  fühlbar;  beim  Husten  Andrängen  von  Eingeweiden. 
Beim  längeren  Zusehen  sieht  man,  namentlich  nach  Betasten  des  Bauches, 
peristaltische  Wellen;  dabei  zieht  sich  der  rechte  untere  Quadrant  der  be- 
schriebenen narbenähnlichen  Stelle  ein.  Einzelne  stärker  geblähte  Darm- 
schlingen  nicht  sichtbar. 

Percussion:  Gasgefüllte  Därme  auf  der  Höhe  des  Abdomens.  Rechts  in 
dem  Bezirk  zwischen  Mittellinie  und  verlängerter  Mammillarlinie,  der  Hori- 
zontalen durch  den  Nabel  und  der  Verbindungslinie  zwischen  Spina  ant.  sup. 
und  Nabel  absolute  Dämpfung,  die  bei  Lagerung  auf  die  linke  Seite  den  Ort 
nicht  wechselt.  Links  seitlich  tympani  tisch  er  Schall  bis  in  die  abhängigsten 
Theile.  —  Knollen  und  Stränge  bei  der  starken  Spannung  der  Bauchdecken 
nicht  fühlbar.  —  Faculentes  Erbrechen. 

Laparotomie  (Heidenhain)  bei  der  klaren  Indication  nach  den  nöthigen 
Vorbereitungen  unmittelbar  angeschlossen.  Eröffnung  des  Bauches  in  der 
Mittellinie  und  Nabelhöhe.  Keine  Adhärenz  des  Dünndarms  an  der  Bauch- 
wand, wie  wegen  der  oben  beschriebenen  Einziehung  bei  Peristaltik  eigentlich 
vermuthet.  Abfluss  von  blutigem  Ascites.  Dünndarm  auf  Breite  von  drei  Quer- 
fmgern  gebläht,  drängt  sich  in  die  Wunde.  Da  ohne  weiteres  ein  begrenztes 
Hinderaiss  hier  nicht  zu  finden  ist,  Eventration  der  vorliegenden  stark  ge- 
blähten Dünndarmschlingen  (ca.  1  m).  Es  zeigen  sich  sofort  zwei  dünne  von 
der  Seitenfläche  des  Darms  zu  seinem  Mesenterium  ziehende  Stränge,  welche 
eine  gowisse  Knickung  des  Danues  hervorgerufen  haben  mögen.  Trennung 
der  Stränge.  Weiteres  Hinderniss  an  dem  vorgelagerten,  sehr  beträchtlichen 
Dünndarmantheil  nicht  zu  finden.  Mesenterium  stark  geschrumpft,  enthält 
zahlreiche,  meist  verkalkte,  tuberculöse  Drüsen.  Auf  der  Darmserosa  zahl- 
reiche Tuberkel,  theil weise  erbsengrosse  gestielte  Solitärtuberkel.  Theilweise 
Reposition  der  Därme,  Abschluss  der  Bauchhöhle  durch  Tücher,  Entleerung 
der  stärkst  g-eblähten  Schlinge  durch  Einschnitt:  es  fliessen  etwa 
IY2  1  dünnflüssigen,  asshaft  stinkenden  Kothes  ab.  Doppelreihige  Naht  der 
Incision.  Reposition  aller  noch  vorliegenden  Schlingen;  Schluss  der  Bauch- 
wunde unter  Fixation  der  Kuppe  der  nächstliegenden  geblähten  Dünndarm- 
schlinge in  der  ßauchwunde  (Quadratcentimetergrosser  Theil  der  Darmwand 
mit  etlichen  Nähten  angenäht),  um  im  Nothfalle  noch  nachträglich  ohno 
Wiedereröffnung  der  Bauchhöhle  eine  Enterostomie  machen  zu  können.  Es  war 
doch  sehr  möglich,  dass  weiter  abwärts  noch  eine  weitere  Behinderung  der 
Passage  durch  Bänder  und  Stränge  bestand.  Die  incidirte  und  genähte  Schlinge 
war  in  die  Tiefe  der  Bauchhöhle  versenkt;  sie  war  bei  der  Reposition  ent- 
schwunden. Zwei  Stunden  post  operat.  kein  Erbrechen.  Leib  weich,  völlig 
schmerzfrei. 

Am  folgenden  Tage   auf  einen    Esslöffel   Ricinusöl   drei   reichliche, 


Beitrage  zur  Pathologie  und  Therapie  des  acuten  Darm  verschlusses.     41 

stinkende  Stühle;  Allgemeinbefinden  gut,  Puls  kräftig,  Leib  völlig  weich, 
schmerzlos. 

Der  weitere  Verlauf  war  wie  nach  einer  normalen  Geburt  oder  einer 
glatten  Ovariotomie:  Leib  weich,  stets  vergnügtes  Gesicht,  Appetit  gut;  unter 
Fortgebrauch  von  Ol.  Ricini  oder  Emulsio  ricinosa  täglich  in  der  ersten  Woche 
1 — 3  Stühle;  auffallend  waren  dabei  Abendtemperaturen  die  zwischen  37,6 
und  38,5,  einmal  sogar  39,3  schwankten ;  sie  wurden  auf  eine  noch  bestehende 
Enteritis,  Folge  der  Inhaltsstauung  im  Darm,  geschoben,  bis  am  10.  Tage 
post  op.  ein  kleiner  Bauchdeckenabscess  durchbrach,  der  durch  EröiTnung 
einiger  Nähte  völlig  entleert  wurde.  Koth  kam  nie  durch.  Die  Darmnaht  hat 
sicher  gehalten. 

Weitere  Heilung  glatt.  10.  10.  96  entlassen :  kleine  oberflächliche  Gra- 
nalationsfläche  im  unteren  Wundwinkel,  Leib  weich,  in  der  Umgebung  des 
Nabels  in  der  Tiefe  noch  einige  harte  Knoten  zu  fühlen,  kein  Ascites  mehr, 
Stuhlgang  spontan  und  regelmässig. 

Der  Vater  des  Kindes  suchte  mich  am  16.  1.  97  auf  und  berichtete,  dass 
dasselbe  seit  der  Entlassung  wohl  und  munter  sei  und  an  Gewicht  zugenommen 
habe;  der  Stuhlgang  sei  regelmässig. 

IV.   6  Fälle  von  Volvulus  S  romani, 

4  geheilt  und  2  gestorben. 

Eine  der  hierher  gehörigen  Beobachtungen  ist  schon  unter 
No.  2  mitgetheilt  wegen  des  begleitenden  und  die  Lösung  des 
Hindernisses  überdauernden  Spasmus  eines  grossen  Theiles  des 
Dünndarmes.     Die  übrigen  5  folgen  hier. 

Zweimal  begann  die  Erkrankung  ganz  acut,  gleichwie  bei 
einer  Incarceration,  mitten  aus  voller  Gesundheit,  (No.  2  und  22). 
Dreimal  waren  seit  kürzerer  oder  längerer  Zeit  Stuhlgangs- 
beschwerden vorangegangen,  worauf  der  Dannverschluss  acut  ein- 
.sotzte  (Fall  19,  20  und  21).  Bemerkenswerth  ist  der  acute  Be- 
ginn des  Dann  verschlusses  in  Fall  21  auf  eine  Dosis  Ricinusöl, 
welche  zur  Beseitigung  der  Verstopfung  gegeben  wurde.  Vielleicht 
hat  in  dem  einen  oder  anderen  der  Fälle  schon  seit  einiger  Zeit 
eine  Drehung  um  180^  oder  noch  weniger  bestanden.  Im  Falle  18 
hatte  sich  ein  chronischer  Darmverschluss  entwickelt,  dessen  Ur- 
sa<!he  ein  Volvulus  um  190®  war. 

Im  Falle  19  füllte    nach  Stägiger  Dauer  der  Erkrankung  die 

geblähte  Flexur  fast  den  ganzen  Bauchraura  aus;  sie  war,  wie  die 

i  Operation  erwies,  dicht  vor  dem  Platzen.  Bei  den  Kranken  No.  2, 

I  18,  20,  21  lag  der  Volvulus  in  der  rechten  Beckenschaufel, 


42  Dr.  L.  Heidenhain, 

bei  No.  22  zwar  in  der  linken  Seite  des  Abdomens,  aber 
mit  einer  Neigung  nach  rechts  hinüber  (vergl.  Zeichnung). 
Mit  Ausnahme  der  Fälle  No.  2,  welcher  sehr  früh  und  No.  19, 
welcher  sehr  spät  zur  Operation  kam,  war  die  stark  gebläht« 
Schlinge  schon  vor  der  Operation  mit  aller  Sicherheit  als  Dick- 
darm anzusprechen.  Besonders  charakteristisch  erscheint  mir  das 
Gefühl  eines  massig  gefüllten  Luftkissens,  welches  solch' 
stark  geblähter  Volvulus  liefert.  Percussion  und  Palpation  liessen 
immer  erkennen,  dass  es  sich  um  eine  einzige,  stark  geblähte  Dick- 
darmschlinge handele. 

Die  Ergebnisse  unserer  Operationen  zeigen,  dass  die  Ope- 
ration eines  Volvulus  der  Flexur  eine  durchaus  günstige 
Prognose  liefert.  Unsere  genesenen  4  Kranken  befanden  sich  im 
Alter  von  30,  55,  66,  70  Jahren.  Fall  19,  welcher  erst  nach 
Stägiger  Dauer  der  Erkrankung  zur  Operation  kam,  war  nicht 
mehr  zu  retten.  Sein  Tod  muss  auf  das  Conto  der  inneren 
Medicin,  nicht  der  Chirurgie  gesetzt  werden.  In  Fall  22  hat  die 
Operation  ihre  Schuldigkeit  gethan:  der  späte  Tod  an  Pneumonie 
war  nicht  zu  hindern  und  steht  sicher  ebenfalls  im  Zusammenhange 
mit  der  „Spätoperation". 

Der  operative  Eingrifif  selbst  bei  diesen  Erkrankungen  ist  sehr 
einfach,  um  so  mehr,  da  sich  bei  früher  Operation  der  Sitz  des 
Hindernisses  ante  operationem  meist  sicher  bestimmen  lässt,  und 
die  Operation  giebt,  wenn  die  Schlinge  mit  einigen  Nähten  an  dem 
Peritoneum  parietale  fixirt  wird,  eine  sichere  Garantie  gegen  die 
Wiederkehr  der  Drehung,  denn  die  geblähte  und  entzündete  Schlinge 
verwächst  natürlich  in  voller  Länge  mit  dem  Peritoneum  parietale. 
Wenn  man  in  der  Nachbehandlung  regelmässig  abführen  lässt,  so 
wird  sie  sich  wahrscheinlich  stets  so  lagern,  dass  die  Adhäsionen 
keine  Passagestönmgen  hervornifen.  Zur  Resection  des  Volvulus 
haben  vnr  in  unseren  Fällen  kein  ßedürfniss  empfimden. 

Eine  Entdrehung  eines  vollen  Volvulus  von  mehr  wie 
270°  durch  hohe  Eingiessungen  halte  ich,  das  betone  ich 
hier  nochmals,  für  völlig  unmöglich,  einmal  weil  der  abführende 
Darraschenkel  durch  den  um  ihn  gewickelten  zuführenden  voll- 
kommen verschlossen  ist,  sodann,  weil  die  geblähte  Schlinge  so 
fest  im  Bauche  fixirt  liegt,  dass  sie  sich  unmöglich  drehen  kann. 
Muss  man  doch  bei  der  Operation  zur  Entdrehung  ausnahmslos  die 


Beiträge  zur  Pathologie  und  Therapie  des  acuten  Darmverschlusses.     43 

Schlinge  ganz  aas  dem  Abdomen  herausziehen,  weil  sie  sich  sonst 
nicht  drehen  lässt. 

18.  Johann  Gaede,  55  J.,  aufgenommen  am  14.  5.,  entlassen  am  4.  6.  91. 
Danny erschluss  durch  Volvulus  S  romanum  um  180 <'.  Laparotomie. 
Heilung. 

Klinische  Krankengeschichte  mit  Anamnese,  Befund  und  Operations- 
bericht  nach  meinem  Dictat  ist  leider  verloren.  Ich  gebe  nachfolgend  die 
wesentlichsten  Züge,  deren  ich  mich  noch  entsinne.  (Heidenhain).  Ich 
wurde  zu  dem  Kranken,  einem  Stadtarmen,  älteren  Manne,  durch  Herrn  Prof. 
Peiper  von  hier  consultirt.  College  P.  erzählte  mir,  dass  schon  einmal  im 
Laufe  der  letzten  8  (oder  14?)  Tage  ein  vollkommener  Darmverschluss  mit  Er- 
brechen dagewesen  sei,  der  innerer  Behandlung  mit  Eingiessungen  wesentlich, 
wich.  Jetzt  bestünde  wieder  Brechneigung  bei  angehaltenem  Stuhl  und  Flatus. 
Bei  dem  elenden,  abgemagerten,  stark  senilen  Kranken  fand  sich  in  der 
rechten  Unterbauchgegend  zwischen  Mittellinie  und  Darmbeinschaufel 
eine  stark  geblähte  Darmschlinge,  die  ihren  Ort  nicht  änderte. 

Noch  am  selben  Vormittag  wurde  Pat.  in  die  Klinik  aufgenommen  und 
von  Prof.  Helfe  rieh  operirt.  Die  geblähte  Schlinge  erwies  sich  als  ein  S 
romanum  mit  sehr  langem  Mesenterium,  welches  sich  um  180^  gedreht  hatte. 
Entdrehung  des  Volvulus,  Bauchnaht.  Glatte  Heilung.  Pat.  ist  im  Sommer 
1894  an  Hirnerweichung  gestorben. 

Die  auffällige  Thatsache  eines  Darmverschlusses 
durch  einen  Volvulus  dies  S  romanum  von  nur  180^  er- 
klärten wir  uns  durch  eine  Insufficienz  des  Darmes  bei 
dem  stark  senilen  Manne.  (Vergl.  Fall  16  mit  epikritischer 
Bemerkung.) 

19.  V.,  E.,  34  Jahre,  Maurer,  Pasewalk.  Aufgenommen  und  gestorben 
am  14.  7.  95.    Volvulus  des  S  romanum.    Laparotomie.    Tod. 

Der  früher  ganz  gesunde  Mann  hat  im  letzten  Fräl\jahr  immer  schwere 
Arbeit  zu  verrichten  gehabt  und  schwer  heben  müssen.  Ende  Mai  95  hatte  er 
dadurch  heftige  Schmerzen  im  Unterleib,  die  mehrere  Wochen  anhielten,  doch 
konnte  er  dabei  seine  Arbeit  verrichten.  Seit  derselben  Zeit  hatte  er  auch  viel 
über  Stuhlverstopfung  zu  klagen,  die  den  ganzen  Sommer  anhielt,  während  er 
früher  nie  daran  gelitten  hatte.  Am  6.  7.  95  erkrankte  nun  Patient  mit  hef- 
tigen Schmerzen  im  Unterleib,  besonders  in  der  linken  Seite.  Die  Schmerzen 
nahmen  in  den  nächsten  Tagen  rasch  bedeutend  zu.  Der  Leib  wurde  von  Tag 
zu  Tag  mehr  aufgetrieben  und  gingen  keine  Winde  mehr  ab.  Dagegen  soll 
noch  Stahlgang  erfolgt  sein,  allerdings  nur  in  ganz  geringen  Mengen;  der 
Stuhl  soll  blutig  verfärbt  ausgesehen  und  zum  grössten  Theil  aus  Schleim  be- 
standen haben.  -  Da  am  9.  7.  zu  den  Beschwerden  noch  Erbrechen  hinzukam, 
coDSultirte  Patient  einen  Arzt,  der  Opiumtinctur  und  Klystiere  verordnete.  Da 
trotz  dieser  Therapie  keine  Besserung  eintrat,  Hess  sich  Patient  am  13.  7.  in 
die  hiesige  medicinische  Universitätsklinik  aufnehmen.  Hier  wurde  die  Dia* 
gnose  auf  Ileus  gestellt.     Patient  erhielt   sogleich  einen  hohen  Einlauf  von 


i 


44  Dr.  L.  Heidenhain. 

250  g  Oleum  olivaram,  ohne  jedoch  darauf  Stuhlgang  zu  bekommen.  Die  Nacht 
verbrachte  Patient  trotz  grösserer  Dosen  Opium  und  Morphium  sehr  unruhig. 
Die  Auftreibung  des  Leibes,  auf  den  eine  Eisblase  gelegt  wurde,  war  jetzt 
enorm  geworden.  Die  Schmerzen  steigerten  sich.  Das  AllgemeinlDefinden  des 
Patienten  wurde  zusehends  schlechter.  Patient  wird  deshalb  am  14.  7.  Mor- 
gens zwecks  einer  Operation  auf  die  hiesige  chirurgische  Abtheilung  verlegt. 

Status  praesens.  Patient  hat  massig  kräftige  Musculatur  und  starken 
Knochenbau,  frequente,  kurze  Athmung,  noch  leidlichen  Puls  und  gutes  Be- 
wusstsein.  Das  ganze  Abdomen  ist  prall  aufgetrieben,  die  Bauchdecken  sind 
aufs  straffste  gespannt.  Die  Leberdämpfung  ist  zum  grössten  Theil  ver- 
schwunden. Der  ganze  Bauch  mit  Ausnahme  einer  etwa  handtellergrossen 
Steile  dorsalwärts  verlaufend  gegen  die  Lendengegend,  die  gedämpften  Schall 
giobt,  zeigt  tympanitischen  Schall.  Die  Auftreibung  des  Bauches  ist 
links  etwas  stärker  als  rechts.  Die  Blase  ist  fast  leer,  der  Urin  zeigt 
keine  pathologischen  Bestandtheile.  Im  Magen,  der  einer  Ausspülung  unter- 
worfen wird,  befindet  sich  wenig  Inhalt. 

Operationsgeschichte.  Es  wird  sofort  zur  Operation  in  Aether- 
narkose  geschritten.  Nach  gründlicher  Desinfection  wird  ein  Schnitt  von  etwa 
8  cm  Länge,  circa  3  cm  unterhalb  des  Nabels  anfangend,  gemacht.  Nach  Er- 
öffnung des  Peritoneums  drängt  sich  eine  stark  geblähte  Darmschlinge  in  die 
Wunde.  Der  palpirende  Finger  fühlt  in  der  Bauchhöhle  eine  stark  aufgeblähte, 
grosse  Schlinge,  offenbar  dem  Dickdarm  angehörend,  die  von  links  unten  nach 
rechts  oben  verläuft.  Da  von  diesem  Schnitt  aus  bei  dem  starken  Meteorismus 
unmöglich  Klarheit  über  die  Lage  und  Art  des  Darmverschlusses  geschafft 
werden  kann,  wird  die  Bauchhöhle  durch  einen  Schnitt  von  der  Symphyse  bis 
zum  Processus  ensiformis  eröffnet.  Es  quellen  aus  dem  Abdomen  stark  ge- 
blähte Darmschlingen  hervor.  Nun  erkennt  man,  dass  der  lebhaft  injicirte  und 
noch  geringe  Peristaltik  zeigende  Dickdarm  in  der  Höhe  der  Flexura  sigmoidea 
gedreht  ist  und  zwar,  wie  die  Rückdrehung  zeigt,  um  volle  3G0^,  dass  der 
Darm  also  zweimal  gedreht  ist.  Es  wird  nun  eine  stark  geblähte  Dickdann- 
steile ausserhalb  des  Bauches  gelagert,  nachdem  die  übrigen  Darmpartien  durch 
feuchtwanne  aseptische  Tücher  geschützt  sind,  und  incidirt.  Sofort  entweicht 
Cias  und  eine  beträchtliche  Menge  dünnflüssigen,  stinkenden  Kotbes.  Nachdem 
durch  diese  Oeflfnung  so  viel  Inhalt  entfernt  ist,  dass  eine  Reposition  der  Darm- 
schlingen möglich  erscheint,  wird  die  Darmwunde  nach  vorheriger  peinlicher 
Reinigung  der  Umgebung  genäht.  An  zwei  Stellen  ist  die  Serosa  des  Dick- 
darms in  Folge  der  Spannung  geplatzt:  auch  diese  Stellen  werden  durch  Nähte 
vereinigt.  Dann  werden  die  Intestina  in  die  Bauchhöhle  zurückgelagert.  Um 
vor  einer  Wiederkehr  der  Drehung  sicher  zu  sein,  werden  dann  der  zu-  und 
abführende  Theil  der  Flexura  sigmoidea  je  durch  eine  Naht  an  die  vordere 
Bauchwand  angeheftet.  Darauf  erfolgt  die  Naht  der  Bauchdecken  in  Etagen 
(Peritoneum,  Muskel  und  Fasoien,  Hautdecken).  Collodiumverband.  Patient 
befindet  sich  nach  der  Operation  relativ  wohl.  Am  Nachmittag  jedoch  treten 
heftige«  erschöpfende  Durchfalle  auf.  Gegen  Abend  ziemlich  rasch  eintretender 
CoHaps,  den  Excitantien  nicht  mehr  zu  heben  vermochten.  Exitus  letalis  um 
8  Uhr  Abends. 


Beiträge  zur  Pathologie  und  Therapie  des  acuten  Darmverschlusses.     45 

Sectionsprotokoll.  Kräftig  gebaute  männliche  Leiche  mit  starken 
Knochenformen.  Die  Haut  ist  schmutzig  graugelb.  Das  Abdomen  ist  sehr 
stark  aufgetrieben,  leicht  grünlich  gefärbt.  In  der  Mitte  ißs  Bauches  verläuft 
eine  ca.  30  cm  lange  Schnittwunde,  welche  durch  Nähte  geschlosben  ist  und 
von  einem  schmalen  hellrothen  Saume  eingefasst  wird.  Die  Wundränder  sind 
verklebt.  Nach  Eröffnung  des  Bauches  drängen  sich  durch  die  Schnittwunde 
die  excessiv  erweiterten  Darmschlingen,  besonders  der  ad  maximum  gedehnte 
Dickdarm.  An  verschiedenen  Stellen  des  Dickdarmes  ist  die  Serosa  eingerissen, 
so  dass  die  Muscularis  auf  grössere  Strecken  hin  blossliegt.  Drei  dieser  Serosa- 
risse sind  durch  mehrere  Catgutnähte  geschlossen.  Um  zu  constatiren,  ob  die 
durch  die  Operation  geschafifene  normale  Lagerung  der  Flexur  auch  bei  noch 
grösserer  Ausdehnung  des  Darmes  erhalten  bleibt,  wird  per  rectum  Luft  in  den 
Darm  geblasen.  Hierbei  lässt  sich  zunächst  nun  feststellen,  dass  der  Darm  in 
allen  Theilen  durchgängig  ist.  Bei  stärkerer  Füllung  des  Dickdarms  reissen 
nun  alsbald  die  genähten  Serosarisse  wieder  auf  und  bald  darauf  platzt  an 
verschiedenen  Stellen  die  Darmwand.  Im  Bauchraum  befinden  sich  etwa 
50  ccm  einer  trüben,  sohmutzig-gelbgrauen  Flüssigkeit.  Der  Peritonealüberzug 
der  in  der  linken  Bauchhälfte  gelegenen  Darmschlingen  ist  trocken,  von  mattem 
Aussehen,  theilweise  mit  weissen,  weichen  Massen  bedeckt.  Die  Darmschlingen 
sind  theils  nnt«r  sich,  theils  mit  der  Bauchwunde  leicht  verklebt.  Es  wird 
nunmehr  der  Dickdarm  herausgenommen,  doch  so,  dass  an  der  Flexur  die 
Radix  des  angehörigen  Mesenteriums  mit  ausgelöst  wird,  so  dass  auf  diese 
Weise  die  Configuration  der  Schlinge,  wie  sie  in  situ  war,  erhalten  bleibt. 
Zum  Zweck  der  Auslösung  müssen  zwei  Catgutnähte,  die  die  Flexur  mit  der 
Bauchwand  verbinden,  durchti'ennt  werden.  Bei  der  Herausnahme  der  Flexur 
wird  eine  weissliche  sehnige  Verdickung  am  Ansatz  des  Mesenteriums  sichtbar, 
die  allmälig  gegen  die  Peripherie  der  Schlinge  hin  abnimmt,  doch  derart,  dass 
auch  die  Serosa  der  Schlinge  nicht  zart  und  graudurchscheinend  wie  normale 
Serosa  ist.  In  Folge  dieser  Narbenbildung  (als  solche  müssen  wir  sie  be- 
zeichnen) im  Mesenterium  der  Flexur  sind  die  beiden  Ansatzpunkte  der  Flexur 
einander  beträchtlich  genähert.  Der  Abstand  zwischen  beiden  Fusspunkten 
betragt  nur  2Y2  cm.  Ferner  bemerkt  man,  dass  die  Serosa  des  Ileum  etwa 
10  cm  oberhalb  der  Bauhin 'sehen  Klappe  auf  einer  etwa  5  cm  betragenden 
Strecke  diffus  verdickt  ist.  Diese  Stelle  befindet  sich  in  unmittelbarer  Nähe 
des  fibrös  verdickten  Theiles  der  Flexur.  Von  dieser  Dünndarmschlinge  zieht 
ein  derber  bindegewebiger  Strang  ins  Becken  gegen  das  Promontorium  hin, 
wo  er  verbreitert  inserirt.  Das  Duodenum  enthält  flüssigen,  fdcal  riechenden 
Inhalt,  der  gelblich  gefärbt  ist.  Die  Gallengangspapille  ist  durchgängig.  Die 
Schleimhaut  von  gelblich  rother  Farbe  enthält  auf  der  Höhe  der  Falten  zahl- 
reiche punktförmige  Hämorrhagien.  Auch  der  Magen  ist  mit  kothig  riechendem 
Inhalt  von  ungefähr  500  ccm  Menge  erfüllt.  Die  Mucosa  ist  mit  Schleim  be- 
deckt. Auf  der  Höhe  der  Falten  befinden  sich  zahlreiche  Hämorrhagien  in  der 
graurothen  Schleimhaut.  Der  ganze  Dünndarm  ist  mit  fäcalriechendem,  reich- 
lichem, flüssigem  Inhalt  erfüllt.  Die  Serosa  fast  überall  trocken,  matt,  aber 
mit  Ausnahme  der  oben  beschriebenen  Stelle  im  Ileum  zart.  Die  Schleimhaut 
zeigt  an  verschiedenen  Stellen  umfangreiche  Blutungen,  an  anderen  Stellen 


46  Dr.  L.  Heidenhain, 

ist  sie  grauroth,  aber  von  etwa  gallertiger  Beschaffenheit.  Im  Dickdarm  be- 
findet sich  eine  grosse  Menge  gelblichen,  flüssigen,  stark  übelriechenden  In- 
halts. Die  SchleiiQhaut  ist  stark  ödematös.  Im  ganzen  Dickdarm  bis  zur 
Fiexur  hin  finden  sich  massenhafte,  schwarzroth  aussehende  Blutungen  in  der 
Mucosa  und  Submucosa,  Blutungen,  welche  entweder  unregelmässig  grosse 
Partien  des  Darmes  einnehmen,  so  besonders  im  Coecum  und  im  Colon  descen- 
dens,  oder  aber  in  ihrer  Ausbreitung  dem  Verlauf  der  Tänien  und  der  Septen 
zwischen  den  Haustra  coli  folgen  uud  somit  in  diesen  Theilen  ganz  das  Bild 
darbieten,  wie  man  es  im  ersten  Stadium  der  Ruhr  findet.  In  der  Mitte  dieser, 
also  „striokleiterartig^^  angeordneten  Blutungen  trifft  man  gelblich  opak ,  wie 
necrotisch  aussehende  Schleimhautfelder.  Auch  oberhalb  der  grösseren,  zu- 
sammenhängenden Blutungen  trifft  man  ähnliche,  nur  entsprechend  grössere 
Abschnitte  nekrotischer  Schleimhaut.  Distal  am  unteren  Ende  der  Fiexur  hört 
diese  starke  Veränderung  der  Schleimhaut  plötzlich  in  einer  scharfen  Linie 
auf.  Unterhalb  dieser  Linie  ist  der  Dickdarm  oontrahirt,  mit  wenig  Inhalt 
erfüllt.  Die  Schleimhaut  grauweiss  und  mit  massigem  Blutgehalt  in  den 
Gefässen. 

Diagnose:  Peritonitis  fibrinosa.  Dilatatio  coli,  ilei,  j^uni.  Discisiones 
serosae  coli.  Colitis  haemorrhagioa  et  gangraenosa.  Cicatrix  mesenterii. 
Peritonitis  chronica  fibrosa  flexurae  et  ilei.  Dilatatio  ventriculi  cordis  sinistri. 
Atolootasis  lobi  inferioris  pulmonis  utriusque.  Pleuritis  adhaesiva.  Bronchitis 
oatarrhalis. 

Die  Beobachtung  ist  schon  in  der  Dissertation  von  Reimers^) 
voniffentlicht.  Ich  habe  sie  hier  vollkommen,  namentlich  mit  dem 
ausführlichen  Soctionsprotokoll  wiedergegeben,  weil  dieses  letztere 
zeigt,  wie  enorme  Veränderungen  nach  durch  so  lange  andauernden 
Darmverschluss  in  den  zuführenden  Darmtheilen  entstehen.  Die 
Schleimhaut  des  ganzen  Dickdarmes  war  mit  Blutungen  durchsetzt 
wie  in  don  ersten  Stadien  der  Ruhr;  dazu  fanden  sich  Nekrosen 
der  Schleimhaut.  Blutungen  fanden  sicU  noch  im  Ileum.  Der 
^anzo  Dünndarm  war  mit  gestautem  Inhalt  erfüllt.  Angesichts 
solcher  schweren  anatomischen  Veränderungen  der  Darmwand  ist 
doch  wahrlich  post  operationcm  die  gründliche  Entleerung  des 
l>armes  durch  Abführmittel  angezeigt.  Es  müssen,  geschieht  dies 
nicht,  ja  mit  Nothwendigkeit  die  schwersten  geschwürigen  Processe 
in  der  Schleimhaut  und  mit  diesen  allgemein  septicämische  Zu- 
stände entstehen!  Djiss  von  solchen  schweren  Schleimbautverän- 
(lerunpM\  sehr  Icichi  eine  secundäre  Peritonitis  ausgehen  kann, 
braucht  kaum  bemerkt  i\\  wcnlen  o'^^rgl.  Fall  12  und  22). 

i"^  IWiir«^  lur  Li^br^  d<^s  Votvulus  der  Flexura  sigmoidea.   Greifswald  1896. 


Beiträge  zur  Pathologie  and  Therapie  des  acuten  Darmversohlasses.     47 

2#^).  Der  66jährige  Arbeiter  W.  W.  gab  an,  seit  mehreren  Jahren  an 
onregelmässigem  Stuhlgang  und  öfteren  Kolikschmerzen,  welche  dem  Stuhl- 
gang Yoraufgingen,  gelitten  zu  haben.  Seit  14  Tagen  habe  er  3- -4  mal  2  oder 
3  Tage  keinen  Stuhl  und  dabei  Schmerzen  im  Leibe  gehabt ;  der  Stuhl  sei  von 
selbst  wiedergekommen.  Bauchfellentzündung,  Typhus,  Ruhr,  Quetschung  des 
Bauches  nicht  durchgemacht.  Am  17.  8.  95  habe  er  Morgens  vor  Beginn  der 
Arbeit  heftige  Leibschmerzen  bekommen;  Stuhl  und  AVinde  seien  seitdem  völlig 
ausgeblieben,  anfallsweise  Leibschmerzen  hätten  angehalten.  Erbrechen  sei 
nicht  dagewesen,  doch  habe  er  absolut  nichts  zu  sich  nehmen  können. 

Aufgenommen  am  24.  8.  95.  Kräftiger  Mann,  leidlicher  Ernährungs- 
zustand, Lungen  gesund,  Puls  gut,  kein  Fieber. 

Starke  Hervorwölbung  der  Bauch  wand  in  der  rechten  Beckenhälfte  durch 
eine  mächtig  aufgetriebene  Darmschlinge,  welche  bis  zur  Mittellinie  reicht. 
Des  weiteren  starke  Hervorwölbung,  mit  ebenfalls  hoch  tympanitischem  Schalle, 
über  dem  Colon  desc,  transv.  und  ascend. ;  Epigastrium  durch  das  Colon 
stark  hervorgewölbt;  in  der  Mitte  des  Bauches,  um  den  Nabel  herum,  eine 
schüsselformige  Vertiefung  in  Folge  mangelnder  Auftreibung  des  Dünndarmes. 
Paüpation  erregt  schmerzhafte  peristaltische  Wellen  im  Dickdarm,  welche  zu 
noch  stärkerer  Hervorwölbung  dieses  führen.  Keine  diffuse  Druckempfindlich- 
keit; Bruchpforten  frei;  per  rectum  fühlt  man  durch  die  vordere  Mastdarmwand 
ein  Bündel  schlaffer,  wenig  gefüllter  Dünndarmschlingen. 

Die  stark  geblähte  Darmsohlinge  in  der  rechten  Beckenschaufel  wird  als 
S  Romanum  angesprochen.  Diagnose:  tiefer  Dickdarmversohluss  (Narben- 
strictur,  Bänder  und  Stränge  bildende  Peritonitis,  Carcinom  oder  Yolvulus; 
letzteres  möglich  wegen  der  sehr  starken  Blähung  der  Flexur). 

Bei  dem  guten  Kräftezustande  und  der  Sicherheit  über  den  Sitz  des  Hin- 
dernisses war  die  Laparotomie  dringend  angezeigt,  da  die  Vorgeschichte  des 
Kranken  eine  spontane  Lösung  des  Hindernisses  nicht  erwarten  liess. 

Operation  2  Stunden  nach  der  Aufnahme:  Aethernarkose.  Nach  Eröff- 
nung des  Leibes  in  der  Mittellinie  drängt  sich  sofort  eine  stark  geblähte  Dick- 
dannschlinge in  die  Wunde.  Ich  lasse  dieselbe  nach  dem  Vorschlage  von 
Greig  Smith  theilweise  austreten;  ihr  einer  Schenkel  entwickelt  sich  schnell, 
der  andere  scheint  im  Bauchraum  fixirt.  Entlang  dem  fizirten  Schenkel,  der 
in  der  Richtung  nach  dem  Promotorium  verläuft,  gelangt  die  Hand,  ungefähr 
an  dem  Uebergange  des  grossen  in  das  kleine  Becken,  an  einen  vollkommen 
leeren,  nur  etwa  zwei  Finger  starken  Abschnitt  der  Schlinge.  An  dem  Ueber- 
gange des  geblähten  in  den  leeren  Abschnitt  der  Schlinge  ist  irgend  ein  Band 
oder  Strang  um  den  Dickdarm  geschlungen.  Weitere  Orientirung  war  unmög- 
lich ohne  ein  Hervorziehen  der  geblähten  Dickdarmschlinge,  welche  wenigstens 
die  Dicke  des  Vorderarmes  eines  sehr  starken  Mannes  hatte.  Dabei  zeigte  sich, 
dass  dieselbe  das  sehr  lange  und  an  seinem  Fusspunkte  um  360  o,  oder  fast  so 
viel  gedrehte  S  Romanum  war.    Am  Fusspunkte  der  Schlinge  starke  narbige 


>)  Aus:  L.  Heidenhain,   lieber  Darmlähmung  nach  Darmeioklemmung, 
Deutsche  Zeitschrift  für  Chirurgie,  Bd.  48,  S.  201,  abgedruckt. 


48  Dr.  L.  Heidenhain, 

Schrumpfung  des  Mesenteriums  derart,  dass  die  beiden  Schenkel  der  Schlinge 
sich  fast  berührten;  ausserdem  peritonitische,  dünne,  strangartige  Adhäsionen 
der  beiden  Schenkel  an  einander.  Trennung  der  letzteren;  Entfaltung  des 
Mesenteriums  unmöglich.  Quere  Incision  der  Flexur  an  der  Convexitat,  Ent- 
leerung von  Gasen  und  400—500  ccm  flüssigem  Darminhalt  durch  Druck  auf 
die  Schlinge  und  den  Bauch;  Darmnaht;  Fixirung  der  Convexitat  der  nun 
leicht  reponirten  Schlinge  durch  zwei  Seidennähte  am  Peritoneum  parietale; 
Schi  US  der  Bauch  wunde.  Operationsdauer  1  Stunde,  beendet  6  Uhr  Nachmit- 
tags. Nach  Erwachen  aus  der  Narkose  zur  Anregung  der  Peristaltik  schwarzer 
Kaffee  verabreicht.    Abgang  von  Flatus;  Nachts  3  Uhr  Stuhl. 

25.  8.  Afebril.  Wohlbefinden.  26.  8.  Seit  gestern  Abend  weder  Stuhl 
noch  Flatus;  Dickdarm  in  ganzer  Länge  aufgetrieben,  fast  so  stark,  wie  vor 
der  Operation.  Glycerinklysma  schafft  nur  wenig  flüssigen  Stuhl,  untermischt 
mit  etlichen  härteren  Bröckeln,  darum  Einlauf  von  1  Liter  Wasser.  Stuhlgang, 
Auftreibung  geringer.  27.  8.  Trotz  mehrfachen  Abgangs  von  Flatus  Dick- 
darm wieder  stark  aufgetrieben;  auf  Ricinus  Stuhlgang  mit  Weichwerden  des 
Leibes.  Unter  Fortgebrauch  von  Ricinus  und  gelegentlichen  Gaben  von  Bis- 
muth.  subnitr.  glatte  Genesung.  Bis  zum  8.  9.  gelegentlich  Störungen  durch 
Blähung  des  Dickdarmes. 

Geheilt  entlassen  am  9.  9. 

21.  K.,  Joachim,  70  Jahre,  Arbeiter,  Heidenhof.  Aufgenommen  am  12.  8., 
entlassen  am  29.  8.  96.    Volvulus  des  S  Romanum,  Laparotomie,  Heilung. 

Hat  nie  Typhus,  Bauchfell-  oder  Blinddarmentzündung  gehabt.  Bauch- 
verletzung nicht  dagewesen.  Stuhlgang  bisher  regelmässig  täglich.  7.  8.  letzter 
Stuhlgang  und  zwar  etwas  weniger  als  gewöhnlich.  10.  8.  Abends  der  an- 
dauernden Verstopfung  halber  Dr.  Hecke- Jarmen  um  Rath  gefragt:  Ricinusöl 
und  Klystiere  blieben  erfolglos,  erregten  aber  heftige  Schmerzen,  die  seitdem 
anhalten.    Erbrechen  nicht  dagewesen. 

Befund  12.  8.  Mittags:  auffallend  jugendlich  und  rüstig  aussehender 
Mann,  frischrothe  Lippen,  kräftiger,  langsamer  Puls,  geschlängelte  Radialis, 
ängstlicher  Gesichtsausdruck;  Musculatur  und  Fettpolster  massig. 

Abdomen  massig  vorgewölbt;  die  ganze  Unterbauch gegend  vom  Nabel 
abwärts  weich,  eindrückbar;  die  obere  Bauchgegend  vom  Schwertfortsatz  bis 
Nabel  weist  etw^as  stärkere  Resistenz  auf.  Der  Schwertfortsatz  liegt  in  einer 
tiefen  Grube.  Leberdämpfung  ist  auf  der  Vorderseite  nicht  vorhanden.  Im 
5.  Intercostalraum  —  Mammillarlinie  —  geht  der  Lungenschall  in  stark  tyra- 
panitischen  Schall  über.  Keine  absolute  Herzdämpfung,  Spitzenstoss  unfühl- 
bar, aber  sichtbar  an  normaler  Stelle. 

Die  genauere  Betrachtung  des  Abdomen  zeiget  Folgendes:  In  der  Höhe 
des  Nabels  zieht  querüber  eine  seichte  Furche,  durch  welche  der  etwas  stärker 
gewölbte  untere  Theil  des  Bauches  von  dem  oberen  abgegrenzt  ist.  Am  stärk- 
sten und  zwar  flächenkugelig  ist  die  Gegend  zwischen  Spina  ant.  sup. 
dext.  und  der  Medianlinie  hervorgewölbt.  Wenn  ein  Kolikanfall  eintritt, 
was  fast  alle  4  Minuten  der  Fall  ist,  so  wird  aus  der  flach  kugeligen  Her- 
Yorwölbung  eine  halbkugelige  und  dabei  zieht  über  diese  etwa  in  der  Rieh- 


Beiträge  zur  Pathologie  und  Therapie  des  acuten  Darmverschlusses.     49 

tiing  von  der  Symphyse  zur  Mitte  der  Lendengegend  eine  ganz  seichte  Furche. 
Im  Uebrigen  wird  bei  jedem  Kolikanfalle  das  gesammte  Abdomen  stärker  her- 
Torgewölbt,  als  im  Ruhezustände.  Hier  und  da,  insbesondere  beim  Beginn  der 
Koliken,  sieht  man  Darmbewegungen  durch  die  dünnen  Bauchdecken.  Bei  der 
Palpation  weist  die  geblähte  Darmschlinge  in  der  Fossa  iliaca  dext.  das  cha- 
rakteristische weiche  Polsterkissengefühl  auf.  Man  hat  entschieden  den 
Eindruck,  als  ob  die  ganze  handfläch  engrosse,  hoch  tympanitisch  schallende 
Prominenz  in  der  rechten  Unterbauch  gegen  d  durch  eine  einzige  geblähte 
Darmschlinge  gebildet  würde.  Demnächst  ist  in  der  linken  Bauchseite  mit 
ziemlicher  Sicherheit  eine  mindestens  3  Querfinger  breite,  geblähte  Darm- 
schlinge durchzufühlen,  welche  etwa  von  der  Symphyse  her  schräg  nach  links 
aufwärts  und  aussen  zieht  und  etwa  dem  Schnittpunkt  der  linken  Mammillar- 
linie  mit  dem  Rippenbogen  zusteuert,  jedoch  2  Querfinger  unerhalb  des  Rippen- 
bogens in  der  Tiefe  verschwindet.  Das  Epigastrium  ist,  namentlich  bei  Kolik- 
wellen, von  einem  querverlaufenden ,  tympanitisch  schallenden  Wulste  ein- 
genommen, der  offenbar  dem  Quercolon  entspricht. 

Die  vorderen  Theile  des  Abdomens  weisen  überall  tympanitisch en  Schall 
auf,  die  linke  Lendengegend  bis  zur  Mammillarlinie  stark  gedämpft  tympani- 
tischen,  die  rechte  Lendengegend  fast  leeren  Schall  bis  zur  Axillarlinie.  In 
der  Blasengegend  ist  der  Schall  etwas  gedämpft.  Die  stark  gefüllte  Darm- 
schlinge in  der  rechten  Unterbauchgegend  verändert  ihren  Platz  durchaus 
nicht,  auch  nicht  bei  Kolikanfällen,  ebenso  wenig  die  schräg  verlaufende  in 
der  linken  Bauchseite. 

Beiderseits  eine  kleine,  leicht  reponible  Inguinalhernie,  deren  Bruch- 
pforten für  2  Finger  bequem  durchgängig  sind.  An  den  Innenseiten  der  Bruch- 
pforten nichts  Abnormes.  Bei  der  Rectal  Untersuchung  fühlt  man  mit  der 
Spitze  des  Fingers  durch  die  Vorderwand  des  Mastdarms  eine  stark  hühnerei- 
grosse,  prall  gefüllte  Darmschlinge,  sonst  nichts  Besonderes. 

Diagnose  ante  operationem:  Der  Befund  lässt  mit  fast  voller  Sicher- 
heit einen  tiefen  Verschluss  des  Dickdarms  annehmen.  Die  in  der  rechten 
Fossa  iliaca  gelegenen  Darmschlingen  mitsammt  der  Schlinge,  welche  von 
der  Symphysengegend  nach  dem  linken  Rippenbogen  zieht,  wird  als  geblähtes 
S  Romanum  angesprochen.  Diese  Lagerung  der  Flexur  ist  so  charakteristisch 
für  Volvalus  flexurae,  dass  ein  solcher  als  wahrscheinlich  vorliegend  ange- 
nommen wird.  Diese  Annahme  scheint  dadurch  unterstützt  zu  werden,  dass 
bei  dem  hoch  tympanitischen  Schalle  der  obenaufliegenden,  mächtig  geblähten 
Dannschlinge  beide  Lendengegenden  einen  stark  tympanitisch  gedämpften 
Schall  aufweisen,  welcher  auf  eine  Füllung  des  auf-  und  absteigenden  Colon 
hinzuweisen  scheint.  (Da  die  Operation  einen  geringen  Ascites  nachwies,  so 
ist  dieser  ante  operationem  festgelegte  Schluss  hinfällig.)  Gegen  Volvulus 
scheint  zu  sprechen,  dass  die  Krankheit  allmälig  einsetzte  (Freitag  Stuhl, 
Sonnabend  wenig,  Sonntag  gar  keiner;  Koliken  erst  seit  dem  am  Sonnabend 
Abend  gegebenen  Abführmittel).  Doch  wäre  es  möglich,  dass  schon  seit  län- 
gerer Zeit  ein  noch  durchgängiger  Volvulus  von  etwa  180 ^^  bestanden  hat,  der 
sich  erst  von  Sonnabend  zu  Sonntag  oder  Montag  vollkommen  zudrehte.  — 

ArehiT  fttr  klin.  Chirurgie.    67.  Bd.    Heft  1.  4 


50  Dr.  L.  Heidenhain, 

Bei  dem  Alter  des  Patienten  ist  ein  tief  sitzendes  üickdarmcarcinoin  ebenfalls 
möglich,  doch  spricht  dagegen  einigermaassen  die  Angabe,  dass  niemals  Obsti- 
pation bestanden  haben  soll.  Dass  die  oben  aufliegende,  mächtig  geblähte 
Schlinge  Dünndarm  sei  und  ein  Dünndarmverschluss  bestehe,  ist  selbstver- 
ständlich nicht  vollkommen  auszuschliessen. 

Zunächst  3  Uhr  hoher  Einlauf  von  50l)  com  Olivenöl,  geht  ohne  Wider- 
stand glatt  in  den  Darm  hinein.  ^/^  Stunden  später,  nachdem  ein  grosser  Theil 
des  Oels  abgelaufen,  hoher  Einlauf  von  1  Liter  Wasser.  Um  4Y2  Uhr  ist  nur 
kothig  gefärbtes  Wasser  abgegangen,  daher 

Operation  (Heiden hain)  in  Narkose  (Chloroform  bis  zum  Schwinden 
des  Bewusstseins ,  dann  Aether  in  Schüttelmaske):  Schnitt  vom  Nabel  bis 
2  Finger  breit  oberhalb  der  Symphyse.  Nach  Eröffnung  des  Peritoneums 
drängt  sich  sofort  weit  aufgeblähter  Dickdarm  hervor.  Die  an  diesem  nach 
der  Tiefe  in  das  Becken  dringende  Hand  fühlt  sofort  in  der  Höhe  des  Pro- 
montoriums eine  Ueberdrehung.  Die  geblähte  Dickdarmschlinge  wird 
ganz  hervorgezogen  und  erweist  siclL-als-jeiii.^zura  grossen  T heile  in  der 
rechten  Beckenhälfte  lie^<Si®BWvM>fiiÖ^>des  S  romanum,  Drehung 
um  360^  nach  links.    RücyWfiingj'^MSS^TttCTiumCM  sehr  lang,  Darm- 

rohre am  Fusspunkte  3  FiMfr  breit  von  einander  (»«^rnt,  Mesenterium  ohne 
narbige  Veränderungen,  Barm  sjlM4^6  wIQQQ^läulibh  verfärbt,  zeigt  bald 
Peristaltik.  DurchmesserWfes  Darms  ca.  4  FingerlBfo/eit.  Darmrohr  in  den 
Anus  handbreit  eingeführt ;\s  etkweiohgi»ontcrZgsaiamenfallen  des  S  romanum 
eine  Menge  Gase  und  etwasNtM^i^rpji^jj^,jK^osition  der  Flexur  darauf 
leicht.  Fixation  derselben  an  derPeriTonealwunde  des  Bauchschnittes  durch 
drei  Seidenknopfnähte  zur  Vermeidung  einer  Wiederkehr  des  Volvulus.  Etagen- 
naht der  Bauchwunde. 

Operation  gut  überstanden.  Puls  am  Ende  72,  kräftig.  Abends  9  Uhr 
schwarzer  Kaffee  mit  1  Esslöffel  Ricinus,  dazu  Darmrohr  in  den  Anus. 

13.  8.  Nachts  drei  Stühle,  heute  über  Tag  vier  solche.  Wohlbefinden. 

Verlauf  glatt  bis  auf  eine  umschriebene  pneumonisch-pleuritische  Störung 
vom  20. — 24.  8.    Geheilt  entlassen  in  völligem  W^ohlbefinden  am  29.  8.  %. 

23.  Carl  Neumann,  63  J.,  Kutscher  aus  lluhhof.  Aufgenommen  am  13.  1., 
gestorben  am  27.  1.  97.  Volvulus  des  S  romanum,  Laparotomie  und  Detorsion. 
Tod  an  Pneumonie. 

Bisher  stets  gesund  gewesen.  Am  9.  1.  Nachmittags  kam  der  N.  von 
einer  längeren  Fahrt  nach  Hause,  eine  V^iertclstunde  später  begannen  heftige, 
anfallsweise  auftretende  Schmerzen  im  Unterleibe  begleitet  von  Erbrechen. 
Seitdem  ist  kein  Erbrechen  mehr  da  gewesen,  allein  die  Schmerzen  hielten  un- 
verändert bis  heute  an.  Stuhl  und  Blähungen  waren  völlig  angehalten;  nur 
heut  (13.  1.)  früh  soll  eine  Blähung  abgegangen  sein  und  während  der  Fahrt 
hierher  etwas  Stuhl.  Der  Stuhlgang  ist  übrigens  früher  stets  regelmässig 
gewesen. 

Aufnahm ebefund  am  13.  1.  97  Abends:  Mittelgrosser,  magerer  Mann, 
schwache  Musculatur,  Gesichtsausdruck  leidend,  tief  liegende  Augen.  Herz 
und  Lungen  ohne  abnormen  Befund.  Geringe  Atheromatose  der  Gefässe.  Puls 


Beiträge  zur  Pathologie  und  Therapie  des  acuten  Darmverschlusses.      51 


kraftig,  ca.  100,  oft  aussetzend.  Temperatur  normal.  Abdomen  massig  auf- 
getrieben, mittelstark  gespannt,  bei  starkem  Drucke  in  der  Nabelgegend  etwas 
empfindlich.  Eine  stark  geblähte  und  fixirte  Darmschlinge  liegt  in  der  linken 
Bauchseite  und  ragt  ein  wenig  nach  der  rechten  Seite  hinüber.  Sie  zieht 
(vergl.  Bild  11)  von  unten  und  links  nach  oben  und  rechts  von  der  Mittel- 
linie bis  fast  zum  Leberrande  aufwärts,  biegt  dann  \un  und  steigt  wieder  in 
der  Richtung  nach  der  Spina  ant.  sup.  sin.  abwärts.  Gesicht  und  Gefühl 
lassen  deutlich  erkennen,   dass  es  sich  um  eine  sehr  stark  geblähte  Darm- 

Fig.  11. 

Leberdämpfung 


leifht  gedimpfler^,--- 
tjmpanitiseher      "-^-, 
Bexirk 


hoch 
tympanitiseh 


rün  aussen  sieht-  oud  fühlbar  stark  geblähte  Schlinge 

Volvulus  Neumann. 

schlinge  handelt.  Der  Schall  über  derselben  ist  hoch  tympanitisch,  während 
über  den  übrigen  Theilen  des  Abdomens  der  Schall  gedämpft  tympanitisch  ist. 
Feristaltischc  Bewegungen  des  Darmes  sind  nicht  sichtbar.  Lebevdämpfung  in 
der  Mamillarlinie  zwd  Finger  breit  über  dem  Rippenbogen,  in  der  Mittellinie 
ara  Schwertfortsatz.    Faustgrosse,  leicht  reponible  Skrotalhernie. 

Bei  einem  hohen  Einlauf  laufen  nur  ca.  ^/^  1  ein  und  gehen  sofort  wieder 
ab,  so  dass  auf  ein  tief  sitzendes  Hinderniss  geschlossen  wird. 

Die  Lage  der  mächtig  geblähten  fixirten  Darmschlinge  entsprach  nach 

4* 


52  Dr.  L.  Heidenhain, 

unseren  Erfahrungen  dem  S  romanum.  Dessen  gewaltige  Blähung  und  der 
acute  Beginn  sprachen  für  einen  Volvulus  des  S  romanum.  Für  einen  chro- 
nischen Verschluss  sprach  dagegen  das  gute  Allgemeinbefinden  und  der  an- 
geblich zeitweilige  Abgang  von  etwas  Stuhl  und  vereinzelten  Blähungen,  auch 
das  Alter  des  Kranken  und  das  etwas  kachektische  Aussehen.  Doch  erschien 
ein  Volvulus  noch  wahrscheinlicher,  als  ein  Carcinom.  Operation,  weil  der 
Kranke  sich  erst  etwas  von  der  weiten  Eisenbahnfahrt  erholen  soll,  auf  den 
folgenden  Tag  verschoben. 

14.  1.  Vormittags  Laparotomie.  Medianschnitt  handbreit  oberhalb  des 
Nabels  beginnend,  bis  fast  zur  Symphyse  (Helferich).  Bei  Eröffnung  der 
Baachhöhlo  wird  die  stark  hervorgewölbte  Dannschlinge  angeschnitten,  und 
es  entleert  sich  im  Strahle  eine  grosse  Masse  von  Koth  und  Gasen,  deren  Ein- 
fliessen  in  die  Bauchhöhle  durch  schnelles  Anziehen  der  eröffneten  Schlinge 
leicht  verhindert  wird.  Die  Schlinge  wird  theilweise  aus  der  Bauchhöhle  her- 
vorgezogen und  vollkommen  entleert,  darauf  ausgespült.  Naht  der  Darmwunde 
in  drei  Etagen.  Darauf  völlige  Entwickelung  der  Schlinge  aus  dem  Bauche. 
Sie  erweist  sich  als  das  vollkommen  um  seine  Achse  gedrehte  vS  romanum. 
Die  beiden  Schenkel  der  Flcxur  sind  in  ihrer  ganzen  Länge  mit  einander  ver- 
wachsen, so  dass  sie  neben  einander  liegen,  wie  die  beiden  Rohre  einer  Doppel- 
flinte. Die  Drehung  sitzt,  wie  gewöhnlich,  am  Fusspunkte  und  beträgt  360^ 
oder  fast  so  viel.  Der  absteigende  Schenkel  ist  dicht  oberhalb  des  Promon- 
toriums mit  Dünndarmschlingen  verwachsen  und  von  ihnen  überlagert,  so  dass 
eine  volle  Orientirung  erst  gelingt,  nachdem  der  gesammte  Dünndarm  aus  dem 
Bauche  herausgehoben  und  nach  rechts  hin  übergeschlagen  ist.  Detorsion,  Re- 
position, Fixation  der  Flexur  in  richtiger  Lage  durch  eine  Gatgutnaht,  Jodo- 
formmull in  den  unteren  Wundwinkel.  Bauchnaht.  —  Abends  Befinden  gut, 
schmerzfreL  Nach  einem  Löffel  Ricinusöl  massenhaft  Stuhlgang  mit 
Blähungen.  Puls  oa.  100,  alle  8  bis  9  Schläge  aussetzend,  jedoch  kräftig  und 
voll;  kein  Erbrechen.  —  15.  1.  Gutes  subjectives  Befinden;  Puls  gut  und 
kräftig.  Andauernder  Abgang  von  Stuhl  und  Winden,  kein  Erbrechen,  Leib 
nicht  schmerzhaft,  Temperatur  normal.  -  17.  1.  Fieber  Abends  bis  38,8. 
Rechts  hinten  unten  abgeschwächtes  Athmen,  Pfeifen  und  Rasseln.  —  Trotz 
gi'össter  Anstrengungen  entwickelte  sich  bei  gutem  Appetit  und  normalen 
Darmfunctionen  die  Pneumonie  weiter  und  am  27.  Abends  erfolgte  der  Tod. 

Die  Sectio n  zeigte  eine  Pneumonie  des  rechten  Unterlappens  und 
allgemeine  Bronchitis,  Im  Bauch  fanden  sich  nur  geringe  Verklebungen  der 
gedreht  gewesenen  Schlinge,  sonst  nichts  Abnormes.  Die  Darmwunde  war  gut 
verheilt.  Im  unteren  Theile  des  Dickdarmes  war  die  Schleimhaut 
an  vielen  Stellen  nekrotisch,  zeigte  zahlreiche  schmutzig  graue 
Fetzchen  und  mehrere  flache  Substanz  Verluste  mit  zackigen  Rändern,  an  einer 
Stelle  einen  Zehnpfennigstück  grossen  Defect  bis  in  ^ie  Muscularis  mit  ge- 
schwürigem Grunde. 

Der  Befund    bei    der    Section    zeiirt    wiederum    deutlich,    wie 

wichtig    es    ist    bei    derartifren  Erkrankuniren    lange  Zeit  abfiihron 

zu  lassen. 


Beiträge  zur  Pathologie  and  Therapie  des  acuten  Darmverschlusses.     53 

T.   2  FUIe   Ton   Darmlähmung  nach   Reposition   einer   ein- 

geUemmten  Hernie. 

1  geheilt,  1  gestorben. 

Die  beiden  Beobachtungen  gleichen  sich  in  den  wesentlichen 
Zögen  vollkommen.  Die  zweite  habe  ich  schon  in  meinem  xVuf- 
satzo  über  „Darmlähmung  nach  Darmeinklemmung"  (Deutsche 
Zeitschr.  f.  Chir.  Bd.  43)  mitgetheilt  und  daran  eine  kritische 
Darstellung  geknüpft,  auf  welche  ich  zurückverweisen  muss.  Auch 
die  erste  Kranke  wäre  wohl  zu  retten  gewesen,  wenn  wir  sie  nach 
der  ersten  Operation  hätten  gründlich  abführen  lassen;  allein 
damals  hatten  wir  die  entsprechenden  Erfahrungen  noch  nicht 
gemacht. 

23*  Frau  Fasten,  57  J.,  aufgenommen  am  6.  5.,  gestorben  am  7.  5.  94. 
Darmverschluss  durch  Darmlähmung  nach  Brucheinklemmung. 

Einklemmung  einer  linksseitigen  Schenkelhemie  am  29.  4.;  Reposition 
derselben  am  3.  5.  durch  Herrn  Dr.  Kutzner.  Wegen  Fortdauer  der  Ein- 
klemmungserscheinungen  Aufnahme  in  die  Klinik  am  6.  5. 

Aufnahmebefund:  lieber  ihre  Jahre  hinaus  gealterte,  hagere  Frau, 
klagt  über  Bauchschmerzen,  Stuhldrang  und  unstillbares  Erbrechen.  Puls 
ziemlich  kräftig,  85.  Athmung  etwas  beschleunigt.  In  der  linken  Schenkel- 
bruchgegend  fühlt  man  eine  etwa  taubeneigrosse,  nicht  fluctuirendo  Geschwulst, 
die  sich  unter  das  Poapart'sche  Band  verfolgen  lässt.  Daneben  geschwollene 
Lymphdrüsen.  Auf  Druck  zeigt  die  Geschwulst  geringe  Schmerzhaftigkeit. 
Hechts  in  derselben  Gegend  eine  geschwollene  Lymphdrüse.  Das  Abdomen  ist 
aufgetrieben,  giebt  überall  exquisit  tympanitischen  Percussionsschall,  zeigt 
nirgends  locale  Schmerzhaftigkeit.  Es  besteht  Stuhl  verhaltung  und  Koth-Er- 
brechen.  Magenausspülung  fördert  eine  Menge  stinkenden,  galligen  Inhalts  zu  Tage. 

Darauf  unmittelbar  Operation  (Helfer ich)  in  Aethernarkose.  Zu- 
nächst Eröffnung  des  linksseitigen  Schenkelbrachsackes:  es  findet  sich  hier  ein 
dem  Sacke  adhärenter  Netzstrang,  der  abgetragen  wird;  der  Netzstumpf  wird 
versenkt.  Da  dieser  Befund  zur  Erklärung  der  Symptome  nicht  ausreicht  und 
die  Palpation  der  Bauchhöhle  durch  die  Bruchpforte  auch  nur  ein  negatives  Er- 
gebniss  liefert,  so  wird  auch  die  rechte  Cruralbruchpforte  freigelegt.  Hier  findet 
sich  ein  kleiner  leerer  Bruchsack.  Jetzt  werden  hier  durch  die  Bruch pforte 
einige  Darmschlingcn  hervorgeholt,  die  sich  alle  als  normal  erweisen.  Wieder- 
versenkung dieser  in  den  Bauch,  worauf  durch  die  linke  Bruchpforte  einige 
Darmscblingen  hervorgeholt  werden.  Unter  diesen  findet  sich  eine  Dünndarm- 
schlinge, die  auf  einer  Länge  von  fast  4  cm  und  fast  circulär  (bis  auf  eine 
eine  Lücke  von  etwa  einem  halben  Centimeter)  matt  dunkelroth  verfärbt  ist. 
In  der  Mitte  dieses  verfärbten  Darmtheiles  ist  die  Serosa  eingerissen.  Wund- 
fläche nicht  ganz  von  der  Grösse  eines  Pfennigstückes.     Die  Serosa  des  ver- 


54  Dr.  L.  Hoidenhain, 

färbten  Theiles  zeigt  eine  dünne  Auflagerung.  Offenbar  ist  diese  Schlinge  ein- 
geklemmt gewesen.  Naht  des  Serosarisses,  Versenkung  der  Schlinge,  Naht  der 
Bruchpforte,  Tamponnade  der  Wunde.  Abtragung  des  rechtsseitigen  Bruch - 
Sackes,  ebenfalls  Tamponnade. 

Pat.  war  während  des  Eingriffes  sehr  elend,  fast  moribund.  Campher 
und  Wein.  In  der  Nacht  ist  sie  sehr  unruhig,  der  Puls  wird  schlechter, 
Athmung  beschleunigt;  kein  Abgang  von  Flatus  oder  Stuhl. 

7.  5.  Morgens:  Keine  Winde,  noch  Stuhl.  Da  um  Mittag  der  Puls  etwas 
besser  ist,  so  wird  in  der  Annahme,  dass  doch  noch  ein  Hinderniss 
bestehen  müsse,  zur  Laparotomie  geschnitten.  Schnitt  in  der  Mittel- 
linie, Palpation  lässt  nichts  Abnormes  finden.  Schleunige  Absuchung  des 
Dünndarmes  von  einer  fixirten  Stelle  aus.  Es  findet  sich  bald  die 
nach  der  Annahme  eingeklemmt  gewesene  Schlinge;  ihr  centrales  Ende  ist 
etwas  aufgebläht,  das  periphere  noch  contrahirt  und  etwas  dünner.  Da  sich 
nichts  Abnormes  weiter  findet,  Schluss  der  Bauchwunde.  Darauf  Einlauf; 
Nachmittags  Stuhlgang  und  Abgang  von  Winden,  dabei  Verlangen 
nach  Nahrung  ohne  Vomitus.  Abends  gegen  9  Uhr  Collaps  und  Tod  trotz  Ex- 
citantien  Nachts  2  Uhr. 

Section  (Dr.  Fränkel):  Stark  abgemagerte,  ältere  weibliche  Leiche. 
Im  unteren  Theile  des  Leibes  in  der  Mittellinie  eine  6  cm  lange  Schnittwunde, 
welche  durch  6  Nähte  völlig  geschlossen  ist,  desgleichen  in  beiden  Leisten- 
gruben je  eine  7  cm  lange,  lineare,  2  cm  tiefe  Schnittwunde,  durch  je  eine 
Naht  geschlossen,  deren  Ränder  und  Grund  beiderseits  eine  rothe,  granulirende 
Beschaffenheit  zeigen.  Nach  Eröffnung  der  Bauchhöhle  zeigt  sich  das  fettreiche 
Netz  retrahirt  zwischen  Magen  und  Dickdarm  liegend.  Die  vorliegenden  Darm- 
schlingen  ziemlich  metcoristisch  aufgetrieben.     Die  Rückseite    der   medianen 

geröthet,  sonst  intact.    An  einer  der  vorliegenden  Darmschlingen  sieht 

man  in  der  ganzen  Circumferenz  eine  6  cm  lange  Stelle,  welche  eine  schwarz- 
rothe  Farbe  hat,  in  deren  Mitte  sich  eine  2^/2  cm  lange  Stelle  befindet,  die 
mit  einem  graugelblichen,  zähen,  aber  abnehmbaren  Belage  versehen  ist;  auf 
ihr  vier  Nähte.  Etwa  10  cm  von  dieser  Stelle  entfernt  wird  der  Darm  plötzlich 
ausserordentlich  dünn,  etwa  kleinfingerdick  und  setzt  sich  in  dieser  Stärke 
noch  eine  grosse  Strecke  weit  fort.  Im  kleinen  Becken  ca.  5  ccm  einer  trüben 
roth  gefärbten  Flüssigkeit.  Am  grossen  Netz  ein  Stumpf  desselben  von  einer 
Ligatur  umschnürt 

Anatomische  Diagnose:  Peritonitis  recens  fibrinosa  purulenta,  Atro- 
phia  cordis  fusca,  Oedema  pulmonum,  Nephritis  parenchymatosa  et  interstitialis, 
Gastrectasia  chronica,  Ileitis  circumscripta  haemorrhagica. 

24.  Wilhelm  Krause,  51  Jahre  alt,  besitzt  seit  18  Jahren  einen  grossen 
rechtsseitigen,  reponiblen  Scrotalbruch ,  der  nie  Beschwerden  machte.  Vor 
8  Tagen  links  ein  Bruch  bemerkt.  Einklemmung  dieses  am  21.  8.  95  bei  der 
Arbeit;  sehr  heftige  vSchmerzen,  Erbrechen;  Reposition  der  Hernie  durch  Herrn 
Dr.  Sieberl,  Prenzlau;  Pat.  giebt  an,  dass  damit  die  Schmerzen  wie  mit 
einem  Schlage  aufgehört  hätten ;  trotzdem  dauerte  das  Erbrechen  an  und  wurde 
kothig.  Von  Dr.  Siebert,  Prenzlau,  in  die  Klinik  gesandt,  aufgenommen  am 
25.  9.  95  Nachmittags  gegen  6  Uhr. 


Beiträge  zur  Pathologie  und  Therapie  des  acuten  Darm  verschlusses.      55 

Kräftiger  Mann;  Kotherbrechen.  Rechts  eine  grosse  reponible  Scrotal- 
hernie.  Linke  Seite  des  Scrotums  leer;  Abdomen  ohne  Besonderheiten, 
Füllung  der  Därme  gering;  Temperatur  37,5 ö.  Oberhalb  des  linken  Poupart- 
schen  Bandes  kein  Tumor  zu  fühlen ;  Palpation  daselbst  nur  wenig  empfindlich. 
Uebriger  Leib  schmerzlos. 

Diagnose:  Massenreduction  auszuschliessen,  weil  mit  der  Taxis  die 
Schmerzen  sofort  gehoben  waren  und  nicht  wiederkehrten.  Wahrscheinlich 
leichtere  Peritonitis  in  der  Umgebung  der  incarcerirten  Schlinge  (vielleicht  be- 
ginnende fleckweise  Gangrän)  oder  Abknickung  der  reponirten  Schlinge,  etwa 
durch  einen  an  der  Bruchpforte  adhärenten  Netzstrang. 

Nach  gründlicher  Magenausspülung  (die  hier  übrigens  bei  jeder  einge- 
klemmten Hernie  und  bei  jedem  Ileusfalle  ante  op.  ausgeführt  wird)  Eröffnung 
des  Leibes  oberhalb  der  linken  Annulus  inguin.  int. :  Bruchsack  leer,  wird  mit 
leichter  Mühe  wie  ein  Hand  seh  uhfinger  nach  dem  Bauchraume  zu  umgestülpt, 
an  der  Basis  abgebunden,  abgeschnitten,  der  Stumpf  am  Peritoneum  parietale 
fixirt.  Kein  adhärirender  Netzstrang.  Nach  Beiseiteschieben  einer  etwas  ge- 
blähten Dünndarmschlinge  findet  sich  unmittelbar  am  Annulus  inguin.  int. 
eine  mit  fibrinösen  Beschlägen  bedeckte  schlaffe  Dünndarmschlinge,  welche 
nicht  die  geringste  Bewegung  zeigt.  Sie  wird  hervorgezogen,  ist  ca.  30  cm 
lang,  um  180^  um  ihr  Mesenterium  gedreht  und  ausserdem  umgeklappt,  so 
dass  sie  der  linken  Seite  des  Mesenteriums  aufliegt.  Richtiglagerung  der 
Schlinge;  an  der  rechten  Bruchpforte  nichts  Abnormes.  Schluss  der  Bauch- 
wunde. Nach  Erholung  von  der  Narkose  erhält  Pat.  starken  schwarzen  Kaffee 
mit  Ricinusöl.    Baldiger  Stuhlgang. 

Glatte  Reconvalescenz  quod  abdomen.  Leider  traten  sehr  bald 
Störungen  Seitens  eines  alten  Herzleidens  auf.  Am  19.  10.  ging  Pat.  unter 
dem  Bilde  eines  apoplektischen  Anfalles  zu  Grunde. 

Section:  Hypertrophia  cördis  cum  dilatationc;  Myocarditis  parenchy- 
matosa;  Nephritis  chron.;  fibröse  Verdickung  des  Peritoneums  der  einge- 
klemmt gewesenen  Schlinge  nebst  leichten  Verwachsungen,  llirnsection  nicht 
gestattet. 

TL    3  Falle  toh  DarmTerschluss ,   welche    durch  hohe  Ein- 

glessungen  geheilt  wurden. 

In  allen  3  Füllen  ist  es  mir  zweifelluift  geblieben,  ob  es  siel» 
um  reine  und  einfache  Koprostasen  geliandell  liat. 

2S.  Marie  Breese,  56  J.,  Greifswald,  aufgenommen  am  14.  3.,  entlassen 
am  16.  3.  91.   üarmverschluss  durch  Koprostase. 

Ist  seit  Sonntag  (Datum?)  bettlägerig,  klagt  über  Schmerzen  im  Bauch, 
Verstopfung  und  zeitweiliges  Erbrechen;  Karlsbader  Salz  vorgeblich  angewendet. 
Sie  giebt  femer  an,  dass  seit  Sonntag  in  Folge  Anstrengungen  und  Pressen 
beim  Stahlgang  Hämorrhoiden  entstanden  seien,  welche  bluteten.  Wegen  ähn- 
lichen Leidens  ist  Pat  vor  4  Jahren  in  der  hiesigen  chir.  Klinik  mit  Pillen 
und  Darmrohr  behandelt. 


56  Dr.  L.  Heidenhain, 

Aufnahmebefund  atii  14.  3.:  Leib  stark  aufgetrieben,  aber  wenig 
schmerzhaft.  Percussionsschall  tympanitisch,  überall  gieichmässige  Resistenz. 
In  der  linken  Leistenbeuge  eine  hühnereigrosse,  fluctuirende,  massig  gespannte 
Geschwulst  von  leerem  Percussionsschall.  Rectum  leer.  Magenausspülung; 
darauf  Einlauf  unter  massigem  Druck;  Wasser  fliesst  rein  ab.  Einführung  eines 
langen  Darmrohres;  es  entleert  sich  sofort  reichlich  flüssiger  Koth  und  Flatus. 
Der  Leib  wird  weich  und  nimmt  sichtlich  an  Volumen  ab.  Ueber  Nacht  mehr- 
mals reichlicher  dünner  Stuhl.  16.  3.  Morgens  nochmals  normaler  Stuhl.  Auf 
Wunsch  entlassen. 

Dio    Kranke    ist    4  Jahre    nach    ihrer    Entlassung    aus    dem 

Krankenliaiise  ganz  acut  an  „heftigen  Magenkrämpfen"  zu  Grund(» 

gegangen.     Ein  Arzt  ist  erst  12  Stunden  vor  dem  Tode  zu  Ratlie 

£:ezoi{en.(Dr.  Kutzner-Greifswald)  und  hat  keine  Diagnose  stellen 

können.     Sektion  wurde  verweigert.     Was  liegt  näher,  als  an  eine 

Darm  Perforation  oberhall)  einer  Stenose  zu  denken? 

26.  August  Haacker,  48  J.,  Crenzow  b.  Anklam,  aufgenommen  am  6.  10., 
entlassen  am  12.  10.  92.  Koprostase  mit  Erscheinungen  von  Darmverschluss. 
Chronische  Darmstenose? 

Allgemeine  Anamnese  ohne  Belang.  Hat  in  diesem  Sommer  3— 4 mal  nach 
demGenuss  von  kaltem  Wasser  im  linken  Ifypochondrium  krampfartige  Schmerzen 
verspürt,  auf  die  alsbald  Stuhl  erfolgte,  mit  welchem  letzteren  die  Schmerzen 
verschwanden.  Stuhlgang  war  sonst  regelmässig.  Letzter  Stuhlgang  am  2.  10. 
4.  10.  Morgens  empfand  Pat.  Schmerzen  im  linken  Hypochondrium,  die  sich  bei 
der  Arbeit  so  steigerten,  dass  Pat.  das  Bett  aufsuchte.  Der  am  4.  Morgens  ge- 
rufene Arzt  gab  erst  2  mal  Bittersalz,  das  erbrochen  wurde,  darauf  2  Einlaufe  in 
Folge  dorenKoth  und  Winde  abgingen.  DieEinläufe  wiederholte  Pat.  solbstmehr- 
mals.  Nur  einmal  noch  ging  hierbei  etwas  Koth  ab.  Erbrechen  ist  nicht  dagewesen. 

Aufnahmebefund  am  6.  10.  92:  Untersetzter,  kräftiger,  gut  genährter 
Mann  mit  etwas  geröthetem  und  schwcissbedecktem  Gesicht  ohne  verfallene 
Züge.  Puls  voll  und  kräftig,  92;  Temp.  (Abends  6  Uhr)  38,4 o,  Respiration 
ziemlich  oberflächlich,  22.  Zunge  ziemlich  trocken  und  an  den  Händern  be- 
legt. Abdomen  massig  und  ziemlich  gleichmässig  aufgetrieben.  Seine  Seiten- 
gegenden treten  etwas  stärker  hervor.  Es  hat  den  Anschein,  als  ob  rechts  vom 
Nabel  eine  ganz  flache  undeutlich  begrenzte  Prominenz  vorhanden  wäre.  Unter 
dem  linken  Rippenbogen  etwa  drei  Finger  breit  von  der  Mittellinie  entfernt  ist 
eine  seichte  Delle  vorhanden,  in  deren  Bereich  Pat.  auf  Druck  etwas  Schmerz 
empfindet.  Palpation  des  Abdomens  ergiebt  nirgends  eine  deutliche  Resistenz, 
aber  difl"use,  indessen  nicht  starke  Schmcrzhaftigkeit.  Percussion:  absolute 
Dämpfung  in  der  rechten  Seitenpartie  bis  zur  vorderen  Axillarlinie,  in  der 
linken  bis  fast  zur  verlängerten  Mammillarlinie.  Bei  Lagerung  auf  die  ent- 
gegengesetzte Seite  macht  beiderseits  die  Dämpfung  tympanitischem  Schalle 
Platz.  —  üeber  dem  übrigen  Abdomen  tympanitischer  Schall;  Leberdämpfung 
stark  in  die  Höhe  gedrängt  und  auf  einen  schmalen  Bezirk  eingeengt.  6.  10. 
noch  Abends   hoher  Einlauf  ohne  Efl'ect.     7.  10.   Auf  einen   hohen   Einlauf 


Beiträge  zur  Pathologie  und  Therapie  des  acuten  Dannverschlusses.      57 

Morgens  erfolgt  Stuhlgang.  Glatte  Genesung.  12.  10.  92.  Entlassen.  Soll 
sich  in  etlichen  Wochen  wieder  zu  genauerer  Untersuchung  auf  eine  ev.  Darm- 
stenose vorstellen. 

Auf  unsere  Anfrage   nach  dem  jetzigen  Ergehen  des  Kranken 

erhielten  wir  die  folgende  Antwort: 

„Auf  Ihre  Anfrage  den  Schmiedemeister  Herrn  H.  betreffend  theile  ich 
Ihnen  im  Auftrage  derWittwe  desselben  Folgendes  mit:  Nachdem  H.  im  Herbste 
92  aus  der  Klinik  zurückgekehrt  war,  ohne  seine  Gesundheit  wieder  erlangt  zu 
haben,  gab  sich  derselbe  bei  Herrn  Dr.  D.  in  A.  in  Behandlung.  Durch  Ver- 
abreichung von  Medicanienten  fand  sich  allmählich  mehr  Stuhlgang  und  gingen 
oft  schwarze,  zähe  Stücken,  wie  Theer,  ab,  bis  sich  denn  schliesslich  wieder 
normaler  Stuhlgang  einstellte.  Ueber  Schmerzen  in  der  Seite  hat  H.  seit  vielen 
.fahren  geklagt,  und  haben  die  Aerzte  die  Diagnose  auf  Ischias  gestellt.  Vor 
einigen  Jahren  stellten  sich  Lähmungserscheinungen  der  ganzen  rechten  Seite 
ein,  denen  er  am  21.  7.  96  erlag.    Ergobenst  W.,  Förster." 

Danach  ist  zweifelhaft,    ob    eine    reine  Koprostase  vorgelegen 

hat.     Dr.  D.  konnte  sich  des  Falles  nicht  mehr  entsinnen. 

27.  August  Stordcl,  59  J.,  Triebsees,  aufgenommen  am  7.  2.,  entlassen 
am  17.  2.  96.    Darmverschi uss.  Koprostase??  Geheilt  unter  hohen  Einlaufen. 

Hat  im  25.  Jahre  Typhus  gehabt,  ist  vor  10  Jahren  an  einer  Krankheit 
ärztlich  behandelt,  über  deren  Symptome  er  keine  Angabe  machen  kann. 
Leidet  seit  längerer  Zeit  an  Hartleibigkeit,  die  er  auf  sitzende  Lebensweise 
zurückführt;  Stuhlgang  im  Allgemeinen  einmal  täglich;  hier  und  da  auch  ein 
Tag  ohne  Stuhl.  War  bis  gestern  vollkommen  wohl,  hat  insbesondere  nichts 
von  Abmagerung  bemerkt.  Gestern  Nachmittag  gegen  2  Uhr  hatte  er  einen 
festen  Stuhlgang;  ungefähr  eine  Viertelstunde  darauf  wurde  er  von  so  heftigen 
Schmerzen  in  der  linken  Lenden-  und  Weichengegend  befallen,  dass  er  laut 
aufschreien  rausste.  Einmal  trat  Erbrechen  auf;  dann  blieb  Uebelkeit,  Sin- 
gnltus,  Verbaltung  von  Stuhl,  Blähungen  und  Urin  bestehen.  Herr  Dr.  Hensel 
verordnete  Opium  und  Priessnitz  und  sendete  den  Kranken  sofort  zur  Klinik. 

Anfnahmebefund  am  7.  2.  Morgens  4  Uhr:  Kräftiger,  wohlgenährter 
Mann,  Gesicht  leicht  geröthet;  Puls  voll,  ziemlich  kräftig,  54  in  der  Minute. 
Klagt  über  Unruhe,  Völle  des  Bauches,  Schmerzen  in  der  Regio  lumbaris  et 
iliaca  sin.  —  Abdomen  massig  gespannt,  auf  Druck  nur  an  den  bezeichneten 
Stellen  massig  schmerzhaft,  zeigt  überall  tympanitischen  Schall,  der  nur  über 
den  schmerzenden  Stellen  etwas  verkürzt  ist.  Eine  deutliche  Resistenz  ist 
nirgends,  auch  nicht  an  den  schmerzhaften  Punkten  zu  constatiren.  Bruch- 
pforten frei.  Urin  seit  dem  ersten  Schraerzanfall  noch  nicht  entleert.  Zunge 
massig  belegt;  Uebelkeit  und  etwas  Singultus  besteht  noch.  Im  Rectum  nur 
einige  kleine  harte  Kothbröckchen  zu  fühlen. 

Bei  einem  angeschlossenen  hohen  Einlauf  fliessen  2  1  lauen  W^assers  leicht 
ein;  dann  treten  Spannung  des  Leibes,  Schmerzen  und  vermehrter  Singultus 
auf.  Ein  Theil  der  Flüssigkeit  wird  mit  einigen  harten  Kothbrocken  wieder 
entleert      Priessnitz,  Morphin  0,01. 


58       Dr.  L.  Heidenhain,  Beitrage  zur  Pathologie  und  Therapie  etc. 

7.  2.  Tags  über  Zustand  nicht  wesentlich  verändert.  Weder  Stahl  noch 
Winde.  Puls  voll,  ziemlich  kräftig,  52,  Temp.  37,6  in  axilla.  Pat.  klagt 
über  Schmerzen  entsprechend  den  Ansatzpunkten  des  Zwerchfells.  12  Uhr  Ein- 
lauf von  500  ccm  lauwarmen  Olivenöls.  Nach  2  Stunden  ein  Theil  des  Oels 
mit  wenigen  harten  Kothbröckeln  wieder  entleert.  4  Uhr  hoher  Einlauf  von 
2  1  kalten  Wassers;  ein  Theil  desselben  mit  etwas  Oel  gemischt  und  wenigen 
Bröckeln  nach  2  Stunden  wieder  entleert.  Urin  spontan  entleert,  sauer,  gelb- 
roth,*  enthält  ganz  vereinzelte  rothe  Blutkörperchen,  aber  kein  Eiweiss.  8.  2. 
Zustand  wenig  verändert.  Im  Urin  geringe  Mengen  Indican.  Hoher  Einlauf 
(3  1  lauwarm  Wasser)  kommt  etwas  kothig  gefärbt  zurück.  Abends  0,01  Morph. 
9.  2.  Allgemeinbefinden  gut;  Puls  voll  72.  Abdomen  wenig  auf- 
getrieben, wenig  schmerzhaft.  Keine  Flatus;  geringerer  Singultus.  9  Uhr 
hoher  Einlauf  von  3  1.,  10  Uhr  der  grösste  Theil  mit  Koth  gemengt  wieder 
entleert.  Abends  Status  idem,  Temp.  38,0,  Puls  60.  10.  2.  Status  idem.  Ein- 
lauf am  Morgen.  Ein  Flatus.  In  der  Nacht  zum  11.  2.  ein  reichlicher,  theils 
fester,  theils  breiiger  Stuhlgang.  11.  2.  Allgemeinbefinden  gut,  keine 
Schmerzen,  kein  Singultus  mehr;  reichliche  Flatus,  —  Genesung  von  da  an 
ununterbrochen. 

Ob  die  Erkrankung  als  einfache  Koprostaso  aufzufassen  sei, 
ist  Angesichts  des  ganz  acuten  Beginnes  mit  heftigsten  Sclimerzen 
mehr  als  zweifelhaft.  Gegen  eine  Incarceration  sprach  die  un- 
bedeutende Sclinierzhaftigkeit  im  weiteren  Verlaufe  und  der 
verlangsamte  Puls,  von  52  —  54  bei  37,6  ^  Achselhöhlen- 
tera[)eratur.  Für  die  Annahme  einer  Invagination  lagen  gar  keine 
Anhaltspunkte  vor.  Die  Besserung  des  Allgemeinbefindens  trat 
v'm  am  4.  Erkrankungstage  bei  einem  Pulse  von  72  Morgens;  am 
Abend  dieses  Tages  noch  einmal  Puls  60  bei  38,0  Achseltempe- 
ratur. In  der  folgenden  Nacht  reichlicher  Stuhl.  Leider  ist  in 
der  Folge  die  Pulszahl  nicht  mehr  notirt.  Der  niedrige  Puls  ist 
entschieden  auffallend  und  erinnert  an  den  einen  Fall  von  Darm- 
verschluss  durch  Enterospasmus  (Kalnowski,  No.  2). 

Herr  Dr.  He  n  sei -Triebsees  hatte  die  Freundlichkeit  mir  am  29.  1.  97, 
also  nach  einem  .lahre,  zu  berichten,  dass  der  Kranke  sich  seit  seiner  Ent- 
lassung aus  der  Klinik  einer  ungestörten  Gesundheit  erfreue;  er  habe  vor- 
trefflichen A])petit,  regelmässig  täglich  Stuhlgang  und  wenn  dieser  einmal 
einen  Tag  aussetze,  so  htibe  er  am  folgenden  Tage  zwei  Entleerungen;  die 
Pulszahl  sei  durchschnittlich  72—76  in  der  Minute. 


IL 

Der  äussere  Schenkelbruch. 

Von 

»r.  Ferdinand  Bftlir 

in  Hannover. 

(Mit  4  Figuren.) 


Die  Hernia  criiralis  externa,  im  extremsten  Sinne  der 
Bezeichnung,  die  Hernie,  welche  ihren  Durchtritt  unter  dem  Liga- 
mentum Poupartii  durch  die  Lacuna  muscularis  nimmt,  ist  aus- 
führlich von  A.  K.  Hesselbach ')  im  Jahre  1829  beschrieben.  Gleich 
hier  will  ich  den  gelegentlich  wohl  unter  dieser  Bezeichnung  an- 
geführten Fall  von  Zeis  aus  der  Casuistik  ausschliessen.  In  diesem 
(llcrniae  cruralis  externae  historia  cum  epicrisi.  Lipsiae  1832)  fand, 
sich  in  einer  Abscesshöhle  unter  dem  Ligamentum  Poupartii 
ohne  Bruchsack  der  Processus  vermiformis.  Aehnliche  Vorgänge 
werden  heute  aus  der  Geschichte  der  Perityphlitis  bekannt  sein, 
ohne  dass  wir  deshalb  die  Diagnose  auf  eine  Hernia  cruralis 
externa  stellen. 

Die  Geschichte  dieser  Hernie  ist,  nachdem  sie  durch  Lin hart 
zu  Grabe  getragen  worden,  knapp  beieinander.  Mac  Ilwain  will 
unter  mehreren  tausend  Schenkelbrüchen,  welche  er  als  Mitglied 
der  Gesellschaft  für  Verabreichung  von  Bruchbändern  untersucht  hat, 
nur  sechs  gesehen  haben,   welche  auf  der  Aussenseito  der  Gefässe 


*)  A.  K.  Hesselbach,  Die  Lehre  von  den  Eingeweidebrüchen.  Würz- 
burg 1829^1880.  Dieser  Hesselbach  ist  nicht  zu  verwechseln  mit  F.  C. 
Hesselbach,  welcher  sich  ebenfalls  um  die  Herniologie  verdient  gemacht  und 
den  durch  die  Fascia  cribriformis  parzellirten  Bruch  beschrieben  hat  (Neueste 
anatomisch-pathologische  Untersuchungen  über  den  Ursprung  und  das  Fort- 
schreiten der  Leisten-  und  Schenkelbrüche,  Würzburg  1814,  S.  49  und  Tafel 
Xni),  welchen  Le  Gendre  in  seinem  Memoire  sur  quelques  varietes  rares  de 
la  Hernie  cnirale,  Paris  1858,  Hesse Ibach'sche  Hernie  genannt  hat. 


60  Dr.  F.  Bahr, 

herabstiegen  (Vergl.  Holder,  Lehrbuch  der  Unterleibsbrüche  nach 
Toale's  Practical  Treatise  on  Abdominal-Hernia  etc.  bearbeitet. 
Suttgart  1848).  Lawrence  hat  an  der  Richtigkeit  resp.  Zuver- 
lässigkeit dieser  Beobachtung  Zweifel  geäussert,  weil  kein  Fall  nach 
dem  Tode  untersucht  war.  Es  handelte  sich  hier  zunächst  um 
sechs  und  nicht  um  einen  Fall,  wie  Benno  Schmidt^)  schreibt. 
Zu  den  äusseren  Schenkelbrüchen  wird  man  nielit,  wie  Benno 
Schmidt  und  Andere,  die  Stanley 'schon  Beobachtungen  rechnen 
dürfen.  Er  fand  bei  zwei  Leichen  den  Bruchsack  mit  weittT 
Mündung  leer,  gerade  über  den  Schcnkelgefässen  (Holder  1.  (*.). 
.  Von  neueren  Schriftstellern,  welche  sich  über  die  Hernia  cru- 
ralis  externa  auslassen,  will  ich  einige  citiren. 

„Als  Hernia  femoralis  externa  bezeichnet  Hesselbach  einen 
Bnicli,  welcher  auf  der  äusseren  Seite  der  Sehen kelgefässe  seinen 
Austritt  nahm."  (Graser,  die  Unterleibsbrüche.  Wiesbaden  1891.) 
Das  kann  dem  Wortlaut  nach  immer  noch  ein  Brucli  durch  die  Lacuna 
vasorum  sein,  also  keine  eigentliche  Hesselbach 'sehe  Hernia  f. 
externa.  Von  einem  Specialwerk  dürfte  man  billigerweise  verlangen, 
dass  es  sicli  mit  diesen  Dingen  etwas  eingehender  beschäftigte. 

Tillmanns  (Lehrbuch  der  speciellen  Chirurgie.  1894)  spricht 
von  einer  Hesselbach'sclien  Hernie,  welche  in  der  Vsoasscheide 
dem  Nervus  cruralis  entlang  sich  vorstülpt.  (?) 

„Für  die  sogenannte  Hernia  tiniralis  externa,  welche  bald  in 
die  Lacuna  muscularis  (Hesselbach),  bald  in  die  Gefässscheide 
am  äusseren  Rande  der  Arterie  eintreten  soll,  ha))e  ich  keinen 
sicheren  Fall  in  der  Literatur  finden  können  (Stanley,  Mackellar)". 
(K'önig,  Lehrbuch  der  speciellen  Chirurgie.  Berlin,  1893.)  Neben 
dem  „Druckfehler"  (Mac  Ilwain)  ist  hier  die  Bemerkung  über 
Stanley  unrichtig  (vergl.  oben). 

Knappe  Bemerkungen  befinden  sich  wohl  noch  da  und  dort, 
aber  im  Wesentlichen  hat  man  das  Krankheitsbild  der  Hernia  cru- 
ralis externa  vergessen.  Wir  sind  fast  bei  dem  Standpunkt  stehen 
geblieben:  „Hernia  cruralis  solummodo  per  annulum  cruralcm,  sive, 
(juod  eodem  redit,  per  illud  spatium  sub  arcu  crurali,  miod  inter 
marginem    eins  posteriorem  et  inferiorem  aii^ue  venam  iliacam  re- 


>)  BcDDO  Schmidt,    Die  Unterleibsbrüche.     Deutsche  Chirurgie.     Lie- 
ferung 47.     Stuttgart  1896. 


Der  ä 


0  ScbeDkelbnich, 


61 


maiict,  )iotcst  descendere".  (Goiiimentatio  anatoiuico-phirurgica  de 
Hcmia  crurali  von  0.  G.  Walthcr.     Leipzig,  1820.) 

Ehe  ich  weitergehe,  verweise  ich  bezüglich  der  topographischen 
Verhältnisse  auf  äas  beigegebene  Bild  nach  Vogt,  reproducirt  aus 
Tillmanns  erwähntem  Lehrbuch,  Aus  anatomischen  Lehrbüchern 
wir«!  man  leicht  eine  üborsiehlliche  Darstellung  der  Regio  inguinalis 
t^ich  verschaffen  können. 

ich  komme  jetzt  zu  Hesselbach's  auch  heute  nocJi  muster- 
gültigen Ausführungen  über  die  Hernia  cniralis  externa  nach  seinem 
späteren  Werke:  Die  Erkenntniss  und  Behandlung  der  Eingeweide- 
brüche. Nürnberg,  1840.  S.  68.  Die  auf  der  Tafel  XVI  ge- 
gebene Abbildung  habe  ich  photographisch  reproducirt. 

Fig,  1. 


(Juerscboitt  duTcb  die  Wcichtheile  unter  dem  Lig,  Pouparti  (nach  Volz). 

„Der  äussern  Schenkelbruch  (Hernia  cniralis  externa)  entspringt 
iH'ben  den  grossen  Schenkeige  fassen  nach  aussen,  zwischen  diesen  und 
(lfm  Darmbeinkamme,  und  wird  eben  dieses  Ursprungs  wegen  und  weil 
IT  von  der  Mittellinie  des  Körpers  weiter  entfernt  ist,  der  äussere  ge- 
eenannt.  Er  entsteht,  wenn  der  ohere  .schwächere  Theil  der  Fascia  ili- 
aca  posterior  mit  dem  darauf  liegenden  Bauchfell  durch  die  Gewalt  der 
Eingeweide  unter  die  hallunoiid  form  ige  Brücke  hin  untergeschoben  wird. 


62 


Dr.  F.  Bahr, 


rrborschrciict  das  vi  inl rängen  de  l^ingewcidc  das  vordere  Lcislcn- 
band  nicht,  sondern  bleibt  unter  der  Brücke  verborgen,  so  ist. der 
äiissi're  .Sdienkelbnicii  nnvollkoinnien  (llernia  enir.  ext.  iniperfeeta). 
Dieser  Bnich  kommt  hfüifiKer  vor,  lileilit  al)er  unserer  BeobaeJitmif; 
verborgen,  weil  er  keine  sit^blbare  Uesidnvnls!   hibb't. 

Fig.  2. 


Soll  der  Itrni-Ii  voilkonnnen  werden,  so  niusfi  das  KinReweido 
das  vordere  Leisienband  übci-sclireiien  und  sieb  in  die  Hoble  der 
Faseia  iliaea  anierior  bini'insenken,  .Jetzt  erst  wird  der  Itnieb 
.-.ii'blbar.  indem  das  ans  der  ßauebliiible  bervorgedräni-'ie  Kinireweide 
ilie  iianze  voiilere  Wand  der  Fascie  mit  der  darauflieiienden 
Selienkelbaul   in  eine  Gescbwiilst  erbebt  iHernia  crur.  ext.  perfeeta). 

Per  vüllkonimeue  äussere  Si-benkelbrncb  ist  äusserst  selten, 
lind  nur  einiü:e  Beispiele  sind  uns  bis  jetzt  bekannt  ireworden. 


Der  äussere  Schenkelbruch.  63 

Seine  Entstehung  wird  begünstigt  durch  schwache  Körpercon- 
stitution,  und  man  findet  beinahe  an  jeder  Leiche,  welche  schlaffe 
Muskeln  und  Sehnen  liat,  audi  zugleich  die  Anlage  zu  diesem  Bruche. 
AVenn  der  Psoas  minor  vorhanden  ist,  so  tritt  die  halbmondförmige 
Brücke  der  Fascia  iliaca  post.  mit  ihrem  ausgehöhlten  Rand  in  der 
Regel  stark  henor,  wodurch  eine  tascbenförmige  Vertiefung  ent- 
steht, indem  der  obere,  schwächere  Theil  der  Aponeurose  an  dem 
Rande  der  Brücke  hinuntersinkt.  Eingeweide,  welche  über  diese 
Gegend  hinuntergleiten,  nach  dem  Becken,  können  sich  in  der 
taschenförmigen  Ginibe  fangen,  und  dann  weiter  unter  die  Brücke 
fi:eschoben  werden." 

Eigenartig  ist  nach  Hesselbacli  dieser  Hernie  das  sehr  all- 
mählige  Entstehen,  die  Lage  zwischen  Spina  ilei  ant.  sup.  und 
den  Schenkelgefässen,  die  breite  Basis  und  die  stumpfe  Spitze. 
Lässt  man  den  Schenkel  der  kranken  Seite  nach  hinten  strecken, 
so  spannt  sich  das  Ligamentum  Poup.  durch  die  Fascia  lata  und 
die  obere  Grenze  wird  deutlicher.  Die  Bruchgeschwulst  ist  nur 
massig  erhöht,  so  dass  man  nicht  unter  die  Ränder  kommen  kann. 
Nach  weiteren  Bemerkungen  über  DiflFerentialdiagnose  bezüglich  des 
Psoasabscesses  sagt  Hess elb ach:  „AVird  hier  der  Bruchschnitt 
nuthig,  dann  zeigt  sich  die  Nothwendigkeit  der  schichten  weisen 
Trennung  der  einschnürenden  Theile  von  vorn  nach  hinten  unbe- 
dingt, weil  auf  keine  andere  AVeise  die  gefährliche  Verletzung  der 
Arteria  circumflexa  ilei,  welche  jedes  Mal  vor  dem  Bruchsackhalse 
liegt,  vermieden  werden  kann'^.  Ich  komme  hierauf  noch  einmal  zurück. 

Linhart  hat  seinem  Zweifel  mit  den  Worten  Ausdruck  ver- 
liehen: „Die  Arteria  circumflexa  ilei  soll  an  der  „oberen"  Seite  des 
Bruchsackhalses  verlaufen  sein  (dies  ist  mir  unbegreiflich!)". 
(Linhart,  Ueber  die  Schenkelhernie.  Erlangen,  1852.)  Linhart 
ist  hier  einem  Irrthum  verfallen,  er  scheint  allerdings  die  Hessel- 
hach 'sehen  Arbeiten  nur  aus  Holder  gekannt  zu  haben,  und  das 
mag  ihn  entschuldigen.  Eine  Kenntniss  von  der  Hesselbach'schen 
Pubhcation  1840  scheint  Linhart  überhaupt  nicht  gehabt  zu  haben, 
wie  auc^h  Benno  Schmidt  annimmt.  Dass  die  Arteria  circum- 
flexa ilei  vor  oder  wenn  man  in  horizontaler  Lage  von  oben  her 
präparirt,  auf  der  oberen  Seite  des  Bruchsackhalses  liegt,  darüber 
kann  kein  Zweifel  sein. 

Ich  komme  zu  meinen  eigenen  Beobachtungen. 


64  Dr.  F.  Bahr, 

I.  G.  Z.,  40jähriger  Dienstl<necht,  ist  am  1.  10.  94  überfahren  worden. 
Er  hatte  einen  Bruch  des  Acromion  und  einiger  Rippen  links  vorne  davonge- 
tragen, leidet  jetzt  viel  an  Herzklopfen  und  Engigkeit.  Der  von  mir  am 
8.  11.  97  untersuchte  Patient  zeigte  einen  Thorax  mit  überwiegendem  Langen- 
durchmesser.  Er  hatte  eine  LungenafTection.  Interessant  war  ausserdem  an 
ihm  eine  Verbildung  des  Acromion  beiderseits  derart,  dass  dasselbe  an  seinem 
Ansatz  nach  unten  sank,  dann  den  Humerus  von  aussen  wie  ein«  Spange  um- 
fasste,  nach  vorn  wieder  anstieg  und  in  einer  nach  oben  gelegenen  Gelenk- 
fläche die  Clavicula  aufnahm.    Ich  übergehe  die  Verletzungsfolgen. 

Patient  leidet  an  Kryptorchismus  ohne  nachweisbare  Lage  derselben. 
Der  Penis  ist  dürftig  entwickelt,  die  Sohamgegend  ist  weiblicli  behaart,  das 
Becken  ein  feminales  mit  breit  ausladenden  Darmbeinen  und  kurzem  Höhendurch- 
messer. Zwischen  Spina  il.  ant.  superior  dextra  und  der  Arteria  femoralis 
fand  sich  unterhalb  des  Lig.  Poup.,  nicht  genau  von  diesem  abzugrenzen,  eine 
druckempfindliche,  fast  knochenharte  Resistenz.  Das  Bein  konnte  im  Hüft- 
gelenk nur  bis  zu  90®  gebeugt  werden,  weitere  Beugung  wurde  als  schmerzhaft 
bezeichnet.  Die  Geschwulst  machte  einen  derartig  harten  Eindruck,  dass  ich 
zunächst  an  eine  Auftreibung  des  Beckenknochens  an  dieser  Stelle  dachte, 
zumal  der  Pat.  über  die  Art  des  Ueberfahrenwerdens  sehr  unbestimmte  An- 
gaben machte,  so  dass  eine  directe  Verletzung  nicht  auszuschliessen  war.  Für 
einen  Psoasabscess  fehlte  jeglicher  Hintergrund,  das  Becken  war  ein  exquisit 
weibliches,  die  betreffende  Beckenpartie  lag  der  Oberfläche  näher.  Ich  sprach 
in  meinem  Attest  die  Vermuthung  einer  Beckenverletzung  aus.  Für  eine  Ent- 
zündung des  subiliacalen  Schleimbeutels  konnte  ich  mich  nicht  recht  cnt- 
schliessen.  Der  Gedanke  hieran  lag  aber  immerhin  vor  nach  der  Hoffa'schen 
Publication  und  ich  bestellte  Pat.  auf  den  übernächsten  Tag,  um  eventuell  die 
Bursitis  im  hiesigen  ärztlichen  Verein  zu  demonstriren.  Bei  der  kurz  vorher 
unternommenen  Untersuchung  stellte  sich  heraus,  dass  die  Geschwulst  ver- 
schwunden war.  Jetzt  gab  Pat.  auf  genauere  Erkundigungen  an,  dass  die 
Stelle  ihm  bisweilen  anschwelle,  die  Schwellung  aber  spontan  wieder 
zurückginge. 

Dies  Verhalten,  das  wir  ja  bei  Leistenbrüchen  reichlich  zu  beobachten 
Gelegenheit  haben,  liess  mir  als  einzige  Möglichkeit  die  Existenz  einer  Hernia 
cruralis  externa  durch  die  Lacuna  muscularis  erscheinen. 

II.  C.  B.,  14  Jahre  alt,  Gärtnerlehrling,  stürzte  am  1.  9.  97  aus  einer 
Höhe  von  circa  20  Fuss  auf  seine  linke  Seite  und  zwar  traf  der  Hauptstoss 
die  linke  Hüftgelenksgegend.  (Der  Bericht  stammt  von  dem  behandelnden 
GoUegen.)  „Einige  Stunden  nach  dem  Unfall  traf  ich  die  Vorderseite  des 
linken  Hüftgelenkes  und  die  Schambeingegend  massig  geschwollen  und  sehr 
druckempfindlich.  Der  linke  Oberschenkel  war  unverletzt  und  im  Hüftgelenk 
passiv  frei  beweglich,  auch  in  gewöhnlicher  Haltung.  Crepitation  sowie  Ver- 
kürzung waren  nicht  nachzuweisen.  Es  konnte  mit  einiger  Sicherheit  auf  einen 
Querbruch  des  horizontalen  linken  Schambeinastes  geschlossen  werden. 
B.  konnte  nach  3  Wochen  mit  Hülfe  eines  Stockes  umhergehen  und  später 
leichte  Arbeiten  wieder  verrichten.  In  der  Folge  kam  es  zu  einem  bedeutsamen 
Muskelschwunde  des  linken  Beines.     Der  augenblickliche  Stand  der  Dinge  ist 


Der  äussere  Seh enlcel brach. 


65 


folgcDtler:  B.  klagt  über  Schmerzen  beim  Gehen  und  besonders  an  der  Vorder- 
stile  des  linken  Beines.  Die  Streckmuskeln  des  Oberschenkels  und  die  Muskeln 
dta  Gesässes  sind  merklich  dünn  und  weicher,  wie  rechts  und  auch  dnick- 
empfindlicher.  Die  Gesüssfurche  ist  links  seichter  und  anscheinend  tiefer  herab- 
g^end  wie  rechts.  Der  Umfang  des  Beines  dicht  unterhalb  der  Gesässfurche 
belrägt  rechts  41,  links  nur  33,5  cm,  der  Umfang  in  der  Mitte  des  Ober- 
schenkels rechts  39,  links  37  cm.  Der  Schambeinast  ist  verdickt,  aber  schmerz- 
frei.   Das  Gefühl   ist  auf  der  ganzen  Vorderseite  des  linken  Beins  (soll  wohl 

Fig.  3. 


heiasen  Oberschenkels)  herabgeset/.t,  die  Sehnenrefloxe  beiderseits  gleich.  Ner- 
vige StSrungen  fehlen  sonst.  Die  acLiven  Bewegungen  in  allen  Gelenken  sind 
frei  und  nicht  schmerzhaft  (vom  30.  II.  97).  Aufnahme  am  34.  12.  97.  Der 
S[nter  verToUsländigte  Status  ergab ;  die  linke  Spina  11.  ant.  sup.  steht  hoher. 
I'al.  hält  beim  Stehen  und  Gehen  das  Bein  in  ziemlich  starker  Aussenrotation. 
ti  tritt  mehr  mit  der  Fussspitze  auf  und  stützt  sich  stark  auf  den  Stock.  Im 
Liegen  ist  eine  ausgeprägte  Lendenlordose  vorhanden,  welche  sich  aber  aus- 
gleichen lässt  ohne  Flexion  im  Hüftgelenk.  Feraur  für  Rotation  vollständig 
frei.  Beugung  über  90"  wird  als  schmerzhaft  bezeichnet.  Unbedeutende 
Atrophie  der  Oberschenkel-Muskulatur.  Gesässmuskulatur  zeigt  bei  richtigem 
Stehen  normale  Verhältnisse.  Flexion  im  Knie  fehlt.  Antreiben  des  Beines 
gegen  die  Hüftpfanne  nicht  schmerzhaft.     Pat.  klagt  über  vage  Schmerzen  in 

*rekif  flr  blin.  Chinirfie.    67.  lU.   Heft  I.  c, 


66  Dr.  F.  Bahr, 

der  linken  Leistenbeuge,  welche  herab  bis  zum  Knie  ziehen.  In  der  Gegend 
zwischen  Spina  il.  ant.  sup.  und  den  Schenkelgefässen  ist  ausserhalb  des  Lig« 
Poup.  vermehrte  Resistenz  zu  fühlen.  Keine  Sensibilitfitsstörung  an  der  Vorder- 
seite des  Oberschenkels. 

Wahrscheinlichkeitsdiagnose:  Fractura  colli  femoris  sin.  event.  Pfannen- 
verletzung. Die  sehr  gut  gelungene  Röntgenaufnahme  ergab  keinerlei  Ab- 
normität am  Becken  oder  Femur. 

Wahrscheinlichkeitsdiagnose:  Coxitis.  Fat. sollt«  einen Extensionsverband 
erlialten,  obwohl  das  Krankheitsbild  nicht  so  ganz  hierfür  passte.  Bei  den 
wiederholt  vorher  noch  vorgenommenen  Untersuchungen  ergab  sich  nun: 
Flachheit  der  Leistenbeuge  im  äusseren  Abschnitt  (veiigl.  Photographie,  auf 
welcher  leider  solche  Differenzen  nicht  immer  gut  zum  Ausdruck  kommen). 
Unterhalb  des  Leistenbandes  ist  bisweilen  eine  weich  elastische  Geschwulst 
zu  fühlen,  welche  sich  bei  sachtem  Drücken  von  der  Peripherie  verkleinem 
lässt.  Die  Geschwulst  hat  ihre  breite  Basis  an  der  Aussenhälfte  des  Lig.  Poup., 
ihre  sehr  abgerundete  Spitze  4—5  cm  unterhalb  derselben. 

Diagnose:  Hernia  cruralis  externa. 

in.  IL  W.,  55  Jahre,  Maurer,  hat  sich  vor  etwa  8  Jahren  durcfi  Sturz 
aus  6  m  Höhe  das  linke  Fersenbein  gebrochen. 

Am  28.  7.  97  fiel  er  aus  4  m  Höhe  auf  die  linke  Seite  und  erlitt  be- 
trächtliche Contusionen  der  unteren  Hälfte  des  Brustkorbes,  der  Becken- 
knochen und  des  Oberschenkels  in  seiner  ganzen  Länge.  Die  Contusionen 
trafen  ebenso  Weichtheile  wie  Knochen.  Allenthalben  fanden  sich  Schrammen 
und  blutunterlaufene  Stellen.  Am  29.  II.  97  waren  Zeichen  der  äusseren  Ver- 
letzung nicht  mehr  nachzuweisen. 

Aufnahme  am  30.  XII.  Das  linke  Bein  ist  1—2  cm  verkürzt  als  Folge 
des  zusammengequetschten  Fersenbeines.  Das  Bein  wird  leicht  einwärts  rotirt 
gehalten.  In  der  aussersten  Hälfte  der  Leistenbeuge  fühlt  man  eine  druck- 
empfindliche Resistenz.  Flexion  in  der  Hüfte  etwas  beschränkt,  ebenso 
Rotation  und  Abduction. 

Scoliosislumbalissin.,  dorsalisdextra,  auffallend  die  starke  Lendenlordose. 

Das  linke  Fersenbein  ist  im  Querdurchmesser  verbreitert,  in  seiner  Höhe 
reducirt,  der  Fuss  ist  ein  Pes  plano-valgus. 

Diagnose:  Fractura  colli  femoris  sin.  Das  Röntgenbild  ergiebt  vöUig 
normale  Knochen. 

Weitere  Untersuchungen  ergaben  nun:  die  linke  Leistenbeuge  ist  im 
äusseren  Abschnitt  abgeflacht.  Unter  dem  Lig.  Pouparti  wölbt  sich  der  Ober- 
Schenkel  etwas  vor.  Die  Vertiefung  nach  aussen  vomSartorius  istverschw^unden. 
Bei  Druck  auf  die  Partie  unter  der  Leistenbeuge  war  gelegentlich  lebhaftes 
Darmgurren  zu  vernehmen.  Der  Tumor,  von  sehr  wechselnder  Resistenz,  lässt, 
sich  mehr  und  mehr  als  ein  ungefähr  halbmondförmiges  Gebilde  unterhalb 
des  Lig.  Poup.  abgrenzen.  Bei  weniger  straffer  Resistenz  gelingt  es  auch  den 
Tumor  durch  sanften  Druck  von  unten  zu  verkleinern.  Zu  vermerken  ist  bei 
diesem'  Patienten  ebenfalls  das  Ausladen  der  Darmbeine. 

Diagnose:  Hernia  cruralis  externa. 


Der  äussere  Schenkelbruch.  67 

Die  specielle  Veranlassung  zum  Studium  dieser  Frage  war  ein 
ron  Hoffa  publicirter  Fall,  den  ich  theils  im  Original,  theils  im 
Auszug  wiedergebe. 

Ein  42jährJgBr  Arbeiter  TeruDglttclil«  Ende  1894  beim  Aufwinden  von 
Blüchern  dadurch,  dass  er  mit  dem  rechten  Bein  zwischen  diese  eingeklemmt 
tmie.  Eine  äralliche  Untersuchung  constatirt  ein  Jahr  später  scheinbare  Ver- 
iüigerang  des  Beines  um  5,5  cm.     Beim  Stehen  wird  das  Knie  leicht  flectirt. 

Fig.  4. 


H.  sah  den  Patienten  am  30.  T.  93.  Das  rechte  Bein  wird  im  Hüftgelenk 
ibducirl  und  auswärts  roUrt  gehalten,  der  grosse  Rollhilgel  beHndet  sich  an 
normaler  Stelle.  Das  Hüftgelenk  kann  activ  und  passiv  bewegt  werden,  und 
iwar  sind  alle  Bewegungen  frei  bis  auf  die  Adduction,  Beugung  und  Einwarts- 
rollnng,  welche  etwas  beschränkt  sind. 

In  der  rechten  Leistengegend  findet  sich  unterhalb  des  Leistenbandes 
sichtbar  und  fühlbar  eine  Geschwulst,  welche  zwischen  dem  Muse,  pectineus 
und  Psoas  maior  aus  der  Tiefe  heraustritt.    Diagnose:  Biirsitis. 

Ein  Gutachten  des  Aerate-Collegiums  für  Unfall angelcgenheiten  vom 
%■  6.  %  gab  folgenden.  Befund:  Pat.  steht  mit  im  Kniegelenk  gebeugtem  Bein. 

')  Hoaalsachrlrt  für  Unrallheilkunde.  1897.  No.  7.  Chronische  Ent- 
lünduDg  der  Bursa  nubiliaca  oder  Sehen belhalsfractar  als  Folge  einea  Betriebs- 
UDfilleg '( 


68  Dr.  F.  Bahr, 

Zugleich  ist  dasselbe  im  Hüftgelenk  stark  nach   aussen  rotirt  sowie  abducirt. 
Pat.  kann  ohne  Stock  hinkend  gehen. 

Liegt  Pat.  auf  dem  Boden,  bei  neben  einander  gelegten  Beinen,  so  ergiebt 
sich  folgende  Stellung:  Rechtes  Bein  ziemlich  stark  nach  ausse  rotirt,  so  dass 
die  äussere  Fusskante  mit  dem  Boden  einen  Winkel  von  45^  bildet.  Rechtes  Bein 
scheinbar  verlängert  um  4,5  cm.  Tiefstand  der  Spina  il.  ant.  sup.,  Lenden- 
lordose,  so  dass  man  die  Hand  gut  unterführen  kann.  Aussenrotation  voll- 
ständig möglich,  Innenrotation  activ  und  passiv  aufgehoben.  Bei  Abduction  und 
Adduction  geht  das  Becken  mit,  ebenso  bei  Beugung,  wenn  dieselbe  wenige 
Grade  übersteigt  (Was?).  Bei  Ausgleich  der  Lendenlordose  und  Tiefstand 
der  rechten  oberen  Spina  il.  ant.  pathologische  Stellung:  Beugung  50*^,  Ab- 
duction 25—30®,  starre  fast  völlige  Aussenrotation. 

Die  Pulsation  der  Arteria  femoralis  deutlicher  als  links.  Zwischen  ihr 
und  dem  grossen  Rollhügel  eine  in  die  Augen  fallende  aus  der  Tiefe  kom- 
mende Hervorwölbung.  Die  Haut  derselben  zeigt  leicht  gedehnte  Venennetze, 
ist  im  übrigen  normal.  Die  Wölbung  ist  druckempfindlich,  knochenhart,  an 
der  Oberfläche  leicht  höckerig  uud  sitzt  dem  Schenkelhals  unbeweglich  auf, 
gehört  demselben  also  an.  Die  Verdickung  setzt  sich  nicht  auf  das  Becken 
fort.  Der  innere  Rand  setzt  sich  scharf  ab,  ebenso  der  untere,  ^er  obere  flacht 
sich  allmählig  ab.  Es  ist  leicht  die  Darmbeingrube  abzutasten.  Es  findet 
sich  dort  nicht  die  Andeutung  einer  Geschwulst. 

Diagnose:  Eingekeilte  Schenkelhalsfractur. 

Die  BeiiTÜnclung  iiiag  im  Original  nachgelesen  werden.  Hoffa 
hält  die  Diagnose  einer  Fractur  für  falsch  unter  Aufrechterhaltung 
der  seinigen.  Er  hält  die  Knoehengeschwulst  des  CoUegiums  für 
einen  prall  gefüllten  Schleimbentel  und  verweist  auf  das  ähnliche 
Verhalten  straffgespannter  cystischer  (jeschwülste,  wie  Ganglien. 
Er  vermisst  Alles,  was  eine  Fractur  wahrscheinlich  machen  könnte, 
namentlich  in  der  Genese  des  Unfalles. 

Das  Urtheil  des  Collegiums  erschein!  mir  unrichtig;  ob  aber 
dasjenige  Iloffa's  richtiger  ist?  Die  Analogie  dieses  Falles  mit 
meinen  Beobachtungen  ist  doch  geradezu  frappant. 

Entzündungen  der  Bursa  subiliaca  (eigentlich  superior,  w-eil  es 
auch  eine  .inferior  am  Tro(?hanter  minor  giebt)  sind  fast  nur  im 
Zusammenhang  mit  Erkrankungen  des  Hüftgelenks  beobachtet. 
Iloffa  hat  sich  1.  c.  auf  einen  von  Ehrle  mitgetheilten  Fall  be- 
rufen, den  ich  im  Original  folgen  lasse  ^). 

„Derselbe  betraf  einen  kräftigen  Fassbinder  von  33  Jahren,  der,  im 
Uebrigen  stets  gesund,  seit  13  Jahren  an  einem  Schmerz  entlang  der  inneren 
Seite   der  rechten    unteren  Extremität   leidet.    Der  Schmerz   geht   von   einer 

0  Medicinisches  Korrespondenz -Blatt  des  württembcrgiscben  ärztlichen 
Vereines.     1868.     No.  34. 


Der  äussere  Schenkelbruch.  69 

Stelle  unter  der  Leistenfalte  aus,  an  der  Patient  vor  4  Monaten  zum  ersten 
Male  eine  bühnereigrosse  Geschwulst  bemerkte,  ßei  gewissen  Bewegungen 
eiacerbirt  der  Sehmerz  entlang  dem  inneren  Rande  des  Gliedes  (Beines)  aus- 
strahlend; manchmal  localisirt  er  sich  mehr  im  Knie,  er  ist  mit  einem  gewissen 
Grade  von  Functionsstörung  in  Bewegung  des  Gliedes  verbunden.  An  der 
Stelle  der  Geschwulst  trat  nie  Entzündung  auf,  noch  waren  Zeichen  von  Be- 
theiligang  des  Hüftgelenkes  vorhanden. 

In  Ausübung  seines  Handwerkes  behindert,  verlangt  Patient  nach  ver- 
geblichem Gebrauche  innerlicher  und  örtlicher  ableitender  Mittel  eine  operative 
Entfernung  der  sich  seit  längerer  Zeit  gleichbleibenden  Geschwulst,  von  der  er 
selbst  die  genannnten  Störungen  ableitet.  Status  praesens:  In  der  äusseren 
Partie  der  rechten  Leistengegend  etwas  unterhalb  des  Po upart 'sehen  Bandes, 
gegen  Aussen  von  der  Arteria  femoral is  befindet  sich  eine  längsovale  Geschwulst, 
die  in  ihrer  Längsachse  dem  Verlauf  des  inneren  Psoasrandes  folgt.  Die  Haut 
über  dem  Tumor  ist  nicht  geröthet,  ihre  Temperatur  ist  nicht  erhöht,  sie  ist 
mit  dem  ünterhautzellgewebe  über  der  Geschwulst  leicht  zu  verschieben. 

Bringt  man  den  Schenkel  in  Extensionsstellung  d.  h.  erschlafft  man  den 
lleopsoas,  so  ist  die  Geschwulst  hart,  in  der  Beugeslellung,  in  der  sich  der 
lleopsoas  contrahirt,  ist  dieselbe  weich  und  selbst  Fluctuation  wahrzunehmen. 
Man  fühlte  hierbei,  dass  der  Psoas  abgehoben  ist  und  die  Geschwulst  seinen 
inneren  Rand  überschreitet;  sie  ist  in  dieser  Stelle  mehr  circumscript  und  nament- 
lich gegen  die  Fossa  iliaca  und  den  Schenkelbogen  hin  nicht  abgrenzbar. 

Der  Kranke  empfindet  den  Schmerz  besonders  bei  Extension  und  Rotation 
des  Gliedes  nach  aussen.  Durch  Beugung  und  Adduction  wird  der  Schmerz 
zum  Schweigen  gebracht,  spontan  strahlt  er  manchmal  sehr  heftig  gegen  das 
Knie  hin  aus.    Das  Hüftgelenk  lässt  keine  Erkrankung  erkennen. 

M.  Riebet  machte  die  Punktion  der  Geschwulst  mit  einem  gewöhnlichen 
Trocart.  Es  ergoss  sich  durch  die  Canüle  eine  helle,  fadenziehendo  Flüssigkeit, 
in. der  einzelne  albuminös-fibröse  Concretionen  suspendirt  waren.  Nach  der 
Entleerung  wurde  wie  bei  Hydrocele  eine  Jodinjection  vorgenommen.  In  den 
Tagen  nach  der  Operation  traten  leichte  Erscheinungen  einer  reactiven  Ent- 
zündung ein,  die  bald  verschwanden  und  Patient  verliess  geheilt  das  Spital". 

Ehrle  führt  noch  einen  Fall  von  liursitis  an,  wo  Coramuni- 
cation  mit  dem  Hüftgelenk  bei  Coxitis  bestand  und  eine  mündliche 
Mittheilung  von  Luschka,  ein  Mädchen  betreffend,  das  nach  Struma- 
exstirpation  an  Pyämie  einging.  Vor  dem  Tode  war  schmerzhaftes 
Oedem  des  linken  Beines  aufgetreten.  Die  Seetion  ergab  neben 
anderen  pyämischen  Herden  einen  Eitererguss  im  recliten  Ellen- 
bogengelenk, aJle  übrigen  Gelenke  waren  frei.  Es  fand  sich  eine 
eitrige  Entzündung  der  Bursa  subiliaca. 

Man  kann  bei  der  Dürftigkeit  der  Ehrle^scheii  Krankenge- 
schichte wohl  mit  Recht  zweifeln,  ob  hier  der  Beweis  für  die  Existenz 
einer  Bursitis  erbracht  ist.      Man  wird    die  Miiglichkeit    ni(*ht  von 


70  Dr.  P.  Bahr, 

der  Hand  weisen  können,  es  sei  vielleicht  anch  ein  Bruchsack 
punktirt  worden.  Wenn  also  Hoffa  seine  Diagnose  auf  diese  Be- 
obachtung gründet,  so  dürfte  die  Basis  eine  unsichere  sein. 

Hesselbach  sind  nur  wenige  Beispiele  einer  Hernia  cruralis 
externa  bekannt  geworden.  Die  Oasuistik  ist  bislang  vertreten  in 
seinen,  Mac  Ilwains  und  meinen  Beobachtungen.  Ich  bin  über- 
zeugt, dass  sie  nach  dieser  Anregung  in  nächster  Zeit  in  frucht- 
barer Weise  bereichert  wird. 

„Wie  der  Leistenbruch  häufiger  beim  männlichen  Geschlecht^ 
ist  der  Schenkelbruch  häufiger  bei  Frauen.  Beim  Manne  ist  nämlich 
wegen  der  steiler  gestellten  Darmbeinschaufeln  das  Poupart'sche 
Band  ebenfalls  steiler  gerichtet."  (Busch,  Lehrbuch  der  topo- 
graphischen Chirurgie.  Berlin,  1869.)  Vergleicht  man  ein  weib- 
liches Becken  mit  einem  männlichen,  so  stehen  die  Spinae  ilei  ant. 
sup.  sowohl  absolut  als  relativ  weiter  auseinander.  Das  männliche 
Becken  stellt  einen  steileren  Trichter  dar  und  die  Eingeweide 
werden  immer  mehr  auf  die  Pforten  in  nächster  Nähe  der  Mittel- 
linie drängen.  Darin  liegt  neben  anderen  Giünden  das  Ueberwiegen 
der  Schenkelbrüche  beim  weiblichen  Geschlecht,  bei  dem  sie  nach 
Graser  drei  Mal  so  oft  vorkommen.  Es  ist  deshalb  gewiss  kein 
Zufall,  wenn  ich  in  zwei  Fällen  ein  für  die  Hernie  disponirendes 
Becken  constatiren  konnte. 

Die  Art  der  Bruchhüllen  bedarf  vielleicht  noch  einiger  Auf- 
klärung. A.  K.  Hesselbach  findet  dieselben  als  Haut,  Fascia 
lata,  Fettgewebe,  vordere  Wand  der  Fascia  iliaca  anterior,  deren 
äussere  grössere  Hälfte  aus  viel  stärkeren  Sehnenfasern  be- 
steht als  die  innere  kleinere.  Unter  dieser  starken  Decke  liegt 
eine  sehr  starke  Membran,  welche  den  Bruchsack  durchschimmern 
lässt,  nämlich  der  mitverschobene  obere,  schwächere  Theil  der 
Fascia  iliaca  posterior;  unter  ihr  liegt  der  Bruchsack. 

üeber  die  Entstehung  dieser  Hernien  gelten  wohl  die  sonst 
gebräuchlichen  Anschauungen.  In  meinen  Fällen  H  und  III,  wo 
die  Beschwerden  im  Anschluss  an  einen  Unfall  unmittelbar  vor- 
handen waren,  wo  die  betroffene  Seite  zudem  verletzt  worden  war, 
direct  nach  der  Verletzung  sogar  Anschwellung  bemerkt  wurde, 
habe  ich  den  Unfall  als  Ursache  anerkannt.  Ob  mit  Recht,  lehren 
vielleicht  weitere  Studien,  M^enn  sich  solche  Fragen  überhaupt  immer 
mit  einem  Ja  oder  Nein  entscheiden  lassen. 


Der  äasserc  Schenkelbruch.  71 

Abgesehen  von  den  für  Hernien  characteristischen  Merkmalen, 
sei  hier  noch  Folgendes  hervorgehoben.  Bei  dem  ersten  Andrängen 
des  Darmes  werden  wohl  selten  Beschwerden  existiren.  Tritt  er 
aber  unter  dem  Leistenband  hervor,  so  wird  bei  der  abwech- 
selnden Raumgrösse  beim  Gehen  ein  spannendes  Gefühl  nicht  aus- 
bleiben. Der  Patient  wird  vermeiden,  sobald  der  Druck  durch  Be- 
wegungen gesteigert,  der  Darm  gepresst  wird,  seinem  Beine  Stel- 
lungen zu  geben,  welche  den  Raum  beschränken,  er  wird  das 
Bein  einwärts  rotiren  und  beugen  in  der  Hüfte  mit  einer  kompen- 
satorischen Lendenlordose.  Aber  die  Beinhaltung  hat,  wie  wir 
sehen,  nichts  absolut  typisches;  sie  hängt  eben  davon  ab,  wie  es 
der  einzelne  Patient  am  Besten  versteht,  die  äussere  Leistengegend 
zu  entspannen.  Hier  werden  auch  noch  andere  individuelle  Ver- 
hältnisse massgebend  sein,  wie  Verhalten  der  Fascien  etc.  Man 
wird  hier  auch  berücksichtigen  müssen,  dass  es  sich  in  meinen 
Fällen  um  Unfallverletzte  handelt,  welche  in  ihren  Angaben  leider 
so  oft  unzuverlässig  sind,  so  dass  es  nicht  immer  leicht  ist,  den 
eigentlichen  Kern  der  subjectiven  Beschwerden  herauszuschälen. 

Bei  genügender  Entwickelung  der  Hernie  wird  die  Leistenbeuge 
flacher  im  äusseren  Abschnitt,  während  sie  gleichzeitig  im  inneren 
Abschnitt  deutlicher  wird  durch  die  Zunahme  des  Femur.  Ebenso 
verstreicht  eine  nach  aussen  vom  Sartorius  unter  der  Spina  gelegene 
meist  vorhandene  Einsenkung.  Die  Palpation  ergiebt  oberflächliche 
Resistenz  unter  dem  Leistenband,  man  kann  nicht  so  gut  in  die 
Tiefe  dringen,  namentlich  vom  Ligamentum  Poup.  her,  wenn  so 
die  Evacuation  des  Darmes  verhindert  wird.  Bei  der  strafl'en  Decke 
und  einem  prall  gefüllten  Bruchsack  kann  ein  knochenharter  Tumor 
vorgetäuscht  werden.  Drückt  man  von  unten  her,  so  gelingt  es, 
wenn  keine  Verw'achsungen  bestehen,  den  Tumor  zu  verkleinern, 
wohl  auch  zum  Verschwinden  zu  bringen.  Bezeichnend  für  die 
Geschwulst  ist  überhaupt  der  Wechsel  in  der  Consistenz  und  in 
der  Grösse,  auch  kann  sie  spontan  verschwinden. 

Die  Bruchgeschwulst  ist  naturgemäss  eine  sehr  flache,  wahr- 
scheinlich mit  zugeschärftem  Rande,  ihre  Basis  ist  eine  breite,  so 
dass  dieselbe  anfangs  den  Längendurchmesser  bei  Weitem  überwiegt. 
Bisweilen  können  wohl  auch  leichtere  Drucksymptome  seitens  des 
Nervus  cruralis  ausgelöst  werden. 

Die  Einklemmung    bei  dieser  Hernie  ist    sehr  ersehwert,    und 


72  Dr.  F.  Bahr,  Der  äussere  Schenkelbrach. 

es  ist  mir  kein  diesbezüglicher  Fall  bekannt  geworden.  Das  liegt 
an  der  breiten  Ausdehnung  des  Bruchsackhalses.  Koth  kann  wegen 
der  Spannung  der  Pascie  nur  in  massigen  Mengen  eintreten.  Axen- 
drehung  ist  ebenfalls  schwer  zu  denken,  da  durch  die  flache  Bnich- 
pforte  die  Darmschenkel  auseinander  gehalten  werden.  Schiebt 
sich  aber  der  Bruch  nach  seinem  Durchtritt  durch  eine  seiner 
Hüllen  näher  an  die  Oberfläche,  indem  er  durch  die  wenigen  Fasern, 
die  zwischen  ihm  und  dem  vorderen  Leistenbandc  liegen,  gegen 
dieses  Band  hindurchtritt  (A.  K.  Hesselbach,  Lehre  von  den  Ein- 
geweid ebrüchen.  n.  Bd.,  S.  191),  dann  ist  die  Einklemmung  mög- 
lich. Gerade  für  diese  Eventualität  war  die  Warnung  Hesselbach 's 
vor  der  Arteria  circumflexa,  welche  jetzt  am  vorderen  Bruchring 
liegt  und  bei  einer  Lösung  der  Einschnürung  von  hinten  leicht  ge- 
troffen werden  kann,  berechnet.  Man  muss  sich  nur  erinnern, 
welche  Rolle  Gefässverletzungen  in  jener  Zeit  in  der  Herniotomie 
spielten.  Die  Arteria  circumflexa  ilei  ist  hier  das  Pendant  zur 
Corona  mortis. 

Differentialdiagnostisch  kommen  in  Frage  Tumoren  in  der  äus- 
seren Hälfte  der  Leistenbeuge  selten,  Fractura  colli  femoris  oder  des 
Beckens,  —  Aufschluss  durch  Röntgenbild  —  Bursitis,  Psoasabscess 
und  Coxitis,  vielleicht  auch  Exostosen.  Bei  der  oberflächlichen  Lage 
der  Hernie  und  sonstigen  Eigenthümlichkeiten  der  letzteren  wird  man 
bei  sorgfältiger  Beobachtung  und  Untersuchung  die  Diagnose  sicher 
stellen  können. 

„Das  äussere  Schenkclbruchband  erhält  einen  noch  viel  län- 
geren Hals,  als  das  innere  und  eine  grosse  dreieckige  schiefe  Pe- 
lotte,  welche  der  Form  des  Bruches  genau  entspricht  und  über  die 
Ränder  desselben  hinausreicht.  Sie  ist  flach  gewölbt  und  elastisch, 
damit  sie  nicht  zu  schmerzhaft  auf  das  Hüftgelenk  drückt  und  wird 
durch  einen  Schenkelriemen  unven'ückt  festgehalten"  (Hesselbach). 

Ob  es  sich  empfiehlt  ein  Bruchband  tragen  zu  lassen?  Wenn 
es  nützen  soll,  bedarf  es  eines  sehr  starken  Druckes,  das  wird 
atrophische  Veränderungen  an  der  gedrückten  Stelle  absetzen.  Und 
selbst  wenn  es  stark  drückt,  wird  es  bei  der  eigenthümlichen  Con- 
stellation  das  Eindrängen  des  Darmes  nicht  hintanhalten. 

Operative  Erfahrungen  auf  diesem  Gebiet  stehen  noch  aus. 


III. 

(Aus  der  chirurg.  Üniveraitäts-Klinik  des  Herrn  Geheimrath 

von  Bergmann.) 

lieber  die  Behandlung  der  Urachusfistel. 

Von 

PrivatdoceDt  in  Berlin. 


Eine  dauernde  Heilung  der  sogenannten  Urachusfistel,  dieses 
offengebliebenen  oder  im  späteren  Alter  wieder  aufgebrochenen, 
foetalen  Epithelganges,  ist  erst  dann  zu  erwarten,  wenn  sich  die 
Behandlung  an  allererster  Stelle  gegen  die  Ursachen  richtet,  welche 
im  betreffenden  Falle  bei  der  congenitalen  Fistel  das  Persistiren 
des  Ganges,  bei  der  acquirirten  den  Durchbruch  durch  den  ge- 
schlossenen Nabel  veranlasst  oder  begünstigt  haben  können.  Diese 
Ursachen  aber  sind  verschieden  und  mannigfaltig,  und  oft  scliwer 
zu  entdecken. 

Für  die  Entstehung  der  congenitalcn  Urachusfistel  ist 
als  ein  solches  Hauptmoment  schon  lange,  wenn  auch  in  vielen 
Fällen  nicht  mehr  nachzuweisen,  sondern  nur  als  Ursache  zu  ver- 
muthen,  die  Stauung  des  Urins  in  der  Harnblase  durch  weiter  ab- 
wärts gelegene  Hindemisse  für  den  Abfluss  des  Urins  bekannt;  es 
giebt  sich  dies  am  besten  in  jenen  Fällen  zu  erkennen,  in  denen 
ausser  diesem  Leiden  noch  eine  angeborene,  die  Urinentleerung 
hindernde  Phimose  oder  ein  vollständiger  Verschluss  der  Harnröhre 
(Gabrol,  Rose,  Förster^)  beobachtet  wurde,  besonders  aber  in 
dem  Falle  von  Stadfeldt^),  bei  dem  neben  der  angeborenen 
Phimose    alle    Zeichen    der   Stauung   im    Harnsystem    in    Gestalt 

*)  Literaturangaben  bei  Ledderhose:  Deutsche  Chirurgie,  Die  Erkran- 
kungen der  Bauchdecken. 


74  Dr.  E.  Lexer, 

von  Erweiterung  der  Harnröhre,  der  Blase,  der  üreteren  und 
von  beiderseitiger  Hydronephrose  vorhanden  waren.  Da  auch  an- 
geborene Faltenbildilngen  und  Verengerungen,  besonders  bei  der 
männlichen  Harnröhre  (Englisch^)  die  Ursache  für  Erschwerung 
des  Harnabflusses  bilden  können,  so  ist  im  gegebenen  Falle  auch 
diese  Möglichkeit  zu  berücksichtigen.  Allerdings  fanden  sich  solche 
Hindernisse  für  die  Urinentlcerung  nur  in  w^enigen  Fällen  von  an- 
geborener Urachusfistel,  ja  selbst  in  dem  als  ünicum  dastehenden 
Falle  von  Froriep  und  Gusserow^),  wo  die  ungespaltene  Blase 
durch  den  sehr  stark  erweiterten  Urachus  prolabirte,  fand  sich  kein 
Anhaltspunkt  für  die  Entstehung  dieser  hochgradigen  Missbildung 
in  dem  angedeuteten  Sinne;  man  kann  in  solchen  Fällen  nur  mit 
Klebs  Hindernisse  annehmen,  die  in  utero  bestanden,  nach  der 
Geburt  aber  verschwunden  sind  (Ledderhose). 

Es  ist  selbstverständlich,  dass  die  Beseitigung  selbst  des  ge- 
ringsten Hindernisses  für  die  Harnentleerung  auf  normalem  Wege 
günstig  für  den  Verschluss  des  Fistelganges  wirken  muss.  So 
gelang  es  denn  auch,  sei  es,  dass  ein  derartiges  Hinderniss  zuerst 
beseitigt  werden  musste  oder  nicht,  in  einer  Reihe  von  Fällen  die 
Fistel  nur  mit  Hilfe  ganz  einlacher  Verfahren  zur  Heilung  zu  bringen, 
wie  durch  Aetzen,  Kauterisiren  oder  Comprimiren  der  Fistelmündung. 
Am  günstigsten  liegen  hierzu  die  Chancen  möglichst  bald  nach  dem 
Abfalle  der  Nabelschnur,  da  dann  die  Bildung  der  Nabelnarbe 
noch  (las  Ihrige  zum  Verschluss  der  Fistel  thut.  Es  erreichte 
Lugeol  nach  Ledderhose  durch  fortgesetzte,  leichte  Compression, 
Jacoby^)  durch  Cautcrisation  mit  nachfolgender  Compression  einen 
dauernden  Verschluss  in  Fällen,  die  sehr  früh  nach  der  Geburt  zur 
Behandlung  kamen.'  Die  gleichzeitige  Anwendung  eines  Dauer- 
katheters neben  diesen  Verfahren  hat  nach  Delageniere  nie  günstige 
Erfolge  gehabt.  So  verführerisch  es  auch  ist,  den  Urin  beständig 
abzuleiten,  damit  er  nicht  mehr  in  den  Urachus  hineindringt,  so  kann 
sich  doch  bei  der  sehr  leicht  eintretenden  Cystitis  die  Entzündung 
in  den  Hamstrang  fortsetzen  und  den  Verschluss  des  Ganges  un- 
möglich machen.     Ist  dagegen  der  Nabel  schon  fertig  gebildet,  ist 


1)  finglisch,  Archiv  für  JCinderheilkunde.     II. 

2)  Nach   V.  Ammon,    Die    angeboreDen    chirurgischen    Krankheiten    des 
Menschen. 

8)  Jacob}',  Berliner  klin.  Wochenschrift.     1877.     No.   15. 


Ueber  die  Behandlung  der  Urachusßstel.  75 

eine  lippenförmige  Vereinigung  zi^ischcn  Haut  und  ürachusschleira- 
haut  entstanden  oder  prolabirt  die  letztere  an  der  Fistelmündung 
als  kleiner  Tumor,  so  ist  je  nach  den  vorgefundenen  Verhältnissen 
die  Ligatur  dieses  oft  gestielten  Tumors  oder  die  Anfrischung  der 
Fistelumgebung  mit  nachfolgender  Naht  mit  Erfolg  geübt  worden. 
Allerdings  entstanden  bald  darauf  in  den  Fällen  von  Gueniot  und 
Paget  Nabelhernien  durch  Vernachlässigung  des  Nabelringes,  wie 
Delageniere  hervorhebt.  Ja,  es  berichtet  Gueniot  sogar  über 
die  Heilung  einer  Erwachsenen,  einen  oft  citirten  Fall  von 
Cabrol  aus  dem  Jahre  1550,  der  ein  etwa  20jähriges  Mädchen, 
die  allen  Urin  aus  dem  Nabel  entleerte,  in  kurzer  Zeit  von 
ihrem  Leiden  dadurch  befreite,  dass  er  die  verschlossene  Harn- 
röhre durchgangig  machte  und  um  den  in  die  Länge  gezogenen 
Nabel  eine  Ligatur  legte.  Angesichts  dieser  oft  schon  enviesenen 
Thatsache,  dass  die  angeborene  Urachusfistel  besonders  in  frühester 
Jugend  lediglich  unter  Anwendung  ganz  einfacher  Methoden  der 
Fistelbehiuadlung  zum  Verschluss  kommen  kann,  (Gueniot,  Stad- 
feldt  u.  A.,  siehe  auch  Ledderhose)  sind  eingreifende  Operationen, 
die  auf  die  gänzliche  oder  theilweise  Ausrottung  des  Epithelganges 
abzielen,  wie  z.  B.  das  Verfahren  von  Delageniere,  erst  dann 
am  Platze,  wenn  mit  der  einfachsten  Behandlungsweise  keine  Dauer- 
erfolge erzielt  worden  sind.  Denn  man  darf  aus  den  geheilten 
Fällen  wohl  den  Schluss  ziehen,  dass  unter  günstigen  Umständen 
im  frühen  Alter  das  offen  gebliebene  Urachuscanälchen  wenigstens 
zum  grossen  Theil  noch  einer  verspäteten  Obliteration  anheimfallen 
kann,  wenn  sich  der  Urin  auf  normalem  Wege  ungehindert  entleert 
und  die  Fistelmündung  in  der  Nabelnarbe  zum  Verschluss  kommt. 
In  anderen  Fällen  jedoch  bleibt  trotz  aller  Bemühungen  die 
Fistel  bestehen.  Als  Hauptursache  hiefür  sind  wohl  die  anatomischen 
Verhältnisse  anzusehen,  wie  sie  sich  bei  hartnäckigen  Fisteln  als 
starke  Erweiterung  des  offengebliebenen  Hamstranges  meist  zu- 
sammen mit  abnormer  Kleinheit  und  schlauchartiger  Beschaffenheit  der 
Blase  oder  als  cystische  Ausbuchtungen  der  Wandung  des  Ganges 
fanden.  Femer  ist  das  längere  Bestehen  eines  weim  auch  nur  ge- 
ringen Hindernisses  für  die  Harnentleerung  zu  beschuldigen,  z.  B. 
eine  Phimose,  die  übersehen  oder  zu  spät  operirt  wird,  oder  es 
kann  der  Urachus  selbst  mit  der  Zeit  Verändeiungen  erleiden,  die 
einer  spontanen  Obliteration  trotz  Herstellung  eines  normalen  und  ge- 


76  Dr.  E.  Loxer, 

nagenden  ürinabflusses  und  dem  Verschlusse  der  äusseren  Mündung 
entgegenstehen,  indem  nach  Infection  der  ürachusschleimhaut  von 
aussen  eine  entzündliche  Absonderung  eintritt  und  Incrustationen 
oder  abscessartige  Erweiterungen  der  Wand  entstehen. 

Ein  solches  Hinderniss  für  die  Heilung  der  letzteren  Art  lag 
in  einem  Falle  von  Delag6niere  vor.  Bei  dem  öYajährigen 
Knaben  bestand  die  Fistel  seit  frühester  Jugend;  ijn  6.  Lebens- 
monat hatte  sie  sich  auf  der  Höhe  eines  kleinen  im  Nabel  liegenden 
Tumors  geöffnet.  Delageniere  umschnitt  die  Fistel,  gelangte  dann 
hinter  dem  Nabel  in  eine  mit  Granulationen  gefüllte  buchtige  Tasche, 
deren  unterste  Ausbuchtung  in  den  an  der  Schleimhaut  deutlich 
erkennbaren  Urachuscanal  überging.  Bei  der  darauf  folgenden  Um- 
schneidung und  Excision  dieser  Tasche,  die  ihrer  Lage  nach  wohl 
durch  eine  frühere  Entzündung  im  suburabilicalen  Räume  entstanden 
war,  wenn  es  sich  nicht  um  eine  zerfallene  Cyste  handelte,  wurde 
das  Peritoneum  weit  geöffnet.  Danach  fühlte  man  von  der  Bauch- 
höhle aus  den  Strang  des  ürachus  sich  zur  Blase  fortsetzen.  Derselbe 
wurde  noch  3  cm  weit  isolirt  und  dann  durchschnitten.  Das  Lumen  des 
Ganges  wurde  mit  Einstülpung  der  Wandung  durch  Nähte  umschlossen. 
Die  Fistel  heilte  nach  diesem  Eingriffe,  den  Delageniere  als  partielle 
Rcsection  des  ürachus  bezeichnete;  der  Knabe  blieb  gesund. 

Neuerdings  operirte  Stierlin^)  bei  einem  12jährigen  Mädchen 
eine  angeborene  Fistel  mit  ziemlich  weitem  Calibcr  —  sie  war  für 
ein  elastisches  Bougie,  Charriere  No.  9  leicht  durchgängig.  Der  Be- 
fund einer  die  Harnröhrenmündung  verdeckenden  Schleimhautfalte, 
sowie  eines  steil  nach  hinten  gerichteten  Verlaufes  der  Urethra  ist 
nach  Stierlin  vielleicht  von  Wichtigkeit  für  die  Genese.  Es  wurde 
nach  genauer  Präparation  der  Nabelmündung  die  Schleimhaut  des 
Ürachus  angelrischt  und  mit  fortlaufender  Naht  das  Lumen  ge- 
schlossen, worauf  die  Naht  'der  Hautwunde  folgte.  Nach  10  Tagen 
konnte  die  Patientin  als  vollständig  geh(;ilt  entlassen  werden. 

Der  Erfolg  dieser  beiden  Operationsverfahren  war  also  ein 
guter,  üb  es  rationell  ist  bei  älteren  Kindern  mit  angeborener 
Fistel  sich  mit  dem  äusseren  Verschluss  des  Ganges  zu  begnügen, 
ist  eine  Frage,  auf  die  ich  später  bei  Besprechung  eines  Falles  von 
acquiriilcr  Fistel  eingehen  werde. 


*)  Stierlin,  Deutsche  med.  Wochenschrift.     1897.    No.  12. 


lieber  die  Behandlans:  der  Urachusfistel.  77 


■rr» 


Weit  grossere  Schwierigkeiten  stehen  der  Heilung  der  erst  im 
späteren  Alter  aufgetretenen,  sog.  acquirirten  oder  angeboren 
secundären^)  Urachusfistel  entgegen. 

Bricht  die  Fistel  schon  in  den  ersten  Lebensjahren  auf,  dann 
kommt  sie  der  eongenitalen  Form  insofern  sehr  nahe,  als  man 
wohl  annehmen  darf,  dass  in  solchen  Fällen  nur  das  äusserstc  Ende 
des  Hanistranges  in  der  Nabelnarbe  verschlossen  und  obliterirt  war. 
Harnstauungen    in  der  lilase   spielen  auch  hier  eine    grosse  Rolle. 

Für  die  Erklärung  des  Wiederaufbruches  des  ürachus  beim 
Erwachsenen  sind  Untersuchungen  von  grosser  Bedeutung,  welche 
die  Thatsache  feststellten,  dass  ein  grösserer  vom  Blasenscheitel 
aus  zugänglicher  Abschnitt  des  Epithelganges  nicht  nur  in  den  ersten 
Lebensjahren  oft  sehr  ausgeprägt  vorhanden  ist,  sondern  auch  im 
späteren  Alter  bis  zu  einem  gewissen  Grade  als  Norm  gefunden 
wird.  Dies  haben,  nachdem  schon  Walt  her.  Portal  und  Mcckel 
sich  gegen  die  frühere  Ansicht  von  der  schon  bei  der  Geburt  er- 
folgten vollständigen  Obliteration  des  Urachus  ausgesprochen,  die 
Untersuchungen  von  Luschka,  Suchannek  und  besonders  Wutz 
erwiesen.  Letzterer  fand  nicht  nur  an  der  Mehrzahl 2)  der  unter- 
suchten Leichen  verschiedenen  Alters,  dass  das  Ligamentum  vesicae 
medium  in  seinem  untersten  Abschnitte  einen  sondirbarcn  Epithel- 
schlauch als  Rest  des  Urachus  enthält,  der  am  Blasenscheitel  durcli 
eine  trichterförmige  Einziehung  und  einen  klappenartigen  Verschluss 
kenntlich  ist,  sondern  stellte  auch  ein  extrauterines  Wachsthum 
dieses  Epithelganges  fest,  der  beim  Erwachsenen  in  der  Regel  etwa 
ein  Drittel  des  Abstandes  des  Blasenscheitels  vom  Nabel  einnimmt. 

Bei  dem  nicht  häufigen  Vorkommen  der  sogenannten  acquirirten 
Urachusfistel  ist  es  wahrscheinlich,  dass  der  nach  Wutz  als  fast 
normal  anzusehende  Ueberrest  des  Urachus  erst  dann  zum  Angriffs- 
punkt jener  Momente  wird,  welche  schliesslich  zum  Durchbruch  des 
Urins  am  Nabel  führen,  wenn  er  in  ungewöhnlicher  Weite  und  Aus- 
dohnung  vorhanden  und  die  ventilartige  Schlcimhautfalte  an  seiner 
Blasenmündung  insufficient  ist  (v.  Bramann^).  Wirken  doch  die 
Ursachen,    die  den  Wiederaufbruch  des  Urachus  herbeizuführen  im 

*)  Letendu- Voillemier  nach  Güterbock,  Die  chirurgischen  Krank- 
heiten der  Hamorgane. 

')  Wutz,  Ueber  Urachus  und  Urachussysteni.  Virchow's  Archiv.  92. 
1883. 

')  V.  Bramann,  Archiv  für  klin.  Chirurgie.     Bd.  36.    S..996 


78  Dr.  E.  Loxer, 

Stande  sind,  bei  so  enorm  vielen  Fällen  von  Erkrankungen  der 
Blase,  ohne  dass  eine  ürachusfistel  entsteht. 

Ebenso,  wie  für  die  Entstehung  der  congenitalen  Fistel,  spielt 
bei  der  später  entstandenen  die  Stauung  des  Urins,  mehr  aber  noch 
die  von  der  Blase  aus  fortgesetzte  Entzündung  der  Schleimhaut 
eine  Rolle.  Durch  das  Hand  in  Handgehen  dieser  beiden  Momente 
ist  es  nach  von  Braniann  zu  verstehen,  wie  allmälig,  auch  beim 
Erwachsenen,  der  Rest  des  Urachus  am  Blasenscheitel  erweitert 
wird  und  dann  durch  Weitergreifen  der  Entzündung  auf  den  soliden 
Theil  des  Ligaments  schliesslich  der  gestaute  Urin  auf  dem  von 
der  eitrigen  Entzündung  gebahnten  Weg  am  Nabel  durchbricht. 
Die  Urinstauung  erklärt  sich  in  den  einen  Fällen  allein  durch  die 
vorhandene  Cystitis,  in  anderen  durch  impermeable  Stricturen  der 
Harnröhre  (Jacoby's  Fall)  oder  Prostatahypertrophie. 

Den  besten  Beweis  für  das  Uebergreifen  der  Eiterung  von  der 
Blase  auf  Urachusreste  ergaben  2  Fälle  von  Wutz^);  in  dem  ersten, 
einem  alten  Prostatiker,  waren  2  dem  Urachus  angehörende  cys- 
tische Erweiterungen  infolge  ihrer  Communication  mit  der  entzündeten 
Blase  durch  das  durchgängige  Urachuscanälchen  vereitert,  in  dem 
zweiten  Falle  handelte  es  sich  um  einen  20Jۊhrigen,  an  Perityphlitis 
verstorbenen  Mann,  hei  dem  in  einer  Urachuscyste,  die  ebenfalls 
durch  ein  feines  Canälchen  mit  der  Blase  in  Verbindung  stand, 
der  Beginn  einer,  von  der  Blase  aus  fortgcleiteten  Entzündung  sich 
nachweisen  liess. 

Das  Mitspielen  der  Entzündung  bei  der  Entstehung  der  Fistel, 
was  sich  ja  schon  klinisch  dadurch  äussert,  dass  vor  dem  Durch- 
bruch des  Urins  am  Nabel  in  der  Regel  die  Bildung  eines  entzünd- 
lichen Infiltrates,  eines  Abscesses  und  die  Entleerung  von  Eitermassen 
beobachtet  wird,  bildet  natürlich  für  die  Heilung  das  grösste  Hinder- 
niss.  Es  ist  daher  das  erste  Erforderniss,  die  Entzündung  der  Blase, 
die  in  geringerem  oder  stärkerem  Grade  stets  dem  Wiederaufbruch 
des  Urachus  vorangeht,  zum  Abschluss  zu  bringen  und  bestehende 
Hindernisse  für  die  Urinentleenmg  zu  beseitigen,  bevor  man  mit 
Aussicht  auf  Erfolg  an  die  Behandlung  der  Fistel  herangehen  kann. 
Oft  aber  trotzt  die  Eiterung  der  Blase  und  somit  auch  die  Fistel 
jeder  Behandlung.     Es  sind  dies    diejenigen  Fälle,    in  denen    sich 


0  1.  c.  S.  403, 


lieber  die  Behandluns:  der  ürachusfistel.  79 


■e 


die  Kiteruiig  von  der  Blase  schon  weiter  liinauf  erstreckt  hat, 
in  denen  schon  Nierenbecken  und  Nierenparenchym  ergriffen  sind, 
so  das«  schliesslich  die  Blasennabelfistel  nur  einen  ganz  un- 
wesentlichen Nebenbefund  in  dem  schweren  Bild  der  ganzen  Er- 
krankung darstellt.  So  gelang  es  z.  B.  in  dem  Wo rster' sehen 
Falle  ^),  in  welchem  ein  11  jähriges  Mädchen  nach  2 jährigem  Bestehen 
einer  Cvstitis  eine  Urinfistel  am  Nabel  bekam,  erst  nach  10  Jahren 
die  Fistel,  die  sich  inzwischen  nach  Verheilen  der  Stelle  am  Nabel 
weiter  unten  in  der  Linea  alba  gebildet  hatte,  durch  Anfrischen 
und  Naht  zur  Heilung  zu  bringen.  Dagegen  endete  der  Fall  von 
Cadell^),  ein  8 jähriges  Mädchen,  bei  welchem  ebenfalls  nach  län- 
gerem Bestehen  einer  Cystitis  eine  Blasennabelfistel  entstanden  war, 
schon  nach  5  Monaten  in  Folge  der  eingetretenen  Niereneiterung 
tödtlich.  Ein  ähnlich  trauriges  Beispiel  ergiebt  in  seinem  weiteren 
Verlaufe  auch  der  v.  Bramann'sche  Fall,  der  gleichzeitig  den 
ersten  Versuch  einer  radicalen  operativen  Behandlung 
darstellt. 

V.  Bramann  ging  nämlich  von  der  richtigen  Voraussetzung 
aus,  dass  die  epitheliale  Auskleidung  des  erweiterten  Urachus  das 
Haupthindemiss  für  den  Verschluss  der  Fistel  bildete.  So  suchte 
er  an  seiner  Patientin,  einem  r2jährigen  Mädchen,  bei  dem  sich 
vor  Kurzem  eine  Blasennabelfistel  im  Anschluss  an  eine  seit  dem 
9.  Jahre  bestehende  Cystitis  entwickelt  hatte,  durch  Spaltung  des 
ganzen  Ganges  unter  Leitung  einer  Sonde  und  Entfernung  der  Aus- 
kleidung desselben  bis  zur  Blase  herab  eine  Heilung  der  Fistel  zu 
erzielen,  nachdem  eine  erhebliche  Besserung  der  Cystitis  durch  Ein- 
igen eines  Dauerkatheters  und  häufige  Blasenspülungen  erreicht 
worden  war. 

Bei  der  Entfernung  der  nahe  der  Blase  sehr  festhaftenden 
Urachusschleimhaut  mit  dem  scharfen  Löffel  entstand  hier  ein 
kleiner  Riss  in  der  hinteren  Wandung  mit  Verletzung  des  Perito- 
neums in  geringer  Ausdehnung.  -Die  in  ihrem  oberen  Abschnitte 
vernähte  Wunde  heilte,  doch  schloss  sich  nur  vorübergehend  trotz 
weiterer   plastischer    Operationen    und   Kauterisation    die    ßlasen- 


0  Worster,  Virchow-Hirsch  Jahresbericht  1877.  II.  S.  403.  New  York, 
Med.  Record.     1877. 

2)  Cadeil,  Virchow-Hirsch  Jahresbericht  1878.  II.  S.  416.  Edinburgh 
med.  Journ.     1878,  pag.  221, 


80  Dr.  E.  Lexer, 

fistel,    die  schliesslich  nur  vom  Nabel  bis  zur  Symphyse  verlagert 
worden  war. 

lieber  den  weiteren  Verlauf  des  Falles  nach  der  Veröffent- 
lichung von  V.  Bramann  ergiebt  die  Krankengeschichte,  dass  die 
Patientin  ein  Jahr  später  an  Urämie  in  der  Klinik  starb.  Die 
Fistel  über  der  Symphyse  hatte  sich  nicht  geschlossen,  die  Eiterung 
der  Blase  nahm  in  hohem  Maassc  zu,  auch  der  Dauerkatheter  be- 
währte sich  wenig,  indem  trotz  desselben,  wahrscheinlich  weil  er 
sich  leicht  verstopfte,  fast  aller  Urin  zeitweise  zur  Fistel  heraus- 
kam. Bei  der  Sectiori  fand  man  beide  Nieren  vollständig  ver- 
eitert, zerfallen,  beide  Ureteren  erweitert,  den  einen  durch  Con- 
cremente  verschlossen;  die  Blase  selbst,  deren  Schleimhaut  die 
Zeichen  schwerster  Entzündung  bot,  bestand  nur  aus  einem 
schmalen,  10  cm  langen  Schlauch. 

Durch  die  vollständige  Ausrottung  der  Epithelbekleidung  und 
Spaltung  der  Fistel  vom  Nabel  bis  zum  Blasenscheitel  war  wohl 
ein  Verschluss  des  ürachusganges  erreicht  worden,  doch  blieb  seine 
Mündung  in  der  Blase  offen  und  damit  eine  Fistel  oberhalb  der 
Symphyse  bestehen.  Dass  diese  letztere  trotz  plastischer  Opera- 
tionen nicht  zum  Verschluss  kam,  liegt  an  der  hartnäckigen,  seit 
Jahren  bestehenden  Gystitis  und  diese  wiederum  konnte  nicht  zur 
Ausheilung  kommen,  nachdem  schon  die  Ureteren  und  Nieren  von 
der  fortgepflanzten,  eitrigen  Entzündung  ergriffen  waren. 

Ausserdem  aber  möchte  ich  für  dasMissIingen  noch  einen  weiteren 
Umstand  verantwortlich  machen,  wie  ich  ihn  erst  bei  der  Opera- 
tion eines  anderen  Falles  kennen  lernte,  nämlich  das  anatomi- 
sche Verhalten  des  Blasenscheitels,  dessen  abnorme,  spitz 
zulaufende  Gestalt  in  den  meisten  zur  Obduction  gekommenen 
Fällen  kurz  erwähnt  wird  und  höchstwahrscheinlich  auch  in  dem 
V.  Bramann'schen  Falle,  in  welchem  bei  der  Section  die  schlauch- 
förmige Gestalt  der  Blase  auffiel,  vorhanden  war.  Durch  die 
Längsspaltung  der  vorderen  Urachuswand  bis  zu  dessen  Mündung 
am  Blasenscheitel  war  hier  ein  für  den  Finger  durchgängiges  Loch 
in  der  Blase  entstanden.  Wenn  man  bedenkt,  dass  durch  diesen 
Schnitt  nur  die  vordere  Wand  des  in  den  offenen  Urachus  über- 
gehenden Vertex  betroffen  wurde,  so  hatte  die  Wunde  in  der  Blase 
wenig  günstige  Verhältnisse  für  eine  Heilung,  sei  es  mit  oder  ohne 
Naht,    da  ja  die  hintere  Blasenwand  sich  in  die  hintere.,  nur  der 


üeber  die  Behandlung  der  Urachusfistel.  81 

Schleimhaut  beraubte  Wand  des  ürachus  fortsetzte,  v.  Bramann 
versuchte  zunächst  den  Verschluss  dieser  Blasenwunde  durch  Tarn- 
ponnade  unter  Mitwirkung  des  Dauerkatheters  herbeizuführen,  später 
durch  Anfrischung  der  Fistel  oberhalb  der  Symphyse  mit  nach- 
folgender Hautplastik. 

Wie  sehr  eine  abnorme  Gestaltung  des  Blasenscheitels  bei  der 
Operation  der  Urachusfistel  für  die  Heilung  ihrer  Blasenmündung 
von  Wichtigkeit  sein  kann,  trat  in  dem  folgenden  Falle  sehr 
deutlieh  hervor. 

Es  handelte  sich  um  einen  schwächlich  gebauten  jungen  Mann  von 
20  Jahren,  der  bestimmt  angeben  konnte,  dass  früher  niemals  am  Nabel  Ab- 
normitäten bemerkt  worden  waren.  Erst  vor  l^/g  Jahren  traten,  nachdem 
schon  mehrere  Wochen  vorher  Beschwerden  in  der  Entleerung  des  gleichzeitig 
sehr  trüb  aussehenden  Urines  bestanden  hatten,  Schmerzen  in  der  Gegend  des 
Nabels  auf,  dessen  Umgebung  anschwoll  und  sich  röthete.  Bald  darauf  soll 
sich  eines  Tages  eine  Menge  eitriger  Flüssigkeit  aus  dem  Nabel  entleert  haben. 
Von  Zeit  zu  Zeit  hörte  diese  Absonderung  aus  dem  Nabel  auf,  um  dann  auf 
einmal  wieder  aufzutreten,  während  die  Blasenbeschwerden  immer  heftiger 
wurden,  häufig  Fieber  und  Schüttelirost  sich  hinzugesellten  und  der  Patient, 
der  bisher  seine  Leiden  verheimlicht  hatte,  sehr  stark  herunterkam.  Ausser 
einer  hochgradigen  Cystitis  bestand  eine  sehr  vernachlässigte  Blennorrhoe  der 
Harnröhre,  in  deren  eitrigem  Secret  massenhaft  Gonokokken  nachgewiesen 
werden  konnten,  üeber  den  Zeitpunkt  der  Entstehung  der  Gonorrhoe  vermied 
der  Patient  jede  genauere  Angabe.  Die  Fistelöffnung  am  Nabel  war  wegen  der 
Schwellung  und  entzündlichen  Infiltration  desselben  nicht  sichtbar,  doch  füllte 
sich  der  Nabeltrichter  beim  Pressen  des  Patienten,  sobald  heftiger  Harndrang 
sich  einstellte,  sofort  mit  schleimigem  Eiter  und  übelriechendem  Urin,  ebenso 
bei  Druck  auf  die  Blasengegend,  wobei  sehr  heftige  Schmerzen  auftraten. 

Die  Behandlung  bezog  sich  vor  allen  Dingen  auf  die  Cystitis.  Bei  den 
häufig  vorgenommenen  Blasenspülungen  entleerten  sich  jedesmal,  sobald  die 
Blase  etwas  gefüllt  war,  aus  der  Nabelfistel  zuerst  eitrige  Flocken,  dann  die 
Spülflussigkeit,  so  dass  schliesslich  die  ganze  eingelassene  Menge  durch  den 
Nabel  abfloss.  Trotzdem  ist  es  uns  nicht  gelungen,  eine  dünne  Sonde  tiefer  als 
höchstens  2  cm  in  die  Fistel  einzuführen.  Nach  3  Wochen  hatte  sich  der 
Patient  erholt,  es  bestand  kein  Fieber  mehr,  der  Urin,  der  ohne  schmerzhaften 
Drang  entleert  wurde,  sah  beinahe  normal  aus,  auch  die  Entleerung  von  Eiter 
aas  der  Nabelfistel  hatte  aufgehört.  Aus  der  letzteren  sickerte  beständig  der 
Urin  heraus,  sobald  die  Blase  wenig  gefüllt  war,  weshalb  der  Patient  in  kurzen 
Zeiträumen  Urin  liess.  Einen  Dauerkatheter  einzulegen,  unterliessen  wir  schon 
aus  dem  nahe  liegenden  Grunde,  da  die  gonorrhoische  Entzündung  der  Harn- 
röhrenschleimhaut noch  im  Abheilen  begriffen  war.  Die  Bauchdecken  waren 
nicht  mehr  druckempfindlich,  so  dass  man  jetzt  sehr  deutlich  einen  harten, 
über  fingerdicken  Strang  in  der  Mittellinie  durchfühlte,  der  sich  vom  Nabel  bis 

ArehiT  tUr  klin.  C]iirnrfr<«-    <^7.  Bd.   Heft  1.  g 


82  Dr.  E.  Lexer, 

in  die  Blasengegond  verfolgen  liess  und  in  seinem  oberen  Abschnitte,  ent- 
sprechend dem  subumbilicalen  Räume,  etwas  verbreitert,  durch  die  weichen 
Bauchdecken  fast  zu  umgreifen  war. 

Nach  Ablauf  der  Cystitis  konnte  an  den  Verschluss  der  Blasen- 
nabelfistel  gedacht  werden.  Leitend  war  dabei  das  Vorgehen 
V.  Bramann's,  das  darauf  hinausging,  die  innere  Auskleidung  des 
Ganges  resp.  Harnstranges  zu  entfernen.  Dass  sich  jedoch  unsere 
Operation  von  Anfang  an  etwas  anders  gestaltete,  erklärt  sich  aus 
den  vorgefundenen  Verhältnissen.  Da  keine  Sonde  einzuführen  und 
ferner  die  obere  Hälfte  des  Stranges  deutlich  zu  umgreifen  war, 
wurde  die  Excision  desselben,  zunächst  in  seinem  oberen  Abschnitte, 
vorsucht.  Nach  Umschneidung  des  Nabels  liess  sich  unschwer  in 
Zusammenhang  mit  diesem  aus  der  schwieligen  Umgebung  ein 
kleinfingerdicker  Bindegewebsstrang  umschneiden,  von  dem  ich  an- 
nehmen durfte,  dass  er  den  nicht  sondirbaren,  wahrscheinlich  also 
etwas  gewundenen  Gang  enthielt.  Eine  Eiteransammluhg  oder  ein 
Granulationsherd  war  in  dem  durchschnittenen  schwieligen  Gewebe 
nicht  vorhanden,  doch  muss  wohl  angenommen  werden,  dass  das 
letztere  einer  früheren  Eiterung  im  sogenannten  subumbilicalen 
Räume  seine  Entstehung  verdankte.  Etwa  2  cm  unterhalb  des  um- 
schnittenen  Nabels  war  an  dem  freipräparirten  Strang  der  Fistel- 
gang geöffnet  worden.  Es  erschien  hier  ein  kleines  Lumen,  von 
dem  aus  sich  eine  dünne  Sonde  ohne  Schwierigkeit  bis  in  die  Ge- 
gend der  Blase  einführen  liess.  Das  weitere  Präpariren  des  Stranges 
nach  der  Verlängerung  des  Schnittes  bis  zur  Symphyse  wurde  hier- 
durch sehr  erleichtert  und  liess  sich  noch  bis  zur  Mitte  zwischen 
Nabel  und  Symphyse  ohne  Verletzung  des  Peritoneums  ausführen. 
Hier  jedoch  war  dieselbe  nicht  mehr  zu  vermeiden,  da  die  unter 
dem  Nabel  noch  sehr  starke  Schwiele  allmälig  in  ein  fast  nor- 
males Peritoneum  überging.  Von  dem  Schlitz  des  Bauchfells  aus 
konnten  die  Verhältnisse  an  der  Blase  sehr  gut  übersehen  werden. 
Die  Fortsetzung  des  bisher  freipräparirten  Stranges,  des  Ligamentum 
vesicae  medium  verbreiterte  sich  kegelförmig  und  ging  ohne 
sichtbare  Grenze,  ganz  ähnlich  wie  dies  beim  Embryo 
der  Fall  ist,  in  den  sehr  hoch  stehenden  Blasenscheitel  über.  Um 
nun  das  Bauchfell  nicht  weiter  bis  zur  Blase  zu  öffnen,  w^urde  es 
von  der  hinteren  Fläche  des  sehr  dicken  LigamentvS,  beziehungs- 
weise mit  einer    dünnen  Schicht  desselben    scharf  abpräparirt   und 


Ueber  die  Behandlung  der  Urachusfistel.  83 

dann  der  erwähnte  Schlitz  durch  Naht  geschlossen.  Zuletzt  hing 
der  vollständig  freipräparirte  Urachusstrang  nur  noch  an  dem  zipfel- 
(ormigen  Blasenscheitel,  der  seine  Fortsetzung  bildete.  Durch  diese 
eigenthümliche  Form  und  Lage  des  Vertex,  der  mehr  als  2  Finger 
breit  trotz  leerer  Blase  die  Symphyse  überragte  und  der  Bauch- 
wand dicht  anlag,  setzte  sich  das  Bauchfell  ohne  die  gewöhnliche 
ümschlagsfalte  von  der  hinteren  Fläche  der  Blase  auf  die  Bauch- 
wand fort.  Mit  der  queren  Durchtrennung  des  Stranges  an  der 
Blase  war  die  totale  Excision  des  Fistelganges  sammt  seinen  beiden 
Mündungen  vollendet.  Da  die  Amputationsstelle  in  den  Bereich 
dieses  Zipfels  der  Blase  fiel,  der  ebenso  gut  einer  trichterförmigen 
Zuspitzung  der  Blase,  als  einer  Erweiterung  der  ürachusmündung 
entsprechen  konnte,  klaffte  die  Schleimhaut  in  einer  Ausdehnung 
von  etwa  IV2  ci^^-  D^ls  Betasten  des  Blaseninnern  von  hier  aus 
ergab,  da^s  die  Blase  einen  langen,  dickwandigen  Schlauch 
darstellte,  ähnlich  wie  nach  dem  Sectionsbericht  in  dem  v.  Bra- 
mann' sehen  Falle;  es  liegt  nahe,  diese  zum  Theil  auch  ander- 
weitig (z.  B.  Stadfeldt,  Wutz)  aufgefallene  abnorme  Gestalt  der 
Blase  mit  dem  sehr  hoch  heraufreichenden,  trichterförmig  zulau- 
fenden Vertex  wegen  der  Aehnlichkeit  mit  den  Verhältnissen  beim 
Embryo  mit  der  Persistenz  des  Urachus  am  Blasenscheitel  in  Zu- 
sammenhang zu  bringen. 

Das  Loch  im  Blasenscheitel  einem  spontanen  Verschluss  wie 
in  dem  v.  .Bramann' sehen  Falle  zu  überlassen,  schien  hier  schon 
wegen  der  Nähe  der  Peritonealnaht  nicht  rathsam;  auch  musste 
die  Anwendung  eines  Dauerkatheters  vermieden  werden,  um  nicht 
die  kaum  abgelaufene  Urethritis  und  Cystitis  wieder  zu  entfachen. 
Vor  allen  Dingen  aber  waren  durch  das  quere  Abtrennen  der 
ürachusmündung  am  Blasenscheitel  sehr  günstige  Wundränder 
für  die  Naht  entstanden,  welche  durch  den  Hochstand  des  Organes 
sehr  erleichtert  wurde.  Durch  den  Verschluss  der  Blasenwunde 
hatte  sich  eine  dem  normalen  Vertex  mehr  entsprechende  gewölbte 
Blasenkuppe  gebildet.  Auf  die  Stelle  der  Blasennaht  kam  dann 
2UT  Sicherheit  ein  kleiner  Tampon,  während  die  ganze  übrige  Wunde 
geschlossen  wurde. 

Der  Verlauf  war  im  Allgemeinen  günstig.  Die  Wunde  heilte 
schnell,  nur  der  untere  Wundwinkel,  der  tamponnirt  worden  war, 
hrauchte  4  Wochen  bis  er  vernarbt   war.     Doch    kaum    hatte    er 


84  Dr.  E.  Lexer, 

sich  geschlossen,  so  entstand  hier  in  der  Narbe  ein  kleiner  Abscess, 
der  geöifnet  wurde.  Nach  einem  Jahre  wiederholte  sich  die 
Abscessbildung  noch  einmal  an  derselben  Stelle.  Durch  leichte 
Auslöifelung  wurden  einige  Seidenligaturen  zu  Tage  befördert.  Bis 
jetzt  —  es  sind  2Y2  Jahre  seit  der  Operation  verflossen  —  ist 
die  ürinfistel  nie  wieder  aufgebrochen.  Der  Patient  ist  vollständig 
gesund  geworden,  nur  ist  er  noch  genöthigt,  ziemlich  häufig  Urin 
zu  lassen.  Da  eine  Cystitis  nicht  wieder  aufgetreten  ist,  kann 
diese  Erscheinung  wohl  nur  durch  die  geringe  Capacität  der  Blase 
bedingt  sein.  Der  gute  Erfolg  ist  in  diesem  Falle  in  erster  Linie 
dem  Umstände  zu  danken,  dass  die  Cystitis  sich  vor  der  Operation 
beseitigen  Hess  und  zweitens,  dass  durch  das  quere  Abschneiden 
der  erweiterten  Fistelmündung  am  Blasenscheitel  eine  mit 
günstigen  Rändern  für  die  Naht  ausgestattete  Wunde  in  der  Blase 
entstanden  war. 

War  aber  der  hier  excidirte  Fistelgang  auch  wirklich 
eine  Urachusfistel? 

Ich  muss  hier  diese  Frage  etwas  eingehender  berühren,  da 
gerade  bei  den  unter  Entzündungserscheinungen  entstandenen  Blasen- 
nabelfisteln  die  Entscheidung  sehr  schwer  ist,  ob  ein  partiell  offener 
Uracliusrest  an  der  Fistelbildung  betheiiigt  ist  oder  diese  andere 
Ursachen  hat.  Ledderhose  betont,  dass  die  Betheiligung  des 
Urachus  in  solchen  Fällen  sehr  zweifelhaft  ist,  bei  welchen  heftige 
entzündliche  Erscheinungen  und  besonders  Entleerung,  von  Eiter 
durch  den  Nabel  dem  Ausfliessen  von  Urin  vorangingen;  es  liegt 
hier  nach  Ledderhose  die  Annahme  näher,  dass  sich  der  Urin 
unabhängig  vom  Urachus  nach  vorhergehender  Ulceration  und  Per- 
foration der  Blasenwand  mit  subperitonealer  Urininfiltration  seinen 
Weg  zum  Nabel  gebahnt  hat.  „Allerdings  ist  ein  strenger 
anatomischer  Beweis  für  diese  Möglichkeit,  wie  es  scheint, 
bisher  nicht  geliefert  worden."  Bekannt  ist  jedoch,  dass  Blasen- 
steine diese  Gomplication  her\'orrufen  können  (cf.  Tillmanns)^). 
Es  wäre  ferner  möglich,  —  und  diese  Annahme  gewinnt  viel 
Boden  durch  die  Untei*suchungen  von  Gerota*)  über  die 
anatomischen    Verhältnisse    der    Lymphbahnen    und   Lymphdrüsen 


»^  Tillraanns,  Deutsche  Zeitschrift  für  Chünrgie.    Bd.  18.     S.  198. 
2)  Gerota,  Anatomischer  Anseiger.     XII.     1896.    S.  89. 


lieber  die  Behandlung  der  Ürachusfistel.  85 

der  Harnblase  und  der  Nabelgegend  i),  dass  sich  unabhängig  vom 
Urachus  eine  Entzündung  von  der  Blase  bis  zum  Nabel  fortpflanzen 
und  den  Weg  für  einen  etwaigen  Durchbruch  des  Urins  vorbereiten 
kann.  Auch  H.  Fi  scher  2)  zieht  als  Ursache  der  subumbilicalen 
Phlegmone  die  Fortleitung  der  Entzündung  von  der  Blase  aus  in  Be- 
tracht, allerdings  weist  er  dabei,  zumal  er  in  2  Fällen  Plattenepithelien 
im  Eiter  fand,  auf  die  Möglichkeit  hin,  dass  Urachusreste  mitbetheiligt 
waren,  dass  also  die  Entzündung  der  Blase,  ähnlich  wie  bei  den 
oben  erwähnten  Fällen  von  Wutz  auf  dem  Wege  des  am  Blasen- 
scheitel offenen  ürachuskanälchens  zuerst  eine  Eiterung  in  Urachus- 
cysten  verursachte  und  von  hier  aus,  vielleicht  durch  Ruptur  einer 
solchen  vereiterten  Cyste  der  Abscess  im  subumbilicalen  Räume  zur 
Entstehung  kam. 

Auf  der  anderen  Seite  hat  sich  Wutz,  was  die  Rolle  betrifft, 
die  dem  Urachus  bei  den  acquirirten  Blasennabelfisteln  zukommt, 
in  seiner  Arbeit  dahin  ausgesprochen,  dass  dies  durch  keine  ana- 
tomische Untersuchung  klargelegt  sei.  Zwar  ist  er  nicht  der 
Meinung,  dass  unter  normalen  Verhältnissen  ein  Eindringen  von 
Urin  in  den  durch  eine  kleine  Querfalte  meist  verschlossenen 
Urachusrest  stattfinden  könne;  denn  es  war  selbst  in  Fällen  hoch- 
gradigster Blasendilätation  bei  Prostatahypertrophie  eine  Er^^eiterung 
des  Canälchens  niemals  zu  beobachten;  doch  gelang  ihm,  wie 
schon  erwähnt  in  anderen  Fällen  der  Nachweis,  dass  sich  von  der 
erkrankten  Blase  aus  die  eitrige  Entzündung  durch  den  sondirbaren 
Urachusgang  hindurch  *if  einige  demselben  anliegende  Cysten  er- 
streckt hatte.  Es  wäre  nun  leicht  denkbar,  dass  unter  Umständen, 
wenn  der  Urachusrest  am  Blasenscheitel  abnonn  weit  und  zu- 
gänglich ist  oder  in  dieser  Weise  durch  die  Eiterung  verändert 
wurde,  auch  der  Urin  denselben  Weg  betritt,  den  die  Entzündung 
genommen.  Deshalb  liegt  schon  in  dem  Befunde  von  Wutz  ein 
gewisser  Beweis  dafür,  dass  der  Urachusrest  bei  der  Entstehung 
von  Blasennabelfisteln  im  späteren  Alter  sehr  wohl  betheiligt 
sein  kann. 


1)  Lymphdrüsen  und  -Gefasse  entlang  der  Art.  umbilicalis,  der  Vasa 
epigastrica  Inf.  und  seitlich  der  Blase.  Lymphoglandula  umbilicalis 
Imiter  dem  Nabelring  im  subperitonealen  Bindegewebe.  Lympho-glandulae 
Tosicales  ant.  im  prävesicalen  Fettgewebe. 

*)  H.  Fischer,  Sammlung  klin.  Vorträge  von  Volkmann.  Neue  Fol^e 
89.    Die  Eiterungen  im  subumbilicalen  Räume.     1894. 


86  Dr.  E.  Lexer, 

Die  Entscheidung  jedoch,  ob  in  dem  betreffenden  Falle  ein 
wiederaufgebrochener  ürachus  oder  der  Fistelgang  eines  durch- 
gebrochenen Hamabscesses  vorliegt,  ist  ohne  den  mikroskopischen 
Nachweis  von  ürachusepithel,  wie  er  in  dem  v.  Bramann'schen 
und  meinem  Falle  (s.  Seite  90)  gelungen  ist,  kaum  mit  Bestimmt- 
heit zu  treffen;  denn  die  klinischen  Symptome,  die  den  Aufbruch 
der  Fistel  am  Nabel  begleiten,  sind  zur  Beantwortung  der  Frage, 
ob  ein  Urachusrest  den  Ausgangspunkt  bildet  oder  nicht,  nur  wenig  zu 
verwerthen.  Als  Anhaltspunkte  für  die  Diagnose  geben  Ledderhose, 
V.  Bramann,  Güterbock  schnell  auftretende,  heftige  Entzündungs- 
erscheinungen, ausgedehnte  Infiltration  und  Schwellung  der  Bauch- 
decken an,  was  für  Urininfiltation  nach  Perforation  der  Harnblase 
sprechen  würde,  während  das  mehr  symptomlose  Entstehen  der 
Urachusfistel  zukommt.  Die  letztere  aber  entsteht  nur  bei  ent- 
zündlichen Störungen  der  Blase,  die  sich  in  den  Rest  des  Epithel- 
schlauches fortsetzen,  nachdem  davon  auch  der  solide  Theil  des 
Ligamentum  med.  und  mit  ihm  der  subumbilicale  Raum  ergriffen 
ist.  Wie  aus  der  Entleerung  von  Eiter  aus  dem  Nabel  vor  dem 
Durchbruch  des  Urins  zu  ersehen  ist,  können  jene  Abschnitte  stark 
durch  Entzündung  betheiligt  sein  und  es  wäre  nicht  unmöglich, 
dass  sich  auch  hier  bei  dem  Wiederaufbruch  des  Harnstranges  Er- 
scheinungen einstellen,  wie  sie  für  den  Durchbruch  der  Urininfiltrate 
oder  perivesiculären  Abscesse  am  Nabel  gelten.  Ferner  ist  noch 
zu  bedenken,  dass  sich  ohne  stürmische  Erscheinungen  bei  vor- 
handener Cystitis  die  Entzündung  sowohl  |^f  lymphatischem  Wege, 
als  durch  ein  theüweise  offengebliebenes  Urachuscanälchen  hin- 
durch ganz  allmälig  bis  hinter  den  Nabel  fortpflanzen  kann,  bis 
eine  weitere  Ursache,  vielleicht  eine  lang  dauernde  Stauung  des 
Urins,  denselben  auf  der  nämlichen  Bahn  zum  Durchbruch  am 
Nabel  führt.  Auch  hierbei  würden  uns  die  genannten  Symptome 
zur  Beurtheilung  der  vorliegenden  Fistel  im  Stiche  lassen.  Ich 
glaube  daher,  dass  Fälle,  deren  Deutung  als  Urachusfistel  sich 
allein  auf  das  Fehlen  dieser  klinischen  Erscheinungen  stützt,  nicht 
als  unzweideutig  betrachtet  werden  dürfen. 

So  wurde  der  von  Goldschmidt^)  operirte  Fall,  ein  lOjähriger 
Knabe,  wegen    der  albnählichen  Entstehung   der  Fistel   ohne  Ent- 


<}  Verhandlungen  der  Deutschen  GeseUschaft  für  Chirurgie.     20.  Congress 
1890.    ö.  179.    I. 


üebor  die  Behandlang  der  Urachusfistel.  87 

zündungserscheinungen  und  wegen  des  Fehlens  phlegmonöser  Pro- 
cesse  der  Bauehdecken  als  Urachusfistel  angesehen,  obgleich  der 
Autor  selbst  beifügte,  dass  erst  die  mikroskopische  Untersuchung, 
die  nicht  gemacht  werden  konnte,  einen  sicheren  Stützpunkt  für 
die  Diagnose  abgegeben  hätte.  Als  Ursache  des  Aufbruchs  fand 
sich  ein  grosser  Blasenst^in,  der  durch  Sectio  alta  entfernt  wurde. 
Die  Fistel,  deren  eine  abscessartige  Erweiterung  unterhalb  des 
Nabels  schon  vorher  incidirt  worden  war  —  die  andere  fand  sich 
beim  Steinschnitt  hinter  dem  1.  M.  rectus.  —  heilte  nach  diesen 
Eingriffen  und  dem  Ablauf  der  Cystitis  und  ist,  wie  Herr  Gold- 
schmidt die  Güte  hatte  mir  mitzutheilen,  geschlossen  geblieben. 
Aber  selbst  dann,  wenn  eine  eingehende  Untersuchung  mög- 
lich ist,  sind  manchmal  nicht  alle  Zweifel  gehoben,  vne  der  folgende 
Fall  beweist,  bei  welchem  ebenfalls  heftigere  Entzündungs- 
erscheinungen fehlen. 

Ein  67jähriger  Mann  besachte  seit  3  Jahren  wegen  seiner  durch  Pro- 
statahypertrophie  und  Cystitis  herv^orgerufenen  Blasen besch werden  mehr- 
mals die  Poliklinik,  da  er  zu  einer  stationären  Behandlung  sich  nicht  ent- 
schliessen  konnte.  Er  kam  nur,  wenn  Retentio  urinao  eingetreten  war.  Der 
Urin  wurde  mit  einem  weichen  Katheter  entleert  und  die  Blase  jedesmal  aus- 
gespült. Ende  Juni  1897  meldete  der  Pat.,  dass  der  Urin,  nachdem  wieder 
Verhaltung  seit  etwa  24  Standen  eingetreten  war,  in  der  Nacht  durch  den 
Nabel  ausgeflossen  sei.  Der  Erscheinung  gingen,  wie  Pat.  ausdrücklich  be- 
tonte, abgesehen  von  den  gewöhnlichen  Schmerzen  bei  der  Harnverhaltung, 
keine  besonderen  Beschwerden  voraus.  Entzündet  war  die  Gegend  des  Nabels 
nicht.  Der  sammtliche  eitrig-schleimige  Urin  floss  durch  den  Nabel  ab.  Der 
ziemlich  weite  and  tief  eingezogene  Nabeltrichter  füllte  sich  stets  mit  Urin, 
von  dem  nichts  auf  normalem  Wege  von  selbst  abging. 

Die  Untersuchung  ergab  eine  ziemlich  stark  vergrösserte  Prostata;  eine 
Sonde  war  am  Nabel  in  der  Richtung  nach  der  Blase  nur  etwa  6  cm  weit  ein- 
zufahren. Vom  Nabel  bis  gegen  die  Symphyse  fühlte  man  in  der  Mittellinie 
durch  die  weichen  und  dünnen  Bauehdecken  hindurch  eine  zweifingerbreite 
strangartige  Verhärtung.  Ein  dicker  Silberkatheter  lässt  sich  ohne  besondere 
Schwierigkeit  in  der  Pars  prostatica  so  weit  in  die  Blase  einführen,  dass  sein 
äusseres  Ende  am  Orificium  urethrae  steht;  dabei  bemerkt  und  fühlt  man  durch 
die  Bauchdecken  etwa  3  Finger  breit  oberhalb  der  Symphyse  die  Spitze  des 
Katheters.  Dies  konnte  erklärt  werden  durch  eine  stark  dilatirte,  schlaffe 
Blasenwand,  darch  eine  abnorme,  mehr  schlauchartige  Gestalt  der  Blase  mit 
hochliegendem  Vertex,  durch  ein  Divertikel  oder  dadurch,  dass  der  Katheter  in 
den  Fistelgang  gerathen  war. 

Das  fast  völlig  symptomlose  Auftreten    der  Fistel  sprach  am 

wenigsten  für  eine   Perforation  der  Blase  mit  Urininfiltration,  auch 


88  l)r.  E.  Lexer, 

wenn  man  einen  mehr  chronischen  Verlauf  derselben  in  Betracht 
zog;  deshalb  wies  die  Lage  des  Fistelganges,  der  genau  in  der 
Mittellinie  dem  Lig.  ves.  med.  folgte,  soweit  man  dies  aus  der 
hier  fühlbaren,  strangartigen  Verhärtung  schliessen  durfte,  viel 
eher  auf  eine  Urachusfistel  hin.  Dazu  kam  die  Vermuthung,  dass 
eine  Abnormität  der  Blase  vorhanden  war,  wie  sie  ja  öfters  bei 
Urachusfisteln  beobachtet  wurde;  und  dann  sind  gerade  hier  bei 
Prostatahypertrophie  mit  Cystitis  die  Ursachen,  die  für  den 
Wiederaufbruch  des  ürachus  von  Bedeutung  sind,  die  Stauung  des 
Urins  in  der  Harnblase  und  die  Entzündung  derselben  sehr  aus- 
geprägt vorhanden. 

Im  übrigen  ist  der  Durchbruch  des  Urins  durch  den  Urachus 
bei  Prostatahypertrophie  nach  mehrjähriger  Dysurie  schon  beob- 
achtet worden  und  zwar  von  Levie^)  an  einem  79jährigen  Manne, 
bei  dessen  Section  sich  die  Annahme  bestätigte,  dass  der  Urachus 
durchgängig  war;  seine  1 — 1,5  mm  weite  Mündung  im  Blasen- 
scheitel war  von  einem  wulstförmigen  Rand  umgeben. 

Bei  dem  Alter  und  der  Gebrechlichkeit  unseres  Patienten,  so- 
wie in  Rücksicht  auf  die  erhebliche  Vergrösserung  der  Prostata 
und  die  vorhandene  Cystitis  konnte  man  als  Ziel  der  Behandlung 
nicht  die  Heilung  der  Fistel,  sondern  nur  eine  Besserung  des  Zu- 
standes  auf  dem  einfachsten  Wege  ins  Auge  fassen.  Da  es  nun 
nicht  möglich  war,  durch  Einlegen  eines  Dauerkatheters  die  Urin- 
absonderung aus  der  Nabelfistel  zu  beseitigen  und  sich  auch  schub- 
weise in  grösseren  Zeiträumen  bis  zu  2  Tagen  aus  derselben  eine 
Menge  von  Eiter  entleerte,  so  dass  man  an  das  Vorhandensein  von 
Ausbuchtungen  des  Fistelganges  denken  musste,  welche  die  Eiterung 
unterhielten  und  Ansammlungen  gestatteten,  so  schien  mir  das 
Verfahren  von  v.  Bramann,  wodurch  die  ganze  Fistel  mit  ihren 
Buchten  geöffnet  und  die  Fistelmündung  vom  Nabel  zur  Symphyse 
verlagert  wurde,  am  besten  den  Anforderungen  dieses  Falles  zu 
genügen.  Abgesehen  davon,  dass  es  wegen  der  Entzündung  der 
Blase  und  der  Hypertrophie  der  Prostata  unmöglich  gewesen  wäre, 
die  Fistelmündung  am  Blasenscheitel  zum  Verschluss  zu  bringen, 
konnte  die  zur  Symphyse  verlagerte  Fistel  bei  dem  vorhandenen 
Leiden    nur    die  Maassnahmen    zu    dessen  Besserung  unterstützen. 


')  Levie,   nach  Jahresbericht  von   Virchow-Hirsch   1878,  II,  S.   416 
und  Ledderhose  1.  c. 


Ueber  die  Behandlung  der  Urach  usfistel.  89 

Ich  spaltete  also  unter  Leitung  einer  Sonde  den  Fistelgang,  dessen 
Wandung  allseitig  von  enorm  festem  schwieligen  Gewebe  gebildet 
wurde.  Etwa  5  cm  oberhalb  der  Symphyse  begann  eine  wallnuss- 
grosse  mit  dickem  eitrigen  Urin  ausgefüllte  und  mit  schmierigen 
Granulationen  ausgekleidete  Höhle,  die  hinter  der  Bauchwand 
liegend  bis  zur  Symphyse  reichte.  Nachdem  die  Wandung  dieses 
Hohlraumes  ebenso  wie  die  ganze  Fistel  mit  Löffel  und  Tupfer 
gereinigt  war,  wobei  das  Bauchfell  nirgends  verletzt  wurde,  sah 
man  an  der  tiefsten  Stelle  der  Abscesshöhle  ein  für  einen  Blei- 
stift durchgängiges  Loch,  durch  welches  die  Fistel,  beziehungs- 
weise ihre  Ausbuchtung  mit  der  Blase  communicirte.  Die  ganze 
Wunde  wurde  mit  Jodoformgaze  tamponnirt  und  ein  Dauerkatheter 
eingelegt.  Nach  14  Tagen  starb  der  Patient  unter  urämischen 
Erscheinungen  und  hohem  Fieber.  Bei  der  Section,  die  vor  allem 
eine  beiderseitige  hochgradige  Pyelonephritis  feststellte,  fanden  sich 
an  dem  gewonnenen  Präparate,  das  die  Harnblase  im  Zusammen- 
hange mit  dem  mittleren  Theil  der  Bauchdecken  bis  zum  Nabel 
enthielt,  folgende  Veränderungen,  die  besonders  klar  nach  dem 
Sagittalschnitt  durch  die  Mitte  des  ganzen  Präparates  zu  Tage 
treten. 

Die  kleine  dickwandige,  von  ulcerativer  Entzündung  befallene 
Blase  spitzt  sich  dicht  an  der  Umschlagsstelle  des  Peritoneums  genau 
in  der  Mittellinie  zu  einem  kleinen  Trichter  zu,  der  mit  der  er- 
wähnten Oeffnung  in  die  Abscesshöhle  mündet.  Auf  der  Innen- 
seite der  Bauchdecken  springt  das  Ligamentum  vesicae  medium 
als  ein  2  cm  breiter  Wulst  vor.  Auf  der  Schnittfläche  sieht  man, 
dass  die  1  cm  dicke  hintere  Wand  der  Fistel  von  dem  sehr  derben 
Gewebe  des  Ligaments  gebildet  wird.  Die  Schleimhaut  der  Blase 
setzt  sich  in  den  erwähnten  Trichter  eine  Strecke  weit,  bis  zu  der 
Comraunicationsstelle  fort. 

Nach  dem  Befunde  bei  der  Operation  und  an  dem  Präparate 
ist  vor  allem  klar,  dass  die  Blasennabelfistel  genau  in  der  Mittel- 
linie und  zwar  in  dem  sehr  stark  verdickten  Lig.  ves.  med.  ver- 
läuft. Die  Mündung  in  der  Blase  hat  ihren  Sitz  ebenfalls  genau 
in  der  Mitte  des  Vertex  vor  dem  Peritoneum  am  Ansätze  des  Lig. 
med.  Es  fanden  sich  jedoch  in  dem  bei  der  Operation  aus  dem 
Fiütelgange  entfernten  Gewebe  keine  Epithelien,  ebenso  wenig 
konnten  in  Querschnitten  von  der  Fistelwand  Reste  einer  epithelialen 


90  Dr.  E.  Lexer, 

Auskleidung  nachgewiesen  werden.  Wohl  lässt  sich  vermuthen, 
da3s  bei  der  starken  Eiterung  in  der  Fistel  das  Epithel  zu  Grunde 
gegangen  war,  oder  dass  kleine  Reste  uns  bei  der  Untersuchung 
der  ausgeschabten  Massen  entgangen  sind,  doch  könnte  man  für 
die  Annahme  einer  Urachusfistel  nur  die  anatomische  Lage  des 
Fistelganges  im  Ligament,  med.  und  seiner  Mündung  am  Blasen- 
scheitel verwerthen.  Was  diese  letztere  betrifft,  so  weist  ihre 
trichterförmige  Gestalt  im  Hinblick  auf  den  spitzzulaufenden 
Blasenscheitel  in  unserem  ersten  Falle  und  auf  die  von  Wutz^) 
beobachtete  Einziehung  der  Blasenschleimhaut  an  der  Mündungs- 
stelle' des  Urachuscanälchens  zusammen  mit  ihrer  Lage  am  An- 
sätze des  Lig.  med.  mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  darauf  hin, 
dass  bei  der  Entstehung  der  Fistel  ein  ürachusrest  am  Blasen- 
scheitel mit  im  Spiele  war,  vielleicht  nur  insofern,  als  der  kleine 
Trichter  seiner  Mündung  einen  besonders  günstigen  Angriffspunkt 
für  die  Eiterung  der  Blase  abgab,  so  dass  es  gerade  hier  bei  der 
oft  eintretenden  ürinstauung  schliesslich  zur  Perforation  kam.  Die 
Verziehung  der  Schleimhaut  an  dieser  Stelle  würde  ohne  Bedenken 
durch  Vernarbung  zu  erklären  sein,  wenn  der  Durchbruch  nicht 
gerade  da,  wo  man  die  Einmündung  eines  Urachusrcstes  vermuthen 
muss,  erfolgt  wäre.  Dass  die  Entzündung  von  der  Blase  bis  zum 
Nabel  nur  langsam  fortgeschritten,  also  der  Aufbruch  des  Nabels 
längere  Zeit  vorbereitet  war,  dafür  spricht  die  sehr  starke  Ver- 
dickung der  ganzen  Umgebung  des  Fistelganges,  ebenso  wie  das 
fast  erscheinungslose  Auftreten. 

Was  also  die  Betheiligung  des  Urachus  resp.  eines  Urachus- 
restes  an  der  Bildung  der  Blasennabelfistel  in  diesem  Falle  be- 
trifft, so  konnte  man  trotz  genauer  Untersuchung  des  Präparates 
zu  keiner  unzweideutigen  Entscheidung  gelangen. 

Eine  bestimmtere  Antwort  gab  dagegen  die  mikroskopische 
Untersuchung  in  unserem  1.  Falle  (S.  81).  Das  Präparat  besteht  aus 
einem  kleinfingerdicken  fibrösen  Strang,  der  die  ganze  Blasen- 
nabelfistel sammt  ihrer  Mündung  am  Nabel  und  ihrer  Communi- 
cation    mit    der  Blase    enthält.      Von    seiner    Blasenmündung    aus 


1)  1.  c.  Nach  Wutz  ist  in  den  meisten  Fällen  an  der  Innenfläche  der 
Blase  an  der  Stelle,  wo  der  Urachus  seinen  Anfang  nimmt,  beim  Anspannen 
der  Schleimhaut  eine  kleine  trichterförmige  Einziehung  wahrzunehmen,  deren 
Spitze  die  Oeffnung  enthält. 


Ueber  die  Behandlung  der  Urachusfistel.  91 

kann  der  Fistelgang  bis  zu  der  erwähnten,  bei  der  Operation  ent- 
standenen Oeffnung  in  der  Mitte  des  Nabels  sondirt  werden.  Der 
Nabelantheil  des  Ganges  ist  ein  unregehnässiger  Trichter,  in  welchen 
sich  die  Haut  des  Nabels  noch  bis  etwa  1  cm  weit  hinein  erstreckt. 
Darauf  schliessen  sich  gegen  die  Blase  zu  kleine,  mit  Granulationen 
gefüllte  Ausbuchtungen  an,  die  sich  bald  zu  dem  Pistellumen  ver- 
engen, das  von  hier  aus  mit  einem  Durchmesser  von  1 — 2  mm 
vollkommen  gestreckt  bis  zur  Blase  verläuft.  Die  Frage  nach  der 
Auskleidung  des  Ganges  war  nicht  leicht  zu  beantworten.  Im 
mittleren  Drittel  fand  sich  nirgends  Epithel,  überall  Granulationen, 
zerfallene  ZeUmassen  bei  noch  stark  entzündeter  Umgebung. 
Weiter  zur  Blase  entdeckte  ich  nach  langem  Suchen  im  Lumen 
des  unteren  Drittels  der  Fistel  mehrere  deutlich  2 — 3  schichtige 
Epithelinseln  (ovale  und  kubische  Zellen)  innerhalb  von  Entzün- 
dongsproducten  und  Granulationsgewebe  als  Reste  einer  epithelialen 
Auskleidung  des  Ganges.  Da,  wo  dieser  sich  erweiterte,  begann 
ein  regelmässiges,  mehrfach  geschichtetes  Uebergangsepithel,  das 
jedoch  allein  eine  bestimmte  Entscheidung  darüber  nicht  zulässt, 
ob  die  trichterförmige  Spitze  der  Blase  zum  grössten  Theile  der 
letzteren  oder  einer  erweiterten  ürachusmündung  angehört.  Nur 
die  Muskelbündel  der  Umgebung,  die  hier  nicht  in  geordneten 
Lagen  verlaufen,  sondern  hauptsächlich  nur  eine  unregelmässige 
Längsfaserung  erkennen  lassen,  würden  für  die  Angehörigkeit 
dieses  Abschnittes  zum  Urachus  sprechen,  der  nach  Wutz  nur 
von  einer  vorwiegend  longitudinalen  Schicht  umgeben  ist.  Da 
auch  äusserlich  bei  der  Operation  keine  Grenze  zwischen  Blasen- 
scheitel und  Urachus  zu  erkennen  war,  so  glaube  ich  annehmen 
zu  dürfen,  dass  hier  die  Blase  mit  dem  angrenzenden  Theil  des 
Urachus  embryonale  Verhältnisse  zurückbehalten  hat,  dass  also 
der  zugespitzte  Blasenscheitel  ohne  Begrenzung  in  die  vergrösserte 
ürachusmündung  übergeht;  denn  wäre  die  Erweiterung  der  letzteren 
erst  später  erfolgt,  so  müsste  doch  wenigstens  eine  Grenze  ange- 
deutet sein.  Für  diese  Annahme  spricht  auch  die  schlauchartige 
Gestalt  der  Blase  und  der  hohe  Stand  ihres  oberen  Endes. 

Diese    erweiterte  Ürachusmündung,    wie    sie  sich  hier  und  in 
anderen  Fällen  vorfand^),  ist  mit  der  spitz  zulaufenden  Form  des 

^)  z.  B.  in  dem  Falle  von  Gadell,  wo  der  Eingang  des  offenen  Urachus 
ui  vorderen  oberen  Ende  des  Vertex  für  den  kleinen  Finger  durchgängig  ist. 


92  Dr.  E.  Lexer, 

Blasenscheitels  sicherlich  nicht  nur  ein  wesentliches  Hindeniiss 
für  die  Heilung  der  Blasennabelfistel,  sondern  auch  ein  Haupt- 
moment für  den  sog.  Wiederaufbruch  des  Urachus;  denn  ebenso 
wie  in  anderen  Ausbuchtungen  der  Blase  werden  gerade  an  dieser 
Stelle  bei  Entzündungen  der  Schleimhaut  die  schwersten  Processe 
entstehen,  die  von  hier  aus  sehr  leicht  auf  den  soliden  Abschnitt 
des  Ligament,  med.  übergreifen  können. 

Es  hat  demnach  dieser  Befund  auch  für  die  einzuschlagende 
Behandlung  hartnäckiger  ürachusfisteln  seine  Bedeutung,  da  man 
bei  solchen  annehmen  darf,  dass  ungewöhnlich  grosse  Urachusreste 
am  Blasenscheitel,  vielleicht  mit  abnormer  Gestalt  desselben, 
die  erste  Ursache  zum  Durchbruch  des  Urins  am  Nabel  abgegeben 
haben.  Man  wird  deshalb  in  solchen  FäJlen  mit  einfachen  Mitteln, 
wie  sie  bei  angeborenen  Fisteln  sehr  bald  nach  der  Geburt  in 
Gestalt  von  Kauterisiren  oder  Aetzen  der  Fistelmündung  mit 
Erfolg  angewandt  wurden,  keinen  Dauererfolg  erzielen,  sondern 
nur  dadurch,  dass  der  epitheltragende  Theil  des  Ganges  mit 
seiner  Blasenmündung  entfernt  wird,  ähnlich  wie  wir  die  Kiemen- 
gangfistel  bis  zu  ihrer  inneren  Mündung  und  den  persistirenden 
Dottergang  bis  zum  Darm  verfolgen.  Ob  man  nun  die  äussere 
Fistelöffnung  am  Nabel  nur  aufsucht  und  vernäht,  oder  von  hier 
aus  ein  Stück  der  Fistel  excidirt,  das  bleibt  sich  bezüglich  des 
Werthes  der  Operation  ziemlich  gleich,  denn  in  jedem  FaUe  ist 
die  anatomische  Ursache  der  Fistelbildung,  der  mit  der 
Blase  communicirende  Urachusrest,  als  Hauptfactor  für 
weitere  Recidive  bestehen  geblieben. 

Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  ist  meines  Erachtens  auch 
die  von  Delag6niere  einmal  mit  Glück  an  einem  5jährigen 
Knaben  ausgeführte  partielle  Resection  des  Urachus  zu  beurtheilen, 
die  er  zur  Heilung  der  Urachusfistel  für  ausreichend  hält  und 
empfiehlt.  Wie  oben,  S.  76  ausgeführt,  versteht  der  Autor  unter 
dieser  Operation  die  Excision  der  Nabelmündung  im  Zusammen- 
hange mit  einem  kleinen  Abschnitte  des  Ganges,  worauf  die  Naht 
des  Fistellumens  folgt,  ein  Verfahren,  das  sich  nur  für  die  ange- 
borene Fistel  eignen  dürfte,  da  die  im  späteren  Alter  entstandene 
wohl  selten  in  ihrem  Nabelabschnitte  eine  Schleimhautauskleidung 
trägt.  Der  Umstand,  dass  bei  dieser  Operation  eine  Eröffnung 
der  Bauchhöhle  nicht  vermieden  wird,  spricht  bei  der  Abschätzung 


Ueber  die  Behandlung  der  Urachusfistel.  93 

der  partiellen  und  totalen  Resection  des  ürachus  zu  Gunsten  der 
letzteren.  Einen  gefährlicheren  Eingriff  bedeutet  die  totale  Ent- 
fernung nicht,  wohl  aber  beseitigt  sie  jede  Möglichkeit  eines 
Reeidives.  Stierlin  dagegen  hat  in  seinem  Falle  die  Ver- 
letzung des  Peritoneums  gescheut  und  dadurch  vermieden,  dass 
er  nur  die  Schleimhaut  an  der  Fistelmündung  anfrischte  und  das 
Lumen  vernähte.  Bei  dem  Alter  seiner  Patientin  und  der  vorge- 
fundenen Weite  des  Urachuskanales  müssen  wir  auch  für  diesen 
Fall  betonen,  dass  abnorme,  für  den  Wiederaufbruch  des  ürachus 
äusserst  günstige  Verhältnisse  zurückgeblieben  sind:  der  Blasen- 
scheitel läuft  hier  in  ein  weites  Rohr  aus,  dessen  geschlossenes 
Ende  im  Nabelring  liegt. 

Aus  dem  Bisherigen  ergiebt  sich,  dass  man  bei  der  conge- 
nitalen Fistel  schon  möglichst  bald  nach  der  Geburt  die  ein- 
fachsten Methoden  versuchen  soll,  nachdem  vorhandene  Hinder- 
nisse für  die  normale  Urinentleerung  beseitigt  sind.  Zu  diesem 
Verfahren  rechnen  wir  auch  die  Anfrischung  der  Fistelmündung  mit 
Naht,  wobei  auch  der  Nabelring  zur  Verhütung  vonHemien  geschlossen 
werden  soll.  Hat  diese  Behandlung  keinen  oder  nur  vorübergehend 
einen  Erfolg  erzielt,  so  darf  man  nach  Ablauf  der  ersten  beiden 
Lebensjahre  wohl  als  ganz  bestimmt  annehmen,  dass  das  Offen- 
bleiben des  ürachus  durch  die  grosse  Weite  seines  Lumens  oder 
eine  cystische  Ausbuchtung  und  sonstige  namentlich  entzündliche 
Veränderungen  seiner  Wandung  bedingt  ist.  Mit  einem  gi'össeren 
Eingriffe,  der  für  solche  Fälle  in  Frage  käme,  empfiehlt  Dela- 
g^niere  bis  über  ein  Jahr  zu  warten.  In  Anbetracht  der  Ver- 
letzung des  Peritoneums,  die  bei  der  Resection  des  Ganges  nicht 
zu  vermeiden  ist,  wäre  diese  Altersgrenze  nach  unserem  Dafür- 
halten noch  um  einige  Jahre  zu  verschieben.  Grosse  Reinlichkeit 
zur  Verhütung  der  Entzündung  der  ürachusschleimhaut  und  der 
Blase,  ferner  das  Tragen  einer  Druckpelotte  über  einem  aseptischen 
Gazebausch  können  den  Zustand  des  Kindes  erträglich  machen 
und  vor  Complicationen  schützen.  Zwingt  dann  schliesslich  die 
Hartnäckigkeit  der  Fistel  zur  Operation,  so  hat  sich  diese,  falls 
jede  Möglichkeit  eines  Wlederaufbmchs  beseitigt  werden  soll,  als 
Radicaloperation  zu  gestalten. 

Bei  der  sog.  acquirirten  urachusfistel  würde  ich  für  den 
Anfangsthejl  des  Ganges    dem  Verfahren  von  von  Braraann  den 


94  Dr.  E.  Lexer, 

Vorzug  geben,  da  es  am  sichersten  eine  Verletzung  des  Peritoneums 
vermeidet,  die  bei  der  oft  vorhandenen  Entzündung  in  der  Um- 
gebung der  Fistel  nicht  ohne  Gefahr  ist.  Erst  bei  dem  epithel- 
tragenden Abschnitte,  der  sich  erweiternd  in  den  meist  abnorm 
geformten  Blasenscheitel  übergeht,  ist  der  ganze  Schleimhaut- 
schlauch womöglich  mitsammt  einer  genügenden  Schicht  der  fibrösen, 
wahrscheinlich  immer  verdickten  Wandung  als  Strang  zu  präpariren, 
damit  nach  querem  Durchschneiden  desselben  am  ßlasenscheitel 
eine  für  die  Naht  und  Heilung  günstige  Wunde  entsteht. 


Nachtrag. 

Ein  anfangs  als  congenitale  Urachusfistel  gedeuteter  Fall,  den  ich  vor 
kurzem  operirte,  führte  erst  bei  der  mikroskopischen  Untersuchung  des  ge- 
wonnenen Präparates  zu  der  richtigen  Diagnose.  J)ie  Einzelheiten  des 
interessanten  Falles  sind  folgende: 

Die  Matter  des  jetzt  lV2Jährigen  Knaben  bemerkte  schon  bald  nach  der 
Geburt,  als  am  5.  Tage  die  Nabelschnur  abfiel,  das  Aussickern  von  klarer 
Flüssigkeit  aus  dem  Nabel.  Demselben  soll  zuerst  eine  rothe  Geschwulst  von 
der  Grösse  einer  Kleinfingerkuppe  aufgesessen  haben,  die  sich  von  selbst  all- 
mälig  verkleinerte  und  schliesslich  verschwand.  Als  das  Kind  Yg  Jahr  alt 
war,  gelang  es  dem  behandelnden  Arzte  mit  Salben-  und  Heftpflasterverbänden 
einen  Verschluss  der  Fistel  zu  erzielen.  Doch  angeblich  nur  für  2  Wochen, 
während  welcher  Zeit  grosse  Unruhe  und  Störungen  des  Allgemeinbefindens 
auffallend  waren.  Erst  als  die  Fistelmündung  am  Nabel  wieder  aufgebrochen 
war  und  eine  grosse  Menge  wässriger  Flüssigkeit  sich  daraus  entleerte,  besserte 
sich  der  Zustand.  Gelegentlich  soll  auch  einmal  etwas  Eiter  aus  der  Mündung 
herausgekommen  sein. 

Bei  der  Untersuchung  des  ziemlich  schwächlichen  und  blassaussehenden 
Kindes  fiel  vor  allen  Dingen  auf,  dass  die  etwa  V2  cm  unterhalb  des  Nabels 
liegende,  von  leicht  entzündeter  Haut  umgebene  Fistelöffnung,  die  für  ge- 
wöhnlich einen  klaren Füssigkeitstropfen  enthielt,  bei  jeder  ürinentleerung 
eine  grosse  Menge  dieses  Secretes  ausfliessen  liess. 

Aus  der  Harnröhre  aber  konnte  sich  der  Urin  nicht  in  normalem  Strahl 
entleeren,  sondern  floss  fast  nur  tropfenweise  ab,  denn  es  bestand  eine 
hochgradige  angeborene  Phimose  mit  ganz  feiner  Oeffnung  im  Praeputium. 
Diese  Erschwerung  des  Urinabflusses  durch  ein  angeborenes  Ilinderniss,  ferner 
das  Aussickern  des  Secretes  aus  der  Nabelfistel  besonders  beim  Urinlassen 
und  der  etwas  urinöse  Geruch  der  aus  dem  Nabel  entleerten  Flüssigkeit  deu- 
teten auf  das  Vorhandensein  einer  angeborenen  Urachusfistel.  In  dieser 
Diagnose  wurde  man,  abgesehen  von  der  ganzen  Anamnese,  noch  bestärkt 
durch  die  Menge  des  aus  der  Fistel  geflossenen  Secretes,  das  dünnflüssig  und 
klar  aussehend,   weder   einen  faeculenten  Geruch  besass,   noch  irgendwelche 


Ueber  die  Behandlung  der  üraohusfistel.  95 

feste  Bestandtheile  aufwies.  Durch  ein  am  Nabel  befestigtes  Glasgefäss  wurde 
bestimmt,  dass  die  während  eines  Nachmittags  entleerte  Flüssigkeit  etwa 
V4— Vs  des  in  dieser  Zeit  gelassenen  Urines  entsprach.  Die  Sonde  konnte  nur 
eine  kleine  Ausbuchtung  unter  der  Haut  feststellen,  in  den  Fistelcanal  drang 
sie  nicht  ein.  Der  Plan  der  Behandlung  bestand  zunächst  in  Operation  der 
Phimose  und  mehrmaligem  Aetzen  und  Zusammenziehen  der  Fistelmündung 
durch  Heftpflaster. 

4  Wochen  nach  Spaltung  des  Praeputiums  und  Herstellung  eines  nor- 
malen Urinabflusses  entleerte  sich  aus  der  inzwischen  noch  etwas  verklei- 
nerten Fistelmündung  nur  noch  sehr  wenig  Flüssigkeit,  besonders  fehlte  jene 
frühere  Erscheinung,  dass  sich  der  Ausfluss  beim  Uriniren  vermehrte.  Doch 
die  Fistel  blieb  offen,  ihre  Mündung  feucht  und  auf  Druck  in  die  Blasen- 
gegend sickerten  regelmässig  mehrere  Tropfen  heraus.  Damit 
der  Sonde  eine  Unterminirung  der.  Haut  in  geringer  Ausdehnung  festgestellt 
war,  sollte  diese  Tasche,  die  ihre  Entstehung  wahrscheinlich  einer  früheren 
AbscessbilduDg  verdankte,  gespalten  werden,  um  nach  Freilegung  des  ein- 
mündenden Fistellumens  direct  auf  dasselbe  mit  dem  Aetzmittel  einwirken  zu 
können. 

Nach  Incision  der  Haut,  1  cm  nach  oben  und  unten  von  der  Fistelöffnung, 
lag  am  Grunde  einer  kaum  haselnussgrossen,  mit  Granulationen  ausgekleideten 
Vertiefung  das  gesuchte  Fistellumen  mit  einem  überquellenden  Schleimhaut- 
rande, das  ihm  das  Aussehen  einei;  kleinen  Warze  verlieh.  Von  dieser  Fistel- 
mündung aus  drang  eine  Sonde  genau  in  der  Mittellinie  des  Abdomens 
ziemlich  tief  und  leicht  nach  unten  bis  in  die  Gegend  der  Blase 
vor;  leider  musste  der  Versuch,  einen  in  die  Blase  eingeführten  Katheter  mit 
dieser  Sonde  zu  fühlen,  bald  aufgegeben  werden,  um  die  Chloroformnarkose 
des  sehr  blass  aussehenden  Kindes  nicht  zu  sehr  zu  verlängern.  Als  die 
Schleimhaut  der  Fistelmündung  mit  der  Pincette  gefasst  und  etwas  angezogen 
wurde,  liess  sich  aus  dem  Nabelring  ohne  jede  Schvnerigkeit  ein  etwa  5  mm 
dicker  schlauchartiger  Strang  mehrere  Centimeter  weit  hervorziehen. 

Ein  dünnes  mit  diesem  Strang  sehr  locker  verbundenes  und  mit  einigen 
Fettträubchen  vei-sehenes  Bindegewebsblatt  an  dessen  oberer,  d.  h.  der  Brust 
zugekehrten  Seite  löste  sich  leicht  beim  Anziehen  des  Stranges  und  wurde 
wegen  seiner  Aehnlichkeit  mit  dem  Peritoneum  noch  weiter  mit  einem  Tupfer 
zurückgeschoben.  Als  das  ganze  Gebilde  7  cm  weit  vor  dem  Nabel  freilag, 
konnte  man  sehen  und  mit  der  Sonde  feststellen,  dass  sich  das  Lumen  des 
Schlauches  allmälig  erweiterte,  die  Wand  desselben  dicker  wurde  und  die 
deutliche  Streifung  einer  Längsmuskellage  aufwies.  Die  Sonde  war  nur  in  der 
Richtung  gegen  die  Blase  weiter  einzuführen. 

Der  bisherige  Befund  bei  der  Operation  schien  die  Annahme  nochmehr 
zu  stützen,  dass  es  sich  um  einen  offen  gebliebenen  Harnstrang  handelte.  Bei 
dem  Hochstand  des  Blasenscheitels  im  Alter  unseres  Patienten  (siehe  Disse. 
Die  Lage  der  menschlichen  Harnblase.  Merkel^  und  Bonnet,  Anatomische 
Hefte  L)  und  besonders  bei  vorhandenen  Anomalien  des  Urachus  konnte  die 
mit  dicker  Muskulatur  versehene  Erweiterung  des  freipräparirten   Stranges 


96  Dr.  E.  Lexer, 

nicht  mehr  weit  von  dem  hervorgezogenen  Blasenscheitel  sein.  Es  erfolgte 
deshalb  hier  die  Querdurch trennung  und  Naht  des  darauf  etwa  P/2  cm  weit 
klaffenden  mit  Schleimhaut  ausgekleideten  Lumens,  worauf  sich  die  Nahtstelle 
durch  'den  Nabelring  zurückzog  und  dieser,  ebenso  wie  die  kleine  Hautwunde, 
durch  einige  Nähte  geschlossen  wurde.  Die  Heilang  erfolgte  glatt  in  wenig 
Tagen. 

Die  mikroskopische  Untersuchung  des  ganzen  7  cm  langen  Schlauches 
ergab,  dass  nicht  ein  offener  Urachus,  sondern  ein  persistirender  Dotter- 
gang exstirpirt  worden  war;  denn  die  Querschnitte,  die  wir  aus  den  ver- 
schiedensten Abschnitten  des  Stranges  anfertigten,  zeigten  vor  allen  Dingen 
ein  mit  sehr  gut  entwickelter  Darmschleimhaut  versehenes,  allmalig  nach  dem 
inneren  Ende  zu  sich  vergrösserndes  Lumen.  Radiarstehende,  mit  einfachem 
Cylinderepithel  ausgestattete  Einsenkungen  in  eine  Schicht  reticulären  Binde- 
gewebes geben  mit  ihren  zahlreichen  Becherzellen  und  basalliegenden  Kernen 
das  Bild  der  Lieb  erkühn 'sehen  Drüsen  wieder,  nur  sind  sie  mitunter  ver- 
ästelt und  an  ihrem  peripheren  Ende  stark  ausgebuchtet.  Die  überall  deut- 
liche und  nirgends  durch  Drüsen  oder  Follikel  durchbrochene  Muscularis 
mucosae  mit  ihrer  Rings-  und  Längsmuskellage  erstreckt  sich  mit  Ausläufern 
in  einzelne  gut  ausgebildete  Zotten  hinein,  deren  im  mittleren  Abschnitte  der 
Fistel  2,  im  inneren  4 — 5  zu  sehen  sind.  Kleine  Solitarknötchen  mit  Keim- 
zentren sitzen ,  in  einzelnen  Querschnitten  bis  zu  5,  zwischen  den  Epithelschläuchen 
und  der  Muse,  mucosae,  die  letztere  leicht  nach  aussen  ausbuchtend.  Darauf 
folgt  die  Submucosa,  dann  eine  ziemlich  regelmässige,  nach  der  inneren 
Mündung  des  Präparates  an  Stärke  zunehmende  Muscularis  mit  Rings-  und 
Längslage.  Nur  die  letztere  ist  an  einzelnen  Stellen  lückenhaft.  Es  ist  wahr- 
scheinlich, dass  ein  Theil  von  ihr  mit  der  im  Präparate  fehlenden  Serosa  bei 
der  Operation  abgestreift  worden  ist.  Nur  im  äusseren  Viertel  des  Präparates 
findet  sich  deutliche  Serosa  bei  unverletzter  Muscularis,  und  ferner,  ähnlich 
wie  es  Kern  (Beiträge  zur  klin.  Chirurgie,  XIX,  S.  360)  erwähnt,  in  einem 
durch  das  Auseinanderweichen  der  Serosablätter  gebildeten  Räume,  von  lockerem 
Bindegewebe  und  Fett  umgeben,  mehrere  zum  Theil  obliterirte  Gefäss- 
lumina,  die  möglicherweise  den  Vasa  omphalo-mesenterica  entsprechen. 

Nach  dem  geschilderten  mikroskopischen  Befunde  ist  es  klar,  dass  wir  es 
mit  einem  Meckel 'sehen  Divertikel  zu  thun  hatten;  die  Merkmale,  die  zu 
der  falschen  Annahme  eines  offenen  Urachus  verleiteten,  und  nun  nach  der 
Untersuchung  ganz  anders  zu  erklären  sind,  kann  ich  kurz  zusammenfassen. 
Das  wichtigste  Symptom,  die  erschwerte  Urinentleerung  durch  die  angeborene 
Phimose,  so  dass  der  Harn  nur  tropfenweise,  unter  gleichzeitigem  Ausfliessen 
von  urinähnlichem  Sekret  aus  der  Nabelfistel  abtloss ,  ist  nur  so  zu  deuten, 
dass  durch  die  in  Folge  der  Phimose  nothwendige  Anstrengung  der  Bauch- 
presse, ebenso  wie  beim  Eindrücken  des  Abdomens  in  der  Blasengegend  der 
Inhalt  eines  oberhalb  der  Symphyse  liegenden  Divertikels  durch  seine  Oeffnung 
am  Nabel  entleert  wurde.  Der  urinöse  Geruch  dieser  schon  wegen  des  eben 
genannten  Symptomes  für  Urin  gehaltenen  Flüssigkeit  konnte  nur  Täuschung 
sein,  die  bei  der  beständigen  Benetzung  der  Haut  des  Kindes  mit  Urin  leicht 


(Jeber  die  BebandluDg  der  Uracbasfistel. 


97 


erklärlich  ist.  Nar  eine  chemische  Untersuchung  des  Sekretes  hätte 
hier  zur  richtigen  Diagnose  führen  können.  Das  klare  Aussehen  und 
die  Yerhältnissmässig  grosse  Menge  desselben  deutet  darauf  hin,  dass  os  von 
einem  nach  dem  Darm  zu  verschlossenen ,  wahrscheinlich  cystisch  erweiterten 
Divertikel  stammt.  Die  Täuschung  wurde  vervollständigt  durch  den  gerade 
nach  unten  gerichteten  Verlauf  des  Sohleimbautrohres  und  dessen  Uebergang 
in  einen  dickwandigen,  musculösen,  sich  stark  erweiternden  Abschnitt,  welcher 
der  vorderen  Bauchwand  dicht  anlag. 

Für  den  weiteren  Verlauf  des  Falles,  bei  welchem  bis  jetzt  keinerlei 
Störungen  aufgetreten  sind,  ist  es  wichtig,  dass  der  praparirte  Strang  un- 
möglich am  Darm  abgetragen  sein  kann;  denn  abgesehen  davon,  dass  bei  der 
niemals  faculenten  Absonderung  aus  der  Fistel  eine  Communication  mit  dem 
Darm  aasgeschlossen  erscheint,  ist  auch  beim  Durchtrennen  des  Schlauches 
an  seiner  erweiterten  Stelle  kein  Darminhalt  bemerkt  worden.  Es  bleibt  also 
nur  die  Annahme,  dass  es  sich  um  eine  zum  Darm  abgeschlossene,  oberhalb 
der  Blase  liegende  Erweiterung  eines  durch  den  Nabel  mit  einer  schlauchartigen 
Fortsetzung  offenen  M ecke  1 'sehen  Divertikels  handelte,  von  welchem  der  wahr- 
scheinlich grössere  Theil  nicht  entfernt  wurde ,  so  dass  die  Möglichkeit  der 
Entwicklung  eines  Enterokystoms  eine  sehr  grosse  ist.  Das  Kind  bleibt  selbst- 
verständlich unter  diesen  Umständen  in  ärztlicher  Behandlung. 


Archiv  ntr  Uin.  Cbinirgie.  57.  Bd.  Heft  1. 


IV. 

lieber  Arteriitis  obliterans  und  ihre  Folgen. 

Von 

Proressor  A.  Jk.  H^wedenshy 

la  Tomsk  (Sibirien). 


Fälle  von  obliterirender  Entzündung  der  Gefässe,  namentlich 
der  Arterien,  sind  nicht  sehr  häufig.  Oefter  begegnet  der  Kliniker, 
sowohl  der  Therapeut,  als  auch  der  Chirurg,  anderen  Erkrankungen 
des  Gefässsystems,  der  sog.  Sclerose  und  der  fettigen  Degeneration, 
die  in  der  weitaus  grössten  Mehrzahl  der  Fälle  als  für  das  höhere 
Alter  characteristisch  erscheinen.  Sie  sind,  obgleich  therapeutischen 
und  chirurgischen  Massnahmen  am  wenigsten  zugänglich,  leicht 
diagnosticirbar.  Nicht  von  diesen  soll  jedoch  hier  die  Rede  sein. 
Viel  seltener  sind  anderer  Art  chronische  Erkrankungen  der  Gefasse. 
Dieselben  vertheilen  §ich  auf  alle  Altersstufen,  bevorzugen  aber 
die  jugendliche  und  mittlere.  Die  Entzündung  trägt  hier  keinen 
destruirenden  Character,  befällt  zwei,  drei  kleine  Gefässstämmchen 
der  Extremitäten  oder  erstreckt  sich  auf  eine  ganze  Reihe  von  Ge- 
fässen,  sich  nicht  auf  eine  Extremität  beschränkend;  gewöhnlich 
führt  diese  Entzündung  zu  einer  Verengerung  des  Gefässlumens, 
oder  aber  zu  einem  vollständigen  Verschluss  desselben,  was  seiner- 
seits Störungen  in  der  Ernährung  und  Function  der  betr.  Organe  und 
Gewebe  bedingt.  Die  vorliegende  Krankheit  ist  sowohl  in  Bezug 
auf  ihre  Aetiologie,  als  auch  ihren  Verlauf  noch  vielfach  in  Dunkel 
gehüllt;  auch  die  Frage  nach  der  Therapie,  ja  selbst  nach  dem 
pathologisch-anatomischen  Character  der  Erkrankung  kann  noch 
nicht  als  abgeschlossen  gelten.     Die  Einen  sehen  die  Arteriitis  ob- 


lieber  Arteriitis  obliterans  und  ihre  Folgen.  99 

literans  als  selbststandigen  Entzündungsprocess  an,  der  sich  primär 
in  den  feineren  oder  gröberen  Gefässstäramen  localisirt,  während 
Andere  eine  Sclerose  der  Nervenstämmc  als  primär  betrachten,  ent- 
standen auf  Grund  einer  bestehenden  oder  früheren  Infection,  die 
Erkrankung  der  Gefässe  jedoch  als  secundäre  Erscheinung  auffassen. 
Wie  dem  auch  sei,  jedenfalls  ist  in  der  Literatur  nur  eine  geringe 
Zahl  von  Arteriitis  obliterans  beschrieben  worden.  Hauptsächlich 
kommt  russischen  Aerzten  die  Ehre  zu,  viele  Fragen  bezüglich 
dieser  Krankheit  geklärt  zu  haben;  die  casuistischen  Mittheilungen 
Jaesche's  (1)  (1864),  die  mikroskopischen  Untersuchungen  über  das 
Verhalten  der  Blutgefässe  von  Zoege-Manteuffel  (3,  4)  (1891), 
Wolkowitsch  (2)  (1890),  Nikolsky,  Lawrowsky  (5)  (1892), 
Fedorow  (6)  und  Weiss  (7),  ferner  die  mikroskopischen  Unter- 
suchungen der  Nerven  von  Rachmaninoff  (8)  und  Murawjeff  (9) 
(1895)  trugen  viel  zur  Klärung  der  Pathogenese  dieser  Krankheit 
bei,  deren  klinisches  Bild  von  Charcot  (10)  (1868)  und  seinen 
Schülern  Detil  und  Lamy  (11)  (1893)  das  pathologisch-anatomische 
aber  von  C.  Friedländer  (12)  (1876)  und  F.  v.  Winiwarter  (13) 
(1878)  gegeben  ist.  Immerhin  sind  Fälle  von  Arteriitis  obliterans 
nicht  besonders  häufig,  der  Verlauf  recht  unbestimmt,  bald  rapid, 
bald  langsam,  bald  beide  Extremitäten  oder  Theile  derselben  gleich- 
zeitig befallend,  wie  in  den  von  mir  beschriebenen  Fällen,  (1889, 
1891)  (14,  15)  bald  erst  nach  Verlauf  mehrerer  Jahre  von  einer 
Extremität  auf  die  andere  übergehend.  Die  Verschiedenartigkeit  im 
Auftreten  und  im  Verlauf  der  Krankheit  kann  zu  diagnostischen 
Inrthümem  Veranlassung  geben.  Grenaue  Kenntniss  der  Symptome 
und  des  Verlaufes  und  rechtzeitige  Diagnose  der  Krankheit  sind 
aber  äusserst  wichtig  für  die  Therapie  und  zur  Verhütung  der 
traurigen  Folgen  derselben.  Daher  hat  auch  entschieden  die  Mit- 
theilung einzelner  Fälle  kein  geringes  Interesse. 

Fall  1.  Im  Juni  1895  trat  in  das  Moskauer  Marienhospital  der  28jäbrige 
Geistliche  J.  S.  ein.  Er  klagte  über  Schmerzen  in  den  Zehen  des  rechten 
Fasses,  eine  nicht  heilende  Wunde  an  der  unteren  Seite  der  Endphalange 
der  3.  Zehe,  ein  oberflächliches  Geschwür  auf  dem  Kücken  desselben  Fussos, 
Schmerzen  in  der  rechten  Ferse  und  Schlaflosigkeit. 

Anamnese.  Im  Alter  von  14—15  Jahren  überstand  Fat.,  nach  seinen 
Worten,  einen  acuten  Gelenkrheumatismus,  der  sich  besonders  auf  die  linke 
Seite  erstreckten,  d.  h.  es  schmerzte  der  linke  Arm  und  das  linke  Bein.  Im 
Juni  1890  sprang  Fat.  ungeschickt  aus  einem  Eisenbahnwagen,  während  der 


100  A.  A.  Wwedensky, 

Zug  noch  in  vollem  Gange  war  und  beschädigte  sich  beim  Fall  den  rechten 
Vorderarm,  das  rechte  Knie  und  den  Unterschenkel,  die  linke  Handwurzel  und 
in  geringem  Grade  die  linke  Seite.  An  den  angeführten  Stellen  fühlte  er  etwa 
14  Tage  hindurch  geringen  Schmerz.  Im  Januar  1891  durchfror  J.S.  gründlich; 
bald  darauf  empfand  er  Schmerz  in  der  Gegend  des  rechten  Handgelenkes  und 
im  rechten  Fusse,  wobei,  nach  seiner  Angabe,  am  Fussrücken  Knötchen  sich 
bildeten.  Locale  Anwendung  von  Pflaster,  Vollbäder  und  innerliche  Dar- 
reichung von  Jodkali  übten  einen  günstigen  Einfluss  aus.  Das  Frostgefühl, 
das  im  Arm  und  im  Bein  bestanden,  schwand,  die  Schmerzen  liessen  nach 
und  nach  14  Tagen  verliess  Fat.  das  Zimmer,  das  er  bis  dahin  gehütet.  Als- 
bald jedoch  traten  andere  Erscheinungen  auf:  Schwäche  in  den  Beinen,  Fat. 
konnte  nicht  lange  gehen,  ohne  zu  ermüden ;  die  Ermüdung  gab  sich  sehr  bald 
durch  Schmerzen  im  rechten  Beine  zu  erkennen;  Ruhe  brachte  die  Schmerzen 
zum  Schwinden,  aber  selbst  massiges  Gehen  rief  sie  sehr  bald  wieder  hervor. 
Aehnlich  ging  es  mit  dem  rechten  Arm;  Fat.  konnte  nicht  lange  arbeiten,  z.  B. 
schreiben,  alsbald  traten  Ermüdung  und  Schmerzen  im  Handgelenk  und  in  den 
Fingern  ein;  ausserdem  beobachtete  Fat.  seit  Beginn  der  Krankheit  d.  h.  seit 
dem  Januar  1891  von  Zeit  zu  Zeit  gesteigerte  Schweisssecretion  in  der  Gegend 
des  rechten  Handgelenkes  und  ein  Gefühl,  als  ob  dem  Arme  von  innen  nach 
aussen  Stiche  versetzt  wurden. 

Im  Sommer  verminderten  sich  die  Schmerzen.  Im  Winter  1892  fingen 
der  rechte  Arm  und  das  rechte  Bein  an  kühl  und  von  Frostgefühl  befallen  zu 
werden,  in  der  Kälte  wurden  Handwurzel  und  Finger  sehr  schnell  blau,  die 
Schmerzen  wurden  stärker,  die  Schweisssecretion  nahm  ab,  an  der  Spitze  des 
Zeigefingers,  dann  auch  des  Goldfingers  traten  nicht  sehr  schmerzhafte  Ge- 
schwüre auf.  Innerliche  Darreichung  von  Arsen,  Handbäder,  abwechselnd  mit 
Massage  der  Hand  trugen  zur  Heilung  der  Panaritien  bei,  die  übrigen  Er- 
scheinungen jedoch  blieben  unverändert.  1893  wandte  Pat.  Electricität, 
Massage  und  aromatische  Bäder  an.  Letztere  riefen  Jucken  hervor;  in  Folge 
von  Kratzen  sei  auf  dem  Fussrücken  das  nicht  heilende  Geschwür  entstanden. 
1895,  im  Januar,  entstanden,  nachdem  die  Finger  erst  blau  geworden,  gan- 
gränöse Geschwüre,  zunächst  eines  an  der  unteren  Seite  der  4.  Zehe,  dann 
auch  der  3.  Zehe  des  rechten  Fusses.  Nach  3 monatiger  Behandlung  heilte  das 
Geschwür  an  der  4.  Zehe,  während  das  an  der  3.  Zehe  Tendenz  zur  Aus- 
breitung, sowohl  in  die  Tiefe,  als  auch  der  Oberfläche  nach,  zeigte.  Mit  diesem 
gangränösen  Geschwür  trat  Pat.  ins  Hospital  ein. 

Status  praesens.  Pat.  ist  anämisch.  Von  Seiten  der  Brust-  und 
Bauchorgane,  als  auch  der  Urogenitalorgane  nichts  Abnormes.  Der  Harn  ent- 
hält weder  Eiweiss  noch  Zucker.  Der  rechte  Vorderarm  und  die  Handwurael 
erscheinen  magerer  und  kühler,  als  auf  der  linken  Seite.  Keine  Pulsation  in 
Art.  radialis  und  ulnaris  wahrzunehmen ;  unbedeutend  in  der  Art.  brachialis 
in  der  Gegend  des  Ellenbogens,  dagegen  sehr  deutlich  ausgesprochen  in  der 
Axilla.  In  der  linken  Haudwurzelgegcnd  empfindet  Pat.  bald  Frostgefühl, 
bald  Neigung  zum  Schwitzen.  Die  Hautsensibilität  ist  wenig  verändert,  die 
electrische  Muskelerregbarkeit  ist  normal.  Periodische  Schmerzen  im  Arm,  wie 
früher,  hat  Pat.  jetzt  nicht. 


Üeber  Arteriitis  obliterans  und  ihre  Polgen.  101 

Der  rechte  Unterschenkel  ein  wenig  magerer,  als  der  linke.  Der  Sehnen- 
reflex erhöht.  Sensibilität  —  normal.  Pat.  klagt  über  periodisch  auftretende 
Schmerzen  im  unteren  Theil  des  rechten  Unterschenkels,  in  der  Ferse  und  in 
den  Zehenspitzen.  Pulsation  weder  in  der  Art.  tibial.  ant.  resp.  Art.  dorsalis 
pedis,  noch  in  der  Art.  tibial.  post  Die  Art.  poplitea  pulsirt  sehr  schwach 
im  Vergleich  zu  derselben  Arterie  des  linken  Beines.  Die  Pulsation  in  der  Art. 
femoralis  ist  deutlich. 

Am  Fussrücken  befindet  sich  ein  rundes,  oberflächliches  Geschwür  von 
der  Grösse  eines  10 Pfennigstückes,  das  nicht  tiefer  als  in  die  oberflächliche 
Pascie  dringt;  der  Boden  des  Geschwürs  ist  mit  schlaffen,  schmerzhaften 
Granulationen-  bedeckt;  an  den  Rändern  ist  keine  Narbonbildung  zu  bemerken. 
An  der  unteren  Fläche  der  Nagelphalanx  der  4.  Zehe  befindet  sich  die  Narbe 
eines  ausgeheilten  Geschwüres;  an  der  correspondirenden  Stelle  der  3.  Zehe 
sieht  man  ein  rundes  gangränöses  Geschwür,  von  etwa  1  Y^  cm  im  Durch- 
messer, die  Ränder  des  Geschwürs  sind  bläulich,  am  Boden  gangränöser  Zer- 
fall; die  Umgebung  des  Geschwürs  weist  ödematöse  Schwellung  auf,  die  auf 
Berührung  schmerzhaft  ist;  übrigens  empfindet  zu  Zeiten  Pat.  an  dieser  Stelle 
auch  ohne  Berührung  Schmerzen.  Weniger  empfindlich  sind  die  2.  und  die 
kleine  Zehe. 

Im  Marienhospital  befand  Pat.  sich  vom  20.  6.  bis  zum  7.  8.  unter  Be- 
obachtung. Trotz  antiseptischer  warmer  Verbände  vergrösserte  sich  das  Ge- 
schwür an  der  3.  Zehe  der  Oberfläche  nach  und  der  gangränöse  Zerfall  ergreift 
auch  die  tiefer  liegenden  Gewebe.  Am  7.  7.  schabte  Dr.  Serenin  unter 
Narkose  die  gangränösen  Theile  des  Geschwüres  aus  und  entfernte  mit  der 
Luer' sehen  Zange  einen  Theil  des  Knochens  der  Nagelphalanx.  Nach  dieser 
geringfügigen  Operation  litt  Pat.  2—3  Tage  an  den  quälendsten  Schmerzen, 
so  dass  mehrfach  zu  Morphiuminjectionen  geschritten  werden  musste.  Die 
Schmerzen  strahlten  aus  der  Zehe  in  den  Fuss  und  in  den  Unterschenkel  aus. 
Zwecks  Verminderung  des  Schmerzes  und  schnellerer  Heilung  des  Geschwüres 
wurde  Electrisation  des  rechten  Beines  mit  constantem  Strome  ausgeführt.  Das 
Geschwür  zeigte  jedoch  nicht  die  geringste  Neigung  zur  Heilung,  sondern 
breitete  sich  immer  mehr  aus.  Auf  eine  Amputation  des  Unterschenkels  ging 
Pat.  nicht  ein,  sondern  gestattete  nur  Enucleation  der  3.  Zehe,  welche  am 
27.  7.  ausgeführt  wurde.  Blutung  war  fast  gar  nicht,  nicht  eine  einzige 
Ligatur  war  nöthig.  Die  Schmerzen  im  Fuss,  namentlich  in  der  Gegend  des 
Knöpfchens  des  3.  Metatarsalknochen  hörten  nach  der  Operation  nicht  auf; 
die  Wundränder  verbackten  nicht,  sondern  starben  stellenweise  ab  und  sehr 
bald  wurde  die  ganze  Wund  fläche  gangränös.  Die  Schmerzen  steigerten  sich 
so  sehr,  dass  ein  Verbandwechsel  ohne  Befeuchten  des  Verbandzeuges  mit 
Cocainlösung  nicht  möglich  war. 

Zur  pathologisch-anatomischen  Untersuchung  kam  leider  nur  die  enucleirte 
3.  Zehe.  Wie  schon  oben  erwähnt,  konnte  Pat.  sich  nicht  zur  Amputation  des 
Unter-  oder  Oberschenkels  entschliessen  und  benahm  uns  daher  die  Möglich- 
keit ein  grösseres  Material  auszunutzen,  ich  meine  vor  Allem  die  veränderten 
Gefasse  und  Nerven  des  Unterschenkels. 


102  A.  A.  Wwedensky, 

Die  enacleirte  Zohe  wies,  mit  Ausnahme  des  gangränösen  Geschwüres  an 
der  oberen  Seite  der  2.  Phalanx  und  eines  ebensolchen  an  der  unteren  Seite 
der  Nagelphalanx,  nichts  Besonderes  auf.  Die  Haut  war  blass,  weder  ödematose, 
noch  inflammatorische  Sohwellong  war  zu  beobachten;  auch  waren  keine 
trophischen  Störungen  zu  bemerken.  Auf  Querschnitten  an  der  Basis  der  ersten 
Phalanx  sieht  man  an  den  Stellen,  die  den  beiden  Art.  digit.  plant,  und  den 
beiden  Art.  digit.  dors.  und  den  gleichnamigen  Venen  entsprechen,  kleine 
leicht  röthlich  gefärbte  Kreise  scleroslrten  Gewebes,  in  dem  das  Lumen  der 
Terengteo  und  wenig  Blutkörperchen  enthaltenden  Venen  nur  schwer  zu  unter- 
scheiden ist.  Die  Art.  digit.  plant,  sind  unduichgangig  in  Folge  von  Bildung 
organisirten  Gewebes.  Was  die  Art.  digit.  dorsales  anlangt,  so  ist  nur  bei  der 
einen,  nämlich  der  äusseren,  das  stark  verengte,  nur  für  ein  Pferdehaar  durch- 
gängige Lumen. 

Zar  mikroskopischen  Untersuchung  wurde  der  übrige  Theil  der  3.  Zehe 
auf  2X24  Stunden  in  Müller' sehe  Flüssigkeit  gelegt  und  alsdann  auf  eben- 
solange Zeit  in  Spiritus.  Das  gehärtete  und  entwässerte  Präparat  wurde 
mittelst  Mikrotom  in  Schnitte  zerlegt  und  die  mit  Picrocarmin  gefärbten 
Schnitte  bei  schwacher  und  starker  Vergrösserung  (Mikroskop  Hartnack) 
durchgesehen. 

Bei  schwacher  Vergrösserung  erscheinen  die  quer  durchschnittenen, 
kleinen  Gefässbündelchen  als  Cylinder  von  unbedeutender  Grösse;  das  Lomen 
der  3  Arterienstämme  ist  vollständig  von  oi^anisirtem  Gewebe  ausgefüllt ;  nach 
aussen  von  diesem  gut  gefärbten  Gewebe  sieht  man  die  glänzende,  wenig 
tingirte  elastische  Schicht,  die  an  einzelnen  Stellen  von  Canälchen,  Oeffnungen, 
durch  die  zum  ursprünglichen  Lumen  neugebiidete  Blutgefässe  ziehen  unterbrochen 
ist.  DieMuskelsohicht  derGefässe  ist  verdickt;  auch  in  ihr  finden  sieh  Oefinungen 
—  vasa  vasorum.  Die  Adventitia  ist  ebenfalls  hypertrophisch.  Das  Bindegewebe 
ist  in  quer  gelagerten  Bündeln  um  das  Gefäss  gelegen.  An  einigen  Schnitten 
sieht  man  dieses  Gewebe  in  die  Adventitia  der  seitlichen  Venen  übergehen. 

Die  Adventitia  der  Arterien  und  das  sie  us^ebende  Bindegewebe  wird 
von  kleinen  Geiässchen  mit  verdickten  Wänden  durchzogen,  die  zum  Theil 
obliterirt  sind.  Und  so  erscheinen  als  characteristiscbe  anatomische  Ver* 
änderungen,  die  an  dieser  Zehe  zu  beobachten  sind :  die  Hypwtrophie  der 
äusseren  und  mittleren  Membran  der  Arterien,  eine  Verdickung  und  Verhärtung 
des  Gewebes  des  GefässbündelSj  Vermehrung  der  Vasa  vasorum  in  der  mitt- 
leren und  äusseren  Schicht  der  Arterien,  Entzündui^sprocesse  in  der  Intima, 
die  mit  vollständiger  Obliteration  des  Gelasses  enden. 

Starke  Vergrösserung  gab  folgendes  Bild:  der  oblitehrende  Pfropl  besteht 
aus  )angem  Bindegewebe,  flachen  und  spindelförmigen  Zellen  und  dünnen 
Fasern.  Sich  an  einander  lagernd  bilden  diese  i&ellen  Lumina  zum  Durchtritt 
der  neugebildeten  oder  noch  in  Bildung  begriffenen  Gefiisschen.  Die  Wände 
dieser  Gefässcken  bestehen  einzig  aus  Endothelzellen,  mit  einem  Worte,  eine 
vollkommen  dilTeienzirte  Wandung  der  neugebiideten  Gefässchen  koanta  an 
keinem  Präparat  beobachtet  werden.  An  einigen  Präparaten  konnten  im  Paren- 
chym  des  obliterirenden  Gewebes  überhaupt  keine  neugebiideten  Gelasse  ge- 


lieber  Arteriitis  obiiteran»  und  ihre  Folgen.  103 

fundeii  werden.  Solcbe  Scbnitte  gaben  das  Bi]d  eines  Gelasses  mft  seinen 
Wanden :  Adventitia,  Mnscularis  vad  eine  so  staark  yerdickte  hrtima,  dass  da- 
darch  das  Lumen  des  Gkfösses  zam  Scfawond  gebraebt  war.  Die  HypertrO|^bie 
des  Mnscularis,  die  bei  schwacher  Vergrössenmg  zn  beobaehten  war,  hängt 
von  einer  Wnehening  des  Bindegewebes,  welches  die  eoncentriseben  Lagen 
der  glatten  Moskelfasem  trennt,  nnd  von  einer  Wnchernng  des  vascoiären 
Netzes,  welches  bis  zor  Intima  reicht,  ab.  Di«  Yerdiclning  der  Adyentftia  er-* 
klart  sich  dnrch  Masseii«ntwickeiiing  des  Bindegewebes,  des  yasetilaren  Ge^ 
webes  nnd  dnrch  ehroniscbe  Entzindang  der  kleinsten  Arterien ;  dies^  Ent« 
zindnng  kennzeichnet  sich  hier  durch  Infiltration  der  Gefässrw&nde'  ant  R«md- 
xellen,  Verdicknng  des  Eado^is,  die  zu  Tollst&ndigem  Vevschltiss  des  Gefass- 
Imnens  fahrt  Die  Oeßsso  des  Unterhamtzellgewebes  der  3.  Zehe  sin>d  ebenfalls 
in  Unem  Bau  verändert;  sie  haben  gleiehssm  ihre  eigene  Wandung  verloren 
and  stellen  Canile  im  umgebenden  si^rosirten  Bindegewebe  ver;  ihr  Endothel 
ist  geschwunden.  Haatpapillen  fehlen  zum  Tbeil. 

Untersuchung  der  angefihrten  Gkiässe  an  Schnitten,  die  tfiit  Osaiiafn-' 
saire  behandelt  waren,  zeigte,  dass  von  fettiger  Degeneration  der  Ge(ässwände 
licht  die  Rede  sei;  es  handelte  sich  nicht  n»  Ath'erottatose. 

Die  seitlichen  Yeaea  der  Zehe  zeigen  bei  schwacher^  wia^  starker  Ver- 
grossemng  das  Büd  einer  chronischen  Enti^ündung^  die  Adventiti«^  Media 
lad  Intima  erscheinen  verdidrt,  z.  Th.  dmck  Bindegewebswucherung,  z.  Th. 
Vascoiaxisation.  Das  Lumen  ist  verkleinert,  doeh  ist  nirgends  vollständiger 
VerscMuss  za  beobachten. 

Zor  üptersuehung  der  Nerve»  der  amputirten  Zehe  Worden  einige  Otter-' 
schnitte  in  Osmtumsaurre  (1  :  K)0)  und  Müller' scher  FKlssigkeit  gehaftet 
Bei  der  mikroskopischen  Untersochung  dieser  Schnitte  beobachtete  man  eine 
Verdickung  der  Wände  der  Oefasschen^  wekhe  zur  Emähmng  der  Nervew 
dienen.  Die  Yeraadenmgen  bestanden  hauptsächlich  im  einer  Verdickung  der 
Intima  bis  zum  Verschluss  des  Gefasslumens  und  gleixthzeitiger  Verdiekong 
der  Adventitia.  Weiter  zeigte  sid^  bei  Untersuchung  der  Aeste  des  N.  plant, 
int,  dass  die  Nervenfibrillen  zam  grossen  Theil  geschwunden  sind ;  man  fsuid- 
aar  das  leere  Neurilemma  ohne  Axenoyfinder  und  Myelin  und  nur  sehr  wenige 
gesunde  NervenfibrHlen  —  man  konnte  sie  leicht  zählen.  AehnMche  Ver- 
ä&demngen  siad  aueh  an  den  dorsiden  Nervenästen  der  Zehe  zn  finden,  die 
vem  N.  peron.  superfio.  et  prof.  kommen.  Im  Allgemeinen  stelkn  die  Nerven* 
der  Zehe  Bondekhen  fibröse»  Gewebes  vor,  das  conoentrisch*  gelagert  ist  und 
in  dem  man  hin  md  wieder  Fibrillen  durch  Osmiumsäure  dunkel  gefärbten 
Myeiina  sieht 

Ich  weBde  mich  nunmehr  zur  kurzen  Wiedergabe  des  zweiten 
Fafles  von  Gangrän  beider  Füsse,  den  ich  schon  in  dem  „Jahresb. 
der  Moskauer  chirurg.  Gesellschaft,  189Ö,"  (russisch)  genau  be- 
schrieben. Die  nktkFOskopischen  Befunde  dieses  Falles  sind  von 
J.  M.  Rachettanittoff  in  der  ^Medicinsfcoje  Obosrenie,  189i:^No;  10^ 
niedergelegt. 


104  A.  A.  Wwedensky, 

Bei  einem  17jährigen  Bauern,  Tischler  seines  Zeichens,  entwickelte  sich 
in  3  Tagen  eine  Gangrän  beider  Fasse  und  des  unteren  Theiles  der  Unter- 
schenkel. Syphilis  war  ausgeschlossen.  2  Jahre  vorher  hatte  Fat.  Flecktyphus 
durchgemacht.  Darauf  empfand  er  Frostgefühl  in  den  Händen  und  Füssen, 
von  Zeit  zu  Zeit  vertaubten  die  Finger  und  Zehen.  DieYertaubung  währte  3  bis 
5  Min.,  worauf  krampfartige  Zuckungen,  verbunden  mit  Schmerzen  in  den  Muskeln 
der  Hand-  resp.  Fusswurzel  und  dem  Vorderarm  resp.  Unterschenkel  folgten. 
Solche  Anfälle  wiederholten  sich  bald  mehrmals  am  Tage,  bald  seltener 
—  einmal  in  der  Woche.  3  Tage  vor  Eintritt  ins  Krankenhaus  litt  Fat.  an 
schmerzhaftem  Frostgefühl  in  den  unteren  Extremitäten  und  starken  ziehenden 
Schmerzen;  alsdann  folgte  Hitzegefühl  in  den  Füssen,  beide  Fussrücken 
rötheten  sich  von  den  Zehen  beginnend.  Die  objektive  Untersuchung  ergab 
Folgendes :  Beide  Füsse  und  der  untere  Abschnitt  der  Unterschenkel  waren 
blauroth  verfärbt;  die  Zehenspitzen  schwarz.  Nach  9  Tagen  bildete  sich  eine 
Demarcationslinie.  Am  30. 11.  wurde  der  Unterschenkel  ampntirt  (P.  Nikolsky 
und  N.  W.  Wassilljew)  an  der  Grenze  zwischen  dem  oberen  und  mittleren 
Drittel.  Obgleich  die  Operationswunde  gut  heilte,  stellte  sich  am  4.  12.  starkes 
Fieber  ein  mit  Husten  und  Schmerzen  in  der  rechten  Seite,  darauf  comatöser 
Zustand.  Am  16.  12.  starb  Fat.  unter  allgemeinem  Kräfteverfall.  Die  von 
J.  M.  Rachmaninoff  ausgeführte  pathologisch-anatomische  Untersuchung  der 
Nerven  und  Gefässe  zeigte  in  diesem  acut  verlaufenen  Falle  symmetrischer 
Gangrän  hauptsächlich  multiple,  oder  nach  Roth  disseminirte  Neuritis  in 
ziemlich  gleicher  Intensität  an  den  Nn.  tibiales  ant.  et  post.  beider  Beine.  „An 
Querschnitten  der  Nerven  stellen  die  Nervenbündel  nicht  das  normale  Bild  dar 
d.  h.  regelmässig  gelagerte  von  Osmiumsäure  dunkel  gefärbte  Kreise,  ent- 
sprechend den  querdurchschnittenen  Markfasern,  sondern  es  zeigen  sich  viel- 
mehr die  mit  dem  gegebenen  Reactiv  gefärbten  unveränderten  Nervenfasern  in 
unregelmässigen  Gruppen  zerstreut;  die  Zwischenräume  zwischen  ihnen  er- 
scheinen als  blasse  Inselchen,  die  mit  Zellen,  Kernen  und  Myelinkügelchen 
ausgefüllt  sind.  Was  das  verschiedene  Bindegewebe  anlangt,  das  zur  Zu- 
sammensetzung der  Nerven  gehört,  so  springt  im  Epineurium  (tissu  perifascul. 
Ran  vier)  eine  ungeheure  Monge  in  den  Spalträumen  eingelagerter  Zellen  in 
die  Augen,  die  ein  braungelbes,  körniges  Pigment  enthalten.  Die  Gesammt- 
menge  des  Bindegewebes  erscheint  der  Norm  gegenüber  vermehrt,  die  Wände 
der  kleineren  Gefösse  sind  verdickt,  um  einige  sieht  man  eine  kleinzellige  In- 
filtration, während  die  Stämme  der  Aa.  tibiales  ant.  et  post.  und  ihre  grösseren 
Aeste  unverändert  sind.  Das  Perineurium  ist  deutlich  verdickt.  In  den 
kleineren  Bündeln  sieht  man  eine  massige  Wucherung  der  inneren  Schiebt 
des  Perineuriums.  In  den  grösseren  Nervenbündeln  sieht  man  keine  derartige 
beschränste  Wucherung  der  inneren  Perineuriumschicht.  Hier  beobachtet  man 
Folgendek:  An  jenen  Knotenpunkten,  wo  sich  von  der  Innenseite  des  Peri- 
neurium schmale  Streifen  Bindegewebe  abtrennen,  die  in  das  Innere  des  Ge- 
webes gehen  und  das  Gewebe  in  weitere  Bändelchen  theilen,  bemerkt  man  hin 
und  wieder  eine  ciroumscripte  Wucherung  dieses  Gewebes,  welches  sich  keil- 
förmig zwischen  zwei  Bündelchen  vorschiebt,    und   im  Centrum  desselben  ein 


Ueber  Arteriitis  obliterans  und  ihre  Folgen.  105 

kleines  Gefasschen  mit  concentrisch  geschichteter  Wand  und  gewöhnlich  sehr 
engem  Lumen.  In  der  Regel  beobachtet  man  ausser  dem  beschriebenen  peri- 
pheren, dickwandigen  Gefasschen  an  den  genannten  Stellen  auch  Inselchen 
Ton  Bindegewebe,  die  ein  Gefasschen  umgeben,  dass  das  Bild  eines,  im  Ver- 
gleich zu  normalen  Capillaren,  recht  dickwandigen  Ringes  aufweist,  der  an 
der  Innenseite  mit  Kernen  versehen  ist.  Nur  selten  hat  man  statt  des  bo- 
scbriebenen  peripheren  Geifasses  ein  dickwandiges,  zuweilen  beinahe  obliterirtes 
Gefass  grosseren  Calibers  ausserhalb  des  Perineuriums." 

Was  die  Aetiologie  dieses  Falles  betrifft,  so  stimmt  Rachmaninoff 
der  Ansicht  bei,  die  auch  ich  auf  den  IV.  Congress  russischer  Aerzte  ausge- 
sprochen, d.  h.  dass  es  sich  um  eine  Neuritis  infectiosa  handelt,  bedingt 
durch  den  yorangegangenen  Typhus:  „Dass  die  Neuritis  und  Gangrän  nicht 
zufällig  zusammenfallen,  sondern  sich  zu  einander  wie  Ursache  und  Folge 
verhalten  —  das  ist  zweifellos ;  welcher  nähere  Zusammenhang  jedoch  zwischen 
diesen  beiden  Processen  vorliegt  —  diese  Frage  haben  frühere  Forscher  eben- 
sowenig lösen  können,  wie  auch  ich",  sagt  Rachmaninoff.  „Bemerkens- 
werth",  sagt  er  weiter,  „ist  das,  dass  in  meinen  beiden  letzten  Fällen  (Alkohol- 
neuritis), wo  die  Degeneration  der  Nerven  des  Beines  bedeutend  stärker 
ausgeprägt  war,  als  im  ersten  Falle  (symmetrische  Gangrän),  ausserdem 
Degeneration  der  Ganglienzellen  des  Rückenmarks,  allgemeine  Arterio- 
sklerose, Schwächung  der  Herzmuskulatur  und  endlich,  wie  natürlich,  auch 
andere,  theils  nachweisbare,  theils  nicht  nachweisbare  Symptome  der  Alkohol- 
dyskrasie  vorlagen,  sich  doch  keine  Gangrän  entwickelte.  Das  ist  eine  be- 
merkenswerthe,  wenngleich  bislang  nicht  erklärliche  Thatsache." 

Das  Auftreten  der  Gangrän  in  unserem  Falle  erscheint  um 
so  auffallender,  als  in  den  3  von  genanntem  Autor  untersuchten 
Fällen  die  Gefässveränderungen  die  gleichen  waren,  d.  h.  diese 
Veränderungen  bezogen  sich  in  gleichem  Maasse  auf  die  kleinen 
Arterienästchen,  die  unter  das  Epineurium  gehen,  als  auch  auf  die 
an  der  äusseren  Seite  desselben  verlaufenden.  Die  Veränderungen 
äusserten  sich  in  einer  bis  zmn  Lumenverschluss  führenden 
Wucherung  der  Intima  und  Adventitia  der  Gefässe;  die  Verdickung 
der  Capillarwände  hing  wahrscheinlich  sowohl  von  einer  Quellung 
der  die  Wand  bildenden  Zellen  ab,  als  auch  von  einer  Wucherung 
des  umgebenden  Bindegewebes.  .  .  .  „Das  Vorhandensein  von 
Gefässveränderungen  in  dem  Falle  von  symmetrischer  Gangrän 
bei  einem  17jährigen  Jünglinge  schien  mir",  sagt  Rachmaninoff, 
^einer  besonderen  Würdigung  werth,  und  der  Gedanke,  die  Nerven- 
degeneration durch  Veränderung  der  Wandungen  der  die  Nerven 
ernährenden  Gefässe  —  sehr  naheliegend,  um  so  mehr,  als  es 
durch  eine  solche  Hypothese  vielleicht  leicht  wäre,  die  Pathogenese 


106  A.  A.  Wwedensky, 

der  verschiedensten  Neuritiden  nicht  traumatischen  Ursprungs, 
namentlich  des  toxischen  und  infectiösen,  zu  erklären.  Es  ist  ja 
noch  nie  darauf  hingewiesen  worden,  dass  die  Wirkung  der  ver- 
schiedenartigsten toxischen  Substanzen  sich  in  erster  Linie  und 
hauptsächlich  an  den  Wandungen  der  kleinsten  Gefässe  äussert, 
mit  denen  sie  in  Berührung  kommen^.  Racfamaninoff  entschliesst 
sich  jedoch  nicht,  auf  Grund  der  pathologisch-anatomischen  Daten 
allein,  in  Fällen  von  Gangrän,  die  Frage  zu  entscheiden,  „ob  der 
Proccss  mit  der  Veränderung  der  Gefässwände  und  Bindegewebs- 
wucherung  beginnt,  die  consecutiv  eine  Degeneration  der  Nerven- 
fasern nach  sich  zieht,  oder,  umgekehrt,  die  Letztere  primär  ist, 
die  Sklerose  der  Gefässe  mit  Bindegewebs  Wucherung  aber  secundär.** 
Ich  glaube,  dass_  die  Lösung  der  Frage  Aufgabe  der  Experimental- 
pathologic  ist.  — 

Das  sind  die  pathologisch-anatomischen  Daten  in  den  beiden 
von  mir  zu  versclüedenen  Zeiten  beobachteten  diesbezüglichen 
Fällen.  Im  ersten  ist  das  Bild  einer  oblrterirenden  Gefässentzündung 
scharf  ausgesprochen  und  schien  sich  nicht  nur  auf  die  kleinen, 
die  3.  Zehe  versorgenden  Gefässstämmchen  zu  erstrecken,  sondern 
auch  auf  die  Aa.  tibiales  ant,  et  post.,  da  an  denselben  ein  Pols 
nicht  fühlbar  war.  Gleichzeitig  mit  der  obliterirenden  Gefäss- 
entzündung lag  Degeneration  der  xVcste  des  N.  plant,  int.  und 
Dorsal,  digit.  und  N.  peroneus  superfic.  et  prof.  vor.  Im  2.  Falle 
war  multiple  Neuritis  ausgesprochen;  die  grösseren  Gefässe  waren 
nicht  verändert,  sondern  nur  die  Vasa  nervorum  und  Vasa  vasorum 
obliterirt. 

Bei  der  Darstellung  des  klinischen  Bildes  dieser  Krankheit, 
werde  ich  nicht  die  einzelnen  Fälle  aus  der  Literatur  wiedergeben, 
sondern  verweise  auf  die  eingehenden  Arbeiten  von  Wolkowitsch, 
Koudratsky  und  Weiss.  An  der  Hand  der  eigenen  Fälle  und  analoger 
aus  der  Literatur  können  wir  folgendes  Krankheitsbild  aufstellen. 

Die  Arteriitis  obliterans  der  unteren  Extremitäten  ist  eine 
hauptsächlich  Russland  eigene  Krankheit  und  kommt  namentlich 
in  Gegenden  mit  rauhem  KDma  vor.  Sie  wird  fast  ausschliesslich 
bei  Männern  im  Alter  von  15—60  Jahren  beobachtet.  Der  von 
Studensky  beschriebene  Fall,  der  sich  auf  ein  SOjähriges  Indi- 
viduum bezieht,  steht  ganz  vereinzelt  da;  ausserdem  kann  dieser 
Fall  nicht  als  ein  reiner  aufgefasst  werden:  Es  lagen  hier  gleichzeitig 


Ueber  Arteriitis  obliterans  und  ihre  Folgen.  107 

mit  der  obliterirenden  Entzündung,  fettige  Degeneration  ond  Kalk- 
ablagerang in  den  Gefässwänden  vor. 

Als  Vorläufer  der  Krankheit  treten  vorübergehende  Schmerzen 
in  den  Extremitäten  auf;  diese  Schmerzen  werden  weder  von 
Fieber,  noch  Schwellung  der  Gelenke,  noch  Veränderung  an  Haut, 
Muskeln  und  Knochen  begleitet;  Gelenkrheumatismus  ist  somit 
ausgeschlossen.  Die  Schmerzen  treten  periodisch  auf  und  neu- 
ralgischen Schmerzen  ähnlich.  An  den  unteren  Extremitäten  sind 
sie  namentlich  am  Fuss  und  Unterschenkel,  an  den  oberen  —  an 
den  Fingern,  der  Handwurzel  und  dem  Vorderarm.  Sie  entstehen 
durch  Bewegung  (z.  B.  Gehen)  und  verschwinden  während  der 
Ruhe.  Blaufärbung,  Krämpfe  und  Frostgefühl  an  den 
Extremitäten  sind  die  natürlichen  Begleiter  dieser  Schmerzen. 
Alle  diese  Erscheinungen  sind  in  der  kalten,  rauhen  Jahreszeit 
stärker  ausgeprägt,  als  in  den  Sommermonaten.  Diese  Anfälle, 
die  zu  B^nn  der  Erkrankung  durch  zufällige  Umstände  auftreten, 
sind  vorübergehend  und  beunruhigen  den  Kranken  nicht,  da  er 
geneigt  ist  anzunehmen,  es  handle  sich  um  „Rheumatismus''.  Mit 
der  Zeit,  wo  die  Gangrän  zu  beginnen  droht,  werden  die  Schmerzen 
sehr  hochgradig  und  beständig;  zugleich  fällt  die  Temperatur  der 
Extremitäten,  die  natürliche  Färbung  der  Haut  ändert  sich;  die 
Pulsation  der  Arterien  der  erkrankten  Extremität  wird  kaum 
fühlbar  und  schwindet  endlich  ganz  —  ein  deutliches  Zeichen, 
dass  die  Gangrän  bald  eintreten  wird.  In  der  That,  sehr  bald 
zeigen  sich  auf  der  Dorsal-  (häufiger)  und  Volar-  resp.  Plantar- 
fläche der  Finger  resp.  Zehen  dunkelblaue  Flecke,  die  Epidermis 
hebt  sieh  an  diesen  Stellen  ab  durch  Ansammlung  blutigseröser 
Flüssigkeit  und  es  entstehen  Blasen.  Wird  die  Extremität  unter 
günstige  Bedingungen  gestellt,  den  Kranken  Ruhe  gegönnt  und 
Wärme  zugeführt,  so  kann  sich  der  Process  auf  die  beschriebenen 
trophisehen  Störungen  der  Haut  beschränken.  Im  entgegengesetzten 
Falle  schreitet  die  Gangrän  vorwärts  sowohl  der  Fläche,  als  auch 
der  Tiefe  nach  und  nach  einiger  Zeit  sterben  eine  oder  mehrere 
Zehen  resp.  Finger  ab.  Von  hier  kann  die  Gangrän  in  kürzerer 
oder  längerer  Zeit  anf  den  Fuss  und  den  Unterschenkel  übergehen. 

Die  Gangrän  tritt  vorzüglich  an  den  unteren  Extremitäten 
oder  tritt  wenigstens  an  diesen  gewöhnlich  zuerst  auf.  Zuweilen 
jedoch  treten  die  ersten  Erscheinungen    der  Gangrän  auch  an  den 


108  A.  A.  Wwedensky, 

oberen  Extremitäten  auf  und  die  Krankheit  kann  auch  auf  diese 
beschränkt  bleiben,  wie  z.  B.  in  den  Fällen  von  Uadden  (27), 
Wischnewsky  (16),  Will  (30),  Widcnmann  (32),  Gould, 
Walsham  (cit.  nach  Galizky)  und  lleydenreich.  Nicht  iramer 
tritt  die  Krankheit  symmetrisch  auf  und  solche  Fälle,  wie  mein 
zweiter,  sind  nur  selten;  Rachmaninoff  fand  in  der  Literatur  nur 
6  Fälle  symmetrischer  Gangrän.  In  der  Mehrzahl  der  Fälle  geht 
die  Krankheit,  nachdem  sie  z.  B.  am  rechten  Bein  begonnen  und 
einen  schwächeren  oder  stärkeren  Grad  der  Entwickelung  erreicht, 
nach  einem  gewissen  Zeitraum,  der  sich  auf  5 — 10  Jahre  er- 
strecken kann,  auf  das  linke  Bein  über.  In  einzelnen  Fällen 
kommen  langdauernde  lichte  Perioden  vor,  die  frei  von  Schmerzen 
und  anderen  Symptomen  der  obliterirenden  Entzündung  sind;  im 
Falle  von  Dutil  und  Lamy  erstreckte  sich  eine  solche  Periode 
auf  5  Jahre. 

Bei  der  Amputation,  die  natürlich  oberhalb  der  afficirten  Stelle 
ausgeführt  wird,  ist  die  Blutung  aus  den  Arterien  entweder  gering- 
fügig, oder  sie  fehlt  auch  vollständig.  Nicht  selten  werden  die 
Bänder  der  Amputationswunde  theilweise  oder  vollkommen  nekrotisch, 
was  selbstverständlich  die  Narbenbildung  hemmt  oder  gar  eine 
höhere  Amputation  nothwendig  macht. 

Vor  oder  nach  der  Amputation  werden  zuweilen  für  den 
Kranken  sehr  nachtheilige  Complicationen  beobachtet,  so  z.  B.  im 
Charcot'schen  Falle  —  Erabolic  der  Art.  centr.  retinae,  im  Hey  den- 
reich 'sehen  —  Asthmaanfälle  und  Embolie  der  Lungen. 

Nach  den  publicirten  FäUen  zu  urtheilcn,  kann  man  annehmen, 
dass  vollkommene  Heilung  entweder  nie,  oder  nur  äusserst  selten 
beobachtet  worden  ist.  Was  das  Letztere  anlangt,  so  darf  man 
nicht  ausser  Acht  lassen,  dass  eben  sehr  lange  Remissionen  der 
Krankheitserscheinungen  vorkommen. 

Ein  diagnostisch  sehr  wichtiges  Symptom  der  Arteriitis  ob- 
literans,  das  schon  lange  vor  Beginn  der  Gangraen  auftritt,  ist  das 
periodische  Hinken.  Auf  dieses  Symptom  wies  ich  schon  bei 
Besprechung  der  Anamnese  meines  ersten  Falles  hin.  Dasselbe 
ist  auch  in  den  Fällen  von  Weiss,  Lamy  und  Dutil  und  vielen 
Anderen  angeführt.  Nach  den  Worten  von  Lamy  und  Dutil  hat 
Charcot  auf  Grund  dieses  Symptomes  schon  ein  Jahr  vor  Auftreten 
der  Gangraen  auf  die  Möglichkeit  desselben  liingewiesen. 


Ueber  Arteriitis  obliterans  und  ihre  Folgen.  109 

Das  periodisch  auftretende  Lahmen  ist  ein  Symptom,  das  zu- 
erst im  Jahre  1831  von  ßouley  an  Thieren  beobachtet  worden 
und  auf  dessen  Bedeutung  für  die  Medicin  Charcot  im  Jahre  1858 
aufmerksam  machte.  Dasselbe  hat  so  viele  characteristische  Züge, 
dass  man  auf  Grund  desselben  den  Beginn  einer  Arteriitis  obliterans 
diagnosticiren  kann.  Die  Anfälle  werden  während  der  Ruhe  nicht 
beobachtet;  Bewegung  der  unteren  Extremitäten  ruft  zunächst  kein 
Unbehagen  hen'^or.  Fängt  der  Fat.  an  zu  gehen,  so  fühlt  er  an- 
fangs nichts  besonderes;  nach  einiger  Zeit  (2 — 5 — 10  Minuten) 
treten  jedoch  mehr  oder  weniger  heftige  Schmerzen  bald  in  einem, 
bald  in  beiden  Beinen  auf.  Diese  Schmerzen,  die  andauernd  und 
zunehmend  sind,  haben  gewisse  Eigenthümlichkeiten  und  sind  in 
verschiedenen  Fällen  verschieden ;  in  einigen  Fällen  haben  die  Kranken 
ein  unangenehmes  Gefühl  von  Blutandrang  zu  den  unteren  Ex- 
tremitäten, haben  das  Gefühl  von  Schwere  und  Ameisenkriechen, 
in  anderen  Frostgefühl  in  den  unteren  Extremitäten.  Die  Schmerzen 
concentriren  sich  auf  verschiedenen  Stellen,  wie  im  Gesäss,  in  den 
Waden,  am  Oberschenkel.  In  den  Charcot'schen  Fällen  irradiirten 
die  Schmerzen  von  den  Füssen  zum  Penis.  Wird  das  Gehen  fort- 
gesetzt, so  werden  die  Schmerzen  äusserst  heftig,  es  treten  schmerz- 
hafte Krämpfe  in  den  Muskeln  auf,  und  Fat.  ist  gezwungen,  sich 
zu  setzen,  auszuruhen.  Der  Arzt  findet  unter  diesen  Umständen 
bei  der  Untersuchung  des  Kranken  Folgendes:  Die  Muskeln  der 
Extremitäten  befinden  sich  im  Zustande  hochgradiger  Contractur, 
sind  gespannt,  treten  hervor;  die  willkürliche  Bewegung  der  er- 
krankten Extremität  ist  in  der  Gegend  des  Fuss-  und  Kniegelenkes 
beschränkt  und  ziemlich  empfindlich.  Die  Haut  des  Fusses  jist 
blass,  blutarm ;  zu  anderen  Zeiten  erscheinen  die  Extremitäten  mehr 
oder  weniger  cyanotisch;  die  Pulsation  im  Gebiete  der  Art.  tibialis 
ant.  resp.  Art.  dorsalis  pedis  und  der  Art.  tibial.  post.  hinter  dem 
MaUeolus  int.  ist  sehr  schwer,  zuweilen  kaum  fühlbar;  die  Tempe- 
ratur des  betreffenden  Gliedes  ist  deutlich  herabgesetzt.  Die  Sensi- 
bilität der  Zehen,  des  Fusses  und  zuweilen  der  ganzen  Extremität, 
sogar  des  Gefässes,  ist  gleichfalls  herabgesetzt,  wobei  in  einzelnen 
Fällen  nur  eine  leichte  Anaesthesie,  in  anderen  eine  vollkommene 
Analgesie  beobachtet  wird.  2 — 3  Minuten  Ruhe  genügen  jedoch, 
um  diese  Erscheinungen  zum  Schwund  zu  bringen.  Schmerzen, 
Krämpfe   und  Kältegefühl   schwinden   und  Pat.    kann  von  Neuem 


110  A.  A.  Wwedensky, 

anfangen  zu  gehen.  Nach  einigem  Gehen  treten  aber  alle  Er- 
scheinungen von  Neuem  auf,  und  zwar  in  verstärktem  Maasse,  so 
dass  der  Kranke  sogar  gezwungen  wird,  Gehversuche  für  einige 
Zeit  vollständig  aufzugeben. 

Dieses  sind  die  Eigenthüralichkeiten  des  periodischen  Hinkens. 
Jedoch  nicht  immer  erscheint  die  Arteriitis  oblit.  unter  den  eben 
beschriebenen  Symptomen.  In  einigen  Fällen  empfinden  die  Kranken 
während  des  Gehens  nur  Schmerzen,  die  auf  Ruhe  verschwinden, 
es  kommt  nicht  zu  schmerzhaften  Muskelcontractionen  und  Krämpfen. 
Ja,  auch  die  Schmerzen  erscheinen  nicht  immer  unter  dem  gleichen 
Bilde.  Manche  empfinden  solche  erst  nach  andauerndem  Gehen, 
bei  Anderen  treten  sie  schon  nach  wenigen  Schritten  auf.  In  dem 
einen,  wie  in  dem  anderen  Falle  werden  sie  durch  Buhe  gehoben. 
Niemals  klagen  die  Kranken  über  absolute  Bewegungsunmöglichkeit. 
In  anderen  Fällen  treten  zu  den  Schmerzen  quälende  Muskelkrämpfe 
in  den  Extremitäten  hinzu,  besonders  wenn  die  Kranken  trotz  auf- 
tretender Schmerzen:  das  Gehen  fortsetzen. 

Zu  Beginn  der  Erkrankung  wird  das  periodische  Lahmen  selten 
als  ständiges  Symptom  beobachtet;  es  kommen  sehr  lange  Inter- 
valle vor,  in  denen  dasselbe  scheinbar  vollständig  geschwunden  ist 
In  den  späteren  Stadien  der  Arteriitis  obliterans  wird  es  jedoch 
mehr  oder  weniger  beständig.  Schon  nach  kurzdauerndem  Gehen 
treten  alle  beschriebenen  Erscheinungen  —  Schmerzen  und  Krämpfe  — 
auf  und  die  Patienten  sind  gezwungen,  Ruhe  zu  suchen;  zuweilen 
können  sie  kaum  noch  2 — 3  Minuten  gehen.  Ausser  den  Schmerzen 
und  Krämpfen  treten  Bläuung  der  grossen  Zehe  oder  gar  des  ganzen 
Fusses,  starke  Schmerzen  und  Sensibilitätsstörungen  auf.  Alsdann 
werden  die  Bewegungen  erschwert  und  sogar  unmöglich.  Mit  einem 
Worte,  man  kann  sagen,  das  periodische  Lahmen,  als  solches, 
schwindet,  um  einem  anderen  Symptom  der  Arteriitis  obliterans, 
der  Gangrän,  den  Platz  zu  räumen.  Pat.  tritt  in  eine  Periode  nicht 
enden  wollender  Gangrän  und  Amputationen. 

Bisweilen  erscheint  das  periodische  Lahmen  sehr  lange  (5  Jahre) 
vor  Beginn  der  Gangrän  als  wesentliches  Symptom  der  obliterirenden 
Gefässentzündung  der  unteren  Extremitäten  und  stellt  ein  sehr 
wichtiges  Zeichen  zur  frühen  Diagnose  der  Arterienerkrankung  vor. 
Zu  Anfang  der  Erkrankung  sind  die  Anfälle  nicht  sehr  ausgeprägt 
und  es  kann  daher  nicht  Wunder  nehmen,  da&s  diese  Periode  der 


Ueber  Arteriitis  obiiterans  und  ihre  Folgen.  111 

Arteriitis  obiiterans  in  klinischer  Beziehung  zu  manchen  diagnostischen 
Irrtbämem  Veranlassung  geben  kann.  Bezugnehmend  auf  den  Ort 
der  Schmerzen,  ihren  irradiirenden  Character.  werden  sie  häufig  irr- 
thümlicher  Weise  für  rheumatische,  gichtische  oder  neuralgische 
(Ischias)  angesehen:  auf  Grund  dessen  werden  die  Kranken  mit 
Electricitat,  Massage  und  innerer  Darreichung  meist  nutzloser  Arznei- 
mittel bebandelt  und  wird  damit  so  lange  fortgefahren,  bis  deutliche 
Zeichen  des  periodischen  Lahmens  auf  den  richtigen  Weg  führen. 
Leider  wird  dieses  Zeichen  jedoch  von  den  Aerzten  vielfach  über- 
sehen und  der  Kranke  daraufhin  nur  selten  befragt.  Dem  Rathe 
Charcot's  folgend  mag  hier  darauf  hingewiesen  werden,  dass  mehr 
öder  weniger  absolute  und  andauernde  Ruhe  in  einigen  Fällen  das 
einzige  Mittel  zur  Abschwächung  der  Anfälle  des  Lahmens  und  zur 
Verhinderung  der  Gangrän  ist. 

Bis  jetzt  haben  wir  das  pathologisch-anatomische  und  klinische 
Bild  des  Leidens  betrachtet.  Nun  noch  einige  Worte  über  die 
Aetiologie,  Diagnose  und  Behandlung  der  Arteriitis  obiiterans. 

Die  Ursache  der  obliterirenden  Gefässentzündung  ist  bisher 
noch  nicht  ergründet.  Einige  (Heubner,  Nikolsky)  glaubten, 
dieselbe  in  der  Syphilis  finden  zu  müssen,  jedoch  die  meisten 
Autoren,  angefangen  mit  Friedländer  bis  auf  die  neueste  Zeit, 
negiren  den  Einfiuss  des  Lues.  Letztere  sehen  in  Erkältung, 
häufigem  Abkühlen  und  Durchnässen  der  unteren  Extremitäten  fast 
die  einzige  Ursache  der  Arteriitis  obiiterans.  In  der  That  zwingen  die 
Fälle  von  Wolkowitsch,  Fedorow,  Koudratsky,  die  Beobach- 
tungen von  Braun(33),  die  Fälle  von  Galitzky(39),  Michailow(40) 
und  endlich  die  meinigen,  zu  der  Annahme,  dass  unser  rauhes  Klima 
zur  genannten  Krankheit  die  Veranlassung  gebe.  Dem  ist  aber 
nicht  so,  Erkältung  der  unteren  Extremitäten  ruft  an  sich  noch 
nicht  Gefässerkrankung  mit  drauffolgender  Gangrän  hervor.  In 
meinem  ersten  Fall  kam  zur  Erkältung  noch  erhebliche  Verletzung 
hinzu.  Fat.  war,  während  der  Zug  in  Bewegung  war,  aus  dem 
Eisenbahnwagen  gefallen.  Im  2.  Falle  hatte  der  Kranke  2  Jahre 
vor  Auftreten  der  Gangrän  einen  schweren  Flecktyphus  durch- 
gemacht, Dass  ein  Trauma  nicht  nur  der  Extremitäten,  wie  in 
unserem  Falle,  sondern  auch  des  centralen  Nervensystems,  in  der 
That  Gangrän  bedingen  kann,  zeigen  die  Fälle  von  Wischnewsky 
und  Sutkewitsch  (17),  Im  Falle  Wischnewsky's  handelte  es  sich 


112  A.  A.  Wwedensky, 

um  Fractur  des  Schläfenbeins,  auf  welche  symmetrische  Gangrän 
folgte,  die  an  den  Fingerspitzen  ihren  Anfang  nahm  und  von  da 
auf  die  Handwurzel  und  den  Vorderarm  bis  zum  Ellenbogen  f ort- 
schritt. Sutkewitsch  giebt  einen  von  Billroth  beschriebenen  Fall 
wieder,  in  dem  ein  Arbeiter  sich  eine  Fractur  eines  Halswirbel  zuge- 
zogen; nach  einigen  Tagen  stellte  sich  symmetrische  Gangrän  der 
Zehen  ein.  Dass  Flecktyphus  zuweilen  Gangrän  der  Extremitäten  nach 
sich  ziehen  kann,  zeigen  die  Untersuchungen  von  Winogradow  (18) 
aus  dem  Jahre  1878.  Während  des  türkischen  Krieges  herrschte 
eine  Flecktyphusepidemie,  zum  Schluss  derselben  wurde  häufig 
Gangrän,  namentlich  der  unteren  Extremitäten,  angetroffen.  Bei 
der  mikroskopischen  Untersuchung  der  amputirten  Glieder  fand 
Winogradow  Veränderungen  am  Endothel  der  kleinen  Gefässe 
und  Capillaren,  welche  sich  als  Hyperplasie  kundgaben  und  Un- 
durchgängigkeit  der  Gefässe  und  in  Folge  dessen  Störungen  in  der 
Ernährung  bedingten.  Im  Jahre  1887  beschrieb  Tandow  2  Fälle 
von  Gangrän  nach  Typhus.  Ortheschko  beobachtete  häufig  Falle 
von  Gangrän  der  Extremitäten  während  einer  Flecktyphusepidemie 
im  Gefängnisshospital  in  Tomsk. 

Ich  glaube  kaum,  dass  Verletzung  der  Extremitäten,  ihre 
Abkühlung  und  Erkältung  für  die  hauptsächlichsten  ätiologischen 
Momente  dieser  Erkrankung  angesehen  werden  können ;  sie  dürften 
eher  als  Anstoss  zur  schnellen  Entwickelung  einer  schon  lange 
vorher  vorbereiteten  Störung  des  Nerven-  und  Gefässsystems  der 
Extremitäten  aufgefasst  werden.  Wenigstens  muss  man  auf  Grund 
eingehenderen  Studiums  der  Fälle  aus  der  Literatur  und  meiner 
FäUe  auf  diesen  Gedanken  kommen.  In  meinen  beiden  Fällen 
ging  der  Gangrän  Infcction  voraus.  Rheumatismus  in  dem  einen, 
Typhus  in  dem  anderen  Falle.  In  einigen  Fällen  aus  der  Literatur 
finden  wir  dasselbe.  Freilich  trat  die  Gangrän  nicht  in  allen 
Fällen  in  gleicher  Weise  auf;  zuweilen  stellte  sie  sich  unmittelbar 
nach  der  Infection  ein  und  die  Nerven-  und  Gef&ssentzündung 
verlief  rapid,  wie  ein  acuter  Process;  zuweilen  hingegen  wurde 
ein  grosser  Zeitraum  zwischen  Infection  und  Entwickelung  der 
Gangrän  beobachtet,  der  sich  über  Jahre  erstreckte,  mit  anderen 
Worten,  der  Process  trug  einen  chronischen  Character.  In  diesem 
Falle  handelt  es  sich  nicht  nur  um  eine  Arteriitis  obliterans  der 
Vasa  vasorum    und  überhaupt  der  kleinen  Gefässe  und  Capillaren 


üeber  Arteriitis  obliterans  und  ihre  Folgen.  113 

(Heubner,  Winogradow  und  Rachmauinoff),  sondern  auch 
der  mittleren  und  grösseren  Arterien-  und  Venenstämme  (Fried- 
länder,  Winiwarter). 

Auf  Grund  des  Angeführten  glaube  ich,  dass  in  der  Aetiologie 
der  Gangrän  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  verschiedenen  Einflüssen, 
vor  Allem  einer  Mischinfection :  Erkältung  der  Extremitäten,  ihre 
häufige  Abkühlung,  Durchnässung  der  Füsse  —  das  sind  die 
Ursachen  der  Erkrankung  der  Gefässe,  die  z.  Th.  schon  durch  die 
vorangegangene  Infection  (Malaria,  Typhus,  Rheumatismus)  ver- 
ändert worden  sind. 

Ich  wende  mich  nun  zu  der  Frage,  ob  nur  die  obliterirende 
Grefässentzündung  die  Gangrän  der  Extremitäten  bedingt  oder  ob 
an  letzterer  sich  auch  andere  Organe,  wie  das  Nervensystem, 
betheiligen.  Auf  Grund  meiner  und  der  Fälle  anderer  Autoren, 
glaube  ich  die  Antwort  in  bejahendem  Sinne  geben  zu  müssen; 
auf  Grund  der  mikroskopischen  Untersuchung  der  Gefässe  und 
Nerven  in  meinen  beiden  Fällen  und  der  gleichen  Untersuchungen 
in  den  Fällen  von  Dutil  und  Lamy,  Murawjew  und  Fedorow, 
Nikolsky  und  Lawkowsky,  Pitres  und  Vaillard  (37),  behaupte 
ich,  dass  zum  Entstehen  der  Gangrän  unbedingt  eine 
Affection  der  Gefässe,  als  auch  des  nervösen  Apparates 
der  Extremitäten  zugestanden  werden  muss  und  dass  es 
Fälle  giebt,  in  denen  die  Erkrankung  der  Nerven  in  den  Vorder- 
grund tritt,  während  die  Arteriitis  obliterans  nur  an  den  kleinsten 
Gefässen  und  Capillaren  beobachtet  wird.  Das  Studium  solcher 
Fälle  fahrt  uns  unwillkürlich  zu  dem  Gedanken,  dass  an  dem 
Entstehen  der  Gangrän  weniger  die  Arteriitis  obliterans,  als  die 
Neuritis  degenerativa  Schuld  trage,  wie  ich  schon  auf  dem  Congress 
russischer  Aerzte  in  Moskau  1891  betont  habe. 

Freilich  fällt  es  dem  Arzte  nicht  leicht  sich  von  einer  ein- 
gewurzelten Anschauung  loszumachen,  namentlich  wenn  sie  durch 
eine  Reihe  von  Beobachtungen  unterstützt  wird.  Heubner,  Fried- 
länder, Winiwarter,  Winogradow  u.  A.  fanden  bei  der 
mikroskopischen  Untersuchung  stets  deutliche  Veränderungen  an 
den  Gefässen  und  schrieben  diesen  natürlich  die  Hauptrolle  bei 
der  Entwickelung  der  Gangrän  zu.  Die  Beobachter  nach  ihnen 
suchten  und  fanden  natürlich  dasselbe.  Daher  bürgerte  sich 
natürlicher  Weise   die  Ansicht   von   der  Entstehung    der  Gangrän 

ArohiT  ftr  kHo.  Ghirnrgie.    57.  Bd.    Heft  1.  g 


114  A.  A.  Wwedensky, 

auf  Grund  der  Gefässveränderung  vollkommen  ein.  Die  Anschauung 
von  der  Entstehung  der  Gangrän  auf  nervöser  Grundlage  hingegen 
kam  entweder  Niemandem  in  den  Sinn  oder  aber  wurde  für 
unwahrscheinlich  erachtet.  Die  meisten  Autoren,  die  sich  mit  der 
Untersuchung  der  Gangrän  befassten,  hielten  es  nicht  der  Mühe 
werth,  gleichzeitig  mit  der  mikroskopischen  Untersuchung  der 
Gefässe,  auch  die  der  Nerven  vorzunehmen. 

So  ist  in  den  ausführlichen  und  fleissigen  Arbeiten  von 
Wolkowitsch,  Koudratsky,  Zoege  von  Manteuffel,  Weiss 
der  Betheiligung  der  Nerven  nur  nebenbei  oder  auch  gar  nicht 
Erwähnung  gethan.  Und  doch  bin  ich  fest  davon  überzeugt,  dass 
es  keinen  Fall  von  Gangrän  giebt,  wo  nicht  neben  der  Arteriitis 
obliterans  gleichzeitig  auch  Veränderungen  an  den  Nerven  der 
betr.  Extremität  vorlägen.  Nur  unter  der  Annahme  einer  gleich- 
zeitigen Erkrankung  der  Gefässe  und  Nennen  können  wir  uns  die 
verschiedenen  klinischen  Symptome  bei  dieser  Kranklieit  erklären, 
wie  z.  B.  die  bald  mehr,  bald  weniger  deutlich  hervortretenden 
Schmerzen,  die  ständige  oder  vorübergehende  Cyanose  und  Ver- 
taubung  der  Extremitäten,  die  Muskelkrämpfe  und  die  verschiedenen 
trophischen  Störungen  der  Haut.  Endlich  kann  man  auch  nur 
unter  der  Annahme  einer  nervösen  Störung  die  auffallenden  Re- 
sultate verstehen,  die  im  Beginn  der  Erkrankung  durch  electrische 
Behandlung  erzielt  wurden.  In  dieser  Beziehung  sind  folgende 
Fälle  von  Morosow^  (43),  Spischarsky  (22)  und  Djakokow  (42) 
sehr  lehrreich.  — 

In  dem  Falle  Morosow's  handelte  es  sich  um  einen  40jährigen 
Obristen,  der  sich  im  russisch-türkischen  Kriege  die  2.,  3.  und 
4.  Zehe  des  rechten  Fusses  erfroren  hatte.-  AUes  verging  ohne 
weitere  Folgen,  nur  an  der  4.  Zehe  blieb  eine  besondere  Empfind- 
lichkeit gegen  Kälte  zurück.  15  Jahre  hindurch  fühlte  sich  Patient 
vollkommen  gesund.  Im  October  1892  trat  ihm  ein  Pferd  auf  den 
rechten  Fuss;  darauf  entwickelte  sich  an  der  4.  Zehe  ein  Geschwür 
und  es  traten  sehr  starke  Schmerzen  auf.  Es  wurde  Endarteriitis 
diagnosticiil.  Jegliche  Behandlung  erwies  sich  als  erfolglos.  Moroso  w 
exarticulirte  die  4.  Zehe.  Die  Schmerzen  bestanden  fort,  die 
Gangrän  schritt  weiter.  Es  wurde  Amputation  des  Unter-  resp. 
Oberschenkels  vorgeschlagen.  Zu  einer  Operation  kam  es  jedoch 
nicht.     Nach  Consultation  mit  Sikorsky  entschloss  man  sich  zur 


üeber  Arteriitis  obliterans  und  ihre  Folgen.  115 

Anwendung  electrischer  Wannen.  Alsbald  Hessen  die 
Schmerzen  nach  und  nach  60  Sitzungen  bedeckte  sich 
die  Wunde  mit  einem  Schorf.    Patient  genas. 

Im  Falle  von  Spischarsky  handelte  es  sich  um  eine  52jährige 
Frau,  bei  der  ohne  greifbare  Ursache  vor  3  Jahren  an  der  Basis  der 
Mittelzehe  am  Fussrücken  des  rechten  Fusses  ein  Geschwür  ent- 
standen war.  An  dieser  Stelle  waren  dem  Greschwür  etliche 
Wochen  Schmerzen  vorangegangen,  die  auf  Morphiumgebrauch 
nicht  schwanden.  Trotz  der  verschiedenartigsten  Behandlung  nahm 
das  Geschwür  an  Umfang  und  Tiefe  zu.  Energische  antisyphilitische 
Behandlung  (Pjatigorsk)  blieb  erfolglos,  ebenso  Auskratzen  des 
Geschwürs.  Nach  Consultation  mit  Scherwinsky  und  Roth 
wurden  electrische  Wannen,  darauf  Massage  verordnet.  Nach 
60  Sitzungen  begann  Yemarbung  des  Geschwürs  und  in  3  Monaten 
heilte  das  Geschwür  vollständig.  Patient  ist  bis  jetzt  gesund. 
Die  zu  Beginn  der  Electrisation  kaum  pulsirende  Art.  dorsal,  pedis 
pulsirte  nach  Beendigung  der  Behandlung  gut. 

Der  Fall  Djakokow's  behandelt  einen  60jährigen  Gymnasial- 
lehrer mit  deutlich  ausgesprochener  Arteriosclerose  und  beginnender 
Gangrän  an  der  grossen  Zehe  des  linken  Fusses.  Oedem  des 
Unter-  und  Oberschenkels.  Patient  litt  an  sehr  starken  Schmerzen, 
die  ihm  den  Schlaf  raubten.  Der  AUgemeinzustand  war  schlecht. 
Die  Krankheit  dauert  schon  einige  Monate  und  weicht  keiner 
Behandlung.  Djakokow  verordnete  electrische  Bäder.  Die  Be- 
handlung war  entschieden  nutzbringend;  freilich  war  eine  grosse 
Zahl  von  Sitzungen  erforderlich.  Die  Gangrän  beschränkte  sich 
auf  einen  kleinen  Theil  der  Zehe.  Das  Oedem  wurde  geringer 
und  die  quälenden  Schmerzen  Messen  vollkommen  nach.  Der 
Patient  konnte  seiner  Beschäftigung  wieder  nachgehen. 

Bobrow  (41)  nimmt  an,  dass  die  Gangrän  sowohl  von  einer 
Nerven-  als  auch  einer  Gefässveränderung  ausgehen  kann.  „Es 
giebt",  sagt  er,  „Fälle  von  Gangrän  auf  rein  nervöser  Grundlage. 
Ich  hatte  einen  Fall  von  Gangrän  nach  Verletzung  des  N.  ischi- 
adicus  durch  einen  Erdsturz;  das  grosse  Geschwür  am  Fussrücken 
war  schmerzlos,  die  Arterien  waren  normal."  Wie  mir  scheinen 
will,  giebt  es  keine  Fälle  von  Gangrän,  in  denen  nicht  neben  der 
Arterntis  obliterans  auch  eine  Aflfection  der  Nerven  zu  Tage  tritt. 
Anders   liegt  jedoch    die  Frage    danach,    ob  die  Nerven    oder  die 

8* 


116  A.  A.  Wwedensky, 

Gefässe  zuerst  erkranken  und  es  ist  schon  möglich,  dass  sie  nicht 
gleichzeitig  afficirt  werden. 

Das  Mikroskop  giebt  uns  in  Bezug  hierauf  bis  jetzt  noch  keine 
sichere  Antwort.  Ob  das  Experiment  diese  Frage  lösen  wird,  muss 
die  Zukunft  entscheiden.  Jedenfalls  ist  die  Frage  höchst  wichtig 
und  interessant. 

Bei  der  Diagnose  der  Arteriitis  obliterans  muss  man  stets 
Rheumatismus  im  Auge  haben,  da  dieser  am  häufigsten  zur  Ver- 
wechselung Anlass  giebt.  In  Anbetracht  des  periodischen  Lahmens, 
des  Kältegefühles  in  den  Zehen  resp.  Fingern,  der  Veitaubung 
der  Extremitäten,  des  fieberhaften  Verlaufs,  der  ausgesprochenen 
Schmerzen  in  den  Extremitäten  ohne  Affection  der  Knochen  und 
Gelenke,  der  abgeschwächten  Pulse  an  den  entsprechenden  Extre- 
mitäten und  der  beginnenden  Gangränescenz  an  den  Zehen  resp. 
Fingern,  namentlich  dieses  letzten  Symptomes,  darf  die  Diagnose 
jedoch  keine  Schwierigkeiten  bieten.  Ich  werde  mich  nicht 
bei  der  Differentialdiagnose  aufhalten,  das  würde  uns  zu  weit 
führen,  da  eine  ganze  Reilie  chronischer  Krankheiten  aufgeführt 
werden  müsste,  wie  Syphilis,  gonorrhoischer  Rheumatismus,  chro- 
nische Muskel-  und  Knochenerkrankungen,  Neuralgien  verschiedener 
Art  u.  s.  w. 

Bezüglich  der  Behandlung  nur  noch  einige  Worte.  Mit 
Charcot  muss  den  Kranken  Ruhe  empfohlen  werden.  In 
der  Electricität,  in  Form  von  electrischen  Wannen  angewandt, 
haben  wir,  nach  den  Versuchen  von  Morosow,  Spischarsky 
und  Djakokow  zu  urtheilen,  ein  mächtiges  Mittel,  welches  nicht 
nur,  nach  den  angeführten  Beobachtungen,  den  Process  zum  Still- 
stand bringen,  sondeni  auch  vollständige  Heilung  erzielen  kann, 
namentlich,  wenn  die  Krankheit  noch  nicht  weit  vorgeschritten  ist. 
Natürlich,  wenn  die  Gangrän  schon  grössere  Abschnitte  des  Fusses 
und  des  Unterschenkels  ergriffen  hat  und  Demarkationslinien  sich 
bemerkbar  machen,  ist  entschieden  die  Amputation  in  verschiedener 
Höhe  in  Abhängigkeit  vom  einzelnen  Falle  am  Platze. 


lieber  Arteriitis  obliterans  und  ihre  Folgen.  117 

Literatur. 

l)Jaesche,G.   Archiv  f.  klin.  Chirurg.    Bd.  6.    1864.    S.  694— 711. 

—  2)  Wolkowitsch,  N.  M.  Chirurg.  Westnik.  1890.  S.  411—447.  —  3) 
Zoege  V.  Manteuffel,  Arch.  f.  klin.  Chirurg.  Bd.  XLII.   1891.  S.  567—574. 

—  4)  Derselbe.  Ebendas.  Bd.  XLV.  1892.  S.  221—226.  —  5)  Nikolsky, 
N.,  und  Laurowsky,  V.    Chirurg.  Letopisz.    Buch  5.    1892.    S.  637—652. 

—  6)  Pedoroff,  S.  P.  Ibidem.  Buch  6.  1894.  p.  957— 966.  —  7)  Weiss, 
Deutsche  Zeitschrift  f.  Chirurgie.  1894.  S.  1—42.  —  8)  Rachmaninoff, 
J.  M*,  Medic.  Rundschau.  1891.  No.  10.  S.  918—947.  —  9)  Murawieff, 
Ebendaselbst.  1895.  No.  16.  S.  315—324.  —  10)  Charcot,  Society  de  bio- 
logie.  1858,  Cit.  nach  Dutil  et  Lamy.  p.  114.  —  11)  Dutil,  A.,  et  Lamy, 
H.,  Archives  de  m^decine  exp^rimentale.  T.  V.  1893.  p.  102—120.  —  12) 
Friedländer,  Carl,  Centralbl.  f.  d.  medioin.  Wissenschaft.  1876.  No.  4. 
S.  64—70.  —  13)  V.  Winiwarter,  Felix.  Arch.  f.  klin.  Chirurg.  Bd.  XXIII. 
1878.  S.  201—226.  —  14)  Wwedensky,  A.  A.  Letopisz  d.  Chirurg.  Gesell- 
schaft in  Moskau.  1890.  Bd.  IX.  S.  178—201.  —  15)  Derselbe,  Die  Arbeit. 
d.  IV.  Congresses  russisch.  Aerzte  in  Moskau,  Chirurg.  Abtheil.  1892.  —  16) 
Wiscbnewsky.  Ebendaselbst.  S.  495.  —  17)  Sutkewitsch.  Ebendaselbst. 
S.  497.  —  18)  Winogradow,  Med.  Westnik.  1878.  No.  43,  44.  —  19)  Tan- 
doff.    Die  Arbeiten  d.  IV.  Congr.  russisch.  Aerzte  in  Moskau.    1892.  S.  495. 

—  20)  Studensky,  Botkin's  klin.  Zeitung.  1882.  No.  1,  2.  —  21)  Kon- 
daratzky.  Letopisz  russ.  Chirurg.  Buch  6.  1896.  —  22)  Spischarny,  J.  K. 
Ibidem.  S.  1066.  —  23)  Sinitzin,  F.  J.  Die  Arbeiten  d.  IV.  Congr.  russ. 
Aerzte  in  Moskau.  1892.  S.  495.  —  24)  Sklifassowsky,  Ebendaselbst.  — 
25)  Trojanoff,  A.  A.  Ebendaselbst.  —  26)  Morosoff,  P.  J.,  Cit.  nach 
Spischarny.  —  27)  Hadden.  Lancet.  1888.  S.  268.  —  28)  Burowjun. 
Berlin,  klin.  Wochenschr.  1883.  S.  507.  —  29)  Baumgarten,  Ebendaselbst. 

—  30)  Will,  Ebendaselbst.  1886.  S.  268.  —  31)  RiedeL  Centr.  f.  Chirurg. 
1888.  S.  554.  —  32)  Widcnmann,  Beiträge  zur  klin.  Chirurgie.  Bd.  IX. 
Heft  1.  1892.  S.  218.  —  33)  Bram,  Verhandlungen  d.  deutsch.  Gesellschaft 
f.  Chirurg.  Bd.  XX.  S.  166.  —  34)  Israel.  Berl.  klin.  Wochenschr.  1882. 
S.  705.  —  35)Heubner,  Die  luetische  Erkrankung  der  Hirnarterien.  Leipzig. 
1874.  —  36)  Lotin,  Bolnitschas  gazeta  Botkina.  1895.  24.  Octob.  —  37) 
Pitres  et  Vaillard,  Arch.  de  physiologie.  1885.  p.  106.  —  38)  Joffroy 
et  Achard,  Arch.  de  mid.  exp^rim.  1889.  p.  229.  —  39)  Galitzky,  J.  P. 
Wratscbebnia  sapisky.  1895.  No.  9.  —  40)  Michajloff,  N.  A.  Ibid.  No.  12. 
~  41)  Bobrow,  A.  A.,  Letopisz  d.  chlrurg.  Gesellschaft  in  Moskau.  1896. 
Bd.  XV.  No.  4.  S.  269.  —  42)  Djakonoff,  P.  J.  Ebendaselbst,  S.  219—220. 

—  43)  Moros  off,  P.  J.  Die  Arbeiten  d.  V.  Congresses  d.  Aerzte  in  Peters- 
borg. —  44)  Podwisotzky,  W.  W.  Die  Grundlage  d.  chirurg.  Pathologie. 
1894.  S.  425—434.  —  45)  Tillmanns,  Die  allgemeine  chirurg.  Pathologie 
and  Therapie. 


V. 

lieber  operative  Versuche,  die  pathologische 
Schulterstellung  bei  Dystrophia  musculorum 

progrediens  zu  verbessern. 

Von 

Prof«  Dr.  A.  Freiherr  ¥011  WSmelfsiherg^ 

(Königsberg  in  Pr.) 

(Ißt  6  Figuren.) 


Unter  den  zahlreichen  Beschwerden,  welche  die  Dystrophia 
nauscul.  progred.  mit  sich  bringt,  ist  die  pathologische  Stellung 
der  Schulter  dann  besonders  lästig,  wenn  in  Folge  von  Lähmung 
des  Muse.  cucuUaris  die  beiden  Scapulae  flügelartig  vom  Thorax 
abstehen.  Da  es  völlig  unmöglich  ist,  durch  irgend  ein  thera- 
peutisches Verfahren  den  Zustand  der  Muskeln  zu  verbessern  und 
auch  eine  Muskeltransplantation  (Nicoladon i)  kaum  durchführbar 
sein  wird,  kann  von  einer  Heilung  dieser  Krankheit  keine  Rede  sein. 

Verbesserung  der  gestörten  Function  kann  höchstens  durch 
einen  Verband  oder  ein  Mieder  erzielt  werden,  wodurch  die  beiden 
abstehenden  Scapulae  an  den  Thorax  angedrückt  und  ausserdem 
ihre  äusseren  Ränder  gehoben  werden.  Derartige  Verbände  wurden 
schon  wiederholt  empfohlen  und  mit  Erfolg  angewendet;  doch  kommt 
dieselbe  Schwierigkeit  in  Betracht,  die  so  häufig  der  Application 
von  Bandagen  und  Prothesen  hinderlich  ist:  der  Verband  hält  nur 
einige  Zeit  hindurch  gut  und  muss  bald  durch  einen  neuen  ersetzt 
werden.  Bei  armen  Patienten  spielt  der  Kostenpunkt  aller  Apparate 
eine  wesentliche  Rolle.  Weiter  ist  ein  nur  einigermaassen  fester 
Verband  auch  schwer,  wodurch  die  an  und  für  sich  schon  ge- 
schädigten Muskeln  zu  stark  in  Anspruch  genommen  werden. 


Operative  Versuche,  die  pathologische  Schulterstellung  zu  verbessern.        119 

Es  lag  daher  nahe,  auf  operativem  Wege  eine  Fixation  der 
Scapola  in  richtiger  Stellung  zu  versuchen.  Natürlich  schien  von 
vornherein  nur  ein  solcher  Fall  zu  einem  operativen  Eingriffe  geeignet, 
in  welchem  derProcess  langsam  fortschreitet. 

Ceber  zwei  einschlägige  Fälle  und  die  durch  verschiedene 
Eingriffe  dabei  erzielten  Erfolge  resp.  Misserfolge  soll  im  Nach- 
folgenden kurz  berichtet  werden,  da  ich  glaube,  dass  die  dabei  ge- 
machten Erfahrungen  in  ähnlichen  Fällen  verwerthet  werden  können. 

Fall  I.  20jährige  Kaufmannstochter  aus  Kowno  in  Russland  hatte  in 
frühester  Jugend  Scharlach  und  Masern  durchgemacht  und  erkrankte  im 
8.  Lebensjahr  zum  ersten,  im  14.  Jahre  zum  zweiten  Male  an  Typhus.  Die 
zweite  Erkrankung  war  eine  sehr  milde  und  dauerte  nur  kurze  Zeit;  nach 
3  Wochen  war  das  Mädchen  fast  ganz  hergestellt.  Im  Laufe  der  2.  Krank- 
heitswoche bemerkte  die  Pat.,  als  sie  eines  Morgens  erwachte,  eine  Schwäche 
der  rechten  Schulter,  so  dass  sie  ihren  Arm  nicht  mehr  wie  sonst  heben,  wohl 
aber  mit  der  Hand  alle  Bewegungen  ausführen  konnte.  Bald  zeigte  sich  eine 
gleiche  Schwäche  links.  Die  Schultergegend  und  die  beiden  Oberarme  magerten 
ab,  beide  Schultern  sanken  herab  und  konnten  activ  nur  mit  Mühe  bis  zur 
Horizontalen  gehoben  werden. 

Pat.  war  im  Jahre  1891  zum  ersten  Male  und  dann  noch  wiederholt  in 
der  medicinischen  Klinik  in  Behandlung.  Ich  verdanke  der  Freundlichkeit  des 
Collegen  Lichtheim  die  Einsicht  in  die  klinischen  Krankenprotocolle. 

Beim  Aufenthalt  an  der  medicinischen  Klinik  im  Jahre  1891  fällt  bei  der 
Pat.  ein  eigenthümlicher  Gesichtsausdruck  auf  (hebetudo  visus).  Die  Lippen 
sind  dick,  beim  Versuch  zu  pfeifen  contrahirt  sich  die  Musculatur  in  perverser 
Weise  (l^vre  du  tapir).  Der  Lidschluss  ist  unvollkommen.  Beide  Scapulae, 
besonders  die  rechte,  stehen  flügelartig  vom  Thorax  ab.  Bei  Bewegongsver- 
snchen  zeigt  sich,  dass  der  Oucullaris  rechts  defect  sein  muss;  be- 
sonders die  mittlere  Portion  desselben,  welche  die  Scapula  an 
die  Wirbelsäule  heftet,  functionirt  nur  wenig,  während  der  obere 
Theil,  der  das  Heben  der  Schulter  bewirkt,  ziemlich  intact  ist.  Dadurch  stehen 
die  Scapulae  tief  und  vom  Thorax  ab.  Vor  allem  sind  sie  um  eine  sagittale 
Axe  gedreht,  in  der  Art,  dass  die  unteren  Scapulawinkel  sich  einander  nähern 
(mouvement  du  bascule).  Auf  der  linken  Seite  ist  die  Erkrankung  weniger 
ausgeprägt.  Die  M.  seiratus  anticus,  supraspinatus,  cuculiaris,  pectoralis 
m^yor,  triceps  sind  leicht  atrophisch.  Bei  der  electrisohen  Prüfung  erweist  es 
sich,  dass  diese  Muskeln  prompt  reagrren  und  nirgends  Entartungsreaction 
besteht.  Die  Sensibilität  ist  normal.  —  Obwohl  die  Angabe  der  Pat.  dahin 
ging,  die  Störung  sei  plötzlich  während  des  Typhus  aufgetreten,  wurde  doch 
von  Prof.  Lichtheim  mit  Rücksicht  auf  die  typische  Localisation  der  Miiskel- 
atrophie  auf  die  Schulter  und  die  mimische  Musculatur  eine  juvenile  Form 
der  progressiven  Muskelatrophie  (Type  Ddjörine-Landouzy)  diagnosticirt. 

Als  die  Pat.  4  Jahre   später  mit  Diphtheritis  zum   zweiten  Male  in  die 


120 


Dr.  A.  Freih.  von  Eiseisberg, 


medicinische'  Klinik  kam,  konnte  nur  eine  geringe  Zunahme  der  Schwäche 
im  linken  Arme  wahrgenommen  werden.  Damit  stimmte  eine  stärkere  Atrophie 
der  betreifenden  Schultermnskeln  überein. 

Derselbe  Befund  wurde  bei  der  Aufnahme  ein  Jahr  später  constatirt; 
wiederum  hatte  die  Atrophie  nur  um  etwas  weniges  zugenommen.  Speciell  die 
Erkrankung  der  linken  Schulter  schien  keine  Fortschritte  gemacht  zu  haben, 
während  die  bei  der  letzten  Aufnahme  noch  leichte  Erkrankung  der  rechten 
Schulter  sich  verschlimmert  hatte,  so  dass  der  Unterschied  zwischen  rechter 

Fig.  1. 


und  linker  Schulter  fast  verwischt  war.  Um  die  Stellung  der  Schulter  zu  ver- 
bessern, wurde  die  Kranke  der  chirurgischen  Klinik  überwiesen  (Mai  1896). 
Bei  der  im  Mai  1896  an  der  chirurgischen  Klinik  erfolgten  Aufnahme  fiel  nebst 
der  oben  erwähnten  Steifheit  des  Mundes  am  meisten  die  Stellung  der  beiden 
Schulterblätter  auf,  welche  flügelartig  vom  Thorax  abstanden,  wie  es  einer 
Cucullarislähmung  entspricht  (Fig.  1).  Aufgefordert  die  Arme  zu  heben,  machte 
die  Fat.  starke  Lordose  und  erhob  die  Stemoclavicular-Gelenke,  während  die 


Operative  Versuche,  die  pathologische  Schulterstellung  zu  verbessern.       121 

active  Hebung  im  Schultergelenke  nicht  über  10^  möglich  war. 
Beide  Schultergelenke  schienen  fast  gleich  von  diesem  Uebel  befallen  zu  sein. 
Fixirte  man  die  Schulter  in  der  Weise,  dass  die  inneren  Ränder  der  Scapulae 
sich  berührten,  dann  konnten  sie  activ  bis  zur  Horizontalen  gehoben  werden; 
doch  die  Arme  ermüdeten  bald  und  sanken  herab.  Die  Pat.,  w^elche  durch  die 
Schwäche  und  die  Unfähigkeit,  den  Arm  in  den  Schultern  zu  heben,  besonders 
belästigt  war,  wünschte  dringend  eine  Abhülfe  gegen  dieses  Leiden. 

Es  wurde  zunächst  am  4.  5.  96  ein  Gipscorset  zwecks  Fixation  der 
Scapulae  angelegt,  so  dass  sich  die  inneren  Ränder  derselben  berührten.  Die 
Pat.  konnte  wohl  activ  den  Oberarm  in  der  Schulter  bis  fast  zur  Horizontalen 
heben,  doch  behauptete  sie,  das  Corset  nicht  vertragen  zu  können,  weshalb 
eine  Vemähung  der  beiden  medialen  Scapularänder  geplant  wurde. 

Operation  am  10.  5.  %  in  Narkose  (Billroth 'sehe  Mischung).  Durch 
einen  zungenformigen  Lappen  mit  oberer  Basis  wurden  beide  unteren  Hälften 
der  medialen  Scapularänder  freigemacht,  hierauf  angefrischt  und  mittelst 
4  Silbemähten  exact  genäht. 

Die  Operation,  welche  bei  Leichenversuchen  keinerlei  Schwierigkeiten 
dargeboten  hatte,  erwies  sich  als  recht  mühsam,  leider  musste  wegen  zu  starker 
Spannung  auf  eine  Vernähung  der  oberen  Hälften  der  Scapula-Ränder  ver- 
zichtet werden.  Die  tiefe  Wunde  wurde  zur  Vorsicht  drainirt. 

Der  Wundverlauf  war  nicht  reactionslos,  insofern,  als  unter  Fieber  eine 
starke  Eiterung  aus  dem  Drain  auftrat.  Auch  eine  Angina,  sowie  ein  hart- 
näckiges Ekzem  complicirten  den  Verlauf.  Endlich  kam  es  zu  einer  festen, 
fast  knöchernen  Vereinigung.  Die  Heilung  erfolgte  nun  sehr  langsam.  Die 
Kranke  konnte  bei  ihrer  am  30.  7.  erfolgten  Entlassung  den  Oberarm  activ  bis 
ca.  65^  im  Schultergel^nk  abducirten  und  war  mit  Ihrem  Zustande  entschieden 
zufriedener  als  zuvor. 

Da  jedoch  die  Wunde  nicht  ganz  heilen  wollte,  kam  die  Pat.  im  October 
1896  abermals  an  die  Klinik.  Sie  konnte  activ  beide  Arme  in  der  Schulter  auf 
65^  eleviren.  Ein  weiteres  Heben  scheiterte  an  dem  Umstände,  dass  die  beiden 
Scapulae  bloss  entsprechend  ihrer  untersten  Hallten  an  einander  fixirt  waren, 
also  ihre  Axen  nach  unten  zu  convergirten.  Drückte  man  mittelst  beider  aufge- 
legten Hände  die  mediale  obere  Hälfte  ihrer  Ränder  an  einander,  wobei  man 
das  Gefühl  hatte,  dass  die  beiden  Scapulae  sich  an  ihrer  Verwachsungsstelle 
federnd  gegen  einander  verschoben,  so  war  sofort  active  Elevation  bis  zu 
einem  rechten  Winkel  möglich.  Immer  wieder  bedauerte  ich,  dass  es  bei 
der  Operation  nicht  möglich  gewesen  war,  die  oberen  Scapulahälften  zu  ver- 
einigen. Am  Rücken  zeigte  sich  in  der  Mitte  der  strahligen  Narbe  eine  zehn- 
pfennigstückgrosse  Ulceration.  Als  Ursache  derselben  musste  ein  Silberdraht 
angenommen  werden,  und  in  der  That  fand  sich  bei  der  daraufhin  in  Narkose 
aniemommenen  Operation  (17.  10.  96)  in  der  Tiefe  des  Decubitus  eine  Silber- 
drahtnaht vor.  Dieselbe  wurde  entfernt.  Eine  fast  knochenharte  Brücke  war 
zwischen  beiden  Scapulae  vorhanden.  Durch  Entspannungsschnitte  wurde  die 
Hautwunde  zur  Vereinigung  gebracht.  Die  Heilung  erfolgte  per  granulationem. 

Am  25.  5.  97  wurde  die  Pat.  wieder  aufgenommen,  da  sie  über  Schmerzen 


122 


Dr.  A.  Freih.  von  Eiseisberg, 


in  der  linken  Schulter  klagte.  Die  Glavicula  war  immer  mehr  und  mehr  nach 
hinten  za  gedrängt  worden,  so  dass  Compressionserscheinangen  von  Seiten  des 
Plexus  (Gyanose),  ferner  Kaltsein  der  Hände,  Ameisenlaufen  and  Herabsetzung 
der  rohen  Kraft  sich  einstellten.  Diese  Erscheinungen  wechselten  in  der 
letzten  Zeit.  Das  Anssehen  war  schlechter  als  das  letzte  Mal.  Die  Atrophie 
hatte  keine  Fortschritte  gemacht.  Electrischer  Status  unverändert.  Hingegen 
war  die  Stellung  der  Schultern  insofern  yerschlimmert,  als  der  ursprünglich 
spitze  Winkel,  welchen  beide  Medialränder  der  Scapulae  mit  einander 
bildeten,  in  einen  stumpfen  umgewandelt  war  (Figur  2),  so  dass  die 
beiden  Scapulae  noch  mehr  um  eine  anteroposteriore  Axe  gesunken  erschienen, 
und  ihre  äusseren  Ränder  fast  horizontal  zu  liegen  kamen.  Dadurch  schien 
der  Schultergürtel  nach  hinten  und  unten  gesunken.  Gleichzeitig  waren  aber 
die  Scapulae  in  dieser  Stellung  vom  Thorax  abgehebelt,  und  um  eine  frontale 
Axe  derart  gedreht,  dass  oberhalb  der  festen  Brücke,  welche  die  beiden  Scapulae- 
winkel  verband,  eine  tiefe  Hauttasche  entstand.  Diese  Verschlimmerung  der 
Stellung  war  wohl  durch  die  Wirkung  der  Schwere  und  die  Fixation  der  Sca- 

Fig.  2. 


pulaspitzen  bedingt,  indem  die  geschwächten  Muskeln  nicht  mehr  im  Stande 
waren,  die  heruntersinkenden  Schulterblätter  aufzuhalten.  Die  Arme  hingen 
etwas  vom  Thorax  ab.  Ein  versuchshalber  angelegter  Heftpflasterverband  ver- 
besserte die  Function  etwas. 

Da  durch  die  bisherige  Operation  nur  eine  geringe  Verbesserung  erzielt 
war,  ja  sogar  Schmerzen  in  der  Narbe  hinzugekommen  waren,  wurde  noch  ein- 
mal dem  Drängen  der  Fat.,  durch  eine  Operation  eine  Verbesserung  zu  ver- 
suchen, nachgegeben,  und  dies  um  so  leichter,  als  es  klar  geworden  war,  dass 
seinerzeit  die  Vereinigung  der  beiden  oberen  Hälften  entschieden  zweckmässiger 
gewesen  wäre. 

Am  21.  6.  97  wurde  in  Narkose  durch  einen  Lappenschnitt  mit  oberer 
Basis  der  obere  innere  Rand  der  Scapulae  frei  präparirt  und  mittelst  Messer 
angefrischt.  Hierauf  wurden  3  Paar  Bohrlöcher  am  Rande  angelegt  und  durch 
dieselben  je  ein  starker  Silberdraht  gelegt  (Fig.  3).  Die  feste  Brücke  wurde 
mittelst  Bajonettschnittes  durch  trennt.  Die  Nähte  wurden  geknüpft.  Die  alten 
Silberdrähte  zeigten  sich  reactionslos  und  wurden  entfernt.  Die  beiden  durch 
den  Bajonettschnitt  gebildeten  Knochenlappen,  entsprechend  der  Spitze  der 


Op6rati?e  Versuche,  die  pathologische  SchuUerstellung  za  verbessern.       123 

Scapolae  wurden  an  ihrer  Basis  eingeknickt  und  mit  ihrer  Wnndfläche  an  ein- 
ander gelegt,  so  dass  nunmehr  die  beiden  Scapulae  anfgerichtet  waren  und 
ihrem  ganzen  medialen  Rande  entsprechend  exact  an  einander  lagen  (Fig.  4). 
Nachdem  die  Haut  ohne  Drainage  vernäht  war,  wurde  ein  Gipsverband 
angelegt.  Der  Wundverlauf  war  reactionslos.  Anfangs  bereitete  der  Gips- 
verband viel  Unbehagen.  Nach  14  Tagen  erwies  sich  die  Wunde  verheilt,  auch 
die  Scapulae  schienen  knöchern  verwachsen.  Nach  Abnahme  des  Verbandes 
trat  bald  Ameisenlaufen  und  Schmerzen  im  rechten  Arme  von  der  Schulter  ab- 


Fig.  3. 


Fig.  4. 


wärts  ein,  welches  besonders  im  rechten  Arm  stärker  wurde,  so  dass  die 
Hand  kalt  und  blau  ward ;  die  rechte  Clavicula  war  durch  die  jetzige  Fixation 
der  Scapula  ganz  sagittal  gestellt  und  drückte  Arterie  und  Plexus  gegen  die 
erste  Rippe,  wodurch  der  Radialpuls  rechts  unfuhlbar  wurde.  Durch  Abheben 
der  Clavicula  wurde  er  fühlbar,  um  mit  dem  Nachlassen  des  Zuges  gleich 
wieder  zu  verschwinden.  Der  Schultergürtel  war  asymmetrisch  gedreht:  links 
drückte  die  Clavicula  nicht  auf  die  erste  Rippe.  Mit  der  linken  Hand  konnte  Fat. 
den  Kopf  erreichen  und  in  der  Schulter  bis  zum  rechten  Winkel  erheben.  Durch 
einen  Velpe  au 'sehen  Verband  waren  alle  Beschwerden  der  rechten  Seite  zu 


124 


Dr.  A.  Freih.  von  Eiseisberg, 


beheben,  —  sobald  er  abgenommen  wurde,  stellten  sie  sich  wieder  ein.  Dess- 
halb  wurde  eine  Verlängerung  der  Clavicula  geplant. 

Am  28.  7.  97  wurde  die  4.  Operation  in  Narkose  ausgeführt;  Längs- 
schnitt über  die  rechte  Clavicula,  bajonettartiges  Durchsägen  mit  der  electri- 
sehen  Säge  (Fig.  5).  Es  wurde  die  Clavicula  um  2  cm  verlängert  und  in 
dieser  Stellung  durch  Aluminiumbroncedraht  fixirt  (Fig.  6).  Exacte  Hautnaht. 
Sofortiges  Wiederauftreten  des  Pulses. 

Fig,  5. 


Fig.  6. 


Reactionsloser  Verlauf.  Heilung  per  primam.  Es  trat  eine  wesentliche 
Besserung,  sowohl  objectiv,  als  subjectiv  auf.  Fat.  konnte  die  Arme  beider- 
seits bis  zur  Horizontalen  erheben. 

Am  8.  10.  wurden  noch  in  Bromäthylnarkose  die  Claviculamähte,  welche 
unter  der  dünnen  Haut  sichtbar  wurden,  entfernt  und  gleichzeitig  das  scharfe 
Ende  der  verschobenen  Schlüsselbeinränder  abgekniflfen.  Am  25.  11.  wurden 
die  Silberdrahtnähte  aus  der  Scapula  entfernt,  da  die  Fat.  von  dem  Vorhanden- 
sein derselben  wusste  und  davon  belästigt  zu  sein  angab.  Beide  Male  heilte 
die  Wunde  reactionslos. 

•  Die  Kranke  war  durch  diese  vielfachen  Eingriffe  soweit  gebessert,  dass 
sie  im  Stande  war,  wieder  durch  Handarbeit  (als  Cigarettenarbeiterin)  ihr  Brot 
zu  verdienen.  Da  nunmehr  ab  und  zu  auch  in  der  linken  Hand  Beschwerden 
auftraten,  wurde  auch  auf  dieser  Seite  eine  Verlängerung  der  Clavicula  in  Aus- 
sicht genommen,  jedoch  diese  Idee  wieder  aufgegeben,  da  die  Symptome  bei 
weitem  nicht  so  hochgradig  waren,  als  seinerzeit  auf  der  anderen  Seite.  Bei 
ihrer  im  Februar  98  an  der  Klinik  erfolgten  Vorstellung  war  sie  in  der  Lage, 
beide  Arme  activ  seitwärts  bis  zur  Horizontalen  zu  erheben,  so  dass  sie  mit 


Operative  Versuche,  die  pathologische  Schulterstellung  zu  verbessern.        125 

beiden  Händen  gleichzeitig  sowie  einzeln  auf  ihren  Scheitel 
fassen  konnte.  Nach  vorwärts  konnte  sie  bis  auf  45^  eleviren.  Die  Scapulae 
erweisen  sich  durch  festes  Narbengewebe  an  einander  gewachsen,  Druck  auf 
die  Nahtstelle  derselben  ist  etwas  druckempfindlich.  Beide  Hände  fühlen  sich 
kalt  an  nnd  sind  blauroth  verfärbt,  der  Puls  ist  beiderseits  gleich  gut  und 
kräftig  fühlbar.  Die  Fingerbewegung  und  Sensibilität  ist  normal.  Die  Fat. 
klagt  nur  über  leichtes  Ameisenlaufen  in  der  linken  Hand.  Ende  Mai  1898  ist 
der  Zustand  befriedigend. 

Fall  n.  20 jähriger  Schuhmachergeselle  erkrankte  im  Jahre  93  plötzlich 
an  Kreuzschmerzen,  worauf  er  13  Wochen  in  einem  Krankenhause  zubrachte. 
8  Tage  nach  Beginn  der  Erkrankung  konnte  sich  der  Kranke  nicht  mehr  gut 
aufrichten  und  fühlte  Schwäche  in  beiden  Oberschenkeln,  besonders  in  dem 
rechten.  Hierauf  trat  eine  Schwäche  beider  Arme  auf,  hauptsächlich  des 
linken  und  nahm  so  zu,  dass  der  Fat.  schliesslich  nicht  mehr  die  Hand  zum 
Munde  fahren  konnte.  Auf  Umschläge  und  durch  Medicinen  besserten  sich  die 
Beschwerden,  doch  bemerkte  der  Fat.,  dass  er  beim  Verlassen  des  Spitals  nicht 
mehr  so  gut  gehen  konnte  als  zuvor  und  seine  Schultern  auffallend  nach  hinten 
zu  vorsprangen. 

Bei  seiner  am  23.  2.  97  in  der  medicinischen  Klinik  zu  Königsberg  er- 
folgten Aufnahme  zeigt  der  Fat.:  eine  starke  Lordose  des  ganzen  Rumpfes;  die 
Schultern  stehen  noch  weiter  nach  rückwärts  vor  als  das  Gesäss.  Beide  Sca- 
pnlae  stehen  flügelartig  ab  und  zeigen  jene  characteristische  Stellung,  welche 
der  Atrophie  der  mittleren  Fortion  des  Cucullaris  entspricht  (mouvement  de  . 
bascule).  Der  Fat.  kann  die  Arme  nur  bis  zur  Horizontalen  erheben.  Der  Pec- 
toralis  major  und  Latissimus  dorsi  sind  ganz  erheblich  an  Volumen  reducirt, 
auf  der  linken  Seite  noch  mehr  als  rechts.  Cucullaris  und  Serratus  sind  ganz 
atrophisch.  Muse,  biceps  fehlt  fast  ganz,  triceps  ist  normal.  Auch  die  Bewegungen 
der  Hand  sind  normal.  Die  Oberschenkelmuskeln  sind  beiderseits  in  ihrem 
Volumen  reducirt,  besonders  an  der  Beugeseite.  Der  Gang  ist  pendelnd 
(Lähmung  der  Glut.  med.).  Fat.  stürzt  bei  Druck  auf  die  Bauchmuskeln  sofort 
in  Folge  hochgradiger  Schwäche  seiner  Kückenmuskeln  zusammen,  und  kann 
sich  nicht  aufrichten,  noch  die  beiden  Beine  heben.  Die  Muskeln  der  Unter- 
schenkel sind  kräftiger.  Die  electrische  Erregbarkeit  ist  überall  normal,  nur 
dem  veränderten  Volumen  der  Muskeln  entsprechend  schwach. 

Auf  Grund  dieses  Befundes  wurde  von  Frof.  Lichtheim  die  Diagnose 
auf  eine  juvenile  Form  der  progressiven  Dystrophia  muscul.  gestellt,  und  da 
gerade  die  Verschlimmerung  der  Schulter  in  den  letzten  Jahren  nur  sehr 
geringfügig  gewesen  war,  also  anscheinend  eine  langsam  fortschreitende 
Atrophie  vorlag,  wurde  der  Kranke  zwecks  Besserung  der  besonders  schwer 
geschädigten  Function  der  Schultern  nach  der  chirurgischen  Klinik  transferirt. 
Die  active  Abduction  beider  Oberarme  war  bloss  auf  30  °  ausführbar.  Wenn 
man  dem  Fat.  mittelst  der  angelegten  Hände  die  Schultern  so  nach  hinten 
staute,  dass  sich  die  medialen  Ränder  der  Scapulae  berührten,  —  ein  Manöver, 
welches  leicht  gelang,-—  konnte  er  sich  sofort  viel  besser  bewegen  und 
vor  allem  beide  Oberarme  bis  über  die  Horizontale  erheben.     Alle  Versuche, 


126  Dr.  A.  Freih.  von  Eiseisberg, 

durch  Heftpflasterstreifen  oder  ein  leichtes  Gipsmieder  eine  Fixation  der  Sca- 
pulae  und  damit  Verbesserung  der  Function  zu  erzielen,  schlugen  fehl;  es 
wurde  daher  ein  operativer  Eingriff  in  Aussicht  genommen. 

Da  damals  der  erste  Versuch  der  Naht  der  Scapulaerander  in  Fall  I  kein 
günstiges  Resultat  erzielt  hatte,  wurde  nach  vorherigen  Leichenversuchen,  in 
Narkose  eine  Anheftung  des  Randes  der  rechten  Scapula  mittelst 
Silberdraht  an  die  6.  und  7.  Rippe  ausgeführt  (16.  6.  97). 

Entsprechend  dem  untersten  Drittel  wurde  der  Aussenrand  der  Soapula 
frei  gemacht  und  angefrischt  und  hierauf  die  6.  Rippe  dort,  wo  die  Scapula 
bei  äusserster  Abduction  des  untersten  Winkels  dieselbe  berührte,  blossgelegt 

Das  Periost  der  Rippe  wurde  vorsichtig  abgehebelt  und  ein  dicker  Silber- 
draht um  die  Rippe  herum  geführt,  am  äusseren  Rand  der  Scapula  ein  Bohr- 
loch angelegt,  das  eine  Ende  des  Silberdrahtes  durch  dasselbe  durchge- 
führt und  geknüpft.  Um  die  Fixirung  noch  fester  zu  gestalten,  wurde  der 
innere  Rand  der  Scapula  in  derselben  Weise  an  die  7.  Rippe  befestigt. 
Drainage  der  Wunde  und  Hautnaht.  Der  Wund  verlauf  war  bis  auf  eine  vor- 
übergehende Pjocyaneus-Infection  reactionslos.  Der  Erfolg  der  Operation  be- 
stand darin,  dass  der  rechte  Oberarm  viel  weiter  activ  gehoben  werden  konnte, 
als  auf  der  anderen  Seite.  Leider  begann  aber  der  Fat.  im  selben  Maasse,  als  er 
sich  mehr  bewegte,  über  Schmerzen  entsprechend  der  Stelle  der  Nähte  zu  klagen, 
so  dass  seinem  Drängen  nachgegeben  wurde  und  einen  Monat  nach  der  Opera- 
tion die  Silberdrähte  in  Narkose  entfernt  wurden.  Beide  waren  offenbar  durch 
die  Bewegung  gelockert  und  in  Granulationsgewebe  eingebettet. 

Die  Scapula  war,  wie  in  Anbetracht  der  kurzen  Zeit  zu  erwarten,  noch 
nicht  knöchern  mit  der  Rippe  verschmolzen,  doch  durch  festes  Narbengewebe 
daselbst  iixirt  und  somit  ein  geringer  Erfolg  erzielt. 

Das  Resultat  erschien  jedoch  noch  sehr  verbesserungsfahig.  Die  durch  die 
Fixation  erzeugten  Schmerzen  Hessen  eine  analoge  Operation  für  die  andere 
Scapula  nicht  wünschenswerth  erscheinen;  zudem  Hess  das  mittlerweile  ge- 
wonnene günstige  Resultat  der  Vemähung  der  medialen  Scapularänder  im 
Falle  I  diesen  Eingriff  zweckmässig  erscheinen,  weshalb  dieser  am  29.  7.  in 
Narkose  versucht  wurde.  Ein  Lappenschnitt,  ganz  analog  wie  in  Fall  1,  legte 
die  Medianränder  der  Scapulae  bloss;  rasch  waren  4  Bohrlöcher  (jederseits 
einige  Millimeter  vom  angefrischten  Rande  entfernt)  mit  Hülfe  des  electrischen 
Drillbohrers  angelegt  und  vier  dicke  Silberdrähte  durchgezogen.  Beim  Ver- 
such, dieselben  zu  knüpfen,  ergab  sich  jedoch  die  unliebsame  Ueberraschung, 
dass  trotz  alles  Zusammenschiebens  und  Rückwärtsstauens  der  beiden  Scapulae 
die  beiden  medialen  Ränder  nicht  ganz  an  einander  gebracht  werden  konnten, 
sondern  eine  1 Y2  ^^  breite  Spalte  zwischen  ihnen  offen  blieb. 

Da  vor  der  ersten  Operation  dieses  Zusammenschieben  leicht  vor  sich 
gegangen  war,  mussten  die  durch  diesen  Eingriff  gesestzten  bändrigen  Ver- 
wachsungen zwischen  Scapula  und  Rippe  als  die  Ursache  dieses  Hindernisses 
angesehen  werden  und  dies  um  so  mehr,  als  der  innere  Rand  der  linken  Scapula 
mit  Leichtigkeit  bis  über  die  Medianlinie  nach  rechts  zu  gezogen  werden  konnte. 

Obwohl  nun  diese  Silberdrahtnaht  ziemlich  aussichtslos  erschien,  sah 


Operative  Versuche,  die  pathologische  Schulterstellung  zu  verbessern.       127 

ich  doch  von  einem  Lösen  der  Adhäsionen  zwischen  rechter  Scapula  und  Rippe 
ab  und  knüpfte  die  Silberfaden.  Die  Haut  wurde  vernäht.  Trotzdem  von  der 
Haut  nichts  weggeschnitten  war,  gelang  die  TIautnaht  nur  unter  starker 
Spannung;  dies  war  auch  die  Ursache,  warum  ein  Theil  der  Wunde  ober- 
flächlich nekrotisch  wurde.  Trotz  des  unbefriedigenden  Verlaufes  der  Operation 
war  auch  hier  ein  deutlicher  Erfolg  zu  verzeichnen,  insofern  als  der  Pat. 
die  beiden  Schaltern  activ  entschieden  höher  heben  konnte,  als  zuvor;  jedoch 
schmerzten  die  Silberdrähte,  und  waren  die  Schmerzen  genau  auf  die  Stelle 
derselben  localisirt,  dass  ich  mich  am  6.  10.  entschloss,  dieselben  zu  entfernen. 
Die  linke  Scapula  kehrte  bald  nach  der  Operation  in  ihre  alte,  pathologische 
Lage  zurück,  die  rechte  blieb,  dank  ihrer  ursprünglichen  Fixation  an  der  Rippe, 
in  der  etwas  verbesserten  Stellung  stehen. 

Damit  stimmte  auch  die  Function  der  Schultern  überein,  indem  die 
rechte  am  etwa  15^  activ  höher  gehoben  werden  konnte,  als  die  linke. 

Pat.  verliess  anfangs  December,  nachdem  er  im  Laufe  der  letzten  Wochen 
constant  Phosphor  bekommen  hatte,  die  Klinik.  Linke  Schulter  war  nicht  ver- 
bessert, rechte  Schulter  etwas.  Als  Pat.  im  Mai  1897  an  die  Klinik  kam,  war 
diese  geringe  Besserung  geschwunden,  die  Muskelatrophie  hatte  keine  Fort- 
schritte gemacht. 

la  beiden  Fällen  handelte  es  sich  um  langsam  verlaufende 
Formen  von  progressiver  Muskelatrophie,  bei  welcher  besonders 
die  typische  Schulterstellung  (Lähmung  des  Cucullaris)  und  das 
dadurch  bedingte  Mouvement  du  bascule  die  starke  Functionsstörung 
verursacht  hatte.  In  beiden  Fällen  wurde  versucht,  den  Patienten 
durch  einen  operativen  Eingriff  unabhängig  von  einem  immerhin 
complicirten  und  kostspieligen  Fixationsapparat  zu  machen.  Der 
Eingriff  sollte  analog  der  Arthrodese  bei  gelähmten  Gelenken  in 
der  Naht  der  beiden  Scapularränder  an  einander,  resp.  der  Scapula 
an  die  Rippe  bestehen. 

Im  ersten  Falle  zeigte  es  sich,  dass  vor  Allem  die  obere 
Portion  der  Scapula  genäht  werden  muss,  indem  das  durch 
die  erste  Operation  erzielte  Resultat  für  die  Patienten  be- 
lästigender war,  als  der  ursprüngliche  Zustand.  Erst  als  eine 
exacte  knöcherne  Verwachsung  zwischen  den  oberen  Hälften  zu 
Stande  gekommen  war,  wurde  ein  Erfolg  erzielt.  Derselbe 
wurde  durch  den  Druck  der  in  Folge  der  Fixation  ganz  sagittal 
gestellten  Clavicula  fast  aufgehoben,  ja  die  Drucksymptome  von 
Seiten  dieses  Knochens  auf  die  Gefässe  erforderten  eine  neuer- 
liche Operation.  Sollte  nun  bei  derselben  nicht  etwa  durch 
eine  Lösung  der  Naht   auf  das  bisher  erzielte  Resultat  verzichtet 


128  Dr.  A.  Freih.  von  Eiseisberg,  Operative  Versuche  etc. 

werden  —  so  blieb  nur  die  Verlängerung  der  Olavicula  übrig. 
Der  Bajonettschnitt  in  die  Clavicula  gelang  überraschend  gut  und 
leicht,  und  der  Erfolg  war  ein  durchaus  befriedigender^). 

Das  Befinden  der  Patientin  kann  durch  die  Operation  als 
wesentlich  gebessert  bezeichnet  werden.  Da  es  sich  hier  um 
einen  Fall  von  bloss  sehr  langsamer,  wenn  überhaupt  merkbarer 
Progression  des  Leidens  handelt,  ist  zu  hoffen,  dass  diese  Besserung 
durch  längere  Zeit  anhält. 

Im  zweiten  Fall  war  zuerst  der  Versuch  gemacht  worden,  die 
Scapula  in  einer  für  die  Function  günstigen  Stellung  an  die  Rippe 
zu  fixiren.  Der  Versuch  schlug  insofern  fehl,  als  wegen  Schmerzen 
diese  Fixation  wieder  gelöst  werden  musste,  wobei  sich  ohnedies 
schon  (wahrscheinlich  in  Folge  des  permanenten  Zuges)  die  Drähte 
gelockert  erwiesen.  Trotzdem  war  eine  ziemlich  gute  Fixation 
durch  Narbengewebe  erzielt.  Diese  Fixation  bewirkte  es  oflFenbar, 
dass  der  folgende  Versuch,  die  medialen  Ränder  zu  nähen,  wegen 
Unmöglichkeit  einer  exacten  Adaptirung  fehl  schlug  und  die  an- 
gefrischten Ränder  klaffend  blieben.  Immerhin  erscheint  mir  diese 
Art  von  Fixation  jeder  Scapula  für  sich  an  eine  resp.  mehrere 
Rippen  gegenüber  der  im  Fall  I  befolgten  Methode  die  physiolo- 
gisch richtigere. 

Da  gerade  bei  der  progressiven  Muskelatrophie  ein  so  lang- 
sames Fortschreiten,  wie  es  im  Fall  I  beobachtet  wurde,  nicht 
häufig  vorkommt,  werden  diese  Operationen  nur  selten  zur  Aus- 
führung gelangen  und  ausschliesslich  zur  Bekämpfung  des  Mouve- 
ment  du  bascule  dienen. 

Dass  in  einem  progredienten  Falle  jede  ähnliche 
Operation  zwecklos  wäre,  braucht  nicht  hervorgehoben 
zu  werden. 


0  Ich  bemerke  hierzu,  dass  ein  ähnlicher  Schnitt  für  die  Durchtrennung 
der  Achillessebne,  analog  der  künstlichen  Verlängerung  der  Vorderarm -Sehnen 
(Guldenarm)  sich  schon  wiederholt  bewährt  hat  und  ich  schon  seit  Jahren 
fast  jede  Tenotomie  der  Achillessehne  in  dieser  Weise  ausführe,  wie  dies  auch 
Bayer  kürzlich  empfohlen  hat. 


VI. 

lieber  die  Dermoide  des  Becken- 

bindegewebes. 

Von 

Dr»  V.  de  Querraln, 

Ghanx-de-Fonds. 


Die  tagliche  Erfahrung  bringt  es  mit  sich,  dass  man  bei  einem 
nach  Jahre  langen  Hambeschwerden  von  völliger  Harnverhaltung 
befallenen  Patienten  in  erster  Linie  und  fast  ausschliesslich  an 
Strictur  und  Prostatahypertrophie  denkt  und  alle  übrigen  noch 
möglichen  Vorkommnisse  bei  der  Beurtheilung  des  Falles  in  den 
Hintergrund  treten  lässt.  Blasen-  und  Prostatatuberculose  veran- 
lassen nicht  häufig  völlige  Harnverhaltung  und  bieten  in  Anamnese 
und  Aussehen  des  Patienten  meist  genügend  charakteristische  Merk- 
male. Blasensteine  sind  vielerorts,  so  bei  uns,  überhaupt  schon 
recht  selten  und  verrathen,  auch  wenn  sie  einmal  ausnahmsweise 
die  Harnentleerung  völlig  verhindern,  ihre  Gegenwart  meist  durch 
eine  nicht  zu  missdeutende  Vorgeschichte.  Bei  bösartigen  Ge- 
schwülsten der  Blase  und  ihrer  Umgebung  berichten  die  Patienten 
nicht  von  jahrelanger  Dauer  des  üebels,  und  gutartige  Neubildungen 
der  Blase  und  Harnröhre  veranlassen  nicht  häufig  Harnverhaltung. 
Bleiben  noch  gutartige  Geschwülste  des  kleinen  Beckens.  Dieselben 
sind  besonders  beim  männlichen  Geschlecht  nicht  häufig  und  dies 
ist  auch  der  Grund,  warum  man  nicht  leicht  an  sie  denkt.  Unter 
den  am  häufigsten  erwähnten  dürften,  ausser  den  vom  Becken- 
skelett ausgehenden  Neubildungen,  wie  Osteomen  und  Chondromen, 
die  Echinokokken  zu  erwähnen  sein.  Freilich  liegt  die  Annahme 
einer  solchen  nicht  besonders  nahe  in  Gegenden,  wie  die  unserige,  wo 

ArekiT  Ar  klin.  Chinirgie.    57.  Bd.  Heft  1.  9 


130  Dr.  F.  de  Quervain, 

der  uniloculäre  Echinococcus  sozusagen  nicht  vorkoramt,  er  sei  denn 
von  Aussen  hereingebracht.  Seröse  Retroperitonealcysten  könnten 
beina  Manne  auch  gelegentlich  Harnbeschwerden  und  schliesslich 
Harnverhaltung  verursachen,  doch  ist  uns  kein  derartiger  Fall  be- 
kannt. Schliesslich  spricht  König  (1)  von  Dermoidcysten,  welche 
man  in  sehr  seltenen  Fällen  in  dem  Bindegewebe  zwischen  Blase 
und  Mastdarm  beobachtet  habe. 

Dieses  letztere  Vorkommniss,  die  Dermoidcysten  des 
kleinen  Beckens  beim  männlichen  Geschlecht,  auf  Grund 
der  bisherigen  Beobachtungen  und  des  unten  mitzutheilenden  Falles, 
eingehender  zu  bearbeiten,  war  die  Aufgabe,  die  ich  mir  zuvörderst 
stellte.  Bei  näherem  Umsehen  in  der  Literatur  gelang  es  mir 
jedoch  zu  meinem  Erstaunen  nicht,  einen  einzigen  derartigen  Fall 
aufzufinden.  Alle  bisher  mitgetheilten  Beobachtungen  von  Dermoid- 
cysten des  kleinen  Beckens  betrafen  das  weibliche  Geschlecht.  Ich 
entschloss  mich  daher,  meine  Arbeit  auch  auf  die  Beckendermoide 
des  weiblichen  Geschlechtes  auszudehnen  und  so  die  von  Sänger  (2) 
angefangene  Sammlung  dieser  Fälle  bis  auf  das  Jahr  1897  fort- 
zusetzen. 

Bevor  ich  jedoch  auf  meine  eigene  Beobachtung  und  auf  die 
in  der  Literatur  mitgetheilten  Fälle  näher  eingehe,  möchte  ich 
kurz  die  Grenzen  besprechen,  welche  ich  der  Arbeit  gesteckt 
habe,  um  nicht  klinisch  zu  verschiedenartige  Fälle  unter  einander 
zu  werfen. 

Dermoidcysten  kommen  bekanntlich  im  Gebiet  des  ganzen 
Rumpfes  vor,  vom  Kopf  bis  zu  der  Dammgegend,  wenn  sie 
schon  gewisse  Lieblingsstellen  zeigen,  typische  Fundorte,  wie 
die  verschiedenen  OefTnungen  des  Gesichts,  die  tiefen  Halsorgane, 
die  Ovarien,  die  Analgegend.  Die  Gruppe,  mit  der  wir  uns  in 
dieser  Arbeit  beschäftigen  werden  und  der  wir  mit  Sänger  eben- 
falls den  Rang  einer  selbstständigen  Gruppe  zuerkennen  möchten, 
betrifft  die  im  Bindegewebe  des  kleinen  Beckens  entstandenen 
Dermoide,  soweit  sie  weder  von  den  Genitalorganen,  noch  von  der 
Blase  ausgehen.  Ausgeschlossen  sind  also  erstlich  alle  Dermoid- 
geschwülste,  welche  erst  secundär  in  das  kleine  Becken  gelangen, 
zum  Beispiel  von  der  Bauchhöhle  her,  wie  in  dem  Falle  von 
Zweifel  (3),  oder  von  aussen  her,  wie  in  dem  Falle  von  Bryk  (4) 
(über  den  man  immerhin  verschiedener  Meinung  sein  kann,  wie  wir 


Ueber  die  Dennoide  des  Beckenbindegewebes.  131 

spater  ausführen  werden).  Ausgeschlossen  sind  ferner  alle  Der- 
moidgeschwülste  des  weiblichen  Geschlechts,  bei  denen  der  extra- 
peritoneale und  von  den  Genitalien  unabhängige  Sitz  nicht  durch 
die  Operation  oder  die  Autopsie  nachgewiesen  ist.  Nicht  berück- 
sichtigt werden  ferner  die  zahlreicheren  Dermoidgeschwülste,  welche 
oberflächlich  in  der  Steissgegend,  meist  zwischen  Steissbein  und 
After  gefunden  werden.  Diese  Fälle  sind,  um  nur  einige  Autoren 
zu  nennen,  von  Wölfler  (5),  v.  Bergmann  (6),  Gussenbauer  (7), 
Nicaise  (8),  Hansen  (9)  und  A.  so  eingehend  besprochen  worden, 
dass  ihr  Vorkommen  wohl  allgemein  bekannt  sein  dürfte.  Wenn 
sie  schon  genetisch  einen  gewissen  Zusammenhang  mit  den  Der- 
moiden des  Beckeninnem  zeigen  können,  so  sind  sie  doch  klinisch 
völlig  von  denselben  zu  trennen,  da  sie  meist  Dank  ihrer  Ent- 
wickelimg  nach  aussen  nur  ein  unbequemes  Anhängsel,  nicht  aber 
ein  für  die  Function  der  Beckenorgane  hinderlich  werdendes  Ge- 
bilde darstellen. 

Wir  kommen  nun  zur  Mittheilung  unserer  eigenen  Beobachtung. 

Am  13.  December  1897  wurde  mir  Abends  in  das  Spital  in  Ghauz-de« 
Fonds  der  58jährige  Tagelöhner  G.  Th.  zugeführt,  zu  dem  ich  zwei  Tage  vor- 
her von  einem  Gollegen  in  ein  mehrere  Stunden  von  hier  entferntes  Dorf  ge- 
rufen worden  war.  Patient  hatte  sich  in  der  Naoht  vom  10.  auf  den  11.  Dec. 
mit  einem  zerbrochenen  englischen  Katheter  einen  falschen  Weg  gebohrt  und 
darauf  hin  nach  seiner  Angabe  ein  halbes  Nachtgeschirr  voll  Blut  verloren. 
Da  mir  der  Katbeterismus  mit  keinem  der  mir  zu  Gebote  stehenden  Katheter 
gelungen  war,  so  hatte  ich  damals  die  in  Nabelhöhe  stehende  Blase  punctirt 
and  dabei  einen  Liter  klaren  Urins  entleert.  Es  wurde  darauf  unverzüglicher 
Transport  des  Kranken  in  das  Spital  verordnet. 

Die  am  13.  Dec.^),  Abends  spät  noch  vorgenommene  Untersuchung  des 
Patienten  ergab  folgenden  Status: 

Patient  sieht  anämisch  und  überhaupt  eher  schwächlich  aus.  Puls  regel- 
mässig, 92  in  der  Minute.  Radialis  arteriosklerotisch.  Temperatur  36,3  o.  Das 
Abdomen  ist,  besonders  in  seiner  unteren  Hälfte,  und  zwar  am  stärksten  nach 
rechts  hin,  abnorm  ausgedehnt.  Die  Palpation  ergiebt  das  Vorhandensein  von 
zwei  prall  elastischen,  undeutlich  getrennten  Resistenzen,  von  denen  die 
grössere  besonders  die  rechte  Seite  der  Unterbauchgegend  einnimmt  und  etwa 
einen  Querfinger  breit  die  Nabelhöhe  überragt.  Die  kleinere  Resistenz  liegt 
etwas  mehr  in  der  Tiefe  und  nach  links  und  reicht  bis  etwa  einen  Querfinger 
unter  den  Nabel.  Patient  leidet  unter  beständigem,  anfallweise  verstärktem 
Harndrang,  kann  aber  nicht  uriniren.    Bei  der  Rectaluntersuchung  fühlt  man, 


^)  Der  Patient,   durch   die  Blasenpunction    am  Abend   des  11.  Dec.   er- 
leichtert,  konnte  sich  erst  am  13.  Dec,  entschliesseu,   da^  Spital  aufzusuchen« 


132  Dr.  F.  de  Quervain, 

wie  schon  vor  zwei  Tagen,  eine  das  kleine  Becken  einnefamende,  diffuse  Re- 
sistenz, welche  für  die  prall  gespannte  Blase  gehalten  wird.  Die  Prostata, 
deren  untere  Begrenzung  im  Gegensatz  zur  oberen  deutlich  gefühlt  werden 
kann,  scheint  etwas  breit,  aber  nicht  abnorm  vorragend.  Es  wird  nun  ver- 
sucht, die  Blase  mit  dem  Katheter  zu  entleeren,  was  aber  trotz  aller  Bemü- 
hungen nicht  gelingt;  die  Katheter  verirren  sich  sämmtlich,  wie  die  gleich- 
zeitige Rectaluntersuchung  ergiebt,  in  einen  falschen  Weg,  der  einige  Centi- 
meter  hoch,  unmittelbar  an  der  Mastdarmwand,  hinter  der  Prostata  in  die 
Höhe  geht. 

Es  wird  unter  diesen  Umständen  wieder  die  Blasenpunction  ausgeführt, 
und  zwar  erweist  sich,  wie  erwartet,  der  mehr  nach  rechts  hin  entwickelte 
Tumor  als  Blase.  Die  Harnmenge  beträgt  wieder  circa  einen  Liter.  Durch 
diese  Punction  wird  die  pralle  Spannung  des  mehr  nach  links  gefühlten  Tumors 
nicht  vermindert;  es  handelt  sich  also  um  gesonderte  Gebilde.  Die  Probe- 
punction  ergiebt  denn  auch  im  linksseitigen  Tumor  eine  geruchlose,  hell  grau- 
braune, eiterähnliche  Flüssigkeit  (deren  sofortige  mikroskopische  Untersuchung 
aus  äusseren  Gründen  nicht  stattfinden  konnte). 

Bezüglich  der  Anamnese  liess  sich,  wie  auch  schon  vor  zwei  Tagen,  aus 
dem  beständig  stöhnenden  Patienten  nur  so  viel  herausbringen ,  dass  er  seit 
19  Jahren  sich  ab  und  zu  katheterisiren  müsse  und  dazu  stets  einen  ziemlich 
grossen,  weichen  Katheter  benutzt  habe.  Als  dieser  in  der  Nacht  vom 
lO./U.  Dec.  nicht  zum  Ziele  führen  wollte,  habe  er  versucht,  einen  festeren 
(englischen)  Katheter  einzuführen,  worauf  Blut  gekommen  sei.  Gonorrhoe 
wurde  in  Abrede  gestellt;  auch  war  eine  Strictur  unter  genannten  Umständen 
von  vorn  herein  nicht  anzunehmen.  Für  eine  Prostatahypertrophie  war  der 
frühe  Beginn  der  Harnbeschwerden  auffallend,  obschon  im  Uebrigen  die  sub- 
jectiven  Symptome  völlig  mit  dieser  Annahme  übereingestimmt  hätten.  Was 
die  Resistenz  in  der  linken  Unterbauchgegend  betrifft,  so  hätte  man  an  eine 
in  Folge  des  falschen  Weges  eingetretene  Harninfiltration  mit  beginnender  Ver- 
eiterung denken  können.  Doch  stimmte  damit  weder  die  Fieberlosigkeit  des 
Patienten,  noch  die  Geruchlosigkeit  der  trüben  Flüssigkeit,  noch  die  scharfe 
Begrenzung  und  die  Ausdehnung  der  Geschwulst  — ,  abgesehen  von  anderen 
Gegengründen.  Auch  an  das  Vorhandensein  eines  grossen,  nach  oben  abge- 
kapselten Beckenabscesses  konnte  gedacht  werden,  doch  stimmte  die  lange 
Dauer  des  Leidens  damit  nicht  überein  und  für  einen  primären  tuberculösen 
Knochenherd  lagen  keine  Anzeichen  vor.  Die  Annahme  einer  vereiterten 
Echinokokkencyste  lag  deshalb  nicht  nahe,  weil  in  der  Schweiz  der  uniloculare 
Echinokokkus  ausserordentlich  selten  ist.  Auch  die  Möglichkeit  eines  ver- 
eiterten soliden  Tumors  hätte  in  Erwägung  gezogen  werden  können,  sowie 
schliesslich  das  Vorhandensein  eines  Beckendermoids.  Dass  sich  uns  die  letz- 
tere Eventualität,  welche  die  Symptome  am  ehesten  erklärte,  ohne  die  mikro- 
skopische Untersuchung  nicht  von  vorn  herein  aufdrängte,  liegt  in  ihrer 
grossen  Seltenheit  beim  männlichen  Geschlecht. 

Am  14.  Dec.  musste,  da  sich  die  Blase  wieder  gefüllt  hatte  und  Patient 
keinen  Tropfen  spontan  uriniren  konnte,  zur  Beseitigung  des  Hindernisses  ge- 
schritten werden.     Nachdem  die  Blase  wieder  punctirt  worden  wai;,  wurde  in 


Ueber  die  Dermoide  des  Öeckenbindegewefees.  133 

Aethernarkose  von  einem  drei  Querling^er  breit  über  dem  linken  Poupart- 
schen  Bande  gelegenen  queren  Haatschnitte  aus  auf  den  Tumor  eingegangen. 
Nach  links  hin  wurde  das  Bauchfell  auf  einen  Centimeter  geöffnet,  aber  gleich 
durch  eine  Naht  wieder  geschlossen.  Dann  wurde  der  Tumor  ertraperitoneal 
freigelegt  und  nach  rechts  die  mit  ihm  verwachsene  Blase  stumpf  abgelöst. 
Eine  neue,  von  der  Wunde  her  ausgeführte  Function  zeigte  eine  Flüssigkeit,  die 
uns  nun  mit  Bestimmtheit  die  Diagnose  auf  ein  Dermoid  stellen  liess.  Die 
Cyste  wurde  so  weit  eröffnet,  dass  sie  mit  dem  Finger  ausgetastet  werden 
konnte.  Dabei  ergab  sich,  dass  dieselbe  das  ganze  kleine  Becken  auskleidete. 
Nach  hinten  reichte  sie  ziemlich  tief  in  die  Kreuzbein  schaufei,  nach  den  Seiten 
Hessen  sich  die  Foramina  ischiadica  abtasten  und  vorn  fühlte  man  unter  der 
Gystenwand  die  Samenblasen  und  den  oberen  Theil  der  Prostata.  Ueber  den 
Verlauf  des  Rectums  ergab  die  Palpation  keine  Sicherheit.  Der  Grund  der 
Cyste  lag  zu  tief,  als  dass  er  von  oben  mit  dem  Finger  hätte  erreicht  werden 
können.  Unter  diesen  Umständen  erschien  die  Ausschälung  des  Balges  als 
eine  eingreifende  Operation.  Was  uns  aber  von  vorn  herein  veranlasste,  auf 
eine  primäre  Exstirpation  des  Dermoids  zu  verzichten,  das  war  das  Vorhanden- 
sein eines  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  bis  auf  die  Cyste  gehenden  falschen 
Weges.  Wir  liefen  Gefahr,  die  Wundverhältnisse  durch  Infiltration  von  Harn 
complicirt  zu  sehen,  was  um  so  mehr  zu  vermeiden  war,  als  wir  nicht  sicher 
waren,  die  Cyste  ohne  Eröffnung  der  Peritoneums  entfernen  zu  können  und 
wir  andererseits  nicht  wussten,  ob  die  Gegend  des  Blasengrundes  nicht  schon 
durch  den  unreinen  Katheterismus  des  Patienten  inficirt  war.  Uoberdies  war 
Patient  durch  den  erlittenen  Blutverlust  und  die  Harnverhaltung  der  letzten 
drei  Tage  so  heruntergekommen,  dass  wir  ihm  einen  so  grossen  Eingriff  nicht 
glaubten  zumuthen  zu  dürfen.  Wir  beschränkten  uns  deshalb  auf  das  An- 
nähen der  Cystenwand  an  die  Haut,  auf  Entleerung  des  Dermoids  und  aus- 
giebige Drainage  desselben. 

Vom  Moment  der  Operation  weg  urinirte  Patient  wieder  spontan ,  ohne 
jegliche  Schwierigkeit.  Es  wurde  uns  nun  auch  möglich,  eine  genaue  Ana- 
mnese aufzunehmen,  die  Folgendes  ergab: 

Im  Alter  von  39  Jahren  begann  Patient  Schwierigkeiten  bei  der  Harn- 
entleerung zu  verspüren,  ohne  dass  irgend  welche  Erkrankung  vorhergegangen 
wären.  Die  Beschwerden  steigerten  sich  schon  im  ersten  Jahre  einmal  zu 
völliger  Harnverhaltung.  Der  damals  berathene  Arzt  katheterisirte  den  Pa- 
tienten und  leitete  ihn  an,  das  in  Zukunft  selbst  zu  thun.  Während  zwei 
Jahren  machte  derselbe  von  seinem  Katheter  nie  Gebrauch.  Von  da  an  aber 
musste  er  in  der  Regel  zwei-  bis  dreimal  wöchentlich  zu  demselben  greifen. 
Es  bestand  fast  anhaltender  Harndrang  mit  jeweilen  nur  geringen  Entlee- 
rungen :  der  Harn  war  dabei  stets  klar.  Zu  diesen  Harn besch werden  trat  in 
den  letzten  fünf  bis  sechs  Jahren  eine  hartnäckige  Verstopfung.  Die  Stühle 
waren  dabei,  wie  Patient  sich  ausdrückt:  „plattgedrückt  und  dünn  wie  Carton." 
Dabei  bestanden  häufig  Kolikschmerzen.  Der  Appetit  war  massig.  In  der 
letzten  Zeit  wurde  es  femer  dem  Patienten  immer  schwerer,  sich  zu  bücken 
und  er  konnte  nur  noch  mit  Mühe  seine  Tagelöhnerarbeit  besorgen.  Im  Bett 
fiel  ihm  auf,  dass  er  nicht  mehr  auf  der  linken  Seite  liegen  konnte. 


134  Dr.  F.  de  Quervain, 

Es  stellten  sich  im  weiteren  Verlauf  keine  Folgeerscheinungen  von  der 
Harnröhrenperforation  ein;  der  Harn  blieb  im  Gegentheil  klar  und  wurde  mit 
Leichtigkeit  entleert. 

Am  8.  1.  98  wurde  nun  zur  Ausschälung  der  bisher  durch  Salicyl- 
spülungen  reingehaltenen  Cyste  geschritten.  In  Aethernarkose  wurde  der  Haut- 
schnitt erweitert,  der  mit  der  Haut  verwachsene  Balg  ringsum  abgetrennt  und 
erst  schneidend,  dann  stumpf  von  seinen  Verbindungen  abgelöst.  Besondere 
Vorsicht  war  links  nöthig,  wo  die  Vasa  iliaca  dicht  unter  der  die  Cyste  um- 
hüllenden  Bindegewebsschicht  lagen,  sowie  vorn,  wo  der  Balg  an  Blase  und 
Samenblasen  grenzte.  Die  Ablösung  gelang  ohne  wesentliche  Schwierigkeiten 
bis  in  eine  Tiefe  von  ca.  15  cm,  also  etwa  bis  in  der  Mitte  der  Kreuzbein- 
schaufel. Weiter  reichte  der  Finger  nicht,  wenn  man  nicht  die  Abdominal- 
öffnung so  weit  anlegen  wollte,  dass  die  ganze  Hand  eingeführt  werden  konnte. 
Ein  derartiger  Versuch  zeigte,  dass  dabei  die  Peritonealhöhle  eröffnet  werden 
musste  —  und  das  war,  wenn  irgend  möglich,  zu  vermeiden,  da  das  Operations- 
gebiet in  Folge  der  Drainage  der  Cyste  trotz  bisher  reizlosen  Verlaufs  eben  doch 
nicht  mehr  aseptisch  war.  Es  blieb  also  nur  noch  die  Auslösung  der  unteren 
Hälfte  des  Balges  von  der  Dammgegend  her.  So  rationell  es  gewesen  wäre, 
die  Operation  gleich  von  unten  her  zu  Ende  zu  fähren,  so  hielten  wir  es  doch 
für  vorsichtiger,  in  Anbetracht  des  Alters  und  des  Allgemeinzustandes  des 
Fat.,  diesen  letzten  Act  etwas  später  auszuführen,  um  die  Operation  nicht  zu 
sehr  zu  verlängern.  Die  Wunde  wurde  tamponnirt  und  drainirt.  Der  weitere 
Verlauf  bot  nichts  Besonderes.  Der  Balg  stiess  sich,  soweit  er  abgelöst  war, 
nach  einigen  Tagen  ab.  Die  Wundhöhle  wurde  in  den  ersten  Tagen  mit  Jodo- 
formgazetampons und  dann  mit  Salicylspülungen  behandelt.  Am  31.  1.  wurde 
zur  Auslösung  des  Dermoids  von  unten  her  geschritten,  nach  Ausstopfung  des 
Oystengrundes  mit  steriler  Gaze.  Aethernarkose.  Seitenlagerung  des  Pst. 
Parasacraler  Schnitt,  1  cm  hinter  dem  After  beginnend  und  bis  an  das  untere 
Ende  der  linken  Articulatio  sacro-iliaca  hinaufreichend.  Es  zeigte  sich  beim 
Eindringen  in  die  Tiefe  gleich,  dass  das  untere  Ende  des  Schnittes,  vom 
After  bis  zum  unteren  Sacralende  für  die  Auslösung  der  Cyste  nicht  ge- 
nügte. Es  wurde  desshalb  das  Lig.  sacrotuberosum  und  saorospinosum  durch- 
trennt und  von  da  in  die  Kreuzbeinschaufel  eingedrungen.  Die  mit  Gaze  ge- 
füllte Cyste  liess  sich  nach  Durchtrennnng  einer  fibrösen  Bindegewebskapsel 
ohne  Scliwierigkeit  erreichen  und  in  ihrem  unteren  Umfang  stumpf  auslösen. 
Weiter  hinauf  war  die  Ablösung  weniger  leicht,  da  der  Balg  sich  bis  zur 
rechten  Incisura  iscbiadica  major  ausdehnte  und  also  in  diesem  Theil  von  links 
her  nur  mit  Mühe  zu  erreichen  war,  trotz  des  ausgedehnten  Hautschnittes. 
Der  oberste  noch  bestehende  Theil  der  Cyste  wurde  so  ausgelöst,  dass  eine 
Hand  von  der  Abdominal-,  die  andere  von  der  Parasacralöffnung  her  arbeitete. 
Eine  Verletzung  des  dem  Balg  nach  rechts  und  vorn  anliegenden  Rectum 
wurde  dadurch  zu  vermeiden  gesucht,  dass  ein  Assistent  den  Finger  so  hoch 
wie  möglich  in  dasselbe  einführte.  Auf  diese  Weise  gelang  es,  die  den  ganzen 
Umfang  des  kleinen  Beckens  bis  in  die  Höhe  des  vorletzten  Sacralloches  ein- 
nehmende Cyste  ohne  Nebenverletzung  und  ohne  irgend  -erhebliche  Blutung 
auszuschälen.     Es  ergiebt  sich  aus  dem  Gesagten,  dass  man  am  Ende  der 


üeber  die  Dermoide  des  Beckenbindegewebes.  135 

Operation  von  der  Sacralwunde  nach  der  Abdomin alöffnang  und  umgekehrt 
durch  den  Fat.  direct  durchsehen  und  sich  von  der  totalen  Entfernung  des 
Balges  de  yisu  überzeugen  konnte.  Es  wurden  schliesslich  von  oben  und  von 
unten  je  ein  Jodoformgazestreifen  und  zwei  Drainrohre  eingeführt  und  dann 
die  parasaorale  Wunde  bis  auf  die  Durchtrittstelle  von  Drain  und  Gaze  durch 
Naht  geschlossen. 

Der  weitere  Verlauf  bot  nichts  Bemerkenswerthes  und  war,  abgesehen  von 
einer  vorübergehenden  Temperaturerhöhung  auf  39,0,  am  Tage  nach  der 
Operation,  völlig  normal.  Die  Naht  der  parasacralen  Wunde  vereinigte  sich 
bis  aaf  die  Drainstelle  per  primam  intentionem,  so  dass  Fat.  am  7.  Tag  nach 
der  Operation  das  Bett  verlassen  konnte.  Von  obenher  wurde  täglich  mit  steriler 
Gaze  tamponnirt  und  überdies  die  Wunde  mit  Salicyllösung  ausgespült.  Im 
Verlauf  der  4.  Woche  wurden  sammtliche  Drains  entfernt,  da  die  beiden  Wunden 
bis  auf  zwei  kleine  oberflächliche  grannlirende  Stellen  völlig  vernarbt  waren. 

Am  5.  3.  wurde  Fat.  entlassen  und  bot  folgenden  Status :  Allgemein- 
befinden vorzüglich.  Stuhl  regelmässig,  gut  geformt.  Harn  klar.  Hamen t- 
leerang  normal,  Strahl  kräftig.  In  der  Kreuzbeingegend  eine  lineare  Narbe, 
nur  in  der  Mitte,  wo  die  Drains  gelegen,  etwas  breiter.  Am  Abdomen  eine 
rechts  lineare,  links  etwas  breitere,  eingezogene  Narbe.  Die  Rectaluntersuchung 
ergiebt  völlig  normale  Verhältnisse. 

Mikroskopische  Untersuchung  des  Cysteninhalts:  Die  eiter- 
ähnliche, bei  der  Entleerung  der  Cyste  gewonnene  Flüssigkeit  zeigt  schon 
makroskopisch  die  für  das  Vorhandensein  von  Gholestearincristallen  characte- 
ristischen  glänzenden  Punkte.  Unter  dem  Mikroskop  findet  man  in  derselben 
zahlreiche  Cholestearincristalle,  femer  Detritus  und  Körnchenkugeln.  Die 
Flüssigkeit  enthält  femer  weissliche  Flocken  von  ca.  Y2  ^™'  Ausdehnung,  die 
sich  bei  der  mikroskopischen  Untersuchung  als  aus  Flattenepithelien  bestehend 
darstellen,  deren  Kern  nicht  mehr  färbbar  ist. 

Untersuchung  des  Balges:  Die  Cysten  wand  zeigt  makroskopisch 
eine  glatte,  weissliche  Innenfläche,  auf  der  weder  Haare,  noch  sonstige,  in 
Dermoiden  gelegentlich  beobachtete  Gebilde  zu  sehen  sind. 

Die  Untersuchung  der  in  Alcohol  gehärteten  und  in  Celloidin  geschnittenen 
Stücke^  die  verschiedenen  Theilen  des  Balges  entnommen  sind,  ergiebt  bei 
Haematoxylin-Eosinfärbung  folgendes  Resultat: 

Die  Innenfläche  des  Balges  ist  von  einer  70—300  (i  dicken  Epithelschicht 
ausgekleidet,  deren  Aussehen  ziemlich  genau  demjenigen  der  Epidermis  ent- 
spricht. Die  dem  Hohlraum  zunächst  liegenden  Zellen  sind  abgeplattet,  aber 
noch  mit  färbbarem  Kern  versehen.  Die  Schicht  der  abgeplatteten  Zellen  nimmt 
die  Eosinfärbung  sehr  stark  an.  Die  nächstliegenden  Zellen  zeigen  eine  mehr 
rundliche  Form,  um  schliesslich  völlig  den  Character  der  Zellen  des  Rete  Mal- 
pighi  anzunehmen.  Was  die  Papillen  betrifll,  so  fehlt  stellenweise  jede  An- 
deutung von  solchen,  während  an  anderen  Stellen  deutliche,  regelmässig  an- 
geordnete Erhebungen  des  Bindegewebes  in  die  Epithelschicht  vorhanden  sind. 
Die  Höhe  derselben  beträgt  bis  zu  150  ju.  Sie  sind  an  vielen  Stellen  mit  einer 
deutlichen  Capillaf schlinge  versehen.  Der  Epidermiesschicht  anliegend  findet 
sich  eine  450—1000  fi  dicke  Schicht   ziemlich   zell-   und  blutgefassreichen 


136  Dr.  F.  de  Quer?ain, 

Bindegewebes,  gegen  die  Epithelschicht  hin  mit  einer  Zone  stark  entwickelter 
elastischer  Fasern  versehen  (Färbnng  nach  Tänzer). 

An  diese  Bindegewebsschicht  schliesst  sich  eine  1 — 5  mm  dicke  Schicht 
lockeren  Bindegewebes  mit  Einlagerung  von  etwas  Fettgewebe  und  haupt- 
sächlich von  Zügen  von  glatten  Muskelfasern  an.  Dieselben,  sich  in  ver- 
schiedenen Richtungen  durchkreuzend,  sind  zu  scharf  abgegrenzten  Bündeln 
geordnet,  deren  kleinste  aus  einigen  wenigen  Muskelfasern  bestehen,  während 
die  grösseren,  mehr  in  der  Tiefe  liegenden  bis  1  mm  dick  sind. 

An  verschiedenen  Stellen,  ausnahmsweise  in  oder  an  der  Epithelschicht, 
bisweilen  in  der  darauffolgenden  Bindegewebsschicht,  am  häufigsten  aber  in 
der  die  glatten  Muskelfasern  enthaltenden  Schiebt,  mehrfach  in  der  Umgebung 
von  Blutgefässen,  finden  sich  Herde  von  Rundzellinfiltration,  die,  besonders  in 
der  tiefsten  Schicht,  stellenweise  so  ausgesprochen  sind,  dass  man  an  lymph- 
adenoides  Gewebe  denken  könnte,  wie  solches  in  der  Wand  eines  Halsdermoides 
gefunden  worden  ist  (Dehler) i).  Immerhin  fehlt  die  Anordnung  des 'Gewebes 
in  LymphfoUikel,  und  von  Keimcentra  ist  nichts  zu  sehen.  Es  handelt  sich 
deshalb  wohl  eher  um  die  Folgen  der  zwischen  der  Eröffnung  der  Cyste  und  der 
völligen  Exstirpation  des  Balges  in  letzterem  aufgetretenen  Entzündungsvor- 
gänge. Diese  letztere  Ansicht  wird  auch  dadurch  gestützt,  dass  in  dem  schon 
bei  der  Eröffnung  der  Cyste  herausgeschnittenen  Probestückchen  die  be- 
sprochenen Infiltrationsherde  fehlen. 

In  keinem  der  Schnitte  konnte  eine  Andeutung  von  Schweiss-  oder  Talg- 
drüsen, von  Haarbälgen  oder  von  irgend  welchen  Nervenendapparaten  gefunden 
worden.  Ebensowenig  waren  Knochengewebe,  Knorpel,  quergestreifte  Muskel- 
fasern vorhanden. 

Epikrise:  Es  handelt  sich  in  dem  vorliegendem  Fall  um  ein 
retrorectales  Dermoid,  dessen  Vorhandensein  die  klinischen 
Symptome  so  einfach  erklärt,  dass  es  unnöthig  ist,  auf  Einzelheiten 
einzugehen.  Was  den  genauen  anatomischen  Sitz  betrifft,  so  lag 
die  Cyste,  wie  hauptsächlich  die  letzte  Operation  ergab,  ursprüng- 
lich in  dem  retrorectalen  Bindegewebe,  also  in  der  Kreuzbein- 
schaufel. Die  festesten  Ver\vachsungen  bestanden  denn  auch,  wie 
schon  die  Palpation  bei  der  ersten  Operation  gezeigt  hatte,  am  hinteren 
Umfang  der  Cyste,  gegen  die  Innenfläche  des  Sacrum  hin,  und  der 
Balg  zog  sich  nach  der  mehrwöchigen  Entleerung  von  dem  vorderen 
Umfang  des  kleinen  Beckens  weg  etwas  nach  hinten  zurück, 
freilich  immer  noch  zu  beiden  Seiten  im  Gebiet  der  Incisura 
ischiadica  major  adhaerent.  Das  Rectum  war  nach  rechts  vorne 
verlagert,  aber  erst  von  dem  oberhalb  der  Ampulle  liegenden  Theil 
weg,  so  dass  die  Rectaluntersuchung  über  diesen  Punkt  keine  Aus- 


1)  Dehler,    Beitrag  zur  Kenntuiss   der   sog.    tiefen  Atheromcysteo    am 
Halse.     Beitr.  zur  klin.  Chirurgie.    XX.    2.    S.  547.    1898. 


lieber  die  Dennoide  des  Beckenbindegewebes.  137 

kunft  geben  konnte.  Nach  vorn  nahm  die  Cyste  vor  der 
Entleerung  den  ganzen  Umfang  des  kleinen  Beckens  ein  und 
drängte  den  Blasengrund  so  sehr  an  die  Symphyse,  dass  die 
spontane  Hanientleerung  unmöglich  wurde  und  dass  sich  die  ge- 
fällte Blase  stark  nach  oben  und  rechts  vorschieben  musste.  Es 
erklärt  dieses  Emporgehobensein  der  Blase  den  Umstand,  daSs  man 
den  Blasenscheitel  am  Nabel  fühlte  und  doch  nicht  mehr  als  einen 
Liter  Urin  entleeren  konnte. 

Was  die  Behandlung  betrifft,  so  könnte  unser  Vorgehen  — 
Operation  in  3  Zeiten  —  zu  zögernd  erscheinen,  gegenüber  einer 
Entfernung  der  Cyste  in  einer  einzigen  Sitzung,  mit  primärem 
Schluss  der  Wunde  auf  der  ganzen  Linie.  Wir  hätten  zweifellos 
den  letzteren  Weg  gewählt,  wenn  uns  nicht  das  Bestehen  eines 
frischen  falschen  Weges  mit  völliger  Unmöglichkeit  des  Katheteris- 
mus  gezwungen  hätte,  die  Cyste  zu  entleeren  in  einem  Moment, 
wo  die  Exstirpation  wegen  des  bestehenden  falschen  Weges  und 
des  Allgemeinbefindens  des  Pat.  durchaus  unangebracht  war. 

Was  schliesslich  die  Exstirpation  von  oben  und  von  unten  in 
zwei  Zeiten  betrifft,    so    war    unser    durch    den  Kräftezustand  des 

■ 

Pat.  bedingtes  Zögern  vielleicht  nicht  genügend  gerechtfertigt,  und 
es  wäre  zweckmässiger  gewesen,  die  völlige  Ausschälung  durch  den 
parasacralen  Schnitt  gleich  der  Exstirpation  der  oberen  Hälfte  vom 
Abdomen  her  anzuschliessen. 

Wir  geben  nun  im  Folgenden  eine  Uebersicht  über  die  bisher 
veröffentlichten  Fälle  von  Dermoidcysten  des  Beckenbindegewebes. 
Derselben  sei  die  Bemerkung  vorausgeschickt,  dass  die  Arbeit  von 
Sänger  (2),  der  wir  einige  Beobachtungen  entlehnen,  bisher  die 
einzige  eingehende  Behandlung  des  in  Frage  stehenden  Gegen- 
standes enthält,  auf  welche  die  späteren  Mittheilungen  von 
Schulze  (10),  Hoefer(ll)  und  Colonna(12)  sämmtiich  zurück- 
greifen, Hoefer  erwähnt  die  nach  Sänger  veröffentlichten  Fälle 
von  Page  (13)  und  Schulze  nicht,  und  ersterer  Fall  ist  auch 
Schulze  und  Colonna  entgangen. 

Den  von  Sänger  unter  No.  7  angeführten  Fall  Küster's  (29), 
den  nach  ihm  auch  Schulze  und  Hoefer  citiren,  haben  wir  weg- 
gelassen, weil  er  entschieden  mehr  zu  den  oberflächlichen,  ano- 
coccygealen  Dermoiden  gehört,  als  zu  den  Beckendermoiden.  Da- 
gegen   geben    wir   als  Anhang    eine  Uebersicht  über   einige  schon 


138  Dr.  F.  de  Quervain, 

von  Sänger  angeführte  sogenannte  Mastdarmdermoide,  da  wir  die- 
selben mit  Sänger  zum  Theil  wenigstens  für  ursprüngliche  Der- 
moide des  Beckenbindegewebes  halten. 

1.  Birkett  (14),  cit.  nach  Deahna,  1859.  —  25jähr.  W.  —  Geschwulst 
seit  2  Jahren  bemerkt.  —  Symptome:  Schmerzen  in  der  Geschwulst.  — 
Wallnassgrosse,  fibröse  Cyste,  nach  rechts  in  der  Afterkerbe  vorragend,  der 
Hauptsache  nach  zwischen  Rectum  und  Steissbein  sitzend.  Inhalt:  athero- 
matöser  Brei.  —  Exstirpation.  — •  Heilung. 

2.  Manuel  (15),  cit.  nach  Sänger,  1864.  —  Weiblich.  —  Taubeneigrosse 
Balggeschwulst  mit  atheromatösem  Inhalt,  links  von  der  Medianlinie  in  lockerem 
Zellgewebe  zwischen  Bauchfell  und  Musculus  levator  ani  gelegen  (Sections- 
befund). 

3.  Derselbe.  —  Weiblich.  —  Reichlich  hühnereigrosse  Balggeschwulst 
mit  derraoidähnlichem  Inhalt.  Sitz  am  gleichen  Orte  wie  im  vorigen  Falle 
(Sectionsbefund). 

4.  Deahna  (aus  Czerny's  Klinik),  1875.  —  ISjähr.  W.  —  Plötzlicher  Be- 
ginn der  Beschwerden.  —  Symptome:  Heftige  Leibschmerzen,  Erbrechen.  Stuhl 
und  Harnverhaltung.  Meteorismus.  —  Retrorectale  Geschwulst,  nach  unten  bis 
nahe  zum  After,  nach  oben  bis  in  die  Mitte  zwischen  Nabel  und  Symphyse 
^reichend,  mehr  links  gelegen.  Rectum  und  Vagina  stark  comprimirt.  Inhalt: 
gelbliche  Flüssigkeit,  Epidermiszellen  enthaltend.  —  Function  vom  Rectum 
aus.  Verjauchung  und  in. Folge  davon  rasche  Ausdehnung  der  Geschwulst. 
Gangränöser  Decubitus  der  Scheiden-  und  Hamröhrenwand  mit  späterer 
Gysten-Scheiden-  und  Scheiden-Hamröhrenfistel.  Eröffnung  der  Cyste  durch 
einen  4  cm  langen  Schnitt  zwischen  Sacrum  und  Anus.  —  Eiterung  der  ver- 
jauchten Cyste  nach  Mastdarm  und  Scheide  hin,  nach  10  Monaten  noch  fort*- 
dauernd.  Plastischer  Schluss  der  Harnröhren-Scheidenfistel. 

5.  Walzberg  (17)  (Klinik  von  König),  1875,  cit.  nach  Trzebicky.  — 
26 jähr.  W.  —  Angeborene  Geschwulst.  —  Drei  pflaumen-  bis  zweifaustgrosse 
Tumoren  zwischen  Steissbein  und  After,  mehr  nach  links  gelagert.  Tief  in  das 
Becken  reichender  Fortsatz.  Inhalt:  dicke,  erbsensuppenartige  Flüssigkeit 
mit  Fetttropfen  und  degenerirten  Epithelzellen  und  ein  Knochenstückchen. 
Wand  mit  einschichtigem  Platten-  und  Cylind erepithel  bedeckt.  —  Exstirpation 
mit  Zurücklassung  des  in  das  Becken  reichenden  Fortsatzes.  —  Eiterung, 
Patientin  mit  Fistel  entlassen. 

4.  Weinlechner  (18),  1877  (war  nicht  im  Original  zugänglich).  — 
Zwei  Dermoidcysten,  von  der  vorderen  Fläche  des  Steissbeins  ausgegangen.  — 
Theils  Exstirpation,  theils  Zerstörung  mit  rauchender  Salpetersäure. 

7.  Solowjew  (19),  1883.  —  29jähr.  W.  —  Abortus.  Symptome:  Un- 
regelmässigkeit in  der  Menstruation,  Appetitlosigkeit.  Schmerzen  in  den  Beinen, 
^Nervosität.  —  Tumor  hinter  dem  Rectum,  nach  links  das  kleine  Becken  ausfül- 
lend. Inhalt:  Graugelbe  Flüssigkeit,  mit  Cholestearinkry stallen  und  Feti- 
tropfen.  —  Function  von  der  Vagina  aus.  Nach  3  Tagen  bogenförmiger 
Schnitt  IV2  c™  ii^h  links  von  der  Analöffnung.    Abpräparirung  der  Cyste. 


Ueber  die  Dermoide  des  Beckenbindegewebes.  139 

Ans  Furcht  vor  Verletzung  des  Peritoneums  nur  theilweise  Entfernung  des 
Sackes.    Drainage.  —  Scbluss  der  Höhle  nach  ca.  2  Monaten. 

8.  Emmet  (20),  cit.  nach  Sänger,  1884.  —  22 jähr.  W.  —  Wiederholte 
Pel?iperitonitis.  Dysmenorrhoe.  —  Sitz  der  Goschwulst:  Unterhalb  des 
Bauchfells  des  Douglas'schen  Raumes.  Diagnose :  Ovarialcyste.  -<  Laparotomie. 
Es  findet  sich  eine  subperitoneal  sitzende  Dermoidcyste.  Ausschälung.  Linker 
Eileiter  mit  entfernt.    Eierstock  wegen  Verwachsungen  nicht  aufgefunden. 

f.  Trzebioky  (21)  (Klinik  von  Mioulicz),  1884.  -  35jähr.  W.  —  Ge- 
schwulst seit  ly«  J^reii  beobachtet.  —  Symptome:  Hindert  am  Sitzep.  Ver- 
grösserong  der  Geschwulst  beim  Pressen  (zum  Stuhlgang).  Stuhl  und  Harnent- 
leerung normaL  —  Ueber  kindskopfgrosse  Geschwulst  in  der  linken  Gesässgegend, 
durch  eine  seichte  Querfurche  in  zwei  Theile  geschieden.  Uterus  nach  rechts 
verschoben.  Per  rectum  fühlt  man  einen  fast  die  ganze  linke  Hälfte  des  kleinen 
Beckens  ausfüllenden  Fortsatz  der  Geschwulst.  Diagnose:  Senkungsabscess. 
Inhalt:  gelbliche,  eiterähnliche  Flüssigkeit,  weisse  Klümpchen,  Haare,  Chole- 
stearinkrystalle ,  Epithelzellen.  Wandbekleidung:  geschichtetes  Pflaster- 
iind  Plattenepithel.  —  Incision  und  Drainage.  Nach  6  Wochen  Ausschälung 
des  Balges,  wobei  es  sich  zeigt,  dass  es  sich  um  zwei  getrennte  Cysten  han- 
delt, von  denen  die  eine  einen  hoch  ins  Becken  ragenden  Abschnitt  besass. 
Entblössung  des  Reotums  auf  ^j^  seines  Umfanges.  Zwei-faustgrossd  Wund- 
höhle. Naht,  Drainage.  —  Heilung  unter  Eiterung,  etwa  2  Monate  nach  der 
Exstirpation. 

1».  Biernacki  (22)  (Klinik  von  Gusserow),  1887.  —  28jähr.  W.  — 
Tumor  erst  bei  der  Entbindung  bemerkt.  —  Die  Geschwulst  bildet  ein  Geburts- 
hindern iss.  Perforation.  Kranioklasie.  —  Sitz  der  Geschwulst  zwischen  Kreuz- 
bein und  Rectum,  nach  unten  bis  4  cm  oberhalb  der  Analöffnung  herabrei- 
chend. Obere  Grenze  per  rectum  nicht  palpabel.  Hintere  Scheidewand  vor- 
gewölbt. Inhalt:  Eiterähnliche  Flüssigkeit  und  Haare.  —  Function  per 
rectum  während  der  Geburt.  Vereiterung.  Fistelbildung  nach  dem  Scheiden- 
eingang hin.  Mehrfache  Incisionen.  Eindringen  auf  den  Eiterherd  durch  Ab- 
lösen der  Scheide  vom  Mastdarm,  ohne  Erfolg.  Schliesslich  Incision  des  Der- 
moids vom  Rectum  her.  -^  Nach  59  Tagen  anscheinend  geheilt  entlassen. 
Nach  2  Monaten  Schwellung  der  r.  Nates.  Incision.  Kein  Eiter.  Fat.  wieder 
(wenigstens  anscheinend)  geheilt  entlassen. 

II.  Sänger  (2),  1890.  —  42 jähr.  W.  -  Die  Geschwulst  bei  den  3 
letzten  von  9  Geburten  als  Geburtshinderniss  constatirt.  —  Abgesehen  von 
dem  Einfluss  auf  die  Entbindung  wurde  Erschwerung  des  Stuhlganges  und 
Drnckgefuhl  im  Becken  angegeben.  —  Kindskopfgrosse,  prall  elastische  Ge- 
schwulst,  die  sich  ein  wenig  heben  und  senken  lässt,  sonst  aber  un verschieb- 
lich ist.  Vorwiegend  in  dekr  rechten  Beckenhälfte  gelegen,  das  rechte  Scheiden- 
gewölbe nach  unten  vorbuchtend,  den  Uterus  nach  links  vorn  oben  vordrän- 
gend. Scheide  und  Mastdarm  durch  die  Geschwulst  nach  links  verdrängt  und 
platt  gedrückt.  Inhal't:  Bräunliche  Flüssigkeit  mit  Plattenepithelien,  Fett- 
detritus  und  Cholestearin.  —  Erst  Function  vom  Rectum  aus.  9  Monate 
später  völlige  Ausschälung  durch  Perineotomie.     Einzelne  Fetzen  der  Cyste 


140  Dr.  F.  de  Quervain, 

« 

sitzen  gelassen.  Tamponnade.  —  Abstossung  der  Fetzen,  Heilung  in  3  Wochen, 
bis  auf  eine  granulirende  Einziehung  am  Damm. 

12.  Page  (13),  1891.  —  47jähr.  W.  —  7  mühsame  Geburten.  Bei  der 
5.  Geburt,  vor  20  Jahren,  wurde  die  Geschwulst  zum  erstenmal  bemerkt;  lang- 
sames stetiges  Wachsthum.  6.  Geburt  schwerer  als  die  bisherigen,  7.  Geburt 
durch  Kraniotomie  beendigt.  —  In  den  letzten  4  Jahren  Fluor  albus  und  zu- 
nehmende Harn-  und  Stuhlbeschwerden.  —  Nach  unten  vom  Nabel  eine  Criket- 
ballgrosse,  seitlich  bewegliche  Geschwulst.  Dahinter  ein  grösserer,  nach  oben 
bis  zum  Nabel  reichender,  nach  unten  das  Becken  einnehmender  Tumor.  Bei 
der  Vaginaluntersuchung  zeigt  es  sich,  dass  die  kleine,  kugelige  Geschwulst 
den  nach  vorn  oben  verdrängten  Uterus  darstellt.  Vagina  stark  verlängert. 
Bei  der  Rectaluntersuchung  findet  man  eine  das  Rectum  und  die  Vagina  nach 
voiTi  vordrängende  Geschwulst.  Function  vom  Rectum  aus  ergab  eine  breiige 
Masse  und  ein  Haar,  welches  die  Canüle  verstopfte.  —  2  Tage  nach  der  Probe- 
punction  Fieber,  dann  Erbrechen  und  Auftreten  einer  Phlegmone  am  Damm. 
Halbmondförmiger  Querschnitt  am  Damm,  mitten  zwischen  After  und  Steiss- 
bein.  Eröffnung  der  Cyste.  Entleerung  durch  Druck  von  oben.  Ausschälung 
mit  der  Hand ,  unter  geringer  Blutung.  Drainage.  Naht.  —  Heilung  in  un- 
gefähr 6  Wochen.    Fieber  bis  Ende  der  3.  Woche. 

13.  Schulze  (10),  1894.  --  33 jähr.  W.  —  Die  Geschwulst  wurde  zum 
ersten  Mal  bei  einer  Entbindung  von  der  Hebamme  bemerkt.  Subj.  Symptome 
traten  erst  mehrere  Jahre  später  auf.  — .  Bei  der  letzten,  vor  2  Jahren  stattge- 
fundenen Geburt  bedingte  die  Geschwulst  eine  erhebliche  Verzögerung  der 
Austreibung.  Seit  einigen  Monaten  Stuhlbeschwerden  und  Schwierigkeiten  beim 
Sitzen.  —  Vorbuchtung  zwischen  Steiss  und  After.  Sitz  der  Geschwulst 
zwischen  Mastdarm  und  hinterer  Beckenwand,  von  der  Analgegend  bis  zur 
linken  Kreuzdarmbeinfuge  reichend,  vom  Rectum  schalenförmig  umfasst 
Ovarien  normal,  Uterus  beweglich,  retroflectirt.  Inhalt:  bräunliche,  geruch- 
lose Flüssigkeit.  —  Function  von  der  Analgegend  aus.  Nach  2  Monaten  Ex- 
stirpation  von  einem  vom  Steissbein  zum  After  reichenden  Schnitt  aus.  Es 
zeigt  sich  dabei,  dass  zwei  getrennte  Cysten  vorhanden  sind,  die  eine  über  die 
andere  unter  dem  M.  levator  ani  sitzend.  Naht,  Drainage.  —  Reactionsloser 
Verlauf.     Heilnng. 

14.  Hoefer  (11),  1896,  (Klinik  von  Fehling).  —  37jähr.  W.  —  Erste 
Beobachtung  der  Geschwulst  vor  6  Jahren.  —  Stechende  Schmerzen  im  Tumor 
bei  schwerer  Arbeit.  Defäcation  und  Miction  normal.  Geburten  normal.  — 
Gut  k in dskopf grosse  Geschwulst  in  der  linken  Gesässgegend,  in  Knieellen- 
bogenlage etwas  zurückdrängbar.  Rima  ani  und  Schamspalte  nach  rechts  ver- 
schoben. Der  Tumor  reicht  bis  über  den  Beckeneingang.  Beide  Ovarien  in 
Narkose  fühlbar.  Rectum  nach  rechts  verdrängt.  Inhalt:  gelbliche  Flüssig- 
keit mit  Chölestearin,  Plattenepithelien  und  Detritus.  Auskleidung:  ge- 
schichtetes Plattenepithel.  —  Ausschälung  der  Cyste  durch  Perineotomie.  Das 
Dermoid  ragt  in  die  auseinandergefalteten  Blätter  des  Lig.  latum.  Catgatnähte 
in  der  Tiefe.  Drainage.  Hautnaht.  1  Monat  später  vordere  und  hintere  Cd- 
porhaphie.  Eiterung.  Vollständiger  Schluss  der  Wunde  7  Wochen  nach  der 
Operation. 


üeber  die  Dermoide  des  Beckenbindegewebes.  141 

IS.  Colon  na  (12),  1896.  —  28jähr.  W.  —  Vor  6  Jahren  normale  Ge- 
bort Seit  5  Monaten  Stahlbeschwerden.  —  Drackgefahl  in  der  Sacralgegend. 
Blat  im  Stuhl.  Seit  1  Monat  Stahldrang  und  Schleimabgang  aus  dem  Rectum. 
Häofiger  Harndrang  bei  normalem  Urin.  Abdom.  in  der  Fossa  iliaca  sinistra 
etwas  empfindlich.  —  4  cm  über  der  Analöffnung  findet  sich  ein  kugelförmiger 
Tumor,  der  das  Rectum  nach  rechts  vorne  verdrängt.  Dasselbe  ist  comprimirt. 
Der  obere  Pol  der  Geschwulst  ist  mit  dem  Finger  nicht  erreichbar.  Bei  Rectal- 
untersuchang  hat  man  an  der  Hinterwand  das  Gefühl  einer  kleinen,  ober- 
flächlichen Ulceiation.  Tumor  weich,  elastisch.  Uterus  nach  rechts  oben  ver- 
drängt. Diagnose:  gutartige  Geschwulst,  wahrscheinlich  Cyste.  —  Exstir- 
pation  von  einem  parasacralen  Schnitt  nach  Zuckerkand  1 -Wölfler  aus.  Es 
zeigt  sich,  dass  es  sich  um  ein  Dermoid  handelt.  —  Heilung  nach  26  Tagen. 

K.  de  Quervain,  1898.  —  58jähr.  M.  —  Seit  18—19  Jahren  Harn- 
beschwerden, die  sich  allmählich  steigern.  —  Erst  Harnbeschwerden,  wie  ein 
Prostatiker.  In  den  letzten  Jahren  auch  Stuhlbeschwerden.  Schliesslich  völlige 
Harnverhaltung.  Falscher  Weg.  —  Dermoidcyste,  das  ganze  kleine  Becken 
nach  unten  bis  in  die  Hohe  des  3.  Sacralwirbels  ausfüllend,  nach  oben  bis 
ca.  1  Querflnger  unter  den  Nabel  deichend.  Rectum  nach  rechts  vom  ver- 
drängt. Inhalt:  bräunliche,  eiterähnliche  Flüssigkeit  mit  Kömchen  kugeln, 
Detritus,  Epithelzellen,  Cholestearin.  Wandauskleidung:  Geschichtetes 
Platten-  und  Pflasterepithel.  Keine  Haare.  —  Eröffnung  und  Drainage  der 
Cyste  als  Nothoperation.  Nach  3  Wochen  Exstirpation  der  oberen  Hälfte  vom 
Abdomen  her.  Nach  weiteren  3  Wochen  Exstirpation  der  unteren  Hälfte  von 
einem  Parasacralschnitt  aus.  —  Glatter  Verlauf.  Heilung  1  Monat  nach  der 
totalen  Exstirpation  der  Cyste. 

Anhangsweise  seien  hier  noch  4  Fälle  von  Dermoid  des 
Rectums  zusammengestellt,  über  deren  Beziehungen  zum  peri- 
rectalen Bindegewebe  wir  uns  noch  im  Einzelnen  aussprechen 
werden. 

I.  Snyers  (23).  —  35 jähr.  W.  —  Drei  mühsame  Geburten.  5  Jahre 
später  wieder  sehr  mühsame  Geburt.  Beim  Anlegen  der  Zange  trat  aus  dem 
Anus  eine  Gänseeigrosse,  gestielte  Geschwulst  hervor.  —  Sitz  der  Geschwulst 
an  der  hinteren  Wand  des  Mastdarmes.  Dieselbe  bestand  aus  2  Hohlräumen, 
von  denen  der  grössere  seröse  Flüssigkeit  und  schweinefettartige  Substanz  ent- 
hielt, sowie  ein  Büschel  Haare.  Die  kleinere  Höhle  enthielt  3  Zähne.  Die 
Wand  enthielt  ein  einem  halben  Unterkiefer  ähnliches  Knochenstück.  Bei  der 
Nachuntersuchung  zeigte  sich  der  Stielrest  von  einem  sich  allmählich  ver- 
kleinernden Wulst  umgeben.  —  Abtragung  der  Geschwulst  nach  Unter- 
bindung des  Stiels.  —  Heilung  nach  anhaltender,  starker  Eiterung  aus  dem 
Rectum. 

t*  Danzel  (24).  —  25jähr.  W.  —  Vom  11.  Jahre  war  Haarauswuchs 
aus  dem  After  bemerkt,  als  einziges  Symptom  ca.  2  72  ^^^^  hoch  im  Rectum 
sitzt  an  dessen  Vorderwand  ein  Kleinapfelgrosser  Tumor,  ziemlich  beweglich. 
Derselbe  trägt  an  seiner,  völlig  der  Cutis  entsprechenden  Bedeckung  lange, 
blonde  Haare    und  einen   Zahn.    Im  Innern  des  (soliden)  Tumors:   Binde- 


142  Dr.  F.  de  Quervain, 

gewebe,  Knochensabstanz,  rudimentäre  Gehirnanlage,  Nerven,  Fettgewebe. 
—  Entfernung  mit  der  Polypenscfaeere  vom  Rectum  aus.  —  Starb  nach 
3  Monaten  an  einer  chronisch  verlaufenden  Beckenperitonitis. 

3.  Gel  Strom  (25).  —  24 jähr.  W.  —  Bei  der  2.  Geburt,  vor  4  Jahren,  Aus- 
tritt einer  kleinen  Geschwulst  vor  den  Genitalien.  Dieselbe  verschwand  spontan 
wieder.  —  Befund:  Flaschenförmiger,  an  seinem  unteren  Ende  gangränöser 
Tumor,  der  nach  einer  Geburt  aus  der  Schamspalte  vortrat.  Fehlen  des 
Dammes  (früherer,  durchgehender  Dammriss).  Die  an  der  Vorderwand  des 
Rectum  inserirende  Geschwulst  enthält  Haare  in  einer  fettartigen  Schmiere, 
sowie  zwei  Knochenstücke.  —  Abbinden  des  Stiels.  Durchschneiden  der 
Ligatur.  Frische  Unterbindung.  —  Glatter  Verlauf.  Heilung. 

4.  Börninger,  cit.  von  Sänger  (2).  —  Abgang  von  eiterähnlichen 
Massen  und  von  Haaren  aus  dem  Rectum.  —  Es  liess  sich  die  Einbruchstelle 
an  der  hinteren  Mastdarmwand  deutlich  fühlen. 

Zu  erwähnen  wäre  hier  noch  der  Fall  von  Barker  (26),  ein 
Mastdarradermoid  betreffend.  Derselbe  war  mir  aber  im  Originale 
nicht  zugänglich. 

Der  pathologisch -anatomischen  und  klinischen  Besprechung 
der  DeiTOOide  des  Beckenbindegewebes  seien  noch  einige  anatomische 
Bemerkungen  vorausgeschickt. 

Wenn  wir  von  Beckenbindegewebe  sprechen,  so  verlangt  dieser 
Ausdruck  eine  genauere  Bestimmung  und  eine  gewisse  Einschränkung. 
In  erster  Linie  sei  gesagt,  dass  wir  nur  das  kleine  Becken  im  Auge 
haben.  Der  Raum  des  grossen  Beckens  gehört  so  sehr  zur  Ab- 
dominalhöhle, dass  wir  ihn  hier  ausschliessen  müssen. 

Zum  Bindegewebe  des  kleinen  Beckens  gehört  nun  streng 
genommen  alles  Bindegewebe,  w^elches  die  Blase  sammt  Prostata 
und  Samenblasen  beim  männlichen  Geschlecht,  sammt  Uterus  und 
Vagina  beim  weiblichen  Geschlecht  einschliesst.  Dieses  Bindegewebe 
wird  durch  das  Diaphragma  pelvis  in  ein  oberes  und  ein  unteres 
Stockwerk  getrennt,  von  denen  das  letztere  räumlich  das  kleinere 
ist,  weil  der  das  genannte  Diaphragma  hauptsächlich  darstellende 
Musculus  levator  ani  trichterförmig  nach  unten  verläuft,  und  so 
den  grössten  Theil  des  verfügbaren  Raumes  der  oberen  Hälfte  des 
Beckenraumes  zutheilt.  Das  untere  Stockwerk  besteht  demnach  eigent- 
lich nur  aus  den  beiden  Fossae  rccto-ischiadicae,  die  nach  innen  begrenzt 
sind  von  dem  dünnen,  äussern,  dem  Levator  aufliegenden  Blatt  der 
Beckenfascie  und  nach  aussen  vom  M.  obturator  internus  und 
seiner  Fascie.  Nach  unten  wird  dieser  Raum  durch  die  ober- 
flächliche Dammfascie    und   die  Haut   abgeschlossen.     Der   obere 


Ueber  die  Dennoide  des  Beckenbindegewebes.  143 

Raum  schliesst  in  sich :  erstlich  das  peri-  und  hauptsächlich  retro- 
rectale  Bindegewebe,  zweitens  das  zwischen  dem  Levator  ani  und 
dem  Peritoneum  des  Douglas  liegende  Bindegewebe,  drittens  das 
die  Blase  umgebende  Bindegewebe.  Beim  weiblichen  Geschlecht 
kommt  noch  als  vierter  Bestandtheil  des  Beckenbindegewebes  das 
als  quere  Leiste  den  Raum  des  kleinen  Beckens  durchsetzende 
Gewebe  der  breiten  Mutterbänder  hinzu.  Es  ist  selbstverständlich, 
dass  diese  drei  bezw.  vier  Bestandtheile  des  oberen  Raumes  des 
Beckenbindegewebes  nicht  an  allen  Punkten  scharf  getrennt  werden 
können.  Es  schien  uns  aber  nichtsdestoweniger  nutzlich  im  Inter- 
esse der  Klarheit  des  folgenden  Capitels,  diese  allgemein  bekannten 
Dinge  kurz,  wenn  auch  etwas  schematisch,  voranzustellen. 

Wir  kommen  zur  pathologischen  Anatomie  der  Dermoide 
des  kleinen  Beckens  und  beginnen  mit  der  anatomischen  Lage 
derselben. 

Es  sind  schon  in  allen  oben  genannten  Theilen  des  Becken- 
bindegewebes Dermoide  gefunden  worden.  Dieselben  haben  jedoch 
nicht  alle  die  gleiche  klinische  Bedeutung  und  wir  wollen  gleich 
zwei  Gruppen  von  der  Betrachtung  ausscheiden,  nämlich  die  mit 
der  Blase  und  mit  dem  Uterus  in  Beziehung  stehenden  Dermoide. 
Was  die  ersteren  betrifft,  so  handelt  es  sich  in  der  Regel  um  in 
die  Blase  durchgebrochene  Eierstock-Dermoide,  und  es  ist  in  den 
meisten  Fällen  dieser  Ursprung  nicht  mit  Sicherheit  auszuschliessen, 
es  sei  denn,  dass  die  Laparotomie  Intactsein  beider  Ovarien  ergeben 
habe.  In  einigen,  von  Sänger  citirten  Fällen  (Winship,  Charcot, 
Küster)  hatten  allerdings  an  oder  in  der  Blasenwand  sitzende 
Dermoide  nichts  mit  den  Ovarien  zu  thun  und  dasselbe  ist  selbst- 
verständlich in  der  von  Martini  (35)  mitgetheilten  Beobachtung 
der  Fall,  wo  ein  nach  der  Blase  hin  offenes  Dermoid  bei  einem 
neugeborenen  Knaben  bei  Gelegenheit  der  Autopsie  gefunden  wurde. 
Da  die  in  die  Blase  durchgebrochenen  Dennoide,  seien  sie  ovariellen 
Ursprungs  oder  nicht,  ein  eigenartiges  Krankheitsbild  bedingen,  das 
völlig  von  dem  bei  den  übrigen  Dermoiden  des  Beckenbindegewebes 
beobachteten  abweicht^)  (Pilimiction,  cystitische  Beschwerden),  so 
schlicssen  wir  sie  hier,  wie  gesagt,  von  der  Betrachtung  aus. 

Die  zweite  Gruppe,  welche  wir  ausschli  essen,    betrifft  die  an- 

K  Vergleiche  u.  A.  den  neulich  mitgetheilten  Fall  von  LeGendre,  Gaz, 
des  h6pitaux.     1896,  No.  136.    26.  Nov. 


144  Dr.  F.  de  Quervain, 

geblichen  Uterusdermoide.  Wie  Sänger  annimmt,  handelt  es 
sich  in  diesen  Fällen  eher  um  Dermoide  des  Beckenbindegewebes, 
die  z.  B.  bei  Anlass  einer  Zangenentbindung  durch  Verletzung  der 
Geburtswege  aus  dem  Beckenbindegewebe  ausgequetscht  wurden.  Es 
ergiebt  sich  aus  dem  eben  Gesagten,  dass  diese  Fälle  zu  unbestimmt 
sind,  als  dass  wir  sie  verwerthen  könnten.  Dasselbe  gilt  auch  von  retrou- 
terinen,  von  der  Scheide  her  eröffneten  Dermoidcysten  vrie  sie  von 
Makris  (27),  Barette  (28)  mitgetheilt  sind,  und  bei  denen  die 
Unabhängigkeit  von  den  Ovarien  nur  durch  Laparotomie  mit  Sicher- 
heit erwiesen  werden  könnte.  Es  bleiben  uns  also  noch  die  im  Ge- 
biete des  Rectum  und  der  Ligamenta  lata  entstandenen,  sicher  extra- 
peritonealen Dermoide.  Wenn  wir  dieselben  weiter  eintheilen  wollen, 
so  bietet  sich  als  natürlichstes  Gruppirungsprincip  die  Lage  der  Cyste 
zum  Diaphragma  pelvis.  Bei  den  oberhalb  des  Levator  ani 
sitzenden  Dermoiden  wäre  weiter  zu  unterscheiden  zwischen  reti'o- 
rectalen,  seitlichen  (subserös  liegenden),  und  im  Ligamentum  latum 
eingeschlossenen  Geschwülsten.  Die  nach  unten  vom  Levator 
ani  gelegenen  Dermoide  liessen  sich  unterscheiden,  je  nachdem  sie 
rein  medial,  nach  vorn  vom  Stcissbein,  oder  mehr  seitlich,  im  Cavum 
recto-ischiadicum  entwickelt  sind. 

Wir  können  uns  demnach  mit  der  von  Hoefer  vorgeschlagenen 
Entheilung  nicht  befreunden,  nach  welcher  zwei  Gruppen  aufgestellt 
würden,  von  denen  die  eine  die  im  Ligamentum  latum  entwickelten 
Dermoidcysten  (d.  h.  einzig  den  Hoefer 'sehen  Fall),  die  andere  die  im 
Cavum  pelvis  subperitoneale  und  subcutaneum  sitzenden  Cysten, 
d.  h.  mit  andern  Worten  alle  übrigen  Dermoide  des  Beckenbinde- 
gewebes enthalten  sollte. 

Es  sei  bei  diesem  Anlass  noch  bemerkt,  dass  wir  den  Aus- 
druck Sänger's:  „Cavum  pelvis  subperitoneale"  lieber  ver- 
meiden möchten,  so  bequem  derselbe  sein  mag,  um  den  oberhalb 
des  Diaphragma  pelvis  gelegenen  Theil  des  Beckenbindegewebes 
zu  bezeichnen.  Es  handelt  sich  eben  normalerweise  nicht  um  ein 
Cavum,  sondern  um  das  subseröse,  der  Innenfläche  des  Levator 
ani  anliegende  Bindegewebe,  und  das  Cavum  vrird  erst  durch  die 
Geschwulst,  oder  besser  gesagt  durch  die  Exstirpation  derselben 
gebildet.  Das:  „Cavum  pelvis  subcutaneum",  synonym 
mit  der  Fossa  ischiorectalis  oder  dem  Cavum  recto- 
ischiadicum  verdient   schon  eher  den  Namen:    „Cavum",    insofern 


Ueber  die  Dermoide  des  Beckenbindegewebes.  145 

es  sich  um  einen  von  Fett  ausgefüllten  Raum  handelt  der  in  Folge 
der  mehr  oder  weniger  fixen  Stellung  seiner  Wände  stets  ein  ge- 
wisses Volumen  aufweist  und  nie  auf  eine  einfache  Bindegewebs- 
spalte  reducirt  ist. 

Sehen  wir  nun,  wie  sich  in  Wirklichkeit  die  Localisation  der 
in  Frage  stehenden  Cysten  verhält  und  inwiefern  sich  unsere  ana- 
tomische Eintheilung  festhalten  lässt. 

W^r  beginnen  mit  den  unterhalb  des  Levator  gelegenen  Der- 
moiden. Soweit  dieselben  ganz  oberflächlich  liegen,  zwischen  Steiss- 
bein  und  Afteröffnung,  wie  in  den  Fällen  von  v.  Bergmann  (6), 
Gussenbauer  (7),  Küster  (29)  u.  s.  w.  haben  wir  sie  aus  dem 
Kreis  unserer  Betrachtung  ausgeschlossen,  weil  sie  streng  genommen 
nicht  mehr  zur  Beckenhöhle  gehören.  Von  den  in  vorstehender 
Tabelle  aufgeführten  16  Fällen  dürfte  nur  derjenige  von  Birkett 
ausschliesslich  unterhalb  des  Levator  gelegen  gewesen  sein.  Im 
Falle  Schulz  fanden  sich  zwei  Cysten  vor,  von  denen  die  eine 
unterhalb,  die  andere  oberhalb  des  Levator  sass.  Ob  es  sich  im 
Fall  Weinlechner  ebenso  verhalten  hat,  kann  ich  nicht  entscheiden, 
da  mir  das  Original  nicht  zur  Verfügung  stand.  In  den  Fällen 
von  Walzberg,  Trzebicky  und  Hoefer  wölbte  der  Tumor  die 
Haut  in  der  Gesässgegend  zwar  mehr  oder  weniger  vor,  reichte 
aber  andererseits  soweit  in  das  Becken  hinein,  dass  der  ursprüng- 
licher Sitz  nicht  unterhalb  des  Levator,  sondern  oberhalb  zu  suchen 
ist,  denn  es  kann  nicht  angenommen  werden,  dass  eine  unterhalb 
des  Levator  entstandene  Cyste  sich  in  der  Richtung  des  grössern 
Widerstandes,    d.  h.  nach  dem  Beckenraum  hin  entwickeln  sollte. 

Der  Levator  ani  wurde  in  diesen  Fällen  entweder  von  oben 
her  durchbrochen,  oder  hochgradig  verdünnt  und  nach  unten  ge- 
schoben. 

Von  Verdrängung  der  Nachbarorgane  kann  man  bei  den 
unterhalb  sitzenden  Dermoiden  nicht  sprechen.  Das  einzige  ver- 
drängte Organ  ist  die.  Haut  in  der  Dammgegend,  die  z.  B.  in  dem 
Fall  von  Schulze  soweit  vorgewölbt  wurde,  dass  der  Abstand 
zwischen  Steissbeinspitze  und  Anus  10  cm  betrug.  Bei  den  Pa- 
tientinnen von  Walzberg,  Trzebicky  und  Hoefer  war  die,  stets 
etwas  seitlich  sitzende,  Vorwölbung  noch  erheblich  etwas  grösser, 
mindestens  kindskopfgross.  Wir  werden  auf  diese  Fälle  weiter 
unt6n  noch  zurückkommen. 

AxehiT  fBr  klin.  Chinirgie.    67.  Bd.  Heft  1.  ^q 


146  Dr.  F.  de  Quervain, 

Wir  haben  oben  bemerkt,  dass  die  unterhalb  des  Levator 
ani  gelegenen  Dermoide  sich  theoretisch  in  mediane  und  seitliche 
eintheilen  lassen,  in  Wirklickeit  scheinen,  wie  sich  aus  den  Fällen 
von  Birkett,  Küster  und  Schulze  ergiebt,  und  wie  auch  Hansen 
auf  Grund  einer  grösseren  Zahl  von  ano-coccygealen  Dermo- 
iden hen'orhebt,  diese  Cysten  stets  median  zu  liegen.  Andererseits 
muss  daran  erinnert  werden,  dass  z.  B.  Gussenbauer  in  Ver- 
bindung mit  solchen  medianen  Dermoiden  seitliche  Nebenhöhlen 
gefunden  hat. 

Unser  Hauptinteresse  nehmen  die  oberhalb  des  Levator  ent- 
standenen Dermoide  in  Anspruch.  Es  ist  selbstverständlich,  dass 
ihr  ursprünglicher  Sitz  sich  nicht  immer  leicht  bestimmen  lässt, 
wenn  sie  einmal  eine  gewisse  Ausdehnung  erlangt  haben.  Die 
besten  Anhaltspunkte  gewinnen  wir  in  dieser  Beziehung  aus  der 
Verdrängungsweise  der  benachbarten  Organe,  im  Besonderen  des  Mast- 
darmes. Wenn  wir  die  bisher  veröffentlichten  Beobachtungen  mit 
Rücksicht  auf  diesen  Umstand  durchgehen,  so  finden  wir,  dass  in 
10  Fällen  die  Geschwulst  hinter  dem  Mastdarm  lag.  Derselbe 
war  entweder  direct  nach  vorn,  oder  häufiger  nach  rechts,  ausnahms- 
weise (Sänger)  nach  links  verdrängt.  Es  ergiebt  sich  daraus, 
dass  die  Geschwulst  sich  mit  Vorliebe  (in  den  Fällen  von  Walz- 
berg,  Trzebicky,  Deahna,  Solowjew,  Schulze,  Colonna, 
de  Quervain)  in  dem  linken  retrorectalen  Bindegewebe 
entwickelt  hat.  Nur  in  dem  Fall  von  Sänger  sass  sie  mehr  nach 
rechts.  In  den  Beobachtungen  von  Biernacki  und  Page  sass 
(las  Dermoid  rein  median,  also  völlig  retrorectal. 

In  3  Fällen  (zwei  von  Manuel,  Fall  von  Emmet)  sass  die  Cyste 
unter  dem  Bauchfell  des  Douglas'schen  Raumes  (bei  Mannel: 
„zwischen  Bauchfell  und  Levator  ani"). 

In  dem  von  Hoefer  mitgetheilten  Falle  endlich  hatte  sich 
die  Geschwulst  im  linken  Ligamentum  latum  entwickelt,  von  da 
bis  in  die  Gesässgegend  vordringend. 

Anhangsweise  könnten  wir  hier  erstlich  noch  den  Fall  von 
Bryk  erwähnen,  bei  dem  ein  aus  3  Dermoidcysten  bestehendes 
Gebilde  anscheinend  vom  Trochanter  major  her  durch  die  Inci- 
sura  ischiadica  major  in  das  kleine  Becken  wucherte.  Wir  glauben 
mit  Trzebicky,  dass  sich  die  Sache  vielleicht  auch  umgekehrt 
verhalten  kchinte  und    dass    es  nicht  ausgeschlossen  ist,    dass  der 


Ueber  die  Dermoide  des  Beckenbindegewebes.  147 

ursprüngliche  Sitz  der  Geschwulst  im  kleinen  Becken  zu  suchen 
ist.  Ferner  seien  hier  noch  die  Fälle  von  sog.  Dermoiden  des  Rec- 
tum km-z  berührt  Wir  haben  dieselben  am  Schluss  unserer  Tabelle 
aufgeführt,  weil  wir  mit  Sänger  der  Ansicht  sind,  dass  es  sich 
wahrscheinlich  —  zum  Theil  wenigstens  —  um  perirectale,  secundär 
in  das  Mastdarmlumen  vorgebuchtete  und  Polypenfonn  annehmende, 
oder  um  in  das  Rectum  durchgebrochene  Dermoide  handelt. 

Im  Fall  von  Snyers  sehen  wir  eine  gänseeigrossen  Dermoid- 
geschwulst  während  einer  Zangenapplication  aus  dem  Rectum  vor- 
treten, welche  von  Snyers  mit  einer  die  foetale  Seite  präsentirenden, 
von  Eihäuten  zurückgehaltenen  embryonalen  Placenta  verglichen 
wird.  Es  scheint  aus  dieser  Beschreibung  schon  mit  ziemlicher 
Sicherheit  hervorzugehen,  dass  die  Geschwulst  nicht  mit  Mucosa 
überkleidet  war  und  also  nicht  einen  richtigen  Polypen  darstellte. 
Der  platte,  mehr  als  1  cm  breite,  V2  cm  dicke  Stiel  schien  an 
die  Hinterwand  des  Mastdarms  zu  gehen.  Die  25  Tage  nach  der 
Abtragung  des  Dermoids  ausgeführte  Nachuntersuchung  Hess  nach 
der  Kreuzbeinaushöhlung  hin  den  Stiel  sammt  Ligatur  fühlen,  der 
sich  innerhalb  eines  mehrere  Centimeter  im  Durchmesser  haltenden, 
offenbar  von  der  Wand  des  Rectum  gebildeten  Walles  frei  bewegen 
lässt  und  sich  nach  dem  oberen  Theil  des  Kreuzbeines  hin  zu  ver- 
lieren scheint.  Eine  14  Tage  später  ausgeführte  Untersuchung 
zeigte,  dass  sich  der  beschriebene  Wall  verkleinert  hatte  und  den 
Stiel  nun  eng  umgab,  zum  Theil  mit  demselben  verklebt. 

Snyers  schliesst  mit  Recht  aus  diesen  Befunden,  sowie  aus 
dem  Umstand,  dass  die  Abtragung  der  Geschwulst  von  einer  für 
den  blossen  Stiel  viel  zu  reichlichen  Eiterung  gefolgt  war,  dass 
es  sich  um  ein  retrorectales  Dermoid  gehandelt  hatte,  welches 
durch  den  Druck  des  Kopfes  gegen  die  Rectalwand  gedrängt, 
diese  zerrissen  habe  und  durch  den  Riss  in  das  Lumen  des  Mastdarms 
durchgetreten  sei.  Diese  Erklärung,  welche  wohl  keinen  Zweifel 
zulässt,  giebt  auch  den  Schlüssel  zu  der  wahrscheinlich  richtigen 
Auffassung  der  von  Gel  ström  mitgeth  eilten  Beobachtung.  Der 
Hauptunterschied  bestand  wohl  darin,  dass  hier  die  Geschwulst 
von  der  vorderen  Mastdarmwand  her  sich  einstülpte.  Ob  es 
sich,  wie  Sänger  anzunehmen  scheint,  um  einen  Riss  in  der 
Rectalwand  mit  Austreten  der  Geschwulst  bei  der  letzten  Geburt 
gehandelt    —  analog   dem  Fall    von  Snyers  — ,    oder    ob  dieses 

10* 


148  Dr.  F.  de  Quervain, 

Ereigniss  schon  bei  der  zweiten  Geburt  eingetreten  war,  wo  schon, 
4  Jahre  früher,  der  vorübergehende  Austritt  einer  kleinen  Ge- 
schwulst aus  den  Genitalien  bemerkt  worden  war,  das  lässt  sich 
nach  der  Beschreibung  Gelstroms  nicht  sicher  entscheiden.  Wie 
genau  sich  übrigens  die  Patientin  beobachtete,  das  dürfte  schon 
aus  dem  Umstände  hervorgehen,  dass  ein  durchgehender  Damm- 
riss  mit  Zerstörung  des  grössten  Theils  des  Septum  rccto-vaginale 
von  ihr,  wie  es  scheint,  in  keiner  Weise  als  Unannehmlichkeit 
empfunden  wurde. 

In  dem  Falle  Danzels  wurde  das  Eindringen  des  Dermoids 
in  den  Mastdarm  nicht  durch  einen  Geburtstraumatismus  bedingt. 
Der  Durchbruch  der  Mastdarmwand  musste  vielmehr  spontan  erfolgt 
sein.  Da  das  Dermoid  seine  Innenfläche  dem  Rectallumen  zu- 
wandte, so  nimmt  Sänger  an,  dass  dasselbe  erst  in  den  Mastdarm 
perforirte  und  sich  dann  in  denselben  umstülpte.  Da  der  Haar- 
abgang aus  dem  Anus  erst  mit  dem  11.  Jahre  begann,  so  ist  nach 
Sänger  ein  primär  gegen  das  Rectum  offenes  Dermoid,  wie  es  Mar- 
tini (34)  bei  der  Untersuchung  dieses  Falles  vermuthet,  nicht  wahr- 
scheinlich. Es  muss  aber  immerhin  bemerkt  werden,  dass  der 
auffallend  teratoide  Bau  in  diesem  Fall  die  Annahme  eines  im 
Rectum  inserirten  Teratoms  nicht  abweisen  lässt.  Dass  der  Haar- 
wuchs erst  im  11.  Jahr  bemerkt  wurde,  ist  wohl  kein  absoluter 
Gegengrund.  Klarer  als  in  den  beiden,  liegen  die  Verhältnisse 
in  dem  von  Sänger  angeführten  Falle  Börningers.  Hier  kann 
kein  Zweifel  darüber  bestehen,  dass  es  sich  um  ein  retrorectales, 
in  den  Mastdarm  perforirtes  Dermoid  handelte. 

In  Fällen,  wo  eine  einfache  Perforation  in  den  Mastdarm 
vorliegt,  kann  freilich  ein  Ovarialdermoid  nur  dann  ausgeschlossen 
werden,  wenn  sich  die  Perforationsöffnung  an  der  Hinter  wand 
des  Mastdarmes  befindet,  während  bei  vollständig  in  denselben 
eingestülpten  oder  polypös  eingewachsenen  Dermoiden,  auch  wenn 
sie  von  vorne  her  kommen,  ein  ovarialer  Ursprung  weniger  wahr- 
scheinlich sein  dürfte.  Völlig  auszuschliessen  ist  er  freilich  im 
Falle  Danzels  nicht. 

Es  ergiebt  sich,  um  auf  die  Dermoide  des  Beckenbindegewebes 
überhaupt  zurückzukommen,  aus  dem  Gesagten,  dass  die  bisher 
gemachten  Erfahrungen  die  oben  gegebene  anatomische  Eintheilung 


lieber  die  Dennoide  des  Beckenbindegewebes.  149 

in  ihren  wesentlichen  Punkten  rechtfertigen  und  da«s  wir  berechtigt 
sind,  folgende  Gruppen  aufzustellen: 

A.  Dermoide,  die  unterhalb  des  Levator  ani  entstanden  sind. 
Dieselben  sitzen  in  der  Regel  median,  zwischen  Mastdarm  und 
Steissbein. 

B.  Dermoide,  die  oberhalb  des  Levator  entstanden  sind, 
denselben  aber  bisweilen  nach  unten  durchbrechen.  Dieselben 
können  sitzen: 

1.  im  retrorectalen  Bindegewebe,  entweder  rein  median 
oder,  häufiger,  etwas  nach  links,  oder,  selten,  mehr  nach 
rechts. 

2.  im  subserösen  Bindegewebe  zwischen  dem  Peritoneum 
des  Douglas  und  dem  M.  levator  ani. 

3.  im  Ligamentum  latum  (seltenstes  Vorkommniss). 

Wir  haben  der  Verdrängungserscheinungen  schon  kurz  gedacht, 
soweit  dieselben  wenigstens  den  Mastdarm  betreffen.  Zur  Vervoll- 
ständigung sei  nur  noch  gesagt,  dass  auch  im  Fall  Iloefer  der  Mast- 
darm nach  rechts  verschoben  war.  Die  Verdrängung  der  übrigen  Or- 
gane erfolgt  in  entsprechender  Weise.  Die  Scheide  wird  in  der  Regel 
im  gleichen  Sinne  verschoben,  wie  das  Rectum.  Bei  erheblicher 
Entwickelung  der  Cyste  wird  das  Lumen  der  verdrängten  Gebilde 
natürlich  plattgedrückt,  so  dass  sie  schalenartig  die  Geschwulst 
bedecken.  Page  hebt  femer  in  seinem  Fall  eine  erhebliche  Ver- 
längerung der  Scheide  hervor.  Der  Uterus  wird  meist  nach  oben 
verschoben,  entweder  rein  median,  im  Fall  Page  bis  nahe  an  den 
Nabel,  oder  etwas  seitlich,  entsprechend  der  Verschiebung  von 
Mastdarm  und  Scheide.  Wenn  Sänger  hervorhebt,  dass  die  Ge- 
bärmutter bloss  nach  oben  gedrängt  werde,  ohne  Entfaltung  der 
breiten  Bänder,  so  hat  dies  gewiss  für  die  Mehrzahl  der  Fälle 
Geltung.  Immerhin  macht  der  Fall  Hoefer  mit  seiner  Entwicke- 
lung des  Dermoids  im  linken  Ligamentum  latum  eine  Ausnahme. 
Bei  bedeutendem  Volumen  des  Dermoids  wird  schliesslich  noch 
die  Blase  in  Mitleidenschaft  gezogen,  und  zwar  handelt  es  sich 
um  ein  Andrängen  des  Blasenhalses  an  die  Symphyse  und  —  in 
unserem  Fall  —  um  eine  Verdrängung  der  ganzen  Blase  nach 
oben.  lieber  die  Lage  der  üreteren  sind  in  keinem  Falle  Beob- 
achtungen gemacht  worden. 


150  Dr.  F.  de  Quervain, 

Die  Grösse  der  Dermoide  des  Beckenbindegewebes  ist  recht 
verschieden.  Als  kleinstes  Exemplar  könnte  das  von  Marchand  (30) 
bei  der  Autopsie  eines  kleinen  Mädchens  gefundene  Gebilde  auf- 
gefasst  werden.  Es  handelte  sich  um  ein  dicht  unter  dem  linken 
Ovariura,  aber  vollständig  von  ihm  getrennt  an  der  hinteren  Fläche 
des  Ligamentum  latum  sitzendes  Knötchen  von  der  Grösse  eines 
Stecknadelkopfes.  Dasselbe  bestand,  wie  die  mikroskopische  Unter- 
suchung ergab,  aus  den  Elementen  der  Epidermis,  eingehüllt  von 
einer  feinen  Bindegewcbsschicht.  Marchand  fasst  das  Gebilde 
als  „kleinstes  Dermoid  im  breiten  Mutterbande"  auf.  Wir  haben 
den  Fall  nicht  in  die  Tabelle  aufgenommen,  weil  es  sich  noch 
nicht  um  ein  ausgebildetes  Dennoid,  sondern  nur  erst  um  die 
Anlage  zu  einem  solchen  handelte.  Es  lag  uns  aber  immerhin 
daran,  diese  interessante  und  seltene  Beobachtung  nicht  unerwähnt 
zu  lassen.  Um  von  diesem  Miniaturdermoid  wieder  auf  die  aus- 
gebildeten Cysten  zu  kommen,  so  sind  die  kleinsten  in  der  Tabelle 
erwähnten  Geschwülste  taubonei-  bis  hühnereigross.  iVls  grösste 
Exemplare  dürften  andererseits  der  Fall  von  Page  und  der  unserige 
bezeichnet  werden.  Im  letzten  Fall  reichte  die  Geschwulst  bis 
ca.  1  Querfinger  unter  den  Nabel,  im  erstercn  sogar  bis  in  Nabel- 
höhe. Von  mehreren  Beobachtern  wird  die  obere  Grenze  gar  nicht 
angegeben,  doch  scheint  dieselbe  die  Symphyse  in  der  Regel  nicht 
erheblich  überschritten  zu  haben.  Ueber  die  Ausdehnung  nach 
unten  haben  wir  uns  schon  ausgesprochen;  es  sei  hier  nur  noch 
beigefügt,  dass  der  in  das  Becken  reichende  Fortsatz  im  Falle 
Walzberg,  der  viel  weniger  voluminös  war,  als  der  subcutane 
Theil  der  Geschwulst,  vielleicht  doch  die  ursprüngliche  Dermoid- 
cyste darstellen  könnte,  deren  perinealer  Theil  in  Folge  des  ge- 
ringen Widerstandes  der  umliegenden  Theile  eine  grössere  Au.s- 
dehnung  angenommen  hätte. 

Bei  der  Besprechung  des  grobanatomischen  Verhaltens  der 
Beckendermoide  ist  noch  eine  Frage  zu  berücksichtigen,  über 
welche  ich  in  der  oben  angeführten  Literatur  keine  genauen  An- 
gaben gefunden  habe,  und  die  doch  für  die  operative  Technik  von 
Wichtigkeit  ist.  Ich  habe  die  Reaction  des  Beckenbindegewebes 
auf  das  Vorhandensein  des  Dermoids  im  Auge.  Nur  Sänger 
theilt  mit,  dass  die  Cystenwand  von  einer  feinen  bindegewebigen 
Kapsel   bedeckt  gewesen  sei.      In   meinem    eigenen  Fall  handelte 


Ueber  die  Dermoide  des  Beckenbindegewebes.  151 

es  sich  nicht  nur  um  eine  feine  Kapsel,  sondern  um  eine  verhält- 
nissmässig  starke  Schicht  straffen  Bindegewebes,  die  ich  am  ehesten 
mit  der  verdickten  Tunica  communis  vergleichen  möchte,  welche 
so  oft  alte  Bruchsäcke  einhüllt. 

Wenn  es  gestattet  ist,  aus  diesen  beiden  Beobachtungen 
einen  Schluss  zu  ziehen  —  unter  Mitberücksichtigung  dessen,  was 
bei  gutartigen  Geschwülsten  überhaupt  beobachtet  wird  —  so 
dürften  sich  die  Dinge  wohl  folgendermassen  verhalten: 

In  der  Umgebung  jedes  wachsenden  Dermoides  bildet  sich^) 
eine  Vermehrung  des  Bindegewebes  aus,  die  zu  einer  gewissen 
Abkapselung  der  Neubildung  führt.  Dass  diese  Bindegewebskapsel 
nicht  mit  dem  bindegewebigen  Theile  der  Dermoid- Wand  zu  ver- 
wechseln ist,  welcher  dem  Dermoid  selbst  angehört,  das  braucht 
wohl  nicht  betont  zu  werden.  In  Fällen,  bei  denen  die  Dermoid- 
cyste ein  gewisses  Alter  erlangt,  bevor  sie  der  operativen  Behand- 
lung anheimfällt  —  wie  in  unserem  Fall  —  hat  die  genannte  Kapsel 
Zeit,  eine  gewisse  Dicke  zu  erreichen.  Es  liegen  also  wohl  die 
Verhältnisse  ungefähr  wie  bei  den  schon  oben  zum  Vergleich  herbei- 
gezogenen Hernien.  In  einer  grossen  Zahl  derselben  liegt  der 
Bmchsack  einfach  im  lockern  Zellgewebe  des  Saraenstrangs,  ohne 
dass  irgend  welche  Verdickung  der  umhüllenden  Fascien  zu  be- 
merken wäre.  Bei  altern  Hernien  dagegen  bildet  sich  die  Tunica 
communis  zu  einer  derben,  bindegewebigen  Fläche  aus,  die  an  Dicke 
den  Bruchsack  oft  weit  übertrifft. 

•  Das  Fehlen  diesbezüglicher  Angaben  in  der  Mehrzahl  der 
Arbeiten  möchte  ich  immerhin  nicht  ohne  weiteres  aus  dem  Fehlen 
der  Bindegewebskapsel  erklären.  Die  verhältnissmässige  Leichtig- 
keit, mit  der  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  die  Ausschähmg  gelang, 
ohne  Nebenverletzungen  und  ohne  erhebliche  Blutungen,  trotz  des 
Fehlens  der  Oontrole  des  Auges,  lässt  es  als  nicht  unwahi'schcinlich 
erscheinen,  dass  in  der  Regel  eine  mehr  oder  weniger  deutliche 
bindegewebige  Hülle  vorhanden  war,  wenn  schon  nicht  immer  in 
dem  ausgesprochenen  Grade,  wie  bei  unserem  Falle. 

Ich  komme  endlich  zur  pathologischen  Anatomie  der 
Dermoide  selbst.  Dieselben  gehörten  in  der  Mehrzahl  der  Fälle 
der   einfachen  Form    der  Dermoidcysten    an.     Der  Inhalt,    in  der 


0  Ziegler,  Lehrbuch  der  allgemeinen  pathologischen  Anatomie.  VI.  Aufl. 
S.  806. 


152  Dr.  F.  de  QaerTain, 

Regel  eine  bräunliche,  railchkaffeefarbene  Flüssigkeit  darstellend, 
zeigte  unter  dem  Mikroskop  meist  Detritus,  Cholestearinkrystalle 
und  Platten-Epithelzellen,  bisweilen  auch  grössere  Schollen  und 
Flocken  von  Epidermiszellen ,  die  schon  makroskopisch  sichtbar 
waren.  Haare  fanden  sich  nur  in  den  Fällen  von  Trzebicky, 
Biernacki  und  Page,  Knochen  nur  bei  Walzberg  und  Zähne  in 
keinem  Fall.  Einzig  die  Beobachtungen  von  Snyers,  Danzel  und 
Gelstrom,  sogenannte  Dermoide  des  Rectum  betreflfend,  wiesen 
einen  complicirteren ,  mehr  teratoiden  Bau  auf.  Dieser  Umstand 
ist  zu  auffallend,  um  nicht  einen  Erklärungsversuch  zu  verlangen. 
Die  Lebenseigenschaften  der  verschiedenen  Dermoidformen  sind 
uns  freilich  noch  zu  wenig  bekannt,  als  dass  die  Deutung,  die  wir 
in  Folgendem  geben  werden,  absolute  Gültigkeit  beanspruchen 
könnte.  Immerhin  glauben  wir,  ihr  einen  gewissen  Grad  von 
Wahrscheinlichkeit  zuerkennen  zu  dürfen. 

Es  ist  von  vorn  herein  selbstverständlich,  dass  nur  kleine  und 
bis  zu  einem  gewissen  Grad  resistente  Dermoide  durch  die  Mast- 
darmwand hindurch  in  diesen  hineingedrückt  werden  können.  Diese 
Bedingungen  treffen  nun  bei  den  complicirteren  Dermoiden  eher  zu, 
als  bei  den  einfachen,  nur  aus  einem  cutisähnlichen  BaJg  mit 
flüssigem  Inhalt  bestehenden  Derraoidcysten.  Diese  letzteren,  welche 
meist  keine,  oder  nur  kurze  Haare  enthalten,  scheinen,  wenn  sie 
einmal  in's  Wachsen  kommen,  schneller  an  Umfang  zuzunehmen, 
als  die  complicirten  Cysten,  und  also  weniger  lang  auf  dem  Volumen 
zu  verharren,  bei  dem  ein  Eindringen  in  das  Rectum  noch  möglich 
ist.  Ueberdies  schmiegen  sie  sich  mehr,  als  die  complicirten,  mit 
Knochen  etc.  versehenen  Gebilde  dem  verfügbaren  Raum  an  und 
weichen  also  vielleicht  bei  einer  Geburt  besser  aus,  als  die  festeren, 
complicirten  Dermoide.  Wenn  sie  dagegen  einmal  eine  gewisse 
Ausdehnung  erreicht,  sich  aber  trotzdem  noch  kein  Ventil  nach 
der  Dammgegend  hin  geschaffen  haben,  so  bedingen  sie  ein 
schwereres  Geburtshindemiss,  als  die  ersteren,  indem  sie  zu  gross 
sind,  um  in  das  Rectum  oder  in  die  Scheide  gedrückt  und  von  da 
aus  ausgestossen  zu  werden. 

Was  die  äussere  Gestalt  betrifft,  so  ist  dieselbe  bei  kleineren 
Dermoiden  meist  mehr  oder  weniger  kugel-  oder  eiförmig,  während  sie 
bei  ausgedehnten  Cysten  unregelmässig  wird  und  sich  innig  dem 
verfügbaren  Räume  anschmiegt.    So  konnte  ich  in  meinem  Falle  mit 


Ueber  die  Dermoide  des  Beckenbindegewebes.  153 

Leichtigkeit  die  Contouren  des  Beckens  vom  Lumen  der  Cyste  aus 
abtasten. 

Was  das  mikroskopische  Verhalten  der  Cystenwand  be- 
trifft, so  enthalten  nicht  alle  Fälle  diesbezügliche  Angaben.  Der 
Balg  bestand  in  den  untersuchten  Fällen  aus  einer  Epithelschicbt 
und  einer  Bindegewebsschicht.  Die  erstere  ahmt  meistens  in  mehr 
oder  weniger  vollkommener  Weise  die  Verhältnisse  der  Epidermis 
nach  und  lässt,  wenigstens  andeutungsweise,  die  beiden  Haupt- 
schichten derselben,  das  Statum  corneum  und  das  Statum  Malpighi 
erkennen.  Nur  im  Falle  Walzberg  wird  (nach  Trzebicky)  von 
einschichtigem  Platten-  und  Cylinderepithel  berichtet,  wenn  dabei 
nicht  irgendwo  ein  Irrthum  mit  untergelaufen  ist.  Der  bindegewebige 
Theil  der  Cystenwand  enthält  bei  Höfer  keine  Papillen,  während 
solche  bei  Trzebicky  und  in  unserm  Falle  mehr  oder  weniger  erkenn- 
bar angedeutet  waren.  Wie  schon  oben  bemerkt,  ist  übrigens  in  dieser 
Beziehung  der  Befund  bei  unserm  Fall  nicht  an  allen  Stellen  der 
Cyste  derselbe.  Abgesehen  davon  weist  die  Bindegewebsschicht  in 
unserm  Falle  deutlich  die  Differenzirung  von  Corium  und  Statum 
subcutaneum  auf,  Ersteres  enthält  eine  starke  Schicht  elastischer 
Fasern,  letzteres,  was  in  keinem  der  bisherigen  Fälle  beobachtet 
worden  war,  eine  Schicht  sich  in  verschiedenen  Richtungen  durch- 
kreuzender Bändel  von  glatten  Muskelfasern. 

Wenn  ich  nun  auf  die  Aetiologie  zu  sprechen  komme,  so 
sei  gleich  Anfangs  bemerkt,  dass  dieses  Capitel  das  dürftigste  in 
der  ganzen  Frage  der  Beckenbindegewebsdermoide  ist.  Während 
man  früher  glaubte,  dieselben  von  den  Ovarien  ableiten  zu  können, 
(Walzberg,  Biernacki)  so  ist  seit  Sänger's  Arbeit  wohl  der 
nichtovarielle  Ursprung  derselben  genügend  erwiesen  —  und  wäre 
er  es  nicht,  so  wüi-de  unser  Fall  genügen,  um  zu  beweisen,  dass 
die  typischen  Becken-Bindegewebsdermoide  mit  den  Ovarien  nichts 
zu  thun  haben.  Es  giebt  ja  freilich  Ovarialdermoide,  die  mit  der 
Serosa  des  Douglas  innig  verwachsen  können,  wie  es  auch  solche 
giebt,  welche  ihren  ovariellen  Ursprung  verlassen  und  sich  von 
ihrem  Stiel  abtrennen.  Dieses  letztere  Vorkommniss  ist  seit  Roki- 
tansky mehrfach  beschrieben  worden  und  ich  habe  selbst  kürzlich 
Gelegenheit  gehabt,  einen  derartigen  Fall  zu  operiren.  Die  secundär 
im  Douglas  festgewachsenen  Ovarialdermoide  haben  aber  das  Rectum 
hinter  sich,  nicht  vor  sich,    wie  die  meisten  ßeckenbindegewebs- 


154  Dr.  F.  de  Quervain, 

dermoide,  und  sie  gelangen  nicht  in  der  Gesässgegend  zu  Tage.  Es 
ist  übrigens  völlig  überflüssig,  näher  auf  diese  Streitfrage  einzugehen, 
da  dieselbe  entschieden  ist,  und  wir  insbesondere  in  unsenn  Falle 
keinen  Grund  haben,  ein  Ovarium  als  Ursprung  der  Cyste  anzu- 
schuldigen. Auch  die  Steissdrüse  wollen  wir  in  Ruhe  lassen, 
der  man  trotz  ihres  Mangels  an  epithelialen  Elementen  die  Bildung 
von  Dermoiden  hat  zuschreiben  wollen. 

Sänger  leitet  (nach  His)  die  höher  oben  im  Beckenbinde- 
gewebe gelegenen  Dermoide  sowie  die  coraplicirteren  Formen  vom 
Achsenstrang  ab,  während  er  in  den  einkammerigen,  glatten,  haar- 
losen oder  spärlich  haartragenden  Dermoiden  besonders  der  tieferen 
und  seitlichen  Abschnitte  des  Beckenbindegewebes  embryonale  Ein- 
stülpungen des  Ektoderms  sieht. 

Diese  an  sich  völlig  plausible  Erklärung  hat  immerhin  noch 
ihre  Schwierigkeiten.  SoU  man  z.  B.  im  Fall  Schulze,  wo  das 
eine  Dermoid  unter,  das  andere  über  dem  Levator  ani  sass, 
einen  doppelten  Ursprung  annehmen?  Wohl  kaum.  —  Es  sei  über- 
dies bemerkt,  dass  sozusagen  alle  —  auch  die  hochliegenden 
Beckenbindegewebsdermoide  jenen  einfachen  Bau  zeigen,  der  nach 
Sänger  eher  für  eine  Einstülpung  des  Eklodcrms  spricht.  Wir 
wären  deshalb  vorsucht,  im  Gegensatz  zu  Schulze,  alle,  auch  die 
verhältnissmässig  hoch  hinaufreichenden  Beckenbindegewebsdermoide 
der  alten  Lücke 'sehen  Anschauung  gemäss  als  Einstülpungs- 
producte  anzusehen,  soweit  sie  den  beschriebenen  einfachen  Bau 
zeigen.  Für  die  viel  selteneren  zusammengesetzten  Dennoide  mit 
deutlicher  Knochen-  und  Zahnbildung  muss  freilich  die  Einstülpungs- 
theorie ganz  fallen  gelassen  werden.  Die  Franke  1 'sehe  (35)  An- 
nahme, dass  bei  diesen  letzteren  Dennoidformen  eine  Einstülpung 
des  äusseren  Keimblattes  in  das  mittlere,  mit  gleichzeitig  erfolgten 
Einschlüssen  von  osteogenetischen  Elementen  der  ürwirbelmasse 
aus  der  Umgebung  der  eingestülpten  Partieen  stattgefunden  habe, 
scheint  uns  nicht  genügend  zu  sein,  um  die  Schwierigkeiten  auf- 
zuheben. Woher  sollten  z.  B.  bei  einer  Einstülpung  in  der  Gegend 
des  Sacrum  Zabnkeime  herkommen?  Nebenbei  gesagt,  handelt  es 
sich  nicht  einfach,  wie  oft,  auch  von  Fränkel  gesagt  wird,  um 
Einstülpung  des  äusseren  Keimblattes  in  das  mittlere  und  noch 
viel  weniger  um  Einstülpung  nur  im  Bereich  des  äusseren  Keim- 
blattes (nach  Fränkel  bei  oberflächlichen  Demioiden),  da  ja  schon 


Üeber  die  Dermoide  des  Beckenbindegewebes.  155 

in  der  Wand  jeder  Dermoidcyste  die  beiden  Keimblätter,  äusseres 
(Epidermis)  und  mittleres  (Corium)  vertreten  sind  und  also  stets 
ein  Theil  mittleres  Keimblatt  mit  eingestülpt  wird.  Wir  langen 
also  für  die  zusammengesetzten  Dermoide  wieder  bei  der  Frage 
der  Incliisio  foetalis  und  der  Keimverirrungen  an,  ohne  bis  jetzt 
irgendwelche  Anhaltspunkte  zu  haben,  um  einen  sicheren  Entscheid 
treffen  zu  können.  Der  Umstand  freilich,  dass  sich  z.  B.  in  dem 
Präparate  Danzers  die  meisten  Gewebsformen  des  Organismus 
vereinigt  fanden,  scheint  doch  recht  för  ein  wirkliches  Teratom  zu 
sprechen,  im  Sinne  einer  Doppelmissbildung. 

Dass  in  der  Analgegend  Einstülpungen  nicht  selten  sind,  ist 
begreiflich,  und  es  wäre,  wie  Trzebicky  mit  Recht  sagt,  wohl 
merkwürdiger,  wenn  sie  dort  nicht  vorkämen. 

Warum  sie  aber  im  einzelnen  Falle  vorkommen,  das  wissen 
wir  so  wenig,  wie  wir  überhaupt  die  Ursache  der  meisten  con- 
genitalen Anomalien  kennen.  Der  erste  Schritt  zur  Erkenntniss 
der  Aetiologie  der  Dermoide  bestände  in  einer  scharfen  Abgrenzung 
von  einfachen  und  teratoiden  Dermoiden,  Teratomen  und  eigent- 
lichen foetalen  Inclusionen.  Diese  verschiedenen  Formen  sollten 
nicht  nur  morphologisch,  sondern  auch  genetisch  unterschieden 
werden  können.  Vorläufig  sind  wir  mit  der  Aetiologie  der  uns 
interessirenden  Geschwülste,  wie  aus  Vorstehendem  hervorgeht,  noch 
nicht  weiter  gekommen,  als  es  Trzebicky  vor  15  Jahren  war, 
und  der  Hauptgewinn  der  letzten  Jahre  war  einzig  die  Erkenntniss, 
dass  die  in  Frage  stehenden  Dermoide  mit  dem  Ovariura  nichts  zu 
thun  haben.  Wir  enthalten  uns  weiterer  ätiologischer  Speculationen 
und  gehen  auf  das  klinische  Verhalten  der  besagten  Ge- 
schwülste über. 

Wir  werden  zuerst  einige  gemeinsame  Charactere  besprechen, 
um  sodann  auf  die  Symptomatologie  bei  beiden  Geschlechtem  im 
Besonderen  einzugehen. 

Was  den  allgemeinen  Verlauf  betrifft,  so  sei  zuerst  das  Alter 
der  Patienten  besprochen.  Wie  die  Tabelle  ergiebt,  schwankt  das- 
selbe zwischen  18  und  58  Jahren.  Dieser  weite  Spielraum  schränkt 
sich  jedoch  erheblich  ein,  wenn  man  den  Moment  berücksichtigt, 
wo  die  Geschwulst  begann,  sich  bemerklich  zu  machen.  Wir  finden 
auf  diese  Weise  einen  Spielraum,  der  vom  18.  bis  zum  38.  Jahre 
geht,    also   von  rlcr    Pubertät   bis    auf  die  Höhe  der  körperlichen 


156  Dr.  P.  de  Quervain, 

Entwicklung.  Da  es  sich  um  angeborene  Anlagen  handelt,  so 
müssen  wir  annehmen,  dass  die  Cyste  Jahre  lang  latent  blieb,  um 
sich  während  oder  etwas  nach  der  Zeit  der  geschlechtlichen  Ent- 
wicklung zu  vergrössem  und  durch  allerlei  Verdrängungserscheinungen 
bemerklich  zu  machen. 

Bezüglich  des  Geschlechts  haben  wir  schon  Eingangs  be- 
merkt, dass  alle  bisherigen  Veröflfentlichungen  über  Dermoide  des 
Beckenbindegewebes  sich  auf  das  weibliche  Geschlecht  bezogen, 
während  das  männliche  Geschlecht  ausschliesslich  durch  sacro- 
coccygeale,  also  nicht  mehr  dem  eigentlichen  Beckenbindegewebe 
angehörige  Dermoidcysten  vertreten  war.  Unser  Fall  scheint  also 
bisher  einzig  in  seiner  Art  zu  sein.  Die  oben  angeführte  Be- 
merkung von  König:  „Die  Unterscheidung  von  Dermoidcysten  und 
Echinococcusgeschwülstcn,  welche  man  in  dem  Bindegewebe 
zwischen  Blase  und  Mastdarm  in  sehr  seltenen  Fällen  beobachtet 
hat,  wird  ausser  durch  die  Consistenz  durch  eine  Probepunction 
zu  machen  sein,"  bezieht  sich  freilich  auf  das  männliche  Geschlecht, 
da  es  sich  um  die  Diagnose  der  Prostatahypertrophic  liandelt.  Da 
mir  aber  trotz  genauer  Durchsuchung  der  Literatur  kein  Beckender- 
moidfall  beim  Manne  zu  Gesichte  kam,  so  nehme  ich  an,  dass  sich 
entweder  König  auf  nicht  veröflfentlichte  Beobachtungen  stützt,  oder 
dass  sowohl  Sänger,  wie  mir  der  von  König  seiner  Bemerkung 
zu  Grunde  gelegte  Fall,  entgangen  ist.  Vielleicht  wurde  schliess- 
lich der  erwähnte  Passus  durch  die  auch  von  König  selbst  (Fall 
Walzbcrg)  beobachteten  Dermoide  des  Beckenbindegewebes  beim 
weiblichen  Geschlecht  veranlasst. 

Wie  dem  auch  sei,  so  besteht  ein  auflFallender  Unterschied 
zwischen  der  BetheUigung  der  beiden  Geschlechter.  Derselbe  er- 
schien als  ganz  selbstverständlich,  so  lange  man  die  in  Frage 
stehenden  Geschwülste  dem  Ovarium  zutheilte.  Da  dies  nun  aber 
nicht  mehr  angeht,  so  muss  nach  einer  Erklärung  gesucht  werden. 
Die  bequemste  wäre  wohl  die  von  Latte  (39)  für  die  Retroperi- 
tonealcysten  überhaupt  gegebene,  dass  beim  Mann  ein  Theil  der 
Geschwülste,  weil  kein  Geburtshin derniss  bildend,  nicht  beachtet 
werde.  Dieser  Auffassung  ist  insofern  beizustimmen,  als  freilich 
der  Geburtsact  in  mehreren  Fällen  Anlass  gab,  das  Vorhandensein 
der  Geschwulst  zu  bemerken.  Es  muss  aber  andererseits  bemerkt 
werden,    dass    in    mindestens  9  von  12  Fällen    von  Beckenbinde- 


üeber  die  Dermoide  des  Beckenbindegewebes.  157 

gewebsdermoid  bei  Frauen  (Fall  2  und  3  als  Leichenbefunde  und 
Fall  6  als  zu  unvollständig,  werden  nicht  mitgerechnet)  das  Vor- 
handensein der  Neubildung  sich  durch  Symptome  zu  erkennen  gab, 
welche  von  den  weiblichen  Geschlechtsfunctionen  völlig  unabhängig 
waren.  Das  Vorwiegen  des  weiblichen  Geschlechts  kann  dem- 
nach nicht  wesentlich  auf  dem  üebersehenwerden  der  Geschwulst 
beim  männlichen  Geschlecht  beruhen. 

Es  Hesse  sich  nun  in  erster  Linie  die  Frage  aufwerfen,  ob 
die  extragenitalen  Dermoide  vielleicht  überhaupt  beim  weiblichen 
Geschlechte  häufiger  sind,  als  beim  männlichen.  Eine  diesbezüg- 
liche Statistik  besteht  meines  Wissens  nicht,  so  dass  die  Antwort 
noch  aussteht.  Man  könnte  ferner  vermuthen,  dass  die  Entwicklung 
der  weiblichen  Becken  und  Dammgebilde  mit  ihrer  verhältniss- 
mässig  ausgiebigeren  Verbindung  zwischen  der  Körperoberfläche 
und  den  Hohlorganen  der  Bauchhöhle  eine  reichere  Gelegenheit  zur 
Einstülpung  von  Hautbestandtheilen  geben.  Eine  zuverlässige  Be- 
stätigung für  diese  Vermuthung  können  wir  freilich  in  dem  Ent- 
wicklungsgang der  weiblichen  Geschlechtsorgane  nicht  finden.  Der 
Grund  des  Ueberwiegens  des  weiblichen  Geschlechts  bleibt  also 
vorläufig  noch  so  unbekannt,  wie  der  Ursprung  der  Derraoid- 
geschwülste  überhaupt. 

Wir  gehen  nun  auf  die  beim  weiblichen  Geschlecht  beob- 
achteten Symptome    der   Beckenbindegewebsdermoide    ein. 

Es  lässt  sich  aus  der  Entwicklung  dieser  Cysten  vermuthen, 
dass  der  Beginn  der  Symptome  ein  mehr  oder  weniger  schleichender 
sein  rauss.  In  der  That  ist  dies  in  der  Regel  der  Fall.  Nichts- 
destoweniger berichtet  De  ah  na  von  plötzlichem  Beginne  mit  hef- 
tigen Leibschmerzen,  Erbrechen,  Stuhl  und  Harnverhaltung, 
Meteorismus.  Diese  Symptome  würden  sich  leicht  erklären,  wenn 
es  sich  um  eine  Verjauchung  der  Cyste  gehandelt  hätte.  Dieselbe 
trat  aber  in  dem  Falle  Deahna's  erst  9  Tage  später  auf,  nach 
Function  der  Cyste  vom  Rectum  aus.  Es  bleibt  uns  also  nur  übrig, 
anzunehmen,  dass  die  Beschwerden  von  dem  Moment  an  bemerkt 
wurden,  wo  die  Harnentleerung  völlig  unmöglich  wurde.  Die  ge- 
füllte Blase  im  Verein  mit  der  Geschwulst  genügte  dann,  um  auch 
die  Mastdarmfunctionen  zu  hindern,  und  die  vielleicht  bei  der 
Patientin  etwas  lebhafte  Reflexthätigkeit  that  das  ihre,  um  das  an- 
scheinend schwere  Krankheitsbild  hervorzubringen.     Die  Plötzlich- 


158  Dr.  F.  de  Quervain, 

keit  des  Auftretens  ist  wohl  nicht  anders  aufzufassen,  als  die  bis- 
weilen ebenfalls  plötzlich  eintretende  Harnverhaltung  bei  Prostati- 
kern, deren  Prostata  schon  lange  zu  gross  war,  ohne  dass  sie  es 
merkten. 

In  den  übrigen  Fällen  war,  wie  gesagt,  der  Beginn  ein  all- 
raählicher.  Mehnnals  wurde  die  Geschwulst  zufällig  bei  Anlass 
einer  Entbindung  bemerkt,  lange  bevor  sie  anfing,  subjective  Er- 
scheinungen zu  machen. 

Die  in  den  verschiedenen  Krankengeschichten  mitgetheilten 
Symptome  beruhen  theils  auf  der  Entwicklung  der  Geschwulst  nach 
der  Gesässgegend  hin,  theils  auf  Compression  und  Verdrängung  der 
Organe  des  kleinen  Beckens  durch  dieselbe,  theils  auf  Verlegung 
der  Geburtswege,  theils  endlich  auf  Circulationsstörungen  im  Ge- 
biet des  kleinen  Beckens. 

*-        Die  Entwicklung  nach  der  Gesässgegend  hin  bedingt  Schwierig- 
keiten beim  Sitzen  (so  in  den  Fällen  Trzebicky  und  Schulz.) 

Der  Druck  auf  die  Beckenorgane  kommt  in  erster  Linie  an 
^  Blase  und  Mastdarm  zur  Geltung  und  äussert  sich  in  verschieden 
hohem  Grade  je  nach  der  Ausdehnung  der  Cyste  und  wohl  auch 
je  nach  dem  Vorhandensein  oder  Fehlen  einer  sozusagen  als  Sicher- 
heitsventil dienenden  Entwicklung  der  Geschwulst  unter  die  Haut 
der  Perineal-  oder  Glutaealgegend.  So  waren  bei  den  zu  letzterer 
Kategorie  gehörigen  Patientinnen  von  Trzebicky  und  Hoefer 
Harnentleerung  und  Stuhlgang  normal,  während  in  den  Fällen  von 
Deahna,  Sänger,  Page,  Colonna,  bei  denen  die  Geschwülste 
im  Becken  eingeschlossen  waren,  sich  Harn-  und  Stuhlbeschwerden 
geltend  machten.  Wir  beginnen  mit  den  ersteren:  Während  im 
Fall  Colonna  nur  von  häufigem  Harndrang  berichtet  wird,  so 
spricht  Page  von  Erschwerung  der  Harnentleerung  und  bei 
Deahna  haben  wir  schliesslich  die  völlige  Harnverhaltung.  Es 
kommt  also  die  ganze  Tonleiter  der  bei  mechanischer  Erschwerung 
der  Harnentleerung  beobachteten  Symptome  vor.  Dasselbe  gilt 
von  der  Stuhlentleerung.  Die  Kranke  von  Colonna  litt  unter  Stuhl- 
drang, diejenigen  von  Page,  Schulze,  Sänger  unter  Erschwerung 
der  Stuhlentleerung  und  bei  der  Patientin  von  Deahna  kommt  es 
zu  völligen  Deuserscheinungen. 

Die  Verlegung  der  Geburtswege  gehört,  wenigstens  in  ihren 
Einzelheiten,    nicht   mehr   in    den  Bereich    der    chirurgischen  Be- 


Ueber  die  Dennoide  des  Beckenbindegewebos.  159 

sprechung.  Immerhin  sei  erwähnt,  dass  auch  hier  die  gleichen 
Beziehungen  zwischen  Beschwerden  und  glutäaler  Entwicklung  der 
Geschwulst  bestehen,  wie  wir  sie  für  die  Druckerscheinungen  er- 
wähnt haben.  Im  Falle  Hoefer  wird  ausdrücklich  erwähnt,  dass 
die  Geburten  normal  verlaufen  seien,  und  bei  Trzebicky  wird 
von  Geburtsstörungen  nichts  berichtet.  Dasselbe  gilt  zwar  auch 
vom  Falle  Colonna,  jedoch  muss  bemerkt  werden,  dass  hier  die 
einzige  Geburt  mehr  als  5  Jahre  vor  dem  ersten  Auftreten  von 
Erscheinungen  von  Seiten  der  Geschwulst  stattgefunden  hatte.  In 
den  Fällen  von  Biernacky,  Sänger,  Page,  Schulze  dagegen 
übte  das  Vorhandensein  der  Cyste  einen  merklichen  Einfluss  auf 
den  Geburts verlauf  aus,  so  dass  in  drei  Fällen  (Biernacki, 
Sänger  und  Page)  die  Kraniotomie  nöthig  wurde.  Die  zunehmende 
Erschwerung  der  Geburt  mit  der  stetigen  Vergrösserung  der  Ge- 
schwulst ergiebt  sich  am  auffallendsten  aus  den  Fällen  von  Sänger 
und  Page.  Im  ersteren  folgte  auf  vier  normale  Geburten  eine 
Kraniotomie,  dann  ein  Abortus  im  6.  Monat,  dann  wieder,  nach 
Function  der  Geschwulst,  ein  lebendes  Kind  mittelst  Zange.  Im 
Fall  von  Page  folgte  auf  fünf  schon  mühsame  Geburten  eine  noch 
viel  schwierigere  sechste,  und  die  siebente  endlich  musste  durch 
Kraniotomie  beendigt  werden. 

Als  letzte  Folge  des  V^orhandenseins  eines  Beckendermoides 
haben  wir  Circulationsstörungen  im  Bereich  der  Beckenorgane 
genannt.  Wir  betreten  damit  ein  etwas  hypothetisches  Gebiet, 
glauben  aber  immerhin,  dass  sich  die  zu  nennenden  Symptome  am 
ehesten  auf  Circulationsstörungen  im  weitesten  Sinne  des  Wortes 
zurückführen  lassen.  In  erster  Linie  muss  hier  der  von  Colonna 
erwähnte  Mastdarmkatarrh  angeführt  werden,  der  durch  Schleim- 
abgang, Blutungen  und  eine  oberflächliche  Ulceration  der  Mast- 
darmschleimhaut characterisirt  war.  Dahin  gehört  vielleicht  auch 
der  von  Page  erwähnte  Fluor  albus  und  endlich  die  im  Falle  von 
Solowjew  mitgetheilten  Symptome:  Unregelmässigkeit  der  Men- 
struation, Appetitlosigkeit,  Schmerzen  in  den  Beinen,  Nervosität 
—  alles  vielleicht  Erscheinungen  einer  durch  Circulationsstörungen 
bedingten  Metritis,  der  auch  der  Abortus  zugeschrieben  werden 
könnte.  Es  ist  aber  selbstverständlich  sehr  wohl  möglich,  dass 
trotz  des  zeitlichen  Zusammentreffens  diese  Symptome  mit  dem 
Dermoid  nichts  zu  thun  hatten;    es  liegt   uns  fern,    das  Dermoid, 


160  Dr.  F.  de  Quervain, 

weil  es  nun  einmal  da  war,  ohne  Weiteres  für  Alles  verantwort- 
lich machen  zu  wollen,  was  an  der  Pat.  bemerkt  wurde. 

Was  endlich  noch  die  spontane  Schmerzhaft;igkeit  der 
Derraoidcysten  betrifft,  so  wird  solche  von  Birkett  angegeben. 
Bei  Hoefer's  Patientin  finden  wir  Schmerzen  bei  schwerer 
Arbeit.    Sänger  und  Colonna  geben  Druckgefühl  im  Becken  an. 

Damit  hätten  wir"  die  Symptomatologie  der  Beckenbinde- 
gewebsderraoide  des  weiblichen  Geschlechts  so  ziemlich  erschöpft. 
Das  Symptomenbild  dieser  Geschwulst  beim  männlichen  Geschlecht 
zu  zeichnen,  wollen  wir  auf  Grund  einer  einzigen  Beobachtung 
nicht  versuchen.  Es  genüge  daher,  wenn  wir  die  in  der  Kranken- 
geschichte eingehender  mitgetheilten  Erscheinungen  hier  im  Hin- 
blick auf  die  für  das  weibliche  Geschlecht  aufgestellten  Gesichts- 
punkte noch  einmal  kurz  zusammenfassen: 

Störungen  durch  Hervortreten  der  Geschwulst  in  der  Gesäss- 
gegend  fehlten  bei  unserm  Patienten,  weil  die  Cyste  nicht  so  weit 
herunterreichte.  Dagegen  war  ein  anderes  Symptom  vorhanden, 
das  bei  keinem  der  bisherigen  Fälle  erwähnt  wird,  nämlich  die 
mehr  und  mehr  zunehmende  Schwierigkeit,  sich  zu  bücken.  Die- 
selbe war  die  Folge  des  Hinaufwachsens  der  Geschwulst  in  das 
grosse  Becken.  Der  Druck  auf  den  Blasengrund,  welcher  während 
19  Jahren  die  Symptome  einer  Prostatahypertrophie  gemacht  hatte, 
führte  schliesslich  zu  völliger  Harnverhaltung.  Die  Compression 
des  Mastdarms  hatte  nicht  nur  eine  Erschwerung  der  Stuhlent- 
leerung zur  Folge,  sondern  auch  eine  characteristische  Formung 
der  Faeces :  Dieselben  sahen  nach  Angabe  des  Patienten  abgeplattet, 
wie  Carton,  aus. 

Weitere  Symptome  waren  nicht  vorhanden.  Auf  Circulations- 
Störungen  im  kleinen  Becken  deutete  nichts  hin. 

Wir  kommen  nun  zur  Diagnose  und  Differentialdiagnose 
der  Beckenbindegewebsdermoide.  Auch  hier  ist  es  unerlässlich,  die 
beiden  Geschlechter  getrennt  zu  besprechen. 

Sobald  beim  weiblichen  Geschlecht  das  Vorhandensein 
einer  das  kleine  Becken  einnehmenden  Geschwulst  erwiesen  ist,  so 
handelt  es  sich  in  erster  Linie  darum,  zu  bestimmen,  ob  sie  be- 
weglich ist,  oder  nicht.  Ist  sie  es  in  ausgesprochener  Weise,  dann 
gehört  sie  nicht  zu  den  Dermoiden  des  Beckenbindegewebes.  Im 
andern    Fall,    bei    mehr   oder   weniger  unbeweglicher  Geschwulst, 


Ueber  die  Dermoide  des  Beckenbindegewebes.  161 

handelt  es  sich  sodann   darum,    ihre  Lage    zur  Scheide    und    zum 
Mastdarm  zu    bestimmen.     Liegt   die  Geschwulst   vor   dem  Mast- 
darm, also  im  Douglas,  so  ist  die  Differentialdiagnose  nicht  leicht. 
Es    kann    eine    Haematocele    retrouterina,    ein    im    Douglas    ver- 
wachsener   Ovarialtumor    —    vielleicht    gerade    ein    Dermoid    — , 
ein  Exsudat,  und  vielleicht  gar  ein   eingeklemmter,  retroflectirter, 
schwangerer  Uterus  vorliegen.    Wir  unterlassen  es,  die  Differential- 
diagnose   dieser   verschiedenen    Möglichkeiten    hier   durchzugehen, 
von  denen  übrigens  einzelne  schon  durch  eine  genaue  Anamnese 
ausgeschlossen  oder  umgekehrt  mit  Wahrscheinlichkeit  diagnosticirt 
werden    können    und    bemerken   nur,    dass    bei   einem    vor   dem 
Rectum    liegenden    Tumor    überhaupt    ohne    Operation   nicht    mit 
Sicherheit    festgestellt    werden    kann,    ob    er    vom    Beckenbinde- 
gewebe, oder  von  einem  Ovarium  ausgeht,  auch  wenn  die  Function 
die  Diagnose    eines  Dermoides    gesichert   hat.     Erst   der   directe, 
durch    die    Operation    ermöglichte    Nachweis    des  Vorhandenseins 
beider    Ovarien    berechtigt    in    einem    solchen    Fall   zur  Annahme 
eines  Beckenbindegewebsdermoids.     Liegt    die  Geschwulst  dagegen 
hinter  dem  Rectum,  oder  hat  sie  dasselbe  wenigstens  stark  seit- 
lich oder  nach  vorn  und  seitwärts  verschoben,  so  ist  entweder  an 
einen  vom  Becken  (Sacrum,   Articulatio  sacroiliaca,    höhere  Theilc 
der  Wirbelsäule)    ausgehenden    kalten  Abscess    oder    an    eine  Ge- 
schwulst des  Beckens  oder  Beckenbindegewebes  zu  denken.  Erstere 
Möglichkeit  wird  durch  eine  genaue  Untersuchung  von  Wirbelsäule 
und  Becken    zu  bestätigen  oder  auszuschliessen  gesucht.     Wir  er- 
wähnen hier,  dass  im  Fall  von  Trzebicky  die  Diagnose  auf  einen 
Senkungsabscess  gestellt  worden  war.     Bei  der  Palpation  wird  die 
mehr  oder  weniger   scharfe  Abgrenzung,    die  Druckempfindlichkeit 
und  die  relative  Beweglichkeit   der  Geschwulst  eine  gewisse  Weg- 
leitung geben.    Ist  ein  Abscess  ausgeschlossen,  so  handelt  es  sich 
um  eine  Neubildung.    Wir  schliessen  die  festen  Becken-  und  Rctro- 
peritonealtumoren    gleich    von    der  Besprechung  aus,    um  uns  mit 
den  cystischen  Gebilden  zu  beschäftigen,  welche  hier  hauptsächlich 
in  Frage  kommen.     Ist    durch  den  Nachweis  von  Fluctuation  das 
Vorhandensein    von    Flüssigkeit    nachgewiesen,    oder    durch    prall 
elastische  Consistenz  wenigstens  wahrscheinlich  gemacht,  so  kommen 
noch  Echinococcusgeschwülste,    seröse    Cysten    und    Dermoide    in 
Frage.    Wenn  nicht   eine    bei  letzterer  Geschwulst  ausnahmsweise 

Archiv  Ar  Uin.  Chirnrgie.    67.  Bd.  Heft  1.      '  n 


162  Dr.  F.  de  Quervain, 

beobachtete  Eindrückbarkeit  auf  Dermoid,  ausgesprochenes  Hyda- 
tidenschwirren,  oder  unmotivirte  Urticaria  auf  Echinococcus  hin- 
weisen, so  bleibt  nur  noch  die  Probepunction  übrig,  um  die 
Diagnose  festzustellen,  üeber  die  Gefahren  und  die  Ausführung 
derselben  werden  wir  weiter  unten  sprechen. 

Beim  männlichen  Geschlecht  fallen  bei  der  Differentialdiagnose 
einmal  alle  mit  den  Geschlechtsorganen  in  Zusammenhang  stehenden 
Tumoren  des  Douglas  hinweg.  Dagegen  kommen  zwei  alltägliche 
Affectionen  in  Frage,  ob  denen  in  der  Regel  alle  anderen  Formen 
mechanischer  Verlegung  der  Harnwege  in  den  Hintergrund  gestellt 
werden,  nämlich  die  Strictur  und  die  Prostatahypertrophie. 
Erstere  wird  sich  meist  durch  Anamnese  und  Katheterismus  aus- 
schliessen  lassen.  Anders  die  Prostatahypertrophie.  Bei  ihr  ge- 
lingt der  Katheterismus  mit  dicken  Nummern,  die  sich  der  Patient 
oft  selbst  mit  Leichtigkeit  einführt.  Dasselbe  war  während  19  Jahren 
bei  unserem  Patienten  der  Fall,  so  dass  er  von  den  Aerzten  als 
Prostaticus  behandelt  wurde.  Eine  bei  leerer  Blase  ausgeführte 
Rectaluntersuchung  hätte  freilich  schon  Jahre  früher  die  Diagnose 
aufgeklärt,  oder  wenigstens  gezeigt,  dass  etwas  anderes  als  Pro- 
statahypertrophie vorlag.  Es  sei  hier  noch  bemerkt,  dass  beim 
männlichen  Ges(;hlecht,  wo  der  Beckenboden  nicht  so  leicht  wie 
bei  der  Frau  emporgedrängt  werden  kann,  die  Rectaluntersuchung 
ohne  Narkose  ein  weniger  vollsländiges  Resultat  giebt,  als  beim 
weiblichen  Geschlecht.  Insbesondere  kann  es  seine  Schwierigkeit 
haben,  zu  bestimmen,  ob  der  Tumor  vor,  neben  oder  hinter  dem 
Rectum  liegt,  falls  er  nicht  über  die  Mitte  des  Sacrums  her- 
unterreicht, da  in  diesem  Falle  der  unterste  Theil  des  Rectums 
seine  normale  Lage  besitzt. 

Ist  ein  cystischer,  retrorectaler  Tumor  nachgewiesen,  so  han- 
delt es  sich  wieder  um  die  Differentialdiagnose  zwischen  seröser 
Cyste,  Echinococcus  und  Dermoid,  für  welche  wir  auf  das  oben 
Gesagte  verweisen.  Der  Gedanke  an  ein  Beckenbindegewebsderraoid 
ist  freilich  dem  chirurgischen  Bewusstsein  gegenwärtig  noch  so  fern- 
liegend, dass  De  Lavigne  (31)  in  seiner  Monographie  über  die 
Echinococcen  des  kleinen  Beckens  bei  der  Besprechung  der  Differen- 
tialdiagnose die  Dermoide  überhaupt  nicht  erwähnt.  Routier  (32) 
sagt  bei  der  Besprechung  der  fluctuirenden  Geschwülste  des  kleinen 
Beckens  beim  Manne,    es  komme  so  zu  sagen  nur  die  abgesackte 


Ueber  die  Dermoide  dos  Beckenbindegewebes.  163 

Peritonitis  und  der  Echinococcus  in  Betracht.  Die  Möglichkeit  einer 
Deniioidcyste  wird  ebenso  wenig  erwähnt,  wie  bei  De  Lavigne. 

Dass  ebenso  gut  wie  beim  weiblichen  Geschlecht  die  Senkungs- 
abscesse  in  Betracht  gezogen  werden  müssen,  ist  selbstverständlich. 
Gegen  sie  kann  die  lange  Dauer  des  Bestehens  von  Symptomen 
verwerthet  werden,  während  dieselbe  nicht  gegen  Echinococcen 
spricht.  (De  Lavigne  führt  solche  von  13-  und  19jähriger 
Dauer  an.) 

Es  ist,  wie  schon  Sänger  hervorhebt,  nicht  ausgeschlossen, 
dass  retrorectale  Dermoide  mehrfach  für  einen  gewöhnlichen  peri- 
proctalen  Abscess  gehalten  und  als  solcher  behandelt  wurden,  wie 
dies  mit  fistulösen  anococcygealen  Dermoiden  mehrfach  der  Fall  war. 

Aus  dieser  diagnostischen  und  differentialdiagnostischen  Be- 
trachtung ergiebt  sich  als  Hauptresultat  die  alte  Regel,  dass  man 
jeden  an  Harnbeschwerden  leidenden  Patienten  per  rectum  unter- 
suchen soll  und  zwar  wenn  möglich  bei  leerer  Blase.  Als  wich- 
tigste Vervollständigung  der  Untersuchung  —  ausser  dem  Kathete- 
rismus —  sollte  die  bimanuelle  Untersuchung  ausgeführt 
werden.  So  sehr  dieselbe  beim  weiblichen  Geschlecht  Regel  ge- 
worden ist,  so  wenig  ist  sie  es  beim  männlichen.  Wird  man  auch 
hunderte  von  Malen  nichts  Besonderes  finden,  so  wird  man  doch 
andererseits  in  einigen  wenigen  Ausnahrtiefällen  nicht  die  Haupt- 
sa(*he  übei-sehen,  sondern  wird  (Jas  Hinderniss  der  Harnentleerung 
in  etwas  anderem  finden,  als  in  einer  Strictur  oder  Prostatahyper- 
trophie. 

Die  Prognose  quoad  vitam  der  Beckenbindegewebsdermoide 
ist  durchaus  gut  und  es  ist  bis  jetzt  noch  kein  auf  ein  solches 
zurückzuführender  Todesfall  bekannt,  abgesehen  von  dem  nicht  mit 
Sicherheit  hierher  gehörigen  Falle  Danzel.  Freilich  ist  es  wohl 
denkbar,  dass  einmal  die  Verjauchung  der  Cyste  tödtlich  werden 
könnte,  doch  kommt  Verjauchung  in  der  Regel  blos  nach  unzweck- 
mässiger Behandlung  vor.  Durchbruch  der  Cyste  in  die  Becken- 
oi^ane,  besonders  in  den  Darm,  kann  zwar  auch  zur  Vereiterung 
des  Balges  führen,  doch  machen  sich  nach  den  bisherigen  Erfah- 
rungen die  meisten  Cysten  durch  Dnickerscheinungen  bemerkbar, 
bevor  es  zur  Perforation  kommt,  und  können  also  entfernt  werden, 
bevor  sie  irgend  welche  gefährlichen  Complicationen  veranlassen. 
Auf  die  Prognose  der  verschiedenen  Behandlungsmethoden  bezüg- 


164 


Dr.  F.  de  Quervain, 


lieh    der  Radicalheilung  werde    ich   bei  Besprechung   derselben 
eingehen. 

Unter  den  bisher  in  diagnostischer  und  therapeutischer  Ab- 
sicht ausgeführten  Eingriffen  sei  zuerst  die  Function  besprochen, 
anscheinend  der  harmloseste  und  doch  bei  weitem  der  gefährlichste. 
Es  ist  nicht  ohne  Interesse,  einen  Blick  auf  die  verschiedenen 
punctirten  Fälle  zu  werfen,  unter  Berücksichtigung  der  Jahreszahl 
(Antisepsis!),  der  Punktionsstelle  und  des  Ergebnisses: 


Deahna. 
Solowjew. 

Trzebicky. 

Biernacki. 

Sänger. 


Page. 

Schulze. 

Hoefer. 

de  Quervain. 


1875. 
1883. 

1884. 

1887, 

1886. 

1888. 


1891. 
1894. 
1896. 

1897. 


Vom  Rectum  aus. 
Von  der  Vagina  aus. 

?  (wahrscheinlich  von  d. 
Gesässgegend  aus). 

Vom  Rectum  her  (wäh- 
rend der  Geburt). 

Vom  Rectum  her  (wäh- 
rend der  Geburt). 

Vom  Rectum  her. 


Vom  Rectum  aus. 

Von  der  Analgegend  aus. 

Wahrscheinlich  von  der 

Gesässgegend  her. 
Vom    1.    Hypogastrium 

her. 


Acute  Verjauchung. 
Nach  3  Tagen  Exstirpa- 

tion. 
Von    breiter    Eröffnung 

gefolgt. 
Acute  Verjauchung. 

Keine  Reaction. 

Keine  Reaction,  jedoch 
ist  9  Monate  später  der 
Inhaltd.Cyste  „höchst 
übelriechend". 

Acute  Vereiterung. 

Keine  Reaction. 

Keine  Reaction. 

Keine  Reaction  (am  fol- 
genden Tage  breite 
Eröffnung). 


Diese  kleine  üebersicht  zeigt,  dass  in  drei  der  vier  vom 
Rectum  her  punctirten  FäUen  eine  acute  Vereiterung  der  Cyste 
eintrat.  In  dem  vierten  Falle  trat  keine  Reaction  auf.  Nichts- 
destoweniger lässt  der  9  Monate  später  „höchst  übelriechende" 
Cysteninhalt  die  Vermuthung  aufkommen,  dass  eben  doch  eine 
wenn  auch  harmlose  Infcction  des  Dermoids  stattgefunden  habe. 
Die  im  Falle  Schulze  von  der  Analgegend  aus  ausgeführte  Func- 
tion hatte  keinerlei  üble  Folgen.  In  den  übrigen  Fällen  war  die 
Probepunction  so  nahe  von  der  breiten  Eröffnung,  resp.  Exstirpa- 
tion  gefolgt,  dass  dieselben  nicht  ohne  weiteres  zum  Vergleich 
herbeigezogen  werden  können,  wenn  die  Function  schon  keinerlei 
Reaction  zur  Folge  hatte. 


üeber  die  Dermoide  des  Beckenbindeffewebes.  165 


Wenn  wir  aus  dem  Vorstehenden  einen  Schluss  ziehen  wollen, 
so  ist  es  der,  dass  die  Function  vom  Rectum  aus  zu  verwerfen 
ist.  Trotz  aller  Vorsichtsmaassregeln  ist  im  Rectum  von  Asepsis 
keine  Rede  und  wenn  auch  das  eine  oder  andere  Mal  die  Function 
ungestraft  verläuft,  so  ist  man  nicht  sicher,  stets  nur  mit  einem 
übelriechenden  Dermoidinhalt,  ohne  schwerere  Erscheinungen,  weg- 
zukommen. Da  nun  aber  die  Frobepunction  für  die  Diagnose  und 
Therapie  doch  von  Bedeutung  ist,  so  gilt  es  einfach,  eine  andere 
Stelle  zu  wählen.  Ergiebt  die  Rectaluntersuchung,  dass  die  Ge- 
schwulst weit  nach  unten  reicht,  so  ist  es  gewiss  zweckmässiger, 
die  Nadel  neben  dem  Steissbein  einzustechen,  also  in  einer  Ge- 
gend, welche  einer  gründlichen  Desinfection  zugänglicher  ist,  als 
das  des  Rectum. 

Sitzt  umgekehrt  die  Geschwulst  hoch,  so  dass  sie  aus  dem 
kleinen  Becken  nach  oben  heraustritt,  so  kann  es,  wie  in  unserem 
Falle,  leicht  sein,  dieselbe  ohne  Nebenverletzungen  von  der  ünter- 
bauchgegend  her  zu  erreichen.  Im  Falle  von  Fage  hätte  eine  Function 
vom  Bauche  her  die  Vereiterung  der  Cyste  vermeiden  lassen.  Gleich- 
gültiger ist  natürlich  die  Wahl  der  Functionsstelle,  wenn  man  in  der 
Lage  ist,  sofort  die  Exstirpation,  oder  wenigstens  die  breite  Eröff- 
nung der  Geschwulst  anzuschliessen  und  es  empfiehlt  sich  von 
vorne  herein,  wie  schon  Sänger  betont,  die  Frobepunction  erst 
unmittelbar  vor  der  Operation  auszuführen.  In  welchem  Moment 
man  aber  auch  punctire,  so  wird  man  doch  stets  eine  desinficir- 
bare  einer  undesinficirbaren  Einstichstelle  vorziehen. 

Wir  kommen  zu  den  eigentlichen  Behandlungsmethoden.  Als 
solche  wurden  angewendet: 

1.  Die  Kauterisation  mit  Salpetersäure,  von  Weinlechner. 
Erfolg? 

2.  Die  Incision  mit  nachfolgender  Drainage  und  antisepti- 
scher Ausspülung,  in  den  Fällen  von  Deahna  und  Biernacki. 
Von  Miculicz  (Trzebicky)  wurde  dieses  Verfahren  versucht, 
führte  aber  nicht  zum  Ziel.  In  unserem  Falle  wurde  es  als 
Nothoperation  angewendet,  in  Voraussicht  der  Exstirpation  des 
Balges. 

Was  den  Erfolg  betrifft,  so  blieb  im  Falle  Deahna  nach 
schwerer  Infection  eine  Fistel  zurück.  In  dem  ebenfalls  schwer 
inficirten  Falle  Biernacki's    kam  es    zu    anscheinender   Heilung, 


166  Dr.  F.  de  Quervain, 

nach  zwei  Monaten  wurde  aber  eine  sich  nach  einer  resultatlosen 
Incision  zurückbildende  phlegmonöse  Schwellung  der  rechten  Nates 
beobachtet.  Die  Heilung  der  Patientin  erscheint  denn  auch  etwas 
problematisch.  Im  Falle  von  Trzebicky  wurde  die  Drainage 
während  6  Wochen  aufrecht  erhalten,  ohne  dass  die  Höhle  sich 
obliterirt  hätte. 

Es  lässt  sich  aus  dem  Gesagten  schliessen,  dÄss  die  Incision 
mit  Drainage  ein  völlig  ungenügendes  Verfahren  ist.  Wenn  es  in 
den  Fällen  von  Deahna  und  Biernacki  zu  einem  gewissen  Grade 
von  Heilung  kam,  so  beruht  das  darauf,  dass  in  Folge  einer 
schweren  Infection  die  Wand  der  Cvste  nekrotisch  wurde  und  sich 
abstiess.  Im  Falle  von  Trzebicky,  wo  die  Verjauchung  durch 
eine  sorgfältige  antiseptische  Behandlung  verhindert  wurde,  blieb 
die  Abstossung  der  Wand  aus  und  damit  die  Verwachsung. 

Herman  (36)  behauptet  freilich,  nach  langer  Eiterung  raodi- 
ficire  sich  die  Cystenwand  derart,  dass  Obliteration  eintreten  kimne. 
Thornton  (36)  hält  dem  entgegen  daran  fest,  dass  Verödung 
der  Cyste  nur  dann  eintrete,  wenn  die  Innenmembran  zerstört  sei. 
Die  von  Herman  angeführten  Fälle  verdanken  denn  wohl  ihre 
Heilung  einer  Abstossung  der  Epithelialschicht.  Wie  dem  auch 
sei,  so  wird  Niemand  seine  Patienten  heutzutage  „gesund  eitern** 
lassen,  wenn  es  anders  sein  kann. 

3.  Die  Exstirpation  des  Balges,  die  einzige  gegenwärtig 
berechtigte  Behandlungsmethode,  wurde  von  Birkett,  König 
(Walzberg),  Solowjew,  Emmet,  Mikulicz  (Trzebicky), 
Sänger,  Page,  Krevet  (Schulze),  Fehling  (Hoefer),  Co- 
lonna  und  de  Quervain  ausgeführt.  In  den  Fällen  von  Walz- 
berg und  Solowjew  war  die  Exstirpation  nicht  radical,  inso- 
fern als  im  Falle  Walzberg  ein  ins  Becken  reichender  Fortsatz, 
im  Falle  von  Solowjew  der  obere  Theil  des  Balges  sitzen  gelassen 
wurde.  Während  sich  der  letztere  durch  Eiterung  abstiess  und  die 
Heilung  nicht  wesentlich  beeinträchtigte,  blieb  im  ersten  Falle  eine 
Fistel  zurück.  Im  Falle  Sänger  schliesslich  war  trotz  der  noch 
sitzen  gebliebenen  Balgfetzen  die  Wunde  nach  drei  Wochen  bis  auf 
eine  granulirende  Stelle  geschlossen. 

Das  Hauptinteresse  nimmt  die  Operationsmethode  in  An- 
spruch. Wir  unterscheiden  bei  der  Besprechung  derselben  drei 
Categorien  von  Fällen: 


Ueber  die  Dermoide  des  Beckenbindegewebes.  167 

1.  Fälle    mit    hauptsächlich    perinealer    Entwickelung    der 
Geschwulst. 

2.  Fälle  mit  hauptsächlich  abdominaler  Entwickelung. 

3.  Fälle  mit  wesentlicher  Entwickelung  des  Dermoids  in  dem 
kleinen  Becken. 

In  den  Fällen  der  ersten  Gruppe  ist  es  selbstverständlich, 
dass  vom  Damm  aus  operirt  wird.  Die  einfachsten  Verhältnisse 
bieten  die  unter  dem  Levator  ani  sitzenden  Dermoide.  Die  zu 
wählende  Schnittrichtung  ist  ziemlich  gleichgültig  und  richtet  sich 
im  Einzelnen  nach  der  Form  und  Lage  der  Geschwulst.  Bei  den 
weiter  hinaufreichenden  Geschwülsten,  wie  sie  in  den  Fällen  von 
Trzebicky  und  Hoefer  vorlagen,  wird  die  Schnittrichtung  zwar 
auch  von  den  Verhältnissen  des  perinealen  Theils  der  Geschwulst 
bedingt,  muss  aber  darauf  Rücksicht  nehmen,  ebenfalls  die  höher 
gelegenen  Theile  des  Dermoids  zugänglich  zu  machen.  Welche 
Schnitte  hierfür  in  Betracht  kommen,  das  wird  bei  Besprechung 
der  dritten  Gruppe  erörtert  werden. 

Die  zweite  Gruppe  ist  einzig  durch  den  von  Emmet  operirten 
Fall  vertreten.  Bei  demselben  war  die  Diagnose  auf  Ovarialtumor 
gestellt  worden  und  es  wurde  durch  Laparotomie  ein  unter  dem 
Peritoneum  des  Douglas  liegendes  Dermoid  entfernt. 

Dies  führt  uns  auf  die  Verwerthbarkeit  des  Bauch- 
schnittes für  die  Exstirpation  der  ßeckenbindegewebsgeschwülste. 
Die  an  unserem  Falle  gemachte  Erfahrung  veranlasst  uns,  die  J^apa- 
rotoraie  für  solche  Geschwülste  nicht  zu  empfehlen,  welche  zum 
Theil  retrorectal  entwickelt  sind  und  bis  in  die  untere  Hälft  des 
kleinen  Beckens  reichen.  Sucht  man  die  Geschwulst  rein  extra- 
peritoneal zu  entfernen,  woxu  man  unter  Umständen  durch  das 
starke  Emporgedrängtsein  des  Peritoneums  versucht  werden  könnte, 
sp  hat  man  unter  Umständen  nicht  genügenden  Raum,  um  in  der 
Tiefe  zu  arbeiten  und  bei  intraperitonealer  Operation,  welche  eine 
ausgedehnte  Spaltung  der  Kapsel  der  Geschwulst  verlangt,  läuft 
man  Gefahr,  mit  der  Gefässversorgung  des  Rectums  in  Conflict  zu 
kommen  und  überdies  bei  allfälligem  und  schwer  zu  vermeidendem 
Platzen  der  Cyste  die  Bauchhöhle  mit  Dermoidinhalt  zu  über- 
schwemmen. Dies  ist  an  sich  kein  schweres  Unglück,  sollte  aber 
doch  vermieden  werden,  wenn  es  möglich  ist. 

Als  Hülfsoperation  kann  dagegen  die  extraperitoneale  Aus- 


168  Dr.  F.  de  Quervain, 

schälung  der  oberen  Geschwulsthälfte  recht  nützlich  sein,  in  Fällen, 
wo  das  Dermoid  mit  Verschiebung  des  Peritoneums  nach  oben 
weit  in  das  grosse  Becken,  resp.  in  die  Bauchhöhle  hinaufreicht. 
Page  berichtet,  dass  er  bei  der  perinealen  Exstirpation  des  in 
seinem  Falle  bis  in  Nabelhöhe  reichenden  Beckenbindegewebs- 
dermoides  den  grössten  Theil  des  Vorderarms  in  die  Wunde  ein- 
führen musste.  Wenn  die  Verwachsungen,  wie  im  Falk  Page's, 
nicht  bedeutend  sind,  so  lässt  sich  freilich  in  dieser  Tiefe  noch 
schonend  und  sorgfältig  enucleiren.  Bestehen  aber,  wie  in  anderen 
Fällen,  stärkere  Verwachsungen,  so  würde  ein  Schnitt  im  Hypo- 
gastrium die  Operation  wesentlich  erleichtern,  gefahrloser  gestalten 
und  vielleicht  auch  abkürzen,  ohne  die  Wundverhältniss  zu  com- 
pliciren. 

Wir  kommen  zur  dritten  und  wichtigsten  Gruppe.  Da  die 
derselben  angehörenden  Dermoide  die  Dammgegend  nicht  vor- 
wölben, so  war  der  perineale  resp.  sacrale  Weg  nicht  von  vorne 
herein  gegeben  und  er  wurde,  zuerst  von  Solowjew  zu  einer  un- 
vollständigen Exstirpation,  dann  von  Sänger  zu  einer  fast  voll- 
ständigen Ausschälung  gewählt,  weil  jeder  andere  Weg  sich  als 
ungeeignet  erwies.  Das  Verdienst  Sänger 's  war  es  dann,  diesen 
AVeg  in  systematischer  Weise  ausgebildet  zu  haben.  In  gleicher 
AVeise  operirte  später  Fehling  in  dem  Hoef  er 'sehen  Falle.  Page 
dagegen  ging  von  einem  halbmondförmigen  Querschnitt  zwischen 
After  und  Steissbein  aus  und  Colonna  bediente  sich  endlich  des 
Parasacralschnittes,  der  auch  in  unserem  Falle  zur  Anwendung 
gekommen  ist. 

Wir  haben  also  drei  mit  einander  in  Concurrenz  tretende 
Schnitte  für  die  perineo- sacrale  Exstirpation  der  Beckenbinde- 
gewebsgeschwülste ,  nämlich  die  Sängcr'sehe  seitliche  Perineo- 
tomie, den  queren  retroanalen  Dammschnitt  und  endlich  den  von 
E.  Zucker kandl  und  Wölflcr  eingeführten  Parasacralschnitt. 

Schulze  schlägt  noch  den  in  seinem  Falle  zur  Verwendung 
gekommenen  Schnitte  von  der  Steissbeinspitze  bis  an  oder  neben 
den  Anus  vor,  um  den  Levator  ani  zu  schonen.  Dieser  Schnitt 
war  iii  Schulze's  Fall  ganz  angezeigt,  da  die  genannte  Distanz 
durch  die  Vorwölbung  der  Geschwulst  auf  10  cm  ausgedehnt  war. 
In  der  Mehrzahl  der  anderen  Fälle,  besonders  wenn  der  untere 
Pol  der  Geschwulst  nicht  bis  zum  Steissbein  herunterreicht,  wird 


üeber  die  Dermoide  des  Beckenbindegewebes.  169 

er  nicht  genügenden  Zugang  geben.  Schulze  schlägt  denn  auch 
für  grössere  oder  seitliche  Dermoide  den  Sänger' sehen  Schnitt  vor. 
Von  der  sacralen  und  parasacralen  Methode  kann  man  seiner  An- 
sicht nach  wohl  ausnahmslos  absehen.  Sänger  selbst  verzichtete 
darauf,  die  Perineotomie  und  ihre  Concurrenzoperationen ,  den 
Parasacralschnitt  und  die  Kreuzbeinresectionen,  gegen  einander  ab- 
zuwägen, da  ein  genügend  grosses  V^ergleichsraaterial  ihm  (anno  1890) 
noch  vollständig  fehlte.  Auch  Schulze  hat  noch  keine  sacral  oder 
parasacral  operirter  Fall  zum  Vergleich  vorgelegen.  Sein  nichtsdesto- 
weniger absprechendes  Urtheil  gründet  er  darauf,  dass  von  10  rctro- 
rectalen  Dermoidcysten  6  „durch  einfachen  Hautschnitt  von  aussen" 
aufgesucht  worden  seien  und  dass  sich  unter  diesen  6  gerade  die 
Fälle  befunden  haben,  deren  Heilung  die  kürzeste  Zeit  in  Anspruch 
genommen  habe.  Die  Erfahrung  spreche  somit  entschieden  dafür, 
bei  der  Operation  von  retrorectalen  Dermoidcysten  eingreifende 
Voroperationen  mit  Wegnahme  von  Knochen  und  Durchschneidung 
von  Bändern  zu  vermeiden.  Die  Oberflächlichkeit  dieses  Urtheils 
geht  schon  daraus  hervor,  dass  unter  den  genannten  6  Fällen  sich 
z.  B.  diejenigen  von  Birkett  und  Küster  befinden,  in  welchen 
es  sich  um  kleine,  zwischen  Steissbein  und  After  liegende  Cysten 
handelte,  für  deren  Entfernung  der  Parasacralschnitt  gar  nicht  in 
Frage  kommen  konnte.  Dass  diese  kleinen  Cysten  von  einem 
beliebigen  Hautschnitt  aus  mit  kurzer  H^ilungsdauer  entfernt  werden 
können,  ist  selbstverständlich  und  hat  nichts  mit  der  Frage  zu 
thun,  ob  für  hochsitzende,  grosse  Cysten  die  Sänger'sche  laterale 
Perineotomie,  oder  der  Parasacralschnitt  vorzuziehen  sei. 

Bevor  wir  die  genannten  Methoden  vergleichen,  wollen  wir 
noch  kurz  das  Vorgehen  Sänger 's  beschreiben. 

„In  Steissrückenlage  —  die  Seitenlage  bietet  vielleicht  noch 
grössere  Raumvortheile  —  ist  durch  einen  8  cm  langen  Hautschnitt 
vom  hinteren  Drittel  des  Labium  majus  nach  hinten,  etwa  2  cm 
über  den  After  hinaus,  und  zwar  in  der  Mitte  zwischen  Tuber 
ischii  und  letzterem,  das  Cavum  ischiorectale  eröffnet.  Man  sieht 
im  hinteren  Wundwinkel  die  Bündel  des  Glutaeus  maxiraus,  nach 
aussen  das  Tuber  ischii,  nach  innen  den  Mastdarm  sammt  Scheide, 
nach  oben  das  Diaphragma  pelvis.  Noch  vor  dem  Durchtrennen 
desselben  ist  die  derart  freigelegte  Höhle  des  Cavum  ischio -rectale 
durch  die  halbe  Hand  bequem  auszutasten.    Nach  sagittaler  Durch- 


170  Dr.  F.  de  Quervain, 

trennung  des  Levator  ani  lässt  sich  die  ganze  Hand  einführen,  bis 
hinauf  zum  Bauchfelle.  Mit  grösseren  Gefässen  und  Nerven,  mit 
den  Harnleitern  stösst  man  nicht  zusammen.  Verletzungen  der 
Scheide  und  des  Mastdarmes  sind  ausgeschlossen." 

Der  quere,  zwischen  Anus  und  Steissbein  gelegte  Dammschnitt 
bedarf  keiner  besonderen  Beschreibung,  ebensowenig  der  von  der 
Aftergegend  zur  Articulatio  sacro-iliaca  verlaufende  Parasacral- 
schnitt.  Wenn  man  diese  drei  Schnitte  mit  einander  vergleichen 
will  —  von  der  Kreuzbeinresection  sehen  wir  ab,  weil  sie,  für  un- 
sere Fälle  wenigstens,  durch  den  Parasacralschnitt  genügend  ersetzt 
sein  dürfte  — ,  so  fällt  zu  Gunsten  der  Sänger 'sehen  lateralen, 
sagittalen  Perineotomie  der  Umstand  in  die  Wagschale,  dass  dieser 
Schnitt  als  einzige  Nebcnverletzung  einen  Levator  ani  durchschneidet. 
Der  quere  Dammschnitt  durchtrennt  beide  Levatores  und  der  Para- 
sacralschnitt opfert  die  Ligg.  sacrospinosum  und  sacrotuberosura. 
Dass  die  einseitige  Durchtrennung  dieser  Bänder  für  den  Patienten 
einen  schweren  Nachtheil  bedeutet,  ist  nicht  anzunehmen.  Jeden- 
falls ist  man  dazu  berechtigt,  sobald  die  Operation  dadurch  wesent- 
lich erleichtert  wird.  Bei  der  Wahl  der  Methode  ist  schliesslich 
noch  das  Geschlecht  des  Patienten  zu  berücksichtigen.  Alle  bis- 
herigen Operationen  wurden  beim  weiblichen  Geschlecht  ausgeführt, 
dessen  Beckenboden  sich  für  den  Sänger' sehen  Schnitt  gewiss 
besser  eignet,  als  derjenige  des  männlichen  Geschlechts.  Beim 
Manne  würde  der  Schnitt  nach  vorn  in  die  blutreiche  Gegend  des 
Bulbus  urethrae  reichen,  was  schon  an  sich  nicht  als  ein  Vortheil 
angesehen  werdeji  kann.  Was  nun  die  Hauptsache,  nämlich  den 
Zugang  zum  Operationsgebiet  betrifft,  so  hat  zweifellos  jeder  der 
drei  Schnitte  seine  Vorzüge.  Für  die  selteneren,  rein  medianen 
retrorectalen  Dermoide  schlägt  Sänger  selbst  den  queren  Damm- 
schnitt vor  und  empfiehlt,  den  beiderseitig  durchtrennten  Levator 
ani  zu  nähen.  Vielleicht  Hesse  sich  auch  nach  querem  Hautschnitt 
eine  sagittale  Trennung  der  beiden  Levatores  vornehmen,  so  dass 
die  Schädigung  auf  ein  Minimum  vermindert  würde. 

Für  verhältnissmäÄsig  weit  nach  unten  reichende  Dermoide, 
und  ganz  besonders  beim  weiblichen  Geschlecht,  dürfte,  sobald  der 
Tumor  seitlich  sitzt,  die  Sänger' sehe  Perineotomie  den  besten 
Zugang  geben.  Steht  dagegen  der  untere  Pol  des  Dermoids  höher, 
so  wird  sich  der  Parasacralschnitt  durch  keine  andere,  die  Skelett- 


Ueber  die  Dermoide  des  Beckenbindegewebes.  171 

theilc  schonende  Schnittführung  ersetzen  lassen.  Es  wurde  mir 
dies  deutlich  bei  der  Operation  meines  Patienten.  Ich  ging  zuerst 
von  der  analen  Hälfte  des  Parasacralschnittes  aus  in  die  Tiefe  — , 
also  in  der  Gegend,  welche  der  hinteren  Hälfte  des  Sänger 'sehen 
Schnittes  entsprechen  würde  — ,  kam  aber  nicht  auf  den  Tumor,  der 
freilich  trotz  Ausstopfung  mit  Gaze  bei  weitem  nicht  mehr  sein 
ursprüngliches  Volumen  hatte.  Dann  führte  ich  den  Schnitt  durch 
die  Bänder  hinauf  bis  an  die  Articulatio  sacro-iliaca.  Nun  gelang 
es  mit  Leichtigkeit,  die  Geschwulst  freizulegen  und  den  Balg  auch 
aus  der  -entgegengesetzten  Beckenhälfte  auszuschälen.  Der  Unter- 
schied im  Zugang  durch  den  Parasacralschnitt  im  Vergleich  yu  dem- 
jenigen mit  der  Sänger'schen  Perineotomie  schien  mir  dadurch 
klar  gelegt.  Ich  würde  demnach,  soweit  es  wenigstens  berechtigt  ist, 
nach  einer  einzigen  Erfahrung  zu  urtheilen,  für  alle  hochsitzenden 
Geschwülste  der  Kreuzbeinaushöhlung  dem  Parasacralschnitt  den 
Vorzug  geben. 

Es  erübrigt  nun  noch,  kurz  im  Allgemeinen  die  therapeuti- 
schen Indicationen  bei  Beckenbindegewebsdermoiden  zu  berühren. 
Beim  weiblichen  Geschlecht  besteht  ein  principieller  Unterschied 
darin,  ob  man  die  Geschwulst  ohne  oder  mit  Schwangerschaft  resp. 
Geburt  vor  sich  hat.  Ist  die  Patientin  nicht  schwanger,  so  giebt 
es  nur  eine  Indication:  die  völlige  Ausschälung  des  Balges,  sobald 
mit  Hülfe  einer  womöglich  nicht  vom  Rectum  aus  ausgeführten 
Probepunction  die  Diagnose  festgestellt  ist.  Bei  der  Wahl  des  Ver- 
fahrens wird  man  sich  in  der  oben  angegebenen  AVeise  nach  den 
localcn  Verbältnissen  richten.  Sollte  die  Cyste  bauchwärts  sehr 
aasgedehnt  sein,  so  würde  eine  Combination  der  perinealen  resp. 
parasacralen  mit  der  abdominalen,  aber  extraperitonealen  Methode 
in  Frage  kommen.  Die  Operation  sollte  aber  immer  vom  Damme 
her  begonnen  werden,  da  es  eher  möglich  ist,  dieselbe  allein  von 
da  aus  zu  Ende  zu  bringen,  als  ausschliesslich  von  einem  Bauch- 
schnitte aus.  Beim  Eingehen  auf  den  Tumor  vergesse  man  nicht, 
dass  derselbe  von  einer  mehr  oder  woniger  deutlichen  Bindegewebs- 
kapsel  umgeben  sein  kann,  innerhalb  welcher  die  Ausschäliing  vorzu- 
nehmen ist,  wenn  man  Blutungen  und  Nebenverletzungen  möglichst 
vermeiden  will.  Das  die  Cyste  bedeckende  Bindegewebe  muss 
also  Schicht  für  Schicht  sorgfältig  durchtrennt  werden,  bis  man 
auf  den  eigentlichen,  mehr  oder  weniger  schwartigen,  meist  gelb- 


172  Dr.  F.  de  Quervain, 

lieh  weissen  Balg  kommt,  zwischen  dem  und  der  Bindegewebshülle 
die  Ausschcälung  stumpf  an  den  meisten  Stellen  ohne  Schwierig- 
keit gelingt.  Ist  die  Cyste  geplatzt,  so  kann  es  von  Nutzen  sein, 
sie  gleich  ganz  zu  entleeren  und  dann  mit  Gaze  auszustopfen,  um 
sich  die  Ausschälung  und  besonders  die  Orientirung  in  der  Tiefe 
zu  erleichtern.  Ist  die  Exstirpation  beendet,  so  wird  die  "Wunde 
genäht  und  drainirt.  Die  Tamponnade  wird  bei  primärer  Exstir- 
pation besser  vermieden.  Der  Patient  ist  trotz  der  Wunde  in  der 
Gesässgegend  auf  den  Rücken  zu  lagern,  damit  der  Druck  der  Ein- 
geweide die  Wundflächen  möglichst  in  Contact  erhält. 

Findet  man  eine  solche  Cyste  intra  partum  als  Geburtshin- 
derniss,  so  könnte  man  freilich  mit  Sänger  daran  denken,  die- 
selbe gleich  vom  Damm  aus  zu  entfernen.  Da  man  aber  nicht 
immer  in  der  Lage  ist,  während  einer  Geburt  dieser  Anforderung 
gerecht  zu  werden,  so  wird  man  sich  in  manchen  Fällen  mit  der 
Entleerung  der  Geschwulst  begnügen  müssen.  Am  besten  wäre 
die  breite  Eröffnung  von  der  zugänglichsten  Stelle  —  aber  weder 
von  der  Scheide,  noch  vom  Rectum  aus  —  und  ausgiebige  Drai- 
nage. Daran  müsste  sich  sobald  wie  möglich  die  Exstirpation  als 
einzig  rationelle  Behandlung  anschliessen.  Sollten  es  die  Verhält- 
nisse nicht  einmal  gestatten,  die  sofortige  breite  Eröffnung  auszu- 
führen, so  wird  man  freilich  im  Nothfalle  zur  blossen  Function 
greifen  müsssn.  Doch  sollte  dieselbe  unter  keinen  Umständen  vom 
Rectum  aus  ausgeführt  werden.  Wenn  eine  Cyste  vom  Innern  des 
Mastdarmes  her  zu  erreichen  ist,  so  ist  sie  es  gewiss  auch  von  der 
Steiss-  und  Kreuzbeingegend  her,  und  es  giebt  keinen  Grund,  um  die 
Entleerung  nicht  von  dieser  Stelle  aus  vorzunehmen,  die  doch 
wenigstens  der  Bürste  zugänglich  ist.  Nach  der  Entbindung  ist 
natürlich  die  Ausschälung  des  Cysten balges  so  rasch  als  möglich 
auszuführen. 

Beim  Manne,  scheint  es,  sollte  eine  Nothlage,  wie  diejenige 
einer  durch  den  Tumor  behinderten  Geburt  nicht  vorkommen,  in 
der  man  zu  einer  Nothoperation  gedrängt  werden  könnte.  Und 
doch  war  dies  bei  unserm  Patienten  der  Fall,  wie  oben  auseinander- 
gesetzt wurde,  indem  völlige  Harnverhaltung,  falscher  Weg  mit 
starker  Blutung  und  nicht  auszuschliessender  Infection  ein  zwei- 
zeitiges Verfahren  vorziehen  liessen.     Als  Regel  wird  man  dagegen 


Ueber  die  Dermoide  des  Beckenbindegewebes.  173 

diese   keineswegs    wünschenswerthe    Verzögerung    der  Behandlung 
zu  vermeiden  suchen  und  die  Geschwulst  primär  entfernen. 

Zum  Schluss  dürfte  es  nicht  überflüssig  sein,  noch  einmal, 
wie  es  schon  Trzebicky  und  besonders  Sänger  gethan,  in  An- 
betracht der  sich  mehrenden  Beobachtungen  darauf  hinzuweisen, 
dass  die  Dermoide  des  Beckenbindegewebes  eine  eigene,  gut  cha- 
racterisirtc  Gruppe  von  Dermoiden  darstellen,  welche  in  klinischer 
Beziehung  mehr  gewürdigt  zu  werden  verdient,  als  das  bisher  der 
Fall  war. 


Literatur. 


1)  König,  Lehrbuch  der  spec.  Chirurgie.  VI.  Aufl.  1893.  H.  813.  — 
2)  Sänger,  Ueber  Dermoidcysten  des  Beckenbindegewebes  und  Operation  von 
Beckengesch Wülsten  durch  Perineotomie.  Arch.  f.  Gynäk.  XXXVII.  S.  100. 
1890.  —  3)  Zweifel,  Verhandl.  der  Gesellsch.  für  Geburtshülfe  zu  Leipzig. 
Centralbl.  für  Gynak.  1888.  S.  439.  —  4)  Bryk,  Dieses  Archiv.  Bd.  XXV. 
S.  805.  —  5)  Woelfler,  Wiener  med.  Wochenschr.  1885.  No.  43.  —  6) 
von  Bergmann,  Deutsche  med.  Wochenschr.  1884.  No.  45.  —  7)  Gussen- 
baner,  üeber  sacrale  Dermoide.  Prager  med.  Wochenschr.  1893.  No.  36.  — 
8)  Nicaise,  Des  kystes  dermoides  et  des  fistulös  cong^nitales  de  la  r^gion 
sacrococcygienne.  Tribüne  m^dicale.  1893.  p.  327.  —  9)  Hansen,  Des 
kystes  dermoides  ei  des  ßstules  cong^nitales  de  la  rdgion  sacrococcygienne. 
These  de  Paris.  1893.  —  10)  Schulze,  Retrorectale  Dermoid  Cysten  und  ihre 
Exstirpation.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1895.  No.  22.  —  11)  Hoefer, 
Ueber  Dermoidcysten  des  Beckenbindegewebes.  Inaug.-Diss.  Halle.  18%.  — 
12)  Colon  na,  Uno  caso  di  cisti  dermoide  retrorettale.  Gazz.  med.  di  Torino. 
1896.  p.  200.  —  13)  Page,  Large  extraperitoneal  derraoYd  cyst,  successfuUy 
removed  throagh  an  incision  across  the  perineum,  midway  tetween  the  anus 
and  the  coccyx.  Brit.  med.  Journ.  1891.  I.  p.  406.  —  14)  Birkett,  Guy's 
Hospital  reports.  1859.  Vol.  V.  p.  252.  Cit.  nach  Deahna.  —  15)  Manuel, 
Ueber  die  Tumoren  des  Doaglas'schen  Raumes.  Marburg.  1864.  S.  63.  — 
16)  Deahna,  Retrorectale  Dermoidcyste.  Beitrag  zur  Casuistik  der  Tumoren 
des  Unterleibes.  Arch.  für  Gynäk.  VIL  S.  305.  1875.  —  17)  Walzberg, 
Die  chirurgische  Klinik  in  Göttingen.  Jahresber.  1875—1879.  S.  121.  (Nach 
Trzebicky).  —  18)  Weinlechner,  Zwei  Dermoidcysten,  von  der  vorderen 
Fläche  des  Steissbeines  ausgegangen  etc.  Ber.  d.  k.  k.  Krankenanst.  Rudolph- 
Stiftung  in  Wien.  1877.  S.  298.  —  19)  Solowjew,  Ein  Fall  von  Atherom- 
cyst«  hinter  dem  Rectum  und  deren  operative  Behandlung.  Medizinskoje 
Obosrenje.  1883.  Sept.  und  Centralbl.  für  Chirurgie.  1884.  No.  6.  —  20) 
Emmet,  Americ.  Journ,  of  obstetrics  etc.    1884.  p.  852.  Cit.  nach  Sänger. 


174     Dr.  F.  de  Quervain,  Ueber  die  Dermoide  des  Beckenbindegewebes. 

—  21)  Trzebicky,  Ein  Beitrag  zur  Localisation  der  Dermoidcysten.  Wiener 
med.  Wochenschr.  1885.  No.  13  und  14.  —  22)  Biernacki,  Eine  retro- 
rectale  Dermoidcyste  als  Geburtshindemiss.  Inaug.-Diss.  Berlin.  1887.  —  23) 
Snyers,  Observation  d'un  kyste  dermo'idö  pedicul6  evacuö  par  le  rectum 
pendant  raccouchement.  France  m^d.  Paris.  1864.  II.  p.  872.  —  24) 
Danzel,  Geschwulst  mit  Haaren. im  Rectum.  Dieses  Arch.  Bd.  XVII.  S.  442. 

—  25)  Gel  Strom,  Vorfall  einer  Dermoidcyste  per  rectum  während  der  Ge- 
burt. Centralbl.  für  Gynäk.  1889.  No.  44.  —  26)  Barker,  Cit.  in  Duplay'et 
Reclus,  Trait6  de  Chirurg.  VII.  p.  66.  —  27)  Makris,  Kyste  dermoide 
alveolaire  pilograisseux  rötrouterin.  Traitement  par  punction  et  plus  tard  par 
incision  du  cöte  du  vagin.  Gui^rison  complete.  Gazette  m6d.  de  l'Orient.  Con- 
stantinople.  1885/86.  XXVIII.  p.  326.  —  28)  Barette,  Tumeur  dermoide 
du  cul-de-sac  du  Douglas.  Congres  de  gyndcologic  etc.  Tenu  ä  Bordeaux. 
Semaine  ni6dicale.  1,895.  p.  343.  —  29)  Küster,  Verhandlungen  d.  deutsch. 
Chirurgencongresses  1884.  —  30)  Marchand,  22.  Bericht  der  Oberhess.  Ge- 
sellschaft für  Natur-  und  Heilkunde.  (Cit.  nach  Hoofer.)  —  31)  Latte, 
Ueber  ein  primär  im  Retroperitonealraum  entstandenes  Adenomyoma  myxo- 
sarcomatodes.  Inaug.-Diss.  Erlangen.  1897.  —  32)  De  Lavigne  Sainte- 
Suzanne,  Etüde  des  kystes  hydatiques  du  petit  bassin.  These  de  Bordeaux, 
1893.  —  33)  Routier,  Kyste  hydatique  du  petit  bassin  chez  l'homme.  Kyste 
du  cul-de-sac  v6sico-rectal.  Semaine  mddicale.  1894.  p.  137.  —  34)  Martini, 
Ueber  Trichiasis  vesicae.  Dieses  Archiv.  XVII.  S.  449.  —  35)  Franke  1, 
Ueber  Dermoidcysten  der  Ovarien  und  gleichzeitige  Dermoide  (mit  Haaren)  im 
Peritoneum.  Wiener  med.  Wochenschrift.  1883.  No.  28,  29  und  30.  —  36) 
Herman,  On  the  suppuration  and  discharge  into  mucous  cavities  of  dermoid 
cysts  of  the  pelvis.    Lancet.    1885.    II.    p.  953. 


VII. 

Experimentelle  Untersuchungen  über  die 
Entstehung  der  Erkrankungen  der  Luftwege 

nach  Aethernarkose. 


Von 

Dr.  Richard  HSIscher, 

Oberärzte  an  der  Egl.  chinirg.  Klinik  zu  Kiel. 


Seitdem  im  letzten  Jahrzehnt  der  Aether  nicht  nur  im  Aus- 
lande, wo  er  sich  ja  eigentlich  nie  durch  das  Chloroform  ganz 
verdrängen  Hess,  sondern  auch  in  Deutscliland  als  Narcoticum 
wieder  mehr  in  Aufnahme  gekommen  ist,  in  der  Weise,  dass  jetzt 
an  sehr  vielen  Kliniken  unseres  Vaterlandes  der  Aether  als  fast 
ausschliessliches  Betäubungsmittel,  das  Chloroform  nur  in  Aus- 
nahmefällen angewandt  wird,  seit  dieser  Zeit  ist  in  einer  grossen 
Menge  von  VeröfiFentlichungen  die  Streitfrage,  welches  der  beiden 
Mittel  das  bessere,  das  ungefährlichere  sei,  in  "der  mannigfachsten 
Weise  erörtert  worden  (vergl.  Garre,  Körte,  Mikulicz,  Bruns, 
Vogel,  Tschmarke,  Grossraann,  AVitzel,  Silex,  Riedel, 
Poppert,  Gurlt's  Narkotisirungsstatistiken).  Während  im  All- 
gemeinen anerkannt  wird,  auch  von  Denjenigen,  welche  dem  Cliloro- 
form  den  Vorzug  geben,  dass  der  Aether  während  der  Narkose 
selbst  bei  weitem  weniger  Gefahr  bringt,  da  er  das  Herz  nicht 
schädige,  wird  andererseits  auch  von  den  ^.Aetherfreunden"  —  wenn 
ich  sie  so  nennen  darf  —  zugegeben,  dass  seine  Anwendung  in- 
sofern Nachtheile  habe,  als  sich  häufig  üble  Nachwirkungen  nach 
der  Narkose  einstellen,  Nachwirkungen,  welche  bei  der  Chloroform- 
narkose in  der  Regel  fehlen,  und  die  in  einer  mehr  oder  weniger 
hochgradigen  Affection  der  Luftwege,  einer  Bronchitis,  manchmal 


176  Dr.  R.  Hölscher, 

auch  Bronchopneumonie  bestehen,  welch'  letztere  unter  Umständen 
zum  Tode  führen  kann  und  auch  häufig  geführt  hat.  Poppert, 
welcher  auch  das  Lungenödem,  welches  nicht  selten  bei  der 
Autopsie  in  oder  nach  der  Narkose  Gestorbener  gefunden  wurde, 
auf  die  Einwirkung  des  Aethers  zurückführt,  formulirt  seine  Ansicht 
über  den  Werth  des  Chloroforms  und  des  Aethers  als  Narcotica 
Ibigendermaassen:  Beim  Aether  ist  der  Tod  während  der  Narkose 
seltener,  als  beim  Chloroform,  umgekehrt  treten  nachträglich, 
oft  noch  lange  Zeit  nach  beendigter  Narkose  beim  Aether  üble 
Zufälle  mit  und  ohne  tödtlichen  Ausgang  ungleich  häufiger  auf, 
als  beim  Chloroform.  Die  meisten  Beobachter  stimmen  darin 
überein,  dass  die  Ursache  der  so  häufig  nach  der  Aethernarkose 
entstehenden  AfFectionen  der  Luftwege,  die  man  deshalb  auch 
kurzweg  Aetherbronchitis  und  -pneumonie  nannte,  darin  zu  suchen 
sei,  dass  die  Aetherdämpfe  einen  specifischen  Reiz  auf  die  Schleim- 
haut des  Respirationstractus  ausüben  und  dadurch  eine  vermehrte 
Secretion  und  eine  Entzündung  derselben  zur  Folge  haben.  Nach 
Bruns  beruht  diese  Reizung  der  Bronchialschleimhaut  nicht  auf 
der  Wirkung  der  Aetherdämpfe  an  und  für  sich,  sondern  auf  der 
Wirkung  verunreinigten  Aethers;  nach  ihm  „bilden  sich  im  Aether 
durch  einfachen  Luftzutritt  schädliche  Verunreinigungen  durch 
Oxydationsproducte ,  von  denen  zweifellos  starke  Reizungen  der 
Schleimhäute  beim  Einathmen  ausgehen  können". 

Im  Laufe  der  letzten  Jahre  wurden  nun  von  verschiedener 
Seite  (Bruns,  Körte,  Riedel,  Gurlt's  Statistiken)  Beobach- 
tungen mitgetheilt,  welche  geeignet  waren,  einen  Zweifel  an  der 
auch  jetzt  noch  fast  allgemein  anerkannten  Ansicht  über  die 
Ursachen  der  nach  Aethernarkose  entstehenden  Lungenaffectionen 
aufkommen  zu  lassen.  Es  wurden  Fälle  beobachtet ^  bei  denen 
auch  nach  Chloroformnarkose,  ja  sogar  nach  unter  Localanaesthesie 
ausgeführten  Operationen  Bronchitiden  und  Pneumonieen  schwerster 
Art  auftraten,  welche  unbedingt,  wenn  Aether  zur  Narkose  benutzt 
worden  wäre,  diesem  in  die  Schuhe  geschoben  sein  würden.  Der- 
artige Fälle  kamen  auch  an  unserer  Klinik,  an  der  bis  vor  ca. 
1  Jahre  vorwiegend  Chloroform  angewandt  wurde,  vor,  auch  hier 
wurden  sogar  nach  Operationen  unter  Schleich'scher  Local- 
anaesthesie verschiedentlich  schwere  Bronchitiden  beobachtet. 

Diese  Beobachtungen  lehren  uns,  dass  man,  wie  Bruns  sagt, 


Experiment.  Unters,  üb.  d.  Entstehung  d.  Erkrankungen  d.  Luftwege  etc.      177 

das  „post  hoc  ergo  propter  hoc  nicht  verallgemeinern  darf",  dass 
man  nicht  in  allen  Fällen  dem  Aether  für  etwaige  nach  seiner 
Anwendung  entstandene  Lungenafifectionen  die  Schuld  beimessen 
darf.  Trotzdem  bleibt  nach  den  übereinstimmenden  Angaben  fast 
aller  Autoren  die  Thatsache  bestehen,  dass  nach  der  Aethemarkose 
ungleich  viel  häufiger  Erkrankungen  der  Luftwege  vorkommen, 
als  nach  der  Anwendung  von  Chloroform  oder  von  anderen  Nar- 
kotisirungsmitteln ,  eine  Thatsache,  welche  bis  jetzt  noch  eine 
grosse  Anzahl  Chirurgen  Deutschlands  von  der  allgemeinen  An- 
wendung des  Aethers  zurückgehalten  hat. 

Nauwerck  und  Grossmann  fanden  für  diese  unbestrittene 
Thatsache  eine  andere  Erklärung^.  Ersterer  kam  auf  Grund  zweier 
Sectionen  von  Leuten,  die  an  sogenannter  Aetherpneumonie  zu 
Grunde  gegangen  waren,  zu  der  Anschauung,  „dass  es  sich  in 
diesen  Fällen  lediglich  um  eine  Autoinfection  gehandelt  habe".  Er 
glaubt,  „dass  die  Aetherpneumonie,  wenn  nicht  immer,  so  doch 
häufig,  in  diesem  Sinne  zu  deuten  ist".  Als  Quelle  dieser  Auto-, 
infection  sieht  Nauwerck  die  Mundhöhle  an,  „die  ja  gerade  die 
Bacterien  häufig  beherbergt,  welche  bei  der  Entstehung  der  akuten 
Pneumonieen  die  Hauptrolle  spielen".  Die  Art  und  Weise  der 
Infection  erklärt  er  in  folgender  Weise:  „Zwei  Momente  kommen 
in  Betracht,  einmal,  dass  die  Aetherdämpfe  durch  directe  Ein- 
wirkung eine  Anaesthesie  resp.  Lähmung  von  Gaumensegel,  Zungen- 
basis und  Kehldeckel  erzeugen,  so  dass  reichlich  Schleim  und 
Speichel  in  die  Luftwege  fliessen  kann.  Sodann  die  vermehrte 
Schleim-  und  Speichelabsonderung,  die  in  meinen  beiden  Fällen 
während  der  Operation  sich  durch  Röcheln  und  Rasseln  bemerk- 
bar machte,  und  welche,  in  verschiedenem  Grade  freilich,  die 
Aethemarkose  häufig  zu  begleiten  scheint.  Es  ist  anzunehmen, 
I  dass  hierbei  die  Grenze  zwischen  der  infectiösen  Mundrachenhöhle 

und  den  im  allgemeinen  wohl  sterilen  Luftwegen  aufgehoben  wird, 
indem  das  beiderseitige  Secret,  bei  der  Athmung  hin  und  her 
bewegt,  sich  mischt". 

Auf  Grund  klinischer  Beobachtungen  kam  Grossmann  zu 
einer  ganz  ähnlichen  Anschauung  über  die  Entstehung  der  Lungen- 
affectionen  nach  der  Aethemarkose.  Nach  ihm  sind  „die  üblen 
Symptome  des  Schleimrasselns  in  Trachea  und  Bronchien,  verbunden 
mit    mühsamer   Respiration,    Erscheinungen,    welche    immer    als 

ArehiT  Ar  klin.  Chirargie.    67.  Bd.   Heft  1.  12 


178  Dr.  R.  Hölsoher, 

charakteristisch  für  die  Aethemarkose  angegeben  werden,  nicht  so- 
wohl eine  Folge  des  Aethers  an  und  für  sich,  als  vielmehr  die 
Folge  einer  falschen  Technik  in  der  Anwendung  des  Aethers. 
Sorgt  man,  so  meint  Grossmann,  während  der  Narkose  dafür, 
dass  aller  in  Nase,  Mund  und  Rachen  sich  bildender  Schleim 
sofort  abfliessen  kann  und  zwar,  noch  ehe  er  durch  die  bei  der 
Aethemarkose  meist  etwas  erregte  Respirationsthätigkeit  aspirirt 
wird,  dann  beobachtet  man  niemals,  weder  während  noch  nach 
der  Narkose,  auch  nur  die  geringsten  Rasselgeräusche,  welche  auf 
eine  Secretion  in  Trachea  und  Bronchien  hinweisen  könnten.  Ent- 
stehen also  bei  der  Aethemarkose  Rasselgeräusche  in  der  Trachea 
und  den  Bronchien,  so  stammen  sie  ausschliesslich  daher,  dass  der 
in  Nase,  Rachen  und  Mund  manchmal  recht  reichlich  entstehende 
Schleim  und  Speichel  aspirirt  wird.  Wenn  man  nun  bedenkt,  wie 
reichlich  der  Nasen-  und  Rachenschleim,  besonders  bei  den  mit 
Foetor  ex  orc  behafteten  Personen,  an  Mikroorganismen  ist,  so 
wird  man  es  begreiflich  finden,  dass  solcher  Schleim,  wenn  aspi- 
rirt, Lungenaflfectionen  verursacht". 

Es  stehen  sich  also  über  die  Ursache  der  im  Gefolge  der 
Aethemarkose  sich  entwickelnden  Lungenerkrankungen  zwei  An- 
sichten gegenüber,  die  eine  auch  jetzt  noch  fast  allgemein  herrschende, 
dass  die  erwähnten  Erkrankungen  auf  einer  durch  die  Aetherdärapfe 
direct  hervorgerufenen  Reizung  der  Schleimhaut  der  Luftwege  be- 
ruhen, die  andere  von  Nauwerck  und  Grossmann  vertretene, 
dass  in  vielen  Fällen  (Nauwerck),  oder  gar  lediglich  (Gross- 
mann) der  Aspiration  des  bei  der  Aethemarkose  reichlich  secer- 
nirten  Mundspeichels  und  Schleims  die  eventuell  entstehende 
Bronchialaffection  zuzuschreiben  sei.  Einen  directen  Beweis  für 
die  Richtigkeit  ihrer  Anschauungen  bleiben  uns  aber  sowohl  die 
Vertreter  der  ersten,  als  auch  der  Hauptvertreter  der  anderen 
Ansicht,  Grossmann,  schuldig.  Während  die  ersteren  aus  dem 
laut  hörbaren  Tracheal-  und  Bronchialrasseln  auf  eine  vermehrte 
Secretion  in  diesen  Luftwegen  schliessen  zu  müssen  glauben,  zieht 
G.  daraus,  dass  kein  Rasseln  entsteht,  wenn  für  guten  Abfluss 
des  Mundinhalts  nach  aussen  während  der  Narkose  gesorgt  wird, 
den  Schluss,  dass  in  den  Luftwegen  überhaupt  keine  vermehrte 
Secretion  statthabe.    Bei  der  ungeheueren  Wichtigkeit  dieser  Streit- 


Experiment.  Unters,  üb.  d.  EntvStehung  d.  Erkrankungen  d.  Luftwege  etc.     179 

frage  beschloss  ich,  einer  experimentellen  Prüfung  derselben  näher 
zu  treten. 

Bei  jeder  Narkose  findet  in  der  Mundhöhle  eine  Ansammlung 
von  Flüssigkeit  statt,  die  aus  einer  Mischung  von  Speichel  und 
Schleim  besteht,  und  die,  abgesehen  von  individuellen  Verschieden- 
heiten, bei  der  Chloroformnarkose  in  der  Regel  in  verschwindend 
geringer  Menge,  bei  der  Aethemarkose  dagegen  meist  in  ganz 
ausserordentlich  hohem  Grade  abgesondert  wird.  Es  ist  ohne 
Weiteres  klar  und  verständlich,  dass  diese  sich  im  Munde  und  im 
Rachen  ansammelnde  Flüssigkeit  unter  Umständen  in  die  Luftwege 
gerathen  kann,  sobald  bei  der  Narkose  das  Toleranzstadium  er- 
reicht, sobald  Lähmung  der  Gaumenmuskulatur  und  Insensibilität 
des  Kehlkopfs  eingetreten  ist.  Da  nach  Grossmann  das  bei  der 
Aethernarkoso  entstehende  Schleimrasseln  in  Trachea  und  Bronchien 
auf  Aspiration  dieses  Mundinhaltes  beruhen,  da  die  letztere  durch 
mangelhafte  Technik  während  der  Narkose  herbeigeführt  sein  soll, 
so  war  es  zunächst  wichtig,  zu  wissen,  unter  welchen  Bedingungen 
eine  solche  Aspiration  während  der  Narkose  erfolgt.  Dies  suchte 
ich  in  einer  Reihe  von  Versuchen  zu  ergründen,  zu  denen  ich  zum 
grössten  Theil  Hunde  und  Kaninchen  verwandte.  Die  Hunde  nar- 
kotisirte  ich  bald  mit  Chloroform,  bald  mit  Aether,  die  übrigen 
Thiere  wegen  ihrer  geringen  Widerstandsfähigkeit  gegen  das  Chloro- 
form nur  mit  Aether.  Nach  dem  Vorgange  von  Sehrwald,  welcher 
ausgedehnte  Versuche  über  die  Flüssigkeitsvertheilung  in  den  Lungen 
nach  intratrachealer  Injection  angestellt  hat,  färbte  ich  in  den 
meisten  Fällen,  um  sicher  zu  sein,  ob  etwaige  bei  der  Autopsie 
in  den  Bronchien  gefundene  Flüssigkeit  aus  der  Mundh()hle  stamme 
oder  nicht,  die  letztere  mit  Gentianaviolett,  welches  ich  nach 
Beginn  des  Toleranzstadiums  entweder  in  Substanz,  d.  h.  in  etwa 
hanfkorngrosser,  durch  geringen  Wasserzusatz  breiig  gemachten 
Klämpchen  auf  Zunge  und  Gaumen  brachte  und  durch  Auf-  und 
Zuklappen  des  Unterkiefers,  durch  Hin-  und  Herwälzen  der  Zunge 
im  Maule  vertheilte,  oder  in  einer  concentrirten  Lösung  zu  1  oder 
2 — 3  ccm  im  Verlauf  der  Narkose  in  die  Mundhöhle  injicirte  und 
auf  dieselbe  Weise  hier  vertheilte.  In  der  Regel  Hess  ich  dann 
die  Thiere,  vom  Beginn  der  tiefen  Narkose  an  gerechnet,  eine 
Stande    in    derselben    und    suchte    mich    nun    über    den    Eintluss, 

12* 


180  Dr.  R.  Hölscher, 

welchen  die  Lagerung  des  narkotisirten  Thieres  auf  das  Hinab- 
gelangen der  im  Munde  befindlichen  Flüssigkeit  in  die  Luftwege 
ausübte,  zu  orientiren,  indem  ich  die  Thiere  während  der  ein- 
stündigen Narkose  entweder  in  Horizontallage,  oder  in  Schräglage, 
letztere  einmal  mit  hoch,  ein  anderes  Mal  mit  tief  gelagertem  Kopf 
liegen  licss,  sie  dann  tödtete  und  die  Respirationsorgane  sofort  auf 
etwa  hineingelangte  Mundflüssigkeit  hin  untersuchte.  In  der  eben 
beschriebenen  Weise  wurden  mit  geringen  Modificationen  folgende 
Versuche  angestellt: 

I.    Horizontale  Lagerung  des  Körpers  und  Kopfes. 

Versuch  1:  Schwarzbrauner  Pinscher.  Aethernarkose  70  Min.  Massige 
Speichelsecretion.  Bei  Beginn  der  tiefen  Narkose  Injection  von  1  ccm  con- 
centrirter  wässeriger  Gentianaviolettfarbung,  im  weiteren  Verlauf  der  Narkose 
werden  noch  weitere  3  ccm  Farblösung  im  Maule  vertheilt.  Starkes  Rasseln 
im  Schlünde,  Kehlkopf  nnd  Trachea  hörbar.  Schaumiger  blauer  Schleim  fliesst, 
wenn  man  den  Kopf  des  Thieres  auf  die  Seite  dreht,  ab.  Tödtung  durch  Ver- 
blutung. Sofort  Hals-  und  Brusteingeweide  unter  Vorsichtsmaassregeln ,  so 
dass  eine  Lageveränderung  des  in  den  Luftwegen  befindlichen  Secretes  aus- 
geschlossen ist,  herausgenommen.  Befund:  Larynx,  Trachea,  sammtliche 
Bronchien,  grosso  sowohl  wie  kleine  und  kleinste,  zeigen  dunkelviolett  im- 
bibirte  Schleimhaut.  Ueberall  ist  der  Farbstoff  mehr  oder  weniger  weit  in  das 
Lungengewebe  vorgedrungen,  an  vielen  Stellen  sogar  bis  an  die  Pleura,  wo 
er  deutlich  sichtbare,  stecknadelkopfgrosse  und  grössere  confluirende  Flecken 
hervorgebracht  hat.  Sammtliche  Lappen  sind  ohne  grosse  Unterschiede  befallen, 
die  unteren  etwas  mehr  als  die  übrigen. 

Versuch  2:  Ausgewachsenes  Kaninchen.  Aethernarkose  35  Min.  lang. 
Keine  Salivation  bemerkbar,  tropfenweise  2  com  Farblösung  im  Maule  vertheilt. 
Rasseln.  Spontaner  Tod.  Befund:  Trachea  und  Bronchien  von  schaumig- 
blauem Schleim  angefüllt;  Lungen  stark  emphysematös,  zahlreiche  blaue  Flecken 
an  der  Oberfläche,  besonders  stark  beide  Oberlappen  gefärbt,  der  rechte  mehr 
als  der  linke. 

Versuch  3:  Grosses  braunes  Kaninchen.  Aethernarkose  eine  Stunde. 
2  ccm  Farblösung  tropfenweise  im  Maule  vertheilt.  Starke  Speichelsecretion, 
der  Speichel  fliesst  bei  Seitwärtsdrehung  des  Kopfes,  blau  gefärbt  ab.  Tracheal- 
rasseln  ziemlich  stark.  Tod  durch  Verblutung.  Befund:  Auf  der  Schleimhaut 
der  Trachea  und  der  Bronchien  überall  blau  gefärbter  schaumiger  Schleim. 
In  der  linken  Lunge  sind  überall,  besonders  aber  im  Unterlappen,  die  Bronchien, 
selbst  die  kleinsten,  intensiv  gefärbt,  in  der  rechten  Lunge  sind  die  kleineren 
Bronchien  nur  schwach  gefärbt.  Beide  Lungen  hellroth,  lufthaltig,  an  manchen 
Stellen  emphysematös. 

Versuch  4:  Hund.    Chloroformnarkose  1  Stunde  lang.   5  Tropfen  Färb- 


Experiment  Unters,  üb.  d.  Entstehung  d.  Erkrankungen  d.  Luftwege  etc.     181 

lösang  im  Manie  vertheilt,  später  noch  ein  hanfkorngrosser  Klumpen  von 
Gentiana?iolettbrei.  Sehr  geringe  Speichelseoretion ,  nur  ab  und  zu  Rasseln 
hörbar  im  Schlünde.  Tod  durch  Verblutung.  Befund :  Kehlkopf  und  Trachea 
bis  zur  Bifurcation  in  allmalig  abnehmendem  Maasse  blau  gefärbt.  Bronchien 
und  Lungen  völlig  frei  von  Färbung. 

Versuch  5:  Hund.  Chloroformnarkose  1  Stunde  lang.  Der  Kopf  wird 
nur  die  erste  Viertelstunde  in  Rückenlage  gehalten,  die  übrigen  3  Viertelstunden 
auf  die  linke  Seite  gelagert.  Geringe  Speichelsecretion ,  Gentianaviolettbrei 
im  Maule  vertheilt.  Tod  durch  Verblutung.  Befund :  Kehlkopf  intensiv  blau, 
Trachea  allmalig  abnehmend  bis  10  cm  unterhalb  des  Ringknorpels  (Gesammt- 
länge  der  Trachea  =  14  cm)  blau  gefärbt.  Uebrige  Trachea,  Bronchien, 
Lungen  ohne  jede  Färbung. 

Versuch  6:  Hund.  Kopf  theilweise  in  Rücken-,  theils  in  linker  Seiten- 
lage gehalten,  ebenso  der  übrige  Körper.  Chloroformnarkose  1  Stunde  lang. 
Starke  Schleimabsonderung,  meist  starkes  Tracheairasseln  hörbar.  Gentiana- 
violettbrei im  Maule  vertheilt.  Tod  durch  Verblutung.  Befund:  Kehlkopf, 
Trachea  und  grosse  Bronchien  mit  schaumigem  blauem  Schleim  bedeckt;  in  den 
Bronchien  des  rechten  Lungenlappen  ist  die  Färbung  nur  schwach,  am 
stärksten  noch  in  dem  obersten  rechten  Hauptbronchus.  Die  linken  Bronchien 
viel  intensive  gefärbt,  selbst  die  kleineren  Bronchien  zeigen  deutliche  blaue 
Färbung. 

Versuch  7:  Grosser  Hund.  Rumpf  in  rechter  Seiten-,  Kopf  in  Rücken- 
lage. Aeihernarkose  1  Stunde  lang.  Gentianaviolettbrei  im  Maule  vertheilt. 
Starke  Sali vation,  starkes  Rasseln.  Tod  durch  Verblutung.  Befund:  Kehlkopf 
gleichmässig  schwach  blau  gefärbt,  in  der  Trachea  ist  die  Blaufärbung  nur  auf 
die  rechte  Hälfte  des  Trachealumfanges  beschränkt.  Die  ganze  Trachea  hinab 
zieht  sich  in  ihrer  rechten  Hälfte  liegend  ein  Streifen  zähen,  schaumigen 
Schaumes,  der  blau  gefärbt  ist,  mit  scharfer  Linie  die  linke  Trachealhälfte  frei 
lässt,  sich  an  der  Bifurcation  in  den  rechten  Hauptbronchus  hincinbegiebt  und 
sich  von  hier  aus  in  sämmtliche  von  Letzterem  abgehenden  Bronchien  vertheilt, 
während  er  den  linken  Hauptbronchus  völlig  unberührt  lässt. 

Versuch  8:  Hund.  Rumpf  und  Kopf  in  rechter  Seitenlage.  Aether- 
narkose  1  Stunde  lang.  Starke  Salivation,  Gentianaviolettbrei  im  Maule  ver- 
theilt, Rasseln  im  Schlünde,  sehr  viel  blauer  Schleim  entleert  sich  aus  dem 
rechten  Mundwinkel.  Tod  durch  Verblutung.  Befund:  Kehlkopf  und  Trachea 
bis  ^a  den  obersten  5  Knorpelringen  an  beiden  Seiten  ziemlich  gleichmässig 
blau  gefärbt  und  mit  schaumigem  Schleim  bedeckt.  Sonst  Trachea  und  Bron- 
chien ohne  Färbung  und  Secret. 

Versuch  9.  Meerschweinchen.  Rumpf  und  Kopf  in  Rückenlage.  Aether- 
narkose  IY2  Stunde  lang.  Massige  Salivation,  als  deren  Folge  man  manchmal 
klaren  Schleim  aus  dem  Munde  hervorkommen  sieht;  starkes  Rasseln.  Tödtung 
durch  Nackenstich,  nachdem  vorher  der  Kehlkopf  herauspräparirt  ist,  um  As- 
piration während  derAgone  zu  verhüten.  Befund:  Kehlkopf  mit  grünlichgelbem, 
schaumigem  Schleim  gefüllt,  die  Trachealwand  ebenfalls  hinab  bis  zu  den 
grossen  Brochien  mit  einer  Schicht  ähnlichen  Schleimes  bedeckt.    Im  Maule 


182  Dr.  H.  HÖlscher, 

besonders  hinten  der  nämliche  grünlich  gelbe  Schleim.  Mikroskopisch  erweist 
sich  der  der  Trachea  aufliegende  Schleim  als  aus  zahlreichen  Pflanzenfasern, 
Plattenepithelien,  spärlichen  Leucocyten  und  Mikrokokkenhaufen  bestehend. 
Der  gelbliche  Mundinhalt  hat  dieselbe  Zusammensetzung:  In  den  grösseren  und 
kleineren  Bronchien  lassen  sich  ebenfalls  Pflanzenfasern  mikroskopisch  nach- 
weisen. 

Versuch  10:  Dachshund.  Rückenlage.  Chlorofonnnarkose  1  Stunde 
lang.  Geringe  Speichelabsonderung.  Gentianaviolettbrei  im  Maule  verthoilt. 
Im  Rachen  manchmal  Rasseln  hörbar,  mehrfaches  Aufwachen  aus  der  tiefen 
Narkose,  wobei  Schluckbewegungen  gemacht  werden.  Tod  durch  Verblutung. 
Befund:  Gefärbt  ist  nur  Kehlkopf  und  oberster  Trachealring,  die  übrige  Trachea 
und  die  Bronchien  ohne  Färbung  und  Secret. 

Versuch  11:  Hund.  Seitwärtslagerung  des  Kopfes  und  des  Rumpfes. 
Aethemarkose  1  Stunde  lang.  Gentianaviolettbrei  im  Maule  vertheilt.  Starke 
Salivation,  der  blau  gefärbte  Schleim  fliesst  in  grossen  Mengen  seitlich  aus  dem 
Maule  ab.  Nur  ab  und  zu  Rasseln  im  Schlünde.  Tod  durch  Verblutung. 
Befund:  Vom  Kehlkopf  ist  nur  die  obere  Hälfte,  die  oberhalb  der  Stimmbänder 
liegt,  blau  gefärbt.    Trachea  und  Bronchien  ohne  jegliche  Färbung. 

Versuch  12:  Jagdhund.  Linke  Seitenlage  des  Körpers,  Kopf  links 
gedreht.  Aethemarkose  IY2  Stunde  lang.  Ziemlich  starke  Salivation.  Gen- 
tianaviolettbrei im  Maule  vertheilt.  Athmung  meist  frei,  nur  vereinzelt  Rasseln 
im  Schlünde  hörbar.  Tod  durch  Verblutung.  Befund:  Kehlkopfeingang  etwas 
blau  gefärbt,  sonst  sind  die  Luftwege  völlig  frei  von  Färbung  und  Secret. 

Bei  allen  Thieren  also,  bei  denen  sich  während  der  Narkose 
reichlich  Flüssigkeit  im  Maule  befand,  die  entweder  als  concentrirte 
Farblösung  tropfenweise  injicirt  war,  oder  sich  durch  reichliche 
Speichel-  und  Schleimsccretion  gebildet  hatte,  bei  denen  sich 
femer  diese  Flüssigkeit  nicht  ohne  Weiteres  aus  dem  Maule  nach 
aussen  entleeren  konnte  (Versuch  1,  2,  3,  6,  7,  9)  finden  wir 
sämmtliche  Luftwege,  meist  sogar  bis  zu  den  kleinsten  Bronchien 
hinab,  bedeckt  von  dem  schaumigen  Schleim,  von  dem  uns  die 
blaue  Färbung,  oder  das  makro-  und  mikroskopische  Aussehen 
(Versuch  9)  bewies,  dass  er  aus  der  Mundhöhle  stammte.  In  den 
Fällen  dagegen,  wo  keine  Farblösung  (oder  wie  in  Fall  4  nur 
wenige  Tropfen  derselben),  sondern  Farbstoff  in  Substanz  im 
Maule  vertheilt  war,  wo  gleichzeitig  keine  reichliche  Speichel-  und 
Schleimabsonderung  stattfand,  wie  in  Fall  4,  5  und  10,  in  diesen 
Fällen  beschränkte  sich  die  Färbung  auf  Kehlkopf  und  die  Trachea, 
in  letzterer  mehr  oder  weniger  weit  hinabreichond.  In  Versuch  8 
erstreckte  sich  die  Färbung  nur  auf  den  Kehlkopf  und  die  obersten 
5  Ringe    der  Trachea,    in  A^ersuch   11  und  12    gar   nur    auf   den 


Experiment.  Unters,  üb.  d.  Entstehung  d.  Erlirankungen  d.  Luftwege  etc.     183 

Kehlkopfeingang,  während  der  übrige  Kehlkopf,  die  Traofcea  und 
die  Bronchien  völlig  frei  geblieben  waren ;  hier  war  eben  durch  die 
während  der  Narkose  dem  Thiere  gegebene  Seitwärtsdrehung  des 
Kopfes  die  Möglichkeit  gegeben,  dass  der  secernirte  Mundspeichel 
zum  grössten  Theil  oder  sogar  vollständig  nach  aussen  abfliessen 
konnte. 

Aus  dieser  Versuchsreihe  geht  hervor,  dass  bei  horizontaler 
Lagerung  der  Thiere  während  der  Narkose  allein  die 
Kraft  des  inspiratorischen  Luftstroras  genügt,  etwaige 
im  Rachen  befindliche  Flüssigkeit  mit  sich  fort  und  in 
die  Luftwege  hinein  zu  reissen.  Die  Flüssigkeit  dringt  um 
so  tiefer  in  die  Luftwege  hinein,  je  grösser  die  Menge  ist,  in 
welcher  sie  sich  vor  dem  Kehlkopfeingange  angesammelt  hat,  je 
grösser  also  die  Speichclsecretion  ist,  und  je  weniger  der  secernirte 
Speichel  nach  aussen  abfliessen  kann.  Hat  sich  vor  dem  Kehlkopf- 
eingange eine  gewisse  Menge  Speichel  angesammelt,  so  wird  diese 
Flüssigkeit,  welche  allmälig  durch  die  ein-  und  austretende  und 
durch  sie  hindurchstreichende  Athraungsluft  in  eine  zähe,  schaumige 
Masse  verwandelt  wird,  bald  zu  einem  gewissen  Hinderniss  für  die 
Athmung,  sie  beengt  den  Luftstrom.  In  Folge  dessen  muss  das 
narkotisirte  Thier  tiefere  und  kraftvollere  Inspirationen  machen, 
als  es  für  gewöhnlich  zu  machen  nöthig  liat,  um  genügend  Luft 
zu  bekommen;  durch  diesen  verstärkten  Inspirationsstrom  wird 
natürlicher  Weise  mehr  von  der  vor  dem  Kehlkopf  befindlichen 
Schleimmenge  mitgerissen,  als  es  bei  ruliiger  Athmung  der  Fall 
sein  würde.  Bei  der  Verthcilung  der  aspirirten  Schleimmassen  in 
den  Lungen  wirkt  als  zweiter  Factor  in  hervorragendem  Maassc 
die  eigene  Schwere  des  hineingelangten  Schleimes  mit.  Diese 
Einwirkung  der  Schwerkraft,  welche  Sehrwald  für  die  Vertheilung 
intratracheal  injicirter  Flüssigkeiten  in  den  Lungen  als  besonders 
wichtig  hervorhob,  tritt  bei  den  Versuchen,  bei  denen  sich  die 
Thiere  in  horizontaler  Rückenlage  während  der  Narkose  befanden, 
natürlich  nicht  hervor,  wohl  aber  bei  denen,  wo  den  Thieren  eine 
seitliche  Lagerung  gegeben  worden  war.  In  Versuch  6  lag  der 
Körper  des  Hundes  ein  wenig  nach  links  geneigt,  als  Folge  davon 
sehen  wir,  dass  der  gefärbte  Mundinhalt  am  stärksten  in  die 
linken,  nur  ganz  wenig  in  die  rechten  Lungenlappen  hineingelangt 
war.     In  Versuch  7    nahm  der  Hund    rechte  Seitenlage  ein;    der 


184  Dr.  K.  Hölscher, 

aspirirtt  Mundschleim  fand  sich  als  zäher,  blau  gefärbter  Streifen 
in  der  rechten  Trachealhälfte  liegend  und  von  da  aus  allein  in  den 
rechten  Hauptbronchus  hineingedrungen,  von  hier  aus  die  einzelnen 
Lungenlappen  anfüllend,  die  linken  Lungenlappen  waren  völlig  frei 
geblieben. 

II.    Schräglagerung  des  Thieres  mit  hoeh  liegendem  Eopf. 

Versuch  13:  Grosser  Jagdhund.  Rückenlage.  Gentianaviolettbrei  im 
Maule  vertheilt.  Chloroformnarkose  1  Stande  lang.  Keine  Spar  einer Salivation. 
Schleimhaut  des  Maules,  der  Zange,  des  Gaamens  wird  allmälig  im  Laufe  der 
Narkose  trocken.  Tod  in  Narkose.  Befand:  Weder  im  Kehlkopf,  noch  inTra<5hea 
und  Bronchien  Färbung  oder  Secretanhäufung. 

Versuch  14:  Kaninchen.  Rückenlage.  Aethernarkose  40  Minuten  lang. 
lYa^cm  Genlianaviolettlösung  tropfenweise  im  Maule  vertheilt.  Starkes  Rasseln 
im  Schlünde  und  in  der  Trachea;  allmälig  immer  mühsamer  werdende  Athmung. 
Tod  in  Narkose.  Befund:  Beide  Lungen  stark  emphysematös,  fallen  nach  Er- 
öffnung der  Pleuren  nicht  zusammen.  Kehlkopf,  Trachea  und  Bronchien  von 
grossblasigem  blauen  Schleim  völlig  angefüllt.  In  sämmtlichen  Lungenlappen, 
beiden  Unterlappen  am  stärksten,  sind  selbst  die  kleinen  Bronchien  mitdemselben 
Schleim  angefüllt;  das  Lungengewebe  selbst  hat  in  den  Unterlappen  th eilweise 
blaue  Färbung  angenommen,  und  entleert  bei  Druck  den  nämlichen  blauen 
Schleim  aus  allen  Bronchien. 

Versuch  15:  Kräftiger  Hund.  Chloroformnarkose  1  Stunde  lang.  Sehr 
starke  Speichelabsonderung,  Gentianaviolettbrei  im  Maule  vertheilt.  Starkes 
Rasseln.  Zuerst  Rücken-  dann  rechte  Seitenlage.  Tödtung  durch  Nackenstich 
(vorher  wie  bei  allen  Versuchen  Trachea  freigelegt  und  sofort  nach  dem  Nacken- 
stich unterbunden.)  Befund:  Kehlkopf,  Trachea  und  Bronchien  angefüllt  mit 
schaumigem,  zähen  Schleim,  besonders  stark  die  Bronchien  der  rechten  Lungen- 
lappen gefärbt,  und  hier  wieder  am  intensivsten  der  Unterlappen,  wo  selbst 
die  kleinsten  Bronchien  blaue  Färbung  aufweisen.  Die  linken  Lungenlappen 
sind  im  Ganzen  viel  weniger  gefärbt,  als  die  rechten,  relativ  am  stärksten  die 
Unterlappen. 

Versuch  16:  Kaninchen.  Aethernarkose  20  Minuten  lang.  1  ccm  Gen- 
tianaviolettlösung  tropfenweise  im  Maule  vertheilt.  Rechte  Seitenlage.  Tod  in 
Narkose.  Befund:  Sammtliche  Lungenlappen,  am  stärksten  die  der  rechten 
Seite  blau  gefärbt,  auf  jeder  Seite  relativ  am  stärksten  der  Unterlappen. 

Versuch  17:  Kaninchen.  Rückenlage.  Aethernarkose  20  Minuten  lang. 
Starke  Salivation;  nichts  in  das  Maul  hinein  gebracht.  Starkes  Rasseln  im 
Schlünde,  allmälig  wird  die  Athmung  mühsam,  um  nach  20  Minuten  ganz  auf- 
zuhören. Befund:  Kehlkopf,  Trachea  und  Bronchien  mit  schaumigem  Schleim 
angefüllt.  Sammtliche  Lungenlappen  sind  sehr  stark  emphysematös,  ballon- 
artig aufgetrieben , « auf  dem  Durchschnitt  entleert  sich  aus  den  Bronchien 
schaumiger  Schleim. 


Experiment.  Unters,  üb.  d.  Entstehung  d.  Erkrankungen  d.  Luftwege  etc.     185 

Trotz  der  geringeren  Anzahl  dieser  Versuche  geht  aus  ihnen 
hervor,  dass  in  den  Fällen,  in  welchen  sich  im  Rachen  Flüssigkeit 
während  der  Narkose  ansammelte,  eine  viel  ausgedehntere  Ueber- 
schwemmung  der  Luftwege  mit  den  aus  dem  Munde  herabge- 
kommenen Schleimmengen  eintrat,  als  sie  bei  horizontaler  Lagerung 
der  Thiere  stattfinden  konnte.  Diese  AnfüUung  der  Luftwege  war 
in  mehreren  Fällen  so  gross,  dass  sie  direct  durch  Verlegung  des 
fiir  die  Passage  des  Luftstroms  nothwendigen  Raumes  den  Tod 
der  Thiere  durch  Erstickung  herbeiführte.  Auch  hier  sehen  wir 
die  Angaben  Sehrwald 's  über  die  Flüssigkeitsvertheilung  in  den 
Lungen  wieder  bestätigt.  Zunächst  sehen  wir,  dass  die  ünterlappen 
in  der  Regel  am  meisten  befallen  sind.  Sehrwald  erklärt  diese 
Bevorzugung  der  ünterlappen  durch  die  in  die  Luftwege  gelangte 
Flüssigkeit  dadurch,  dass  einmal  die  eigne  Schwere,  sodann  die 
Richtung  des  inspiratorischen  Luftstromes  die  in  die  Trachea 
gelangte  Flüssigkeit  gerade  in  diese  Theile  der  Lungen  zu  bringen 
geeignet  sei.  Ferner  sehen  wir  in  den  Fällen,  wo  die  Thiere 
Seitenlage  einnahmen,  die  Lungenlappen  der  dem  Brette  auf- 
liegenden Körperseite  viel  intensiver  mit  dem  aspirirten  gefärbten 
Schleim  angefüllt,  als  die  der  anderen  Seite. 

III.    Schräglagerung  mit  tief  liegendem  oder  frei 

hängendem  Eopf. 

Versuch  18:  Hund.  Kopf  liegt  tief.  Aethernarkose  1  Stunde  lang. 
Starke  Speichelsecretion.  Gentianaviolettbrei  im  Maule  vertheilt.  Ab  und  zu 
Rasseln  im  Schlünde  hörbar.  Tödtung  durch  Nackenstich.  Befund:  Während 
die  ganze  Mundhöhle  blau  gefärbt,  ihre  Wandungen  mit  zähem  blauen  Schleim 
bedeckt  ist,  ist  Kehlkopf,  Trachea  und  Bronchien  ohne  jede  Färbung  und  Inhalt. 
Lungen  grauroth,  lufthaltig. 

Versuch  19:  Kaninchen.  Freihängender  Kopf.  Aethernarkose  1  Stunde 
lang.  Gentianaviolettbreiim  Maule  vertheilt.  Geringe  Speichelsecretion.  Tödtung 
durch  Nackenstich.  Befund:  Ganze  Mundhöhle  intensiv  blau  gefärbt.  Kehl- 
kopf, Trachea  und  Bronchien  völlig  frei  von  jeglicher  Färbung. 

Versuch  20:  Kaninchen.  Kopf  tief  liegend.  Aethernarkose  1  Stunde 
lang.  Kein  Farbstoff  im  Maule  verrieben.  Geringe  Speichelsecretion;  einige 
Tropfen  zähen  Schleimes  fliessen  aus  dem  Maule  ab.  Manchmal  Rasseln  im 
Schlünde  hörbar.  Tödtung  durch  Nackenstich.  Befund:  Im  Rachen  sowie  am 
Kehlkopfeingang  schaumiger  Schleim.  Kehlkopf,  Trachea  und  Bronchien  blass, 
ohne  jeden  Inhalt.    Lungen  rosaroth,  lufthaltig. 


186  Dr.  R.  Kölscher, 

Aehnliche  Versuche  wie  die  letzten  3  stellte  ich  noch  an 
einer  grossen  Anzahl  von  Thieren,  Kaninchen,  Hunden  und  Katzen, 
genau  in  derselben  Anordnung  an,  mit  oder  ohne  Farbstoffvertheilung 
im  Maule  während  der  Narkose.  Häufig  trat  bei  auf  geneigtem 
Brette  tiefliegendem  Kopfe  Rasseln  im  Schlünde  auf,  welches  stets 
fehlte  in  den  Versuchen,  wo  der  Kopf  frei  herabhing.  Immer  aber 
war  der  Befund  an  den  Luftwegen,  wie  in  den  Versuchen  18 — 20 
ein  negativer,  weshalb  ich  darauf  verzichte,  die  A'^ersuche  im  ein- 
zelnen weiter  anzuführen. 

In  allen  diesen  Fällen  genügte  die  Tieflagerung  des  Kopfes, 
um  zu  bewirken,  dass  kein  Mundinhalt  in  die  Luftwege  hinein- 
gelangte. Bei  völlig  frei  hängendem  Kopfe  war  der  Abfluss  des 
secernirten  Speichels  ein  so  vollkommener,  dass  nie  Rasseln  im 
Schlünde  auftrat,  er  war  nicht  so  vollständig,  wie  das  ab  und 
zu  auftretende  Rasseln  bewies,  wenn  die  Thiere  nur  mit  tief  ge- 
lagertem Kopfe  schräg  geneigte  Lage  einnahmen;  immerhin  konnte 
sich  aber  auch  hier  nie  so  viel  Speichel  ansammeln,  dass  eine 
Aspiration  desselben  hätte  zu  Stande  kommen  können. 

Unter  Umständen  kommt  es  nun  aber  doch,  allerdings  nicht 
bei  hängendem  Kopf,  wohl  aber  bei  einfacher  Tieflagerung  des 
Kopfes  auf  nur  leicht  ( — <  20°)  geneigter  Ebene  zu  einer  Aspi- 
ration von  Mundinhalt,  wie  die  folgenden  beiden  Versuche  zeigen: 

Versuch  21:  Kaninchen.  Schräge  Rückenlage  mit  tief  liegendem  Kopfe 
auf  einem  im  ^  15  ®  geneigten  Brette.  Der  Kopf  wird  so  gehalten,  dass  er  mit 
dem  Hinterhaupt  dem  Brette  aufliegt,  die  Schnauze  des  Thieres  nach  oben  ge- 
richtet ist.  Aethernarkose  1  Stunde  lang.  Einträufelung  von  ^/2  ocm  Gentiana- 
violettlösung  und  Venheilung  derselben  im  Maule.  Die  erste  halbe  Stunde  der 
Narkose  tritt  kein  Rasseln  im  Schlünde  auf,  man  sieht  ab  und  zu  einen  Tropfen 
blau  gefärbten  Schleims  aus  dem  Maule  abfliesscn.  Jetzt  wird  Trachea  «nd 
Kehlkopf  leicht  mit  dem  Finger  comprirairt,  es  folgen  tiefe,  mühsame  Inspira- 
tionen, und  zugleich  tritt  Rasseln  im  Schlünde  auf.  Bei  Nachlass  des  Druckes 
wird  das  Rasseln  zwar  geringer ,  bleibt  jedoch  während  der  ganzen  Dauer  der 
Narkose  bestehen,  wird  bei  dem  von  Zeit  zu  Zeit  wiederholton  Druck  auf  die 
Trachea  stärker,  um  bei  Nachlassen  des  Druckes  sich  wieder  zu  vermindern. 
Stäi'ker  wird  das  Rasseln  auch,  wenn  man  den  Unterkiefer  des  Thieres  nach 
hinten  drückt.  Tod  nach  einer  Stunde  durch  Verblutung.  Befund:  Beide  Lungen 
lufthaltig,  ohne  Seci'et,  Bronchien  ohne  Injection  und  Inhalt.  Trachea  hinab 
bis  zur  Bifurcation,  in  allmalig  abnehmendem  Maasse  blau  gefärbt  und  mit 
etwas  schaumigem,  blauen  Schleim  spärlich  bedeckt. 

Versuch  22:  Hund.  Schräge  Rückenlage  mit  tiefliegendem  Kopf,  der 
gleichzeitig   mit   dem  Hinterhaupt  aufliegt.     Aethernarkose  1   Stunde  lang. 


Experiment.  Unters,  üb.  d.  Entstehung  d.  Erkrankungen  d.  Luftwege  etc.     187 

Massige  Speichelsecretion.  Im  Maule  Y2  ccm  Gentianaviolettlösung  vertheilt. 
Es  tritt  Icein  Rasseln  auf,  trotzdem  der  Kopf  etwas  aufgerichtet  wird ,  so  dass 
die  Schnauze  etwas  steiler  liegt.  Jetzt  Compression  der  Trachea  durch  Finger- 
druck, sofort  tritt  Rasseln  auf.  Die  Compression  der  Trachea  wird  ^/^  Stuuden 
lang  fortgesetzt,  fortwährendRasseln  bei  mühsamen  Athembewegungen.  Tödtung 
durch  Nackenstich  1  Stunde  nach  Beginn  der  Narkose.  Befund:  Kehlkopf  und 
Trachea  bis  zu  10  cm  unterhalb  des  Kehlkopfs  blau  gefärbt,  die  Hinterseite  der 
Trachea  mit  schaumigem,  blauem  Schleim  bedeckt.  Die  übrige  Trachea  und 
die  Bronchien  ohne  Färbung  und  Secret. 

Wenn  also  bei  einfacher  Tieflagerung  des  Kopfes  während  der 
Narkose  die  blosse  Anwesenheit  von  Mundinhalt  vor  dem  Kehlkopf- 
eingang nicht  dazu  ausreicht,  eine  Aspiration  desselben  eintreten 
zu  lassen,  so  wird  dies,  wie  die  beiden  letzten  Versuche  zeigen, 
herbeigeführt  durch  eine  künstliche  Verstärkung  des  inspiratorischen 
Luftstroms.  In  beiden  Fällen  wurde  durch  Compression  der 
Trachea  ein  bedeutendes  Hinderniss  für  die  Athmung  geschaffen, 
die  Atherazöge  wurden  in  Folge  dessen  tiefer  und  gewaltsamer, 
und  bekamen  dadurch  die  Kraft,  die  vor  dem  Kehlkopfeingang 
befindliche  Mundfliissigkeit  in  die  Trachea  hinauf  anzusaugen; 
allerdings  genügten  sie  immer  noch  nicht,  um  auch  in  die 
Bronchien  die  Flüssigkeit  gelangen  zu  lassen.  Wahrscheinlich 
aber  würde  dies  eingetreten  sein,  wenn  die  Narkose  und  die 
während  derselben  künstlich  hervorgebrachte  Verengenmg  der 
Trachea  noch  läns^ere  Zeit  fortbestanden  hätte. 

Fassen  wir  die  Resultate  der  bisher  gemachten  Versuche 
zusammen,  so  sehen  wir,  dass  das  Hineindringen  von  Mundinhalt 
in  die  Luftwege  während  der  Narkose  von  mehreren  Factoren 
abhängig  ist. 

•  1.  Während  der  Narkose  muss  überhaupt  Speichel 
und  Schleim  abgesondert  werden.  Das  ist  mit  verschwinden- 
den Ausnahmen  bei  der  Aethernarkose  in  der  Regel  der  Fall;  bei 
der  Chioroformnarkose  lehlt  die  Speichelsecretion  meist  ganz,  oder 
ist  doch  nur  sehr  unbedeutend. 

2.  Der  secernirte  Speichel  muss  sich  vor  dem  Kehl- 
kopfeingange in  grösserer  oder  geringerer  Menge  an- 
sammeln. Es  muss  also  dieser  Theil  der  Mund-  und  Rachen- 
höhle entweder  der  tiefste  Punkt  sein,  wohin  der  gesammte 
abgesonderte  Speichel  zusammenfliesst,  oder  er  muss  doch  so 
liegen,    dass  der  Speichel,    ehe  er   anders  w^ohin   abfliessen   kann. 


188  üi\  R.  Hölscher, 

sich  theilweise  hier  eine  Zeit  lang  aufgehalten  hat.  Die  blosse 
Ueberlegung  lehrt  uns,  dass  der  Pharynx  dann  den  tiefsten  Punkt 
der  Mund -Nasen -Rachenhöhle  darstellt,  wenn  das  Thier  während 
der  Narkose  entweder  horizontale  oder  mit  erhöhtem  Kopf  schräge 
Rückenlage  einnimmt,  und  wenn  gleichzeitig  dabei  der  Kopf  mit 
dem  Hinterhaupte  aufliegt.  Ist  dies  der  Fall,  so  wird  sämmtliche 
in  der  Mund -Nasen -Rachenhöhle  secernirte  Flüssigkeit  sich  im 
Schlünde  ansammeln  und  den  Kehlkopfeingang  verlegen. 

Legt  man  bei  schräger  Rückenlage  des  übrigen  Körpers  den 
erhöhten  Kopf  seitlich,  so  wird  zw^ar  die  im  vorderen  Theile  der 
Mund-  und  Nasenhöhle  secernirte  Flüssigkeit  nach  aussen  abfliessen 
können,  für  das  im  hinteren  Theil  dieser  Höhlen,  sowie  im"  Nasen- 
rachenraum gebildete  Secret  wird  als  tiefster  Punkt  auch  hier  der 
Raum  vor  dem  Kehlkopfeingange  den  Sammelpunkt  bilden.  Anders 
liegen  die  Verhältnisse,  wenn  bei  horizontal  liegendem  übrigen 
Körper  der  Kopf  auf  die  Seite  gedreht  wird.  Bei  dieser  Lagerung 
fliesst  der  grösste  Theil  des  Mundinhalts  aus  dem  Maule  seitlich 
ab,  der  im  Nasenrachenraum  und  am  Zungengrunde  abgesonderte 
Schleim  wird  zwar  erst  an  der  dem  Tische  aufliegenden  Pharynx- 
wand  zusammenfliessen,  dann  aber,  besonders  wenn  der  Kopf  etwas 
seitHch  überdreht  wird,  so  dass  der  dem  Tisch  aufliegende  Mund- 
winkel noch  tiefer  zu  liegen  kommt,  als  die  gleichseitige  Pharynx- 
wand,  bald  seitlich  über  Gaumensegel  und  Backen  hinweg  sich 
nach  aussen  begeben.  Immerhin  wird  sich  bei  dieser  Lagerung 
eine  geringe  Menge  Secretes  eine  Zeit  lang  vor  dem  Kehlkopf- 
eingange aufhalten,  ehe  sie  nach  aussen  abfliessen  kann.  Aehnliches 
ist  der  Fall,  wenn  die  Thiere  auf  einem  (im  Winkel  von  15 — 20^) 
geneigten  Brette  schräge  Rückenlage  mit  tiefliegendem  Kopfe  ein- 
nehmen. Auch  hierbei  wird  sich,  wie  es  das  in  manchen  Fällen 
aufgetretene  Rasseln  im  Schlünde  bewies,  der  Mundinhalt,  aller- 
dings nur  in  geringer  Menge,  vor  dem  Kehlkopf  ansammeln  können. 
Das  hat  darin  seinen  Grund,  dass  bei  der  nur  geringen  Schräg- 
lagerung des  Thieres  der  Kopf  mit  seiner  vorderen  Partie  nicht  so 
weit  nach  hintenüber  sinken  kann,  dass  die  Längsachse  der  Mund- 
und  Nasenhöhle  die  Horizontale  erreicht  oder  sich  gar  unter  die- 
selbe hinabneigt.  Es  wird  daher  der  Speichel  nur  ganz  langsam 
aus  dem  Munde  abfliessen  können,  das  im  Nasenrachenraum  ge- 
bildete Secret  wird   sich  immer  eine  Zeit  lang  hier  befinden,    den 


Experiment.  Unters,  üb.  d.  Entstehung  d.  Erkrankungen  d.  Luftwege  etc.     189 

hinteren  Theil  des  Kehlkopfeinganges  umgeben  und  erst  allmälig 
über  das  Rachendach,  durch  die  Choanen  und  Nasengänge  sich 
nach  aussen  begaben. 

Werden  dagegen  die  Thiere  mit  noch  mehr  abwärts  geneigtem 
oder  gar  hängendem  Kopfe  narkotisirt,  so  kommt  es  überhaupt 
nicht,  nicht  einmal  vorübergehend,  zu  einer  Ansammlung  von 
Secret  vor  dem  Kehlkopfe.  Bei  dieser  Lage  wird  natürlich  der 
sich  bildende  Schleim  sofort  bei  den  steil  abfallenden  Wänden  des 
Nasenrachenraumes,  der  Mund-  und  Nasenhöhle  herunterfliessen 
und  auf  diese  Weise  auf  dem  schnellsten  Wege  nach  aussen 
befördert.  In  der  That  trat  bei  dieser  Lagerung  der  narkotisirtcn 
Thiere  nie  eine  Spur  von  Rasseln  auf. 

3.  Hat  sich  der  Mundinhalt  vor  dem  Kehlkopfeingange 
in  grösserer  oder  geringerer  Menge  angesammelt,  so 
spielen  für  seine  Weiterbeförderung  in  die  Luftwege  die 
Ausschlag  gebende  Rolle  einmal  die  Kraft  des  inspira- 
torischen Luftstroms,  sodann  die  eigne  Schwere  der  vor 
dem  Kehlkopf  befindlichen  Flüssigkeit. 

Bei  Schräglagerung  des  Körpers  mit  hochliegendem  Kopfe 
wirken  diese  beiden  Kräfte  in  gleichem  Sinne;  wie  von  vorn 
herein  zu  erwarten  ist,  und  wie  die  Versuche  bestätigt  haben, 
findet  daher  bei  dieser  Lagerung  des  narkotisirtcn  Thieres  eine 
ausgedehnte  Ueberschwemmung  der  Luftwege  mit  dem  hinab- 
geflossenen und  aspirirten  Inhalt  der  Mundhöhle  statt.  Weniger 
stark,  aber  immerhin  doch  noch  recht  bedeutend  ist  diese  Ueber- 
schwemmung bei  Horizontallagerung.  Hier  wirkt  die  Schwerkraft 
weder  im  günstigen,  noch  im  ungünstigen  Sinne,  der  inspiratorische 
Luftstrom,  dessen  Kraft  noch  verstärkt  wird  durch  das  in  Gestalt 
der  Flussigkeitsansammlung  vor  dem  Kehlkopfe  gegebene  Athmungs- 
hindemiss,  ist  hier  der  allein  maassgebende  Factor.  Bei  Tief- 
lagenmg  des  Kopfes  wirkt  Schwerkraft  und  Inspirationsstrom  gerade 
in  entgegengesetzter  Richtung.  Die  Kraft  des  letzteren  kann  erst 
dann  die  erstere  überwinden,  und  auch  dann  nur  bis  zu  einem 
gewissen  Grade,  wenn  sie,  wie  das  in  den  Versuchen  21  und  22 
geschah,  künstlich  ganz  ausserordentlich  verstärkt  wird.  Die  durch 
die  blosse  Flüssigkeitsversammlung  vor  dem  Kehlkopf  bedingte 
geringere  Verstärkung  ist  dazu  nicht  ausreichend.  Wo  also  die 
Schwerkraft    ihre  Mitwirkung  versagt,    oder   gar   direct   entgegen- 


190  Dr.  K.  Hölscher, 

gesetzten  Eiiifiuss  ausübt,  kommt  als  weiterer  wichtiger  Factor  für 
die  Aspiration  von  Mundinhalt  in  die  Luftwege  die  Entstehung 
eines  Respirationshindernisses  in  Betracht,  durch  welches  die  Kraft 
des  Inspirationsstroraes  mehr  oder  weniger  erhöht  wird. 

Neben  der  Schwerkraft  und  der  Kraft  des  normalen  oder  des 
verstärkten  Inspirationsstromes  spielen  die  anderen  in  Betracht 
kommenden  Momente  nur  eine  untergeordnete  Rolle.  Wenn  wir 
zunächst  die  Exspiration  in  Erwägung  ziehen,  so  sollte  man  eigent- 
lich denken,  dass  mit  derselben  Kraft,  mit  welcher  die  Inspiration 
den  vor  dem  Kehlkopf  befindlichen  Mundinhalt  ansaugt,  durch  den 
Exspirationsstrom  das  Aspirirte  wieder  herausgeschleudert  wird. 
Wie  eine  nähere  Betrachtung  lehrt,  kann  dies  nur  theilweise  der 
Fall  sein.  Bei  jeder  Aspiration  wird  zwar  ein  Theil  der  aspirirten 
Flüssigkeit  wieder  aus  den  Luftwegen  hinaus  befördert,  ein  anderer 
Theil  aber  bleibt  vermöge  der  Adhäsionskraft,  w^elche  gerade  bei 
der  zähen  Beschaffenheit  des  Mundsecretes  sehr  gross  ist,  an  der 
Wand  der  Luftröhre  hängen.  Bei  jeder  folgenden  Inspiration  wird 
nun  der  wieder  aspirirte  Mundinhalt  auf  dem  durch  die  vorher- 
gegangene Inspiration  gebahnten  und  schlüpfrig  gemachten  Wege 
immer  etwas  weiter  vordringen,  jede  folgende  Exspiration  wird 
zwar  einen  Theil  desselben  wieder  zurückdrängen,  einen  Theil 
jedoch,  der  um  so  geringfügiger  sein  wird,  je  tiefer  in  die  Luft- 
wege hinein  die  Aspiration  bereits  stattgefunden  hat. 

Ebenso  wenig  wie  der  Exspiration  vermag  der  Inspiration  der 
derselben  gleichfalls  entgegengesetzt  wirkende  Strom  der  Fliramc- 
rung  des  Tracheal-  und  Bronchialepithels  hemmend  entgegenzutreten. 
Trotzdem  die  Flimmorbewegung  während  der  Narkose  erhalten 
bleibt,  worauf  ich  später  noch  zurückkommen  werde,  ist  ihre  Kraft- 
ontfaltung  nicht  dazu  ausreichend,  das  einmal  Aspirirte  noch  während 
der  Narkose  wieder  nach  aussen  zu  befördeni. 

Haben  wir  so  die  Bedingungen  kennen  gelernt,  unter  welchen 
bei  narkotisirten  Thieren  eine  Aspiration  von  Mundinhalt  stattfindet, 
so  können  wir  umgekehrt  aus  den  Versuchen  und  den  ange- 
schlossenen Erörterungen  die  Schlussfolgerung  ziehen,  dass  man 
während  der  Narkose  nur  dann  eine  solche  Aspiration  verhüten 
kann,  wenn  man  erstens  eine  Ansammlung  von  Flüssig- 
keit vor  dem  Kchlkopfeingange  vorhindert.  Dies  gelingt 
vollständig  nur  bei  stark  abwärts  geneigtem  oder  bei  frei  hängendem 


Experiment.  Unters,  üb.  d.  Entstehung  d.  Erkrankungen  d.  Luftwoge  etc.     191 

Kopfe,  nahezu  vollständig  bei  nur  geringer  Tieflagerung  des  Kopfes, 
sowie  bei  horizontaler  Lagerung  desselben  mit  Seitwärtsdrehung. 
Da  bei  den  beiden  letztgenannten  Lagerungsarten  eine,  wenn  auch 
nur  geringfügige  Ansammlung  von  Flüssigkeit  vor  dem  Kehlkopf 
stattfinden  kann,  so  muss  man  zweitens,  um  eine  Aspiration  zu 
verhüten,  sorgfältig  darauf  achten,  dass  kein  Respirations- 
hinderniss  durch  Knickung  der  Trachea,  Zurückfallen 
des  Unterkiefers  oder  des  Zungengrundes  entsteht,  wo- 
durch die  Kraft  des  Lispirationsstromes  ganz  bedeutend  gesteigert 
werden  könnte.  - 

Es  entsteht  nun  die  Frage:  Gelten  die  bei  den  Thier- 
versuchen  gemachten  Erfahrungen  auch  für  die  Narkose 
des  Menschen,  sind  die  Bedingungen,  unter  welchen  eine 
Aspiration  von  Mundinhalt  während  der  Narkose  statt- 
fin/let,  oder  unter  welchen  man  sie  verhindern  kann, 
dieselben  oder  doch  ähnliche,  wie  wir  sie  für  die  be- 
treffenden Thicre  experimentell  festgestellt  haben? 
Wenn  man  die  einschlägigen  Verhältnisse  bei  der  Narkose  des 
Menschen  einer  näheren  Betrachtung  unterzieht,  so  glaube  ich, 
wird  man  diese  Frage  im  Wesentlichen  bejahen  dürfen. 

Zunächst  ist  es  Thatsache,  dass  bei  der  Aethemarkose  des 
Menschen  ebenso  wie  beim  Thiere  in  der  Regel  eine  sehr  reich- 
liche Sekretion  von  Speichel  und  Schleim  stattfindet. 

Sodann  ist  gerade  der  Bau  und  die  Lage  der  menschlichen 
Mund-  und  Rachenhöhle  dazu  geeignet,  während  der  Narkose  eine 
ausgiebige  Ansammlung  der  Mundflüssigkeit  vor  dem  Kehlkopfe 
geschehen  zu  lassen. 

Die  Mundöffnung  des  Menschen  besitzt  im  Vergleich  zu  der 
der  Thiere,  speciell  der  meist  zu  den  Versuchen  verwandten 
Hunde,  eine  relativ  geringe  Weite,  die  Backentaschen  sind  viel 
mehr  seitlich  ausgebuchtet,  die  Mundwinkel  reichen  bedeutend 
weiter  an  der  Zahnreihe  beiderseits  nach  vorn,  als  dies  bei  Hunden 
der  Fall  ist.  In  Folge  dessen  wird  seftst  bei  der  für  einen  Ab- 
fluss  der  in  der  Mundhöhle  befindlichen  Flüssigkeit  günstigsten 
Lagerung,  d.  h.  derjenigen,  bei  welcher  der  Kopf  auf  eine  Seite 
gedreht  ist,  der  Speichel  nicht  sofort  nach  aussen  abfliessen,  sondern 
zunächst  in  der  Concavität  der  Wange,  mit  welcher  der  Narkotisirte 
aufliegt,    einen  kleinen  See  bilden,  welcher  sich  erst,  wenn  er  die 


192  Dr.  R.  Kölscher, 

Höhe  des  betreffenden  Mundwinkels  erreicht  hat,  über  diesen  hinweg 
nach  aussen  entleeren  kann.  Beschleunigt  und  erleichtert  kann 
diese  Entleerung  werden,  wenn  man  den  Kopf  seitlich  überdreht, 
so  dass  der  Mundwinkel  eine  noch  tiefere  Lage  erhält,  oder  wenn 
man  fortwährend,  oder  doch  von  Zeit  zu  Zeit  den  Mundwinkel 
mit  Finger  oder  Spatel  niederdrückt  und  lüftet,  wie  dies  von 
Grossmann  empfohlen  worden  ist.  Jeder,  der  viel  Narkosen  ge- 
leitet hat,  weiss,  wie  ermüdend  es  ist,  wenn  man  andauernd,  oder 
doch  längere  Zeit  zur  Erzielung  freier  Athmung  den  Unterkiefer 
vorschieben  muss;  gerade  so  schwierig  und  anstrengend  für  den 
Narkotisirenden  ist  es,  den  Kopf  des  Narkotisirten  andauernd  auf 
die  eine  Seite  gedreht  zu  halten,  besonders  wenn  es  sich  um  Indi- 
viduen mit  kurzem  und  steifem  Halse  handelt.  Diese  Schwierig- 
keit, das  Haupterforderniss  zu  erfüllen,  welches  dem  Mundspeichel 
Abfluss  verschaffen  soll,  bringt  es  naturgemäss  mit  sich,  dass  .bei 
Erlahmung  der  Kraft  oder  der  Aufmerksamkeit  des  Narkotisirenden 
nicht  selten  der  Kopf  des  Patienten  die  gehörige  Seitenlage  verlässt. 
Die  Folge  davon  wird  sein,  dass  für  die  in  der  Backentasche  be- 
findliche Flüssigkeit  es  noch  schwieriger  ist,  sich  nach  aussen  aus 
dem  Munde  zu  entleeren,  dass  sie  vielmehr  über  die  seitliche 
Gaumenwand  nach  dem  Rachen  zu  fliessen  wird,  um  hier  den 
Kehlkopf eingang  mehr  oder  weniger  zu  verlegen.  Aber  auch  wenn 
durch  die  erwähnten  Handgriffe  in  denkbar  günstigster  Weise  dem 
im  Munde  befindlichen  Speichel  Abfluss  verschafft  wird  —  dabei 
wird  gleichzeitig  auch  die  in  der  Nasenhöhle  etwa  abgesonderte 
Flüssigkeit  aus  den  Nasenlöchern  abfliessen  — ,  wird  gerade  so 
wie  beim  Thiere,  das  im  Nasenrachenraum  und  im  Rachen  selbst 
gebildete  Sekret  sich  an  der  dem  Tische  aufliegenden  Pharynxwand 
ansammeln,  eine  geraume  Zeit  hier  verweilen,  ehe  es  durch  Mund 
und  Nase  nach  aussen  abfliessen  kann,  und  dadurch,  durch  seine 
geringe  Menge  allerdings  nur  in  unbedeutendem  Maasse,  ein  Hinder- 
niss  für  den  den  Kehlkopf  passirenden  Luftstrom  abgeben. 

Bietet  so  der  Bau  def  menschlichen  Mundhöhle  erheblich  mehr 
Schwierigkeiten,  dem  speciell  im  Munde  befindlichen  Speichel  Ab- 
fluss zu  gestatten,  als  dies  beim  Hunde  der  Fall  ist,  so  begünstigt 
andererseits  beim  Menschen  die  Lage  des  Rachens  und  Nasen- 
rachenraumes im  Verhältniss  zu  Mund  und  Nase  ungemein  gerade 
ein   Zusammenfliessen   sämmtlicher,    in   diesen    Höhlen   gebildeter 


Experiment.  Unters,  üb.  d.  Entstehung  d.  Erkrankungen  d.  Luftwege  etc.     193 

Flüssigkeit  im  Rachen.  Während  bei  den  Versuchsthieren  schon 
an  und  für  sich  die  Längsachse  der  Mund-  und  Nasenhöhle  mit 
der  der  Trachea  und  des  Rachens  einen  stumpfen  Winkel  bildet, 
welcher  sich  bei  Rückenlage  des  Thieres  während  der  Narkose  in 
Folge  des  Hintenübersinkens  der  Schnauze  noch  vergrössert,  ist 
der  Winkel,  welchen  beim  Menschen  die  beiden  betreffenden  Achsen 
mit  einander  bilden,  ein  spitzer,  der  bei  einfacher  Rückenlage  un- 
veränderlich bleibt  und  nur  bei  Tieflagerung  des  Kopfes  zu  einem 
rechten  und  stumpfen  wird,  nie  aber  die  Grösse  erreicht,  wie  das 
bei  den  Thieren  der  Fall  war.  Daher  w^ird  bei  aufliegendem 
Hinterhaupte  der  Rachen  immer  den  tiefsten  Punkt  aller  übrigen 
Hohlräume,  und  als  solcher  den  Sammelplatz  für  das  in  ihnen 
gebilbete  Sekret  bilden,  nur  bei  sehr  starker  Tieflagerung  des 
Kopfes  oder  bei  direct  frei  hängendem  Kopfe  wird  die  Achse  der 
Mund-  und  Nasenhöhle  sich  unter  die  Horizontale  hinabneigen  und 
so  einen  directen  Abfluss  des  Speichels  und  Schleimes  nach  aussen 
veranlassen  können. 

Als  wichtigen  Factor  für  die  Aspiration  von  Mundinhalt  hatten 
wir  bei  unseren  Versuchen  die  Entstehung  eines  Respirationshinder- 
nisses kennen  gelernt,  wie  ich  es  durch  Compression  der  Trachea 
künstlich  erzeugen  konnte,  und  welches  selbst  bei  einer  Lagerung 
des  Kopfes,  die  nur  vorübergehendes  Verweilen  geringer  Sekret- 
mengen vor  dem  Kehlkopfe  zur  Folge  hat,  eine  Aspiration  der 
letzteren  zu  Stande  kommen  lässt.  Beim  Menschen  entstehen  nun 
ähnliche  Respirationshindernisse  während  der  Narkose  ungemein 
häufig;  sie  sind,  wie  bekannt,  in  der  Regel  dadurch  bedingt,  dass 
der  Unterkiefer  sammt  der  Zunge  nach  hinten  sinkt,  und  auf  diese 
Weise  der  Kehlkopf  durch  den  Kehldeckel  theilweise  verschlossen 
wird.  Dies  kommt,  wie  ich  an  meinen  A^ersuchsthieren  beobachten 
konnte,  bei  diesen  während  der  Narkose  spontan  fast  nie  vor,  und 
das  hat  wieder  darin  seinen  Grund,  dass  bei  Rückenlage  des 
Thieres  mit  horizontal  oder  tief  gelagertem  Kopfe  die  Schnauze, 
ihrer  Schwere  folgend,  nach  hinten  über  sinkt.  In  Folge  davon 
nimmt  der  Unterkiefer  in  seiner  Längsrichtung  eine  mehr  horizon- 
tale Lage  ein;  seine  eigene  Schwere  wird  ihn  nicht  nach  hinten 
gegen  den  Rachen  und  Kehlkopf  zu  sinken  lassen,  sondern  gegen 
die  Zahnreihe  des  Oberkiefers  andrücken;  je  mehr  er  in  seinem 
vorderen  Theile  nach  rückwärts  hinübersinkt,    desto  mehr  wird  er 

ArehJT  fflr  klio,  Chirnrgie.    57.  Bd.    Heft  1.  ^3 


194  Dr.  R.  Ilölscher, 

sich  in  seinem  hinteren  Abschnitt  heben  und  den  Kehlkopf  vor 
jedem  Druck  und  jeder  Verengerung  geschützt  halten.  Anders  ist 
dies  beim  Menschen:  hier  hat  der  Unterkiefer  bei  Horizontal-  und 
selbst  bei  massiger  Tief lagerung  des  mit  dem  Hinterhaupt  aufliegenden 
Kopfes  eine  völlig,  oder  doch  nahezu  völlig  vertikale  Richtung,  erst 
bei  starker  Tief  lagerung  oder  bei  hängendem  Kopfe  en-eicht  er  die 
Horizontale,  oder  überschreitet  sie  nach  abwärts.  Wenn  daher  im 
Stadium  der  Muskelerschlaffung  der  Unterkiefer  seiner  eigenen  Schwere 
folgt,  so  wird  er  nothwendig  den  Zungengrund  sammt  Kehldeckel  nach 
hinten  drücken  müssen,  wie  wir  es  bei  ungefähr  %  aller  mensch- 
lichen Narkosen  beobachten;  nur  bei  starker  Tief  lagerung  oder 
freiem  Herabhängen  des  Kopfes  wird  er,  ähnlich  wie  beim  Thiere, 
diese  Wirkung  nicht  ausüben,  sondern  eine  Streckung  der  oberen 
Luftwege  und  freie  Athmung  herbeiführen. 

Aus  diesen  Betrachtungen  geht  hervor,  dass  beim  Menschen 
eine  Aspiration  von  Mundinhalt  während  der  Narkose 
sehr  viel  leichter  eintreten  kann,  als  beim  Thiere,  dass 
wir  beim  Menschen  mit  noch  viel  grösserer  Sorgfalt  die- 
jenigen Maassregeln  beachten  müssen,  welche  diesen 
Uebelstand  zu  verhindern  im  Stande  sind.  Diese  Maass- 
regeln bestehen,  wie  beim  Thiere,  darin,  dass  wir  einmal  dafür 
sorgen,  dass  eine  Ansammlung  von  Speichel  und  Schleim  vor  dem 
Kehlkopfe  möglichst  vermieden  wird,  und  dass  weiter  kein  Hinder- 
niss  für  die  x\thmung  entsteht. 

Wenn  auch  an  der  Kieler  chirurgischen  Klinik  noch  immer 
vorzugsweise  Chloroform  als  Narcoticum  verwandt  wird,  so  wurden 
doch  im  Laufe  des  letzten  Jahres  verhältnissmässig  häufig  reine 
Aethernarkoscn  ausgeführt,  und  zwar  sämmtlich  mit  der  von 
Grossmann  modificirten  Wanscher'schen  Maske.  Zur  Vermei- 
dung der  Aspiration  von  Mundinhalt  am  geeignetsten,  für  Narkoti- 
sirenden  und  Narkotisirten  am  bequemsten  fanden  wir  dabei  fol- 
gende Maassnahmen:  Bei  dem  horizontal  auf  dem  Rücken  liegenden 
Kranken  wird  die  Kopfplatte  des  Operationstisches  tief 
gestellt,  sodass  Kopf  und  Hals  abwärts  geneigt  liegen; 
gleichzeitig  wird  der  Kopf,  so  gut  es  geht,  seitlich  ge- 
dreht, und  durch  Lüften  des  Mundwinkels  mittelst  Fingers 
oder  Kornzange  dem  Speichel  alle  paar  Minuten,  oder 
bei    starker  Salivation    fortwährend    Abfluss    verschafft. 


Experiment.  Unters,  üb.  d.  Entstehung  d.  Erkrankungen  d.  Luftwege  etc.     195 

Weiter  wird  peinlichst  darauf  geachtet,  dass  der  Unter- 
kiefer nicht  zurücksinkt.  In  allen  Fällen,  in  denen  sich  sorg- 
fältig nach  diesen  Regeln  gerichtet  wurde,  trat  nie,  oder  doch  nur 
vorübergehend  Rasseln  im  Schlünde  auf  trotz  manchmal  recht 
reichlicher  Speichelsecretion.  Umgekehrt  konnte  letzteres  Symptom 
in  der  Regel  sofort  hervorgenifen  werden,  wenn  man  den  Unter- 
kiefer nach  hinten  sinken  Hess,  oder  für  einige  Augenblicke  künst- 
lich nach  hinten  drückte,  um  wieder  zu  verschwinden,  wenn  durch 
Hebung  des  Unterkiefers  die  Athmung  wieder  frei  geworden  war. 
Wo  vom  Anfang  der  Narkose  an,  oder  im  Verlaufe  der  letzteren 
nicht  so  sorgfältig  die  bezeichnete  Lagerung  eingehalten,  die  er- 
wähnten Handgriffe  angewandt  wurden,  war  regelmässig  reichliches 
Schleimrasseln  im  Schlünde  hörbar.  * 

Nach  den  Ergebnissen  meiner  an  ätherisirten  Thieren  und 
Menschen  gemachten  Beobachtungen  kann  ich  demnach  nur  Gross- 
mann beistimmen,  wenn  er  sagt,  dass  das  bei  der  Aether- 
narkose  so  unangenehm  auffallende  Schleimrasseln  im 
Schlünde  und  in  der  Trachea  auf  Anwesenheit  von  Mund- 
inhalt beruht,  dessen  Abfluss  nach  aussen  durch  mangel- 
hafte Technik  der  Narkose  mehr  oder  weniger  unmöglich 
gemacht  wird. 

Wenden  wir  uns  nun  zu  der  Frage  der  Einwirkung  der  Aether- 
dämpfe  auf  die  Schleimhäute  der  Trachea  und  der  Bronchien. 

Von  einer  ganzen  Anzahl  von  Gasen,  so  z.  B.  vom  Chlor-, 
vom  Ammoniakgas,  von  Säuredämpfen  etc.  ist  es  bekannt,  dass 
sie,  eingeathmet,  auf  die  Schleimhaut  des  Respirationstractus  einen 
chemischen  Reiz  ausüben,  der  zu  mehr  oder  minder  starker  Bron- 
chitis, unter  Umständen  zu  catarrhalischer  Pneumonie  und  zum 
Tode  führen  kann.  Eine  ähnliche  Reizung  der  Schleimhaut  der 
Trachea  und  der  Bronchien  schreibt  man  der  Einwirkung  inhalirter 
Aetherdämpfe  zu  und  sieht  wie  schon  erwähnt,  den  Haupteffect 
dieser  Reizung  in  der  vermehrten  Secretion  der  auf  diesen  Schleim- 
häuten befindlichen  absondernden  Zellen  und  Drüsen.  Wenn  man 
die  Reizwirkung  von  Aetherdämpfen  auf  die  Schleimhaut  der  Mund- 
und  Nasenhöhle,  auf  die  Conjunctiva  an  sich  selbst  prüft,  wenn  man 
sie  femer  bei  mit  Aether  narkotisirten  Kranken  an  den  dem  Auge 
zugänglichen  Schleimhäuten  zu  beobachten  Gelegenheit  hat,  so  wird 
man    von    vornherein   zugeben  müssen,    dass  diese  Annahme    der 

13* 


196  Dr.  R.  Hölscher, 

durch  Aetherinhalation  entstehenden  Ilypersecretion  von  Schleina 
in  den  Luftwegen  nicht  von  der  Hand  zu  weisen  ist,  sondern  im 
Ge^entheil  die  grösste  Wahrscheinlichkeit  für  sich  hat,  zumal  da 
die  Schleimhaut  der  Mund-  und  Nasenhöhle  in  ihrem  Verhalten 
gegen  die  Einwirkung  mancher  Schädlichkeiten  —  ich  erinnere  nur 
an  die  Wirkung  des  Atropins  und  Pilocarpins  —  mit  der  Schleim- 
haut des  Respirationstractus  eine  grosse  Analogie  zeigt. 

Wie  verhält  es  sich  nun  aber  mit  den  Thatsachen,  welche 
dieser  Annahme  zu  Grunde  liegen?  Das  am  meisten  im  Vergleich 
zur  Chloroformnarkose  in  die  Augen  fallende  Symptom  bildet  bei 
der  Aethernarkose  neben  der  ausserordentlich  v^mehrten  Speichel- 
absonderung das  sich  alsbald  im  Schlünde  und  in  der  Trachea  ein- 
stellende Rasseln,  welches  durch  das  Vorbeipassiren  des  Luftstromes 
neben  und  durch  die  in  Trachea  und  Schlund  befindlichen  Secret- 
raassen  bedingt  ist,  und  häufig  einen  sehr  hohen  Grad  annimmt. 
Diese  klinische  Erscheinung  des  Trachealrasselns  wird  in  den 
meisten  zahlreichen  Arbeiten,  welche  wir  über  die  Aethernarkose 
besitzen,  ohne  Weiteres  als  Beweis  dafür  angesehen,  dass  eine 
Hypersecretion  der  Bronchial-  und  Trachealschleimhaut  durch  die 
Aetherdämpfe  hervorgerufen  werde,  wodurch  die  Anwesenheit  des 
Secretes  in  der  Trachea  bedingt  sei.  Andere  Autoren  führen  als 
Beweis  für  die  Secretion  in  den  Luftwegen  hen^orrufende  Wirkung  der 
Aetherdämpfe  die  durch  Auscultation  festgestellte  Veränderung  des 
Athmungsgeräusches  während  der  Aethernarkose  an.  So  fand 
Bouisson  (nach  Perrin  et  L  allem  and):  Les  bruits  respiratoires 
sont  changes  pendant  Feth^risation.  Au  döbut  rales  sibilants  at- 
tribues  ä  juste  titre  ä  l'action  irritante  locale  de  l'ether;  affai- 
blissement  v6siculaire  domine  par  le  bruit  respiratoire  bronchique; 
sitot  que  Texcitation  est  passee,  que  Tanesth^sie  commence  dis- 
parition  du  bruit  vesiculaire,  remplacö  par  un  bruit  respiratoire 
bronchique,  quelquefois  tracheal  quand  la  torpeur  devient  profonde. 
Selbstverständlich  können  diese  Begleiterscheinungen  der  Aether- 
narkose nicht  als  vollkommener  Beweis  für  das  Bestehen  einer 
durch  den  Aether  bedingten  Hypersecretion  in  den  Bronchien  und 
der  Trachea  gelten;  denn  wenn  man  bedenkt,  w^lch'  einen  hohen 
Grad  die  Schleim-  und  Speichelsecretion  in  der  Mundhöhle  bei  der 
Aethernarkose  meist  annimmt,  und  wie  schwer  es  ist,  gerade  beim 
Menschen    die  Aspiration    der    in    der    Mundhöhle    angesammelten 


Experiment.  Unters,  üb.  d.  Entstehung  d.  Erkrankungen  d.  Luftwege  etc.      197 

Flüssigkeit  zu  verhüten,  so  hat  die  Annahme,  dass  das  Tracheal- 
und  Bronchialrasseln  allein  der  Aspiration  vom  Mundinhalt  seinen 
Ursprung  verdanke,  gerade  so  viel  Berechtigung. 

Ebenso  wenig  Beweiskraft,  wie  den  erwähnten  klinischen 
Symptomen,  kann  man  aus  dem  nämlichen  Grunde  den  nicht  selten 
bei  Sectionen  vorgekommener  Aethertodesfälle  gemachten  Beob- 
achtungen zuerkennen,  bei  denen  sich  Schleim  in  den  Luft- 
wegen fand.  Da  in  allen  diesen,  in  der  Literatur  aufgefundenen 
Fällen  über  den  Verlauf  der  Narkose,  über  etwaige  zur  Verhütung 
von  Aspiration  getroffene  Maassregeb  keine  näheren  Angaben  ge- 
macht sind,  so  kann  man  auch  hier  absolut  nicht  siclier  sagen, 
ob  nicht  für  die  Anwesenheit  des  Schleimes  in  den  Luftwegen  die 
Mitwirkung  oder  gar  alleinige  Wirkung  der  Aspiration  von  Mund- 
inhalt in  Anspruch  zu  nehmen  ist.  Ueberhaupt  lässt,  so  lange 
nicht  mit  Sicherheit  ein  Hinabfliessen  und  Aspiriren  von  Speichel 
auszuschliessen  ist,  der  positive  Befund  von  Schleim  in  den  Luft- 
wegen bei  den  Sectionen  in  Aethernarkose  Gestorbener  durchaus 
keine  Entscheidung  darüber  zu,  ob  das  Secret  aus  den  Luftwegen 
selbst,  oder  aus  der  Mund-  und  Rachenhöhle  stammt.  Uebrigens 
scheint  die  Schleimanfüllung  von  Trachea  und  Bronchien  nur  in 
einer  verhältnissmässig  geringen  Anzahl  der  bisher  veröffentlichten 
Aethertodesfälle  bei  der  Autopsie  sich  vorgefunden  zu  haben;  zu 
dieser  Annahme  glaube  ich  deshalb  berechtigt  zu  sein,  da  meistens 
über  den  Befund  an  Trachea  und  Bronchien  überhaupt  nichts  er- 
wähnt ist,  so  dass  diese  also  jedenfalls  in  normalem  Zustande 
gewesen  sein  müssen.  Ganz  normale  Verhältnisse  konnten  auch 
an  den  Luftwegen  in  Aethernarkose  gestorbener  Thiere  constatirt 
werden.  So  fanden  Lallemand,  Perrin  et  Duroy  bei  Hunden, 
welche  in  Aethernarkose  verendet  waren:  La  muqueuse  de  la  trach6e 
et  des  bronches  est  päle  ou  rose,  le  calibre  de  ces  conduits  n'est 
obstru6  par  aucune  s6cr6tion  apparente.  Aus  diesem  Fehlen  irgend 
welcher  sichtbaren  Secretion,  wie  es  die  genannten  französischen 
Forscher  bei  Thieren  beobachteten,  und  wie  es  nach  den  Sections- 
berichten  auch  bei  vielen  der  in  Aethernarkose  gestorbenen  Menschen 
als  wahrscheinlich  vorhanden  gewesen  angenommen  werden  muss, 
könnte  man,  den  Schluss  zu  ziehen,  geneigt  sein,  dass  die  Aether- 
dämpfe  überhaupt  keine  erhöhte  Absonderung  in  den  Luftwegen 
verursachen.      Dieser  Schluss  hat  zwar  eine  gewisse  Berechtigung, 


198  Dr.  R.  Kölscher, 

ist  aber  doch  bei  näherer  üeberlegung  nicht  richtig,  da  noch  eine 
andere  Erklärung  zulässig  ist.  Es  kann  nämlich  sehr  wohl  während 
der  Narkose  eine  Hypersecretion  in  den  Luftwegen  stattgefunden 
haben;  der  abgesonderte  Schleim  kann  aber  durch  Einwirkung  be- 
sonderer Umstände,  auf  die  ich  später  noch  zurückkommen  werde, 
Gelegenheit  gefunden  haben,  nach  aussen  abzufliessen,  so  dass  bei 
der  Autopsie  nichts  mehr,  oder  doch  wenigstens  keine  abnormen 
Mengen  Schleimes  in  den  Bronchien  angetroffen  werden. 

Um  mir  Aufklärung  über  die  Frage  zu  verschaffen,  ob  in  Folge 
von  Inhalation  von  Aetherdämpfen  eine  vermehrte  Absonderung 
auf  der  Tracheo-Bronchialschleimhaut  stattfindet,  oder  nicht,  stellte 
ich  zunächst  Versuche  in  folgender  Weise  an:  Ich  ätherisirte 
Kaninchen,  Hunde  und  Katzen  verschieden  lange  Zeit,  mindestens 
aber  eine  Stunde  lang;  während  der  Narkose  suchte  ich  jede 
Aspiration  von  etwa  abgesondertem  Mundinhalt  dadurch  zu  ver- 
meiden, dass  ich  den  Kopf  der  Thiere  frei  hängen,  oder  zur  Seite 
gewendet  halten  Hess.  Gleichzeitig  suchte  ich  aber  ein  etwa  zu 
befürchtendes  Abfliessen  des  sich  eventuell  bildenden  Bronchial- 
sekrets nach  aussen  dadurch  zu  verhindern,  dass  ich  mit  Ausnahme 
des  Kopfes  und  des  oberen  Theiles  des  Halses,  welche  eine  nach 
unten  geneigte  Lage  einnehmen,  dem  übrigen  Körper  des  Thieres 
eine  horizontale,  in  einigen  Fällen  auch  eine  in  der  Weise  schräg 
geneigte  Lagerung  gab,  dass  der  Hals  höher  als  der  Thorax  zu 
liegen  kam.  Nach  Rossbach,  dem  wir  eine  höchst  interessante 
Arbeit  über  die  Schleimbildung  in  den  Luftwegen  verdanken,  ist 
die  normale  Schleimabsonderuug  keine  continuirliche.  Nach  seinen 
Beobachtungen,  welche  er  sämratlich  bei  der  Trachea  an  Katzen 
machte,  sammelt  sich  auffallender  Weise  auch  bei  stundenlanger 
Beobachtung  in  normalem  Zustande  nie  so  viel  Schleim  an,  dass 
er  in  Klümpchenform  an  verschiedenen  Stellen  auftritt,  oder  dass 
man  überhaupt  eine  allmälige,  weitere  Zunahme  desselben  wahr- 
nehmen kann.  R.  zieht  daraus  den  Schluss,  dass  unter  normalen 
Verhältnissen  immer  nur  so  viel  Flüssigkeit  von  den  Schleimdrüsen 
producirt  wird,  als  gerade  zur  Feuchterhaltung  der  Schleimhaut 
dient.  Bei  seiner  weiteren  Untersuchung  fand  er  dann,  dass 
„gänzliches  Versiegen  der  Schleimsecretion  sich  durch  dauernde 
Trockenheit  der  Schleimhaut,  Hypersecretion  durch  Zusammen* 
fiiessen   grosser  Schleimmassen  manifestirte."     Wenn  ich  demnach 


Experiment.  Unters,  üb.  d.  Entstehung  d.  Erkrankungen  d.  Luftwege  etc.     199 

die  Versuchsthiere  1  Stunde  lang  oder  noch  länger  der  Inhalation 
von  Aetherdämpfen  aussetzte,  so  müsste  ich  nach  den  Angaben 
Rossbaoh's,  falls  durch  den  Aether  eine  Hypersecretion  in  den 
Bronchien  und  der  Trachea  hervorgerufen  wird,  erwarten  bei  sofort 
nach  Beendigung  der  Narkose  angeschlossener  Autopsie  den  Schleim 
noch  in  grösserer  Menge  in  den  Luftwegen  anzutreffen.  Lassen  wir 
die  Versuche  darauf  antworten. 

Versuch  1:  Hund.  Horizontallage,  Kopf  hängend,  2  Yg  Stunde  Aether- 
narkose.  Ziemlich  starke  Speichelsecretion.  Tod  durch  Verblutung.  Befund : 
Tracheal-  und  Bronchialschleimhaut  blass,  ohne  Injection,  feucht  glänzend, 
eine  Auflagerung  von  Schleim  nii'gends  sichtbar.  Lungen  lufthaltig  überall, 
grau-roth  aussehend. 

Versuch  2:  Grosser  Hund.  Horizontallage  mit  hängendem  Kopfe. 
2^2  Stunde  Aethemarkose.  Starke  Speichelsecretion.  Tod  in  Narkose. 
Befund :  Schleimhaut  des  Kehlkopfs  und  der  Trachea  in  den  Zwischenknorpel- 
ringen, in  letzteren  auch  am  häutigen  Theilmässigjinjicirt;  Bronchialschleimhaut 
blass.  Kehlkopf,  Trachea  sowohl  wie  Bronchien  ohne  jegliches  Secret,  überall 
die  Schleimhaut  feucht  glänzend,  Lungen  lufthaltig,  grau-roth. 

Versuch  3.  Grosser  Jagdhund.  Horizontale  Lage,  hängender  Kopf. 
Starke  Speichelsecretion.  2^^  Stunde  Aethemarkose.  Tod  durch  Stich  in 
die  Medulla  oblongata.  Befund:  Tracheal-  u.  Bronchialschleimhaut  feucht 
glänzend,  makroskopisch,  ausser  ganz  vereinzelt  am  häutigen  Theil  der  Trachea 
liegenden  st^cknadelkopfgrossen  Schleimbläschen  kein  Schleimbelag  auf  der 
Oberfläche  sichtbar.  Mit  dem  Messer  lässt  sich  von  der  Schleimhaut  der 
Trachea  und  den  Bronchien  etwas  zähes  gelblich  durchscheinendes  Secret  ab- 
streifen, welches  zum  grössten  Theil  aus  Cylinderepithelien  und  aus  hellen, 
mit  durchscheinenden  Kügelchen  angefüllten  grossen  Zellen  besteht.  Die 
Zwischenknorpelräume  der  Bronchien  zeigen  geringe  Gefässinjection ,  die 
Bronchien  sind  blass.    Lungen  sind  grau-roth,  überall  lufthaltig. 

Versuch  4:  Grosser  Hund.  Horizontale  Lage  des  Körpers,  Kopf  theils 
hängend,  theiis  horizontal,  aber  auf  die  Seite  gedreht  während  der  2Y2  stün- 
digen Aethemarkose.  Sehr  starke  Salivation.  Tod  durch  Verblutung.  Befund: 
Im  Kehlkopfeingang  etwas  schaumiger,  die  Innenfläche  der  Epiglottis  spärlich, 
die  Sinus  Morgagni  völlig  anfüllender  Schleim,  der  übrige  Kehlkopf,  sowie  die 
Trachea  und  die  Bronchien  völlig  frei  von  Schleim,  glatt,  feucht  glänzend; 
nur  an  der  Pars  membranacea  einige  kleinste  Schleimbläschen.  Keine  Injection 
der  Gefasse. 

Versuch  5:  Kleiner,  alter  Hund.  Horizontallage  des  Körpers,  Seiten- 
lage des  Kopfes.  Aethemarkose  2V2  Stunde  lang.  Geringe  Salivation.  Tod 
in  Narkose.  Befund,  V2  Stunde  nach  dem  Tode  aufgenommen:  Im  Schlünde 
und  Kehlkopfeingange  etwas  zäher  Schleim.  Trachea  und  Bronchien  ohne 
jegliches  Secret.  Schleimhaul  feucht  glänzend.  Zwischenknorpelräurae  der 
Trachea  erscheinen  etwas  injicirt,  Bronchialschleimhaut  blass,  Lungen  luft- 
haltig, rosaroth. 


200  Dr.  K.  Kölscher, 

Versuch  6:  Kleiner  Dachshund.  Aethernarkose  IV2  Stunde.  Horizontal- 
lage des  Köi-pers,  Seitenlage  des  Kopfes.  Keine  Spur  von  sichtbarer  Salivation. 
Tod  durch  Verblutung.  Befund :  Am  Zungengrunde  etwas  zäher  Schleim,  sonst 
Gaumen  und  Mundschleimhaut  trocken.  Trachea  undBronchien  feucht  glänzend, 
ohne  sichtbares  Secret.  Abstreifen  lässt  sich  jedoch  etwas  mit  dem  Messer,  das 
Abgestreifte  bestehtwieder  grösstentheils  aus  Epithel ien.  Zwischenknorpelräume 
massig  injicirt;  Bronchien  blass.    Lungen  lufthaltig,  rosaroth. 

Versuch  7.  Grosser  Jagdhund.  Aethernarkose  2  St.  Horizontallage 
des  Körpers,  Seitenlage  des  Kopfes.  Sehr  starke  Speichelsecretion.  Tod 
durch  Nackenstich.  Befund:  Trachea  und  Bronchien  feucht  glänzend,  ohne 
Secret.  Etwas  gelblicher  zäher  Schleim  lässt  sich  von  der  Sehleimhaut  der 
Trachea  und  Bronchien  abstreifen,  er  besteht  zum  grössten  Theil  aus  Cylinder- 
epithelien  und  Schleimzellen.  Eine  Injection  der  Zwischenknorpelräume  der 
Trachea,  oder  der  Bronchialschleimhaut  nicht  auffallend. 

Versuch  8.  Grosser  Jagdhund.  Aethernarkose  2^4  Stunde  lang. 
Horizontal  läge  des  Körpers,  hängender  Kopf.  Sehr  reichliche  Salivation.  Tod 
durch  Verblutung.  Befund:  Zwischenknorpelräume  der  Trachea  und  der 
Bronchien  erscheinen  etw-as  injicirt,  Schleimhaut  derselben  von  feuchtem  Glänze. 
Vereinzelte  stecknadelkopfgrosse  Schleimbläschen  auf  dem  membranösen  Theile 
der  Trachea;  das  einzige,  was  als  Secret  makroskopisch  sichtbar  ist,  sind 
kleine  lange  und  zähe  Schleimfädchen,  die  an  der  Bifurcation  der  Trachea 
liegen.    Lungen  lufthaltig,  grau-roth  aussehend. 

Versuch  9:  Kaninchen.  Aethernarkose  1  Stunde.  Horizontallage  des 
Körpers,  Kopf  hängend,  keine  sichtbare  Salivation.  Tod  durch  Verblutung. 
Befund:  Am  Kehlkopfeingange  etwas  Schleim,  Schleimhaut  der  Trachea  und 
der  Bronchien  blass,  ohne  jede  Injection.  Schleim  auf  der  Schleimhaut  nirgends 
sichtbar,  letztere  ist  feucht  glänzend,  wie  bei  normalem  Thiere  auch. 

Versuch  10:  Kaninchen.  Aethernarkose  V2  Stunde  lang.  Körper 
schräg  geneigt,  Hals  am  höchsten,  Kopf  hängt  über  die  Kante  des  Brettes 
hinab.  Tod  in  Narkose,  keine  auffallende  Salivation  während  derselben. 
Befund:  Am  Kehlkopfeingang  etwas  Schleim;  sonst  weder  in  Trachea  und 
Bronchien  etwas  von  demselben  zu  entdecken.  Gefässe  der  Trachea  und 
Bronchien  sind  etwas  injicirt.    Lungen  hell  rosaroth,  lufthaltig. 

Versuch  11:  Kaninchen.  Aethernarkose  1  Stunde.  Massige  Salivation. 
Vor  der  Tödtung  durch  Nackenschlag  wird  der  Kehlkopf  herauspräparirt  und 
während  des  Naekenschlages  mit  der  Oeffnung  nach  oben  gehalten,  um  ein 
Abfliessen  etwaiger  Secrete  und  Luftwege  nach  aussen  zu  verhindern.  Befund: 
Trachea  und  Bronchien  ohne  jede  Schleimauflagerung.  Die  linke  Hälfte  der 
Trachealwand  ist  etwas  injicirt,  sonst  ist  die  Trachea  ebenso  wie  die  Bronchien 
blass.    Lunge  hellroth,  lufthaltig. 

Versuch  12:  Kaninchen.  Aethernarkose  1  Stunde.  Horizontallage  des 
Körpers,  Tieflagerung  des  Kopfes.  Tödtung  durch  Nackenschlag.  Befund: 
Trachea  und  Bronchien  ohne  Röthung,  frei  von  irgend  welcher  makroskopisch 
sichtbaren  Schleimauflagerung.  Am  Kehlkopfeingang  noch  Sparen  von  Schleim 
sichtbar.    Lungen  hellroth,  lufthaltig. 


Experiment.  Unters,  üb.  d.  Entstehung  d.  Erkrankungen  d.  Luftwege  etc.     201 

Versuch  13:  Kaninchen.  Aethernarkose  1  Stunde.  Horizontallage  mit 
tiefliegendem  Kopf.  Ziemlich  starke  Speichelsecretion.  Tödtung  durch  Nacken- 
schlag. Befund:  Kehlkopf-  und  Tracheaischleimhaut  ziemlich  stark  hyper- 
aemisch,  die  Hyperaemie  nimmt  nach  unten  zu  ab,  ist  in  den  Hauptbronchien 
noch  forhanden,  hört  aber  auf  an  den  Eintrittsstellen  der  grossen  Bronchien 
in  das  Lungengewebe.  Innerhalb  der  letzteren  ist  die  Schleimhaut  der  Bron- 
chien ganz  blass.  Die  Schleimhaut  von  Trachea  und  Bronchien  spiegelt  über- 
all glatt,  eine  Schleimauflagerung  ist  nirgends  nachweisbar.  Lungen  hellrosa- 
roth  und  lufthaltig. 

Versuch  14:  Katze.  Aethernarkose  V*  Stunde.  Horizontale  Lage  des 
Körpers,  Kopf  tief  gelagert.  Ziemlich  starke  Salivation.  Tod  durch  Verblutung. 
Befund :  Tracheal-  und  Bronchialschleimhaut  feucht  glänzend,  ohne  Schleim- 
aaflagerung.  Keine  Injection  der  Gefasse  bemerkbar.  Lungen  hellroth  und 
lufthaltig. 

Versuch  15:  Katze.  Athernarkose  1  V2  Stunden.  Horizontal»  Lage 
des  Körpers,  tiefe  des  Kopfes.  Spärliche  Speichelsecretion.  Tod  in  Narkose. 
Befund :  Trachea  und  Bronchien  ohne  Injection  und  Inhalt.  Von  der  Schleim- 
haut derselben  lässt  sich  etwas  Schleim  abstreifen,  der  makroskopisch  ohne 
Abstreifen  nicht  sichtbar  wai*.   Lungen  rosaroth,  lufthaltig. 

In  allen  diesen  Versuchen  fand  sich  also  .gleichmässig  bei  der 
Autopsie  die  Schleimhaut  der  Trachea  und  der  Bronchien 
von  feuchtem  Glänze,  nirgends  eine  auffallende  Schleim- 
auflagerung auf  derselben,  während  die  Speichelsecretion  wech- 
selnd, bald  spärlich,  bald  in  ausserordentlich  hohem  Grade  vor- 
handen gewesen  war.  Das  einzige,  was  vielleicht  als  Zeichen  einer 
Hypcrsecretion  in  den  Luftwegen  angesehen  werden  konnte,  war  der 
Umstand,  dass  in  manchen  Fällen  kleinste  Schleimbläschen  auf 
der  Oberfläche,  allerdings  immer  nur  sehr  vereinzelt,  angetroffen 
wurden.  Um  dies  nach  der  Aethernarkose  gefundene  Verhalten  der 
Tracheal-  und  Bronchialschleimhaut  besser  beurtheilen  zu  können, 
tödtete  ich  zum  Vergleich  mehrere  Kaninchen  ohne  vorangegangene 
Narkose  durch  Nackenschlag,  mehrere  Katzen  und  Hunde  durch 
Chloroform,  da  ich  von  diesem  Narkoticum  nach  den  allgemein 
mit  ihm  gemachten  Erfahrungen  keine  Hypcrsecretion  erwarten 
durfte.  Anch  hier  hatte  ich  bei  der  Autopsie  denselben  Befund, 
wie  nach  der  Aethernarkose.  Die  Schleimhaut  der  Bronchien  und 
der  Trachea  feucht  glänzend,  ohne  sichtbare  Schleimauflagerung, 
bei  manchen  Thieren  dieselben  kleinsten  Schleimbläschen,  wie  nach 
Aetherwirkung.  Die  Schleimhaut  hatte  meist  blasse  Farbe,  manch- 
mal waren  jedoch  die  Zwischenknorpelräume  der  Trachea  und  ihre 
hintere  membranöse  Partie  etwas  injicirt. 


202  Dr.  R.  Kölscher, 

Ich  glaube  demnach,  aus  den  mit  der  Aethernarkose  ge- 
machten Versuchen  schliessen  zu  dürfen,  dass  bei  den  benutzten 
Thieren  keine  merkliche  Hypersecretion  in  den  Luftwegen  durch 
den  Aether  hervorgerufen  würde.  Nun  hatte  ich  aber  einen  Um- 
stand ganz  ausser  Acht  gelassen,  ich  hatte  den  Einfluss  der 
Flimmerbewegung  des  Bronchial-  und  Trachealepithels,  durch  welche 
etwa  abgesonderte  Schleiraraengen  nach  aussen  befördert  sein  konnten, 
gar  nicht  in  Rechnung  gezogen.  Dazu  glaubte  ich  allerdings  nach 
dem  Ergebniss  der  Untersuchungen  Cl.  Bernard^s,  Huizinga's 
und  Engelmann's   über  die  Flimmerbewegung  berechtigt  zu  sein. 

Ersterer  untersuchte  an  einem  unter  eine  Glasglocke  gebrachten 
Oesophagus  des  Frosches  den  Einfluss  der  Dämpfe  von  Chloroform 
und  Aether,  und  fand  Folgendes:  Le  vapeur  d'ether  ou  de  chloro- 
forme  fait  cesser  Fagitation  et  tomber  les  cils  au  rcpos;  on  constate 
alors  que  le  transport  de  petits  corps  ä  la  surface  de  la  membrane 
oesophagienne  s'arrdte  pour  reprendre  quand  ou  a  fait  disparaitre 
r6th6risation. 

Hui zinga  berichtet  über  die  Einwirkung  der  beiden  Narkotica 
auf  die  Fliramerbewegung  von  Opalina  ranarum,  dass  Chloroform 
und  Aether,  der  überströmenden  Luft  beigemengt,  die  Flimmer- 
bewegung sistirt,  Chloroform  in  10  —  15  Secimden,  Aether  oft  erst 
nach  20  Minuten,  dass  Zufuhr  reiner  Luft  zu  chloroforrairten  oder 
ätherisirten  Opalinen  keine  Flimmerung  mehr  bewirkt. 

Engelmann  machte  seine  eingehenden  Studien  über  diesen 
Gegenstand  an  der  Rachenschleimhaut  frisch  getödteter  Frösche j  er 
brachte  dieselbe  in  eine  eigens  von  ihm  zu  diesen  Untersuchungen 
construirte  „Gaskammer",  und  beobachtete  die  Einwirkung  der  Dämpfe 
von  Aether  und  Chloroform  mit  dem  Mikroskope.  Das  Resultat  der 
Beobachtung  war  folgendes:  „War  die  Flimmerbewegung  in  Serum- 
oder indiflferenter  Kochsalzlösung  langsamer  geworden,  so  erwacht  sie 
beim  Zutritt  von  Aetherdämpfen  und  kann  zuweilen  die  normale 
Höhe  wieder  erreichen.  Bringt  man  mehr  Aether  ein,  so  dass  die 
Gaskammer  beständig  mit  Aetherdarapf  gefüllt  ist,  so  verlangsamt 
sich  die  Bewegung  bald  wieder  und  schon  nach  2 — 3  Minuten 
kann  Stillstand  im  ganzen  Präparate  sein.  Je  langsamer  der 
Aetherstillstand  eingetreten  ist,  und  je  kürzere  Zeit  er  angedauert 
hat,  um  so  leichter  ist  es,  ihn  zu  beseitigen.  Man  braucht  dazu 
nur  einen  starken  Strom   atmosphärischer  Luft  durch  die -Kammer 


Experiment.  Unters,  üb.  d.  Entstehung  d.  Erkrankungen  d.  Luftwege  etc.     203 

zu  jagen,  allmälig  fangen  dann  die  meisten  Wimpern  wieder  an 
zu  schlagen,  erst  sehr  langsam,  dann  schneller.  Durch  neue 
Aetherzufuhr  kann  dann  wieder  Stillstand  der  Flimmerung  hervor- 
gerufen werden,  der  durch  Luft  wieder  beseitigt  wird.  Diesen 
Wechsel  von  Stillstand  durch  Aether,  Wiedererregung  durch  Luft- 
zufuhr kann  man  mehrmals  wiederholen,  allmälig  aber  erreichen 
die  durch  Luftzufuhr  erzielten  Bewegungen  keine  grossen  Höhen 
mehr  und  stehen  schliesslich  für  immer  still.  War  die  Aether- 
einwirkung  so  stark,  dass  Durchsaugen  von  Luft  durch  die  Kammer 
die  Bewegung  nicht  wieder  erweckt,  oder  hatte  der  Aetherstillstand 
zu  lange  gedauert,  so  stehn  die  Zellen  für  immer  still.  Weder 
Säuren,  noch  Alkalien,  weder  reines  Wasser,  noch  Salzlösungen 
beleben  sie  wieder.  In  der  Einwirkung  des  Chloroforms  auf  die 
Flimmenmg  fand  Engelmann  einen  Tuterschied  von  der  Aether- 
einwirkung,  der  darin  bestand,  dass  bei  Zufuhr  von  Chloroform- 
dämpfen keine  anfängliche  Erregung  der  Flimmerung,  wie  sie  bei 
Aetherzufuhr  vorhanden  war,  sondern  unter  allen  Umständen  sofort 
eine  Verlangsamung  eintrat,  die  selbst  bei  vorher  äusserst  lebhafter 
Bewe^ng  bald  völliger  Ruhe  Platz  machte.  Dieser  Chloroform- 
stillstand konnte  aber,  auch  wenn  er  längere  Zeit,  selbst  bis  zu 
20  Minuten  gedauert  hatte,  durch  atmosphärische  Luft  schnell 
wieder  beseitigt  werden,  und  selbst  5 — 6  Mal  wiederholtes  „Chloro- 
formiren** und  „Erwecken**  der  Wimperung  hatte  keine  dauernde 
Schwächung  oder  Stillstand  dei-selben  zur  Folge,  während  dies  bei 
der  Aethereinwirkung  die  Regel  war. 

Wenn  man  nun  auch  die  Ergebnisse  dieser  Versuche,  die  ja 
an  einer  vom  übrigen  Körper  völlig  losgelösten  Membran  gemacht 
wurden,  nicht  so  ohne  Weiteres  auf  die  Verhältnisse  des  lebenden 
Körpers  übertragen  kann,  so  glaube  ich  doch,  daraus  schliessen  zu 
müssen,  dass  die  Flimmerung  des  Tracheal-  und  Bronchialepithels 
bei  der  Narkose,  bei  der  ja  die  Dämpfe  des  Narkoticums  einen 
ebenso  directen  Einfluss  auf  die  Flimmerzellen  ausüben,  wie  bei 
den  Versuchen  Engelmann 's,  in  einer  ähnlichen  Weise  beeiuflusst 
werden  würde.  Wenn  in  den  Versuchen  Engel  mann 's  die  Flim- 
roerbewegung  durch  Aetherdämpfe  zunächst  angeregt,  dann  ver- 
langsamt und  zum  Stillstand  gebracht,  durch  Luftzufuhr  wieder 
hervorgerufen  wurde,  wenn  längere  Einwirkung  von  Aetherdänipfen, 
oder  die  öfters  wiederholte  abwechselnde  Einwirkung  von  Luft  und 


204  Dr.  U.  Hülscher, 

Aether  einen  vollkommenen,  durch  keine  Mittel  wieder  zu  beseiti- 
genden vStillstand  der  Fliramcrzellen  zu  Stande  brachte,  so  sollte 
man  denken,  dass  nach  einer  länger  dauernden  Aethernarkose  durch 
die  lange  Einwirkung  der  Aetherdämpfe ,  sowie  durch  den  häufig 
wiederholten  Wechsel  der  Einathmung  von  Aether  und  Luft  die 
Flimmerbewegung  des  Epithels  so  geschädigt  wäre,  dass  ein  völliger 
Stillstand  eingetreten  wäre,  der  nur  nach  vollständigem  Aufhören 
der  Einwirkung  der  Aetherdämpfe,  also,  da  der  Aether  durch  die 
Lungen  hauptsächlich  den  Körper  wieder  verlässt,  erst  nach  völliger 
Ausscheidung  des  Narcoticums  sich  wieder  rückbilden  würde. 
Nach  dieser  Ueberlegung  musste  ich  erwarten,  wenn  ich  die  Thiere 
einer  Aethernarkose  von  ein-  und  mehrstündiger  Dauer  aussetzte, 
an  den  in  der  Narkose  getödteten  oder  gestorbenen  Thieren  keine 
Flimmerung  des  Traclieal-  und  Bronchialepithels  mehr  beobachten 
zu  können. 

Um  mir  darüber  Klarheit  zu  verschaflFen,  schnitt  ich  sofort 
nach  dem  Tode  kleinste  Stückchen  des  Tracheal-  und  ßronchial- 
epithels  mit  der  Scheere  heraus  und  untersuchte  dieselben  unter 
dem  Mikroskope  frisch  in  physiologischer  Kochsalzlösung.  In  allen 
Fällen,  bei  denen  ich  diese  Untersuchung  anstellte,  bei  Kaninchen, 
Katzen  und  Hunden  sah  ich  selbst  nach  2-  und  3  stündiger  Aether- 
narkose die  Cilien  in  lebhafter  Bewegung  und  die  rothen  Blut- 
körperchen, welche  in  ihre  Nähe  kamen,  mit  grosser  Schnelligkeit 
an  dem  flimmernden  Saume  des  Epithels  sich  fortbewegen.  Aehn- 
liches  konnte  ich  beobachten,  wenn  ich  das  Epithel  nicht  in  Koch- 
salzlösung, sondern  in  dem  eigenen  Secret  der  Tracheal-  und  Bron- 
chialschleimhaut untersuchte.  Um  dies  zu  können,  musste  ich, 
da,  wie  erwähnt,  makroskopisch  sich  nie  Schleim  auf  der  Schleim- 
haut befand,  mit  dem  Messer  Secret  abschaben  und  fand  in  diesem 
an  den  zahlreichen  FlimmerzcUen ,  die  es  enthielt,  regelmässig  die 
Bewegung  der  Geissein  ebenso  erhalten,  wie  ich  es  bei  Zusatz  von 
Kochsalzlösung  gesehen  hatte.  Ans  diesem  Verhalten  der  Flimmer- 
zellen, das  ich  nach  der  Narkose  festsstoUen  konnte,  lässt  sich 
aber  kein  völlig  einwandsfreier  Schluss  auf  ihr  Verhalten  während 
der  Narkose  selbst  ziehen.  Die  Flimmerung  konnte  sehr  wohl 
während  der  Narkose  sich  im  Aetherstillstande  befinden,  es  wäre 
aber  denkbar,  dass  dieselbe  durch  den  Zusatz  von  Kochsalzlösung 
zum  Epithel,    oder  durch  die    nach  dem  Tode   des  Thieres  wieder 


Experiment.  Unters,  üb.  d.  Entstehung  d.  Erkrankungen  d.  Luftwege  etc.     205 

frei  auf  die  Schleirahaut  der  Luftwege  einwirkende  atmosphärische 
Luft  wieder  zu  neuem  Leben  angeregt  worden  wäre.  Allerdings 
ist  dies  von  vorn  herein  unwahrscheinlich;  denn  wenn  nach  den 
Untersuchungen  Engelmann *s  eine  längere  Athemwirkung  irre- 
parablen Stillstand  hervorruft,  so  sollte  man  annehmen,  dass  dann 
auch  nach  einer  längeren  Narkose  ein  Stillstand  eingetreten  wäre^ 
der  weder  durch  Kochsalzlösung,  noch  auch  atmosphärische  Luft 
wieder  hätte  beseitigt  werden  können.  Trotzdem  aber  musste  ich, 
um  diesen  Einwand  hinfällig  zu  machen,  die  Flimmerbewegung 
des  Tracheo-Bronchialepithels  an  Ort  und  Stelle  einer  einer  näheren 
Untersuchung  unterziehen. 

Ich  ätherisirte  zunächst  Katzen  und  Hunde  1,  1 V2  ^^^  2  Stun- 
den lang,  legte  dann,  ohne  die  Thiere  zu  tödten,  noch  während  der 
Narkose  die  Trachea  frei  und  öffnete  sie  mit  einem  Galvanokauter. 
Sodann  brachte  ich  feine  Kohlepartikelchen  auf  die  feucht  glän- 
zende Schleimhaut  und  beobachtete  dieselben,  ob  sie  durch  die 
Flimmerung  fortgetrieben  wurden.  Dabei  fand  sich  denn,  dass 
feinste,  eben  noch  mit  blossem  Auge  sichtbare  Kohlepartikelchen 
sich  sofort,  grössere,  erst  nachdem  sie  sich  mit  dem  der  Schleim- 
haut aufliegenden  Secret  imbibirt  hatten,  schnell  nach  dem  Kehl- 
kopf zu  fortbewegten.  Um  die  Schnelligkeit  zu  messen,  mit  der 
diese  Fortbewegung  stattfand,  grenzte  ich  mit  einem  Zirkel  einen 
Theil  der  Trachea  von  1  cm  Länge  ab  und  bestimmte  die  Zeit, 
welche  die  Kohlepartikelchen  gebrauchten,  um  diesen  Raum  von 
1  cm  Länge  zu  durchlaufen.  Hatte  die  Trachea  noch  nicht  längere 
Zeit  geöffnet  frei  gelegen,  so  durcheilten  feinere  und  auch  gröbere 
Kohlepartikelchen,  sowohl  bei  Katzen,  als  bei  Hunden,  einerlei,  ob 
die  Narkose  1,  IY2  oder  2  Stunden  und  noch  länger  angedauert 
hatt^,  diesen  Raum  von  1  cm  Länge  mit  einer  Geschwindigkeit, 
die  zwischen  1  und  IV2  Minuuten  schwankte,  wenn  die  Thiere, 
die  in  tiefer  Aethernarkose  lagen,  atmosphärische  Luft  ei nathmeten; 
grössere  und  in  Haufen  zusammengeballte  Kohletheilchen  gebrauchten 
längere  Zeit,  etwa  3 — 5  Minuten.  Die  Schnelligkeit  der  Fort- 
bewegimg  blieb  unberührt  davon ,  welche  Lage  die  Trachea  ein- 
nahm, sie  blieb  dieselbe,  einerlei,  ob  die  Trachea  horizontal  oder 
vertical  gehalten  wurde,  obgleich  in  letzterem  Falle  die  Bewegung 
steil  bergan  von  Statten  gehen  musste.  Liess  ich  nun  durch  die 
Trachealwunde ,   innerhalb  welcher   die  Kohlepartikelchen    auf  der 


206  Dr.  R.  Hölscher, 

Schleimhaut  sichtbar  waren,  neue  Aetherdärapfe  längere  Zeit  hin- 
durch inhaliren,  so  blieb,  trotzdem  dieselben  direct  über  die  Schleim- 
haut strichen,  die  Flimmerung,  oder  vielmehr  der  sich  in  der  Fort- 
bewegung der  Kohletheilchen  äussernde  Effect  der  Flimmerung  in 
unverändertem  Maasse  bestehen.  Eine  Abnahme  oder  einen  Still- 
stand in  der  Bewegung  der  Kohlepartikelchen  sowohl  bei  Luft-  als 
bei  Acthereinathmung  konnte  ich  dann  wahrnehmen,  wenn  die 
Trachea  lange  Zeit  offen  gelegen  hatte  und  die  frei  vorliegende 
Schleimhaut  etwas  trocken  geworden  war,  was  ich  besonders  bei 
länger  dauernder  Aethernarkose  an  Hunden  beobachten  konnte. 
Oeffnete  ich  dann  aber  die  Trachea  mittelst  des  Galvanokauters 
noch  etwas  weiter  nach  unten  hin  und  streute  auf  die  jetzt  frei 
liegende,  feuchte  Schleimhaut  neue  Kohletheilchen,  so  konnte  ich 
auch  hier  wieder  ihre  durch  die  Flimmerbewegung  hervorgerufene 
Fortbewegung  bemerken.  Um  nun  auch  zum  Vergleich  die  Flim- 
merung in  ihrer  Wirkung  an  gesunder,  durch  keine  Aetherdämpfe 
gereizt  gewesener  Trachealschleimhaut  zu  studiren,  legte  ich  an 
einem  mit  dem  Rücken  aufliegenden  Hunde  unter  Schleich'scher 
Localanästhesie,  wobei  der  Hund  auch  nicht  eine  Schmerzens- 
äusserung  von  sich  gab,  die  Trachea  frei,  öffnete  sie  wie  bei  den 
übrigen  Versuchen  mit  dem  Galvanokauter  und  verfuhr  dann  zur 
Prüfung  der  Flimmerbewegung  in  der  nämlichen  Weise,  wie  oben 
beschrieben  ist.  Ich  kam  dabei  zu  demselben  Resultate:  1  cm 
Lunge  wurde  auf  der  normalen  Traehe  in  ca.  1  Minute  von  den 
Kohletheilchen  durchlaufen.  Leitete  ich  nun  durch  die  Tracheal- 
wunde  die  Aethernarkose  ein  und  prüfte  dann,  nachdem  das  Tole- 
ranzstadium eingetreten  war  und  bereits  längere  Zeit  gedauert 
hatte,  wieder  die  Flimmerbewegung  mittelst  aufgestreuter  Kohle- 
theilchen, so  fand  ich  ungefähr  dieselben  Werthe  für  die  Zeit,  in 
welcher  der  1  cm  von  den  Kohletheilchen  durchlaufen  wurde. 

Beiläufig  will  ich  erwähnen,  dass  ich  auch  die  Einwirkung  der 
Chloroformnarkose  auf  die  Fliramerzellen  der  Luftwege  prüfte  und 
hierbei  zu  ganz  ähnlichen  Resultaten  kam,  weshalb  ich  nicht  näher 
darauf  eingehen  will. 

Wenn  nun  auch  die  gefundenen  Werthe  für  die  Schnelligkeit 
der  durch  die  Flimmerung  erzeugten  Bewegung  der  Kohletheilchen 
durchaus  keinen  Anspruch  auf  Genauigkeit  machen  können,  da  sie 
mittelst    einer   rohen    und  unvollkommenen  Methode  erlangt   sind, 


Experiment.  Unters,  üb.  d.  Entstehung  d.  Erkrankungen  d.  Luftwege  etc.     207 

soviel  zeigen  sie  doch,  dass  die  Flimmerung  sowohl  wäh- 
rend der  Aether-,  als  auch  während  der  Chloroform- 
narkose ihren  ungestörten  Fortgang  nimmt.  Diesen  schein- 
baren Widerspruch  mit  den  Angaben  Cl.  Bernard's  und  Engel- 
mann's  erkläre  ich  tnir  daraus,  dass  erstere  an  einem  völlig 
aus  dem  Zusammenhange  mit  dem  übrigen  Organismus 
gelösten  Körpertheile  eines  Frosches  ihre  Versuche  an- 
stellten, während  die  von  mir  untersuchte  flimmernde  Schleimhaut 
an  Hund  und  Katze  in  völligem  Contact  mit  ihrer  nor- 
malen Umgebung  gelassen  worden  war.  Es  müssen  doch 
vom  Organismus  aus,  vielleicht  auf  dem  Wege  der  Blutbahn,  Ein- 
wirkungen auf  die  Flimmerzellen  statthaben,  welche  den  von  Cl. 
Bernard  und  Engelmann  nachgewiesenen  schädlichen  Einfluss 
der  Narcotica  wieder  auszugleichen  im  Stande  sind. 

Wenn  ich  nach  dieser  Abschweifung  mich  wieder  zu  meinen 
Versuchen  über  den  Einfluss  des  Aethers  auf  die  secretorische 
Thätigkeit  der  Schleimhaut  der  Luftwege  zurückwende,  so  war  in 
allen  bisherigen  über  diese  Frage  von  mir  gemachten  Versuchen 
nicht  auszuschliessen ,  dass  die  etwa  während  der  Narkose  gebil- 
deten Schleimmengen  allein  durch  die  Kraft  der  Flimmerbewegung 
die  Trachea  und  den  Kehlkopf  hinauf  in  die  Nasenhöhle  und  von 
hier  durch  die  Tief-  oder  Seitwärtslagerung  des  Kopfes  in  Folge 
der  eigenen  Schwere  nach  aussen  befördert  waren.  Dass  die  Kraft 
der  Flimmerung  euie  ziemlich  bedeutende  ist,  dass  durch  sie  selbst 
übermässig  gebildete  Schleiramengen  fortbewegt  werden  können, 
davon  konnte  ich  mich  bei  einem  Hunde  überzeugen,  bei  dessen 
Autopsie  sich  eine  auf  zwei  Lungenlappen  der  einen  Seite  be- 
schränkte eitrige  Bronchitis  und  Pneumonie  vorfand;  hier  sah  ich 
auf  der  geöffneten  Trachea  während  der  Aethernarkose  wiederholt 
grössere,  umschriebene  gelbliche  Schleimballen,  die  offenbar  aus 
den  afficirtcn  Lungenabschnitten  stammten  und  manchmal  in  einer 
Dicke  von  mehreren  mm  der  Schleimhaut  auflagen,  in  gleich- 
massiger  stetiger  Bewegung  die  Trachea  von  unten  herauf  kommen, 
sich  über  die  offenliegenden  Partien  der  Tracheal Schleimhaut  fort- 
bewegen, um  allmälig  nach  dem  Kehlkopfe  zu  zu  verschwinden. 

Wenn  ich  mir  daher  ein  Bild  über  die  Menge  des  während 
der  Narkose  secernirten  Schleimes  machen  wollte,  so  musste  ich 
in  den  neu  anzustellenden  Versuchen  ein  Abfliessen  des  etwa  durch 


208  Dr.  R.  Hölscher, 

Flimnierung  heraufbewegten  Secretes  nach  der  Mundhöhle  hin  ver- 
hindern, das  letztere  vielmehr,  ehe  es  den  Kehlkopf  verlassen  hatte, 
aufsaugen.  Zu  diesem  Zwecke  verfuhr  ich  in  folgender  Weise:  Bei 
Hunden  legte  ich  unter  Sc  hl  eich 'scher  Localanästhesie  die  Trachea 
frei,  schnitt  die  letztere  melir  oder  weniger  weit  unterhalb  des 
Kehlkopfs  mit  dem  Galvanokauter  quer  ab  und  band  in  das  Tra- 
chealende eine  Glascanüle  so  fest  ein,  dass  zwischen  ihr  und  Tra- 
chealwand  w^der  Luft  noch  Flüssigkeit  vorbeipassiren  konnte.  Bei 
allen  derartig  behandelten  Hunden  der  verschiedensten  Race  und 
Grösse,  die  theilw^eise  während  der  ein  oder  mehrere  Stunden  dau- 
ernden Aethernarkose  zu  anderen  Versuchen  verwandt  wurden,  fand 
ich  bei  der  Autopsie,  die  dem  in  Narkose  erfolgten  gewaltsamen 
oder  spontanen  Tode  sich  sofort  anschloss,  übereinstimmend:  die 
Bronchial-  und  Trachealschleimhaut  feucht  glänzend,  ohne  makro- 
skopisch sichtbares  Secret,  nur  ganz  vereinzelt  kleinste  Schleim- 
bläschen, ab  und  zu  sehr  feine,  lange  Fädchen  zähen  Secretes,  die, 
der  Längsrichtung  der  Trachea  und  der  Bronchien  parallel,  in  man- 
chen Fällen  der  Schleimhaut  auflagen;  in  der  Regel  war  ein  dünner 
Belag  abstreif  bar,  derselbe  war  überall  von  ziemlich  gleichmässiger 
Dicke  sowohl  an  dem  Theile  der  Trachea,  durch  welchen  die  Aether- 
dämpfe  während  der  Narkose  hindurchgegangen  waren,  als  auch  an 
der  oberen,  vom  Zusammenhang  mit  der  übrigen  Trachea  und  den 
Bronchien  getrennten  Partie.  Die  Canüle  war  auch  nach  mehr- 
stündiger Narkose  stets  frei  von  makroskopisch  sichtbarem  Secret, 
zwischen  Trachealwand  und  der  Wandung  der  Canüle  hatte  sich 
nur  in  einem  Falle  etwas  zähes,  gelbliches  Secret  angesammelt,  als 
einziges  Zeichen  einer  etwa  durch  die  Narkose  hen^orgerufenen 
Secretion,  deren  Product  durch  die  Flimmerung  nach  oben  ge- 
schafft war. 

Die  Versuche  sind  im  Einzelnen  folgende: 

Versuch  1:  Junger,  aber  ausgewachsener  Schäferhund.  Horizontale 
Lage  des  Körpers,  tiefe  des  Kopfes.  2'/^  Stunden  lang  Aethernarkose. 
Starker  Speichelfluss.    Tod  durch  Verblutung. 

Befund:  Schleimhaut  der  Trachea  unterhalb  der  Canüle  feuchtglänzend, 
im  oberen  Theile  an  der  Hinterseite  kleinste  Schleiniblaschen  und  geringe,  nur 
mit  dem  Messer  abstreifbare,  sonst  nicht  sichtbare  Schleimauflagerung;  an  der 
BifurcatioDsstelle  der  Trachea  ebenfalls  vereinzelt  kleine  Schleimbläscheu.  In 
der  Glascanüle  keine  Schleimansammlung,  ebenfalls  keine  zwischen  Canüle 
und  Trachealwand.    Bronchien  sämmtlich  ohne  sichtbare  Schleimauflagerung. 


Experiment.  Unters,  üb.  d.  Entstehung  d.  Erkrankungen  d.  Luftwege  etc.     209 

Eine  Hyperämie  zeigt  sich  an  der  Trachea  nur  dort,  wo  die  Canüle  eingebunden 
war,  sonst  nirgends,  in  den  Bronchien  ebenfalls  nicht.  Lungen  hell-grau- 
roth.  Der  obere  Theil  der  Trachea,  der  von  Aetherdämpfen  nicht  berührt  war, 
zeigt  dasselbe  Verhalten,  wie  die  tiefer  gelegenen  Partien:  kein  Schleim,  keine 
Injection. 

Versuch  2:  Grosser  Jagdhund.  Dieselbe  Lagerung.  Aetheruarkose 
2Y2  Stunden  lang.  Sehr  starker  Speichelfluss  während  der  ganzen  Narkose. 
Tod  durch  Verblutung. 

Befund:  Ausser  kleinen  Schleimbläschen  am  membranösen  Theil  der 
Trachea  keine  sichtbare  Schleimauflagerung,  weder  in  der  Trachea,  noch  in 
den  Bronchien.  Abstreifen  lässt  sich  ein  dünner,  in  langen,  zähen  Faden  aus- 
ziehbarer Belag.  Geringe  Injection  der  Zwischenknorpelräume,  sowohl  in  der 
Trachea,  als  auch  in  den  Bronchien.  Dort,  wo  die  Canüle  sass,  ist  die  Schleim- 
haut sehr  stark  injicirt;  Secret  in  auffälliger  Menge  weder  an  noch  in  der 
Canüle.  Die  oberhalb  der  Canüle  gelegene  Partie  der  Trachea  und  der  Kehl- 
kopf zeigt  den  nämlichen  feuchten  Glanz,  wie  die  untere,  die  Schleimhaut 
scheint  einen  Ton  blasser  zu  sein,  als  die  der  übrigen  Trachea.  Lungen  grau- 
roth,  lufthaltig. 

Versuch  3:  Kleiner,  junger  Wachtelhund.  Dieselbe  Lagerung.  Aether- 
narkose  2  Stunden  lang.    Keine  Spur  von  Speichelfluss.    Tod  in  Narkose. 

Befund:  Trachea  erscheint  etwas  injicirt;  starke  Hyperämie  am  Sitz  der 
Glascanüle.  Keine  Spur  sichtbaren  Secretes,  keine  Schleimbläschen,  weder  auf 
der  Trachea,  noch  auf  den  Bronchien.  Oberhalb  der  Canüle  dasselbe  Ver- 
halten der  Trachea.    Lungen  grauroth  und  lufthaltig. 

Versuch  4:  Kleiner  schwarzer,  junger  Hund.  Dieselbe  Lagerung.  Aether- 
uarkose 2  Stunden  lang.  Während  derselben  ausserordentlich  starker  Speichel- 
fluss.   Tod  in  Narkose. 

Befund :  Trachea  oberhalb  wie  unterhalb  der  Canüle  gleichmässig  feucht 
glänzend,  ohne  eine  Spur  von  Secret;  auch  an  der  Canüle  keine  Secretanhäu- 
fung.  Geringe  Injection  der  Zwischenknorpelräume,  die  sich  aber  kaum  unter- 
scheidet von  der  Injection,  welche  sich  oberhalb  der  Canüle  in  der  Trachea 
befindet.  Starker  ist  dagegen  wieder  die  Injection  der  Trachealschleimhaut  am 
Sitz  der  Canüle.    Lungen  lufthaltig. 

Versuch  5:  Brauner,  grosser  Hund.  Dieselbe  Lagerung.  Aetheruarkose 
3  Stunden  lang;  während  derselben  beständiger,  ziemlich  starker  Speichelfluss. 
Tod  in  Narkose. 

Befand:  Keine  Spar  von  Secret  auf  der  feucht  glänzenden  Trachea  so- 
wohl unter-  wie  oberhalb  der  Canüle;  auch  im  Bereich  der  letzteren  keine 
Secretanhäufung  bemerkbar.  Die  Bronchien  ebenfalls  ohne  merkliche  Auf- 
lagerung. An  der  Trachea  geringe  Injection  der  Zwischenknorpelräume;  an  den 
Bronchien  nichts  dergleichen  nachweisbar.  Massige  Injection  der  Trachea  am 
Sitz  der  Canüle.     Langen  lufthaltig. 

Vers  ach  6:  Grosser  Jagdhund,  dasselbe  Verfahren.  Aethernarkoso 
%  Standen  lang.    Geringe  Speichelsecretion.    Tod  in  Narkose. 

Befund:   Ausser  zarten,  dünnen  Fädchen  von  zähem  Secret,  die  an  der 

ArcbiT  fltr  klin.  Clürargie.   57.  Bd.  Heft  1.  ]A 


210  Dr.  H.  Ilölscher, 

Bifurcation  der  Trachea  sich  finden,  keine  Schleimauflagerung,  weder  in  den 
Bronchien,  noch  in  der  Trachea  bemerkbar.  Kein  Secret  an  der  Canüle. 
Zwischenknorpelräume  der  Trachea  und  der  Bronchien  scheinen  etwas  starker 
gefüllte  Gefässe  zu  besitzen,  als  normal  der  Fall  sein  sollte.  Lungen  hell- 
roth,  lufthaltig. 

Versuch  7:  Kleiner  Mops.  Dieselbe  Lagerung.  Aethernarkose  3V2  Std. 
lang.  Starke  Salivation  während  der  ganzen  Dauer  derselben.  Tod  durch 
Verblutung. 

Befund:  Kein  Secret  auf  der  Schleimhaut  der  Trachea  und  Bronchien 
bemerkbar,  überall  feuchter  Glanz;  nur  dort,  wo  die  Glascanüle  eingebunden 
war,  befindet  sich  auf  der  stark  injicirtcn  Schleimhaut  der  Trachea  eine  Spur 
durch  spärliches  Blut  bräunlich  gefärbten  Schleimes.  Die  Zwischenknorpel- 
räume der  Trachea  und  der  Bronchien  scheinen  etwas  stärker  als  normal  in- 
jicirt  zu  sein,  jedoch  zeigen  die  Zwisohenknorpelräume  der  Trachea  oberhalb 
der  Canüle  dieselbe  Injection.    Lungen  lufthaltig,  graurosa  gefärbt. 

Versuch  8:  Grosser  Schlächterhund.  Dieselbe  Lagerung.  Aether- 
narkose 1^/4  Stunden  lang;  während  derselben  starke  Salivation.  Tod  in 
Narkose. 

Befund :  Trachea  und  Bronchien  ohne  jegliches  Secret,  feucht  glänzend. 
Kein  Secret  an  der  Canüle  bemerkbar.  Zwischenknorpelräume  der  Trachea 
unterhalb  der  Canüle  und  die  der  Bronchien  zeigen  nicht  mehr  Injection  der 
Gefässe,  als  die  oberhalb  der  Canüle  befindlichen  Theile  der  Trachea.  Lungen 
grauroth  und  lufthaltig. 

Das  Ergebniss  dieser  Versuche  war  also  im  Wesentlichen  das- 
selbe. DerSchluss,  den  ich  aus  ihnen  ziehen  kann,  ist  der,  dass  bei 
Hunden  in  Folge  der  Inhalation  von  Aetherdämpfen,  trotz- 
dem diese  bei  ihnen  in  der  Regeleine  mehr  oder  minder 
hochgradige  Salivation  hervorrufen,  die  Schleimhaut  der 
Luftwege  überhaupt  nicht,  oder  doch  nicht  zu  makros- 
kopisch erkennbar    erhöhter  Secretion  angeregt  wird. 

In  der  Tracheal-  und  Bronchialschleimhaut  sind  neben  den 
Becherzellen  die  hauptsächlich  Schleim  producirenden  Elemente 
die  Schleimdrüsen;  da  diese  nach  den  Untersuchungen  Frank en- 
häuser's  bei  Hunden  nur  in  geringer  Anzahl  vorhanden  sind, 
in  viel  geringerer  Menge,  als  wir  sie  beim  Menschen  vor- 
finden, so  musste  ich  die  Versuche,  wenn  ich  einigermaassen  die 
Berechtigung  erlangen  wollte,  die  Resultate  derselben  auf  den 
Menschen  zu  übertragen,  auch  noch  an  solchen  Thieren  wieder- 
holen, bei  denen  der  Reichthum  der  Schleimhaut  an  Schleimdrüsen 
ebenso,  oder  doch  annähernd  so  gross  ist,  wie  beim  Menschen. 
Unter    den    uns    zu    unseren  Versuchen    zur  Verfügung    stehenden 


r 


Experiment.  Unters,  üb.  d.  Entstehung  d.  Erkrankungen  d.  Luftwege  etc.     211 

Thieren  besitzen  wir  in  den  Katzen  eine  Thierart,  bei  welcher  die 
Schleimhaut  der  Trachea  und  der  Bronchien  diese  erforderliche  Be- 
dingung des  grossen  Reichthums  an  Schleimdrüsen  am  besten  er- 
füllt. Ich  stellte  daher  auch  an  Katzen  die  Versuche  an,  modi- 
ficirte  dieselben  aber  etwas:  Nachdem  das  Thier  in  einem  Sacke 
mit  Aether  annarcotisirt  war,  wurde  es  auf  dem  Brett  aufgebunden 
in  horizontaler  Rückenlage  des  Körpers  und  Tief  läge  des  Kopfes; 
darauf  wurde  bis  zum  Stadium  der  Toleranz  weiter  aetherisirt,  und 
nun  die  Trachea  frei  gelegt  und  mit  Galvanokaut  er  unterhalb  des 
Kehlkopfes  geöffnet.  Jetzt  wurde  der  ganze  Kehlkopf  unter  sorg- 
fältiger Vonneidung  von  Bluteinfluss  in  denselben  ringsum  frei- 
gelegt, aus  seiner  Verbindung  mit  Pharynx  und  Oesophagus  befreit 
und  das  offene,  obere  Ende  durch  dichte  Nähte  fest  verschlossen. 
Das  Thier  erhielt  nun  die  Aetherdämpfe  durch  die  unterhalb  des 
Kehlkopfes  gebildete  Trachealwunde,  etwa  während  der  Narkose 
gebildetes  Secret  konnte,  da  der  Kehlkopf  verschlossen  war,  nicht 
durch  die  Flimmerbewegung  in  die  Rachenhöhle  befördert  werden, 
sondern  musste  sich  im  oberen  Theile  der  Trachea  und  im  Kehl- 
kopfe ansammeln.  In  dieser  eben  beschriebenen  Weise  behandelte 
ich  vier  ausgewachsene  Katzen  von  verschiedener  Grösse,  zum 
Theil  dieselben,  an  denen  ich  den  Effect  der  Flimmerbewegung 
des  Epithels  der  Luftwege  beobachtete.  Die  Thiere  wurden 
1 — 2^/4  Stunden  der  Inhalation  von  Aetherdämpfen  ausgesetzt  und 
nach  Beendigung  der  Narkose  und  nach  dem  Tode  des  Thieres 
wurde  nachgesehen,  ob  sich  im  oberen  Theile  der  Trachea  und  im 
Kehlkopfe  Secret  angesammelt  hatte.  Bei  3  von  diesen  4  Katzen 
konnte  ich  nun  am  Schlüsse  der  IV2 — 2%  Stunden  dauernden 
Narkose  deutlich  wahrnehmen,  dass,  während  die  Trachea  und  die 
Bronchien  sonst  überall  denselben  feuchten  Glanz  darboten,  wie 
er  in  allen  übrigen  Versuchen  angetroffen  wurde,  die  Hinterwand 
des  Kehlkopfes  und  der  oberen  IV2 — 2  cm  von  der  Trachea  be- 
deckt war  von  einer  Schicht  klaren,  zähen  Secretes,  die  in  einem 
Falle  wohl  1 — IV2  mm  dick  w^ar.  Gelangten  die  auf  die  Schleim- 
haut der  Trachea  gebrachten  Kohlepartikelchen  in  Folge  der 
Fliromerung  auf  diese  Schicht,  so  hörte  die  Weiterbewegung  der- 
selben auf,  da  ihr  Contact  mit  dem  flimmernden  Epithel  durch  die 
dicke  Secretschicht  gehindert  war.  Bei  der  vierten  Katze  konnte 
ich  keine  irgendwie  wahrnehmbare  abnorme  Schleimanhäufung  fest- 


212  Dr.  R.  Kölscher, 

stellen,  trotzdem  bei  ihr  wie  bei  den  übrigen  Katzen  die  Speichel- 
secretion  einen  ziemlich  gleichmässig  hohen  Grad  erreicht  hatte. 
Zum  Vergleich  verfuhr  ich  in  derselben  Weise  mit  2  anderen  Katzen, 
nur  nahm  ich  statt  Aether  Chloroform  zur  Narkose.  Bei  beiden 
war  keine  sichtbare  Secretanhäufung,  weder  im  oberen,  noch  im 
unteren  Theile  der  Trachea,  noch  in  den  Bronchien  zu  bemerken. 
Dasselbe  fand  ich  bei  einem  ebenso  behandelten  Hunde,  der  die 
eine  Hälfte  der  Narkose  mit  Aether,  die  andere  mit  Chloroform 
narkotisirt  war. 

Während  man  also  bei  Hunden  in  keinem  Falle  ausser  ab 
und  zu  auftretenden  Schleimbläschen  und  kleinen  Schleimfädchen 
irgend  ein  Zeichen  einer  erhöhten  Schleimsecretion  constatiren 
konnte,  war  bei  Katzen  in  einigen  Fällen  eine  Hypersecretiou  in 
der  Trachea  und  den  Bronchien  als  Folge  der  Aethemarkose  nach- 
zuweisen. Dieselbe  war  allerdings  so  gering,  dass  sich  selbst  nach 
mehrstündiger  Einwirkung  der  Aetherdämpfe  im  oberen  Abschnitte 
der  Trachea  und  im  Kehlkopfe  nur  eine  verhältnissmässig  gering- 
fügige Auflagenmg  von  Secret  befand;  sie  muss  aber  doch  wohl 
als  abnorm,  allein  durch  die  Aetherdämpfe  hervorgerufen,  ange- 
sehen werden,  da  nach  Rossbach  die  Schleimhaut  der  Trachea 
und  der  Bronchien  in  normalem  Zustande  immer  nur  soviel  Schleim 
producirt,  als  zur  Feuchterhaltung  derselben  gerade  nothwendig  ist. 

Konnte  so  makroskopisch  nur  bei  Katzen,  und  auch  dann  nur, 
w'cnn  besondere  Vorsichtsmassregeln  getroifen  waren,  eine  ver- 
mehrte Schleimanhäufung  in  den  Luftwegen  nachgewiesen  werden, 
so  blieb  mir  noch  übrig,  mikroskopisch  die  Schleimhaut  der  Trachea 
und  der  Bronchien  auf  eine  etwaige  vermehrte  Schleimsecretion  zu 
prüfen.  Um  das  Epithel  möglichst  in  dem  Zustande,  wie  es  ihn 
während  der  Narkose  darbot,  zu  fixiren,  schnitt  ich  sofort  nach 
dem  in  Narkose  erfolgten  Tode  des  Thieres  kleine  Stückchen  aus 
Lunge,  Bronchien  und  Trachea  heraus,  fixirte  sie  in  Flemming- 
scher  Lösung  und  untersuchte  nachher  die  in  Celloidineinbettung 
hergestellten  Schnitte  mit  Saffranin-  oder  Haematoxylin- Eosin- 
Färbung.  In  der  Mehrzahl  aller  Fälle  nicht  nur  bei  Katzen, 
sondern  auch  bei  Hunden  und  Kaninchen  fand  ich  die  Becherzellen 
weniger  an  der  Trachea,  mehr  an  den  kleinen  und  mittleren 
Bronchien  gequollen  und  an  ihrer  dem  Lumen  zugekehrten  Seite 
mit  hellglänzenden  Massen    angefüllt;    häufig    fand    sich    auch  ein 


Experiment.  Unters,  üb.  d.  Entstehung  d.  Erkrankungen  d.  Luftwege  etc.     213 

solch  hellglänzender  Tropfen  gerade  im  Begriff,  sich  von  der  Zelle 
loszulösen,  um  sich  in  das  Innere  des  Bronchiallumens  hineinzu- 
begeben. Das  Epithel  der  Bronchien  war  in  der  Regel  bedeckt 
von  einer  gleichmässigen  Schicht  einer  homogenen,  körnigen  Masse, 
welche  helle  Schleimtropfen  in  sich  schloss,  und  welche  die  eben- 
faUs  mit  Schleimtropfen  angefüllten  Zwischenräume  zwischen  den 
Schleimhautfalten  überbrückte.  Vereinzelt  waren,  besonders  bei 
Katzen,  kleine  Bronchien  mit  ihrem  Durchschnitt  mit  Schleim- 
tropfen angefüllt.  Im  Innern  der  Schleimdrüsendurchschnitte  fanden 
sich  ebenfalls  ab  und  zu  zahlreiche  Schleimtropfen,  die  Drüsen- 
zellen selbst  waren  manchmal  klein  und  kubisch,  lagen,  ein  weites 
Lumen  umschliessend,  der  Drüsenwand  mit  ihrem  Kern  dicht  an; 
in  anderen  Fällen  waren  die  Zellen  mehr  von  oylindrischer  Form, 
hatten  ein  weit  in  das  Lumen  hineinragendes  Protoplasma. 

Obgleich  sich  nun  auch  bei  der  mikroskopischen  Prüfung  der 
Secretionsverhältnisse  die  Grenze  zwischen  normal  und  abnorm 
schwer  ziehen  lässt,  zumal  da  ich  auch  an  nicht  narkotisirten 
Kaninchen-  und  chloroformirtcn  Katzen-  und  Hundelungon  ähnliche 
Bilder  fand,  so  möchte  ich  doch  aus  den  erwähnten  Befunden 
schliessen,  dass  eine  vermehrte  Sccretion  während  der 
Aethernarkose  in  den  Luftwegen  stattfindet.  Diese 
Secretion  ist  aber  höchst  geringfügig,  erreicht  selbst 
bei  Katzen  nie  einen  so  hohen  Grad,  dass  sich  irgendwie 
makroskopisch  erkennbare  Schleimmassen  in  den  Bron- 
chien ansammeln  können;  das  gebildete  Secret  wird  viel- 
mehr immer  schon  während  der  Narkose  durch  die 
Flimmerung  des  Epithels  mit  Leichtigkeit  wieder  nach 
aussen  geschafft. 

Da  die  Tracheal-  und  Bronchialschleimhaut  der  Katzen  in 
ihrem  Reichthum  an  Schleimdrüsen  der  des  Menschen  sehr  nahe 
steht,  so  glaube  ich  zu  der  Annahme  berechtigt  zu  sein,  dass 
auch  beim  Menschen  eine  Zunahme  der  Secretion  durch  die  Aethor- 
dämpfe  in  den  Luftwegen  hervorgerufen  wird,  die  aber  wahrschein- 
lich ebenfalls  nur  gering  ist,  so  dass  die  gebildeten  geringfügigen 
Secretmengen  durch  die  Flimmerbewegung  ebenso  leicht  nach 
aussen  befördert  werden,  wie  es  bei  Katzen  geschi(»ht.  Für  die 
Richtigkeit  dieser  Annahme  sprechen  die  von  Grossniann  ge- 
machten Erfahrungen,    die  auch  von  uns,    wie  schon  erwähnt    ist, 


214  Dr.  R.  Hölscher, 

im  Wesentlichen  bestätigt  werden  konnten,  und  die  dahin  gehen, 
dass  nie  Rasseln  im  Schlünde  oder  in  der  Trachea  während  der 
Aethernarkose  auftritt,  wenn  auf  das  Genaueste  für  einen  guten 
und  ungehinderten  Abfluss  der  im  Munde  befindlichen  oder  dahin 
gelangten  Secretraassen  Sorge  getragen  ist. 

Neben  einer  vermehrten  Schleimproduction  in  der  Trachea 
und  den  Bronchien  wird  den  Aetherdämpfen  auch  eine  direct  auf 
toxischem  Reiz  derselben  beruhende  entzündungserregende  Eigen- 
schaft zugeschrieben,  welche  nach  Poppert  sogar  zur  Entstehung 
eines  acuten  Lungenödems  führen  kann.  Wenn  diese  Ansicht 
richtig  wäre,  so  müsste  man  nach  der  Narkose,  besonders  wenn 
sie  längere  Zeit  gedauert  hätte,  die  Anfangsstadien  einer  Ent- 
zündung an  der  Tracheo-Bronchialschleimhaut  zu  sehen  erwarten. 
Man  sollte  glauben,  dass  nach  2— '3  stündiger  Aethernarkose  eine 
starke  Hyperaemie  der  Schleimhaut  vorhanden  wäre,  dass  mikro- 
skopisch die  Epithelicn  als  verändert,  und  ein  Austritt  von  Leuco- 
cyten  in  die  Umgebung  der  Bronchien  und  in  die  Alveolarwände 
nachzuweisen  wäre.  Die  an  menschlichen  Aethertodesfällen  ge- 
wonnenen Sectionsergebnisse  geben  uns  über  diese  Frage  nur 
geringe  Auskunft.  In  den  Statistiken  Perrin  et  Lallemand's, 
Kappelcr's  und  Hankel's  finden  wir  ab  und  zu  im  Obductions- 
befunde  die  Angabe:  Bronchitis,  Röthung  und  Congestion  der 
Trachea  und  Bronchien,  Congestion  der  Lungen ;  dieselben  Befunde 
werden  aber  auch  in  verhältnissmässig  ebenso  grosser  Menge  bei 
den  von  den  genannten  Autoren  zusammengestellten  Chloroform- 
todesfällen angegeben,  so  dass  sie  für  die  Aethernarkose  nichts 
Characteristisches  haben.  An  ihren  in  Aethernarkose  gestorbenen 
Hunden  fanden  Perrin,  Lallemand  et  Duroy  immer  die  Schleim- 
haut der  Trachea  und  der  Bronchien  von  einer  blassen  oder  rosigen 
Farbe,  dasselbe  konnte  auch  ich  an  meinen  in  Aethernarkose  ge- 
storbenen Versuchsthieren,  Kaninchen,  Hunden  und  Katzen  beob- 
achten. Manchmal  waren  die  Zwischenknorpelräume  der  Trachea, 
sowie  ihre  hintere  Wand  etwas  hyperämisch;  diese  Hyperämie  war 
aber  immer  so  gering,  dass  ich  sie  nicht  als  über  das  Maass  des 
Normalen  hinausgehend  bezeichnen  konnte,  um  so  mehr,  da  ich 
häufig  in  der  Trachea  getödteter  nicht  narkotisirter  oder  nur  chloro- 
formirter  Thiere  dieselbe  Injection  der  Gefässe  vorfand.  Auch  er- 
reicht diese  Hyperaemie  nicht  annähernd  den  Grad,  welchen  in  den 


Experiment.  Unters,  üb.  d.  Entstehung  d.  Erkrankungen  d.  Luftwege  etc.     215 

Fällen,  wo  die  Thiere  durch  eine  Glaskanüle  ätherisirt  wurden, 
die  Trachea  an  der  Stelle  aufwies,  wo  die  Kanüle  die  Schleim- 
haut längere  Zeit  berührt  hatte.  Hatte  ich  bei  narkotisirten 
Hunden,  Kaninchen  oder  Katzen  die  Trachea  mit  Galvanokauter 
vom  in  der  Längsrichtung  geöffnet,  so  blieb  die  Luftröhrenschleira- 
haut  lange  Zeit  von  unverändert  blasser  Farbe,  nur  die  Zwischen- 
knorpelräume und  der  membranöse  Theil  der  Trachea  hatte  ein 
leicht  rosiges  Aussehen.  Leitete  ich  nun  concentrirte  Aether- 
dämpfe,  die  ich  in  einer,  mit  einem  Ansatzschlauch  verbundenen 
Flasche  im  warmen  Wasserbade  entwickelte,  oder  auf  dieselbe 
Weise  erzeugte  Chloroforradämpfe  in  gleichmässigem  Strome  auf  die 
Trachealschleimhaut,  so  konnte  ich,  auch  wenn  ich  längere  Zeit 
dies  fortsetzte,  keine  Röthung  bemerken,  vielmehr  blieb  die  Färbung 
genau  so  wie  die  der  übrige  Trachea.  Liess  ich  aber  die  Thiere 
mit  weit  eröffneter  Trachea  stundenlang  liegen,  so  konnte  ich  in 
der  Regel  eine  allmähliche  Röthung  der  der  freien  Luft  aus- 
gesetzten Schleimhaut  wahrnehmen,  die  von  der  Farbe  der  übrigen 
Schleimhaut,  wenn  auch  nicht  erheblich,  so  doch  immerhin  deutlich 
sichtbar  abstach.  In  den  Fällen,  in  denen  ich  die  Hunde  von 
Anfang  an  durch  die  Trachea  ätherisirte  (vergl.  die  angeführten 
Versuche),  konnte  ich  bei  der  Autopsie  einen  Unterschied  der  Ge- 
fässfüUung  zwischen  dem  unterhalb  der  Canülc  gelegenen  Tracheal- 
theile,  welcher  direct  der  Einwirkung  der  Aethcrdämpfe  ausgesetzt 
war,  und  dem  oberhalb  der  Canüle  gelegenen,  wo  die  Schleimhaut 
vom  Aether  überhaupt  nicht  berührt  war,  niemals  constatiren.  Das 
mikroskopische  Verhalten,  welches  ich  an  Präparaten  studirte,  die 
theils  mit  Flem min g' scher  Lösung,  theils  nur  mit  Alcoholhärtung 
vorbehandelt,  und  mit  Saffranin  oder  mit  Haematoxylin-Eosin  ge- 
färbt waren,  bot  nichts,  was  man  zu  einer  etwaigen  Entzündung 
der  Schleimhaut  hätte  in  Beziehung  bringen  können.  Die  Epithelien 
waren  sämmtlich  gut  erhalten,  Kerntheilungsfiguren  nirgends  zu 
erblicken;  eine  Rundzellenanhäufung  in  oder  unter  der  Epithel- 
schicht war  in  keinem  Falle,  abgesehen  von  den  in  der  Umgebung 
jedes  Bronchus  liegenden  Lymphfollikeln,    erkennbar. 

Ein  Lungenödem,  wie  es  Poppert  in  seinem  Falle  von  Aether- 
tod  gesehen,  und  von  dem  er  noch  weitere  6  Fälle  aus  der 
Literatur  als  nach  Aethemarkose  vorgekommen  anführt,  konnte  ich 
bei  keiner  einzigen  meiner  sehr  zahh-eichen  Autopsicen  äthcrisirtcr 


216  Dr.  R.  Kölscher, 

Thiere,  deren  Zahl  sich  auf  weit  über  100  beläuft,  nachweisen, 
immer  waren  die  Lungen  hellroth,  bei  Hunden  meist  grauroth, 
immer  lufthaltig,  nie  hyperämisch.  Die  Gleichmässigkeit  dieser 
Befunde  spricht  dafür,  dass,  wie  Nauwerck  hervorhebt,  die 
Wirkung  des  Aethers  in  Gasform  auf  die  Luftwege  durchaus  nicht 
zu  vergleichen  ist  mit  der  des  Aethers  in  flüssigem  Zustande,  dass 
also  auch  die  Versuche  Löwit's,  welcher  durch  Aufbringen  von 
flüssigem  Aether  auf  die  Trachea  Lungenödem  hervorbrachte, 
durchaus  nicht,  wie  es  Poppert  will,  als  Beweis  für  die  Möglich- 
keit einer  Entstehung  von  Lungenödem  nach  Aethernarkose  heran- 
gezogen werden  können.  Vielmehr  möchte  ich,  da  in  keinem 
meiner  Versuche  eine  entzündliche  Reizung  der  Tracheo-Bronchial- 
schleimhaut,  oder  des  Lungengewebes  selbst,  nachgewiesen  werden 
konnte,  mit  Nauwerck  glauben,  dass,  wenn  sich  einmal  Lungen- 
ödem nach  Aethernarkose  vorfindet,  dieses  in  den  meisten  Fällen 
auf  andere  Ursachen  zurückzuführen  ist. 

Wenn  ich  noch  einmal  das  Resultat  der  Versuche,  welche  ich 
über  die  Frage  der  Reizwirkung  des  Aethers  auf  die  Luftwege  an- 
gestellt habe,  zusammenfasse,  so  ist  es  kurz  Folgendes: 

Ausser  einer  geringfügigen,  makroskopisch  kaum 
erkennbaren  Hypersecretion  von  Schleim  findet  bei  ge- 
sunden Lungen  keine  irgendwie  nachweisbare  Reizung  der 
Trachea,  Bronchien  undj  Lungen  durch  Inhalation  von 
Aetherdämpfen  statt. 

Mit  diesem  aus  den  Obductionsbefunden  an  Versuchsthieren 
gewonnenem  Resultate  lässt  sich  meiner  Ansicht  nach  sehr  gut 
folgende  Beobachtung  in  Einklang  bringen,  die  ich  an  einer  An- 
zahl von  Hunden  machte.  Letztere  waren  unter  Schleich'scher 
Localanästhesie  tracheotomirt  und  wurden  dann  durch  einen  an 
die  Canüle  angesetzten  langen  Schlauch  ätherisirt.  Während  ich 
bei  den  Thiercn,  welche  durch  Mund  und  Nase  narkotisirt  wurden, 
stets  ein  äusserst  heftiges  Sträuben  gegen  die  Einathmung  des 
Aethers  wahrnehmen  konnte,  so  dass  die  Thiere  sich  ungestüm 
mit  dem  Körper  hin  und  her  warfen,  fiel  mir  hier  auf,  wie  die 
Hunde  —  allerdings  nicht  alle,  aber  doch  die  meisten  —  ruhig 
und  still  dalagen,  bis  die  allgemeine  Intoxication  mit  dem  Exci- 
tationsstadium  einsetzte.     Leider   hatte  ich  keine  Gelegenheit,    an 


Experiment.  Unters,  üb.  d.  Entstehung  d.  Erkrankungen  d.  Luftwege  etc.     217 

tracheotomirten  Menschen  zu  prüfen,  ob  diese  an  Hunden  gemachte 
Beobachtung  auch  für  sie  zutrifft. 

Wenn  ein  Mittel,  wie  der  Aether,  welcher  durch  seine  reizende 
Wirkung  auf  die  Schleimhaut  des  Mundes  und  der  Nase  bei  Hunden 
den  heftigsten  Widerstand  gegen  seine  Application  hervorruft,  in 
Berührung  mit  der  Tracheal-  und  Bronchialschleimhaut  keine 
Reaction  auslöst,  so  muss  man  doch  annehmen,  dass,  wenn  über- 
haupt, so  doch  jedenfalls  nur  ein  sehr  geringer  Reiz  auf  den  be- 
treflfenden  Schleimhäuten  durch  dasselbe  ausgeübt  wird. 

Aus  alledem  geht  hervor,  dass  in  dem  Verhalten  der  Schleim- 
haut der  Mund-,  Nasen-  und  Rachenhöhle  zu  dem  der  Tracheo- 
Bronchialschleimhaut  gegen  die  Einwirkung  von  Aetherdämpfen 
ein  auffallender  Gegensatz  besteht,  der  sowohl  klinisch,  als 
anatomisch  nachweisbar  ist.  Hier  geduldiges  Einathmen  der  Aether- 
dämpfe,  dort  der  heftigste  Widerstand  gegen  dieselben,  hier  keine 
oder  doch  nur  höchst  geringfügige  Zeichen  einer  Hypersecretion, 
dort  die  ausgedehnteste  Speichel-  und  Schleimabsonderung.  Dieser 
Gegensatz  der  betreffenden  Schleimhäute  fiel  auch  Rossbach  in 
manchen  Fällen  bei  seinen  Versuchen  auf.  Er  sah,  wenn  er  die 
Trachealschleimhaut  mit  4proc.  Argent.  nitric.-Lösung  bepinselte, 
keine,  dagegen  sehr  starke  Schleimsecretion  auftreten,  wenn  er  die 
Schleimhaut  des  Nasenrachenraumes  mit  derselben  Lösung  be- 
pinselte, und  kommt  auf  Grund  dieser  Beobachtung  zu  dem 
Schluss,  dass  „sich  die  Schleimdrüsen  der  Trachea  und  des  Kehl- 
kopfes ganz  anders  verhalten  müssen,  wie  die  Schleimhäute  anderer 
Theile  des  Respirations-  und  Verdauungstractus." 

Dieses  Verhalten  der  Tracheo-Bronchialschleimhaut  gegen  die 
Aetherdämpfe  beruht  jedenfalls  auf  einer  geringeren  Empfindlich- 
keit derselben  gegen  locale  Reize.  Früher  (Henle,  rationelle 
Pathologie  1853  und  andere,  vergl.  Nothnagel)  wurde  der 
Tracheal-  und  Bronchialschleimhaut  so  wenig  Empfindlichkeit  zu- 
geschrieben, dass  die  Möglichkeit  der  Erzeugung  von  Hustenstössen 
durch  ihre  Reizung  überhaupt  in  Abrede  gestellt  wurde;  wenn  nun 
auch  durch  die  Versuche  NothnageTs,  die  später  von  Sehrwald 
bestätigt  werden  konnten,  nachgewiesen  ist,  da^s  Trachea  und 
Bronchien,  erstere  an  der  Bifurcation,  Reizbarkeit  besitzen,  so 
bleibt    doch    die  Thatsache    bestehen,    dass    stärkere  mechanische 


218  Dr.  R.  Hölscher, 

Reize  dazu  gehören,  eine  Reaction  hervorzubringen,  und  dass  diese 
Reizbarkeit  in  gar  keinem  Verhältnisse  steht  zu  der,  wie  sie  z.  B. 
die  Schleimhaut  des  Kehlkopfes  besitzt. 

Vom  teleologischen  Standpunkte  aus  erscheint  diese  Annahme 
einer  geringeren  Empfindlichkeit  der  Trachealschleimhaut  gegen 
iocale  Reize  auch  sehr  plausibel.  Die  tägliche  chirurgische  Er- 
fahrung lehrt,  dass  die  Baucheingeweide  nicht  die  Fähigkeit  haben, 
zu  fühlen  und  Schmerz  zu  empfinden,  dass  man  an  ihnen  bei 
Operationen  ohne  Schmerzensäusserungen  seitens  der  Patienten 
stechen,  brennen,  schneiden  und  nähen  kann;  sie  besitzen  diese 
Fähigkeit  nicht,  da  sie  im  Innern  des  Körpers,  gedeckt  und  ge- 
schützt durch  die  Bauchdecken,  nicht  die  Möglichkeit  haben,  die- 
selbe auszuüben,  sie  haben  diese  Fälligkeit  nicht  nöthig.  Gerade 
so  steht  es  mit  der  Tracheo-Bronchialschleimhaut;  sie  hat  es  eben- 
falls nicht  nöthig,  zu  fühlen,  oder  auf  Reize  zu  reagiren,  da  ihr 
die  äusserst  empfindliche  Schleimhaut  der  Mund-,  Nasen-  und 
Rachenhöhle  diese  Arbeit  abnimmt,  sie  dadurch  gleichsam  ver- 
wöhnt, so  dass  sie,  falls  einmal  Reize  auf  sie  einwirken  sollten, 
gar  nicht  die  Fähigkeit  hat,  dieselben  zu  empfinden. 

Beiläufig  will  ich  noch  einige  Beobachtungen  über  die  Ein- 
wirkung des  Aethers  auf  die  Speichelproduction  ei-wähnen.  Zu- 
nächst konnte  ich  auch  bei  meinen  Versuchsthieren,  ebenso  wie 
beim  Menschen,  feststellen,  dass  der  Grad  der  Salivation  individuell 
ungemein  verschieden  ist;  hier  profuser  Speichelfluss,  —  und  das 
in  den  meisten  Fällen  —  da  nur  ein  sehr  geringfügiger,  oder  über- 
haupt keiner  zu  erkennen.  Nach  Bruns  soll,  wie  erwähnt,  die 
Reizwirkung  des  Aethers  auf  die  Schleimhäute  um  so  stärker  sein, 
je  unreiner  der  zur  Narkose  verwandte  Aether  ist;  er  empfiehlt 
daher  zur  Narkose  nur  absolut  reinen  Aether.  Solchen  Aether 
absolutus  pro  narkosi  (von  Kahl  bäum  bezogen)  wenden  wir  für 
die  Narkose  beim  Menschen  ausschliesslich  an.  Bei  den  Versuchs- 
thieren wechselte  ich  nun  absichtlich,  nahm  bald  absoluten  Aether, 
bald  solchen,  der  in  hellen  Flaschen  wochenlang  im  Laboratorium 
dem  Sonnenlicht  ausgesetzt  gewesen  war.  Ich  muss  nun  sagen, 
ebensowenig,  wie  ich  an  den  Luftwegen  irgend  einen  Unterschied  in 
der  Einwirkung  beider  Aethersorten  entdecken  konnte,  konnte  ich 
einen  unterschied  im  Grade  der  Speichelsecretion  bemerken. 
Bald  war  bei  unreinem  Aether  der  Speichelfluss  sehr  gering,  bald 


Experiment.  Unters,  üb.  d.  Entstehung  d.  Erl<rankungen  d.  Luftwege  etc.     219 

bei  Anwendung  des  absoluten  ganz  enorm.  Sehr  auffällig  trat  der 
Gegensatz  von  dem,  was  man  eigentlich  erwarten  sollte,  zu  dem, 
was  eintrat,  bei  einer  Katze  hervor,  die  ich  zweimal  in  einem 
Zwischenraum  von  3  Tagen  ätherisirte.  Bei  der  ersten  Narkose 
wurde  unreiner  Aether  benutzt:  Die  Speichelsecretion  war  sehr 
gering,  nur  geringes  Rassehi  im  Schlünde  hörbar,  im  Maule  selbst 
nur  geringe  Mengen  zähen  Schleimes.  Nach  3  Tagen  wurde  das- 
selbe Thier  mit  absolutem  Aether  narkotisirt:  sehr  starke  Speichel- 
secretion, der  Speichel  quoll  nur  so  aus  dem  Maule  hervor. 

Auch  die  Methoden  der  Aetherisirung  fand  ich  bei  den  Ver- 
suchsthicren  als  ziemlich  belanglos  für  den  Grad  der  Speichel- 
secretion; einerlei,  ob  ich  die  sogenannte  asphyxirende  Genfer, 
oder  die  einschleichende  W  an  sc  her 'sehe  Methode  anwandte,  einen 
wesentlichen  Unterschied  konnte  ich  nicht  entdecken,  bald  war 
der  Speichelfluss  bei  der  einen  grösser,  bald  bei  der  anderen,  Ver- 
schiedenheiten, die  sich  sehr  gut  durch  individuelle  Unterschiede 
der  Thiere  erklären  lassen. 

Nach  Claude  Bernard  beruht  die  Speichelsecretion  auf  einer 
directen  localen  Reizung  der  Endigungen  des  N.  lingualis  durch 
die  Chloroform-  oder  Aetherdämpfe,  sie  tritt  nicht  auf,  wenn  man 
direct  durch  die  Trachea  narkotisirt.  Es  musste  mir  daher  auf- 
fallen, dass,  als  ich  einem  Hunde  unter  Schleich'scher  Anästhesie 
die  Trachea  geöffnet  hatte  und  ihn  durch  diese  Wunde  ätherisirte, 
eine  reichliche  Speichelsecretion  auftrat.  Ich  beschloss  daher,  die 
Frage  einer  näheren  Untersuchung  zu  unterziehen.  Ich  ätherisirte 
zunächst  2  Hunde  auf  natürlichem  Wege,  je  I  Stunde  lang,  der 
secemirte  Mundinhalt  wurde  aufgefangen  (bei  Tieflagerung  des 
Kopfes)  und  gemessen.  Die  Menge  betrug  bei  dem  einen  35  ccm, 
bei  dem  andern  30  ccm.  Nach  18  resp.  30  Tagen  ätherisü^te  ich 
dieselben  Thiere;  vorher  machte  ich  aber  unter  Schleich 'scher 
Localanästhesie  die  Tracheotomie,  steckte  eine  Pressschwamm- 
canüle  ein  und  tamponnirte  ausserdem  den  Kehlkopf  fest  aus,  da- 
mit nicht  etwa  doch  ätherhaltige  Respirationsluft  neben  der  Canüle 
vorbei  und  durch  den  Kehlkopf  in  das  Maul  gelangen  konnte. 
Während  der  einstündigen  Aethernarkose  wurden  von  dem  ersten 
Hunde  6  ccm,  von  dem  andern  8  ccm  Speichel  aufgefangen.  Nun 
sind  diese  Versuche  nicht  einwandsfrei ;  die  Aetherhaltige  Maske 
war    bei    beiden   Hunden    direct    auf    die    Trachealwunde    gelegt 


220  •  Dr.  R.  Hölscher, 

worden;  es  konnten  daher  doch  Aetlierdämpfe  in  den  naheliegenden 
Mund  und  die  Nase  gelangen,  und  auf  diese  Weise  durch  localen 
Reiz  doch  die  Speichelsecretion  bewirken,  daher  modificirte  ich  die 
Versuche  in  der  Weise,  dass  ich  nach  vorheriger  Tracheotomie 
unter  Schleich'scher  Anästhesie  eine  Glascanüle  luftdicht  in  die 
Trachealöffnung  einband,  an  der  Glascanüle  einen  1  ra  langen 
Schlauch  befestigte,  und  das  Ende  dieses  Schlauches  unter  den 
Tisch  zu  der  mit  Aether  getränkten  Maske  leitete.  Auf  diese 
Weise  war  jede  Möglichkeit,  dass  Aetherdärapfe  mit  dem  Maule 
oder  der  Nase  des  Hundes  in  Berührung  kamen,  ausgeschlossen; 
der  verdunstende  Aether  musste,  soweit  er  nicht  inspirirt  wurde, 
seiner  Schwere  nach  zu  Boden  sinken,  und  die  ätherhaltige  Exspi- 
rationsluft  konnte  nur  durch  das  tiefliegende  Schlauchende  nach 
aussen  entweichen.  In  dieser  Weise  ätherisirte  ich  9  Hunde  ver- 
schiedener Grösse  und  gebrauchte  noch  die  Vorsichtsmassregel, 
nach  Aufhören  des  Excitationsstadiums  das  Maul  sorgfältig  auszu- 
wischen und  erst  von  diesem  Zeitpunkte  an  die  Speichelsecretion 
zu  beobachteu,  damit  ich  etwa  während  der  Excitation  durch  die 
Bewegungen  der  Zunge  und  der  Kiefer  hervorgcnifcne  Speichel- 
secretion von  meiner  Berechnung  ausschliessen  konnte.  In  allen 
Fällen  fand  sich  nun  eine  mehr  oder  weniger  reichliche  Salivation, 
die  manchmal  während  der  ganzen,  oft  mehrere  Stunden  dauernden 
Narkose  anhielt,  in  den  meisten  Fällen  jedoch  gegen  Schluss  der- 
selben aufhörte.  Nur  in  einem  Falle,  in  dem  es  sich  um  ein 
kleines  junges  Hündchen  handelte,  war  keine  Spur  einer  Speichel- 
secretion bemerkbar,  sonst  schwankte  die  Menge  des  zähen,  faden- 
ziehenden leicht  getrübten  Speichels  zwischen  5  und  40  ccm.  Es 
findet  demnach,  auch  wenn  jede  locale  Wirkung,  des  Aethers  voll- 
ständig ausgeschlossen  ist,  trotzdem  in  Narkose  eine  Secretion  von 
Speichel  statt,  die  allerdings,  wie  die  Versuche  an  den  beiden  ersten 
Hunden  zeigen,  bedeutend  geringer  ist,  als  wenn  auf  natürlichem 
Wege  nai'kotisirt  wird.  Die  Speichelsecretion  kann  also,  wenn 
auch  zum  grössten  Theil,  so  doch  nicht  allein  auf  einer  localen 
Reizwirkung  des  Aethers  auf  der  Schleimhaut  des  Mundes  beruhen; 
hier  müssen  centrale  Beeinflussungen  mitspielen,  vielleicht  wird 
auch  der  Aether  auf  der  Schleimhaut  des  Mundes  während  der 
Narkose  wieder  ausgeschieden  und  kann  so  doch  noch  eine  locale 
Wirkung  entfalten.    Jedenfalls  aber  ist  die  Angabe  Cl.  Bernard's 


Experiment.  Unters,  üb.  d.  Entstehung  d.  Erkrankungen  d.  Luftwege  etc.     221 

nicht  ganz  richtig,  sie  mag  wohl  für  die  Glandula  submaxillaris 
des  Hundes,  an  der  er  seine  Versuche  anstellte,  Gültigkeit  haben; 
für  die  Gesammtheit  der  in  die  Mund-,  Nasen-  und  Rachenhöhlc 
secemirenden  Drüsen,  auf  deren  Thätigkeit  es  ja  in  klinischer  Be- 
ziehung ankommt,  gilt  sie  nicht. 

Wenden  wir  uns  nun  wieder  zu  unserer  ursprünglichen  Frage : 
Welchen  Schädlichkeiten  verdankt  die  sogenannte  Aether-Bronchitis 
und  -Pneumonie  ihre  Entstehung? 

Da  aus  meinen  Versuchen  hervorgeht,  dass  die  Aetherdämpfc 
ausser  einer  kaum  merklichen  Vermehrung  der  Schleimsecretion 
überhaupt  keine  Reizung  auf  die  Tracheo- Bronchialschleimhaut  aus- 
üben, so  ist  nach  meiner  Ansicht  auch  ausgeschlossen,  dass  bei 
gesunden  Lungen,  wie  bisher  fast  allgemein  angenommen  wurde, 
auf  diesem  Wege  die  erwähnten  Erkrankungen  entstehen.  Dass  es 
bei  kranken  Lungen  der  Fall  sein  sollte,  halte  ich  auch  für  wenig 
wahrscheinlich,  obgleich  mir  dahin  gehende  Versuche  die  zur  Ent- 
.scheidung  nothwendige  Klarheit  nicht  verschaffen  konnten.  Diese 
Versuche  waren  folgende:  Nachdem  ich  mich  an  3  Kaninchen 
durch  die  Autopsie  überzeugt  hatte,  dass  intratracheale  Injectionen 
von  1 — 3proc.  Chromsäurelösung  in  kürzester  Zeit  heftige  eitrige 
Tracheitis,  Bronchitis  und  Pneumonie  verursachte,  spritzte  ich 
6  anderen  Kaninchen  gleiche  Mengen  Chromsäurelösung  per 
tracheam  ein,  ätherisirte  4  von  ihnen  einen  Tag  später  bei 
hängendem  Kopf,  um  Aspiration  |von  Mundinhalt  auszuschliessen, 
eine  Stunde  lang,  und  tödtete  alle  6  wieder  einen  Tag  später  durch 
Nackenschlag.  Wie  zu  erwarten  war,  fanden  sich  bei  allen  die 
vorher  erwähnten  Erkrankungen  der  Respirationsorgane  in  ausge- 
dehntem Grade  vor,  eine  stärkere  Erkrankung  der  ätherisirten 
Thiere  war  nicht  nachweisbar,  hätte  allerdings,  auch  wenn  sie  vor- 
handen gewesen  wäre,  nicht  ohne  Weiteres  der  Aethereinwirkung 
zugeschrieben  werden  können,  da  sie  gerade  so  gut  auf  Zufall  be- 
ruhen konnte.  Ihr  Fehlen  spricht  aber  jedenfalls  dafür,  dass  selbst 
bei  acuten  Lungenerkrankungen,  wie  sie  die  künstlich  erzeugten, 
doch  waren,  der  Aether  keine  besonders  auifallende  Verschlimme- 
rungen hervorruft.  Für  letztere  Annahme  lässt  sich  vielleicht  auch 
die  Beobachtung  ins  Feld  führen,  dass  von  3  Kaninchen,  bei  denen 
ich  dieselbe  Erkrankung  durch  Chromsäure  hervorbrachte,  2,  die 
ich  1  Tag  später  in  der  nämlichen  Weise  1  Stunde  ätherisirt  hatte, 


222  Dr.  R.  Hölschcr, 

am  Loben  blieben,  die  Pneumonie  gut  überstanden,  das  dritte  da- 
gegen, welches  ich  zur  Controlle  nicht  narkotisirt  hatte,  4  Tage 
nachher  an  seiner  Pneumonie  zu  Grunde  ging.  Wie  gesagt,  die 
Versuche  haben  keine  genügende  Beweiskraft,  da  ihre  Zahl  viel 
zu  gering  ist,  und  da  ihre  Ergebnisse  auch  keine  bestimmte  Er- 
klärung zulassen. 

Wenn  demnach  die  Aetherdärapfe  an  und  für  sich  nicht  für 
eine  nach  der  Narkose  entstehende  Bronchitis  oder  Pneumonie  ver- 
antwortlich gemacht  werden  können,  so  müssen  andere  Ursachen 
vorhanden  sein,  welche  diese  Nachkrankheiten  hervorrufen  können. 
Zunächst  ist  es  natürlich,  dass  gerade  so  gut,  wie  Gesunde  ohne 
auffindbaren  Grund  an  Bronchitis  und  Pneumonie  erkranken  können, 
diese  Krankheiten  auch  nach  der  Narkose  auftreten,  ohne  dass 
man  der  Narkose  einen  Vorwurf  machen  kann.  Die  Aspiration 
von  Mageninhalt,  welcher  während  der  Narkose  erbrochen  wird, 
oder  von  Blut,  welches  sich  bei  Operation  in  die  Mund-  und 
Rachenhöhle  ergiesst,  gilt  allgemein  als  eine  der  Hauptursachen 
der  nach  der  Narkose  entstehenden  Lungenaffectionen.  Pietrzi- 
kowski  fand  experimentell  für  die  so  häufig  nach  der  Operation 
eingeklemmter  Brüche  auftretenden  Pneuraonieen  als  Ursache  eine 
Embolie  in  den  Lungen,  die  nach  seiner  Ansicht  durch  Ver- 
schleppung von  Thromben  aus  der  venös  durchtränkten  abge- 
klemmten Darmschlinge  und  zugehörigem  Mesenterium  bedingt  ist. 
Von  jeher  hat  bei  der  Erklärung  für  die  Entstehung  der  Er- 
krankungen der  Luftwege  die  Erkältung  eine  grosse  Rolle  gespielt, 
namentlich  seitdem  uns  Rosen thal  ihre  Wirkungsweise  näher  er- 
klärt hat.  Rossbach  hat  den  Einfluss  der  Erkältung  direct  an 
der  Katzentrachea  studirt  und  ihn  in  Hyperämie  und  Schleimab- 
sonderung bestehend  gefunden,  in  neuester  Zeit  hat  Dürk  allein 
durch  Erkältung  bei  Versuchsthieren  Pneumonie  erzeugen  können. 
Diese  Erkältung  ist  jedenfalls  auch  für  manche  Fälle  von  Lungen- 
erkrankungen nach  der  Aethernarkose  als  Ursache  in  Anspruch  zu 
nehmen;  lässt  es  sich  doch,  besonders  an  viel  besuchten  Kliniken, 
häufig  gar  nicht  vermeiden,  dass  die  Kranken  vor,  während  oder 
nach  der  Narkose,  während  des  Transportes  über  Corridore,  durch 
verschiedene  Zimmer  u.  s.  w.  schroffem  Temperaturwechsel,  Zug- 
luft etc.  ausgesetzt  werden.  Von  der  Erkältung  zu  unterscheiden 
ist  die  durch  die  Narkose    an    und  für  sich,    durch  die  Operation 


Experiment.  Unters,  üb.  H.  Entstehung  d.  Erkrankungon  d.  Luftwege  etc.     223 

selbst  und  durch  die  Vorbei-eitungcn  zu  dorselben  bedin,fi:te  Ab- 
kühlung dos  Patienten.  Es  ist  bekannt,  dass  sowohl  bei  der 
Chlorofonn-  als  bei  der  Aethernarkose  eine  Abnahme  der  Körper- 
temi>eratur  eintritt,  die  nach  Comte  einmal  durcli  die  Herab- 
setzung der  Oxydation  hn  Körper  (beim  Aether  auch  durch  ver- 
mehrte Wärmeabgabe  von  der  Haut),  dann  durch  die  ruhige  Lage, 
oder  durch  Liegen  ohne  warme  Bedeckung,  durch  Abwaschungen, 
Spülungen  zur  Desiufection  etc.  verursacht  ist.  Nach  meinen  Er- 
fahrungen, die  ich  im  letzten  Halbjahr  an  einer  grossen  Zahl  von 
Kranken  der  chirurgischen  Klinik  durch  rectale  Messungen  vor 
Beginn  und  nach  Beendigung  der  Narkose  gewann,  ist  dieser  Tem- 
peraturabfall seinem  Grade  noch  ungefähr  der  gleiche  bei  der 
Aether-  ^ie  bei  der  Chloroformnarkose;  er  schwankt  bei  beiden 
sehr,  zwischen  0,1  und  3,0^  C,  nach  der  Dauer  der  Narkose, 
nach  der  Anfangstemperatur,  (ist  z.  B.  bei  hoch  Fiebernden  be- 
deutend stärker  als  bei  Fieberfreien)  und  nach  dem  Kräftezustande 
(ist  stärker  bei  schwaclien,  heruntergekommenen  Individuen,  als 
bei  kräftigen).  Im  Gegensatz  dazu  fand  ich  —  das  will  ich  neben- 
bei erwähnen  —  unter  Leuten,  die  bei  Schleich'scher  Local- 
anästhesie  operirt  wurden,  nur  bei  wenigen  einen  Temperaturabfall, 
bei  vielen  ein  Gleichbleiben  der  Temperatur,  bei  den  meisten  so- 
gar einen  Temperaturanstig  um  0,1 — 0,3^  C,  welch'  letzterer 
wohl  durch  die  Aufregung  zu  erklären  ist,  in  welche  die  Patienten 
durch  die  vorzunehmende  Operation  versetzt  wurden. 

Wenn  es  auch,  soweit  mir  bekannt  ist,  nach  künstlich  hervor- 
gebrachten Abkühlungen  bei  Thieren  noch  nicht  gelungen  ist, 
Lungenerkrankungen  hervorzurufen,  was  ich  ebenfalls  an  einer 
Anzahl  von  Kaninchen  bestätigen  konnte,  die  ich  durch  kalte 
Waschungen  in  ruhiger  Rückenlage,  oder  durch  kalte  Waschungen 
während  Aethernarkose  um  6 — 8^  C.  abkühlte,  so  halte  ich  es 
doch  bei  der  auch  jetzt  noch  wenig  geklärten  Frage  der  Wirkung 
der  Abkühlung  nicht  für  ausgeschlossen,  dass  die  letztere  für 
manche  Fälle  von  Lungenaffectionen,  die  nach  der  Aethernarkose 
vorkommen,  verantwortlich  gemacht  werden  kann. 

Alle  diese  im  Bereiche  der  Möglichkeit  liegenden  Ursachen 
für  die  nach  Operationen  auftretenden  Lungenaffectionen  haben 
nun  durchaus  nichts  Charakteristisches  für  die  Aethernarkose,  sie 
sind    in    demselben  Grade    bei    der  Chloroformnarkose    vorhanden 


224  Dr.  R.  Hölscher, 

und  kommen  auch  bei  Operationen  unter  Lokalanästhesie  in  Be- 
tracht; das  hat  die  klinische  Erfahrung  besonders  der  letzten 
Jahre  vollauf  bestätigt.  Es  muss  daher  immer  ein  Theil  der  nach 
der  Aethernarkose  einsetzenden  Bronchitiden  und  Pneumonieen  auf 
ihre  Einwirkung  zurückgeführt  werden;  darin  unterscheidet  sich 
also  die  Aethernarkose  durchaus  nicht  von  der  Chloroformnarkose. 
Das  aber,  was  am  meisten  als  unterschied  zwischen  Chloroform- 
und  Aethernarkose  äusserlich  auffällt,  das  ist  die  bei  der  letzteren 
in  so  ausserordentlich  hohem  Grade  sich  bemerkbar  machende 
Speichel-  und  Schleimsecretion  in  der  Mundhöhle.  In  dieser  That- 
sache  liegt  nach  meiner  Ansicht,  in  üebereinstimmung  mit  der 
von  Grossmann  vertretenen,  die  Erklärung  für  die  Entstehung 
des  Plus  an  Lungenaflfectionen,  das  im  Vergleich  zu  anderen  Nar- 
kosen nach  der  Aethernarkose  auftritt. 

In  dem  ersten  Abschnitte  meiner  Arbeit  habe  ich  den  Nach- 
weis zu  bringen  gesucht,  dass  eine  Aspiration  des  während  der 
Narkose  sich  im  Munde  ansammelnden  Speichels  bei  Thieren  leicht 
möglich  ist,  dass  sie  aber  beim  Menschen  mit  noch  viel  grösserer 
Leichtigkeit  eintritt,  da  die  Abflussverhältnisse  für  den  secernirten 
Speichel  hier  noch  viel  ungünstiger  liegen. 

Seitdem  uns  Traube  gezeigt  hat,  dass  die  nach  Vagusdurch- 
schneidung  auftretende  Bronchopneumonie  lediglich  durch  das  Ein- 
dringen von  Mundflüssigkeit  in  die  Luftwege  bedingt  ist,  seitdem 
diese  Angaben  von  zahlreichen  anderen  Forschern  bestätigt  sind, 
besteht  hinsichtlich  der  Gefahr  einer  solchen  Aspiration  von  Mund- 
inhalt nirgends  mehr  ein  Zweifel.  Allerdings  wäre  es  aber  durch- 
aus nicht  richtig,  daraus  nun  den  Schluss  zu  ziehen,  dass  in  jedem 
Falle,  wo  eine  Aspiration  zu  Stande  kömmt,  auch  mit  Sicherheit 
eine  Lungenafi*ection  zu  erwarten  sei.  Wie  experimentell  fest- 
gestellt ist,  sind  die  Lungen  gegen  schädigende  Substanzen,  die 
in  die  Luftwege  eingebracht  sind,  zum  Theil  sehr  widerstandsfähig. 
So  konnten  Perl  und  Lipmann  bei  Thieren,  denen  sie  von  dem- 
selben Thiere  entnommenes  Blut  durch  eine  Tracheotomiewunde 
in  die  Lungen  fliessen  Hessen,  nie  eine  krankhafte  Veränderung 
der  letzteren  nachweisen.  Im  Gegensatz  dazu  fand  Sommerbrodt 
„constant  neben  anderen  Begleiterscheinungen  katarrhalische  Pneu- 
monie als  Folge  eines  Blutergusses  in  die  Alveolen,  welche  aller- 
dings  bei  den  vorher  gesunden  Thieren  stets  in  Heilung  überging, 


Experiment.  Unters,  üb.  d.  Entstehung  d.  Erkrankungen  d.  Luftwege  etc.     225 

wenn  die  dazu  nöthige  Zeit  abgewartet  wurde."  Hohenhausen 
zeigte,  dass  Injectionen  von  Sand,  Fett  und  Wasser  in  die  Luft- 
wege keine  Reaction  von  Seiten  der  letzteren  hervomef,  dass  nach 
Injectionen  von  deflbrinirtemj  dem  Thiere  selbst  entnommenen 
Blute  Trachea  wie  Bronchien  und  Lungen  gesund  blieben.  Dagegen 
riefen  nur  wenige  Tropfen  faulenden  Blutes,  fauliger  Fischjauche 
stets  septische  Pneumonie  und  Pleuritis  hervor.  Nach  Schott elius 
ist  die  Einblasung  selbst  grösserer  Quantitäten  unorganischer,  rein 
mechanisch  wirkender  Substanzen  nicht  im  Stande,  tiefer  greifende 
Zerstörungen  in  den  Lungen  herbeizuführen,  dagegen  führt  die 
Einblasung  organischer,  in  den  Lungen  zersetzbarer  Staubarten 
jedes  Mal  zu  entzündlichen  Processen.  Corning  erzeugte  bei 
Hunden  durch  Inhalation  zerstäubten  Sputums  verschiedener  Art 
Bronchitis  und  miliare  akute  Pneumonieen.  In  neuester  Zeit  gelang 
es  Dürk,  durch  Einbringung  von  aus  Pneumonien  isolirten  Bacterien- 
kulturen  in  die  Luftwege  nur  dann  bronchopneumonische  Herde 
hervorzurufen,  wenn  er  gleichzeitig  scharfen  feinen  Staub  ein- 
athmen  Hess. 

Ich  konnte  mich  daher  nicht  wundeni,  wenn  ich  bei  Ver- 
suchen, in  denen  ich  einmal  durch  intratracheale  Injection  von 
Mundspeichel  oder  kothigem  Mageninhalt,  dann  durch  Einbringen 
solcher  Flüssigkeiten  in  die  Mundhöhle  während  der  Aethernarkose, 
zwar  meistens,  aber  doch  nicht  in  jedem  Falle  Pneumonieen  ent- 
stehen sah.  Die  Versuche,  die  ich  in  dieser  Hinsicht  anstellte, 
sind  kurz  folgende: 

I.  Injection  von  Flüssigkeiten  durch  die  freigelegte  Trachea 
mittelst  Pravaz'scher  Spritze: 

1.  Kaninchen.  1  com  normalen  menschlichen  Mundspeichels  injicirt. 
Schräge  Rückenlage,  hochgelagerter  Kopf.  Tödtung  nach  1  Tage.  Befund: 
Lungen  rosaroth,  lufthaltig,  in  linken  unteren  Bronchien  etwas  schaumige 
Flüssigkeit.    Mikroskopisch  nichts  Abnormes. 

2.  Kaninchen.  Dieselbe  Anordnung  des  Versuchs,  derselbe  negative 
Befand. 

3.  Kaninchen.  2  ccm  normalen  menschlichen  Speichels  injicirt.  Schräge 
Rückenlage,  hochgelagerter  Kopf.  Tödtung  nach  26  Stunden.  Befund:  Trachea 
mit  schaumigem  Schleim  bedeckt,  oben  weniger,  an  der  Bifurcation  stärker 
geröthet.  Aus  den  Bronchien  quillt  schaumiger  Schleim  hervor.  Lungen  luft- 
haltig, rosaroth.  Mikroskopisch:  Zahlreiche  kleine  pneumonische  Herde  im 
linken  Ober-  und  Unter-  sowie  im  rechten  Unterlappen.  Kleinzellige  Infiltration 
in  der  Umgebung  der  Bronchien.   Epithel  der  letzteren  theilweise  abgestossen. 

ArohiT  für  klin.  Chirurgie.    Bd.  57.    Heft  1.  |5 


226  Dr.  R,  Hölsoher, 

4.  Kaninchen.  Dieselbe  Versuohsanordnung.  Tödtang  nach  52  Stunden. 
Befund :  Kehlkopf-  und  Trachealschleimhaut  stark  vergrössert  und  mit  Schleim 
bedockt.  Lungen  lufthaltig,  rosaroth.  Keine  Verdichtungen  sieht-  und  fühlbar. 
Mikroskopisch :  Im  rechten  ünterlappen  ein  etwa  10 Alveolen  umfassender  pneu- 
monischer Herd.  Kleinzellige  Infiltration  in  der  Umgebung  der  Tracheal-  und 
Bronchialschleimhaut,  starke  Quell ung  der  Epithelien,  zahlreiche  Schleimtropfen 
in  und  auf  dem  Epithel. 

5.  Kaninchen.  Dieselbe  Versuchsanordnung  wie  bei  3  und  4.  Tödtung 
nach  72  Stunden.  Befund:  An  den  Lungen,  die  zur  mikroskopischen  Unter- 
suchung ganz  eingelegt  wurden,  makroskopisch  nichts  Abnormes.  Mikroskopisch 
finden  sich  im  rechten  und  linken  Unterlappen  zahlreiche  kleine  pneumonische 
Herde,  an  den  kleinen  Bronchien  ausgesprochene  kleinzellige  Infiltration  and 
Abstossung  der  Epithelien. 

6.  Kaninchen.  2  ccm  normalen  menschlichen  Speichels  injicirt.  Schräge 
rechte  Seitenlage,  Kopf  hochgelagert.  Tödtung  nach  2  Tagen.  Befund: 
Beide  Lungen  bis  auf  den  rechten  Ober-  und  die  Wurzel  des  rechten  Mittel- 
lappens rosaroth  und  lufthaltig.  Rechter  Oberlappen  dagegen  fast  völlig  bis 
auf  kleine  weisslichrothe,  emphysematöse  Randpartieen  derb  infiltrirt,  grauroth 
gefärbt ;  auf  der  Oberfläche  der  Lunge  steoknadelkopfgrosse  gelbliche  Höcker, 
die  über  das  Niveau  der  Pleura  hervorragen.  Auf  der  Schnittfläche  ebensolche 
gelblich  graue  Hervorragungen.  Dasselbe,  nur  nicht  so  stark  ausgeprägt,  findet 
sich  im  rechten  Mittellappen.  Mikroskopisch :  Ausgesprochene  katarrhalische 
Pneumonie  in  diesen  Abschnitten. 

7.  Kaninchen.  2  ccm  Speichel.  Kopf  hochgelagert,  Körper  schräg  und 
auf  die  rechte  Seite.  Tödtang  nach  2  Tagen.  Befund:  Im  rechten  Ober*, 
Mittel-  und  Unterlappen  finden  sich  dem  Verlaufe  der  grossen  Bronchien  folgend 
graurothe,  derbe  streifenförmige  Verdichtungen,  die  an  manchen  Stellen  kleine 
gelbliche,  höckerige  subpleurale  Hervorragungen  zeigen.  Linke  Lunge  überall 
lufthaltig  und  rosaroth.  Mikroskopisch:  rechts  ausgesprochene  katarrhalische 
Pneumonie  und  Bronchitis,  links  alles  normal. 

8.  Kaninchen.  Dasselbe  wie  bei  6  und  7.  Tod  nach  8  Standen.  Aatopsie 
erst  16  Stunden  nach  dem  Tode.  Befund:  Rechte  Lunge  in  allen  Lappen 
dunkelblauroth  gefärbt,  sehr  blutreich,  subpleurale  Blutungen.  Linke  Lunge 
kleiner  als  die  rechte,  weissrosa  gefärbt,  lufthaltig.  Unterlappen  massig  em- 
physematös,  nur  in  der  Umgebung  des  Hilus  dunkle  Röthe.  Trachea  und 
Bronchien  dunkelblauroth  verfärbt.  Mikroskopisch:  Im  rechten  Unterlappen 
zahlreiche  Blutungen  in  die  Alveolen;  starke  kleinzellige  Infiltration  in  der 
Umgebung  der  Bronchien,  vereinzelt  sieht  man  in  den  Alveolen  grosse  ge- 
quollene runde  Zellen. 

9.  Kaninchen.  3  ccm  kothige,  von  einem  Ileuskranken  erbrochene 
Flüssigkeit.  Schräglagerung  des  Körpers  auf  der  rechten  Seite,  Kopf  hoch- 
gelagert. Tödtung  nach  3  Tagen.  Befund:  Rechter  Mittellappen  völlig 
pneumonisch  infiltrirt,  stark  vergiössert,  ebenso  die  angrenzenden  Theile  des 
rechten  Unterlappens.  Rechter  Oberlappen  ebenfalls  in  seiner  mittleren  Hälfte 
luftleer  und  derb.    Eitrige  Pleuritis  des  rechten  Mittellappens.    Linke  Lunge 


Experiment.  Unters,  üb.  d.  Entstehung  d.  Erkrankungen  d.  Luftwege  etc.     227 

YoUig   lufthaltig,    rosaroth.      Mikroskopisch:     ausgesprochene   katarrhalische 
Pnefiinonie  der  rechten  Lungenlappen. 

n.  Während  einstündiger  Aethernarkose  wird  in's  Maul  künstlich 
hineingebrachte,  oder  durch  Salivation  hier  entstandene  Flüssigkeit 
durch  mehr  oder  weniger  grosse  Schräglage  des  Körpers  mit  er- 
höhtem Kopfe  zur  Aspiration  gebracht. 

10.  Kaninchen.  Rechte  Seitenlage.  In  Pausen  werden  allmälig  2  ccm 
nonnalen  menschlichen  Speichels  in  das  Maul  gebracht.  TÖdtung  nach  3  Tagen. 
Befund:  Beide  Lungen  gleichmassig  rosaroth,  lufthaltig.  Keine  Infiltrationen. 
Mikroskopisch  nichts  Abnormes. 

11.  Kaninchen,  ebenso  behandelt  wie  10.    Befund  derselbe. 

12.  Kaninchen,  ebenso  behandelt  wie  10  und  11.  Tödtung  nach  2  Tagen. 
B^und :  Langen  beiderseits  lufthaltig,  rosaroth,  beide  Unterlappen  der  Hinter- 
Seite  etwas  hyperämisch,  nirgends  Infiltrate. 

13.  Katze.  Rechte  Seitenlage.  Zuerst  starke  Speichelsecretion,  die 
später  aufhört.  Injection  von  2 ccm  menschlichen  Speichels  in  Pausen.  Tödtung 
nach  3  Tagen.  Befund:  Rechte  Lunge  in  allen  ihren  Lappen  blauroth  ver- 
i«rt>t,  die  verfärbten  Partieen  fühlen  sich  derb  an,  haben  mit  dem  Durchschnitt 
graurothliches  Aussehen.  Die  linke  Lunge  zeigt  nur  in  der  untersten  Spitze 
des  Unterlappens  eine  derartige  Verdichtung,  ist  sonst  überall  lufthaltig  und 
hellrosaroth.  Mikroskopisch:  Starke  katarrhalische  Pneumonie  der  rechten 
Lunge  und  des  linken  Unterlappens. 

14.  Kaninchen.  Rückenlage.  Ziemlich  starke  Salivation.  Tödtung  nach 
1  Tage.  Befund:  Lungen  rosaroth,  lufthaltig,  ma-  und  mikroskopisch  nichts 
Abnormes. 

15.  Hund.  Linke  Seitenlage.  Massige  Salivation.  1  ^/s  stündige  Narkose. 
Tödtung  nach  4  Tagen.  Befund:  Rechte  Lunge  überall  lufthaltig,  grauroth. 
Bronchien  ohne  Inhalt.  Linke  Lunge:  Mittellappen  völlig  verdichtet,  derb, 
dunkelblauroth,  vergrössert,  auf  dem  Durchschnitt  heben  sich  gi*aurothe  Herde 
von  der  hyperamischen  Umgebung  ab.  Ein  solcher  Herd  ist  in  einen  etwa 
erbsengrossen  Abscess  umgewandelt.  Der  linke  Unterlappen  ist  grösstentheils 
lufthaltig,  in  seiner  Substanz  fühlt  man  3  derbe,  linsen-  bis  erbsengrosse  Ver- 
dichtungen, die  sich  auf  dem  Durchschnitt  als  ebensolche  Herde  erweisen. 
Mikroskopisch:  Katarrhalische  Pneumonie. 

16.  Katze.  Rechte  Seitenlage.  Starke  Salivation.  Tödtung  nach 
5  Tagen.   Befand:  Ma-  und  Mikroskopisch  nichts  Abnormes. 

17.  Katze.  Linke  Seitenlage.  Massige  Salivation.  Tödtung  nach  3  Tagen. 
Befand:  Lungen  lufthaltig,  rosaroth,  nur  am  linken  Unterlappen  ist  der  untere 
Rand  derb  infiltrirt,  blauroth  verfärbt;  in  der  Substanz  des  linken  Unterlappens 
fühlt  man  zahlreiche  etwa  hanfkorn-  bis  linsengrosse  Verdichtungen,  die  sich 
sehr  derb  anfahlen  und  auf  dem  Durchschnitt  sich  als  graurothe  Knoten  er- 
weisen; wo  sie  die  Pleura  erreichen,  ragen  sie  über  das  Niveau  derselben 
hervor«  Der  Rand  des  linken  Mittellappens  ist  ebenfalls  etwas  verdichtet. 
Makroskopisch :  Pneumonie.    Sonst  die  ganze  Lunge  gesund. 

15* 


228  Dr.  R.  Hölscher, 

18.  Kaninchen.  Rückenlage.  In's  Maul  werden  2  com  von  der  kothigen 
erbrochenen  Masse  eines  lleuskranken  während  der  Narkose  allmälig  gebracht. 
Tödtung  1  Tag  später.  Befund:  Lunge  hellroth,  lufthaltig,  nichts  Abnormes 
mikroskopisch  nachweisbar. 

19.  Kaninchen.  Rechte  Seitenlage.  2  ccm  kothigen  Mageninhalts  eines 
anderen  lleuskranken  (als  Fall  18)  werden  während  der  Narkose  allmälig  im 
Maule  vertheilt.  Tödtung  nach  3  Tagen.  Befund:  Die  linke  Lunge  in  allen 
ihren  Lappen  hellroth  und  lufthaltig;  die  rechte  zeigt  in  ihren  oberen  und 
mittleren  Lappen  völlige  pneumonische  Verdichtung^  im  Unterlappen  nur  linsen- 
bis  erbsengrosse  Herde.    Mikroskopisch:   Katarrhalische  Pneumonie, 

Dass  zunächst  in  allen  Fällen,  wo  eine  Lungenaflfection  auf- 
trat, diese  ohne  Zweifel  auf  die  Einwirkung  des  aspirirten  Mund- 
inhalts zurückzuführen  ist,  darüber  lässt  wohl  die  Thatsache  keinen 
Zweifel  entstehn,  dass  in  den  Fällen,  in  welchen  den  Thieren  eine 
Seitenlagerung  des  Körpers  gegeben  worden  war,  immer  nur  die 
Lungenlappen  der  Körperhälfte  erkrankten,  mit  welcher  die  Thiere 
dem  Brette  auflagen  (vergl.  Versuch  6 — 9,  13,  15,  17,  19).  Nach 
den  von  Sehrwald  festgestellten  Regeln  über  die  Flüssigkeitsver- 
theilung  in  den  Lungen  rausste  der  aspirirte  Mundinhalt,  wenn  nicht 
ausschliesslich,  so  doch  hauptsächlich,  in  die  Lungentheile  einge- 
drungen sein,  welche  sich  bei  der  Autopsie  als  erkrankt  heraus- 
stellten. 

Während  aber  die  intratracheale  Injection  der  erwähnten  Flüssig- 
keit nur  in  2  Fällen  nicht  von  dem  erwarteten  Erfolge  begleitet 
war,  sehen  wir  in  der  zweiten  Versuchsreihe  eine  viel  grössere 
Anzahl  von  Misserfolgen.  Das  erklärt  sich  daraus,  dass  offenbar 
die  Menge  der  in  die  Lungen  hineingerathenden  iufectiösen  Flüssig- 
keit eine  grosse  Rolle  bei  der  Entstehung  der  Lungenaffectionen 
spielt.  Während  bei  der  trachealen  Injection  die  Gesammtmenge 
der  Flüssigkeit  in  die  Bronchien  hineingelangt,  bleibt  der  künstlich 
in  den  Mund  hineingebrachte  oder  dort  von  selbst  durch  Secretion 
der  Speichel-  und  Schleimdrüsen  befindliche  Mundinhalt  zum  Theil 
an  den  Wandungen  der  Mund-  und  Rachenhöhle  hängen,  fliesst 
theil  weise  in  den  Oesophagus  hinein,  und  nur  der  Rest  gelangt  in 
die  Luftwege,  um  hier  bei  genügender  Menge  Lungenaffectionen  hervor- 
zurufen. Mit  Recht  betont  Frey  nach  den  Erfahrungen,  die  er  an 
seinen  Versuchen  über  Aspirationspneumonie  machte,  dass  ^das 
continuirliche,    oder,    richtiger    gesagt,    öfters    wiederholte 


Experiment.  Unters,  üb.  d.  Entstehung  d.  Erkrankungen  d.  Luftwege  etc.     229 

Hineindringen  von  Mandflüssigkeit  schliesslich  die  Entzündung  be- 
dingt." Für  die  Entstehung  der  Lungenaffection  kommen  aber 
neben  der  Menge  des  hineingedrungenen  Mundinhalts  jedenfalls  auch 
noch  andre  Momente  in  Betracht;  weshalb  sollte  sonst  bei  im 
übrigen  völlig  gleichen  Verhältnissen  dieselbe  Schädlichkeit  das  eine 
Thier  verschont  lassen,  während  sie  bei  dem  anderen  ausgesprochene 
Pneumonie  erzeugt,  wie  die  Vergleiche  zwischen  Versuch  16  und 
17,  18  und  19  lehren?  Es  spielen  hier  eben  dieselben  Verhältnisse 
mit,  über  die  wir,  mögen  wir  sie  individuelle  Disposition  oder  durch 
irgend  welche  Umstände  bedingte  geringere  Widerstandskraft  nennen, 
auch  jetzt  noch  völlig  im  Unklaren  sind,  die  wir  aber  bei  der  Ent- 
stehung der  Aspirationspneumonie  ebenso  wie  bei  jeder  Infections- 
krankheit  in  Erwägung  ziehen  müssen.  In  diesen  Thatsachen  liegt 
meines  Erachtens  auch  der  Grund,  weshalb  nach  der  Aethemarkose 
nicht  noch  bedeutend  mehr  Bronchitiden  und  Pneumonieen  be- 
obachtet werden,  als  es  wirklich  geschieht.  Wie  Nauwerck 
hervorhebt,  wird  in  den  meisten  Berichten  über  die  Aethemarkose 
das  Schleimrasseln  in  Trachea  und  Schlund  als  etwas  ganz  Selbst- 
verständliches angenommen,  manchen  Autoren,  wie  Kr  ecke,  ist 
„das  laute  Rasseln  des  Narkotisirten  geradezu  eine  Beruhigung." 
Es  ist  daher  Grossmann  als  Verdienst  anzurechnen,  wenn  er 
darauf  hingewiesen  hat,  dass  dieses  Tracheairasseln  durchaus  nicht 
als  etwas  Nothwendiges  zu  der  Aethemarkose  zugehört,  dass  das- 
selbe vielmehr  ein  Zeichen  beginnender  oder  bereits  stattgehabter 
Aspiration  von  Mundinhalt  darstellt,  und  bei  richtiger  Technik  sehr 
gut  zu  vermeiden  ist.  Diese  Angabe  haben  wir,  wie  bereits  er- 
wähnt, bei  unseren  Aethernarkosen  im  Wesentlichen  vollauf  be- 
stätigt gefunden.  Allerdings  ist  die  Technik  der  Aethemarkose 
eine  äusserst  schwierige,  viel  schwieriger  als  die  der  Chloroform- 
narkose; und  wenn  für  letztere  der  Satz  gilt,  dass  der  Leiter  der 
Narkose  sich  nur  mit  dieser  beschäftigen  soll,  seine  Aufmerksam- 
keit in  keiner  Weise  durch  die  Operation  ablenken  lassen  darf,  so 
gilt  dies  in  noch  höherem  Grade  von  der  Aethemarkose.  Wird 
aber  erst  die  Thatsache  allgemein  anerkannt  werden,  dass  die  Mehr- 
zahl der  nach  Aether  entstehenden  Luftaflfectionen  auf  eine  As- 
piration des  infectiösen  Mundinhalts  zurückzuführen  ist,  dass  diese 
letztere   jedoch  durch  geeignete  Maassnahmen  sehr  wohl  verhütet 


230  Dr.  R.  Hölscher, 

werden  kann,  dann  wird  die  bis  jetzt  noch  bestehende  Furcht  vor 
der  „Aetherbronchitis  und  -pneumonie"  ihre  Schrecken  veriieren, 
dann  werden  die  Worte  RiedeTs:  „Stände  nicht  die  Bronchitis 
hinter  dem  Aether,  so  würde  ich  ihn  für  ein  ideales  Anaestheticum 
halten"  ohne  diese  Einschränkung  Geltung  haben  können,  und  die 
Anwendung  der  Aethernarkose  nur  bei  solchen  Operationen  als 
contraindicirt  erscheinen,  bei  welchen  durch  besondere,  in  der  Art 
der  Operation  liegende  Verhältnisse  bedingt,  ein  ungehinderter  Ab- 
fluss  des  gebildeten  Mundinhalts  unmöglich  ist,  oder  bei  welchen 
die  Gefahr  einer  Entzündung  der  Aetherdämpfe  nahe  üegt. 

Die  Schlüsse,  welche  ich  aus  meinen  Versuchen  und  den  daraa 
geknüpften  Erörterungen  zu  ziehen  mich  berechtigt  halte,  sind  in 
kurzer  Zusammenfassung  folgende: 

1.  Ausser  einer  geringfügigen  vermehrten  Schleim- 
absonderung üben  die  Aetherdämpfe  keinerlei  Reizwir- 
kung auf  die  Tracheo-Bronchialschleimhaut  aus. 

2.  Das  bei  der  Aethernarkose  vorkommende  Tracheal- 
rasseln  beruht  immer  auf  Aspiration  von  Mundinhalt, 
und  ist  bei  richtiger  Technik  (Sorge  für  guten  Abfluss 
des  secernirten  Mundinhalts  durch  Tieflagerung  und 
Seitwärtsdrehung  des  Kopfes  und  Lüftung  des  Mund- 
winkels, Sorge  für  andauernd  freie  Athmung  durch  Vor- 
ziehen des  Unterkiefers)  wohl  zu  vermeiden. 

3.  Die  nach  der  Aethernarkose  vorkommenden  Affec- 
tionen  der  Luftwege  sind  meist  die  Folgen  einer  solchen 
Aspiration  des  infectiösen  Mundinhalts. 

4.  Die  Flimmerung  des  Tracheal-  und  Bronchial- 
opithels  ist  während  der  Narkose  nicht  gestört. 

5.  Der  Speichelfluss  beruht  bei  der  Aethernarkose 
wenn  auch  zum  grössten  Theil,  so  doch  nicht  allein  auf 
einer  localen  Reizwirkung  der  Aetherdämpfe,  vielmehr 
spielen  hierbei  auch  centrale  Einflüsse  eine  Rolle. 


Experiment.  Unters,  üb.  d.  Entstehang  d.  Erkrankungen  d.  Luftwege  etc.     231 


Llteratnr. 

Garrd,  Die  Aetbemarkose.   Tübingen  1893.  —  Körte,  Zum  Vergleiche 
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Bemerkungen  zur  Narkosenstatistik.  Deutsche  med.  Wochenschr.  1894.  No.  37. 

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Archiv  für  klin.  Medicin.  39.  Bd.  —  Perrin  et  Lallemand,  Trait^  d'an^s- 
thösie.  Paris  1863.  —  Lallemand,  Perrin  et  Duroy,  Du  Röle  de  Palcool 
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Schleimbildung  und  Behandlung  der  Schleimhautkrankheitcn  in  den  Luftwegen. 
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wissenschaft. Leipzig  1868.- —  Derselbe,  Physiologie  der  Protoplasma-  und 
Fb'mmerbewegung.     Hermann's  Handbuch  der  Physiologie.     1879.     1.  Theil. 

—  Franken  haus  er,  Untersuchungen  über  den  Bau  der  Traoheo-Bronchial- 
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Leipzig  1891.  —  Löwit,  Ueber  die  Entstehung  des  Lungenoedems.  Ziegler's 
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Virchow's  Archiv.  Bd.  44.  S.  95.  —  Pietrzikowski,  Ueber  die  Beziehung 
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X.  1889.  —  Rosenthal,  Ueber  Erkältungen.  Berl.  klin.  Wochenschr.  1872. 
No.  38.  —  Dürk,  Studien  über  Aetiologie  und  Histologie  der  Pneumonie. 
Deutsches  Archiv  f.  klin.  Med.    58  Bd.    4.  u.  5.  Hft.  —  Comte,  De  Temploi 


232  Dr.  R.  Hol  scher,  Experimentelle  Untersuchangen  etc. 

de  r^ther  sulfarique  a  la  clinique  chirurgicale  de  Gen^ve.  Dissert.  1882.  — 
Traube,  Gesammelte  Beiträge  zur  Pathologie  und  Physiologie.  Berlin  1871. 
Bd.  1.  —  Perl  und  Lipmann,  Experimenteller  Beitrag  zur  Lehre  von  der 
Lungenblutung.  Virchow's  Archiv.  Bd.  51.  S.  552. — Sommerbrodt,  Hat 
das  in  die  Luftwege  ergossene  Blut  ätiologische  Bedeutung  für  die  Lungen- 
schwindsucht. Virchow's  Archiv.  Bd.  55.  S.  166.  —  Hohenhausen,  Ein 
experimenteller  Beitrag  zur  Aetiologie  der  septischen  Pneumonie.  Deutsche 
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Untersuchungen  über  die  Wirkung  inhalirter  Substanzen.  Yirchow's  Archiv. 
73.  Bd.  —  Corning,  Ueber  miliare  katarrhalische  Inhalationspneumonieen. 
2  Arbeiten  aus  dem  pathol.  anat.  Institut  zu  Würzburg.  Wiesbaden  1878.  — 
Frey,  Die  patholog.  Lungenveränderungen  nach  Lähmung  der  Nervi  vagi. 
Leipzig  1877.  —  Kr  ecke,  Beitrag  zur  Narkotisirungsfrage.  Hünch.  med. 
Wochenschr.    1894.    No.  39,  40,  41. 


VIII. 

Characteristischer  Meteorismus  bei  Volvulus 

des  8  romanum. 

Von 

Professer  Dr.  Carl  Hayer 

in  Prsg. 

(Mit  4  Figuren.) 


Bei  genauer  Berücksichtigung  der  Form  eines  meteoristisch 
geblähten  Unterleibes  ist  es  im  Allgemeinen  nicht  schwer,  den  Sitz 
eines  bestehenden  Hindernisses  für  die  Fortbewegung  des  Darm- 
inhalts beiläufig  zu  bestimmen,  solange  der  Darm  noch  nicht  voll- 
ständig paralytisch  geworden.  Gewisse  Meteorismus-Formen  sind 
ja  bekanntlich  ganz  characteristisch  nnd  als  diagnostische  Sym- 
ptome ganz  verlässlich.  Das  aufgetriebene  Epigastrium  bei  sonst 
eingesunkenem  Unterleibc  spricht  für  ein  Hinderniss  hoch  oben 
im  Dünndarme;  die  über  den  ganzen  Unterleib  ausgedehnte  Auf- 
blähung, besonders  ausgesprochen  als  starke  Ausdehnung  der 
Weichen,  deutet  auf  eine  Absperrung  des  Dickdarms  hin;  eine 
halbkugelige  Prominenz  um  den  Nabel  herum,  gleichmässig  nach 
aUen  Seiten  abfallend,  bei  eingesunkenen  Flanken,  bekundet  den 
Sitz  einer  Unwegsamkeit  im  unteren  Ileum  resp.  im  Coecuni. 
Namentlich  ist  diese  letztgenannte  Form  des  „Dünndarm-Meteorismus 
Kat'exochen"  in  ihrer  Aehnlichkeit  mit  der  ad  maximum  ausge- 
dehnten Harnblase  (Besnier)^)  geläufig.  Entsprechende  Com- 
binationen  ergeben  ceteris  paribus  auch  complicirtere  Schlüsse, 
namentlich,  wenn  auch  unbedeutend  scheinende  Momente,  wie 
circumscripte  kleine    Formveränderungen,    an-  und    abschwellende 


I)  Cf.  Uhde,  Chirurgische  Behandlung  innerer  Einklemmungen. 


234  Dr.  C.  Bayer, 

Prominenzen  im  Sinne  v.  Wahl's  „circumsciipten  Meteorismus" 
berücksichtigt  werden.  Ist  die  Darmbewegung  noch  nicht  erlahmt, 
so  leitet  das  plötzliche  Stocken  der  pathologisch  erhöhten  oder 
künstlich  durch  Reiben  erzeugten  Peristaltik  und  das  sich  Auf- 
bäumen des  unijittelbar  vor  der  Stenose  gelegenen  Dannabschnittes 
auf  den  Sitz  der  Verengerung.  Unter  Umständen  erleichtert  auch 
die  Harnuntersuchung  (Indican),  Sondeneinführung,  Infusion  etc. 
die  Diagnose.  — 

Viel  schwieriger  ist  es,  aus  der  Form  des  Meteorismus  das 
Quäle  des  Hindernisses  zu  bestimmen.  Am  leichtesten  sind  noch 
die  characteristischen  Wülste  der  Intussusception  zu  erkennen, 
namentlich  wenn  sie  weiter  wandernd  zugleich  sich  verlängern. 

Mit  Zuhülfenahme  der  Anamnese  wird  es  mitunter  auch  ge- 
lingen zwischen  einer  Narbe,  einem  eingekeilten  Fremdkörper  oder 
Gallenstein  und  einem  stenosirenden  Tumor  bei  einer  tastbaren 
circumscripten  Härte  zu  unterscheiden,  wenn  auch  bei  genauer  Be- 
rücksichtigung aller  Momente  Irrungen  mannigfacher  Art  möglich 
sind.  So  fand  ich  bei  der  Operation  einer  localisirbaren  Stenose 
und  tastbaren  umschriebenen  Härte  bei  bestehendem  Dünndarm- 
meteorismus mit  Ileus  einer  65  jährigen  marantischen  Frau  einen 
kastaniengrossen  Gallenstein,  der  sieh  vor  der  Bauhini 'sehen 
Klappe  festgekeilt  hatte;  laut  Anamnese,  welche  für  die  Annahme 
einer  Gholelithiasis  keine  characteristischen  Daten  ergab,  laut  Status 
und  Krankheitsverlaui  hatte  ich  Carcinom  angenommen^).  In  einem 
andern  Falle,  einen  35  Jahre  alten  Tapezirer  betreifend,  kennte 
ich  dagegen  in  Würdigung  der  seit  einigen  Monaten  öfter  wieder- 
kehrenden,   in  den    letzten  14  Tagen    rasch  zunehmenden  Stenose 


1)  Der  noch  nicht  veröffentlichte  Fall  möge  hier  kurz  mitgetheilt  werden : 
Eine  65  Jahre  alte  Frau  litt  angeblich  vorher  nur  ab  und  zu  an  Coprostase; 
vor  12  Tagen  Erbrechen  nach  einem  Diätfehler  (Wurst  gegessen  und  viel  Wasser 
darauf  getrunken);  zugleich  Stuhlverstopfung.  Nach  einem  Abführmittel  und 
nach  Irrigationen  ging  noch  etwas  Koth  ab,  nachher  vollständige  Darmocclusion. 
Seit  S  Tagen  Ileus.  Nach  der  Operation  giebt  die  Frau  aut  eindringliches  Befragen 
zu,  dass  sie  häufig  auch  an  ,, Magenkrämpfen^  gelitten  und  vor  einem  Jahre 
eine  Blinddarmentzündung  (?)  überstanden  habe.  Bei  der  Operation  (20.  Sep- 
tember 1896)  fanden  sich  ausser  dem  oben  erwähnten  Befund  zahlreiche  narbige 
Darmadhäsionen  und  zwar  am  Coecum,  an  der  Flexura  coli  lienalis  und  zwischen 
eiozelnen  Dünndarmschlingen  —  vielleicht  Folgen  früher  schon  abgegangener 
Gallensteine.  —  Entfernung  des  Gallensteins  durch  Einschnitt;  Darmnaht. 
Coecalwärts  sah  man  im  Inneren  des  letzten  II  cum  derbe  Narben  an  der  Schleim- 
haut. Tod  in  der  Nacht  nach  der  Opesation,  nachdem  viele  Stühle  abgegangen 
waren.    Perforation?    Die  Section  wurde  nicht  gemacht 


Cliaracteristischer  Meteorismas  bei  Volvulus  des  S  romanum.        235 

and  des  rapiden  Eräfteverfalls,  im  Zusammenhang  mit  dem  Nach- 
weis eines  sich  stetig  steigernden  partiellen  Dänndarmmeteorismus 
die  Diagnose  „Tumor  intestini  tennis'^  durch  die  Laparotomie  veri- 
ficiren,  obschon  eine  Geschwulst  nicht  zu  tasten  war^).  In  einem 
dritten  Falle  war  die  Diagnose  einer  narbigen  Verengerung  des 
Coecams  sowohl  aus  dem  localen  Befund  als  auch  aus  der 
Anamnese  mit  Sicherheit  auzunehmen^).  Bei  tastbarem,  höckerigem 
Tumor  ist  die  Diagnose:  Coecum-Carcinom  nicht  schwer;  es  ist 
aber  auch  hier  oft  schon  Tuberculose  statt  des  supponirten  Tumors 
bei  der  Operation  gefunden  worden;  dasselbe  gilt  von  hohen  Sigma- 
Carcinom,  wenn  auch  gerade  hier  eine  Verwechslung  mit  chronischer 
Colitis,  wobei  die  tastbare  Darmwandverdickung  mit  Krypten  und 
Kothpröpfen  einen  Tumor  nicht  selten  vortäuscht,  möglich  ist.  In 
solchen  zweifelhaften  Fällen  kann  nur  eine  längere  Beobachtung 
des  Kranken  Klarheit  bringen.  Nur  dann,  wenn  ein  Carcinom  der 
unteren  Partien  der  S-schlinge,  vom  Rectum  aus  sowohl  als  von 
oben  durch  die  Bauchdecken  dem  Tastsinne  unerreichbar  vorliegt, 
ergeben  sich  gewisse  Schwierigkeiten;  doch  wird  hier  die  Sonden- 
untersuchung Aufschluss  geben. 

Auf  ein  Moment  erlaube  ich  mir,  hier  speciell  aufmerksam 
zu  machen ,  •  das  mir  im  Allgemeinen  nicht  genügend  gewürdigt  zu 
werden  scheint;  es  ist  dies  das  regelmässige  Vorkommen  der 
grössten  Spannung  und  Wölbung  der  Coecalgegend  bei 
sonst  deutlichem  Dickdarmmeteorismus  in  Fällen,  wo  erst  tief 
im  Rectum  das  Hinderniss  steckt.  Ich  fand  dieses  Symptom 
bei  einer  narbigen  Rectumstenose  eines  Säuglings,  bei  dem  es  sich 
um  einen  mächtigen  Tumor  des  Coecums  und  Colon  ascendens 
gehandelt  hat,  welcher  einer  Nierengeschwulst  täuschend  ähnlich 
sah,  doch  bei  genauerer  Untersuchung  —  Eindrückbarkeit,  Luft- 
blasenknittem,  Volumsänderung  —  schliesslich  mit  Sicherheit  als 
Kothtamor  erkannt  werden  konnte.  Ich  sah  ferner  dieses  selbe 
Symptom  erst  vor  Kurzem  in  einem  Falle  von  Darmimpermeabilität, 
welche   durch   ein   tiefsitzendes  Sigmacarcmom    bedingt   war   und 


0  Der  Fall  ist  mitgethoilt  im  Anhang  zum  Jahresberichte  des  Spitales 
der  Barmherzigen  Brüder  in  Prag  1898.  Der  Tumor  sass  so  ziemlich  am 
Üebergukge  des  Jcgunnm  iss  Denm  und  erwies  sich  histologisch  als  Adeno- 
Cardnom  (Chiari).    Besection.    Circuläre  Darmnahi    Heilung. 

^  Gf.  „Zur  Laparotomie  bei  Ileus  im  Ein  desalter  ^.  Prager  medicinisehe 
Wochenschrift.    1893.    No.  U  und  85. 


236 


Dr.  C.  Bayer, 


früher  schon  einmal  in  einem  gleichen  Falle,  wo  es  aber  in  Folge 
dieser  maximalen  Blähung  sogar  zu  Gangrän  des  Coecums  ge- 
kommen war,  obwohl  die  Darmabsperrung  weit  weg  davon  im 
SRomanum  ihren  Sitz  hatte.  Die  Erklärung  dieser  Erscheinung 
ergiebt  sich  aus  der  Rückstauung  des  Darminhalts  durch  den  gleich- 
massig  erweiterten  Dickdarm  bis  zur  nächsten  Üebergangsstelle  in's 
engere  Lumen  und  dies  ist  eben  die  Einmündung  des  Dünndarms 
in's  Coecum.     Zur  Veranschaulichung   des  Gesagten    diene  Fig.  1. 


Fig.  1. 


Sie  giebt  das  Bild  wieder,  wie  man  es  nach  Eröffnung  der  Bauch- 
höhle bei  impermeablen  Sigmacarcinomen  in  der  Regel  vorfindet; 
interessant  sind  auch  die  Abknickungen  des  Colon  an  seinen  üm- 
biegungsstellen  (Flexura  hepatica  und  lienalis)  und  die  bei  einem 
gewissen  Grade  der  Spannung  regelmässig  vor  diesen  Knickungen 
wahrzunehmende  blindsackartige  Auftreibung  des  Colon,  die  sich 
auch  aussen  am  Unterleibe  deutlich  als  Wellenberg-  und  thal 
markirt  (a — a).  Ich  füge  hier  die  Abbildung  an,  weil  mir  die  Ver- 
gegenwärtigung der  Verhältnisse  zum  Vergleich  mit  dem  für  Vol- 
vulus  characteristischcn  Bilde  von  Wichtigkeit  zu  sein  scheint. 


Characteristischer  Meteorismus  bei  Volvulus  des  S  romanum.        237 

Verwechselungen  der  soeben  kurz  berücksichtigten,  häufigsten 
Ursachen  der  Darm-Impermeabilitat  (Narben,  Stränge,  Geschwülste, 
Fremdkörper,  Koth-Gallensteine)  mit  inneren  Hernien  werden  kaum 
leicht  unterlaufen,  schon  mit  Rücksicht  auf  die  characteristische 
Form  der  letzteren,  abgesehen  von  dem  wesentlich  abweichenden 
klinischen  Bilde. 

Es  giebt  aber  noch  eine  Absperrungsart  des  Darmes,  deren 
Diagnose  Schwierigkeiten  bereiten  kann;  ich  meine  den  Volvulus. 
Gerade  hier  können  am  leichtesten  Täuschung  en  vorkommen  wegen 
der  Umlegung  des  gedrehten  Darmabschnitts  in  Folge  seiner  Blähung 
von  der  einen  Seite  auf  die  andere;  und  leichter  ist  schon  die 
Deutung,  wenn  einmal  der  gedrehte  Darmabschnitt  als  „Geschwulst" 
tastbar  geworden  ist,  wenn  auch  dann  viele  Täuschungen  möglich 
sind.  Solange  keine  deutliche  Volvulus-Geschwulst  vorliegt,  wird 
die  Diagnose  in  den  meisten  Fällen  unmöglich  sein  oder  höchstens 
per  exclusionem  mit  Rücksicht  auf  die  Anamnese:  „Rasche  Körper- 
bewegung —  plötzlicher  Schmerz;"  „Angestrengter  Stuhlgang  — 
heftiger  Golikanfall"  Vermuthung  bleiben,  bis  weitere  Beob- 
achtung mit  Laparotomie  oder  Obduction  Aufklärung  schaffen  wird. 
Selbst  der  erfahrene  Uhde  weiss  über  den  localen  Befund  bei 
Volvulus  nicht  mehr  zu  sagen  als  folgt:  „Bauch  gering,  oder  er- 
heblich, und  zwar  gleichmässig  aufgetrieben,  besonders  aber  in  der 
rechten  oder  linken  Fossa  iliaca;  bei  Druck  beträchtliche  Schmerz- 
haftigkeit  oder  kein  Schmerz,  zuweilen  Kollera  in  den  Gedärmen 
wahrnehmbar.  —  Sitz  meistens  im  Dickdarme.  Geschwulst:  keine, 
oder  eine  nicht  gehörig  umgrenzte,  von  der  Schambeinverbindung 
nach  dem  Nabel  und  dem  vorderen  Darmbeinstachel  hin  sich  er- 
streckende, bei  einem  Kranken."     (1.  c.  pag.  30.)  — 

Es  ist  somit  im  Beginne  dieses  Leidens  die  Diagnose  mit 
Sicherheit  kaum  zu  stellen,  im  vorgeschrittenen  Stadium  durch  den 
alles  verdeckenden  allgemeinen  Meteorismus  unmöglich.  Nachdem 
nun  die  Mehrzahl  der  Fälle  von  sogenanntem  „innerem  Darm- 
verschluss"  zu  spät  oder  mindestens  immer  im  vorgerückten 
Stadium  demjenigen  vorgeführt  zu  werden  pflegen,  der  eben  handelnd 
helfen  soll,  so  müsste  eigentlich  der  Chirurg  an  der  Möglichkeit 
verzweifeln,  je  einmal  die  Diagnose  „Volvulus"  stellen  zu  können. 
Und  doch  ist  die  Diagnose  wiederholt  schon  vor  der  Operation 
gestellt  worden  und  —  glaube  ich  —  hätte  auch  ich  dies  können, 


238  Dr.  C.  Bayer, 

wenn  ich  in  dem  eben  mitzutheilenden  Falle  alle  vorhandenen 
localen  Erscheinungen  richtig  taxirt  hätte,  ganz  abgesehen  von  der 
Beihilfe  der  Anamnese. 

Wohl  nahm  ich  zufolge  der  Form  des  Meteorismus  an,  es 
müsse  sich  um  ein  Hindemiss  unterhalb  des  SRomanum  handeln; 
die  wahre  Natur  aber  dieses  Hindernisses  zeigte  mir  erst  der  ge- 
öffnete Unterleib,  und  dabei  sagte  mir  die  Congruenz  der  Form 
des  blossgelegten  Darmes  mit  den  Umrissen  des  Meteorismus,  wie 
er  am  uneröflftieten  Unterleibe  constatirt  worden  war,  dass  eine 
präcisere  Deutung  —  und  nur  eine  Deutung  möglich  war. 

Eben  dieser  Umstand  veranlasst  mich,  auf  die  wahrgenommenen 
Einzelheiten  bis  in's  kleinste  Detail  einzugehen,  weil  ich  glaube, 
dass  ihnen  ein  gewisser  differenzial-diagnostischer  Werth  zukommt; 
und  oft  schon  ist  es  auch  in  der  Chirurgie  so  gewesen,  dass  ein- 
mal Gesehenes  leicht  und  gleich  nachher  wieder  gesehen  worden 
ist;  der  letzte  Satz  möge  daher  die  etwas  langathmige  Einleitung 
zur  eigentlichen  Sache  entschuldigen. 

Am  13.  December  v.  J.  hatte  ich  den  Zustand  eines  50  J. 
alten  Mannes  zu  beurtheilen,  der  am  Abend  zuvor  in's  Spital  der 
Barmherzigen  Brüder  aufgenommen  war.  Laut  Anamnese  litt  der 
Kranke  in  den  letzten  Jahren  wiederholt  an  vollständiger  Undurch- 
gängigkeit  des  Darmes,  welche  sich  jedoch  binnen  wenigen  Tagen 
immer  spontan  löste.  Fünf  Tage  vor  der  Spitalsaufnahme  trat 
nach  einem  Stuhlgang  unter  heftigen  Schmerzen  derselbe  Zustand 
wieder  ein  und  hielt  unter  zunehmender  Aufblähung  des  Unter- 
leibes an. 

Ich  übergehe  die  Schilderung  der  bei  totaler  Darmimpermea- 
bilität  geläufigen  Allgemeinerscheinungen,  welche  auch  hier  alle 
vorhanden  waren,  will  nur  hervorheben,  dass  der  Kranke  ganz  das 
Bild  einer  inneren  Incarceration  darbot. 

Eine  ganz  eigenthümliche  Form  zeigte  der  enorme  Meteorismus, 
so  dass  er  schon  auf  den  ersten  Blick  von  den  Erinnerungsbildern 
jener,  die  ich  bislang  gesehen  hatte,  wesentlich  abwich.  Der 
Bauch  des  Kranken  schien  in  seiner  oberen  Hälfte  nach 
links,  in  der  unteren  nach  rechts  verschoben.  Der  Ge- 
sammteindruck  war  der  eines  S-förmigen  Wulstes.  (Fig.  2  a.)  ver- 
anschaulicht den  äusseren  Aspect. 

£s  war  klar,   dass   die   Form   des   Meteorismus   einzig   und 


r 


Characteristischer  Meteorismas  bei  Yolvulns  des  S  romanum.       239 

allein  auf  ein  Hinderniss  unterhalb  des  S-Romanum  hindeutete; 
daffir  sprach  schon  der  ausgesprochene  „Dickdann-Meteorismus", 
dessen  epigastrischer  Querwulst  mit  Bestimmtheit  als  -Colon  trans- 
yersam  zu  deuten  war.  unklar  war  mir  nur  der  schräg  von 
links  oben  nach  rechts  unten  verlaufende,  im  rechten 
Hypogastrium  nach  links  wieder  umbiegende  Schräg- 
wulst, der  rechts  unten  in  der  Coecalgegend  zum  Platzen  gespannt 
und  halbkugelrund,  «wie  ein  gebogenes  Knie  abzutasten  war, 
und     der    sattelförmige    Einbug    links    an    der    Grenze 

■Fig.  2  a. 


zwischen  Epi-  und  Hypogastrium,  wo  bei  ausgesprochenem 
Dickdarmmeteorismus  sonst  die  grösste  Vorwölbung  vorzukommen 
pflegt,  ganz  conform  der  gleichen  Vorwölbung  der  entgegengesetzten 
Bauchgegend.  Es  war  also  die  Asymmetrie  und  die  schräge 
Gesammtform  des  Meteorismus  das  Abweichende  von  dem  ge- 
wöhnlichen Typus  ^). 


1)  Als  cbaracteristisch  für  die  Torsio  flexurae  sigm.  wird  die  „viereckige 
Form  des  aufgetriebenen  Unterleibes^  für  gewöhnlich  angenommen ,  so  z.  B. 
auch  Yon  Obalinski  (Langenbeck's  Archiv  f.  klin.  Chirurgie,  Bd.  38,  Heft  2); 
dieses  Symptom  allein  scheint  mir  nicht  zureichend  genug  zu  sein. 


240 


Dr.  C.  Bayer, 


Ich  deutete  diesen  Befund  dahin,  dass  der  untere  Theil  des 
Colon  descendens  mit  denoi  Anfangstheil  des  S-Romanum,  oder 
dieses  letztere  allein  infolge  des  absoluten  Hindernisses  und  der 
maximalen  Darmblähung  aus  dem  retroabdominalen  Raum  hervor- 
getreten und  über  den  Dünndarm  nach  rechts  hinüber  sich  um- 
gelegt hätte. 

Nach  Eröffnung  des  Unterleibes,  welche  sofort  vorgenommen 
wurde,  sah  ich,  dass  der  innere  Befund  an  den  äusseren  Um- 
rissen des  Meteorismus  viel  genauer  hätte  abgelesen  werden  können, 

Fig.  2  b. 


als  es  mir  möglich  geschienen.  Fig.  2  b  sagt  alles  und  man  muss, 
die  Skizze  des  Meteorismus  und  das  Bild  des  inneren  Befundes 
nebeneinander  betrachtend,  sagen,  dass  das  letztere  in  der  ersteren 
förmlich  hindurchschimmert. 

Es  wäre  somit  im  Wiederholungsfalle  dieser  characteristischen 
Metcorismusform  —  einen  ähnlichen  Zustand  der  Bauchdecken- 
und  Darmspannung  vorausgesetzt  —  die  praecise  Diagnose: 
„Volvulus  des  S-Romanum"  möglich. 

In  unserem  Falle  war  die  S-Schlinge  zweimal  links  gedreht 
(verkehrter  Uhrzeiger);  nach  Herausholung  des  oberen  Poles  unter 


Characteristischer  Meteorismus  bei  Volvulus  des  S  romanum.        241 

dem  linken  Rippenbogen  dt-ehte  sie  sich  spontan  einmal  rechts 
um;  eine  zweite  Rechtsdrehung  vollendete  die  Detorsion.  Ob  aus 
einer  Rechtsdrehung  mit  Nothwendigkeit  eine  Umkehr  der  Obliquität 
des  Meteorismus  —  ein  schräger  Wulst  von  rechts  oben  nach  links 
unten  —  resultircn  würde,  bin  ich  ausser  Stande  zu  entscheiden.  — 

Ergänzend  zum  örtlichen  Befund  an  der  gedrehten  Schlinge 
sei  noch  die  geringe  Breite  des  Mesosigraa  bei  relativer  Länge,  also 
F  eine  gewisse  abnonne  Nähe  der  Fusspunkte  der  S-Schlinge  erwähnt, 

ein  Vorkommniss,  welches  gewöhnlich  als  Gelegenheitsursache  des 
Volvulus  angeführt  wird  und  im  mitgetheilten  Falle  auch  von  uns 
gesehen  wurde. 

Der  Kranke  starb  4  Tage  nach  der  Operation  bei  durch- 
gängigem Dar-rac  an  Gangrän  der  Drehungsstelle;  allgemeine 
Peritonitis  war  nicht  vorhanden  (HeiT  Dr.  Zaufal).  — 

Die  Spätoperationen  bei  Volvulus  geben  im  Allgemeinen  un- 
günstige Resultate,  sei  es  wegen  vorgeschrittener  Herzschwäche,  sei  es 
infolge  schon  bestehender  schwerer  Girculationsstörungen  am  Darme. 

Es  wäre  zu  erwägen,  ob  nicht  der  seinerzeit  von  Nicoladoni 
für  das  gangrän bedrohte  Quercolon  nach  Magenresection  gemachte 
academische  Vorschlag,  eine  Dünndarmschlinge  in  den  Tractus  des 
Dickdarms  einzuschalten,  in  Spätfällen  praktischer  Verwirklichung 
werth  wäre,  zumal  die  directe  Vereinigung  der  Darmenden  nach 
Resection  des  S-Romanum,  wenn  auch*  unter  Umständen  ausführbar, 
immer  schwierig  und  unsicher,  ein  Anus  im  Colon  descendens  und 
Exstirpation  des  Volvulus  eiu  kläglicher  Nothbehelf  bleibt,  ein  provi- 
sorisches Herausleiten  der  ganzen  Schlinge  wegen  der  tiefen  Lage 
und   Fixation    der    am    meisten    gefährdeten  Stelle    unmöglich  ist. 

In  Fällen  deutlicher  Circulationsstörung,  namentlich  wenn  der 
Darm  durch  die  Blähung  auch  gelitten,  bei  ausgesprochener  Herz- 
schwäche, —  wie  leider  nur  zu  oft,  —  dürfte  bis  auf  Weiteres 
Exstirpation  und  Anus  trotz  allen  diesem  Verfahren  anhaftenden 
Mängeln  das  Richtige  sein.  Die  Anlegung  des  Anus  artificialis 
könnte  in  diesen  Fällen  immerhin  so  stattfinden,  dass  auf  eine 
eventuelle  spätere  Schliessung  Rücksicht  genommen  würde. 

Ist  der  Kräftezustand  des  Kranken  gerade  kein  verzweifelter, 
so  kann  der  Anus  allenfalls  durch  Ausschaltung  des  Dickdarmes 
in  der  Art  umgangen  werden,  dass  niich  Resection  des  S-Romanum 
sein  Colonende  vernäht  und  sein  rectales    Ende    in    eine    Lateral- 

Arehir  fttr  klin.  Chirurgie.  67.  Bd.  Heft  I.  jg 


242 


Dr.  C.  Bayer,  Charaoteristischer  Meteorismus  etc. 


Öffnung  des  letzten  Ueum  eingepflanzt  wird.  (Einpflanzung  des 
rectalen  Querschnitts  in  einen  Schlitz  der  Ueumschlinge  und  Ver- 
nähung des  Colon  descendens.)  Nach  den  exacten  Untersuchungen 
von  Eiselsberg's^)  erscheint  die  Ausschaltung  des  Dickdarmes 
immerhin  zulässig,  wenn  Sorge  für  Abfuhr  der  darin  stagnirenden 
Secrete  getragen  wird 2).  Die  Anastomose  zwischen  Ueum  und 
Rest  des  Enddarmes  erfüllt  dann  auch  diese  Indication. 

Fig.  3. 


Wollte  man  auf  die  Dickdarraverdauung  nicht  ganz  verzichten, 
so  bliebe  als  Ausweg  noch  die  Anlage  im  Sinne  Fig.  3,  mit  oder 
ohne  sej)arate  Ileoanastomose  übrig;  doch  ist  dieser  Vorgang  schon 
viel  complicirter  und  zeitraubender. 

1)  Nederl.  Tijdschr.  vor  Geneeskunde.  1896,  No.  8.  —  Centralbl.  für 
Chirurgie.     1896,  No.  22. 

2)  Dies  lehren  die  Fälle  von  Anus  praeternaturalis  im  letzten  Ueum  und 
besonders  der  von  Ciechomski  und  Jakowski  (Langenbeck's  Archiv  f. 
klin.  Chirurgie,  Bd.  48,  Heft  1,  S.  136)  mitgetheiltc  Fall,  in  welchem  ein  wahr- 
scheinlich aus  tubcrcnlösen  UIcerationen  hervorgegangener  Anus  praeternaturalis 
im  letzten  Ueum  85  Jahre  lang  (!)  ohne  Nachtheil  für  den  Organismus  ge- 
tragen wurde. 


Gedrnckt  bei  L.  Schnmacher  in  Berlin. 


ARCHIV 


FÜR 


KLINISCHE  CHmUßGIE. 


beorOndbt 

von 

Dr.  B.  von  LANGENBECK, 

weil.  Wirklichem  Gell.  Rath  und  Profciuior  der  Chirurgie. 


HERAUSGEGEBEN 


VON 


Db.  E.  y.  BEMMANN,      Db.  E.  aüELT,      Da.  G.  aUSSEITBAÜER 

Prot  der  Chirurgie  in  Berlin.  Prof.  der  Chirurgie  in  Berlin.  Prof.  der  Chirurgie  in  Wien. 


SieBENIINDFCNFZIGSTER  BAND. 

ZWEITES  HEFT. 

Mit  15  Abbildungen  im  Text. 


BERLIN,  1898. 
VERLAG  VON  AUGUST  HIRSCHWALI). 

N.W.  Unter  den  Linden  No.  68. 


Inhalt. 


Seite 

IX.   lieber  die  neuesten  Bestrebungen,  die  aseptische  Wundbehand- 
lung zu  vervollkommnen.    Von  Professor  Dr.  J.  Mikulicz      .     243 
X.    Die   Ursachen    des    Misslingens   der   Asepsis.      Von    Professor 

Dr.  Landerer 280 

XI.  Die  aseptische  Versorgung  frischer  Wunden,  unter  Mittheilung 
von  Thicrversüchcn  über  die  Auskeimungszeit  von  Infections- 
erregem  in  frischen  Wunden.  Von  Prof.  Dr.  P.  L.  Friedrich. 
(Mit  2  Figuren.) •  ....     288 

XII.    lieber  peritoneale  Resorption  undinfcction.  Von  Dr.  W.  Noetze  1.    311 

XIII.  lieber  Wundsccret  und  Bactericn  bei  der  Heilung  per  primam. 
(Aus  der  chirurg.  Klinik  des  Professor  Wolf  ler  in  Prag.)    Von 

Dr.  Hermann  Schloffer 322 

XIV.  Localc  Analgesie  bei  Operationen.     Von  Dr.  Hackenbruch  .     345 
XV.    Gastroenterosto^iia  et  Enteroanastomosis,  ein  neues  vereinfachtes 

Verfahren.     Von  Professor  Dr.  A.  P  od  res.      (Mit  4  Figuren.)     358 
XVL   Experimentelle    Untersuchungen    und    Erfahrungen    über   Infi- 
trationsanästhcsie.     Von    Privatdocent   Dr.    H.   Braun.     (Mit 

2  Figuren.) 370 

XVII.    Erfahrungen    über  lokale  Anästhesie    in  der  Breslauer  chirurg. 

Klinik.     Von  Dr.  Georg  Gottsteiu 409 

XVIII.   Neue  Experimente  zur  Erzeugung  von  Pankreatitis  haemorrhagica 

und  von  Fettnckrosen.     Von  Professor  Dr.  Hildebrand     .     .    435 
XIX.   Ein    neues  Verfahren    der  Blasennaht   nach  Sectio  alta.     Von 

Professor  Dr.  W.  J.  Rasumowsky.     (Mit  einer  Figur.)      .     .     438 
XX.   Ueber  die  bisherigen  Erfahrungen    bei  der  radicalen  Operation 
des  Magencarcinoms  (der  Magenresection  und  der  Magenexstir- 
pation)    an  der  Züricher  chirurgischen  Klinik.      (Aus  der  chir- 
urgischen Klinik  in  Zürich.)     Von  Professor  Dr.  Krön  lein     .     449 
XXI.   Ueber  Regeneration  des  Magens    nach  totaler  Resection.     Von 

Professor  Dr.  Schuchardt.     (Mit  2  Figuren.) 454 

XXII.   Die  neueren  Magenoperationen  in  der  Cz er ny 'sehen  Klinik  und 
die    bisherigen   Dauererfolge.      Von    Stabsarzt   Dr.    Steudel. 

(Mit  3  Figuren.) 459 

XXUI.    Eine    neue  Methode    der  Pylorus-    und  Darm-Resection.      Von 

Dr.  Doyen 465 

XXIV.   Beitrag  zur  Anwendung  des  Murphy -Knopfes.   Von  Dr.  Storp.     470 
XXV.   Einiges    über    die    Anwendung    der    Darmknöpfe.      Von  Pro- 
fessor Dr.  Anton  Wolf  ler.     (Mit  einer  Figur.) 475 


IX. 

lieber  die  neuesten  Bestrebungen,  die  asep- 
tische Wundbehandlung  zu  vervollkommnen. 

Von 

Professor  Dr.  iV.  Rllkullcz 

in  Breslau '). 


M.  H.!  Es  waren  vor  wenigen  Tagen  24  Jahre  vergangen, 
seit  Richard  von  Volkmann  in  unserer  Gesellschaft  seinen 
Vortragt)  über  die  Listcr'sche  Wundbehandlungsniethode 
hielt  und  damit  das  neue  Verfahren  dauemd  in  Deutschland  ein- 
bürgerte. Inzwischen  hat  das  Verfahren  mannigfache  Wandlungen 
erfahren.  Wenn  wir  diese  Wandlungen  nach  ihrer  wesentlichsten 
Tendenz  kennzeichnen  wollen,  so  können  wir  4  Perioden  unter- 
scheiden. In  der  ersten  Periode  galt  es,  der  neuen  Idee  in  Form 
der  unveränderten  Lister'schen  Methode  allgemeine  Anerkennung 
zu  erkämpfen.  In  der  zweiten  Periode  wurden  die  unwesentlichen 
Bestandtheile  des  Lister'schen  Verfahrens  allmälig  beseitigt;  man 
strebte  nach  möglichster  Vereinfachung  der  Methode  —  aber  immer 
unter  Beibehaltung  des  Princips  der  Antiseptik. 

Inzwischen  brachte  uns  die  Bacteriologie  die  lirkcnntniss,  dass 
die  theoretischen  Voraussetzungen  der  Li  st  er 'sehen  Methode  irrig 
waren:  sie  wirkte  in  ihren  einzelnen  Bestandtheilen  gar  nicht  oder 


*)  Abgekürzt  vorgetragen  am  1.  Sitzungstage  des  XXVII.  Gongresses  der 
Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  13.  April  1898. 

2)  Ueber  den  Einfluss  der  List  er 'sehen  Methode  auf  den  Gang  des 
Wundheiiungsprocesses.  III.  Congress.  3.  Sitzungstag,  Freitag,  den  10.  April 
1874.  —  Der  Vortrag  ist  später  ausführlich  erschienen  in  den  Beiträgen  zur 
Chirurgie  und  in  der  Sammlung  klinischer  Vorträge,  No.  96,  1875.  (Beide  in 
Leipzig,  bei  Breitkopf  und  Härtel.) 

Arthir  Ar  klin.  Chirurgie.    57.  Bd.   Heft  2.  |Y 


244  Dr.  J.  Mikulicz, 

nur  sehr  unsicher  bacttTient(')dtend;  ihre  llauptwirkung  auf  die 
Wundbacterien  beruhte  vielmehr  auf  Entwicklungsheramung.  Es  lag 
nahe,  an  Stelle  dieser  unzulänglichen,  mit  vielen  Nachtheilen  für 
Patienten  und  Arzt  verbundenen  Methode  eine  andere  zu  construiren, 
in  der  die  neuen,  wissenschaftlich  erprobten  Steril isirungsraethoden 
die  Hauptrolle  spielten;  die  dahin  zielenden  Arbeiten  fallen  in  die 
dritte  Periode.  So  entstand  die  aseptische  Wundbehandlung,  deren 
erste  xVnfänge  wir  in  der  Kieler  Klinik  finden,  woselbst  sich  unter 
Esmarch's  Leitung  Neuber  bemühte,  die  alten  antiseptischen 
Maassrcgeln  durch  aseptische  Maassnahmen  im  Sinne  der  Keira- 
freiheit  zu  ersetzen.  Den  weiteren  Ausbau  und  die  Vervollkommnung 
des  aseptischen  Verfahrens  zu  einer  practisch  allgemein  verwerth- 
baren  Methode  verdanken  wir  bekanntlich  neben  zahlreichen  an- 
deren Chirurgen,  die  auf  diesem  Gebiete  gleichzeitig  thätig  waren, 
vor  allem  Bergmann  und  seinem  leider  zu  früh  verstorbenen 
Schüler  Schimmelbusch. 

Mit  der  Ausbildung  der  aseptischen  Wundbehandlung,  wie  sie 
vor  6  Jahren  durch  das  vortreffliche  Büchlein  von  Schimmelbusch^) 
dargestellt  wurde,  schien  zunächst  ein  gewisser  Abschluss  erreicht 
worden  zu  sein.      In  den  allerletzten  Jahren  regt  es  sich  indessen 
wieder  von  den  verschiedensten  Seiten.    Man  gesteht  kleinere  oder 
grössere  Misserfolge    zu,    die    zum  Glück    selten    sind,    aber  doch 
ein  unheimliches  Gefühl  der  Unsicherheit    erzeugen  und   jedenfalls 
darthun,  dass  die  Methode  nicht    absolut  verlässlich  ist;    denn  sie 
giebt  uns  kein  Gewähr  dafür,    dass  unsere  Operationswunden  aus- 
nahmslos keimfrei  bleiben,  dass  sie  immer  so  heilen  wie  subcutane 
Verletzungen.     Und  das  zu  erreichen,    muss  doch   unser  letztes 
Ziel  bleiben.      Dass  die    aseptische  Wundbehandlung   in    der  heut 
noch    fast    allgemein    geübten  Form    noch    weit    von    diesem  Ziel 
entfernt    ist,    dafür    spricht    am    besten    der    Umstand,    dass    die 
Drainirung    aller  grösseren  und    complicirten  Wunden  immer  noch 
als  das  Normalverfahren  gilt,  und  dass  viele  Operateure  es  bei  be- 
sonders   gefährdeten  Wunden    selbst  vorziehen,    auf    die    primäre 
Heilung  zu  verzichten  und  die  Wunde  zu  tamponniren,  um  sie  im 
besten  Fall  erst  nach  einigen  Tagen  zu  vernähen.      Während  wir 
das    in    Folge    einer   subcutanen  Verletzung    z.  B.  Fractur   angc- 


1)  Anleitung  zur  aseptischen  Wundbehandlung.     Von  Dr.  C.  Schimmel- 
busch.    Berlin  1892  (1.  Aufl.).     August  Hirschwald.     (II.  Aufl.  1893.) 


Die  neuesten  Bestrebungen,  d.  asept.  Wundbehaniilg.  zu  vorvoUkommnon.   245 

sammelte  Blut  und  sonstige  Exsudat  ruhig  seinem  Schicksal  über- 
lassen, wird  es  beim  aseptischen  Verfahren  als  günstiger  Nährboden 
für  Bacterien  möglichst  sorgfältig  nach  aussen  geleitet.  In  der  schon 
citirten  Anleitung  zur  aseptischen  Wundbehandlung  sagt  Schimmel- 
busch Seite  76  ausdrücklich:  „Sowie  eine  Wunde  auch  nur  massig 
Flüssigkeit  absondert,  wird  das  Zukleben  illusorisch,  ja  gefiihrlich". 
Die  selbst  kleinen  Fehler  des  sog.  aseptischen  Verfahrens  sind 
heute  um  so  störender,  als  sich  die  Anforderungen  au  die  operative 
Technik  immer  mehr  steigern  und  selbst  kleine,  früher  kaum  be- 
achtete Störungen  z.  B.  Fadeneiterungen  bei  manchen  Operationen 
fast  Misserfolge  bedeuten. 

So  ist  es  verständlich,  dass  von  den  verschiedensten  Seiten 
nach  den  Fehlerquellen  der  heute  geübten  Wundbehandlung  eifrig 
geforscht  und  so  das  ganze  Verfahren  einer  gründlichen  Revision 
unterzogen  wird.  Die  jüngsten  Bestrebungen  auf  diesem  Gebiet  ge- 
hören einer  vierten  Periode  an,  deren  Aufgabe  es  ist,  das  ideale  Ziel 
der  vollkommenen  Keimfreiheit  beim  Operiren  zu  erreichen  oder 
ihm  wenigstens  möglichst  nahe  zu  kommen.  Wir  werden  später 
sehen,  dass  wir  uns  bei  diesen  Bestrebungen  von  dem  einseitigen 
Princip  der  Aseptik  insofern  emancipiren  müssen,  als  wir  die 
Scerilisirungsmethoden  dort,  wo  sie  überhaupt  anwendbar  sind,  bei- 
behalten, im  Uebrigen  aber,  namentlich  bei  der  Desinfection  der 
Haut,  die  entwicklungshemmenden  Desinfectionsmittcl  im  Sinne  der 
Antiseptik  bis  zu  einem  gewissen  Grade  wieder  zur  Geltung  bringen. 
Ich  selbst  bin  seit  2  Jahren  bemüht,  mich  unter  Mitwirkung  meiner 
Assistenten  an  dieser  Arbeit  zu  betheiligen;  ich  hätte  mich  nicht 
an  eine  so  schwierige  Aufgabe  gewagt,  wenn  ich  nicht  die  aus- 
giebigste Unterstützung  bei  meinem  hochverehrten  Collegen  Prof. 
Flügge  gefunden  hätte,  in  dessen  Laboratorium  und  unter  dessen 
ControUe  ein  Theil  der  einschlägigen  Arbeiten  ausgeführt  worden  ist. 

Ich  hatte  schon  im  Juni  vorigen  Jahres  in  der  Deutschen 
med.  Wochenschrift  (No.  26)  einen  kurzen  vorläufigen  Vorbericht 
über  unsere  Versuche  erstattet.  Heute  sei  es  mir  gestattet,  über 
die  weiteren  Ergebnisse  unserer  Arbeiten  auf  diesem  Gebiete  zu 
berichten. 

Als  Endziel  unserer  Versuche  haben  wir  uns,  wie  schon  er- 
wähnt, die  Aufgabe  gestellt,  die  Methoden  derart  zu  vervollkommnen, 
dass    eine  von  Hause    aus   nicht   inficirtc  Operationswunde    soweit 

17* 


246  Dr.  J.  Mikulicz, 

keimfrei  erhalten  bleibt,  dass  sie  nach  vollkommenem  Ver- 
schluss ebenso  wie  eine  subcutane  Verletzung  reactionslos 
heilt.  Wenn  wir  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  die  durch  die 
Bergmännische  Schule  ausgebildete  aseptische  Wundbehandlung 
revidiren,  so  müssen  wir  zunächst  hervorheben,  dass  dieselbe,  so- 
weit es  sich  um  die  Sterilisirung  des  Tupf-  und  Verbandmaterials, 
sowie  der  Instrumente  handelt,  ihre  Aufgabe  mit  absoluter  Sicher- 
heit erfüllt.  Die  zu  diesem  Zwecke  von  Schimmelbusch  con- 
struirten  oder  modificirten  Apparate  werden  auch  heute  als  muster- 
giltig  beibehalten  werden  können. 

So  sicher  nun  die  Sterilisirung  des  todten  Materials,  sei  es 
durch  kochendes  Wasser,  sei  es  durch  heissen  Dampf,  sei  es  durch 
entsprechende  trockene  Hitze,  erfolgt,  so  fehlt  es  uns  doch  unter 
Umständen  an  einem  sicheren  Erkennungszeichen,  dass  das  uns 
vorgelegte  Material:  Tupfer,  Compressen,  Verbandstücke,  kurz  alle 
die  Dinge,  die  während  der  Operation  mit  der  Wunde  in  innige 
Berührung  kommen,  auch  thatsächlich  und  in  ausreichender  Weise 
dem  Desinfectionsverfahren  unterworfen  waren.  Auf  die  Ueber- 
zeugung,  dass  die  genannten  Gegenstände  thatsächlich  keimfrei 
sind,  bauen  wir  ja  unser  ganzes  Verfahren,  ein  Versehen  in  dieser 
Richtung  kann  verhängnissvoll  für  unsern  Kranken  werden.  Aber 
auch  abgesehen  davon  ist  es  für  denjenigen,  der  den  meist  kleinen 
und  oft  schwer  zu  eruirenden  Fehlern  der  heutigen  Wundbehandlung 
nachforscht,  unerlässlich,  in  diesem  einen  Punkt  absolute  Gewiss- 
heit zu  haben,  weil  ja  bei  jedem  Misserfolg  der  Verdacht  nicht 
ganz  ausgeschlossen  werden  kann,  dass  gelegentlich  einmal  auch 
eine  ungenügende  Sterilisirung  dieser  Gegenstände  Schuld  an  der 
Wundstörung  trägt.  Es  ist  deshalb  gerade  für  uns  eine  wichtige 
Aufgabe  gewesen,  brauchbare  Controllvorrichtungen  in  dieser 
Richtung  zu  finden  i).  In  Bezug  auf  die  Instrumente,  die  nach  der 
Schim melb US ch 'sehen  Vorschrift  in  kochender  Sodalösung  steri- 
lisirt  werden,    ist  ein  ControUapparat  nicht  mibedingt  erforderlich. 


1)  Ich  muss  ausdrücklich  bemerken,  dass  das  Personal  meiner  Klinik, 
sowohl  was  die  Aerzte  als  auch  die  untergeordneten  Hilfspersonen  betriift,  so 
gut  organisirt  ist,  dass  ich  selbst  bisher  nie  Grund  hatte,  gegen  dieselben  Miss- 
trauen zu  hegen.  Aber  es  sind  ja  auch  nur  Menschen,  die  einmal  fehlen 
können.  Wenn  man  darauf  ausgeht,  Fehlerquellen  nachzuforschen,  so  muss 
man  auch  dieses,  wenn  wir  wollen  mehr  psychologische  Moment,  mit  Sicherheit 
auszuschalten  suchen. 


Die  neuesten  Bestrebungen,  d.  asept.  Wundbehandlg.  zu  vervollkommnen.  247 

Die  Instrumente  werden  ja  unmittelbar  vor  der  Operation  gewisser- 
raaassen  vor  unsem  Augen  gekocht;  eine  Nachlässigkeit  und  selbst 
ein  Versehen  in  dieser  Richtung  ist  bei  selbst  oberflächlicher  Auf- 
merksamkeit des  Personals  kaum  möglich  i). 

Um  so  nothwendiger  ist  eine  ControUvorrichtung  bei  den  im 
heissen  Dampfe  sterilisirten  Gegenständen.  Viele  Operateure  haben, 
um  in  dieser  Richtung  ein  Versehen  ganz  auszuschliessen,  die 
Dampfapparate  in  den  Operationssaal  selbst  verlegt  oder  wenigstens 
so  angelegt,  dass  die  Tupfer,  Verbandstoffe  u.  s.  w.  durch  eine 
Oeffnung  in  der  Wand  des  Operationssaales  dem  Apparat  vor  den 
Augen  des  Arztes  entnommen  werden  können.  Die  Dampfsterilisation 
muss,  wenn  diese  Einrichtung  ihren  Zweck  erfüllen  soll,  unmittel- 
bar vor  der  Operation  geschehen.  Diese  Einrichtung  ist  aber  mit 
mannigfachen  Nachtheilen  verbunden,  die  ich  hier  nicht  weiter 
ausfähren  will.  Es  ist  jedenfalls  viel  bequemer,  wenn  das  Tupf- 
und  Verbandmaterial  wenigstens  mehrere  Stunden  vor  der  Operation 
sterilisirt  und  schon  abgekühlt  und  möglichst  trocken  gereicht 
werden  kann. 

Die  Idee,  Controllvorrichtungen  nach  dieser  Richtung  zu  con- 
struiren,  ist  nicht  neu.  Soviel  ich  weiss,  benützt  Quenu  in  Paris 
schon  seit  Jahren  Glasröhrchen,  die  mit  einer  Substanz  gefüllt  sind, 
die  bei  100^  oder  darüber  schmilzt  (Wismutlegirungen) ,  und  er- 
kennen lässt,  dass  der  Verbandkorb  thatsächlich  einer  bestimmten 
Temperatur  ausgesetzt  war.  Ueber  die  Dauer  der  Erhitzung  giebt 
ein  derartiger  Apparat  keinen  genügenden  Aufschluss,  noch  weniger 


1)  Nur  in  einer  Richtung  wäre  hier  allerdings  eine  Sicherheitsmaassregel 
erwünscht,  nämlich  beim  Kochen  von  Instrumenten,  die  bei  einer  Operation 
inficirt  worden  sind  und  bald  darauf  bei  einer  zweiten  verwendet  werden 
sollen.  Selbstverständlich  wird  jeder  Operateur,  wenn  eine  Reihe  von  Operationen 
Dacheinander  folgen,  dieselben  so  ordnen,  dass  die  absolut  aseptischen  voran- 
gehen, und  die  in  zweifelhaften  oder  inficirten  Geweben  vorzunehmenden  erst 
den  Schluss  bilden.  Aber  auch  bei  dieser  Anordnung  kann  man  unversehens 
auch  einmal  mit  den  Instrumenten  ein  inficirtes  Gebiet  in-  und  ausserhalb  der 
Wunde  berühren,  so  dass  eine  abermalige  Sterilisirung  der  Instrumente  oft 
unerlässlich  ist.  In  der  Eile  kann  es  da  leicht  geschehen,  dass  die  Instrumente 
nicht  lange  genug  gekocht,  also  wieder  in  Gebrauch  genommen  werden,  bevor 
sie  noch  vollständig  sterilisirt  sind.  Zu  diesem  Zweck  hat  Herr  Dr.  Matthias 
eine  Vorrichtung  construirt,  die  den  einmal  geschlossenen  Kochapparat  erst 
nach  Ablauf  der  erforderlichen  Zeit  von  5  resp.  10  Minuten  wieder  zu  öffnen 
gestattet.  Der  wesentlichste  Bestandtheil  dieses  Apparates  ist  ein  nach  dem 
Prlncip  der  Sanduhr  construirtes,  aber  mit  Quecksilber  gefülltes  Glasrohr,  dass 
nach  5  resp.  10  Minuten  in  Folge  des  verlegten  Schwerpunktes  den  das  Gefass 
verschliessenden  Riegel  automatisch  öffnet. 


248  Dr.  J.  Mikulicz, 

darüber  —  und  das  ist  bei  der  Dampfsterilisation  ausserordentlich 
wi(ihtig  — ,  ob  der  heisse  Danopf  den  Verbandkörb  durchdrungen  hat 
Auch  anderwärts  wurden  nach  diesen  oder  andern  Principien  con- 
struirte  Vorrichtungen  angewendet,  von  denen  aber  meines  Wissens 
keine  allgemeine  Verbreitung  gefunden  hat.  Es  würde  zu  weit 
führen,  hier  auf  dieselben  einzugehn.  Herr  Dr.  Matthias,  welcher 
sich  mit  der  Sache  in  meiner  Klinik  beschäftigt  hat,  wird  bei  anderer 
Gelegenheit  über  die  anderwärts  gemachten  Versuche  berichten  und 
gleichzeitig  auch  ausführlich  mittheilen,  in  welcher  Weise  wir  das 
Problem  zu  lösen  gesucht  haben.  Hier  sei  nur  das  Resultat  unserer 
Versuche  kurz  mitgetheilt. 

Als  eine  äusserst  einfache  und  für  den  practischen  Gebrauch 
sehr  empfehlenswerthe  Vorrichtung  kann  ich  Ihnen  folgende  em- 
pfehlen: Ein  Streifen  nicht  geleimten  Papiers  wird  an  passender 
Stelle  mit  der  Aufschrift:  „sterilisirt''  bedruckt.  Der  bedruckte 
Theil  oder  auch  der  ganze  Streifen  \  ird  mit  3  pCt.  Stärkekleist^r 
dick  bestrichen  und  halb  trocken  durch  eine  Jod-Jodkali-Lösung 
(Jod.  1,0  Kai.  jodat.  2,0  Aq.  dest.  100)  gezogen.  Der  Papier- 
streifen nimmt  eine  dunkelbläulich-schwarze  Farbe  an,  die  die  Auf- 
schrift vollständig  verdeckt.  Im  strömenden  Dampf  entfärbt  sich 
der  Papierstreifen  vollständig  oder  wenigstens  so  weit,  dass  die 
Schrift  wieder  klar  sichtbar  wird,  und  auch  bleibt,  wenn  der 
Streifen  erkaltet.  Trockene  Hitze,  selbst  180 — 190^,  entfärbt  den 
Streifen  nicht.  In  dem  bei  uns  verwandten  Dampfsterilisirapparat 
von  Lautonschiäger,  welcher  eine  Temperatur  von  106 —107^ 
entwickelt,  tritt  die  Entfärbung  des  frei  hängenden  Streifens  inner- 
halb 10  Minuten  ein;  der  im  Innern  eines  Verbandkorbes  liegende 
Streifen  braucht  zur  Entfärbung  20  Minuten  und  darüber.  Erreicht 
die  Temperatur  des  Dampfes  weniger  als  100°,  dann  bedarf  es 
einer  mehr  als  einstündigen  Einwirkung  desselben  zur  genügenden 
Entfärbung. 

Die  Entfärbung  des  Jod-Kleisterstreifens  zeigt  uns  somit  an: 
1.  dass  heisser  Dampf  und  nicht  heisse  Luft  auf  denselben  ge- 
wirkt hat.  Dementsprechend  kann  er  auch  dazu  benutzt  werden, 
uns  todte  Räume  im  Sterilisirapparat,  welche  der  heisse  Dampf 
nicht  zu  erreichen  vermag,  anzugeben;  2.  dass  der  Dampf  ein  be- 
stimmtes Minimum  von  Temperatur  eiTcicht  hat,  und  3.  dass  die 
Einwirkung    ein    gewisses    Minimum    an    Zeit   gedauert   hat.     Ich 


Die  neuesten  Bestrebungen,  d.  asept.  Wundbehandlg.  zu  vervollkommnen.  249 

glaube,  dass  die  Entfärbung  des  Jod-Kleisterpapiers  eine  intensivere 
Einwirkung  des  Dampfes  erfordert,  als  die  Abtödtung  der  uns  in- 
teressirenden  Bakterien.  Die  bisher  im  Flügge'schen  Laboratorium 
angestellten  Versuche  haben  ergeben,  dass  selbst  die  resistentesten 
Bakterien  (Milzbrandsporen,  Keime  der  Gartenerde)  früher  abgetödtet 
werden,  als  der  Streifen  vollkommen  entfärbt  ist.  Weitere  Unter- 
suchungen darüber  sind  noch  im  Gange.  Nebenbei  sei  erwähnt, 
dass  bei  uns  der  Jod-Kleisterstreifen  derart  in  dem  Verbandkorb 
befestigt  wird,  dass  ein  Theil  innerhalb  desselben  zu  liegen  kommt; 
ein  Bindfaden  befestigt  sowohl  den  Streifen  als  auch  den  Deckel 
an  der  Wand  des  Korbes  und  wird  durch  eine  kleine  Plombe  ge- 
sichert; die  letztere  wird  erst  unmittelbar  vor  dem  Gebrauch  abge- 
schnitten ^). 

Herr  Dr.  Matthias  hat  noch  einen  zweiten,  weit  exakteren 
Apparat  konstruirt,  der  ganz  genau  die  Höhe  der  Temparatur  und 
die  Dauer  der  Einwirkung  registrirt.  Die  Grundlage  des  Apparates 
bildet  eine  gewöhnliche  Taschenuhr  (Ankeruhr),  deren  Kompensations- 
unruhe bekanntlich  aus  2  verschiedenen  Metallen  (Eisen  und  Bronze) 
zusammengefügt  ist,  und  deshalb  bei  verschiedenen  Temperaturen 
ihre  Gestalt  ändert;  bei  höherer  Temperatur  wird  ihr  Krümmungs- 
radius kleiner.  Am  Uhrdeckel  wird  nun  ein  feiner  Zapfen  ange- 
bracht, der  bei  gewöhnlicher  Temperatur  die  an  die  Unruhe  be- 
festigten Ballastschräubchen  festhält  und  damit  die  Uhr  arretirt.* 
Erst  bei  einer  bestimmten,  empirisch  festzustellenden  Temperatur 
entfernt  sich  die  Unruhe  in  Folge  der  vermehrten  Krümmunir  so 
weit  vom  Zäpfchen,  dass  die  Uhr  in  Gang  kommt.  Sowie  die 
Temperatur  sinkt,  hört  die  Uhr  wieder  auf  zu  gehen.  Durch  einen 
mit  dem  Zapfen  verbundenen  langen  Hebel  kann  die  Uhr  auf  die 
gewünschte  höhere  oder  niederere  Temperatur  eingestellt  werden. 
Der  Apparat  ist  selbstverständlich  nicht  dazu  zu  verwenden,  um 
zu  erkennen,  ob  das  betreffende  Object  heissem  Dämpf  oder  nur 
heisser  Luft  ausgesetzt  war.  Er  ist  auch  vorläufig  zu  kostspielig, 
um  für  gewöhnliche  praktische  Zwecke  verwendet  zu  werden.    Ich 


1)  Erst  nachträglich  vurde  mir  bekannt,  dass  vor  5  Jahren  Hoch on egg 
(s.  Wiener  klin.  Wochenschrift,  1893,  S.  421)  als  Gontrolobject  einen  Farbstoff 
zu  demselben  Zwecke  verwendet  hat.  Es  ist  eine  gelbbraune  Alizarinverbindung, 
welche  beim  Erhitzen  auf  107  o  intensiv  roth  wird.  Soviel  mir  bekannt  ist, 
bewiritt  aber  nicht  nur  der  heisse  Dampf,  sondern  auch  trockene  heisse  Luft 
die  Aendening  der  Farbe. 


250  Dr.  J.  Mikulicz, 

glaube  aber,  dass  er  sich  sehr  wohl  als  eine  Art  von  Aichinstru- 
ment  für  Desinfectionsapparate  eignen  wird. 

Eine  dritte  KontroUvonichtung  ist  von  Herrn  Dr.  Sticher  im 
Breslauer  Hygienischen  Institut  konstruirt  worden.  Derselbe  ver- 
wendet auch  Körper,  die  bei  hoher  Temperatur  schmelzen,  und 
zwar  das  Phenanthren  (Schm.-P.  98*^)  und  das  Brenzcatechin 
(Schm.P.  101 — 102^).  Da  diese  Körper  bei  Hitzeeinwirkung,  selbst 
wenn  sie  in  ein  Glasröhrchen  gefüllt  sind,  rasch  schmelzen,  somit 
in  Bezug  auf  die  Zeit  der  Hitzeeinwirkung  keinen  Aufschluss  geben 
wurde  das  betreffende  Röhrchen  von  einem  zweiten,  grösseren  um- 
hüllt, derart,  dass  zwischen  beiden  Glaswänden  eine  isolirende 
Luftschicht  übrig  bleibt,  die  die  Einwirkung  der  Hitze  auf  den  im 
Innern  befindlichen  Körper  verzögert.  Durch  Vergrösserung  dieser 
Luftschicht  kann  man  die  Verzögerung  so  weit  treiben,  dass  die 
für  einen  bestimmten  Zweck  gewünschte  Zeit  vergehen  muss,  bevor 
der  im  Innern  befindliche  Körper  schmilzt.  Jeder  Apparat  muss 
natürlich  empirisch  erst  gewissermaassen  geaicht  werden.  Praktische 
Versuche  mit  diesem  Apparat  sind  in  meiner  Klinik  bisher  noch 
nicht  gemacht  worden. 

In  Bezug  auf  die  Sterilisirung  des  Naht-  und  Unterbindungs- 
raaterials  sind  heute  die  Akten  im  wesentlichen  als  geschlossen 
anzusehen.  Dabei  soll  zunächst  die  Frage  unberührt  bleiben,  ob 
wir  nicht  gut  thun,  heben  der  Sterilisirung  die  Seide  und  das 
Katgut  mit  einem  entwicklungshemmenden  Antisepticum,  z.  B. 
Jodoform,  zu  imprägniren.  Die  Frage  soll  noch  später  gestreift 
werden.  Im  übrigen  kann  es  sich  höchstens  darum  handeln,  ob 
bei  dem  einen  Verfahren  das  Katgut  fester  und  haltbarer  bleibt 
als  bei  dem  anderen.  Ich  verwende  in  der  letzten  Zeit  das 
Hofmeister'sche  Formalin-Katgut  und  bin  mit  demselben  in  jeder 
Richtung  ausserordentlich  zufrieden.  Dass  das  Katgut  Ausgangs- 
j)unkt  von  Eiterungen  wäre,  dafür  habe  ich  nie  einen  Anhaltspunkt 
gefunden.  Bekanntlich  hat  Poppert^)  in  der  letzten  Zeit  darauf 
aufmerksam  gemacht,  dass  sowohl  Katgut-  als  auch  versenkte 
Seidensuturcn  ohne  Hinzutreten  von  Bakterien  Eiterung  erzeugen 
können.    Im  ersteren  Falle  sollen  es  die  dem  Katgut  anhaftenden, 


0  Ueber  Eiterung  durch  keimfreies  Catgut.  Deutsche  Medicin.  Wochen- 
schrift. 1896,  No.  48.  —  Ueber  Seidenfadeneiterung  nebst  Bemerkungen  zur 
aseptischen  Wundbehandlung.    Deutsche  Medicin.  Wochenschrift.    1897,  No.  49. 


Die  neuesten  Bestrebungen,  d.  asept.  Wundbehandlg.  zu  vervollkommnen.  251 

wahrscheinlich  vom  Rohkatgut  herstammenden  toxischen  Substanzen 
sein,  die  eine  echte  chemische  Eiterung  erzeugen;  im  zweiten  Fall 
sollen  die  durch  die  versenkten  Nähte  gequetschten  und  mortifi- 
cirten  Gewebe  es  sein,  die  auch  eine  Art  von  chemisdier  Eiterung 
hervorrufen.  Die  Untersuchungen  von  Poppert  sind  gewiss  sehr 
bemerkenswerth,  und  der  von  ihm  gegebene  Rath,  versenkte  Nälite, 
z.  B.  bei  der  Radicaloperation  der  Hernien,  nicht  all  zu  fest  zu- 
zuschnüren, verdient  gewiss  Beachtung,  ich  will  auch  die  Möglich- 
keit einer  derartigen  Eiterung  durchaus  niclit  ganz  in  Abrede 
stellen.  Jedenfalls  ist  sie  recht  selten;  sie  hat  für  den  Wund- 
heilungsprocess  wenig  Bedeutung  und  wir  thun  am  besten,  sie,  da 
wir  uns  hier  nur  mit  der  bakteriellen  Eiterung  beschäftigen,  zu- 
nächst ganz  aus  dem  Spiele  zu  lassen^). 


Während  die  bisher  erwähnten  todterf  Materialien  leicht  und 
sicher  zu  sterilisircn  sind,  bleiben  uns  3  Infectionsquellen  übrig, 
deren  absolute  Eliminirung  ausserordentliche  Schwierigkeiten  be- 
reitet: die  Luft,  die  Haut  des  Operationsfeldes  und  endlich 
die  Haut  unserer  Hände. 

Die  Bedeutung  der  Luftinfection  wurde  bekanntlich  anfäng- 
lich ausserordentlich  überschätzt.  Der  Spray  des  Lister'schen 
Verfahrens  sowie  andere  antiseptische  Maassregeln  waren  dagegen 
gerichtet  und  sind  mit  Recht  als  überflüssig  und  unzureichend  auf- 
gegeben worden.  Man  fiel  dann  aber  in  das  andere  Extrem,  in- 
dem nsan  die  Möglichkeit  der  Infection  einer  Wunde  durch  die 
Luft  für  so  unwahrscheinlich  erklärte,  dass  diese  Infectionsquellc 
vollständig  unberücksichtigt  bleiben  dürfte.  In  der  That  werden 
wir  auch  heute  sagen  müssen,  dass  die  von  Seiten  der  Luft  einer 
Wunde  drohende  Gefahr  sehr  gering  ist.  Aber  sie  besteht  doch 
und  sie  steigert  sich  mit  der  Dauer  der  Operation.  \Yollen  wir 
uns  bestreben,  wirklich  möglichst  keimfrei  zu  operiren,  so  dürfen 
wir  die  Luftinfection  nicht  ganz  ausser  Acht  lassen. 

Bei  der  üebertragung  von  Bakterien  durch    die  Luft    müssen 


1)  In  meiner  Klinik  wurde  auch  etliche  Mal  bei  ganz  geringfügigen  sub- 
cutanen Eiterungen  —  wenn  ich  nicht  irre,  immer  im  Anschluss  an  versenkte 
Nähte  —  bacterienfreier  Eiter  gefunden.  Es  ist  aber  nicht  undenkbar,  dass 
diese  Eiterungen  durch  sehr  wenig  virulente  Bacterien  hervorgerufen  wurden, 
die  sehr  bald  im  Eiter  abstarben  und  deshalb  in  der  Kultur  nicht  zum  Aus- 
druck kommen  konnten. 


252  Dr.  J.  Mikulicz, 

wir  zweierlei  Arten  von  Luftkeimen  unterscheiden:  die  trockenen, 
in  Staubforra  suspendirten  und  die  in  feinsten  Flüssigkeitströpf- 
chen, also  in  feuchtem  Zustande  in  der  Luft  suspendirten  und 
fortbewegten  Keime,  durch  welche  nach  den  neuesten  Unter- 
suchungen von  Flügge^)  pathogene  und  voll  virulente  Bakterien 
verbreitet  werden  können. 

Bekanntlich  sind  die  in  Staubform  in  der  Luft  suspendirten 
Bakterien  von  sehr  geringer  Bedeutung.  Die  meisten  Vegetations- 
formen, namentlich  der  uns  interessirenden  Wundbakterien,  gehen 
durch  Austrocknung  allmählich  zu  Grunde.  Unter  gewöhnlichen 
Verhältnissen,  d.  h.  bei  den  von  der  Strasse  eindringenden  Staub- 
partikelchen, in  gewöhnlichen  Wohnräumen,  wird  man  die  Bedeu- 
tung dieser  Art  der  Luftinfection  in  der  That  gleich  Null  setzen 
können. 

Anders  verhält  sich  die  Sache,  wo  die  örtlichen  Verhältnisse 
eine  starke  Anhäufung  von  pathogenen  Bakterien  in  der  Luft  ver- 
ursachen können,  wi'e  in  Krankenhäusern.  Es  kommt  hier  in  Be- 
tracht, dass  nach  den  neuesten  Untersuchungen  von  Max  Ne isser-) 
und  Germano^)  die  uns  interessirenden  Wundbakterien,  insbesondere 
Staphylococcus  aureus  und  wie  es  scheint,  selbst  Streptococcen 
das  Austrocknen  längere  Zeit  überdauern,  also  auch  in  Staub- 
form noch  übertragbar  sind.  Der  hierin  liegenden  Gefahr  werden 
wir  nur  dadurch  begegnen,  dass  wir  die  Gelegenheit  zur  Verstäu- 
bung derartiger  Theile  in  unseren  Operationssälen ,  möglichst  ver- 
ringern, indem  wir  die  aseptischen  Operationsräume  von  den 
andern  Räumen  der  Klinik  streng  trennen,  die  Zahl  der  an- 
wesenden Personen  möglichst  beschränken  und  dafür  Sorge  tragen, 
dass  dieselben  nur  unter  entsprechenden  Cautelen  den  Operations- 
saal betreten. 

Die  ^vergleichende  Untersuchung  der  Luft  in  grösseren  Hör- 
sälen einerseits  und  in  kleineren  geschlossenen  Räumen  anderer- 
seits   hat     das     übereinstimmende    Resultat     ergeben,     dass    in 


1)  üeber  Infection  durch  Luftkeime  in  Tröpfchen.  Vortrag,  gehalten  in 
der  hygienischen  Section  der  Schlesischen  Gesellschaft  für  vaterländische  Kultur 
am  28.  Juli  1897.  (Allgemeine  Med.  Central -Zeitung,  1897,  No.  66,  und  Zeit- 
schrift für  Hygiene,  1897,  Bd.  25.) 

2)  Ueber  Luftstaub-Infection.  Zeitschrift  für  Hygiene  und  Infections- 
krankheiten.    Bd.  27. 

3)  Dieselbe  Zeitschrift.    Bd.  26,  Heft  1. 


T 


Die  neuesten  Bestrebungen,  d.  asept.  Wundbehandlg.  zu  vervollkommnen.   253 

erstcren  der  Keiragehalt  der  Luft  stets  grösser  ist  als  in  letzteren, 
und  dass  er  sich  in  dem  Maasse  steigert,  als  durch  das  Eintreten 
der  Zuhörer  die  Aufwirbelung  von  Staub  im  Raum  begünstigt  wird. 
Ich  kann  die  an  verschiedenen  Stollen  in  dieser  Richtung  ange- 
stellten Versuche  als  bekannt  voraussetzen,  und  will  nur  kurz  an- 
führen, dass  auch  in  der  neuen  Breslauer  chirurgischen  Klinik 
Herr  Dr.  Gottstein  eine  Reihe  von  einschlägigen  Untersuchungen 
vorgenommen  hat.  Aus  diesen  ergiebt  sich  erstens,  dass  unter 
allen  Umständen  der  Keimgehalt  der  Luft  im  grossen  Hörsaal  er- 
heblich grösser  ist  als  im  aseptischen  Operationssaal;  in  beiden 
Räumen  bestehen  jedoch  enorme  Unterschiede,  je  nachdem  der 
Raum  vorher  stundenlang  von  keiner  Person  betreten  worden  war 
oder  ob  er  eine  grössere  Zahl  von  Zuschauern  oder  den  bei  der 
Operation  beschäftigten  Personen  beherbergt.  Am  höchsten  steigt 
die  Keimzahl  vor  Beginn  der  Operation ;  offenbar  ist  der  Grund 
dafür  im  Hin-  und  Hergehen  und  den  sonstigen  Bewegungen  der 
mit  der  Vorbereitung  zur  Operation  beschäftigten  Personen  zu 
suchen.  Das  Durchschnittsverhältniss  des  Keimgehalts  der  Luft  im 
grossen  Hörsaal  zu  jenem  im  aseptischen  Operationssaal  ist  an 
vorlesungsfreien  und  operationsfreien  Tagen  37  :  3  zur  Zeit  der  Vor- 
lesungen resp.  Operationen  dagegen  155:60^).  Wir  sehen  also, 
dass  auch  im  aseptischen  Operationssaal  trotz  Verringerung  der 
Zuschauerzahl  der  Gehalt  der  Lu(t  an  Trockenkeimen  noch  immer 
relativ  hoch  ist;  ob  es  gelingt,  ihn  durch  andere  Maassnahmen, 
die  den  Betrieb  nicht  allzu  sehr  kompliciren,  noch  mehr  herunter- 
zudrücken, ist  mir  zweifelhaft. 

Wenn  wir  uns  ein  Urtheil  darüber  bilden  wollen,  welche  Be- 
deutung die  trotz  aller  Vorsichtsmaassregeln  noch  vorhandenen 
trockenen  Luftkeime  haben,  so  kann  selbstverständlich  nicht 
die  absolute  Zahl  berücksichtigt  werden,  sondern  die  Zahl  der  etwa 
aufgefundenen  pathogenen  Keime,  speciell  Eitererreger.  Denn  be- 
kanntermaassen  besteht  auch  in  Operations-  und  Krankensälen  die 
Hauptmasse  der  Luftkeime  aus  Saprophyten  oder  wenigstens 
Bakterienarten,  die  für  unsere  Wunden  keine  Bedeutung  haben. 
Es  haben  sich  aber  zweifellos  bei  unseren  Untersuchungen  auch 
Bakterien  gefunden,  die  wenigstens  morphologisch  den  pathogenen 


^)  Die  Zahlen  bedeuten  die   während  einer  Stunde  auf  10  cm  im  Durch- 
messer betragende  Petri'sche  Schalen  (Agar)  auffallenden  Keime. 


254  Dr.  J.  Mikulicz. 

StaphylococcQsarten  nahe  stehen.  Der  Versuch,  durch  Virulenzprüfung 
die  Bedeutung  dieser  Keime  festzustellen,  hat  vorläufig  wegen  der 
technischen  Schwierigkeiten    nicht    vorgenommen    werden    können. 

Da  wir  doch  nicht  im  Stande  sind,  den  Uebertritt  von  Luft- 
keimen in  die  Luft  unserer  Operationssäle  vollständig  zu  verhindern, 
so  müssen  wir  uns  darauf  beschränken,  die  Möglichkeit  des  Ueber- 
ganges  von  pathogenen,  speciell  für  unsere  Wunden  gefährlichen 
Trockenkeimen  möglichst  einzuschränken.  In  dieser  Richtung  kämen 
die  am  Fussboden,  den  Wänden,  den  Tischen  und  andern  Geräthen 
haftenden  Trockenkeime  in  erster  Linie  in  Betracht.  Durch 
die  heute  allgemein  eingeführten  Einrichtungen  in  aseptischen 
Operationssälen  (Isolirung  der  Räume,  gründliche  Reinigung  der 
Gegenstände  u.  s.  w.)  ist  diese  Infectionsquelle  bei  genügender 
Sorgfalt  wohl  sicher  auf  Null  zu  reduciren.  Nur  schwer  lässt  sich  . 
dagegen  die  Schwängerung  der  Luft  mit  Keimen  verhindern,  die 
durch  die  anwesenden  Personen  eingeschleppt  werden.  Es  sind 
deshalb  alle  Maassregeln  gerechtfertigt,  welche  die  Infectionsgefahr 
von  dieser  Seite  möglichst  verhindern.  Neben  der  Einschränkung 
der  Zuschauerzahl  kann  man  zweifellos  noch  dadurch  wirken,  dass 
man  den  eintretenden  Personen  eine  Art  Schutzkleidung  vorschreibt. 
Ich  habe  in  meiner  Klinik  die  Einrichtung  getroffen,  dass  die  den 
aseptischen  Operationssaal  betretenden  Aerzte  und  Studirenden  — 
dieselben  werden  nur  in  beschränkter  Zahl  zugelassen  —  sterilisirte 
bis  über  die  Kniee  reichende  Leinenröckc  anziehen;  ausserdem 
muss  jede  den  Operationssaal  betretende  Person  Gummischuhe  an- 
ziehen, die  in  grösserer  Zahl  auf  einer  mit  Sublimatlösung  durch- 
tränkten Filzplatte  bereit  stehen.  Dadurch  soll  die  Möglichkeit 
aufgehoben  werden,  dass  die  betreffenden  Personen  aus  anderen,  in- 
ficirten  Räumen  (z.  B.  Studirende  aus  dem  pathologischen  Institut) 
infectiöses  Material  mit  den  Füssen  hereinschleppen  und  verstäuben. 
Welche  enorme  Mengen  von  Schmutz  gerade  mit  den  Füssen  in 
den  Operationssaal  geschleppt  werden  können,  davon  kann  man 
sich  überzeugen,  wenn  man  die  deutlich  sichtbaren  Fusstapfen  be- 
trachtet, die  ein  von  aussen  Eintretender  auf  den  angefeuchteten 
weissen  Fliessen  des  Operationssaales  zurücklässt. 

Eine  ungleich  grössere  Bedeutung  hat   die  Verschleppung  von 
Bakterien  in  Form  feinster  Tröpfchen  durch  die  Luft.   Wie  schon 


Die  neuesten  Bestrebungen,  d.  asept.  Wundbehandlg.  zu  vervollkommnen.  255 

erwähnt,  hat  Flügge  auf  diese  Art  der  Uebertragung  von  Krank- 
heitskeinoen  vor  kurzem  erst  aufmerksam  gemacht.  Wenn  wir  die 
Plügge'schen  Untersuchungen  für  unsere  Verhältnisse,  verwerthen, 
so  kommen  beim  aseptischen  Operiren  fast  nur  jene  Bakterien  in 
Betracht,  die  dem  Mund  und  den  Respirationsorganen  des  Opera- 
teurs, seiner  Assistenten,  des  Kranken  selbst  und  seiner  weiteren 
Umgebung  entstammen.  Die  Expirationsluft  ist,  wie  wir  seit  den 
Untersuchungen  von  Tyndall  wissen,  keimfrei.  Das  gilt  aber  nur 
beim  ruhigen  Athraen;  schon  beim  ruhigen,  viel  mehr  aber  bei 
lautem  Sprechen,  und  in  erhöhtem  Maasse  beim  Räuspern  und 
Husten  werden  grössere  oder  kleinere  Flüssigkeitspartikelchen 
nach  aussen  geworfen,  und  können,  wie  Flügge  nachgewiesen 
hat,  auf  grosse  Distanzen  verschleppt  werden.  Dass  beim 
Niesen  selbst  grössere  Schleimmassen  ausgeworfen  werden, 
ist  ja  allgemein  bekannt.  Am  meisten  gefährdet  ist  selbstverständ- 
lich das  unmittelbar  vor  dem  Sprechenden  oder  Hustenden  be- 
findliche Terrain,  also  ungefähr  in  der  Entfernung,  in  der  das 
Operationsfeld  vom  Operateur  und  seinen  Assistenten  sich  befindet. 
Spielt  sich  in  der  Mundhöhle  des  Betreffenden  ein  pathologischer 
Process  ab,  bei  dem  Bakterien  an  die  Oberfläche  gelangen,  so 
kann  das  Auswerfen  derselben  schon  bei  ruhigem  Sprechen  in  un- 
geahnter Zahl  vor  sich  gehen.  Versuche  an  Lepra-Kranken  in  der 
Neisser'schen  Klinik  in  Breslau  haben  u.  a.  ergeben,  dass 
bei  10  Minuten  langem  Zählen  88170  Leprabacillen  auf  die  vor- 
liegenden Objectträger  ausgeschleudert  wurden. 

Es  muss  somit  a  priori  zugegeben  werden,  dass  von  der 
Mund-Rachenhöhle  des  Operateurs  und  seiner  Assistenten  die  Wunde 
inficirt  werden  kann.  Wenn  man  bedenkt,  dass  manche,  besonders 
lebhafte  Operateure  die  Gewohnheit  haben,  während  der  Operation 
zu  sprechen,  dass  manche  es  nicht  unterdrücken  können,  sich  zu 
räuspern  oder  gelegentlich  auch  zu  husten,  so  wird  man  diese 
Gefahr  nicht  unterschätzen  dürfen.  Die  beste  prophylaktische 
Maassregel  in  dieser  Richtung  ist  zweifellos,  bei  der  Operation 
möglichst  wenig  zu  sprechen.  Dies  war  schon  lange  vor  den 
Flügge'schen  Untersuchungen  auch  meine  Gewohnheit.  Wir  sind 
darauf  eingerichtet,  uns  fast  ausschliesslich  durch  stumme  Zeichen 
während  der  Operation  zu  verständigen.      Aber   schliesslich    muss 


256  Dr.  J.  Mikulicz, 

doch  gelegentlich  ein  Wort  gesprochen  werden.  Bei  kurz  dauernden 
Operationen  wird  die  damit  verbundene  Infectionsgefahr  allerdings 
ausserordentlich  gering  sein;  sie  kann  füglich  vernachlässigt  werden. 
Bei  länger  dauernden  Operationen  summiren  sich  aber  die  Schädlich- 
keiten, und  gewinnen  dann  zweifellos  eine  praktische  Bedeutung. 
Durch  die  bekannten  Untersuchungen  von  Miller^)  ist  festgestellt, 
dass  in  der  Mundhöhle  des  Gesunden  neben  zahlreichen  Saprophyten 
sich  auch  eine  Reihe  von  pathogenen  Bakterien  finden.  Es  ist 
aber  die  Virulenz  dieser  Bakterien  nicht  festgestellt  worden,  so 
dass  für  unsere  Frage  die  Mille  raschen  Untersuchungen  noch  einer 
Ergänzung  bedurften.  In  dieser  Richtung  hat  im  Flügge'schcn 
Laboratorium  Herr  Dr.  Mieczkowski  eine  Reihe  von  Unter- 
suchungen angestellt,  deren  Resultat  ich  Ihnen  kurz  mittheilen 
will.  Es  wurden  die  Mundhöhlen  von  48  gesunden  Personen  unter- 
sucht, und  zwar  nur  auf  die  uns  interessirenden  Bakterien,  Staphylo- 
coccus  aureus,  Streptococcus  longus  und  brevis.  22  mal  wurde 
Staph.  aur.,  29  mal  Strept.  long,  und  4  mal  Strept.  brev.  gefunden. 
Die  Virulenz  versuche  ergaben  beim  Staph.  aur.  in  9  von  13  unter- 
suchten Fällen  ein  positives  Resultat,  d,  h.,  auf  die  gesammte 
Zahl  der  Untersuchungen  berechnet,  ungefähr  in  ^/g  der  gesunden 
Mundhöhlen  virulenter  Staph.  pyog.  aur.  Viel  geringere  Bedeutung 
hat  bei  gesunden  Personen  offenbar  der  Streptococcus.  Bei 
17  Virulenz  versuchen  fiel  nur  1  positiv,  16  negativ  aus.  Von 
Bedeutung  ist  es  aber,  dass  es  bei  3  der  avirulenten  Streptococcen 
dieser  Herkunft  gelungen  ist,  bei  bestimmter  A'ersuchsanordnung 
im  Thierkörper  eine  Virulenz  hervorzurufen.  Eine  Ergänzung  zu 
diesen  Untersuchungen  bildeten  andere,  bei  denen  die  Mundbakterien 
bei  gutartigen  Anginen  untersucht  wurden.  Es  fanden  sich  hier 
bei  40  Untersuchungen  30  mal  Strept.  long.,  1  mal  Strept.  brev., 
17  mal  Staph.  aur.  Von  10  untersuchten  Staphylococcen  er- 
wiesen sich  8  als  virulent,  von  11  untersuchten  Streptococcen 
waren  4  hochgradig  virulent,  3  massig  virulent,  und  nur  4 
avirulent.  Es  geht  daraus  hervor,  dass  die  Virulenz  der 
Mundbakterien  sich  bei  localen  Erkrankungen  ausserordentlich 
steigert,  und  dass  unter  diesen  Umständen  die  Gefahr  der 
Verbreitung    von    Wundbakterien    durch    die    Mundhöhle    wesent- 


^)  Die  Mikroorganismen  der  Mundhöhle.     Leipzig  1889. 


Die  neuesten  Bestrebungen,  d.  asept.  Wundbehandlg.  zu  vervollkommnen.   257 

lieh  erhöht  wird.     Es  ist  wahrscheinlich,   dass  diese  Virulenz  auch 
längere  Zeit  nach  Ablauf  der  localen  Erkrankung  anhält^). 

Aus  diesen  Untersuchungen  geht  zur  Genüge  hervor,  dass 
die  Mundhöhle  gesunder  Menschen  relativ  häufig  virulente  Wund- 
bakterien beherbergt  und  dass  diese  schon  beim  einfachen  Sprechen 
auf  ihre  Umgebung  ausgeschleudert  werden  können.  Eine  Schutz- 
massregel dagegen  ist  demnach  geboten.  Man  könnte  daran  denken, 
die  Mundhöhle  vor  der  Operation  durch  Ausspülungen  möglichst 
zu  reinigen.  Versuche  in  dieser  Richtung  wären  noch  anzustellen 2). 
Wer  aber  weiss,  wie  wenig  erfolgreich  Desinfectionsmittel  bei  der 
Reinigung  von  Schleimhäuten  sind,  wird  sich  von  Mundspülungen 
von  vornherein  wenig  Erfolg  versprechen.  Ich  habe  deshalb  schon 
vor  einem  Jahre  in  meiner  Klinik  eine  Art  von  Mundbinde  ein- 
gefülirt,  welche  Mund-  und  Nasenhöhle  und  eventuell  gleichzeitig 
den  Bart  umschliesst.  Herr  Dr.  Hü  bener  hat  dann  eingehend  die 
Frage  studirt  und  sich  bemüht,  herauszufinden,  in  welcher  Weise 
man  in  zweckmässiger  und  doch  nicht  allzu  lästiger  Weise  die  aus 
dem  Munde  ausgeworfenen  Bakterien  aufhalten  könne.  Es  hat 
sich  dabei  herausgestellt,  dass  eine  einfache  Mundbinde  nicht  ge- 
nügt; erst  eine  doppelte  Lage  von  sterilisirter  Gaze  ist  im  Stande, 
fast  alle  Tröpfchen,  die  beim  Sprechen  aus  dem  Munde  geschleu- 
dert werden,  aufzuhalten.  Da  eine  doppelte  Gazelage  über  das 
halbe  Gesicht  gebunden  zu  unbequem  ist  und  zu  warm  macht,  so 
hat  Herr  Dr.  Hüben  er  eine  Art  Maske  construirt,  die  die  Nasen- 
und  Mundöflfnung  so  weit  umschliesst,  dass  beim  gewöhnlichen 
Sprechen  in  der  Regel  alle  ausgeworfenen  Flüssigkeitstheilchen  auf- 
gefangen werden.  Die  Versuche  wurden  so  angestellt,  dass  zu- 
nächst der  Mund  mit  einer  Aufschwemmung  von  Prodigiosusculturen 
ausgespült  und  dann  10  Minuten  lang^)  gezählt  wurde,  während 
vor  dem  Sprechenden  4  Agarplatten  aufgestellt  waren. 


^)  Nach  Untersuchungen  von  Hugenschmidt  (Annales  de  l'Institut 
Pasteur,  Vol.  X,  10)  wirkt  der  Speichel  nicht  bactericid.  Es  ist  indessen 
nach  den  oben  angeführten  Untersuchungen  von  Mieczkowski  wahrscheinlich, 
dass  viele  Bacterien  in  normalem  Speichel  wenigstens  zum  Theil  ihre  Virulenz 
einbüssen. 

2)  Manche  Operateure  pflegen  vor  der  Operation  ihren  Mund  mit  milden 
Äntisepticis  oder  mit  Alkohol,  resp.  Cognac,  auszuspülen. 

3)  Ein  10  Minuten  langes  Sprechen  giebt  selbstverständlich  nicht  dieselben 
Verhältnisse,  wie  sie  bei  einer  etwa  10  Miauten  lang  dauernden  Operation  be- 
stehen.    Wenn  man  aber   die  bei  einer  1  bis  Vj^  Stunden  dauernden  schwie- 


258 


Dr.  J.  Mikulicz, 


Schlecht  Gut    Gut 
sitzende  Schleier. 

Hübener'sch 

e    Maske. 

Hges 
seo. 

Sprechversuche,  d.  h.  Zählen  10  Minuten  lang. 

3— 4  mal. 
Husten. 

Ima 

Nie 

Bezeichnung  der 
Versuchsperson. 

H 

H 

H 

H 

H 

H 

M 

S 

G 

H 

H 

H 

U 

H 

H 

Ohne 

119 

119 

581 

362 

679 

233 

1507 

389 

101 

423 

527 

265 

223 

CO 

00 

Mit  einfach 
liegendem  Mull 

27 

3 

17 

20 

42 

10 

686 

156 

74!     14 

24 

180 

vacat 

Mit  doppelt 
liegendem  Mull 

24 

0 

1 

0 

0 

1 

72 

10 

1 

2 

0 

0 

0 

0 

506 

325 

Con  trollen 

vac£ 

it 

00 

00 

00 

oo 

00 

00 

00 

CO 

00 

00 

00 

00 

00 

Die  Ziffern  bedeuten  die  Gesammtzahl  der  Prodigiosuscolonien  auf  4  Agarplatten. 
CO  =  Unzählbar. 

Aus  beiliegender  Tabelle  können  Sie,  m.  H.,  die  Wirksamkeit 
der  Hüben  er' sehen  Maske  in  einfacher  und  doppelter  Mulllage 
ersehen.  Aus  den  Versuchen  ergiebt  sich,  dass  diese  Maske 
mit  do])pelter  Mullage  bei  der  grossen  Mehrzahl  der  Personen^) 
bei  ruhigem  Sprechen  einen  absoluten  Schutz  gewährt.  Beim 
Husten  und  Räuspern  ist  der  Schutz  kein  absoluter,  aber  gerade 
hier  wird  es  von  Werth  sein,  dass,  wenn  dem  Operateur  oder  einem 
Assistenten  unversehens  eine  derartige  Bewegung  passitt,  doch  nur 
ein  kleiner  Bruchtheil  der  ausgeworfenen  Menge  nach  aussen  ge- 
langen kann.  Beim  Niesen  schützt  auch  diese  Maske  relativ  wenig. 
Wir   operiren    mit    dieser  Maske    schon  seit    Y2  Jahre  und  haben 


rigen  Operation  gesprochenen  Worte  summirt,  so  kommt  leicht  eine  noch 
grössere  Wörterzahl  heraus,  als  bei  diesen  Versuchen,  und  gerade  bei  den  lang 
dauernden  schwierigen  Operationen  bedürfen  wir  ungleich  mehr  als  bei  den 
glatten,  kurz  dauernden,  der  Keimfreiheit;  denn  hier  ist  die  Gefahr  der  In- 
fection  ungleich  grösser,  die  Folgen  derselben  ungleich  verhängnissvoller. 

^)  Eine  Ausnahme  hat  bei  den  Versuchen  nur  ein  junger  Kollege  gemacht, 
der  sich  durch  eine  stark  gutturale  Sprache  auszeichnete.  Er  hatte  überdies 
bei  dem  Versuch  einen  so  argen  Ekel  vor  der  Prodigiosus-Gultur,  dass  ihm, 
wie  er  nachträglich  gestand,  der  Speichel  im  Munde  zusammenflos?,  den  er 
aber  selbstverständlich  nicht  verschluckte,  sondern  beim  Sprechen  successive 
ausspritzte.  So  ist  die  grosse  Zahl  der  trotzdem  durchgetretenen  Keime  zu 
verstehen.  Der  ganze  Versuch  kann  deshalb  auch  nicht  gegen  die  Wirksamkeit 
der  Hübener'sclien  Maske  sprechen. 


Die  neuesten  Bestrebungen,  d.  asept.  Wundbehandlg.  zu  vervollkommnen.  259 

uns    so    daran  gewöhnt,  dass    wir    davon  keine  Belästigung    ver- 
spüren i). 

Während  auf  diese  Weise,  wie  ich  glaube,  die  Frage  der  Luft- 
infection  für  die  Wundbehandlung  in  annähernd  befriedigender 
Weise  für  die  Praxis  gelöst  ist,  steht  die  Sache  ungleich  schwieriger 
bei  dem  Versuche,  die  Haut  sowohl  an  unsern  Händen  als  auch 
in  der  Umgebung  des  Operationsfeldes  keimfrei  zu  machen. 
Ich  kann  die  zahlreichen  Arbeiten,  die  von  den  verschie- 
densten Seiten  angestellt  wurden,  als  bekannt  voraussetzen. 
Neben  den  älteren  Untersuchungen  von  Forster,  Kümmell, 
Fürbringer  interessiren  uns  besonders  die  neuesten  Arbeiten  von 
Krönig,  Lauenstein,  Lockwood  und  Samter.  In  meiner 
Klinik  hat  sich  mit  der  Frage  der  Desinfection  der  Haut  sowohl 
des  Operationsfeldes  als  auch  der  Hände  des  Operateurs  und  seiner 
Gehülfen  seit  fast  2  Jahren  Herr  Dr.  Gottstein  sehr  eingehend 
beschäftigt.  Von  der  Desinfection  der  Hände  wollen  wir  zunächst 
absehen,  und  uns  jetzt  ausschliesslich  mit  der  Frage  beschäftigen: 
wie  weit  kann  die  Haut  des  Operationsfeldes  keimfrei  ge- 
macht werden?  Die  Untersuchungen  sind  hier  dadurch  erleichtert, 
dass  wir  Stückchen  der  zur  Operation  regelrecht  desinficirten  Haut 
cxcidiren  und  nun  nach  den  verschiedensten  Methoden  bis  in  die 
tiefsten  Hautschichten  bacteriologisch  untersuchen  können.  Lauen- 
stein hat  seine  Untersuchungen  in  der  Weise  angestellt,  dass  er 
kleine  Hautstückchen  excidirte  und  dieselben  auf  den  Nährboden 
übertrug.  Die  Untersuchungsmethode  Samter 's  war  mit  kleinen 
Abänderungen  ebenfalls  so,  dass  erbsehgrosse  Hautstückchen  auf 
den  Nährboden  gebracht  wurden.  Nur  in  einigen  Versuchen  nahm  er 
auch  ein  vorsichtiges  Zerkleinern  der  Hautstückchen  in  kleinste 
Partikelchen  vor.  Nach  Samt  er 's  Untersuchungen  hat  diese  Methode 


0  Operateure  und  Assistenten  mit  längerem  Bart  können  selbstverständ- 
lich durch  diesen  Keime  —  wohl  meist  in  Trockenform  —  auf  die  Wunde 
übertragen.  Dasa  die  Barthaare  pathogene  Keime  enthalten  können,  die  schon 
durch  leichte  Bewegungen  herabfallen  können»  hat  früher  schon  Garre  und 
neuerdings  Dr.  Hübener  in  meiner  Klinik  nachgewiesen.  Ich  habe  deshalb 
früher  bei  Operationen  einfache  Bartbinden  gebraucht,  wie  ich  sie  vor  mehreren 
Jahren  bei  Herrn  Prof.  Bardenheuer  in  Köln  gesehen  hatte.  Neuerdings 
combiniren  wir  die  Hübener'sche  Maske  mit  einer  ähnlichen  Bartbinde.  Ueber 
das  Nähere  wird  Herr  Dr.  Hübener  s.  Z.  berichten. 

ArehiT  fttr  klin.  Chirurgie.    67.  Bd.   Heft  2.  ]3 


260  Dr.  .1.  Mikulicz, 

die  Resultate  nicht  im  geringsten  verändert.  Nebenbei  brachte 
Samter  auch  erbsengrosse  Hautstückchen  in  Bouillon.  In  meiner 
Klinik  sind  von  Herrn  Dr.  Gottstein  die  Versuche  in  der 
Weise  angestellt  worden,  dass  die  Haut  durch  sterile  Messer  in 
feinste  Partikelchen  zerschabt  wurde;  es  war  dazu  nothwendig, 
Hautstückchen  von  mindestens  1 — 3  qcm  Grösse  zu  entnehmen. 
Die  Schabung  wurde  in  3  Schichten  mit  3  verschiedenen  sterilen 
Messern  ausgeführt;  es  wurde  eine  oberflächliche,  eine  mittlere 
und  eine  tiefe  Schicht  unterschieden.  Es  konnte  nicht  davon 
die  Rede  sein,  bei  dieser  Untersuchungsmethode  genau  die 
einzelnen  Schichten  von  einander  zu  trennen,  da  es  nicht 
absolut  zu  vermeiden  war,  dass  bei  der  Schabung  der  höher 
oben  gelegenen  Schicht  auch  Partikelchen  in  die  tieferen 
Schichten  hineingedrückt  wurden  oder  vom  Rande  übrig  blieben; 
aber  man  konnte  durch  diese  Methode  oinigermaassen  wenigstens 
die  in  den  tiefem  Schichten  gelegene  Bacterien  von  den  ober- 
flächlichen sondern.  Zum  Vergleich  mit  diesen  Untersuchungen 
wurde  die  Untersuchungsmethode  von  Lauenstein  und  die  zweite 
Methode  von  Samter  bei  einer  grossen  Anzahl  .der  Fälle  aus- 
geführt. Nach  der  Schabungsmethode  wurden  112  Fälle,  mehr 
als  die  Hälfte  der  Fälle  ausserdem  auch  nach  der  Lauenstcin- 
schcn  und  Samter'schen  Methode  untersucht.  Zu  bemerken  wäre 
noch,  dass,  während  diese  Versuche  im  Gang  waren,  zur  Desinfection 
in  der  allerersten  Zeit  Carbolsäure  und  Sublimat^),  in  der  folgenden 
Alcohol  (90  pCt.)  und  Sublimat  angewandt  wurden  2).  Femer  muss 
ich  hervorheben,  dass  die  Resultate  der  Hautdesinfection  sich  im 
Laufe  dieser  Untersuchungen  bedeutend  verbessert  haben;  denn 
wir  haben  erst  durch  dieselben  gelernt,  in  welcher  Weise  und  wie 
weit  wir  die  Desinfection  vervollkommnen  können. 

Die  Untersuchungen  ergaben  in  Uebereinstimmung  mit  jenen 
von  Lauenstein  und  Samter,  dass  nur  in  der  Minderzahl  der 
Fälle    die   Haut    wirklich    steril    war^).      Es    fanden    sich  78 mal 

0  Vergl.  F.  Boll,  Desinfection  der  Hände.  Deutsche  Med,  Wochenschr. 
1890.    No.  17. 

2)  Seit  mehr  als  einem  Vierteljahr  verwende  ich  Alcohol  (70 — 80  procent.) 
und  Lysol  (1  procent.). 

8)  Nach  den  Laucnstein'schen  Untersuchungen  fand  sich  die  Haut  in 
ca.  43pCt.  der  Fälle  keimfrei,  nach  den  Untersuchungen  von  Samter  und 
Lockwood  nur  in  ca.  Va  der  Fälle.  Die  Untersuchungen  von  Gottstein 
ergaben  nur  in  Vö  der  Fälle  völlige  Keimfreiheit. 


Die  neuesten  Bestrebungen,  d.  asept.  WundbehandJg.  zu  vervollkommnen.   261 

(unter  79  nicht  sterilen  .Hautstückchen)  Staphylococcus  albus, 
lOmal  Staph.  aureus,  5mal  Streptococcus,  Imal  Pyocyaneus  u.  s.  w. 
In  einer  Anzahl  von  Fällen  (15)  wurdön  die  in  den  excidirten 
Hautstückchen  gefundenen  Staph.  albi  auf  ihre  Pyo^enität  im 
Breslauer  hygienischen  Institut  durch  Herrn  Stabsarzt  Dr.  Bischoff 
untersucht,  der  darüber  in  einer  demnächst  in  der  Zeitschrift  für 
Hygiene  erscheinenden  Arbeit  berichten  wird.  Diese  Untersuchungen 
haben  ergeben,  dass  die  in  der  Haut  nisteüden  Staph.  albi  in 
ca.  75  pCt.  der  Fälle  pyogen  waren  (in  11  Fällen). 

Wenn  wir  die  verschiedenen,  bei  den  Gottstein'schen  Unter- 
suchungen angewandten  Methoden  mit  einander  vergleichen,  so 
finden  wir,  dass  bei  der  Schabungsmethode  Sterilität  erreicht 
wurde  in  16  Fällen,  bei  der  Methode  von  Lauenstein  in  34,  bei 
der  Samtor'schcn  in  28  Fällen,  dass  also  am  öftesten  Sterilität 
beobachtet  wurde  nach  der  Lauenstein'schen  Methode,  mehr 
als  doppelt  so  oft  als  nach  der  Schabungsmethode.  Es  ist  sehr 
wahrscheinlich,  dass  letztere  uns  den  Keimgchalt  der  Haut  viel 
genauer  angiebt,  als  die  Lauenstein'sche  und  auch  die  Samter- 
schc.  Natürlich  erfordert  die  Schabung  mehr  Zeit  als  das  blosse 
Einbringen  von  grösseren  Partikelchen  in  Agarschalcn^).  Während 
nun  die  früheren  Untersuchungen  sich  darauf  beschränkten,  festzu- 
stellen, dass  überhaupt  Keime  in  der  Haut  vorhanden  sind,  kam 
es  uns  besonders  auf  die  Feststellung  derjenigen  Partieen  der 
Haut  an,  in  welchen  sich  die  Bacterien  fanden.  Die  eigentliche 
Cutis  wurde  in  unseren  Fällen  nicht  mituntersucht,  nur  die  Epithel- 
schichten. Es  zeigte  sich  nun,  dass  nicht  nur  in  den  oberston 
und  mittleren,  sondern  auch  in  den  tiefen  Schichten  sich  Bacterien 
fanden,  u.  z.  recht  oft  gerade  hier  in  grösserer  Zahl  als  in  den 
oberflächlichen  Schichten.  Dies  würde  den  Schluss  zulassen,  dass 
unsere  Desinfectionsmethoden  resp.  die  Reinigungsmethode,  der  wir 
die  Haut  unterziehen,  ausreicht,  um  die  Oberfläche  keimfrei  resp. 
keimarm  zu  halten,  dass  aber  eine  Wirkung  in  die  tieferen  Partieen 
der  Haut  durch  unsere  Desinfectionsmittel  nur  selten  zu  erreichen 
ist.  Ein  durchgreifender  Unterschied  in  den  Desinfectionserfolgen 
zwischen    der    Carbol-Sublimat-    und    Alcohol-Sublimatdesinfection 


*)  Um  das  Hineinfallen  von  zufälligen  Keimen  soweit  als  möglich  zu  ver- 
meiden, wurden  die  Untersuchungen  in  einem  abgeschlossenen  Zimmer  mit 
ruhiger  Luft  vorgenommen. 

18* 


262  Dr.  .1.  Mikulicz 


j 


war  nicht  zu  finden.  Wenn  wir  aber  die  geringen  Unterschiede 
deuten  wollen,  so  sprechen  sie  doch  zu  Gunsten  der  Alcohol- 
Sublimatdesinfcction.  Während  nämlich  bei  ersterer  die  tiefere 
Schicht  in  59  pCt.  inficirt  blieb,  erwies  sie  sich  bei  der  Alcohol- 
Sublimatdesinfection  nur  in  47  pCt.  als  inficirt. 

Jedenfalls  geht  aus  diesen  Untersuchungen  hervor,  dass  wir 
nur  in  einem  kleineren  Bruchtheil  der  Fälle  darauf  rechnen  können, 
dass  die  Haut  in  der  Umgebung  der  Wunde  wirklich  keimfrei  ist. 
Bekanntlich  ist  die  Haut  an  vielen  Körperstellen,  namentlich  in 
der  Damm-  und  Leistengegend  besonders  reich  an  Bactericn. 
Glücklicher  Weise  droht  von  Seiten  der  umgebenden  Haut  der 
Wunde  während  der  Operation  selbst  relativ  wenig  Gefahr, 
sobald  sie  nur  oberflächlich  möglichst  keimfrei  ist.  Voraussetzung 
ist  natürlich,  dass  die  Haut  mit  den  besten  uns  heute  zur  Ver- 
fügung stehenden  Mitteln  desinficirt  ist;  welches  aber  die  beste 
und  verlässlichste  Methode  ist,  darüber  sind  die  Akten  noch  immer 
nicht  geschlossen.  Die  Alcoholdesinfection  nach  vorausgehender 
Reinigung  mit  Seife  und  Wasser  thut  hier  —  das  steht  wohl  heute 
fest  —  die  Hauptsache,  während  es  zweifelhaft  ist,  ob  noch  eine 
weitere  vorübergehende  Desinfection  mit  einem  der  bisher  ge- 
bräuchlichen antiseptischen  Mittel  die  Keimarmuth  steigert. 

Eine  directe  Berührung  der  Haut  des  Operationsfeldes  mit 
der  Wundfläche  selbst  ist  naturgemäss  fast  ausgeschlossen;  es 
kann  sich  also  nur  um  eine  indirecte  Uebertragung  handeln, 
deren  Gefahr,  wenn  nur  die  Haut  wenigstens  oberflächlich 
steril  ist,  nicht  hoch  anzuschlagen  ist,  wenigstens  sprechen 
alle  practischen  Erfahrungen  dafür.  Immerhin  wird  man  aber 
diese  Gefahr  nicht  ganz  ausser  Acht  lassen  dürfen.  Ver- 
suchen, aus  diesem  Grunde  die  Haut  des  Operationsfeldes  mit 
einem  undurchlässigen  aseptischen  Stoff  zu  bedecken,  der  während 
der  ganzem  Operation  die  Haut  bekleidet,  ist  daher  nicht  alle  Be- 
rechtigung abzustreiten.  Kuhn  hat  vor  kurzem  einen  derartigen 
aus  Seidenpapier  hergestellten  Stoflf,  Protectin  genannt,  empfohlen. 
Die  in  meiner  Klinik  damit  gemachten  Versuche  haben  jedoch 
nicht  befriedigt.  Das  Protectin  ist  zu  leicht  zerreisslich  und  haftet 
doch  nicht  genügend  fest  auf  der  Haut. 

Besonders  wünschenswerth  wäre  ein  derartiger  Deckstofif  in 
Fällen,  in    welchen    die  Haut    im   Operationsgebiete    durch  Acne, 


;' 


Die  neuesten  Bestrebungen,  d.  asept.  Wundbehandlg.  zu  vervollkommnen.   263 

Eczerae  oder  gar  durch  Pusteln  verunreinigt  und  somit  mit  meist 
hochvirulenten  Bacterien  besiedelt  ist.  Man  wird  in  solchen  Fällen 
eine  aseptische  Operation  am  besten  aufschieben,  bis  die  Haut 
wieder  ihre  normale  Beschafifenheit  angenommen  hat.  Ist  man  aber 
doch  genöthigt,  eine  unaufschiebliche  Operation  auszuführen,  so 
gehe  ich  in  solchen  Fällen  so  vor,  dass  zunächst  nur  die  Haut 
und  das  ünterhautfettgewebe  durchtrennt  wird;  dann  wird  eine  ge- 
lochte Compresse  mit  langen  scharf  gezähnten  Klemmzangen  derart 
an  die  Wundränder  (ohne  dass  jedoch  die  Haut  gefasst  wird) 
befestigt,  dass  durch  das  Loch  der  Compresse  nur  die  Wunde 
selbst  zum  Vorschein  kommt,  die  Haut  jedoch  vollständig  bedeckt 
bleibt.  Die  Compresse  ist  natürlich  nicht  undurchlässig;  sie  giebt 
nur  einen  relativen  Schutz;  es  wäre  deshalb  zu  wünschen,  für 
solche  Zwecke  einen  ganz  undurchlässigen,  aber  doch  schmiegsamen 
und  leicht  sterilisirbaren  Stoff  zu  besitzen.^) 

Wenn  nun  auch  eine  nicht  völlig  keimfreie,  aber  sonst  doch  normale 
Haut  während  der  Operation  selbst  nur  geringe  Infectionsgefahr  der 
Wunde  bringt,  so  kann  sie  doch  während  der  Wundheilung  als 
Infectionsquelle  wirken  und  zwar  überall  da,  wo  eine  offene  Com- 
munication  der  Wunde  mit  der  Haut  besteht,  vor  Allem  an  den 
Stichcanälen.  Viele  der  Stichcanaleiterungen  sind  so  zu  erklären, 
dass  die  in  der  Tiefe  der  Epidermis  verborgenen  Bacterien  all- 
mälig  in  den  Stichcanal  eindringen  und  ihn  inficiren.  Bei  tief- 
greifenden Nähten  kann  die  Eiterung  auf  diesem  Wege  bis  in  die 
eigentliche  Wundhöhle  fortschreiten.  Je  fester  die  Nähte  zusammen- 
gezogen, je  stärker  das  Gewebe  gequetscht  wird,  je  mehr  davon 
zu  Grunde  geht,  desto  günstiger  werden  die  Wachsthumsbedingungen 
für  die  betreffenden  Bacterien  sein.  Es  folgt  daraus,  dass  die 
Gefahr  der  Stichcanaleiterungen  um  so  geringer  sein  wird,  je  feiner 
die  Stichcanäle,  je  weniger  gespannt  die  Nähte  sind.  Ich  lege 
deshalb  schon  seit  längerer  Zeit  dort,  wo  eine  stärkere  Spannung 
zu  überwinden  ist,  z.  B.  bei  der  Vereinigung  der  Bauchdecken, 
versenkte  Nähte  bis  ans  ünterhautfettgewebe  an.  Darüber  kommt 
dann  eine  ganz  feine,  möglichst  lose,  aber  doch  sehr  cxact 
schliessende  fortlaufende  Seidennaht. 

Während  des  abgelaufenen  Jahres  wurden  von  Herrn  Dr.  Gott- 

*)  In  der  letzten  Zeit  habe  ich  zu  diesem  Zweck  den  sog.  Mosetigbattist 
verwendet,  der  sich  durch  Kochen  sicher  sterilisiren  lässt  und  undurchlässig  ist. 


264  Dr.  .1.  Mikulicz, 

stein  in  einer  grösseren  Zahl  von  Fällen  die  beim  ersten  Verband- 
wechsel entfernten  Hautnähte  auf  ihren  Keimgehalt  untersucht, 
ebenso  das  im  Stichcanal  etwa  vorhandene  Secret.  Selbstver- 
ständlich handelte  es  sich  nur  um  von  Hause  aus  aseptische  Ope- 
rationswunden. Der  Verbandwechsel  wurde  zwischen  dem  4.  und 
11.  Tage  vorgenommen:  nur  in  einzelnen  Fällen  (Osteotomien, 
Gelenkresectionen)  blieb  der  Verband  unberührt  bis  zu  3  Wochen 
liegen^). 

Die  bacteriologische  Untersuchung  der  Nähte  hat  nun  ergeben, 
dass  sich  unter  93  untersuchten  Fällen  nur  13  vorfanden,  in  denen 
alle  Nähte,  die  zur  Untersuchung  verimpft  wurden,  vollständig  steril 
waren.  In  allen  anderen  80  Fällen  fand  sich  stets  Staph.  albus 
vor,  bald  nur  an  einem  der  untersuchten  Fäden,  bald  an  mehreren, 
bald  an  allen.  In  14  von  den  80  Fällen  war  albus  mit  aureus 
combinirt. 

Stichcanaleiterung  wurde  dabei  trotzdem  nur  12  Mal  constatirt, 
helle  klare  Secret-Tröpfchen  in  20  Fällen.  Das  Auffallende  ist  nun, 
dass  sowohl  die  Eitertröpfchen,  als  auch  das  helle  klare  Secret  nicht 
immer  durch  albus  oder  aureus  inficirt  war;  in  einer  Anzahl  von  Fällen 
erwies  es  sich  als  steril.  Noch  merkwürdiger  ist,  dass  in  sechs 
Fällen  sich  aureus  vorfand,  obw^ohl  die  tadelloseste  Prima  intentio 
und  Aveder  Stichcanaleiterung  noch  Stichcanalröthung  vorlag.  Die 
Prüfung  auf  Pyogenität  des  Staph.  albus,  die  durch  Herrn  Stabs- 
arzt Dr.  Bisch  off  im  hygienischen  Institut  vorgenommen  wurde, 
hat  den  Staph.  albus  bis  auf  einen  Fall  unter  16  als  pyogen  er- 
wiesen. Bemerkt  sei  noch,  dass  wir  Gelegenheit  hatten,  einen 
sicheren  Fall  von  schwerer  Infection,  vcnirsacht  durch  Staph.  albus, 
zu  beobachten. 

Die  Gefahr  der  Secundärinfection  durch  die  Haut  steigert  sich 
zweifellos,  w^nn  die  Wundhöhle  längere  Zeit,  mehrere  Tage,  drainirt 
ist;  namentlich  in  bacterienreichen  Gegenden,  in  der  Nahe  der 
KörperöfFnungcn,    kann    von    hier    aus    die    ursprünglich  keimfreie 


0  Es  sei  besonders  hervorgehoben,  dass  Secretion  im  Stichkanal  und 
Secretion  in  der  eigentlichen  Wunde  durchaus  nicht  immer  nebeneinander 
cinhergingen.  Da  es  uns  daran  lag,  bei  Störungen  der  Wundheilung,  und  sei 
es  auch  bei  einfacher  Stichkanalröthung,  die  Art  der  vorhandenen  Bacterien  zu 
eruiren,  so  wurden  diese  Fälle  viel  regelmässiger  untersucht,  während  bei  reac- 
tionsloser  Heilung  die  Untersuchung  namentlich  in  der  ersten  Zeit  unterlassen 
wurde.  Dadurch  erklärt  es  sich  wohl  zum  Theil,  dass  in  der  grösseren  Zahl 
der  Fälle  der  Befund  ein  positiver  war. 


Die  neuesten  Bestrebungen,  d.  asept.  Wundbehandl^i:.  zu  vervollkommnen.   265 

Wunde  inficirt  werden.  Gegen  diese  Art  von  Socundärinfection 
giebt  es  nur  ein  sicheres  Mittel :  von  der  Drainirung  ganz  abzusehen 
und  die  Wunde  in  toto  möglichst  exact  zu  verschliessen.  Selbst- 
verständlich ist  das  nur  zulässig,  wenn  man  ganz  sicher  ist,  dass  in 
der  Wunde  keine  keimfähigen  virulenten  Bacterien  zurückgeblieben 
sind.  Ich  unterlasse  schon  seit  längerer  Zeit  principiell  bei  jeder 
aseptischen  Wunde  mit  wenigen  Ausnahmen  jede  Art  von  Drainage 
und  Secretableitung;  davon  soll  noch  später  die  Rede  sein. 

Können  wir  nun  nicht  doch  etwas  unteniehmen,  um  die  trotz 
der  genannten  Vorsichtsmassregeln  bestehende  geringe  Infections- 
gefahr  noch  weiter  zu  verringern  oder  ganz  zu  beseitigen?  Es  ist 
klar,  dass  wir  hier  mit. dem  Princip  der  sogenannten  Aseptik,  d.  h. 
mit  der  Anwendung  von  sicher  wirkenden  Sterilisirungsmassregeln, 
nicht  weiter  kommen;  wir  müssen  auf  entwicklungshemmende 
Mittel  im  Sinne  der  Antiseptik  zurückgreifen.  Vor  allem-  ist 
es  wunschenswerth ,  dass  der  Stichkanal  mit  einer  entwicklungs- 
hemmenden Substanz  versehen  wird.  Wir  imprägniren  zu  diesem 
Zweck  schon  seit  längerer  Zeit  die  Nahtfäden  mit  Jodoform.  Eine 
zweite  Massregel,  die  wir  in  der  letzten  Zeit  konsequent  durch- 
führen, ist  die,  dass  wir  unmittelbar  vor  der  Operation  die  Haut 
in  der  nächsten  Umgebung  des  Schnittes  ganz  oberflächlich  mit 
Jodtinctur  bestreichen,  eine  Massregel,  die  wir  in  ausgedehntem 
Maasse  ausserdem  zur  Desinfection  unserer  Fingerspitzen  gebrauchen. 
Es  ist  möglich,  dass  das  angewendete  Jod,  das  bekanntlich  zu  den 
kräftigsten  Desinfectionsmitteln  gehört,  auch  eine  gewisse  bactcrien- 
tödtende  Kraft  bis  in  die  tieferen  Epidermisschichten  entfaltet; 
wahrscheinlich  aber  kommt  hier  mehr  noch  eine  protrahirtc  Ent- 
wicklungshemmung zur  Geltung.  Eine  dritte,  nicht  minder  wirk- 
same Maassregel  ist  ein  fest  anliegender,  unverrückbarer  Deckver- 
baud,  der  namentlich  in  so  gefährlichen  Gegenden,  wie  es  die  In- 
guinalgegend  ist,  das  Eindringen  von  Bacterien  aus  der  weiteren 
Umgebung  verhindert.  Bruns  hat  zu  diesem  Zweck  vor  kurzem 
die  Airolpaste  empfohlen,  mit  der  die  ganze  Nahtlinie  bedeckt 
wird.  Ich  habe  zuerst  auch  die  Bruns' sehe  Paste  angewandt, 
später  aber  an  ihre  Stelle  die  ungleich  billigere  Zinkpastc  ge- 
setzt, die  in  ähnlicher  Weise  wie  die  Bruns 'sehe  Airolpaste  zu- 
sammengesetzt ist  und  genau  denselben  Dienst  thut.  Es  ist 
vielleicht  übertrieben,    diese  3  Maassregeln  zu    der  schon   voraus- 


266  Dr.  J.  Mikulicz, 

gegangenen  Desinfection  der  Haut  hinzuzufügen;  sie  bringen  aber 
nach  unseren  Erfahrungen  keinen  Schaden  und  sichern  ein  so 
ideales  Aussehen  der  Stichkanäle,  wie  wir  es  früher  in  dieser 
Regelmässigkeit  nicht  erlebt  haben.  Selbst  nach  den  grössten 
Operationen  resultirt  eine  feine  lineare  Narbe  nait  kaum  sichtbaren 
Stichkanälen. 

Ungleich  schwieriger  ist  das  Problem  der  Desinfection  imserer 
Hände  zu  lösen.  Dasselbe  hat  eine  um  so  grössere  Bedeutung, 
als  die  Berührung  unserer  Finger  mit  der  Operationswunde  eine 
directe,  viel  innigere  ist,  sodass  selbst  geringfügige  Reste  von 
pathogcnen  Keimen  bei  den  energischen  Manipulationen  während 
der  Operation  in  die  Gewebe  hineingerieben  werden.  Dazu  kommt, 
dass  die  Hand  des  Chirurgen  naturgcmäss  allen  möglichen  In- 
fectionen  ausgesetzt  ist.  Es  handelt  sich  hier  somit  nicht  nur  um 
die  zum  Tbeil  harmlosen  Epiphyten  der  Haut,  wie  sie  meist  das 
Operationsfeld  verunreinigen,  sondern  um  oft  hochvirulente  Wund- 
bacterien,  die  zweifellos  an  unseren  Fingern,  besonders  in  den 
Subungualräumen,  einen  günstigen  Nährboden  finden,  und  hier  trotz 
sorgfältiger  Reinigung  in  verborgenen  Nestern  fortvegetiren  können. 
Es  ist  deshalb  verständlich,  dass  gerade  der  Händedesinfection  in 
den  letzten  Jahren  die  grösste  Aufmerksamkeit  geschenkt  wurde 
und  dieses  Thema  von  den  verschiedensten  Seiten  bearbeitet  wurde. 
Eine  methodische  Bearbeitung  der  Frage  der  Händedesinfection 
datirt  eigentlich  erst  seit  den  Arbeiten  von  Kümmell  ^)  und 
namentlich  Fürbringer^),  welchem  wir  bekanntlich  die  Einführung 
der  Alkoholdesinfection  in  die  chirurgische  Praxis  verdanken.  Die 
Resultate  dieser  Forscher,  sowie  der  späteren  hier  nicht  erwähnten 
Arbeiten,  darf  ich  wohl  auch  als  bekannt  voraussetzen.  Ich  be- 
schränke mich  darauf,  kurz  über  die  einschlägigen  Untersuchungen 
zu  berichten,  welche  in  meiner  Klinik  auch  Herr  Dr.  Gottstein 
angestellt  hat. 


1)  Wie  soll  der  Arzt  seine  H'ande  desinficiren?  Centralbl.  f.  Chirurgie. 
1885,  No.  17.  —  Die  Bedeutung  der  Luft-  und  Gontactinfection  fiir  die  prac- 
tische  Chirurgie.  XIV.  Chirurgen-Congrcss  u.  L  an  gen  beck's  Archiv,  Bd.  33, 
Seite  531. 

2)  Untersuchungen  und  Vorschriften  über  Desinfection  der  Hände,  nebst 
Bemerkungen  über  den  bacteriologischen  Character  des  Xagelschmutzes.  Wies- 
baden 1888. 


Die  neuesten  Bestrebungen,  d.  asept.  Wundbehandlg.  zu  vervollkommnen.  267 

Hierbei  müssen  die  Untersuchungen  getrennt  werden,  die  im 
ersten  Jahre  vorgenommen  wurden  von  den  im  folgenden  Jahre 
angestellten.  Denn  im  Laufe  der  Zeit  hatte  sich  durch  die  ersten 
Untersuchungen  die  Nothwendigkeit  herausgestellt,  unsere  Des- 
infectionsmaassregeln  zu  verschärfen,  da  die  Resultate  zu  schlechte 
waren  i). 

Im  Winter-Semester  1896/97  wurde  die  Desinfection  so  aus- 
geführt, dass  zunächst  Waschung  Init  Wasser  und  Seife  mittelst  Holz- 
faserbündel ca.  3—5  Minuten,  Desinfection  mit  Alkohol  1—2  Minuten 
und  dann  W^aschung  mit  1  prom.  Sublimatlösung  ca.  2—3  Minuten 
ausgeführt  wurde.  In  der  späteren  Zeit  wurde  die  Desinfection  in- 
sofern verbessert,  als  die  Waschung  mit  Wasser  und  Seife  be- 
deutend verlängert  und  besonderer  Werth  auf  eine  häufige  Wech- 
selung  des  Holzfaserbündels  gelegt  wurde,  von  dem  Gedanken 
ausgehend,  dass  man  ja  sonst  die  von  der  Hand  durch  das 
Holzfaserbündel  abzuwaschenden  Bacterien  immer  wieder  von 
neuem  durch  dasselbe  in  die  Hand  hineinreibe,  dass  dies  aber 
durch  einen  häufigen  Wechsel  des  Tupfers  vermieden  werden  kann. 
Auch  wurde  bei  der  Waschung  mit  Seife  später  neben  dem  Holz- 
faserbündel auch  noch  die  sterile  Bürste  verwendet.  Seit  1  Jahre 
stehen  eine  so  grosse  Zahl  von  in  Dampf  sterilisirten  Bürsten  zur 
Verfügung,  dass  für  jede  Person  und  zu  jeder  einzelnen  Procedur 
der  Waschung  eine  neue  Bürste  verwendet  wird  2). 


0  Die  folgenden  Untersuchungen  beziehen  sich  ausschliesslich  auf  die  von 
uns  ror  den  Operatiunen  thatsächlich  geübte  Desinfection.  Es  kam  mir  darauf 
an,  nicht  allein  durch  die  bacteriologischen  Untersuchungen,  sondern  ebenso 
durch  die  Erfolge  der  Wundheilung  zu  controlliren,  wie  weit  das  geübte  Ver- 
fahren dem  praktischen  Bedürfniss  entsprach.  Der  ganze  Eeinigungs-  und  Des- 
infectionsprocess  der  Hände  nahm  entsprechend  der  andererwärts  geübten  Praxis 
im  Durchschnitt  ca.  10 — 12  Minuten,  selten  mehr  in  Anspruch.  Dies  muss  Den- 
jenigen gegenüber  hervorgehoben  werden,  die  ad  hoc  das  Desinfectionsverfahren 
noch  viel  intensiver  gestalteten  und  bis  auf  V2  Stunde  und  darüber  ausdehnten. 
Dass  dadurch  abweichende  Resultate  erzielt  werden  können,  ist  leicht  möglich ; 
es  hat  aber,  glaube  ich,  wenig  Werth,  ein  Verfahren  in  einer  Form  zu  prüfen, 
die  sich  in  der  Praxis  kaum  durchführen  lasst. 

2)  Der  Gang  der  mechanischen  Reinigung  ist  somit  folgender:  Erstens: 
Waschung  mit  Seife  und  fliessendem,  heissem  Wasser,  mittels  steriler  Holzfaser- 
bündcl.  Zweitens:  mechanische  Reinigung  der  Subuugualraume  mit  sterilisirtcm 
und  in  5  pCt.  Carbolsäure  aufbewahrten  Nagelreiniger  resp.  Nagelschcere. 
Drittens:  abermalige  Reinigung  mit  fliessendem,  heissen  Wasser  und  Seife 
mittels  sterilisirter  Bürste.  Viertens:  Reinigung  mit  Alkohol  (in  der  jüngsten 
Zeit  70  proc.)  mittels  neuer  sterilisirter  Bürste.  Fünftens:  Reinigung  mit  einem 
Desinfectionsmittel  (früher  1  pro  MiUc  Sublimat,  in  der  letzten  Zeit  1  pCt.  Lysol; 
eine  Zeit    lang    wurde  auch    2V»  proc.  SolveoUösung  gebraucht.)     Sowohl    der 


268  Dr.  J.  Mikulicz, 

Es  wurden  bei  den  ersten  Untersuchungen  im  Winter-Semester 
1896/97  im  ganzen  72  Untersuchungen  angestellt,  wobei  sich  fast 
2/3  aller  Hände  als  inficirt  erwiesen.  (Eine  Untersuchung  bezieht 
sich  immer  auf  beide  Hände.)  In  der  Hälfte  der  inficirten 
Fälle  war  die  Zahl  der  gefundenen  Keime  eine  ausserordentlich 
grosse.  Was  die  Ausführung  der  Untersuchungen  anbetrifft,  so 
wurden  in  einem  Theil,  nämlich  28  pCt.  der  Fälle,  das  Sublimat 
durch  Schwefelammonium  ausgefällt.  Es  zeigte  sich  aber,  dass  es 
ziemlich  gleichgültig  ist,  ob  man  das  Sublimat  durch  Schwefel- 
ammonium ausfällt  oder  nicht;  für  unsere  practischen  Unter- 
suchungen wenigstens  war  es  von  geringer  Bedeutung,  da  die  Zahl 
der  auf  die  Schalen  übertragenen  Keime  ungefähr  dieselbe  blieb, 
gleichgültig,  ob  man  das  Sublimat  ausfällte  oder  nicht. 

Was  nun  die  Desinfectionsfähigkeit  der  einzelnen  Opera- 
teure und  Assistenten  betrifft,  so  zeigte  sich  bald,  dass  hierbei 
grosse  Unterschiede  vorhanden  sind,  dass  es  Hände  giebt,  die  sich 
ausserordentlich  schwer  desinficiren  lassen,  während  wieder  andere 
nach  verhältnissmässig  kurzer  Zeit  keimfrei  resp.  keimarm  gemacht 
werden  konnten.  Es  war  von  besonderem  Interesse,  die  einzelnen  Herren' 
nach  ihrer  speciellen  Beschäftigung  in  der  Klinik  zu  scheiden.  Es 
war  nicht  gleichgültig,  ob  ein  Assistent  oder  Operateur  nur  mit 
aseptischen  oder  nur  mit  septischen  oder  mit  aseptischen  und 
septischen  Wunden  durch  einander  zu  thun  hatte.  Es  mögen  nur 
die  Gegensätze  herausgenommen  werden.  Derjenige  Opdrateur,  der 
sowohl  zahlreiche  aseptische  wie  septische  Operationen  durch  ein- 
ander ausgeführt  hatte,  zeigte  sich  in  92  pCt.  der  Fälle  inficirt. 
Interessant  war  hierbei,  dass  niemals  eine  leichte  Infection  vorlag; 
vielmehr  waren  in  Y^  der  Fälle  die  Hände  intensiv  inficirt.  Ganz 
besonders  interessant  ist,  dass  hiervon  in  fast  der  Hälfte  der 
Untersuchungen  die  Hände  mit  Staphylococcus  aureus  inficirt 
waren.  Den  Gegensatz  dazu  bildet  der  Operationsdiener,  der  mit 
septischen    Operationen    nichts    zu    thun    hat    und    überhaupt  mit 


Alkohol  als  auch  das  Antiseptikum  werden  nach  einmaliger  Benutzung  aus- 
geleert, so  dass  die  betreffende  Flüssigkeit  nie  zweimal  zur  Benutzung  kommt. 
Der  benutzte  Alkohol  wird  durch  eine  von  Dr.  Hcnlc  angegebene  Vorrichtung 
gesammelt  und  vom  Apotheker  überdcstillirt.  Sechstens:  Seit  Ende  Januar 
werden  die  Fingerspitzen  in  Jodtinctur  getaucht  und  darauf  sofort  in  Lysol 
abgespült. 


Die  neuesten  Bestrebunß:en,  d.  asept.  Wundbehandlg.  zu  vervollkommnen.  269 

keinen  Kranken  in  directe  Berührung  kommen  darf.  Er  ist  nur 
beschäftigt  beim  Zureichen  der  Instrumente  bei  aseptischen  Opera- 
tionen und  leicht  infectiösen  Fällen,  z.  B.  Magen-  und  Darm- 
operationen. Er  erwies  sich  nur  in  Yg  der  Fälle  als  inficirt  und 
hiervon  in  Y5  ganz  leicht,  und  auch  im  letzten  Fünftel  niemals 
intensiv,  niemals  durch  Staphylococcus  aureus.  Von  grossem 
Interesse  ist  auch,  dass  einer  der  Assistenten,  der  Leiter  einer 
septischen  Station,  sich  zwar  in  Folge  der  Beschaffenheit  seiner 
Hände  verhältnissmässig  leicht  seine  Hände  keimfrei  resp.  keimarm 
erhalten  konnte;  er  war  nur  in  Yg  der  Fälle  inficirt.  War  es  ihm 
aber  nicht  gelungen,  seine  Hände  zu  desinficiren,  so  fand  sich 
stets  Staphylococcus  aureus. 

Eine  wesentliche  Ergänzung  erfahren  die  angeführten  Beob- 
achtungen durch  systematische  Untersuchungen,  welche  an  be- 
handschuhten und  unbehandschuhten  Händen  im  Laufe 
des  letzten  Jahres  vorgenommen  wurden.  Diese  Untersuchungen 
geben  gleichzeitig  Aufschluss  darüber,  wie  weit  die  von  mir 
empfohlenen  Zwirnhandschuhe  die  Keimarmuth  der  Hand  während 
der  Operation  steigern. 

Theoretische  Vorversuche  ergaben  für  uns  von  vom  herein, 
dass  die  Handschuhe,  so  lange  sie  trocken  sind,  Keime  nur  durch- 
lassen, wenn  eine  enorm  starke  Infection  der  Hände  vorher  statt- 
gefunden hatte  und  auch  dann  nur  in  den  seltensten  Fällen.  In 
dem  Augenblick  aber,  wo  Flüssigkeit  an  die  Handschuhe  gebracht 
wurde,  traten  die  Bacterien  mit  ausserordentlicher  Leichtigkeit 
durch  dieselben  hindurch.  Quantitative  Untersuchungen,  ob  die 
Zahl  der  Keime  an  den  Handschuhen  geringer  ist  als  an  den  blossen 
Fingern,  sind  nicht  angestellt  worden.  Jedenfalls  war  auch  an 
den  Handschuhen  die  Zahl  der  Keime  eine  enorm  grosse,  so  dass 
bei  der  groben  Art  unserer  Untersuchungsmethode  ein  nachweis- 
barer Unterschied  nicht  gesehen  werden  konnte. 

Die  Untersuchungen  wurden  so  angestellt,  dass  die  blossen 
resp.  behandschuhten  Finger  in  ca.  l'cm  hohe  Agarschalcn  so 
tief  als  möglich  eingetaucht  wurden,  und  zwar  so,  dass  besonders 
der  Untemagelraum  und  der  Nagelfalz  sich  im  Agar  abdrückte; 
von  genaueren  Untersuchungen  jedes  einzelnen  Fingers  in  Bouillon 
und  Aussäung  in  Platten  wurde  wegen  derUmständlichkeit  der  Methode 


270  Dr.  J.  Mikulicz, 

Abstand  genomrnen  ^).  Zur  Infection  der  Finger  wurden  bei  den  theore- 
tischen Versuchen  Prodigiosus-Culturen  benutzt.  Es  zeigte  sich  aber 
bald,  wie  ausserordentlich  schwierig  theoretische  Untersuchungen 
nach  dieser  Richtung  sind.  Denn  bat  man  auch  die  betreffenden 
Assistenten  ihre  Desinfection  nicht  länger  auszuführen  als  es  im 
Operationssaale  geschieht,  so  liess  es  sich  doch  nicht  vermeiden, 
dass  ein  grosser  Theil  derselben  die  Zeit  bedeutend  verlängerte 
oder  durch  viel  energischeres  Reiben  die  Hände  so  gründlich  als 
möglich  zu  desinficiren  suchte.  Es  stellte  sich  auch  bei  der  grossen 
Zahl  der  theoretischen  Untersuchungen  heraus,  dass  der  Prodigiosus 
nicht  das  geeignete  Bakterium  für  solche  Untersuchungen  ist,  weil 
es  zu  leicht  gelingt,  ihn  von  den  Händen  fortzuschaffen  resp.  durch 
die  Desinfectionsmittel  abzutödten.  Versuche  mit  andern,  resisten- 
teren  Bacterien,  wie  mit  resistentem  Staphylococcus  aureus  und 
Pyocyaneus  konnten  in  der  Klinik  nicht  vorgenommen  werden,  um 
nicht  bei  diesen  Manipulationen  durch  die  vielleicht  zurück- 
bleibenden Keime  die  Hände  dauernd  zu  verunreinigen.  Theoretische 
Untersuchungen  darüber  müssten  von  anderer  Seite  ausgeführt 
werden.  Um  so  werthvoller  waren  desshalb  unsere  practischen 
Handschuhuntersuchungen  vor  und  nach  der  Operation,  nicht 
minder  aber  auch  bei  dem  häufigen  Handschuh  Wechsel  während 
der  Operation.  Zunächst  wurden  die  Hände  undesinficirt,  dann 
nach  Waschung  mit  Wasser  und  Seife,  nach  der  Waschung  mit 
Alkohol,  nach  der  Waschung  mit  Sublimat  (resp.  Lysol  oder 
Solveol),  nach  dem  Eintauchen  der  Fingerspitzen  in  Jodtinktur, 
in    trockenen    Handschuhen    und    schliesslich    während    und    am 


1)  Betont  muss  .  noch  werden ,  dass  die  Untersuchungen  uns  keine 
absoluten  Werthe  geben  können  in  Folge  der  Art  und  Weise,  in  der  sie  an- 
gestellt werden.  Denn  wir  haben  dieselben  nicht  in  der  Weise  gemacht,  wie 
Fürbringer,  der  aus  dem  Unternagelraum  und  Nagelfalz  soviel  als  möglich 
von  dem  noch  nach  der  Desinfection  vorhandenen  Schmutz  herausschabte 
und  dann  auf  IMatten  ausgoss,  um  die  einzelnen  Keime  genau  prüfen  und 
isoliren  zu  können;  zu  solchen  umständlichen  Untersuchungen  ist  bei 
einem  grossen  chirurgischen  Betrieb  die  Zeit  nicht  vorhanden.  Wir  h«aben 
uns  deshalb  damit  begnügt,  die  desinficirten  Finger  in  die  Schalen  ab- 
zudrücken. Hierdurch  gelangen  natürlich  nicht  die  gesammten  Keime,  die  sich 
an  den  Fingerspitzen  linden,  auf  die  Schalen,  aber  doch  immerhin  ein  grosser 
Theil  derselben,  und  wenn  wir  auch  kein  absolutes  Maass  haben,  so  haben  wir 
doch  ein  relatives,  genügend,  um  für  die  praktischen  Verhältnisse  gültige 
Schlussfolgerungon  zu  ziehen.  Es  kommt  bei  diesen  Versuchen  ja  nicht  darauf 
an,  zu  wissen,  wieviel  Keime  die  Finger  noch  in  verborgenen  Nischen  unter 
den  Nägeln  enthalten,  sondern  wieviel  sie  thatsächlich  an  die  von  ihnen  be- 
rührten Objecte  abgeben. 


Die  neuesten  Bestrebungen,  d.  asept.  Wundbehandlg.  zu  vervoUkümmnen.   271 

Schluss  der  Operation  sowohl  mit  als  auch  ohne  Handschuhe  ge- 
sondert untersucht. 

Was  zunächst  die  Untersuchung  der  undesinficirten  Hände 
betrifft,  so  ergab  sich,  wie  ja  zu  erwarten  war,  dass  die  Hände 
stets  inficirt  gefunden  wurden,  und  zwar  waren  sie  in  80  pCt.  der 
Fälle  auf  das  aller  intensivste  inficirt  mit  allen  möglichen  Arten 
von  Bakterien.  Nach  der  Waschung  mit  Wasser  und  Seife  hatte 
sich  das  Verhältniss  in  Betreff  der  Keimfreiheit  nicht  verändert; 
es  waren  nach  der  Wasserwaschung  in  allen  Fällen  die  Hände 
inficirt;  allein  der  Grad  der  Infection  hatte  sich  vermindert;  die 
2^hl  der  Keime  war  in  einem  Theil  der  Fälle  ungefähr  um  die 
Hälfte  geringer  geworden.  Nach  der  Waschung  mit  96  proc. 
Alcohol,  welcher  in  einem  Theil  der  Fälle  angewandt  wurde  ^), 
war  in  78  pCt.  Keimfreiheit  erreicht;  bei  50  proc.  Alcohol  da- 
gegen nur  in  59  pCt.  Was  die  Schwere  der  Infection  betrifft,  so 
ist  dieselbe  nach  der  Alcoholwaschung  stets  sehr  gering,  nie  wurde 
unmittelbar  nach  der  Alcoholdesinfection  eine  sehr  intensive  In- 
fection gefunden. 

Nunmehr  folgte  die  Untersuchung  der  Hände  nach  der 
Sublimat-  resp.  Lysol-  oder  Solyeol-Desinfection.  Dabei  ergab 
sich  dass  ausserordentlich  merkwürdige  Resultat,  dass  nach 
der  Sublimatdesinfection  nur  in  47  pCt.  der  Fälle  Keimfreibeit 
erreicht  wurde.  Da  nun  aber  stets  die  Alcoholdesinfection,  die, 
wie  erwähnt,  eine  Keimfreiheit  von  59 — 78  pCt.  erzielte,  voraus- 
gegangen war,  so  beweist  dies,  dass  die  Resultate,  die  wir  nach 
der  Alcohol-Desinfection  erzielt  haben,  nicht  die  wahren  Werthe 
angeben,  da  sonst  die  Zahl  der  Keime  nach  der  Alcoholdesinfection 
und  nach  der  Sublimatdesinfection  sich  mindestens  gleich  bleiben 
müssten;  zu  erwarten  wäre  es  sogar,  dass  sie  noch  besser  würden ; 
derselbe  Schluss  lässt  sich  bei  der  Lysol-  und  Solveol-Desinfection 
ziehen.  Es  ergiebt  sich  daraus,  dass  die  Alcoholdesinfection,  wie 
ja  schon  nach  Untersuchungen  anderer  Forscher  zu  erwarten  war, 
eine  Art  Gerbung  der  Haut  erzielt,  die  Keime  aber  nicht  voll- 
ständig abtödtet.  Sobald  nun  aber  der  Alcohol  wieder  von  den 
Fingern  entfernt  wird,  ist  auch  die  Möglichkeit  vorhanden,  dass 
die  Bakterien    aus    den  tiefen  Epidermisschichten    wieder    an    die 


*)  Wie  erwähnt,  verwenden  wir  in  letzter  Zeit  70  proc.  Alkohol. 


272  Dr.  .1.  Mikulicz. 

Oberfläche  kommen.  Die  Alcoholdesinfection  muss  man  daher  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  als  eine  Art  Scheindesinfection  bezeichnen. 
Trotzdem  sind  wir  weit  entfernt  davon,  den  Alcohol  auf  Grund 
dieser  Untersuchungen  etwa  aus  unserer  Desinfectionspraxis 
verbannen  zu  wollen,  er  hat  als  Reinigungs-  und  Desinfections- 
raittel  der  Haut  wohl  ganz  bedeutenden  Werth. 

Die  Untersuchungen  nach  dem  Eintauchen  der  Finger  in  Jod- 
tinctur  haben  in  80  pCt.  Keimfreiheit  ergeben,  und  in  den  20  pCt., 
wo  überhaupt  Keime  gefunden  wurden,  war  die  Intensität  der  In- 
fection  stets  nur  eine  ganz  geringe. 

In  trocknen  Handschuhen  wurden  in  einigen  Fällen  (in 
4  pCt.)  ebenfalls  Keime  gefunden;  woher  diese  Keime  stammen, 
hat  sich  nicht  feststellen  lassen.  Es  zeigte  sich  übrigens 
schon  bei  unseren  ersten  Vorversuchen,  dass,  wenn  wir  die 
Handschuhe  mit  unseren  Fingern  anziehen,  leicht  von 
letzteren  Keime  an  die  äussere  Fläche  der  Handschuhe  heran- 
kommen. Dies  veranlasste  die  Einführung  von  Handschuhzangen, 
sodass  die  aus  dem  sterilen  Korbe  genommenen  Handschuhe,  wie 
dies  von  Dr.  Gottstein  bei  seinem  Vortrage  auf  der  Braun- 
schweiger Naturforscherversammlung  auseinandergesetzt  wurde,  von 
einer  Wärterin  gehalten  werden  und  die  Hände,  ohne  mit  der 
Aussenfläche  der  Handschuhe  in  Berührung  zu  kommen,  in  die- 
selben hineinfahren. 

Von  ausserordentlicher  Wichtigkeit  sind  die  Untersuchungen 
während  und  am  Schluss  der  Operation  mit  und  ohne  Handschuhe. 
Ich  muss  hier  hervorheben,  dass  wir  unsere  Handschuhe  während 
einer  Operation  des  öftern  wechseln.  Die  trockenen  Handschuhe 
werden  im  Laufe  der  Operation  mit  Blut  und  anderen  Flüssig- 
keiten imbibirt.  Infolge  dessen  werden  ausserordentlich  leicht 
Bakterien,  die  von  aussen  z.  B.  der  Haut  des  Operationsfeldes 
an  den  Handschuh  herankommen,  festhaften  resp.  nach  innen 
dringen  können.  Aber  ebenso  leicht  können  die  an  der  Finger- 
haut befindlichen  Bakterien  durch  den  Handschuh  nach  aussen  ge- 
langen. In  der  That  finden  sich  im  Verlaufe  der  Operation  in  den 
Handschuhen  meist  sehr  bald  Bakterien.  Welchen  Weg  nun  die 
grössere  Anzahl  derselben  nimmt,  lässt  sich  durch  diese  Versuche 
nicht  feststellen.  Die  früher  angeführten  Versuche  haben  ergeben, 
dass  nur  in  etwa  der  Hälfte  der  Fälle  zu  Beginn  der  Operation  die 


r 


Die  neuesten  Bestrebungen,  d.  asept.  Wundbeliandlg.  zu  vervollkommnen.   273 

Hände  selbst  (ohne  Handschuhe)  oberflächlich  keimfrei  sind.  Wenn 
wir  aber  die  Art  unserer  Untersuchungsmethode  (Eintauchen  in  Agar) 
berücksichtigen,  welche  nur  einen  Rückschluss  auf  die  oberflächlichen 
Partien  der  Finger  gestattet,  so  ist  diese  Schätzung  sicher  noch 
zu  hoch  gegriflfen.  Schon  aus  diesem  Grunde  ist  es  sehr  wahr- 
scheinlich, dass  die  Hauptmasse  der  in  den  Handschuhen  vorge- 
fundenen Bakterien  von  der  Haut  der  Finger  stammt,  natürlich 
unter  der  Voraussetzung,  dass  wir  in  absolut  aseptischen  Geweben 
operiren  ^). 

Nun  haben  unsere  Versuche  weiterhin  ergeben,  dass  im  all- 
gemeinen an  den  Handschuhen  die  Menge  der  Bakterien  eine 
geringere  war  als  nach  Abziehen  der  Handschuhe  an  der  Hand. 
Es  ist  somit  anzunehmen,  dass  die  Hauptsumme  der  Bakterien  an 
den  Fingern  sitzt  und  von  dort  durch  die  Handschuhe  nach  aussen 
dringt.  Eine  Bestätigung  dieser  Ansicht  ist  wohl  noch  darin  zu 
finden,  dass  die  Hauptsumme  der  an  der  Hand  gefundenen 
Bakterien  im  allgemeinen  immer  wieder  die  Epiphyten  der 
normalen  Haut  sind.  Unsere  Versuche  haben  ergeben,  dass 
der  Procentgehalt  der  inficirten  Hände  während  der  Operation 
mit  Handschuhen  insgesammt  69  pCt.  beträgt;  ohne  Handschuhe 
ist  die  Procentzahl  bedeutend  höher,  nämlich  89  pCt.  Am 
Schluss  einer  langdauernden  Operation  ohne  häufigen  Hand- 
schuhwechsel beträgt  sie  mit  Handschuhen  84  pCt.,  ohne  Hand- 
schuhe 100  pCt.:  je  länger  die  Operation  dauert,  desto  mehr 
sind  die  Hände  inficirt.  Der  Keimreichthum  der  Hände  und 
Handschuhe  am  Schluss  der  Operation  ist  zum  Theil  vielleicht 
darauf  zurückzuführen,  dass  beim  Nähen  der  Wunde  die  operirende 
Hand  in  eine  intensivere  Berührung  mit  der  Haut  des  Patienten 
kommt.  Die  Möglichkeit,  dass  bei  dieser  Gelegenheit  eine  grössere 
Menge  von  Hautbakterien  des  Patienten  von  den  Handschuhen 
aufgenommen  und  festgehalten  wird,  muss  gewiss  zugegeben  werden. 
Auffallend  ist,  dass  am  Schluss  der  Operation  die  Intensität  der 
Infection  der  Hände  geringer  ist,    als  während  der  Operation,    so- 


*)  Nachträgliche  Bemerkung:  Weno  ich  Doederlein  richtig  verstanden 
habe,  so  beziehen  sich  seine  Versuche  auch  vielfach  auf  Operationen  am  Damm 
und  in  der  Vagina,  also  in  einem  bacterienreichen  Gebiet.  Dass  bei  dieser  Gelegen- 
heit massenhaft  Bacterien  in  die  Handschuhe  eindringen  und  von  diesen  fest- 
gehalten werden,  ist  selbstverständlich.  Die  hierbei  gemachten  Beobachtungen 
sind  natürlich  für  die  hier  ventilirte  Frage  nicht  beweisend. 


274  Dr.  J.  Mikulicz 


wohl  mit  als  ohne  Handschuhe.  Auch  hieraus  wird  man  schliessen 
dürfen,  dass  wohl  die  grössere  Summe  der  Bakterien  von  der 
Hand  in  den  Handschuh  kommt,  und  nicht  von  aussen,  sonst 
müsste  aus  den  früher  angegebenen  Gründen  gerade  am  Schluss 
der  Operation  die  Bakterienzahl  grösser  sein  als  während  derselben. 


Fassen  wir  das  Resultat  der  angeführten  Untersuchungen,^) 
von  denen  ich  nur  einige  wesentliche  Punkte  herausgehoben  habe,  zu- 
sammen, so  ergiebt  sich  zunächst  in  Bezug  auf  die  Desinfection 
der  Hände,  dass  die  zur  Zeit  empfohlenen  und  geübten  Methoden 
nicht  im  Stande  sind,  die  Hände  mit  Sicherheit  keimfrei  zu  machen. 
Wenn  es  auch  in  einem  grossen  Procentsatz  der  Fälle  gelingt, 
vor  Beginn  der  Operation  die  Hände  oberflächlich  von  Keimen  zu 
befreien,  so  hält  dies  nicht  lange  vor;  im  Laufe  der  Operation 
kommen  die  in  der  Tiefe  der  Epidermislagen  verborgenen  Bakterien 
immer  reichlicher  an  die  Oberfläche.  Daraus  folgt,  dass  auch  von 
Seiten  der  Hände  die  Infectionsgefahr  für  die  Wunde  um  so 
grösser  wird,  je  länger  die  Operation  dauert. 

Was  die  Zwimhandschuhe  betrifft,  so  war,  wie  ich  schon  in 
meiner  ersten  Mittheilung  ausdrücklich  betont  habe,  von  vorn 
herein  nicht  zu  erwarten,  dass  sie  einen  absoluten  Schutz  gewähren; 
denn  sie  sind  in  hohem  Grade  durchlässig.  Ihr  Schutz  kann  nur 
ein  relativer  sein.  Ich  muss  aber  ofi'en  gestehen,  dass  ich  den 
Grad  des  Schutzes  früher  doch  höher  taxirt  habe,  als  es  durch 
die  vorliegenden  Untersuchungen  und  klinischen  Beobachtungen 
sich  herausgestellt  hat.  Ich  will  auch  nicht  verschweigen,  dass 
ich  im  vorigen  Herbst  trotz  Zwirnhandschuhe  in  der  Klinik  einige 
tiefere  Wundin fectionen  erlebt  habe,  die  zwar  unschwer  von  den 
Operirten  überwunden  wurden,  mich  aber  doch  davon  überzeugten, 
dass  wir  uns  auf  den  Schutz  der  Handschuhe  nicht  allzusehr 
verlassen  und  namentlich  die  peinliche  Desinfection  der  Hände 
nicht  versäumen  dürfen.  In  den  erwähnten  Fällen  von  Infection 
stellte  sich  durch  die  bakteriologische  Untersuchung  stets  ein  Zu- 
sammenhang zwischen  der  Infection  der  Hände  und  der  Operations- 
wunde heraus. 

Dass  die  Gesammtresultate  bei  unseren  aseptischen  Opera- 


0  Die  ausführliche  Publication  erfolgt  an  anderer  Stelle. 


Die  neuesten  Bestrebungen,  d.  asept.  Wundbebandlg.  zu  vervollkommnen.  275 

tionen  seit  Benutzung  der  Handschuhe  ungleich  besser  geworden 
sind,  kann  ich  auch  heute  noch  ebenso  behaupten,  wie  in  meiner 
ersten  Mittheilung.  Die  Zahl  der  ganz  reactionslosen  Heilungen 
hat  sich  von  ca.  83  pCt.  auf  ca.  94  pCt.  erhöht;  in  ähnlichem 
Verhältniss  hat  sich  die  Zahl  der  Stichcanaleiterungen  resp.  -Rö- 
thungen  vennindert  Allerdings  ist  es  schwer,  zu  beweisen,  dass 
die  Besserung  unserer  Resultate  ausschliesslich  der  Anwendung  der 
Zwimhandschuhe  zuzuschreiben  ist,  denn  wie  aus  den  früheren 
Auseinandersetzungen  hervorgeht,  haben  wir  im  Laufe  der  Zeit 
eben  auf  Grund  unserer  Untersuchungen  unser  ganzes  Verfahren, 
insbesondere  auch  dieHändedesinfection,  erheblich  zu  vervollkommnen 
gesucht.  Auch  ist  nicht  zu  vergessen,  dass  bei  uns  seit  10  Monaten, 
die  aseptischen  Operationen  im  neu  erbauten,  auf  das  Vollkommenste 
eingerichteten  aseptischen  Operationssaale  ausgeführt  werden.  Aller- 
dings wurden  die  ersten  Handschuhoperationen  w^ährend  zw^eier  Mo- 
nate noch  im  alten  Operationssaale  ausgeführt  und  hier  war  gerade 
der  Unterschied  ein  ganz  auffallender.  Auch  darf  ich  meine  Er- 
fahrungen aus  der  Privatpraxis  mit  heranziehen,  die  dieselbe 
auffällige  Besserung  der  Wundheilungsresultate  ergeben  haben, 
wie  in  der  Universitätsklinik,  obwohl  hier  in  den  äusseren 
Verhältnissen  keine  Aenderung  eingetreten  ist.  Eine  detaillirte  Sta- 
tistik der  Operationsresultate  anzugeben,  hat,  glaube  ich,  keinen 
Werth.  Die  derselben  zu  Grunde  liegende  Zahl  von  435  asepti- 
schen Operationen  ist  doch  nicht  genügend,  um  Irrthümer  und  Fehl- 
schlüsse ganz  auszuschliessen. 

Sie  sehen,  m.  H.,  dass  ich  auch  heute  nicht  daran  zweifle, 
dass  wir  durch  die  Anwendung  der  Zwimhandschuhe  die  Gefahr 
der  Infection  bei  aseptischen  Wunden  verringern,  dass  ich  aber 
weit  davon  entfernt  bin,  dieselben  als  ein  ganz  verlässliches  Schutz- 
mittel hinzustellen.  Ich  werde,  so  lange  kein  brauchbarerer  Ersatz 
dafür  geschaffen  ist,  die  Zwimhandschuhe  beibehalten.  Es  muss  unser 
Streben  sein,  falls  es  doch  nicht  gelingen  sollte,  unsere  Hände  sicher 
keimfrei  zu  machen,  Operationshandschuhe  ausfindig  zu  machen, 
die  einen  absolut  sichern  Schutz  gewähren.  Das  können  natürlich 
nur  undurchlässige  Handschuhe  sein.  Was  bisher  in  dieser  Richtung 
empfohlen  worden  ist,  scheint  mir  aber  noch  nicht  den  Anforde- 
rungen der  Praxis  zu  entsprechen.  Wölfler,  der  bekanntlich  auch 
schon  längere  Zeit  in  Handschuhen  operirt,  hat  bald  nach  meiner 

▲rehiT  Ar  klin.  Chirurgie.    57.  Bd.  Heft  2.  19 


276  Dr.  J.  Mikulicz, 

ersten  Mittheilung  die  Eigenschaften  aufgezählt,  die  ein  guter  Ope- 
rationshandschuh  haben  muss:  er  muss  undurchlässig,  weich  und 
geschmeidig  und  so  dünn  sein,  dass  er  das  Tastgefühl  der  Finger 
nicht  wesentlich  beeinträchtigt;  er  soll  sich  leicht  sterilisiren 
lassen  und  endlich  —  darf  er  auch  nicht  zu  theuer  sein.  Ein 
Handschuh,  der  allen  diesen  Anforderungen  entspricht,  ist  meines 
Wissens  noch  nicht  gefunden  worden.  Vielleicht  hören  wir  heute 
brauchbare  Vorschläge.  Ich  werde  der  Erste  sein,  der  sie  mit 
Dank  acceptirt^). 

Vorläufig  müssen  wir  uns,  so  gut  es  geht,  mit  den  uns  zur 
Verfügung  stehenden  Mitteln  zu  behelfen  suchen.  Ich  brauche 
nicht  hervorzuheben,  welche  Bedeutung  die  prophylaktische  Rein- 
haltung, die  Femhaltung  jeder  schweren  Infeotion  von  den  Händen 
desjenigen  Arztes  hat,  der  viel  aseptische  Operationen  auszuführen 
berufen  ist.  Dass  die  sorgfältigste  Desinfection  mit  heissem  Wasser 
und  Seife,  mit  Alkohol  und  einem  Desinfectionsmittel  immer  noch 
die  erste  Rolle  bei  der  Aseptik  spielt,  geht  aus  den  firüheren  Aus- 
einandersetzungen auch  hervor.  Am  meisten  ist  die  Wunde  zwei- 
fellos durch  die  Fingerspitzen  und  Nägel  gefährdet.  Um  in  dieser 
Richtung  die  Infectionsgefahr  zu  verringern,  bediene  ich  mich  seit 
Anfang  Januar  eines  Mittels,  das  ich  bei  Roux  in  Lausanne  kennen 
gelernt  habe.  Dieser  bestreicht  vor  der  Operation  den  Nagelfalz 
und  die  üntemägelräume  mit  reiner  Jodtinctur.  Ich  gehe  so  vor, 
dass  ich,  wie  früher  schon  angeführt,  die  Fingerspitzen  in  Jod- 
tinctur tauche,  dann  die  Hände  in  Lysol  abspüle  und  nun  erst  die 
Zwirnhandschuhe  anziehe.  Ich  habe  schon  erwähnt,  dass  die  Jod- 
tinctur hierbei  wahrscheinlich  hauptsächlich  als  kräftiges  entwicke- 
lungshemmendes  Mittel  wirkt.  Untersuchungen  darüber  sind  in 
meiner  Klinik  im  Gange.  Wir  haben  damit  abermals  das  Princip  der 
reinen  Aseptik  durchbrochen;  wenn  das  Mittel  aber  nur  zum  Ziele 
führt,  ohne  einen  Schaden  zu  bringen,  so  wollen  wir  es  ohne  Rück- 
sicht   auf   das  Princip    acceptiren.     Wenn    ich    über  den  Nutzen 

0  Ich  habe  erst  nachträglich  erfahren,  dass  schon  1889  William  S. 
Halstead  Kautschukhandschuhe  zu  aesptischen  Operationen  gebraucht  bat 
und  sie  auch  heute  noch  verwendet.  (John  Hopkins  Reports,  Vol.  III,  No.  5, 
March  1891.)  Er  verwendet  sie  nur  bei  gewissen  Gelegenheiten,  z.  B.  Patellar- 
naht,  Operationen  der  Gelenkmaus,  Hernien  oder  kleinen  einfachen  Operationen, 
„die  ohne  feineres  Gefühl  oder  Geschicklichkeit  zu  machen  sind  und  bei 
welchen  Eiterungen  von  schweren  Folgen  begleitet  wären".  (Nach  W.  W.  Keen, 
Ann.  of  surgery,  1898,  Febr.  224.) 


Die  neuesten  Bestrebungen,  d.  asept.  Wundbehandlg.  zu  vervollkommnen.   277 

der  Jodtinctur  etwas  sagen  soll,  so  kann  ich  bei  der  noch  geringen 
Zahl  von  damit  ausgeführten  aseptischen  Operationen  —  es  sind 
jetzt  etwas  über  100  —  auch  nur  nach  persönlichen  Eindrücken 
urtheilen.  Zunächst  haben  wir  für  unsere  Finger  keinen  Schaden 
bemerkt.  Die  Braunfärbung  der  Pingerspitzen  verliert  sich  am 
Schluss  der  Operation  so  weit,  dass  sie  nachher  kaum  bemerkt 
wird.  Die  Haut  unserer  Finger  hat  die  Jodtinctur  in  dieser  An- 
wendung bisher  ohne  den  geringsten  Schaden  vertragen.  Was  die 
Heilung  der  Wunden  betrifft,  so  ist  sie  in  dem  letzten  Vierteljahr 
selbst  nach  den  complicirtesten  und  schwierigsten  EingriflFen  so 
tadellos  gewesen,  dass  ich  in  dieser  Richtung  nichts  mehr  »u  wün- 
schen übrig  habe^).  Noch  einmal  sei  hier  darauf  hingewiesen, 
dass  wir  die  Zwimhandschuhe  mit  Rücksicht  auf  die  früher  an- 
geführten Gottstein'schen  Untersuchungen  bei  lang  dauernden 
Operationen  häufig  wechseln  und  zwar  um  so  häufiger,  je  mehr  die 
Handschuhe  von  Blut  durchtränkt  sind. 

Zum  Schluss  möchte  ich  noch  einen  Punkt  erwähnen.  Ich 
habe  früher  angeführt,  dass  ich  immer  mehr  und  mehr  bestrebt 
bin,  von  der  Drainage  und  Ableitung  des  Wundsccretcs  abzusehen 
und  die  Wunde  ganz  zu  verschliessen.  Viele  von  Ihnen  werden 
wahrscheinlich  ähnliche  Versuche  auch  schon  gemacht  und  erfahren 
haben,  dass  in  manchen  Fällen  trotz  des  absolut  aseptischen  Wund- 
verlaufes  dem  Kranken  damit  nicht  der  Nutzen  gewährt  wird,  den 
wir  anstreben.  Bei  gewissen  Wunden  —  nach  unseren  Beobach- 
tungen in  etwa  10  pCt.  der  Fälle  —  bilden  sich  nämlich  Häma- 
tome, die  nicht  gerinnen  und  somit  nur  ganz  langsam  resorbirt 
werden,  wodurch  die  endgiltige  Heilung  der  Wunde,  wenn  auch 
nicht  erheblich,   verzögert  wird.     Wir  haben  uns    in  diesen  Fällen 


')  In  Bezug  auf  die  Resultate  der  Wundheilung  dürfen  wir  nicht  ver- 
gessen, dass  durchaus  nicht  alle  sogenannten  aseptischen  Operationswunden 
gleichwertbig  sind.  Insbesondere  dürfen  die  einfachen  Laparotomieen  der 
Gynäkologen  nicht  als  Maassstab  für  die  Leistungsfähigkeit  einer  Wundbe- 
handlungsmcthode  angeführt  werden.  Denn  das  Peritoneum  verträgt  bekannter- 
maassen  eine  relativ  beträchtliche  Menge  von  pathogenen  Bacterien,  während 
grosse  Weichtheil-,  besonders  aber  Knochen-  und  Gelenkwunden  oft  durch  die 
geringsten  Bacterienmengen  inficirt  werden  können.  Von  Laparotomieen  können 
nur  diejenigen  in  Betracht  kommen,  bei  welchen  grosse  AVundflächen  im 
Peritoneum  zurückbleiben,  die  zur  Bildung  der  von  mir  so  genannten  „todten 
Räume^  führen.  Nach  ausgedehnten  Operationen  am  Magen  und  Darm  bleiben 
solche  todten  Räume  nicht  selten  in  grosser  Ausdehnung  zurück;  ich  habe  sie 
früher  immer  mit  Jodoformgaze  tamponnirt.  Seit  einem  Jahre  schliesse  ich 
aber  auch  in  diesen  Fällen  principiell  die  Bauchhöhle  vollständig. 

19  ♦ 


278  Dr.  J.  Mikulicz, 

so  geholfen,  dass  wir  die  Hämatome  mit  einer  feinen  Spritze  durch 
Aspiration  entleert  haben.  Sie  haben  sich  immer  als  steril  er- 
wiesen. Die  Hämatombildung  ist  nur  dann  störend,  wenn  das 
nachträglich  ergossene  Blut  und  sonstige  Secret  nicht  gerinnt, 
also  nicht  in  einen  organisationsfähigen  Zustand  geräth.  Worin 
der  Grund  dieses  Mangels  an  Gerinnungsfähigkeit  liegt,  ist  noch 
nicht  festgestellt.  Herr  Dr.  Anschütz  beschäftigt  sich  mit  der 
Untersuchung  dieser  Hämatome.  Es  hat  sich  bisher  herausgestellt, 
dass  in  den  nach  6—8  Tagen  entnommenen  aber  auch  in  ganz  frischen 
Hämatomen  die  fibrinogene  Substanz  vollständig  fehlt.  Vielleicht  ge- 
lingt es,  ein  Mittel  zu  finden,  um  die  Gerinnung  des  bald  nach  der 
Operation  nachsickemden  Blutes  zu  erzwingen.  Dann  wurde  ein 
wesentliches  Hindemiss  fortfallen,  alle  Wunden  ausnahmslos  zu 
schliessen^).  So  lange  das  nicht  der  Fall  ist,  thun  wir  besser,  einzelne 
Wunden  trotzdem  noch  zu  drainiren,  das  Drain  aber  nach  24  Stunden 
zu  entfernen.  Ich  habe  die  Drainage  z.  B.  für  jene  Kropfresectionen 
beibehalten,  bei  welchen  aus  dem  zurückgebliebenen  Rest  der  Schild- 
drüse eine  starke  Secretion  zu  erwarten  ist. 

M.  H. !  Meine  Auseinandersetzungen  werden  Sie  nicht  in  jeder 
Richtung  befriedigt  haben.  Es  wird  ein  complicirter  Apparat  in 
Bewegung  gesetzt,  ohne  dass  Ihnen  klare,  unzweideutige  Resultate 
vorgeführt  werden  können.  Ich  werde  es  Niemandem  übel  nehmen, 
wenn  er  an  den  neuesten  Bestrebungen  in  der  Wundbehandlung 
nicht  Theil  nimmt  und  mit  Ruhe  abwartet,  wie  sich  die  Sache 
weiter  entwickelt.  Sie  müssen  aber  bedenken,  dass  es  sich  um 
eine  noch  lange  nicht  abgeschlossene,  erst  in  voller  Entwickelung 
begriffene  Angelegenheit  handelt.  Viele  der  bisher  vorgeschlagenen 
Maassregeln  mögen  übertrieben  sein  und  werden  vielleicht  später 
wieder  fallen  gelassen  werden.  Manches  Mittel  ist  —  das  kann 
man  schon  jetzt  sagen  —  verfehlt  und  wird  durch  ein  besseres 
zu  ersetzen  sein.  Das  Ziel,  das  aber  allen  diesen  Bestrebungen  zu 
Grunde  liegt,  dürfen  wir  nicht  aus  den  Augen  lassen,  auch  wenn 
wir  auf  Umwegen  dahin  gelangen.  Manchem  von  Ihnen  wird  es 
überhaupt  fraglich  erscheinen,  ob  es  je  gelingen  könne,  vollkommen 


0  Die  angeführten  Hämatome  haben  je  nach  ihrem  Alter  (5 — 20  Tagen) 
eine  dunkelbraunrothe  bis  rothgelbe  Farbe  und  sind  von  fadenziehender  Con- 
sistenz.  Sie  scheinen  mit  jenen  Hämatomen  verwandt  zu  sein,  die  sich  ge- 
legentlich auch  nach  subcutanen  Traumen  entwickeln,  zumal  nach  den  „tan- 
gentialen Verletzungen"  Gussenbauer's. 


Die  neuesten  Bestrebungen,  d.  asept.  Wundbehandlg.  zu  vervollkommnen.  279 

keimfrei  zu  operiren.  Ich  möchte  dieses  Problem  mit  einem  an- 
deren Ihnen  wohl  bekannten  vergleichen:  mit  der  Quadratur  des 
Kreises.  Die  Theorie  hat  dieses  Problem  nicht  gelöst  und  kann 
es  auch  nie  lösen.  Für  die  Praxis  ist  es  aber  durch  die  Ausrech- 
nung der  Lud olf  sehen  Zahl  längst  gelöst.  Man  kann  beliebig 
viel  Decimalstellen  dieser  Zahl  entwickeln  und  der  Lösung  des 
Problems  so  nahe  kommen,  als  es  das  practische  Erforderniss 
erheischt.  Auch  das  Problem  der  Keimfreiheit  unserer  Operations- 
wunden ist  einer  irrationalen  Zahl  zu  vergleichen.  Es  kommt  nur 
darauf  an,  dass  wir  uns  die  Mühe  nicht  verdriessen  lassen,  recht 
viele  Decimalen  von  dieser  Zahl  zu  entwickeln  und  so  dem  idealen 
Ziel  möglichst  nahe  zu  kommen.  Es  kommt  uns  ja  bei  unseren 
Bestrebungen  glücklicher  Weise  die  Natur  zu  Hilfe,  die  unsere  Ge- 
webe mit  Schutzvorrichtungen  versehen  hat  und  sie  befähigt,  ein 
gewisses  Minimum  von  Infection  zu  überwinden.  Aber  diese  Kraft 
der  Gewebe  ist  eine  beschränkte;  je  weniger  wir  ihr  zumuthen, 
desto  sicherer  können  wir.  des  Erfolges  sein,  desto  leistungsfähiger 
wird  die  operative  Chiinirgie.  In  diesem  Sinne  sind  alle  Bestre- 
bungen auf  unserem  Gebiete  willkommen  zu  hcissen  und  in  diesem 
Sinne  bitte  ich  Sie,  auch  meine  Ausführungen  aufnehmen  zu  wollen. 


X. 

Die  Ursachen  des  Misslingens  der  Asepsis. 

Von 

Profemor  Dr.  Ijanderer 

in  Stuttgart^). 


Die  Ausführungen  meines  Herrn  Vorredners  sind  für  mich  die 
Veranlassung,  im  Wesentlichen  nur  auf  diejenigen  Punkte  meines 
Vortrags  einzugehen,  die  er  nicht  oder  nur  flüchtig  berührt  hat. 

In  den  letzten  Jahren  hat  sich  in  der  deutschen  Chirurgie  — 
eigentlich  ziemlich  unerw^arteter  Weise  —  eine  gewisse  Unsicher- 
heit in  der  Frage  der  Wundbehandlung  und  damit  eine  gewisse 
Nervosität  bemerkbar  gemacht.  Daraus  sind  Bestrebungen  hervor- 
gegangen, die  Wundbehandlung  zu  modificiren.  Dieser  Bewegung 
gegenüber  halte  ich  es  in  erster  Linie  für  meine  Pflicht,  darauf 
hinzuweisen,  dass  es  sich  hierbei  keineswegs  um  eine  Erschütte- 
rung der  grundlegenden  Ideen,  der  Principien  der  Wundbehandlung 
handelt.  Diese  Modificationen  sind  nur  das  Zeichen  erhöhter  An- 
sprüche, die  wir  an  unsere  Wundbehandlung  stellen.  Wir 
verlangen  heute,  dass  jede  Wunde,  mag  sie  einer  noch  so  schweren 
0[)eration  entstammen,  mag  noch  so  lange  darin  gearbeitet  worden 
sein,  binnen  8  Tagen  p.  p.  i.  heilt,  ohne  einen  Tropfen  Eiter.  Wir 
sind  unzufrieden,  wenn  wir  über  unsere  Abtheilungen  gehen  und 
nicht  ganze  Serien  tadelloser  aseptischer  Heilungen  ohne  Spur  von 
Röthung,  ohne  jede  Temperatursteigerung  antreffen.     . 

Es  ist  vielleicht  nicht  unangebracht,  die  Wundstörungen  von 
heute  zu  vergleichen  mit  den  Wundstörungen  in  der  Jugendzeit  der 


0  Auszugsweise  vorgetragen    am  1.  Sitzungstage   des   XXVII.  Congresses 
der  Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  13.  April  1898. 


Die  Ursachen  des  Misslingens  der  Asepsis.  281 

Antisepsis,  in  der  Zeit  der  Lister'schen  Antisepsis,  jener  Zeit, 
wo  Aerzte  und  Laien  mit  frischer  Bewunderung  auf  die  grossartigen 
Erfolge  der  neuen  Wundbehandlungsmethode  blickten.  Wir  Alle, 
die  wir  diese  Zeiten  noch  mit  erlebt  haben,  wissen,  dass  Sepsis 
damals  —  besonders  bei  Bauchoperationen  —  kein  seltener  Gast 
in  den  chirurgischen  Anstalten  war,  dass  Pyämie  —  z.  B.  nach 
Schädelverletzungen  —  immer  dann  und  wann  gesehen  wurde,  dass 
das  Erysipel  unter  der  Carbolantisepsis  geradezu  häufig  war,  dass 
es  erst  unter  der  v.  Bergmann-Schede'schen  Sublimatantisepsis 
verschwand,  dass  Tetanus  auch  nach  Operationen  mitunter  noch 
vorkam.  Auch  die  gewöhnliche  Wundentzündung  s.  v.  v.  trug 
einen  anderen,  sehr  viel  schwereren  Character  Meist  schon  nach 
24 — 36  Stunden  ging  die  Temperatur  steil  in  die  Höhe,  die  Wunde 
entzündete  sich  in  toto,  die  Wunde  musste  geöffnet  werden,  Eiter- 
senkungen mussten  drainirt  werden;  kurz,  es  handelte  sich  um 
schwere  Störungen,  denen  mancher  weniger  kräftige  Patient  schliess- 
lich erlag. 

Dem  gegenüber  nehmen  sich  unsere  heutigen  Wundstörungen 
doch  recht  bescheiden  und  ungefährlich  aus.  —  Die  Temperatur 
bleibt  normal,  oder  erhebt  sich  auf  38° — 38,5 o.  Sieht  man 
nach,  so  findet  man  vielleicht  eine  Naht  entzündet,  einen 
Draincanal  geröthet.  Nach  Entfernung  der  Naht  oder  der  Drain- 
röhre geht  die  Sache  entweder  zur  Norm  zurück,  oder  man  be- 
kommt einen  kleinen  Nahtabscess,  eine  Fadepfistel  und  dergl.  Un- 
bequem werden  solche  Vorkommnisse  nur  dann,  wenn  sich  Monate 
lang  absondernde  Fisteln  bilden,  aus  denen  schliesslich  mit  oder 
ohne  Nachhilfe  Ligaturknoten  herauskommen.  Diese  Störungen 
sind  also  wohl  unbequem;  sie  stellen  aber  den  Erfolg  der  Opera- 
tion in  keiner  Weise  in  Frage.  Sepsis  nach  Peritonealoperationen 
kommt  heute  nur  noch  ganz  ausnahmsweise,  beim  Zusammentreffen 
besonders  ungünstiger  Umstände  vor;  Pyämie  nach  Operationen 
und  Verletzungen  sieht  man  in  Jahren  nicht  und  selbst  in  grossen 
Krankenanstalten  kann  es  ein  Jahr  und  länger  dauern,  bis  einmal 
ein  Erysipel  im  Hause  entsteht.  Wenn  wir  dies  bedenken,  so 
scheint  eigentlich  kein  genügender  Grund  vorhanden,  uns  —  und 
unsere  Klienten  wegen  der  Misserfolge  unserer  Wundbehandlung 
ernstlich  zu  beunruhigen.  Trotzdem  müssen  wir  bestrebt  sein,  die 
Ursachen  dieser  Störungen  zu  ergründen  und  diese    zu  vermeiden. 


282  Dr.  Landerer, 

Dass  sie  nicht  nur  durch  eine  einzige  Ursache  bedingt  sind,  ist  im 
Voraus  anzunehnaen.  Nur  einen  einzigen  Punkt  als  Ursache  her- 
auszugreifen,  muss  als  verkehrt  erscheinen.  Um  die  Ursache  zu 
finden,  ist  es  mir  als  nothwendig  erschienen,  den  ganzen  antisep- 
tischen Apparat  von  Zeit  zu  Zeit  bakteriologisch  durchzuprüfen. 
Die  Ergebnisse  dieser  zahlreichen  bakteriologischen  Untersuchungen 
möchte  ich  Ihnen  kurz  mittheilen.  Ich  kann  natürlich  nur  einige 
Hauptpunkte  herausgreifen. 

Zunächst  möchte  ich  —  in  Uebereinstimmung  mit  verschie- 
denen neueren  Autoren  —  darauf  hinweisen,  dass  die  Luftinfec- 
tion  gegenüber  der  Contactinfection  doch  nicht  so  sehr  zu  ver- 
nachlässigen ist,  wie  man  dies  eine  Zeit  lang  gewohnt  war.  Ich 
möchte  hierfür  eine  Beobachtung  an  meinem  aseptischen  Opera- 
tionssaal heranziehen.  Durch  bauliche  Veränderungen  war  ich  ge- 
nöthigt,  in  demselben  gelegentlich  auch  nicht  aseptische  Opera- 
tionen und  zahlreiche  Verbandwechsel  vorzunehmen.  Schon  nach 
8 — 10  Tagen  fingen  die  Wundheilungen  an,  weniger  gut  zu  werden, 
fast  in  keinem  Falle  erfolgte  tadellose  prima  reunio.  Die  bakterio- 
logische Untersuchung  der  Luft  ergab  Staphylokokken.  Nach  der 
Räumung  und  gründlichen  Reinigung  des  Saales  wurden  auch  — 
ohpe  jede  Aenderung  im  aseptischen  Apparat  oder  im  Personal  — 
die  Ergebnisse  wieder  gut.  Die  Luft  enthielt  keine  Staphylokokken 
mehr,  sondern  nur  Schimmelpilze  in  geringer  Zahl. 

Nebenbei  bemerkt,  erscheint  mir  die  Einrichtung  besonderer 
Verbandzimmer  für  die  Verbandwechsel  zweckmässig  zu  sein.  Die 
Ijuft  der  Krankenzimmer  w^ird  so  frei  von  Bakterien  und  in  dem 
Verbandraum  lässt  sich  durch  Reinlichkeit  und  Formalindesinfection 
die  Luft  gleichfalls  rein  halten. 

Die  Instrumente  können  wir  seit  Einführung  der  v.  Berg- 
mann-Schimmelbusch' sehen  Sodasterilisation  als  Infections- 
träger  ohne  Weiteres  ausschliessen. 

Ein  sehr  schwieriges  Capitel  ist  die  Desinfection  der  Hände. 
Um  diese  Frage  dreht  sich  der  Streit  der  letzten  Jahre  in  erster 
Linie.  Ich  möchte  dringend  davor  warnen,  wie  es  in  gewissen 
Kreisen  Sitte  zu  sein  scheint,  jeden  Misserfolg  in  der  Asepsis  ohne 
Weiteres  und  ohne  jede  Prüfung  lediglich  einer  mangelnden  Des- 
infection der  Hände  zuzuschreiben.  Ich  habe  so  ziemlich  in  jedem 
Fall  einer  Störung  die  Ursache  anderswo  finden  können  und  mich 


Die  Ursachen  des  Misslingens  der  Asepsis.  283 

deshalb  bis  jetzt  nicht  dazu  entschlossen,  Handschuhe  zur  Opera- 
tion anzuziehen.  —  Die  bakteriologische  Prüfung  der  Sterilität 
der  Hände  scheint  mir  ungenügend  zu  sein,  da  wir  die  Hände  nie 
in  so  innige  und  dauernde  Berührung  mit  einem  Nährboden  bringen 
können  wie  bei  der  Operation,  wo  die  Hände  Stunden  lang  mit 
der  Wunde  in  innigster  Berührung  sind.  Mir  hat  die  Kümmell- 
Fürbringer'sche  Methode  bis  jetzt  genügt.  Allerdings  scheure 
ich  die  Hände  vor  der  Operation  10  Minuten  lang  in  möglichst 
heissem  Wasser  ab;  ebenso  wasche  ich  mir  während  länger  dau- 
ernder Operationen  die  Hände  mehrmals  in  gründlichster  Weise  mit 
heissem  Wasser,  Seife  und  Alkohol. 

Einen  überaus  wichtigen  Funkt  macht  aber  auch  die  peinliche 
persönliche  Prophylaxe  aus.  Sie  ist  nach  meiner  Ansicht  unter 
grossen  und  kleinen  Verhältnissen  möglich.  Vor  Allem  ist  die 
Berührung  eiternder  Wunden  aufs  sorgfältigste  zu  vermeiden;  zu 
Scheiden-  und  Mastdarmuntersuchungen  sind  Gummifinger  zu  ver- 
wenden. Nach  jeder  muthm asslichen  Infection  hat  sofort  eine 
gründliche  Desinfection  zu  folgen. 

Dasjenige  Gebiet,  von  dem  nach  meinen  Erfahrungen  auch 
heute  noch  die  meisten  Infectionen  ausgehen,  das  z.  Z.  viel  zu 
wenig  beachtet  wird,  ist  das  Operationsfeld.  Es  ist  Ihnen  aus 
früheren  Untersuchungen  bekannt,  —  ich  führe  hier  namentlich 
die  Untersuchungen  Lauenstein's  an  —  dass  es  trotz  langdauemder 
und  mühsamer  Desinfectionsmaassregeln  nur  in  einem  Bruchtheil 
der  Fälle  —  etwa  40  pCt.  —  gelingt,  die  Haut  des  Operations- 
feldes steril  zu  gestalten.  Die  Schwierigkeiten  sind  hier  besonderer 
Art.  Die  am  meisten  gebräuchlichen  Desinfectionsverfahren  haben 
alle  den  Fehler,  dass  sie  nur  eine  Oberflächenwirkung  haben.  Mit 
den  üblichen  Seifenabscheuerungen ,  dem  Abrasiren  und  Abreiben 
mit  Aetherwatte  vermag  man  zweifellos  die  in  den  Hautfetten 
suspendirten  Mikroorganismen  mechanisch  zu  entfernen,  um  so 
mehr  als  man  durch  diese  Proceduren  die  obersten  Epidermis- 
schichten  überhaupt  entfernt.  Ob  den  darauf  folgenden  kurz- 
dauernden Behandlungen  mit  einem  Antisepticum  noch  ein  wirk- 
licher Werth  beizumessen  ist,  steht  dahin. 

Die  in  den  Tiefen  der  Haut,  in  den  drüsigen  Organen  ver- 
haltenen Mikroorganismen  trifft  man  damit  nicht.  Auf  die  Be- 
deutung dieser  in  den  tiefen  Hautschichten,  den  Talgdrüsen,  Haar- 


284  Dr.  Landerer, 

follikeln  und  auch  z.  Th.  in  den  Lymphspalten  der  Haut  ent- 
haltenen Bacterien  ist  besonders  in  der  ausländischen  Literatur, 
u.  A.  von  Magrassi  und  Marcy  hingewiesen  worden.  Aus  der 
fast  regelmässigen  Anwesenheit  von  Mikroorganismen  in  den  tiefen 
Hautschichten  erklärt  sich  auch  die  Beobachtung  Schimmel- 
busch's,  dass  selbst  bei  tadelloser  Desinfection  etc.  doch  von 
den  am  Wundrand  abgetragenen  Hautstückchen  meist  Mikroorga- 
nismen, selbst  Staphylokokken  auskeimten.  Dass  diese  tiefen 
Hautbacterien  auf  verschiedenen  Wegen  zu  einer  Infection  der 
Wunde  führen  können,  ist  selbstverständlich.  Sie  können  während 
der  Operation  in  die  Wunde  hereingestreift  werden,  und  so  eine 
primäre,  eine  Frühinfection  der  Wunde  veranlassen,  sie  können 
auch  Anlass  zu  Spätinfectionen  werden.  Wohl  keine  Naht  streift 
nicht  an  irgend  einer  Stelle  einen  Drüsengang  oder  Haarbalg  —  die 
häufigste  secundäre  Wundstöi*ung,  der  Nahtabscess,  dürfte  so  ent- 
stehen. Die  Acnepusf eichen  etc.,  die  man  oft  unter  feuchten  Ver- 
bänden findet,  weisen  auf  dieselbe  Ursache  hin.  Die  Möglichkeit, 
dass  von  der  ungenügend  desinficirten  Haut  des  Operationsfeldes 
aus  die  Fäden,  selbst  die  Ligaturfäden  inficirt  werden,  muss  eben- 
falls zugegeben  werden.  Ich  hatte  den  Eindruck,  als  ob  dies  der 
Fall  wäre,  besonders  in  der  Zeit,  da  ich  die  Seidenfäden  rein 
aseptisch  behandelte  und  nur  in  Alkohol,  ohne  Zusatz  von  Des- 
inficientien  aufbewahrte.  — -'  Die  Möglichkeit,  dass  die  Hände 
während  der  Operation  von  hier  aus  inficirt  werden,  liegt  ebenfalls 
nahe.  Am  günstigsten  ist  die  Gelegenheit  zu  Secundärinfectionen 
bei  feuchten  Verbänden.  Hier  kann  von  kleinen  offenen  Stellen, 
Hautuekrosen,  auch  von  den  Drainstellen  aus  die  Infection  beginnen. 
Die  Bemühungen,  die  Hautinfection  und  die  Spätinfection  von  der 
Haut  auszuschliessen,  treten  u.  A.  auch  in  dem  Vorschlag  von 
Bruns  zu  Tage,  die  genähte  Wunde  mit  Airolpaste  zu  bestreichen. 
Man  verschmiert  so  die  Ausgänge  der  drüsigen  Organe  und  hindert 
ihre  Mikroorganismen  am  Auskeimen.  Die  Versuche,  durch  länger 
dauernde  Umschläge  mit  Sublimat-,  CarboUösungen  etcn  das  Ope- 
rationsfeld zu  sterilisiren,  haben  keine  durchschlagenden  Erfolge 
aufzuweisen.  In  schwacher  Lösung  ^-irken  sie  nicht,  in  starken 
Lösungen  machen  sie  Eczeme.  Die  in  den  Drüsen  und  Haarbälgen 
der  Haut  enthaltenen  Mikroorganismen  können  nur  getroffen  werden 
durch  ein  auch  in  Gasform  wirkendes  Desinficiens.    Deshalb  wende 


Die  Ursachen  des  Misslingens  der  Asepsis.  285 

ich  seit  August  1897  zur  präliminaren  Desinfection  der  Haut 
1 — 2  proc.  Formalinlösung  an.  Die  Umschläge  werden,  wie  ich  dies 
schon  im  Centralblatt  für  Chirurgie  1898  raitgetheilt  habe,  24—48 
Stunden  als  Priesnitz 'sehe  Umschläge,  mehrmals  gewechselt,  an- 
gewandt, nachdem  die  Patienten  gebadet  und  mit  Seife  abgescheuert 
sind.  Vor  der  Operation  erfolgt  die  übliche  Desinfection  —  Seifen- 
abscheuenmg,  Rasiren,  Abreiben  mit  Aether,  Abwaschen  mit  Sublimat- 
lösung. Es  ist  so  gelungen,  die  Haut  des  Operationsfeldes  in 
etwa  85  pCt.  steril  zu  gestalten.  Zu  beachten  ist,  dass,  wo  Störung 
der  Wimdheilung  eintrat,  fast  ausnahmslos  auch  die  Platten  nicht 
steril  blieben  —  ein  Beweis,  dass  die  Störung  von  der  Haut  des 
Operationsfeldes,  nicht  von  den  Händen  ausging.  Es  blieb  übrigens 
auch  der  Wundverlauf  z.  Th.  aseptisch,  wo  die  Haut  nicht  steril 
gefunden  war. 

Vom  Unterbindungs-  und  Nahtmaterial  möchte  ich  zu- 
nächst Einiges  über  die  Seide  erwähnen.  Es  steht  für  mich  völlig 
fest,  dass  das  Auskochen  der  Seide  in  Sodalösung  und  das  Auf- 
bewahren in  wässriger  Subliraatlösung  volle  Keimfreiheit  gewährt. 
Die  Nahtabscesse,  die  Fadenfisteln  lassen  sich  in  anderer  Weise 
erklären,  besonders  aus  der  Infection  mit  den  tiefen  Hautbakterien. 
Bei  dieser  Gelegenheit  möchte  ich  übrigens  noch  einen  weiteren 
Vorwurf,  der  der  Seide,  besonders  von  gynäkologischer  Seite  oft 
gemacht  wird,  zu  entkräften  suchen.  Man  sagt,  die  Seidenschlinge 
„drainire"  Infectionsstoffe  von  der  Haut  in  die  Wunde.  Meine 
Untersuchungen  vermögen  diese  Annahme  nicht  zu  unterstützen. 
Trägt  man  ein  Stückchen  von  der  äusseren,  und  ein  Stückchen 
von  der  inneren  Schlinge  in  Nährflüssigkeiten  ein,  so  ergiebt  es 
sich,  dass  die  innere  Schlinge  sehr  viel  häufiger  steril  ist,  als  die 
äussere.  Drainirte  die  Seide  von  aussen  nach  innen,  so  müsste 
bei  oft  beträchtlichem  Eeimgehalt  der  äussern  Schlinge  die  innere 
gleichfalls  öfters  inficirt  sein.  In  seltenen  Fällen  war  —  bei 
trockenen  Verbänden  —  die  innere  Schlinge  inficirt,  die  äussere 
steril.  Da  diese  Beobachtungen  aus  der  Zeit  vor  dem  Formalin 
stammen,  möchte  ich  auch  hier  Infection  durch  die  Mikroorganismen 
der  Hautdrüsen  annehmen.  Von  Catgut  und  Silber  dürfte  ungefähr 
dasselbe  gelten,  da  ich  —  wie  gesagt  —  annehme,  dass  die 
Fadeninfectionen  weniger  im  Material  bedingt  sind,  als  in  In- 
fectionen    von    anderen   Punkten    aus.     üeber  Catgut    kann    ich 


286  Dr.  Landerer, 

nicht  mitreden,    da    ich  seit  15  Jahren  keinen  Faden  Catgut  ver- 
wandt habe. 

Die  Drainage  betrachte  ich  als  ein  noth wendiges  üebel,  dem 
man  in  einzelnen  Fällen  —  bei  grossen  buchtigen  Wunden  —  nicht 
entgehen  kann.  Ich  wende  sie  so  selten  als  möglich  an,  seit  ich, 
selbst  bei  tadelloser  Prima  reunio,  im  Innern  von  Drainröhren 
und  am  innern  Ende  derselben  Staphylokokken  gefunden  habe. 
Der  Draincanal  kann  zweifellos  eine  Pforte  für  die  Secundär- 
infection  werden,  besonders  bei  Herniotomien. 

Was  schliesslich  die  Verbände  betrifft,  so  habe  ich  gefunden, 
dass  die  trockenen  Verbände  in  überwiegender  Mehrzahl  steril  sind 
oder  wenigstens  keine  Eiterkokken  halten. 

Die  feuchten  Verbände,  d.  h.  die  Verbände  mit  so  lebhafter 
Secretion,  dass  das  Secret  nicht  im  Verband  austrocknen  konnte, 
waren  alle  inficirt.  Wie  sehr  dadurch  Spätinfectionen  begünstigt 
werden,  durch  Eindringen  von  Mikroorganismen  in  Stichcanäle, 
Draincanäle ,  klaffende  Nahtstellen,  ectropionirte  Stückchen  von 
Unterhautzellgewebe  u.  dgl.,  ist  selbstverständlich. 

AVas  ich  oben  über  die  Desinfection  des  Operationsfeldes  ge- 
sagt habe,  ist  für  mich  überzeugend,  dass  die  Infection  nicht  von 
aussen  kommt  durch  Hereinwachsen  von  Luftkeimen  in  den  Ver- 
band, sondern  dass  die  Infection  von  innen,  von  der  ungenügend 
desinficirten  Haut  kommt.  Es  schien  auch  —  diese  Untersuchungen 
sind  nicht  abgeschlossen  und  nicht  zahlreich,  —  als  ob  der  Keim- 
gehalt der  Verbände  von  den  inneren  Schichten  derselben  nach 
den  äusseren  zunimmt.  Diese  Beobachtungen  haben  auch  ihre 
praktische  Bedeutung.  Das  Decken  der  Verbände,  wenn  sie  durch- 
geschlagen haben  —  die  alte  Lister'sche  Vorschrift,  scheint  mir 
keinen  Werth  zu  haben.  Es  ist  im  Gegentheil  angezeigt,  jeden 
feuchten  Verband  sofort  abzunehmen  und  durch  einen  neuen 
trockenen  zu  ersetzen.  Ueberhaupt  scheint  es  mir  zweckmässiger, 
den  ersten  Verband  nicht  zu  lang  liegen  zu  lassen,  sondern  nach 
24 — 48  Stunden  zu  wechseln.  Hierbei  kann  man  überflüssige 
Drains  wegnehmen  und  dann  den  zweiten,  wenn  es  sein  muss, 
als  Dauerverband  liegen  lassen. 

Auf    die    zweite    Hauptregel,     um    Misslingen    der    Asepsis 
zu  vermeiden,  die  Nothwendigkeit,    die  natürlichen  Schutzvorrich- 


Die  Ursachen  des  Misslingens  der  Asepsis.  287 

tungcn  des  Organismus  nicht  zu  schädigen  und  zu  hindern,  will 
ich  nicht  weiter  eingehen. 

Die  Gewebe  dürfen  keiner  Verätzung  durch  scharfe  Antiseptica, 
keiner  Quellung  durch  diflferente  Flüssigkeiten,  keiner  Vertrock- 
nung  ausgesetzt  werden.  Ausserdem  sollen  in  der  Wunde  keine 
„todten  Winkel  **  zurückgelassen  werden  —  Fremdkörper,  Blut- 
gerinnsel, necrotische  Gewebe  etc.,  Bäume,  in  denen  sich  die 
phagocytäre  und  baktericide  Fähigkeit  der  Gewebszellen  und 
Gewebssäfte  nicht  sofort  in  genügendem  Maasse  geltend  machen 
kann.  Hierzu  gehört  selbstverständlich  auch  eine  sorgfältige  Blut- 
stillung. Man  kann  die  Zahl  der  nöthigen  Unterbindungen  und 
der  in  die  Wunde  versenkten  Fremdkörper  wesentlich  herabsetzen 
durch  zeitweiliges  Abklemmen  der  kleineren  Gefässe  und  durch 
Torsion  der  mittleren. 

Ein  methodisches  Durchuntersuchen  des  ganzen  Apparatus 
antisepticus  soll  die  klinische  Beobachtung  unterstützen  und  ver- 
vollständigen. Auf  diese  Weise  wird  man  am  Besten  vor  der 
Ueberschätzung  einzelner  Punkte  und  der  Vernachlässigung  anderer 
vielleicht  ebenso  wichtiger  bewahrt. 


XI. 

Die  aseptische  Versorgung  frischer  Wunden, 

UHter  Hittkeilnig  tob  Thier-VersneheH  über  die  Anskeinmgs- 
zeit  fon  hfeetionserregera  ii  frisekeH  Wnidei^). 

Von 

Professor  Dr«  P.  Wi.  Friedrich, 

Director  des  chirurgiseh-poliklinischen  Instituts  der  Universität  Leipzig. 

(Mit  2  Figuren.) 


Bei  der  Behandlung  frischer  Verletzungen  werden  wir  im 
Wesentlichen  geleitet  von  den  anatomischen  Verhältnissen  der  be- 
troffenen Gewebe  und  von  unserer  Einsicht  in  die  Vorgänge  der 
Wundinfection. 

Nur  den  auf  die  Verhütung  der  letzteren  hinzielenden  Maass- 
nahmen  mögen  die  nachfolgenden  Mittheilungen  von  Versuchen  am 
Thierkörper  und  Beobachtungen  am  verletzten  Menschen  gelten. 

Die  alltägliche  ärztliche  Erfahrung  lehrt,  dass  die  einer  Ver- 
letzung gelegentlich  folgende  Infection  sich  zunächst  als  eine  rein 
örtliche  Erkrankung  zu  erkennen  giebt;  dieses  gilt  ebenso  von 
den  Staphylo-  und  Streptokokken-,  als  Tetanus-,  Anthrax-,  malignes 
Oedem-  und  anderen  Infectionen;  eine  grosse  Zahl  von  Wund- 
infectionen  läuft  in  dieser  rein  örtlichen  Beschränkung  ab  und 
gelangt  zur  Heilung;  in  einer  anderen  Zahl  von  Fällen  zieht  der 
Infectionsinsult  weitere  Kreise:  schon  nach  einer  Reihe  von  Stunden 
signalisirt  die  Steigerung  der  Körperwärme,  die  Mobilmachung  im 
Kreislauf  und  der  Gesammtorganismus  nimmt  an  der  Erkrankung 
nachweisbaren  Antheil;  oder  auch  es  vergehen  Tage,  bis  objcctiv 
hervortretende    Erscheinungen     das    Mitergriffensein     des     übrigen 


0  Auszugsweise   vorgetragen    am  1.  Sitzungstage    des  XXVII.  Congresses 
4er  Deutseben  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  13.  April  1898. 


Die  aseptische  Versorgung  frischer  Wunden.  289 

Organismus  darthun.  Endlich  geht  ein  beträchtlicher  Theil  der 
Verletzungen  in  reactionslose  Heilung  über,  ohne  dass  das  in  die 
Wunde  gelangte  infectionsverdächtige  Material  örtlich  oder  allgemein 
schädigende  Wirkungen  entfaltet  hat. 

Bis  auf  den  heutigen  Tag  ist  die  einmal  erfolgte  AUgemein- 
infection  für  uns  nur  Gegenstand  palliativer  Maassnahmen;  die  In- 
fectionserreger  dann  noch  direct  treffende  AngrifFsmittcl  besitzen 
wir  nicht;  die  bisher  in  dieser  Richtung  sich  bewegenden  Versuche 
sind  nicht  als  unzweideutig  zu  betrachten. 

Unsere  Hauptaufgabe  gipfelt  daher  immer  noch  in  der  ört- 
lichen Bekämpfung  der  Wundinfection.  Hier  spielt  sich 
auch  noch  so  recht  eigentlich  der  Kampf  um  die  Frage  ab: 
Anti-  oder  Asepsis?  Während  die  Werthschätzung  der  Asepsis 
für  die  Behandlung  operativ  gesetzter  Verletzungen  zur  Zeit  wohl 
eine  allgemein  anerkannte  ist,  erheben  sich  Stimmen  namhafter 
Vertreter  unseres  Faches,  welche  auf  dem  Gebiete  der  nicht  opera- 
tiven Verletzungen  die  Asepsis  als  unzulänglich  brandmarken  und 
für  die  chemischen  Behandlungsmethoden  erneut  eintreten. 

Die  auf  die  örtliche  Bekämpfung  der  Infectionsgefahr  gerichteten 
Bestrebungen  gliedern  sich  nach  zweierlei  Richtung;  sie  bestehen 

1.  in  der  Verhütung  des  Ausbruchs  der  Infection; 

2.  in  der  Bekämpfung  der  eingetretenen  Infection. 

Es  ist  vielfach  klinischer  Sprachgebrauch,  bei  einer  stattge- 
habten, nicht  vom  Messer  des  Chirurgen  gesetzten  Gewebsverletzung 
schlechthin  als  von  einer  inficirten  zu  sprechen;  es  ist  das  eine 
willkürliche  Anticipation.  Diese  Wunden  sind  nur  infections- 
verdächtig.  Vor  der  Hand  sind  sie  durch  eingedrungene  Fremd- 
körper für  die  Heilung  ungünstiger  gestellte,  durch  muthmasslich 
hineingelangte  Infectionserreger  in  ihrem  Heilverlaufe  unsichere 
Verletzungen. 

Es  ist  nothwendig,  auf  die  Scheidung  dieser  Begriife  zu 
dringen.  Hiernach  ergiebt  sich  für  uns  unmittelbar  die  Frage: 
Wie  lange  bleibt  eine  nicht  operative  Verletzungs- 
wunde in  dem  noch  nicht  inficirten  sondern  nur  in- 
fectionsverdächtlgen  Zustande?  In  praxi  lässt  sich  diese 
Frage  von  Fall  zu  Fall  entscheiden,  wobei  wir  von  der  Sympto- 
matik der  Infection  uns  leiten  lassen,  die  nicht  behandelte  Ver- 
letzungen bieten;   wir  werden  jedoch    für  die  Beurtheilung   dieser 


290  Dr.  P.  L.  Friedrich, 

wi(*htigen  Frage  eine  schärfere  Präcisirung  allgemeiner  Art  fordern 
müssen,  als  sie  erst  im  Einzelfall  der  eingetretenen  Infection  sich 
gewinnen  lässt. 

Der  Theil  der  Symptomatik  der  erfolgten  Infection,  wie  sie 
sich  beim  Eintritt  von  Bactcrien  oder  deren  Toxinen  in  den  Kreis- 
lauf durch  Ansteigen  der  Körperwärme  zu  erkennen  giebt,  trügt 
uns  insofern,  als  dieses  Phänomen  nicht  zeitlich  unmittelbar  mit 
jenen  Ereignissen  zusammenfällt,  sondern  erst  ihnen  folgt,  daher 
das  Zeitmaass  bis  zum  Eintritt  der  Temperatursteigerung  zum  Theil 
schon  dem  Rcsorptions-,  also  Generalisirungsstadium  der  infectiösen 
und  toxischen  Massen  zugehört.  Der  Temperaturanstieg  ist  für 
den  Beginn  der  Resorption  kein  Gradmesser.  Einen  Beitrag  zur 
Erhärtung  dieser  an  sich  beinahe  selbstverständlichen  Thatsachc 
habe  ich  in  einer  kleinen  Mittheilung  i)  ehedem  zu  erbringen  ver- 
sucht. In  zweiter  Linie  ist  ein  Trugschluss  aus  dem  Verhalten 
der  Körpertemperatur  dadurch  möglich,  dass  bei  Gift-  und  Keim- 
resorption die  Temperatur  in  seltenen  Fällen  unverändert  bleiben, 
nicht  so  gar  selten  fallen  kann.  Das  Gesagte  gilt  zum  Mindesten 
von  Streptokokken-  und  sacrophy tischen  2)  Intoxicationen. 

Kommen  wir  zurück  auf  die  Zeit  des  Infectionseintrittes,  wie 
sie  durch  Versuche  festgestellt  worden  ist.  Französische  und 
deutsche  Autoren  (Renault  und  Boulay,  Colin,  Niessen) 
zeigten  mit  mehr  oder  weniger  üebereinstimmung,  dass  das  Auf- 
bringen frischen  von  animalischen  Infectionsherden  gewonnenen 
Infectionsstoflfes  (Rotz  und  Schafpocken  bei  Pferd  und  Hammel) 
oderReinculturmateriales  (Milzbrand  beim  Kaninchen)  innerhalb  kurzer 
Zeit  zur  Allgemeininfection  führt  und  weder  tiefgehende  Verschorfungen 
noch  Abnahme  der  inficirten  Gliedmaassen  nach  wechselnden,  kurzen 
Zeitabschnitten  im  Stande  sind,  die  inficirten  Versuchsthiere  vor  der 
Allgemeininfection  zu  schützen  und  am  Leben  zu  erhalten. 

In  eindrucksvollster  und  geradezu  classischer  Weise  stützte 
Schimmelbusch^)  experimentell  die  durch  solche  Versuche  mehr 

0  P.  L.  Friedrich,  Beobachtungen  über  die  Virulenz  von  subcutan 
einverleibten  Streptokokken-  und  Saprophytentoxinen  auf  den  menschlichen 
Organismus,  insbesondere  auf  die  Körpertemperatur,  nebst  Bemerkungen  über 
Intoxications-Herpes.     Berliner  klin.  Wochenschrift  1895,  No.  49. 

2)  Hierunter  rechne  ich  u.  A.  Coli-,  Proteus-Bacterien  und  Prodigiosus. 

8)  Verhandlungen  der  Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  1893,  und 
Ueber  Desinfection  septisch  inficirter  Wunden.  Fortschritte  der  Medicin  1895, 
No.  1  und  2, 


Die  aseptische  Versorgung  frischer  Wunden.  291 

und  mehr  sich  Anerkennung  verschaffende  Vorstellung  von  der 
schnellen  resorptiven  Verbreitung  der  Infectionserreger  bei 
der  Wundinfection.  Uns  allen  sind  die  Versuche  geläufig,  in  denen 
er  Mäusen  am  Schwanz  eine  Verletzung  beibrachte,  diese  mit 
Milzbrand  inficirte  •  und  nach  verschiedenen  Zeiten  den  Schwanz 
höher  oben  amputirte;  es  zeigte  sich,  dass  bei  dem  Verstreichen 
von  10  Minuten  eine  Erhaltung  des  Thieres  nicht  mehr  möglich  war; 
alle  Thiere  gingen  an  Milzbrand  zu  Grunde  und  eine  weitere  geradezu 
bestechende  Ergänzung  erfuhren  diese  Experimente  durch  die  später 
mitgetheilten  Versuchsreihen^),  bei  welchen  er  innerhalb  kurzer 
Zeit  die  Organüberschwemmung  mit  Keimen  nachweisen  konnte. 
Die  Versuche  wurden  von  verschiedener  Seite  ^),  auch  im  Koch 'sehen 
Institut,  wiederholt  und  ihre  Ergebnisse  bestätigt^).  Ich  selbst 
führe  sie  alljährlich  in  meiner  Vorlesung  über  allgemeine  Chirurgie 
den  Studirenden  vor. 

Was  war  und  musste  die  Folge  dieser  Versuchsergebnisse  sein? 
Die  Auffassung,  dass  wir,  gegenüber  der  enorm  raschen  Resorbir- 
barkeit  der  Bacterien  von  frischen  Wunden  aus,  mit  den  Mitteln  zu 
einer  örtlichen  Bekämpfung  zumeist  zu  spät  kommen  werden  und 
gegenüber  der  Infection  machtlos  sind. 

Seltsamer  Weise  erfuhren  diese,  unserer  practischen  Erfahrung 
bei  den  nicht  operativen  Verletzungen  nicht  entsprechenden*) 
Versuchsresultate,  abgesehen  von  einer  beiläufigen  Bemerkung 
Schimmelbusch's  selbst,  nicht  die  nothwendige  Einschränkung; 
so  zwingend  schien  die  Beweiskraft  der  technisch  schön  angelegten 
und  in  das  Schema  der  Koch 'sehen  Infectionstheorien  passenden 
Versuche  zu  sein.  Im  Gegentheil,  sie  inaugurirten,  wie  nunmehr 
zu  erwarten  war,  eine  Zeit  der  Unsicherheit  oder  des  Fatalismus 
für  die  Theorie  der  Behandlung   frischer  Verletzungen.     Erst   all- 


0  Schimmelbusch  und  Rick  er,  Ueber  Bacterienresorption  frischer 
Wunden.  Fortschritte  der  Medicin  1895,  7,  8  und  9,  und  Deutsche  medicin. 
Wochenschrift  1894. 

2)  Henle,  Chirurgen -Congress  1894. 

')  E.  V.  Bergmann,  Discussion  zu  den  Verhandl.  der  Deutschen  Ge- 
sellschaft für  Chirurgie,  1894,  S.  135,  sowie  Goldberg,  Beitrag  zur  Frage  der 
aseptischen  Wundbehandlung.    Diss.    Basel  1896. 

*)  In  dem  Autoreferate  dieses  Vortrages  für  das  Centralblatt  für  Chirurgie 
habe  ich  mich  noch  etwas  schroffer  ausgedrückt,  und  zwar  mit  Rücksicht  darauf, 
dass  ich  in  vielen  Köpfen  zu  lesen  Gelegenheit  gehabt  habe,  welche  Verwirrung 
der  Vorstellungen  die  Schimmelbusch' sehen  Versuche  bei  bacteriologisch 
nicht  Geübten  angerichiet  haben. 

ArehiT  fttr  klu.  Chinirgie.    57.  Bd.  Heft  2.  20 


292  Dr.  P.  L.  Friedrich, 

mälig  ward  der  Kampf  gegen  die  Verallgemeinerang  der  Consc- 
quenzen  dieser  Versuche  aufgenommen,  aber:  vielmehr  ex  juvantibus, 
als  ex  nocentibxis! 

Mit   mehr  weniger   modificirter  Versuchstechnik  (Verwendung 
von   bacterienhaltigem  Eiter,    von    Gelatineculturen    des  Staphylo- 
coccus  aureus,    mit  Streptokokkenculturen)    wurden  Thiere   inficirt 
und    danach  desinficirt    und    aus    der  Wirkung    der  Desinfections- 
maassnahmen   der  Rückschluss  auf  den  Werth    oder  ünwerth  von 
Wunddesinfection,  auf  die  Beweiskraft  der  Schimmelbuscb'schen 
Versuche  zu  machen  gesucht.    Bald  standen  sich  wieder  neue,  von 
verschiedenen  Autoren   ausgeführte  Versuchsreihen   gegenüber;    im 
Lager  der  einen  Reichet)   und  HäneP),    im  Lager  der  anderen 
Messner^)   und  He  nie*);    alle    diese  Experimentatoren  verdienen 
unser  Vertrauen  und  doch  gelangten  sie  zu  gegentheiligen  Schlüssen, 
und    eine    allgemein    anerkannte  Förderung   unserer  Frage    „anti- 
oder   aseptisch"    ward  eigentlich    nicht  gewonnen.     Warum?     Die 
zur  Entscheidung  gewählte  Versuchstechnik  war  keine  einheitliche, 
und    auch  die   genannten  Autoren   bewegten  sich  in    der,  für   die 
Beantwortung   der   vorliegenden    Frage   irreleitenden,    Richtung 
Schimmelbusch's:    sie  experimentirten  mit  künstlich  gezüch- 
tetem   oder  unmittelbar   aus   menschlichen  Infectionsherden 
entnommenem,    also  .dem  Vegetationszustand   in    der   Aussenwelt 
bereits    entfremdetem,    mehr  weniger  angepasstem    und  vor  Allem 
von  den  bacteriellen  Daseinsconcurrenten  freiem  Infectionsmateriale. 
Sie  glaubten   mit  Reincultur    oder  hoher,    der  Menscheninfection 
adäquater  Virulenz  die  Lösung  des  Problems  zu  gewinnen,  während 
wir  am  Menschen  nie  Reincultur-  und  wohl  selten  Eiterinfectionen 
bei  den  traumatischen  Verletzungen  voraussetzen  dürfen. 

Sie  experimentirten  endlich  mit  Material,  das  in  ganz  ungleich- 
massigen  Infectionsbedingungen  unter  sich  (Staphylokokken  und 
Streptokokken  bei  Kaninchen)  und  zum  parallelen  Infectionsmodus 
des  Menschen  (insbesondere  Streptokokken)  sich  befindet.  Die 
über  Allem  stehende  brennende  Frage 

1.    Wie   lange  Zeit    bedarf  das  infectionsverdächtige 


*)  LaDgenbeck's  Archiv.     1895,  Bd.  49. 

2)  Deutsche  medicin.  Wochenschrift.     1895,  No.  8. 

3)  XXIII.  Congress  der  Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie. 
*)  LaDgenbeck's  Archiv.     1895,  Bd.  49. 


Die  aseptische  Versorgung  frischer  Wunden.  293 

in  die  Wunde  gelangte  Material  bis  zur  Entwiekelung  der 
in  demselben  enthaltenen  Keime  und  damit  bis  zum 
wirkMeheA  Ausbruch  der  bacteriellen  Infection  und 

2.  Wie  lange  bleibt  diese  Wundinfection  ein  örtlicher 
Process?  ermangelt  bis  zum  heutigen  Tage  einer  experimentellen 
Beantwortung. 

Henle,  dem  diese  Fragstellung  offenbar  immer  vorgeschwebt 
hat,  gelangte  bei  Streptokokken-EiterinfectiojQen  des  Kaninchens  zu 
Resultaten,  die  hinsichtlich  dieser  Zeitbestimmung  zu  Schlüssen 
verleiten  könnten,  wenn  nicht  auch  sie  von  der  FeblerqueDe  eines 
schon  angezQchteten  Infectionsmateriales  ausgingen.  Wir  wollen  im 
Folgenden  versuchen,  einen  Beitrag  zur  Lösung  zu  üefem. 

Für  uns  stellt  die  erste  der  obigen  Fragen  den  Schwerpunkt 
für  weitere  experimentelle  Prüfung  dar  und  sie  formulirt  sich  sonach 
folgendermaassen : 

Wie  lange  Zeit  benöthigen  die  Bacterien,  um  in  einem  frischen 
Wundgebiet  aus  dem  Infectionsmaterial ,  wie  es  direct  aus  der 
Aussenwelt  durch  die  Verletzung  in  die  Wunde  gebracht  wird, 
Schmutz,  Erde  etc.  in  einen  resorptionsfähigen  und  damit  erst 
inficirenden  Zustand  zu  gelangen? 

Denn,  meine  Herren,  es  ist  ein  grosser,  immer  wieder  zu 
betonender,  nicht  selten  zu  sehr  ignorirter  Unterschied  in  der 
Wirkung  und  Resorptionstüchtigkeit  rein  cultivirter  Bacterien,  gegen- 
über derjenigen,  wie  sie  die  unmittelbar  aus  der  Aussenwelt  (in 
anderem  vitalen  Zustande,  im  Gemisch  mit  anderen  Keimen,  ge- 
deckt und  verdeckt  von  anorganischen  und  organischen  Massen)  in 
die  Wunde  gelangenden  Bacterien  besitzen.  Die  Forschung  stösst 
auf  bis  jetzt  nicht  überwundene  Schwierigkeiten  bei  der  Ergründung 
der  in  der  Aussenwelt  gewählten  Lebensform  der  meisten  Bacterien; 
als  feststehend  darf  betrachtet  werden,  dass  die  Anpassungs-, 
Auskeim ungs-  (Incubations-)  Zeit,  oder  wie  wir  diese  Phase  der 
Infection  sonst  nennen  wollen,  auf  dem  Warmblüter  eine  wesentlich 
verschiedene  ist,  je  nachdem  die  Keime  schon  vorher  günstigen 
Anpassungsbedingungen  unterlegen  hatten  oder  nicht. 

Greifen  wir  zuvörderst  einmal  zu  dem  zurück,  was  wir  über- 
haupt von  dem  zeitlichen  Ablauf  der  Bacterienvermehrung  wissen, 
ehe  wir  dieser  Frage  in  ihrer  Beziehung  zur  Vermehrung  in  einem 
Wundgebiet  näher  treten.    Wir  müssen  leider  bekennen,    dass  der 

20* 


294  Dr.  P.  L.  Friedrich, 

Schatz  unseres  Wissens  auf  diesem  Gebiete  ein  bedauerlich  spär- 
licher ist;  für  die  sogenannten  pyogenen  Kokken  fehlt  es  so  gut 
wie  ganz  an  zuverlässigen  und  exacten  entsprechenden  Vorarbeiten  i). 
Brefeld^)  stellte  für  den  Heubacillus  fest,  dass  bei  24®  R. 
Lufttemperatur  alle  halbe,  bei  20®  alle  %,  bei  15®  alle  I72  Stunde, 
bei  10°  alle  4 — 5  Stunden  eine  Theilung  der  Stäbchen  stattfindet. 
Die  Sporenbildung  nahm  bei  24?  etwa  12  Stunden,  bei  18®  einen 
Tag,  bei  15®  2  Tage,  bei  10®  mehrere  Tage  in  Anspruch.  Der 
Kreislauf  der  Entwicklung  eines  Bacillus  kann  sich  bei  24®  in 
24 — 30  Stunden  vollziehen,  erfordert  bei  20®  schon  2  Tage,  und 
bei  15®  4—5  Tage. 

Alfred  Koch 3)  fand,  dass  die  Fäden  des  Bacillus  Carottarum, 
um  ihre  Länge  zu  verdoppeln,  im  Mittel 

bei  30— 33®C  43  Minuten, 

n       40®  C       18         „ 

y,       45®  C       22         „ 
brauchen.     Büchner,    Longard  und  Riedlin*)   wollen    die  Ver- 


^)  Herrn  Geheimrath  Pfeffer,  der  mich  hei  dieser  Suche  in  liebens- 
würdigster Weise  unterstütst  und  berathen  hat,  möchte  ich  auch  hier  nochmals 
meinen  verbindlichsten  Dank  aussprechen. 

2)  Brefeld,  Untersuchungen  über  Schimmelpilze.    1881.    Heft  4.    S.  46. 

8)  Botanische  Zeitung.     1888.    S.  294. 

*)  Centralblatt  für  Bacteriologie  und  Parasitenkunde.  Bd.  11.  —  Sie  ver- 
fuhren folgendermassen : 

Eine  Platinösc  einer  Bouillonreincultur  von  Cholerabacillen  wurde  in 
50  ccm  keimfreie  0,6proc.  NaCl-Lösung  übertragen,  tüchtig  geschüttelt  und 
nun  von  dieser  Bacillen  Verdünnung  1  ccm  in  50  ccm  Bouillon  übertragen. 
Daraus  wurden  sofort  3  Plattenculturen  mit  je  1  ccm  der  Bouillon  angelegt: 
aus  dem  auf  diesen  Platten  erfolgenden  Coloniewachsthum  Hess  sich  die  Ghrösse 
der  Aussaat  ermitteln.  Hiernach  wurde  die  Nährlösung  (Reincultur  auf 
gleichem  Nährboden  wie  vor  dem  Versuchsbeginn)  bei  37  "C.  2—3  Stunden 
belassen;  darnach  wieder  1  ccm  der  inzwischen  ausgekeimten  Lösung  zu 
Plattenaussaaten  verwandt,  wodurch  die  bei  Schluss  des  Versuchs  vorhandene 
Keimernte  sich  feststellen  liess. 

Die  Grösse  der  Genera tionsdauer,  bezw.  die  Vermehrungsgeschwindigkeit 

(n)  der  Aussaat  (a)  bis  zur  Entwicklung  der  Keimernte  (b)  ergab  die  Formel: 

v.n        1.    rt         b  logb  —  loga 

aX2n  =  b;2n  =  — ;    n  =  — -^-^ 5-^—; 

a  log  2 

Sie  ermittelten  so  eine  Generationsdauer   von  20  Minuten,   wobei  jedoch 

vorausgesetzt  wurde,  dass  immer  aus  einer  Zelle  2  neue,  niemals  mehr  oder 

weniger  hervorgingen.    Diese  Berechnung  übersah,  dass  auch  das  Zeitverhältniss 

nicht   von    Anfang  an    ein   gleicbmässiges ,   sondern   in    Progression    sich    von 

Generation  zu  Generation   verkürzendes  sein  kann.     (In  Beziehung  zu  unserer 

Frage  handelte  es  sich  aber  auch  in  diesen  Versuchen  um  schon  vorbereitetes 

Reinculturmaterial  bei  37  ^C,  welches  auf  gleichen  Nährböden  geprüft  ward, 

so  dass   die  erste  Anpassungs-  und  Keimzeit  für  diese  Verbuche   naturgemäss 

überhaupt  garnicht  Gegenstand  der  Prüfung  war.) 


Die  aseptische  Versorgung  frischer  Wunden.  295 

mehrung  der  Cholerabacillen  in  Reincultur  auf  flüssigen  Nährmedien 
schon  nach  20  Minuten  beobachtet  haben.  Ihre  Berechnung  ist  nicht 
ganz  einwandsfrei.  Gottschlich  erwähnt  die  Zeiten  der  Keira- 
vennehrung  in  dem  von  ihm  bearbeiteten  Abschnitte  („Fortpflanzung 
der  Mikroorganismen")  in  Flügge's  „Mikroorganismen"  i)  ebenfalls 
nur  für  Reinculturen  von  Typhusbacillus  und  Cholera.  In  seiner 
grundlegenden  Arbeit  über  den  Milzbrandbacillus^)  macht  R.  Koch 
folgende  Angaben:  Die  unmittelbare  Beobachtung  unter  dem 
Mikroskop  bei  40^  zeigt,  dass  Milzbrandbacillen  in  Humor 
aqueus  „in  den  ersten  beiden  Stunden  kaum  merklich  sich  ändern. 
Dann  beginnt  ihr  Wachsthum.  Schon  nach  3 — 4  Stunden  haben 
sie  die  10  bis  20 fache  Länge  erreicht;  nach  einigen  weiteren 
Stunden  sind  die  einzelnen  Fäden  schon  so  lang,  dass  sie  durch 
mehrere  Gesichtsfelder  reichen";  nach  10  bis  15  Stunden  er- 
scheint der  Inhalt  der  Fäden  fein  granulirt  (Sporenbildung). 
„Eine  Entwickelung  der  Sporen  zu  Bacillen  war  nach  3 — 4  Stunden 
zu  beobachten." 

Diese  Beobachtungen  beziehen  sich  sonach  ebenfalls  auf  schon 
reingezüchtetes  Material.  Die  Entwicklungsbedingungen  beim  Ver- 
folg der  Vorgänge  unter  dem  Mikroskop  können  gleichwohl  nicht  als 
günstige  bezeichnet  werden.  Ich  habe  in  ähnlicher  Weise  mit 
dazu  eigens  construirtera  Thermostatraikroskop  vor  einer  Reihe 
von  Jahren  im  Kaiserlichen  Gesundheitsamte  Studien  am  Cholera- 
bacillus^  angestellt  und  würde  nicht  wagen,  die  Uebertragung  der 
so  gewonnenen  Resultate  auf  die  Entscheidung  der  uns  beschäftigenden 
Frage  für  zulässig  zu  halten. 

Geradezu  werthlos  sind  vollends  die  grobmakroskopischen 
Beobachtungen  von  Keimentwicklungsvorgängen  im  Reagenzglasc, 
und  wir  werden  gut  thun,  ganz  von  ihnen  abzusehen. 

Präcise  Experimentalbeobachtungen  über  Auskeimungszeiten 
von  Bacterienmaterial  aus  den  Zustandsformen  der  Aussenwelt,  aus 


*)  Flügge,  Mikroorganismen.     3.  Aufl.     Leipzig  1896. 

2)  R.  Koch,  Untersuchungen  über  Bacterien.  V,  Die  Aetiologie  der 
Milzbrandkrankheit,  begründet  auf  die  Entwicklungsgeschichte  des  Bacillus 
Antbracis.   —    Cohus,    Beiträge  zur  Biologie  der  Pflanzen.    Bd.  2,  S.  277  flF. 

')  P.  L.  Friedrich,  Eine  Heizvorrichtung  des  Mikroskops  zu  bacteriolo- 
gischen  Untersuchungen.  Arbeiten  aus  dem  kaiserlichen  Gesundheitsamte. 
Bd.  Vni,  S.  87,  und  Vergleichende  Untersuchungen  über  den  Vibrio  Cholerae 
asiaticae  (Kommabacillus  Koch),  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  diagno- 
stischen Merkmale  desselben.    Ebendaselbst. 


296  Dr.  P.  L.  Friedrich, 

dcTB  diesen  anhaftenden  organischen  und  anorganischen  Massen 
liegen  nicht  vor.  und  nur  sie  könnten  uns  zu  Analogieschlössen 
die  Basis  liefern. 

Bei  dem  Mangel  anderweitiger  Unterlagen  bin  ich  nun,  schon 
vor  nahezu  4  Jahren,  noch  als  Thiersch'sch^t  Assistent,  im  un- 
mittelbaren Anschluss  an  die  Mittheilungen  Schimmelbusch's 
auf  dem  Chirurgen-Oongress  der  experimentellen  Prüfung  der  Aus - 
keimungszeiten  der  Bacterien  in  frischen  Wundgebieten  nachge- 
gangen, und  zwar,  wie  sich  des  Weiteren  zeigen  wird,  unter  Zuhilfe- 
nahme einer  Technik,  wie  wir  sie  in  praxi  an  Thiersch's  Klinik 
bereits  mit  ausgezeichnetem  Erfolge  übten.  Die  Ergebnisse  waren  so 
schlagende,  dass  ich  es  für  selbstverständlich  hielt,  dass  solche  Ver- 
suche von  anderer  Seite  in  gleicher  Weise  unternommen  werden 
wurden.  Ich  habe  seit  jener  Zeit  vielfach  im  theoretischen  und 
practischen  Unterricht  der  Ohirurgie  auf  sie  hingewiesen,  später  in 
einem  Vortrag  ^)  Gebrauch  von  ihnen  gemacht,  einmal  in  der  medi- 
cinischen  Gesellschaft  zu  Leipzig  2)  in  km-zen  Zügen  über  sie  berichtet 
und  möchte  heute,  nachdem  diese  experimentell  gesicherten 
Principien  eine  nahezu  4jährige  Prüfungszeit  bei  der  Behandlung 
des  verletzten  Menschen  bestanden  haben,  einem  Kreise  berufener 
Kritiker  dieselben  unterbreiten. 

Will  man  zunächst  möglichst  die  bei  der  Wundinfection  vor- 
liegenden Infcctionsbedingungen  nachahmen,  so  muss: 

Erstens  ein  Infectionsmaterial  gewählt  werden,  welches  gleich- 
massig  zur  AUgemeininfection  eines  Thierkörpers  führt; 

es  muss  zweitens  dieses  Infectionsmaterial  nicht  den  Cha- 
racter  einer  sorgsam  gepflegten  Reinkultur,  mit  unter  Umständen 
künstlich  gesteigerter  Virulenz,  besitzen,  darf  nicht  der  Züchtung 
im  Brutofen  entstammen,  sondern  muss  noch  die  Bedingungen,  wie 
sie  in  der  Aussenwelt  gegeben  sind^),  an  sich  tragen; 

drittens  muss  eine  Thierspecies  gewählt  werden,  welche 
eine  gleichmässige  Empfänglichkeit  für  das  betreffende  Virus  zeigt. 


J)  P.  L.  Friedrich,  Das  Verhältniss  der  experimentellen  Bacteriologie 
zur  Chirurgie.    Antrittsvorlesung.    Leipzig  1897,  Engel  mann. 

2)  S.  Berichte   der  Verhandl.    der  medicin.  Gesellschaft  zu  Leipzig  1897. 

8)  Eine  schärfere  Formulierung  dieses  Begriffs  vermögen  wir  zur  Zeit  noch 
nicht  zu  geben,  wenn  anders  nicht  Worte  den  Mangel  einer  klaren  Vorstellung 
verschleiern  sollen. 


Die  aseptische  Varsorgang  frischer  Wunden.  297 

Diese  Voraussetzungen  schienen  mir  zuzutreffen  für  die  In- 
fection  mit  malignem  Oedem,  wie  wir  sie  durch  Einbringen  kleiner 
Partikelchen  von  Zimmerstaub  oderGartenerde  beim  Meerschweinchen 
mit  einer  fast  mathematischen  Gesetzmässigkeit  zu  Stande  kommen 
und  ablaufen  sehen.  Sie  ist,  wie  wir  alle  wissen,  von  Koch^)  im 
Anschluss  an  die  Arbeiten  Pasteur's  mit  dem  Vibrion  septique 
eingehend  studirt  und  beschrieben  worden.  Es  entsteht  im  An- 
schluss an  die  Infection  mit  den  bezeichneten  Substanzen  die  Ent- 
wickelung  eines  Bacterien-Gemisches,  welches  vom  Orte  der  In- 
fection aus  zu  ödematös-jauchigen  Veränderungen  der  proximalen 
Gewebsabschnitte  fuhrt  und  die  Thiere  dem  Zusammenwirken 
vom  Allgemein4ntoxißation  und  -Infection  innerhalb  kurzer  Zeit 
erliegen  lässt.  Die  Milz  der  verendeten  Thiere  zeigt  sich  dann 
zunächst  vergrössert,  sehr  blutreich,  die  Lunge  grauroth,  ab 
und  zu  von  einzelnen  Blutungen  durchsetzt,  die  ganze  Blut^ 
bahn  weist  die  Bacterien  des  malignen  Oedems  in  wechselnder 
Menge  auf;  die  Bakterien  fehlen  niemals  an  den  Oberflächen 
der  Organe  der  Brust-  und  Bauchhöhle,  und  sind  auf  und 
in  deren  serösem  Ueberzug  in  Masswi  nachzuweisen.  Bei  Mäusen 
ist  das  Obductionsbild  makroskopisch  von  dem  des  Milzbrandes 
nicht  zu  unterscheiden ;  die  Keime  finden  sich  namentlich  in  grossen 
M^gen  in  den  Blutgefässen,  und  in  Lunge  und  Milz. 

Bereits  Koch  stellte  fest,  dass  auch  sehr  kleine  Impf  mengen 
bei  Meerschweinchen  und  Mäusen  fast  ausnahmslos  tödtlich  wirken. 
Er  ermittelte  weiter,  dass  selbst  dann  in  der  Leiche  einer  Maus, 
wenn  sie  bei  Eintritt  der  ersten  Krankheitssymptome  getödtet  und 
sofort  untersucht  wird,  sich  schon  zahlreiche  Bakterien  in  der 
Lunge  finden,  und  dass  diese,  unter  die  Rückenhaut  einer  gesunden 
Maus  gebracht,  dieselbe  innerhalb  eines  Tages  unter  den  schon  be^ 
kannten  Sjrmptomen  tödtet. 

Dieses  für  die  Nager  somit  sehr  infcctiöse,  rasch  zur  Gene- 
ralisirung  der  Infectionskeime  und  zum  Tode  führende,  ohne  An- 
passungskünste leicht  zu  gewinnende,  den  natürlichen  Infections^ 
insulten    daher    viel    gleichartigere    Material    schien    mir    sonach 


1)  Koch,  Zur  Aetiologie  des  Milzbrandes.    Mittheilungen  aus  dem  kaiser- 
lichen Gesundheitsamt.    Bd.  I.    Berlin  1884. 


298  Dr.  P.  L.  Friedrich, 

geeignet,  die  zeitliche  Grenzbestimmung  des  Oertlichbleibens  einer 
Wundinfection  vorzunehmen. 

Es  ist  mir  nicht  thunlich  erschienen,  parallel  gehende  Ver- 
suche mit  steriler  Watte  oder  sterilisirtem  Staub  oder  sterilisirter 
Erde,  welchen  Reinkulturen  von  Staphylo-  oder  Streptokokken  zu- 
geführt waren,  in  grösserer  Ausdehnung  auszuführen;  entsprechend 
eingeleitete  Versuche  bestätigten  nur  erneut  unsere  allgemeine  Er- 
fahrung, dass  erstens  die  Bedingung  eines  sorgfältig  präparirten 
und  rein  kultivirten  Infectionsmaterials,  zweitens  aber,  das  Zu- 
sammenmischen von  Keimen  und  sterilisirtem  Fremdkörpermaterial 
nach  kürzerer  oder  längerer  Zeit  durch  Veränderung  der  Virulenz 
der  fraglichen  Bakterienarten,  endlich  die  ungleichmässige  Empfäng- 
lichkeit des  Thierkörpers  gegen  die  gedachten  Infectionserreger  die 
Gleichmässigkeit  der  Versuchsanlage  und  die  Zuverlässigkeit  und 
Verwerthbarkeit  des  Versuchsausfalls  zu  sehr  beeinträchtigt.  Die 
technischen  Einzelheiten  der  von  mir  angestellten  Versuche  ge- 
stalteten sich  daher  kurz  folgendermaassen:  Bei  dem  auf  den 
Rücken  gelegten  und  mit  den  Extremitäten  fixirten  Thiere  wurde 
nach  sorgfältigen,  aseptischen  Vorkehrungen  am  Operationsgebiet 
unter  allen  sonstigen  Cautelen  des  Experimentirenden  durch  einen 
scharfen  Längsschnitt  der  rechte  Musculus  triceps  brachii  (Fig.  1) 
freigelegt.  Er  stellt  beim  Meerschweinchen  einen  unmittelbar  aus 
dem  Hautschnitt  vorspringenden  Muskelwulst  von  meist  1 — IY2  ^^ 
Breite  und  3Y2 — 4  cm  Länge  dar.  In  diesen  Muskel  wurde  ein 
Längsschnitt  gemacht,  sodass  eine  Blutung  dabei  überhaupt  nur 
ganz  ausnahmsweise  entstand ;  in  diesen  Längsschnitt  wurde  Garten- 
erde oder  Treppenstaub  in  der  Menge  eingebracht,  als  auf  eine 
Platinöse  von  3  mm  Durchmesser  aufzuladen  ist.  Die  Muskelwunde 
wurde  darüber  durch  3  Seidennähte  geschlossen,  darnach  die 
Hautnaht  angelegt. 

Es  wurde  zunächst  die  Infectionstüchtigkeit  meines  Infections- 
materials, Gartenerde  und  Treppenstaub,  ermittelt;  Infectionsform 
und  Erkrankungsablauf  entsprachen  den  von  den  Koch 'sehen  Ver- 
suchen her  bekannten  Erscheinungen:  die  Thiere  erlagen 
der  Erdinfection  innerhalb  48  —  73  Stunden,  durchschnittlich 
54  Stunden;  der  Staubinfection  innerhalb  30 — 51  Stunden,  durch- 
schnittlich 45  Stunden.     Die  Infection  verlief  bei  beiden  Infections- 


Die  aseptische  Versorgung  frischer  Wunden.  299 

formen  unter  dem  Bilde  des  malignen  Oedems,  ausgehend  vom 
Impfortc,  stinkender  Verjauchung  der  der  Impfstelle  benachbarten 
Gewebspartieen ;  bereits  nach  10  und  12  Stunden  konnten  ge- 
legentlich, meist  erst  um  die  16.  Stunde,  Baktfirien  an  inneren 
Organen  nachgewiesen  werden.  Fast  ausnahmslos  handelte  es  sich 
um  das  Stäbchen  des  malignen  Oedems;  die  Infection  vollzieht 
sich  stets  unter  der  Mitwirkung  anderer,  meist  mehr  weniger  auf 
den  Ort  des  Eintritts  beschränkter  kleinerer  Stäbchen  und  Kokken. 
Keines  der  Erd-  oder  Staubinficirten  Thiere  blieb  am  Leben;  ganz 
vereinzelt)  fielen    Tetanusthiere    dazwischen    (etwa  im  Verliältniss 

Fig.  1. 


von  1  :  15 — 1  :  30).     Diese  wurden    für    alle  Versuchsreihen    aus- 
geschaltet. 

Hiernach  wurde  ermittelt,  innerhalb  welcher  Zeiten  in  der 
Nachbarschaft  des  Infectionsherdes  (s.  I  und  II  in  Fig.  1)  Bactcrien 
im  Schnitt  und  kulturell  nachweisbar  sind.  In  wechselnden  Zeit- 
räumen nach  ausgeführter  Erdinfection  des  Muskels  ward  derselbe 
erneut  freigelegt,  seine  proiiimale  Hälfte,  in  einer  Entfernung  von 
2  mm  vom  Wuudgebiet  beginnend,  in  2  Querscheiben  abgetragen,  je 
die  Hälfte  einer  Querscheibe  zum  Schnittpräparat,  die  andere  zum 
kulturellen  Nachweis  der  Keime  verwendet.  Die  hier  eingefügte 
Tabelle  zeigt  das  Ergebniss  der  Versuche. 


Tabelle    1. 

StaubitifectiOD  des  H.  trireps  bracbii.  Untersuchung  der  proiimaleo  Huskel- 
partien  in  verscbiedenen  ZeitabscbDiUeu  auf  Reime  in  Schaittea  und  kulturell. 
Sämmtlicbe  Thiere  wurden,  nacb  Abtragung  der  proiimalen  UuikelpartieD 
zwecks  Untersucbung,  dem  «eiteren  Gange  der  Infection  überlassen  und  er- 
lagen derselben. 


Zeitdauer  bis  zur 

Untersuchung  der 
proximalen  MÜiakel- 

Thierreihe. 

Ausgang. 

theile  in  Stunden. 

2 

o 

o 

3 

ü 

o 

+ 

4 

n 

n 

t 

6 

CJ 

o 

X 

C) 

o 

o 

t  +  t 

8 

X 

X 

X 

X 

+  t 

10 

X 

X 

X 

X 

+  + 

Sonach  gelang  es  nur  einmal  and  zwar  kulturell  und  im 
Schnitt  bereits  nach  6  Stunden  im  proximalen  Muskeitheil  Bakterien- 
entwickelung  nachzuweisen;  sonst  ausnahmslos  erst  von  der 
8.  Stunde  an.  Der  positive  unzweideutige  Nachweis  im  Schnitt 
gelang  durchweg  schwieriger  oder  zuweilen  erst  später  als  der 
kulturelle  Nachweis,  was  beweist,  dass  von  einer  Contiguitäts- 
infection  in  grossem  Stile  um  die  6.  Stunde  noch  nicht  die  Rede 
ist,  sondern  nur  vereinzelte  Keime  hin  und  wieder  in  den  Lymph- 
bahnen erscheinen  können. 

Die  Auskeimung  ist  sonach  zwischen  der  G.  und  8.  Stunde 
im  Infectionsgebiete  als  dem  Abschluss  nahe  oder  abgeschlossen 
zu  betrachten;  die  Keimaufnahme  in  die  Lymphbahnen  und  damit 
ihre  Generalisirung  im  Organismus  beginnt,  oder  kann  beginnen. 
Die  sogleich  folgende  Versuchsreihe  bestätigt  auf  da>s  sicherste  die 
so  gewonnene  Thatsache. 

Sämmtlicbe  Versuch  sthiere  dieser  ersten  Reibe  erlagen  in  der- 
selben Weise,  wie  die  früheren  Staubin  fcctionscontrolthiere  der  Ali- 
gemeimnCection.  Hieraus  folgerte  sich  naturgemäss  die  zweite 
Fragestelluug  des  Versuchs;  Gelingt  es  irgendwie  bis  zur  6.  Stande 
nach    der   Verletzung   (und    dem    Hineingelangen    von    Infections- 


Die  aseptische  Versorgung  frischer  Wunden. 


301 


material)  in  das  Verletzungsgebiet,  das  Thier  gegen  die  Allgemein- 
infection  an  malignem  Oedem  zu  schätzen?  Die  Antwort  lautet: 
ja;  aber  nur  durch  das  grobmechanische  Mittel  der  allseitigen 
exacten  Anfrischung  des  Wundgebietes  1 — 2  mm  im  Gesunden 
(s.  TabeUe  2). 


Tabelle   2. 

Ifach   verschiedcDen    Zeiten    nach    erfolgter  Verletzung   und  Staub-   oder  Erd- 
iDfection   wurde    das  Verletzuugsgebiet   im  Gesunden  in  1 — 2  mm  Eutfernung 

angefrischt. 


Zwischen  inficirender 

U    V 

Verletzung  u.  nach- 

mme 
Chier 

folgend.  Anfrischung 
d.  Wundgebiets  ver- 

Staub 

Erde 

Ausgang. 

strichener  Zeitraum 

^    S  1 

•ö 

in  Stunden. 

,| 

2 

n 

Gesund. 

2 

2 

n 

y> 

3 

2 

w 

V 

4  . 

2 

y> 

n 

5 

4 

j» 

7> 

6 

4 

7t 

« 

7 

1 

5V2 

» 

* 
1 

n 

8 

6 

n 

9 

6 

V 

r> 

10 

6 

•   n 

n 

11 

7 

» 

2  Tage  lang  nachweisbare  Schwel- 
lung am  Infectionsorte;  danach 
erholt  und  gesund. 

12 

8 

)9 

Gesund. 

18 

8 

U 

Klaffen  eines  Thells  der  Wunde  durch 
mehrere  Tage  hindurch;  kränkelt 
etwa  10  Tage,  bleibt  am  Leben. 

14  . 

8 

» 

Oertliche Schwellung.  Thiermatt, 
trisst  schlecht,  bleibt  am  Leben. 

15 

8V3 

V 

Klaffen  der  Wunde  mit  Belag  durch 
mehrere  Tage;  kränkelt  längere  Zeit, 
bleibt  am  Leben. 

16 

8V2 

r> 

t  nach  30  Stunden. 

17 

10 

r> 

t  nach  44  Stunden  15  Min. 

18 

10 

» 

t  nach  48  Stunden. 

19 

10 

» 

t  nach"  81  Stunden. 

20 

16 

j» 

t  nach  38  Stunden  50  Min, 

21 

16 

ff 

1 

t  nach  38  Stunden  20  Min. 

302  Dr.  P.  L.  Friedrich, 

Diese  Uebersicht  (Tabelle  2.)  zeigt,  dass  bis  zur  6.  Stunde  mit 
Sicherheit,  bis  zur  8.  Stunde  in  ungleichmässiger  Weise,  eine  An- 
frischung  und  damit  Abtragung  des  Infectionsherdes  die  Thiere 
vor  der  Infection  mit  malignem  Oedem  bewahrt  und  dieselben 
gesund,  ohne  Krankheitszeichen  bleiben.  Wir  haben  es  hier  mit 
einem  biologischen  Gesetz  von  nur  annähernd  möglicher  zeitlicher 
Grenzbestimmung  zu  thun,  weil,  wie  bei  allem  Lebenden,  wechselnde, 
hier  nicht  zu  erörternde  Factoren  einen  zum  Theil  noch  unberechen- 
baren Einfluss  haben  können. 

Jedenfalls  war  hiermit  die  Auskeimungszeit  des  das  Wundgebiet 
inficirenden  Materials  (für  Staub  und  Erde  im  Thierversuch)  für  die 
nachfolgende  practische  Prüfung  der  Frage  annähernd  ermittelt. 

Vielfältige  Beobachtung  des  Infectionseintritts  beim  verletzten 
Menschen  zeigt  nunmehr,  dass  hier  hinsichtlich  der  Staphylokokken- 
und  Streptokokken-Infectionen  die  Verhältnisse  der  Zeit  nach  zu- 
meist mindestens  ebenso  günstig,  wenn  nicht  noch  günstiger  liegen. 

Ich  verschone  Sie  mit  einer  Statistik  behandelter  Verletzungen; 
darf  doch  wohl  eine  allgemeine  üebereinstimmung  darüber  voraus- 
gesetzt werden,  dass  man  ein  sicheres  Urtheil  über  eine  Verletzung, 
ohne  sie  selbsr  gesehen  zu  haben,  besonders  mit  Rücksicht  auf  die 
vorliegende  Frage  nur  schwer  gewinnen  kann  und  alle  entsprechenden 
Statistiken  von  fraglichem  Werthe  sein  müssen. 

Für  die  chirurgische  Praxis  darf  aber,  in  Anlehnung  an  die 
gegebenen  Ausführungen  und  gestützt  auf  die  Erfahrung  am  ver- 
letzten Menschen,  gefolgert  werden: 

Wenn  durchführbar,  —  nach  äusseren  Umständen  (aseptischer 
Apparat,  Narkose  oder  örtliche  Anästhesie)  oder  nach  Zeit,  Art 
und  Umfang  der  Verletzung,  —  muss  eine  bis  zur  6.  Stunde  bei 
frischen,  nicht  operativen  Verletzungen  noch  bewerkstelligte  An- 
frischung  jegliche  Infectionsgefahr  für  den  Träger  beseitigen. 
Ich  brauche  nicht  vor  Fachmännern  darauf  hinzuweisen,  dass  die 
Technik  der  Anfrischung  sich  in  subtiler  Weise  zu  vollziehen  hat, 
dass  jegliche  vorherige  erneute  Finger-  oder  Sondenläsion  im  Ver- 
Ictzungsbereich  das  Werk  der  Anfrischung  fruchtlos  machen  kann; 
dass  nicht  die  aus  infectionsverdächtigem  in  gesundes  und  aus 
diesem  wieder  in  infectionsverdächtiges  Terrain  schlagende  Scheere 
zur  Anfrischung  benutzt  werden  darf,  sondern  ausschliesslich  das 
Messer;  dass  die  Pincetten brauche  der  Schmutzseite  (a  der  Fig.  2) 


Die  aseptische  Versorgung  frischer  Wunden.  303 

nicht  aus  Versehen  wieder  zurückgleiten  darf  in  die  angefrischte 
gesunde  Fläche  und  ähnliche  Einzelheiten  mehr. 

Für  den  Erfolg  in  der  Verhütung  der  Infection  ist  aber  nun 
noch  ein  anderes  ebenso  wichtiges,  gleich  zu  erörterndes 
klinisch  und  experimentell  erweisbares  Moment  maassgebend. 

Ehe  ich  mich  seiner  Besprechung  zuwende,  möchte  ich,  in 
Ergänzung  des  oben  über  die  Schimmelbusch 'sehe  Resorptions- 

Fig.  2. 

(Grobes  Wundschema). 


\ 


a  =  „inficirter**  Pincettenarm,  b  =  idealer  Anfrischungssöhnitt. 

theorie  Gesagten,  gegenüber  der  von  mir  betonten  Localisations- 
theorie,  eine  lehrreiche  Versuchsreihe  einfügen.  Ueberträgt  man 
nämlich  Infectionsmaterial  während  der  Zeit  der  Auskeimung 
aus  der  Wunde  eines  1.  Versuchsthieres  unmittelbar  in  diejenige 
eines  zweiten,  so  gestaltet  sich  die  Gesetzmässigkeit  des  Bakterien- 
nachweises in  der  Nachbarschaft  des  neuen  Wundherdes  wesentlich 
anders:  die  nunmehr  schon  in  ihrer  Auskeimung  geförderten  und 
partiell  an  den  neuen  thierischen  Nährboden  angepassten  Keime 
sind  jetzt  innerhalb  viel  kürzerer  Zeiten  in  der  Nachbarschaft 
nachweisbar  und  die  Thiere  erliegen  viel  früher  der  Allgemein- 
infection.  Es  wird  hiermit  die  Brücke  von  meinen  Versuchen  zu 
denjenigen  Schimmelbusch's  geschlagen:   je    angezüchteter  und 


304 


Dr.  P.  U  Friedrich, 


reiner  das  Impfmaterial,  um  so  grösser  ist  im  allgemeinen ')  sein 
Resoiptions-  und  iHfectionscoefficient.  nur  eine  neue  Bestätigung 
alt«  Davaine-,  Pasteur-,  Koch'scher  EbipMimentalerfahrungen 
(s.  die  Tabelle  3). 

Tabelle  3. 
Es  «urde  der  M,  triceps  eines  MeerscbweiQchena  mit  Staub  inficirt:  hiernach 
nach  verschiedenen  Zeiten  (Col.  2)  der  InfectioDsherd  ausgeschnitten  und  eineni 
2.  Thiere  (Col.  1)  in  den  Tricepa  eingebracht;  danach  erneut  nach  verschiedenen 
Zeiten  (Col.  8)  von  diesem  3.  Tliiere  proximale  Muskelstücfce  in  Präparaten  und 
culturell  auf  Keiminvasion  untersucht  (Col.  41. 


1. 

2. 

3. 

4- 

5. 

4 

ei 

6. 

Nummer 

des 
Versuchs- 
thieres. 

Keimzeit  im 
ersten  (nicht  in 
die  Tabelle  ein- 
getragenen Vor-) 
Thiere. 

Keimzeit  im 

Versuch  s- 
tbiere  der 
Tabelle. 

Äuagang. 

■      1 
3 
3 
i 
6 
G 
7 

4 

G 
6 

8 
8 

11/- 
2 
1 
2 

o 

X 
X 
X 
X 
X 
X 

X 

X 

X 
X 

+  nach  23Vi  Stunden. 

t  nach  23  Stunden. 

+•) 

t  nach  28  Stunden. 

f) 

t  DBCh  19  stunden. 

t  nach  24  Stunden. 

+•)  =  es  ist  versäumt  worden,  die  Stucdeniahl,  innerhalb  deren  der  Tod  er- 
folgte, in  die  Tabelle  einzutragen. 

Diese  Tabelle  lehrt,  dass  nach  theilweise  erfolgter  Aus- 
kcimung  des  Infectionsmateriales  in  einem  ersten  {Vor-)Thierc  die 
Auskeimung,  bei  Ueberimpfung  des  Keimherdes  auf  ein  zweites 
Thier,  in  der  Nachbarschaft  des  Infectionsherdes  (proximale  Muskel- 
partie) des  zweiten  (Nach-)  Thi eres  weit  früher  vor  sich  geht,  beaw. 
der  Eeimnachweis  viel  früher  zu  erbringen  ist,  als  bei  den  Erst- 
Infeetionen,  wie  sie  die  Tabelle  1  vorführte. 

Sie  zeigt  ausser  der  rascheren  Auskeimung,  bezw.  dem 
rascheren  Keimauftreten  in  der  Nachbarschalt  eine  viel  heftigere 
Infectionswirkung   in  Bezug    auf  den    zeitlichen  Eintritt   des  Ver- 


Die  aseptische  Versorgung  frischer  Wunden. 


305 


endens  des  Versnchsthieres:  sonst  durchschnittliches  Verenden 
bei  Staubinfection  nach  45  Stunden,  hier  durchschnittlich  nach 
23  Stunden. 

Besonders  wirkungsvoll  gestaltet  sich  das  hier  bewiesene  Ver- 
hältniss  der  Bedeutung  der  Erst-  und  Zweit-Infection  (ich  vermeide 
aus  naheliegenden  Gründen  die  Worte  primär  und  secundär)  in 
den  beiden  folgenden  Versuchsreihen  (Tabelle  4). 

Tabelle  4. 

Es  wurde  2  Thieren  (I  und  II)  je  in  deren  rechten  und  linken  M.  triceps  br. 
Staub  eingebracht.  Nach  verschiedenen  Zeiten  (4  und  6V2  St.  bei  I,  6  und 
8V2  St.  bei  II)  wurden  proximale  Muskeltheile  auf  Eeimgehalt  untersucht;  die 
inficirten  Muskelgebiete  ausgeschnitten  und  je  2  anderen  Thieren  (Ir.  und  IL, 
Ilr.  und  III.)  in  einen  M.  triceps  gebracht;  die  proximalen  Muskeltheile  dieser 
Thiere  wieder  nach  verschiedenen  Zeiten  auf  Keimgehalt  geprüft.  Die  erst- 
maligen Keimzeiten  sind  halbfett,  die  nachmaligen  (zweiten)  in  den  2.  Thieren 

euraw  gesetzt.    Sonstige  Bezeichnungen  wie  oben. 


Thi 
erstinfle. 

lere 

ziceiHnfic. 

Infections- 
material. 

Keim- 
zeiten. 

Versuchs- 
ergebniss. 

Ausgang. 

I.  (Voi 
dessen 
rechts 

1.  (Nach-) 

Thier 

Ir. 

•-)  Thier 
Triceps 

links 

j  Staub. 

4 
6 

0  0 

0  0 

Lebt. 

2.  (N 

Th 

li 

f 
ach-) 

ier 

l 

4  stündiger 
Muskelherd  d. 
Vorthieres  2. 

6  stündiger 
Muskelherd  d. 
Vorthieres  2. 

1 

1 

0  X 

X  X 

t  naoh  23V2  Stunden, 
t  nach  28  Stunden. 

II.  (Voi 
dessen 
rechts 

1.  (Nach-) 
Thier 
Hr. 

r-)  Thier 
Triceps 

links 

1  Staub 

6 

8V2 

0  0 

X  X 

t  nach  80  Stunden. 

2.  (N 
Th 
iL 

ach-) 
ier 

6  stündiger 
Muskelherd  d. 
Vorthieres  1. 
8  V2  stündiger 
Muskelherd  d. 
Vorthieres  1. 

1 
30Min, 

X  X 
X  X 

t  nach  28  Stunden. 
t  nach  19  Stunden. 

Entsprechend  dieser  Tabelle  blieb  das  in  beide  Triceps  inficirte 
Thier,  wo  nach  4  bezw.  6  Stunden  die  Anfrischung  erfolgte,  am  Leben; 
in  seinen  proximalen  Muskeltheilen  waren  Keime  nicht  nachweisbar. 
Das  nach  6  bezw.  8V2  Stunden  angefrischte  Thier  verendete  nach 


306  Dr.  P.  L.  Friedrich, 

30  Stunden;  in  den  proximalen  Muskeltheilen  bei  Anfrischang 
nach  8Y2  Stunden  waren  reichlich  Keime  vorhanden. 

Die  mit  den  excidirten  inficirten  Muskeltheilen  der  Erst-Thiere 

inficirten    Zweit-Thiere    verendeten   insgesammt   zwischen    19  und 

» 

28  Stunden  und  zeigten  bereits  nach  30  Minuten  bis  1  Stunde 
Keiminvasion  in  der  Nachbarschaft  des  Infectionsherdes. 

Es  hängt  sonach  die  Nachweisbarkeit  der  Keime  in 
der  Nachbarschaft  des  Infectionsgebietes  ganz  von  den 
vorherigen  Anpassungs-  (Keimungs-)  Bedingungen  ab  und 
diese  sind  eben  in  hohem  Grade  different  bei  Infection 
mit  Materialien,  die  aus  der  Aussenwelt  stammen  und 
solchen,  die  schon  auf  dem  Warmblüter  bezw.  künstlich 
vorgezüchtet  sind. 

Ich  komme  nun  zur  Besprechung  des  zweiten  Theiles  meiner 
Aufgabe,  welcher  sich  folgendermaassen  präcisiren  lässt{ 

1.  Ist  es  möglich,  während  der  Auskeimungszeit, 
durch  Behandlungsmaassnahmen,  nieht  blutiger  Art, 
physiealiseh  oder  ehemiseh  die  Auskeimung  in  einer  für 
den  Träger  der  Verletzung  günstigen  Weise  zu  beein- 
flussen, bezw.  die  Infection  aufzuhalten  und 

2.  Welche  örtlichen  Mittel  sind  hierzu  oder  bei  schon 
erfolgter  Infection,  zu  deren  Bekämpfung  erforderlich? 

Es  sind  dies  die  beiden  Punkte,  wo  bisher  die  Wunddesin- 
fcction  practisch  einzusetzen  bestrebt  gewesen  ist.  Diese  Be- 
trachtungen berühren  sich  daher  mit  den  Experimentaluntersuchungen 
der  oben  genannten  anderen  Autoren. 

Die  von  mir  in  dieser  Richtung  angestellten  Thierversuche 
können  einen  Anspruch  auf  Vollständigkeit  nicht  erheben.  Ich 
habe  viele  der  landläufigen  oder  neuerdings  empfohlenen  Substanzen 
im  Experiment  geprüft,  möchte  Ihnen  aber  die  Zeit  zu  ihrer  Durch- 
sicht, dem  Papier  den  Raum  sparen  und  verzichte  daher  darauf, 
sie  alle  hier  aufzuzählen  und  die  entsprechenden  Versuchsreihen 
abzudrucken.  Meine  diesbezüglichen  Versuche  umfassen  im  Ganzen 
73  Thiere.  Alle  solche  Versuche  tragen  schon  deswegen  zumeist 
den  Stempel  der  Unverlässlichkeit  an  sich,  als  für  sie  gefordert 
werden  müsste,  dass  jedes  Desinfectionsmittel  in  erschöpfender 
Weise  und  womöglich  in  Beziehung  auf  die  verschiedenen 
Keimspecies  für  sich,    als  für  Keiragemische  einer  Prüfung  zu 


Die  aseptische  Versorgung  frischer  Wunden.  307 

unterziehen  sei.  Die  Bedeutung  des  Kampfes  der  verschiedenen 
in  das  Wundgebiet  eingedrungenen  Bakterienarten  gegeneinander, 
deren  Endresultat  für  den  Menschen  meist  das  Vorwiegen  von 
Staphylo-  und  Streptokokken  ist,  wird  nur  zu  häufig  ignorirt. 
Die  Wirkung  aller  jener  Mittel  ist  zwar  eine  oft  unter  sich 
verwandte,  aber  keineswegs  gleichmässige.  Schon  ihr  Chemis- 
mus zu  dem  der  Organzelle,  ihr  Diffusionscoeffizient,  die 
osmotischen  Widerstände  des  Infectionsmateriak  sind  Factoren,  die 
eine  klare  Einsicht  in  den  Complex  der  Vorgänge  überaus  er- 
schweren. Mit  dem  einfachen  Aufträufeln,  Einstreuen  oder  Injiciren 
solcher  Substanzen  ist  eine  einwandsfreie  Entscheidung  nicht  zu 
erzielen.  Alle  meine  darauf  gerichteten  eigenen  Versuche  lassen 
sich  nur  dahin  zusammenfassen,  dass  bei  sorgfältiger  Ausräumung 
des  Infectionsmaterials  aus  dem  Wundgebiet  nach  verschiedenen 
Zeiten  kein  chemisches  Verfahren  mehr,  ja  die  meisten  nicht  das 
gleiche  leisten,  als  die  Emleitung  einer  mehr  weniger  das 
Wundgebiet  offenhaltenden  Wundbehandlung,  ich  sage  ab- 
sichtlich nicht,  um  Missverständnissen  aus  dem  Wege  zu  gehen, 
„offenen"  Behandlung.  Sie  ist  die  Kunst  in  der  Vorbeugung  und 
Behandlung  der  Infectionen  und  Sie  werden  mir  beipflichten,  wenn 
ich  sage,  dass  es  von  der  Erfahrung  des  betrefiFenden  Chirurgen 
zeugt,  von  Fall  zu  Fall  zu  entscheiden,  ob,  wann  und  in  welchem 
Umfange  man  aus  der  geschlossenen  zur  mehr  oder  weniger  ofl'en- 
haltenden  Behandlung  übergehen  soll. 

Eine  grosse  Menge  experimenteller  und  klinischer 
Desinfectionserfolge  erledigt  sich  mit  der  Klarstellung 
^es  Umstandes,  dass  bei  ihnen  mit  der  Desinfection  die 
partielle  oder  totale  offene  Behandlung  eingeleitet  wurde. 

Von  Reichel^)  ist  dieses  Moment  mit  Bezugnahme  auf  das 
Experiment  bereits  in  zutreffender  Weise  hervorgehoben  worden. 
Und  immer  wieder  bestätigt  das  Experiment  den  von  Ihnen 
Allen  gewiss  gewürdigten  Erfahrungssatz  der  practischen 
Chirurgie,  dass  jegliche  Wundinfection  an  Heftigkeit  ver- 
liert, sobald  es  uns  gelingt,  das  geschlossene  Infections- 
gebiet  in  ein  offenes  umzuwandeln.  Es  gilt  das  sogar  von 
der    verhängnissvollen    Meerschweinchen-Infection    mit    malignem 


»)  a.  a.  0. 

ArehiT  fttr  klin.  GhJrargie.    57.  Bd.   Heft  2.  21 


308  Dl-.  P.  L.  Friedrich, 

Oedem,  insofern  als  Thiere,  bei  welchen  man  selbst  sämmtliches 
Staubinfectionsmaterial  in  der  Wunde  belasst,  bei  sofort  eingelei- 
teter offener  Behandlung  mindestens  noch  einmal  so  lange,  meist 
länger  am  Leben  zu  erhalten  sind,  als  solche,  wo  der  Schluss 
der  Wunde  bewerkstelligt  wird. 

In  wie  weit  diese  offenhaltende  Behandlung  Platz  greife,  das  kann 
nicht  mit  Buchstabe  oder  Zahl  normirt  werden.  Die  Individuali- 
sirung  tritt  auch  hier  ihre  souveränen  Rechte  an,  gegenüber  dem 
Streben  nach  Schematismus. 

In  einem  Falle  genügt,  wie  bekannt,  von  vornherein  statt  vollen 
Nahtschlusses  weit  von  einander  liegende  Situationsnaht,  mit  oder 
ohne  Drainage ;  im  zweiten  die  nachträgliche  Entfernung  einer  Naht ; 
im  dritten  ein  Auseinanderdrängen  der  Hautwundränder;  im  vierten 
ist  ein  Aufgeben  jeglichen  Schlusses  des  Wundgebietes  von  Nöthen. 
W^er  den  Muth  besitzt,  bei  Zeiten  dem  grösseren  Erfolge  zu  ent- 
sagen, der  wird  mit  dem  kleineren  wenigstens  dem  totalen  Sfiss- 
erfolge  aus  dem  Wege  gehen. 

Es  würde  mir  nur  eine  grosse  Befriedigung  gewahren,  wenn 
ich  Ihnen  mittheilen  könnte,  die  oder' die  Desinfection  der  Wunde 
beugt  der  Infection  vor.  Denn  ich  lebe  der  Ueberzeugnng,  das& 
es  doch  noch  den  vereinten  Kräften  des  Chemikers,  Bakteriologen 
und  Arztes  gelingen  muss,  solche  Mittel  ausfindig  zu  machen 
und  darum  wird  auch  noch  nicht  heute  oder  morgen  die  Suche 
nach  Desinfectionsmitteln  erledigt  sein.  Nur  soviel  müssen  wir 
ehrlich  eingestehen,  dass  die  bisher  uns  zu  Gebote  stehenden 
unseren  idealen  Forderungen  sammt  und  sonders  nicht  entsprechen 
und  dass  vnr  die  bisher  in  Gebrauch  gesetzten  bei  richtiger  Würdi- 
gung der  Gedanken  der  obigen  Ausfahrungen  nicht  brauchen. 
Gleichwohl  mag  zugegeben  werden,  dass  bei  frischen  Verletzungen 
im  Stadium  der  Auskeimungszeit  der  infieirenden  Keime  and 
bei  voller  Zugänglichkeit  des  Wundgebiets  mit  mehreren 
der  gepriesenen  Desinfectionsstoffe  (insbesondere  dem  Jodoform) 
entwicklungshemmende  und  damit  heilsame  Wirkungen  erzielt 
werden  können,  obsehon  es,  wie  oben  ausgeführt  wurde, 
schvrierig  ist,  den  Werth  der  jeweilig  applieirten  Substanx  im 
Einzelfalle  abzuschätzen  und  abzugrenzen.  Es  mag  ferner  zu- 
gegeben werden,  dass  mit  den  gleichen  Substanzen  nach  einmal 
erfolgter  Demareation    infeciiöser  Processe,    Dank  der  oft  zn 


Die  aseptisolie  VersorKung  frischer  Wunden.  309 

intensiver  Qewebsreaktion  anregenden  chemischen  Differenz  der  so- 
genannten Desinfectionsmittel,  diese  auf  den  Charakter  der  Granula- 
tionen von  günstigem  Einflüsse  sein  können;  dieses  gilt  namentlich 
gegenüber  saprophytischeu  Seoundarinfectionen  an  oder  in  der 
Nahe  der  Schleimhäute.  Ich  übergehe  hier  in  einem  Kreise  von 
Fachgenossen  selbstredend  die  Erörterung  der  Wundverlaufsweisen, 
wo  ein  unseliges  Vertrauen  auf  die  Desinfectionskraft  eingebrachter 
Stoffe  zur  Ignorirung  der  für  Offenhalten  und  Abfluss  sorgenden 
Maassnahmen  führt  und  wo  dann  die  antiseptische  Wundbehand- 
lung geradezu  für  einen  verhängnissvolleren  Ablauf  der  Infection 
verantwortlich  gemacht  werden  könnte. 

Wir  werden  es  nach  dem  Gesagten  begreiflich  finden,  wenn  die 
Einen,  die  mehr  in  Berührung  mit  nur  kleinen  Verletzungen  kommen 
an  der  Verwendung  desinficirender  Substanzen  Sicherheit  und  Ein- 
fachheit der  Technik  rühmen,  während  die  Andren,  welche  viel  mit 
grossen  und  unregelmässig  gestalteten  Verletzungen  es  zu  thun 
haben,  sich  von  der  Verwendung  jeglicher  Desinfectionsmittel  ab- 
wenden nnd  ausschliesslich  sich  von  den  oben  präcisirten  Grund- 
sätzen leiten  lassen. 

Einem  Fortschreiten  der  Infection  vermag  jedenfalls  keine 
der  uns  bisher  bekannt  gewordenen  chemischen  Substanzen  Halt 
zu  gebieten :  sowohl  weiterreiohende  chemische  Contact-  als  erfolg- 
reiche chemische  Femwirkungen  sind  für  die  Wundinfectionsprocesse 
noch  nicht  ermittelt.  Und  in  vielen  solcher  Fälle  dürfte  das  Hin-* 
zutreten  der  chemischen  Wirkung  nicht  selten  eher  von  Nachtheil 
als  von  Vortheil  für  den  Kranken  sein. 

Wenn  ich  am  Scblusse  meiner  Ausführungen   die  Hauptsätze 

derselben  als  das  Ergebniss  meiner  experimentellen  und  klinischen 

Erfahrungen  nochmals  herausheben  darf,  so  sind  es  die  Folgenden: 

1.  Jegliche  durch  nicht  operative  Verletzungen,  bez. 

durch  sogenannte  Spontaninfection  gesetzte  Wund- 

infection  ist  zunächst  ein  örtlicher  Process.     Für 

seine  therapeutische  und  prognostische  Beurthei- 

lung  ist   es    von  Wichtigkeit,    damit   zu   rechnen, 

dass  er  in    der   weitaus    grössten  Zahl   der  Fälle 

bis   mindest.ens    zur    6.  Stunde,    oft   länger,    oder 

dauernd  ein  solcher  bleibt.    Dieser  Zeitraum  stellt 

gewissermaassen  die  Auskeimungszeit  des  Infec- 


310     Dr.  P.  L.  Friedrich,  Die  aseptische  VersorguDg  frischer  Wunden. 

tionsmaterials     (Latenzzeit     der    Infection,     In- 
cubationszeit)  dar. 

2.  Von  den  in  dieser  Zeit  angreifenden  Heilverfahren  ist  die 
exakte  Anfrischung  des  Verletzungsgebietes  im  Ge- 
sunden und  in  ganzer  Ausdehnung  des  Verletzungs- 
gebietes das  zuverlässigste  Verfahren  zur  Erzielung  einer 
infectionslosen  Heilung. 

3.  Wo  Umstände  dieses  Verfahren  verbieten  oder  nicht  an- 
gezeigt erscheinen  lassen  (Zeit,  Umfang  der  Verletzung, 
Assistenz,  künstliche  Anästhesie,  aseptischer  Apparat)  ist 
eine  mehr  weniger  offenhaltende  Behandlung  das 
beste  Präservativ  gegen  schwere  Infectionen. 

4.  Die  Anwendung  antiseptischer  Stoffe  hat  nur  Sinn,  wenn 
das  Wundgebiet  für  das  Anbringen  derselben  hinreichend 
zugänglich  ist,  wenn  sie  in  der  bezeichneten  Auskeimungs- 
zeit, oder  nach  der  vom  Organismus  und  nicht  von 
chemischen  Substanzen  geleisteten  Demarcation  desln- 
fectionsprocesses  erfolgt.  Auf  progrediente  oder 
Allgemeininfectionen  ist  sie  einflusslos,  manchmal 
nachtheilig.  Sie  leistet  insgesammt  kaum  mehr,  als  die 
von  FaU  zu  Fall  geschickt  verwerthete  Einleitung  einer 
mehr  weniger  oflFenhaltenden  Behandlung. 

Das  Gesagte  bezieht  sich  nur  auf  die  Behandlung  der  nicht 
operativen  Verletzungs wunden.  Welche  Schlüsse  hieraus  ev.  für 
den  Verwundetentransport,  für  die  erste  Versorgung  des 
Verletzten  unter  ungünstigen  und  günstigen  Umständen  im 
Frieden  und  im  Kriege  zu  ziehen  sein  dürften,  überlasse  ich 
Ihrem  eigenen  Urtheil. 


XII. 

lieber  peritoneale  Resorption  und  Infection'). 

Von 

Dr.  Mf.  IVaeteel, 

Yolontftrant  an  der  ehirurg.  Klinik  in  KOni^berg. 


M.  H.!  Die  Frage  nach  den  Bedingungen  des  Zustande- 
kommens der  Peritonitis  hat  seit  den  grundlegenden  Untersuchungen 
Wegner 's  so  viel  neue  klinische  und  experimentelle  Arbeiten  ge- 
zeitigt^, dass  ich  einer  Rechtfertigung  bedarf,  wenn  ich  mir 
erlaube,  Ihnen  hier  über  eigene  Experimente  zu  berichten,  um  so 
mehr  als,  wie  ich  gleich  vorausschicken  will,  gerade  die  eigenen 
Versuche  mich  gelehrt  haben,  wie  eng  auf  diesem  Gebiet  die 
Grenzen  für  die  experimentelle  Forschung  überhaupt  gesteckt  sind. 
In  einer  Zeitperiode  aber,  in  welcher  die  Chirurgie  der  Bauchhöhle 
nicht  nur  überhaupt  im  Vordergrund  des  Interesses  steht,  sondern 
sich  auch  bereits  mit  steigendem  Erfolg  der  Behandlung  der  eitrigen 
Peritonitis  bemächtigt  hat,  beansprucht  auch  die  aetiologische 
Forschung  wieder  erhöhtes  Interesse.  Daher  glaubte  ich  auch 
einen  kleinen  Beitrag  zu  der  letzteren  an  dieser  Stelle  für  mit- 
theilenswerth  halten  zu  dürfen,  der  wesentlich  zwei  bisher  noch 
strittige  Punkte  behandelt.  Das  ist  einmal  die  Bedeutung  der 
peritonealen   Resorption    für   die   Resistenz    des    Perito- 


1)  Vortrag,  gehalten  am  1.  SitzuDgstage  des  XXVII.  Congresses  der 
Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  13.  April  1898. 

2)  Die  Literaturangaben  konnten  der  gedrängten  Form  des  Vortrags  wegen 
hier  nicht  vollständig  gemacht  werden,  aus  dem  gleichen  Grunde  wurde  auf 
die  Wiedergabe  der  VersuchsprotocoUe  verzichtet.  Bezüglich  beider  Punkte 
und  aller  Details  muss  ich  auf  die  bevorstehende  ausführliche  Publication  der 
Arbeit  verweisen. 


312  th.  W.  Noetzel, 

neums  gegen  In fection,  zweitens  die  eng  hiermit  verknüpfte 
Frage,  ob  eine  Entzündung  des  vorher  intacten  Bauch- 
fells herbeigeführt  werden«  kann  durch  Infectionserreger 
allein,  wie  Baumgarten,  AI.  Fraenkel  und  Pawlowsky  be- 
haupten, oder  ob  hierfür  irgend  welche  die  Ansiedelung 
der  Mikroorganismen  begünstigende  Schädigungen  des 
Bauchfells  Bedingung  sind.  Den  letzteren  Standpunkt  vertritt 
die  grosse  Mehrzahl  der  bisherigen  üntersucher,  vor  allem  Grawitz, 
dann  Reichel,  Orth,  Kraft,  Waterhouse,  Tavel,  Walthard, 
Wioland,  Silberschmidt  u.  a. 

Die  relativ  hohe  Resistenz  des  intacten  Peritoneums  gegen 
Bacterien  ist  aber  nicht  nur  durch  diese  Untersuchungen  über  die 
Entstehung  der  eitrigen  Peritonitis  in  ein  helles  Licht  gerückt 
worden,  sondern  sie  ergiebt  sich  noch  evidenter  aus  Beobachtungen 
der  neueren  bacteriologischen  Forschung  auf  dem  Gebiet  der  all- 
gemeinen Infectionslebre,  vor  allem  aus  den  Untersuchungen  Kruse's. 
Durch  dieselben  ist  es  erwiesen,  dass  Versuchsthiere  die  intra- 
peritoneale  Impfung  mit  grossen  Mengen  derselben  Erreger  un- 
beschadet ertragen,  welche  in  viel  kleinerer  Dosis  subcutan  bezw. 
in  irgend  ein  Gewebe  injicirt  sie  krank  machen  und  tödtcn.  Diese 
Thatsachen  waren  mir  ein  Fingerzeig,  dass  eine  neue  experimentelie 
Arbeit  über  die  peritoneale  Infection  und  speciell  über  die  Ursachen 
der  Resistenz  des  Peritoneums  sich  nicht  beschränken  darf  auf  die 
eitrigen  Peritonitiden ,  sondern  auch  andere  Infectionskranklieiten 
zu  berücksichtigen  hat,  die  sowohl  von  der  P^tonealhöhle,  als 
von  andern  Stellen  aus  experimentell  erzeugt  werden  können,  gleidi-> 
giltig,  ob  der  Ausgang  derselben  von  der  PeritonealhöUe  auch 
unter  natürlichen  Verbältnissen  vorkommt  oder  besonders  dutrak^ 
teristisch  ist.  Experimente  der  letzteren  Art  geben  andi  daram 
eine  erwünschte  Controle  ab  für  diejenigen  mit  eigentlichen  Eiter^^ 
erregem,  weil  es  ja  genugsam  bekannt  ist,  wie  unzuveriässig  die 
letzteren  beim  Thierexpcriment  sich  häufig  erweisen.  Für  eine 
grosse  Anzahl  von  Versuchen  dienten  mir  Streptococcen  von 
verschiedener  Herkunft  und  verschiedener  Virulenz  als  Infections- 
material,  hauptsächlich,  weil  dieser  Mikroorganismus  als  häufigster 
Erreger  der  operativen,  peritonealen  Sepsis  hier  das  grösste  Interesse 
beansprucht,  dann  auch,  weil  er  von  den  Eitererregem  bei  einiger 
Uebung    der  Cultivirung   meiner    Meinung   nach   immer   noch    am 


Ueber  peritoneale  Eetiorption  tind  Infectiofl.  dl3 

sichersten  dem  Yersuchsthier  gegenüber  virulent  zu  erhalteil  ist. 
Daneben  benutzte  ich  Reinculturen  von  Proteus  vulgaris,  B<  Coli, 
B.  Friedländerf  Pyocyatieus  und  bediente  mich  für  den  all^ 
gemeineren  Theil  der  Verbuche  auch  hier  wieder  mit  Yortheil  des 
MilzbranderregerS)  den  ich  seiner  bei  aller  Leichtigkeit  der 
Cultivirüng  unbedingt  zuverlässigen  für  die  gebräuchlichen  Versuchs^ 
thiere  sehr  hohen  Virulenz  wegen  als  geradezu  unentbehrliches 
Testobject  für  alle  Untersuchungen  über  Infectionsmöglichkeiten 
bezeichnen  möchte.  Meine  Versuchsthiere  waren  ausgewachsene, 
grosse  Kaninchen,  in  einigen  besonderen  Fällen  Meerschweinchen. 
Auf  die  vollkommen  gleichmassige  und  von  allen  sichtbaren  Cultur- 
partikelchen  und  Bacterienconglomeraten  freie  Beschaffenheit  des 
Impfmaterials  wurde  der  grösste  Werth  gelegt« 

Die  überlegene  Resistenz  des  Peritoneums  in  prägnantester 
Weise  zu  demonstriren ,  gelang  mir  durch  die  Versuche  mit  Milz- 
brand. Bei  der  hohen  Virulenz  dieses  Materials,  das  von  einer 
milzbrandkranken  Kuh  stammt,  waren  aussserordentliche  Ver^ 
dünnungen  nöthig,  welche  durch  Zählplatten  coutrolirt  wurden. 
Die  subcutane  Impfung  mit  60  Keimen  rief  eine  typische, 
wenn  auch  etwas  langsamer,  innerhalb  5  —  6  Tagen,  zum 
Tode  führende  Milzbranderkrankung  hervor,  während  die 
intraperitoneale  Einverleibung  von  1000  Keimen  reactions- 
los  vertragen  wurde,  ebenso  wie  die  intravenöse.  Die 
Technik  der  intraperitonealen  und  intravenösen  Impfung  muss  hier 
eine  andere  sein,  als  sonst  üblich  ^  da  sie  zugleich  die  Bedingung 
erfüllen  muss,  die  Infection  der  Umgebung  sicher  zu  verhüten ;  das 
soll  an  anderer  Stelle  genauer  besprochen  werden«  Eine  noch  so 
kleine  Li^>arotomie-  ja  auch  eine  etwas  zu  gross  ausgefallene  Ein- 
stichwunde,  die  sich  nicht  sofort  Wieder  geschlossen  hatte,  wurde 
unfehlbar  von  der  Bauchhöhle  aus  mit  Milzbrand  inficirt  und  der 
AusgaDgspunkt  allgemeiner  Infectioo.  Das  ist  verständlich  durch 
die  natürliche  Haltung  der  Thiere,  bei  welcher  die  Bauchdecken- 
wunde  zu  den  tiefsten  Punkten  der  Bauchwand  gehört  und  sicher 
mit  dem  Infeotionsmaterial  in  Berührung  kommt.  Ebenso  aus^ 
geführte  Experimente  mit  andern  virulenten  Mikroorganismen  geben 
analoge  Resultate.  Die  Erklärung  für  diese  müsste  nach  der  jetzt 
am  noeisten  vorherrschenden  Anschauung  in  der  raschen  Resorption 
der  in  die  Bauchhöhle  gebrachten  Keime  ins  Blut  gesucht  worden, 


314  Dr.  W.  Noetzel, 

welche  dadurch  in  derselben  Weise  im  Körper  vertheilt  and  ver- 
nichtet werden,  wie  bei  der  intravenösen  ImpfiiDg  selbst  Da  es 
nun  auch  durch  die  Arbeiten  v.  Recklinghausen 's  u.  a.  bekannt 
ist,  dass  durch  den  Theil  der  Lymphbahnen  des  Zwerchfells,  der 
ohne  eingeschaltete  Lymphdrüsen  in  den  Ductus  thoracacicus  ein- 
mündet, eine  unmittelbare  Communication  der  Stomata  des  Centrum 
tendineum,  also  der  Bauchhöhle,  mit  dem  Blutgefässsjstem  besteht, 
so  wäre  nach  einer  solchen  AuflFassung  die  intraperitoneale  Lnpfung 
der  intravenösen  direct  gleichzusetzen,  als  eine  auf  dem  Umwege 
durch  die  Bauchhöhle  ausgeführte  intravenöse  Impfung  aufzufassen. 
Weitere  Versuche  zur  Ermittelung  der  Schnelligkeit  der  Bacterien- 
resorption  aus  der  Bauchhöhle  ergaben,  dass  10  Hinuten  nach 
der  intraperitonealen  Infection  mit  Milzbrand-Bacillen 
diese  im  Blut  nachgewiesen  werden  können,  in  derselben 
Weise,  wie  nach  der  Infection  blutender  Wunden  dies  zum  ersten 
Mal  durch  Schimmelbusch  geschehen  ist.  Dieser  Nachweis  be- 
darf aber  auch  hier  sehr  subtiler  Untersuchung  nach  reichlicher 
Impfung  und  ist  auch  dann  ein  relativ  spärlicher.  Nun  ist  es 
zwar  mit  Rücksicht  auf  die  an  anderer  Stelle  hervorgehobenen 
Schwierigkeiten  dieser  Untersuchungen  nicht  ohne  Weiteres  erlaubt, 
daraus  zu  schliessen,  dass  auch  die  Bacterienresorption  von  der 
Bauchhöhle  aus  nur  eine  relativ  spärliche  ist.  Aber  die  vorher 
(S.  313)  festgestellte  Thatsache,  dass  auch  nach  einer  spärlichen  und 
für  das  Thier  indifferenten,  intraperitonealen  Impfung  die  Bacterien 
lange  genug  in  der  Bauchhöhle  verweilen,  um  nachträglich  die 
Bauchdeckenwunde  retrograd  zu  inficiren,  scheint  mir  anzudeuten, 
dass  nicht  rasch  genug  eine  vollkommene  bezw.  zur  Verhütung  der 
Erkrankung  genügende  Resorption  des  Infectionsmaterials  in  der 
Bauchhöhle  stattfindet,  mit  andern  Worten,  dass  die  peritoneale 
Resorption  nicht  genügt,  die  Erkrankung  zu  verhüten, 
also  auch  nicht  die  Ursache  der  überlegenen  Resistenz  des 
Peritoneums  sein  kann.  In  der  bisher  vorhandenen  Litteratur 
sind  es  meines  Wissens  nur  Schnitzler  und  Ewald,  welche  gegen 
die  allgemein  verbreitete  Anschauung  auftreten,  dass  in  der  raschen 
Resorption  ins  Blut  die  Ursache  der  Resistenz  des  Peritoneums 
liege,  und  die  letztere  vielmehr  in  antibacteriellen  Vorgängen 
in  der  inficirten  Bauchhöhle  selbst  suchen,  Vorgängen,  die 
sie    denjenigen    in    der   Bauchhöhle  künstlich    immunisirtcr  Thiere 


Ueber  peritoneale  Resorption  und  Infection.  315 

(Pfeiffer,  Gruber)  sich  analog  zu  denken  scheinen.  Diese  Auf- 
fassung erhält  eine  beweiskräftige  Stütze  durch  die  Thatsache,  dass 
das  intacte  und  mit  normalem  Resorptionsvermögen  be- 
gabte Peritoneum  durch  genügend  virulente  Infections- 
erreger  allein,  auch  wenn  sie  nur  in  kleinen  Mengen 
eindrangen,  in  den  Zustand  der  Entzündung  versetzt 
werden  kann.  Damit  ist  zugleich  die  zweite  der  von  mir  ein- 
gangs aufgeworfenen  Fragen  im  Sinne  von  Baumgarten,  AI. 
Fränkel  und  Pawlowsky  beantwortet.  Meine  diesbezüglichen 
Experimente  sind  ausserordentlich  zahlreich  und  ihre  Resultate 
stimmen  überein:  nicht  nur  die  Menge  der  eingeführten  Infections- 
erreger  bestimmt  das  Schicksal  des  vorher  intacten  Peritoneums, 
sondern  auch  die  Virulenz.  In  dem  letzteren  Punkt  liegt  das 
Beweisende  für  die  in  der  Resorptionsfrage  vertretene  Anschauung. 
Denn  es  ist  wohl  denkbar ^  dass  eine  geimpfte  Bacterienmenge  zu 
gross  sein  kann,  um  schnell  genug  resorbirt  zu  werden,  aber  der 
Umstand,  dass  die  Virulenz  auschlaggebend  ist,  zeigt  klar,  dass 
der  Kampf  in  der  Bauchhöhle  selbst  sich  abspielt,  die 
genügend  virulenten  Bacterien  bleiben  Sieger  und  vermehren  sich. 
Für  die  Resorption  kann  die  Virulenz  keine  Rolle  *  spielen,  sondern 
nur  die  mechanische  Beschaffenheit  des  Materials  und,  wie  gesagt, 
die  Menge.  Die  minimalen  Dosen,  die  von  virulenten  Strepto- 
kokken und  Milzbrandsporen  zur  Infection  genügen,  müssten  dem- 
nach auch  resorbirt  werden  und  also  event.  eine  Septicaemie  ohne 
peritonitischen  Anfang  erregen.  Das  Experiment  zeigt,  dass  das 
Gegentheil  der  Fall  ist,  auch  wenn  sehr  kleine  Mengen,  Y2  Oese 
etc.,  verwendet  und  in  feinster  Vertheilung  applicirt  werden.  Dass 
es  aber  gewisse  kleinste  Mengen  geben  muss,  die  in  toto  resorbirt 
werden,  ehe  eine  Vermehrung  möglich  ist,  ist  ja  a  priori  zuzugeben, 
ebenso  dass  diese  auch  unter  Umstanden  virulent  genug  sein  können, 
utii  eine  Septicaemie  ohne  Peritonitis  zu  erregen.  Dies  im  Ex- 
perimente zu  demonstriren,  dürfte  aber  besonders  schwierig  sein 
deshalb,  weil  ja  sicher  anzunehmen  ist,  dass  die  vollkommene 
oder  unvollkommene  Resorption  von  unberechenbaren  Zufälligkeiten 
abhängen  kann.  Nach  diesen  Ueberlegungen  kann  also  der  Re- 
sorption für  die  Resistenz  des  Peritoneums  nur  die  Bedeutung 
eines  unterstützenden  Vorgangs  zuerkannt  werden,  die  Fort- 
schaffung  eines  Theiles    der  Bacterien.    Das  steht   in  Einklang 


316  Dr.  W.  Noetael, 

mit  den  anatomischen  Verhältnissen,  dieser  rasche  Uebergang  in^s 
Blut  findet  nur  in  dem  im  Verhältniss  zur  ganzen  Oberfläche  des 
Peritoneums  kleinen  Gebiete  der  Stomata  des  Gentram  tendineum 
statt. 

Die  Beeinflussung  der  Infection  durch  Störungen  der  Resorption 
zu  zeigen  war  der  Zweck  einer  grossen  Zahl  weiterer  Experimente. 
Dabei  lehnte  ich  mich  zum  Theil  an  die  Untersuchungen  Schnitzler's 
und  Ewald 's  an,  durch  welche  die  resorptionshemmenden  Momente 
genau  festgestellt  sind.  Ueber  diese  Versuche  kann  ich  mich  um 
so  kürzer  fassen,  als  sie  sich  zum  grossen  Theil  mit  denjenigen 
früherer  Untersucher  mehr  oder  weniger  decken  und  anch  in  dem 
Resultat  übereinstimmen,  dass  durch  alle  Momente,  welche  die 
Resorption  verzögern,  die  Infection  befördert  wird.  In  der  Deutung 
weiche  ich  insofern  ab,  als  ich  hier  das  ^post  hoc,  ergo  propter 
hoc*^  nicht  anerkennen  kann.  Die  kritische  Prüfung  zeigt,  dass 
dieselben  schädigenden  Momente  auch  die  Bacterien Vernichtung  in 
der  Bauchhöhle  selbst  ungünstig  beeinflussen,  durch  Verhinderung 
der  innigen  Berührung  der  Bacterien  mit  dem  Peritoneum,  der 
Einwirkung  der  peritonealen  Flüssigkeit;  das  soll  an  anderem 
Orte  noch  genauer  angegeben  werden.  Auf  die  verhängnissvollc 
Wirkung  von  noch  so  kleinen  Läsionen  des  Peritoneums  habe  ich 
schon  bei  Wiedergabe  der  Milzbrandversuche  hingewiesen.  Nur 
auf  eine  Reihe  von  Versuchen  will  ich  hier  eingehen,  die  vorher 
meines  Wissens  noch  nicht  ausgeführt  waren,  in  welchen  ich  durch 
Opiumgaben  die  Peristaltik  der  Versuchsthiere  lähmte.  Dadurch 
wird  nach  Schnitzler  und  Ewald  eine  bedeutende  Verzögerung 
der  Resorption  bewirkt.  Diese  Thiere  erlagen  in  der  That  an 
Peritonitis  nach  Impfungen,  welche  die  ControUthiere  reactionslos 
vertrugen,  sowohl  von  Streptokokken,  als  von  den  anderen  ge- 
prüften Infectionserregern.  Den  Grund  dafür  möchte  ich  aber  auch 
hier  nicht  sowohl  in  der  verzögerten  Resorption  erblicken,  als  darin, 
dass  durch  die  Aufhebung  der  Peristaltik  die  Peritonealhöhle  des 
wichtigsten  Factors  ihrer  Resistenz  beraubt  wird,  das  ist  die 
ausserordentlich  grosse  Oberfläche  des  Peritoneums,  auf 
welche  unter  normalen  Verhältnissen  die  Bacterien  vertheilt  werden. 
In  Folge  des  Mangels  der  Darmbewegungen  aber  bleibt  das  In* 
fectionsmaterial  da  liegen,  wo  es  gerade  hingerieth,  an  der  tiefsten 
Stelle   vermuthlich,   jedenfalls    auf    eine    beschränkte    Ober* 


Ueber  peritoneale  Resoiption  und  Infection.  817 

fläche  concentrirt.  Damit  sind  dann  Verhältnisse  geschaffen; 
die  denen  bei  der  subcutanen  Impfung  genau  analog  sind, 
und  es  ist  daher  nicht  wunderbar,  dass  das  Yersuchsthier  auch 
analog  darauf  reagirt.  Dass  es  nicht  eine  Herabsetzung  der 
allgemeinen  Resistenz  der  Thiere  durch  die  Opiumvergiftung  ist, 
welche  sie  der  Impfung  kleinerer  Mengen  erliegen  lässt,  ergeben 
die  Controlversuche,  nach  welchen  die  Resistenz  der  Thiere  gegen 
subcutane  oder  intravenöse  Impfungen  nach  Opiumbehandlung  nicht 
herabgesetzt  ist»  Die  Wirkung  allgemeiner  Schwächungen  gelangt 
im  Uebrigen  selbstverständlich  auch  in  einer  geringeren  Resistenz 
des  Peritoneums  zum  Ausdruck,  die  Bedeutung  der  Vergiftung 
durch  die  Narkose  hierfür  hat  Bunge  dargethan;  das  Endresultat 
ist  das  gleiche,  wie  es  durch  grössere  Virulenz  der  Erreger  einem 
normal  resistenten  Individuum  gegenüber  erreicht  wird. 

Nun  kam  es  mir  noch  darauf  an,  die  Resistenz  des  Peritoneums 
zu  prüfen  von  Thieren,  bei  denen  ich  durch  die  Abbindung 
des  Ductus  thoracicus  (an  seiner  Mändung  sammt  den  Venen, 
mit  denen  er  communicirt)  die  directe  Communication 
der  Bauchhöhle  mit  dem  Blutgefässsystem  aufgehoben 
hatte.  Diesen  Eingriff  überstehen  die  Thiere,  da  ja  nicht 
die  ganze  Resorption  damit  aufgehoben  ist  und  offenbar  durch 
vicariirendes  Eintreten  der  andern  Lyraphstämme  und  Entwicklung 
von  CoUateralen  allmälig  eine  Anpassung  stattfindet.  Es  ist  der- 
jenige Theil  der  Resorption  aufgehoben,  der  die  Resistenz  des 
Peritoneums  bedingen  sollte.  Das  Missliche  bei  diesen  Versuchen 
ist,  dass  die  intraperitonealen  Impfungen  ausgeführt  werden  müssen, 
ehe  sich  eine  ausreichende  Compensation  für  die  aufgehobenen 
Lymphbahnen  gebildet  haben  kann,  also  sehr  bald  nach  dem 
immerhin  für  die  Thiere  schweren  Eingriff.  Auf  die  in  Folge  der 
letzteren  noch  herabgesetzte  allgemeine  Resistenz  ist  der  Tod  eines 
Theiles  der  Thiere  an  Peritonitis  zurückzuführen.  Es  ist  aber  auch 
verstandlich,  dass  durch  eine  derartige  Unterbrechung  der  noimalen 
Resorption  die  Ernährung  des  Peritoneums  selbst  und  die  regel* 
massige  Secretion  der  Peritonealflussigkeit  leidet  und  hierdurch 
auch  eine  Herabsetzung  der  localen  antibacteriellen  Kräfte  bedingt 
wird«  Wesentlich  ist  aber,  dass  der  grössere  Theil  dieser 
Versuchsthiere  die  Impfung  mit  den  maximalen  sonst 
vertragenen     Mengen     virulenter    Streptokokken-     und 


318  Dr.  W.  Noetzel, 

•Pyocyaneuscultur  ebenso  reactionslos  überstand,  wie  die 
Controllthiere.  Interessant  ist  bei  den  gestorbenen  der  Befund 
schwerer  Vereiterung  des  ganzen  Gebietes  der  Unterbindungen  in 
Folge  der  Resorption  der  ßacterien  aus  der  Bauchhöhle,  welche 
hier  an  einem  locus  minoris  resistentiae,  dena  Operationsgebiet, 
Halt  machen  rausste.  Ein  dritter  Theil  der  Thiere  endlich  ging 
nach  längerer  Zeit  (bis  zu  14  Tagen)  zu  Grunde  und  zeigte  bei 
der  Autopsie  keine  Peritonitis  und  nur  die  durch  die  geimpften 
Erreger  bedingte  ausgedehnte  Vereiterung,  die  vom  Operations- 
gebiet ausgehend  zu  beiderseitiger  eitriger  Pleuritis,  Pericarditis  und 
Mediastinitis  geführt  hatte.  Der  chronische  Verlauf  spricht  in 
diesem  Fall  für  die  geringe  Menge  des  hierhin  resorbirten  Ma- 
teriales.  Dieser  Ausgang  ist  lehrreich,  er  zeigt  die  überlegene 
Resistenz  des  Peritoneums  recht  prägnant,  dasselbe  war  gesund 
geblieben  und  hatte  die  geimpften  Erreger  überwunden.  Letztere 
documentirten  aber  deutlich  ihre  Virulenz  an  einer  weniger  re- 
sistenten Stelle,  trotzdem  sie  hier  nur  in  viel  geringerer  Menge  vor- 
handen sein  konnten. 

Es  bleiben  nun  noch    folgende  zwei  Fragen    zu    beantworten: 

1.  wodurch  ist  nun  die  grosse  Resistenz  der  Peri- 
tonealhöhle gegenüber  andern  Geweben  wirklich 
bedingt? 

2.  weshalb  erlischt  diese  Residenz  offenbar  sehr 
schnell  einer  grösseren  Bakterienmenge  gegen- 
über? 

Was  zunächst  die  erste  Fage  angeht,  so  muss  man  die 
Bakterienvernichtung  bezw.  Entwicklungshemmung  in  loco  analog 
andern  Erfahrungen  der  Peritonealflüssigkeit  zuschreiben,  viel- 
leicht auch  dem  unmittelbaren  Einfluss  der  Endothelzellen.  Dass 
hier  die  reichlich  durch  das  Endothel  durchwandernden  Leukocyten 
durch  Abscheidung  von  Alexinen  eine  Rolle  spielen,  ist  sehr  wahr- 
scheinlich. Man  braucht  nun  das  baktericide  Vermögen  der 
Peritonealflüssigkeit  garnicht  höher  anzuschlagen,  als  dasjenige 
des  Blutserums,  um  zu  dem  Schluss  zu  gelangen,  dass  die  Be- 
dingungen für  eine  Ansiedelung  und  Vermehrung  der  Bakterien  in 
der  Bauchhöhle  viel  ungünstiger  sind,  als  in  irgend  einer  Gewebs- 
wunde.  Dabei  kommt  schon  in  Betracht,  dass  von  der  im  Ver- 
hältniss  doch  kleinen  Eingangspforte  abgesehen  in  dem  intacten  Bauch- 


Ueber  peritoneale  Resorption  nnd  Infection.  319 

feil  eine  normale  Oberfläche,  keine  Wunde,  sondern  gesundes 
Gewebe  den  Bakterien  gegenübersteht.  Femer  ist  durch  die 
regelmässige  Erneuerung  und  die  gleichmässige  Vertheilung  der 
serösen  Flüssigkeit  überall  gleichmässig  die  Einwirkung  baktericider 
Kräfte  ermöglicht  und  zwar,  und  das  halte  ich  für  das  wesent- 
lichste, auf  einer  ganz  ausserordentlich  grossen  Ober- 
fläche. Durch  die  peristaltische  Bewegung  der  Därme  ist  die 
Ausnützung  dieser  ganzen  Oberfläche  in  der  denkbar  vollkomn>ensten 
Weise  gegeben.  Es  ist  also  auch  ohne  die  Resorption  ins  Blut 
hier  dasselbe  Prinzip,  wie  bei  der  letzteren,  das  den  Thierkörper 
gegen  die  Infection  schützt,  die  Vertheilung  der  Erreger  auf 
eine  so  grosse  Oberfläche,  dass  überall  nur  einzelne, 
jedenfalls  sehr  wenige  Individuen  den  Kampf  mit  den 
Schutzkräften  der  thierischen  Gewebe  aufzunehmen 
haben  und  deshalb  in  demselben  unterliegen.  Es  kommt 
aber  noch  hinzu,  dass  in  der  That  auch  die  bactericiden 
Kräfte  der  Bauchhöhlenflüssigkeit  grösser  zu  sein  schei- 
nen, als  die  des  Blutserums  bezw.  der  anderen  Gewebs- 
säfte.  Dafür  sprechen  die  Beobachtungen  verschiedener  Autoren, 
und  auch  eine  Reihe  von  Versuchen,  in  denen  ich  die  Abtödtung 
von  B.coli  in  der  Bauchhöhlenflüssigkeit  des  Kaninchens  mit  der- 
jenigen im  Serum  desselben  Thieres  verglich.  Darüber  behalte 
ich  mir  ausführliche  Mittheilungen  vor. 

Die  zweite  der  noch  aufgeworfenen  Schlussfragen  drängt  sich 
auf  aus  der  Beobachtung,  dass  einmal  im  scheinbaren  Gegensatz 
zu  der  hier  vertretenen  Anschauung  von  der  Resistenz  des  Peri- 
toneums, diejenigen  experimentellen  Infectionen,  welche 
mit  den  gewöhnlich  üblichen  grossen  Bakterienmengen 
ausgeführt  werden,  vom  Peritoneum  aus  viel  stürmischer 
verlaufen,  als  von  subcutanen  Herden  aus,  sowie  auch, 
dass,  wenn  einmal  eine  Vermehrung  der  Bakterien  in  der  Bauch- 
höhle über  einen  gewissen  Grad  hinaus  stattgefunden  hat,  die 
Erkrankung  rapide  auf  das  ganze  Bauchfell  sich  ausbreitet.  Hier 
ist  dann  die  grosse  Oberfläche,  auf  welcher  die  Erkrankung 
angreift,  gerade  verhängnissvoU  für  den  erkrankten  Organismus, 
ebenso  wie  die  permanente  Resorption,  die  auch,  wenn  die  Er- 
krankung einmal  da  ist,  bald  nicht  mehr  zur  Vernichtung  der 
Bakterien,  sondern  zu  der  des  erschöpften  Thierkörpers  führen  kann. 


820  Dr.  W.  Noetiel, 

£s  bleibt  da  meiner  Meinung  nach  keine  andere  Erklärung,  als  die^ 
dass  eben  durch  die  Bakterienvermehrung  selbst,  durch 
den  Stoffwechsel  der  Bakterien,  das  Gewebe  sowie  seine 
Secretion  und  Resorption  sehr  rasch  so  verändert  wird, 
dass  es  seine  bakterientödtenden  Eigenschaften  verliert. 
Dafür  sprechen  auch  schon  frühere  Untersuchungen,  vor  allem 
aber  die  bekannte  Thatsaclie,  dass  das  Peritoneum  von  allen 
auch  ganz  leichten  Reizen  mechanischer,  chemischer 
oder  thermischer  Natur  ja  sehr  rasch  und  intensiv  ge* 
schädigt  wird.  Aus  einigen  Reihen  zur  Demonstration  dieser 
Vorgänge  von  mir  ausgeführter  Experimente  ergiebt  sich,  dass 
sonst  vom  Thierkörper  intraperitoneal  reactionslos  ver- 
tragene Streptococcenmengen  dann  zu  tödtlicher  Peri- 
tonitis fähren,  wenn  man  gleichzeitig  sterile  Toxine  mit 
einführt.  Ebenso  werden  Streptococcenmengen  aus  Agarcultur, 
in  sterilem  Wasser  augeschwemmt,  vertragen  von  Thieren,  die  von 
einer  noch  etwas  kleineren  Menge  der  vom  gleichen  Stamm  ge^ 
züchteten  Bouilloncultur  getödtet  werden.  Es  sind  also  hier  die 
Toxine,  die  das  Peritoneum  zunächst  in  der  Weise  verändern,  dass 
es  der  weiteren  Vermehrung  der  Streptokokken  nicht  mehr  Wider- 
stand leisten  kann, 

M.  H.!  Wenn  ich  mir  erlauben  darf,  am  Schlüsse  einer  ex- 
perimentellen Untersuchung  etwaige  Analogien  mit  der  Praxis  zu 
streifen,  so  glaube  ich,  dass  bei  kritischer  Prüfung  die  Thatsachen 
der  letzteren  der  Auffassung  Recht  geben,  dass  nicht  Resorptions- 
störungen es  sind,  welche  die  Entstehung  z.  B.  operativer  Peri- 
tonitiden  herbeiführen,  sondern  das  für  den  Körper  ungünstige  Ver- 
hältniss  zwischen  der  eigenen  Resistenz  und  der  Virulenz  der  In- 
fectionserreger.  Ich  verweise  hier  als  auf  ein  Beispiel  nur  auf 
die  Verschiedenheit  der  Virulenz  des  Darminhaltes.  Häufig  kommt  es 
da  nicht  zur  Peritonitis,  wo  eine  reichlichere  Bespülung  des  Peri- 
toneums damit  stattgefunden  hat,  während  kleinste  Mengen  viru- 
lenteren Darminhaltes  verderblich  werden,  obgleich  die  Emährungs- 
und  Resorptionsverhältnisse  des  Peritoneums  in  beiden  Fällen  gleich 
sind.  Noch  ganz  neuerdings  hat  v.  Eiseisberg  in  seiner  Casuistik 
von  Operationen  am  Magen-Darmkanal  auf  diesen  Punkt  die  Auf- 
merksamkeit gelenkt.  Die  Bestrebungen,  immer  mehr  die  Ver- 
meidung der  Infection  zu  vervollkommnen,  sind  dadurch  als  wich« 


lieber  peritoneale  Resorption  und  Infection.  321 

tiger  gekennzeichnet,  als  diejenigen,  durch  günstige  Wundverhält- 
nisse die  Vermehrung  der  Erreger  zu  erschweren,  deren  Virulenz 
ja  unberechenbar  ist. 

Die  Experimente  mit  Opium  behandlung  rechtfertigen  einleuch- 
tend den  modernen  Standpunkt,  nach  Laparotomien  den  Stillstand 
der  Peristaltik  zu  vermeiden,  den  auch  Reichel  in  seinem  Lehr- 
buch in  trefflicher  Weise  klarlegt.  Meine  Versuche,  durch  An- 
regung der  Peristaltik  die  raschere  Vertheilung  und  Vernichtung 
der  Bakterien  in  der  Bauchhöhle  anzustreben,  scheiterten  bisher 
an  der  Herabsetzung  der  allgemeinen  Resistenz  der  Versuchsthiere 
durch  die  zu  stürmische  Wirkung  der  betreffenden  Mittel.  Ich  hoffe 
aber,  durch  eine  geeignetere  Versuchsanordnung  auch  hier  zu  klaren 
Resultaten  zu  kommen. 

Ich  möchte  nur  noch  eine  Reihe  von  Versuchen  erwähnen,  in 
welchen  es  mir  gelang,  mit  Streptococcen  intraperitonal  in- 
ficirte  Kaninchen  durch  24  Stunden  später  ausgeführte 
Laparotomie  und  vorsichtige  Toilette  des  Peritoneums 
am  Leben  zu  erhalten,  während  die  Gontrolthiere  nach  48  Stunden 
an  Peritonitis  zu  Grunde  gingen.  Es  kommt  dabei  darauf  an,  die 
Manipulationen  am  Peritoneum  auf  das  Nothwendigste  zu  beschränken 
und  möglichst  zart  auszuführen,  um  nicht  durch  Laesionen  das 
Fortschreiten  der  Infection  zu  begünstigen.  Ich  weiss,  dass  diese 
Versuche  für  die  Praxis  keinen  Werth  beanspruchen  können,  die 
ihnen  lange  voraus  geeilt  ist,  deshalb  ist  es  aber  doch  bemerkens^ 
werth,  dass  auch  Thiere,  welche  auf  die  betreffenden  Infectionen 
in  so  ausserordentlich  viel  höherem  Gade  septicaemisoh  reagiren, 
als  der  Mensch,  zu  retten  sind  durch  einen  Eingriff,  der  hier  nur 
eine  Verminderung  der  Keime  und  ihrer  Stoffwechselproducte  — 
grössere  Exsudatmassen  waren  nicht  vorhanden  —  erreichen  kann. 
Dann  gelingt  es  unter  sonst  günstigen  Verhältnissen  den  Abwehr- 
vorrichtungen des  Thierkörpers  die  noch  vorhandenen  Infections- 
erreger  zu  überwinden,  obgleich  es  aus  technischen  Gründen  in 
diesen  Versuchen  nicht  möglich  war,  durch  Tamponade  oder  Drai- 
nage der  Bauchhöhle  auch  für  reicheren  Abfluss  der  Entzündungs> 
producte  zu  sorgen,  wie  man  es  nach  operativen  Eingriffen  wegen 
eitriger  Peritonitis  am  Menschen  vermag. 


XIII. 
(Aus  der  chirurg.  Klinik  des  Professor  Wolf  1er  in  Prag.) 

lieber  Wundsecret  und  Bacterien  bei  der 

Heilung  per  primam'). 

Von 

Dr.  Hermann  SehlolTer, 

Assistenten  der  Klinik. 


M.  H.!  Wenn  ich  mir  erlaube,  Ihnen  über  eine  Reihe  von 
Wundsecret-Untersuchungen  zu  berichten,  die  ich  im  Verlaufe  der 
letzten  3  Jahre  an  den  chirurgischen  Kliniken  in  Graz  und  Prag 
auf  Veranlassung  des  Herrn  Prof.  Wolf  1er  vorgenommen  habe, 
so  geschieht  dies  deshalb,  weil  die  Fragen,  welche  diesen  Unter- 
suchungen zu  Grunde  gelegen  sind,  zum  Theil  andere  waren,  als 
diejenigen,  welche  den  Ausgangspunkt  für  die  einschlägigen  bisher 
bekannt  gewordenen  Untersuchungen  gebildet  haben. 

Schon  zur  Zeit  des  Lister -Verbandes  hat  man  sich  mit  dem 
Studium  des  Bakteriengehaltes  unter  demselben  bei  primär  heilenden 
Wunden  befasst,  und  es  ist  schon  damals  die  Meinung  vertreten 
worden,  dass  auch  bei  tadellos  primärer  Heilung  der  Wunden  doch 
Formen  von  Coccobacteria  septica  im  Secrete  derselben  vorkommen 
können. 

Als  sich  die  Technik  unserer  Antiseptik  und  Aseptik  immer 
mehr  vervollkommnete,  und  als  dadurch  die  Bedingungen  für  das 
Keimfreibleiben  der  Wunden  sich  günstiger  gestalteten,  hat  eine 
Reihe  von  Wundsecret-Untersuchungen,  die  von  verschiedenen 
Autoren  vorgenommen  wurden,  neuerlich  zur  Klärung  dieser  Frage 
beigetragen. 

0  Vorgetragen  am  1.  Sitzungstage  des  XXVII.  Congresses  der  Deutschen 
Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  id.  April  1898. 


Feber  Wundsecret  und  Bacterien  bei  der  Heilung  per  primam.       323 

Schon  Staeheli^),  der  im  Jahre  1886  an  Socin's  Klinik 
seine  Untersuchungen  vornahm  und  sich  hiebei  als  Erster  des 
Plattenverfahrens  bediente,  kam  zur  üeberzeugung,  dass  eine  Wunde, 
ohne  dass  dies  von  Nachtheil  für  die  Heilung  wäre,  nichtpathogene 
sowie  pathogene  Mikroorganismen  enthalten  könne.  Von  den 
letzteren,  welche  störend  wirken  können,  komme  besonders  häufig 
Staphylococcus  pyogenus  albus  und  aureus  vor.  In  ähnlicher 
Weise  sprach  sich  Bossowski^)  aus,  der  zur  selben  Zeit  auf 
Anregung  Mikulicz'  diese  Frage  studirte.  Er  fand  unter  dem 
antiseptischen  Jodoformverband  ^/g  der  Wunden  keimfrei,  ungefähr 
die  Hälfte  seiner  Wunden  war  mit  Staphylococcus  albus  verunreinigt, 
aber  nur  %  der  ausschliesslich  mit  diesem  Coccus  verunreinigten 
Wunden  heilte  trotzdem  per  primam  intentionem.  Wenn  der 
Staphylococcus  pyogenes  aureus  gefunden  wurde,  dann  trat  unbe- 
dingt Eiterung  ein. 

Bloch^)  hat  unter  39  Fällen  primärer  Heilung  33  mal  Staphylo- 
coccen  in  seinen  Wunden  gefunden;  meistens  den  Staphylococcus 
albus,  aber  mehrmals  auch  den  aureus.  Der  letztere  erzeugte 
keine  Eiterung.  Nach  Welch*)  ist  bei  weitem  der  häufigste  Mikro- 
organismus in  Wunden  mit  aseptischem  Verlaufe  der  Staphylococcus 
epidermidis  albus,  der,  wie  er  meint,  ausser  bei  der  Anwesenheit 
einer  Drainröhre  oder  anderer  Fremdkörper  nur  selten  Eiterung 
verursacht.  Bezüglich  der  Anwesenheit  des  Staphylococcus  pyogenes 
aureus  ist  aber  auch  er  der  Ansicht,  dass  sie  von  Eiterung  be- 
gleitet sein  müsse.  Die  ziemlich  gleichzeitig  erschienenen  Arbeiten 
von  Büdinger^)  und  Tavel^)  haben  sich  in  ihrem  Ergebniss  in- 
sofeni  imterschieden,  als  Budinger  in  20  Fällen  durchwegs 
Staphylococcen,  8  naal  sogar  den  aureus  fand,  ohne  dass  Eiterung 

')  üeber  Mikroorganismen  unter  dem  antiseptischen  Zinkverbandc. 
St^  Gallen  1886.     Centralbl.  für  Chirurgie.    1887.  S.  5.    Ref. 

2)  lieber  das  Vorkommen  von  Mikroorganismen  in  Operationswunden  unter 
dem  antiseptischen  Verbände.  Wiener  medicinische  Wochenschrift.  1887. 
No.  8  und  9. 

3)  Bemarkninger  om  Behandling  of  dar.  Nordiskt  Med.  Arkiv,  Band  21 
Referat:     Baumgarten  Jahresberichte  1890.     S.  599. 

*)  Conditions  underljing  the  infection  of  wounds.  The  americ.  Journ.  of 
the  medic.  sciences  1891.     p.  439. 

8)  üeber  die  relative  Virulenz  pvogener  Mikroorganismen  in  per  primam 
geheilten  Wunden.     Wiener  klinische  Wochenschr.  1892.     No.  22,  24,  25. 

ö)  Die  Sterilität  der  antiseptisch  behandelten  Wunden  unter  dem  anti- 
septischen  Verbände.  Gorrespondenzbl.  für  Schweizer  Aerzte.  XXII.  Jahrgang. 
1892.     No,  13  und  14. 

ArobJT  fttr  klin.  Chirurgie.    Bd.  57.    Heft  2.  22 


324  I>r.  H.  Schloffer, 

hinzukam,  während  Tavel  in  94  primär  verheilenden  Wunden  bei 
beiläufig;  Y3  der  Fälle  keimfreies  Secret  und  in  Secreten  mit  posi- 
tivem BakU'rien-Befunde  meist  nur  den  Staphylococcus  cereus  albus 
oder  albus  fand.  Während  er  aber  diesem  nur  ausnahmsweise 
infectiöse  Eigrenschaften  zuspricht,  hat  er  bei  der  Gegenwart  von 
Staphylococcus  aureus  stets  Eiterung  beobachtet.  Die  letzte  mir 
bekannte  Arbeit  über  denselben  Gegenstand  stammt  von  Boginski^). 
Er  betrachtet  die  volle  Keimfreiheit  der  AVunde  zwar  als  das  Ziel 
der  modernen  Chirurgie,  hält  aber  dafür,  dass  unsere  jetzigen  Me- 
thoden der  Wundbehandlung  die  Erreichung  dieses  Zieles  nicht  mit 
Sicherheit  mögli<*h  machen,  und  dass  auch  pyogene  Mikroben  bei 
Wunden,  welche  per  primam   heilen,    aiigetroffen    werden    können. 

Von  Interesse  ist  es  auch,  das»  kurzlich  Riggenbach^)  auch  in 
accidentellen  Wunden  den  Staph.  alb.  häufig,  15  mal  in  24  Fällen, 
antraf  und  hiebe!  10  mal  die  Heilung  ungestört  verlaufen  sah. 

Darin  also  stimmen  alle  angeführten  Ergebnisse  von  Wund- 
sccret-Untersuchungen  überein,  dass  trotz  der  Anwesenheit  pyogener 
Cocceu  eine  primäre  Heilung  möglich  sei.  Es  hat  diese  Thatsache 
begreiflicherweise  die  Frage  nahe  gt*legt,  warum  imd  unter  welchen 
Umständen  die  Eit<Tung  in  solchen  Fällen  ausbleibt,  und  den  Be- 
dingungen nachzufrehen,  die  das  Zustand(»koramen  der  prima  intentio 
verbürgen. 

Es  hat  deshalb  Herr  Prof.  Wölfler^)  alle  jene  Momente  einer 
cing(»henden  Kritik  unterzogen,  welclie  wir  als  Schutzkräfte  und 
Abwehrmaassregeln  des  Organismus  und  der  Wunde  gegen  die  In- 
f(»ction  in  Betracht  ziehen  müssen  und  hiebei  auch  dem  Wund- 
secrete  besondere  Aufmerksamkeit  geschenkt.  Denn  dass  wir  die 
l)ckafmten  ba<tericid(*n  Eigenschaft(»n  des  Blutt»s  auch  im  Wund- 
secret  vorfinden  wenden,  war  eine.nahelieirende  Annahme.  Und  so 
durften  wir  auch  erwarten,  in  denn  Wundsecrcte  eine  mehr  odiör 
minder  erfolgreiche  A  bwehmiaassre.irel  gegen  die  Infection  der 
Wunde    zu    finden.      Einige    Versuche    der    unten    mitzutheilenden 


0  Bacteriologisohe  BeschafifeDhcit  der  Wunden  bei  aseptischer  und  anti- 
septischer  Ausführung  der  Operationen.  Chirurpe.  1897.  No.  8  (russisch). 
Referat:  Centralblatt  für  Chirurgie.     1S!>7.     S.  1174. 

2)  lieber  den  Keimgehalt  accidenteller  Wunden.  Deutsche  Zeitschr.  für 
Chirurgie.     Band  47.     H.  1. 

3)  Ueber  die  Bedingungen  der  Wuudheilung,  Antrittsrede  5.  Mai  1895. 
Prager  med.  Wochenschr.     1895.     No.  .20,  21. 


Ueber  Wundsecret  und  Bacterien  bei  der  Heilung  per  primam.        325 

Serien,    die  Herr  Prof.  Wölfler  damals    schon  mittheilen    konnte, 
schienen  diese  Erwartungen  zu  bestätigen. 

Inzwischen  habe  ich  durch  Erweiterung  meiner  Versuchsreihen 
ein  Material  gesammelt,  das  schon  ziemlich  sichere  Schlüsse  über 
die  in  Rede  stehenden  Fragen  gestattet. 

Die  Ausgangspunkte  zu  diesen  Untersuchungen  lassen  sich  in 
folgenden  Fragen  zusammenfassen: 

1.  Kommen  im  Wundsecret  von  per  primam  heilenden  Wunden 
Bakterien  vor  und  sind  namentlich  die  gewöhnlichen  Eiter- 
erreger darin  anzutreffen? 

2.  Hat  das  Wundsecret  baktericido  Eigenschaften? 

3.  Wie  äussern  sich  diese  baktericiden  Eigenschaften  gegen- 
über den  im  Secrete  bereits  vorhandenen  Keimen  und 
gegenüber  den  gewöhnlichen  Eitercoccen? 

Yersuchsanordnnng. 

Die  Secretuntersuchungen  betrafen  durchwegs  Operations- 
wunden. Die  Operationen  wurden  streng  aseptisch  ausgeführt 
und  abgesehen  von  der  Hautdosinfection  alle  Desinfectionsrnittel 
strenge  vermieden.  Die  Instrumente  lagen  in  gekochtem  Wasser 
oder  solcher  Sodalösung;  auch  die  Hände  wurden  nach  der  Des- 
infection  in  gekochtem  Wasser  abgespült.  Zum  Verband  wurde 
lediglich  aseptische  Gaze  ohne  Imprägnirung  verwendet.  Nur  bei 
den  Fällen  I-XV  wurde  zum  Theil  auch  Jodoformgaze  zum  Ver- 
band gebraucht,  weil  diese  Fälle  lediglich  dem  Studium  der  Art 
und  Virulenz  der  Wundsecretkeime-  dienen  sollten. 

Bei  den  Fällen  XVI — XXXI  aber,  die  daneben  auch  noch 
einer  Prüfung  über  die  Baktericidität  des  Wundsecretes  unterzogen 
werden  sollten,  wurde  auch  die  Jodoform-Gaze  weggelassen  und 
überdies  vorher  eine  möglichst  exakte  Blutstillung  vorgenommen. 
Zu  bemerken  ist  noch,  dass  die  Fälle  XVI — XIX  in  einem  allen 
modernen  Anforderungen  entsprechenden  Operationssaale  der  Grazer 
Klinik  ausgeführt  wurden,  und  dass  mehrere  in  diesem  Operations- 
saale vorgenommene  Luft-Untersuchungon  nur  ganz  ausnahms- 
weise das  Vorhandensein  von  weissen  Staphylococcen,  nie  von 
gelben  Staphylococcen  oder  Streptococcen  ergeben  haben. 

Die  Entnahme  des  Secretes  erfolgte  bei  den  Fällen  I — XV  nur. 
einmal  und  zwar  bei  Entfernung  des  Drainrohres  am  2.  bis  4.  Tage 

22* 


326  Dr.  11.  Schloffer, 

Es  wurde  hirrhoi  eine  mödichst  grosse  Menge  von  flussigem  oder 
coagulirtem  Wundsecret  auf  Agarschalen  irebracht  und  ven>trichen. 
Bei  den  Versuchen  XVI — XXXI  wurde  das  Secret  in  anderer 
Weise  aufgefangen.  Das  in  die  Wunde  eingelegte  Drainrohr  wurde 
durch  den  Verband  nach  aussen  geleitet  und  an  das  freie  Ende 
desselben  ein  ausgekochtes  Glasfläschchen  von  ca.  40 — 50  ccni 
Rauminhalt  fest  angesteckt.  Durch  einen  zweiten  aseptischen 
Verband  wurde  das  Fläschchen  geschützt.  Nach  Ablauf  einer  ge- 
wi>sen  Zeit  wurde  dieser  zweite  Verband  abfi:enommen,  das 
Flaschrhen  unt<T  streniren  aseptischen  Cautelen  abgezogen^)  und  in 
sterile  Gaze  gehüllt  in  das  Laboratorium  gebracht  »sein  Inhalt  ent- 
spricht dem  Wj  der  Tabellen;.  An  das  Gummirohr  wurde  in- 
zwischen ein  neues  ausirekochtes  Glaskölbchen  an£:esteckt,  um 
später  mehrmals  in  derselben  Weise  gewechselt  zu  werden.  (Wo, 
Wg  u.  s.  w.  der  Tabellen.)  Die  Untersuchung  der  auf  diese  Art 
gewonnenen  Secret  proben,  geschah  nun  nach  mehreren  Richtungen  hin: 

1.  Wurde  jede  Secretprobc  auf  ihren  Bakteriengehalt  geprüft: 
S<»irleich  nach  der  Abnahme  des  Fläschchens  wurde  dieses  kräftig 
geschüttelt  und  hierauf  mittelst  steriler  Pipette  Y^  ccm  vom  Secreie 
aufgesogen  und  mit  verflüssigtem  Agar  in  eine  Petri'sche  Schale 
mit  ebenen  Boden  ausgegossen  (Brutofen).  Die  spätere  Unter- 
suchung ergab  die  Art  und  Anzahl  der  Keime,  die  in  Y4  ccm 
jeder  Secretprobc  enthalten  waren,  und  der  Vergleich  der  Platten 
von  den  verschiedenen  Secretproben  eines  und  desselben  Falles  ein 
Bild  über  die  Veränderung  des  Keimgehaltes  während  der  Wund- 
heilung. 

2.  Wurde  eine  grosse  Anzald  von  Se<Tetproben  auch  auf  ihre 
bactericiden  EiL'enschaft»»n  gegenüber  den  im  Secret  schon  vor- 
handenen Keimen  hin  g^^prüft.  Das  nach  der  Entnahme  von  y^  ccm 
zunickizebliebene  Secret  wurde  eranz  oder  zum  Theil  in  eine  sterile 
Eprouvette  überirefüllt  und  hierauf  in  den  Brutschrank  gestellt.  In 
gewissen  Zeitahsrhiiitten,  die  aus  der  Tabelle  jedesmal  ersichtlich 
sind,    wurde    dann    abermals    stets    V4  ^'^^    ^^^    ^^^   wieder  ge- 


*)  Die  Au>beute  an  Wund^^^rcret  war  fast  stets  recht  ergiebig,  namentlich 
die  erst  abjjenommerjen  Fri^i-hohrrii  waren  meist  ;;inz  griülit.  Besonders 
grosse  <^uantitäten  lie^«>en  sich  dadurch  erzielen,  dass  entweder  ein  dickes 
Drainrohr  oder  der  Hals  de?»  GlaatVUohrhens  >':Ibst  in  die  Wunde  gelegt  und 
dadurch  für  die  erste  Zeit  eine  Verkltbung  der  Wundflächen  hiutangehalteo 
wurde. 


lieber  Wandsecret  und  Bacterien  bei  der  Heilung  per  primam.       327 

schüttelten  Eprouvette  entnommen  und  mit  Agar  ausgegossen.  Die 
so  gewonnenen  Platten  verglichen  mit  der  aus  1.  resultirenden 
gaben  die  Veränderungen  im  Keimgehalt  an,  die  das  Secret 
während  seines  Aufenthaltes  im  Brutofen  durchzumachen  hatte. 

3.  In  vielen  Fällen  wurde  eine  Partie  des  Secret  es  mit 
Staphylokokken,  eine  andere  mit  Streptokokken  versetzt,  gut  ge- 
schüttelt und  hierauf  von  Y^  ccm  des  Gemisches  eine  Agarplatte 
gegossen;  dann  kam  die  Mischung  in  den  Brutschrank,  um  durch 
mehrmalige  Abnahme  und  Ausgiessung  mit  Agar  von  Y4  ^^'^ 
während  der  nächsten  Stunden  auf  die  Veränderungen  seines  künst- 
lich geschaffenen  Keimgehaltes  hin  untersucht  zu  werden.  Die  hier 
in  Verwendung  gekommenen  Staphylokokken-  und  Slreptokokken- 
Culturen  waren  stets  frische  Bouiilon-Cuituren  junger  Generation, 
aus  frischen  eitrigen  Processen  gewonnen. 

Die  Zählung    der  Colonien    geschah    mittelst  der  modificirten 
Brunner-Zaw^adski'schen  Zählplatte  ^).     Auf  Genauigkeit  wurde  bei. 
hohen  Oolonienzahlen  natürlich  kein  Werth  gelegt    und  deshalb  in 
den  ProtocoUen  häufig  nur  beiläufige  Angaben  eingetragen.- 

Was  den  Wundverlauf  bei  den  in  die  Tabellen  aufgenommenen 
Operations  wunden  anbetrifft,  so  war  derselbe  durchwegs  ein  primärer 
und  wurden  alle  jene  Fälle,  bei  denen  Störungen  der  Wundheilung 
beobachtet  wurden,  aus  meiner  Versuchsreihe  ausgeschieden.  Nur 
habe  ich  absichtlich  einige  solche  Fälle  doch  beibehalten,  weil  sie 
mir  gerade  im  Hinblick  auf  die  relative  Virulenz  des  Staphylo- 
coccus  albus  Aufschluss  zu  geben  schienen.  Es  sind  das  die 
Fälle  1,  2  und  23.  In  dem  Falle  31  trat  zwar  Prima  ein,  aber 
eine  vorübergehende  Röthung  und  Schwellung  der  Wundränder 
gaben  von  nicht  tadellosem  Verlaufe  Zeugniss. 

Die  TabeUe  III  enthält  die  Zusammenstellung  der  mit  Wund- 
secretstaphylokokken  vorgenommenen  Thierversuche.  Die  Details 
sind  aus  den  Rubriken  zu  ersehen  und  es  sei  hier  nur  bemerkt, 
dass  bei  den  Kaninchen  die  Impfung  in  der  Weise  vorgenommen 
wurde,  dass  zuerst  mit  der  Canüle  in  die  Randvene  eines  wohl 
desinficirten  Ohres  eingestochen  2)  und  hierauf  ein  kleiner  Theil  der 
Flüssigkeit   intravenös,    der    übrige    subcutan    injicirt  wurde.     Bei 


1)  Beitr.  z.  klin.  Chir.    Bd.  14.    S.  829. 

2)  Da   hierdurch    unter   Umständen   Thrombose   der  Vene    henorgerufen 
wurde  und  diese  die  Eiterung  zu  begünstigen  schien. 


328 


ür.  H,  Schloffer, 


einigen  solchen  p]xperiraenien  wurde  ausserdem  noch  der  Versuch 
gemacht,  die  Wirkung  der  injicirten  Staphylokokken  durch  vorher 
angelegte  elastische  Ligatur  des  Ohres  (Pawlowsky,  Büdinger), 
durch  Verweilen  des  Thieres  im  Eis-  oder  Brutschranke  i)  oder 
durch  gleichzeitige  In jection  einer  Proteuscultur  (Trombetta)^)  zu 
verstärken.  Im  Anschlüsse  bringt  Tabelle  IV  einige  Thier\'^ersuche 
mit  Hautstaphylokokken,  von  deren  Bedeutung  unten  die  Rede 
sein  wird. 


1)  Nach  Analogie  der  Versuche  Filehne's  bei  En*sipelimpfungen. 
Centralbl.  f.  Bacteriol.  etc.     Bd.  XVII.     S.  477. 

2)  Centralbl.  f.  Bacteriol.  etc.    Bd.  XII.     S.  121. 

Tabelle  I.    Bakterienbefnnde  im  Wnndsecret. 

a)  Secret  vom  Drainrohr  entnommen. 


Ref. 


■ 

o 

1^ 

Indication 

Secret 

~    T 

zur 

entnommen  nach 

Ergiebt  in  der  Strichcultur, 

Anmerkung. 

Operation. 

?  Tagen. 

1. 

Freie  Leisten- 

4 Tagen. 

Neben  ca.  80  Col.  Saprophytcn  4  Col. 

Stichcanaleiterg. 

hernie. 

Staph.  alb. 

enth.  Staph.  alb. 

2. 

Freie  Leisten- 
hernie. 

3      . 

Ca.  50  Col.  Staph.  alb. 

In  einem  Nahtab- 
scess  Staph.  alb. 

3. 

Struma  cystic. 

2       . 

Zahlreiche  Colonien  Staph.  alb. 

4. 

Lymphadenit. 
colli. 

4       . 

3  Col.  (0.  Staph.) 

5. 

Hygroma 
praepatellare. 

3       . 

Einzelne  Colonien  Staphyl.  alb.    Fast 
rein. 

6. 

Carcinoma 
mammac. 

4       . 

Staph.  alb.  fast  rein. 

7. 

Carcinoma 

4       ^ 

ReincuUu*  von    Staph.    alb.    (l    Col. 

*)  Ist  nicht  sicher- 

mammae. 

aureus?)*) 

gestellt. 

8. 

Freie  Leisten- 
hernie. 

3       ^ 

Fast   Reincultur   von    grossen    Diplo- 
kokken, keine  Eiterkokken. 

9. 

Freie  Leisten- 
hernie, 

H       . 

Einzelne  Colonien  grossentheils  Staph. 
alb. 

• 

10. 

Tuberculosis 

testis 
(Castratio). 

2       . 

0 

11. 

Lymphadenit. 
colli. 

3      . 

U.  A.  zahlreiche  Col.  weisser  Staph. 

12. 

Herniainguin. 
libera. 

3       « 

0 

13. 

Carcinoma 
mammae. 

3       . 

Vornehmlich  grosse  Diplokokken. 

14. 

Tuberculosis 

testis 
(Castratio). 

3       „ 

Vornehmlich  Staph.  alb. 

15. 

Lymphadenit. 
colli. 

4       . 

Zahlreiche  Colonien,  keine  Staph. 

üeber  Wundsecret  und  Bacterien  bei  der  Heilung:  per  primani.       329 


b)  Secret  in  Fläschchen  aufgefangen  und  mehrmals  untersucht. 


• 

o 

Indication 
zur 

Wundsecret 
entnommen  nach 

Ergiebt  culturell  nach  Verimpfung 

4  ■ 

Anmerkung. 

Operation. 

?  Stunden. 

• 

von  V4  ccm. 

16. 

Freie  Cniral- 

Wi  nach 

4  St. 

3  Col.  (davon  1  Staph.  alb.) 

Hernic. 

W2 

r 

IG  . 

3     ,     (    »      0      ,        ,  ). 

17. 

Freie  Leisten- 

w, 

T 

6  . 

3     ,     (0  Staph.  alb.)    . 

Hemie. 

W2 

T) 

22  , 

10     ,     (3       ,         ,  ) 

Wa 

T 

48  , 

2800     „     (Staph.  alb.) 

18. 

Osteo- 

w, 

9» 

6  „ 

5     ,    (davon  1  Staph.  alb.) 

plastische 

W, 

J? 

22  , 

8     ,    (    ,      0      ,        ,  ) 

Amputation. 

w. 

») 

30  , 

5     .     (     ,      0      ,         ,  ) 

W4 

r 

54  , 

1      ,     (     r       0        ,          ,   ) 

Ws 

j» 

71  . 

14      ,      (     r        0        r           „    ) 

We 

T 

92  , 

900     ^     (     ,      0      ,         -   ) 

19. 

Sarcoma  funi- 

w, 

r 

80  , 

50     ,     Staph.  alb. 

*)  1  Ocse  verimpft, 

culi  sper- 

W2 

9 

r 

54  , 

10     ,         ,         . 

da    nicht    mehr 

matici. 

W3 

5» 

78  . 

10000     ,         ,         , 

vorhanden. 

W4 

!• 

95  ^ 

1500»)  „         ,         , 

20. 

Carcinoma 

w, 

r 

11  , 

92     „         „         „ 

mammae. 

W2 

j? 

23  , 

3     „     (keine  Staph.) 

W3 

r 

4  Tg. 

00     „     Stäbchen. 

21. 

Carcinoma 

w, 

» 

8  St. 

250     „     vorwiegend  Stäbchen. 

mammae. 

W2 

n 

17  „ 

30     „     (5  Col.  Staph.  alb.) 

Ws 

» 

22  , 

9     ^     grosse  Kokken. 

« 

W4 

r 

39  , 

1800     r,     Stäbchen. 

W5 

r 

63  „ 

600     „ 

22, 

Struma 

w, 

r» 

5    n 

250     y,     Stäbchen  ca.  Vio  staph.  alb. 

cystica. 

w. 

r 

22  , 

39     „     keine  Eiterkokken. 

• 

w. 

r 

30  , 

Platte  verdorben. 

W4 

w 

46  „ 

0 

■ 

W5 

» 

67  . 

135  Col.  Staph.  alb. 

23. 

Carcinoma 

W: 

«» 

22  . 

16     „     (davon  7  Staph.  alb.) 

Am  4.  Tage  p.  op. 

m<amroae. 

W, 

V 

46  , 

700     r,     Staph.  alb. 

Fieber   bis  38,8 

W3 

r 

70  , 

9500     ^ 

wegen       Secret- 

W4 

» 

94  , 

Dichte  Platte,  Staph.  alb. 

retention ;  im  re- 

Ws 

« 

120  , 

r                r               r            r 

tinirtcn      Secrot 
Staph.     alb.    in 
R.-C. 

24. 

Lymphadenit. 

w, 

n 

22  , 

2  Col.  1  Staph.  alb. 

♦)  Weil  nicht  mehr 

colli. 

W, 

«k 

46  , 

190     ,,     Staph.  alb. 

Secret    vorband. 

Ws 

j» 

60  , 

1100     , 

w. 

« 

.81  , 

1100     „         ,         , 

W5 

» 

106  . 

600     y,         „         ,,  ine.  paar  Tropf.*) 

25. 

Fungus   pedis 

w, 

f 

24  . 

3  Col.  (2  Staph.) 

(Amputation). 

w. 

T 

48  . 

1100     ^     Staph. 

w,, 

T 

69  . 

8000     „     Sporenbildend c  Stäbchen. 

W4 

r 

98  . 

^       r^                       -.                              r 

W5 

T 

120  „ 

und  Kokken. 

330 


Dr.  H.  Sohloffer, 


• 

o 

iDdication 
zor 

1 

Wundsecret 
entnommen  nach 

Ergiebt  calturell  nach  Verimpfung 

«  1 

Anmerkung. 

'S 

OpeiatioD. 

?  Stunden. 

von  V4  <^cm. 

26. 

Carcinoma 

w,    , 

80  st 

3  Col.  (0  Staph.) 

mammae. 

W2         y, 

50  „ 

10     ,     (2       .     ) 

w,   , 

70, 

250     ^     Staph. 

w,   , 

91   r 

900     ,        , 

27. 

CarciDoma 

w,    , 

6  , 

19     ^     (5  Staph.  alb.) 

mammae. 

W2  , 

22  , 

44     „     (fast  ausschl.  Staph.  alb.) 

w,   , 

46  , 

4     y,     Staph.  alb. 

W4  . 

70  , 

40000     „     grösstentheils  Staph.  alb.) 

^5       » 

94  , 

4     „     (2  St^iph.  alb.) 

28. 

Lymbadenitis 

w,    , 

18  , 

0°       r 

colli. 

"2      n 

42  , 

00     ^     darunter  auch  Staph.  alb. 

W3      „ 

66  , 

»         r                 5»                r              r             •» 

W4      r 

90  , 

r         "                 r                r              1»             *• 

29. 

Fungus  pedis. 

w,    , 

23  , 

0 

W2      , 

47  „ 

0 

W3            ^ 

71  , 

4  Col.  (davon  3  Staph.) 

W4      „ 

96  , 

5     ,     0  Staphyl. 

30. 

Ulcus  cruris 

w,    , 

22  , 

1400     „  [fast  nur  Staph. 

(Amputation). 

W2       r 

46  , 

700     ,     Staph.  alb. 

W3      r 

72  , 

3100     „,         , 

W4      , 

93  „ 

^          „                  VT 

31. 

Lipoma   dorsi. 

w,    „ 

22  , 

8      ^     Staph.  aureus. 

Nach  d.  Operation 

w,   , 

46  , 

1200     „     Staph.  (alb.  u.  aur.?) 

.  Verband      abge- 

W3  , 

69  , 

CO     ^     Staph. 

rUsen ,     Schwel- 

W4 „ 

92  , 

».      V 

lung  u.  Röthung 
der  Wundrander. 

Heilung  p.  p. 

Tabelle  II.    Prfifan/i^  der  baktericideii  Eigenschaften  des  Wnndseeretes. 

A.    Gegenüber  den  im  Wundsecret  bereits  vorhandenen  Keimen. 


—             .    - 

Anzahl  der 

Verwendetes 

Colonien  in 

Anzahl  der  Colonien  in  V4  ccm  nach 

No. 

Seeret. 

* '4  com  gleich  nach 
der  Entnahme. 

?  Stunden  Aufenthaltes  im  Brutofen. 

Anmerkung. 

1. 

F.  16,  Wi. 

3  (1  Staph.) 

16  St. 

20  St. 

23  St. 

27  St. 

43  St. 

Von    16    St.     an 

2 

64 

310 

00 

00 

keine  Staph. 

(0  staph.) 

2. 

F.  16,  W2. 

3 

4  St. 

0 

7  St. 
0 

11  St. 
0 

27  St. 
0 

— 

Keine  Staph. 

3. 

F.  18,  \V4. 

1 

18  St. 
3 

21  St. 

1 

25  St. 

1 

28  St. 
19 

•— 

do. 

4. 

F.  18,  Wß. 

14 

3  St. 
110 

7  St. 
1300 

10  St. 
11000 

'— 

do. 

5. 

F.  18,  We, 

900 

17  St. 

OD 

— 

do. 

Ueber  Wundsecret  und  Bacterien  bei  der  Heilung  per  primam.       331 


Anzahl  der 

Ko. 

Verwendetes 
Secret. 

Colonien  in 
V4ccni  gleich  nach 

Anzahl  der  Colonien  in  V4  ccm*  nach 
?  Stunden  Aufenthaltes  im  Brutofen. 

Anmerkung. 

der  Entnahme. 

6. 

P.  20,  Wi. 

92 

12  St. 
500 

— 

• 

Staphylokokken. 

7. 

F.  20,  Wa. 

3 

3  St. 
3 

8  St. 

— 

Keine  Staphyl. 

8. 

F.  21,  WV 

1800 

_^ 

Stäbchen. 

13 

9. 

P.  22,  Wi. 

250 

4  St. 
250 

18  St. 
800 

z.  Th.  Staphyl. 

10. 

F.  22,  Wa. 

39 

4  St. 
8 

7  St. 
7 

Keine  Eiterkokk. 

• 

11. 

F.  23,  W,. 

16  (7  Staph.) 

24  St. 
600*) 

— 

— 

♦)  Fast  nur  Staph. 

12. 

F.  23,  Wa. 

700 

3  St. 

160 

7  St. 
36 

11  St. 
20 

Staphyl. 

13. 

F.  24,  \V,. 

2  (1  Staph.) 

3  St. 
4 

7  St. 
3 

22  St. 

1 

— 

Von  3  St.  an  keine 
Staphyl. 

U. 

F.  24,  Wa. 

190 

5  St. 
140 

11  St. 
125 

21  St. 
.1900 

\ 

"■"• 

Staphyl. 

15. 

F.  25,  Wa. 

1100 

4  St. 
1800 

9  St. 
4600 

20  St. 
10000 

^^ 

Staphyl. 

16. 

F.  27,  W4. 

40000 

3  St. 
30000 

6  St. 
12000 

9  St. 
7000 

Grossentheils 
Staphyl. 

17. 

F.  29,  Wg. 

4 '(3  Staph.) 

3  St. 
3 

(IStaph.) 

9  St. 
3 

(1  staph.) 

18. 

F.  30,  Wi. 

• 

1400 

8  St. 

15000 

— 

— 

— 

Fast    nur    Staph. 
alb. 

19. 

F.  30,  Wa- 

700 

6  St. 
130 

Staph.  alb. 

20. 

F.  30,  W3. 

3100 

4  St. 
800 

7  St. 
CO 

-— 

do. 

21. 

F:  31,  W,. 

8 

2  St. 
20 

6  St. 
9 

9  St. 
6 

Staph.  aureus. 

22. 

F.  31,  Wa. 

1200 

2  St. 
600 

3  St. 
135 

^^ 

23. 

F.  31,  W3. 

Dichte  Platte. 

2  St. 
ver- 
mehrt. 

5  St. 
ver- 
mehrt. 

B.    Gegenüber  künstlich  eingebrachten  Keimen, 
a)  Staphylococcus  pyogenes  aureus. 


No. 


Ver- 
wendetes 
Secret. 


Anzahl  der 

Keime  in 

V4  ccm  nach 

d.  Entnahme. 


Dasselbe 
nach  d.  Be- 
schickung 
m.  aureus. 


Dasselbe  nach  ?  Stunden 

Aufenthaltes  des  Gemisches  im 

Brutofen. 


Anmerkung. 


24. 


F.  16,  Wi. 


82  (25) 


lest. 

8(4) 


20  St. 
200 

(42) 


23  St. 
1300 

00 


27  St. 

00 


332 


Dr.  H.  Schloffer, 


No. 


Ver- 
wendetes 
Secret. 


Anzahl  der 

Keime  in 

'/4  ccra  nach 

d.  Entnahme. 


Dasselbe 
nach  d.  Be- 
schickung 
m.  aureus. 


Dasselbe  nach  ?  Stunden 

Aufenthaltes  des  Gemisches  im 

Brutofen. 


Anmerkung. 


25. 


26. 


27. 


28. 


29. 


30. 
31. 
32. 
33. 


34. 


35. 


36. 


F.  16,  Wj. 


F.  16,  Wa. 


F.  17,  W2, 

F.  21,  W2. 
F.  22,  Wi. 
F.  22,  W2. 


F.  ^23,  W2. 
F.  23,  W3. 
F.  24,  \V,. 


F.  25,  Wi. 


F.  25,  Wo. 


F.  26,  Wo. 


37.    F.26,  W4. 


38. 
39. 
40. 
41. 


42. 


43. 


F.  27,  W3. 
F.  29,  Wo. 
F.  29,  W3. 
F.  30,  Wo. 
F.  30,  W3. 


F.  31,  Wo. 


10 

30 
250 

39 

700 

9500 
9 


1100 

10 

900 

4 

0 

4 

700 

3100 

1200 


4») 


14 


20000 

4500 

3300 

12000 

6500 

Dichte 

Platte. 

1100 


10 

4800 

5000 

5000 

2200 

14 

Dichte 

Platte. 

900 

20000 
5500 


4  St. 
1 

4  St. 
4 


3  St. 
4000 

3  St. 
400 

4  St. 
900 
4  St. 
1900 
3  St. 
2200 
ver- 
mehrt. 
3  St. 

104 


5  St. 
4 

4  St. 
ver- 
mehrt. 

5  St. 
4000 
3  St. 
3000 

3  St. 
350 

6  St. 
16 

ver- 
mehrt. 
6  St. 
180 

4  St. 
ver- 
mehrt. 

3  St. 
1000 


7  St. 
0 

7  St. 
3 


6  St. 
8000 

est. 

220 

18  St. 

7  St. 
1600 
7  St. 
700 
ver- 
mehrt. 

7  St. 
96 


11  St. 
0 

11  St. 
792 


10  St. 
40000 

9  St. 
140 


11  St. 
3000 


12  St. 
118 


11  St. 
1800 

9  St. 

ver- 
mehrt. 
14  St. 
20000 

8  St. 
8000 
24  St. 

00 

9  St. 
3 

ver- 
mehrt. 


7  St. 
ver- 
mehrt. 

8  St. 
350 


21  St. 

00 

20  St. 

CO 


27  St. 
0 

27  St. 

00 


19  St. 

OD 

24  St. 
5000 


24  St. 
00 


22  St. 
2200 


*)  Ob  aureus  da- 
bei war  ist  nicht 
sicher  gestellt. 

Nicht  aureus,  son- 
dern      sapropb. 
Coccus     ver- 
wendet. 


23  St. 

00 


Die  gleichzeitig 
untersuchte  Bac- 
tericidität  des 
Blutes  ergiebt 
ein  ähnliches 
Resultat. 

Von  5  St.  an 
lediglich'Staphy- 
lokokken. 


Wundsecert  -  Sta- 
pbj-lococc.  ver- 
wendet. 


Ueber  Wundsecret  und  Bacterien  bei  der  Heilung:  per  primam.       33.3 


ß)  Streptococcus  pyogenes. 


No. 

Ver- 
wendetes 
Secret. 

Anzahl  der 

Keime  in 

V4  ccm  nach 

d.  Entnahme. 

Dasselbe 
nach  d.  Be- 
schickung 
m.  aureus. 

Dasselbe  nach  ?  Stunden 

Aufenthaltes  des  Gemisches  im 

Brutofen. 

Anmerkung. 

44. 

F.  18,  W3. 

5 

25000 

7  St. 
18000 

— 

— 

45. 

F.  21,  W2. 

80 

100 

3  St. 
110 

6  St. 
200 

9  St. 
1800 

24  St. 
00 

■  ■    ^ 

46. 

F.  21,  Wj. 

30 

75 

3  St. 

6  St. 

9  St. 

24  St. 

Eine  and.  Strepto- 

50 

40 

42 

00 

cocc.-Art  wie  im 
vorigen  Versuche. 

47. 

F.  22,  Wi. 

250 

300 

4  St. 
300 

18  St. 
00 

24  St. 
00 

■ 

■ 

48. 

F.  22,  Wo. 

39 

200 

4  St. 
85 

7  St. 
500 

— 

^^ 

49. 

F.  22,  Wo. 

39 

350 

4  St. 
26 

7  St. 
22 

24  St. 
00 

Strcptoc.  anderer 
Provenienz  wieira 
vorigen  Versuch. 

50. 

F.  24,  W|. 

2 

108 

3  St. 

7  St. 

12  St. 

22  St. 



♦)  Davon  14  Strep- 

17*) 

98 

dichte 
Platte. 

.     QO 

tococc.  Blut  des- 
selben Pat.  zeigt 
ähnl.  bactericide 
Eigensch.  gegen 
Streptokokk. 

51. 

F.  26,  Wo. 

10 

180 

5  St. 
1900 

14  St. 
dichte 
Platte, 

52. 

F.  27,  W3. 

4 

600 

3  St. 
300 

24  St. 
00 

Talielle  III. 

Thiervcrsuche  mit  Wundsecret-Staphylokokkcn. 


No. 

Staph.  alb. 
vom  Secret 
des  Falles: 

Alter  und 
Quantität  d. 

verimpften 
Bouilioncult. 

Thier- 
gattung. 

Resultat  des  Versuches. 

Anmerkung. 

1. 

5. 

24  St. 
5  ccm. 

KfaninchoD. 

Röthung   u.  Schwellung, 
kein  Abscess. 

2. 

7. 

24  St 

Kaninchen, 

t  Nachts  nach  d.  Impfung 

♦)    Culturen    weiter 

5  ccm. 

500  g. 

(Fractur  d.  Wirbelsäule) 
in  Leber,  Milz,  Herzblut, 
Staph.  alb.*)») 

verwendet  bei  No.  3. 

3. 

7,  gewonnen 

2  Tg.  2  V2  ccm 

Kaninchen, 

t  nach  3  Tagen,  paren- 

*) Culturen  bei  No.  4, 

vom  Versuche 

St.  alb.  gem. 

3  Woch.  alt. 

chymatöse  Degeneration 

5,    6     weiter    ver- 

No. 2. 

mit  ebensoviel 
Proteusbouill. 

d.  Organe  in  denselben. 
Staph.  alb.  rein.  •) ') 

wendet. 

*)  Nach    den  Protocollen   des  Herrn  Dr.  Imhofer,    der  die  Sectionen  in  meiner  Ver- 
hinderung vornahm. 


334 


Dr.  H.  Schloffer, 


No. 

Staph.  alb. 
vom  Secret 

Alter  und 
Quantität  d. 

Thier- 

Resultat  des  Versuches. 

Anmerkung. 

des  Falles: 

venmpften 
Bouilloncult. 

gattung. 

0 

4. 

7,  gewonnen 

24  St. 

Kaninchen, 

t  nach  1  Tag.      In  den 

vom  Versuche 

5  ccm  von 

3  Woch.  alt. 

Organen      Staph.     alb. 

No.  3. 

No.  3. 

rein.  ^) 

5. 

7,  gewonnen 

24  St.  2  V2  ccm 

Kaninchen, 

Nach  3  Tagen    Gangrän 

vom  Versuche 

Staph.  mit 

8  Woch.  alt. 

des  ganzen  Ohres. 

No.  3. 

2V2  ccm 
Proteus- 
Bouillon. 

G. 

7,  gewonnen 

24  St. 

Kaninchen, 

Die  ersten  3  Tage  starke 

vom  Versuche 

3  ccm. 

8  Woch.  alt. 

Schwellung  u.  Röthung. 

No.  3. 

4.  Tag  kleine  Abscesse. 
Staph.  alb.  in  R.-C. 

7. 

11. 

24  St.  2  V2  ccm 

Kaninchen, 

t    nach    1    Tage,    keine 

zusammen 

1000  g. 

Veränderung   am  Ohre, 

mit  2V2  ccm 

innere  Organe  enthalten 

Proteusbouill. 

Staph.  alb.  rein. 

8. 

14. 

24  St. . 

Kcininchen. 

Durch      mehrere      Tage 

Vor  d,  Injection  wird 

1  ccm. 

Schwellung,      Röthung, 

V2  ccm  5proc.  Gar- 

9. 

14. 

24  St. 
3  ccm. 

do. 

wie  bei  No.  8. 

bo  1  injicirt.    . 

10. 

19,  W,. 

2  Tg. 

do. 

Röthung  des  Ohres,    die 

Subcutan     am     Ohre 

1  ccm. 

bald  verschwindet. 

geimpft. 

11. 

19,  Wi. 

do. 

do. 

Keine  Rcciction. 

do. 

12. 

19,  Wo. 

2  Tg. 
IV2  ccm. 

do. 

do. 

do. 

13. 

19,  Wo. 

2  ccm. 

do. 

do. 

do. 

14. 

20,  Wa. 

2  Tg. 

Kaninchen. 

Nach  2  Tagen  beträcht- 

Vor d.  Injection  mehr- 

4 ccm. 

900  g. 

liches    Oedem ,     keine 
Eiterung. 

stündiges  Verweilen 
des  Thieres  im  Eis- 
schrank. 

15. 

21,  \Vj. 

20  St. 

Kaninchen, 

Starke    Schwellung;    am 

3    St,    vorher    elast. 

4  ccm. 

1500  g. 

3.  Tage  kleiner  Abscess 
mit     weissem     dickem 
Eiter,  enthaltend  Staph. 
alb.  rein. 

Ligatur  des  Ohres  u. 
Verweilen  im  Eis- 
schrank. Nach  der 
Impfung  12  St.  Eis- 
schrank. 

16. 

22,  Wi. 

20  St. 

Kaninchen, 

Schwellung,  am  3.  Tage 

Nachher  kommt  das 

3  ccm. 

800  g. 

klein.  Abscess ;  im  Eiter. 
Staph.  alb.  rein. 

Thier  12  St.  in  den 
Eisschrank. 

17. 

22,  Wi. 

2  Tg. 

Mittelgrosscr 

Nach  2  Tagen  ausgebrei- 

Subcutan am  Bauche 

15  ccm. 

schwarzer 
Hund. 

tetes  Oedem,  geringes  In- 
filtrat, 4  Tagen  stärkeres 
Infiltrat,  nach '6  Tagen 
grosser    subcut.    Ab- 
scess   mit    ca.    50  ccm 
rahmigen  Eiters.    Cult. : 
Staph.  alb.  rein. 

geimpft. 

^)  Nach    den  Protocollcn  des  Herrn  Dr.  Imhofer,    der    die  Sectionen    in  meiner  Ver- 
hinderung vornahm. 


üeber  Wundsecret  und  Bacterlen  bei  der  Heilung  per  primam.        335 


No. 

Staph.  alb. 
vom  Secret 
des  Falles: 

Alter  und 
Quantität  d. 

verimpften 
Bouilloncult. 

Thier- 
gattung. 

Resultat  des  Versuches. 

Anmerkung. 

IS. 

23,  Wj. 

20  St. 

Kaninchen, 

Nach  3  Tagen  kleiner  Ab- 

Nach    der    Injection 

4  ccm. 

900  g. 

scess,  der  Staph.  alb.  in 
R.-C.  enthält. 

24  St.  im  Brutkasten. 

19. 

23,  W,. 

20  St. 

Kaninchen, 

Geringe  Schwellung,  die 

Nach    der    Injection 

5  ccm. 

1000  g. 

bald  zurückgeht. 

mehrere  Stunden  im 
Eiskasten. 

20. 

24,  Wi. 

24  St. 

Kaninchen, 

2.  Tag:  Vene  m.  eitrig. 

Zum  Theil  intravenös 

5  com. 

1340  g. 

• 

Thromb.  erfüllt,  3.  Tag 
ein  klein.  Abscess  neben- 
an. Eiter  enthält  jedes- 
mal Staph.  alb.  rein. 

injicirt. 

21. 

24,  W.. 

2  Tg. 

Kaninchen, 

Starke    Schwellung    am 

Vor     der     Injection 

6  ccm. 

800  g. 

4.  Tage  kleiner  Abscess 
mit  serös-eitrig.  Inhalt. 
Staph.  alb.  rein. 

elastische  Ligatur  d. 
Ohres. 

22. 

24,  W3. 

2  Tg. 

Kaninchen, 

2.  Tag:  Hochgrad.  Oedem. 

4  ccm. 

1400  g. 

Incision.    Oedemflüssig- 
keit  enthält  Staph.  alb. 
in  R.-C. 

23. 

24,  Wo. 

2  Tg. 

Hund 

In  d.  erst.  Tagen  schmerz- 

Injection   am    Ober- 

20 ccm. 

(mittelgross. 

hafte    Schwellung,    die 

schenkel.        Canüle 

Rattler). 

zurückgeht.  Autopsie  am 
7.  Tage:   Geringe  Hae- 
morrhagie   an  d.  Injec- 
tionsstelle. 

wird  bis  an  d.  Kno- 
chen vorgestosscn. 

24. 

25,  W2. 

24  St. 

Kaninchen, 

Schwellung  4. Tag:  Klein. 

Vor  d.  Injection  sitzt 

5  ccm. 

1400  g. 

Abscess,  der  Staph.  alb. 
rein  enthält. 

das  Thier  2  St.   im 
Eisschrank. 

25. 

25,  Wi. 

2  Tg. 

Kaninchen, 

Röthung  u.  Schwellung  d. 

do. 

6  ccm. 

1800  g. 

Ohres,  kein  Abscess. 

26. 

25,  W». 

2  Tg. 

Wachtelhund. 

Keine    Krankheitser- 

Intraperitoneal. 

30  ccm. 

scheinungen. 

(Stumpfe  Canüle). 

27. 

27,  W3. 

2  Tg. 
3  com. 

Kaninchen. 

Leichte  Schwellung. 

28. 

27,  Wa. 

2  Tg. 
5  ccm. 

do. 

Leichte  Schwellung. 

29. 

29,  Ws. 

l'/2  Tg. 
5  ccm. 

■    do. 

Am  3.  Tage  enthält  das 
seröseitrige  Secret  unter 
einer  Borke  Staph.  alb. 

Talielle  IV. 

Thien- 

ersuche  mit  S< 

aphylococcus  albus  von  streng  desinficirtcr  Haut. 

Alter  und 

No. 

Quantität  d. 
verwendeten 
Bouilloncult. 

Thier- 
gattung. 

Resultat  des  Versuches. 

Anmerkung. 

30. 

2  Tg. 

Kaninchen. 

Nach  4  Tagen  zwei  kleine  Abscesse,    die 

4  ccra. 

Staphyl.  alb 

).  enthalten. 

336 


Dr.  H.  Schloffer, 


Alter  und 

No. 

Quantität  d. 
verwendeten 
Bouilloncult. 

Thier- 
gaftung. 

Resultat  des  Versuches. 

• 

Anmerkung. 

31. 

2  Tg. 
5  com. 

Kanineben. 

Sehr  geringe  Schwellung. 

32. 

24  St. 
3  ccm. 

Kaninchen. 

Geringe  Schwellung. 

33. 

24  St. 
6  com. 

Kaninchen. 

Eine  Spur  eitrig-seröse  Flüssigkeit   unter 
einer  Borke  (5.  Tag).     Staph.  alb. 

34. 

2  Tg. 
4  ccm. 

Kaninchen. 

Schwellung  und  Röthung. 

35. 

2  Tg. 
3  ccm. 

Kaninchen. 

Geringe  Reaction,  keine  Eiterung. 

36. 

24  St. 
6  ccm. 

Kaninchen. 

Nach   4   Tagen   kleiner    Abscess.     Eiter 
nicht  untersucht. 

Besnltate. 

Keimgchalt  des  Sccrctes,  Art  und  Anzahl  der  Bacterien. 

Die  Tabelle  I  bringt  den  Bericht  über  31  Fälle,  bei  denen 
das  Wundsecret  83  Mal  untersucht  wurde;  blos  5  Mal  (6  pCt.) 
wurde  es  völlig  steril  befunden.  Zwei  dieser  Befunde  von  keim- 
freiem Secret  gehören  zu  den  Fällen  mit  nur  einmaliger  Secret- 
untersuchung  (X  und  XII),  die  anderen  betreffen  das  Secret  nach 
23  und  47  Stunden  des  F.  XXIX.  und  das  Secret  nach  46  Stunden 
des  F.  XXII.  Diese  letztgenannten  3  sterilen  Wundsecrete  sind  also 
auch  die  einzigen  derartigen  Befunde  bei  allen  16  mehrmals  im 
Verlaufe  der  Wundheilung  untersuchten  Fällen,  bei  welchen  alle 
anderen  Secret[)rol)en,  auch  jene,  die  nur  wenige  Stunden  nach  der 
Operation  entnommen  wurden,  stets  Bacterien  enthalten  haben 
(nach  3  Stunden  bei  Fall  XXI,  nach  4  Stunden  bei  Fall  XVI, 
nach  5  Stunden  bei  Fall  XXU,  nach  6  Stunden  bei  Fall  XVII, 
XVIII,  XXVII).  Es  handelte  sich  liierl)ei  um  wechselnde  Mengen 
verschiedener  Sa[)rophyten,  deren  nähere  Identificirung  nur  zum 
Theile  vorgenommen,  in  den  Tabellen  aber  nie  vermerkt  worden 
ist,  weil  sie  mir  nebensächlich  zu  sein  schien.  In  der  weitaus 
grössten  Mehrzahl  der  Fälle  fand  sich  entweder  allein  oder  mit 
nicht  paihogenen  Keimen  vereinigt  der  Siaphylococcus  albus  vor; 
blos  bei  4  (14  pC't.)  von  den  29  Fällen  mit  positivem  Bacterien- 
befund  fehlte  er  (IV,  VIII,  Xlll,  XV).  Hei  denjenigen  Fällen  aber, 
bei  denen  das  Wundsecret  mehrmals  im  Verlaufe  der  Wundheilung 


lieber  Wundsecrot  und  Bacterien  bei  der  Heilung  per  primam.       337 

zur  Untersuchung  kam  (F,  XVI — XXXI),  wurde  er  durchwegs  ge- 
funden, allerdings  nicht  in  jeder  Secretprobe,  aber  wenigstens  in 
einer  solchen.  So  hat  sich  im  F.  XVI  lediglich  aus  dem  nach 
4  Stunden  abgenommenen  Secret  und  im  F.  XVIII  aus  dem  Secret 
nach  6  Stunden  eine  Colonie  von  Staphylococcus  albus  züchten 
lassen,  während  beim  F.  XXIX  erst  nach  7)  Stunden  sich  3  von 
den  4  aufgegangenen  Colonien  als  Staph.  alb.  herausstellten, 
während  in  diesen  Fällen  alle  übrigen  früher  oder  später  ent- 
nommenen Secretproben  keine  Staphylokokken  enthielten.  Gelbe 
Eiterstaphylokokken  konnten  nur  in  einem  einzigen  Falle  von  pri- 
märer Heilung  (F.  XXXI)  nachgewiesen  werden.  Hierbei  war  aber 
der  Verlauf  durch  eine,  wenn  auch  vorübergehende  entzündliche 
Schwellung  der  Wundränder  gestört,  nachdem  sicli  der  Kranke 
kurz  nach  der  Operation  den  Verband  zum  Theile  abgerissen  hatte. 
Streptokokken  wurden  nie  gefunden.  — 

Die  Anzahl  der  Keime  im  Secrete  war  inconstant,  sie  schwankte 
von  wenigen  bis  zu  mehreren  Tausenden  in  ^4  ccm. 

Bacterieide  Elgensehaften  des  Wundsecretes. 

a)    im  Eprouvettenversuche. 

Das  Wundsecret,  das  während  der  ersten  zwei  Tage  der  Wund- 
heilung entnommen  wurde,  hat  im  Eprouvetienversuche  entwicklungs- 
hemmende oder  bacterientödtende^  Eigenschaften  gezeigt.  Diese 
äusserten  sich  zunächst  iregenüber  den  im  Secrete  bereits  vor- 
handenen Keimen  (No.  1 — 23  der  Tabelle  II)  am  häufigsten  darin, 
dass  sich  bei  den  hierher  gehörigen  Versuchen  eine  erhebliche  Ver- 
mehrung der  Keime  in  den  ersten  Stunden  nach  der  Entnahme 
des  Secretes  nicht  nachweisen  liess,  wie  dies  in  besonders  deut- 
lieber  Weise  die  Versuche  No.  1,  3,  7,  9,  13,  17,  21  zeigen,  bei 
denen  während  dieser  Zeit  sich  überhaupt  eine  nennenswerthe 
A^eränderung  des  Keimgchalts  nicht  einstellte. 

Bei  8  anderen  Versuchen  dieser  Reihe  hat  die  Keimzahl  des 
Secretes  im  Brutofen  abgenommen  (No.  8,  10,  12,  14,  16,  19,  20, 
22),  mehrmals  sogar  recht  erheblich:  von  1800  in  8  Stunden  auf 
13  (No.  8),  von  700  in  11  Stunden  auf  20  (Xo.  12)  u.  s.  w. 
In  einem  einzigen  Versuche  (No.  2)  sind  sämmtliche  Keime  aus 
dem  Secrete  versehwunden;  nach  der  Entnahme  enthielt  es  3  Keime 
in  V4  ccm,  nach  4  Stunden  war  es  steril. 


338  Ür.  H.  .Schluffer, 

Gegenüber  künstlich  in  das  8ecret  eingebrachten  Staphylokokken 
(aus  Eiter  gezüchtet)  ergaben  die  Versuche  No.  24 — 43  ähnliche 
Resultate.  Auch  hier  fand  während  der  ersten  Stunden  fast  nie 
eine  erhebliche  Vermehrung  der  Keime  statt,  sondern  es  war  im 
Gegentheil  fast  durchwegs  (in  16  von  20 Versuchen)  eine  Verminderung 
derselben  zu  constatiren,  die  iji  einigen  Fällen  sogar  recht  erheblich 
war.  EineSelbststerilisirung  desSecretes  ist  hier  allerdings  nicht  beob- 
achtest worden,  wohl  deshalb,  weil  der  anfängliche  Keimgehalt  natur- 
gemäss  stets  ein  höherer  war,    als   bei  den  Versuchen  No.  1 — 23. 

Auch  bei  den  analogen  Versuchen  mit  Streptokokken  (No.  44 — 
52)  haben  sich  diese  öfters  im  Secrete  durch  mehrere  Stunden 
hindurch  nicht  vermehren  können  und  in  einzelnen  Versuchen  haben 
wir  auch  wieder  eine  V^erminderung  derselben  zu  verzeichen.  Doch 
war  diese  Verminderung  durchschnittlich  nicht  so  erheblich  wie  bei 
den  entsprechenden  Versuchen  mit  Staphylokokken. 

Bei  allen  Versuchen  der  Tabelle  11  war  die  Beobachtune:  zu 
machen,  dass,  wenn  das  Secret  durch  mehrere  Stunden  bactericide 
Eigenschaften  entwickelt  hatte,  ein  Zeitpunkt  eintrat,  in  dem  wieder 
eine  Vennehrung  und  zwar  oft  eine  sehr  abundante  Vermehrung 
der  Keime  stattfand.  Dieser  Zeitpunkt  ist  in  einzelnen  Fällen  erst 
in  der  21. — 28.  Stunde  nach  der  Entnahme  des  Secretes  einge- 
treten (No.  1,  3,  14  etc.),  in  anderen  Versuchen  schon  viel  früher. 
Es  crgiebt  eine  diesbezügliche  beiläufige  Zusammenfassung,  dass 
öfters  schon  nach  ca.  5  Stunden,  im  Durchschnitt  nach  10  Stunden, 
manchmal  auch  später,  die  bactericide  Kraft  des  Secretes  in  der 
Eprouvette  erlischt,  um  einer  unter  umständen  üppigen  Vermehrung 
der  Bacterien  Raum  zu  geben. 

b)  in  der  Wunde. 

Auch  das  Verhalten  der  Keimzahlen  in  den  verschiedenen  Secret- 
probon  eines  und  desselben  Falles,  die  im  Laufe  der  Wundheilung 
entnommen  wurden,  gestattet  einen  Schluss  auf  die  Entfaltung  bac- 
tericidcr  Kräfte  im  Wundsccretc.  Wenn  wir  nämlich  die  Tabelle  I, 
Fall  XVI—  XXXI  in  dieser  Hinsicht  prüfen,  so  fällt  auf,  dass  fast 
durchwegs  während  der  ersten  48  (seltener  bloss  während  der 
ersten  24)  Stunden  sich  nur  eine  verhält nissmässig  geringe  Zahl 
von  Keimen  im  Secret  nachweisen  Hess  und  dass  während  dieser 
Zeit    eine    erhebliche  Vermehrung    der  Keime    im  Secret    fast    nie 


üeber  Wundsecrot  und  Bacterien  bei  der  Heilung  per  primam.       339 

eintrat.  Es  hat  sich  vieiraehr  in  7  von  diesen  Fällen  eine  Ver- 
minderung des  Keimgehalts  im  Laufe  der  ersten  Tage  der  Wund- 
heilung eingestellt.  In  einem  dieser  Fälle  (F.  XXII)  konnten  sogar 
nach  einem  anfänglichen  Keimgehalte  von  250  (z.  Th.  Staphylo- 
kokken) nach  22  Stunden  nunmehr  39.  nach  46  Stunden  gar  keine 
Keime  mehr  nachgewiesen  werden. 

Zu  bemerken  ist  noch,  dass  in  einzelnen  Fällen,  in  denen 
zwar  die  Keimzahl  als  solche  nicht  abnahm,  doch  der  Gehalt  an 
Staphylokokken  geringer  wurde,  dass  also  bei  der  Abnahme  der 
Keimzahl  die  Staphylokokken  hiervon  in  erster  Linie  betroffen 
wurden  (F.  XVI,  XVIII,  XX— XXIE,  XXV,  XXIX). 

Identität    und    Pathogenität    der    weissen    Wund-Secret- 

Staphylococcen. 

Es  ist  natürlich  die  Frage  aufzuwerfen,  ob  die  im  Wundsecret 
gefundenen  Staphylococcen  wirklich  zu  der  Gruppe  der  pyogenen 
Staphylococcen  gehören  oder  nicht.  Auf  dem  Boden  der  Auffassung 
von  Kocher  und  TaveP)  über  diesen  Gegenstand  muss  ich  diese 
Fi-age  unbedingt  bejahen  und  zwar  aus  folgenden  Gründen: 

Es  wurden  die  gefundenen  Staphylococcen  fast  durchwegs 
einer  genauen  Prüfung  unterzogen,  die  darin  bestand,  dass  die 
Färbbarkeit  nach  Gram,  das  Wachsthum  auf  Gelatine,  in  Milch, 
auf  Agar,  in  Fleischbinihe,  manchmal  Züchtung  unter  Sauerstoff- 
Abschluss  und  häufig  auch  die  Virulenz  im  Thierexperimente  unter- 
sucht wurde.  Nur  in  vereinzelten  Fällen  wurde  nebst  dem  Wachs- 
thum auf  Agar  nur  noch  das  Deckglaspräparat  zur  Diagnose 
herangezogen.  Was  das  letztere  betrifft,  so  ist  zu  bemerken,  dass 
sämmtliche  als  Staphylococcen  agnoscirte  Culturen  im  Deckglas- 
präparat, genau  so,  wie  das  bei  allen  aus  Eiterungen  gewonnenen 
Staphylococcenculturen  der  Fall  ist,  bei  aller  Unregelmässigkeit  der 
Anordnung  in  Gruppen  und  Häufchen,  in  einer  Hinsicht  doch  eine 
gewisse  Regelmässigkeit  aufwiesen:  in  dünner  Schicht  legen  sie 
sich  nämlich  nicht  in  Klumpen,  sondern  flächenhaft  nebeneinander 
und  die  einzelnen  Individuen  gruppiren  sich  wenigstens  stellenweise 
so,  wie  etwa  die  Zellen  einer  Honigwabe. 


')  Vorlesungen  über  Chirurg.  Infectionskrankheiten  Basel  und  Leipzig  1895. 

Arebiv  für  klio.  Chirurgie.  57.  Bd.  Heft  2.  23 


340  Dr,  H.  Schloffer, 

Alle  Culturen  färbten  sich  nach  Gram.  Die  Milch  gerann, 
allerdings  oft  erst  nach  8  Tagen  und  später;  die  Gelatine  wurde 
meist  verflüssigt,  selten  geschah  dies  schon  in  den  ersten  Tagen, 
meist  später,  bei  einzelnen  Culturen.  begann  die  Verflüssigung 
sogar  erst  zu  Ende  der  ersten  Woche,  nur  wenige  Culturen  ver- 
flüssigten nicht.  Es  dürfte  sich  dabei  um  eine  Abart,  den  Staphy- 
lococcus  cereus  albus  handeln.  So  oft  Anaerobiose  versucht  wurde, 
gelang  sie.  —  Wachsthum  auf  Agar  und  Fleischbrühe  war  typisch. 
Agarculturen  zeigten  den  bekannten  säuerlichen  Geruch. 

Da  der  Nachweis  der  Virulenz  der  Staphylococcen,  namentlich 
der  schwach  virulenten  Culturen  bekanntlich  im  Thier\'ersuche  oft 
ausserordentlich  schwer  gelingt  und  ich  ausserdem  zu  Beginn  meiner 
Untersuchungen  nach  Injection  von  kleinen  Mengen  Fleischbrüh- 
culturen  mehrere  Misserfolge  zu  verzeichnen  hatte,  bin  ich  bald 
zur  Verwendung  grösserer  Culturmengen  übergegangen  und  habe 
hierbei  thatsächlich  in  einem  Theil  der  29  Versuche  Eiterung  er- 
regt, in  einem  anderen  Theile  kam  es  entweder  zu  keiner  Reaction, 
oder  nur  zu  vorübergehendem,  entzündlichem  Oedem.  Die  beob- 
achteten Eiterungen  (8  an  der  Zahl),  die  zum  Theile  wohl  eine 
Folge  der  verschiedenen  Versuche  zur  Verstärkung  der  Virulenz 
darstellen,  hatten  allerdings  nie  einen  progredienten  Character. 

Nach  Injection  von  mehreren  ccm.  Fleischbrühcultur  kam  es 
bei  7  Kaninchen  meist  in  3 — 4  Tagen  zu  ganz  kleinen  oft  gerade 
stecknadelkopfgrossen  Abscessen,  die  manchmal  erst  nach  genauer 
Untersuchung  des  Ohres,  namentlich  in  der  Umgebung  der  Injections- 
stelle  gefunden  werden  konnten.  Bei  der  geringen  Empfänglichkeit 
des  Kaninchens  für  Staphylococcen  konnte  dieses  Ergebniss  nicht 
Wunder  nehmen.  Dafür  ist  es  aber  bei  einem  Hunde  nach  Injection 
von  15  ccm.  gelungen,  einen  grossen,  subcutanen  Abscess  von  ca. 
50  ccm.  eitrigem  Inhalt  zu  erzielen,  der  am  sechsten  Tage  eröffnet 
den  Staphylococcus  albus  in  Reinculturen  aufwies. 

Aber  auch  ohne  diese  Thierversuche  scheint  mir  die  Patho- 
genität des  Wundsecretstaphylococcus  durch  einige  Beobachtungen 
am  Menschen  erwiesen  zu  sein,  auf  die  später  noch  zurück- 
gekommen werden  soll.  Aber  hier  sei  »och  hinzugefügt,  dass  es 
mir  nicht  ohne  Interesse  schien,  auch  eine  Reihe  von  weissen 
Staphylococcen,  wie  sie  aus  der  desinficirten  Haut  gezüchtet  werden 
konnten,    culturell  und  auf  ihre  Thier-Pathogenität  hin  zu   prüfen. 


Ueber  Wundsecret  und  Bacterien  bei  der  Heilung  per  primam.       341 

Wie  die  beigegebene  Tabelle  IV  zeigt,  sind  die  Resultate  ganz 
conform  jenen,  welche  wir  bei  den  Wundsecret-Staphylococcen  zu 
verzeichnen  hatten. 

Vergleicht  man  diese  Ergebnisse  meiner  Versuche  mit  den 
früher  besprochenen  anderer  Autoren,  so  ist  zunächst  eine  Ueber- 
einstimmung  insofern  festzustellen,  als  auch  ich  in  der  über- 
wiegenden Mehrzahl  der  Fälle  Bakterien  in  per  primam  heilenden 
Wunden  vorgefunden  habe,  und  dass  unter  diesen  Bakterien  der 
Staphylococcus  albus  die  erste  Stelle  einnahm.  Eine  Differenz  hat 
sich  aber  insofern,  w-enigstens  gegenüber  einzelnen  Untersuchern, 
bemerkbar  gemacht,  als  ich  namentlich  bei  den  Fällen  mit  mehr- 
maliger Secretuntersuchung  im  Verlaufe  der  Heilung  nur  ausser- 
ordentlich selten  (3  mal)  steriles  Secret  beobachten  konnte.  Es 
scheint  mir  dieser  Umstand  aber  dadurch  erklärt,  dass  ich  bei 
meinen  Untersuchungen  stets  eine  ziemlich  grosse  Menge  vom 
Secret  verimpft  habe  (^/4  com),  was  vordem  nie  geschehen  ist, 
und  dass  ich  auch  bei  der  Entnahme  des  Secretes  in  den  Fällen, 
bei  denen  das  Secret  aus  dem  Drainrohr  stammte  (I — XV),  mich 
bemühte,  jedesmal  eine  möglichst  grosse  Menge  von  Secret  auf  die 
Platte  zu  bringen. 

Auch  der  häufige  Befund  von  Staphylococcen  steht  im  Ein- 
klang mit  den  einschlägigen  Untersuchungen  Anderer,  wenngleich 
auch  hier  in  Bezug  auf  die  Häufigkeit  seines  Vorkommens  kleine 
Abweichungen  bestehen.  Aber  auch  dafür  mag  wieder  der  ge- 
änderte Modus  der  Untersuchungsmethoden,  namentlich  bei  den 
Fällen  XVI — XXXI  herangezogen  werden,  denn  es  ist  klar,  dass 
in  denjenigen  Fällen,  wo  nur  in  einer  Secn^tprobe  einer  oder  wenige 
Staphylococcen  nachgewiesen  werden  konnten,  diese  der  Beobach- 
tung entgangen  wären,  falls  ich,  wie  dies  von  anderer  Seite  ge- 
schehen ist,  geringere  Secretmengen  zur  Verimpfung  gebracht  hätte; 
und  es  ist  deshalb  sehr  die  Frage,  ob  wir  nicht  bei  Verwendung 
noch  grösserer  Mengen  des  Wundsocretes  zum  Plattenguss  wenigstens 
einzelne  Keime  in  jeder  Probe  fänden,  und  ob  dann  nicht  der 
Staphylococcus  albus  als  eine  beständige  Verunreinigung  der 
Wunden  gefunden  werden  würde.  Ich  möchte  hier  auch  noch  hin- 
weisen auf  eine  Trennung  in  den  verschiedenen  Arten  der  Wund- 
secret-Staphylococcen, die  Tavel  s.  o.  vorgenommen  hat,  und  welche 
ich  unterlassen  habe.    Tavel  verbucht  beispielsweise  den  Staphylo- 

23* 


342  Dr.  H.  Schloffer, 

cocciis  cereus  albus  in  seinen  Tabellen  speciell  als  Coccus  epiderm. 
albus  non  liqucfaciens;  wenn  man  aber  in  Betracht  zieht,  dass 
Tavel  selbst  auch  diesen  Coccus  Eiterung  hervorbringen  sah  und 
er  ihm  sonach  die  Pathogenität  nicht  abspricht,  so  scheint  mir 
eine  solche  Trennung  für  die  Präcision  der  Versuchsergebnisse  nicht 
unbedingt  riothwendig  zu  sein. 

Prüfungen  über  die  Baktericidität  des  Wundsecretes  sind  vor- 
dem nicht  angestellt  worden.  Es  hat  im  Gegentheil  Stäheli  die 
Meinung  verfochten,  dass  sich  nicht  nur  im  stagnirenden,  sondern 
im  Wundsecrete  überhaupt  die  Bakterien  aufs  Beste  vermehren 
können.  Dass  diese  Meinung  eine  irrige  ist  und  dass  wenigstens 
für  die  ersten  Tage  der  Wundheilung  das  Wnndsecret  keineswegs 
als  ein  guter  Nährboden  für  die  Bakterien  angesehen  werden  kann, 
ist  nach  meinen  Untersuchungen  nicht  zu  bezweifeln. 

Es  erübrigt  nun  noch  der  Frage  nachzugehen,  ob  und  unter 
welchen  Umständen  der  Wnndsecret  -  Staphylococcus  für  den 
•  Menschen  pathogen  werden  kann  und  die  Ursachen  zu  prüfen, 
warum  trotz  der  fast  constanten  Anwesenheit  von  Staphylococcen 
in  der  Wunde  eine  primäre  Heilung  eintritt.  Es  hat  darüber  schon 
zur  Zeit  des  Lister'schen  Verfahrens  Büchner^)  sich  dahin  ge- 
äussert, dass  es  ausreiche,  wenn  die  Antiseptik  die  Lebensthätigkeit 
der  in  der  Wunde  vorhandenen  Pilze  herabsetze,  wenn  sie  dieselben 
auch  nicht  tödte,  und  auch  Bloch  hat  bei  der  Beantwortung  der- 
selb(»n  Frage  die  Möglichkeit  verfochten,  dass  die  Antiseptik  eine 
AI)S(*hwächung  der  Virulenz  der  im  Secrete  vorhandenen  Staphylo- 
co(»cen  hervorrufe.  Ich  glaube  dieser  Auffassung  entgegen  treten 
zu  müssen,  denn  es  hat  sich  gezeigt,  dass  bei  aseptisch,  nicht 
antiseptisch  bebandelten  Wunden,  bei  denen  die  Anzahl  der  Staphylo- 
coc(*en  im  Secret  keineswegs  abnimmt,  die  Virulenz  derselben 
(loch  ebenso  wie  bei  antiseptischer  Behandhing  eine  so  geringe  ist, 
dass  fast  ausnahmslos  Heilung  per  primam  eintritt. 

x\ber  auch  noch  ein  anderer  Umstand  spricht  gegen  die  er- 
wähnte Auffassung.  Es  kann  nämlich  heute  kaum  mehr  einem 
Zweifel  unterliegen,  dass  die  in  der  Wunde  befindlichen  Staphylo- 
coccen   zum    grössten  Theil    der  Haut    des  Kranken    entstammen. 


*)  Ueber  die  Theorie  der  antiseptischen  Wundbehandlung.    Deutsche  Zeit- 
schrift für  Chirurgie.    Bd.  10,  S.  91. 


Üeber  Wundsecret  nnd  Bacterien  bei  der  Heilung  per  primam.       343 

Aber  eben  diese  Staphylococcen  der  Haut  haben  ja  bekanntlich, 
soweit  man  das  am  Thierversuche  contoUiren  kann,  gleichfalls  eine 
sehr  geringe  Virulenz,  gewiss  keine  grössere  als  die  Wundsecret- 
Staphylococcen.  Es  entfällt  somit  die  Nothwendigkeit,  die  geringe 
Virulenz  der  Wundsecrct-Staphylococcen  durch  eine  künstliche  Ab- 
Schwächung  derselben  zu  erklären. 

Dass  aber  auch  diese  schwach  virulenten  Coccen  gelegentlich 
Störungen  der  Wundheilung  hervorrufen  können,  erhellt  zunäclist 
aus  denjenigen  Beobachtungen,  in  denen  durch  Vermittlung  solcher 
Coccen  verhältnissmässig  gutartige,  nicht  progrediente  Eiterungen 
zustande  kommen,  und  es  sind  hier  namentlich  jene  Fälle  von 
Interesse,  bei  denen  zuerst  die  Bakterienuntersuchung  des  Wund- 
secretes  Staphylococcus  albus  erweisen  konnte  und  bei  denen  sich 
später  derselbe  Coccus  als  die  Ursache  der  gestörten  Wundheilung 
herausstellte.  Ich  verweise  hier  namentlich  auf  den  Fall  II,  bei 
welchem  das  Wundsecret  am  3.  Tage  Staphylococcen  enthielt  und 
bei  dem  gegen  das  Ende  der  Wundheilung  ein  subcutaner  Abscess 
in  der  Umgebung  von  versenkten  Nähten  sich  einstellte,  aus 
welchem  sich  wieder  der  Staphylococcus  albus  rein  züchten  Hess. 
Es  scheint  mir  durch  diesen  Fall  mit  Sicherheit  der  Beweis  er- 
bracht, dass  durch  den  im  Wundsecret  vorkommenden  Staphylo- 
coccus albus  jene  an  sich  nicht  seltenen  Abscesse  bedingt  werden 
können,  die  wir  mit  dem  Namen  Nahtabscesse  zu  bezeichnen 
pflegen  und  aus  denen  sich  oft  der  Staphylococcus  albus  rein 
züchten  lässt.  Selbverständlich  bleiben  hieboi  jene  Fälle  ausser 
Frage,  bei  denen  es  sich  um  inficirtes  Nahtmatcrial  gehandelt  hat. 

Eine  andere  Art  der  Störung  in  der  Wundheilung,  bedingt 
durch  den  Wundsecret-Staphylococcus,  repräsentirt  der  Fall  XXUl. 
In  ähnlicher  Weise,  wie  bei  manchen  anderen  Fällen,  welche  tadel- 
lose Prima  aufwiesen,  fand  sich  hier  nach  22  Stunden  eine  geringe 
Zahl  (7)  Staphylococcen,  nach  46  Stunden  700  und  nach  70  Stunden 
mehrere  1000  Staphylococcen  vor.  Während  dieser  Zeit  war  auch 
die  Prima  vom  klinischen  Standpunkte  aus  nicht  gestört.  Am 
4.  Tage  trat  aber  Fieber  bis  38,8  auf  und  als  Ursache  dieses 
Fiebers  fand  sich  eine  Secretretention  in  einer  Nische  der  nach 
der  Ausräumung  der  Achselhöhle  zurückgebliebenen  Wunde.  In 
diesem  retinirten  Secret  liess  sich  nun  abermals  Staphylococcus 
albus  in  Reinkulturen    nachweisen.     Nach    endgültiger    Entleeiung 


.^44  Dr.  IL  Schloffer,  Teber  Wundsocret  und  Bacterien  etc. 

des  eitrigen  Secretes  s:\m  die  Temi)eratur  zur  Nomi  zurück,  die 
Wundflächen  verklebten  bald  und  die  Heilungsdauer  war  eigentlich 
nicht  verzögert. 

Es  lässt  sich  dieser  Fall  nur  so  erklären,  dass  das  dui'ch 
mechanische  Einflüsse  retinirtc  Secret  im  Laufe  der  Zeit  genau  so 
wie  im  Eprouvetten  Versuche  seine  baktericiden  Eigenschaften 
verlor,  dass  dann  eine  erhebliche  Vermehrung  der  Staphyloeoccen 
Platz  greifen  konnte,  und  dass  nun  diese  vermehrten  Staphylo- 
eoccen im  retinirten  Secrete  auch  für  den  Menschen  pathogene 
Eigenschaften  entwickelten,  insofern  als  eine  eitrige  Trübung  des 
Wundsecretes  und  Fieber  eintrat. 

Dies  führt  uns  aber  wiederum  auf  den  richtigen  Weg  bei  der 
Beantwortung  der  Frage,  warum  de  norma  der  Staphylococcus  albus 
für  imseiv  0|>erationswunden  bedeutungslos  bleibt.  Zum  Theil  ja 
irewiss  deshalb,  weil  er  weniir  \irulent  ist,  dann  aber  auch,  weil 
die  baktericiden  Eiirenschaften  des  Wundsecretes  seiner  V  ermeh- 
runs:  im  Weiie  stehen  und  schlies>lich,  weil  in  <ler  Resel  Ver- 
hälniis>e,  wie  sie  im  Ejirouvetten-Versuche  und  in  den  eben  ge- 
schilderten Fällen  eintraten,  bei  Operati« »n>wunden  nicht  Platz 
ereilen.  Natürlicherweise  lä^^l  es  >ich  nit-ht  in  Abreile  stellen, 
dass  bei  dem  Zustandekommen  der  primären  Heilung  auch  noch 
an«l»^v*  Vuriräi.ge  eine  w»'se!i» liehe  Rolle  >pielen.  Jedenfalls  aber 
>i!>l  di»'  ^«  hwache  Viru'.-riZ  der  \Vunds«'cnn  -  Staphylokokken 
ur.d  die  kräf'L'cn  lMkteriv*i«lrn  Eii:»'!>'hafi«*n  des  Seore!«^> 
iiegen  dievibon  zwei  wi'.h'icre  Fak''>n'!i,  «r>  hier  in  Betracht  zu 
zi«'hc!\  >iLd. 

E>  Ivi^i  uns  «ii»  >e  Erk*-  :.i'.i<s  ab»r  a*;oh  zu  der  prakti>t^h 
l;.*:£si  *  ■•ka!.r.:»-!:  ¥■  !^'er.:ri:  h:*:,  da^s  wir  für  einen  mT>£:lichst 
frvi'-n  All?"is>  der  ^^•.:!- '^e  '»•'►'  S-ri:»'  /•.:  iraj»!!  lial-vn,  und  dass 
\er<e*kte  Näh:c  au  h  l -i  :'!»a!>*-r  a>'p':<-h«LT  Iv -^ar  dbir.e  d«^^h 
u'*.*cr  r»i.^';\!  «l»  ■.  d'»-  l  r^.i  i.v  fr.  W'-rr.  a*  '\  ::»"■■'•  ^■''~i:'^»\  Si'~niri:»*n 
d'T  W-.:«:.:'  -  ■'  •» ü  u?  _■  •    *    k~"  *  ■    . 


XIV. 

Locale  Analgesie  bei  Operationen'). 


Von 

Dr.  Hackenbmch 

in  Wiesbaden. 


M.  H.!  Die  von  Gurlt  mit  recht  dankenswerthera  Aufwand 
von  Zeit  und  Mühe  so  energisch  durchgeführte  Narkosenstatistik 
hat  wohl  nicht  wenig  dazu  beigetragen,  dass  man  sich  von  vielen 
Seiten  zu  dem  Streben  einigte,  die  allgemeine  Narkose  in  dazu 
geeigneten  Fällen  durch  die  locale  Analgesie  zu  ersetzen.  Ich 
gebrauche  absichtlich  den  Ausdruck  locale  Analgesie  d.  h.  ört- 
liche Schmerzlosigkeit  und  sage  nicht  Joeale  Anaesthesie  d.  h. 
örtliche  ünempfindlichkeit,  weil  ja  bekanntlich  bei  den  Operationen 
unter  örtlicher  Schmerzlosigkcit  die  tactile  Empfindung,  die  Wahr- 
nehmung der  Berührung  mehr  oder  weniger  erhalten  bleibt  und 
nicht  völlig  verloren  geht.  In  dieser  Anschauung  können  wir 
Szumann  (1888)  völlig  Recht  geben  in  der  Behauptung,  dass 
das  Wort  „Anaesthesie"  bei  der  örtlich  schmerzlosen  Operation 
„zu  viel  bedeute,"  da  ja  die  Anaesthesie  nur  in  der  allgemeinen 
Narkose  mit  Aufhebung  des  Bewusstseins  zu  Stande  kommt, 
während  die  unter  localer  Analgesie  operirten  Kranken  stets  dessen 
bewusst  sind  und  fühlen,  dass  an  ihrem  Körper  etwas  gemacht  wird. 

Da  ich  Ihre  Aufmerksamkeit  nicht  zu  lange  in  Anspruch 
nehmen  darf  und  auch  die  Zeit  zu  kostbar  ist,  möchte  ich,  ohne 
deshalb  der  grossen  Verdienste  um  die  locale  Analgesie,  an  welche 


0  Auszugsweise  vorgetragen    am  1.  Sitzungstage    des   XXVII.  Congresses 
der  Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin  ain  13.  April  1898. 


346  Dr.  IlackenbruQivi 

sich  ihnen  wohl  bekannte  Namen  knüpfen,  uneingedenk  zu  sein, 
gleich  zur  Sache  selbst  schreiten. 

Nur  gestatten  Sie  mir  zu  bemerken,  dass  ich,  als  ich  im 
Juli  1893  meine  erste  local  analgische  Operation,  welche  einen 
l^rcmdkörperabscess  am  linken  Daumenballen  eines  21jährigen 
Schrein  ergeh  Ulfen  betraf,  ausführte,  leider  nur  äusserst  dürftige 
Kenntnisse  über  die  subcutane  Cocainapplication  besass.  Ich  wusste 
aus  der  Zeit  der  pharmakologischen  Vorlesungen  seitens  des  Herrn 
Geheimrath  Binz  in  Bonn  nur,  dass  das  salzsaure  Cocain  um  einen 
blossgelegten,  sensiblen  Nervenstamm  am  Thiere  gewickelt,  im 
Stande  sei,  in  dem  Endbezirke  dieses  Nerven  Aufhebung  des 
Sclimerzgefühls  zu  bewirken  und  dass  die  Maximaldosis  für  Cocain 
0,05  beträgt. 

x\ls  weiteres  Ilülfsmittel  zur  Erzeugung  localer  Analgesie 
kannte  ich  von  meiner  Assistentenzeit  an  der  Bonner  chirurgischen 
Klinik  her,  welche  zu  dieser  Zeit  unter  Leitung  meines  hochver- 
ehrten Lehrers  Herrn  iJeheimrath  Trcndelenburg  stand,  ausser 
dem  Richardson'schen  Spray  noch  das  Aethylchlorid. 

Da  nun  der  ängstliche  Kranke  mit  dem  Abscess  am  linken 
Daumenballen  sich  nicht  narkotisiren  lassen  wollte  und  mir  die 
alleinige  Verwendung  des  Aethylchlorids  in  diesem  Falle  nicht 
ausreichend  zur  Erzeugung  einer  genügenden  Schmerzlosigkeit  er- 
seliien,  so  besehloss  ich  in  Erinnerung  des  eben  erwähnten  Thier- 
experimentes  und  im  Hinblick  auf  die  Unmöglichkeit,  die  Cocain- 
lösunp  in  die  gerötheten  und  gespannten,  selbst  für  leisen  Druck 
sehr  empfindliehen  Hautdecken  einzuspritzen,  ohne  heftige  Sehmerzen 
hervorzurufen,  die  analgesirende  Flüssigkeit  rinirs  herum  um  den 
Absoess  im  gesunden  Gewel>e  zu  injiciren,  um  möglichst  alle 
Ner\enästehen,  welche  mit  dem  Entzündungsherd  in  schraerzleitender 
Beziehung:  standen,  mit  dem  Cocain  in  Contact  zu  bringen,  nach- 
dem  behufs  hessentMi  Sehens  zur  Blutahspernmg  eine  Nioai*se'sche 
Binde  am  Oberaiin  des  Patienten  angel»^gt  worden  war.  Nach 
oiroulärer  subcutaner  Cocaininjection  um  den  Abscess  in  rauten- 
(t^rmiger  Zeichnung  mit  zwei  Einstichpimkten  für  die  Nadel  sowie 
nach  Aufstäubunsi;  de^  Aethvlchlorids  in  der  Richtuns:  der  be- 
absiohtiirten  Inoision,  hatte  ich  das  Glück  und  die  grosse  Freude, 
die  Spaltung  des  Abs'-esso  >tnvie  die  Extraoti«^n  des  denselben 
verursachenden    Hol/^pli:le^s    s«^    schmerzlos    verlaufen    zu    sehen« 


Locate  Analgesie  bei  Operationen.  347 

wie  ich  dies  früher  nur  bei  Verwendung  der  allgemeinen  Narkose 
zu  sehen  gewohnt  war;  der  erreichte  Grad  absoluter  Analgesie 
bei  dieser  Operation  war  für  mich  die  treibende  Veranlassung,  in 
diesem  Sinne  der  localen  Analgesie  weitere  Versuche  zu  machen, 
während  gleichzeitig  die  Art  und  Weise  der  Cocainapplication  mir 
zum  Muster  späterer  local  analgischer  Operationen  wurde. 

Die  ein  Jahr  später  im  Centralblatt  für  Chirurgie  1894  er- 
folgte Veröffentlichung  von  Krogius  bestärkte  mich  nur  noch 
mehr,  auf  diesem  von  mir  unabhängig  und  mit  grossem  Glück  be- 
tretenen Wege  der  Cocainapplication  weiter  zu  schreiten,  ohne 
meine  auf  demselben  Princip  beruhende  Technik  zu  Gunsten  der 
von  Krogius  beschriebenen  zu  ändern. 

Als  ich  im  Winter  1896  zwecks  Niederlegung  meiner  persön- 
lichen Erfahrungen  über  die  Cocainanalgesie  die  mir  zugängliche 
Literatur  studirte,  fand  ich,  dass  auch  schon  Oberst  einer  Ver- 
öffentlichung von  Pernice  zufolge  in  gleicherweise  wie  Krogius 
an  Fingern  und  Zelien  local  analgisch  operirt  hatte.  Dass  diese  Arbeit 
von  Pernice,  welche  im  Jahre  1890  in  der  Deutschen  medicinischcn 
Wochenschrift  erschienen  war,  so  wenig  bekannt  geworden  ist,  dürfte 
wohl  darin  einige  Erklärung  finden,  dass  im  gleichen  Jahre  die  Ver- 
öffentlichung von  Robert  Koch  über  ein  neues  Heilmittel  der  Tuber- 
culose  erschien,  wodurch  für  die  nächste  Zeit  die  ganze  medicinische 
Welt  in  hoher  Spannung  gehalten  wurde.  Auch  die  von  Schleich 
erfundene  Methode  der  localen  Analgesie  wurde  mir  in  ihren  Details 
erst  genauer  bekannt  im  Winter  1896.  Da  ich  über  die  Schleich'sche 
Pressionsinfiltration  —  w'enn  ich  dieselbe  zum  Unterschiede  gegen  die 
Reclus'sche  Infiltration  so  nennen  darf  —  keine  ausreichende 
persönliche  Erfahrung  besitze,  so  möchte  ich  die  Besprechung 
dieser  Analgesirungsmethode  einem  hierzu  mehr  berechtigteren 
Ilerni  einräumen,  während  ich  die  von  Reclus  zuerst  in  einer 
grösseren  Monographie  „La  cocaine  en  Chirurgie"  beschriebene 
Art  der  Cocainapplication,  welche  in  einer  successive  erfolgenden 
Durchtränkung  resp.  Infiltration  der  einzelnen  Gewebsschichten  mit 
einer  1%  Cocainlösung  vor  ihrem  Durchschneiden  ohne  wesentliche 
Veränderung  der  anatomischen  Fügung  der  Gewebe  besteht,  als 
bekannt  voraussetze. 

Einige  Berechtigung  für  den  in  meiner  erwähnten  kleinen  Mono- 
graphie gebrauchten  Ausdruck  der  „circulären  Analgesirung"  glaubte 


348  Dr.  Hackenbruch, 

ich  in  der  Klarheit  dieses  Begriffes  sowie  in  der  Möglichkeit  der  Ver- 
allgemeinerung dieser  Art  und  Weise  der  Cocainisirung  zu  finden, 
zu  welcher  das  vorher  erwähnte  Thierexperiment  sowie  die  anato- 
mischen Verhältnisse  meiner  ersten,  zulällig  glücklich  gelungenen, 
local  analgischen  Operation  mich  zwangen.  Da  nun  nichts  entgegen- 
steht, einen  Abscess  auch  als  Tumor  zu  betrachten,  den  man  in 
toto  zu  exstirpiren  gedenkt,  so  musste  auch  für  die  Exstirpation 
der  für  gewöhnlich  vorkommenden  kleinen  Geschwülste  die  gleiche 
Anwendungsweise  des  Cocains  zweckmässig  erscheinen.  Betrachtet 
man  nun  Abscess  und  Tumor  mehr  von  dem  Gesichtspunkte  ihres 
Hervortretens  aus  der  Körperoberfläche  und  denkt  man  sich  ins- 
besondere den  Tumor  mehr  oder  weniger  kegelförmig  in  die  Höhe 
gewachsen,  so  gelangt  man  logischer  Weise  zu  der  Vorstellung, 
dass  die  gleiche  Weise  der  Cocainisirung  auch  bei  Operationen  an 
Fingern  und  Zehen,  sowie  am  Penis  mit  grossem  Vortheil  in  An- 
wendung gezogen  werden  kann.  Dieser  einfache  Gedankengang 
war  in  der  Folge  auch  die  Veranlassung,  bei  den  so  häufig  vor- 
kommenden Operationen  an  Fingern  die  Cocainlösung  circulär  dicht 
oberhalb  der  Operationszone  zu  injiciren  und  zwar  ebenfalls  von 
zwei  diametral  sich  gegenüberliegenden  Einstichstellen  aus.  Da 
nun  sowohl  für  die  local  analgische  Operation  des  mehr  oder 
weniger  acuten  umschriebenen  Abscesses,  als  auch  für  die  Exstirpa- 
tion der  kleineren  Tumoren  und  ferner  für  die  operativen  Eingriffe 
an  Fingern  und  Zehen  die  Analgesirungsflüssigkeit  circulär  injicirt 
wurde,  so  hielt  ich  die  Bezeichnung  „circuläre  Analgesirung"  für 
nicht  unpassend. 

Ehe  wir  nun  zur  Beschreibung  der  von  uns  geübten  und  viel- 
fach erprobten  Methode  der  „circulären  Analgesirung''  —  wenn  sie 
jetzt  so  genannt  werden  darf  —  übergehen,  scheint  es  angebracht 
zu  sein,  auf  einige  zur  Erzielung  einer  ausreichenden  localen 
Analgesie  nöthige  Vorbedingungen  unser  Augenmerk  zu  richten. 
Von  zahlreicher  Seite  wird  mit  Recht  besonders  darauf  aufmerksam 
gemacht,  dass  man  sich  zur  Erzeugung  örtlicher  Schmerzlosigkeit 
nur  frisch  zubereiteter  Cocainlösungen  bedienen  solle,  da  sich  das 
Cocain  in  Lösung  bald  zersetzt  und  dann  zur  Hervorrufung  localer 
Analgesie  untauglich  wird.  Zur  bequemeren  Herstellung  der  von 
mir  benutzten  und  empfohlenen  Cocain-Eucainlösung  habe  ich  beide 
Substanzen  zu  je  0,05  in  Tablcttenform  ohne  jedwedes  Bindemittel 


Locale  Analgesie  bei  Operationen.  349 

zusammenpressen  lassen.  Eine  solche  Cocain-Eucain-Tablette  wird 
in  einem  sauberen,  weithalsigen  Fläschchen  mit  10  gv  destillirten 
Wassers,  was  kurz  vorher  in  einem  Reagensgläschen  aufgekocht 
wurde,  übergössen  und  nach  Verschluss  des  Fläschchens  unter 
Schütteln  schnell  zur  Lösung  gebracht,  wodurch  man  eine  ^'3  proc. 
Cocain-Eucainlösung  erhält.  Zuweilen  habe  ich  auch  bei  Exstirpa- 
tion  grösserer  Geschwülste,  bei  der  Trendelenburg'schen  Varicen- 
Operation,  wenn  es  sich  dabei  um  Unterbindung  nicht  entzündlich 
gereizter  Venenstücke  handelte  und  ferner  bei  mehreren  Radical- 
operationen  von  Eingeweidebrüchen  eine  nur  V4  proc.  Cocain-Eucain- 
lösung —  also  eine  Cocain-Eucain-Tablette  in  20  g  Wasser  gelöst 
—  mit  grossem  Vortheil  in  Anwendung  gebracht,  indem  ich  dabei 
der  von  Tito  Costa  vorgeschlagenen  Neuerung  folgte,  die  Cocain- 
lösung  recht  warm  zu  injiciren,  da  dadurch  die  Analgesie  sehr 
viel  schneller  und  relativ  ergiebiger  eintritt.  Zu  diesem  Zwecke 
habe  ich  die  friscli  zubereitete  noch  warme  Cocain-Eucainlösung 
in  ein  Gefäss  mit  heissem  Wasser  gestellt. 

An  dieser  Stelle  möge  auch  noch  die  Frage  erledigt  werden, 
warum  ich  zur  localen  Analgesie  eine  Combination  von  Cocain 
und  Eucain  verwende.  Nachdem  mir  vor  gut  2  Jahren  (im 
Februar  1896)  von  der  Direction  der  chemischen  Fabrik  (vorm. 
E.  Schering)  ein  Versuchsquantura  Eucain,  welches  Mittel  auf  Grund 
vieler  Untersuchungen  weniger  toxisch  wirkt  als  Cocain,  zur  Ver- 
fügung gestellt  worden  war,  benutzte  ich  dieses  Eucain  in  2  und 
5  proc.  Lösung  beziehentlich  der  erreichten  Analgesie  mit  ziemlich 
befriedigendem  Erfolge;  jedoch  klagten  die  betreffenden  Kranken 
aUe  mehr  oder  weniger  über  einen  brennenden  Schmerz  bei  der 
Injection  selbst.  Um  nun  einerseits  dem  Eucain  das  Hervorrufen 
einer  brennenden  Empfindung  bei  der  Einspritzung  zu  nehmen  und 
andrerseits  die  Lösung  selber  weniger  toxisch  bei  gleicher  Analge- 
sirungskraft  zu  gestalten,  combinirte  ich  beide  Mittel  zu  gleichen 
Theilen  und  war  mit  dieser  combinirten  Cocain-Eucainlösung  so- 
wohl beziehentlich  der  Empfindung  bei  der  Einspritzung  als  auch 
der  erzeugten  Analgesie  zufrieden.  Da  nun  das  Eucain  in  der  be- 
nutzten V2  resp.  V4  proc.  Lösung  beider  Mittel  in  solcher  Ver- 
dünnung gar  nicht  zu  fürchten  ist,  so  kann  es  bei  Berechnung 
der  injicirten  Menge  der  Analgesirungsflüssigseit  in  Bezug  auf  seine 
toxische  Wirkung  kaum  in  Betracht  kommen. 


350  Dr.  Hackenbruch, 

Dass  zur  Erzielung  einer  ausreichenden  Analgesie  auch  die 
zu  verwendende  Su beutanspritze  eine  bedeutende  Rolle  spielt, 
leuchtet  von  selbst  ein.  .  Während  ich  mich  früher  bei  den  Injec- 
tionen  einer  gewöhnlichen  Pravaz'schen  Spritze  bediente,  zu  der 
nöthigenfalls  mehr  oder  weniger  gekrümmte,  selbst  bajonettförraig 
gestaltete  Hohlnadeln  gebraucht  wurden,  benütze  ich  seit  Sommer  1896 
ausschliesslich  eine  Spritze,  deren  Abflusszapfen  schräg  abgebogen 
ist,  w^ährend  gleichzeitig  durch  einen  Bajonettverschluss  am  Nadel- 
kopf resp.  Ausflusszapfen  die  Injectionsnadel  fest  angepresst  wird. 

Was  nun  zuerst  die  Vorbereitung  zu  einer  Operation 
unter  localer  Analgesie  durch  Cocain  im  allgemeinen  seitens  des 
Patienten  selbst  anbelangt,  so  ist  es  im  Gegensatze  zu  einem  im 
allgemeiner  Narkose  stattfindenden  chirurgischem  Eingrifl'e  unbe- 
dingt nöthig,  dass  der  betreffende  Patient  vorher  für  genügende 
Nahrungsaufnahme  gesorgt  hat.  Stets  ist  es  ferner  von  Wichtigkeit, 
dass  man  die  Patienten  in  liegender  oder  mindestens  bequem  halb- 
sitzender Stellung  operirt;  auch  nach  der  Operation  ist  es,  wie 
viele  Autoren  mit  vollem  Rechte  behaupten,  zweckmässig,  die 
Kranken  noch  einige  Minuten  bis  zu  einer  Viertelstunde  liegen  zu 
lassen;  bleibt  dann  der  Puls  gut  und  treten  keine  Erscheinungen 
von  Aufgeregtheit  ein,  so  kann  man  den  Patienten  ruhig  sich  selbst 
überlassen. 

Die  Technik  der  Cocainisirung  zwecks  Ausführung  einer 
local  analgischen  Operation,  wie  selbe  in  meiner  Monographie  am 
Beispiel  einer  Trendelenburg'schen  Varicenunterbindung  be- 
schrieben ist,  hat  im  Laufe  der  Zeit  eine  kleine  Veränderung  er- 
fahren. Während  früher  bei  dieser  Operation  von  der  Verwendung 
des  Aethylchlorids  ausgiebiger  Gebrauch  gemacht  wurde,  benutze 
ich  dieses  Kältemittel  jetzt  nur  bei  ängstlichen  und  sehr  empfind- 
lichen Patienten,  um  damit  punktförmige  Scjhmerzlosigkeit  für  den 
ersten  Einstich  der  Injectionsnadel  zu  erzielen.  Die  betreffende 
Operation  verläuft  nunmehr  folgendermaassen:  Nach  punktförmig 
erzeugter  Schmerzlosigkeit  mittels  Aethylchlorid  an  einer  über  der 
zu  unterbindenden  Vene  gelegenen  Hautstelle  vrird  die  Injections- 
nadel der  gefüllten  Spritze  flach  in  die  Haut  bis  zum  Verschwinden 
des  Canülenschlitzes  rasch  eingestochen,  worauf  einige  Tropfen  in 
die  Haut  injicirt  werden,  sodass  eine  Quaddel  nach  Schleich  ent- 
steht; dann  wird  unter  gleichzeitigem  leisen  Druck  auf  den  Spritzen- 


.   Locale  Analgesie  bei  OperatioDen.  351 

Stempel  die  Spitze  der  Nadel  durch  die  Haut  gestossen  bis  ins 
lockere  Unterhautzellgewebe  und  die  Nadel  selbst  in  einem  zum 
Verlauf  der  Vene  spitzen  Winkel  subcutan  weiter  geführt,  während 
die  warme  V2  P^^^-  Cocain -Eucainlösung  langsam  injicirt  wird. 
Nachdem  die  Nadel  bis  zu  ihrem  Kopfende  unter  der  Haut  vorge- 
schobeji  worden  ist,  wird  sie  zurückgezogen,  ohne  dass  jedoch  die 
Spitze  die  Haut  verlässt,  also  intracutan  verbleibt,  und  dann  nach 
der  andern  Seite  der  Vene  zu  ebenfalls  subcutan  eingespritzt. 
Dann  wird  die  Nadel  völlig  entfernt  und  nach  Aethylchloridbestäu- 
bung  am  anderen  Endpunkte  der  beabsichtigten  Incision  wieder  in 
die  Haut  eingestochen  und  in  gleicher  Weise  wie  vorher  die  Cocain- 
Eucainlösung  injicirt,  sodass  eine  rautenförmige  Figur  entsteht. 
Sodann  wird  die  Nadel  zurückgezogen,  aber  nur  soweit,  dass  ihre 
Spitze  intracutan  verbleibt,  worauf  in  der  Richtung  des  zu  machenden 
Einschnittes  nach  der  Methode  von  Reclus  intracutan  nach  der 
zuerst  angelegten  Quaddel  zu  die  Einspritzung  gemacht  wird,  so- 
dass ein  bandföniiiger  weisser  Streifen  entsteht.  Dies  in  die  Haut- 
injiciren  geht  leichter  als  man  erwarten  sollte.  Nach  nochmaliger 
Abreibung  des  Operationsfeldes  mit  desinficirender  Lösung  wird 
dann  sofort  die  Operation  in  der  von  Trendelenburg  angegebenen 
W^eise  ausgeführt,  ohne  dass  es  nöthig  ist,  nochmals  zur  Injections- 
spritze  zu  greifen.  Der  Hautschnitt  sowie  die  Freilegimg  der  Vene, 
deren  doppelte  Unterbindung  nebst  Resection  des  Zwischenstückes 
sind  unter  Beobachtung  der  angegebenen  Injectionsweise  absolut 
schmerzlos;  der  Patient  behält  allerdings  tactile  Empfindung,  er 
spürt,  dass  an  seinem  Beine  etwas  gemacht  wird;  eine  völlige 
Anaesthesie,  d.  h.  eine  Aufhebung  des  Gefühls  und  Tastsinnes 
wird  niemals  erreicht. 

Der  Verbrauch  der  Analgesirungsflüssiekeit  beträgt  für  ge- 
wöhnlich bei  dieser  Operation  1  bis  2  Spritzen  (die  Spritze  zu  2  g 
Inhalt),    was  einer    Cocainmenge    von  0,01    bis  0,02  g  entspricht. 

In  den  seltenen  Fällen,  wo  die  zu  unterbindende  Vene  unter 
einer  breiten  Fettschicht  liegt,  sodass  man  sie  nicht  schon  kann, 
sondern  nur  in  stehender  Position  des  Kranken  als  resistenten 
Strang  fühlt,  habe  ich  unter  Anwendung  des  Reclus'schen  Ver- 
fahrens die  Vene  freigelegt  und  dann  vor  der  Unterbindung  und 
Resection  zu  beiden  Seiten  Analgesirungsflüssigkeit  injicirt,  was  je- 
doch nicht  in  allen  Fällen  dieser  Art  nöthig  war. 


352  Dr.  Hackenbruoh, 

Der  Grund,  weshalb  ich  für  gewöhnlich  in  der  vorher  an- 
gegebenen Weise  die  Cocainisirung  bei  der  Trendelenburg'schcn 
Varicenoperation  vornehme,  liegt  darin,  dass  dadurch  ein  Anstechen 
der  stets  sichtbaren  Vene  leicht  und  sicher  vermieden  werden 
kann,  da  man  ja  im  Unterhautzellgewebe  zu  beiden  Seiten  der 
Vene  injicirt. 

Analog  der  Eingangs  beschriebenen  Abscessspaltung  am 
Daumenballen  unter  circulärer  Analgesirung  gestaltet  sich  auch  die 
Erzeugung  localer  Analgesie  bei  den  so  schmerzhaften,  entzündlichen 
iVffectionen  der  Haut  selbst:  ich  meine  die  Furunkel,  Carbunkel 
resp.  furunkulösen  Abscesse.  Auch  hier  lässt  sich  durch  circuläre 
Injection  der  recht  warmen  y,  proc.  Cocain -Eucainlösung  meist 
ausreichende  Schmerzlosigkeit  erzeugen;  oft  bedarf  man  hiebei 
mehrerer  Einstichpunkte  für  die  Nadel,  die  jedoch  stets  in  der 
angrenzenden  gesunden  Haut  liegen  müssen. 

Bei  der  Exstirpation  der  so  häufig  vorkommenden  kleineren 
Tumoren  (Fibrome,  Atherome,  Ganglien,  Lipome,  Cancroide  etc) 
verläuft  die  Cocainisirung  in  ähnlicher  rautenförmiger  oder  mehr 
circulärer  Weise. 

Vortheilhafte  Verwendung  kann  das  in  Rede  stehende  Ver- 
fahren ferner  finden  bei  der  keilförmigen  Excision  der  Lippe,  z.  B. 
wegen  eines  Cancroids,  wobei  der  Tumor  mitten  in  der  durch  die 
Cocain-Eucain-Injcction  gebildeten  Gabel  zu  liegen  kommt;  die 
Schleimhautseite  der  Lippe  wird  nach  trockener  Abwischung  mit 
einem  in  5  oder  10  proc.  Eucainlösung  getränkten  Mullläppchen 
analgisch  gemacht,  indem  dasselbe  leicht  angedrückt  einige  Minuten 
gehalten  wird. 

In  gleicher  Weise  verläuft  auch  die  submucöse  Analgesirung 
der  Haemorrhoidal  knoten  zwecks  deren  Excision  oder  Caut^risation, 
während  für  die  Spaltung  des  Sphinkters  selbst  oder  für  die 
Operation  der  Fisteln  in  dieser  Körpergegend  die  Reclus'sche 
Analgesirung  resp.  die  Schleich'sche  Pressionsinfiltration  zweck- 
mässiger erscheint. 

Zur  schmerzlosen  Herausnahme  des  Augapfels  aus  der  Orbita 
eignet  sich  die  circuläre  Analgesirung  auf  Grund  gemachter  per- 
sönlicher Erfahrungen  vorzüglich. 

Gestatten  Sie,  dass  ich  die  erste  Enucleation,  welche  bei 
einer    85jährigen   Dame    ausgeführt  wurde,    kurz  illustrire.     Nach 


Locale  Analgesie  bei  Operationen.  353 

Ansicht  des  behandelnden  Augenarztes  musstc  das  erblindete,  acut 
glaucoraatös  erkrankte,  äusserst  schmerzhafte  linke  Auge  entfernt 
werden,  um  das  gesunde  rechte  Auge  zu  retten.  Zwei  Tage  vor- 
her hatte  der  Augenarzt  Herr  Dr.  Kempner  zu  Wiesbaden  ver- 
sucht, in  Chloroformnarkose  der  Patientin  die  Enucleation  zu  machen; 
doch  gelang  es  nicht  wegen  der  excessiven  Schmerzhaftigkeit  des 
Bulbus  und  weil  man  angesichts  des  hohen  Alters  der  etwas 
schwächlichen  Dame  es  nicht  wagte,  eine  tiefe  Narkose  einzuleiten. 
Herr  Dr.  Kempner  ermunterte  daher  mich  zu  einem  Versuche, 
die  Entfernung  unter  Cocain  an  algesie  zu  ermöglichen,  obwohl  ich 
ihm  sagen  musste,  dass  ich  in  solchem  Falle  keine  Erfahrung  be- 
sässe.  Nach  Cocainisirung  des  äusseren  Auges  machte  ich  in 
rautenförmiger  Weise  eine  circuläre  Cocain-Eucain-Injection  hinter 
den  Bulbus,  worauf  Herr  Dr.  Kömpner  unter  Assistenz  von 
Herrn  Oberstabsarzt  Dr.  Spieseke  und  mir  die  Enucleation  des 
Bulbus  zu  unser  aller  Erstaunen  glatt  ausführte,  während  die 
Patientin  selbst  während  des  Operations  Verlaufes  absolut  keine 
Schmerzen  zu  verspüren  spontan  angab  und  in  wahrhaft  rührender 
Weise  wiederholt  ihren  Dank  äusserte.  Die  verbrauchte  ein- 
gespritzte Cocainmenge  betrug  0,025  g. 

Da  es  zu  weit  fuhren  würde,  die  Möglichkeit  der  ungefähr- 
lichen Anwendung  der  Reclus'schen  Infiltration  resp.  der  circu- 
lären  Analgesirung  für  eine  ganze  Reihe  anderer  Operationen  dar- 
zuthun,  so  möchte  ich  nur  noch  bemerken,  dass  die  Verwendung 
der  genannten  Arten  der  cutanen  resp.  subcutanen  Cocaineinver- 
leibung  zwecks  Erzeugung  localer  Analgesie  ihre  natürliche  Grenze 
findet  in  der  Erreichung  der  Maximaldosis  des  Cocains  selbst.  In 
solchen  räumlich  ausgedehnteren  Operationsfällen,  wobei  man  von 
vornherein  mit  einiger  Bestimmtheit  sagen  kann,  dass  man  zur 
Erzielung  einer  ausreichenden  Schmerzlosigkeit  die  Maximaldosis 
des  Cocains  wird  überschreiten  müssen,  tritt  die  von  Schleich 
erfundene  Pressionsinfiltration  in  ihr  Recht,  wobei  wir  allerdings 
die  zuweilen  als  störend  befundene  Alteration  der  anatomischen 
Verhältnisse  mit  in  Kauf  nehmen  müssen,  wenn  man  nicht  eventuell 
die  Verwendung  des  als  ungefährlich  angepriesenen  Anesons  oder 
die  allgemeine  Narkose  für  angezeigt  hält. 

Bei  der  Verwendung  von  reiner  Cocain  resp.  Coeain-Eucain- 
Analgesie  in  den  vorher  erwähnten  Opcrationsfällca  bin  ich  jedoch 


354  Dr.  Hackenbruch, 

trotz  der  von  Schleich  empfohlenen  Pressionsinfiltration  geblieben, 
erstens  weil  ich  stets  gute  Analgesie  erreicht  und  niemals  Intoxi- 
cationserscheinungen  erlebt  habe,  zweitens  weil  das  Operations- 
gebiet durch  die  Injection  in  seiner  anatomischen  Fügung  nicht 
verändert  wird,  sodass  die  Operation  gerade  so  verläuft,  als  wurde 
sie  in  Ohloroformnarkose  des  Patienten  ausgeführt  und  femer 
drittens,  weil  ich  nach  der  Aufstellung  von  Hofmeister  z.  B.  bei 
der  Krampfaderoperation  nicht  mehr  an  Cocain  gebrauche,  als  zu 
der  gleichen  Operation  unter  der  Anwendung  der  Schlei ch'schen 
Methode  erforderlich  ist. 

Die  günstigen  Erfahrungen,  welche  Reclus  bei  Infiltration 
von  puren  Cocainlösungen  gemacht  hat,  stützen  sich  übrigens  auf 
die  stattliche  Zahl  von  weit  über  3000  Operationen,  während  ich 
bei  meinen  annähernd  500  local  analgischen  Operationen  niemals 
auch  nur  die  geringsten  unangenehmen  Erscheinungen  erlebt  habe. 

Dass  die  reine  Cocain-  resp.  Cocain-Eucain-Analgesie  ins- 
besondere bei  operativen  Eingriffen  an  Fingern  und  Zehen,  im 
Sinne  des  Princips  der  circulären  Analgesirung  angewendet,  be- 
sonders grosse  Vorzüge  bietet,  liegt  klar  zu  Tage.  Die  Injections- 
technik  bei, local  analgischen  Operationen  dieser  Körpertheile  hat 
keine  wesentliche  Veränderung  gegen  die  in  meiner  erwähnten 
kleinen  Monographie  beschriebene  erfahren;  doch  brauche  ich  auch 
bei  diesen  Eingriffen  das  Aethylchlorid  nur  bei  sehr  empfindlichen 
Patienten,  um  den  ersten  Einstich  der  Nadel  schmerzlos  zu  machen. 
Zwecks  Analgesirung  eines  Fingers  resp.  einer  Zehe  wird  also 
dicht  oberhalb  der  Zone  des  Gliedes,  an  dem  die  Operation  statt- 
finden soll,  von  zwei  diametral  gegenüber  liegenden  Punkten  aus 
eine  circuläre  Injection  einer  warmen  Yg  pCt.  Coc.-Euc.-Lösung 
subcutan  um  die  betreffende  Phalanx  herum  gemacht,  nachdem 
vorher  am  Grundgliede  ein  dünner  Gummischlauch,  welcher  durch 
eine  gewöhnliche  Schieberpincette  zusammengehalten  wird,  zur  Blut- 
absperrung angelegt  worden  ist.  Nach  der  Einspritzung  ist  es  ganz 
zweckmässig,  die  Gegend  der  Injectionsebene  etwas  raassirend  zu 
reiben,  um  die  Coc-Eucain-Lösung  mit  allen  passirenden  Nerven- 
stämmchen  in  Contact  zu  bringen. 

Besonders  möchte  ich  noch  erwähnen,  dass  die  Injection, 
wenn  der  Eingriff  z.  B.  an  der  Fingerkuppe  vorgenommen  werden 
soll,    gemäss  der  Analgesirung    bei  der  Tumorexstirpation    zweck- 


Locale  Analgesie  bei  Operationen.  355 

massig  dicht  oberhalb  der  Fingerspitze  gemacht  wird  und  nicht 
an  dem  Grundgliede;  soll  die  Operation  aber  am  letzteren  selber 
vorgenommen  werden,  so  muss  die  quere  Injectionsebene  natürlich 
centripetal  verschoben  werden,  während  eine  Nicaise'sche  Gummi- 
binde am  Oberarm  die  Blutleere  erzeugt. 

In  analoger  Weise  können  natürlich  auch  am  Penis  operative 
Eingriffe  vorgenommen  werden.  Für  eine  einfache  Phimosen- 
spaltung  durch  dorsale  Incision  genügt  aber  auch  eine  gabelförmige 
Coc.-Euc.-Injection  zur  Erreichung  der  nöthigen  Schmerzlosigkeit 
oder  auch  die  Reclus'sche  Analgesirung.  Desgleichen  kann  auch 
bei  der  Operation  des  eingewachsenen  Nagels,  wenn  man  auf  be- 
sonderen Wunsch  des  Patienten  nur  die  eingewachsene  Nagelhtälfte 
entfernen  will,  ein  ausreichender  Grad  von  Analgesie  ebenfalls 
durch  eine  gabelförmige  Injection  erreicht  werden,  doch  muss  man 
die  Analgesirungsflüssigkeit  bis  auf  den  Knochen  spritzen. 

Die  zur  circulären  Analgesirung  der  soeben  genannten  Körper- 
theile  erforderliche  Cocainmenge  beträgt  bei  Verwendung  der  Y2  P^'^c. 
warmen  Coc.-Euc.-Lösung  0,01 — 0,02  g. 

Die  circuläre  Analgesirung  an  Fingern  und  Zehen  tritt  nun  durch 
ihre  Genese  in  enge  Beziehung  zu  einer  Art  der  örtlichen  Schmerz- 
losigkeit, welche  als  „regionäre  Analgesie"  bezeichnet  wird  und  die 
auf  der  von  Corning  am  Menschen  und  gleichzeitig  von  Feinberg 
am  Thiere  festgestellten  Thatsache  beruht,  dass  der  Cocainisirung 
eines  grösseren  glatten  Nervenstammes  nach  einiger  Zeit  Abwartons 
und  besonders  bei  gleichzeitiger  Blutabsperrung  eine  deutlich  nach- 
weisbare Analgesie  in  dessen  Endbezirk  folgt.  Auch  für  die  local- 
analgischen  Operationen  an  Fingern  und  Zehen  glaubte  ich  jedoch 
die  Bezeichnung  „circuläre  Analgesirung"  beibehalten  zu  können,  da 
ich  besonderes  Gewicht  darauf  lege,  dass  die  analgesirenden  Einsprit- 
zungen zweckmässig  dicht  an  der  Operationsstelle  gemacht  werden, 
ja  in  vielen  Fällen  in  das  Operationsgebiet  selbst  hineinfallen  können. 

Da  ich  über  die  durch  Analgesirung  grösserer  Nervenstämme 
erzeugte  „regionäre  Analgesie*^  keine  perscmlichen  Erfahrungen  be- 
sitze, so  möchte  ieh  nunniehr  auf  die  Frage  eingehen,  ob  den  er- 
wähnten Formen  der  reinen  Cocain-  resp.  (^cain-Eucuin-Analgesie 
eventuell  Nachtheile  oder  Gefahren  für  das  Leben  der  betrefTenden 
Kranken  anhaften.  Die  Antwort  hierauf  lässt  sich  kurz  dahin 
geben,  dass  kein  Grund  vorhanden  ist,  welcher  für  das  Leben  des 

Archiv  fUr  klin.  CUirurgie.    57.  Bd.    Uoft  2.  24 


35ß  Dr.  Hackenbruch, 

betreffenden  Kranken  gefahrbringend  werden  könnte,  so  lange  wir 
unter  Beobachtung  der  früher  geschilderten  Maassnahmen  die 
Maximaldosis  des  Cocains  nicht  überschreiten. 

Die  in  der  Literatur  beschriebenen,  selbst  auf  Application  von 
relativ  geringen  Cocaindosen  zuweilen  beobachteten  CoUapszustände 
dürften  wohl  ohne  Zwang  entweder  auf  die  Einverleibung  eines 
unreinen  Präparates  —  was  besonders  für  die  Anfangszeit  der 
Verwendung  von  subcutanen  Cocaininjectionen  gelten  dürfte  — 
oder  auch  auf  den  Zustand  des  Patienten  selbst  zurückzuführen 
sein,  welcher  vielleicht  nüchternen  Magens  und  zudem  noch  in 
sitzender  oder  gar  stehender  Position  operirt  wurde.  Zudem  wäre 
es  auch  noch  denkbar,  dass  in  solchen  Fällen,  wo  es  sich  zumeist 
um  Verwendung  von  3,  5  bis  10  proc.  Cocainlösungen  handelte, 
die  betreffende  Lösung  in  irgend  eine  kleine  Vene  zufällig  injicirt  wurde. 

Der  Heihxrlauf  der  unter  Anwendung  der  Cocain-  resp.  Cocain- 
Eucain-xVnalgesie  gesetzten  Wunden  bot  gar  keine  Verschiedenheiten 
dar  gegenüber  demjenigen,  wie  wir  ihn  unter  allgemeiner  Narkose 
oder  ohne  letztere  zu  sehen  gewohnt  sind. 

Bei  den  nunmehr  491  Operationen  unter  örtlicher  Schmerz- 
losigkeit  mittels  Cocain-  resp.  Cocain-Kucain-Lösungen  schwankte 
die  gebrauchte  Cocainmenge  zwischen  0,005 — 0,06  g;  bei  keinem 
einzigen  Patienten,  deren  Lebensalter  sich  innerhalb  der  Grenzen 
von  IY4  bis  85  Jahren  bewegte,  wurden  auch  nur  die  geringsten 
Anzeichen  einer  unangenehmen  Wirkung  beobachtet,  ein  überaus 
günstiges  Resultat,  das  wohl  nicht  allein  einer  glücklichen  Fügung 
zu  verdanken  ist,  sondern  sicth  auch  auf  strenge  Innehaltung  der 
früher  angegebenen  Maassnahmen  gründet.  Die  Operationen  waren 
kurz  zusammengefasst  folgende: 
48  Abscessspaltungen    (acute,  subacute  und  Congestionsabscesse, 

Furunkel  etc.). 
26  Punctionen  (von  Gelenken,  Ascites,  Pleuritis  exsudativa). 
117  Turaorexstirpationen  (Atherome,   Fibrome,  Lipome,  Cancroide, 

Ganglien  u.  dergl.). 
20  Fremdkörperextractionen(Holz-,  Glas-,  Porzellansplitter,  Nadeln, 

Sclirotkörner). 
9  Spaltungen  von  Cysten,  Hydrocelen  u.  dergl. 
52  Panaritien  resp.  eingewachsener  Nagel. 
272~ 


Locale  Analgesie  bei  Operationen.  357 

272 

2  Fingerexarticulationen. 

144  Varicenunterbindungen  nach  Trend clenburg. 
8  Phimosenoperationcn. 

3  Heniiotomieen. 

12  Radicaloperationen    von  Hernien    (eine    unter  »Schi  eich 'scher 
Pressionsinfiltration). 

4  Sehnennähte. 

4  Nekroscnoperationen. 
1  Transplantation  nach  T  hier  seh. 
15  Iliimorrhoidalexcisionen  resp.  Fistelspaltungen. 
3  Ncrvenresectionen. 
3  Tenotonnieen. 
14  Zahnextractionen. 
1  Castration  (einseitig). 
1  Probelaparotomie. 

1  Hoher  Blasenschnitt  mit  Steinentfernung. 
3  Enucleationen  des  Bulbus. 
491  Operationen  unter  localor  Analgesie. 


Literatur. 

Szumann  (Tiiorn),  Ein  Fall  von  Cocainintoxication  nebst  kritischen 
Betrachtungen  über  die  zulässige  Cocaindosis  bei  subcutanen  Injectioncn  des 
Mitteis.  Therapeut.  Monatshefte.  1888.  S.  398.  —  A.  Wolf  1er,  Ueber  die 
anästhesirende  Wirkung  der  subcutanen  Gocaininjectionen.  Wiener  in«dicin. 
Wochenschrift.  1885.  S.  1531.  —  Derselbe,  Zur  lokalen  Cocainanästhesie. 
Wiener  niedicin.  Wochenschrift.  1887.  S.  33.  —  Derselbe,  Zur  toxischen 
Wirkung  des  Cocains.  Wiener  med.  Wochenschrift.  1889.  S.  673.  —  A. 
Landerer,  Lokale  Anästhesie  mit  subcutanen  Cocaininjectionen.  Centralbl. 
f.  Chirurgie.  1885.  S.  841.  —  Alex  Fränkel,  Cocainanästhesie  bei  chirur- 
gischen Eingriffen.  Wiener  med.  Wochenschrift.  1887.  S.  125.  —  F.  lleclus, 
La  cocaine  en  Chirurgie,  Faris,  —  Krogius,  Zur  Frage  von  der  Cocainanal- 
gesie.  Centralbl.  f.  Chirurgie.  1894.  S.  241.  —  Pernico  (aus  der  Foliklinik 
des  Prof.  Oberst),  Ueber  Cocainanästhesie.  Deutsche  med.  Wochenschrift. 
1890.  S.  287.  —  Schleich,  Schmerzlose  Operationen.  Berlin  1894.  — 
Tito  Costa,  Eine  Neuerung  in  der  Technik  der  Cocainanästhesie.  Ref. 
Deutsche  Medicinal-Zeitunsr.  1897.  —  Hackenbruch,  Oertliche  Schmerz- 
losigkeit  bei  Operationen,  Wiesbaden  LS97.  —  Corning,  Xew  York  Mcdic. 
Journal.  1887.  Bd.  XLTI.  lieft  12.  —  Feinberg,  Weitere  Mittheilungen  zur 
physiologischen  Cocainwirkung.    Berliner  klin.  Wochenschrift.    1887.    S.  106. 

24* 


XV. 

Gastroenterostomia  et  Enteroanastomosis, 
ein  neues  vereintachtes  Verfohren. 


Von 

Pr«ress«r  A.  PMires 

in  Charkow. 

(Mit  4  Figuren.) 


Das  Streben,  eine  künstliche  Anastomose  zwischen  verschie- 
denen Theilen  des  Magendarmcanals  zu  bilden,  ist  in  unserer 
Zeit  so  gross,  dass  die  Operation  der  Gastroenterostomie  heute 
von  den  Chirurgen  fiir  eine  gewöhnliche  Operation  gehalten  wird. 
Da  solche  0])erationen  in  den  meisten  Fällen  bei  Indieatio  vitalis 
ausgeführt  werden,  d.  h.  bei  solchen  Kranken,  welche  in  Folge 
von  Durchgängigkeit  eines  gewissen  Abschnittes  des  Verdauungs- 
canais zu  Grunde  gehen,  so  sollten  dieselben  in  die  Reihe  der  so- 
genannten obligatorischen  Operationen,  wie  Hemiotomia,  Tracheo- 
tomia  u.  s.  w.  eingesetzt  werden.  Nichtsdestoweniger  wird  die 
Operation  der  Gastroenterostomie  noch  jetzt  als  eine  Seltenheit 
betrachtet,  besonders  in  Kussland,  wo  dieselbe  von  den  Universi- 
tätskliniken, so  zu  sagen,  monopolisirt  wird,  trotzdem  sie  seit 
mehr  als  15  Jahren  in  der  Praxis  anerkannt  worden  und  sehr  oft 
indicirt  ist. 

Wenn  wir  uns  fragen,  warum  die  Operationen  dieser  Art  unter 
den  practischen  Aerztcn  so  wenig  verbreitet  sind,  so  kann  man 
kaum  antworten,  dass  die  Ursache  in  der  Nichtanerkennung  des 
Nutzens  derselben  liegt,  denn  wir  wissen  ja,  dass  in  der  alltäg- 
lichen Praxis  solche  Operationen,  wie  Abrasiren  eines  Neoplasma 
mit  Löffel,  oder  Rectotomia  linealis,  nach  Verneuil  geübt  werden, 


Gastroenterostomia  et  Enteroanastomosis.  351) 

die  das  Schicksal  der  Kranken  etwas  erleichteni,  obgleich  deren 
Leben  dabei  verkürzt  wird. 

Was  die  Magendarmanastomosen  anbelangt,  so  ist  bekannt, 
dass  dieselben,  sogar  bei  carcinomatösen  Processen,  nicht  nur  das 
Leben  der  Kranken  verlängern,  indem  die  Gefahr  einer  Stenose 
ausgeschlossen  wird,  sondern  auch  das  Wachsthura  der  Neubildung 
henomen,  da  der  afficirte  Theil  ausgeschlossen  wird;  in  anderen 
Fällen,  wo  keine  Carcinomatose  vorliegt,  kann  die  in  Rede  stehende 
Operation  von  radicaler  Bedeutung  werden,  da  der  Kranke  nach- 
her noch  lange  leben  kann,  wobei  keine  Functionsstörungen  statt- 
finden. 

Wir  sehen  also,  dass  die  Anastomosenoperationen  im  Ver- 
dauungscanal  aus  ganz  anderen  Gründen  als  die  Nichtanerkennung 
des  Nutzens  derselben  selten  geübt  werden.  Nach  unserer  Mei- 
nung handelt  es  sich  hier  um  die  ziemlich  schwere  Technik  und 
auch  um  die  verhältnissmässig  grosse  Sterblichkeit  bei  dieser  Ope- 
ration, welche  nach  Guinard  41,4  pCt.  und  nach  Dreydorff 
43,3  pCt.  erreicht.  Es  ist  selbsverständlich,  dass  ein  junger  Chirurg 
selten  so  eine  riscante  Operation  unternehmen  wird;  gewöhnlich 
werden  solche  Kranke  in  die  Universitätsstädte  geschickt  und  die- 
selben sterben  unterwegs,  oder  sie  kommen  in  einem  solchen  Zu- 
stande an,  dass  an  keine  Operation  zu  denken  ist. 

Es  bleibt  demnach  zu  wünschen,  dass  die  Operationen  der 
Bildung  einer  Magendarmmitmündung  von  allen  practischen  Aerzten 
ausgeführt  werden  kann.  Um  das  Ziel  zu  erreichen,  muss  ein 
Verfahren  gefunden  werden,  die  Operation  rasch  und  leicht  für  den 
Kranken,  sowie  für  den  Arzt  zu  machen. 

Ich  bin  auf  Grund  der  Erlernung  der  modernen  Gastroente- 
rostomie zu  der  Uebcrzcugung  gelangt,  dass  die  Ursache  der  er- 
wähnten grossen  Sterblichkeit  in  der  Technik  der  Operation  licirt, 
denn  dieselbe  ist  fast  so  complicirt  und  lang  dauernd  wie  bei  der 
radicalen  Pylorectomie  oder  Pyloroplastik,  weshalb  auch  das  Sterb- 
Irchkeitsprocent  bei  diesen  drei  Operationen  fast  dasselbe  ist.  ^Sic 
fordern  eine  langdauemde  Narkose,  Eröffnung  der  Organcavitätcn 
und  Eventration,  was  unmittelbar  den  Shock  und  Collaps  hervor- 
rufen kann.  Was  die  Folgen  betrifft,  so  werden  durch  das  Ein- 
treten von  Organinhalt  in  das  Operationsfeld  schlechte  Vernar- 
bung, Auseinanderweichen    der  Nähte    und  alle  möglichen  Folgen 


360  A.  Podres, 

von  Secretausiritt  in  die  Bauchhöhle  beobachtet.  Sogar  die 
moderne  Liieralur,  welche,  wie  bekannt,  mehr  geneigt  ist,  die  er- 
folgreichen als  die  unglücklichen  Fälle  zu  veröffentlichen,  betont 
den  grossen  Einfluss  der  angeführten  Umstände  auf  die  Sterblich- 
keitsstatistik. Die  nachfolgende  Beschreibun«:  meines  Verfahrens 
der  Anastoroosenoperation  im  Magendarmcanale  hat  zum  Ziel:  a)  die 
Vereinfachung  dieser  Operation :  b^  die  A'erkürzung  der  Operations- 
zeit, wobei  die  Kräfte  des  Kranken  am  wenigsten  erschöpft  werden 
und  die  Organe  nicht  eröffnet  werden,  damit  die  Wunde  und  die 
Bauchhöhle  nicht  die  Gefahr  einer  Ansieckunc  laufen:  e)  die  Er- 
nähruni:  des  Kranken  durch  den  Mairen  unmittelbar  nachdem  die 
Operation  ausgeführt  worden  ist. 

Die  stärkeren  Kranken  werden  vorzüglich  mit  Aeiher  narko- 
ti>irt,  die  sehr  erschö|»ften  bekommen  eine  locale  Co<*ainanäslhesie, 
wobei  eine  ^'o  proc.  Lösun<r  von  4 — 6  Spritzen  Cocainum  muria- 
ticum  längs  der  Schnittlinie  eingespritzt  wird.  Bei  der  Freiletrung 
der  Bauchhöhle  werden  die  zu  manijmlirendcn  Organe  wiederholt 
mit  derselben  Lösung  betupft.  Die  Erfahrung  zeigte,  dass  bei 
dieser  Anästhesie  ein  fast  schmerzloses  Operiren  behufs  Magen- 
darmanastomose  erreicht  werden  kann. 

Die  Operation  beirinnt  mit  einem  Schnitt  in  der  Linea  alba, 
6 — 0  cm  lan<r,  de>sen  Mittelpunkt  in  der  Mitte  zwischen  dem 
Nabel  und  dem  Ende  von  Processus  xyphoideus  sterni  liegt.  Nach- 
dem man  sich  über  die  Laire  der  Organe  in  der  Bauchhöhle  orien- 
tirt  hat,  werden  der  MairensTund  und  die  vom  Anfange  an  am 
entferntesten  ireloirene  Dünndarmschlinge  in  die  Oeffnung  der  Wunde 
herausüeführt:  die  Darmschlinge  wird  an  der  hinteren  Wandung 
des  Magens,  unweit  der  Curvaiura  major  des  letzteren  fixirt,  wobei 
die  Fixirung  entweder  oberhalb  des  Colon  transversum  oder  unter 
demseHien  stattfindet,  je  nach  den  Tniständen  des  Falles  und  dem 
Zustande  dieser  Organe:  im  letzteren  Falle  wird  in  die  Oeffnong 
der  Wunde  auch  ein  Thcil  des  horizontalen  Grimmdarmes  heraus- 
gezogen, dessen  Mooeolon  gespalten  wird,  damit  die  Schlinge 
durchgeführt  und  an  derselben  Seite  des  Ventrikels  fixirt  werden 
kann.  Endlich  folgen  die  Nähte,  welche  eine  spontane  Bildung 
der  Mitmündung  während  der  nächsien  Tage  nach  der  Operation 
hervornifen  sollen.  Als  Grund  der  besehriebenen  Methode  diente 
die    folgende  Erfahrung:    Jedem  Chirurgen    ist    die  Thatsache  be- 


Gastroenterostomia  et  Enteroanastomosis.  361 

kannt,  dass  die  Magen-  oder  Darmnaht,  bei  welcher  die  Nadel  die 
ganze  Dicke  des  Organes  durchdrungen  hat,  unbedingt  eine  Fistel 
bildet,  deren  Grösse  bei  Weitem  die  Stichöffnung  übertrifft;  es  ist 
weiter  bekannt,  dass  eine  solche  Fistelöffnung  nicht  spontan  ver- 
narbt; OS  ist  dagegen  eine  sehr  coraplicirte  Operation  erforderlich, 
um  dieselbe  zu  schliessen.  Ich  habe  nun  diese  Thatsache  benutzt, 
um  eine  künstliche  Anastomosis  zu  bilden.  Nachdem  die  betref- 
fenden Theile  des  Magens  und  des  Darmes  zu  freier  Berührung 
zusammengebracht  sind,  nähe  ich  dieselben  mit  einer  perforirenden 
gekreuzten  Naht  folgenderraaassen  zusammen:  Eine  ziemlich  dicke 
Nadel,  mit  dickem  Seidenfaden  versehen,  wird  durch  alle  Schichten 
der  Magenwand  von  aussen  nach  innen  in  die  Höhle  des  Organs 
geführt  und  dann  wieder  nach  aussen,  2  cm  weit  von  dem  ersten 
Punkte,  herausgeführt;  nachher  wird  dieselbe  Nadel  in  die  Dicke 
des  betreffenden  Darmtheiles  gestochen,  entsprechend  dem  Heraus- 
führungspunkte der  Nadel  aus  dem  Magen,  nach  wie  vor  in  die 
Höhle  des  Darms  geführt  und  endlich  aus  dem  letzteren,  dem 
ersten  Stichpunkte  am  Magen  gegenüber,  herausgeführt.  Auf  solche 
Weise  werden  zwei  perforirende  Nähte  durch  die  betreffenden 
Organe  erhalten.  Wenn  diese  zwei  Nähte  nun  stark  zusammen- 
gezogen werden,  so  findet  eine  Einklemmung  statt,  welche  die 
Perforation  der  beiden  betreffenden  Wände  und  somit  die  Bildung 
der  gewünschten  Mitmündung  zwischen  den  Organen  hervorrufen 
wird.  Wenn  die  beschriebene  Naht  in  horizontaler  Ebene  angelegt 
ist,  wird  eine  andere  Naht  nach  denselben  Regeln  in  vorticaler 
Ebene  geführt;  auf  solche  Weise  entsteht  eine  perforirende  Kreuz- 
naht und  die  eingeklemmten  Wände  der  Organe  erleiden  nach 
einigen  Tagen  eine  Perforation,  wobei  eine  regelmässige  Mitmün- 
dung rhombischer  Form  gebildet  wird. 

Wir  haben  eine  ganze  Reihe  von  Experimenten  bei  Thieren 
angestellt  und  Beobachtungen  an  Menschen  gemacht,  um  die  Zeit 
der  Bildung  einer  Anastomose  unter  den  oben  beschriebenen  Um- 
ständen zu  erfahren  und  sind  zu  dem  Schlüsse  gelangt,  dass  2  bis 
4  Tage,  bei  sehr  erschöpften  Subjecten  1 — 2  Tage  mehr,  dazu 
genügen. 

Unsere  Untersuchungen  haben  auch  gezeigt,  dass  die  erwähnten 
zwei  perforirenden  Kreuznähte  nicht  nur  zur  Bildung  einer  Ana- 
stomose genügen  (bei  9  Experimenten  erhielten  wir  keinen  einzigen 


Mi2  A.  Podres, 

Misn/jrfol^;,  siff}(hrn  aur-h  vor  der  Infer-tion  des  Peritoneums  ganz 
HU'hi'.r  .schiHzon,  da,  bevor  der  Organinhalt  durch  die  Perforation 
<?iridrin^^t,  ein  festes  Zusammenwachsen  der  serösen  Oberflächen 
rin^s  iirn  die  Nähte  stattfindet.  Nichtsdestoweniger  legen  wir,  der 
si^^heren  ^iarantie  wegen,  bei  unseren  Kranken  noch  4  Lembert- 
H<']ui  Nälito  an,  wobei  jede  von  diesen  4  Nähten  in  jedem  von  den 
4  /wiscJienräiiinen,  welche  sich  zwischen  den  perforirenden  Kreuz- 
n/lhten  finden,  angelegt  wird  und  zwar  in  den  Theilen,  wo  die 
Hmmm  lläuto  sich  am  wenigsten  berühren.  Damit  die  Speise 
nic/ht  in  die  auszuschliessende  Lecrdarmschlinge  eintrete,  wird  die 
lel/lern  vor  dem  Nähen  um  eine  halbe  Tour  so  umgewendet  (um 
ihre  AcIih(^  herum),  dass  ihre  rechte  Seite  zur  linken  wird  und  das 
abfiihrendo  Undo  nach  oben  geht  (Wölfler). 

Mndlic.h  werden  die  herausgezogenen  Baucheingeweide  nach 
V(»rlrtnllg<»r  Toilette  zurückgebracht  und  die  Wunde  mit  hermeti- 
Nrhen  N/ihien  geschlossen. 

Wenn  hei  der  oben  beschriebenen  Operation  der  Leerdarm 
unter  den\  Colon  transversum  durch  den  gespaltenen  Thcil  des 
Mesorolon  gobriieht  wird,  erscheint  die  Operation  coraplicirter,  da 
die  Anaslomose  auf  der  Höhe  der  Spalte  im  Mesocolon  stattfindet, 
Nvo  dieselbe  mit  2 — 4  Nähten  an  den  Rändern  der  Mesocolonspalte 
des  Oiiduiarnis  lixirl  wird. 

I>ie  letzte  Methode  ist  zwar  technisch  complicirter  und  länger 
dauernd,  aber  dieselbe  bietet  auch  den  A^ortheil,  dass  hier  das 
(Jekröse  als  supplementäres  IVäservativmittel  dient,  falls  eine  früh- 
/oin;ie  Perforation  statlfindet;  ausserdem  bekommen  dabei  die 
Kranken  mehr  Kühe  in  den  operirten  tVganen. 

Oie  Kxperimente  an  Hunden,  welche  unter  meiner  Anleitung 
\on  \M\  Arnstein  auiio>ieUt  wurden,  haben  irezeiet,  dass  die 
Thieiv  auf  das  die  \\\  Rede  >iehonde  Operation  Wirleiiende  Trauma 
fa-vt  nu  ht  n\^nvn:  diosolbon  nehmen  nur  am  ersten  Tage  keine 
\ahrur::  ;u  >ivh.  die  Ten^H^ratur  winl  j.i- ht  erb  »ht,  am  zweiten 
Vaii^^  tivwov,  >io  nvit  1  ',i>r.  r.ai  h  o  —4  T;kri^n  s:r.d  sie  vollkommen 
4:x^vur,d  und  de  Itr,,  r  .r^.  xoriw'.i  s\h  r.'^rmal*  iV'jU  der  Veren- 
^vvr,'ii  dt>  rvlon>,  \xoM,e  roVo^;  oor  A*  a^ivr..  «sei  Idunff  fast  in 
Äl^n  r\)\^^  ^v^/'.  ",  v:..r  *\:^r,;^r:  x^.'^rvUv.  *>:.  l:r  iiar.cr  sind  9  Ex- 
;v:  ',^,»^  An  lv'^:on  .r^ivv;":  \\  -:i *  :  v»>:  a/.:-  Th>Mre  haben 
»"^^o  RiVi, .  , "   v:.v^  v^;v"'ä:  sV,  i:::/»^::;    u*  d    Un    ^rvu  lUdete  sich 


Gastroenterostomla  et  Enteroanastomosis.  363 

eine  Mitraündung;  nur  ein  Hund,  der  nach  48  Stunden  i^etödtet 
wurde,  zeigte  eine  spalten  förmige  Durchlöcherung  im  Bereiche  der 
Kreuznähte;  gewöhiilicli  aber  bildet  sich  eine  volle  Anastomose 
schon  am  Ende  des  3.  oder  am  Anfange  des  4.  Tages.  Zuerst 
bildet  sich  eine  längliche  Spalte  mit  geschnittenen  Winkeln,  dann 
bekommt  die  Spalte  die  Form  eines  Rhombus  mit  halbrunden  con- 
vexen  Wänden,  weiter  werden  die  Ränder  des  Rhombus  glatter 
und  der  Rhombus  bekommt  eine  mehr  regelmässige  Form;  endlich, 
nach  einigen  Wochen,  wenn  die  Vernarbung  zu  Ende  gekommen 
ist,  erhalten  wir  eine  ovale  üeffnung,  deren  Längsachse  parallel 
der  Darmachse  liegt;  wir  bekommen  also  fast  dieselbe  Figur, 
welche  man  bei  Anlegung  einer  Anastomose,  mit  Ausschneidung 
der  Wandungen  dos  Organs,  bildet. 

Von  den  9  erwähnten  Hunden  wurde  der  eine  am  2.  Tage 
obducirt,  zwei  getödtet  und  untersucht  am  4.  Tage,  einer  am  6., 
einer  am  8.,  einer  am  10.,  einer  am  15.,  endlich  sind  zwei  Hunde 
für  eine  raehrmonatliche  Untersuchung  ihres  Ernährungszustandes 
zurückgeblieben. 

Unten  folgt  die  Beschreibung  von  zwei  Experimenten  mit 
photographischen  Abbildungen. 

Exper.  No.  3.  Schwarze  Hündin  von  mittlerem  Wüchse,  einfacher  Kace, 
•wohlgenährt,  wurde  nach  vorläufiger  aseptischer  Bearbeitung  des  Operations- 
feldes chloroformirt  und  operirt.  Zwischen  der  zweiten  Scblingo  des  Leer- 
darmes und  der  hinteren  Wand  des  Magens,  unweit  des  Fundus  desselben 
(oberhalb  des  Colon  transversum),  wurden  Nähte  für  die  Anastomoso  auf- 
gelegt. Die  Operation  dauerte  12  Minuten,  die  Vereinigung  der  üeberdeckung, 
sowio  die  Bildung  einer  Verengerung  in  Pars  pylorica  ventriculi  inbegriffen. 
Die  Verengerung  wurde  durch  seitliche  Invagination  einer  Falte  bei  der  Pars 
pylorica,  mit  nachfolgender  Vernähung  dieser  Falte  mit  Nähten,  ausgeführt. 
Am  folgenden  Tage  nach  der  Operation  wollte  das  Thier  nicht  fressen  und 
schien  nicht,  wie  sonst,  munter;  die  Bewegungen  waren  jedoch  activ  und 
schmerzlos,  denn  es  riss  nicht  den  Verband  ab.  --  Am  24.  December  trinkt 
es  Wasser  und  bekommt  Appetit;  es  erhält  ein  Glas  Milch,  in  zwei  Portionen; 
Temperatur  38,3,  läuft  munter  herum.  —  25.  December.  Das  Thier  ist  munter 
nach  wie  vor,  hat  ungefähr  2  Glas  Bouillon,  in  zwei  Portionen,  getrunken; 
die  Temperatur  ist  nicht  erhöht.  —  26.  December.  Die  Temperatur  verhält 
sich  normal;  Befinden  und  Appetit  gut;  hat  während  24  Stunden  2  Glas 
Bouillon  und  1  Glas  Milch  ausgetrunken.  —  27.  December.  Gesundheits- 
zustand vollständig  normal ;  wird  in  getheilten  Portionen  ernährt.  —  L. Januar. 
Gesundheitszustand  normal,  wird  mit  Flüssigkeit  in  massigen  Portionen  ge- 
füttert.   Defäcation  täglich,  etwas  flüssiger  Consistenz.    Von  diesem  Tage  an 


364 


A.  Podn 


bekommt  das  Tliier  die  ^wühnliclie  Fütterung:  Hirsebrei  mit  feingcschnitlcnem 
Fleisch. 

Am  15.  Tage  wird  die  Hündin  getödtet,  das  orliallcne  Präparat  ist  in 
Fif;.  1  dargestellt,  welche  den  Zustand  und  die  Form  der  AnastomoscnölTnung 
Seitens  dos  Mastis  demonsirirt.  Man  sieht  hier,  dass  die  Mitmiindung  ihre 
rhombische  Form  TOrliert,  an  den  Winkeln  abgerundet  wird  und  allmalig  in 
die  ovalo  Form  übergeht. 

Fig.  1. 


p  :^  Pflonii  mit  kflnslllFlier  Rlrnos?  0*t«ralB  taTiginition). 
=  Ovffnnug  -  Aii»lonicuc  Soileni  ifi  Htgep. 

GaütrocntcrastOLniu  bei  lluudcii. 


Wir  riehtt'n  auch  die  Aufmrrksamkeit  auf  die  Erhöhung  im 
vorlifgcndcii  Präparat^,  welche,  unseres  Wissens  iiiflit  selten  durch 
rcaclive  Hyperplasie  riiiirs  um  die  Ocffnuiig  forrairt  wird,  wobei 
eine  Art  von  Klappe  oilcr  Klemme  nin  den  ncugeliildcten  Ausgang 
des  Magens  gebildet  wird,  was  vielleicht  eine  gewisse  Bedeutung 
lür  den  Pmcess  der  Magen verdauiing  haben  kann. 

Exper.  So.  G.  Am  12.  Dccember  minie  ein  Hund  nairli  den  oben  er- 
wähnten Itcgctn  Djierirt ,  wobei  eine  Anastomose  oberhalb  des  Colon  trans' 
vcrsuin  gebildet  und  der  Magenausgang  durch  seilliclic  Inragination  ge- 
schlossen wurde.  Der  Hund  erholte  sieh  schnell;  am  Ta^re  nach  der  Opera- 
tion bekam  er  Milch,  am  3.  Tai^e  nahm  der  Appetit  zu,  vom  5.  Tage  ar 
tiigliehe  Deläcalion  normaler  Consistenx.  Das  TliJer  wurde  am  8.  Tage  ge- 
tödtet, die  Fig.  i  illustrirt  den  Anastomosenzusland  Seitens  des  Loerdanns: 


Gastroenterofitomia  et  Eiiternnnnslomosis.  365 

die  schon  ganz  erweiterte  rhotnbit<che  OcITnung  mit  alrophirtcn  ktapponnrtigen 
Wandungen  fuhrt  dircct  in  das  abführende  Ende  des  Leerdarms,  während  das 
zuführende  Ende,  welcbes,  wie  man  aus  dem  Photogrnmm  ersieht,  eine  Um- 
wendung  bildet,  in  Folge  der  gemachten  Deniitour  des  DnrmeS  um  die  Aclise 
des  Metten (eriunis  sich  gegenüber  der  Bewegung  der  Nahrungsmnsscn  in  einer 
Lage  befindet,  die  den  Eintritt  der  letzteren  in  den  oberen  ausgeschlossenen 
Abschnitt  des  Leerdarms  fast  nicht  erlaubt. 


üostroenteroslomic. 

Iiih  erwähne  die  anderen  unserer  Kxperimi'iite  nicht,  du  sie 
nichts  Neues  xu  dein  schon  Gesairtcn  hinzufügen  würden  und  gehe 
direkt  zu  den  IJcobachlungen  über,  welche  icli  ain  Krankenbett 
gemacht  habe.  Ich  hatte  Gelegenheit  bei  /.wei  Kranken  die  be- 
schriebene Operation  auszuführen,  wobei  in  einem  Falle  Exitus 
letalis  eintrat. 

Fall  1.  Michael  M.,  37  Jahre  alt,  Kaufmann  aus  Pawlograd,  leidet  der 
AussE^e  des  l'atienten  nach  seit  lange  an  Magenkatarrh.  Bei  der  Aufnahme  in 
die  Klinik,  welche  er  am  .'50,  Deecmber  1897  wegen  eines  umfangreichen  Ge- 
schwürs im  Bereiche  des  Suhscrobiculus  cordis,  eines  krankhaften,  etwas  be- 
weglichen, harten  und  höckerigen  Tumors  nachsuchte,  war  der  Patient  durch 
langdauerndes  Hungern  und  beständiges  Erbrechen  stark  erschöpft  und  ge- 
schwächt. Aus  der  Anamnese  erfahren  wir:  Der  Patient  stamnit  aus  einer 
gesunden  Familie,  litt  selbst  lange  an  Hagenkatarrhen,  beging  keine  Kxcesse, 
war  in  der  Kindheit  scrophulüs,  ist  verheirathet  und  hat  gesunde  Kinder. 
Ungefähr  ein  Jahr  vorher  Gngen  die  Katharranfälle  an,  stärker  z\i  werden,  wo- 


366  A.  P  od  res, 

bei  Schmerzen  und  Erbrechen  erschienen,  welciie  einige  Zeit  nach  dem  Essen 
stattfanden  *).  Das  Geschwür  bemerkte  der  Patient  zum  ersten  Male  vor  einem 
halben  Jahre.  Beim  Erbrechen  erschien  nie  Blut.  Im  Anfange  trat  das  Er- 
brechen nur  bei  unvorsichtigem  Essen  ein,  jetzt  aber  erscheint  dasselbe  sogar 
nachdem  etwas  Flüssigkeit  in  den  Magen  eingeführt  worden  ist.  Der  Patient 
leidet  seit  ungefähr  zwei  Jahren  an  Verstopfung. 

Die  äussere  Untersuchung  ergab:  Hohe  Statur,  stark  ausgeprägte  Ka- 
chexie, Gelbfärbung  der  [lautdecke.  Das  Herz  und  die  Lungen  verhalten  sich 
normal,  Absonderung  und  Beschaffenheit  des  Urins  sind  normal,  die  Menge 
desselben  etwas  vermindert,  Temperatur  36,4,  Puls  schwach  und  leer,  bis 
86  in  der  Minute.  Im  Bereich  des  Epigastrium,  3  Querfinger  unter  dem  Pro- 
cessus xyphoideus,  etwas  nach  rechts,  ein  harter,  höckeriger,  gänseeigrosser 
Tumor;  der  ein  wenig  verschiebbar  und  beim  Betasten  sehr  empfindlich  ist 
und  bei  den  Respirationsbewegungen  niitbewegt  wird.  Die  Percussion  des 
betreffenden  Bereichs  zeigte,  dass  die  Dämpfung  weit  über  die  Grenzen  des 
fühlbaren  Tumors  ausgedehnt  ist,  hauptsächlich  nach  der  Leber  hin.  Der 
Magen  ist  aufgebläht,  nach  unten  links  verschoben,  seine  untere  Grenze  er- 
reicht den  Nabel.  Die  Bauchhöhle  ist,  ausser  der  Tumorgegend,  eingezogen 
und  zeigte  keine  Anomalien;  die  Milz  ist  nicht  vergrössert;  die  lymphatischen 
Hals-  und  Inguinaldrüsen  sind  etwas  geschwollen. 

Da  das  Erbrechen  trotz  aller  angewandten  Mittel  nicht  aufhörte,  so 
wurde  ein  mechanisches  Verfahren  eingeschlagen,  d.  h.  eine  Anastomose 
zwischen  dem  Magen  und  dem  Darm  hergestellt,  weil  die  Ursache  des  Er- 
brechens zweifellos  von  der  Undurchgängigkeit  des  Pylorus  abhing.  Der 
Kranke  war  so  erschöpft,  dass  keines  von  den  vorhandenen  Operationsverfahren 
angewandt  werden  konnte,  weshalb  ich  eine  Anastomose  nach  dem  oben  be- 
schriebenen Verfahren  herzustellen  mich  entschloss.  Am  2.  Januar  wurde  der 
Kranke  fast  ohne  Narkose  operirt,  indem  er  am  Anfange  der  Operation  nur 
ein  wenig  Aether  einathmete.  Operation:  Schnitt  längs  der  Linea  alba  von 
der  Mitte  des  Subscrobiculus  cordis  bis  etwa  2  Querfinger  oberhalb  des  Nabels, 
Ausziehung  des  Magengrundes  und  der  zweiten  Schlinge  des  Leerdarms  aus 
der  Wunde,  Anlegung  von  zwei  Kreuznähten,  nach  vorläufiger  Demitour  dieser 
Schlinge  nach  Wolf  1er,  zwischen  dem  Magen  und  der  Schlinge,  um  den  Ort 
der  Anastomose  herum  werden  in  den  Winkeln  4  Lembert'sche  Nähte  an- 
gelegt. 

Die  Operation  dauerte  im  Ganzen  15  Minuten,  wobei  ziemlich  viel  Zeit 
auf  die  Erkennung  der  Affection  verwendet  wurde;  afficirt  waren  nicht  nur  die 
Pars  pylorica  ventriculi,  sondern  auch  der  Bänderapparat  des  Magens,  die 
Leber,  der  Kopf  des  Pankreas  und  ein  ziemlich  grosser  Theil  des  Duodenums. 

Nach  entsprechender  Behandlung  der  blossgelegten  Organe  wurden  die- 
selben in  die  Bauchhöhle  zurückgeführt  und  die  Wunde  hermetisch  geschlossen. 


*)  Das  Erbrochene  enthielt  immer  wenig  oder  gar  nicht  veränderte  Nahrungs- 
bestandthcile.  Fast  gleichzeitig  mit  den  beschriebenen  Symptomen  erschienen 
starke  Schmerzhaftigkcit,  Sodbrennen  und  Aufstossen  nach  dem  Genuss  der 
Speisen. 


Gastroenterostomia  et  Enteroanastomosis. 


367 


3.  Januar.  Der  Kranke  klagt  ein  wenig  über  Schmerzen;  das  Erbreclien 
eiistirt  immer,  trotz  Cocain  und  anderer  Narcotica  innerlich ;"  Temperatur  36,7, 
scIiwachoT  Puls.  —  4.  Januar.  Temperatur  etwas  erhöht,  38,2,  Puls  72, 
Schmerzen  und  Aufblähung  des  Magens  etwas  vermindert,  kein  Erbrechen. 
Der  Kranke  trank  aHmälig  ungefähr  ein  Glas  Bouillon  aus.  —  5,  Januar.  Der 
Bauch  schmerzlos,  Änfblähung  vermindert,  Erbrechen  einmal  nach  Genuss  der 
Speise.  Temperatur  36,7,  Puls  76;  der  Kranke  schlief  ein  wenig  bei  Nacht. 
—  6.  Januar.  Erbrechen  zweimal  ohne  üebelkeit  und  Schmerlen  nach  Genuss 
von  mehr  als  einem  Glase  Bouillon,  —   7,  Januar.    Status  idem.    Der  Kranke 

Fig.  3. 


Oastroenterostoi 


trank  ein  wonig  Bouillon,  Erbrechen  einmal  ohne  frühere  Intention,  lempc' 
ralnr  36,6,  Puls  78.  -  8  Januar  Der  Zustand  des  Kranken  ist  im  \ll- 
gemeinen  unverändert;  Appetit,  Schmerzen  nnd  Frbrechen  fehlen  —  9  lanuor 
Stuhl  ohne  Klysma,  bestehend  aus  ziemlich  harten  Mas'icn,  kein  Erbrechen, 
Temperatur  36,7.  Puls  HU,  schwacher  —  Bis  ^um  18  lanuar  kein  hibiechcn, 
der  Kranke  konnte  ohne  Schwierigkeit  essen,  e^  waien  überhaupt  keine  Kenn- 
zeichen von  Undurchgüngigkcit  \urliandcn,  nichtsdestoweniger  nahm  die  Fr 
Schöpfung  zu  und  am  18  Januar  Nachts  terstaib  der  Kranke,  duich  den 
Grnndproceas  ganz  erschöpft 

Die   Obduclion    (vom    Professor   det    pathologischen    Anatomit)   ergab 


368 


A.  Podrt 


Höchste  Krschüpfung,  die,  wie  oben  erwähnt,  als  antnittelbare  Ursache  des 
Exitus  letalis  betrachtet  werden  muss,  einige  alte  tuberculöse,  xum  Theil  ver- 
narbte Herde;  die  Leber  ist  vergrössert  und  enthalt,  wie  auch  die  Bauch- 
speicheldrüse, der  Fylorus  ventriciili  und  das  Daodenuiu  eine  ausgedehnte 
lymphomatöse  Geschwulst,  welche  den  Pylorus  ganz  undurchgüngig  gemacht 
battc.  Die  hinlere  U'andung  des  Magens  ist  in  ihrem  mitllcren  Tbeile,  unweit 
der  Curvatura  major,  mit  einer  Lcerdarmsehünge  verwncbsen;  an  diesem  Orte 
sieht  man  eine  rboinbischc  OcfTnnng,  2  cm  breit,  von  Seiten  des  Magens  ist 
diese  OelTnung  etwas  schmaler,  während  von  Seiten  des  Leerdailns  dieselbe 
die  Form  eines  Vierwinkcis  hat.  Die  unlen  folgenden  Photogramme -3  und  4 
zeigen  die  Figur  dieser  Anastomoso  von  Seiten  des  Magens  und  des  Leerdarms. 

Fig,  4. 


Ga.stroenterostomie  bei 


Der  Fall  ist  in  der  Hinsicht  interessant,  dass  er  die  Thier- 
expcrimcnte  ergänzt,  indem  er  das  erklart,  was  auf  experimentellem 
Wege  niclit  erfahren  werden  kojmte. 

kh  erlaube  mir  nun,  auf  Grund  des  Obt'iian geführten,  folgende 
Schlüsse  7.U  ziehen: 

1.  Die  -Magen-  und  Damianastomnseoperation  mit  perforircndcr 
Kreuznaht  ist  eine  leichte,  schnelle  und  fast  gefahrlose  Methode, 
welvhe  bei  den  schwächsten  Kranken'  von  Jedem  Chirurgen 
atigewandt  werden  kann. 

2.  Hei  diescTu  Verfahren  ist  die  liildung  einer  Aiia;>tiimosc 
nach  2 — 5  Tagen  voUkonimen  garantirt. 


Gasiroenterostomia  ot  Enteroanastomosis.  369 

3.  Es  ist  zu  wünschen,  dass  diese  Operation  einige  Tage 
früher,  als  die  Bildung  einer  Fistel  nach  anderen  Methoden  ge- 
macht wird. 

4.  Die  Fistel  hat  eine  ringförmig  ovale  Form,  wobei  die  Grösse 
von  derjenigen  des  genähten  Gewebes  abhängt. 

5.  Der  Kranke  läuft  nicht  die  Gefahr  des  Shock's  oder 
CoUapses,  da  die  Operation  im  Ganzen  nur  einige  Minuten  dauert 
und  keine  langdauernde  Narkose  erfordert,  oder  sogar  nur  mit 
Cocain  ausgeführt  werden  kann,  wie  ich  es  in  meinem  zweiten 
Falle  gethan  habe,  der  jetzt  nicht  mitgetheilt  werden  kann,  da 
die  Beobachtungen  über  den  Verlauf  der  Nachoperation  noch  nicht 
zu  Ende  sind. 

6.  Endlich  ist  die  beschriebene  Operation  auch  in  der  Hinsicht 
vorzuziehen,  dass  die  Kranken  während  der  ersten  2-3  Tage  auf 
normalem  Wege  ernährt  werden  können;  nur  vom  5,  bis  zum 
9.  Tage  muss    diese  Ernährung    vorsichtig    unternommen    werden. 


XV I. 

Experimentelle  Untersuchungen   und   Er- 
fahrungen über  Infiltrationsanästhesie/) 

Von 

Privafdocent  Dr.  H.  Braun 

in  Leipzig. 

(Mit  2  Figuren.) 


I.  Begriffsbestimmung. 

Um  über  das  Princip  der  älteren  und  modernen*  loeal- 
anästhetischcn  Methoden  eine  Verständigung  zu  ermöglichen,  bedarf 
es  einer  Begriffsbestimmung,  welche  am  Besten  an  der  Hand 
beistehender  seh em atischer  Zeichnung  (Fig.  1)  zu  bewerkstelligen 
sein  wird. 

Dieselbe  zeigt  einen  Querschnitt  durch  Haut  und  Subcutis, 
Ni  und  No  sind  zwei  sensible  Nervenstämme,  die  im  subcutanen 
Zellgewebe  verlaufen  und  in  der  Cutis  sich  verästeln.  Ihre  Ver- 
breitungsbezirke greifen,  entsprechend  den  Verhältnissen,  wie  sie 
in  der  Haut  des  ganzen  Körpers  gefunden  werden,  in  einander  über. 

Wir  stellen  uns  nun  die  Aufgabe,  in  dem  von  Kreis  I  be- 
grenzten Bezirk  durch  Einspritzung  einer  wässrigen  Flüssigkeit  in 
die  Gewebe  eine  locale  Anästhesie  hervorzurufen.  Das  kann  auf 
dreierlei  Weise  geschehen. 

In  dem  einen  Fall  kann  der  erwähnte  Bezirk  völlig  durch- 
tränkt, angefüllt  werden  mit  einer  Flüssigkeit,  welche  die  Nerven- 
function lähmende  Factoren  enthält.  Diese  Factoren  können  che- 
mischer Natur  sein,  und  es  giebt  überhaupt  nur  wenige  Stoffe,  welche 
in  dieser  Form  selbst  in  den  niedrigsten,  an  der  unteren  Grenze 
ihrer  specifischen  Wirksamkeit  stehenden  Concentrationen  angewendet, 

*)  Auszugsweise  vorgetragen  am  1.  Sitzungstage  des  XXVIT.  Congresses 
der  Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  13.  April  1898. 


Eiporiment.  Untersuch UDgen  u.  Erfahrungen  üb.  Intiltrationsanästhosie.    371 

die  Sensibilität  intact  lassen;  die  meisten  reizen  und  lahmen  die 
sensiblen  Nerven,  oft  einfach  der  Ausdruck  einer  schweren  Gewebs- 
schädigung  oder  Gewebszerstörung,  wenige  lähmen,  ohne  zu  reizen. 
Aber  auch  einige  physikalische  Eigenschaften  wässriger  Lösungen 
vermögen  auf  diese  Weise  Anästhesie  zu  erzeugen.  In  jedem  Fall 
pflegt  die  Beeinträchtigung  der  Nervenfunction  dem  Einspritzen 
der  Flüssigkeit  unmittelbar  zu  folgen,  und  in  dem  ganzen  von  der 
fremdartigen  Flüssigkeit  durchtränkten  Gebiet  gleich  stark  und  von 
gleicher  Dauer  zu  sein.  Ihre  practische  Verwendung  findet  diese 
Methode  als  Schloich'schc  Infiltrationsanästhcsio. 

Fig.  1. 


^^äaJü 


Der  Bezirk  I  kann  aber  noch  auf  eine  andere  Weise  anästhetisch 
gemacht  werden.  Es  giebt  einige  Stoffe,  welche,  wie  das  Cocain, 
noch  in  enonner  Verdünnung  die  sensiblen  Nervenendigungen  spe- 
cifisch  lahmen,  wenn  sie  mit  ihnen  in  Berührung  kommen.  Wird 
in  den  kleinen  von  Kreis  II  umschriebenen  Bezirk  die  Lösung 
eines  solchen  Stoffs  gespritzt  von  einer  Concentration,  die  um  das 
vielfache  starker  ist  als  diejenige,  welche  bei  unmittelbarem  Con- 
tact  die  Nervensubstanü  noch  lahmt,  z.  B.  eine  1  proc.  Cocain- 
lösung,  so  diffundiren  geringe  Cocainmcngen  in  die  Nachbarschaft, 
welche  aber  genügen,  um  auch  in  dem  ganzen  Bezirk  I  Anästhesie 
oder  Analgesie  hervorzurufen.  Aber  es  vergehen  einige  Hinuten, 
bis  das  geschehen  ist,  und  die  Intensität  und  Dauer  der  Sen- 
sibilitätsstörung nimmt  nach  der  Peripherie  zu  ab,  wir  beobachten 
um  ein  anästhetisches  Centrum,  das  unter  dem  Einfluss  der  dirccten 
Infiltration  steht,  eine  hemianästhetischc,  analgetische  Zone.  Die 
Ausdehnung  dieser  Zone  hängt  von  der  Concentration  der  Cocain- 

Aiebit  nir  \\\a.  Chinrtrle.    57.  Üd.  Heft  2.  oe 


372  Dr.  H.  Braun, 

lösung  ab  und  kann  bedeutend  erweitert  werden,  wenn  durch  Unter- 
brechung der  Blutzufuhr  die  Resorption  der  Cocainlösung  verhindert 
wird.  Ihr  Paradigma  findet  diese  zweite  Methode  in  derjenigen 
Form  der  Co(iainanästhesie,  welche  von  fast  allen  Aefzten,  die 
sich  ihrer  vor  Schleich  überhaupt  bedienten,  angewendet  wurde 
und  welche  in  Reclus  ihren  modernen  Hauptvertreter  gefunden 
hat.  Sie  untersclieidet  sich  von  der  Schleich'schen  Infiltrations- 
anästhesie dadurch,  dass  durch  kleinere  Flüssigkeitsmengen  grössere 
Gewebsbezirke  anfistetisch  gemacht  werden  können,  ist' aber  sonst 
weder  in  ihrem  Wesen,  noch  in  ihrer  Technik  principiell  von  ihr 
verschieden,  hier,  wie  dort  ist  die  Anästhesie  oder  Analgesie  beschränkt 
auf  das  Gebiet,  in  welchem  lähmende  Factoren  durch  den  unmittel- 
baren Contact  mit  den  sensiblen  Nervenendigungen  in  Wirksamkeit 
treten.  Ich  möchte  daher  vorschlagen,  diese  Fonn  der  localen  An- 
ästhesie als  Reclus'sche  oder  indirecte  Infiltrationsanästhesio 
zu  bezeichnen. 

Eine  dritte  Form  der  localen  Anästhesie  beruht  auf  dem  Um- 
stand, dass  chemisch  oder'  physikalisch  different  wirkende  Flüssig- 
keiten, auf  einen  Nervenstamm  applicirt,  seine  Leitungsfähigkeit 
unterbrechen.  Praktisch  brauchbar  sind  auch  hier  nur  Stoffe, 
welche,  gleich  dem  Cocain,  höchst  intensiv  specifisch  lähmen. 
Wird  in  die  mit  111  und  IV  bezeichneten  Bezirke  nach  Unterbrechung 
der  Blutzufuhr  eine  Y2 — 1  proc.  Cocainlösung  gespritzt,  so  entsteht 
daselbst  sofort  eine  locale  Infiltrationsanästhesie,  bald  aber  dringt 
ein  Theil  des  Cocains  in  die  Nervenstämrae  Nj  und  Ng  ein,  die 
Leitung  in  ihnen  wird  unterbrochen  und  dadurch  der  Bezirk  I  und 
11  aus  der  sensiblen  Sphäre  ausgeschaltet.  Wäre  nur  an  einem 
der  Nervenstämme  diese  Procedur  vorgenommen  worden,  so  wäre 
die  erzielte  Anästhesie  eine  unvollkommene. 

Ich  möchte  vorschlagen,  allein  diese  Form  der  localen  Anästhesie, 
von  Grund  aus  verschieden  in  ihrem  Wesen  und  in  ihrer  Technik  von 
der  Infiltrationsanästhesie,  als  regionäre  Anästhesie  zu  bezeichnen. 

II.   Experimentelle   Untersuchungen   über   die   Inflltrations- 

anaesthesie. 

Ich  habe  in  Gemeinschaft  mit  Herrn  Dr.  Heinz e  experimentelle 
Untersuchungen  über  die  theoretischen  Grundlagen  der  Infiltrations- 
anacsthesie    angestellt.     Kinen  Theil  der  Ergebnisse  derselben    hat 


Experiment.  Untersach ungen  u.  Erfahrungen  üb.  Infiltrationsanästhesie.    373 

• 

Heinzc  veröflfentlicht, i)  ein  anderer  Theil  bildet  den  Inhalt  dieser 
Arbeit.  Wiederholungen  dessen,  worüber  auch  Heinz e  berichtet, 
lassen  sich  nicht  immer  vermeiden,  es  ist  aber  auch  von  Wichtig- 
keit, dass  Beobachtungen  von  natuiigemäss  subjectivcm  Character 
von  zwei  Personen  geprüft  werden. 

Die  Wirkung,  welche  wässerige  Lösungen  von  Salzen  und 
anderen  Stoffen  bei  der  Einspritzung  in  die  Gewebe  speciell  auf 
die  sensiblen  Nerven  äussern,  setzt  sich  zusammen  aus  einer  An- 
zahl von  Componenten.  Die  Temperatur  der  Lösung,  die  mit  der  Ein- 
verleibung derselben  verbundene  mechanische  Zerrung  und  Anacmie 
der  Gewebe,  osmotische  Vorgänge,  d.  h.  Quellung  und  Wasser- 
entziebung,  endlich  chemische  Umsetzungen,  alle  diese  Factoren, 
wie  zunächst  angenommen  werden  soll,  wirken  zusammen,  um  die 
sensiblen  Nerven  zu  reizen,  zu  lähmen  oder  zu  tödten. 

Es  war  vor  allen  Dingen  nothwendig,  die  Wirkung  dieser 
Factoren  von  einander  zu  trennen. 

Die  üntersuchungsmethode,  der  wir  uns  bedienten,  war  die 
von  Schleich^)  angegebene,  d.  h.  wir  spritzten  die  zu  prüfenden 
Flüssigkeiten  auf  Körpertemperatur  erwärmt  in  unsere  eigene  Cutis 
und  beobachteten  an  den  für  das  Auge  sichtbaren  entstehenden 
Quaddeln  etwaige  Sensibilitätsstörungen  oder  sonstige  Veränderungen. 
Es  ist  das  in  der  That  die  einzige  Methode,  welche  feinere  Diffe- 
renzen in  der  Wirkung  verschiedener  Lösungen  erkennen  lässt. 
Nur  ist  zu  beachten,  dass  vergleichende  Untersuchungen  nur  mög- 
lich sind  an  dicht  neben  einander  gestellten  Quaddeln,  und  zur 
gleichen  Zeit,  weil  die  Sensibilität  der  Haut  nach  Ort  und  Tages- 
zeit variabel  ist.  Exacte  Versuche  konnte  ich  nur  früh  Morgens 
anstellen.  In  späteren  Tagesstunden,  namentlich  aber  nach  Alcohol- 
genuss  ist  die  Sensibilität  der  Haut  beträchtlich  herabgesetzt. 
Ferner  müssen  die  Quaddeln  ungefähr  gleiche  Grösse  haben,  da 
die  Intensität  und  Dauer  etwaiger  Sensibilitätsstörungen  steigt  und 

ff 

sinkt  mit  der  Menge  der  auf  einen  Gewebsabschnitt  vertheilLen 
Versuchsflüssigkeit  und  mit  der  Ausdehnung  des  infiltrirten  Ge- 
bietes. 

Als  wichtigste  hier  in  Frage  kommende,  allen  wässerigen 
Lösungen    geraeinsame  Eigenschaft    fanden   wir    deren    osmotische 

0  Die  Arbeit  soll  in  Virchow's  Archiv  erscheinen. 
2)  Schmerzlose  Operationen.    III.  Aufl.    Berlin  18U8. 

25* 


374  Dr.  H.  Braun, 

• 

Spannung.  Sie  äussert  sioh  darin,  dass  die  Lösungen  an  die 
Gewebe  Wasser  abgeben  oder  ihnen  Wasser  entziehen.  Eine  be- 
stimmte Concentration  einer  jeden  Lösung  aber  ist  osmotisch 
indifferent.  Lösungen  mil  der  gleichen  osmotischen  Spannung 
nennt  man  isotonisch  oder  isosmotisch. 

Die  ausserordentliche  Bedeutung,  welche  osmotische  Vorgänge  bei  fast 
allen  Lebensprocessen  im  Pflanzen-  und  Thierreich  haben,  macht  es  leicht 
verständlich,  dass  Botaniker  und  Physiologen  es  zuerst  unternommen  haben, 
die  osmotische  Spannung  von  Lösungen  verschiedener  Salze  experimentell  zu 
bestimmen  und  die  isotonischen  Concentrationen  solcher  Salze  zu  finden.  Der 
erste,  der,  allerdings  nicht  mit  ausgesprochener  Absicht,  in  dieser  Richtung 
Versuche  gemacht  hat,  warNasse^).  Er  legte  nämlich  Froschmuskeln  in 
Salzlösungen  und  untersuchte,  in  welchen  Concentrationen  dieselben  ihre 
Erregbarkeit  am  besten  und  längsten  bewahren.  Er  fand  z.  B.,  dass  sie  dies 
in  einer  Chlornatriumlösung  von  0,6 pCt.,  einer  Jodnatriumlösung  von  1,75 pCt., 
einer  Natronsalpeterlösung  von  1  pCt.  thun.  Diese  Lösungen  sind  annähernd 
isotonisch.  Wir  wollen  uns  im  weiteren  Verlauf  unserer  Untersuchungen  wieder 
daran  erinnern,  dass  gerade  isotonische  Lösungen  von  Natriumsalzen  es  gewesen 
sind,  die  gegenüber  den  Nerven  dementen  der  quergestreiften  Muskeln  sich 
gleich  verhielten,  während  die  Lösungen  der  meisten  anderen  Salze,  welche 
Nasse  prüfte,  einen  gesetzmässigen  Zusammenhang  zwischen  osmotischer 
Spannung  und  Wirkung  auf  die  Nervenelemente  nicht  erkennen  Hessen. 

Mit  Hülfe  einer  physiologischen  Methode  hat  später  De  Vries^)  eine  grosse 
Anzahl  isosmotische  Concentrationen  verschiedener  organischer  und  anorganischer 
Verbindungen  bestimmt.  Als  Merkmal  der  Isotonie  diente  ihm  der  Umstand, 
dass  Lösungen  von  einer  bestimmten  Concentration  einer  jeden  Verbindung 
gewisse  durch  Wasserentziehung  zu  erklärende  Erscheinungen  an  Pflanzenzellen 
(Plasmolyse)  und  jungen  Pflanzensprossen  hervorrufen.  Die  niedrigst  concen- 
trirten  Lösungen,  welche  eben  noch  wasserentziehend  wirkten,  sind  isotonisch. 
In  ähnlicher  Weise  benutzten  Hamburger^),  Köppe^)  und  Hedin ^)  die 
rothen  Blutkörperchen  verschiedener  Thiere  und  des  Menschen  dazu,  um  mit 
Hülfe  der  an  ihnen  zu  beobachtenden  Erscheinungen  der  Quellung  und  Wasser- 
entziehung die  isotonischen  Concentrationen  wässriger  Salzlösungen  zu  finden. 
Hamburger  prüfte,  bei  welcher  Concentration  die  rothen  Blutkörperchen  rasch 
und  vollständig  zu  Boden  ^inken,  und  bei  welcher  niedrigsten  Concentration 
sie  eben  Farbstoff  abgeben,  das  Mittel  aus  beiden  Werthen  ergab  die  mit  den 
de  Vries -sehen  Untersuch  unsren  imalluremeinen  übereinstimmenden  isotonischen 


»)  Pflüger's  Archiv,  Bd.  H  (1869^  und  Bd.  XI  (1875). 

2)  P  rings  heim 's   Jahrbücher    der    wissenschaftlichen   Botanik,    Bd.    14, 
188-4,  und  Zeitschrift  für  physikal.  Chemie,  Bd.  2. 

3)  Hamburger,   Archiv  f.  Aaat.  und  Physiol.      Physiol.  Abth.    1886  u. 
1887,  Supplement-Band.    —    Zeitschrift  für  physikal.  Chemie.     Bd.  VL     1890. 

*)  Koppe,  Zeitschrift  für  phvsikal.  Chemie.     Bd.  16,  S.  261. 
*)  Hedin,  Skand.  Archiv  f.  Physiologie.     Bd.  2,  S.  134  u.  160.  —  Zeit- 
schrift f.  physikal.  Chemie.    Bd.  17. 


Experiment.  Untersuchungen  u.  Erfahrungen  üb.  Infiltrationsanästhesie.     375 

Concentrationen  der  Salze.  Koppe  undHedin  verwendeten  das  durch  besondere 
Methoden  zu  bestimmende  Volumen  der  rothen  Blutkörperchen,  das  sich  bei 
Einwirkung  quellender  Lösungen  vergrössert,  bei  Anwendung  wasserentziehender 
Lösungen  vermindert,  als  Prüfstein  für  die  Isotonie  der  Lösungen. 

Die  moderne  physikalische  Chemie  aber  hat  gelehrt,  dass  die  osmotische 
Spannung  wassriger  Lösungen  einzig  und  allein  abhängig  ist  von  dem  Grad 
der  Dissociation,  in  dem  sich  die  Moleküle  der  gelösten  Verbindung  befinden, 
•hat  gelehrt,  sie  aus  den  Bestimmungen  der  elektrischen  Leitungsfähigkeit  der 
Lösungen  zu  berechnen,  und  hat  gezeigt,  dass  die  durch  Lösung  von  Salzen 
in  Wasser  bewirkten  Gefrierpunktserniedrigungen  ein  sicheres  Maass  für  die 
osmotische  Spannung  abgeben.  Es  war  das  ja  auch  schon  de  Vries  bekannt, 
die  Technik  der  Gefrierpunktsbestimmung  aber  ist  durch  Anwendung  moderner 
Instrumente  namentlich  des  Beck mann'schen^)  Gefrierpunktapparates,  so  be- 
quem und  einfach  geworden,  dass  man  wohlkaum  noch  auf  jene  an  sich  so  inter- 
essanten physiologischen  Methoden  der  Bestimmung  isotonischer  Concentrationen 
zurückgreifen  wird.  Die  für  unsere  Untersuchungen  nothwendigen  Gefrier- 
punktsbestimmungen sind  sämmtlich  von  mir  mit  Hülfe  des  Beckmann 'sehen 
Apparates  ausgeführt. 

Alle  wässrigen  Lösungen,  welche  den  gleichen  Gefrierpunkt 
haben,  sind  isosmotisch,  d.  h.  sie  geben  entweder  mit  der  gleichen 
Kraft  Wasser  an  die  Gewebe  ab  und  bringen  sie  zur  "Quellung, 
oder  sie  entziehen  ihnen  mit  gleicher.  Intensität  Wasser,  oder  sie 
sind  osmotisch  indifferent. 

Die  Wirkung  osmotischer  Spannungsdifferenzen,  nämlich  Reiz 
und  Lähmung  sensibler  Nerven,  kann  ganz  rein  beobac^.htct  werden 
bei  Injection  von  auf  Körpertemperatur  erwärmtem,  reinem  Wasser 
und  wässrigen  Lösungen  eines  chemisch  indifferenten  Salzes,  z.  B. 
des  Kochsalzes  in  die  Cutis. 

Osmotisch  indifferent  sind  solche  Lösungen,  welche  den  gleichen 
Gefrierpunkt  haben,  wie  die  normalen  Körperflüssigkeiten.  Gefrier- 
punktsbestimmungen des  menschlichen  Blutes,  der  Lymphe,  ferner 
von  Exsudaten  und  Transsudaten  des  menschlichen  Körpers  sind  zuerst 
von  Dreser^),  dann  von  Koranyi  und  Tauszk^)  und  von  mir  selbst 
vorgenommen  worden.  Sie  zeigen,  dass  der  Gefrierpunkt  dieser 
Flüssigkeiten  mit  geringen  Schwankungen  nach  oben  und  unten 
stets  —  0,55  °  sehr  nahe  liegt.  Den  gleichen  Gefrierpunkt  hat  eine 
Kochsalzlösung   von    0,9^0?    diese    ist  also    osmotisch  indifferent. 


^)  Zeitschrift  für  physikalische  Chemie.    Bd.  II. 
2)  Archiv  für  experimentelle  Pathologie.     Bd.  29. 
8)  Zeitschrift  für  klinische  Medicin.    Bd.  33. 


376 


Dr.  H.  Braun, 


alle  stärker  coiicentrirten  Kochsalzlösungen  entziehen  dem  G«webe 
Wasser,  alle  verdünnteren  bringen  die  Gewebe  zur  Queilung,  um 
so  mehr,  je  näher  sie  dem  reinen  Wasser  stehen.  Ich  habe  ver- 
sucht, die  physiologischen  Wirkungen  der  Quellung  und  Wasser- 
entziehung   auf  Fig.    2    durch    zwei  Curven    zu    veranschaulichen. 


Fig.  2. 


OUltA#nA4<MA,, 


sjgct:  <r    9,^   ^%  ^s    e,H  OiS-  e^   olf   €0    09    i^  c^     itt%  s% 


M^rt:£ii^\    -1      I      I      I     I     I     I     I      1      I  , 

tTtwOnjoH^':  a  Ct9^  o,f|   c^if  o,xr  O^  C|$f  tiV  qv)  0^  o,ii^ 


Auf  der  horizontalen  Linie  A  B  sind  aufgetragen  die  Concen- 
trationen  von  Kochsalzlösungen  von  07oj  ^^so  Wasser,  bis  lO^o? 
von  einem  Thoil  dieser  Kochsalzlösungen  sind  auch  die  Gefrierpunkte 
angegeben.  Die  ausgezogene  Curve  bedeutet  den  sensiblen  Reiz, 
welcher  bei  Einspritzung  der  Lösungen  in  die  Cutis  entsteht,  die 
punktirte  Curve  die  diesem  Reiz  folgende  sensible  Lähmung.  Der 
Abstand  der  Curvenpunkte  von  der  Horizontalen  entspricht,  natürlich 
nicht  mathematisch  genau,  sondern  ungefähr,  der  Intensität  des 
Reizes  und  der  Lälimung.  In  der  Mitte  steht  die  osmotiscli  indiffe- 
rente 0,9  7o  Kochsalzlösung.  Sie  erzeugt,  erwärmt  und  in  die  "Cutis 
eingespritzt,  weder  einen  Reiz,  noch  eine  Lähmung,  sie  wird  sehr 
schnell  resorbirt,  ohne  dass  die  geringste  Gewebsveränderung  zurücTc- 
bleibt.  Werden  Kochsalzlösungen  in  die  normale  Haut  des  Vorder- 
arms oder  Oberarms  gespritzt,  wie  das  bei  den  Experimenten  am 
eigenen  Körper  geschieht,  so  fanden  wir  eine  scheinbar  indifferente 
Zone  von  0,55  %  bis  etwa  27o)  ^^ch  ^^  entstand  weder  ein  Injections- 
schmerz  noch  eine  deutliche  Veränderung  der  Sensibilität.  Werden 
aber  dieselben  Lösungen  gelegentlich  in  hyperästhetische,  namentlich 


Experiment.  Untersuchungen  u.  Erfahrungen  üb.  Infiltrationsanästhesie.    377 

entzündete  Gewebe  injicirt,  so  ergiebt  sich,  dass  die  den  sensiblen 
Nerven  gegenüber  indifferenten  Concentrationen  nur  in  der  nächsten 
Nachbarschaft  der  0,9  proc.  Kochsalzlösung  zu  finden  sind.  Bei 
abnorm  sensiblen  Menschen  werden  also  die  beiden  Curven  so  ver- 
laufen, dass  sie  die  Horizontale  näher  dem  Mittelpunkt  erreichen. 

In  der  normalen  Cutis  bewirkt  die  ersten  Quellungssymptome 
eine  Kochsalzlösung  von  0,5  pCt.,  einen  leichten,  sehr  charakteristi- 
schen Quellungsschmerz  und  ihm  rasch  folgend  eine  geringe  Herab- 
setzung der  Sensibilität.  Wird  weiter  verdünnt,  so  steigert  sich 
der  Injectionsschmerz  langsam  bis  0,4  pCt,  dann  rasch  bis  0,2  pCt. 
um  endlieh  beim  Wasser  seine  grösste  Heftigkeit  zu  erreichen. 
Stets  folgt  dem  Reiz  die  Lähmung,  deren  Intensität  derjenigen  des 
Reizes  ungefähr  parallel  geht.  Eine  Quellungsanästhesie  ohne 
Queilungsreiz  giebt  es  nicht,  die  0,2  proc.  Kochsalzlösung  erregt 
bei  der  Injection  sehr  heftigen  Quellungsschmerz  -und  eine  kurz- 
dauernde Analgesie  ohne  Parästhesien^).  Beim  reinen  Wasser  folgt 
dem  höchst  intensiven  Reiz  eine  Quellungsanästhesie  der  Gewebe, 
die  ebenso  lange  anhält,  wie  die,  welche  durch  specifisch  wii'kende 
Anästhetica  hervorgerufen  werden  kann.  Ein  practisch  sehr  wichtiges 
weiteres  physiologisches  Symptom  der  Quellung  aber  ist  eine  unver- 
kennbare Gewebsschädigung.  Das  reine  Wasser  erzeugt  nicht  selten 
Quell ungsnekrosen,  jedenfalls  hinterlassen  stark  quellende  Lösungen 
stets  lange  bestehen  bleibende  schmerzhafte  Infiltrate  in  den  Geweben. 
Auch  bei  0,2  proc.  Kochsalzlösungen  ist  dies  Symptom  noch  angedeutet. 

An  Lösungen,  welche  mehr  als  0,9  pCt.  Kochsalz  enthalten, 
beobachten  wir  die  physiologischen  Wirkungen  der  Wasserentziehung. 
Sie  bestehen  gleichfalls  in  Reiz  und  Lähmung  der  sensiblen  Nerven, 
doch  wird  der  Reiz  in  ganz  anderer  Weise  empfunden  als  der 
Quellungsschmerz,  er  folgt  der  an  sich  wenig  schmerzhaften  In- 
jection und  hält  mehrere  Minuten  an,  während  deren  die  Quaddel 
stark  hyperästhetisch  ist.  Hierauf  tritt  Anästliesie  ein.  Gleich- 
zeitig macht  die  Quaddel  sehr  eigenthümliche  Formveränderungen 
durch.  Wenn  das  Stadium  der  Hyperästhesie  erreicht  ist,  der 
brennende  Schmerz  nachlässt  und  die  Anästhesie  beginnt,  sinkt 
schnell  das  Centrum  der  Quaddel  in  Form  einer  Delle  ein,  während 


*)  Schleich  (1.  c.  S.  148)  behauptet,  sie  verursache  „ein  sehr  geringes 
Gefühl  leichter  Spaunung,  auch  vohl  etwas  Jucken  (Parästhesie)"  und  Anästhesie. 
Dem  hat  übrigens  auch  schon  Güster  widersprochen. 


378  Dr.  H.  Braun, 

ihr  Rand  einen  circulär  erhabenen  Wall  bildet;  der  anaemische 
Wall  und  das  anaemische  Centrum  siud  meist  durch  einen  schmalen 
stärker  gerötheten  Ring  getrennt.  Nach  etwa  15  Minuten  wird 
die  Quaddel  wieder  glcichmässig  flach,  und  vergrössert  sich  nach 
der  Peripherie,  während  die  Sensibilität  wiederkehrt.  Bald  darauf 
verschwindet  sie,  ohne  dass  eine  Gewebsveränderung  zurückbleibt. 
Den  Symptomen  der  Wasserentziehung  kommt  eine  praktische  Be- 
deutung nicht  zu,  da,  wenigstens  zur  localen  Anästhesie,  wasser- 
entziehende Lösungen  niemals  verwendet  werden. 

Ich  habe  nunmehr  den  Beweis  zu  erbringen,  dass  die  ge- 
schilderten Vorgänge  und  Empfindungen  wirklich  allein  Folgen 
osmotischer  Vorgänge  sind. 

Schleich  (1.  c.  pg.  151)  hat  geglaubt,  dass  die  mit  der  In- 
filtration verbundene  Anämie  der  Gewebe  und  mechanische  Irritation 
der  sensiblen  Nervenendigungen  von  wesentlicher  Bedeutung  für 
das  Zustandekommen  der  Infiltrationsanästhesie  sei.  Dass  diese 
Faktoren  aber  ganz  irrelevant  sind,  ergiebt  sich  einfach  daraus, 
dass  mit  einer  auf  Körpertemperatur  erwärmten  0,9  proc.  Kochsalz- 
lösung umfangreiche  Gewebsbezirke,  wie  wir  wiederholt  an  uns 
selbst  konstatirten,  prall  infiltrirt  werden  können,  ohne  dass  auch 
nur  die  geringsten  Sehsibilitätsveränderungen  entstehen.  Gegen 
Anämie  besonders  sind  die  sensiblen  Nerven  ausserordentlich  lange 
tolerant.  Schnürt  man  sich  den  eignen  Finger  mit  einem  Gummi- 
schlauch ab,  so  treten  zwar  sehr  bald  Parästhesien  auf,  welche 
w^ohl  als  Folge  der  directen  Compression  der  Nervenstämme  an- 
gesehen werden  müssen,  die  Empfindlichkeit  der  Fingerhaut  aber 
gegen  Berührung  und  Nadelstiche  ist  noch  nach  einer  Stunde  kau^i 
herabgesetzt.  In  der  kurzen  Zeit,  in  welcher  unsere  kunstlichen 
Oedeme  bestehen,  beeinflusst  also  die  nicht  einmal  vollständige 
Anämie  keinesfalls  die  Sensibilität^). 

0  Möglich  ist  es,  dass  die  Herabsetzung  der  Sensibilität,  -welche  an 
chronisch  ödematösen  Geweben  bei  Kranken  beobachtet  wird,  eine  Folge  der 
lange  Zeit  anhaltenden  Anämie  ist,  wie  Schleich  annimmt.  Sehr  wahrscheinlich 
aber  ist  es,  dass  auch  osmotische  Spann ungsdifferenzen  der  Gewebsflüssigkeiten 
bei  diesen  Sensibilitätsstörungen  eine  Rolle  spielen;  denn  Koranyi  (i.  c.)  hat 
gezeigt,  dass  der  Gefrierpunkt  der  Gewebsflüssigkeiten  bei  Herz-  und  Nieren- 
kranken Abweichungen  von  der  Norm  zeigt.  Schleich  (l.  c.  S.  151)  meint 
femer,  die  Bedeutung  der  Anämie  sei  dadurch  erwiesen,  dass  in  anämischen 
Geweben  das  Cocain  wirksamer  sei,  als  in  hypcramischen.  Ja,  meines  Er- 
achtens  liegt  das  lediglich  daran,  das  in  letzteren  das  Cocain  weit  rascher 
weggeschwemmt  wird. 


Experiment.  Untersuchungen  u.  Erfahrungen  üb.  Infiltrationsanästhesie.    379 

Verschieden  temperirte  0,9  proc.  Kochsalzlösung,  in  die  Cutis 
injicirt,  lässt  daher  die  Einwirkung  der  Temperatur  wässriger 
Lösungen  auf  die  sensiblen  Nervenendigungen  erkennen.  Es  zeigt 
sich  hierbei,  dass  jede  stärkere  Abweichung  der  Temperatur  der 
Lösung  von  der  Körpertemperatur  einen  Reiz  auslöst,  um  so 
intensiver,  je  kälter  die  Lösung  ist.  Abkühlung  der  Lösung  auf 
0^  und  darunter  macht  im  Anschluss  an  den  Reiz  Anästhesie,  die 
aber  in  Folge  rascher  Erwärmung  der  Lösungen  im  Körper  von 
so  kurzer  Dauer  ist,  dass  ihr  jede  praktische  Bedeutung  ab- 
gesprochen werden  muss.  Ein  Quell ungsschmerz  kann  niemals, 
wie  Schleich  (pg.  151)  meint,  durch  Abkühlung  der  Lösung  ver- 
mindert oder  aufgehoben,  sondern  nur  verstärkt  werden,  weil  sich 
zu  dem  Quellungsreiz  noch  der  Teraperaturreiz  .gesellt.  Auf  50  bis 
55^  erwärmte  Lösungen  schädigen  zweifellos  die  Gewebe,  hinter- 
lassen schmerzhafte  Infiltrate,    ohne    die  Sensibilität  zu  verändern. 

Der  strikte  Beweis  aber,  dass  die  Quellung  allein  reizt,  lähmt 
und  die  Gewebe  schädigt,  dass  ferner  auch  die  Wasserentziehung 
charakteristische,  objektiv  und  subjektiv  wahrnehmbare  Verände- 
rungen an  der  Quaddel  bewirkt,  wird  dadurch  geliefert,  dass  es 
ausser  dem  Kochsalz  noch  eine  Anzahl  von  anderen  chemisch  in- 
differenten Stoffen  giebt,  deren  Lösungen  bei  der  Einspritzung  in 
die  Gewebe  genau  die  gleichen  Symptome  machen,  wie  Kochsalz- 
lösungen mit  demselben  Gefrierpunkt.  Hierzu  gehören  viele  Natrium- 
salze und  Zuckerarten.  Auf  Tabelle  II  ist  eine  Reihe  solcher 
Stoffe  zusammengestellt: 

Tabelle  I.    Wässrige  Lösungen  bei  35  ^ 


I. 

TT. 

III. 

IV. 

Mole- 

QueUunj^s- 

Verbindung 

kular- 

schmerz 

Kein  Quellungsschmerz  mehr  bei: 

Ge"wicht 

noch  bei: 

Cblornatrium,   NaCl. 

58,5 

0,5    pCt. 

0,55  pCt.  Gefrierpunkt  —  —  0,35  0. 

Natrium   bicarbooic, 

COaNaH 

84 

0,75     , 

0,8      „             ,           --0,370. 

Natrium     nitricum, 

NOsNa 

85 

0,75     , 

0,8      „             ,           =-0,350. 

Bromoatrium,  NaBr. 

103 

0,95     ^ 

1         ,             ,           --0,340. 

Jodnalriuro,  NaJ. .     . 

150 

1,20    , 

1,25    ,             „           =-0,320. 

Natrium     biboricum, 

Na2B407  +  5H2O.     . 

292 

1,80     „ 

1,35    „            „           =-0,350. 

380 


Dr.  H.  Braun, 


I. 

II. 

Mole- 

UI. 
Quellungs- 

IV. 

Verbindung 

kül  ar- 

schmerz 

Kein  Quellungsschmerz  mehr  bei: 

Gewicht 

noch  bei: 

Natrium    sulfuricum, 

S04Na2+10H20.     . 

322 

2,1    . 

2,2  . 

=-.  -  0,33  o. 

Natrium  phosphoric, 

P04Na2  +  12H20.     . 

358 

2,3    „ 

2.4  „ 

=  -0,345». 

Rohrzucker, 

G12H22O11 

342 

5,6    , 

5,8  , 

=  —  0,350. 

Milchzucker, 

Ci2"220ll  ~r  ^*2^' 

360 

5,7    , 

5,9  , 

=  —0,345». 

In  Spalte  I  findet  man  die  betreffenden  Verbindungen,  in 
Spalte  II  die  Molekulargewichte,  in  Spalte  III  diejenige  stärkste 
Concentration  der  Lösungen  in  Procenten,  bei  welchen  die  Injection 
noch  eben  einen  leisen  Schmerz  verursacht.  Niedrigere  Concea- 
trationen  als  diese  rufen  stets,  wie  beim  Kochsalz,  einen  um  so 
intensiveren,  bei  allen  Verbindungen  gleichartigen  Schmerz  und 
ihm  folgend,  um  so  vollständigere  Anästhesie  hervor,  je  näher  die 
Lösung  dem  reinen  Wasser  steht.  Bei  weitei'er  Erfiöhung  der  Con- 
centration aber  gelangt  man  bei  allen  diesen  Stoffen  in  eine  in- 
differente Zone,  innerhalb  deren  ihre  Lösungen  weder  reizen  noch 
sonst  die  Sensibilität  verändern.  In  Spalte  IV  sind  diejenigen 
niedrigsten  Conccntrationen  angegeben,  welche  noch  innerhalb  dieser 
für  die  normale  Haut  indifferenten  Zone  liegen.  Es  eiigiebt  sich 
also,  dass  Differenzen  von  Y20  pCt.  in  der  Concentration  der 
Lösungen  von  den  seusiblen  Nerven  empfunden  werden  können  i). 
Nachdem  diese  Versuche  längst  fertig  gestellt  waren,  machte  ich 
Gefrierpunktsbestimmungen,  und  fand,  dass  die  in  Spalte  IV  ge- 
nannten Lösungen  annähernd  den  gleichen  Gefrierpunkt  haben, 
entsprechend  einer  Kochsalzlösung  von  0,55  pCt.  Gelinge  Differenzen 
ergaben  sich  aus  unvermeidlichen  Versuchsfehlern.  Diese  Lösungen 
sind  also  isosmotisch,  und  wirken  sämmtlich  gerade  noch  so  wenig 
quellend,  dass  die  normale  Haut  keinen  Quellungsschmerz  empfindet. 
Unsere  Untersuchungsmethode  hat  demnach  geradezu  dazu  geführt, 


^)  NB.  bei  genügender  Uebung.  Beim  Zucker  werden  nur  grössere  Dif- 
ferenzen unterschieden,  "weil  die  gleiche  Menge  Zucker  die  osmotische  Spannuog 
des  Wassers  viel  weniger  verändert,  als  z.  B.  die  gleiche  Menge  von  Chlor- 
natrium.    Alle  Zahlen  sind  Mittelwerthc  aus  odncr  grossen  Zahl  von  Versuchen. 


Experiment.  Untersuchungen  u.  Erfahrungen  üb.  Infilirationsanästhesie.    381 

von  einer  Reihe  von  Salzen  die  isosraotischcn  Ooncentrationen  fest- 
zustellen. Die  obere  Grenze  der  indifferenten  Zone  ist  nur  an- 
nähernd zu  bestimmen,  auch  ergeben  sich  für  sie  keine  aus  der 
osmotischen  Spannung  abzuleitenden  Gresetze,  weil  in  stärker  con- 
centrirten  Lösungen  einige  dieser  Salze  sehr  bald  specifisehe  Reiz- 
wirkungen äussern.  Wenn  sie  als  chemisch  indifferent  beseichnct 
werden,  so  gilt  dies  eben  nur  für  niedrige  Ooncentrationen. 

Offenbar  ganz  indifferent  und  auch  in  starken  Ooncentrationen 
der  isotonischen  Kochsalzlösungen  durchaus  gleichartig  wirkend  er- 
wiesen sich  aber  namentlich  die  Zuckerarten.  Verfolgen  wir  den 
Rohrzucker  noch  einmal  genauer.  Eine  Kochsalzlösung  von  0,55  pCt. 
hat  die  gleiche  osmotische  Spannung  wie  eine  Zuckerlösung  von 
5,8  pCt.,  letztere  bewirkt  also  auf  35 '^  erwärmt  wie  jene,  bei  der  Ein- 
spritzung in  die  Outis  keinen  Reiz  und  lässt  die  Sensibilität  un- 
verändert. 3  proc.  Zuckerlösung  entspricht  einet  etwa  0,3  proc. 
Kochsalzlösung,  macht  also  wie  diese  massigen  Injectionsschmerz 
und  Herabsetzung  der  Sensibilität.  Wird  aber  durch  Zusatz  von 
0,6  pOt.  Kochsalz  die  quellende  Wirkung  der  3  proc.  Zuckerlösung 
beseitigt,  so  erzeugt  diese  Mischung  nunmehr  weder  Schmerz  noch 
Anästhesie^).  Bei  ungefähr  20 — 50  proc.  Zuckerlösung,  ent- 
sprechend einer  2 — 5  proc.  Kochsalzlösung  ist  die  Injection  hier 
wie  dort  so  gut  wie  schmerzlos,  dann  folgt  mehr  oder  weniger 
heftiges  Brennen,  Anästhesie  und  jene  beim  Kochsalz  genauer  be- 
schriebene eigenthümliche  Dellenbildung  an  der  Quaddel.  Dieselben 
Erscheinungen  können  mit  den  entsprechenden  isoemotischen 
Lösungen  von  phosphorsaurem,  schwefelsaurem,  doppelt-kohlen- 
saurem Natron  und  Borax  beobachtet  werden,  Borax  schädigt  aber 
bereits  in  10  proc.  Lösungen  die  Gewebe,  die  übrigen  Salze  lassen 
schon  in  Lösungen  mit  einem  Gefrierpunkte  von  wenig  unter 
—  0,35^  stärkere  specifisehe  Reizwirkungen  erkennen.  Mit  Salaen 
von  stark  alkalischer  Reaktion,  wie  das  kohlensaure  Natron,  mögen 
etwaige  Nachuntersucher  vorsichtig  sein,  auch  dieses  Salz  hat  eine 
für  die  sensiblen  Nerven  zunächst  völlig  indifferente  Zone,  macht 
aber  bereits  in  niedriger  Oonoentration  (3 — 5  pOt.)  Gangrän  der 
Quaddel. 

Die  von  Physiologen  oft  discutirte  Frage,  ob  nicht  sehr  hoch 

^)  Schleich  (1.  c.  S.  149)   hat  8 proc.  Zuckerlosung   als  ein  reines  An- 
ästhetieum  bezeichnet. 


382  Dr.  H.  Braun, 

concentrirte  Kochsalzlösungen  auch  noch  ajidre,  als  rein  physikalische 
Veränderungen  der  Gewebe  hervorrufen,  soll  hier  nicht  discutirt 
werden,  soviel  aber  steht  fest,  dass  Kochsalzlösungen  von  0  pCt. 
bis  10  [)Ct.  uns  bei  der  Einspritzung  in  die  Gewebe  die  physio- 
logischen Symptome  der  Quellung  und  Wasserentziehung  zeigen. 
Daraus  folgt,  dass  jede  beliebige  wässrige  Lösung,  abgesehen  von 
specifischen  Einflüssen  des  gelösten  Körpers,  die  gleiche  Wirkung 
auf  die  sensiblen  Nerven  äussern  muss,  wie  eine  Kochsalzlösung 
mit  dem  gleichen  Gefrierpunkt.  Die  Reiz-  und  Lähmuiigscurven 
der  Fig.  2  sind  also  gültig  für  alle  wässrigen  Lösungen  und  es 
bedarf  nur  einer  Gofrierpunktsbestimmung,  um  zu  wissen,  wie  eine 
Lösung  die  sensiblen  Nerven  physicalisch  beeinflusst. 

Wir  sind  nun  weiter  daran  gegangen,  eine  grosse  Anzahl  von 
chemischen  Körpern  in  Bezug  auf  ihre  speciftsche,  namentlich 
localanacsthetische  Wirkung  bei  der  Einspritzung  ihrer  Lösungen 
in  die  Gewebe  zu  prüfen.  Es  ist  klar,  dass  eine  exakte  Unter- 
suchung in  dieser  Richtung  überhaupt  erst  ermöglicht  wird  durch 
die  Kenntniss  der  physiologischen  Wirkung  der  Quellung  und 
Wasserentziehung  und  die  Bestimmung  der  osmotischen  Spannung 
der  zu  prüfenden  Flüssigkeiten.  Der  Gefrierpunkt  derselben  muss 
stets  in  die  osmotisch  indifferente  Zone  fallen,  darf  sich  also  nicht 
weiter  als  — 0,35®  dem  Nullpunkt  nähern.  Lösungen  mit  einer 
geringeren  Gefrierpunkterniedrigung  aber  bedürfen  eines  Kochsalz- 
zusatzes, am  einfachsten  stets  0,6  pCt.,  um  ihre  specifischen  Wir- 
kungen auf  die  sensiblen  Nerven  erkennen  zu  können.  Die  Quell- 
ung kann  für  die  normale  Cutis  dann  als  ausgeschaltet  gelten. 
Statt  des  Kochsalzes  kann  man  sich  natürlich  auch  jedes  anderen 
indifferenten  Salzes  in  einer  Menge  bedienen,  welche  die  gleiche 
Veränderung  der  osmotischen  Spannung  hervorruft,  wie  ein  Zusatz 
von  0,6  pCt.  Kochsalz. 

Im  Gegensatz  zu  den,  in  niedrigen  Concentrationen  wenigstens, 
chemisch  indifferenten  Stoffen  ist  eine  zweite  Gruppe  chemischer 
Verbindungen,  zu  der  die  Mehrzahl  aller  in  Wasser  löslichen  Körper 
gehört,  dadurch  charakterisirt,  dass  ihre  Lösungen  keine  indifferente 
Concentrationszone  besitzen,  sondern  stets  in  Folge  von  specifisch 
chemischen  Wirkungen  reizen.  Dem  Reiz  folgt  fast  ausnahmslos 
Lähmung    der   sensiblen    Nerven,    sehr    oft    Schädigung    und    bei 


Experiment.  Untersuchungen  u.  Erfahrungen  üb.  Infiltrationsanästhesie.    383 

stärkeren  Concentrationcn  Tod    des    Gewebes.     Für    diese  Gruppe 
passt  aro  besten  Liebreich's  Bezeichnung  „Anaesthetica  dolorosa". 

Tabelle  U. 


Magnesium  sulfuricum 

Cblorcalcium 

Kalium  nitricum  .  .  .  . 

ßromkalium 

Jodkalium 

Kalium  sulfuricum    .  . 
Chlorbaryum     


CoDcentration 


3,6  pCt. 
1,3     , 
1,0     „ 

1,1 
1,6 
1,3 
1,8 


T 


» 


Gefrierpunkt 


—  0,85 

—  0,34 

—  0,375 

—  0,35 

—  0,365 

—  0,36 

—  0,36 


Auf  Tabelle  II  findet  man  eine  Anzahl  isosmotischer  Lösungen 
von  Alkali-  und  Erdalkalisalzen  zusammengestellt,  deren  Gefrier- 
punkt —  0,35^  ist  oder  wenig  tiefer  liegt.  Dies  sind  also  Lösungen, 
in  denen  die  Quellung  die  sensiblen  Nerven  nicht  mehr  erkennbar 
reizt  und  lähmt.  Trotzdem  erzeugt  jede  dieser  Lösungen  bei  der 
Einspritzung  in  die  Cutis  Reiz,  dem  ausgenommen  bei  Magnesium 
sulfuricum  eine  langanhaltende  Anästhesie  folgt.  Zusatz  von 
0,6  pCt.  Kochsalz  zu  den  Lösungen  verändert  daran  natürlich  nichts. 
AVerden  die  Lösungen  weiter  mit  Wasser  verdünnt,  so  gesellt  sich 
nun  zu  der  chemischen  Einwirkung  die  Quellung,  welche  ebenfalls 
Reiz  und  Anästhesie  macht.  Wird  aber  jetzt  zu  diesen  dünnen 
Lösungen  0,6  pCt.  Kochsalz  hinzugefügt,  so  kann  man  beobachten, 
dass  der  Reiz"  geringer  und  geringer  wird,  je  nach  dem  Grad  der 
Verdünnung  des  zu  prüfenden  Stoffs,  bis  endlich  eine  Concentration 
erreicht  wird,  bei  welcher  Kochsalzzusatz  die  Lösung  völlig  indifferent 
macht.  Damit  ist  die  untere  Grenze  der  chemischen  Wirksamkeit 
des  geprüften  Stoffs  erreicht,  der  Reiz,  den  diese  Lösung  ohne 
Kochsalzzusatz  auslöste,  war  nur  noch  ein  physikalischer.  Auf  diese 
Weise,  durch  die  Bestimmung  der  unteren  Reizgrenze,  lässt  sich 
vielleicht  am  leichtesten  und  besser  als  auf  dem  von  Grützner^) 
betretenen  Wege,  ermitteln,  ob  und  welche  Beziehungen 
zwischen  der  Intensität  der  Reizwirkung  und  dem  Molekulargewicht 
chemischer  Verbindungen    bestehen.     Ich    fand,    dass    nächst    den 


1)  Pflüger's  Archiv.    Bd.  58,  S.  69. 


384 


Dr.  H.  Braun, 


Natriumsalzen  die  Magnesium-  und  Calciumsalze  sehr  wenig,  die 
Kalisalze  weit  starker,  am  stärksten  die  Baryumsalze  reizen.  Weiter 
bin  ich  dieser  Frage  nicht  nachgegangen. 

Hcinze  hat  noch  eine  ganze  Anzahl  in  diese  Gruppe  gehörige 
Stoffe  genauer  geprüft,  ausser  Brorakali  noch  Antifebrin,  Antipyrin, 
Formanilid,  Methylviolett,  Methylenblau,  Coffein  und  Morphium. 
Alle  diese  Stoffe  sind  gelegentlich  zur  localen  Anästhesie  empfohlen 
worden.  Ich  verweise,  namentlich  auch  bezüglich  der  vorhandenen 
Litteratur  auf  Heinze's  Arbeit  und  will  hier  nur  erwähnen,  dass 
die  Angabe  Schleich's  (1.  c.  pg.  149)  Lösungen  von  3pröc.  Brom- 
kali, 2  proc.  Coffeii),  1  proc.  Methylviolett  seien  reine  Anästhetica, 
völlig  in  der  Luft  schwebt,  wir  vermögen  nicht  zu  sagen,  wie  er 
zu  ihr  kommt.  Nur  auf  ein  Alkaloid,  mit  dem  sich  auch  S  chleich 
besonders  beschäftigt  hat,  das  Morphium:  sei  mir  gestattet,  näher 
einzugehen. 

Unsere  Beobachtungen  sind  auf  Tabelle  lU  zusammengestellt. 

Tabelle  IIL  ^  Morphium  hydroehlorieun. 


I. 

II. 

Ul. 

IV. 

V. 

Coiiceo- 

Gefrier- 

Lösungsmittel 

Injections- 

Sensibilität 

tration 

punkt 

bei  35» 

scbmcrz 

4  pCt. 

—  0,350 

Wasser 

\  starkes  Brennen 

3  pCt. 

—  0,2750 

Wasser 

>  mittelstark 

f     und  Hyper- 
)  ästhesie,  dann 

j 

2  pCt. 

— 

Wasser 
0,6pCt.NaCl 

) 

\     Anästhesie. 

1      Par- 
1  ästhesien 

1  pCt. 

— 

Wasser 
0,6pCt.NaCl 

stärker 
gering 

>    herabgesetzt 

I  u.  starke 
V  Vergrös- 

0,5  pGt. 

Wasser 
0,6pCt.NaCI 

stärker 
geringer 

Anästhesie 
etwasherabgesetzt 

/    serung 
j        der 
l     Quad- 

0,25  pGt. 

W^asser 
0,6pCt.NaCl 

heftig 
sehr  gering 

Anästhesie 
wenigherabgesetzt 

1     dein. 

0,1  pCt. 

Wasser 
0,6pCt.NaCl 

sehr  heftig 
keiner 

Anästhesie 
nicht  verändert 

* 

Die  osmotische  Spannung  der  Morphinlösungen  ist  eine  sehr 
geringe,  wie  die  aller  von  Heinz e  und  mir  untersuchten  Alkaloide. 
Erst  eine  4  proc.  Lösung  hat  einen  Gefrierpunkt  von  — 0,35^, 
entspricht  also  ehier  0,55  proc.  Kochsalzlösung.  Bei  allen  niedriger 
concentrirten  Lösungen  haben  wir  demnach  Quellung  und  ihre  Folgen 


Experiment.  Untersuchungen  u.  Erfahrungen  üb.  Infiltrationsanasthesie.    385 

zu  erwarten.  Das  spricht  sich  deutlich  in  unserer  Tabelle  aus. 
2 — 4  proc.  Lösungen  erregen  mittelstarken  Injectionsschmerz,  der 
theils  als  specifische  Morphinwirkung,  theils  als  Quellungssymptom 
zu  deuten  ist,  desgleichen  die  darauf  folgende  Anästhesie.  Bei 
1  proc.  Lösung  tritt  die  Quellung  in  den  Vordergrund,  die  locale 
Morphinwirkung  ist  nur  noch  gering.  Denn  die  wässrige  Lösung  macht 
stärkeren,  bei  Zusatz  von  0,6  pCt.  Kochsalz  geringeren  Injections- 
scbraerz,  beide  Lösungen  erzeugen  nur  eine  geringe  Herabsetzung 
der  Sensibilität.  Bei  weiterer  Verdünnung  der  wässrigen  Lösungen 
auf  0,5  pCt.  und  0,25  pOt.  wird  der  Injectionsschmerz  immer 
heftiger,  und  es  tritt  wiederum  volle  Anästhesie  der  Quaddel  ein. 
Das  ist  fast  ausschliesslich  eine  Folge  der  Quellung,  da  die  gleich- 
procentigen  Lösungen  mit  Zusatz  von  0,6  proc.  Kochsalz  nur  noch 
sehr  wenig  reizen  und  eine  kaum  merkliche  Veränderung  der 
Sensibilität  hen^orrufen.  Bei  0,1  pCt.  verhalten  sich  die  sensiblen 
Nerven  so,  wie  bei  reinem  Wasser  und  reiner  physiologischer 
Kochsalzlösung. 

Allen  Lösungen  von  Morphinsalzen  in  Wasser  oder  physiolo- 
gischer Kochsalzlösung  ist  eine  eigenthümliche  locale  Wirkung  auf 
die  Gefässe  eigen.  Kurze  Zeit  nachdem  eine  Quaddel  gebildet 
worden  ist,  beginnt  sie  sich  in  der  Höhe  und  Fläche  zu  vergrössern, 
röthet  sich  und  nimmt  schliesslich  einen  unregelmässig  gestalteten 
Raum  ein,  der  meist  das  4 — 5  fache  der  ursprünglichen  Quaddel 
überschreitet,  bei  Verwendung  stärkerer  (1  pro  Mille)  Morphium- 
lösungen entsteht  geradezu  ein  umfangreiches  Oedem  in  der  Um- 
gebung der  Einstichstelle.  Diese  Erscheinung  ist  durchaus  gleich- 
artig den  durch  Stiche  von  Insekten  verursachten  Quaddeln  und 
Ocdemen  der  Cutis  und  ist,  wie  diese,  stets  von  starkem  Jucken 
begleitet.  Sie  entsteht  bei  geradezu  unglaublichen  Verdünnungen, 
wenn  andere  locale  Wirkungen  des  Morphium  längst  nicht  mehr 
nachzuweisen  sind,  bei  einer  Lösung  von  1  :  100,000  sind  sie  noch 
sehr  intensiv  und  die  Spritze,  mit  der  man  morphiumhaltige  Lösungen 
injicirt  hat,  kann  für  andere  Versuche  garnicht  benutzt  werden. 
Dabei  ist  zu  bemerken,  dass  die  etwa  der  Injection  folgende 
Anästhesie  oder  Herabsetzung  der  Sensibilität  genau  auf  das  Ge- 
biet der  ursprünglichen  primären  Quaddel  beschränkt  bleibt,  die 
ödematöse  Umgebung  ist  eher  hyperästhetisch.  Es  ist  das  also 
eine  eigenartige  specifische  locale  Giftwirkung  des  Morphiums,  die 


386  Dr.  H.  Braun, 

Gefiisse  in  der  Umgebung  der  Injectionsstelle  zu  lähmen  und  einen 
Flüssigkeitsaustritt  aus  denselben  zu  veranlassen.  Wir  haben  die 
gleiche  Wirkung,  und  zwar  noch  intensiver,  bei  einem  anderen 
Opiumalkaloid,  dem  Codein  beobachtet,  sonst  bei  keinem  anderen 
Körper.  Bei  experimenteller  Prüfung  der  localanästhetischen  Wir- 
kungen des  Morphiums  ist  sehr  zu  berücksichtigen,  dass  schon 
geringe  Morphiuradosen  die  Sensibilität  des  ganzen  Körpers  erheb- 
lich herabsetzen,  eine  Morphiumquaddel  machte  uns  oft  für 
Stunden  untauglich,  weitere  Untersuchungen  vorzunehmen.  Die 
Nichtbeachtung  dieses  Umstandes  hat  vielleicht  Schleich  (1.  c. 
pg.  149)  zu  der  wunderlichen  Angabe  veranlasst,  0,1  proc.  Morphium- 
lösung sei  ein  reines  Anästheticum.  Diese  Lösung  wirkt  ja,  ent- 
sprechend ihrem  vom  Nullpunkt  kaum  noch  messbar  abweichenden 
Gefrierpunkt,  auf  die  sensiblen  Nerven  local  rein  physikalisch, 
genau  wie  reines  AVasser.  Specifisch  ist  nur  die  secundäre  Be- 
einflussung der  Gefässe.  Wenn  Jemand  eine  wässrige  Morphium- 
lösung von  0,1  pCt.  bei  der  Injection  in  die  Cutis  als  reines 
Anästheticum  empfindet,  sq  kann  das  nur  die  Folge  einer  schon 
vorher  vorhandenen,  gänzlich  abnormen  Sensibilität  sein.  Unsere 
Untersuchungen  zeigen,  dass  die  localanästhetischen  Wirkungen 
des  Morphium  von  ganz  untergeordneter  Bedeutung  sind,  und  erst 
in  3 — 4  proc.  Lösungen,  welche  gleichzeitig  reizen,  deutlicher 
werden.  Das  Morphium  ist  also  alles  andere  als  ein  localcs 
Anästheticum. 

In  eine  dritte  Gruppe  chemischer  Körper  gehören  solche, 
die  wir  mit  Recht  als  locale  Anästhetica  bezeichnen  können, 
insofern  als  bei  ihnen  specifisch  lähmende  Wirkungen  über  den 
Reiz  überwiegen,  oder  der  Reiz  selbst  ganz  fehlt.  Auch  dadurch 
zeichnen  sie  sich  aus,  dass  geringe  Mengen,  welche  den  Gefrierpunkt 
dos  Wassers  nur  wenig  verändern,  im  Stande  sind,  den  Schmerz 
des  QucUungsreizes  zu  verdecken,   oder  wenigstens  zu  vermindern. 

Drei  AVerthe  sind  es,  deren  Kenntniss  uns  über  die  specifische 
localanästhetischc  Wirkung  eines  Mittels  orientirt: 

1.  Diejenige  geringste  Menge,  welche  noch  den  Quellungsreiz 
der  wässrigen  Lösung  in  Folge  ihrer  lähmenden  Wirkung  unfühl- 
bar macht. 

2.  Der  Gefrierpunkt  dieser  Lösung,  welcher  den  Grad  ihrer 
quellenden  Potenz  anzeigt. 


Experiment.  Untersuchungen  u.  Erfahrungen  üb.  Infilirationsanästhesie.    387 


3.  Die  untere  Grenze  der  Wirksamkeit  des  Mittels. 

Untersuchen  wir  femer,  ob  das  Mittel  specifische  Reizwirkungen 
auf  die  sensiblen  Nerven  ausübt,  und  wie  lange  Zeit  es  ira  Stande 
ist,  sie  zu  lähmen,  ob  es  endlich  die  Gewebe  schädigt,  so  wissen 
wir,  ob  es  überhaupt  sich  lohnt,  dasselbe  praktisch  zu  versuchen. 
Wenn  alle  diese  Punkte  geprüft  und  beachtet  worden  wären,  so 
würde  die  Empfehlung  der  meisten  sogenannten  Ersatzmittel  für 
das  Cocain  unterlassen  worden  sein. 

In  die  Gruppe  der  Localanästhetica  gehört  zunächst  die  Carbol- 
säure  (Tab.  IV). 

Tabelle  IV.    Aeidum  carbolicnm. 


I. 


crystalli- 
satum, 

Gewichts- 
procente 


Gefrier- 
punkt 


IL 

lique- 

factum, 

Volum- 

procente 

annähernd 


m. 

Lösungs- 
mittel 
bei  350 


IV. 

Injections- 
schmerz 


V. 


Sensibilität 


5pCt. 

2,5  pCt. 

1  pGt. 

0,5  pCt. 

0,3  pCt. 
0,2  pCt. 

0,1  pCt. 
0,05  pCt. 


0,930 
0,5050 
-  0,2  0 


5pCt. 
3pCt. 


0,0750 


2pCt. 

IpCt. 
0,5  pCt. 

0,25  pCt. 


Wasser 


Wasser 
0,6pCt.NaCl 

Wasser 
0,6pCt.NaCl 

Wasser 
0,6pCt.NaCl 

Wasser 
0,6pCt.NaCl 

Wasser 
0,6pCt.NaCl 


sehr  stark 


j^ennger 
gerioger 

fast  keiner 
fast  keiner 

stärker 
keiner 

heftig 
keiner 


sehr  heftig 
keiner 


Anästhesie 

Anästhesie 

sehr  kurze  An- 
ästhesie 

Anästhesie 
(Dauer  10  Min.) 

Anästhesie 
(Dauer  1—2  Min.) 

tofe)  Anästhesie 

1-fJ  Anästhesie 

lange  Anästhesie 
kurze  Herab- 
setzung 

lange  Anästhesie 
keine  Verände- 
rung 


Die  Lösungen  der  Carbolsäure  wirken  von  etwa  2  pCt.  ab\värts 
stark  quellend.  In  einer  wässrigen  Lösung  von  0,3  pCt.  (Gewichts- 
procente  des  reinen  Phenols),  deren  Gefrierpunkt  — 0,075  ^  einer 
0,1  proc.  Kochsalzlösung  entspricht,  wird  der  Quellungsschmerz  ver- 
deckt;   der   geringe  Reiz,    den    diese  Lösung    verursacht,    ist    ein 

ArohiT  fVr  klin.  ChJjnrgie.  57.  Bd.  Heft  2.  26 


388 


Dr.  H.  Braan, 


«pecifisclier  Reiz,  denn  er  wird  durch  Zusatz  von  0,6  pCt.  Kochsalz 
zur  Lösung  nicht  verändert.  Die  dem  Reiz  folgende,  lang  an- 
haltende Anästhesie  ist  zum  grössten  Theil  Quellungsanästhesie, 
erst  nach  Zusatz  von  0,6  pCt.  Kochsalz  erhalten  wir  die  reine  Carbol- 
wirkung,  eine  Anästhesie  von  ausserordentlich  kurzer  Dauer. 
0,1  pCt.  ist  die  niedrigste  noch  wirksame  Concentration,  0,05  pCt. 
in  Wasser  wirkt  wie  reines  Wasser,  mit  Zusatz  von  0,6  pCt.  Koch- 
salz wie  reine  0,6  proc.  Kochsalzlösung. 

Lösungen  von  1  pCt.  aufwärts  reizen  sehr  heftig  und  machen 
oft  Gangrän  der  Quaddeln.  Wegen  der  kurzen  Dauer  der  Carbol- 
anästhesie,  wegen  der  reizenden  und  die  Gewebe  schädigenden 
Wirkungen  ihrer  Lösungen  ist  die  Karbolsäure  völlig  ungeeignet 
zur  localen  Anästhesie. 

Stärkeren  localanästhetischen  Wirkungen  begegnen  wir  bei  den 
Chininsalzen  (Tab.  Y), 

Tabelle  Y.    Chininam  hydroehleriem. 


I. 

IL 

111. 

IV. 

V. 

Concen- 
tration 

Gefrier- 
punkt 

Lösungsmittel 
bei  350 

Injections- 
schmerz 

Sensibilität 

5pCt. 
3pCt, 

—  ai5 

.  (=0,2pCt.NaCl) 

Wasser 

gering 

»                   . 

1  pCt 

—  0,1 

1 

\  Wasser 

f  0,6pa.NaCl 

sehr  gering 

/ 

0.5  pCt, 

1 
■ 

\  Wasser 

/  0,6pCtNaCl 

fast  keiner 

>   Anästhesie 

0,3  pCl. 

1 

\\  Wasser 

,/  0,6pCtNaa 

fast  keiner 

l 

O.l  pCt. 

1 

\  Wasser 
'f  0/>pCtNaCl 

starker 
fast  keiner 

) 

0.05  pCt. 

« 

\  Weisser 

/  0,6pet,XaCl 

1      heftig 
l      keiner 

Anästhesie 
1       Analgesie 

Der  Gofrier|utnkt  einer  2  pnH\  Lösung  des  Chininum  hydrochlor. 
ist  -0,ir>^  der  einer  1  pnv.  Lösung  —0,1  <>.  Diese  Lösungen 
wirken  also  bonnus  stark  quellend.  Bis  herab  zu  0,05  pGt  ent- 
faltoi  aln^r  dju>  Ohininsal/  Äus5res|m>ehenc  iociüanäschetische  Wir- 
kin^en,    welche    den  Quelluui^jjchmerz    iKvh    bei  0,3  pCu  unter- 


Experiment.  Untersach angen  a.  Erfahrungen  üb.  Inültrationsanästhesie.    389 

drücken.  Ein  wenn  auch  geringer  spccifischer  Reiz  aber  geht  der 
sensiblen  Lähmung  stets  voran. 

Heinze  hat  nun  weiter  eine  Anzahl  von  Stoffen  geprüft,  die 
neuerdings  als  Localanästhesie  empfohlen  worden  sind  und  die 
auch  wirklich  mit  mehr  oder  woniger  Recht  in  diese  Gruppe  ge- 
hören; Guajakol,  Guajaryl,  Aneson,  Orthoform  und 
Eucain-A.  Ich  will  hier  nur  erwähnen,  dass  sie  alle  Nachtheile 
haben,  sie  reizen  sämratlich,  schädigen  zum  Theil  die  Gewebe  und 
können,  wenigstens  für  die  Infiltrationsanästhesie,  entbehrt  werden. 
Einen  Körper,  der,  me  das  Guajakol,  in  Wasser  unlöslich  ist,  der 
sehr  intensiv  reizt  und  schädigt,  zu  localan ästhetischen  Gewebs- 
injectionen  zu  benutzen  (Lannelongue),  rauss  ich  als  eine  unbe- 
greifliche Verirrung  bezeichnen. 

Keine  von  den  bisher  erwähnten  chemischen  Verbindungen  mit 
Ausnahme  des  Eucain  A  vermag,  aus  noch  zu  erörternden  Gründen, 
eine  über  die  Grenzen  der  directen  Infiltration  hinausgehende,  oder 
eine  practisch  brauchbare  regionäre  Anästhesie  zu  erzeugen,  keine 
kann  in  Betreff  der  Intensität  der  localanästhetischen  Wirkung  bei 
Abwesenheit  eines  specifischen  Reizes  verglichen  werden  mit  äusserst 
verdünnten  Cocainlösungen. 

Die  Ergebnisse  einer  systematischen  Prüfung  des  Cocainum 
muriaticura  zeigt  Tabelle  VI  (s.  umstehend). 

Die  osmotische  Spannung  der  Cocainlösungen  ist  eine  sehr 
geringe,  eine  5,8  proc.  Lösung  entspricht  einer  Kochsalzlösung  von 
0,92  pCt.,  eine  3,7  proc.  Lösung  einer  Kochsalzlösung  von  0,6  pCt. 
Also  etwa  von  3,5  pCt.  ah  abwärts  müssen  Quellungserscheinungen 
entstehen. 

Die  Gefrierpunktserniedrigung  einer  0,1  proc.  wässerigen  Cocain- 
lösung  beträgt  0,02^,  deren  quellende  Potenz  unterscheidet  sich 
also  kaum  von  reinem  Wasser.  Alle  wässerigen  Cocainlösungen 
von  0,1  pCt.  abwärts  bis  zum  reinen  W^assor  erzeugen  daher  die 
lang  anhaltende  Quellungsanästhesic  des  Wassers,  welche  die  reine 
Cocainwirkung  unkenntlich  macht.  Der  Quellungsreiz  wird  noch 
durch  einen  Cocainzusatz  von  0,04  pCt.  verdeckt. 

Die  schädigenden  Wirkungen  der  Quellung  machen  sich  schon 
bei  1  proc.  wässerigen  Cocainlösungen  (Gefrierpunkt  —  0,115^)  gel- 
tend, die  0,1  proc.  Lösung  hinterlässt  stets  lange  Zeit  schmerzende 
Infiltrate  in  der  Haut,  an  denen  sich  sogar,  wie  beim  Wasser,  bis- 

26* 


390 


Dr.  H.  Braun, 


Tabelle  TL    Coeainam  muriaticam. 


I. 

CoDcen- 
tration 


IL 

Gefrier- 
punkt. 


III. 

Lösungsmitte] 
bei  350 


IV. 

Injections- 
schmerz 


V. 

Sensibilität 


VI. 

Dauer  der 
Anästhesie 


10  pCt. 

6  pCt. 
5,8  pCt. 

4pCt. 
3,7  pGt. 

3pCt. 

2pCt. 

1  pGt. 


0,1  pCt. 


0,04  pCt. 


0,02  pCt. 


0,01  pCt. 


0,005  pCt. 


0,0025pCt. 


—  0,580 

—  0,5650 

—  0,4100 

—  0,380 

—  0,3050 

—  0,230 

—  0,1150 
-0,020 


Wasser 


Wasser 
0,6pCt.NaCl 

Wasser 
0,2pCt.NaCl 
0,6pCt.NaCl 

Wasser 
0,2pGt.NaCl 
0,6pCt.NaGl 

Wasser 
0,2pCt.NaGl 
0,6pGt.NaGl 

Wasser 
0,2pGt.NaGI 
0,6pGt.NaCl 


Wasser 
0,2pCt.NaGl 
0,6pGt.NaGl 


gering 


keiner 


gering 
gering 
keiner 

stark 

stark 

keiner 

sehr  heftig 

stark 

keiner 


sehr  heftig 

stark 

keiner 


Anästhesie, 
die  Quaddel- 
grenzen über- 
schreitend 


Anästhesie, 
die  Quaddel- 
greuzen  wenig 

überschreit. 

Anästhesie, 

auf  d.  Quaddel 

beschränkt 

Anästhesie 


Anästhesie 

Anästhesie 
Anästhesie 
Analgesie 

Anästhesie 
Analgesie 
Geringe  Her- 
absetzung der 
Sensibilität 

Anästhesie 
Analgesie 
Keine  Verän- 
derung. 


Vi 


—  1  Stunde 


25  Minuten 


} 


ca.  15  Min. 


15  Minuten 
8  Minuten 
8  Minuten 

15  Minuten 
6  Minuten 
6  Minuten 

15  Minuten 

6  Minuten 

kurz 

15  Minuten 
6  Minuten 
sehr  kurz 


15  Minuten 
6  Minuten 


weilen  dauernde  Gewebsschädigungen  erkennen  lassen.  Die  reinen 
Cocainwirkungcn  zeigen  uns  auf  Körpertemperatur  erwärmte  Lö- 
sungen, welche  durch  Zusatz  von  0,6  pCt.  bis  0,8  pCt.  Kochsalz 
osmotisc^h    indifferent   gemacht  wurden.     Solche  Lösungen    verur- 


Experiment.  Untersuchungen  u.  Erfahrungen  üb.  Infiltrationsanästhesie.    391 

Sachen  keinen  Reiz,  sie  werden  rasch  resorbirt,  ohne  eine  Gewebs- 
veränderung, oder  einen  Nachschraerz  zu  hinterlassen. 

Die  untere  Grenze  der  erkennbaren  localen  Wirksamkeit  des 
Cocainum  muriaticum  liegt  ganz  erstaunlich  tief,  kein  anderer  der 
bisher  erwähnten  StofiFe  kann  in  dieser  Beziehung  mit  dem  Cocain 
verglichen  werden.  Ein  Zusatz  von  0,005  pOt.  (1 :  20,000)  zu  einer 
indifferenten  Flüssigkeit  ruft  innerhalb  der  Quaddel  noch  eine  meh- 
rere Minuten  anhaltende  Herabsetzung  der  Sensibilität  hervor,  welche 
sehr  deutlich  erkennbar  wird,  wenn  zum  Vergleich  neben  die  Cocain- 
quaddel  eine  solche  mit  reiner  0,6  proc.  Kochsalzlösung  gesetzt 
wird.  War  die  quellende  Wirkung  des  Wassers  zum  Theil  aus- 
geschaltet durch  Zusatz  von  0,2  pCt.  Kochsalz,  so  zeigt  sich  Fol- 
gendes. 0,2  pCt.  Kochsalz  allein  macht  starken  Quellungsschmerz 
und  eine  kurzdauernde  Analgesie  der  Quaddel.  Auch  dieser  Quel- 
lungsschmerz wird  noch  durch  0,04  pCt.  Cocainzusatz  verdeckt. 
Stärkere  Gewebsschädigungcn  finden  nicht  statt,  wenngleich  die 
Quaddeln  in  Folge  der  Quellung  stundenlang  bestehen  bleiben.  Die 
erste  Cocainwirkung  beobachten  wir  bei  Zusatz  von  0,01  Cocain 
zu  einer  0,2  proc.  Kochsalzlösung,  aus  der  Analgesie  wird  eine 
wenige  Minuten  anhaltende  Anästhesie,  von  0,02  pCt.  aufwärts  ist 
eine  Differenz  gegenüber  der  reinen  Cocainwirkung  ohne  Quellung 
nicht  mehr  vorhanden,  die  geringe  quellende  Potenz  des  Lösungs- 
mittels ist  irrelevant.  Eine  Summation  der  Quellung  und  Cocain- 
wirkung kann  einzig  und  allein  bei  einem  Cocaingehalt  der  Lösung 
von  0,01  pCt.  beobachtet  werden.  Cocain  und  0,2  pCt.  Kochsalz 
veranlassen  jedes  allein  eine  kurzdauernde  Analgesie,  beide  zu- 
sammen eine  kurzdauernde  Anästhesie.  Die  Injection  dieser  Lösung 
ist  aber  von  starkem  Quellungsschmerz  begleitet. 

Mit  der  Eigenschaft  des  Cocains,  noch  in  so  enormer  Verdün- 
nung die  sensiblen  Nerven  zu  lähmen,  hängt  eng  zusammen  die 
Eigenschaft  stärker  concentrirter  Lösungen,  von  etwa  1  pCt.  auf- 
wärts, über  das  direct  infiltrirte  Gebiet  hinaus  eine  Anästhesie  oder 
Analgesie  zu  erzeugen.  Eine  1  proc.  Lösung  enthält  das  Cocain  in 
einer  Menge,  200mal  grösser  als  diejenige,  welche  bei  directem 
Contact  die  sensiblen  Nerven  noch  lähmt.  Daher  diffundiren  aus  einer 
1  proc.  Lösung  genügende  Mengen  Cocain  in  die  Nachbarschaft  des 
infiltrirten  Gebietes,  um  auch  da  zu  lähmen.    Eine  Lösung,  200 mal 


392  Dr.  H.  Braun, 

stärker  als  die  niedrigste  noch  wirksame  Concentration,  iässt  sich 
mit  den  bisher  nntersuchten  Stoffen  entweder  gar  nicht  herstellen, 
oder  sie  reizt  und  schädigt  so  stark,  dass  sie  nicht  in  die  Gewebe 
injicirt  werden  kann.  Bei  Venssendung  10  proc.  Cocainlösnng, 
2000 mal  stärker  als  die  niedrigste  wirksame  Concentration,  über- 
schreitet die  Anäthesie  die  Quaddel  um  das  Vielfache  ihres  Durch- 
niessers  und  im  Umkreis  um  die  anästhetische  Zone  beobachtet 
man  einen  schon  von  Wölfler  beschriebenen  hemianästhetischen 
King,  in  welcrhem  wohl  Analgesie,  aber  nicht  Anästhesie  der  Cutis 
vorhanden  ist.  Sicherlich  hat  diese  Erscheinung  nichts  mit  der 
regionären  Anästhesie  zu  schaffen,  sondern  ist  eine  einfache  Folge 
der  Diffusion,  vergleichbar  mit  der  Wirkung  starker  auf  Schleim- 
häute appliciiter  Cocainlösungen.  Daher  nimmt  die  secundäre 
hemianästhetische  Zone  mit  der  Concentration  an  Umfang  rasch 
ab,  ist  bei  Verwendung  1  proc.  Cocainlösungen  nur  noch  klein. 
Von  ungefähr  0,5  pCt.  abwärts  ist  die  Anästhesie  auf  die  Quaddeln 
bes(:hränkt.  Wird  die  Blutzufuhr  abgeschnitten,  Iässt  man  dadurch 
dem  Cocain  Zeit,  in  die  Umgebung  zu  diffundiren,  ehe  es  resorbirt 
wird,  so  können  mit  Hülfe  einer  kleinen  Menge  stärkerer  Cocain- 
lösungen umfangreiche  Gewcbsbezirke  anästhetisch  gemacht  werden. 
Spcf.-ifisch  reizende  Eigenschaften  bietet  das  Cocain  in  niedrigeren 
Concentrationen  nicht,  erst  Lösungen  von  3  pCt.  aufwärts  bewirken 
o'mon  sehr  kurzen,  specifischen  Reiz,  welcher  unmittelbar  nach  der 
Injoction  verschwindet. 

Die  Dauer  der  Cocainanästliesie  steigt  mit  der  Concentration, 
beträgt  bei  0,02  |)Ct.  6  Minuten,  bei  0,1  pCt.  15  Minuten,  bei  1  pCt. 
25  Minuten,  bei  10  pCt.  bis  zu  %  Stunden  und  länger.  Ich  brauche 
wohl  kaum  zu  erwähnen,  dass  diese  Zeitangaben  nicht  absolute, 
sondern  nur  relative  Wc^rlJie  darstellen. 

Mit  Rücksicht  auf  practische  Zwecke  möge  erwähnt  werden,  dass  Cocain- 
lösungen ein  Abkochen  nur  in  sehr  engen  Grenzen  vertragen,  weil  sich  bei 
Siedehitze  das  Cocain  unter  Bildung  von  Ecgonin  zersetzt.  Eine  solche  ab- 
gekochte Lösung  erzeugt  zwar  im  Bereich  der  infiltrirtenGewebspartie  Anästhesie, 
um  so  mehr,  je  weniger  die  Quellung  ausgeschaltet  war,  aber  das  Ecgonin  ist 
durchaus  kein  Anästheticum,  es  vermag  den  Quell ungssch merz  nicht  zu  com- 
pensiren.  Ein  einmaliges  rasches  Aufkochen  vertragen  Cocainlösungen.  Hier- 
über geben  folgende  Versuche  Aufschluss,  welche  mit  einer  0,04  proc,  den 
Quellungsreiz  noch  eben  componsirenden  wässrigen  Cocainlösang  angestellt 
wurden.     Wird  die  Lösung  frisch  bereitet  injicirt,  so  wird  kein  Quellungs- 


Experiment.  Untersuchungeb  u.  Erfahrungen  üb.  Infiltrationsanästhesie.    303 

schmerz  empfanden,  wird  eine  kleine  Menge  im  Reagensglas  bis  zum  Kochen 
erwärmt,  so  ergiebt  sich  dasselbe.  Wird  dieselbe  Lösang  ^/^  Stunde  gekocht, 
so  erregt  sie  dann  starken  Iigectionsschmerz,  der  beim  wiederholten  Kochen 
immer  heftiger  wird.  Es  darf  also  die  Sterilisation  von  Cocainlösungen  durch 
Hitze  nur  mit  grosser  Vorsicht  vorgenommen  werden,  am  Besten  ist  sie  zu 
vermeiden. 

Es  ist  weiter  von  Interesse,  mit  dem  Cocain  einmal  ein  neuerdings  viel 
empfohlenes  Mittel,  das  An  es  in  oder  Aneson,  eine  wässrige  Lösung  des 
Acetonchloroforms,  zu  vergleichen.  Dasselbe  kommt  als  eine  wässrige  Flüssig- 
keit mit  einem  Gefrierpunkt  von  — 0,18<>  in  den  Handel,  erfordert  also  zum 
Ausgleich  der  Quellung  einen  Kochsalzzusalz  von  0,6  pCt.  Die  Iigection  ist 
stets  mit  einem  speoifischen  Reiz  vorhanden,  während  ein  Quellungsschmerz 
nicht  fühlbar  ist.  Die  entstandene  Quaddel  wird  für  mehrere  Minuten  anästhe- 
tisch und  hinterlässt  auch  nach  Kochsalzzusatz  zur  Lösung  schmerzhafte  und 
geröthete  Infiltrate.  Zur  Hälfte  verdünnt,  macht  die  Lösung  ohne  Kochsalz- 
zusatz bereits  heftigen  Quellungsschmerz,  verdünnt  man  sie  mit  3  Theilen 
Wasser  und  macht  sie  durch  KochsalzzusMz  osmotisch  indifferent,  so  zeigt  sich, 
dass  man  bereits  die  untere  Grenze  der  Wirksamkeit  des  Mittels  erreicht  hat. 
Das  käufliche  Aneson  enthält  also  das  Acetonchloroform  in  einer  Concentration 
etwa  4mal  starker  als  die  niedrigste  noch  wirksame  Concentration.  Die  untere 
Grenze  der  Cocainwirkung  fanden  wir  bei  0,005  pCt.,  das  käufliche  Aneson 
entspricht  also  in  seiner  localan ästhetischen  Potenz  einer  etwa  4 mal  stärkeren, 
d.  h.  0,02—0,05  proc,  und  nicht,  wie  V am ossy^)  glaubt,  einer  2— 2^2  proc. 
Cocainlösung.  Dementsprechend  ist  auch  das  Aneson  nicht  im  Stande,  eine 
über  die  Grenze  der  Quaddel  hinausgehende  indirecte  Infiltrationsanästhesie 
oder  eine  regionäre  Anästhesie  hervorzurufen,  oder  bei  Application  auf  Schleim- 
häute ausreichend  zu  wirken.  Hierzu  wären  lOOmal  stärkere  Concentrationen 
des  Acetonchloroforms  nothwendig.  Als  besonderer  Vorzug  des  Anesons  wird 
dessen  angebliche  Ungiftigkeit  hervorgehoben,  die  Reclame  des  Fabrikanten 
bezeichne  das  Aneson  als  „einzig  ungiftiges  locales  Anästheticum".  Will  man 
es  nun  in  dieser  Beziehung  mit  dem  Cocain  vergleichen,  so  muss  man  es 
natürlich  vergleichen  mit  einer  0,05  proc.  Cocainlösung,  welche  die  gleiche 
local anästhetische  Potenz  besitzt,  aber  ohne  zu  reizen  und  die  Gewebe  zu 
schädigen.  Werden  100  ccm  Aneson  (Kostenpunkt  im  Engrospreis  3  Mk.  50  Pf.) 
einem  Kaninchen  von  2700  g  Gewicht  subcutan  injicirt ,  so  verfällt  dasselbe 
für  volle  24  Stunden  in  einen  tiefen,  todtähnlichen  Schlaf,  Puls  und  Respiration 
sind  stundenlang  kaum  noch  erkennbar,  dann  erholt  sich  das  Thier  allmälig. 
100  ccm  einer  0,05  proc.  Cocainlösung  (Kostenpunkt  wenige  Pfennige)  einem 
gleich  grossen  Thiere  injicirt,  bewirken  niemals  Allgemeinerscheinungen.  Aus 
allen  den  genannten  Gründen  halte  ich  das  Aneson  für  völlig  obsolet. 

Die  Autoren,  welche  das  Aneson  angewendet  haben,  sind  sich  offenbar 
nicht  bewusst,  dass  sie  das  nur  in  Form  der  Schleich' sehen  Infiltrations- 
anästhesie thun  können,  da  ja  nur  das  direct  mit  dem  Mittel  infiltrirte  Gebiet 


^)  Deutsche  med.  Wochenschrift.    1897.    No.  86. 


394  Dr.  H.  Braun, 

anästhetisch  wird.  Es  sind  also  sehr  reichliche  Mengen  nöthig,  wenn  man 
auch  nur  über  die  allerkleinsten  und  oberflächlichsten  Operationen  hinausgeht. 
Die  betreffenden  Autoren  mögen  getrost  zum  Cocain  zurückkehren,  welchem  — 
falls  es  in  richtiger  Weise,  d.h.  in  zweckentsprechend  niedrigen  Concentrationen 
angewendet  wird  —  das  Epitheton  „ungiftig^'  in  weit  höherem  Maasse  zukommt, 
als  dem  Aneson. 

Es  bleibt  uns  nun  noch  ein  Mittel  zu  prüfen,  das  dem  Cocain 
sehr  nahe  stehende,  von  Vinci^)  dargestellte  Eucain  B.  Ich 
darf  auf  die  vonHeinze  raitgetheilten  Versuche  hinweisen,  welche 
ergeben,  dass  beide  Mittel  in  Bezug  auf  ihre  anästhesirende  Wirkung 
bei  directer  Infiltration  der  Gewebe  absolut  gleichartig  sind.  Die 
üebereinstimraung  geht  soweit,  dass  meine  Tabelle  VI  bis  auf 
einen  Punkt  wörtlich  genommen  auch  für  das  Eucain  B  gültig 
ist.  Ein  Zusatz  von  0,04  pCt.  Eucain  B  zum  Wasser  verdeckt 
den  Quellungsreiz,  die  nachweisliche  untere  Grenze  der  Wirksamkeit 
des  Mittels  liegt  bei  0,005  pCt.  und  Eucain«B-Lösungen  haben 
annähernd  die  gleichen  Gefrierpunkte,  wie  gleichprocentigc  Cocain- 
lüsungen : 

Cocainum  muriaticum.     Eucainum  muriaticum  B. 
Gefrierpunkt :  Gefrierpunkt : 

1  pCt.  =  0,1150  1  pCt.  =  0,1250 

2  „      =  0,23  0  2    „      =  0,245« 

3  „      =  0,3050  3    „      =  0,360 

4  „      =  0,4100  4    „      =  0,450 

Einen  specifischen  Reiz  löst  Eucain  B  noch  weniger  als  Cocain 
aus,  da  selbst  (durch  Erwärmung  herzustellende)  10  proc.  Lö- 
sungen bei  der  Injection  in  die  Cutis  keinen  Schmerz  verursachen. 
Die  Intensität  und  Dauer  der  durch  Eucain-B-Lösungen  erzielten 
directen  Infiltrationsanästhesie  ist  die  gleiche,  wie  beim  Gebrauch 
gleichprocentiger  Cooainlösungen.  Die  Ausbreitung  der  Anästhesie 
über  die  Grenzen  des  direct  infiltrirten  Gebiets  wird  ebenfalls  bei 
1  proc.  Eucain-B-Lösungen  beobachtet,  erfolgt  aber  etwas  weniger 
rasch  als  beim  Cocain.  Gcwebsschädigungen  fehlen.  Es  kann  also 
zunächst  darüber  kein  Zweifel  obwalten,  dass  das  Cocain  und 
Eucain  B  in  der  That  die  beiden  einzigen  Steife  sind,  welche  bei 
der  Wahl  eines  für  die  Infiltrationsanästhesie  geeigneten  Mittels  in 
Betracht  zu  ziehen  sind,  sie  allein  lähmen  ohne  Reiz,  ohne  Gewebs- 


1)  Virchow  Archiv.    Bd.  149. 


Experiment.  Untersachungen  u.  Erfahrangen  üb.  Infiltrationsanästhesie.    395 

Schädigung  und  bewirkten  noch  in  ausserordentlicher  Verdünnung 
eine  für  practische  Zwecke  genügend  lange  andauernde  Anästhesie 
der  infiltrirten  Gewebe.  Von  den  Vorzügen  des  Eucain  B  vor  dem 
Cocain  und  den  toxischen  AVirkungen  beider  Mittel  wird  weiter 
unten  noch  die  Rede  sein.^) 

in.   Folgerungen. 

Die  Ergebnisse  der  vorstehenden  Untersuchungen  haben  zunächst 
ein  theoretisches  Interesse,  insofern  sie  dazu  geführt  haben,  die 
Wirkung  der  allen  wässrigen  Lösungen  gemeinsamen  physikalischen 
Eigenschaften  auf  die  Gewebe,  speciell  die  sensiblen  Nerven  trennen 
zu  können  von  den  specifisch-cheraischen  Wirkungen  der  in  den 
Lösungen  enthaltenen  Stoffe,  und  gezeigt  haben,  wie  sehr  die  phy- 
siologischen Wirkungen  der  Quellung  und  Wasserentziehung  in  Be- 
tracht gezogen  werden  müssen,  ja  dass  ohne  deren  Kenntniss  ein 
Verständniss  der  localen  Wirkungen  wässriger  Lösungen  auf  die 
sensiblen  Nerven  ganz  unmöglich  ist. 

Dann  aber  gestattet  die  systematische  Piüfung  der  local- 
anästhetischen  Eigenschaften  von  Lösungen  die  sichere  Wahl  eines 
für  praktische  Zwecke  brauchbaren  Mittels,  und  zeigt,  in  welcher 
Form  dasselbe  angewendet  werden  muss. 

Es  ist  ein  grosses  Verdienst  von  Schleich,  gezeigt  zu  haben, 
dass  Cocainlösungen  noch  in  Concentrationen  zweckmässig  zur  In- 
filtrationsanästhesie verwendet  werden  können,  welche  der  unteren 
Grenze  der  Wirksamkeit  des  Mittels  nahe  stehen,  wenn  man  verzichtet 
auf  eine  Ausbreitung  der  Anästhesie  über  das  Gebiet  der  directen  In- 
filtration. Ebenso  ist  es  von  grosser  Wichtigkeit,  dass  er  Kochsalz 
diesen  Lösungen  zusetzte,    welche  ohne    diesen  Zusatz    die  schäd- 

')  Anmerkung  bei  der  Correctur.  Nach  Abschluss  unserer  Unter- 
suchungen hat  das  Tropacocain  eine  erhöhte  practische  Bedeutung  erlangt, 
weil  es  von  der  Merck'schen  chemischen  Fabrik  seit  Kurzem  billig  hergestellt 
wird.  Ich  habe  es  daher  geprüft  und  gebe  hier  die  betreffenden  Daten. 
Osmotisch  indifferente  Concentration :  4  pCt,  (Gefrierpunkt — 0,54°).  Niedrigste 
wirksame  Concentration :  0,01  pCt.  (Cocain  0,005  pCt.).  Quellungsschmerz  fehlt 
bis  0,08  pCt.  Specifischer  Reiz  schon  von  2  pCt.  aufwärts,  wesentlich  stärker 
als  bei  Cocain.  Keine  Gewebsschädigung.  Bezüglich  seiner  toxischen  Wirkungen 
scheint  es  zwischen  Cocain  und  Eucain  B  zu  stehen.  In  durch  0^6 — 0,8  proc. 
Kochsalzzusatz  osmotisch  indiffiTcnt  gemachten  Lösungen  von  0,1 — 1,0  pCt.  ist 
das  Tropacocain  ein  ausgezeichnetes  locales  Anästheticum,  welches  vor  dem 
Cocain  den  Vorzug  der  Haltbarkeit  und  Sterilisirbarkeit  seiner  Lösungen  be- 
sitzt, gegenüber  dem  Eucain  B  aber  nur  Nachtheile  (geringere  localan ästhetische 
Potenz,  grössere  Toxlcltät,  stärkere  Reizwirkungen)  aufzuweisen  hat. 


396  Dr.  H.  Braun, 

liehen  Wirkungen  des  Wassers  zeigen  müssen.  Denn  der  Gefrier- 
punkt und  damit  die  quellende  Potenz  einer  0,1  proc.  wässrigen 
Cocainlüsung  ist  kaum  von  reinem  Wasser  unterschieden,  eine 
Lösung  mit  diesem  Gefrierpunkt  erzeugt  also  auch  ohne  die  spe- 
cifische  Wirkung  des  gelösten  Körpers  eine  Schädigung  der  Gewebe 
und  eine  langanhaltende  Quellungsanästhesie.  Ueber  die  Bedeutung 
aber  der  Quellung  und  des  Kochsalzzusatzes  und  darüber,  dass 
durch  ihn  derjenige  Factor,  der  in  einer  wässrigen  Lösmig  ausser 
dem  Cocain  noch  Anästhesie  macht,  zum  grossen  Theil  aufgehoben, 
die  Wirkung  der  Lösung  der  reinen  Cocainwirkung  genähert,  practisch 
gleich  gemacht  wird,  darüber  ist  sich  Schleich  nicht  klar  geworden. 
Ein  Kochsalzzusatz  von  0,2  pGt.,  wie  ihn  Schleich  empfiehlt, 
genügt  nicht  zur  Beseitigung  der  Quellung,  selbst  eine  Cocain- 
lüsung von  1  pCt.  erfordert  noch  einen  Kochsalzzusatz  von  0,6  pCt, 
um  sie  osmotisch  indifferent  zu  machen.  Der  Rest  der  Quellung, 
der  in  den  Schleich 'sehen  Lösungen  enthalten  ist,  bewirkt,  dass 
die  schwächste  von  ihnen,  mit  0,01  pCt.  Cocaingehalt,  stets,  die 
stärkeren  mit  0,1  und  0,2  pCt.  Cocain  in  hypersensiblen,  ent- 
zündeten Geweben  einen  mehr  oder  weniger  heftigen  Reiz  bei  der 
Infiltration  verursachen^),  dass  sie  ferner  ohne  Morphiumzusatz 
häufig  sehr  heftigen  Nachschmerz  machen,  Wirkungen,  die  weder 
durch  weiteren  Zusatz  von  Cocain,  das  eben  die  osmotische  Spannung 
der  Lösung  wenig  verändert,  noch  durch  Abkühlung  der  Lösungen 
beseitigt  werden  können,  wohl  aber  durch  Ausschaltung  der 
Quellung  durch  weiteren  Kochsalzzusatz  und,  was  sehr  wichtig  ist, 
des  TemperatuiTcizes. 

Zu  Gewebsinjectionen,  speciell  für  die  Infiltrations- 
anästhcsic,  dürfen  nur  osmotisch  indifferente  Lösungen 
verwendet  werden,  welche  die  specifische  Wirkung  des 
in  ihnen  enthaltenen  Anästheticums  rein  zum  Ausdruck 
bringen.  Es  sind  das  Lösungen  mit  einem  Gefrierpunkt  von  an- 
nähernd 0,55°  unter  Null  =  0,9  pCt.  NaCl,  während  selbst  die  der 
normalen  Cutis  gegenüber  scheinbar  indifferente,  daher  für  unsere 
experimentellen  Untersuchungen    wohl    brauchbare    Kochsalzlösung 


1)  Der  Gefrierpunkt  der  Sohle  ich 'sehen  Lösung  I  ist  =  0,155®,  der 
der  Lösung  II  "=  0,145  ^  die  quellende  Wirkung  dieser  Flüssigkeiten  ist  also 
geringer  als  die  der  reinen  0,2  proc.  Kochsalzlösung,  die  dritte  Lösung  Schi  ei  eh 's 
bat  annähernd  den  gleichen  Gefrierpunkt  wie  0,2  proc.  Kochsalzlösung. 


Experiment.  Untersuchungen  u.  Erfahrungen  üb.  Infiltrationsanästhesie.     397 

von  0,6  pCt.  in  hyperästhetischen  Geweben  Quellungschmerz  ver- 
ursacht^). Werden  solche  osmotisch  indifferente  Lösungen,  z.  B. 
eine  Lösung  von  0,1  Cocain  in  0,8  proc.  Kochsalzlösung  auf  Körper- 
temperatur erwärmt,  so  geben  sie  in  der  That  die  reine  Cocain- 
wirkung  und  lähmen  ohne  jeden  Reiz.  Also  nicht  die  Benutzung, 
wie  Schleich  meint,  sondern  die  Ausschaltung  aller  physikalisch 
wirkenden  Eigenschaften  der  Lösungen  ist  es,  worauf  es  bei  der 
Infiltrationsanästhesie  ankommt.  Niemals  werden  wir  uns  hierbei 
der  specifischen  local  anästhetisch  wirkenden  Gifte  cntrathcn  können ; 
sie  allein  vermögen  die  sensiblen  Nerven  ohne  Reiz  zu  lähmen. 

Der  Zusatz  von  .0,02  und  0,005  pCt.  Morphium  mur.,  den 
Schleich  sieinen  Lösungen  hinzugiebt,  kann  nach  den  Ergebnissen 
unserer  Prüfung  des  Alkaloids  keinerlei  spccifische  locale  Wirkung 
auf  die  sensiblen  Nerven  haben,  diese  geringen  Morphiummengen 
vermögen  an  sich  weder  den  Quellungsschmerz  erkennbar  zu  ver- 
mindern, noch  die  Cocainanäesthesie  zu  beeinflussen,  auch  verändern 
sie  den  Gefrierpunkt  der  Lösungen  und  ihre  quellende  Wirkung 
nur  unmerklich.  Das  einzige  locale  Symptom,  was  sie  machen,  sind 
die  oben  erwähnten  Parästhesieen  und  Oedeme,  die  sich  an  manchen 
Körpertheilen  mit  sehr  lockerem  Gewebe  recht  unangenehm  bemerkbar 
machen,  z.  B.  am  Präputium.  Ich  habe  selbst  gesehen  und  vielfach 
darüber  klagen  gehört,  dass  nach  Phimosenoperationen  unter  In- 
filtrationsanästhesie ganz  abnonn  starke  Oedeme  entstehen;  sie 
sind  lediglich  eine  Morphiumwirkung  und  fehlen,  wenn  der  In- 
jectionsflüssigkeit  kein  Morphium  zugesetzt  wird.  Aehnliche  Morphium- 
oedeme  werden  nach  Injection  Schleich 'scher  Lösungen  in  das 
Zahnfleich  beobachtet  (Mehler)^)  und  Korsch^)  beschreibt  sie 
sehr  characteristisch  und  vergleicht  sie,  ohne  zu  wissen,  dass  es 
sich  um  eine  Morphiumwirkung  handelt,  mit  der  Wirkung  eines 
Bienenstichs,  nachdem  er  sich  mit  Schleich 'sehen  Lösungen  selbst 
Quaddeln  am  eigenen  Handrücken  gemacht  hatte. 

Die  von  Schleich  gerühmte  Herabsetzung  des  Nachschmerzes, 
welchen  der  Morphiumzusatz  bewirken  soll  und  auch  sicher  bewirkt, 
kann  nur  eine  Allgemein  Wirkung  des  Morphiums  sein.     Es  ist  also 

1)  Die  quellende  Wirkung  der  sogenannten  physiologischen  Kochsalz- 
lösung von  0,6  pCl  ist  schon  von  Hamburger  (Centralbl.  für  Physiologie, 
Bd.  VII,  S.  193)  nachgewiesen. 

2)  Münchener  med.  Wochenschrift.     1896,  No.  45. 
»)  Militarärztliche  Zeitschrift.     1896,  S.  114. 


398  Dr.  H.Braun, 

besser,  das  Morphium,  wenn  nöthig,    an  einer  anderen  Stelle,    als 
gerade  in  dem  Operationsgebiet  zu  injiciren. 

Wir  fanden,  dass  als  Ersatzmittel  für  das  Cocain  nur  das 
ihm  für  die  Erzielung  einer  directen  Infiltrationsanaesthesie  völlig 
gleichwertige  Eucain-B^)  in  Betracht  gazogen  werden  konnte. 
Dasselbe  bildet  jedoch  nicht  nur  einen  Ersatz,  sondern  ist  dem 
Cocain  unbedingt  vorzuziehen,  weil  es  viel  weniger  giftig  ist  und 
noch  weniger  specifisch  reizt,  als  dieses,  und  weil  alle  seine 
Lösungen  haltbar  sind  und  beliebig  oft  ausgekocht  werden  können. 
Ich    empfehle  daher    zur  Infiltrationsanaesthesie    folgende  Lösung: 

1,0  Eucain-B. 
8,0  Kochsalz. 
1000,0  Wasser, 

Ihr  Gefrierpunkt  ist  0,535^,  sie  ist  annähernd  osmotisch  in- 
different und  erzeugt  in  jedem  Gewebe,  das  einer  directen  In- 
filtration zugänglich  ist,  eine  Anaesthesie  ohne  Reiz  von  10  Minuten 
bis  zu  1  Stunde  und  mehr  Dauer. 

Die  Dauer  der  Anaesthesie  ist  bei  jeder  Art  von  Infiltration 
abhängig  von  dem  Umfang  des  infiltrirten  Gewebsabschnittes  und 
der  Menge  der  in  denselben  hineingespritzten  Flüssigkeit,  von  der 
Art  der  Gewebe  und  der  grösseren  und  geringeren  Lebhaftigkeit 
des  sie  durchkreisenden  Blutstroms.  Daher  verschwindet  die 
Anaesthesie  am  schnellsten  im  hyperaemischen  entzündeten  Ge- 
webe, am  langsamsten  in  sehr  lockeren  Geweben,  wo  Oedeme 
lange  bestehen  bleiben.  Bei  sehr  umfangreicher  und  praller  In- 
filtration beträgt  ihre  Dauer  das  vielfache  der  von  uns  an  ein- 
zelnen Quaddeln  beobachteten  Zeit.  Durch  Unterbrechung  der 
Blutzufuhr  kann  sie  beliebig  verlängert  werden.  Die  Temperatur 
der  Lösung  ist  für  das  Zustandekommen  dieser  Anaesthesie  ganz 
gleichgiltig ,  wenn  aber  entzündete  hypersensible  Gewebe  inCltrirt 
werden  sollen,  so  ist  die  Ausschaltung  des  Temperaturreizes  durch 
Erwärmung  der  Lösung  auf  Körpertemperatur  durchaus  nothwendig; 


1)  Es  kommen  vielfach  Verwechselungen  des  Eucaiu-A  und  Eucain-B  vor, 
es  ist  daher  sehr  erfreulich,  dass  die  chemische  Fabrik  (vorm.  E.  Schering)  in 
Berlin,  welche  die  Eucainpräparate  zuerst  darstellte,  die  Absicht  hat,  das  um- 
brauchbare Eucain-A  nicht  mehr  herzustellen,  und  von  nun  an  unter  der  Be- 
zeichnung Eucain  nur  noch  Eucain-B  in  den  Handel  zu  bringen.  Einstweilen 
muss  ich  empfehlen,  nur  das  Eucain-B  der  genannten  Fabrik  anzuwenden,  da 
mir  verschiedentlich  minderwerthige  Präparate  unter  die  Hände  gekommen  sind. 


Experiment.  Untersuchungen  u.  Erfahrungen  üb.  Infiltrationsanasthesie.    399 

dann,  aber  auch  nur  dann,  kann  die  Infiltration  auch  solcher  Ge- 
webe schmerzlos  bewerkstelligt  werden. 

Die  practische  Brauchbarkeit  der  0,1  proc.  osmotisch  indiÖ'e- 
renten  Eucain-B-Lösung  ist  von  mir  seit  Monaten  an  einer  grösseren 
Zahl  klinischer  und  poliklinischer  Operationen  erprobt  worden.  In 
der  Regel  brauchen  wir  nur  diese  einzige  Lösung.  Denn  es  ist 
nicht  anzunehmen,  dass  man  bei  Verwendung  1  prom.  Eucainß- 
Lösungen  toxischen  Wirkungen  begegnen  wird. 

Ich  habe  zwei  Mal  bei  einer  Operation  bis  fast  300  cbcm  der  gedachten 
Lösung  verbraucht,  ein  Mal  bei  der  Exstirpation  eines  grossen  Lymphdrüsen- 
tumors am  Halse,  das  andere  Mal  bei  der  Radicaloperation  einer  Leisten-  und 
Schenkelhemie  in  einer  Sitzung.  Mehr  wird  wohl  kaum  je  nothwendig  sein. 
Schwerlich  aber  ist  damit  bereits  die  Nähe  einer  gefahrlichen  Dosis  erreicht, 
denn  die  gleiche  Menge,  300  cbcm  einer  0,1  proc.  Eucain-B-Lösung,  kann  man 
einem  Kaninchen  subcutan  injiciren,  man  kann  also  das  Thier  sozusagen  mit 
Flüssigkeit  aufblähen,  ohne  dass  es  sein  Verhalten  äusserlich  verändert.  Von 
der  osmotisch  indijOferenten  Lösung  kann  man  auch  intravenös  Thieren  grosse 
Mengen  ohne  Schaden  einspritzen,  es  dürfte  deshalb  auch  beim  Menschen 
eine  unbeabsichtigte  intravenöse  Jnjection  kaum  von  üblen  Folgen  begleitet 
sein.  0,3  Eucain-B  in  10  proc.  Lösung  erzeugt  bei  Kaninchen  leichte,  rasch 
vorübergehende  Intoxication,  0,3  Cocain  in  10  proc.  liösung  tödtet  das  Thier  in 
wenigen  Minuten.  Das  Eucain-B  ist  also,  wie  wir  schon  durch  Vinci^)  wissen, 
viel  weniger  gefahrlich,  als  das  Cocain,  es  scheint  von  Nebenwirkungen  frei  zu 
sein  und  nur  zu  lähmen.  Mit  stärker  concentrirten  Eucain-B-Lösungen  aber 
wird  man  ebenso  vorsichtig  sein  müssen,  wie  mit  Cocainlösungen,  wie  über- 
haupt mit  hochconcentrirten  Lösungen  eines  jeden  Körpers,  welcher  noch  in 
grösster  Verdünnung  bei  localer  Application  lähmend  wirkt.  Für  eine  ganz 
vergebliche  Mühe  halte  ich  das  Suchen  nach  einem  „ungiftigen^  localen  An- 
aestheticum.  Denn  ein  Stoff  mit  denjenigen  Eigenschaften,  welche  uns  das 
Cocain  und  Eucain-B  werthvoll  machen,  muss  in  Concentrationen  angewendet, 
die  die  untere  Grenze  seiner  Wirksamkeit  weit  übersteigen,  ganz  unabhängig 
von  der  benutzten  Dosis  nothwendig  gefahrlich  werden  können,  weil  dann  ge- 
legentlich kleine  Mengen  des  Stoffs,  in  die  Gewebe  injicirt,  relativ  wenig  ver- 
dünnt, an  die  nervösen  Centralorgane  gelangen  und  sie  lähmen  können.  Bei 
Verwendung  von  Lösungen,  welche  lähmende  Körper  in  der  unteren  Grenze 
ihrer  Wirksamkeit  nahe  stehenden  geringen  Concentrationen  enthalten,  fällt 
begreiflicher  Weise  diese  Gefahr  fort,  unerwünschte  und  andere  als  rein  locale 
Wirkungen  kann  man  hier  erst  erwarten,  wenn  die  auf  den  ganzen  Körper  ver- 
theilte,  toxisch  wirkende  Maximaldosis  erreicht  ist.  In  dem  soeben  Ausgeführten 
liegt  offenbar  auch  die  Erklärung  der  sogenannten  Cocain-Idiosynkrasie, 
deren  Existenz  durch  nichts  bewiesen  ist,  wenigstens  nicht  in  der  Häufigkeit,  wie 


1)  Virchow's  iVrchiv.    Bd.  149. 


390 


Dr.  H.  Braun, 


Tabelle  VI.    Cocainan  nuriatieum. 


I. 

Concen- 
tration 

II. 

Gefrier- 
punkt. 

III. 

Lösungsmittel 
bei  350 

IV. 

Injections- 
schmerz 

V. 

Sensibilität 

VI. 

Dauer  der 
Anästhesie 

10  pCt. 

6  pCt. 
5,8  pCt. 

4pGt. 
3J  pCt. 

3pCt. 

2pGt. 

1  pCt. 


0,1  pCt. 


0,04  pCt. 


0,02  pCt. 


0,01  pCt. 


0,005  pCt. 


0,0025pCt. 


—  0,580 

—  0,5650 

—  0,4100 

—  0,380 

—  0,3050 

—  0,230 

—  0,1150 
-0,020 


Wasser 


Wasser 
0,6pCt.NaCl 

Wasser 
0,2pCt,NaCl 
0,6pCt.NaCl 

Wasser 
0,2pCt.NaCl 
0,6pCt.NaCl 

Wasser 
0,2pCt.NaCl 
0,6pCt.NaCl 

Wasser 
0,2pCt.NaCI 
0,6pCt.NaCl 


Wasser 
0,2pCt.NaCl 
0,6pCt,NaCl 


genug 


keiner 


genng 
gering 
keiner 

stark 

stark 

keiner 

sehr  heftig 

stark 

keiner 


sehr  heftig 

stark 

keiner 


Anästhesie, 
die  Quaddel- 
grenzen über- 
schreitend 


Anästhesie, 
die  Quaddel- 
grenzen wenig 

überschreit. 

Anästhesie, 

auf  d.  Quaddel 

beschränkt 

Anästhesie 


Anästhesie 

Anästhesie 
Anästhesie 
Analgesie 

Anästhesie 
Analgesie 
Geringe  Her- 
absetzung der 
Sensibilität 

Anästhesie 
AnaTgesie 
Keine  Verän- 
derung. 


'A 


1  Stunde 


25  Minuten 


} 


ca.  15  Min. 


15  Minuten 
8  Minuten 
8  Minuten 

15  Minuten 
6  Minuten 
6  Minuten 

15  Minuten 

6  Minuten 

kurz 

15  Minuten 
6  Minuten 
sehr  kurz 


15  Minuten 
6  Minuten 


weilen  dauernde  Gcwebsschädigun^en  erkennen  lassen.  Die  reinen 
Cocainwirkungen  zeigen  uns  auf  Körpertemperatur  erwärmte  Lö- 
sungen, welche  durch  Zusatz  von  0,6  pCt.  bis  0,8  pCt.  Kochsalz 
osmotisch    indifferent   gemacht  wurden.     Solche  Lösungen    verur- 


Experiment.  Untersuchungen  u.  Erfahrungen  üb.  Infiltrationsanästhesie.    39 1 

Sachen  keinen  Reiz,  sie  werden  rasch  resorbirt,  ohne  eine  Gewebs- 
veränderung, oder  einen  Nachschmerz  zu  hinterlassen. 

Die  untere  Grenze  der  erkennbaren  localen  Wirksamkeit  des 
Cocainum  muriaticum  liegt  ganz  erstaunlich  tief,  kein  anderer  der 
bisher  erwähnten  StofiFe  kann  in  dieser  Beziehung  mit  dem  Cocain 
verglichen  werden.  Ein  Zusatz  von  0,005  pGt.  (1 :  20,000)  zu  einer 
indifferenten  Flüssigkeit  ruft  innerhalb  der  Quaddel  noch  eine  meh- 
rere Minuten  anhaltende  Herabsetzung  der  Sensibilität  hervor,  welche 
sehr  deutlich  erkennbar  wird,  wenn  zum  Vergleich  neben  die  Cocain- 
quaddel  eine  solche  mit  reiner  0,6  proc.  Kochsalzlösung  gesetzt 
wird.  War  die  quellende  Wirkung  des  Wassers  zum  Theil  aus- 
geschaltet durch  Zusatz  von  0,2  pCt.  Kochsalz,  so  zeigt  sich  Fol- 
gendes. 0,2  pCt.  Kochsalz  allein  macht  starken  Quellungsschmerz 
und  eine  kurzdauernde  Analgesie  der  Quaddel.  Auch  dieser  Quel- 
lungsschmerz wird  noch  durch  0,04  pCt.  Cocainzusatz  verdeckt. 
Stärkere  Gewebsschädigungen  finden  nicht  statt,  wenngleich  die 
Quaddeln  in  Folge  der  Quellung  stundenlang  bestehen  bleiben.  Die 
erste  Cocainwirkung  beobachten  wir  bei  Zusatz  von  0,01  Cocain 
zu  einer  0,2  proc.  Kochsalzlösung,  aus  der  Analgesie  wird  eine 
wenige  Minuten  anhaltende  Anästhesie,  von  0,02  pCt.  aufwärts  ist 
eine  Differenz  gegenüber  der  reinen  Cocainwirkung  ohne  Quellung 
nicht  mehr  vorhanden,  die  geringe  quellende  Potenz  des  Lösungs- 
mittels ist  irrelevant.  Eine  Sunimation  der  Quellung  und  Cocain- 
wirkung kann  einzig  und  allein  bei  einem  Cocaingehalt  der  Lösung 
von  0,01  pCt.  beobachtet  werden.  Cocain  und  0,2  pCt.  Kochsalz 
veranlassen  jedes  allein  eine  kurzdauernde  Analgesie,  beide  zu- 
sammen eine  kurzdauernde  Anästhesie.  Die  Injection  dieser  Lösung 
ist  aber  von  starkem  Quellungsschmerz  begleitet. 

Mit  der  Eigenschaft  des  Cocains,  noch  in  so  enormer  Verdün- 
nung die  sensiblen  Nerven  zu  lähmen,  hängt  eng  zusammen  die 
Eigenschaft  stärker  concentrirter  Lösungen,  von  etwa  1  pCt.  auf- 
wärts, über  das  direct  infiltrirte  Gebiet  hinaus  eine  Anästhesie  oder 
Analgesie  zu  erzeugen.  Eine  1  proc.  Lösung  enthält  das  Cocain  in 
einer  Menge,  200 mal  grösser  als  diejenige,  welche  bei  directom 
Contact  die  sensiblen  Nerven  noch  lähmt.  Daher  diffundiren  aus  einer 
1  proc.  Lösung  genügende  Mengen  Cocain  in  die  Nachbarschaft  des 
infiltrirten  Gebietes,  um  auch  da  zu  lähmen.    Eine  Lösung,  200  mal 


392  Dr.  H.  Braun, 

stärker  als  die  niedrigste  noch  wirksame  Concentration,  lässt  sich 
mit  den  bisher  untersuchten  Stoffen  entweder  gar  nicht  herstellen, 
oder  sie  reizt  und  schädigt  so  stark,  dass  sie  nicht  in  die  Gewebe 
injicirt  werden  kann.  Bei  Verwendung  10  proc.  Cocainlösung, 
2000 mal  stärker  als  die  niedrigste  wirksame  Concentration,  über- 
schreitet die  Anäthesie  die  Quaddel  um  das  Vielfache  ihres  Durch- 
messers und  im  Umkreis  um  die  anästhetische  Zone  beobachtet 
man  einen  schon  von  Wolf  1er  beschriebenen  hemianästhetischen 
Ring,  in  welchem  wohl  Analgesie,  aber  nicht  Anästhesie  der  Cutis 
vorhanden  ist.  Sicherlich  hat  diese  Erscheinung  nichts  mit  der 
regionären  Anästhesie  zu  schaffen,  sondern  ist  eine  einfache  Folge 
der  Diffusion,  vergleichbar  mit  der  Wirkung  starker  auf  Schleim- 
häute applicirter  Cocainlösungen.  Daher  nimmt  die  secundäre 
hemianästhetische  Zone  mit  der  Concentration  an  Umfang  rasch 
ab,  ist  bei  Verwendung  1  proc.  Cocainlösungen  nur  noch  klein. 
Von  ungefähr  0,5  pCt.  abwärts  ist  die  Anästhesie  auf  die  Quaddeln 
beschränkt.  Wird  die  Blutzufuhr  abgeschnitten,  lässt  man  dadurch 
dem  Cocain  Zeit,  in  die  Umgebung  zu  diffundiren,  ehe  es  resorbirt 
wird,  so  können  mit  Hiilfe  einer  kleinen  Menge  stärkerer  Cocain- 
lösungen umfangreiche  Gewebsbezirke  anästhetisch  gemacht  werden. 
Specifisch  reizende  Eigenschaften  bietet  das  Cocain  in  niedrigeren 
Concentrationen  nicht,  erst  Lösungen  von  3  pCt.  aufwärts  bewirken 
einen  sehr  kurzen,  specifischen  Reiz,  .welcher  unmittelbar  nach  der 
Injection  verschwindet. 

Die  Dauer  der  Cocainanästhesie  steigt  mit  der  Concentration, 
beträgt  bei  0,02  pCt.  6  Minuten,  bei  0,1  pCt.  15  Minuten,  bei  1  pCt. 
25  Minuten,  bei  10  pCt.  bis  zu  %  Stunden  und  länger.  Ich  brauche 
wohl  kaum  zu  erwähnen,  dass  diese  Zeitangaben  nicht  absolute, 
sondern  nur  relative  Wcrthe  darstellen. 

Mit  Rücksicht  auf  practische  Zwecke  möge  erwähnt  werden,  dass  Cocain- 
lösungen ein  Abkochen  nur  in  sehr  engen  Grenzen  vertragen,  weil  sich  bei 
Siedehitze  das  Cocain  unter  Bildung  von  Ecgonin  zersetzt.  Eine  solche  ab- 
gekochte Lösung  erzeugt  zwar  im  Bereich  der  infiltrirten  Gewebspartie  Anästhesie, 
um  so  mehr,  je  weniger  die  Quellung  ausgeschaltet  war,  aber  das  Ecgonin  ist 
durchaus  kein  Anästheticum,  es  vermag  den  Quellungsschmerz  nicht  zu  com- 
pensiren.  Ein  einmaliges  rasches  Aufkochen  vertragen  Cocainlösungen.  Hier- 
über geben  folgende  Versuche  Aufschluss,  welche  mit  einer  0,04  proc,  den 
Quellungsreiz  noch  eben  compensirenden  wassrigen  Cocainlösung  angestellt 
wurden.    Wird  die  Lösung  frisch  bereitet  injicirt,  so  wird  kein  Quellungs- 


Experiment.  Untersuch angen  u.  firfahrnngen  üb.  Infiltrationsanästhesie.    393 

schmerz  empfunden,  wird  eine  kleine  Menge  im  Reagensglas  bis  zum  Kochen 
erwärmt,  so  ergiebt  sich  dasselbe.  Wird  dieselbe  Lösung  Y4  Stunde  gekocht, 
so  erregt  sie  dann  starken  Injectionsschmerz,  der  beim  wiederholten  Kochen 
immer  heftiger  wird.  Es  darf  also  die  Sterilisation  von  Gooainlösungen  durch 
Hitze  nur  mit  grosser  Vorsicht  vorgenommen  werden,  am  Besten  ist  sie  zu 
vermeiden. 

Es  ist  weiter  von  Interesse,  mit  dem  Cocain  einmal  ein  neuerdings  viel 
empfohlenes  Mittel,  das  An  es  in  oder  Aneson,  eine  wässrige  Lösung  des 
Acetonchloroforms,  zu  vergleichen.  Dasselbe  kommt  als  eine  wässrige  Flüssig- 
keit mit  einem  Gefrierpunkt  von  — 0,18^  in  den  Handel,  erfordert  also  zum 
Ausgleich  der  Quellung  einen  Kochsalzzusatz  von  0,6  pGt.  Die  Injection  ist 
stets  mit  einem  specifischen  Reiz  vorhanden,  während  ein  Quellungsschmerz 
nicht  fühlbar  ist.  Die  entstandene  Quaddel  wird  für  mehrere  Minuten  anästhe- 
tisch und  hinterlässt  auch  nach  Koohsalzzusatz  zur  Lösung  schmerzhafte  und 
geröthete  Infiltrate.  Zur  Hälfte  verdünnt,  macht  die  Lösung  ohne  Kochsalz- 
zusatz bereits  heftigen  Quellungsschmerz,  verdünnt  man  sie  mit  3  Theilen 
Wasser  und  macht  sie  durch  Kochsalzzusatz  osmotisch  indifferent,  so  zeigt  sich, 
dass  man  bereits  die  untere  Grenze  der  Wirksamkeit  des  Mittels  erreicht  hat. 
Das  käufliche  Aneson  enthält  also  das  Acetonchloroform  in  einer  Con centrat ion 
etwa  4 mal  stärker  als  die  niedrigste  noch  wirksame  Concentration.  Die  untere 
Grenze  der  Cocainwirkung  fanden  wir  bei  0,005  pCt.,  das  käufliche  Aneson 
entspricht  also  in  seiner  localanästhetischen  Potenz  einer  etwa  4  mal  stärkeren, 
d.  h.  0,02—0,05  proc,  und  nicht,  wie  Vamossy^)  glaubt,  einer  2— 2Y2  proc. 
Cocainlösung.  Dementsprechend  ist  auch  das  Aneson  nicht  im  Stande,  eine 
über  die  Grenze  der  Quaddel  hinausgehende  indireote  Infiltrationsanästhesie 
oder  eine  regionäre  Anästhesie  hervorzurufen,  oder  bei  Application  auf  Schleim- 
häute ausreichend  zu  wirken.  Hierzu  wären  100 mal  stärkere  Concentration en 
des  Acetonchloroforms  nothwendig.  Als  besonderer  Vorzug  des  Anesons  wird 
dessen  angebliche  Ungiftigkeit  hervorgehoben,  die  Reclame  des  Fabrikanten 
bezeichne  das  Aneson  als  „einzig  ungiftiges  locales  Anästheticum^^  Will  man 
es  nun  in  dieser  Beziehung  mit  dem  Cocain  vergleichen,  so  muss  man  es 
natürlich  vergleichen  mit  einer  0,05  proc.  Cocainlösung,  welche  die  gleiche 
localanästhetische  Potenz  besitzt,  aber  ohne  zu  reizen  und  die  Gewebe  zu 
schädigen.  Werden  100  ccm  Aneson  (Kostenpunkt  im  Engrospreis  3  Mk.  50  Pf.) 
einem  Kaninchen  von  2700  g  Gewicht  subcutan  injicirt,  so  verfällt  dasselbe 
für  volle  24  Stunden  in  einen  tiefen,  todtähnlichen  Schlaf,  Puls  und  Respiration 
sind  stundenlang  kaum  noch  erkennbar,  dann  erholt  sich  das  Thier  allmälig. 
100  ccm  einer  0,05  proc.  Cocainlösung  (Kostenpunkt  wenige  Pfennige)  einem 
gleich  grossen  Thiere  injicirt,  bewirken  niemals  Allgemeinerscheinungen.  Aus 
allen  den  genannten  Gründen  halte  ich  das  Aneson  für  völlig  obsolet. 

Die  Autoren,  welche  das  Aneson  angewendet  haben,  sind  sich  offenbar 
nicht  bewusst,  dass  sie  das  nur  in  Form  der  Schleich' sehen  Infiltrations- 
anästhesie thun  können,  da  ja  nur  das  direct  mit  dem  Mittel  infiltrirte  Gebiet 


»)  Deutsche  med.  Wochenschrift.    1897.    No.  36. 


404  Dr.  H.  Braun, 

stamme  iu  absehbarer  Zeit  nur  dann  unempfindlich  machen,  wenn 
sie  in  die  Nervenscheide  injicirt  werden,  wenn  also  der  Nerv  direkt 
infiltrirt  wird.  Ich  zweifle  aber  nicht  daran,  dass  die  Möglichkeit, 
grosse  Amputationen  unter  Infiltrationsanästhesie  eventuell  unter 
Zuhilfenahme  einer  ganz  kurzen  Narkose  ausführen  zu  können, 
einem  Menschen  das  Leben  erhalten  kann,  der  eine  längere  Narkose 
nicht  mehr  verträgt. 

Das  psychische  Verhalten  der  Kranken  macht,  besonders  bei 
Kindern,  oft  jegliche  Art  einer  localen  Anästhesie  unausführbar? 
um  so  mehr,  als  die  gelegentliche  Auslösung  einer  geringen  Schmerz- 
empfindung bei  ausgedehnteren  Operationen  nicht  immer  zu  ver- 
meiden ist,  auch  bei  vollendeter  technischer  Uebung  des  Operateurs. 
In  anderen  Fällen  ist  selbst  bei  technischer  Ausführbarkeit  der 
localen  Anästhesie  aus  psychischen  Gründen  die  Narkose  wünschens- 
wcrth.  Wo  Muskelerschlaifung  nothwendig  ist,  ist  die  Infiltrations- 
anästhesic  unbrauchbar. 

Das  mit  der  Infiltration  verbundene  Oedem  der  Gewebe  ist 
keineswegs  oft,  aber  doch  bei  manchen  Operationen  eine  unange- 
nehme Beigabe.  Es  erschwert  zweifellos  die  Orientirung  bei 
technisch  complicirten  Operationen,  es  erschwert  die  Unterscheidung 
gesunder  von  kranken  Geweben  und  hindert  vor  allem  die  durch  nichts 
zu  ersetzende  palpatorische  Untersuchung  der  Umgebung  des  Opera- 
tionsterrains nach  Ausführung  des  Hautschnitts.  Deshalb  ist  die  In- 
filtrationsanästhesie für  die  Exstirpation  von  malignen  Geschwülsten, 
falls  sie  nicht  klein  und  leicht  zugänglich,  ohne  jede  Schwierigkeit 
und  sicher  radikal  zu  entfernen  sind,  durchaus  zu  verwerfen.  Ich 
erinnere  nur  an  die  Ausräumung  der  Achselhöhle  wegen  carcino- 
matöscr  Drüsenerkrankung.  Sie  ist  ja  von  Schleich  und  Anderen 
ausgeführt  worden  und  ich  bezweifle  nicht,  dass  sie  technisch 
möglich  ist,  wenngleich  sie  nicht  darin  bestehen  darf,  die  Drüsen 
einzeln  aus  dem  Fettgewebe  der  Achselhöhle  zu  holen,  wie  das 
Schleich^)  in  seinem  Buch  beschreibt.  Aber  auf  die  technische 
Ausführbarkeit  der  Infiltrationsanästhesie  und  die  etwas  grössere 
Gefahr  der  Narkose  kommt  es  hier  gar  nicht  an,  sondern  lediglich 
auf  die  Sicherheit,  welche  eine  Operationsmethode  bezüglich  der 
Radikalheilung    gewährt.     Hier    ist   jedes  Verfahren,    welches    die 


1)  1.  c.  S.  232. 


Experiment.  Untersuchungen  u,  Erfahrungen  üb.  Infiltrationsanästhesie.    405 

Orientirung  und  die  rücksichtsloseste  Entfenuing  des  der  Erkrank- 
ung verdächtigen  Gewebes  erschwert,  und  das  thut  die  Infiltrations- 
anästhcsie,  zu  vermeiden. 

Auch  die  Exstirpation  von  Lymphdrüsengeschwülsten  anderer 
Art  erfordert  die  aligemeine  Narkose,  wenn  sie  nicht  ganz  um- 
schrieben und  leicht  zugänglich  sind,  weil  bei  mehr  difluser  Er- 
krankung, theils  wegen  der  Aufschwemmung  der  Gewebe,  theils 
in  Folge  der  von  Schleich  wiederholt  betonten  Nothwendigkeit 
eines  vorsichtigen  „tastenden '^^  Operirens  sehr  leicht  Drüsen  über- 
sehen und  zurückgelassen  werden.  Diese  Nothwendigkeit  dürfte 
überhaupt  ein  Grund  sein,  die  locale  Anästhesie  bei  Operationen, 
welche  ein  rasches  und  rücksichtsloses  Vorgehen  erfordern,  welche 
bei  technischen  Schwierigkeiten  auch  die  Möglichkeit  unerwarteter 
Ereignisse  nicht  ausschliessen,  zu  vermeiden,  falls  nicht  die  Narkose 
direkt  contraindicirt  erscheint.  Mangelhaft  ernährte  Gewebe  zu  in- 
filtriren  ist  bedenklich:  ich  beobachtete  an  einem  gestielten  Stirn- 
iappen,  den  ich  zur  Deckung  eines  Defekts  am  inneren  Augen- 
winkel abgelöst  hatte,  Gangrän,  welche  ich  nur  auf  die  Infiltration 
beziehen  kann.  Ich  benutzte  aber  damals  noch  nicht  osmotisch 
indifferente  Lösungen  und  kannte  nicht  die  schädigenden  Wirkungen 
der  Quellung,  es  ist  daher  möglich  und  wahrscheinlich,  dass  man 
bei  Verwendung  osmotisch  indifferenter  Lösungen  in  dieser  Be- 
ziehung weniger  vorsichtig  zu  sein  braucht. 

Eine  andere,  nicht  unwichtige  Beobachtung  finde  ich  in  den 
bisherigen  Publicationen  über  Infiltrationsanästhesie  nicht  genügend 
hervorgehoben^)  Es  hat  nämlich  Reclus^)  mit  Recht  darauf 
aufmerksam  gemacht,  dass  die  Cocainanästhesie  sehr  schnell  ver- 
schwindet unter  dem  Einfluss  der  Glühhitze,  welche  das  Cocain 
zerstört.  Dasselbe  geschieht  auch  bei  der  Eucainanästhesic.  Des- 
halb lassen  sich  z.  B.  Hämorrhoidaloperationen  mit  dem  Thermo- 
kauter,  wie  ich  wiederholt  beobachtete,  nach  anfänglicher  völliger 
ünerapfindlichkeit  bei  der  Dehnung  des  Afters  schlecht  zu  Ende 
führen,  während  die  meist  längere  Zeit  beanspruchenden  Excisionen 
von    Hämorrhoidalknoten    sich    wie    alle    anderen    uncomplicirten 

# 

^)  Nur  Korsch  (Militarärzti.  Zeitschrift  1896)  sagt,  dass  die  Anwendung 
des  Thermocauters  bei  Hämorrhoidaloperationen  nicht  angängig  sei,  undDippe 
(Deutsche  med.  Wochenschr.  1896)  erwähnt,  dass  sich  das  Ausbrennen  einer 
Mastdarmfistel  nicht  habe  schmerzlos  machen  lassen. 

2)  La  cocaine  en  Chirurgie.    Paris  1895. 

27* 


406  Dr.  H.  Braun, 

Operationen  am  After,  vortrefflich  unter  Infiltrationsanästhesie 
machen  lassen  und  dabei  die  Anästhesie  weit  länger  anhält,  als 
man  ihrer  bedarf. 

Ganz    ungeeignet    für    die    Infiltrationsanästhosio    sind    ferner 
diffuse  entzündliche  Processe,  nicht  bloss  deshalb,  weil  man  ihre 
Ausdehnung  nicht  im  Voraus  bestimmen  kann,  sondern  auch,  weil, 
man  Gefahr  läuft,  bei  der  Infiltration  gesunde  Gewebe  zu  inficiren. 

Um  aber  scharf  begrenzte  acute  und  chronische  Eiterungen  zu 
eröffnen,  ist  die  Schleich'sche  Infilhrationsanästhesie  mit  osmotisch 
indifferenten,  erwärmten  Cocain-  oder  Eucain  B-Lösungen  eine  sehr 
vorzügliche  Methode.  Bei  Verwendung  der  von  Schleich  selbst 
angegebenen  Lösungen  ist  hier  die  Infiltration  oft  schmerzhaft  und 
wenn  durch  Abkochen  derselben,  wie  es  von  verschiedenen  Seiten 
empfohlen  wird,  gar  noch  ein  Theil  des  Cocain  zerstört  wird,  kann 
man  bei  Operationen  in  entzündeten  Geweben  unmöglich  befriedi- 
gende Resultate  erwarten. 

Endlich  ist  die  zuerst  von  Oberst  und  Pernice^)  schon  vor 
langer  Zeit  in  der  Volkmann 'sehen  Klinik  praktisch  erprobte 
regionäre  Anästhesie,  d.  h.  also  die  Leitungsunterbrechung  von 
Nervenstämmen,  —  an  den  Fingern  und  Zehen,  wo  sie  durch 
V2 — Iproc.  Cocainlösungen  oder  1  proc.  Eucain-B-Lösungcn  leicht 
und  einfach  hervorgerufen  werden  kann,  2)  der  Infiltrations- 
anästhesie weit  überlegen,  und  ist  hier  überhaupt  eine  praktisch 
wichtige  und  ideale  Methode.  Ob  und  wie  weit  sie  an 
anderen  Körperstellen  mit  der  Infiltrationsanästhesie  concurriren 
kann,  will  ich  noch  dahingestellt  sein  lassen.  Gelegentlich  wird 
man  sich  der  von  Hackenbl-uch^)  empfohlenen  Methode,  das 
Operationsterrain  durch  (Jmspritzen  mit  Y2  —  ^  proc.  Cocain- 
lösungen aus  der  sensiblen  Sphäre  auszuschalten,  mit  Vortheil  be- 
dienen können.  Ein  ähnliches  Verfahren  hat  auch  Schmitt*)  an- 
gewendet. Um  die  theoretischen  Grundlagen  der  unter  ganz  anderen 
Bedingungen  wie  die  Infiltrationsanästhesie  zu  Stande  kommenden 
regionären  Anästhesie  festzustellen  und  ihr  eine  sichere  wissenschaft- 
liche  Basis    zu    geben,    sind  ganz   andere  Untersuchungsmethoden 


1)  Deutsche  med.  Wochenschrift.     1890,  No.  14. 

2)  cf.  Braun,  Centralbl.  für  Chü-urgie.     1897,  No.  17. 

8)  Oertliche  Schmerzlosigkeit  bei  Operationen,  Wiesbaden  1897,    und  die 
Verhandlungen  dieses  Congresses. 

*)  Münchener  med.  Wochenschrift.     1896,  No.  24. 


Experiment.  Untersuchungen  u.  Erfahrungen  üb.  Infiltrationsanästhesie.    407 

nothwendig;  nichts  von  dem,  was  wir  für  die  Infiltrationsanästhesie 
fanden,  lässt  sich  ohne  Weiteres  auf  die  regionäre  Anästhesie  über- 
tragen. Selbstverständlich  sollen  auch  hier  quellende  Flüssigkeiten 
nicht  verwendet  werden.  Y2 — Iproc.  Cocain-  oder  Eucainlösungen 
erfordern  daher  einen  Kochsalzzusatz  von  mindestens  0,6  pCt. 
Unsere  diesbezüglichen  experiracntellen  Untersuchungen  sind  noch 
nicht  abgeschlossen,  ich  will  daher  nicht  weiter  darauf  eingehen. 
•  Ich  erwähnte  im  Eingang  dieser  Arbeit,  dass  ich  die  Schleich- 
sche  Cocainanästhesie  unmöglich  in  einen  principiellen  Gegen- 
satz zu  bringen  vermag  mit  derjenigen  Form  der  älteren  Cocain- 
anästhesie, deren  Technik  von  Reclus^)  in  meisterhafter  Weise 
ausgebildet  wurde.  Bei  letzterer  werden  die  Gewebe,  welche  dureh- 
trennt  werden  sollen,  systematisch,  Schicht  für  Schicht,  durchtränkt 
mit  geringen  Mengen  stärkerer,  bei  der  Schleich'schen  Anästhesie 
mit  grossen  Mengen  sehr  verdünnter  Cocainlösungen :  also  eine 
Infiltrationsanästhesie  hier  wie  dort.  Reclus'  Technik  ist  daher 
durchaus  nicht  grundverschieden  von  derjenigen  Schlei ch's,  sie 
ist    ihr  vielmehr  im  Prinicip  und  in  der  Praxis  überaus  ähnlich. 

Vor  der  Reclus 'sehen  hat  aber  die  Schleich'sche  Infiltrations- 
anästhesie den  Vorzug  absoluter  Ungefährlichkeit,  auch  in  der  Hand 
des  weniger  Geübten,  und  an  elenden,  geschwächten  Personen. 

Wenn  daher  auch  in  manchen  Fällen,  bei  weniger  ausgedehnten 
Operationen,  die  indirekte  Infiltrationsanästhesie  mittelst  geringer 
Mengen  stärkerer  Cocain-  oder  Eucain-B-Lösungen  offenkundige 
Vortheile  besitzt  vor  der  prallen  Anfüllung  der  Gewebe  mit  grossen 
Mengen  sehr  verdünnter  Lösungen,  welche  ja  garnicht  immer  möglich 
ist,  so  kann  ich  doch  nicht  einsehen,  warum  für  gewöhnlich  conccn- 
trirte  Lösungen  eines  Anästheticums  gebraucht  werden  sollen,  wo 
mit  verdünnten  vortreffliche  Resultate  erzielt  werden.  Jedenfalls 
wird  es  gut  sein  bei  Verwendung  V2 — Iproc.  Cocain-  oder  Eucain- 
B-Lösungen,  —  stärkere  Concentrationen  sollten  von  Gewebsin- 
jectionen  überhaupt  ausgeschlossen  sein  —  Wölfler's  Maximaldosis 
für  das  Cocain  (0,05)  inne  zu  halten,  w- eiche  für  das  Eucain  B 
mindestens  um  das  Doppelte  erhöht  werden  kann.  In  sehr  ver- 
dünnten Lösungen  aber  (1:1000)  dürften  von  0,1  g  Cocain  oder  von 
0,3  g  Eucain-B  keine  schädlichen  Wirkungen  zu  erwarten  sein. 


')  La  cocaine  en  Chirurgie.     Paris  1S95. 


408       Dr.  H.  BrauD,  Experimentelle  Untersuchungen  und  Erfahrungen  etc. 

In  der  Ausdehnung,  wie  Reclus  seine  Methode  anwendet, 
vermag  ich  sie  nicht  für  ^anz  ungefährlich  zu  halten,  auch  bei 
Beobachtung  aller  von  ihm  vorgeschriebenen  Vorsichtsmassregeln. 
Das  werden,  abgesehen  von  allen  Einzelheiten,  in  der  Hauptsache 
diejenigen  Grundsätze  sein,  welche  bei  der  Auswahl  der  für  die 
Schi  eich 'sehe  Infiltrationsanästhesie  geeigneten  Fälle  in  Betracht 
gezogen  w^erden  müssen.  Sie  wird  mit  Recht  stets  mit  dem  Namen 
ihres  Erfinders  verbunden  bleiben,  wenn  auch  die  Vorstellungen, 
die  derselbe  über  ihr  Zustandekommen  und  ihre  theoretisclien  Grund- 
lagen geäussert  hat,  einer  umfangreichen  Correctur  bedürfen,  und 
wenn  auch  die  Zusammensetzung  der  Infiltrationsflüssigkeiten  zweck- 
mässig geändert  wird.  Schleich's  Infiltrationsanästhesie  ist  trotz 
aller  Einschränkungen  bis  jetzt  diejenige  Form  der  Lokalanästhesie, 
welcher,  bei  absoluter  Ungefährlichkeit,  das  weiteste  Feld  offen  steht; 
sie  ist  deshalb  werth,  Gemeingut  aller  Aerzte  zu  werden.  Uebrigens 
stehen  wir  nicht  am  Ende,  sondern  am  Anfang  einer  systematischen 
Ausbildung  der  localanästhetischen  Methoden. 


XVII. 

Erfahrungen  über  lokale  Anästhesie  in  der 
Breslauer  chirurgischen  Klinik.') 

Von 


Ur.  Cieorg  CioUsteln, 

Volon tArarzt  der  Klinik. 


Seitdem  durch  Morton  und  Jackson  im  Jahre  1846  der 
Aether  und  ein  Jahr  später  durch  Simpson  das  Chloroform  als 
Anästheticum  eingeführt  war,  wurden  diese  Mittel  jahrzehntelang 
fast  ausschliesslich  in  der  Chirurgie  zur  Schmerzbetäubung  verwandt; 
erst  den  letzten  Jahren  ist  es  vorbehalten  gewesen,  neben  die 
Allgemeinnarkose  in  ausgedehntem  Maasse  die  locale  zu  setzen. 
Reclus^)  war  der  Erste,  der  die  Bedeutung  des  Cocains  für  die 
die  locale  Anästhesie  erkannte.  Seine  Methode  hat  sich  aber  nicht 
den  erwarteten  Eingang  in  die  Chirurgie  verschafft,  weil  auch  sie 
gewisse  Gefahren  in  sich  birgt.  Wenn  auch  die  Zahl  der  Todes- 
fälle, die  nach  Cocain-lntoxicationen  im  Anschluss  an  dieReclus- 
scho  Methode  beobachtet  worden  sind,  keine  sehr  grosse  ist^)  und 
in  keinem  Verhältniss  steht  zu  den  Todesfällen  nach  Chloroform, 
so  waren  sie  doch  hinreichend,  das  Vertrauen  in  die  Methode  zu 
erschüttern.  Es  war  demnach  begreiflich,  dass  man  die  Vortheile, 
die  die  Allgemeinnarkose  hat,  nicht  zu  Gunsten  der  auch  nicht 
ungefährlichen  Reclus 'sehen  Methode  aufgeben  wollte. 

Ausser  Cocain  wurden  bekanntlich  schon  früher  andere  Local- 
anästhctica  verwandt.      Ich  erinnere  an  den  Aether-Spray,  an  das 

^)  Abgekürzt  vorgetragen  am  1.  Sitzungstage  des  XXVII.  Congrcsses  der 
Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  13.  April  1898. 

2)  La  cocaine  en  Chirurgie.     Paris  1895. 

3)  P.  Hackenbruch,  Oertlichc  Schmerzlosigkeit  bei  Operationen.  Wies- 
baden, 1887.    S.  56—58. 


410  Dr.  G.  Gottstein, 

Aethylchlorid.  Sie  verschafften  sich  zwar  Eingang  in  der  kleinen 
Chirurgie,  aber  wegen  der  Nachschmerzen,  die  sie  verursachten, 
und  der  nur  oberflächlichen  Wirkung  erlangten  sie  auch  auf  diesem 
kleinen  Gebiete  eine  nur  geringe  practische  Bedeutung. 

Erst  die  Schleich'sche  Infiltrations-Anästhesie i),  die  mit 
minimalsten  Mengen  von  Cocain  rechnet,  und  die  es  niemals,  auch 
nicht  bei  den  grössten  Operationen,  nothwendig  macht,  über  die 
Maximaldosis  des  Cocains  hinauszugehen,  war  geeignet,  die  All- 
gemeinnarkose aus  ihrer  AUeinhen^schaft  zu  verdrängen.  Wenn 
auch  die  hohen  Erwartungen,  die  der  Entdecker  der  Methode  an 
sie  knüpfte,  sich  in  der  Folgezeit  nicht  in  ganzem  Umfange  be- 
stätigten, so  w^usste  sie  sich  doch  in  relativ  kurzer  Zeit  ein  so 
grosses  Gebiet  zu  erobern,  dass  sie  als  eine  der  wichtigsten 
Neuerungen  der  allgemeinen  Chirurgie  angesehen  werden  darf. 

Wenn  die  Schleich'sche  Methode  allein  schon  einen  enormen 
Fortschritt  bedeutete,  so  wurde  das  Feld  für  die  Chloroformnarkose 
durch  die  Reclus^sche  Methode  in  ihrer  modificirten  Form,  nach 
dem  Verfahren  von  Oberst,  noch  weiter  eingeengt.  Dass  trotzdem 
die  Chloroform-  resp.  Aethornarkose  niemals  gänzlich  verdrängt 
wird,  braucht  kaum  erst  gesagt  zu  werden.  Wir  werden  über  die 
Abgrenzung  der  beiden  Hauptverfahren:  localer  und  Inhalations- 
Anästhesie  noch  später  zu  sprechen  Gelegenheit  haben. 

Vor  1  '/g  Jahren  hatte  ich  Gelegenheit,  aus  der  Breslaucr 
chinirgischen  Klinik  eine  Statistik  der  unter  Schleich'scher  In- 
filtrations-Anästhesie operirten  Fälle  zu  veröffentlichen  2).  Die  Zeit 
der  Anwendung  der  Methode  war  in  unserer  Klinik  damals  noch 
eine  so  kurze,  dass  wir  die  Grenzen  der  Verwendbarkeit  noch 
nicht  völlig  übersehen  konnton.  In  den  der  Statistik  beigegebenen  Er- 
läuterungen sagte  ich,  „dass  die  eigentliche  Domaine  der  Infiltrations- 
Anästhesie  die  Poliklinik  sei,  in  der  diejenigen  Operationen  aus- 
geführt werden,  die  meistens  auch  der  prac'tische  Arzt  in  seiner 
Sprechstunde  machen  kann.*^  Es  zeigte  sich  indessen  schon  nach 
kurzer  Zeit,  dass,  während  für  die  grossen  klinischen  Operationen 
die  Schleich'sche  Methode  immer  mehr  an  Bedeutung  gewann, 
für  den  poliklinischen  Gebrauch  doch  eine  gewisse  Einschränkung 


1)  Schleich,  Schmerzlose  Operationen.     Berlin  1894. 

2)  Berliner  klin.  Wochenschrift.     1896.     No.  41. 


Erfahrungen  üb.  lokale  Anästhesie  in  d.  Breslauer  chirurgischen  Klinik.     411 

nothwendig  wurde,  zumal  ja  inzwischen  andere  Methoden  localer 
Anästhesie  vorhanden  waren,  die  viel  grössere  Vortheile  boten. 

Die  Schleich'sche  Methode  lässt  sich  nämlich  für  entzündetes 
Gewebe  schlecht  verwenden,  einerseits  weil  schon  Nadelstiche  in 
entzündetes  Gewebe  ausserordentlich  schmerzhaft  sind,  andrerseits 
auch  eine  gewisse  Gefahr  darin  besteht,  dass  durch  die  Injection 
die  Keime,  die  die  Entzündung  hervorgerufen  haben,  direct  hinein 
in  das  gesunde  Gewebe  gepresst  werden. 

Einen  ausserordentlich  guten  Ersatz  für  diese  Fälle  bietet  die 
Oberst'sche  Methode.  Wenn  man  in  der  Blutleere  die  sensiblen 
Nervenstämme,  die  zu  einem  Körpergliede  führen,  durch  geringe 
Mengen  von  1  pCt.  Cocainlösung  imbibirt,  so  wird  das  umschnürte 
Glied  schmerzlos.  Die  Operationen  im  entzündeten  Gewebe,  die  man 
unter  der  Obers  tischen  Methode  ausführen  kann,  sind  besonders 
die  Eingriffe  an  Finger  und  Zehen.  Ein  anderer  Vortheil,  den 
diese  Methode  vor  der  Schlcich'schen  Infiltrations-Anästhesie  hat, 
besteht  darin,  dass,  hat  man  erst  einmal  die  sensiblen  Stämme 
an  ihren  Wurzeln  unempfindlich  gemacht,  man  nicht  mehr  nach 
und  nach  die  Lösung  in  die  Tiefe  zu  injiciren  braucht,  wie  bei 
der  Schleich'schen  Methode,  sondern  in  die  Tiefe  vordringen 
kjMin,  bis  in  den  Knochen  hinein,  dass  man  selbst  die  Gelenke 
eröffnen  kann,  ohne  eine  Spur  eines  Schmerzes  zu  verursachen. 
Ein  weiterer,  nicht  zu  unterschätzender  Vortheil  der  Ob  erst 'sehen 
Methode  ist  schliesslich  der,  dass  die  Differenzirung  der  Gewebe 
nicht  wie  bei  der  Schleich'schen  Infiltration  in  Folge  des  künst- 
lichen Oedems  erschwert  wird. 

In  den  letzten  beiden  Monaten  wurden  in  der  Poliklinik  mit  der 
Methode  von  Oberst  ca.  30  Spaltungen  von  Panaritien  ausgeführt. 
Stets  erwies  sich  die  Methode  als  ausserordentlich  wirksam.  Niemals 
wurden  auch  nur  die  geringsten  Schmerzen  bei  der  Incision  und 
selbst  der  Entfernung  von  Knochenstücken  geäussert.  Ich  möchte 
hier  noch  einige  Fälle  aus  der  Klinik  anführen.  Bei  einem  jungen 
Manne  wurde  die  Resection  eines  Metacarpus  vorgenommen,  eben- 
falls absolut  schmerzlos.  Dieser  Fall  war  für  die  Beurtheilung 
der  Methode  besonders  interessant,  weil  einige  Wochen  vorher 
demselben  Pat.  unter  Schleich'scher  Anästhesie  ein  Metacarpus 
resecirt  worden  war.  Dieser  Patient  konnte  am  Besten  beurtheilen, 
welche  Methode  für  seinen  Fall  die  geeignetere  war.      Er  meinte. 


412  Dr.  G.  Gottstein, 

dass  die  Oberst'sche  Methode  ihm  gar  keine  Schmerzen  verursacht 
habe,  während  er  bei  der  Schi  eich 'sehen  Injection  doch  Schmerzen 
gefühlt  hätte.*  Femer  wurde  einem  jungen  Medicincr  in  der  Klinik  eine 
Zehe  absolut  schmerzlos  exarticulirt  Am  interessantesten  ist  aber  ein 
dritter  Fall,  bei  dem  die  Piro gof fische  Amputation  des  Fusses  unter 
Oberst'scher  Localanästhesie  fast  gänzlich  schmerzlos  ausgeführt 
wurde.  Die  Operation  dauerte  fast  eine  Stunde.  (Die  Drüsen  in  der 
Leistengegend  wurden    unter  Schleich'scher  Anästhesie  entfernt.) 

So  hat  uns  die  Oberst'sche  Methode  einen  Ersatz  gegeben 
für  einen  grossen  Theil  der  Fälle,  wo  die  Schleich'sche  An- 
ästhesie nicht  angebracht  ist.  Es  darf  hier  nicht  unerwähnt  bleiben, 
dass  es  ein  Verdienst  von  Braun -Leipzig^),  Honigmann-Breslau^) 
und  Man z- Freiburg 8)  war,  auf  die  grossen  Vortheile  der  von 
Oberst  ausgebildeten  Methode  der  Anästhesirung  für  Operationen 
an  den  Extremitäten  hingewiesen  zu  haben.  Wenigstens  wurde  erst 
seit  diesen  VeröfFentlichungen  diese  Methode  in  geeigneten  Fällen 
in  unsrer  Klinik  und  Poliklinik  angewendet. 

In  Betreff  der  Technik  der  Ob  erst 'sehen  Methode  verweise  ich 
auf  die  Arbeiten  von  Pernice*)  und  der  oben  genannten  Autoren. 
Ich  möchte  nur  betonen,  dass  es  von'  grosser  Wichtigkeit, 
die  Umschnürung  des  betreffenden  Gliedes  durch  die 
Esmarch -Binde  der  Cocain  injection  vorauszuschicken 
und  zwar  bei  Operationen  an  Fingern  und  Zehen  ca.  10  Minuten, 
bei  grösseren  Operationen  Y4  Stunde  und  länger  vorher.  Sonst 
kann  man  nicht  auf  einen  vollen  Erfolg  rechnen. 

An  dieser  Stelle  möchte  ich  noch  erwähnen,  dass  im  Somraer- 
semester  1897  in  der  Poliklinik  durch  Herrn  Dr.  Hoffmann 
Versuche  mit  der  von  Haken bruch  angegebenen  Methode  gemacht 
worden  sind^).  Was  ihre  Technik  anbetrifft,  so  ist  uns  von  dem 
Erfinder  selbst  auf  das  Ausführlichste  darüber  berichtet  worden, 
so  dass  es  sich  erübrigt,  dieselbe  zu  besprechen.  Es  wurden  bei 
uns    im  Ganzen    9  Patienten    in    dieser  Weise    operirt    und  zwar: 

1)  Centralblatt  für  Chirurgie,  1897,  No.  17  (s.  auch  Krogius,  Central- 
blatt  für  Chirurgie,  1894,  S.  241,  und  Schlatter,  Correspondenzblatt  für 
Schweizer  Aerzte,  1896,  No.  10). 

2)  Centralblatt  für  Chirurgie.     1897,  No.  51. 

*)  Centralblatt  für  Chirurgie.     1898.     Seite  177  fr. 
*)  Deutsche  med.  Wochcnschrilt.     1890,  No.  14. 

^)  P.  Hackenbruch,  Oertliche  Schmerzlosigkeit  bei  Operationen.  Wies- 
baden 1897. 


Erfahrungen  üb.  lokale  Anästhesie  in  d.  Breslauer  chirurgischen  Klinik.     413 

2  Fälle  von  Atheromen,  eine  Entfernung  einer  Nadel  aus  der  Planta 
pedis,  eine  aus  einena  Finger,  ferner  eine  Exstirpation  mehrfacher 
Verrucae  der  Hände,  ein  Fall  von  Papillom  des  Nackens,  drei 
Unterlippen-Carcinorae  mit  anschliessender  Exstirpation  der  Sub- 
maxillardrüsen.  Die  Methode  hat  sich  als  ganz  brauchbar  erwiesen, 
wurde  aber  nicht  weiter  geübt,  weil  die  inzwischen  versuchte 
Ob  er  st 'sehe  Methode  uns  grössere  Vortheile  zu  bieten  schien. 

Wenn  nun  auch  die  Schleich'sche  Methode  von  einem  Theil 
ihres  Wirkungskreises  verdrängt  worden  ist,  so  hat  sie  doch  nach 
anderer  Richtung  hin  sich  ein  weiteres  grösseres  Feld  erobert. 
Schon  vor  IV2  Jahren  konnten  wir  über  einige  grössere  Operationen 
berichten,  die  unter  Schleich'scher  Anästhesie  gemacht  waren. 
Wir  sprachen  auch  damals  die  Vermuthung  aus,  dass  diese  Methode 
in  der  grossen  Chirurgie  vielleicht  in  Zukunft  ausgedehnter  An- 
wendung verdiene,  doch  konnten  wir  noch  nicht  über  practische 
Erfahrungen  berichten.  In  den  letzten  IY2  Jahren  ist  nun  eine 
grosse  Anzahl  der  eingreifendsten  Operationen  unter  dieser  Methode 
ausgeführt  worden.  Speciell  wurde  ein  Theil  der  wegen  Erkrankung 
des  Intestinaltractus  zur  Operation  kommenden  Patienten  in  dieser 
Weise  anästhesirt.  Als  der  grösste  Eingriff,  unter  localer  Anästhesie 
ausgeführt,  ist  die  Magenresection  zu  nennen.  Von  10  Magen- 
carcinomen  wurden  nicht  weniger  als  8  im  letzten  Jahr  in  dieser 
Weise  resecirt.  Die  Dauer  dieser  Operationen  schwankt  zwischen 
1%  bis  5V4  Stunden  1). 

Die  Patienten  vertragen  diese  schweren  Operationen,  wenn  sie 
unter  localer  Anästhesie  ausgeführt  worden,  bedeutend  leichter,  als 
unter  der  Allgemeinnarkose.  Es  ist  ja  leicht  erklärlich,  dass  die 
Allgemeinnarkose,  die  den  ganzen  Körper  in  einen  Vergiftungs- 
zustand versetzt,  gewisse  schädliche  Wirkungen  haben  muss,  die 
ein  sonst  gesunder  und  widerstandsfähiger  Organismus  im  All- 
gemeinen verhältnissmässig  leicht  überwinden  wird,  die  der  decrepide 


*)  Dass  die  eine  der  Resectionen  5V4  Std.  in  Anspruch  nahm,  erklärt  sich 
daraus,  dass  eine  sehr  ausgedehnte  Drüsenausräumung  vorgenommen  werden 
musste,  die  allein  über  IV2  Std.  dauerte.  In  Folge  des  sehr  kurzen  Lig. 
gastrocolicum  trat  noch  während  der  Operation  Gangraen  des  Col.  transvers. 
in  ausgedehntem  Maasse  ein.  Dieses  musste  deshalb  resecirt  werden.  Ferner 
wurde  noch  die  Gastroenterostomie  mittelst  Knopf  ausgeführt  und  Entere- 
aoastomosc  zwischen  den  beiden  Dünndarmschlingen  durch  Naht  hergestellt. 
Unter  Chloroformnarkose  hätte  man  dem  Patienten  eine  derartige  eingreifende 
Operation  wohl  nicht  zumuthcn  können. 


414  Dr.  G.  Gottstein, 

an  Magencarcinom  leidende  Patient  aber  viel  schlechter  verträgt. 
Irgend  welche  Intoxications-Ersch^inungen  nach  der  Schleich'schcn 
Methode  haben  wir  in  den  letzten  IY2  Jahren  nicht  mehr  beob- 
achtet, abgesehen  davon,  dass  es  uns  in  einer  Anzahl  von  Fällen 
aufgefallen  ist,  dass  die  Patienten  1 — 2  Tage  nach  der  Operation 
über  ein  gewisses  Mattigkeitsgefühl,  ein  Gefühl  der  allgemeinen 
Abgeschlagenheit,  geklagt  haben. 

Ausser  den  Magenresectionen  wurden  in  den  letzten  beiden 
Jahren  noch  ausgeführt:  4  Pyloroplastiken  wegen  Ulcus  ventriculi, 
17  Gastroenterostomieen  wegen  Gare,  oder  Ulcus  ventriculi,  9  Probe- 
laparotomien, 2  Jejunostoraien,  4  Darmresectionen,  50  Gastrostomien 
20  Hernien,  darunter  17  incarcerirte,  5  Ileusfälle,  5  Fälle  von 
Anus  praetemat.,  1  Fall  von  Ascites,  sowie  eine  grosse  Zahl 
anderer  Operationen.  Von  diesen  nicht  das  Abdomen  betreffenden 
Operationen  sind  besonders  6  Strumaresectionen  hervorzuheben, 
eine  Operation,  die  sich  durch  Schleich'sche  Anaesthesie  nicht 
schwieriger  gestaltet.  Ferner  30  Resectionen  des  Vas  deferens 
bei  Prostatahypertrophien,  15  Rippenresectionen  bei  Empyeraa 
pleurae,  Caries  costarum  u.  Bronchiectasie,  7  Fälle  von  Ligat. 
ven.  saph.  nach  Trend elenburg,  2  Fälle  von  Exstirpation  von 
Varicen,  2  Tracheotomien  bei  Pharynxtumoren ,  2  Fälle  von 
Lymph.  colli  tbc.  et  carc,  eine  Probeexcision  bei  zweifelhaftem 
Lyraph.  colli.  Ein  Carc.  palpcbr.  inf.  (Excision  und  Plastik) 
1  Unterlippencarcinom  mit  Ausräumung  der  Submaxillardrüse,  ein 
Carc.  linguae,  ferner  Fälle  von  Radicaloperation  der  Hydrocele, 
Castrationen  aus  verschiedenen  Indicationen,  Exstirpation  der  Bursa 
präpatellar. ,  Exstirpation  verschiedener  Geschwülste,  (Sarcoraa 
femoris,  Sarc.  reg.  sacral.,  sehr  grossem  Fibroma  pendul.,  Lipoma 
dorsi,  Hygroma  manus,  1  Aneurysma  der  Arteria  temp.),  ferner 
Entfernung  von  Fremdkörpern.  Die  Dauer  dieser  Operation  schwankte 
zwischen  10  Minuten  und  IY2  Std. 

Aus  dieser  Aufzählung  kann  man  ersehen,  in  welch'  aus- 
gedehnter Weise  die  Schleich 'sehe  Methode  Anwendung  in  der 
Breslaucr  Chirurgischen  Klinik  gefunden  hat.  Es  hat  sich  dies 
auch  sehr  deutlich  zu  erkennen  gegeben  in  der  Abnahme  der  Ope- 
rationen unter  Chloroformnarkosen.  Im  Jahre  1895 — 96  betrug 
die  Zahl  der  Chloroformnarkosen  in  der  Klinik  815.  Diese  Zahl 
ist    in    den    folgenden  Jahren    1896 — 98    auf    547    (pro  Jahr    be- 


Erfahrungen  üb.  lokale  Anästhesie  in  d.  Breslauer  chirurgischen  Klinik.     415 

rechnet)  heruntergegangen,  wozu  noch  pro  Jahr  20  Aethernarkosen 
kommen,  während  die  Zahl  der  Operationen  selbst  ungefähr  gleich 
geblieben  ist.  Ein  ähnliches  Vcrhältniss  zeigt  sich  in  der  Poliklinik, 
wo  die  Zahl  der  Narkosen  von  280  auf  155  zurückgegangen  ist. 
Unter  localer  Anästhesie  wurden  1896-97  81  Fälle,  1897—98 
151  Fälle  operirt. 

Wie  jedoch  schon  oben  angedeutet  wurde,  wäre  es  falsch, 
wenn  man  etwa  glauben  woUte,  dass  die  locale  Anaesthesie  im 
Stande  sei,  die  Allgomeinnarkose  zu  verdrängen.  Der  Arzt  ist 
verpflichtet,  auf  die  Individualität  des  Menschen  Rücksicht  zu 
nehmen,  und  es  ist  nicht  Jedermanns  Sache,  sich  den  Bauch  bei 
vollem  Bewusstsein  aufschneiden  zu  lassen.  Wir  müssen  hierbei 
auf  den  psychischen  Eindruck  eine  gewisse  Rücksicht  nehmen. 
Diese  Fälle  sind  vor  allem  auszuscheiden.  Ferner  werden  gewisse 
Operationen  w^ohl  stets  nur  unter  allgemeiner  Narkose  ausgeführt 
werden  können,  weil  die  rein  mechanischen  Erschütterungen,  die 
bei  der  Operation  gesetzt  werden,  zu  grosse  sind.  Ich  meine 
speciell  die  Trepanationen,  Oberkiefcrresectionen  etc. 

Erwähnt  sei  hier  noch,  dass  die  Infiltrationsmethode  für  Ope- 
rationen an  den  Schleimhäuten  nur  mit  sehr  grosser  Vorsicht  zu 
gebrauchen  ist.  Dies  zeigt  ein  Fall,  wo  Herr  Geheimrath  Mikulicz 
unter  Schleich'scher  Anästhesie  ein  kleines  Zungencarcinom  ope- 
rirte  und  im  Anschluss  daran  eine  Glossitis  und  eine  ausgedehnte 
Phlegmone  des  Mundbodens  erlebte,  die  glücklicher  Weise  nach 
ausgiebigen  Incisionen  heilte.  Ohne  Zweifel  sind  in  dem  Falle 
durch  die  Einstiche  in  die  Zungenschleimhaut  virulente  Bactericn 
in  das  Gewebe  hineingepresst  worden.  In  einigen  Fällen  wurde 
die  Operation  unter  Schlei ch'scher  Methode  begonnen,  aber  mit 
AUgemeinnarkose,  meistens  nur  einer  Halbnarkose,  fortgesetzt,  weil 
die  Schmerzbetäubung  eine  zu  ungenügende  war.  Die  Schmerz- 
empfindung ist  bei  den  verschiedenen  Menschen  oflFenbar  sehr  ver- 
schieden; der  eine  erträgt  einen  Schmerz  ohne  Zucken,  während 
der  andere  sehr  jammert.  So  erklären  sich  die  grossen  individuellen 
Verschiedenheiten,  die  wir  beobachten  konnten.  —  Was  die  Technik 
betrifft,  so  weise  ich  auf  meine  frühere  VeröfiFentlichung  hin.  Das 
von  Herrn  Geheimrath  Mikulicz  geübte  Verfahren  der  Injection 
von  einer  einzigen  Einstichstelle  aus  hat  sich  auch  fernerhin  bewährt. 
Zum    Schluss    möchte    ich    noch    auf   einen    Punkt    eingehen,   der 


416  Dr.  G.  Gottstein, 

mir  der  ganz  besonderen  Erwähnung  werth  erscheint.  Wir  hofften, 
als  wir  die  locale  Anästhesie  einführten,  dass  man  die  Spät- 
erkrankiingen  der  Lungen,  wie  wir  sie  nach  Chloroform,  ganz 
besonders  aber  nach  Aethernarkosen  beobachten,  würden  vermeiden 
können.  Es  hat  aber  die  klinische  Beobachtung  und  die  nach- 
folgende Zusammenstellung  unserer  Fälle  diese  Hoffnung,  wenigstens 
für  die  Abdominaloperationen,  nicht  bestätigt. 

Es  war  uns  aufgefallen,  dass  wir  auch  nach  localer  Anästhesie 
eine  recht  grosse  Zahl  von  Pneumonien  und  Bronchitiden  in  den 
ersten  Tagen  nach  der  Operation  und  auch  in  den  späteren  auf- 
treten sahen.  Die  Zusammenstellung  der  Fälle  hat  uns  gezeigt, 
dass  diese  Lungenerkrankungen  nur  bei  Fällen  beobachtet  wurden, 
die  am  Abdomen  operirt  worden  waren. 

Im  Ganzen  wurden  in  der  Klinik  und  Privatklinik  des  Herrn 
Geheimrath  Mikulicz  234  Operationen  an  212  Patienten  unter 
localer  Anästhesie  ausgelührt.  Von  diesen  212  Patienten  wurden 
138  am  Bauch  operirt,  74  an  anderen  Körpertheilen.  unter  diesen 
74  wurde  im  Ganzen  ein  einziger  Fall  von  Lungenerkrankung  be- 
obachtet: bei  einem  Mann  mit  Prostata-Hypertrophie  und  Cystitis 
purulenta,  an  der  derselbe  zu  Grunde  ging.  In  diesem  Falle 
scheint  es  sich  um  eine  metastatische  Pneumonie  gehandelt  zu 
haben.  1) 

Bei  den  114  in  der  Klinik  am  Bauch  operirten  Patienten  wurden 
2 7  mal  Lungenerkrankungen  beobachtet,  das  ist  in  24  pCt.;  hiervon 
muss  jedoch  ein  bedeutender  Theil  ausgeschaltet  werden,  nämlich  die 
Fälle  von  lymphatischer  Pneumonie  bei  Peritonitis,  sowie  diejenigen, 
bei  denen  nach  der  Operation  noch  Erbrechen  stattgefunden  hat. 
In  diesen  Fällen  scheint  es  berechtigt,  eine  Aspirations-Pneumonie 
durch  Hineinfallen  von  Speisetheilchen  in  die  Bronchien  anzunehmen. 
Es  müssen  demnach  abgezogen  werden  im  Ganzen  4  Fälle  von 
lymphatischer  Pneumonie  und  7  Fälle  mit  Erbrechen  nach  der 
Operation,  wovon  ich  allerdings  3  Fälle  besonders  notiren  möchte, 
bei  denen  nur  am  Tage  der  Operation  gang  geringfügiges  Erbrechen 
aufgetreten  war.     Es  sind  dies  zusammen  11  von  27  Fällen,  also 

1)  Abgerechnet  sind  bei  den  Zusammenstellungen  die  am  Hals  operirten 
Fälle,  wie  Strumen,  Pharynx-  und  Larynxtumoren,  Lymphomata  colli,  weil  bei 
diesen  Fällen  fast  mit  Hegelmässigkcit  Bronchitiden  auftraten,  die  sich  zum 
grössten  Theile  durch  directe  Läsiou  der  beim  Schluckakt  betheiligten  Gebilde 
erklären  lassen. 


Erfahrungen  üb.  lokale  Anästhesie  in  d.  Breslauer  chirurgischen  Klinik.    417 

9,8  pCt.  von  der  Gesaramtzahl  der  Operationen.  Es  bleiben  dann 
noch  immer  14,2  pCt.  übrig. 

Es  ist  freilich  schwierig,  nach  dieser  Richtung  hin  eine  ganz 
verlässliche  Statistik  aufzustellen,  weil  wir  keine  Kriterien  dafür 
haben,  wann  man  berechtigt  ist,  eine  Pneumonie  als  eine  Folge  der 
Narkose  aufzufassen.  Weder  klinisch  noch  pathologisch-anatomisch 
können  wir  diese  Pneumonien,  die  bisher  ganz  allgemein  als  Chloro- 
form- oder  Aether-Pneumonien  bezeichnet  worden  sind,  von  anderen 
Bronchopneumonien  unterscheiden.  Von  einigen  Autoren  ist  betont 
worden,  dass  die  Pneumonien,  die  innerhalb  der  ersten  3  Tage 
nach  der  Operation  auftreten,  wohl  auf  die  Narkose  bezogen  werden 
müssen.  Aus  diesem  Grunde  allein  wollen  auch  wir  aus  unsrer 
Statistik  die  Fälle  ausschalten,  wo  noch  nach  länger  als  3x24 
Stunden  Pneumonie  aufgetreten  ist.  Es  fällt  dadurch  im  Ganzen 
1  Fall  fort.    Es  bleiben  aber  immer  noch  15  Fälle,  somit  13  pCt. 

Ich  stellte  nun  diese  Zahl  der  Lungenerkrankungen  nach 
Bauchoperationen,  die  unter  localer  Anästhesie  ausgeführt  worden 
waren,  denen  unter  Chloroformnarkose  gegenüber  und  wählte  zum 
Vergleich  das  Jahr  1895/96,  in  dem  die  Schleich'sche  Infiltration- 
Anästhesie  noch  nicht  angewandt  worden  war. 

Es  wurden  im  Jahre  1895/96  unter  Chloroformnarkose 
119  Bauchoperationen  vorgenommen,  im  Anschluss  daran  wurden 
7  Lungenerkrankungen  beobachtet,  die  mit  Erbrechen  nicht  in  Be- 
ziehung gebracht  werden  konnten.  Das  sind  5,8  pCt.  In  den 
Jahren  1896/97  und  1897/98  wurden  zusammen  207  Bauch- 
operationen in  Chloroformnarkose  vorgenommen,  wovon  6  nach- 
träglich Lungenerscheinungen  zeigten.  (Wie  oben,  wurden  die  Fälle, 
bei  denen  nach  der  Operation  noch  Erbrechen  stattgefunden  hat, 
ausgeschaltet.)  Hiervon  traten  jedoch  3  erst  spät  auf  und  in  einem 
von  diesen  bestand  auch  schon  vorher  Bronchitis.  Es  bleiben 
dann  nur  3  Fälle  von  Lungenerkrankungen  übrig.  Dies  ergiebt 
nur  1,8  pCt.  Diese  Abnahme  von  5,8  pCt.  des  Jahres  1895/96  auf 
1,8  pCt.  bei  Chloroformoperationen  der  beiden  folgenden  Jahre 
ist  aber  leicht  erklärlich,  denn  es  wurden  ja  gerade  diejenigen 
Fälle  unter  Localanästhesie  operirt,  von  denen  von  vornherein  an- 
zunehmen war,  dass  sie  eine  Narkose  schlecht  ertragen  werden. 
Es  sind  also  die  207  in  den  Jahren  1896 — 98  unter  Chloroform 
operirten  Patienten  die  relativ  widerstandsfähigsten  gewesen. 


418  Dr.  G.  Gottstein, 

Stellen  wir  die  Proceiitzahl  bei  Chloroforraiiarkosen  5,8  pCt. 
und  1,8  pCt.  der  Procentzahl  der  Lungenerkrankungen  nach  Locai- 
anästhesie  13  pCt.  gegenüber,  so  ist  die  Zahl  der  Lungen- 
erkrankungen bei  localer  Anästhesie  eine  so  auffallend  hohe, 
dass  man  sich  nicht  des  Eindruckes  erwehren  kann,  dass  die 
Schlei ch'sche  Anästhesie  hier  das  Zustandekommen  der  Pneumonie 
fördert.  Wir  müssen  aber  immer  wieder  in  Betracht  ziehen,  dass 
die  Bauchoperationen,  die  unter  Schlei ch'scher  Anästhesie  aus- 
geführt worden  sind,  die  allerschwersten  Fälle  betreffen,  und  dass 
dadurch  die  Zahl  der  Lungenerkrankungen  ungewöhnlich  in  die 
Höhe  getrieben  wird.  In  den  letzten  Jahren  sind  unter  der 
Schleich'schen  Anästhesie  viele  Patienten  zur  Operation  ge- 
kommen, die  früher  überhaupt  nicht  operirt  worden  wären,  weil 
man  ihnen  die  allgemeine  Narkose  nicht  zugetraut  hätte.  Deshalb 
wäre  es  falsch,  wenn  man,  wie  man  von  einer  Narkosen-Pneuraonie, 
ganz  besonders  Aether- Pneumonie,  spricht,  ohne  Weiteres  von 
einer  Pneumonie  infolge  localer  Anästhesie,  also  einer  Cocain- 
Pneumonie  sprechen  wollte.  Es  müsste  erst  nachgewiesen  werden, 
dass  das  Cocain  eine  eigenartige  Wirkung  auf  die  Lungen  auszu- 
üben im  Stande  ist.  Das  erscheint  mir  jedoch  wegen  der  geringen 
Mengen  Cocain,  die  wir  gebrauchen,  unwahrscheinlich.  Jedenfalls 
wären  in  dieser  Richtung  noch  Untersuchungen  anzustellen.  Wir 
haben  bisher  keinen  positiven  Anhaltspunkt  dafür,  dass  der  Organis- 
mus und  speciell  die  Lungen  durch  das  Cocain,  selbst  wenn  wir 
die  Maximaldosis  erreichen,  was  ja  manchmal  geschieht,  durch 
Tage  in  ungünstiger  Weise  bocinflusst  werde.  Aber  nehmen  wir 
dies  selbst  an,  so  wird  damit  noch  nicht  erklärt,  warum  grade 
bei  den  Bauchoperationen  eine  so  grosse  Anzahl  von  Pneumonien 
als  Nachwirkung  beobachtet  wird. 

Nur  Eins  ist  fast  allen  diesen  Patienten  gemeinsam;  es  sind 
alles  ältere  Leute,  die  an  und  für  sich  schon  zu  Erkrankungen  des 
Respirationstraktus  neigen,  ganz  besonders  aber  bei  dem  decrepidcn 
Zustand,  in  dem  sich  dieselben  infolge  ihres  Leidens,  meistens 
maligner  Natur,  befinden. 

Sie  alle  haben  Wunden  an  der  Bauchwand,  die  beim  Husten, 
wobei  die  Bauchrauskulatur  angespannt  wird,  gezerrt  werden.  In- 
folge dessen  empfinden  sie  heftige  Schmerzen.  Um  diese  Schmerzen 
zu  vermeiden,  unterdrücken  sie  so  viel  als  möglich  den  Hustenreiz. 


Erfahrungen  üb.  lokale  Anästhesie  in  d.  Breslauer  chirurgischen  Klinik.     419 

Die  Folge  davon  ist,  dass  die  Schlcirapartikelchcn  aus  dem  Mund 
und  der  Trachea,  die  in  die  Bronchien  und  Bronchiolen  hinab- 
fliessen,  nicht  expektorirt  werden  und  leicht  eine  Infection  ver- 
ursachen können. 

Herr  Geheimrath  Mikulicz  hebt  seit  Langem  in  seinen  klini- 
schen Vorlesungen  auf  das  Nachdrücklichste  hervor,  dass  bei  jedem 
älteren  Menschen  zumal  mit  bestehender  Bronchitis,  aber  auch  bei 
jüngeren  heruntergekommenen  Personen  jede  Art  von  Bauchschnitt 
und  sei  es  die  kleinste  Probeincision  trotz  Aseptik  kein  ganz  un- 
gefährlicher Eingriff  sei,  wie  vielfach  behauptet  wird.  Die  Gefahr 
liegt  lediglich  in  der  Möglichkeit  des  Auftretens  einer  Pneumonie. 
Die  Ursache  der  Pneumonien  ist  im  Wesentlichen  die  vorher  aus- 
einandergesetzte: Jeder  Hustenstoss,  selbst  jede  tiefe  Inspiration 
ist  infolge  der  Bauchdeckenwunde  in  den  ersten  Tagen  schmerz- 
haft; infolge  dessen  beschränkt  sich  der  Patient  auf  ganz  ober- 
flächliches Athmen,  und  damit  ist  die  Aspirationspneumonie  ein- 
geleitet^). Aus  denselben  Gründen  hält  Herr  Geheimrath  Mikulicz 
z.  B.  bei  älteren  Leuten  die  Radicaloperation  einer  Hernie,  solange 
keine  Incarcerationserklärungen  vorliegen,  im  allgemeinen  für 
kontraindicicrt. 

Ob  nun  diese  Retention  von  Secret  in  den  Bronchiolen  allein 
schon  genügt,  um  die  schweren  Lungenerkrankungen  hervorzurufen, 
oder  ob  noch  andere  Ursachen  prädisponirend  mitwirken,  um  die 
Bakterien  in  Wirksamkeit  treten  zu  lassen,  will  ich  dahingestellt 
sein  lassen.  Nur  möchte  ich  hier  an  die  Untersuchungen  von 
Gussenbauer-Pietrzikowski^)  erinnern,  die  die  Behauptung  auf- 
stellen, dass  die  im  Anschluss  an  incarcerirte  Hernien  auf- 
tretenden Lungenentzündungen  embolischer  Natur  sind.  Gussen- 
bauer  nimmt  auf  Grund  seiner  klinischen  und  pathologisch-anato- 
mischen Beobachtungen  an^),  „dass  in  einem  incarcerirten  Darm- 
stück, das  durch  längere  Zeit  eingeklemmt  war,  das  Blut  in  den 
kleinen  Capillaren  und  Venen  stagnire  und  sich  deshalb  capilläre 
Thromben  bilden.    Wenn  nun  nach  Reposition  einer  solchen  Darm- 


0  Aus  diesem  Grunde  wird  bei  uns  nach  jeder  Laparotomie  zur  Erleich- 
terung der  Expectoration  Morphium  verabreicht. 

^)  Pietrzikowski,  Beziehungen  der  Lungenentzündung  zum  einge- 
klemmten Bruch.  Verhandlungen  der  Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu 
Berlin.     XVIII.  Congress. 

3)  c.  1.  Verhandlungen.     II,  S.  218. 

ArehiT  fUr  kliii.  Chirurgie.    57.  Bd.   Heft  2.  28 


420  Dr.  G.  Gottstein, 

schlinge,  die  sich  ja  bei  den  Operationen  sehr  häufig  blauroth  er- 
weist, die  arterielle  Circulation  nach  Hebung  des  Hindernisses  sich 
wieder  in  vollen  Gang  setzt,  so  naüssten  derlei  gedachte  capilläre 
Thromben  wieder  in  die  Circulation  gelangen  und  zu  Embolien 
Veranlassung  geben  können.  Solange  diese  Thromben  von  der 
Darmwand  aus  nicht  inficirt  seien,  könnten  sie  wohl  Embolien  er- 
zeugen, sie  würden  aber  relativ  bedeutungslos  sein,  weil  sie  nur  zu 
vorübergehenden  kleinen  Infarcten  führen  könnten.  Wenn  hingegen 
derlei  Thromben  von  der  Darmwand  aus  inficirt  sind,  und  dies 
dürfte  bei  einer  länger  bestehenden  Incarceration  wohl  als  wahr- 
scheinlich angenommen  werden  können,  so  müssten  die  daraus 
resultirenden  embolischen  Herde  nothwendigerw^eise  zur  Entzündung 
des  Lungenparenchyms  führen." 

Wie  nun  Pietrzikowski  richtig  sagt,  ist  es  nur  schwierig  zu 
entscheiden,  auf  welchem  Wege  diese  Emboli  in  die  Lunge  ge- 
langen i). 

„Sollten  diese  Thromben  das  Capillarsystem  der  Leber  passiren 
können,  dann  in  die  untere  Hohlvene  und  das  rechte  Herz  gelangend, 
erst  in  der  Lunge,  als  einem  Organ  mit  Endarterien  zu  Embolien 
Veranlassung  geben?  Oder  giebt  es  direkte  Communikationen 
zwischen  den  Mesenterialgefässen  und  den  unteren  Hohlvenen,  so 
dass  der  Leberkreislauf  umgangen  w^crden  kann?  Für  sehr  kleine 
Thromben  wird  wohl  die  erstere  Möglichkeit  nicht  ganz  von  der 
Hand  zu  weisen  sein,  in  Bezug  auf  die  zweite  Fra^e  will  ich  hier 
nur  kurz  erwähnen,  dass  nach  den  in  den  meisten  Lehrbüchern 
der  Anatomie  verzeichneten  Angaben,  nach  den  Untersuchungen 
von  Stahl  und  Walter,  Retzius,  Hyrti,  Sappey  und  Anderen 
Anastomosen  zwischen  dem  Pfortadersystem  und  den  unteren  Hohl- 
venen auf  verschiedenen  Gefässbahnen,  wenigstens  für  den  Menschen, 
ausser  Frage  stehen." 

Es  erscheint  mir  nicht  ausgeschlossen,  dass  das,  was  Gussen- 
bauer  und  Pietrzikowski  für  incarcerirte  Hernien  als  Ursache 
der  Lungenerkrankungen  annimmt,  für  alle  Bauchoperationen 
Geltung  haben  könnte.  Es  ist  nicht  nothwendig,  dass  die  Thromben 
inficirt  sein  müssen,  es  genügt  schon,  dass  in  den  Lungen  durch 
die  Emboli    Cirkulationsst()rungen    gesetzt    werden;    ist    erst    eine 


1)  c.  1.  Verhandlungen,  II,  S.  230. 


Erfahrungen  üb.  lokale  Anästhesie  in  d.  Breslauer  chirurgischen  Klinik.     421 

Schädigung  des  Lunii^enparcnchyms  erfolgt,  so  tritt  das  ans  der 
Mundhöhle  herabgeflossene  Secret  mit  seinen  zahllosen  virulenten 
Bakterien  in  Wirksamkeit  und  ruft  eine  Entzündung  des  Gewebes 
hervor.  Bei  fast  allen  Bauchoperationen  wird  nun  oft  eine  sehr 
gi'osse  Zahl  von  Gefässen  unterbunden;  an  all  den  Ligaturstellen 
bilden  sich  bald  grössere,  bald  kleinere  Thromben,  die  sich  bei  der 
geringsten  Erschütterung,  bei  einem  einzigen  Hustenstoss  loslösen 
und  in  den  Kreislauf  gelangen  können.  Hierzu  tritt  die  Unmöglich- 
keit, den  in  den  Bronchien  sitzenden  Schleim  fortschaffen  zu  können, 
und  so  sind  alle  Bedingungen  gegeben,  um  eine  Lungenentzündung 
entstehen  zu  lassen. 

Ich  halte  mich  noch  nicht  für  berechtigt,  dieses  letztere  Moment 
mit  Sicherheit  auch  als  eine  der  Ursachen  der  Pneumonien  nach 
Bauchoperationen  hinzustellen,  ich  wollte  nur  die  Aufmerksamkeit 
auf  diesen  Punkt  lenken.  Erst  genaue  Beobachtungen  klinischer 
und  experimenteller  Natur  können  darüber  Aufschluss  geben;  so 
lange  müssen  wir  annehmen,  dass  es  sich  um  Retentions-Aspirations- 
pneumonie  im  Sinne  Czerny's^)  handelt. 

Es  seien  mir  an  dieser  Stelle  noch  einige  Bemerkungen  ge- 
stattet, zu  denen  mir  zwei  Fälle  Anlass  gaben.  Sie  beziehen  sich 
auf  das  Auftreten  von  Bronchitiden  nach  Gastrostomien  in  solchen 
Fällen,  wo  vorher  noch  keine  Bronchitis  vorhanden  war;  das  ist 
eine  recht  auffallende  Thatsache,  denn  so  lange  die  Patienten 
Speisen  per  os  zu  sich  genommen  haben,  haben  sie  keine  Bronchitis 
acquirirt;  nachdem  aber  auf  diesem  Wege  jegliche  Speisezufuhr 
aufgehört  hat  und  jegliche  Nahrung  nur  durch  den  Gastrostomie- 
Schlauch  zugeführt  wird,  treten  Lungenerkrankungen  auf.  Hier 
kann  man  nicht  daran  denken,  dass  etwa  Speisentheilchen  die 
Erkrankung  hervorgerufen  haben. 

Sehr  auffallend  ist  auch  folgender  Fall.  Ein  Patient  Herr  G., 
Gastroenterostomie  1896/97,  erbricht  jeden  Tag  vor  der  Operation. 
Es  können  bei  ihm  nicht  die  geringsten  Veränderungen  an  den 
Lungen  nachgewiesen  werden.  Am  7.  Tage  nach  der  Operation 
acquirirt  er  eine  Bronchopneumonie.  —  Es  ist  recht  merkwürdig» 
dass  eine  so  grosse  Anzahl  von  Patienten,  speciell  Ma^enpatienten, 
oft    täglich    ein-    oder    mehrmals    erbricht    und    sich    doch    keine 


0  Gurlt,  Narkotisirungsstatistik.      v.  Langenbeck's  Archiv.     Bd.  55. 

28* 


4-22 


Dr.  G.  Gottstein, 


Liingencrkrankungen  daran  aiischlicsscn,  und  dass  andererseits;  so 
viele  Patienten,  die  täglich  erbrochen  haben,  nach  der  Operation 
auch  noch  weiter  brechen,  und  doch  nicht  an  den  Lungen  erkranken, 
trotzdem  sie  sehr  decrepide  sind.  Diesen  Lungenerkrankungen 
liegen  Ursachen  zu  Grunde,  die  noch  nicht  völlig  klar  ge- 
stellt sind. 

Es  hat  mir  gänzlich  fern  gelegen,  durch  die  Mittheilung  dieser 
Beobachtung  etwa  vor  dem  Gebrauch  der  localen  Anästhesie  zu 
warnen,  weil  auch  nach  ihr  Pneumonien  beobachtet  werden.  Der 
erste  Theil  meiner  Ausführungen  hat  ja  zur  Genüge  gezeigt,  wie 
warm  von  unserer  Seite  aus  die  Methode  empfohlen  werden  kann. 
Nur  das  eine  habe  ich  zeigen  wollen:  Wir  werden  niemals  einen 
Theil  der  nach  Operationen  am  Bauch  auftretenden  Lungener- 
krankungen vermeiden  können,  seien  die  Operationen  in  Aether- 
narkose,  seien  sie  in  Chlorofornmarkose ,  seien  sie  unter  localer 
Anästhesie  ausgeführt. 


Tabcllo  L 
Bauch  Operationen  unter  Chi  oro  form  narkose.    Klinik. 


1897/98 


1.  Gastrostomie     

2  a.  Hernien 

2  b.  Hern,  incarc 

3.  Pylorusresection 

4.  Pyloroplastik 

5.  Gastroenterostomie    

6.  Laparotom.  probater.... 

7.  Jejunostomie 

8.  Darmoperationen 

9.  Perityphlitis  

10.  Heus 

11.  Niere 

12.  Leber  und  Gallenblase 


u 

1 

7 

13 

30 

8 

5 

1 

3 

10 

10 

17 

11 

11 

0 

1 

9 

13 

16 

5 

4 

8 

2 

4 

11 

4 

119 

96 

0 

22 

11 

2 

2 

17 

12 

1 

21 

8 

5 

8 

2 

111 


Erfahrungen  üb.  lokale  Anästhesie  in  d.  Breslauer  chirurgischen  Klinik.     423 


1895/96. 
Im  Jahre  1895/96   kamen  vor  unter  119  Fällen,    die  chloro- 
forrairt  waren,  9  Lungenerkrankungen.  ^)     Das  ergiebt  7,5  pCt. 
Hiervon  0,8  pCt.  Bronchitis, 

3,3     „     Pneumonie  ohne  Erbrechen, 

1,7     „  „  vor  der  Operation  Erbrechen 

1)7     ri  77  nach  „  „ 

1896/97. 
Im   Jahre    1896/97    sind    unter    96   Chloroform  fällen    vor- 
gekommen 4  Fälle  von  Lungenerkrankungen,  im  Ganzen  also  4,2  pCt. 
Hiervon  1,1  pCt.  ohne  Erbrechen, 

1,1     „      vor  der  Operation  Erbrechen, 


2,0 


n 


nach 


77 


1897/98. 
Unter    111  Chloroform  fällen    sind    4    Lungenerkrankungen 
vorgekommen,  d.  h.  3,6  pCt. 
Hiervon  0,9  pCt.  Bronchitis, 

1,8     „      Pneumonie  ohne  Erbrechen, 

0,9     „  „  vor  der  Operation  Erbrechen. 

Tabelle  H. 
Bauch  Operationen  unter  Sehleieta,  Klinik  und  Privat-Klinik. 


1896/97 

1897/98 

Sa.  in 
Klinik 

Sa.  in 
Privat- 
Klinik 

Sa.  im 
Ganzen 

1.  Gastrostomien  

24  +  0  =  24 
0  +  2  =  2 
2  +  1  =  8 
1+0=1 

0  +  0-0 
1+0-1 

1  +  2  =  3 
0  +  0  =  0 

26  -t-  0  =  26 
0+1  =  1 

14  +  0=14 
8  +  0  =  8 
4+0=4 

11  +  5  =  16 
3+3  =  6 
2  +  0  =  2 

50 
0 

16 
9 
4 

12 
4 
2 

0 
3 
1 
0 
0 
5 
5 
0 

50 

2  a.  Hernien 

2 b.  Hern,  incarc 

3 

17 

3.  Pylorusrescction 

4.  Pyloronlastik 

9 
4 

5.  Gastroenterostom 

6.  Laparotom.  probater. ... 

7.  Jejunostom 

17 
9 
2 

Latus 

29  +  5  =  34 

68  +  9  --  77 

97 

14 

111 

')  Siehe  die  Tabellen  im  Anhang. 


424 


Dr.  G.  Gottstein, 


1896/97 


1897/98 


Sa.  in 
Klinik 


Sa.  in 
Privat- 
Klinik 


Sa.  im 
Ganzen 


TraDsport 

8.  Darmoperationen 

9.  Perityphlitis 

10.  Ileus,    Anus  praetcrnat. 

11.  Niere 

12.  Leber  und  Galle  u.  s.  w. 


29  +  5 
0-rO 
1  +  2 
3  +  0 
0  +  0 
0  +  1 


34 

0 

3 

3 

0 

1 


68  +  9 
3  +  1 
2  +  4 
8  +  0 
0  +  1 
0^  1 


77 

4 

6 

8 

1 

1 


97 
3 
3 

11 
0 
0 


14 
1 
6 
0 
1 
2 


111 
4 
9 
11 
1 
2 


33  +  8  =  41 


81  1-16=97 


114 


24 


138 


1896/97. 
Unter  33  Operationen  unter  Schleich  aus  der  Klinik  kamen 
5  Lungenerkrankungen  vor,  also  15  pCt. 
Hiervon  fallen  3  pCt.  auf  Bronchitis, 

6     „     vor  der  Operation  Erbrechen, 
6     „     Lymphatische  Pneumonie. 
1897/98. 
Unter  Schleich    wurden    81  Fälle    operirt    mit    22  Lungen- 
erkrankungen, i)     Das  ergiebt  27,1 2)  pCt.  Lungenerkrankungen. 
Hiervon  kommen 

6,2  pCt.  auf  Bronchitis, 

9,8  „    Pneumonie  vor  der  Operation  Erbrechen, 
8,6  „  „  nach  „  „ 

2,5  „  „  Lymphatische  Pneumonien. 


Tabelle  HL 
Schleich-  nnd  Chi oroforn Operationen  zusammen  (an  Abdomen). 


1895/96 


1896/97 


1897/98 


1.  (Jastrostomie 
2  a.  Hernien  


11+0=11 
7  +  0  =  7 


1  +  24  =  25 
13  +  0=13 


0  +  26  =  26 
22  +  0  ^  22 


Latus 


18  +  0  =  18 


14  +  24  =  38 


22  +  26  =  48 


*)  Siehe  die  Tabellen  im  Anhang. 

2)  Fall  45  des  Anhanges    ist   nicht    mit  berücksichtigt,    weil  Perforation 
vom  Oesophagus  in  die  Trachea  eintrat. 


Erfahrungen  üb.  lokale  Anästhesie  in  d.  Breslaner  chirurgischen  Klinik.     425 


1895/96 

1896/97 

1897/98 

Transport 

2  b.  Hernia  incarc 

18  +  0-18 

30  +  0  =  80 

5  +  0  =  5 

8  +  0  =  8 

10  +  0=10 
11-1  0-11 

0  +  0  =  0 

9  +  0  =  9 
16  +  0  =  16 

4  +  0  =  4 
2-r0  =  2 

11  +  0  =  11 

14  +  24  =  38 
8  +  2  =  10 
1  +  1  =  2 

10  ^  0=10 
17  +  1=18 

11  +  1  =  12 
1  +  0=1 

13  +  0=13 
5  +  1=6 
8  +  3  =  11 
4  +  0  =  4 
4  +  0-4 

22  +  26  =  48 
11  +  14  =  25 

3.  Pylorusresection  

4.  Pyloroplastik 

5.  Gastroenterostomie 

6.  Laparotom.  probat 

7.  Jejunostoraie  

8.  Darmoperationen 

9.  Peritvühlitis 

2  +  8-10 

2  +  4  =  6 
17  +  11  =  28 
12  +  3  =  15 

1  +  2  =  3 
21+3  =  24 

8  +  2  =  10 

10.  Ileus  et  Anus  praet 

11.  Niere 

12.  Leber  und  Gallenblase 

5  +  8=13 
8  +  0  +  8 
2  +  0  =  2 

119  +  0-119 

96  +  33  =  129 

111  +  81  =  192 

Im  Jahre  1896/97  kamen  zusammen  129  Fälle,  wovon 
9  Lungenerkrankungen  waren.     Das  sind  7,0  pCt. 

Unter  192  Fällen  also  sind  26  Lungenerkrankungen  vor- 
gekommen, d.  h.  13  pCt.  Unter  den  114  Fällen  der  Jahre 
1896/97  und  1897/98,  die  in  der  Klinik  unter  Schleich  operirt 
worden  sind,  sind  27  Lungenerkrankungen  vorgekommen,  d.  h. 
ca.  24  pCt. 

Wenn  wir  die  Fälle  von  lymphatischer  Pneumonie,  sowie 
diejenigen,  die  mit  Erbrechen  nach  der  Operation  einhergegangen 
sind,  abziehen,  so  erhalten  mr 

1895/96  (nur  in  Chloroformnarkose) 
5,8  pCt.  Lungenerkrankungen, 


wovon  5,0 


7) 


Pneumonie. 


1896/97. 
Chloroform  2,2  pCt.  (alles  Pneumonien), 

Schleich  9         „     Lungenerkrankungen,  wovon  6  pCt.  Pneum. 

1897/98. 
Chloroform  3,6  pCt.  Lungenerkrankungen,  wovon  2,7  pGt.  l'neum. 
Schleich  16,0     „  „  „      9,8     „ 


n 


426 


Dr.  G.  Gottstein, 


Die  in  den  Jahren  1895—1898  nach  Bauchoperationen  unter 
Chlor oformnarlcose    und    unter    Schleich'scher    Anästhesie 

aufgetretenen  Lungenerkranlcungen. 

Lungenerkrankungen  bei  Chloroformnarkose.   1895/96. 


No. 


Name, 
Alter. 


Datum 

der 

Operation. 


Diagnose. 


Operation. 


Bemerkungen. 


1. 


3. 
4. 


5. 


6. 


7. 


Franz  B., 
22  J. 


25.  3.  95. 


AdolfSch., 
56  J. 


Wilh.  N., 
54  J. 

Selma  H., 
11  J. 


Paul  H., 
6  J. 


4.  2.  96. 


Marie  M., 
31  J. 


Frau  Fr., 
48  J. 


17.  7.  95. 
21.  6.  95. 


27,  3.  96. 


18. 10.  95. 


17.  6.  95. 


I.  Ueberhanpt  kein  Er1)reelieii. 

a)  Bronchitis. 


Peritj-phlitis. 


Exstirp.  des 
Proc.  vcrmiform. 


b)  Pneumonie. 


Gare,  oesophagi. 


do. 
Tumor  in  abdom. 


Hydronephrosis 
sin. 


Gastrostomie. 


do. 

Laparotomie 
probat. 


Exstirpatio  renis. 


Nach  36  St.    R.  H.  U.    Bronchitis, 
Lungenbefund  v.  d.  Operat.  normal. 


Vor  d.  Operat.  Lungenbefund  normal, 
hat  niemals  Erbrechen  gehabt,  nach 
3  mal  24  St.  f.  Section  ergiebt  als 
Todesursache  doppelseitige  Bron- 
chopneumonie. 

Nach  3  mal  24  St.  t-  Section  ergiebt 
Bronchopneum.  als  Todesursache. 

Nach  72  St.  Pneumonie.  Kein  Er- 
brechen V.  d.  Operat.  Lungenbefund 
normal.  Nach  36  St.  Temperatur- 
steigung, am  5.  Tage  nach  Einsetzen 
d.  Pneumon.  Dämpfung  aufgehellt, 
am  19.  Tage  geheilt  entlassen. 

Nach  48  St.  doppelseit.  Pneumonie. 
Nach  24  St.  Temperatursteigung. 
Nach  6  mal  24  St.  Dämpfung 
beiderseits  aufgehellt. 


11.  Nnr  vor  der  Operation  Erbrechen. 


b)  Pneumonie. 


Gare,  ventric. 


Carc.  pylori. 


Gastroenterost. 


Resectio  pylori. 


Nach  60  St.  R.  H.  ü.     Pneumonie. 

Häufiges  Erbrechen  v.  d.  Operat. 

Lungenbefund    normal.    Nach   d. 

Operat.  kein  Erbrech.  4 mal  24 St. 

nach    Einsetzen    der    Pneumonie 

Dämpfung  aufgehellt.  Am  17.  Tage 

geheilt  entlassen. 
Nach  36  St.  Temperatursteigung,  am 

7.  Tage  Pneumonie  nachgewiesen, 

Uebergang   in   chron.  Pneumonie, 

damit  entlassen. 


Erfahrungen  üb.  lokale  Anästhesie  in  d.  Breslauer  chirurgischen  Klinik.     427 


No. 


Name, 
Alter. 


Datum 

der 

Operation. 


Diagnose. 


Operation. 


Bemerkungen. 


8. 


10. 


11 


Frau  R., 
55  J. 


H.  W„ 
54  J. 


Frau  M., 
57  J. 


OttoScb., 
2  J. 


12. 


13. 


PaulineK., 
61  J. 


Gottfr.J., 
66  J. 


III.   Aneh  naeh  der  Operation  Erbrechen. 


23.  7.  95. 


27.  12.  95. 


b) 
Carc.  pylori. 


Pneumonie. 

Resectio  nach 
Billroth. 


Carc.  ventric. 


Gastroenterost. 


Am  13.  Tage  Bronchitis,  am  32.  Tage 
beiderseits  Unterlappenpneumonie, 
am  35.  Tage  t-  Section  ergiebt  als 
Todesursache  beiderseitige  lobuläre 
Pneumonie. 

t  am  31. 12.  95.  Vor  d.  Operat.  .an 
der  rechten  Spitze  Dämpfung  mit 
feucht.  Rasselgeräusch,  Section  er- 
giebt als  Todesursache  doppel- 
seitige Bronchopneumonie. 


1896/97. 

I.  Uebertaanpt  kein  Erbrechen. 

b)  Pneumonie  (schon  vor  der  Operation  Bronchitis). 


20.  7,  96. 


Echinococcus 
lienis. 


Laparotomia  et 
Incisio. 


Vor  d.  Operat.  Bronchit.  Am  11.  Tage 
beidcrs.  Bronchopneumonie.  Nach 
5  Tagen  Temperaturabfall.  Nach 
10  Tagen  Dämpfung  aufgehellt. 


II.  Nur  Yor  der  Operation  Erbrechen. 


b)  Pneumonie. 


19.  6.  96. 


Invagination. 


Laparotomie. 


Nach  72  St,  Bronchit.  Am  15.  Tage 
Pneumonie  L.  H.  U.  Nach  8  Tagen 
aufgehellt.  Bis  2  Tage  vor  der 
Operat.  Erbrechen.  Nach  d.  Operat. 
kein  Erbrechen  mehr. 


III.  Aneh  naeh  der  Operation  Erbrechen. 

b)  Pneumonie. 


18.  1.  97. 


31.  3.  97. 


Carc.  ventric. 


do. 


Gastroenterost. 


do. 


Vor  d,  Operat.  Lungen  normal.  Nach 
d.  Operat.  2  mal  Erbrechen.  Vom 
6.  Tage  an  Temperatursteigerung. 
Vom  15.  Tag  an  Pneumonie  R.H.U. 
nachweisbar.  Mit  chron.  Pneumonie 
entlassen. 

t  bei  d.  Section  Pneumonie.  Vor  u. 
nach  d.  Operat.  häufiges  Erbrechen. 


1897/98. 
I.  Ueberhanpt  kein  Erbrechen. 

a)   Bronchitis. 


14. 


Franz  P., 
57  J. 


29.  6.  97. 


Fistulastercoral. 


Resectio  der 
Darmschlinge. 


Nach  36  St.  Bronchit.  Temperatur- 
steigerung. Emphysem  vor  der 
Operat.  Bronchit.  nach  6  mal  24  St. 
Sehr  diflfus. 


428 


Dr.  G.  Gottstein, 


No. 


Name, 
Alter. 


Datum 

der 

Operation. 


Diagnose. 


Operation. 


Bemerkungen. 


15. 


16. 


17. 


Joseph  G., 
42  J. 


18.  10.  97. 


Jobann  U., 
54  J. 


1.  9.  97. 


Valentin 
57  J. 


18.  6.  97. 


b)  Pneumonie. 


Ulc.  ventric. 


Laparotomie 
probat. 


Schon  vorher  Bronchitis. 

Hern,  incarc.  Hcrniotomie. 

inguin.  dext.       Radicalopcration 

nach  Bassini. 


Nach  3  Tagen  L.H.  U.  Pneumonie. 
Lungen  normal.  Vor  d.Operat.  kein 
Erbrechen.  Am  Tage  d.  Operation 
Erbrechen.  Nach  36  St,  Temperatur- 
Steigerung.  Nach  weiteren  7  Tagen 
aufgehellt. 


t  Vor  d.  Operat.  Bronchit.»  kein  Er- 
brechen. Am  5.  Tage  Pneum.  links. 
Nach  48  St.  Temperatursteigerung. 
Lungenuntersuchung  ergiebt  ver- 
stärkte Bronchit.  Am  12.  Tage  an 
Pneumonie  gestorben. 


II.   Nar  vor  der  Operation  Erbrechen. 


Carc.  ventric. 


Gastroenterost. 


Am  8.  Tage  L.  H.  U.  Pneumonie.  Vor 
der  Operat.  Erbrechen,  nach  der 
Operat.  kein  Erbrechen.  Am  S.Tage 
Temperatursteig.,  am  1 1.  an  doppel- 
seitiger Pneumonie  gestorben. 


18. 


Lungenerkrankungen  bei  Sc  bleich 'scher  Anästhesie.    1896/97. 

II.   Nur  vor  der  Operation  Erbrechen. 

a)  Bronchitis. 


ErnstBr., 
63  J. 


18.  1.  97. 


19. 

Jettel 

Zw., 

76  J. 

20. 

Heinr.  Z.. 

56  J. 

23.  7.  96. 


15.  2.  97. 


Strictur  oesophag. 


Gastrostomie. 


b)  Pneumonie. 


Hern.  crur.  incarc. 


Hern,  inguin. 
incarc.  dcxt. 


Herniotomie. 


do. 


Vor  d.  Operat.  Bronchitis,  nachher 
verstärkt. 


48  St.  nach  d.  Operat.  doppelseitige 
Pneumonie.  6  Tage  später  Tcm- 
peraturabfall.  Am  18.  Tage  geheilt 
entlassen.  Die  letzten  beiden  Tage 
vor  d.  Operat.  Erbrechen.  Nach  d. 
Operat.  kein  Erbrechen. 

Vorher  Bronchitis.  48  St.  nach  d. 
Operat.  R.  H.  ü.  Pneumonie  (Pat 
stand  sofort  nach  d.  Operat.  auf). 
Nach  6  mal  24  St.  aufgehellt  Am 
18.  Tage  geheilt  entlassen.  AmTage 
vor  d.  Operat.  einmal  Erbrechen. 
Nach  d.  Operat.  kein  Erbrechen. 


JErfahrungen  üb.  lokale  Anästhesie  in  d.  Breslauer  chirurgischeh  Klinik.     429 


No. 


Name, 
Alter. 


Datum 

der 

Operation. 


Diagnose. 


Operation. 


Bemerkungen. 


c)    Pleuropneumonie  (Lymphatische). 


21. 


22. 


Joseph  P., 
52  J. 


Johann  St., 
56  J. 


8.  12.  96. 


10.  4.  96. 


Strict.  oesophag. 


Hern.  crur. 
iucarc.  dext. 


Gastrostomie. 


Hemiotomie, 
Darmscction,En- 
teroanastomose. 


3  Tage  nach  d.  Operat.  L.  H.  U.  Pneu- 
monie. Am  10.  Tage  f.  Secticn  er- 
giebt  als  Todesursache  Peritonitis, 
beiderseits  lymphatische  Pneumon. 

Vor  d.  Operat.  mehrmals  gebrochen. 
Untersuchung  d.  Lungen  ergiebt: 
normal.  Nach  d.  Operat.  kein  Er- 
brechen. Am  14,  Tage  f.  Section 
ergiebt  als  Todesursache  Peritonit., 
rechte  Lunge  lymphatische  Pleuro- 
pneumonie. 


23. 

24. 
25. 
26. 

27. 


Luise  K.,  I  29.  7.  97. 
56  J.     I 


28. 


29. 


Wolf  B., 

58  J. 

Joseph  R., 

50  J. 

Ernst  W., 
56  J. 

Gottlieb, 
49  J. 


12.11.97. 
4.  1.  97. 
11.12.97. 

7.  12.  97. 


Gustav  E., 
46  J. 


Gottfried 

J., 
58  J. 


19.  2.  98. 


24.  5.  97. 


1897/98. 

IL  Nor  vor  der  Operation  Erbreehen. 

a)   Bronchitis. 


Hern.  crur.      IHerniotomie,  Rc- 

sectio  part.  Ilei, 

Entcroaniistom. 

Gastrostomie. 


incarc.  sioist. 

Strict.  oesophag. 

do. 

do. 

do. 


do. 
do. 

do. 


^)   Pneumonie. 


Strict.  oesophag. 


do. 


Gastrostomie. 


do. 


48  St.  nach  d.  Operat.  Bronchitis. 

24  St.  vor    d.  Operat.  Erbrechen. 

Lungenbefund  normal. 
Vorher  Emphysem,    sonst   normal. 

48  St.  nach  d.  Operat.  Bronchitis. 
Schon  vorher  Bronchitis,  nach  der 

Operation  verstärkt. 
48  St.  nach  d.  Operat.  Bronchitis, 

vor  d,  Operat.  Erbrechen,  Lungen 

normal .  Nach  48  St.  Temperat.  38,2. 
Vor   der    Operat.  Lungen    normal. 

48  St.    Temperatursteig,     Diffuse 

Bronchitis. 


Linksseitige  Recurrens  -  Lähmung. 
Bronchitis  R.  IL  U.  Abgeschwächt. 
Athmen  u.  gedämpft.  Pat;  sofort 
nach  d.  Operat.  aus  d.  Bett  gebracht. 
Nach  4 mal  24  St.  deutliche  Pneu- 
monie, nach  8  mal  24  St.  Pneumo- 
thorax. Am  10.  f.  Todesursache 
Pyopneumothorax  lat.  dext.  As- 
pirationspneumonie  links. 

Nach  36  St.  ausgesproch.  Pneumonie 
R.ILU.  Lungen  bis  auf  massiges 
Emphysem  normal.  8  Tage  später 
Dämpfung  aufgehellt,  Temperatur- 
abfall 96  St.  nach  d.  ersten  Tem- 
peratursteig. Pat.  am  12.  Tage 
geheilt  entlassen. 


430 


Dr.  G.  Gottstein, 


No. 


Name, 
Alter. 


Datum 

der 

Operation. 


I^agnose. 


Operation. 


Bemerkungen. 


30. 


31. 


32. 


33. 


34. 


35. 


36. 


37. 


38. 


Johann  B., 
55  J. 


Albert  H.. 
64  J. 


Wilh.  G., 
39  J. 


Marie  L., 
38  J. 


26.  6.  97. 


22.  1.  98. 


9.  2.  97. 


13.  10.  97. 


Frau  H.,    20. 12.  97. 
44  J. 


Reinh.  F., 
53  J. 


Strict.  oesophag. 


Gare,  ventric. 


do. 


28.  12.97. 


do. 


do. 


Enteroanastom. 

durch  Nath, 
Anus  praeternat. 


Gastrostomie. 


Gastrocnterost. 
durch  Naht. 


Gastrocnterost. 
ra.  Murphyknopf. 


Gare.  col.  ascend.     Enteroanastom.    Am    16.    Tage    diffuse    BroDcbitiä 

Pneumonie.  Am  15.  Tage  die 
gangränöse  Darmschlinge  aufge< 
schnitten  u.  abgetragen.  Tempera- 
tursteig. 38,7.  L.H.U.  Pneumonie- 
Am  18.  8.  geheilt  entlassen-. 

Nach  48  St.  L.H.U.  Pneumon.  Nach 
36  St.  Temperatsteig.  38,4.  Nach 
6  mal  24  St.  R.H.U.  Pneumonie, 
Am  26.  Tage  beiderseits  aufgehellt 
Am  28.  7.  geheilt  entlassen. 

Vor  d.  Operat.  Erbrechen  täglich, 
Pneumonie  am  7.  Tage.  Kein  Er- 
brechen vorhergegangen.  Am  14.  5. 
geheilt  entlassen. 

Nach  48  St.  Pneumonie.  Vor  der 
Operat.  Erbrechen.  Nach  36  St. 
Temperatur  39.  Von  d.  Operat. 
an  kein  Erbrechen  mehr.  Am 
36.  Tage  mit  den  Erscheinungen 
einer  chron.  Pneumonie  entlassen. 

Nach  48  St.  Pneumonie.  24  St.  nach 
der  Operation  R.  H.ü.  Dämpfung. 
Temperatursteigerung.  Am  7.  Tage 
Dämpfung  aufgehellt. 

Vor  d.  Operat.  Erbrech.,  nach  d.  Oper. 
nicht  mehr,  nur  nach  6mal  24  St  Auf- 
stossen,  Erbrech,  fäculenter  Massen. 
Doch  Herunterschlucken  derselben. 
Nach  7  mal  24  St.  Exitus.  Section  er- 
giebt  Bronchopneumonie  d.  linken 
Unterlappens  u.  d.  ganzen  recht. 
Lunge,   Gangrän  d.  recht  Lunge. 

III.   Aach  naeta  der  Operation  Erbrechen. 

1.    Nur  einmalig  am  Tage  der  Operation. 


Resectio  pylor. 


G.istrocntCrost. 
m.  Murphyknopf. 


Eleonore 
Seh., 
57  J. 


Joseph  W., 
46  J. 


Julius  Z., 
55  J. 


9.  12.  97, 


22.  2.  98. 


Carc.  ventric. 


do. 


do. 


Gastrocnterost. 
m.  Murphyknopf. 


Gastrocnterost. 

mit  Chlumsky- 

knopf 
2.  Relaparatomie 
m.  Murphyknopf. 

Jejunostomic. 


Nach  72  St  R.H.U.  Pneumon.,  nach 
6  mal  24  St  auch  L.  H.  U.  Am  Tage 
d.  Operat.  Erbrechen,  dann  nicht 
mehr.  Am  22.  Tage  t«  Broncho- 
pneumonie beider  Unterlappen. 

t  nach  72  St.  Pneumonie.  L.H.U. 
Vor  d.  Operat.  Erbrechen.  Lungen 
normal.  Nach  d.  Operat.  kein  Er- 
brechen bis  zum  4.  Tage.  Nach 
12  St  Temperatur  38,1.  Gangrän 
der  rechten  Lunge. 

Nach  24  St.  Erbrechen,  nach  48  St 
Temperat  38,8,  nach  72  St  R.H.U. 
Pneumonie.  Am  10.  Tage  aufge- 
hellt    Am  17.  Tage  entlassen. 


Erfahrungen  üb.  lokale  Anästhesie  in  d.  ßreslauer  chirurgischen  Klinik.     431 


No. 


Name, 
Alter. 


Datum 

der 

Operation. 


Diagnose. 


Operation. 


Bemerkungen. 


2.    Häutiges  Erbrechen  nach  der  Operation. 


39. 


40. 


41. 
42. 


NatbanSz., 
58  J. 


AnnaTh., 
25  J. 


Julie  S., 

69  J. 

Hulda  GL, 

32  J. 


6.  11.  97. 


43. 


44. 


Joseph  F., 
51  J. 

Juliu^T., 
38  J. 


6.  1.  98. 


15.  2.  98. 
3.  3.  98. 


Gare,  pylor. 


Ileus,  Parotitis. 


Hern.crur.incarc. 

Hern.  crur. 
incarc.  dext. 


Gastroentcrost. 
m.  Murphyknopf. 


Laparotomie. 
Anus  praeternat. 


Herniotomie.  Re- 
sectio  part.  Hei. 

Herniotomie. 
Enteroanastom. 


Vor  d.  Operat.  häufiges  Erbrechen. 
Nach  d.  Operat.  täglich  Erbrechen. 
Am  20.  Tage  t-  Am  13.  Tage  R.  H.  U. 
Pneumon.,  am  17.  L.  H.U.  Pneumon. 
Todesursache  Bronchopneumonie  d. 
1.  Unter-  u.  Mittellappen  u.  d.  r. 
Unterlappeu. 

t  am  3.  Tage  l'neumonie,  vor  der 
Operat.  Erbrechen,  nach  d.  Operat. 
Erbrechen  an  d.  ersten  zwei  Tagen. 
Section:  Bronchopneumonie  per 
aspir.  d.  1.  Unterlappen  u.  r.  ünter- 
u.  Mittel  läppen,  Gangrän  in  d.  r. 
Lunge. 

Nach  48  St.  f-  Section;  Broncho- 
pneumonie in  beiden  Oberlappen. 

t  am  15.  Tage.  Seit  8  Tagen  vor  d. 
Operat.  Erbrechen.  Nach  48  St.  Er- 
brechen. Ueber  Lungenbefund  keine 
Bemerkungen.  Section:  Broncho- 
pneumonie per  aspir.  Todesursache 
Inanition. 


c)    Pleuropneumonie  (Lymphatische). 


14.12.97. 


3.  2.  98, 


Gare,  ventric. 


do. 


Resectio  pylor. 


do. 


t  Pneumonie.  Section:  Peritonitis 
circumscript.  et  pneumon.  hypost. 
lob.  inf.  pulm.  dext.  Pleuritis  fibrin. 

1 11.2.98.  Todesursache  :Periton it. 
circumscripta.  Pleurit.  fibropurul. 


d)    Perforation  vom  Oesophagus  in  die  Trachea. 


45.  Uohann  St. 


I.p 


22.  3.  98. 


Strict.  oesophag. 


Gastrostomie. 


t  Todesursache:  Bronchopneumon. 
et  gangraen.  pulmon.  Perforation 
in  die  Lunge. 


Nachtrag. 

Bald  nach  Pfingsten  hatten  wir  Gelegenheit,  einen  Fall  zu 
beobachten,  der  die  Möglichkeit  eines  Zusammenhanges  des  Auf- 
tretens von  Pneumonie  mit  embolischen  Processen  wahrschein- 
lich macht. 

Es    folgt   nachstehend    die    Krankengeschichte    dieses    Falles, 


432  Dr.  G.  dottstein, 

sowie    das  SectionsprotokoU,    insoweit    es    für   unser    Thema  von 
Interesse  ist. 

August  H. ,  58  Jahro  alt,  aus  Freiburg  i.  S.,  stets  gesund  gewesen,  nur 
soll  er  während  seiner  Mililärdienstzeit  eine  linksseitige  Pleuritis  durchgemacht 
haben,  es  wurde  3  Mal  punctirt,  ohne  dass  sich  Flüssigkeit  entleerte. 

Seit  1  Y2  Jahren  Magenbeschwerden,  seit  ^^  Jahr  fühlt  Pat.  einen  harten 
Knoten  oberhalb  des  Nabels.  Seit  Y^  Jahr  Erbrechen  einige  Stunden  nach 
der  Nahrungsaufnahme. 

Status  praesens.  Lunge  und  Herz  nichts  Pathologisches  nachzu- 
weisen. Geringe  Artoriosclerose.  Deutlicher  Tumor  zwischen  Nabel  und  rechten 
Rippenbogen.  Chemische  Untersuchung  des  Magensaftes  ergiebt  Salzsäure 
positiv,  Milchsäure  negativ. 

Operation  unter  Schleich'scher  Infiltrationsanästhesio  begonnen  und  in 
Chloroformnarkose  zu  Ende  geführt,  weil  zu  schmerzhaft  infolge  zahlreicher 
Verwachsungen  des  Tumors  mit  der  vorderen  Bauchwand  und  der  Gallenblase. 
Es  wird  Rosection  eines  grossen .Theils  des  Magens  nach  Mikulicz  mit  Ver- 
nähung des  Üuodenalstumpfes  (Schnürnaht  nach  Doyen)  ausgeführt. 

Nach  der  Operation,  die  ca.  2  Stunden  gedauert  hat,  erwachte  Pat.  bald. 
Kein  Erbrechen  während  der  absolut  ruhigen  Chloroformnarkose.  Abends 
Temp.  36,8,  Puls  72.  Pat.  ist  ganz  ruhig,  klagt  über  nur  ganz  geringfügige 
Schmerzen  in  der  Wunde.  3  Mal  täglich  0,01  Morphium.  Kein  Erbrochen, 
kein  Aufstossen.  —  25.  5.  Abends  Temp.  37,5,  Puls  76.  Respiration  28. 
Kein  Erbrechen,  kein  Aufstossen.  Pat.  befindet  sich  ganz  wohl.  —  26.  5. 
Abends  Temp.  37,4,  Puls  90.  Resp.  24.  Kein  Erbrechen,  kein  Aufstossen. 
Allgemeinbefinden  gut,  keine  Schmerzen,  keine  Druckempfindlichkeit  im  Ab- 
domen. —  27.  5.  Nachts  ist  die  Temperatur  auf  38,2  gestiegen.  Eine  Ursache 
dafür  ist  nicht  aufzufinden.  Am  Morgen  sind  die  ersten  Flatus  abgegangen. 
—  28.  5.  Temp.  37,8,  Puls  84.  Resp.  32.  Pat.  fühlt  sich  ganz  wohl.  Kein 
Erbrechen,  kein  Aufstossen.  —  29.  5.  Temp.  38,6,  Puls  100.  Resp.  36. 
Pat.  wird  heute  zum  ersten  Mal  aufgesetzt  behufs  Untersuchung  der 
Lungen. 

Lungenbefund :  R.  H,  U.  bis  zum  Angulus  scapulae  Dämpfung,  Bronchial- 
athmcn,  L. H.U.  verschärftes  Vesiculärathmen.  Kein  Aufstossen,  kein  Er- 
brechen.   Pat.  hustet  ziemlich  viel. 

31.  5.  1.  Verbandwechsel.  Die  Nähte  werden  entfernt.  Tadelloseste 
prima  intentio.  Der  Auswurf  ist  heute  etwas  geringer.  —  1.  6.  Temp.  38,6, 
Puls  92.  Resp.  26.  Husten  heute  bedeutend  stärker,  eitrig  klumpige  Ballen 
ohne  Blutbeimischung,  niemals  rostfarben.  Dämpfungsbezirk  unverändert, 
Bronchialathmen.  —  2.  6.  Temp.  39,2,  Puls  100.  Resp.  36.  Pat.  hustet 
grosse  Mengen  eines  leicht  grünlich  verfärbten  Sputums  aus.  Das  Allgemein- 
befinden ist  bedeutend  schlechter  geworden.  —  4.  6.  Temp.  39,6,  Pnls  100. 
Athmung  52.  Der  Zustand  des  Pat.  hat  sich  sehr  verschlimmert.  R.H.  U.  hat 
sich  die  Dämpfung  bis  zur  Mitte  der  Scapulae  verbreitert.  Bronchialathmen, 
Mittelgi'ossblasige  feuchte  Rasselgeräusche.    R.V,  Dämpfung  bis  zur  V.  Rippe 


Erfahrungen  üb.  lokale  Anästhesie  in  d.  Breslauer  chirurgischen  Klinik.    433 

reichend,  Bronchialathmen  und  zahlreiche  Rasselgeräusche.  L.  H.  ü.  ver- 
schärftes Vesiculärathmen.  Zahlreiche  Rasselgeräusche.  Sputum  grünlich  ver- 
färbt, sehr  übelriechend  (microscopisch  keine  elastischen  Fasern  zu  finden).  — 
5.  6.  Pat.  ist  nicht  mehr  bei  vollem  Bewusstsein,  derselbe  erbricht  heute 
öfters.  Unter  zunehmender  Schwäche  tritt  Vormittag,  am  13.  Tage,  post  op. 
Exitus  ein.  —  6.  6.  Section  (Herr  Dr.  Henke). 

Todesursache:  Gangräna  pulmonum,  Pleuritis  acuta  duplex. 

Diagnose:  Pleuritis  acuta  fibrinosa  dupl.  Cavern.  gangränosa  multi- 
plic.  pulmonum.  Caverna  gangränosa  magna  talis  in  lob.  dext.  inf.  Bronchitis 
purulenta.  Thrombosis  in  ramis  majoribus  art.  pulmonal.  —  Cicatrix  vetus 
lienis.    Gastroenterostomie. 

Herz  und  Lungenbefund. 

Herz:  von  entsprechender  Grösse,  anämisch,  im  Ganzen  etwas  dilatirt. 
Klappen apparat  normal. 

Linke  Lunge:  gross,  die  Pleura  des  ünterlappens  diffus  getrübt,  be- 
sonders an  der  Basis,  mit  feinen  fibrinösen  Auflagerungen  bedeckt.  Ueber  die 
ganze  Lunge  zerstreut  finden  sich  kleinere  und  grössere  disseminirte  Er- 
weichungshohlräume mit  missfarbig-eiterigem  Inhalt.  Die  meisten  sind  klein- 
kirschgross,  einer  derselben  bis  kleinapfelgross.  Der  Inhalt  besteht  aus 
zundrigen,  missfarbenen,  übelriechenden  Massen. 

In  einem  mittleren  Pulmonalast  findet  sioh  ein  der  Wand  fest  ansitzender, 
kleiner,  graurother  Thrombus. 

Rechte  Lunge:  gross,  ödematös  durchtränkt.  Pleura  des  Unterlappens 
diffus  getrübt  und  mit  reichlich  fibrinösen  Auflagerungen  bedeckt.  Im  Unter- 
lappen findet  sich  eine  von  aussen  sich  schwappend  anfühlende,  fast  faust- 
grosse  Erweichungshöhle,  mit  übelriechenden,  missfarbenen  Massen  erfüllt.  Es 
finden  sich  noch  mehrere  kleine  Gangränhöhlen  in  der  übrigen  Lunge. 

In  einem  der  Hauptäste  der  Art.  pulmonalis  findet  sich  ein  etwa  erbsen- 
grosser,  der  Wand  fest  ansitzender  Embolus,  an  den  sich  rotho  thrombotische 
Massen  nach  auf-  und  abwärts  fortsetzen. 

Bronchien  schmutzig  verflirbt,  zum  Theil  stark  hyperämisch.  Der  übrige 
Sectionsbefund  ist  für  uns  ohne  Belang. 

Der  hier  in  der  rechten  Art.  pulmonalis  gefundene  Thrombus 
war  ca.  8  Tage  alt.  Die  ersten  Erscheinungen  an  den  Lungen 
wurden  am  6.  Tage  nachgewiesen.  Vermuthlich  ist  hier  der 
Embolus  ein  oder  mehrere  Tage  vorher  in  die  Lunge  gerathen. 
Woher  derselbe  stammt,  lässt  sich  nicht  mit  Sicherheit  feststellen. 
Das  Herz  war  jedenfalls  ganz  gesund. 

Unsere  in  der  obigen  Arbeit  mitgetheiltcn  Erfahrungen  über 
das  Auftreten  von  Pneumonie  nach  Operationen  am  Bauch  sind 
auch  in  den  letzten  3  Monaten  .  bestätigt  worden,  wo  unter 
18  Bauchoperationon  unter  Schleich'scher  Anästhesie  3  an  capillärer 


434  Dr.  G.  Gottstein,  Erfahrungen  über  lokale  Anästhesie  etc. 

Bronchitis  und  4  iin  Pneumonie  erkrankt  sind,  ebenso  sind  unter 
32  Bauchoperationen  unter  Chloroform  2  Pneumonien  aufgetreten; 
die  oben  ausführlich  mit^etheilte  gehört  hierher.  Auch  unter 
sechs  unter  Aethernarkose  operirten  Hernien  trat  einmal  Pneu- 
monie auf. 

Die  hohe  Zahl  der  Lungenerkrankungen  bei  der  Operation 
unter  Schleich'scher  Anästhesie  erklärt  sich  auch  hier  zur  Genüge 
daraus,  dass  die  schwersten  Fälle  in  dieser  Weise  operirt  wurden 
und  dass  an  diesen  Fällen  auch  die  umfangreichsten  Operationen 
ausgeführt  wurden. 


XVIII. 

Neue  Experimente  zur  Erzeugung  von 
Pankreatitis  haemorrhagica  und  von  Fett- 

nekrosen.') 

Von 

JProfefluior  Dr.  Hlldebrand 

in  Berlin. 


Die  Frage  nach  der  Enstehung  der  hacmorrhagischen 
Pankreatitis  und  den  dabei  beobachteten  Fettnekrosen  hat  noch 
immer  keine  genügende  Beantwortung  erfahren.  Auch  die  ex- 
perimentelle Forschung  ist  keineswegs  zu  einem  abschliessenden 
Urtheil  gelangt.  Vor  3  Jahren  habe  ich  hier  über  Experimente  am 
Pankreas  vorgetragen.  Es  war  mir  gelungen,  durch  verschiedene 
Eingriffe  am  Pankreas  zu  zeigen,  dass  durch  Pankreassecret  Fettnekro- 
sen erzeugt  werden,  und  ferner  ebenso  wie  Rosenbach,  dass  Trypsin 
Haemorrhagien  macht.  Auf  Grund  dieser  Experimente  kam  ich  zu 
der  Anschauung,  dass  die  Pancreatitis  haemorrhagica  und  die  Fett- 
nekrosen Folgen  der  Einwirkung  von  Pankreassekret,  des  Fett- 
ferments und  des  Trypsines  seien,  welches  sich  in  Folge  einer 
cartarrhalischen  Schwellung  der  Schleimhaut  des  Darmes  nicht 
entleeren  könne  und  staue.  Von  verschiedenen  Seiten,  von  Körte, 
Williams,  wurden  meine  damaligen  Versuche  der  Hauptsache  nach 
bestätigt,  ebenso  durch  Experimente,  die  ich  selbst  noch  einmal 
anstellen  Hess. 

Nun  hat  aber  im  vorigen  Jahre  Hlava  auf  dem  Moskauer 
Consress  andre  Experimente  mitgetheilt,    die  er  über    diese  Frage 

1)  Vorgetragen  am  1.  Sitzungstage  des  XXVII.  Congresses  der  Deutschen 
Gesenschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  13.  April  1898. 

ArohiT  für  klin.  Chirargie.   57.  Bd.  Heft  3.  20 


436  Dr.  Hildebrand, 

gemacht  hat.  Er  ging  von  einem  andren  Gesichtspunkt  aus.  Da 
die  betr.  Patienten  öfters  vorher  Attaquen  von  Störungen  der 
Magenfunktion  gehabt  haben,  kam  er  auf  die  Idee,  ob  nicht  etwa 
Magensaft  und  zwar  hyperacider  in  das  Pankreas  übertreten 
und  die  haemorrhagische  Pankreatitis  sowie  die  Fettnekrose  hervor- 
rufen könne.  Im  Verfolg  dieser  Idee  injicirte  er  in  das  Pankreas 
Magensaft,  der  etwa  2—6  pro  mille  Salzstäure  enthielt,  und  auch 
gleich  starke  Salzsäurelösungallein,  und  erhielt  darauf  haemorrhagische 
Entzündung  und  Fettnekrosen.  Als  den  schuldigen  Theil  spricht 
er  die  Salzsäure  an.  Ich  habe  nun  ebenfalls  nach  dieser  Richtung 
Versuche  gemacht.  Ich  injicirte  erst  Salzsäure  in  das  Netz, 
Salzsäure  in  die  Substanz  des  Pankreas,  erreichte  aber  mit 
2 — 6  promilligcr  Ltisung  nichts.  Erfolge  hatte  ich  erst,  als  ich 
1  pCt.  Salzsäure  in  den  Ausführungsgang  des  Pankreas  einspritzte 
und  den  Ductus  abband.  Dann  trat  endlich  eine  ausgesprochene 
sog.  haemorrhagische  Pankreasnekrose,  starke  Schwellung,  Derbheit 
und  partielle  Nekrose  des  Organs  mit  ausgedehnten  Blutungen  in 
der  Substanz  auf,  wie  ich  es  hier  deraonstriren  kann,  Fettnekrosen 
waren  nur  vereinzelt  zu  finden.  Vorsuche  mit  Pepsin  dagegen 
führten  bis  jetzt  zu  keinem  Resultat,  doch  bin  ich  damit  noch 
nicht  am  Ende.  Mit  den  Lösungen,  deren  sich  Hlava  be- 
diente, gelang  es  mir  nicht,  ein  positives  Resultat  zu  erzielen, 
sie  mussten  concentrirter  sein;  ausserdem  wurde  von  mir  viel  in- 
jicirt  und  dies  durch  Abbinden  des  Ductus  alles  in  dem  Pankreas- 
theil  zurückgehalten.  Eine  1  proc.  Lösung  ätzt  gewiss  nicht  ohne 
Weiteres  die  Gewebe  an,  aber  dadurch,  dass  viel  Flüssigkeit  in- 
jicirt  wurde,  wurde  der  Innendruck  stark  und  infolge  dessen  ent- 
stand wohl  eine  Anaemie,  die  natürlich  die  Anätzung  sehr  be- 
günstigte, um  so  mehr  als  es  sich  um  ein  Organ  handelt,  das 
selbst  nur  alkalisches  Secret  producirt,  also  doch  nicht  abgehärtet 
gleichsam  dagegen  ist. 

Zweifellos  kann  auf  diese  Weise  eine  hämorrhagische  Pankreas- 
nekrose erzeugt  werden.  Ist  es  nun  aber  wahrscheinlich,  dass  sie 
beim  Menschen  auf  ähnliche  Weise  entsteht?  Ist  es  wahrscheinlich, 
dass  Magensaft  in  grösserer  Menge  vom  Darm  aus  in  den  Aus- 
führungsgang des  Pankreas  eintritt,  dass  der  Magensaft  trotz 
alkalischer  Galle  und  Pankreassekret  so  sauer  bleibt,  dass  er 
jene  Wirkung  entfalten  kann? 


Neue  Experimente  zur  Erzeugung  von  Pankreatitis  haemorrhagica  etc.       437 

Um  den  Eintritt  einer  grösseren  Menge  Magensaftes  in  das 
Pankreas  zu  erklären,  müsste  man  doch  einen  Druck,  ein  Abfluss- 
Hinderniss  im  Duodenum  annehmen.  Wie  das  zu  Stande  kommen 
soll  ohne  ganz  besondere  Verhältnisse  ist  gewiss  nicht  leicht  vor- 
zustellen. 

Andererseits  ist  es  doch  nicht  unplausibel,  dass  analog  den 
Vorgängen  beim  catarrhalischen  Icterus  ein  Katarrh  der  Darm- 
schleimhaut sich  auf  den  Ausführungsgang  des  Pankreas  fortsetzt, 
die  Öbhleimhaut  hier  zum  Schwellen  bringt,  sodass  das  Secrct  nicht 
mehr  abfliessen  kann,  sich  staut  und  so  gleichsam  eine  Selbst- 
verdauung des  Pankreas  zu  Stande  kommt,  wie  sie  z.  B.  Chiari 
bei  Sectionen  fand. 

Diese  Auffassung  der  Verhältnisse  scheint  mir  vorläufig 
immer  noch  die  natürlichere,  die  ungezwungenere  zu  sein. 


29 


^   I 


XIX. 

Ein  neues  Verfahren  der  Blasennaht  nach 

Sectio  alta. 

Von 

Professor  ll¥,  S,  Httsumoivsfcy 

in  Kasan. 

(Mit  einer  Figur.) 


Vor  etwa  4  Jahren  veröffentlichte  ich^)  eine  Methode  der 
Vernähung  der  Harnblase  nach  dem  hohen  Steinschnitt;  diese 
Methode  war  von  mir  in  der  chirurgischen  llospitalklinik  ausge- 
arbeitet und  in  10  Fällen  angewandt  worden.  Die  Besonderheit 
meiner  Methode  bestand  darin,  dass,  abgesehen  von  der  sorg- 
fältigen Vernähung  der  Blasenwunde  (durch  zwei  Reihen  von 
Nähten),  die  Nahtstelle  der  Blase  an  die  vordere  Bauchwand 
fixirt,  mithin  die  sogen.  Cystopexie  ausgeführt  wurde.  Die  Be- 
deutung dieses  Ilandgriifes  erklärte  ich  in  folgender  Weise:  eine 
der  llauptursachcn  des  Misslingens  der  Blasennaht,  des  Auseinander- 
weichens  der  Nähte,  beruht  meines  Erachtens  darauf,  dass  die 
Blase  ein  bewegliches  Organ  ist,  dessen  Volum  je  nach  der  Harn- 
menge, dem  Drucke  der  Bauchpresse,  dem  Spiele  der  Blasen- 
muskeln u.  s.  w.  sich  ändert.  Wenn  es  uns  gelänge,  diese  Be- 
weglichkeit zu  beseitigen,  so  würde  die  Blasenwunde  stets  per 
primam  heilen,  wie  auch  eine  jede  andere  Wunde.  Allerdings  ver- 
mögen wir  nicht,  die  Blase  in  toto  unbeweglich  zu  machen,  da- 
gegen können  wir  die  Stelle  der  Blasennaht  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  immobilisiren,  d.  h.  mit  Hülfe  der  Cystopexie,  wie  sie  von 
mir    angewandt    wurde,    ihre    Beweglichkeit    einschränken.      Die 


1)  V.  Laugenbeck's  Archiv.    Bd.  48. 


Ein  neues  Verfahren  der  Blasennaht  nach  Sectio  alta.  439 

Cystopexie  bietet  ferner  noch  einen  anderen  Vortheil.  Bei  der 
einfachen  Vernähung  der  Blase,  ohne  Fixirung  derselben,  kommen 
die  vernähte  Blasenwunde  und  die  Wunde  der  Bauchwand  in  ver- 
schiedener Höhe  zu  liegen:  erstere  —  hinter  der  Schambeinfuge, 
letztere  aber  oberhalb  derselben.  Bei  solchen  Bedingungen  wird 
der  Urin,  sobald  die  Naht  auseinandergeht,  in  das  lockere  prä- 
yesicale  Zellgewebe  eindringen.  Leicht  entsteht  dann  eine  Harn- 
infiltration, —  die  allergefährlichste  Complication  bei  dem  hohen 
St^inschnitt.  Anders  verhält  es  sich  aber,  wenn  die  Lockerung 
der  Blasennaht  bei  Fixirung  der  Blase  an  die  vordere  Bauchwand 
eintritt.  Dann  liegen  die  Blasen-  und  die  Hautdeckenwunde  in 
einer  Höhe:  die  eine  hinter  der  anderen  —  und  der  Harn  wird 
natürlich  leichter  seinen  Ausfluss  nach  aussen  finden. 

Schon  damals  hatte  ich,  in  meinem  oben  citirten  Aufsatze, 
die  Frage  vorgelegt,  ob  nicht  die  Cystopexie  in  der  Folgezeit  auf 
den  Akt  des  Urinirens  nachtheilig  einwirken  könne?  Auf  diese 
Frage  konnte  natürlich  nur  die  klinische  Erfahrung  eine  Antwort 
geben.  Meine  Erfahrung,  die  sich  damals  auf  10  Fällen  gründete, 
erlaubte  mir  schon  zu  der  Zeit,  die  dort  gestellte  Frage  verneinend 
zu  beantworten:  es  kamen  bei  meinen  Kranken  keinerlei  Störungen 
im  Uriniren  zur  Beobachtung. 

Die  zweite  Besonderheit  meiner  Lithotomie  bestand  darin, 
dass  ich  die  Nachbehandlung  ohne  Anwendung  des  Verweilkatheters 
durchführte. 

Nachdem  ich  die  Facultätsklinik  übernommen,  woselbst  sich 
mir  öfter  die  Gelegenheit  zur  Steinoperation  bot,  konnte  ich  meine 
Methode  an  einer  grossen  Anzahl  von  Fällen  prüfen.  Meine 
klinischen  Beobachtungen,  die  sich  gegenwärtig  auf  einem  viel 
grösseren  Material  (etwa  40  Fälle)  gründen,  berechtigen  mich  zu 
dem  Ausspruche,  dass  die  Blasennaht  in  Verbindung  mit  der 
Cystopexie:  1.  die  heste  der  gegenwärtig  bekannten  Behandlungs- 
methoden der  Blasenwunde  ist;  2.  dass  sie  in  der  Mehrzahl  der 
Fälle  eine  Nachbehandlung  ohne  Verweilkatheter  ermöglicht,  und 
dass  sie  3.  die  Function  der  Harnblase  in  der  Folgezeit  dun^haus 
nicht  beeinträchtigt.  Einige  meiner  Kranken  sah  ich  nach  Ablauf 
von  1 — 2  Jahren  nach  der  Operation  wieder  und  keiner  von  ihnen 
klagte  über  Störungen  im  Uriniren.  Ich  glaube  sogar,  dass  die, 
durch  unser  Verfahren    verursachte    unbedeutende  Dislocation    der 


440  W.  J.  Rasumowsky, 

Blase  nur  eine  teiiiporäro  ist,  und  koinevswe^s  für  das  iranze  Leben 
bestehen  bleibt.  Nachträglich,  nach  Eintritt  der  regelmässigen 
Function  der  Harnblase  werden  die  normalen  anatomischen  Be- 
ziehungen des  Organs  zum  Bauchfelle  und  zur  vorderen  Bauch- 
wand wahrscheinlich  wiederhergestellt.  Diese  Ansicht  erlaube  ich 
mir  auf  Grund  eines  Falles  auszusprechen,  in  welchem  ich  etwa 
ein  Jahr  nach  vollführtem  Steinschnitte,  denselben  Kranken  wegen 
Recidives  der  Steinkrankheit  zum  zweiten  Male  opcriren  musste. 
Die  bei  der  ersten  Operation  an  die  vordere  Bauchwand  fixirte 
Harnblase  fand  ich  nicht  über  der  Symphyse,  sondern  hinter  der- 
selben und  nur  das  vor  der  Blase  liegende  Zellgewebe  erschien 
etwas  verdichtet. 

Meine  Methode  der  Blasennaht  hat  auch  seitens  einiger 
anderer  Chirurgen  Beifall  erworben.  Zu  Gunsten  der  Cysto- 
pexie  haben  sich  Zuckerkandl,*)  Kukula,^)  Stierlin^)  u.  A. 
ausgesprochen. 

Ich  umgehe  im  Vorliegenden  die  Fragen  über  Indicationen 
und  Contraindicationen  zur  Anlegung  der  Blasennaht,  sowie  die 
andere,  höchst  wichtige  Frage  —  darüber,  in  welchen  Fällen  man 
ohne  Catheter  ä  demeure  auskommen  kann  und  wo  namentlich 
letzterer  unbedingt  angewandt  werden  muss.  Das  Material,  welches 
gegenwärtig  meiner  Klinik  hierüber  zur  Verfügung  steht,  wird 
binnen  kurzer  Zeit  von  einem  meiner  Assistenten  veröffentlicht 
werden.  Hier  will  i(^h  mich  nur  auf  die  Beschreibung  der  ver- 
vollkommneten Methode  der  Vernähung  der  Blasenwunde  be- 
schränken, —  einer  Methode,  wie  sie  von  mir  letzter  Zeit  aus- 
gearbeitet worden  ist. 

Eines  der  erheblichen  Nachtheile  der  Blasennaht,  gleichviel 
welche  Methode  der  Blasenvernälning  auch  angewandt  worden  sei, 
besteht  darin,  dass  die  Fäden  Veranlassung  geben,  zur  [Bildung  von 
Concrementen,  von  secundären  Steinen.  Diese  Steine  entstehen 
nicht  nur  in  dem  prävc^sicalen  Räume,  sondern  au(*h  in  der  Harn- 
blase selbst,  woraus  zu  erschliessen  ist,  dass  die  Blasennähte  mit- 
unter in  das  Lumen  der  Harnblase  durchfallen.     G.  F.  Zeidlcr*) 


*)  AUgemeine  Wiener  med.  Zeitschrift.     1895,  No.  2. 

2)  Wiener  kün.  Wochenschrift.     1895. 

3)  Deutsche  Zeitschrift  f.  Chirurgie.    Bd.  44. 

*)  Arbeiten  der  Chirurg.  Gesellschaft  v.  Pirogoff,    1894—95  (russisch). 


Ein  neues  Verfahren  der  Blasennaht  nach  Sectio  alta.  441 

hat  7  derartige  Fälle  in  der  Literatur  gesammelt.  Solche  Fälle 
sind  auch  späterhin  mitgctheilt  worden:  so  von  Stierlin^),  von 
Brown 2).  Ein  derartiger  Fall  ist  mir  ferner  nach  mündlicher  Mit- 
theilung eines  unserer  russischen  Chirurgen  bekannt.  Augenschein- 
lich kommt  diese  unerwünschte  Gomplication  der  Blasennaht  nicht 
besonders  selten  vor.  Ein  anderer,  zwar  minder  wichtiger,  doch 
häufiger  sich  geltend  machender  Mangel  der  Blasennähte,  besteht 
darin,  dass  sie  mitunter  Veranlassung  geben,  entweder  zur  Bildung 
sehr  langsam  heilender  Fisteln  oder  zu  secundären  Abscessen  mit 
Fistelbildung.  Solche  Fälle  sind  keine  seltene  Erscheinung,  die 
gewiss  einem  jeden  Chirurgen  begegnet  sind,  welcher  viel  in  diesem 
Gebiete  operirt  hat. 

Diese  Mängel  der  Blasennaht  bewogen  mich,  eine  solche 
Methode  der  Vernähung  auszuarbeiten,  bei  welcher  1.  gleichzeitig 
und  mittelst  einer  und  derselben  Nähte  sowohl  die  Vernähung  der 
Blase  als  auch  die  Cystopexie  ausgeführt  werde  und  2.  sämmtliche 
Fäden  nachträglich  entfernt  werden  können,  damit  weder  in  der 
Blase  noch  im  prävesicalen  Räume  Fäden  zurückblieben.  Die  von 
mir  ausgearbeitete  und  in  4  Fällen  mit  Erfolg  angewandte  Methode 
besteht  in  Folgendem. 

Nach  Entfernung  des  Steins,  Ausspülung  der  Blase  u.  s.  w., 
nehme  ich  einen  nicht  sehr  dünnen  Metallfaden  (Silberdraht),  der 
mit  2  Nadeln  versehen  ist.  Diesen  Faden  führe  ich  durch  die 
Blasenwand  (ausgenommen  die  Schleimhaut,  welche  natürlich  nicht 
verletzt  werden  darf)  hindurch;  Ein-  und  Ausstich  der  Nadel  an 
der  rechten  Seite  und  nahe  der  Blasenwunde.  Darauf  werden 
beide  Fadenenden  mit  den  Nadeln  quer  über  die  Blasen  wunde  auf 
die  linke  Seite  hinübergelegt  und  unter  den  linken  Rand  der 
Bauchdeckenwunde  eingeführt,  die  letztere  (Muskeln  und  Haut- 
decken) von  innen  nach  aussen  durchstochen,  so  dass  beide  Faden- 
enden nahe  bei  einander  durch  die  Haut  nach  aussen  hervorgezogen 
werden.  In  ganz  ähnlicher  Weise  und  in  derselben  Höhe,  jedoch 
von  der  gegenüber  liegenden  Seite  aus  und  daher  gewissermaassen 
in  umgekehrter  Reihenfolge  wird  nun  ein  ebenfalls  mit  2  Nadeln 
bcwaifneter  Faden  angelegt:  Ein-  und  Ausstich  durch  die  Blasen- 
wand am  linken  Wundsaume,    Uebertragung  der  Fadenenden  über 

1)  1.  c. 

2)  The  Lancet  1896,  Febr. 


442 


W.  J.  Rasumowsky, 


die  It  lasen  wunde  hinüber  aui  die  rechte  Seite  und  Durchführung 
des  Fadens  von  innen  nach  aussen  durc^h  die  Dicke  der  Baueh- 
dccken  an  dem  rechten  Wundrande. 


Auf  besagte  Weise  erliälL  mau  "2  Schlinj^en :  eine  reclite,  deren 
.Scheitel  links  in  der  lilahi-nwanil  üc^t  und  deren  Enden  rechter- 
seits  die  Dicke  der  Dauchwand  von  inucn  nach  aussen  durchsetzen 
und  eine  zweite,  linke  Scfilinfre,  deren  Weheitel  am  rechten  Wund- 
saumc  die  Blascnwand  uinfasst,  um  mit  ihren  Enden  die  Bauch- 
deeken  linkerseits  zu  durclisctzen.  Beide  Schleifen  greifen  gegen- 
seitig in  einander,  wie  etwa  ein  in  eine  Schlinf^e  eingehängter 
Haken  fvc.rgl.  die  Figur). 

Wenn  man  nun  beide  Schlingen  an  ihren  durch  die  Haut  hin- 
durchgehenden Enden  anspannt,  so  vereinigen  sich  zunächst  die 
ßlasenwundrundor,    wobei    dieselben    sich    gleichiteitig    nach  innen 


Ein  neues  Verfahren  der  Blasennaht  nach  Sectio  alta.  443 

umschlagen,  wie  z.B.  bei  der  Lern b er t' sehen  Darmnaht  und  da- 
nach fügen  sich  auch  die  Ränder  der  Bauchdeckenwunde  an  ein- 
ander. 

Diese  Naht  kann  man  eine  doppelte  Matratzennaht  nennen. 

Je  nach  der  Grösse  der  Blasenwunde  müssen  3 — 4  solcher 
paariger  Schlingennähte  angelegt  werden,  bis  die  Blasenwunde 
hermetisch  geschlossen  werden  kann. 

Ich  möchte  jetzt  auf  einige  technische  Details  hinweisen, 
welche  die  Anlegung  der  Naht  erleichtern.  Zuvörderst  werden  die 
Schlingen  nur  durch  die  Blasenwand  hindurchgeleitet  und  erst  nach- 
dem sämmtliche  Schlingen  an  ihrem  Orte  sind,  schreiten  wir  zur 
Durchführung  der  Fadenenden  an  den  entsprechenden  Stellen  der 
Bauchwand.  Bei  Anziehung  der  Schlingen  beginnt  man  mit  dem 
unteren  Paare  und  geht  in  strenger  Reihenfolge  von  unten  nach 
aufwärts  weiter.  Jedes  Endenpaar  einer  und  derselben  Schlinge 
wird  über  einem  kleinen  Gazestreifen  geknotet,  wie  dies  bei  der 
Matratzennaht  üblich  ist. 

Ausser  diesen  Matratzennähten  werden  die  Ränder  der  Bauch- 
wunde  noch  durch  einige  einfache  Knopfnähte  vereinigt;  letztere 
umfassen  die  Haut  und  die  Muskeln,  welche  frühcF  schon  bei  An- 
ziehung der  Matratzennähte  einander  genähert  worden  waren. 
Uebrigens  bringe  ich  die  Bauchwunde  gegenwärtig  nicht  so  wie 
früher  zu  völligem  Schlüsse,  sondern  lege  in  dem  unteren  Wund- 
winkel einen  kleinen  Tampon  hinein,  der  mit  seinem  Ende  bis 
hinter  die  Symphyse  herabreicht. 

Mit  Hülfe  der  beschriebenen  doppelten  Matratzennähte  wird 
gleichzeitig  sowohl  die  Blase  geschlossen,  als  auch  die  Cystopexie 
gemacht:  die  durch  die  Naht  geschlossene  Blasenwunde  liegt  dicht 
der  hinteren  Fläche  der  gleichfalls  vernähten  Musculi  recti  an  und 
wird  solcher  Weise  immobilisirt  und  zweitens  besitzt  sie  jetzt 
anstatt  des  lockeren  Zellgewebes  an  ihrer  Vorderseite  eine  feste 
Schutzwand.  Meines  Erachtens  bedarf  es  der  Beweise  nicht,  dass 
diese  beiden  Momente  den  Erfolg  der  Blasennaht  hinreichend  sichern. 

Die  Nähte  werden  bis  zur  festen  Verwachsung  sowohl  der 
Blasen-  als  auch  der  Bauchdeckenwunde  an  Ort  und  Stelle  ge- 
lassen: für  8 — 10  Tage.  Sodann  werden  die  Knopfnähte,  sowie 
auch  die  Matratzennähte  entfernt;  mit  den  letzteren  verfährt  man 
folgender  Weise :  eines  der  Schlingenden  wird  nahe  am  Knoten,  an 


444  W.  J.  Rasnmowsky, 

der  Hautoberfläche  durchschnitten,  und  die  Schlinge  herausgezogen 
—  beispielsweise  die  rechte;  darauf  wird  nun  auch  die  ihr  ent- 
sprc(^hendo  linke  Schlinge  entfernt.  Ebenso  wird  das  zweite,  dann 
das  dritte  Schleifenpaar  entfernt  u.  s.  w.  Das  Herausziehen  der 
Mctalldrähte  geht  erfahrungsgemäss  recht  leicht  und  ohne  jede 
Gewaltanwendung  von  Statten. 

Nach  Herausnahme  der  Fäden  bleiben  weder  an  der  Harn- 
blase noch  in  dem  prävesicalen  Räume  Nähte  zurück,  und  derart 
erhält  man  die  ideale  Wundheilung,  nach  der  wir  jederorts  streben 
müssen,  nämlich:  wir  erhalten  eine  Heilung  per  priraam  an  einem 
tief  gelegenen  Organe,  ohne  dass  an  demselben  sogenannte  ver- 
lorene Nähte  nachbleiben. 

Es  fragt  sich  nun,  ob  dieses  Verfahren  überall  anwendbar  ist? 

Zunächst  ist  es  in  allen  jenen  Fällen  unanwendbar,  in  denen 
eine  Vernähung  der  Blase  überhaupt  contraindicirt  erscheint.  Aber 
abgesehen  von  dieser,  so  zu  sagen,  allgemeinen  Contraindication, 
gicbt  es  auch  eine  specielle.  Bei  sehr  beleibten  Subjecten  mit 
reichlich  entwickeltem  Fettpolster  der  Bauchdecken  ist,  glaube  ich, 
diese  Naht  deshalb  kaum  anwendbar,  weil  es  w^ohl  schwer  sein 
wird,  mit  Hülfe-  der  durch  die  sehr  dicke  Bauch  wand  hindurch  ge- 
leiteten Fäden  eine  gute  Aneinanderfügung  der  Blasenwundränder 
zu  erreichen.  Bei  solchen  Subjecten  wird,  meiner  Meinung  nach, 
die  gewiUinliche,  früher  von  mir  angewandte  Blasennaht  mit  nach- 
folgender Cystopexie  mehr  am  Platze  sein. 

In  technischer  Beziehung  kann  die  von  mir  vorgeschlagene 
Methode  keine  leichte  genannt  werden  und  dies  ist  allerdings  ein 
Mangel  der  Methode.  Aber  die  Blasennaht  ist  überhaupt  keine 
leichte  Sache.  Ich  hatte  bereits  in  Dutzenden  von  Fälfen  die 
Blaseimaht  angelegt  und  war  bisweilen  nach  beendeter  Operation 
mit  meiner  Naht  dennoch  nicht  zufrieden.  Am  schwierigsten  ist 
die  Vemähung  des  unteren  Winkels  der  Blasen  wunde,  besonders 
wenn  letztere  bis  tief  hinter  die  Symphyse  reicht.  Aus  diesem 
Grunde  namentlich  empfahl  ich  in  meiner  früheren  Arbeit,  den 
Schnitt  durch  die  Blase  möglichst  hoch  anzulegen.  Bei  einem 
solchen  Schnitt  ist  es  viel  leichter,  die  Blasennaht  anzulegen.  Für 
die  Cystopexie  erscheint  ein  solcher  Schnitt  gleichfalls  vorthcil- 
hafter:  die  Blase  wird  bei  ihrer  Fixirung  an  die  vordere  Bauch- 
wand weniger  dislocirt. 


Ein  neues  Verfahren  der  Blasennc^ht  nach  »Sectio  alta.  445 

Als  einen  Mangel  der  Methode  muss  ich  ferner  noch  den  Um- 
stand anfuhren,  dass  unter  den  Gazestreifen,  über  welchen  die 
Schleifennähte  geknotet  sind,  ein  circumscripter  und  oberflächlicher 
Druckbrand  entsteht.  Immerhin  vergehen  einige  überzählige  Tage 
bis  zu  dessen  Verheilung. 

Die  Zukunft  wird  zeigen,  welche  pathologisch -anatomischen 
Veränderungen  in  der  vernähten  und  an  die  vordere  Bauchwand 
lixirten  Blasenwunde  vor  sich  gehen,  ob  diese  Fixirung  sich  zu 
einer  constanten,  so  zu  sagen,  fürs  ganze  Leben  bleibenden  ge- 
staltet, oder  ob  nach  Entfernung  der  Nähte  und  nach  Wiederein- 
tritt der  normalen  Function  der  Blase  auch  das  normale  anatomi- 
sche Verhalten  derselben  sich  herstellt.  Jedenfalls  betone  ich  noch- 
mals die  Thatsache,  dass  sowohl  bei  der  früheren,  als  auch  bei 
der  hier  beschriebenen  neuen  Methode  der  Vernähung  und  Fixirung 
der  Blase  bei  keinem  meiner  Kranken  irgend  eine  Störung  im 
Uriniren  beobachtet  worden  ist.  Einer  der  Kranken  (s.  Kranken- 
geschichte No.  2),  welchem,  abgesehen  von  dem  hohen  Steinschnitt, 
wegen  Nierenkoliken  auch  noch  die  Nephrotomie  und  Uretero- 
tomie  gemacht  wurde,  blieb  mehrere  Monate  lang  unter  meiner 
Beobachtung:  die  ganze  Zeit  war  das  Uriniren  völlig  regelrecht, 
sowohl  in  den  ersten  Tagen  nach  der  Operation,  als  auch  in  der 
späteren  Zeit. 

Ich  führe  in  Kürze  die  Krankengeschichten  an: 

No.  1.  Th.  J.  K.,  22 jähriger  Bauer.  Innere  Organe  unverändert.  Er- 
nährungszustand befriedigend.  Symptome  der  Steinkrankheit  von  Kindheit 
auf:  starke  Beschwerden  aber  verursachte  der  Stein  dem  Kranken  erst  im 
Laufe  des  letzten  Jahres. 

Tagesmenge  des  (schwach  sauer  reagirenden)  Harns  ca.  2000  ccm.  Er- 
scheinungen einer  katarrhalischen  Cystitis.  Der  Harn  triibe,  der  Niederschlag 
enthält  Eiterkörperchen ,  rothe  Blutkörperchen,  Zellen  der  oberflächlichen 
Schichten  des  Blasenepithels,  häufiges  (bis  20 mal  täglich)  und  schmerzhaftes 
Urin  Iren. 

Operation  25.   11.  97.     Entfernung  des  Steines  (harnsaure  Salze  und 

3V 
Phosphate);  Grösse:  —  -    cm.     Vernähung  der  Blase  in  oben  beschriebener 

3 

Weise.  Airolpaste  und  ein  kleiner  Verband  über  die  Wunde.  Kein  Verweil- 
katheter. Bis  zum  Abend  urinirte  Patient  mehrmals,  der  Harn  anfangs  blut- 
haltig,  darauf  aber  mehr  und  mehr  rein.  In  den  ersten  Tagen  eine  geringe 
Temperaturerhöhung  (bis  38^),  weiterhin  aber  normal.  Selbstgefühl  die  ganze 
Zeit  gut. 


446  W.  J.  Rasumowsky, 

1.  12.  Tampon  aus  dem  unteren  Wundwinkel  entfernt.  5.  12.  Sämmt- 
liche  Nähte  entfernt  (am  11.  Tage  nach  der  Operation).  9.  12.,  d.  h.  15  Tage 
nach  der  Operation,  vollkommen  geheilt  aus  der  Klinik  entlassen. 

No.  2.  J.  N.  E.,  Dorfschreiber,  37  Jahre  alt.  Sieht  etwas  decrepid  aus. 
Lungenschall  über  den  Lungenspitzen  gedämpft,  besonders  links  nach  hinten, 
bei  der  Auscultation  hört  man  hier  Bronchialathmon.  Klage  über  Husten  und 
Schmerz  in  der  linken  Seite.    Präsystolisches  Geräusch  an  der  Herzspitze. 

Leidet  seit  15  Jahren  an  Harnstörungen  und  Nierenkoliken.  Zeitweise 
traten  starke  Blutungen  aus  der  Harnblase  auf.  Seit  2  Jahren  gehen  kleine 
Steine  durch  die  Urethra  ab,  Tagesmenge  des  Urins  ist  bis  4(XX)  ccm  ver- 
mehrt, der  Harn  schwach  alkalisch,  giebt  reichlichen  Niederschlag  (Eiter- 
körperchen,  Epithel,  Tripelphosphatkrystalle).  Die  Nieren  empfindlich  gegen 
Druck,  besonders  die  linke,  welche  zugleich  auch  vergrösscrt  erscheint.  Der 
linke  Harnleiter  lässt  sich  als  verdickter  Strang  durchfühlen.  Vor  der  Opera- 
tion nahm  der  Kranke  ca.  2  Wochen  lang  Guayakol  ein. 

Operation  (Sectio  alta)  31.  1.  1*8.  Aus  der  Blase  wurde  ein  hanisaurer 
Stein  von  unregelmässiger  Form  herausgenommen,  der  an  der  Oberfläche 
gleichsam  mit  Fortsätzen  bedeckt  ist.  Blasenvernähung  nach  derselben  Me- 
thode. Wundverband  wie  in  dem  vorhergehenden  Falle.  Kein  Verweilkatheter. 
4  Tage  nach  der  Operation  urinirt  Patient  spontan :  der  Harn  ist  blutig  ge- 
färbt, kleine  Coagula.  Bei  den  dai'auf  folgenden  Harnentleerungen  wird  der 
Urin  immer  klarer  und  klarer.  2  Tage  darauf  starker  Anfall  von  Nierenkolik: 
der  Kranke  liegt  nicht  ruhig,  sondern  wechselt  häufig  seine  Lage.  Dieser  An- 
fall dauerte  mit  kurzen  Remissionen  4  Tage  lang.  Morphium  subcutan  mehrere 
Male.  Temperatur  und  Puls  die  ganze  Zeit  normal.  Nach  5  Tagen  wird  der 
Tampon  herausgenommen.  8.  2.  Alle  Nähte  entfernt.  11.  2,  Im  Harn  Blut, 
welches  aber  bald  schwindet.  Das  Uriniren  ist  die  ganze  Zeit  regelrocht  und 
schmerzlos.    14.  2.    Die  Wunde  ist  geheilt  und  Patient  wird  entlassen. 

Nach  Verlauf  einiger  Zeit,  1.  3.,  wird  der  Kranke  behufs  einer  Nephro- 
tomie aufs  Neue  in  die  Klinik  aufgenommen.  Ich  hatte  dem  Kranken  die 
Nephrotomie  vorgeschlagen,  weil  er  öfter  an  lange  dauernden  und  qualvollen 
Niercnkolikanfällen  litt.  Als  Locus  morbi  wurde  auf  Grund  der  Localisation 
des  Schmerzes  und  der  objectiven  Daten  (s.  höher  oben)  die  linke  Niere  be- 
trachtet. 10.  3.  Lumbaischnitt  nach  Tuffier.  Die  Niere  wurde  blossgelegt, 
bis  zum  Ililus  isolirt  und  bis  an  das  Niveau  der  Hautwunde  hervorgezogen. 
4  Finger  langer,  pathologisch -anatomischer  Schnitt  am  convexen  Rande  der 
Niere;  hierbei  wurden  die  Blutgefässe  von  dem  Assistenten  gefasst.  —  Mit 
dem  in  das  Nierenbecken  eingeführten  Finger  —  wobei  eine  trübe  Flüssigkeit 
herausfloss  —  konnte  ich  keinen  Stein  durchfühlen.  Daher  eröffnete  ich  den 
Ureter  durch  einen  Längsschnitt,  etwa  2  Finger  weit  von  dem  Nierenbecken. 
Die  Wände  des  Harnleiters  sind  stark  verdickt.  Ich  katheterisirte  den  Ureter 
zuerst  in  centraler  Richtung,  gegen  das  Nierenbecken,  in  welchem  ich,  wie 
auch  zuvor,  nichts  fand.  Ein  in  peripherischer  Richtung  ~  nach  der  Blase 
zu  —  eingeführter  Katheter  stiess  in  dem  Beckentheil  des  Harnleiters  auf  ein 
Hinderniss  (Strictur).     Durch    sondirende  Bewegungen   gelang   es   mir,   dies 


Ein  neaes  Verfahren  der  Blasennaht  nach  Sectio  alta.  447 

Hinderniss  zu  passiren,  anfangs  mit  einer  sehr  dünnen,  dann  aber  auch  mit 
dickeren  Bougies  (No.  7— -8  der  Charriere' sehen  Scala).  Steine  fand  ich  weder 
in  der  Niere,  noch  im  Ureter.  Schliesslich  machte  ich  einen  Schnitt  durch  die 
Nierencapsel  längs  des  ganzen  convexen  Nierenrandes,  vernähte  den  Ureter 
mit  feinem  Catgat  (nach  Jeferson  bereitet)  und  tamponirte  die  Nieren  wunde 
mittelst  Jodoformgaze.  Die  Niere  wurde  an  ihre  Stelle  zurückgebracht.  Etagen- 
nalit  durch  die  Bauchwunde,  ausgenommen  die  beiden  Wundwinkel,  in  welchen 
die  Tampons  lagen.  In  den  ersten  Tagen  Schmerzen  in  der  Lumbaigegend 
und  Blut  im  Harn;  am  3.  Tage  bedeutender  Meteorismus.  Eine  Compression 
des  Colon  descendens  durch  den  Tampon  voraussetzend  —  wie  dies  in  einem 
Falle  von  Israel  stattgefunden  hatte  — ,  entfernte  ich  den  Tampon  aus  dem 
retroperitonealen  Räume  und  aus  der  Niere.  Einführung  eines  Drains;  darauf 
schwand  der  Meteorismus.  Der  weitere  Verlauf  war  ohne  alle  Complicationen. 
Temperatur  und  Puls  sind  die  ganze  Zeit  normal.  Kein  Harnsickern  durch 
die  Lumbaiwunde,  mithin  war  die  Naht  des  Harnleiters  gelungen.  In  den 
ersten  Tagen  des  April  wurde  der  Kranke  aus  der  Klinik  entlassen.  Während 
seines  Aufenthaltes  in  der  Klinik  hatte  er  keine  Anfälle  von  Nierenkolik  ge- 
habt.   Das  Uriniren  ist  die  ganze  Zeit  hindurch  regelrecht,  schmerzlos. 

No.  3.  E.  P.  M.,  Bauer  von  I9V2  Jahren.  Ernährungszustand  genügend 
gut,  keine  Voränderungen  in  den  inneren  Organen.  Anfälle  der  Steinkrankheit 
seit  seinem  5.  Lebensjahre.  Tägliche  Ff arnmenge  ca.  1500  ccm ;  geringer 
Niederschlag,  saure  Reaction. 

Operation  am  12.  3.  98.    Es  wurde  ein  hamsauer  Stein  entfernt;  Durch- 

31/0 
messer  — ^  cm.    Vernähung   der  Blase   nach    der   nämlichen  Methode;    der 
4 

gleiche  Verband.  Kein  Verweilkatheter.  1  Stunde  nach  der  Operation  urinirt 
der  Kranke  spontan;  der  Harn  enthält  Blut.  Um  7  Uhr  Abends  urinirte  er  zum 
zweiten  Male;  der  Harn  ist  jetzt  nur  schwach  vom  Blut  gefärbt.  In  den  ersten 
paar  Tagen  Husten  und  Temperaturerhöhung,  der  weitere  Verlauf  ohne  Com- 
plicationen. 

18.  3.  Tampon  aus  dem  unteren  Wundwinkel  entfernt.  23.  3.  Alle 
Nähte  herausgenommen.  3.  4.  Aus  der  Klinik  entlassen,  üriniren  normal, 
schmerzlos. 

No.  4.  J.  S.  G.,  Bauer  von  21  .Jahren.  Ernährungszustand  genügend, 
innere  Organe  ohne  Veränderungen.  S}Tnptome  der  Steinkrankheit  von  Kind- 
heit an.  Harnquantum  täglich  2400  ccm.  Reaction  alkalisch;  beträchtliches 
Sediment  (Eiterkörperchen,  Epithel,  Tripelphosphatkrystallc).  Beständiger 
Harndrang,  starke  Schmerzhafiigkeit. 

Operation  21.  3.  98.     Es  wurde  ein  grosser  Stein  entfernt;  im  Centrum 

Urate,  an  der  Oberfläche  Phosphate.     Durchmesser  -     -  cm;  Umfang  11  cm. 

4 

Bei  Herausnahme  des  Steines  wurde  der  untere  Wlmdwinkel  der  Blasenwundc 

eingerissen.    Die  Wände  der  Harnblase  stark  hyperirophirt.    Angesichts  dieses 

Umstandes,  sowie  auch  der  alkalischen  Harngährung  und  des  Risses  in   der 

Blasenwunde,  war  ich  etwas  in  Unschlüssigkeit,  ob  die  Blasennaht  anzulegen. 


448     W.  J.  Kasumowsky,  Ein  neues  Verfahren  der  Blasennaht  etc. 

oder  die  Nachbehandlung  mit  Hülfe  des  Drains  durchzuführen  sei.  Das  sagte 
ich  auch  dem  als  Lithotomist  in  Kussland  bekannten  Dr.  Assendelft, 
welcher  der  Operation  beiwohnte.  Nach  einigem  Schwanken  entschloss  ich 
mich  dennoch  zu  Gunsten  der  Blasennaht.  Anlegung  derselben  nach  dem 
oben  beschriebenen  Verfahren;  Verband  wie  in  den  vorhergehenden  Fällen. 
Kein  Verweilkatheter.  Vom  Ende  der  Operation  (12  Uhr  Mittags)  an  bis  5  Uhr 
Abends  hätt«  Patient  nicht  urinirt,  daher  wurde  ein  Katheter  eingeführt;  es 
Hoss  ein  etwas  bluthaltiger  Harn  ab.  Der  Katheter  wurde  für  die  Nacht  in 
der  Blase  liegen  gelassen,  gegen  Morgen  vei*stopfte  sich  der  Katheter  und 
wurde  dann  durch  den  Harndruck  herausgestossen.  Danach  bis  zum  Abend 
(dos  2.  Tages)  urinirto  der  Kranke  spontan  (ungefähr  lOmal).  Am  3.  und 
4.  Tage  spontane  Urinentleerung;  am  5.  Tage  wurde  der  Harn  wieder  mehr* 
tnals  mittelst  des  Katheters  entleert.  Das  spontane  Uriniren  ist  schmerzhaft, 
der  Harn  enthält  beträchtlichen  Niederschlag.  In  den  ersten  Tagen  hatte  der 
Patient  starken  Husten,  bei  Temperaturerhöhung,  jedoch  ist  das  Selbstbefinden, 
abgesehen  von  der  schmerzhaften  Harnentleerung,  genügend  gut. 

27.  3.  Entfernung  der  Knopfnähte  und  des  Tampons  aus  dem  unteren 
Wundwinkel.  Bis  zum  Abend  desselben  Tages  entleerte  der  Kranke  seinen 
Urin  selbst;  am  Abend,  während  eines  starken  Hustenanfalles,  fing  der  Harn 
an,  durch  den  unteren  Winkel  aus  der  Wunde  durchzusickern.  Dieses  Durch- 
sickern des  Harnes  durch  die  Wunde  war  etwa  4  Tage  lang  bemerkbar;  für 
diese  Zeit  wurde  ein  Verweilkatheter  benutzt. 

31.  3.  Alle  Nähte  entfernt.  7.  4.  Die  Wunde  verheilt,  am  17.  Tage 
nach  der  Operation.  Die  Erscheinungen  der  Cystitis  dauerten  einige  Zeit  lang, 
schwanden  aber  darauf  allmalig  unter  wiederholten  Ausspülungen  der  Blase 
mit  Arg.  nitricum  (1 :  1000).  17.  4.  Der  Kranke  befindet  sich  gut,  urinirt 
nicht  oft,  die  letzten  Portionen  des  Urins  sind  kaum  getrübt. 


XX. 

(Aus  der  chirurgischen  Klinik  in  Zürich.) 

lieber  die  bisherigen  Erfahrungen  bei  der 
radicalen  Operation  des  Magencarcinoms 
(der  Magenresection  und  der  Magenexstir- 
pation)  an  der  Züricher  chirurgischen  Klinik. 

Von 

Professor  Dr.  ürSnlelQ 

in  Zdricli»). 


Kr.  will  zunächst  Mittheilung  machen  über  den  weiteren  Ver- 
lauf   jenes    Falles    von    Magencarcinoni,    bei    welchem    Herr 

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Dr.  med.  C.  Schlatter,  Secundararzt  der  chirurgischen  Klinik, 
im  vergangenen  Jahre  die  totale  Magen exstirpation  mit  nach- 
folgender Oesophago-Entcrostomie  ausgeführt  hat. 

Dr.  Schlatter  hat  seine  Beobachtung  und  Operation,  die  voll- 
ständig neu  ist,  im  Corresp.-Blatt  für  Schweizer  Aerzte  (1897) 
und  ferner  in  den  Beiträgen  zur  klinischen  Chirurgie  Bd.  XIX.  1897 
beschrieben  und  es  darf  daher  das  Detail  der  Operationstechnik 
und  des  Heilungs Verlaufs  als  bekannt  vorausgesetzt  werden.  — 

Hier  sei  nur  erwähnt,    dass    die  Patientin    56  Jahre  alt  war, 


0  Vorgetragen  am  2.  Sitzungstage  des  XXVII.  Congresses  der  Deutschen 
Gesellschaft  für  &>irurgie  zu  Berlin,  14.  April  1898. 

Anmerkung  während  der  Correctur:  Seit  der  Zeit  des  Vortrages 
habe  ich  weitere  3  Magenresectionen  wegen  Carcinom  ausgeführt, 
die  alle  reactionslos  geheilt  sind;  ich  reihe  sie  als  No.  22,  23  und  24  meiner 
am  Congress  gegebenen  Statistik  an;  dadurch  werden  die  im  Vortrage  früher 
angeführten  Zahlen  etwas  verändert,  d.  h.  entsprechend  vergrössert. 
Zürich,  7.  Juli  1898.  Krönlein, 


450  Dr.  Krönlein, 

als  sie  am  6.  Septenabcr  1897  von  Dr.  Schlatter  opcrirt  wurde 
und  dass  sie  sich  laut  Schlatter's  Originalberichten  im  November 
1897  noch  vollständig  wohl  befand.  —  Seither  ist  der  Verlauf 
folgender  gewesen: 

Die  völlig  „magenlose"  Patientin  befindet  sich  gegenwärtig 
d.  h.  7  Monate  nach  der  Operation  ^)  vollständig  gesund  und  bietet 
das  Bild  eines  gut  conservirten  Menschen  von  57  Jahren,  wie  aus 
der  letzte  Woche  aufgenommenen  Photographie  zu  entnehmen  ist. 
—  Sie  weilt  in  der  Klinik,  so  zu  sagen,  als*  Ehrengast,  weil  sie 
die  Fn^undliclikeit  hatte,  den  Wuusch  des  Operateurs,  durch  eine 
neue  Operation  ihr  Leben  zu  retten,  zu  erfüllen;  sie  fühlt  sich 
aber  durchaus  wolil  und  ist  ohne  jede  Erinnerung  an  ihr  früheres 
Leiden.  Sie  isst  und  trinkt  wie  ein  Gesunder  und  verdaut  wie 
ein  Gesunder.  Beispielsweise  sei  ihr  Speisezettel  vom 
2.  April  1898,  den  sie  vollständig  erschöpfte,  hier  angeführt: 

Frühstück  7  Uhr:  Mih'.h-CafTee  340,0  g,  dazu  1—2  Semmel. 

Vormittags  10  Uhr:  Milch  320,0  g  mit  einem  Ei  und 
1  Semmel. 

Mittagessen  12  Uhr:  Suppe  260,0  g.  Fleisch  120,0  g, 
Kartoffeln  220,0  g,  Apfelmus  400,0  g. 

Nachmittags  3  Uhr:  Milch-Caffee  420,0  g,  dazu  1  Semmel. 

Abends  6  Uhr:  Milch  320,0  g,  event.  was  Pat.  vom  Mittag- 
essen noch  etwa  übrig  gelassen  hat. 

Ausserdem  trinkt  Pat.  täglich  1  Glas  Bordeaux-Wein. 


Was  ihr  Körpergewicht  betrifft,  so  hatte  Pat.  seit  der 
Operation  bis  Anfang  October  1897  um  2  Kilo  zugenommen.  Von 
da  ab  bis  heute  ist  eine  weitere  Zunahme  des  Körpergewichtes 
um  4,5  Kilo  zu  constaliren,  so  dass  die  Pat.  seit  der  Operation 
im  Ganzen  um  6,5  Kilo  oder  13  Pfd.  zugenommen  hat;  sie  wiegt 
jetzt  39  Kilo.  — 

Das  Interesse  an  diesem  ungewöhnlichen  Falle  ist  damit  natür- 
lich noch  nicht  erschöpft;  denn  es  ist  wissenschaftlich  von  höchstem 
Werthe,  zu  untersuchen,  wie  bei  dem  Menschen  bei  vollständigem 
Ausschluss    des    Magens    das  Verdauungsgeschäft    auf    die    Dauer 

1)  Anmerkung  während  der  Correctur:  Auch  heute  noch  (7.  Juli 
1898),  d.  h.  genau  10  Monate  p.  op.,  ist  Pat.  gesund  und  rüstig. 


Bisherige Erfahningen  bei  der  radicalen  Operation  des  Magencarcinomsetc.    451 

sich  vollziehe.  Ist  auch  für  die  grohe  Untersuchung  durch  das 
8  Monate  lang  genau  beobachtete  Wohlergehen  der  Patientin  ge- 
nügend festgestellt,  dass  der  Mensch  ohne  Magen  gut  leben  kann, 
so  verlangt  die  Wissenschaft  doch  genauere  Belege.  Diese  Belege 
werden  demnächst  in  einigen  Arbeiten  aus  der  chirurgischen  Klinik 
geliefert  werden  und  will  Kr.  nur  ein  kurzes  Resum6  hier  noch 
aus  einer  dieser  Arbeiten  mittheilen,  welches  er  dem  Autor  direkt 
verdankt.     Es  lautet: 

„Die  Ergebnisse  der  Untersuchungen,  die  ausführlicher  und 
mit  Zahlenbelegen  voraussichtlich  noch  im  Laufe  des  April  in  der 
„Münchener  Medic.  Wochenschrift"  veröffentlicht  werden,  lassen 
sich  in  kurzen  Worten  dahin  zusammenfassen: 

„Der  Koth  zeigte  stets  normale  Beschaffenheit  und  passirte 
in  IY2 — 2  Tagen  den  Darmcanal. 

Der  Ausfall  der  Magenverdauung,  von  dem  nur  bezüglich  der 
Ausnutzung  der  Eiweisskörper  der  Nahrung  eine  erheblichere 
Schädigung  erwartet  werden  konnte,  war  ohne  Belang.  In  einer 
6  tägigen  Versuchsreihe  mit  ausschliesslicher  Milch-  und  Semmel- 
kost, so  wie  einer  späteren  9 tägigen  mit  gemischler  Kost  (Suppe, 
Milch,  Wurst,  Griesbrei,  Semmel)  war  die  Ausnutzung  der  Al- 
buminstoffe eine  vorzügliche  und  entsprach  vollkommen 
normalen  Verhältnissen.  —  Auch  die  Fettresorption  in  der 
II.  Versuchsreihe  w'ar  die  normale.  In  der  I.  Versuchsreihe  kam 
es  noch  nicht  zum  Stickstoflfgleichgewicht,  sondern  täglich  wurden 
kleine  Mengen  N  zurückbehalten,  ohne  dass  es  zu  einer  dauernden 
Gewichtszunahme  kam.  Das  Körpergewicht  hielt  sich  nach  an- 
fänglicher rascher  Steigerung  um  circa  9  Pfd.  in  letzter  Zeit  auf- 
annähernd  derselben  Höhe.  Die  Stickstoffretention  deutet  dalier 
auf  eine  Regeneration  des  Blutes  und  ist  als  eine  Vermehrung  des 
circulirenden  Eiweisses  im  Blutplasma  zu  betrachten,  worauf  auch 
die  tägliche  NaCl-Retention  im  Organismus  hinweist. 

Eine  IStägige  Versuchsreihe  zeigte,  dass  eine  Beeinflussung 
der  Darmfäulniss  durch  den  HCl-haltigen  Magensaft  nicht  statt- 
hat, da  die  gefundenen  Wertho  der  Aethcrschwefelsäuren  meist 
noch  unter  der  Norm  lagen. 

Die  physiologischen  Aciditätsschwankungen  des  normalen 
Harns  zu  verschiedenen  Tageszeiten  fehlten.  Pepsinferment  fehlte 
im  Harn."— 

Archiv  für  klin.  Chirnrgip.    57.  Bd.   Heft  2.  ijq 


452 


Dr.  Kronlein, 


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Hüsberige Erfahrungen  bei  der  radicalen  Operation  desMagencarcinomsetc.    453 

Nach  Mittheilung  über  diesen  Schlatter'schen  Fall  von 
totaler  Magenexstirpation  giebt  Kr.  noch  einen  kurzen  üeberblick 
über  die  bis  jetzt  in  seiner  Klinik  geraachten  Erfahrungen  über 
Magenrcsection  wegen  Carcinom.  Das  Wesentliche  wird  durch 
vorstehende  Tabelle  veranschaulicht. 

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Von  den  24  Fällen  von  Magenrcsection  resp.  Magen- 
exstirpation starben  5  an  den  Polgen  der  Operation  (1  bis 
14  Tage  post  op.);  die  Todesfälle  vertheilen  sich  aber  sehr  ungleich 
auf  die  Anfangs-  und  die  späteren  Operationen,  so  zwar,  dass  von 
den  ersten  4  Magenresectioncn  3  starben  (1881—1888), 
von  den  folgenden  20  Magenresectioncn  dagegen  nur  2 
(1888  bis  1898).    (Mortalität  20pCt.;  seit  1888  nur  10  pCt.) 

Das  weitere  Schicksal  der  19  geheilten  Operationsfälle 
ist  folgendes: 

2  Fälle  starben  an  intorcurrenten  Krankheiten  (Herz- 
paralyse, Pneumonie)  innerhalb  des  1. — 4.  Monats  post  op.  ohne 
Becidiv. 

8  Fälle  starben  an  Carcinomrecidiv,  und  zwar 

2  im  3.  Jahre  post  op. 

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Das  Mittel  der  Lebensdauer  bei  allen  8  an  Recidiv  Ge- 
storbenen betrug  von  der  Operation  bis  zum  Tode:  507  Tage,  d.  i. 
1  Jahr  und  5  Monate  p.  p. 

8  Fälle  leben  zur  Zeit  (Juli  1898)  noch  ohne  Recidiv. 
2  Fälle  stehen    im  4.  Jahre  post  op. 
6      „         „  noch  „  1.      „         „      „ 
1  Fall  lebt  zur  Zeit  mit  Recidiv. 
Die   totale  Magenexstirpation   von  Dr.   Schlatter  be- 
treffend, so  erfreut  sich  Fat.  heute,  d.h.  10  Monate  nach 
der  Operation,  einer  ungetrübten  Gesundheit. 

Daran  schliesst  K.  noch  kurze  Bemerkungen  über  die  Technik 
der  Operation,  im  üebrigen  auf  seine  früheren  Mittheilungen  (s. 
Beiträge  zur  klin.  Chirurgie,  Bd.  XV)  verweisen. 


30 


XXI. 

Ueber  Regeneration  des  Magens  nach  totaler 

ßesection.  *) 

Von 

Professor  Or.  fiichnchfirdt 

in  Stettin. 

(Mit  2  Figuren.) 


In  der  Mehrzahl  der  Fälle  von  Magenkrebs,  die  zur  operativen 
Radi^albehandlung  kommen,  handelt  es  sieh  um  diejenige  Form 
des  Schleimhautkrebses,  wo  die  Ulceration  und  der  Zerfall  über- 
wiegt und  an  der  freien  inneren  Fläche  verhältnissmässig  keine 
erhebliche  Geschwulst  entsteht,  wohl  aber  eine  krebsige  Infiltration 
der  Magenwand,  die  sich  weit  über  die  Grenzen  des  Geschwüres 
erstrecken  kami.  Diese  Form  des  Magenkrebses  führt  frühzeitig 
zu  Drüsenschwellungen  und  krebsigen  Verwachsungen  der  Um- 
gebung und  lässt  sich  daher  nur  im  Anfangsstadium,  etwa  bis  zu 
einem  halben  Jahre  nach  dem  Beginne  des  Leidens,  noch  radical 
operiren.  Hat  das  Krebsgeschwür  bereits  einen  solchen  Umfang 
erreicht,  dass  man  geniithigt  sein  würde,  mehr  als  die  Hälfte  oder 
höchstens  zwei  Drittel  des  Magens  zu  entfernen,  so  sind  gewöhnlich 
die  übrigen  technischen  Bedingungen  so  ungünstig,  dass  die  Ope- 
ration nicht  mehr  ausführbar  ist. 

Dagegen  gicbt  es  eine  mehr  infiltrirende  diffuse  Form  des 
Magenkrebses,  die  mit  verhältnissmässig  geringer  innerer  Ulce- 
ration der  Schleimhaut,  jedoch  mit  ausgebreiteter  stan'er,  oft 
knotiger  Verdickung  der  ganzen  Magenwand  und  gewöhnlich 
mit  beträchtlicher    Schrumpfung    des  Magens    einhergeht.      Solche 


^)  Vorgetragen  am  2.  Sitzungstagc  des  XXVII.  Congresscs  der  Deutschen 
Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  14.  April  1898. 


lieber  Regeneration  des  Magens  nach  totaler  Resection.  455 

Fälle  zeichnen  sich  nicht  selten  dadurch  aus,  dass  selbst  nach 
längerem  Bestände  des  Leidens  zwar  Ascites,  aber  nur  geringe 
Drüsenschwellungen  eintreten  und  die  Beweglichkeit  des  stark  ver- 
kleinerten Magens  nicht  leidet,  imGegentheile  durch  den  mechanischen 
Zug  des  verdickten  und  schwerer  gewordenen  Organs  oft  erheblich 
grösser  wird  als  normal. 

Aehnliche  Verhältnisse  bieten  auch  diejenigen  Formen  des 
Magenkrebses  dar,  bei  denen  es  sich  um  umfangreicheGeschwulst- 
bildungen  handelt,  die  an  schmalem  Stiele  oder  breitbasig  von  der 
Schleimhaut  entspringend  als  blumenkohlähnliche  oder  kuglige  Ge- 
wächse in  das  Innere  des  Magens  hineinreichen.  Klinisch  zeichnen 
sich  diese  Formen  oft  durch  selir  grosse  Beweglichkeit  der  fühlbaren 
Geschwulst  aus,  die  sich  von  einer  Seite  des  Bauches  leicht  auf 
die  andere  schieben  lässt. 

Während  die  Exstirpation  selbst  kleiner  Krebsgeschwüre  der 
ersten  Kategorie,  namentlich  wenn  sie  an  der  hinteren  Magenwand 
sitzen,  oft  die  grössten  technischen  Schwierigkeiten  darbieten,  lässt 
sich  bei  den  beiden  zuletzt  geschilderten  Fonnen  des  Magenkrebses 
der  grösste  Theil  des  Magens,  ja  selbst  das  ganze  Organ  zuweilen 
mit  grosser  Leichtigkeit  entfernen. 

unter  etwa  60  Operationen,  die  ich  in  den  letzten  Jahren  am 
krebsigen  Magen  auszuführen  Gelegenheit  hatte,  habe  ich  so  günstige 
Verhältnisse  freilich  nur  etwa  5  Mal  angetroflfen,  am  Ausgcbildetsten 
in  dem  Falle,  dessen  Präparate  ich  Ihnen  heute  vorzulegen  die 
Ehre  habe  und  bei  dem  sich  die  fast  gänzliche  Entfernung  des 
Magens  vom  ersten  Hautschnitte  an  gerechnet,  in  einer  Viertelstunde 
ausführen  liess.  Ich  komme  heute  auf  diesen  Fall,  den  ich  schon 
vor  3  Jahren  hier  kurz  erwähnt  habe,  deshalb  ausführlich  zurück, 
weil  ich  in  der  Lage  bin,  über  seinen  weiteren  Verlauf  und  Aus- 
gang berichten  zu  können. 

Ferdinand  Thiede,  58  Jahre,  Steueraufseher,  will  ausser  rheumatischen 
Beschwerden  früher  immer  gesund  gewesen  sein.  Der  Anfang  seines  Magen- 
leidens ist  nioht  mit  Bestimmtheit  zu  ermitteln,  ist  aber  wahrscheinlich  schon 
einige  Jahre  zurückliegend.  Seit  einem  halben  Jahre  nahmen  die  Magen- 
beschwerden erheblich  zu.  Auffallende  Abmagerung  und  fahle  Gesichtsfarbe. 
Appetit  meist  schlecht.  Niemals  Erbrechen.  Viel  Schmerzen  in  der  Magen- 
gegend. (Jebolkeit  und  Wasserfluss  im  Munde.  Stuhl  meist  angehalten.  Seit 
einem  Jahre  zeitweise  Anschwellung  beider  Beine,  auch  der  linken  Hand. 

5.  2.  95.   Sehr  cachektisches  Aussehen.    Starke  allgemeine  Abmagerung. 


456 


Dr.  Sohachardt, 


Beine  ödematös  gesell  wollon.  Bauch  schlaff.  Id  der  Kegio  epi-  und  bypo- 
gaslrica  sin.  ein  grosser  beweglicher  Tumor  fühlbar.  Der  aasgeheberte  Magen* 
saft  enthält  keine  freie  Salzsäure.  Körpergewicht  118  Pfund.  Urin  eiweissfrei. 
Bei  der  am  8.  2.  95.  ausgeführten  Operation  ergab  sich  die  Notb wendigkeit, 
fast  den  ganzen  Magen,  sowie  einen  Theil  des  Duodenum  und  Theile  des 
krebsig  infiltrirlen  grossen  und  kleinen  Netzes  zu  entfernen.  Von  der  Cardia 
blieb  etwa  noch  ein  Zwickei  von  2—3  IJuerlingeru  bis  zum  Oesophagus  übrig, 
der  übrigens  ohne  besondere  Mühe,  wenn  es  erforderlich  gewesen  wSie,  auch 

Fig.  A. 


noch  hätte  entfernt  werden  können.  Auch  die  Vereinigung  der  beiden  so  weit 
auseinanderliegcndon  Schnittflächen  des  Duodenum  und  der  Cardia  bot  in 
Folge  der  ausserordentlichen  Lockerheit  der  Magen  befest  igung  gar  keine  be- 
sonderen Schwierigkeiten  und  war  um  so  leichter,  als  die  beiden  Querschnitte 
der  Cardia  und  des  Oesophagus  sich  einander  fast  rollsländig  entsprachen 
und  nur  ein  ganz  kleiner  Zwickel  gebildet  zu  werden  brauchte. 

Aus  dem  Präparate  (Fig.  A)  ist  ersichtlich,  welch'  grosser  Umfang  der 
ßesection  hier  gegeben  wurde.   Der  Magen  ist  im  Ganzen  von  noimalei  Grösse, 


Uober  Begeneration  des  Magens  n&ch  totaler  [UseoUoD. 


457 


die  vordere  Hagsn wand  lismlioh  iolaot,  abgesehen  von  miliaren  Krebs- 
Itnotsn  auf  der  Serosa  in  der  Pars  pylorioa.  Die  Geschwulst  geht  im  Wesenl- 
lieben  von  der  hinteren  Uagenwand  aus  und  bildet  hier  einen  nur  unbedeutend 
uloerirten  knolligen,  weit  über  raustgrossen,  länglich  runden,  breitbasrg  ent- 
springenden Tumor,  der  von  der  Cardia  bis  über  die  Pylorusgegend  sich  er- 
streckt. Das  grosse  und  kleine  Netz  sind  stark  geschrumpft  und  krebsig  in- 
filtrirl.  Auch  das  parietale  Bauchfell  zeigt  mehrfach  kleine,  offenbar 
krebsige  Knötchenbildungen    von    dem  Aussehen    der  Knökhcn  auf  der 


Magenserosa.     Mikroskopisch  /eigio  die  (ieschwnist    das  Bild    einer  Adeno- 
carcinoma  cylindro-cellulare. 

Aehnlich  wie  die  Operation  verlief  auch  die  Heconvalescen^  dos 
Kranken  ungewöhnlich  glatt.  In  der  Bauchwunde  bildete  sich  eine  kleine 
Fistel,  die  sich  bald  wieder  schloss.  Am  23.  3.  konnte  der  Kranke  mit  einem 
Körpergewicht  von  IIT  Pfund  entlassen  werden,  bei  ausgezeichnetem  Wohl- 
befinden. Die  Oedeme  der  Beine  sind  grössteniheils  verschwunden.  Patient 
ist  völlig  schmerzfrei  und  hat  eine  frischere  Gesichtsfarbe  bekommen. 


458    Dr.  Schuchardt,  (Jeher Regeneration  desMagens  nach  totaler Resection. 

In  der  nun  folgenden  Zeit  hielt  sich  der  Kranke  auf  einem'  Gewicht  von 
122  Pfund  und  fühlte  sich  so  wohl  und  leistungsfähig,  dass  er  seinen  schweren 
Beruf  als  wachthabender  Steuerbeamter  mit  einem  Tages-  und  Nachtdienste 
von  8  Stunden  wieder  volle  2  Jahre  versehen  konnte.  Nur  ab  und  zu 
wurde  er  durch  sein  altes  rheumatisches  Leiden  gequält  und  musste  deshalb 
vorübergehend  den  Dienst  auf  kurze  Zeit  aussetzen.  Was  seine  Magen - 
functionen  in  dieser  Zeit  anbetraf,  so  konnte  er  in  der  ersten  Zeit  nach  der 
Operation  nur  sehr  kleine  Mengen  Speise  auf  einmal  zu  sich  nehmen,  allmälig 
vergrösserte  sich  aber  die  Capacität  seines  Magens,  so  dass  er  schon 
nach  einem  Jahre  an  allen  Mahlzeiten  in  seiner  Familie  wie  ein  Gesunder 
theilnahm.  Eine  Prüfung  des  ausgeheberten  Mageninhaltes  am  9.  4.  95  ergab 
keine  freie  Salzsäure,  aber  viel  Milchsäure.  Zu  weiteren  Prüfungen  war  der 
Kranke  leider  nicht  zu  bewegen,  da  ihm  das  Aushebern  zu  grosse  Unbequem- 
lichkeiten verursachte. 

Im  Sommer  1897  fing  der  bis  dahin  ganz  rüstige  Kranke  unter  Lungen- 
erschein hngen  an  zu  kränkeln,  während  sein  Magen  bis  zu  seinem  Tode 
vollkoipmen  normal  functionirte.  Es  bildete  sich  ein  pleuritisches  Ex- 
sudat, welches  von  dem  behandelnden  Arzte  punctirt  wurde,  sich  aber  bald 
wieder  einstellte  und  Ende  October  den  Tod  herbeiführte. 

Die  im  Hause  des  Kranken  von  einem  meiner  Assistenzärzte  vorge- 
nommene Section  ergab  auffallender  Weise  im  Bauchfell  nichts  von  den  Krebs- 
knötchen,  die  wir  bei  der  Operation  wahrgenommen  hatten,  so  dass  man  eine 
spontane  Rückbildung  derselben  nicht  von  der  Hand  weisen  kann.  Auch 
von  Ascites  war  keine  Spur  vorhanden.  In  den  Longen  fanden  sich  eine 
spärliche  Anzahl  hanfkornftrosser  weisslicher  Knötchen,  die  sich  bei  mikro- 
skopischer Untersuchung  als  krebsig  erwiesen.  Eine  deutliche  Carcinose 
der  Pleura  lag  nicht  vor,  ebenso  wenig  wie  Metastasen  in  anderen  Organen. 
Das  Skelet  hatte  nicht  untersucht  werden  können.  Das  Hauptinteresse  con- 
ccntrirte  sich  natürlich  auf  den  neugebildetcn  Magen,  dessen  Präparat  ich 
Ihnen  vorlege  (Fig.  B).  Die  Grösse  des  neu  gebildeten  Blindsackes  erreicht 
fast  diejenige  des  exstirpirten  Organs ;  seine  Capacität  betrug  500  g. 
An  seiner  unteren  Seite,  der  grossen  Curvatur  entsprechend,  setzt  sich  ein 
sehr  stark  verdünnter  und  auseinander  gezogener  Rest  des  grossen  Netzes  an, 
in  welchen  nur  3  stärkere  Gefässe  hineinziehen.  Der  duodenale  Abschnitt  des 
Magens  ist  frei  von  Netz.  Die  Magen  wand  selbst  ist  hochgradig  verdünnt  und 
beträgt  kaum  Yg  von  der  normalen  Stärke.  Die  Operationsnarbe  am  duodenalen 
Theile  kann  man  nur  mit  Mühe  erkennen,  doch  zeigt  sich  unzweifelhaft,  dass 
ein  ziemlich  beträchtlicher  Abschnitt  des  Duodenum  durch  all- 
mäligc  Ausdehnung  an  der  Bildung  des  neuen  Magenblindsackes  theilgenommen 
hat.  Dieser  Theil  hat  etwa  eine  Längenausdehnung  von  5—6  cm,  also  über 
Y3  des  ganzen  neugebildeten  Magens.  Von  einem  Recidiv  des  Krebses  am 
Magen  ist  nichts  zu  bemerken. 


XXII. 

Die  neueren  Magenoperationen  in  der 
C z  er ny 'sehen  Klinik  und  die   bisherigen 

Dauererfolge. ') 

Von 

t^tobsarzt  Dr.  Dteiidel. 

Coraraandiri  zur  Heidelberger  cklrurgischea  Klioik. 

(Mit  3  Figuren.) 


.  M.  H. !  2)  Die  folgende  Tabelle  zeigt  Ihnen  die  Gesammtzahl  der 
Magenoperationen  an  der  Czerny'snhen  Klinik  bis  Ende  des  Jahres 
1897,  ausgenommen  die  Gastrostomien.  Insgesammt  sind  es 
192  Operationen  mit  29  pOt.  Mortalität.  Die  Zahl  der  Opera- 
tionen hat  sich  mit  den  Jahren  so  gesteigert,  dass  auf  die  9  ersten 
Jahre  1881 — 89  ungefiihr  ebenso  viel  Operationen  fallen,  wie  auf 
die  folgenden  4  Jahre,  oder  wie  auf  eines  der  beiden  letzten  Jahre 
1896und97.  Sie  sehen  auf  derTabelle  unten  dieMortalität  der  einzelnen 
Operationen,  welche  nach  der  Zahl  der  in  den  ersten  30  Tagen 
nach  der  Operationen  Gestorbenen  Iberechnet  ist.  Der  Zeit  nach 
ist  die  Mortalität  von  anfänglich  45  pCt.  auf  16  pCt.  im  Jahre 
1897  gefallen,  in  den  Jahren  1895  und  96  ist  die  Mortalität  wegen 
zahlreicher  Pneumonien  eine  höhere.  Die  Anzahl  der  Operationen 
hat  bei  der  Gastroenterostomie  bei  weitem  am  meisten  zugenommen. 
Die  Zahl  der  Pylorectomien  ist  relativ  kleiner  geworden,  weil  die 


*)  Vorgetragen  am  2.  Sitzungstage  des  XXVII.  Congresses  der  Deutschen 
Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  14.  April  1898. 

2)  Eine  ausführliche  Mittheiluug  wird  in  Bruus,  Beitrüge  zur  klinischen 
Chirurgie,  erscheinen. 


460 


Dr.  Steudei, 


Magenoperationen  an  der  Czeniy^s«heii  Klinik. 

(Ausgenommen  Gastrostomie.) 


Jahre 

B 
S 

o 

o 

Gastroentero- 
stomie 

Pyloro- 
plastik 

Probe- 
laparotomie 

Andere 
Magen- 
operationen 

B 

B 

s 

■4« 

1 

o 

1881-89 

13  (5) 

14(9) 

11  (2) 

4(2) 

42  (19) 

45  pCt 

1890—93 

7  (3) 

17  (2) 

3 

5(1) 

2 

34(6) 

18    . 

1894—95 

2 

23  (8) 

7  (l) 

8  (2) 

4(1) 

44  (12) 

27    , 

1896 

4(2) 

28  (10) 

l 

2 

35  (12) 

34    , 

1897 

3  (1) 

28  (4) 

— 

4  (1) 

2 

37  (6) 

16    » 

1881     97 

29(11) 

HO  (33) 

11  (1)      30  (6) 

12  (3) 

192  (55) 

29    , 

Mortalität 

38  pCt. 

30  pCt. 

9pCt. 

20  pCt. 

25  pCt. 

29  pCt. 



gutartigen  Stenosen,  welche  im  Anfang  der  Pylorectomie  verfallen 
waren,  an  die  Gastroenterostomie  übergegangen  sind.  Die  Pyloro- 
plastik  wurde  seit  Anfang  1896  nicht  mehr  ausgeführt  und  auch 
die  Zahl  der  Probelaparotomien  hat  abgenommen,  weil  besonders 
durch  die  Einführung  des  Murphyknopfes  an  der  Heidelberger  Klinik 
die  Indicationen  für  Gastroenterostomie  wesentlich  erweitert  werden 
konnten. 

Die  letzte  zusammenfassende  Hittheilung  aus  der  Heidelberger 
Klinik  ist  im  Frühjahr  1895  erfolgt,  etwa  die  Hälfte  aller  in  obiger 
Tabelle  aufgeführten  Fälle  ist  noch  nicht  veröffentlicht.  Auf  diesen 
letzten  Zeitraum  fallen  8  Pylorectomicn  mit  3  Todesfällen.  4  mal 
mit  1  Todesfall  wurde  typisch  nach  Kocher  operirt  und  4mal 
wurde  die  Pylorectomie  verbunden  mit  einer  Gastroenterostomie  mit 
Murphyknopf,  davon  3mal  mit  einer  hinteren,  Imal  mit  vorderer 
Gastroenterostomie.  Ein  einheitliches  Verfahren  hat  sich  an  der 
Czcrny^ sehen  Klinik  noch  nicht  ausgebildet,  technisch  am  leich- 
testen und  raschesten  ausführbar  erscheint  die  Gastroenterostomie 
mit  nachfolgender  Pylorectomie  und  Vernähung  der  resecirten  Enden. 
Das  Kocher'sche  Verfahren  ist  deshalb  schwieriger,  weil  man 
öfters  die  Einpflamsung  des  Duodenums  in  der  Tiefe  der  Bauch- 
höhle vornehmen  miiss,   jedoch  stellt  es  der  Norm  mehr  entspre^ 


Die  neueren  Magen  Operationen  in  der  Czerny 'sehen  Klinik  etc.     461 

chende  anatomische  Verhältnisse  her  und  deshalb  scheint  die  Re- 
convalescenz  glatter  und  leichter  zu  sein. 

Geheimrath  Czerny  versuchte  in  den  letzten  Jahren  bei  Kran« 
ken,  deren  Pyloruscarcinom  technisch  noch  exstirpabel  war,  deren 
Allgemeinbefinden  aber  eine  Contraindication  gegen  die  Pylorectomic 
bildete,  zweizeitig  zu  operiren,  zuerst  die  Gastroenterostomie  zu 
machen  und  einige  Wochen  später  die  Pylorectomie.  3  solche 
Fälle  haben  zu  einem  negativen  Resultate  geführt.  Die  Schwierig- 
keit liegt  haupsächlich  darin,  dass  die  Kranken,  wenn  sie  sich  von 
der  ersten  Operation  erholt  haben  und  geheilt  glauben,  sich  nicht 
oder  erst  zu  spät  zu  einer  zweiten  Operation  entschliesson  können. 
Da  auch  von  anderer  Seite,  so  von  Kümmel,  ähnliche  Erfahrungen 
gemacht  wurden,  durfte  dieses  Verfahren  für  die  Zukunft  nicht  viel 
Aussicht  bieten. 

Bezüglich  der  Dauerresultate  der  Pylorectomie  führe  ich  an, 
dass  der  älteste  Carcinomfall  7  Jahre,  der  nächste  372  Jahre  nach 
der  Operation  noch  am  Leben  ist,  ein  Fall  von  Pylorectomie  wegen 
gutartiger  Stenose  lebt  15  Jahre  nach  der  Operation  und  ein  Fall 
von  keilförmiger  Excision  eines  Sarcoms  ist  nahezu  8  Jahre 
geheilt. 

Von  den  1 1  Pyloroplastiken  müssen  zur  Beurtheilung  des  End- 
resultates der  Todesfall  und  1  Fall,  der  sich  später  als  Carcinom 
entpuppte,  ausscheiden.  Von  den  übrigen  9  Fällen  sind  nur  die- 
jenigen zwei  als  gut  zu  bezeichnen,  bei  welchen  zugleich  das  Grund- 
leiden in  Angriff  genommen  werden  konnte,  das  eineraal  Gallen- 
steine, welche  das  Duodenum  stenosirten,  das  anderemal  eine  Ad- 
häsion mit  der  Leber,  welche  eine  Knickung  des  Magens  bewirkte. 
Weitere  2  Kranke  erfreuen  sich  bei  Diät  und  vorsichtiger  Lebens- 
weise einer  leidlichen  Gesundheit.  Eine  Frau  ist  gelegentlich  ihres 
Magenleidens  in  Morphinismus  verfallen,  ein  Mann  mussle  wegen 
Recidiv  2  Jahre  nach  der  Pyloroplastik  gastroenterostomirt  werden 
und  ein  anderer  hat  sich  wegen  seines  wieder  unerträglichen  Zu- 
standes  in  den  letzten  Tagen  dazu  bereit  erklärt.  Die  letzten 
2  Fälle  sind  gestorben,  einer  7  Monate  nach  der  Operation  an  Per- 
foration eines  duodenalen  Ulcus  und  der  andere  20  Monate  nach 
der  Operation,  nachdem  schon  3  Monate  nachher  sein  Leiden  wieder 
aufgetreten  war.    Angesichts  dieser  schlechten  Dauerresultate  wurde 


1 


462  Dr.  Steudol, 

in  der  Czerny' sehen  Klinik  seit  Anfang  1896  keine  Pyloro- 
plastik  mehr  ausgeführt,  an  ihre  Stelle  ist  die  Gastroenterostomie 
getreten. 

Bei  der  Ga,stroenterostomie  hat  sich  in  der  Heidelberger  Klinik 
der  Murphyknopf  immer  mehr  bewährt,  so  dass  seit  Juni  96  die 
Naht  überhaupt  nicht  mehr  zur  Anwendung  kam.  53  Gastroente- 
rostomien mit  Murphyknopf  ergaben  eine  Mortalität  von  24,5  pCt., 
57  mit  Naht  eine  solche  von  36,8  pCt.  Bei  den  25  Gastroentero- 
stomien des  letzten  Jahres  ist  die  Sterblichkeit  auf  14  pGt.  ge- 
sunken. Die  Hauptvortheilo  sind  die  Abkürzung  der  Operation  auf 
etwa  20  Minuten  und  die  feste  Vereinigung,  welche  eine  Ernährung 
durch  den  Magen  schon  in  den  ersten  Tagen  gestattet.  Todesfälle 
oder  nennenswerthe  Störungen  in  Folge  des  Knopfes  wurden  nie 
beobachtet;  einmal  wurde  der  Murphyknopf  bei  der  Sectiön  im 
rückführonden  Schenkel  des  Jejunum  gefunden,  ohne  dass  er  im 
Leben  Erscheinungen  gemacht  hätte,  im  Magen  fand  er  sich  nie. 
In  der  grösseren  Hälfte  der  Fälle  wurde  der  Abgang  des  Knopfes 
auf  natürlichem  Wege  festgestellt.  Regurgitation  wurde  sehr  selten 
beobachtet,  unter  den  letzten  65  Gastroenterostomien  findet  sich 
nur  ein  reiner  Fall,  bei  dem  mit  Glück  die  Enteroanastomose  ge- 
macht wurde,  ein  anderer  ist  zu  Grunde  gegangen,  bei  dem  es 
zweifelhaft  ist,  ob  Blutung  aus  dem  Carcinom,  oder  Regurgitation 
mit  Kotherbrecheu  die  Todesursache  war.  Der  erstere  Fall  ist 
nachWölfler  operirt,  während  sonst  immer,  wenn  es  die  Verhält- 
nisse erlaubten,  die  von  Hacker' sehe  Gastroenterostomie  vorge- 
zogen wunlc.  Vielleicht  ist  das  seltene  Vorkommen  von  Regurgi- 
tation ausser  dieser  Operationsmethode  dem  Murphyknopf  zu  ver- 
danken, welcher  wenigstens  in  den  ersten  Tagen  die  Spornbildung 
unm(')glich  macht. 

Bei  frischem  Tlcus  ventriculi  wurde  2  mal  die  Gastroentero- 
stomie gemacht,  einmal  wegen  sich  häufender  Magenblutungon  und 
einmal  wegen  unstillbaren  Erbrechens;  in  dem  letzteren  Falle  wurde 
zugleich  (Mne  Leberadhäsion  gelöst  und  das  sehr  grosse  Ulcus  zum 
Theil  excidirt.  Beide  Fälle  zeigten  eine  auffallend  rasche  Heilung 
und  vollständige  Herstellung  der  Arbeitsfähigkeit.  In  einem  an- 
deren Falle  von  Maiienblutuniren  wurde  Gastroenterostomie  und 
später,  um  das  vermuthete  Ulcus  zu  suchen,  noch  eine  Gastrotomie 


Die  neueren  Magenoperationen  in  der  Czerny^schen  Klinik  otc.     463 

ausgeführt;  nach  jeder  Operation  sistirte  das  Blutbrechen  etwa 
einen  Monat.  Nach  dem  Verlaufe  der  Krankheit  könnte  es  sich 
um  parenchymatöse  Magenblutungen  gehandelt  haben;  vielleicht 
wird  man  in  Zukunft  solche  Fälle  noch  häufiger  finden. 

Auffallend  ist  die  lange  Lebensdauer  einzelner  Fälle,  bei  denen 
sich  die  klinische  Diagnose  „Carcinom"  bei  der  Operation  anschei- 
nend bestätigt  hat.  4  solche  Kranke,  bei  welchen  der  Tumor 
wegen  Verwachsung  mit  dem  Pankreas,  oder  wegen  Drüstcnmeta- 
stasen  inoperabel  schien,  leben  noch  jetzt  in  bester  Gesundheit 
2'/2,  4,  5  und  ö'/a  Jahre  nach  der  Operation.  Da  auch  sonst 
solche  Fälle  in  der  Literatur  beschrieben  sind  und  einer  davon 
von  Ahlsfeld  nach  S'/s  Jahren  durch  die  Autopsie  Bestätigung 
fand,  wird  man  kaum  mehr  daran  zweifeln  können,  da,ss  einzelne 
Fälle  von  Carcinom,  ähnlich  wie  die  Peritonealtuberculose,  nach 
Laparotomie  im  Wachsthum  stillstehen,  oder  sogar  regressive  Ver- 
änderungen erleiden.  Es  ist  dies  ein  Punkt,  der  unser  volles  Inter- 
esse verdient;  seine  Erforschung  könnte  vielleicht  dadurch  gefördert 
werden,  dass  bei  Probelaparotomien  oder  Gastroenterostomien  ein 
Stückchen  des  Tumors,  oder  eine  Metastase  zur  mikroskopischen 
Untersuchung  excidirt  wird.  Die  durchschnittliche  Lebendauer  der 
Carcinomkranken  nach  überstandencr  Gastroenterostomie  beträgt 
8,  oder  bei  Mitrechnung  obiger  Fälle  13  Monate. 

Das  Endresultat  der  Gastroenterostomie  bei  gutartigen  Stenosen 
ist  bei  der  überwiegenden  Mehrheit:  vollständige  Befreiung  von  den 
Beschwerden  und  Wiederherstellung  der  Arbcitsfiihigkeit.  Doch 
haben  bei  2  Fällen  nach  3jähriger  Gesundheit  wieder  Magen- 
beschwerden begonnen.  Bei  der  Nachuntersuchung  der  gut  ge- 
heilten Fälle  fand  sich  durchweg  rasche  Entleerung  nach  der  Malil- 
zeit  und  Herabsetzung  der  Salzsäuremenge  und  der  Gesammt- 
acidität.  Bei  der  Ausspülung  wurde  häufig  Galle  mit  ausgehebert. 
Die  Magendilatation  war  in  der  Regel  nicht  ganz  zurückgegangen. 
Die  raschere  Entleerung  des  Magens  und  die  Herabsetzung  der 
Acidität  geben  für  die  Heilung  des  Ulcus  ventriculi  sehr  günstige 
Bedingungen,  so  dass  die  Gastroenterostomie  bessere  Dauererfolge 
zu  geben  scheint,  als  die  Excision  des  Ulcus. 

Schliesslich  möchte  ich  noch  1  Fall  von  Entero|)lastik  und 
2    Fälle    von    Gastroenteroplastik    anführen,    welche    Geheimrath 


464  Dr.  Steudel,  Die  neueren  Magenoperationenind.Czcrny 'sehen  Klinik  etc. 

Czerny  in  letzter  Zeit  ausgeführt  hat,  um  eine  Spornbildung  zu 
heilen,  beziehungsweise  die  Magenöffnung  des  abführenden  Jejunum-* 
schenkeis  zu  erweitern.  Sie  sehen  an  der  Abbildung  rechts  den 
Längsschnitt   an    der  Darmwand   für   die  Enteroplastik ,    er  wird 


Gastroenteroplastik 
nach  Czerny. 


Enteroplastik  nach  Czerny. 


analog  der  Pyroplastik  quer  vereinigt.  Die  Gastroenteroplastik 
wurde  an  demselben  Kranken  später  ausgeführt,  da  die  erste  Opera* 
tion  keinen  Erfolg  hatte  und  noch  bei  einem  anderen,  bei  welchem 
offenbar  der  andrängende  Rand  des  Mesocolonschlitzcs  zur  Vor* 
engerung  der  abführenden  Schlinge  Veranlassung  gegeben  hatte. 
Soweit  die  Kürze  der  Zeit  dies  bcurtheilen  lässt,  ist  das  Resultat 
in  beiden  Fällen  gut. 


XXIII. 

Eine  neue  Methode  der  Pylorus-  und  Darm 

ßesection/) 


Von 

Dr.  Doyen 

in  Paris. 


M.  H.,  ich  möchte  mir  erlauben,  Ihnen  meine  neue  Methode 
der  Darm-Resection,  der  Pylorus-Resection  und  der  Gastroentero- 
stomie hier  kurz  zu  schildern.  Dieselbe  hat  vor  den  bisherigen 
Methoden  einen  doppelten  Vorzug: 

1)  Vollkommenste  Asepsis  des  Operationsfeldes  ohne  die  ge- 
ringste Gefahr  der  Infection  durch  Darminhalt, 

2)  Bedeutende  Abkürzung  der  Operationsdauer. 

Das  Verfahren  selbst  gestaltet  sich  folgendermassen: 

I.   Pylorectomle. 

Die  typische  Pylorusresection  führe  ich  seit  1892  nicht  mehr 
aus,  sondern  ziehe  in  allen  Fällen,  in  denen  die  Pylorusresection 
indicirt  ist,  den  gesonderten  Verschluss  des  Duodenum  und  des 
Magens  mit  nachfolgender  Gastroenterostomie  vor.  —  Dieses  Ver- 
fahren, welches  Billroth  ausnahmsweise  nur  für  Fälle  von  weit 
vorgeschrittenem  Pylorus-Carcinom  angewandt  hat,  scheint  mir 
ausserordentlich  werthvoll  in  den  Fällen  von  begrenztem  Carcinom, 
weil  es  dessen  Exstirpation  in  denkbar  weitester  Ausdehnung  ge- 
stattet. 


1)  Vorgetragen  am  2.  Sitzungstage  des  XXVII.  Congresses  der  Deutschen 
Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  14.  ApriL  1898. 


466  Dr.  Doyen, 

Allerdings  hat  man  diesem  Verfahren  mit  Recht  den  Vorwurf 
einer  sehr  langdauernden  eingreifenden  Operation  gemacht. 

Diesen  Uebelstand  habe  ich  durch  meine  Modification  beseitigt 
und  jetzt  stellt  die  ganze  Pylorusresection  nur  eine  kleine  Erweite- 
rung der  Gastroenterostomie  dar. 

Mein  Verfahren  beruht  auf  der  Anwendung  meiner  Hebelpince, 
die  ich  in  Moscau  zuerst  demonstrirt  habe. 

Ursprünglich  construirt  zur  Compression  der  Gefässe  des  Liga- 
mentum latum,  hat  sie  sich  als  ein  ausgezeichnetes  Hilfsmittel  in 
der  gastro-intestinalen  Chirurgie  bewährt. 

Zunächst  wird  der  Tumor  mit  den  Fingern  stumpf  vom  Netz 
losgelöst  und,  wenn  nöthig,  Blutung  aus  kleinen  Arterien  gestillt, 
dann  lege  ich  meine  Hebelpince  in  möglichst  weiter  Entfernung 
von  den  Tumorgrenzen  am  Duodenum  an,  zerquetsche  die  Darm- 
wand langsam  und  vorsichtig,  ohne  sie  vollständig  zu  durchtrennen; 
die  Darmserosa  bleibt  dabei  intact.  In  die  durch  die  Pince  ent- 
standene Compressionsfurche  lege  ich  dann  um  das  ganze  Darm- 
rohr eine  starke  Seidenligatur.  —  Eine  gewöhnliche  Klemme  liegt 
auf  der  Seite  des  Tumors  etwa  15  mm  von  der  Ligatur  entfernt 
am  Pylorus.  Dann  wird  das  Duodenum  auf  einer  Compresse  völhg 
durchtrennt. 

Kleinere  Schleimhautreste  werden  mit  der  Scheere  abgetragen 
und  der  Stumpf  mit  dem  Paquelin  kauterisirt.  Eine  Tabaksbeutel- 
naht mit  Seide  überkleidet  die  Ligatur  und  verschliesst  gleichzeitig 
das  Duodenum.  Zur  besseren  Sicherheit  lege  ich  über  dieser  ersten 
noch  eine  zweite  Tabaksbeutelnahl  an. 

Das  Magenende  ist  in  eine  sterilisirte  Compresse  gehüllt,  nach 
links  gelegt.  Jetzt  werden  2  starke  Klemmzangen  unmittelbar  hinter 
dem  Tumor  und  zwei  elastische  Magenklemmen  in  einer  Entfernung 
von  25 — 30  mm  an  die  intactc  Magenwand  angelegt.  Dann  wird 
mit  meiner  Hebelpince  die  Magenwand  zwischen  den  Pincen  von 
oben  und  von  unten  her  zerquetscht,  indem  man  darauf  Bedacht 
nimmt,  bei  sehr  stark  hypertrophischer  Muscularis  die  Pince  nicht 
vollständig  zu  schliessen,  um  nicht  die  an  der  Muscularis  adhärente 
Serosa  zu  zerreissen.  Ein  starker  Seidenfaden  wird  als  Massen- 
ligatur in  die  entstandene  Druckfurche  gelegt  und  allmählich  zu- 
sammengezogen, indem  gleichzeitig  die  4  angelegten  Klemmen  wieder 
abgenommen  werden,  um  einen  sicheren  Schluss  der  Ligaturen  zu 


Eine  neue  Methode  der  Pylorus-  und  Darm-Resection.  467 

ermöglichen.  Eine  solche  Ligatur  ist  selbst  möglich  bei  einer  Breite 
des  Magens  von  12 — 15  cm.  Dann  werden  wieder  2  starke  Klemra- 
zangen  neben  dem  Tumor  angelegt  um  Austritt  von  Mageninhalt  zu 
vermeiden,  und  der  Magen  10  mm  von  der  Ligatur  entfenit  durch- 
schnitten. Der  Stumpf  wird  kauterisirt  und  der  Magen  durch 
2  Serosa-Tabaksbeutelnähte  geschlossen. 

Die  Blutstillung  der  Coronargefässe  ist  gesichert  durch  die 
Massenligatur. 

Nunmehr  bleibt  nur  noch  eine  hintere  Gastroenterostomie  übrig, 
die  absolut  aseptisch  ausgeführt  werden  kann,  Dank  meiner  ela- 
stischen Pincen. 

Die  Gastroenterostomie  gestaltet  sich  folgendermaasscn: 

1.  Hintere  Nähte  erste  Etage. 

2.  Hintere  Nähte  zweite  Etage. 

3.  Anlegen  der  Pincen  an  Magen  und  Darm. 

4.  Incision  des  Magens  und   des  Darmes,  entweder  nach 
Zerquetschung  oder  mit  Thermokauter. 

5.  Ringnaht  um  die  Magendarmöffnung. 

6.  Anlegen  der  vorderen  Naht. 

Der  obere  Schlitz  im  Mesocolon  wird  an  die  Magenwand  genäht 
und  dann  mache  ich  noch  eine  Enteroanastomose  für  den  directen 
Abfluss  der  Galle. 

Die  ganze  Operation:  Isolation  und  Resection  des  Pylorus, 
Verschluss  des  Duodenum  und  des  Magens,  Gastroenterostomie  und 
Enteroanastomose  dauert  55  Minuten  bis  IV4  Stunde. 

Fällt  die  Enteroanastomose  fort,  so  wird  natürlich  die  Operations- 
dauer abgekürzt.  Die  eigentliche  Gastroenterostomie  dauert  12  bis 
15  Minuten. 

II.   Gastroenterostomie  ohne  Pylorus-Besection. 

Die  hintere  Y- förmige  Gastroenterostomie,  wobei  das  obere 
Ende  des  Jejunums  die  Verlängerung  des  Ductus  choledochus  bildet, 
ist  von  allen  Verfahren  dasjenige,  welches  in  Bezug  auf  Funktion 
des  neuen  Pylorus  die  besten  Resultate  ergiebt.  — 

Ich  hatte  indessen  Bedenken,  die  doppelte  Anastomose  nach 
Roux  auszuführen,  welche  mit  Rücksicht  auf  die  Infection  der  tiefen 
Nähte    dieselben    Gefahren   hat,    wie    die   typische    Pylorectomie. 

Diesem  üebelstand  hilft  nun  meine  Hebelpince  ab.  — 

ArcbiT  für  klin.  Chirurgie.    57.  Bd.   Kofi  2.  3| 


468  Dr.  Doyen, 

Ich  führe  25 — 30  cm  unterhalb  des  Lig.  Treitz  eine  hintere 
Gastroenterostomie  in  der  Längsrichtung  aus,  dann  lege  ich  zwischen 
den  zwei  Jejunalschlingcn  eine  Enteroanastomose  an,  sodass  keine 
nachträgliche  Verzerrung  stattfinden  kann. 

Dann  zerquetsche  ich  die  aufsteigende  Jejunalschlinge  zwischen 
den  beiden  Anastomosen  mit  meiner  Hebelpince,  lege  eine  Massen- 
ligatur an,  zerquetsche  nochmals  etwas  weiter  oben,  lege  eine  zweite 
Massenligatur  an,  und  durchtrenne  den  Darm  zwischen  den  beiden 
Seidenligaturen.  Mittelst  2  Seiden-Tabaksbeutelsnähten  werden  die 
beiden  Stümpfe  überkleidet. 

Dieses  Operationsverfahren  giebt  sehr  befriedigende  Resultate 
und  sichert  die  Heilung  auch  veralteter  Fälle  von  Magengeschwür 
und  Gastritis  mit  Hyperacidität. 

Ich  habe  im  ganzen  148  Laparotomieen  wegen  MagenaflFectionen 
gemacht,  davon  sind  32  Pat.  gestorben.  66  Fälle  betrafeli  Carci- 
nome,  wovon  einige  vollkommen  inoperabel  waren;  im  ganzen  sind 
von  den  Carcinomfällen  20  gestorben.  82  mal  habe  ich  wegen 
nicht  krebsiger  Erkrankung  operirt  (wegen  Ulcus,  schwerer  Dyspepsie 
und  gutartiger  Stenose)  und  habe  12  Kranke  verloren.  Von  den 
letzten  57  Operationen  habe  ich  nur  noch  5  Todesfälle  zu  ver- 
zeichnen. 

III.   Darm-Besectionen. 

Zunächst  gehe  ich  mit  dem  Finger  oberhalb  und  unterhalb  des 
Tumors  durch  das  Mesenterium;  dann  mri  der  Darm  an  beiden 
Stellen  zerquetscht  und  abgebunden.  Oberhalb  und  unterhalb  des 
Neoplasmas  verschliesse  ich  den  Darm  mit  einer  Pince  und  durch- 
trenne ihn  auf  beiden  Seiten  zwischen  Ligatur  und  Klemme.  Das 
Mesenterium  wird  ebenfalls,  wenn  nöthig,  in  der  Hebelpince  com- 
primirt  nnd  partieenweise  oder  en  masse  abgebunden.  Es  bleibt 
dann  noch  die  Vereinigung  der  beiden  Darmenden  übrig. 

Man   kann   diese  Vereinigung    nach  3  Methoden    vornehmen: 

1.  Seitliche  Anastomose  nach  Verschluss  der  beiden  Darmenden 
mit  Tabaksbeutelnaht. 

2.  Verschluss  des  abführenden  Endes  und  Implantation  des  zu- 
führenden Endes  nach  Art  des  Coecum. 

3.  Circulärnaht.  Dabei  vernähe  ich  von  hinten  anfangend  die 
beiden    verschlossenen    Darmenden    in    y^    der   Circumferenz    mit 


Eine  neue  Methode  der  Pylorus-  und  Darm-Resection.  469 

2  Nahtreihen,  einer  durchgreifenden  und  einer  sero-serösen.  Das 
Darmlumen  wird  hinter  den  Ligaturen  abgeklemmt;  die  Massen- 
Jigaturen  werden  herausgezogen  und  aufgeschnitten,  so'  dass  die 
freie  Comraunication  wiederhergestellt  ist.  Dann  wird  die  Naht 
beendigt.  —  Bei  der  Coecuranaht  habe  ich  nur  eine  Massenligatur 
aufzuschneiden,  den  unteren  Darmtheil  zu  incidiren  und  die  vordere 
Naht  zu  beendigen. 

IV.  Dasselbe  Verfahren  mittelst  Zerquetschung  und  Ligatur 
gestattet  auch  die  Exstirpation  und  Resection  des  Rectum  nach 
Kraskc  aseptisch  auszuführen. 

V.  Die  Resection  des  Processus  vermiformis  lässt  sich  nach 
derselben  Methode  ausführen.  Es  genügt  eine  starke  gewöhnliche 
Klemmzange  zur  Zerquetschung  der  Mucosa  des  Processus  vermi- 
formis. Dann  wird  eine  Massen-Ligatur*  um  den  Processus  vermi- 
formis gelegt,  derselbe  resecirt  und  kauterisirt  und  der  Stumpf 
mit  Tabaksbeutelnaht  überkleidet. 

VL  Der  Ductus  cysticus  wird  vortheilhaft  ebenfalls  nach  dieser 
Methode  behandelt,  wenn  man  die  Exstirpation  der  Gallenblase 
gemacht  hat. 

Selbst  der  Oesophagus  könnte  auf  diese  Weise  resecirt  und 
die  Enden  wieder  vereinigt  werden,  wenn  die  Strictur  keine  ausge- 
dehnte ist. 


81 


XXIV. 

Beitrag  zur  Anwendung  des  Murphy 

Knopfes/) 

Von 

llr«  ülorp 

in  Königsberg. 


M.  H.!  Die  Vortheile  und  Nachtheile  bei  der  Anwendung 
des  Murphy-Knopfes  zum  Zwecke  der  Dann-Vereinigung  sind  be- 
reits mehrmals  Gegenstand  der  Erörterung  au  dieser  Stelle  ge- 
wesen. Ich  erinnere  nur  an  die  ausführlichen  Mittheilungen, 
welche  Herr  Geh.-Rath  Czerny  und  Herr  Küramell  über  diesen 
Gegenstand  hier  vor  2  Jahren  gemacht  haben. 

Im  Allgemeinen  sind  die  Erfahrungen  bezüglich  der  An- 
wendung des  Murphy-Knopfes  wohl  günstiger  Natur,  wie  dies  ja 
auch  heute  noch  durch  die  Mittheilungen  von  Herrn  Geh.-Rath 
Mikulicz  und  Herrn  Steudel  auPs  Neue  bestätigt  worden  ist, 
wenngleich  es  andererseits  nicht  geleugnet  werden  kann,  dass 
das  Einbringen  eines  nicht  resorhirbaren  metallischen  Fremdkörpers 
von  dieser  Grösse  und  S(ihwere  in  den  Danntractus  immerhin  eine 
Reihe  von  Gefahren  bedingt,  welche  vor  allen  Dingen  in  der  aus 
verschiedenen  Gründen  verhinderten  oder  erschwerten,  späteren 
Passage  des  Knopfes  durch  den  Darmtractus  gegeben  sind.  Dies 
ist  ja  auch  der  Grund  für  die  in  der  letzten  Zeit  mehrfach  zu 
Tage  getretenen  Versuche,  einen  zweckmässigen,  resorhirbaren  Er- 
satz für  den  Murphy-Knopf  zu  finden. 

Im  Nachfolgenden  möchte  ich  mir  erlauben,  Ihnen  über  einen 
Fall  zu  berichten,  welcher,  wie  ich  glaube,  für  die  Anwendung  des 
Murphy-Knopfes  eine  gewisse  principielle  Bedeutung  hat. 

*)  Abgekürzt  vorgetragen  am  2.  Sitzungstage  des  XXVII.  Congresses  der 
Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  14.  April  1898. 


Beitrag  zur  Anweodung  des  Murphy-Knopfes.  471 

Es  handelte  sich  um  einen  54jährigen  Mann,  welcher  seit  mehreren  Jahren 
vielfach  an  Magen-Darmbeschwerden,  besonders  an  hartnäckiger  Obstipation 
gelitten  hatte.  Im  letzten  halben  Jahre  soll  die  Obstipation  noch  erheblich  zu- 
genommen, gleichzeitig  des  Allgemeinbefinden  sich  verschlechtert  und  das 
Körpergewicht  abgenommen  haben.  Am  24.  XII.  97  erkrankte  er  nach  einer 
reichlichen  Mahlzeit  ganz  plötzlich  unter  heftigen,  nach  dem  Nabel  hin  aus- 
strahlenden Schmerzen  in  der  rechten  Seite.  Stuhl  und  Winde  waren  an- 
gehalten. Nach  reichlichen  Abführmitteln  und  wiederholt  applicirten  Olysmen 
kam  es  nach  mehrmaliger  Stuhlentleerung  zu  einer  vorübergehenden  Besserung. 
Als  ich  den  Fat.  vier  Tage  danach  zum  ersten  Mal  sah,  klagte  er  wieder  über 
anfallsweise  auftretende  Schmerzen  im  Leibe,  besonders  rechts  vom  Nabel. 

Die  Untersuchung  des  blassen,  schlecht  genährten  Mannes  ergab  eine  massige 
Auftreibung  des  Leibes  besonders  auf  der  rechten  Seite,  hier  fühlte  man  deutlich 
das  wurstförmig  geblähte  Colon  ascendens  in  seiner  ganzen  Ausdehnung  bis 
in  die  Gegend  der  Flexura  coli  hepatica.  Das  Colon  transversum  war  nicht 
palpabel,  dagegen  fiihlte  man  in  der  rechten  Unterbauchgegend  einzelne,  ge- 
blähte Dünndarm-Schlingen  besonders  dann  deutlich,  wenn  spontan  oder  in 
Folge  des  durch  die  Palpation  gesetzten  Reizes  vermehrte  Peristaltik  einsetzte. 

Es  wurde  danach  die  Diagnose  auf  Darmverengung  durch  einen  Darm- 
tumor wahrscheinlich  Carcinom  in  der  Gegend  der  Flexura  coli  hepatica  gestellt. 
Pat.  verweigerte  zunächst  die  vorgeschlagene  operative  Behandlung  und  ver- 
schaffte sich  durch  Drastica  und  Clysmen  mühsam  etwas  Stuhlentleerung  und 
subjective  Erleichterung. 

Erst  am  16.  I.  98,  als  seit  3  Tagen  aller  Medikationen  ungeachtet  weder 
Stuhl  noch  Winde  abgegangen  waren  und  demgemäss  Spannung  und  Auf- 
treibung des  Abdomen  erheblich  zugenommen  hatten  und  es  bereits  zu  Koth- 
brechen  gekommen  war,  entschloss  Pat.  sich  endlich  zur  Operation.  Dieselbe 
wurde  am  17.  I.  vorgenommen:  Nach  vorheriger  Magenausspülung  wurde  in 
Narcose  mit  B  i  11  roth' scher  Mischung  das  Abdomen  in  der  Linea  alba  durch 
einen  15  cm  langen  Schnitt  eröffnet.  Nachdem  die  stark  aufgetriebenen  Dünn- 
darmschlingen zur  Seite  geschoben,  zeigte  sich  das  Colon  transversum  im  oberen 
Wundwinkel  ganz  leer  und  koUabirt.  Die  längs  desselben  eingeführte  Hand 
gelangte  an  der  ünterfläche  der  Leber,  etwa  der  Gegend  der  Porta  hepatis  ent- 
sprechend, an  einen  Mannsfaustgrossen  harten,  höckerigen  Tumor:  derselbe 
umgriff  circulär  den  Anfangstheil  des  Colon  transversum  und  war  durch  eine 
breite  ca.  6  cm  lange  strangförmige  Adhäsion  rechts  neben  der  Wirbelsäule 
fixirt,  so  dass  er  sich  absolut  nicht  vorziehen  und  zu  Gesicht  bringen  liess. 
Da  keine  Metastasen  oder  ausgedehnte  Verwachsungen  mit  den  Nachbarorganen 
nachzuweisen  waren,  so  erschien  eine  Exstirpation  des  Tumor  noch  ausführbar, 
doch  war  bei  dem  elenden  Allgemeinzustande  zur  Zeit  an  eine  derartige  ein- 
greifende Operation  nicht  zu  denken  und  so  entschloss  ich  mich  daher  zunächst 
zur  Anlogung  einer  lateralen  Anastomose  zwischen  Colon  transversum  und 
unterem  Ileum  und  zwar  mit  Rücksicht  auf  die  wünschenswerthe  schnelle  Be- 
endigung der  Operation  mittelst  eines  Murphy-Knopfes.  Zu  diesem  Zweck 
wurde  die  unterste  lleum-Schlingo  vorgezogen  und  etwa  25  cm  von  der  Iloo- 


472  Dr.  Storp, 

coecal-Klappe  entfernt  ohne  Spannung  und  mit  gleich  gerichteter  Peristaltik 
durch  einen  Knopf  grössten  Kalibers  mit  dem  Colon  transversum  in  gewöhn- 
licher Weise  vereinigt  und  dann  noch  eine  fortlaufende  die  Serosa  in  weiterer 
Ausdehnung  fassende  Naht  angelegt.  Schluss  der  Bauchwände  durch  Etagen- 
Nähte.  Der  Erfolg  der  Operation  war  zunächst  ein  recht  günstiger.  Schon  am 
nächsten  Tage  erfolgten  mehrere  copiöse  Stuhlentleerungen  und  es  besserte 
sich  der  Allgemeinzustand  dann  relativ  rasch. 

Am  12.  Tage  nach  der  Operation  begann  der  Kranke  jedooh  wieder  über 
zeitweise  auftretende,  colikartige  Schmerzen  in  der  rechten  Unterbauchgegend 
der  Lage  des  Colon  ascendens  entsprechend  zu  klagen,  ohne  dass  im  üebrigen 
Appetit  und  Stuhl  irgend  welche  Störungen  zeigten.     Als  nach  3  Wochen  der 
Knopf  noch  nicht  abgegangen  war,  nahm  ich  eine  Durchleuchtung  mit  Röntgen- 
strahlen vor  und  constatirte  zu  meiner  grossen  Ueberraschung  den  Knopf  im 
Colon  ascendens  vor  der  Stenose  resp.  dem  Tumor  liegend.    Derselbe  war  also 
anstatt  dem  Kothstrom  folgend  in  den  Dickdarm  zu  fallen,  im  distalen  Ileum 
weiter  abwärts  geglitten,  hatte  dieValvulaBauhini  passirt  und  sass  jetzt  zwischen 
dieser  und  stenosirendem  Tumor  gefangen  im  Colon  ascendens.     Eine  Ent- 
leerung desselben  per  vias  naturales  war  damit  also  völlig  ausgeschlossen. 
Da,  wie  schon  erwähnt,  eine  radicale  Exstirpation  des  Tumor  noch  ausführbar 
erschien  und  der  Allgemeinzustand  sich  erheblich  gebessert  hatte,  so  wurde 
26  Tage  nach  der  ersten  Operation  ein  zweiter  Eingriff  vorgenommen:  Nach 
den  üblichen  Vorbereitungen  wurde  die  Bauchhöhle  durch  einen  18  cm  langen 
Schnitt  eröffnet,  welcher  vom  Aussenrande  des  rechten  M.  rectus  beginnend, 
2  Fingerbreit  unterhalb  des  Kippenbogen  diesem  parallel  schräg  nach  unten 
aussen  verlief.  Nachdem  die  Dünndärme  nach  Durchtrennung  mehrerer  lockerer 
Verwachsungen  mit  einer Mull-Compresse  nach  unten  geschoben  und  der  vordere 
Leberrand  in  die  Höhe  geklappt  war,  lag  in  der  Tiefe  rechts  neben  der  Wirbel- 
säule der  schon  beschriebene  Darmtumor  frei  durch  mehrfache  narbige  Stränge 
und  Adhäsionen  mit  der  hinteren  Bauchwand  beziehungsweise  Pancreas  und 
Duodenum  fixirt.    Nach  Durchtrennung  dieser  Adhäsionen  wurde  zunächst  das 
Colon  transversum  4  cm  vom  Tumor  entfernt  querdurchtrennt  und  das  ab- 
führende Ende  durch  Doppelreihige  Naht  blind  geschlossen.  Die  darauffolgende 
Exstirpation  des  Tumor  resp.  der  Flexura  coli  hepatica  gestaltete  sich  wegen 
der  noch  vorhandenen  narbigen  Stränge  und  Verwachsungen  recht  schwierig, 
gelang  indessen  doch  ohne  erheblichen  Blutverlust.     Da  es  sich  bei  der  Ope- 
ration zeigte,  dass  das  stark  geblähte  Colon  ascendens  auffallend  kurz  —  kaum 
15  cm  lang  incl.  Coecum  —  war,  so  entschloss  ich  mich,  um  keinen  Blindsack 
an  dieser  Stelle  zurückzulassen,  dasselbe  in  toto  nebst  einem  5  cm  langen  Stück 
des  einmündenden  Ileum  ebenfalls  zu  exstirpiren.    Zu  diesem  Zwecke  wurde 
ein  zweiter  10  cm  langer  Hautschnitt  vom  äusseren  Ende  des  ersten  rechtwinklig 
nach  unten  geführt.     Die  Exstirpation  gelang  relativ  leicht,   das  zuführende 
Ileum  wurde  ebenfalls  blind  geschlossen.     Schluss  der  Bauchwunde  durch 
Etagennähte,  bis  auf  den  unteren  Wundwinkel,  durch  welchen  ein  Jodofonn- 
gazetampon  eingeführt  wurde.     Der  exstirpirto  Tumor  erwies  sich  als  ein  Cy- 
iindcxzellen-Carcinom,  welches  den  Darm  circulär  in  6 — 9  cm  Länge  umgriff 


Beitrag  zur  Anwendung  des  Murphy -Knopfes.  473 

und  denselben  so  absolut  verschloss,  dass  sich  nicht  einmal  ein  Tropfen  Wasser 
selbst  unter  hohen  Druck  durchpressen  liess.  Der  Murphy-Knopf  lag  frei  be- 
weglich in  dem  im  übrigen  fast  leeren  Colon  ascendens.  Dasselbe  war  ebenso 
wie  das  Coecum  auffallend  kurz  und  stark  ausgedehnt,  die  Wandungen  desselben 
sehr  Terdickt,  besonders  die  Muskulatur  stark  hypertrophisch.  Die  Mucosa  war 
nicht  verändert  und  waren  speciell  irgend  welche  Ulcerationen  oder  sonstige 
durch  das  längere  Verweilen  des  Knopfes  bedingte  Veränderungen  derselben 
nicht  zu  constatiren. 

Der  Patient  hat  die  zweite  Operation  nicht  überstanden,  sondern  ist  am 
4.  Tage  unter  peritonitischen  Erscheinungen  zu  Grunde  gegangen. 

Die  Section  ergab  eine  diffuse  eitrige  Peritonitis.  Die  gebildete  Anasto- 
mose zeigte  eine  breite,  feste  Vereinigung  der  einander  anliegenden  Serosa- 
fläohen  ohne  sonstige  Adhäsionen  und  Pseudomembranen.  Die  geschaffene 
Communicationsöffnung  war  fast  für  3  Finger  durchgängig  und  zeigte  an  der 
Uebergangs-Stelle  vollkommen  glatte  Ränder,  über  welche  die  Mucosa  ohne 
sichtbare  Narbe  gleichmässig  hinzog.  Das  distalwärts  von  der  Vereinigungs- 
stelle noch  restirende  Stück  des  Ileum  war  11  cm  lang.  Die  Darmverschluss- 
nähte  sowohl  des  Ileum  als  des  Colon  transversum  waren  selbst  bei  hohem 
Druck  völlig  sufficient. 

Die  Gelegenheit,  resp.  Nothwencligkeit,  eine  Anastomose  zwischen 
Ileum  und  Colon  transversum  anlegen  zu  müssen,  ist  öfter  gegeben, 
sowohl  in  Folge  von  Dannverschluss  durch  l)ösartige  inoperabcle 
Tumoren,  für  welche  die  Flexura  coli  hepatica  eine  der  Praedi- 
lectionsstellen  ist,  als  auch  in  Folge  von  gutartigen  Stenosen  im 
Bereich  des  Colon  asc^endens  und  der  Flexura  hepatica,  bedingt 
durch  Ulcerationen,  Intussusceptionen  etc. 

Nun  ist  ja  im  vorstehend  beschriebenen  Falle  der  Exitus 
letalis  keineswegs  der  Anwendung  des  Murphy-Knopfes  zur  Last 
zu  legen.  Ks  ist  ^^elmehr  anzunehmen,  dass  ein  derartiges  ab- 
normes Verhalten  des  Knopfes  wohl  zu  den  Ausnahmen  zu  zählen 
ist,  und  es  muss  auch  zugegeben  werden,  dass  ein  derartig  ein- 
geschlossener Knopf,  so  lange  er  wenigstens  seine  glatte  Oberfläche 
behält  und  nicht  von  Niederschlägen  incrustirt  wird,  keine  erheb- 
lichen Beschwerden  und  Gefahren  bedingen  wird,  indessen  wird 
man  doch  andererseits  in  ähnlichen  Fällen  mit  der  Möglichkeit 
rechnen  müssen,  dass  der  Knopf  unter  Umständen  in  den  falschen 
Darmabschnitt  hineinfällt  —  bei  Gastroenteroanastomosen  ist  dies 
ja  schon  des  öfteren  beobac^htet  worden  —  und  dass  derselbe 
dann  dauernd  eingeschlossen  im  Laufe  der  Zeit  ev.  zu  Ulcerationen 
der  Darmwandung  mit  allen  ihren  Consequenzen  führen  kann. 


474        Dr.  Storp,  Beitrag  zur  Anwendung  des  Murphy -Knopfes. 

Ich  bin  weit  davon  entfernt,  die  Anwendung  des  Murphy- 
Knopfes,  dessen  Vorzüge  für  die  Darmvereinigung  ich  durchaus 
nicht  verkenne,  damit  discreditiren  zu  wollen,  aber  ich  glaube 
doch,  dass  es  in  ähnlichen  Fällen,  wie  dem  vorstehenden,  zweck- 
mässiger ist,  von  der  Anwendung  des  Knopfes  abzusehen  und  die 
einfache  laterale  Anastomose  durch  die  Naht  zu  machen  in  der 
Weise,  wie  es  zuerst  von  meinem  verehrten  früheren  Lehrer  Herrn 
Geh.-Rath  Braun  angegeben  und  vielfach  mit  bestem  Erfolg  aus- 
geführt worden  ist. 


XXV. 

Einiges  über  die  Anwendung  der  Darm- 

knöpfe/) 

Von 

Professor  Dr.  Anton  H^Slfler 

in  Prag. 

(Mit  einer  Figur.) 


M.  H.!  Die  Frage,  welche  Vereinigungsmethode  der  Darm- 
ränder die  beste  sei,  steht  durch  die  neuerdings  in  Anwendung 
gekommenen  Darmknöpfe  wieder  im  Vordergrund  des  Interesses 
und  harrt  mehr  denn  je  der  Entscheidung.  Eine  Lösung  dieser 
Frage  dürfte  bei  dem  heutigen  Standpunkte  überhaupt  noch  nicht 
gelingen,  doch  erscheint  es  mir  Pflicht  jedes  Einzelnen,  Beiträge 
zur  Lösung  derselben  zu  liefern,  und  deshalb  sei  es  auch  mir  ge- 
stattet, auf  Grund  der  Erfahrungen  über  40  Fälle,  in  welchen  an 
meiner  Klinik  von  mir  und  meinen  Assistenten  Darmknöpfe  an- 
gelegt wurden,  einige  Bemerkungen  zu  machen.  Man  kann  mir 
vielleicht  gleich  von  vornherein  einwenden,  dass  der  Nutzen  des 
Darmknopfes  durch  die  neuen  Arbeiten  von  Murphy,  Hahn  etc. 
bereits  sattsam  erwiesen  und  über  allem  Zweifel  erhaben  sei.  — 
Bezüglich  des  Nutzens  gebe  ich  dies  gerne  zu,  aber  nicht  bezüg- 
lich des  Schadens.  Die  Unfallstatistik  des  Murphy  knöpf  es  ist 
noch  nicht  in  gleicher  Weise  und  mit  gleicher  Gründlichkeit  durch- 
geführt wie  die  Statistik  der  Vortheile  desselben. 

Aber  selbst  für  den  Fall,  als  die  Statistik  den  grossen 
Nutzen  und  den  geringen  Schaden  des  Murphyknopfes  erwiesen 


*)  Vorgetragen  am  2.  Sitzungstage  des  XXVII.  Congresses  der  Deutschen 
Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  14.  April  1898. 


476  Dr.  A.  Wölfler, 

hätte,  so  ist  die  Methode  noch  nicht  so  gut,    dass    sie   nicht  ver- 
besserungsfähig erschiene. 

Wir  haben  ja  auch  zu  der  Zeit,  als  die  Darmnaht  allgemeine 
Verbreitung  fand,  uns  nicht  gescheut,  ihre  Nachtheile  zu  bekennen, 
und  solange  verbessert,  bis  sie  eine  brauchbare  Methode  geworden 
ist,  der  nur  der  eine  Fehler  anhängt,  dass  sie  verhältnissraässig 
langwierig  ist.  Haben  wir  daher  chronische  Fälle  vor  uns,  bei 
welchen  keine  Gefahr  im  Verzuge  ist,  dann  ist  nach  meiner 
Meinung  auch  heute  noch  die  Darmnaht  allen  anderen  Methoden 
vorzuziehen,  und  unter  den  verschiedenen  Arten  der  Darmvereini- 
gung ist  ohne  Zweifel  als  das  sicherste  Verfahren  dasjenige  zu 
bezeichnen,  welches  die  Darmenden  durch  seitliche  Anastomose 
(frora  side  to  side)  vereinigt.  Diese  Sicherheit,  welche  eine  breite 
Vereinigung  der  Darmoberfläche  gewährt,  ist  auch  der  Grund, 
warum  beim  Vergleich  der  Darmvereinigungsmethoden  die  seitliche 
Anastomose  nicht  herangezogen  werden  kann,  weil  dieses  Verfahren  an 
und  für  sich  eine  Gewähr  darbietet  und  sich  unabhängig  macht 
von  der  Art  der  technischen  Durchführung.  Dies  ist  auch  der 
Grund,  warum  wir  gerade  bei  der  Gastro-Enterostomie  mit  dem 
Murphyknopf  gute  Resultate  erzielen,  weil  hier  nur  der  Vortheil 
des  Knopfes  —  das  ist  die  rasche  Vollendung  der  Operation  — 
in  die  Erscheinung  tritt,  während  die  Nachtheile  weniger  schädlich 
wirken,  weil  der  Inhalt  flüssig  ist  und  es  als  kein  Unglück  an- 
geschen werden  kann,  wenn  der  Darmknopf  im  Magen  verweilt 
Ich  selbst  hatte  ebenfalls  keinen  Grund,  über  den  Murphyknopf 
bei  den  Gastro-Enterostomien  zu  klagen.  In  meiner  Klinik  wurden 
neun  Gastro-Enterostomieen  von  mir  und  meinen  Assistenten  aus- 
geführt. Davon  kamen  7  mit  dem  Leben  davon,  2  starben  ohne 
Zusammenhang  mit  der  Technik:  Der  Eine  an  Lungengangrän, 
der  Andere  nach  einer  Verblutung  aus  dem  Carcinomgeschwür. 
Aber  es  wäre  verfehlt,  daraus  den  Schluss  zu  ziehen,  dass  der 
Murphyknopf  im  Allgemeinen  eine  tadellose  Vereinigungsraethode 
darstellt,  denn  es  kann  mit  der  Verwendung  des  Murphyknopfes 
nur  verglichen  werden  die  circuläre  Darmnaht  bei  chronischen 
und  acuten  Fällen.  Da  ich  bei  den  chronischen  Darmstenosen 
die  Anwendung  des  Murphyknopfes  nicht  anerkenne,  so  wurde 
an  meiner  Klinik  die  Anwendung  desselben  nur  bei  den  acuten, 
an    und    für    sich    lebensgefährlichen  Fällen   von  Darmstenosen  in 


Einiges  über  die  Anwendung  der  Darmknöpfe.  477 

Rechnung  gezogen,  von  dem  Grundsatze  ausgehend,  dass  die  durch 
das  Leiden  bedingte  Lebensgefahr  noch  grösser  ist  als  die  Gefahr, 
welche  der  Knopf  bringen  kann. 

Nehmen  wir  unter  diesen  Fällen  der  Gleichartigkeit  der  Be- 
obachtungen wegen  die  Resection  des  Darmes  beim  eingeklemmten 
Bruch,  so  gebe  ich  Hahn  vollständig  recht,  wenn  er  sagt,  dass 
bei  keiner  Operation  die  Wohlthat  des  Murphy  knöpf  es  sich  so 
bewähre  als  gerade  bei  den  Darmresectionen  wegen  gangränöser 
Hernie  —  aber  nur  unter  der  Voraussetzung,  dass  man  Gelegenheit 
hat,  an  einem  vollständig  beweglichen  und  gesunden  Darmantheile 
den  Knopf  anzulegen.  Ist  dies  der  Fall,  dann  kann  man  in  einer 
ganzen  Reihe  von  Fällen  schöne  Heilungen  erzielen.  Unter  13 
solcher  Darmresectionen  wurde  fünfmal  ein  ausgezeichneter  und 
glatter  Verlauf  bei  Anwendung  des  Murphyknopfes  erzielt.  Die 
meisten  dieser  Operationen  führten  meine  Assistenten,  die  Herren 
Dr.  Schloffer  und  Dr.  Mannaberg  aus. 

Aber  man  täuscht  sich,  wenn  man  glaubt,  dass  die  mit  in- 
carcerirten  Hernien  einhergehenden  Pneumonien  durch  den  Knopf 
vermieden  werden  oder  dem  bereits  bestehenden  Collaps  vorgebeugt 
werden  kann.  Unter  13  Fällen  sind  uns  an  bereits  bestehenden 
Collaps  oder  Pneumonie  6  gestorben  und  in  2  Fällen  kam  es  beim 
Murphyknopf  zu  Darmfisteln.  Diese  beiden  Fälle  zeigten  in 
cclatanter  Weise  den  einen  Fohler  des  Murphyknopfes,  dass  er 
wochenlang  als  Fremdkörper  im  Darm  verweilen  kann  und  zwar 
nicht  schadlos.  In  einem  Falle  von  Darmresection  wegen  eines 
incarcerirten  Nabelbruches  vorweilte  der  Knopf  4  Wochen  lang 
in  der  vereinigten  Darmschlinge.  Dann  erzeugte  er  einen  Anus 
praeternaturalis,  der  später  durch  Anwendung  neuerlicher  Resection 
und  Anlegung  eines  Frank\schen  Darmknopfes  zur  Heilung  ge- 
bracht wurde.  Im  zweiten  Falle  entst^md  ebenfalls  nach  An- 
wendung des  Murphyknopfes  ein  Anus  praeternaturalis,  und  als 
später  nach  etwa  14  Tagen  zur  Anlegung  der  Naht  geschritten 
wurde,  da  lag  der  Knopf  etwa  10 — 12  cm  von  dem  Anus  entfernt 
im  Darme.  Dieser  war  also  nicht  im  Stande,  den  Fremdkörper 
aus  der  Fistel  zu  eliminiren.  Die  Ursache  lag  meines  Erachtens 
darin,  dass  in  beiden  Fällen  —  wie  ich  mich  bei  den  Operationen 
überzeugen  konnte  —  die  Därme  adhärent  waren.  Ein  solcher 
angewachsener  Darm  büsst  offenbar    an    peristaltischer  Kraft    ein. 


Sic  worden  sagen:  daran  ist  der  Darm  schuld  und  nicht  der 
Knopf.  —  M,  H,!  Das  ist  richtig.  Aber  wir  müssen  mit  dieser 
Thateachc  rechnen,  weil  sie  liäuflg  vorkommt.  Aber  unter  solchen 
Verhältnissen  sind  zweifellos  die  Bedingungen  ohne  Anwendung  des 


,g«nihrt. 


M urp h y k n  0 p  f c H  viel  günstif^er  als  bei  A nwendung  desselben, 
denn  die  Bedingungen  für  die  Heilung  werden  durch  den  Murphy- 
knopf  erschwert.  In  dncm  dritten  Falle  trat  durch  den  Murphy- 
kno])f  selbst  der  Tod  ein.  Bei  einer  narbigen  Darmstcnoso,  welche 
nai:h    Repusition     eines    eingeklemmten    Bruches    entstanden    war, 


Einiges  über  die  Anwendung  der  Darmknöpfe.  479 

wurde  die  Darmrescction  ausgeführt  und  ein  Murphyknopf  ein- 
gelegt. Die  Patientin  starb  nach  8  Tagen.  Bei  der  Section  fand 
man  das  zuführende  Ende  erweitert  und  eine  Perforationslücke 
an  der  Stelle  der  Darmvereiniguug.  Die  Ursache  hierfür  musste 
darin  gefunden  werden,  dass  das  Rohr  des  Murphy'knopfes  durch 
einen  Kirschkern  vollständig  obliterirt  war. 

Dass  hier  nicht  der  Kern,  sondern  der  Knopf  schuld  sei,  ist 
klar.  Denn  es  ist  wohl  als  ein  wesentlicher  Fehler  des  Murphy- 
knopfes  zu  verzeichnen,  dass  das  Rohr  desselben  viel  zu  eng  ist. 
Das  ist  ja  auch  der  Grund,  warum  wir  den  Murphyknopf  beim 
Dickdarm  nicht  verwenden  können,  weil  das  Rohr  nur  zu  leicht 
durch  den  festen  Koth  verstopft  wird.  Wollte  man  dagegen  ein- 
wenden, das  ja  ein  jeder  Murphyknopf  den-  Dickdarm  passiren 
müsse,  so  ist  dagegen  zu  sagen,  dass  an  der  Vereinigungsstelle 
der  Darminhalt  nicht  zwischen  Knopf  und  Darmwand  passiren 
kann,  was  an  den  normalen  Stellen  des  Darmes  leicht  möglich  ist. 
In  der  Einschränkung  einer  Operationsmethode  für  eine  bestimmte 
Reihe  von  Fällen  liegt  aber  schon  ein  schwerer  Nachtheil  eines 
Verfahrens.  Aus  Alldem  geht  hervor,  dass  die  Idee  der  Darm- 
vereinigung durch  den  Murphyknopf  ebenso  neu  als  vorzüglich 
ist,  dass  aber  das  Instrument,  mit  welchem  diese  Idee  verwirklicht 
wird,  Fehler  an  sich  trägt.  Der  Murphyknopf  ist  nämlich  der 
erste  Knopf,  welcher  gewissermaassen  selbst  die  Vereinigung  be- 
sorgt. Er  ist  ein  Darmschliesser,  während  die  übrigen  Knöpfe 
mehr  weniger  Prothesen  darstellen,  auf  welchen  von  uns  die  Ver- 
einigung vorgenommen  werden  muss. 

Schon  seit  Jahren  beschäftigten  sich  auf  meine  Anregung 
meine  Assistenten,  Dr.  von  Frey  und  Dr.  Schloffer  mit  der 
Anfertigung  von  resorbirbaren  Knöpfen.  Sie  wurden  aus  Elfenbein 
hergestellt  und  dann  entkalkt.  Aber  bezüglich  des  Mechanismus 
der  Darmvereinigung  ging  es  nicht  recht  vorwärts.  —  Da  kam 
Frank  und  demonstrirte  uns  seinen  resorbirbaren  Knopf.  Dieser 
erschien  beachtenswerth,  denn  er  brachte  gerade  die  2  Vortheilo 
mit  sich  auf  die  Welt,  welche  dem  Murphyknopf  abgehen.  Er 
ist  nur  kurze  Zeit  ein  Fremdkörper  und  hat  ein  grosses  Lumen. 
Deshalb  wurde  er  an  meiner  Klinik  am  Thier  und  beim  Menschen 
verwendet,  bei  Letzterem  in  9  Fällen  i),    und    zwar   bei   6  Darm- 

0  Hier  müssen  auch  die  Gastroenterostomien  herangezogen  werden. 


480  Dr.  A.  Wölfler, 

resectionen ;  3  davon  wurden  geheilt,  2  starben  an  Pneumonie  bei 
vollständig  undurchlässigem  Darme.  So  hatte  also  in  5  Fällen 
der  Frank'sche  Knopf  seine  Schuldigkeit  gethan.  Aber  im  6.  Fall 
waren  die  Darmenden  am  3.  Tag  vollständig  auseinander  gegangen 
und  bedingten  den  Tod  des  Individuums.  Die  Darmenden  waren 
nicht  gangränös.  Bei  3  Gastro-Enterostomieen  mit  dem  Frank- 
schen  Knopfe  verliefen  2  sehr  schön.  Im  3.  Falle  heilte  eben- 
falls die  Gastro-jejunostomie  tadellos.  Aber  der  Kranke  starb 
plötzlich  am  8.  Tage.  Bei  der  Section  zeigte  es  sich,  dass  die 
Enteroanastomose,  welche  ich  zwischen  zuführendem  und  abführen- 
dem Darm  angelegt  hatte,  vollständig  auseinander  gegangen  war, 
obwohl  Lembert'sche  Nähte  darüber  angelegt  worden  waren  — 
ich  hatte  bis  dahin -weder  bei  der  Darmnaht  noch  beim  Murphy- 
knopf  ein  solches  vollständiges  Auseinandergehen  der  Darmenden 
wie  in  diesen  zwei  geschilderten  Fällen  gesehen. 

Welche  Gründe  sind  für  diesen  Misserfolg  anzuführen? 

1.  Der  Frank'sche  Knopf  ist  nicht  wie  der  Murphyknopf 
ein  Darmschliesser.  Er  ist  vielmehr  eine  Prothese,  höchstens  ein 
Darmnäherer.  Das  Drainrohr,  welches  die  beiden  Knopfhälft^n 
aneinanderbringt,  ist  nämlich  leicht  dehnbar,  und  dann  klaffen  die 
beiden  Knopfhälften.  Das  scheint  aber  von  Wichtigkeit  zu  sein, 
denn  ein  Jeder  von  Ihnen  wird  sich  schon  beim  Murphy  knöpfe 
die  Frage  vorgelegt  haben,  wieso  es  kommt,  dass  beim  Murphy- 
knopfe  eine  so  schöne  Vereinigung  stattfindet,  trotzdem  Gangrän 
der  Darmwand  auftritt.  Die  Antwort  darauf  ist  eben  die,  dass 
durch  den  Murphyknopf  die  Darmenden  scharf  abgequetscht 
werden,  während  man  beim  Fränkischen  Knopf  immer  fürchten 
muss,  dass  die  Gangrän  eine  nur  unvollkommene  sei,  die  dann 
leicht  mit  ihren  Folgeerscheinungen  —  Trombose  der  Gefässe  — 
auf  die  Umgebung  übergehen  kann.  Ist  doch  nur  jene  Gangrän 
für  die  Umgebung  ungefährlich,  bei  welcher  das  Gewebe  durch 
eine  starke  und  eine  allseitige  Einschnürung  von  der  Umgebung 
abgegrenzt  wird.  Es  ist  deshalb  als  eine  wichtige  Bedingung  auch 
für  den  resorbirbaren  Knopf  aufzustellen,  dass  derselbe  ein  Darm- 
schliesser sei. 

Was  ferner  die  Resorbirbarkeit  dieser  Dannknöpfe  anbelangt, 
so  muss  die  Forderung  gestellt  werden,  dass  der  Knopf  nicht  zu  früh 
zerfalle.    Er  muss  wenigstens  5 — 6  Tage  lang  seinen  Mechanismus 


Einiges  über  die  Anwendung  der  Darmknöpfe.  48-1 

beibehalten.  Die  jetzigen  Knöpfe  scheinen  mir  zu  früli  resorbirt 
ZQ  werden.  Auch  ist  eine  Oonstanz  dieser  Erscheinung  noch  nicht 
erzielt.  Bei  einen)  Menschen  und  bei  einem  Hunde  war  der  Knopf 
schon  nach  5  Tagen  ziemlich  stark  zerfallen.  Hier  werden  noch 
weitere  Verbesserungen  sich  als  nothwendig  erweisen,  sei  es,  dass 
der  Knopf  nicht  vollkommen  dekalcinirt  wird,  oder  dass  der  de- 
kalcinirte  Knopf  nachträglich  noch  stärker  gehärtet  wird,  als  dies 
bisher  der  Fall  war.  Wenn  aber  der  Knopf  durch  5 — 6  Tage 
lang  functioniren  soll,  dann  müssen  wir  von  ihm  verlangen,  dass 
sein  Lumen  möglichst  gross  sei,  damit  derselbe  auch  beim  Dick- 
darm angewendet  werden  könne.  Als  ein  Fehler  des  Frank'schen 
Knopfes  ist  es  ferner  anzusehen,  dass  man  die  Darmenden  auf  dem 
Drainrohre  knüpfen  muss.  Dieses  leistet  aber  bei  den  jetzigen  ver- 
käuflichen Knöpfen  keinen  genügenden  Widerstand,  so  dass  bei  dem 
starken  Znsammenziehen  des  Darmendes  über  dem  Drainrohre  das 
Rohr  leicht  verlegt  wird.  Davon  habe  ich  mich  in  mehreren 
Fällen  auf  das  Bestimmteste  überzeugen  können.  Unter  solchen 
Verhältnissen  muss  man  dann  wünschen,  dass  der  Knopf  recht 
rasch  resorbirt  werde.  Diesem  Uebelstande  habe  ich  dadurch  ab- 
geholfen, dass  ich  über  das  Drainrohr  ein  dekalcinirtes  Elfenbein- 
rohr legen  liess,  so  dass  beim  Knüpfen  das  Lumen  nicht  mehr 
beeinträchtigt  wird. 

Was  sollte  aber  für  den  Augenblick  unternommen  werden, 
um  zu  verhüten,  dass  die  Darmenden  nicht  zwanglos  auseinander 
gehen?  An  dem  System  des  Frank-Knopfes  konnten  nicht  ohne 
Weiteres  Veränderungen  angebracht  werden,  auch  konnte  nicht  ohne 
Vorversuche  die  Resorbirbarkeit  des  Knopfes  verzögert  werden. 
Ich  ging  deshalb  daran,  die  Intensität  der  Verklebung  der  Serosa- 
flächen  zu  erhöhen.  Dies  lässt  sich  dadurch  erreichen,  dass  die 
Serosa  der  miteinander  zu  vereinigenden  Darmenden  mit  dem 
Scalpell  abgeschabt  wird. 

Gestatten  Sie,  dass  ich  für  einen  Augenblick  bei  diesem 
Punkte  verweile:  Es  hat  schon  vor  mehreren  Jahren  Greigh-Smith 
den  scheinbar  absurden  Satz  ausgesprochen,  dass  es  keine  schlechtere 
Verwachsungsfläche  gebe,  als  die  Serosa.  In  der  That  verkleben 
Därme  niemals  miteinander,  wenn  keine  Verletzung  oder  Ent- 
zündung vorausgegangen  ist. 

Bei  Prolaps  des  Rectum,    bei  der  Inversio  uteri    sehen 


482  Dr.  A.  Wölfler, 

wir  es  ja  auch,  dass  trotz  jahrelangen  Bestandes  keine  Verklebung 
der  einander  zugekehrten  Scrosaflächen  eintritt.     Nur  dadurch,  dasi> 
wir  bei  der  Darm  Vereinigung  Nähte  anlegen^  wird  die  Verwachsungs- 
fähigkeit der  Darmoberfläche  bedingt.  Erhöht  wird  sie  noch  dadurch, 
dass  man  die  Serosafläche  zuvor  wund  macht.     Man  kanii  sich  hie- 
ven   durch  einige  Experimente    überzeugen.     Wenn    man  an    einer 
Darmschlinge  beim  Hunde  ein  Stück  ohne  Anfrischung  der  Serosa 
vereinigt  und  ein  zweites  Stück    der  Schlinge  mit  Anfrischung  der 
Serosa,  so  sieht  man,    dass  schon  nach  7 — 8  Tagen  die  Adhäsion 
am    angefrischten  Darmstück  sich    nur  dadurch    lösen  lasse,    dass 
die  Serosa  von    der  Muscularis  abgerissen  wird.     Es  war  also  die 
Verwachsung    der  Serosaflächen    eine    intensivere    als    die    physio- 
logische   Vereinigung    dar    Serosa   mit    der   Muscularis.      An    den 
nicht  angefrischten  Darmpartien  lassen  sich  die  adhärenten  Flächen 
schon  bei  einer  geringeren  Gewalt  auseinander  reissen.    Diese  That- 
sache  habe  ich  erst  vor  Kurzem  auch  bei  einer  Gastro-Enterostomie 
bestätigt    gefunden    bei    einer  Kranken,    welche   an  Embolie    nach 
12  Tagen    zu  Grunde    gegangen  war.     Bei    dieser  Kranken  wurde 
die  Gastroenterostomia    anterior    ausgeführt,    und    das   zuführende 
Darmende    in    der  Weise  vertical  gestellt,    wie  ich  es  schon  vor 
mehreren  Jahren  angegeben  habe.     Damit  nun    diese  Stellung  des 
zuführenden  Darmendes   in   späterer  Zeit  nicht  etwa  verschwinde, 
wurde,  wie  dies  auch  schon  von  mir  vor  mehreren  Jahren  empfohlen 
wurde,  die  Serosafläche  des  Magens  und  die  Serosafläche  des  zu- 
führenden Daniirohres.mit  dem  Scalpell  abgeschabt.    Es  war  nun 
von  Interesse,  zu  sehen,  wie  nach  12  Tagen  diese  Verwachsungen 
stattgefunden  haben.     Das  vertical  gestellte  Rohr  war  unverändert 
in   dieser  Stellung   verblieben  und  die  Verklebung  erwies  sich  so 
fest,  dass  von  dem  pathologischen  Anatomen  die  Serosaflächen  nicht 
auseinandergebracht  werden  konnten.    Bei  dem  Versuche,  dies  aus- 
zuführen, riss  die  Serosa  von  der  Muscularis,  aber  nicht  die  Serosa 
des  Darmes  von  der  Serosa  des  Magens.     Diese  Anfrischung  der 
Serosa  wurde  in  den  letzten  Fällen,  in  welchen  Darmvereinigungen 
ausgeführt  wurden,  regelmässig  mit  befriedigendem  Erfolg  ausgeführt. 
Es  ist  mir  unverständlich,  dass  wir  uns  bei  allen  unseren  Darra- 
nähten   bisher  dieses  Vortheiles  entschlagen  haben.     Ich  empfehle 
es  deshalb  auf  das  angelegentlichste,  bei  den  verschiedensten  Arten 
von  Darmnähten,  selbstverständlich  auch  bei  den  Darmanastomosen, 


Einiges  über  die  Anwendung  der  Darmknöpfe.  483 

die  miteinander  zu  vereinigenden  Serosaflächen  mit  dem  Messer 
zuerst  abzuschaben. 

Als  einen  weiteren  Nachtheil  des- Frank'schen  Knopfes  muss 
ich  hervorheben,  dass  derselbe  schwieriger  anzulegen  ist  als 
der  Murphyknopf.  Besonders  die  zweite  Hälfte  des  Frank'schen 
Knopfes  ist  schwieriger  einzuführen.  Man  kann  sich  diese  Mani- 
pulation jedoch  dadurch  erleichtern,  dass  man  die  Darraenden  mit  von 
Bergmännischen  Pincetten  an  ihrem  äussersten  Rande  fasst  und 
dadurch  das  Lumen  zum  Klaffen  bringt.  Sowie  der  Darmknopf  in 
den  Darm  eingeschoben  ist,  werden  die  von  Bergmännischen  Pin- 
cetten rasch  abgenommen  und  die  v'^^chnürnaht  wird  zusammen- 
gezogen. Ferner  möchte  ich  davor  warnen,  •  keine  zu  grossen  Knöpfe 
anzulegen,  weil  die  Darmwände  dadurch  gespannt  und  verdünnt 
und  das  Anlegen  der  Lern bcrt 'sehen  Nähte  erschwert   wird. 

Man  thut  überhaupt  gut,  wenn  man  zur  Anwendung  der  Lem- 
bert' sehen  Naht  die  Darmwand  in  circulärer  Richtung  <'twas  zu- 
sammenschiebt. 

Fassen  mv  jetzt  die  Anforderungen  zusammen,  welche  an 
einen  Knopf  nach  unseren  heutigen  Erfahrungen  gestellt  werden 
müssen,  so  sind  diese: 

1.  Er  soll  zum  grössten  Theil  resorbirbar  sein,  soll  aber 
vor  5 — 6  Tagen  seinen  Mechanismus  nicht  ändern. 

2.  Er  darf  keine  einfache  Prothese  sein,  auf  der  vereinigt 
wird,  sondern  er  soll  ein  Darrasch liesser  sein. 

3.  Er  sollte  womöglich  aus  2  Theilen  bestehen,  damit  er 
bequem  in  den  Darm  eingeführt  werden  kann. 

4.  Das  Lumen  des  Knopfes  soll  möglichst  gross  sein. 

5.  Jene  Partie  des  Knopfes,  über  welcher  die  Darmwand  zu- 
sammengeschnürt wird,  muss  hart  sein. 

6.  Wenn  möglich,  sollen  die  Knöpfe  keine  Lembert'schen 
Nähte  in  Ans[)ruch  nehmen  müssen. 

Letztere  Bedingung  wird,  wie  ich  glaube,  wenigstens  vorläufig 
noch  als  ein  fronmier  Wunsch  angesehen  werden  müssen. 

Um  diesen  Anforderungen  zu  entsprechen,  habe  ich  mich 
bemüht,  einen  Knopf  anfertigen  zu  lassen,  der  nach  vielen  Aende- 
rungen  soweit  fertig  gestellt  ist,  dass  ich  es  wagen  darf,  denselben 
der  geehrten  Gesellschaft  zu  demonstriren.  Die  Vortheile  liegen 
darin,  dass  er 

Archiv  fllr  klin.  Chirurgie.    57.  Bd.    Heft  3.  32 


184     Dr.  A.  ^^ölifier,  Einiges  «bber  di«  Anwendwig  der  Darmknöpfe. 

1.  ein  resorbirbarer  Knopf  ist, 

2.  ein  Danuschliesser, 

3.  da8s  er  ein  weites  l^umen  hat. 

Sein«»  Nachtheile  kenne  ich  noch  nicivt,  weil  ich  noch  nicht 
genüäfcnd  Gelegenheit  lialie,  »einen  Woiih  cxperiiiientell  zu  prüfen. 

Solanisre  dies  nicht  geschehen  ist,  bitte  iiA,  denselben  beim 
Menschen  noch  nicht  anzuwenden,  weil  ich  hierfür  keine  Verant- 
wortung übernehmen  kann.  Für  den  Augenblick  soll  er  bloss 
/iCigen,  nach  welchen  Richtungen  hin  Verbesserangen  in  der  Con- 
structioß  der  Dannknöpfe  anzustreben  sind  (Demonstration  des 
Knopfes). 


Gedruckt  hei  L.  Schniiiucher  in  Berlin. 


ARCHIV 


FÜR 


KLINISCHE  CHIRURGIE. 


BEGRÜNDET 


▼Oll 


Dr.  B.  von  LANGENBECK, 

weil.  Wirklichem  Geh.  Rath  und  Professor  der  Chirurgie. 


HBRADSGEGEBBN 


VON 


Db.  i.  Y.  BEB&MMN,      Db.  E.  &IIBLT,      Dr.  G.  öüSSEITfiAÜER 

Prof.  der  Chirurgie  in  Berlin.  Prof.  der  Chirurgie  in  Berlin.  Prof.  der  Chirurgie  in  Wien. 


SIEBENIINDFINFZIGSTRR  BAND. 

DRITTES  HEFT. 

Mit  2  Tafeln  und  auderen  Abbilduugeu  im  Text. 


BERLIN,  1898. 
VERLAG  VON  AUGUST  HIRSCHWALD. 

N.W.  UnUr  den  Lindon  No.  88. 


Inhalt. 


Seite 

XXVI.  Die  anatomischeD  Veränderungen  nach  Calot'schem  Redresse- 
raent,  mit  Demonstration  experimentell  gewonnener  Präparate; 
Angabe  einer  schonenderen  Methode.  (Aus  der  chirurgischen 
Universitäts-Klinik  zu  Halle  a.  S.).  Von  Dr.  L.  Wul Istein. 
(Hierzu  Tafel  I.) 485 

XXVII.  Zur  Technik  des  Redrcssements  und  des  Verbandes  an  der 
gibbösen  Wirbelsäule.     Von  Dr.  Vulpius 498 

XXVIII.    Die  Calot 'sehe  Behandlung  der  tuberkulösen  Spondylitis.    Von 

Professor  Dr.  Hoffa 501 

XXIX.    Ein   Vorschlag  zur  Modification    des   Calot'schen   Verfahrens. 

Von  Professor  Dr.  Schede.     (Mit  4  Figuren.) 507 

XXX.  Ein  Fall  von  Fractur  der  Diaphysc  des  Oberarms  mit  bisher 
noch  nicht  beobachteter  Wirkung  des  Streckverbandes.  (Aus 
der  Chirurg.  Klinik  des  Herrn  ProC  von  Bramann  zu  Halle  a.  S.) 
Von  Dr.  Rammstedt.     (Mit  2  Figuren.) 517 

XXXI,    Beiträge  zur  Technik  der  Operation  des  Magencarcinoms.    Von 

Professor  Dr.  .1.  Mikulicz 524 

XXXII.  lieber  die  histologischen  Vorgänge  nach  der  Implantation  von 
Elfenbein  und  todtem  Knochen  in  SchädeHefccten.  Von  Dr. 
Max  David.     (Hierzu  Tafel  II.) 533 

XXXIII.  Erfahrungen  über  die  Behandlung  veralteter  Empyeme.     (Aus 

der  Chirurg.  Klinik  zu  Heidelberg.)    Von  Professor  Dr.  Jordan     546 

XXXIV.  Beiträge    zur  Chirurgie    der  Lunge    und   der  Pleura.     Von  Dr. 
Karewski 555 

XXXV.    Ueber  den    angeborenen  Verschluss    des  Dünndarms  und  seine 

Behandlung.     Von  Dr.  Felix  Franke 591 

XXXVI.    Inhumane  Kriegsgeschosse.     Von   Professor  Dr.  von  Bruns     .     602 

XXX VII.  Ueber    Schussverictzungen    des    Gehirns.      Von     Professor   Dr. 
Tilmann 608 

XXXVIII.  Die  Behandlung    des  Lupus    mit  Röntgen -Strahlen    und  mit 
concentrirtem  Licht.     Von  Dr.  Hermann  Kümmel  1      .     .     .     630 

XXXIX.    Ueber  Peritonitis  chronica    non  tuberculcsa    und    ihre  Folgen: 
Verengerung    des  Darmes    und  Dislocation    der    rechten  Niere. 

Von  Professor  Dr.  Riedel.     (Mit  einer  Figur.) 645 

XL.    Ueber  dauernde  Spiritusverbände.     Von  Dr.  Salzwcdel      .     .     685 
XLI.    Ueber  einen  Fall  von  5  Darmresectionen  wegen  Sehussverletzung. 

(Aus  der  Chirurg.  Klinik  zu  Giessen.)  Von  Professor  Dr.  Poppert.     691 
XLII.    Neue  Methode  zur  blutigen  Einrichtung  der  angeborenen  Hüft- 

gelenksluxation.     Von  Dr.  Doyen    .     .  699 

XLIII.    Zur  chirurgischen  Behandlung  der  chronischen  Mittelohreiterung. 

Von  Sanitätsrath  Dr.  Lud  ewig 703 

XLIV.    Ueber  die  operative  Entfernung  ausgedehnter  Gesichtscarcinome.   . 
(Aus  der  Hallenser  chirurg.  Klinik).  Von  Dr.  med.  U.  Grosse. 

(Mit  2  Figuren) 711 

XLV.    Ueber  Oesophagus-Rescction  und  Uesophagoplastik.  Von  Professor 

Dr.  C.  Garre :     .     719 

XLVI.    Ueber  Rectoscopie   und   einige   kleinere   operative  Eingriffe  im 

Rectum.     Dr  J.  v.  Fedoroff 723 

XLVII.  Ueber  Craniectomieen  nebst  einigen  Betrachtungen  über  die 
Heilung  grosser  Operationsdefecte  am  Schädel.  Von  Dr.  J. 
v.  Fedoroff 727 


XXVI. 

(Aus  der  chirurg.  Universitäts-Klinik  zu  Halle  a.  S.) 

Die  anatomischen  Veränderungen  nach 
Calot'schem   Redressement,   mit  Demon- 
stration experimentell  gewonnener  Präpa- 
rate; Angabe  einer  schonenderen  Methode/^ 

Von 

Or.  li.  I¥iill8telii, 

ABsistenzarzt  der  Klinik. 

(Hierzu  Tafel  I.) 


M.  H.!  Ueberraschend  waren  die  überaus  günstigen,  vor- 
läufigen Resultate,  welche  Calot^)  bei  seinem  so  kühnen  Vorgehen 
gegen  den  Pott'schen  Buckel  hatte.  Schon  aber  jetzt,  nachdem 
das  Verfahren  von  verschiedenen  Seiten  geübt  und  geprüft  ist, 
mehren  sich  die  Nachrichten,  wo  bei  diesem  forcirten  Vorgehen 
Todesfälle  oder  vorübergehende,  schwere  Complicationen  einge- 
treten sind,  und  voraussichtlich  werden  wir  auf  noch  weitere 
Enttäuschungen  in  Bezug  auf  das  Endresultat  nach  der  für  diese 
Erkrankung  und  diese  neue  Methode  ihrer  Behandlung  unerUiss- 
lichen  ControUzeit  gefasst  sein  müssen. 

M6nard^  hat  uns  durch  drei  an  Leichen  vorgenommene 
Experimente  gezeigt,  welches  die  unmittelbaren  Folgen  des  for- 
cirten Redressement  sein  können,  und  ich  möchte  diesen  Bericht 
vervollständigen    und  über  weitere  derartige  Versuche,    welche  ich 


0  Abgekürzt  vorgetragen  am  2.  Sitzungstagc  des  XXVII.  Congresses  der 
Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  14.  April  1898. 
2)  Calot,  Arch.  provinc.  de  chirurg.     1897,  No.  2. 
■')  Menard,  Gazette  hebdomadaire.     1897.     No.  43. 

ArchiT  fUr  klin.  Chirurgie.    57.  Bd.    Heft  3.  33 


486  Dr.  L.  Wullstein, 

in  der  Klinik  des  Herrn  Professor  v.  Bramann  anstellen  durfte, 
berichten. 

M6nard  fand  nach  dem  Redressenjent  zwischen  dem  oberen 
und  unteren  Segment  der  Wirbelsäule  einen  Zwischenraum  von 
3,6,  ja  sogar  8  cm;  in  einem  dieser  Fälle  war  ein  Abscess  ge- 
platzt und  stand  in  Communication  mit  den  Bindegewebsinterstiticn 
des  Mediastinum;  eine  Verletzung  der  Meningen  oder  des  Markes 
kam  bei  Menard's  Versuchen  nicht  zu  Stande.  Ein  in  gleicher 
Weise  von  Brun^)  angestellter  Cadaverversuch  ergab  auch  eine 
Lücke  von  reichlich  8  cm.  Vulpius^)  konnte  ebenfalls  bei  einem 
Kinde,  welches  48  Stunden  nach  dem  Redresseraent  zum  Exitus 
kam  „eine  mehrere  Gentimeter  breit  klaffende  Lücke  in  der 
Wirbelkörperreihe  an  Stelle  des  grossentheils  zerstörten  10.  und 
11.  Brustwirbels"  constatiren. 

Wir  haben  das  forcirte  Rcdressement  an  den  Leichen  genau 
nach  den  von  Calot  veröffentlichten  Vorschriften  gemacht  und, 
wie  wir  glauben,  damit  unter  Verhältnissen,  welche  denen  am 
narkotisirten,  lebenden  Patienten  analog  sind. 

In  dem  ersten  Falle  handelte  es  sich  um  ein  23 jähriges  Individuum. 
Die  Erkrankung  sollte  bereits  im  4.  Lebensjahre  begonnen  haben,  vor  6  Jahren 
traten  schon  vorübergehende  Lähmungen  der  unteren  Extremitäten,  der  Blase 
und  des  Mastdarms  auf,  welche  durch  eine  mehrere  Wochen  währende  Be- 
handlung in  der  Hallenser  chirurgischen  Klinik  behoben  wurden;  jetzt  lag 
Patient  wegen  einer  sehr  schweren,  eiterigen  Pyelonephritis,  welche  sich  an 
wieder  aufgetretene  Blasenbeschwerden  angeschlossen  hatte,  in  der  medici- 
nischen  Klinik  und  kam  daselbst  zum  Exitus. 

In  den  Buckel  hineingezogen  war  die  grössere  Hälfte  der  Brust-  und 
Lendenwirbel;  die  höchste  Prominenz  (s.  Taf.  I,  Fig.  1)  wurde  gebildet  durch 
die  Dornfortsätze  des  9.  und  10.  Brustwirbels. 

Unter  gloichmässigem  und  sich  allmälig  steigerndem  Zuge  der  fünf  am 
Kopf  resp.  den  Extremitäten  ziehenden  Assistenten  schwand  unter  mehrmaligem, 
krachendem  Geräusch  der  grössere  Theil  des  Buckels;  der  übrige  Theil  konnte 
jedoch  erst  durch  sehr  starken  Druck,  wobei  ich  fast  meine  ganze  Körperlast 
auflegte,  zum  fast  vollständigen  Schwinden  gebracht  werden.  Diese  nach 
Fortnahrae  der  vorderen  Brustwand  angefertigte  Röntgen  aufnähme  *)  veran- 
schaulicht die  nach  dem  lledressement  vorgefundenen  Verhältnisse  an  den 
Knochen.  Die  Diastase  beträgt  hier  nur  7  cm;  die  Aufnahme  wurde  absichtlich 
nicht  unter  vollständigem  Rcdressement  gemacht,   da  bei  der  grossen  Kraft- 


1)  Brun,  Discussion  der  Soc.  de  Chirurgie.     II.  V.  1897. 

2)  Vulpius,  Centralblatt  für  Chirurgie.     1897.     No.  49. 

3)  Die  Röntgen- Aufnahme  wird  demonstrirt. 


Die  anatomischen  Veränderungen  nach  Calot'schem  Redressement.      487 

anstrengung,  welche  das  vollständige  Redressement  erforderte^  die  Assistenten 
selbst  während  der  liurzen  Dauer  der  Aufnahme  nicht  vollständig  still  hätten 
halten  können.  Aber  eins  zeigt  die  Aufoahme,  was  an  dem  Präparat  nicht 
mehr  zu  sehen  ist,  nämlich  einige  vollständig  aus  ihrem  Zusammenhange  mit 
der  Wirbelsäule  gelöste  Sequester.  Ein  anderer  ca.  Wallnussgrosser  Sequester 
findet  sich  an  dem  Präparat  nur  noch  an  einem  dünnen  Periostfetzen  hängend 
in  der  Diastase  zwischen  den  beiden  Wirbelsäulen-Segmenten  (s.Taf.  I,  Fig.  2c). 
Die  Diastase  betrug  bei  vollständig  redressirtem  Buckel  reichlich  9  cm.  (siehe 
Taf.  I,  Fig.  2  a — b).  In  den  Pleurahöhlen  war  zwar  kein  freies  Blut,  dagegen 
waren  im  hinteren  Mediastinum  und  zu  beiden  Seiten  der  Wirbelsäule  in  der 
Gegend  der  Articulationes  costovertebrales  in  weiterem  Bezirke  unter  den  pa- 
rietalen Pleurablättern  grössere  Blutungen.  Die  Pleura  parietalis  war  rechter- 
seits  in  dem  der  höchsten  Convexität  des  Buckels  entsprechenden  Intercostal* 
räum  von  der  Wirbelsäule  bis  ungefähr  11  cm  nach  rechts  durch  den  starken 
Zug  gerissen.  Von  den  Wirbelkörpern  war  im  Bereich  der  Diastase  fast  nichts 
mehr  vorhanden;  es  fehlten  die  Körper  des  V.  Brust-  bis  l.  Lendenwirbels 
fast  vollständig;  überall  kam  hier  der  palpirende  Finger  sofort  auf  die  stark 
Terdickte,  z.  Th.  verkalkte,  äusserst  rigide  Dura.  Im  unteren  Bereich  der 
Diastase  war  auch  die  Dura  in  ihrer  vorderen  Hälfte  quer  durchrissen  und 
das  Rückenmark  lag  —  allerdings  vollständig  intact  —  frei.  Zwischen  dem 
9.  lind  10.  Dornfortsatz  ist  die  Wirbelsäule  vollständig  fracturirt  (s.  Fig.  2d). 
Die  an  der  Stelle  der  höchsten  Prominenz  an  beiden  Seiten  ansetzenden 
Rippen  standen  mit  den  z.  Th.  auch  tuberkulös  erkrankten  Wirbelbögen  nur 
noch  in  lockerer,  bindegewebiger  Verbindung.  Auch  in  den  Wirbelsäulentheilen 
oberhalb  und  unterhalb  der  Diastase  sind  frische  und  alte  tuberkulöse  Herde 
sovirohl  in  den  Wirbeln  als  auch  in  den  Zwischenbandscheiben  vom  1.  Brust- 
wirbel bis  zum  4.  Lendenwirbel.  Ein  grosser  Abscess  befindet  sich  oberhalb 
der  Diastase  in  der  Muskulatur  an  der  vorderen  Seite  der  Wirbelkörper,  ein 
anderer  nachher  bei  der  weiteren  Section  eröffneter  Abscess  lag  unterhalb  der 
Distötase  vorn  und  seitlich  von  den  Wirbelkörpern  (s.  Fig.  1  u.  2e  u.  f.);  beide 
Abscesse,  so  gi'oss  sie  auch  waren,  waren  bei  dem  Redressement  nicht  geplatzt. 

Bei  der  Erwähnung  der  Abscesse  darf  ich  wohl  schon  eine 
Bemerkung  einflechten,  welche  eigentlich  in  die  Discussion  gehört. 
Herr  Hoffa  hat  in  seinem  Vortrage  als  dritte  Contraindication 
beim  Calot 'sehen  Redressement  das  Vorhandensein  von  Abscessen 
genannt,  da  diese  bei  dem  forcirten  Vorgehen  leicht  platzen  und 
dadurch  eine  allgemeine  miliare  Tuberculose  herbeiführen  können. 
Nun,  m.  H.,  wollten  wir  diese  Contraindication  alF  insgesammt 
gelten  lassen,  dann  wäre  die  Debatte  über  die  Zulässigkeit  oder 
Uiizulässigkcit  des  forcirten  Rcdrcsscments  überhaupt  schon  ge- 
schlossen, dann  dürfte  das  forcirte  Uedressement  überhaupt  nicht 
ausgeführt  werden,  denn  erstens  giebt  es  Spondylitiden  ohne  Ab- 
scesse   nur  sehr  wenige    und    zweitens    können  wir    einen  grossen 

33* 


488  Dr.  L.  WuUstein, 

Theil  derselben,  da  sie  Syraptorae  überhaupt  nicht  machen,  durch 
die  klinische  Untersuchung  nicht  feststellen;  die  letzteren  ergeben 
sich  uns  erst  bei  den  Sectionen  und  jetzt  noch  zum  Theil  — 
wenigstens  bei  bestimmter  Beschaffenheit  des  Inhalts  und  bei  ge- 
wisser Lage  der  Abscesse  —  bei  der  Untersuchung  mit  Röntgen- 
strahlen. Alle  vier  Abscesse,  welche  an  den  von  uns  experimen- 
tell gewonnenen  Präparaten  vorhanden  waren,  waren  klinisch  nicht 
vorher  diagnosticirt;  zum  weiteren  Beweise  reiche  ich  Ihnen  unter 
anderen  die  Röntgen-Photographie^)  der  Wirbelsäule  eines  18  jährigen, 
jungen  Mädchens,  welches  seit  Jahren  in  der  Behandlung  des  Herrn 
Professor  v.  Bramann  war  und  schon  lange  Zeit  für  vollständig 
geheilt  gehalten  wurde,  gleichwohl  zeigte  uns  die  Röntgen- Aufnahme 
zu  unserer  Ueberraschung  einen  grossen  Abscess  zu  beiden  Seiten 
der  Wirbelsäule  im  Bereich  der  früher  kranken  Wirbelsäulenpartie. 
Wenn  nun  auch  in  dem  zuvor  besprochenen  Falle  wohl 
Niemand  mehr  das  forcirte  Redressement  vorgenommen  hätte,  so 
lagen    die  Verhältnisse    in  dem  zweiten    doch  bei  Weitem  anders. 

Die  Erkrankung  der  Wirbelsäule  sollte  hier,  bei  der  6jährigen  Patientin, 
vor  ^/^  Jahren  im  Anschluss  an  einen  Fall  entstanden  sein.  Kurz  vor  Weih- 
nachten war  das  Kind  wegen  kurz  zuvor  aufgetretener  Lähmungen  der  unteren 
Extremitäten  einige  Wochen  in  der  medicinischen  Klinik  gestreckt  und  war 
dann,  als  die  Lähmungen  vollständig  behoben  waren,  von  der  medicinischen 
Poliklinik  weiter  behandelt  wegen  Lungentuberkulose,  an  der  es  schliesslich 
ein  Vierteljahr  später  starb.  Die  Photoj^raphie 2),  welche  von  der  uneröffneten 
Leiche  vor  dem  Redressement  gemacht  wurde,  zeigt  nun  aber  zwei  Buckel: 
einen  spitzwinkligen,  sich  nur  sehr  wenig  erhebenden  in  der  Mitte  der  Bnist- 
wirbelsäule  im  Bereich  des  5.  und  G.  Brustwirbels  von  ausgesprochen  tuber- 
kulösem Charakter  und  einen  zweiten,  der  sich  im  Bereich  des  3.  und  4.  Lenden- 
wirbels nur  ganz  flach  bogenförmig  über  das  Niveau  seiner  Umgebung  erhebt 
(s.  auch  die  Aufnahme  der  Wirbelsäule,  Taf.  I,  Fig.  3  a  u.  b).  Das  Redresse- 
ment war  äusserst  leicht;  schon  unter  massigem  Zug  ohne  jeden  Druck  ver- 
schwanden beide  Buckel,  und  als  Folge  dieses  Verfahrens  sehen  sie  an  dieser 
Röntgen-Aufnahmc  ^)  und  an  dem  Präparat  (s.  Fig.  4  a  u.  b)  oben  eine  Dia- 
stase  von  fast  4  cm  und  unten  eine  solche  von  fast  3  cm;  die  letztere  gebt 
trichterförmig  nach  hinten  und  in  der  oberen  liegt  die  Dura  vollkommen  intact, 
aber  äusserst  prall  gespannt  vor.  V^on  der  oberen  Diastase  setzte  sich  nach 
links  ein  uneröfTneter  Abscess  ungefähr  5  cm  weit  auf  die  Rippen  fort  (siehe 
Fig.  3  c).  Im  rechten  Psoas  fand  sich  ein  reichlich  gänseeigrosser,  ebenfalls 
nicht  geplatzter  Abscess.    An  der  oberen  Diastase  sehen  Sic  noch  Reste  der 

0  Die  Röntgen -Aufnahme  wird  demonstrirt. 

2)  Die  Photographie  wird  demonstrirt. 

^)  Die  Röntgen -Aufnahme  wird  demonstrirt. 


Die  anatomischen  Veränderungen  nach  Calot^schem  Redressement.     489 

Absccss-Kapsel,   welche  bei  der  Präparation  durchschnitten  werden  mnsste 

(s.  Fig.  4  c).    An  dem  oberen  Buckel  ist  der  4.  und  7.  Brustwirbel  theilweis, 

der  5.  und  6.  ganz  verloren  gegangen,  an  dem  unteren  Bück  elfehlen  der  3. 

und  4.  theilwelse  und  der  5.  ist  in  seiner  linken  Hälfte  zusammen  gesunken. 

Die  Wirbelsäule  ist  zwischen  den  Domfortsätzen  des  5.  und  6.  Brustwirbels 

^ '  auch  in  ihrer  hinteren  Hälfte  vollständig  fracturirt,  und  etwas  tiefer,  zwischen 

?£'  dem  6.  und  7.  Wirbelbogen,  war,  wie  sich  nach  dem  Aufschneiden  der  äusserst 

,;,  prall  gespannten  Dura  zeigte,  das  sehr  weiche  Rückenmark  derartig  gezerrt 

und  gedehnt,  dass  es  nur  mit  grosser  Mühe  vor  dem  vollständigen  Zerreissen 

bewahrt  werden  konnte ;  durch  die  Schrumpfung  bei  der  weiteren  Conservirung 

''  riss  es  denn  auch  noch  an  dieser  Stelle  durch.    Aus  der  eben  eröffneten,  ver- 

i^  dickten  Dura  floss  eine  relativ  grosse  Menge  seröser  Flüssigkeit  unter  starkem 

Druck  heraus;  die  subdurale,  ödematöse  Flüssigkeit  aber  hatte,  da  sie  in  der 

•         durch  das  Redressement  stark  gespannten  Dura  voraussichtlich  nicht  schnell 

genug  nach  oben  und  unten  ausweichen  konnte,  den  noch  jetzt  recht  wohl 

'  sichtbaren,  dellenartigen  Eindruck  an  dem  Rückenmark  bewirkt. 

"-'  • 

Fassen  wir  noch  einmal  kurz  die  anatomischen  Veränderungen, 

welche  sich  fürMönard,  ßrun  und  uns  bei  der  allerdings  bisher 
kleinen  Zahl  experimenteller  Redressements  ergeben  haben,  zu- 
sammen, so  waren  es  ausser  den  sehr  grossen  Diastasen  von 
3  bis  reichlich  9  cm  Zerreissungcn  der  Pleura,  subpleurale  und 
mediastinale  Hämorrhagieen,  geplatzte  Abscesse,  vollständige  Lösung 
tuberculöser  Knochenstücke  aus  der  Continuität,  Zerreissuiigen  der 
Dura  und  Dehnung  und  Zerrung  des  Rückenmarks;  dazu  werden 
die  veränderten  Druckverhältnisse  im  Thorax  vor  Allem,  sowie 
die  Zerrung  und  Dehnung,  denen  die  Brust-  und  Bauchorgane  bei 
dem  plötzlichen,  forcirten  Redressement  ausgesetzt  sind,  sicherlich 
nicht  immer  gleichgültig  für  dieselben  sein.  Es  werden  sicherlich 
ausser  den  subpleuralen  und  mediastinalen  Hämorrhagieen  zuweilen 
auch,  worauf  schon  Monod^)  hingewiesen  hat,  Hämorrhagieen  im 
Wirbelkanal  und  im  Mark  vorkommen.  Dazu  kommen  die  Ge- 
fahren, welche  die  Narkose  in  Bauchlage  —  und  sei  es  selbst  im 
Nebel'schen^)  Schwebelagerungsapparat  oder  auf  den  Lange- 
schen ^)  Gurten  — ,  in  Suspension  am  Kopf  oder  an  den  Beinen 
sowie  der  einschnürende,  die  Functionen  der  Athmungsorgane 
tuberculöser  Kinder  stark  behindernde  Verband,  in  dem  die  Kinder 
mehrere  Monate  lang  liegen  müssen,  mit  sich  bringen. 


0  Monod,  Acad6mie  de  m6decine,  Paris,  Sitzung  vom  U.V.  u.  8.  VI.  1897. 
^)  Nebel,  Sammlung  klinischer  Vorträge.    Neue  Folgte  No.  191. 
')  Lange,  Münchener  medicin.  Wochenschrift.     1897.    No.  16. 


490  Dr.  L.  Wullstein, 

Bei  den  12  bisher  veröffentlichten  Todesfällen  waren  3  Mal 
die  Narkose,  3  Mal  eine  sehr  bald  nach  der  Operation  aufgetretene 
Bronchopneumonie,  1  Mal  Meningitis  und  in  dem  von  Malherbe^) 
berichteten  Falle,  wie  Hoffa  annimmt,  Lungenzerreissung  die 
Ursache,  während  in  den  übrigen  vier  Fällen  die  Todesursache 
sich  nicht  hatte  feststellen  lassen;  dazu  kommen  mehrere  von 
Malherbe^),  Vulpius^),  Lorenz 8)  und  Anderen  berichtete,  übele 
Zufälle  wie  Benommenheit,  cerebrale  Reizung,  Lähmungen,  welche 
tage-  und  wochenlang  das  Leben  gefährdeten. 

Nun  aber  zu  der  Hauptfrage:  Was  wird  aus  der  Diastase? 

Gerade  hierauf  lässt  sich  aber  eine  bestimmte  Antwort  noch 
nicht  geben.  Wenngleich  auch  eine  Ausfüllung  einer  so  grossen 
Lücke  an  der  Wirbelsäule  innerhalb  von  vielen  Monaten  bei  sonst 
gesunden  Knochen  und  sonst  gesunden  Menschen  wohl  möglich  ist, 
so  ist  sie  bei  einem  so  destruirenden  Process  wie  der  Tuberculose, 
welche  durch  den  gewaltsamen  Act  eher  noch  in  ein  florideres 
Stadium  versetzt  wird,  nicht  wahrscheinlich.  Und  von  wo  auch 
soll  eine  derartige  ungeheuere  Knochenneubildung  ausgehen?  Das 
Periost  fehlt  regelmässig  in  der  ganzen  Ausdehnung  der  Diastase; 
die  untere  und  obere  Begrenzung  wird  in  frischeren  Fällen  zumeist 
nur  von  den  mit  flockigem,  zuweilen  rahmigem,  schmierigem  Eiter 
durchsetzten,  in  ihren  Structurverhältnissen  kaum  noch  erkennbaren 
Spongiosabälkchen  der  anstosscnden  Wirbelreste  gebildet;  und  nach 
hinten  finden  wir  die  erhaltene  oder  zerrissene,  entzündlich  ver- 
dickte Dura  mit  dem  normalen  oder  gezerrten  Rückenmark  von 
allen  Seiten  umgeben  von  den  häufig  mehr  oder  weniger  in  den 
Krankheitsprocess  hineingezogenen  und  durch  das  gewaltsame 
Brisement  immer  in  ihrer  Verbindung  gelockerten,  seitlichen  und 
hinteren  Fortsätzen  und  Wirbelbögen.  —  Und  das  Alles  bei  einem 
zumeist  elenden,  tuberculösen,  in  dem  einschnürenden,  circulären 
Gipsverbande  alimälig  abmagernden  Kinde! 

Aus  allen  diesen  Gründen  finden  wir  nun  auch,  w^enn  wir  die 
Literatur  durchgehen,  schon  einen  Rückgang  auf  der  ganzen  Linie; 
die  Einen  wollen    schon    nur   noch   eine    paragibbäre  Correction*) 


1)  Malherbe,  Annales  de  Chirurgie  et  d'orthop6die.     1897,  No.  7. 
')  Vulpius,  Centralblatt  für  Chirurgie.     1897,  No.  49. 
8)  Lorenz,  Deutsche  raedicin.  Wochenschrift.     1897,  No.  85. 
*)  Lange,  Münchener  raedicin.  Wochenschrift     1897,  No.  16. 


Die  anatomischen  Veränderungen  nach  Calot^schem  Redressement.     491 

erzielen,  die  Anderen  wollen  etappenweise^)  vorgehen  und  die 
Dritten 2)  wollen  unter  scharfer  IndicationsstcUung  schon  nur  noch 
die  leichteren  Fälle  nach  der  Calot 'sehen  Art  behandeln  und 
sich  da  eventuell  sogar  mit  einem  nur  theilweisen  Resultat  be- 
gnügen. Wir  meinen,  dass  wir  uns  auf  die  paragibbäre  Correction 
nur  bei  den  ganz  alten,  mit  grosser  Deformität  und  knöcherner 
Ankylose  geheilten  Fällen  beschränken  sollen;  bei  allen  anderen 
Fällen  aber  müssen  wir  das  uns  von  Calot  gesetzte  Ziel  stets  im 
Auge  haben,  die  vollständige  Beseitigung  der  Deformität  und  der 
tuberculösen  Entzündung  gleichzeitig  anzustreben  unter  möglichst 
günstigen  hygienischen  Bedingungen  und  Ernährungsverhältnissen, 
aber  —  im  Gegensatz  zu  Calot  —  bei  vollständiger  Conti- 
nuitätserhaltung  der  erkrankten  Wirbelsäule. 

Soll  aber  diese  letzte  Bedingung  erfüllt  werden,  so 
ist  jedes  Redressement  ausgeschlossen,  ob  vollständig 
oder  partiell,  durch  w-elches  in  einem  einzigen  kurzen 
Acte  überhaupt  eine  sichtbare  Correction  der  Deformität 
bezweckt  und  erreicht  wird,  da  jede  derartige  Correction  Dia- 
stasen  und  damit  auch  alle  oben  geschilderten  Gefahren  mit  sich 
bringt.  Wir  müssen  bei  vollständig  freien  Functionsverhältnissen  der 
Bauch-  und  Brustorgane  unter  ständiger  Immobilisirung  und  Ent- 
lastung d.  h.  den  für  die  Ausheilung  der  Tuberculose  günstigsten  Be- 
dingungen ganz  allmälig  durch  eine  ständig  controllirbare,  dosirbare 
und  damit  die  Continuitätserhaltung  der  Wirbelsäule  und  des  Rücken- 
marks garantirende  Dehnung  der  contrahirten  W'eichtheile  und  der 
Wirbelsäule  eine  Transformation  der  Wirbel  und  eventuell  des  Thorax 
zu  erreichen  suchen.  Wir  müssen,  falls  Complicationen  auftreten, 
jeder  Zeit,  ohne  das  Individuum  zu  gefährden,  im  Stande  sein,  die 
Behandlung  zu  unterbrechen  und  die  jeweilige  Correction  durch  ein 
Corsett  etc.  zu  fixiren. 

Diese  Bedingungen  können  aber  nur  erfüllt  werden  durch 
einen  Lagerungsapparat;  der  beste  bisherige  Lagerungsapparat  für 
Spondylitis  ist  wohl  das  Lorenz 'sehe  Reclinationsbett ;  doch  es 
ist  für  diese  Zwecke  in  seiner  Form  nicht  zu  gebrauchen,  da  es 
nicht  allen  genannten  Forderungen    gerecht  wird.     Ich  habe  daher 


1)  Wolff,  Berliner  klin.  Wochenschrift.     1898,  No.  7  und  8. 

2)  Helferich,  Zeitschrift  für  praktische  Aerzto.     1897,  No.  16. 


492  Dr.  L.  WiiUstein, 

oinen  La^eruiigsapparat  anfertigen  lassen,  bei  dessen  Construction 
alle  oben  genannten  Punkte  berücksichtigt  worden  sind.  Der 
Grundgedanke  dabei  ist  auch  hier  natürlich  wie  bei  allen  seit  Jahr- 
hunderten gegen  den  Gibbus  angewandten  Mitteln  Extension,  Contra- 
extension  combinirt  mit  Reclination  und  Druck  gegen  die  Spitze 
des  Gibbus,  aber  bei  ununterbrochener,  fast  absoluter  Immobilisirung 
und  Entlastung  der  erkrankten  Partieen. 

Der  Lagerungsapparat  ^)  stellt  sowohl  ein  Redressionsbett  als 
auch  gleichzeitig  eine  Redressionsschwebe  dar;  die  Schwebe  werden 
wir,  wie  wir  später  sehen  werden,  nur  ausnahmsweise  benutzen, 
in  dem  Redressionsbett  dagegen,  welches  nach  einem  genauen 
Abdruck  von  dem  Körper  des  betreffenden  Individuum  —  in  dem 
vorliegenden  Falle  (s.  Fig.  5)  aus  Holz  —  gearbeitet  ist,  soll  der 
Patient  sonst  immer  liegen. 

Bei  der  Herstellung  des  Abdruckes  liegt  das  Kind  auf  dem 
Bauch  und  ist,  damit  das  spätere  Bett  genügenden  Raum  für  eine 
sorgfältige  Polsterung  gewährt,  mit  einer  bis  zur  Kniegegend  herab- 
reichenden, dicken  Tafel  Watte,  über  der  ein  Nesseltuch  ausge- 
breitet ist,  bedeckt,  üeber  der  Hinterhauptsschuppo  muss  die 
Watte  in  doppelter  Lage  liegen,  denn  hier  muss,  da  auf  der  Hinter- 
hauptsschuppe zumeist  allein  der  Zug  der  Contracxtcnsion  lastet, 
die  Polsterung  eine  besonders  gute  sein.  Eine  Correction  des 
Gibbus  wird  bei  der  Anfertigung  des  Abdruckes  absolut  nicht 
bezweckt,  das  Kind  hat  bei  vollständig  uncorrigirter  Wirbelsäule 
den  Kopf  leicht  rcclinirt  und  die  Oberschenkel  bei  eben  ange- 
deuteter Hyperextension  gespreizt  im  Winkel  von  ungefähr  30  bis 
40  ^  Das  Bett  reicht  fast  bis  zur  Kniegelenksgegend  herunter  und 
umfasst  den  Rumpf  bis  zur  vorderen  Axillarlinie,  sodass  eine  voll- 
ständige seitliche  Fixation  des  Rumpfes  ausgeübt  wird.  In  der 
Analgegend  hat  das  Bett  einen  an  Charnieren  herabklappbaren  Aus- 
schnitt, durch  welchen  die  Defäcation  stattfindet  (s.  Fig.  6).  Das 
Bett  ruht  mit  zwei  auf  jeder  Seite  befindlichen,  in  das  Bett  mittels 
Schraubengewinde  eingelassenen,  eisernen  Zapfen,  welche  in  Fig.  6 
vor  dem   herabgenommenen  Bett  liegend  sichtbar  sind,   auf  einem 

^)  Der  Lagerungsapparat  ist  von  dem  Bandagisten  Friedrich  Baumgartel 
in  Halle  a./S.  zum  Preise  von  TOM.  angefertigt;  davon  entfallen  12  M.  auf  das 
Bett,  den  einzigen  Theii,  der  für  jeden  Patienten  neu  hergestellt  werden  muss. 
Der  Rahmen  etc.  passt  für  alle  Individuen  innerhalb  einer  gewissen  Alters- 
grenze —  5  bis  8  Jahre. 


Die  anatomischen  Veränderungen  nach  Calot'schem  Redressement.      493 

mit  Füssen  versehenen ,  eisernen  Rahmen;  die  Länge  der  Zapfen 
muss  mindestens  10  cm  betragen,  damit  nachher,  wenn  das  Bett 
entfernt  ist  und  aus  dem  Redressionsbett  eine  Redressionsschwebe 
(s.  Fig.  6)  gemacht  ist,  zwischen  Rahmen  und  Körper  so  viel  Spiel- 
raum ist,  dass  z.  B.  Gypsbinden  bequem  hindurchgeführt  oder  Ab- 
waschungen bequem  vorgenommen  werden  können.  Das  Bett  muss 
so  dem  Rahmen  aufliegen,  dass  die  Tubera  parietalia,  die  Troch- 
anteren  und  die  vorderen  Ränder  der  Malleolen  ungefähr  in  eine 
horizontale  Ebene  fallen. 

Die  Extension  wird  bewirkt  durch  eine  am  Fussende  des  Rahmens 
befindliche  Flügelschraube,  welche  nach  dem  Patienten  hin  in  einen 
Haken  endigt.  An  diesem  Haken  eingehängt  ist  ein  Dynamometer, 
welches  auf  seiner  anderen  Seite  mit  einem  eisernen  Bügel  ver- 
bunden ist;  an  dem  letzteren  sind  entweder  die  Spreizbretter  der 
an  die  unteren  Extremitäten  angelegten  Heftpflaster-Streckverbände 
befestigt,  oder  es  werden  an  ihn  mit  Riemen  die  Gamaschen  ein- 
geschnallt, mit  welchen  an  den  unteren  Extremitäten  extendirt  wird. 
Die  Gamaschen  sind  äusserst  exakt  nach  Abdrücken  von  den  Ex- 
tremitäten gearbeitet  und  speciell  an  den  Malleolen  und  an  den 
Condylen  des  Fcmur  sind  Polsterungen  eingelegt,  so  dass  sie  sich 
hier  an  den  Hauptangriffspunkten  für  die  Zugkraft  den  Formen 
besonders  gut  adaptiren.  Die  Unterschenkel  ruhen  auf  einem  in 
dem  entsprechenden  Theil  des  Rahmens  ausgespannten  Segeltuch, 
auf  dem  die  Fersen  jedoch  nicht  mehr  aufliegen.  Die  Füsse  werden 
durch  seitlich  am  Rahmen  befestigte  Steigbügel  in  rechtwinkliger 
Stellung  zu  den  Unterschenkeln  gehalten  und  so  vor  den  Einwirkungen 
der  drückenden  Decke  bewahrt. 

Zur  Entlastung  der  HinterhauptÄSchuppe  kann  die  Contra- 
extension,  falls  der  Gibbus  nicht  in  der  Halswirbelsäule  oder  in 
der  oberen  Hälfte  der  Brustwirbelsäule  ist,  auch  noch  an  den 
Schultern  ausgeübt  werden.  Von  zwei  an  den  Rahmen  befestigten 
Haken  verlaufen  dann  von  der  hinteren  oberen  Schultergegend  durch 
die  Achselhöhlen  hindurch  über  die  vordere  Schulterpartie  nach 
dem  oberen  Querbalken  des  Rahmens  zwei  mit  runder  Polsterung 
versehene  Riemen;  die  Arme  selbst  ruhen  auf  zwei  an  dem  Rahmen 
befestigten  Brettchen,  welche  zur  Vermeidung  von  Decubitus  auch 
am  besten  gepolstert  sind.  Die  Contracxtension  am  Kopfe  wird 
nicht  wie  sonst  gewöhnlich  durch  eine  Sayre'sche  Schlinge  bewirkt, 


494  Dr.  L.  Wullstein, 

sondern  der  Kopf  wird  durch  ein  an  den  beiden  Seiten  des  Bettes 
angeknöpftes  Stirnband  in  der  ihm  schon  bei  der  Anfertigung  des 
Abdruckes  gegebenen,  leicht  reclinirtcn  Lage  fixirt  und  so  ein 
Hinübergleiten  der  Hinterhauptsschuppe  über  den  besonders  gut  aus- 
gearbeiteten und  gepolsterten  Hals-  und  Hinterhauptstheil  des  Bettes 
verhindert.  Bei  dieser  Art  der  Fixirung  des  Kopfes  bleibt  der 
ünterkieler  und  das  Kinn  für  die  Nahrungsaufnahme  vollständig 
frei  und  es  fallen  alle  die  Belästigungen,  welche  gerade  der  vordere 
Theil  der  Sayre 'sehen  Schlinge  verursacht,  vollständig  fort;  es 
braucht  nicht  während  der  Nahrungsaufnahme  die  Extension  am 
Kopfe  abgenommen  zu  werden,  sondern  sie  kann  unter  allen  Ver- 
hältnissen bei  Tag  und  bei  Nacht  eine  stetige  bleiben. 

Neben  der  Extension  und  Contraextension  wird  nun  eine  Re- 
clination  der  Wirbelsäule  und  damit  auch  gleichzeitig  ein  Druck 
gegen  die  Spitze  des  Gibbus  ausgeübt  durch  einen  elastischen  Zug, 
welcher  gerade  unter  dem  Buckel  liegt  und  von  hier  durch  zwei 
der  Ausdehnung  des  Buckels  entsprechende  Ausschnitte  der  Seiten- 
wände des  Bettes  zu  seiner  Befestigungsstelle  an  dem  eisernen 
Rahmen  resp.  zu  zwei  an  diesen  Stellen  dem  Rahmen  aufgenieteten 
Galgen  verläuft.  Diese  aufgesetzten  Galgen  müssen  so  hoch  sein, 
resp.  die  Seitenwände  des  Bettes  müssen  an  diesen  Stellen  so  tief 
ausgeschnitten  sein,  dass  der  elastische  Zug  in  seinem  Verlauf 
von  den  beiderseitigen  Befestigungsstellen  nach  dem  Buckel  an 
den  Stellen  der  Ausschnitte  dem  Bette  nicht  aufliegt,  da  sonst  bei 
Wegnahme  des  Bettes  an  dem  elastischen  Zuge  eine  Aenderung 
des  Dehnungscoefficienten  eintreten  würde. 

Erscheint  es  nun  aber  wünschenswerth ,  dass  im  Laufe  der 
Behandlung  Reinigungen  und  Abwaschungen  zur  besseren  Haut- 
pflege  vorgenommen  werden,  so  kann  das  Bett  entfernt  werden 
(s.  Fig.  6)  ohne  Unterbrechung  der  Extension  und  ohne  eine  Be- 
wegung und  Erschütterung  des  Patienten.  Zu  diesem  Zwecke 
liegt  etwas  unterhalb  der  Trochanterengegend ,  wo  die  Seiten- 
theile  des  Bettes  wiederum  fehlen,  ein  sonst  nicht  angezogener 
unelastischer  Gurt,  welchem  dann  durch  Anknöpfen  an  den  Rahmen 
eine  gewisse  Spannung  gegeben  wird.  Unter  der  Hinterhaupts- 
schuppe liegt  fernerhin  die  hintere  Hälfte  einer  aus  weichem 
Flanell  gearbeiteten  Sayre 'sehen  Schlinge,  welche  für  gewöhnlich 
zur  weiteren  Polsterung  dieses  Theiles  des  Bettes  beiträgt,  bei  der 


Die  anatomischen  Veränderungen  nach  Calot'schem  Redressement.     495 

Entfernung  des  BettCvS  aber  nach  Hinzufögung  des  Kiniitheiles  der 
Sayre'schen  Schlinge  den  Kopf  in  seiner  Lage  erhält.  Die 
Schlinge  wird  an  dem  oberen  Bügel  des  Rahmens  befestigt  und  das 
Stirnband  zuvor  entfernt.  Das  Bett  fällt,  nachdem  die  Zapfen, 
mit  denen  es  auf  dem  Rahmen  ruht,  ausgeschraubt  sind,  nach 
hinten  herunter,  ohne  dass  die  Extension,  die  Reclination  der  Wirbel- 
säule und  der  Druck  auf  den  Gibbus  sich  irgendwie  ändern  und 
ohne  dass  eine  Bewegung  oder  Erschütterung  des  Patienten  ver- 
anlasst wird.  Alle  Manipulationen  wie  Abwaschen  etc.  können 
jetzt  ohne  Weiteres  vorgenommen  werden;  ebenso  kann  das  erreichte 
Resultat  der  Redression  jeder  Zeit,  ohne  dass  eine  Lagerungs- 
änderung vorgenommen  wird,  durch  einen  circulären  Gypsverband 
oder  durch  ein  Corsett  fixirt  werden;  es  würde  dabei  dann  der 
elastische  Zug  und  bei  einem  in  der  Halswirbelsäule  oder  oberen 
Hälfte  der  Bi-ustwirbelsäule  befindlichen  Gibbus  auch  die  Savre- 
sehe  Schlinge  mit  eingegypst  und  nachträglich  abgeschnitten. 

Es  braucht  wohl  nicht  weiter  hervorgehoben  zu  werden,  dass, 
falls  der  Gibbus  und  damit  auch  der  elastische  Zug  sehr  hoch,  vielleicht 
in  Höhe  der  obersten  Brustwirbel  ist,  unter  der  Lendenwirbelsäule 
noch  ein  zweiter  unelastischer  Gurt  liegen  muss,  welcher  durch 
zwei  entsprechende  Ausschnitte  im  Bett  nach  dem  Rahmen  hin  ver- 
läuft und  vor  Wegnahme  des  Bettes  ebenfalls  gespannt  werden  muss. 

Die  aus  den  verschiedenen  redressirenden  Factoren  resultirendc 
Wirkung  gerade  bei  diesem  hier  vor  Ihnen  im  Bett  liegenden  Kinde 
veranschaulichen  diese  drei  Röntgen-Aufnahmcn^),  von  denen 
die  erste  vor  der  Behandlung,  die  andern  beiden  im  Redressions- 
bett  resp.  in  der  Redressionsschwebe  bei  einer  Extensionskraft  von 
10  kg  angefertigt  wurden.  Während  die  letzten  .beiden  unter  sich 
keine  Verschiedenheiten  zeigen,  so  unterscheiden  sie  sich  von  der 
crsteren  doch  wesentlich,  denn  bei  den  im  Redressionsbctt  resp. 
in  der  Redressionsschwebe  angefertigten  Aufnahmen  sehen  Sie  selbst 
an  der  Stelle  des  Gibbus  schon  eine  deutliche  Differenzirung  der 
einzelnen  Theile  der  Wirbelsäule,  während  die  vor  der  Behandlung 
angefertigte  Röntgen- Aufnahme  hier  nur  einen  dunklen  Fleck 
erscheinen  lässt,  wie  er  bei  den  Röntgenbildern  überall  da  vor- 
handen ist,  wo  mehrfache  Knochentheile  angehäuft  über  einander 
liegen. 

>)  Die  Röntgen -Aufnahmen  werden  deraonstrirt. 


496  Dr.  L.  Wullstein, 

Ein  anderer  allerdings  nur  bis  zu  einem  gewissen  Grade  ver- 
werthbarer  Maassstab  ist  das  Verhalten  des  Kindes.  Ist  nänalich 
im  Verlaufe  von  einigen  Stunden  nach  Ausschaltung  des  Muskel- 
spasmus eine  gewisse  Stetigkeit  in  die  Kraft  der  immer  nur  ge- 
linden .Extension  gekommen  und  die  letztere  nur  gerade  so  stark, 
wie  sie  das  Kind  ohne  Schmerzen  ertragen  kann,  so  genügt 
schon  eine  halbe,  ja  schon  eine  Viertelumdrehung  der  Flügel- 
schraube resp.  die  damit  verbundene  Extensionszunahrae  eines 
Bnichtheils  eines  Kilogramms,  um  das  Kind  zu  lauten  Schmerzens- 
äusserungen  zu  verlassen  —  als  Zeichen  dafür,  eine  wie  grosse 
Dehnung    und  Zerrung    an  der  Stelle    der  Erkrankung    stattfindet. 

Wie  stark  aber  der  Muskelspasmus  ist  und  wie  lange  es  währt, 
bis  er  vollständig  überwunden  ist,  zeigt  uns  das  Dynamometer. 
Denn  sobald  das  Kind  in  das  Bett  gelegt  wird  und  z.  B.  mit  einer 
Kraft  von  10  kg  gezogen  wird,  so  sinkt  verhältnissmässig  bald 
entsprechend  der  Erschlaffung  der  Muskeln  der  Zeiger  des  Dyna- 
mometer herab  auf  8,  6,  ja  4  kg  und  erst  nach  mehreren  Stunden, 
ja  zuweilen  erst  nach  einem  halben  Tage  kommt  eine  gewisse 
Stetigkeit  in  die  Extension;  wir  haben  nun  mit  einer  Kraft  zu 
rechnen,  welche  nach  Ausschaltung  der  Muskelcontraction  das 
Lageverhältniss  der  erkrankten  Knochen  beehiflusst.  Deshalb 
meinen  wir,  sollten  auch  diejenigen,  welche  es  vorziehen,  die  mit 
Spondylitis  behafteten  Individuen  während  der  ganzen  Dauer  der 
Behandlung  in  einem  portativen  Apparat  umherlaufen  zu  lassen, 
dieselben  wenigstens  einen  halben  bis  ganzen  Tag  in  einer  der- 
artigen Redressionss(!hwebe  extendiren,  dadurch  den  Muskelspasmus 
ausschalten  und  dann,  ohne  die  Extension  zu  unterbrechen  und 
die  Lage  zu  verä.ndern,  den  circulären  Gypsverband  anlegen  oder 
den  Abdruck  für  das  Corsett  anfertigen,  denn  niemals  wird  das 
kurze  Aufhängen  in  der  Glisson 'sehen  Schwebe  weder  bei  der 
Spondylitis  noch  bei  der  Scoliose  die  sehr  wesentliche  und  nicht 
zu  unterschätzende  Muskelcontraction  genügend  beseitigen. 

Der  Einwurf  aber,  welcher  gegen  jeden  Lagerungsapparat 
wohl  gar  mit  einer  scheinbaren  Berechtigung  erhoben  werden  kann, 
dass  die  Patienten  gezwungen  seien,  Wochen  und  Monate  in  Rücken- 
lage zu  verhangen,  ist  nicht  stichhaltig,  da  ja  bei  dem  forcirten 
Redressement  die  Patienten  neben  all'  den  Gefahren,  welche  sie 
umschweben,    auch  Wochen    und  Monate    hindurch  sogar   in    dem 


Die  anatomischen  Veränderungen  nach  Calot'schem  Redressement.     497 

unheimlichen  Verbände  liegen  müssen.  Aber  nicht  nur  das  forcirte, 
nein,  selbst  das  geringste  in  einem  einzigen  kurzen  Acte  vor- 
genommene, partielle  Redressement  mit  oder  ohne  Narkose  macht 
Diastasen  in  der  Wirbelsäule,  und  daher  ist  es  nach  unserer  Ansicht 
auch  hier  unmöglich,  die  Patienten  in  einem  womöglich  nur  bis  zu 
den  Schultern  heraufreichenden  Corsett  oder  circulären  Gypsverbande 
umherlaufen  zu  lassen  und  das  an  der  Stelle  der  Diastase  seiner 
knöchernen  Hülle  beraubte  Rückenmark  derartiger  Individuen  den 
niemals  fehlenden  Erschütterungen  beim  Gange  auszusetzen.  In  dem 
Redressionsbett  dagegen  wird  im  Gegensatz  zu  allen  anderen  Ver- 
fahren bei  voller  Garantie  der  Continuitätserhaltung  der  Wirbel- 
säule eine  ständige  Immobilisirung  und  Entlastung  der  erkrankten 
Partieen  und  eine  geringe  Dehnung  der  Spongiosabälkchen  statt- 
finden und  dadurch  eine  lebhaftere  Entwicklung  und  Transformation 
der  letzteren  angeregt  werden. 


Erklärung  der  Abbildungen  auf  Tafel  I. 

Fig.  1.  e  und  f  Abscesse  in  der  Muskulatur  an  der  Vorderseite  der  Wirbel- 
körper, von  diesen  wurde  der  untere  Abscess  f  bei  der  nachherigen 
Section  angeschnitten. 

Fig.  2.  a  Oberes  Ende,  b  unteres  Ende  der  durch  das  Redressement  er- 
zeugten Diastase. 

c  Sequester,  nur  noch  an  einem  dünnen  Periostfetzen  hängend, 
d  Vollständige  Fractur  der  Wirbelsäule. 

e  und  f  Abscesse  in  der  Muskulatur  an  der  Vorderseite  der  Wirbel- 
körper, von  diesen  wurde  der  untere  Abscess  f  bei  der  nachherigen 
Section  angeschnitten. 

Fig.  3.  a  Spitzwinkliger  Gibbus. 

b  Flach  bogenförmiger  Buckel. 

c  Abscess  an  der  vorderen  und  linken  Seite  der  Wirbelkörper. 

Fig.  4.  a  Obere  Diastase. 
b  untere  Diastase. 

c  Kapsel  des  Abscesses,  der  bei  der  Präparation  durchschnitten 
werden  musste. 

Fig.  5.  Redressionsbett.  Am  Boden  liegt  der  bei  dem  Redressionsbett  nicht 
nothwendige,  vordere  Thcil  der  Sayre^schen  Schlinge. 

Fig.  6.  Redressionsschwebe.  Am  Boden  liegt  das  bei  der  Redressionsschwebe 
nicht  nothwendige  Stirnband,  ferner  das  herabgenommene  Bett  und 
vor  diesem  die  eisernen  Zapfen  und  der  zu  dem  Eindrehen  der  Zapfen 
in  die  Schraubengewinde  nölhige  Schlüssel. 


XXVII. 

Zur  Technik  des  Redressements  und  des 
Verbandes  an  der  gibbösen  Wirbelsäule/) 

Von 

Dr.  Wniplns 

in  Heidelberg. 


Die  Thatsache  häufiger  Todesfölle  nach  dem  Redrcssement 
der  spondylitisch-dcformirten  Wirbelsäule  hat  die  Angaben  Calot's, 
dass  der  Eingriff  nicht  gefährlich  sei,  modificirt.  Die  Betrachtung 
von  Leichenpräparaten  lässt  Zweifel  aufkommen,  ob  eine  solide 
Ausheilung  der  klaffenden  Lücke  in  der  Wirbelkörperreihe  möglich 
sei.  Und  doch  sind  wir  meines  Erachtens  verpflichtet,  unsere 
Versuche  mit  dem  Verfahren  vorsichtig  fortzusetzen.  Deshalb  muss 
vor  allem  die  ursprüngliche  Technik  verbessert  werden. 

Zum  Zweck  des  Redressements  ist  die  manuelle  Extension  un- 
zulänglich, weil  ungleichmässig  und  anstrengend.  Sie  ist  gefähr- 
lich, weil  die  vielen  Hände  den  Narkotiseur  stören  und  auch  den 
Operateur,  insbesondere  bei  der  Verbandanlegung. 

Es  ist  deshalb  die  horizontale  Schrauben extension  in  irgend 
welcher  Weise  herzustellen,  am  einfachsten  wohl  in  der  Form,  wie 
ich  sie  bereits  andernorts  beschrieben  habe,  mit  Hülfe  einer  modi- 
ficirten  Lorcnz'schen  Schraube^). 

In  dieser  horizontalen  Schwebe  bei  unterstütztem  Becken  und 
Manubrium  Storni  kann  die  Extension,    die  Impression  der  Wirbel- 


*)  Auszugsweise  vorgetragen    am  2.  Sitzungstage    des  XXVII.  Congresses 
der  Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  14.  .April  1898. 
2)  Münchener  med.  Wochenschrift.     1897,  No.  36. 


Technik  d.  Redressements  a.  des  Verbandes  an  d.  gibbösen  Wirbelsäule.     499 

Säule,  die  Resection  der  Darmfortsätze,  der  Verband  bequem  be- 
werkstelligt werden. 

Immerhin  hat  die  verticale  Suspension  behufs  Anlegung  des 
Verbandes  Vorzüge.  Das  Aufhängen  an  den  Füssen,  so  sehr  es 
zunächst  abschreckt,  ist  nicht  so  übel,  es  hat  sich  uns  diese 
Methode  bei  etwa  20  Verbänden  gut  bewährt  und  keine  üebel- 
stände  gezeigt.  Vorzüge  dieser  Position  sind  die  freie  Zugänglich- 
keit des  ganzen  Rumpfes,  die  Entfeniung  des  Narkotiseurs  aus 
dem  Arbeitsgebiet,  die  Möglichkeit  direct  an  der  Wirbelsäule  und 
mit  dorsirbarer  Kraft  eine  Gewichtsextension  anbringen  zu  können. 
Der  Verband  rauss  den  extendirten  Kopf  mitfassen,  wenn  ein 
dauerndes  Bestehen  der  Correctur  gesichert  sein  soll.  Indem  der 
Verband  sich  einerseits  am  Becken,  andererseits  auf  den  Schultern, 
am  Hinterhaupt  und  Kinn  fest  aufstemmt,  wird  die  Extension 
garantirt  und  Decubitus  an  den  Dornfortsätzen  vermieden. 

Dass  mittelst  dieses  Verfahrens  auch  ungünstig  scheinende 
Fälle  erstaunlich  gebessert  werden  können,  möge  durch  die  Be- 
obachtung an  einem  9jährigcn  Jungen  bewiesen  werden.  Seit 
5  Jahren  bestand  Spondylitis  und  Gibbus,  der  mächtige  Dimensionen 
annahm,  einen  grossen  Theil  der  Wirbelsäule  umfasste.  In  letzter 
Zeit  erschienen  grosse  SenkungSabscesse  beiderseits.  Das  Befinden 
des  anämischen  Knaben  war  sehr  schlecht,  er  konnte  kaum  gehen 
und  stehen.  Die  Absc^esse  wurden  entleert,  mit  Jodoform  gefüllt 
und  heilten  glatt. 

Nach  14  Tagen  wurde  redressirt,  2  Verbände  wurden  8  Monate 
getragen,  dann  durch  ein  Corset  ersetzt.  Die  Configuration  der 
Wirbelsäule  ist  fast  nonnal,  letztere  schmerzlos  und  anscheinend 
consolidirt.  Der  Knabe  hat  sich  prächtig  erholt,  ist  rothbackig 
und  munter. 

Also  es  hat  den  Anschein,  als  ob  die  Spondylitis,  die  De- 
formität, der  Allgemeinzustand  durch  das  Verfahren  ausserordent- 
lich günstig  beeinflusst  worden  seien. 

Günstiger  noch  könnten  die  Verhältnisse  und  Ileilungsaussichten 
bei  nicht  entzündlichen  Deform itälen  der  Wirbelsäule,  namentlich 
bei  der  rachitischen  Kyphose  sich  gestalten.  Es  ist  wohl  denkbar, 
dass  nach  Correctur  der  Belastung  die  Wirbel  sich  umformen. 
Freilich  ist  der  Entschluss  zuiri  gewaltsamen  Redressement  in 
solchen  Fällen,  wo  es  sich  nicht  um  ein  lebensgefahrliches  Leiden 


500     Dr.  Vulpius,  Zur  Technik  des  Redressements  und  des  Verbandes  etc. 

handelt,  schwerer.  Erfolge  habe  ich  indessen  gesehen,  unter  Anderem 
bei  einem  5jährigen  Mädchen,  dessen  sehr  erhebliche  Kyphose 
durch  das  Verfahren  mittelst  3  Verbänden  in  TYa  Monaten  in  einen 
massig  runden  Rücken  verwandelt  werden  konnte,  der  fixirt  zu 
sein  schien. 

Derartige  Beobachtungen  errauthigen  zur  weiteren  Erprobung 
des  Oalot' scheu  Verfahrens  so  lange,  bis  wir  ein  durch  Erfahrung 
gesichertes  Urtheil  fällen  können. 


XXVIII. 

Die  Calot'sche  Behandlung  der  tuberkulösen 

Spondylitis/^ 

Von 


Professor  Ar.  Holfo 

in  Wilrzbai^. 


M.  IL!  Sie  alle  kennen  das  grosse  Aufsehen,  welches  die 
erste  Publication  Calot's  unter  den  Aerzten  und  dem  Publicum 
hervorrief,  und  Sie  alle  wissen,  dass  Calot  seine  ersten  kühnen 
Erwartungen  nicht  hat  in  Erfüllung  gehen  sehen.  Er  erlebte  Ent- 
täuschungen, die  ihn  bewogen,  sein  erstes  gewaltsames  Vorgehen 
völlig  aufzugeben,  so  dass  er  zur  Zeit  die  Buckelredression  sehr 
eingeschränkt  hat.  Hiermit  hat  Calot  meiner  Meinung  nach  sehr 
richtig  gehandelt. 

Die  Frage,  die  sich  jeder  von  uns  wohl  vorgelegt  hat,  ehe  er 
an  die  Redression  eines  Buckels  heranging,  ist  die,  ob  das  Ver- 
fahren überhaupt  Berechtigung  hat.  Ist  die  Redression  des  Buckels 
nicht  unmittelbar  lebensgefährlich,  werden  sich  nicht  im  Anschluss 
an  das  gewaltsame  Verfahren  Abscesse  entwickeln,  wird  sich  nicht 
die  locale  Tuberculose  generalisiren,  droht  uns  nicht  der  Ausbruch 
einer  tuberculösen  Meningitis?  l^nd  wenn  diese  Gefahren  alle 
glücklich  vermieden  sind,  wird  nach  der  Redression  die  entstandene 
gros.se  Lücke  sich  wieder  mit  festem  Gewebe  füllen,  oder  wird 
nicht  vielmehr  die  Wirbelsäule  wieder  zusammensinken,  sobald  der 
stützende  Verband  entfernt  ist?  Calot  hat  diese  Fragen  mit 
kühnem  Muth  zu  Gunsten    seines  Verfahrens    beantwortet,   und  es 

*)  Abgekürzt  vorgetragen  am  2.  Sitziingstage  des  XXVII.  Congresses  der 
Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  14.  April  1898. 

Archiv  CUt  klin.  Chinirgic.    57.  Bd.  Hoft  3.  34 


502  Dr.  Hoffa, 

muss  sich  mm  zeigen,  ob  dieser  optimistische  Standpunkt  einer 
objectiven  Kritik  gegenüber  eingehalten  werden  kann.  Von  vielen 
Seiten  aus,  in  Frankreich,  England  und  bei  uns  in  Deutschland 
sind  Erfahrungen  gesammelt  worden,  und  ich  möchte  ganz  kurz 
jetzt  den  Standpunkt  skizziren,  den  wir  heute  meiner  Ansicht 
nach  dem  Calot' sehen  Verfahren  gegenüber  einnehmen  müssen. 
Es  hat  sich  zunächst  gezeigt,  dass  das  Redressement  eine 
ganze  Reihe  von  Todesfällen  zur  Folge  gehabt  hat.  Diese  Todes- 
fälle sind  theils  der  Narkose  zugeschrieben  worden,  theils  sind  sie 
durch  Pneumonie,  durch  Shock,  durch  Meningitis  tuberculosa  erfolgt. 
Ich  kenne  aus  der  Literatur  jetzt  14  dieser  Todesfälle;  doch  habe 
ich  bei  der  Besprechung  mit  verschiedenen  Kollegen  noch  von 
einer  Reihe  von  Todesfällen  gehört,  die  noch  nicht  publicirt  sind. 
Meist  war  es  die  tuberculöso  Meningitis,  der  die  Patienten  erlagen. 
Analysirt  man  diese  Todesfälle,  so  hat  es  sich  in  der  Regel  um 
schon  viele  Jahre  bestehende  Buckel  gehandelt,  die  mit  Ge- 
walt eingebrochen  waren.  In  anderen  Fällen  handelte  es  sich  um 
elende  Kinder  mit  Abscessen,  Lähmungen  und  anderen  Corapli- 
cationen  namentlich  von  Seiten  der  Lungen.  Ereigneten  sich  nun 
auch  einige  Todesfälle  bei  noch  jüngeren  Kindern,  so  bestand  bei 
diesen  der  Buckel  doch  schon  längere  Zeit,  und  müssen  wir  daher 
als  erste  Oontraindication  gegen  das  Verfahren  das  Alter  des 
Buckels  bezeichnen.  Hat  ein  Gibbus  länger  als  3 — 4  Jahre 
bestanden,  so  ist  er  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  in  Ruhe  zu  lassen, 
da  sich  mit  aller  Wahrscheinlichkeit  eine  feste  Verwachsung  der 
Wirbel  entwickelt  hat.  Man  hat  meiner  Erfahrung  nach  in  der 
Extension  der  Wirbelsäule  ein  gutes  Mittel,  um  zu  entscheiden, 
ob  ein  vorsichtiges  Redressement  gestattet  ist  oder  nicht.  Lässt 
man  ohne  Narkose  an  Kopf  und  Füssen  eine  gelinde  Extension 
ausüben,  und  sieht  man  dabei  den  Buckel  sich  abflachen,  so  ist 
das  ein  Zeichen,  dass  die  Thcile  noch  nachgiebig  sind.  Dann  kann 
man,  wie  gesagt,  in  gleich  zu  beschreibender  Weise  noch  einen 
weiteren  Ausgleich  des  Gibbus  vornehmen.  Flacht  sich  aber  der 
Buckel  nicht  ab,  so  ist  vor  jeder  stärkeren  Gewaltanwendung 
dringend  zu  warnen.  Ich  will  gleich  hier  erwähnen,  dass  man 
auch  diesen  Patienten  noch  viel  nützen  kann,  wenn  man  sie  richtig 
eingipst,  indem  man  die  oberhalb  und  unterhalb  des  Gibbus  ge- 
legenen Partiecn  der  Wirbelsäule  gerade  richtet. 


Die  Calot'sche  Behandlaog  der  tuberkulösen  Spondylitis.         503 

Es  ist  nun  aber  nicht  allein  das  Alter  des  Buckels,  welches 
eine  Contraindieation  gegen  das  Verfahren  giebt.  Eine  solche  wird 
vielmehr  auch  durch  den  Grad  der  Buckelbildung  gegeben. 
An  der  Zahl  der  Domfortsätze,  die  in  der  Bildung  des  Gibbus 
einbegriffen  sind,  kann  man  sich  über  die  Zahl  der  betheiligten 
Wirbel  ein  ungefähres  Bild  machen.  Stellt  man  sich  nun  den  bei 
der  Redression  des  Buckels  vor  sich  gehenden  Process  an  der 
Wirbelsäule  vor,  so  ist  es  klar,  dass  bei  der  Eindrückung  des 
Buckels  ein  Klaffen  der  vorderen  Partie  der  Wirbelsäule  zu  Stande 
kommen  wird.  Nach  den  Versuchen  von  M^nard  entsteht  bei 
Befallensein  von  1 — 2  Wirbeln  eine  Lücke  schon  von  3—4  cm, 
bei  Befallensein  von  3  Wirbeln  eine  solche  von  5,  ja  von  8  cm, 
und  wir  müssen  es  für  unmöglich  halten,  dass  bei  solchen  Defecten 
in  der  Wirbelsäule  später  eine  genügende  Tragfähigkeit  derselben 
zu  Stande  kommen  kann. 

Da  Herr  College  Wullstein  über  diese  Frage  nachher  noch 
weiter  sprechen  wird,  will  ich  weiter  nicht  auf  dieselbe  eingehen, 
und  will  nur  erwähnen,  dass  Calot  und  sein  Assistent  Ducroquet 
behaupten,  an  Röntgenbildern  nachgewiesen  zu  haben,  dass  die 
Tfiach  der  Redression  des  Buckels  am  Lebenden  entstehenden 
Lücken  in  der  Wirbelsäule  im  allgemeinen  kleiner  sind,  als  man 
dies  nach  den  Leichenbefunden  annehmen  sollte,  indem  sich  die 
stehen  gebliebenen  Theile  der  erkrankten  Wirbel  gewissermasscn 
in  einander  einkeilen.  Ob  diese  Behauptung  der  Wirklichkeit 
thatsächlich  entspricht,  muss  erst  noch  von  anderer  Seite  be- 
stätigt werden. 

In  den  Präparaten,  die  von  den  nach  der  Redression  ge- 
storbenen Patienten  stammen,  —  und  solcher  Präparate  kennen 
wir  jetzt  schon  eine  ganze  Anzahl,  —  ist  von  einer  derartigen 
Einkeilung  nichts  zu  sehen.  Könnten  wir  uns  nun  vom  patholo- 
gisch-anatomischen Standpunkte  aus  vorstellen,  dass  kleinere  De- 
fecte  in  der  Wirbelsäule  so  reparirt  werden  können,  dass  die 
Wirbelsäule  wieder  tragfähig  wird,  so  müssen  grössere  Lücken  die 
Trag-  und  Stützfähigkeit  der  Wirbelsäule  unbedingt  'herabsetzen, 
und  bilden  dalier  hochgradige  Buckel,  wie  gesagt,  eine  absolute 
Contraindieation  gegen  das  Verfahren. 

Eine  weitere  Contraindieation  gegen  irgend  ein  stärkeres 
redressirendes    Verfahren    bilden    Abs c esse.      Bei    den    meisten 

34* 


504  Dr.  Hoffa, 

Todesfällen,  die  an  tuberculöser  Meningitis  erfolgten,  ergab  die 
Scction  das  Vorhandensein  von  Abscessen,  und  es  ist  leicht  zu 
verstehen,  dass  bei  dem  Redressement  die  Eiterhöhlen  eröffnet  und 
die  tuberculösen  Massen  in  die  Blutbahnen  fortgeschwemmt  werden. 
Man  hat  in  der  Messung  der  Temperatur  nach  dem  Redressement 
ein  fast  sicheres  Mittel,  um  sich  von  dem  Vorhandensein  vorher 
nicht  diagnosticirbarer  Abscesse  zu  überzeugen.  Sind  solche 
Absccsse  vorhanden,  so  stellen  sich  unmittelbar  nach  dem 
Redressement  Temperatursteigerungen  ein,  die  man  sonst  nicht 
beobachtet. 

Lähmungen  der  Beine,  der  Blase  und  des  Mastdarmes 
bilden  im  allgemeinen  keine  Contraindication  gegen  das  Verfahren; 
im  Gegentheil  haben  eine  ganze  Reihe  von  Autoren,  zu  denen  ich 
auch  selbst  gehöre,  bestehende  stärkere  Lähmungen  unmittelbar 
nach  dem  Redressement  zurückgehen  sehen. 

Fasse  ich  das  Gesagte  nochmals  kurz  zusammen,  so  warne 
ich  dringend  vor  der  gewaltsamen  Redression  älterer  und  hoch- 
gradigerer Fälle.  Ebenso  warne  ich  vor  einer  gewaltsamen 
Redression  auch  geringgradiger  Buckel  bei  jüngeren  Kindern,  halte 
dagegen  für  erlaubt  einen  vorsichtigen  Ausgleich  nicht  zu* 
lange,  d.  h.  nicht  länger  als  2 — 3  Jahre  bestehender  Buckel 
bei  jüngeren  Individuen.  Ich  empfehle  in  solchen  Fä-Ilen  eine 
vorsichtige  Extension  am  Kopf  und  den  Füssen  des  Patienten  vor- 
zunehmen, einen  Druck  auf  den  Gibbus  möglichst  ganz  zu  ver- 
meiden und  die  Gorrection  der  Deformität  vor  der  Eiugipsung  der 
Eigenschwere  des  Körpers  zu  überlassen.  Eine  Narkose 
ist  dabei  nicht  nothwendig.  Die  Eigenschwerc  kommt  in  der 
Weise  zur  Geltung,  dass  bei  horizontaler  Haltung  des  frei  an  Kopf 
und  Füssen  extendirten  Patienten  die  Wirbelsäule  sich  lordotisch 
aus  biegt.  Diese  Lordose  verstärkt  man  dann  während  der  An- 
leii:ung  des  Gipsverbandes  durch  sanften  Händedruck.  Da  später 
noch  des  Näheren  von  anderen  Herren  Collegen  über  die  Technik 
g(\s|)roclien  werden  wird,  so  will  ich  mich  darauf  beschränken,  zu 
sagen,  dass  mir  das  Ihnen  bekannte  ursprüngliche  Calot'sche 
Verfcihren  die  besten  Resultate  geliefert  hat,  wobei  ich  aber  nicht 
unerwähnt  lassen  will,  dass  das  Mi  thereinbeziehen  des  Kopfes  in 
den  lixirenden  Verband  zuerst  von  Schönborn  und  seinem 
Schüler  Falkson  empfohlen  und  practisch  geübt  worden  ist.  Man 


Die  Calot'sche  Behandlung  der  tuberkulösen  Spondylitis.         505 

kann,    wenn   man  Calot's  Vorschriften   genau    befolgt,    den   De- 
cubitus sicher  vermeiden. 

Was  nun  meine  eigenen  Erfahrungen  anbetrifft,  so  habe 
ich  das  ursprüngliche  Calot'sche  Verfahren  mit  Resection  der 
Dornfortsätze  viermal  geübt.  Das  vorsichtige  Redressement  da- 
gegen, wie  es  Calot  jetzt  auch  selbst  empfiehlt,  19  mal.  Ich 
habe  also  im  ganzen  23  Fälle  behandelt. 

Ich  kann  nicht  anders  sagen,  als  dass  ich  mit  meinen  Resul- 
taten bisher  recht  zufrieden  bin.  Bei  zwei  Patienten  entstanden 
nach  dem  Redressement  A  bscesse,  die  vorher  nicht  nachweisbar 
waren.  Diese  Abscessc  habe  ich  in  üblicher  Weise  mit  Function 
und  Jodofonninjcction  behandelt.  Von  zwei  Patienten  mit 
Lähmungen  ging  in  dem  einen  Falle  die  Lähmung  vollständig 
zurück,  schon  wenige  Tage  nach  der  Redression,  in  dem  anderen 
Falle  war  die  Redression  ohne  Einfluss  auf  die  Lähmung.  Was 
nun  die  Beschränkung  der  Buckelbildung  betrifft,  so  habe  ich  in 
allen  Fällen  eine  oft  recht  erhebliche  Abflachung  des  Buckels  er- 
zielt. Mein  ältester  Fall  datirt  jetzt  1  Jahr  und  4  Monate  zurück, 
und  es  kann  daher  selbstverständlich  von  einem  definitiven 
Resultate  nicht  die  Rede  sein.  Man  darf  nicht  vergessen, 
dass  es  sich  neben  der  Deformität  doch  noch  um  eine 
tuberculösc  Erkrankung  der  Wirbel  handelt,  und  dass 
eine  Ausheilung  einer  solchen  Erkrankung  mindestens 
2  —  3  Jahre  beansprucht.  Dadurch  aber  nun,  dass  man  die 
Wirbelsäule  extendirt,  dass  man  durch  lordotische  Ausbiegung  der 
Wirbelsäule  in  toto  die  Wirbelkörper  entlastet,  und  dass  man  dann 
die  entlastete  Wirbelsäule  möglichst  exact  immobilisirt,  stellt  man 
diejenigen  Bedingungen  her,  welche  neben  der  Herstellung 
möglichst  günstiger  Lebensbedingungen  die  Ausheilung 
einer  Knochen-  oder  Gelenktuberculose  auf  conservativem  Wege 
am  günstigsten  beeinflussen. 

Ich  will  Sie  nicht  länger  aufhalten,  m.  H.  Zeit  und  Er- 
fahrungen müssen  lehren,  ob  die  erzielten  Besserungen  Bestand 
halten  werden,  ob  die  Wirbelsäule  später  nicht  doch  wieder  die 
kyphotische  Haltung  einnehmen  wird.  Jedenfalls  wird  es  nöthig 
sein,  die  Behandlung  nach  Abnahme  des  typischen  Verbandes 
durch  exact  angelegte  Stützcorsette    noch  Jahre  lang  fortzuführen. 


506      Dr.  FToffa,  Dio  Galot'Bche  Behandlung  der  toberkulösen  Spondylitis. 

Es  wäre  aber  ein  Segen,  wenn  es  uns  gelingen  würde,  den 
armen  Buckligen,  welche  unter  ihrer  Deformität  oft  so  sehr  leiden, 
helfen  zu  können.  Für  unsere  Hauptaufgabe  müssen  wir  es  in 
Zukunft  jedenfalls  ansehen,  nicht  die  Buckel  zu  redressiren,  sondern 
der  Buckelbildung  überhaupt  nach  Kräften  frühzeitig  vorzubeugen. 
Hatte  uns  das  Lorenz'sche  Reclinationsgipsbett  in  dieser  Be- 
ziehung schon  einen  grossen  Portschritt  gebracht,  so  wird  uns  das 
Galot'sche  Verfahren  auf  diesem  Wege  hoffentlich  noch  einen 
guten  Schritt  weiter  bringen. 


XXIX. 

Ein  Vorschlag  zur  Modification  des  Calot 

sehen  Verfahrens.'^ 


Von 

Professor  Or.  (Schede, 

Gell.  Hed.-Rath.  in  Bonn. 

(Mit  4  Figuren. ) 


M.  IL!  Nach  den  bereits  gehörten  Vorträgen  kann  ich  mich 
kurz  fassen  und  constatirc  zunächst  mit  Genugthuung  die  aus  den 
gesamnitcn  Verhandlungen  hervorgehende  Ueberzeugung  der 
deutschen  Chirurgen,  dass  die  Indicationsstellung  für  das  Caiot- 
sche  Verfahren  gegenüber  den  Vorschriften  des  Erfinders  wesentlich 
eingeschränkt  und  seine  Handhabung  eine  sehr  viel  vorsichtigere 
werden  müsse.  Ich  stehe  in  dieser  Richtung  ganz  auf  dem  Stand- 
punkt des  Herrn  Hoffa  und  kann  also  lediglich  unterschreiben, 
was  er  gesagt  hat.  In  der  That  glaube  ich,  ist  wohl  einen  Jeden 
von  uns  ein  Grauen  überkommen,  als  wir  zuerst  von  dem  Calot- 
schen  ausserordentlich  brüsken,  ja,  man  darf  wohl  sagen,  rohen 
Verfahren  hörten,  und  ich  selbst  habe  mich  niemals  entschliessen 
können,  mit  seinen  Mitteln,  mit  der  uncontrolirbaren  Kraft  von 
6  Assistenten  und  noch  mehr  zu  arbeiten  oder  gar,  wie  es  Calot 
vorschreibt,  unter  Anwendung  eines  sehr  beträchtlichen  Druckes 
auf  den  Gibbus  diesen  auszugleichen.  Indessen  glaube  ich,  muss 
man  doch  dankbar  anerkennen,  dass  Calot  uns  gezeigt  hat,  dass 
man  den  Gibbus  wesentlich  derber  anfassen  kann  und  darf  als  wir 
es  bisher  zu  dürfen  geglaubt  haben,  dass  man  mit  grösserer  Kraft 
das  herbeiführen  darf,  was  auch  wir  ja  durch  alle  unsere  früheren 


0  Vorgetragen  am  2.  Sitzungstagc  des  XXVII.  Congrcsses  der  Deutschen 
Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  U.  April  1898. 


508  Dr.  Schede, 

Behandlungsmethoden,  die  ja  im  wesentlichen  Distractionsmethoden 
waren,  erstrebten,  nämlich  dass  wir  den  Druck  der  kranken  Wirbel- 
körper aufeinander  aufzuheben  suchten.  Wenn  wir  mit  etwas 
grösserer  Kraft  als  bisher  und  mit  grösserer  Sicherheit  ein  leichtes 
Klaifen  der  kranken  Wirbelkörper  von  einander  herbeiführen,  dem 
ulcerösen  Decubitus  der  Knochen,  wie  Volkmann  es  so  treffend 
nannte,  sicherer  vorbeugen  können,  so  werden  wir  die  kranke 
Wirbelsäule  unter  bessere  Verhältnisse  bringen,  als  es  bisher 
möglich  war.  Darüber  hinauszugehen,  den  Gibbus  noch  weiter  zu 
strecken,  die  kranken  Wirbelkörper  so  weit  auseinander  zu  reissen, 
dass  auf  der  vorderen  Seite  zwischen  ihnen  weit  klaffende  Lücken 
entstehen,  das  hat,  auch  abgesehen  von  den  Gefahren,  die  dadurch 
heraufbeschworen  werden,  schon  deswegen  gar  keinen  Sinn,  weil 
man  sich  gar  keine  Vorstellung  davon  machen  kann,  wodurch 
denn  diese  Lücken  ausgefüllt  werden  sollen.  Im  allerbesten  Falle 
doch  höchstens  durch  Granulationen,  die  sich  in  Narbengewebc 
umwandeln,  schrumpfen  und  dabei  den  Gibbus  wieder  herstellen 
müssen.  Will  man  das  dann  durch  V^erbände  hindern,  so  wird 
man  auch  die  Ausheilung  hindern,  in  vielen  Fällen  aber  an  den 
Stützpunkten  des  Gipsverbandes,  Hinterhaupt  und  Becken,  nament- 
lich aber  an  ersterem,  Decubitus  bekommen  und  dann  die  ganze 
Behandlung  aufgeben  müssen.  Aber  wie  gering  ist  bei  diesen 
tuberculösen  Processen  selbst  die  Aussicht  auf  eine  gesunde 
Granulationsentwicklung!  Und  welche  Gefahren  bei  einer  zu  starken 
Streckung  drohen,  darüber  brauche  ich  nach  dem,  was  Sie  heute 
gehört  haben,  kein  Wort  mehr  zu  verlieren. 

Es  ist  nun  natürlich  einfach  eine  Fnige  der  Technik,  wie  wir 
am  besten  unser  oben  bezeichnetes  Ziel  erreichen.  Wir  wollen  mit 
einer  massigen,  genau  controlirbaren  Kraft  eine  gewisse  Distraction 
der  kranken  Wirbelsäule  herbeiführen  und  sicher  durch  längere 
Zeit  hindurch  aufrecht  erhalten,  um  den  Druck  der  kranken 
Wirbelkörpcr  aufeinander  ganz  aufzuheben.  Dazu  brauchen  wir 
allerdings  eine  massige  Abflachung  des  Gibbus  und  können  damit 
wohl  sicher  etwas  weiter  gehen,  als  es  bisher  durch  die  Rauch- 
fu  SS 'sehe  Schwebe,  die  Extension  an  der  Glisson 'sehen  Schwinge, 
den  Sayre'schen  Jurymast  und  die  übrigen  zu  seinem  Ersatz  er- 
fundenen Stützapparate  für  den  Kopf  geschehen  ist. 

In  welcher  Weise  ich  durch  eine  Modification  des  Calot'schen 


Ein  Vorschlag  zur  Modificatioii  des  Calot'schen  Verfahrens.        509 

Verfahrens  dieses  Ziel  zu  erreichen  versucht  habe,  möchte  ich  Ihnen 
jetzt  kurz  demonstriren. 

Der  Patient  (hier  durch  das  Phantom  eines  Kindes  dargestellt, 
bei  welchem  der  Buckel  durch  eine  Stahlfeder  nachgeahmt  ist) 
liegt  mit  der  Bauchseite  auf  einem  Gestell  (Fig.  1)  dessen  mittlerer 
Thcil  einem  kurzen  und  schmalen  Tisch  ähnelt.  Die  Platte  des- 
selben ist  in  mehrere  quere.,  bankartige  Stücke  zerlegt,  die  be- 
liebig entfernt  oder  auf-  und  abwärts  verschoben  werden  können. 
(Die  Figur  zeigt  bei  a  einen  stehengebliebenen,  bei  b  den  bei 
Seite  gesetzten  Theil.)  Die  Stirn  des  Kindes  ruht  auf  einem  5  cm 
breiten  Lederstreifen  (c),  welcher  je  nach  der  Grösse  des  Patienten 
an  seinen  seitlichen  Tragstangen  in  weiten  Grenzen  auf-  und  ab- 
wärts verschoben  werden  kann.  Das  Gesicht  ist  also  völlig  frei 
zugängig,  so  dass  eine  Narkose,  wo  sie  noth wendig  sein  sollte, 
leicht  ausführbar  ist. 

Die  Querstange  (e)  des  am  Kopfende  des  Apparates  in 
horizontaler  Richtung  vorspringenden  Rahmens  (d  e  f )  dient  als  Be- 
festigimgsort  für  die  Extensionsschnüre  der  Arme  und  des  Kopfes. 
(Erstere  hängen  in  der  Figur  senkrecht  herab,  um  auf  dem  Bild 
die  Art  der  Construction  nicht  zu  undeutlich  zu  machen.  Soll  der 
Apparat  in  Thätigkeit  treten,  werden  sie  natürlich  über  den  Kopf 
erhoben.)  Die  Extensionsschnüre  für  den  Arm  greifen  an  gut  an- 
liegenden Ledermanschetten  an,  welche  fest  um  die  Handgelenke 
geschnallt  werden. 

i  Eine  besonders  wichtige  Aufgabe  schien  es  mir,  die  Extension 
^m  Kopf  so  zu  gestalten,  dass  das  Anbringen  des  bleibenden,  den 
Kopf  stützenden  und  hebenden  Verbandstückes  dadurch  nicht  er- 
schwert wird.  Die  Anfügung  des  Gipsverbandes  für  Hals  und 
Kopf  an  den  Rumpftheil  des  Verbandes  bildet  bekanntlich  durch 
feeine  Schwierigkeit,  die  durch  den  üebergang  zur  verticalen  Sus- 
pension nur  theilweise  gehoben  wird,  und  durch  die  Zeit,  die  er 
in  Anspruch  nimmt,  einen  besonders  schwachen  Theil  der  Calot- 
schen  Technik,  und.  das  Product  aller  Mühen,  der  plumpe,  un- 
gefüge, starre  Gipsverband  bringt  zudem  dem  Patienten  in  ganz 
hervon'agendcr  Weise  die  Gefahr  eines  ausgedehnten  Decubitus  am 
Hinterkopfe,  der  um  so  leichter  eintritt,  als  der  starke,  auf  den 
ganzen  Hinterkopf  wirkende  Druck  offenbar  sehr  bald  eine  allgemeine 
Anästhesie  der  Haut  herbeiführt,    welche  bewirkt,    dass  audi  sehr 


Ein  Vorschlag  zur  ModiRcntion  des  CalotVlien  Verfahrens. 


511 


cmiirmdlichc    Kinder   trotz    des  Decubitus   über   keine  Schmerzen 
klagen. 

Zu  der  schon  genannten  Aufgabe  trat  also  als  /weite  die,  die 


Technik  so  zu  modificiren,  dass  das  Kopfslück  des  Verbandes 
ohne  jeden  Stellungswechsel,  also  ohne  üebergaog  aus  der  Dis- 
traction    in   horizontaler  Richtung   zur    verticalcn  Suspension    und 


512  Dr.  Schede, 

ohne  jede  Acndcrung  der  distrahircnden  Kraft  angefügt  werden  und 
als  dritte  die,  das  Kopfstück  so  mit  dem  übrigen  Verband  zu  ver- 
binden, dass  CS  jeden  Augenblick  entfernt  und  nach  Gefallen 
wieder  in  Benutzun;^  gezogen  werden  konnte,  um  so  die  nr.lhige 
Ucborwachnng  der  gedrückten  Theile  des  Hinterhauptes  zu  ge- 
statten. 


Diese  Auffrabcn  habe  ich  säinratlich  dadurch  zu  lösen  gesucht, 
dass  ich  den  Kopftheil  di'S  Verbandes  über  einem  genauen  Gips- 
aiiguss  in  festem  Leder  herstellen  liess.  i,Man  kann  das  Gips- 
negativ  ohne  Schwierigkeiten  herstellen,  wenn  mau  den  Kopf  vor- 
her mit  einem  Gunimibeutel  oder  auch  einfach  mit  einem  Tricot- 
schlauch  überzieht,  in  welchem  nach  Art  einer  Maske  für  Augen 
und  Nase  Löcher  geschnitten  sind.)  Der  Haujittheil  dieser  Lcdcr- 
hülsc  {s.  Fig.  3),  welcher  der  Hinterhauptsschuppe  entspricht,  geht 
nach  vorn  in  den  Stirntlieil  über,  welcher  in  der  Slitte  getheilt  ist 
nnd  nach  dem  Anlegen  durch  Riemen  und  Knopfe  zusammen- 
gehalten wird.  Der  ganze  Apparat  ist  sehr  sorgfältig  mit  einer 
dicken  Lage  weichen  Filzes  ausgekleidet  und  somit  so  gleichmässig 
glatt  gepolstert,  wie  es  durch  Watte  niemals  erreicht  werden  kann. 


Ein  Vorschlag  zur  Modification  des  Calo tischen  Verfahrens.        513 

Der  den  Unterkiefer  und  das  Kinn  umgreifende  Theil  kann  für 
sich  entfernt  werden.  Eine  verstärkende  Stahlspange  umgreift  in 
einem  nach  dem  Halse  zu  absteigenden  Bogen  den  Hinterhaupts- 
theil  und  endet  hier  in  einem,  dem  Zahn  des  Epistropheus  ent- 
sprechenden kurzen,  cylindrischen  Zapfen.  An  der  Hinterhaupts- 
spange und  an  der  Spange,  welche  dem  Kinntheil  seine  Festigkeit 
verleiht,  sind  je  zwei  Oesen  eingeschraubt.  Durch  diese  werden 
feste  Schnüre  gezogen,  und  mit  deren  Hülfe  kann  nun,  nachdem 
das  Kopfstück  angelegt  ist,  an  diesem  selbst  die  Kopf- 
extension  angebracht  werden.  Das  Kopfstück  des  Ver- 
bandes ist  also  schon  fertig,  ehe  die  ganze  Procedur  be- 
ginnt. 

Dem  Fussende  des  Gestelles  sind  2  Stangen  angefügt,  welche 
an  ihren  Enden  je  einen  Kurbelapparat  tragen,  ganz  ebenso,  wie 
ich  dieselben  für  meinen  Apparat  für  die  Einrenkung  der  an- 
geborenen Hüftluxation  verwende. 

Das  Verfahren  gestaltet  sich  nun  sehr  einfach  folgender- 
raaassen : 

Zuerst  wird  der  lederne  Kopftheil  angelegt,  von  dessen  ge- 
nauem Passen  man  sich  selbstverständlich  vorher  überzeugt  haben 
muss.  Denn  legt  man  das  Kind  auf  den  Tisch  und  befestigt  die 
Contraextensionsschnüre  für  den  Kopf  und  für  die  Arme  an  der 
Querstange  (e).  Die  Extensionsschnüre,  welche  durch  Umdrehung 
der  Kurbeln  (k)  angespannt  werden  sollen,  greifen  an  ledernen 
Knöchelgurten  an.  Dynamometer  (gg)  sind  beiderseits  in  den  Ex- 
tensionszug  eingefügt,  welche  den  Grad  der  verwendeten  Kraft 
jeden  Augenblick  abzulesen  gestatten.  Jetzt  beginnen  die  Um- 
drehungen der  Kurbeln  und  damit  die  Streckung  des  ganzen 
Körpers,  und  es  ist  nun  im  höchsten  Grade  überraschend,  zu 
sehen,  welche  geringe  Kraft  genügt,  um  in  frischeren  Fällen  (ich 
habe  bisher  niemals  mehr  als  2  Jahre  alte  dem  Verfahren  unter- 
worfen) eine  ganz  beträchtliche  Abflachung  des  Gibbus  zu  erreichen. 
Eine  Zugkraft  von  15 — 20  Kilo  auf  jeder  Seite  habe  ich  bisher 
nie  überschritten.  Und  das  wird  so  leicht  ertragen,  dass  es 
absolut  überflüssig  zu  sein  scheint,  die  Kinder  zu  narkotisiren.  Ich 
habe  es  in  den  ersten  Fällen  noch  gethan.  Als  ich  mich  aber 
überzeugte,  wie  spielend  leicht  eine  genügende  Streckung  der 
Wirbelsäule  erreicht  wird,  habe  ich  die  Narkose  weggelassen 


514  Dr.  Schede, 

und  mich  jetzt  schon  in  drei  Fällen  überzeugt,  dass  das 
ganz  gut  geht.  Die  Kinder  geben  kaum  einen  Laut  der 
Klage  von  sich,  und  begreiflicher  Weise  liegt  auch  darin  ein 
nicht  zu  unterschätzender  Vortheil. 

Man  braucht  sich  nur  die  Lage  vorzustellen,  in  welcher  ich 
einmal  war,  dass  eine  schwere  Chloroformasphyxie  eintritt,  wenn 
man  eben  mit  dem  Gipsverband  fertig  ist,  und  nun,  um  künst- 
liche Athembewcgungen  und  die  König'sche  Herzmassage  aus- 
führen zu  können,  diesen  erst  wieder  entfernen  rauss,  um  denselben 
ganz  zu  würdigen.  In  meinem  Falle  lief  die  Sache  noch  gut  ab, 
aber  ich  kann  wohl  sagen,  dass  die  Situation  zu  den  unangenehmsten 
und  aufregendsten  gehörte,  die  ich  je  erlebt  habe. 

Hat  man  den  gewünschten  massigen  Grad  von  Abflachung 
des  Gibbus  erreicht  (es  kostet  immer  eine  gewisse  Ueberwindung, 
sich  auf  dieses  Maass  zu  beschränken  und  nicht  die  volle  Streckung 
herbeizufuhren,  so  leicht  arbeitet  der  Apparat),  so  entfernt  man 
zunächst  die  eine  der  beiden  Stützen  a  und  b  und  rückt  die 
andere  so,  dass  nur  die  Oberschenkel  noch  unterstützt  sind.  Das 
Kind  liegt  also  jetzt  nur  auf  Stirn  und  Oberschenkeln,  Brust, 
Bauch  und  Becken  sind  völlig  frei.  Nun  wird  der  Körper  von  den 
Trochanteren  bis  zur  Axelhöhle  mit  einend  grossen  Stück  dicken, 
weichen  Filzes  umgeben,  der  sich  unter  geeigneter  Dehnung  den 
Körperformen  ganz  faltenlos  und  glatt  anschliesst  und  in  diesen 
eingenäht,  allenfalls  kann  aber  auch  dieser  Theil  des  Verfahrens 
schon  vor  der  Extension  besorgt  werden.  Zwei  doppelte  Streifen  Filz 
werden  dann  noch  zu  beiden  Seiten  der  Process  spinosi  mit 
einigen  Stichen  befestigt,  um  diese  ganz  sicher  vor  Druck  zu 
schützen  und  endlich  auch  um  Darmbein  kämme  und  Spinae  noch 
eine  zweite  Lage  Filz  gelegt.  Nun  kann  in  wenigen  Älinuten  der 
Gipsverband  um  den  Thorax  angelegt  werden. 

Um  nun  die  Verbindung  zwischen  Gipsverband  und  Kopfkappe 
herzustellen,  benutze  ich  ganz  einfach  die  hufeisenförmige,  in  ihrem 
oberen  Thcil  gehärtete,  in  ihrem  unteren  weiche  Eisenspange,  die 
Ihnen  allen  von  dem  Sayre'schen  Jury'mast  her  bekannt  ist,  nur 
mit  der  Modification,  dass  dieselbe  an  ihrem  oberen  Ende  eine 
Hülse  trägt,  welche  den  nach  abwärts  gerichteten  cylindrischen 
Zapfen  der  Hinterhauptsspange  aufnimmt  (Fig.  4,  H).  Man  hat  also 
nichts  weiter  zu  tliun,  als  diese  Hülse  über  den  Zapfen  zu  schieben, 


Eid  Vorschlag  xor  Hodiflcation  des  Calot'schen  Verfahre 


515 


den  unteren  Theil  dor  Spange  don  Körperrormen  gut  anzupassen 
und  diesen  dann  mit  2—3  Gipsbinden  um  Thorax  zu  bercstigcn. 
Damit  ist  der  gan^e  Verband  fertig  —  in  einer  viel  kürzeren  Zeit, 
als  zur  Beschreibung  des  Verfahrens  erforderlieh  ist.  Sie  werden 
ohne  Weiteres  zugeben;  die  Erhaltung  des  beabsichtigten  Grades 
dor  Wirbelsäulcnstreckung  ist  völlig  eben  so  sicher,  wie  im  Calot- 
schen  Gipsverband,  aber  nicht  nur  das  Anlegen  des  Verbandes  un- 


endlich viel  weniger  mühsam  und  gefahrvoll,  sondern  aueh  die 
Existenz  des  Patienten  in  demselben  eine  ungleich  behuii^licherc 
und  angenehmere.  Bei  voller  Extcnsionswirkung  gestaltet  der 
Apparat  nicht  nur  Drehbewegungen  des  Kopfes,  sondern  es  wird 
auch,    wenigstens    für    die  Spondylitis    der   tieferen    Wirbelsäulen- 


516       .   Dr.  Schede,  Modification  des  Calot'schen  Verfahrens. 

abschnitte,  kaum  einen  Anstand  haben,  eine  gewisse  Nickbewegung 
zu  gestatten.  Zu  diesem  Zweck  ist  dicht  unterhalb  des  Dreh- 
gelenks ein  Ghamier  (Ch,  Fig.  4)  mit  querer  Axe  angebracht,  dessen 
Excursionen  durch  eine  Schraube  (S)  regulirt  und  event.  ganz  ge- 
hindert werden  können. 

Fig.  2  zeigt  einen  Patienten  in  dem  fertigen  Verband.  Um 
das  Kopfstück  abzunehmen,  hat  man  nur  den  Schraubenstift  St, 
Fig.  4,  herauszuziehen,  welcher  das  Charnier  Ch  zusammenhält. 
Das  obere  Stück  der  Spange,  welches  die  cylindrische  Hülse  H 
trägt,  kann  nun  leicht  entfernt  werden,  womit  die  Verbindung 
zwischen  Kopftheil  und  Thoraxtheil  des  Verbandes  ohne  Weiteres 
gelöst  ist. 

Gestatten  Sie  mir  noch  zwei  Bemerkungen  zur  Discussion. 
Wenn  ich  Herrn  Lorenz  richtig  verstanden  habe,  so  verzichtet  er 
vollständig  auf  eine  Stütze  für  den  Kopf.  Das  würde  ich  nicht 
einmal  für  die  Erkrankungen  der  Lendenwirbelsäule  für  richtig 
halten  —  meiner  Meinung  nach  hört  jede  Sicherheit,  eine  gewisse 
Distraction  aufrecht  zu  erhalten,  mit  dem  Weglassen  der  Kopf- 
stütze auf. 

Gegenüber  dem  Vorschlag  des  Herrn  W ulistein  aber  muss 
ich  doch  sagen,  dass  ich  die  Rückkehr  zu  einer  Behandlung  der 
S|)ondylitis  in  dauernder  Rückenlage  für  einen  grossen  Rückschritt 
haiton  würde.  Und  darin  liegt  meines  Erachtens  in  meiner  Modi- 
fication ein  weiterer  grosser  Vorzug  vordem  ursprünglichen  Calot- 
schen  Verfahren.  Der  Verband  wird  so  leicht,  dass  die  Patienten 
damit  ohne  Weiteres  herumgehen  können,  ganz  ebenso,  wie  sie  es 
im  Sayre'schen  Jurymast  oder  ähnlicIuMi  Apparaten  thun.  Aber 
die  Erhaltung  der  gewünschten  Streckstcllung  ist  eine  wesentlich 
sich(Tere  geworden,  als  bei  diesen  älteren  Methoden. 


XXX. 

(Aus  der  chirurg.  Klinik  des  Herrn  Prof.  von  Bramann 

zu  Halle  a.  S.) 

Ein  Fall  von  Fractur   der  Diaphyse  des 

Oberarms  mit  bisher  noch  nicht  beobachteter 

Wirkung  des  8treckverbandes. 

Von 

Dr.  Rammsledl, 

Assistenzant  der  Klinik. 

(Mit  2  Figuren.) 


Bei  allen  Oberarm brüchcn,  des  Kopfes  und  Halses  sowohl, 
als  auch  des  obersten  Drittels  des  Schaftes  wird  neben  dem  unter 
Distraction  der  Bruc^henden  angelegten  Gypsverbande  oder  anderen 
fixircnden  Verbänden,  ebenso  häufig  der  Streckverband  mittelst 
Heftpflasterstreifen  angewandt.  Besonders  Bardenheuer  bediente 
sich  früher  der  Heftpflasterstreckverbände  auch  an  den  oberen  Ex- 
tremitäten in  der  ausgiebigsten  und  sinnreichsten  Weise,  mit  guten 
Resultaten,  allerdings  waren  die  Kracnken  durch  die  oft  compli- 
cirten  Streckvorrichtungen  während  der  ersten  Wochen  der  Be- 
handlung dauernd  an  das  Bett  gefesselt;  die  Gewichtsextension  bei 
ambulanter  Behandlung  an  den  oberen  Extremitäten,  speciell  am 
Oberarme  schätzte  Bardenheuer  im  Allgemeinen  nicht,  weil  das 
Glied  und  die  Gelenke,  um  eine  gute  Streckwirkung  zu  erzielen, 
ruhig  gestellt  werden  müssen  durch  Anwickelung  mittelst  Binden 
an  den  Thorax,  und  weil  ferner  nur  eine  Längsextension  der  Frag- 
mente, eine  Zugwirkung  auf  dieselben  nach  der  Seile  aber  nur 
unvollkommen  ausgeführt  werden  kann.  Diesem  Nachtheil  glau))t 
Bardenheuer  durch  die  Anwendung  seiner  Extensionsmaschinen 
für  die  oberen  Extremitäten  abgeholfen  zu   haben.     Wir    haben  in 

Arehi?  Ar  klio.  Chiruri^ie.    57.  Bd.   Heft  3.  35 


518  Dr.  Rammstedt, 

der  hiesigen  Klinik  bei  Oberarmbrüchen  neben  der  Extensions- 
behandlung  im  Bett  ebenso  häufig  zur  ambulanten  Behandlung  den 
Gypsverband  und  in  geeigneten  Fällen  auch  den  Heftpflasterstrock- 
verband  bei  rechtwinklig  gebeugtem  Vorderarm  unter  Fixation  des 
ganzen  Gliedes  an  den  Thorax  durch  einige  Bindentouren  ange- 
wandt und  konnten  mit  den  Erfolgen  dabei  durchaus  zufrieden 
sein.  Um  so  auffallender  war  uns  der  Misserfolg  bei  der  Exten- 
sion eines  ambulant  behandelten  Oberarmbruches,  ein  Misserfolc:, 
der  uns  besonders  ins  Auge  fiel,  ausser  durch  den  objectiven  Befund 
an  der  Patientin,  durch  die  mehrfach  angefertigten,  vergleichenden 
Röntgen-Aufnahmen,  welche  seiner  Zeit  bereits  auf  der  Natur- 
forscher-Versammlung des  Jahres  1897  zu  ßraunschweig  ausgestellt 
waren  und  Interesse  erweckten.  .  Die  nähere  Beschreibung  dieses 
Falles  glaubte  mein  Chef,  Herr  Professor  von  Bramann,  nicht 
schuldig  bleiben  zu  dürfen,  dem  ich  für  die  Ueberlassung  desselben 
an  dieser  Stelle  meinen  Dank  ausspreche. 

Es  handelte  sich  um  ein  15 jähriges  Mädchen,  Martha  K.  aus  Halle, 
welches  am  27.  Juni  1897  in  der  Dunkelheit  in  eine  lYg  ™  ^i^f©  Müllgrube 
gefallen  war,  angeblich  auf  den  rechten  Oberarm.  Sie  empfand  sofort  heftige 
Schmerzen  in  demselben  und  vermochte  ihn  nicht  mehr  zu  bewegen,  doch 
wurde  erst  am  anderen  Tage,  als  der  Oberarm  bis  zur  Schulter  stark  ange- 
schwollen war,  ein  Arzt  consultirt,  welcher  einen  Oberarmbruch  constatirte  und 
das  Mädchen  der  chirurgischen  Klinik  überwies. 

Hier  untersuchte  ich  dasselbe  zuerst  Nachmittags  am  28.  Juni 
und  machte  folgende  Wahrnehmungen: 

„Für  sein  Alter  wenig  gut  entwickeltes  anämisches  Mädchen,  von  sehr 
gracilem  Knochenbau,  schlecht  entwickelter  Musculatur  und  entsprechend  ge- 
ringem Fettpolster,  mit  allen  Zeichen  der  Chlorose.  Der  rechte  Oberarm  im 
oberen  Drittel  hinauf  bis  zur  Schulter  ist  stark  angeschwollen,  die  Haut 
darüber  gospannt  und  am  vorderen  und  seitlichen  Umfange  des  Schulter- 
gelenks braun-gelb  verfärbt.  Der  rechte  Arm  hängt  schlaff  herab  und  ver- 
mag ohne  Schmerzäusserung  nicht  bewegt  zu  werden.  Die  manuelle  Unter- 
suchung ergiebt  direct  unter  dem  Collum  chirurgicum  erhöhten  Druckschmerz, 
abnorme  Beweglichkeit  und  Crepitation;  es  Hess  sich  leicht  ein  Querbruch  des 
Humcrusschaftes  foststellen  mit  seitlicher  und  geringer  Längs  Verschiebung  der 
Fragmente  zu  einander,  da.'i  obere  Frapnont  stand  etwas  nach  aussen  und  oben, 
der  Ifunieruskopf  dicht  unter  dem  Acromion  in  der  Gelenkpfanne.  —  Da  Auf- 
nahme in  die  Klinik  nicht  nöthig  erschien  und  ausserdem  wegen  dos  Kosten- 
punktes von  der  Muttor  verweigert  wurde,  beschloss  ich  die  Patientin  ambulant 


Ein  Fall  von  Fraelur  <icr  Diajjhjse  des  Oberarms  etc. 


519 


mit  einem  II eflpfl aste rstreck verbände  zu  behandeln.  Um  Jedoch  die  Wirkung 
desselben  genau  conlrolliren  lü  können,  machte  iuli  vor  Anlegung  desselben 
eine  Königen  aufnähme,  welche  in  Figur  1  wiedergegeben  ist  und  die  Diagnose 
beslÄligte. 


Figur  1  zeigt  eine  winklige  Stellung  der  Fragmente  zu  einander  mit  der 
Spilr.e  des  Winkels  nach  aussen.  Das  obere  Fragment  ist  durch  den  Zug  des 
Deltoideus  nach  aussen  und  oben,  das  untere  dnrch  den  Zug  des  Triceps  nach 
hinten  und  oben  dislocirt,  so  dass  eine  Verkürzung  des  Humerus  durch  die 
Längs  Verschiebung  der  Fragmente  7,u  einander  von  ungefähr  nur  I  cm  vor- 
handen war.     Der  Kopf  steht  Tollkommen  in  der  Gelenkplanne. 

Der  He  ftp  (last  erstreck  verband  wurde  in  der  üblichen  WHse  angelegt  in 
Form  der  das  Ellenbogengeienk  umgreifenden  I  le  ftp  Haste  ran  sa.  Die  Streifen 
begannen  dicht  unter  der  Bruchstelle,  um  bei  dem  schwachen  Gliede  eine 
möglichst  grosse  Angriffsfläche  zu  gewinnen,  zumal  dieselben  dicht  oberhalb 
der  Condylen  des  Ellenbogengelenks,  welche  durch  Walteeinwiokehing  ge- 
schützt waren,  aufhörten,  anzugreifen.  Da  das  obere  Fragment  nach  aussen 
und  oben  dislocirt  war,  wurde  in  die  Achselhöhle,  um  ein  Au  fein  and  erliegen 
der  Haut  zu  vermeiden,  ein  nur  dünnes  VVattepolster  eingeschoben.  Der 
Oberarm  und  rechtwinklig  flectirte  Unterarm  wurden  durch  Desaulttouren 
an  den  Thorax  fixirt,  wobei  durch  einige  festere  Touren  Sorge  getragen  wurde, 
das  nach  aussen  und  obeiv  abgewichene  obere  Fragment  möglichst  nach  innen 
zu  leiten.  Das  Extensionsbreltchen  wurde  mit  einem  Gewicht  von  nur  4  l'fund 
belastet,  welches  ich  bei  dem  schwächlichen  Körperbau  der  Patientin  für  aus- 
reichend zur  Distraction  der  Fragmente  halten  durfte.  Nach  2  Tagen  sollte 
dieselbe  zur  Durchleuchtung  wieder  kommen.  —  Durch  ein  Missverständniss 
jedoch  wurde  die  Pntrentin,  da  der  Verband  anscheinend  gut  lag  und  nicht 
über  Schmerzen  geklagt  wurde  in  der  poliklinischen  Sprechstunde  forlgeschickt 
und  in  '.i  Tagen  wieder  bestellt,  so  dass  ich  sie  erst  nach  5  Tagen  wieder  zu 

35' 


520  Dr.  Rammstedt, 

Gesicht  bekam.  Sic  gab  auf  Befragen  an,  das  Gewicht  habe  tüchtig  gezogen, 
auch  während  der  Naciit  habe  sie  es  zum  Bett  heraushängen  lassen.  Wir 
konnten  danach  hoiTen,  dass  die  Streckung  des  Armes  von  Erfolg  begleitet 
war.  Um  so  grösser  uar  unser  Erstaunen,  als  die  Ron  Igen  aufnähme  unseren 
gehegten  Erwartungen  direct  wiedersprach, 

Fig.  2. 


t'i^ur  2  zeigt,  dass  die  winklige  Sielhing  iler  Fragmente  zu  einander  nicht 
mehr  vorhanden  ist,  vielmehr  stehen  beide  parallel  neben  einander,  doch  ist 
die  Verschiebung  ad  longiludinem  der  Bruchendcn  ta  einander  noch  grosser 
geworden,  fast  3  cm  und  zwar  dadurch,  dass  das  obere  Fragment  nach  unten 
gesunken  ist.  Der  Kopf  dos  llumurus  steht  fast  unterhalb  des  Tuberculum 
infraglenoidale,  heinahe  subluxirt.  Am  seillichen  Umfange  des  Gelenks  fehlt 
die  sonst  durch  den  Kopf  hervorgerufene  Rundung,  der  Raum  unterhalb  des 
Arcromion  ist  leer.  —  Nach  Abnahme  des  Verbandes  mil  Ausnahme  der  Heft- 
pflaslerstreifen  entsprach  der  objeclive  Befund  dem  Röntgenbilde. 

Die  Rundung  der  Schulter  am  vorderen  und  seitlichen  Umfange  fehlte, 
die  Pfanne  war  leer  und  konnte  man  mit  dem  Finger  unterhalb  des  Acromion 
nach  der  Pfanne  hin  eindringen.  Am  unteren  Rande  derselben  war  der  Kopf 
zu  fühlen.  Wie  wir  uns  an  der  Palienlin  und  auch  am  Köntgcnphotogramm 
überzeugen  konnten,  lagen  die  llefipllasterstreifen  genau  in  der  Höhe,  an  der 
Innenseite  sogar  noch  unterhalb  der  Fracturs teile,  kannten  also  nicht  zu  hoch 
angelegt  sein  und  vielleicht  einen  Zug  auf  das  obere  Fragment  ausgeübt  haben, 


Ein  Fall  von  Fractur  der  Diaphyse  des  Oberarms  etc.  521 

■ 

ganz  abgesehen  davon,  dass,  wie  Bardcnhener  nachgewiesen  hat,  die  Heft- 
pflasterstreifen zur  longitudinalen  Extension  unbeschadet  der  Wirkung  bis  über 
die  Bruchstelle  hinaus  geführt  worden  können. 

Um  so  auffallender  blieb  dieser  Befund.  Eine  Erklärung  da- 
für scheint  uns  in  dem  schwächlichen  Kcirperbau  und  speeiell  in 
der  schlaffen,  den  Knochen  umgebenden  Musculatur  der  Patientin 
zu  finden  zu  sein.  Die  dauernde  Belastung  von  4  Pfd.  hatte  einen 
solchen  Zug  an  der  Schulter  ausgeübt,  dass  eine  Erschlaffung  und 
Dehnung  der  Gelenkkapsel  eintrat.  Das  obere  Fragment  sank 
infolge  dessen  nach  unten,  einmal  vermöge  seiner  eigenen  Schwere, 
sodann  aber  auch  durch  den  Zug  der  kurzen  Theile  des  Musculus 
Triceps,  welcher  am  hinteren  Umfange  des  Huraerus  direct  unter 
dem  Kopfe  zu  inseriren  beginnt.  Nur  so  müssen  wir  die  Ver- 
grösserung  der  Längsverschiebung  der  Bruchenden  zu  einander  er- 
klären, da  die  anderen  Muskehi,  welche  am  oberen  Fragmente 
noch  ansetzen,  einen  Zug  nach  unten  nicht  ausüben  können.  — 
Der  weitere  Verlauf  dieses  Falles  war  folgender: 

Durch  Unterstützung  am  Ellenbogen  gelang  es  leicht  den  Kopf  wieder  in 
die  Pfanne  dicht  unter  das  Acromion  zu  heben.  Da  die  Fragmente  mit  ein- 
ander seitlich  bereits  leichte  Verwachsungen  eingegangen  waren,  wurden  sie 
wieder  beweglich  gemacht  und  versucht  die  Bruchflächen  in  Contact  zu  bringen 
und  zugleich  den  Kopf  in  der  Pfanne  zu  halten.  Während  letzteres  leicht  ge- 
lang durch  Unterstützung  am  Ellenbogen,  war  es  nicht  möglich  durch  geeignete 
Maassnahmen,  Zug  und  Gegenzug  etc.  die  Bruchllächen  an  einander  zu  halten. 
Wir  mussten  uns  deshalb  zunächst  damit  begnügen  die  Capseldehnung  zu  be- 
seitigen und  den  Kopf  wieder  in  die  Pfanne  zu  gewöhnen  und  legten  deshalb 
ohne  Rücksicht  auf  die  Stellung  der  Fragmente  einen  Desaultverband  an  mit 
Unterstützung  des  Ellenbogens. 

Abnahme  dieses  Verbandes  nach  8  Tagen.  Die  Schulter  hatte  wieder 
ihre  normale  Rundung,  der  Kopf  stand  auch  ohne  Unterstützung  fest  im  Ge- 
lenk, doch  war  die  Verschiebung  der  Fragmente  zu  einander  ungefähr  dieselbe, 
wie  nach  Abnahme  des  Streckverbandes  geblieben,  wie  wir  mittelst  Röntgen- 
aafnahme  controlliren  konnten.  Durch  erneute  Versuche  die  Bruchflächen  in 
Contact  zu  bringen,  und  durch  geeignete  Verbände  in  demselben  zu  halten, 
mussten  wir  befürchten,  die  beseitigte  Gapseierschlaffung  wieder  zu  schaffen ; 
Herr  Prof.  von  Bramann  entschloss  sich  deshalb  nach  Stägigem  Zuwarten, 
in  welcher  Zeit  die  Gelenkkapsel  sich  noch  mehr  festigte,  die  Knochennaht 
auszuführen,  da  die  messbare  Verkürzung  des  verletzten  Oberarms  doch  2^/3  cm 
betrug  und  die  Callusbildung  und  die,  durch  die  deforme  Stellung  der  Frag- 
mente bedingte,  Umformung  des  Knochens  dicht  unterhalb  des  Kopfes  keine 
günstige  gewesen  wäre. 

Operation  am  19.  Juli.   10cm  langer  Schnitt,  2  querfingerbreit  unter 


522  l)r.  Hammstedt, 

• 
dem  Processus  coracoideus  beginnend,  am  vorderen  Ilande  des  Deltoideiis  im 
Längsverlaufc  des  Gliedes  bis  auf  den  Knochen,  Freilegung  der  Bruchstelle, 
Ablösung  des  Periosts  rings  um  dieselbe.  Die  Fragmente  sind  seitlich  mit  ein- 
ander durch  jungen  Callus  verwachsen,  lassen  sich  jedoch  leicht  von  einander 
trennen.  —  Das  obere  Fragment  wird  durch  einen  Kesectionshaken  aus  der 
Wunde  nach  oben  gehebelt,  das  untere  durch  geringen  Zug  und  Druck  am 
Ellenbogen.  Die  quer  verlaufenden  Bruchflächen  sind  durch  junges  Bindegewebe 
bereits  geglättet  und  werden  deshalb  mit  der  Säge  angefrischt,  doch  so,  dass 
kaum  V2  cm  der  Länge  des  ITumerus  fortfällt.  Genaue  Adaption  und  Fixation 
der  Bruchflächen  mittelst  einer  Silbernaht.  Vernähung  des  Periost.  Naht  der 
Weichtheile  ohne  Drainage.  Gipsverband  mit  Schulterkappe.  Reactionsloser 
Wundverlauf. 

3.  8.  1.  Verbandwechsel.  Primäre  Heilung.  Entfernung  der  Nähte. 
Fragmente  liegen  gut  aneinander,  sind  fast  consolidirt,  federn  aber  noch. 
Neuer  Gipsverband.  3.  9.  2.  Verbandwechsel.  Wunde  vernarbt.  Bruchstelle 
fest.  Massage.  Medico-mechan.  üebungen.  10.  10.  Fat.  mit  vollkommen 
normaler  Function  im  rechten  Schultergelenk  entlassen. 

Eine  andere  Erklärung  für  die  seltsame  Wirkung  des  Stree-k- 
verbandes  in  diesem  Falle,  als  die  oben  bereits  angeführte,  scheint 
uns  nicht  geboten.  Kapseldehnnngen  der  Gelenke  nach  Extensions- 
verbänden,  besonders  am  SchultergehMik,  sind  sclion  seit  längerer 
Zeit  vielfach  beoba(*.htet  und  bekannt,  eine  derartige  aber,  wie  in 
unserem  Falle,  dass  das  obere  Fragment  heruntersinkt  und  die 
Dislraction  der  Bruchenden  vollkommen  vereitelt  wird,  war  Insher 
unseres  Wissens  nocli  nicht  beobachtet.  Bekanntlich  ist  bei  an- 
ämischen Zustünden,  spcciell  Chlorose  oft  eine  allgemeine  motori- 
sche Sclnväche  vorhanden,  welche  sich  in  raschem  Ermüden  der 
willkürlich  inervirten  Muskeln  und  beständigem  Mattigkeitsgcfiihl 
äussert.  Um  so  wahrscheinlicher  ist  es,  dass  die  an  sich  schon 
schlaffen  Weichtheile,  und  besonders  die  Gelenkkapsel  eines  an- 
ämisclien  jungen  Mädchens,  durch  den  angelegten  Streckverband 
noch  mehr  gedehnt  wurde,  als  dies  bei  einem  ganz  gesunden 
Menschen  der  Fall  sein  würde.  In  einem  ähnlichen  Falle  dürfte 
es  sich  deshalb  empfehlen,  den  Streckverband  überhaupt  nicht, 
oder  nur  unter  dauernder  ControUe,  das  heisst,  im  Bette  anzu- 
wenden. 

Im  IJebrigen  zeigt  unser  Fall  zur  Evidenz,  wie  werthvoU  bei 
der  Behandlung  von  Fracturen  controllirende  Rüntgen-Aufnahmen 
derselben  im  Verbände  sind.  — 


Ein  Fall  von  Fractur  der  Diaphyse  des  Oberarms  etc.  523 


Literatur. 

1.  Bardenheucr,  Die  Verletzungen  der  oberen  Extremitäten.  Deutsche 
Chirurgie.  B.  63  ab. 

2.  Derselbe,  Die  permanente  Extension.     Stutt<?art,  Enko  1889. 

3.  Derselbe,  Leitfaden  der  Behandlung  von  Fracturen  und  Luxa- 
tionen der  Extremitäten  mittelst  Feder-  resp.  Gewichtsextension.  Eben- 
daselbst 1890. 


XXXL 

Beiträge  zur  Technik  der  Operation  des 

Magencarcinoms.  '^ 

Von 

Professor  l>r.  JT.  Ifllkiillcs 

in  Breslau. 


M.  H.!  Die  Enderfolge  der  Rescction  des  carcinomatösen 
Jlagens  lassen,  wenn  auch  eine  stattliche  Zahl  von  dauernd  ge- 
heilton Fällen  bekannt  ist,  doch  noch  viel  zu  wünschen  übrig, 
besonders  wenn  man  sie  mit  den  stetig  besser  werdenden  Resul- 
taten bei  anderer  Localisation  des  Oarcinoras,  namentlich  bei  Brust- 
und  Gebärmutterkrebs  vergleicht.  Freilich  liegen  die  Verhältnisse 
beim  Magencarcinora  für  den  Chirurgen  ungleich  schwieriger  als 
bei  den  eben  genannten  Localisationen.  In  der  Mehrzahl  der  Fälle 
bekommt  der  Chirurg  den  Kranken  erst  in  einem  Stadium  zu 
Gesicht,  in  welchem  eine  radicale  Operation  unausführbar  erscheint, 
und  man  gezwungen  ist,  sich  auf  die  palliative  Operation  —  die 
Gastroenterostomie  —  zu  beschränken.  Die  Schuld  an  diesen  Ver- 
hältnissen wird  vielfach  dem  innern  Arzt  beigemessen,  ich  glaube 
aber,  in  den  meisten  Fällen  mit  Unrecht.  Der  Kranke  wird  dem 
Chirurgen  zu  spät  überwiesen,  weil  sich  die  Krankheit  selbst  zu 
s[)ät  bemerkbar  macht;  nur  die  am  Pylorus  sitzenden  stenosirenden 
Carcinome,  die  alsbald  zu  schweren  funktionellen  Störungen  führen, 
können  rechtzeitig  diagnosticirt  und  in  einem  relativ  frühen  Stadium 
dem  Operateur  überwiesen  werden.  Die  meisten  anderen  Formen, 
namentlich  die  gar  nicht  seltenen  Carcinome  der  kleinen  Curvatur 


*)  Auszugsweise  vorgetragen    am  2.  Sitzungstage   des  XXVI I.  Congresses 
der  Deutschen  Geseilschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  14.  April  1898. 


1 


Beiträfi^e  zur  Technik  der  Operation  des  Magencarcinoms.  525 

verlaufen  Monate  lang  latent  und  machen  sich  erst  in  einem 
Stadium  bemerkbar,  wenn  bereits  ein  grösserer  Theil  der  Magen- 
wand infiltrirt,  die  Lymphdrüsen  in  weiter  Ausdehnung  ange- 
schwollen und  vielleicht  gar  schon  Metastasen  im  Peritoneum  und 
in  entfernteren  Organen  sich  entwickelt  haben. 

Es  ist  gewiss  nicht  zu  bezweifeln,  dass  die  innere  Medicin 
durch  weitere  Ausbildung  der  Diagnostik  des  Magencarcinoms 
zur  Besserung  der  Sachlage  noch  beitragen  wird;  aber  auch  der 
Chirurg  muss  bemüht  sein,  unter  den  gegebenen  schwierigen  Ver- 
hältnissen durch  Verbesserung  der  Technik  die  Enderfolge  im 
Sinne  einer  radikalen  Heilung  zu  verbessern.  Beim  Gebär- 
mutter- und  Brustkrebs  haben  wir  erst  durch  eingehendes  Studium 
der  Verbreitungswege  der  Krankheit  gelernt,  in  welcher  Weise  wir 
derselben  operativ  radikal  beikommen  können;  in  derselben  Rich- 
tung müssen  wir  auch  beim  Magencarcinom  die  operative  Technik 
zu  verbessern  trachten.  Es  muss  unser  Bestreben  sein,  nicht  nur 
in  den  bisher  als  günstig  angesehenen  Fällen  von  kleinen  Magen- 
tumoren radikaler  vorzugehen,  sondern  auch  bei  grösseren,  zur  Zeit 
als  nicht  exstirpirbar  geltenden  Carcinomen  durch  eine  ausgedehnte 
Operation  doch  noch  den  Versuch  einer  radikalen  Exstirpation  des 
Tumors  zu  machen.  Wie  weit  wir  in  dieser  Richtung  werden  vor- 
gehen dürfen,  wird  wesentlich  von  der  Kenntniss  der  Verbrei- 
tungswege des  Magencarcinoms  abhängen. 

Obwohl  das  Magencarcinom  die  Chirurgen  schon  seit  zwei 
Decennien  eingehend  beschäftigt,  scheint  es,  als  ob  man  diesem 
Punkt  bisher  zu  wenig  Aufmerksamkeit  gewidmet  hätte.  Die 
einzige  eingehende  Bearbeitung  der  Frage  findet  sich  in  der  be- 
kannten grundlegenden  Arbeit  von  Gussenbauer  und  Wini- 
warter*)  (aus  dem  Jahre  1876),  die  auf  Grund  von  903  Obduktions- 
befunden aus  dem  Wiener  pathologisch -anatomischen  Institut  eine 
Statistik  der  Lokalisation  des  Magencarcinoms  sowie  der  Ver- 
breitung desselben  auf  entfernte  Organe  enthält.  Gussenbauer 
und  Winiwarter  haben  bekanntlich  durch  diese  Arbeit  zuerst  den 
wissenschaftlichen  Nachweis  erbracht,  dass  das  Magencarcinom  ein 
sehr  dankbares  Object  für  die  chirurgische  Behandlung  abgeben 
könne.      Die    auf   dem  Sectionstisch   gefundenen  Verhältnisse  sind 


1)  Die   partielle    Magenresection.      v.  Langenbeck's    Archiv.      Bd.    19. 
Seite  347. 


526  Dr.  J.  Mikulicz, 

allerdings  für  den  Chirurgen  noch  nicht  ausreichend ;  sie  müssen 
durch  die  bei  den  Operationen  gefundenen  Befunde  noch  vervoll- 
ständigt werden.  Wenn  ich  auf  Grund  meiner  eigenen  Erfahrungen 
die  wichtigsten  Momente  hervorhebe,  so  sind  es  folgende. 

Das  Mcigencarcinom  verbreitet  sich  im  Wesentlichen  auf  vier 
Wegen.  1.  Continuirlich  in  der  Magenwand  selbst.  2.  Durch  die 
grösseren  Lymphbahnen  und  Lymphdrüsen  ausserhalb  der  Magen- 
wand. 3.  Transperitoneal,  das  ist,  durch  Vermittelung  des  vom 
Carcinom  ergriflFenen  Peritoneums  auf  benachbarte  und  entferntere 
Abschnitte  des  Peritoneums  und  die  von  ihm  eingeschlossenen 
Organe.  4.  Auf  dem  Wege  der  Blutbahn  durch  Bildung  von  Me- 
tastasen in  entfernteren  Körpergegenden. 

Die  letzgenannten  zwei  Verbreitungswege  haben  für  den  Chir- 
urgen nur  in  so  fern  eine  Bedeutung,  als  sie  in  den  meisten  Fällen 
eine  Contraindication  gegen  die  radikale  Operation  abgeben  werden. 
Bei  ausgesprochener  Carcinose  des  Peritoneums  mit  Ascites,  bei 
nachgewiesenen  Metastasen  in  der  Leber  oder  anderen  Organen 
werden  wir  uns  beim  Magencarcinom,  falls  eine  Stenose  des  Py- 
lorus  vorliegt,  nach  wie  vor  auf  die  Gastroenterostomie  eventuell 
die  Jejunostomie  zu  beschränken  haben. 

Von  ungleich  grösserer  praktischer  Bedeutung  sind  die  zwei 
erstgenannten  Verbreitungswege.  AVas  die  Verbreitung  in  der 
Continuität  der  Magenwand  betrifft,  so  bin  ich  überzeugt,  dass 
wir  dieselbe  bisher  zu  wenig  berücksichtigt  haben,  dass  in  der 
Kegel  zu  wenig  von  der  Ma^enwand  resecirt  worden  ist.  Das  geht 
schon  daraus  hervor,  dass  ein  grosser  Theil  der  Recidive  nach  der 
Magenresektion  in  der  Magenwand  selbst  auftreten.  Bei  der  Ver- 
breitung des  Carcinoms  in  der  Continuität  verhalten  sich  die  Mucosa 
und  die  Submucosa  sammt  Muscularis  wesentlich  verschieden.  In 
der  Mucosa  schreitet  das  Carcinom  langsam  gleichmässig  weiter, 
ohne  in  den  makroskopisch  unverändert  erscheinenden  Partieen 
Veränderungen  zu  setzen;  anders  dagegen  in  der  Submucosa  und 
Muscularis.  Hier  werden  Carcinomkeime  weithin  über  die  makro- 
skopisch sichtbaren  Grenzen  des  Tumors  verschleppt.  Hier  kommt 
es  auch  in  beträchtlicher  Entfernung,  selbst  viele  Centimeter  vom 
Haui)ttumor  entfernt,  zur  sprungweisen  Entwickelung  von  kleinen 
Herden,  die  zunächst  latent  in  der  Submucosa  liegen  und  erst 
später    die  Schleimhaut    in   Form    von    linsen-    bis    erbsongrossen 


Beiträge  zur  Technik  der  Operation  des  Magencarcinoms.  527 

Knötchen  vorwölben.  Von  grösster  Bedeutung  ist  dabei  der  Um- 
stand, dass  sich  das  Miigencareinom  fast  ausnahmslos  nur  in  der 
Richtung  gegen  die  Cardia  zu  ausbreitet,  während  es  gegen  das 
Duodenum  zu  am  Pylorusringc  Halt  macht.  Man  findet  wohl  häufig 
eine  transperitoneale  Infection  des  Duodenum,  dagegen  kaum  je 
eine  Ausbreitung  in  der  Continuität  der  Duodenalwand.  Die  |)rak- 
tische  Schlussfolgerung  daraus  ist,  dass  wir  bei  der  Resection 
des  Magencarcinoms  uns  damit  begnügen  können,  vom  Duodenum 
einen  5 — 10  mm  breiten  Saum  gesund  aussehender  Darmwand  fort- 
zunehmen, während  wir  beim  Magen  .ebenso  viel  in  Centimetern 
mitrcseciren  sollen.  Bei  Carcinomen  der  kleinen  Gurvatur,  die 
bis  in  die  Nähe  der  Cardia  reichen,  wird  meist,  wenn  überhaupt 
noch  radikal  opcrirt  werden  soll,  die  totale  Resection  des  Magens 
in  Frage  kommen. 

Wir  müssen  übrigens  in  Bezug  auf  die  Verbreitung  des  Car- 
cinoms  in  der  Continuität  verschiedene  Formen  unterscheiden.  Die 
günstigste,  offenbar  ausserordentlich  seltene  Form  ist  das  breitbasig 
aufsitzende,  S(*,harf  begrenzte,  nur  von  der  Mucosa  ausgehende 
Carcinom,  das  in  das  Lumen  des  Magens  vorspringt,  ohne  jedoch 
eine  Schrumpfung  der  Magenwand  herbeizuführen.  (Ein  typischer  Fall 
dieserArtist  der  bekanntcFall  von  Schuchardt.  In  der  Sammlung  des 
Breslauer  pathologischen  Institutes  konnte  ich  nur  einen  Fall  dieser 
Art  finden.)  Bei  dieser  seltenen  Form  des  Uarcinoms  wird  es 
meist  genügen,  auch  gegen  die  Cardia  hin  einen  1 — 2  cm  breiten 
Saum  gesund  aussehender  Magenschleimhaut  mit  zu  entfernen. 
Diese  Fälle  sind  prognostisch  ungleich  ungünstiger  als  die  anderen. 
Denselben  steht  als  Extrem  jene  Form  gegenüber,  bei  welcher  von 
vorn  herein  die  Magen  wand,  namentlich  die  Submucosa  und  Muscu- 
laris,  diffus  infiltrirt  ist.  Liegt  die  Infiltration  im  Bereich  des 
Pylorus  und  setzt  sie  eine  schw^ere  Stenose,  die  die  Erkrankung 
alsbald  verräth,  so  wird  der  Chirurg  durch  eine  ausgiebige  Re- 
section vielleicht  noch  einen  radicalen  Erfolg  erzielen  können. 
Wird  der  Pylorus  dagegen  erst  spät  und  sccundär  ift  Mitleiden- 
schaft gezogen,  so  kommt  der  Chirurg  wohl  meist  zu  spät.  Diese 
Fälle  geben  somit  von  vorn  herein  eine  äusserst  böse  Prognose. 
Zwischen  diesen  beiden  Extremen  liegen  die  Uebergangsformen, 
der  die  Mehrzahl  der  Magencarcinome  anzugehören  scheinen. 

Von  grösster  Bedeutung  ist  für  den  Cliirurgen  selbstverständlich 


528  Dr.  J.  Mikulicz, 

die  Ausbreitung  des  Magencarcinoms  durch  die  Lymph- 
bahnen. Wir  können  im  Wesentlichen  4  Hauptzüge  von  Lymph- 
gefässen  und  Lymphdrüsen  unterscheiden,  die  vom  Magen  ausgehen. 
Eine  sehr  anschauli(*he  Darstellung  der  Lymphgefässe  und  Lymph- 
drüsen des  Magens  findet  sich  in  dem  bekannten  S appey 'sehen ^) 
Atlas.     Wir  müssen  unterscheiden: 

a)  Die  Drüsen  der  kleinen  Curvatur;  diese  bilden  eine  dichte 
Gruppe,  die  vom  Pylorus  bis  zur  Cardia  hinaufzieht:  Man  findet 
sie  bei  den  meisten  Magencarcinomen  schon  infiltrirt;  ohne  Zweifel 
spielen  sie  bei  der  WcitcFverbreitung  des  Magencarcinoms  eine 
Hauptrolle.  Ich  exstirpire  deshalb  principiell  alle  an  der  kleinen 
Curvatur  bis  an's  Zwerchfell  herauf  palpirbaren  Lymphdrüsen. 

b)  Die  Drüsen  der  grossen  Curvatur;  sie  sind  nur  in  spär- 
licher Zahl  vorhanden,  am  reichlichsten  in  der  Pylorusgegend. 
Gegen  den  Fundus  zu  findet  man  sie  nur  ganz  vereinzelt. 

c)  Die  Drüsen  des  Ligamentum  gastro-colicum.  Diese  sind 
ebenso  wenig  wie  die  sub  b  genannten  zu  übersehen;  sie  bieten 
auch  der  l']xstirpation  keine  Schwierigkeiten,  wenn  sie  nicht  bis 
dicht  an  das  Colon  heranreichen  und  zu  Verwachsungen  mit  dem 
Mesocolon  führen.  Dann  kann  es  leicht  geschehen,  dass  die  Arteria 
colica  media  unterbunden  wird,  was  bekanntlich  zur  Gangrän  des 
Quercolons  führt  und  die  Resection  dieses  Darmabschnittes  noth- 
wendig  macht. 

d)  Die  grössten  technischen  Schwierigkeiten  bieten  dem  Chir- 
urgen zweifellos  die  pankreatischen  Lymphdrüsen,  die,  hinter  dem 
Pylorus  i;elegen,  dem  Pankreas  dicht  anliegen,  zum  Theil  auch  in 
dasselbe  eingebettet  sind  und  sich  in  manchen  Fällen  bis  an  die 
Porta  hepatis  hin  erstrecken.  Die  gründliche  Ausrottung  dieser 
Drüsen  kann  häufig  nur  so  geschehen,  dass  man  Theile  des  Pan- 
kreas mitresecirt,  W'Obei  die  durch  das  Pankreas  verlaufenden 
Gefässe  und  anderweitigen  Gebilde  leicht  Verletzungen  ausgesetzt 
sind.  Ich  habe  einmal  die  Arteria  lienalis  unterbunden,  ohne 
nachtheilige  Folgen  zu  beobachten.  In  einem  andern  Fall  wurde 
der  einer  Lymphdrüse  adhärente  und  stark  nach  der  linken  Seite 
verzogene  Ductus  choledochus  für  ein  Gefäss  gehalten  und  unter- 
bunden.    Ich  erlaube  mir,    an  einer  nach  der  Natur  gezeichneten. 


*)  Anatomie,  Physiologie,  Pathologie  des  Vaisseauxlymphatiques.  Paris  1874. 


Beiträge  zur  Technik  der  Operation  des  Magencarcinoms.  529 

halb  scheraatischen  Abbildung  Ihnen  die  hier  in  Betracht  kommenden 
topographischen  Verhältnisse  zu  demonstriren.    (Demonstration.) 

Die  Forderung,  bei  Magencarcinomen  radicaler  als  bisher  vor- 
zugehen, bringt  es  mit  sich,  dass  die  Operation  sich  nach  jeder 
Richtung  hin  eingreifender  gestaltet  und  dass  die  Technik,  nament- 
lich für  die  vorgeschritteneren  Fälle  eine  Aenderung  erfährt.  Zur 
Verringerung  der  dadurch  gesteigerten  Gefahren  tragen  heute 
wesentlich  zwei  Mittel  bei.  Erstens  die  Schleich'schc  An- 
ästhesie, welche  es  gestattet,  selbst  bei  heruntergekommenen 
Individuen  noch  eine  ausgedehnte  Operation  auszuführen.  Es 
kommt  bei  diesem  Verfahren  ja  gar  nicht  darauf  an,  ob  die  Ope- 
ration etwas  länger  oder  kürzer  dauert.  Zweitens  sind  die  Chancen 
dieser  eingreifenden  Operationen  erheblich  besser  geworden  mit 
der  Vervollkommnung  unserer  Wundbehandlung.  So  war 
früher  z.  W.  (»in  Resectionsstum[)f  des  Pankreas  ausserordentlich 
leicht  Ausgangspunkt  einer  Peritonitis,  während  ich,  seitdem  ich 
mit  verbesserter  Antiseptik  operire,  von  dieser  Seite  nie  mehr  eine 
Störung  des  Wundverlaufes  beobachtet  habe.  Trotzdem  haften  den 
Operationen  immer  noch  genügend  Gefahren  an.  Unter  diesen  sind 
besonders  die  Pneumonieen  hervorzuheben,  welche  auch  bei  solchen 
Patienten  beobachtet  werden,  die  gar  nicht  erbrochen  haben.  Ich 
habe  mehrere,  sonst  ausserordentlich  glatt  verlaufende  Fälle  an 
Pneumonie  verloren.  Die  Obductionsbefunde  machen  es  sehr  wahr- 
scheinlich, dass  es  sich  um  embolische  Processe  handelt,  die,  wie 
es  scheint,  gerade  bei  Magenoperationen  häufiger  sich  entwickeln 
als  nach  andern  Bauchoperationen.  Die  Sache  bedarf  aber  erst 
noch  einer  weiteren  Aufklärung. 

In  Bezug  auf  die  Operationstechnik  ist  hervorzuheben, 
dass  es  vor  Allem  nothwendig  ist,  bei  der  Kesection  des  Magen- 
carcinoms  einen  ausgiebigen  Bauchsehnitt  bis  an  den  Processus 
ensiformis  zu  machen,  um  sicher  die  Verhältnisse  zu  übersehen 
und  bis  an  die  Cardia  hin  die  Lymphdrüsen  verfolgen  zu  können. 
Was  die  Versorgung  des  übrig  gebliebenen  Magenslumpfes  betrifft, 
so  ist  bei  ausgedehnter  Resertion  die  erste  Billroth'sche  Methode, 
d.  i.  die  Vereinigung  von  Magenstumpf  und  Duodenum,  meist  un- 
möglich. Ich  gehe  daher  in  den  meisten  Fällen  nach  dem  Princip 
der  zweiten  Billroth'schen  Methode  vor,  die  bekanntlich  darin 
besteht,  dass  Duodenum  und  Magenlumen  vollständig  verschlossen. 


530  Dr.  .1.  Mikulicz, 

Her  Mairenstunipf  abor  durch  eine  typische  Gastroenterostomie  mit 
dem  Jejunura  verbunden  wird.  Ich  verschliesse  das  Duodenum 
auch  vollständig,  —  in  der  letzten  Zeit  mit  einer  doppcltt*n 
Schnüniaht,  da  die  einfache  fortlaufende  Naht  nicht  sicher  genug 
ist,  —  (las  Lumen  des  Magenstnm|)fes  wird  aber  nicht  vollständis: 
geschlossen;  der  unterste  Winkel  bleibt  offen  und  wird  dinget  in 
eine  Jejunuraschlin.ire  implantirt.  Diese  Form  der  Gastrojejunostomie 
vereinfacht  das  Verfahren  ohne  Zweifel;  es  ist  auch  rationeller  mit 
Rücksicht  auf  die  Stellung  und  die  Vcrlaufsrichtung  des  Magen- 
stumpfes. Ich  habe  mich  in  der  letzten  Zeit  mit  Vorliebe  zu  diesem 
Zwecke  des  Murphy-Knopfes  bedient;  dadurch  wird  die  Ope- 
ration auch  noch  venMnfacht;  ob  sie  aber  dadurch  an  Sicherheit 
gewinnt,  möchte  ich  vorläufig  noch  nicht  behaupten.  Nach  einer 
Reihe  günstig  verlaufender  Fälle  habe  ich  es  einmal  erlebt,  das.s 
nach  9  Tagen  eines  absplut  reactionslosen  Verlaufs,  ohne  eine 
Spur  von  vorangegangener  Peritonitis,  die  durch  .den  Murphy-Knopf 
^'cbildete  Verbindung  nachgab  und  eine  rasch  tödtliche  Perforations- 
Peritonitis  sich  entwickelte. 

Häufig  bekommen  wir  Patienten  mit  stenosirendem  Pylorus- 
carcinom  in  so  verhungert<»ni  Zustande  zur  Operation,  dass  wir 
nicht  den  Muth  haben,  sie  der  eingreifenden  Magenresection  zu 
unterziehen,  selbst  wenn  die  Verhältnisse  technisch  durchaus  gunstig 
liegen.  Es  wurde  mehrfach  der  Vorschlag  gemacht,  in  solchen 
Fällen  zunächst  eine  Gastroenterostomie  auszuführen  und  erst 
später,  wenn  die  Patienten  wieder  zu  Kräften  gekommen  sind,  die 
Magenresection  auszuführen.  Dieser  Vorschlag  ist  an  und  für  sich 
gewiss  berechtig! :  ich  glaube  aber,  dass  er  practisch  nur  in  den 
seltensten  Fällen  auszuführen  sein  wird.  Ich  selbst  habe  schon 
etliche  Male  in  dieser  Absicht  zuerst  die  Gastroenterostomie  ausge- 
führt; als  aber  die  Kranken  nach  mehreren  Wochen  in  wohl- 
g(Miährtem  Zustande  wiederkamen,  wiesen  sie,  was  leicht  begreiflich 
ist,  den  Vorschlag  einer  zweiten  eingreifenden  Operation  entrüstet 
zurück,  da  sie  sich  ja  wieder  vollkommen  gesund  fühlten.  Da 
ich  mich  nicht  für  berechtigt  halte,  in  solchen  Fällen  den  Kranken 
über  die  Natur  seines  Leidens  aufzuklären,  so  unterblieb  natürlich 
die  Operation.  Nur  einmal  hatte  ich  dein  Kranken  noch  während 
des  ersten  Kingriffs  (unter  Schleich'scher  Anästhesie)  auseinander- 
gesetzt,   die  Operation    könne   nicht    auf  einmal    gemacht  werden, 


.        Beiträge  zur  Technik  der  Operation  des  Magencarcinoms.  531 

sondern  müsse  auf  zwei  Zeiten  vertheilt  werden,  weil  seine  Kräfte 
für  einen  grösseren  Eingriif  nicht  sCüsreichten.  Der  Patient  hielt 
Wort  und  kam  nach  6  Wochen  in  gekräftigtem  Zustand  wieder 
zur  Operation.  Diese  gestaltete  sich  aber  ausserordentlich  schwer, 
nicht  nur  wegen  mannigfacher  Verwachsungen  des  Magens,  sondern 
auch  besonders  darum,  weil  das  Carcinom  inzwischen  ganz  rapide 
sich  vergi'össert  hatte.  Ich  bin  überzeugt,  dass  die  Magenresection 
in  einer  Sitzung  trotz  des  schlechten  Ernährungszustandes  für  den 
Kranken  einen  geringeren  Eingriff  dargestellt  hätte  als^  die  zwei 
Operationen. 

Zum  Schluss  möchte  ich  noch  kurz  erwähnen,  dass  ich  vor 
2  Jahren  es  einmal  versucht  habe,  ein  primäres  Cardiacarcinom 
sammt  einem  3 — 4  cm  langen  Stück  des  Oesophagus  zu  rescciren. 
Die  Operation  gestaltete  sich  wegen  der  weiten  Ausbreitung  des 
Carcinoras  auf  das  Pankreas  und  die  retroperitonealen  Lymphdrüsen 
ausserordentlich  schwierig  und  Patient  erlag  einer  Peritonitis. 
Vielleicht  ist  aber  der  von  mir  betretene  Weg  geeignet,  um  in 
andern  günstiger  gelegenen  Fällen  den  Cardiacarcinomen,  noch 
mehr  vielleicht  den  tiefsitzenden  Oesophaguscarcinomen  bei- 
zukommen. 

DavS  Verfahren  ist  im  Wesentlichen  folgendes: 

1.  Längsschnitt  in  der  Linea  alba  vom  Schwertfortsatz  bis 
zum  Nabel. 

2.  Querschnitt  vom  Nabel  bis  zur  vorderen  Axillarlinic  der 
linken  Seite  (der  Schnitt  endigt  2 — 3  cm  unterhalb  des  Rippen- 
bogens). 

.3.  Vom  Endpunkt  dieses  Schnittes  wird  in  der  vorderen 
Axillarlinie  ein  über  die  Thoraxwand  senkrecht  bis  in  die  Höhe 
des  Schwertfortsatzes  verlaufender  Schnitt  geführt.  Während  die 
ersten  zwei  Schnitte  durch  die  ganze  Bauchwand  gehen  und  somit 
die  Bauchhöhle  eröffnen,  durchtrennt  der  dritte  Schnitt,  soweit  er 
im  Bereich  des  'Hiorax  liegt,  zunächst  nur  die  Haut  bis  an  die 
Rippen  und  Intercostalmuskeln.  Nun  wird  mit  stumpfspitzen 
irestielten  Nadeln  von  der  Perilonealseitc  aus  durch  das  Zwerchfell 
und  den  untersten  ln((M-(!OstHlraum  ein  starker  Faden  gezoi^en  und 
damit  die  unterste  der  blossgelegten  Kippen  sammt  dem  Zwerch- 
fellrande fest  umschnürt;  dies  geschieht  zweimal  und  zwar  sowohl 
lateralwärts  als  medialwärts  neben  d(Mi  auseinander  gezogenen  Haut- 


^   I 


532     Dr.  .1.  Mikulicz,  Beiträjre  z.  Technik  der  Operation  d.  Magencarcigom«. 

rändern.  Beide  Umschnürungsfäden  liegen  ca.  2  cm  von  einander  ent- 
fernt. Darauf  wird  ein  ebenso  starker  Faden  von  der  Haatseite  durch 
den  letzten  Intercostalraum  und  das  Zwerchfell  hindurchgeführt  und 
von  der  Peritonealseite  durch  den  nächstfolgenden,  d.  i.  den  vorletzten 
Intercostalraum,  nach  aussen  geleitet;  nun  wird  die  vorletzte  Rippe 
mit  dem  anliegenden  Zwerchfell  durch  den  herumgeschlungenen 
Seidenfaden  fest  verbunden.  Es  folgt  in  der  gleichen  Weise  die 
Cmschnürung  der  drittletzten  und  viertletzten  Rippe  sammt  dem 
anliegenden  Zwerchfell,  bis  man  in  der  Höhe  des  Processus  xyphoi- 
deus  angelangt  ist.  Schliesslich  wird  noch  im  viertletzten,  d.  i. 
dem  VI.  Inten'ostalraura  die  Intercostalmusculatur  mit  dem  dazu 
gehörigen  Zwerchfell  durch  einen  durchgezogenen  Seidenfaden  ver- 
bunden. In  dieser  Weise  wird  im  Bereich  des  lateralen  Schnittes 
das  Zwerchfell  mit  den  untersten  Rippen  in  einer  2  cm  breiten 
Zone  so  fest  verbunden,  davss  der  zwischen  den  Schnürfäden  liegende 
Complementärraum  von  dem  Rest  der  Pleurahöhle  dicht  abge- 
schlossen ist.  Nun  durchtrennt  man  in  dieser  Zone  zwischen  den 
beiden  Reihen  von  Schnürfäden  die  vier  untersten  Rippen,  sammt 
Zwerchfell  und  Intercostalmuskeln.  So  wird  ein  ca.  15  cm  langer, 
ca.  12  cm  breiter  viereckiger  Lappen  mit  oberer  Basis  gebildet, 
der  zum  Theil  aus  der  Bauchwand,  zum  Theil  aus  der  Thoraxwand 
inclusive  Zwerchfell  besteht.  Dieser  Lappen  lässt  sich  nun  leicht 
in  die  Höhe  schlagen.  Man  gewinnt  einen  sichern  und  bequemen 
Zugang  zur  Cardia  und  zum  Foramen  oesophageura  des  Zwerch- 
fells; indem  man  die  den  Oesophagus  umschlingenden  Muskelfasern 
des  Zwerchfells  stumpf  auseinanderdrängt,  kann  man  das  unterste 
Ende  des  Oesophagus  auf  mehrere  Centimenter  blosslcgen;  übt 
man  auf  den  blossgeh^gten  Oesophagus  einen  nur  massigen  Zug 
aus,  so  kann  man  ihn  noch  um  einige  Centimeter  mehr  aus  dem 
Foramen  oesophagc^um  hervorziehen.  Man  kann  auf  diese  Weise 
ohne  übermässige  Schwierigkeit  ein  i—b  cm  langes  Stück  des 
unteren  Oesoj)hagusendes  reseciren.  Das  Verfahren  ist,  wie  schon 
erwähnt,  vielleicht  zur  Resection  tiefsitzender  Oesophaguscarcinome 
zu  verworthen. 


XXXII. 

Ueber  die  histologischen  Vorgänge  nach 

der  Implantation  von  Elfenbein  und  todtem 

Knochen  in  Schädeldefecten. 


Von 

Ur.  max  Ua^ld 

in  Berlin. 

(Hierzu  Tafel  H.) 


In  meiner  früheren  Mittheilung  (1),  in  der  ich  die  histologi- 
schen Vorgänge  schilderte,  welche  nach  Replantation  überlebender 
Knochenstücke  am  Schädel  des  Hundes  zu  beobachten  sind,  war 
ich  zu  Resultaten  gekommen,  die  mit  denen,  welche  Barth 2)  bei 
ähnlichen  Untersuchungen  erhalten  hatte,  in  dierectem  Widerspruche 
standen.  Während  Barth  behauptet  hatte,  dass  auch  der  lebende 
replantirte  Knochen  unter  allen  Umständen  zu  Grunde  ginge, 
konnte  ich  nachweisen,  dass  lebende  Knochensubstanz  als  solche 
einheilt,  dass  also  von  einem  Zugrundegehen  und  einem  Ersatz 
derselben  durch  neugebildeten  Knochen  keine  Rede  sein  könne. 
Da  Barth  in  seiner  interessanten  Arbeit  das,  was  man  nach  Re- 
plantation überlebenden  Knochens  mikroskopisch  feststellen  kann, 
in  directe  Parallele  gebracht  hatte  mit  dem,  was  bei  Implantation 
macerirten  Knochens,  Elfenbeins  u.  s.  w.,  also  todten  Materials,  zu 
beobachten  ist,  —  heisst  es  doch  1.  c.  pg.  107:  „Nichts  konnte 
die  Ergebnisse  des  ersten  Theiles  dieser  Untersuchungen  so  sehr 
stützen,    als    der  Nachweis,    dass  todte  z.  B.  macerirte  Knochen- 

0  David,  Ueber  die  histologischen  Befunde  nach  Replantation  trepa- 
nirter  Knochenstücke  des  Schädels.      Archiv  f.  klin.  Chirurgie.     53.  Bd.    H.  4. 

2)  Barth,  Histologische  Untersuchungen  über  Knochenimplantationen. 
(Abdruck  aus  ,,Beiträge  zur  pathologischen  Anatomie  und  zur  allgemeinen 
Pathologie",  Bd.  XVII.) 

ArehiT  fVr  klin.  Chirurgie.    67.  M.   Heft  3.  3g 


534  Dr.  M.  David, 

stücke  unter  den  nämlichen  histologischen  Vorgängen  in  Knochen- 
defecten  einheilen  wie  lebende" — ,  so  erwuchs  für  mich  die  wissen- 
schaftliche Verpflichtung,  zu  prüfen,  ob  in  der  That  ein  solcher 
Parallelismus  vorhanden  ist.. 

Zu  den  Versuchen,  die  ich  dieserhalb  ausführte,  stellte  mir 
Herr  Professor  Herm.  Munk  in  liebenswürdigster  Weise  die  Mittel 
seines  Instituts  wiederum  zur  Verfugung.  Ihm  an  dieser  Stelle 
öffentlich  dafür  danken  zu  können,  ist  mir  eine  angenehme  Pflicht. 

Die  Versuche  wurden  ausschliesslich  am  Schädel  von  Hunden 
angestellt  und  zwar  in  der  Weise,  dass  ich  in  den  mit  einem 
Handtrepan,  selbstverständlich  unter  allen  aseptischen  Cautelen 
hergestellten  Knochendelect  entweder  Elfenbeinplättchen  einlegte, 
welche  genau  der  Grösse  des  Defects  entsprachen,  oder  das  ich 
das  heraus  trepanirte  Stück  15  Minuten  lang  auskochte  und  dann 
implantirte.  Durch  das  Kochen  wurde  das  Stück  sicher  abgetödtet 
und  aseptisch  erhalten.  Ich  fuge  noch  hinzu,  dass  bei  allen 
meinen  Versuchsthieren  der  Heilungsprocess  ohne  irgend  welchen 
störenden  Zwischenfall  verlief. 

In  den  folgenden  Auseinandersetzungen  werde  ich  mich  in 
erster  Reihe  an  die  Ergebnisse  der  Elfenbeinversuche  hatten.  Für 
die  mikroskopische  Untersuchung  bietet  Elfenbein  vor  todtem  KÄOchen 
den  grossen  Vortheil  dar,  dass  es  infolge  seiner  eigenartigen 
Structur  sich  scharf  von  der  Umgebung  abhebt.  Todter  Knochen 
dagegen  zeigt  immerhin  die  gleichen  Texturverhältnisse  wie  der 
lebende,  und  darum  sind  die  Bilder,  die  man  erhält,  weniger  klar 
und  weniger  eindeutig  als  beim  Elfenbein.  Erst  durch  den  Ver- 
gleich der  Resultate  der  Elfenbeinversuche  mit  denen  mit  todtem 
Knochenmaterial  werden  die  letzteren  verständlich. 

Bezüglich  der  angewendeten  Technik  sei  erwähnt,  dass  ich  in 
der  gleichen  Weise  verfahren  bin,  wie  früher,  also  in  Pikrinsalpeter- 
säure  fixirt  und  die  von  celloidinirtem  Material  hergestellten 
Schnitte  in  Rawitz'schem  Glycerin-Alaun-Hämatein  gefärbt  habe. 

A.  Elfenbeinversuche. 

Die  ausserordentliche  Resistenzfähiirkeit  des  Elfenbeins  be- 
dingt es,  dass  die  Veränderungen,  die  bei  seiner  Einheilung  mit 
ihm  vorgehen,  ausserordentlich  langsam  verlaufen.  Nach  4, 
ja  noch  na(^h  8  Wochen    sind    nur   ganz  undeutliche  Spuren  einer 


Histolog.  Vorgänge  nach  Implantation  von  Knüchen  in  Schädeldefecten.     535 

Veränderung,  nämlich  Arrosionen  der  Randzone  des  implantiiten 
Stückes  wahrzunehnaen,  aus  denen  histologisch  nichts  zu  machen 
ist.  Erst  nach  der  26.  Woche  habe  ich  bei  meinen  Versuchsthieren 
deutliche,  wenn  auch  noch  sehr  geringe  Veränderungen  angetroffen. 
An  der  duralen,  an  der  cranialen  und  an  der  Narbenseite  sieht 
man,  dass  von  dem  umgebenden  Bindegewebe  her  durch  Neubildung 
von  Grefässen  und  durch  Zellwucherungen  das  Elfenbeinstück  leicht 
usurirt  wird  (Fig.  1).  Es  sind,  wie  dies  Figur  1,  die  bei  schwacher 
Vergrösserung  angefertigt  ist,  deutlich  zeigt,  geringe  Ausbuchtungen 
in  dem  Elfenbeinplättchen  zu  erkennen,  welche  den  ursprünglich 
glatten  Contour  zu  einem  zackigen  gemacht  haben.  In  Figur  2 
sind  nur  die  Zellwucherungen  (bei  stärkerer  Vergrösserung)  ge- 
zeichnet, und  hier  tritt  schon  andeutungsweise  das  auf,  was  in 
späteren  Stadien  als  charakteristisch  für  diesen  Einheilungsptoccss 
bezeichnet  werden  muss.  Man  erkennt  nämlich  (Fig.  2  K),  dass 
in  der  Nähe  der  Zellwucherungen  neue  Knochensubstanz  sich  bildet. 
Zwar  ist  in  diesem  Stadium  die  Neubildung  nur  eine  sehr  geringe^ 
aber  deutlich  unterscheidet  sich,  wie  ein  Blick  auf  Figur  2  bei  K 
lehrt,  die  Elfenbeinsubstanz  von  dem  neugebildeten  Knochen. 
Erstere  nämlich  färbt  sich  in  dem  angewendeten  Hämatein  intensiv 
veilchenblau,  während  die  Knochengrundsubstanz  nur  einen  sehr 
blassen  Farbenton  annimmt.  Schon  diese  Diffezenz  würde  zur 
Unterscheidung  der  beiden  Substanzen  ausreichen;  dazu  kommt 
noch  der  fundamentale  Unterschied:  das  Vorhandensein  von  deut- 
lichen Knochenzellen.  Für  letztere  ist  offenbar  die  Matrix  in  den 
Bindegewebszellcn  der  Umgebung  zu  suchen. 

Noch  in  einer  anderen  Beziehung  ist  dieses  Stadium  von 
grossem  Interesse.  Man  sieht  nämlich,  dass  der  Schädelknochen 
in  der  Umgebung  der  Narbe  stark  verdickt  ist.  Das  Einzige,  was 
bei  Hunden,  die  4  bezw.  8  Wochen  nach  der  Operation  getödtet 
wurden,  auffiel,  war  ebenfalls  diese  Verdickung.  Im  mikroskopi- 
schen Bilde  erkennt  man,  dass  an  dieser  Stelle  Dura  und  Peri- 
cranium  stärker  als  in  der  Norm  sind.  Im  Innern  der  Substanz 
des  Schädelknochens  sind  die  Haversischen  Kanäle  stark  erweitert, 
confluiren  stellenweise  und  bilden  dadurch  i^rössere  und  kleinere 
unregelraässig  geformte  Hohlräume.  In  die  Canäle  gehen  Blut- 
gefässe eder  stärkere  Bindcgewebszüge,  beide  von  der  Narbe  ent- 
springend, hinein  und  eri^trecken  sich  bis   in  die  Hohlräume.     Die 

36* 


536  Dr.  M.David, 

Wände  der  letzteren  sind  zum  Thcil  von  Riesenzellen,  zum  Theil 
von  mehrschichtigen  Lagern  unregelmässig  geformter  Zellen  be- 
kleidet. Alle  diese  Erscheinungen  sind  an  der  Narbengrenze  am 
stärksten  und  nehmen  allmählich  nach  dem  stehengebliebenen  Thcil 
des  Schädeldachs  hin  an  Intensität  ab. 

Die  Deutung  dieses  Befundes  ist  nicht  schwer.  Die  be- 
schriebenen Erscheinungen  sind  als  die  Zeichen  einer  reactiven 
Knochenentzündung  aufzufassen,  durch  die  der  lebende  Knochen 
sich  gegen  den  implantirten  Fremdkörper,  das  Elfenbeinplättchen, 
abzugrenzen  bemüht  ist.  Es  gleichen  also  die  am  Schädel  zu 
beobachtenden  Verhältnisse  insofern  denen,  die  nach  Bidder^)  am 
Röhrenknochen  vorkommen,  als  auch  hier  offenbar  eine  „conden- 
sirende  Ostitis"  auftritt. 

Das  nächste  Versuchsthier  tödtete  ich  genau  ein  Jahr  nach 
vorgenommener  Operation.  Das  Thier,  ein  kräftiger,  etwa  IV2  Jahr 
.  alter  Mops,  hatte  sich  während  der  ganzen  Zeit  vollkommen  nor- 
mal gezeigt.  Vor  allen  Dingen  waren  niemals  an  ihm  Erschein- 
ungen wahrzunehmen  gewesen,  die  auf  Beschwerden  hinwiesen, 
welche  von  dem  Elfenbeinstückchen  etwa  veranlasst  sein  konnten. 
Die  mikroskopische  Untersuchung  dieses  Präparates  giebt  nun 
meines  Erachtens  einen  definitiven  Aufschluss  über  das  Schicksal 
aseptisch  eingeheilter  Elfenbeinstücke.  Meine  Untersuchungen  be- 
stätigen, was  V.  Bergmann 2)  in  seiner  Mittheilung  über  Knochen- 
implantation hierüber  sagt:  „Dagegen  verfallen  todter  Knochen  und 
Elfenbeinstifte  der  lacunären  Resorption,  können  aber,  wenn  sie 
nur  klein  sind,  einer  organischen  Knochenbildung  als  Conductor 
dienen.'*  Thatsächlich  wird  das  Elfenbein  durch  „lacunäre  Resorp- 
tion'* beseitigt,  und  an  seine  Stelle  tritt  neugebildeter  Knochen. 
Gleich  vorweg  sei  bemerkt,  das  in  diesem  Präparat  das  Elfenbein 
noch  nicht  vollständig  resorbirt  ist,  aber  der  Versuch  lehrt-,  dass, 
würde  man  die  Tliiere  genügend  lange  Zeit  (vielleicht  2  oder 
mehr  Jahre)  nach  der  Operation  am  Leben  erhalten,  das  Elfenbein 
spurlos  verschwinden  müsste. 

Betrachtet    man    ein    mikroskopisches    Präparat    aus    diesem 


0  Bidder,  Neue  Experimente  über  die  Bedingungen  des  krankhaften 
Längenwachsthums  von  Röhrenknochen.      Archiv  f.  klin.  Chir.     Bd.   18.      1875. 

2)  V.  Bergmann,  lieber  Knochenimplantation.  (Berl.  klin.  Wochenschrift, 
24.  Aug.  1891). 


Histolog.  Vorgänge  nach  Implantation  von  Knochen  in  Schädeldefecten.     537 

Stadium  bei  schwacher  Vergrösserung,  so  findet  man  selbst  im 
Centrum  des  Elfenbcinstückes  (Fig.  3)  eine  ganz  beträchtliche 
Veränderung.  Zu  beiden  Seiten  der  Narbe,  auf  der  crg,nialen  und 
duralen  Fläche  sind  relativ  grosse  Löcher  vorhanden,  die  sich  durch 
ihre  helle  Färbung  von  dem  dunkelblau  tingirten  Elfenbeine  auf 
das  Allerschärfste  abheben.  In  denjenigen  Abschnitten  des  im- 
plantirten  Stückes,  die  der  Narbe  benachbart  sind,  also  in  der 
Peripherie  des  Platt chens,  ist  die  Elfenbeinsubstanz  in  hohem 
Grade  rareficirt,  (Fig.  6),  so  dass  die  neugebildete  Knochensubstanz 
ihr  an  Masse  etwa  gleichkommt.    . 

'  Im  Speciellen  ergeben  sich  folgende  Resultate: 

Der  Process  der  Resorption  des  Elfenbeins  verläuft  oifenbar 
so,  dass  sowohl  vom  Pericranium,  wie  von  der  Dura  und  von  der 
Narbengegend  her  Riesenzellennester  (Fig.  4  u.  5  r)  an  das  Elfenbein 
sich  anlagern  und  als  Osteoklasten  wirken.  Die  Zellen  legen  oflFenbar 
Bresche  in  die  harte  Masse  des  Elfenbeins  und  ermöglichen  es  den 
von  den  sehr  erweiterten  Blutgefässen  der  Umgebung  abstammen- 
den Gefässschlingen,  ihnen  nachzudringen  (Fig.  4 — 7  g).  Hierdurch 
entsteht  eine  üsur  und  in  dieser  liegt  zunächst  die  Gefässschlinge 
(Fig.  4 — 6  g).  Die  Zellen  der  Adventitia  derselben  verwandeln 
dann  ihre  Form  und  werden,  soweit  sich  dies  an  den  Schnitten 
erkennen  lässt,  zu  typischen  Knochenzellen:  die  ganze  Adven- 
titia verknöchert.  Dies  tritt  weniger  deutlich  an  Querschnitten, 
deutlicher  dagegen  an  Schräg-  und  Längsschnitten  durch  die  Ge- 
fässe  hervor,  wie  ein  Blick  auf  die  Figuren  4  und  6  zeigt.  Dieser 
jugendlichen  Knochensubstanz  ermangelt  zunächst  noch  der  lamellöse 
Bau,  der  erst  später  klar  in  die  Erscheinung  tritt.  Unter  „später" 
ist  zu  verstehen,  dass  in  der  Umgebung  derjenigen  Gefässe  der 
lamellöse  Bau  des  Knochens  deutlich  ist,  welche  mehr  oder  weniger 
tief  im  Innern  der  Elfenbeinsubstanz  liegen,  von  denen  also  an- 
zunehmen ist,  dass  sie  im  Vergleich  zu  den  Gefässschlingen,  die 
in  der  Peripherie  des  Plättchens  sich  finden,  die  älteren  sind, 
(cf.  Fig.  4). 

Es  ist  ganz  selbstverständlich,  dass  zur  Beobachtung  dieser 
Thatsachen  das  Studium  grösserer  Schnittserien  erforderlich  ist; 
denn  auf  dem  einzelnen  Schnitte  findet  man  immer  nur  Bruch- 
theile  des  Processes.  Nicht  in  jedem  Schnitte  sind  die  Riesen- 
zellennester zu  erkennen,  ebenso  ist  nicht    in    jedem  Schnitte    der 


538  Dr.  M.  David, 

Zosamro«nhang  der  vordringenden  GefässschKngen  mit  den  Ge- 
fassen  des  Pcricraninins  etc.  ein  deutlicher.  Bilder,  wie  ich  eiDS 
in  Figur  7  wiedergegeben  habe,  sind  nicht  oberall  zu  sehen;  man 
moss  sie  vielmehr  suchen.  Daher  findet  man  in  den  einzelnen 
Präparaten  bald  ein  üeberwiegen  der  Quer-,  bald  ein  üeberwi^en 
der  Schräg-  oder  Längsschnitte  durch  die  Gefässe,  und  erst  durch 
die  Combination  der  verschiedenen  Schnittbilder  gelangt  man  za 
einem  Verständniss  des  eigentlichen  Processes. 

In  der  Nähe  der  Narbe  sind  natürlich  die  Veränderungen  am 
intensivsten  (Fig.  6);  das  Elfenbein  ist  daher  hier  am  dünnsten 
und,  wie  dies  Figur  6  deutlich  zeigt,  ist  auch  hier  am  meisten 
neugebildeter  Knochen  vorhanden,  während  im  Centrum  des  Plätt- 
chens die  Verhältnisse  grade  umgekehrt  liegen. 

Sehr  deutlich  tritt  auch  noch  in  Figur  6  der  beachtenswerthe 
Umstand  heiTor,  dass  der  neugebildete  Knochen  oft  eine  carernose 
Beschaffenheit  annimmt,  die  fast  an  das  Aussehen  der  Diploe  er- 
innert. 

Aus  den  mitgetheilten  Thatsachen  geht  also  hervor,  dass 
Elfenbeinsubstanz  in  einem  Schädeldefect  einheilen  kann,  ohne  ir- 
gend welche  krankhaften  Symptome  hervorzurufen.  Femer  wird 
in  unanfechtbarer  Weise  dargethan,  dass  diese  Elfenbeinsubstanz 
allmählich,  allerdings  erst'  nach  sehr  langer  Zeit  durch  Knochen 
vollkommen  ersetzt  wird,  und  endlich,  dass  bei  der  Neubildung 
dieses  Knochens  ausschliesslich  betheiligt  sind  Pericranium, 
Dura,  Bindegewebe  der  Narbe,  während  der  stehengebliebene  Schädel- 
knochen zwar  eine  (nur  anftinglich  vorhandene)  reactive  Entzün- 
dung erkennen  lässt,  mit  der  Knochenneubildung  aber  Nichts  zu 
thun  hat. 

In  der  von  Barth  mit  Recht  als  vortrefflich  bezeichneten 
Arbeit  von  Bidder  (1.  c.)  werden  die  Veränderungen  von  Elfen- 
beinzapfen geschildert,  die  in  Röhrenknochen  (Tibia)  von  Kaninchen 
eingekeilt  wurden.  Bidder  sagt,  dass  Knochenbalken,  die  sich 
in  der  Markhöhle  gebildet,  stellenweise  dicht  an  den  Elfenbeinstift 
heranträten  und  sich  ihm  anschmiegten.  Daneben  sollen  die  Mark- 
zellen tiefe  Löcher  und  Gänge  in  die  Elfenbeinmasse  bohren,  so 
dass  letztere  ein  badeschwammartiges  Aussehen  erreichen  könnte. 
Man  fände  oft  mitten  im  Elfenbein  Markräume  von  jungem  Knochen- 


Histolog.  Vorgänge  nach  Implantation  von  Knochen  in  Schädeldefecten.     539 

gewebe  umlagert.  An  der  Peripherie  dieser  Räume  seien  deutliche 
Osteoblasten  zu  sehen.  Mit  dem  Markgewebe  drängen  Blutgefässe 
in  die  Löcher  des  Elfenbeingewebes  hinein. 

Ein  Vergleich  dieser  referirten  Angaben  mit  meinen  hier  ge* 
gebenen  Schilderungen  zeigt,  dass  zwischen  Bidder's  und  meinen 
Befunden  eine  Diiferenz  besteht,  die  jedoch  nur  beruht  auf  der 
Verschiedenartigkeit  der  von  uns  beiden  untersuchten  Knochen. 
Alle  Einzelheiten,  die  Bidder  angiebt,  sind  offenbar  charakteristisch 
für  die  Röhrenknochen,  aber  treffen  in  dieser  Weise  nicht  zu  für 
das  Schädeldach.  Vordringende  Markzellen,  wie  Bidder  sie  er- 
wähnt, kann  es  hier  nicht  geben ;  vordringende  in  einer  Markhöhle 
gebildete  Knochenblättchen,  die  sich  dem  Elfenbein  anschmiegen, 
sind  am  Schädeldach  ebenfalls  eine  Unmöglichkeit.  Es  sollte  eine 
solche  Differenz  zur  Vorsicht  mahnen  bei  der  Verwerthung  und 
Beurtheilung  der  Resultate  anderer  Forscher.  Es  geht  eben  nicht 
an,  das,  was  man  am  Schädel  gefunden  hat,  ohne  Weiteres  in 
directe  Beziehung  zu  bringen  zu  dem,  was  ein  Anderer  am  Röhren- 
knochen gefunden,  und  umgekehrt.  Die  Processe  mögen  in  ihren 
Endresultaten  übereinstimmen  —  und  das  ist  bei  Bidder's  und 
meinen  Untersuchungen  der  Fall  — ,  in  den  Einzelheiten  braucht 
aber  ein  vollkommener  Parallelismus  nicht  vorhanden  zu  sein. 


B.    Todter  Knochen. 

In  ähnlicher  Weise  wie  bei  meinen  Untersuchungen  über  die 
Einheilung  replantirten  überlebenden  Knochens  habe  ich  auch  in 
den  Versuchen,  in  welchen  das  ausgekochte  Fragment,  also  todtes 
Material,  zur  Einheilung  zu  bringen  war,  in  ganz  bestimmten 
Zwischenräumen  die  Versuchsthiere  getödtet,  und  zwar  wurde  1, 
2,  3,  4,  6,  8,  12  und  26  Wochen  post  operationcm  die  mikros- 
kopische Untersuchung  vorgenommen. 

Am  Ende  der  ersten  Woche  sind  das  implantirte  Stück  und 
der  angrenzende  Schädel  durch  bindegewebige  Narbe  mit  einander 
verbunden.  Man  sieht  dabei,  wie  schon  beim  Elfenbein  bemerkt 
wurde,  häufig  eine  'Auftreibung  des  normalen  Schädelknochcns,  die 
hier  wie  dort  zu  deuten  ist  als  eine  „condensirende  Ostitis"  (cf. 
Bidder  1.  c).    Mitunter  findet  man  auch  im  Schnitt  eine  Ungleich- 


540  Dr.  M.  David, 

heit  der  das  implantirtc  Stück  begi*enzenden  Theile  des  normalen 
Knochens,  derart,'  dass  die  eine  Seite  stärker  verdickt  ist,  als  die 
andere.  An  die  stärker  verdickte  Partie  hat  sich  das  Fragment 
dicht  angelagert,  so  dass  hier  die  Narbe  ausserordentlich  schmal  ist, 
während  es  an  der  entgegengesetzten  Seite  vom  Schädel  relativ 
weit  entfernt  ist.  Es  hat  also  wahrscheinlich  durch  einen  bei  An- 
legung der  Naht  ausgeübten  äusseren  Druck  eine  Verschiebung  des 
implantirten  Knochenstückes  stattgefunden.  Das  ist  leicht  ver- 
ständlich, wenn  man  bedenkt,  dass  das  heraustrepanirte  Stück  (und 
dieses  wurde  immer  zu  den  Versuchen  benutzt)  nie  ganz  genau  in 
die  Trepanwundc  passen  kann,  sondern  immer  um  die  Dicke  der 
Trepanwand  kleiner  sein  muss,  als  der  hervorgerufene  Defect.  *  Im 
üebrigen  findet  sich  das  natürlich  durch  alle  Stadien  hindurch. 

Die  Narbe  selber  bietet  wenig  besonders  Bemerkenswerthes 
dar.  Im  Allgemeinen  sind  die  Befunde  hier  die  gleichen,  wie  bei 
den  Versuchen  mit  Einheilung  überlebenden  Knochens^). 

Vom  Ende  der  zweiten  Woche  ab  beginnt  vom  Pericranium 
von  der  duralen  Seite  und  von  der  Narbe  aus  ganz  wie  bei  der 
Einheilung  von  Elfenbeinstückchen,  eine  Zertrümmerung  des  todten 
Knochens  und  ein  Ersatz  desselben  durch  neugebildeten  lebenden. 
Noch  ist  (bis  zur  8.  Woche)  die  Unterscheidung  zwischen  todtem 
und  lebendem  Knochen  keine  ganz  leichte.  Man  findet  nämlich 
in  den  Knochenkörperchen  des  ausgekochten  Stückes  mitunter  die 
wohlerhaltenen  Zellen,  die  sich  häufig  genau  so  färben,  wie  die 
Zellen  des  angrenzenden  Schädeldachs.  Das  darf  nicht  Wunder 
nehmen.  Durch  das  Kochen  wird  ja  die  Substanz  der  Zellen  nicht 
zerstört,  sondern  vielmehr  fixirt  —  die  alten  Histologen  haben  be- 
kanntlich sehr  häufig  an  gekochtem  Material  ihre  Untersuchungen 
angestellt  — ;  es  ist  also  erklärlich,  dass  diejenigen  Zellen, 
die  noch  nicht  der  Resorption  verfallen  sind,  sich  genau  so  färben, 
wie  die  aus  der  normalen  Nachbarschaft. 

Doch  fahren  wir  in  de^  Schilderung  des  eigentlichen  Pro- 
cesses  fort! 

Zuweilen,  und  es  müssen  hier  individuelle  Differenzen  zwischen 
den  Versuchsthieren  vorliegen,  ist  der  Heilungsvorgang  ein  ausser- 
ordentlich langsamer.     Wie  Fig.  8  zeigt,  die  nach  einem  Präparat, 


1)  David  1.  c. 


Histolog.  Vorgänge  nach  Implantation  von  Knochen  in  Schädel defecten.     541 

das  der  zwölften  Woche  entstammt,  angefertigt  ist,  ist  nur  dicht  an 
der  cranialen  Seite  (Fig.  8®')  das  Hineinwuchern  von  Gefässen,  und 
die  Neubildung  jungen  Knochens  unmittelbar  am  Pericranium  zu 
beobachten  (Fig.  S%  während  im  Uebrigen  im  Innern  des  todten 
Knochenstückes  nur  wenig  Veränderungen,  und  diese  nur  in  der 
Umgebung  erweiterter  Gefässe,  anzutreffen  sind.  In  anderen  Fällen 
verläuft  der  Process  schneller,  und  man  sieht  bereits  nach  der- 
selben Zeit  innerhalb  des  todten  Knochens  grosse  Particen  neu- 
gebildeter Knochensubstanz.  Hier  wie  da  unterscheidet  sich  der 
neugebildete  Knochen  von  dem  todten  dadurch,  dass  im  Letzteren 
die  Knochenkörperchcn  vollständig  leer  sind,  höchstens  noch  Zell- 
trümmer beherbergen,  während  in  Ersterem  die  Knochenzellen 
durch  ihre  Färbung  in  Hämatein  deutlich  hervortreten. 

Im  Allgemeinen  verläuft  der  Heilungsvorgang  in  derselben 
Weise  wie  beim  Elfenbein.  Es  treten  aus  der  Umgebung,  also  von 
der  Narbe,  vom  Pericranium  und  von  der  Dura  Osteoklasten  auf, 
die  den  vordringenden  Gefässschlingen  den  Weg  bahnen.  Durch 
diese  wird  der  todte  Knochen  usurirt.  In  ihrer  Adventitia  bildet 
sich  die  neue  Knochensubstanz,  und  so  findet  allmählich  eine 
Resorption  des  todten  und  ein  Ersatz  durch  neugebildeten  Knochen 
statt.  Färberisch  tritt  namentlich  die  Grenze  zwischen  beiden  sehr 
scharf  hervor.  Immer  stärker  wird  die  Resorption  des  todten  und 
immer  beträchtlicher  die  Masse  des  neugebildeten  Knochens,  so 
dass  mit  der  26.  Woche,  mit  der  ich  meine  Versuche  beendete, 
das  Fragment  zum  grössten  Theile  resorbirt  war.  Es  zeigten  sich 
wohl  noch  hier  und  da  Inseln  von  todter  in  der  neugebildeten 
Knochensubstanz,  doch  sind  sie  nur  spärlich  vorhanden.  Daher 
ist  das  Bild  das  gerade  Gegentheil  zu  dem,  welches  man  z.  B. 
nach  der  achten  oder  zwölften  Woche  erhält,  in  welchen  Stadien 
man  nur  Inseln  lebender  Knochensubstanz  in  der  todten  Masse 
beobachten  kann. 

Erwähnenswerth  ist  noch  das  Verhalten  des  an  die  Narbe 
angrenzenden  Schädelknochens.  Auch  hier  finden  sich  Ver- 
änderungen oft  nicht  unbeträchtlicher  Art,  die  namentlich  in  einer 
sehr  starken  Erweiterung  der  Haversischen  Canäle  und  in  dem 
Auftreten  kleiner  circumscripter  todter  Stellen  bestehen.  Das  sind 
rein  reactive  Entzündungserscheinungen,  für  die  als  ursächliches 
Moment  der  mechanische  Insult  beim  Trepaniren  zu  betrachten  ist. 


542  Dr.  M,  David 


7 


Endlich  sei  noch  die  Thatsache  erwähnt,  dass  zuweilen  die  Narbe 
verknöchern  kann.  Es  ist  dies  der  Fall  in  denjenigen  Versuchen, 
in  welchen  eine  seitliche  Verschiebung  des  implantirten  Stückes 
stattgefunden  hatte.  An  der  Stelle,  wo  todter  und  lebender 
Knochen  dicht  an  einander  lagen,  trat  sehr  bald  eine  vom  lebenden 
Knochen  ausgehende  Verknöcherung  der  Narbe  auf. 

Nachdem  ich  somit  die  Ergebnisse  meiner  Versuche  mit  Elfen- 
bein und  todtem  Kno(*hen  mitgetheilt,  erwächst  mir  die  Pflicht, 
nunmehr  dieselben  in  Beziehung  zu  setzen  zu  der  Darstellung,  die 
Barth  giebt,  und  zu  dem,  was  ich  selbst  in  meiner  früheren  Arbeit 
mitgetheilt  habe. 

Ein  näheres  Eingehen  auf  die  ziemlich  umfangreiche  Literatur^) 
erscheint  mir  um  so  weniger  nothwendig,  als  dies  bereits  seitens 
Barth's  in  erschöpfender  Weise  geschehen  ist.  Nur  aus  einer 
Arbeit  von  Ochotin^)  sei  eine  Stelle  angeführt,  weil  die  Er- 
gebnisse, welche  dieser  Forscher  bei  seinen  Versuchen  erhalten 
hat,  geeignet  erscheinen,  die  von  mir  in  meiner  früheren  Arbeit 
vertretene,  mit  der  bis  Barth  allgemein  herrschenden  überein- 
stimmende Auffassung  zu  unterstützen.  Es  heisst  nämlich  bei 
Oc hotin  (1.  c.  S.  107)  wörtlich:  „Während  der  transplan tirte 
Knochen,  indem  er  von  Bindegewebe  umgeben  ist,  mit  diesem  in 
eine  organische  Verbindung  tritt,  wird  der  todte  Knochen  durch 
dasselbe  vom  lebenden  Gewebe  nur  isolirt,  und  wenn  es  denselben 
wirklich  fixirt,  so  geschieht  dies  nur  mechanisch.  Femer,  sobald 
der  lebende  transplantirte  Knochen  sich  mittelst  der  neugebildeten 
Knochensubstanz  mit  dem  Mutterboden  verbunden  hat,  so  participirt 
er  ohne  Weiteres  an  dem  Leben  und  den  Functionen  des  Gesammt- 
knochens,  während  dagegen  der  todte  Knochen  von  diesem  Zeit- 
punkt an  nur  schneller  resorbirt  und  durch  neugebildete  Knochen* 
Substanz  ersetzt  wird.  Das  Endresultat  ist  in  beiden  Fällen  das- 
selbe: Ausfüllung  des  Knochendefects." 

Es  ergänzen  die  Ochotin'schcn  Angaben  über  die  Einheilung 

1)  Da  ich  hier  lediglich  die  histolagischeii  Veränderungen  schildere,  so 
glaube  ich  davon  Abstand  nehmen  zu  können,  derjenigen  Arbeiten  zu  gedenken, 
in  welchen  ausschliesslich  das  grob  wahrnehmbare  Verhalten  geschildert  wird. 
ich  gebe  mich  der  Hoffnung  hin,  dass  mir  diese  Beschränkung  nicht  als  ein 
Mangel  an  wissenschaftlicher  Rücksicht  und  Achtung  von  den  betreffenden 
Autoren  ausgelegt  wird. 

2)  S.  Ochotin,  Beiträge  zur  Lehre  von  der  Transplantation  todter 
Knochentheile.  —  Virchow's  Archiv,  Bd-  124,  S.  97. 


Histolog.  Vorgänge  nach  Implantation  von  Knochen  in  Schädeldefecten.     543 

todten  Knochens  jene  Angaben  von  Adamkiewicz  über  die  Ein- 
heilung lebenden  Knochens,  die  mir  leider  nur  aus  dem  Citat  von 
Ochotin  bekannt  geworden  sind,  da  mir  das  Original  nicht  zu- 
gänglich war.  Von  Adamkiewicz  ist  der  histologische  Nachweis 
erbracht  worden,  dass  lebender  Knochen  als  solcher  einheilt,  wenn 
auch  die  Einzelheiten  seiner  Ergebnisse  in  Folge  seiner  ofifenbar 
wesentlich  anderen  Versuchsanordnung  sich  mit  den  meinigen  nicht 
in  allen  Punkten  decken.  Ochotin  hat  in  unzweideutiger  Weise 
dargethan,  dass  die  histologischen  Vorgänge,  welche  in  Röhren- 
knochen nach  Einbringung  todten  Materials  zu  beobachten  sind, 
toto  coelo  verschieden  sind  von  denen  nach  Einbringung  über- 
lebenden Knochens. 

Hinsichtlich  des  Verhaltens  replantirten  überlebenden  Knochens 
decken  sich  im  Wesentlichen  —  und  das  W^esentliche  liegt  im 
Erhaltenbleiben  des  replantirten  Stückes  —  meine  Resultate  mit 
denen  von  Adamkiewicz,  Die  histologischen  Schicksale  im- 
plantirten  Elfenbeins  resp.  todten  Knochens  sind  in  meinen  Ver- 
suchen der  Hauptsache  nach  die  gleichen  wie  in  den  Versuchen 
von  Bidder  und  Ochotin.  Nur  die  Differenz  findet  zwischen 
jenen  Autoren  und  mir  statt,  die  bedingt  ist  durch  die  Ver- 
schiedenartigkeit der  üntersuchungsobjecte.  {foch  einmal  sei  her- 
vorgehoben, dass,  wenn  auch  die  schliesslichen  Resultate  am 
Röhrenknochen  und  am  Schädel  identisch  sind,  die  Einzelheiten 
des  Processes  durchaus  nicht  in  Uebereinstimmung  zu  sein 
brauchen. 

Es  ist  mir  nach  alle  dem  nicht  verständlich,  wie  Barth  be- 
haupten konnte,  dass  implantirte  todte  Knochenstücke  unter  den- 
selben histologisc^hen  Vorgängen  in  Knochendefecten  einheilen,  wie 
replantirte  überlel)ende.  Vergleicht  man  z.  B.  das  von  mir  in 
meiner  früheren  Arbeit  nach  einem  Photogramm  auf  Taf.  X  Fig.  9 
gegebene  Bild,  welches  die  Mitte  des  replantirten  Stückes  aus  der 
11.  Woche  p.  op.  darstellt,  mit  meiner  dieser  Arbeit  beigegebenen 
Fig.  8,  die  die  Mitte  des  todten  Knochens  aus  der  12.  Woche 
wiedergiebt,  so  ist  der  Unterschied  ganz  augenfällig.  Hier,  in 
Fig.  8,  überall  leere  Knochenköfperchen,  keine  Spur  von  Zellen, 
dort,  in  Fig.  9,  überall  wohlerhaltene,  lebensfähige,  weil  normal 
gefärbte  Knochenzellen.  Hier  haben  wir  todtes  Material,  dort  aber 
lebendiges  vor  uns.     Und  gerade  der  Vergleich,    so    muss    ich  im 


544  Dr.  M.  David, 

Gegensatz  zu  Barth  sagen,  der  Untersuchungsergebnisse  an  im- 
plantirtem  todtera  Materiale  mit  denen  am  replantirten  lebenden 
lehrt  uns  unzweideutig,  dass  die  beiden  Processe  in  allen  ihren 
Einzelheiten  von  Grund  aus  verschieden  sind. 

Glaubte  Barth  durch  seine  Versuche  die  alte  Lehre,  dass  von 
ihrem  Mutterboden  vollständig  losgelöste,  aber  überlebende  Knochen- 
stücke mit  Erhaltung  ihrer  Vitalität  einheilen  können,  umgestürzt 
zu  haben,  so  muss  ich  im  Gegen theil  sagen,  dass  eine  auch  mit 
allen  Hülfsmitteln  der  modernen  histologischen  Technik  ausgeführte 
Untersuchung  die  alte  Lehre  in  ihrem  vollen  Unafange  stützt. 

Todter  Knochen,  fremdes  Material  werden  resorbirt  und  durch 
neugebildeten  Knochen  ersetzt;  überlebend  zur  Einheilung  ge- 
brachter Knochen  wird  von  der  Umgebung  aus  neu  vascularisirt 
und  somit  lebend  erhalten. 


Erklärang  der  Abbildungen  anf  Tafel  II. 

Alle  Figuren  nach  Präparaten  vom  Schädel  des  Hundes. 
In  allen  Figuren  bedeutet: 
c  =  craniale  Seite, 
d  =  durale  Seite, 
g=  Gefäss. 
Figur  1 — 7  beziehen  sich  auf  die  Elfenbeinversuche.   Das  Elfenbein  ist  durch 

seine  dunklere  Färbung  sofort  zu  erkennen. 
Fig.  8—9  beziehen  sich  auf  das  todte  Knochenmaterial. 


Fig.  1.  26  Wochen  p.  op.  Theil  des  Schnittes  aus  der  Mitte  des  implantirten 

Stückes.  Schwache  Vergrösserung. 
m  =  Muskelbündel. 
Fig.  2.  Ein  Theil  des  vorigen  Stückes  bei  stärkerer  Vergrösserung.    Man 

sieht  die  vordringenden  Gefässschlingen.      Bei  k  -=r  neugebildete 

Knochensubstanz. 
Fig.  3.  1  Jahr  p.  op.     üebersichtsbild. 
Fig.  4.  Ein  Theil  des  vorigen  Schnittes  in  der  Nähe  des  cranialen  Randes 

bei  stärkerer  Vergrösserung. 
k  =  neugebildeter  Knochen, 
r  =  Riesen  zellennest. 
Fig.  5.  r,=  Riesenzellennest, 

g  =  nachdringende  Gefässschlinge 
Fig.  6.  Rand  des  implantirten  Stückes  bei  mittelstarker  Vergrösserung.  Die 

Rarefication  der  Elfenbeinsubstanz,  die  Neubildung  des  Knochens  in 


>  ca.  200  fache  Vergrösserung. 


Histolog.  Vorgänge  nach  Implantation  von  Knochen  in  Schädeldefecten.     545 

der  Umgebung  der  Gefasse  und  die  an  Diploe  erinnernde  Stelle  sind 
hier  sehr  deutlich, 
m  =  Muskelbündel. 
Fig.  7.  Vom  Pericranium   eindringende  Gefässschlinge ,   an   deren   rechter 

Seite  der  neue  Knochen  sehr  deutlich  zu  erkennen  ist. 
Fig.  8.  ®  und  ^'  neugebildeter  Knochen  (cf.  Text)   vom  todten   Knochen- 
material scharf  unterschieden. 
12  Wochen  p.  op. 
Fig.  9.  Der    Unterschied    des    neugebildeten   Knochens    vom    todten    sehr 
deutlich. 

26  Wochen  p.  op. 


XXXIII. 

(Aus  der  chirurgischen  Klinik  zu  Heidelberg.) 

Erfahrungen  über  die  Behandlung  veralteter 

Empyeme/) 

Von 

m 

Professor  Or«  Jordan 

in  Heidelberg. 


Einer  kurzen  Besprechung  der  Hauptpunkte,  die  bei  der  Therapie 
chronischer  Empyemfisteln  in  Frage  kommen,  möchte  ich  die  Er- 
fahrungen zu  Grunde  legen,  welche  wir  an  20  in  der  Heidelberger 
Klinik  nach  Schede 's  Methode  operirten  Fällen  in  den  letzten 
7  Jahren  gemacht  haben.  Wie  dieses  relativ  grosse  Material 
illustrirt,  kommen,  trotz  aller  Fortschritte,  die  in  der  Behandlung 
der  acuten  Empyeme  im  vergangenen  Decennium  erzielt  worden 
sind,  noch  immer  Fälle  von  veralteten  Empyemen  zur  Beobachtung. 
Ewalds  Ausspruch,  dass  das  Bestehen  einer  Fistel  dem  behandelnden 
Arzte  den  Vorwurf  eines  Kunstfehlers  zuziehen  müsse,  triflFt  wohl 
für  die  meisten,  aber  nicht  für  alle  Fälle  zu,  denn  2  unserer 
Patienten,  welche  im  acuten  Stadium  der  Erkrankung  in  die 
Klinik  eintraten,  trugen,  obwohl  sofort  eine  ausgiebige 
Drainage  der  Brusthöhle  mittelst  Rippenresection  vor- 
genommen wurde,  und  eine  dauernde  klinische  Nachbehandlung 
stattfand,  eine  zur  Thoracoplastik  nöthigende  Fistel  davon. 
In  dem  einen  dieser  Fälle  musste  man  als  Ursache  des  Misserfolges 
eine  Erkrankung  derLungen  (Emphysem  und  Bronchitis)  beschuldigen. 
Der  Erfolg  des  primären  Eingriffes  ist  also  auch  abhängig 


1)  Nach  einem  am  3.  Silzuiigstage  des  XXVII.  CoDgresses  der  Deutschen 
Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin  am  15.  April  1898  gehaltenen  Vortrage. 


Erfahrangen  über  die  Behandlung  veralteter  Empyeme.  547 

von  dem  Zustand  der  Lunge  des  von  Empyem  befallenen 
Kranken,  eine  Thatsache,  der  bis  jetzt  kaum  Beachtung  geschenkt 
worden  ist  und  die  um  so  wichtiger  erscheint,  als  sie  die  zeitliche 
Indioation  zur  Vornahme  der  Thoracoplastik  wesentlich  beeinflussen 
muss.  v^ 

Ist  aus  dem  einen  oder  anderen  Grunde  die  Empyemfistel 
etablirt,  sind  die  natürlichen  Heilkräfte  (Verkleinerung  der  betreffenden 
Thoraxhälfte  durch  Zusammenrücken  der  Rippen  und  Heranziehung 
benachbarter  Organe)  erschöpft,,  dann  treten  bekanntlich  innerhalb 
der  Empyemhöhle  Veränderungen  ein,  die  die  Heilung  immer  mehr 
erschweren,  es  bildet  sich  ein  immer  grösser  werdender  Circulus 
vitiosus.  Durch  Biudegewebsneubildung  und  Schrumpfung  wird  die 
Pleura  in  eine,  an  Dicke  stetig  zunehmende  gefässlose  Schwarte 
verwandelt,  die  zum  Eingehen  von  Verwachsungen  immer  weniger 
geeignet  wird.  Die  retrahirte  Lunge  wird  durch  die  viscerale  Schwarte 
comprimirt,  gleichsam  ummauert  und  in  ihrer  Fähigkeit  der  Wieder- 
ausdehnung  mehr  und  mehr  beeinträchtigt.  In  solchen  Fällen  kann 
eine  Heilung  nur  auf  operativem  Wege  herbeigeführt  werden 
und  zwar  entweder  durch  Verkleinerung  der  Brustwand  und 
Anpassung  derselben  an  die  zurückgesunkene  Lunge  oder  dadurch, 
dass  man  der  geschrumpfton  Lunge  die  Wiederausdehnung 
und  Adaptirung  an  den  Thorax  ermöglicht. 

Den  ersten  Weg  schlugen  Simon,  Esthlander  und  Scheide 
ein,  den  zweiten  hat  neuerdings  D61orme  erfolgreich  betreten. 
Esthlander,  an  dessen  Namen  sich  die  Thoracoplastik  insofern 
mit  Unrecht  knüpft,  als  Simon  schon  8  Jahre  vor  ihm  den  Vorschlag 
ausgiebiger  Rippenentfernung  machte,  empfalil  die  subperiostale 
Resection  von  Rippenstücken  in  der  ganzen  Ausdehnung  der  Empyem- 
höhle von  horizontalen,  im  Intercostalraum  angelegten  Hautschnitten 
aus,  ohne  die  Pleurahöhle  selbst  zu  eröffnen.  Esthlander's 
eigene  Erfolge  waren  dürftige,  denn  von  8  Fällen  wurden  nur  2 
geheilt.  Im  Gegensatz  zu  Esthlander,  welcher  die  Schrumpfung 
der  costalen  Pleura  für  den  Hauptfactor  der  Heilung,  ihre  Er- 
haltung daher  für  unumgänglich  nothwendig  hielt,  kam 
Schede  schon  1878  zu  der  Ueborzeugunf^'',  dass  die  Pleuraschwarte 
ein  Haupthinderniss  für  die  Heilung  sei  und  dass  man 
dieselbe  nebst  den  Zwischenrippentheilen  ebenfalls  ent- 
fernen müsse.    Beide  Operationsmethoden  zeigen  also  eine  prin- 


548  Dr.  Jordan, 

cipielle  Verschiedenheit  und  wir  können  bei  dem  jetzigen 
Stand  der  Lehre  sagen,  dass  die  Sehe  de 'sehe  Anschauung  durch 
die  praktischen  Erfahrungen  als  die  richtige  bestätigt  worden  ist. 
Die  Indicationen  zur  Anwendung  des  Esthlander'schen  Verfahrens 
sind  heutzutage  sehr  beschränkt,  Aussicht  auf  Erfolg  bieten  nur 
Fälle  mit  circumscripter  kleiner  Höhle,  nachgiebigem,  elastischem 
Brustkorb  (d.  h.  Patienten  jugendlichen  Alters)  und  geringer  Dicke 
der  Pleura  (also  relati  v  frische  Fälle).  Unter  solchen  Voraussetzungen 
kann  man,  wie  u.  A.  Karewski's  günstige  Heilresultate  bei^Kindem 
beweisen,  durch  diesen  schonenden  Eingriff  in  der  That  Verschluss 
der  Empyemfisteln  erzielen.  Bei  dem  Gros  der  wirklich  ver- 
alteten Empyeme,  besonders  Erwachsener,  aber  giebt  nur  die 
Schede'sche  radicale  Methode  die  Möglichkeit  der  Ver- 
ödung des  Pleuraraumes,  Esthlander's  Methode  ist  bei  diesen 
auch  schon  aus  dem  Grunde  unzulänglich,  weil  man  ohne  breite 
Eröffnung  der  Eiterhöhle  überhaupt  nicht  im  Stande  ist, 
die  Grenzen  der  Letzteren  mit  Sicherheit  zu  bestimmen. 
Die  Bildung  des  Haut-Muskellappens  mit  oberer  Basis  nach 
der  Vorschrift  Schede 's  scheint  mir  den  Vorzug  vor  den  von 
anderer  Seite  vorgeschlagenen  Modificationen,  speciell  den  seitlichen 
Lappenbildungen  zu  verdienen,  und  zwar  aus  2  Gründen,  einmal 
weil  der  Schede 'sehe  Lappen  die  vollständige  Freilegung  aller 
Ausbuchtungen  und  Fistelgänge  am  sichersten  garantirt  und  zweitens 
deshalb  weil  der,  später  der  Lunge  adhärente  Lappen  unter 
dem]  directen  Einfluss  der  Armbewegungen  steht,  welche 
auf  die  Wiederentfaltung  der  collabirten  Lunge  günstig  einzuwirken 
vermögen.  Die  Grösse  des  Weichtheillappens  wird  man  im  Einzel- 
falle in  Anpassung  an  die  Empyemhöhle  modificiren,  so  z.  B.  bei 
vorderer  oder  seitlich  gelagerter  Höhle  den  hinteren  Sbhenkel  vor 
den  vorderen  Rand  der  Scapula  enden  lassen,  indessen  ist  in  der 
Mehrzahl  der  Fälle  die  Sehe  de 'sehe  Schnittführung,  welche  das 
Schulterblatt  in  den  Lappen  einbezieht,  deshalb  zweckmässiger, 
weil  nach  meinen  Beobachtungen  die  Ausheilung  der  Fistel 
gerade  durch  Höhlenbildungen  der  Hinterseite,  durch 
hinter  der  Scapula  nach  oben  verlaufende  Gänge  sehr 
häufig  verhindert  wird.  Die  grössere  Starrheit  und  Festigkeit 
der  vertebralen  Rippenabschnitte  und  die  dadurch  erschwerte  Ein- 
senkung  der  Brustwand  begünstigt  die  Entwickelung  resp.  das  Zu- 


Erfahrungen  über  die  Behandlung  veralteter  Empyeme.  549 

rückbleiben  von  Rcccssus  im  hinteren  Pleuraraum.  Die  Eröffnung 
derselben  wird  nur  durch  das  Emporklappen  der  Scapula  ermöglicht. 

Da  die  genauere  Bestimmung  der  Grösse  und  Ausdehnung  der 
Hohlräume  nur  durch  die  directe  Inspection  oder  Palpation  möglich 
ist,  empfiehlt  es  sich  die  Operation  mit  einer  ausgiebigen  Erweiterung 
der  Fistelöffnung  durch  Resection  der  2  oder  3  angrenzenden  Rippen 
zu  beginnen  und  auf  Grund  der  Exploration  sodann  die  Form  und 
Grösse  des  abzulösenden  Weichtheillappens  festzusetzen.  Um  dem 
letzteren  die  Möglichkeit  der  vollständigen  Einsi^nkung  in  die  spätere 
Mulde  und  damit  der  Lunge  eine  ausreichende  Deckung  zu  ermög- 
lichen, halte  ich  es  für  zweckmässig,  den  Lappen  etwas  grösser 
zu  nehmen,  als  den  Grenzen  des  späteren  Knochendefectes 
entspricht.  Nach  Ablösung  der  Weichtheile  kann  die  Resection 
der  Brustwand  entweder  in  einem  Zuge  vermittelst  einer  starken, 
schneidenden  Zange  (Helferich)  oder  nach  Schede's  Vorschlag  in 
2  Absätzen  (erst  subperiostale  Rippenresection,  dann  Durchtrennung 
der  Zwischenrippentheile  nebst  Pleuraschwarte)  vorgenommen  werden. 
Ich  habe  nach  beiden  Methoden  gearbeitet  und  kam  zu  dem  Re- 
sultat, dass  für  die  Wahl  der  einen  oder  anderen  der  Allgemein- 
zustand des  Patientc^n,  besonders  der  Zustand  des  Herzens  und  der 
Lungen  entscheidend  sein  muss,  da  bei  der  Resection  in  einem 
Tempo  Blutverlust  und  Shock  grösser,  di(^  Narkose  aber  kürzer,  bei 
dem  milderen  Vorgehen  Schede 's  letztere  länger,  Blutung  und 
Shock  dagege  i  geringer  sind. 

Nach  Beendigung  der  Resection  wird  die  Mulde  locker  tam- 
ponnirt  (keine  Jodoformgaze!),  der  Lappen  reponirt  und  durch  einen, 
den  Arm  mitfassenden  Compressionsverband  der  Lungenoberfläche 
adaptirt.  Auf  Grund  unserer  Erfahrungen  rauss  ich  die  voll- 
ständig offene  Wundbehandlung  als  die  sicherste  be- 
zeichnen; eine  Vernähung  des  Lappens  birgt  die  Gefahr  des  Zu- 
rückbleibens unerwünschter  Hohlräume  in  sich.  Die  durch  die 
Einziehung  und  das  Zurückweichen  des  Hautlappens  entstehende  oft 
handgrosse  Wundfläche  wird  hinterher  durch  Thiersch 'sehe  Läppchen 
zur  Ueberhäutung  gebracht. 

Bei  starker  Retraction  der  Lunge  ist  eine  Heilung  nur  dann 
zu  erwarten,  wenn  die  Höhle  von  jeglicher  Knochenüber- 
dachung befreit  w'ird.  Partielle  Eingriffe  sind  in  Folge 
dessen  durchaus  zwecklos,    das  Zurücklassen    eines  einzigen,    eine 

ArchiT  für  kliu.  Chirurgie.    67.  Bd.   Heft  3.  37 


550  Dr.  Jordan, 

llohlniumbildinig  ermöglichenden  Rippensiiickes  kann  den  Erfolg 
selbst  des  grössten  Eingriffes  vereiteln.  Diese  Thatsache  spricht 
für  die  Vornahme  radicaler  Operationen  und  für  das  Bestreben 
mögliehst  in  einer  Sitzung  die  Bedingungen  für  die  Aus- 
heilung zu  schaffen.  Der  zur  Vornahme  solcher  gewaltigen 
Eingriffe  nöthige  Muth  und  die  Sicherheit  bei  der  Ausführung  müssen 
vom  einzelnen  Operateur  durch  eigene  Erfahrung  und  üebung  all- 
mählich erworben  werden.  Diesen  Satz  illustxiren  unsere  Kranken- 
geschichten, aus  denen  liervorgeht,  dass  die  ersten  Patienten  wegen 
zu  milder  Eingriffe  sich  meist  mehreren  (bis  8)  Operationen  unter- 
werfen mussten,  während  bei  den  letzten  mehrfach  die  lleilunff 
durch  eine  einzige  Operation  erreicht  wurde. 

Wie  steht  es  nun  mit  der  Gefahr  der  Operation?  Von  unseren 
20  Kranken  starb  nur  einer  und  zwar  ein  Sjähriger  Knabe  an  den 
unmittelbaren  Erfolgen  der  Operation;  die  übrigen  1^  überstanden 
den  Eingriff  gut.  Gleichwohl  ist  der  persönliche  Eindruck  in  jedem 
Falle  der  gewesen,  dass  es  sich  um  eine  recht  gefahrvolle 
Operation  handelt.  Mehrfach  musste  der  drohende  CoUaps  durch 
intravenöse  Kochsalzinfusion  und  starke  Excitantien  bekämpft  werden. 
Bei  eintretender  Pulsschwäche  empfiehlt  es  sich  daher  die  Operation 
abzubrechen  und  die  Beendigung  der  Resection  auf  eine 
zweite,  ev.  auch  dritte  in  kurzen  Intervallen  folgende 
Sitzung  zu  verschieben.^) 

Wa^  die  Endresultate  betrifft  so  sind  von  unseren  20,  aus- 
schliesslich nach  Schede  operirten  Fällen,  9  vollständig  geheilt, 
6  gebessert,  1  ungeheilt  geblieben  und  4  gestorben.  Von  den 
1)  geheilten  sind  5  wieder  vollständig  arbeitsfähig.  Von 
den  6  gebesserten  Patienten  sind  3  sozusagen  als  geheilt 
zu  bezeichnen,  denn  sie  haben  nur  noch  eine  kleine,  kaum  sc- 
cernirende  Fistel  und  sind  dabei  vollständig  arbeitsfähig;  1  im  Herbst 
1897  operirter  Patient  befindet  sich  noch  in  Behandlung  und  hat 
die  besten  Aussichten  auf  vollständige  Genesung;  von  2  gebessert 
aus  der  Klinik  Entlassenen  ist  das  Endergebniss  unbekannt.  Von 
den  4  Todesfällen  war  der  (nne  durch  Collaps  post.  operat.  ver- 
anlasst, die  anderen  3  wurden  durch  Miliartuberculose  einige  AVochen 
nach  gut  überstandener  Opi^ration  herbeigeführt.     Sondert  man  die 


')  Ein  Vorschlag,  den  bereits  Schede  selbst  gemacht  hat. 


Erfahrunjj:en  über  die  Behandlung  veralteter  Empyeme.  551 

Empyeme  nach  ihrer  Aotiologie,  so  haben  wir  16  Fälle  von  pyo- 
genem  Empyem  mit  8  Heilungen,  6  Besserungen,  1  Todes- 
fall und  1  Nichtheilung  und  4  tuberciilöse  Empyeme  mit 
1  Heilung  —  es  handelte  sich  um  eine  circumscripte  Höhle  — 
und  3  Todesfällen.  Was  das  functionelle  Resultat  hei  den 
Geheilten  betrifft,  so  glich  sich  in  mehreren  Fällen  die  Ein- 
senkung  der  Brustwand  im  Laufe  der  Jahre  allmählich  fast 
vollständig  aus  und  die  früher  retrahirte  Lunge  betheiligte  sich 
wieder  ausgiebig  an  der  Athmung.  Mehrfach  wurde  ferner  ein 
vollständiges  Verschwinden  der  vor  der  Operation  beträcht- 
lichen Skoliose  constatirt.  l'nsore  Beobachtungen  in  functioneller 
Hinsicht  stimmen  mit  denen  Schede's,  Karewski,  Körte's  überein. 
5  der  Patienten  gehörten  dem  Kindesaker  an  (3. — 13. 
Jahr).  Bei  der  milderen  Form  der  Empyeme  —  es  handelt  sich 
meistens  um  Pneumokokkeninfection  —  und  der  gi'össeren  Elasti- 
cität  des  Brustkorbes  sind  Empyemfisteln  bei  Kindern  im  Ganzen 
selten.  Ist  aber  durch  eine  Fistel  die  Indication  zur  Thoracoplastik 
vorliegend,  so  kann  man  letztere,  bei  allerdings  grösserer  Vorsicht 
um  so  eher  vornehmen,  als  die  Bedingungen  zum  Ausgleich 
nach  der  Heilung  weit  günstigere  sind  wie  beim  Erwach- 
senen. Noch  rascher  und  sicherer  als  bei  Letzterem  geht  beim 
Kinde  die  oft  beträchtliche  Verkrümmung  der  Wirbelsäule  zurück, 
die  Wiederausdehnung  der  Lunge  kann  eine  fast  vollständige  werden, 
ja  es  kann  sogar,  wie  wir  es  zweimal  beobachteten,  zu  einer  voll- 
kommenen Regeneration  der  resccirten  Thoraxpartie  kom- 
men. Zur  Illustration  dieser  Verhältnisse  stelle  ich  Ihnen  diesen 
jetzt  11jährigen  Knaben  vor,  bei  dem  vor  7  Jahren  wegen  eines 
veralteten,  linksseitigen  Empyems  6  Rippen  (die  5. — 10.  incl.)  in 
der  Länge  von  je  8 — 10  cm  sammt  Pleuraschwarte  entfernt  worden 
sind.  Bei  der  Nachuntersuchung  vor  einigen  Monaten  war  ich  er- 
staunt zu  constatiren,  dass  die  frühere  beträchliche  Einsenkung  des 
Thorax  nahezu  ganz  gehoben,  und  dass  der  knöcherne  Defect 
vollständig  knöchern  und  zwar  durch  einzelne  Rippen  er- 
setzt und  die  Haut  auf  der  Unterlage  verschieblich  geworden  ist. 
Von  Skoliose  der  Wirbelsäule  ist  nichts  mehr  zu  bemerken.  Der 
Junge  ist  ganz  gesund  und  in  keiner  körperlichen  Anstrengung  be- 
hindert. Eine  ähnliche  günstige  Erfahrung  machten  wir  bei  einem 
23  j.  Manne,  bei  dem  i.  J.  1893  eine  abgegrenzte  kleinere  Empyem- 

37* 


552  Dr.  Jordan 


j 


höhle  durch  die  Resection  von  5  Rippen  nebst  Pleura  zur  Heilung 
gebracht  wurde.  Auch  bei  diesem  Patienten  ist  der  Defect  durch 
Knochenneiibildung  ausgefüllt,  ohne  dass  sich  aber  einzelne 
Rippen  nachweisen  lassen.  Der  Mann  ist  völlig  gesund  und  arbeits- 
fähig und  hat  sich  seit  seiner  Heilung  7  Ehrenpreise  als  Turner 
erworben. 

Unsere  Operationserfolge  bei  tuberculösen  Empyemen 
sind,  den  Erfahrungen  anderer  Chirurgen  entsprechend,  schlechte 
gewesen,  denn  von  4  Fällen  wurde  nur  1  geheilt,  während  die 
3  übrigen  einige  Wochen  nach  der  Operation  an  Allgemeintuber- 
culose  zu  Grunde  gingen.  Wenn  die  Tuberculose  im  Hinblick  auf 
den  einen  geheilten  Fall  auch  nicht  eine  absolute  Contraindication 
gegen  die  Thoracoplastik  bildet,  so  niuss  doch  im  Einzelfalle  die 
Chance  eines  Eingriffes  unter  Berücksichtigung  des  Allgemein- 
zustandes und  des  Lungenbefundes  genau  erwogen  werden.  Denn 
die  Bedingungen  zur  Ausheilung  der  Empyemhöhle  sind 
an  und  für  sich  viel  ungünstiger  als  bei  den  durch  pyo- 
gene  Infection  verursachten  Empyemen,  weil  die  Widerstands- 
kraft in  Folge  der  constitutionellen  Erkrankung  erheblich  herab- 
gesetzt ist  und  die  Lunge  gerade  bei  den  tuberculösen  Formen 
häufig  die  hochgradigste  Retraction  aufweist. 

Physiologischer  als  die  Sehe  de*  sehe  Methode  der  Thoraco- 
plastik ist  zweifellos  das  Verfahren  von  Delorme,  die  sogenannte 
Decortication  pulmonaire,  da  dasselbe  die  Wiederausdehnung 
der  verkleinerten  Lunge  und  ihre  Adaptirung  an  die  unverändert 
bleibende  Brust  wand  erstrebt.  Die  Berechtigung  auf  diesem  Wege 
vorzugehen  gründet  sich  auf  die  sowohl  durch  Sectionsbefunde,  wie 
durch  operative  Erfahrung  festgestellte  Thatsache,  dass  dieretra- 
hirte  Lunge  unter  der  sie  umhüllenden  Pleuraschwarte 
ihre  Ausdehnungsfähigkeit  während  mehrerer  Jahre  be- 
wahren kann.  Durch  temporäre  Resection  der  Brustwand  in 
Form  eines  Thürflügellappens  wird  die  Empyemhöhle  breit  eröffnet, 
durch  Auswischen  und  Ausschabung  gründlich  gereinigt,  die  ver- 
dickte Lungen pleura  sodann  vorsichtig  bis  zur  Lungenoberfläche 
gespalten  und  stumpf  mit  Hohlsonde  oder  Fingern  möglichst  in  der 
ganzen  Ausdehnung  des  betreffenden  Lungenlappens  abgelöst.  Diese 
Ablösung  ist  in  günstigen  Fällen  von  einer  oft  mächtigen  Entfaltung 
der  Lunge  gefolgt,  so  dass  der  Thoraxraum  rasch  vollständig  aus- 


Erfahrungen  über  die  Behandlung  veralteter  Empyeme.  553 

gefällt  wird.  Der  Brustwandlappen  wird  sodann  reponirt  und  ver- 
näht. D^lorrae  konnte  auf  dem  französischen  Chirurgen congress 
von  1896  bereits  über  18  derartige  Operationen  berichten,  mit 
5  vollständigen  Heilungen,  2  Besserungen,  3  Todesfällen  und 
8  Misserfolgen.  C^stan  konnte  diesen  kürzlich  noch  9  weitere  aus 
der  Litteratur  gesammelte  Beobachtungen  hinzufügen,  so  dass  die 
Casuistik  der  Delorme' sehen  Operation  jetzt  27  Fälle  umfasst, 
von  denen  angeblich  11  vollständig  geheilt  (=  40,7  pCt.)  und 
3  gebessert  wurden,  während  9  ungebessert  blieben  und  4  starben ; 
die  Todesfälle  kamen  auf  Rechnung  der  Tuberkulose.  Von  Seiten 
der  deutschen  Chirurgen  scheinen  noch  keine  diesbezüg- 
lichen Erfahrungen  vorzuliegen.  Ich  selbst  versuchte  das 
Verfahren  in  Combination  mit  der  Schede 'sehen  Thoracoplastik 
bei  einem  Kranken,  der  abgesehen  von  dem  chronischen  Empyem 
an  starkem  Emphysem  und  Asthma  litt  und  bei  dem  daher  die 
möglichste  Wiederherstellung  der  Lungenfunktion  fast  eine  Indicatio 
vitalis  war.  Nach  Vornahme  einer  ausgedehnten  Thoraxresection 
spaltete  ich  die  schwartig  verdickte  Lungenpleura  in  ganzer  Länge. 
Es  erfolgte  nach  diesem  einzigen  Eingriff  innerhalb  10  Wochen 
vollständige  Ausheilung  und  die  eingesunkene  Thoraxhälfte 
hob  sich  späterhin  auffallend  rasch  und  gut,  so  dass  eine 
günstige  Wirkung  der  Pleuraspaltung  mit  grosser  Wahr- 
scheinlichkeit angenommen  werden  durfte.  Die  Ver- 
bindung der  Schede'schen  und  Delorme'schen  Operation 
scheint  mir  daher  weiterer  Versuche  werth  zu  sein  und  den 
Vorzug  vor  der  D6cortication  allein  schon  deshalb  zu  verdienen, 
weil  man  im  Einzelfalle  über  den  Zustand  der  Lunge  im  Voraus 
nie  Bestimmtes  wissen  kann  und  die  hinsichtlich  der  Wiederaus- 
dehnungsfähigkeit der  Lunge  günstigen  Fälle  doch  nicht  all  zu 
häufig  angetroffen  werden  dürften. 

Der  Patient,  den  ich  Ihnen  nun  zum  Schluss  demonstriren 
möchte,  erweckt  besonders  Interesse  durch  einen  Folgezustand 
der  gelungenen  Thoracoplastik,  nämlich  das  Freiliegen  des 
Herzens  im  Bereich  des  Thoraxdefectes.  Der  jetzt  24  jähr, 
junge  Mann  wurde  im  Dez.  95  wegen  einer  seit  Febr.  95  bestehen- 
den Empyem fistel  operirt  und  zwar  wurden  die  2.  bis  9.  Rippe  in 
der  Länge  von  je  10 — 15  cm  nebst  Pleuraschwarte  entfernt.  Die 
Heilung    erfolgte    nach    dem    einmaligen    Eingriff,    war    aber    erst 


554     Dr.  .lordan,  Erfahrunp:cn  über  die  Behandlunj?  veralteter  Empyeme. 

April  97  beendet.  Patient  ist  scildom  andauernd  ircsund,  ist  zwar 
zu  schwerer  körperliclier  Arbeit  nicht  fähig,  vermag  aber  als 
Hausirer  den  i^anzen  Tag  über  auf  den  Beinen  zu  sein.  Gefühl 
von  Herzklopfen  stellt  sich  nur  beim  Treppensteigen  oder  sonstigen 
körperlichen  Anstrengungen  ein.  Das  Herz  ist  nach  unten  und 
links  verzogen  und  liegt  dem  tiefnml<Ienförmig  zwischen  den  Resec- 
tionsenden  eingezogenen  dünnen  Hautlappen  dicht  an.  Bei  seitlicher 
Betrachtung  kann  man  deutlich  Yorhof-  und  Kammereontraction 
unterscheiden.  Die  Pulsation  des  Herzens  ist  eine  über  Erwarten 
mächtige.  Die  Herztöne  sind  rein.  Die  Lunge  hegt  der  Thorax- 
wand allerseits  an  und  dehnt  sich,  wie  ein  Blick  auf  die  starke 
inspiratorische  Yorwölbung  der  Axilla  zeigt,  vorzüglich  aus.  H.  ist 
bis  zur  10.  Rippe,  V  bis  zur  i,  Rippe  voller  Lungenschall  und 
Yesiculärathmen  vorhanden.  Zur  Abhaltung  äusserer  Gewaltein- 
wirkung, welche  bei  der  exponirten  Lage  des  Herzens  verhängniss- 
voll w'crden  könnte,  trägt  Patient  eine  geeignete  Bandage. 


XXXIV. 

Beiträge  zur  Chirurgie  der  Lunge  und  der 

Pleura/) 


Von 

nr.  Hareivskl 

in  Berlin. 


Operative  Eingriffe  am  Thorax  zur  Beseitigung  von  PJeura- 
Eiterungen  sind  jetzt  so  zum  Allgemeingut  der  Aerzte  geworden, 
dass  sie  kaum  noch  einer  Besprechung  in  wissenschaftlichen  Ge 
Seilschaften  bedürfen.  Auch  die  Resectionen  grosser  Stücke  der 
Thoraxwand  nach  dem  Vorgange  Esthlander's  und  Schedes  zur 
Heilung  von  alten  Empyemfisteln  haben  sich  seit  langer  Zeit  das 
Bürgerrecht  in  der  Chirurgie  erworben.  Der  Schritt  weiter,  die 
Lunge  selbst  anzugreifen,  ist  zwar  auch  schon  von  Alters  her  ver- 
sucht worden,  aber  doch  in  so  seltenen  Ausnahmen  und  mit  so 
geringen  Erfolgen,  dass  selbst  in  der  neuesten  Epoche  der  Chirurgie 
die  Zahl  derartiger,  glücklich  ausgeführter  Operationen  noch 
keine  sehr  beträchtliche  ist.  Indessen  hat  das  letzte  Jahr- 
zehnt eine  nicht  geringe  Zahl  von  Publicationen  gebracht,  welche 
zeigen,  dass  wir  dank  der  Aseptik,  der  feineren  Diagnostik  und 
der  besseren  Operationstechnik  auf  dem  \Yq^q  sind,  eine  Chirurgie 
der  Lungen  zu  etabliren,  und  es  ist  ein  besonders  erfreuliches 
Zeiclien,  dass  auch  von  den  inneren  Medicinern  die  Initiative  er- 
griffen wird,  für  eine  grosse  Zahl  von  Lungenaffectionen  die  Hilfe 
der  Chirurgie  in  Anspruch  zu  nehmen.  Nichtsdestoweniger  zeigen 
die   Arbeiten   von    Runeberg,    Quinke,    Richerolle,    Tuffier, 


*)  Auszugsweise  vorgetragen  am  3.  Sitzungstage   des  XXVII.  Congrosses 
der  Deutschen  (tesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  15.  April  1898. 


556  Dr.  Karewski, 

Sonnenburg,  Freihan  u.  v.  A.,  dass  wir  bisher  nur  immer  erst 
über  eine  Casuistik  auf  diesem  Gebiete  verfügen,  welche  noch 
durchaus  kein  abschliessendes  Urtheil  über  unsere  Maassnahmen, 
Indicationen  und  Erfolge  gestattet.  Wir  sehen,  dass  bei  einzelnen 
Autoren  Affectionen  als  unantastbar  für  das  Messer  gehalten  werden, 
welche  ganz  kurze  Zeit  hinterher  als  auf  blutigem  Wege  geheilt 
berichtet  werden. 

So  ist  deim  auch  das  Resultat  aller  Arbeiten  auf  diesem  Ge- 
biete dieses,  dass  die  Autoren  es  für  nothwendig  halten,  jeden 
einzelnen  Fall  zu  publiciren  und  von  ihm  aus  neue  Schlüsse  für 
die  Zukunft  zu  machen.  Eines  ist  nun  bisher  als  sicheres  Er- 
gebniss  festgestellt  worden,  dass  nämlich  für  infectiösc 
Affectionen  nur  dann  auf  Erfolg  durch  die  Operation 
zu  rechnen  ist,  wenn  man  vor  dem  Berühren  der  Lunge 
selbst  Adhaesionen  der  Pleurablätter  vorher  gehabt 
oder  künstlich  hergestellt  hat.  Es  scheint  aber,  dass 
die  Zahl  der  Fälle,  wo  solche  Adhäsionen  bestehen,  sehr  häufig 
ist,  und  dass  die  Befürchtung  des  Operateurs,  bei  eitrigen 
Lungenprocessen  auf  intacte  Pleura  zu  stossen,  nur  in  einer 
verhältnissmässig  geringen  Zahl  von  Fällen  begründet  ist.  Die 
Verletzung  der  jungfräulichen  Pleura,  w^elche  man  bei  Ent- 
fernung von  Tumoren  des  Brustkorbes  gemacht  hat,  haben  sich 
als  ebenso  harmlos  erwiesen  wie  sich  diejenigen  bei  eitrigen  Lungen- 
processen als  deletär  gezeigt  haben.  Mit  dem  Augenblick,  wo 
Pleura-Adhäsionen  vorhanden  sind,  scheint  der  Eingriff  an  der 
Lunge  nicht  viel  erhel)licher  zu  sein  als  der,  welchen  man  vor- 
nimmt, um  alte  Pleura-Eiterungen  zu  beseitigen.  Es  besteht  dann 
nur  noch  die  Gefahr  einer  Blutung,  welche  aber  nach  der  Statistik 
von  Tuffier  keine  sehr  grosse  ist,  und  die  andere  Gefahr,  da5s 
der  gemachte  Eingriff  nicht  den  Krankheitsherd  vollkommen  be- 
seitigt hat,  also  der  gewollte  Zweck  nicht  erreicht  ist,  und  der 
Kranke  trotz  der  Operation  am  Grundleiden  stirbt. 

Die  grossen  Resectionen  der  Thoraxwand  sind  ja  immer  un- 
gefährlicher geworden.  Ich  selbst  habe  grOvSse  Thoraxoperationen 
im  Ganzen  18  Mal  ausgeführt  und  nur  einen  Fall  an  acuter 
Nephritis  verloren,  welche  ich  auf  den  Gebrauch  von  Jodoformgaze 
beziehen  möchte.    Von  den  18  Fällen  betrafen  13  Empyeme,  resp. 


Beiträge  zur  Chirurgie  der  Lunge  und  der  Pleura.  557 

Empyemfisteln,   5  primäre  oder  secundäre  entzündJiche  Affec'tionen 
der  Luni^e. 

Ich  möchte  zunächst  einige  Worte  über  2  Fälle  von  secundärcr 
LungenafFection  sprechen,  weil  diese  fast  am  besten  zeigen,  wie 
erfolgreich  man  mit  Eingriffen  an  der  Lunge  sein  kann.  Dan 
ersten  dieser  Kranken  habe  ich  bereits  früher  einmal  in  der 
Berl.  med.  Gesellschaft  gezeigt. 

I,    Chronische  Pyaemie  in  Folge  von   in  die  Lunge  durch- 
gebrochenen Empyems. 

Der  38  Jahre  alte  Herr  G.  war  bis  zum  Februar  1885  immer  gesund. 
Daraals  entstanden  beim  Gehen  zuerst  in  der  rechten  Brustseite  Schmerzen, 
die  auf  Pleuritis  gedeutet  wurden.  Er  lag  mehrere  Monate  zu  Bett.  Vom 
April  bis  November  1888  konnte  Patient  wieder  seinem  Beruf  nachgehen. 
Dann  kamen  von  Neuem  die  alten  Beschwerden,  Fieber,  Schweisse,  rechts- 
seitige Brustschmerzen.  Er  Hess  sich  November  1888  in  das  Augusta-IIospital 
aufnehmen.  Es  sollen  ihm  dort  auf  der  rechten  Brustseite  grosso  Mengen 
grünen  Eiters  durch  die  Function  abgezapft  worden  sein.  Im  Januar  1889 
wurde  die  Function  wiederholt,  ergab  aber  nur  etwas  Blut;  er  wurde  dann 
als  geheilt  entlassen ;  December  1892  bekam  er  eine  Geschwulst  an  der  rechten 
Brustseite,  die  sich  nach  Anwendung  von  Schröpfköpfen  verkleinerte.  April 
1893  kehrte  die  Geschwulst  wieder,  damals  consultirte  er  mich  zum  ersten 
Male.  Es  wurde  eine  über  raannsfaustgrosse,  fluctuirende Geschwulst  hinten  über 
der  8.  Rippe  festgestellt,  keine  Dämpfung  im  Pleuraraum,  sondern  nur  im  Be- 
reich dieser  Schwellung.  Bei  dem  herabgekommenen,  aber  in  Bezug  auf  die 
Lunge  gesunden  Manne  stellte  ich  die  Diagnose  auf  einen  Gongestionsabscess 
infolge  Rippencaries.  Bei  der  Operation  zeigte  sich,  dass  die  Eiterung  nicht 
von  den  Rippen  ausging,  sondern  mit  einem  Gang  oberhalb  der  achten  Rippe 
sich  medianwärts  zur  Wirbelsäule  fortsetzte  und  in  einer  mannsfaustgrossen 
Höhle  vor  der  Wirbelsäule  endete.  Der  sechste  Brustwirbelkörper  war  rauh, 
und  in  dem  Eiter  fand  sich  Knochengruss.  Die  Spaltung,  Auskratzung  und 
Tamponade  beseitigte  zwar  zunächst  die  Beschwerden  des  Kranken,  es  blieb 
aber  eine  Fistel  zurück,  die  verschieden  reichlich  secernirte.  Jedesmal  wenn 
die  Fistel  sich  schloss,  bekam  der  Kranke  Fieber,  Hustenreiz,  allgemeines 
Krankheitsgefühl.  Einmal  soll  sogar  P^itor  ausgehustet  worden  sein  und  da- 
nach der  Zustand  sich  gebessert  haben.  Im  Februar  1894  acquirirte  Patient 
einen  Gelenkrheumatismus,  der  von  nun  an  häufig  recidivirte,  und  zwar  dann 
am  meisten,  wenn  die  Fistel  verschlossen  war.  Im  August  1894  habe  ich  des- 
wegen von  Neuem  den  Kranken  operirt,  ihm  zwei  Rippen  in  grosser  Ausdehn- 
ung resecirt;  die  Fistel  wurde  gespalten,  ausgekratzt,  ein  Wirbelkörper  nach 
Möglichkeit  evidirt  und  nun  durch  Tamponade  die  Wunde  zur  Heilung  zu 
bringen  gesucht.  Leider  kam  mir  der  Patient  persönlich  ans  den  Augen,  die 
Tamponade  wurde  nicht  lange  genug  fortgesetzt,  die  Wunde  schloss  sich  sehr 


558  Dr.  Karcwski, 

schnell,  es  entstand  von  Neuem  Verhaltung,  Cielenkrheumatisnius  und  Husten, 
Patient  kam  sehr  herunter  und  Hess  sich  Mai  1895  in  desolatem  Zustand 
wieder  in  meine  Behandlung  aufnehmen.  Ich  constatirte  damals  in  der  rechten 
hinteren  Axillarlinie  in  der  Höhe  der  achten  Rippe  eine  tief  eingezogene,  stark 
secernirende  Fistel:  eine  lange  Sonde  ging  15  cm  zur  Wirbelsäule  hin  und 
traf  auf  rauhen  Knochen.  In  der  unmittelbaren  Umgebung  der  Fistel  bestand 
Dämpfung  und  fehlte  das  Athemgerausch,  sonst  war  in  der  Lunge  nichts  nach- 
weisbar, alle  anderen  Organe  gesund.  Bei  der  Operation  wurde  nun  die  achte, 
siebente,  sechste,  fünfte  und  vierte  Hippe  in  einer  Ausdehnung  von  18,  13  Yg» 
13,  11  cm  resecirt.  Die  Zwischenrippenmuskeln  wurden  nach  Durchstechung 
durchtrennt,  eine  vorliegende  dicke  Schwarte  zum  grossen  Theil  exstirpirt, 
von  neuem  ausgekratzt,  der  Knochen,  soweit  es  anging,  ausgelöffelt,  und  nun 
tamponirt.  Der  Wundverlauf  wurde  gestört  durch  ein  vier  Wochen  lang 
dauerndes  Erysipel.  Nichtsdestoweniger  wurde  mit  aller  Sorgfalt  darauf  ge- 
achtet, dass  nicht  von  Neuem  eine  spontane  Heilung  der  Wunde  mit  Verschluss 
der  Höhle  zustande  kam.  Als  dieselbe  gut  granulirte,  wurde  sie  in  meiner 
Abwesenheit  von  meinem  Assistenten  durch  Thiersch'schc  Läppchen  trans- 
plantirt  und  so  die  ganze  Höhle  mit  einem  Kpidermisüberzug  versehen.  Zehn 
Wochen  nach  der  Operation  konnte  der  Patient  bis  auf  eine  Fistel  geheilt 
entlassen  werden. 

2Y2  Jahve  sind  es  jetzt  her,  dass  der  Patient  von  mir  in  der 
Ber].  me(L  Ges.  geheilt  vorgestellt  worden  ist.  Der  Zustand  hat 
sich  seit  jener  Zeit  nicht  verschlechtert,  G.  ist  dauernd  erwerbs- 
fähig und  gesund  gewesen.  Jene  Zeichen  einer  chronischen  Pyä- 
niie,  die  vorher  ihn  dauernd  krank  machte,  sind  nicht  wiedero:c- 
kehrt.  Aber  die?  restirendc  Fistel  hat  sich  mit  Sicherheit  als  eine 
Ijungenfistel  erwiesen,  und  da  jetzt  keinerlei  Zustände  von  Spon- 
dylitis vorhanden  sind,  scheint  es  mir  möglich,  dass  eine  solche 
überhaupt  nicht  bestanden  hat,  viehnohr  ein  Empyem,  das  bis 
zur  Wirbelsäule  hin  gereicht  hat,  diese  arrodirte,  wie  es 
späterhin  in  die  Lunge  durchbrach.  Zum  mindesten  wäre 
es  sehr  auffällig,  wenn  selbst  eine  circumscripte  Carics  eines  Wir- 
belkörpers so  glücklichen  Ausgang  genommen  hätte.  Ich  habe 
vor  wenii^en  Tagen  b(M  dem  Kranken  folgenden  Befund  aufge- 
nommen: 

Befund  im  April   189b. 

Pat.  hat  seit  der  letzten  Zeit  nicht  wieder  an  Rheumatismus  gelitten, 
auch  nicht  an  Husten.  Seine  allgemeine  (Jesundheit  ist  dauernd  eine  gute  ge- 
blieben, sein  Krnährungszustand  ein  vorzüglicher,  wenn  auch  im  Sommer  bei 
geringcMcr  Arbeit  besser  als  jetzt,  wo  er  bei  schwerer  körperlicher  Arbeit  (Pat. 
thut  (Ion  Dienst  eines  Packotfahrtbeamten  von  24  Std.  alternirend  mit  einem 
freien  Tag  und  hat  grosse  Lasten  zu  tragen)  etwas  an  CJewicht  verloren  hat. 


Beiträge  zur  Chirurgie  der  Lunge  und  der  Pleura.  559 

Von  Zeit  zu  Zeit  schliesst  sich  die  feine,  secernirende  Fistel  und  dann 
bekommt  der  Pat.  Boklemmungsgefühl. 

Status  vom  8.  April  1898:  Blühend  aussehend,  wohlgenährt.  Keine 
Haltungsanomalie,  höchstens  wird  die  rechte  Schulter  etwas  höher  gehalten 
als  die  linke.  An  der  Wirbelsäule  kein  Gibbus,  keine  Skoliose,  keine  schmerz- 
haften Druckpunkte. 

Bei  der  Respiration  hat  man  den  Eindruck,  als  ob  die  rechte  Thorax- 
hälfte etwas  zurücktritt,  und  das  rechte  Hypochondrium  stärker  eingezogen 
wird  als  das  linke,  auch  giebt  der  Kranke  an,  dass  er  das  Gefühl,  hat,  als  ob 
die  rechte  Thoraxhälfte  nicht  so  hoch  gezogen  würde  als  die  linke.  Unzweifel- 
haft besteht  auch  eine  gewisse  Abflachung,  namentlich  der  unteren  Partieen 
des  rechten  Thoraxumfanges.  Von  hinten  gesehen  fällt  vor  allen  Dingen  die 
sehr  tief  eingezogene  Narbe  der  alten  Resectionsstelle  auf,  welche  bei  Elevation 
des  Armes  sich  in  einem  24  cm  langen,  4  cm  breiten  und  4  cm  tiefen  Defect 
verwandelt. 

Perkussion:  Auf  den  Lungenspitzen  beiderseits  gleicher  voller  tiefer 
Lungenschall,  ebenso  auf  der  ganzen  vorderen  Thoraxpartie  rechts  und  links. 
Herz  in  norinalen  Grenzen.  An  der  Seiten  wand  des  Thorax  Schall  kürzer  und 
weniger  laut  als  links.  Junten  Gleichheit  bis  zur  Narbe,  von  der  Narbe  an 
abwärts  rechts  complette  Dämpfung. 

Auskultation:  Vorne  rechts  und  links  reines  vesikuläres  Athmen  ohne 
Nebengeräusche,  auch  an  beiden  Seitenwänden  reines  vesikuläres  Athmen. 
Hinten  bis  zur  Narbe  beiderseits  reines  vesikuläres  glcichmässiges  Athmen 
ohne  Nebengeräusche.  Von  dort  abwärts  auf  der  rechten  Seite  sehr  stark  ab- 
geschwächtes Athmen.  In  der  tiefsten  Stelle  der  Narbe  findet  man  eine  feine 
Oeffhung,  aus  welcher  sich  spärlicher  Eiter  entleert.  Derselbe  soll  öfters 
hämorrhagisch  sein,  besonders  nach  Körperanstrengungen.  Wenn  man  den 
Patienten  stark  husten  lässt,  so  entleert  sich  Eiter  mit  Luftblasen  gemischt. 
Dieses  Secret  enthält  ausser  Eiterkörperchcn  zahlreiche  multiforme  Platten- 
epithelien  einzeln  und  in  Lagen  mit  gut  erhaltenem  Kern  und  ohne  Zeichen 
von  Verhornung  oder  Degeneration,  muss  also  als  Bronchialsecret  angesprochen 
werden. 

Die  übrigen  Organe  sind  gesund. 

Sic  werden  sich  gleich  an  dem  Pat.  selbst  überzeugen  können, 
dass  er  zwar  eine  Lungenfistel  hat,  im  (.'(»brigen  aber  ein  durchaus 
gesunder  Mann  ist,  und  an  der  Röntgenphothographie,  welche 
ich  Ihnen  herumreiche,  werden  sie  auch  ohne  Weiteres  den 
Defect,  welchen  ich  durch  miMiie  Operation  gesetzt  habe,  erkennen 
können,  gleichzeitig  auch,  r'ass  eine  Thoraxschrunipfung  vorhanden 
ist.  Es  ist  also  in  diesem  Fall  möglich  gewesen,  eine  präverte- 
brale Eiterung,  welche  in  die  Lunge  perforirt  war  und  die  Zeichen 
einer  chronischen  Pyämie  gemacht  hatte,  abgesehen  davon,  dass 
sie    schwere   Lungenerscheinungen    verursacht    hatte,    durch    einen 


560  Dr.  Karewski, 

radicalen  Eingriff  am  Thorax  mit  Freilegung  der  (M'krankten  Lunge 
zur  Heilung  zu  bringen  war.  Dieser  Fall  wird  aber  gleich- 
zeitig ein  Beispiel  sein  für  die  Möglichkeit,  am  hinteren 
Thoraxurafang  gelegenen  Affectionen  der  Lungen  beizu- 
kommen. 

Dass  man  nun  nicht  immer  so  ^^lücklich  ist,  intrathorakale 
Eiterungen,  welche  die  Lunge  arrodirt  haben  und  zu  chronischer 
Pyämie  geführt  haben,  zu  beseitigen,  zeigt  ein  anderer  Fall,  welcher 
gleichzeitig  auch  sonst  ein  sehr  hervorragendes  Interesse  hat, 

II.    Metastasirende  Pyämie  in  Folge  von  eitriger  Strumitis 
substernalis  mit  Arrosion  der  Lunge. 

Der  achtjährige  F.  G.,  der  immer  ein  gesundes  Kind  gewesen  war,  sich 
aber  stets  darch  laute,  tönende  Respiration  und  leicht  auftretende  Athemnoth 
bei  Körperanstrengung  bemerkbar  gemacht  hatte,  war  im  Februar  97  zu- 
nächst von  leichten  Windpocken,  acht  Tage  später  von  Influenza  befallen 
worden.  Im  Verlauf  dieser  Krankheit  traten  heftij^c  Schmerzen  in  der  obe- 
ren rechten  Thoraxgegend  auf,  ohne  dass  man  etwas  wahrnehmen  konnte. 
Stets  fiel  während  der  ganzen  Krankheit  die  grosse  Athmungsfrequenz  auf. 
Krst  im  März  97  fand  man  eine  Dämpfung  an  der  betreffenden  Stelle, 
und  seit  dieser  Zeit  hat  immer  ohne  Pause  bis  zum  August  ein  J^ektisches 
Fieber  bestanden,  welches  Abends  bis  zu  sehr  hohen  Temperaturen  anstieg, 
während  Morgens  recht  niedrige  sich  zeigten.  Am  23.  April  hatte  ein  Kollege 
empfohlen  den  Dämpfungsbezirk  an  der  linken  oberen  Thoraxwand,  welcher 
sehr  schmerzhaft  war,  durch  Operation  freizulegen,  eine  Autorität  der  inneren 
Medicin  hatte  aber  davon  abgerathen,  weil  er  eine  Punktion  wegen  der  Ge- 
fährlichkeit der  Nachbarschaft  für  unausführbar  hielt.  Es  bildete  sich  eine 
Krankheit  aus,  welche  multiple  Abscesse  in  der  Haut,  aber  auch  eine  Ophthal- 
mie des  rechten  Auges  zeitigte.  Auf  diese  letztere  weiter  einzugehen,  interessirt 
hier  nicht,  indessen  ist  zu  erwähnen,  dass  sie  für  tuberkulös  gehalten  worden 
ist,  und  deswegen  die  Diagnose  auf  multiple  Tuberkulose  gestellt  wurde.  Das 
Kind  stammt  zwar  aus  einer  tuberkulösen  Familie,  es  fehlten  jedoch  ausser 
der  IrisalTection  alle  Anzeichen  dafür,  dass  das  Kind  selbst  irgendwie  tuber- 
culös  wur:  Dass  es  sich  hier  jedoch  nicht  um  Tuberculose  ge- 
handelt hat,  erhellt  daraus,  dass  gerade  die  Augenaffektion  zur  Heilung 
gekommen  ist.  Vielmehr  trug  das  ganze  Krankheitsbild  den  Character  der 
metastasirenden  Pyaemie. 

Am  27.  August  wurde  nun  eine  starke  Schmerzhaftigkeit  im 
linken  Kniegelenk  bemerkt,  dasselbe  schwoll  an,  und  man  berief  mich,  um 
diese  zu  beseitigen.  Ich  fand  ein  äusserst  abgemagertes  Kind  vor,  das  hoch 
fieberte  (.'59,S),  Respiration  betrug  48,  Puls  120  [)ro  Min.  Am  Körper  finden  sich 
eine  sehr  grosse  Anzahl  von  lncisioiisnarl>en,  welche  aber  ausschliesslich  Haut- 
narben sind  ohne  Adhärenzen  der  Tiefe.    Rechtes  Auge:  Cornea  besonders 


Beiträge  zur  Chirurgie  der  Lunge  und  der  PJeura.  561 

im  unteren  Quadranten  stark  getrübt,  im  unteren  Theil  der  vorderen  Augen- 
kammer befinden  sich  eitrige  Massen,  auf  der  Iris  feinste  Knötchen,  grosse 
Lichtscheu,  es  bestehen  kleine  Synechien.  Lunge:  Die  Grenzen  sind  allerseits 
leicht  verschieblich.  Ueberall  voller  Lungenschall  mit  Ausnahme  der  nachher 
zu  beschreibenden  Stelle,  scharfes  Vesiculärathmen,  nirgends  katarrhalische 
Erscheinungen.  Beide  Thoraxhälften  von  gleicher  Ausdehnung  und  gleicher 
Athraungsweite.  üeber  der  3.  und  4.  Rippe,  nahe  am  Sternalrand,  oberhalb 
der  Herzdämpfung  eine  circumscripte  Dämpfung  und  Schmerzhaftigkeit,  aber 
keinerlei  Vorwölbung  und  Schwellung,  am  Herzen  nichts  Pathologisches,  Urin 
enthält  kein  lüiweiss,  keine  anderen  pathologischen  Bestandtheile.  Am  ganzen 
Körper  fehlen  Drüsenschwellungen,  sind  nur  noch  die  schon  genannten  Narben 
vorhanden.  Das  linke  Kniegelenk  hat  die  normale  Konfiguration  verloren,  das- 
selbe ist  diffus  geschwollen,  die  Haut  ist  gespannt,  heiss,  Patella  ballotirend,  das 
Gelenk  steht  in  Flexionsstellung,  bei  Berührung  äusserst  schmerzhaft,  die  linken 
Inguinaldrüsen  sind  geschwollen.  Die  Operation  wurde  noch  am  selben  Abend 
vorgenommen.  Mit  einem  äussern  Bogenschnitt  wurde  das  Knie  eröffnet,  es 
findet  sich  in  demselben  dünner  Eiter,  die  Synovialis  ist  stark  geschwollen  und 
geröthet,  sie  wird  mit  Rücksicht  auf  die  vorhandene  Idee  der  Tuberculose 
gänzlich  herausgenommen,  dann  das  Gelenk  mit  Jodoformgaze  austamponiii; 
und  verbunden.  Es  wird  nun  auch  an  den  Herd  in  der  Lunge  gegangen, 
indem  mit  einer  Pravaz' sehen  Spritze  eine  Probepunction  gemacht  wird, 
welche  positiven  Befund  von  Eiter  hatte.  Vom  linken  Sternalrand  aus  wird  die 
3.  Rippe  freigelegt  und  in  einer  Ausdehnung  von  5  cm  resezirt.  Man  kommt  auf 
eine  Schwarte.  Als  man  mit  der  Spritze  wieder  Eiter  entleert,  wird  unter  Führung 
der  Nadel  mit  dem  Paquelin  eine  Eröffnung  des  Abscesses  gemacht.  Schon 
dicht  an  der  Punctionsöffnung  liegt  die  anscheinend  normale  Pleura  vor,  so 
dass  eine  grössere  Incision  nicht  thunlich  erscheint,  sondern  die  mit  dem 
Paquelin  gemachte  Ocffnung  vorsichtig  dilatirt  und  mit  Jodoformgaze  ausge- 
füllt wird.    Die  mediane  Seite  der  Oeffnung  der  Wunde  pulsirt. 

Das  Kind  war  bereits  am  andern  Tage  entfiebert,  aus  der  Lungenhöhle 
entleerte  sich  ziemlich  viel  Eiter,  sein  Befinden  bessert  sich  täglich,  am  6.  11. 
wird  in  die  Lungenhöhle  ein  Drain  eingeführt. 

10.  IX.  Erster  Verband  des  Kniegelenks,  Entfernung  der  Tamponade, 
geringe  Secretion  aus  dem  Gelenk,  gutes  Allgemeinbefinden,  kein  Fieber. 
Tägliche  Untersuchung  der  Secrete  auf  Tubercelbacillen 
negativ! 

16.  IX.  Heute  wieder  etwas  stärkere  Secretion  aus  der  Caverne,  am 
Grunde  der  Wundhöhle  sieht  man  Pulsationen.  Abendtemperaturen  38,2^, 
leichter  ßronchialkatarrh,  Urin  eiweissfrei. 

18.  IX.    Kein  Fieber,  Temperatur  dauernd  unter  37. 

22.  IX.  Die  Secretion  aus  der  Lungenwundhöhle  sistirt,  dieselbe  hat 
aber  keine  Tendenz  sich  zu  verkleinern,  die  Gelenkwunde  des  Kniegelenks  ist 
beinahe  zugeheilt. 

24.  IX.  Abendtemperatur  37,8^.  Im  Grunde  der  Lungenhöhlc  einige 
Trgpfen  Eiter,  dieselbe  wird  deshalb  mit  Jodoformgaze  austamponirt,  da  dies 


562  Dr.  Karewski, 

die  einzige  Metliode  zu  sein  scheint,  um  einen  dauernden  Abfluss  zu  ermög- 
lichen. Es  zeigt  sich  in  der  J'^olgc,  dass  immer  dann,  wenn  die  Lungenhöhle 
tamponirL  ist,  völlige  Fieberfreiheit  besteht,  bei  andern  Methoden  aber  Eiter- 
retentioncn  mit  Fieber  stattfinden.  Niemals  konnte  nachgewiesen  werden,  dass 
in  diese  Lungenhöhle  Luft  aspirirt  oder  oxspirirt  wurde.  Indessen  macht  jede 
Berührung  der  Höhlenwand  starken  Hustenreiz.  Der  Augenbefund  hat  sich  in 
der  letzten  Zeit  dahin  geändert,  dass  die  Lichtscheu  völlig  verschwunden  ist, 
nach  wie  vor  jedoch  sieht  das  Auge  eitrig  infiltrirt  aus,  aber  auch  dieser  Zu- 
stand nimmt  ab.  Wiederholte  Untersuchungen  auf  T.-B.  immer 
negativ. 

29.  IX.  Es  besteht  nur  nocli  eine  ganz  kleine  granulirende  Stelle  am 
Kniegelenk.  Pat.  kann  das  Knie  sogar  bewegen,  so  dass  der  Versuch  gemacht 
wird,  den  Kranken  ohne  Contcntivvcrband  zu  lassen.  Die  Knötchen  am  Auge 
und  das  Infiltrat  desselben  verringern  sich,  sowie  sich  das  Allgemeinbefinden 
des  Knaben  bassert,  indessen  hört  man  an  der  linken  hinteren  Thoraxwand, 
entsprechend  der  vorderen  Wund  höhle,  knarrende  und  reibende  Geräusche, 
während  auf  der  übrigen  Lunge  bronchitische  Zustände  zu  bestehen  scheinen. 
Die  Befreiung  vom  Contentivverband  bewährt  sich  nicht,  sondern  man  muss, 
da  der  Knabe  doch  wieder  Schmerzen  bekommt,  am  2.  October  von  Neuem 
einen  Gipsverband  mit  Fensterung  anlegen.  Die  Untersuchung  der  ex- 
stirpirten  Gelenkkapsel  hatte  keine  Zeichen  von  Tuberculose 
ergeben. 

Es  macht  sich  am  Halse  eine  Anschwellung  bemerkbar  über  dem  luguium, 
die  wie  ein  Struma  aussieht,  nicht  fluctuirt  und  nicht  schmerzhaft  ist.  Pat. 
hat  seit  3  Tagen  Diarrhoe.  Es  beginnt  nun  eine  Periode  abendlicher  Tem- 
peraturen, für  welche  zunächst  die  Diarrhoeen  beschuldigt  werden,  am  5.  Octo- 
ber aber  bemerkt  man  starke  Secretion  in  der  Lungenhöhle. 

7.  X.  Fieber  und  Diarrhoe  sind  geschwunden,  die  Lungenhöhle  ist  jetzt 
breit  olTen  gehalten  worden,  indem  man  immer  stärkere  Drains  eingeführt  hat, 
so  dass  schliesslich  ein  Loch  von  2  cm  Durchmesser  vorhanden  ist.  Es  be- 
steht zwar  keine  Rctcntion,  jedoch  eine  sehr  starke  Secretion,  der  Verband 
ist  jedesmal  mit  Eiter  durchtränkt,  und  die  Entleerung  desselben  geschieht 
mittels  Tamponade. 

9.  X.  —  11.  X.  Neue  Temperatursteigerungen  von  38,2^  und  38,6^. 
Bei  einer  heut  vorgenommenen  Untersuchung  wird  eine  vorsichtige  Sondirung 
des  Abscesses  gemacht,  man  ist  imstande  mit  einer  Sonde  von  der  Oeffnung 
her,  in  einem  starken  Bogen  nach  hinten  —  unzweifelhaft  am  Heizen  entlang, 
da  die  Sonde  dauernd  von  dessen  Pulsation  erschüttert  wird  —  wohl  8  cm 
tief  nach  unten  zu  gelangen.  Es  entleert  sich  darauf  eine  grosse  Quantität 
Eiter.  Die  vor  8  Tagen  bemerkte  Schwellung  am  Jugulum  hat  sich  vergrössert 
und  fluctuirt,  sie  wird  incidirt,  eine  Communication  derselben  mit  der  Lungen- 
höhle scheint  zu  bestehen,  ist  aber  nicht  mit  Sicherheit  nachzuweisen.  Der 
Urin  ist  eiweissfrei,  Allgemeinzustand  wesentlich  verschlechtert.  Es  wird  nun 
täglich  durch  Auskippen  des  Knaben  versucht,  den  Eiter  aus  der  Brusthöhle 
total  zu  entleeren,  und  das  hat  auch  den  Edect,  dass  in  den  nächsten  3  Tagen 
wieder  Fieberfreiheit  herrscht. 


Beiträge  zur  Chirurgie  der  Lunge  und  der  Pleura.  563 

14.  10.  Nachmittags  5  Uhr.  Krämpfe.  Oas  Kind  wird  mitten  aus 
vollem  Wohlbefinden  plötzlich  besinnungslos,  starrt  vor  sich  hin,  erkennt  seinen 
Vater  und  die  übrige  Umgebung  nicht  mehr  und  fangt  an  mit  einer  eigenthümlichen 
dem  Cheyne-Stokes'schen Typus  ähnlichen  Weise  zu  athmen,  reagirt  nicht  mehr  auf 
Anrufen,  bleibt  aber  weiter  aufrecht  im  Bett  sitzen.  Die  linke  Pupille  ist  sehr 
dilatirt.  Dieser  Zustand  ist  auch  durch  flaches  Hinlegen  des  Kranken  und  Haut- 
reize nicht  zu  ändern.  Ungefähr  10  Minuten  nach  Beginn  des  Anfalles  bemerkt 
man  beim  Aufdecken  des  Kindes  eine  Erectio  penis.  Alsbald  danach  entstehen 
Zuckungen  im  rechten  Facialis,  anfangs  in  geringem  Umfange,  dann  immer 
heftiger  werdend ,  in  immer  rasenderer  Folge  sich  erneuernd.  Dabei  wird  die 
Athmung  eigenthümlich  klingend,  wie  schluchzend.  Man  applicirt  dem  Kind 
ein  Glycerinklystier ,  das  schnell  dünnen  Stuhlgang  befördert.  Indessen  hat 
auch  das  keinen  Einfluss,  vielmehr  beginnen  jetzt  auch  Zuckungen  im  rechten 
Arm,  und  zwar  sieht  man  zuerst  Bewegungen  im  Daumen,  Streckung,  Beugung, 
Ab-  und  Adduction,  dann  machen  die  Finger  Greifbewegungen,  das  Hand- 
gelenk wird  geschüttelt,  das  Ellenbogengelenk  gebeugt  und  gestreckt,  der  ge- 
sammte  Arm  im  Schultergelenk  gehoben  und  gesenkt.  Es  dauert  nicht  lange, 
und  dieselben  Bewegungen  stellen  sich  im  rechton  Bein  ein,  allerdings  weniger 
heftig  als  im  Arm,  ohne  dass  es  möglich  wäre  zuconstatiren,  in  welchem  Abschnitt 
die  Krämpfe  beginnen.  Zuckungen  werden  immer  stärker,  die  Augen  bleiben 
krampfhaft  nach  rechts  oben  gedreht,  die  linke  Pupille  immer  ad  maxiraum 
erweitert.  Man  lässt  das  Kind  etwas  Aether  einathmen  und  hat  auch  den  Ein- 
druck, dass  die  Krampferscheinungen  nachlassen,  die  Zwangsstellung  der 
Augen  hört  auf,  die  Pupille  verengt  sich,  die  Facialiskrämpfe  sistiren.  Aber 
auch  als  für  ganz  kurae  Zeit  der  Anfall  vorübergeht,  bleibt  die  schluchzende 
Athmung  übrig.  Es  erscheint  so,  als  wenn  ein  Kind,  welches  heftig  geweint 
hat,  sich  allmählich  unter  »Schluchzen  beruhigt.  Der  Anfall  kehrt  bald  wieder 
und  zwar  immer  in  derselben  Reihenfolge,  wie  oben  beschrieben.  Neue  Aetheri- 
sirung  macht  ihn  wieder  verschwinden,  aber  nur  für  kurze  Zeit.  Die  Krämpfe 
wiederholen  sich  zum  3.  Male  mit  grosser  Vehemenz.  Morphium injection  von 
3  mg  beruhigt.  Das  Kind  athmet  noch  einige  Male  tief  auf  und  liegt  dann  für 
wenige  Minuten  wie  schlafend  da.  Bald  jedoch  beginnen  die  Anfälle  von 
Neuem,  und  zwar  diesmal  auf  der  linken  Seite,  Krämpfe  in  beiden  Körper- 
hälflen  gleichzeitig  kommen  nur  ganz  vorübergehend  vor.  Der  Puls  ist  wäh- 
rend der  ganzen  Zeit  äusserst  frequent,  aber  von  guter  Spannung.  Das 
Gesicht  erscheint  dauernd  überaus  blass  von  greisenhaftem  Ausdruck.  Zeit- 
weise ist  deutlich  Gheyne-Stokes'scher  Athemtypus  vorhanden,  und  man  hat 
den  Eindruck,  dass  das  Kind  moribund  sei.  Dieser  Zustand  dauert  bis  gegen 
11  Uhr  Abends. 

Es  ist  zu  bemerken,  dass  während  der  ganzen  Zeit  keine  Jjähmungen  zu 
constatiren  sind;  dass  in  der  Nacht  furibunde  Delirien  bestehen.  Am  andern 
Tage  hat  das  sonst  äusserst  intelligente  Kind  keine  Erinnerung  an  den  Vorfall, 
nur  wird  es  von  der  Vorstellung  beherrscht,  dass  es  seinem  Vater  eine  ihm 
jetzt  nicht  mehr  erinnerliche  Mittheilung  habe  machen  wollen.  Ferner  erkennt 
das  Kind  zeitweise  seine  Umgebung  nicht,  es  wird  ihm  schwer  an  ihn  ge- 
richtete complicirtcre  Fragen  zu  verstehen  und  zu  beantworten.  Bis  zum  Nach- 


564  Dr.  Karewski, 

mittag  liJit  sich  auch  in  dieser  Beziehung  schon  eine  wesentliche  Besserung 
eingestellt,  und  am  20.  10.  kann  man  wohl  sagen,  dass  die  Intelligenz  des 
Kindes  die  alte,  der  Gesichtsausdruck  wieder  ein  natürlicher  geworden  ist,  die 
allgemeine  Schwäche  jedoch  noch  äusserst  hochgradig.  Eine  Parese  ist  auch 
heute  nicht  zu  constatiren,  im  Urin  findet  sich  Eiweiss. 

Bis  zum  26.  10.  keine  wesentliche  Veränderung  im  Befinden  des  Kranken, 
dauerndes  Fieber,  lletentionszustände  in  der  Lungenhöhle,  die  durch  Um- 
kippen des  Knaben  von  Zeit  zu  Zeit  verringert  werden.  Aeusserst  elender  AUge- 
meinzustand,  weinerliche  Stimmung,  Klagen  über  Schmerzen  im  linken  Knie. 
Die  Abnahme  des  Gipsverbandes  zeigt  objectiv  nichts,  es  wird  ein  leichter 
Spahnverband  gemacht. 

Nachdem  wiederholt  festgestellt  war,  dass  man  von  der  Scapulaspitze 
nach  unten  hin  zur  Axillarlinie  nach  unten  bis  zur  11.  Rippe  gedäraptt  tym- 
panitischen  Schall  vor  sich  hat,  soll  am  26.  trotz  des  überaus  elenden  Zu- 
standes  des  Kindes  der  Versuch  gemacht  werden,  die  Eiterhöhle  nach  unten 
zu  drainiren.  Zu  diesem  Eingriff  drängte  nicht  nur  der  zu- 
nehmende Verfall  des  Kindes,  sondern  auch  die  von  einem  her- 
ber vor  agenden  Nervenarzt  au  fgestellteMeinung,  dass  jene  Krampf- 
anfälle nicht,  wie  wir  glaubt  en,  durch  einen  Hirn  ab  sc  es  s  verursacht 
sei,  sondern  als  toxische  aufgefasst  werden  müssten.  Es  hatte 
sich  inzwischen  wieder  hektisches  Fieber  eingestellt,  die  ner- 
vösen Anfälle  hatten  sich  nicht  wiederholt,  die  Psyche  des 
Knaben  war  wieder  normal  geworden,  es  bestanden  keine  Läh- 
mungen oder  auch  nur  lähmungsartige  Schwäche. 

26.  10.  Zweite  Operation  am  Thorax. 

Verschiedene  Probepunctionen  im  10.  und  11.  Intercostalraum ,  da  wo 
matter  Schall  ist,  ergeben  keinen  Eiter.  Man  kann  nur  feststellen,  dass  die 
Nadel  zunächst  schwartiges  Gewebe  passirt,  und  dann,  wenn  sie  lang  genug 
ist,  in  einen  lufterfüllten  Hohlraum  kommt  (die  Spritze  füllt  sich  mit  Luft, 
während  sie  an  anderen  Stellen  entweder  luftleer  wird  beim  Ansaugen  oder 
Blut  aspirirt).  Nach  Resection  der  10.  Rippe  in  der  Scapularlinie  wird  constatirt, 
dass  die  Pleura  costalis  mit  der  Pleura  pulmonalis  verwachsen  ist,  aber  nicht 
schwartig  verdickt  ist.  Nachdem  sie  zwischen  zweiPincetten  gespalten  ist,  legt 
man  die  Lunge  frei:  sie  retrahirt  sich  nicht.  Es  wird  von  hier  aus  nach  vorn 
oben  wiederholt  punctirt,  nichts  gefunden.  Es  wird  noch  einmal  die  Lungen- 
höhle sondirt  und  sicher  festgestellt,  dass  sie  nach  hinten  unten  geht.  Und 
da  nun  angenommen  werden  muss,  dass  nur  das  Herz  ihr  die  Richtung  be- 
stimmt, die  hinteren  Lungenpartien  an  sich  wahrscheinlich  gar  nicht  von  der 
Eiterung  ergriffen,  sondern  comprimirt  sind,  soll  der  Versuch  gemacht  werden, 
von  vorne  der  Sache  beizukommen. 

In  der  Mammillarlinie  wird  die  sechste  Rippe  resecirt,  genau  derselbe 
Zustand  der  Lunge  und  der  Pleura  vorgefunden,  Function  negativ.  Bei  Druck 
auf  die  Lunge  von  unten  nach  oben  entleert  sich  viel  Eiter  aus  der  Fistel,  die 
Sonde  aber  kann  nicht  nach  den  freigelegten  Lungenpartien  soweit  vor- 
geschoben werden,  dass  man  sie  fühlt;    dieselbe  bleibt  vielmehr  stets  von  Er- 


Beiträge  zur  Chirurgie  der  Lunge  und  der  Pleura.  565 

Schütterungen  des  Herzens  hin  und  her  bewegt,  und  zwar  medianwärts  davon. 
Die  Rippe  wird  nun  bis  zum  Sternalrand  entfernt,  man  hat  dann  folgenden 
Situs: 

Medianwärts  die  sieht-  und  fühlbar  pulsirende  Herzspitze, 
bedecktvon  einer  dicken,  häutigen  Schicht,  lateralwärts  die  mit 
ihr  adhärirende  vordere  Lungengrenze,  welche  sich  hier  gleich- 
falls nicht  retrahirt  aber  freie  Beweglichkeit  zeigt. 

Mit  aller  Vorsicht  wird  noch  einmal  versucht,  das  untere  Sondenende 
vorzuschieben,  und  man  fühlt  dasselbe  da,  wo  Lunge  und  Herz  sich  begrenzen. 
Auf  die  Gefahr  hin,  den  Herzbeutel  zu  eröflfnen,  wird  auf  die  Sonde  ein- 
geschnitten. Es  ist  das  nur  möglich,  indem  man  sie  ziemlich  stark  gegen  die 
vordere  Brustwand  andrängt,  was  eine  vorübergehende  Synkope  zur  Folge  hat; 
zwei  Campherinjectionen,  vorübergehende  Unterbrechung  der  Operation  bringen 
dieselbe  zum  Verschwinden;  sie  ist  offenbar  auf  Compression  des  Herzens  zu 
beziehen.  Der  Sack  wird  nun  an  der  Stelle,  wo  man  ihn  mit  der  Sonde  vor- 
drängen kann,  mit  der  Pincette  gefasst  und  incidirt.  Er  ist  ca.  1  mm  dick 
und  auf  dem  Durchschnitt  mit  gelben  Einsprengungen  versehen.  Es  ist  sehr 
schwer,  die  Sonde  zu  Gesicht  zu  bringen ;  schliesslich  aber  eYitleert  sich  aus 
der  unteren  Oeffnung  Eiter,  und  der  Sondenknopf  kommt  zum  Vorschein.  Es 
wird  nun  der  Sack  an  die  äussere  Wunde  angenäht,  ein  Jodoformgazestreifen 
in  ihn  so  hoch  wie  möglich  hinaufgeschoben;  im  übrigen  Vorband  wie  bisher. 

29.  10.  Die  Folgen  der  Operation  sind  spurlos  an  dem  Knaben  vorüber- 
gegangen, er  ist  entfiebert,  ohne  abnorm  niedrige  Temperatur.  Die  hintere 
Operationswunde  ist  gänzlich  reactionslos,  die  Lunge  liegt  flach  an.  Die  vor- 
dere Wunde:  In  der  Lunge  eine  tiefe  Delle,  von  der  Tamponade  herröhrend, 
neben  derselben  die  präsumptive  Eiterhöhle  tief  eingezogen,  trocken.  Es  ent- 
leert sich  aus  ihr  kein  Eiter,  hingegen  fliesst  bei  Druck  der  Eiter  wieder  oben 
aus.  Erst  bei  sehr  tiefen  Inspirationen  profuser  Erguss  der  zähen  Eitermassen 
nach  unten.  Man  hat  den  Eindruck,  dass  es  nicht  gelungen  ist,  bei  der  Ope- 
ration den  eigentlichen  Sack  genügend  an  die  Oberfläche  zu  bringen. 

Es  wird  nun  die  Sonde  von  oben  her  auf  dem  alten  Wege  vorgtjschoben 
und  kommt  nicht  zum  Vorschein.  Gleichzeitige  Sondirung  von  unten  giebt 
nicht  die  Möglichkeit,  die  Sonde  zu  palpiren.  Erst  als  man  mit  dem  elec- 
trischen  Scheinwerfer  die  Höhle  observirt,  entdeckt  man  am  hinteren  Umfang 
der  künstlich  geschaffenen  Höhle  ein  kleines  Loch,  aus  dem  Eiter  hervorquillt. 
Dieses  führt  in  den  eigentlichen  Abscess,  hier  treffen  sich  die  Sonden.  Es  ist 
also  der  Sack  zwar  angenäht  worden,  es  hat  sich  aber  seine  innere  Schicht, 
die  den  Abscess  direct  begrenzt,  retrahirt;  die  Tamponade  ist  auch  nicht  in 
den  eigentlichen  Abscess  gegangen,  sondern  hat  die  Abscesswand  vor  sich 
hergeschoben.  Der  ausfliessende  Eiter  ist  reichlich  mit  Luftblasen  untermischt, 
bei  der  Respiration  hört  man  das  characteristische  Geräusch  der  Luftansaugung 
und  -auspressung.  Unter  Leitung  des  electrischen  Lichtes  wird  die  feine 
Oeffnung  mit  der  schlanken  Kornzange  zu  dilatiren  gesucht  und  diesmal  mit 
Sicherheit  ein  .Jodoformgazestreifen  eingeführt. 

31.  10.  Die  Wundhöhle  ist  vollkommen  übersichtlich,  der  Eiter  hat  nach 

Archiv  fUr  klin.  Chirurgie.    57.  Bd.    Heft  3.  3^ 


566  Dr.  KarewsKi, 

unten  freien  Abfluss;  zwischen  der  oberen  Abscessöffnung  und  der  unteren 
besteht  eine  freie  Comnuinication ;  Einlegung  von  Drains.  Pat.  ist  noch  immer 
äusserst  elend,  jedoch  vollkommen  fieberfrei. 

3.  11.  Bei  der  heutigen  Untersuchung  war  es  nicht  möglich,  eine  freie 
Communication  zwischen  den  beiden  Wunden  nachzuweisen.  Jedoch  findei 
keine  Retention  statt.  Fat.  hat  ständig  Diarrhöen.  —  15.  11.  Es  wird  fest- 
gestellt, dass  der  Eiter  sich  oben  und  unten  entleert.  Trotzdem  sind  in  den 
letzten  Tagen  wieder  Fieberbewegungen,  gestern  Abend  38,8.  Die  Macies  des 
Kindes  nimmt  andauernd  zu.  Es  klagt  über  Schmerzen  im  linken  Oberschenkel. 
Man  stellt  daselbst  einen  Abscess  fest,  welcher  die  Aussenseite  einnimmt.  Der 
Verband  wird  entfernt,  das  Kniegelenk  ist  vollkommen  ausgeheilt.  Zu  er- 
wähnen ist  noch,  dass  bei  dem  Kind  wiederholt  die  Erscheinungen  einer 
rechtsseitigen  Facialislähmung  auftreten,  und  dass  am  12.  Nachmittags  wiederum 
ein  kleiner  Insult  eintrat,  darin  bestehend,  dass  Pat.  unbesinnlich  war,  Aphasie 
auftrat,  und  er  fortwährend  weinte. 

'20,  11.  Facialislähmung  immer  mehr  ausgeprägt,  Lähmungen  der 
Exiremiiäten  fehlen.  Pat.  ist  vollkommen  theilnahmslos  und  lässt  Stuhl  und 
Irin  unter  sii.'A.  Die  Wundhöhle  der  Brust  secemirt  nur  wenig.  —  22.  II. 
Aussresprochene  Parese  der  ganzen  rechten  Körperhälfte.  Pat.  reagirt  gut  auf 
Frairen,  Bewusstsein  frei.  Fieber.  Die  vorgeschlagene  Operation  wird  verwci- 
ffert.  "Jö.  11.  Rechte  Pupille  ad  maximum  dilatirt,  die  linke  eng.  Die  linke 
Scheitolsregend  ist  auf  Bekloplen  mit  dem  Finger  äusserst  schmerzhaft.  Pai. 
kann  nur  unaniculirte  Laute  von  sich  geben,  Worte  fehlen  gänzlich.  Bewusst- 
sein vollkommen  erhallen.  —  5.  12.  Pat.  klagt  über  heftigste  Kopfschmerzen 
in  der  Stirn^eirend :  weint  viel  und  fährt  beständig  mit  der  Hand  nach  der 
Siirn  links  bierseligst  sind  die  Hautvenen  stark  dilatirt.  Seil  beute  reagirt 
er  auf  Fruiren  wietier  bes<er.  Seit  :\  Tagen  hat  sich  in  der  Vorderarra- 
niu>iulauir  links  ein  Abscess  eiablirt,  der  durch  eine  kleine  Oeffnung  slinkcn- 
tion  Kiur  enilom.  -  11.  1l>.  l)a  der  Abscess  nicht  zur  Verbeilung  kommt, 
\\ird  houie  InoiMun  iienuuht:  Zwischen  den  Muskeln  reichlich  Eiler.  Nekrosen- 
l  iMur.vr.  l)io  Faoiali<liihniunir  irehi  etwas  zurück.  Puls  ständig  140— 160. 
IKuiornd  a''.eiivilio]ie  Fielortemperaiuren  bis  zu  4tK  während  Morgens  immer 
unter  ;Ui  i\   --    \\  le.    Kxitus. 

>ortiiMi<lei'und:  Aeu«erst  abiremair^^rte  Leiche,  in  der  Gegend  der 
uri::on  Uirj.e,  /wt-i  Fiitirer  Iren  link^  vum  Siemum  eine  runde  Wundöffoang, 
oa.  1  o::i  lHinf.:'>.>xrr,  \^.n  wvi.her  man  mit  der  Sonde  im  Bogen  nach  hinten 
i.t::en  iroLiru';.  In  d-r  H  :>'  yUr  a.hien  Kit  le,  in  der  vorderen  Axillariinie 
e-i^  e:N\.i  :.\i.--i:r.w<o  i.ira:i:;:a-:.^!i<tlä,-he,  v-u;  der  aus  man  nicht  in  die  Tiefe 
ir"..i:\:en  ka::n.  A:u  l;':;-;ri  t  ••  »'r<.'i>iik^l  ein  5  om  lanser  schmaler  Granu- 
;a::.-;«te:^-\  u-:>-:«:i:>    i^  <  K'-o5  e-n-  ti- riri.s  Uiegte  WandÜäohe. 

Vrr  ^r.  :..:-:  i.-.    »...^  ^larkre  Air::>  ^u:>-  *wr  Unken  Hälfte  auffällig. 
e-e    >:arM»  A  >•:  - -:  ::-iz   »i^r   linken    Ha  ::\»^r.n,    l>ie   rechte  Gesirhts- 


>«.i  \\  •»» 


Nao-     F-i:'*e:-:::-..^-     .i».^    Hr-i>^:Ke!  Le>     sich:     man    die    obere 


Beiträge  zur  Chirurgie  der  Lunge  und  der  Pleura.  567 

Thoraxapertur  eingenommen  von  einer  an  der  Oberfläche  glatten 
Geschwulst  von  grauer  Farbe,  mit  der  rechten  Lungenspitze  ver- 
wachsen, nach  unten  sieht  man  beide  Lungen  mit  dem  Herzbeutel 
fest  verwachsen,  so  dass  eine  Grenze  zwischen  ihnen  nicht  nach- 
weisbar ist.  Zwerchfellstand  links  6.  Rippe,  rechts  5.;  in  der  linken 
Pleurahöhle  findet  sich  in  reichlicher  Menge  serös  sanguinolente  Flüssigkeit, 
die  beiden  Pleurablätter  beiderseits  leicht  verwachsen.  Entfernung  sämmt- 
Jicher  Brust-  und  llalsorgane  in  toto.  Bei  Entfernung  der  Leber  findet  sich 
zwischen  ihrem  linken  Lappen  und  dem  Zwerchfell  etwa  zwei  EsslöiTel  dicken 
rahmig-grünen  Eiters,  welcher  sich  bis  hinter  den  Magen  abwärts  verfolgen 
lässt.  Die  Leber  ist  auf  ihrem  Durchschnitt  trüb,  grau,  Abscesse  fehlen  jedoch. 
Die  Milz  kapsei  wird  an  ihrem  medialen  Pol  von  dem  Eiter  des  subphroni- 
schen  Abscesses  bedeckt,  ist  verdickt  und  zeigt  käsige  Auflagerungen.  Die 
linke  Niere  ist  vergrössert,  auf  der  Oberfläche  von  graugelblicher  Farbe,  mit 
kleinen  Abscessen  von  krüml icher  Beschaffenheit,  die  rechte  Niere  von  gleicher 
Grösse  zeigt  einen  wallnussgrossen  Abscess  in  der  llindensubstanz.  Der 
Ureter  ist  beiderseits  frei  von  Eiter.  Das  Schädeldach  ist  links  mit  der 
Dura  fest  verwachsen,  welche  ihrerseits  mit  der  Hirnsubstanz  innige  Ver- 
wachsung eingegangen  ist.  Bei  der  gewaltsamen  Entfernung  der  Dura  finden 
sich  über  die  ganze  linke  Hemisphäre  verbreitet  zahlreiche  F^iteraustritte  mit 
reichlichem,  rahmigem,  dickem  Eiter,  welcher  an  den  meisten  Stellen  in  die 
weisse  Substanz  eingedrungen  ist.  Die  Hirnkerne  sind  frei  von  Eiter,  ebenso 
wie  die  Ventrikel,  dagegen  bildet  der  Pes  hippocampi  und  der  Calcar  avis 
wallnussgrosse  dünnwandige  Abscesse.  Rechte  Hemisphäre  und  Kleinhirn 
sind  stark  ödematös,  ebenso  die  Medulla  oblongata,  an  der  Sella  turcica 
ebenfalls  dicker,  rahmiger  Eiter. 

Brustorgane:  Hinter  der  3.  Rippe  eine  Fistelöffnung,  die  der  Beginn 
eines  zwischen  hinterem  Herzbeutel  und  linker  Lungenwand,  welche  übrigens 
beide  innig  verwachsen  sind,  verlaufenden  Canals  ist,  der  an  der  Basis  des 
Herzens  endigt.  Bei  der  Präparation  der  Bronchien  und  der  grossen 
Gefässe  quillt  überall  gelber  dicker  Eiter  hervor.  Jedoch  ist  die 
Intima  der  Gefässe  und  die  Schleimhaut  der  Bronchien  voll- 
kommen frei.  Nur  an  der  Innenfläche  der  Vena  cava  sup,  findet 
man  eine  linsengrosso  Auflagerung,  durch  welche  man  hin- 
durch in  den  das  ganze  obere  Mediastinum  ant.  einnehmen- 
den Abscess  gelangt.  Die  Vorderfläche  des  Pericards,  welches  beider- 
seits mit  den  Lungen  eng  verwachsen  sind,  ist  ziemlich  glatt,  seine 
Innenfläche  ist  mit  dem  visceralen  Blatt  des  Pericards  innig  verwachsen. 
Bei  der  gewaltsamen  Lösung  beider  Blätter  war  eine  Verletzung  des  Herz- 
muskels nicht  zu  vermeiclen.  In  der  Gegend  der  Herzspitze  findet  sich 
nicht  nur  eine  Nekrose  dos  Pericards,  sondern  auch  ein  krümlicher  Zerfall 
der  im  Uebrigen  äusserst  dünnen  Musculatur  des  rechten  Herzens.  Die 
Musculatur  des  Herzens  ist  atrophisch  und  von  gelblich-bräunlicher  Färbung. 
Die  Klappen  sind  frei  von  Auflagerungen,  nur  zeigt  die  Intima  der  Aorta  im 
Anfangsthcil  leicht  athoromatöse  Beschaffenheit.    Das  Herz  ist  nach  oben 

38* 


568  Dr.  Karewski, 

begrenzt  von  der  gut  apfelgrossen,  mit  Absce^sen  durchsetzten, 
zum  grössten  Theil  aus  nekrotischen,  krümlichen  Massen  be- 
stehenden vorher  genannten  Geschwulst  (Thymus?),  die  nach 
oben  bis  zum  Schildknorpel  reicht  und  nach  recht-s  mit  der 
Lungenspitze  verwachsen  ist,  woselbst  sie  einen  über  wallnuss- 
grossen  Contactherd  bewirkt  hat;  ein  ähnlicher  Herd  findet  sich 
an  der  Grenze  zwischen  Mittel-  und  Unterlappen  der  rechten 
Lunge,  ebenfalls  durch  Contact  entstanden,  nach  links  besteht 
eine  Verwachsung  der  Thymus  (?)  mit  dem  oberen  Rand  des 
Unterlappens.  Medial  davon  findet  sich  die  Oeffnung  des  er- 
wähnten Canals.  Die  Glandula  thyreoidea  ist  im  Ganzen  ver- 
grössert,  links  nekrotisch  mit  grünlich  käsigen  Massen  durch- 
setzt, rechts  hyperämisch,  überall  mit  dem  Mediastinaltumor 
verwachsen.  In  der  Umgebung  beider  Bronchien  sowie  im  Mediastinum 
post.,  das  mit  den  in  ihnen  gelegenen  Organen  eitrig  infiltrirt  ist,  finden  sich 
eine  Anzahl  geschwollener  hyperämischer  Drüsen,  vollständig  frei  von 
Nekrose  und  Eiter. 

Die  mikroskopische  Untersuchung  des  Eitersackes, 
welche  man  bei  der  Section  als  Thymus  angesprochen 
hatte,  ergab  überraschender  Weise,  dass  seine  Wand 
nicht  aus  Thymus,  sondern  aus  typischem  Strumagewebc 
bestand,  ganz  conforni  demjenigen,  welches  die  hypertrophische 
Schilddrüse  aufwies.     Nirgends  Spuren  von  Tuberculose. 

Wenn  wir  dies(^  Krankengeschichte  und  das  Resultat  der 
Section  in  unser  Gedächtniss  zurückrufen,  so  hat  man  den  Fall 
aufzufassen  als  eine  chronische  Pycämie,  hervorgegangen 
aus  einer  acuten  Strumitis  substernalis,  welche  infolge 
von  Influenza  entstanden  war.  Es  kann  keinem  Zweifel 
unterliegen,  dass  die  vor  der  Krankheit  beobachteten  eigenthüm- 
lichcn  Respirationserscheinungen  hervorgerufen  waren  durch  die 
Struma  substernalis,  und  dass  die  nach  der  Influenza  aufgetretene 
Dämpfung  im  oberen  linken  Thoraxabschnitt  nichts  anderes  be- 
deuteten als  Schwellung  und  Vereiterung  dieser  Schilddrüsen- 
hypertrophie. 

Man  darf  wohl  annehmen,  dass  es  möglich  gewesen 
wäre,  als  im  März  1897  die  ersten  Erscheinungen  der 
Pyämie  und  die  Dämpfung  im  3.  Intercostalraum  auf- 
trat, durch  Probepunction  den  Eiter  festzustellen  und 
durch  einen  entsprechenden  Eingriff  die  ganze  Krank- 
heit zu  coupiren.      Auch  wäre  wohl  zu  jener  Zeit  diese  Probe- 


Beiträge  zur  Chirurgie  der  Lunge  und  der  Pleura.  569 

punction  nicht  so  gefährlich  gewesen,  dass  man  sie  aus  diesem 
Grunde  unterlassen  musste.  Nachdem  sie  aber  erst  einmal  ver- 
absäumt worden  war,  hat  die  Eiterung  die  Grenzen  der  Schilddrüse 
überschritten  und  nun  durch  Weiterwandern  per  continuitatem 
nicht  nur  die  nächstgelegenen  Lungenpartien,  sondern  auch  das 
ganze  vordere  und  hintere  Mediastinum  ergriffen.  Eine  adhäsive 
Pericarditis  brachte  den  Herzbeutel  zur  Verödung,  aber  gleich- 
zeitig propagirte  die  Vereiterung  und  durchbrach  den  Herzbeutel 
an  der  •  rechten  Basis,  hier  auch  das  Herzfleisch  angreifend, 
wanderte  weiter  an  die  V.  cava  heran  und  wölbte  einen  Abscess 
in  dieselbe  vor.  So  war  natürlich  Thür  und  Thor  für  .die 
metastasirende  Pyämie  geöffnet.  *  Nicht  nur  in  der  äusseren  Haut 
und  im  Auge  kam  es  zur  Eiterung,  sondern  auch  in  inneren 
Organen  etablirten  sich  Metastasen,  die  zunächst  völlig  latent  ver- 
liefen. Die  Vorstellung,  dass  es  sich  um  eine  multiple  Tuber- 
culose  handelte,  verhinderte  auch. jetzt  noch  einen  radicalen  Ein- 
griff, und  erst  als  eine  acute  Gonitis  auftrat,  unerträgliche 
Schmerzen  die  Hülfe  des  Chirurgen  erheischten,  wurde,  allerdings 
nunmehr  zu  spät,  der  Eingriff  vorgenommen.  Als  ich  den  angeb- 
lichen Lungenherd  an  der  HL  Rippe  eröffnete,  war  es  nicht  mehr 
möglich,  den  Krankheitsverlauf  noch  günstig  zu  beeinflussen.  Zu 
jener  Zeit  bestand  bereits  die  eiterige  Mediastinitis,  wahrschein- 
lich auch  schon  die  Affection  des  Gehirns,  welche  ja  so  oft  ohne 
auffällige  Zeichen  Monate  lang  existiren  kann.  Erst  im  weiteren 
Verlauf  meiner  Beobachtung  gelang  es  nachzuweisen,  dass  der 
scheinbare  Lungenabscess  eine  zwischen  Lunge  und  Herz 
liegende  Eiterung  war.  Dieser  noch  beizukommen,  war  un- 
möglich, wenngleich  es  gelang,  an  der  Herzspitze  den  Sack  zu 
drainiren.  Auch  in  dieser  Beziehung  ermangelt  dieser  Fall  nicht  des 
Interesses,  weil  er  zeigt,  dass  es  unter  Umständen  möglich  ist, 
unter  günstigen  Bedingungen  einer  eiterigen  hinteren  Mediastinitis 
beizukommen  durch  Drainage  nach  vorn.  Wenn  also  dieser  Fall 
auch  einen  unglücklichen  Verlauf  genommen  hat,  so  ist  doch  auch 
er  beweisend  dafür,  dass  mit  rechtzeitigen  Eingriffen  in  die  Thorax- 
höhle deletären  Processen  allerschlimmster  Natur  beigekommen 
werden  kann. 

Auf  die  übrigen  höchst  bemerkenswerthen  Vorgänge  in  diesem 
Falle    einzugehen    ist    hier    nicht    der  Ort.     Wir    unterlassen   aber 


1 


570  Dr.  Karewski, 

nicht,  darauf  hinzuweisen,  dass  eine  subphrenische  Eiterung  und 
ein  Nierenabscess  völlig  syraptoralos  verliefen,  dass  ein  Hirn- 
abscess  seine  ersten  wahrnehmbaren  Erscheinungen  in  Gestalt 
eines  Anfalls  von  Jackson'scher  Epilepsie  machte,  welcher  sich 
nicht  wiederholte,  während  der  Exitus  erst  viele  Wochen  später 
unter  fortschreitender  halbseitiger  Lähmung  erfolgte.  Auch  die 
Thatsache,  dass  eine  angeborene  Struma  substernalis  im  Gefolge 
einer  acuten  Infectionskrankheit  zur  Vereiterung  gekommen  ist, 
bietet  des  Ungewöhnlichen  genug,  um  diese  Beobachtung  noch  be- 
sonders hervorzuheben. 

.  Haben  wir  bisher  von  Fällen  gesprochen,  welche  secundär 
von  der  Pleura  auf  die  Lunge  übergewandert  sind  und  diese  ver- 
nichtet haben,  so  habe  ich  jetzt  von  3  Fällen  zu  berichten,  in 
denen  die  primäre  Erkrankung  die  Lunge  betraf,  die  secundäre 
die  Pleura,  und  in  welchen  die  letztere  die  Indication  gegeben 
hat,  nicht  nur  zur  Behandlung  der  Pleura,  sondern  auch  der 
Lunge  selbst. 

Der  erste  von  ihnen  betrifiFt  eine  tuberculöse  Peripleuritis, 
ausgegangen  von  einer  kleinen  Caverne  im  linken  unteren  Lungen- 
lappen. Ich  habe  die  Pat.  vor  einem  Jahr  als  geheilt  der  Berl. 
Chirurg.  Vereinigung  vorgestellt,  habe  sie  aber  nicht  veranlassen 
können,  sich  heute  hier  Ihnen  zu  zeigen,  und  so  beschränke  ich 
mich  darauf,  Ihnen  eine  vor  3  Tagen  aufgenommene  Photographie 
der  linken  Thoraxwand  zu  zeigen. 

III.    Peripleuritis  tuberculosa  in  Folge  Durchbrach  einer 

Caverne  der  Lunge. 

Es  handelt  sich  um  eine  Dame  von  ca.  30  Jahren,  welche  äusserst  hyste- 
risch und  zur  Uebertreibung  ihrer  Krankheitszustände  geneigt,  wiederholt  von 
mir  an  Blasencatarrhen  und  dergleichen  behandelt  worden  war,  mir  dann  aber 
lanß:e  Zeit  aus  dem  Gesichtkam,  bis  sie  eines  Tages  wieder  mich  consultirte  wegen 
einer  heftigen  linksseitigen  Intercostalisneuralgie.  Zunächst  musste  ich  sie 
lange  Zeit  behandeln,  ohne  dass  sie  sich  bereit  finden  Hess,  eine  Untersuchung 
vornehmen  zu  lassen,  weil  sie  sich  scheute,  den  profanen  Blicken  eines  Mannes 
ihren  Körper  zu  zeigen.  Schliesslich  licss  sie  sich  eines  Tages  zu  einer  Unter- 
suchung bereit  finden,  ich  konnte  aber  nichts  weiter  als  einen  linksseitigen 
Spitzen catarrh  nachweisen,  und  nahm  nun  an,  dass  dieser  die  Ursache  der 
Neuralgie  war. 

Im  December  1895  kam  sie  wieder  einmal  zu  mir;  bei  einer  damals  vor- 
genommenen  Untersuchung   zeigte  sich,    dass  sie  ein   pleuritisches  Exsudat 


Beiträge  zur  Chirurgie  der  Lunge  und  der  Pleura.  571 

der  ganzen  linken  Thoraxwand  hatte.  Sie  wurde  der  inneren  Behandlung 
eines  befreundeten  CoUegen  überwiesen,  und  nach  mehrwöchentlichem Kranken- 
lager von  ihrer  Pleuritis  geheilt.  Es  bestand  jedoch  nach  wie  vor  heftige 
Intercostalisneuralgie,  und  als  ich  im  Februar  1896  die  Kranke  wiedersah,  konnte 
ich  feststellen,  dass  die  Dämpfung  von  der  alten  Pleuritis  nicht  vollkommen 
beseitigt  war,  sondern  dass  in  den  abhängigen  Partien  des  Thorax  von  der 
6. — 9.  Rippe  kürzerer  und  etwas  gedämpfter  Schall  bestand.  Da  gleichzeitig 
Temperatursteigerung  vorhanden  war,  war  ich  zunächst  der  Meinung,  dass  os 
sich  um  ein  abgesacktes  Empyem  handelte,  konnte  aber  bei  wiederholten  Probe- 
punctionen  keinen  Eiter  finden.  So  zog  sich  die  Sache  mehrere  Monate  hin, 
bis  endlich  im  April  am  vorderen  linken  Rippenbogen  eine  kleine  Anschwellung 
auftrat,  die  äusserst  schmerzhaft  war,  und  diese  nun  natürlich  mit  ganzer  Sicher- 
heit auf  eine  intrathoracische  Eiterung  hinwies.  Nach  langem  Deliberiren  ent- 
schloss  sich  die  Kranke  zur  Operation.  Es  wurde  nun  festgestellt,  dass  ausser 
einem  doppelseitigen  Spitzencatarrh  auch  catarrhalische  Geräusche  über  derganzen 
linken  hinteren  Thoraxwand  bestanden,  ferner  eine  Dämpfung  von  der  6.  Rippe 
abwärts,  von  hinten  nach  vorn  sich  herum  erstreckend,  von  der  Mammilla  bis 
zum  Rippenbogen;  am  Rippenbogen,  und  zwar  da,  wo  die  Mammillarlinie 
denselben  streift,  eine  fluctuirende  äusserst  schmerzhafte  Schwellung;  sonst 
keinerlei  Erkrankung,  aber  ausserordentliche  Macies  und  Anacmie  bei  hectischen 
Temperaturen,  die  Abends  bis  39®  C.  gingen. 

Die  Operation,  25.4.,  beginnt  mit  Freilegung  und  Incision  des  Abscesses, 
von  demselben  aus  lässt  sich  eine  gebogene  Sonde  nach  hinten  bis  fast  herum 
zur  Wirbelsäule  bringen.  Es  wird  daher  mit  einem  grossen,  nach  unten  con- 
vexen  Bogenschnitt,  der  von  dem  Rippenbogen  bis  nach  hinten  fast  an  die 
Wirbelsäule  reichte,  die  ganze  untere  vordere  und  hintere  Thoraxapertur  frei- 
gelegt. Nach  Resection  der  9.  Rippe,  welche  der  OefTnung  in  der  Pleura  ent- 
spricht, kommt  man  in  eine  ganz  flache  Höhle,  welche  ausgefüllt  ist  mit 
käsigen  Granulationen,  nach  oben  sich  bis  zur  7.,  nach  unten  zur  11.  Rippe 
erstreckt,  eine  grössere  Tiefenausdehnung  an  keiner  Stelle  hat,  nirgends 
flüssigen  Eiter  aufweist,  sondern  überall  nur  käsige  krümliche  Massen  enthält. 
Um  sie  völlig  freizulegen,  wird  die  8.,  10.  und  11.  Rippe  in  grosser  Aus- 
dehnung, von  der  7.  ein  kleines  Stück  resecirt.  Die  Rippen  sind  überall  noch 
vom  Periost  bedeckt,  nirgends  arrodirt,  oder  gar  selbst  der  Herd  tuberculöser 
Processe,  Nachdem  mit  dem  scharfen  Löffel  alles  Käsige  entfernt 
ist,  hat  man  die  Lungenoberfläche  vor  sich,  und  an  einer  Stelle 
der  Axillarlinie,  in  Höhe  der  7.  Rippe,  quellen  aus  der  Lunge 
käsige  Massen  hervor.  Es  werden  mit  dem  scharfen  Löffel  auch 
diese  aus  der  Lunge  entfernt,  so  dass  schliesslich  in  letzterer 
eine  walnussgrosse  Oeffnung  entsteht.  Das  umgebende  Lungengewebe 
ist  derb,  aber  ohne  Harten.  Nach  oben  hin,  an  der  Grenze  der  pleuritischen 
Höhle,  fühlt  man  gesunde  Lungenpartien  und  sieht,  dass  die  beiden  Pleura- 
blätter durch  succulente  Adhäsionen  miteinander  verklebt  sind. 

Wir  hatten  es  also  in  diesem  Falle  zu  thun  mit  einem  tiiber- 

culösen  Herd    der  Lunge,    welcher    peripleuritisch    durchi^ebroehen 


572  Dr.  Karewski, 

war.  Jene  Pleuritis  serosa  ist  wohl  nur  als  eine  secundäre  von 
der  Peripleuritis  hergeleitete  aufzufassen.  Sie  war  abgelaufen, 
der  tuberculöse  Process  aber  war  bestehen  geblieben,  und  hatte, 
me  er  wohl  früher  jene  hartnäckige  Intercostalisneuralgien  veran- 
lasst hatte,  auch  nach  Heilung  der  Pleuritis  die  Schmerzen  unter- 
halten. Erst  als  das  Empyema  necessitatis  sich  zeigte,  war  es 
möglich  gewesen,  den  operativen  Eingriff  vorzunehmen. 

Nach  dem  bei  diesem  vorhandenen  Befunde  schien  die  Prognose  des 
Processes  eine  rocht  schlechte  zu  sein.  Aber  dieser  Fall  hat  sich  weiterhin 
ganz  günstig  gemacht.  Die  ganze  Wunde  wurde  offen  gelassen  und  mit  .Jodo- 
formgaze angefüllt.  Unter  dauernder  Tamponnade  kam  zunächst  eine  Ver- 
kleinerung derselben  zu  Stande  durch  Auftreten  von  Granulationen.  Aber  sehr 
bald  zerfielen  diese  von  Neuem,  und  es  traten  wieder  hectische  Temperaturen 
auf.  Es  musste  deshalb  Anfangs  Juli  wiederum  eine  ausgedehnte  Auslöffelung 
der  ganzen  Wunde  vorgenommen  werden,  der  scharfe  Löffel  gelangte  von 
Neuem  zu  dem  Lungenherd,  dieser  wurde  dieses  Mal  nicht  nur  ausgekratzt, 
sondern  auch  ausgebrannt,  und  nach  diesem  Eingriff  kam  schliesslich  die 
Patientin  Ende  September  zur  completen  Heilung. 

Es  sind  nicht  nur  die  Neuralgien  dauernd  verschwunden,  auch 
die  Wunde  ist  nicht  wieder  aufgebrochen,  die  Lungenerscheinungen 
sind  jedenfalls  nicht  schlimmer  als  vor  der  Operation,  und  Avir 
können  mit  dem  jetzt  seit  2  Jahren  bestehenden  Resultat  wohl 
überaus  zufrieden  sein.  Man  wird  den  Erfolg  um  so  höher 
schätzen  müssen,  als  erfahrungsgemäss  die  Operation 
tubercuiöscr  Herde  in  der  Lunge  die  allerschlimmste 
Prognose  giebt,  so  dass  man  im  Allgemeinen  dieselbe 
verlassen  hat.  Dieser  Fall  aber,  wie  ähnliche,  weist 
darauf  hin,  dass,  wenn  erst  einmal  die  Pleurahöhle  zur 
Verödung  gekommen  ist,  dann  man  auch  mit  Aussicht 
auf  Erfolg  an  die  käsigen  Zustände  der  Lunge  heran- 
gehen kann. 

Der  nächste  Fall  hat  insofern  eine  gewisse  Aehnlichkeit  mit 
dem  eben  beschriebenen  als  auch  bei  diesem  die  pleuritischen 
Zustände  hingewiesen  haben  auf  die  Erkrankung  der  Lungen  und 
einen  glücklichen  Eingriff  ermöglicht  haben. 

IV.    Lungenabscess  nach  Pneumonie. 

Die  35j}ihrige  Frau  war  im  Januar  1891  unter  nicht  ganz  prägnanten 
Lungenerscheinungen  erkrankt,  welche  zunächst  für  eine  Pneumonie  erklärt 
worden  waren.    Rostbraunes  Sputum  soll  einige  Tage  beobachtet  worden  sein, 


Beiträge  zur  Chirurgie  der  Lunge  und  der  Pleura.  573 

eine  typische  Art  der  Erkrankung  aber  oder  des  Verlaufs  wie  sonst  bei  Pneu- 
monie war  von  vornherein  nicht  in  die  Erscheinung  getreten. 

14  Tage  nach  der  Erkrankung  wurde  eine  Pleuritis  sinistra  erwiesen, 
welche,  mit  hohem  Fieber  verlaufend,  starke  Dyspnoe  machte,  punctirt  wurde, 
sero-fibrinöses  Exsudat  zeigte,  dann  aber  zur  Resorption  gekommen  sein  soll. 
Nichtsdestoweniger  aber  bestanden  dauernd  Schmerzen  der  linken  Thoraxhälfte, 
welche  bis  zum  Nabel  ausstrahlten,  fortwährender,  quälender  Husten,  ohne  dass 
etwas  ausgeworfen  werden  konnte,  und  eine  circumscripte  Dämpfung  von  der 
Schulterblattspitze  abwärts.  Wiederholte  Functionen  an  dieser  Stelle  mit  den 
gewöhnlichen  Prjvvaznadeln  hatten  zu  keinem  Ergebniss  geführt.  Der  Verlauf 
der  Krankheit  war  derart,  dass  Wochen  der  Erleichterung  kamen  und  dann 
wieder  schlechtere  Zustände  auftraten.  Man  hatte  sich  begnügt  anzunehmen, 
dass  es  sich  um  eine  Pneumonie  handelte,  welche  in  Verkäsung  ausging  und 
der  Kranken  das  Leben  kosten  musste.  Anfang  Mai  war  von  Neuem  eine  Ex- 
sudation im  linken  Thoraxraum  nachgewiesen  worden,  und  man  zog  mich 
hinzu,  um  die  Function  vorzunehmen.  Als  man  mir  mittheilte,  dass  das  Ex- 
sudat nur  die  oberen  Partien  des  Thorax  einnahm,  während  unten,  wo  auch 
complette  Dämpfung  bestand,  kein  Exsudat  sich  befand,  kam  ich  auf  die  Vor- 
stellung, dass  es  sich  um  einen  Frocess  handeln  musste,  der  grosse  Schwarten- 
bildung an  der  Stelle  der  Dämpfung  unten  gemacht  habe.  Der  Zustand  der 
Patientin  war  ein  sehr  schlechter,  sie  hatte  Abends  immer  Temperaturen  bis 
39®  C,  Morgens  häufig  subnormale,  sie  klagte  fortwährend  über  Schmerzen  in 
der  linken  ßrusthälfte  bis  zum  Nabel,  konnte  Nachts  wegen  starken  Hustens 
nicht  schlafen.  Der  Befund  am  Thorax  ergab  keinerlei  Zeichen  eines  Spitzen- 
catarrhs  oder  einer  sonstigen  diffusen  Erkrankung  der  Lungen,  abgesehen  von 
jener  Dämpfung,  die  damals  von  der  Spina  scapulae  bis  zur  unteren  Thorax- 
grenze reichte  und  an  dem  in  diesem  Bereich  theils  abgeschwächten,  theils 
aufgehobenen  Athmungsgeräusch  konnte  nichts  Pathologisches  gefunden  werden. 
Das  spärliche  schleimig-eitrige  Sputum  war  wiederholt  auf  Tuberkelbacillen 
und  elastische  Fasern  untersucht  worden,  hatte  jedoch  nichts  desgleichen 
gezeigt,  auch  meine  eigenen  Untersuchungen  ergaben  keinen  positiven 
Befund. 

Ich  veriTiuthete,  dass  es  sich  in  diesem  Falle,  vielleicht  analog 
einem  anderen  früher  beobachteten  Falle,  um  einen  praevertebralen 
Abscess  handeln  konnte,  welcher  Schwartenbildung  nach  links 
hinüber  gemacht  hatte.  Sonst  aber  war  nichts  nachweisbar,  sie 
war  nicht  mit  Tuberculose  behaftet  und  Mutter  gesunder  Kinder. 
Auffällig  war  nur,  dass  die  Dämpfung  im  Pleuraraum  abschnitt, 
in  der  Axillarlinie  und  nach  vorn  hin  nichts  mehr  nachzuweisen 
war.  Die  von  mir  vorgenommene  Probepunction  ergab  oberhalb 
der  Spitze  der  Scapula  seröses  Exsudat,  unterhalb  aber,  als  ich 
mit  starken  und  langen  Nadehi  wohl  6  cm  tief  einging,  dicken 
rahmigen  Eiter.     Indem    ich    nun  annahm,    dass    es    sich  um    ein 


574  Dr.  Karewski, 

abgesacktes  Empyem    handelte,    welches    durch  Schwarten    einge- 
schlossen war,  rieth  i(^h  zur  Operation. 

Bei  der  Operation  am  5.  Mai  wurde  die  7.  Rippe  in  einer  Ausdehnung 
von  5  cm  resecirt,  und  zwar  mit  Rücksicht  auf  die  Lage  der  Eiterung  ziemlich 
nahe  der  Wirbelsäule.  Man  gelangte  nach  deren  Fortnahme  auf  eine  harte 
Schwarte,  deren  Function  erst  in  einer  Tiefe  von  3  cm  auf  Eiter  führte.  Die 
freie  Incision  derselben  zeigte,  dass  hinter  ihr  eine  fast  apfelgrosse  Höhle  sich 
befand,  welche  direct  in  die  Lunge  hineinführte,  glatte  Wände  hatte  und  einen 
dicken,  zähen,  fast  schleimigen  Eiter  enthielt.  Um  diese  Höhle,  die  ganz  starre 
Wände  hatte  und  deshalb  gar  keine  Aussicht  auf  spontane  Verkleinerung  gab, 
ganz  freizulegen,  wurde  auch  von  der  oberen  und  unteren  Rippe  je  ein  ent- 
sprechendes Stück  fortgenommen,  und  dann  die  rückwärtige  Schwarte  in  der 
Grösse  eines  3  Markstückes  frei  excidirt;  auf  dem  Durchschnitt  schon 
zeigte  sich,  dass  es  sich  nicht  um  eine  rein  fibrinöse  Pleura- 
schwarte  handelte,  da  mitten  in  ihrem  weissen  festen  Gefüge 
auf  dem  Durchschnitt  sich  schwarze  Einsprengungen  zeigten.  Es 
war  also  ganz  klar,  dass  man  es  mit  einer  Lungenhöhle  zu  thun 
habe,  und  diese  Annahme  wurde  noch  bestätigt  durch  die  mikro- 
skopische Untersuchung  des  Stückes,  in  welchem  alveolärer  Bau, 
elastische  Fasern  und  schwarzes  Pigment  nachgew-iesen  werden 
konnten.  Es  war  keine  Communication  mit  einem  Bronchus  bemerkbar.  Im 
Gegentheil  hatte  man  den  Eindruck,  als  ob  eine  pyogene  Membran  dieLungen- 
höhle  auskleidete.  Die  letztere  wurde  zunächst  mit  Gaze  tamponnirt  und  später 
mit  einer  Drainage  verschen.  Im  weiteren  Verlauf,  der  imUebrigcn  vollkommen 
reizlos  war,  hatte  man  zeitweise  den  Eindruck,  dass  bei  der  Respiration  Luft 
aspirirt  und  exspirirt  wurde,  aber  eine  Bronchienöffnung  wurde  niemals  nach- 
gewiesen. 

Der  Fall  ist  mir  später  aus  den  Augen  gekommen,  von  der 
Wunde  ist  er  geheilt  worden,  das  Pleuraexsudat  kam  zur  Resorption. 
Was  aber  aus  ihm  geworden  ist,  kann  ich  nicht  sagen.  Man  wird 
diesen  Fall  auffassen  müssen  als  einen  aus  lobulärer  Pneumonie 
hervorgegangiMien  Lungenabscess  von  sehr  schleichendem  Verlauf, 
sein  besonderes  Interesse  lie;u^t  darin,  dass  die  pleuritischen  Er- 
scheinuniren in  d(*n  Vordergrund  der  Erscheinungen  traten,  während 
die  Lungensymptome  selbst  weniger  auf  die  schweren  V^eränderungen, 
die  doch  notorisch  vorhanden  waren,  hinwiesen.  Die  Actiologie 
dieses  Falles  ist  unklar,  aber  nicht  mehr  als  die  vieler  anderer 
Lungenabscesse  nach  Pneumonie. 

Bei  keiner  Lungenaffection  machen  sich  die  pleuritischen 
Zustände  auffallender  bemerkbar,  als  bei  der  allerdings  seltenen, 
aber  um  so  bedrohlicheren  Erkrankung  der  Lungen  an  Akti- 
nomvkose. 


Beiträge  zur  Chirurgie  der  Lunge  und  der  Pleura.  575 

Wir  wissen  seit  den  grundlegenden  Untersuchungen  J.  Israels, 
welche  von  allen  Autoren  ausnahmslos  bestätigt  worden  sind,  dass 
der  latente  Verlauf  dieser  Krankheit  erst  dann  unter- 
brochen wird,  wenn  die  Propagation  des  Zerstörungs- 
processes  an  die  Lungeno^berflcäehe  gekommen  ist,  das 
Brustfell  ergreift  und  nun  hier  in  sehr  characteristischer 
Weise  adhäsive  und  exsudative  Processe  nebeneinder 
verursacht.  In  der  Regel  verläuft  die  Krankheit  so,  dass 
sogar  erst  das  Auftreten  der  Brustfellentzündung  den 
Kranken,  welcher  bis  dahin  an  ihm  selbst  dunklen  und 
von  ihm  wenig  empfundenen  bronchitischen  oder  anderen 
Lungen-Erscheinungen  gelitten  hat,  veranlasst  zum  Arzt 
zu  gehen.  Dieser  findet  eine  Pleuritis,  oder  aber  eine  Dämpfung, 
welche  als  Pleuritis  imponirt,  und  welche  bei  Probepunction  sich 
häufig  nicht  als  eine  Exsudation  erweist.  In  der  Regel  ist  sclion  um 
diese  Zeit  der  Lungen |)rocess  soweit  vorg(\schritten,  dass  Lungen- 
schrumpfung vorhanden  ist.  Man  kann  fa^t  sagen,  dass  die  gleich- 
zeitig mit  pleuritischen  Symptomen  bestehenden  Lungenschrum- 
pfungen beim  Mangeln  von  Erscheinungen,  die  auf  Tiiberculose  hin- 
deuten, mit  einiger  Sicherheit  die  Diagnose  Aktinomykose  zulassen, 
selbst  wenn  weder  im  Sputum  noch  bei  Probepunc^tionen  Aktinomy- 
ces  gefunden  wird.  Sicherer  wird  die  Diagnose  dann,  wenn  der 
Kranke  in  jenes  Stadium  tritt,  wo  die  Aktinomykose  auf  die 
Thoraxoberfläche  überwandert,  sich  die  Symptome  eines  Empyema 
necessitatis  oder  eines  Brnsttumors  zeigen.  Dieses  Stadium  ist  ja 
dasjenige,  in  welchem  in  der  Regel  der  Kranke  erst  zum  Chirurgen 
gebracht  wird.  Es  ist  nicht  meine  Aufgabe,  mich  hier  des  W^eiteren 
über  Lungenaktinomykose  zu  verbreiten,  es  ist  Ihnen  aber  allen 
bekannt,  dass  diese  Krankheit  bisher  für  unheilbar  und  zum  Tode 
führend  gehalten  worden  ist,  und  dass  an  dieser  Thatsache  auch 
die  2  Heilungen  nichts  haben  ändern  können,  welche  aus  der 
V.  Bergmännischen  Klinik  berichtet  wurden,  weil  diese  Fälle 
einige  Besonderheiten  hatten,  welche  in  der  Regel  bei  Lungen- 
aktinomykose nicht  vorhanden  sind,  und  welche  die  beiden  Fälle 
als  ausnehmend  günstige  hinstellen. 

Ausser  den  beiden  vou  v.  Bergmann  behandelten  Fällen  war 
bisher,  wie  gesagt,  keine  Heilung  bekannt,  und  in  der  schönen 
Arbeit    von    Tufficr    über  Lungenchirurgic    finden   wir  die  Notiz, 


576  Dr.  Karewski, 

dass  die  Lungenaktinomykose  ein  „Noli  me  tangere"  für  die  chirur- 
gische Therapie  sein  müsse. 

In  der  That  haben  ja  auch  die  vielen  Fälle  von  Incision  der 
Lungenaktinomykose,  die  Auslöffelungen,  Aetzungen  etc-.  keinen 
Erfolg  gehabt,  und  auch  die  Behandlung  mit  Jod  hat  bisher  keine 
nennonswerthen  Heilungen  gezeitigt. 

Nichtsdestoweniger  glaube  ich  Ihnen  beweisen  zu  können,  dass 
auch  diese  Affection,  rechtzeitig  erkannt  und  rechtzeitig 
in  Angriff  genommen,  in  einer  gewissen  Zahl  von  Fällen 
geheilt  werden  kann,  da  es  mir  selbst  gelungen  ist,  einen  be- 
reits ziemlich  vorgeschrittenen  Fall  zur  Genesung  zu  bringen.  Im 
Uebrigen  hat  vor  einiger  Zeit,  wie  ich  aus  dem  „Centralblatt  für 
Chirurgie"  ersehe,  auch  Jankowsky  einen,  wie  es  allerdings 
scheint,  sehr  günstig  liegenden  Fall  von  Aktinomykose  hergestellt. 

V.    Aktinomykose  der  Lunge  und  der  Thoraxwand. 

Anamnese:  Patient  ist  früher  stets  gesund  gewesen,  stammt  aus  einer 
gesunden  Familie,  in  der  keine  Lungenkrankheiten  vorgekommen  sind,  erinnert 
sich  nicht  irgend  welcher  schweren  Erkrankungen  aus  früherer  Zeit,  nur  hat 
er  zeitweise  an  Erkältungen  gelitten,  während  seine  Lungen  stets  intakt  ge- 
wesen sind.  Derselbe  hat  nie  mit  Getreide  oder  Vieh  zu  thun  gehabt,  hat  ins- 
besondere auch  nicht  die  Gewohnheit  gehabt,  rohes  Getreide  zu  essen  und 
Getreideähren  in  den  Mund  zu  nehmen.  Er  lebt  seit  1883  in  Berlin  als  Bureau- 
vorstehcr  eines  Rechtsanwalts.  Am  22.  August  1897  erkrankte  Herr  T.  plötz- 
lich mit  Stichen  in  der  rechten  Seite.  Sein  Arzt,  Dr.  Rosenthal,  constatirte 
eine  Pleuritis.  Der  Patient  hustete  wenig,  hatte  sehr  geringen  Auswurf,  der 
übrigens  nie  blutig  gewesen  ist.  Nach  6tägiger  Besserung  verschlimmerten 
sich  die  Krankheitserscheinungen  von  Neuem:  heftige  Schmerzen,  Schiittelfrost 
und  hohes  Fieber.  Auch  jetzt  kein  bräunlich-blutiger  Auswurf.  Indess  wurde 
die  Diagnose  auf  Pneumonie  gestellt.  Ende  September  war  der  Pat.  genesen 
und  begann  seine  Thätigkeit  von  Neuem  wieder.  Aber  er  hatte  dauernd  etwas 
Husten.  Schon  Ende  October  traten  wiederum  heftige  Schmerzen  in  der  rechten 
Seite  auf,  und  der  Husten  nahm  stark  zu.  Dabei  magerte  der  Kranke  ab. 
Wenn  auch  zeitweise  Besserung  der  Beschwerden  eintrat,  so  war  er  doch 
dauernd  kränklich.  Vor  etwa  4  Wochen  bemerkte  er  in  der  rechten  Brustseite 
eine  Geschwulst,  die  sich  schnell  vergrösserte.  Seit  Anlang  seiner  Krankheit 
bis  zum  Tage,  wo  ich  den  Pat.  sah,  hatte  er  40  Pfd.  an  Gewicht  abgenommen. 
Er  wurde  mir  zur  Begutachtung  mit  der  von  autoritativer  Seite  gestellter  Di- 
agnose eines  Sarkoms  zugeführt.  Bei  der  am  11.  XII  97  vorgenommenen 
Untersuchung  wurde  ausser  den  später  zu  schildernden  physikalischen  Er- 
srheinuntyen  festgestellt,  dass  die  Geschwulst,  welche  für  ein  Sarkom  erklärt 
worden  war,  ans  weichen  und  harten  Partieen  zusammengesetzt  war.     Auf 


Beiträge  zur  Chirurgie  der  Lunge  und  der  Pleura.  577 

ihrer  Kuppe  wai*  die  Haut,  welche  überall  mit  dem  Tumor  fest  zusammen- 
hing, geröthet.  Auch  bestanden  einzelne  kleinere  Einziehungen.  Das  Auf- 
fallendste aber  war  eine  brettharte  Beschaffenheit  der  die  Geschwulst  unmittel- 
bar umgrenzenden  Weichtheile,  welche  sich  zugleich  in  einem  Zustand  von 
Retraktion  befanden.  Es  wurde  daher  mit  Rücksicht  auf  den  klini- 
schen Verlauf  und  den  localen  Befund  die  Diagnose  auf  Akti- 
nomykose  der  Lunge  gestellt,  welche  den  Thorax  durchbrochen 
hatte.  Eine  sofort  vorgenommene  Probepunction  mit  starker  Pravaznadel 
ergab  positiven  Befund.  (Erst  nachdem  die  Diagnose  sicher  gestellt  war, 
wurde  mir  mitgetheilt,  dass  bereits  2  Tage  vorher  Prof.  A.  Fränkcl  die 
Vermutung  der  Aktinomykose  ausgesprochen  hatte,  aber  bei  der  Probepunk- 
tion keine  Kömchen  gefunden  worden  waren). 

Status  bei  der  Aufnahme:  Mittelgrosser,  in  seiner  allgemeinen  Er- 
nährung herabgekommener  Mann,  von  allgemeiner  Blässe,  mit  Cyanose  der 
sichtbaren  Schleimhäute.    Derselbe  fühlt  sich  so  schwach,  dass  er  nicht  lange 
stehen  kann,  klagt  über  Husten,  Schmerzen  in  der  rechten  Seite,  Gefühl  schwerer 
Krankheit  und  Beschwerden  bei  Bewegung  des  rechten  Armes.    Oedeme  be- 
stehen nicht.   In  der  rechten  Axillargegend  findet  sich  eine  grosse  Geschwulst, . 
welche  von  längsovaler  Form  ist,  von  kugeliger  Oberfläche,  aber  mit  Einziehungen 
an  derselben,  und  von  entzündlich  gerötheter  Haut  überzogen  ist.    Die  Grösse 
derselben  lässt  sich  dahin  bestimmen,  dass  sie  etwa  2  Querlinger  breit  rechts 
vom  Sternum  beginnt,  nach  hinten  bis  zur  Axillarlinie  und  über  dieselbe  hinaus 
zum  Rücken  zieht,  oben  beginnt  sie  in  der  Axilla  und  geht  nach  unten  etwa 
bis  zum  unteren  Rand  der  6.  Rippe.    Sie  erhebt  sich  über  den  Thorax  etwa 
3  cm  hoch  (schätzungsweise).    Druck  auf  die  Geschwulst  ist  überall  schmerz- 
haft.   Ihre  Consistenz  ist  im  allgemeinen  prall  elastisch,  aber  an  einzelnen 
Stellen,  besonders  da,  wo  die  Einziehungen  bestehen,  hat  man  das  Gefühl  der 
Fluctuation.    Unmittelbar  an  die  Geschwulst  schliessen  sich  harte  Weichtheile 
an,  welche  den  Eindruck  von  Narbengewebe  machen.    Die  Haut  ist  hier  etAvas 
eingezogen  und  mit  erweiterten  Venen  durchsetzt.    Im  Uebrigen  besteht  eine 
deutliche  Umfangsverminderung  der  rechten  Thoraxhälfte.   Die  Respiration  ist 
im  Wesentlichen  abdominal,  die  rechte  Thoraxhälfte  bleibt  stark  bei  der  Ath- 
mung  zurück,  auch  bei  tiefster  Inspiration,  so  dass  sie  kaum  zu  athmen  scheint. 
Nur  die  unteren  Thoraxpartieen   dehnen   sich   aus.    Die  Mammilla   ist  nach 
rechts  und  oben  verzogen,    die  rechte  Supraviculargrube  ist  erheblich  flacher 
als  die  linke,  die  Infraclaviculargegend  ebenfalls  eingesunken,  was  um  so  auf- 
fälliger ist,  als  die  daselbst  schon  beginnende  Geschwulst  den  Thoraxumfang 
vermehrt.    Von  hinten  gesehen  prominirt  der  Achseltumor  nicht  so  stark,  wie 
von  vorne,   aber  es  ist  auch  hier  die  Thoraxwand  ebenso  wie  die  Schulter- 
gegend erheblich  flacher  als  die  der  gesunden  Seite.     Die  Entfernung  der 
Seiten  wände  des  Thorax  zur  Wirbelsäule  ist  rechts  geringer  als  links.    Die 
Messung  ergiebt,   dass  die  Entfeniung  der  Achselfalte  zur  Wirbelsäule  links 
21  cm,  rechts  19  cm  trotz  des  Vorhandenseins  der  Geschwulst  beträgt.    Sehr 
auffallend  ist  die  Abflachung  der  Schulterwölbung  und  der  Scapulargegend ; 
auf  letzterer  steht  die  Spina  scapulae  scharf  heraus,  die  Supra-  und  Infra- 


578  Dr.  Karewski, 

scapularregion  ist  direkt  concav.  Der  rechte  Arm  wird  dauernd  etwas  ele- 
virt  und  abducirt  gehalten,  weil  die  Geschwulst  sein  Fferabsinken  verhindert, 
auch  kann  er  kaum  bis  zur  Horizontalen  erhoben  werden,  weit  sich  dann 
heftige  zuckende  Schmerzen  einstellen.  Die  Geschwulst  selbst  schmerzt  da- 
bei nicht. 

Perkussion:  Rechts  in  der  Supraclaviculargrube  leicht  gedämpfter  Schall, 
in  der  Infraclaviculargrube  gleichfalls  kurzer,  wenn  auch  Lungenschall.  Von 
der  Höhe  der  3.  Rippe  an  wird  die  Perkussion  äusserst  schmerzhaft  und  der 
Schall  complet  gedämpft  (Schenkelschall).  Ueberall  auf  der  Geschwulst  voH- 
kommene  Dämpfung.  Diese  Dämpfung  geht  unmittelbar  über  in  die  Leber- 
dämpfung. Dieselbe  reicht  nach  unten  bis  zur  9.  Rippe  in  der  Axillarlinic 
und  überragt  nicht  den  Rippenbogen.  Hinten  auf  der  rechten  Seite  beginnt 
unmittelbar  an  der  Scapula  complete  Dämpfung,  welche  nach  vorne  übergeht 
in  die  Dämpfung  des  Tumors  und  der  Leber.  Auf  der  linken  Seite  überall 
voller  Lungenschall,  die  Herzgrenze  ist  normal.  —  Auskultation:  ergiebt 
rechts  überall  abgeschwächtes,  aber  vesiculäres  Athmen  bis  zur  4,  Hippe.  Von 
dort  an  ist  das  Athmungsgeräusch  überhaupt  kaum  mehr  zu  hören.  Dasselbe 
ist  da,  w^o  man  es  hört,  mit  Reibegeräuschen  und  Knisterrasseln  untermischt. 
Namentlich  hinten  ist  das  Athmungsgeräusch  abgeschw^ächt  und  reichlich  mit 
Knarren  und  Rasseln  versehen.  Links  besteht  überall  sehr  rauhes,  vesiculäres 
Athmen.  Die  Leber  und  Milz  sind  nicht  palpabel,  die  Nieren  ebensowenig. 
Im  Urin  weder  Eiweiss  noch  Zucker,  noch  körperliche  Elemente;  im  Abdomen 
nichts  Besonderes. 

D'iQ  Zähne  sind  in  gutem  Zustande;  nur  1  Zahn  fehlt,  der  vor  10  Jahren 
extrahirt  worden  ist,  aber  die  Ränder  des  Zahnfleisches  sind  mit  einer  weiss- 
lichen  Masse  bedeckt,  welche  mikroskopisch  fast  nur  aus  Leptothrix  besteht. 

Wir  hatten  es  also  zu  tluiii  mit  einem  Kranken,  der  seit 
4  Monat*'n  lungenleidend  war,  bei  dem  sich  unter  den  Erscheinuni^en 
einer  chronischen  Lungenentzündung  eine  auffallend  starke  Retraction 
der  rechten  Thoraxwand  entwickelt  hatte,  und  gleichzeitig  ein  Tu- 
mor, welcher  aus  weichen  und  harten  Partieen  bestehend  bei  dor 
Probepunction  den  vermutheten  Befund  von  Aktinomykose  ergeben 
hatte.  Es  konnte  keinem  Zweifel  unterließen,  dass  die  Aktinomy- 
kose in  der  Lunge  begonnen  hatte  und  nach  dem  Durchbruch  in 
die  Weichtheile  der  Thoraxwand  in  der  auch  sonst  bei  der  Aktinomy- 
kose des  Thorax  üblichen  Weise  übergegangen  war.  Da  derartige  Er- 
krankungen erfahrungsgemäss  zum  Tode  führen,  der  Allgemeinzustand 
des  Kranken  immerhin  noch  einen  Eingriff  gestattete,  so  schlug  ich 
den  An.irehörigen  imter  voller  Würdigung  der  vorliegenden  Ver- 
hältnisse und  der  schh^chien  Prognose  des  Falles  die  Operation 
vor.  Dieselbe  wurde  acceptirt  und  von  mir  am  15.  7.  97  in 
folgender  Weise  ausi^e führt: 


Beiträge  zur  Chirurgie  der  Lunge  und  der  Pleura.  579 

Chloroformmorphiumnarkose.  Grosser  Bogenschnitt,  der  die  Geschwulst 
unten  umkreisend  vom  vSternum  bis  zum  linken  Rand  der  Achselhöhle  geführt 
wird.  Derselbe  durch  trennt  Haut  und  Muskeln  im  Gesunden,  fällt  aber  in  den 
tieferen  Schichten  in  bereits  verändertes  schwartiges  Gewebe  und  trifft  den 
Abscess,  welcher  sich  unter  den  mit  ziemlich  starkem  Druck  angezogenen 
Haken  entleert.  Allmählich  wird  nun  möglichst  stumpf  die  ganze  Bedeckung 
des  Abscesses:  Haut,  Muskeln  und  Fascien,  bis  auf  die  Rippen  exstirpirt.  Es 
zeigt  sich,  dass  die  Eiterung  bis  tief  in  die  Achselhöhle  geht  und  die  charakteri- 
stischen aktinomykoti sehen  Granulationen  die  ganze  vordere  Thoraxwand  be- 
decken, von  der  3.  bis  zur  8.  Rippe  hin.  Im  6.  Intercostalraum  findet 
sich  eine  Fistel,  aus  welcher  die  Aktinomy kose  vom  peri pleuralen 
Raum  her  zur  Oberfäche  des  Thorax  gewandert  ist.  Die  beiden  Mus- 
culi pectorales  sind  diffuse  durchsetzt  von  kleinen  Körnchen  und  goldgelben 
Granulationen.  Sie  werden  bis  zur  2.  Rippe  hin  nach  oben,  bis  zum  Sternal- 
rand  nach  links,  und  nach  hinten  bis  in  die  Axillarlinie  exstirpirt,  wobei  auch 
noch  ein  Theil  des  Serratus  anticus  entfernt  werden  muss.  Ebenso  muss  der 
Latissimus  dorsi  theilweise  resecirt  werden.  Alsdann  wird  zunächst  die 
6.  Rippe  von  der  Achselhöhle  bis  hart  zum  Stern  um  resecirt.  Die  untere  pe- 
riostale Schicht  ist  mit  goldgelben  Granulationen  besetzt,  und  man  gelangt 
von  jener  Fistel  aus  in  eine  fast  die  ganze  Vorderwand  des  Thorax  in  der  be- 
schriebenen Weise  einnehmende  flache  Höhle,  welche  angefüllt  ist  mit  aktinomy- 
kotischen  Granulationen,  Eiter  und  Körnchen.  Die  Erkrankung  geht  nach 
vorne  bis  zum  rechten  Sternalrand,  nach  hinten  bis  zur  hinleren  Axillarlinie, 
nach  oben  bis  zur  3.,  nach  unten  bis  zur  7.  Rippe.  Zu  ihrer  Freilegung  werden 
noch  die  3.,  4.  und  5.  Rippe  in  grosser  Länge  resecirt.  Nach  Abschabung 
des  so  gewonnenen  Raumes  zeigt  sich  Folgendes:  Von  der  ursprünglichen 
Fistel  aufwärts  gehen  2  flache  Rinnen  in  das  Lungengewebe  hinein,  so  dass 
dieses  wie  angenagt  aussieht,  deren  eine  nach  vorne,  deren  andre  nach  hinten 
zieht.  Sie  befinden  sich  in  einer  Lungenpartie,  welche  von  der  Pleura  nicht 
mehr  bedeckt  erscheint,  da  diese  bei  der  Abschabung  mit  fortgenommen  worden 
ist,  aber  in  der  Umgebung  davon  sieht  man  die  allerdings  verdickte,  jedoch  noch 
durchscheinende  Pleura,  anscheinend  gesunde  Lunge  bedeckend,  welche  sich 
unter  der  Pleura  bewegt.  Aus  den  Rinnen,  welche  mit  dem  scharfen  Löffel 
tief  ausgekratzt  werden,  entleeren  sich  unzweifelhaft  Körnchen,  welche  in 
schiefrig  indurirtem  Lungengewebe,  und  goldgelben,  in  die  Lunge  hinein- 
gehenden Grcinulationen  liegen. 

Von  dem  veränderten  Lungengewebe  werden  2  kleine  Stückchen  zur 
mikroskopischen  Untersuchung  excidirt,  alsdann  zunächst  mit  dem  spitzen 
Paquelin  tiefe  Löcher  in  die  Lunge  gebrannt,  um  zu  sehen,  ob  ein  Abscess 
vorhanden,  aber  es  wird  keiner  gefunden.  Nun  werden  die  beiden  Rinnen  mit 
dem  Kuppelbrenner  tief  ausgebrannt,  das  zwischen  ihnen  liegende  Lungen- 
gewebe mit  dem  Brenner  total  entfernt  und  erst  als  sich  nirgends  mehr  Eiter 
findet,  von  weiteren  Eingriffen  abgesehen.  Es  besteht  nunmehr  eine  wohl 
faustgrosse  Lungenhöhle,  welche  mit  .Jodoformgaze  tamponirt  wird,  ebenso 
wie  die  ganze  übrige  Wundhöhle  mit  Gaze  angefüllt  wird.   Nach  der  Operation 


580  Dr.  Karewski, 

sehr  kleiner,  kaum  fühlbarer  Puls,  tiefer  Collaps,  Campherinjectionen.  Schon 
Abends  ist  der  Kräftezustand  etwas  besser,  Temperatur  35,4,  Puls  120.  Es 
ist  zu  bemerken,  dass  die  zweite  Hälfte  der  Operation,  d.  h.  vom 
Zeitpunkt  der  vollendeten  Rippenresection  ab,  mit  Rücksicht 
auf  den  schlechten  Puls  ohne  Narkose  ausgeführt  wird.  Der  Pat. 
ist  bei  vollem  Bewusstsein,  als  die  Lunge  mit  dem  Paquelin 
gebrannt  wird.  Das  Ausbrennen  des  Lungengewebes,  welches 
eine  geraume  Zeit  einnimmt,  wird  weder  schmerzhaft  empfunden, 
noch  reizt  es  zum  Husten. 

Am  16.  XII.,  den  ganzen  Tag  nach  der  Operation  befindet  sich  Pat.  in 
schwerem  Collaps,  der  Puls  ist  sehr  klein  und  frequent,  kaum  zu  fühlen.  Der 
Kranke  klagt  viel  über  Athemnoth  und  Hustenreiz,  hustet  aber  nicht.  Tem- 
peratur 36,6,  37,2.    Pat.  bekommt  viel  Reizmittel. 

17.  XII.  Befinden  etwas  besser,  dauernd  Hustenreiz.  Verbandwechsel. 
Wunde  trocken  und  reizlos.  T.  37,2,  37,2.  18.  XII.  Die  Klagen  über 
Oppression  und  Bedürfniss  zu  husten,  das  nicht  befriedigt  werden  kann, 
dauern  fort;  die  Kräfte  des  Pat.  heben  sich  aber,  seine  Respirationsfrequenz, 
die  vorher  sehr  erheblich  gewesen  ist,  nimmt  ab.  T.  36,2,  37,4.  20.  XII. 
Abends  T.  39,0®,  ohne  wesentlichen  Befund,  nur  vermehrter  Hustenreiz.  Täg- 
lich Verbandwechsel.  Am  21.  XII.  Morgens  37,4  o,  Wohlbeündeo,  Verband- 
wechsel Abends  36,8®.  Die  folgenden  Tage  bis  zum  24.  XII.  tägliche  Ver- 
bände, bei  welchen  sich  Pat.  in  jeder  Beziehung  wohler  fühlt,  Temperaturen 
unter  38®.  Der  Kranke  klagt  nicht  mehr  über  Oppression,  er  wird  täglich 
auf  den  Stuhl  gesetzt  und  fühlt  sich  dabei  behaglich,  bekommt  aber  kolossale 
Oedeme  der  Beine.  Ferner  besteht  unterhalb  des  Verbandes  starkes  Rücken- 
oedem.  Ebenso  ist  der  rechte  Vorderann  teigig  angeschwollen.  Dabei  ist  der 
Urin  frei  von  Eiweiss  und  sonstigen  Bestandtheilen.  Der  Brandschorf  an  der 
Lunge  beginnt  sich  abzustossen,  es  entwickelt  sich  eine  ziemlich  profuse  Se- 
cretion  schleimigen  Eiters,  in  dem  vergeblich  nach  Körnchen  gesucht  wird, 
der  aber  zahlreiche  elastische  Fasern  und  Lungenfetzen  enthält.  Die  Peripherie 
der  Lungenwunde  ist  in  üppiger  Granulation,  die  Lungenwunde  selbst  sieht 
grau-schmierig,  mit  schwarzen  Fetzen  bedeckt,  aus.  Vom  25.  XII.  —  27.  XII. 
werden  Verbände  mit  schwacher  Jodlösung  gemacht,  dieselben  müssen  aber 
wegen  starken  Hustenreizes  fortgelassen  werden.  Vom  28. — 30.  XII.  täglich 
trockene  Jodoformverbände;  Pat.  bekommt  Appetit,  fühlt  sich  wohl,  tägliche 
Untersuchungen  auf  Körnchen  negativ.  Am  30.  XII.  werden  in  der  Tiefe  der 
Lungenwunde  drei  kleine  Löcher  entdeckt,  welche  wohl  stecknadelkopfgross 
sind  und  welche  ebenso  viel  Oeffnungen  von  Bronchien  entsprechen,  was  daraus 
hervorgeht,  dass  Luft  von  ihnen  eingesogen  und  ausgestossen  wird,  und 
Hustenstösse  sich  an  ihnen  in  derselben  Weise  markiren.  Neue  Untersuchungen 
auf  Körnchen  und  zwar  gerade  aus  der  Umgebung  dieser  Löcher  sind  negativ. 
Sehr  interessant  zu  sehen  ist,  dass  die  Ränder  der  Wunde,  welche  bereits  zu 
granuliren  anfangen,  bei  der  Inspiration  anaemisch  werden,  bei  der  Exstirpa- 
tion  hyperaemisch.  Pat.  klagt  dauernd  über  Schmerzen  in  der  rechten  Schulter, 
dabei  ist  die  passive  Bewegung  des  Gelenks  ziemlich  frei,  aber  die  Atrophie 


Beiträ|^e  zur  Chirurgie  der  Lunge  und  der  Pleura.  581 

der  Musl(ulatur  nimmt  rapide  zu.  Aktive  Bewegungen  in  der  Schulter  kann 
Pat.  überkaupt  nicht  ausführen.  Die  Ellbogengegend  bis  fast  zum  Handgelenk 
hin  ist  dauernd  ödematös,  und  zwar  steigert  sich  das  Oedem  dann,  wenn  die 
Achselhöhle  durch  recht  dicken  Verband  comprimirt  wird. 

Vom  1.  Januar  an  täglich  Creol  in  verbände.  Die  grosso  Wund  höhle  fängt 
an,  sich  zu  reinigen.  Im  Bereich  der  Lungenpartieen  fehlen  Granulationen; 
jedoch  verkleinert  sich  die  Wundhöhle  als  Ganzes  ziemlich  schnell.  Im  Spu- 
tum findet  man  Lungengew^ebe,  mit  Eiterkörperchen  erfüllt.  Aktinomyces- 
körnchen  sind  weder  im  Sputum  noch  im  Wundsecrete  nachweisbar.  Pat. 
klagt  über  Schmerzen  in  den  Beinen,  welche  sich  beim  Sitzen  und  Herab- 
hängen der  Beine  steigern  sollen,  objoctiv  ist  ausser  starkem  Oedem  nichts 
nachweisbar.  Nachts  feuchtwarme  Einwicklung  der  Beine.  Am  7.  1:  In  der 
Wunde  liegen  jetzt  4  grosse  Bronchienöffnungen  und  eine  Un- 
zahl kleinerer  frei.  Man  kann  die  grösseren  Oeffnungen  sondiren 
und  hat  das  Gefühl  dabei,  in  grössere  Hohlräume  zu  kommen. 
Sobald  man  etwa  1  cm  weit  eingedrungen  ist,  muss  der  Patient 
heftig  husten.  Secretproben  von  den  verschiedensten  Stellen 
der  Wunde  her  erweisen  sich  frei  von  Aktinoraykose,  während 
überall  ausser  elastischen  Fasern  und  ganzen  Lungenalveolen 
auch  zahlreiche  Leptothrixmassen  nachweisbar  sind.  —  Der  All- 
gemeinzustand erhebt  sich  dauernd.  Gewicht:  134  Pfund.  14.  I.  Wund- 
verhältnisse sind  dauernd  dieselben,  nur  verkleinert  sich  die  Wunde  fort- 
während. Tägliche  Untersuchung  auf  Aktinomykoso  ergiebt  nichts,  dagegen 
finden  sich  jetzt  immer  Leptothrixmassen,  besonders  an  den  Bronchial- 
öffnungen. Die  gleichen  Massen  sind  im  Munde  vorhanden.  15.  I.  Die 
Zahl  der  BronchialöfTnungcn  vermehrt  sich,  und  zwar  vollzieht  sich  der 
Process  in  folgender  Weise:  In  dem  schiefrig  indurirten  Lungengewebe 
markiren  sich  deutlich  gelb-weisse  peribronchitische  Herde.  Diese  zer- 
fallen, und  an  ihre  Stelle  treten  dann  die  Oeffnungen  von  Bronchien.  22.  I. 
In  den  letzten  Tagen  sind  wiederholt  Versuche  gemacht  w^orden,  mit  Argent. 
nitr.  und  Wasserstoffsuperoxyd  auf  die  Lungenfläche  einzuwirken.  Indess  hat 
der  Pat.  jedesmal  heftige  Reizerscheinungeu  danach  bekommen,  stundenlang 
dauernden  Husten.  Es  wird  dabei  unzweifelhaft  festgestellt,  dass  der  Reiz 
sich  dann  am  heftigsten  einstellt,  wenn  die  Chemikalien  in  die  Bronchien- 
öffnungen hineinlaufen.  Dabei  hat  die  Wunde  keine  rechte  Tendenz,  sich  mehr 
zu  verkleinern,  immerhin  hat  man  den  Eindruck,  als  ob  die  Lunge  sich  immer- 
mehr retrahirt  und  die  von  aussen  herantretenden  Granulationen  einen  immer 
grösseren  Raum  einnehmen.  Es  wird  von  heute  an  die  Wunde  mit  einem  in 
2  proc.  Arg.  nitr.  Lösung  getauchten  Lappen  bedeckt.  25.  I.  Die  Lungen- 
oberfläche hat  jetzt  eine  mehr  rosige  Farbe,  sieht  aus,  als  ob  sich  eine  dünne 
Granulätionsschicht  darüber  bildet,  auch  kommen  Granulationen  von  oben  her, 
die  an  den  Pulmonaldefect  heranziehen.  Die  Achselhaut  hat  sich  stark  einge- 
stülpt, die  Secretion  der  Wunde  ist  sehr  geringfügig,  enthält  nicht  mehr  so 
viel  Leptothrix,  der  Pat.  ist  jetzt  im  Stande  zu  gehen.  1.  IL  Die  Haut  über 
dem  oberen  Wundrand  ist  stark  in  die  Wunde  hineingezogen,   die  sichtbare 

Archiv  nir  klia.  Chirurgie.    57.  Bd.   Heft  3.  39 


582  Dr.  Karewski, 

Lungenwunde  verkleinert  sich  zwar,  hat  aber  immer  dasselbe  Aussehen.  Von 
allen  Wundverbänden  bekommen  dem  Kranken  am  besten  trockene  oder  solche 
mit  Creolingaze.  Der  Pat.  kann  durch  die  BronchionÖffnungen  in  der  Wunde 
frei  athmen,  wenn  ihm  Mund  und  Nase  fest  zugehalten  werden.  4.  IL  Trans- 
plantation nach  Thiersch:  Vom  rechten  Oberarm  auf  die  Granulationen  der 
Wunde,  einige  Läppchen  werden  auch  auf  die  Lungenfläche  gelegt;  Verband 
mit  Kochsalz.  12.  IL  Die  Läppchen  sind  angeheilt  mit  Ausnahme  derjenigen, 
welche  auf  die  Lunge  selbst  gelegt  worden  sind.  Diese  sind  dircct  hernnter- 
geblasen  worden.  —  Der  Pat.  wiegt  jetzt  140  Pfund.  24.  IL  Erneute  Trans- 
plantation der  noch  restiren  den  Granulationsfläche.    5.  März  Entlassung. 

5.  3.  98.  Entlassungsbefund:  Wohl  aussehend,  in  gutem  Ernährungs- 
zustände, hat  seit  der  Operation  5  kg  zugenommen,  kann  den  rechten  Arm 
schon  zum  Schreiben  benutzen,  wenn  auch  nicht  anhaltend,  hat  keinen  Husten. 
Wenn  aber  das  Bedürfniss  vorhanden  ist,  Schleim  auszuwerfen,  so  fallt  dies 
schwer  wegen  der  BronchienöfTnungen  in  der  Achselhöhle.  Eigentliche  Be- 
schwerden sind  nicht  vorhanden,  nur  ist  die  Beweglichkeit  des  rechten  Armes 
eine  ausserordentlich  beschränkte,  besonders  ist  die  Elevation  nur  in  sehr  ge- 
ringem Umfang  möglich,  und  jeder  Versuch,  dieselben  passiv  vorzunehmen, 
ausserordentlich  schmerzhaft. 

Bei  der  Besichtigung  von  vorn  fällt  auf:  ausserordentliche  Abflachung 
der  rechten  Schulter  und  Halsgegend.  Es  sieht  aus,  als  ob  der  Kopf  nach 
rechts  hinübergesetzt  ist  (auch  giebt  der  Kranke  an,  dass  er  stets  das  Be- 
dürfniss hat,  den  Kopf  nach  rechts  hinüberzulegen).  Die  Supraclaviculargegend, 
welche  links  geradezu  hervorgewölbt  ist,  ist  rechts  abgeflacht.  Der  rechte 
Arm  hängt  um  mehrere  Centimeter  herab.  Die  rechte  Thoraxhälfte  flacher  als 
die  linke  und  nach  hinten  gezeiTt.  Von  der  rechten  Achselhöhle  an  beginnt 
der  durch  die  Operation  gesetzte  Defect.  Die  linke  Mamilla  ist  zwar  etwas  in 
diesen  Defect  hineingezogen,  steht  aber  nichtsdestoweniger  der  Mittellinie  des 
Sternums  bedeutend  näher  als  die  linke,  11  :  14  cm.  Auch  die  rechte  Ober- 
bauchgegend tritt  etwas  zurück  in  den  Defect  hinein.  Noch  viel  auffalliger  ist 
die  Retraclion  der  rechten  Thoraxhälfte  von  hinten  gesehen.  Während  links 
der  Thorax  hinten  gut  gewölbt  ist,  ist  er  rechts  flach,  eingezogen,  wie  bei 
einer  sehr  hochgradigen  Scoliose.  Dabei  besteht  ein  geringer  Grad  von  Links- 
scoliose  (jedoch  giebt  der  Kranke  an,  schon  früher  schief  gewesen  zu  sein). 
Die  Musculatur  der  rechten  Schulter  und  des  rechten  Schulterblatts  ist  zwar 
geringer  als  die  der  linken  Seite,  aber  stärker  wie  zur  Zeit  der  Aufnahme. 

Percussion.  Hinten  rechts  von  der  Spitze  an  abw-ärts  bis  querfingerbreit 
unterhalb  der  Scapula  heller  Lungenschall,  w^enn  auch  kürzer  wie  auf  der 
linken  Seite.  Ein  Querfinger  breit  unterhalb  der  Scapula  beginnt  gedämpfter 
Schall,  der  sich  bei  tiefer  Inspiration  etwas  aufhellt.  Auf  der  linken  Seite 
kann  man  vollen,  tiefen,  sonoren  Lungenschall  bis  zur  11.  Rippe  nachweisen, 
nach  vorne  hin  markirt  sich  sehr  auffällig  die  Milzdämpfung. 

Percussion  vorn :  Bis  zum  Defect  rechts  kurzer,  aber  voller  Lungenschall, 
etwas  oberhalb  der  Mamilla  parasternal  beginnt  die  absolute  Leberdämpfung 
und  setzt  sich  dann  direct  in  den  Defect  hinein,   so   dass   bereits   die   trans- 


Beiträge  zur  Chirurgie  der  Lunge  und  der  Pleura.  583 

plantirte  Stelle  des  Defectes  Dämpfung  zeigt.  Nach  unten  reicht  die  Leber- 
dämpfung  parasternal  und  in  der  Mittellinie  des  Bauches  einen  querfingerbreit 
unter  den  Rippenbogen  bezüglich  Processus  xiphoideus.  Die  Herzdämpfung 
beginnt  rechts  am  Sternalrand  und  reicht  nach  links  hinüber  bis  zwei  Quer- 
finger breit  vor  die  Mamilla,  daselbst  auch  der  Ictus  cordis  zu  fühlen. 

Auscultatorisch  vorn  und  hinten  rechts  im  Bereich  der  angegebenen 
percutorischen  Lungengrenzen  abgeschwächtes,  aber  reines  vesiculäres  Athraen, 
links  sehr  scharfes,  rechts  reines  vesiculäres  Athmen,  beiderseits  ohne  Neben- 
geräusche.   Herztöne  rein.    Milz  und  Leber  nicht  palpabel. 

Befund  an  der  Resectionsstelle.  Der  in  die  Thoraxwand  gesetzte  Defect 
hat  die  Form  eines  schiefen  Trichters.  Der  Rand  wird  gebildet  unten  durch 
das  vermittelst  Transplantation  übernarbte  Zwerchfell,  an  welches  sich  dann 
anschliesst  die  freiliegende  Lunge.  Der  Umfang  der  letzteren  ist  wohl  noch 
reichlich  fünfmark stückgross.  Sie  wird  von  zahlreichen  BronchienölTnungen 
durchbohrt,  deren  Lumina  um  so  grösser  sind,  je  höher  hinauf  man  kommt. 
An  der  Spitze  des  Trichters  ist  die  grösste  BronchienöfTnung.  Der  obere  Um- 
fang des  Trichters  wird  gebildet  durch  die  in  den  Defect  hineingezogene 
Achselhaut.  Der  Uebergang  von  Achselhaut  zur  Lunge  geschieht  durch  einen 
schmalen  Granulationsstreifen.  Der  obere  Umfang  des  so  gebildeten  Trichters 
ist  wesentlich  kleiner  als  der  untere.  Der  Cylinder  des  Trichters  wird  gebildet 
-durch  einen  starken  Bronchus. 

Im  Secret  der  Lunge  Leptothrix  nicht  mehr  nachweisbar.  Im  Urin  keine 
fremden  Bestandtheile.  —  Jodkali. 

Ich  halte  mich  für  l)erechtigt,  diesen  FaH  für  geheilt  zu  er- 
klären, trotzdem  er  noch  nicht  völlig  abgelaufen  ist^).  Es  besteht 
ja  noch  die  Lungenfistel,  und  es  dürfte  fraglich  sein,  ob  weitere 
operative  Eingriffe  sie  zum  Schluss  bringen  werden.  Ich  habe 
bisher  meine  guten  Gründe  gehabt,  nichts  an  derselben  vorzu- 
nehmen, erstens  weil  ich  glaubte,  dass  es  besser  wäre,  wenn  doch 
noch  eventuell  vorhandene  Körnchen  den  natürlichsten  und  kür- 
zesten Weg  nach  aussen  finden,  zweitens  aber,  weil  ich  den  Kranken 
nicht  von  Neuem  operativen  Eingriffen  aussetzen  wollte,  bevor  er  sich 
völlig  erholt  hat,  und  weil  es  dem  Kranken  vor  allen  Dingen  darauf 
ankommt,  nach  einem  4 monatlichen  Krankenlager  wieder  seinem 
Beruf  nachzugehen,  schliesslich  weil  die  Fistel  dauernd  an  Umfang 
abgenommen  hat,  so  dass  man  vielleicht  auch  auf  gänzlichen  Schluss 
.derselben  rechnen  kann.  Jedenfalls  sind  alle  Erscheinungen  der  Ak- 
tinomycose  beseitigt.    Die  Eiterung  ist  versiegt,  die  Infiltration  der 


1)  Anmerkung  bei  der  Correctur.  1.  August:  Die  Lungenwunde  ist  jetzt 
nur  noch  Markstückgross:  Allgemeinbefinden  dauernd  gut.  Keine  Aktinomy- 
cose  n  a ch  w(' i  sb  a  r. 

39* 


584  Dr.  Kare  WS  ki, 

Weichtbeile  vollkommen  geschwunden.  Die  Lunge  ist  ausser- 
ordentlich geschrumpft,  aber  ohne  physikalisch  nachweisbare  Krank- 
heitssyraptome;  die  linke  Lunge  befindet  sich  im  Zustand  des 
vicariirenden  Emphysems,  das  Herz  ist  nach  rechts  verzogen,  aber 
gesund.  Actinomyceskörnchen  sind  seit  der  Operation,  trotz  der 
sorgfältigsten  Untersuchung,  nicht  mehr  gefunden  worden.  Die 
lange  Zeit  regelmässigen  Erscheinungen  von  Leptothrixmassen  sind 
auf  ein  Minimum  reducirt.  Der  Allgemeinzustand  ist  ein  vortreff- 
licher geworden.  Aus  dem  blassen,  überaus  schwächlichen  Mann 
ist  ein  kräftiger,  blühender,  seinen  Beruf  wieder  ausfüllender  her- 
vorgegangen, sein  Gewicht  hat  um  10  Pfund  zugenommen,  und  so 
glaube  ich  denn,  dass  der  Patient  Chancen  hat,  auf  eine  Dauer- 
heilung zu  rechnen. 

Von  grossem  Interesse  ist  die  Frage,  inwieweit  in  diesem 
Falle  cxceptionell  günstige  Umstände,  unter  denen  er  sich  be- 
funden, die  Heilung  ermöglichten,  ob  er  also  als  ein  Unikum  zu 
betrachten,  oder  ob  man  darauf  rechnen  kann,  des  öfteren  mit 
grossen  operativen  Eingriffen  die  Lungenactinomycose  im  vor- 
geschrittenem Stadium  zu  heilen.  Aus  dem  genaueren  Stu- 
dium der  bisher  publicirten  Krankengeschichten  scheint 
hervorzugehen,  dass  erstens  oft  genug  die  Actinomycose 
früher  hätte  erkannt  werden  können,  als  dies  thatsüch- 
lich  geschah  und  zweitens,  dass  sie  nicht  selten  zu  einer 
Zeit  diagnosticirt  worden  ist,  in  der  erfolgreiche  Ein- 
griffe hätten  unternommen  werden  können.  An  einer  an- 
deren Stelle  habe  ich  diese  Dinge  ausführlicher  auseinandergesetzt 
und  begnüge  mich  daher  an  dieser  Stelle  mit  dem  einfachen  Hin- 
weis darauf,  dass  in  der  That  die  Hoffnung,  die  Actinomycose 
mit  dem  Messer  und  Glüheisen  heilen  zu  können,  keine  trügerische 
sein  wird. 

Dieser  Fall  ist  aber  ausserdem  geeignet,  ein  Ausgangspunkt 
für  die  Erörterung  einiger  anderer  für  die  Lungenchirurgie  sehr 
wichtiger  Fragen  zu  dienen.  Es  ist  in  erster  Linie  ein  klassisches 
Beispiel  für  die  ausserordentliche  Toleranz  der  Lunge 
gegenüber  schweren  operativen  Eingriffen  und  äusseren 
Einflüssen. 

Diese  erstaunliche  Toleranz  eines  Organes,  von  dem  wir  ge- 
wöhnt sind,  es  als  ausserordentlich  empfindlich  für  krank  machende 


Beiträge  zur  Chirurgie  der  Lunge  und  der  Pleura.  585 

Einflüsse  anzusehen,  ist  schon  oft  von  den  Operateuren  bewundert 
worden.  Wir  haben  in  unserem  letzten  Fall  gesehen,  dass  Be- 
arbeiten mit  dem  scharfen  Löffel  und  Glüheisen  während  der  Ope- 
ration nicht  empfunden  wurden,  ja  den  nicht  narcotisirten  Kranken 
nicht  einmal  zu  Husten  reizten.  Ebensowenig  scheinen  Lungen- 
wunden zu  pneumonischen  Verdichtungen  zu  disponiren.  Wenn  je, 
so  hätte  man  in  dieser  grossen  gebrannten  Höhle,  die  zu  lang- 
wieriger Eiterung  Anlass  gab,  eine  Ursache  für  Pneumonie  er- 
warten sollen.  Wenn  nun  auch  anzunehmen  ist,  dass  die  Lunge 
bereits  weitgehend  fibrös  de^enerirt  war,  und  aus  diesem  Grunde 
resistenter,  so  geben  doch  andere  Fälle  den  Beweis,  dass  tiefe 
Functionen  und  Probeincisionen  ebensowenig  Entzündungsursachen 
sind,  selbst  dann,  wenn  Asepsis  derselben  nicht  garantirt  ist.  So 
sahen  wir  in  unserem  zweiten  Falle,  dass  zahlreiche  Functionen 
der,  wie  sich  bei  der  Section  ergab,  an  diesen  Stellen  ganz  ge- 
sunden Lunge,  gar  keine  Veränderungen  zur  Folge  hatte.  Man 
wird  wohl  nicht  irren  in  der  Annahme,  dass  der  Eitererreger  in 
zwei  Fällen  nur  der  Lunge  gefährlich  wird,  L  als  embotischer 
Herd  und  2.  als  Secundärinfection  einer  bereits  anderweitig  er- 
krankten, also  widerstandsunfähigen  Lunge  (Phthisis,  Abscess  nach 
Pneumonie).  Diese  Thatsache  ist  von  grosser  Bedeutung  insofern 
sie  zeigt,  dass  man  grosse  Lungenwunden  anlegen  darf, 
ohne  befürchten  zu  müssen,  dass  während  ihrer  so  überaus 
langsamen  Vernarbung  grosse  Gefahr  für  eitrige  Infection 
vorhanden  ist.  So  sehen  wir  denn  auch,  dass  jetzt  seit  sechs 
Monaten  eine  grosse  Lungenwunde  frei  der  Luft  und  allen  Schäd- 
lichkeiten der  unmöglich  keimfrei  zu  haltenden  Umgebung  aus- 
gesetzt sein  kann,  unbeschadet  der  guten  Function  und  Beschaffen- 
heit des  Organs. 

Diese  Thatsache  ist  um  so  auffallender,  als  sich  nicht  etwa 
die  Lungenwunde  mit  einer  Schicht  von  Granulationen  bedeckt  hat, 
die  als  Wall  gegen  die  Eitererreger  dienen,  sondern  scheinbar  un- 
verändert geblieben  ist  seit  der  ganzen  Zeit,  in  welcher  sich  die 
Abstossung  des  Brandschorfes  vollzogen  hat.  Sie  hat  dauernd  das 
Aussehen  frisch  durchschnittenen,  im  Zustand  fibröser  Dege- 
generation  befindlichen  Lungengewebes.  Alle  Versuche,  Granu- 
lationsbildung .zu  erzeugen,  die  ja  für  die  Retraction  und  Ver- 
narbung   der    Wunde    von    grosser    Bedeutung    wären,    sind    fehl- 


586  Dr.  Karewski, 

geschlagen.  Genau  so  wie  bei  grossen  Erapycmwunden  geht  die 
Verkleinerung  und  Epidermisirung  von  aussen  her  vor  sich,  indem 
die  Granulationen  von  der  Thoraxwunde  sich  auf  die  Lunge  vor- 
schieben und  ihre  bindegewebige  Umbildung  die  Verkleinerung  der 
Lungenfistel,  allerdings  ausserordentlich  langsam,  besorgt. 

Dass  übrigens  keine  schützende  Granulationsschicht,  die  etwa 
dem  unbewaffneten  Auge  nicht  bemerkbar  ist,  auf  der  Lunge  liegt, 
wird  noch  durch  eine  andere  sehr  bemerkenswerthe  Thatsache  be- 
wiesen. Die  Wunde  resorbirt  alle  auf  sie  gebrachten  chemischen 
Substanzen  momentan.  In  dem  Augenblick,  wo  man  mit  dem 
HöUcnsteinstift,  dem  Jodpinsel,  eine  Lösung  von  Wasserstoffsuper- 
oxyd u.  a.  m.  über  die  Wundfläche  hinwegfährt,  selbst  bei  sorg- 
fältigster Vermeidung  der  jetzt  nicht  mehr  zahlreichen  Bronchial- 
öflfnungen,  empfindet  der  Kranke  nicht  nur  einen  Hustenreiz  im 
Kehlkopf,  sondern  er  hat  den  entsprechenden  Geschmack  im 
Munde.  Diese  Thatsache  der  auch  sonst  auf  physiologischem 
Wege  erprobten  excessiven  Resorptionsfähigkeit  der  Lunge  giebt 
uns  wohl  die  Erklärung  dafür,  warum  alle  Antiseptica  bei  grossen 
Thoraxwunden  so  deletären  Einfluss  auf  den  Patienten  haben. 
Wahrscheinlich  hat  selbst  die  durch  langwierige  Eiterung  veränderte 
Pleura,  die  ja  selbst  niemals  zu  Granulationsbildung  kommt,  die- 
selbe Fähigkeit,  alle  Chemikalien  aufzusaugen,  oder  sie  giebt 
wenigstens  keine  die  Osmose  der  Lunge  hindernde  Schicht  ab. 
So  angenehm  also  häufig  in  der  Lungen-  und  Pleura- 
chirurgie  die  Anwendung  antiseptisch  wirkender  Mittel 
sein  dürfte,  so  müssen  wir  doch  ein  für  alle  Mal  auf  die- 
selbe verzichten. 

Was  nun  die  Methodik  der  Eingriffe  an  der  Lunge  be- 
trifft, so  geht  auch  aus  meinen  Beobachtungen  hervor,  was  sich 
aus  allen  über  die  Lungenchirurgie  gemachten  Mittheilungen  er- 
giebt.  Alle  meine  Fälle  hatten  einen  operativ  glücklichen  Erfolg, 
weil  sie  ausgedehnte  Pleuraverwachsungen  hatten,  und  in  allen 
gingen  diese  Verwachsungen  über  viel  grössere  Flächen  hinweg, 
als  man  nach  der  physikalischen  (Untersuchung  und  der  klinischen 
Beobachtung  annehmen  durfte.  Die  Adhäsion  der  Pleura  pul- 
monalis  an  der  Pleura  costalis  ist  absolute  Vorbedingung 
für  Heilerfoli^e  bei  infectiösen  Processen.  Sie  ist  aber  bei  ihnen 
so  häufig  vorhanden,   dass  man  nur  ausnahmsweise  künstliche  Er- 


Beiträge  zur  Chirurgie  der  Lunge  und  der  Pleura  587 

zeugung  von  Verwachsungen  nöthig  haben  wird.  Wenn  diese  Noth- 
wendigkeit  an  uns  herantritt,  so  ist  ganz  gewiss  die  Vernähung 
die  sicherste  Methode,  sie  allein  giebt  die  Garantie,  dass  die  Lunge 
sich  nicht  wieder  ablösen  kann.  Um  die  Vernähung  sehr  gut  vor- 
nehnnen  zu  können,  aber  ist  es  nöthig,  grosse  Thoraxwunden  an- 
zulegen, von  vornherein  eine  grosse  Zahl  Rippen  zu  reseciren,  die 
Thoraxwand  so  beweglich  zu  machen,  dass  sie  flottirend  sich  an 
der  Lunge  anlegen  kann.  Sollte  dabei  selbst  ein  Pneumothorax 
passiren,  so  wissen  WMr  ja  von  derartigen  Zufällen  bei  Resectionen 
von  Tumoren  der  Thoraxwand,  dass  ein  traumatischer  Pneumo- 
thorax unter  aseptischen  Verhältnissen  keine  grosse  Gefahren  hat. 
Wenn  man  also  nur  im  Stande  ist,  die  Vernähung  der  Lunge  mit 
der  Thoraxwand  ausserhalb  des  eiterigen  Lungenhei'des,  d.  h.  so, 
dass  dieser  zunächst  nicht  eröffnet  wird,  vorzunehmen,  so  dürfte 
es  in  den  meisten  Fällen  gelingen,  ohne  Gefahr  die  Verklebung 
der  Pleurablätter  herbeizuführen,  bevor  man  den  Ilerd  incidirt. 
Ich  glaube  also,  dass  in  erster  Linie  die  grosse  Thorax- 
resection  von  Nutzen  ist,  selbst  da,  wo  der  Lungen- 
herd nur  ein  kleiner  ist.  Sie  giebt  auch  eine  grosse  Er- 
leichterung für  die  Orientirung  und  die  Möglichkeit  der  definitiven 
Heilung  in  den  FäUen,  wo  der  Abscess  oder  die  sonstige 
Affection  der  Lunge  in  starrer  Umgebung  liegt,  welche  einen 
Verschluss  der  Höhle  durch  Ausdehnung  der  benachbarten  Lungen- 
partien nicht  erlaubt.  Gerade  so  wie  bei  alten  Empyemen 
die  künstlich  herbeigeführte  Nachgiebigkeit  der  Thoraxwand  die 
Ausdehnungsfähigkeit  der  Lunge  ersetzen  muss,  muss  bei  aus- 
gedehnteren, längere  Zeit  bestehenden  Lungeneiterungen  die  Chance 
gegeben  werden,  dass  die  Weichtheile  sich  in  den  Thorax  hinein- 
ziehen können. 

Aus  diesem  Grunde  scheint  auch  in  jedem  Falle  eine  pri- 
märe oder  secundäre  Verkleinerung  der  Wunde  durch 
Naht  zu  verwerfen  zu  sein.  Sie  giebt  gar  zu  leicht  die 
Möglichkeit  ab  zur  Bildung  von  Buchten  und  Höhlen,  in  denen  sich 
Secret  staut,  so  dass  eine  Radicalheilung  ausbleibt.  Nur  ein  Mal 
habe  ich  einen  Misserfolg  von  einer  Thoracoplastik  gehabt,  und  das 
war,  als  mein  Assistentin  meiner  Abwesenheit  die  allerdings  colossale 
Wundhöhle  durch  die  Naht  zu  verschliessen  versuchte.  Dauert  die 
Heilung    zu    lange,    so    giebt    uns  die  Transplantation  der  granu- 


1 


588  Dr.  Karewski, 

lirenden  Fläolipn  ein  vorzügliches  Mittel,  dieselbe  zu  beschleunigen. 
Sie  versagt  fast  nie  und  hat  auch  noch  den  Vortheil,  dass  die 
häufig  gefährdete  Beweglichkeit  des  zugehörigen  Arraes  besser  er- 
halten bleibt. 

« 

Wenn  aber  wirklich  mal  eine  feine  Bronchialfistel  restirt, 
so  hat  sie  so  lange  keinen  Schaden,  als  sie  direct  nach 
aussen  mündet,  d.  h.  so  lange  die  Möglichkeit  für  directen 
Secretabfluss  und  die  Verhinderung  von  Secretansammlung  gegeben 
ist.  Das  beweist  in  eklatanter  Weise  unser  Fall  1,  der  nunmehr 
seit  3  Jahren  bei-  immer  sich  bessernder  Gesundheit  und  Arbeits- 
fähigkeit mit  einer  feinen  ßronchialfistel  existirt.  Im  Uebrigen 
hat  Friedrich  den  Beweis  erbracht,  dass  der  Paquelin  ein  gutes 
Mittel  ist,  die  Fisteln  zur  Verödung  zu  bringen.  Sobald  also 
keine  bestimmten  Ursachen  vorliegen,  die  Fistel  absichtlich  per- 
sistiren  zu  lassen,  wie  bei  unserem  Kranken  mit  Lungenaktinomycose, 
kann  man  zum  Paquelin  seine  Zuflucht  nehmen  —  um  so  mehr, 
als  gebrannte  Lungen-  und  Bronchialwunden  ganz  hannlos  zu  sein 
scheinen. 

Vielfach  ist  die  Frage  erörtert  worden,-  ob  man  an  der 
Lunge  selbst  mit  dem  Paquelin  oder  mit  dem  Messer  operiren 
darf,  und  die  Beantwortung  ist  verschiedenartig  ausgefallen.  In- 
dessen wird  man  wohl  keine  für  alle  Fälle  zutreffende  Anweisung 
geben  können,  sondern  muss  sich  nach  den  im  Einzelfall  vor- 
liegenden Verhältnissen  richten.  Ungefährlicher  in  Bezug  auf 
Blutung  und  Infectionsgefahr  ist  jedenfalls  der  Paquelin;  übersicht- 
licher das  Operiren  mit  dem  Messer.  Eine  Combination  des  Ge- 
brauchs beider  Instrumente  nach  den  jeweiligen  Verhältnissen  dürfte 
das  Entsprechendste  sein. 

Wichtiger  ist,  darüber  zu  entscheiden,  ob  man  die  Narkose 
entbehren  kann.  Nach  meinen  Erfahrungen  glaube  ich,  dass,  wenn 
man  erst  den  Weichtheilschnitt  gemacht  und  die  Rippen  resecirt 
hat,  zwei  Eingriffe,  die  wohl  mit  localer  Anästhesie  gemacht 
werden  können,  man  eine  weitere  Narkose  sehr  oft  entbehren  kann. 
Ich  kann  das  besonders  deshalb  behaupten,  weil  ich  einmal  in  der 
Lage  war,  bei  einem  Collegen,  dem  man  weder  allgemeine  noch 
locale  Anästhesie  zutrauen  konnte,  die  ganze  Operation  ohne  Nar- 
kose zu  machen,  und  von  dem  Patienten  hörte,  dass  die  Schmerzen 
nicht  gerade  übermässige  gewesen  sind. 


Beiträge  zur  Chirurgie  der  Lunge  und  der  Pleura.  580 

Im  Grossen  und  Ganzen  wird  man  wohl  sagen  können, 
dass  die  Eingriffe  an  der  Lunge  sich  technisch  nicht 
wesentlich  unterscheiden  von  denjenigen,  welche  zur  Be- 
seitigung alter  Empyeme  und  Lungenfisteln  gemacht  wer- 
den, und  dass  auch  die  Lungenoperation  keine  grösseren 
Gefahren  hat  als  die  eben  genannten.  Aus  diesem  Grunde 
auch  soll  man  sich  nicht  scheuen  vor  möglichst  weit- 
gehenden Entfernungen  der  Thoraxwand,  da  in  diesen 
die  Garantie  des  Erfolges  liegt.  Die  Operation  wird  nicht 
wesentlich  gefährlicher. 

Was  aber  schliesslich  die  durch  den  Eingriff  verursachten 
Entstellungen  des  Kranken  betrifft,  so  sollte  diese  zwar  bei 
einem  so  schwer  wiegenden  Leiden  überhaupt  nic^ht  in  Frage 
kommen,  ich  halte  aber  überhaupt  die  Ansicht  für  falsch,  dass  die 
Thoraxresection  an  sich  eine  irgendwie  beträchtliche  Deformirung 
verursacht.  Vielmehr  hängt  der  Grad  der  Entstellung  aus- 
schliesslich ab  von  dem  Mass  der  Veränderungen  im 
Thoraxraum  selbst.  Nicht  die  Entfernung  des  äusseren 
Brustumfanges,  sondern  die  Schrumpfung  seines  Inhaltes 
bedingt  die  Entstellung.  Das  wird  bewiesen  durch  solche  Fälle, 
wie  der  Ihnen  vorhin  gezeigte  mit  jetzt  noch  bestehender  Lungen- 
fistel, der  fast  gar  keine  Schrumpfung  des  Thoraxumfanges  hat, 
ferner  dun^h  Fälle  von  sehr  ausgedehnter  Rippen resection  bei 
Caries,  die,  wie  ich  bei  früherer  Gelegenheit  zeigte,  selbst  bei 
kleinen  Kindern  keine  Skoliose  oder  dergleichen  herbeiführt,  das 
wird  auf  der  andern  Seite  bewiesen  durch  die  Thoraxschrumpfung, 
ohne  dass  man  überhaupt  Rippen  resecirt  hat,  wenn  sonst  nur 
retrahirende  Processe  im  Brustkorb  stattgefunden  haben.  Dies 
möchte  ich  Ihnen  aber  auch  beweisen,  indem  ich  Ihnen  hier  drei 
jugendliche  Patienten  vorstelle.  Dem  jüngsten  von  ihnen,  einem 
kleinen  Mädchen  (jetzt  6  Jahre  alt),  habe  ich  vor  3  Jahren  eine 
grosse  Brust  wand  resection  wegen  alten  Empyems  gemacht.  Bei 
dem  nächst  älteren  (12  Jahre)  ist  eine  eiterige  Empyemfistel 
V(m  mir  auf  conservativem  Wege  zur  Heilung  gebracht  worden, 
das  Empyem  war  nur  mit  Incision  und  Contraincision  be- 
handelt worden.  Und  der  dritte  Fall  ist  ein  junger  Mann 
(18  Jahre),  bei  dem  eine  Pleuritis  überhaupt  ohne  jeden  ope- 
rativen Eingriff,    auc^h    ohne  Function    geheilt  worden  ist.     Dieser 


I 


590      Dr.  Karewski,  Ein  Beitrag  zur  Chirurgie  der  Lunge  und  der  Pleura. 

hat  die  schlimmste  Defonnirung,  während  den  geringsten  Grad  die 
grosse  Thoraxresection  aufweist.  Die  Thoraxform  richtet  sich  eben 
nach  ihrem  Inhalt.  Ja,  ich  habe  sogar  den  Eindruck,  als  ob  ein 
grosses  Loch  im  Thoraxraum  die  Heilung  des  Empyems  be- 
schleunigt, und  dass  man,  wenn  man  schon  einmal  Empyem-  oder 
Lungenoperationen  macht,  nicht  zu  sparsam  mit  Rippenresectionen 
sein  soll.  Ich  habe  fernerhin  gesehen,  dass  bei  jungen  Individuen 
die  Lunge  sich,  wenn  sie  erst  einmal  wieder  mit  der  Thoraxwand 
verwachsen  ist,  schnell  und  gut  ausdehnt,  und  dann  auch  den 
Thoraxumfang  selbst  wieder  vermehrt,  so  dass  die  Entfernung  der 
knöchernen  Theile  gar  keinen  Einfluss  haben  kann. 

Nichtsdestoweniger  wird  man  alle  Bestrebungen,  auch  das 
Empyem  durch  verbesserte  Punktionsdrainage  oder  Aspiration  nach 
Thoracotomie  zur  Heilung  zu  bringen,  mit  Freude  begrüssen.  Die 
Thoraxresection  ist  eben  für  diejenigen  Fälle  das  Normalverfahren, 
welche  auf  dem  conservativen  Wege  nicht  zur  Ausheilung  kommen. 


XXXV. 

üeber  den  angeborenen  Verschluss  des  Dünn- 
darms und  seine  Behandlung/) 

Von 

Dr.  Felix  Franke, 

Oberarzt  doR  Diakonissenhauses  MarienKtift  zu  Braanschweig. 


M.  H.!  Wenn  angeborener  Verschluss  des  Mastdarms  nament- 
lich in  der  Aftergegend  gar  nicht  so  selten  beobachtet  wird,  so  ist 
das  verhältnissmässig  leicht  zu  erklären  an  der  Hand  unserer 
Kenntnisse  über  den  regen  ümbildungsprocess,  der  während  des 
intrauterinen  Lebens  an  der  Kloake  vor  sich  geht.  Dass  dabei 
auch  einmal  fehlerhafte  Bildungen  entstehen  können,  entweder  ein 
Offenbleiben  einer  Oeffnung,  die  sich  eigentlich  schliessen  müsste, 
oder  ein  Wiederzuwachsen  einer  für  das  extrauterine  Leben  an- 
gelegten Oeffnung,  kann  nicht  wunderbar  erscheinen,  zumal  nach 
den  klaren  Ausführungen  Frank 's-),  die  bekanntlich  letzteren  Vor- 
gang als  die  Hauptursachc  des  angeborenen  Mastdarraverschlusses 
wahrscheinlich  machten.  In  grössere  Verlegenheit  kommen  wir, 
wenn  wir  die  Ursachen  und  Vorgänge,  welche  bei  der  Entstehung 
eines  höher  oben  sitzenden  Darmverschlusses  mitspielen,  nach- 
weisen sollen.  Und  insbesondere  dürfte  das  zutreflFen  für  den  Ver- 
schluss des  Dünndarms.  Es  ist  dieser  im  Verhältniss  zur  Atresia 
ani  bisher  nur  selten  beobachtet  worden,  soweit  wenigstens  die 
Literatur  Aufschluss  giebt.  Noch  seltener  ist  er  Gegenstand 
chirurgischen  Eingreifens  geworden.     So    finde    ich    ihn  z.  B.    bei 


>)  Abgekürzt  vorgetragen  am  3.  Sitzungstage  des  XXVII.  Congresses  der 
Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  15.  April   1898. 

2)  R.  Frank,  lieber  die  angeborenen  Vcrschliessungen  des  Mastdarms. 
Wien  1892. 


1 


592  Dr.  F.  Franke, 

Karewski,  Die  chirurgischon  Krankheiten  des  Kindesalt ens,  1894, 
überhaupt  nicht  erwähnt.  Baginski  geht  in  der  neuesten  (5.) 
Auflage  seines  Lehrbuchs  der  Kinderkrankheiten  (1896)  ganz  kurz 
über  ihn  hinweg  mit  der  Bemerkung,  dass  er  zumeist  die  Folge 
peritonitischer  Processe  sei,  während  Marchand  in  seinem  vor 
Kurzem  erschienenen  ausgezeichneten  Artikel  über  Missbildungen 
in  der  3.  Auflage  von  Kulenburg's  Realencyclopädie  sagt:  „jeden- 
falls haben  sie  (die  Stenose  und  Atrcsie)  nichts  mit  peritonitischen 
Processen  zu  thun,  welche  in  späteren  Stadien  des  Fötallebens  als 
Ursache  kraakhafter  Verengerungen  in  Frage  kommen  können 
(Syphilis)'*.  Die  Lehrbücher  der  pathologischen  Anatomie,  sowie 
die  einzelnen  in  der  Literatur  verstreuten  Mittheilungen  geben  uns 
wohl  Kenntniss  über  das  Vorkommen  der  angeborenen  Atresie  des 
Dünndarms,  aber  über  seine  Ursache  liefern  sie  auch  keinen  be- 
stimmten Aufschhiss.  Meist  wird  er  ganz  zufällig  bei  Sectionen 
von  Neugeborenen  gefunden,  die  todt  geboren  sind  oder  bald  nach 
der  Geburt,  nach  1  oder  2  oder  3  Tagen  starben,  ohne  dass  be- 
stimmte Erscheinungen  die  Aufmerksamkeit  der  Hebamme  oder 
des  Arztes  auf  das  Leiden  hingelenkt  hätten. 

Die  vorliegenden  Berichte  und  die  Angaben  der  Lehrbücher, 
auf  die  im  Einzelnen  einzugehen  sich  hier  kaum  verlohnen  dürfte, 
zeigen  wohl,  dass  die  Atresie  bezw^  Stenose  des  Dünndarms  an 
allen  Stellen  desselben  vorkommen  kann,  lassen  dabei  aber  doch 
erkennen,  dass  sie  an  einigen  Punkten  mit  einer  gewissen  Vorliebe 
stattfindet,  nämlich  an  der  l']inmündungsstelle  des  Ductus  chole- 
dochus  in  den  Darm,  sodann  in  der  Blind  dar  ragegend  und  am 
Pylorus.  Erst  in  letzter  Zeit  ist  die  angeborene  Pylorusstenose 
Gegenstand  grösserer  ärztlicher  Aufmerksamkeit  geworden,  wie  eine 
Mittheilung  aus  der  Kinderklinik  der  Charite  beweist^).  Ich  selbst 
auch  habe  einen  derartigen  Fall  beobachtet  bei  einem  zw^eijährigen 
Knaben. 

Der  Verschluss  oder  die  Stenose  kann  einfach  oder  mehrfach 
auftreten,  die  betroffene  Stelle  kann  verschiedene  Länge  besitzen, 
der  Darm  kann  mehr  oder  weniger  geschwunden  sein.  Bisweilen 
findet  sich  an  Stelle  des  Darms  im  Bereich  der  obliterirten  Stelle 
nur  noch  ein  ganz   dünner  Strang,    es    kann    aber  auch  jede  xVn- 

0  Finkc  Ins  tfti  n,  Ucbor  angeborene  Pvlorusstonosc  im  Säuglingsalter. 
Jabrb.  für  Kinderkrankbeiten.     Bd.  XLÜI,  Holt  1.     1896.     S.  105. 


Ueb.  den  angeborenen  Verschluss  des  Dünndarms  und  seine  Behandlung.     593 

deutiing  eines  Darms  fehlen,  wie  der  eine  der  unten  niitzutheilen- 
den  Fälle  zeigt  ^).  Dann  sind  die  beiden  frei  neben  einander 
lagernden,  blindendigenden  Darraenden  nur  durch  das  Mesenterium 
mit  einander  verbunden.  Das  obere  Darmende  ist  natürlich,  sobald 
das  Kind  auch  nur  einen  oder  gar  einige  Tage  gelebt  hat,  mehr 
oder  weniger  stark  aufgetrieben,  das  untere  dagegen  ganz  dünn, 
wie  zusammengeschrumpft. 

Die  meisten  der  an  solchem  Darmverschluss  leidenden  Säug- 
linge sind  gestorben,  ehe  eine  ärztliche  Behandlung  Platz  griff,  oder 
ehe  ein  Entschluss  zur  Operation  gefasst  war.  Der  Tod  erfolgte 
entweder  einfach  an  Schwäche  oder  infolge  von  Perforations- 
peritonitis.  Es  ist  bisher,  soweit  ich  aus  der  Literatur  ersehe,  nur 
drei  Mal  der  Versuch  gemacht  worden,  das  kindliche  Leben  mit 
Hülfe  einer  Operation  zu  erhalten.  Auf  diese  drei  Fälle  will  ich 
im  Folgenden  kurz  eingehen. 

Im  Jahre  1887  zeigte  von  Tischendorf^)  auf  dem  16.  Chi- 
rurgencongress  das  Darmpräparat  von  einem  Kinde,  bei  dem  er 
am  6.  Lebenstage  wegen  vermutheter  hochsitzender  Atresia  ani 
den  Bauchschnitt  mit  folgender  Enterostomie  gemacht  hatte.  Das 
Kind  war  fast  3  Wochen  später  bei  gut  functionirender  Darmfistel, 
nachdem  es  sic^h  anfangs  erholt  hatte,  an  Darmstörungen  und  Soor 
zu  Grunde  gegangen.  Der  Darmverschluss  sass  25  cm  oberhalb 
der  lleocöcalklappe.  Der  ganze  unterhalb  gelegene  Darmabschnitt 
war  bindfadendünn  (ob  noch  eine  Lichtung  weiter  unten  vorhanden 
war,  ist  aus  dem  Bericht  nicht  deutlich  ersichtlich),  der  oberhalb 
gelegene  Theil  auf  etwa  20  cm  Länge  zu  einem  sehr  weiten,  mit 
Meconium  prall  gefüllten  Sack  ausgedehnt. 

Ueber  einen  an  derselben  Stelle  sitzenden  Darmverschluss  be- 
richtet J.  Bland  Sutton^).  Er  sass  18  Zoll  von  der  lleocöcal- 
klappe entfernt,  bot  diesdben  Erscheinungen  wie  im  vorigen  Falle 
und  wurde  ebenfalls  mit  Enterostomie  behandelt.  Der  Tod  erfolgte 
G    Stunden    später,    obgleich    schon    am    2.  Tage    operirt    wurde. 

*)  Vergl.  auch  Carini,  Ueber  einen  Fall  von  congenitalcm  Darmverschluss, 
bedingt  durch  eine  seltene  Bildungsanomalic  des  Darmes.  Internation.  klin. 
Rundschau,  1890,  No.  5. 

2)  von  Tischendorf,  Enterostomie  bei  angeborener  Atresic  des  Ileum. 
Selbstbericht  im  Centralbl.  f.  Chirurgie,  1887,  No.  29.  Die  Verhandlungsberichte 
enthalten  keine  genaueren  Angaben. 

3)  Bland  Sutton,  Imperforate  Ilcum.  Amer.  Journal  for  the  med. 
science.     1889.     S.  Centralbl.  f.  Chir.     1890,  No.  9. 


594  Dr.  F.  Franke, 

üeber  die  näheren  Umijtände,  sowie  über  den  genaueren  patho- 
logisch-anatomischen Befund  enthält  das  kurze  Referat  nichts  (das 
Original  war  mir  nicht  zugängig). 

Der  3.  Fall  ist  genau  untersucht  und  veröffentlicht  worden^). 
Es  war  bei  dem  betreffenden  Neugeborenen  am  3.  Lebenstage 
wegen  der  Annahme  eines  hochsitzenden  Mastdarmverschlusscs  die 
Proktoplastik  vom  Damm  aus  versucht  und,  als  diese  nicht  zum 
Ziele  führte,  die  Laparotomie  mit  folgender  Enterostomie  gemacht 
worden.  Das  Kind  war  am  nächsten  Tage  gestorben  an  be- 
ginnender acuter  Peritonitis.  Bei  der  Section  fand  sich  der  Darm 
vom  Magen  an  auf  die  Länge  von  97  cm  stark  gebläht,  um  dann 
plötzlich  dem  Beckencingang  gegenüber  blind  zu  endigen.  Die 
Fortsetzung  war  ein  dünner,  harter,  federkieldicker  Strang,  der 
unter  dem  rechten  Leberlappen  seitlich  von  der  Gallenblase  als 
zusammengeballter  Knäuel  beginnend,  sich  bis  zum  After  hin- 
zog und,  wie  der  Befund  des  deutlich  erkennbaren  hochsitzen- 
den Blinddarms  mit  4  cm  langem  Wurmfortsatz  bewies,  aus 
dem  unteren  Theil  des  Jejunum,  dem  Ileum  und  dem  ganzen 
Dickdarm  bestand.  Der  Strang  besass  ein  Lumen,  welches  Schleim 
und  Detritusmassen  enthielt.  Sonst  w^ar  aus  zahlreichen  alten  Ver- 
wachsungen der  Bauchorgane  und  fibrösen  Strängen  noch  der 
Jieweis  dafür  zu  entnehmen,  dass  früher  sich  eine  Bauchfell- 
entzündung abgespielt  hatte.  Die  Frage,  ob  die  Ursache  des 
Darmverschlusses  diese  Bauchfellentzündung  gewesen  ist  oder  eine 
Achsendrehung,  auf  die  der  Befund  am  ehesten  sich  anwenden 
lässt,  bleibt  nach  Hecker  unentschieden.  Ganz  ungewöhnlich  ist 
die  Thatsache,  dass  die  beiden  auf  einander  folgenden,  aber  jetzt 
durchtrennten  Darmtheile  sich  so  weit  von  einander  entfernt  hatten. 
Dieses  Voneinanderweichen  erklärt  II  eck  er  damit,  dass  der  obere 
Theil  des  Dünndarms,  der  anfangs  auch  ^ben  an  der  Leber  in  der 
Nähe  des  folgenden  Darmtheils  lag,  durch  die  Füllung  mit  Me- 
conium  und  später  mit  Speise  schwerer  wurde  und  infolgedessen 
nach  unten  sank.  Auch  die  Aufblähung  mit  Luft  bezw.  Gas  mag, 
weil  sie  geeignet  war,  den  Darm  zu  strecken,  an  der  Verlagerung 
mitgewirkt  haben. 


1)  Th.  [lecker,  Zur  Frage  über  congeuitale  Darmocclusion  (Aus  dem 
Elisabeth-Kinderhospital  z.  St.  Petersburg.  St.  Petersburger  med.  Wochenschr. 
1896,  No.  115.     S.  Centralblatt  f.  Kinderheilkunde.     1897,  No.  6. 


Ueb.  den  angeborenen  Verschluss  des  Dünndarms  und  seine  Behandlung.    595 

Der  Fall,  den  ich  zu  beobachten  und  zu  operiren  Gelegenheit 
hatte,  war  folgender: 

Im  Noveniber  1896  wurde  ich  eines  Abends  zu  einem  2  Tage 
alten  Neugeborenen  geholt,  weil  er  alle  Nahrung  wieder  von  sich 
gab,  zuletzt  auch  Kindspech  gebrochen  hatte,  wie  die  Hebamme 
angab,  auch  trotz"  öfterer  Klystire  noch  keinen  Stuhlgang  gehabt 
hatte.  Ich  fand  bei  dem  kräftigen  fieberlosen  Kinde  den  Leib  in 
der  linken  Seite  etwas  aufgetrieben,  nicht  empfindlich;  ein  Tumor 
oder  eine  bestimmte  Darmschlinge  licss  sich  nicht  tasten;  der 
Schall  war  hell.  Der  After  liess  den  Ansatz  des  Irrigators  leicht 
passiren;  von  dem  eingesandten  warmen  Wasser  floss  ungefähr  die 
Menge  von  50 — 60  g  ein,  um  dann  sofort  wieder  abzufliessen. 
Als  ich  am  nächsten  Morgen  denselben  Zustand  fand,  von  Hernie 
nichts  zu  entdecken  war,  machte  ich  unter  Chloroformnarkose  den 
Bauchschnitt  in  der  linken  Seite  unten,  weil  ich  annahm,  dass  es 
sich  um  einen  Verschluss  des  Colon  descendens  oder  der  Flexura 
sigmoidea,  eventuell  einen  Volvulus  der  letzteren  handle.  Sofort 
nach  dem  Einschneiden  des  Bauchfells  drängte  sich  eine  stark 
aufgeblähte,  massig  geröthete  Darmschlinge  hervor,  die  aber  nicht 
das  erwartete  Colon,  sondern  Dünndarm  war.  Dieser  aufgeblähte 
Theil  endete  blind,  kolbig,  das  Ende  hatte  die  Form  und  Grösse 
der  dicken  Hälfte  eines  grossen  Hühnereies.  Dann  folgte  auf  die 
Strecke  eines  Centimeters  nur  Mesenterium,  dessen  freier  Rand  sich 
weiterhin  allmählich  verdickte  bis  zu  einem  bleistiftdicken,  grauen, 
runden  Strange,  der  sich  bis  nach  der  Blinddarmgegend  zu  mit 
dem  Finger  verfolgen  liess  und  dort  offenbar  in  das  Colon  des- 
cendens überging.  Der  Strang  war  nicht  solide,  sondern  hatte  eine 
Lichtung,  wie  sich  deutlich  fühlen  liess,  wenn  ich  ihn  zwischen 
zwei  Finger  nahm.  Was  jetzt  thun?  Eine  Enterostomie,  an  die 
ja  zuerst  zu  denken  war,'  um  die  Operation  m("»glichst  schnell  zu 
beendigen  und  der  Indicatio  vitalis  zu  genügen,  erschien  mir  zu 
gefährlich  bezüglich  ihrer  Folgen,  da  ich  glaubte,  dass  die  lilrnähr- 
ung  des  Kindes  bei  vollständigem  Wegfall  des  unterhalb  liegenden 
Danntheils  auf  die  Dauer  nicht  ausreichend  sein  werde.  Nach 
kurzem  Besinnen  entschloss  ich  mich  zur  Enteroanastomose ;  eine 
Resection  mit  folgender  circulärer  Vereinigung  der  Darmenden  ver- 
bot sich  von  selbst  wegen  der  grossen  Ungleichheit  in  der  Dicke 
der    beiden  Darmtheile.     Nach    Entleerung    des    oberen    geblähten 


596  Dr.  F.  Franke, 

Theils  von  seinem  grünlichen,  flüssigen  Inhalt  und  Gas  durch 
einen  fast  2  cm  langen  Schnitt  und  Ausspülung  mit  Kochsalz- 
wasser ncähtc  ich  den  absteigenden  Theil  mit  feinster  Seide  in  zwei 
Etagen  auf  die  Länge  von  etwa  3  cm  so  an,  dass  das  dann  durch 
Einschnitt  in  den  Strang  gebildete,  über  1  cra  lange  Loch  etwa 
10  cm  von  der  Verschlussstelle  entfernt  war;  Die  erste  Xaht 
diente  zur  Vereinigung  der  Serosaflächen,  die  zweite  fasstc  die 
ganze  Muskularis  mit.  Als  ich  dann  aber  auf  der  andern  Seite 
nach  Anlegung  der  Muscularisnaht  die  Serosanaht  vornehmen 
wollte,  fand  ich,  dass  Gefahr  vorlag,  dass  dann  der  doch  ziemlich 
dünne  Strang  so  zugeschnürt  würde,  dass  die  Lichtung  zum 
grössten  Theil  oder  sogar  ganz  verloren  ging.  Um  nun  diese  ein- 
reihige Nahtlinie  etwas  zu  sichern,  legte  ich  den  grössten  Theil 
des  überschüssigen  Strangstücks  nach  Durchtrennung  zwischen 
zwei  fest  abschnürenden  Catgutfäden  herum  und  befestigte  ihn 
über  der  Nahtlinie  mit  feinen  Catgutfäden.  Sodann  versenkte  ich 
den  gereinigten  Darm,  machte  die  Bauchnaht  und  pinselte  Jodo- 
formcollodium  auf.  Das  Kind  hatte  die  bei  der  Schwierigkeit  der 
Nahtanlegung  doch  etwas  zeitraubende,  im  Ganzen  fast  eine  Stunde 
dauernde  Operation  gut  überstanden.  Trotz  des  ziemlich  guten 
Pulsos  während  der  Narkose  hatte  ich  aber  doch,  um  Zeit  zu 
sparen,  den  überschüssigen  Strangtheil  nur  doppelt  abgebunden 
und  durchtrennt,  ohne  die  Enden  einzustülpen  und  zu  vernähen. 
Ich  glaubte  mich  zu  diesem  Vorgehen  berechtigt,  weil  der  an  dem 
aufgeblähten  Darmende  Jiängende  Theil  doch  früher  aseptisch  w^ar, 
der  andere  aber  an  seinem  freien  Ende  höchst  wahrscheinlich 
aseptisch  bleiben  würde,  da  wegen  der  Uraknickung  Darminhalt 
in  ilm  nicht  gut  übertreten  konnte,  er  ausserdem  von  dem  sich 
nun  wahrscheinlich  weitenden  Darm  nur  noch  mehr  zusammen- 
gepresst  würde.  Ausserdem  nahm  ich  an,  dass  die  Abschnürungs- 
stelle  bald  verheilen  würde. 

Das  Kind  nahm  gierig  die  Brust  und  bekam  schon  wenige 
Stunden  später  Stuhlgang,  der  sich  in  den  nächsten  beiden  Tagen 
mehrmals  wiederholte.  Das  Erbrechen  blieb  aus.  xVls  ich  am 
Morgen  des  3.  Tages  nach  der  Operation  nachsah,  fand  ich  das 
Kind  elend,  collabirt  mit  kaum  fühlbarem,  nicht  zu  zählendem 
Pulse,  aufgetriebenem  Leibe;  wenige  Stunden  später  war  es  todt. 
Der  Vater  gab  an,  dass  es  am  Abend  vorher  im  Leibe  des  Kindes 


Ueb.  den  angeborenen  Verschluss  des  Dünndarms  und  seiu/j  Behandlung.    597 

„geknallt"  habe,  wobei  dasselbe  aufgeschrieen  habe.  Danach  habe 
es  gebrochen,  nichts  von  der  Nahrung  mehr  bei  sich  behalten,  auch 
keinen  Stuhlgang  wieder  gehabt;  es  sei  aber  nicht  übermässig  un- 
ruhig gewesen. 

Es  wurde  mir  nur  die  Oeffnung  des  Leibes  und  Her- 
ausnahme des  erkrankten  Darmstückes  erlaubt.  Ich  fand  die 
Zeichen  einer  acuten  allgeraeinen  Peritonitis;  an  der  Stelle  der 
Enteroanastomose,  wo  das  über  die  einreihige  Naht  herübergenähte 
Strangstück  endete,  war  eine  kleine  ofiFene  Stelle,  aus  der  Darm- 
inhalt herausgetreten  war.  Der  Darm  enthielt  dicken  käsigen  Brei. 
Reste  einer  alten  abgelaufenen  Peritonitis  fand  ich  nirgends,  auch 
sonst  keinen  Anhalt,  der  mir  zur  sicheren  Erklärung  des  Darm- 
verschlusses hätte  dienen  können,  kein  Band,  keinen  Strang,  kein 
Divertikel.  Auch  im  üebrigen  war  das  Kind  nach  dem  Ergebniss 
meiner  Untersuchung  frei  von  x\bnormitäten.  Wie  Sie  an  dem 
Präparate  noch  sehen  können,  befindet  sich  die  Verschlussstelle  un- 
gefähr 23 — 25  cm  vom  Blinddarm  entfernt.  Der  früher  so  stark  auf- 
geblähte Dünndarm  ist  noch  immer  ziemlich  stark  aufgetrieben, 
der  absteigende  Theil  und  das  Colon  ist  ziemlich  dünn.  Der 
372  cm  lange  Wurmfortsatz  mündet  von  unten  her  in  den  Blinddarm. 

Ueber  die  Ursache  des  Todes  im  vorliegenden  Falle  gestatten 
Sie  mir  einige  Worte.  Dass  ein  Nichthalten  der  Naht  die  Schuld 
trägt,  unterliegt  wohl  keinem  Zweifel.  Ich  glaube  aber,  sie  nicht 
allein.  Meiner  Meinung  nach  dürfte  die  Nahrung  des  Kindes  nicht 
unbetheiligt  sein  an  dem  unglücklichen  z\usgange.  Der  Darm- 
inhalt des  ausgeschnittenen  Stücks  war,  wie  Sie  jetzt  noch  be- 
merken können,  dickbreiig  und  etwas  bröcklig,  flockig,  der  steno- 
sirte  bezw.  geschrumpfte  Darm  aber  war  an  der  vernähten  Stelle 
durch  die  Naht  noch  mehr  stenosirt.  Es  ist  begreiflich,  dass 
irgendwie  dicker  Darminhalt  diese  verengte  Stelle  nicht  mit  Leichtig- 
keit passiren  konnte.  Kam  nun  noch,  wie  in  diesem  Falle,  die 
Wirkung  einer  lebhaften  Peristaltik  hinzu,  so  konnte  die  doch  et- 
was mangelhafte  Naht  den  an  sie  gestellten  Anforderungen  auf  die 
Dauer  nicht  genügen. 

Die  .  von  mir  vorgenommene  Section  der  Bauchhöhle  des 
Kindes  hat  leider  wie  in  den  meisten  derartigen  Fällen  die  Ur- 
sache des  Darm  verschlusses  fast  ganz  im  Dunkeln  gelassen.  So- 
viel aber  hat  sie  doch  bewiesen,  dass  eine  frühere  Peritonitis  mit 

Arehiv  fttr  kliu.  Chirurgie.  67.  Bd.  Heft  3.  ^Q 


598  Dr.  F.  Franke, 

grösster  Wahrscheinlichkeit  nicht  bestanden  hat,  wenigstens  keine, 
die  schwere  Veränderungen,  Verwachsungen,  Strangbildungen  u.  s.  w. 
zur  Folge  gehabt  hat,  dass  also  einer  Peritonitis  nicht  wohl  die 
Schuld  an  der  Atresie  zugemessen  werden  kann.  Von  Tischendorf 
sowohl  wie  Sutton  bringen  in  ihrem  Falle  die  Missbiidung  mit  dem 
Ductus  ophalomesaraicus  in  Verbindung.  Und  in  der  That  hat  diese 
Deutung  viel  für  sich,  auch  für  meinen  Fall.  Mindestens  ist  es  doch  auf- 
fallend, dass  sowohl  in  diesen  beiden  wie  in  meinem  F^alle  die  Stelle 
des  Darm  verschlusses  sich  ungefähr  gleich  weit  vom  Blinddarm  be- 
fand (25  cm  bezw.  18  ZoU).  Der  Ductus  aber  geht  im  Mittel  un- 
gefähr von  dieser  Stelle  ab,  wie  mir  die  Berechnung  aus  einer  Reihe 
von  V'eröfFentlichungen  über  das  MeckeFsche  Divertikel  ergab. 
Die  Abgangsstelle  wird  bisweilen  näher  am  Blinddarm,  bisweilen 
weiter  oben,  ja  selbst  über  1  m  weit  vom  Blinddarm  entfernt 
angegeben.  Die  Berechnung  kann  keine  ganz  genaue  sein,  sondern 
kann  nur  auf  Schätzung  beruhen,  da  das  Meckel'sche  Divertikel 
in  jedem  Lebensalter  beobachtet  wurde,  und  es  natürlich  schwer 
ist,  ja  unmöglich  sein  dürfte,  die  Maasse  am  Darme  verschieden 
alter  Menschen  genau  auf  die  des  Säuglingsdarmes,  noch  dazu 
eines  krankhaft  veränderten  zu  roduciren.  Wie  nun  das  Meckel- 
sehe  Divertikel  oder  vielmehr  der  Ductus  omphalomesaraicus  ge- 
wirkt haben  mag,  diese  Frage  kann  nur  vermuthungsweise  be- 
antwort(*t.  werden.  Sollte  man  eine  Abschnürung  der  Darmschlinge 
durch  den  Ductus  annehmen,  so  müsste  er  freilich  nach  geschehener 
Abschnürung  —  und  die  Atresie  scheint  erst  im  späteren  Fötal- 
lebcn  eingetreten  zu  sein  —  seinen  Rückbildungsprocess  wie  unter 
normalen  Verhältnissen  durchgemacht  haben,  da  ja  bei  den  Kindern 
keine  Spur  mehr  von  ihm  nachzuweisen  war.  Näher  liegt  es  aber 
auf  die  eben  geschehenen  Ausein anders(^tzungen  des  HeiTn  Collagen 
Walzberg^)  zurückzugreifen,  wonach  es  infolge  von  Zerrungen  am 
Darm  zur  Abknickung  desselben,  ausserdem  aber  zur  Gangrän  an 
der  Abgangsstelle  des  Ductus  kommt,  deren  Folge  dann  beim  Fö- 
tus die  Atresie  ist.  Doch  sind  die  Möglichkeiten  der  Entstehung 
der  Atresie  noch  nicht  erschöpft.     Neuerdings    hat    Cawardine^) 

0  Walzberg,  Ueber  den  Ductus  omphalo-mesaraicus  als  Ursache  von 
Darmeinklemmung.  Vortrag,  gehalten  am  2.  Sitzungstage  des  XXVII.  Congresses 
der  Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  14.  April  1898. 

2)  Ca  wardine,  Volvulus  of  MeckeTs  diverticulum.  Brit.  med.  joum. 
December  1897. 


Ueb.  den  angeborenen  Verschluss  des  Dünndarms  und  seine  Behandlung.    599 

bei  einem  Neugeborenen  Darmverschluss  beobachtet,  der  durch 
einen  Volvulus  des  MeckeTschen  Divertikels  erzeugt  war.  Wäre 
der  Volvulus  schon  einige  Zeit  vor  der  Geburt  aufgetreten  und 
hätte  er  zur  Nekrose  geführt,  so  wäre  bei  der  Geburt  einfach  eine 
Dünndarmatresie  gefunden  worden.  Sucht  man  die  Ursache  des 
Verschlusses  in  anderer  Richtung,  so  kommt  hauptsächlich  eine 
innere  Einklemmung  in  einer  der  Fossae  coecales  in  einem  Mesen- 
terialschlitz  oder  -Loch  u.  dgl.  in  Betracht.  Doch  es  hat  keinen 
besonderen  Zweck  an  dieser  Stelle  solchen  und  ähnlichen  Ver- 
muthungen  und  theoretischen  Erörterungen  weiter  nachz\igehen. 

Wichtiger  ist  für  uns  die  Behandlung  des  Leidens.  Sollen 
wir  uns  mit  einer  Enterostomi(^  begnügen  oder  sollen  wir  die  Re- 
section  oder  die  Enteroanastomose  vornehmen  und  wie?  l^nd  wie 
soll  die  Nachbehandlung  sein? 

Es  wird  sich  das  alles  zu  richten  haben  in  erster  Linie  nach 
dem  Kräftezustande  des  Kindes.  Selbstverständlich  muss  zunrst 
die  richtige  oder  wenigstens  annähernd  richtige  Diagnose  gestellt 
sein,  nämlich  die,  dass  es  sich  um  einen  höher  oben  am  Darm 
sitzenden  Verschluss  handelt.  Man  wird  sehr  selten  mit  der  An- 
nahme dieses  Leidens  fehlgehen,  wenn  man  einem  Neugeborenen, 
der  alle  Nahrung  und  schliesslich  auch  Meconium  erbricht,  keinen 
Stuhlgang  hat,  fieberlos  ist,  und  bei  dem  keine  Hernie  und  keine 
Mastdarmatresie  und  keine  Bauchgeschwulst  nac^hgewiesen  werden 
kann,  wenn  man  diesem  wohl  ein  Klystir  geben  kann,  dieses  aber, 
ohne  eine  entleerende  Wirkung  gehabt  zu  haben,  wieder  abfliesst. 
Jedenfalls  soll  man  mit  Rücksicht  auf  die  grosse  Wahrscheinlich- 
keit der  Richtigkeit  dieser  Annahme  nicht  mit  der  Operation  zögeni. 
Ich  unterlasse  es,  genauer  auf  die  klinischen  Erscheinungen  des 
Leidens  einzugehen,  da  ihre  Aufzählung  weniger  praktischen  Werth 
hat,  als  die  eben  gegebene  Zusammenstellung  der  für  die  Diagnose 
wichtigen  Momente.  Erwähnen  möchte  ich  nur  noch,  dass  der 
Leib  nicht  stark  aufgetrieben  zu  sein  braucht,  sondern  auch  weich 
und  leicht  eindrückbar  gefunden  wurde,  wie  z.  B.  in  dem  oben 
mitgetheilten  Falle  von  Carini. 

Die  Eröffnung  des  Leibes  wird  man  am  praktischsten  an  der 
Stelle  der  stärksten  Auftreibung,  und  wenn  eine  Auftreibung  fehlt, 
in  der  Mittellinie  vornehmen.  W^rd  nun  eine  Atresie  des  Ileum 
gefunden,  so  würde  ich  bei  grosser  Schwäche  des  Kindes  die  En- 

40* 


600  Dr.  F.  Franke, 

terostoniie  für  geboten  halten,  weil  in  solchem  Falle  erst  die  In- 
dicatio  vitalis  zu  erfüllen  ist  und  von  der  Enterostomie  am  sicher- 
sten erfüllt  wird.  Bei  kräftigen  Kindern  darf  man  aber,  ja  muss 
man  einen  Schritt  weiter  gehen,  denn  die  Enterostomie  ist  doch 
nur  ein  trauriger  Nothbehelf  und  unter  Umständen,  wenn  die 
Atresie  sehr  hoch  sitzt,  sogar  ein  recht  mangelhafter,  ja  selbst 
ganz  ungenügender.  Denn  im  letzteren  Falle,  die  Atresie  sitze 
etwa  im  obersten  lleum  oder  gar  im  Jejunum,  lässt  der  angelegte 
Kunstafter  den  Speisebrei  wieder  zu  zeitig  austreten,  sodass  das 
Kind  infolge  von  mangelhafter  oder  ungenügender  Ernährung  zu 
Grunde  geht.  Aus  diesem  Grunde  muss  man  sich  über  den  un- 
gefähren Sitz  der  kranken  Stelle  zu  vergewissern  suchen  und  muss 
bei  hochsitzender  Atresie  unter  allen  Umständen  die  Enterostomie 
durch  ein  besseres  Verfahren  zu  ersetzen  suchen. 

Die  Resection  mit  folgender  circulärer  Darmnaht  wird  wohl 
kaum  jemals  auszuführen  sein,  da  ja  die  Lichtungen  der  beiden 
Darmtheile  stets  so  ungeheuer  ungleich  sind.  Man  könnte  allen- 
falls daran  denken,  ob  sich  eine  Vereinigung  nicht  leidlich  bequem 
würde  dadurch  herstellen  lassen,  dass  man  das  untere  Darmende 
nach  der  queren  Durchtrennung  noch  der  Länge  nach  etwas  auf- 
schlitzt und  die  so  entstandenen  Ecken  abrundet,  darauf  aber  an 
dem  oberen  Darnitheil  über  seinen  Pol  weg  einen  Schnitt  so  lang 
führt,  dass  jene  beiden  Lippen  mit  denen  dieses  Darmtheils  sich 
glatt  vereinigen  lassen. 

Richtiger  ist  es  aber  wohl,  diese  Künsteleien  zu  lassen  und 
lieber  die  Enteroanastoniose  vorzunehmen.  Sie  lässt  sich  freilich 
auch  nicht  leicht  ausführen,  da  man  mit  den  feinsten  Nadeln  und 
der  feinsten  Seide  arbeiten  muss  und  man  es  an  dem  absteigenden 
Darmtheil  wegen  seiner  geringen  Dicke  mit  einem  nur  eine  geringe 
Vereinigungsfläche  bietenden  Organe  zu  thun  hat.  Eine  zweireihige 
Naht  wird  sich  nur  selten  auf  beiden  Seiten  der  Anastomose  an- 
bringen lassen.  Dann  aber  dürfte  für  die  eine  Seite,  welche  nur 
eine  einreihige  Naht  besitzt,  das  von  mir  angewendete  Verfahren 
Nachahmung  verdienen,  Herumschlagen  und  Aufnähen  des  freien 
Endes  des  Zwischenstrangs.  Die  Anastomosenöffnung  am  ab- 
steigenden Darmtheil  soll  mindestens  10  cm  weit  von  der  Strictur 
sitzen. 

Dann  bleibt  von  dem  Strang  genug    übrig   für  den  beabsich- 


(Job.  den  angeborenen  Verschluss  des  Dünndarms  und  seine  Behandlung.    601 

tigten  Zweck.  Die  üebernähuDg,  überhaupt  die  ganze  Naht  rauss 
mit  der  peinlichsten  Sorgfalt  ausgeführt  werden. 

Soll  nun  der  anastomosirte  Darm  versenkt  und  die  Bauch- 
höhle geschlossen  werden?  Ich  möchte  davon  mit  Rücksicht  auf 
die  von  mir  gemachte  Erfahrung  abrathen.  Hätte  ich  durch  die 
z.  Th.  ofifen  gelassene  Bauchwunde  einen  Jodoformdocht  an  die 
Anastomosenstelle  geführt  und  womöglich  diese  Stelle  durch  eine 
das  Mesenterium  fassende  Naht  an  die  innere  Bauchwandfläehc 
angeheftet,  so  hätte  das  Kind  mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  keine 
Peritonitis,  sondern  nur  eine  Darmfistel  bekommen,  die  allmählich 
von  selbst  geheilt  wäre  oder  später  mit  grösserer  Sicherheit  hätte 
geschlossen  werden  können.  Eine  offene  Bauchwunde  aber  lässt  sich 
bei  einem  so  kleinen  Kinde  mit  grosser  Sicherheit  aseptisch  erhalten. 

Doch  nicht  nur  die  Operation  und  Wundversorgung,  auch  die 
Nachbehandlung  ist  für  das  Leben  des  Kindes  von  grosser  Bedeutung. 
Auch  in  dieser  Beziehung  hat  mein  Fall  mir  eine  wichtige  Lehre  er- 
thoilt,  wie  ich  oben  schon  angedeutet  habe.  Selbst  bei  tief  unten  in  der 
Nähe  des  Blinddanns  sitzender  Dünndarmatresie  kann  bei  reich- 
lichem Milchgenuss  dicker,  noch  unverdauter  Käsebrei  gerade  in  den 
ersten  Tagen  nach  der  Operation  an  die  operirte  Stelle  gelangen, 
weil  dass  Kind  mit  grosser  Gier  trinkt,  der  Magen  infolge  dessen 
leicht  überladen  wird  und  sich  vielleicht  leichter  und  eher  nach 
dem  Dünndarm  hin  entleert,  weil  aber  ausserdem  in  den  ersten 
Tagen  nach  der  Operation  eine  lebhafte  Peristaltik  besteht,  die 
den  Speisebrei  schnell  nach  unten  schafft.  Dieser  dicke  Brei  kann 
die  Anastomosenstelle  verstopfen  und,  vorgedrängt  durch  die  leb- 
hafte Peristaltik,  die  Naht  bezw.  die  Darmvereinigung  zum  Platzen 
bringen.  Ich  würde  es  daher  für  richtig  halten,  dass  das  betr. 
Kind  in  den  ersten  4 — 6  Tagen  nur  Schleimsuppen  bekommt  event. 
mit  geringem  Milchzusatz. 

Ich  habe  diese  Mittheilung  gemacht,  weil  ich  sie  nicht,  für 
ganz  unnütz  halte,  da  nach  den  Veröffentlichungen  der  letzten 
Jahre  die  angeborenen  Stenosen  und  Atresien  des  Darms,  auch 
des  Dünndarms,  doch  nicht  so  selten  zu  sein  scheinen,  als  der 
Einblick  in  die  frühere  Littoratur  es  erwarten  lässt,  und  ihre  Be- 
handlung noch  der  Besprechung  bedarf. 


XXXVI. 

Inhumane  Kriegsgeschosse/) 

Von 

Professor  Dr.  won  Bruns 

in  Tübingen. 


Vor  Kurzem  ist  von  dem  englischen  Chirurgen  Davis  in  der 
verbreiteten  Wochenschrift  ^British  medicalJournal*^  (17.  Dec.  1897) 
eine  Mittheilung  über  die  neuesten  Gewehrprojeclilc  erschienen, 
wie  sie  von  den  englischen  Truppen  in  ihrem  jüngsten  indischen 
Grenzkriege  im  Tschitral  in  Anwendung  gezogen  worden  sind.  Die 
englischen  Soldaten  führen  das  Lee-Metfordgewehr,  das  unserem 
deutschen  Ordonnanzgewehr  M.  88  im  Ganzen  ähnlich  ist.  Das 
Geschoss,  von  7,7  mm  Caliber,  hat  Bleikern  und  Nickelmantel. 
Wie  Davis  berichtet,  konnten  die  englischen  Truppen  mit  diesen 
Geschossen  die  Feinde  in  ihrem  wilden  Ansturm  nicht  aufhalten, 
und  so  kamen  die  Soldaten  auf  das  „practische  und  ingeniöse" 
Verfahren,  die  Spitze  des  Nickelmantels  durch  Reiben  mit  scharfen 
Steinen  abzufeilen,  um  den  weichen  Bleikern  hervortreten  zu  lassen. 
Nun  hatten  diese  Geschosse,  welche  sie  „VVeichnasen"  nannten, 
den  gewünschten  Effect.  Denn  beim  Durchdringen  des  Körpers 
staucht  sich  der  Bleikern  pilzförmig  und  sprengt  den  Mantel  oder 
zerspritzt  und  bewirkt  „wahrhaft  grausame  Verwundungen." 

Nach  diesem  Vorgange  wurden  seither  in  der  Munitionsfabrik 
Dum-Dum  derartige  Geschosse  hergestellt,  welche  den  berüchtigten 
Namen  „Dum-Dumkugeln"  erhalten  haben.  Sie  haben  einen  dünneren 
Nickelniantel  und  kurze  Bleispitze  und  erzeugen    so   schreckliche 

1)  Abgekürzt  vorgetragen  <ani  4.  Sitzungstage  des  XXVII.  Congresses  der 
Deutschen  (lesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  16.  April  1898. 


Inhumane  Eriegsgeschosse.  603 

Wunden,  dass  sie,  wie  Davis  meint,  in  einem  europäischen  Kriege 
wahrscheinlich  verboten  würden.  Vorerst  sind  sie  „im  Truppen- 
versuch gegen  die  Grenzstämme.** 

So  weit  der  englische  Berichterstatter.  Bisher  war  nur  be- 
kannt, dass  bei  der  Jagd  auf  Hochwild  gelegentlich  solche  Mantel- 
geschosse mit  Bleispitze  (Halbmantelgeschosse)  verwendet  werden. 
An  ihre  Verwendung  im  Kriegsfalle  hatte  man  bisher  offenbar 
noch  nicht  gedacht. 

Die  Wirkung  dieser  Geschosse  kann  ich  Ihnen  an  einer  Reihe 
von  Schusspräparaten  vor  Augen  führen.  Sie  stammen  von  Schiess- 
versuchen, die  ich  gemeinsam  mit  meinem  Assistenzarzt,  Herrn 
Dr.  Wendel,  angestellt  habe.  Wir  verwendeten  Mantelgeschosse 
mit  kurzer  Bleispitze  (von  5  mm  Länge).  Mit  diesen  w'urde  auf 
25 — 50  m  Entfernung  aus  dem  Ordonnanzgewehr  M.  88  mit  voller 
Ladung  geschossen. 

Diese  Nahschüsse  sind  kaum  mehr  als  Gewehrschuss- 
wunden zu  erkennen,  sondern  gleichen  denen  durch 
grobes  Geschütz.  Haut,  Weichtheile  und  Knochen  sind  in 
weiter  Strecke  zerrissen,  zerfetzt  und  zersplittert,  dazu  noch  ganze 
Stücke  herausgeschlagen,  so  dass  die  Glieder  oft  nur  nur  noch 
durch  Hautstreifen  und  einzelne  Sehnen  zusammenhängen. 

Ausserordentlich  schwer  sind  schon  die  einfachen  Weich- 
theilschüsse.  Erinnern  wir  uns,  dass  bei  den  Mantelgeschossen 
der  Einschuss  in  der  Haut  durchschnittlich  7 — 8,  der  Ausschuss 
9 — :10,  höchstens  15  mm  beträgt,  sowie,  dass  der  Schusscaital  in 
den  Muskeln  eine  cylindrische  Röhre  von  etwas  grösserem  Durch- 
messer als  das  Geschosscaliber  bildet. 

Dagegen  lässt  ein  Schuss  quer  durch  die  Musculatur  an  der 
Innenseite  des  Oberarms  gar  keinen  Ein-  und  Ausschuss  erkennen, 
vielmehr  ist  die  Haut  in  der  ganzen  Länge  des  Schusses  quer  ge- 
platzt und  zugleich  durch  mehrere  Längsrisse  in  schmale  Streifen 
und  Fetzen  zertheilt,  so  dass  ein  handbreiter  Defect  besteht.  Die 
Musculatur  ist  mehrere  Finger  breit  zertrümmert,  die  Gefässo  und 
Nervenstämme  zemssen,  die  Wunde  klafft  11  cm  breit  bis  auf  den 
unversehrten  Knochen. 

Bei  einem  Schuss  quer  durch  die  Musculatur  an  der  I Unter- 
seite des  Oberschenkels  ist  ein  runder  Hauteinschuss  von  11  mm 
Durchmesser  vorhanden,  der  Ausschuss  bildet  einen  stark  klaffenden 


604  Dr.  von  Bruns, 

Längs-  und  Querriss  von  12  und  13  cm  Länge,  wie  nach  einem 
Kreuzschnitt,  und  der  Schusscanal  in  den  Muskeln  zeigt  eine 
gänseeigrosse  Zertrümmerungshöhle. 

Ein  anderer  Schuss  traf  den  Oberschenkel  bei  knieender 
Stellung  in  der  Längsa(»hso.  Der  Schusscanal  verläuft  46  cm  lang 
in  den  Weich theilen  der  Aussenfläche:  seine  untere  Hälfte  bildet 
eine  handbreit  klaffende  Platzwunde  der  Haut  und  Musculatur,  in 
deren  Grund  der  Knochen  entblösst,  aber  unversehrt  daliegt.  Die 
obere  Hälfte  des  Schusscanals  ist  für  3  Finger  durchgängig,  das 
Geschoss  ist  pilzförmig  gestaucht. 

So  kommt  also  schon  bei  den  einfachen  Weichtheil- 
schüssen  eine  kolossale  Sprengwirkung  zur  Geltung,  wäh- 
rend die  Mantelgeschosse  aus  demselben  Gewehr  fast  gar  keine 
Sprengwirkung  in  der  Haut  und  den  Muskeln  entfalten.  Die  Haut 
platzt  in  mehreren  parallelen  Längsrissen  und  wird  hierdurch  in 
Schmale  Streifen  gespalten,  welche  zum  Theil  noch  quer  zerrissen 
sind  und  dann  als  Fetzen  in  die  Wunde  hängen.  In  den  Muskeln 
entstehen  kleinfaustgrosse  Zertrümmerungshöhlen  und  weite  Canäle, 
welche  für  3  Finger  durchgängig  sind. 

Noch  weit  verheerender  ist  aber  die  Sprengwirkung  bei  den 
Knochenschüssen.  Ein  Schuss  drang  durch  das  obere  Ende 
der  Diaphyse  beider  ünterschenkelknochen  von  vorne  nach  hinten. 
An  der  Vorderseite  neben  der  äusseren  Tibiakante  ist  ein  runder 
Einschuss,  an  der  hinteren  Seite  ein  mehr  als  mannsfaustgrosses 
Loch  in  der  Haut  und  den  Muskeln,  mit  Weichtheilfetzen,  Knochen- 
splittern und  feinen  Geschossfragmenten  austapezirt.  Die  Haut 
ist  in  einer  Strecke  von  20  cm  in  Streifen  zerrissen  und  defect, 
in  derselben  Ausdehnung  sind  die  Muskeln  zerfetzt.  Beide  Knochen 
sind  zersplittert,  die  Tibia  nur  durch  einen  Streifschuss. 

Ein  anderer  Schuss  durchdrang  den  Oberschenkelknochen  von 
vorne  nach  hinten  oberhalb  der  Condylen.  Am  Einschuss  zeigt 
die  Haut  einen  13  cm  langen  Riss,  am  Ausschuss  mehrfache  Risse 
bis  22  cm  Länge.  Der  Ausschuss  bildet  einen  faustgrossen  De- 
fect in  Haui,  Muskeln  und  Kno(-hen,  die  Gefässstämme  sind  zer- 
rissen, nur  der  Nervenstamm  ist  in  seiner  Continuität  erhalten,  der 
Knochen  in  zahllose  feine  Splitter  zerschmettert. 

Bei  einem  Schuss  auf  den  Fussrücken  ist  von  Ein-  und  Aus- 
schuss nichts  zu  erkennen,  sondern  im  Bereich  der  Fusswurzel  ein 


Inhumane  Kriegsgeschosse.  605 

enormer  Befect:  die  Haut  fehlt  in  der  Länge  von  10  cm  bis  auf 
einen  Streifen  an  der  Innenseite  und  nur  einige  Sehnen  spannen 
sich  über  den  Defect  hinüber.  Die  Fusswurzelknochen  sind  in 
feinste  Splitter  zertrümmert  und  zum  grösstcn  Theil  nach  aussen 
geschleudert,  die  ganze  Ferse  hängt  lose  nach  abwärts. 

Bei  einem  Schuss  durch  das  untere  Ende  des  Oberarms  ist 
an  der  Hinterseite  ein  runder  Einschuss,  an  der  Vorderseite  ein 
enormer  Defect,  so  dass  der  untere  Theil  des  Glieds  nur  durch 
eine  8  cm  breite  Brücke  von  Haut  und  einigen  Muskeln  zusammen- 
hängt. Die  Haut  ist  durch  zahlreiche  Längsrisse  von  7 — 12  cm 
Länge  gespalten  und  fehlt  in  Handbreite  über  dem  ganzen  Defect. 
In  den  Muskeln  ist  ein  Zertrümmerungsherd  von  4  Finger  Breite 
und  fast  in  derselben  Ausdehnung  fehlt  der  Knochen. 

Bei  einem  Schuss  quer  durch  den  Vorderarm  hängt  der  untere 
Theil  des  Gliedes  nur  noch  an  einigen  schmalen  Hautstreifen  und 
Sehnen,  da  in  der  Breite  von  3  Fingern  die  übrigen  Weichtheile 
und  die  Knochen  vollständig  zertrümmert  und  herausgeschlagen 
sind.  In  der  Haut  sind  mehrere  bis  15  cm  lange  Risse,  die  Wunde 
ist  mit  Haut-,  Muskel-  und  Sehnenfotzen  sowie  mit  zahllosen 
Knochensplittern  ausgekleidet. 

Diese  Ergebnisse  unserer  Schiessversuche  übertreffen  noch  die 
schlimmsten  Befürchtungen  und  zeigen  mit  erschreckender  Augen- 
fälligkeit, welch  gewaltige  Wirkung  die  einfache  Entfernung  der 
Mantelspitze  erzeugt.  In  der  That,  die  Verletzungen  sind 
ohne  jeden  Vergleich  schwerer  als  alle  bisherigen  Ge- 
wehrschusswunden. 

Die  Ursache  liegt  auf  der  Hand:  zu  der  enormen  Anfangs- 
geschwindigkeit der  kleincalibrigen  Geschosse  gesellt 
sich  die  Weichheit  derselben.  Das  Blei  deformirt  sich  im 
höchsten  Grade  und  zerspritzt  —  daher  die  furchtbare  Spreng- 
wirkung in  den  harten  und  ganz  besonders  in  den  weichen 
Körpergeweben.  Sind  doch  schon  die  einfachen  Fleischschüsse 
grosse  Platzwunden  der  Haut  mit  Zertrümmerungshöhlen  der  Mus- 
keln, weil  sich  schon  beim  Durchdringen  der  Muskeln  das  Blei 
staucht. 

Diese  Deformirung  des  Geschosses  erfolgt  in  ganz 
regelmässiger  Weise:  Die  Bleispitze  staucht  sich  und  sprengt  den 
Mantel    von    vorne    her    in  2—3  mm    breite  Streifen,    welche    an 


606  Dr.  von  Bruns, 

ihrem  hinteren  Ende  im  Zusammenhang  bleiben  und  sich  nach 
hinten  umroUen.  Beim  AuftrefiFen  auf  harte  Knochen  zerspritzt 
das  Blei  und  zerschellt  der  Mantel  in  kleine  und  kleinste  Frag- 
mente, die  im  Röntgen -Bild  über  die  ganze  Wunde  zerstreut 
sind.  Diese  Dcformirung  des  Geschosses  beeinträchtigt  natürlich 
in  hohem  Grade  die  Durchschlagskraft:  sie  ist  bei  Nahschüssen 
in  Holz  um  das  Vierfache  geringer  als  bei  den  Mantelgeschossen. 
Bei  Fernschüssen  nimmt  daher  die  Wirkung  erheblich  ab  und  ist 
den  Mantelgeschossen  unterlegen. 

Die  Ergebnisse  unserer  Schiessversuche  lehren  aber  auch  zur 
Evidenz,  welch  hohe  Bedeutung  den  Mantelgeschossen  in  humani- 
tärem Sinne  zukommt.  Dürfen  wir  uns  auch  nicht  verhehlen,  dass 
ihre  Einführung  mit  dem  Kleincaliber  nur  aus  rein  technischen 
Gründen  erfolgt  ist,  so  hat  doch  die  Härte  und  geringe  Deformir- 
barkeit  des  Stahlmantels  die  Nachtheile  der  gesteigerten  Geschwin- 
digkeit so  weit  auszugleichen  vermocht,  dass  zwar  nicht  in  den 
Knochen,  wohl  aber  in  den  Weichtheilen  die  Zerstörung  durch 
Sprengwirkung  entschieden  herabgemindert  worden  ist.  In  diesem 
Sinne  habe  ich  die  viel  angefochtene  Bezeichnung  „humane"  Ge- 
schosse gebraucht  —  sie  ist  heute  mehr  als  je  gerechtfertigt,  denn 
den  englischen  Soldaten  sind  sie  ja  allzu  human  und  diese  haben 
wieder  die  alten  Bleigeschosse  verlangt,  um  den  Feind  sicher 
niederzustrecken.  Vollends  gerechtfertigt  ist  aber  die  Bezeichnung 
„human"  gegenüber  den  neuesten  Geschossen,  welche  sogar  ent- 
gegen den  technischen  Rücksichten  und  auf  Kosten  der  Durch- 
schlagskraft lediglich  zu  dem  Zwecke  construirt  sind,  um  die 
Verletzungen  schwerer  zu  gestalten.  Das  sind  inhumane  Ge- 
schosse, welche  wahrhaft  grausame  Wunden  erzeugen! 

Wir  sind  damit  zu  dem  wichtigsten  Punkte  unseres  Gegen- 
standes gekommen,  nämlich  zu  der  Frage  des  völkerrechtlichen 
S<!hutzes  gegen  die  Verwendung  kleincalibriger  Geschosse  mit  Blei- 
spitze. Es  liegt  ja  die  Befürchtung  nahe,  dass  in  einem  künftigen 
Kriege  solche  Geschosse  mitgeführt  oder  von  den  Soldaten  her- 
gestellt werden,  und  gegen  die  Verwendung  von  soliden  Blei- 
projectilen  hat  noch  niemals  ein  Verdict  bestanden.  Die  einzige 
auf  die  Gewehrprojectile  bezügliche  internationale  Vereinbarung  ist 
die  Convention  von  St.  Petersburg  aus  dem  Jahre  1868,  welche 
zwischen  sämmtlichen  europäischen  Mächten  abgeschlossen  worden 


Inhumane  Kriegsgeschosse.  607 

ist.  Sie  verbietet  in  einem  Kriege  zwischen  diesen  Mächten  Ge- 
schosse von  weniger  als  400  g  Gewicht  zu  verwenden,  welche  ex- 
plosibel oder  mit  entzündlichen  und  brennbaren  Stoffen  versehen 
sind^).  Wie  konnte  man  aber  damals  die  Fortschritte  in  der  Ge- 
wchrconstruction  voraussehen,  welche  eine  so  enorme  Vermehrung 
der  Anfangsgeschwindigkeit  herbeigeführt  haben,  dass  die  soliden 
Bleigeschosse  selbst  zu  Explosivgeschossen  wurden. 

M.  H. !  Ich  bin  Ihrer  Zustimmung  gewiss,  wenn  ich  an  dieser 
Stelle  dem  Wunsche  Ausdruck  gebe,  es  möchten  von  der  Deutschen 
Heeresleitung  die  Schritte  ausgehen,  um  durch  internationale  Ver- 
einbarung eine  Ergänzung  der  Petersburger  Convention  in  dem 
Sinne  zu  bewirken,  dass  nur  solche  kleincalibrige  Bleigeschosse 
verwendet  werden  dürfen,  welche  entweder  ganz  oder  mindestens 
an  der  Spitze  mit  einem  Mantel  aus  hartem  Metall  versehen  sind. 
Allen  civilisirten  Staaten  gilt  es  ja  als  ein  Gebot  der  Menschlich- 
keit: Die  Kugel  soll  den  getroffenen  Gegner  kampfunfähig  machen, 
aber  nicht  immer  verstümmeln  und  tödten. 


0  Der  Wortlaut  ist:  „Les  parties  contractantes  s'engagcnt  a  renoncer 
mutuel lernen t,  en  cas  de  guerre  entrc  elles,  a  Teraploi  par  leur  troupes,  de 
terre  ou  de  mer,  de  tout  projectile  d'un  poids  inferienr  ;i  400  grammes,  que 
serait  ou  explosible  ou  charge  de  malieres  fulminantes  ou  inflammables*^. 


XXXVII. 

Ueber  Schussverletzungen  des  Gehirns/^ 

Von 

Professor  Dr.  Tllmann, 

Oberarzt  an  der  Chirurg.  Klinik  in  Oreifswald. 


Bei  allen  Untersuchungen  über  Schuss Verletzungen  haben  von 
jeher  die  Schädelschussverletzungen  ein  besonderes  Interesse  be- 
ansprucht, einerseits  wegen  der  Dignität  des  von  dem  Schädel- 
knochen eingeschlossenen  Organs,  andererseits  weil  die  Schädel- 
schüsse der  theoretischen  Erklärung  gewisse  Schwierigkeiten  boten. 
Der  Schädel  ist  gewissermassen  das  Paradigma  der  Hohlorgane 
des  Körpers,  und  fassten  alle  Erklärungen  an  dieser  Eigenschaft 
desselben  an.  Seitdem  durch  zahlreiche  Schiessversuche  bewiesen 
ist,  dass  der  enthirnte  Schädel  beim  Beschuss  nur  Lochschüsse 
aufweist,  während  der  Vollschädel  in  derselben  Distanz  beschossen 
völlig  zersprengt  wird,  weiss  man,  dass  das  Gehirn,  der  Inhalt 
des  Schädels,  dasjenige  ist,  was  die  grosse  Zerstörung  des  knöchernen 
Schädels  bedingt.  Die  theoretische  Erklärung  dieses  Vorganges 
steht  nun  schon  seit  Jahren  auf  der  wissenschaftlichen  Tages- 
ordnung. Am  meisten  Anklang  hat  wohl  die  Theorie  des  hydrau- 
lischen Druckes  gefunden,  die  in  dem  Sinne  ja  bestehen  bleiben 
muss,  dass  die  Gesetze  der  Fortpflanzung  des  Druckes  in  Flüssig- 
keiten anwendbar  bleiben  auf  die  Zerstörungen  des  Schädels  durch 
den  Schuss;  war  aber  die.se  Theorie  im  Sinne  der  hydraulischen 
Presse  gemeint,  so  muss  sie  fallen,  da  der  Schädel  kein  ab- 
geschlossener Hohlraum  ist,  und  die  Zerstörung  des  Schädels  selbst 

^)    Au.sziigsweise  vorgetragen    am   4.  Sitzungstage  des  XX VII.  Congresses 
der  Deutscheu  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  IG.  April  1898. 


Ueber  Schussverletzungen  des  Gehirns.  609 

Zeichen  darbietet,  die  eine  derartige  Erklärung  nicht  zula^jsen.  In 
dem  neuesten  grösseren  Werke  der  Medicinal- Abtheilung  des 
preussischen  Kriegsministeriums  wurde  dann  die  Theorie  des  hydro- 
dynamischen Druckes,  und  endlich  in  dem  neuesten  Werke  des 
Prof.  Köhler^)  wird  die  Theorie  aufgestellt,  dass  die  Explosiv- 
erscheinungen  bei  Schädelschüssen  auf  keilförmiger  Zerstörung  des- 
selben beruhe;  dieser  Vorgang  werde  dadurch  ermöglicht,  „dass 
gegenüber  der  Geschwindigkeit  des  Geschossfluges  die  Wasser- 
theilchen  des  Schädelinhalts  ihre  Labilität  nicht  bethätigen  können". 
Aber  nicht  nur  theoretisches,  auch  ein  hervorragend  prac- 
tisches  Interesse  haben  die  Schädelschussverletzungen.  Diese  beiden 
Seiten  des  Interesses  ergänzen  sich  sogar  gcwissermassen.  Während 
die  Theorie  sich  vorwiegend  mit  der  Erklärung  der  sog.  Explosiv- 
schüsse befasst,  würdigt  die  Praxis  gerade  die  leichtesten  Ver- 
letzungen, die,  welche  in  ärztliche  Behandlung  kommen,  die  Friedens- 
schussverletzungen,  welche  meist  durch  Revolver  bei  Selbstmord- 
versuchen gesetzt  sind.  Diese  wiederum  sind  nicht  wesentlich 
verschieden  von  den  Schädelschüssen,  die  im  Feldzug  in  ärztliche 
Behandlung  kommen  werden.  Wir  wissen,  dass  bis  über  2000  m 
alle  durch  unser  Infanteriegewehr  gesetzten  Schädelschüsse  wohl 
tödten  werden,  und  erst  bei  2500  m,  wo  auch  das  Infanterie- 
geschoss  im  Schädel  stecken  bleibt,  kann  man  hoffen,  den  Ver- 
letzten in  ärztliche  Behandlung  zu  bekommen,  und  die  Verletzung, 
die  der  Schädel  dann  zeigt,  ist  im  Grossen  und  Ganzen  dieselbe, 
wie  sie  durch  ein  Revolvergeschoss  hervorgerufen  wird.  Nun  ist 
man  ja,  durch  klinische  Erfahrung  geschult,  in  der  Lage,  aus  den 
Symptomen  die  Prognose  und  Therapie  im  Allgemeinen  herzuleiten, 
es  fehlt  aber  bis  jetzt  doch  eine  klare  sichere  Vorstellung  von  der 
anatomischen  Läsion,  die  wir  uns  am  Gehirn  vorzustellen  haben. 
Während  Klebs^)  vollkommen  glatte,  nicht  mit  Blut  verunreinigte 
Schusscanal Wandungen  sah,  constatirte  von  Bergmann  in  den 
Wandungen  des  collabirten  Schusscanals  zahlreiche  kleine  Extra- 
vasate. Letztere  Beobachtung  ist  auch  andererseits  vielfach  be- 
stätigt. Namentlich  der  letztere  Punkt,  die  Zerstörung  des  Gehirns 
selbst,  ist  nun  gegenüber  dem  Studium  der  Knochenzerstörungen 
zu  sehr  in  den  Hintergrund  getreten,    deshalb  habe  ich,    um  über 

*)  Die  modernen  Kriegswaflfen.     Berlin,  Verlag  von  Enslin   1897. 
2)  Kleba  cit.  nach  v.  Bergmann,  Kopfverletzungen  1880. 


610  Dr.  Tilmann, 

diese  Punkte  Klarheit  zu  erhalten,  schon  seit  Jahren  Schiess- 
versuchc  angestellt.  Von  dem  Studium  der  ausgedehnten  Hirn- 
Zerschmetterungen  rausstc  füglich  abgesehen  werden,  und  wählte 
ich  gerade  die  geringgradigsten  Zerstörungen  des  Hirns  zum 
Studium.  Alle  Versuche  wurden  angestellt  mit  einem  9  mm 
calibrigen  Revolver,  der,  wie  ein  Vorversuch  lehrte,  beim  Beschuss 
des  menschlichen  Schädels  die  erste  Knochenwand  durchbohrte, 
das  Hirn  durchdrang  und  gegen  die  gegenüberliegende  Knochen- 
wand anschlug,  ohne  sie  noch  durchbohren  zu  können.  Bohrte 
ich  ein  Trepanationsloch,  und  schoss  durch  dieses,  so  war  das 
Geschoss  auch  noch  in  der  Lage;  die  Ausschusswand  des  Schädels 
durchbohren  zu  können.  Vor  Allem  kam  es  mir  darauf  an,  sicher 
zu  sein,  dass  das  Gehirn  in  ganzer  Länge  vom  Geschoss  durchs 
bohrt  würde.  Beschoss  ich  mm  mit  diesem  Revolver  das  aus  dem 
Schädel  herausgenommene  Gehirn,  so  flog  dasselbe  vollkommen 
auseinander,  ganze  Hirnt heile,  einzelne  Spritzer  flogen  nach  allen 
Seiten,  und  es  war  mir  nicht  möglich,  das  Gehirn  wieder  voll- 
kommen zu  reconstruiren.  Um  dies  zu  vermeiden,  wickelte  ich 
nun  das  Hirn  in  ein  Tuch,  und  beschoss  es  nun  wieder.  Ein  ein- 
faches Leintuch  genügte  nun,  um  das  Explodiren  des  Gehirns  zu 
hindern;  dieses  Tuch  zeigte  nun  aber  an  der  Stelle,  mit  der  es  in 
2  Lagen  die  Ausschussstelle  bedeckte,  in  beiden  Lagen  Risse,  die 
sich  kreuzten  und  je  10  cm  lang  waren.  Nahm  ich  nun  ein  stär- 
keres Tuch,  das  für  die  Kugel  kein  nennenswerther  Widerstand 
war,  so  fehlten  auch  diese  Risse  im  Tuch.  Nun  bedeckte  ich  das 
Gehirn  mit  einem  abgesägten  Schädeldach.  Dieses  wurde  beim 
Beschuss  vom  Gehirn  abgehoben,  was  klar  daraus  hervorging,  dass 
der  Einscihuss  im  Knochen  sich  nicht  mit  dem  Einschuss  im  Hirn 
deckte,  sondern  etwa  2  cm  höher  stand.  Noch  ausgesprochener 
war  dieses  Symptom  des  Abhebens  des  bedeckenden  Schädeldachs, 
wenn  der  Schuss  durch  ein  in  diesem  schon  vorhandenes  Trepa- 
nationsloch hineingesandt  wurde.  In  letzterem  Falle  traten  auch 
Risse  bis  zur  Hirnrinde  im  Gehirn  auf,  entsprechend  der  Richtung 
des  Schusscanals,  sonst  fand  aber  keine  Zersprengung  des  Gehirns 
statt.  Da  nun  aber  die  Möglichkeit  vorlag,  dass  das  an  der  Aus- 
schussseite  gegen  das  deckende  Schädeldach  anschlagende  Geschoss 
diese  Hebung  veranlasst  habe,  so  bedeckte  ich  nunmehr  nur  eine 
Hälfte  des  Gehirns  mit  einem  halben  Schädeldach,    so    dass    das 


Ueber  Schussverletzungen  des  Gehirns.  611 

Geschoss  nach  Durchbohrung  des  Gehirns  den  Knochen  nicht  mehr 
traf.  Aber  auch  hier  dasselbe  Bild.  Der  Knochen  wurde  ab- 
gehoben, sodass  der  Knocheneinschuss  dem  Hirneinschuss  nicht 
mehr  entsprach.  Legte  ich  die  Knochenschale  auf  die  Ausschuss- 
seite und  schoss  direct  in  das  Gehirn,  so  explodirte  das  Gehirn 
wiederum,  indem  seine  Theile  nacli  allen  Seiten  flogen.  Hier  ent- 
steht die  Frage,  wo  bleibt  die  Kraft,  die  das  Gehirn  ohne  Um- 
hüllung auseinander  sprengt,  wenn  dasselbe  durch  eine  Umhüllung 
oder  Bedeckung  daran  gehindert  wird.  Die  Risse  im  Tuch,  vor 
xMlem  aber  das  Abheben  der  Knochenschalen,  deuten  darauf  hin, 
dass  das  Gehirn  beim  Beschuss  gedehnt  wird,  dass  vorübergehend 
in  der  auf  die  Geschossaxe  senkrecht  stehenden  Ebene  das  Gehirn 
ein  grösseres  Volumen  einnimmt;  dass  also  mit  andern  Worten  die 
Himtheile  radiär  vom  Schusscanal  geschleudert  werden,  aber  durch 
die  Umhüllung  bezw.  durch  die  Bedeckung  gehindert,  wieder 
zurückfliegen.  Um  nun  zu  beweisen,  dass  thatsächlich  eine  solche 
vorübergehende  Dehnung  stattfinde,  bediente  ich  mich  der  Electri- 
cität.  Senkrecht  zur  Richtung  des  Schusses  brachte  ich  zwei 
Electroden  einer  starken  galvanischen  Batterie  an,  in  welche  ich 
ein  sehr  empfindliches  Galvanometer  einschaltete;  die  Electroden 
wurden  in  verschiedener  Entfernung  vom  Gehirn  gehalten.  Dieses 
selbst  war  in  ein  dünnes  feuchtes  Leintuch  gehüllt.  Die  Versuche 
hatten  nun  das  interessante  Resultat,  dass  thatsächlich  bei  einem 
Abstand  von  je  4  mm  ein  Ausschlag  der  Nadel  erfolgte.  Damit 
war  der  Beweis  geliefert,  dass  thatsächlich  beim  Beschuss  das 
Gehirn  vorübergehend  radiär  vom  Schusscanal  gedehnt  und  aus- 
einander gesprengt  wird.  Die  Gewalt,  mit  der  diese  Explosion  — 
denn  so  kann  man  es  doch  nennen  —  stattfindet,  ist  indess  eine 
so  geringe,  dass  schon  eine  Umhüllung  mit  einem  Tuch  genügt, 
um  die  Theile  zusammen  zu  halten.  Das  Bestreben  derselben, 
auseinander  zu  fliegen,  äussert  sich  aber  in  einer  Dehnung  des 
Hirns,  deren  Grösse  abhängig  ist  von  der  Festigkeit  des  Tuches 
und  der  lebendigen  Kraft  der  Theilchen  des  Gehirns. 

Diese  Veränderungen  bezw.  Einwirkungen  auf  das  Gehirn  beim 
Beschuss  sind  nun  mehr  grob  anatomisch,  die  nächste  Frage  ist 
natürlich  die,  wie  sieht  es  im  Inneren  des  Gehirns  aus.  Die 
Untersuchung  der  durchschossenen  Gehirne  hat  in  allen  Fällen 
nicht    frisch,    sondern    nach  Härtung  in  5 — lOproc.  Formollösung 


612  Dr.  Tilraann, 

stattgefunden,  eine  Methode,  die  ich  sehr  empfehlen  kann,  da  die 
Organe  schon  wenige  Tage  nach  dem  ßeschuss  bequem  untersucht 
werden  können. 

Das  cxplodirte  Gehirn  zeigte  einen  klaffenden  breiten  Spalt 
vom  Hinterhaupt  bis  zur  Stirn,  der  der  Schussrichtung  entsprach; 
derselbe  war  nach  der  Convexität  zu  offen,  nach  der  Basis,  mit 
der  das  Gehirn  aufgelegen  hatte,  geschlossen.  Die  freiliegenden 
Hirntheile  waren  oberflächlich  zertrümmert,  sonst  nichts  Besonderes. 
Alle  übrigen  Schusscanäle  theilen  sich  in  2  Klassen,  1.  diejenigen, 
die  von  Gehirnen  herrühren,  bei  denen  das  Geschoss,  bevor  es  in 
das  Hirn  drang,  erst  noch  einen  Knochen  durchbohrt  hat,  2.  die, 
bei  denen  das  Geschoss    mit  ungemilderter  Kraft  das  Gehirn  traf. 

Die  Resultate,  die  ich  erhielt,  sind,  da  ich  stets  mit  dem- 
selben Revolver  und  den  gleichen  Patronen  schoss,  und  auch  fast 
stets  die  gleiche  Schussrichtung  wählte,  so  identisch,  dass  es  hier 
wohl. genügt,  wenn  ich  einige  ProtocoUe  mittheile. 

Schuss  aus  10  cm  Entfernung  auf  ein  in  ein  Tuch  eingewickeltes  Gehirn. 

Schussrichtung  quer  vom  linken  zum  rechten  Scheitelbein. 

Einschuss  im  Tuch  stellt  einen  runden  Defect  mit  zerfasertem  Rande, 
etwa  9  mm  gross,  dar.  Die  Fasern  ragen  in  die  Schussöffnung  des  Gehirns 
hinein.  Der  Ausschuss  ist  ein  10  mm  grosser  Defect,  dessen  Ränder  von  innen 
nach  aussen  umgeschlagen  sind. 

Die  Pia  mater  ist  am  Einschuss  unregelmässig  zerrissen,  und  zeigt  einen 
Defect  von  20—30  mm  Durohmesser.  Am  Hirnausschuss  ist  die  Pia  in  einer 
Ausdehnung  von  30—40  mm  zen*issen. 

Die  Untersuchung  des  Schusscanals  ergiebt  zunächst,  dass  ein  klaffender 
Schusscanal  mit  einem  bestimmten  Lumen  nicht  vorliegt,  sondern  dass  es  sich 
im  vorliegenden  Falle  um  einen  röhrenförmigen  Defect  handelt,  der  mit  krüm- 
liger Hirnsubstanz  angefüllt  ist.  Der  Einschuss  ins  Gehirn  stellt  einen  25  mm 
im  Durchmesser  betragenden  unregelmässigen  Defect  dar. 

In  2  cm  Tiefe  ist  der  Schusscanal  28  X  25  mm  weit,  die  Wandung  zeigt 
etwa  4—5  mm  tief  eine  verminderte  Festigkeit  des  Gewebes,  sowie  zahlreiche 
radiär  gestellte  streifige  Risse  in  die  Hirnsubstanz,  die  sich  etwa  3—4  cm  weit 
fortsetzen. 

In  3  cm  Tiefe  ist  der  Befund  im  Allgemeinen  derselbe.  Der  Zertrümme- 
rungsbezirk  beträgt  25  X  40  mm. 

In  6  cm:  40  X  30  mm  grosser  Zertrümmerungsbezirk.  5  mm  tiefe  Zer- 
klüftung und  Auflockerung  des  Gewebes,  dann  noch  2—3  cm  lange  Risse  in 
die  Hirnsubstanz,  die  nicht  klaffen. 

In  9  cm :  20  X  25  mm  grosser  Defect  mit  krümeliger  Hirnsubstanz  gefüllt. 
Einzelne  (2  deutliche)  Risse  in  der  Hirnsubstanz. 

In  11  cm:  dasselbe  Bild  wie  bei  9  cm. 


Ueber  Schussverletzungen  des  Gehirns.  613 

In  13  ein:  Zertrümmerungsbezirk  10Xli>^ni.     Keine  sichtbaren   Ein- 
risse in  die  Hirnsubstanz.    Aeusserst  geringe  oberflächliche  Zermalmung, 
In  15  cm :  Schusscanal  10  mm  im  Durchmesser. 
In  16  cm :  Ausschuss. 

Das  zweite  Gehirn  wurde  beschossen,  ira  Vollschädel  an  der 
Leiche. 

Kräftige  männliche  Leiche.  Einschuss  an  der  linken  Stirn,  Ausschuss 
am  linken  Hinterhaupt. 

Der  Knocheneinschuss  stellt  eine  kreisrunde  OelTnung  dar,  von  10  mm 
im  Durchmesser,  die  in  der  Lamina  interna  15  mm  beträgt.  Am  linken  Hinter- 
haupt sieht  man  einen  schwarzen  Punkt  auf  der  Dura  mater,  der  der  Stelle 
entspricht,  wo  das  Geschoss  das  Gehirn  verlassen  hat.  Die  Kugel  selbst  aber 
liegt  3  cm  tiefer  auf  dem  Tentorium  cerebelli,  muss  also  an  der  bezeichneten 
Stelle  abgeprallt  sein. 

Die  Pia  mater  ist  am  Einschuss  in  23  X  ^7  mm  Ausdehnung  zerrissen, 
am  Ausschuss  in  20/25  mm. 

Hirneinschuss  15  mm  hoher,  10  mm  breiter  Zertrümmerungsherd,  in 
welchem  Knochensand  und  Knochensplitter  eingesprengt  sind.  Der  Ausschuss 
stellt  ein  kleines,  9  mm  im  Durchmesser  betragendes  Loch  vor,  mit  drei  seit- 
lichen, 12,  5  und  7  mm  langen  Einrissen  in  die  Ilirnsubstanz. 

Der  Schusscanal  selbst  ist  gefüllt  mit  Hirnkrümel,  seine  Wandungen  sind 
oberflächlich  gequetscht,  bis  6  cm  Tiefe  ist  Knochensand  eingesprengt.  Die 
Weite  des  Schusscanals  beträgt: 

in    2  cm  Tiefe  15/20  mm 

n     '^   »7        11       1^/19    ji 

„    8  „       „     20/15    „ 

„  10  „      „     21/25    „ 
bis   hierher   etwa  2 — 5  mm    tiefe,    oberflächliche  Quetschung  der  Wände  des 
Schusscanals,   sowie  zahlreiche,    bis  zu  20—40  mm  weit  zu  verfolgende  Ein- 
risse in  die  Substanz  des  Hirns. 

In  12  cm  Tiefe  15/18  mm 

77     ^*^     77  77  ^^  77 

„  16  „       „     Ausschuss. 
Von  besonder(5m  Intoresse  ist  noch   folgender  Schuss,    dessen 
ProtocoU  ich  noch  hinzufüge. 

Schuss  aus  20  cm  Entfernung  auf  ein  mit  einem  Schädeldach  bedecktes 
Gehirn. 

Schussrichtung  vom  linken  Hinterhauptshöcker  zum  Stirnhöcker. 

Die  Pia  mater  ist  am  Einschuss  in  einer  Ausdehnung  von  5/7  cm  zer- 
rissen. Oberhalb  des  Einschusses  ist  die  Pia  in  7  cm  Breite  von  der  Hirn- 
oberfläche abgehoben.  Diese  Abhebung  setzt  sich  fort  an  die  mediale  Fläche 
der  linken  Hirnhälfte  bis  zum  Corpus  striatum,  in  einer  Breite  von  etwa  2  cm. 
Auch  an  der  rechten  Hirnhälfte  ist  der  den  Schusscanal  deckende  Theil  der 
Hirnoberfläche  in  1,5  cm  Breite  von  der  Pia  mater  entblösst. 

Archiv  fUr  klin.  Cliirurgle.    57.  Bd.    Heft  Ä.  41 


614  Dr.  Tilmann, 

Am  Ausschuss  zeigt  die  Pia  einen  Defect  von  3  cm  Höhe  und  2,5  cm 
Breite. 

Am  Gehirn  ist  die  Einschussöffnung  20  mm  lang,  15  mm  breit.  In  einer 
Tiefe  von  1  cm  vom  Einschuss  finden  sich  folgende  Veränderungen:  Der 
Schusscanal  hat  eine  Weite  von  10/7  mm.  Die  Wandung  wird  durch  kräme- 
lige  Hirnmasse  gebildet.  Ein  Einschnitt  in  die  Wand  zeigt  zunächst  einen 
etwa  3—4  mm  breiten  Saum  auf  der  Schnittfläche,  der  von  aufgelockerter 
Hirnsubstanz  gebildet  wird. 

In  5  cm  Tiefe  hat  der  Schusscanal  eine  horizontale  Ausdehnung  von 
12  mm,  während  die  verticale  8  mm  beträgt.  An  dem  Schusscanal  befindet 
sich  ein  Bezirk  von  zertrümmerter  Hirnmasse  von  20/25  mm,  und  zwar  ist 
diese  Zertrümmerung  besonders  stark  ausgesprochen  in  den  grauen  Hirnknoten 
am  Boden  des  Seitenventrikels,  welche  das  Geschoss  seitlich  gestreift  hatte. 
In  der  weissen  Hirnsubstanz  ist  diese  Zerstörung  weniger  stark  ausgesprochen. 

In  7  cm  Tiefe:  In  der  Richtung  nach  oben  vom  Schusscanal  ziehen  zahl- 
reiche radiär  gestellte  kleine  Spalten  etwa  3 — 4  cm  weit.  Nach  unten  reicht 
diese  Zertrümmerung  nur  bis  zur  nächsten  Furche,  die  benachbarte  Hirnwin- 
dung ist  unversehrt.  Der  Zertrümmerungsherd  hat  eine  Ausdehnung  von 
15/12  mm. 

In  8  cm  Tiefe  ein  Knochensplitter.    Schusscanal  10/8  mm. 

In  12  cm:  Schusscanal  11/7  mm,  auch  hier  lässt  ein  Einschnitt  in  die 
\Vand  eine  Auflockerung  des  Ilimgewebos  erkennen,  jedoch  nur  sehr  schmal 
und  wenig  ausgesprochen.     Hisse  und  Sprünge  ins  Gewebe  fehlen. 

In  15  cm  verläuft  der  Schusscanal  nur  in  der  weissen  Substanz,  seine 
Weite  beträgt  4/8  mm.    In  der  Umgebung  vereinzelte  Risse. 

In  16  cro  Tiefe  5/2  mm,  ebenfalls  einzelne  Risse. 

Das  Bild,  das  wir  von  dem  Hirnschusscanal  durch  die  vor- 
stehenden Protocolle  bekommen,  ist  ein  im  Allgemeinen  einheit- 
liches. Dun^hweg  ist  bemerkenswedh  eine  Zunahme  der  zerstörten 
llirnpartien  vom  Einschuss  bis  etwa  zur  Mitte  des  Schusscanals, 
dann  eine  Abnahme  bis  zum  Ausschuss  derart,  dass  der  Hirn- 
ausschuss  kleiner  ist,  wie  der  Hirneinschuss.  Danach  würde  der 
Schusscanal  etwa  die  Form  einer  Spindel  haben.  Der  Canal  selbst 
war  erfüllt  mit  krümeliger  Hirnmasse,  die  Wand  des  Canals  war 
zerklüftet,  mit  Hirnkrümeln  bedeckt.  Besonders  bemerkenswerth 
war  indess  die  Betheiligung  der  benachbarten  Hirnpartien  bei  der 
Zerstörung.  War  die  Wandung  von  weisser  Hirnmasse  gebildet, 
so  umgab  den  Schusscanal  mantelförmig  eine  Zone  aufgelockerter 
Ilirnmasse,  die  sich  durch  quere  und  schräire  Streifung  deutlich 
von  der  sonstigen  weissen  Hirnma^se  unterschied.  An  anderer 
Stelle  war  diese  Auflockerung  gesteigert  zu  einer  Zerstörung  des 
Zusammenhanges  des  Hirngewebes,    zu  einer  Zertrümmerung,   und 


Ueber  Schussverletzungen  des  Gehirns.  615 

hier  trat  das  auffällige  Symptom  hervor,  dass  die  grauen  Kerne, 
wenn  sie  vom  Geschoss  durchbohrt  waren  oder  dem  Sehusscanal 
benachbart  lagen,  mehr  und  in  grösserer  Ausdehnung  zertrümmert 
waren  als  die  weisse  Substanz,  die  an  derselben  Stelle  des  Schuss- 
canals  vielleicht  nur  eine  leichte  Auflockerung  zeigte.  So  kam  es, 
dass  man  den  Eindruck  erhielt,  als  ob  inmitten  sonst  unzerstörter 
Hirntheile  plötzlich  ein  Zertrümmerungsherd  läge.  Ausserdem 
fanden  sich  zahlreiche,  meist  radiär  zum  Schusscanal  verlaufende 
Risse  in  der  Hirnsubstanz,  die  ja  meist  nur  sehr  schwer,  oft  erst 
mit  der  Lupe  zu  erkennen  waren,  aber  doch  deutlich  vorhanden 
waren.  Man  konnte  dieselben  mehrere  Centimeter  weit  in  das 
Hirngewebe  verfolgen;  sie  endeten  meist  in  einer  Hirnfurcho, 
sprangen  nie  über  eine  solche  auf  die  anliegende  Hirnwindung  über. 
Bedenkt  man,  dass  das  Caliber  des  Geschosses  9  mm  betrug, 
so  übertrifft  das  Volumen  des  Cauals  ersteres  stets  in  ganzer 
Länge,  imr  in  den  letzten  Abschnitten  desselben  entspricht  der 
Defect  dem  Caliber  oder  ist  sogar  noch  etwas  kleiner.  Die  Här- 
tung des  Gehirns  durch  Formalin  kann  höchstens  in  der  Weise 
auf  die  Gestalt  des  Schusscanals  eingewirkt  haben,  dass  derselbe 
enger  und  kleiner  erscheint,  da  das  Gehirn  bei  der  Härtung  immer* 
hin  etwas  schrumpft.  AVir  können  uns  also  die  wirkliche  Zer- 
störung noch  ausgedehnter  vorstellen.  Die  Hirnmasse  ist  vom 
Geschoss  nicht  bei  Seite  geschoben,  sondern  zerstört  und  zer- 
trümmert, und  diese  Zertrümmerung  betrifft  nicht  nur  die  direct 
vom  Geschoss  betroffenen  Theile,  sondern  auch  die  dicht  anliegen- 
den benachbarten  Theilchen,  die  ebenfalls  zerstört  und  zertrümmert 
sind.  Die  Wand  des  Schusscanals  ist  nicht  die  glatte  Wand  eines 
Rohres,  sondern  in  ihr  fest  eingesprengt  oder  aufliegend  sind  kleine 
Hirnkrümel  deutlich  sichtbar.  Im  ersten  Theil  des  Schusscanals, 
in  der  Einschussstrecke,  ist  die  Zerstörung  der  Hirnsubstanz  am 
ausgesprochensten,  sie  nimmt  an  Umfang  und  Ausdehnung  sogar 
noch  zu,  so  dass  der  Durchmesser  der  zerstörten  Hirnpartie  bis  zu 
50  mm  beträgt,  also  das  5 — 6 fache  des  Geschosseali bers.  Diese 
Zunahme  des  Lumens  des  Schusscanals  ist  keine  absolut  gleich- 
massige,  sondern  oft  sieht  man  plötzlich  Ausbuchtungen  des  Canals, 
für  die  ein  directer  Grund  nicht  zu  finden.  Im  Allgemeinen  be- 
trägt der  Einschussdefect  10 — 25  mm.  Der  Canal  zeigt  im  Beginn 
dieselbe  Weite,    nimmt    dann    bis  etwa  zur  Mitte  an  Durchmesser 

41* 


616  Dr.  TilQiann, 

zu,  bis  30 — 50  mm,  dann  bemerkt  man  eine  Abnahme  des  Durch- 
messers bis  zum  Ausschuss,  der  9 — 15  mm  beträgt. 

Dieser  Schusskanal  stellt  nun  die  Hirntheilc  dar,  die  durch 
das  Goschoss  direct  oder  indirect  völlig  zerstört  werden,  so  dass 
nur  Hirnkrümel,  oder  richtiger  gesagt,  am  ungehärteten  Gehirn 
„Hirnbrei"  übrig  bleibt. 

Nun  ist  aber  noch  eine  zweite  Zone,  oder  besser  gesagt,  ein 
zweiter  Grad  der  Zerstörung  deutlich  vorhanden.  Das  sind  die 
den  Schusskanal  umgebenden  oder  in  seiner  nächsten  Nähe  liegenden 
Hirntheilc,  die  eine  Auflockerung  ihres  Gewebes  oder  sogar  eine 
geringgradige  Zertrümmerung  zeigen,  die  man  wohl  als  Quetschungs- 
herde auffassen  könnte,  und  die  vorwiegend  der  grauen  Hirn- 
substanz, dem  Hirnknoten  angehören,  in  der  weissen  dagegen 
weniger  deutlich  ausgesprochen  sind.  Man  kann  diese  Zone  der 
Geschosseinwirkung  nicht  bestimmt  abgrenzen  und  beschränken, 
da  die  Uebergänge  in  die  unveränderten  Himtheile  ganz  allraälige 
sind  und  bestimmte  Merkmale  fehlen.  Sie  erstreckt  sich  bis  zu 
2 — ^3  cm  in  da.s  um  den  Schusskanal  liegende  Gewebe  hinein. 

Damit  ist  nun  aber  die  Geschosseinwirkung  auf  das  Gehirn 
noch  nicht  erschöpft.  In  der  weiteren  Umgebung  des  Schusskanals 
sieht  man  im  Hirngewel)e  zahlreiche  Risse  und  Sprünge,  die  an 
den  Stellen,  wo  die  Formalinflüssigkeit  hat  eindringen  können,  als 
deutliehe  feine  Striche  erscheinen,  die  unregelmässig,  aber  meist 
radiär  vom  Schusskanal  verlaufen  in  das  Himgewebe  hinein.  Sie 
sind  am  deutlichsten  zu  sehen  bei  Schnitten  senkrecht  auf  die 
Axe  des  Schusskanals.  Sie  verlaufen  bis  zu  5  cm  in  das  Him- 
gewebe hincMU,  endigen  entweder  blind,  oder  an  der  Oberfläche 
einer  Hirnwindung,  ohne  indess  jemals  auf  die  jenseits  der  Hirn- 
furche liegende  Windung  überzuspringen.  Besieht  man  die  Schnitt- 
fläche mit  einer  Lu|)e,  so  sieht  man  noch  mehrere  feinere  Spining- 
linien  im  zarten  Hirngewebe,  die  ebenso  verlaufen,  wie  eben  be- 
schrieben. Es  lag  nahe,  anzunehmen,  dass  in  diesen  weiter  vom 
Schusskanal  abliegenden  Regionen  am  lebend  beschossenen  Gehirn 
sich  durch  Gefässzerreissungen  und  Blutungen  noch  handgreiflichere 
Symptome  finden  liessen.  Die  bisher  bei  Obductionen  erhobenen 
Befunde  haben  nun  darin  zweifelsfreie  Befunde  nicht  ergeben. 
Entweder  waren  die  Zerstörungen  so  kolossale,  dass  von  einem 
Studium    der    einzelnen  Zerstörungen  Abstand    genommen    werden 


Ueber  Schussverletzungen  des  Gehirns.  617 

musste,  oder  die  vitale  Reac^tion,  die  Entzündung,  das  Oedem,  die 
nachträgliche  Blutung,  sowie  endlich  die  cadaverösen  Veränderungen 
zwischen  Tod  und  Obduction  hatten  das  Bild  so  verwischt  und 
verändert,  dass  eine  Feststellung  von  Einzelheiton  schwer  war. 
Deshalb  griflF  ich  zu  dem  Mittel,  möglichst  grosse  Hunde  durch 
Schuss  mit  meinem  beschriebenen  Revolver  zu  tödten,  sofort  nach- 
her das  Gehirn  zu  entnehmen  und  nach  Härtung  in  Formalin  zu 
untersuchen.  • 

Eins  der  gewonnenen  Protocolle  lautet: 

Der  Hund  wurde  durch  einen  Schuss  quer  durch  den  Kopf  getödtet:  der 
Schädel  wird  sofort  geöffnet,  das  Gehirn  herausgenommen  und  gehärtet.  Bei 
der  Besichtigung  und  Section  ergab  sich  Folgendes: 

Der  Hauteinschuss  stellt  einen  Vo  nim  gi'ossen  Defect  dar.  Im  M.  tem- 
poralis  ein  etwa  10  mm  im  Durchmesser  betragender  Defect,  die. Umgebung 
der  Musculatur  ist  in  3  cm  Länge  und  2,5  cm  Breite  blutig  durchtränkt. 

Der  Knocheneinschuss  in  der  linken  Schläfenschuppe  ist  ein  10  mm  im 
Durchmesser  betragendes  Loch.  Von  ihm  geht  eine  Fissur  nach  vorne,  eine 
zweite  nach  der  Basis,  eine  dritte  nach  hinten.  Auf  der  rechten  Schläfenbein- 
schuppe liegt  der  ^^20  mm  grosse  Ausschussdefect.  Von  ihm  verlaufen  fünf 
radiäre^ Fissuren  nach  allen  Richtungen  des  Schädeldaches.  Hinter  dem  Aus- 
schuss  in  der  Musculatur  ein  ^^/^q  mm  im  Durchmesser  haltender  Schusskanal, 
in  dem  Hirnthcile  und  Knochensplitter  eingesprengt  sind.  Die  Musculatur  ist 
in  2  cm  Umgebung  blutig  imbibirt. 

Am  Hirneinschuss  ist  die  Pia  in  ^Vas  mm  Ausdehnung  abgelöst,  die 
oberflächliche  Hirnschicht  ist  zertrümmert. 

In  1  cm  Tiefe  besteht  in  der  Hirnsubstanz  ein  10  mm  im  Durchmesser 
betragender  Defect,  der  mit  Hirnkrümel  angefüllt  ist.  Die  AVandung  ist  braun- 
schwarz, enthält  ebenfalls  viele  Hirnkrümel.  In  der  nächsten  Umgebung  des 
Schusskanals  sieht  man  zunächst  eine  Auflockerung  und  blutige  Durch- 
tränkung des  Gewebes,  dann  einzelne  Sprünge  in  das  Gewebe. 

In  3  cm  Tiefe  ein  12  mm  betragender  Defect,  Der  Kanal  streift  und  er- 
ülTnet  noch  den  Seiten  Ventrikel.  Im  Boden  desselben  eine  3  cm  hohe  und  2  cm 
breite  Zone,  die  eine  feste  Consistenz  zeigt,  aber  durch  zahlreiche  Blutpunkte 
braun  gesprenkelt  erscheint.  Nach  oben  zu  sind  4  Spalten  im  Hirngewebe  zu 
erkennen. 

In  5  cm  Tiefe:  im  Pons  ein  17  mm  breiter,  10  mm  hoher  Defect.  Nach 
hinten  zu  in  die  Medulla  oblongata  hinein  zahlreiche  grössere  und  kleinere 
Blutergüsse  in  die  Substanz  der  Medulla. 

In  7  cm  Tiefe:  Ein  ^^/jj)  mm  grosser  Defect  in  der  ganzen  Umgebung 
in  einer  Ausdehnung  von  3 — 4  cm  zahlreiche  Blutj)unkto,  ohne  dass,  ab«resehen 
von  einer  schmalen  Zone  zerstörter  Hirnsubstanz  in  directer  Umgebung  des 
Schusskanals  sonstige  Zerstörungen  im  Gewebe  nachweisbar  wären.  Nur  ein 
feiner  Spalt  ist  mit  der  Lupe  zu  erkennen. 


618  Dr.  Tilmann, 

In  8  cm  ist  der  Ausschuss,  der  einen  ^^/^^  mm  grossen  Defect  darstellt. 
Die  Pia  ist  in  50  mm  Ausdehnung  abgehoben. 

Nachträglich  wurde  der  auf  gleiche  Weise  behandelte  Quer- 
schnitt eines  frischen  Hundehirns  mit  dem  beschossenen  ver- 
glichen und  fand  sich,  dass  in  den  Partien,  die  am  durch- 
schossenen Gehirn  noch  als  fast  normale  gegolten  hatten,  be- 
deutend mehr  Blutpunkte  nachweisbar  waren,  als  in  dem 
normalen  Hirn;  und  zwar  namentlich  in  der  Nähe  des  Schuss- 
kanals abnehmend  bis  zur  Rinde.  Beid^Kleinhirne  vom  durch- 
schossenen und  nicht  erschossenen  Hunde  zeigten  keinen 
wesentlichen  Unterschied  in  der  Anzahl  und  Grösse  der  Blut- 
punkte. 

Die  Obduction  der  durch  Erschiessen  von  Hunden  gewonnenen 
Gehirne  hat  demnach  im  Wesentlichen  dasselbe  ergeben,  wie  die 
L'ntersuchung  der  menschlichen  Gehirne.  Der  Schusskanal  stellt 
ebenfalls  einen  Defect,  der  mit  Hirndetritus  gefüllt  ist,  dar.  Die 
Zone  der  directen  Ilirnzerstörung  ist  grösser,  als  die  vom  Geschoss 
unmittelbar  getroffenen  Theile.  In  der  nächsten  Umgebung  finden 
sich  noch  Gcwebsqiietschungen,  die  sich  durch  zahlreiche  Blutaus- 
tritte in  das  Gewebe  deutlich  raarkiren.  Darüber  hinaus  aber  ist 
die  dritte  Zone  deutlicher,  die  sich  objectiv  durch  Vermchning 
der  Blutpunkte,  namentlich  in  directer  Umgebung  des  Schusskanals 
markirt,  die  nach  der  weiteren  Peripherie  zu,  der  Hirnrinde,  all- 
mälig  abnimmt. 

Hiernach  liegt  also  die  Berechtigung  vor,  3  Grade  der  Ein- 
wirkung auf  das  Hirn  als  Folge  der  Durchschiessung 
festzustellen.  Zunächst  die  Zermalmung  des  Gehirns  im 
Schusskanal,  die  Quetschung  der  nächsten  Umgebung 
desselben,  und  endlich  eine  Art  von  Erschütterung,  die  in 
der  Vermehrung  der  Blutpunkte,  und  in  feinsten  Zer- 
reissungen  im  Hirngewebe  ihren  Ausdruck  findet. 

Um  nun  die  Art  der  Schädigung  dieser  einzelnen  Hifnthcile 
zu  verstehen,  muss  man  sich  ihr  Zustandekommen  klar  zu  machen 
suchen.  Das  unbedeckt  beschossene  (Jehirn  explodirt,  d.  h.  grosse 
Hirnl heile  werden  aus  dem  Zusammenhange  herausgeschleudert 
und  zwar  aus  der  directen  Umgebung  des  Schusskanals.  Dies 
kann  nur  dadurch  zu  Stande  kommen,  dass  das  Geschoss  den  von 
ihm  getroffenen  Hirntheilen  Geschwindigkeit  mittheilt.  Die  sehr 
labilen  Hirntheilchen  fliegen  zur  Seite  und  treffen  dort  die  ihnen 
benachbarten    aji,    die    sie    ebenfalls    aus    ihrem    Zusammenhange 


lieber  Schussverletzungen  des  Gehirns.  619 

reissen,  um  ihnen  ebenfalls  Geschwindigkeit  raitzulheilen.  Die 
erste  Wirkung  ist  eine  Zertrümmerung  auch  des  nächstliegenden, 
zunächst  von  dem  Geschoss  nicht  getroffenen  Hirngewebes.  Diese 
raitgetheilte  und  übertragene  Kraft  kann  nun  nicht  mehr  so  gross 
sein,  wie  die,  welche  den  zuerst  getroffenen  llirntheilchcn  mit- 
getheilt  war,  deshalb  zeigt  die  zweite  Zone  nur  eine  Auflockerung 
des  GewT.bes.  Die  Kraft  der  Hirntheilchcn  ist  noch  nicht  erschöpft, 
sie  pflanzt  sich  weiter  fort,  und  da  der  Zusammenhang  der 
einzelnen  Hirntheile  ein  sehr  labiler  ist,  so  fliegt  das  Hirn  aus- 
einander. Die  Hirntheilchen  fliegen  2  m  weit.  Trotzdem  ist  die 
Kraft,  mit  der  die  einzelnen  Theile  geschleudert  sind,  keine  sehr 
grosse,  denn  schon  die  Umhüllung  des  Hirns  mit  einem  Leinwand- 
tuch genügt,  um  die  Explosion  zu  hindern,  um  die  Hirntheile  zu- 
sammen zu  halten.  Hieraus  geht  ohne  Weiteres  hervor,  dass  das 
ganze  Gehirn  bei  einem  Durchschuss  direct  afficirt  und  in  seinen 
kleinsten  Molekülen  gezerrt  wird.  Denn  ob  das  Gehirn  bedeckt 
ist  oder  nicht,  die  Schusswirkung  auf  die  einzelnen  Theile  muss 
doch  in  beiden  Fällen  gleich  sein ;  sie  kommt  nur  nicht  zur  Kennt- 
nis» bei  dem  umhüllten  Gehirn.  Das  Bestreben,  das  Hirn  zu  zer- 
sprengen, hat  eben  auch  bestanden,  d.  h.  die  Hirntheile  sind  gegen 
die  Umhüllung  angestürmt,  prallten  aber  zurück,  da  die  Festigkeit 
des  Tuches  gi'össer  war,  als  ihre  Kraft.  Dieses  Anstürmen  ist 
natürlich  nur  möglich  mit  einer  gewissen  Dehnung  des  Gehirns, 
oder  besser  gesagt  einer  gewissen  Aufblähung,  in  einer  ungefähr 
senkrecht  zum  Schusskanal  stehenden  Richtung.  Nun  giebt  ja 
das  Tuch  etwas  nach,  war  auch  nicht  absolut  fest  umwickelt,  kurz 
diese  Dehnung  findet  statt,  und  ihre  Existenz  ist  bewiesen  durch 
den  Versuch  mit  den  electrischen  Drähten.  Diese  Verscliiebung 
der  Hirntheile  ist  nur  möglich  durch  eine  mechanische  Störung  der 
Hirnmoleküle  bezw.  ihres  Zusammenhanges.  Man  muss  sich  die- 
selbe wohl  vorstellen  als  eine  im  Sinne  der  Zerrung  stjitlfindende 
Störung,  die  anatomisch  ihren  Ausdruck  in  den  kapillaren  Blutungen 
am  Hundehirn  findet.  Diese*  Zerrung  ergreift  das  ganze  Gehirn, 
verläuft  radiär  vom  Schusskanal  nach  der  Peripherie,  ist  in  der 
Nähe  des  Schusskanals  am  stärksten  und  nimmt  nach  der  Peri- 
pherie zu  ab.  Die  Kraft,  die  einwirkt,  hat  das  Bestreben,  die 
Hirntheile  radiär  vom  Scluisskanal  und  nach  dem  Ausschuss  zu 
gerichtet  aus  ihrem  Zusammenhang  zu  reissen,    hat  also,    wie  ich 


620  Dr.  Tilmann, 

nochmals  betone,  eine  bestimmte  Richtung.  Natürlich  findet  dabei 
auch  ein  Anpressen  der  Hirnoberfläche  gegen  den  sie  umhüllenden 
Gegenstand,  bezw.  gegen  das  Schädeldach  statt,  das  auch  als 
anatomische  Läsion  aufzufassen  sein  dürfte. 

Einige  weitere  Fragen  betreffend  die  Beschaffenheit  des  Schuss- 
kanals sind  noch  zu  lösen.  Dass  die  graue  Hirnsubstanz  grössere 
Zerstörungen  zeigt,  findet  seine  Erklärung  zunächst  in  dem  grösseren 
Blut-  und  Gefässreichthum  derselben,  dann  in  der  geringeren 
Festigkeit  der  grauen  gegenüber  der  weissen  Hirnmasse.  Dani- 
lewski^)  fand,  dass  die  graue  Substanz  eine  Festigkeit  von  1038 
gegenüber  1043  der  weissen  hat. 

Weiterhin  ist  es  entschieden  auffallend,  dass  der  Hirnschuss- 
kanal sich  vom  Einschuss  bis  etwa  zur  Mitte  erweitert,  dann  aber 
bis  zum  Ausschuss  sich  wieder  verengert.  Zunächst  liegt  es  nahe, 
an  die  eingesprengten  Knochensplitter  zu  denken,  und  diese  als 
Ursache  der  Erweiterung  des  Schusskanals  bis  zur  Mitte  etwa  auf- 
zufassen. Sie  mögen  gewiss  dabei  mitwirken,  aber  als  alleinige 
Ursache  können  sie  nicht  angesehen  werden,  da  ja  an  den  Ge- 
hirnen, die  ohne  vorherige  Durchbohrung  eines  Knochens  getroffen 
sind,  der  Schusskanal  dieselbe  Gestalt  zeigt.  Man  muss  deshalb 
nach  einer  anderen  Erklärung  suchen.  Das  Geschoss  giebt  an  die 
einzelnen  getroffenen  Hirntheilchen  Kraft  ab,  verliert  aber  selbst 
bei  seinem  Vordringen  in  feuchten  Medien  Viel  Kraft,  so  z.  ß.  fliegt 
ein  unter  Wasser  mit  voller  Pulverladung  al)gefeuertes  Geschoss 
unseres  Infcinteriegcwehres  nur  1,83  m  weit.  Anfangs  war  also 
die  Kraft  des  Geschossivs  am  grössten  und  dem  entsprechend  auch 
die  Ilirnzerstörung,  nahm  dann  allmälig  al),  konnte  also  in  dem 
letzten  Theil  des  S(»husskanals  den  Hirntheilchen  keine  Kraft  mehr 
abgeben;  je  mehr  Kraft  aber  dem  einzelnen  Hirntheilchen  über- 
tragen wurde,  um  so  grösser  ist  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  das 
umliegende  Gewebe  zerrissen  wird,  und  umgekehrt,  je  weniger 
Kraft  übertragen  wird,  um  so  mehr  wird  der  Schusskanal  dem 
Caliber  des  Geschosses  entsprechen,  und  um  so  geringer  wird  die 
Zerstörung  des  umliegenden  Geweb(\s  sein. 

Diese  Erklärung  stimmt  vollkommen  überein  mit  der  hvdro- 
dynamischen  Druckwirkung,    wie  sie  von  der  Medicinal- Abtheilung 


*;  P Girier,  Traite  d'anatomie.     Paris,  pag.  735. 


lieber  SchussverletzuiTgen  des  Gehirns.  621 

des  Preussischen  Kriegsministeriums  aufgestellt  ist,  und  ergeben 
die  vorstehenden  Untersuchungen  einen  neuen  Beweis  für  die 
Richtigkeit  dieser  Theorie,  die  für  die  Schädelschlisse  ein  voll- 
kommen klares  und  zutreflfendes  Bild  giebt. 

Die  Versuche,  wie  sie  angestellt  sind,  stellen  die  gering- 
gradigsten  eben  möglichen  Zerstörungen  des  Gehirns  bei  einem 
Durchschuss  dar.  Stellt  man  sich  die  Gewalt  des  Geschosses  ge- 
steigert vor,  so  rauss  auch  die  den  Hirntheilchen  übertragene  Ge- 
walt gesteigert  sein,  und  diese  stürmen  dann  mit  einer  lebendigen 
Kraft  gegen  den  Schädel  an,  der  dieser  nicht  mehr  Stand  halten 
kann.  Jedenfalls  kann  kein  Grund  eingesehen  werden,  warum  bei 
den  sogenannten  Explosivschüssen  des  Schädels  besondere  pliysi- 
calische  Vorgänge  angenommen  werden  sollen,  wie  es  R.  Köhler 
thut.  Sind  denn  die  Explosivschüsse  Schüsse,  die  zur  Erklärung 
ihrer  Wirkung  besonderer  Gesetze  bedürfen? 

Das  Platzen  des  Gehirns  bei  einem  so  geringen  Schuss,  wie 
in  unsern  Versuchen,  das  ist  auch  ein  Explosivscluiss,  aber  schon 
das  Umhüllen  des  Gehirns  mit  einem  Tuch  hindert  die  Explosion, 
und  wir  haben  nur  einen  Ein-  und  Ausschuss  und  einen  Schuss- 
kanal. Was  heisst  überhaupt  ein  Explosivschuss?  Man  spricht 
von  Sprengschüssen,  Explosivschüssen  u.  s.  w.  und  verbindet  dabei 
die  Vorstellung,  als  ob  es  sich  dabei  um  etwas  Besonderes  handeln 
müsse,  während  es  sich  thatsächlich  doch  nur  um  eine  stärkere 
Geschosswirkung  handelt,  ohne  dass  sonst  irgend  was  Besonderes 
hinzukommt. 

Wie  ich  oben  gezeigt  habe,  werden  die  Hirntheilchen  that- 
sächlich mit  einer  gewissen  Gewalt  gegen  ihre  Umhüllung  ge- 
sc^hleudert.  Stellen  wir  uns  diese  Gewalt  durch  erh(')hte  Ge- 
schwindigkeit und  Arbeitsleistung  des  Geschosses  erheblich  ge- 
steigert vor,  so  wird  die  Umhüllung  nicht  halten;  übertragen  wir 
dasselbe  auf  den  Vollschädel,  so  ist  das  Bild  mutatis  mulandis 
dasselbe.  Die  Dura  und  der  Knochen  werden  den  andrängenden 
Hirntheilchen  nicht  Stand  halten,  sie  reissen,  sobald  ihre  Festigkeit 
überwunden  ist;  dann  kommt  die  äussere  Bedeckung  in  Betracht, 
durch  die  anstürmenden  Massen  wird  die  Haut,  die  hoch  elastisch 
ist,  zunächst  gedehnt  bis  zum  höchsten  Grad  ilm^r  Elasticität;  ist 
dieser  erreicht,  dann  reisst  die  Haut  ein.  Nun  reisst  aber  eine 
elastische    Haut,    deren    Elasticität    übermässig    in    Anspruch    ge- 


622  Dr.  Tilmann, 

■ 

nonimen  ist,  nicht  an  einer  kleinen  Stelle,  sondern  gleich  in  grosser 
Ausdehnung.  Daher  kommt  es,  dass  bei  Explosivschüssen  die  Haut 
von  der  Stirn  bis  zum  Hinterhaupt  einriss.  Sonst  liegt  nur  ein 
Eiuschuss-  und  ein  Ausschussloch  vor.  Auf  diese  Weise  entstehen 
allerdings  Sprünge  in  der  Geschosswirkung,  die  aber  nur  durch 
die  Eigenschaft  der  Elasticität  der  Schädelhaut  bedingt  sind.  Also 
nur  das  Platzen  der  Schädelhaut  bedingt  den  Eindruck  des  Ex- 
plosivschusses,  und  ist  derselbe  weiter  nichts,  als  eben  die  Folge 
gesteigerter  Geschosswirkung.  Dass  dem  so  ist,  kann  man  durch 
einen  einfachen  Versuch  zeigen.  Füllt  man  einen  kleinen  Gummi- 
sa^k  prall  mit  Wasser,  so  dass  seine  Wand  gespannt  ist,  und 
durchschiesst  ihn,  so  wird  derselbe  vollkommen  entzwei  gerissen. 
Füllt  man  dasselbe  Wasserquantum  in  einen  grösseren  Gummisack, 
dessen  Wand  keinerlei  Spannung  auszuhalten  hat,  so  platzt  der 
Sack  beim  Durchschiessen  nicht,  er  hat  nur  zwei  Schusslöcher. 
Der  Grund,  warum  der  zweite  nicht  reisst,  ist  der,  dass  seine 
Elasticität  beim  Beschuss  noch  gar  nicht  in  Anspruch  genommen 
war,  und  deshalb  eine  starke  Dehnung  vertragen  konnte,  während 
im  ersten  Fall  die  Elasticität  schon  in  Anspruch  genommen  war. 
Bei  der  dann  erfolgenden  Dehnung  über  die  Elasticitätsgrenzc  hin- 
aus, riss  er  gleich  völlig  entzwei.  Man  muss  sich  den  Vorgang 
also  wohl  so  vorstellen,  dass  der  Kopf  beim  Beschuss  vorüber- 
gehend das  Aussehen  eines  Wasserkopfes  hat.  Nur  so  kann  man 
au(*h  die  Thatsache  erklären,  dass  die  Schädelhant  nur  an  der 
Mitte  der  Knochensplitter  haftet,  in  die  der  Schädel  zertrümmert 
ist,  während  sie  an  den  peripheren  Theilen  sich  zurückgezogen  hat. 
Der  Bogen,  den  das  Schädeldach  beschreibt,  ist  erhöht  und  weiter 
geworden.  Der  Knochen  kann  sich  nicht  dehnen,  er  zerbricht. 
Die  Schädelhaut  aber  wird  gedehnt  und  muss  sich  deshalb  von 
den  Händern  der  Knochensplitter  abziehen.  Zieht  man  weiterhin 
in  Betracht,  dass  das  Geschoss  l)ei  Explosivschüssen  den  Schädel 
schon  verlassen  haben  muss,  ehe  der  Schädel  springt^),  so  hat 
man  in  der  iMitstehung  der  Zerstörung  des  Schädels  durch  einen 
Schuss  eine  gewisse  Reihe  von  Ereignissen,  die  sich  ja  in  äusserst 
kurzer    Zeit    abspielen,    die    al>er    doch    eine    gewisse  Reihenfolge 


^)    Wirkung    und    kTiegsrhinirjrische   Bedeutung    der    neueren  Handfeuer- 
waflFen.     Berlin   1S93,  S.  3Ga. 


lieber  Schussverletzungen  des  Gehirns.  623 

haben  müssen.  Zuerst  fliegt  das  Geschoss  durch  den  Schädel, 
dann  wird  derselbe  gedehnt,  dann  platzt  er,  dann  erst  fliegen  die 
Knochen-  und  Hirntheile  nach  allen  Seiten.  In  neuerer  Zeit  ist  es 
nun  durch  die  Fortschritte  der  Technik  ermöglicht  durch  eine  rasch 
aufeinander  folgende  Reihe  von  photographischen  Aufnahmen,  die 
einzelnen  Phasen  einer  Bewegung  zu  fixiren  und  zu  rcproduciren. 
Diese  Apparate  arbeiten  zur  Zeit  so  schnell,  dass  über  50  Auf- 
nahmen in  der  Secunde  gemacht  werden  können.  Von  vorne 
herein  mag  es  scheinen,  als  ob  Aufnahmen  nicht  genügten,  da  das 
Geschoss  in  einer  Secunde  600  m  zurücklegt,  und  der  ganze  Vor- 
gang am  Schädel  nicht  länger  als  ^I^q  Secunde  in  Anspruch  nimmt. 
Ein  Versuch  versprach  indess  doch  gute  Erfolge,  und  wurde  auf 
folgende  Weise  angestellt. 

Auf  dem  Terrain  der  Deutschen  Versuchsanstalt  für  Hand- 
feuerwaffen, das  mir  Dank  der  Freundlichkeit  des  Herrn  Major 
Thiel  zur  Verfügung  stand,  wurden  2  Vollschädel  aufgestellt,  und 
hinter  denselben  2  Pappscheiben,  die  erste  dicht  hinter  dem 
Schädel,  die  zweite  etwa  20  cm  weiter  ab.  In  5  m  Entfernung 
lagerten  zwei  Schützen  mit  dem  Infanterie-Gewehr  No.  88  be- 
waffnet. Seitlich  von  diesen  stand  der  Apparat  der  Firma 
Ad.  Messter,  Berlin,  Friedrichstr.  94,  welche  die  kinemato- 
graphischen  Aufnahmen  freundlichst  übernommen  hatte.  Herr 
Dr.  Kurlbaum  von  der  physicalisch-technis(^hen  Reichsanstalt  hat 
mich  bei  den  Arrangements  freundlichst  unterstützt.  Während  der 
Apparat  spielte,  gaben  die  Schützen  mit  einem  Zwischenraum  von 
1  Secunde  Feuer.  Der  eine  Schädel  flog  nun  vollkommen  aus- 
einander, die  Knochensplitter  und  Hirntheilchen  spritzten  10 — 15  m 
weit,  schliesslich  brach  der  Schädel  in  2  Stücke  auseinander,  von 
denen  eines  zur  Erde  rollte,  während  das  andere  auf  dem  Tisch 
liegen  blieb.  Der  zweite  Schädel  zeigte  vom  Hinterhaupt  zur  Stirn 
einen  klaffenden  Sprung,  und  am  Ausschuss  einen  handtellergrossen 
zerfetzten  Defect,  flog  aber  nicht  auseinander.  Dass  der  zweite 
Schädel  nicht  explodirte,  hatte  zunächst  seinen  Grund  in  der 
grösseren  Festigkeit  desselben.  Die  Knochen  waren  fest  und  dick, 
bestanden  fast  nur  aus  compacter  Knochensubstanz,  während  die 
des  ersten  Schädels  dünn  spongiös  waren,  und  der  Leiche  eines 
wenig  kräftigen  Weibes  angeliörten.  Ein  zweiter  Grund  ist  der, 
dass   das  Geschoss    den  Schädel    nicht    im    grössten  Durchmesser 


624  Dr.  Tilmann, 

traf,  sondern  zieralich  dicht  unter  der  Schädeldecke  verlief,  und 
deshalb  nicht  soviele  Hirntheile  in  Bewegung  setzen  konnte,  da 
CS  eine  gerinii^ere  Strecke  durch  das  Gehirn  verlief. 

Wie  stellte  sich  nun  dieser  Vorgang  auf  den  photographischen 
Aufnahmen    dar.     Der  Beschuss,    also    der  Moment,    in    dem    der 
erste  Schädel  getroffen  wurde,    ist  in  das  Intervall    zwischen  zwei 
Aufnahmen    gefallen.      Während    auf   dem  Vorbild    noch  Alles   in 
Ruhe    ist,    sieht    man    auf   dem    nächsten    schon  bedeutende  Ver- 
änderungen.     Beide  Pai)pschirme    sind    bereits    nach    hinten    um- 
gebogen, der  erste  ganz  zertrümmert,  im  zweiten  Pappschirm  sieht 
man  den  Durchschuss  des  Geschosses  deutlich  3  cm  unterhalb  des 
oberen    Randes.      Die    Wand    muss    also     noch     gestanden 
haben,    als    das  Geschoss    ankam,    und    kann   noch  nicht  so 
umgebogen  gewesen  sein,  wie  man  es  auf  dem  Bilde  sieht,  da  die 
Kugel    sonst    darüber  hinw^eg  geflogen  wäre.     Dieses  Umbiegen 
muss  also  erst  nachher  durch  die  nachstürmenden  Hirn- 
theilchen  geschehen  sein.     Die  erste  Wirkung  des  Geschosses 
ist  nun  sehr  deutlich    auf    dem  Bilde  zu  sehen.     Nach  dem  Aus- 
schuss  zu  und  über  diesen  hinaus  fliegen  die  Hirntheilchen,  ausser- 
dem   aber    sieht    man    aus    der  Mitte   des  Schädels  senkrecht  zur 
Geschossaxe    nach    oben    und    nach  den  Seiten  einen  Strahl,  oder 
"b(\sser  gesagt    eine  ganze  Garbe  von  Hirntheilchen  fliegen,   jedoch 
nicht    nach    dem  Einschuss    zu.     Die    ganze    Einschussw^and, 
der    Hintertheil    des    Schädels    steht    vollkommen  intact 
und  fest  und  isl   das  Einschussloch    noch  deutlich  zu  er- 
kennen.    Aul  dem  nächsten  Bilde  fehlt  auch  die  Einschusswand, 
und    sieht    man    jetzt    nach    allen  Richtungen,    nur    nicht    nach 
vorne,  die  Hirniheile  fliegen.    Auf  dieser  zweiten  Aufnahme  nimmt 
die  Explosion  noch  zu,    da    die  zweite  Pai)pw\and  noch  mehr  um- 
gebogen ist  als  auf    der  ersten.     Auf  dem   dritten   Bilde  fängt  sie 
an  sich  wieder    zu    heben    und    hat  auf  dem  siebenten  Bilde  ihre 
frühere  Höhe  wieder  (Treicht.     Auf  dem  zweiten  bis  achten  Bilde 
sieht    man    noch  Hirniheile    in    der  Lufi  fliegen,    jedoch    sind  die 
einzelnen   Vorgänge    am  Schädel    nicht    mehr    zu    erkennen.      Die 
Schusswirkung    dauert    aber    noch    fort.     Auf  dem    zw^ölften  Bilde 
si(*ht  man,    dass    sich    dor  Schädelbasisrest    in  2  Hälften    spaltet, 
von    denen    eine    vom  Tisch    auf    die  Erde    fällt.     Erst    auf    dem 
27.  Bilde    gelangt    er    auf    dem  Erdboden    an.     Lässt  man  dieses 


üeber  Schussverlelzungcn  des  Gehirns.  625 

Herunterfallen  ausser  Betracht,  so  umfasst  die  Wirkung  des  Ge- 
schosses auf  den  Schädel  12  Aufnahmen,  also,  da  50  Auf- 
nahmen in  der  Secunde  gemacht  sind  ^^/go,  als  etwa  ^/^  Secunde. 
Die  Absprengung  des  Schädeldaches  dauert  2  Aufnahmen 
lang  =  2/.Q  =  Y25  Secunde.  Hirntheilchen  sieht  man  am  stärksten 
auf  der  zweiten  und  dritten  Aufnahme,  dann  abnehmend  bis  zur 
achten  fliegen,  also  in  ^/so  =  Ve  Secunde. 

Der  Beschuss  des  zweiten  Schädels  ergab  folgende  Bilder: 
Auf  dem  Bilde,  das  dem  nachher  mitgetheiltem  voranging,  waren 
noch  keine  Aenderungen  zu  erkennen.  Auf  dem  ersten  Bilde  sieht 
man  im  zweiten  Schirm  einen  grösseren,  dem  Längsschnitt  des  Ge- 
schosses entsprechenden  Durchschuss;  am  Kopf  selbst  sieht  man  zu- 
nächst vom  Scheitel  desselben  ein  lappenförmiges  Gebilde  in  die  Luft 
hinein  ragen.  Besonders  wichtig  ist  indess  das  Verhalten  des  Schä- 
dels als  Ganzes.  Vergleicht  man  sein  Verhalten  zu  dem  direct  hinter 
ihm  stehenden  Pappschirm,  so  ragt  auf  allen  früheren  Bildern  der 
obere  Rand  desselben  über  das  Niveau  des  Schädels  hinaus,  wäh- 
rend auf  dem  eben  erwähnten  Bilde  der  Scheitel  des  Schädels 
über  den  obern  Rand  der  Pappplatte  sich  erhebt.  Noch 
deutlicher  '  ist  das  auf  dem  nächsten  Bild,  auf  dem  noch  eine 
Steigerung  dieser  Erhebung  zu  constatiren  ist.  Auf  dem  dritten 
Bilde  hiniregen  senkt  sich  der  Scheitel  des  Schädels  wieder,  um 
auf  dem  oberen  Bilde  wieder  in  die  vor  dem  Beschuss  einge- 
nommene Lage  zurückzukehren;  die  Pappplatte  überragt  jetzt 
wieder  das  höchste  Niveau  des  Schädels.  Da  der  Schädel  selbst 
sich  nicht  vom  Tisch  gehoben  hat,  sondern  nachher  noch  in  der- 
selben Lage  sich  befand,  wie  vorher,  so  ist  diese  Hebung  nur 
möglich  durch  eine  Dehnung  bezw.  Aufblähung  derSchädel- 
höhle.  Die  ganze  Wirkung  des  Beschüsses  erstreckt  sich 
auf  6  Bilder,  hat  also  ^50  =  Vs  Sekunden  gedauert. 

Wenn  man  nun  durch  einen  Projectionsapparat  die  gewonnenen 
Bilder  auf  einem  Schirm  entwirft^),  und  die  Bilder  zunächst  langsam 
hintereinander  folgen  lässt,  so  werden  die  im  Vorstehenden  er- 
örterten Vorgänge  b(\sonders  deutlich.  Lässt  man  nach  Art  der 
kinematographischen  Vorführungen  die  Bilder  so  schnell  sich  folgen, 
da,ss  man   den  Gesamniteindruck   des   sich   abspielenden   Vorgangs 


0  Demonstratiou  auf  dem  Chirurgen-Coiigress. 


626  Dr.  Tilmann, 

hat,  so  sieht  man  deutlich  den  ersten  Schädel  platzen  und 
die  Hirnthoile  nach  allen  Seiten  fliegen:  Bei  dem  zweiten 
Schädel  sieht  man  nur,  dass  derselbe  gedehnt  bezw.  auf- 
gebläht wird  und  wieder  zusammenfällt.  Deutlicher  giebt 
sich  indess  der  ganze  Vorgang  kund,  wenn  man  die  einzelnen 
Photographien  studirt. 

Die  Untersuchung  der  Schädel  selbst  hat  nichts  Besonderes 
ergeben.  Der  erste  war  ja  in  einzelne  Fetzen  zerrissen,  und 
waren  keine  Vorkehrungen  getroffen,  um  die  einzelnen  Splitter  auf- 
zufangen. Der  zweite  zeigte  auf  der  Höhe  des  Schädels  einen 
handtellergrossen  Defect,  das  ganze  Gehirn  war  in  Brei  verwandelt. 
Unter  der  erhaltenen  Haut  war  das  ganze  Schädeldach  in  Splitter 
verwandelt,  die  in  der  Mitte  noch  mit  dem  Periost  und  der  Haut 
zusammenhingen,  während  am  Rande  beides  abgezogen  war. 

Die  Versuche  haben'  wohl  gezeigt,  da^s  auf  diesem  Wege 
etwas  zu  erreichen  ist,  dass  es  indess  wünschenswerth  ist,  die 
Zahl  der  Aufnahmen  noch  mehr  zu  erhöhen  etwa  bis  auf  100,  um 
noch  mehr  Einzelheiten  zur  Fixirung  zu  bringen.  Es  könnte  sich 
auch  empfehlen  mehrere  Apparate  aufzustellen,  von  denen  der 
zweite  das,  was  bei  dem  ersten  in  das  Intervall  zwischen  zwei 
Anfnahmen  fällt,  fixiren  könnte. 

x\uf  diese  Art  könnte  man  in  der  Lehre  von  den  Schuss- 
wirkungen viele  belehrende  Aufklärungen  erhalten  durch  kinc- 
matographische  Aufnahmen.  So  z.  B.  könnte  man  bei  einem  Extre- 
mitätonknochenschuss  mit  grossem  zerfetzten  Ausschuss  gewiss  die 
vorherige  Aufblähung  der  ganzen  Gegend  des  betreffenden  Gliedes 
zur  Anschauung  bringen  u.  s.  w. 

Was  kann  man  nun  aus  den  kinematographischen  Aufnahmen 
der  Schädelschüsse  schliessen?  Sie  bestätigen  vollkommen  und 
in  allen  Stücken  die  im  Vorstehenden  erörterte  Theorie  der 
Entstehung  der  Schädelschussverletzungen,  welche  mit  der 
von  der  Medicinal-Abiheilung  desKgl.  preussischen Kriegsministeriums 
zuerst  aufgestellten  hydrociynamischen  Druckwirkung  identisch 
ist.  Sie  zeigen,  dass  der  Schädel  durch  eine  von  innen  nach 
aussen  wirkende  Gewalt  aufgebläht  wird,  und  dann  wieder 
zusammenfällt,  oder  vollkommen  auseinander  fliegt.  Dass 
Geschoss  kommt  an  einem  25  cm  hinter  dem  Schädel  an- 
gebrachten Schirm    früher    an,    als    die  llirntheile.     Der 


üeber  Schussverletzungen  des  Gehirns.  627 

Vorgang  ara  zersprengten  Schädel  ist  keine  Explosion 
nach  allen  Seiten;  die  Hirntheile  werden  in  einem  Streu- 
kcgel  zunächst  nach  dem  Ausschuss  zu,  sowie  nach  den 
Seiten  geschleudert,  die  Einschusswand  bleibt  zunächst 
stehen  und  fällt  erst  später.  Damit  ist  denn  durch  die 
Photographie  direct  bewiesen,  dass  von  hydraulischem  Druck  im 
Sinne  der  hydraulischen  Presse  absolut  keine  Rede  sein  kann. 
Ferner  geht  aus  den  Bildern  deutlich  hervor,  dass  die  Kohl  er 'sehe 
Theorie  nicht  richtig  sein  kann.  Die  einzelnen  Hirntheilchen  be- 
halten ihre  Labilität,  die  nach  Köhler  bei  starken  einwirkenden 
Gewalten  verloren  gehen  soll.  Zunächst  erfolgt  ein  Sprühregen 
feinster  Hirntheilchen,  die  nach  hinten  und  radiär  vom  Schuss- 
canal  geschleudert  werden.  Auf  der  Photographie  markiren  sich 
dieselben  durch  feine  lineare  Striche,  die  wie  ein  Strahlenkranz 
nach  den  Seiten  und  nach  hinten  verlaufen.  Erst  nach  späteren 
Bildern  folgen  gröbere  Hirn-  und  Knochentheile,  die  als  dickere 
Punkte  sich  auf  dem  Bild  markiren.  Es  findet  also  kein  Aus- 
einanderschieben des  Gehirns  gewissermasscMi  als  Ganzes  statt. 
Auch  das  Stehenbleiben  der  Einschusswand,  sowie  der  Umstand, 
dass  das  Geschoss  früher  den  hinter  dem  Schädel  aufgestellten 
Pappschinn  erreicht,  wie  die  folgenden  Hirntheilchen,  ist  mit  der 
Köhler'schen  Theorie  unvereinbar.  Endlich  haben  die  Aufnahmen 
gezeigt,  dass  die  sogenannten  Explosivschüsse  nichts  weiter  sind, 
als  der  Ausdruck  einer  gesteigerten  Geschoss  Wirkung,  die  nur  in 
Folge  der  Elasticität  der  menschlichen  Haut  besonders  ho(^hgradi^'e 
Zerstörungen  aufweisen.  Es  ist  deshalb  kein  Grund  vorhanden, 
für  die  Explosivschüsse  besondere  physikalische  Erklärungen  und 
Theorien  heranzuziehen. 

Für  die  Frage  nun,  die  den  Gegenstand  meiner  Untersuchungen 
bilden  sollte,  die  Pathologie  der  Hirnschüsse,  haben  die  Kineto- 
gramme  den  Beweis  erbracht,  dass  die  Erklärung,  die  ich  den 
von  mir  festgestellten  Veränderungen  des  Gehirns  beim  Beschuss 
zu  Grunde  legte,  richtig  ist.  Wir  haben  also  gesehen,  dass  selbst 
bei  den  Schüssen  mit  der  enormen  Gewalt  des  Infanterie-Geschosses 
unter  Umständen  ein  Aufblähen  des  gesaramten  Schädels  stattfindet. 
Dieser  Umstand  beweist  theoretisch  die  Wichtigkeit  meiner  Aus- 
führungen. 'Uebertragen  wir  nun  die  an  den  Leichen  und  ana- 
tomischen   Präparaten    gewonnenen    Resultate    auf    den   Lebenden, 


628  Dr.  Tilmann, 

SO  kommt  noch  die  Blutung  hinzu,  die  durch  Anfüllung  der  Ven- 
trikel, durch  Bildung  von  Hämatomen  besondere  Symptome  machen 
könnte.  Klinisch  ist  ja  der  durch  derartige  Blutergüsse  bedingte 
Hirndruck  oft  der  Diagnose  zugänglich.  Schwieriger  ist  es  schon, 
sich  ein  Bild  von  der  Ilirnzerstörung  und  Hirnquetschung  zu 
machen,  da  die  direct  getroflFenen  und  verletzten  Hirntheile  und 
demnach  auch  die  Symptome  je  nach  dem  Bild  der  Hirnverletzung 
erheblich  variiren.  Kaum  möglich  wird  es  sein,  von  diesen  Symptomcn- 
komplexen  dann  noch  einen  besonderen  zu  differenziren  für  die  beim 
Beschuss  stattfindende  Zerrung  des  gesammten  Gehirns.  Diese 
Läsion  hat  ja  Aehnlichkeit  mit  dem  Bild,  das  wir  uns  von  der 
Hirnerschütterung  zu  machen  gewöhnt  sind,  die  das  Hirn  in  toto 
betrifft,  oft  die  MeduUa  oblongata  ergreift,  und  auch  einzelne 
Quetschungsheerde  setzen  kann.  Sie  entspricht  demselben  aber 
nicht,  insofeni  bei  Schüssen  vorwiegend  die  Markmasse  und  erst  in 
letzter  Linie  die  Rinde  betroffen  wird.  Dann  ist  die  Gew'alt- 
cinwirkung  eine  ganz  andere.  Bei  der  Gehirnerschütterung  wird 
das  ganze  Gehirn  in  toto  gleichmässig  erschüttert,  beim  Beschuss 
wirkt  eine  Gewalt  von  innen  nach  aussen,  welche  die  Hirntheile 
aus  ihrem  Zusammenhang  zu  reissen  bestrebt  ist,  und  gleichzeitig 
das  Hirn  gegen  seine  Umhüllung  drückt,  die  Zerrung  der  Hirn- 
theilchen  nimmt  vom  Schusscanal  bis  zur  Peripherie  an  Intensität 
ab,  und  ist  an  der  Rinde  am  geringsten,  betrifft  also  die  centrale 
Hirnmasse  mehr,  als  die  graue  Rinde.  Letztere  ist  nur  in  so  fern 
betheiligt,  —  natürlich  abgesehen  von  den  Rinnenschüssen  — 
als  in  ihr  sich  Defecte  finden  für  den  Ein-  und  Ausschuss. 

Diese  Hirnzerrung  nun  möchte  ich  als  besonders 
characteristisch  für  die  Schusswirkung  auf  das  Gehirn 
reclamiren,  da  sie  bei  keiner  anderen,  auf  das  Gehirn 
einwirkenden  Gewalt  zum  Ausdruck  kommt.  Zu  dem  Ge- 
sammtbild  der  Schusswirkung  auf  das  Gehirn  tritt  dann  noch  die 
Hirnzerstörung  bezw.  Quetschung  und  die  Blutung  hinzu. 

Diese  in  ihren  Ursachen  verschiedenen  Hirnläsionen  lassen 
sich  nun  in  ihren  Symptomen  unmöglich  trennen,  sondern 
combiniren  sich  heim  Beschuss  zu  einem  Gesammtbild,  denn  sie 
sind  bei  jeder  Schussverletzung  vorhanden  und  fehlen  nie.  Des- 
halb müssen  auch  alle  vorhandenen  Symptome  klinisch  auf  die 
Gesammtheit    der    für   die    Hirnschussverletzung    charac- 


Uebcr  Schussveiietzungen  des  Gehirns.  629 

teristischon  Läsionen  bezogen  werden.  Dann  wird  man 
violleicht  ein  klareres  klinisches  Bild  erhalten.  Es  ist  dagegen 
unmöglich  zu  sagen,  hier  ist  Hirndruck,  hier  Erschütterung,  hier 
Contusion,  sondern  es  kann  nur  Gradunterschiede  geben  für 
den  einen  Begriff  „Schussverlet/ung  des  Gehirns." 

Dieses  Bild  ist  nnehr  oder  weniger  in  allen  Fällen  vorhanden, 
bei  denen  das  Geschoss  in  die  Ilirnsubstanz  eintritt,  und  durch 
Uebertragung  von  Geschwindigkeit  an  die  einzelnen  Hirntheilchen 
das  Bild  der  Schussverletzung  erzeugt,  also  auch,  wenn  das  Ge- 
schoss z.  B.  nur  wenige  Centimeter  in  das  Hirn  eintritt.  Es  fehlt 
dagegen,  wenn  z.  B.  das  Geschoss  nur  die  Knochenwand  eindrückt, 
dann  im  Niveau  stecken  bleibt,  höchstens  einzelne  Splitter  ins  Ge- 
hirn treibt,  oder  selbst  vielleicht  die  Dura  noch  eben  durchbohrt. 
Die  Fälle  haben  eigentlich  für  Schusswirkung  nichts  Charakteristi- 
sches, sie  unterscheiden  sich  in  Bezug  auf  das  Trauma  in 
nichts  von  einer  durch  stumpfe  Gewalt  bedingten  Impres- 
sionsfractur  des  Schädeldachs  und  sollten  aus  der  Rubrik 
„Schussverletzung  des  Gehirns"  ausscheiden.  Diese  Fälle  sind  ja 
durch  nachweisbare  Rindenläsion  oft  der  Diagnose,  und  damit 
einer  event.  aggressiven  Therapie  zugänglich. 

Bezüglich  der  Behandlung  der  wirklich  durchbohrenden  Schädel- 
schüsse haben  diese  Auseinandersetzungen  ergeben,  dass  die  ex- 
spectative  Therapie  die  einzig  richtige  ist.  Die  beschriebene  Hirn- 
läsion ist  nicht  zu  beeinflussen,  Knochensplitter  sind  bis  6  ja  8  cm 
eingesprengt  und  können  doch  nicht  extrahirt  werden,  und  das 
Suchen  nach  der  Kugel,  das  namentlich  im  Ausland  noch  immer 
betrieben  wird,  sollte  nun  endlich  aufhören,  nachdem  wiederum 
festgestellt  ist,  dass  die  im  Schädel  stecken  gebliebene  Kugel  meist 
nicht  in  directer  Verlängerung  des  Schusscanals  steckt,  sondern 
entweder  sich  gesenkt  kat,  oder  winklig  vom  Schädeldach  re- 
cochettirt  ist. 


Archiv  für  kliii.  Cliirurgie.     57.  Bd.    Heft  3  ^2 


\ 


XXXVIII. 

Die  Behandlung  des  Lupus  mit  Röntgen 
Strahlen  und  mit  concentrirtem  Licht.') 

Von 

Dr«  Hermann  Miimmell^ 

I.  Chirurg.  Oberarzt  des  Neuen  Allgemeinen  Krankenhauses  kq  Hamburg-Eppendorf. 


M.  H.!  Als  ich  auf  dem  letzten  Chirurgencongress  die  Ehre 
hatte,  vor  Ihnen  „Ueber  die  Bedeutung  der  Röntgon'schen  Strahlen'' 
für  die  Chirurgie  zu  sprechen,  erwähnte  ich  kurz,  dass  wir  einen 
Fall  von  Lupus  des  Gesichts  günstig  durch  die  Einwirkung  der 
X-Strahlen  beeinflusst  hätten,  dass  allerdings  dieser  EIrfolg  anfangs 
von  einer  ausgedehnten  Zerstörung  der  Haut  begleitet  gewesen  wäre. 
Wir  haben  im  Laufe  des  Jahres  unsere  Versuche  fortgesetzt,  die 
lästigen,  nicht  nothwendigen  Nebenerscheinungen  nach  Möglichkeit 
beseitigt  und  bei  ausgedehnter  lupöser  Erkrankung  Erfolge  erzielt, 
welche  mir  eine  weitere  Verwendung  des  neuen  Verfahrens  em- 
pfohlenswerth  erscheinen  lassen. 

Die  Anregung,  welche  nach  dieser  Richtung  hin  eine  Mit- 
theilung von  unserer  Abtheilung  durch  Dr.  Gocht  „üeber  die  the- 
rapeutische Verwendung  der  Röntgen-Strahlen^)'*  geben  sollte, 
scheint  nicht  von  weitem  Erfolg  begleitet  gewesen  zu  sein;  denn 
nur  wenige  Fälle  von  Lupus  sind  bisher  mit  Röntgenstrahlen  ge- 
heilt oder  behandelt.  Schiff  berichtete  auf  der  Naturforscher- 
Versammlung  zu  Braunschweig  über  zwei  mit  dieser  Methode  er- 
folgreich   behandelte    Fälle    und    Albers-Schönberg    stellte    im 


1)  Abgekürzt  vorgetragen  am  4.  Sitzungstage  des  XXVIT.  CoDgresses  der 
Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  16.  April   1898. 

*)  Fortschritte  auf  dem  Gebiete  der  Röntgen -Strahlen.     Heft  I. 


Die  Behandlung  (1.  Lupus  milRönlgen-Strahlen  u.  mit  conccntrirlem  Licht.   631 

ärztlichen  Verein  zu  Hamburg  zwei  Patienten  vor,  bei  denen  der 
Lupus  des  Gesichts  in  zwei  Fällen,  und  einmal  der  der  Hand 
durch  Einwirkung  der  Röntgenstrahlen  geheilt  waren  ^).  Weitere 
Bestätigungen  der  in  unserem  Krankenhause  gewonnenen  Resultate 
konnte  ich  in  der  Litteratur  des  letzten  Jahres  nicht  auffinden. 

Was  die  heilende  Wirkung  der  Röntgenstrahlen  auf  den  Lupus 
anbetrifft,  so  beruht  dieselbe  nicht  auf  einer  Zerstörung  oder  Ver- 
brennung der  Haut,  wie  wir  sie  durch  Cauterisation  mit  heisser 
Luft  oder  dem  Thermo-  und  Galvanokauter  hervorrufen.  Eine 
tiefgehende  arteficielle  Dermatitis  ist  zur  Erzielung  eines  günstigen 
Erfolges  nicht  nothwendig  und  lässt  sich  in  den  meisten  Fällen 
bei  genauer  Beobachtung  und  vorsichtiger  Handhabung  des  Ver- 
fahrens vermeiden.  Eine  leichte  Röthung  der  Haut,  wie  wir  sie 
zuweilen  bei  Einwirkung  der  Sonne  auf  eine  empfindliche  Gesichts- 
hant  sehen,  ist  nicht  ganz  auszuschliessen  und  ist  das  Zeichen, 
dass  die  Behandlung  kurze  Zeit  einzustellen  ist.  Bei  einiger  üe- 
bung  bemerkt  man  schon  vor  dem  Auftreten  dieses  Erythems 
nach  mehr  oder  weniger  langer  Bestrahlung  als  erste  Veränderung 
eine  leichte  gelbliche  Verfärbung  der  Haut  etw^a  so,  wie  wir  sie 
von  längerem  Aufenthalt  an  der  See  oder  im  Gebirge  infolge  der 
Einwirkung  der  Sonne  auf  unsere  Haut  kennen.  Ihr  folgt  dann 
sehr  bald  die  in  Röthung  der  Haut  und  leichtem  Brennen  be- 
stehende erwähnte  Dermatitis.  Diese  wird  selten  grössere  Dimen- 
sionen annehmen  oder  in  die  Tiefe  gehen,  wenn  man  sofort  beim 
ersten  Auftreten  der  Pigmentirung  der  Haut,  der  gelblichen  Ver- 
färbung, die  Bestrahlung  einstellt.  Einfache  Bleiwasserumschläge 
beseitigen  am  schnellsten  die  Dermatitis  und  gestatten  bald  eine 
Fortsetzung  der  Behandlung.  Anfangs  glaubten  wir  durch  eine 
möglichst  energische  Einwirkung  der  Strahlen  auf  die  Haut  am 
schnellsten  und  sichersten  Heilung  des  Lupus  zu  erzielen,  es  ent- 
standen dann  ausgedehnte,  die  erkrankte  Partie  weit  überschreitende 
Zerstörungen  der  Haut,  welche  nur  sehr  langsam  heilten,  sodass 
oft  der  Lupus  früher  vernarbt  war,  als  die  grossen  granulirenden 
Flächen  der  früher  gesunden  Haut.  Sehr  bald  haben  wir  dann  ge- 
lernt, die  gesunde  Haut  gegen  die  Einwirkung  der  Strahlen  zu 
schützen  und  auch  den  oft  erheblichen  Ausfall  der  Haare,   welche 


^)  Fortschritte  auf  dem  Gebiete  der  Ron  igen -Strahlen.    Bd.  I,  H.  2  u.  3. 

42* 


632  Dr.  H.  Kümmel  I, 

sehr  langsam  oder  gar  nicht  wieder  wuchsen,  zu  vermeiden.  Wir 
behandelten  die  zu  bestrahlenden  Körpertheile  mit  dünnem  Blei- 
blech oder  mit  Masken  aus  dünnem  Staniol,  welches  sich  den 
Formen  des  Kopfes  und  Gesichts  leicht  anschmiegt  und  schnitten 
aus  dieser  schützenden  Bedeckung  so  grosse  Oeffnungen  heraus, 
als  die  erkrankte  Partie  erforderte.  Bei  ausgedehntem,  das  ganze 
Gesicht  einnehmendem  Lupus  wurden  nur  die  Haare  event.  die 
Augen  geschützt.  Diese  Vorsichtsmaassregeln  erweisen  sich  als 
vollkommen  ausreichend,  um  die  gesunden  Partieen  der  Haut 
mit  Sicherheit  gegen  die  unerwünschte  Einwirkung  der  Strahlen 
zu  schützen. 

Früher  näherten  wir  die  zu  bestrahlenden  erkrankten  Körper- 
partieen  der  Röntgenröhre  bis  auf  10—6  cm,  wodurch  oft  eine 
sehr  heftige  Reaction  nach  relativ  kurzer  Zeit  eintrat.  Um  diese 
zu  vermeiden,  haben  wir  den  Abstand  der  Röhre  wesentlich  ver- 
grössert  und  wählen  anfangs  die  bei  den  röntgographischen  Auf- 
nahmen übli(*he  Distanz  von  ca.  40  cm  und  verringern  erst  all- 
mählich, wenn  keine  Reaction  eintritt,  die  Entfernung  des  Objects 
von  der  Röhre  auf  ca.  20  cm.  Auch  hier  ist  ein  Individualisiren 
nothwendig,  und  eine  empfindliche,  leicht  reagirende  Haut  muss 
selbstverständlich  vorsichtiger  und  mit  grösserem  Röhrenabstand 
behandelt  werden  als  eine  iorpidere  auf  die  Strahlen  wenig  re- 
agirende. Wichtig  ist  es  ferner,  die  Intensität  und  Wirksamkeit 
der  zu  verwendenden  Röhre  zu  kleinen,  um  nicht  bei  etwa  dem- 
selben Abstand  und  derselben  Sitzungsdauer  bei  vorheriger  An- 
wendung einer  anderen  Lichtquelle  schwere  Reactionen  und  Ver- 
brennungen der  Haut  beobachten  zu  müssen.  Bei  einer  Patientin 
mit  schwerem,  ausgedehntem  Lupus  des  ganzen  Gesichts  und 
des  Halses  war  bereits  eine  schöne  glatte  Vernarbung  der  früher 
mit  dicken  Borken  und  tiefen  l'lcerationen  bedeckten  Haut  bei 
sehr  geringer  Reaction  eingetreten,  als  wir  zur  Fortsetzung  der 
Behandlung  und  zur  Beseitigung  einer  verdächtigen  Stelle  eine  Volt- 
Ohm-Röhre  verwandten.  Unter  denselben  Bedingungen  der  An- 
wendung trat  nach  wenigen  Sitzungen  eine  ziemlich  ausgedehnte 
Verbrennung  am  Kinn  ein,  W(*lche  zur  Aussetzung  der  Behandlung 
nöthigte  und  so  die  Heilung  wesentlich  verzögerte. 

Was  die  Dauer  der  einzelnen  Sitzungen  anbetrifft,  so  haben 
wir  die   Patienten  meist  zweimal  täglich  74  Stunde,  höchstens  Vj 


Die  Behandlung  d.  Lupus  mit  Köntgen-Strahlen  u.  mit  concentrirtem  Licht.   633 

den  Röntgenstrahlen  ausgesetzt.  Ist  eine  grössere  Anzahl  Patienten 
vorhanden,  welche  täglich  bestrahlt  werden  müssen,  so  sind  die 
Anforderungen,  welche  an  den  Apparat  gestellt  werden,  sehr  grosse; 
derselbe  ist  bei  uns  zuweilen  fast  den  ganzen  Tag  in  Thätigkeit. 
Um  Ruhepausen  eintreten  zu  lassen  und  die  Leistungsfähigkeit 
nicht  herabzusetzen,  arbeiten  wir  gewöhnlich  mit  zwei  grossen 
Inductionsapparaten,  von  denen  der  eine  im  Wesentlichen  thera- 
peutischen Zwecken  dient,  der  andere  zu  Aufnahmen  verwandt 
wird.  Die  Funkenlänge  beträgt  40  resp.  50  cm,  jedoch  sind 
kleinere  Apparate  nicht  weniger  wirksam.  Die  Behandlung  des 
Lupus  mit  Röntgenstrahlen,  eine  unblutige  und  schmerzlose  Me- 
thode, verlangt  zu  ihrer  Durchführung  bis  zur  Heilung  längere 
Zeit.  Die  Dauer  der  Behandlung  schwankt  zwischen  circa  4  Wochen 
und  mehreren  Monaten.  Je  mehr  wir  gelernt  haben  die  anfänglich 
starke  Reaction  zu  vermeiden  und  durch  die  zur  Heilung  einer 
tiefergehen  den  acuten  Dermatitis  nothwendigen  Pausen  die  Behand- 
lung wesentlich  abzukürzen,  um  so  schneller  sind  wir  zum  Ziele 
gekommen.  Wie  ich  bereits  erwähnte,  war  in  einzelnen  Fällen 
der  Lupus  schon  beseitigt,  keine  Knötchen  mehr  aufzuweisen,  und 
immer  befanden  sich  die  Patienten  noch  in  Behandlung,  um  eine 
oft  schlaffe,  wenig  gut  granulirende  Hautpartie  zur  Heilung  bringen 
zu  lassen.  Bei  der  nöthigen  Vorsicht  sind  diese  die  Heilung  ver- 
zögernden und  den  Patienten  Unbequemlichkeit  und  womöglich 
Schmerzen  bereitende  Erscheinungen  mit  wenig  Ausnahmen  zu 
vermeiden,  oder  auf  ein  Minimum  zu  reduciren. 

Um  die  oft  langsam  eintretende  Wirkung  der  Bestrahlung  zu 
beschleunigen,  haben  wir  eine  Zeit  lang  die  Patienten  durch  unter 
die  Stühle  gestellte  Glasuntersätze  isolirt.  Trotzdem  der  Organis- 
mus auf  diese  Weise  in  keiner  directen  Berührung  mit  einem  elec- 
trischen  Körper  steht,  ist  er  mit  Electricität  geladen,  sodass  man 
überall  aus  dem  isolirten  Patienten  Funken  hervorspringen  lassen 
kann  und  zwar  um  so  stärker,  je  näher  er  der  Röhre  sitzt.  Durch 
diese  Isolirungen  wurden  sehr  starke  und  unberechenbare,  nicht 
vorauszusehende  Reactionen  hervorgerufen,  sodass  wir  bald  wieder 
von  diesem  Verfahren  Abstand  nehmen  mussten.  —  Als  Beispiel 
der  intensiven  Wirkung  auf  die  Haut  möchte  ich  kurz  den  Fall 
eines  mit  einem  angeborenen  Naevus  behafteten  Knaben  envähnen. 
Das  3Y2  Jahre  alte  Kind  hatte  auf  der  Rückseite  der  linken  Hand- 


634  Dr.  H.  Kümmell, 

gelenksgegend  einen  mit  Haaren  besetzten,  über  die  Haut  etwas 
prominirenden  Naevus  von  6Y2  zu  5  cm  Ausdehnung.  Er  war 
von  braungelber  Farbe,  die  Epidermis  etwas  verdickt;  die  Haare 
waren  in  letzter  Zeit  besonders  lang  geworden  und  von  dunkler, 
fast  schwarzer  Farbe;  in  letzter  Zeit  deutliche  Vergrösserung  des 
Naevus.  Da  wir  mehrfach  bei  Anwendung  der  Röntgenstrahlen 
Haarausfall  beobachtet  und  dieselbe  auch  zur  Decapilirung  mit  Er- 
folg ohne  schädliche  Nebenwirkungen  verwandt  hatten,  so  wurde 
die  Hand  des  kleinen  Knaben,  um  zunächst  eine  Beseitigung  der 
Haare  zu  erreichen,  täglich  den  Röntgenstrahlen  V2  Stunde  aus- 
gesetzt. Der  Knabe  sass  auf  dem  Isolirstuhl,  die  gesunde  Haut 
war  durch  Bleiblech  geschützt,  Abstand  von  der  Röhre  10—6  cm. 
Trotz  dieser  intensiven  Bestrahlung  trat  in  den  ersten  14  Tagen 
keine  Reaction  ein,  einzelne  Haare  Hessen  sich  leicht  entfernen. 
Dann  trat  eine  leichte  Röthung  der  Haut  des  Naevus  und  der  ihn 
umgebenden  Randpartie  ein.  Da  die  Haare  noch  nicht  ausfielen 
und  eine  starke  Reaction  sich  nicht  zeigte,  wurde  die  Bestrahlung 
noch  etwa  10  Tage  fortgesetzt  und  dann  als  leichte  Blasenbildung 
eintrat  unterbrochen. 

In  den  nächsten  Tagen  hatte  der  entzündliche  Process  be- 
deutend zugenommen,  die  Oberhaut  hatte  sich  im  ganzen  Gebiet 
des  Naevus  in  einer  derben  Blase  losgelöst,  die  Haare  klebten  zum 
grössten  Thcil  an  dem  aufgelegten  Verband.  Das  Corium  war 
ödematös  geschwollen,  massiger  Juckreiz  und  Schmerzhaftigkeit. 
Die  Röthung  umgriff  den  ganzen  Vorderarm  und  führte  zu  einer 
ringförmigen  Granulationsfläche.  Haare  und  Pigment  waren  voll- 
ständig verschwunden.  Die  Heilung  ging  sehr  langsam  von  statten, 
besonders  die  den  Strahlen  am  intensivsten  ausgesetzte  Stelle  des 
Naevus.  Dieselbe  war  dauernd  mit  einem  fibrinösen,  an  Wundcroup 
erinnernden  Belag  bedeckt.  Nur  selten  gelang  es  die  Membran 
mit  der  Pincette  theilweise  zu  entfernen;  stets  fand  sich  am 
folgenden  Tag  derselbe  Belag  wieder  vor.  Erst  nach  Ablauf  eines 
halbes  Jahres  war  die  Wunde  fest  vernarbt. 

Die  Narbe  ist  flach,  leicht  braun  pigmentirt.  Die  beiden  Bilder, 
vor  und  nach  der  Operation  aufgenommen,  mögen  zur  Illustration 
des  Gesagten  dienen. 

Was  nun  die  mit  Röntgenstrahlen  behandelten  Lupusfälle  an- 
betrifl't,  so  w^urden  im  Ganzen  16  Patienten  behandelt.    Zwei  sind 


Die  Behandlung  d.  Lupus  niitUöntgen-Strahlen  u,  mit  concentrirteni  Licht.    635 

erst  zu  kurze  Zeit  in  Hehandlung,  um,  obwohl  deutliche  Fort- 
schritte bereits  zu  constatiren  sind,  näher  darauf  einzugehen.  Zwei 
Patienten  mit  verhältnissmässig  wenig  ausgedehnter  Erkrankung 
konnten  nur  kurze  Zeit  mit  Röntgenstrahlen  behandelt  werden.  Ein 
an  ausgedehntem  Lupus  des  Fingers  leidender  junger  Mann  wurde 
längere  Zeit  den  Strahlen  ausgesetzt  und  vollständige  Heilung  des 
Lupus  erzielt.  Später  wurde  der  Finger,  da  er  wegen  vorange- 
gangener cariöser  Zerstörung  der  Knochen,  welche  operativ  zur 
Heilung  gebracht  waren,  absolut  unbrauchbar  war,  von  Herrn 
Dr.  Sick  entfernt. 

Bei  einem  Patienten,  bei  dem  Anfangs  ein  Lupus  der  Nase 
und  der  Mundschleimhaut  angenommen  wurde,  blieb  eine  vier- 
wöchentliche Bestrahlung  ohne  jeden  Erfolg.  Der  einzige  Fall,  bei 
welchem  wir  keine  Aenderung  zum  Bessern  constatirten.  Wie  sich 
bei  weiterer  Untersuchung  herausstellte,  handelte  es  sich  nicht  um 
Lupus,  sondern  um  eine  luctische  Affection,  welche  unter  antisy- 
philitischer Behandlung  rasch  heilte.  — 

Was  die  übrigen  10  Patienten  anbetrifft,  so  bin  ich  in  der 
Lage  Ihnen  den  zuerst  behandelten  Patienten  vorzustellen. 

vSch.,  19  Jahre  alt,  leidet  seit  13  Jahren  an  Lupus  der  Wange,  welcher 
mehrfach  mit  Auskratzung  und  Caulerisation  behandelt  wurde.  Wie  Sie  noch 
auf  der  Photographie  sehen  können,  ist  die  ganze  rechte  Wange  mit  zahl- 
reichen Knötchen  bedeckt,  in  der  Mitte  mit  ausgedehntem  geschwürigem  Zer- 
fall, Wange  und  Nase  stark  geschwollen  und  geröthet,  ebenso  die  Gegend 
unterhalb  der  Nase  und  Oberlippe  afficirt. 

Behandlung  mit  Röntgen'schen  Strahlen  24/10  96.  Entfernung  von  der 
Röhre  10—6  cm,  täglich  V2  Stunde.  Nach  einer  Woche  deutliche  Besserung, 
beginnende  Ausheilung  des  Geschwürs  nach  16  Tagen,  starke  Dermatitis  und 
H<'iarausfall  in  der  rechten  Schläfengegend. 

Die  Haut  intensiv  geröthet,  löste  sich  in  Bläschen  ab,  auch  die  rechten 
Cilien,  Augenbrauen  und  Barthaaro  fielen  aus.  Die  Heilung  geht  langsam 
von  statten,  der  Lupus  vollständig  beseitigt.  Da  sich  Anfang  März  noch  eine 
verdächtige  Stelle  an  der  rechten  Nasenseite  zeigte,  wurden  nunmehr  mit  grosser 
Vorsicht  und  unter  dem  Schutz  einer  Bleimaskc  weitere  Bestrahlungen  vor- 
genommen, und  sofort  aufgehört,  wenn  sich  eine  Reaction  zu  zeigen  begann. 
Die  Knötchen  schwanden  bald  und  Anfang  Juli  war  auch  die  Dermatitis  ge- 
heilt und  Patient  wurde  mit  zarter  weisser  Narbe  entlassen.  Wie  Sie  sehen, 
ist  jetzt  eine  gleichmassige,  feste,  schöne,  nicht  entstellende  Narbe  von  weiss- 
licher  Farbe  vorhanden.  Spuren  von  Knotenbildung  nirgends  zu  entdecken. 
Seit  Y4  Jahr  ist  Patient  vollkommen  geheilt,  die  Haare  sind  nur  sehr  spärlich 
wieder  gewachsen. 


636  Dr.  H.  Kümmel  1, 

Fall  n.  Otto  M.  16,  tuberculös  belastet.  Seit  dem  4.  Lebensjahre  an 
Lupus  leidend.  Beide  Wangen,  Nase,  Ohren,  Hals  bis  zum  Sternum  herab- 
reichend sind  theils  mit  dicken  Borken,  theils  mit  deutlichen  Knötchen  und 
ausgebreiteten  Uicerationen  bedeckt,  welche  üblen  Geruch  verbreiteten.  Linkes 
Knie  fungös  erkrankt.  Nach  vergeblicher  conservativer  Behandlung  von  Herrn 
Dr.  Sick  resecirt  und  geheilt.  Am  L  8.  97  wird  Patient,  nachdem  Tuberculin- 
injection  starke  Reaction,  jedoch  keine  Besserung  hervorgebracht,  die  Behand- 
lung mit  Röntgen'schen  Strahlen  begonnen.  Schon  nach  wenigen  Sitzungen 
fielen  die  Borken  ab,  und  einzelne  Geschwürsstellen  vernarbten.  Eine  nennens- 
werthe  Reaction,  welche  zum  Aussetzen  der  Behandlung  nöthigte,  ist  nicht 
eingetreten,  die  Heilung  macht  rasche  Fortschritte.  Anfang  Januar  ist  der 
Lupus  des  Gesichts,  der  Nase,  Lippe  und  des  Halses  vollkommen  geheilt.  Am 
rechten  Ohrläppchen  noch  eine  kleine  mit  Borken  bedeckte  Stelle,  welche  noch 
weiter  bestrahlt  wird,  und  rasch  ausheilt.  Wie  Sie  jetzt  sehen,  ist  die  grosse 
lupöse  Fläche  vollkommen  verheilt  mit  einer  glatten,  nicht  entstellenden  Narbe. 
Am  Unterkiefer  noch  eine  kleine  Drüse.    Allgemeinbefinden  sehr  gut. 

Fall  HL  Martha  G.  7  Jahre  alt.  Multiple  Knochentuberculose  am  Ellen- 
bogengelenk und  Fuss.  Lupus  der  rechten  Wränge,  Kinn  und  rechte  Nasenhälfte. 
Nach  operativer  Behandlung  der  Knochentuberculose,  Einwirkung  der  Röntgen- 
strahlen auf  den  Lupus  vom  L  2.  98  ab.  Trotz  vorsichtiger  Behandlung  in 
der  Mitte  der  Wange  eine  starke  Reaction.  Lupus  Ende  März  vollkommen  ge- 
heilt bis  auf  eine  10 Pfennigstück  grosse  gut  granulirende  Stelle,  den  Rest  der 
acuten  Dermatitis;  Lupusknötchen  oder  kranke  Stelle  nirgends  zu  constatiren. 

Fall  IV.  Hertha  S.  16  Jahre,  tuberculös  belastet.  Seit  6  Jahren  am 
Lupus  des  Gesichts  und  der  Nase.  Vor  zwei  Jahren  von  mir  operirt.  Jetzt  Re- 
cidiv  an  Wange  und  Nase.  Behandlung  mit  Röntgenstrahlen  30.  9.  Keine 
irgendwie  störende  Reaction,  vorhandenen  Borken  und  Schorfe  abgefallen, 
keine  Knötchen  zu  sehen.  Patient  wird  25.  10.  entlassen  und  noch  einige 
Zeit  ambulant  mit  Röntgenstrahlen  behandelt.  Seit  Anfang  Dccember  geheilt. 
Dieser  Fall  zeigte  keine  grosse  Ausdehnung  der  lupösen  Erkrankung. 

Fall  V.  Bertha  S.  16  Jahre.  Tuberculös  belastet.  Seit  6  Jahren  an 
Lupus  des  Gesichts  leidend,  vordere  Partie  der  Nase  zerstört,  das  ganze  Ge- 
sicht gedunsen  mit  dicken  Borken  und  lupösen  Geschwüren  bedeckt.  Beide 
Lippen  ulcerirt  geschwollen,  borkig  belegt,  Inframaxillardrüsen  geschwollen. 
Das  ganze  Gesicht  eine  entstellte  geschwürige  Fläche,  auf  der  nur  wenige  ge- 
sunde Hautpartieen  zu  sehen  sind.  Patientin  wird  mit  Tuberculininjection  vom 
1.  4.  ab  behandelt,  während  eine  andere,  zu  derselben  Zeit  aufgenommene 
Patientin  (Fall  6),  welche  ungefähr  die  gleich  schwere  Zerstörung  des  ganzen 
Gesichts  darbot,  von  vornherein  den  Röntgenstrahlen  ausgesetzt  wird.  Unter 
vorsichtiger  Tuberculinbehandlung  stossen  sich  die  Borken  ab  und  verringert 
sich  die  Geschwürsfläche;  da  jedoch  keine  Neigung  zur  Vemarbung  eintritt 
und  mehrere  Wochen  kein  Fortschritt  zu  bemerken  ist,  wird  mit  Röntgenstrahlen 
begonnen  Mitte  Juli.  Rasch  fortschreitende  Vernarbung,  keine  störende  Re- 
action. Am  21.  9.  noch  eine  kleine  Geschwürsfläche  an  der  Nase  und  eine 
linscngrosse  an  der  Oberlippe.    Aus  pecuniären  Gründen  wird  Patientin  zur 


DieBehandlung  d. Lupus  milRöntgen-Strahlen  u.  mit  concentrirtem Licht.    637 

ambulanten  Behandlung  entlassen.  Die  letzten  Ulcera  vernarbten  rasch.  Patientin 
hat  jetzt  ein  vollkommen  glattes  Gesicht  mit  blasser  Narbe,  Lippe  von  normaler 
Form.    Nirgends  Knötchen  oder  ülceration  zu  entdecken. 

Fall  VL  Alma  Gr.  17  Jahre.  Tuberculös  belastet.  Seit  4  Jahren  an 
Lupus  leidend.  Mehrfach  mit  Tuberculin,  Milchsäureätzung,  Auskratzung  und 
Cauterisation  behandelt.  Der  Lupus  ulcerans  hat  jetzt  die  ganze  Umgehung 
des  rechten  Auges  ergriffen,  Nase,  Lippen,  Wange,  den  ganzen  Hals  bis  zum 
Sternum;  Spitze  und  Flügel  der  Nase  vollständig  zerstört,  Cornea  des  rechten 
Auges  getrübt.  Auch  an  der  Schulter  ulcerirte  Stellen.  Gesicht  an  vielen 
Stellen  mit  dicken  Borken  bedeckt.  Beide  Spitzen  erkrankt,  Stimme  stark 
heiser.  Am  22.  3.  2  Mal  täglich  Y^  Stunde  bestrahlt.  Bei  Eintritt  der  ge- 
ringsten Reaction  Aussetzen  der  Bestrahlung.  Gleichzeitig  wird  ein  lupös  er- 
krankter Zehen  und  Arm  mit  Röntgenstrahlen  behandelt.  Am  14.  8.  sind  ohne 
wesentliche  Reaction  die  Ülceration  im  Gesicht  völlig  verheilt  und  vernarbt. 
Einzelne  Knötchen  am  Halse  und  hinter  dem  Ohr  werden  weiter  bestrahlt. 
Anfang  des  Jahres  ist  das  ganze  Gesicht  in  eine  glatte  blasse  Narbe  ver- 
wandelt; eine  verdächtige  Stelle  am  Kinn  wird  mit  einer  Volt-Ohmröhre  be- 
sirahlt,  wodurch  eine  starke,  thalergrosse  Vernarbung  eintritt,  welche  sehr 
langsam  heilt.  Ausser  dieser  arteficiellen  Ülceration  vollständige  Heilung  der 
ausgedehnten  lupösen  Zerstörung.  Diese  Patientin  wurde  eben  zu  gleicher 
Zeit  mit  Fall  V  (Tuberculininjection)  behandelt.  Die  Fortschritte  in  der  Hei- 
lung bei  der  Bestrahlung  waren  viel  rascher  und  führten  früher  zum  Ziel, 
während  die  andern  Patienten  später  erst  nach  Erfolglosigkeit  der  Tubcr- 
culinbehandlung  mit  Röntgenstrahlen  geheilt  wurden. 

Fall  VH.  Frau  K.  56  Jahre.  Tuberculös  belastet.  Mit  15  Jahren  Lupus 
der  Nase.  Spitze  der  Nase  und  linke  Seite,  sowie  beide  Gesichtsseiten  derb 
infiltrirt  und  mit  zahlreichen  Knötchen  und  Ulcerationen  bedeckt.  Typische  Be- 
handlung mit  Röntgenstrahlen.  Geringe  Reaction;  Pause  von  wenigen  Tagen. 
Dreimonatliche  Behandlung;  vollständige  Heilung.  Die  Spuren  der  früiieren 
Erkrankung  kaum  noch  zu  sehen. 

Fall  VIII.  Frau  D.  28  Jahre.  Seit  10  Jahren  Lupus  der  Nase,  seit 
5  Jahren  in  ärztlicher  Behandlung.  Ganze  Nase  mit  Knötchen,  Ülceration  und 
Borken  bedecht,  Nasenflügel  z.Th.  zerstört.  Typische  Behandlung  mit  Röntgen- 
strahlen 2  Mal  täglich  Y^  Stunde  29.  U  97.  Am  13.  1.  Ulcerationen  vernarbt, 
Borken  beseitigt,  keine  Knötchen  nieiir,  Nase  nicht  geröthet.  Wird  ambulant 
weiter  behandelt.    Beginnendes  Abblassen  der  rotlien  Hautfarbe. 

Fall  IX.  Elise  M.  29  Jahre  wunde  wegen  ausgedehnten  Lupus  des 
Gesichts  1894  und  95  mit  Auskratzung,  Cauterisation  und  Tuberculininjection 
behandelt.  Letztere  wurden  5  Monate  lang  ohne  örtliche  Reaction  fortgesetzt 
und  wurden  60  g  verbraucht.  Patientin  wurde  gebessert  entlassen.  Aus- 
gedehnter Lupus  des  ganzen  Gesichts  bis  auf  die  Stirn  übergehend  und  bis 
zur  rechten  Schulter  sich  erstreckend.  Zwischen  den  einzelnen  Knötchen  aus- 
gedehnte Ulcerationen.  Um  die  Wirkung  einer  andern  Methode  mit  den  Röntgen- 
strahlen vergleichen  zu  können,  wurde  bei  der  gleichen  Ausdehnung  der  lang- 
jährigen Zerstörung  über  beide  Gosichtshälften  die  rechte  Seite  mit  Heissluft- 


638  Dr.  IT.  Komme II, 

Cauierisation  behandelt.  Dr.  Holländer  nahm  sehr  freundlich  die  Operation 
vor  und  demonstrirte  uns  dabei  seine  Methode  13.  2.  Die  ganze  rechte  Ge- 
sichtsseite und  ein  Theil  des  Halses  waren  in  einen  derben,  lederartigen  Schorf 
verwandelt;  derselbe  stiess  sich  bald  ab  und  frische  Granulationen  traten  zu  Tage. 
In  überraschend  schneller  Zeit  war  die  Vernarbung  eingetreten.  Ausser  einem 
durch  Narbenzug  hervorgerufenen  Ectropium  des  rechten  äusseren  Augenlids 
eine  glatte  mit  Epidermis  überkleidete  Fläche  ohne  narbige  Schrumpfung. 
Sobald  es  der  Zustand  der  Patientin  gestattete,  wurde  die  rechte  Seite  mit 
Köntgen'schen  Strahlen  behandelt  1.  3.  Geringo  Reaction.  Aussetzen  während 
einiger  Tage.  Rasch  fortschreitende  Vernarbung.  Heilung  der  ülceration  und 
Verschwinden  der  Knötchen.  Anfang  dieses  Monats  ist  die  linke  Seite  ver- 
heilt, eine  glatte  rothe  Hautlläche.  An  einzelnen  Stellen  beginnt  schon  ein 
Blasswerden  der  Haut.  Auf  der  cauterisirten  Seite  werden  einzelne  Lupus- 
knötchen  fühlbar. 

Fall  X.  Emma  E.  23  Jahre.  Seit  längeren  Jahren  Lupus  des  Gesichts 
vielfach  behandelt,  multiple  Nasen tuberculose.  Ausgedehnter  Lupus  der  Nase 
und  beider  Wangen,  Nasenspitze  zerstört.  Seit  4.  8.  Anwendung  der 
Röntgenstrahlen.  Bei  der  zarten  Haut  stärkere  Reaction,  welche  zum  Aussetzen 
nöthigt.  Dieselbe  tritt  nicht  wieder  ein,  nachdem  Patientin  weit  von  der  Röhre 
entfernt  ist.  Am  22.  12.  wird  Patientin  für  einige  Zeit  entlassen.  An  der 
Nasenspitze  glatte  weisse  Narbe,  Heilung  der  Oberlippe,  Knötchen  nehmen  ab ; 
jetzt  noch  einige  auf  der  Wange  zu  sehen. 

Die  vorgelegte  Photogi*aphie  illustrirt  nur  sehr  mangelhaft  die  einzelnen 
Resultate.  Sommersprossen  und  einige  Pigmentflecken  imponiren  darauf  leicht 
als  Lupusknötchcn. 

In  allen  behandelten  Fällen  ist  stets  ein  Erfolg  eingetreten 
und  bei  i^enügend  lani^er  Anwendung  auch  Heilung,  die  bis  jetzt 
weniastons  anhält.  Es  ist  nicht  zu  leui^nen,  dass  die  Dauer  der 
Bchandlun.ir  oft  eine  recht  lange  ist  und  mehr  Zeit  erfordert 
als  bei  andern  Methoden;  dafür  ist  dieselbe  auch  bei  richtiger 
Ilaiidhabunij;  schmerzlos,  ohne  Narkose  und  oft  eingreifende  Maass- 
nahmen  auszuführen.  Was  mir  das  AVesentliche  an  der  Methode 
zu  sein  scheint,  ist  das  gute  Endresultat.  Es  entstehen  glatte 
Narben,  die  der  normalen  Haut  so  nahe  kommen,  wie  sie  nach 
meinem  Dafürhalten  durch  keine  andere  Methode  der  Behandlung 
erzielt  wurden.  Die  Hc^lunir  vollzieht  sich  im  Ganzen  in  derselben 
äusserlich  sichtbaren  Weise.  Die  Geschwüre  reinigen  sich  und 
vernarben,  die  Borken  trocknen  ein  und  faHen  ab,  die  Knötchen 
schrumpfen,  die  Haut  schuppt  ab,  die  Röthung  der  Haut  schw^indet 
allmälig  und  macht  einer  weissen  Narbe  Platz.  Für  kleinere 
circumscriple    lupüse   Herde    wird    man    gewiss    der  Excision    mit 


Die  Behandlung  d.  Lupus  mitRöntgen-Strahlen  u.  mit  concentrirlem  Licht.    639 

nachfolgender  Naht  oder  Transplantation  den  Vorzug  geben,  weil 
dadurch  im  Grossen  und  Ganzen  der  Ileilungsverlauf  abgekürzt 
wird.  Für  die  ausgedehnten  Fälle  von  Lupus,  welche  das  ganze 
Gesicht  einnehmen,  Nase,  Augenlider,  Lippen  bereits  in  Mit- 
leidenschaft gezogen  haben  und  auf  den  Hals  bis  zum  Sternum 
reichen,  wie  es  in  den  meisten  unserer  Fälle  war,  kann  ich  mir 
keine  schonendere  Methode  denken,  welche  alles  Gewebe  erhält, 
welches  zu  erhalten  ist,  die  Gescliwüre  rasch  zur  Vernarbung 
bringt  und  mit  einer  glatten  blassen  Narbe  abschliesst;  von  tiefer- 
gehender Narbenschrurapfung  ist  nichts  zu  sehen,  Ectropium  der 
Augenlider,  wie  man  sie  bei  chirurgischen  Methoden  so  häufig 
entstehen  sieht,  haben  wir  nie  gesehen. 

Nachdem  wir  jetzt  gelernt  haben,  die  schwere  Zerstörung 
der  Haut  zu  vermeiden  und  mit  minimaler  Reaction  oder  ohne 
eine  solche  zum  Ziel  kommen,  behandeln  wir  die  Patienten 
meist  so  lange,  bis  der  Schorf  abgestossen,  die  Geschwüre  verheilt 
und  die  Knötchen  zum  grössten  Theil  verschwunden  sind.  Alsdann 
könnten  die  Kranken,  wo  es  ihre  Verhältnisse  erlauben  oder  es 
gewünscht  wird,  zur  ambulanten  Behandlung  entlassen  werden. 
Sie  werden  dann  ohne  Störung  des  Berufs  täglich  V4 — Yo  Stunde 
der  Bestrahlung  ausgesetzt.  Bei  der  geringsten  Reaction  Aus- 
setzen der  Behandlung  und  wenn  nöthig,  Bleiwasserumschläge, 
welche  sich  uns  am  Besten  zur  Beseitigung  der  acuten  Dermatitis 
bewährt  haben.  Dass  es  sich  in  unsern  Fällen  zunäclist  nur  um 
zeitweilige  Heilungen  handelt,  ist  selbstverständlich.  Die  Zeit  ist 
bis  jetzt  zu  kurz,  um  von  Dauerresultaten  sprechen  zu  können. 
Worauf  beruht  imn  die  Wirkung  der  Röntgenstrahlen  auf  das 
lupöse  Gewebe.  Sind  es  specifische  Wirkungen  der  in  ihrem 
Wesen  unbekannten  X-Strahlen  oder  die  Wirkungen  des  Lichts 
oder  speciell  des  electrischen.  Finsen  in  Kopenhagen  hat  ,in 
ausgedehntem  Maasse  Versuche  mit  concentrirtem  Sonnen-  und  elec- 
trischem  Licht  angestellt,  die  Wirkung  desselben  auf  die  ver- 
schiedensten Bacterienarten  beobachtet  und  dasselbe  zu  thera- 
peutischen Zwecken  verwandt.  Da  man  das  Sonnenlicht  nicht 
immer  zur  Verfügung  hat,  ist  es  für  regelmässige  therapeutis(the 
Maassnahmen  nicht  zu  gebrauchen.  Finsen  verwandte  deshalb 
ein  System  von  Sammellinsen  und  eine  Bogenlampe  von  25  Am- 
pere und  erzielte  damit  sehr  günstige  Heilerfolge  bei  Lupus. 


640  Dr.  n.  Kümmel  1, 

Circa  50  Patienten  wurden  behandelt,  ein  grosser  Theil  ist 
noch  in  Behandlung,  20  wurden  geheilt.  Aus  der  interessanten 
Arbeit  geht  hervor,  dass  Lupus  auch  durch  concentrirtes  Sonnen- 
licht, vor  Allem  durch  concentrirtes  electrisches  i^icht  zu  heilen 
ist.  Eine  specifische  Wirkung  der  Röntgen-Strahlen  ist 
hiernach  auszuschliessen.  Ebenso  ist  die  Wirkung  der  Wärme 
und  die  durch  diese  hervorgerufene  Verbrennung  auszuschliessen, 
da  wir,  wie  ich  mittheilte,  ohne  solche  Verbrennung  seit  längerer 
Zeit  gute  Erfolge  erzielten  und  in  dem  Einsen 'sehen  Apparat 
ebenfalls  die  Wärmestrahlcn  ausgeschaltet  wurde.  Um  die  inter- 
essanten Einsen 'sehen  Versuche  nachprüfen  und  die  Wirkung  des 
concentrirten  Lichtes  auf  den  Lupus  beobachten  zu  können,  haben 
wir  in  unserem  Krankenhause  den  Finsen'schen  Apparat  aufstellen 
lassen.  Der  Einfachheit  halber  möchte  ich  Ihnen  den  Haupttheil 
des  Apparates,  das  Linsensystem  vorführen,  die  Anordnung  des 
Ganzen  werden  Sie  aus  der  Photographie  ersehen.  Die  Lichtquelle 
bildet  eine  von  Siemens  und  Halske  hergestellte  Bogenlampe  von 
25  Ampere  und  65  Volt.  Der  Brennpunkt  muss  ein  absolut  fester 
sein,  um  eine  richtige  Einstellung  des  Linsensystems  zu  ermög- 
lichen; auch  das  letzte  muss  feststehen  und  keinen  Schwan- 
kungen unterworfen  sein;  um  dies  zu  ermöglichen,  ist  Lampen- 
und  Linsensystem  an  einem  festen  Eisengestell  angebracht;  oben 
befindet  sich  die  Bogenlampe  mit  festem  Brennpunkt,  in  einem 
Abstand  von  10  mit  12  Ampere  von  der  fjichtquelle  werden 
die  Linsen  eingestellt.  Die  fernrohrähnliche  Messinghülse,  welche 
die  Linse  enthält,  ist  an  einem  seitlichen,  in  einem  Winkel 
von  g(Miau  130  pCt.  befestigten  Eisenstab  verschieblich  an- 
gebracht. Das  Linsensystem  besteht  aus  4  Bergkrystalllinsen 
in  zwei  getrennten  Röhren,  welche  in  einander  verschieblich  sind, 
in  dem  vorderen  Theil  befindet  sich  ein  grosser  Behälter  zur  Auf- 
nahme von  Wasser  zur  Ausschaltung  von  Wärmestrahlen  oder  von 
Methylenblaulösung  zur  Erzielung  der  chemisch  wirksamsten  con- 
centrirten blauen  Strahlen.  Ohne  Wasser  wird  durch  das  Linsen- 
system natürlich  eine  sehr  starke  Wärme  erzeugt,  welche  die 
Haut  sofort  verbrennen  würde  und  welche  Papier  sofort  verkohlt. 
Na(^h  Einschaltung  des  Wassers  macht  sich  nur  die  Wirkung  des 
electrischen  Lichtes  geltend,  eine  Wärmeentwicklung  findet  absolut 


Die  Behandlung  d.  Lupus  nutKöntgon-Stralilen  u.  mit  conccntrirtem  Licht.   641 

nicht  statt.  Um  das  chemisch  indifferente  rothe  Licht,  welches 
durch  das  Blut  der  Hautgefässe  abgegeben  wird,  auszuschalten, 
presst  Pinsen  auf  die  zu  bestrahlenden  lupösen  Partien  etwa 
thalergrosse  Glasplatten  auf,  um  dieselben  anämisch  zu  machen. 
Diese  Druckgläser  bestehen  aus  zwei  einen  Hohlraum  bildenden 
Glasplatten,  zwischen  denen  zur  sicheren  Ausschaltung  aller  Wärme- 
strahlen, w^enn  nöthig,  noch  kaltes  Wasser  circuliren  kann.  Durch 
das  Aufpressen  dieser  Glasplatten  treten  die  einzelnen  Lupus- 
knötchen  mit  grösserer  Deutlichkeit  zu  Tage,  wenn  der  Lichtkegel 
auf  sie  fällt.  Die  zur  Zeit  beleuchtete  Fläche  ist  nur  eben  Zehn- 
pfennig-Stück gross  und  muss  eine  Stelle  nach  der  andern  der 
Beleuchtung  unterworfen  worden.  Die  Behandlung  zieht  sich  wie 
bei  Anwendung  der  Röntgen-Strahlen  über  Wochen  und  Monate 
hin.  Einige  Lupusknötchen  können  zuweilen  in  einer  Sitzung  von 
etwa  20  Minuten  Dauer  beseitigt  werden.  Diese  sehr  wirksame 
Methode  mit  conccntrirtem  electrischem  Licht  hat,  wie  es  scheint, 
den  Röntgen-Strahlen  gegenüber  den  Nachtheil,  dass  zur  Zeit 
nur  kleine  Partieen  bestrahlt  werden  können,  während  bei  den 
letzteren  sofort  die  gesammte  erkrankte  Fläche  in  Behandlung  ge- 
nommen wird.  Es  scheint  mir  nicht  unpraktisch  event.  eine  Com- 
bination  beider  Methoden  eintreten  zu  lassen,  indem  die  grossen 
lupösen  Flächen  mit  Röntgen-Strahlen  in  Behandlung  genommen 
werden  und  einzelne  noch  zurückbleibende  Knötchen  mit  dem  con- 
centrirten  Licht  des  Finsen'schen  Apparats  beseitigt  werden. 

Die  weitere  Frage,  ob  die  heilende  Wirkung  der  Röntgen- 
strahlen etwa  auf  einer  Vernichtung  der  Bacterien  beruhe,  rausste 
unsererseits  im  negativen  Sinne  beantwortet  werden.  Es  war  von 
vornherein  anzunehmen,  dass  die  Kathodenstrahlen,  welche  nach 
den  Untersuchungen  von  Wiedemann  und  Ebert  eine  grössere 
Energie  der  Schwitigungen  besitzen,  als  die  Strahlen  des  hellsten 
Sonnenlichts,  auch  gleich  diesen  die  Eigenschaft  haben  würden, 
pathogene  oder  sonstige  Bacterien  zu  vernichten. 

Die  Versuche  von  Mink,  welcher  Typhusbacillen  2 — 8  Stunden 
der  Einwirkung  von  Röntgenstrahlen  aussetzte,  blieben  negativ. 

Beck  und  Schultz  haben  ebenfalls  bei  Einwirkung  von  20  Mi- 
nuten bis  2V2  Stunden  undbei  25  cm  Röhrenabstand  negative  Resultate. 

Berton    hatte    bei   64 stündiger    Exposition,    Sabrazcs    und 


642  Dr.  11.  Kümmell, 

Rivioro  bei  20s(iindigor  boi  Diphlhoriebacillen  rosp.  bei  Bacill. 
prodigiosiKS  nur  negative  Resultate;  die  Culturen  wuchsen  ebenso 
üppi^  wie  die  nicht  behandelten. 

llerlet  und  Genoud  befassten  sich  mit  der  Wirkung  der 
Röntgenstrahlen  auf  Tuberculose,  indem  sie  in  der  Leistengegend 
Kaninchen  mittuberculöserMilzaufschweramung  impften.  DieControU- 
thiere  zeigten  an  der  geimpften  Stelle  Geschwüre,  mit  reichlicher 
eitriger  Secretion  und  Schwellung  der  Leistendrüsen,  während  die 
an  der  geimpften  Stelle  mit  Röntgenstrahlen  behandelten  Thicre 
keine  Absonderung  zeigten  und  in  gutem  Ernährungszustande 
blieben.  Ebenso  glaubte  Fiorentini  und  Linaschi  bei  Thier- 
experimenten  durch  Einwirkung  der  Röntgenstrahlen  die  Ent- 
wickelung  von  Tuberculoseinfection  zu  verzögern. 

Rieder^)  ist  der  erste,  welcher  positive  Resultate  erzielte. 
Der  Inductor  hatte  30  cm  Funkenlänge,  Röhrenabstand  10  cm, 
Expositionszeit  1 — 3  Stunden.  Bei  Tuberculosebacillen  glaubte  er 
eine  Beeinträchtigung  des  Wachsthums  der  Bacterien  annehmen  zu 
müssen. 

In  Agar-ßlutserum  oder  Gelatine[)latten  suspendirte  Bacterien 
gehen  sicher  zu  Grunde  schon  bei  ca.  1  Stunde  dauernder  Ein- 
wirkung der  Röntgenstrahlen.  Auch  Bouillonculturen  z.  B.  der 
Cholera  können  durch  länger  dauernde  Bestrahlung  abgeschwächt 
werden,  dagegen  gelang  der  Versuch,  andere  Colonien  in  ihrer 
weiteren  Entwickelung  aufzuhalten,  z.  B.  in  Gelatineculturen  nach 
24stündigem  Wachsthum  nur  theilweise. 

Unsere  Versuche  lieferten  ein  absolut  negatives  Resultat. 
Zur  Verwendung  kamen  Bacterium  coli,  Sta|)hylococcus  aureus, 
Streptococcus  und  ^licroc.  prodigiosus.  Selbst  nach  12stündiger  Ein- 
wirkung wuchsen  die  in  Petri'sche  Schälchen  untersuchten  Colonieen 
ebenso  üppig,  wie  die  Controlculturen.  Bei  3  mit  Tuberkelbacillen 
angestellten  Versuchsreihen,  bei  denen  die  Culturen  täglich  V2  Stunde 
den  Strahlen  ausgesetzt  waren,  wuchsen  selbst  nach  Fortsetzung 
der  Bestrahlung  während  24  Tagen,  die  behandelten  Culturen  ebenso 
üppig,  wie  die  nicht  bestrahlten. 

Worauf  die  Verschiedenheit    der  Resultate  Rieder's  und  der 


')  Münchener  med.  Wochenschrift.     1898.  No.  4. 


Die  Behandlung  d.  (jupus  mitKöntgon-Strahlen  u.  mit  concentrirtem  Licht.    643 

anderen  Beobachter  beruht,  ist  sdiwer  zu  sagen.  Was  die  Ein- 
wirkung des  concentrirten  Lichts  auf  Bacterien  anbetrifft,  so  er- 
zielte Finsen  in  relativ  kurzer  Zeit  fJositive  Resultate. 

Benutzt  wurden  Culturen  von  Microc.  prodigios.,  Bact. 
fluorescens,  Bact.  coli,  Typhus  und  Milzbrand,  in  der  Hauptsache 
Microc.  prodigiosus.  Die  Versuche  wurden  so  angestellt,  dass  zwei 
Parallelculturen,  die  eine  rait  dem  concentrirten  blauen  Licht,  die 
andere  mit  directem  Bogenlicht,  bei  75  cm  Abstand  beleuchtet 
wurden.  Das  unconcentrirtc  Licht  schwächte  die  Wachsthurasfähig- 
keit  nach  1  Yg  Stunden  ab  und  tödtete  nach  8 — 9  Stunden,  während 
das  concentrirte  blaue  Licht  nach  4 — 5  Minuten  abschwächte  und 
nach  15 — 20  Minuten  tödtete. 

Wie  wir  sehen,  ist  auch  die  Bacterienwirkung  der  Röntgen- 
strahlen als  wirksamer  Factor  in  der  Heilung  des  Lupus  wohl  mit 
ziemlicher  Sicherheit  auszuschliessen,  nicht  so  beim  concentrirten 
Licht.  Es  handelt  sich  um  bis  jetzt  noch  nicht  gekannte  Ein- 
wirkung auf  das  Gewebe,  vielleicht  trophoneurotischer  oder  chemisch- 
electrischer  Art. 

Fassen  wir  unsere  Erfahrung  über  die  Wirkung  der  Röntgen- 
strahlen   und    des    concentrirten  Lichtes    auf  den  Lupus  kurz  zu- 
sammen,   so    möchte  ich  folgende  Punkte   besonders  hervorheben: 
L  Die  Röntgenstrahlen    bilden    ein    sehr   werthvolles    thera- 
peutisches Mittel    zur  Behandlung    resp.    zur  Heilung  des 
Lupus. 
2.  Die  Heilung  geht  um  so  sicherer  und  schneller  von  Statten, 
je  mehr  die  eine  längere  Unterbrechung  erfordernde  schwere 
Verletzung  der  Haut  vermieden  wurde. 
»S.  Eine  specifische  Wirkung  ist  den  Röntgenstrahlen   bei  der 

günstigen  Wirkung  auf  den  Lupus  nicht  zuzuschreiben. 
4.  Die  Heilung  des  Lupus  durch  die  Röntgenstrahlen  beruht 
nicht  auf  der  durch  zu  starke  Stnime  oder  zu  geringe 
Entfernung  des  Objects  von  der  Röhre  veranlassten  acuten 
Dermatitis,  sondern  auf  einer  in  seiner  Eigenart  noch 
nicht  näher  bekannten  lieeinflussung  des  lupösen  Gewebes; 
vielleicht  handelt  es  sich  um  einen  electro-chemischen 
Prozess  (Jankau)  oder  um  eine  trophoneurotische  Ein- 
wirkung (Barth  eleu  ny). 


t)4:4    Dr.  H.  Kümmell,  Die  Behanriluiij^  d.  Lupus  mit  Röntgen-Strahlen  elc. 

5.  Dasselbe  gilt  von  der  Wirkun^^  des  conccntrirten  Lichtes 
(Finscn),  wodurch  der  Lupus  ebenfalls  günstig  beeinflusst 
resp.  geheilt  wird. 

6.  Die  durch  Anwendung  der  Röntgenstrahlen  entstandenen 
Narben  sind  weit  glatter  und  schöner  als  die  durch  andere 
Behandlung  entstandenen.  Narbencontractionen  mit  ihren 
verunstaltenden  Nebenwirkungen,  haben  wir  bis  jetzt  nicht 
beobac-htet. 

7.  Für  Behandlung  grosser  lupöser  Flächen  ist  die  Röntgen- 
strahlung der  mit  concentrirtem  Licht  vorzuziehen. 


XXXIX. 

lieber  Peritonitis  chronica  non  tuberculosa 

und  ihre  Folgen:  Verengerung  des  Darmes 

und  Dislocation  der  rechten  Niere/) 


Von 

Professor  Dr.  Riedel 

in  Jena.  ' 

(Mit  einer  Figur.) 


M.  H.!  In  weitaus  den  meisten  Fällen  entstehen  Verwachsun^M*n 
in  der  Bauchhöhle  dadurch,  dass  secundär  entzündete  seröse 
Flächen  mit  einander  verkleben;  der  primäre  entzündliehe  Process 
spielt  gewöhnlich  in  der  Schleimhaut  der  Intestina  resp.  im  Paren- 
chym  der  Unterleibsdrüsen;  von  dort  setzt  er  sieh  auf  den  serösen 
Ueberzug  der  genannten  Organe  fort,  veranlasst  die  Verklehung 
und  sodann  die  Lageveränderung  derselben.  Derartig  entstandene 
Adhaesionen  sind  im  Laufe  der  letzten  Jahre  vielfach  Gegenstand 
operativer  Behandlung  gewesen. 

Heute  möchte  ich  die  Aufmerksamkeit  auf  diejenigen  Lage- 
veränderungen der  Baucheingeweide  lenken,  die  umgekehrt  vor- 
wiegend durch  primäre  Entzündung  der  serösen  Flächen  entstehen 
bei  intacten  Schleimhäuten  resp.  Parenchymen  der  unterliegenden 
Organe. 

Diese  chronische  partielle  Peritonitis  ist  längst  bekannt  und 
oft  beschrieben  worden.  Virchow^)  hat  sich  schon  1853  ausführ- 
lich über  dieselbe  ausgesprochen,  auch  über  die  Fntwickelung  des 
Leidens  genauere  Angaben  gemacht:  „Auf  der  Oberfläche  des  Bauch- 
felles bilden  sich  flache  faserstoffige  Lxsudatschichten,  welche  mehr 


0  Abgekürzt  vorgetragen  am  1.  Sitzungstage  des  XXVII.  Congresses  der 
Deutschen  (iresellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  13.  April  1898. 
2)  Virchow^s  Archiv.     V,  S.  335. 

Archiv  für  klin.  Chirurgie.    Bd.  57.    Heft  3.  ^3 


646  Dr.  Riedel, 

oder  weniger  grosse  Stellen  bedecken  und,  ohne  Verklebuugen  von 
Baucheingeweiden  hervorzubringen,  gewöhnlich  sehr  bald  zur  Binde- 
gewebsbildung schreiten.  Wie  fast  alles  neugebildete  Bindegewebe 
geht  auch  dieses  sehr  bald  eine  Volumsreduction  ein,  es  contrahirt 
sich,  die  Peripherie  des  weisslichen  Sehnenfleckes  zieht  sich  strahlig 
ein,  die  Mitte  erhebt  sich  als  sternförmige  Narbe,  und  die  Ober- 
fläche der  befallenen  Stelle  muss  nothwendig  dieser  Einziehung 
folgen.  Das  Mesenterium  verkürzt  sich  in  gewissen  Richtungen, 
es  faltet  sich  ein  und  bekommt  eine  harte  callöse  Beschaffenheit. 
An  der  Flexura  sigmoidea  wird  durch  diese  Oontraction  zuweilen 
eine  Art  Abschnürung  ihres  Gekröses  hervorgebracht,  der  nicht 
selten  eine  Achseudrehung  und  eine  vollständige  Umdrehung  folgt.** 
Virchow  citirt  schon  damals  zahlreiche  Arbeiten  über  diese 
Krankheit;  sie  wird  von  allen  Autoren  erwähnt,  welche  die  Ano- 
malien der  Bauchhöhle  eingehender  studirt  haben;  in  neuester  Zeit 
ist  sie  von  Curschmann^)  in  ihren  Consequenzen  ausführlich  ge- 
schildert worden. 

Die  Chirurgen  haben  sich  besonders  mit  einer,  schon  von 
Virchow  erwähnten  Consequenz  des  Leidens  beschäftigt,  nämlich 
mit  der  Annäherung  der  Fusspunkte  des  S-romanum,  wodurch  die 
Prädisposition  für  die  Achsendrehung  gegeben  ist;  es  unterliegt 
keinem  Zweifel,  dass  durch  Schrumpfung  des  Mesenterium  vom 
S-romanum  die  günstigsten  Bedingungen  für  das  Umschlagen  der 
Flexur  geschaffen  werden. 

Weniger  ist  berücksichtigt  worden,  dass  die  Schrumpfung  des 
Mesenterium  vom  S.  romanum  an  sich  schon,  bevor  es  also  zur 
Achsendrehung  kommt,  zu  Ileus  resp.  zu  ileusartigen  Erscheinungen 
führen  kann,  dass  der  gleiche  Schrumpfungsprocess  auch  an  an- 
deren Theilen  des  Mesenterium  resp.  im  Peritoneum  der  hinteren 
Bauchwand  s|)ielen,  zu  Verlagerungen  und  Verengerungen  besonders 
des  Dickdarmes  und  zur  Dislocation  der  Niere  führen  kann.  In 
Betreff  der  Darm  Verengerungen  habe  ich-)  kürzlich  diese  Lücke 
auszufüllen  gesucht,  und  an  (hn-  Hand  von  8  Fällen  ausgeführt, 
dass  diese  Schrumpfung  als  wahrscheinlic^h  primäre  Krankheit  im 
Gebiete  des  Coecum  und  des  unteren  lleumendes  vorkommt,  dort 
zu  Verwachsungen  der  genannten  Darniabschnitte    führt,    so    da^js 

1)  Deutsches  Archiv  für  kl  in.  Medicin.     Bd.  LIII. 

2)  Mittheilungen  aus  den  Grenzgebieten.     IL  Bd.,  S.  529. 


Uobcr  Peritonitis  chronica  non  tnbcrculosa  und  ihre  Folgen.        647 

Ileus  entstehen  kann  (3  Fälle).  Bei  der  Besprechung  der  Schrumpfung 
des  Mesenterium  vom  S  romanum  (5  Fälle)  wurde  hervorgehoben, 
dass  die  bekannten  Vorläufer  der  Achsendrehung  (ileusartige  Er- 
scheinungen, die  durch  Wassercinläufe  beseitigt  werden)  wahrschein- 
lich auf  Passagestörungen  zurückzuführen  seien,  die  durch  jene 
Schrumpfungen  entständen;  es  sei  auch  anzunehmen,  dass  in  ein- 
zelnen Fällen  die  Beseitigung  eines  solchen  durch  Schrumpfung 
hervorgerufenen  Hindernisses  als  spontane  oder  durch  Wasser- 
einläufe herbeigeführte  Rückdrehung  des  um  seine  Achse  gedrehten 
S  romanum  gedeutet  worden  sei. 

Ueber  die  Genese  dieses  Schrumpf ungsprocesses  habe  ich  mich 
sehr  vorsichtig  ausgedrückt.  Sicher  ist,  dass  derselbe  schon  an- 
geboren als  primäres  Leiden  des  Mesenterium  beobachtet  ist;  es 
erscheint  also  durchaus  wahrscheinlich,  dass  er  auch  im  späteren 
Leben  als  primär  chronische  Entzündung  auftreten  kann.  Da  er 
aber  gerade  da  am  häufigsten  vorkommt,  wo  relativ  oft  Koth- 
massen  stagniren,  so  könnte  man  auch  annehmen,  dass  die 
Schrumpfung  ein  secundärer  Process  sei:  Zuerst  wiederholte  An- 
häufung von  Kothmassen  im  Coecum  resp.  in  der  Flexura  sigmoidea, 
dadurch  intensiver  Zug  besonders  am  Mesenterium  des  S  romanum, 
multiple  Rupturen  im  Bindegewebe  des  Mesenterium,  reactive 
Narbcnbildung.  Gegen  diese  Annahme  spricht  aber  der  Umstand, 
dass  die  Narbenbildung  immer  am  intensivsten  an  der  Radix  des 
Mesenterium  vom  S  romanum  zu  sein  pflegt,  während  sie  nach 
der  Peripherie,  d.  h.  also  nach  dem  Darme  zu,  immer  geringfügiger 
wird,  sehr  selten  auf  letzteren  selbst  sich  fortsetzt. 

In  allerneuester  Zeit  habe  ich  aber  erst  Gelegenheit  gehabt, 
diese  anatomischen  Verhältnisse  an  einem  ganz  einwandfreien  Falle 
genau  feststellen  zu  können,  so  dass  ich  jetzt  wohl  ziemlich  sicher 
den  Beweis  führen  kann,  dass  das  Leiden  in  den  meisten  Fällen 
—  weiter  möchte  ich  auch  jetzt  noch  nicht  gehen  — .  primär  im 
Mesenterium  auftritt.  Das  Gleiche  dir  für  die  erwähnte  Vijr- 
sehiebung  der  rechten  Niere  nach  links;  auch  dort  konnte  man  im 
Zweifel  sein,  ob  erst  die  Niere  nach  links  w<in(lerle  und  dann  das 
der  Niere  aufliegende  Periloneum  sich  secundär  entzündete  und 
verdickte,  oder  ob  umgekehrt  die  Schrumpfung  des  Peritoneum  das 
primäre  sei.  Die  nachfolgende  Darstellung  wird  keinen  Zweifel 
lassen,    dass    in    vielen    Fällen    die  Narbenbildung    im  Peritoneum 

43* 


648  Dr.  Riedel,  •     • 

Ursache  der  Nieren  Verschiebung  ist,  während  man  in  anderen 
Fällen  in  der  That  unsicher  darüber  sein  kann,  ob  die  Narben 
nicht  etwa  secundär  entstanden  sind. 

I.  Narbenbildung  in  den  Mesenterien. 

Seit  dem  Abschlüsse  meiner  oben  erwähnten  Arbeit  (Juli  1897) 
sind  4  weitere  Fälle  zur  Operation  gekommen,  in  toto  also  12; 
von  ihnen  fallen  10  in  die  letzten  IV2  Jahre,  eine  höchst  auf- 
fallende Cumulation,  die  nur  dadurch  erklärt  werden  kann,  dass 
überhaupt  in  hiesiger  Klinik  in  neuester  Zeit  die  Zahl  der  Lapa- 
rotomien eine  verhältnissmässig  sehr  grosse  ist.  Gesehen  habe  ich 
speciell  die  Schrumpfung  des  Mesenterium  vom  S  romanum  noch 
in  einem  13.  Falle  bei  Gelegenheit  einer  Gallensteinoperation;  bei 
2  weiteren  Kranken  mit  Beschwerden  in  der  linken  Bauchseite 
(einmal  oft  sich  wiederholende  Bildung  eines  rundlichen  Tumors 
in  der  linken  LTnterbauchgegend ,  krampfliafte  Schmerzen  daselbst, 
Obstipation,  Tumor  verschwindet  innerhalb  8 — 14  Tagen)  wurde 
die  Diagnose  auf  Schrumpfung  des  genannten  Mesenterium  ge- 
stellt, aber  nicht  operirt,  so  dass  diese  Fälle  nicht  als  sicher  be- 
zeichnet werden  können.  Dasselbe  gilt  von  einem  4.  Kranken  mit 
chronischer  Peritonitis  im  Bereiche  des  Coecum,  den  ich  in  neuester 
Zeit  gesehen  habe;  er  demonstrirte  eine  fast  typische  Erscheinung: 
den  vor  meinen  Augen  auftretenden,  mit  J^uft  gefüllten,  harten 
wurstförmigen  Tumor  oberhalb  des  rechten  Lig.  Poup.,  der  nach 
wenigen  Minuten  wieder  verschwand.  Er  entsteht  durch  krampf- 
hafte peristaltische  Bewegungen  im  unteren  Theile  des  lleum  resp. 
im  Coecum.  Patient  litt  seit  vielen  Jahren  an  Beschwerden  von 
Seiten  des  Magens  und  des  Darmes,  ohne  je  acut  erkrankt  gewesen 
zu  sein,  so  dass  die  Diagnose  auf  chronische  Peritonitis  höchst 
wahrscheinlich  zutrifft;  operirt  habe  ich  ihn  vorläufig  nicht. 

Bei  den  4  operirten  Kranken  handelt  es  sich  2  Mal  vorwiegend 
um  Schrumpfungen  im  Gebiete  des  Mesenterium  vom  S-romanum, 
doch  waren  auch  die  Mesenterien  der  übrigen  Abschnitte  des  Dick- 
darmes mehr  oder  weniger  betheiligt;  2  Mal  war  fast  ausschliess- 
licli  das  Mesenterium  der  Flexura  Renalis  ergriffen.  Ich  theile  zu- 
nächst die  Leidensgeschichte  eines  Kranken  mit,  der  die  beschrie- 
benen Narbenbildungen  am  intensivsten  und  zwar  an  der  Radix 
mesentcrii  S-romani  zeigte  (vergl.  Fig.   1). 


üeber  Peritonitis  chronica  non  tubercalosa  und  ihre  Folgen.        t>49 

No.  1.    Adam  Kessler,  66  Jahre  alt,  aufgenommen  ]].  10.  97. 

Im  letzten  Winter  mehrraoh  Abgang  ron  Schleim  und  Blut  mit  dem  Stuhl- 
gänge, sonst  stets  gesund. 

Pat.  hat  sich  vor  6  Tagen  angeblich  eine  rechtsseitige  Hernie  aurück- 
gebracht;  seitdem  kein  Stuhlgang  mehr,  kein  Abgang  von  Winden;  kein  Er- 
brechen. St.  pr. :  Bauch  nur  relativ  wenig  aufgetrieben ,  dculliche  peristal tische 
Bewegungen  in  grossen  Wülsteu    bemerkbar;    Mastdarm    frei;    es   laufen    nur 

Fig.  1. 

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Schnitt  durch  den  dicksten  Tbei!  der  Narbe.    Schwache  Vergrösserung.   Junges 
Bindegewebe  mit  vielen  Gefassen  und  eingelagerten  Kettträubehcn. 

600,0  Wasser  in  den  Üarm  ein;  sie  werden  mit  grosser  Gewalt  wieder  entleert. 
Puls  82,  voll.    Brufihpfonen  frei.    Sofort  Narkose. 

11.  10.  97.  Schnitt  in  der  Mittellinie  legt  gewaltiges  S  romannm  frei, 
Parm  enorm  aufgebläht.  Narben  im  Mesenterium  desselben,  nach  der  Radix 
zu  immer  dichter  werdend,  Ganz  in  der  Tiefe  läuft  ein  derber  Balken  zum 
Duodenum  hinüber,  so,  dass  er  die  oberste  Kante  eines  vorspringenden  Drei- 
eckes bildet,  was  sich  mit  dieser  Kante  weil  von  der  hinteren  Bauchwand  ent- 
fernt; Fusspnnkte  des  S  romanum  sind  circa  ö — 10  cm  von  einander  entfernt, 
also  nicht  sehr  zusammen  gezerrt.  Die  Flexnr  ist  mehr  dadurch  nndurchgängig 
geworden,  dass  ihre  Radix  durch  die  Bildung  des  Dreieckes  nach  vorne  ge- 


650  Dr.  Riedel, 

knickt  ist.  Vordere  Kante  und  Seitentheile  dieses  Dreieckes  sind  mit  2  mm 
dicken  Pseudomembranen  bedeckt,  grauweiss,  sammtartig,  leicht  abziehbar; 
weiter  nach  dem  Darme  zu  werden  sie  dünner,  glänzend  weiss,  sie  liegen  in 
continuirlicher  Schicht;  noch  weiter  dislalwärts  fahren  sie  in  einzelnen  Zacken 
auseinander;  nirgends  erreichen  sie  den  Darm  selbst.  Alles  dieses  übersieht 
man  erst  genau,  nachdem  ein  derber  Troicart  ins  S  romanum  eingestochen 
und  viel  Luft  entleert  ist,  wodurch  auch  Colon  transversum  (von  Anfang  an 
gefüllt)  und  Flexura  lienalis  (bei  Beginn  der  Operation  leer,  später  vom  Colon 
transversum  aus  mit  Luft  gefüllt)  zusammengesunken  sind. 

Es  werden  die  ganz  dicken,  theilweise  auch  die  flachen  Narbenmassen 
abgetragen,  wodurch  ein  tiefer  Raum  zwischen  Rad.  mes.  S  r.  und  Duodenum 
geschaffen  wird. 

Typhlon  gleichfalls  aufgetrieben;  der  vollständig  obliterirte  Wurmfort- 
satz hat  sich,  in  Adhaesionen  geliüllt,  um  das  Colon  und  das  untere  Ende  des 
lleum  herumgeschlagen;  er  wird  entfernt,  Bruchpforten  frei.  Schluss  der 
Bauchwunde. 

Verlauf:  12.  10.  72  P.  gut.  Temp.  37,0;  kein  Abgang  von  Winden, 
desshalb  Klysmata.  —  13.  10.  Morgens  38,  Abends  38,6.  Bronchitis.  Es 
können  immer  nur  6()0,0  Flüssigkeit  in  den  Darm  eingeführt  werden.  —  15.  10. 
Puls  und  Temp.  qormal.  Darmschlingen  noch  immer  in  Gestalt  von  grossen 
Wülsten  sichtbar,  dabei  aber  Abgang  von  Winden;  Allgemeinbefinden  gut.  — 
18.  10.  Reichlicher  Stuhlgang  nach  Abführmitteln.  —  31.  10.  Dauerndes 
Wohlbefinden,  Husten  geringer.    Wunde  fast  verheilt. 

2.  11.  Seit  gestern  Abend  Erbrechen,  kein  Abgang  von  Winden  mehr.  Puls 
120,  gut.  Temp.  normal.  Leib  so  gespannt,  dass  man  nur  undeutlich  peristaltische 
Bewegungen  sieht;  1500,0  Wasser  laufen  per  rectum  ein,  so  dass  also  das  S  ro- 
nwinum  frei  sein  muss.  In  Narkose  deutliche  peristaltische  Bewegungen  sichtbar. 

Schnitt  neben  dem  früheren.  Es  findet  sich  die  Spitze  der  Schleife  vom 
S  romanum  fest  verwachsen  mit  dem  oberen  Ende  der  Bauch wandnarbe;  hinter 
dem  Dickdarm  sind  Jejunumschlingen  durchgerutscht  und  stark  aufgebläht, 
gleichzeitig  sind  sie  lose  mit  einander  und  mit  Netzmassen  verwachsen. 
Letztere  sind  auch  am  Col.  transv.  adhaerenl;  dasselbe  ist  dadurch  umgekippt, 
alles  ein  Wirrwarr.  Weiter  unten  ist  auch  das  lleum  in  10  Pfennigstück 
grosser  Ausdehnung  mit  der  Bauchwandnarbe  verwachsen;  bei  der  Ablösung 
desselben  entsteht  ein  grosser  Substanzverlust  in  der  Musculatur  des  Darmes, 
so  dass  Catgutnaht  erforderlich  ist.  Jetzt  wird  vom  Duodenum  an  der  ganze 
Dünndarm  abgesucht  und  gelöst,  sodann  das  S  romanum  nochmals  geglättet. 
Schluss  der  Bauchwunde. 

3.  11.  Morgens  Temp.  37,3,  Puls  120,  klein.  Kein  Abgang  von  Winden. 
—  4.11.  Abends  38,1,  Puls  118,  sehr  klein.  Schmerzen  im  Abdomen, 
letzteres  in  toto  aufgctrieljen.  —  5.  11.  Abends  Temp.  38,6,  Puls  140,  mini- 
mal. Pat.  ganz  klar,  fühlt,  dass  er  sterben  wird.  Athemnoth.  —  6.  11. 
Mittags  12  Uhr  f. 

Obduction:  Pleuropneumonia  duplex.  Herz  gesund.  Diffuse  Peritonitis, 
(.lallenblase  mit  dem  Duodonuni,   der  rechte  Loborlappen  mit  der  Flexura  hep. 


lieber  Peritonitis  chronica  non  tuberculosa  und  ihre  Folgen.        651 

coli  fest  verwachsen.  An  der  Wurzel  des  Mesenterium  vom  Ileum  ein  drei- 
eckiger Defect,  grössere  Wundflächen  in  der  Serosa  der  Flexur,  desgleichen  in 
der  Mesoflexur.  Die  Serosa  längs  des  Colon  desc.  stellenweise  verdickt, 
schiefergrau,  mit  strahligen  Narbeneinlagerungen  versehen. 

Bei  diesem  Kranken  kann  es  sich  in  der  That  nur  um  pri- 
märe Erkrankung  des  Mesenterium  gehandelt  haben;  die  am 
weitesten  vom  Darme  entfernten  Theile  des  Mesenterium,  also  die 
Radix  desselben  war  am  intensivsten  erkrankt.  Es  war  nicht  das 
„flache  faserstoffige  Exsudat",  was  Virchow  beschreibt,  sondern 
vielleicht  das  nächste  Entwickelungsstadium  desselben,  eine  samraet- 
artige,  in  dicken  Schichten  leicht  abstreifbare  Membran,  die  sich 
auf  der  in  Form  eines  Dreiecks  eraporgezerrten  Radix  mesenterii 
entwickelt  hatte;  letztere  lief  direct  auf  das  Duodenum  zu;  die 
vordere  Kante  der  Radix  näherte  sich  in  erheblichem  Maasse  der 
vorderen  Bauch  wand. 

Durch  diese  Winkelbildung,  die  sich  weit  nach  dem  Darme 
hin  fortsetzte,  muss  die  Durchgängigkeit  des  Darmes  geschädigt 
sein ;  die  Annäherung  der  Fusspunkte  der  Schlinge  war  keine  über- 
mässig grosse,  wenn  das  Spatium  von  8 — 10  cm  auch  immerhin 
ein  bedenkliches  ist. 

Die  Diagnose  war  nicht  auf  Achsendrehung  gestellt;  in  ge- 
waltigen Wülsten  sah  man  den  Darm  sich  bewegen,  aber  der  Leib 
war  nicht  extrem  aufgetrieben.  Dass  ein  Hindemiss  im- Dickdarme 
existirte,  das  war  evident;  kein  Erbrechen,  obwohl  die  Stuhl- 
verstopfung schon  6  Tage  dauerte,  dazu  die  mächtigen  Darm- 
schlingen; sie  konnten  voraussichtlich  nur  dem  Dickdarme  an- 
gehören. 

Leider  täuschte  die  „Wasserprobe";  das  Wasser  wurde  stets 
mit  grosser  Gewalt  wieder  entleert;  man  musste  an  Carcinom  im 
S  romanum  denken,  bei  dem  Alter  des  Patienten  immerhin  das 
wahrscheinlichste,  zumal  Blut  und  Schleim  mit  dem  Stuhlgange 
abgegangen  sein  sollten.  Hätte  man  die  Wassereinläufe  in  Narcose 
fortgesetzt,  so  wäre  man  ins  Klare  gekommen;  durch  die  Narcose 
hätte  man  die  schmerzhaften  Empfindungen  beseitigt,  die  stets 
entstehen  werden,  wenn  bei  |)rall  gespanntem  Bauche  Wasser  per 
rectum  injicirt  wird.  Der  Schmerz  verhindert  das  Einlaufen  von 
grösseren  Mengen  Wasser,  er  zwingt  die  Kranken,  geringe  Massen 
alsbald  wieder  heraus  zu  pressen. 


652  Dr.  Riedel, 

Hätte    ich  die  Wassereinläufe  in  Narkose  fortgesetzt  und  da-  j 

durch  die  Diagnose  gestellt,    so  würde  ich  sicherlich  nicht  operirt  ' 

haben,  eben  weil  sich  das  Leiden  hätte  durch  die  Wasseneinläufe 
beseitigen  lassen,  wenn  auch  nur  vorübergehend.  Damit  war  aber 
viel  gewonnen ;  die  Chancen  für  das  Gelingen  der  Operation  stiegen 
erheblich,  wenn  man  einen  zusammengesunkenen  Darm  biossiegte, 
während  man  jetzt  auf  dilatirte  entzündete  Intestina  traf.  Sie 
hatten  6  Tage  lang  unter  dem  Drucke  des  angehäuften  Kothes  ge- 
standen, waren  dementsprechend  hyperaemisch,  die  Wand  derselben 
erschien  etwas  ödematös.  Die  Neigung  zu  Verwachsungen  mussto 
dadurch  erheblich  vergrössert  werden. 

Drei  Wochen  lang  spürte  man  nichts  von  neuen  Verwach- 
sungen, dann  setzte  der  Sturm  ein,  wahrscheinlich  deshalb,  weil 
Jejunumschlingen  über  das  in  der  Bauchnarbe  adhaerente  S  romanum 
hinübergerathen  waren;  bis  dahin  hatte  Patient  die  verschiedenen, 
oben  erwähnten  Verwachsungen  ganz  gut  ertragen.  Die  zweite 
Operation  brachte  gar  keinen  Nutzen  mehr,  aus  der  Bronchitis 
wurde  rasch  eine  Pleuropneumonie,  Peritonitis  gesellte  sich  dazu 
und  Patient  ging  unter  endlosen  Qualen  zu  Grunde.  Etwas  besser, 
aber  auch  nicht  ganz  nach  Wunsch  ging  es  dem  zweiten  Falle: 

No.  II.  Luise  Richter,  62  J.,  Neuengonna.  Aufgenommen  am  4.  3.  98, 
operirt  am  16.  3.,  entlassen  am  10.  4. 

Fat.  stammt  aus  gesunder  Familie:  Mutter  mit  81  J.,  Vater  an  Hals- 
bräune gestorben.  Pat.  selbst  ist  ebenfalls  immer  gesund  gewesen.  4 mal  ge- 
boren; 4  gesunde  Kinder. 

Ihre  jetzige  Erkrankung  begann  vor  3  Jahren  langsam:  Aufstossen,  be- 
sonders nach  dem  Essen,  träger  Stuhlgang,  dabei  aber  immer  reger  Appetit. 
Neben  diesen  allgemeineren  Beschwerden,  denen  Pat.  keinen  allzu  grossen 
Werlh  beimass,  hatte  Pat.  häufig,  zuletzt  fast  stets  Schmerzen  in  der  linken 
Unterbauchgegend,  die  zwar  nicht  sehr  heftig  waren,  Pat.  aber  doch  wegen 
ihrer  Constanz  sehr  genirten  und  besonders  lästifi:  beim  Liegen  sich  erwiesen. 
Die  Beschwerden  blieben  andauernd  dieselben,  ohne  dass  Pat.  in  ihrem  All- 
ji:emeinzustande  sich  erheblich  verändert  hätte.  Sie  wurde  wiederholt  auf 
„Magenleiden"  behandelt,  ohne  jeden  Erfolg.  Zuletzt  glaubte  ein  Arzt  in  der 
bestehenden  Diastase  der  Kecti  einen  Angriffspunkt  gefunden  zu  haben  und 
schickte  Pat.  behufs  Operation  zur  Klinik. 

Status  praesens:  Cnchectische  Frau;  76  Pfund.  Emphysema  pulm., 
Bronchitis.  Diastase  der  llecti  mit  Bildung  eines  flachen  Bauchbruches; 
letzterer  wölbt  sich  beim  Husten  stark  vor,  ist  aber  vollständig  reponibel. 

Mit  Rücksicht  auf  die  Bronchitis  w^ird  zunächst  abgewartet.  Da  Pat. 
aber  beständig  über  Leibschmerzen  klagt  und  auf  der  Operation  besteht,  so 


Ueber  Peritonitis  chronica  non  tuberculosa  und  ihre  Folgen.        653 

wird  am  16.  3.  in  der  Mittellinie  eingeschnitten.  Bruchsack  frei,  dagegen 
findet  sich  ausserordentlich  stark  entwickelte  Mesenterialperitonitis  im  Gebiete 
des  S.  llomanum.  Die  Schenkel  der  Schlinge  sind  durch  weiche  Narbenmassen 
in  toto  dicht  an  einander  herangezerrt,  dabei  hat  sich  die  Schlinge  mit  ihrer 
Kuppe  nach  oben  gewandt,  ist  dort  mit  dem  lienalen  Theile  des  Col.  transv. 
verwachsen;  letzteres  ist  stark  aufgebläht,  während  das  S-romanum  gänzlich 
collabirt  ist.  Weiterhin  ist  das  Gol.  transv.  mit  der  Gallenblase  und  mit  dem 
Magen  verwachsen  unter  gleichzeitiger  Drehung  um  seine  Längsachse.  Gallen- 
blase weich,  Duct.  choled.  aber  weit,  so  dass  doch  wohl  einst  Steine  vorhanden 
gewesen  sind,  llechterseits  ist  die  Flexura  hepatica  coli  durch  einen  derben 
Strang  am  Periton.  parietale  fixirt,  endlich  besteht  noch  rechtsseitige  Wander- 
niere; das  Coecum  liegt  auf  der  Niere,  steht  relativ  hoch.  Alle  die  genannten 
Verwachsungen  werden  gelöst,  die  Narbenmassen  durchtrennt;  die  Wander- 
niere bleibt  unberührt.  Schluss  der  Bauchwunde.  17.  3.  Keine  Reaction,  nur 
Leibschmerzen  werden  geklagt.  23.  3.  Fieberloser  Verlauf.  Durch  wiederholte 
Wassere  in  laufe  ist  reichlicher  Abgang  von  Flatus  und  Koth  erzielt  worden. 
Leib  weich  und  flach,  doch  klagt  Pat.  unverändert  weiter  über  Schmerzen  in 
der  linken  Seite.  2.4.  Wunde  geheilt.  9.  4.  entlassen,  80  Pfund.  Fsbestehen 
noch  immer  Schmerzen  in  der  linken  Seite;  Stuhlgang  träge;  vielfaches  Auf- 
stossen.  Laut  Brief  des  behandelnden  Arztes  vom  15.  6.  ist  der  Allgemcin- 
zustand  der  Kranken  ein  leidlicher,  doch  klagt  sie  andauernd  über  die  linke 
Bauchseite. 

Erst  nach  langem  Zögern  und  nur  auf  dringenden  Wunsch 
der  Kranken  entschloss  ich  micli  zur  Operation.  Die  Diagnose 
war  ziemlich  sicher  auf  Verwachsungen  im  Gebiete  des  S-romanum 
zu  stellen;  die  lange  Dauer  des  Leidens,  die  mehr  oder  weniger 
beständigen  Schmerzen  in  der  linken  Seite  des  Leibes,  die  chronische 
Obstipation,  alles  dieses  sprach  für  Verwachsungen,  also  für  ein 
relativ  benignes  Leiden;  ein  Carcinom  würde  ja  Patientin  nicht 
3  Jahre  lang  am  Leben  gelassen  haben.  Gerade  weil  die  Diagnose 
ziemlich  sicher  war,  lehnte  ich  die  Operation  bei  der  alten,  an 
Emphysem  leidenden  Frau  ab;  konnte  man  sich  schon  vorher  sagen, 
dass  die  Verwachsungen  wahrscheinlich  weit  ausgedehnt,  dem- 
nach Recidive  höchst  wahrscheinlich  sein  würden.  Da  Patientin 
auch  jetzt  noch  über  linksseitige  Leibschmerzen  klagt,  so  zweifle 
ich  nicht,  dass  ihr  Dickdarm  abermals  ausgedehnt  verwachsen  ist. 
Sie  kam  glatt  mit  der  Operation  durch,  weil  sie  zu  einer  günstigen 
Zeit,  bei  leerem  Darm  operirt  wurde,  aber  dauernden  Nutzen  hat 
sie  nicht  von  derselben  gehabt.  Unseren  chirurgischen  Eingriflen 
sind  eben  die  Grenzen  gezogen;  so  dankbar  und  nutzbringend  die 
Beseitigung    circumscripter    Verwachsungen ,     die    Entfernung    von 


654  Dr.  Riedel, 

isolirten  Strängen  u.  s.  w.  ist,  so  wenig  erfolgreich  sind  Angriffe 
auf  weit  verbreitete  Adhäsionen;  zuweilen  erreicht  man  ja  auch  da 
Unglaubliches,  doch  hängt  das  von  Zufälligkeiten  ab,  die  wir  nicht 
beherrschen. 

Sind  die  Narben  im  Mesent.  vom  S-romanura,  um  zunächst 
bei  diesem  zu  bleiben,  wenig  ausgedehnt,  so  kann  man  sie  noch 
mit  Erfolg  beseitigen;  zweimal  ist  mir  das  recht  gut  gelungen 
(vergl.  No.  4:  und  5  in  Abschnitt  A  der  oben  citirten  Arbeit); 
sind  aber  die  Narben  diffus,  ist  obendrein  noch,  wie  in  No.  2  die 
Kuppe  des  S-romanum  secundär  mit  dem  Col.  transv.  verwachsen 
—  was  wohl  nicht  durch  primäre  Mesenterialperitonitis  zustande 
gekommen  ist,  sondern  durch  Kothstauung  und  Entzündung  im 
S-romanum  —  so  wird  man  auf  wenig  Erfolg  zu  rechnen  haben. 
Ich  habe  mich  deshalb  auch  bei  den  beiden  oben  erwähnten  Kranken 
lediglich  mit  der  Diagnose  begnügt,  keinen  operativen  Eingriff 
vorgeschlagen,  weil  sie  voraussichtlich  diffuse  Narben  im  Mes.  vom 
S-romanum  haben.  Sollte  ihr  Zustand  unerträglich  werden,  so 
wäre  es  wohl  besser,  dem  Vorschlage  Curschmann's  entsprechend 
das  ganze  S-romanum  zu  reseciren,  als  lediglich  die  Narben  zu 
lösen. 

Bekommen  diese  Kranken  aber  gelegentlich  Ileus  durch  Be- 
ten tion  von  Koth  im  S-roman.,  so  wird  man,  ialls  die  Diagnose  ge- 
stellt ist,  sich  lediglich  auf  hohe  Eingiessungen  event.  in  Narkose 
beschränken.  Durch  letztere  wird  meist  die  Diagnose  möglich 
sein,  wenn  man  überhaupt  an  die  chronische  Mesenterialperitonitis 
denkt  und  das  ist  die  Hauptsache.  Nachdem  sich  herausgestellt 
hat*,  dass  das  Leiden  gewiss  nicht  selten  ist,  muss  man  aber  in 
jedem  unklaren  Falle  an  dasselbe  denken  und  dementsprechend 
vorgehen;  der  practische  Arzt  hat  gewiss  manchen  Ileus  unbe- 
wusster  Weise  mit  diesem  Remedium  kurirt.  Erst  wenn  der  acute 
Ileus  beseitigt,  kann  man  an  die  weiteren,  oben  erwähnten  Ein- 
griffe denken,  aber  auch  da  nur  mit  grösster  Vorsicht. 


Entwickelt  sich  die  chronische  Mesenterialperitonitis  im  nächst 
oberen  Abschnitte  des  Dickdarmes,  in  dem  Mesent.  der  Flexura 
lienalis,  so  sind  ebenfalls  sehr  ernste  Störungen  zu  erwarten;  die 
Situation  ist  sogar  noch  bedenklicher  als  bei  Schrumpfung  im  Ge- 
biete des  Mes.  vom  S-romanum,  weil  die  Flexura  lienalis,  versteckt 


lieber  Peritonitis  chronica  non  tuberculosa  und  ihre  Folgen.        655 

unter  dem  linken  Rippenbogen  gelegen,  chirurgischen  Eingriffen 
weniger  gut  zugänglich  ist.  Der  Darm  muss  herunter  geholt 
werden;  oft  ist  man  im  Zweifel,  wo  die  normale  Fixation  desselben 
aufhört  und  die.  pathologische  beginnt: 

No.  HI.  Hans  K.,  20  Jahre,  aufgenommen  am  29.  10.  97,  operirt  am 
31.  10.,  gestorben  am  10.  11.  97.  Vater  leidet  an  Gallensteinen;  Mutter  lebt, 
ist  gesund,  ebenso  die  Geschwister. 

Als  Kind  war  Pat.  zwar  stets  schvv'ächlich.  Vom  8.---12.  Lebensjahre 
hatte  er  öfter  Schmerzen  links  oben  im  Leibe.  Mit  14  Jahren  längere  Zeit 
Schmerzen  und  Schwellung  des  rechten  Kniegelenkes,  angeblich  Tuberculose, 
was  sicher  nicht  zutrifft.  Seit  ca.  2  Jahren  hat  Pat.  eigenthümliche  Er- 
scheinungen von  Seiten  des  Darmes.  Während  für  gewöhnlich  der  Stuhl 
ziemlich  regelmässig  ist,  tritt  in  ungleichen  Zwischenräumen  von  mehreren 
Wochen  ohne  bekannte  Ursache  Verstopfung  ein,  es  entstehen  Schmerzen  in 
der  linken  Oberbauchgegend  und  dort  bildet  sich  eine  deutliche,  circumscripte 
Anftreibung;  es  gehen  keine  Winde  ab;  dagegen  tritt  Aufstossen,  öfter  auch 
Erbrechen  auf,  letzteres  nie  fäculente  Massen  zu  Tage  fördernd.  Dieser  Zu- 
stand, in  dem  sich  Pat.  äusserst  elend  fühlt,  dauert  1 — 2  Tage;  dann  ver- 
schwindet unter  Entleerung  grosser  Mengen  von  Blähungen  die  Auftreibung, 
es  erfolgt  Stuhlgang;  das  Befinden  wird  wieder  vollkommen  normal;  in  der 
Zwischenzeit  keinerlei  Beschwerden.  Ausdrücklich  giebt  Pat.  an,  dass  er  nie 
vor  und  während  der  Anfalle  eine  auffällige  Abnahme  des  Urins,  nie  beim  Ver- 
schwinden eine  auffällige  Vermehrung  desselben  bemerkt  habe.  Die  AnRille 
treten  in  letzter  Zeit  häufiger,  alle  3 — 4  Wochen  auf;  die  Schmerzen  sind  be- 
sonders während  der  letzten  Anfälle  sehr  heftig  gewesen.  Seit  vorgestern 
wieder  ein  Anfall:  sehr  heftige  Schmerzen,  so  dass  die  Reise  hierher  um  einen 
Tag  verschoben  werden  musste,  öfter  erbrochen;  vollständige  Stuhl-  und  Gas- 
verhaltung. 

Status  praesens.  29.  10.  Mannskopfgrosser  Tumor,  prall  gespannt; 
beim  Aufblasen  des  Darmes  legt  sich  letzterer  vor  die  Geschwulst,  so  dass  zu- 
nächst eine  linksseitige  Nierengeschwulst  (Hydrocele)  diagnosticirt  wird.  Ab- 
führmittel. 30.  10.  Tumor  ist  verschwunden.  Beim  Einblasen  von  Luft  per 
rectum  zeigt  sich,  dass  dieselbe  unter  gurrenden,  flüsternden  Geräuschen  ein- 
dringt, dann  treten  deutlich  sichtbare  peristaltische  Bewegungen  auf  und  mit 
ihnen  entleert  sich  jedes  Mal  Luft  per  anum.  Diagnose  muss  also  wieder  auf 
Darmaffection  gestellt  werden. 

31.  10.  Incision  ergicbt  Col.  transv.  ziemlich  prall  mit  Luft  gefüllt;  im 
Mesenterium  desselben  einzelne  weisse  Plaques.  Dann  kommt  links  oben  in 
der  Ecke  narbiges  Netz  zum  Vorschein,  an  der  sehr  beweglichen  Milz  adhärent; 
an  der  Milz  gleichfalls  narbige  Stränge;  Flexura  lienalis  stark  geschlängelt, 
die  einzelnen  Windungen  derselben  durch  weiss  glänzendes  Narbengewebe 
an  einander  fixirt.  Nach  Lösung  der  Narben  im  Mesenterium  dehnt  sich  der 
Darm  mehr  und  mehr  aus,  so  dass  man  die  fixirt  gewesenen  Partien  der 
Flexura  lienalis  bis  zur  Mittellinie  verschieben  kann;  man  übersieht  in  ganzer 


656  Dr.  Riedel, 

Länge  den  normal  weiten  Darm.  Milz  lässt  sich  ziemlich  leicht  nach  oben 
reponiren.  Naht  der  Längswunde  im  Rectas  abdominis  mit  derbem  Catgut, 
Hautnaht  (Seide). 

Verlauf:  Abends  37,2.  Am  nächsten  Tage  heftige  Bronchitis  (Aether) 
bei  38,0  M.  T.  und  100  guten  Pulsschlägen.  Grosses  H&matom  unter  der 
Hautwunde,  so  dass  alle  Hautnähte  entfernt  werden  müssen.  Abends  38,5. 
In  den  nächsten  Tagen  beständig  38,4  und  5  Abends  bei  starkem  Auswurfe 
von  eitrigen  Massen.  Erst  am  6.  11.  ist  die  Temperatur  Abends  normal,  doch 
bleibt  der  Husten  bestehen.  8.  11.  Wunde  blutig  zerrissen  durch  den  per- 
manent andauernden  Husten,  desshalb  derbe  Heftpflasterstreifen  über  den 
kleinen,  direct  der  Wunde  aufliegenden  Verband.  10.  11.  Heftiger  Husten 
Nachts  2  Uhr,  aber  keine  besonderen  Klagen.  Morgens  8^/2  Uhr  finden  sich 
beim  Verbandwechsel  Dünndarmschlingen  frei  unter  dem  Verbände,  mit  Hefl- 
pflastermasse  beschmiert,  unter  einander  verklebt.  In  Narkose  wird  nachge- 
wiesen, dass  Flexura  lienalis  und  Col.  desc.  fest  mit  der  vorderen  Bauchwand 
im  oberen  Wundwinkel  verwachsen  sind.  Col.  transv.  aufgetrieben,  wird  zu- 
nächst punctirt,  dann  werden  die  Dünndarmschlingen  gereinigt  und  reponirt, 
Col.  transv.  wird  dicht  vor  der  Verwachsung  der  Flexura  lienalis  mit  vorderer 
Bauchwand  in  die  Wunde  eingenäht,  weil  voraussichtlich  das  Colon  sich  als- 
bald wieder  mit  Luft  füllen  wird,  da  Lösung  der  Flexura  lienalis  unmöglich  ist. 
Es  gelang  mir  das  gleichfalls  in  der  Wunde  adhärente  Col.  desc.  abzulösen; 
oberflächlicher  Defect  im  Darme  durch  Catgutnaht  geschlossen.  Abends  38,6 
Tcmp.  und  140  P.,  klein.  11.  11.  Morgens  37,5  und  140  P.  Zunehmende 
Symptome  von  Peritonitis,   Mittags  f. 

Die  Obduction  ergab  beiderseits  eitrige  Bronchitis  und  circumscripte 
pneumonische  Herde  in  den  Unterlappen  der  Lunge.  Herz  etwas  gross 
(97  :  116).  Bicuspidalis  längs  des  Randes  mit  einer  fest  zusammenhängenden 
Reihe  graugelber  leicht  trüber  papillärer  Excrescenzen  besetzt.  Magen  und 
Quercolon  stark  von  Gas  aufgetrieben.  Zwischen  der  Flexura  lienalis  coli  und 
den  anliegenden  Dünndarmschlingen  braungelber  mit  Gasblasen  untermischter 
Eiter.  Die  in  der  unteren  Hälfte  des  Bauches  gelegenen  Dünndarmschlingen 
fein  injicirt,  matt  glänzend,  unter  einander  und  mit  der  Bauchwunde  mehrfach 
durch  fibrinöse  Belege  verklebt.  Substanzverlust  von  8  mm  Länge  im  Colon 
desc,  Reste  von  Catgut  neben  demselben.  Medianwärts  von  der  linken  Niere 
ein  faustgrosser,  fluctuirender  grauweisser  Sack.  Linke  Niere  (152  :  46)  fötal 
gelappt.  Becken  und  Kelche  sehr  erweitert,  ihre  Schleimhaut  glatt,  massig 
verdickt,  grauweiss.  Der  Eingang  in  den  Ureter  klappenförmig.  Ureter  selbst 
für  die  Sonde  unschwer  passirbar,  12  mm  im  Umfange;  24mm  hinter  der  Ab- 
gangsstelle  etwas  verengt.  Rechte  Niere  (132  :  46)  leicht  fötal  gelappt,  Becken 
und  Kelche  eLwa,s  weit. 

Die  Causa  mortis  war  in  diesem  Falle  die  Aetherbronchitis, 
Pat.  liaite,  wie  viele  junge  Leute,  die  Tendenz,  sich  für  vollständig 
gesund  zu  erklären;  er  wollte  üfficier  werden,  wollte  nicht  krank 
sein.     Deswegen  verschwieg  er  sorgfältig,    dass    er    wiederholt  an 


Ueber  Peritonitis  chronica  non  tuberculosa  und  ihre  Folgen.        657 

Bronchitis  gelitten  hatte,  so  oft  er  auch  befragt  wurde.  Die  Aether- 
bronchitis  setzte  mit  excessiver  Heftigkeit  ein;  bald  gab  es  ein 
llaematom  unter  der  Hautwunde,  so  dass  die  Nähte  entfernt,  das 
Blut  ausgeräumt  werden  musste.  Die  Bauchmuskeln  und  Fascien 
waren  mit  sehr  starkem  Catgiit  vernäht,  letzteres  hielt,  aber  die 
Muskelsubstanz  gab  nach  unter  dem  Drucke  der  Hustcnstösse, 
zumal  Pat.  augenscheinlich  von  der  Lunge  aus  inficirt  war,  sogar 
schon  Endocarditis  acquirirt  hatte;  es  kam  nächtlicher  Weile  zum 
Prolaps  der  Darmschlingen,  was  Patient  gar  nicht  merkte;  erst 
6  Stunden  später  wurden  die  vorgefallenen  Darmschlingen  entdeckt. 
Wäre  aber  der  Kranke  auch  von  allen  diesen  Complicationen  ver- 
schont geblieben,  wäre  er  vorläufig  mit  dem  Lehen  davon  ge- 
kommen, wer  weiss,  wie  sich  dann  die  Verhältnisse  in  der  Bauch- 
höhle gestaltet  hätten.  Es  ist  ja  nicht  sicher,  dass  bei  ungestörtem 
Verlaufe  Flexura  lienalis  und  Col.  desc.  mit  der  Wunde  in  der 
vorderen  Bauchwand  verwachs(*n  wären,  wie  das  jetzt  der  Fall 
war,  aber  rechnen  muss  man  doch  mit  dieser  Möglichkeit;  trat 
diese  Verwachsung  ein,  so  war  Patient  wahrscheinlich  nicht  besser 
daran,  als    früher.      Mit    besserem  Erfolge  wurde  Fall  IV  operirt: 

No.  IV.  Frl.  F.,  53  Jahre  alt,  aufgenommen  am  12.  7.  97. 

Pat.  wurde  im  März  1895  operirt  wegen  gewaltiger  Gallensteine,  des- 
gleichen wurde  damals  die  sehr  mobile  rechte  Niere  fixirt;  Verlauf  vollkommen 
reactionslos,  trotzdem  erholte  Pat.  sich  nicht  so,  wie  andere  wegen  Gallen- 
steine und  Wanderniere  operirte  Kranke.  Sie  klagte  weiter  über  Magen- 
beschwerden, dazu  kamen  Schmerzen  linkerseits  im  Bauche;  Pat.  hatte  un- 
regelmässigen Stuhlgang,  litt  an  Flatulenz.  Die  Intersuchung  ergab  im  All- 
gemeinen negative  Resultate,  nur  wurde  Dilatatio  vcntriculi  festgestellt,  weil 
beim  Aufblasen  des  Magens  die  grosse  Curvatur  zwischen  Nabel  und  Symphyse 
stand.     Freie  Salzsäure  vorhanden. 

18.  7.  Schnitt  in  der  Mittellinie:  Magen  ganz  unverändert;  Pylorus,  dos- 
gleichen Duodenum  mit  Gallenblase,  weithin  fast  bis  zum  Fundus  verwachsen ; 
letzterer  in  einer  Ausdehnung  von  2  [^cm  an  der  vorderen  Bauchwand  ad- 
härent.  Ablösung  des  Pylorus  und  des  Duodenum  von  der  Gallenblase  gelingt 
leicht.  Nun  wird  links  von  der  Mittellinie  weiter  p:esucht;  es  findet  sich  das 
Col.  transv.  7  Ctm.  jenseits  der  Linea  alba,  sowohl  direct  (an  20pfennigstück- 
grosser  Stelle)  als  indirort  mittelst  des  Netzes  mit  der  vorderen  Bauchwand 
verwachsen.  Netz  enthält  weisse,  zarte  Narben.  Die  gleichen  Narben  im 
Mesenterium  der  Flexura  lienalis:  letztere  ist  ebenso  zusammen^eschnurrt,  als 
das  Netz;  es  gelingt  alle  Narben  zu  trennen,  Netz  und  Flexur  zu  entfalten,  so 
dass  man  diesen  Darmabschnitt  vollständig  übersehen  kann.  Linke  Niere 
etwas  zu  beweglich,  rechte  frülier  fixirte  liegt  fest  an  normaler  Stelle. 


658  Dr.  Riedel, 

Verlauf  vollständij^  rcactionslos ,  nur  einmal  am  5.  Tage  38,1.  Trotz- 
dem sehr  langsame  Reconvalescenz,  so  dass  Pat.  erst  am  4.  9.  entlassen 
werden  konnte.  Seitdem  dauerndes  Wohlbefinden,  noch  im  Juli  1898  con- 
statirt. 

Die  hier  bestehenden  Narben  waren  nicht  so  ausgedehnt,  wie 
im  Falle  III;  ihre  Beseitigung  machte  keine  Schwierigkeiten.  Die 
Aethernarkose  wurde  gut  ertragen,  so  dass  der  Verlauf  post  op. 
völlig  ungestört  war.  Dadurch  erklärt  sich  das  gute  Endresultat 
der  Operation,  doch  ist  die  Beobachtung  noch  zu  kurz,  als  dass 
man  ein  definitives  ürtheil  abgeben  könnte. 

Im  Allgemeinen  wird  auch  bei  den  geschilderten  Anomalien 
der  Flexur  abwartendes  Verfahren  angezeigt  sein;  die  beim  Lösen 
der  Adhäsionen  entstehenden  Wunden  sind  zu  ausgedehnt;  stets 
müssen  wir  mit  AViederverwachsungen  rechnen,  und  ob  die  nun 
sich  bildenden  Adhäsionen  an  günstigen  oder  an  ungünstigen 
Stellen  liegen,  darüber  entscheidet  lediglich  der  Zufall.  Werden 
die  Beschwerden  unerträglich,  so  wird  man  auch  hier  an  Resec- 
tion  des  betreffenden  Darmal)schnittes  zu  denken  haben.  Finden 
sich  gleichzeitig  Verwachsungen  der  Flexura  hepatica  mit  der 
Lober  und  der  Gallenblase,  des  Colon  ascendens  mit  der  vorderen 
Bauchwand  und  dem  Colon  transv.,  ist  also  fast  der  ganze  Dick- 
darm durch  Adhäsionen  geknickt  und  verzerrt,  so  bleibt  schliess- 
lich nur  Knterostomie  zwischen  unterem  Ileumende  und  S-romanum 
übrig.  Ich  werde  diese  Operation  wahrscheinlich  in  den  nächsten 
Tagen  bei  einer  65  jährigen  Dame  machen.  Sie  leidet  an  diffusen 
Verwachsungen  fast  des  ganzen  Dickdarmes;  warum  Col.  asc.  und 
Flexura  hepatica  verwachsen  sind,  das  ist  unklar;  die  Flexura 
lienalis  ist  in  einen  entzündlichen  Process  hineingezogen,  der  sich 
in  der  Magenwand  entwickelt  hat  (fast  ringförmiges  Ulcus  ventriculi, 
durch  die  aufgelagerte  Flex.  li»Mi.  an  der  Perforation  in  die  freie 
Bauchhöhle  verhindert).  Der  grösste  Theil  des  Magens  ist  am 
30.  7.  98  mit  Glück  entfernt  worden;  jetzt  triit  aber  die  Stenose 
im  BenMche  des  Dickdarmes  so  in  den  \'ordergrund,  dass  der  er- 
wähnte Eingriff  nöihig  werden  wird,  wenn  i)eständig  zu  wieder- 
holende hohe   l'jnläufe  nicht  zum  Ziele  führen. 

Bekommen  die  Kranken  schliesslich  gelegentlich  Ileus,  so 
werden  auch  hier  hohe  Eingiessungen  am  Platze  sein  aus  den  oben 
erwähnten  (iründen;    erreicht    man    mit    ihnen  sein   Ziel  nicht,  so 


üeber  Peritonitis  chronica  non  tuberculosa  und  ihre  Folg:cn.        659 

dürfte  es  immer  noch  richtiger  sein,  einen  Anus  praeternaturalis 
oberhalb  des  Hindernisses  anzulegen,  als  frei  und  weit  die  Bauch- 
höhle zu  eröffnen.  Ich  habe  mich  einmal  vor  einer  Reihe  von 
Jahren,  als  ich  diese  Zustände  noch  gar  nicht  kannte,  verführen 
lassen,  einem  circa  50jährigen  Kranken,  der  schon  wiederholt 
schwere  Attaquen  von  Ileus  gehabt  hatte,  linkerseits  das  Abdomen 
zu  öffnen;  ich  fand  dort  Verwachsungen,  konnte  mich  aber  über 
die  Ursache  derselben  bei  dem  mangelhaften  Lichte  —  die  Op. 
fand  auswärts  in  einem  Privathause  statt  —  nicht  orientiren;  ich 
glaube,  dass  ich  chronische  Mesenterial  Peritonitis  vor  mir  gehabt 
habe,  doch  ist  der  Fall  unsicher,  weil  keine  Section  gemacht  wurde. 
Jedenfalls  war  die  Operation  ohne  jeden  Erfolg,  der  Kranke  ging 
4  Tage  später  zu  Grunde;  möglich,  dass  die  Operation  den  Tod 
desselben  beschleunigt  hat,  möglich,  dass  man  durch  Fortsetzung 
der  hohen  Eingiessungen  doch  noch  Hülfe  gebracht  hätte,  obwohl 
Fieber  und  Pulsbeschleunigung  (120)  bestanden  und  grosse  Mengen 
freier  Flüssigkeit  in  der  Bauchhöhle  bei  der  Op.  nachgewiesen 
wurden. 

Alle  Individuen  mit  Ileus  zu  retten,  ist  unmöglich;  man  soll 
die  Laparotomie  da  vermeiden,  wo  sie  voraussichtlich  nicht  zum 
Ziele  führt,  weil  durch  Misserfolge  günstige  Fälle  abgeschreckt 
werden.  Das  ist  allerdings  leichter  gesagt,  als  gcthan;  wer  will 
die  Diagnose  auf  chronische  Mescnterialperitonitis  mit  Sicherheit 
stellen?  Ein  einfacher,  rasch  zu  beseitigender  Netzstrang,  um  den 
sich  das  Colon  desc.  lose  herumgeschlungen  hat,  wird  genau  die- 
selben Erscheinungen  machen  können,  als  die  Schrumpfung  der 
Mesenterien,  dort  wäre  es  ein  Fehler  nicht  zu  operiren,  hier  ist 
es  umgekehrt;  nach  der  Operation  weiss  man  das  ganz  genau, 
vor  der  Operation  weiss  man  es  leider  für  gewöhnlich  nicht.  Wir 
werden  immer  wieder,  falls  hohe  Eingiessungen  in  Narkose  nicht 
zum  Ziele  führen,  bei  Ileus  operiren  auch  auf  die  Gefahr  hin,  dass 
wir  gelegentlich  Niederlagen  erleiden;  von  lürfolg  wird  die  Opera- 
tion meist  sein  bei  secundär  entstandenen  Adhäsionen,  falls  letztere 
nicht  allzusehr  ausgedehnt  sind;  zum  Misserfolir  wird  sie  meist 
dann  führen,  wenn  primär  chronische  Peritonitis  vorliegt,  weil 
letztere  gewöhnlich  tlächenhaft  ausgebreitet  ist. 


660  Dr.  Riedel, 

II.  Die  Narbenbildung  im  Peritoneum  praerenale. 

Wie  der  Darm,  so  kann  auch  die  Niere  durch  Schrumpfung 
des  ihr  aufliegenden  Peritoneum  verschoben  resp.  an  abnormer 
Stelle  fixirt  werden;  hier  wie  dort  ist  dieser  Schrumpfungsprocess 
entweder  ein  primärer  oder  ein  secundärer;  der  letztere  ist  längst 
bekannt;  in  jeder  genaueren  Darstellung  der  Lehre  von  der 
Wanderniere  (Ebstein,  Küster,  Prior  u.  s.  w.)  findet  sich  die 
Angabe,  dass  eine  Wanderniere  secundär  durch  entzündliche  Pro- 
cesse  an  abnormer  Stelle  festgelegt  werden  könne,  docli  wird  dieser 
Vorgang  als  relativ  selten  bezeichnet.  Nicht  erwähnt  ist  bis  jetzt, 
dass  auch  primäre  Schrumpfung  des  Peritoneums  zu  Dislocation 
und  zu  Fixation  der  Niere  führen  kann.  Nur  das  hat  man  ge- 
wusst,  dass  entzündliche  Processe  in  der  Gallenblase  sich  zuweilen 
auf  das  Peritoneum  der  hinteren  Bauchwand  fortsetzen  und  dadurch 
die  Niere  nach  oben  und  median wärts  verzerren.  Ich  selbst 
habe  diesen  Vorgang  wiederholt  beobachtet;  entweder  handelte  es 
sich  um  zartere  Narben  oder  um  derbe  speckige  Infiltrate  im  Peri- 
toneum, durch  welche  die  Niere  mit  grosser  Gewalt  nach  oben  ge- 
zogen und  festgelegt  wurde.  Diese  Beobachtungen  liefern  zunächst 
den  Beweis,  dass  die  Niere  dem  Zuge  des  ihr  aufliegenden  Peri- 
toneum folgen  kann  resp.  folgt. 

Ganz  analog  verhält  sich  die  Niere  gegenüber  dem  Zuge,  der 
durch  primäre  chronische  Peritonitis  hervorgebracht  wird;  sie 
verlässt  ihren  normalen  Standort,  rückt  nach  innen  und  wird 
bald  M'eiter  oben,  bald  weiter  unten  fixirt;  fast  regelmässig  wird 
das  Duodenum  durch  den  gleichen  Schnimpfungsprocess  beeinflusst; 
während  die  Niere  nach  links  verzogen  wird,  macht  das  Duodenum 
eine  Wanderung  nach  rechts  vor  der  dislocirten  Niere  vorbei; 
mehr  oder  weniger  heftige  Str)rungen  seitens  des  Magens  sind  die 
Consequenzen  dieser  Verzerrung  des  Duodenum. 

Wie  oft  nun  dieser  Schrumpfungsprocess  im  Peritoneum 
wirklich  das  primäre  Leiden  ist,  wie  oft  er  secundär  dadurch  zu 
Stande  kommt,  dass  eine  ursprünglich  echte  AVanderniere  secundär 
entzündliche  Processe  im  praerenalcn  Peritoneum  erregt,  das  ist 
schwer  nach  dem  mir  vorliegenden  Materiale  zu  entscheiden.  Als 
charakteristisch  für  die  primäre  Peritonitis  betrachte  ich  die  Bil- 
dung von  weissglänzenden,  dreizipfeligen  Narben;    ich    gestehe  zu, 


lieber  Peritonitis  chronica  non  tuberculosa  und  ihre  Folgen.        661 

dass  ich  sie  in  den  zuerst  operirten  Fällen  nicht  gesehen,  resp.  auch 
nicht  beachtet  habe,  was  recht  wohl  möglich  ist.  Stand  ich  doch 
unter  dem  deprimironden  Eindrucke  vollständig  falscher  Diagnosen,  als 
ich  diese  auffallende  Verschiebunif  der  Niere  zuerst  vor  mir  hatte. 
Erst  später  gelang  es,  an  einem  ganz  besonders  typischen  Falle 
(No.  8)  den  sicheren  Nachweis  zu  führen,  dass  die  primäre  chro- 
nische Peritonitis  die  Verzerrung  der  Niere  verursacht  habe.  Mög- 
lich ist  auch,  dass  die  Bindegewebswucherungen,  die  mir  in  den 
zuerst  operirten  Fällen  zu  Gesicht  kamen,  die  Vorstadien  jener 
dreieckigen  Narben  repräsentiren. 

Für  den  Patienten  ist  es  übrigens  ziemlich  gleichgiltig,  ob  der 
Schrumpfungsprocess  primär  oder  socundär  im  praerenalen  Peri- 
toneum auftritt;  die  klinischen  Folgen  sind  immer  dieselben: 
Fixation  der  nach  links  verlagerten  Niere  an  abnormer  Stelle, 
Wanderung  des  Duodenum  nach  rechts  und  dadurch  bedingte 
mehr  oder  weniger  starke  'Symptome  von  Verengerung  des  Duo- 
denum resp.  des  Pylorus.  Wichtiger  für  den  Kranken  ist  es,  ob 
auch  die  Einmündungsstelle  des  D.  choledochus  in  das  Duodenum 
durch  die  Verschiebung  der  genannten  Organe  beeinflusst  wird,  ob 
also  Icterus  auftritt  oder  nicht. 

Mit  der  Gelbsucht  entsteht  ein  gefährliches  Allgemeinleiden, 
während  es  sich  bis  dahin  um  eine  zwar  sehr  störende,  aber  immerhin 
nicht    zum    Tode    führende,    local    beschränkte  AfFection    handelt. 

Von  dieser  soll  zuerst  die  Rede  sein: 

No.  I.  Hulda  Kraft,  25  .1.,  aufgenommen  23.  2.  97,  entlassen  2.  5.  97. 
Vater  an  Lungenentzündung  gestorben.   3  Geschwister  leben,  5  sind  gestorben. 

Pat.  ist  seit  12  J.  krank.  Anfangs  litt  sie  an  Bleichsucht  mit  Magen- 
beschwerden. Gefühl  von  Vollscin,  Appetitlosigkeit.  Mit  15  Jahren  Rippen- 
fellentzündung (13  Wochen).  Pat  war  dann  weiter  nicht  recht  gesund  und 
auch  nicht  recht  krank.  Ernster  erkrankte  sie  im  Jahre  93;  sie  wurde  vom 
Mai  bis  Juni  wegen  Magengeschwür  und  Magenerweiterung  in  der  med.  Klinik 
behandelt.  Blutbrechen  nie  vorhanden  gewesen,  einige  Blutfaserchen  beim 
Magonausspülen.  Die  Schmerzen  liestanden  damals  andauernd  und  traten 
nicht  anfallsweise  auf.  Sept.  bis  Dec.  93  nochmals  in  der  med.  Klinik,  desgl. 
Aug.  94.  Damals  wurde  zuerst  undeutlich  eine  Geschwulst  unterhalb  der  Leber 
entdeckt.  vSeit  dieser  Zeit  halte  Pat.  immer  leise  Schmerzen,  seit  95  aber  rich- 
tige Anfälle:  Würgen  (nie  Erbrechen),  Auftreibung  des  Leibes,  Schmerzen  in 
der  Gallenblasengegend,  ausstrahlend  nach  Rücken  und  Schulter,  so  heftig, 
dass  Pat.  hätte  schreien  mögen.     Diese  Anfälle  waren  unrcgelmässig,  setzten 

ArchiT  fllr  klin.  Chirurgie.    57.  Bd.    Heft  3.  44 


662  Dr.  Riedel, 

plötzlich  ein,  dauerten  einige  Tage,  pausirten  dann  wieder  wochenlang.  Von 
Icterus  weiss  Fat.  nichts.    Starke  Gewichtsabnahme. 

Befund.  Schlanke,  sehr  blasse  Frau,  Leib  weich,  Leber  überragt  den 
Rippenbogen  um  2  Finger.  In  der  Gallenblasengegend  ein  derber,  schmerz- 
hafter Tumor,  der  sich  bis  über  die  Medianlinie,  aber  nicht  nach  hinten  schie- 
ben lässt.   Urin  klar,  frei  von  Eiweiss  und  Zucker. 

27.  2.  Schnitt,  durch  den  M.  rect.  abd.  d.  Der  gefühlte  Tumor  erweist 
sich  als  eine  sehr  hochstehende  Niere;  sie  hängt  mit  dem  Duodenum  durch 
sehr  derbes  Bindegewebe  zusammen,  besonders  ein,  allerdings  sehr  feiner 
Strang  ist  ausserordentlich  fest.  Das  Duodenum  erscheint  etwas,  nach  oben 
dislocirt,  noch  höher  steht  der  Pylorus;  letzterer  ist  spitzwinklig  abgeknickt; 
der  nach  links  vom  Pylorus  gelegene  Theil  des  Magens  hat  sich  direct  ans 
Duodenum  angelegt;  Magen  nicht  dilatirt.  Die  Niere  wird  vom  Duodenum  ab- 
gelöst und  nach  hinten  geschoben;  darauf  lässt  sich  das  Duodenum  ebenfalls 
nach  unten  verschieben,  wodurch  die  Knickung  am  Pylorus  beseitigt  wird. 
Gallenblase  klein,  weich,  ohne  Steine.    Schluss  der  Bauchwunde. 

Sodann  Schnitt  von  hinten  auf  die  Nierengegend;  Niere  fehlt  dort,  das 
Messer  fällt  durch  das  Peritoneum  hindurch,  so  dass  die  Leber  frei  liegt; 
Catgutnaht.  Weiter  unten  liegt  die  Niere;  sie  lässt  sich  nach  oben  drücken. 
Kapsel  anfangs  schwer,  dann  leicht  abziehbar,  lässt  sich  in  gewohnter  Weise 
am  Quadrat,  lumb.  fixiren.  Drei  Tampons. 

Reactionsloser  Verlauf;  Tampons  14  Tage  post  operationem  entfernt. 

9.  5.  97  mit  4  Pfd.  Gewichtszunahme  völlig  frei  von  Beschwerden  ent- 
lassen. 

15.  6.  98  vorgestellt.  Dauernd  gesund  geblieben,  Pat.  kann  alle  Speisen 
vertragen:  sie  arbeitet  Tag  für  Tag  in  der  Fabrik,  sieht  dementsprechend 
bleich  aus. 

No.  II.  Frau  Scheidt,  29  J.,  aufgenommen  8.  3.  97,  entlassen  27.  5.  97. 
Eltern  leben  und  sind  gesund,  Geschwister  desgl. 

3  Wochen  nach  der  ersten  Entbindung  im  Januar  91,  bekam  Pat.  bei 
dem  ersten  Ausgange  sehr  heftige  Schmerzen  in  der  rechten  Seite;  sie  zogen 
sich  nach  hinten  und  unten;  die  Kranke  musste  gähnen,  sie  konnte  die  Augen 
nicht  recht  öffnen ,  da  der  Schmerz  gleichsam  die  Augen  zuzerrte.  Alsbald 
(1  Stunde  nach  Beginn  des  Anfalls)  trat  heftiges  Erbrechen  auf,  nachdem  Pat. 
sich  ins  Bett  gelegt  hatte.  Sie  kauerte  in  letzterem  zusammen,  weil  die  Schmerzen 
dann  etwas  nachliessen.  Das  Erbrechen  hörte  am  ersten  Abende  auf,  die 
Schmerzen  wurden  aber  immer  heftiger,  hielten  sich  am  nächsten  Tage  auf  glei- 
cher Höhe;  während  der  Nacht  wurden  sie  geringer  und  am  nächsten  Tage  ver- 
loren sie  sich  langsam.  Ob  Fieber  bestanden  hat,  lässt  sich  nicht  mehr  ent- 
scheiden, doch  hatte  Pat.  Hitze  im  Kopfe.  6  Wochen  lang  hatte  Pat.  jetzt  vollständig 
Ruhe,  sie  fühlte  sich  ^anz  gesund;  da  trat  nach  heftiger  Bewegung  des  Armes 
bei  der  Arbeit  (Wirkerei)  der  zweite  Anfall  ein.  Dieses  und  die  nächsten  Male 
setzte  der  Schmerz  leise  ein,  wurde  dann  heftiger;  wenn  der  Schmerz  seinen 
Höhepunkt  erreicht  hatte  (circa  5—6  Stunden  nach  Beginn  des  Anfalles),  kam 
es  zu  lohhaftem  Erbrechen;  die  Schmerzen  hielten  noch  einige  Stunden  lang 
in  gleicher  Stärke  an  und  verschwanden  dann  leise  nach  2—3  Tagen. 


Ueber  Peritonitis  chronica  non  tubcrculosa  und  ihre  Folgen.        663 

Derartige  Anfälle  wiederholten  sich  in  den  ersten  Jahren  circa  alle 
6  Wochen,  später  alle  4  Wochen.  W^iederholte  Graviditäten  (6  Kinder)  waren 
ohne  Einfluss  auf  das  Leiden.  6  Wochen  vor  der  Aufnahme  traten  die  Anfälle 
häufiger  auf,  alle  2  Tage,  so  dass  jetzt  schmerzfreie  Pausen  fast  gänzlich  auf- 
hörten. 

Die  Diagnose  der  Aerzte  schwankte  zwischen  Blinddarmentzündung, 
Gallensteinkoliken  und  Magenkrämpfen;  eine  Geschwulst  war  von  ihnen  nie 
gefühlt  worden.  Von  Seiten  der  ürinentleerung  waren  keine  Störungen  vor- 
handen, nur  einmal  (1  Jahr  nach  Beginn  der  Anfalle)  hatte  Pat.  8  Tage  lang 
Urinzw^ang;  später  wurde  nichts  Abnormes  mehr  wahrgenommen. 

Status  praesens.  Kräftige  Frau,  im  3.  Monate  gravida.  Deutlich  pal- 
pabler  fanstgrosser  Tumor  unterhalb  der  Leber  in  der  Gegend  der  Gallen- 
blase, massig  verschiebbar,  auf  Druck  empfindlich. 

12.  3.  Narkose.  Tumor  lässt  sich  auch  jetzt  nicht  von  der  Leber  trennen, 
deshalb  Schnitt  durch  den  Rect.  abdom.  Die  gefühlte  Geschwulst  erweist  sich 
als  eine  ausserordentlich  derb  ans  Duodenum  fixirte  Niere;  sie  liegt  dicht  an, 
zum  Theil  vor  der  Wirbelsäule,  das  Duodenum  ist  nach  rechts  und  vorne  ver- 
zogen und  in  ganzer  Ausdehnung  mit  der  kleinen  weichen  Gallenblase  ver- 
wachsen; es  bestehen  auch  Verbindungen  zwischen  Quercolon  und  Niere;  alle 
genannten  Organe  hängen  dort  eng  zusammen. 

Nach  Ablösung  des  Col.  transv.  und  des  Duodenum  von  der  Niere  resp. 
der  Gallenblase  lässt  sich  der  Zwölffingerdarm  nach  rechts  hin  schieben,  da- 
gegen folgt  die  Niere  einem  Zuge  nach  links  nur  in  massigem  Grade;  ein  quer 
zur  Mittellinie  verlaufender  Strang,  die  deutlich  pulsirende  Art.  renalis,  leistet 
Widerstand.  Schluss  der  Bauchwunde;  Schnitt  von  hinten  auf  die  Nioren- 
gegend.  Niere  lässt  sich,  weil  die  Arteria  renalis  nicht  genügend  nachgiebt, 
nur  so  weit  nach  oben  drängen,  dass  kaum  das  obere  Dritttheil  derselben  unter 
dem  Rippenbogen  verschwindet.    Festlegung  in  gewohnter  Weise. 

Reactionsloser  Verlauf;  Schmerzen  vollständig  beseitigt. 

Schon  im  Laufe  des  April  erholt  Pat.  sich  trotz  der  Gravidität  in  erfreu- 
lichster Weise;  sie  wird  dick  und  rund  im  Bette. 

27.  5.  geheilt  entlassen. 

Mitte  April  98  stellte  Pat.  sich  wieder  vor:  sie  war  eine  gesunde  blü- 
hende Frau  geworden;  von  der  Niere  nichts  zu  fühlen;  Beschwerden  dauernd 
beseitigt. 

Diese  beiden  Fälle  sind  am  längsten  beobachtet,  haben  also 
klinisch  den  grössten  Werth. 

In  beiden  Fällen  war  die  Diagnose  auf  Gallensteine  gestellt; 
diese  Diagnose  wurde  auch  noch  bei  der  Untersuchung  in  Narcose 
festgehalten,  weil  der  Tumor  absolut  nicht  von  der  Leber  zu 
trennen  war.  Dazu  sprach  der  ganze  Verlauf  des  Leidens  fast 
rait  völliger  Sicherheit  für  Gallensteine:  bei  No.  I  zuerst  das  „Magen- 
leiden", das  so  oft  dem  Steine  in  der  weichen  Gallenblase  seinen 

44* 


664  Dr.  Riedel, 

Ursprung  vordankt,  dann  die  meist  gar  nicht  existirende  „Magen- 
dilatation", die  gleichfalls  oft  auf  dasselbe  Leiden  zurückzuführen 
ist;  CS  folgt  der  mehr  continuirlichc  Schmerz,  d.  h.  die  Gallen- 
blasenwand verdickt  sich,  der  D.  cysticus  verschwillt  und  jetzt 
folgt  der  erste  entzündliche  Schub,  die  acute  seröse  Gallenblasen 
cntzündung.  Mit  letzterer  setzte  das  Leiden  anscheinend  bei 
No.  II  ein;  sie  erkrankte  sofort  unter  heftigen  Schmerzen  und  inten- 
sivem Erbrechen.  Diese  Anfälle  wiederholten  sich  in  so  typischer 
AN'eise,  zwischen  denselben  herrschte  so  vollständige  Ruhe,  dass  man 
wieder  mit  voller  Sicherheit  auf  Gallensteine  schliessen  musste. 

Wodurch  erklären  sich  nun  die  Anfälle?  Von  einer  Achsen- 
drehung des  Organes  mit  nachfolgender  Abknickung  der  venösen 
Gefässe  kann  doch  nicht  die  Rede  sein,  ebenso  wenig  von  Harn- 
stauung. Die  Nieren  lagen  ja  vollständig  fest,  konnten  sich  gar 
nicht  drehen.  Diese  acuten  Aüaquen,  die  sehr  an  die  Zustände 
erinnern,  welche  als  Folgen  von  Niereneinklemmnng  u.  s.  w^  bei 
veritabler  Wanderniere  bes(*hrieben  werden  —  gesehen  habe  ich 
leider  eine  solche  Niereneinklenimung  nie  —  gleichen  am  meisten 
den  durch  Adhäsionen  zwischen  Gallenblase,  Duodenum  und  Quer- 
colon  hervorgerufenen  Schmerzanfällen;  sie  verlaufen  wohl  durch- 
weg ohne  Temperaturerhöhung,  treten  hier  wie  dort  bald  spontan, 
bald  nach  körperlichen  Anstrengungen  ein,  sind  vorläufig  überhaupt 
nicht  zu  erklären,  so  viel  wir  auch  über  dieses  Thema  debattiren 
mögen.  Vorhanden  sind  die  Adhäsionen  Jahr  und  Tag;  warum 
machen  sie  oft  nur  vorübergehende  Beschwerden,  warum  liegen 
Monate  lange,  völlig  schmerzfreie^  Pausen  zwischen  den  Anfällen? 
w-arum  häufen  sie  sich  g(*legentlich?    Nc^scimus. 

Im  Falle  11  spielte  wahrscheinlich  die  Verwachsung  von  Niere 
und  Duodenum  mit  der  Gallenblase  noch  eine  Rolle;  es  kam  zu 
excessivem  Erbrechen,  während  No.  I  nur  an  Würgen  litt,  doch 
haben  andere  Kranke,  ohne  dass  die  Gallenblase  adhärent  gewesen 
wäre,  gleichfalls  an   heftigem   Erbrechen  gelitten  (vergl.  Fall  5). 

Die  Fälle  beweisen,  dass  nicht  bloss  die  an  abnormer  Stelle 
fixirte  Niere  excessive  Beschwerden  verursachen  kann,  sondern  dass 
die  Nieren  auf  ihrer  sogenannten  Wanderung  bis  zu  jener  Stelle  hin 
Störenfriede  I.   Ranges  sein  können. 

Bei  No.  1  hatte  man  1893  noch  keine  Geschwulst  gefühlt, 
obwohl    damals    das    Magenleiden    bereits  7  Jahre    lang    bestand; 


Ueber  Peritonitis  chronica  non  tuberculosa  und  ihre  Folgen.        665 

die  Diagnose  war  auf  Dilatatio  ventriculi  infolge  von  Ulc.  Pylor. 
sanat.  gestellt  worden.  Erst  im  August  1894  entdeckte  man 
einen  undeutlichen  Tumor  unterhalb  der  Leber;  diese  Geschwulst 
wurde  allmählich  —  Pat.  blieb  dauernd  unter  Controle  der  hiesi- 
gen Poliklinik  —  immer  deutlicher,  bis  sie  sich  im  Februar  1897 
als  derber,  wenig  verschiebbarer  Tumor  in  der  Gegend  der  Gallen- 
blase präsentirte.  Es  wurde  also  die  Niere  auf  ihrer  Reise  von 
hinten  rechts  nach  vorne  links  genau  verfolgt;  die  Beschwerden 
wurden  allmählich  stärker,  vorhanden  waren  sie  aber  vom  Beginn 
der  Reise  an. 

Bei  No.  II  wurde  die  Geschwulst  erst  hier  entdeckt;  die 
früher  behandelnden,  sehr  erfahrenen  Aerzte  hatten  sie  nißht  ge- 
fühlt. Daraus  ist  zu  schliessen,  dass  auch  hier  die  Niere  lang- 
sam denselben  Weg  genommen  hat,  wie  die  Niere  von  No.  1; 
auch  hier  steigerten  sich  die  Beschwerden  allmählich  entsjarechend 
der  weiteren  Verschiebung  der  Niere;  vorhanden  waren  sie  aber 
stets. 

Ich  glaube  nun  nicht,  dass  die  Dislocation  der  Nieren  als 
solche  die  ausserordentlich  starken  Beschwerden  hervorgerufen 
hat,  die  hier  geklagt  wurden,  sondern  dass  die  Verwachsungen 
die  Hauptschuld  tragen,  da  frei  bewegliche  Nieren  kaum  jemals 
so  schwere  Störungen  verursachen.  Sie  verhalten  sich  ja  sehr 
vers(*hieden,  verursachen  bald  wenig,  bald  viel  Beschwerden;  indi- 
viduelle Empfindlichkeit  spielt  eine  grosse  Rolle,  so  dass  ein  Ver- 
gleich mit  der  Retroflexio  uteri  zulässig  ist. 

Wiederholt  habe  ich  bei  Gallensteinoperationen  bewegliche  Nie- 
ren zu  Gesicht  bekommen;  sie  glitten  unter  einem  intact(*n  prä- 
renalen Peritoneum  auf  und  nieder;  ich  habe  mich  gar  nicht  um 
die  Niere  gekümmert,  sie  einfach  an  Ort  und  Stelle  belassen;  Klagen 
von  Seiten  der  Kranken  sind  mir  bisher  nur  einmal  —  es  wurde 
Y4  Jahr  nach  Entfernung  der  Gallensteine  Fixatio  renis  nöthig  — 
zu  Ohren  gekommen,  was  doch  wohl  der  Fall  gewesen  wäre, 
wenn  die  Patientinnen  häufig  Beschwerden  behalten  hätten. 
Eine  vor  circa  7  Jahren  operirte  Dame  mit  Gallensteinen  und 
Wanderniere  gleichzeitig  ist  lediglich  von  ihren  Gallensteinen  be- 
freit worden;  die  AVanderniere  liess  ich  in  Ruhe,  trotzdem  fährt, 
reitet,  schwimmt  die  sehr  lebenslustige  Grossgrundbesitzerin,  erfreut 
sich  dauernd  dos  besten  Wohlseins;    anderen    mit  Wanderniere  ist 


666  Ör.  Riedel, 

CS  ebenso  gegangen.  Noch  ganz  kürzlich  habe  ich  wieder  einen 
mit  Gallensteinen  coraplicirten  Fall  von  Wanderniere  genauer  unter- 
suchen können. 

No.  231.    Frau  Flechtner,  33  J.,  aufgenommen  21.  6.  98. 

Seit  3  Jahren  magenkrank,  seit  l^g  Jahren  an  deutlichen  Gallenstein- 
koliken leidend,  3  mal  mit  Erbrechen  in  letzter  Zeit,  einmal  soll  Icterus  vor- 
handen gewesen  sein. 

Status  praesens.  Blasse,  weinerliche  Frau.  Deutlicher  grosser,  mit  der 
Athmung  sich  stark  verschiebender  Tumor  in  der  Gallenblasengegend;  Druck 
daselbst  schmerzhaft. 

26.  6.  Incision  ergiebt  Wanderniere,  keine  Spur  von  chronischer  Perito- 
nitis oder  von  Gewebsverdickung  vor  der  Niere.  Duodenum  liegt  medianwärts 
von  derselben,  es  steht  in  keiner  festen  Verbindung  mit  der  Niere;  man  kann 
es  leicht  etwas  aufheben  und  weiter  nach  links  hinüberlegen;  die  Niere  gleitet 
hinter  dem  intacten  Peritoneum  auf  und  ab,  lässt  sich  weithin  verschieben, 
ohne  dass  das  Duodenum  irgendwie  beeinilusst  wird.  Gallenblase  klein,  weich, 
unverwachsen,  enthält  zahlreicheSteine  von  Slecknadelkopfgrösse  und  schwarze, 
zähe  Galle.  D.  choled.  augenscheinlich  dilatirt,  aber  frei  von  Steinen.  Gallen- 
steine entfernt;  zum  Schlüsse  der  Operation  fliesst  bereits  normale  Galle. 

Verlauf:  29.  6.  kein  Fieber,  viel  Galle  im  Verbände.  20.  7.  Gallenfistel 
geschlossen. 

Die  weitere  Beobachtung  wird  lehren,  ob  Patientin  nach  Ent- 
fernung ihrer  Steine  noch  Beschwerden  von  ihrer  Wandemiere 
haben  wird;  vorläufig  ist  sie  seit  der  Operation,  also  3  Wochen  lang, 
vollkommen  schmerzfrei;  dies  kann  sich  ja  ändern,  wenn  sie  das 
Bett  verlässt;  sehr  wahrscheinlich  ist  es  mir  nicht,  dass  sie  ernstere 
Störungen  erleben  wird.  Die  Niere  bewegte  sich  leicht  und  glatt 
hinter  dem  Peritoneum,  sie  übte  kaum  irgend  einen  Zug  auf  das 
Duodenum  aus. 

Dass  also  in  manchen  Fällen  eine  bewegliche  Niere  wenig  oder 
fi:ar  keine  Störungen  macht,  das  lässt  sich  nicht  leugnen;  manche 
Autoren  gehen  so  weit,  dass  sie  überhaupt  jede  schlimme  Folge 
der  Wandeniiere  bestreiten,  dass  sie  in  jedem  Falle  mit  einer  Ban- 
dage aus  zu  kommen  glauben;  andere  halten  die  Wanderniere  für 
ein  ernstes,  der  Operation  bedürftiges  Leiden.  Wie  erklären  sich 
diese  Widersprüche?  Zum  grösseren  Theile  natürlich  durch  Zu- 
und  Abneigung  für  Operationen,  zum  kleineren  Theile  vielleicht  — 
ich  sage  ausdrücklich  „vielleicht"  —  auch  dadurch,  dass  jenen 
Autoren  vorwiegend  Fälle  von  veritabelen  beweglichen  Nieren  ohne 
jede  Tendenz  zu  Verwachsungen  zugingen,    während  diese  —  und 


üeber  Peritonitis  chronica  non  tuberculosa  und  ihre  Folgen.        667 

das  werden  voraussichtlich  meist  die  Chirurgen  gewesen  sein  — 
Kranke  beobachteten,  deren  bewegliche  Nieren  Tendenz  zu  Ver- 
wachsungen hatten  und  dass  diese  Nieren,  auch  wenn  sie  noch 
leidlich  beweglich  sind,  erhebliche  Beschwerden  machen 
können,  das  mögen  die  jetzt  folgenden  Fälle  beweisen: 

No.  IIL  Fr.  Auguste  Hennicke,  50  J.,  Weimar;  aufgenommen  6.  1.  98, 
operirt  11.  1.  98,  entlassen  3.  4.  98.  Vater  mit  73  Jahren  an  Influenza  ge- 
storben, Mutter  an  Üteruskrebs.  Sonst  weiss  Fat.  nichts  von  Krankheiten  in 
ihrer  Familie  anzugeben. 

Fat.  selbst  nach  lOjähriger  Ehe  seit  18  Jahren  Wittwe;  3  Partus,  vor 
dem  1.  Partus  ein  Abort.  1  Sohn  im  23.  Jahre  an  Schwindsucht  gestorben, 
Fat.  machte  mit  25  Jahren  ein  schweres  Nervenfieber  durch ,  war  bis  dahin 
immer  gesund. 

Seit  24  Jahren  leidet  sie  am  Magen:  ab  und  zu  traten  Anfälle  von  Magen- 
krämpfen auf,  die  etwa  12  Stunden  dauerten  und  in  Pausen  von  6 — 12  Monaten 
wiederkehrten.  Als  vor  24  Jahren  der  erste  Anfall  auftrat,  musste  sie  dieses- 
wegen  ihr  Kind  entwöhnen.  Nach  den  Krämpfen  trat  in  der  Regel  ein  mehr- 
stündiger Schütteifrost  auf.  Erbrechen,  Icterus,  Stuhlgangs  Veränderungen  hat 
Fat.  damals  nie  bemerkt,  auch  hat  Fat.  in  ihrem  Allgemeinzustande  wenig 
gelitten. 

Vor  4  Monaten  etwa  traten  auch  Schmerzen  weiter  nach  der  Seite  zu  auf, 
Pat.  will  dabei  eine  etwa  taubeneigrosso  Geschwulst  in  der  R.  V.  Axillar- 
linie unter  dem  Rippenbogen  bemerkt  haben.  Seit  4  Monaten  etwa  hat  Pat. 
fast  ununterbrochen  krampfartige  Schmerzen,  die  ins  Kreuz  hineinstrahlen; 
kein  Erbrechen,  dagegen  neuerdings  sehr  heftiges  morgendliches  Würgen; 
auch  will  Pat.  in  den  4  Monaten  sehr  elend  ge\vorden  sein.  Sie  wird  mit  der 
Diagnose  ,, Gallensteine"  der  Klinik  überwiesen,  zumal  auch  die  Schmerzen 
in  beide  Schultern  ausstrahlen. 

Status  praesens:  Kümmerlich  genährte  Frau ;  objectiver  Befund  nega- 
tiv, zumal  Pat.  bei  jeder  Berührung  die  Bauchdecken  ausserordentlich  stark 
spannt.  In  Narkose  (11.  1.  98)  fühlt  man  in  der  Gallenblasen  gegen  d  einen 
ziemlich  verschiebbaren  Tumor. 

Inc.  durch  den  Rect.  abd.  legt  eine  ganz  normale  Gallenblase  und  eine 
dislocirte  Niere  frei.  Vor  derselben  sieht  man  derbe  Stränge,  die  vom  Duode- 
num auf  die  Leber  lateralwärts  von  der  Gallenblase  zulaufen.  Duodenum  liegt 
ganz  vorne,  dicht  hinter  der  vorderen  Bauchwand,  vor  dem  medialen  Theile 
resp.  dem  Hilus  der  Niere.  Letztere  ist  durch  die  erwähnten  Stränge  sowie 
durch  weitere  ßindegewebsmassen,  die  sich  in  dem  vor  der  Niere  gelegenen 
Peritoneum  entwickelt  haben,  so  weit  median wärts  verzerrt,  dass  der  Hilus 
der  Niere  resp.  der  Ureter  unmittelbar  an  der  seitlichen  Fläche  der  Wirbel- 
körper liegen;  weisse  glänzende  Narben  fehlen.  Nierenvene  läuft  deutlich 
sichtbar  steil  nach  oben,  so  dass  also  die  Niere  stark  nach  abwärts  gewandert 
ist;  Nierenarterie  wird  nicht  gesehen;  es  spannt  sich  bei  der  jetzt  vorgenom- 
menen Reposition  der  Niere  kein  derber  Strang  an.  Nach  Lösung  aller  Stränge 


1 


668  Dr.  Riedel, 

wird  die  Bauchwunde  geschlossen,  sodaiin  von  hinten  auf  die  Niere  einge- 
schnitten. Es  gelingt,  dieselbe  durch  etwas  energischeren  Zug  an  ihren  nor- 
malen Standort  zu  bringen  und  dort  zu  fixiren;  Tamponade  in  gewohnter 
Weise. 

Verlauf:  Vielfache  Störungen  infolge  von  Erbrechen  und  Durchfall, 
sodann  rechtsseitige  centrale  Pneumonie  mit  geringfügigem  pleuritischem  Ex- 
sudate. Anfang  Februar  normaler  Verlauf,  aber  sehr  langsame  Reconvalescenz. 
3.  4.  entlassen  mit  11  Pfund  Gewichtszunahme,  frei  von  Beschwerden.  Laut 
Brief  vom  7.  8.  98  ist  das  Befinden  dauernd  ein  gutes.  Die  Frau  besorgt 
ohne  Mühe  2  Aufwartestellen,  befindet  sich  vollkommen  wohl. 

No.  IV.  Bertha  Seiler,  27  Jahre.  Aufgenommen  31.  3.  98,  ent- 
lassen 8.  5.  98.  Pat.  stammt  aus  einer  angeblich  gesunden  Familie,  nur  die 
Mutter  (70  Jahre)  und  eine  Schwester  (33  Jahre)  sollen  ,, magenleidend"  sein. 
Pat.  selbst  will  immer  ganz  gesund  gewesen  sein.  8  Tage  vor  Weihnachten  97 
traten  ganz  plötzlich,  ohne  dass  Pat.  eine  Ursache  anzugeben  wusste,  krampf- 
artige Schmerzen  in  der  Gegend  der  Magengrube  auf.  Diese  Schmerzen  stellten 
sich  ganz  unabhängig  von  den  Mahlzeiten  anfallsweise4— 5mal  am  Tage  ein  und 
dauerten  jedesmal  etwa  eine  Viertelstunde.  Dazwischen  waren  ganz  schmerz- 
freie Intervalle.  Während  der  Attaquen  Auftreibung  des  Leibes,  aber  kein 
Uebelsein,  kein  Erbrechen.  Die  Schmerzen  waren  stärker  im  Liegen  wie  im 
Umhergehen.  Diese  Schmerzanfalle  haben  sich  bis  jetzt  immer  wiederholt,  nur 
haben  sie  an  Intensität  verloren,  dagegen  an  Zeitdauer  zugenommen  (Anfalle 
von  2  stündiger  Dauer  in  der  letzten  Zeit).  Stuhlgang  soll  immer  regelmässig 
gewesen  sein,  Appetit  dagegen  sehr  gering;  auch  in  den  schmerzfreien  Zeiten 
getraute  sich  Pat.  nur  wenig  zu  essen,  so  dass  ihr  Körpergewicht  von 
144  Pfund  auf  119  sank.  Mitte  März  war  Pat.  nicht  mehr  im  Stande,  ihre 
Arbeit  als  Dienstmädchen  zu  verrichten;  sie  ging  deshalb  in  ein  Kranken- 
haus; von  dort  wurde  sie  wegen  Verdachtes  auf  Gallensteine  in  die  hiesige 
Klinik  verlegt. 

Status  praesens:  Grosses,  kräftiges,  nicht  krank  aussehendes  Mäd- 
chen. Negativer  Befund,  nur  leichte  Empfindlichkeit  auf  Druck  rechts  unter- 
halb der  Leber. 

4.  4.  98.  Incision  ergiebt,  dass  weiche  Gallenblase  mit  dem  Duodenum 
verwachsen  ist;  keine  Steine  in  derselben.  Dagegen  ist  die  rechte  Niere  ganz 
nach  der  Mittellinie  zu  verzogen ;  ihr  liegt  das  Duodenum  auf,  es  folgt  dem 
Zuge  an  der  Niere.  Narben  dort  nicht  sichtbar,  wohl  aber  unten  in  der 
Gegend  des  Processus  vermiformis;  letzterer,  an  der  Aussenseite  des  Typhlon 
gelegen,  ist  in  Adhäsionen  eingeschlossen,  die  an  ihrer  Oberfläche  weissglan- 
zende  Narben  tragen.  Processus  selbst  verdickt,  augenscheinlich  chronisch 
entzündet,  wird  entfernt.  Es  gelingt  sodann  leicht,  das  Duodenum  von  der 
Niere  zu  trennen,  worauf  letztere  nach  hinten  sinkt.  Schluss  der  Bauchwunde, 
keine  Fixation  der  Niere. 

Reactionsloser Verlauf,  nur  Störung  infolge  von  Durchfall;  Bauchdecken- 
wunde heilt  per  primam.  Beschwerden  Seitens  der  Niere  fehlen  gänzlich 
während  der  ruhigen  Lage  im  Bette. 


lieber  Peritouitis  chronica  nori  tuberoulosa  und  ihre  Folgen.        669 

Pat.  wurde  am  8.  5.  in  ein  auswärtiges  Krankenhaus  translocirt,  weil 
sie  hier  auf  Freibett  lag.  Auch  dort  befand  sie  sich  zunächst  gut;  als  sie  aber 
später  aufstand,  traten  die  alten  Schmerzan fälle  wieder  auf.  Sie  tendirt  aber- 
mals in  die  hiesige  Klinik,  um  nun  die  Fixation  der  Wanderniere  vornehmen 
zu  lassen. 

No.  V.  Frl.  U.,  51  Jahre  alt,  aufgenommen  12.  6.  98.  Vater  (Arzt)  gestor- 
ben an  Kehlkopfschwindsucht,  Mutter  leidet  an  Morbus  Basedowii;  ein  Bruder 
magenleidend.  Schon  im  Alter  von  5 — 8  Jahren  bestand  oft  heftiges  Erbrechen 
von  galligen  Massen  mit  Anflug  von  Icterus;  diese  Anfälle  wiederholten  sich 
in  der  Entwickelungsperiode.  Dann  gesund  bis  zum  Alter  von  29  Jahren. 
Nach  heftiger  Gemüthsbewegung  ein  8  Stunden  lang  dauernder  Anfall  von 
Gallensteinkolik  mit  starkem  Erbrechen  und  heftigen  Schmerzen  in  der  Leber- 
gegend; im  Stuhlgange  fand  sich  ein  bräunlicher  Stein,  bohnenförmig,  mit 
rauher  Aussenseite.  Diese  Anfälle,  die  oft  nur  4—6  Stunden  dauerten  und 
von  heftigen  Kopfschmerzen  in  der  Stirngegend  begleitet  waren,  wiederholton 
sich  in  unregelmässigen  Zwischenräumen;  sie  endeten  meist  mit  Durchfällen. 
Man  fand  keine  Steine,  wohl  aber  kiesartige  Substanzen  im  Stuhlgange.  Im 
Jahre  83  ein  besonders  schwerer  Anfall  von  Gallensteinkolik  (48  Stunden 
dauernd,  41  ^  Temperatur,  Icterus),  Stuhlgang  nicht  untersucht.  5  maliger 
Besuch  von  Karlsbad,  stets  mit  gutem  Erfolge.  Seit  7  Jahren  keine  heftigen 
Kolikanfälle  mehr,  aber  von  Zeit  zu  Zeit  heftiges  Erbrechen  von  Galle,  stets 
hinterher  Diarrhoe,  worauf  Uebelkeit  und  Kopfschmerzen  schwanden;  in 
neuester  Zeit  erhebliche  Abmagerung. 

Status  praesens:  Mangelhaft  ernährt,  aber  geistig  frisch.  Schmerz- 
punkt in  der  Gallenblasengegend,  Tumor  nicht  mit  Sicherheit  fühlbar;  kein 
Icterus.   U.  s.  A. 

16.  6.  Narkose.  Jetzt  deutlich  fühlbarer  Tumor  weit  rechts  im  Abdomen. 
Incision:  Kleine  Gallenblase  ohne  Steine,  nur  ganz  unten  etwas  verwachsen, 
der  gefühlte  Tumor  erweist  sich  als  dislocirte  Niere.  Leber  in  der  Ausdehnung 
von  10cm  Länge  und  2 cm  Breite  zunächst  mit  dem  der  dislocirten  Niere  auf- 
liegenden Peritoneum  nnd  dann  mit  der  Vena  cava  inferior  verwachsen.  Nach 
Lösung  dieser  Adhäsionen  sinkt  die  Niere  etwas,  aber  nicht  erheblich  nach 
rechts;  man  kann  sie  nicht  an  ihren  richtigen  Platz  schieben,  weil  die  Arteria 
renalis  sich  stark  anspannt;  sie  verläuft  median wärts  und  nach  oben.  Das 
Duodenum  ist  nicht  sehr  erheblich  nach  rechts  verzerrt,  wohl  aber  ist  das 
Quercolon  nach  oben  verlagert  bis  zum  Magen;  an  letzteren  (Pylorustheil)  hat 
sich  das  Duodenum  ca.  2— 3  cm  weit  fest  angelegt,  beiden  liegt  das  Quercolon 
auf.  Nach  Ablösung  des  Quercolon  gelingt  es  auch,  den  Magen  vom  Duo- 
denum zu  trennen,  so  dass  die  spitzwinklige  Knickung  des  Pylorus  beseitigt 
ist.  Weiterhin  bestehen  noch  Adhäsionen  zwischen  Colon  ascendens  und 
Flexura  coli  hepatica,  sie  werden  gelöst.  Processus  vermiformis  am  distalen 
Ende  obliterirt,  hängt  tief  ins  kleine  Becken  hinein,  ist  dort  adhärent;  er  wird 
abgelöst,  aber  nicht  entfernt.  Schluss  der  Bauchwundo;  doppelreihige  Catgut- 
naht  durch  Muskeln  und  subcutanes  Fettgewebe. 

Verlauf  reactionslos. 


670  Dr.  Riedel, 

14.  7.  Schnitt  auf  die  Niere;  letztere  liegt  fast  an  noniialer  Stelle.  Ge- 
ringfügiger Bluterguss  unter  die  Capsula  fibrosa  noch  jetzt  vorhanden.  Kapsel 
schwer  abziehbar,  Nierensubstanz  sehr  weich,  reisst  hier  und  da  etwas  ein. 
Niere  lässt  sich  leicht  nach  oben  schieben ;  sie  wird  in  gewohnter  Weise  fixirt. 
20.  7.  Ungestörter  fieberloser  Verlauf.  28.  7.  Tampons  entfernt.  15.  8.  fast 
geheilt  entlassen. 

Diese  drei  Patientinnen  wurden  mit  der  Diagnose:  „Gallen- 
steine*^ der  Klinik  überwiesen,  so  intensiv  waren  die  Beschwerden 
derselben;  No.  V  hatte  sicherlich  auch  einst  Gallensteine  gehabt, 
doch  waren  die  letzten  Steine  augenscheinlich  im  Jahre  1883  bei 
dem  letzten  schweren  Anfalle  durch  die  Papille  hindurchgetrieben 
worden.  No.  III  und  IV  hatten  nie  Steine  gehabt;  erstere  litt 
seit  24  Jahren  an  Schmerzanfällen,  die  in  den  letzten  4  Monaten 
eine  excessive  Höhe  erreicht  hatten,  so  dass  Patientin  rapide  ab- 
gemagert war;  der  gleiche  rasche  Gewichtsverlust  wurde  bei 
No.  IV  und  V  beobachtet.  In  allen  drei  Fällen  glaubten  die  be- 
handelnden Aerzte  ein  schweres  Leiden  vor  sich  zu  haben  und  in 
allen  dreien  lag  lediglich  eine  nur  leicht  iixirte,  also  noch  ziem- 
lich verschiebbare  Wanderniere  vor.  Dies  wurde  stets  ante  opera- 
tionem,  aber  erst  in  Narkose  bei  völlig  schlaffen  Bauchdecken  con- 
statirt,  die  Diagnose  konnte  also  wenigstens  im  letzten  Momente 
gestellt  werden,  was  in  Fall  I  und  II  wegen  völliger  Fixation  der 
Nieren  ganz  unmöglich  war. 

Zwei  Mal  (No.  111  und  V)  waren  die  Nieren  medianwärts  und 
gleichzeitig  nach  unten  verschoben;  die  Nierengefässe  liefen  steil 
nach  oben.  Mit  den  Nieren  war  auch  das  Duodenum  anscheinend 
etwas  nach  unten  gezerrt  worden;  No.  4  hatte  lediglich  Verschie- 
bung der  Niere  nach  der  Mittellinie  zu  erlebt. 

Ob  in  diesen  Fällen  primäre  chronische  Peritonitis  als  Causa 
morbi  vorliegt  oder  ob  die  Veränderungen  im  Peritoneum  secun- 
därer  Natur  sind,  das  wage  ich  nicht  mit  Sicherheit  zu  entscheiden; 
für  wahrscheinlicher  halte  ich  ersteres.  Besonders  die  Verwach- 
sungen dt\s  Peritoneum  praerenale  mit  der  Leber  und  der  Vena 
Cava  inferior,  die  Adhäsionen  zwischen  Quercolon  und  Magen  im 
Falle  V  lassen  sich  nicht  wohl  anders  erklären. 

Leider  ist  erst  Fall  111  abgeschlossen;  Patientin  ist  vollstän- 
dig hergestellt.  No.  IV  bedarf  noch  der  Fixatio  renis,  bei  No.  V 
ist  letztere  erst  vor  4  Wochen  vorgenommen.    Ich  erwarte  dauernde 


Ueber  Peritonitis  chronica  non  tuberculosa  und  ihre  Folgen.        671 

Heilung,  obwohl  die  Ablösuni^en  in  der  Bauchhöhle  ziemlich  aus- 
gedehnt waren ;  bis  jetzt  arbeiten  Magen  und  Dickdarm  trotz  dieser 
Ablösungen  ganz  vortrefflich. 

In  den  geschilderten  5  Fällen  glich  das  Krankheitsbild  also 
am  meisten  dem  einer  Gallenblasenentzündung  infolge  von  Stein, 
doch  waren  auch  Dilatatio  ventriculi  resp.  Ulcus  ventriculi  sana- 
tura  und  andere  Magenleiden  in  Frage  gekommen.  Drei  Mal  hatte 
erst  die  Untersuchung  in  Narkose  Klarheit  gebracht.  Diesen  fünf 
Fällen  steht  ziemlich  schroff  No.  VI  gegenüber;  bei  ihr  war  die 
Diagnose  auswärts  auf  Appendicitis  gestellt  worden,  während  hier 
Wanderniere,  complicirt  mit  Appendicitis,  angenommen  wurde: 

No.  VI.  Elise  Secbcr,  29  Jahre,  Ilmenau.  Aufgenommen  21.  1.  98,  ope- 
rirt  26.  1.  98  und  19.  3.  98.  Vater  mit  46  Jahren  an  einer  Rückenmarkser- 
kTankung  gestorben,  Mutter  lebt  und  ist  gesund.  Von  Krankheiten  in  der  Fa- 
milie ist  Pat.  nichts  bekannt.  Sic  selbst  von  93  bis  97  verheirathet,  2  Partus, 
kein  Abortus.  Pat.  will  früher  ganz  gesund  gewesen  sein.  In  ihrem 
19.  oder  20.  Lebensjahre  bemerkte  Pat.,  als  sie  eine  Bürste  von  einem  ziemlich 
hohen  Kleiderschranke  herabholen  wollte,  plötzlich  einen  „Knax**  in  der  rech- 
ten Seite.  Seitdem  hatte  sie  stets  einen  ziehenden  Schmerz  an  dieser  Stelle, 
besonders  beim  Gehen.  Im  Laufe  der  Zeit  haben  sich  diese  Schmerzen  immer 
mehr  nach  vorn,  nach  dem  Bauche  zu  gezogen,  auch  bemerkte  Pat.  in  den 
letzten  2  Jahren,  dass  sich  etwas  im  Bauche  hin  und  her  bewegte;  sie  selbst 
konnte  dabei  von  aussen  auch  einen  „Klumpen"  fühlen.  Beim  Liegen  ver- 
schwanden die  Beschwerden.  Kurz  vor  Weihnachten  97  bekam  Pat.  starken 
Hustenreiz  bei  vollständig;  negativem  Befunde  an  der  Lunge,  gleichzeitig  traten, 
ohne  dass  eine  Ursache  zu  finden  gewesen  wäre,  auch  Schmerzen  in  der  Ileo- 
cöcalgegend  auf.  Pat.  empfand  es  doppelt  schmerzhaft,  wenn  der  bewegliche 
Klumpen  gegen  diese  schmerzhafte  Stelle  stiess.  Ab  und  zu  trat  Erbrechen 
auf,  Pat.  hatte  über  Hitze  im  Leib  und  unregelmässigen  Stuhlgang  zu  klagen 
und  wurde  wegen  ,, Appendicitis**  der  Klinik  überwiesen. 

Status  praesens:  Ziemlich  kümmerlich  genährte  Frau;  undeutlich 
wird  rechterseits  eine  Resistenz  gefühlt,  die  als  Wanderniere  imponirt.  Wegen 
Unsicherheit  der  Difignose  cxspectatives  Verhalten.  Da  traten  am  26.  1.  mor- 
gens, bei  37,7^  Temperatur,  heftige  Schmerzen  in  der  lleooöcalgegend  auf; 
man  sieht  dort  eine  leichte  Vorwölbung,  glaubt  geringfügige  peristaltische  Be- 
wegungen zu  erkennen,  so  dass  jetzt  die  Diagnose  auf  Appendicitis  gestellt 
und  alsbald  die  Narkose  eingeleitet  wird.  In  derselben  fühlt  man  wieder  deut- 
lich den  Tumor,  der  früher  als  Wanderniere  gedeutet  wurde.  Trotzdem 
Schnitt  auf  die  lleocöcalgegend.  Dort  wird  nur  ein  Strang  entdeckt,  der  vom 
Cöcum  hinauf  zum  Colon  transversum  geht.  Wurmfortsatz  an  seinem  distalen 
Ende  atrophirt,  jedenfalls  nicht  entzündet.  Oben  ist  das  Netz  an  der  Leber 
mit  einzelnen  Strängen  adhärent.    Weiter   unten    liegt,    gleichzeitig   ziemlich 


672  Dr.  Riedel, 

stark  medianwärts  verzerrt,  die  Niere  hinter  dem  nach  rechts  verschobenen 
Duodenum;  sie  wird  von  letzterem  abgelöst  und  reponirt.  Schluss  der  Bauch- 
wunde; vorläufig  keine  Fixatio  renis,  weil  verhältnissmässig  viel  Blut  in  die 
Bauchhöhle  geflossen  ist. 

Verlauf:  reactionslos;  Wunde  heilt  per  primam.  Pat.  klagt  aber  dau- 
ernd über  unbestimmte  Empfindungen  in  der  rechten  Seite,  deshalb  am  19.  3, 
Schnitt  von  hinten  auf  die  Niere.  Letztere  liegt  fast  an  normaler  Stelle,  ist 
nur  noch  sehr  verschiebbar.  Fixation. 

Verlauf:  einige  Tage  lang  38,0— 38,4 ^  bei  120  Pulsschlägen,  sodann 
fieberfrei  bis  16.  4.  Bei  gut  granulirender  Wunde  zunächst  Angina,  später 
Erysipelas  faciei,  wodurch  Pat.  stark  herunterkommt.  Sie  konnte  erst  18.  5. 
geheilt  und  frei  von  Beschwerden  entlassen  werden.  Gewichtszunahme  erst 
4  Pfund.    25.  7.  Befinden  gut.    Narbe  noch  etwas  schmerzhaft  auf  Druck. 

Die  Operation  hat  den  Fall  klar  gestellt;  der  Strang  zwischen 
Coecum  und  Col.  transv.  hatte  die  Appendicitis  vorgetäuscht.  Der 
Strang  repräsentirte  eine  Complication,  die  ganz  unabhängig  von 
der  dislocirten  Niere  war.  Letztere  erwies  sich  als  noch  in  er- 
heblichem Grade  verschiebbar,  dementsprechend  fehlten  auch  derbere 
Stränge  im  Peritoneum  praerenale,  die  Niere  verhielt  sich  mehr 
als  veritabele  Wanderniere,  sie  verursachte  auch  imr  geringfügige 
Beschwerden,  bis  jene  Complication  hinzutrat.  Augenscheinlich 
wurde  der  Strang  durch  die  sich  bewegende  Niere  gezerrt,  wo- 
durch schmerzhafte  Empfindungen,  schliesslich  sogar  Erbrechen 
entstand. 

Wir  haben  einen  „Ausnahmefall"  vor  uns;  als  solcher  hat  er 
kein  allgemeines  Interesse;  man  wird  nicht  leicht  Appendicitis  mit 
Ren  mobile  fixatum  verwechseln;  letztere  wird  immer  am  häufig- 
sten mit  dem  Gallensteinleiden  verwechselt  werden.  Das  wird  be- 
sonders dann  der  Fall  sein  können,  wenn  die  fixirte  W^anderniere 
sehr  hoch  unter  der  Leber  steht  und  wenn  sie  bei  Männern  zur 
Ausbildung  kommt,  also  überhaupt  nicht  fühlbar  ist: 

No.  7.  Herr  Dr.  med.  F.,  32  Jahre  alt,  aufgenommen  13.  7.  98.  Vater  f 
an  einem  Lungenleiden.  Mutter  lebt,  soll  Spitzencatarrh  gehabt  haben.  Pat. 
stets  schwächlich  und  nervös,  erkrankte  im  14.  Le])ensjahre  an  Scharlach  mit 
Nephritis;  es  bestanden  Symplome  von  Urämie,  Erbrechen  u.  s.  w.  Winter 
Sl/82  traten  die  ersten  Erscheinungen  des  jetzigen  Leidens  auf:  Pat.  ging 
rasch  nach  dem  Mittagessen  zum  Schlittschuhlaufen,  er  bekam  dabei  Schmerzen 
dicht  unter  dem  Rippenbogen  am  äusseren  Rande  des  Rect.  abd.,  so  dass  er 
bald  nach  llauso  gehen  und  sich  hinlegen  musste;  die  Schmerzen  hörten  nach 
1 — 2  Stunden  wieder  auf.    Etwa  V2  Jain*  später  kam  eine  heftige  Attaque;  sie 


lieber  Peritonitis  chronica  non  tuberciilosa  und  ihre  Folgen.        673 


ö' 


dauerte  2—3  Tage.  Ungefähr  in  Pausen  von  ^''2— 1  Jahr  wiederholten  sich 
dann  die  Anfalle,  meist  im  Anschlüsse  an  starke  körperliche  Bewegungen  oder 
an  Genuss  von  schwer  verdaulichen  Speisen  oder  von  Alcoholica;  die  Schmerzen 
traten  meist  erst  mehrere  Stunden  nach  der  Einwirkung  der  genannten  Schäd- 
lichkeiten auf,  oft  erst  am  nächsten  Tage;  sie  waren  dumpf  und  sehr  quälend. 
Mehrere  Male  brach  kalter  Schweiss  aus,  auch  wurde  Pulsverlangsamung  bis 
auf  50  Schläge  gegen  70—100  in  der  Norm  beobachtet.  In  der  Zwischenzeit 
war  Pat.  frei  von  Beschwerden,  nur  musste  er  schwere  Speisen  vermeiden. 

Mai  89  gab  eine  Angina  diphtheritica  den  Anstoss  zum  Ausbruche  einer 
hochgradigen  nervösen  Erschöpfung;  im  rechten  Hypochondrium  wurde  jetzt 
permanentes  Druckgefühl  gespürt,  dasselbe  steigerte  sich  beim  geringsten  Diät- 
fehler oder  bei  körperlicher  Anstrengung  zu  schmerzhaften  Empfindungen. 
Dieser  Zustand  besteht  jetzt  seit  9  Jahren,  kaum  ein  Tag  ist  ungestört.  Die 
Diagnose  der  behandelnden  Aerzte  schwankte  zwischen  Gallensteinen  und  Py- 
lorusgeschwür;  man  verordnete  strenge  Diät,  so  dass  Pat.  Jahre  lang  nur  von 
leichten  Speisen  lebte.  Eine  Kur  in  Karlsbad  im  Frühling  1898  verschlimmerte 
das  Leiden,  dagegen  besserte  sich  der  Zustand  in  Königsborn  bei  Unna 
(Dr.  Wegele);  das  Gewicht  stieg  von  116  auf  119^/2  Pfund,  aber  der  Ap- 
petit blieb  gering.  Die  Untersuchung  des  Magensaftes  ergab  Hyperacidität; 
die  verdauende  Kraft  des  Magens  war  gut:  Y2  '"Stunde  nach  Einnahme  eines 
Probefrühstückes  war  durch  die  Magensonde  nur  noch  wenig  Schleim  zu  ge- 
winnen; von  einer  reichlichen  Mittagsmahlzcit  war  Abends  nicht  das  geringste 
im  Magen  zurückgeblieben.  Ich  bin,  so  schreibt  Pat.,  am  Schlüsse  seines  Be- 
richtes, in  meinem  gegenwärtigen  Zustande  nahezu  ganz  leistungsunfähig. 
Nach  jeder  grösseren  körperlichen  Anstrengung  treten  die  erwähnten  Schmerzen 
auf,  die  mich  meist  zum  Liegen  zwingen.  Geringfügige  Diätfehler,  Gemüths- 
bewegung  sowie  auch  angestrengte  geistige  Arbeit  haben  denselben  Einfluss. 
Ich  würde  mein  Leiden  für  ein  vorwiegend  nervöses  halten,  wenn  nicht  die 
strenge  Localisation  bestände  und  nicht  die  betreffende  Stelle  während  der  An- 
fälle auf  Druck  äusserst  empfindlich  wäre.  Auch  jede  stärkere  palpatorische 
Untersuchung  ruft  eine  Verschlimmerung  des  Zustandes  hervor,  indem  danach 
stärkere  Schmerzen  auftreten.  Dieselben  strahlen  übrigens  oft  nach  hinten 
sowie  in  die  Gegend  des  Blinddarmes  aus.  Ein  von  mir  consultirter  hervor- 
ragender Nervenarzt  ist  gleichfalls  der  Ansicht,  dass  meine  Nervosität  ihren 
Ursprung  in  einem  localen  Leiden  habe. 

St.  pr. :  Magerer  blasser,  auffallend  jugendlich  aussehender  Mann. 
Rechtes  Hypochondrium  durch  Senfteige  u.  s.  w.  dunkel  verfärbt,  auf  Druck 
sehr  empfindlich;  kein  Tumor  nachweisbar. 

In  der  Blinddarmgegend  anscheinend  kleiner  auf  Druck  schmerzhafter 
Knoten.    Brustorgane  gesund.   Urin  ohne  Albnmen. 

17.7.  Schnitt  durch  den  M.  rect.  abd.  d.;  Leber  klein,  Gallenblase  des- 
gleichen, nicht  verwachsen.  R.  Niere  steht  hoch  und  dicht  an  der  Wirbelsäule, 
Duod.  ist  etwas  nach  rechts  verzogen,  vollständig  abgeplattet;  Veränderungen 
im  Peritoneum  praerenale  sind  kaum  nachweisbar;  das  Gewebe  ist  durchweg 
zart.     Ablösung  des  Duod.  von  der  Niere  p^clinjrt  leicht;  Duod.  entfaltet  sich 


674  Dr.  Riodel, 

darauf  nach  vorne.  Magen  mit  Duod.  durch  eine  einzige  schmale  weiss- 
glänzende  Narbe  ve^lölhet,  so  dass  der  Pylorus  etwas,  aber  nur  in  minimalster 
Weise  abgeknickt  ist;  Trennung  der  Narbe.  Appendix  ganz  gesund;  Dickdarm 
voll  Skybala,  obwohl  reichliche  Abführmittel  gegeben  waren.  Bauchhöhle 
lässt  sich  vom  Schnitte  aus  übersehen,  Netz  liegt  ganz  normal,  nirgends  werden 
weitere  Anomalien  im  Bauche  entdeckt;  Schluss  der  Bauchwunde.  21.  7. 
Reactionsloser  Verlauf,  nur  dadurch  gestört,  dass  Pat.  in  liegender  Stellung 
keinen  Urin  lassen  kann.   Yg  last  geheilt. 

Wenn  sich  ein  Arzt  zur  Laparotomie  entschliesst,  dann  muss 
er  sehr  erhebliche  Beschwerden  haben;  von  „Nervosität"  kann 
man  hier  nicht  sprechen;  Patient  macht  gar  keinen  nervösen  Ein- 
druck, er  ist  ein  ruhiger,  entschlossener  Mann,  der  ganz  genau 
weiss,  dass  er  Grund  hat,  sich  operiren  zu  lassen.  Bei  ihm  fand 
man  selbst  in  Narkose  gar  nichts;  die  Niere  lag  aber  hoch  oben 
unter  der  Leber,  letztere  war  klein,  verschwand  unter  dem  Rippen- 
bogen; es  war  nach  der  Oeffnung  der  Bauchhöhle  ganz  klar,  dass 
man  diese  Niere  hätte  nimmermehr  ante  operationem 
fühlen  können. 

Der  Fall  ist  wichtig,  besonders  im  Hinblicke  auf  No.  9; 
möglich,  dass  noch  öfter  „nervöse  Magenbeschwerden"  durch  der- 
artig versteckt  liegende  dislocirte  Nieren  verursacht  werden.  Leider 
ist  die  Sache  noch  nicht  spruchreif;  erst  wenn  nach  Fixatio  rcnis 
alle  Beschwerden  beseitigt  sind,  wird  man  zu  sicheren  Schlüssen 
berechtigt  sein. 

Alle  die  bisher  erwähnten  Patienten  hatten  Beschwerden,  die 
einen  mehr,  die  anderen  weniger,  aber  das  Leben  war  nicht  be- 
droht; ernster  wird  das  Leiden,  wenn  Icterus  sich  hinzugesellt.  In 
der  Literatur  ist  mehrfach  intormittirender  Icterus  bei  Wanderniere 
erwähnt;  sehr  ausführlich  schildert  Litten  (Charite-AnnaL  V.  1878, 
S.  193)  einen  einschlägigen  Fall  (zweimal  sich  wiederholender 
Icterus,  die  zweite  Attaque  ganz  schmerzlos  auftretend),  doch  ist 
meines  Wissens  noch  kein  Fall  durch  Incision  verificirt  worden; 
ich  theile  deshalb  zwei  durch  Obductio  in  vivo  klar  gestellte  Be- 
obachtungen mit;  die  erste  Kranke  bot  ein  leichtes,  der  zweite 
ein  ausserordentlich  schweres  absolut  undurchsichtiges  Krank- 
heit sbild: 


Ueber  Peritonitis  chronica  non  tuberculosa  und  ihre  Folgen.        675 

No.  8.  Alwine  Walther,  33  J.,  Lauscha.  Aufgenommen  28.  3.  98,  operirt 
31.  3.  98. 

Mutter  mit  58  Jahren  an  Gehirnleiden  gestorben.  Vater  hat  eine  Zeit 
lang  Gallensteine  gehabt,  die  aber  von  selbst  abgegangen  sind,  zur  Zeit  ist  er 
ganz  gesund.  Sonst  weiss  Pat.  von  Krankheiten  in  der  Familie  nichts  anzu- 
geben. Sie  selbst  ist  bis  auf  ein  geringfügiges  Mutterleiden  vor  der  ersten 
Geburt  immer  ganz  gesund  gewesen.  3  Partus,  3  starke  gesunde  kräftige  Kinder. 

Die.  jetzige  Erkrankung  begann  Weihnachten  1896  plötzlich  mit  kolik- 
artigen Schmerzen  in  der  Magengrube,  als  deren  Ursache  sie  viel  Aerger  und 
Sorge  in  jener  Zeit  annimmt.  Diese  Schmerzanfälle  dauerten  damals  einige 
Stunden  und  waren  begleitet  von  üebelsein  (kein  Erbrechen),  Aufstossen  und 
Auftreibung  des  Leibes.  Nach  einigen  Tagen  trat  ein  leichter  Icterus  auf  von 
etwa  dreiwöchentlicher  Dauer.  Bis  Ostern  1897  hatte  Pat.  in  der  Woche  2  bis 
3  Anfälle,  durch  die  sie  sehr  herunter  kam.  Im  Sommer  sistirten  die  Anfälle, 
so  dass  Pat.  wieder  arbeiten  konnte.  Im  November  aber  begannen  sie  wieder, 
zuerst  ganz  selten,  traten  aber  gegen  Weihnachten  wieder  häufiger  und  heftiger 
auf.     Der  letzte  Anfall  von  etwa  einstund iger  Dauer  am  21.  3.  98. 

Befund:  Grazile,  kleine,  entschieden  herunter  gekommene  Frau,  sehr 
weinerlich  und  aufgeregt.  Gelbgraue  Färbung  der  fettarmen  Haut,  Icterus  im 
Gesichte  nicht  ausgesprochen,  vielleicht  ein  kleiner  Stich  ins  gelbliche  in  den 
Coigunctivcn.  Brustorgane  gesund.  Abdomen  flach,  überall  weich,  Druck  in  der 
Rep.  epig.  und  in  der  Gallenblasengegend  auffallend  schmerzhaft.  Leber- 
dämpfung beginnt  am  unteren  Rande  der  5.  Rippe  und  überragt  den  Rippen- 
bogen in  der  Mamillarlinie.  Die  Leber  ist  sehr  deutlich  zu  fühlen,  desgleichen 
die  anscheinend  prall  gefüllte  Gallenblase,  besonders  wenn  man  von  der 
Nierengegend  her  einen  Gegendruck  ausübt.  Stuhlgang  von  normaler  Farbe 
und  Beschaffenheit.  Urin  frei  von  Eiweiss  und  Zucker,  Gallen farbstoff  nicht 
nachweisbar.  Es  besteht  Retroflexio  Uteri  fixati.  Puls  regelmässig,  96.  Tem- 
peratur: 36,0  bezw.  37,0. 

1.  4.  Incision  ergiebt,  dass  die  gefühlte,  als  prall  gespannte  Gallenblase 
angesprochene  Geschwulst  eine  dislocirte  und  an  abnormer  Stelle  fixirte  Niere 
ist.  Quercolon  und  Duodenum  durch  weiss  schi'lerndes,  über  die  dislocirte 
Niere  hin  weglaufen  des  Narbengewebe  mit  der  unteren  Fläche  des  rechten  Leber- 
lappens verwachsen.  Diese  Verwachsung  beginnt  3  cm  nach  rechts  vom  Halse 
der  ganz  intacten  kleinen  Gallenblase,  6  cm  hinter  dem  vorderen  Rande  des 
rechten  etwas  nach  unten  ausgezogenen  Leberlappens.  Die  nach  Ablösung  der 
Adhäsionen  auf  der  Leber,  speciell  auf  einem  kleinen  Extralappen  derselben 
zurückbleibende  dreieckige  Wundfläche  ist  ca.  Thalergross.  Jetzt  steht  die 
Niere  mit  ihrem  Hilus  seitlich  dicht  vor  der  Wirbelsäule;  ein  dünnes  vom  Hilus 
nach  der  Wirbelsäule  zu  laufendes  Gefäss  spannt  sich  so  stark  an,  dass  eine 
Verschiebung  lateralwärts  kaum  möglich  ist;  der  Ureter  dagegen  spannt  sich 
nicht  an.  Colon  ascendens  mit  Colon  transversum  durch  weisse  Narbenmassen 
verwachsen,  ersteres  an  der  vorderen  seitlichen  Bauchwand  adhärent.  Das 
stark  nach  rechts  verzerrt  gewesene  Duodenum  wird  nach  der  Mittellinie  zu 
verschoben,  die  Verwachsungen  der  verschiedenen  Abschnitte  des  Colon  werden 


676  Dr.  Riedel, 

gelöst,  während  die  Niere  unberührt  an  Ort  und  Slelle  bleibt.  Schluss  der 
Bauch  wunde.  Keactionsloser  Verlauf,  nur  am  dritten  Abende  stieg  die  Tem- 
peratur auf  38,1;  später  war  der  Verlauf  völlig  fieberlos;  die  zuerst  noch  vor- 
handene Spur  von  Icterus  verschwindet  im  Laufe  der  nächsten  Wochen  gänzlich. 
10.  4.  Schnitt  von  hinten  auf  die  Niere;  letztere  liegt  noch  immer  weit  median- 
wärts,  so  dass  sogar  versehentlich  das  Bauchfell  geöffnet  wird  (sofort  durch 
Catgutnaht  geschlossen).  Niere  von  Kapsel  entblösst,  wird  allmälig  vorge- 
zogen, was  ohne  erheblichen  Widerstand  gelingt;  Fixation  an  normaler  Stelle. 
Verlauf  ungestört;  höchste  Temperatur  37,5.  20.  6.  geheilt  und  frei  von  Be- 
schwerden entlassen.  14.  8.  vorgestellt.  Keine  Leibschmerzen  mehr;  alle 
Speisen  werden  vertragen.    Blasenkatarrh  in  Folge  der  Retrofl.  Uteri. 

Diese  Kranke  bot  am  deutlichsten  das  Bild  der  primären 
chronischen  Peritonitis;  weiss  glänzende  Narben  zogen  von  Duo- 
denum und  Quercolon  über  das  Peritoneum  praerenale  hinüber  zur 
Leber,  dort  in  der  Ausdehnung  von  ca.  Thalergrösse  langgestreckt 
endigend.  Auch  weiterhin  am  Colon  asccndens  und  transversura 
fanden  sic^h  die  gleichen  Narben,  ohne  dass  die  genannten  Darra- 
abschnitte  jemals  nachw-eisbar  erkrankt  gewesen  wären;  die 
Bildung  secundärer  Adhäsionen  war  somit  ziemlich  ausgeschlossen. 

Mit  Rücksicht  darauf,  dass  der  Vater  der  Patientin  an  Gallen- 
steinen gelitten,  dass  früher  einmal  Icterus  vorhanden  und  jetzt 
abermals  aufgetreten  war,  dass  ein  Tumor  unterhalb  der  Leber 
gefunden  wurde  —  lautete  die  Diagnose  mit  Sicherheit  auf 
Gallensteine.  Die  Ueberraschung  war  gross,  als  die  Gallen- 
blase sich  als  ganz  unverändert,  frei  von  Adhäsionen,  also 
wohl  von  jeher  gesund  erwies;  diese  Gallenblase  konnte  schwerlich 
jemals  Steine  beherbergt  haben;  der  einstige  wie  der  jetzige  Icterus 
waren  darauf  zurückzuführen,  dass  die  dislot^irte  Niere  an  dem 
Duodenum  zerrte  und  wohl  gelegentlich  den  intraduodenalen  Theil 
des  Duct.  choled.  beeinflusste.  Ich  hätte  aber  doch  noch  Zweifel 
gehegt,  wenn  ich  nicht  ^3  J^^^  zuvor  einen  völlig  beweisenden 
Fall  von  Icterus  gravis  nach  Dislocatio  renis  operirt  gehabt  hätte: 

No.  9.   Herr  von  C,  42  Jahre  alt,  aufgenommen  am  10.  10.  97. 

Vater  starb  im  65.  Lebensjahre  an  Ulcus  duodeni  (durch  Obduction  veri- 
ficirt;  Diagnose  war  auf  Carcinoma  ventriculi  gestellt).  Fat.  selbst  bot  mit 
22  Jahren  Erscheinungen,  die  auf  Ulcus  ventriculi  hindeuteten;  er  musste 
sich  stets  etwas  schonen,  konnte  nicht  alle  Speisen  vertragen.  Er  war  und 
blieb  mager,  sah  besonders  im  letzten  Jahre  oft  sehr  angegriffen  aus,  obwohl 
er  in  sehr  behaglichen  Verhältnissen  lebte  und  wenig  zu  thun  hatte.  Vor 
5  Wochen  erkrankte  Fat.  nach  leichtem  Schüttelfrost  vollkommen  SChmerzIos 


Teber  Peritonitis  chronica  non  tuberculosa  und  ihre  Folgen.        677 

an  Gelbsuclit;  die  Temperatur  wurde  zu  Anfang  nicht  gemessen,  spater  fehlte 
nachweislich  jegliches  Fieber.  Bald  wurde  der  Icterus  ausserordentlich  stark, 
der  Stuhlgang  thonfarbig,  Pat.  verlor  vollständig  den  Appetit,  magerte  rapide 
ab,  hatte  aber  absolut  keine  Schmerzen. 

Status  praesens:  Icterus  gravis;  Stuhlgang  zurZeitwieder  etwas  gefärbt. 
Objectiver  Befund  YoIIstäBdig  Begativ.  Urin  dunkel,  fast  wie  Tinte,  enthält 
viel  Gallen  färb  Stoff,  aber  kein  Eiweiss.  Gewicht  132  Pfund.  Vom  10. — 16,  10. 
kein  Fieber.  16.  10.  Schnitt  durch  den  Rect.  abd.  dextr. :  Netz  nach  oben  ge- 
schlagen, mit  der  Leber  verwachsen,  letztere  an  der  vorderen  Bauch  wand  ad- 
härent.  Alle  Organe  icterisch;  Leber  gleichmiissig  dunkel  icterisch;  nirgends 
Geschwülste  nachweisbar.  Duodenum  mit  rechter  Niere  verwachsen,  nach 
rechts  verzogen  und  völlig  platt  gezerrt.  Niere  liegt  weit  vorne  rechts  neben 
der  Wirbelsäule;  nach  Ablösung  des  Duodenum  von  der  Niere  rückt  ersteres 
nach  vorne  und  links,  während  die  Niere  weit  zurück  nach  rechts  in  die  Tiefe 
sinkt.     Schluss  der  Bauchwunde. 

Verlauf.  Ab.  T.  36,7,  P.  70,  gut.  17.  10.  T.  37,3.  Ab.  38,9.  P.  90 
resp.  120,  gut.  18.  10.  T.  M.  38,9,  P.  HO.  Verbandwechsel,  auffallend 
viel  Secret  im  oberen  Wundwinkel.  Leib  flach.  Urin  enthält  jetzt  neben 
Gallenfarbstoff  sehr  viel  Eiweiss.  21.  10.  Temperatur  bleibt  hoch  (38—39,0); 
Entfernung  der  Niihte;  viel  Secret  im  oberen  Wundwinkel,  offenbar  aus  der 
Tiefe  der  Bauchhöhle  stammend,  intensiv  gelb  gefärbt;  Wunde  wird  oben  er- 
weitert. 23.  10.  Temperatur  abgefallen  (37,5,  P.  90).  Ein  Drainrohr  lässt  sich 
8  cm  tief  unter  die  Leber  einführen.  Urin  enthält  weniger  Gallenfarbstoff  und 
weniger  Eiweiss;  I.  Stuhlgang,  gefärbt.  1.  11.  Weiterhin  fieberloser  Verlauf. 
Sehr  starke  Secretion  aus  dem  Drainrohre,  so  dass  Tag  für  Tag  Verband- 
wechsel nöthig  ist.  Weder  Eiweiss  noch  Gallenfarbstoff  im  Urin.  5.  11. 
Gestern  Abend  Frösteln  bei  39,5  Temp.  Grosse  Mengen  von  Secret  hinter  den 
Bauchdecken  angehäuft.  10.  11.  Verband  noch  immer  gefärbt,  Temperatur 
normal.  Icterus  geringer.  19.  11.  Gestern  Abend  wieder  Frösteln  bei  38,9  T. 
Secretverhaltung  beseitifc^t  durch  Einführung  eines  längeren  Rohres.  1.  12. 
Fieberloser  Verlauf,  gelegentlich  37,6  Abends;  Secretion  nimmt  beträchtlich 
ab.  Wunde  klafft  nur  noch  im  oberen  Winkel.  Pflasterverband.  14.  12. 
Dauernd  reactionsloser  Verlauf;  Gewicht  am  6.  12.  noch  129 Yj  Pfund,  ist 
jetzt  auf  136  gestiegen;  kaum  noch  Gelbsucht.  3.  L  Gewicht  142  Pfund.  Pat. 
hat  das  Bett  verlassen.  Icterus  vollständig  verschwunden.  Appetit  und  Ver- 
dauung sehr  gut.  23.  1.  Geheilt  und  vollständig  gesund  entlassen.  7.  2. 
155  Pfund.  15.  7.  In  gleichem  Zustande  bei  152  Pfund  Gewicht  vorgestellt. 
Niere  nicht  zu  fühlen.  Zuweilen  bemerkt  Pat.  jetzt  wieder  dieselbe  Er- 
scheinung, die  er  in  früheren  Jahren  an  sich  beobachtete.  Zuerst  läuft  der 
Speichel  im  Munde  zusammen,  dann  folgt  allgemeines  Unbehagen,  sodann  Zu- 
sammenziehen des  Magens  mit  wenig  Schmerzen  —  nach  10  —  15  Minuten  ist 
alles  vorüber. 

Meine  Diagnose    lautete  in  diesem  Falle:    Carcinoma  duodeni 

mit  fast  vollständigem  Abschlüsse  des  Ductus  cholod.     Der  Vater 

des  Patienten    hatte    an    UIc.    duod.    gelitten,    Pat.    selbst    schien 

ArehiT  fttr  kliii.  Chirurgie.    57.  Hd.   Heft  3.  45 


678  Dr.  Riedel, 

20  Jahre  zuvor  gleichfalls  ein  Geschwür  daselbst  gehabt  zu  haben. 
Stets  etwas  „magenleidend",  war  er  jetzt  schleichend,  schmerz- 
und  fieberlos  erkrankt,  binnen  5  Wochen  skelettartig  abgemagert, 
im  höchsten  Grade  hinfällig,  graugelb  —  was  konnte  das  anderes 
sein,  als  eine  maligne  Geschwulst  entweder  im  Duodenum  oder  im 
Duct.  choled.  oder  im  Pankreas.  Meine  Absicht  war,  den  Fundus 
der  Gallenblase  abzulösen  und  ihn  mit  dem  Duodenum  in  Verbin- 
dung zu  bringen,  um  das  Leben  des  Kranken  noch  um  einige 
Monate  zu  verlängern.  Aber  das  Carcinom  war  nicht  zu  finden, 
auch  die  chronische  Entzündung  des  Pankreas'),  die  mich  einst 
in  grosse  Verlegenheit  gebracht  hatte,  fehlte;  ich  sah  lediglich  das 
Duodenum  ganz  nach  rechts  verzerrt  und  platt  gedrückt  durch 
die  nach  links  dislocirte  Niere.  Derbere  Narben  fehlten  anschei- 
nend gänzlich;  möglich,  dass  sie  bei  dem  starken  Icterus  nicht 
sichtbar  waren ;  die  Verwachsungen  des  NetzQ3  mit  der  Leber,  der 
Leber  mit  der  vorderen  Bauchwand  deuten  aber  darauf  hin,  dass 
auch  hier  primäre  chronische  Peritonitis  gespielt  hat. 

Dass  der  Ductus  choled.  direct  verzerrt  gewesen  sei,  das 
habe  ich  nicht  eruiren  können;  so  weit  er  frei  lag,  schien  er  ganz 
normal  zu  sein;  wahrscheinlich  ist  der  intraduodenale  Theil  des- 
selben verlegt  gewesen. 

Die  Operation  wurde  abgeschlossen  mit  dem  unbefriedigenden 
Gefühle,  dass  der  Fall  nicht  klargestellt,  dass  doch  noch  ein  Car- 
cinom überselien  worden  sei.  Dies  war  um  so  fataler,  als  Patient 
eine  sehr  bekannte  und  gleichzeitig  sehr  beliebte  Persönlichkeit 
war.  Am  Tage  nach  der  Operation  liefen  53  Telegramme  ein  mit 
der  Anfrage  nach  dem  Befinden  des  Patienten.  Was  sollte  man 
antworten?  Wanderniere?  Von  dieser  war  bisher  noch  nie  die  Rede 
gewesen,  und  nun  sollte  sie  mit  einem  ^lale  die  Causa  morbi  ge- 
wesen sein.  Die  Situation  wurde  noch  peinlicher,  als  Patient  am 
2.  Tage  zu  fiebern  anfing,  der  Urin  eiweisshaltig  wurde.  Es  wurde 
das  Vorhandensein  eines  primären  Leberleidens  erwogen,  einer  un- 
bekannten Tnfection;  nichts  wollte  stimmen.  Nach  einigen  Tagen 
fand  sich  die  Causa  febris;  augenscheinlich  hatte  sich,  begünstigt 
resp.  verursacht  durch  den  Icterus,  eine  erhebliche  Menge  von 
Serum  im  oberen  Theile  der  Bauchhöhle  ani^ehäuft.  Dieses  in- 
tensiv    gelb    gefärbte    Serum    verschaffte    sich    allmählich    Abfluss 

*)  Berliner  kliri.  Wochenschrift.     189C,-  No.  1. 


Ueber  Peritonitis  chronica  non  tuberculosa  und  ihre  Folgen.        679 

durch  den  oberen  Theil  der  Wunde;  man-  konnte  ein  Drainrohr 
tief  unter  die  Leber  führen,  worauf  die  Temperatur  abfiel,  doch 
kam  es  trotz  der  Drainage  noch  wiederholt  zu  Retention  von  Secret. 

Der  Ausgang  des  Falles  beweist,  dass  das  schwere  Leiden 
ausschliesslich  durch  die  Dislocation  der  Niere  resp.  des  Duo- 
denum bedingt  war.  Diese  dislocirte  Niere  hat  niemals  Schmerz- 
anfälle verursacht,  sie  hat  sich  also  nicht  anders  verhalten",  als 
diejenigen  dislocirten  Nieren,  die  ich  oben  als  zufällige  Neben- 
befunde bei  den  Gallenstein  Operationen  erwähnt  habe.  Sie  machte 
sich  erst  dann  geltend,  als  das  Duodenum  heran-  und  plattgezerrt 
wurde;  daran  war  die  chronische  Peritonitis,  nicht  die  Wander- 
niere Schuld,  letztere  folgte  einfach  dem  Zuge  des  sich  retrahiren- 
den  Peritoneum.  Es  liegt  auf  der  Hand,  dass,  falls  Vorstehendes 
richtig  ist,  gelegentlich  auch  chronische  Peritonitis  allein,  also 
ohne  Dislocation  der  Niere,  eine  Verzerrung  des  Duodenum  mit 
Abknickung  des  intraduodenalen  Theiles  vom  Ductus  choled.  zu 
Stande  bringen  muss. 

Ein  einschlägiger  Fall  steht  mir  zur  Disposition;  ich  führe 
ihn  hier  an,  weil  er  beweist,  wie  gefährlich  die  chronische  Perito- 
nitis in.  dieser  Gegend  der  Bauchhöhle  werden  kann: 

Herr  P.,  46  Jahre  alt,  aufgenommen  22.  5.  98.  Der  früher  stets  gesunde, 
in  guten  Verhältnissen  lebende  Mann  erkrankte  Pfingsten  97  ohne  jede  Veran- 
lassung an  schwerem  Icterus,  ohne  dabei  Schmerzen  zu  verspüren.  Seit  jener 
Zeit  blieb  Pat.  dauernd  icterisch;  er  litt  viel  an  Erbrechen  und  an  Obstipation, 
magerte  infolge  dessen  mehr  und  mehr  ab;  seit  Weihnacht-en  97  lag  er  be- 
ständig im  Bette,  «uweilen  fieberte  er  Abends  bis  38^.  Die  Diagnose  wurde 
von  den  verschiedensten  Aerzten  auf  maligne  Geschwulst  gestellt,  doch  war 
man  sich  über  den  Ausgangspunkt  derselben  nicht  klar. 

Status  praesens:  Cachektischer,  dunkelgelb  gefärbter  Mann.  Objec- 
tiver  Befund  vollständig  negativ.  Mageninhalt  enthält  freie  Salzsäure.  Tem- 
peratur 38,0^.  Urin.  s.  alb.  Mit  Rücksicht  auf  die  Unsicherheit  des  Falles 
und  weil  Pat.  einmal  in  seiner  Jugend  einen  3  Wochen  lang  dauernden  Tripper 
gehabt  hatte.  Versuch  mit  Jodkali. 

31.  5.  Zunehmende  Verschlechterung  des  Allgemeinzustandes,  fast  tät- 
lich Erbrechen.  Seit  vorgestern  unvermögend,  Urin  zu  entleeren,  so  dass  ka- 
theterisirt  werden  muss;  retardirter  Stuhlgang.  Nachdem  seit  der  Aufnahme 
Temperatur  normal  gewesen  war,  gestern  Abend  38,0 o,  deshalb  als  letzter 
Versuch  Incision  rechts  von  der  Mittellinie.  Grosse  Gallenblase  adhärent  an 
dem  stark  nach  rechts  verzogenen  Duodenum,  weiterhin  laufen  Bindegewebs- 
stränge  von  letzterem  zur  Leber  hinüber;  unterhalb  des  Duodenum  und  des 
Pylorus  sieht  man  die  weisslichen  Narben   der   chronischen  Peritonitis.     Von 

45* 


680  Dr.  Riedol, 

der  unteren  Fläche  der  Leber  hängt  eine  ca.  wallnussgrosse  Nebenleber  an 
dünnem  Stiele  nach  Art  eines  Polypen  herab,  sie  drückt  gerade  auf  den  Duc- 
tus choledochus  mit  ihrer  unteren  Fläche.  Nach  Ablösung  des  Duodenum  von 
der  Gallenblase  lässt  sich  dasselbe  nach  links  verschieben;  die  Nebenleber 
wird  entfernt.  Niere  liegt  an  normaler  Stelle,  hier  relativ  weit  vom  Duodenum 
entfernt.  Naht  der  Bauchwunde.  Abends  noch  leidlich  gutes  Befinden,  am 
nächsten  Morgen,  5  Uhr,  ziemlich  plötzlicher  Collapsus  und  Exitus. 

Obduction:  Oedema  pulmonum  in  massigem  Grade.  Herz  gesund,  ab- 
gesehen von  einzelnen  kleinen  Verkalkungen  in  der  Kranzader.  Bauchhöhle 
frei  von  Entzündung.  Einzelne  gezackte  Verdickungen  und  Verkürzungen  in 
der  Mesoflexur.  Magen-Darmcanal  intact,  bis  man  dicht  oberhalb  der  Valvula 
Bauhini  auf  ein  40  mm  langes  und  14  mm  breites,  flaches  Geschwür  konunt. 
Weiterhin  in  der  hinteren  Wand  des  Coecum  und  im  Colon  ascendens  ausge- 
dehnte graugelbe  ülcerationen;  die  zwischenliegende  Schleimhaut  theils  blau- 
roth,  theils  flach  sugillirt,  theils  völlig  bleich  und  glatt.  Im  Quercolon  die 
ganze  Schleimhaut  theils  blauroth,  theils  schiefergrau,  überall  bald  mehr  lose, 
bald  fest  haftend  graugelb  bis  grünlichgelb  belegt.  Im  Colon  descendens 
Schleimhaut  massig  ödematös,  bleich  und  glatt.  Colon  ascendens  136,  Quer- 
colon 114  mm  Umfang,  also  erheblich  dilatirt. 

Das  scliwere,  endlich  zum  Tode  fülirende  J^eideii  des  einst 
ausserordentlich  kräftigen  Mannes  lässt  sich  meiner  Ansicht  nach 
nur  durch  die  chronische  Peritonitis  mit  Verzerrung  des  Duct. 
choled.  erklären;  ob  die  kleine  Nebenleber  eine  Rolle  gespielt  hat, 
das  bleibe  dahingestellt;  jedenfalls  kam  sie  erst  indirekt  zur  Geltung; 
nachdem  der  chronisch  entzündliche  Process  das  Duodenum  an  die 
Gallenblase  herangezogen  hatte,  mag  die  Nebcnleber  auch  noch 
weiteren  Druck  auf  den  Duct.  choled.  ausgeübt  haben.  Letzterer 
erwies  sicli  bei*  der  Obduction  als  vollständig  intact  und  durcli- 
gängig;  er  muss  lediglich  abgeknickt  gewesen  sein. 

Eine  primäre  Leberkrankheit,  wodurch  der  Icterus  gravis  zu  er- 
klären gewesen  wäre,  bestand  nicht;  Embolien  der  Vena  port.,  event. 
ausgehend  von  den  Geschwüren  im  Darme,  wurden  auch  nicht 
nachgewiesen;  die  Ulcera  hatten  den  Charakter  von  Druckge- 
schwüren, bedingt  durch  Kotstauung  bei  einem  cachectischen 
Menschen;  ein  primäres  Darmleiden  bestand  sicherlich  nicht.  So 
bleibt  nur  die  oben  erwähnte  Causa  morbi  übrig;  und  diese  an 
sich  unbedeutende  Kranklieit  vernichlete  hier  langsam  und  schmerz- 
los —  letzteres  ist  besonders  mit  Rücksichl  auf  Fall  9  (v.  C.)  zu 
erwähnen  —  ein  blühendes  Menschenleben,  wie  unzweifelhaft  auch 
Fall  9  zu  Grunde  gegangen  wäre,  wenn  man  nicht  rechtzeitig  ein- 
gegriffen   hätte.     Letzterer    bedarf   wohl  noch   der  Fixation  seiner 


Ueber  Peritonitis  chronica  non  tuberculosa  und  ihre  Folgen.        681 

Wanderniere,  da  ohne  dieselbe  Recidiv  zu  fürchten  ist  (vergl.  oben 
Fall  4);  bis  jetzt  hat  Patient  sich  nicht  dazu  entschliessen  können ; 
hoffen  wir,  dass  seine  Niere  lediglich  in  Folge  der  Ablösung  und 
der  Reposition  an  die  normale  Stelle,  durch  die  darauf  folgende 
fast  dreimonatliche  Lage  in  gestreckter  Stelle  dort  fest  geworden 
ist,  wohin  sie  gehört;  ich  bin  froh,  dass  vorläufig  eine  2.  Operation 
nicht  nöthig  zu  sein  scheint. 


Nun  noch  ein  Wort  über  die  Operationen.  Alle  9  ^)  Patienten  sind 
zunächst  mittelst  Bauchschnittes  operirt  worden ;  bei  6  Kranken  ist 
die  Niere  entweder  sofort  oder  später  fixirt  worden.  Die  Laparotomie 
ist  gemacht  worden  entweder  weil  eine  falsche,  eine  unsichere  oder 
weil  gar  keine  Diagnose  gemacht  war  oder  weil  Complicationen 
zum  Bauchschnitte  zwangen.  So  sehr  ich  mich  auch  besonders 
über  die  falschen  Diagnosen  in  Fall  1  und  2  alterirt  habe,  so  zu- 
frieden bin  ich  doch,  dass  ich  diese  Kranken  sowie  alle  übrigen 
mittelst  Laparotomie  behandelt  habe.  Einmal  sind  Beobachtungen 
gemacht  worden,  die  bei  dem  bekannten  oft  beklagten  Mangel  von 
Obductionsbefunden  bei  Wanderniere  von  besonderem  Interesse  sind, 
und  zweitens  sind  die  Kranken  z.  Theil  nur  durch  dieses  ein- 
greifende Verfahren  wirklich  geheilt  worden. 

Zur  Behandlung  einer  völlig  beweglichen  Niere  genügt  der 
Schnitt  von  hinten  mit  nachfolgender  Fixation  der  Niere;  hier  hat 
es  sich  durchweg  um  W^andernieren  gehandelt,  die  mehr  oder 
weniger  fest  an  abnormer  Stelle  fixirt  waren,  und  ob  bei  diesen 
immer  die  einfache  Fixation  an  normaler  Stelle  genügt,  das  ist 
wohl  etwas  zweifelhaft.  In  den  meisten  Fällen  wird  sie  ein  brauch- 
bares Resultat  geben,  weil  stets  die  Fettkapsel  der  Niere  abgelöst 
wird;  dadurch  wird  es  wohl  dem  Duodenum  möglich  sein,  sich 
nach  links  hin  zu  retrahiren.  Manche  Operateure  lösen  auch  die 
Capsula  fibrosa  ab;  das  wird  dem  Duodenum  weiteren  Spielraum 
gewähren. 

Bestehen  aber,  wie  in  den  Fällen  2,  3,  4  gleichzeitig  mehr 
oder  weniger  ausgedehnte  Verwachsungen  des  Duodenum  mit  der 
Gallenblase    resp.  der  Leber    oder    ist    das  pracrenale  Peritoneum 


1)  Anmerk.  während  der  Correctur.  Am  17.  8.  wurde  No.  X  operirt. 
Niere  ausserordentlich  fest  mit  der  Leber  verwachsen ;  wahrscheinlich  secundäro 
Fixation  einer  durch  Trauma  entstandenen  veritabelen  Wanderniere. 


682  Dr.  Riedel, 

besonders  stark  geschrumpft,  so  wird  das  Duodenum  in  seiner 
abnormen  La^e  verharren,  die  Erscheinungen  von  Seiten  des  Magens 
werden  bleiben,  weil  die  Passage  der  Speisen  durch  das  Duodenum 
gestört  ist.  Melirfach  (Fälle  2,  5  und  8)  fanden  sich  auch  gleich- 
zeitig Adhäsionen  zwischen  Magert  und  Duodenum  resp.  Quercolon, 
die  einer  Lösung  bedurften,  endlich  wurden  die  Fälle  No.  7  und 
No.  9  überhaupt  erst  durch  die  Laparotomie  aufgeklärt;  sie  wird  bei 
Männern  immer  nöthig  sein,  weil  man  bei  den  stark  entwickelten  Rectis 
eine  hoch  unter  der  Leber  stehende  Niere  niemals    fühlen  kann. 

In  den  ersten  drei  Fällen  folgte  der  Laparotomie  so- 
fort die  Fixatio  renis,  später  habe  ich  zweizeitig  operirt,  die 
Niere  erst  4  Wochen  nach  der  Operation  festgelegt,  weil  die 
Kranken  zu  angegriffen  waren,  um  zwei  Operationen  gleichzeitig 
aushalten  zu  können.  Man  sollte  immer  zweizeitig  operiren,  wenn 
auch  die  Behandlung  sich  dadurch  etwas  in  die  Länge  zieht.  Nicht 
auf  die  Dauer  des  Krankenlagers,  sondern  auf  den  endgültigen 
günstigen  Erfolg  der  Behandlung  kommt  es  an. 

Was  endlich  die  Fixatio  renis  anlangt,  so  bin  ich  durchaus 
dem  Operationsverfahren  treu  geblieben,  das  ich  im  Jahre  1892 
(Berl.  Kl.  Woch.  1892.  No.  28)  publicirt  habe;  es  liegt  für  mich 
kein  Grund  vor,  von  demselben  abzuweichen,  da  ich  mit  den  er- 
zielttMi  Resultaten  sehr  zufrieden  bin^). 

Die  erste  Kranke,  die  ich  16.  9.  90  nach  dieser  Methode 
operirt  habe,  befindet  sich  noch  heute  vortrefflich,  desgl.  eine  zweite 
(5.  2.  91  op.);  die  anderen  di-ei  habe  ich  aus  dem  Gesichte  ver- 
loren. Seit  jener  Zeit  sind  eine  grosse  Anzahl  von  Wandernieren 
operirt  worden;  von  Misserfolgen  ist  mir  nichts  bekannt  geworden^ 
doch  werde  ich  gelegentlich  eine  Generalmusterung  meiner  Fälle 
veranstalten;  möglich,  dass  noch  einzelne  Kranke  klagen;  das 
werden  voraussichtlich  solche  sein,  die  nicht  an  reiner  W^anderniere, 
sondern  an  einer  mehr  oder  weniger  fixirten  Wanderniere  litten^ 
die  also  ev.  Adhäsionen  zwischen  prärenalem  Peritoneum,  Gallen- 
blase und  Duodenum  zurückbehalten  haben. 


1)  Reineboth  (l'eber  dio  Annähiing  der  Wanderniere,  Inaug.-Diss.  Jena 
1892)  hat  55,9  pGt.  giuter  Erfolge  an  den  von  mir  operirt^n  Kranken  heraus- 
gerechnet; diese  Zahl  ist  in  die  Litteratur  übergegangen.  Ich  bemerke,  dass 
ich  damals  überhaupt  erst  5  Kranke  (eine  doppelseitig)  nach  dieser  Methode 
operirt  hatte;  eine  Statistik  auf  Grund  von  5  Fällen  hat  ausserordentlich 
wenig  Werth,  zumal  2  von  diesen  Kranken  noch  an  anderweitigen  Anomalien 
litten. 


üeber  Peritonitis  chronica  non  tuberculosa  und  ihre  Folgen.       683 

Eine  am  15.8.95  wegen  rechtseitiger  Wandemiere  operirte  Dame 
ist  am  13.  6.  96  an  einer  acut  von  einem  kleinen  Herde  aus  sich  ent- 
wickelnden Tuberculosis  pulra.  gestorben;  die  Section  ergab  laut 
Protokoll  die  Niere  wie  eingemauert  etwas  mehr  seitwärts  von  der 
Wirbelsäule,  zwei  Finger  breit  tiefer  stehend  als  die  linke;  Narbe 
circa  i — 5  cm  lang,  2  cm  breit,  nicht  abziehbar.  Es  ist  somit  die 
Sicherheit  des  Verfahrens  auch  durch  die  Obduction  bewiesen. 
Einige  unwesentliche  Modificationen  sind  im  Laufe  der  Zeit  erfolgt: 

1.  ich  spalte  die  Tunica  propria  nicht  mehr  in  ganzer  Ausdehnung 
von  der  lateralen  Seite  der  Niere  her,  sondern  erhalte  den  unter- 
sten Theil  derselben,  um  mittelst  dieses  Theiles  des  derben  Sackes 
die  Niere  nach  oben  unter  das  Zwerchfell  zu  schieben.  Die  hintere 
Partie  dieses  Sackes  wird  sodann  mittelst  2  oder  3  derber  Oat- 
gutnähte  mit  der  vorderen  Fläche  des  Quadratus  lumbormn,  unter 
sorgfältiger  Schonung  des  dem  Muskel  aufliegenden  Nerven  ver- 
einigt; weitere  Nähte  werden  vermieden. 

2.  Alle  drei  Tampons  (der  oberste  flache  zwischen  obere 
Nierenhälfte  und  Zwerchfell  geschobene,  der  unterste  grösste  in 
das  frühere  Lager  der  Niere  geführte,  der  mittlere  kleine  direct 
auf  die  untere  hintere  Fläche  der  Niere,  so  weit  sie  lateralwärts 
vom  Quadratus  herausschaut,  applicirte,  mit  schwarzem  Faden 
versehene)  werden  zum  oberen  Muskelwundwinkel  herausgeleitet; 
der  untere,  weitaus  grösste  Theil  des  Muskelschnittes  wird  mittelst 
derber  Catgutnaht  vereinigt. 

3.  Die  Tampons  bleiben  statt  4  nur  noch  2  Wochen  liegen, 
da  ich  mich  davon  überzeugt  habe,  dass  Htägige  Tamponade  ge- 
nügt; die  Heilung  der  Wunden  erfolgt  dementsprechend  rascher. 

4.  Jegliches  Antisepticum  wird  vermieden. 

Diese  Verbesserungen  sind,  wie  gesagt,  unwesentlich;  das 
Princip  des  Verfahrens:  „Narbenbildung  zwischen  hinterer  oberer 
Nierenfläche  und  Zwerchfell  durch  flachen  aber  breiten  Tampon'' 
ist  geblieben.  Ich  halte  an  demselben  fest,  weil  das  Nieren- 
parenchym selbst  durch  keinerlei  Naht  verletzt  wird;  es  blättert 
zuweilen  beim  Ablösen  der  Tunica  propria  oberflächlich  ab,  das  ist 
aber  auch  die  einzige  Sc^hädigung  desselben,  die  gelegentlich  vor- 
kommt; derartige  oberflächliche  Nieren  wunden  heilen  rasch  und 
anstandslos.  Die  Niere  kommt  bei  diesem  Verfahren  gleichzeitig 
hoch    unter    dem  Zwerchfell  und  tief  (in  der  Richtung  von  hinten 


684  Dr.  Riedel,  Uober  Peritonitis  chronica  non  taberculosa  etc. 

nach  vorne)  auf  dem  Quadratus  lumborum  zu  liegen.  Man  fühlt 
nach  der  Heilung  der  Wunde  die  Niere  nicht  mehr,  ebenso  wie 
man  niemals  eine  gesunde,  an  normaler  Stelle  liegende  Niere 
fühlen  kann^).  Bei  Fixation  des  unteren  Poles  der  Niere  an  die 
12.  Rippe  habe  ich  wenigstens  die  Niere  stets  in  der  Narbe  gefühlt, 
weil  dieser  untere  Pol  zu  weit  nach  hinten  rückt  (der  obere 
entsprechend  zu  weit  nach  vorne);  man  soll  aber  den  unteren  Pol 
einer  gut  fixirten  Niere  nicht  in  der  Narbe  fühlen;  ist  das  doch 
der  Fall,  so  liegt  sie  eben  zu  flach,  nicht  in  normaler  Tiefe.  Nach 
wie  vor  vermeide  ich  jede  Hautnaht,  weil  es  zu  Retention  von 
Secret  kommen  kann;  wenn  in  Folge  mangelnder  Hautnaht  die 
Heilung  der  Wunde  etwas  länger  dauert,  so  schadet  das  nicht;  die 
Narben  in  der  Tiefe  werden  fester;  Recidive  habe  ich  noch 
nie  gesehen.  Ich  will  auch  durch  das  Offenlassen  der  Haut- 
wunde das  Verfahren  absolut  ungefährlich  gestalten;  wegen  der 
Fixation  einer  einfachen  Wanderniere  darf  Niemand  zu  Grunde 
gehen,  und  ist  mir  auch  noch  Niemand  zu  Grunde  gegangen.  Ist 
aus  der  Ren  mobile  eine  Ren  mobile  fixatum  geworden,  ist  von  vorn 
herein  Ren  mobile  fixatum  infolge  von  primärer  chronischer. Peri- 
tonitis vorhanden,  ist  also  event.  Laparotomie  nöthig,  so  wird  es 
gelegentlich  —  bei  heruntergekommenen  anämischen  Menschen; 
dieselben  vertragen  Laparotomie  nicht  immer  —  einen  Unglücksfall 
geben;  dann  aber  stirbt  der  Kranke  an  den  Folgen  des  Bauch- 
schnittes; an  den  Folgen  der  Fixatio  renis  von  hinten  stirbt  und 
darf  Niemand  sterben.  Dass  diese  Operation  aber  in  sehr  vielen, 
besonders  aber  in  den  mit  Tendenz  zu  Verwachsungen  einher- 
gehenden Fällen  nöthig  ist,  davon  werden  sich,  wie  ich  hoffe,  im 
Laufe  der  Zeit  auch  die  ausgesprochensten  Gegner  der  Nierenfixation 
überzeugen.  Wenn  man  einen  Menschen  durch  eine  ungefährliche 
Operation,  die  höchstens  25  Minuten  dauert,  von  seinen  Qualen 
befreien  kann,  so  ist  es  Unrecht,  ihm  diese  Wohlthat  vorzuent- 
halten, ganz  abgesehen  davon,  dass  das  Leiden  ja  auch  gelegent- 
lich recht  gefährlich  werden  kann. 


*)  Bei  manchen  Meuschen  ist  ja  die  rechte  Niere  fühlbar,  ohne  dass  Be- 
schwerden geklagt  werden  (vergl.  Becker  und  Leunhof.  D.  med.  Woch. 
1898.     No.  32).     Diese  Nieren  liegen  eben  nicht  ganz  an  normaler  Stelle. 


XL. 

Ueber  dauernde  Spiritusverbände/) 

Von 


in  Berlin. 


M.  H.  Bisher  habe  ich  gezöo;ort,  vor  dieser  hervorragendsten 
Versammlung  deutscher  Chirurgen  über  die  Erfolge  zu  berichten, 
welche  ich  seit  fast  12  Jahren  durch  die  Anwendung  dauernder 
Spiritusverbände  bei  der  Behandlung  der  Entzündungen  erzielt 
habe.  Ich  fürchtete,  dass  mein  Beobachtungsmaterial  Ihnen  zu 
klein  erscheinen  w^ürde,  um  durch  dasselbe  die  Behauptungen  zu 
stützen  und  zu  belegen,  welche  ich  in  Folge  meiner  Erfahrungen 
aufstellen  musste,  Erfahrungen,  welche  von  dem  Hergebrachten  in 
vielen  Dingen  abweichen.  Deshalb  habe  ich  vorgezogen,  meine 
Beobachtungen  zunächst  in  kleineren  Kreisen  und  durch  die  Fach- 
presse zu  veröffentlichen.  Eine  grössere  Anzahl  von  Fachgenossen 
hat  jetzt  meine  Beobachtungen  geprüft,  und  es  sind  mir  zum  Theil 
direct,  zum  Theil  durch  literarische  Veröffentlichungen  vielfache 
Bestätigungen  meiner  Behauptungen  zugegangen.  Ich  darf  in  erster 
Reihe  dankend  die  Mittheilungen  erwähnen,  welche  Herr  Geheim- 
rath  Bardenheuer  durch  seinen  Assistenten,  Herrn  Stabsarzt 
Loew,  hat  veröffentlichen  lassen  (Berl.  klin.  Wochenschr.,  1897, 
No.  36,  Mittheilungen  über  die  SalzwedeTsche  Spiritusbehand- 
lung), und  ich  nehme  Gelegenheit  an  dieser  Stelle  Sr.  Excellenz 
dem    Generalstabsarzt    der    Armee,    Herrn    von  Goler    dafür    zu 

0  Abgekürzt  vorgetragen  am  4.  Sitzungstage  des  XXVII.  Congresses  der 
Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  16.  April  1898. 


686  Dr.  Salzwedel, 

danken,  dass  or  mein  Verfahren  in  mehreren  grossen  Lazarethen 
hat  prüfen  lassen.  Es  ist  mir  mitgetheilt  worden,  dass  diese 
Prüfung  meine  Behauptungen  im  Allgemeinen  bestätigt  hat,  und 
dass  die  Absicht  besteht,  die  Versuche  in  erweitertem  Maasse 
fortzusetzen.  —  Die  sonach  von  vcrscliiedenen  und  ernsten  Be- 
obachtern gewonnenen  günstigen  Erfahrungen  dürften  sich  jetzt  auf 
viele  Hunderte  einschlägiger  Krankheitsfälle  beziehen  und  so  glaube 
ich  die  Berechtigung  wie  die  Verpflichtung  zu  haben,  auch  die  Mit- 
glieder dieser  Versammlung  um  Anstellung  weiterer  Versuche  zu 
bitten. 

Ich  habe  zu  meinem  Bedauern  erfahren,  dass  einzelne  Herren 
Kliniker  Abstand  genommen  hätten,  das  Verfahren  zu  prüfen, 
bezw.  zu  lehren,  weil  ich  von  den  Incisionen  bei  Panaritien  und 
Phlegmonen  abgerathen  hatte.  Dies  kann  nur  auf  einem  Missver- 
ständniss  beruhen.  Ich  habe  ausdrücklich  gesagt,  dass  ich  keines 
der  sonst  zur  Behandlung  der  Phlegmonen  u.  s.  w.  gebräuchlichen 
Mittel,  wie  Ruhigstellung,  Hochlagerung,  Stichelung  und  am 
wenigsten  das  Messer  entbehren  möchte.  Ich  habe  ausdrücklich 
ausgesprochen,  dass  Jeder  incidiren  solle,  wo  er  nach  seinen  Er- 
fahrungen den  Einschnitt  für  indicirt  hält.  Aber  ich  bin  nach 
wie  vor  überzeugt,  wer  die  Verbände  systematisch  anwendet,  wird 
die  Indication  seltener  zu  stellen  haben.  Das  dürfte  doch  kein 
Vorwurf  für  das  Verfahren  sein. 

Ich  kann  wohl  annehmen,  dass  in  Folge  meiner  vorauf- 
gegangenen Verr)fTentlichungen  (Deutsche  militärärztliche  Zeitschrift, 
1894,  Heft  7  und  Berl.  klinische  Wochenschrift,  1896,  No.  46  und 
47)  die  Technik  des  Verfahrens,  sowie  das  über  die  Theorie  der 
Wirkungsweise  zu  Sagende  bekannt  sind.  Nur  wenig  Neues  habe 
ich  hinzuzufügen.  Herr  Loew  hat  darauf  aufmerksam  gemacht, 
dass  eine  Anätzung  der  Haut  durch  den  Spiritus  leicht  da  auf- 
trete, wo  die  Haut  vorher  durch  x\nwendung  feuchter  Verbände 
erweicht  war.  Ich  kann  Dies  bestätigen  und  hinzufügen,  dass 
dieser  Uebelstand  gelegentlich  auch  da  eintritt,  wo  die  Haut  durch 
ihre  eigene  Schweissabsonderung  stai'k  durchfeuchtet  ist,  z.  B.  in 
der  Achselhöhle,  am  Handteller,  bei  Schweissfüssen  u.  s.  w.  Hier 
kommt  es  wohl  auch  zu  Schmerzen.  Erklären  könnte  man  den 
Vorgang  auf  folgende  Weise,  Wo  der  Spiritus  auf  trockene  Haut 
kommt,  erhärtet  er  schnell    das  Stratum  corneum  und  verschliesst 


Ueber  dauernde  Spiritusverbände.  687 

sich  so  selbst  den  Weg  für  das  Eindringen  als  Flüssigkeit.  Er 
kann  mir  gasförmig  in  die  tieferen  Epithel-  und  Ilautschichten  ge- 
langen. Ist  das  Epithel  aber  stark  gequollen  und  wasserhaltig, 
so  erhärtet  es  nicht  schnell  genug  um  dem  Spiritus  das  Eindringen 
durch  Osmose  zu  versperren.  Die  ätzende  Flüssigkeit  gelangt  in 
das  Stratum  Malpighii  und  an  den  empfindlichen  Papillarkörper. 
—  Werden  die  Verbände  regelrecht  angelegt,  d.  h.  wird  durch 
eine  genügend  dicke  Watteschicht,  in  der  sich  der  Spiritus  ver- 
theilen  kann  und  durch  eine  langsame  Verdunstung  von  der  Ober- 
fläche des  Verbandes,  wie  sie  der  perforirte  Gummistoff  zulässt, 
dafür  gesorgt,  dass  der  Alcohol  die  Haut  nicht  zu  lange  als 
ätzende  Flüssigkeit  benetzt,  so  kann  man  sicher  sein,  dass  der 
erwähnte  Missstand  höchstens  Unbequemlichkeiten,  aber  keinerlei 
ernstere  Schädigung  hervorruft.  Es  ist  mir  meist  gelungen,  auch 
die  Unbequemlichkeiten  zu  vermeiden.  An  den  erwähnten  Stellen 
lasse  ich  den  durchlöcherten  Stoff  so  lange  aus  dem  Verbände  fort 
bis  die  Haut  völlig  trocken  erscheint,  oder  ich  bepudere  die  Haut 
dick  mit  Bismuthum  subnitricum.  Das  an  sich  sehr  wirksame  Be- 
streichen der  Stellen  mit  Fetten  darf  da,  wo  eine  directe  Ein- 
wirkung des  Spiritus  stattfinden  soll,  nicht  vorgenommen  werden, 
weil  es  jedes  Eindringen  des  AlcohoLs  in  die  Haut  verhindert. 

M.  H.  Das  Bedürfniss  nach  einer  zuverlässigen  und  dabei 
einfachen  Methode  für  die  Behandlung  frischer  inficirter,  bezw.  in- 
fectionsverdächtiger  Wunden  wird  wohl  allgemein  empfunden.  Das 
zeigt  die  häufige  lürörterung  dieses  Themas  auf  den  Congressen. 
Die  Schwierigkeit,  den  in  die  Gewebe  einmal  eingedrungenen  In- 
fectionskeimen  mit  den  bekannten  antiseptischen  Mitteln  nachzu- 
kommen, hat  uns  Herr  Friedrich  am  ersten  Tage  dieses 
Gongresses  illustrirt.  Die  vorhandenen  Mittel  und  besonders  ihre 
wässerigen  Ijösungen  wirken  eben  alle  nur  superficiell.  Jedenfalls 
können  sie.  weder  von  der  Wunde,  noch  von  der  Hautoberfläche 
her  schnell  genug  und  in  einer  für  die  Desinfection  genügenden 
Concentration  in  die  Gewebe  eindringen.  —  Daneben  ist  die 
Durchsetzung  der  tieferen  Epithelsclnchten  mit  Infectionskeimen, 
auf  die  Herr  Schi  off  er  hinwies,  wohl  nicht  zu  selten  und  sehr  zu 
beachten. 

Der  Vorschlag,  den  Herr  Friedrich  gemacht  hat,  inficirte 
Wunden  dadurch  zu  schützen  und  aseptisch  zu  machen,  dass  man 


688  Dr.  Salzwedol, 

die  Wundoberflächc  mit  dem  Messer  abträgt,    leuchtet    ein  und  er 
hat  ja  nach    den  Ausführungen    seines  Autors    die  practische  Be- 
stätigung gefunden.     Aber  seine  Anwendung    dürfte  zu  beschränkt 
sein,    weil  man,    wie    Herr    Friedrich    selbst    ausspricht,    seiner 
Wirksamkeit  nur  in  den  ersten  Stunden  nach  der  Verletzung  sicher 
ist.     Bei    schon    bestellender  Entzündung    ist    von    dem   technisch 
schwierigen  und  doch  sehr  eingreifenden  Verfahren  wohl  nicht  all- 
zuviel zu  erwarten.     Jedenfalls  dürften  bei  Massenverletzungen  im 
Kriege  und  im  Frieden  Zeit,    Mittel    und    geeignete  Kräfte  fehlen, 
um  es  durchzuführen.    M.  H.  Die  in  ihrer  Anwendung  so  einfache 
Spiritusbehandlung   hat    sich    mir    bei    solchen    Wunden    auch    in 
neuerer  Zeit  als  ein  so  wirksames  und  sicheres  Verfahren  erwiesen, 
dass  ich  begründete  Hoffnung  habe,    sie    werde  diese  empfindliche 
Lücke    in    der   Wundbehandlung   grösstentheils    ausfüllen    können. 
Wenn  die  Spiritusbehandlung  im  Stande  ist,  der  Entzündung  noch 
bei    so    schweren  Erkrankungen,  wie    bei    den  Phlegmonen,    nach 
Loew    sogar  bei    den  septischen  Formen  derselben,  Schranken  zu 
setzen,    so    war    von    vorn    herein    anzunehmen,    sie    werde    noch 
sicherer    die    beginnende  Entzündung  günstig  beeinflussen    und   in- 
fectionsverdächtige  Wunden    entzündungsfrei    halten    können.     Der 
Erfolg  hat  bisher  meine  Erwartungen  übertroffen.     Ich  sah  heftige 
Entzündungen,  welche  mehrere  Tage  bestanden  hatten,  in  unmittel- 
barem Anschluss  an  die  Anlegung  der  Verbände  zurückgehen,     in 
2 — 3  Tagen  war  die  Entzündung  soweit  beseitigt,    dass    ich  meist 
wagen  konnte,    die  Wunden    durch  Nähte  zu  vereinigen,    und    ich 
habe  bisher  stets  gute  Heilungen    gesehen.     Ich  habe  die  Wunden 
weder  ausgeschabt    noch    ausgewaschen.     Nur  sichtbaren  Schmutz 
habe  ich  möglichst  peinlich  mit  der  Pincette  und  durch  Abwischen 
mit    stark    ausgedrückten  Aetherbäuschen    entfernt.     Ebenso  habe 
ich    die  Haut    der  Wundumgebung    durch  Abwischen    mit  Aether- 
bäuschen   so    gut    wie  möglich  gesäubert  und  entfettet.     Auf  ent- 
zündete Wunden    habe    ich  wenige  Körnchen  Jodoform  aufgestreut 
oder    sie  mit  einer  dünnen  Schicht  Jodoformmnll   bedeckt.  —  Ich 
halte    es    weder    für    nöthig    noch    für  wünschenswerth,    dass    die 
Wundfläche  von  dem  flüssigen  Spiritus    direct  berührt  werde.     Ich 
suche    sie    vielmehr    durch    dicke  Lagen    trockenen  Mulls  vor  der 
Benetzung  mit  dem  Medicament  möglichst  zu  schützen  und  bemühe 
mich,  den  Alcohol  nur  gasförmig  auf  die  Wunde  wirken  zu  lassen. 


Ueber  dauernde  Spiritusverbände.  689 

Je  vollständiger  man  Dies  erreicht,  um  so  weniger  worden  die  Ge- 
webe in  ihrem  physiologischen  Verhalten  beeinträchtigt,  denn  das 
Alcoholgas  dürfte  sie  kaum  verändern.  Gelänge  es,  den  Alcohol 
rein  gasförmig  einwirken  zu  lassen,  so  würden  für  die  Gewebe 
Verhältnisse  geschaffen,  die  denen  beim  aseptischen  Verfahren  nicht 
unähnlich  sind. 

Was  die  Naht  solcher  entzündet  gewesenen  Wunden  betrifft, 
so  habe  ich  stets  nur  vereinzelte  Knopfnähte  mit  dünner,  frisch 
in  physiologischer  Kochsalzlösung  ausgekochter  Seide  augelegt. 
Die  Wundränder  wurden  nur  leise  einander  genähert,  nicht  anein- 
andergepresst.  Ich  würde  die  Nähte  nie  in  kleineren  Abständen 
als  1,5,  höchstens  1,2  cm  von  einander  anlegen,  glaube  dann  aber, 
wenigstens  weim  die  Wunden  nicht  allzu  tief  sind,  einer  Drainage 
entbehren  ^u  können.  Ich  war  stets  bereit,  beim  Eintreten  der 
geringsten  Schmerzhaftigkeit,  Schwellung,  Fieber  oder  sonst  eines 
Zeichens  von  Verhaltung  die  Nähte  zu  lösen,  habe  es  aber  nie 
nöthig  gehabt.  Die  Stichkanäle  haben  niemals  die  leiseste  Ent- 
zündung oder  Eiterung  gezeigt.  —  Ich  theile  Dies  jedoch  unter 
der  RcvServe  mit,  dass  mein  Beobachtungsmaterial  weder  der  Zahl 
noch  der  Schwere  der  Verletzungen  nach  genügt,  um  ein  ab- 
schliessendes Urtheil  zu  gewinnen  oder  um  die  Grenzen  der  Zu- 
verlässigkeit des  Verfahrens  zu  bestimmen.  Es  war  aber  ge- 
nügend um  weitere  Versuche  berechtigt  und  angezeigt  erscheinen 
zu  lassen. 

M.  H.  Da  ich  glaube  annehmen  zu  dürfen,  dass  der  Spiritus 
durch  den  längeren  Contact,  welcher  durch  die  Verbände  ermöglicht 
wird,  nicht  nur  die  Hautoberfläche  gründlich  desinficirt,  sondern 
dass  er  auch  die  tieferen  Gewebsschichten,  in  denen  sich  die  Ent- 
zündung verbreiten  könnte,  in  gasförmigem  Zustande  mit  des- 
inticirender  Kraft  durchdringt,  so  halte  ich  mich,  zugleich  auf 
Grund  der  practischen  Erfahrungen,  für  berechtigt,  die  Verbände 
.als  einen  technisch  sehr  einfachen  und  doch  zuverlässigen 
Nothverband  besonders  da  zu  empfehlen,  wo  eine  ausgiebige 
Desinfection  frischer  Wunden  nach  den  bisherigen  Regeln  nicht 
stattfinden  kann,  oder  wo  die  Haut  so  verschmutzt  ist,  dass  sie 
sich  trotz  sorgfältiger  Reinigung  nicht  sicher  desinficiren  lässt.  Um 
die  Einführung  dieser  Nothverbände  zu  erleichtern,  habe  ich  durch 


690  Dr.  Salzwedel,  lieber  dauernde  Spiritus  verbände. 

die  VorbandstofTfabrik  von  Pech  in  Berlin  Verbandpäckchen  zu- 
sammenstellen lassen,  welche  in  sehr  handlicher  Form  alles  zur 
Anlegung  eines  Spiritus  Verbandes  Nothige  enthalten:  1.  Einen  (Jodo- 
form-) Mullbausch;  2.  die  mit  Spiritus  stark  getränkte  Mullcom- 
presse; 3.  die  Watteschicht;  4.  den  perforirten  Gummistoff; 
5.  Aetherbäusche  zur  Reinigung  der  Haut;  6.  Eine  Mullbinde. 

M.  H.  Ich  hoffe,  dass  das  Verfahren  Ihre  Prüfung  weiter  gut 
bestehen  wird,  und  ich  hoffe  und  bitte,  dass  Sie  es  prüfen,  ob- 
gleich Manches  in  meinen  Ausführungen  neu  und  ungewohnt  er- 
scheinen mag. 


XLL 

(Aus  der  chirurg.  Klinik  zu  Giessen.) 

lieber  einen  Fall  von  5  Darmresectionen 

wegen  Schussverletzung/) 

Von 

Professor  Dr.  Poppert 

in  Giessen. 


Scitdein  wir  uns  daran  gewöhnt  haben,  bei  penetrircnden 
Bauchwunden  thatkräftiger  vorzugehen  und  schon  bei  blossem  Ver- 
dacht auf  eine  Verletzung  wichtiger  innerer  Organe  zur  Laparotomie 
schreiten,  ohne  erst  auf  die  Zeichen  der  drohenden  Peritonitis  zu 
warten,  sind  in  der  Literatur  bereits  eine  grössere  Reihe  operativer 
Heilungen  schwerer  Verieizuiigen  des  Magendarnikanals  bekannt 
geworden.  Vor  einigen  Monaten  war  ich  in  der  Lage,  wegen  zahl- 
reicher Darm  Perforationen  in  Folge  eines  Pistolenschusses  einen 
sehr  schweren  Eingriff  vornehmen  zu  müssen,  der  in  der  Resection 
von  5  Darmstücken  bestand.  Mit  Rücksicht  auf  die  ungewöhnliche 
Ausdehnung  und  Schwere  des  Eingriffes  möge  es  erlaubt  sein,  den 
Fall  mitzutheilen. 

Ein  Student  der  Giessener  Hochschule,  der  als  Einjährig-Freiwilliger 
diente,  hatte  am  15.  9.  97  in  einem  Pistolenduell  beim  zweiten  Kugelwechsol 
einen  Schuss  in  den  Unterleib  erhalten,  nachdem  im  ersten  Gang  das  Geschoss 
am  Beckenknochen  ab|?ei)rallt  war.  Obwohl  der  Verwundete  alsbald  nach  der 
Klinik  verbracht  wurde,  gingen  doch  4  Stunden  verloren,  bis  zur  Operation  ge- 
schritten werden  konnte,  weil  man  seinem  Duellgegner,  der  ebenfalls  einen 
Bauchschuss  davongetragen  hatte,  zuerst  ärztliche  Hülfe  angcdeihen  Hess. 


^)  Vorgetragen  am  2.  Sitzungstage  des  XXVII.  Congresses  der  Deutschen 
Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  l-i.  April  1898. 


692  Dr.  Poppert, 

Bei  seiner  Ankunft  in  der  Klinik  bot  der  Vorletzte  keine  bedenklichen 
Erscheinungen  dar;  nach  einiger  Zeit  aber  klagte  er  über  heftige  Leibschmerzen, 
CS  stellte  sich  starkes  Durstgefühl  ein  und  mehrmaliges  Erbrechen;  die  anfang- 
lich massige  Blutung  aus  der  Schusswunde  wurde  sehr  reichlich  und  schliess- 
lich entwickelte  sich  das  Bild  einer  bedrohlichen  Anämie.  Die  Untersuchung 
der  Wunde  ergab  nun,  dass  die  Kugel,  die  ein  Caliber  von  10,5  mm  hatte, 
rechterselts  2  Querfinger  nach  innen  von  dem  vorderen  oberen  Darmbeinstachel 
in  die  Bauchhöhle  eingedrungen  war,  eine  Ausschussöffnung  war  nicht  vor- 
handen. Ausserdem  fand  sich  noch  eine  unbedeutende  Hautquetschung  etwas 
unterhalb  des  rechten  Därmbeinkamms,  die  von  der  ersten  abgeprallten  Kugel 
herrührte.  Nachdem  die  Narkose  eingeleitet  und  die  Bauchschusswunde  er- 
weitert worden  war,  quoll  ein  starker  Blutstrom  aus  ihr  hervor,  so  dass  wir 
die  Verletzung  eines  grösseren  Gefässes  annehmen  zu  müssen  glaubten.  Um 
die  Blutungsquelle  freizulegen,  wurde  die  Bauchhöhle  durch  einen  am  äusseren 
llectusrande  geführten  Schnitt  breit  erölTnet,  das  Zurechtfinden  in  der  Bauch- 
höhle war  aber  gleichwohl  sehr  erschwert,  weil  allerorts  zwischen  den  Darm- 
schlingcn  das  Blut  massenhaft  hervordrang.  Schliesslich  konnten  wir  uns  aber 
überzeugen,  dass  die  grossen  Gefässe  unversehrt  waren  und  dass  das  in  der 
Bauchhöhle  befindliche,  unter  hohem  Drucke  stehende  Blut  aus  den  verletzten 
Gefässen  des  Darms  und  besonders  des  Mesenteriums  stammte. 

Schon  bei  diesen  Manipulationen  waren  uns  Darmschlingen  zu  Gesicht 
gekommen,  die  Schnsslöcher  aufwiesen;  bei  genauerem  Zusehen  wurden 
schliesslich  im  Dünndarm,  der  nach  und  nach  fast  in  ganzer  Ausdehnung  vor 
die  Bauchwunde  gebracht  worden  war,  nicht  weniger  wie  12  Perforationen 
und  1  Streifschuss  im  Mesenterialansatz  entdeckt,  ausserdem  wurden 
noch  5  stark  blutende  Löcher  im  Mesenterium  gefunden. 

Unsere  erste  Aufgabe  bestand  natürlich  in  der  Stillung  der  Blutung  aus 
den  Mesenterialgefässen,  was  theils  durch  die  Unterbindung,  theils  durch  die 
Umstechung  erreicht  wurde.  Die  eigentliche  Darmverletzung  bot  jedoch  für 
unser  therapeutisches  Handeln  die  denkbar  ungünstigsten  Verhältnisse  dar. 
Abgesehen  von  der  grossen  Zahl  der  Perforationen  hatten  diese,  entsprechend 
dem  Geschosskaliber  von  10,5  mm,  einen  solchen  Durchmesser,  dass  eine  ein- 
fache Verschliessung  derselben  durch  eine  Lembert'sche  Naht  nicht  angängig 
erschien,  somit  blieb  nur  die  Darmresection  übrig.  Ungünstiger  Weise  aber 
war  die  Mehrzahl  der  Scliusslöcher  so  weit  von  einander  entfernt,  dass  man 
genöthigt  gewesen  wäre,  den  grössten  Theil  des  Dünndarms  zu  rcseciren, 
wenn  man  etwa  versucht  hätte,  mit  nur  einer  oder  zwei  Resectionen  auszu- 
kommen. Unter  diesen  Umständen  blieb  kein  anderer  Ausweg,  als  an  5  ver- 
schiedenen Stollen  mehr  oder  weniger  grosse  Stücke  aus  dem  Darm  heraus- 
zuschneiden. • 

War  die  Prognose  schon  durch  die  Aussicht  auf  einen  so  schweren  Ein- 
griff von  vorn  herein  eine  sehr  ernste,  so  wurde  sie  noch  bedeutend  ver- 
schlimmert durcli  den  slaltgefundenen  Blutverlust,  der  mittlerwelle  zu  einem 
bedenklichen  Grade  von  Anämie  geführt  hatte.  Der  Radialpuls,  der  im  Be- 
ginn der  Operation  noch  gefühlt  werden  konnte,  setzte  bald  aus,  das  Gesicht 


Ueber  einen  Fall  von  5  Darmrcsoclionen  wegen  Schussverletzung.      693 

war  marmoiblass  und  mit  kaltem  Schweiss  bedeckt,  die  Extremitäten  waren 
kühl  und  die  Athmung  leicht  dyspnoisch. 

Als  weiteres  ungünstiges  Moment  kam  hinzu,  dass  die  Entwicklung  einer 
Peritonitis  in  sicherer  Aussicht  zu  stehen  schien,  durch  die  gi'össeren  Per- 
forationsöffnungen hatte  sich  zweifellos  reichlich  Darminhalt  in  die  Bauchhöhle 
ergossen,  auch  konnte  bereits  bei  der  Eröffnung  des  Bauches  eine  lebhafte 
Röthung  der  Serosa  festgestellt  werden. 

Die  Lage  war  also  eine  recht  verzweifelte,  sie  schien  so  gut  wie  völlig 
hoffnungslos  zu  sein.  Wenn  man  trotzdem  einen  ernstlichen  Versuch  der 
Rettung  unternehmen  wollte,  so  konnte  dieser  nur  dann  eine  gewisse  Aussicht 
auf  Erfolg  bieten,  wenn  es  gelang,  den  erforderlichen  chirurgischen  Eingriff 
möglichst  rasch  und  ohne  Zuhülfenahme  einer  längeren  Narkose  auszuführen. 
Deshalb  wurde  vor  allem  die  Narkose  ausgesetzt  und  die  Operation  bei  wachem 
Zustande  des  Verletzten  zu  Ende  geführt,  was  übrigens  auch  ausführbar  war, 
ohne  dass  der  Verwundete  beim  Durchschneiden  des  Darmes  und  bei  der 
Darmnaht  erhebliche  Schmerzen  empfunden  hätte.  Nur  das  Berühren  des 
Peritoneums  mit  dem  Tupfer  und  Zerrungen  am  Darm  riefen  lebhafte  Schmerz- 
äusserungen  hervor.  Während  ich  nun  mit  der  Operation  am  Darm  beschäftigt 
war,  Hess  ich  zur  Bekämpfung  der  Anämie  von  einem  Assistenten  eine  intra- 
venöse Transfusion  von  1  Liter  Kochsalzlösung  in  die  Vena  mediana  vor- 
nehmen, die  auch  augenscheinlich  von  günstigem  Erfolge  war.  Bei  der  Aus- 
führung der  Darmresectionen  kam  es  mir  auf  möglichste  Eile  an,  es  wurde 
deshalb  die  fortlaufende  Seidennaht  benutzt.  Die  beiden  ersten  Darmresectionen 
wurden  zweireihig  genäht,  bei  den  3  letzten  Reseotionen  begnügte  ich 
mich  mit  einer  einzigen  fortlaufenden  Lembertnaht. 

Bei  diesem  Vorgehen  war  es  möglich,  die  5  Darmresectionen  in  verhält- 
nissmässig  kurzer  Zeit,  in  etwas  über  einer  Stunde  zu  Ende  zu  führen.  Nun- 
mehr blieb  noch  übrig,  den  vorliegenden  Dünndarm  wieder  in  die  Bauchhöhle 
zurückzubringen.  Hierzu  war  aber  nochmals  die  Narkose  erforderlich,  weil  der 
Verletzte,  der  unterdessen  ungeduldig  und  ungeberdig  geworden  war,  bei  dem 
Versuch  der  Reposition  stark  presste  und  die  lebhaftesten  Schmerzen  äusserte. 
Nach  gelungener  Rücklagerung  fand  sich  noch  ziemlich  viel  Blut  in  der  Bauch- 
höhle, von  einer  sorgfältigen  Reinigung  der  letzteren  von  Blut  und  Darminhalt 
musste  jedoch  mit  Rücksicht  auf  den  bedrohlichen  Zustand  des  Verwundeten, 
der  jeden  Augenblick  zu  collabiren  drohte,  Abstand  genommen  werden,  ebenso 
wenig  könnt«  von  einem  genauen  Absuchen  der  Bauchhöhle  nach  weiteren 
Verletzungen  wichtiger  innerer  Organe  die  Rede  sein.  Auch  über  den  Verbleib 
der  Kugel  vermochten  wir  uns  unter  diesen  Umständen  keinen  Aufschluss  zu 
verschaffen.  —  Schliesslich  wurden  4  lange  Gummiröhren  und  einige  Jodo- 
formgazestreifen nach  verschiedenen  Richtungen  zwischen  die  Darmschlingen 
vorgeschoben  und  die  Bauchwunde  bis  auf  eine  4  cm  lange  Lücke  durch 
Seidennähte  geschlossen.  —  Der  Eingriff  hatte  im  ganzen  etwas  über  2  Stunden 
gedauert. 

Von  den  resecirten  Darmtheilen  haben  3  eine  Länge  von  4  cm  und  zeigen 
je  2  Perforationen  (Ein-  und  Ausschuss),  ein  Darmstück  ist  9  cm  lang  und  be- 
Archiv nir  klin.  Chirargie.    57.  Bd.    Heft  3.  4ß 


694  Dr.  Poppeit, 

sitzt  2  Perforationen  und  1  Streifschiiss  am  Mesentcrialansatz  ohne  Verletzung 
der  Schleimhaut,  das  5.  Darmstück  hat  eine  Länge  von  24  cm  und  weist  vier 
Perforationen  auf.  Der  Darm  war  also  an  12  verschiedenen  Stellen  von  der 
Kugel  durchbohrt  und  einmal  gestreift  worden.  Das  Aussehen  und  die  Grösse 
der  Schusslöcher  war  sehr  verschieden,  ein  Theil  der  Perforationen  zeigte 
glattwandige  Händer,  bei  anderen  waren  die  Ränder  unregelmässig,  stark  ge- 
quetscht und  die  Schleimhaut  stark  nach  aussen  evertirt;  auch  der  Durchmesser 
der  Schusslöcher  zeigte  grosse  Schwankungen,  je  nachdem  die  Schlinge  senk- 
recht oder  tangential  getroffen  war. 

Der  Verwundete  war  während  der  ersten  Stunden  nach  der  Operation 
ausserordentlich  angegriffen  und  unruhig,  der  Radialpuls  war  überhaupt  nicht 
zu  fühlen,  er  stellte  sich  erst  gegen  Abend  wieder  ein.  Auch  am  nächsten 
Tage  fühlte  sich  der  Kranke  sehr  hinfällig  und  zeigte  grosse  Unruhe,  die 
Anämie  war  noch  sehr  ausgeprägt,  der  Puls  aber  deutlich  zu  fühlen.  Der 
Kranke  wurde  jetzt  von  häufigem  Erbrechen  und  Aufstossen  geplagt,  was  sich 
am  darauffolgenden  Tage  noch  steigerte.  Daneben  stellte  •  sich  leichter 
Meteorismus  und  massige  Druckempfindlichkeit  in  der  oberen  Bauchgegend  ein. 
Fieber  blieb  jedoch  aus.  Am  18.  9.  war  der  Zustand  unverändert,  erst 
am  19.  9.,  also  am  4.  'i'age  nach  der  Operation,  trat  eine  Wendung  zum 
Besseren  ein,  es  gingen  zum  ersten  Mal  Darmgase  ab  und  Abends  erfolgte  der 
erste  Stuhl.  Gleichwohl  erschien  dor  Kranke  noch  immer  in  Gefahr,  Aufstossen 
und  Erbrechen  bestanden,  wenn  auch  in  geringerer  Heftigkeit,  fort,  der  Kranke 
war  noch  immer  sehr  bleich  und  elend,  litt  an  Schlaflosigkeit  und  zeigte  an- 
dauernd grosse  Unruhe.  Erst  allmälig  besserte  sich  das  Aussehen  und  kehrten 
die  Kräfte  wieder,  die  Wegsamkeit  des  Darms  erlitt  keine  Störung,  Fieber  trat 
auch  während  des  weiteren  Verlaufs  nicht  ein,  das  Aufstossen  wurde  nach  und 
nach  seltener  und  vom  9.  Tage  an  blieb  das  Erbrechen  ganz  aus.  Von  nun  an 
schien  die  Gefahr  der  Peritonitis  beseitigt  und  der  Verletzte  machte  in  der 
Folge  eine  ungestörte  Genesung  durch.  Die  Wunde,  aus  der  sich  die  ersten 
24  Stunden  eine  reichliche  Menge  blutiger  Flüssigkeit  entleerte,  blieb  reizlos, 
die  Gummiröhrijn  wurden  am  zweiten,  die  Gazestreifen  vom  5. — 7.  Tage  ent- 
fernt. Der  Rest  der  Bauch  wunde,  auf  deren  Grund  Darmschlingen  sichtbar 
waren,  wurde  am  8.  10.  durch  mehrere  versenkte  Silberdrahtnähte  verschlossen. 
Gegen  Ende  der  4.  Woche  stand  der  Verletzte  auf  und  am  22.  10.  veriiess  er 
völlig  geheilt  das  Krankenhaus.  —  Bisher  haben  sich  von  Seiten  des  Darms 
keinerlei  Beschwerden  geltend  gemacht,  der  Stuhl  ist  regelmässig,  Schmerzen 
im  Leib  sind  nie  aufgetreten,  der  Verwundete  fühlt  sich  wieder  vollkommen 
gesund  und  ist  so  leistungsfähig  wie  früher. 

B('i  dem  mitgctheillcn  Fall  muss  uns  am  meisten  die  Wider- 
standsfähigkeit des  Verwundeten  in  Erstaunen  setzen,  der  einen  so 
schwerwiegenden  Eingriff  glücklich  überwand,  obwohl  er  nahezu 
verblutet  war.  Zu  diesem  günstigen  Ausiiang  haben  meiner  Ueber- 
zeugung  nach  2  Umstände  wesentlich  beigetragen:  einmal  die  Ver- 


üeber  einen  Fall  von  5  Darmrosectionen  wegen  Sohuss Verletzung.      695 

racidung  einer  längeren  Narkose  und  dann  die  rasche  Ausführung 
der  Operation.  Wäre  zu  dem  Blutverlust  der  schädliche  Einfluss 
einer  längeren  Narkose  hinzugekomnaen,  dann  würde  der  Verletzte 
den  ohnehin  mehrere  Stunden  andauernden  Collaps  kaum  über- 
wunden haben.  Ein  Ersatz  der  allgemeinen  Narkose  durch  die 
zeitraubende  örtliche  Anästhesie  war  im  vorliegenden  Falle  nicht 
in  Betracht  gezogen  worden.  Denn  die  Verblutungsgefahr  machte 
vor  allem  rasches  Handeln  nöthig,  es  galt  deshalb,  beim  Absuchen 
der  Bauchhöhle,  beim  Vorziehen  und  Reponiren  der  Schlingen  nicht 
durch  die  Rücksicht  auf  die  Schmerzempfindungen  des  Verwundeten 
behindert  zu  sein.  Dagegen  war  es  möglich,  bei  dem  Eingriff  am 
Darm  selbst,  beim  Durchtrennon  und  Nähen  der  Darmwand,  die 
Narkose  ganz  zu  entbehren. 

Die  durch  die  Pistolenkugel  hervorgerufene  Verletzung  des 
Darmkanals  war  im  vorliegenden  Falle  eine  sehr  schwere.  Es 
wurden,  wie  schon  erwähnt,  12  Perforationen  aufgefunden.  Nun 
gehören  ja  mehrfache  Durchlöcherungen  des  MagendarmkanaJs  bei 
Schussverletzungen  keineswegs  zu  den  Seltenheiten,  es  hängt  dies 
ganz  von  der  Richtung  der  Kugel  ab  und  von  der  Stelle,  wo  jene 
in  die  Bauchhöhle  eindringt.  So  haben  wir  in  einem  vor  mehreren 
Jahren  beobachteten  Fall  von  vSchussverletzung  durch  ein  Flaubert- 
geschoss  13  Darmperforationen  gezählt,  ja  os  sind  Fälle  bekannt, 
wo  17  Löcher^)  aufgefunden  wurden.  Sind  die  Oeffnungen  klein, 
so  lassen  sie  sich  auf  einfache  Weise  durch  Lembert-Nähte 
schliessen,  ohne  dass  man  Gefahr  läuft,  die  Wegsamkeit  des 
Darms  zu  beeinträchtigen.  Im  vorliegenden  Falle  aber,  wo  das 
Geschosskaliber  10,5  mm  betrug,  Hess  sich  auf  so  einfache  Weise 
ein  sicherer  Verschluss  nicht  erreichen,  weil  die  nahe  zusammen- 
liegenden Ein-  und  Ausschussöffnungen  mehr  wie  die  Hälfte  des 
Darmumfangs  einnahmen.  Es  blieb  somit  keine  andere  Wahl,  als 
zur  Resection  zu  schreiten,  die  aber  ungünstiger  Weise  aus  den 
oben  angeführten  Gründen  an  5  verschiedenen  Stellen  vorgenommen 
werden  musste.  Nun  gehört  die  Darmresection  bekanntlich  zu  den 
längere  Zeit  in  Anspruch  nehmenden  Operationen,  bei  denen  es 
vor  allem  auf  grosse  Sorgfalt  in  der  Ausführung  der  Naht  an- 
kommt.    Hätte  man  indess  in  unserem  Falle  die  übliche  Naht  in 


0  S.  Mannaberg,  Zur  Casuistik   der  vielfachen  Schussverlctzungen  des 
Dünndarms.     Beitr.  z.  klin.  Chirurgie.     20.  Bd.,  2.  Heft. 

46* 


696    .  Dr.  Poppert, 

2  oder  gar  in  3  Schichten  anlegen  wollen,  dann  würde  die  ganze 
Operation  statt  2  Stunden  vielleicht  die  doppelte  Zeit  in  Anspruch 
genommen  haben;  und  dann  wäre  der  Verletzte  mit  Sicherheit 
verloren  gewesen.  Ich  habe  deshalb  statt  der  Knopfnaht  die  fort- 
laufende Naht  benutzt  und  habe  mich  ferner,  allerdings  nur  bei 
den  3  letzten  Rcsectionen  mit  nur  einer  Nahtreihe  begnügt.  Der 
Erfolg  hat  bewiesen,  dass  die  einreihige  Serosanaht  bei  gesundem 
und  nicht  überfüUtera  Darm  ausreicht,  bei  vorhandener  Koth- 
stauung  aber  und  bei  entzündlicher  Infiltration  der  Darmwandung, 
z.  B.  bei  einer  Bruchgangrän,  müsste  natürlich  eine  solche  Naht 
für  ganz  unzuverlässig  erachtet  werden.  —  Die  Anwendung  des 
Murphy-Knopfes  zur  Abkürzung  der  Operationsdauer  war  in  unserem 
Falle  ausgeschlossen,  die  erforderlichen  5  Knöpfe  würden  bei  den 
zu  erwartenden  Adhäsionen  den  Darm  wohl  kaum  passirt  haben, 
ohne  zu  den  bedenklichsten  Störungen  Anlass  zu  geben. 

Sehr  auffallend  ist  bei  unserem  Verletzten  das  Ausbleiben  der 
Peritonitis,  obwohl  eine  auch  nur  halbwegs  gründliche  Reinigung 
der  Bauchhöhle  von  dem  ergossenen  Blut  und  dem  Düimdarm- 
inhalt  nicht  durchgeführt  werden  konnte.  Es  kam  im  weiteren 
Vorlauf  nur  zu  einer  leichten  peritonitischen  Reizung,  die  sich  in 
den  ersten  Tagen  durch  Brechreiz  und  Druckempfindlichkeit  der 
oberen  Bauchgegend  kenntlich  machte.  Warum  nun  kam  es  hier 
nicht  zur  Entwicklung  einer  schweren  Peritonitis?  In  erster  Linie 
müssen  wir  wohl  annehmen,  dass  die  im  Dünndarminhalt  befind- 
lichen Bacterien  von  geringer  Virulenz  waren,  dann  aber  ist  viel- 
leicht auch  in  dem  Bestehen  der  acuten  Anämie  ein  günstiges 
Moment  zu  erblicken,  insofern  hierbei  durch  die  gewaltig  gesteigerte 
Resorption  der  Peritonealraum  rasch  trocken  gelegt  wurde,  so  dass 
den  etwa  vorhandenen  Organismen  die  Bedingungen  für  ihre  Fort- 
entwicklung fehlten.  In  gleichem  Sinne  muss  wohl  auch  der  im 
vorliegenden  Falle  zur  Durchführung  gekommenen  ausgiebigen 
Drainage  der  Bauchhöhle  durch  Gummiröhren  und  Jodoformgaze 
ein  günstiger  Einfluss  auf  den  Ausgang  zugeschrieben  werden. 

So  wenig  wie  wir  in  diesem  Fall  einen  glücklichen  Verlauf 
erwartet  hatten,  ebenso  unvermuthet  kam  uns  der  tödtliche  Aus- 
gang bei  dem  anderen  Duellanten,  der  ebenfalls  eine  Darm- 
verletzung, und  zwar  dos  Dickdarms,  davongetragen  hatte.  Da 
auch  dieser  Fall  eines  gewissen,  allgemeineren  Interesses  nicht  ent- 


lieber  einen  Fall  von  5  Darmresectionen  wegen  Schussverletzung.     697 

behrt,  so  möge  er  hier  anhangweise  noch  kurz  Erwähnung  linden. 
Bei  diesem  Verwundeten  war  die  Kugel  unter  dem  rechten  Rippen- 
bogen eingedrungen  und  hatte  das  Colon  transversum  getroffen, 
an  dessen  Mesocolonansatz  sich  ein  etwa  2  cm  im  Durchmesser 
haltendes  Loch  vorfand.  Da  die  Laparotomie  hier  schon  sehr 
frühzeitig,  IY2  Stunden  nach  der  Verwundung,  vorgenommen 
worden  war  und  da  ausser  der  Dickdarmperforation  keine  ander- 
weitigen Verletzungen  vorhanden  waren,  glaubten  wir  einen  günstigen 
Verlauf  in  Aussicht  stellen  zu  dürfen,  um  so  mehr,  als  der  nur 
spärlich  ausgetretene,  allerdings  höchst  übelriechende  Darminhalt 
durch  Tupfer  sorgfältig  entfernt  worden  war.  Zur  Sicherheit  hatten 
wir  noch  die  Vorsicht  gebraucht,  die  Umgebung  der  Darmwunde 
mit  Jodoformgaze  und  Gummiröhren  ausgiebig  zu  drainiren,  um  für 
den  Fall  des  Eintritts  einer  Eiterung  diese  zu  localisiren.  Gegen 
Erwarten  stellte  sich  indess  schon  nach  12  Stunden  eine  Ver- 
schlechterung des  Pulses  ein,  er  wurde  auffallend  frequent  und 
klein,  mehrfach  traten  OoUapsan fälle  auf,  am  folgenden  Tage 
wurden  die  Erscheinungen  einer  acuten  Nephritis  festgestellt,  der 
Verletzte  klagte  über  starke  Schmerzen  in  der  Nierengegend,  die 
Harnabsonderung  war  nahezu  aufgehoben,  der  Urin  enthielt  Eiweiss, 
gekörnte  Cylinder  und  andere  Formelemente.  zVm  Beginn  des 
3.  Krankheitstages  erfolgte  der  Tod,  ohne  dass  Zeichen  von  diffuser 
Peritonitis  oder  Fieber  sich  eingestellt  hätten.  Bei  der  Section 
fand  sich  in  der  Umgebung  der  Darniwunde  eine  abgegrenzte 
Peritonitis,  die  übrige  Bauchhöhle  aber  war  vollkommen  frei. 
Ausserdem  wurde  eine  hochgradige  Nephritis  mit  Nekrose  fast 
sämmtlicher  Glomeruli  und  der  Harnkanälchen  festgestellt,  ferner 
Milzschwellung  und  doppelseitige  Bronchopneumonie. 

Trotzdem  die  Darmverletzung  also  eine  verhältnissmässig  ein- 
fache und  der  Verwimdete  durch  keinen  erschöpfenden  Blutverlust 
geschwächt  war,  ging  dieser  doch  zu  Grunde  und  zwar,  wie  nach 
dem  Sectionsbefund  geschlossen  werden  muss,  an  acuter  Sepsis. 
Da  es  uns  gelungen  war,  mit  Hülfe  der  Jodoformtamponnadc  die 
Eiterung  auf  einen  verhältnissmässig  kleinen  Herd  zu  beschränken 
und  eine  diffuse  Bauchfellentzündung  zu  vermeiden,  so  müssen  wir 
nothgedrungen  annehmen,  dass  die  Virulenz  der  aus  dem  Darm 
stammenden  Bactcrien  eine  ungewöhnlich  grosse  war.  Möglicher 
Weise  hat  die  vor  dem  Duell  bestandene  zweitägige  StuhlvcrhaUung 


698         Dr.  Poppert,  Ücber  einen  Fall  von  5  Dannresectionen  etc. 

dazu  beigetragen,  die  Virulenz  des  Darrainhalts  zu  steigern,  jeden- 
falls aber  darf  man  annehmen,  dass  der  Ausgang  nicht  so  ver- 
hängnissvoU  gewesen  wäre,  wenn  der  Dickdarm  zur  Zeit  der  Ver- 
wundung zufällig  leer  gewesen  wäre. 

Bekanntlich  wird  allgemein  die  Anschauung  vertreten,  dass 
die  Schussverletzungen  des  Dickdarms  eine  bessere  Prognose  wie 
die  des  Dünndarms  gäben,  weil  bei  ersteren  Spontanheilungen 
häufiger  sind.  Diese  geringere  Gefährlichkeit  hängt  zweifellos  mit 
den  anatomischen  Verhältnissen  zusammen,  insofern  als  der  Dick- 
darm nicht  überall  von  Peritoneum  umgeben  ist  und  der  Bauch- 
wand dicht  anliegt,  so  dass  also  der  austretende  Koth  durch  die 
Bauchwunde  nach  aussen  gelangen  kann.  Deshalb  ist  auch  die 
Prognose  bei  einer  Verletzung  des  Colon  ascendens  und  des  Colon 
descendens  besser,  wie  bei  einer  Verletzung  des  Colon  transversuin '), 
in  welch  letzterem  Falle  der  Koth  ebenso  leicht  in  die  Bauchhöhle 
treten  kann  wie  bei  einem  Dünndarmschuss.  Ist  dieses  Ereigniss 
eingetreten,  so  ist  die  Gefahr  der  septischen  Peritonitis  aber  un- 
gleich grösser,  wie  bei  einem  Erguss  von  Dünndanninhalt,  der, 
wie  zahlreiche  Beobachtungen  beweisen,  in  grösserer  Menge  in  die 
Bauchhöhle  gelangen  kann,  ohne  nothwendiger  Weise  Peritonitis  zu 
erzeugen. 


*)  Vergl.  Kocher,  Zur  Lehre  von  den  Schusswunden  durch  Kleinkaliber- 
geschosse.    Biblioth.  mcdica. 


XLll. 

Neue  Methode  zur  blutigen  Einrichtung  der 
angeborenen  Hüftgelenksluxation.') 

Von 


Dr.  Doyen 

in  Paris. 


Ich  habe  die  Ehre,  Ihnen  eine  neue  Methode  der  blutigen 
Reduction  der  angeborenen  Hüftgelcnksluxation  mitzutheilen,  welche 
bei  Fällen  bis  zum  18.  oder  20.  Lebensjahre  und  darüber  anwend- 
bar ist. 

Die  Operation  umfasst  drei  Acte: 

1.  üie  Loslösung  des  Femurkopfes, 

2.  Die  Wiederherstellung  der  Pfanne, 

3.  Die  Einrenkung. 

I.    Die  Loslösung  des  Schenkelkopfes. 

Die  Pseudarthrose  wird  freigelegt  durch  einen  senkrecht  auf 
den  innern  Rand  des  Musculus  tensor  fasciac  latae  geführten 
Schnitt,  welcher,  im  Bogen  nach  hinten  verlaufend,  unter  der 
Spina  anterior  superior  bis  in  die  Nähe  des  Schenkelkopfes  geht.  — 
Nach  Durchtrennung  des  Muskels  und  seiner  Aponeurose  wird  die 
Kapsel  eröffnet,  resecirt  und  der  Schenkelkopf  im  ganzen  Umfange 
des  Halses  freigelegt. 

Die  wahre  Gelenkpfanne  wird  jetzt  mit  Hülfe  eines  Wund- 
hakens unter  der  Sehne  des  Musculus  rectus  femoris  sichtbar 
gemacht. 

1)  Vorgetragen  am  4.  Sitzungstage  des  XXVII.  Congresses  der  Deutschen 
(resellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  IG.  April  1898. 


700  Br.  Domren, 

II.  Wiederherstellung  der  Pfanne. 

Ich  setze  jetzt  auf  die  Stelle  der  Pfanne  einen  dieser  schneiden- 
den Hohlcyiinder,  an  dessen  unterem  Ende  sich  vier  gekrümmte 
Zähne  befinden,  die  so  arbeiten,  dass  sie  das  die  Gelenkpfanne 
ausfüllende  Gewebe  in  schmalen  Spänen  heraushobeln.  Wird  jetzt 
die  Röhre  in  der  gegebenen  Richtung  gedreht,  so  wird  der  Knochen 
entsprechend  ausgehöhlt  und  die  Späne  steigen  aufwärts  in  das 
Rohr.  Man  fühlt  bald  einen  Widerstand:  die  Schabfläehe  des 
Instruments  hat  die  harte  Knochenlaraelle  erreicht,  welche  die 
Wand  der  Beckenhöhle  bildet.  —  Die  Oberfläche  der  Pfanne  wird 
jetzt  polirt,  indem  man  den  Tubus  in  umgekehrter  Richtung 
dreht.  — 

III.  Einrenkung  des  Femurkopfes. 

Die  Einrichtung  ist  sehr  leicht  bei  kleinen  Kindern.  —  Ich 
mache  sie  in  der  folgenden  Weise:  Mein  Assistent  zieht  an  der 
unteren  Extremität;  ich  drücke  mit  meinen  beiden  Daumen  zu- 
gleich auf  den  grossen  Trochanter  und  den  Schenkelkopf  und 
befördere  den  letzteren  in  die  Pfanne.  — 

Wenn  die  Reposition  nicht  beim  ersten  Versuche  gelingt, 
führe  ich  sie  mit  dem  Ihnen  hier  vorliegenden  Apparate  aus.  — 
Ebenso  verfahre  ich  immer  bei  älteren  Patienten. 

Dieser  Apparat,  der  direct  auf  das  obere  Femurende  wirkt 
und  w  elcher  den  Maximaloffect  der  angewendeten  Kraft  zu  erzielen 
gestattet,  besteht  aus  einer,  nur  um  die  senkrechte  Achse  dreh- 
bare Hauptstütze,  an  deren  oberem  Ende  ein  horizontal  gestellter 
Arm  gleitet.  Dieser  Arm,  der  sich  nicht  drehen  kann,  endet  in 
einer  quergestellten  cylindrischen  Manchette.  Durch  diese  hin- 
durch geht  ein  starkes  Schraubengewinde,  dessen  eines  Ende  den 
senkrecht  verschiebbaren  Repositions-Stab  aufnimmt,  welcher  unten 
löifelförmig  endigt. 

Mit  diesem  Löffel  wirkt  man  auf  den  Schenkelkopf  oder  den 
grossen  Trochanter. 

An  dem  oberen  Ende  des  Repositions-Stabs  setzt  sich  ein 
Hebel  an,  am  hinteren  Ende  des  Schraubengewindes  ein  kräftiges 
Schraubenrad. 

Der  Patient  wird  nun  horizontal  gelagert,  die  Symphysis  oss. 
pub.  mit  der  Hauptstütze  des  Apparats  in  Contaet  gebracht. 


Neue  Methode  zur  blut.  Einrichtung  d.  angeborenen  Ilüftgelenksluxation.    701 

Da^  Becken  wird  auf  einem  mit  zahlreichen  symmetrisch 
angeordneten  Löchern  durchbohrten  Brette  fixirt  mit  Hülfe  von 
6 — 8  Holzstäbchen,  welche  die  Beckenschaufeln  umrahmen.  — 
Der  Arm  des  Apparates,  welcher  das  Schraubengewinde  trägt, 
wird  auf  die  gewünschte  Länge  ausgezogen  und  der  Löifel  an  den 
grossen  Trochanter  oder  den  Femurkopf  angelegt.  Man  dreht 
jetzt  den  ganzen  Apparat  15 — 25  Grade  um  seine  Achse  und 
stellt  das  Schraubengewinde  so,  dass  es  den  Femurkopf  nach  der 
Pfanne  dirigirt. 

Dann  drehe  ich  langsam  das  Rad,  welches  das  Schrauben- 
gewinde anzieht.  —  Wenn  der  Schenkelkopf  hierdurch  genügend 
herabgedrückt  ist,  führe  ich  am  Hebel  des  Repositionsstabes  eine 
Rotationsbewegung  nach  innen  aus,  der  Kopf  gleitet  leicht  in 
die  Pfanne  und  der  Repositionsapparat  wird  in  toto  herausgehoben. 

Das  Operationsfeld  wird  mit  schwacher  CarboUösung  gewaschen, 
ausgetupft  und  die  Wunde  genäht. 

Ein  Glasdrain  wird  in  den  unteren  hintern  Wundwinkel  ein- 
gelegt und  die  Naht  mit  sterilisirtcn  Compressen  bedeckt. 

Für  die  Anlegung  der  Binden  und  die  Anfertigung  des  Gyps- 
verbandes  wird  der  Patient  auf  einen  allseitig  zugängliclien  Metall- 
rahmen aus  beweglichen  Stäben  gehoben.  Bis  der  Verband  trocken 
ist,  bleibt  der  Patient  auf  der  Bahre,  nur  mit  Stützen  unter  Schultern 
und  Füssen.  —  Der  Gypsverband  muss  vom  Thorax  bis  unter  das 
Kniegelenk  gehen.  —  Das  operirte  Glied  wird  in  leichte  Abductions- 
stellung  gebracht. 

Dieser  Verband  wird  am  nächsten  Tage  vorne,  mittelst  zweier 
eingegypster  Metallstäbe  verstärkt  und  für  den  Verbandwechsel 
wird  ein  Fenster  eingeschnitten.  Passive  Bewegimgen  werden  um 
die  3.  oder  4.  W^oche  begonnen. 

Dieser  Einrichtungsmodus  der  angeborenen  Hüftgelenksluxation 
ist  den  bisher  angewandten  Methoden  weit  überlegen: 

1)  Durch  die  Art  der  Wiederherstellung  der  Gelenkpfanne, 
welche  bisher  die  Anwendung  von  Meissein,  scharfen  Löffeln  und 
anderen  schwer  und  mühsam  hantierbaren  Instrumenten  erforderte. 

2)  Mit  meinem  mechanischen  Repositionsapparat  können  schwere 
Fälle,  selbst  bei  Erwachsenen,  operirt  werden. 

Ausserdem  kann  die  Wunde  primär  vernäht  werden,  da  die 
Operation  von  kurzer  Dauer  ist,  und  glatte  Wundverhältnisse  schafft. 


702     Dr.  Doyen,  Neue  Methode  zur  blut.  Einrichtung  d.  angeborenen  etc. 

Die  primäre  Vemähung  ist  für  die  Erreichung  einer  guten  Beweg- 
lichkeit im  Gelenk  bedeutend  günstiger  als  die  Taraponnade. 

Die  bei  meinen  Operationen  entfernten  Kapselreste  waren 
5—6  mm  dick,  die  Knochenmasse,  die  ich  zur  Bildung  der  neuen 
Pfanne  entfernen  musste,  war  fast  so  gross   als  der  Femurkopf. 

Ich  kann  deshalb  nicht  verstehen,  wie  man  auf  unblutigem 
Wege  die  Reposition  ausführen  will. 

Selbst  wenn  es  möglich  wäre,  den  Schenkelkopf  genügend 
herabzuziehen,  kann  man  ihn  doch  nicht  in  eine  Pfanne  bringen, 
die  gar  nicht  existirt,  sondern  vollständig  obliterii-t  ist. 

Die  blutige  Einrichtung  ist  deshalb  das  einzige  wirksame 
Verfahren  bei  der  angeborenen  Hüftgelenksluxation. 

Die  neue  Methode,  welche  ich  mir  erlaube,  Ihnen  vorzuschlagen, 
ermöglicht,  diese  Operation  mit  einer  bisher  nicht  erreichten  Sicher- 
heit und  Vollkommenheit  auszuführen. 


XLIII. 

Zur   chirurgischen   Behandlung   der 
chronischen  Mittelohreiterung.') 

Von 

fiMkDltfttorath  lir.  liUdeivlg;, 

Ohrenarzt  in  Hamburg. 


M.  H.!  Bevor  ich  beginne,  erlaube  ich  rair,  Ihnen  einige 
Präparate  herumzureichen,  zunächst  als  das  Punctum  saliens  meines 
heutigen  Vortrags  eine  Anzahl  Gehörknöchelchen,  an  welchen  Sie 
die  beginnende,  wie  die  weit  fortgeschrittene  Zerstörung  derselben 
durch  Caries  leicht  ersehen  können.  Alle  diese  Präparate  sind 
durch  Operation  am  Lebenden  gewonnen,  aber  als  die  characteri- 
stischsten  aus  meiner  Sammlung  paarweise  ausgewählt.  Zur  besseren 
Orientirung  habe  ich  jeder  Tafel  ein  Paar  normaler  Knöchelchcn, 
Hammer  und  Ambos,  vorangesetzt. 

Sodann  gebe  ich  Ihnen  hier  ein  Paar  Schläfenbeine,  welche 
derartig  aufgesägt  sind,  dass  der  durch  das  Ambos-Steigbügelgelenk 
gelegte  Schnitt  alle  Räume  des  Mittelohrs  zeigt:  die  Paukenhöhle, 
den  Attic,  das  Antrum  mastoideum  und  die  lufthaltigen  Zellen  des 
Warzenfortsatzes.  Dieselben  Verhältnisse  veranschaulichen  hier 
diese  stcreoscopischen  Bilder,  welche  ich  der  schönen  Sammlung 
des  Herrn  Dr.  Katz  entnommen  habe  und  schliesslich  diese  Photo- 
graphie. 

Früher,  meine  Herren,  war  die  Augenheilkunde  gerade  so  ein 
untergeordneter  Theil    der  Chirurgie,    wie    es    die    Ohrenheilkunde 

*)  Abgekürzt  vorgetragen  am  4.  Sitzungstage  des  XXVII.  Congresses  der 
Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  16.  April  1898. 


704  Dr.  Ludewig, 

noch  ist.  Aber  während  sich  jene  längst  losgemacht  hat  von  ihrer 
Mutter  und  heute  selbstständig  dasteht  —  denn  welcher  Chirurg 
macht  heute  wohl  noch  eine  Staaroperation?  —  ist  es  ihrer 
Schwester,  der  Otiatrie,  noch  nicht  im  ganzen  Umfange  gelungen, 
sich  die  Anerkennung  zu  verschaffen,  welche  ihr  gebürt,  weder  bei 
den  Aerzten  noch  bei  den  Patienten. 

Die  Gründe  hierfür  sind  auf  der  Hand  liegend. 

Die  chronische  Mittelohreiterung,  oder  richtiger  gesagt,  ihre 
Folgezustände,  werden  heute  sowohl  von  dem  Vertreter  der  Allge- 
meinen Chirurgie  als  auch  von  dem  Ohrenarzt,  der  auf  chirurgi- 
schem Standpunkt  steht,  operirt.  Und  da  .scheint  es  mir  ange- 
bracht und  an  der  Zeit  zu  sein,  wenn  diese  Beiden,  der  Chirurg 
und  der  Ohrenarzt,  die  gemeinsame  Arbeit  besprechen  und  ihre 
Erfahrungen  und  Beobachtungen  austauschen. 

Es  sollte  mir  eine  aufrichtige  Freude  sein,  wenn  Sie,  meine 
Herren  Chirurgen,  meine  Anregung  so  auffassen  möchten,  wie  ich 
sie  gebe,  wenn  Sie  durch  eine  Disscussion  meines  Themas  der 
Wichtigkeit  der  Sache  und  meinem  guten  Willen,  zu  derselben  ein 
bescheidenes  Körnlein  beizutragen,  Ihre  Anerkennung  nicht  ver- 
sagen möchten! 

Ich  will  mich  zunächst  der  möglichsten  Kürze  beiieissigen, 
um  zu  sehen,  in  welchem  Grade  es  mir  gelingen  wird,  Ihr  In- 
teresse zu  erregen,  werde  aber  zu  weiterer  Ausführung  der  ein- 
zelnen Punkte  sofort  bereitwilligst  zur  Verfügung  stehen. 

Der  Chirurg  bekommt  eine  Ohreiterung  erst  in  die  Hand  — 
sei  es  vom  Hausarzt  oder  von  einem  Ohrenarzt,  dessen  Thätigkeit 
sich  auf  Spritzen  und  Pusten  beschränkt  —  wenn  dieselbe  den 
Raum  der  Paukenhöhle  überschritten  und  Entzündungserscheinungen 
in  den  Nebenräumen  hervorgerufen  hat  mit  Fieber  und  Schmerzen. 
Und  was  thut  er  nun?  Er  racisselt  den  Knochen  hinter  dem  Ohr 
auf.  Ist  er  bis  auf  den  Eiterherd  im  Knochen  vorgedrungen,  so 
ist  seine  Thätigkeit  meist  erschöpft,  der  Erfolg  ein  zufrieden- 
stellender: das  Fieber  fällt  ab  und  die  Schmerzen  hören  auf.  Ich 
habe  gesagt  „meisf.  Ganz  selbstverständlich  giebt  es  eine  An- 
zahl hervorragender  Chirurgen,  die  sich  mit  solchem  Eingriff  nicht 
begnügen,  sondern  bestrebt  sind,  gründlicher  vorzugehen.  Diese 
Operateure,  welche  ein    specielles  Interesse    für    die    chirurgischen 


Zur  chirurgischen  Behandlung  der  chronischen  Miltelohreiterung.      705 

Erkrankungen  des  Ohres  an  den  Tag  gelegt  haben,  wie  besonders 
von  Bergmann  und  Küster,  sind  sich  über  den  einen  Punkt, 
glaube  ich,  einig  mit  dem  Ohrenarzt,  dass  es  bei  der  Aufmeisslung 
der  Mittelohrräume  wegen  chronischer  Eiterung  allein  darauf  an- 
kommen muss,  aus  Gehörgang,  Paukenhöhle,  Attic,  Antrum 
mastoideum  und  den  lufthaltigen  Zellen  des  Warzenfort- 
satzes eine  einzige  grosse  Höhle  zu  machen. 

Wie  das  erreicht  wird,  ob  die  Operation  von  vorn  nach  hinten 
ausgeführt  wird,  wie  Koerner  das  vorzieht,  welcher  mit  Weg- 
nahme der  hinteren  Gehörgangswand  beginnt,  oder  von  hinten  nach 
vom,  nach  Schwartze,  der  zunächst  das  Antrum  mastoideum  auf- 
meisselt,  dann  den  Atticus  und  dann  die  hintere  Gehörgangswand 
wegnimmt,  erscheint  irrelevant. 

Ausser  den  Genannten  haben  eine  ganze  Reihe  von  Ohren- 
ärzten sich  um  diese  „Radical-Opcration'*  verdient  gemacht  und 
eigene  Methoden  oder  Modificationen  des  ursprünglichen  Schwartze- 
schen  Verfahrens  angegeben,  wie  z.  B.  Betzold,  Hessler,  Kretsch- 
mann,  Reinhard,  Wegenerund  ganz  besonders  Jansen,  Pause 
und  Stacke.  Eine  Eigenart  hat  die  Operationsweise  Zaufal's, 
welcher  allein  viel  mit  der  Knochenzange  arbeitet,  während  alle 
Anderen  dem  Meissel  den  Vorzug  geben. 

Ich  möchte  auf  diese  Operation,  die  „Aufmeisslung"  vorläufig 
nicht  des  Näheren  eingehen,  sondern  die  Aufmerksamkeit  der  Ver- 
sammlung auf  ein  anderes  Operationsverfahren  lenken,  welches 
gerade  in  Chirurgenkreisen  noch  weniger  bekannt  sein  dürfte  und 
von  welchem  ich  doch  behaupten  muss,  dass  es  die  grösste  Würdi- 
gung verdient,  dass  es  im  Stande  ist,  in  vielen  Fällen  die 
Aufmeisslung  zu  ersparen. 

Dieses  Verfahren  besteht  in  der  Extraction  von  Hammer  und 
Ambos,  in  der  Ausräumung  der  Paukenhöhle  vom  Gehörgang  aus 
und  ist  besonders  geübt  worden  von  Ferrer,  Grunert,  Gomperz, 
Kessel,  Kretschmann,  Pause,  Reinhard,  Sexton  u.  A. 

Nichts  liegt  mir  ferner,  als  diese  Operation  für  eine  Panacee 
ausgeben  zu  wollen  für  alle  chronischen  Mittelohreiterungen;  im 
Gegentheil:  es  ist  ganz  selbstverständlich,  dass  dieselbe  für  die 
Fälle  nicht  ausreichend  sein  kann,  in  welchen  die  Caries  das 
Schläfenbein  selbst    schon  in    weiterem  Umfange  ergriffen  hat,    so 


706  Dr.  Lud  ewig, 

z.  B.  das.s  die  hiritiTc  Gehörgangswaiid  schon  von  Granulationen 
durchbrochen  ist,  oder  in  welchem  ein  Cholesteatom  im  Knochen 
sicher  nachgewiesen  ist. 

Aber  für  eine  ganze  Reihe  von  Fällen  chronischer  Mittelohr- 
eiterung genügt  die  Hammer-Arabosextraction,  so  lange  die  Caries 
auf  die  Gehörknöchelchen  beschränkt  ist,  oder  die  Eiterung  in  *ab- 
gekapselten  Räumen  meist  der  oberen  Partie  der  Paukenhöhle  sitzt, 
welche  durch  hintere  Synechien,  neugebildete,  theils  bindegewebige, 
theils  verknöcherte  oder  verkalkte  Stränge  häufig  gebildet  werden. 

Ich  werde  die  Indication  für  diese  Operation  später  noch  weiter 
stecken,  wie  das  auch  Kessel  schon  vor  mir  gethan  hat.  Heute 
will  ich  nur  andeuten,  dass  ich  dieselbe  auch  für  durchaus  noth- 
wendig  halte  bei  Residuen  einer  abgelaufenen  Mittelohreiterung,  bei 
welchen  das  Trommelfell  oder  der  Rest  desselben  und  die  Kette 
der  Gehörknöchelchen  stark  retrahirt  (letztere  ankylosirt)  und  un- 
beweglich geworden  sind.  Denn  hier  wird  die  Stapesplattc  in  das 
ovale  Fenster  hineingedrückt,  die  Endungen  des  Acusticus  stehen 
unter  erhöhtem  Druck  und  verfallen  allmählich  der  Atrophie. 

Vorläufig  halte  ich  mich  an  mein  Thema. 

Die  chronische  Mittelohreiterung,  welche  mit  Caries  an  den 
Gehörknöchelchen  einhergeht,  oder  ihren  Sitz  hauptsächlich  im 
Atticus  hat,  zeigt  meist  charakteristische  Trommelfellbilder.  Bei  der 
Caries  am  Hamraerkopf  findet  sich  oft  eine  Fistel  in  der  Mem- 
brana Shrapnelii  überdem  Processus  brevis,  (Kretsch mann,  Walb), 
bei  der  Amboscaries  sehen  wir  eine  Ablösung  des  Trommelfells 
hinten  oben,  beide  Beispiele  bei  sonst  intactem,  d.  h.  vorhandenem 
Trommelfell.  Sehr  häufig  bietet  sich  aber  auch  da«  Bild  eines 
Totalverlustes  des  Trommelfells  mit  Ausnahme  eines  Restes  der 
Membrana  Shrapnelii,  welcher  den  Hammerrest  enthält. 

Was  nun  das  Operationsverfahren  anbetrifft,  so  ist  das  kurz 
Folgendes: 

Nehmen  wir  an,  wir  haben  ein  Trommelfell  vor  uns,  welches 
nur  eine  Fistel  in  der  Membrana  flaccida  über  dem*  Processus 
brevis  oder  eine  Ablösung  im  hinteren,  oberen  Quadranten  auf- 
weist: so  schneidet  man  mit  dem  geknöpftem  Messer,  nachdem 
man  eine  Paracentese  gemacht  hat,  vor  und  hinter  dem  Hammer- 
griff in  die  Höhe  bis  zum  Knochenrand,  geht  dann  mit  dem  Te- 
notom  in  den  hinteren  Schnitt    ein    und  durchschneidet  die  Sehne 


Zur  chirurgischen  Behandlung  der  chronischen  Mittelohreiterung.      707 

des  Tensor  tyrapaui,  welche  ungefähr  in  der  Höhe  des  von  aussen 
sichtbaren  Processus  brevis  inserirt,  und  dreht  dann  das  Tenotom 
um  180°  nach  hinten,  um  event.  das  Arabossteigbügelgelenk  zu 
lösen. 

Dann  durchtrennt  man  die  Brücke,  welche  das  Haramergriff- 
ende  mit  dem  unteren  Knochenrande  noch  verbindet,  fasst  den 
Hammergriff  mit  der  Wild  ersehen  Schlinge  möglichst  hoch,  über 
dem  Processus  brevis  und  extrahirt  ihn,  indem  man  den  Kopf 
unter  dem  Knochenrand  hervorhebelt.  Darauf  geht  man  mit  dem 
Amboshaken  ein  in  den  Atticus  da,  wo  der  Haramerkopf  gesessen 
hat,  und  bringt  den  Ambos  durch  eine  Drehung  des  Instrumentes 
um  90°  nach  hinten  in  das  Gesichtsfeld,  resp.  gleich  an  das 
Tageslicht. 

Ist  die  Caries  auf  die  beiden  ersten  Gehörknöchelchen  be- 
schränkt, so  ist  damit  genug  geschehen,  ist  aber  der  Atticus  oder 
der  hintere  Theil  der  Pauke  noch  mit  Granulationen  oder  Detritus- 
massen ausgefüllt,  so  werden  diese  ausgelöffelt,  event.  alle  Rauhig- 
keiten am  Knochenrande  ausgekratzt. 

Ich  will  Sie,  meine  Herren,  mit  der  Schilderung  der  Nach- 
behandlung, welche  nicht  selten  nur  einige  Tage  oder  Wochen  in 
Anspruch  nimmt  —  geheilt  nenne  ich  nur  einen  Fall,  der  min- 
destens ein  Jahr  lang  trocken  geblieben  ist  —  nicht  aufhalten, 
sondern  nur  kurz  hinzufügen,  dass  die  Eiterung  jetzt  ausheilt  ent- 
weder mit  Neubildung  eines  Trommelfells,  welches  von  der  Pe- 
ripherie aus  nach  der  Mitte  zu  wächst  und  sich  völlig  wieder 
schliessen  kann;  oder  aber  der  Defect  bleibt  bestehen.  In  diesem 
Fall  epidermisirt  sich  allmählich  die  Paukenschleimhaut  und  wird 
mit  der  Zeit  widerstandsfähig  gegen  von  aussen  in  das  Ohr  ein- 
dringende Schädlichkeiten,  wie  gegen  die  durch  die  Tube  vom 
Nasenrachenraum  aus  sich  verbreitenden  Entzündungen. 

Ich  möchte  mir  nur  erlauben,  in  aller  Kürze  —  mit  Hinweg- 
lassung  der  Krankengeschichten  —  Zahlen  vorzulegen,  und  zwar 
über  die  ersten  Hundert  meiner  250  Hamburger  Operationen,  welche 
ich,  soweit  es  überhaupt  möglich  ist,  bis  in  die  neueste  Zeit  ver- 
folgt und  im  Auge  behalten  habe.  Ich  betone  ausdrücklich,  dass 
ich  nicht  etwa  eine  Auswahl  getroffen,  sondern  dass  ich  die  Fälle 
von  1  bis  100  genommen  und  keinen  Fall  ausgelassen  habe,  selbst 
solche  nicht,  bei  denen  es  von  vornherein  zweifelhaft  erschien,   ob 


708  Dr.  Ludewig, 

die  Caries  auf  die  Gehörknöchelchen  noch  beschränkt  war.  Von 
diesen  Fällen  will  ich  Ihnen  heute  das  Resultat  der  Operation 
vorlegen  in  Bezug  auf 

1.  den  Befund  an  den  Gehörknöchelchen, 

2.  das  Verhalten  der  Eiterung  und 

3.  das  des  Hörvermögens  nach  der  Operation. 

Der  Hammer  war  gesund  bei  carösem  Ambos     ...  in  33  pCt.  der  Falle, 

der  Hammer  cariös  bei  gesundem  Ambos »^    ^  «  ti  r 

beide  Knöchelchen  waren  cariös „  48  „  „  „ 

beide  gesund «    -1  n  v  n 

Hammer  cariös,  vom  Ambos  nichts  gefunden     .    .    .  „    4  „  „  „ 
Hammer  gesund,  vom  Ambos  nichts  gefunden   .    .    .  „    1  „  „  „ 
die  Operation  wurde  wegen  zu  starker  Blutung  ab- 
gebrochen und  nicht  ausgeführt „    2  „  „  „ 

Hammer- Ambos-Ankylose  fand  sich  darunter  4 mal. 

Ich  habe  hier  die  fünf  Fälle,  in  welchen  vom  Ambos  nichts 
aufgefunden  wurde,  besonders  aufgeführt,  obgleich  ich  die  Ueber- 
zcugung  habe,  dass  in  vier  derselben  der  Ambos  durch  Caries 
gänzlich  zerstört  war.  Lassen  wir  aber  auch  diese  fünf  Aiiibose 
ausser  Betracht,  so  bleibt  die  Amboscaries  immer  noch  erwiesen 
in  81  pCt.  der  Fälle  (cf.  F.  Kretschmann's  Festschrift  zur  Feier 
des  50jährigen  Bestehens  der  Magdeburger  Med.  Gesellschaft,  und 
Grunert  A.  f.  G.  Bd.  33  pag.  207). 

Was  den  Erfolg  der  Operation  in  Bezug  auf  die  Eiterung  an- 
belangt, so  ist  zu  verzeichnen: 

Eiterung  geheilt SOmal 

„       nicht  geheilt ...  8  „ 

Erfolg  unbekannt     ....  9  „ 

„     zweifelhaft    ....  3  „ 

Als  zweifelhaft  führe  ich  hier  drei  Fälle,  auf,  in  welchen  die 
Epidermisirung  der  Paukenschleimhaut  wohl  vollständig  eingetreten 
ist,  aber  die  Patienten  kamen  in  den  letzten  Jahren  wieder  mit 
einer  schneü  vorübergehenden,  schleimigen  Secretion,  welche  aus 
der  Tube  stammte. 

Rechnen  wir  nun  auch  die  weggebHebenen  Fälle,  deren  Er- 
folg unbekannt  ist,  und  die  zweifelhaften  zu  den  ungeheilten,  so 
haben  wir  immerhin  80  pCt.  Heilung  gegen  20  pCt.  Nicht- 
heilung.  — 


Zur  chirurgischen  Behandlung  der  chronischen  Mittelohreiterung.      709 

Das  Hörvermögen  wurde  durch  die  Operation 

gebessert 75  mal 

blieb  dasselbe 13  „ 

wurde  verschlechtert 2  „ 

ist  nach  der  Operation  unbekannt 9  ,, 

Die  Hörprüfung  war  vor  und  nach  der  Operation 

unmöglich 1  ,, 

Die  Hörverbesscrung  war  in  \ielen  Fällen  eine  ganz  beträcht- 
liche. 

Um  z.  B.  die  dreissig  Patienten  herauszugreifen,  welche  vor 
der  Operation  Flüsterzahlen  nur  direct  ins  Ohr  gesprochen,  oder 
das  nicht  einmal  mehr,  hörten,  so  wurden  von  diesen  Flüster- 
zahlen nach  der  Operation  gehört: 

13  mal  bis  2  m 

4  5 

3  „      „8  „ 

Die  beiden  Hörverschlechterungen  sind  folgende:  in  dem  einen 
Falle  hörte  das  Ohr  vor  der  Operation  Flüsterzahlen  auf  2  m, 
nach  der  Operation  nur  auf  1  m.  Die  Eiterung  ist  mit  Neubildung 
einer  Membran  geheilt,  der  Schaden  in  Bezug  auf  das  Gehör  ein 
dauernder.  In  dem  anderen  Falle  hörte  das  Ohr  vor  der  Operation 
normal,  nach  der  Operation,  wiederum  nach  Neubildung  eines 
Trommelfells,  welches  zum  grössten  Theil  verkalkte,  auf  1  m. 
Durch  Massage  mit  der  Wegen er'schen  Vibrationsmaschine  ist  in 
der  letzten  Zeit  das  Hörvermögen  dieses  Ohres  auf  3 — 4  m  für 
Fiüsterzahlen  nachträglich  gebessert  worden. 

M.  H.!  Durch  meine  heutige  Mittheilung  hoffe  ich,  wenn 
nicht  mehr,  so  doch  mindestens  die  Berechtigung  der  Hammor- 
Ambosextraction  als  ein  Heilmittel  der  chronischen  Jlittelohreiterung 
bewiesen  zu  haben.  Es  bleibt  mir  noch  übrig,  hinzuzufügen,  dass 
ich  unter  den  angezogenen  Fällen  üble  Folgen  der  Operation,  wie 
Facialislähmung,  beträchtlichen  oder  erwähnenswerth  andauernden 
Schwindel  oder  Kopfschmer/en  nicht  zu  beobachten  hatte. 

Zum  Sohluss,  meine  Herren,  will  ich  Ihnen  auch  eine  gegne- 
rische Ansicht  nicht  vorenthalten,  welche  mir  in  diesen  Tilgen  zu 
Gesicht  gekommen  ist.     „Die  Indicationen  zur  operativen  Behand- 

Arehiv  fttr  klin.  Chirui^ie.  67.  Bd.  Heft  3.  47 


710  Dr.  Ludewig,  Zur  chirurgischen  Behandlung  etc. 

lung  der  Mittelohreiterungen"  betitelt  sich  eine  Arbeit  des  Herrn 
Stabsarzt  Dr.  Richard  Müller  aus  der  Trautmann'schen  Ohren- 
Abtheilung  der  Kgl.  Charit^  zu  Berlin,  welche  in  No.  13  der 
Deutschen  med.  Wochenschrift  vom  31.  März  d.  J.  veröffentlicht 
ist  und  der  Aufmeisslung  unter  allen  Umständen  das  Wort  redet, 
selbst  bei  einfachen  Schleimhauteiterungen! 

Was  die  chronische  Mittelohreiterung  anbetrifft,  so  urtheilt 
Herr  Stabsarzt  Dr.  Richard  Müller  über  die  von  mir  heute 
dringend  empfohlene  Hamnier-Ambosextraction,  wie  folgt: 

„Bei  blosser  Caries  der  Gehörknöchelchen  ist  die 
Radicaloperation  nicht  ohne  Weiteres  indicirt.  Man  kann 
sich  zunächst  auf  die  Extraction  von  Hammer  und  Ambos 
beschränken. 

Aber   erstlich    ist   die  Diagnose    einer   isolirten  Caries 
dieser  Knöchelchen  überaus  schwierig,  und  zweitens  kommt 
erfahrungsgemäss,  selbst  wenn  nur  Hammer  und  Am- 
bos cariös  waren,  die  Mittelohreiterung  mit  ihrer  Extraction 
meist  doch  nicht  zur  Heilung,  so  dass  man  sich,  nach- 
dem   man  Zeit   verloren,    schliesslich    doch    zur  Radical- 
operation u.  s.  w.  veranlasst  sieht."  —  — 
Interessant   wäre    es,    zu    erfahren,    auf   wie  viele  Fälle   von 
Hammer-Ambosextraction    sich  dieses  erfahrungsgemäss  des  Herrn 
Stabsarzt  Dr.  Richard  Müller  bezieht. 
Aber  es  kommt  noch  schöner: 

Die  Indication  des  Herrn  Müller  für  die  Aufmeisslung  bei 
der  acuten  Mittelohreiterung  lautet  wiederum  wörtlich: 

„Jede  acute  Mittelohreiterung,    die    trotz    sachgemässer 
Behandlung    vierzehn  Tage    lang  in  unveränderter  Stärke 
ohne  Wendung  zum  Besseren  erkennen  zu  lassen  besteht, 
ist    mit    der  Eröffnung    des  Antrum    mastoideum    zu    be- 
handeln, auch  wenn  bedrohliche  Erscheinungen  noch  nicht 
vorhanden  sind." 
M.  IL!     Eine  solche  Indicationsstellung  muss  als  entschieden 
zu  weit  gehend  und  durchaus  willkürlich  energisch  zurückgei^lesen 
werden ! 


XLIV. 

(Aus  der  Hallenser  chirurgischen  Klinik.) 

lieber  die   operative  Entfernung  aus- 
gedehnter Gesichtscarcinome/) 

Von 

Dr.  med.  IJ«  Grosse^ 

Assistent  der  Klinik. 

(Mit  2  Figuren.) 


M.  H. !  In  den  letzten  fünf  Jahren  sind  in  der  Klinik  des 
Herrn  Professor  v.  Bramann  eine  Reihe  von  ausgedehnten  Gar- 
cinomen  der  Gesichtshaiit  —  solche  der  Nase  und  der  Lippen 
kommen  dabei  nicht  in  Betracht  —  zur  Behandlung  und  Ope- 
ration gekommen.  Einen  Theil  derselben  würde  gewiss  mancher 
schon  zu  den  inoperabeln  Tumoren  gere(*,hnet  haben  und  daher 
sicli  garnicht  oder  nur  ungern  zu  einem  operativen  Eingriff  haben 
entschliessen  können. 

Die  Resultate,  welche  bei  uns  durch  allerdings  sehr  aus- 
giebige Entfernung  auch  der  benachbarten  knöchernen  Theile  dos 
Schädels  erzielt  sind,  geben  mir  Veranlassung,  Ihnen  einen  kurzen 
Uebcrblick  über  die  operirten  Fälle  zu  geben  und  Ihnen  die  eine 
Patienlin,  bei  der  das  Carcinom  ganz  besonders  ausgedehnt  war, 
hier  vorzustellen. 

In  allen  operirten  Fällen,  die  hier  in  Betracht  kommen, 
handelte  es  sich  um  fläcihenhaft  ausgedehnte  Carcinome,  die  mehr 
oder  weniger  in  die  Tiefe  griffen,  oder  in  benachbarte  Höhlen 
hineingewuchert  waren;    um  Tumoren,  die  in  den  Knochen  hinein- 


^)  Auszugsweise  vorgetragen    am  4.  Sitzungstage    des  XXVII.  Congresscs 
der  Deutseben  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  16.  April  1898. 

47* 


712 


Dr.  Ü,  Grosse, 


gewachsen  waren,  ihn  usurirt  hatten  oder  mit  demselben  doch  in 
innigem  Zusammenhange  standen. 

Es  sind  im  Ganzen  24  solcher  Carcinome  operirt  worden, 
wobei  ich  nochmals  betone,  dass  Carcinome  der  Lippen  oder  der 
Haut  der  Nase  völlig  ausser  Acht  gelassen  sind.  In  6  dieser 
Fälle  war  eine  Betheiligung  des  Bulbus  selbst  oder  doch  der  die 
Orbita  füllenden  Weich theile  vorhanden,  so  dass  eine  Enucleatio 
bulbi  gleichzeitig  erfolgen  musste.  Bei  allen  24  Fällen  sind  die 
in  Betracht  kommenden  regionären  Lymphdrüsen  sorgfältig  ent- 
fernt worden,  auch  wenn  sie  keine  durch  das  Gefühl  oder  das 
unbewaflfnete  Auge  nachweisbaren  Zeichen  der  Erkrankung  auf- 
wiesen. 

Der  entstandene  Defect  wurde  fast  stets  sofort  plastisch  ge- 
deckt, nur  in  2  Fällen,  wo  eine  solche  Deckung  nicht  gleich 
indicirt  war  und  andererseits  mit  grossen  Schwierigkeiten  bezüglich 
der  Lappenbildung  verknüpft  gewesen  wäre,  wurde  erst  später  der 
gut  granulirende  Defect    durch  Thiersch'sche  Läppchen    gedeckt. 

Gehe  ich  jetzt  kurz  auf  die  Resultate  ein,  so  glaube  ich  diese 
Ihnen  am  besten  durch  eine  tabellarische  Zusammenstellung  er- 
läutern zu  können. 


Alter 

Datum 

Datum 

No. 

und 
Geschlecht 

Sitz  der  Geschwulst 

der 
Operation 

Operation 

der  Ent- 
lassung 

Erfolg 

1 

60  J.  ra. 

L.  Schläfe,    auf  das 

17.  3.  93 

Entfernung   beider  Augen- 

30. 3.  93 

Recidiv     nach 

# 

obere         Augenlid 
ühergreifend. 

lider  zur  Hälfte  und  Ab- 
meisselung  des  Knochens 
der  Schläfe  mit  Wegnahme 
der  äusseren  Orbitalwand. 
Plastik. 

3  Jahren,  cf. 
No.  13. 

2 

57  J.  m. 

R.   Schläfe,    Augen- 
lider  und  Bulbus, 
auf  die  Backe  noch 
übergreifend. 

30.  8.  93 

Entfernung    nebst  Bulbus, 
ganzer  äusserer   und    un- 
terer   Wand    der    Orbita, 
oberer   Wand    des    Antr. 
Highmori  des  Nasenbeins, 
der  Muscheln,    Theil    des 
Stirnbeins.     Plastik. 

26.  10.  93 

Starb  im  Jahre 

1897   an    in- 

tercurrenter 

Krankheit. 

Kein  Recidir. 

3 

52  J.  w.i) 

R.  Schläfe,    Wange, 
Augenlider  u.  Bul- 
bus. 

21.G.93 

Cf.  später,  wie  Anmerkung 
besagt. 

31.7.93 

Recidivfrei  u. 
geheilt  bis 
heute. 

1)  Cf.  später  die  genaue  Krankengeschichte,  da  dies  der  vorgestellte  Fall  ist. 


Üeber  die  operative  Entfernung  ausgedehnter  Gesichtscarcinome.     7l3 


Alter 

und 

Geschlecht 


Sitz  der  Geschwulst 


Datum 

der 

Operation 


Operation 


Datum 
der  Ent- 
lassung 


Erfolg 


40  J.  m. 


59  J.  w. 


63  J.  w. 


46  J.  w. 


50  J.  w. 


R.  Wange. 


R.  Augenwinkel,  bei- 
de Augenlider  er- 
griffen, auf  Wange 
und  Nase  u.  etwas 
auf  die  Stirn  über- 
greifend. 

L.  Augenwinkel  und 
Schläfe. 


L.  Schläfe  u.  Augen- 
winkel. 


R.  Nasolabialfalte  u. 
Wange  bis  auf  d. 
untere  Augenlid. 


77  J.  w. 


48  J.  m. 


73  J.  w. 


48  J.  m. 


R.  Schläfe,  beide 
Augenlider,  Bulbus 
betheiligt,  Wange, 
Stirn. 

R.  Schläfe. 


Stirn,  bis  an  die 
Nasenwurzel,  Kno- 
chen stellenweise 
usurirt  und  frei- 
liegend. 

R.  Schläfengegend 
u.  Wange. 


6.  1.  94 


9.  5.  94 


25.  7.  94 


25.  8.  94 


1.  9.  94 


10.1.95 


12.  5.  95 


27.  7.  95 


4.  2.  96 


Entfernung  der  Geschwulst 
und  der  vorderen  Wand 
des  Antrum  Highmori. 
Plastik. 

Entfernung  der  Geschwulst, 
wobei  die  beiden  Augen- 
lider zur  Hälfte  fortfallen. 
Entfernung  von  Nasen- 
bein, Stirnbein,  etwas  von 
der  Wand  des  Antrum. 
Plastik. 

Entfernung  der  Geschwulst 
mit  äusserer  Orbital  wand 
und  Jochbein,  Abmeisse- 
lung  des  Schläfenbeins. 
Plastik. 

Entfernung  der  Geschwulst 
mit  äusserem  Orbitalrand 
und  Theilen  des  Stirn-  u. 
Schläfenbeins.    Plastik. 

Entfernung  der  Geschwulst 
mit  vorderer  Wand  des 
Antr.  Highmori,  Abmeisse- 
lung  des  Oberkiefers.  Ent- 
fernung d.  grössten  Theils 
der  rechten  Nasenhälfte. 
Plastik. 

Entfernung  der  Geschwulst 
mit  Bulbus,  Theile  des 
Os  frontis,  sowie  fast  die 
ganze  Orbita  kommen  in 
Fortfall. 

Entfernung  mit  äusserer 
Orbitalwand.    Plastik. 

Entfernung  der  Geschwulst 
nebst  Nasenwurzel  und 
vorderer  Wand  des  Sinus 
front.     Plastik. 

Entfernung  der  Geschwulst, 
des  Jochbeins  und  eines 
Theils  der  äusseren  und 
unter.  Orbitalwand.  Plas- 
tik. 


10.  2.  94 


29.  5.  94 


Recidivfrei    n. 
4  Jahren. 


Recidivfrei  u. 
gesund  nach 
4  Jahren. 


16.  8.  94 


12.  9.  94 


21.9.94 


Recidivfrei  u. 
gesund  bis 
heute  (also 
4  Jahre). 

Recidivfrei  u. 
gesund  bis 
heute  (also 
4  Jahre). 

Recidivfrei  u. 
gesund  bis 
heute  (33/4 
Jahre). 


16.  2.  95 


80.  5.  95 


28.  8.  95 


Gesund  und 
recidivfrei  bis 
heute  (also 
31/4  Jahre). 

Gesund  und 
recivfrei  (al- 
so 3  Jahre). 

Ohne  Nach- 
richt. 


5.  3.  96 


Gesund  und 
recidivfrei  (al- 
so 21/4  Jahre). 


1 


714 


Br.  ü.  Grosse, 


No. 


13 


14 


15 


16 


17 


IS 


19 


20 


21 


Alter 

und 

Geschlecht 


Sitz  der  Geschwulst 


63  J.  m. 


60  J.  w. 


45  J.  m. 


27  J.  m. 


35  J.  ni. 


72  J.  m. 


R.  Augenlider  und 
Bulbus,  bes.  am 
inneren  Augenwin- 
kel. Recidiv.  Cf. 
No.  1. 

Stirn  und  Nasen- 
wurzel. 


R.  Schläfe,  Orbita 
und  Bulbus  nebst 
unterem  Augenlid. 


Link.  Ohr,  Schläfe, 
Wange,  Hals.  (Re- 
cidiv    nach     einer 

'  vor  2  Jahren  in 
einem  ander.  Kran- 
kenhaus stattge- 
habten Operation.) 


R.    Ohr    und    Haut 
des  Scheitelbeins, 


05  J.  m. 


05  J.  m. 


L.  Wange  u.  Schlä- 
fengegend, vordere 
Wand  des  Antr. 
Highmori  an  einer 
Stelle  zerstört. 

R.  Schläfe  mit  Kno- 
chenusur. 


R.  Schläfengegend 
u.  Stirn  mit  obe- 
rem Augenlid. 


I 

05  J.  m.  Vor  d.  r.  Ohr,  auf 
dasselbe  übergrei- 
ft'ud  bis  in  den 
(ichörgang. 


Datum 

der 

Operation 


6.  2.  96 


30.  4.  96 


30.  6.  96 


11.2.97 

und 
15.  5.  97 


12.  2.  97 


23.  2.  97 


11.3.97 


2.  4.  97 


22.  5.  97 


Operation 


Datum 
der  Ent- 
lassung 


Erfolg 


Entfernung  der  Lider,  des 
Bulbus,  des  Stirnbeins  im 
unteren  Theil,  der  äusse- 
ren, inneren  und  unteren 
Orbitalwand,  des  Nasen- 
beins.    Plastik. 

Entfernung  der  Geschwulst 
und  der  oberflächlichen 
Knochenpartien.     Plastik. 

Entfernung  der  Geschwulst, 
des  Bulbus  der  vorderen 
Wand  des  Antr.  Highmori, 
des  Jochbeins  und  der 
oberflächlichen  Theile  des 
Schläfenbeins.     Plastik. 

Entfernung  von  Ohr,  hin- 
terem Theil  der  Wange, 
Jochbein,  Mu.scul.  tempo- 
ral., aufsteigendem  Kiefer- 
ast bis  zum  Tricuspis, 
Rcscction  der  Arteria  ca- 
rot.  ext.  u.  Vena  jugul., 
d.Proc.  mastoideus.  Trans- 
plantation. 

Entfernung  der  Geschwulst 
und  der  Ohrmuschel,  so- 
wie der  oberflächlichen 
Knochenschichten.  Plas- 
tik. 

lEntfernung  mit  Jochbein 
und  vorderer  Wand  des 
Antr.     Plastik. 


Entfernung  mit  Knochen - 
platte  vom  Stirn-  und 
Schläfenbein,  äusserem 
Orbitalrand.     Plastik. 

Entfernung  nebst  Jochbein, 
äusserer  Orbitalwand  und 
oberflächlichen  Schichten 
von  Stirn-  und  Schläfen- 
bein.    Plastik. 

Entfernung  mit  Ohr  und 
Gehörgang  sammt  Trom- 
melfell, Ausräumung  der 
Paukenhöhle  und  Entfer- 
nung des  Prec.  mastoi- 
deus.   Plastik. 


10. 3.  96 


26. 4. 96 


21.7.96 


5.  7.  97 


5.  3.  97 


Bisher  recidir 
frei. 


t  unter  den 
Erscheinung, 
der  Ben- 
schwäche. 

Gesund  und 
ohne  Recidir 
(also  2  Jahre). 


Geheilt,  gcsd. 
und  ohne  K«- 
cidivb.  heute. 


Gesund  und 
recidiv  frei  (al- 
so 1  Jahr\ 


12.3.97  Starb  im  De- 
cember  97  an 
Pneumonie. 


19.  3.  97 


27. 4.  97 


3.  8.  97 


t   Pneumonie. 


Gesund  und 
ohne  Recidi? 
(1  Jahr). 


Gesund      und 
ohne  Recidiv. 


lieber  die  operative  Entfernung  ausgedehnter  Gesichtscarcinome.      715 


Alter 

Datum 

. 

Datum 

No. 

und 
Geschlecht 

Sitz  der  Geschwulst 

der 
Operation 

Operation 

der  Ent- 
lassung 

Erfolg 

22 

62  J.  m. 

R.  Augenlider,  Bul- 
bus, Stirn,  Wange. 

31.5.97 

Entfernung     mit    Bulbus , 
Stirnbein,  Orbita,  vorderer 
Wand  des  Antrum,  Joch- 
bein.    Plastik. 

2.  7.  97 

Gesund      und 
ohne  Recidiv 
(CompUcat. : 
Pneumonie). 

23 

45  J.  w. 

L.  untere  Augenlid, 
Wange   und  Naso- 
labialfalte,Knochen 
freiliegend. 

2.  9.  97 

Entfernung   mit   Jochbein, 
unterem  Augenhöhlenrand 
und    vorderer  Wand   des 
Antr.  Highmori.    Plastik. 

20.  10.  97 

Gesund      und 
ohne  Recidiv 
(musste  noch 
Lidplastik  fol- 
gen). 

24 

58  J.  m. 

Oberes  r.  Augenlid, 
Stirn   und  Schläfe 
(Bulbus   noch   frei 
beweglich    u.  oph- 
thalmoskopisch nor- 
mal). 

13.  1. 98 

Entfernung  mit  einem  Theil 
des  Stirnbeins,  der  äusse- 
ren Orbital  wand  und  des 
Os  zygomatic.     Plastik. 

10.  2.  98 

Bisher  gesund 
(Recid.  even- 
tuell  zu   er- 
warten ,      da 
Pat.  sich  den 
Bulbus  nicht 
fortnehmen 
liess). 

Von  diesen  24  Fällen  starben  unmittelbar  nach  der  Operation, 
d.  h.  im  Verlauf  der  ersten  8  Tage,  2  Patienten;  beide  über 
60  Jahre  alt.  Die  übrigen  wurden  geheilt  entlassen  und  sind  bis 
auf  4  weitere  noch  heute  gesund  und  ohne  Recidiv.  Von  den 
letzten  4  ist  der  eine  vor  1  Jahr  gestorben,  er  hatte  ein  locales 
Recidiv;  zwei  sind  an  intcrcurrenten  Krankheiten  verstorben  und 
von  der  einen  Patientin  habe  ich  keine  Nachricht  erhalten  können. 
Die  übrigen  18,  von  denen  6  ganz  besonders  ausgedehnte  Tumoren 
hatten,  die  gerade  die  grössten  Operationen  durchgemacht  haben, 
leben  und  sind  recidivfrei.  Bei  den  meisten  von  diesen  6  liegt 
die  Operation  4 — 5  Jahre  zurück,  wie  bei  der  einen  Patientin,  die 
ich  Ihnen  jetzt  zeigen  möchte. 

Aus  der  Anamnese  ist  folgendes  hervorzuheben: 
Die  damals  52 jährige  Frau,  —  sie  wurde  im  Juni  93  von 
Herrn  Prof.  v.  Bramann  operirt  —  war  hereditär  nicht  belastet 
und  im  Wesentlichen  gesund  gewesen.  Seit  ihrem  15.  Lebens- 
jahre hatte  sie  „eine  Flechte"  auf  der  rechten  Backe  und  vor 
dem  rechten  Ohre,  die  ganz  langsam  an  Grösse  zunahm  und  bis 
zum  30.  Jahre  etwa  die  Grösse  eines  Markstückes  erreicht  hatte. 
Bisher  war  die  Flechte  völlig  trocken  gewesen,  jetzt  fing  sie  an 
zu    nässen.     Die   Frau    begab    sich   in   Behandlung   verschie<lener 


?16 


t)r.  U.  Grc 


Aerztc,  die  Iheil»  mit  Salben,  thcils  mit  innerlichen  Mitteln  die 
Flechte  zu  beseitigen  suchten.  Doch  halfen  alle  diese  Verordnungen 
nichts,  die  Flechte  wuchs  langsam  weiter.  Seit  4  Jahren,  also 
seit  dem  48.  Lebensjahre,  hatte  Patientin  ein  rascheres  Waehs- 
thuin  der  Flechte  bemerkt,  die  jetzt  Wülste  und  Erhabenheiten 
bildete,  stinkendes  Secret  absonderte  und  zeitweise  Schmerzen 
verursachte.  Seit  1  Jahr  sind  die  Bewegungen  des  rechten  Auges 
behindert,  und  vor  kurzer  Zeit  war  Blindheit  eingetreten, 

Fig.  1. 


So  kam  die  Frau  endlich  nach  der  Klinik. 

Den  Status  gehen  Ihnen  einige  Photographien  ^).  Sie  er- 
sehen daraus,  dass  es  sich  um  einen  handtellcrgrossen,  flächcnhaft 
ausgebreiteten,  unrcgelmassig  höckerigen  Tumor  handelte,  der  fast 
die  ganze    rechte  Gesichtshälfte    einnahm.     Es  war   ein  Carcinom, 

Aussebeu    der   Patientin    vor   und    nach    der 


Uebcr  die  operative  tntfernung  aiisgedelinter  Gesichlscarcitionie.      717 

das    entstanden  war    auf   einem  Lupus    und    das   das    rechte  Ohr 
völlig  zerstört  und  auf  das  rechte  Auge   übergegrilTun  hatte. 

Am  21.  Juni  1893  wurde  dio  Entfernung  des  Tumors  vür- 
genemmen:  Dabei  Ausräumung  der  Orbita  nacli  Enuclcatio  bulbi. 
Fortnahme  des  Jocbbogens,  der  vorderen  und  seitlichen  Wand  des 
Antr.  Highmori,  der  untern  und  äussern  Wand  der  Orbita,  sowie 
eines  Theils  der  obem,  Entfernung  des  Sinus  frontalis  bis  auf  die 

Fig.  2. 


hinlere  Wand;  Fortfall  des  äussern  Oliro.s  nclist  di'U  umgebenden 
Knochenpartien,  so  dass  das  Trommeifoll  in's  Niveau  der  Wunde 
kommt,  Fortnahme  des  Proc.  mastoideus  und  der  angrenzenden 
Knochentlicile  bis  auf  das  Kiefergclonk.  Die  Dura  wird  an  zwei 
Stellen  bloss  gi'legt.  luipjantutinn  von  Knochenstiickchen ,  die 
durch  Zusammenziehen  der  Wundränder  bedeckt  werden  und  auf 
diese  Weise  Verkleinerung   des  Defectes,    der  später   transplantirt 


718  Dr.  ü.  Grosse,  Ueber  die  operative  Entfernung  etc. 

wird.  Sorgfältige  Entfernung  aller  Drüsen  am  und  unter  dem 
Kiefer. 

Am  Rande  der  ehemaligen  Wunde  finden  sich  einige  Jahre 
später  noch  Lupusknötchen,  die  noch  mehrmals  durch  Kauteri- 
sation entfernt  werden  —  zum  letzten  Mal  vor  8  Monaten. 

Seit  5  Jahren  ist  die  Patientin  ihr  Leiden  los  und  hat  sich 
sehr  erholt. 

Im  Anschluss  an  diesen  vorgestellten  Fall  wurden  noch  einige 
weitere  besprochen,  von  denen  Photographien  herumgezeigt  wurden, 
auf  die  des  Näheren  einzugehen  ich  mir  noch  vorbehalte. 


XLV. 

Ueber  Oesophagus-ßesection  und 
Oesophagoplastik/) 

Von 

Professor  Dr.  C*  Garre 

in  Rostock. 


Nach  einer  im  verflossenen  Jahre  erschienenen  Arbeit  von 
Xarath  ist  bisher  in  der  Literatur  nicht  mehr  als  über  10  Fälle 
von  Oesophagusresection  berichtet.  In  all'  den  Fällen  hat  aber 
weniger  die  Wegnahme  des  erkrankten  Theiles  des  Oesophagus, 
als  vielmehr  die  nachherige  Wiederherstellung  des  Schlundrohres 
den  Operateuren  Schwierigkeiten  bereitet.  Ausnahmslos  wurde  die 
Halshaut  zur  Plastik  benutzt,  sei  es,  dass  gestielte  Lappen  einen 
Theil  der  exstirpirten  hinteren  Schlundwand  ersetzen  mussten  — 
oder  dass  Halshautlappen  von  beiden  Seiten  her  thürflügelfönnig 
umschlagen  wurden  zur  Bildung  des  Oesophagus.  Nur  in  einem 
Falle  gelang  es,  die  resccirten  Theile  so  weit  zu  mobilisiren 
(Narath),  dass  sie  durch  die  Naht  vereinigt  werden  konnten; 
aber  auch  hier  musste  die  vordere  Speiseröhrenwand  durch  Lappen 
aus  der  Halshaut  gebildet  werden. 

Ich  hatte  dreimal  Gelegenheit,  grössere  Theile  des  Oesophagus 
zu  reseciren.  In  allen  Fällen  handelte  es  sich  um  Carcinom,  und 
alle  drei  Fälle  haben  den  operativen  Eingriff  gut  überstanden. 

Beim  ersten  Patienten  (52  jährige  Frau)  sass  ein  ringförmig 
stricturirendes  Carcinom    am  Eingang    in    den  Oesophagus.     Nach 

>)  Abgekürzt  vorgetragen  am  4.  Sitzungstage  des  XXVII.  Congrcsses  der 
Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  16.  April  1898.  —  Ausführliche 
Arbeit  s.  Beiträge  zur  klinischen  Chirurgie. 


720  Dr.  C.  Garre, 

der  vorausgeschickten  Oesophagolomie  gelang  es,  durch  Verlänge- 
rung des  Schnittes  am  Rande  des  M.  sterno-cleido  das  Carcinora, 
unter  Erhaltung  des  Kehlkopfes  zu  exstirpiren.  Eine  schmale 
Sclilcimhautbrücke  blieb  an  der  Resectionsstelle  noch  stehen.  Nach- 
dem die  Wundverhältnisse  durch  gute  Granulation  sich  consolidirt 
hatten,  wurde  ein  Theil  der  hinteren  Oesophagusvvand  durch  einen 
gestielten  Lappen  aus  der  Halshaut  gebildet,  ähnlich  wie  es  Mi- 
kulicz in  einem  Falle  gemacht  hat.  Recidiv  trat  nach  einigen 
Monaten  auf,  dem  der  Patient  ca.  1  Jahr  nach  der  Operation 
erlag. 

Beim  nächsten  Falle  war  das  Speiseröhrencarcinom  in  die 
Platte  des  Ringknorpels  hineingewuchert,  der  Kehlkopf  musste  mit 
exstirpirt  werden,  aber  vom  Oesophagus  konnte  ein  2  cm  breiter 
Streifen  der  Hinterwand  stehen  bleiben,  während  der  Rest  auf  eine 
Länge  von  5  cm  resccirt  wurde.  Durch  Vernarbung  der  tampon- 
nirten  Wundflächen  legte  sich  die  Halshaut  zu  beiden  Seiten  an 
die  schmale  Schleimhautbrücke  an  und  so  entstand  eine  Halbrinne, 
die  plastisch  bis  auf  eine  Lücke  zur  Einführung  der  Schlundsondc 
10  Wochen  nach  der  Resection  durch  Thürflügellappen  aus  der 
Halshaut  und  Verschiebung  von  Halshautlappen  über  dieselben  ge- 
schlossen wurde  (Methode  Hochenegg). 

Im  letzten  Falle,  den  ich  vor  einigen  Monaten  operirt  habe, 
bin  ich  in  der  Weise  vorgegangen,  dass  ich  die  gesunde  Kehlkopf- 
schleimhaut ausschälte,  um  sie  zur  Bildung  des  neuen  Schlund- 
rohres zu  benutzen.  Dieser  Schleimhauttubus  ist  und  blieb  sehr 
gut  vascularisirt;  er  erwies  sich  als  ein  vorzügliches  Material  zur 
Plastik,  so  dass  ich  in  entsprechenden  Fällen  wieder  dasselbe  ver- 
wenden würde.  Ich  will  im  Folgenden  in  aller  Kürze  die  be- 
trefifende  Kranken-  und  Operationsgeschichte  skizziren, 

Janker,  Minna,  28  Jahre  alt,  leidet  seit  Anfang  September  1897  an 
Schluckbeschwerdcn,  sie  vermochte  feste  Kost  nicht  so  gut  zu  schlingen  wie 
früher.  Nach  einem  Wochenbett  Ende  September  nahmen  die  Schling- 
beschwerden erheblich  zu  —  sie  konnte  fast  nur  flüssige  Kost  zu  sich  nehmen; 
eingeweichtes  Brod  müsse  sie  fest  mit  der  Zunge  anpressen,  sonst  blieb  es 
stecken.  Kein  Erbrechen,  keine  Schmerzen  beim  Schlucken,  zunehmende  Ab- 
magerung. Beim  Sondiruugsversuch  stösst  man  12  cm  hinter  der  Zahnreihe 
(also  hinter  dem  Kehlkopf)  auf  ein  unüberwindliches  Hinderniss;  selbst  die 
dünnsten  ürethralbougies  lassen  sich  nicht  einführen.  Beim  Touchiren,  mit 
Gegendrängen  des  Kehlkopfs  stösst  der  Finger  auf  eine  derbe  Resistenz,  die 


(Jeber  Oesophagus-Resection  und  Oosophagoplastik.  721 

dem  Anfangstheil  des  Oesophagus  angehört.  Laryngoskopisch  ausser  leicht 
angeschwollenem  Aryknorpel  nichts;  kein  Tumor  sichtbar.  Palpation  von 
aussen  ist  ergebnisslos. 

Diagnose:  ringförmiges  hartes  Carcinom  im  Anfangstheil  des  Oesophagus. 

13.  Jan.  98.  Oesophagotomie  dicht  oberhalb  des  Jugulum  an  der 
linken  Halsseite.  Vom  Oesophagus  aus  ist  ein  harter  kleiner  Tumor  zu  fühlen, 
der  für  eine  Sonde  No.  6  durchgängig  ist.  Oesophagusfistel  angelegt.  —  Unter 
guter  Ernährung  mit  der  Schlundsonde  durch  die  Oesophagusfistel  nimmt  die 
Patientin  zu. 

2.  Febr.  Resection  des  Oesophagus.  Exstirpation  des  La- 
rynx  mit  5  Tracheairingen.  Längsschnitt  am  vorderen  Rande  des  Sterno- 
kleido.  Grosse  Gefässe  nach  aussen  gezogen ;  Oesophagus  von  der  Wirbelsäule 
stumpf  abgelöst;  quere  Abtrennung  des  Oesophagus  vom  Pharynx.  Beim  Ver- 
such, den  Oesophagus  von  der  Trachea  und  der  Cartilago  cricoidea  abzulösen, 
zeigt  sich  die  hintere  Trachealwand  vom  Carcinom  auf  eine  Länge  von  ca.  5  cm 
durchwachsen.  Die  Trachea  muss  also  resccirt  werden.  Nach  vorgängiger 
tiefer  Tracheotomie  wird  unterhalb  des  4.  Ringes  die  Luftröhre  abgetrennt  und 
sogleich  in  ihrem  Querschnitt  dicht  oberhalb  der  eingelegten  Canüle  durch  die 
Naht  fest  verschlossen  nach  submucöser  Ausschalung  des  5.  Tracheairinges. 
Der  rechte  Schilddrüsenlappen  ist  carcinomatös  infiltrirt,  er  wird  mit  der  Tra- 
chea weggenommen.  Da  eine  Wiederherstellung  der  Continuität  der  Trachea 
bei  so  grossem  Defect  unmöglich  ist,  wird  der  Kehlkopf  für  die  Kranke  dauernd 
ausser  Function  bleiben.  Er  ist  nutzlos  und  wird  mit  exstirpirt.  Die  Schleim- 
haut des  ganzen  Kehlkopfs  bleibt  mit  der  Epiglottis  in  Continuität  erhalten 
und  wird  zur  plastischen  Deckung  des  Oesophagusdefectes  verwendet  und  zwar 
so,  dass  die  Schleimhaut  der  Gegend  der  Aryknorpel  durch  Nähte  mit  dem 
Pharynxende  (obere  Rescctionsstelle)  vereinigt  und  der  Oesophagusstumpf  mit 
der  ausgeschälten  subglottischen  Schleimhaut  vernäht  wird.  [Die  nähere  Er- 
klärung geschieht  an  der  Hand  einer  schematischen  Tafelzeichnung.] 

Nun  wird  die  ursprünglich  röhrenförmige  Kehlkopfschleimhaut  vorn  bis  zur 
Basis  der  Epiglottis  geschlitzt,  so  dass  nach  deren  Fixirong  durch  die  Naht 
am  Oesophagus  die  neugebildete  Speiseröhre  vorn  offen  bleibt.  Der  Rest  der 
Wunde  wird  tamponnirt. 

Trotzdem  am  10.  Tage  die  unteren  Fixationsnähte  durchschnitten,  wich 
der  transplantirte  Schleimhautlappen  nur  2Y2  c™  weit  zurück.  Die  Lücke 
wurde  später  leicht  durch  Thiersch'sche  Hautläppchen  gedeckt. 

Im  Uebrigen  heilte,  abgesehen  von  einer  mehrtägigen  Fieberperiode,  in 
Folge  mediastinaler  Eitersenkung  die  mächtige  Wunde  gut.  2  Monate  nach 
der  Exstirpation  konnte  die  tiefe,  mit  Kehlkopfschleimhaut  ausgekleidete  Rinne 
in  einfachster  Weise  zum  Canal  gevSchlossen  werden,  durch  den  eine  finger- 
dicke Sonde  leicht  passirte. 

Die  Kohlkopfschleimhaut  blieb  auch  an  ihrem  neuen  Bestimmungsort,  da 
der  Nerv,  laryng.  sup.  bei  der  Operation  geschont  worden  war,  normal  em- 
pfindlich, selbst  Berührungen  lösten  Hustenreiz  und  Hustenparoxysmen  aus. 
So  blieb  es  nur  zunächst  fraglich,  ob  beim  Schlucken,  wenn  Flüssigkeiten 


722      Dr.  C.  Garre,  Ueber  Oesopliagus-Resection  und  Oesophago plastik. 

oder  Speisen  diese  Theile  passiren,  nicht  auch  ein  schwer  zu  bekämpfender 
Hustenreiz  auftreten  würde  und  event.  die  nachträgliche  Aufsuchung  und  Durch- 
schneidung  des  N.  laryng.  sup.  nothwendig  machen  würde.  Die  Sorge  war 
unbegründet.  Die  Kranke  schluckt  Flüssigkeiten,  ohne  dass  Hustenreiz  aus- 
gelöst wird  und  die  Schlundsonde  wird  ebenfalls  ganz  gut  vertragen. 

Dieser  Fall  von  gelungener  Plastik  beweist,  dass  die  Kehl- 
kopfschleiraha\it  sehr  wohl  zura  plastischen  Ersatz  eines  Theiles 
des  Oesophagus  verwendbar  ist;  selbst  in  den  Fällen,  wo  nur  die 
Seitentheile  der  Larynxschleimhaut  noch  verwendbar  sind,  lassen 
sich  dieselben  sehr  wohl  zura  mindesten  zur  Bildung  der  hinteren 
Speiseröhrenwand  gebrauchen. 


XLVI. 

lieber  Rectoscopie  und  einige  kleinere 
operative  Eingriffe  im  Rectum.'^ 

Von 

Dr.  S,  T.  Fedoroir, 

I.  Assistent  an  der  ehinirgiscben  Faknltfttsklinik  Ton  Prof.  Bobrow- Moskau. 


M.  H.!  Im  Jahre  1895  war  die  Arbeit  von  Kelly  über  die 
Rectoscopie  erschienen,  eine  neue  üntersuchungsmethode,  auf  deren 
Möglichkeit  vielleicht  schon  im  Jahre  1889  von  Otis  hingewiesen 
wurde.  Meine  eigenen  Erfahrungen  über  diese  Untersuchungs- 
methode die  im  Anfange  1896  beendigt  waren,  sind  aber  ohne  Be- 
rücksichtigung der  Kelly'schcn  Arbeit  gemacht  worden,  weil  mir 
dieselbe  damals  noch  nicht  bekannt  war. 

Die  Rectoscopie  als  Untersuchungsmethode  beruht  auf  der 
Möglichkeit,  gerade,  unbiegsame,  bis  40  cm  lange  Tuben  ins 
Rectum  und  noch  höher  in  die  Flexura  sigmoidea  einzuschieben. 
Wie  es  mir  aber  meine  Leichenexperimente  zeigten,  ist  es  bis  jetzt 
nicht  gelungen  ein  gerades  Rohr,  ob  es  noch  ein  leicht  federndes 
oder  ein  unbiegsames  Ende  besitzt,  über  den  unteren  Theil  der 
Flexura  zu  schieben.  DavS  Instrument  passirt  nie  die  Flexur,  und 
die  Länge  des  eingeschobenen  Thciles  des  Tubus  hängt  nur  von 
der  Beweglichkeit  derselben,  also  von  der  Länge  des  Meso- 
sigraoideums,  ab.  Auf  der  Abbildung,  die  einen  Frontalschnilt 
durch  eine  gefrorene  Leiche  darstellt,  kann  man  die  Verhältnisse 
des  bis  in  die  Gegend  des  linken  Epigastriums  eingeführten 
40  cm  langen  Rectoscops  zu  den  Bauchorganen  sehen. 


*)  Abgekürzt  vorgetragen  am  8.  Sitzungstage   des  XXVII.  Congresses  der 
Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  15.  April  1898. 


724  Dr.   J.  V.  Fedoroff, 

Meine  Rectoscopo  bestehen  aus  4  Röhren  von  Metall  von  ver- 
schiedener Länge  und  Stärke,  von  denen  eins  photographischen 
Aufnahmen  im  Rectum  angepasst  ist.  Die  Obturatoren  zu  den 
Tuben  sind  jetzt  auch  aus  Metall  angefertigt.  Das  Anbringen 
eines  Handgriffes  zu  den  rectoscopischen  Tuben,  wie  es  zum  Bei- 
spiel bei  den  Rectoscopen  von  Herzstein  gemacht  ist,  hat  keinen 
Zweck  und  macht  das  Instrument  nur  schwerer  und  zu  plump. 

Die  Tuben  werden  durch  besondere  Zwischenstücke  mit  dem 
Gas  per 'sehen  Panelectroscop  verbunden,  welche  an  ihrer  ganzen 
unteren  Peripherie  einen  Ausschnitt  besitzen.  Dadurch  ist  die 
Möglichkeit  gegeben,  das  Innere  des  Darmes  auszuspülen  oder  aus- 
zutupfen  ohne  die  Besichtigung  selbst  zu  unterbrechen.  Das  ab- 
fliessende  Wasser  benetzt  auch  nicht  die  Hände  des  Operateurs, 
selbstverständlich,    wenn    nur    nicht    zu    ungestüm    gespült    wird. 

Eine  schräge  Oeffnung  am  Ende  des  Rectoscops  ist  meiner 
Ansicht  nach  auch  ganz  überflüssig.  Zum  Operiren  benutze  ich 
lange  galvanokaustisch  Schlingen,  Brenner  und  Zangen.  Die  Zangen 
sind  derart  construirt,  dass  sie  zerlegbar  sind  und  eine  jede  Branche 
derselben  dann  auch  als  scharfer  Löffel  dienen  kann. 

Nach  vorläufigem  Klysma  und  Einführung  des  Rectoscopes 
wird  die  Höhle  des  Rectums  mit  Tupfern  nochmals  gereinigt  und 
dann  mit  electrischer  Stirn-  oder  Handlampe  beleuchtet.  Die 
Bilder  im  Rectum  und  der  Flexura,  die  kaum  an  Klarheit  noch 
etwas  zu  wünschen  übrig  lassen,  können  uns,  wie  diese  Ab- 
bildungen hier  zeigen,  ganz  gut  über  die  Natur  der  Erkrankung 
im  Darme  informircn. 

Ausserdem  giebt  die  Rectoscopie,  worüber  ich  auch  etwas 
ausführlicher  sprechen  will,  die  Möglichkeit,  den  Sitz  und  die  Aus- 
dehnung des  pathologischen  Processes  im  Darme  zu  bestimmen, 
Stücke  zur  mikroskopischen  Diagnose  von  den  höchsten  Partieen 
des  Rectums  und  der  Flexura  zu  nehmen,  endlich  kleinere  Opera- 
tionen, wie  Auslöffelungen  oder  Abtragungen  von  Polypen  u.  s.  w. 
vorzunehmen. 

So  konnte  bei  einem  45jährigen  Mann,  der  ein  noch  operir- 
bares  Carciiiom  des  Afters  hatte,  ein  kleines  Geschwür  auf  einer 
Höhe  von  25  cm  vom  Orificium  ani  entfernt,  bei  völlig  intacter 
Schleimhaut  der  anderen  Partieen  des  Darmes  mittelst  des  Rectoscops 
nachgewiesen    und    darum    von    der    Exstirpation    der  Geschwulst 


Ueber  Rcctoscopu?  und  einige  kleinere  operative  Eingriffe  im  Kectum.     725 

Abstand  genommen  werden.  Ein  zur  mikroskopischen  Unter- 
suchung genommenes  Stückchen  des  Geschwürs  bestätigte  seine 
carcinomatöse  Natur. 

In  zwei  anderen  Fällen  bei  einem  30jährigen  Mann  und  einer 
22jährigen  Frau  konnten  die  oberen  Grenzen  der  Geschwülste 
(Carcinome),  die  dem  Finger  unzugänglich  waren,  sowie  auch  die 
Grösse  resp.  x\usdehnung  der  letzteren  genau  mit  dem  Rectoscop 
bestimmt  werden. 

In  noch  anderen  Fällen  konnten  bei  massig  ausgeprägten 
polypösen  Catarrhen  in  Rectum  und  Flexura ,  kleine  polypöse 
Wucherungen,  auf  verschiedene,  bis  30  cm,  Entfernung  ab  orificio 
ani,  geätzt,  abgequetscht  oder  abgebrannt  werden. 

Auch  grössere  Tumoren  können  mit  Hülfe  des  Rectoscops 
unter  fortwährender  Gontrole  des  Auges  leicht  operirt  werden. 

Ein  Mann  von  28  Jahren  klagt  über  schweren  Stuhl  seit  ein  Paar  Jahren 
und  von  Zeit  zu  Zeit  aus  dem  Rectum  hervortretende  massige  Blutungen.  Hat 
auch  ein  Gefühl  von  Drängen  und  Schwere  im  Kreuzbein.  War  schon  bei 
einigen  Aerzten,  die  innere  Hämorrhoiden  constatirten  und  verschiedene  ad- 
stringirende  Clysmata  vorschrieben.  Aber  alle  solche  Maassnahmen  halfen 
wenig. 

Bei  der  Hectoscopie  konnte  ich  einen  Pflaumengrossen  Schleimhautpolyp 
constatiren,  der  auf  einer  Höhe  von  etwa  10  cm  entfernt  ab  orificio  ani  ge- 
stielt aufsass  und  mit  einer  galvanokaustischen  Schlinge  sofort  entfernt  wurde; 
dabei  kleine  Blutung.  Da  ausser  dem  Polypen  ein  ziemlich  ausgeprägter 
CataiTh  der  Rectalschieimhaut  gefunden  war,  wurden  dem  Kranken  Dermatol- 
clysmata  verordnet.  Nach  etwa  1^/2  Monaten  konnte  der  Kranke  für  gesund 
erklärt  worden. 

Im  zweiten  Falle,  bei  einem  23jährigen  Fräulein,  das  über  Tenesmen 
und  Blutverlust  bei  der  Delacation  klagte  und  mit  der  Diagnose  eines  Polypus 
recti  zu  mir  kam,  konnte  auch  ein  solcher,  6  cm  vom  Orificium  ani  entfernt 
mit  dem  Rectoscop  nachgewiesen  werden.  Der  Tumor,  der  etwa  Mandelgross 
war,  sass  auf  einem  kurzen  Stiel  und  wurde  ebenso  wie  im  ersten  Falle  mit 
der  galvanokaustischen  Schlinge  entfernt.  Die  Blutung  etwas  stärker.  Bei 
mikroskopischer  Untersuchung  erwies  sich  der  entfernte  Polyp  sarcomatös. 
Ich  selber  sah  die  Kranke  nicht  mehr  nach  der  Operation,  habe  aber  noch 
nach  4  Monaten  Nachricht  bekommen,  dass  die  Kranke  sich  von  ihrem  früheren 
Leiden  für  ganz  befreit  hält. 

In  einem  noch  interessanteren  Falle,  den  ich  vor  einem  Jahre  zu  beob- 
achten Gelegenheit  hatte,  handelte  es  sich  um  einen  36jährigen,  gut  gebauton 
Mann,  der  vor  etwa  2  Monaten  bei  sich  Blut  im  Stuhle  bemerkte  und  dadurch 
auf  kleine  schleimig-eitrige  Klumpen,  die  sich  fast  bei  jedem  Stuhle  entleerten, 
aufmerksam  gemacht  wurde.  Bei  der  Rectoscopic  fand  ich  auf  einer  Höhe  von 

Archiv  fVr  klin.  Chirnrgie.    67.  Bd.  Heft  3.  ^^ 


726  Dr.  J.  V.  Fedoroff,  Uebcr  Hectoscopie  e^tc. 

15  cm,  also  etwa  am  Ucbergang  des  Rectums  in  die  Fiexura  ein  Markgrosses 
Geschwür  mit  flachem  mit  Eiter  bedecktem  und  schlecht  granulirendem  Grunde 
und  flacheft  und  unregelmässigen  Rändern.  Irgend  eine  stärker  ausgeprägte 
Infiltration  in  der  Nähe  des  Geschwürs  oder  noch  andere  Geschwüre  konnte 
ich  nirgends  constatiren.  Die  Schleimhaut  des  Darmes,  soviel  ich  sie  sehen 
konnte,  war  gcröthet,  aufgelockert,  hier  und  da  etwas  erodirt  und  mit  wenigen 
schleimig-eitrigen  Klumpen  bedeckt.  Weil  in  der  Anamnese  keine  Syphilis 
oder  irgend  welche  vorhergegangene  stärkere  Entzündung  der  Darmes  con- 
statirt  werden  konnte,  blieb  ich  bei  der  Diagnose  eines  tuberculösen  Geschwürs 
im  Rectum  obwohl  weder  in  der  Anamnese  irgend  welche  Anhaltspunkte  dazu 
waren,  noch  nachher  Tuberkelbacillen  im  »Secret  des  Geschwürs  gefunden 
wurden. 

Nach  Reinigung  des  Rectums  mittelst  Clysma,  schabte  ich  das  Geschwür 
mit  scharfem  Löffel  aus,  ohne  beim  Kranken  zu  grosse  Schmerzen  hervorzu- 
rufen. Die  ziemlich  starke  Blutung  w^urde  durch  Compression  mit  Watte- 
bäuschen gestillt  und  die  Wunde  danach  mit  Jodoformpulver  bestreut. 

Die  folgende  Therapie  bestand  aus  Spülungen  des  Rectums  mit  warmem 
Wasser  und  Dermatolclysmata.  Das  Geschwür  selbst  wurde  zwei-  bis  dreimal 
wöchentlich  mit  Hülfe  des  Rectoscops  mit  Tupfern  gut  gereinigt  und  mit  etwas 
Jodoform  bestreut.  Es  wurden  auch  Aetzungcn  mit  Arg.  nitricum  in  Substanz 
ebenfalls  durch  das  Rcctoscop  vorgenommen.  Das  Geschwür  fing  an  gut  zu 
granuliren  und  verkleinerte  sich  in  3  Wochen  fast  bis  zu  einem  20-Pfennig- 
grossen  Stück.  Leider  verlor  ich  den  Kranken  aus  dem  Gesicht,  weil  er  wegen 
Geschäfte  die  Stndt  verlassen  musste. 

Schon  aus  dieser  kleinen  Zahl  der  von  rair  aufgeführten  That- 
sarhon,  können  Sie  sich.  m.  H.,  über  die  Nützlichkeit  der  Recto- 
scopie,  nicht  nur  zur  Stellung  in  verschiedenen  Richtungen  exacter 
Diagnose,  sondern  auch  für  einige  kleinere  Operationen  im  Rectum, 
die  anders  schwer  oder  sogar  unmöglich  auszuführen  sein  würden, 
ein  richtiges  Urtheil  machen. 

Noch  will  ich  darauf  aufmerksam  machen,  dass  die  Unter- 
suchungen des  Rectums  mit  den  Rectoscopen  von  den  Kranken 
entschieden  besser,  als  mit  verschiedenen  Arten  von  Specula  ver- 
tragen werden. 


XLVII. 

Ueber  Craniectomieen  nebst  einigen 

Betrachtungen  über  die  Heilung  grosser 

Operationsdefecte  am  Schädel/) 

Von 

Hr.  Jf.  w.  FedorolTi^ 

I.  Assistent  an  der  ehirargisehen  Fakiilttttsklinik  von  Prof.  Bobrow-Moskau. 


M.  H.!  Es  ist  eine  alte  Sache,  die  Trepanation,  die  docli 
immer  noch  neu  bleibt  und  der  in  den  letzten  Jahren  besonders 
grosse  Aufmerksamkeit  von  den  Chirurgen  gewidmet  wird.  Alt 
bleibt  das  Bohren  eines  Loches  im  Schädel,  neu  sind  aber  die 
Kenntnisse  in  der  Pathologie  der  Schädelkrankheiten,  die  Maass- 
nahmen  um  die  letzteren  zu  beseitigen,  endlich  die  Technik  und 
die  Indicationen  zur  Trepanation,  oder,  besser  gesagt,  zu  der 
Schädelresection. 

Die  moderne  Chirurgie  muss  schon  jetzt  zwei  ganz  ver- 
schiedene Operations  verfahren  an  den  Schädelknochen,  als  zwei  be- 
sondere Typen  auffassen:  erstens,  die  ausgedehnten  temj)orären 
Resectionen  am  Schädel,  die  einen  breiten  Weg  in's  Cavum  cranii 
gestatten  und  von  denen  ein  Theil,  als  Probecraniotomieen  ana- 
log den  Probelaparotoniieen  aufgefasst  werden  kann,  zweitens 
—  alle  Resectionen  wo  Theile  von  erkrankten  Schädelknochen  mit- 
weggenommen werden  müssen  —  die  Craniectomieen. 

Wenn  nun  die  ersteren,  die  Craniotomieen,  an  sich  selbst,  ein 
verhältnissmässig  einfacheres  und  für  den  Kranken  weniger  gefähr- 
liches Verfahren    darstellen,   sind    schon    die    Craniectomieen,    be- 


^)  Abgekürzt  vorgetragen  am  4.  Sitzungstagc  des  XXVII.  Congrcsses  der 
Deutseben  OeseHschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  16.  April  1898. 

48* 


^28  l)r.  J.  V.  Pedoroff, 

sonders    wo    grosse    Stücke    des    Schädeldaches    entfernt    werden 
müssen,  eine  für  das  Leben  des  Patienten  ernste  Operation. 

Die  meisten  der  Craniectomicen,  die  in  der  antiseptischen 
Aera  ausgeführt  wurden,  hatten  das  Ziel,  irgend  eine  bösartige, 
innig  mit  dem  Knochen  verwachsene  Gesehwulst  zu  entfernen  und 
was  die  Literatur  anbetrifft,  so  konnte  ich  nur  gegen  30  Fälle, 
wo  die  Exstirpation  des  Tumors  beendigt  war  und  der  Knochen- 
defect  dabei  mindestens  6  cm  im  Diameter  hatte,  mit  einer 
Mortalität  von  etwa  28  pCt.,  auffinden.  Damm  scheint  es  mir 
auch  nicht  überflüssig  zu  sein,  meine  Fälle  von  ausgedehnten 
Craniectomicen  der  geehrten  Versammlung  vorzuführen. 

Der  erste  Fall  betrifft  einen  18jährigen  jungen  Mann,  bei  welchem  in 
etwa  5  Monaton  ein  fauslgrosser  Tumor  in  der  Gegend  des  rechten  Scheitel- 
beins ohne  irgend  welche  llirnsymptome  gewachsen  war.  Es  wurde  die 
Diagnose  eines  Knochensarcoms  gestellt  und,  während  der  Operation,  nach 
Freilegung  des  Tumors,  derselbe  in  Grenzen  des  gesunden  Knochens  mit  der 
D ah Igren' sehen  Knochenzange  und  ein  Paar  Meisselsch lägen  in  etwa  zehn 
Minuten  entfernt.  Die  ziemlich  starke  Blutung  durch  Tamponnade  gestillt. 
Da  die  Geschwulst  auch  mit  der  Dura  etwas  verwachsen  war,  so  excidirte  man 
ein  etwa  20 Pfenniggrosses  Stück  derselben.  Naht  der  Dura  und  der  Haut. 
Prima  intentio.  Nach  3  Wochen  gesund  nach  Hause  entlassen.  Der  Defect  des 
Schädeldaches  betrug  10  X 12  cm. 

Nach  6  Monaten  Recidiv  an  der  Stelle  der  ersten  Operation.  Der  Tumor 
war  noch  grosser,  als  früher,  war  aber  auch  dieses  Mal  ohne  irgendwelche 
Hirnsymptome  gewachsen. 

Zweite  Operation:  Der  Tumor  wurde  mit  zwei  bogenförmigen  Schnitten 
bis  auf  den  gesunden  Knochen  umschnitten,  und  derselbe,  theils  mit  Kreis- 
säge, theils  mit  Meissel  durch  trennt.  Die  Geschwulst  war  dieses  Mal  fast  auf 
ihrer  ganzen  inneren  Peripherie  mit  der  Dura  und  im  Bezirke  der  Präcentral- 
windung  mit  dem  Gehirn  verwachsen,  so  dass  sie  in  grosser  Ausdehnung  mit 
excidirt  werden  musstc.  Die  Operation  dauerte  etwa  35  Minuten  unter  fort- 
währender starker  Blutung,  die  zuletzt  gerade  enorm  wurde.  Nach  einer  halben 
Stunde  nach  der  Operation  konnte  der  Kranke  noch  einige  Worte  sprechen,  — 
dann  Bewusstlosigkeit  und  Tod  3  Stunden  nach  der  Operation.  Grosse 
Anämie  der  inneren  Organe.  Die  Grösse  des  Schädeldefectes  nach  der  Operation 
war  15x14  cm. 

Zweiter  Fall:  Priester,  25  Jahre  alt,  kommt  wegen  eines  pflau mengrossen 
Tumors  in  der  Gegend  der  rechten  Stirnhöhle,  welcher  nach  einem  Trauma  in 
etwa  3  Monaten  herangewachsen  war.  Diagnose :  Sarcom,  wahrscheinlich  der 
rechten  Stirnhöhle. 

Operation :  Nach  dem  Anlegen  von  4  Bohrlöchern  an  den  Ecken  des  zum 
Reseciren  bestinunten  Knochenstückes,  Heraussägen  mit  der  electrischen  Kreis- 
säge.  Sehr  starke  Blutunsr.   Der  Knochen  wird  aber  schnell  entfernt  und  dann 


Ueb.  Cianiectomie  u.  die  Heilung  grosser  Operation sdefecte  am  Schädel.      729 

die  Blutung  leicht  mit  Hakenpincetten  gestillt.     Die  Dura  mater  völlig  intact. 
Die  Grösse  des  rcsecirten  Knochens  GX^  cm.    Glatte  Heilung  per  primam. 

M.  H.,  bei  allen  solchen  Fällen  von  ausgedehnten  Craniec- 
toraieen  werfen  sich  hauptsäcbHch  folgende  Fragen  auf,  die  sich 
theils  an  die  Operation  selbst,  theils  an  die  Postoperationsperiode 
knüpfen. 

Wie  gross  die  Rescctionsdefecle  am  Schädeldach  und,  wenn 
nöthig,  auch  an  der  Dura  sein  können;  wie  dieselben  heilen  und 
ob  sie  nachher  später  durchaus  geschlossen  werden  müssen. 

Was  die  Grösse  der  Resectionsdefecte  anbetrifft,  so  scheint 
der  erste  von  meinen  Fällen  bis  jetzt  in  dieser  Hinsicht  der  Einzige 
zu  sein,  da  bei  der  zweiten  Operation  fast  die  ganze  rechte  Hälfte 
des  Schädeldaches  weggenommen  werden  musste.  Leider  starb  der 
Kranke  in  Folge  starker  Blutung  während  der  Operation.  Der 
nächste  nach  der  Grösse  des  resecirten  Knochen  kommt  der  Fall 
von  Delageniere,  wo  ein  Stück  Knochen  von  10x8  cm  mit 
einem  grossen  Theil  der  Dura  entfernt  wurde.  Der  Kranke  blieb 
am  Leben.  Die  Grösse  der  von  anderen  Operateuren  resecirten 
Knochen  schwankt  zwischen  6 — 9  cm  im  Diameter. 

Wie  schon  von  mir  erwähnt  wurde,  ist  die  Mortalität  bei 
solchen  Resectionen  eine  ziemlich  beträchtliche,  besonders  wenn 
man  darauf  achtet,  dass  der  Tod  in  Folge  der  Operation  selbst 
und  wegen  starker  Blutung  eintritt.  Viele  namhafte  Chirurgen 
verloren  Kranke,  oder  konnten  wegen  Blutung  die  Resection  bei 
der  Entfernung  von  viel  kleineren  Tumoren,  als  die  hier  erwähnten, 
nicht  zu  Ende  führen. 

Es  ist  also  die  Blutung  während  der  Operation  die  erste 
Lebensgefahr  für  den  Kranken,  der  wir  vorzubeugen  haben.  Hier, 
mehr  als  irgendwo,  muss  man  schnell  und  sicher  operiren  und  ein 
dazu  geeignetes  Instrumentarium  besitzen.  So  lange  der  Knochen 
noch  nicht  entfernt  ist,  ist  die  Blutung  sehr  stark,  noch  stärker 
wird  sie  beim  Abheben  des  Knochens  mit  der  Geschwulstmassc 
von  der  Dura  und  wird  bei  der  ümschneidung  der  letzten  in 
manchen  Fällen  geradezu  enorm.  Auch  hier  ist  es  nöthig,  die 
Dura  möglichst  schnell  mit  der  Scheere  herauszuschneiden.  Ist 
nun  der  Knochen  entfernt,  und  wenn  nöthig,  auch  die  Dura  her- 
ausgeschnitten, so  wird  man  der  Blutung  bald  Herr  durch  An- 
legung, am  besten  von  breiten  (besonders  dazu  geeigneten)  Ilaken- 


730  Dr.  .1.  V.  Fedoroff, 

pincctten  und  Compression  der  blutenden  Diploe  mit  Gaze.  Das 
Tamponniren  der  beim  Durch  trennen  des  Knochens  geraax^hten 
Schlitze  mit  Gaze  während  der  Operation  sehe  ich  als  eine  nur 
palliative  und  unsichere  Blutstillung  an.  Selbstverständlich  sind 
also  bei  solchen  Operationen  alle  langsam  arbeitenden  Knochen- 
instrumente, wie  Meissel  oder  Trepane  zu  verwerfen,  und  das 
beste,  was  uns  jetzt  bleibt,  sind  die  Kreissägen,  die  von  einem 
Klectromotor  getrieben  werden.  Es  ist  zwar  dabei  Gelegenheit  ge- 
geben, bei  schneller  Arbeit  die  Dura  hier  und  da  mit  der  Kreis- 
säge etwas  zu  schädigen,  aber  das  bleibt  eigentlich  ohne  Nachtheil 
für  den  Patienten. 

Bei  22  Resectionen  des  ganzen  oder  des  grössten  Theiles  des 
Schädeldaches  bei  Hunden,  habe  ich  nur  zwei  Thiere  verloren: 
beide  in  Folge  starker  Blutung  in  einigen  Stunden  nach  der 
Operation,  und  gerade  diese  zwei  wurden  mit  Meissel  und  Dahl- 
gren'scher  Knochenschcere  operirt,  während  alle  anderen,  die  am 
Leben  blieben  —  mit  der  Kreissäge.  Selbstverständlich  ist  der 
Blutverlust  grösser  bei  den  ausgedehnten  Schädelresectionen  als 
bei  den  kleineren,  wenn  auch  verschiedene  Blutversorgung  des 
Tumors  und  Circulationsstörungen  in  seiner  Nähe  im  Knochen  und 
der  Dura  nicht  ohne  Bedeutung  sind.  Die  momentane  Entblössuiig 
des  Gehirns  von  der  Dura,  auf  eine  grosse  Strecke,  ist  wegen 
des  dadurch  plötzlich  verschwindenden  Gehirndruckes  auch  als 
gefährliches  Unternehmen  anzusehen,  obwohl  in  der  Ijiteratur 
mehrere  Fälle  bekannt  sind,  wo  Stücke  von  der  Dura  ohne  "Nach- 
theil für  den  Patienten  von  3 — 5  cm  im  Diameter  und  sogar  hand- 
tellcrgross,  excidirt  waren. 

Was  meine  Experimente  darüber  anbetrifft,  so  resecirte  ich, 
wie  man  es  aus  den  pholographischen  Aufnahmen  sehen  kann,  in 
1()  Fällen  bei  Hunden  das  stanze  Schädeldach,  oder  die  beiden 
Hälften  des  letzteren  und  excidirt c  sofort  die  Dura  in  den  Grenzen 
des  Knochendefectes  bei  einigen  Thieren  auch  mit  dem  Sinus  lon- 
gitudinalis  zusammen.  Dann  wurden  Muskeln  und  Haut  über  dem 
entbl(')ssten  Gehirn  mit  Naht  vereinigt.  Die  Thiere  vertrugen  die 
Operation  ganz  gut  und  konnten  nach  (5  -  7  Tagen  als  gesund  an- 
erkannt werden.  Nach  8 — 4  Monaten  wurden  dieselben  getödtet 
und  die  gewonnenen   Präparate  untersucht. 


Ueb.  CraniectT)mie  u.  die  Heilung  grosser  Operationsdeffcte  am  Schädel.       731 

Makroskopisch  wurden  überall  lockerere  oder  derbererc  Ver- 
wachsungen des  Gehirns  mit  den  Muskeln  oder  der  Haut  gefunden. 

Mikroskopisch  fand  sich  immer  eine  Schicht  von  lockerem 
Bindegewebe  zwischen  dem  Gehirn  und  den  dasselbe  bedeckenden 
Weich theilen ;  die  subarachnoidealen  Räume  sahen  meistens  sehr  er- 
weitert aus  und  waren  von  grösserer  Anzahl;  die  Oberfläche  der 
Gehirnrinde  schien  etwas  degenerirt.  Wenn  die  Dura  nicht  ex- 
cidirt  wurde,  so  fanden  Verwachsungen  nur  zwischen  derselben 
und  der  Haut  statt.  Zwischen  Gehirn  und  Dura  konnte  man  in 
solchen  Fällen  niemals  Verwachsungen  oder  sogar  Verklebungen 
constatiren. 

Anderes  war  es,  wenn  die  Dura  irgendwie  verletzt  wurde  oder 
Ligaturen  oder  Nähte  an  derselben  angelegt  wurden.  Es  ent- 
standen dabei  immer  stärkere  oder  schwächere  Verwachsungen  des 
Gehirns  mit  der  Dura,  die  besonders  stark  waren  dort,  wo  Nähte 
oder  Ligaturen  angelegt  waren. 

Nach  allen  Schädelresectionen  ist  es  auch  von  Wichtigkeit, 
den  Schädeldefect,  wenn  möglich  auch  osteoplastisch,  zu  decken. 
Aber  eine  solche,  sir.h  sofort  an  die  Operation  anschliessende 
osteoplasti.sche  Deckung  des  Defectes  bei  Exstirpation  maligner 
Tumoren  ist  als  frühzeitig  anzusehen,  weil  man  während  gewisser 
Zeit  immer  an  ein  Recidiv  denken  muss.  Darum  bleibt  uns  eine 
Deckung  der  entblössten  Dura  oder  sogar  des  Gehirnes  nur  mit 
Weichtheilen  übrig.  Nun  ist  ein  solches  Verfahren,  wie  es  meine 
und  in  der  Literatur  schon  bekannte  Fälle  zeigen,  ohne  Bedenken 
vorzunehmen.  Der  erste  junge  Mann  konnte  während  etwa  vier 
Monaten  nach  der  Operation  alle  seine  schweren  Bauerarbeiten 
ganz  gut  verrichten.  Der  zweite,  der  Priester,  kann  jetzt  auch 
seinen  Dienst  verrichten,  ohne  irgend  welches  Unbehagen  wegen 
des  grossen  Defectes  im  rechten  Stirnbein  zu  fühlen. 

Ich  erinnere  mich  auch  an  einen  Bauer,  der  wegen  eines 
Trauma  am  Schädel  vor  etwa  22  Jahren  von  Prof.  Nowatzky- 
Moskau  operirt  war,  wobei  nach  der  Operation  ein  mehr  als  hand- 
tellergrosser  Defect  nachblieb,  der  fast  den  ganzen  linken  Stirn- 
knochen und  den  grössten  Theil  des  Scheitelbeins  einnahm.  Diesen 
Kranken  sah  ich  also  22  Jahre  nach  der  Operation.  Während 
dieser  Zeit   trug    er    niemals    eine  Prothese,  arbeitete  bis    zu   den 


732  Dr.  ,!.  V.  Fcdoroff,  l'ebcr  Craniectomie  etc. 

letzten  Jahren,  wo  er  schon  älter  und  schwächer  geworden  war, 
alles  Dasselbe  wie  die  Anderen,  und  klagte  nur  zeitweilig,  während 
schlechten  Weiters  über  Kopfschmerzen.  Die  Pulsation  des  Ge- 
hirns war  deutlich  an  der  Stelle  des  grossen  Schädeldefectes  zu 
bemerken.  Meine  Experimente  endlich,  wo  bei  Hunden  das  ganze 
Schädeldach  mit  der  Dura  zusammen  ohne  irgendwelche 
Störungen  im  folgenden  Leben  der  Thiere  entfernt  wurde,  stimmen 
mit  den  oben  erwähnten  klinischen  Erfahrungen  vollkommen 
überein. 

Wenn  ich  nun  die  klinischen  und  experimentellen  Erfahrungen 
über  die  Schädelresectionen  bei  malignen  Tumoren  zusammenfasse, 
so  komme  ich  zu  folgenden  Schlussfolgerungon : 

1.  Die  malignen  Geschwülste  des  Schädeldaches  müssen 
möglichst  weit  im  noch  völlig  gesunden  Knochen  exstirpirt  werden, 
wobei  auch  die  Dura,  wenn  sie  auch  nur  verdächtig  erscheint,  mit 
fortgenommen  werden  muss. 

2.  Die  Grösse  des  dabei  entstandenen  Schädeldefectes  und 
der  Dura  kann,  wenn  nöthig,  die  Hälfte  und  vielleicht  noch  mehr, 
des  Schädeldaches  betragen. 

3.  Solche  grosse  Defecte  können  lange  Zeit  nur  mit  Haut  be- 
deckt bleiben,  ohne  dem  Kranken  grosse  Gefahren  für  sein  Leben 
zu  verursachen  und  ihn  in  seiner  gewöhnlichen  Arbeit  zu  beein- 
trächtigen. 

4.  Muss  bei  der  Operation  dem  Blutverluste  die  grösste  Auf- 
merksamkeit geschenkt  werden  und  darum  so  schnell  wie  mög- 
lich und  mit  dazu  geeigneten  Instrumenten  operirt 
werden,  denn  ich  bin  fest  überzeugt,  dass  der  ei-ste  Kranke  auch 
nach  der  zweiten  Operation  am  Leben  geblieben  wäre,  wenn  die 
Dauer  der  Operation  noch  hätte  verkürzt  werden  können  und  der 
Kranke  dadurch  weniger  Blut  verloren  hätte. 


Üedraekt  bei  L.  SehumAcher  in  Berlin. 


Taf.  I. 


^^ 


y— 


.Lanffi 


i 


XLVIII. 

Operationen  an  dem  Brustabschnitt  der 

Speiseröhre.') 

Von 


Professor  Dr.  Rehn, 

Frankfurt  a.  M. 


Vor  einiger  Zeit  sahen  wir  uns  vor  die  Frage  gestellt,  oh  es 
möglich  sei,  den  Oesophagus  in  seinem  Verlaufe  durch  das  hintere 
Mediastinum  ohne  Verletzung  lebenswichtiger  Organe  freizulegen, 
und  zwar  derart,  dass  mit  hinreichender  Sicherheit  unter  Leitung 
des  Auges  ein  Eingriff  an  demselben  vorgenommen  werden  konnte. 
Veranlassung  zu  diesen  Erwägungen  und  den  sich  daran  an- 
schliessenden Thier-  und  Leichenversuchen  boten  zwei  verzweifelte 
Fcälle  der  chirurgischen  Abtheilung  des  städtischen  Krankenhauses 
zu  Frankfurt  a.  M.  Bei  dem  einen  an  sich  rettungslos  verlorenen 
Kranken,  welcher  an  einem  Oesophagus-Carcinom  litt,  dessen  in 
den  Magen  hinabfliessende  Zerfallsproducte  die  Verdauung  und 
Ausnutzung  der  durch  Magenfistel  zugeführten  Nahrung  und  durch 
Resorption  von  Toxinen  das  Allgemeinbefinden  in  hohem  Maasse 
beeinträchtigten,  schwebte  der  Gedanke  vor,  dem  Jaucheherd  nach 
Freilegung  des  Carcinoms  und  eventueller  Unterbindung  des  unter- 
halb belegenen  Oesophagusabschnittes  Abüuss  nach  aussen  zu  ver- 
schaffen, während  der  zweite  wichtigere  Fall  einen  gesunden,  jungen, 
22  jährigen  Patienten  betraf,  bei  dem  sich  im  Anschluss  an  ein 
Conaraen  suicidii  durch  Trinken  von  Schwefelsäure  eine  durch 
keinerlei  Mittel  zu  überwindende  Strictur    der  Speiseröhre    heraus- 

*)  Abgekürzt  vorgetragen  am  4.  Sitzungstage  des  XXVII.  Congresscs  der 
Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  16.  April  1898. 

ArchiT  fUr  kliu.  Chirurgie.    57.  Üd.   Heft  4.  ^() 


734  Dr.  Rehn, 

gebildet  hatte,  und  bei  dem  es  sich  darum  handelte,  die  Verenge- 
rung aufzusuchen,  zu  spalten,  und  so  die  normale  Passage  in  den 
Magen  wiederherzustellen. 

Obschon,  namentlich  in  den  letzten  Jahren,  besonders  durch 
die  Arbeiten  von  Mikulicz,  Rosenheira,  v.  Hacker  und  An- 
deren die  Diagnostik  der  pathologischen  Veränderungen  im  Oeso- 
phagus mittelst  Oesopliagoskopie  in  vorzüglichster  Weise  gefördert 
und  ausgebildet  ist,  und  auch  durch  Ersinnen  neuer  Methoden  und 
Verbesserung  der  Sondirungs-Technik  (v.  Hacker)  die  Behandlung 
selbst  sehr  enger,  im  Brusttheil  des  Oesophagus  belegener  Stric- 
turen  erfreuliche  Fortschritte  und  günstige  Resultate  gezeitigt 
hat,  so  ist  doch  für  eine  grosse  Anzahl  von  Fällen  mit  Erkran- 
kungen der  Speiseröhre,  mögen  dieselben  nun  gutartiger  oder  ma- 
ligner Natur  sein,  von  den  bisher  geübten  Verfahren  therapeutisch 
oft  nicht  viel  oder  gar  nichts  zu  erwarten:  es  sind  lediglich  Pal- 
liativa  oder,  wie  Czerny  sich  ausdrückt,  „nothwendige  üebel", 
die  den  Arzt  in  keiner  Weise  zu  befriedigen  vermögen,  und  durch 
welche  auch  „der  Kranke  niemals  die  Empfindung  einer,  wenn 
auch  nur  temporären,  Heilung  von  seinem  Uebel  erhält  und  nur 
zeitweise  vor  den  Qualen  des  Hungertodes  geschützt  wird".  Bei 
dieser  Ohnmacht  des  ärztlichen  Könnens  gegenüber  den  im  Brust- 
und  Bauchtheil  des  Oesophagus  localisirten  Krankheitsprocessen 
kann  es  nicht  wunderbar  erscheinen,  wenn  Hand  in  Hand  mit 
dem  Fortschreiten  der  Technik  das  Bedürfniss  und  Verlangen  nach 
einer  Methode,  auch  dieses  so  versteckt  im  Körperinnern  belegene 
Organ  dem  chirurgischen  Messer  zugänglich  zu  machen,  laut  wurde 
und  seinen  Ausdruck  fand  in  mannigfaltigen  Operationen  und 
Leichenversuchen,  die  zur  Erreichung  dieses  Zieles  unternommen 
und  beschrieben  wurden. 

Die  ersten  Versuche,  operativ  in  das  Innere  des  Brustraumes 
vorzudringen,  lie^^n  freilich  auf  anderem  Gebiete.  Die  vielfachen 
und  grossen  Gefahren,  welche  bei  tuberculöser  Erkrankung  der 
Wirbelsäule  den  Patienten  in  Gestalt  der  Senkungsabscesse  und 
Wirbelverschiebungen  drohen,  leiteten  den  Engländer  Treves  auf 
den  Gedanken,  die  Proc.  transversi  und  Vorderflächen  der  Wirbel- 
körper im  Bcreicli  der  erkrankten  Partie  freizulegen  und  hier  die 
Krankheitsherde  selbst  anzugreifen,  eine  Methode,  die  ursprünglich 
nur   für  die  Lenden-  und    den  12.  Brustwirbel    angegeben,    später 


Operationen  an  dem  Brustabsclmitl  der  Speiseröhre.  735 

von  Scbacffcr,  Aiiffret  und  Vincent  weiter  ausgebildet  und 
in  ihrer  Anwendung  auf  die  gesammtc  Wirbelsäule  ausgedehnt 
wurde.  Waren  die  Bestrebungen  der  genannten  Autoren  nur  dar- 
auf gerichtet,  tuberculöse  Herde  in  den  Wirbelkörpern  aufzusuchen 
und  zu  entfernen,  so  ging  Nasiloff  einen  Schritt  weiter  und 
theiltc  im  Jahre  1888  eine  aus  Leichenversuchen  gewonnene  Me- 
thode mit  zur  Freilegung  des  hinteren  Mediastinums  und  der  in 
demselben  verlaufenden  Gebilde,  besonders  des  Oesophagus.  Zu 
diesem  Zwecke  bildet  er  ungefähr  niännerhandbreit  von  den  Dorn- 
fortsätzen entfernt  einen  viereckigen  Weichtheillappen,  dessen  Basis 
gegen  die  Wirbelsäule  sieht,  und  der  direct  bis  auf  die  Rippen 
durchdringt.  Je  nachdem  er  den  oberen  Theil  des  Oesophagus  in 
seinem  Verlaufe  durch  das  hintere  Mediastinum  erreichen  will  oder 
den  unteren  Abschnitt,  legt  er  den  Lappen  links  oben  oder  rechts 
unten  am  Rücken,  resecirt  dann  eine  Anzahl  von  Rippen  und 
drängt  die  Pleura  costalis  stumpf  von  der  Brustwand  ab,  bis  er 
an  die  Vorderfläche  der  Wirbelkörper  gelangt,  wo  es  dann  leicht 
ist,  den  Oesophagus  von  den  Nachbarorganen  zu  isoliren.  Li  ähn- 
licher Weise  wie  Nasiloff  gingen  Quenu  und  Hartmann  vor. 
Sie  machen  4  Querfinger  breit  von  der  Wirbelsäule  entfernt,  parallel 
zu  derselben,  einen  Längsschnitt  durch  die  Haut;  die  Muskeln 
werden  theils  zur  Seite  gezogen,  thcils  durchschnitten,  bis  man 
auf  die  Rippen  gelangt,  von  denen  man  2  cm  breit  resecirt,  so 
dass  vom  unteren  Rand  der  H.  bis  zum  oberen  der  VL  Rippe 
eine  10 — 12  cm  grosse  OefFnung  in  der  Brustwand  entsteht,  durch 
die  man  bequem  mit  der  Hand  einzugehen  und  die  Pleura  abzu- 
lösen vermag.  Im  Gegensatz  zu  Nasiloff  bevorzugen  Quenu 
und  Hartmann  unter  allen  Umständen  die  linke  Rückenhälftc, 
um  zum  Oesophagus  zu  gelangen,  und  führen  zu  Gunsten  ihres 
Vorgehens  das  Verhalten  der  rechten  Pleura  an,  welche  sich 
zwischen  Wirbelkörper  und  Oesophagus  einstülpt,  die  Medianlinie 
überschreitet  und  gegen  die  rechte  Seite  der  Aorta  hin  einen  Blind- 
sack bildet,  welcher  der  linken  Pleura  nahe  liegt.  Unter  diesen 
Umständen  gelange  man  bei  der  Ablösung  der  linken  Pleura,  von 
einem  linksseitigen  Schnitt  ausgehend,  leichter  und  gefahrloser 
direct  auf  den  Oesophagus,  als  von  der  rechten  Seite  her.  Bryant, 
der  ebenfalls  an  der  Leiche  operirt  hat,  geht  für  die  oberhalb  des 
Aortenbogens    belegenen  Theile    des  Oesophagus  sowohl   links  wie 

49* 


786  Dr.  Rehn, 

rcclits  von  der  Wirbelsäule  ein,  lieber  links,  weil  cangcblich  leichter, 
während  er  für  alle  tieferen  Abschnitte  ausschliesslich  die  Eröff- 
nung dos  Thorax  auf  der  rechten  Seite  empfiehlt.  Theils  genau 
nach  den  Vorschriften  Quenu's  und  Hartmann's,  theils  mit  un- 
wesentlichen Veränderungen  ist  Zimbicki  vorgegangen,  dessen 
Fall  von  retrooesophagealer  Phlegmone,  noch  bevor  er  zur  Opera- 
tion schreiten  konnte,  zum  Exitus  kam,  so  dass  er  die  Operation 
nur  an  der  Leiche  ausführen  konnte.  Üeber  Erfahrungen  am 
Lebenden,  bei  denen  es  sich  zumeist  um  Erkrankung  der  Brust- 
wirbel handelte,  berichtet  Obalinski,  der  mit  den  Erfolgen  der 
Operation,  trotz  mehrmaligem  artificiellen  Pneumothorax,  sehr  zu- 
frieden war,  und  erwähnt  in  seiner  Publication  noch  einen  Fall 
von  praevcrtebralcr  Phlegmone  aus  der  Rydygicr'schen  Klinik, 
der  demjenigen  Zimbicki 's  sehr  ähnlich  ist. 

Der  Vollständigkeit  wegen  erwähnen  wir  zum  Schluss  aus  der 
einschlägigen  Literatur  noch  die  iMittheilungen  Biondi's  auf  dem 
italienischen  Chirurgen-Congress  1895,  die  lediglich  auf  die  Resec- 
tion  der  Cardia  und  die  Pars  abdominalis  oesophagi  Bezug  haben, 
und  endlich  die  in  neuester  Zeit  publicirten  „Versuche  über  die 
Resection  der  Speiseröhre"  von  Levy,  welcher  eine  Anzahl  von 
Operationen  an  lebenden  Hunden  ausführte  und  eine  Methode  her- 
ausbildete, die  nach  seinen  eigenen  Worten  „auf  den  Menschen  zu 
übertragen  unmöglich  ist". 

Nach  diesen  kurzen  literarischen  Mittheilungen  mögen  einige 
Worte  über  die  Anatomie  des  Oesophagus  Platz  finden,  in  denen 
wir,  abgesehen  von  eigenen  Beobachtungen  an  der  Leiche  und  am 
Lebenden,  im  Wesentlichen  der  Darstellung  JoesseTs  folgen. 

Der  Oesophagus  beginnt  als  unmittelbare  Fortsetzung  des 
Pharynx  in  Höhe  des  VL  Halswirbels,  hinter  dem  unteren  Rande 
der  Cartilago  cricoidea,  und  steigt  an  der  Vorderflächc  der  Wirbel- 
säule zusanmien  mit  den  Gebilden  des  hinteren  Mediastinums  durch 
die  Länge  der  Brusthöhle  und  das  Foramen  oesophageum  in  die 
Bauohhr)hle  hinab,  um  dort  entsprechend  der  Lage  des  X.  und  XL 
Brustwirbels,  ohne  sichtbare  äussere,  jedoch  durch  den  Wechsel 
des  Schleimhautepithels  scharf  charakterisirte  Grenze,  in  den 
Cardiatheil  des  Magens  überzugehen.  Die  Gesammtlänge  des  Or- 
ganes,  welches  15  cm  hinter  den  oberen  Schneidezähnen  seinen 
Anfang  nimmt,  beträgt  im  Durchschnitt  25 — 26  cm,   wovon  7 — 8 


Operationen  an  dem  Brust^abschnitt  der  Speiseröhre.  737 

auf  die  Strecke  bis  zu  seinem  Eintritt  in  den  Brustraum,  17  bis 
18  cm  auf  den  übrigen  Theii  bis  zur  Cardia  entfallen,  so  dass 
die  Entfernung  des  Magenraundcs  von  den  oberen  Schneidezähnen 
rund  40  cm  ausmacht.  Der  Oesophagus  stellt  sich  in  situ  als  ein 
von  vorn  nach  hinten  abgeplatteter,  in  seinem  Caliber  an  den  ver- 
schiedenen Stellen  seines  Verlaufes  wechselnder  Canal  dar,  welcher 
in  seinem  Halstheil,  durch  den  Druck  der  Nachbarorgane  zusam- 
mengepresst,  stets  ein  geschlossenes  Lumen  aufweist,  während  er 
im  Brusttheil  bald  als  ein  offenes,  bald  als  ein  geschlossenes  Rohr 
erscheint,  wie  aus  Leichendurchschnitten,  sowie  aus  der  Beobach- 
tung Mikulicz's  hervorgeht,  welcher  mit  Hilfe  eines  bis  zum 
Manubrium  sterni  eingeführten  Oesophagoskops  bis  zur  Cardia 
herabzusehen  vermochte.  Wie  schon  oben  angedeutet,  ist  der 
Oesophagus  in  seinem  Verlaufe  nicht  überall  von  gleichmässiger 
Weite,  sondern  es  wechseln  ziemlich  oonstant  mehr  oder  weniger 
ausgedehnte  weitere  Strecken  mit  Verengerungen  ab,  von  denen 
die  erste  gleich  hinter  der  Uebergangsstelle  vom  Pharynx,  die 
zweite  in  Höhe  des  3.  und  4.  Brustwirbels  an  der  Kreuzung  mit 
dem  linken  Bronchus,  und  die  dritte  endlich  an  der  Durehtritts- 
stelle  durch  das  Foramen  oesophageum  belegen  ist.  An  seinem 
Ursprung  liegt  der  Oesophagus  genau  in  der  Mittellinie  des  Kör- 
pers, zwischen  Trachea  und  Wirbelkörper,  weicht  aber  bald  von 
dieser  medianen  Lage  ab  und  beschreibt  Curven  in  frontaler  und 
sagittaler  Richtung,  wodurch  eine  langgezogene  Schraubenlinie  zu 
Stande  kommt,  in  der  er  sich  um  die  Aorta  herumzieht.  Was 
nun  im  Einzelnen  seine  anatomische  Lage  und  seine  Beziehungen 
zu  den  Nachbarorganen  betrifft,  so  wird  der  Halstheil  des  Oeso- 
phagus an  seiner  vorderen  Fläche  von  der  Trachea,  und  zwar  der 
Pars  raembranacea  bedeckt,  mit  welcher  er  ebenso  wie  mit  der 
unmittelbar  hinter  ihm  liegenden  Reihe  der  Wirbelkörper  durch 
eine  Schicht  lockeren  Bindegewebes  verbunden  ist,  die,  je  weiter 
er  nach  unten  bis  zur  Bifurcation  gelangt,  um  so  verschieblicher 
wird.  Liegt  der  Oesophagus  an  seinem  Anfang  unmittelbar  hinter 
der  Luftröhre,  so  verschiebt  er  sich  im  weiteren  Verlaufe  bald 
nach  links  und  ragt  hier  etwas  über  den  freien  Rand  der  Trachea 
hervor,  so  dass  infolge  dieser  Verlagerung  der  Raum  zwischen  ihm 
und  den  grossen  Gefässstämmen  des  Halses  auf  dieser  Seite  ge- 
ringer erscheint  als    rechts.     Zu    beiden  Seiten,    links    nach    vorn 


738  Dr.  Rehn, 

noch  l)egrcnzt  vom  linken  Schilddrüsenlappcn,  der  hier  den  über- 
stehenden Thcil  der  Speiseröhre  bedeckt,  verläuft  in  der  Furche 
zwischen  Oesophagus  und  Trachea  der  liamus  recurrens  vagi,  wel- 
cher sich  von  unten  her  um  den  Arcus  aortae  herum  zur  Inner- 
vation des  Kehlkopfes  nach  oben  schlägt. 

Die  einmal  zur  Trachea  eingenommene  Richtung  nach  links 
behält  der  Oesophagus  im  Bereich  des  übrigen  Hals-  und  Beginn 
des  Brusttheiles  bis  zu  seinem  Eintritt  in  das  hintere  Mediastinum 
etwa  in  Höhe  des  2.  Brustwirbels  bei.  Hier  läuft  er  immer  noch 
links  von  der  Medianlinie  dicht  an  der  hinteren  Fläche  des  Aorten- 
bogens zwischen  diesem  und  der  Wirbelsäule  entlang  und  kreuzt 
gleich  neben  der  Theilungsstelle  der  Trachea  unterhalb  des  Aorten- 
bogens den  linken  Bronchus,  welcher  unmittelbar  vor  ihm,  und  in 
der  Regel  durch  einzelne  kleinere  Muskelbündel  (Musculus  broncho- 
oesophagcus)  mit  dem  Oesophagus  verbunden,  zur  linken  Lunge 
hinübergeht.  Nacji  seiner  Kreuzung  mit  dem  linken  Bronchus 
schlägt  sich  der  Oesophagus  unter  Zunahme  des  zwischen  ihm 
und  den  Wirbelkörpern  befindlichen  Zellgewebes  allmählich  nach 
rechts  herüber,  so  dass  er  in  Höhe  des  7. — 8.  Brustwirbels  fast 
ganz  dem  rechten  Rand  der  einzelnen  Wirbelkörper  anliegt.  Dies 
kommt  dadurch  zu  Stande,  dass  die  Aort<i  descendens  aus'  ihrer 
anfänglich  durchaus  linksseitigen  Lage  immer  mehr  und  mehr  in 
die  Mittellinie  dos  Körpers  rückt  und  so  den  Oesophagus  nach 
rechts  hinüberdrängt.  Li  diesem  Theile,  von  der  Bifurcation  der 
Trachea  nach  abwärts,  grenzt  der  Oeso|)hagus  in  ziemlicher  Aus- 
dehnung direct  an  die  hintere  Wand  des  Pericards,  soweit  dasselbe 
oberhalb  des  Herzens  selbst  noch  die  Pulmonalis  und  dann  weiter 
nach  unten  die  hintere  Wand  des  linken  Vorhofes  überkleidet. 

Li  diesem  auch  Pars  pericardiaca  benannten  Abschnitt  treten 
die  beiden  Vagi,  nachdem  sie,  der  rechte  direct,  der  linke  vorbei 
an  der  Vorderwand  des  Aortenbogens,  auf  die  hintere  Seite  der 
beiden  Bronchi  gelangt  sind,  in  unmittelbare  Nähe  zum  Oeso- 
phagus und  begleiten  denselben  unter  Bildung  eines  vielzweigigen 
Rote  oesophaireum  nach  abwärts  bis  zur  Cardia  des  Magens,  in- 
dem der  linke  mehr  die  vordere,  der  rechte  mehr  die  hintere 
Speiseröhrenfläche  versorgt.  Ausser  diesen  beiden  Xn.  vagi  sind 
in  diesem  Boreiche  des  Oesophagus  auch  noch  die  Beziehungen 
desselben    zu    den    übrigen    Gebilden    des    hinteren    Mediastinums 


Operationen  an  dem  Briistabschnitt  der  Speiseröhre.  739 

wichtig.  So  findet  sich  unmittelbar  hinter  ihm  in  der  Mitte  vor 
der  Wirbelsäule  verlaufend  der  Ductus  thoracicus,  und  zur  Seite 
der  Wirbelkörper  dicht  neben  ihm  rechts  die  stärkere  Vena  azy- 
gos,  welche  die  quer  über  den  8.  Wirbelkörper  verlaufende  und 
von  links  kommende  Vena  hemiazygos  aufnimmt,  und  sich,  vor 
dem  Oesophagus  hinziehend  und  nach  vorne  wendend,  über  dem 
rechten  Bronchus,  unmittelbar  über  der  ümschlagsstelle  des  Peri- 
cards,  in  die  hintere  Wand  der  Vena  cava  ergiesst.  Abwärts  vom 
8.  Brustwirbel  wendet  sich  der  Oesophagus,  unter  Kreuzung  der 
nunmehr  fast  ganz  in  die  Medianlinie  und  hinter  ihn  getretenen 
Aorta,  in  scharfer  Biegung  mit  Entfernung  von  der  Wirbelsäule 
nach  vom,  und  gleichzeitig  wieder  nach  links  herüber,  so  dass  er 
bereits  am  unteren  Rand'  des  9.  Brustwirbels,  bevor  er,  begleitet 
von  beiden  Vagi,  durch  den  Hiatus  oesophageus  des  Zwerchfelles 
in  die  Bauchhöhle  gelangt,  mehr  links  als  rechts  von  der  Aorta 
gelegen  ist,  eine  Lage,  welche  während  des  Durchtrittes  durch 
das  Zwerchfell  noch  ausgesprochener  wird.  Etwa  2 — 3  cm  tiefer, 
ganz  zur  linken  Seite  der  Wirbelsäule,  geht  der  Oesophagus  unter 
trichterförmiger  Erweiterung  seines  Lumens  in  Höhe  des  9.  Brust- 
wirbels in  den  Cardiatheil  des  Magens  über. 

Fragt  man  nun  unter  Berücksichtigung  dieser  anatomischen 
Verhältnisse,  von  welcher  Seite  man  am  leichtesten  ohne  Ver- 
letzung wichtiger  Organe  zu  dem  intrathoracalen  Theil  des  Oeso- 
phagus vom  Rücken  her  vordringen  kann,  so  ergiebt  sich,  dass 
dies,  entsprechend  den  Angaben  von  Nasiloff  und  Bryant,  für 
die  im  Bereich  des  4. — 8.  Brustwirbels  belegene  Partie  zweck- 
mässig von  rechts  her  auszuführen  ist.  Bildet  man  nämlich  einen 
mit  der  Basis  nach  der  Wirbelsäule  zu  liegenden  grossen  Haut- 
Muskellappen,  welcher  vom  Proc.  spinosus  des  3.  Halswirbels  bis 
zum  9.  Brustwirbel  im  Bogen  nach  aussen  bis  zum  medialen  Sca- 
pularrand  sich  erstreckt  und  bis  auf  die  Rippen  geht,  so  kann 
man,  wie  wir  uns  am  Lebenden  und  zu  wiederholten  Malen  an 
Leichenversuchen  zu  überzeugen  Gelegenheit  hatten,  nach  ausgiebi- 
ger Resection  der  freigelegten  Rippen  ohne  Schwierigkeit  die  Pleura 
costalis  von  der  Fascia  endothoracica  bis  zu  den  Wirbelkörpern 
loslösen  und  durch  eingeführte  lange  Ilaken  mitsamnit  der  Lunge 
nach  vorn  ziehen,  wodurch  unmittelbar  der  den  rechten  Wirbel- 
körperrand   an   dieser  Stelle    überragende    und    leicht    durch    eine 


740  Dr.  Reh  D, 

eingeführte  starre  Sonde  besser  erkenntlich  zu  machende  Oeso- 
phagus sichtbar  wird.  Die  einzige  Aufgabe  ist  es,  bei  der  Rippen- 
Resection  die  Pleura  nicht  zu  verletzen,  eine  Complication,  die 
leicht  vermieden  werden  kann,  wenn  man  zunächst  mit  äusserstcr 
Vorsicht  eine  der  unteren  Rippen  in  einer  Ausdehnung  von  meh- 
reren Centimetern  resecirt  und  nun,  in  die  Rippenöflfnung  mit  dem 
Finger  eingehend,  Schritt  für  Schritt  von  jeder  nächsten  zu  rescci- 
renden  Rippe  erst  die  Pleura  abdrängt  und  dann  resecirt.  Ist 
man  auf  diese  Weise  vorgegangen,  so  spielt  die  Pleurafalte,  welche 
sich  nach  den  Darstellungen  von  Braune  gerade  im  Bereich  des 
6. — 8.  Brustwirbels  nach  hinten  vom  Oesophagus  zwischen  diesem 
und  den  Wirbelkörpern  einschieben  soll,  und  deren  Verletzung  von 
Quenu  und  Hartmann  sosehr  gefürchtet  wird,  keine  Rolle  mehr, 
da  sie  durch  die  zuvor  schon  vorgenommene  Ablösung  der  Pleura 
bereits  hinter  dem  Oesophagus  mithervorgezogen  und  ausgeglichen 
ist.  Wenigstens  haben  wir  bei  unseren  Leichenversuchen  und  Ope- 
rationen am  Lebenden  an  dieser  Stelle,  wenn  sonst  ein  Pneumo- 
thorax vermieden  war,  nie  das  Zustandekommen  einer  Pleuraver- 
letzung beobachten  können.  Unter  den  übrigen  Gebilden,  die  bei 
einem  derartigen  Vorgehen  eventuell  beschädigt  werden  können, 
ist  zunächst  der  Grenzstrang  des  Sympathicus  zu  nennen,  doch 
bleibt  derselbe  an  seiner  normalen  Stelle,  entsprechend  der  Lage 
der  Rippenköpfchen-Gelenke  infolge  fester  Verwachsungen  daselbst 
mit  der  Fascia  endothoracica,  trotz  gewaltsamer  Abdrängung  der 
Pleura  ruhig  liegen.  Ebenso  wenig  kommt  die  Vena  azygos  in 
Gefahr  oder  genirt  irgendwie  bei  der  Freilegung.  Infolge  der  Be- 
festigung des  Oesophagus  nach  vorn  und  hinten  mittelst  einer 
mehr  oder  weniger  stark  entwickelten  Schicht  lockeren  Binde- 
gewebes ist  auch  die  vollständige  Lsolirung  des  Organes  ohne 
Scliwierigkeiten  unter  Schonung  der  Vagi  und  der  übrigen  benach- 
barten Gebilde  auszuführen,  und  hat  man  erst  an  einer  Stelle  die 
Loslösung  circulär  fertig,  so  lässt  sich  mit  einem  Haken  der  Oeso- 
phagus unter  Ausgleichung  seines  schraubenförmigen  Verlaufes 
leicht  aus  seiner  ursprünglichen  Lage  heraushel)en  und  dem  Niveau 
der  äusseren  W^imde  um  ein  Beträchtliches  nähern.  Diese  Ver- 
schiebbarkeit des  Oesophagus  lässt  sich  aber  nicht  allein  durch 
directen  Zug  am  Organ  nach  Freilegung  desselben  vom  Rücken 
aus  wahrnehmen,    sondern  auch  beim  Anziehen  des  Magens  durch 


Operationen  an  dem  Brustabs chnilt  der  Speiseröhre.  741 

die  Zwerclifellöffnung  liiüdurch  unter  Verlängerung  des  in  der 
Bauchhöhle  belegenen  Oesophagustheiles  fortleiten,  wie  Schlatter 
schon  gelegentlich  seiner  Totalexstirpation  des  Magens  und  Ver- 
nähung des  Oesophagus  mit  einer  Dünndarinschlinge  beobachtet 
und  berichtet  hat.  Hat  man  den  Oesophagus  in  seinem  Brusttheil 
eine  Strecke  weit  isolirt,  so  sinkt  er,  sich  selbst  überlassen,  bei 
linker  Seitenlage  des  Patienten  erheblich  nach  links  herüber,  eine 
Verlagerung,  die  bei  erschwerter  Respiration  noch  ausgeprägter 
wird,  so  dass  er,  infolge  Aspiration  von  Seiten  der  Lunge,  ganz 
dem  Auge  entschwinden  kann.  Die  Aspirationskraft,  welche  die 
Lunge  auf  den  ebenfalls  unter  dem  negativen  Thoraxdruck  stehen- 
den Oesophagus  ausübt,  kommt  auch  sclion  ohne  Freilegung  des 
Organes  bei  normalem  Situs  zur  Geltung  und  äussert  sich  in  eigen- 
thümlichen  regelmässigen  Bewegungen  seiner  Wände  derart,  dass 
dieselben  bei  der  Inspiration  auseinanderweichen,  bei  der  Exspira- 
tion sich  einander  nähern.  Ausser  diesen  respiratorischen  Be- 
wegungen, welche  man  bei  jeder  Oesophagoskopie  im  Bereiche  des 
Brus-ttheiles  der  Speiseröhre  zu  beobachten  Gelegenheit  hat,  sind 
noch  die  in  der  Gegend  des  Aortenbogens  und  der  Pars  pericar- 
diaca  des  Oesophagus  am  deutlichsten  wahrnehmbaren  pulsatori- 
schen  und  die  über  die  ganze  Länge  des  Organes  sich  erstrecken- 
den peristaltischcn  Bewegungen  von  Wichtigkeit.  Namentlich  die 
letzteren,  welche  bei  Schluck-,  Würg-  und  Brechbewegungen  des 
Patienten  auftreten,  dürften  unter  umständen  auch  nach  Freileffunii; 
des  Organes  von  der  Wunde  aus  zu  Gesicht  kommen  und  für  die 
Unterscheidung  des  Oesophagus  von  den  anderen  Gebilden  des 
hinteren  Mediastinums  verwerthet  werden  können,  besonders  wenn 
die  Einführung  einer  Sonde  zur  leichteren  Orientirung  aus  irgend 
welchen  Gründen  contraindicirt  oder  unmöglich  ist. 

Im  Hinblick  auf  gewisse  pathologische  Veränderungen,  sowie 
auf  eine  Operation  am  Brusttheil  des  Oesophagus  haben  wir  den 
Vorgängen  unsere  Aufmerksamkeit  zu  schenken,  welche  beim  Er- 
brechen stattfinden.  Infolge  Contraction  des  Zwerchfelles  wird 
beim  Erbrechen  des  Erwachsenen  der  Oesophagus  gestreckt  und 
Mageninhalt  unter  stossweiser  Anstrengung  der  Bauchpresse  durch 
die  Cardia  in  die  Speiseröhre  getrieben.  Hierbei  ist  der  Pylorus 
fest  geschlossen,  in  gleicher  Weise,  wie  sich  die  Cardia  durch  re- 
floctorische    Contraction    der   longitudinalcn    Muskelfasern,    welche 


742  Dr.  Rehn, 

^cgen  die  Einmündungsstellc  der  Speiseröhre  hinziehen,  weit  öffnet. 
Es  ist  klar,  dass  im  Moment  des  Erbrechens  der  Druck  innerhalb 
der  Speiseröhre  positiv  wird  und  unter  Umständen  sogar  eine  nicht 
un beträch tliclie  Höhe  erreichen  kann.  Wenn  der  Inhalt  eines  stark 
gefüllten  Magens  mit  der  enormen  Kraft  der  Bauchpresse  in  den 
Oesophagus  geschleudert  wird,  und  weiter  aus  irgend  einem  Grunde 
der  Ocsophagus-lnhalt  nicht  so  rasch  nach  oben  entleert  wird,  wie 
stossweise  vom  Magen  neue  Massen  nachgepresst  werden,  so  ist 
die  Anforderung,  welche  an  die  Widerstandsfähigkeit  des  unteren 
Abschnittes  gestellt  wird,  keine  unbeträchtliche,  und  werden  die 
Sprengwirkungen  begreiflich,  welche  als  Rupturen  des  Oesophagus 
mitsammt  der  Pleura  oder  gar  des  Zwerchfelles  in  der  Literatur 
beschrieben  sind.  Alle  sicheren  Fälle  von  Rupturen  der  Speise- 
röhre sind  bei  heftigem  Brechact  zu  Stande  gekommen,  und  es  ist 
einleuchtend,  dass  dieses  unglückliche  Ereigniss  durch  venninderte 
Widerstandsfähigkeit,  wie  sie  u.  a.  bei  den  verschiedenen  ülcera- 
tionsprocessen  der  Oesophagus  wand  und  auch  beim  inneren  Stric- 
turschnitt  an  einer  oder  mehreren  Stellen  vorhanden  ist,  sehr  be- 
günstigt wird,  und  durch  Entstehung  einer  mediastinalen  Phleg- 
mone verhängnissvoll  werden  kann. 

Bezüglich  der  Entstehung  des  perioesophagealen  Emphysems 
nach  penetrirenden  Verletzungen  der  Speiseröhre  hat  Fischer  be- 
hauptet, dass  dasselbe  inspiratorischer  Natur  sei.  Für  gewöhnlich 
ist,  wie  wir  durch  die  Untersuchungen  von  Mikulicz  wissen,  der 
Eingang  in  die  Speiseröhre  durch  den  Musculus  constrictor  pha- 
ryngis  inferior  sphincterartig  abgeschlossen,  wodurch  eine  Aspira- 
tion von  Luft  in  den  Oesophagus  und  Magen  unmöglich  ist.  Das 
Emphysem  kann  also  nur  durch  Luftschlucken  und  directen  Ein- 
tritt der  Luft  in  das  mediastinale  Gewebe  durch  die  Verletzungs- 
stclle  erfolgen,  oder  es  wird  beim  Würgen  und  Brechen  Luft  aus 
dem  Magen  durch  die  Wunde  getrieben  und  dadurch  ein  Emphy- 
sem hen  orgerufen,  so  dass  hierbei  nur  von  einem  exspiratorischen 
Zustandekommen  die  Rede  sein  kann. 

Als  Beispiel  für  die  GriKSsc  des  mitunter  auftretenden  intra- 
oesophagealen  Druckes  sei  folgende  Erfahnmg  mitgetheilt,  welche 
vor  einiger  Zeit  gelegentlich  einer  Strumectomie  gemacht  wurde 
und  welche  für  jede  O))eration  am  Brusttheil  der  Speiseröhre  von 
grosser  Bedeutung  ist.     Es  handelte  sich  um  einen  riesigen  Kropf, 


Operationen  an  dem  Brustabschnitt  der  Speiseröhre.  743 

der  wegen  hochgradiger  Athera-  und  Schlingbeschwerden  entfernt 
werden  sollte.  Die  Operation  fand  in  zwei  Zeiten  statt,  so  dass 
zuerst  die  rechts  gelegene  Kropfgeschwulst  operirt  wurde.  Vier- 
zehn Tage  nach  der  ersten  Operation  sollte  der  Rest  resecirt  wer- 
den. Es  stellte  sich  heraus,  dass  in  der  Zwischenzeit  durch  Ver- 
lagerung der  stehen  gebliebenen  Kropfpartie  eine  starke  Verschie- 
bung der  Halsweichtheile  eingetreten,  so  dass  Kehlkopf  und  Luft- 
röhre mitsaramt  der  Speiseröhre  extrem  nach  rechts  dislocirt 
waren.  Nach  einer  mühsamen  Operation  war  endlich  der  Kropf 
bis  auf  eine  Mittellappenpartie  entfernt,  Trachea  und  Oesophagus 
lagen  in  grosser  Ausdehnung  frei.  Plötzlich  sah  man,  wie  bei 
einer  heftigen  Brechbewegung  der  Patientin  der  Oesophagus  von 
der  Tiefe  der  Brust  stark  gebläht  wurde,  so  wie  etwa  der  Bulbus 
jugularis  bei  starker  Exspiration  anschwillt.  Zu  unserer  unange- 
nehmen Ueberraschung  bemerkten  wir  weiter,  dass  aus  einer  klei- 
nen Oeffnung  der  ad  maxiraum  aufgetriebenen  Speiseröhre,  etwa 
in  Höhe  der  Art.  thyreoidea  inferior,  Luft  und  Schleim  austraten. 
Die  Aufblähung  der  Speiseröhre  setzte  sich  etwa  bis  zur  Höhe 
des  Ringknorpels  fort  und  nahm  von  der  Brustaperlur  bis  zum 
Kehlkopf  spindeKörmig  ab.  Mit  dem  Nachlassen  der  Brech-  und 
Würgbewegungen  des  Patienten  klappte  der  Oesophagus  wieder 
zusammen.  Wir  bemerken,  dass  der  Patient  keinerlei  Speisen  im 
Magen  hatte  und  für  die  Operation  mit  rückwärts  gebogenen) 
Kopfe  gelagert  war.  Im  weiteren  Verlaufe  des  Eingriffes  hatten 
wir  Gelegenheit,  diese  Erscheinungen  des  Aufblähens  und  Wicder- 
zusammenfallens  der  Speisercihre  sich  mehrere  Male  wiederholen  zu 
sehen.  Diese  Beobachtung  zeigte,  dass  schon  durch  die  im  Mfigen 
befindliche  Luft  eine  immerhin  recht  erhebliche  Auftreibung  der 
Speiseröhre  bis  zu  ihrem  Anfangstheil  bei  Brechbewegungen  her- 
vorgerufen werden  kann,  welche  besonders  bei  Ulcerationsprocessen 
und  Verletzungen  der  Wand  der  Speiseröhre,  sowie  nach  Anlegung 
des  inneren  Stricturschnittes  leicht  zur  Perforation  des  Organes 
führen  kann.  Schon  aus  diesem  Grunde,  ab^^esehen  von  einer  ge- 
sicherten Ernährung  des  Patienten,  muss  einer  jeden  Operation  am 
Brusttheil  des  Oesophagus  die  Anlegung  einer  Magenfistel  voran- 
gehen, welche  bei  derartigen  Vorfällen,  wie  der  mitgetlieilte,  gewisser- 
maassen  als  Sicherheitsventil  zu  wirken  und  die  im  Magen  befind- 
liche Luft  resp.  Speisereste  herauszulassen  im  Stande  ist. 


744  Dr.  Rehn, 

Nach  diesen  theoretischen  Erörterungen,  welche  uns  für  die 
Vornahme  einer  Operation  am  Brusttheil  des  Oesophagus  wichtig 
erschienen,  gehen  wir  zur  Mittheilung  der  Krankengeschichten  un- 
serer beiden  Fälle  über. 

1.  F.  B.,  22jähriger  Pat.  Familien  an  amnese  ohne  Belang.  Fat.  will  in 
seiner  Jugend  stets  gesund  gewesen  sein,  bis  er  sich  im  .Jahre  1894  als  Soldat 
durch  Sturz  vom  Pferd  ein  Unterleibsleiden  zuzog,  das  ihn  militäruntauglich 
machte.  Seitdem  sollen  sich  bei  ihm  auch  „krampfartige  Anfalle"  eingestellt 
haben,  die  in  unbestimmten  Zwischenräumen,  oft  im  Anschluss  an  kleine  Auf- 
regungen ausgebrochen  sein  sollen. 

Im  Jahre  1896  acquirirte  Pat.  eine  Appendicitis,  wurde  laparotomirt  und 
geheilt  aus  dem  Krankenhause  entlassen.  Schon  am  Abend  seines  Entlassungs- 
tages am  28.  1.  97  wurde  Pat.  wiederum  ins  Krankenhaus  eingeliefert  in  einem 
so  aufgeregten  und  tobenden  Zustand,  dass  seine  Verlegung  auf  die  Deliranten- 
Abtheilung  der  städtischen  Irrenanstalt  nöthig  wurde.  Nach  einigen  Wochen 
wurde  Pat.  dort  geheilt  entlassen,  vermochte  aber  keine  Arbeit  zu  finden,  und 
machte  einige  Tage  darauf  in  einem  Anfall  von  Verzweiflung  und  Unzu- 
rechnungsfähigkeit —  genaueres  weiss  er  selber  nicht  darüber  anzugeben  — 
einen  Selbstmordversuch  durch  Trinken  von  Schwefelsäure.  In  schwerkrankem 
Zustande  wurde  er  ins  Heilige  Geist-Hospital  verbracht  und  dort  bis  gegen 
Ende  April  1897  verpflegt.  Nach  Entlassung  aus  dem  Hospital  stellten  sich 
bald  Schluckbeschwerden  ein,  Pat.  hatte  das  Gefühl,  als  ob  ihm  etwas  im 
Halse  stecken  bliebe,  weswegen  er  um  Aufnahme  im  städtischen  Krankenhause 
nachsuchte  (27.  5.  97). 

Bei  der  Sondenuntersuchung  fand  sich  32  cm  hinter  der  oberen  Zahn- 
reiho  ein  Hinderniss  im  Oesophagus,  das  für  mittelstarke  Sonden  leicht  zu 
überwinden  war.  Beim  weiteren  Vordringen  gegen  den  Magen  hin  spürte  man 
unmittelbar  vor  dem  Passiren  der  Cardia  eine  zweite  Strictur,  die  bedeutend 
geringfügiger  war,  als  die  erste.  Im  üebrigcn  zeigte  Pat.  damals  abgesehen 
von  alten  Laparotomiewunden  völlig  normale  Verhältnisse  und  leidlichen  Er- 
nährungszustand. Von  Speisen  vermochte  Pat.  Brei  und  Nahrung  von  ähn- 
licher ConMstenz  ohne  Schwierigkeit  zu  schlucken.  Trotz  fortgesetzter  Son- 
dirung  verengte  sich  die  obere  Strictur  des  Oesophagus  immer  mehr  und  mehr, 
so  dass  bald  Grlesbrei  auch  nicht  mehr  geschluckt  werden  konnte,  und  nur 
Flüssigkeiten  noch  langsam  hinunterflössen  mit  deutlich  wahrnehmbarem 
Üurchspritzgeräusch  in  der  Gegend  des  5.-7.  Proc.  spin.  der  Brustwirbel.  Es 
wurde  nunmehr,  zumal  da  das  Körpergewicht  beständig  abnahm,  die  Gastro- 
stomie nach  Witzel  beschlossen  und  am  12.  7.  in  Chloroformnarkose  ausge- 
führt. Wundverlauf  reactionslos,  die  Fistel  functionirte  gut.  Nach  einigen 
Wochen  völligster  Ausschaltung  des  Oesophagus  für  die  Speiseaufnahme  unter 
erfreulicher  Zunahme  des  Körpergewichts,  wurde  die  Sondirung  wiederum  auf- 
genommen, zunächst  mit  ganz  feinen  Bougies,  und  allmälig  zu  stärkeren 
Nummern  ansteigend.  Von  diesen  Versuchen  durch  Sondiren  die  Passage 
wiederherzustellen,  musste  nach  einiger  Zeit  wieder  abgestanden  werden,  da 


Operationen  an  dem  Bnistabschnitt  der  Speiseröhre.  745 

nach  jedesmaliger  Einführung  der  Instrumente  Fieber  bis  über  39^  auftrat  und 
die  Kräfte  des  Fat.  rasch  consumirte.  Nach  Aussetzen  der  Sondirungen  blieb 
die  Temperatur  dauernd  normal.  Ein  Versuch,  die  Sonde  im  Oesophagoscop 
unter  Leitung  des  Auges  einzuführen,  misslang,  und  man  versuchte  wiederum 
mit  feinsten  Bougies  beginnend  und  dann  allmalig  zu  stärkeren  ansteigend  die 
Verengerung  zu  erweitern.  Dies  gelang  bei  täglichem  Einführen  bis  zu  Sonden 
von  der  Stärke  eines  Gänsekiels,  alle  Versuche  dickere  Nummern  anzuwenden 
schlugen  fehl,  Fat.  bekam  nach  jedesmaliger  Behandlung  immer  die  heftigsten 
bis  in  die  Herzgegend  ausstrahlenden  Schmerzen,  auch  traten  kleine  Blutungen 
auf,  die  zu  einem  Aussetzen  der  Sondirung  zwangen.  Nach  einem  Pausiren  in 
der  Behandlung  über  3  Tage  hinaus  wegen  heftigster  Schmerzen  und  kleinen 
Blutbeimengungen  im  Speichel  ungefähr  Ende  August  1897  gelang  es  seitdem 
auf  keine  Weise  mehr  selbst  mit  den  dünnsten  Sonden  die  Strictur  zu  passiren. 
Der  Speichel  sammelte  sich  in  dem  oberhalb  der  Strictur  befindlichen  Oeso- 
phagustheil  wie  in  einem  Steigrohr  an  und  wurde  von  Zeit  zu  Zeit  unter  würg- 
artigon  Bewegungen  in  reichlicher  Menge  entleert.  Noch  oftmals  wiederholte 
Versuche,  die  32  cm  hinter  der  Zahnreihe  beginnende  Undurchlässigkeit  des 
Oesophaguslumens  zu  passiren,  führten  sämmtlich  nicht  zum  Ziele,  ebenso- 
wenig die  mehrmals,  auch  in  Narkose  vorgenommenen  Sondirungen  von  der 
Magenfistel  aus. 

Am  8. 11.97  wurde  Fat.  unmittelbar  über  der  Clavicula  oesophagotomirt, 
der  Oesophagus  in  das  Niveau  der  äusseren  Haut  gezogen  und  mit  dieser  ver- 
näht. Wundverlauf  ohne  Besonderheiten,  nach  Heilung  der  Wunde  wurde 
wiederholt  versucht,  die  Strictur  von  der  SpeiserÖhrenfistel  aus  zu  sondiren. 
Man  kam  von  der  Fistel  nach  15  cm  auf  die  Strictur.  Starke  Speichelsecretion 
aus  der  Oesophagusfistel  heraus.  Auch  auf  diese  Weise  gelang  es  nicht  durch 
die  Verengerung  durchzukommen.  In  Folge  dieses  Zustandes  wurde  Fat.  fast 
von  Tag  zu  Tag  aufgeregter,  vermochte  nur  unter  Morphium  in  ziemlichen 
Dosen  zu  schlafen  und  erklärte  wiederholt,  dass  er,  wenn  ihm  nicht  geholfen 
werden  würde,  sobald  als  möglich  einen  neuen  Selbstmordversuch,  diesmal 
aber  mit  sicherem  Erfolge,  ausführen  werde. 

Am  1.  12.  97  wurde  in  Narkose  versucht  von  hinten  her  nach  Resection 
einiger  Rippen  auf  den  Oesophagus  zu  kommen,  um  eventuell  das  Hindcrniss 
zu  beseitigen. 

Operateur:  Frof.  Dr.  Rehn.  Chloroformnarkose  nach  0,02  Morph,  sub- 
cutan. Narkose  äusserst  unruhig.  Schnitt  auf  der  rechten  Seite  des  Rückens 
beginnend  am  Proc.  spin.  thor.  IV,  von  dort  in  grossem  nach  aussen  rechts 
verlaufenden  Bogen  bis  10  cm  Distanz  ungefähr  von  der  Wirbelsäule  entfernt 
zum  Proc.  spin.  thor.  Vlll  verlaufend.  Der  Schnitt  durchtrennt  sämmtliche 
Weichtheile  bis  auf  die  Rippen.  Zurückpräparation  des  Hautweichtheillappens 
bis  fast  zu  seiner  Basis  an  der  Wirbelsäule  und  Zurückklappen  desselben. 
Nunmehr  Abhebelung  des  Periostes  an  den  einzelnen  Rippen  und  Resection 
derselben,  beginnend  an  der  8.  und  schrittweise  bis  zur  4.  aufsteigend,  unge- 
fähr ebenfalls  10  cm  vom  vertebralen  Ende  entfernt.  Nach  Durchtrennung  der 
Rippen   werden   die  Fragmente   nach   rechts  und  nach  links  zurückgezogen, 


746  Dr.  Tlehn, 

wodurch  die  Thoraxöffnung  zum  breiten  Klaffen  g;ebracht  wird.  Bei  diesem 
Zurüclizichcn  brechen  die  7.  und  8.  Rippe  nahe  der  Wirbelsäule  ab  und  worden, 
da  sich  die  ziemlich  spitzen  und  scharfrandigen  Fracturstellen  gegen  die  bis- 
her unverletzte  Pleura  vordrängen  und  Gefahr  einer  Brust  feil  Verletzung  vor- 
liegt, vollständig  entfernt.  Es  wird  nunmehr  die  Pleura  costalis  dextra  stumpf 
von  den  zurückgeschlagenen  Rippen  und  dem  vorderen  Theil  der  Wirbelsäule 
zurückgedrängt,  was  sehr  leicht  ohne  Verletzung  derselben  gelingt.  Mittelst 
breiter  und  lanjrer  Ifaken  wird  die  abgelöste  Pleura  costalis  mitsamrat  der 
rechten  Lunge  zurückgehalten  und  dadurch  eine  grosse  Höhle  gebildet,  welche 
sich  bis  zum  vorderen  Rand  der  Wirbelkörpcr  erstreckt,  und  die  im  hinteren 
Mediastinum  liegenden  Organe  mit  Deutlichkeit  überschauen  lässt.  Ein  in  die 
Oesophagusfistcl  bis  zur  Strictur  eingeführtes  Schlundrohr  fühlt  man  aufs  ge- 
naueste von  der  Wunde  aus  durch  die  frei  zu  Tage  liegende  Oesophaguswand 
hindurch  im  Bereich  des  oberen  Theiles  der  Wundhöhle  an  der  Vorderfläche 
der  Wirbelkörpcr. 

Inzwischen  ist  die  Narkose  sehr  unruhig  geworden,  Fat.  athmet  sehr 
schwer  und  unregelmässig.  Bei  joder  Respiration  prosst  sich  die  Pleura  stark 
aus  der  äusseren  Wunde  hervor  und  reisst  plötzlich  in  Folge  Hängenbloibens 
an  einem  Rippenstumpf  ein.  Unter  zischendem  Geräusch  coUabirt  die  Lunge; 
Die  Athmung  wird  immer  schwieriger  und  oberflächlicher,  der  Puls  wird  eben- 
falls geringer,  so  dass  man  nach  Anlegung  einiger  Nähte  durch  die  Pleura- 
wunde  die  Operation  abzubrechen  gezwungen  ist.  Die  Höhle  wird  mit  Jodo- 
formgaze tamponnirt,  der  zurückgehaltene  Lappen  in  seine  ursprüngliche  Lage 
auf  den  Tampon  zurückgeklappt  und  mit  einigen  Nähten  fixirt.    Verband. 

Nach  der  Operation  erholt  sich  Pat.  relativ  rasch,  klagt  nur  über  sehr 
heftige  Schmerzen  in  der  Brust  und  über  Luftmangel.  Puls  beschleunigt  und 
klein,  aber  regelmässig.  Athmung  ziemlich  oberflächlich.  —  2.  12.  Verband- 
wechsel, da  der  Verband  durchfeuchtet.  Tampon  bleibt  liegen.  Es  besteht 
vollständiger  rechtsseitiger  Pneumothorax.  Klagen  über  Schmerzen  heftiger 
Art  in  der  Brust  und  Luflmangel.  —  3.  12.  Puls  Morgens  sehr  frequent  und 
klein.  Schmerzen  und  Luftmangel  stärker  wie  zuvor.  Reichliche  Narcotica, 
w^orauf  Athmung  freier  und  Puls  besser  wird.  —  6.  12.  Nachdem  Pat.  sich 
Tags  zuvor  aehr  elend  befunden  hatte,  stets  über  heftige  Schmerzen  und 
grossen  Luftmangel  geklagt,  auch  mehrmals  Erbrechen  gehabt  hatte,  sind  heute 
die  Schmerzen  im  Allgemeinen  geringer,  nur  strahlen  dieselben  noch  in  alter 
Intensivität  in  den  rechten  Arm  aus.  Athmung  immer  noch  beschleunigt,  auf- 
fallend ruhiger  im  Schlaf,  Puls  kräftiger,  aber  immer  noch  beschleunigt. 
Nahrungsaufnahme  durch  die  Magenüstel  ohne  Brechreiz  genügend.  —  Ver- 
bandwechsel, da  leichte  Temperatursteigerung  zu  verzeichnen,  und  Entfernung 
der  Tampons  aus  der  Wundhöhle.  Die  Tampons  sind  von  Secret  sehr  durch- 
tränkt, jedoch  findet  sich  keine  Retention  vor.  Aussehen  der  Wunde  selbst 
reactionslos.  Rechtsseitig  noch  immer  completer  Pneumothorax,  man  hört  die 
Luft  nach  Entfernung  der  Tampons  laut  in  die  Pleurahöhle  ein-  und  aus- 
streichen. Kleinere  Tamponade  der  Höhle.  —  Nach  dem  Tamponwechsel  ist 
die  Athmung  ruhiger,  auch  haben  die  heftigen  Schmerzen  nachgelassen,  nur 


Operationen  an  dem  Brustabschnitt  der  Speiseröhre.  747 

von  Zeit  zu  Zeit  schreit  Fat.  laut  auf  und  klagt  über  lebhafte  dnrcbschiessende 
Schmerzen  im  Rücken,  die  von  der  Operationsgegend  bis  in  das  rechte  Bein 
ausstrahlen  sollen.  —  8.  12.  Wunde  vollkommen  reactionslos.  Pneumothorax 
besteht  fort.  Es  legt  sich  der  zurückpräparirte  Hautlappen  immer  mehr  und 
mehr  in  die  Wundhöhle  hinein.  Gegen  Abend  Temperatursteigerung  bis  über 
38°.  —  9.  12.  Allgemeiner  Zustand  leidlich,  Pat.  hat  noch  immer  Schmerzen 
4m  Rücken,  besonders  beim  Liegen  und  bringt  daher  den  Tag  und  die  Nacht 
meist  in  halb  oder  ganz  sitzender  Stellung  zu.  Wunde  sieht  gut  aus,  geringe 
Sccretion  vorhanden.  Rechts  besteht  noch  immer  Pneumothorax,  nirgends 
Athmungsgeräusch  wahrnehmbar.  Ab  und  zu  Anfalle  von  stärkerer  Athem- 
noth,  besonders  nach  kleinen  Aufregungen,  die  entweder  spontan  oder  auf 
Morphium  zurückgehen.  Pat.  ist  überhaupt  Nachts  sehr  unruhig.  —  12.  12. 
Pat.  hat  besonders  Abends  immer  Temperatursteigerungen,  ohne  dass  eine 
Secretretention  oder  Infcction  der  Wunde  nachzuweisen  ist.  Es  wird  eine 
Probepunction  der  abhängigsten  Partien  der  rechten  Pleura  von  der  Wunde 
aus  vorgenommen  mit  negativem  Erfolg.  Athmungsgeräusch  rechts  noch  nicht 
wahrzunehmen,  Percussion  ergiebt  rechts  überall  vorn  und  seitlich  hellen 
tympanitischen  Schall.  Auf  der  linken  Lunge  normale  Verhältnisse.  —  14.  12. 
In  der  Wundhöhle  der  abgelösten  Pleura  aufsitzend  leichte  übrinöse  Beläge, 
keine  abnorme  Secretion  der  Wunde.  Allgemeinbefinden  bedeutend  besser, 
Athmung  ausgiebiger  und  Puls  kräftig  und  regelmässig.'  Die  Wundhöhle 
wird  mit  Borlösung  ausgespült.  —  17.  12.  Allmäliger  Rückgang  der  Fieber- 
temperaturen, trotzdem  die  fibrinösen  Beläge  der  Wundhöhle  reichlicher  ge- 
worden sind,  und  die  Anfangs  nur  in  geringem  Maasse  vorhandene  Secretion 
erheblich  zugenommen  hat.  Es  sind  zeitweise  stärkere  Schmerzen  vorhanden, 
die  jedoch  meist  wieder  nach  kurzer  Dauer  vorüberzugehen  pflegen.  Der  Haut- 
weichtheillappen  legt  sich,  trotz  reichlicher  Unterpolsterung  mittelst  eingeführter 
Tampons  immer  mehr  in  die  Wundhöhle  hinein,  wodurch  ein  freier  üeberblick 
über  die  gesammte  Wunde  allmälig  unmöglich  geworden  ist.  Man  vermag  von 
der  Wunde  aus  nicht  mehr  die  Bewegungen  des  Oesophagus  zu  erkennen, 
welche  durch  ein  in  die  Halsfistel  bis  auf  die  Strictur  geführtes  Bougie  hervor- 
gerufen werden  können.  —  19.  12.  Es  wird  mit  einem  Catheter,  an  demselben 
luftdicht  angebunden,  ein  kleiner  Gummiballon  durch  die  Oesophagusfistel  bis 
auf  die  Strictur  hinab  eingeführt  und  im  Oesophagus  aufgeblasen.  Auch  hier- 
bei kann  man  keinerlei  Auftreibung  der  Speiseröhre  oder  irgend  welche  Be- 
wegungen in  der  Tiefe  der  Wundhöhle  wahrnehmen.  Die  Wundhöhle  ist  nun- 
mehr mit  dicken  fibrinösen  Belägen  vollständig  austapezirt,  Secretion  ziemlich 
reichlich.  Allgemeinbefinden  unverändert,  nur  Nachts  immer  grosse  Unruhe 
und  Aufregungszustände,  die  die  Anwendung  von  Morphium  und  dergleichen 
erforderlich  machen. 

24.  12.  Täglicher  Verbandwechsel  und  Neu-Tamponnade  der  Wundhöhle 
durch  den  in  Folge  Einziehung  des  Hautweichtheillappens  immer  mehr  ver- 
kleinerten Zugang.  Die  Wunde  secernirt  eitrige  mit  fibrinösen  Fetzen  durch- 
setzte Flüssigkeit.  Kein  Fieber.  Versuche,  den  Oesophagus  von  unten  durch 
die  gut  functionirende  Magenfistel  zu  sondiren,  misslingen ;  ebenso  die  vom 


748  Dr.  Rehn, 

Magen  aus  versuchte  Auftreibung  des  unter  der  Fistel  belegenen  Oesophagus- 
abschnittes.  Pat.  hat  in  der  letzten  Zeit  wieder  mehrmals  durch  die  Magen- 
fistel erbrochen,  sieht  seit  einigen  Tagen  viel  elender  aus  als  zuvor,  fühlt  sich 
auch  im  höchsten  Grade  schwach  und  abgespannt.  Häufige  Einführungen  nur 
kleiner  Speisemengen.  Bism.  subnitr.  pro  die  4  g  mit  gutem  Erfolge.  —  27. 12. 
Magenbeschwerden  haben  nachgelassen.  Nahrungsaufnahme  und  Verdauung 
geht,  nach  Aussetzen  jeglicher  Versuche  durch  die  Magenfistel  in  den  Oeso- 
phagus zu  gelangen,  wieder  normal  vor  sich.  Aussehen  und  Allgemeinbefinden 
des  Pat.  besser.  Zustand  der  Wunde  unverändert,  Secretion  eitriger  Flüssig- 
keit aus  der  Wunde  dauert  fort,  kein  Fieber.  Die  rechte  Lunge  hat  sich  zum 
Theil  wieder  ausgedehnt,  Pneumothorax  vorn  nicht  mehr  nachweisbar.  Pat. 
klagt  über  starke  Schmerzen  im  rechten  Arm,  Fixationsverband  des  Annes, 
worauf  die  Beschwerden  nachlassen.  —  3.  1.  98.  Im  Allgemeinen  keine 
Aenderung  im  Zustand,  ab  und  zu  starke  Schmerzen  in  der  Brust,  die  meist 
spontan  wieder  nachlassen.  —  5.  1.  Pat.  befindet  sich  im  Allgemeinen  leidlich 
wohl,  bringt  einige  Stunden  des  Tags  ausser  Bett  zu.  Secretion  der  Wunde 
gering.  Der  Zugang  zur  Wundhöhle  hat  sich  immer  mehr  verkleinert,  so  dass 
die  Tamponeinführungsstelle  nur  noch  etwa  daumengross  ist.  Der  Einblick  ist 
dadurch  nur  noch  in  sehr  geringem  Grade  möglich,  die  Vorderfläche  der 
Wirbelkörper  ist  nicht  mehr  zu  erkennen.  Die  rechte  Lunge  hat  sich  immer 
mehr  ausgedehnt.  Athmungsgeräusch  rechts  deutlich  und  ohne  Nebengeräusche 
wahrnehmbar.  —  9.  1.  Keine  Aenderung,  nur  hat  sich  der  Kräftezustand  des 
Pat.  unter  reichlicher  Nahrungszufuhr  noch  gehoben.  Aussehen  des  Pat.  gut. 
Die  nochmals  verschiedentlich  vorgenommenen  Sondirungsversuche ,  sowohl 
von  oben  als  von  unten  her,  scheitern  sämmtlich.  —  10.1.  Operation  in  Chloro- 
formnarkose nach  0,02  Morphium  subcutan,  unmittelbar  zuvor  1  Glas  griech. 
Wein.   Operateur:  Prof.  Dr.  Rehn. 

Verlauf  der  Narkose  leidlich  ruhig,  nur  ab  und  zu  stärkeres  Spannen. 
Pat.  liegt  auf  der  linken  Seite  auf  einem  grossen  Nierenoperationskissen. 

Schnittführung  in  der  alten  Narbe,  um  den  bei  der  ersten  Operation  ge- 
bildeten Hautmuskel  läppen  mitsammt  den  Rippen  wieder  zurückzuschlagen. 
Es  zeigt  sich,  dass  die  früher  durchtrennten  Rippen  durch  ziemlich  beträcht- 
liche Callusmassen  wiederum  fest  verwachsen  sind,  so  dass  oben  und  unten 
eine  Mobilisirung  der  Rippen  erst  nach  einer  neuen  Resection  erzielt  werden 
kann.  Hierauf  wird  der  Lappen  mit  den  Rippenstümpfen  zurückgeklappt,  wo- 
durch der  Eingang  zur  alten  Wundhöhle  frei  zugänglich  wird.  Die  Höhle  ist 
rings  an  iliren  Wänden  bedeckt  von  dicken  fibrinös  belegten  Schwarten  und 
Granulationen,  vor  denen  nach  vorn  zu  die  rechte  Lunge  vollkommen  abge- 
schlossen sich  bei  der  Athmung  bewegt;  es  ist  unmöglich  von  der  Wundhöhle 
aus  den  Oesophagus  und  die  übrigen  Organe  des  hinteren  Mediastinums  zu 
sehen,  oder  auch  blos  durch  die  Schwarten  hindurch  in  der  Tiefe  eine  bis  auf 
die  Strictur  in  den  Oesophagus  eingefüiirtc  Sonde  zu  fühlen.  Auch  gelingt 
dies  nicht  nach  Wegnahme  der  Granulationen  mit  dem  scharfen  Löffel.  Es 
wird  nunmehr  gegen  die  Ursprungstheile  der  Rippen  und  peripheren  Enden 
der  Wirbelquerfortsätze,  mit  einem  Scalpell  die  dicke  aufsitzende  Schwarte  in 


Operationen  an  dem  BVustabschnitt  der  Speiserölire.  749 

Ausdehnung  der  Wunde  von  oben  nach  unten  gespalten,  und  von  diesem 
Schnitt  aus  analog  nach  der  Ablösung  der  Pleura  costalis  bei  der  1.  Operation, 
die  Schwarte  von  den  Rippen  und  Wirbelkörpern  relativ  leicht  und  ohne  er- 
hebliche Blutung  abgedrängt,  und  mit  einem  stumpfen  Haken  gegen  das  Lumen 
der  alten  Wundhöhle  zusammen  mit  der  rechten  Lunge  nach  vorn  gezogen. 
Hierbei  reisst  in  der  Tiefe  die  stark  verdickte  Pleura  ein,  doch  sinkt  die  Lunge 
in  Folge  breiter  Verwachsung  beider  Pleurablätter  nicht  zurück.  Nach  Ablösung 
der  Schwarten  gelingt  es  mit  dem  tastenden  Finger  bis  auf  die  Gegend  des 
Oesophagus  vorzudringen,  der  an  der  Vorderfläche  der  Wirbelkörper  etwa  in 
der  Mitte  des  Operationsgebietes,  also  der  6.-7.  Rippe  entsprechend,  auf  der 
rechten  Seite  liegt.  Man  fühlt  deutlich  durch  die  Oesophaguswand  hindurch 
die  in  die  Fistel  von  oben  eingeführte  Sonde.  Unter  ganz  unwesentlicher 
Blutung  wird  theils  stumpf,  theils  präparatorisch  mit  feinem  Messerchen  die 
Isolirung  und  Mobilisirung  unter  genauer  Beobachtung  des  N.  vagus  vorge- 
nommen, zunächst  nach  vorn,  wobei  man  bis  zum  Herzbeutel  und  weiter  nach 
links  bis  zur  Aorta  vordringt  und  deutlich  die  Pulsation  derselben  und  des 
Herzens  zu  fühlen  im  Stande  ist.  Bei  dieser  Mobilisirung  des  Oesophagus 
kommt  auch  die  Vena  azygos  zu  Gesicht,  die  geschont  wird.  Auch  von  hinten 
her  wird  versucht,  den  Oesophagus  aus  seiner  Umgebung  loszulösen,  um  ihn 
aus  der  grossen  Tiefe  der  Wunde  mehr  in  das  Niveau  der  äusseren  Haut  zu 
ziehen.  Um  den  ganzen  Oesophagus  läuft  das  feine  Vagusgeflecht  herum, 
welches  nach  Möglichkeit  erhalten  und  mit  dem  Nervcnhauptstamm  nach  vorn 
stumpf  abgelöst  wird.  Auf  diese  Weise  gelingt  es  relativ  leicht,  den  Oesophagus 
an  dem  Beginn  der  Sti'ictur  zu  mobilisiren  und  vormittelst  der  eingeführten 
starren  Sonde  gegen  den  Operateur  und  das  Hautniveau  emporzuheben.  Ein 
Weiterführen  der  Sonde  über  15  cm  von  der  Oesophagusfistel  aus,  ist  unmög- 
lich. Es  wird  nun  mit  der  Loslösung  des  Oesophagus  ays  seiner  Umgebung 
nach  unten  zu  fortgefahren,  es  zeigt  sich,  dass  hier  die  Adhäsionen  bedeutend 
stärker  werden,  und  durch  dieselben  der  Oesophagus  mehr  nach  links  zu  fixirt 
wird.  Beim  Fortschreiten  der  Isolirung  des  Oesophagus  dringt  die  Sonde 
plötzlich  einige  Centimeter  tiefer,  was  auf  der  Ausgleichung  der  vorher  er- 
wähnten Dislocirung  und  Fixirung  nach  links  beruhte  (Perioesophagitis).  Ein 
weiteres  Vorschieben  der  Sonde  ist  nicht  ausführbar.  Die  Wand  des  Oeso- 
phagus an  dieser  Stolle,  wo  er  zugleich  von  rechts  über  die  Aorta  nach  links 
lind  vorn  zum  Foramen  oesopbagum  verläuft,  ist  stark  verdickt.  Es  wird  jetzt 
etwa  in  der  Höhe  des  7.  oder  8.  Brustwirbels  in  den  Oesophagus  quer  zu 
seiner  Achse  verlaufend  eine  Incision  gemacht  von  ungefähr  1  cm  Länge.  Die 
Wand  ist  sehr  derb,  etwa  4—5  mm  dick,  die  Blutung  aus  der  Wand  ist  uner- 
heblich. Durch  die  IncisionsötTnung  wird  in  das  Oesophaguslumen  eine  dünne 
Sonde  eingeführt,  welche  ohne  weiteres  10 — 15  cm  tiefer  gegen  den  Magen 
vorgeschoben  werden  kann,  der  Versuch  ein  stärkeres  Bougie  durchzubringen 
misslingt,  weshalb  der  Schnitt  mittelst  einer  Längsincision  nach  unten  ver- 
grössert  wird.  .Jetzt  passirt  ein  stärkeres  klein  fingerdickes  Bougie  ohne 
Schwierigkeit,  besonders  nachdem  die  unmittelbar  hinter  der  Eröffnung  des 
Oesophagus  liegende  Partie  noch  mit  der  Kornzange  gedehnt  ist.     An  dieser 

AifliiT  fllr  kliii.  Cliinir^dc.     67.  Bd.    Heft  4.  ^q 


750  Dr.  Rehn, 

Stelle  befand  sich  nämlich  die  hochgradige  Verengerung  des  Oesophagus- 
lumens,  welche  besonders,  da  durch  perioesophageale  Verwaohsungcn  noch 
eine  Drehung  des  Speiserohres  zu  Stande  gekommen  war,  für  das  Passiren  der 
Sonden  stets  ein  unüberwindliches  Hindemiss  abgegeben  hatte.  £s  wurden 
nunmehr  noch  Sonden  bis  zur  Fingerstärke  hindurch  bis  in  den  Magen  geHihrt, 
und  mit  einer  durch  die  Fistel  in  den  Magen  geleiteten  Kornzange  zu  fassen 
versucht.  Nach  verschiedenen  Misserfolgen  dieser  Art  gelang  es  schliesslich 
unter  Einführung  eines  Fingers  durch  die  Fistel  das  Sondenende  zu  fühlen, 
auf  dem  Finger  mit  der  Zange  zu  fassen  und  durch  die  Fistel  herauszuziehen. 
An  dem  Sondenknopf  wird  ein  starker  Seidenfaden  befestigt,  und  derselbe 
durch  die  Oesophagus  wunde  und  weiter  zur  Halsfistel  herausgeleitet  Mittelst 
dieses  Seidenfadens  wird  jetzt  eine  an  ihm  befestigte  mittelstarke  Schlundsonde 
von  der  Oesophagusfistel  zum  Magen  und  von  hier  zur  Gasbrostomiewuode 
herausgezogen.  Die  Eröffnung  des  Oesophagus! umens  in  seinem  Brusttheii 
wird  über  der  Schlundsonde  mittelst  Naht  quer  geschlossen.  Um  den  Oeso- 
phagus herum  wird  ein  Jodoformgazetampon  gelegt,  ein  zweiter  grosser  direct 
auf  die  Naht  des  Oesophagus  und  aus  der  Wunde  herausgeleitet;  darauf  der 
zurückgeschlagene  Hautweichtheillappen  wieder  in  seine  ursprüngliche  Lage 
zurückgebracht  und  mit  einigen  Situationsnähten  iixirt.  Nach  dem  Erwachen 
aus  der  Narkose  klagt  der  Fat.  über  heftige  Schmerzen  in  der  Brust  und  Athem- 
noth.  Puls  leidlich  kräftig  und  regelmässig.  Aussehen  collabirt,  Temp.  35,0, 
im  Laufe  des  Tages  allmälig  zur  Norm  ansteigend. 

Pat.  ist  im  Allgemeinen  sehr  unruhig,  klagt  Abends  über  unerträglichste 
Schmerzen  in  der  Brust  und  heftige  Athemnoth,  weswegen  er  Morphium  sub- 
cutan bekommt,  worauf  er  ruhiger  wird.  Es  besteht  Brechreiz  und  mehrmfUiges 
Erbrechen  aus  der  Magenfistel.  Puls  gegen  Abeud  kräftig  und  regelmässig, 
etwas  beschleunigt.  Aussehen  des  Pat.  besser  als  unmittelbar  nach  der 
Operation.  —  11.  1.  In  der  Nacht  wird  der  Puls  allmälig  immer  lebhafter, 
Pat.  ist  sehr  unruhig,  klagt  über  Schmerzen  in  der  Brust  und  Athemnoth, 
Gegen  Morgen  Puls  kaum  fühlbar,  ca.  200  Schläge  per  Minute.  Dabei  kalter 
Seh  Weissausbruch,  Athmung  nicht  sehr  beschleunigt.  Klagen  über  Athemnoth 
und  Beklemmungsgefühl  über  der  Brust.  Reichlich  Oampherinjectionen  und 
Wein  per  Fistel,  worauf  sich  der  Puls  langsam  bessert,  ebenso  wie  das  All- 
gemeinbefinden. —  11  Uhr  Vorm.  Verbandwechsel.  Puls  immer  noch  sehr 
frequent  und  klein,  150  pro  Minute.  Entfernung  der  Situationsnähte  und  Her- 
ausnahme des  Tampons  aus  der  WundhÖhle,  worauf  sich  hinter  den  Tampons 
eine  kleine  Menge  Secretes  entleert.  Einführung  zweier  Drains  und  leichter 
Occlusivverband,  ohne  Tamponnade  der  Höhle.  Nach  dem  Verbandwechsel 
bessert  sich  der  Zustand  zunächst  etwas.  Die  Athmung  wird  freier,  das  Be- 
klemmungsgefühl über  der  Brust  und  die  Schmerzen  lassen  angeblich  nach. 
Puls  jedoch  immer  noch  stark  beschleunigt  (160)  und  unregelmässig.  Starker 
heisser  Kaffee  per  Fistel,  Campherinjection.  —  12  Uhr.  Puls  immer  noch  stark 
beschleunigt  und  unregelmässig,  Athmung  jetzt  vollkommen  frei,  ruhig  und 
tief,  Nachlassen  der  Schmerzen.  Allmälig  wird  der  Puls  immer  kleiner  und 
unregelmässiger   bis   zur  ünfühlbarkeit,   Extremitä^n   und  Nasenspitze   kalt. 


Operationen  an  dem  Brastabschnitt  der  Speiseröhre.  751 

Äthmüng  wird  beschleunigter  ond  oberflächlicher.  Leichte  Cyanose,  allmäliger 
Schwund  des  Bewusstseins.  Um  1,55  Minuten  unter  weiterem  Fortschreiten  der 
Herzschwäche,  Exitus  letalis. 

Der  zweite  Fall,  in  welchem  eine  Freilegung  des  Oesophagus  von 
hinten  erfolgte,  betraf  einen  49jährigen  Bauern,  M.  W. ,  welcher  an  einem 
Oesophaguscarcinom  litt.  Patient,  der  sonst  immer  gesund  gewesen  sein  will, 
bemerkte  im  Juli  1897  Schluckbeschwerden,  namentlich  für  festere  Speisen. 
Ailmälig  verschlechterte  sich  der  Zustand  unter  gleichzeitiger  Krstfteabnahme 
so  sehr,  dass  seit  Anfang  December  feste  Speisen  überhaupt  nicht  mehr  ge- 
nossen werden  konnten,  weswegen  Patient  verschiedene  Autoritäten  consultirte, 
die  ihm  Aufnahme  in  ein  Krankenhaus  anriethen.  Bei  der  Untersuchung  ergab 
sich,  dass  28  om  von  den  oberen  Schneidezähnen  entfernt  die  Sonde  auf  ein 
Hinderniss  im  Oesophagus  stiess,  welches  für  dickere  Nummern  nicht  zu  über- 
winden war.  Durchleuchtung  mit  Röntgenstrahlen  zeigte,  dass  eine  Metall- 
sonde bis  zur  Höhe  des  IV.  Brustwirbels  vordringen  konnte  und  deutlich  auf 
der  linken  Seite  des  Wirbelkörpers  mit  ihrem  Ende  lag.  Die  Diagnose  konnte 
nicht  zweifelhaft  sein,  es  handelte  sieh  um  ein  Oesophaguscarcinom.  Am 
28.  Jan.  wurde  eine  Gastroenterostomie  angelegt  und  seitdem  die  Ernährung 
durch  die  Fistel  ausgeführt.  Trotz  reichlicher  Nahrungszufuhr  in  concentrir- 
tester  Form  hob  sich  der  Kräftezustand  des  Patienten  nur  wenig,  im  Gegen- 
theii,  die  schon  bei  der  Aufnahme  etwas  cachektische  Gesichtsfarbe  nahm  zu, 
ebenso  klagte  Patient  nach  längerem  Zubringen  ausser  Bett  immer  über  grosse 
Mattigkeit.  Zugleich  wurde  bemerkt,  dass  der  Auswurf  des  Patienten  einen 
stark  fauligen  Geruch  annahm,  der  sich  trotz  Gurgeln  mit  desinficirenden  Lö- 
sungen nur  wenig  einschränken  liess.  Denselben  Foetor  wie  im  Sputum  nahm 
man  in  der  Umgebung  der  Magen fistel,  besonders  am  Morgen  und  beim  Wech- 
sein des  Magenrohres  wahr,  so  dass  es  auf  der  Hand  lag,  dass  das  Carcinom 
im  jauchigen  Zerfall  begriffen  war  und  die  Zerfallsproducte  theils  nach  oben 
mit  dem  Sputum  entleert  wurden,  theils  nach  unten  in  den  Magen  hinab- 
flössen. Aus  diesem  Grunde  wurden  täglich  Ausspülungen  des  Magens  durch 
die  Fistel  vorgenommen  und  durch  dieselbe  in  Zersetzung  begriffene  Speise- 
reste in  groser  Menge  entfernt.  Nachdem  diese  Magenspülungen  einige  Zeit 
lang  fortgesetzt  waren,  hob  sich  mit  einem  Male  der  Körperzustand,  Patient 
fühlte  sich  kräftiger  und  nahm  trotz  der  gleichen  Ernährung  an  Körpergewicht 
zu.  Die  früher  häufig  auftretenden  Fiebertemperaturen  bis  38,6  wurden  im 
Anfang  nach  dem  Einführen  der  Magenspülungen  seltener  und  verschwanden 
schliesslich  ganz  und  gar.  Durch  diese  Beobachtungen  wurde  man  darauf  hin- 
geleitet,  dass  durch  das  ewige  Hinabfliesson  der  Gar cinomj auch o  und  Beimen- 
gung derselben  zu  der  Nahrung  eine  völlige  Ausnutzung  derselben  nicht  vor 
sich  ging,  und  dass  man  bestrebt  sein  musste,  die  Zerfallsproducte  nach  Mög- 
lichkeit auszuschliessen,  wenn  man  den  Patienten  noch  einige  Zeit  am  Leben 
erhalten  wotlte.  Unter  solchen  Erwägungen  reifte  der  Plan,  ähnlich  wie  bei 
dem  erst  geschilderten  Fall  vorzugehen  und  von  hinten  den  Oesophagus  frei- 
zulegen, um  eventuell  unterhalb  des  Carcinoms  den  Oesophagus  zu  reseciren 
und  mittelst  Occlusivnaht  zu  verschliessen,  oder  direct  das  Carcinom  nach 

50* 


752  Dr.  Rehn, 

aussen  zu  drainiren,  da  eine  Totalexstirpation  des  aller  Wahrscheinlichkeit 
nach  schon  weit  vorgeschrittenen  Carcinoms  nicht  mehr  ausfüiirbar  zu  sein 
schien.  Die  Operation  wurde  am  25.  März  vorgenommen.  Bildung  eines 
giossen  Hautmuskollappens  auf  der  rechten  Ruckenseite,  vom  3.  Hals-  bis 
8.  Brustwirbel,  genau  wie  bei  der  ersten  Operation.  Freilegung  einer  Rippe 
und  Resection  derselben,  wobei  in  Folge  Verwachsungen  zwischen  Fascie  endo- 
thoracica  und  Pleura  costalis  die  Pleurahöhle  verletzt  wurde.  Die  Lunge  colla- 
birte  nichts  da  jedenfalls  anderweitige  Verwachsungen  zwischen  beiden  Pleura- 
blättern noch  bestanden.  Es  wurden  von  der  Resectionsstelle  sowohl  nach 
oben  als  nach  unten,  unter  mehrfacher  Verletzung  der  Pleura,  noch  mehrere 
Rippen  (III. — VI.)  resecirt,  worauf  man  nach  Auseinanderziehen  der  Rippen- 
stümpfe einen  Einblick  in  die  Brusthöhle  bekam.  Es  wurde  nunmehr  die 
Pleura  gegen  die  Vorderiläche  der  Wirbelkörper  abgelöst,  was  ganz  leicht  ge- 
lang. In  der  Tiefe,  entsprechend  der  normalen  Oesophaguslage,  fanden  sich 
starke  Verwachsungen.  Man  fühlte  etwas  unterhalb  der  Bifurcation  eine  derbe 
Tumormasse,  die  theils  stumpfem,  theils  scharfem  Lospräpariren  energischen 
Widerstand  entgegensetzte.  Eine  genaue  Orientirung  durch  das  Gesicht  war 
ebenso  wenig  wie  durch  Palpation  möglich.  Die  ganze  freiliegende  Partie  des 
hinteren  Mediastinums  pulsirte  lebhaft,  ohne  dass  eine  genaue  Grenze  zwischen 
der  Aorta,  dem  Herzbeutel  und  den  übrigen  Organen  zu  erkennen  war.  Unter 
diesen  Umständen  wurde  die  Operation  abgebrochen,  ein  Jodoformgazetampon 
in  die  Tiefe  gelegt,  mittelst  zweier  grösserer  steriler  Tampons  die  Rippen- 
stümpfe  geschützt.  Darauf  die  Weichtheilwunde  durch  einige  Nähte  ver- 
schlossen. 

Patient  erholte  sich  von  der  Operation  verhältnissmässig  sehr  rasch, 
klagte  nicht  viel  über  vSchmerzen,  Puls  und  Athmung  waren  ruhig,  die  Wund- 
hohle  secernirte  sehr  stark,  so  dass  täglich  ein-  bis  zweimal  der  vollständig 
durchfeuchtete  Verband  gewechselt  werden  musste.  Beim  Verbandwechsel 
häufig,  in  den  letzten  Tagen  mehr  als  in  den  ersten,  Coliapszustände,  welche 
reichlich  Camphor  erforderlich  machten.  Aber  auch  ohne  Verbandwechsel 
traten  in  der  letzten  Zeit,  besonders  Nachts,  derartige  Schwäcbeanfälle  auf, 
welche  unter  Verabreichung  von  Camphor  und  starkem  Kaffee  oder  Wein- 
klystieren  überwunden  wurden.  Im  Allgemeinen  wurden  die  Kräfte  aber 
schwächer,  und  als  noch  in  den  letzten  Tagen  Fiebertemperaturen  in  den 
Abendstunden  auftraten,  erfolgte  am  31.  März,  Nachts,  in  einem  neuen  Collaps 
der  Exitus  letalis. 

So  weit  (iio  Kranken-  und  üporationsgeschichten  unserer  beiden 
Patienten,  aus  denen  hervorgeht,  dass  es  technisch  sehr  wohl 
durchführbar  ist,  den  Oesophagus  in  seinem  Brusttheile  freizulegen 
und  etwaige  Eingriffe  an  demselben  vorzunehmen.  In  dem  zuletzt 
milgetheilten  Falle  veranlasste  der  äusserst  schlechte  Zustand  des 
Patienten  zu  einem  Eingriff,  dessem  Folgen  der  Kräftezustand  nicht 
^c:eAvachs(T.  war,   was  um    so  betrübender  war,   als    dem  Kranken 


Operationen  an  dem  Brustabsohnitt  der  Speiseröhre.  753 

durch  die  Operation  nichts  genützt  war.  Immerhin  lebte  der  Pa- 
tient noch  sechs  Tage  und  würde  ohne  seine  alte  Pericarditis, 
welche  die  Section  ergab,  vielleicht  die  Freilegung  des  Oesophagus 
überstanden  haben.  Anders  lag  die  Situation  im  ersten  Falle,  der 
einen  jungen  sonst  vollkommen  gesunden  Menschen  betraf  und  bei 
dem  sich  alles  darum  handelte,  die  normale  Passage  in  den  Magen 
wieder  herzustellen,  nachdem  alle  Sondirungsversuche  sowohl  von 
oben  als  vom  Magen  aus  fehlgeschlagen  waren. 

Was  die  Operation  selbst  betrifft,  so  ist  es  klar,  dass  der 
Zugang  zu  dem  eigentlichen  Operationsgebiet,  dem  im  hinteren 
Mediastinum  verlaufenden  Oesophagus,  nur  durch  eine  ausgiebige 
Durchtrennung  der  Rippen  mit  nachfolgender  Resection  grösserer 
resp.  kleinerer  Partien  aus  denselben  zu  erzielen  ist,  was  an  der 
Leiche  bei  einiger  Uebung  in  kurzer  Zeit  geschehen  ist.  Wesent- 
lich schwieriger  liegen  jedoch  die  Verhältnisse  bei  der  Operation 
am  Lebenden,  welcher  xAthemzüge  macht  und  öfter  noch  recht 
stürmische  bei  einer  unruhigen  Narcose.  Hier  ist  es,  wie  auch 
andere  Autoren  gelegentlich  ihrer  Mittheilungen  über  Operationen 
an  cariösen  W^rbelkörpem  mittheilen,  oft  unvermeidbar,  die  Pleura 
costalis  von  den  Rippen  ohne  Entstehung  eines  Pneumothorax  ab- 
zulösen. Jedenfalls  steht  fest,  dass  bei  Vermeidung  einer  Pleura- 
verletzung eine  grosse  Gefahr  und  Complication  der  Operation  ge- 
schwunden ist.  Geringer  ist  der  Umstand  zu  veranschlagen,  dass 
wir  genöthigt  sind,  während  der  Operation  durch  Zurücktamponniren 
der  rechten  Lunge  die  athmende  Fläche  derselben  zu  verkleinern. 
Die  Respiration  wird  vollkommen  genügend  von  der  linken  Lunge 
allein  ausgeführt  und  nach  der  Operation  dehnt  sich  trotz  Tam- 
ponnade  die  zurückgedrängte  Lunge  ziemlich  rasch  wieder  aus,  wie 
wir  uns  bei  der  ersten  Operation  unseres  ersten  Falles,  sowie  bei 
den  Autopsien  zu  überzeugen  Gelegenheit  hatten.  Eine  grosse  Er- 
leichterung bei  unserem  Vorgehen  bieten  schon  vor  der  Operation 
bestehende  Verwachsungen  beider  Pleurablätter  mit  einander,  wo- 
durch das  Zustandekommen  eines  Pneumothorax  mit  Collaps  der 
Lunge  sicher  vermieden  wird.  Eine  weitere  Frage,  die  sich  uns 
bei  Behandlung  des  Stoffes  aufdrängte,  war  die,  ob  sich  durch  Ver- 
legung des  Haut-  und  Rippenschnittes  mehr  nach  der  Wirbelsäule 
hin  und  Ablösung  der  Pleura  costalis  von  der  Fascia  endothoracica 
in     medialer    lateraler    Richtung    anstatt    lateral    medial,     wie 


754  Dr.  Rehn, 

wir  es  gethan  hatten,  leichter  eine  Pleuraverletzung  umgeben 
Hesse?  In  einem  Falle  von  artificieller  Ruptur  des  Oesophagus 
mittelst  Sonde,  der  zu  einem  Lungenabscesse  und  sccundärer  Sepsis 
geführt  hatte,  wurde,  um  dem  im  rechten  Oberlappcn  localisirten 
Abscess  Abfluss  zu  verschaffen,  so  vorgegangen,  dass  in  einem 
langen  parallel  zur  Wirbelsäule  verlaufenden  Schnitt  die  Gegend 
der  Rippenköpfchen  der  2. — 5.  Rippe  freigelegt  wurde  und  nach 
vorsichtiger  Ablösung  der  Pleura  von  zunächst  einer  Rippe  diese 
resccirt  wurde,  worauf  erst  die  Durchtrennung  der  anderen  folgte. 
Nach  Entfernung  der  drei  genannten  Rippen  unmittelbar  neben  der 
Wirbelsäule  in  einer  Ausdehnung  von  3 — 4  cm  war  genügend  Raum 
vorhanden,  um  mit  der  Hand  einzugehen  und  von  der  Rescctions- 
stelle  aus  die  Pleura  latcralwärts  in  grosser  Ausdehnung  abzu- 
drängen, was  in  dieser  Richtung  ungleich  leichter  als  in  lateral 
medialer,  wie  wir  es  bei  den  ersten  Operationen  gethan  hatten,  vor 
sich  ging.  Auf  diese  Weise  wurde  ein  grösserer  Bezirk  der  Pleura- 
oberHäche  ohne  Verletzung  derselben  freigelegt  und  nach  einigem 
Suchen  der  jauchige  gangränöse  Lungenabscess  gefunden  und  nach 
aussen  entleert.  Der  Patient,  der  sehr  elend  auf  den  Operations- 
tisch kam,  überstand  die  Operation  recht  gut,  leider  war  jedoch 
die  Sepsis  schon  so  weit  vorgeschritten,  dass  er  ihr  einen  Tag 
später  erlag. 

Fragt  man  nun  unter  Berücksichtigung  aller  erwähnten  Mo- 
mente, unter  welchen  Umständen  man  wohl  eine  immerhin  sehr 
eingreifende  Operation,  wie  die  geschilderte,  vorzunehmen  berechtigt 
wäre  —  denn  die  Ausführbarkeit  eines  Eingriffes  ohne  Verletzung 
lebenswichtiger  Organe  beweist  noch  lange  nicht,  dass  die  Opera- 
tion selbst  eine  zweckentsprtM^hende  ist  — ,  so  möchten  wir  schon 
jetzt  nach  unseren  geringen  Erfahrungen  behaupten,  dass  die  Frei- 
legung des  hinteren  Mediastinum,  spociell  des  Oesophagus,  unbe- 
dingt indicirt  ist  bei  allen  periösophagealen  Phlegmonen,  um 
direct  dem  Eiter  nach  aussen  Abfluss  zu  verschaffen  und  so  den 
Versuch  zu  machen,  ein  sonst  sicher  verlorenes  Leben  zu  retten. 
In  zweiter  Linie  käme  die  Operation  in  Betracht  bei  Fremd- 
körpern, welche  im  Brusttheil  des  Oesophagus  stecken  geblieben 
sind  und'  auf  keine  andere  Weise,  weder  nach  oben  noch  nach 
unten,  entfernt  werden  können.  Die  Gefahr,  eine  spontane  Be- 
freiung der  Fremdkörper  in  diesen  Fällen  abzuwarten,  welche  meist 


Operationen  an  dem  Brustabschnitt  der  Speiseröhre.  755 

erst  nach  mehr  oder  weniger  ausgedehnter  Druckgangrän  in  der 
Umgebung  mit  unmittelbar  oder  später  folgendem  Eintritt  einer 
tödtlichen  periösophagealen  Phlegmone  stattfindet,  scheint  uns  zum 
mindesten  ebenso  gross,  wie  eine  zum  Zwecke  der  directen  Ent- 
fernung von  hinten  her  vorgenommene  Operation.  Dass  es  endlich 
gutartige  Stricturen  der  Speiseröhre  giebt,  welche  jedem  Versuch 
der  Erweiterung  mittelst  Sonden  trotzen  und  bei  denen  einzig  und 
allein  Freilegung,  Spaltung  und  wieder  Nahtvereinigung  des  Oeso- 
phagus in  querer  Richtung  Aussicht  auf  Erfolg  und  Befreiung  von 
dem  unglücklichen  und  qualvollen  Dasein  selbst  mit  einer  gut 
functionirenden  Magenfistel  bietet,  beweist  unser  erster  Fall.  „Bei 
der  allerhäufigsten  Erkrankung  der  Speiseröhre,  dem  Carcinom, 
hat,  um  mit  v.  Hacker  zu  reden,  die  Klarstellung  der  Diagnose 
namentlich  in  den  Anfangsstadien  in  vielen  Fällen  eine  grosse 
klinische  Bedeutung.  Die  Frühdiagnose  in  solchen  Fällen  würde 
auch  in  therapeutischer  Beziehung  einen  hohen  Werth  gewinnen, 
wenn  es  in  Zukunft  gelänge,  durch  operative  Methoden, 
wenigstens  an  bestimmten  Stellen,  durch  Entfernung  des 
Carcinoms  ähnliche  Erfolge  zu  erzielen,  wie  dies  bei  man- 
chen Darmcarcinomen  der  Fall  ist."  Ob  und  in  wie  weit  dieses 
hohe  Ziel  sich  erfüllen  wird,  muss  die  Zukunft  lehren. 


XLIX. 

Zur  Operation  des  Stirnhöhlenempyems/^ 

Von 

Professor  Dr.  Oartta, 

Oberant  in  Danzig. 

(Mit  3  Figuren.) 


Die  operative  Behandlung  des  Empyems  der  Stirnhöhle  hat 
fast  ebenso  viele  Methoden  als  Autoren,  welche  über  diesen  Gegen- 
stand geschrieben  haben.  Zur  Heilung  sind  diese  Empyeme,  wie 
es  scheint,  nach  allen  Methoden  gebracht  worden,  aber  das  Klage- 
lied von  einer  langen  Heilungsdauer  mit  einer  die  Geduld  er- 
schöpfenden Nachbehandlung,  von  Fistelbildung  und  Nachoperationen, 
und  von  entstellenden  Narben  klingt  durch  viele  dieser  Veröffent- 
lichungen durch. 

Die  osteoplastischen  Trepanationen  der  Stirnhöhle  nach 
Czerny2)  und  nach  Küster^)  mit  nachfolgender  Drainage  nach 
der  Nasenhöhle  liaben  wohl  die  wesentlichsten  Nachtheile,  welche 
früheren  Methoden  anhafteten,  beseitigt,  und  sie  dürften  wohl  heute 
von  vielen  Chirurgen  geübt  werden.  So  ganz  schnell  erfolgt  aber 
auch  hier  die  Heilung  nicht,  nach  meinen  Erfahrungen  deswegen, 
weil  die  Drainage  nach  der  Nasenliölile  nicht  immer  gut  functionirt. 
Das  dünne  Drain,  welches  man  durch  die  künstlich  angelegte 
Perforationsöffnung    nach    der  Nasenhöhle  hindurchzieht,    verstopft 


1)  Abgekürzt    vorgetragen    am    4.    Sitzungstagc    des    XXVII.    Congresses 
der  Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  16.  April  1898. 

2)  V.  Czcrny,  Osteoplastische  Eröffnung  der  Stirnhöhle.     Verhaudl.  der 
Deutschen  Gesellschaft  f.  Chirurgie  zu  Berlin.     1895,  II,  S.  211. 

3)  Mitgethcilt    in    der    Inaug.-Dissert.    von    Gustav  Hupperz,    Die  Er- 
krankungen der  Stirnhöhlen  und  ihre  Behandlung.    Marburg  1896. 


Zur  Operation  dos  Stirahöhlonempyems.  757 

sich  gar  zu  leicht,  und  man  ist  dann  für  längere  Zeit  auf  Drainage 
durch  die  Operationswunde  und  Ausspülungen  angewiesen.  Das 
dürfte  wohl  auch  der  innere  Grund  sein,  dass  eine  Reihe  von 
Operateuren  wie  Herz  fei  d^),  Kuhnt^)  u.  A.  bei  der  Trepanation 
der  Stirnhöhle  auf  die  hergebrachte  Drainage  nach  der  Nasenhöhle 
überhaupt  keinen  Werth  legen  und  die  Heilung  durch  adstringirende 
Behandlung  der  Schleimhaut  und  breite  Tamponnade  der  ganzen 
Höhle,  oder  aber  durch  Entfernung  der  Schleimhaut  und  der 
ganzen  vorderen  Sinuswand  herbeizuführen  suchen,  was  entweder 
sehr  geraume  Zeit  beansprucht  oder  aber  zu  nicht  unerheblichen 
Entstellungen  führt ^). 

Mir  scheint,  dass  das  Küster 'sehe  Princip*),  bei  Eiterungen 
in  starrwandigen  Höhlen  den  Abfluss  am  tiefsten  Punkt  der  Höhle 
zu  sichern,  für  das  Empyem  der  Stinihöhle  um  so  weniger  ver- 
nachlässigt werden  darf,  als  dasselbe  ja  in  einer  Verlegung  des 
natürlichen  Abzugskanals  nach  unten  seine  eigentliche  Ursache 
hat  und  ich  glaube,  dass  die  anscheinend  recht  häufigen  Miss- 
erfolge der  künstlich  angelegten  Drainage  nach  der  Nasenhöhle 
durch  eine  rationellere  Technik  zu  vermeiden  sind. 

Ich  bin  zu  diesem  Zweck  in  zwei  Fällen  so  vorgegangen,  dass 
ich  die  Gegend  des  Ausführungsganges  osteoplastisch  freilegte,  in- 
dem ich  von  einem  etwa  2Y2  cm  langen,  nahe  dem  Seitenrande 
der  Nasenwurzel  geführten  Längsschnitt  aus  (s.  Fig.  1)  das  Nasen- 
bein und  den  Processus  nasalis  des  Stirnbeins  durchmeisselte  und 
seitlich  aufklappte. s) 

1)  J.  Herz  fei  d,  Zur  Behandlung  der  Stirnhöhlenempyeme.  Deutsche 
med:  Wochenschrift.     1895,  S.  195. 

2)  H.  Kuhnt,  Ueber  die  entzündlichen  Erkrankungen  der  Stirnhöhlen 
und  ihre  Folgezustande.     Wiesbaden  1895. 

8)  Besonders  drastisch  werden  die  Schwierigkeiten,  eine  leistungsfähige 
Drainage  nach  der  Nasenhöhle  zu  erreichen,  in  der  kürzlich  aus  der  chirurg. 
Klinik  zu  Jena  erschienenen  interessanten  Dissertation  von  Heinrich  Schenke 
(Ueber  die  Stirnhöhlen  und  ihre  Erkrankungen)  dargestellt,  welche  mir  nach- 
träglich von  Herrn  Geheimrath  Riedel  zuging.  In  10  Fällen  ist  Riedel  mit 
einer  einfachen  Trepanation  und  Drainage  nach  der  Nase  nicht  ein  einziges  Mal 
zum  Ziele  gekommen,  sondern  war  stets  zu  einer  „Radicaloperation"  gcuöthigt, 
welche  in  der  Fortnahme  der  ganzen  vorderen  und  unteren  Wand  der  Stirn- 
höhle bestand.  Die  Entstellung  durch  eingezogene  Narben  war  nach  dieser 
Operation  meist  eine  bedeutende. 

*)  Küster,  Ueber  die  Grundsätze  der  Behandlung  von  Eiterungen  in 
starrwandigen  Höhlen.     Deutsche  med.  Wochenschrift.     1889,  No.  10—13. 

^)  Aehn  liehe  Ziele  verfolgen  die  Methoden  von  Killian  und  von  Win  ekler, 
die  mir  erst  nachträglich  bekannt  wurden.  Siehe  Win  ekler,  Arch.  f.  Laryngo- 
logie.   Bd.  7,  Heft  1. 


758 


Dr.] 


Seitliche  llülfsschnitle  durch  die  Haut  waren  hierzu  Dicht  nöthig,  sondern 
es  wurde  nur  dus  Periost  von  den  Endpunkten  der  Knochenwunde  aus  seitlich 
durchbrennt  und  der  Knochenlappen  mit  einem  schmalen  Ueissel  In  derselben 
Linie  ^^ürrai^  (nach  An  der  osteoplastischen  Schädolresectionon)  umschnitten, 
so  dass  er  mit  dem  als  Hebel  dienenden  Meissel  mühelos  nach  aussen  umge- 
legt werden  konnte.  Die  untere  Wand  des  Sinus  frontalis  wird  dabei  im  Be- 
reich des  Knochonlappens  durchbrochen  resp.  mit  dem  Meissol  durchlrennt. 
Der  ^nze  Act  ist  einfach  und  leicht  zu  bewerkstelligen. 


Im  oberen  Tlieil  der  Wunde  wölbt  sich  alsdann  die  Schleim- 
haut der  Stirnhöhle  vor  und  wird  eröffnet,  und  nach  Entleerung 
des  Eiters  und  provisorischer  Tamponnade  der  Stirnhöhle  wird 
mit  Möisscl,  Knochenzange,  Scheero  und  Pincette  der  obere 
Theil  der  Nasenhöhle  völlig  frei  gemacht,  so  dass  eine 
breite  Communication  zwischen  Stirnhöhle  und  Nasen- 
höhle hergestellt  ist.  I>ie  Methode  hat  den  Vortheil,  dass 
eine  Erkrankung  der  Siebbeinzellen,  welche  bekanntlich  eine  häufige 
Coraplication  der  Stirnhöhlcnciterung  darstellt,  der  Untersuchung 
nicht  entgehen  kann,  da  dieselben  in  der  Wunde  zu  Tage  liegen. 
Man  kann  von  ihnen  dann  soviel  fortnehmen,  dass  eine  Eiterver- 
haltung unmöglich  ist.  Ein  weiterer  Vortheil  ist  der,  dass  man 
in  der  Eröffnung  der  Stirnhöhle,  deren  seitliche  Ausdehnung  be- 
kanntlieh individuell  sehr  schwankt,  nicht  fehl  gehen  kann,  und 
aueh  eine  Eröffnung  der  anderen  Stirnhöhle,  falls  sie  erforderlich 
ist,  hat  von  der  Wunde  aus  keine  Schwierigkeit, 


I)  Vergl.  Kuhat,  1.  c.  Fall  XUI,  S.  250. 


Zur  Operation  dea  Stimhöhler 


759 


Nach  Reinigung  cvcnt.  Ausschabnni^  der  Stirnhöhle  wird  ein 
Urain  von  der  Nasenhöhle  aus  in  die  Stirnhöhle  gelegt,  der  Pcriost- 
knnchenlapptn  zurückgelagert  und  die  äussere  Wunde  geschlossen. 
In  meinem  ersten  Fall  glaubte  ich  auf  die  hergebrachte  Drainage 
durch  die  äussere  Wunde  nicht  verzichten  zu  können  und  die 
völlige  Heilung  dauerte  hier  immerhin  noch  5  Wochen.  Im  nächsten 
Fall  —  CS  handelte  sich  um  ein  1  Jahr  zurückdatirendes  Influenza^ 
cmpycm,  in  dessen  Eiter  InHuenzabacillen  nachgewiesen  wurden  — 
scliloss  ich  die  Wunde  in  der  beschriebenen  WVise  ganz  und  es 
erfolgte  die  völlige  Vernarbiing  in  14  Tagen,  ao  dass  Patient  am 
15.  Tage  seine  Arbeit  als  Tagelöhner  in  vollem  Umfange  wieder 
aufnehmen  konnte.  Auch  die  Eiterung  nach  der  Nase  war  bei 
beiden  Patienten  in  der  angegebenen  Frist  versiegt,  wenigstens  war 
bei  der  rhinoskopischcn  Untersuchung  kein  Eiter  nachweisbar.  Die 
andauernde  Heilung  wurde  bei  beiden  Pattenten  nach  9  rcsp. 
4  Monaten  festgestellt. 

Fig.  2. 


In  kosmetischer  Beziehung  lässt  die  Methode  nicht-s  zu 
wünschen  übrig,  wie  die  beigegebene  Figur  2  des  zweiten  Falles, 
welche  i  Monate  nach  der  Operation  aufgenommen  ist,  darthut. 
Das  Wesentliche  aber  bleibt,  dass  diese  Operation  das  (Jebel  ge- 
wissermaassen  an  der  Wurzel  angreift,  indem  sie  die  schwierigen 
Verhältnisse  des  Secretabflusscs  in  den  oberen  Partieen  der  Nasen- 
höhle in  übersichtlicher    und   zuverlässiger  Weise  regelt,    und    sie 


760  Dr.  Barth, 

dürfte  deshalb  auch  in  anderen  Fällen  am  schnellsten  zur  Heilung 
führen  und  genüiifend  vor  Recidiven  schützen. 

Ich  verkenne  nicht,  dass  die  Empyeme  der  Stirnhöhle  nicht 
alle  gleichwerthig  sind,  und  dass  namentlich  secundäre  Erkrankungen 
der  knöchernen  Sinuswand  grössere  Eingriffe  erfordern.  Es  hiesse 
Jedoch  weit  über  das  Ziel  hinausschiesscn,  wenn  man  sich  in  jedem 
Fall  von  Stirnhöhlenempyem  die  Verödung  der  ganzen  knöchernen 
Höhle  nach  den  Methoden  Kuhnt's  und  RiedePs  zur  Aufgabe 
setzen  wollte.  Ich  bin  der  Ueberzeugung,  dass  diese  Eingriffe, 
welche  stets  grosse  und  meist  entstellende  Narben  hinterlassen, 
nur  in  den  seltensten  Fällen  unumgänglich  nöthig  sind,  und  darf 
unsere  Beobachtungen  als  Beweis  hierfür  ansehen. 

Die  Krankengeschichten    meiner  beiden  Fälle  erlaube  ich  mir 

anhangsweise  in  extenso  mitzutheilen. 

Fall  1.  Ed.  Pioch,  28  Jahre  alt,  Arbeiter  aus  Ohra,  hatte  bei  Gelegen- 
heit der  Centenarfeier  am  22.  3.  97  einen  .Messerstich  gegen  die  rechte  Stirn- 
seite erhalten.  Aus  der  IY2  cm  langen,  oberhalb  der  rechten  Augenbraue  be- 
findlichen Wunde  hatte  es  stark  geblutet,  ebenso  aus  der  Nase,  da  er  jedoch 
keine  Beschwerden  hatte,  war  er  am  folgenden  Tage,  ohne  ärztliche  Hülfe  in 
Anspruch  zu  nehmen,  der  Arbeit  nachgegangen.  Erst  am  24.  3.  liess  er  sich 
in  das  Stadtlazarcth  aufnehmen,  weil  er  von  Zeugen  der  Messeraffaire  gehört 
hatte,  dass  die  Messerklinge  abgebrochen  sei  und  in  seinem  Schädel  zurück- 
geblichen sein  müsse.  Die  Wunde  war  verklebt  und  völlig  aseptisch,  Temperatur 
normal,  von  Seiten  des  Gehirns  und  der  Stirnhöhle  nicht  die  geringsten  Er- 
scheinungen.    Die  Angaben  des  Fat.  schienen  mir  unter  diesen   Umständen 

Fig.  3. 


nicht  beweisend  genug,  um  die  aseptische  Wunde  zu  öffnen  und  ich  beschränkte 
mich  auf  Verband  und  sorgfältige  Beobachtung  des  Verletzten.  Am  26.  3., 
ohne  dass  eine  Aenderung  in  dem  Befunde  eingetreten  wäre,  entschloss  ich 
mich  indess  auf  Drängen  des  Pat.  zur  Operation.  Ich  öffnete  und  erweiterte 
die  Wunde  und  fand  in  der  That  einen  Splitterbruch  des  Schädels,  der  die 
Stirnhöhle  betheiligte.  Nach  Entfernung  eines  Knochenfragments  .quoll  Gehirn- 
masse aus  der  Tiefe  der  Wunde  und  der  untersuchende  Finger  fühlte  die  Bruch- 
fläche  einer  eingekeilten  Messerklinge,  welche  alsbald  nach  Erweiterung  der 
Knochenwunde  extrahirt  wurde.  Die  7  cm  lange  Klinge,  welche  ich  in  natür- 
licher Grösse  obenstehend  abbilde,   war  rostig  und   im  vordersten  Theil   der 


Zur  Operation  des  Stirnhöhlenempyems.  761 

Schneide  schartig.  Sie  lag  fast  in  ganzer  Ausdehnung  im  Stirnhirn.  Ich 
tamponnirte  die  Wunde  und  der  Verlauf  der  Heilung  war  günstig,  von  Seiten 
des  Gebims  traten  nicht  die  geringsten  Erscheinungen  ein.  Dagegen  zwangen 
voi übergehende  Secretstauungen ,  welche  unter  Kopfschmerzen  und  hohen 
Temperaturen  am  3.  und  10.  April  sich  einstellten,  zum  erneuten  Einführen 
eines  Drains,  und  l^ei  der  am  15.  5.  erfolgten  Entlassung  des  Pat.  aus  der  An- 
stalt bestand  noch  eine,  wenn  auch  wenig  secernirende  Fistel. 

Vorübergehend  schloss  sich  diese  Fistel,  um  alsbald  unter  starken  Kopf- 
schmerzen, Schwindel  und  Fieber  wieder  aufzubrechen.  Am  17.  7.  97  kam 
Pat.  dieserhalb  nochmals  zur  Aufnahme,  nachdem  er  sich  bis  dahin  unserer 
Behandlung  entzogen  hatte.  Die  Sonde  führte  in  die  rechte  Stirnhöhle,  die 
Eitersecretion  war  reichlich.  In  Chloroformnarkose  wurde  die  osteoplastische 
Freilegung  der  Stirn-  und  Nasenhöhle  in  der  oben  beschriebenen  Weise  be- 
>verkstelligt  und  nach  Herstellung  einer  breiten  Communication  zwischen  beiden 
Höhlen  ein  Drain  durch  den  oberen  Theil  der  Wunde,  Stirn-  und  Nasenhöhle 
quer  hindurchgelegt.  Reposition  des  Knochenlappens  und  theilweise  Naht  der 
Wunde.  Definitive  Entfernung  des  Drains  am  17.  8.,  völlige  Vernarbung  der 
äusseren  Wunde  und  Entlassung  am  23.  8.  97. 

Am  9.  4.  98  habe  ich  den  Pat.  wieder  untersucht  und  völlige  Heilung 
festgestellt.  Pat.  ist  andauernd  völlig  frei  von  Beschwerden.  Die  Trepanations- 
narbe, welche  nicht  genäht  war,  ist  breit  und  etwas  wulstig,  die  Narbe  der 
Empyemoperation  dagegen  zart  und  ohne  Entstellung.  Khinoskopisch  sind 
keine  Veränderungen  in  der  Nasenhöhle  wahrzunehmen. 

Fall  2.  Franz  Walter,  28  Jahre,  Arbeiter  aus  Ohra.  Erkrankte  vor 
einem  Jahre  an  Influenza ,  deren  Hauptbeschwerden  in  Kopfschmerzen  und 
starkem  Schnupfen  bestanden.  Nach  5  Wochen  war  er  wieder  gesund  und 
arbeitsfähig.  Vor  einigen  Wochen  stellten  sich  von  neuem  Kopfschmerzen  ober- 
halb des  rechten  Auges  ein,  die  sich  bisweilen  so  steigerten,  dass  er  fast  ohn- 
mächtig wurde.  Hierzu  kamen  in  den  letzten  Tagen  stechende  Schmerzen  im 
rechten  Augapfel,  Fieber  mit  Schüttelfrost  und  Uebelkeit.  Er  Hess  sich  des- 
halb am  8.  12.  97  in  das  Stadtlazareth  aufnehmen.  Temperatursteigerungen 
bestanden  bei  der  Aufnahme  nicht. 

Die  Gegend  der  Stirn  oberhalb  der  rechten  Orbita  war  erheblich  vorge- 
trieben und  ausserordentlich  druckempfindlich,  die  Haut  darüber  etwas  ge- 
röthet.  Die  Orbita  selbst  war  frei,  Bulbus  nicht  vorgetrieben,  Bewegungen 
desselben  frei,  Sehvermögen  ungestört,  keine  Gesichtsfelddefecte.  Augenhinter- 
grund ohne  pathologischen  Befund.  Die  rechte  Nasenhöhle  für  die  Athmung 
verlegt.  Khinoskopisch:  Schwellung  der  Schleimhaut,  kein  Eiter,  keine  Borken- 
bildung. Sondirung  der  Stirnhöhle  misslingt.  Sensorium  frei.  Puls  be- 
schleunigt. 9.  12.  Chloroformnarkose  bei  steiler  Lagerung  des  Kranken  und 
bei  Tamponnade  der  rechten  Nasenhöhle.  Osteoplastische  Freilegung  der 
oberen  Nasenhöhle  und  des  unteren  Theils  der  rechten  Stirnhöhle  in  der  be- 
schriebenen Weise  (s.  Fig.  1).  Die  Schleimhaut  der  Stirnhöhle  wölbt  sich  vor 
und  wird  eröffnet,  es  fliesst  reichlich  dicker  Eiter  aus,  in  welchem  von  Herrn 
Dr.  Petrus chky  Influenzabacillen   fast  in  Reincultur  nachgewiesen  wurden. 


762  Dr.  Barth,  Zur  Operation  des  Stirahöhlenempyems. 

Ausschabang  der  verdickten  Sehleimhaut.  Stirnhöhle  sehr  gross,  Ansräamon^ 
des  oberen  Theiis  der  Nasenhöhle,  so  dass  eine  breite,  glattwandige  Com- 
munication  zwischen  Stirn-  und  Nasenhöhle  entsteht.  Drainage  der  Stirnhöhle 
nach  der  Nase.  Hücklagerung  des  Knochenlappens  und  völliger  Verschluss 
der  Wunde.  Fieberloser  Verlauf.  Entfernung  des  Drains  am  17.  12.,  völlige 
Vernarbung  der  Wunde  bis  zum  23.  12.  Keinerlei  Beschwerden  seit  der 
Operation.  Rechte  Nasenhöhle  für  die  Athmung  frei;  rhinoskopisch  ist  bei  der 
Entlassung  am  24.  12.  kein  Eiter  nachweisbar.  Dieselben  Verhältnisse  wurden 
am  10.  4.  98  bei  einer  Nachuntersuchung  festgestellt.  W.  hat  seit  der  Eai» 
lassung  aus  dem  Lazareth  in  vollem  Umfange  gearbeitet  und  ist  frei  von  allen 
Beschwerden.  Die  Vorbuch  tung  der  rechten  vorderen  Stirnhöhlen  wand  hat 
sich  etwas  zurückgebildet,  die  Nasenwurzel  zeigt  eine  symmetrische  Gon- 
figuration,  die  Operationsnarbe  ist  zart  und  auf  Zimmer  weite  nicht  zu  erkennen 
(s.  Fig.  2). 


lieber  die  operative  Behandlung 
der  Radialisläbmung  nebst  Bemerkungen 
über  die   Sehnenüberpflanzung  bei   s{)as- 

tischen  Lähmungen.') 

Von 

Dr.  Felix  Frimlie, 

Oberant  des  Diakonissenhaases  Marienstift  za  Braansehweig. 


M.  H.!  Im  vorigen  Jahre  erlaubte  ich  mir  durch  Vorführung 
eines  Knaben,  dem  ich  durch  Sehnenüberpflanzung  vor  jetzt  3  Jahren 
die  in  Folge  paralytischen  Klumpfusses  ausserordentlich  beein- 
trächtigte Gehfähigkeit  wieder  verschafft  hatte,  Ihre  Aufmerk- 
samkeit auf  ein  Operationsverfahren  zu  lenken,  das,  obgleich  eins 
der  segensreichsten  auf  dem  Gebiete  der  orthopädischen  Chirurgie, 
noch  wenig  bekannt,  aber  noch  weniger  angewandt  worden  war. 
Zu  meiner  Freude  kann  ich  feststellen,  sowohl  aus  den  in  der 
Literatur  enthaltenen  Berichten,  als  aus  privaten  Mittheilungen, 
die  ich  von  Verschiedenen  von  Ihnen  in  diesen  Tagen  erhalten 
habe,  dass  die  Anwendung  der  Methode  sich  mehr  und  mehr  aus- 
breitet, üass  sie  noch  viel  zu  wenig  angewandt  wird,  können 
Sie  aus  dem  eben  gehaltenen  Vortrage  des  Herrn  CoUegen  Vulpius 
entnehmen.  Wenn  dieser  seit  vorigem  Jahre  in  25  Fällen,  im 
Ganzen  bisher  in  28  Fällen  paralytische  Deformitäten  der  unteren 
Extremitäten  mittels  Sehnenüberpflanzung  behandelt  und  beseitigt 
hat,    wenn  Drobnick,    der  wohl  nicht  über  das  Material  verfügt, 

0  Abgekürzt  vorgetragen  am  4.  Sitzungstage  des  XXVII.  Congresses  der 
Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  16.  April  1898. 


764  Dr.  F.  Franke, 

das  Herrn  Collegen  Vulpius  zu  Gebote  steht,  schon  im  vorigen 
Jalire  über  16  Kranke,  bei  denen  er  mit  Erfolg  die  Sehnen- 
überpflanzung angewendet  hat,  berichten  konnte,  wenn  Sie  da- 
gegen erfahren,  dass  nur  ganz  wenige  Chirurgen  und  dann  nur  in 
vereinzelten  Fällen  von*  dem  Verfahren  bisher  Gebrauch  gemacht 
haben,  so  werden  Sie  sich  sagen  müssen,  dass  noch  unzählige 
Kranke  und  Krüppel  herumlaufen  oder  vielmehr  „hinken,"  denen 
mit  der  Sehnenüberpflanzung  ein  Nutzen  erwiesen  werden  könnte, 
der  nicht  hoch  genug  anzuschlagen  ist.  Wie  die  bisherigen  Be- 
richte zeigen,  und  Herr  College  Vulpius  eben  auch  erwähnte,  ist 
die  Operation  fast  nur  bei  paralytischen  Deformitäten  der  unteren 
Extremitäten  benutzt  worden.  Seinem  Ausspruch,  dass  sie  vicl- 
lei(!ht  von  noch  grösserer  Tragweite  bei  ihrer  Anwendung  auf  die 
oberen  Gliedmassen  zu  werden  verspreche,  muss  ich  beipflichten. 
Ich  habe  diesen  Ausspruch  schon  im  vorigen  Jahre  gethan  und 
unterdessen  bereits  in  die  That  umgesetzt.  Sie  erinnern  sich  viel- 
leicht, dass  ich  im  Anschluss  an  meine  damalige  Demonstration 
bemerkte,  dass  die  Methode  sich  unter  anderem  wahrscheinlich 
auch  zur  Behandlung  der  Radialislähmung  verwerthen  Hesse,  und 
dass  ich  mit  einer  Patientin  in  dieser  Hinsicht  einen  Versuch  ge- 
macht habe,  der  erfreuliche  Hoffnungen  erwecke.  Es  hat  sich  in 
der  Fol.i»:e  herausgestellt,  dass  die  erzielte  Heilung  zum  grossen 
Theil  auf  Rechnung  eines  andern  Factors  gesetzt  werden  muss. 
Die  an  der  betreifenden  Kranken  gemachten  Erfahrungen  haben 
mich  aber  in  den  Stand  gesetzt,  in  einem  andern  Falle  die 
Radialislähmung  in  anderer  Weise  mit  gutem  Erfolge  in  Angriff 
zu  nehmen  und  ein  Verfahren  auszusinnen  und  anzuwenden,  das 
vielleicht  als  typisch  für  die  operaiive  Behandlung  der  Radialis- 
lähmung bezeichnet  werden  kann.  Es  besteht  aus  einer  Ver- 
bindung der  Sehnenüberpflanzung  mit  Sehnenverkürzung. 

Es  sind  an  der  oberen  ExtnMiiität  sonst  schon  Sehnenüber- 
pflanzungen vorgenommen  worden.  Dabei  handelte  es  sich  fast 
stets  nur  um  Ersatz  des  Ausfalls  einer  Sehne,  eines  Muskellheils 
oder  eines  ganzen  Muskels;  nur  einmal  waren  mehrere  Mu.skeln  ge- 
lähmt, aber  es  war  nur  der  Ersatz  eines  Muskels  dringend  nöthig 
und  die  entsprechende  Operation  ausgeführt  worden.  Drobnik,  der 
den  Fall  bebandelt  hatte,  fügte  später  noch  eine  zweite  Operation 


Üobor  die  operative  Bebandlung  der  Radialislähmung  etc.  765 

hinzu  ^).  Ich  habe  die  Fälle  in  einer  eben  erschienenen  Arbeit 2) 
zusammengestellt,  auf  die  ich  wohl  verweisen  darf,  und  dort  auch 
eine  derartige,  von  mir  selbst  vorgenommene  Seh'nenüberpflanzung 
mitgetheilt.  Die  Verhältnisse  lagen,  ausser  in  dem  Falle  von 
Drobnik,  sehr  einfach  und  demnach  war 'auch  das  Verfahren  ein 
sehr  einfaches.  Durch  eine  Verletzung  war  stets  nur  eine  Sehne 
so  geschädigt,  dass  die  durchtrennten  Enden  sich  nicht  wieder 
vereinigen  Hessen.  Deshalb  wurde  das  periphere  Ende  der  ver- 
letzten Sehne  in  übercorrigirter  Stellung  an  eine  Nachbarsehne 
angenäht  und  dadurch  ein  guter  Erfolg  erzielt.  Bei  der  Kranken 
Drobnik 's  war  die  Sache  schon  etwas  venvickeltcr.  Es  bestand 
in  Folge  einer  essentiellen  Kinderlähmung  eine  theilweise  Lähmung 
im  Radialisgebiet.  Ausser  den  Supinatores  und  Extensorcs  carpi 
radiales  waren  sämtliche  anderen  vom  N.  radialis  versorgten 
Muskeln  des  Vorderarms  und  der  Hand  gelähmt:  Es  waren  dies 
der  Extensor  digitorum  communis  longus,  Extcnsor  carpi  ulnaris, 
Abductores  (und  Extensor)  poUicis.  Ausserdem  waren  die  Mm. 
interossei  gelähmt.  Drobnik  übertrug  die  Function  des  M.  ex- 
tensor radialis  longus  auf  den  M.  extensor  digitorum  communis 
longus  dadurch,  dass  er  nach  Durchschneidung  der  Sehne  des 
erstcren  deren  centralen  Theil  mit  der  Sehne  des  letzteren  ver- 
nähte, wodurch  er  die  Streckung  der  Finger  erzielte,  soweit  sie 
bei  der  Lähmung  der  Mm.  interossei  überhaupt  zu  erreichen  war, 
und  überwies  mit  gutem  Erfolge  die  Aufgabe,  den  Daumen  zu 
strecken,  einem  Theile  des  M.  extensor  carpi  radialis  brevis,  in- 
dem er  den  Muskel  und  die  Sehne  halbirte  und  den  unten  quer 
abgeschnittenen  centralen  Sehnentheil  mit  der  Sehne  des  Daumen- 
streckers vernähte. 

Bei  weitem  verwickelter  als  in  allen  diesen  Fällen  liegen  die 
Verhältnisse  bei  der  vollständigen  Radialislähmung.  Dort  sind 
stets  noch  einige  Muskeln  derselben  Seite  kräftig  und  in  Thätigkeit, 
hier  auch  nicht  ein  einziger.  Drobnik  hatte  noch  zwei  Muskeln 
derselben  Seite,    zwei  Strecker    zur  Verfügung,    deren  Function  er 


1)  Drobnik.  Ueber  die  Behandlung  der  Kinderlähmung  mit  Functions- 
theilung  und  Functionsübertragung  der  Muskeln.  Deutsche  Zeitschr.  f.  Ghir. 
Bd.  43.    S.  273  ff. 

2)  F.  Franke,  Functionelle  Heilung  der  Radialislähmung  durch  Sehnen- 
plastik. Mittheilungen  aus  den  Grenzgebieten  der  Medicin  und  Chirurgie. 
3.  Bd.    Heft  1.    S.  60  und  61. 

ArobiT  flir  klin.  Chirurgie.    67.  Bd.   Heft  4.  r^y 


766  Dr.  F.  Franke, 

anderen  gelähmten  Streckern  zuweisen  konnte.  Die  Verhältnisse 
sind  ceteris  paribus  am  Arm  auch  ungünstiger  als  am  Beine. 
Denn  an  diesem  lassen  sich  manche  Beuger  und  Strecker  leichter 
mit  einander  verbinden  als  an  jenem.  Zum  Beispiel,  ist  es  ein 
leichtes,  die  Function  der  Waden muskulatur  ganz  oder  thcilweise 
auf  die  Peronei  oder  den  M.  tibialis  posticus  zu  übertragen.  Der- 
artiges ist  am  Vorderarm  fast  ganz  unmöglich  wegen  der  etwas 
anderen  Anordnung  der  Beuge-  und  Streckmuskeln.  Man  muss 
sich  deshalb  in  anderer  Weise  zu  helfen  suchen.  Es  geschieht 
das  in  der  oben  von  mir  angedeuteten  und  in  einem  Falle  von 
Radialislähmung  mit  gutem  Erfolge  angewandten  Weise.  Ich  gehe 
hier  noch  einmal  genauer  auf  diese  Frage  ein,  weil  ich  einige 
Punkte  noch  besprechen  möchte,  die  ich  in  meiner  oben  erwähnten 
Arbeit  garnicht  oder  nur  kurz  abgehandelt  habe,  z.  Th.  aber  noch 
garnicht  erledigen  konnte. 

Bei  der  Radialislähmung  haben  wir  bekanntlich  mit  einer 
der  in  ihren  Folgen  schwersten  Lähmungen  zu  thun.  Von  beson- 
derer Bedeutung  ist  die  Lähmung  der  die  Hand-  und  Finger- 
bewegung vermittelnden  Strecker.  Die  betreffenden  Kranken 
können,  da  sie  die  Hand  auch  nicht  eine  Spur  strecken  können, 
und  in  Folge  dessen  die  Beuger,  die  nur  bei  Streckstellung  der 
Hand  eine  wirksame  Thätigkeit  auszuüben  vennögen,  dieser  ihrer  Auf- 
gabe ohnmächtig  gegenüber  stehen,  oft  auch  nicht  den  leichtesten 
Gegenstand,  selbst  wenn  er  ihnen  in  die  Hand  gelegt  wird,  bei 
den  verschiedenen  Stellungen  der  Hand  und  des  Armes  festhalten. 
Es  muss  deshalb  das  erste  Bestreben  sein  den  Fingerbeugern  die 
Möglichkeit,  sich  wirksam  zusammenzuziehen,  zu  geben,  d.  h.  der 
Hand  die  Streckfähigkeit  zu  verschaffen.  Diese  Absicht 
aber  lässt  sich  nicht  erreichen  durch  eine  Sehnenüberpflanzung. 
Man  könnte  sich  ja  versucht  fühlen  einen  der  Handbeugemuskeln, 
den  der  Radial-  oder  der  LJlnarseite,  diesem  Zwecke  zu  opfern. 
Aber  bei  genauerer  Ueberlegung  sieht  man  ein,  dass  dieses  Opfer 
ein  vergebliches  ist.  Ich  habe  diese  Einsicht  überdies  durch  die 
Erfahrung  aus  einem  derartigen  fehlgeschlagenen  Versuche  ge- 
wonnen. Schlägt  man  nach  Ablösung  der  Sehne  eines  der  Beuger 
(am  Handgelenk  oder  in  dessen  Nähe)  diese  nach  dem  Rücken 
des  Handgelenks  herüber  und  vernäht  sie  daselbst  mit  der  Sehne 
des  entsprechenden  Streckers  der  Hand,    so  kann  der  Beuger  nur 


Uebcr  die  operative  Behandlung  der  Radialislähmung  etc.  767 

nach  dem  Gesetze  des  Parallelogramnjs  der  Kräfte  wirken,  d.  h.  die 
Hand  wird  nicht  gestreckt,  sondern  höchstens  wagerecht  gehalten 
werden  können.  Treten  nun  die  Hand-  und  Fingerbeuger  in 
Thätigkeit,  so  ist  ihre  Kraft  genügend,  die  Hand  aus  dieser  wage- 
rechten Stellung  in  die  Beugestellung  zu  führen  und  —  der  geplante 
Zweck  ist  also  nicht  erreicht.  Ich  hatte  in  meinem  ersten  Falle 
dem  Flexor  carpi  ulnaris  die  Aufgabe  der  Streckung  der  Hand 
zugewiesen  durch  Vernähung  des  centralen  Theils  seiner  in  der 
Nähe  des  Handgelenks  durchtrennten  Sehne  mit  dem  Extensor  carpi 
ulnaris.  Der  Erfolg  war,  wie  schon  angedeutet,  ein  sehr  mangel- 
hafter. Das  Ergebniss  wäre  das  gleiche  gewesen,  wenn  ich  den 
Flexor  carpi  radialis  mit  dem  Extensor  carpi  radialis  verbunden 
hätte.  Ich  kam  deshalb  auf  den  einzig  richtigen  Gedanken,  die 
Hand  mechanisch  in  Streckstellung  zu  halten.  Dass  diese  Absicht 
sich  nicht  oder  nur  wenig  genügend  durch  Apparate  erzielen  lässt, 
ist  sattsam  bekannt.  Das  Handgelenk  und  der  zur  Verfügung  stehende 
Theil  der  Hand  bieten  nicht  genug  Angriffsfläche  für  einen  der- 
artigen Apparat.  Zudem  sind  solche  Apparate  doch  meist  zu 
schwer,  zu  complicirt,  zu  störend,  zu  theuer  u.  s.  w.  Das  ein- 
fachste Mittel,  derartige  Apparate  zu  ersetzen,  ist  eine  Verkürzung 
der  Sehne  eines  oder  beider  Streckmuskeln  der  Hand.  Wenn  ich 
zu  diesem  Zwecke  den  M.  extensor  carpi  radialis  gewählt  habe, 
so  that  ich  das  aus  dem  Grunde,  weil,  wenn  auch  die  Hand  nach 
der  Seite  des  verkürzten  Muskels  verzogen  wird,  eine  in  Adduction 
stehende  Hand  doch  leistungsfähiger  ist  als  eine  etwa  durch  Sehnen- 
verkürzung des  Extensor  ulnaris  abducirte  Hand,  üebrigens  steht 
es  ja  dem  Operateur  frei,  nachträglich  auch  noch  den  Extensor 
ulnaris  oder  im  Anfang  gleich  beide  Handstrecker  zu  verkürzen. 
Die  Verkürzung  geschieht  durch  Durchtrennung  der  Sehne  und 
Vernähen  der  bei  Ueberstreckstellung  der  Pland  übereinander  ge- 
legten Sehnenenden.  Dass  die  Hand  nach  dieser  Operation  die 
Beugefähigkeit  so  gut  wie  vollkommen  für  immer  verloren  hat,  ist 
freilich  ein  Nachtheil,  aber  doch  nur  ein  massiger  Nachtheil,  der 
von  dem  erzielten  Vortheil  bei  weitem  aufgewogen  wird. 

In  zweiter  Linie  muss  man  dafür  sorgen,  dass  die  Finger 
wieder  die  Fähigkeit,  sich  zu  strecken,  erhalten.  Für  diesen 
Zweck  eignet  sich  kein  Muskel  besser  als  der  Flexor  carpi  ulnaris. 
Denn  seine  Sehne  lässt  sich  ziemlich  bequem  nach  der  Streckseite 

51* 


768  Dr.  F.  Franke, 

herüber  schlafen  und  dort  mit  der  des  Extensor  digitorum  communis 
vereinigen.  Ausserdem  ist  er  am  ehesten  sonst  zu  entbehren.  Die 
Ausübung  seiner  Thätigkeit  ist  ja  durch  die  mechanische  Fest- 
stellung der  Hand  in  Streckstellung  überflüssig  geworden.  Ausser- 
dem wirkt  er  trotz  seiner  neuen  Bestimmung  immer  noch  etwas 
abducirend  und  dadurch  der  starken  Adductionsstellung  der  Hand 
entgegen.  Die  Ueberpflanzung  seiner  Sehne  wird  so  vorgenommen, 
dass  sie  zuerst  dicht  an  ihrem  Ansatz  am  Handgelenk  gelrennt 
wird,  nachdem  sie  durch  einen  etwa  8  cm  langen  Hautschnitt  zu- 
gänglich gemacht  ist,  der  mehr  nach  der  Streckseite  des  Vorder- 
arms zu  entlang  der  Ulna  geführt  ist,  bis  auf  diese  eindringend 
und  deren  unteres  Ende  um  1 — 2  cm  überschreitend.  Von  diesem 
Schnitte  aus  kann  man  unter  Hautverziehung  leicht  an  die  Sehne 
des  Flexor  carpi  ulnaris  einerseits  und  die  des  Extensor  digitorum 
andererseits  herankommen.  Erstere  wird  nun  über  den  äusseren 
Rand  der  Ulna  und  die  Sehne  des  Extensor  carpi  ulnaris  herüber- 
geschlagen  und,  während  die  Hand  in  st-arker  Streckstcllung  von 
dem  Assistenten  gehalten  wird,  unter  starker  Spannung  an  die  Sehne 
des  Extensor  digitorum  communis  angenäht,  entweder  an  die  noch 
ungetheilte  Sehne  oder  dort,  wo  sie  sich  fächerförmig  theilt.  Sie 
sammt  dem  Muskel  in  4  Theile  zu  theilen  und  die  einzelnen 
Sehnenstränge  an  die  4  Strecksehnen  der  Finger  anzunähen  dürfte 
wohl  eine  Künstelei  sein,  die  man  besser  unterlässt.  Denn  diese 
einzelnen  Stränge  würden  doch  bei  der  massigen  Dicke,  die  sowohl 
der  Muskelbauch  als  die  Sehne  des  Flexor  carpi  ulnaris  besitzt,  zu 
zart  werden,  als  dass  man  sie  ohne  Gefahr  des  Zerreissens  der 
grossen  Spannung,  unter  der  sie  vernäht  werden  müssen,  aussetzen 
könnte.  Unterlässt  man  aber  diese  Spannung,  so  wird  das  Ergeb- 
niss  der  Sohnenüberpflanzung  ein  sehr  mangelhaftes.  Denn  der 
Flexor  ulnaris  giebt  selbst  bei  anfänglich  sehr  starker  Spannung 
dem  starken  Zuge  der  kräftigen  Fingerbeuger  etwas  nach,  indem 
er  sich  dehnt,  wie  ich  in  meinem  Falle  nachträglich  erfahren  musstc. 
Die  anfangs  ganz  ausgezeichnete  Streckfähigkeit  der  Finger  hat 
mit  der  Zeit  wieder  etwas  nachgelassen.  Weiter  würde  es  eine 
recht  überflüssige  Künstelei  sein,  wenn  man,  w-oran  ich  auch  im 
Anfang  gedacht  habe,  die  Sehne  des  Flexor  ulnaris  von  der  Beuge- 
seito  her  durch  das  Spatium  interosseum  zwischen  Ulna  und  Radius 


lieber  die  operative  Behandlung  der  Radialislähmung  etc.  769 

durchstecken  und  dann  mit  der  Sehne  des  Fingerstreckers  ver- 
einigen wollte.    Der  Erfolg  wäre  mindestens  ein  recht  zweifelhafter. 

Für  die  Vernähung  der  beiden  Sehnen  gebe  ich  den  Rath, 
das  Ende  der  Sehne  des  Flexor  ulnaris  abzuschrägen  und  auf  die 
Sehne  des  Fingerstreckers  aufzunähen.  Man  vermeidet  auf  diese 
Weise  einen  scharf  abgesetzten  Wulst,  der  dem  Gleiten  der  Sehne 
etwas  hinderlich  sein  könnte. 

Die  active  Streckbarkeit  des  Daumens  erzielt  man  am 
besten  durch  Benutzung  des  Flexor  carpi  radialis.  Man  hat  nicht 
den  ganzen  Muskel  nöthig,  es  genügt,  die  Sehne  und  den  Muskel- 
bauch zu  halbiren  und  diesen  Sehnentheil  an  die  Sehne  des  Daumen- 
streckers anzunähen,  wie  ja  schon  der  von  Drobnik  in  seinem 
Falle  en*eichte  schöne  Erfolg  beweist.  Dass  auch  hier  bei  der  Ver- 
einigung der  Daumen  möglichst  gestreckt  und  der  Flexor  carpi 
radialis  möglichst  straff  gespannt  wird,  habe  ich  wohl  kaum  noch 
nöthig  hervorzuheben. 

Die  übrigen  Streckmuskeln  der  Finger,  der  Indicator 
und  Extensor  digiti  minimi,  lassen  sich,  da  kein  entsprechender 
Muskel  zur  Verfügung  steht,  nicht  ersetzen.  Doch  besitzen  sie 
gegenüber  den  besprochenen  Streckmuskeln  einen  so  geringen 
practischen  Werth,  dass  ihr  Verlust  kaum  gefühlt  wird,  und  die 
Mühe,  die  man  auf  ihren  Ersatz  verwenden  wollte,  auch  nicht  in 
irgend  einem  Verhältnisse  stände  zu  dem  etwa  zu  erreichenden 
Erfolge. 

Wichtiger  ist  dagegen  der  Ersatz  der  in  Folge  der  Lähmung  des 
M.  supinator  brevis  ausgefallenen  Möglichkeit  den  Vorderarm  zu 
supiniren,  die  Iland  zu  drehen.  Denn  sie  steht  fortwährend  in  Pro- 
nationsstcUung,  die  für  manche  Zwecke  doch  hinderlich  ist.  In  meiner 
oben  erwähnten  Abhandlung  hatte  ich  den  Gedanken  ausgesprochen, 
dass  es  sich  vielleicht  verlohnen  würde,  die  Sehne  des  Supinator 
brevis  ähnlich  wie  die  des  Extensor  carpi  radialis  für  die  Streck- 
stellung der  Hand,  so  für  die  Supinationsstellung  der  Hand  zu 
verkürzen  und  dadurch  die  Hand  in  dauernde  Supinationsstellung 
zu  bringen.  Ausserdem  hatte  ich  geplant,  den  Pronator  teres  vom 
Radius  abzulösen,  um  die  Pronationsfähigkeit  möglichst  zu  schwächen. 
Dass  die  Ausführung  beider  Pläne  ein  nicht  unbeträchtliches  Uebel 
sein  würde,  habe  ich  mir  nicht  verhehlt  und  darum  die  entsprechenden 


770  Dr.  F.  Franke, 

operativen  Eingriffe,  z.  Th.  auch  durch  äussere  Verhältnisse  ge- 
nöthigt,  immer  wieder  hinausgeschoben.  Dass  das  Uebel  aber  nicht 
einmal  ein  nothwendiges  war,  davon  habe  ich  mich  überzeugt  durch 
Versuche  mit  einer  Schiene  mit  Spiralzug,  der  oben  von  der  Ulnar- 
seite  über  die  Streckseite  des  Vorderarms  nach  unten  radialwärts 
herübergelegt  supinirend  wirkt.  Die  Schiene,  aus  Celluloid  gefertigt 
und  daher  sehr  leicht,  umfasst  den  untern  Theil  des  Oberarms 
und  obem  Theil  des  Vorderarms  und  besitzt  ein  Gelenk  für  die 
Ellenbogengelenksgegend.  Der  erwähnte  Supinationszug  wird  be- 
wirkt durch  eine  Stahldrahtspirale,  die  unterhalb  des  Olecranon  an  der 
Schiene  befestigt  ist  und  dicht  oberhalb  des  Handgelenks  auf  der 
Radialseite  an  einem  festzuschnallenden  Armband  aus  Celluloid 
angehakt  wird.  Die  Hand  wird  nun  passiv  in  Supinationsstellung 
gebracht  durch  diesen  Spiralzug,  hat  aber  die  Möglichkeit  behalten 
activ  die  Pronationsstellung  einzunehmen.  Zu  diesem  Zweck  darf 
man  natürlich  weder  eine  zu  starke,  noch  zu  schwache  Drahtspirale 
wählen. 

Bezüglich  des  Nahtmaterials  bei  der  Sehnenvemähung  möchte 
ich  die  Bemerkung  nicht  unterdrücken,  dass  ich  Seide  empfehlen 
muss,  da  ich  in  einem  Falle,  in  dem  ich  Catgut  verwendet  hatte, 
erlebte,  dass  in  Folge  frühzeitiger  Resorption  nach  der  ersten  Ab- 
nahme des  Verbandes  am  9.  Tage  die  ganze  Hautwunde  klaffte. 
Zwar  waren  die  Sehnen  vereinigt  geblieben,  doch  habe  ich  von  da 
an  zur  Sehnennaht  nie  wieder  Catgut  benutzt,  da  ich  ja  nie  die 
Gewissheit  hatte,  ob  nicht  auch  einmal  die  Sehnennaht  zu  zeitig 
rcsorbirt  werden  könnte. 

Ich  bin  gefragt  worden,  ob  der  überpflanzte  Muskel  sich  bald 
seiner  neuen  Bestimmung  anbequemt  habe.  Diese  sehr  berechtigte 
Frage  kann  ich  dahin  beantworten,  dass,  wie  ich  und  andere 
Operateure  wissen,  merkwürdigerweise  die  Muskeln  der  unteren 
Extremität  nach  der  Sehnenüberpflanzung  sehr  schnell,  oft  schon 
nach  der  ersten  Verbandabnahme  ihrer  neuen  Aufgabe  entsprechend 
arbeiten,  und  dass  das  auch  der  Fall  gewesen  ist  bei  der  kleinen 
Kranken,  die  ich  Ihnen  vorgestellt  habe.  Schon  nach  der  ersten 
V^erbandabnahme  war  bei  vorsichtigen  activen  Streckversuchen  der 
Finger  zu  sehen,  dass  sie  gelangen. 

Natürlich  muss  bei  der  Na(*.hbehandlung  das  Augenmerk  be- 
sonders auf  eine  Uebung  der  überpflanzten  Muskeln  gerichtet  sein. 


Ueber  die  operative  Behandlang  der  Radialislähmung  etc.  771 

Diese  kräftigen  sich  durch  sorgsame,  abgestufte,  nur  ganz  all- 
mählich von  leichteren  zu  schwereren  übergehende  üebungen  ganz 
ausserordentlich.  Was  man  überhaupt  durch  solche  Üebungen  er- 
reichen kann,  war  bis  jetzt  noch  wenig  bekannt.  Thilo  gebührt 
das  Verdienst^),  nachdem  er  selbst  wunderbare  Erfolge  auf  diesem 
Gebiete  durch  seine  grosse  Beharrlichkeit  und  Sorgsamkeit  erzielt 
hat,  in  zusammenfassender  und  wissenschaftlicher  Weise  den  Werth 
lange  fortgesetzter,  vorsichtig  abgestufter  üebungen  bei  den  ver- 
schiedensten Lähmungszuständen  dargelegt  zu  haben.  Hat  er  doch 
bewiesen,  dass  durch  diese  Üebungen  scheinbar  unheilbare,  Jahre 
lang  bestehende  Lähmungen,  namentlich  solche  nach  der  cerebralen 
oder  spinalen  Kinderlähmung,  wieder  vollständig  beseitigt  werden 
können. 

Ich  erlaube  mir  nun  im  Folgenden  das  Wesentliche  aus  der 
Krankengeschichte  der  einen  der  beiden  vorgestellten  Mädchen,  bei 
dem  ich  die  Operation  fast  genau  in  der  oben  von  mir  vorge- 
schlagenen Weise  ausgeführt  habe,  zu  erwähnen: 

Hildegard  Jensen,  acht  Jahre  alt,  erblich  nicht  belastet,  hat  nach 
einer  im  2.  Lebensjahre  durchgemachten,  fieberhaften,  aber  kurz  anhaltenden 
Erkrankung  eine  Lähmung  fast  der  gesammten  Armmusculatur  rochterseits 
zurückbehalten,  die  trotz  aller  möglichen  therapeutischen  Bemühungen  bis 
jetzt  sich  nicht  gebessert  hat. 

Bei  dem  mittelkräftigen,  geistig  normal  entwickelten,  auch  sonst  ge- 
sunden Mädchen  sieht  man  auf  den  ersten  Blick,  dass  der  rechte  Arm  sammt 
Schulter,  aber  abgesehen  von  der  Hand,  die  an  Aussehen  und  Grösse  an- 
nähernd der  linken  gleicht,  sehr  atrophisch  ist.  Das  ganze  Glied  ist  aber 
nicht  blos  bedeutend  magerer,  sondern  auch  kurzer  als  das  linke.  Es  hängt 
schlaff  herab  mit  solcher  Innendrehung,  dass  der  Handrücken  gegen  den 
Oberschenkel  sieht.  Active  Bewegungen  in  der  Schulter  und  im  Ellenbogen- 
gelenk sind  unmöglich,  passive  dagegen  sehr  ausgiebig  auszuführen,  das 
Schulterblatt  kann  nur  wenig  nach  oben  und  vorn  gezogen  werden.  Die  Hand 
zeigt  die  typischen  Erscheinungen  der  Radialislähmung:  Unmöglichkeit  activ 
die  Hand  (und  die  erste  Phalanx  der  Finger)  zu  strecken,  sie  zu  supiniren 
und  kräftig  adduciren;  der  ulnare  Beuger  der  Hand  ist  kräftiger  als  der  radiale: 
bei  Beugungsversuchen  wird  die  Hand  ulnarwärts  verzogen,  die  Endphalangen 
der  Finger  können  gestreckt  werden,  ebenso  mit  massiger  Kraft  der  Daumen. 
Bei  erhobenem  Arm  hängt  die  Hand  schlaff  herab,  eine  Contractur  besteht 
nicht.    Die  Hand  steht  in  Pronationsstellung. 

Streckt  man  die  Hand  passiv,  so  kann  das  Kind  mit  einiger  Kraft  die 
Finger  beugen  und  nicht  zu  schwere  Gegenstände  fest  halten,   unterlässt  man 


*)  Thilo,  Hebungen.  Volk ra an n's  klin.  Vorträge.  Neue  Folge.  No.  176. 


772  Dr.  P.  F^ranke, 

diese  passive  Streckung,  so  kann  nicht  einmal  ein  Bleistift  gefasst  und  fest* 
gehalten  werden. 

Die  Haut  hat  normale  Farbe.  Gefühlsstörangen  sind  nicht  vorhanden. 
Sehnenreflexe  fehlen.  Die  elektrische  EiTcgbarkeit  ist  nur  bei  den  Hand-  und 
Fingerbeugern  normal  erhalten,  bei  allen  andern  Muskeln  des  ganzen  Armes 
erloschen. 

Das  Kind,  welches  ohne  jeden  Erfolg  schon  vielen  Aerzten,  auch  an- 
erkannten chirurgischen  Autoritäten  zugeführt  worden  war,  trug,  als  es  zu 
mir  kam,  einen  Apparat,  der  die  Einwärtsdrehung  des  Arms  verhindern  sollte, 
dies  aber  nur  höchst  mangelhaft  that,  dagegen  das  Kind  durch  seine  Schwere 
und  durch  den  zu  seinem  Halt  um  den  Brustkorb  laufenden  Gurt  sehr  be- 
lästigte. 

Das  Hauptziel  der  Behandlung  war  in  erster  Linie  die  Brauchbarmachung 
der  Hand.  Ich  erreichte  es  durch  die  im  Vorhergehenden  beschriebenen  Ein- 
grilTe. 

Am  27.  Juli  1897  nahm  ich  die  Verkürzung  der  Sehne  des  Extensor 
carpi  radialis  longus  vor.  Darauf  durchschnitt  ich  nach  äusserem,  vom  Proc. 
styloideus  ulnae  etwa  9  cm  weit  nach  aufwärts  gehenden  und  bis  auf  die 
Ulna  dringenden  Längsschnitt  die  Sehne  des  Extensor  und  Flexor  carpi  olnaris, 
erstere,  um  für  diese  gewissermassen  eine  Rinne  zu  schaffen,  und  nähte  nun 
das  centrale  Ende  der  Beugesehne,  nachdem  ich  diese  nach  dem  Handrücken 
zu  herübergeführt  hatte,  an  die  Sehne  des  Extensor  digitorum  communis  an, 
dort  wo  sie  sich  fächerförmig  theilt,  indem  ich  es  dabei  breit  für  die  einzelnen 
Fächertheile  verzog.  Selbstverständlich  zog  ich  den  Flexor  ulnaris  stark  an 
und  Hess  die  Hand  in  starker  Streckstellung  halten.  Da  der  Daumen,  wenn 
auch  schwach,  gestreckt  werden  konnte,  nahm  ich  an  ihm  keine  Operation  vor. 
Gyps  verband. 

Nach  Abnahme  desselben  am  10.  August  war  Heilung  per  primam  er- 
folgt. Das  Kind  konnte  die  Finger  activ  vollständig  strecken  und  beugen;  die 
Hand  stand  in  radialwärts  gestreckter  Stellung. 

Es  wurde  kein  neuer  Verband  angelegt,  sondern  sofort  mit  vorsichtigen 
Uebungcn,  Massage  und  Elektrisiren  begonnen. 

Am  16.  August  nahm  ich  noch  von  einem  oberen  Querschnitt  aus  die 
Arthrodese  des  Schultergelenks  vor,  um  die  Einwärtsdrehung  des  Arms  zu 
verhindern  und  dem  Arme  die,  wenn  auch  nur  schwachen  Bewegungen  des 
Schulterblatts  zu  übermitteln.  Nach  Entfernung  der  Kapsel  und  der  ober- 
flächlichen Knorpelschicht  an  Kopf  und  Pfanne  des  Gelenks  nähte  ich  den 
Kopf  mit  zwei  Silberdrähten  an  das  Akromion  an  und  nagelte  ihn  von  der 
Seite  her  mit  einem  Stahlnagel  an  die  Pfanne  fest  an.  Gypsverband  bei  Ab- 
ductionsstellung  des  Arms  mit  leichter  Richtung  nach  vorne. 

Die  Heilung  erfolgte  nur  langsam,  wenn  ich  darunter  das  Festwachsen 
in  der  Pfanne  verstehen  soll. 

In  der  Folge  erlitt  der  Flexor  carpi  ulnaris  sowie  der  Extensor  carpi 
radialis  eine  leichte  Verlängerung,  offenbar  durch  Dehnung,  sodass,  zumal  da 
auch  wegen  mehrmonatlicher   schwerer  Erkrankung    der  Mutter,    die  schon 


üeber  die  operative  Behandlung  der  Radialislähmung  etc.  773 

längere  Zeit  die  Uebungen  controlirt  hatte,  diese  nicht  mehr  vorgenommen 
worden  waren,  die  active  Streckfähigkeit  der  Finger  etwas  verloren  hat. 

Der  Zustand  ist  trotz  alledem  jetzt  ein  verhältnissmässig  sehr  günstiger, 
wie  die  Herren  selbst  sehen  konnten. 

Das  Kind  kann  jetzt  den  Arm  ein  wenig  nach  vorn  und  seitwärts  heben, 
es  kann  die  Finger  activ  bis  über  die  Horizontale  hinaus  mit  einiger  Kraft 
strecken,  kann  aber  auch  die  Hand,  die  bis  etwas  unter  die  Horizontale  ge- 
beugt werden  kann,  wieder  zurück  strecken.  Diese  Streckung  der  Hand  scheint 
mit  vom  überpflanzten  Flexor  ulnaris  besorgt  zu  werden.  Natürlich  kann  das 
Kind  jetzt  nicht  allzu  schwere  Gegenstände  greifen  und  festhalten  und  kann 
überhaupt  eine  Menge  von  Leistungen  verrichten,  an  die  früher  nicht  zu  denken 
war.  Das  Kind  hat  sogar  gelernt,  sich  Brust,  Hals  und  linke  Schulter  zu 
waschen;  zu  diesem  Zwecke  wirft  es  mit  einem  Ruck  des  Körpers  und  der 
rechten  Schulter  den  im  Ellenbogengelenk  ja  schlotternden  Arm  nach  der 
linken  Seite  hinüber  und  beugt  sich  dann  etwas  zurück. 

Die  Untersuchung  mit  dem  faradiscben  Apparat  ergiebt  nach  wie  vor 
das  Fehlen  jeder  Erregbarkeit  der  gesammten  Streckmusculatur  und  des  N. 
radialis. 

Im  Hinblick  nun  auf  diesen  schönen  Erfolg  der  operativen 
Behandlung  der  Radialislähmung  kann  ich  mit  Recht  behaupten, 
es  giebt  keine  unheilbare  Radialislähmung  mehr,  so  lange 
wenigstens  nicht  der  N.  raedianus  bezw.  ulnaris  gelähmt  ist.  Die 
Radialislähmung  ist  operativ,  wenigstens  in  functioneller  Beziehung, 
heilbar. 

Es  gilt  das  natürlich  für  jede  Radialislähmung,  mag  sie  spi- 
naler oder  cerebraler,  mag  sie  neuritischer  Art,  durch  Verletzung 
entstanden  sein  u.  s.  w. 

Dieser  Erfolg  muss  nun  aber  ein  Sporn  sein,  die  Sehnenüber- 
pflanzung in  noch  ausgedehnterem  Maasse  nicht  nur  bei  Lähmungen 
der  unteren,  sondern  gerade  auch  der  oberen  Gliedmaassen  anzu- 
wenden. Es  ist  ja  keine  Frage,  dass  die  Lösung  der  Frage  nach 
der  functionelten  Heilung  der  Radialislähraung  ohne  den  glück- 
lichen Kunstgriff  der  Sehnen  Verkürzung  noch  ihrer  practischen  Er- 
ledigung harren  würde,  aber  eben  so  wenig  zweifelhaft  ist  es,  dass 
die  vollständige  Lösung  jener  Aufgabe  erst  durch  das  Verfahren 
der  Sehnenverpflanzung  ermöglicht  ist. 

und  meine  Mittheilung  hat  in  der  Hauptsache  den  Zweck, 
die  Herren  Collegen  zum  Nachdenken  anzuregen,  ob  man  in  diesem 
oder  jenem  Falle,  in  dem  man  mit  der  nun  schon  bekannt  ge- 
wordenen Sehenüberpflanzung  allein  nicht  zum  Ziele    gelangt,    davS 


774  Dr.  F.  Pranke, 

erstrebenswerthe  Ziel  nicht  vielleicht  durch  ein  corabinirtes  Ver- 
fahren erreichen  könne. 

Dass  die  Sehnenüberpflanzung  sich  aber  nicht  allein  auf  das 
Gebiet  der  einfachen  Lähnaungen  oder  der  gewöhnlichen  paralyti- 
schen Contracturen  bisher  beschränkt  hat,  sondern  auch  schon 
auf  Nachbargebiete  übergegriffen  hat,  kann  ich  zeigen  an  einem 
Falle  von  spastisch-paretischera  Klunnpfuss,  bei  dem  es  sich 
weniger  um  Lähmungszustände,  als  vielmehr  um  schwere  Spasmen 
handelte. 

Der  betr.  Kranke,  ein  Knabe  Karl  Tackmann  aus  Mecklen- 
burg, 9  Jahre  alt,  hatte  sein  Leiden,  einen  rechtsseitigen  Klurap- 
fuss,  seit  seiner  ersten  Kindheit.  Die  Untersuchung  ergab  kurz 
gefasst  vollständige  Unversehrtheit  der  Beugemuskeln  bezüglich 
ihrer  Kraft,  aber  starke  Spasmen  in  denselben,  ferner  Parese  der 
Zehenstrecker  und  der  Peronei.  Beide  letzteren  reagirten  schwach 
auf  den  faradischen  Strom,  die  ersteren  sehr  lebhaft.  Ausserdem 
litt  der  Knabe  an  athetotischen  Bewegungen  der  rechten  Hand, 
die  aber  sehr  unbestimmt  und  ungleichmässig  waren,  sodass  ich 
es  ablehnen  musste,  operativ  gegen  sie  einzuschreiten. 

An  dem  Fusse  glaubte  ich  durch  Verlängerung  der  Achilles- 
sehne in  der  von  Bayer  angegebenen  Weise  mittels  eines  Zick- 
zackschnitts und  Ucberpflanzung  eines  Theils  der  Sehne  auf  die 
Pcroneussehne  einen  gewissen  Erfolg  erzielen  zu  können.  Durch 
eine  sehr  ausgiebige  Verlängerung  der  Achillessehne  sollte  nicht 
nur  die  Tesequinus-Stellung  bequem  beseitigt  werden,  sondern 
wollte  ich  auch  die  Spannung  im  Muskel  herabsetzen  und  damil 
dessen  Reizbarkeit  bezw.  dessen  Fähigkeit,  sich  auf  irgend  welche 
Reize  hin  noch  stark  zu  verkürzen.  Der  Erfolg  des  am  11.  Nov. 
V.  J.  gemachten  Eingriffs  war  nur  ein  theilweiser.  Die  Klump- 
fussstellung  war  zwar  beseitigt  und  blieb  auch  beseitigt,  nachdem 
der  Knabe,  vom  Gypsverband  befreit,  Gehversuche  gemacht  hatte, 
aber  es  blieben  immer  noch  Spasmen  der  Zehen  zurück,  die  beim 
Gehen  sehr  hinderlich  waren.  Deshalb  nahm  ich  am  2.  Dec.  die 
Tcnotomie  der  Sehne  des  Flcxor  digitorum  longus  vor.  Doch  auch 
nach  diesem  Eingriff  blieben  die  Beugerspasmen  der  Zehen  zurück, 
ein  anfangs  mich  einigermaassen  verblüffender  Umstand.  Da  er- 
innerte ich  mich,  dass  ziemlich  oft  eine  Verbindung  der  Sehne 
des  Flexor    hallucis    longus    mit    der  des  Flexor  digitorum  longus 


Ueber  die  operative  Behandluiig  der  Radialislähmang  etc.  775 

in  der  Fusssohle  bestehen  soll,  und  hatte  nun  den  Verdacht,  dass 
vielleicht  Spasmen  ira  ersteren  Muskel  sich  durch  diese  Verbindung 
auf  letzteren  übertrügen.  Mein  Verdacht  wurde  gerechtfertigt  durch 
die  Beobachtung,  dass,  als  ich  an  der  Sehne  des  Flexor  hallucis 
nach  ihrer  Freilegung  hinter  dem  inneren  Knöchel  einen  Zug  aus- 
übte, sich  säramtliche  Zehen  beugten,  und  vollständig  bestätigt 
durch  die  Thatsache,  dass  nach  Durchtrennung  der  Sehne  die 
Spasmen  in  den  Zehen  auch  nach  erfolgter  Heilung  fast  ganz  ge- 
schwunden waren.  Dann  aber  zeigte  sich  auf  einmal  wieder,  dass 
durch  Ueberpflanzung  der  Achillessehne  auf  die  Peroneussehne  des 
Guten  zu  viel  erreicht  war:  der  Fuss  stand  in  zu  starker  Ab- 
ductionsstellung,  bei  der  es  sich  zugleich  um  leichte  Spasmen  zu 
zu  handeln  schien.  Nachdem  am  23.  Dec.  noch  die  Tenotomie 
der  Peroneussehne  ausgeführt  und  der  Fuss  in  corrigirter  Stellung 
eingegypst  war,  wurde  endlich  ein  Ergebniss  erzielt,  das  mich 
einigermassen,  den  Vater  des  Knaben  dagegen  sehr  befriedigte. 
Als  der  Knabe  am  9.  Januar  auf  Wunsch  des  Vaters  entlassen 
wurde,  stand  der  Fuss  in  normaler  Stellung;  der  Gang  war  be- 
deutend gebessert,  immerhin  bestanden  noch,  wenn  auch  ganz 
leichte  Spasmen  in  den  Zehen.  Diese  Gewirkten,  dass  das  Ab- 
wickeln der  Fussohle  vom  Boden  zuletzt  mit  einem  leisen  Ruck 
geschah.  Weitere  Eingriffe  wünschte  der  Vater  des  Knaben  nicht, 
deshalb  konnte  diese  noch  bestehende  leichte  Störung  nicht  be- 
seitigt werden.  Vor  der  Entlassung  des  Knaben  wurde  noch  ein 
Gehgypsverband  angelegt. 

In  dem  eben  beschriebenen  Falle  gebührt  nun  zwar  der  Sehnen- 
überpflanzung nicht  das  Hauptverdienst  an  der  erreichten  Besserung, 
aber  er  lässt  doch  erkennen,  was  die  Sehnenüberpflanzung  in  Ver- 
bindung mit  anderen  Methoden,  hier  der  Sehnenverlängerung  bezw. 
der  Sehncndurchschneidung,  zu  leisten  vermiig.  Der  Knabe  war 
früher  auch  von  einer  Autorität  auf  dem  Gebiete  der  Chirurgie 
untersucht,  aber  als  nicht  besserungsfähig  abgewiesen  worden. 

Noch  erstaunlicher  als  in  diesem  und  ähnlichen  Fällen  ist  der 
Erfolg,  dessen  neuerdings  Eulenburg  durch  Sonnenburg  an 
einem  Kinde  sich  erfreuen  konnte  i),   das  an  der  Diplegia  spastica 


1)  Eulenburg,  Zur  Therapie  der  KinderläbmuDgen.  SelmenüberpflaD- 
zung  in  einem  Falle  von  spastischer  Paraplegie.  Deutsche  med.  Wochcnschr. 
7.  April  1898. 


776  Dr.  F.  Franke, 

infantilis  (Little'sche  Krankheit)  litt.  Die  eigenthümlichen,  con- 
tracturähnlicben  Zwangsstellungen,  durch  die  sich  diese  Krankheit 
in  einer  die  Kranken  ausserordentlich  belästigenden  Weise  aus- 
zeichnet, die  in  vorliegendem  Falle  das  Gehen  so  gut  wie  unmöglich 
machten,  wurden  durch  die  mittels  der  Methode  der  Sehnenüber- 
pflanzung bewirkten  Functionstheilung  und  Functionsübertragung 
der  Muskeln  so  günstig  beeinflusst,  dass  das  Gehen  wieder  er- 
möglicht wurde.  Die  Einzelheiten  der  Technik,  die  in  diesem 
Falle  angewandt  wurde,  sowie  die  beraerkenswerthen  Ausführungen 
und  Erörterungen,  die  Eulen  bürg  an  den  Bericht  über  seinen 
Fall  anschliesst,  verdienen  im  Original  nachgelesen  zu  werden.  Ich 
erlaube  mir  daher,  die  Herren  CoUegen  auf  die  Leetüre  desselben 
zu  verweisen. 

Es  freut  mich  aber,  feststellen  zu  können,  dass  Eulen  bürg 
zu  ganz  denselben  Schlussfolgerungen  gelangt  ist,  die  ich  schon 
früher  aus  meinen  Erfahrungen  gezogen  habe,  die  mich  ja  auch 
bewogen  haben,  den  von  mir  operirten  Knaben  in  Behandlung  zu 
nehmen. 

Eulen  bürg  ist  wie  ich  der  nun  wohl  begründeten  Meinung, 
dass  die  bei  paralytischen  Deformitäten  bewährte  Sehnenüber- 
pflanzung sich  auch  für  die  Behandlung  der  spastischen  (zunächst) 
Fussdeformitäten  eignen  wird.  So  ist  es  gar  nicht  unwahrschein- 
lich, dass  manchem  Hemiplegiker,  der  an  theilweisen  Lähmungen, 
an  Contracturen  oder  Spasmen  leidet,  unter  Benutzung  der  Sehnen- 
überpflanzung, evont.  in  Verbindung  mit  Sehnendurchschneidung, 
Sehnenverlängerung  und  Sehnenverkürzung  noch  häufig  ein  recht 
erlieblicher  Nutzen  geleistet  werden  kann.  Gerade  durch  die  Ver- 
bindung der  erwähnten  Operationsverfahren  lässt  sich,  wie  ich  durch 
meine  Behandlung  der  Radialislähraung  bewiesen  zu  haben  glaube, 
noch  manches  erreichen,  was  zu  erzielen  eins  der  Verfahren  allein 
nicht  erlaubt.  Ich  habe  den  Wunsch  und  die  Ansicht  Eulenburg's 
am  Ende  seines  Aufsatzes,  dass  man  die  Sehnenüberpflanzung  auch 
in  schweren,  veralteten  und  aussichtslos  erscheinenden  Fällen  peri- 
pherischer Partiallähmungen  z.  B.  einzelner  Arranervenstämme  ver- 
suchen solle,  schon  verwirklicht,  ja  ich  glaube,  durch  mein  com- 
binirtes  Verfahren  bereits  überholt,  wenn  ich  so  sagen  darf. 

Ich  bin  am  Schlüsse  meiner  Ausführunfi:cn.  Wenn  ich  da.s 
ßewusstsein    haben    darf,    dass    meine    vorjährige  Mittheilung  und 


Ueber  die  operative  Behandlung  der  Radialislähmung  etc.  777 

Demonstration  diesen  und  jenen  der  Herren  CoUegen  angeregt  hat, 
in  einem  geeigneten  Falle  die  Methode  der  Sehnen  Überpflanzung 
zu  versuchen,  so  würde  es  mir  grosse  Befriedigung  gewähren,  wenn 
mein  diesjähriger  Bericht  zur  weiteren  Verbreitung  der  Methode 
beitrüge  und  den  Herren  die  Ueberzeugung  verschaffte,  dass  das 
Verfahren  berufen  ist,  namentlich  auch  in  Verbindung  mit  anderen 
Methoden  gewisse  Gebiete  von  Nerven-  und  Muskelleiden  der 
operativen  Chirurgie  zum  Nutzen  der  leidenden  Menschheit  zu  er- 
schliessen. 


LI. 

Der  erworbene  Hochstand  der  Scapula.'^ 

Von 

Professor  Dr.  Tli.  KSIIlker 

in  Leipzig. 


M.  IL!  Während  bis  jetzt  schon  etwa  20  Fälle  von  an- 
geborenem Hochstand  des  Schulterblattes  bekannt  sind  —  ich 
selbst  habe  drei  Fälle  beobachtet  und  beschrieben  und  den  einen 
mit  Resec^tion  äes  oberen,  inneren  Schulterblattwinkels  behandelt  — 
ist  mir  aus  der  Literatur  kein  Fall  von  erworbenem  Hochstand 
des  Schulterblattes  zur  Kenntniss  gekommen.  Ich  sehe  dabei 
natürlich  von  dem  höheren  Stand  der  einen  Scapula  bei  oberen 
Dorsal-  und  bei  Cervicodorsalskoliosen  ab. 

Nun  war  ich  kürzlich  in  der  Lage,  einen  Fall  von  erworbenem 
Ilochstand  des  Schulterblattes  zu  behandeln  und  besitze  zugleich 
ein  Präparat,  das  geeignet  ist,  über  die  anatomischen  Verhältnisse 
dieser  Deformität  Aufschluss  zu  geben.  Das  Präparat  stammt 
von  einer  57  Jahre  alten  schwer  rachitischen  Frau;  meine  Patientin 
ist  ein  Mädchen  von  14  Jahren,  das  die  Deformität  erst  nach  dem 
sechsten  Lebensjahre  erworben  hat. 

Der  erworbene  Ilochstand  des  Schulterblattes,  der  einseitig, 
aber  auch  doppelseitig  beobachtet  wird,  ist  eine  rachitische  De- 
formität und  besteht  in  einer  Umkrümmung  des  Schulterblattes 
nach  vorn,  verbunden  mit  Verlängerung  und  Verbreiterung  des 
Rabenschnabelfortsatzes    und  ;Venderung  der  Stellung   der  Gelenk- 


1)  Vorgetragen  am  4.  Sitzungstage  des  XXVII.  Congresses  der  Deutschen 
Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  16.  April  1898. 


Der  erworbene  Hoch  stand  der  Soapula.  779 

pfannc,  die  mehr  nach  vorn  hin  gerichtet  ist.  An  denn  vor- 
liegenden Präparate  sieht  man  sowohl  die  Krümmung  des  Schulter- 
blattes, als  auch  die  Veränderungen,  die  die  Pfanne  und  der 
Rabenschnabelfortsatz  erlitten  hat,  dieser  ist  verbreitert  und  stark 
in  die  Länge  gezogen. 

Die    klinischen  Erscheinungen    der  Deformität    sind  folgende: 

Die  Scapula  steht  abnorm  hoch,  der  untere  Schultcrblatt- 
winkel  steht  stark  ab,  die  Schulter  ist  nach  vorn,  innen  und  be- 
sonders nach  unten  gesunken,  der  laterale  Cucullarisrand  springt 
stark  vor,  die  untere  Halsgegend  ist  verbreitert,  die  Supraclavicular- 
grube  vertieft,  —  ist  die  Deformität  doppelseitig,  dann  erscheint 
die  ganze  Brust  tief  eingesunken,  während  die  sternalen  Enden 
der  Claviculae  stark  vorspringen  — ,  der  Rabenschnabelfortsatz  lässt 
sich  als  breiter,  langer  Knochen  leicht  abtasten,  der  obere,  innere 
Schulterblattwinkel  steht  hart  oberhalb  des  Schlüsselbeines. 

Störung  der  Function  besteht  in  so  fern,  als  der  Arm  im 
Schultergelenke  nur  bis  zur  Horizontalen  erhoben  werden  kann. 

Was  die  Behandlung  anbelangt,  so  ist  bei  leichtern  Fällen 
ein  Apparat  zu  empfehlen,  der  das  Schulterblatt  durch  elastische 
Züge  nach  hinten  und  unten  zieht.  Bei  schwereren  Fällen  ist  der 
Apparat-Behandlung  die  Resection  des  Processus  coracoideus  vor- 
auszuschicken. 


LH. 

lieber  die  Beseitigung  von  Gebärmutter- 
blutungen durch  die  locale  Anwendung  des 
Dampfes  (Vaporisation  nach  Sneguireff).') 

Von 

Dr.  Diihrssen 

in  Berlin. 


M.  H.!  Indem  ich  Sie  an  den  denkwürdigen  Vortrag  von 
Herrn  v.  Esmarch  auf  dem  25.  Congress  unserer  Gesellschaft 
„Ueber  künstliche  Blutleere'*  erinnere,  erbitte  ich  mir  Ihre  Auf- 
merksamkeit für  eine  Methode,  welche  ebenfalls  bezweckt,  kranken 
Frauen  Blut  zu  sparen,  —  zwar  nicht  bei  Gelegenheit  von 
Operationen,  sondern  bei  den  menstruellen  Blutungen,  die  so  oft 
ins  Pathologische  übergehend,  die  Gesundheit  der  Frau  untergraben, 
ja  sogar  den  vorzeitigen  Tod  herbeiführen  können.  Diese  Methode 
ist  die  locale  Anwendung  des  Dampfes,  die  Vaporisation  nach 
Sneguireff.  Die  Anregung  zu  seiner  ersten  Publication  gab 
Sneguireff  ein  chirurgischer  Fall  im  engeren  Sinne,  nämlich  eine 
Leberblutung  bei  Exstirpation  eines  Ecchinococcussackes,  die  schwer 
zu  stillen  war.  Die  auf  Grund  dieses  Falles  von  Sneguireff  aus- 
geführten Thiercxperimente  ergaben,  dass  man  unter  Beihülfe  des 
Dampfes  beliebig  grosse  Stücke  der  Leber  ohne  den  geringsten 
Blutverlust  reseciren  und  ferner  die  Blutung  aus  der  durchschnit- 
tenen  A.  femoralis  des  Hundes  durch  Vaporisation  stillen  kann. 
Ich  habe  diese  Experimente  an  2  Kaninchen  wiederholt.  Sie  sehen 
hier  das  von  mir  rosecirte  Stück  der  Leber  und  hier  die  später 
herausgenommene  Leber,  deren  starke  Blutung  durch  Vaporisation 


1)  Abgekürzt  vorgetragen  am  4.  Sitzungstage  des  XXVII.  Congresses  der 
Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  16.  April  1898. 


lieber  die  Beseitigung  von  Gebärmutterbliitimgen  etc.  781 

beseitigt  wurde.  Bei  der  späteren  Section  fand  sich  kein  Tropfen 
Blut  in  der  Bauchhöhle.  Auch  zeige  ich  Ihnen  hier  noch  2  Prä- 
parate von  Femoral arterien,  bei  denen  die  Blutung  aus  der  durch- 
resp.  angeschnittenen  Arterie  des  Kaninchens  durch  Vaporisation 
gestillt  wurde. 

Der  hierzu  benutzte  Apparat  ist  ein  sehr  einfacher.  Er  be- 
steht aus  einem  Spirituskocher,  welcher  durch  einen  Schlauch  mit 
einem  dünnen  Metallrohr  in  Verbindung  steht.  Bei  der  uterinen 
Vaporisation  wird  dieses  Rohr,  sobald  der  Dampf  aus  demselben 
ausströmt,  in  einen  vorher  in  den  Uterus  eingeführten  gefensterten 
Katheter  eingeschoben.  Den  im  Oervix  liegenden  Abschnitt  des 
Katheters  umgebe  ich  mit  einem  schlechten  Wärmeleiter,  einem 
Drainrohr,  um  den  Gervix  vor  jeder  Einwirkung  des  heissen 
Katheterrohrs  zu  bewahren.  Sie  sehen  hier  einen  aus  anderen 
Gründen  vaginal  exstirpirten  Uterus,  den  ich  vorher  experimenti 
causa  vaporisirt  habe.  Während  die  Corpushöhle  gleichmässig  ver- 
schorft  ist,  sieht  man,  dass  die  Cervixschleimhaut  in  Folge  des 
überzogenen  Drains  keine  Spur  der  Hitzewirkung  zeigt.  Der 
von  mir  benutzte  Apparat  ist  ein  Originalappara't  von  Sneguireff, 
doch  zeige  ich  Ihnen  hier  einen  von  Pincus  construirten  uud  von 
dem  medicinischen  Waarenhaus  gelieferten  Apparat,  welcher  durch- 
aus zweckentsprechend  construirt  ist. 

Um  die  Wirksamkeit  des  Verfahrens  zu  erproben,  wandte 
ich  dasselbe  zunächst  in  2  ganz  verzweifelten  Fällen  an,  die  mir 
zur  Vornahme  der  Totalexstirpation  zugeschickt  waren.  In  dem 
einen  Falle  handelte  es  sich  um  eine  37jährige  Bluterin,  die  durch 
langjährige,  profuse  Menstruationen  ausserordentlich  heruntergekom- 
men war.  Patientin  konnte  vor  Schwäche  nicht  mehr  gehen,  der 
Puls  war  kaum  zu  fühlen.  Unter  diesen  Umständen  war  die  Pro- 
gnose der  scheinbar  unumgänglich  nothwendigen  Totalexstirpation 
eine  sehr  schlechte. 

Versuchsweise  nahm  ich  daher  am  23.  October  1897  bei  der 
Patientin  eine  Vaporisation  von  2  Minuten  Dauer  vor,  wodurch  die 
Blutung  sofort  gestillt  und  9  Tage  später  ein  röhrenförmiges,  9  cm 
langes  Gebilde  ausgestossen  wurde.  Die  mikroskopische  Unter- 
suchung desselben  ergab,  dass  es  sich  um  die  necrotische  Uterus- 
schleimhaut nebst  den  angrenzenden  Partien  der  üterusmusculatur 
handelte. 

Archiv  fHr  kliii.  CLirargie.    57.  Bd.    Heft  4.  ^9 


782  Dr.  Dührssen, 

Mit  diesem  Befund,  den  weder  Sneguireff,  noch  die  anderen 
Autoren  erwähnen,  die  über  Vaporisation  berichtet  haben,  war  für 
mich  die  sichere  patliologisch-anatomische  Basis  gewonnen,  um  die 
Erfolge  des  Verfahrens  beurtheilen  zu  können:  Nachdem  die 
ganze  Utcrusschleimhaut  exfoliirt  war,  musste  es  noth- 
wcndiger  Weise  zu  einer  Verwachsung  der  ganzen  üterus- 
höhle  kommen.  So  geschah  es  auch!  H  Tage  später  hatte  die 
Patientin  noch  eine  Blutung,  die  durch  eine  Vaporisation  von 
IV2  Minuten  Dauer  beseitigt  wurde.  Seitdem  erfolgte  keine  Blu- 
tung mehr,  es  trat  eine  völlige  Obliteration  der  Uterushöhle 
und  Atrophie  des  Uterus  ein.  In  Folge  der  6 monatlichen  Cessatio 
mensium  ist  die  Patientin  mittlerweile  schon  zu  einem  lebensfrohen 
Individuum  wieder  herangeblüht. 

Bei  der  Kürze  der  Zeit  will  ich  auf  den  zweiten  und  einen 
dritten,  nicht  ganz  so  schweren  Fall  nicht  näher  eingehen.  Jeden- 
falls beweisen  diese  Fälle,  dass  man  es  in  Folge  der  durch  die 
Vaporisation  erzeugten  Exfoliation  der  Uterusschleimhaut  in  der 
Hand  hat,  ohne  Narkose,  ohne  operativen  Eingriff,  ohne 
der  Patientin  Schmerzen  zu  machen  —  denn  das  Verfahren 
ist  nur  sehr  wenig  schmerzhaft  —  lebensgefährliche  uterine 
Blutungen  zu  heilen  und  hierdurch  den  Patientinnen  grosse, 
unter  diesen  Umständen  bei  der  Anämie  lebensgefährliche  Eingriffe, 
wie  die  Uterusexstirpation,  zu  ersparen. 

Das  Verfahren  ist  natürlich  ausgeschlossen  bei  malignen  Neu- 
bildungen, bei  Retention  von  Eiresten;  in  diesen  Fällen  ist  der 
Uterus  mit  Laminaria  zu  dilatircn,  auszutasten  und  eventuell  behufs 
mikroskopischer  Untersuchung  zu  curettiren.  Die  Dilatation  ist 
sowieso  für  die  Einführung  des  mit  dem  Drain  überzogenen  Kathe- 
ters noth wendig.  Contraindicirt  ist  ferner  jugendliches  Alter.  So- 
mit findet  das  Verfahren  seine  Anwendung  bei  den  er- 
schöpfenden Blutungen  der  40ger  Lebensjahre,  die  durch 
Metritis  chronica  mit  oder  ohne  gleichz  eitige  Wuche- 
rung der  Körperschleimhaut,  durch  abnorme  Brüchigkeit 
der  Uterusgefässe,  durch  interstitielle  Myome  bedingt 
sind.  Diese  pathologischen  Blutungen  werden  von  den  meisten 
Frauen  gleichmüthig  bis  zur  völligen  Erschöpfung  ertragen,  weil  der 
unglückselige  Glaube,  auch  bei  vielen  Aerzten,  besteht,  dass  diese 
Blutungen  regelmässige  Begleiterscheinungen  der  Wechseljahre  sind. 


Ueber  die  Beseitigung  von  Gebärmutierblutungen  etc.  783 

Einen  Fall  möchte  ich  noch  kurz  deswegen  anführen,  weil  in 
ihm  die  Blutungen  durch  ein  apfelgrosses  interstitielles  Myom  er- 
zeugt waren.  Es  handelte  sich  um  eine  47jährige  Nullipara,  bei 
welcher  ich  Ostern  97  die  stark  gewucherte  Uterusschlcimhaut 
durch  Curettement  entfernt  hatte.  Hierdurch  wurde  aber  die 
Stärke  der  Blutung  nur  vorübergehend  herabgesetzt,  besonders  Weiii- 
nachten  97  trat  die  Menstruation  wieder  ausserordentlich  stark  ein 
und  dauerte,  als  ich  die  Patientin  zum  ersten  Male  wiedersah, 
bereits  25  Tage.  Die  Patientin  war  ausserordentlich  hinfällig,  ihr 
Puls  nur  zeitweise  ganz  schwach  zu  fühlen. 

Am  20.  Jan.  98  vaporisirte  ich  die  Patientin  1  Minute  lang, 
wodurch  die  Blutung  sofort  stand  und  erst  am  30.  März  98  in 
Form  einer  ganz  schwachen  und  nur  Itägigen  Menstruation  wieder 
auftrat.     Patientin  hat  sich  ganz  ausserordentlich  wieder  erholt. 

Dieser  Fall  bildet  schon  den  Uebergang  zu  denjenigen  Fällen, 
wo  man  zwar  abnorme  Uterusblutungen  beseitigen,  aber  keine  Ver- 
ödung der  Uterushöhle  herbeiführen  will  — ,  Fälle  also,  in  denen 
es  sich  um  jugendliche  Individuen  handelt.  In  diesen  Fällen  halte 
ich  eine  Vaporisation  über  V4  Minute  Dauer  für  zu  lang.  Ich  sah 
nämlich  nach  Vaporisationen  von  nur  Y2  Minute  Dauer  mehrmonat- 
liche Amenorrhoe  eintreten  — ,  ein  Beweis,  dass  die  Einwirkung 
in  diesen  Fällen  eine  zu  energische  gewesen  war. 

Bei  der  Harmlosigkeit  der  ganzen  Procedur  wird  man  leicht 
verleitet,  die  Vaporisation  länger  auszudehnen.  Ich  kann  ferner 
nur  dringend  davon  abrathen,  sie,  wie  Sneguireff  es  empfiehlt, 
schon  nach  4  Tagen  zu  wiederholen,  vielmehr  warte  man  den 
Verlauf  der  nächsten  Menstruation  ab.  —  In  einigen  Fällen  sah  ich 
beginnende  Stenosen,  die  durch  Dilatation  rasch  beseitigt  wurden. 
Sie  waren  bedingt  durch  die  zu  starke  Einwirkung  des  erhitzten 
Katheterrohrs  auf  die  Cervicalschleimhaut  und  lassen  sich  in  der 
schon  geschilderten  Weise  leicht  verhüten. 

Zum  Schluss  erwähne  ich  noch,  dass  die  Vaporisation  an- 
scheinend mit  Erfolg  auch  bei  Puerperalfieber,  speciell  der 
septischen  und  putriden  Endometritis  angewandt  worden  ist.  Sie 
scheint  mir  auch  bei  der  Behandlung  der  acuten  Uterusgonor- 
rhoe, als  sicherstes  Abtödtungsmittel  der  Gonokokken,  Erfolge  zu 
versprechen. 

So  kann    ich  nach    meinen  Erfahrungen  die  Vaporisation  als 

52* 


784     Dr.  Dübrssen,  Uober  die  Beseitigung  von  Gebärmutterblutungen  etc. 

ein  sicheres  blutstillendes  Mittel  bezeichnen,  welches  unter  Beob- 
achtung der  raitgetheilten  Cautelen  frei  von  Nachtheilen  ist  und 
mir  berufen  scheint,  die  operative  Behandlung  lebensgefähr- 
licher, uteriner  Blutungen,  speciell  der  durch  Myome 
erzeugten  Blutungen,  bedeutend  einzuschränken!  In  dem 
berichteten  Falle  von  Myom  habe  ich  eine  deutliche  Verkleinerung 
nicht  nur  des  Uterus,  sondern  auch  des  Myoms  constatiren  können, 
so  dass  Tiiöglicher  Weise  die  Vaporisation  bei  Myomen  nicht  nur 
eine  palliative  Behandlungsmethode,  sondern  auch  eine  radicale 
dadurch  darstellt,  dass  sie  in  Folge  der  erzeugten  Amenorrhoe  zu 
einer  Schrumpfung  kleinerer  interstitieller  Myome  führt. 

Ich  glaube  daher,    die  Vaporisation   als  eine  wirkliche  Berei- 
cherung der  gynäkologischen  Therapie  warm  empfehlen  zu  können. 


LIII. 

Beiträge  zur  Serumtherapie  bei  Diphtherie/) 


Von 

Dr.  Riese 

in  Britz  bei  Berlin. 


M.  H.!  Wenn  ich  mir  ci^aube,  nach  dem  Vortrage  des  Herrn 
Kroenlein  das  Wort  über  die  Serum therapie  zu  ergreifen,  so  ge- 
schieht es  deshalb,  weil  es  hier,  wie  ich  aus  persönlicher  Erfahrung 
weiss,  und  wie  auch  die  Durchsicht  der  Literatur  zeigt,  immer 
noch  eine  grössere  Zahl  von  Aerzten  giebt,  die  sich  den  Er- 
folgen der  Serumtherapie  gegenüber  ganz  skeptisch  verhalten  und 
behaupten,  ohne  dieselbe  könnten  die  Erfolge  ebenso  gute,  wenn 
nicht  bessere  sein,  falls  man  nur  die  Behandlung  frühzeitig  be- 
ginne und  nach  richtigen  Principien  leite.  Schriftstellerisch  ist 
für  diese  Ansicht  namentlich  Hennig  (Königsberg)  eingetreten, 
der  mit  seiner  Behandlungsmethode,  die  hauptsächlich  in  Anti- 
phlogose  und  Medication  von  Ferrum  sesquichloratum  und  Jodkali, 
sowie  der  Benutzung  von  Gargarismen  mit  Kalkwasser  besteht, 
unter  fast  2000  Fällen  von  Diphtherie  nur  3  pUt.  Todesfälle  ge- 
habt habe.  Das  ist  allerdings  ein  fabelhaftes  Resultat,  nach  dem 
die  Diphtherie  aus  der  Zahl  der  besonders  gefährlichen  Infections- 
krankheiten  überhaupt  zu  streichen  wäre,  nur  kann  der  nü(5htorne 
Beobachter  ein  gewisses  Misstrauen  gegen  eine  solche  Zahl  nicht 
ganz  überwinden,  zumal  genauere  Belege  für  dieselbe  fehlen.  Und 
doch    sind    wir   zur   evidenten  Nachweisung    der  Nützlichkeit    der 

*)  Dieser  für  den  Congress  aügemeldete  Vortrag  konnte  wegen  Mangel  an 
Zeit  nicht  erledigt  werden. 


786  Dr.  Riese, 

Senimbehandlung  an  die  Statistiken  gebunden;  ich  möchte  aber 
der  Meinung  Ausdruck  geben,  dass,  wenn  man  diesen  Standpunkt 
als  richtig  anerkennt,  nur  die  Statistiken  einen  entscheidenden 
Werth  haben,  die  aus  der  bakteriologischen  und  klinischen  Beob- 
achtung gewonnen  werden,  vor  allem  die  Statistiken  aus  Kranken- 
häusern, in  denen  möglichst  jeder  Fall  bakteriologisch  untersucht 
wird.  Derartige  Statistiken  bestehen  nun  in  grösserer  Anzahl  und 
ergeben  als  kaum  noch  bestreitbares  Resultat,  dass  sich  die  all- 
gemeine Sterblichkeit  bei  Diphtherie  durch  die  Serumbehandlung 
sehr  beträchtlich  vermindert  hat;  dass  auch  zweifellos  schwere 
Fälle  von  Diphtherie  nach  der  Seruminjection  leichter  verlaufen, 
als  wir  es  früher  bei  anderen  Behandlungsmethoden  zu  sehen  ge- 
wohnt waren,  dass  die  Beläge  sich  rascher  abstossen,  und  dass 
Tracheotomien  seltener  noth wendig  werden  und  einen  sehr  viel 
günstigeren  Verlauf  nehmen,  als  früher.  Ich  glaube,  dass  Jeder, 
der  sich  mit  der  Serumtherapie  der  Diphtherie  eingehender  be- 
schäftigt hat,  eine  günstige  Wirkung  derselben  unmöglich  mehr 
ableugnen  kann.  Immerhin  scheint  aber,  auch  aus  den  Statistiken 
hervorzugehen,  dass  die  ganz  schweren  septischen  Fälle  von  Diph- 
therie auch  durch  das  Serum  nur  zu  einem  geringen  Bruchtheil 
zu  retten  gewesen  sind,  und  gerade  dieser  Punkt  verleiht  immer 
noch  den  Gegnern  der  Serumtherapie  den  Muth,  auf  ihrer  Opposi- 
tion zu  beharren.  Ich  glaube  daher,  dass  wir  jetzt  besonders  die 
Frage  zu  entscheiden  suchen  müssen,  ob  das  Serum  nur  bei  den 
reinen  Diphtheriefällen,  d.  h.  den  Fällen  von  Bretonneau'scher 
Krankheit,  die  lediglich  durch  die  Löffler'schen  Bacillen  hervor- 
gerufen sind,  seine  Wirkung  entfaltet,  oder  ob  auch  die  schweren 
septischen  Fälle  von  Diphtherie  durch  das  Serum  günstig  beein- 
(lusst  werden,  die  durch  eine  Mischinfection  mit  Diphtheriebacillen 
und  Streptokokken  zu  Stande  kommen.  Weiterhin  muss  entschie- 
den werden,  ob  Fälle  von  ganz  besonders  schwerer  Diphtherie, 
bei  denen  sich  bakteriologisch  zwar  nur  Löfflerbacillen  nach- 
weisen lassen,  die  aber  wohl  infolge  besonders  starker  Giftigkeit 
der  wirksamen  Toxine  bisher  trotz  Serumbehandlung  meist  tödt- 
liöhen  Ausgang  hatten,  etwa  durch  Verstärkung  der  Serumdosen 
zum  grössten  Theile  gerettet  werden  können.  Schliesslich  muss 
noch  genau  präcisirt  werden,  wie  lange  wir  mit  der  Injection 
warten    können,    ohne    dass    der  günstige  Erfolg  derselben  aufge- 


Beiträge  zur  Serumtherapie  bei  Diphtherie.  787 

hoben  wird,  da  in  der  Praxis  die  Forderung,  am  ersten  Tage  zu 
spritzen,  sich  selten  erfüllen  lässt. 

Die  Annahme,  die  von  Seiten  der  Bakteriologen  gemacht  und 
deren  Richtigkeit  durch  Experimente  zu  erhärten  gesucht  worden 
ist,  dass  die  Virulenz  der  Streptokokken  durch  die  gleichzeitige 
Anwesenheit  von  Diphtheriebacillen  erhöht,  und  dass  durch  Ver- 
nichtung der  Toxine  der  letzteren  auch  die  Virulenz  der  ersteren, 
herabgesetzt  wird,  ist  wohl  noch  nicht  als  thatsächlich  richtig 
sicher  bewiesen.  Wäre  sie  es,  so  müsste  theoretisch  die  Ileil- 
seruminjection  auch  die  durch  die  vereinte  Wirkung  beider  Mi- 
krobenarten hervorgerufenen  schweren  Fälle  von  Diphtherie  zu 
heilen  im  Stande  sein.  Bevor  diese  Frage  theoretisch  sicher  ent- 
schieden ist,  können  wir  sie  klinisch  zu  entscheiden  versuchen. 

In  den  Statistiken  müssen  zur  Entscheidung  aller  dieser 
Fragen  die  Fälle  von  reiner  Diphtherie  von  den  bakteriologisch 
als  durch  Mischinfection  zu  Stande  gekommenen  scharf  geschieden 
werden;  es  muss  untersucht  werden,  ob  diese  Fälle  und  die  von 
Anfang  an  schwer  toxisch  erscheinenden  Fälle  von  reiner  Diph- 
therie durch  grosse  Serumdosen  in  der  Mehrzahl  gerettet  werden 
können ;  es  muss  genau  ermittelt  werden,  an  welchem  Krankheits- 
tage die  Einspritzung  vorgenommen  worden  ist. 

Selbstverständlich  dürfen  auch  die  anderen  bisher  berücksich- 
tigten Fragen:  Auftreten  von  Albuminurie,  Lähmungen,  Zeit  der 
Abstossung  der  Beläge,  Verhältnisszahl  der  nothwendig  werdenden 
Tracheotomien,  x\ngabe  des  Tages  der  Entfernung  der  Canüle, 
Heilungsdauer  etc.  nicht  unberücksichtigt  bleiben.  In  der  Erwar- 
tung, dass  erst  durch  grosse  Statistiken  diese  Fragen  zur  sicheren 
klinischen  Entscheidung  kommen  werden,  erlaube  ich  mir  als 
kleinen  Beitrag  hierzu  einen  Bericht  über  die  relativ  kleine  An- 
zahl von  100  Fällen  anatomisch  und  klinisch  zweifelloser  Diph- 
therien vorzulegen,  die  im  Britzer  Krankenhause  mit  Serum  be- 
handelt wurden. 

82  der  Fälle  wurden  bakteriologisch  untersucht:  Das  Ergeb- 
niss  war  11  mal  negativ,  ohne  dass  die  klinische  Diagnose:  ^'-^^P'^' 
therie"  irgendwie  zweifelhaft  sein  konnte,  da  in  der  Mehrzahl  dieser 
Fälle  tracheotomirt  werden  musste  und  lange  Membranen  ausge- 
worfen wurden.  In  64  Fällen  wurden  so  gut  wie  Reinculturen 
von  Löffler-Bacillen  gewonnen.     In  3  Fällen  diese  ungefähr  zur 


788  Dr.  Riese, 

Hälfte  mit  Staphylokokken  gemischt,  in  9  Fällen  Löffler- Bacillen 
mit  Streptokokken,  in  4  Fällen  Staphylokokken,  in  einem  Fall 
Strepto-  und  Staphylokokken,  in  einem  nur  Streptokokken.  Mög- 
lich, dass  in  den  letzten  Fällen  trotz  fehlenden  Nachweises  Diph- 
theriebacillen  vorhanden  waren,  da  auch  hier  bei  einem  Theil  der- 
selben trachcotomirt  werden  musste  und  Membranen  zu  Tage  ge- 
fördert wurden. 

17  von  den  64  reinen  Diphtherien  wiesen  ganz  besonders 
schwere  Erscheinungen  auf,  die  Zeichen  für  eine  Wirkung  beson- 
ders giftiger  Toxine  waren  bei  ihnen  so  stark  ausgesprochen,  dass 
die  Prognose  als  durchaus  schlecht  erscheinen  musste.  Von  diesen 
17  starben  5,  also  fast  30  pCt.,  und  zwar: 

Ein  einjähriges  Kind,  dem  am  3.  Kran kheits tage  600  I.-E.  eingespritzt 
wurden  und  das  gleich  tracheotomirt  werden  musste. 

Ein  zweijähriges  Kind,  dem  erst  am  8.  Krankheitstage  1000  I.-E.  injicirt 
wurden,  sehr  bald  nach  der  sogleich  vorgenommenen  Tracheotomie. 

Ein  fünfjähriger  Knabe  mit  schwerster  gangränöser  Nasen-  und  Rachen- 
diphtherie, der  am  3.  und  5.  Krankheitstage  je  1000  I.-E.  einverleibt  bekam 
und  am  6.  Krankheitst«ige  starb. 

Ein  sechsjähriges  Kind,  das  am  7.  Tage  mit  1000  l.-E.  gespritzt  wurde 
und  noch  am  selben  Tage  starb. 

Schliesslich  ein  siebenjähriges  Mädchen,  Schwester  des  fünQährigen 
Knaben,  das  die  gleichen  Erscheinungen  darbot  wie  dieser,  und  an  denselben 
Krankheitstagen  mit  gleich  grossen  Dosen  von  Serum  behandelt  wurde.  Es 
starb  am  11.  Tage  nach  der  ersten  Injection. 

Bei  dreien  dieser  Kinder  wurde  bei  der  Section  absteigender 
Croup  gefunden,  bei  den  beiden  Geschwistern  war  die  Diphtherie 
nicht  über  den  Rachen  nach  unten  fortgeschritten,  bei  beiden  wur- 
den aber  Petechien  im  Pericard  und  Pleura  und  braune  Atrophie 
des  Herzmuskels  nachgewiesen.  2000  I.-E.,  allerdings  erst  am 
3.  und  5.  Krankheitstage  in  zwei  Einzeldosen  eiuverleibt  (hier 
wurde  sofort  nach  der  Aufnahme  injicirt),  hatten  also  nicht  ge- 
nügt, um  den  Tod  abzuwenden,  obgleich  die  Diphtherie  sich  nicht 
weiter  ausgedehnt  hatte,  bei  dem  Mädchen  die  Beläge  \ielmehr 
bereits  abgestossen  waren,  und  obgleich  eine  Tracheotomie  nicht 
nöthig  wurde.  Von  den  12  durchgekommenen  Patienten  waren: 
2  einjährige  Kinder  am  2.  resp.  3.  Tage  mit  1000  l.-E.  behandelt 
worden,  eins  davon  musste  am  2.  Tage  nach  der  Injection  trache- 
otomirt werden. 


Beiträge  zur  Serumtherapie  bei  Diphtherie.  789 

Ein  2  jähriges  Kind  hatte  1750  I.-E.  am  5.  und  6.  Tage  (erst  750,  dann 
1000)  bekommen  und  musste  einige  Stunden  nach  der  ersten  Einspritzung 
tracheotorairt  werden.  Bei  einem  12  jähr.  Knaben,  der  am  6.  Tage  1500  I.-E. 
injicirt  bekam,  musste  ebenfalls  nach  kurzer  Zeit  der  Kehlkopfschnitt  gemacht 
werden. 

Allen  übrigen  8  Patienten,  säramtlich  Kinder  unter  10  Jahren, 
wurden  am  2.  resp.  3.  Tage  1000  I.-E.  eingespritzt,  und  7  von 
ihnen  mussten  tracheotorairt  werden.  Es  sind  also  nur  die  am 
2.  oder  3.  Tage  mit  mindestens  1000  I.-E.  Behandelten  zum 
grössten  Theile,  wenn  auch  erst  nach  Tracheotomien,  durchge- 
kommen, w^ährend  bei  den  später  zur  Injection  Gekommenen  in 
allen  ausser  einem  Falle  mehr  Serum  gebraucht  wurde,  und  nur 
2  davon  mit  dem  Leben  davonkamen.  Ich  halte  es  für  nicht  un- 
wahrscheinlich, dass  auch  von  den  Gestorbenen  ein  Theil  hätte 
durchkommen  können,  wenn  ich  gleich  grosse  Einzeldosen  von 
2000 — 3000  I.-E.  angewandt  hätte.  Vielleicht  wäre  auch  noch 
ein  Theil  der  durchgekommenen  Patienten  durch  diese  energischere 
Behandlung  vor  der  Tracheotomie  bewahrt  geblieben. 

Die  9  Patienten  mit  Mischinfection  von  Diphtheriebacillen 
und  Streptokokken  zeigten  bis  auf  drei,  die  mittelschwer  verliefen, 
besonders  schwere  Symptome;  es  starb  aber  nur  ein  dreijähriges 
Kind,  dessen  Krankheitsgeschichte  besonderes  Interesse  darbietet. 
Dasselbe  war  nämlich  38  Tage  vor  seinem  Tode  an  Diphtherie 
erkrankt,  damals  am  2.  Krankheitstage  mit  1000  l.-E.  gespritzt 
worden,  am  3.  Tage  danach  wegen  Stenosenerscheinungen  trache- 
otorairt worden,  nachdem  aus  dem  Belag  eine  Reincultur  von 
Löffler-Bacillen  gezüchtet  worden  war,  und  konnte  13  Tage  vor 
seiner  Wiederaufnahme  absolut  gesund  entlassen  werden.  Bei 
dieser  war  das  Allgemeinbefinden  ein  sehr  schlechtes,  es  bestanden 
Cyanose,  Somnolenz,  hohes  Fieber,  aber  keine  beträchtlicheren 
Stenosenerscheinungen  und  kein  Belag  auf  den  Tonsillen.  Die 
Krankheit  sollte  4  Tage  vorher  begonnen  haben.  Ich  spritzte  zu- 
erst sofort  750  l.-E.,  so  wenig,  weil  es  mir  zweifelhaft  schien,  ob 
es  sich  um  Diphtherie  oder  um  schwere  capilläre  Bronchitis  handle, 
aber  schon  nach  14  Stunden  starb  das  Kind  im  Collaps  trotz 
Campher  und  Alkohol.  Die  bakteriologische  Untersuchung  des 
Schleims  förderte  zahlreiche  Streptokokken  und  Diphtheriebacillen 
zu  Tage.  Die  Section  ergab  absteigenden  Croup.  Möglich,  dass 
auch  dieser  Fall  durch  eine  hohe  Serumdosis    zu    retten   gewesen 


790  Dr.  Riese, 

Wtäre.  Jedenfalls  zeigt  er  wieder,  dass  eine  Immunität  durch  das 
Behring'sche  Serum  auf  längere  Zeit  nicht  erzielt  wird,  da  nicht 
etwa  eine  fortgesetzte,  sondern  eine  ganz  neue  Infection  nach  dem 
ganzen  Verlauf  mit  Sicherheit  anzunehmen  ist.  Bei  den  übrigen 
Fällen  von  Mischinfection  handelte  es  sich  3  mal  um  schwere 
Nasen-  und  Rachendiphtherie.  Bei  einem  von  diesen  3  Patienten 
konnte  erst  am  9.  Tage  injicirt  werden  (1000  I.-E.).  Am  10.  Tage 
Hess  ich  wegen  der  Schwere  der  Symptome  eine  2.  Einspritzung 
von  1000  I.-E.  machen.  Der  Belag  stiess  sich  zwar  am  5.  Tage 
danach  ab,  es  kam  aber  zu  einer  Gaumenlähmung  und  einer  Ne- 
phritis: 30  Tage  lang  wurde  viel  Albumen  ausgeschieden.  Bei 
den  beiden  anderen  Patienten  mit  Nasendiphtherie,  bei  denen  am 
3.  Tage  1000  resp.  1500  l.-E.  eingespritzt  wurden,  verlief  die 
Kranklieit  ebenfalls  schwer,  in  dem  einen  Falle  kam  es  zu  einer 
Ilalsdrüscnphlegmone,  bei  deren  Incision  Eiter  zu  Tage  gefördert 
wurde,  der  Streptokokken  in  Reincultur  enthielt. 

Die  beiden  noch  übrig  bleibenden  Fälle  von  Mischinfection 
mit  schwerem  Verlauf  betrafen  erstens: 

Ein  2  jähriges  Kind,  dem  am  3.  und  5.  Tage  je  1000  I.-E. 
eingespritzt  wurden,  und  bei  dem  die  Tracheotomie  einige  Stunden 
nach  der  Aufnahme  ausgeführt  werden  musste,  und  Eiwciss  im 
Urin  nachgewiesen  wurde;  zweitens: 

Ein  3  jähriges  Kind,  bei  dem  1000  I.-E.,  am  3.  Tage  einver- 
leibt, genügten,  um  es  zu  retten,  ohne  dass  jedoch  der  Kehlkopf- 
schnitt vermieden  werden  konnte. 

Von  den  3  Patienten,  bei  denen  der  Verlauf  als  mittclschwer 
bezeichnet  werden  konnte,  mussten.2  tracheotomirt  werden,  nach- 
dem ihnen  am  3.  Tage  1000  I.-E.  eingespritzt  waren,  der  dritte 
kam  nach  Injection  von  1200  I.-E.  am  3.  Tage  ohne  Tracheoto- 
mie davon,  doch  trat  eine  Gaumenlähraung  auf. 

Die  nähere  Betrachtung  dieser  Fälle  von  Mischinfection  lässt 
die  Serumbehandlung  in  sehr  günstigem  Lichte  erscheinen,  und 
ich  glaube,  dass  grössere  Statistiken  die  zweifellose  Wirksamkeit 
des  Serums  auch  bei  diesen  Formen  der  Diphtherie  so  sicher,  als 
es  überhaupt  m('»glich  ist,  erweisen  werden.  Aber  auch  für  diese 
Form  der  Bretonneau'scheu  Krankheit  dürfte  es  am  richtigsten 
sein,  grosse  Dosen  von  Serum  mCjglichst  früh  und  auf  einmal  zu 
injicircn,    da  die  Injection  an  sich  sicherlich  wenig    schädlich    ist, 


Beiträge  zur  Serumlherapie  bei  Diphtherie.  791 

jedenfalls  kaum  schädlicher,  als  eine  Localbehandlung  der  Beläge 
mit  Carbolätzungen,  Aetzungen  mit  Ferrum  sesquichloratum  und 
eine  Allgeraeinbehandlung  mit  Jodkali  und  Quecksilberverbindungen. 
Dass  es  besonders  wichtig  ist,  früh  mit  der  Serumbehandlung  zu 
beginnen,  das  wird  nicht  nur  durch  die  schon  erwähnten  Fälle 
von  schwerer  toxischer  Diphtherie  bewiesen,  auch  die  genauere 
Analyse  der  übrigen,  zur  Hälfte  mit  ganz  schweren  Stenosener- 
scheinungen verlaufenden  Fälle  ergiebt  dies  Resultat  in  eklatanter 
Weise.  Ein  üeberblick  über  die  sämmtlichen  100  Fälle  ergiebt 
folgendes: 

Es  starben  von  den  100  Patienten  8.  Diese  Gesammtmorta- 
lität  von  8  pCt  ist  ein  so  günstiges  Ergebniss  der  Serumtherapie, 
dass  ich  nicht  umhin  kann,  anzunehmen,  dass  sich  das  Endresultat 
von  einer  grösseren  Anzahl  von  Fällen,  unter  denen  sich  vielleicht 
noch  ein  grösserer  Procentsatz  von  ganz  schweren  Diphtherien 
finden  wird,  eher  verschlechtern  als  verbessern  wird.  Immerhin 
halte  ich  es  nicht  für  ausgeschlossen,  dass  mir  die  Serumbehand- 
lung in  dem  nächsten  Hundert  von  Diphtheriefällen  ein  ähnlich 
günstiges  Ergebniss  liefern  wird. 

Von  den  100  Fällen  mussten  wegen  hochgradiger  Stenosen- 
erscheinungen 56  tracheotomirt  werden,  wobei  ich  bemerke,  dass 
ich  ohne  strenge  Indication  nicht  operirt  habe,  wie  schon  daraus 
hervorgeht,  dass  ich  mehrere  Fälle,  die  mir  von  CoUegen  zur  so- 
fortigen Tracheotomie  zugeschickt  wurden,  nach  sofort  vorgenom- 
mener Injection  vor  jener  habe  bewahren  können.  Immerhin  hoffe 
ich,  in  der  Zukunft  im  sicheren  Vertrauen  auf  die  Wirksamkeit 
des  Serums  noch  einen  grösseren  Procentsatz  von  Diphtherien  mit 
schwerer  Larynxstenose  ohne  Tracheotomie  durchzubekommen. 

Von  den  56  Tracheotomirten  sind  4  gestorben;  von  diesen 
4  Todesfällen  habe  ich  2  bereits  erwähnt,  den  dritten  erlebte  ich 
bei  einem  Kinde,  das  erst  am  10.  Tage  von  mir  gespritzt  werden 
konnte,  am  8.  Tage  post  operationem.  Die  Section  ergab  ab- 
steigenden Croup.  Der  vierte  kam  durch  einen  Unglücksfall  zu 
Stande : 

Das  Kind  verblutete  sich  nämlich  am  3.  Tage  post  opera- 
tionem, als  eine  in  der  Pflege  von  Diphtheriekranken  noch  unge- 
wandte Schwester  gegen  die  Instruction  die  ganze  Canüle  behufs 
Reinigung    entfernte    und    dann   die  Canüle  wieder  in  die  Trachea 


792  Dr.  Riese, 

hineinzubohren    versuchte.     Als    der    Stationsarzt   hinzukam,   war 
das  Kind  bereits  in  extremis. 

Für  die  tracheotomirten  Fälle  ergiebt  sich  also  eine  Mortalität 
von  7  pCt.  resp.  von  5,3  pCt.,  wenn  man  den  letztgenannten  ün- 
gläcksfall  nicht  mitzählen  will. 

Von  den  44  nicht  tracheotomirten  Patienten  starben  4,  über 
die  ich  näheres  bereits  berichtet  habe,  also  9  pOt.  Es  findet  sich 
somit  das  höchst  auffallende  Resultat,  dass  die  tracheotomirten 
einen  günstigeren  Verlauf  nahmen,  als  die  nicht  tracheotomirten  Fälle. 

Von  den  100  Patienten  konnten  nur  3  am  ersten  Tage  der 
Krankheit  gleich  mit  Serum  behandelt  werden,  einer  von  ihnen, 
ein  4  jähriges  Kind,  bekam  nur  600  I.-E.,  am  3.  Tage  entstand 
eine  so  hochgradige  Stenose,  dass  noch  einmal  1500  I.-E.  einge- 
spritzt wurden,  erst  dann  besserte  sich  das  Befinden  so,  dass  nach 
einigen  Stunden  an  die  schon  vorbereitete  Tracheotomie  nicht  mehr 
gedacht  zu  werden  brauchte.  Alle  3  Fälle  verliefen  gut.  Am 
2.  Tage  konnten  in  20  Fällen  die  Einspritzungen  gemacht  werden. 
Bei  9  von  diesen  musste  tracheotomirt  werden,  also  in  45  pCt., 
und  zwar  bei  3  Patienten  gleich,  bei  einem  nach  12  Stunden,  bei 
vieren  nach  24  Stunden,  bei  einem  nach  48  Stunden.  Alle  zwan- 
zig Patienten  genasen,  obwohl  zwei  Drittel  schwer  erkrankt  waren. 
Am  3.  Tage  wurde  mit  der  Serumbehandlung  bei  55  Patienten 
begonnen;  von  ihnen  mussten  bereits  31,  d.  h.  56,5  pCt.,  trache- 
otomirt werden,  und  es  starben  4,  resp.,  wenn  man  den  Ver- 
blutungstod ausser  Rechnung  lässt,  3,  d.  h.  5,4  pOt.  Von  den 
Gestorbenen  war  das  erste  ein  1  jähriges  Kind,  das  nur  500  I.-E. 
bekommen  hatte,  das  zweite  und  dritte  waren  die  schon  er- 
wähnten zwei  Geschwister  mit  schwer  septischer  Nasen-Rachen- 
diphtherie.    Nur  das  erste  Kind  war  tracheotomirt  worden. 

Am  4.  Tage  wurde  die  Injection  in  9  Fällen  gemacht.  Von 
diesen  starb  1,  mithin  11,5  pCt.,  ohne  Tracheotomie  (es  war  das 
bereits  erwähnte,  über  1  Monat  vorher  schon  tracheotomirte,  aber 
geheilt  entlassene  Kind);  6,  d.h.  66,6  pCt.,  mussten  tracheotomirt 
werden,  kamen  aber  alle  durch. 

Am  5.  Tage  wurde  bei  3  Patienten  gespritzt,  davon  mussten 
2  gleich  tracheotomirt  werden,  also  ebenfalls  66,6  pCt.,  bei  den  3 
trat  eine  postdiphtheritische  Lähmung  auf.  Die  Fälle  waren  mittel- 
schwer und  kamen  durch. 


Beiträge  7Air  Serumtherapie  bei  Diphtherie.  793 

Am  6.  Tage  wurde  einmal  gespritzt,  Trachcotomie  wurde 
nothwendig,  und  es  trat  Lähmung  auf. 

Erst  am  7.  Tage  wurde  bei  3  Patienten  Serum  injicirt,  von 
ihnen  starb  1  ohne  Tracheotomie,  2  mussten  operirt  werden,  der 
Krankheitsverlauf  war  bei  beiden  sehr  schwer,  beide  Male  kam  es 
zur  Lähmung  und  zu  Eiweissausscheidung. 

Bei  je  einem  Patienten  wurde  am  8.,  am  9.  und  10.,  und  am 
10.  Tage  gespritzt.  Der  erste  und  letzte  starben,  der  zweimal 
gespritzte  kam  schliesslich  durch,  nachdem  eine  Lähmung  aufge- 
treten und  durch  30  Tage  Albuminurie  bestanden  hatte. 

Es  ergiebt  sich  aus  dieser  Zusammenstellung,  dass  diejenigen, 
bei  denen  die  Serumbehandlung  bis  zum  2.  Tage  einsetzte,  am 
besten  daran  waren,  dass  aber  auch  die  am  3.  Tage  in  Behand- 
lung Gekommenen  noch  relativ  gut  wegkamen.  Bei  ihnen  wäre 
der  Krankheitsverlauf  vielleicht  noch  leichter  gewesen,  wenn  ich 
sogleich  grössere  Dosen,  ca.  2000  ccm  bei  Kindern,  hätte  injiciren 
lassen,  wie  ich  es  zukünftig  thun  werde. 

Bei  den  später  zur  Injection  kommenden  wird  man  natürlich 
erst  recht  grössere  Mengen  nehmen  müssen,  um  besseren  Erfolg 
zu  haben.  Dass  bei  den  früh  mit  Serum  Behandelten  auch  das 
Decanulement  frühzeitiger  vorgenommeif  werden  konnte,  falls  die 
Tracheotomie  nöthig  wurde,  geht  ebenfalls  aus  meinen  Beobach- 
tungen hervor,  doch  gebe  ich  der  Kürze  halber  keine  genaueren 
Zahlen.     Im  Allgemeinen  wurde  die  Canüle  am  5.  Tage    entfernt. 

Diphtherie  der  Wunde  trat  nur  einmal  auf.  Was  schliesslich 
die  Allgemeinwirkung  der  Injectionen  betrifft,  so  fand  sich  niemals 
ein  Gelenkerguss,  kein  Exanthem.  Nur  in  25  pCt.  der  Fälle  trat 
Albuminurie  auf,  doch  bestand  dieselbe  meist  schon  vor  der  In- 
jection und  schien  durch  dieselbe  eher  geringer  zu  werden.  Ein- 
mal fanden  sich  ausser  Ei  weiss  granulirte  Oylinder  im  Urin,  die 
Diphtheriebacillen  enthielten,  mikroskopisch  und  durch  Culturver- 
fahren  bewiesen.  Von  Lähmungen  wurden  ausscliliesslich  Gaumen- 
segel- und  Schlundmuskellähmungen,  sowie  Lähmung  der  Stimm- 
bänder beobachtet,  im  Ganzen  in  11  Fällen.  Ich  schliesse  mit 
folgenden  Sätzen: 

Die  Serumbehandlung  ist  unschädlich;  je  früher  mit  derselben 
begonnen  wird,  desto  günstiger  ist  der  Krankheitsverlauf,  am 
besten    bei    Einspritzung   am    1,  oder  2.  Tage.     Im   Allgemeinen 


794  Dr.  Riese,  Beiträge  zur  Serumtherapie  bei  Diphtherie. 

sollen  sogleich  grosse  Dosen  von  Serum  einverleibt  werden,  vor 
Allem  aber  soll  dies  geschehen,  wenn  die  Einspritzung  erst  am 
3.  Tage  oder  später  vorgenommen  werden  kann;  ebenso  in  Fällen 
von  Mischinfection  und  von  schwerer  toxischer  Diphtherie.  In 
den  beiden  letzteren  Fällen  scheint  das  Serum  ebenfalls  günstig 
zu  wirken,  Sicherheit  in  dieser  Beziehung  werden  aber  erst  weitere 
Beobachtungen  bringen.  Ebenso  muss  durch  solche  die  Menge 
von  Serum,  die  in  den  einzelnen  Fällen  am  geeignetsten  ist,  noch 
genauer  festgesetzt  werden. 


LIV. 

Zur  Frage  über  Bauchwandschnitte  bei 

Laparotomien. 

Von 

Prlvatdocent  Or.  MIcolai  %¥olkowlt8Ch, 

Torstand  der  Chirurg.  Abtheilung  des  Alexandor^Stadthospitals  zu  Kiew. 


Zu  den  Schattenseiten  der  in  letzter  Zeit  so  in  Aufnahme  ge- 
konamenen  Laparotomien  gehören  ohne  Zweifel  die  an  der  Bauch- 
wandnarbe sich  nachträglich  bildenden  Hernien.  Wir  beobachten 
dieselben  sowohl  in  dem  Falle,  wenn  der  Schnitt  längs  der  Linea 
alba  geführt  wird,  als  auch  besonders  bei  Operationen  in  den  seit- 
lich gelegenen  Partien,  so  z.  ß.  bei  dem  jetzt  so  häufigen  ope- 
rativen Eingriff,  der  die  Entfernung  des  Wurmfortsatzes  zum  Zwecke 
hat.  Zu  den  Maassregeln,  die  einer  derartigen  Complication  vor- 
beugen sollen,  gehört  das  Tragen  eines  Bauchgürtels,  welcher  eine 
Dehnung  der  Narbe  durch  die  unter  dem  Drucke  der  Bauchpresse 
stehenden  Abdorainalorgane  verhüten  soll,  ferner  eine  sorgfältig  an- 
gelegte Naht  der  Bauchdeckenwunde,  mit  anderen  Worten  die  so- 
genannte Etagennaht.  Wenn  auch  die  Beobachtung  aller  dieser 
Vorsichtsmassregeln  die  Häufigkeit  der  post  laparotomiam  beob- 
achteten Hernien  herabgesetzt  hat,  so  bietet  sie  uns  doch  keine 
vollständige  Garantie,  umsomehr  als  einerseits  bei  vielen  Patienten 
nach  überstandener  Operation,  in  Folge  ihrer  Berufsart  die  Bauch- 
presse häufig  in  Anwendung  kommt,  dann  aber  auch  oft  an  ein 
Vernähen  der  Bauchwunde  nicht  gedacht  werden  kann,  so  z.  B.  in 
dem  Falle,  wenn  die  Nothwendigkeit  eines  Einfahrens  von  Tampons 
in  die  Bauchhöhle  vorliegt. 


796  Dr.  N.  Wolkowitsch, 

Alles  dieses  zwingt  uns,  der  Sache  näher  auf  den  Grund  zu 
gehen  und  vor  Allem  die  Ursache  der  nachträglichen  Hcrnien- 
bildung  in  der  Art  und  Weise  zu  suchen,  wie  wir  den  Bauchdecken- 
schnitt ausführen,  d.  h.  die  einzelnen  Schichten  der  Bauchwand 
passircn.  Dass  bei  dem  gewöhnlichen  Operationsverfahren  un- 
günstige Verhältnisse  geschaffen  werden  für  eine  Haltbarkeit  der 
vernarbten  Schnittstelle,  ersieht  man  aus  dem  anatomischen  Ver- 
halten der  Bauchwand.  Fassen  wir  z.  B.  den  am  häufigsten  an- 
gewandten Schnitt  längs  der  Linea  alba  in's  Auge.  Anatomisch 
ist  letztere  die  Vereinigimgsstelle  aller  Aponeurosen,  sow^ohl  der 
Muse,  recti,  als  auch  der  breiten  Seitenbauchmuskeln,  deren  Apo- 
neurosen, wie  bekannt,  in  die  Scheide  der  geraden  Bauchmuskeln 
übergehen  und  dort  inseriren;  die  Seitenbauchmuskeln  contrahiren 
sich  in  einer  fast  vertical  zur  Linea  alba  verlaufenden  Richtung;  ihre 
Wirkung  wird  paralysirt  einerseits  durch  die  Contraction  der 
geraden  Bauchmuskeln,  dann  aber  hauptsächlich  Dank  der  Festig- 
keit der  Linea  alba,  wo  die  Scheiden  der  geraden  Bauchmuskeln 
sich  treffen;  kommt  es  hier  zu  einer  Narbe,  deren  Resistenzfähigkeit 
bedeutend  geringer  ist,  so  bietet  die  Linea  alba  den  Contractionen 
der  Seitcnmuskeln ,  welche  die  Muskelscheiden  der  Mm.  recti 
auseinander  zu  ziehen  suchen,  bedeutend  geringeren  Widerstand 
und  die  beide  Muskelscheiden  zusammenhaltende  Narbe  wird  aus- 
einander gezerrt.  Zu  diesem  Umstand  kommt  noch  hinzu,  dass 
die  Narbe  sich  an  einer  Stelle  befindet,  wo  im  Gegensatz  zu  der 
übrigen  Bauchwand  nur  Bindegewebe  vorhanden  ist  und  wo  von 
Hause  aus  Hernienbildung  beobachtet  wird  (namentlich  in  dem 
breiteren,  über  dem  Nabel  befindlichen  Theile  der  Linea  alba). 

Wird  der  Laparotomieschnitt  in  einem  seitlich  gelegenen 
Theile  der  Bauch  wand  ausgeführt,  so  werden  doch  die  einzelnen 
Aponeurosen-  und  Muskelschichten,  welche  an  dieser  Stelle  in  ver- 
schiedener, ja  mitunter  entgegengesetzter  Richtung  verlaufen,  derart 
getrennt,  dass  die  Schnittfläche  im  besten  Falle  mit  der  Verlaufs- 
richtung nur  einer  Schicht  zusammenfallen  kann,  während  die 
übrigen  Muskeln  und  Aponeurosen  quer  oder  annähernd  quer  zer- 
schnitten werden.  Bei  einem  derartigen  Vorgange  kann  auch  die 
sorgfältigst  angelegte  Naht  die  Bauchwandungen  nicht  vollständig 
restituiren,  da  ein  wesentlicher  Theil  der  durch  den  Schnitt  ge- 
trennten  Muskel  bündeln,    wie    man    sich  davon    bei  der  Operation 


Zur  Frap:e  über  Bauch  wandschnitte  bei  Laparotomien.  797 

selbst  überzeugen  kann,  von  der  Schnittfläche  sicli  zurückzieht. 
zVuch  wird  eine  Narbe,  sofern  sie  nicht  parallel  der  Verlaufsrichtung 
der  Muskelfasern  zu  liegen  kommt,  bei  Contractionen  derselben 
allmälig  gedehnt,  und  wie  günstig  sind  die  Aussichten  für  eine 
nachträgliche  Bruchbildung  in  dem  Falle,  wenn  eine  solche  Wunde 
nicht  geschlossen  werden  kann,  weil  durch  dieselbe  Tampons  in 
die  Bauchhöhle  eingeführt  werden  müssen! 

Daher  bin  ich  in  letzter  Zeit  von  dem  allgemein  üblichen 
Laparotomieschnitt  abgekommen  und  suche  derart  durch  die  Bauch- 
decken zu  gelangen,  dass  die  Continuität  aller  Muskel-  und  Apo- 
neurosenschichten  geschont  wird.  —  Statt  längs  der  Medianlinie 
einzuschneiden,  pflege  ich,  wie  das  schon  öfters  empfohlen  wurde, 
einen  Längsschnitt  durch  einen  der  geraden  Bauchmuskeln  zu 
machen.  Ohne  auf  eine  nähere  Beschreibung  dieses  Verfahrens 
einzugehen,  das  von  mir  nach  bekannter  Weise  geübt  wird,  möchte 
ich  bloss  erwähnen,  dass  ich  die  Naht  derart  anlege,  dass  das 
Peritoneum  und  die  hintere  Muskelscheide  duixh  eine  Reihe  von 
Knopfnähten  (Seide)  geschlossen  wird,  während  alle  übrigen  Bauch- 
wandschichten durch  eine  weitere  Reihe  von  Knopfnähten  in  Contact 
gebracht  werden  (bloss  die  Haut  wird  apart  mit  fortlaufender  Naht 
vernäht).  Wenn  ich  auch  nicht  bestreite,  dass  es  vielleicht  besser 
wäre,  Muskel  und  vorderes  Fascienblatt  gesondert  zu  vernähen, 
so  bin  ich  von  der  Noth wendigkeit  desselben  nicht  überzeugt,  da 
der  Muskel  doch  in  seiner  Längsrichtung  getrennt  wird  und  eine 
jede  Naht  unausbleiblich  einen,  wenn  auch  geringen  Substanz- 
verlust von  Muskelgewebe  nach  sich  zieht  und  daher  im  Resultat 
zu  einer  Schwächung  des  Muskels  führt,  welcher  doch  Dank  seinem 
Tonus  einem  Auseinandergehen  der  Wundränder  vorbeugen  soll, 
was  diesem  Schnitt  auch  den  Vorzug  vor  dem  Schnitt  längs  der 
Medianlinie  giebt.  Freilich  bietet  der  Schnitt  durch  den  geraden 
Bauchniuskel  noch  den  Vortheil,  dass  die  sich  bildende  Narbe  von 
bedeutend  grösserer  Breite  in  der  Richtung  von  vorne  nach  hinten 
ist  und  Dank  dem  Umstände,  dass  sie  durch  verschiedene,  wenig 
fest  mit  einander  verbundene  Schichten  verläuft,  ist  sie  verzen't, 
d.  h.  kommt  nicht  in  ein  und  derselben  sagittalen  Ebene  zu 
liegen. 

Bei  Operationen    in   den  lateral  gelegenen  Partien  der  Bauch- 
wand gelange  ich  in  die  Bauchhöhle,    indem   ich   die  Aponeurosen 

Archiv  fUr  klin.  Cliirurgie.    57.  Bd.    Heft  4.  r^Q 


708  Dr.  N.  Wolkowitsch  , 

und  Muskolschicliion  nicht  quer  durchschneide,  sondern  sie  ent- 
sprechend ihrer  Verlaufsrichtung  trenne.  In  den  seitwärts  und 
unten  gelegenen  Partien  führe  ich  den  Schnitt  durch  die  Haut- 
decken gewöhnlich  in  der  Richtung  schräg  von  aussen  und  oben 
nach  innen  und  abwärts,  d.  h.  parallel  der  Verlaufsrichtung  der 
ersten  Muskolschicht  (M.  obl.  ext.).  Die  I^änge  des  Schnittes  soll 
im  Allgemeine]!  grösser  als  bei  dera  gewöhnlichen  Operations- 
verfahren sein,  da  Zwecks  einer  ausreichenden  Blosslegung  der 
tiefer  gelegenen  Schichten  die  oberste  Muskelsohicht  entsprechend 
weiter  getrennt  werden  muss,  wozu  ein  grösserer  Hautschnitt 
nöthig  ist.  Muss  die  Bauchhöhle  mehr  oberhalb  eröffnet  werden, 
so  führe  ich  den  Schnitt  von  einer  höher  und  weiter  nach  hinten 
gelegenen  Stelle,  wo  der  M.  obl.  ext.  beginnt,  schräg  nach  innen 
und  abwärts  (ungefähr  so,  wie  es  v.  Bergmann  bei  Nierenope- 
rationen zu  thun  pflegt).  Der  äussere  schiefe  Bauchmuskel  wird 
parallel  seiner  Verlaufsrichtung  auseinander  getrennt,  stumpf,  wo 
man  auf  den  Muskelbauch  trifft,  wie  bei  höher  gelegenen  Schnitten, 
mit  dem  Messer  resp.  Scheere  —  die  Aponeurose.  Mit  breiten 
Haken  wird  der  Muskel  auseinander  gezogen  und  von  der  folgenden 
Schicht  getrennt  (mit  der  er  durch  lockeres  Bindewebe  verbunden 
ist),  man  gelangt  zum  inneren  schiefen  Bauchmuskel,  welcher 
stellenweise  eine  fast  entgegengesetzte  Verlaufsrichtung  aufweist. 
Kr  wird  in  seiner  ganzen  Länge  stumpf  getrennt,  d.  h.  von  der 
Spina  resp.  Crista  ossis  ilei  bis  zur  Scheide  des  geraden  Bauch- 
muskols  und  mit  Haken  auseinander  gezogen,  worauf  wir  zur 
dritten  Schicht  gelangen  —  M.  abd.  transv.  —  welcher  mit  der 
vorhergehenden  fester  verbunden  ist,  als  diese  mit  der  obersten, 
und  in  den  mehr  abwärts  gelegenen  Partien  eine  ähnliche  Ver- 
laufsrichtung zeigt  (bei  dieser  Gelegenheit  können  die  zwischen 
diesen  Schichten  verlaufenden,  für  die  Bauchmuskeln  bestimmten 
Nerven  in  Sicht  kommen  und  geschont  werden).  Da  dieser  Muskel 
bald  in  eine  Aponeurose  (Spigelii)  übergeht,  so  wird  letztere  bis 
zum  geraden  Bauchniuskel  mit  dem  Messer  i-esp.  Scheere  incidirt; 
somit  hat  der  Schnitt  der  dritten  Schiclit  eine  vollständig  quere, 
dem  M.  rectus  perpcndiculäre  Richtung  bekommen,  in  welcher 
Richtung  auch  das  Peritoneum  incidirt  wird.  Da  das  Peritoneum 
die  Neigung  hat,  hinter  dem  Muskelrande  von  der  Wundfläche  sicli 
zurückzuziehen,    so  wird  es  provisorisch  durch  ein  paar  Nähte  an 


Zur  Fi"A*i;c  über  Bauchwandsclmitle  hei  Laparolomien.  71)i) 

die  Muskciränder  fixirt.  Wird  kein  Tampon  in  die  Bauchhöhle 
eingeführt,  so  wird  die  Wunde  durch  schichten  weise  angelegte 
Nähte  geschlossen,  und  zwar  in  der  Weise,  dass  mit  einer  Reihe 
von  Knopfnähten  Peritoneum  und  M.  transv.  zusammengebracht 
werden,  mit  einer  zweiten  Reihe  vernäht  man  Muse.  obl.  int.,  dann 
Muse.  obl.  ext.  und  schliesslich  vereinigt  die  Hautdecken  noch  eine 
fortlaufende  Naht.  Auch  hier  ist  es  nicht  rathsara,  viele  Muskel- 
nähte anzulegen,  da  Spalten  in  Muskelschichten  ohnehin  eine  ent- 
schiedene Neigung  sich  zusammenzuziehen  besitzen. 

Freilich  hat  bei  dieser  Methode  die  Schnittwunde  gewisse 
feste  Grenzen,  und  wenn  dieselben  Zwecks  Erweiterung  der  Wunde 
überschritten  werden,  so  verletzen  wir  die  Grund principien  der 
Methode.  Der  oben  beschriebene  Schnitt,  welcher,  wie  gesagt,  dem 
V.  Bergmännischen  Schnitt  bei  Nierenoperationen  ähnlich  ist, 
giebt  einen  grösseren  Operationsraum  (Vi seh  er  empfiehlt,  wie  wir 
weiter  unten  sehen  werden,  ebenfalls  einen  ähnlichen  Schnitt  auch 
bei  Operationen  am  W^urmfortsatze).  Wird  der  Schnitt  weiter  unten 
ausgeführt,  wie  das  im  Allgemeinen  bei  Operationen  der  Appen- 
dicitis  gebräuchlich  ist,  so  ist  die  Gesammtlänge  der  Schnittwunde, 
von  der  Spina  ant.  sup.  ossis  ilei  bis  zum  Aussenrande  des  ge- 
raden Bauchmuskels,  vier  Querfinger  breit.  Nicht  immer  erweist 
sich  die  Wunde  genügend  weit  für  die  ihr  folgenden  operativen 
Eingriffe,  besonders  wenn  man  die  Rigidität  der  Wundränder  in 
Betracht  zieht.  Daher  wird  erstens,  wie  erwähnt,  der  M.  obl.  ext. 
möglichst  weit  eingeschnitten  und  auseinander  geschoben,  zweitens 
muss  die  Trennung  der  Muskelfasern  der  zweiten  und  dritten 
Schicht  womöglich  von  der  Spina  oder  Crista  ilei  beginnen  und 
drittens  setzte  ich,  wenn  nöthig,  den  Schnitt  in  der  queren  Rich- 
tung, in  welcher  er  durch  die  letzte  Muskelschicht  und  das  Bauch- 
fell geht,  bis  zur  Scheide  des  geraden  Bauchmuskels  fort  und 
schneide  selbst  den  letzteren  ein.  Selbst  eine  unbedeutende  Ver- 
längerung: des  Schnittes  nach  dieser  Seite  hin  gab  schon  bedeutende 
Raumerweiterung,  was  sich  dadurch  erklären  lässt,  dass  auf  diese 
Weise  die  sehr  feste  und  daher  das  Auseinandcrscliioben  der  Wund- 
ränder stark  behindernde  Aponeuroso,  ^ebildt^t  durch  Voreinigunii' 
der  Aponeurosc  der  Mm.  obliqui  et  transv.  mit  der  Scheide  des 
M.  rectus,  zerschnitten  wird.  Ein  derartiges  Einschneiden  der  Apo- 
neurosc beeinträchtigt  in  bedeutender  Weise,   vom  obn\  erwähnten 

53* 


800  Dr.  N.  Wolkowitsch, 

Standpunkte  aus,  weder  die  Function  des  geraden  Bauchmuskels, 
noch  die  der  queren  Muskeln,  eben  weil  die  Schnittrichtung  eine 
quere  ist,  mit  anderen  Worten  mit  der  Zugrichtung  der  hier  insc- 
rirenden  breiten  Bauchmuskeln  zusammenfällt.  Ich  führe  dieses 
hier  an,  im  Gegensatz  zu  der,  wie  wir  weiter  unten  sehen  werden, 
von  einigen  Chirurgen  vorgeschlagenen  Erweiterung  der  Wunde 
durch  einen  längs  dem  Aussenrande  des  M.  rectus  gemachten 
Schnitt. 

Ein  derartiges  Vorgehen  kann,  meiner  Meinung  nach,  nicht 
ohne  bedeutenden  Nachtheil  für  die  Function  der  breiten  Bauch- 
muskeln bleiben,  da  wir  dieselben  von  ihrer  Insertionsstelle  auf 
diese  Weise  trennen.  Was  das  Einschneiden  des  geraden  Bauch- 
muskels selbst  anbelangt,  so  ist  dasselbe  in  Betracht  der  geringen 
Grösse  des  Schnittes  nicht  von  Belang.  In  den  beiden  letzten 
Fällen,  wo  ich  Zwecks  Entfernung  des  Wurmfortsatzes  operirte, 
blieb  der  gerade  Bauchmuskel  von  einer  Incision  verschont  und 
ich  beschränkte  mich  darauf,  dass  ich  bloss  das  vordere  imd  hintere 
Blatt  der  Muskelscheide  einschnitt,  wodurch  allein  mehr  Raum  ge- 
schafft wurde,  da  auf  diese  Weise  der  gerade  Bauchmuskel  ge- 
nügend weit  nach  innen  gezogen  werden  konnte.  Wird  eine  Lapa- 
rotomie in  den  höher  gelegenen  Partien  gemacht,  so  führt  man 
den  Schnitt  vom  Rippenrande  abwärts,  parallel  der  Verlaufsrichtung 
des  M.  obl.  ext,  obgleich  ich  in  einem  Falle  vorzog,  im  linken 
Hypochondrium  einen  Doppelschnitt  zu  machen,  zuerst  parallel  dem 
M.  obl.  ext.,  dann  fast  imter  einem  rechten  Winkel  den  ersten 
Schnitt  kreuzend,  parallel  dem  Rippenbogen.  Dieser  zweite  Schnitt 
entsprach  ungefähr  der  Verlaufsrichtung  des  M.  obl.  int.  und  gab 
uns  die  Möglichkeit,  denselben  und  den  darunter  liegenden  M.  transv. 
gehörig  freizulegen  und  zu  zertrennen,  ohne  den  ersten  Schnitt 
durch  den  M.  obl.  ext.  unnöthigerweise  zu  verlängern.  In  solchen 
Fällen  kommt  die  Wunde  eigentlich  mehr  in  den  seitlich  resp. 
abwärts  gelegenen  Theilen  des  Hypochondrium  zu  liegen,  da  man 
in  den  oberen  Partien  desselben  den  geraden  Bauchmuskel  antrifft, 
der  hier  eine  Breite  von  vier  Querfingern  erreicht.  Daher  ist  es 
manchmal  praetischer,  statt  durch  die  breiten  Muskeln  in  die 
Bauchhöhle  zu  gegangen,  sich  zu  den  betreffenden  Organen  (lieber 
oder  Magen  z.  B.)  durch  den  entsprechenden  geraden  Bauchmuskel 
einen  Weg    zu    bahnen;    da    sowohl    der  M.  rectus    als    auch    die 


Zur  Frage  über  Bauohwandsclmitte  bei  Laparotomien.  80 1 

Linea  alba  sich  hier  durch  grosse  Breite  auszeichnen,  so  kann  der 
Schnitt  stark  seitwärt.s  von  der  Medianlinie  durch  oben  erwähnten 
Muskel  gemacht- werden;  sollte  er  sich  als  ungenügend  weit  er- 
weisen, so  empfiehlt  Abbe^),  ihn  durch  einen  vom  oberen  Ende 
nach  aussen  geführten  Querschnitt  zu  erweitern.  Ein  derartiges 
Verfahren  kann  nach  Abbe  ieine  nachtheiligen  Folgen  haben,  da 
der  höher  gelegene  Theil  der  Bauchwand,  Dank  dem  Umstände, 
dass  die  Bauchorgane  sich  nach  unten  zu  lagern  suchen,  geringe 
Neigung  zur  Hernienbildung  zeigt.  Nach  eben  beschriebener  Art 
operirte  ich  in  folgenden  Fällen  (die  Laparotomien,  wo  der  Schnitt 
statt  längs  der  Linea  alba  durch  den  Rectus  geführt  wurde,  zählen 
nicht  mit) :  Entfernung  eines  Tumors  des  grossen  Netzes  am  Fundus 
ventriculi  gelegen,  Eröffnung  eines  lienalen  Haematoms,  Abtragung 
des  Wurmfortsatzes  (3  Fälle),  totale  Ausschaltung  des  an  Tuber- 
culose  stark  erkrankten  Blinddarms  und  Colon  ascendens  (1  Fall), 
in  zwei  Fällen  von  Enteroanastomose  bei  Kothfistel  nach  Ilernia 
cruralis,  Anlegung  eines  Anus  praeternaturalis  an  der  Flex.  sig- 
moidea  bei  Mastdannkrebs ,  auch  operirte  ich  einen  Leberabscess 
unter  Beobachtung  dieser  Regeln.  Ein  derartiges  Operations- 
verfahren gilt,  wie  ich  mich  an  Leichen  überzeugte,  auch  für 
extraperitoneal  ausgeführte  Nierenoperationen  (ganz  zu  geschweigen 
von  dem  intraperitonealen  Vorgehen);  sehr  brauchbar  ist  hierbei 
der  dem  v,  Bergmann 'sehen  ähnliche  Schnitt,  angefangen  von 
den  letzten  Rippen,  nicht  weit  vom  Aussenrande  des  M.  erector 
trunci  quer  nach  unten  und  jnedianwärts,  die  Spina  ant.  sup. 
ausserhalb  liegen  lassend.  Wird  noch  ein  Kissen  unter  die  gegen- 
überliegende Seite  geschoben,  so  gewinnt  man  genügend  Raum, 
um  leicht  zur  Niere  resp.  zum  Harnleiter  zu  gelangen.  Man  kann 
denselben  Schnitt  machen,  um  zum  rechten  Leberlappen  zu  ge- 
langen, obgleich  in  diesem  Falle  und  bei  Operationen  an  der 
Gallenblase  der  Schnitt  weiter  medianwärts  practischer  erscheint. 
Dieselben  Regeln  befolge  ich  bei  Operationen  in  der  Lendengegend 
(z.  B.  bei  mehreren  Fällen  von  tiefliegenden  paranephri tischen 
Abscessen),  d.  h.  die  Muskeln  werden  längs  ihrer  Verlaufsrichtung 
gespalten  und  höchstens  wird  in  den  Rand  des  M.  latissimus  dorsi 
eingeschnitten.     Uebrigens  wird    in    solchen  Fällen   am  besten  der 


1)  Annals  of  surgery.     1896.     Vol.  XXIII,  pag.   287. 


802  Dr.  N.  Wolkowitsch, 

Scliiiilt  län.i;s  dorn  Ausscnrando  des  M.  crector  tniiici  ii:efuhit  und 
beim  Uarmbein  jäh  nach  vorne  abgebogen.  Dabei  erhalten  wir 
genügend  Raum,  um  im  Nothfalle  die  hier  inserirenden  breiten 
Bauchmuskeln  zu  spalten.  Schliesslich  lasse  ich  mich  von  den- 
selben Erwägungen  leiten  bei  der  Operation  der  Leistenbruche,  in- 
dem ich  der  Methode  den  Vorzug  gebe,  wo  die  Continuität  der 
Aponeurosen  und  Muskeln  geschont  wird,  so  z.  B.  ziehe  ich  der 
Methode  von  Bassini  die  von  Kocher  vor  (besonders  seine  letzte 
Modification,  Umstülpung  und  Einführung  des  Herniensackes  durch 
die  künstlich  in  der  Bauchwand  hergestellte  Oeffnung^).  Operire 
ich  nach  dieser  Methode,  so  mache  ich  die  Oeffnung  für  den  ein- 
zuführenden Bruchsack  in  der  Weise,  dass  ich  nicht  die  Bauch- 
wand in  toto  durchschneide,  sondern  die  einzelnen  Schichten  der- 
selben parallel  ihrer  Verlaufsrichtung  zu  spalten  suche. 

Bei  Beobachtung  dieser  Operationsregeln  konnte  ich  in  der 
That  in  den  Fällen,  wo  der  Operation  die  Genesung  folgte,  einen 
grossen  Unterschied  in  der  Narbenbildung  constatiren,  im  Vergleich 
mit  nach  gewöhnlicher  Weise  operirten  Fällen.  Die  Operations- 
stelle unterschied  sich  in  keiner  Weise,  mit  Ausnahme  der  Haut- 
narbe, von  den  übrigen  Bauchwand partien,  weder  beim  Befühlen, 
noch  bei  Hustenstössen  zeigte  sie  eine  geringere  Widerstandsfähig- 
keit, auch  bemerkten  wir,  dass  die  Operationsstelle  bei  Contraction 
der  Bauchmusculatur  nicht  nachbleibt  und  keine  Ausbuchtung  bildet. 
In  dieser  Hinsicht  war  ein  grosser  Unterschied  im  Verhalten  der 
Narbe  aucli  in  dem  Falle  nicht  zu  bemerken,  wenn  die  Wunde 
wegen  Einführung  eines  Tampons  nicht  vollständig  geschlossen 
wurde.  Nach  Herausnahme  desselben  näherten  sich  die  Wund- 
ränder sehr  bald,  die  Wunde  verheilte  rasch,  ohne  an  der  Ope- 
rationsstelle besondere  Veränderungen  der  Bauch  Wandungen  zu 
hinterlassen.  Dieses  alles  wird  begreiflich,  wenn  wir  in  Betracht 
ziehen,  dass  l.  bei  dieser  Methode  eine  Continuitätstrennung  der 
Muskelschichten  und  Aponeurosen  vermieden  wird  und  die  auf  diese 
Weise  erhaltenen  Spalten  in  denselben  keine  Neigung  zum  Klaffen 
zeigen,  2.  dass  Dank  der  verschiedenen,  mitunter  entgegengesetzten 
Verlaufsrichtung  der  Muskelschichten,  die  Spalten  in  verschiedenen, 
manchmal    unter    einem    rechten  Winkel    zu    einander    stehenden 


1)  (\'ntrnlblatt  f.  Chirurgio.     1897.     Xo.   19. 


Zur  Frage  über  Bauchwandschnitte  bei  Laparotomien.  803 

Ebenen  liegen.  Selbst  in  dein  Fall,  wenn  die  unter  gewissem 
Drucke  befindlichen  Bauchorgane  eine  Spalte  zu  durchdringen  im 
Stande  sind,  so  finden  sie  an  der  nächsten  Schicht,  deren  Verlaufs- 
richtung schon  eine  andere  ist,  genügenden  Widerstand. 

Ist  der  Schnitt  durch  den  geraden  Bauchrauskel,  wie  erwähnt, 
schon  öfters  empfohlen  worden,  so  kam  ich  auf  den  Gedanken, 
unter  oben  beschriebenen  Gesichtspunkten  in  den  seitlich  gelegenen 
Bauchwandpartien  zu  operiren,  von  selbst,  imd  die  Idee  schien  mir 
neu  zu  sein,  bis  ich  Hinweise  auf  diese  Operationsmethode  in  der 
amerikanischen  Literatur  fand.  So  empfahl  McBurney  im  Jahre 
1894 1)  bei  Operationen  am  Wurmfortsatze  die  Bauchwand  nicht 
zu  durchschneiden,  sondern  die  Muskeln  derselben  in  ihrer  Längs- 
richtung zu  trennen  und  dieser  Gedanke  fand  Anklang  unter  an- 
deren amerikanischen  Chirurgen,  wie  Stimson^),  Abbe^),  Meyer^); 
Vischer*)  andererseits,  wie  oben  erwähnt,  schlug  einen  anderen 
Schnitt  vor,  welcher  im  Vergleich  mit  dem  üblichen  mehr  nach 
hinten  und  oben  zu  liegen  kommt;  seiner  Meinung  nach  ist  der 
Wurmfortsatz  auf  diese  Weise  bequemer  zu  erreichen  und  auch  die 
Bedingungen  für  den  Abfluss  der  Wundsecrete  sind  Dank  der  Lage 
des  Schnittes  mehr  nach  hinten  zu  günstiger.  Schliesslich  hat 
auch  Roux^)  darauf  Acht  gegeben,  dass  bei  Operationen  am 
Wurmfortsatze  die  Bauchmusculatur  längs  ihrer  Verlaufsrichtung 
incidirt  wird. 

Aus  der  angeführten  Literatur  ist  zu  ersehen,  dass  nach  dieser 
Methode  der  Wurmfortsatz  nicht  nur  in  den  anlallsfreien  Intervallen 
entfernt  wurde,  wie  es  McBurney  nur  für  solche  Fälle  vor- 
schlug, sondern  auch  in  complicirten  Fällen,  wo  mit  anderen  Worten 
es  auf  einen  recht  freigelegten  Operationsraum  ankam;  da  aber 
nun  der  Zutritt  zum  Proc.  vermicularis  durch  die  OeflFnung,  welche 
wir  beim  Spalten  der  Muskelschichten  in  ihrer  Längsrichtung  er- 
halten, ein  beschränkter  ist  und  mitunter  ungenügend  weit  er- 
scheint,   so    schlugen  Stimson^)    und  Meyer*^    vor,    noch    einen 

*)  Annals  of  surgery.     Vol.  XX,  pag.  38. 

2)  Ibidem  1897.     März-Heft  pag.  364. 

3)  Annals  of  Surgerj-.     1887.     August-Heft  pag.  227. 

*)  Annals  of  Surgery.     1897.     November-Heft  pag.  625. 
*)  Semaine  m6dicale.     1897.     No.  41.     Siehe  Bericht  über  die  Verband  1, 
der  chir.  Section  des  Moskauer  internationalen  Aerzte-Congresses. 

6)  1.  c. 

7)  l.  c. 


804      Dr.  N.  Wolko witsch,  Zur  Frage  über  Bauch wandschnilte  etc. 

Schnitt  längs  dorn  Aussenrand  des  geraden  Bauchmuskels  hinzu- 
zufügen (ein  Längsschnitt  wie  ihn  Kämmerer^)  empfahl  bei  Ope- 
rationen am  erkrankten  Wurmfortsatze;  ähnlich  ist  gleichfalls  der 
Jalaguier'sche  Schnitt^).  Doch  ich  erwähnte  schon  oben, 
warum  in  solchen  Fällen,  meiner  Meinung  nach,  gerade  ein  querer 
liinschnitt  in  die  Scheide  des  geraden  Bauchmuskels  gemacht 
werden  sollte. 


1)  Annais  of  Surgery.     1897.     August-Heft  pag.  226. 

2)  Presse  medicale.     1897.     No.  10. 


LV. 

lieber  die  traumatische  Lösung  der  Kopf- 
epiphyse  des  Femur  und  ihr  Verhältniss 

zur  Coxa  vara/^ 

Von 

Professor  Ur.  t^prengel, 

Oberarzt  am  HereogUehcn  Krankenhause  zu  Braunsehweig,  Chirurg.  Abthoilung. 

(Hierzu  Tafel  III  und  IV  und  5  Abbildungen  im  Text.) 


M.  H.!  Die  Zahl  der  sicher  beobachteten  und  anatomisch 
festgestellten  Fälle  von  traumatischer  Trennung  der  Sehen kelkopf- 
epiphyse  ist  eine  sehr  geringe.  Ob  thatsächlich  so  gering,  wie 
man  nach  Angabe  der  meisten  Lehrbücher  annehmen  möchte, 
denke  ich  weiterhin  zu  erörtern;  jedenfalls  darf  es  als  ein  un- 
gewöhnlicher Zufall  bezeichnet  werden,  dass  ich  im  Laufe  eines 
Jahres  in  kurzem  Zwischenräume  2  einschlägige  Fälle  beobachten 
und  durch  anatomische  Untersuchung  analysiren  konnte. 

Ich  lasse  zunächst  die  beiden  Krankengeschichten  folgen: 

I.    Br.,  Dienstknecht,  17  Jahre  alt,  aufgenommen  14.  April  97. 

Patient  stammt  aus  gesunder  Familie,  war  selbst  bis  auf  eine  Diphtherie, 
die  er  vor  6  Jahren  durchmachte,  gesund.  Ueber  die  Entstehung  seines  Lei- 
dens sagte  er  bei  seiner  Aufnahme  (im  Gegensatz  zu  späteren,  weiter  unten 
zu  besprechenden  Angaben)  aus,  djvss  er  vor  3  Wochen  plötzlich  beim  Gehen 
Schmerzen  in  der  linken  Hüfte  ohne  traumatische  Veranlassung  und 
ohne  Zeichen  sonstiger  Erkrankung  bekommen  habe.  Von  dem  Augenblick  an 
will  er  gehinkt  haben  und  bemerkte,  dass  das  linke  Bein  kürzer  sei.  Bis  vor 
3  Tagen  ist  er  noch  umhergegangen,  dann  musste  er  sich,  da  die  Schmerzen 
heftiger  wurden,  auf  Veranlassung  seines  Dionstherrn  legen.    Auf  besonderes 


')  Auszugsweise  vorgetragen    am  4.  Sitzungstage    des  XXVII.  Congresses 
der  Deutschen  Gesellschalt  für  Chirurgie  zu  Berlin,  16.  April  1898. 


806  Dr.  Sprengel, 

Bcfraijen  bemerkt  Talient,  ilass  er  bereits  im  ganzen  letzten  Winter  ?.u*'ejlen 
Scliniei'zen  ini  Hiirtgelenk  geliabt  und  dass  er  das  Bein  immer  etwas  nach- 
gezogen habe. 

Status  praesens.  Patient  ist  im  Stande,  mühsam  und  äusserst  kümmer- 
tich  am  Stock  sich  zu  bewegen.  Linkes  Bein  steht,  wie  auch  das  Photogramm 
sehr  gut  wiedergiobl,  in  starker  Adduclion  (linke  Beckenseile  um  ca.  5  cm 
nach  oben  verschoben)  und  Aussen roiation,  so  dass  der  äussere  Fussrand  dem 
Lager  aufliegt. 


Fig.  1. 


Fig.  2. 


Vor  ier  Operatioi 


Knch  der  Operatior 


Funclionelle  Verkürzung  des  linken  Beines 

(ans  der  Differenz  der  Malleolen  gemessen)  =  7  cm, 

scheinbare  Verkürzung =  ^   „ 

reelle  Verkürzung =  2   „ 

Koscr-NiSlaton'scIie  Linie  ist  nicht  festzustellen,  weil  das  Bein  nicht  zum 


Uebor  die  traumatische  Lösung  der  Kopfepiphyse  des  Femur  etc.     807 

rechten  Winkel  gebeugt  werden  kann;  doch  lässt  sich  in  der  Streckstellung 
constatiren,  dass  der  Abstand  des  Troohantei^s  vom  Darmbeinkamm  links  deut- 
lich geringer  ist  als  rechts  und  dass  eine  von  der  Trochanterspitze  nach  der 
Sp.  a.  s.  gezogene  und  über  letzteren  Punkt  nach  oben  verlängerte  Linie, 
rechts,  der  Norm  entsprechend,  durch  den  Nabel  verläuft,  links  unterhalb  des- 
selben vorbeigeht. 

Die  Gegend  dos  Hüftgelenks  ist  links  etwas  voller,  nicht  schmerzhaft; 
Trochantergegend  nicht  verändert;  weder  bei  der  äusseren  Betastung  der 
Darmbeinschaufel,  noch  bei  der  Untersuchung  der  Innenfläche  des  Beckens  per 
rectum  lässt  sich  etwas  Abnormes  naohweisen.  Umfang  des  Oberschenkels 
(12  cm  über  dem  oberen  Patellarrand)  links  82  cm,  rechts  35  cm. 

Die  passive  Beweglichkeit  des  Hüftgelenks  ist  in  jeder  Richtung  äusserst 
beeinträchtigt;  in  Narkose  lässt  sich  der  Oberschenkel  um  60^  beugen,  gut 
nach  innen  rotiren,  dagegen  nicht  abduciren.  Keine  abnorme  Beweglichkeit 
bei  dem  Versuch,  das  Bein  nach  oben  oder  unten  zu  verschieben.  Bei  Rota- 
tionsbewegungen geringes  weiches  Reiben  im  Gelenk. 

4.  5.  Im  Anschluss  an  die  Untersuchung  Freilegung  des  Hüftgelenks 
durch  einen  Schrägschnitt  am  hinteren  Rande  des  Tensor  fasciae  latae, 
zwischen  ihm  und  Glutaeus  medius  verlaufend,  und  einen  an  das  obere  Ende 
dieses  Schnittes  sich  anschliessenden,  dem  Beckenrand  entlang  gehenden 
Schnitt  (cf.  Sprengel,  „Zur  operativen  Nachbehandlung  alter  Hüftresec- 
tionen".  Beiträge  zur  wissenschaftlichen  Medicin.  Festschrift  der  69.  Vers, 
deutscher  Naturforscher  und  Aerzte.  Braunschweig  1897,  bei  Harald  Bruhn). 
Die  Veränderungen  am  Schenkelhals  lassen  sich  erst  nach  Eröffnung  der  stark 
verdickten  Kapsel  übersehen.  Es  zeigt  sich  jetzt,  dass  der  Schenkelhals  stark 
verbogen,  resp.  dicht  am  Kopf  so  abgeknickt  ist,  dass  eine  nach  oben  gerichtete 
starke  Convexität  erscheint.  Die  Luxation  des  Kopfes  gelingt  sehr  leicht; 
Pfanne  zum  Theil  von  Wucherungen  der  Synovialhaut  überzogen.  Absägen 
des  Halses  dicht  an  seinem  Ansatz  am  Schenkelhals.  Der  Trochanter  wird 
etwas  verkleinert,  so  dass  er  in  Abdnctionsstellung  in  die  Pfanne  gestellt 
werden  kann.  Partielle  Naht  der  Wunde,  Tamponnade  des  mittleren  Theils 
derselben.     Beckengipsverband  in  abducirter  Stellung. 

Verlauf  anfangs  leicht  fieberhaft.  Am  11.  5.  erster  Verband.  Neuer 
Gipsverband.  14.  5.  Verband.  Stärkere  Secretion;  Extensionsverband.  An 
der  tamponnirten  Stelle  bleibt  noch  Monate  lang  eine  kleine  Fistel  zurück,  die 
am  11.  10.  eine  partielle  Spaltung  der  Narbe  noth wendig  macht.  Entfernung 
zweier  kleiner  Sequester  am  oberen  Femurende.  Danach  schnelle  Heilung. 
Am  15.  1.  98  wird  Patient  entlassen.  Er  geht  am  Stock  im  Stiefel  mit  er- 
höhter Sohle  sehr  gut,  das  linke  Bein  ein  wenig  nachschleppend  und  hat  dabei 
keine  Schmerzen;  ohne  Stock  kinkt  er  stark.  Stehen  auf  dem  linken  Bein  ist 
nicht  möglich,  angeblich  wegen  Schmerzen  in  der  Hüfte. 

Untersuchung  Anfang  April  98. 

Fnnctionelle  Verkürzung =  5  cm, 

Beckensenkung =  1    »i 

reelle  Verkürzung =  6    „ 

Parallelstellung   der  Beine;    keine  Contractur;    keine  Andeutung   von 


808  Dr.  Sprengel, 

Lordose.  Einwärts-  und  Auswärtsrotation  frei,  auch  activ  gut  möglich.  Ab- 
duction  ohne  Mitbewegung  des  Beckens  um  15^.  Flexion  ohne  Mitbewegung 
bis  125^.  Heben  des  Beins  im  Liegen  nur  momentan  möglich.  Festigkeit  des 
Gelenks  vollkommen. 

2.  V.  H. ,  18  Jahre  alt,  aufgenommen  17.  Nov.  97.  Hatte  schon  im 
Sommer  öfter  Schmerzen  in  der  rechten  Hüfte,  so  dass  er  das  Bein  etwas  nach- 
zog. Bei  der  Aufnahme  wurde  trotz  mehrfachen  Befragens  ein  Trauma  zu- 
nächst in  Abrede  gestellt,  vielmehr  behauptet,  dass  vor  6  Wochen  beim 
Spazierengehen  heftigere  Schmerzen  und  danach  Hinken  aufgetreten  sei. 
Später,  als  die  traumatische  Entstehung  für  uns  ausser  Zweifel  lag,  ergab 
nochmaliges  dringendes  Nachfragen,  dass  Patient  beim  Spielen  vom  Knie  eines 
anderen  jungen  Mannes  auf  die  Erde  und  zwar  auf  Fiiesenfussboden  gefallen 
sei.  Er  hatte  heftigen  Schmerz  und  konnte  nicht  w^ied er  aufstehen,  musste  mit 
Unterstützung  ins  Bett  gebracht  werden.  Die  am  nächsten  Tage  von  Neuem 
angestellten  Gehversuche  waren  wieder  vergeblich,  wurden  aber  fortgesetzt,  weil 
der  Arzt  angeblich  eine  „Sehnenentzündung^'  annahm  und  Bewegungen  em- 
pfahl. Patient  hinkte  unter  ziemlich  heftigen  Schmerzen .  am  Stock  umher. 
Dieser  Zustand  blieb  bis  zur  Aufnahme  unverändert. 

Status  praesens.  Etwas  lang  aufgeschossener,  im  Uebrigen  aber  gesund 
aussehender  junger  Mann.  Rechtes  Bein  steht  in  starker  Aussenrotation, 
leichter  Flexion  und  Abduction.  Obwohl  die  rechte  Beckenhälfte  um  etwa 
2  cm  tiefer  steht  als  die  linke,  beträgt  die  functionelle  Verkürzung  immer  noch 
2  cm,  die  reelle  also  etwa  4  cm.  Trochanterspitze  ragt  rechts  deutlich  abnorm 
weit  nach  oben  und  hinten;  Trochanter  selbst  nicht  verbreitert.  Vordere  Ge- 
lenksgegend rechts  deutlich  voller  als  links,  etwas  druckempfindlich.  Patient 
gehr  sehr  schlecht,  nur  mit  Unterstützung  und  unter  Schmerzen. 

Da  es  sich  nach  vorstehendem  Befunde  nur  um  eine  schw^ere  Verände- 
rung am  Schenkelhals  handeln  kann,  die  wir  —  aus  weiter  unten  zu  erör- 
ternden Gründen  —  als  eine  solche  im  Sinne  der  Coxa  vara  betrachten,  wird 
die  Freilegung  des  Schenkelhalses  und  je  nach  Befund  Osteotomie  oder  Re- 
section  beschlossen. 

Die  Untersuchung  in  der  zum  Zwecke  der  Operation  eingeleiteten  Nar- 
kose —  22.  11.  —  bestätigt  im  Wesentlichen  den  obigen  Befund.  Die  Flexions- 
stellung lässt  sich  zum  Theil  ausgleichen;  Bewegungen  in  jeder  Richtung  sehr 
beschränkt. 

Schnitt  zwischen  Tensor  fasciae  und  Glutaeus  medius  mit  darauf- 
gesetztem Beckenrandschnitt.  Nach  Ablösung  des  Hautmuskel-Periostlappens 
sieht  man  zunächst  nur  den  Schenkelhals,  der,  während  der  Trochanter  weit 
nach  hinten  steht,  stark  nach  vorn  prominirt  und  scharf  mit  einer  etwas 
rauhen  Kante  absetzt,  so  dass  man  den  Eindruck  einer  Fractur  bekommt. 
Pfannenrand  und  Kopf  sind  zunächst  nicht  zu  übersehen.  Durch  starke  Aussen- 
rotation wird  der  Kopf  luxirt  und  mit  der  Gigli*schen  Säge  der  Schenkelhals 
dicht  am  Schaft  abgetragen.  In  der  Pfanne  einige  schwammige,  aber  sicher 
nicht  tuberculöse  Wucherungen.  Vom  Lig.  teres  kaum  noch  Spuren  vorhanden. 
Die  Wunde  wird  bis  auf  eine  vordere  Lücke,  durch  die  ein  Drain  in  die  Pfanne 


• 


Ueber  die  iranmatische  Lösung  der  Kopfepiphyse  des  Fcniur  etc.      809 

gelegt  wird,  durch  tiefe  und  oberflächliche  Nahte  geschlossen.    Extensionsver- 
band,  durch  welchen  die  Abductionsstellung  mit  Leichtigkeit  erzielt  wird. 

Verlauf  günstig.  Nur  die  Drainstelle  bedarf  etwas  längerer  Zeit  zu  völ- 
ligem Verschluss.  4.  11.  Beckengipsverhand  in  stark  abducirter  Stellung. 
Patient  fangt  an,  am  Gehbänkchen  sich  zu  bewegen. 

Febr.  Neuer  Gipsverband  bis  zum  Knie  reichend;  mit  Verband  entlassen. 

März.  Wieder  aufgenommen  zu  Uebungen  im  med.  mech.  Institut. 

Status.  6.  5.  98.  Gang  an  zwei  Stöcken  gut,  an  einem  Stock  leidlich, 
ohne  Stock  schwierig,  aber  zur  Noth  möglich.  Stehen  auf  dem  operirten  Bein 
unmöglich  i). 

Functionelle  Verkürzung =4  cm, 

Beckensenkung z=i  1    „ 

reelle  Verkürzung =  5    „ 

Roser -Nelaton  nicht  zu  bestimmen,  weil  Beugung  nicht  bis  zum  H.  ge- 
lingt. Trochanter-Spinallinie  geht  unterhalb  des  Nabels  vorüber.  Keine  Lordose. 

Beugung  bis  45^;  Abduction  15- -20®.    Rotation  relativ  sehr  ausgiebig. 

Die  beiden  durch  die  Operation  gewonnenen  Präparate  wurden 
von  dem  Prosector  des  herzogl.  Krankenhauses,  Herrn  Dr.  ßeneke, 
genau  untersucht.  Ich  gebe  die  von  ihm  niedergelegten  ausfülir- 
lichen  makro-  und  mikroskopischen  Befunde  nachstehend  wieder 
und  zwar  in  extenso,  weil  eine  gleich  genaue  anatomische  Unter- 
suchung einschlägiger  Präparate  bisher  nicht  existirt.  Der  an  zweiter 
Stelle  beschriebene  Fall  (v.  H.)  hat,  als  der  in  mancher  Hinsicht 
ausgeprägtere,  eine  etwas  ausführlichere  Darstellung  gefunden. 

Fall  1.  (Br.)  Der  Gelenkkopf  zeigt  im  Ganzen  normale  Configuration. 
Seine  Oberfläche  ist  von  weissem,  ziemlich  rauhem  Knorpel  überzogen,  welchem 
überall  ein  als  dünnes  Häutchen  abziehbares  Perichondrium  aufliegt.  An 
zwei  Stellen  zeigt  der  Knorpel  flache,  breite  Gruben;  doch  liegt  der  Knochen 
nicht  frei,  sondern  wird  noch  durch  eine  weisse,  dünne  Knorpelschicht  be- 
deckt, so  dass  die  Herde  den  Eindruck  vernarbter  Defecte  machen.  Die  Form 
derselben  zeigt  insofern  etwas  Aufl"allendes,  als  sie  mehrfach  in  lange  Spitzen 
auslaufen,  als  ob  die  Knorpelfläche  geplatzt  und  auseinander  gewichen  wäre. 

Am  oberen  hinteren  Knorpelrand  findet  sich  ein  deutlicher,  2^0  cm 
breiter  Rissdefect;  derselbe  setzt  sich  mit  stark  zerfetzten  Rändern  2  cm  weit 
nach  hinten  fort,  wo  dann  ein  dem  Knorpelriss  entsprechender  hinterer  Riss- 
rand angedeutet  ist.  Hier  sind  durch  die  Operation  erzeugte  Defecte  im 
Bindegewebe  und  andererseits  liegen  bereits  vorgeschrittene  Narbenbildungen 
vor,  so  dass  eine  genauere  Verfolgung  der  Linie  nicht  mehr  möglich  ist. 
Immerhin  ist  die  Natur  der  breitklafl'enden  Lücke  als  Risswunde  unverkennbar. 
Den  Boden  der  Risswunde  bildet  spongiöses  Gewebe  der  Diaphyso,  welches 
vielfach  kleine,  hyaline,  nicht  weisse  Knorpelinseln  trägt.    An  den  beiden  seit- 


')  Anm.  während  d.  Correctur.     Function  seitdem  wesentlich  gebessert. 


810  l>r.  Spjcngcl, 

liclion  Händem  siUt  ein  luppigea  dichtes  Fettgewebe.  Die  Diapliyse  liegt  dem 
(ielenkkopr  derartig  an,  d&ss  die  untere  Fläche  des  Halses  der  Epiphyseolinie 
zunächst  parallel  verltluft.  Auf  dem  Sägescbnitt  zeigt  sich,  dass  sie  dann 
weiterhin,  etwa  in  der  Mitte  der  Eptphysenlinie,  mit  dieser  in  spitzem  Winkol 
zusammentrifft.  Das  Periost  ist  theilweise  zwischen  den  Gelenkkopf  und  den 
Hals  hincingepresst.  Der  oberste  Theil  der  Peripherie  der  unteren  Fläche  des 
Femurhalses  ist  durch  Knochengewebe  fest  mit  der  Epiphyse  verbunden. 

Fig.  3. 


Die  SägeHache  des  Durchschnittes  (s.  Fig.  3)  zeigt  eine  normale  Structur 
der  Kpipjiyso  (A),  die  Epipliysenlinie  (d)  ist  etwas  unregelmässig  gestaltet, 
veibrcilerl,  streckenweise  stark  hyperämisch.  Der  unterste  Theil  derselben, 
welcher  eine  ziemlich  starke  Krümmung,  parallel  dem  üusseren  Gclenkknorpet 
bildet,  ist  ganz  intact  und  von  beiden  Seiten  von  intacter  Spongiosa  begrenzt. 
Auf  der  Diaphysenseite  bildet  die  letztere  ein  dreieckiges  Feld  (e),  dessen 
Grenze  gegen  die  Diaphjse  durch  knorpelig  knöchernes  Callusgewebe  gebildet 
wird,  welches  die  Fortsetzung  des  gleichen  Gewebes  darstellt,  mit  dem  die 
Verbindung  des  gegen  die  Epipliysenlinie  vorgetriebenen  Diaphysonstückes  mit 
der  letzteren  in  ihren  übrigen  Abschnitten  hergostelll  wird.  Dieses  Callus- 
gewebe (c)  ist  ausserordentlich  schmal  (durchschnittlich  2—3  mm)  und  völlig 
unverscliieblicb.  Die  anliegende  Diapbyse  zeigt  im  Wesentlichen  noch  die 
alten  Ari'tiitertursyslemc,  doch  sind  diese  zum  Theil  an.scheinend  in  Resorption 
begrilTen  und  amiorcrscits  linden  sich  uuch  neue  dichte  Itiilkchensj'slemo  in 
unmillel barer  Nähe  der  Callusbildung;  zu  letKterer  gehört  wohl  auch  ein  Theil 
des  scharr  gebogenen  Sporns.     Blutungsreste  sind  nicht  crkeniil)ar.     In  der 


üebev  die  traumatischo  Lösun«»  der  Kopfcpiphysc  des  Feraur  etc.      811 

Hauptsache  bildet  die  Calluslinie  einen  flachen  Bogen  zwischen  der  Hissstelle 
des  oberen  Knorpelrandes  (b)  und  dem  unteren  Knorpelrand  (a). 

Mikroskopisch  erscheinen  der  Gelenkknorpel  und  die  von  ihm  aus- 
gehende Knochenbildung  der  Epiphyse  in  der  Hauptsache  vollkommen  normal, 
namentlich  findet  sich  keine  Andeutung  von  Rachitis.  Die  Knochenbalkchen 
der  Epiphyse  enthalten  nur  für  kleine  Strecken  unterhalb  des  Knoi-pels  Reste 
von  Knorpelgewebe,  das  Knochenmark  ist  fast  vollständig  von  Fettgewebe 
gebildet  und  enthält  relativ  wenig  Lymphoidzellen ,  aber  viele  Blutgefässe. 
Die  Rissstelle  des  Knorpels  (b)  zeigt  einen  ziemlich  scharfen  Rand,  welcher 
aber  überall  unmittelbar  in  ein  ausserordentlich  zellenreiches  Fibroblasten- 
gewebe  übergeht,  dessen  junge  Gefasssprossen  vielfach  in  die  Knorpelmasse 
eindringen. 

Der  Epiphysenknorpel  ist  vielfach  in  physiologischer  Weise  bereits  von 
Knochenbalkchen  durchbrochen.  Seine  Knorpelzellen  sind  verschieden  gebaut. 
Streckenweise  finden  sich  lange  Knorpelzellensäulen,  welche  an  Rachitis  erin- 
nern ;  an  anderen  Stellen  fehlen  derartige  Säulen ;  sonstige  Andeutungen  rachi- 
tischen Knochenwachsthums  sind  nicht  erkennbar,  namentlich  fehlt  in  der 
Nähe  des  Knorpels  eine  Osteoidzone.  Die  Färbung  und  die  sonstige  Structur 
des  Epiphysenknorpels  lassen  auf  keine  besonderen  Störungen  schliessen. 

Wo  das  Callusgewebe  der  Epiphysenlinic  sich  anlegt,  sind  die  Verhält- 
nisse verschieden,  je  nachdem  diese  Knorpelinseln  enthält  oder  nicht;  wo  letz- 
teres der  Fall  ist,  findet  sich  zwischen  der  Markmasse  des  diaphysäien  und 
epiphysären  Knochens  directe  fibröse  Callusverbindung  von  geringer  Aus- 
dehnung und  derber  Resistenz;  von  beiden  Seiten  dringen  in  diesen,  an  weiten 
Bluträumen  reichen  Callus  dicht  mit  Osteoblasten  besetzte  junge  Knochen- 
balkchen vor.  Hauptsächlich  liefert  die  Diaphyse  solche  Bälkchen;  dieselben 
stützen  sich  theilweise  auf  alte  Diaphysenbalken ;  letztere  sind  in  der  Nähe  des 
Callus  theilweise  stark  mit  Osteoblasten  und  neuen  Knochenlagen  bedeckt, 
theilweise  werden  sie  lacunär  resorbirt,  letzteres  in  geringem  Grade;  perfori- 
rende  Canäle  finden  sich  nicht,  wohl  aber  bisweilen  Gruppen  von  Riesen- 
zellen. Wo  andererseits  der  Knorpel  in  Callus  übergeht,  finden  sich  theil- 
weise dichte,  junge  Knorpelwucherungen,  theilweise  allmaliger  unmittelbarer 
üebergang  des  Knorpelgewebes  in  ein  fibröses,  derbfaseriges  Gewebe,  welches 
die  für  die  sogenannte  primäre  Verkalkung  charakteristische  feinkörnige  Punc- 
tirung  in  langen  Strecken  aufweist  und  dann  weiterhin  in  gewöhnliches  Callus- 
gewebe übergeht.  Die  Gesammtmassc  des  Callus  ist  sehr  gering,  namentlich 
sind  besonders  zellreiche  Partien  nur  klein  und  selten.  Auf  Seiten  der  Epi- 
physe sitzen  zum  Theil  auch  noch  an  anderen  Stellen  als  in  dem  Gebiete  e 
ältere,  Knorpelresto  umschliessende  Knochenbalkchen;  ein  Beweis  dafür,  dass 
die  Fractur  zum  grossen  Theil  im  Spongiosagewebe  der  Diaphyse  erfolgte. 

Andererseits  zeigt  die  in  der  Knorpelkapselwunde  frei  vorliegende  Fläche 
der  Spongiosa  (d'),  also  das  untere  Frarturstück,  die  erwähnten  Knorpel inscln 
als  unzweifelhaft  der  E[)iphysenlinie  angchöri^.  Dieselben  sind  hier  zum  Theil 
in  Quellung  und  Degeneration,  zum  Theil  werden  sie  von  dem  umgebenden 
Fibroblastengowebo  allmälig  durchwuchert;  vielfach  zeigen  sie  auch  deutliche 
Wucherungen    ihrer    Zellen    innerhalb    erweiterter   Kapselräume.     Jene   freie 


812  Dr.  Sprengel, 

Knoclienoherllächo  zeigt  ausserdem  kleine  zertrümmerte  Reste  von  Knochen 
und  ganz  nccrotischem  Knorpel,  welche  in  riesenzellreichem  Granulations- 
gewebe  eingeschlossen  sind.  Diese  Zone  ist  nur  ganz  oberflächlich ;  stärkere 
Markquetschungen  fehlen  fast  vollständig. 

Wo  das  Periost  des  Halses  gegen  die  Epiphyse  vorgezerrt,  beziehungs- 
weise der  oberen  Fracturfläche  der  Diaphyse  angepresst  ist  (bei  a),  zeigt  das- 
selbe starke  Verdickung,  lebhafte  Zellwucherung,  Bildung  von  Knorpel  und 
Osteoidbälkchen.  Mit  der  Fracturfläche  ist  dasselbe  bereits  vollständige  fest 
verwachsen.  Die  Structur  jenes  3 eckigen  Spongiosastückes  (e)  im  Winkel 
zwischen  Epiphysen-  und  Gelenkknorpel  einerseits  und  Oalluslinio  andererseits 
zeigt  nichts  Besonderes.  Sehr  deutlich  ist  streckenweise  zwischen  der  Periost- 
wucherung  und  der  Fracturlinie  der  Epiphyse  im  Gebiet  von  e  noch  eine 
schmale,  besonders  gefässreiche  Calluszone  zu  erkennen,  welche  versprengte, 
meist  necrotische  Knorpelkeime  enthält.  Offenbar  handelt  es  sich  um  die 
Narbe  einer  organisirten  Blutung,  in  welcher  Partikelchen  vielleicht  verrieben 
worden  waren. 

Epikrise.  In  allen  wesentlichen  Punkten  stimmt  der  Fall  I 
(Br.)  so  genau  mit  Fall  II  (v.  H.)  überein,  dass  auch  auf  dieselbe 
dort  zu  besprechende  mechanische  Entstehungsart  der  Fractur  ge- 
schlossen werden  kann.  Offenbar  ist  nur  im  Falle  I  (ßr.)  die 
Pressung  der  Fracturenden  gegen  einander  noch  viel  dichter  und 
die  Diastase  durch  Blutungen  wohl  nur  an  beschränkten  Stellen 
von  einiger  Ausdehnung  gewesen.  Hiermit  stimmt  das  Auftreten 
neugebildeter  Knorpellagen  im  Callusgewebe  insofern  überein,  als 
solche  Bildungen  nach  den  neuestens  durch  Kapsammer^)  be- 
stäligten  Befunden  Koller's^)  nur  dann  im  Callus  vorkommen, 
wenn  die  Fracturenden  sich  während  der  Heilungsperiode  häufig 
an  einander  verschieben,  sodass  die  elastische  polsterartigc  Be- 
schaffenheit eines  Knorpelzwisc^henlagers  functionell  beansprucht  wird. 

Fall  II.  V.  II.  Oberschenkelkopf  von  normaler  Con6guration.  Der 
Knorpel  zeigt  streckenweise  einige  flache  Rauhigkeiten,  an  einer  Stelle  in  der 
Art  einer  Abschürfung.  Am  Ligamentum  teres  quillt  aus  der  Fovea  heraus  ein 
mchrlappiger  Fettgcwebewulst  stark  über  die  Knorpeloberfläche  vor.  Das  Fett- 
gewebe geht  direct  in  die  Scheide  des  Ligamentum  über;  letzteres  zeigt  nichts 
Besonderes.  Unmittelbar  neben  dem  Kopf  am  unteren  Rand  liegen  zwei  gleich- 
falls aufi'allend  dicke  myxomartig  pralle  Fettgewebeballen,  der  grössere  von 
der  Grösse  einer  Zvvetsche.  Beide  verdecken  seitlich  die  Spalte  zwischen  dem 
Kopf  und  dem  angei)rossten  Halstheil  und  scheinen  sich  aus  dem  streckenweise 
etwas  briiunlich  i)igmpntirten  Periost  zu  entwickeln.  Der  Knorpel  des  Kopfes 
endigt  an  der  oberen   hinteren  Fläche  mit  einem  scharfen,   unregelmässig  ge- 


»)  Virchow's  Archiv,  Bd.  152.     Heft  1.     1898. 

2)  Archiv  für  Eiitwickluugsrnechaiiik,  Bd.  3,     Heft  4.     1896. 


IJebcr  di«  lr;iuma tische  l.nsunjt  iIit  linprcpiiiliysi'  des  I-Viiiiir  Hr.      813 

1  Rand,  welcliera  einige  weiche  kleine  K n och enb rocke I  leicht  vciscliicb- 
lich  anliegen.  An  beiden  Seiten  dieses  freien  Randes,  dessen  Breite  4Y2  ^"^ 
beträgt,  geht  das  Perichondrinm  des  Kopfes  in  Fasergewebe  über,  welches 
weiter  nach  hinten  abermals  einen  freien,  sehr  stark  fetzigen,  knorpeligen 
Rand  bildet,  und  zwar  in  der  Art,  dass  zwischen  beiden  freien  Kändern  eine 
annähernd  quadratische  Lücke  von  4  cm  Länge  und  Breite  vorliegt.  Un- 
;!weifelhaft  sind  die  beiden  freien  Ränder  ursprünglich  zusammengehörig  ge- 
wesen nnd  nunmehr  auseinander  geplatzt.  In  das  Loch  zwischen  den  beiden 
Rändern  drängt  sich  eine  fetzige,  rauhe  KnechenoberfläiChe  vor,  an  welcher 
slellenweis  kleine  Inseln  von  Knorpelgewebe,  welches  viel  durchscheinender 
als  dor  Kopfknorpcl  und  daher  wohl  als  Epiphysenknorpel  zu  deuten  ist,  fest- 
sitzen. Die  äassersle  Kante  dieses  Knochens  bildet  einen  etwa  rechten  Winkel, 

Fig.  4. 


so  dass  er  also  2  Facetten  zeigt;  die  hintere  steht  in  unmittelbarer  Verbindung 
mit  der  hinleren  Grenzlinie  des  Knorpolrisses  und  wird  streckenweise  von  dieser 
aus  bereits  mit  Pasergewebe  übersogen.  Anf  der  entgegengesetzten  unteren 
Fläche  des  Präparates  findet  sich  die  Sägefläche  der  Resection,  welche  den 
Femurhals  schräg  durchschneidet;  dieselbe  zeigt,  dass  der  untere  Rand  des 
Halses  etwas  verdickt  und  dem  Knorpelkopf  derartig  dicht  angepresst  Ist,  da^is 
nur  eine  schmale Poriostmasse,  welche  oben  beiderseits  in  das  oben  beschriebene 
myxomatöso  Fettgewebe  übergeht,  die  Spalte  ansfülit. 

Der  Sägeschnitt  durch  dio  Langsame  {s.  Fig.  4)  ergiebt,  dass  der  Kopf  (a) 
bis  zur  hipiphysentinie  (d)  normal  ist.  Von  letzterer  sind  hier  und  da  deutlich 
kleine  Knorpelinscln  zu  erkennen.     Lfnniiticlbar  an   die  sanft  gebogene  blpi- 

Arebii  rur  klin.  Cbicuritie.    S7.  Bd.   Hart  4,  54 


814  Dr.  Sprengel, 

physonlinie  schliesst  sich  eine  in  der  Mitte  12  mm  breite,  nach  der  Peripherie 
zu  sich  verschmälernde  Bindegewebsmasse  (C)  von  gleicher  Richtung,  welche 
mit  der  Epiphysenlinie  durch  ein  dichtes,  etwa  2  mm  breites,  sehr  zartes 
Knochenbälkchennetz  verbunden  ist,  dessen  Bälkchen  im  Allgemeinen  auf  der 
Epiphysenlinie  senkrecht  stehen.  Genau  in  gleicher  Weise  verbindet  sich  die 
Bindegewebsmasse  auf  der  entgegengesetzten  Fläche  mit  der  der  Epiphysenlinie 
annähernd  parallel  verlaufenden  unteren  Halsfläche,  letztere  biegt  sich  etwas 
spornförmig  gegen  den  oberen  Theil  der  Epiphysenlinie  vor  (bei  x)  und  bricht 
dann  plötzlich  ab,  um  senkrecht  nach  aussen  in  die  freie,  höckerige  Knochen- 
fläche (d^),  welche  in  der  Knorpelrisswunde  vorspringt,  überzugehen.  Der 
Schnitt  beweist  schon  klar,  dass  die  letztere  Knochenfläche  dem  oberen  Rande 
der  Diaphyse  entspricht,  und  dass  die  Verbindungsmasse  zwischen  Hals  und 
Epiphyse  nur  eine  Wucherung  des  Halsperiostes  darstellt.  Dieselbe  entspricht 
durchaus  einem  fibrösen  Callus,  zeigt  mehrfach  blutgefüllte  kleine  Caverncn 
und  geht  am  unteren  Rande  (bei  a)  direct  in  die  Umschlagsstelle  des  Gelenk- 
knorpels über.  Die  Structur  des  Halstheiles  und  des  Kopfes  (vergl.  das 
Röntgenbild  Taf.  111,  Fig.  4)  'zeigt  annähernd  normalen  Typus,  nur  ist  die 
äusserste  Randfläche  des  dem  Callus  anliegenden  Halstheiles  offenbar  etwas 
rareficirt.  Der  Callus  gestattet  eine  deutliche  Verschiebung  des  Kopfes  am 
Halstheil,  wenn  auch  nur  mit  einem  Ausschlag  von  1 — 2  mm. 

Mikroskopischer  Befund.  Eine  dünne  flache  Scheibe  des  Knochens 
wird  mit  der  Laubsäge  entnommen  und  in  Salpetersaure-Formalin  entkalkt  *), 
hierauf  mit  dem  Gefriermicrotom  geschnitten  und  mit  Hämatoxylin  und  Pikrin- 
säure, sowie  nach  van  Gieson  gefärbt. 

Der  Knorpel  des  Gelcnkkopfes  erscheint  vollständig  normal,  an  der 
Innenfläche  besteht  keine  Andeutung  einer  rachitisähnlichen  Knorpelzellen- 
wucherung. Ebenso  ist  der  Bau  des  Epiphysenknorpels  vollständig  normal. 
Die  den  beiden  Knorpelarten  anliegenden  Knochenbalken  enthalten  nur  in  der 
nächsten  Nähe  des  Knorpels  noch  Knorpelkerne.  Das  Perichondrium  des 
Gelenkknorpels  zeigt  streckenweise  ungleichmässige  Verdickungen  aus  zell- 
reichem Gewebe  (Folge  traumatischer  Reizung?).  Das  Markgewebe  der  Epi- 
physe besteht  aus  Fettgewebe  mit  relativ  normalem  lymphocytärem  Gewebe. 
Nach  dem  Callus  zu  findet  sich  zunächst  am  Epiphysenknorpel  streckenweise 
normales  Knochen-  und  Markgewebe,  welches  weiterhin  in  ein  jüngeres,  osteo- 
blastenreiches  Knochenbälkchensystem  übergeht.  An  anderen  Stellen  schliesst 
letzteres  sich  direct  an  den  Epiphysenknorpel  an,  oder  es  zeigen  auch  die  von 
letzterem  entspringenden,  offenbar  älteren  Knochenbälkchen,  einen  dichten  Be- 
lag von  Osteoblasten  und  junge,  sie  verbindende  Zwischenpfeiler.  Die  neu- 
gebildeten Knochenbälkchen  sind  zellreich  und  wegen  starker  Hämatoxylin- 
färbung  der  Zellausläufer  dunkel.  Das  sie  umgebende  Markgewebe  wird  in 
raschem  Uebergang  aus  dem  Fetimark  dicht  fibrös,  sehr  spindelzellreich  und 
gefässarm.   Die  Knochenbälkchen  enden  sämmtlich  in  annähernd  gleicher  Höhe. 


')  s.  Bcneke,  Spondylitis  deformans,  in  den  Beiträgen  zur  wisssenschaft- 
lichen  Mcdicin.    Braunschweig.    Festschrift  zur  Naturforschcrversammlurg  1897. 


Ueber  Hie  iraumatische  Lösung  der  Kopfepiphyse  des  Femur  etc.      815 

Das  Markgewebe  geht  dann  über  in  das  Spindelzellgevvebe  dos  Gallus,  dessen 
Faserzüge,  Zellen  und  Gefässe  in  der  Hauptsache  sämmtlich  die  gleiche 
Richtung  wie  die  jungen  Knochenbälkchen  haben,  nämlich  senkrecht  zur  Epi- 
physenlinie.  Die  Blutgefässe  in  dem  sehr  zelienreichen  Gallus  nehmen  von  der 
oberen  bisher  beschriebenen  Grenze  nach  unten  gegen  den  Femurhals  (B)  zu 
an  Zahl  und  Weite  rasch  zu,  sodass  in  den  tieferen  Lagen,  namentlich  an  den 
unteren  Knochengrenzlinien  stellenweise  ein  fast  cavernöses  Gewebe  besteht 
—  ein  deutlicher  Beweis  dafür,  dass  die  Vascularisation  des  Gallus  von  der 
Diaphyse  bezw.  deren  Periost  her  erfolgt  ist.  Um  die  Blutgefässe  des  Gallus 
herum  liegen  spärliche  einkernige  Lymphocyton,  fast  gar  keine  gelappt  kernige 
Loukocyten.  Die  tieferen  Lagen  des  Gallus  zeigen  derbere  Fibrillen  und  spär- 
lichere Zellen  als  die  oberen,  nach  der  Epiphyse  zu  gelegenen.  Das  Gewebe 
maclit  hier  stellenweise  durchaus  einen  sehnenartigen  Eindruck,  die  Zellen 
zeigen  vielfach  Verbindungen  ihres  Protoplasmas  durch  zarte  oder  plumpere 
Fortsätze. 

In  dies  derbe  Gewebe  reichen  nun  auch  von  der  Diaphysengrenzc  her 
reichliche,  dicht  gedrängte  junge  Knochen-  bezw.  Osteoidbälkchen  hinein, 
welche  von  sehr  dichten  Lagern  grosser  Osteoblasten-  umgeben  sind.  Sie 
stehen  in  directer  Verbindung  mit  knorpelh altigen,  offenbar  alten  Knochen- 
bälkchen von  erheblicher  Dicke,  deren  ehemalige  mehr  räumliche  Beziehung 
zum  Epiphysenknorpel  aus  den  eingeschlossenen  Knorpelresten  sicher  zu  er- 
schliessen  ist.  Diese  alten  Knochenbälkchen  sind  in  der  Gegend  von  x 
grösstentheils  nekrotisch,  zeigen  hier  und  auch  sonst  streckenweise  reichliche 
Howship'sche  Lacunen,  ferner  vielfach  Ueberkleiduug  mit  jungem,  kernreichem 
Knochengewebe  (Osteoidgewebe?).  Die  Bälkchen  der  Diaphyse  werden  von 
einander  getrennt  durch  derbfibröses  Mark ,  mit  reichlichen  jungen  Spindel- 
zellen, und  sind  im  Allgemeinen  in  normaler  Entfernung  von  einander;  stellen- 
weise aber,  namentlich  bei  x  und  in  der  Linie  d',  stehen  sie  auch  auffallend 
dicht,  dann  erscheint  das  Knochenmark  zwischen  ihnen  zertrümmert,  nekrotisch, 
von  Leukocyten  durchsetzt  und  enthält  neben  den  nekrotischen  Resten  des 
Fettgewebes  auch  Trümmer  von  Knochenbälkchen,  welche  stellenweise  dicht 
zusammengepresst  liegen  und  von  Zonen  von  Lymphoidzellen  abgeschlossen 
werden.  Riesenzellbildung  findet  sich  an  diesen  Trümmern  nicht.  Diese 
Gruppen  repräsentiren  unzweifelhaft  zertrümmertes  Knochengerüslgewebe. 
Stellenweise  finden  sich  Reste  von  rothen  Blutkörperchen  diffus  zerstreut;  aber 
nirgends  Pigment. 

Am  äusseren  Rand  des  Knochens  geht  das  Gallusgewebe  direct  in  das 
Periost,  bezw.  dasPerichondrium  über;  auch  streckenweise  in  den  anstossenden 
Gelenkknorpcl,  welcher  hier  ganz  local  eine  kleine  Wucherung  bildet,  indem 
seine  vergrösserten  Kapseln  übermässig  viel  Zellen  enthalten. 

An  den  breitesten  Stellen  des  Gallus  (Milte)  zeigt  derselbe  zahlreiche 
Einsprengungen  sehr  kleiner  Gewebstrümmcrchen ,  sowohl  Knochen-  als 
Knorpelstückchcn;  dieselben  erscheinen  meist  nekrotisch  und  bilden  jedesmal 
den  Mittelpunkt  einer  kleinen  organisirenden  Zelhvucherung.  Einzelne  Knorpel- 
stückrhen   zeigen  von  aussen    eindrinp:onde  Zellsträngo   sowie   Wuchorunj^on 

54* 


816  Dr.  Sprongol, 

der  Knorpelzellennester.  Ferner  finden  sich  hier  grössere  und  kleinere  Haufen 
abgestorbener  rother  Blutkörperchen,  welche  von  dichteren  Fibroblastenhaufen 
umringt  und  durch  reichlich  vordringende  Zellen  organisirt  werden;  auch  hier 
fehlen  Pigmentzellen.  Jene  Gewebstrümmer  können  ihrer  Lage  nach  nur 
durch  Verreibung  in  einer  Flüssigkeit  (Blut)  die  beschriebene  Anordnung  er- 
halten haben.  Wo  das  Callusgewebe  sich  seitlich  aus  dem  Periost  des  Femur- 
halses  entwickelt,  gleicht  dasselbe  durchaus  einem  gewöhnlichen  Fractur- 
callus,  seine  Bälkchen  stehen  im  Ganzen  senkrecht  auf  der  Richtung  der  alten 
Knorhenbälkchen  des  Femurhalses  ,ein  deutlicher  Beweis  für  die  Abhängigkeit 
der  Richtung  neuer  Callusbälkchen  von  der  veränderten  Beanspruchungs- 
richtung, eventuell  selbst  im  Gegensatz  zu  der  ursprünglichen  Anordnung  der 
Periostfasern. 

Das  Knochengewebe  des  Femurhalses  zeigt  im  Uebrigen  keine  Besonder- 
heiten, namentlich  ist  auch  die  Resorption  durch  Lacunen  zwar  überall  nach- 
weisbar, aber  nicht  auffallend  stark.  Um  einige  grössere  versprengte  Knochen- 
bälkchen,  im  Innern  des  Callus,  welche  nekrotisch  zu  sein  scheinen,  haben 
sich  junge  Osteoblastcnlager  gebildet,  von  denen  auch  kleine  Knochenspiculae 
ausgehen. 

In  Präparaten  mit  Giesonfarbuhg  ist  die  Richtung  und  derbe  Beschaffen- 
heit der  Callusfibrillen  sehr  deutlich.  Um  die  Gefasse  herum  besteht  gewöhn- 
lich ein  etwas  faserärmerer  Raum;  sehr  scharf  sind  die  massenhaft  in  die 
jungen  Knochenbälkchen  eindringenden  Sharpey'schen  Fasern  zu  erkennen. 
Den  alten  Knochenbälkchen  fehlen  solche  Fasern  vollkommen. 

Der  Gelenkknorpel  erscheint  an  einer  Stelle  unmittelbar  neben  dem  Ab- 
gang des  Epiphysenknorpels  (bei  a)  aus  einander  gesprengt.  Die  Lücke  ist 
hier  ausgefüllt  mit  einem  schmalen  Zug  von  Spindelzellen,  jungen  Knorpel- 
zollen, welche  viel  kleiner  als  die  alten  sind  und  osteorblastenreichen  Osteoid- 
bälkchen,  im  Ganzen  also  typischem  Callusgewebe,  welches  sich  auch  direct 
in  das  anstossende  Callusgewebe  fortsetzt. 

Epikrisc.  Aus  den  vorliegenden  Befunden  ergiebt  sich,  dass 
durch  plötzliche  einmalige  Gewalt  die  Epiphysenlinie  gebrochen 
und  die  Diaphyse  aus  derselben  heraus  luxirt  ist.  Den  Beweis 
hierfür  liefert,  abgcselien  von  der  aus  der  Fig.  4  ersichtlichen  Ver- 
schiebung der  Diaphyse,  der  breite  Riss  des  Gelenkknorpels  an 
seinem  Uebergang  auf  den  Femurhals;  ferner  die  Zertrümmerung 
des  spongiösen  Gewebes  der  Diaphyse  in  unmittelbarer  Nähe  der 
Rissspalte  und  die  Versprengung  zahlreicher  kleiner  der  Epiphysen- 
linie und  ihrer  Nachbarschaft  entstammenden  Gewebereste  inner- 
halb des  Callusgewebes.  Diese  Versprengung  kann  in  der  eigen- 
ihümliclien  Form  nur  aus  einer  Verreibung  der  Trümmer  in  Flüssig- 
keit, also  offenbar  einer  Blutung,  erklärt  werden.  Reste  einer 
solchen  Blutung    sind    mehrfach    erkennbar,    indessen  meistens  in 


lieber  die  traamatisclie  Lösung  der  Kopfepiphyse  des  Fcmur  etc.     817 

starker  Organisation  begrifTen;  der  Uebcrgang  dieses  Organisaiions- 
gewcbes  in  das  Callusgewebc  deutet  mit  Sicherheit  darauf  hin, 
dass  letzteres  wohl  mindestens  grösstcntheils  sich  durch  die 
Organisation  eines  ehemals  grösseren  ßlutcoagulums  entwickelt  hat. 
Diese  Organisation  ist  unzweifelhaft,  wie  die  Anordnung  der  Blut- 
gefässe beweist,  ganz  vorwiegend  gegen  die  Epiphyse  vorgedrungen. 
Gleichzeitig  ist  von  dem  Periostgewebe  der  ersteren,  welches  die  Blut- 
gefässe lieferte,  sowie  von  der  zerrissenen  Epiphysenlinie  der  Epiphyse 
eine  typische  Knochencallusbildung  unter  Benutzung  der  älteren 
Knochenbälkchen  als  Stützpunkt  ausgegangen.  Alle  diese  Bilder  ent- 
sprechen durchaus  den  gewöhnlichen  Callusbildungen  bei  Fracturen  u.a. 

Von  Interesse  ist  die  Thatsache,  dass  in  dem  Organisations- 
gewebe blutpigraenthaltige  Zellen  fehlen;  der  Blutfarbstoff  war  ver- 
muthlich  schon  zur  Zeit  der  Operation,  d.  h.  in  den  zur  Beobach- 
tung gelangten  Organisationsstadien  aus  dem  längst  abgestorbenen 
Blutcoagulum  ausgelaugt.  Ferner  sind  jene  Knochenbälkchen, 
welche  im  Callusgewebc  versprengt  den  Mittelpunkt  kleiner  Osteo- 
blastenw^ucherung  darbieten,  histologisch  von  Interesse.  Da  nirgends 
sonst  im  Callusgewebe  ausser  an  ihnen  —  abgesehen  von  den  aus 
der  Spongiosa  sich  entwickelnden  Knochenwucherungen  —  Osteo- 
blasten sich  finden,  so  ist  es  klar,  dass  die  Knochentrümmer  diese 
Osteoblasten  mitgeschleppt  hatten;  resp.  das  Material  zu  ihrer 
Entwickelung  lieferten. 

In  beiden  Fällen  ist  es  aufifallend,  wie  wenig  die  Structur  der 
Spongiosa  in  unmittelbarster  Nähe  der-  Fractur  verändert  worden 
ist.  Hieraus  scheint  hervorzugehen,  dass  es  sich  bei  dem  Trauma 
vielmehr  um  eine  plötzliche  Verschiebung  der  Fracturenden ,  eine 
Torsion  in  der  Epiphysenlinie  als  um  eine  Einkeilung  der  Fractur- 
flächen  in  einander  gehandelt  hat.  Irgendwelche  anatomische  Be- 
funde', auf  welche  die  Annahme  einer  erhöhten  Nachgiebigkeit  der 
Knochen  gegründet  werden  könnte  (sogenannte  Spätrachitis  o.  ä.) 
wurden  in  beiden  Fällen  nicht  erhoben.  Das  Eigenartige  dieser 
Fracturform  scheint  demnach  nicht  in  einer  allgemeinen  be- 
sonderen Schwäche  (Disposition)  des  Knochengewebes,  sondern 
darin  zu  liegen,  dass  eine  physiologisch  nachgiebigere  Stelle, 
nämlich  die  noch  nicht  vollkommen  consolidirte  Epiphysenlinie, 
bezw.  die  ihr  unmittelbar  anliegenden  Zonen  jungen  Knochengewebes 
durch  ein  Trauma  ganz  specifischer  Richtung  betrolfen  werden. 


818  Dr.  Sprcnprcl, 

nämlich  dcrarl,  dass  die  Fracturenden  wie  bei  einer  Torsion  an 
einander  vorschoben  werden.  Weiterhin  ist  dann  dafür,  dass  die 
Fracturenden  nicht  auseinander  weichen,  sondern  im  Bilde  einer 
Coxa  vara  zusammengehalten  werden,  das  Vcrhältniss  ausschlag- 
gebend, dass  die  derbe,  fibrös-knorpelige  Bandmasse,  welche  vom 
üelenkknorpel  auf  den  Hals  übergeht,  nur  zum  Theil  geplatzt  ist, 
an  den  Seitenflächen  aber  noch  ausreicht,  um  die  Fracturenden  fest  an 
einander  zu  ketten;  so  lange  diese  seitlichen  Bänder  noch  festhalten, 
kann  sich  die  Diaphyse  vielleicht  an  der  Epiphyse  in  der  Art  eines 
einachsigen,  durch  Seitenbänder  fixirten  Gelenkes  in  geringem  Maasse 
hin-  und  herschieben,  während  indessen  eine  völlige  Trennung  der 
Fracturflächen  von  einander  ausbleibt.  Die  Breite  des  Risses  in  dem 
geplatzten  Band  muss  auch  dafür  maassgebend  sein,  wie  weit  die 
Fracturfläche  der  Diaphyse  aus  dem  Risse  herausragt. 

Zu  vorstehendem  Bericht  des  Herrn  Prosector  Bencke  möchte 
ich  bemerken,  dass  die  Untersuchung  der  beiden  Knochenpräparatc 
gleichzeitig,  d.  h.  erst  nach  Gewinnung  des  letzteren  (Fall  v.  H.) 
erfolgte.  Auch  die  Durchsägung  des  Knochens  unterblieb  bis  dahin. 
Das  war  practisch  ohne  Belang,  vom  wissenschaftlichen  Standpunkt 
bedauerlich,  weil  dadurch  das  Resultat  der  anatomischen  Unter 
suchung,  das  erst  nach  Durchsägung  des  Schenkelhalses 
und  Kopfes  klar  zu  Tage  trat,  für  den  zweiten  Fall  nicht 
mehr  diagnostisch  verwendet  werden  konnte.  Nach  der  äusseren 
Configuration  des  resecirten  Knochens  nahm  ich  an,  dass  meine  in 
beiden  Fällen  auf  Coxa  vara  lautende  Diagnose  durch  die  gewon- 
nenen Präparate  bestätigt  sei. 

Um  für  die  Demonstration  eine  schnelle  Orientirung  zu  er- 
möglichen, habe  ich  von  dem  oberen  Femurende  der  Leiche  eines 
ungefähr  gleichaltrigen  Individuums  den  Kopf  und  soviel  vom 
Schenkelhals  abgetragen,  wie  bei  unseren  Fällen  durch  die  Operation 
geschehen  war,  und  nun  die  durch  die  Operation  gewonnenen  Prä- 
parate in  der  Stellung,  die  sie  im  Leben  eingenommen  hatten, 
eingefügt.  Man  wird  mir  zugeben,  dass  das  Bild  (cf.  Tafel  III 
und  IV,  Fig.  1,  2  und  5)  der  Coxa  vara  durchaus  gleicht,  und 
dass  man  nothwendig  auf  den  Gedanken  kommen  musste,  es 
handle  sich  um  diese  neuerdings  so  viel  besprochene  Deformität. 
Man  hat    thatsäehlich    das  Bild  eines    von    oben    nach  unten  ver- 


üeber  die  traumatische  LösuDg  der  Kopfepiphyse  des  Femur  etc.     819 

bogcnon  Schenkelhalses  vor  sich,  nur  dass  in  unseren  Fällcu  die 
Abbiegung  zu  einer  Art  Einknickung  geführt  zu  haben  scheint. 

Auf  dem  Sägeschnitt  macht  sich  die  Sache  freilicli  wesentlich 
anders.  Man  erkennt  hier  ohne  Weiteres,  dass  eine  Lösung  in 
der  subcapitalen  Epiphyse  und  eine  Verschiebung  des  Kopfes  nach 
unten,  resp,  des  Halses  nach  oben  stattgefunden  hat.  Die  Lösung 
ist  in  beiden  Fällen  eine  vollkommene,  die  Verschiebung  aber  ver- 
schieden. In  Fall  I  (ßr.)  (cf.  Tafel  III,  Fig.  3,  4  und  6)  war  sie 
relativ  geringfügig,  sodass  die  Epiphyse  gewissermaassen  imr  ein 
Stück  weit  an  der  oberen  Fläche  der  Diaphyse  herabgeglitten  ist 
und  zu  ihrem  grösseren  Theil  noch  der  Diaphyse  anliegt,  nur  dass 
sich  nicht  mehr  die  ursprünglich  entprechenden  Stellen  berühren; 
in  Fall  II  (v.  H.)  (cf.  Tafel  IV,  Fig.  3,  4  und  6)  dagegen  war  die 
Verschiebung  so  beträchtlich,  dass  nur  noch  die  untere  Kante 
der  Diaphyse  dem  oberen  Winkel  der  Epiphyse  gegenübersteht. 

Ich  betrachte  es  als  einen  besonders  glücklichen  Umstand, 
dass  mir  zwei  offenbar  nur  graduell  verschiedene  Fälle  zur 
Beobachtung  vorliegen.  Denn  wenn  in  Fall  1  allenfalls  noch  ein 
Zweifel  auftauchen  könnte,  und  thatsächlich  anfangs  auch  bei  mir^) 
entstand,  ob  die  angenommene  Lösung  in  der  Epiphysenlinie  that- 
sächlich stattgefunden  hat,  so  muss,  meines  Erachtens,  ein  genauer 
Vergleich  beider  Präparate  und  namentlich  der  Röntgenbilder 
Tafel  III  und  IV,  Fig.  4  jeden  Zweifel  beheben.  Dieselben  wurden 
nach  einem  von  Prosector  Dr.  Beneke  in  der  Festschrift  für  die 
69.  Versammlung  deutscher  Naturforscher  und  Aerzte  beschriebenen, 
vielleicht  auch  schon  anderwärts  versuchten  Verfahren  in  der 
Weise  gewonnen,  dass  mit  der  Säge  dünne  Scheiben  in  frontaler 
Richtung  aus  den  Resectionspräparaten  ausgeschnitten  und  nach 
Roentgen  photographirt  wurden.  Man  sieht  bei  beiden,  dass  die 
Epiphyse  die  untere  Kaute  der  Diaphyse  eigenthümlich  pilzförmig 
überragt,  dass  beide  Epiphysen  an  sich  ihre  charakteristische  Ge- 
stalt behalten  haben,  dass  in  beiden  Fällen  Epiphyse  und  Diaphyse 
durch  ein  eigenthümliches,  weissliches,  opakes,  fast  gallertartig  er- 
scheinendes Zwischengewebe  (C)  an  einander  befestigt  sind.  Dass 
dieses   Zwischengewebe    im    Fall  I  (Br.)    Tafel  III,    Fig.  4    etwas 

^)  Ebenso  wie  bei  Hoffraeister,  der  bei  Gelegenheit  des  Chirurgen- 
Congresses  die  Güte  hatte,  meine  Präparate  zu  studiren. 


820  Dr.  Sprengel, 

schmäler,  in  Fall  H  (v.  H.)  Tafel  IV,  Fig.  4  etwas  breiter  ist,  kann 
offenbar  einen  wesentlichen  Unterschied  nicht  ausmachen.  Ebenso 
wenig  darf  es  unsere  Auffassung  beeinflussen,  dass  in  Fall  I  die 
obere  Kante  der  Diaphyse  etwas  abgerundeter  erscheint,  während 
sie  in  Fall  II  ihre  normale  scharfkantige  Gestalt  bewahrt  hat,  und 
dass  die  untere  Kante  in  Fall  I  etwas  mehr,  in  Fall  II  etwas 
weniger  spornartig  ausgezogen  ist.  Diese  letzteren  Veränderungen 
der  Diaphyse  sind  meines  Erachtens  als  secundäre,  nicht  durch  die 
Verletzung  an  sich,  sondern  durch  die  veränderte  Function  des 
Knochens  bedingte,  gewissermaassen  als  Anpassungsvorgänge  auf- 
zufassen, und  ihre  graduelle  Verschiedenheit  findet  darin  eine  aus- 
reichende Erklärung,  dass  in  dem  Fall  I  der  Patient  beinahe 
3  Monate,  in  dem  Fall  II  aber  nur  etwa  6  Wochen  mit  der  ver- 
letzten Extremität  umhergehinkt  war.  Naturgemäss  mussten  in 
ersterem  Falle  die  secundären  Veränderungen  ungleich  hoch- 
gradiger sein. 

Dass  in  Fall  I  die  Lösung  nicht  ganz  genau  in  der  Epiphysc 
erfolgt  ist,  sondern  an  der  Epiphyse  ein  kleines,  dreieckiges  Stück 
der  Diaphyse  hängen  geblieben  ist,  wird  man  kaum  gegen  unsere 
Auffassung  zu  verwerthen  versuchen.  Im  Grunde  ist  es  sogar  eine 
weitere  Stütze  für  dieselbe,  da  es  einerseits  nur  durch  die  An- 
nahme eines  Trauma  zwanglos  erklärt  werden  kann,  und  anderer- 
soits  mit  der  auch  sonst  bekannten  Thatsache  übereinstimmt,  da^s 
die  sogenannten  traumatischen  Epiphysenlösungen  nicht  immer 
i-enau  im  Epiphysenknorpel  selbst,  sondern  meist  in  dem  an- 
grenzenden Theil  der  Diaphyse  erfolgen.  Für  die  Auffassung  einer 
Verletzung  als  Epiphysenlösung  genügt  der  Nachweis,  dass  die 
Trennung  in  der  unmittelbaren  Nähe  der  Epiphyse  auftritt  und 
dem  Verlauf  derselben  im  Wesentlichen  folgt. 

Endlich  aber  möchte  ich  für  die  Annahme,  dass  es  sich 
thatsächlich  um  eine  traumatische  Epiphysenlösung  handelt,  auf 
(las  Resultat  der  genauen  mikroskopischen  Untersuchung  von 
Dr.  Beneke  hinweisen,  und  aus  derselben  namentlich  zweierlei 
hervorheben : 

1.  Die  erwähnte  Zwischensubstanz  (C  in  den  Textfiguren  3 
und  4  und  in  Figur  4  und  6  der  Tafeln)  ist  nicht  etwa  ver- 
breiteter Epiphysenknorpel,  sondern  echtes  Callusgewebe,  die  Reste 
des  Epiphysenknorpels    finden    sich    vielmehr  theils  an  der  dunkel 


Ueber  die  traumatische  Lösung  der  Kopfepiphyse  des  Femur  etc.     821 

coiitourirten  Linie  (d),  thcil«  an  den  Stellen  (d^),  wo  die  Diaphyse 
gewissermaasscn  durch  den  fibrösknorpeligen  Uebcrgang  an  der 
Grenze  zwischen  Kopf  und  Hals  durchgeplalzt  ist. 

2.  In  heiden  Fällen  lassen  sich  im  Oallusgewebe  mikro- 
skopisch „grössere  und  kleinere  Haufen  abgestorbener  rother  Blut- 
körperchen" und  „zahlreiche  Einsprengungen  sehr  kleiner  nekrotischer 
Knochen-  und  Knorpeltrümmer  nachweisen,  die  ihrer  Lage  nach 
nur  durch  Verreibung  in  einer  Flüssigkeit  (Blut),  die  hier  zu 
beobachtende  Anordnung  erhalten  haben  können." 

Diese  beiden  Momente,  d.  h.  einerseits  das  sicher  nach- 
gewiesene echte  Callusgewebe  und  andererseits  das  Vorhandensein 
von  Blutresten  und  abgesprengten,  mit  dem  Bluterguss  fortgespülten 
Knorpel-  und  Knochenpartikelchen,  lassen  sich  überhaupt  auf  keine 
andere  Weise  als  durch  die  Annahme  eines  Trauma  erklären.  Im 
Verein  mit  den  oben  beschriebenen  makroskopischen  und  aus  den 
Abbildungen  ohne  Weiteres  abzulesenden  Veränderungen  des 
Knochens  machen  sie  unsere  Auffassung,  wie  ich  glaube,  völlig 
einwandfrei.  Es  handelt  sich  in  beiden  Fällen  um  trauma- 
tische Lösung  der  Kopfepiphyse  des  Femur,  Verschiebung 
derselben  nach  unten  und  Wiedervereinigung  mit  dem 
Schenkelhals  an  abnormer  Stelle. 

Bevor  ich  daran  gehe,  meine  Fälle  epikritisch  zu  beleuchten, 
muss  ich  bezüglich  der  Anamnese  folgendes  hervorheben.  Es  fehlte 
in  derselben  jeder  Hinweis  auf  ein  erlittenes  Trauma.  Von  dem 
ersten  Kranken  (Br.)  wurde  Anfangs  ein  Trauma  überhaupt  in  Ab- 
rede gestellt.  Die  Schmerzen  traten  angeblich  „3  Woclien  vor 
der  Aufnahme  in  das  Krankenhaus  plötzlich  auf,"  ohne  jegliche 
traumatische  Veranlassung,  und  gleichzeitig  bemerkte  Patient, 
„dass  das  linke  Bein  kürzer  sei."  So  lauteten  damals  seine  An- 
gaben. Nach  Untersuchung  des  durchsägten  Präparates  hielt  ich 
es  für  meine  Pflicht,  den  Kranken  nochmals  kommen  zu  lassen 
und  die  ßerufsgenossenschaft,  auf  deren  Veranlassung  er  zu  uns 
gebracht  war,  zu  bitten,  mein  anfänglich  abgegebenes  Urtheil  (das 
auf  statische  Coxa  vara  gelautet  hatte)  nach  nochmaliger  Erhebung 
der  Anamnese  modificiren  zu  dürfen.  Der  Kranke  hatte  zuerst, 
wie  er  sagte,  aus  Furcht  vor  seinem  Vater,  Scheu  gehabt,  einen 
Unfall  als  Ursache  seines  Leidens  anzugeben.  Nachdem  er  in- 
zwischen ~-  wohl  nicht  ohne  Beeinflussung  von  derselben  Seite  — 


822  Dr.  Sprengel, 

die  wohlthätigc  Wirkung  eines  Trauma  für  die  berufegenossen- 
scliaftliche  Abschcätzung  in  Erfahrung  gebracht  hatte,  gab  er  die 
Scheu  auf  und  iheilte  uns  Folgendes  über  den  Unfall  mit:  Er  sei 
—  etwa  im  Januar,  d.  h.  3  Monate  vor  der  Aufnahme  —  eines 
Tages  beschäftigt  gewesen,  eine  Bahre  zu  tragen.  Beim  Abwerfen 
der  Last  habe  er  sich  mit  einem  kräftigen  Ruck  nach  der  linken 
Seite  übergebeugt  und  dabei  einen  plötzlichen  Schmerz  in  der 
linken  Hüfte  verspürt.  Er  konnte  nicht  weiter  arbeiten,  war  aber 
im  Stande,  am  nächsten  Tage  den  mindestens  eine  Stunde  weiten 
Weg  zum  Arzt,  weim  auch  am  Stock  stark  hinkend,  zurückzulegen 
und  sich  weiterhin,  dem  Rath  des  Arztes  folgend,  mit  leichter 
Hofarbeit  zu  beschäftigen. 

Bei  dem  zweiten  Kranken  wurde  zunächst  ebenfalls  jedes 
Trauma  geleugnet,  vielmehr  angegeben,  dass  er  vor  6  Wochen 
beim  Spazierengehen  plötzlich  heftigere  Schmerzen  bekommen 
habe,  sodass  er  nicht  weiter  gehen  konnte.  Erst  nachträglich  er- 
fuhren wir  etwas  von  dem  in  der  Krankengeschichte  beschriebenen 
Unfall,  als  uns  die  Untersuchung  des  Resectionspräparates  zu  noch- 
maliger dringender  Nachforschung  veranlasste. 

In  beiden  Fällen  waren  dem  Eintritt  der  mehr  acuten  Er- 
scheinungen, welche  das  Gehen  sehr  beschwerlich  machten, 
Schmerzen  in  der  betreffenden  Hüfte  vorausgegangen.  Wir  hatten 
also  für  die  Diagnose  folgende  Momente: 

Es  handelte  sich  um  17-  und  18jährige  junge  Männer,  die 
nach  vorangegangener  Sclimerzhaftigkeit  in  der  Hüftgelenksgegend, 
angeblich  ohne  traumatische  Veranlassung,  heftigere  Beschwerden 
bekommen  hatten,  durch  welche  der  Gang  zwar  schwierig,  aber 
nicht  unmöglich  geworden  war.  Die  Untersuchung  ergab  in  dem 
ersten  Fall  Hochstand  des  Trochanters,  Adduction  und  Aussenrota- 
tion,  in  dem  zweiten  Fall  Aussenrotation  mit  leichter  Flexions-  und 
Abductionsstellung  des  Oberschenkels;  in  beiden  Fällen  reelle  Ver- 
kürzung der  Extremität.  Aeussere  Zeichen  einer  vorangegangenen 
Knochenverletzung  —  Grepitation,  Bluterguss  etc.  —  fehlten. 
Die  Beweglichkeit  war  beide  Male  in  jeder  Richtung  herabgesetzt. 

Man  hatte  nach  Anamnese  und  Untersuchungsbefund  in  dem 
ersten  Fall  ein  beinahe  klassisches  Beispiel  einer  Coxa  vara  vor 
sich  und  auch  in  dem  zweiten  Falle  sprach  die  Anamnese  voll- 
kommen   für    diese    Annahme;    die    Stellung    des    Beins    sprach 


üeber  die  traumatische  Lösung  der  Kopfepiphyse  des  Femur  etc.     823 

wenigstens  nicht  dagegen,  da  nach  Ansicht  derjenigen  Autoren, 
welche  über  das  grösste  Material  auf  diesem  Gebiete  verfügen, 
specicll  nach  Hofmeister  (Coxa  vara,  eine  typische  Form  der 
Schenkclhalsverbiegung.  Beitr.  zur  klin.  Chirurgie,  Bd.  XI,  S.  269, 
Tabelle  No.  9)  bei  Schenkclhalsverbiegung  auch  ausnahmsweise 
Flexion  und  Abduction  bei  gleichzeitiger  Aussenrotation  vor- 
kommen kann. 

Wenn  ich  bei  meinen  Fällen  so  vollkommene  üeberein- 
stiramung  mit  den  in  der  Literatur  beschriebenen  Symptomen  fand, 
um  die  Diagnose  auf  Coxa  vara  zu  stellen,  und  trotzdem  beide 
Male  einer  Täuschung  unterlag,  so  muss  ich  mir  bei  einer  epi- 
kritischen Betrachtung  derselben  naturgemäss  folgende  Fragen 
vorlegen : 

1.  Sind  die  bisherigen  diagnostischen  Hülfsmittel  überhaupt 
nicht  ausreichend,  um  zwischen  traumatischer  Epiphysenlösung  und. 
Coxa  vara  sicher  zu  unterscheiden? 

2.  Lassen  sich  unsere  Fälle  von  unvollkommener  traumatischer 
Epiphysenlösung  unter  den  Begriff  der  Coxa  vara,  wie  er  bis  heute 
verstanden  wurde,  subsumraircn,  oder  sind  sie  klinisch  und  ana- 
tomisch abzusondern? 

3.  Sind  die  Erfahrungen,  die  man  aus  unseren  Fällen  her- 
leiten darf,  für  zukünftige  Fälle  diagnostisch  zu  verworthen? 

Zu  der  Frage  1  muss  ich  bemerken,  dass  Kocher  in  seinem 
ausgezeichneten  Werke  (Beiträge  zur  Kenntniss  einiger  practisch 
wichtigen  Fracturformen.  Carl  Sallmann.  Basel  und  Leipzig. 
1896)  S.  269  auf  die  Schwierigkeit  der  Diagnose  traumatischer 
Epiphysenlösungen  hinweist,  und  dass  ferner  Hofmeister  (1.  c. 
S.  274)  ausdrücklich  hervorhebt:  „Die  einzige  Abnormität,  der 
gegenüber  eine  objective  Unterscheidung  (von  Coxa  vara)  unmög- 
lich sein  dürfte,  wäre  eine  mit  Dislocatiou  geheilte  Schenkelhals- 
fractur  oder  Epiphysenlösung.  Aber  das  ist  schliesslich  im  ana- 
tomischen Effect  auch  nichts  Anderes,  und  hier  muss  ausschliess- 
lich die  Anamnese  entscheiden."  Schon  Müller  in  seiner  be- 
kannten ersten  Publication  über  Coxa  vara  (Beitr.  zur  klin.  Chir., 
Bd.  IV,  S.  137  ff.)  bespricht  die  diagnostische  Abgrenzung  der 
Coxa  vara  gegenüber  der  Epiphysenlösung.  Er  meint  eine  solche 
deshalb  ausschliessen  zu  können,  weil  „bei  den  allerdings  be- 
scliränkten  Rotationsbewegungen    der  Trochanter    einen  dem  Grad 


824  Dr.  Sprengel, 

der  Rotation  entspreclicnd  grossen  Kreisbogen  beschreibt."  In 
neuester  Zeit  hat  de  Quervain  (Semaine  raedicale,  1898,  No.  6) 
in  einem  sehr  vollständigen  kritischen  Referat  über  die  bisher  in 
Angelegenheit  der  Ooxa  vara  veröffentlichten  Arbeiten  auf  die 
Schwierigkeit  hingewiesen,  die  Coxa  vara  mit  Sicherheit  von  einer 
alten  Sehen kelhalsfractur  zu  unterscheiden,  und  Charpentier  (De 
rincurvation  du  col  femoral,  attribuee  au  rachitisme,  ou  coxa  vara. 
These  de  Paris,  1897.  Ref.  Centr.  f.  Chir.  1898,  No.  11) 
beschliesst  seine  Arbeit,  in  der  er  eine  sehr  weit  gehende 
Kritik  an  den  bisher  veröffentlichten  Fällen  von  Coxa  vara  übt, 
mit  dem  Hinweis  auf  die  von  Royal  Whitman  veröffent- 
lichten Fälle  von  Schenkelhalsfracturen  jugendlicher  Individuen. 
Auch  er  vertritt  die  Ansicht,  dass  man  manche  in  der  Literatur 
als  Coxa  vara  beschriebenen  Fälle  mit  dem  gleichen  Recht  als 
traumatische  Schenkelhalsfracturen  wird  bezeichnen  dürfen. 

Die  vorstehenden  Citate,  die  ich  leicht  noch  um  einige  ver- 
mehren könnte,  werden  genügen,  um  die  Schwierigkeit  der  Diffe- 
rentialdiagnose zwischen  Coxa  vara  und  veralteten  Epiphyscn- 
lösungen  resp.  Schenkelhalsfracturen  jugendlicher  Individuen  zu 
erhärten. 

Leider  sind  die  Rathschläge,  welche  gegeben  werden,  um 
diesen  Schwierigkeiten  zu  begegnen,  nur  sehr  spärlich. 

Wenn  Hofmeister  (1.  c.)  sagt,  „ausschliesslich  die  Anamnese 
muss  entscheiden,"  so  kann  man  diesem  Satz  für  alle  diejenigen 
Fälle  zustimmen,  in  denen  das  Trauma  ein  sehr  prägnantes  war 
und  auch  in  der  Anschauung  des  Kranken  das  ganze  Krankheits- 
bild beherrschte.  War  das  Trauma  aber  so  geringfügig,  dass  es 
den  Kranken  und  ihren  Angehörigen  nicht  als  solches  imponirte, 
oder  aber  waren  dieselben  aus  irgend  welchen  Gründen  veranlasst, 
dasselbe  zu  verheimlichen,  so  würde  mit  der  unvollständigen 
Anamnese  auch  im  Sinne  Hofmeister's  das  letzte  differentiell 
diagnostisch  verwerthbare  Moment  wegfallen.  Leider  muss  man 
heut  zu  Tage,  wo  die  Rücksicht  auf  gesetzliche  Entschädigungs- 
ansprüche die  Aussagen  der  Kranken  aus  den  arbeitenden  Klassen 
so  vielfach  beeinflusst,  nicht  blos  doppelt  vorsichtig,  sondeni  be- 
züglich der  Anamnese  geradezu  misstrauisch  sein.  Unser  erster 
Fall  bietet  in  dieser  Hinsicht  ein  klassisches  Beispiel.  Als  wir 
den  Kranken  zuerst  gründlich  und    sorgfältig  examinirten,    gab  er 


lieber  die  traumatische  Lösung  der  Kopfcpiphyse  des  Femur  etc.      825 

an,  dass  er  ohne  jeglichen  traumatischen  Anlass  Schmerzen  in  der 
Hüfte  bekommen  und  die  Verkürzung  des  Beins  bemerkt  habe, 
nachdem  schon  längere  Zeit  Schmerzen  bestanden.  Später  be- 
hauptete er,  keine  vorhergehenden  Schmerzen  gehabt,  dagegen  den 
oben  erwähnten  Unfall  erlitten  zu  haben.  Damals  war  angeblich 
die  Furcht  vor  seinem  Vater,  jetzt  die  Rücksicht  auf  die  erhoffte 
Entschädigung  maassgebend.  Läge  nicht  das  entscheidende  Prä- 
parat vor,  so  müsste  man  sich  an  seine  erste  Aussage  halten  und 
ihn  demnach  mit  seinen  Entschädigungsansprüchen  abweisen.  Da- 
mit soll  selbstverständlich  der  Werth  der  Anamnese,  sobald  sie 
einen  positiven  und  sicheren  Anhalt  ergicbt,  nicht  geleugnet 
werden. 

Der  Hinweis  von  Müller,  dass  bei  Lösungen  in  der  Epi- 
physenlinie  der  Trochanter  bei  Rotationsbewegungen  einen  kleineren 
Kreisbogen  beschreibt,  als  man  nach  dem  Grad  der  Rotations- 
bewegungen erwarten  sollte,  ist  wohl  nur  für  frische  Fälle  zu  ver- 
werthen.  Aeltere  Fälle  von  Epiphysenlösung  könnten  mindestens 
von  denjenigen  Fällen  von  Coxa  vara,  welche  schmerzhaft  und  in 
ihrer  Beweglichkeit  beeinträchtigt  sind,  nach  diesem  Gesichtspunkt 
nicht  unterschieden  werden. 

Kocher  (Beitr.  zur  Kenntu.  etc.,  S.  243)  hat  auch  in  einem 
veralteten  Fall  von  traumatischer  Epiphysenlösung  bei  einem 
14  jährigen  Mädchen  mit  grosser  Sicherheit  die  richtige,  durch  die 
spätere  Resection  bestätigte  Diagnose  gestellt.  Er  schreibt:  „Wäh- 
rend links  die  Trochanterspitze  6Y2  cm  unter  der  horizontalen 
Spinalinie  sich  befindet,  ist  dieselbe  rechts  2  cm  über  derselben. 
Der  Trochanter  lässt  sich  leichter  umgreifen,  als  auf  der  gesunden 
Seite.  Bei  Rotationen  fühlt  man,  der  Stelle  des  Schenkelhalses 
entsprechend,  eine  deutliche  Resistenz,  welche  bei  der  Auswärts- 
rotation vorn  einen  Vorsprung  bildet,  der  aber  nicht  knorpelig  ist, 
sondern  etwas  unregelmässig  und  in  seiner  Form  dem  Schenkel- 
hals entspricht.  Der  Kopf  an  der  normalen  Stelle  bewegt  sich 
nicht  mit." 

Hier  kamen  also  die  durch  die  Epiphysenlösung  bedingte 
secundärc  Wachsthumsstörung  und  die  Fühlbarkeit  eines  scharfen 
Knochenfragments  in  Betracht.  Günstig  für  die  Möglichkeit  einer 
präcisen  Diagnose  war  die  feststehende  Thaisachc  eines  voran- 
gegangenen schweren  Traumas. 


826  Dr.  Sprengel, 

Ucbcreinsümmencl  wird  von  mehreren  Seiten  der  Werth  der 
Röntgon-Photographie  betont.  Royal  Whitmann  (Further  obser- 
vations  on  fracture  of  the  neck  of  tho  femur  in  childhood,  with 
ospecial  reference  to  its  diagnosis  and  to  its  more  remote  results. 
Annais  of  surgery.  June  1897)  will  mit  Hülfe  der  Durchleuchtung 
die  Richtigkeit  seiner  Diagnosen  auf  Schenkelhalsinfraction  haben 
bestätigen  können,  und  Hofmeister  (Ueber  Coxa  vara  nach 
Röntgen-Aufnahme.  Verhandlungen  der  deutschen  Ges.  f.  Chir. 
1897)  theilte  auf  dem  letzten  Chirurgencongress  mit,  dass  er  in 
einer  Anzahl  einschlägiger  Fälle  die  Röntgen-Photographie  ange- 
wandt und  mit  Hülfe  derselben  die  auf  Coxa  vara  gestellte  Dia- 
gnose habe  bestätigen  resp.  modificiren  können.  Hofmeister  hat 
die  Aufnahmen  in  Bauchlage  der  Kranken  gemacht.  Auch  in  un- 
seren beiden  Fällen  wurde  das  Röntgen-Verfahren,  allerdings  in 
Rückenlage  der  Kranken,  angewendet.  Es  hat  —  in  unseren 
Fällen  —  nicht  genügt,  um  die  Fehldiagnose  zu  verhüten;  wir 
konnten  durch  dasselbe  nur  feststellen,  dass  der  Trochanter  mehr 
als  normal  dem  Kopf  genähert  war;  über  Art  und  Form  der 
Schenkelhalsveränderung  konnten  wir  nichts  Bestimmtes  eruiren, 
waren  aber  der  Ansicht,  dass  das  gewonnene  Bild  der  Diagnose 
von  Coxa  vara  zum  mindesten  nicht  widerspräche.  Diese  Erfah- 
rungen sind  natürlich  zu  gering,  um  gegenüber  den  grösseren  Be- 
obachiungsrcihen,  wie  sie  z.  ß.  Hofmeister  aufzuweisen  hat,  ent- 
scheidend in  Betracht  zu  kommen.  Wenn  ich  aber  in  der  von 
ihm  gegebenen  Beschreibung  den  Passus  lese:  „Von  den  verschie- 
denen Krümmungen,  welche  in  der  Coxa  vara  vereinigt  sein  können, 
der  Abwärts-,  Rückwärts  und  Torsionskrümmung,  ist  es  naturge- 
mäss  fast  allein  die  erste,  welche  bei  der  sagittalen  Projection 
zur  klaren  Wiedergabe  gelangt.  Sie  finden  wir  in  der  That  in 
allen  6  Fällen  ausgesprochen,  im  Einzelnen  freilich  oft  die  Form 
recht  wecliselnd,  bald  einem  platt  gewölbten  Bogen  gleichend,  bald 
mehr  oder  weniger  winklig  eingeknickt.  Eine  exacte  Bestimmung 
des  Schenkelhalswinkels  ist  nicht  möglich,  da  die  Achse  des  Halses 
keine  gerade,  sondern  eine  nach  oben  convexe,  krumme  Linie 
bilde*.  Praktisch  viel  bedeutungsvoller  als  die  Beschaffenheit  der 
oberen  Schenkclhalscontour  erscheint,  wie  in  meinen  Bildern,  das 
Verhalten  seiner  unteren  Begrenzungslinie.  Eine  hochgradige 
Verkürzung  und  Concavität    dieser    letzteren    ist    das   gemeinsame 


Lieber  die  traumatische  Lösung  der  KopFepiphyse  des  Fomur  etc.      827 

Characteristicum  aller  Fälle.  Man  kann  bei  manchen  Becken 
geradezu  von  einer  Einrollung  des  Schenkelhalses  nach  unten 
sprechen,  welche  zuweilen  so  stark  wird,  dass  der  untere  Rand 
des  Kopfes  die  Pfanne  verlässt  und  sich  filzhutartig  über  den  Hals 
zurückstülpt.  Daraus  resultirt  eine  ganz  ausserordentliche  An- 
näherung des  Kopfes  an  den  Trochanter  minor''  —  so  kann  ich 
nicht  umhin,  in  dieser  Beschreibung  eine  ganz  ausserordentliche 
Uebereinstimmung  mit  meinen  Fällen  zu  sehen.  Wenn  man  sich 
ein  Röntgenbild  denkt,  das  die  Oontouren  derselben  in  idealer 
Weise  wiedergäbe,  so  müssten  sich  auf  demselben  die  „winklie^e 
Einknickung'^  an  der  oberen  Umrandung  des  Schenkelhalses,  die 
„hochgradige  Verkürzung  und  Concavität"  seiner  unteren  Begren- 
zungslinie wiederfinden.  Ja,  man  müsste  —  eine  richtige  Wieder- 
gabe durch  die  Photographie  vorausgesetzt  —  „geradezu  von  einer 
Einrollung  des  Schenkelhalses  nach  unten,  welche  so  stark  wird, 
dass  der  untere  Rand  des  Kopfes  die  Pfanne  verlässt  und  sich 
filzhutartig  über  den  Hals  zurückstülpf*,  sprechen,  wenn  man  das 
supponirte  Röntgenbild  beschreiben  wollte. 

Nach  der  Uebereinstimmung  der  von  Hofmeister  beschrie- 
benen Röntgenbilder,  aus  denen  er  selbst  (1.  c)  den  Schluss  zieht, 
dass  „gerade  das  filzhutförmige  Ueberwuchern  des  Kopfes  ent- 
schieden auf  die  Knorpelfuge  als  Ursprungsherd  der  Deformität 
hinweist",  mit  meinen  Präparaten  von  Lösung  und  Verschiebung 
des  Kopfes  in  der  Epiphysenlinie  kann  ich  —  wenigstens  auf 
Grund  der  bisherigen  Erfahrungen  —  nicht  zugeben,  dass  die 
Röntgen-Photographie  eine  sichere  Unterscheidung  zwischen  beiden 
Affectionen  erbracht  hat,  rauss  vielmehr  für  die  Fälle,  in  denen 
ein  anatomischer  Nachweis  nicht  vorliegt,  die  Möglichkeit,  dass  es 
sich  in  den  als  Ooxa  vara  gedeuteten  Fällen  —  rein  anatomisch 
gedacht  —  auch  um  Epiphyseolyse  gehandelt  haben  kann,  offen 
halten. 

Schwieriger  ist  die  zweite  der  von  mir  aufgestellten  Fragen 
zu  beantworten;  auch  dürfte  es  mir  nicht  zustehen,  sie  definitiv 
zu  entscheiden.  Indessen  gebe  ich  Folgendes  zur  Erwägung.  Es 
ist  für  mich  zweifellos,  dass  eine  grosso  Uebereinstimmung  zwisc^hen 
meinen  Präparaten  und  einigen  der  von  Kocher  in  seinen  ver- 
schiedenen Arbeiten  über  Coxa  vara  gebrachten  Abbildungen  be- 
steht,   obwohl    diese  Aehnlichkeit    auf   den    ersten    Blick    deshalb 


828  Dr.  Sprengel, 

nicht  ohne  Weiteres  erhellen  mag,  weil  die  Koch  er 'sehen  Präpa- 
rate durch  Resection  unterhalb  des  grossen  Trochanters  gewonnen 
wurden,  während  in  meinen  Fällen  die  Resection  im  Schenkelhals 
erfolgte.  Für  mich  steht  aber,  wie  gesagt,  die  Aehnlichkeit  zwi- 
schen meinen  Fällen  und  dem  von  Kocher  in  seiner  ersten  Publi- 
cation  über  Coxa  vara  abgebildeten  Präparate  (D.  Z.  f.  Chir.,  38, 
S.  536,  Fig.  5  u.  6),  ganz  besonders  aber  mit  der  schematischen 
Figur  in  seiner  dritten,  denselben  Gegenstand  betreffenden  Publi- 
cation  (D.  Z.  f.  Ch.,  42,  S.  510)  unumstösslich  fest.  Kocher 
hat  nun  bekanntlich  schon  in  seiner  ersten  Arbeit  hervorgehoben, 
dass  er  „als  Sitz  der  Verbiegung  die  zwischen  Hals  und  Kopf  ver- 
laufende Epiphysenlinie  und  nicht  eine  entfernt  von  dieser  Linie 
befindliche  Stelle  zwischen  Hals  und  Schaft"  betrachtet  (I.  c, 
S.  545).  In  seiner  zweiten  Arbeit  (1.  c,  S.  422)  sagt  er:  „Wäh- 
rend sowohl  bei  Müller  als  bei  Hofmeister  die  Abknickung  und 
Verkleinerung  des  Winkels  zwischen  Hals  und  Schaft  mehrfach 
betont  ist,  haben  wir  ausdrücklich  hervorgehoben,  dass  es  der 
Kopf,  d.  h.  die  eigentliche  Epiphyse  im  engeren  Sinne  ist,  welche 
gegen  den  Schenkelhals  verschoben  und  gedreht  ist:  abwärts,  rück- 
wärts und,  hinten  abwärts."  In  seiner  dritten  Arbeit  endlich  (D. 
Z.  f.  Gh.,  Bd.  42,  S.  509)  hebt  er  den  Unterschied  zwischen 
seinen  und  den  Anschauungen  von  Müller-Hofmeister  durch 
folgenden  Satz  hervor:  „Wir  müssen  uns  nämlich  je  mehr  und 
mehr  überzeugen,  dass  die  echten  typischen  Fälle  von  Coxa  vara 
dann  entstehen,  wenn  die  mechanischen  Momente  (Ueberbelastung) 
bei  Nachgiebigkeit  speciell  in  der  Epiphysenlinie  die  Hauptrolle 
spielen,  während  die  abweichenden  Formen,  namentlich  die  als 
geringster  Grad  der  Coxa  vara  aufgefasste  Gruppe  I  von  Hof- 
meister, unsere  Coxa  adducta,  dann  zu  Stande  kommen,  wenn 
intensivere,  ausgedehntere  oder  anders  localisirte  Störungen  in  der 
Resistenz  des  oberen  Feraurcndes  bestehen." 

Der  springende  Punkt  in  diesen  Sätzen  ist  der  Hinweis  auf 
die  Epiphysenlinie  als  Sitz  der  Entstehung  der  Coxa  vara  (im 
Koch  er 'sehen  Sinne).  Auch  in  meinen  Fällen  war  die  Epiphysen- 
linie Sit/  der  Erkrankung,  auch  bei  ihnen  handelt  es  sich  um  eine 
Verschiebung  im  Sinne  der  Adduction  und  Auswärtsrotation,  nur 
dass  nicht  das  mechanische  Moment  der  Ueberbelastung,  sondern 
das  des  Trauma    das  ursächliche  war.     Es    wäre    deshalb    meines 


Ueber  die  tnuimatische  Lösuni^  der  Kopteplphyse  des  Femur  etc.      820 

Erachtens  nicht  widersinnig,  auf  Grund  unserer  Fälle  von  einer 
traumatischen  Coxa  vara  zu  sprechen;  denn  nach  meiner  Vor- 
stellung kann  unter  Umständen  ein  einzelnes  Trauma  dieselbe  Wir- 
kung ausüben,  wie  sie  vom  Gesichtspunkt  der  Belastungsdeformi- 
tät durch  die  Belastung,  d.  h.  durch  eine  Reihe  sich  wiederholen- 
der Traumen  erfolgt.  Auch  würden  für  eine  solche  Benennung  die 
Analoga  nicht  fehlen.  Will  man  trotzdem  den  von  mir  hiermit 
vorgeschlagenen  Namen  der  Coxa  vara  traumatica  nicht  ohne 
Weiteres  acceptiren,  so  wird  man  doch,  wie  ich  hoffe,  folgende 
Schlussfolgerungen  zugeben : 
Wenn  feststeht,  dass 

1.  das  durch  Anamnese  und  klinische  Untersuchung  lixirte 
Bild  meiner  Fälle  von  dem  typischen  Bild  der  Coxa  vara  nicht 
zu  unterscheiden  war, 

2.  die  von  mir  abgebildeten  Präparate  einerseits  den  von 
Hofmeister  beschriebenen  Röntgenaufnahmen  ausserordentlich 
ähnlich,  andererseits  den  von  Kocher  als  Typen  der  Coxa  vara 
(in  dem  speciell  Koch  er 'sehen  Sinne)  gegebenen  Abbildungen 
mindestens  sehr  nahe  standen, 

3.  es  sich  in  meinen  Fällen  um  echte  (traumatische)  Lösung 
und  nachträgliche  deforme  Wicderverw'achsung  in  der  Kopfepiphysc 
des  Femur  handelt, 

so  darf  man  behaupten: 

1.  die  Lehre  Koch  er 's,  dass  das  Bild  der  echten  statischen 
Coxa  vara  durch  Verbiegung  in  der  Region  der  Kopfepiphysc  zu 
Stande  kommt,  erhält  durch  meine  Fälle  eine  weitere  Stütze. 

2.  das  Bild  der  echten  Coxa  vara  (im  Kocher'schen  Sinne) 
kann  nicht  blos  durch  Verbiegung  im  Bereich  der  Epiphysenlinic, 
sondern  auch  durch  echte  Epiphysenlösung  und  nachfolgende 
Wiederverwachsung  in  deformer  Stellung  zu  Stande  kommen. 

3.  es  ist  wahrscheinlich,  dass  zwischen  der  traumatischen 
vollkommenen  Epiphyseolyse  und  der  durch  Trauma  bedingten 
Verschiebung  des  Schenkelkopfes  eine  Reihe  von  Uebergangsstufen 
vorkommen.  Je  unvollkommener  die  Epiphyseolyse  ist,  um  so 
mehr  wird  sie  sich  klinisch  und  anatomisch  dem  Bild  der  stati- 
scHen  Coxa  vara  (im  Kocher'schen  Sinne)  nähern. 

Die  oft  erörterte  und  auch  in  unseren  Fällen  naheliegende 
Vermuthung,  dass  ein  relativ  geringfügiges  Trauma  einen  erkrankten 

Arcliiv  nir  klio.  Chirurgie.    57.  Bd.    Heft  4.  5^ 


830  Dr.  Sprengel, 


g 


Knochen  betroffen  und  dadurch  an  demselben  die  Epiphysenlösun 
herbeigeführt  habe,  hat  in  der  genauen  mikroskopischen  Unter- 
suchung keine  Bestätigung  gefunden.  Weder  deutliche  Spuren  von 
Rachitis,  noch  Veränderungen  im  Sinne  der  v.  Recklinghausen- 
sehen  juvenilen  Osteoraalacie  Hessen  sich  nachweisen.  Die  in  bei- 
den Fällen  längere  Zeit  vor  dem  Trauma  beobachteten  Schmerzen 
an  dem  später  betroffenen  Gelenk  können  demnach  in  keiner  be- 
stimmten Richtung  gedeutet  werden.  Bis  auf  Weiteres  müssen 
wir  uns  mit  der  Annahme  begnügen,  dass  die  £piphysenlinie  bis 
an  das  Ende  des  Knochenwachsthums  eine  Region  geringeren 
Widerstandes  bildet,  die  eventuell  auch  schon  einem  geringen  oder 
in  besonders  günstiger  Richtung  auftreffenden  Trauma  nachgeben 
kann.  Vielleicht  wird  gerade  das  Ende  der  Wachsthumsperiode 
als  relativ  günstig  für  das  Zustandekommen  der  statischen  oder 
traumatischen  Coxa  vara  zu  betrachten  sein,  weil  dem  noch  nicht 
völlig  ausgebildeten  Skelett  nach  Form  und  Dauer  ungewöhnliche 
Belastungen  oder  aber  durch  die  Wucht  des  Körpergewichts  ver- 
stärkte Traumen  zugemuthet  werden. 

Die  eben  gemachten  Bemerkungen  haben,  obwohl  sie  sich  auf 
die  Pathologie  der  Coxa  vara  beziehen,  doch  auch  für  die  Dia- 
gnostik praktische  Bedeutung  und  leiten  zu  der  Beantwortung  der 
dritten  von  mir  aufgeworfenen  Frage  nach  der  diagnostischen  Ver- 
wcrthung  unserer  Fälle  über. 

Meines  Erachtens  lehren  oder  bestätigen  sie  in  erster  Linie, 
dass  die  traumatische  Lösung  der  Kopfepiphyse  des  Femur  doch 
wohl  nicht  ganz  so  selten  ist,  wie  man  noch  bis  vor  Kurzem  an- 
nahm. In  der  oft  citirten  Zusammenstellung  von  Bruns  (üeber 
traumatische  Epiphysentrennung,  v.  Langen beck's  Arch.,  Bd.  27, 
S.  240,  und  Lehre  von  den  Knochenbrüchen,  Deutsche  Chirurgie, 
S.  117)  aus  dem  Jahre  1886  konnte  unter  einer  Gesammtmasse  von 
81  Epiphysenabsprengungen  nur  ein  von  Bousseau  beschriebener 
Fall  aufgeführt  werden,  der  bei  einem  15  jährigen  Knaben  durch 
üeberfahren  zu  Stande  kam.  Neuerdings  stellte  Tubby  (Annais 
of  Surgery,  März  1894,  ref.  Centralbl.  f.  Ohir.,  1894,  S.  556)  im 
Ganzen  14  Fälle  aus  der  Literatur  zusammen;  er  betrachtet  aber 
selbst  nur  9  Fälle  als  zweifellos  und  von  diesen  9  Fällen  ist  wie- 
derum nur  ein  einziger  durch  die  Autopsie  sichergestellt.  In  die- 
sem einzigen  Fall  findet  man  aber  bei  genauerer  Betrachtung  den 


üeber  die  traumatische  Lösung  der  Kopfepipliyso  lies  Femur  etc.      831 

alten  Bekannten  aus  der  Bruns'schen  Monographie  wieder.  Bis 
dahin  hatten  also  die  Lehrbücher  Recht,  wenn  sie  die  fragliche 
Verletzung  als  Rarität  ziemlich  nebensächlich  behandelten. 

König  sagt  in  seinem  Lehrbuch,  VI.  Auflage,  1894,  bei  Be- 
sprechung der  Schenkelhals  bräche:  „Ja,  man  hat  sogar  eine  Anzahl 
von  Fällen  berichtet  (Hamilton,  Hutchinson),  welche  als 
Lösung  der  Schenkelepiphyse  aufgefasst  wurden,  freilich  ohne  bis 
jetzt  einen  anatomischen  Nachweis  dafür  erbringen  zu  können,  da 
sie  sämmtlich  rasch  und  gut  heilten." 

Hoffa  (Lehrbuch  der  Fracturen  und  Luxationen,  Würzburg, 
1896)  giebt  das  von  mir  erwähnte  Referat  über  die  Tubby'sche 
Arbeit  wieder;  eigene  Beobachtungen  standen  ihm  anscheinend 
nicht  zur  Verfügung.  Helferich  (Atlas  und  Grundriss  der  trau- 
matischen Fracturen  und  Luxationen,  München  1897)  nennt  die 
traumatische  Epiphysentrennung  am  oberen  Femurendc  „eine  ganz 
ausserordentlich  seltene  Verletzung".  Er  betont,  dass  „hier  der 
grösste  Unterschied  zwischen  Femur  und  Huraerus  besteht;  denn 
am  oberen  Humerusende  sind  Epiphysentrennungen  relativ  häufig". 
In  manchen  anderen  Lehrbüchern  werden  die  traumatischen  Epi- 
physentrennungen am  oberen  Femurende  überhaupt  nicht  erwähnt. 

In  neuester  Zeit  hat  zunächst  Royal  Whitman  die  Schenkel- 
halsfracturen  des  jugendlichen  Alters  zum  Gegenstand  eines  spe- 
ciellen  Studiums  gemacht.  In  seiner  oben  citirten  Arbeit,  die  ich 
sowohl  bei  Kocher  (Beitr.  zur  Kenntniss  einiger  praktisch  wichti- 
gen Fracturformen)  als  bei  Oharpentier  (1.  c.)  erwähnt  finde,  hat 
er  sämmtliche  von  ihm  beobachtete,  zum  Theil  schon  früher  ver- 
öffentlichte Fälle  von  Schenkelhals  Verletzungen  des  jugendlichen 
Alters  zusammengestellt.  Es  sind  im  Ganzen  10  Beobachtungen, 
welche  Kinder  im  Alter  von  2Y2  bis  zu  8  Jahren  betreffen. 
R.  Whitman  vertritt  die  Anschauung,  dass  es  sich  in  seinen 
Fällen  ausnahmslos  um  Brüche  des  Schenkelhalses  —  also  nicht 
um  traumatische  Lösung  der  Kopfepiphyse  —  gehandelt  hat. 
Allerdings  sollen  sich  diese  Brüche  dadurch  von  den  Altcrsfrac- 
turen  unterscheiden,  dass  sie  keine  vollkommene  Continuitätstrcn- 
nungen,  sondern  Einknickungen  oder  blosse  Biegungen  darstellen, 
„^reen  stick  fractures",  wie  W.,  oder  „fraclures  en  bois  vort",  wie 
Charpentier  (1.  c.)  sie  nennt.  Einen  anatomischen  Beweis  für 
die  Richtigkeit  seiner  Anndune  kann  R.  W.  nicht  beibringen,  denn 

55  ♦ 


832  Dr.  Sprengel, 

in  keinem  seiner  Fälle  war  eine  anatomische  Untersuchung  bei 
Gelegenheit  der  Operation  oder  Autopsie  möglich;  die  Röntgen- 
Aulnahmen  wurden  nur  in  2  der  Fälle  ausgeführt.  Ich  habe  mich 
schon  oben  über  den  relativ  geringen  Werth  der  Röntgen-Photo- 
graphie  für  die  Entscheidung  der  hier  in  Betracht  kommenden 
difficilen  anatomischen  Unterscheidungen  geäussert;  wenn  vollends 
die  Aufnahmen  erst  4  Jahre  resp.  13  Monate  nach  erlittenem  Un- 
fall erfolgen,  wie  das  bei  den  Fällen  von  R.  W.  geschah,  so  kön- 
nen sie  meines  Bracht ens,  zumal  die  Kinder  zur  Zeit  des  Unfalls 
erst  2Y2  ^"d  3V2  Jäli^  S'lt  gewesen  sein  sollen,  also  einen  noch 
sehr  kurzen  Schenkelhals  hatten,  keinerlei  Bedeutung  beanspruchen. 
Von  den  Gründen,  welche  R.  W.  für  die  Diagnose  Schenkelhals- 
bruch und  gegen  die  Epiphysenlösung  vorbringt,  ist  der  eine  be- 
achtenswerth.  R.  W.  betont,  dass  er  in  seinen  Fällen  meist  nur 
eine  sehr  geringe  Functionsstörung  bei  relativ  starker  Verschiebung 
des  Trochanters  nach  oben  *  beobachtet  habe.  Das  sei  mit  der  An- 
nahme einer  Epiphysenlösung  nicht  wohl  verträglich,  weil  eine 
solche,  da  sie  intraarticulär  gelegen  sei,  nothwendig  eine  erhebliche 
Functionsstörung  hervorrufen  müsse.  Ich  lege  selbst  bei  meinen 
Fällen  auf  diese  Functionsstörung,  wie  ich  gleich  noch  erörtern 
werde,  diagnostisches  Gewicht,  möchte  aber  bezweifeln,  ob  dies 
Symptom  bei  Kindern  denselben  Werth  beanspruchen  kann,  wie 
in  einem  späteren  Alter,  zumal  wenn  dieselben,  wie  es  bei  R.  \V. 
der  Fall  war,  fast  ausnahmslos  nicht  frisch,  sondern  erst  zu  einer 
Zeit  in  Behandlung  kamen,  wo  sich  die  Störungen  am  Gelenk 
schon  einigermaassen  ausgeglichen  haben  konnten. 

Noch  weniger  beweisend  ist  die  zweite  Behauptung  R.  W.'s. 
Er  sagt,  die  meisten  Epiphysenlösungen  kämen  durch  Hebelwir- 
kung, welche  mittels  der  Gelenkbänder  auf  die  Epiphyse  ausgeübt 
wird,  zu  Stande.  Da  nun  die  Hebelkraft  an  der  Kopfepiphyse 
des  Femur  als  an  dem  besonders  geschützten  Knochentheil  einen 
sehr  ungünstigen  Angriffspunkt  finde,  so  sei  a  priori  ein  Bruch  am 
Schenkelhals  viel  eher  zu  erwarten,  als  eine  Epiphysenlösung. 
Thatsächlich  seien  auch  die  meisten  beobachteten  Epiphysenlösun- 
gen durch  extreme  Gewalten  zu  Stande  gekommen. 

Abgesehen  davon,  dass  ich  nicht  zugeben  kann,  dass  die 
Kopfepiphyse  des  Femur  sich  in  einer  anatomisch  ungünstigeren 
Situation  für  das  Eingreifen  einer  hebelartig  wirkenden  Gewalt  be- 


Ucber  die  traumatische  Lösung  der  Kopfepiphyse  des  Femur  etc.      833 

findet,  als  andere  Epiphysen  des  Körpers,  kann  ich  einfach  auf 
meine  Fälle  hinweisen,  bei  denen  die  anatomisch  nachgewiesenen 
Epiphysenlösungen  unter  Einwirkung  eines  geradezu  erstaunlich 
geringen  Traumas  erfolgten.  Der  einzige,  von  R.  W.  und  auch 
von  mir  (S.  830)  citirte  Fall  von  Bousseau  ist  nicht  beweisend, 
da  bei  ihm  die  Epiphysenlösung  lediglich  Theilerscheinung  mehr- 
facher, sehr  complicirter  ßeckenverletzungen  war.  Selbstverständ- 
lich können  Epiphysenlösungen  auch  bei  schweren  Gewalteinwir- 
kungen vorkommen  —  die  von  Kocher  angeführten  und  anato- 
misch untersuchten  Fälle  beweisen  das  zur  Genüge  — ;  dass  aber 
ceteris  paribus  der  Schenkelhals  jugendlicher  Individuen  leichter  in 
der  Epiphysenlinie  nachgeben  wird,  als  an  einer  anderen  Stelle, 
ist  ein  Axiom,  das  durch  R.  W.'s  Deductionen  in  keiner  Weise 
erschüttert  wird.  Höchstens  könnte  man  sagen,  dass  die  Kranken 
R.  W.'s  für  eine  Epiphysenlösung  zu  jung  waren,  und  diesen  Um- 
stand für  die  Annahme  einer  „Fracture  en  bois  vert"  ver- 
werthen.  Denn  es  ist  auffallend  und  auch  von  T  u  b  b  y  (1.  c.) 
hervorgehoben  worden,  dass  die  Kranken  mit  Epiphysenlösung  ge- 
wöhnlich am  Ende  der  Wachsthumsperiode  sich  befanden,  wo  der 
Pemurkopf  nicht  mehr  im  Wesentlichen  aus  Knorpel  besteht,  son- 
dern nahezu  verknöchert  und  deshalb  unfähig  ist,  wie  Tubby 
sagt,  „of  accomodating  itself  to  sudden  shocks". 

Indessen  will  ich  mich  hier  nicht  in  anatomische  Streitfragen 
verlieren,  die  meines  Erachtens  in  manchen  Fällen  nicht  einmal 
durch  den  blossen  Anblick  des  resecirten  Knochenstüeks,  sondern 
sicher  und  überzeugend  nur  dadurch  entschieden  werden  können, 
dass  man  frontale  Sägeschnitte  anlegt  und  diese  nach  dem  oben 
erwähnten  Verfahren  mit  Hülfe  der  Röntgen-Strahlen  photographirt. 
Was  ich  an  dieser  Stelle  hervorheben  möchte,  ist  der  Satz:  Neuere 
Untersuchungen  haben  gelehrt,  dass  die  traumatischen 
Continuitätstrennungen  im  Schenkelhals  auch  bei  jugend- 
lichen Individuen  keineswegs  so  selten  sind,  wie  man 
bisher  annahm,  und  dass  unter  ihnen  die  Lösungen  der 
Kopfepiphyse  wahrscheinlich  eine  ziemlich  wichtige 
Rolle  spielen.  Es  ist  wohl  kein  Zufall,  dass  unter  den  23 
FäUen  —  9  Fälle  Tubby,  10  Fälle  Royal  Whitman,  2  Fälle 
Kocher,  2  Fälle  Sprengel  —  von  Continuitätstrennungen  im 
Schenkelhals    jugendlicher  Individuen,    welche  sich  in  der  neueren 


834  Dr.  Sprengel, 

Literatur  vor/oichiiet  finden,  sämmtlichc  5  Fälle,  welche  Gegen- 
stand genauer  anatomischer  Untersuchung  wurden,  Trennungen  in 
der  Kopfepipliyse  darstellten. 

Für  die  Diagnose  wird  man  aus  dieser  Thatsache  die  Regel 
entnehmen  dürfen,  dass  man  in  jedem,  ein  jugendliches  Individium 
betreffenden  Fall,  dessen  Anamnese  und  objective  Symptome  die 
Annahme  einer  Continuitätstrennung  im  Schenkelhals  nahe  legen, 
in  erster  Linie  mit  der  Möglichkeit  einer  Trennung  in  der  Kopf- 
epiphyse  rechnen  muss. 

Die  eben  erwähnte  Thatsache  hat  aber  auch  für  die  Unter- 
scheidung der  traumatischen  Trennung  der  Kopfepiphyse  von  der 
Coxa  vara  eine  augenscheinliche  Bedeutung.  Man  wird  unter  Be- 
rücksichtigung derselben  bei  der  Diagnose  der  Coxa  vara  einem 
vorangegangenen  Trauma,  auch  wenn  es  anscheinend  nur  gering 
ist,  eine  wesentlich  grössere  Bedeutung  beilegen  müssen,  als  es 
bisher  üblich  war,  ja,  man  wird  in  der  Anamnese  geradezu  nach 
einem  solchen  forschen  müssen.  Ich  glaube  nicht  zu  viel  zu  sagen, 
wenn  ich  behaupte,  dass,  unter  diesem  Gesichtspunkt  betrachtet, 
manche  der  in  neuerer  Zeit  unter  der  Diagnose  Coxa  vara  ver- 
öffentlichten Fälle  eine  andere  Auffassung  zulassen  möchten.  So 
bin  ich,  um  nur  Einiges  zu  erwähnen,  nicht  in  Uebereinstimmung 
mit  Borchard,  wenn  er  in  seiner  Arbeit  „Zur  Symptomatologie 
und  Therapie  der  Coxa  vara"  (Centr.  f.  Chir.  1897.  p.  689.)  den 
von  ihm  beschriebenen  interessanten  Fall  als  Belastungsdeformität 
auffasst  und  das  zweifellose,  wenn  auch  vielleicht  nicht  sehr  heftige 
Trauma  nur  nebensächlich  in  Betracht  zieht,  jedenfalls  nicht  für 
die  Aetiologie  des  Leidens  verantwortlich  macht.  Borchard 
fasst  das  Trauma  nur  als  Ursache  der  Verschlimmerung  einer 
schon  bestehenden  Coxa  vara  auf  und  erinnert  zur  Stütze  seiner 
Annahme  an  die  plötzlichen  Beschwerden,  die  ein  „schon  länger 
symptomlos  bestehender  pes  planus"  nach  einem  Trauma  verursacht 
Vom  Standpunkt  der  Belastungsdcformität  gewiss  eine  berechtigte 
Analogie.  Aber  sollte  es  nicht  ebenso  berechtigt  sein,  dem  Trauma 
in  der  Aetiologie  des  ganzen  Falles  eine  wichtige,  resp.  die  ein- 
zige Rolle  zuzuweisen?  Ein  Vergleich  des  Falles  mit  den  unserigen 
ergiebt  nach  Anamnese  und  Untersuchungsbefund  eine  so  auffallende 
Uebereinstimmung,  dass  ich  keinen  Grund  sehe,  ihn  anders  zu  be- 
urlhoilen    als    jene.  -      Auch    der    von    L<uisser    (Münchn     med. 


Ueber  die  traumatische  Losung  der  Kopfepipliyse  des  Femuv  otc.     835 

Wochenschrift  1895.  No.  30.)  als  Coxa  vara  beschriebene  Fall 
lässt  zwanglos  die  Auffassung  einer  traumatischen  Epiphysentrennung 
zu;  die  Diagnose  „Infraktion  des  Schenkelhalses"  war  auch  that- 
sächlich  anfangs  gestellt  worden.  Ich  sehe,  wenigstens  aus  dera 
Referat,  keinen  Grund,  warum  diese  Diagnose  späterhin  eine  Ab- 
änderung erfuhr.  Endlich  dürften  auch  manche  der  von  Hof- 
meister in  seiner  Tabelle  angeführten  Fälle  —  zum  Mindesten 
in  dieser  summarischen  Form  —  nicht  über  allem  Zweifel  stehen. 
In  zweiter  Linie  möchte  ich  die  in  meinen  Fällen  beobachtete 
Fuüctionsstörung  für  die  Differentialdiagnose  auf  traumatische 
Ti-ennung  der  Kopfepiphyse  resp.  Verbiegung  in  der  Epiphysenlinie 
in  Betracht  gezogen  wissen.  Wenn  man  sich  (der  Kocher'schen 
Auffassung  folgend)  die  beiden  Formen  der  Schenkelhalsverbiegung 
vergegenwärtigt,  welche  den  Gegenstand  der  neuesten  Untersuchungen 
gebildet  haben,  so  begreift  man,  dass  die  Störung  für  das  Hüft- 
gelenk um  so  grösser  sein  wird,  je  mehr  die  Verbiegung  des 
Schenkelhalses  medialwärts  liegt.  Die  Verkürzung  der  unteren 
Fläche  des  S(*.henkelhalses  (durch  den  etwas  überstehenden  Kopf), 
das  Vorstehen  einer  starken  Convexität  der  oberen  Fläche  (cf.  auch 
unsere  Bilder)  müssen  unter  Umständen  schon  durch  Anstossen  an 
den  Pfannenrand  ein  directes  mechanisches  Hinderniss  abgeben. 
Kommt  dazu,  was  Kocher  für  die  Fälle  von  Coxa  vara  als  ty- 
pisch betrachtet,  und  was  auch  für  unsere  Fälle  zutraf,  dass  der 
Schenkelkopf  nicht  blos  nach  unten,  sondern  auch  nach  hinten 
gewendet  ist,  so  müssen  weitere  schwer  wiegende  Bewegungs- 
hemmnisse entstehen,  und  zwar  müssen  diese  Hemmnisse,  worauf 
ich  Gewicht  legen  möchte,  schon  bei  relativ  geringfügigen  Form- 
veränderungen eintreten.  Handelt  es  sich  dagegen  um  eine  Ver- 
biegung des  gesammten  Schenkelhalses,  so  wird  das  Moment  der 
unmittelbaren  mechanischen  Bewegungshemmung  zurücktreten  oder 
wenigstens  zurücktreten  können.  —  Natürlich  werden  diese  functio- 
nellen  Störungen  um  so  ausgeprägter  sein,  je  schneller  sich  das 
Leiden  entwickelt,  am  ausgeprägtesten,  wenn  es  —  wie  ich  es 
für  manche  Fälle  von  Coxa  vara  supponire  —  traumatisch  entsteht. 
Ceteris  paribus  wird  man  also  bei  sehr  ausgesprochener  Functions- 
störung  an  eine  Verbiegung  in  unmittelbarer  Nähe  des  Gelenks,  —  d.h. 
an  Verbiegung  (Kocher)  oder  Lösung  (Sprengel)  in  der  Knorpel- 
fuge — ,  bei  relativ  geringfügiger  Fuüctionsstörung  an  die  Coxa  vara  im 


836  Dr.  Sprengel, 

Sinne  von  Miiller-IIofmeister  denken  müssen.  Dass  für  die 
Entstehung  der  ei'wähnten  functionellen  Störungen  nicht  blos  das 
mechanische  Moment  der  Knochen verbiegung  resp.  Verschiebung, 
sondern  auch  Veränderungen  der  Synovialis,  die  in  unseren  Fällen 
als  starke,  wulstige  Auflockerungen  erschienen,  von  Bedeutung 
sind,  geht  aus  der  Beschreibung  unserer  Präparate  ohne  Weiteres 
hervor. 

Der  Vollständigkeit  wegen  mag  noch  betont  werden,  dass  in 
unseren  Fällen  die  Erkrankung  einseitig  war,  dass  rachitische  Symp- 
tome fehlten,  und  dass  die  Kranken  dem  Ende  der  Wachsthums- 
periode  nahestanden.  Man  sollte  in  jedem  einschlägigen  Fall  aucli 
diese  Momente  bei  der,Diflferentialdiagnose  zwischen  traumatischer 
Epiphysenlösung  und  Coxa  vara  in  Betracht  ziehen;  auch  unter 
voller  Berücksichtigung  derselben  wird  sie  noch  schwierig  ge- 
nug sein. 

Ich  möchte  meine  Arbeit  nicht  schliessen,  ohne  zu  der  Frage 
der  Therapie  Stellung  genommen  zu  haben,  zumal  dieselbe  auch 
bezüglich  der  Coxa  vara  keineswegs  als  abgeschlossen  gelten 
kann.  Zunächst  ist  zu  betonen,  dass  die  Entscheidung,  ob  bei 
der  Coxa  vara  (und  verwandten  Affectionen)  konservativ  behandelt 
oder  operirt  werden  soll,  nicht  principiell,  sondern  von  Fall 
zu  Fall  getroiTen  werden  muss.  Sicher  wird  man,  schon  weil 
es  sich  nicht  um  gleichgültige  Eingriffe  handelt,  bestrebt  sein, 
zunächst  auf  nicht  operativem  Wege  so  viel  zu  erreichen,  wie  irgend 
möglich  ist.  Sind  die  Aussichten  auf  Besserung  aber  abgeschlossen, 
oder  ist  die  bestehende  Deformität  und  die  sie  begleitende  Functions- 
Störung  von  vorn  herein  so  gross,  dass  die  Herstellung  erträglicher 
Verhältnisse  nicht  erwartet  werden  darf,  so  ist  der  Versuch,  auf 
operativem  Wege  zu  diesem  Ziel  zu  gelangen,  durchaus  berechtigt. 
Dieser  Weg  ist  denn  auch  von  verscliiedenen  Autoren  empfohlen 
und  beschritten  worden.  Die  drei  konkurrirenden  Methoden,  die 
Osteotomie  unter  dem  grossen  Trochanter  (Hofmeister),  die 
lineare  oder  Keil -Osteotomie  im  Schenkelhals,  (Büdinger  und 
Kraske)  und  die  Resection  (meist  unterhalb  des  Trochanters  aus- 
geführt) haben  auf  dem  Chirurgencongress  von  1897  (Verhand- 
lungen u.  s.  w.  p.  56  ff.)  eine  eingehende  kritische  Besprechung 
durch  Hofmeister  und  Nasse  erfahren.  Man  wird  aus  derselben 
vor  Allem  beherzigen  müssen,  dass  die  Osteotomia  subtrochanterica 


Ueber  die  Iraumatischc  Lösung  der  Kopfepipliyse  dos  Femur  etc.      837 

bisher  wenig  Anklang  gefunden  hat,  und  dass  die  theoretisch  am 
besten  begründete  Operation,  nämlich  die  Osteotomie  im  Schenkel- 
hals,' weil  sie  jedenfalls  nicht  in  allen  Fällen,  wahrscheinlich  nur  aus- 
nahmsweise ohne  Eröffnung  des  Gelenks  ausgeführt  werden  kann, 
als  gefährliche  Operation  angesehen  werden  muss.  Ein  Patient 
ist  gestorben,  ein  zweiter  schwebte  zur  Zeit  der  Besprechung  in 
dringender  Lebensgefahr.  Man  wird  daher  zur  Osteotomie  im 
Schenkelhals,  so  rationell  sie  zweifellos  ist,  doch  nur  in  besonders 
günstigen,  d.  h.  in  denjenigen  Fällen  sich  entschliessen  dürfen,  bei 
denen  der  Schenkelhals  sich  verlängert  findet.  Nach  meinem  Da- 
fürhalten wird  das  eher  bei  der  Coxa  adducta  (Müller-Hofmeister) 
als  bei  der  Coxa  vara  (Kocher)  zu  erwarten  sein,  weil  bei  ersterer 
die  Form  des  ganzen  Schenkelhalses,  bei  letzterer  der  Schenkel- 
hals an  sich  normal  und  nur  das  Verhällniss  von  Schenkelkopf 
zu  Schenkelhals  verändert  ist. 

Leider  ist  es  aber  mit  den  uns  bis  jetzt  zu  Gebote  stehenden 
Hülfsmitteln  schwerlich  möglich,  durch  äussere  Untersuchung  die 
Form  der  Schenkelhalsverbiegung  so  genau  festzustellen,  um  danach 
eine  bestimmte  Entscheidung  zu  treffen,  wenn  auch  die  Röntgen- 
photographie  wohl  einen  gewissen  Anhalt  a  priori  geben  mag. 
Erst  die  übersichtliche  Freilegung  des  Schenkelhalses  kann  unser 
Handeln  definitiv  entscheiden. 

Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  glaube  ich  ein  Operationsver- 
fahren empfehlen  zu  dürfen,  das  ich  in  der  Festschrift  zur  69.  Ver- 
sammlung deutscher  Naturforscher  und  Aerzte,  ßraunschweig  1897, 
Harald  Bruhn,  veröffentlicht  habe,  (Sprengel:  „Zur  operativen 
Nachbehandlnng  alter  Hüftresektionen")  und  das  ursprünglich  dazu 
bestimmt  war,  bei  alter  fistulöser  Uüftgelenkseiterung  eine  möglichst 
übersiclitliche  Freilegung  des  gesammten  Hüftgelenks  und  der  an- 
grenzenden Partieen  des  Beckens  zu  erzielen.  Die  dort  beschriebene 
und  ausführlich  motivirte  Schnittführung  hat  nicht  nur  in  den  ge- 
nannten chronischen  und  völlig  desolaten  Fällen  Ausheilungen  er- 
geben, wie  sie  nach  anderen  Methoden  völlig  unerreichbar  schienen, 
sondern  hat  sich  mir  auch  bei  acuten  Eiterungen  unter  der  Glutaeal- 
musculatnr,  bei  Nekrotomieen  am  Becken  und  endlich  auch  in  den 
beiden  Fällen,  welche  dieser  Arbeit  zu  Grunde  liegen,  auf  das 
Beste  bewährt. 

Der  Schnitt    (cf.  Fig.  5  im  Text)    verläuft    zunäclist    entlang 


838 


Dr.  Sprensei, 


dem  liintcrcn  Hand  des  Tensor  fasciae,  üwischtn  ihm  und  Gliitacus 
medius,  entspricht  ilso  m^ovscit  dir  Upeiation,  wie  sie  Lorenz 
für  die  blutige  Reposition  dci  kon(,enitalen  Hüfthixation  und  Kraske 
für  die  Osteotomie  im  Schenkelhals  angegeben  hat;  dann  aber 
biegt  er  winkelig  ab  (cf  tig  6  im  le'^l)  und  folgt  dem  äusseren 
Rande  der  Cnsta  liei  bis  m  die  Gegend  der  Spina  posterior 
superior.  Führt  man  den  Schnitt,  ■ioweit  er  am  Beckenrand  ver- 
läuft, gleich  bis  auf  den  Knochen,  t>o  gilingt  es  jetzt  leicht  und 
ohne  jede  Blutung,    den  dunh  den  fachnitt  umschriebenen  grossen 


Haut-Muskel-Periostlappen  naih  unten  und  hinten  umzuklappen 
und  damit  äussere  Beckenfläche  und  Hiiftgelenksgegend  in  geradezu 
beliebiger  Ausdehnung  dem  freiesten  Einblick  zugänglich  zu  machen. 
Nach  vollendeter  Knochenoperation  pflege  ich  einen  grösseren  oder 
geringeren  l'heil  der  grossen  Wunde  —  je  nach  Lage  des  Falles 
—  durch  versenkte  und  oberflächliche  Nähte  zu  schlies&en  und 
nur  vorn  so  viel  offen  zu  la.ssen,  um  einen  Tampon  an  den  tief* 
stL'n  Thcil  der  Wunde  einzuführen. 


Ueber  die  tranmatische  Lösiinf?  der  Kopfepiphyse  des  Femur  etc.     839 

Es  liegt  auf  der  Hand  und  ist  durch  Operation  an  der  Leiche 
leicht  zu  erweisen,  dass  man  von  diesem  Schnitt  aus  die  Schenkel- 
halsgegend frei  übersielit,  und  man  wird  daher  auch  im  Fall  einer 
Coxa  vara  die  vorliegenden  Verhältnisse  auf  das  Sicherste  beur- 
theilen  und  bestimmen  können,  wie  man  weiter  verfahren  will. 
Die  Entscheidung  kann  nach  meiner  Meinung  nicht  schwer  fallen. 
Ist  der  Schenkelhals  verlängert,  also  hinlänglich  Platz  vorhanden 
so  ist  die  Osteotomie  als  nicht  oder  sehr  wenig  verstümmelnde 
Operation  indicirt;  bei  Verkürzung  des  Schenkelhalses  (Coxa  vara 
im  Sinne  Kocher's  oder  unserer  Coxa  vara  traumatica)  wird  die 
Resection  auszuführen  sein. 

Ich  habe  mich  in  meinen  Fällen  begnügt,  die  Resection  im 
Schenkelhals  vorzunehmen,  den  Trochanter  und  einen  Theil  des 
Schenkelhalses  also  zurückzulassen.  Nach  den  obigen  Auseinander- 
setzungen ist  das  ohne  Weiteres  verständlich;  der  Sitz  der  Er- 
krankung war  die  Gegend  der  Epiphysenlinie,  eine  Abtragung  un- 
mittelbar unterhalb  derselben  musste  also  ausreichen,  um  die 
Störung  zu  beseitigen.  Das  functionelle  Resultat  war,  wie  man 
aus  dem  Schlussbericht  meiner  Krankengeschichten  ersehen  mag, 
durchaus  befriedigend  und  verspricht  nach  dem  bisherigen  Erfolg 
noch  weitere  Besserung.  Kocher  hat  in  seinen  Fällen  die  Re- 
section unterhalb  des  grossen  Trochanters  vorgezogen.  Sie  mag 
in  den  Fällen  von  starker  Verbiegung  des  gesammten  Schenkel- 
halses ihre  Vorzüge  haben;  doch  würde  ich  auch  hier  einen  Ver- 
such mit  der  weniger  ausgiebigen  Resection  des  Kopfes  empfehlen. 
Ich  betrachte  es  als  einen  Vorzug  der  von  mir  empfohlenen  Schnitt- 
führung, dass  sie  den  Schenkelhals  in  voller  Ausdehnung  freilegt 
und  gewissermassen  dazu  auffordert,  an  dem  Sitz  der  Deformität 
selbst,  sei  es  die  Osteotomie,  sei  es  die  Resection,  vorzunehmen.  — 


840     Dr.  Sprengel,  Ueber  die  traumatische  Lösung  der  Kopfepiphyse  etc. 

Erklärung  der  Abbildungen  auf  Tafel  UI  und  lY. 

Tafel  111. 

Fig.  1.  Phoiogramra  von  Fall  I  (Br.)  von  vorn.    Dem  Resectionspräparat  ist 

der  Knochen  der  Leiche  eines  gleichaltrigen  Individuums  angefügt. 
Fig.  2.  Photogramm  von  Fall  I  (Br.)  von  hinten. 
Fig.  3.  Photogi'amm  desselben  Präparates,  durchsägt  und  aufgeklappt.    Aaf 

der  rechten  Hälfte  ist  ein  Stück  zur  Herstellung  des  Röntgenbildes 

ausgesägt. 
Fig.  4.  Röntgenbild  der  aus  dem  Resectionspräparat  ausgesägten  frontalen 

Scheibe. 
Fig.  5.  Zeichnung  nach  dem  Präparat.    Fall  L 
Fig.  6.  Zeichnung  nach  dem  Präparat.    Sägeschnitt.    Fall  L 

Tafel  IV. 
Fig.  1  -6.   Dieselben  Photogramme  und  Abbildungen  von  Fall  II  (v.  IL). 


LVI. 

Die  Achsendrehungen  des  Coecums/^ 

Von 

llr«  ¥oii  Zoeffe-Rlanteuirel 

in  Dorpat. 


Eine  Achsendrehuiig  des  Coccuras  kann  nur  zu  Stande 
kommen  bei  bestellendem  Mesenterium  commune  ileo-eocci.  Diese 
Hemmungsbildung  entsteht  dadurch,  dass  die  Vcrklebung  der  Megen- 
terialplatte  dieses  Darmabschnittes  mit  der  hinteren  Leibeswand 
ausbleibt.  Mir  scheint  diese  Missbildung  nicht  selten  zu  sein, 
da  Sowohl  von  Seiten  der  Anatomen  eine  Reihe  einschlägiger  Fälle 
beschrieben  werden  (Gruber,  Toldt),  als  auch  Leichtenstern  die 
Invaginatio  ileocoecalis,  bei  der  die  Valvula  Bauhini  an  der 
Spitze  des  Invaginatum  sich  befindet,  zu  den  häufigsten  zählt.  Es 
kann  nun  wohl  füglich  diese  Invagination  nicht  zu  Stande  kommen, 
wenn  nicht  ein  freies  Mesenterium  coeci  besteht.  Auf  meine  Ver- 
anlassung hat  Dreike  im  Moskauer  Findelhaus  Untersuchungen 
angestellt  und  sehr  häufig  ein  Mesenterium  commune  gefunden. 
Dagegen  habe  ich  in  der  Literatur  nicht  mehr  als  circa  20  Fälle 
von  Drehungen  dieses  beweglichen  Coecum  ausfindig  machen 
können.  Es  mag  sein,  dass  bisher  noch  zu  wenig  auf  die  Ana- 
tomie geachtet  wurde,  obgleich  Curschniann  schon  einmal  vor 
nicht  langer  Zeit  auf  diese  Dinge  aufmerksam  gemacht  hat, 
Leichtenstern  sie  erwähnt  und  Trewes  sie  beschreibt  und  4  Fälle 
anführt.     Den    bereits    bekannten    20  Phallen    kann    ich  4  weitere 


0  Abgekürzt  vorgetragen  am  3.  Sitzungstage  des  XXVII.  Congresses  der 
Deutschen  (lesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  15.  .Vpril  1898. 


: 


842  Dr.  von  Zoegc- Man  teuf  fei, 

hinzufügen,  die  ich  in  den  letzten  2  Jahren  zu  beobachten  Gelegen- 
heit hatte,  und  die  mir  über  den  Mechanismus  dieses  interessanten 
Volvulus  einen  genügenden  Aufschluss  zu  geben  scheinen,  um  die 
aus  diesen  Beobachtungen  gezogenen  Schlüsse  dieser  hochgeehrten 
Versammlung  vorlegen  zu  dürfen. 

Wir  können  2  Formen  von  Drehungen  des  Coecums  unter- 
scheiden: 

1.  Drehung  um  die  Darmachse, 

2.  Drehung  um  die  Mesenteiialachse. 

Die  Drehungen  um  die  Darmachse  führen  blos  zum  Ver- 
schluss der  Darmlichtung  ohne  die  Ernährung  des  ganzen  Darm- 
theils  vorab  zu  schädigen.  Sie  kommen  zu  Stande  an  der 
Stelle,  wo  das  freie  Colon  ins  fixirte  übergeht.  Der  völlig  freie 
Dünndarm  wird  dabei  nicht  geknickt  oder  gedreht.  Recidivirende 
derartige  Drehungen  können  zu  Narbenstenosen  an  der  Uebergangs- 
stelle  führen.  Die  Drehung  wird  naturgemäss  90^  meist  nicht 
viel  fiberschreiten,  kann  aber  auch  bis  180°  gehen,  wobei,  je  nach 
den  anatomischen  Verhältnissen,  auch  schon  Mesenterium  resp. 
Dünndarm  mit  herumgewickelt  werden  kann.  Hiermit  ist  der 
Fall  schon  der  2.  Oategorie  hinzuzählen,  der  Drehung  um  die 
Mesenterialachse.  Hierbei  leidet  nicht  blos  die  Kothpassage, 
sondern  die  Ernährung  des  gesammten  gedrehten  Darmstückes 
dun»h  Compression  der  Mesenterialgcfässe.  — 

Die  Drehung  erfolgt  stets,  wie  es  scheint,  in  rechts  gewun- 
dener Spirale.  Leider  ist  die  Ausdrucksweise  in  den  bisher 
publicirten  Fällen  zu  allermeist  so  wenig  klar,  dass  ich  mich  bei 
dieser  x\ngabe  wesentlich  auf  eigene  Beobachtungen  stützen  muss 
und  auf  die  Ueberlegung,  dass  eine  links  gewundene  Spirale  füglich 
nicht  zu  Stande  kommen  kann,  da  hier  die  Bauchwand  einerseits  — 
der  am  Coecum  hängende  Dünndarm  andererseits  die  Drehung 
hindert.  Ich  schlage  vor  für  die  Darmdrehungen  ausschliesslich 
die  Bezeichnungen:  rechts  gewundene  und  links  gewundene  Spirale 
(von  den  Gynäkologen)  zu  acceptiren,  da  sie  einzig  fraglos  und 
unzweideutig  sind. 

Wie  kommt  es  nun  aber  zur  Drehung  des  freien  Coecum- 
Ileum?  Die  Ueberfüllung  des  pendelnden  Coecums  giebt  ihm  ein 
grösseres  Gewicht,  Traumen  verschiedener  Art  können  es  hinauf- 
schleudern.     Am    neuen   Ort    wird    es    dann    durch  Blähung    und 


Die  Achsendrehungen  <1es  Coecums.  843 

Andrängen  gegen  die  Bauchwand  fixirt  oder  durch  Umlagcrung 
verdrängten  Dünndarms  verhindert  an  die  alte  Stelle  zurückzukehren. 
Diesen  Mechanismus  illustriren  Ihnen  Fall  Herrmann  (IV)  und 
Fall  V.  Wahl  (III);  namentlich  in  letzterem  Falle  ist  die  Anamnese 
so  klar,  dass  ich  es  mir  nicht  versagen  kann  sie  Ihnen  vorzulegen. 
Ueberstreckung  des  Rumpfes  bei  hoch  erhobenem  rechten  Arm,  um 
einen  hochkommenden  Lawn-Tennis-Ball  zurückzuschlagen,  der  aber 
gefehlt  wird,  bedingen  hier  ein  so  heftiges  Hintenüberwerfen  des 
Rumpfes  bei  angespannter  Bauch  presse,  dass  der  voluminöse  be- 
wegliche Darmtheil  nach  oben  geschleudert  wird  und  unter  den 
Rippenbogen  sich  einkeilt.  Aehnliche  Momente  spielen  ja  auch 
dieselbe  Rolle,  wenn  es  sich  um  Verlagerung  des  Netzes  über  die 
Leber  handelt.  Auch  bei  Fall  4  handelt  es  sich  augenscheinlich 
um  ganz  ähnliche  Vorgänge.  Der  Knabe  halte  sich  erst  herum- 
gebalgt, danach  schon  Schmerzen  bekommen  und  dann  im  niedrigen 
Schlitten  ohne  Lehne  eine  Fahrt  von  circa  100  Werst  bei  ausscr- 
gewöhnlicb  gmbigem  Wege  zurückgelegt,  wobei  sein  Rumpf  fort- 
während   hintenüber    und    wieder  nach  vorne    geschleudert  wurde. 

Wenn  ich  somit  dem  Trauma  eine  erhebliche  Rolle  bei  der 
Entstehung  der  Achsendrehungen  des  Coecums  zumesse,  so  kann 
ich  doch  nicht  verhehlen,  dass  dieses  Moment  in  anderen  Fällen 
in  der  Anamnese  vermisst  wurde.  — 

Die  klinischen  Symptome  der  Drehung  des  Coecums 
zeigen  ein  recht  wechselndes  Bild.  Dennoch  aber  konnte  ich  nach 
von  Wahl  ungezwungen  2  Formen  auch  hier  von  einander  unter- 
scheiden: Den  Obtrationsileus  und  den  Strangulationsileus.  Das 
Bild  des  Obturationsileus  zeigt  uns  bald  acuten,  bald  allmäligen 
Beginn  —  eine  geblähte  Schlinge  an  der  Stelle  des  Colon  trans- 
versum,  doch  weiter  unten  quer  über  den  Bauch  ziehend,  zeigt 
deutliche  Peristaltik;  als  Ursache  fanden  wir  Drehung  um  die 
Darmachse  —  wenn  Attaquen  vorausgingen,  Narbenstenose.  Der 
Strangulationsileus  zeigt  uns  durchweg  acuten  Beginn  und  das 
von  Wahl 'sehe  Symptom  einer  geblähten,  der  Bauch  wand  an- 
liegenden Schlinge,  an  der  keine  Peristaltik  zu  sehen  ist.  —  Ich 
habe  schon  oben  angeführt,  dass  die  Drehung  um  die  Darmachse 
sich  nicht  scharf  von  der  Drehung  um  die  Mesenterialachse  trennen 
lässt.  Dementsprechend  werden  wir  auch  wohl  hier  Fälle  haben, 
in    denen    anfangs    eine  kurze  Zeit   die  Peristaltik    vorhanden  ist, 


844  Dr.  von  Zoegc-Manteuffel, 

um  erst  naclilier  zu  erlöschen,  wodurch  wir  dann  erkennen,  dass 
es  sich  um  Mesenterialstrangulation  handelt.  In  ganz  complicirtcn 
Darnidrehungen,  wo  viel  Dünndarm  betheiligt  ist,  kann  wohl  auch 
das  V.  Wahl'sche  Symptom  fehlen,  worauf  zuerst  v.  Samson 
(Dünndarmdrehung)  hingewiesen  hat. 

Die  topographische  Lage  der  Geschwulst  des  Tumors 
hat  meist  völlig  irre  geführt.  Man  hat  die  Geschwulst  für  Colon 
transversum,  Flexura  sigmoidea  etc.  gehalten.  Statistische  Er- 
hebungen werden  vielleicht  erweisen,  dass  Stenosen  und  Drehungen 
an  der  Flexura  Renalis  noch  seltener  sind  und  auf  diese  Weise 
einen  Rückschluss  gestatten.  Auf  einen  Umstand  möchte  ich 
jedoch  noch  ihre  Aufmerksamkeit  lenken:  Wenn  wir  einen  als 
geblähtes  Colon  transversum  imponirenden  sichtbaren  Tumor  haben, 
der  Peristaltik  zeigt  —  so  muss  die  Peristaltik  am  Quercolon  von 
rechts  nach  links,  am  verlagerten  Coecum  von  links  nach  recht« 
gehen.  Bei  dünnen  Bauchdecken  kann  dieses  Symptom  vielleicht 
mal  Aufschluss  geben.  —  Im  Fall  IIl  schliesslich  stellte  ich 
anfangs  die  Diagnose  auf  Coecumdrehung  in  Mesenterium  commune 
i.  c,  verwarf  aber  diese  Diagnose  zu  Gunsten  eines  Verschlusses 
am  Duodenum,  weil  kein  Erbrechen  trotz  stürmischer  Erscheinungen 
statt  hatte.  In  der  That  fand  sich  Goecumtorsion  und  Compression 
des  Duodenum  durch  das  unter  den  Rippenbogen  verlagerte  gan- 
gränöse Coecum.  —  Die  Diagnose  ist  also  schwer  und  Irrthümer 
sehr  leicht  möglich. 

Viel  günstiger  lauten  die  Berichte  über  die  Therapie, 
wenigstens  die  operative.  Die  exspectative  Therapie  hat  gar  keine 
Erfolge  zu  verzeichnen.  Sämmtliche  13  Fälle  sind  gestorben. 
2  Mal  ist  Anus  praeternaturalis  angelegt  worden,  einmal  nach 
Laparotomie,  einmal  direct,  beide  Kranke  sind  gestorben.  5  Mal 
ist  laparotomirt  worden,  davon  sind  blos  2  gestorben.  Hierzu 
kommen  meine  4  Fälle.  In  einem  Falle  von  Drehung  um  die 
Darmachse  (TI)  legte  ich  nach  Laparotomie  und  Rücklagerung  einen 
Anus  praeternaturalis  an,  der  nicht  functionirte,  da  die  Patientin 
schon  Peritonitis  hatte,  an  der  sie  denn  auch  zu  Grunde  ging. 
In  allen  anderen  3  Fällen,  von  denen  einen  mein  Assistent 
Dr.  Fick  operirte,  trat  Heilung  ein.  Und  zwar  handelte  es  sich 
im  Fall  1  um  eine  Drehung  um  180^  und  Verschluss  der  Mescn- 
terialgefässe    und    drohende  Gangrän   (im  Fall  2   um  Drehung  um 


Die  Achsendrehunjfen  «ies  Coeciiius.  845 

die  Darma<^hse  180®  und  Narbenstenose).  Im  Fall  3  um  Drohung 
um  die  Mesenterialacbse  und  Gangrän,  im  Fall  4  um  Drehung  um 
die  Darmachse  100®  und  Abschnürung  durch  Dünndarm.  In  allen 
Fällen  fand  ich  Injection  und  fibrinöse  Auflagerung  an  den  an- 
liegenden Darmschlingen  und  Exsudat. 

Was  die  Technik  anlangt,  so  ist  die  einfache  Reposition, 
der  ich  in  Zukunft  wohl  die  Fixation  durch  die  Naht  folgen  lassen 
würde,  nur  erlaubt,  wo  noch  bei  offener  Bauchhöhle  der  Darm  seine 
physiologische  Arbeit  wieder  beginnt.  Alle  anderen  Fälle  sind 
wohl  besser  sofort  zu  reseciren,  d.  h.  sowohl  die  chronischen 
Stenosen  und  die  Drehungen  um  die  Darmachse,  die  zu  Ver- 
änderungen der  Wand  geführt  haben,  als  auch  die  Drehungen  um 
die  Mesenterialacbse,  bei  denen  die  Ernährung  des  Darms  direct 
gefährdet  ist.  —  Ueber  die  Technik  der  Resection  gestatten  sie 
mir  meine  Herren  noch  eine  kurze  Bemerkung.  Es  ist  natürlich 
wünschenswerth  die  Operation  namentlich  bei  gangränösem  Darm 
extraperitoneal  zu  machen.  Zu  dem  Zweck  wird  ein  Querschnitt 
durch  die  ßauchdecken  wohl  unvermeidlich  sein.  Trotzdem  gelingt 
es  nicht  immer  die  präsumptive  Resectionsstelle  vor  die  Bauch- 
wand zu  bringen.  Ich  half  mir  in  einem  Falle  so,  dass  ich,  da 
das  Mesenterium  zu  kurz  war,  den  Darm  so  lange  voin  Mesen- 
terium löste,  bis  geunder  Darm  vor  der  Bauchhöhle  lag.  Hier 
schnitt  ich  dann  ab,  vernähte  beide  Enden  blind  und  stülj)te  sie 
so  lange  ein  bis  ich  mit  der  definitiven  Serosanaht  in  den  Bereich 
des  am  Mesenterium  hängenden  Darras  kam.  Eine  seitliche 
Enteroanastomose  stellte  die  Continuität  des  Darmrohrs  wieder 
her.  Es  hatte  dieser  Modus  i)rocedendi  den  Vortheil,  dass  ich  ganz 
extraperitoneal  operirte,  jedoch  den  Nachtheil,  dass  ich  2  Blind- 
säcke nachliess.  Es  kann  sein,  dass  ein  Abscess,  der  nach  2  Monaten 
ins  Rectum  durchbrach,  auf  diese  Blindsackbildung  zurückzuführen 
war.     In  allen  Fällen  Dauertamponnade  excl.  Fall  IV. 

Ich  kann  mir  nicht  versagen  zum  Schluss  auf  die  Indications- 
stellung  noch  einmal  zurückzukommen.  Ich  habe  hier  vor 
9  Jahren  den  Standpunkt  vertreten,  dass  das  Wahl'sche  Sym- 
ptom direct  zur  Laparotomie  auffordere  und  zwar  bedingt  bei  be- 
stehender Peristaltik  —  unbedingt  bei  erloschener,  wenn  nur  ein 
sieht-  und  fühlbarer  Tumor  unsere  Hand  leitet.  Mir  wurde  damals 
widersprochen    und    darauf  hingewiesen,    dass,    wo    die  Peristaltik 

Archiv  fVr  kliii.  Cliirurgie.    57.  Üd.   Heft  4.  :^g 


846      Dr.  von  Zoege-Man teuffei,  Die  Achsendrehungen   des  Coecums. 

erloschen  sei,  auch  von  einer  Laparotomie  nichts  zu  hoffen  sei,  da 
hier  schon  Peritonitis  bestände.  Ich  habe  damals  schon  diesen 
Einwand  zurückgewiesen  und  mich  bemüht  zu  zeigen,  dass  damit 
alle  Hoffnung  auf  operative  Heilung  der  Achsendrehungen  um  die 
Mesenterial achse  abgeschnitten  wäre.  Ich  gehe  jetzt  noch  einen 
Schritt  weiter.  Nicht  die  beginnende  Peritonitis  lähmt  den  Darm 
zuerst,  sondern  die  Abschnürung  des  Darmgekröses.  Aber  auch 
die  Peritonitis  bildet  keine  Contraindication,  da  sie  im  Anfang 
durch  die  Daucrtamponnade  sehr  wohl  mit  Erfolg  bekämpft 
werden  kann.  — 

Die  Prognose  der  Coecumdreliungen  müssen  wir  schliesslich 
als  eine  günstige  ansehen,  wenn  wir  noch  rechtzeitig  operiren. 
Ohne  Operation  sind  die  Kranken  wohl  rettungslos  verfallen,  da 
hohe  Eingiessungen  etc.  hier  nichts  nützen  können.  Als  einziges 
Verfahren,  das  Aussicht  auf  Erfolg  hat  kann  nur  die  Laparotomie 
angesehen  werden.  — 

Ich  hoffe  durch  meine  Mittheilung  weitere  Publicationen  zu  ver- 
anlassen. AVas  ich  jetzt  nur  vermuthungsweise  aussprechen  durfte, 
bedarf  noch  der  Bestätigung  oder  Widerlegung  durch  w^eitere  Er- 
fahrungen. 


LVII. 

Eine   neue  Methode  temporärer  Gaumen 

Resection/) 

Von 

Professor  Dr«  Partech, 

dirig.  Arzt  des  Hospitals  der  Barmherzigen  BrUder  zu  Breslau. 


Die  Frage,  wie  maii  die  von  der  Schädelbasis  herunter  kom- 
menden Geschwülste  der  Nase  und  des  Nasenrachenraumes  am 
besten  angreift,  scheint  immer  noch  nicht  endgiltig  gelöst.  Den 
facialen  Methoden,  von  der  Spaltung  des  Nasenflügels  an  bis  zur 
osteoplastischen  Resection  Langenbeck's  haftet  sämmtlich  der 
Fehler  kosmetischer  Entstellung  an,  um  so  mehr,  je  tiefer  bei 
ihrer  Ausführung  das  Knochengerüst  des  GesichtsschädeLs  in  Mit- 
leidenschaft gezogen  wird.  Dabei  genügen  sie,  selbst  wenn  man 
den  Oberkiefer  zurückklappt,  nicht,  um  das  Operationsfeld,  den 
Ursprungsort  des  Tumors  in  genügender  Weise  frei  zu  legen  und 
mit  Sicherheit  die  leider  unvermeidlichen  schweren  Blutungen  zu 
beherrschen. 

Deshalb  haben  sie  im  Wesentlichen  den  oralen  Methoden  — 
der  Ausdruck  buccal  wie  ihn  Güssen bauer  gewählt  hat,  scheint 
mir  nicht  ganz  zutrefifcnd  zu  sein  —  weichen  müssen  und  alle 
neueren  Vorschläge,  wie  sie  von  Kocher,  Lanz  und  in  jüngster 
Zeit  von  Habs  gemacht  worden  sind,  bewegen  sich  nach  dieser 
Richtung  hin. 


*)  Vorgetragen  am  4.  Sitzungstage  des  XXVII.  Gongresses  der  Deutschen 
Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  16.  April  1898. 

56* 


848  Dr.  Partsch, 

Es  bleibt  das  grosse  Verdienst  Gussenbauer's,  in  Deutsch- 
land zuerst  auf  diese  Art  der  Hilfsoperationen  hingewiesen  zu 
haben,  welche  bei  hinlänglich  freiem  Zugang  Entstellung  und 
Functionsstörungen  nicht  im  Gefolge  haben.  Die  in  gleicher  Ab- 
sicht von  Maisonne uve  ausgeführte  partielle  Resection  des  harten 
Gaumens  tauschte  gegenüber  dem  eigentlichen  Vorlheil  eines  be- 
quemen Zuganges  zum  Krankheitsherd  die  dauernde  Communication 
der  Mund-  und  Nasenhöhle  ein,  ein  Nachtheil,  der  so  schwer  ist, 
dass  man  wohl  kaum  mehr  von  der  Operation  Gebrauch  macht. 
Ebensowenig  hat  sich  die  spätere Boutonniere  palatineMaisonneuve's 
oder  Nölaton's  Resection  der  Gaumenbeine  Bürgerrecht  in  der 
Chirurgie  erwerben  können. 

Gussenbauer^)  schlug  eine  Spaltung  des  mucös-periostalen 
Ueberzugs  des  harten  Gaumens  in  der  Medianlinie  in  der  ganzen 
Länge  vor,  ferner  Ablösung  der  Schleimhaut  nacli  beiden  Seiten 
bis  in  die  Nähe  der  Alveolarfortsätze,  Entfernung  der  Processus 
palatini  und  Gaumenbeine  mit  Meissel  und  Hammer  und  nach  Ex- 
stirpation  der  Geschwulst  mit  Messer  und  Scheere  und  Blutstillung 
mit  dem  Thermocauter  Wiedervereinigung  des  harten  Gaumen- 
überzuges. 

Wenngleich  in  dem  von  Gusse nbauer  zuerst  so  operirten 
Falle  vorüberirehend  in  der  Nahtlinie  Fisteln  auftraten,  welche 
Secundärnaht,  oder  Lapisätzung  erforderlich  machten,  war  doch  das 
Endresultat  so  gut,  dass  es  AVunder  nimmt,  dass  nach  der  Litte- 
ratur  zu  urtheilen  diese  Operationsmethode  nicht  umfangreicher 
geübt  wurde.  0.  Riegner^)  hat  auf  die  Vorzüge  derselben  neuer- 
dings wieder  aufmerksam  gemacht  und  sie  bei  Exstirpation  eines 
ziemlich  grossen  Nasenrachenfibroids  bewährt  gefunden. 

Daneben  sind  in  den  letzten  Jahren  neue  Vorschläge  gekommen, 
die  in  anderer  Weise  vom  Gaumen  her  zur  Schädelbasis  Zugang 
zu  gewinnen  bezweckten.  So  veröffentlichte  Lanz^)  die  von 
Kocher  ersonnene  Methode,    nach  totaler  Spaltung  der  Oberlippe 

0  Gussenbauer,  üeber  die  buccalo  Exstirpation  der  basilaren  Rachen- 
gpschwülste.     V.  Lange nbeck's  Archiv.     Bd.  24,  S.  265.     1879. 

*)  0.  Riegner,  Exstirpation  eines  basilaren  Rachentumors  nach  Resection 
des  harten  Gaumens  (Methode  von  Gussenbauer).  Deutsche  med.  Wochen- 
schrift.    1894.     No.  33,  S.  660. 

8)  Lanz,  Osteoplastische  Resection  beider  Oberkiefer  nach  Kocher. 
Eine  neue  Methode  zur  Freilegung  der  Sch<ädelbasis  und  des  Pharyngeal- 
nasalraumes.    Deutsche  Zeitschrift  für  Chirurgie.     35.  Bd.     Leipzig  1893. 


Eine  neue  Methode  temporärer  Gaumenrcsection.  849 

vom  betreffenden  Nascnloche  aus  die  Schleimhaut  über  dem  Al- 
veolarrande  an  der  Umschlagstelle  zu  trennen  und  beide  Ober- 
kiefer über  dem  Alveolarrande  zu  durchmeisseln.  Dann  soll  der 
harte  Gaumen  in  der  Medianlinie  mit  dem  Meissel  durchgeschlagen, 
und  beide  horizontalen  Hälften  des  Oberkiefers  kräftig  auseinander 
geklappt  werden.  Damit  ist  ein  freier  Ueberblick  über  die  Nasen- 
höhle von  vorn  nach  hinten  geschaffen  und  auch  der  Racjhenrecessus 
für  etwaige  Eingriffe  zugängig.  Die  Umständlichkeit  der  Operation, 
ihre  beträchtliche  Blutungsgefahr,  die  Nothwendigkeit,"  durch  die 
Schleimhaut  des  ganzen  Gaumens  hindurch  eine  Naht  anlegen  zu 
müssen,  scheinen  Grund  gewesen  zu  sein,  dass  die  Methode  noch 
nicht  viel  Nachahmer  gefunden,  trotzdem  sie  von  Kocher  in  seiner 
Operationslehrc  warm  empfohlen  wird. 

Habs^)  hat  neuerdings  ein  bereits  1886  von  Chalot  ange- 
gebenes Verfahren  zur  Entfernung  eines  stark  blutenden  Angiomyxo- 
fibroms  des  Nasenrachenraumes  wieder  aufgenommen.  Es  besteht 
darin,  dass  an  dem  sitzenden  Patienten  die  Oberlippe  und  der 
Nasenansatz  abgelöst  und  in  die  Höhe  gedrängt  wird;  dann  wird 
an  der  Uebergangsfalte  die  Schleimhaut  durch  einen  queren  Schnitt 
getrennt,  von  einem  ersten  Backzahn  bis  zum  andern  reichend. 
Von  diesem  bis  zum  Knochen  geführten  Schnitt  aus  werden  die 
Weichtheile  mit  dem  Elevatorium  bis  zur  Spina  na,salis  ant.  inf. 
und  dem  Boden  beider  Nasenhöhlen  abgelöst.  Die  Schleimhaut 
des  Bodens  der  Nasenhöhle  wird  beiderseits  von  unten  her  mit 
dem  Scalpell  durchstossen  und  durch  diese  Wunde  ein  Nelaton- 
katheter  jederseits  durch  den  unteren  Nasengang  durch  den  Rachen 
in  die  Wundhöhle  geführt.  Die  Enden  der  beiden  Katheter  werden 
mit  denen  einer  Gigli'schen  Säge  verbunden,  an  ihnen  die  Säge 
durch  die  Nasengänge  schleifenartig  um  den  Vomer  gezogen  und 
mit  der  Säge  das  Septum  von  hinten  nach  vorn  durchsägt.  Nach- 
dem beiderseits  die  Eckzahne  entfernt,  wird  von  den  Zahnlücken 
aus  jederseits  der  harte  Gaumen  längs  des  Alveolarrandes  bis  zum 
Ansatz  des  weichen  Gaumens  mit  dem  Meissel  durchtrennt,  wobei 
eine  starke  Blutung  erfolgt.  Nach  rascher  Durehtrennung  des 
Alveolarfortsatzes  zwischen  Eckzahnalveole  und  Nasenhöhle,    wird 


1)  Habs,  Exstirpation  eines  von  der  Schädelbasis  ausgehenden  Angio- 
Tnygotibroms  des  Nasenrachenraums  mittelst  temporärer  Rescction  des  harten 
Gaumens  (Ghalot).     Deutsche  Zeitschrift  für  Chirurgie.     Bd.  47.     S.  100. 


850  Dr.  Partsch, 

der  harte,  nur  noch  am  weichen  Gaumen  inserirende  Gaumen  fall- 
thürartig  auf  die  Zunge  lieruntcrgeklappt.  Wenngleich  eine  be- 
queme Uebersichl  üher  das  Operationsfeld  durch  diesen  künstlichen 
Wolfsrachen  gegeben  war,  musste  der  hintere  Theil  des  Septums 
doch  noch  resecirt  werden,  um  die  Tumorbasis  gut  entfernen  zu 
können.  Nach  Entfernung  des  Tumors  wird  das  Mittelstück  des 
harten  Gaumens  wieder  aufwärts  geschlagen  und  rechts  und  links 
mit  Silbersuturen  befestigt.  Zwischen  ihnen  werden  noch  Catgut- 
nähte  zur  Vereinigung  der  Schleimhäute  und  des  Periosts  geführt 
Die  Heilung  verlief  ohne  Complication ;  18  Tage  nach  der  Operation 
konnte  die  Patientin  entlassen  werden.  Aler  Monate  nach  der 
Operation  federt  der  Alveolarfortsatz  mit  den  in  ihm  sitzenden 
Schneidezähnen  noch  etwas.  Die  Nahtlinien  sind  gut  verheilt.  Die 
Athmung  ist  ungestört,  die  Sprache  normal.  Die  eine  Entstellung 
nicht  hinterlassende  Operation  war  ohne  praeliminare  Trache- 
otomie  ausführbar. 

Es  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  alle  diese  Methoden  noch  einen 
complicirten  Weg  verfolgen,  um  freies  Feld  für  die  operative  In- 
angriffnahme des  Geschwulstbodens  zu  gewinnen,  und  sich  den  Zu- 
gang erzwingen  unter  nicht  unerheblicher  Vermehrung  der  ohnehin 
beträchtlichen  Blutungsgefahr.  Jede  Verlängerung  der  Opera- 
tion, wie  sie  selbst  in  der  geschultesten  Hand  die  compli- 
cirten Nähte  an  dem  weichen  und  harten  Gaumen  unweigerlich 
bedingen,  fällt  gerade  bei  diesen  blutigen  Operationen  schwer 
ins  Gewicht.  Ob  es  dabei  immer  möglich  sein  wird,  die  Naht 
in  der  Hast  des  Augenblicks  so  sorgfältig  zu  machen,  dass 
überall  eine  feste  Verlöthung  erfolgt  und  und  nicht  da  und  dort 
eine  Fistel  eintritt,  welche  mindestens  den  Heilungsverlauf  aufhält, 
wenn  nicht  zu  dem  erheblichen  Nachtheil  einer  dauernden  Ver- 
bindung zwischen  Nase  und  Mundhöhle  führt,  bleibt  auch  noch 
fraglich  und  bei  dem  Entschluss  zu  einer  solchen  Operation  zu 
erwägen. 

Als  ich  mich  im  Januar  d.  J.  vor  die  Frage  gestellt  sah,  bei 
einem  17jährigen  Knaben  das  umfangreiche,  breit  aufsitzende  Re- 
cidiv  eines  Nasenrachentumors  zu  operiren,  kam  mir  eine  Erfah- 
rung in  Erinnerung,  welche  ich  nicht  allzu  lange  vorher  zu  machen 
Gediegenheit  gehabt  hatte. 


Eine  neue  Methode  temporärer  Gaumenresection.  851 

Im  October  1897  wurde  ein  20jühriger  Arbeiter  Max  F.  in  das  Hospital 
der  Barmh.  Brüder  aufgenommen,  der  in  einer  Oelfabrik  mit  dem  Beladen 
eines  Fahrstuhls  beschäftigt,  von  diesem,  als  er  voreichtig  nach  unten  in  Be- 
wegung gesetzt  worden  war,  erfasst  und  mit  dem  Gesicht  so  gegen  den  Fuss- 
boden  gedruckt  wurde,  dass  ihm  mehrere  Zähne  ausgebrochen  wurden  und  er 
dem  Fahrstuhl  nach  in  die  untere  £tage  fiel.  Bald  verlor  er  das  Bewusstsein 
und  erlangte  es  erst  wieder,  als  er  bereits  in  die  Krankenanstalt  überführt 
war.  Bei  dem  Kranken  waren  beide  Augenlider  so  stark  durch  Blutunter- 
laufungen  geschwollen,  dass  eine  OefTnung  des  Auges  unmöglich  war.  Die 
Nase  erschien  nach  rechts  gerichtet,  aus  dem  rechten  Nasenloch  entleerte  sich 
blutig  schleimige  Absonderung. 

Nasenflügel  und  Nasenrücken  zeigten  eine  grosse  Anzahl  oberflächlicher 
Hautabschürfungen.  Die  Sprache  hatte  einen  nasalen  Beiklang,  und  beim 
Sprechen  konnte  man  deutlich  wahrnehmen,  wie  Patient  vermied,  die  Zunge 
an  die  obere  Zahnreihe  oder  den  Gaumen  zu  legen. 

Während  am  Oberkiefer  keine  besondere  Blutunterlaufung  der  Schleim- 
haut vorhanden  war,  waren  am  Unterkiefer  die  Zähne  vom  1.  seitlichen  Schneide- 
zahn bis  Eckzahn  so  zertrümmert,  das  Zahnfleisch  in  diesem  Bereich  so  zer- 
quetscht, dass  die  Wurzelreste  mit  der  Zange  entfernt  und  die  Schleimhaut- 
fetzen mit  Scheere  und  Pincette  abgetragen  werden  mussten. 

Die  Palpation  des  Gesichtsschädels  ergab  ausser  einer  seitlichen  ab- 
normen Beweglichkeit  der  Nasenbeine  eine  vollkommene  Verschieblichkeit  des 
harten  Gaumens  und  der  Alveolarfortsätze  des  Oberkiefers.  Ohne  dass  die 
Dentur  des  Oberkiefers  Schaden  gelitten  hatte,  konnte  man  die  Zahnreihen 
fassend  den  Gaumen theil  sammt  den  Alveolarfortsätzen  leicht  hin  und  her 
verschieben,  soweit  es  die  unversehrte  Schleimhaut  des  Alveolarfortsatzes  zu- 
liess.  Trotzdem  eine  Zerreissung  der  Schleimhaut  der  Nasengänge  nicht  nach- 
zuweisen, musste  doch  ein  Bruch  des  Vomer  erfolgt  sein,  da  eine  vollkommene 
seitliche  Verschiebung,  nicht  bloss  ein  Wippen  des  Gaumens  auf  dem  unver- 
sehrten Vomer  möglich  war.  Die  Blutung  aus  der  Nase  schien  nach  Reinigung 
derselben  lediglich  von  den  Brüchen  der  Nasenbeine  herzurühren;  aus  den 
unteren  Nasengängen  oder  den  Kieferhöhlen  kam  kein  Blut. 

Am  Hinterkopf  und  der  Hals  Wirbelsäule  waren  keine  Verletzungen  vor- 
handen. 

Da  der  bezahnte  Oberkiefer  durch  den  Unterkiefer  in  richtiger  Stellung 
gehalten  wurde,  erwies  sich  eine  besondere  Befestigung  desselben  durch  einen 
Schienenapparat  nicht  erforderlich.  Auch  machte  die  starke  Schwellung  der 
Gesichtsweichtheile  namentlich  die  der  Augenlider  die  Ausschaltung  jedes 
Druckes  auf  diese  Theile  wünschenswerth.  Bei  Behandlung  in  sitzender 
Stellung,  sorgfältiger  Reinigung  der  Mund-  und  Nasenhöhle  bildeten  sich  die 
Blutaustritte  rasch  zurück,  die  unförmige  Schwellung  nahm  ab,  die  Augen 
konnten  wieder  geöffnet  werden,  das  Gesicht  nahm  wieder  ein  menschliches 
Aussehen  an.  Dabei  fiel  auf,  dass  die  Heilung  des  Oberkieferbruchs  ohne  jede 
Schmerzhaftigkeit,  ohne  stärkere  Schwellung,  ohne  Lockerung  oder  Empfind- 
lichkeit der  Zähne  erfolgte;  so  rasch  trat  die  Vorlöthung  ein,  dass  schon  am 


852  Dr.  Partscli, 

Knilc  der  erslcMi  Woche  Patient  ohne  jede  Mühe  breiige,  festweichc  Speisen  zu 
gen i essen  vermochte.  Schon  in  der  3.  Woche  stand  der  Kiefer  wieder  so  fest, 
dass  Fleisch  und  Brot  ohne  Schwierigkeit  genossen  und  gut  gekaut  werden 
konnte.  Auffällig  war,  dass  kein  Zahn  gelockert  oder  empfindlich  ei-schien, 
noch  auffälliger,  dass  bei  einer  Sensibilitätsprüfung  derselben  der  Patient  aufs 
Bestimmteste  genau  zu  localisiren  vermochte. 

Es  war  der  Abbruch  des  Horizontaltheils  des  Oberkiefers  ohne  die  ge- 
ringste Schädigung  des  Gebisses  in  kurzer  Zeit  fest  und  ohne  Störung  einer 
Function  zur  Heilung  gekommen. 

Diese  Erfahrung  legte  mir  den  Gedanken  nahe,  in  dem  vor- 
liegenden Falle  eines  umfangreichen,  schwer  erreichbaren  Na.sen- 
rachentumors  mir  den  Zugang  zum  Ausgangspunkt  der  Geschwulst 
zu  bahnen  auf  dem  Wege  der  Abtrennung  des  Gaumentheils  der 
Oberkiefer,  in  operativer  Nachahmung  der  Verletzung,  deren  rasche, 
leichte  und  sichere  Heilung  der  Verlauf  des  oben  geschilderten 
Krankheitsfalles  erwiesen  hatte. 

Ich  fühlte  mich  umso  mehr  dazu  veranlasst,  als  ich  bei  dem 
durch  wiederholte  starke  Blutungen  aus  dem  Tumor  anämisch  ge- 
wordenen Knaben  auf  möglichste  Blutsparung  bedacht  sein  musste. 
Die  schwer  stillbaren  Blutungen  aus  den  Art.  palatinae,  wie  sie 
sowohl  die  Koclier'sche,  als  auch  die  Ilabs'sche  Operation  be- 
gleiten müssen,  waren  auf  dem  von  mir  in  Aussicht  genommenen 
Wege  vermeidbar,  weil  diese  Gefässe  ja  vollkommen  unversehrt 
bleiben  und  im  Gegentheil  auf  ihre  Erhaltung  besonders  Bedacht 
genommen  werden  muss,  da  sie  ja  den  ernährenden  Stiel  des  nach 
unten  zu  klappenden  Gaumens  bilden  sollen. 

Auch  schien  mir  die  Abkürzung  der  Operationszeit  bei  einem 
jedenfalls  mit  starkem  Blutverlust  verknüpften  Eingriff  nicht  be- 
deutungslos. Die  complicirte,  selbst  bei  bester  Technik  zeitraubende 
Naht  durch  harten  und  weichen  Gaumen  fiel  bei  dem  von  mir  in 
x\ussicht  genommenen  Verfahren  weg.  Es  machte  ledighch  eine 
ras(*h  ausführbare  Schleimhautnaht  im  Mundvorhof  erforderlich. 

So  entschloss    ich   mich   denn  im.  Januar  d.  J.  diis  Verfahren 

praktisch  anzuwenden  in  folgendem  Falle. 

Der  löjälirige  Bauergutsbesitzerssohn  Kurt  G.  aus  Buchitz  wurde  von 
Herrn  Dr.  Kayser,  Specialarzt  für  Nasen-  und  Ohrenkrankheiten,  im  Sep- 
tember 1897  dem  Klosterhospital  der  Barmh.  Brüder  zu  Breslau  wegen  eines 
grossen  Nasenrachentumors  überwiesen,  der  seit  IY2  «fahren  bestehend,  jetzt 
solche  Dimensionen  angenommen  hatte,  dass  er  nicht  nur  den  ganzen  Nasen- 
raciienraum   sondern   auch   den   linken  Nasengang  ausfüllte  und  zum   linken 


Eine  neue  Methode  temporärer  Chiumenreseclion.  853 

Nasenloch  herauswuchs.  Der  weiche  Gaumen  wurde  vom  Tumor  so  stark 
nach  unten  gedränj^t.  dass  der  Patient  kaum  vernehmlich  sprechen  konnte  und 
besonders  Nachts  oft  zu  ersticken  drohte. 

in  meiner  Abwesenheit  entfernte  der  Assistent  des  Hospitals,  Herr 
Dr.  Dirbach  durch  Spaltung  des  linken  Nasenflügels  den  Tumor  nach  Mög- 
lichkeit. Da  sich  eine  Erasion  mit  dem  scharfen  Löffel  wegen  der  festen  Struc- 
tur  des  Tumors  nicht  bewerkstelligen  liess,  sondern  der  Tumor  nur  stück- 
weise mit  Pincette  und  Scheere  abzutragen  war,  gelang  bei  der  umfangreichen 
Verbreitung  des  Tumors,  der  bereits  in  die  linke  Kieferhöhle  eingebrochen 
war,  und  bei  dem  relativ  schmalen  Zugang,  der  durch  die  Spaltung  der  Nase 
gewonnen  worden,  die  Beseitigung  des  fast  kindskopfgrossen  Tumors  nicht 
vollkommen.  Jedoch  hatte  Patient  durch  das  Freiwerden  der  Nasenathmuiig 
grosse  Erleichterung;  die  vorher  sehr  häufig  wiederkehrenden  starken  Blutungen 
traten  nur  sehr  vereinzelt  und  rasch  vorübergehend  auf.  Trotzdem  wuchs  die 
Geschwulst  wieder,  behinderte  allmählich  die  Athmung  stark,  verschlechterte 
die  Sprache,  so  dass  der  Patient  wieder  das  Hospital  aufsuchen  musste.  Der 
für  sein  Alter  kräftig  entwickelte  Knabe  sah  sehr  blass  aus.  Die  linke  Wangen- 
hälfte schien  vorgetrieben;  links  von  der  Mittellinie  zog  eine  lineare,  weisse 
Narbe  über  den  Nasenflügel  abwärts.  Die  rechte  Nasenhälfte  erwies  sich  für 
den  Luftstrom  völlig  durchgängig;  links  war  der  Luftstrom  behindert.  Linker- 
seits sieht  hinter  dem  weichen  Gaumen  ein  Abschnitt  des  Tumors  hervor;  die 
linke  Choane  ist  bei  der  Palpation  vollkommen  durch  eine  von  links  von  der 
Schädelbasis  herunterkommende,  der  Lamina  pterygoidea  folgende  Geschwulst, 
die  sich  sehr  hart  und  derb  anfühlte,  ausgefüllt.  Bei  der  Untersuchung  mit 
dem  Nasenspiegel  erwies  sich  die  linke  Nasenhälfte  vorn  erweitert;  die  Muscheln 
fehlen.  Die  linke  Kieferhöhle  wird  von  einem  röthlichen,  zum  Theil  ge- 
schwürig zerfallenen,  sonst  aber  ziemlich  glatten  Tumor  eingenommen. 

Da  die  mikroskopische  Untersuchung  der  zuerst  entfernten  Geschwulst 
ergeben  hatte,  dass  es  sich  um  ein  mit  Gefässen  reich  durchzogenes  Fibrom, 
ohne  sacromatöse  V^eränderungen  handelte,  w^urde  am  22.  Januar  1898  zur 
Operation  geschritten. 

Bei  Morphium-Chloroformnarkose  wird  zunächst  in  sitzender  Stellung 
ein  vom  2.  Mahlzahn  rechts  bis  2.  Mahlzahn  links  reichender  Schnitt  durch 
die  Schleimhaut  des  Vestibulum  oris  hoch  oben  an  der  Umschlagsfalte  ober- 
halb der  Zahnreihe  des  Oberkiefers  geführt,  und  von  ihm  aus  durch  Zurück- 
schieben der  Weichtheile  mit  dem  Elcvatorium  der  Knochen  rasch  freigelegt. 
Nachdem  die  Nasenhöhle  von  vorn  unten  aus  durch  Abtrennen  der  Schleimhaut 
von  der  Apertura  pyriforrais  eröffnet  worden,  wird,  während  die  Weichtheile 
mit  stumpfem  Haken  kräftig  nach  oben  und  aussen  gezogen  werden,  ein  sehr 
breiter  Meissel  so  in  die  Wunde  eingesetzt,  dass  er  oberhalb  der  Schleimhaut 
des  Bodens  der  Nasenhöhle  das  Septum  narium,  und  oberhalb  der  Schleimhaut 
der  Kieferhöhlen  die  Vorder-  und  Aussenwände  der  Kieferhöhlen  durchtrennt 
bis  an  die  Tubera  maxillaria.  Mit  massigem  Druck  gelingt  es,  den  ganzen 
Gaumen,  um  eine  quer  durch  die  hinteren  Enden  des  Oberkieferkörpers  ge- 
lehrt gedachte  Axe  fallthürartig  nach  unten  zu  klappen  und  so  einen  Raum  zu 


854  Dr.  Partsch, 

jl^ewinnen,  in  welchem  der  zu  entfernende  Tumor  ausgiebig  frei  blossliegt. 
Nun  wird  die  Stellung  des  Patienten  geändert,  er  wird  mit  herabhängendem 
Kopfe  gelagert;  der  Gaumentheil  wird  mit  einem  st^irken  Resectionshaken  so 
weit  als  möglich  von  dem  oberen  Abschnitt  entfernt  gehalten,  die  Weichtheile 
mit  Haken  weit  bei  Seite  gezogen.  Nun  sieht  man  den  Tumor  die  linke  Choane 
ausfüllen,  die  linke  Kieferhöhle  durchsetzen  bis  an  die  Orbita  hin.  Andrerseits 
zieht  er  sich  hoch  hinauf  nach  der  Schädelbasis.  Da  die  Geschwulst  so  derb 
ist,  dass  sie  dem  Zuge  des  scharfen  Löffels  nicht  folgt,  muss  sie  mit  Pincette 
und  Scheere  stückweise  entfernt  werden.  Die  beträchtliche  Blutung  wird  durch 
intermediäre  Tamponnade  immer  wieder  zum  Stillstand  gebracht  So  wird  die 
Geschwulst  sorgfältig  bis  zur  Schädelbasis  fortgenommen.  Die  beträchtliche 
Blutung  macht  Injection  von  Aether  und  Eingiessnngen  von  Kochsalzlösung 
in  den  Mastdarm  nothwendig. 

Sobald  das  Operationsfeld  rein  erscheint,  wird  ein  langer  Jodoformgaze- 
streifen an  die  Stelle,  welche  durch  Entfernung  des  Tumors  verursacht  ist, 
geführt,  und  mit  weiteren  Streifen  die  ganze  Höhle  so  ausgefüllt,  dass  das 
Ende  des  Streifens  aus  dem  linken  Nasenloch  heransgeleitet  werden  kann. 
Ohne  Mühe  gelingt  es,  mit  leichtem  Druck  den  Gaumen  in  seine  normale  Lage 
hineinzudrängen  und  in  derselben  durch  eine  die  Incisionswunde  im  Mund- 
höhlenvorhof  vereinigende  fortlaufende  Schleimhautnaht  festzuhalten. 

Zufuhr  von  Wärme,  warmes  Getränk,  subcutane  Injectionen  von  Campheröl 
bewirken  eine  rasche  Erholung  des  coUabirten  Patienten.  Der  anfangs  fre- 
quente  Puls  geht  in  den  Tagen  nach  der  Operation  langsam  herunter.  Am 
linken  Auge  macht  sich  eine  blutige  Verfärbung  bei  massiger  Schwellung  des 
Gesichts  bemerkbar.  Die  anfangs  lebhaften  Schmerzen  schwinden  rasch.  Am 
2.  Tage  schon  geniesst  Patient  mit  gutem  Appetit  flüssige  Speisen.  Die  Stel- 
lung des  Kiefers  ist  gut;  das  Schlucken  ist  nicht  behindert.  Durch  Mund- 
Spülungen  und  Abreibungen  der  Schleimhaut  mit  Thymollösnngen  gelingt  es, 
die  katarrhalische  Stomatitis  fem  zu  halten. 

Am  31.  Januar  wird  der  Tampon  aus  der  Nasenhöhle,  sowie  die  Naht 
im  Vestibulum  entfernt;  die  Nasenhöhle  mit  Borsäurelösung  ausgespült.  Ein 
neuer  Tampon  wird  nicht  mehr  eingelegt.  Die  blutige  Verfärbung  am  linken 
Auge  ist  im  Verschwinden.  Der  Patient  verlangt  nach  gekochten  Eiern,  die 
er  mit  den  Zähnen  zu  bearbeiten  vermag.  Er  nimmt  geschabtes  rohes  Rind- 
fleisch und  Semmel  in  Milch  erweicht. 

Am  8.  Februar  ist  der  rechte  Oberkiefer  schon  deutlich  befestigt,  der 
linke  ist  noch  loser.    Patient  bekommt  schon  andere  weiche  Speisen. 

Am  13.  Februar  stösst  sich  oberhalb  des  linken  mittleren  Schneidezahns 
ein  3  mm  langes,  1  mm  breites  Knochenstückchen  ab.  Am  25.  Februar  ist 
der  Kiefer  bereits  so  fest,  dass  Pat.  alle  Speisen  zu  essen  vermag.  Die  linke 
Wange  erscheint  immer  noch  etwas  vorgetrieben;  der  Alveolarfoitsatz  ist  be- 
reits rechterseits  so  fest,  dass  nur  sehr  starker  Druck  ihn  noch  zu  bewegen 
vermag;  der  linke,  der  anscheinend  in  der  Mittellinie  gegenüber  dem  rechten 
etwas  beweglich  geworden,  weicht  beim  Druck  noch  immer  etwas  aus.  Durch 
Mangel  der  miitleren  Wand  der  Kieferhöhle,  wie  durch  Blähung  der  äusseren 


Eine  neue  Metliode  temporärer  Gaumenresection.  855 

Wand  durch  den  andrängenden  Tumor  sind  die  Befe»tigungs mittel  viel  ge- 
ringer als  rechts. 

Die  linke  Nasenhöhle  borkt  stark  und  muss  durch  häufige  Spülungen 
rein  gehalten  werden.  Patient  hat  sich  sonst  sichtlich  erholt;  bei  gutem  Ap- 
petit hat  er  bereits  2  Pfd.  an  Körpergewicht  zugenommen.  Er  wird  Mitte  Mai 
aus  der  Anstalt  geheilt  entlassen. 

Als  ich  den  Patienten  dem  diesjährigen  Chirurgencongress  vorstellen 
durfte,  war  er  kräftig  und  gesund.  Im  Gesicht  war  keinerlei  Zeichen  einer 
Entstellung  wahrnehmbar,  bis  auf  die  feine  lineare  Narbe  im  linken  Nasen- 
flügel, die  von  der  ersten  Operation  herrührte.  Die  linke  Gesichtsseite,  ins- 
besondere die  linke  Oberkiefergegend  erwies  sich  durch  die  Blähung,  w^elche 
der  Tumor  hervorgerufen  hatte,  immer  noch  etwas  stärker  als  die  rechte. 
Beim  Einblick  in  den  Mund  war  von  der  vorgenommenen  Operation  kaum 
etwas  wahrnehmbar.  Die  Zahnreihen  articuliren  gut.  Von  der  Narbe  im  Ye- 
stibulum  war  nur  bei  besonderer  Mühe  etwas  zu  sehen.  Die  Zähne  des  rechten 
Oberkiefers  stehen  vollkommen  fest,  klingen  bei  Percussion ;  keiner  ist  gelockert 
oder  schmerzhaft.  Bei  Prüfung  der  Empfmdungsfähigkeit  giebt  Patient  genau 
jede  Berührung  am  Zahn  an.  Linkerseits  ist  noch  ein  geringer  Grad  von  ela- 
stischer Nachgiebigkeit  vorhanden,  aber  doch  so  wenig,  dass  Patient  in  keiner 
Weise  in  seiner  Nahrungsaufnahme  oder  beim  Kauen  behindert  ist. 
Die  Sprache  ist  noch  nasal,  weil  einerseits  der  früher  durch  den -Tumor  ge- 
dehnte Gaumen  immer  noch  nicht  vollkommen  die  hintere  Rachenwand  bei 
der  Phonation  erreicht,  andrerseits  die  linke  Nasenhöhle  durch  Fortfall  der 
mesialcn  und  hinteren  Wand  der  Kieferhöhle  und  der  Muscheln  beträchtlich 
erweitert  erscheint:  Die  schleimige  Absonderung  aus  der  Höhle,  sowie  die  Nei- 
gung zur  Borkenbildung  hat  sich  bereits  vermindert;  von  irgend  einem  Recidiv 
ist  nirgends  etwas  zu  erkennen. 

Das  Allgemeinbefinden  des  Patienten  lässt  nichts  zu  wünschen 
übrig. 

Somit  darf  die  Operation  als  gut  gelungen  bezeichnet  werden. 

Als  Vorzüge  derselben  möchte  ich  den  Mangel  jeder  Ent- 
stellung bezeichnen.  Selbst  bei  der  Güssen bauer\schen  Methode 
bleibt,  auch  wenn  die  Vereinigung  der  Schleimhaut  durch  i)rimärc 
Heilung  geglückt  ist,  immer  noch  an  der  Stelle  des  Gauraen- 
defectes  eine  trichterförmige  Einziehung  der  Schleimhaut  zurück. 
Hier  kann  man  nur  mit  Mühe  die  Nahtlinie  hoch  oben  im  Vesti- 
bulum  nachweisen.  Sie  liegt  an  einer  Stelle,  an  welcher  innerhalb 
der  Mundhöhle  die  geringste  Gefahr  einer  Beeinträchtigung  der 
Heilung  vorliegt.  Denn  hierher  pflegen  sich  Speisereste  kaum  zu 
verirren.  Der  Wangendruck  begünstigt  die  Annäherung  der  Wund- 
ränder; die  Naht  ist  den  mechanischen  Einwirkungen  beim  Schlingen 
und  Schlucken    nicht    ausgesetzt;    die  Gegend    der  Wunde  ist  mit 


856  Dr.  Part  seh, 

Leichtigkeit  sauber. zu  haiton.    Die  rasche  und  mühelose  Anlegung 
der  Naht  trägt  zur  Verkürzung  der  Operationsdauer  erheblich   bei. 

Eine  Störung  des  Zahnsystems  wird  durch  die  Operation  nicht 
herbeigeführt.  Alle  Zähne  haben  oline  jede  Veränderung  den  Ein- 
griff ausgehalten,  sie  sind  in  ihrer  Vitalität  in  keiner  Weise  be- 
einträchtigt worden;  ihre  Empfindungsfähigkeit  ist  unverändert  ge- 
blieben. Ja  während  der  Heilung  sind  keinerlei  entzündliche  Rei- 
zungserscheinungen an  denselben  aufgetreten. 

Will  man  der  Gefahr  entgehen,  event.  Wurzeln  hoch  hinauf 
ragender  Eckzähne  zu  verletzen,  muss  man  mit  dem  Meisselschlage 
hoch  über  dem  Alveolarfortsatz  bleiben,  was  keinerlei  Mühe  macht. 
Aber  etwaigen  Bedenken  möchte  ich  mit  der  Erfahrung  begegnen, 
die  ich  bei  der  von  mir  geübten  Wurzelresection  gemacht  habe^), 
dass  auch  nach  Entfernung  der  W^urzelspitze  die  Zähne  fest  und 
funktionsfähig  im  Kiefer  bleiben. 

Absichtlich  habe  ich  die  Durchtrennung  der  Wände  der  Kiefer- 
höhle oberhalb  des  Bodens  der  Höhlen  und  oberhalb  der  Schleim- 
haut der  Nasenhöhle  ausgeführt,  und  nicht  submucös  nach  Ab- 
lösung der  Schleimhaut  vorgenommen.  Einerseits  wird  die  ent- 
stehende Wundfläche  erheblich  kleiner.  Man  erhält  mit  dem  Meissel- 
schlage nicht  eine  breite,  sondern  fünf  schmale  Wundflächen, 
die,  in  der  Schleimhaut  gelegen,  viel  günstigere  Heilungsbedin- 
gungen haben.  Die  Ernährung  des  Knochens,  und  damit  die  Hei- 
lung der  gesetzten  Wunden  ist  ganz  anders  gesichert,  wenn  die 
Schleimhaut  in  ganzer  Ausdehnung  mit  der  Unterlage  erhalten 
bleibt.  Darauf  ist  wohl  auch  die  rasche  und  gute  Heilung  ohne 
jede  Nekrose  zurückzuführen.  Der  kleine,  am  Ende  der  2.  Woche 
entfernte  Knochensplitter  war  wohl  ein  von  der  Operation  her 
zurückgebliebener  Splitter.  Sollte  Jemand  bei  der  Heilung  ein 
Empyem  der  Kieferhöhle  fürchten,  so  wäre  es  ein  Leichtes,  durch 
Auszwicken  eines  Stückes  aus  der  mesialen  Wand  der  Kieferhöhle 
einer  Eiteransammlung  in  derselben  vorzubeugen.  Ich  habe  weder 
in  dem  ersten  Falle  einer  Fractur  noch  in  dem  operirten  Falle  ein 
Empyem  entstehen  sehen. 


0  Partsch,    lieber  Wurzelresection.     Monatsschrift    für   Zahnheilkunde. 
Jahrgang  1898.     S.  80. 


Eine  nouc  Methode  temporärer  Gaumen resection.  857 

Die  Blutung  ist  bei  der  Durchtrennung  der  Knochen  gering. 
Nur  aus  der  Naso-palatina  blutet  es  etwas  stärker;  aber  ein  kurzer 
Druck  lässt  schnell  die  Blutung  zum  Stillstand  koramen.  Die  be- 
trächtliche Blutung  aus  dem  Tumor  wird  natürlich  nur  schwer  zu 
vermeiden  sein;  aber  vielleicht  gelingt  es  auch  hier,  wo  man  auf 
dem  von  mir  gezeigten  Wege  den  Tumor  freier  übersichtlich  und 
umfangreicher  vor  sich  hat,  durch  zweckmässige  Methoden,  Ligatur, 
Umstechung  u.  s.  w. ,  die  Blutung  mindestens  einzuschränken. 
Jedenfalls  braucht  man  nicht  in  Sorge  zu  sein  wegen  etwaiger 
Aspiration;  die  Lage  bei  herabhängendem  Kopf  gestattet  dem 
Operateur,  seine  ganze  Aufmerksamkeit  auf  die  Beseitigung  der 
Geschwulst  und  auf  die  Blutstillung  zu  vei-wenden ;  er  braucht  nicht 
ängstlich  auf  die  Narkose  zu  achten. 

Der  Zugang  zum  Schädelgrunde  von  der  Keilbeinhöhle  bis 
zum  Siebbein  ist  durch  die  Operation  so  übersichtlich  geschaffen, 
dass  man  sorgfältig,  fein,  mit  subtilster  Technik  operiren  kann. 
Das  bequeme  ßeiseiteziehen  der  Wangenweichtheile  schafft  so  viel 
Licht,  dass  man  Alles  genau  zu  übersehen  vermag.  Denen,  welche 
die  Operation  an  der  Leiche  prüfen  wollen,  möchte  ich  rathen, 
recht  auf  vollständige  Beseitigung  der  Todtenstarre  der  kräftigen 
Kaurausculatur  zu  achten.  Ist  sie  nicht  vollkommen  überwunden, 
so  hindert  sie  die  weite  Eröffnung  des  Kiefers.  Am  Lebenden  ist 
die  Llebersichtlichkeit  leicht  durch  weites  Herabziehen  des  Gaumens 
und  Beiseiteziehen  der  Gesichtsweichtheile  zu  schaffen. 

Trotzdem  gelingt  die  Annäherung  des  Gaumens  an  die  Kiefer 
nach  Beendigung  des  Vorgehens  an  der  Schädelbasis  mühelos.  Die 
Vereinigung  der  Schleimhaut  hat  mir  genügt,  um  die  Gaumen  an 
jeder  seitlichen  Verschiebung  zu  hindern  und  in  richtiger  Position 
zu  halten.  Eine  besondere  Schiene,  wie  sie  von  Kingsley  oder 
Angle  für  die  Fixation  bei  Oberkieferbrüchen  angegeben  ist,  er- 
wies sich  als  überflüssig.  Schon  nach  wenigen  Tagen  wird  der 
Kiefer  so  weit  fest,  dass  eine  erhebliche  Dislocation  ausge- 
schlossen ist. 

Die  Befestigung  nimmt  viel  rascher  zu,  als  ich  ursprünglich 
l)ei  der  Dünne  der  Wände  erwartet  hatte. 

Wenn  sie  in  dem  vorgestelltem  Falle  links  ni(;ht  ganz  voll- 
kommen erreicht  worden  ist,    lag    das    an    der    durch  die  frühere 


858      Dr.  Partsch,  Eine  neue  Methode  temporärer  Gaumenresection. 

Operation  und  den  Tumor  angerichteten  Zerstörung  der  Knochen- 
partieen  und  dem  die  äussere  Wand  bereits  betreffenden  Druck- 
schwunde. 

So  glaube  ich  diese  neue  Methode  der  temporären  Gaumen- 
rescction  als  einfach  und  bequem  ausführbar,  als  zweckmässij[^ 
zur  Erreichung  von  Krankheitsprocessen,  welche  die  oberen  Ab- 
schnitte der  Nasenhöhle,  den  Schädelgrund  vom  Siebbein  bis  Keil- 
beinhöhle betreffen,  zur  Nachprüfung  den  Herren  CoUegen 
empfehlen  zu  dürfen.  Sie  hat  den  Mangel  jeder  Entstellung  vor 
allen  facialen  Methoden,  die  leichte  und  blutsparende  Ausführ- 
barkeit vor  den  anderen  oralen  Methoden  voraus. 


LVIIL 

Multiple  Knochen-  und  Knorpelgeschwülste/) 


Von 

Dr.  w.  ULrfger^ 

Pritatdoeent  in  Erlangen. 


Eines  jener  bekannten  und  wunderbaren  Zusammentreffen  von 

seltneren  Erkrankungen   gleichen    oder   ähnlichen  Characters    gab 

mir    im    letzten    Winter    Gelegenheit,    fast    neben    einander   drei 

interessante  Fälle  multipler  Knochen-  bczw.  Knorpelgeschwülste  zu 

beobachten.     Es  handelte  sich    um  Myositis  ossificans  progressiva, 

multiple  cartilaginäre  Exostosen   und  multiple  Euchondrome.     Ich 

sehe    davon    ab,    ausführliche  Beschreibungen    zu   geben    und  will 

nur  das  Characteristische  jedes  einzelnen  Bildes  herausheben. 

Der  erste  Fall  bot  das,  man  darf  wohl  sagen,  typische  Bild  einer  Myo- 
sitis ossificans,  wie  es  in  den  Arbeiten  von  Münchmeyer,  Mays,  Helferich 
nnd  Cahen  beschrieben  ist.  Bei  dem  4 V2 jährigen  gut  genährten  Mädchen 
setzte  das  Leiden  vor  2  Jahren  acut  ein.  Unter  stark  entzündlichen  Er- 
scheinungen bildete  sich  zuerst  am  Rücken  etwas  links  von  den  untersten 
Rückenwirbeln  ein  blaurother,  schmerzhafter  Knoten,  die  Haut  darüber  war 
sehr  gespannt,  so  dass  man  meinte,  die  Geschwulst  würde  aufbrechen.  Die 
Schwellung  ging  aber  grösstentheils  zurück  und  an  ihrer  Stelle  wurde  nun  ein 
rundlicher  Knochen  vors  prung  bemerkt.  In  mehrfachen  Schüben  breitete  sich 
der  Process  dieser  Art  häufig  unter  Fieber,  fast  immer  mit  Entzündungs- 
erscheinungen weiter  aus  über  den  Rücken,  den  Nacken,  die  Arme,  den  Unter- 
leib und  die  Hüften,  zuletzt  wurden  Hals  und  Gesicht  befallen.  Jetzt  ist  die 
Wirbelsäule  ein  fester  Stab,  von  dem  lange,  unregelmässige  KnochenriiTe  aus- 
gehen, die  Schultern  sind  emporgezogen,  die  Oberarme  stehen  abducirt  unbe- 
weglich,   die  Unterarme  rechtwinklig  gebeugt,   wenig  beweglich,   die  Hände 


1)   Abgekürzt   vorgetragen    am   4.   Sitzuugstage    des    XXVII.   Coogresses 
der  Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin,  16.  April  1898. 


860  Dr.  V.  Kryger, 

liegen  gekreuzt  auf  dem  Leih,  die  Beine  sind  in  der  Hüfte  leicht  gebeug-t,  das 
rechte  abducirt  unbeweglich.     Der  Kopf  ist  nach  vorn  und  links  geneigi,   (las 
Gesicht  etwas  nach  rechts  gedreht.  Die  Wangen-  und  Mundmusculatur  ist  sehr 
hart,  der  Mund  kann  nur  noch  bis  zu  einer  Yj»  cm  breiten  Spalte  geöffnet 
werden,  das  Essen  ist  nur  durch  vSeitliche  Verschiebungen  des  Unterkiefers 
möglich,     üeberall  in  den  Muskeln  fühlt  man  derbe  Stränge  oder  Knochen- 
spangen,  die  theils  in  Verbindung  mit  dem  Skelett  stehen,  theils  frei  im  Ge- 
webe zu  liegen  scheinen,  fast  immer  dem  Faserverlauf  folgen,  nur  hin   und 
wieder  denselben  kreuzen.     An  den  Rippen,  den  Wirbeln  und  am  Becken 
springen  wirkliche  Exostosen  senkrecht  zur  Haut  hervor.     Es  fehlt  auch  nicht 
die  von  Helferich  zuerst  gewürdigte  Microdactylie  der  beiden  grossen  Zehen. 
Dieselben  zeigen  anscheinend  nur  ein  Glied,  das  in  Valgusstellung  dem  Meta- 
tarsus  aufsitzt. 

Der  Verlauf  des  Processes  hält  die  von  Münchmeycr  genau 
gekennzeichneten  drei  Stadien  innc.  Auf  eine  teigige,  fluctuirende 
Schwellung  mit  Oedem  der  weiteren  Umgebung  folgt  eine  derbe 
fibröse  Verdichtung  des  Gewebes,  auf  dieser  Stufe  macht  die  Ent- 
wicklung zuweilen  Halt,  dafür  sprechen  hier  die  Stränge  im  Sterno- 
cleidomastoideus  und  Obliquus  abdominis.  Die  Höhe  des  Processes 
ist  durch  die  Verknöcherung  des  Gewebes  ausgezeichnet. 

In  der  so  strittigen  Frage  nach  der  Entstehung  der  Myositis 
ossificans  neigt  man  in  neuerer  Zeit  immer  mehr  zu  der  Ansicht, 
dass  es  sich  um  eine  Geschwulstbildung  handelt,  wie  dies  zuerst 
von  Mays  klargelegt  wurde.  In  unserm  Fall  zeigt  das  mikro- 
skopische Bild  eines  Schnittes  aus  einer  wie  eine  Finger-Phalange 
geformten  Wucherung  am  Becken  in  grösster  Deutlichkeit  den  üebcr- 
gang  des  intermusculären  Bindegewebes  in  kleinzelligen  Knorpel, 
aus  dem  sich  dann  eine  Schicht  voll  ausgebildeten  Knorpels  ent- 
wickelt. Mit  scharfer  geradliniger  Grenze  setzen  sich  daran 
Knochenbälkchen,  die  grössere  Markräume  einschliessen.  Mit 
Cahen,  der  dasselbe  bei  durch  Trauma  entstandenen  Verknöcherungen 
sah,  halte  ich  diese  endochondrale  Entstehung  bezeichnend  für 
Geschwulstbildung. 

Als  Ausgangspunkt  muss  man  neben  dem  Knochensystem 
Sehnen,  Fascien  und  das  Bindegewebe  innerhalb  des  Muskels  an- 
sehen. Ein  Theil  der  Wucherungen  geht  unzweifelhaft  vom  Skelett 
aus  in  Form  von  Exostosen;  so^  sind  wohl  die  Geschwülste  am 
Kopf  und  an  den  Wirbeln  aufzufassen  und  die  Vorsprünge  am 
BeckiMi,  die  sich  nicht  in  der  Richtung  eines  Muskels  entwickeln. 
Ein  anderer  Theil    entsteht    in    den  Weichtheilcn,    dafür   sprechen 


Multiple  Knochen-  und  Knorpelpfoschwülste.  861 

die  ganz  isolirt  vom  Skelett  angetroffenen  Spangen.  Von  den 
Spangen,  die  im  Verlauf  eines  Muskels  von  Skelett  zu  Skelett 
gehen,  ist  es  schwer  zu  sagen,  ob  zwei  dem  Muskel  folgende  aus 
dem  Knochen  entstandene  Zacken  sich  vereinigt  haben  oder  ob  der 
Beginn  in  den  Weichtheilen  lag  und  dann  nach  beiden  Seiten  hin 
die  Verbindung  mit  den  Knochen  erfolgt  ist. 

Der  zweite  Fall  betrifft  ein  15 jähriges  Mädchen,  das  angeblich  im 
10.  Lebensjahre  zuerst  einen  kleinen  Knochenhöcker  auf  der  rechten  Schulter 
bemerkte  und  jetzt  nun  zahlreiche  Exostosen  trägt.  Dieselben  haben  vornehm- 
lich in  der  Nähe  der  Gelenke  an  den  langen  Knochen  ihren  Sitz,  dort  wo  die 
Epiphysenlinie  zieht;  sie  sind  theils  pilz-  und  stachelartig  vorspringend,  thcils 
breit,  massig,  in  Form  von  dicken  Leisten,  in  letzterem  Falle  erstrecken  sie 
sich  noch  eine  Strecke  weit  über  die  Diaphyse  und  verjüngen  sich  nach  der 
Mitte  des  Knochens  zu.  An  den  Rippen  ist  ihr  Sitz  am  Uebergang  von  Knorpel 
ZQ  Knochen,  am  Becken  sitzen  sie  kranzartig  dem  Rande  auf.  Eine  Ver- 
erbung liegt  nicht  vor,  da,  soweit  man  nachforschen  konnte,  kein  anderes 
Familienmitglied  Aehnliches  aufweist.  Von  Rachitis  sind  keinerlei  Zeichen 
nachzuweisen.  Die  zuerst  von  Volkmann  beschriebenen  und  als  rachitische 
Kennzeichen  angesehenen,  später  dann  von  Helferich  und  seinen  Schülern, 
besonders  eingehend  von  Bes  sei -Hagen  ihrer  Bedeutung  gemäss  gewürdigten 
Wachsthumsstörungen  der  mit  Exostosen  besetzten  Knochen  finden  sich  bei 
dem  Mädchen  in  ausgedehntem  Maasse.  Die  Messungen  ergaben  kaum  bei 
einem  Knochen  für  beide  Seiten  gleiche  Zahlen.  Im  Ganzen  bleiben  die 
Knochen  der  rechten  Körperhälfte  in  der  Länge  gegen  die  andere  Seite  zurück, 
während  in  den  meisten  Fällen  von  Bessel-Hagen  dieses  Missverhältniss 
gekreuzt  erschien.  Die  Körperproportionen  zeigen  ein  gleiches  Missverhältniss. 
Die  ganze  Körperhöhe  beträgt  nur  145  cm,  sicher  weniger  als  dem  Alter  des 
Mädchens  im  Durchschnitt  entspricht.  Der  obere  Symphysenrand  steht  71  cm 
über  dem  Boden,  also  etwas  unter  der  Mitte  des  Körpers,  während  er  nach 
Quetelet  in  der  Mitte  liegen  sollte. 

Verkrümmungen  sind  nur  an  den  beiden  Vorderarmknochen  der  rechten 
Seite  vorhanden,  Radius  und  Ulna  sind  dorsal-  und  radialwärts  convex  ge- 
bogen. Die  häufig  beobachtete  Regel,  dass  der  Grad  der  Wachthumsstörung 
von  der  Grösse  und  der  Zeit  der  Entwicklung  der  Exostosen  abhängig  ist,  trifft 
hier  am  rechten  Vorderarm  zu,  da  am  linken  Arm  nur  am  distalen  Ende  kleine 
Knöpfe  sitzen,  während  sich  rechts  frühzeitig  eine  wallnussgrosse  Exostose  am 
Radius  dicht  unter  dem  Köpfchen  enti^ickelt  hatte.  Der  Radius  ist  auch  um 
2  cm  kürzer  als  die  Ulna.  An  den  unteren  Extremitäten  trifft  die  Regel  aber 
nicht  zu,  die  Exostosen  sind  auf  beiden  Seiten  so  ziemlich  gleich  an  Zahl  und 
Grösse,  links  am  unteren  Femur-  und  oberen  Tibiaendo  sogar  zahlreicher  und 
trotzdem  sind  rechts  alle  Knochen  kürzer.  Näherliegond  ist  es  wohl  mit 
Rubinstein  und  Reich  anzunehmen,  dass  Exostosen  sowohl  wie  diese 
Störungen  an  den  Knochen  beide  gleichwerthige  Zeichen  einer  Entwicklungs- 
anomalie des  intermediären  Knorpels  sind. 

Archiv  fttr  klin.  Chirurgie.    Bd.  57.    Heft  4.  5Y 


862  l>r.  V.  Kryger, 

Die  so  häullg  als  Folge  der  ungleichmässigcn  Entwicklung 
beobachtete  Gelenkanoraalie,  die  Subluxation  des  Radius  sehen  wir 
in  unserem  Fall  am  rechten  Ellbogen,  ohne  dass  aber  die  abnorme 
Kürze  der  Ulna  die  Schuld  trüge,  sondern  wahrscheinlich  bedingt 
durch  die  Knickung  des  Radius  dicht  unterhalb  des  Köpfchens  und 
Lockerung  des  Gelenkapparates  in  Folge  der  Exostose.  Genu 
valgum  ist  besonders  ausgeprägt  am  rechten  Knie,  aber  nach 
Bessel-Hagen  wohl  nicht  abhängig  von  der  Exostosenentwicklung, 
da  diese  ganz  vornehmlich  an  der  Innenseite  besteht.  Dagegen 
kann  es  kaum  einem  Zweifel  unterliegen,  dass  der  Pes  valgus 
rechterseits  durch  die  besondere  Verkürzung  der  Fibula  hervor- 
gerufen ist. 

Eine  von  der  linken  Tibia  entnommene  Jlxostose  zeigte  auf 
dem  Schnitt  das  bekannte  Bild  im  Bau  und  Anordnung  von 
Knorpel  und  Knochen,  eigenthümlich  war  ihr  eine  bis  auf  die  Ba.si.s 
herabreichende  grosse  Bursa,  die  aber  streng  geschieden  war  vom 
Kniegelenk. 

Was  die  Genese  der  Exostosen  betrifft,    so  sind  dieselben  als 

Geschwülste    anzusehen,    die    mit  Vorliebe    im   jugendlichen  Alter 

durch    Wucherung    aus    dem    intermediären    Knorpel    der    langen 

Knochen    und    nachfolgender    Ossification    entstehen,    seltener    an 

den   platten  Knochen  aus  den  Theilen,    die  länger  knorpelig   per- 

sistiren. 

Recht  eigenartig  erscheint  der  dritte  Fall  von  multiplen  Enchondromen. 
Bei  einer  jetzt  54jährigen  Frau  hatten  sich  im  7.  Lebensjahre  Knorpelwuche- 
rungen an  der  rechten  Hand  entwickelt,  später  auch  an  der  linken  Hand  und 
am  rechten  Fuss,  im  20.  Jahre  gesellten  sich  dazu  kirschgrosse  Beulen  an  der 
Radialseite  des  rechten  Zeigefingers  und  volar  zwischen  den  Köpfen  der  Meta- 
carpalknochen,  erst  in  den  letzten  10  Jahren  traten  weitere  Geschwülste  am 
Daumen  hinzu.  An  den  Fingern  beider  Hände,  an  den  Zehen  beider  Fasse, 
aber  auch  an  den  Köpfen  der  Mittelhand-  und  Mittelfussknoohen  sitzen  die 
Knorpelgeschwülste  stets  an  der  Epiphyse,  nie  in  der  Diaphyse.  Ausserdem 
finden  sich  nun  an  der  rechten  Hand  eine  Anzahl  weicher,  gut  umschriebener 
Knoten,  die  sich  etw«as  verschieben  lassen,  dicht  unter  der  verdünnten  und  ge- 
spannten Haut  liegen,  einige  bläulich  durchschimmernd,  hier  und  da  föhlt 
man  beim  Zusammendrücken  der  Geschwulst  kleine  harte  Theile  im  Innern. 
Ihren  Platz  haben  sie  in  der  Handfläche  zwischen  den  Köpfen  der  Mittelhand- 
knochen  und  in  Fonn  einer  Schnur  grosser  Perlen  am  ganzen  Daumen  entlang 
durch  den  Ballen  hindurch  bis  auf  die  Beugeseite  des  Vorderarms.  In  dieser 
letzteren  Anordnung  treffen  wir  sie  wieder  am  äusseren  rechton  Fnssrand, 
vereinzelt  auch  am  Mittelfuss. 


Multiple  Knochen-  und  Knorpelffcsrhwülsto.  8f)3 

Der  rechte  Fuss  ist  ausserdem  unförmig  durch  eine  liokosnussgrossc  Gc- 
schwulst  um  den  1.  Metatarsus  herum,  die  Haut  über  demselben  ist  gespannt, 
glänzend  roth,  die  Consistenz  prall  elastisch,  der  Druck  schmerzhaft.  Dies 
Gebilde  sollte  sich  in  den  letzten  drei  Wochen  aus  einer  flachen  Schwellung  am 
innern  Fussrande  gebildet  haben,  die  angeblich  auch  nur  vier  Wochen  bestand. 

Bei  der  Operation  dieser  Geschwulst  wurden  auch  eine  Reihe  der  weichen 
Knoten  am  Fuss  und  rechten  Daumenballen  entfernt.  Man  konnte  "die  bläulich 
und  braun  schimmernden  Knoten  gut  herausschälen,  sie  hatten  eigene  Hüllen, 
die  allerdings  stets  innig  mit  einer  Vene  zusammenhingen.  Man  sah  peripher 
ganz  gut  den  Zutritt  des  Gefasses,  konnte  dasselbe  am  andern  Ende  leider 
nicht  verfolgen.  Zu  dem  übrigen  Gewebe  bestand  keine  besondere  Beziehung, 
die  kleinsten  Gebilde  schmiegten  sich  innig  in  die  Lücken  zwischen  Sehnen 
bezw.  Muskeln  hinein,  reichten  auch  bis  auf  den  Knochen,  liessen  sich  aber 
überall  gut  lösen.  Wurde  ein  oder  das  andere  Bläschen  eröffnet,  so  sprang  ein 
hirsekorngrosses,  gelbliches,  knorpelhartos  Körnchen  heraus,  daneben  floss 
etwas  venöses  Blut  ab.  Schnitte  aus  diesen  Gebilden  zeigten  deutlich  das  Bild 
eines  cavernösen  Angioms,  nach  dem  Befunde  bei  der  Operation  offenbar  aus 
den  Venen  entstanden.  In  den  kleinen  gelblichen  harten  Körpern  findet  sich 
kein  Knorpel,  nur  ringförmig  geschichtetes  zellloses  oder  sehr  zellarmes  fibröses 
Gewebe.  Ich  wäre  am  ehesten  geneigt,  das  Ganze  als  übereinstimmend  mit 
dem  in  den  Fällen  von  Käst  und  v.  Recklinghausen  und  Steudel  er- 
hobenen Befund  zu  erklären,  es  bestand  dort  auch  die  Gombination  von 
Enchondromen  mit  phlebogenen  cavernösen  Angiomen. 

V.  Recklinghausen  schildert  die  harten  Körnchen,  sowie  wir  sie  ge- 
sehen haben,  auch  ähnlich  ihre  Zusammensetzung  und  erklärt  sie  für  Phlebo- 
lithen. Ob  die  Analogie  eine  vollständige  ist  und  welcher  Art  die  Beziehungen 
zwischen  Angiomen  und  Enchondromen  sind,  das  zu  untersuchen  soll  einer 
besonderen  Bearbeitung  vorbehalten  bleiben. 

Mit  dem  bisher  Geschilderten  sind  jedoch  die  Veränderungen  noch  nicht 
erschöpft.  Auch  bei  diesem  Falle  haben  wir  erhebliche  Wachsthumsstörungen 
an  den  Knochen  des  rechten  Beins  und  des  rechten  Arms.  Das  rechte  Bein 
ist  5  cm  kürzer  als  das  linke,  Femur,  Humerus,  Radius,  Ulna,  Tibia  und 
Fibula  sind  wesentlich  kürzer  als  dieselben  Theile  der  linken  Seite,  der 
Humerus  ausserdem  verkrümmt,  nach  der  Brust  und  nach  hinten  convex,  Femur 
und  Tibia  im  unteren,  bezw.  oberen  Drittel  nach  hinten  und  aussen  convex. 
An  letzteren  beiden  Knochen  bestehen  an  der  Epiphysengrenze  vielzackige, 
massige  Exostosen.  Im  rechten  Knie  ist  ferner  noch  der  Unterschenkel  etwas 
nach  hinten  und  oben  verschoben,  Subluxation  der  Tibia. 

Recht  auffällig  ist  das  Missverhältniss  der  Körperproportionen,  bei  einer 
Höhe  von  144  cm,  die  weit  unter  dem  Mittelmaass  bleibt,  beträgt  der  Abstand 
des  oberen  Symphysonrandes  vom  Boden  nur  ßO  cm,  während  er  die  Hälfte  der 
Körperlängo,  72  cm  haben  sollte. 

Die    gleichzeitige  Beobachtung    dieser  Geschwulstbikler   legte 

den  Gedanken  nahe,    nach    bestimmten  Beziehungen    derselben  zu 

einander  zu  forscheu.    Dass  solche  zwischen  Exostosen  und  Enchon- 

0/* 


<S64        Dr.  V.  Krygor,  Multiple  Knochen-  und  ICnorpelgeschwülste, 

clromen  bestehen,  hat  Nasse  bereits  nachgewiesen  und  fand  sich 
dies  auch  in  unsern  Fällen  bestätigt,  namentlich  soweit  es  sich  um 
Wachsthumsstörungen  und  Corabination  beider  bei  demselben  Indivi- 
duum handelt.  Die  Myositis  ossificans  stellt  allerdings  in  dieser  Hinsicht 
etwas  ganz  Eigenartiges  dar.  Vergleicht  man  aber  alle  drei  Ge- 
schwulstarten rücksichtlich  ihrer  Entstehung,  so  ergiebt  sich  doch 
eine  gewisse  üebereinstimmung.  In  den  drei  besprochenen  FäDen 
begann  das  Leiden  in  den  Jahren,  in  denen  das  Knochenwachs- 
thum  am  lebhaftesten  vor  sich  geht,  man  darf  daraus  den  Schluss 
ziehen,  dass  es  sich  bei  der  Entstehung  der  Wucherungen  um 
Störungen  in  der  Knochen bildung  handelt.  Für  Exostosen  und 
Enchondrome  folgt  man  jetzt  wohl  allgemein  der  Ansicht  Virchow's, 
dass  beide  Formen  durch  Abnormitäten  in  der  Umwandlung  des 
transitorischen  Knorpels  zu  Knochen  bedingt  sind.  Für  einen  Theil 
der  Geschwülste  bei  der  Myositis  ossificans  scheint  dies  ebenfalls 
zuzutreffen,  nämlich  für  die  vollkommen  nach  dem  Typus  der 
Exostosen  gebauten  Auswüchse.  Dazu  kommen  nun  hier  allerdings 
noch  Reizzustände  in  all  den  Geweben  des  Bewegungsapparates, 
die  wir  auch  sonst  als  knochenbildende  kennen. 

Eine  offene  Frage  ist  es,  welche  Momente  zu  diesen  Störungen 
im  Knochenwachsthum  führen,  ob  die  Rachitis  eine  Disposition 
schafft  oder  ob  die  Ursachen  sich  weiter  zurück  in  der  embryonalen 
Anlage  finden.  Für  unsere  Fälle  von  Exostosen  und  Enchondromen 
lässt  sich  die  Rachitis  als  prädisponirendes  Moment  abweisen,  da 
die  Verkrümmungen  der  Knochen  die  eine  Körperhälfte  so  be- 
sonders auszeichnen  und  sonst  alle  Zeichen  überstandener  Rachitis 
fehlen;  viel  mehr  Wahrscheinlichkeit  hat  die  Annahme,  dass  der 
Gnmd  in  einer  abnormen  Anlage  der  Knochen  zu  suchen  ist.  Auf 
die  gleiche  Ursache  dürfte  auch  die  Entwicklung  der  Myositis  ossi- 
ficans zurückzuführen  sein,  dafür  spricht  in  hohem  Grade  der  Um- 
stand, dass  sich  fast  regelmässig  bei  den  davon  befallenen  Kranken 
noch  ein  anderes  Zeichen  einer  angeborenen  Abnormität  der  Knochen 
findet,  die  symmetrische  Mikrodactylie  an  den  grossen  Zehen.  So 
scheinen  in  der  That  die  drei  in  ihren  ausgebildeten  Formen  ver- 
schiedeneu Geschwulstarten  durch  dieselbe  Anomalie  bedingt  zu 
sein,  durch  Störungen  in  der  embryonalen  Anlage  des  Knochen- 
systems. 


LIX. 

üeber  die  Narkose  mit  Aethylchlorid/^ 

.     Von 

Dr.  Georg  liOthelssen, 

Assistenten  an  Prof.  t.  Hacker's  Klinik  in  Innsbruck. 

(Mit  2  Figuren.) 


Zur  Localanästhesie  \^ird  Aethylchlorid  schon  lange  Zeit  ziem- 
lich allgemein  angewandt,  woniger  gebräuchlich  ist  seine  Verwendung 
zur  Inhalationsanästhesie.  Im  Sommer  1896  wurde  in  der  Münchner 
medicin.  Wochenschrift  (JJo.  27)  ein  kurzer  Bericht  des  Bulletin 
medical  (No.  35)  abgedruckt,  in  dem  Aethylchlorid  zur  Narkose 
empfohlen  wird^).  Auf  Anregung  Prof.  Soulier's  waren  damals 
schon  in  den  Spitälern  Lyon's  8417  Narkosen  mit  Aethychlorid, 
dem  sogenannten  „Kelen''  der  Firma  Gilliard,  Monnet  und  Cartier 
ausgeführt  worden.  Niemals  sollten  sich  üble  Zufälle  ereignet 
haben.  Da  nun  bisher  kaum  ein  Inhalationsanästheticum  bei  einer 
so  grossen  Zahl  von  Narkosen  ohne  Todesfall  geblieben  war,  wagte 
ich  es  im  August  1896,  als  ich  in  Vertretung  Prof.  v.  Hacker's 
die  Klinik  zu  leiten  hatte,  eine  solche  Kelen-Narkose  auszuführen. 

Da  uns  damals  die  Wirkungsweise  des  Mittels  aus  eigener 
Anschauung  noch  nicht  bekannt  war,  verwendete  ich  vorsichtshalber 
die  Tropfmethode,  od(?r  wie  man  hier  richtiger  sagen  muss  die 
Spritzmethode,  sowie  die  Esmarch'sche  Maske.  Soulier  hatte 
zwar  gesagt,  dass  man  damit  schwer  oder  gar  nicht  zum  Ziel 
komme,  in  diesem  Fall  war  der  Erfolg  aber  überraschend. 

Es  handelte  sich  um  ein  junges  Mädchen  mit  einem  Panaritium. 


*)  Der  obige  für  den  Congress  angemeldete  Vortrag  konnte  wegen  Mangel 
an  Zeit  nicht  zur  Erledigung  gelangen. 

2)  Schon  vorher  hatte  Dr.  Henning  (Berlin)  es  empfohlen  auf  Grund  der 
Thierversuche  Schleich 's  (Schmerzlose  Operationen,  2.  Aufl.  Berlin  1897)  ohne 
Anklang  zu  finden. 


8()()  Dr.  0.  Lotheissen, 

Die  leisoslr  RowPiziing  dos  Fingers  entlockte  ihr  lehliafte  Schinorz- 
äusserungen.  Wie  orslaniitcn  wir  nun,  als  nach  1  Minute,  ohne 
dass  auch  nur  die  Spur  einer  Excitadon  vorausgegangen  w-äre. 
vollkommene  Anästhesie  eingetreten  war  und  man  nun  die  Operation 
anstandslos  ausführen  konnte.  Kaum  war  der  Korb  entfernt,  so 
schlug  die  Patientin  die  Augen  auf,  nach  w^enigen  Sekunden  war 
sie  ganz  bei  sich  und  wollte  nicht  glauben,  dass  sie  schon  operirt 
worden  wäre. 

Dieser  günstige  Erfolg  veranlasste  Herrn  Prof.  v.  Hacker 
auch  weiterhin  auf  seiner  Klinik  Narkosen  mit  Aethylchlorid  vor- 
nehmen zu  lassen.  In  den  Beiträgen  zur  klinischen  Chirurgie^) 
berichtete  Ludwig  über  66  Fälle,  inzwischen  ist  die  Zahl  unserer 
Kelen-Narkosen  auf  170  angewachsen.  Diese  Zahl  mag  wohl 
relativ  klein  erscheinen,  erklärt  sich  aber  leicht  damit,  dass  wir, 
wenn  es  irgend  anging,  lieber  die  allgemeine  Anästhesie  vermieden 
haben  und  die  Infiltrationsanästhesie  nach  Schleich  anwandten. 
Da  wir  niemals  bei  der  Kelen-Narkose  üble  Zufälle  bemerkt  haben. 

r 

möchte  ich  mir  erlauben,  Ihnen  in  Kürze  Einiges  über  unsere  Er- 
fahrungen mitzutheilen. 

Was  zunächst  die  Technik  der  Kelen-Narkose  betrifft,  so  hat 
sich  gezeigt,  dass  man  eine  luftdicht  dem  Gesicht  aufsitzende 
Maske  brauclit,  um  in  allen  Fällen  sichere  Anästhesie  zu  erreichen. 
Wir  verwendeten  darum  eine  Zeit  lang  die  Julliard'sche  Aether- 
maske.  Da  es  aber  gewiss  nicht  gleichgültig  ist,  wenn  der 
Patient  stets  die  Exspirationsgaso  wieder  einathmen  muss,  sind  wir 
von  dieser  Maske  abgegangen  und  verwenden  nur  mehr  den 
Breuer'schen  Korb  (bis  jetzt  in  125  Fällen)^).  Dieser  ist  eine 
Modification  der  Clover'schen  Maske.  Er  besteht  aus  einem 
Metallhelm,  der  mit  einem  Gummiring  armirt  ist,  welcher  ermöglicht, 
dass  man  ihn  fest  an  das  Gesicht  anpasst,  so  dass  Mund  und 
Nase  vom  Helm  gedeckt  sind.  Er  hat  ein  Inspirations-  und  ein 
Exspirationsventil.  Auf  ersteres  lässt  sich  eine  Hohlkugel  aufstecken. 
Diese  besteht  aus  zwei  Hälften,  die  gut  in  einander  passen,  man 
kann  sie  also  öffnen  und  nun  ein  Stück  entfetteten  Mull  hinein- 
legen als  Träger  des  Narkoticums.  lüine  Oeffnung  in  der  Kugel 
(Tmöglicht  das  Aufgiessen   von   aussen,   ohne  den   Korb  zu  lüften 

1)  Band  XIX,  Heft  3. 

')  Vax  bcziclicn  von  L.  Scimimei.stcr,  Mechaniker,  Wien  IX,  Spitalgasse  fi. 


Ueber  die  Narkose  mit  Aetliylclilorid. 


867 


(vgl.  Fig.  1  und  2).  Breuer  hat  Kcincineit')  diesen  Korh  angegeben, 
um  damit  an  der  chirurgischen  Abtheilung  Prof.  v.  Hacker'.s  im 
Sophienspital  zn  Wien  die  l'entai-Narkosen  durchzuführen. 

Fig.  1. 


Die  Vorbereitung  ist  die  gleiche,  wie  für  die  Chloroform-Narkose. 
Der  Patient  soll  als»  wenn  möglich  nüchtern  sein;  doch  liahen 
wir  auch  einige  Palienten  der  Ambulanz,  wenn  die  Operatior 
dringend  war,  narkotisirt,  obwohl  sie  gegessen  hatten.  Herz  und 
l:unge  wurden  stets  genau  geprüft,  ebenso  der  Harn  untersucht.  Pul.s 
undAthmung  wurden  während  der  ganzen  Dauer  derNarkose  eontrolirt. 

Da  die  Narkose  schnell  eintritt  und  auch  schnell  vorübergeht 

')  Siehe  Wiener  klinische  Wochenschrift,  1892,  No.  3  und  4. 


868  Dr.  G.  Lotheissen, 

ist  es  ixui ,  rnsl.nimentc,  Verbandstoffe  etc.  vorher  vollständig  vor- 
zurichten, damit  sofort  mit  der  Operation  begonnen  werden  könne. 
Es  ist  darum  auch  empfehlenswerth,  dass  zu  Anfang  im  Operations- 
raura  völlige  Ruhe  herrsche,  da  sich  sonst  der  Eintritt  der  Narkose 
verzögert,  und  man  grössere  Mengen  von  Aethylchlorid  verbraucht. 

Fig.  2. 


Schematischer  Durchschnitt  des  Breuer'schen  Korbes. 
a  Hohlkugel,  b  Iiispirations-,  c  Exspirationsventil,  d  Gummiring. 

Wir  machen  unsere  Narkosen  mit  dem  französischen  Präparat 
von  Monnet.  Die  bisher  im  Handel  vorkommenden  Tuben  sind 
für  die  locale  Anästhesie  und  daher  mit  haarfeiner  Ausflus.söffnung 
construirt,  was  für  die  Narkose  bisweilen  störend  ist,  da  man  doch 
etw-as  grössere  Mengen  auf  einmal  braucht.  Wir  haben  aber  bei 
der  Fabrik  in  Anregung  gebracht,  graduirte  Tuben  mit  grösserer 
Oeffnung  zu  Narkosezwecken  anzufertigen  und  hoffen  diesen  Wunsch 
bald  erfüllt  zu  sehen  ^).  Man  spritzt  circa  3  bis  5  g.  Aethylchlorid 
auf  den  Mull.  Nun  fordert  man  den  Kranken  auf  ruhig  zu 
athmen  und  bringt  die  Maske  vor  das  Gesicht  des  Patienten,  indem 

*)  Anm.  während  der  Correctur:  Die  Versuche  mit  derartigen  Tuben 
haben  inzwischen  ergeben,  dass  es  nicht  gut  ist,  die  Ausflussöffnung  zu 
vcrgrössern,  da  dann  das  Aethylchlorid  nicht  gefriert,  und  deshalb  zuviel 
davon  auf  einmal  iuhalirt  wird.  Es  tritt  sehr  heftige  Excitation  auf  und  zu- 
gleich starke  Cyanosc.     Wir  sind  daher  zu  den  alten  Tuben  zurückgekehrt. 


Uebor  die  Narkose  mit  Aethylohlorid.  869 

man  sie  leicht  andrückt,  damit  sie  luftdicht  schliesse.  Diese 
Aethylchloridmenge  reiclit  aus  für  etwa  3  bis  4  Minuten;  soll  die 
Narkose  länger  dauern,  so  muss  man  vor  Ablauf  der  genannten 
Zeit  aufs  Neue  aufspritzen. 

Charakteristisch  ist  der  rasche  Eintritt  der  Anästhesie;  etwa 
1  bis  172  Minuten  nach  dem  Aufsetzen  der  Maske  (bei  Kindern 
schon  nach  V2  ^^^  1  Minute)  kann  man  die  Operation  beginnen  i). 
Ein  Excitationsstadium  fehlt  meist  oder  ist  sehr  gering,  nur  bei 
etwa  13  pCt.  der  Kelenisirten  war  eine  nennenswerthe  Excitation 
zu  verzeichnen. 

Ist  die  Narkose  eingetreten,  so  besteht  wohl  vollkommene 
Analgesie,  doch  sind  die  Corneal-  und  Pupillarreflexe  meist  voll- 
kommen erhalten,  ja  es  kommt  vor,  dass  der  Patient  die  Augäpfel 
bewegt,  sozusagen  „herumsieht."  Da  wir  niemals  eine  tiefere 
Narkose  brauchten,  lüfteten  wir  in  den  wenigen  Fällen,  in  denen 
diese  Reflexe  verschwunden  waren,  sofort  die  Maske  bis  Pupille 
und  Cornea  wieder  prompt  reagirten. 

Die  Qualität  des  Pulses  ändert  sich  während  der  Narkose 
nicht,  die  Frequenz  wechselt  ein  wenig,  in  der  Regel  nimmt  sie 
etwas  ab.  Die  Zahl  der  Respirationen  wird  meist  etwas  gesteigert, 
doch  ohne  irgendwie  beunruhigend  zu  werden,  speciell  fehlt  fast 
immer  die  Cyanose:   nur  in  3  Fällen  konnten  wir  sie  beobachten. 

Das  Erwachen  aus  der  Narkose  geht  im  Vergleich  zu  anderen 
Narkoticis  sehr  rasch;  das  Bewusstscin  kehrt  aber  nicht  so  schnell 
wieder,  als  es  bei  Einleitung  der  Narkose  schwand;  wie  ein 
College  uns  schilderte,  der  wegen  eines  Panaritiums  operirt  wurde 
und  Narkose  wünschte.  Erbrechen  sollte  nach  Soulier's  Angaben 
stets  ausbleiben.  Wir  konnten  es  in  einigen  (18)  Fällen  beobachten, 
doch  dauerte  es  nur  kurz.  Manche  Patienten  fühlten  sich  aber 
nach  der  Narkose  so  wohl,  dass  sie  mit  Appetit  essen  konnten. 
Jedenfalls  hinterlässt  die  Kelen-Narkose  keinen  derartigen  Wider- 
willen, kein  Ekelgefühl  wie  die  Chlorofomi-Narkose;  wie  der  Um- 
stand beweist,  dass  einige  Patienten  (und  nicht  bloss  Erwachsene 
sondern  auch  Kinder)  selbst  eine  zweite  Kelen-Narkose  wünschten, 
als  abermals  ein  operativer  Eingriff  vorzunehmen  war. 


^)  Nur  wenn  die  Narkose  anfangs  nicht  regelrecht  ausgeführt  wurde,  wenn 
z.  B.  die  Maske  dem  (lesicht  nicht  fest  anlag,  trat  die  Analgesie  nach  3  bis 
4  Minuten  ein. 


870  Dr.  G.  Lotheissen, 

Ebenso  wie    clor  Conical-  und  Pupillarreflex  erhalten  bleiben, 
erhält  sich  auch  der  Muskeltonus;   völlige  Muskelerschlaffung  fehlt 
meistens.     Dieser  Umstand  einerseits,  sowie  andererseits  das  leichte 
Erwachen    aus    der  Narkose,    welches    eintritt,    wenn    man    nicht 
rechtzeitig  nachgiesst,    lassen  wohl  die  Narcose  mit  Aethylchlorid 
für   länger    dauernde    Operationen    und    für    Eingriffe,    bei    denen 
Muskelerschlaffung    unbedingt    nöthig    ist,    ungeeignet   erscheinen. 
Wir  gebrauchen    sie    darum    hauptsächlich  bei    eitrigen  Processen, 
speciell    ausgedehnten    Phlegmonen,    wo    locale    Anaesthcvsie    nur 
schwer      anzuwenden     wäre;      ferner     auch      bei     Auskratzungen 
wegen  Knochencaries,    bei    vereiterten    Lymphdrüsen;    ferner    zur 
Einrichtung  von  Knochenbrüchen    und  Luxationen    (besonders  ver- 
alteten),   die  ohne  Narkose    nicht  gelangen,    weil  die  Kranken  zu 
heftigen  Schmerz  äusserten  und  ihre  Muskeln  geradezu  krampfliaft 
anspannten,     liier  wurde    stets  ein  für    die  Einrichtung  eben  hin- 
reichender Grad    von  Muskelerschlaffung    erzielt.     Auch    zum    Re- 
dressement    bei  Contracturstellungen  und  bei  Pes  varus,  zur  Dila- 
tation   der  weiblichen  Harnröhre,    um    die  Ureteren    zu    sondiren, 
erwies    sich    die  Kelennarkose    sehr  geeignet.     Dazu  kämen    noch 
jene  Operationen,    wie    z.  B.    die   Exstirpation    kleiner    Tumoren, 
welche    sich    leicht    mit    Infiltrationsanästhesie    hätten    ausführen 
lassen,  wo  aber  die  Kranken  selbst  eine  Narkose  verlangten. 

Die  Aufzählung  dieser  operativen  Eingriffe  zeigt  schon  an, 
dass  wir  dazu  niemals  lange  (lauernder  Narkosen  bedurften.  Für 
gewöhnlich  dauerte  die  Narkose  5  bis  10  Minuten,  nur  18  Mal 
währte  sie  bis  zu  15  Minuten,  in  2  Fällen  hatten  wir  Narkosen 
von  20  und  25  Minuten  zu  verzeichnen.  Die  Menge  des  Nar- 
koticums,  die  für  gewöhnlich  zu  den  Kelennarkosen  benöthigt  wird, 
schwankt  zwischen  8  bis  10  Gramm,  ist  jedoch  individuell  ver- 
schieden. Das  Minimum  verbrauchten  wir  bei  einem  IV2 jährigen 
Kind,  nämlich  3  Gramm.  Dies  war  das  jüngste  Individuum,  dass 
wir  kelenisirten,  das  älteste  war  ein  Mann  von  72  Jahren.  In  der 
Art  der  Narkose  zeigte  sich  bei  allen  Lebensaltern  kein  Unterschied. 

Unangenehme  Zufälle  konnten  wir  nie  bemerken;  niemals 
traten  Erscheinungen  der  Herzschwäche,  gestörter  Respiration  auf, 
noch  weniger  also  einc^  wirkliche  Asphyxie.  Trotzdem  muss  man 
auch  beim  Aethylchlorid  zu  steler  Vorsicht  mahnen,  denn  nach 
einer  brieflichen  Mittheilung  Soulier's   ist  in  letzter  Zeit  in  Lyon 


Ceber  die  Narkose  mit  Aethylchlorid.  871 

ein  Todesfall  vorgekommen  und  in  einer  Abhandlung  über  „Fuss- 
gelenk-  und  Fusswurzeltuberculose"  aus  Prof.  Koch  er 's  Klinik  i) 
erwähnt  J.  Spengler  unter  dem  Kcipitel:  „Todesursachen  der 
resccirten  Fälle"  einen  Mann  von  27  Jahren,  der  „nach  der  Ope- 
ration gestorben  ist  an  den  Folgen  der  Cloraethylnarkose"^). 
Leider  konnten  wir  über  beide  Fälle  keine  nähere  Auskunft  erhalten. 

Eine  schädigende  Wirkung  auf  die  Nieren  war  auch  nicht  zu 
beobachten;  wir  fanden,  obwohl  fa^t  in  jedem  Fall  der  Harn  auch 
nach  der  Narcose  untersucht  wurde,  niemals  Albuminurie;  ja  bei 
einem  Mädchen,  welches  schon  hochgradige  Albuminurie  hatte 
(Allgemeintuberculose,  Amyloidose  der  Nieren),  war  die  Eiweiss- 
menge  nach  der  Narkose  nicht  gesteigert,  obwohl  wir  das  hier 
erwartet   hatten  und  darum   die  genauesten  Messungen    anstellten. 

Interessant  ist  es  nun,  dass  unsere  Erfahrungen  am  Menschen 
zum  Theil  in  Widerspruch  stehen  mit  jenen,  die  Schleich^)  auf 
Gnmd  von  Thierexperimenten  gewonnen  hat;  während  sie  anderer- 
seits theilweise  damit  übereinstimmen.  Schleich  hat  gefunden, 
dass  ein  Narcoticum  um  so  schneller  wirke,  je  weiter  sein  Siede- 
punkt von  der  Körpertemperatur  entfernt  liegt.  Da  nun  das  fran- 
zösische Aethylchlorid  bei  -f-  10®  C.  siedet  (andere  Präparate  bei 
+  15  C),  wäre  die  rasche  Wirkung  begreiflich.  Da  das  Aethyl- 
chlorid nach  Schleich  in  den  Lungen  in  Form  gespannten  Dampfes 
enthalten  sein  muss  wegen  des  starken  Temperaturunterschiedes, 
wird  es  natürlich  auch  raeh  wieder  abgegeben.  Daher  das  schnelle 
Erwachen  nach  der  Narkose. 

Schleich  folgert  aber  daraus,  dass  das  Aethylchlorid  in 
dieser  Form  die  Lungen  passirt,  dass  es  zu  schweren  Schädigungen 
des  Respirationstractus  kommen  müsse*).  Wir  konnten  das  beim 
Menschen  niemals  beobachten.  Wir  haben  Patienten,  die  zuvor 
nach  wiederholten  Narkosen  mit  Billroth-Mischung  jedesmal 
heftige  Bronchitiden    durchgemacht  hatten,    mit  Aethylchlorid  nar- 


1)  Deutsche  Zeitschrift  für  Chirurgie.     Bd.  44.     1896. 

2)  In  der  Tabelle  (S.  68)  heisst  es  dann  freilich,  dass  er  „bei  der  Nar- 
kose" starb  an  „Chloraethylvergiftung'*. 

8)  1.  c. 

^)  1.  c.  S.  48).  „Es  kommt  zu  ganz  turbulenten  Respirationsstörungen, 
zu  deutlicher  Orthopnoe,  Galopprhythmus  der  Athmung,  unter  gleichzeitiger 
Cyanose,  wenn  der  Siedepunkt  tiefer  liegt  als  die  Körpertemperatur.  Diese 
Störungen  lösen  sich  am  heftigsten  aus,  je  weiter  sich  der  Siedepunkt  nach 
unten  von  der  Körpertemperatur  entfernf*. 


872  Dr.  G.  Lotheissen,  Ueber  die  Narkose  mit  Aethylchlorid. 

kotisirt  und  danach  ^ar  keine  Alteration  der  Lunge  bemerken 
können.  Ja,  wir  haben  gerade  deshalb  bei  einigen  Patienten,  die 
an  hochgradigen  Lungenaffectionen  litten,  die  Kelen -Narkose  aiLS- 
geführt.  Hier  combinirten  wir  mit  grossem  Vortheil  die  Infiltrations- 
anästhesie mit  der  Narkose.  Phthisiker,  ja  selbst  ein  Patient  mit 
Pneumonie,  bei  denen  wegen  hochgradiger  Oaries  oder  septischer 
Eiterungen  eine  Amputation  vorgenommen  werden  musste,  wurden 
zur  Ablösung  des  Periostes  und  zum  Durchsägen  der  Knochen  ke- 
lenisirt,  nachdem  die  Weichtheile  unter  Infiltrationsanästhesie  durch- 
trennt waren.  Freilich  haben  diese  Narkosen  nur  sehr  kurz  ge- 
dauert, aber  nicht  einmal  zeigte  sich  nachher  eine  Verschlimmerung 
der  Lungenerkrankung. 

Schleich  meint  auch,  dass  von  einem  Körper  mit  so  nie- 
drigem Siedepunkt  in  der  Zeiteinheit  viel  mehr  in  die  Lunge  ge- 
langen müsse  als  von  einem  höher  siedenden  Aether.  Das  dürfte 
wohl  beim  Aethylchlorid  bei  unserer  Applicationsweise  nicht  der 
Fall  sein.  Es  gelangen  keineswegs  z.  B.  die  auf  einmal  aufge- 
spritzten 5  g  in  die  Lunge,  obwohl  die  Zimmertemperatur  höher 
ist  als  der  Siedepunkt  des  Aethylchlorids.  Die  erste  Menge  ver- 
dunstet rasch  auf  dem  Mull  und  erregt  hier  solche  Kälte,  dass  die 
weiteren  Mengen  Aethylchlorid  zu  einer  weissen  Kruste  gefrieren, 
die  nur  sehr  langsam  wieder  sich  in  Gas  umwandelt. 

All  dies  zusammen  genommen  drängt  mich  zu  der  Annahme, 
dass  die  Wirkungsweise  eines  Narcoticums,  wie  es  das  Aethyl- 
chlorid ist,  nicht  bloss  vom  Siedepunkt  und  dessen  Verhältniss  zur 
Körpertemperatur  abhängig  sein  kann,  sondern  dass  die  chemische 
Zusammensetzung  auch  einen  Einfluss  haben  muss,  wie  ja  Schleich 
selbst  1)  für  das  Bromäthyl  zugiebt. 

Wenn  wir  darum  die  Narkose  mit  Aethylchlorid  zu  weiterer 
Prüfung  empfehlen,  so  soll  damit  noch  nicht  gesagt  sein,  dass  es 
ungefährlich  ist;  denn  ein  gefahrloses  Narcoticum  giebt  es  wohl 
gar  nicht.  Da  man  aber  nicht  in  allen  Fällen  ohne  Narkose  aus* 
kommt,  und  mancher  Patient  sogar  die  Narkose  verlangt,  ist  es 
.gewiss  nicht  ohne  Vortheil,  ein  Mittel  zu  kennen,  das  vielleicht 
weniger  gefährlich  ist  als  die  andern. 

1)  l.  c.  S.  33. 


LX. 

lieber  entzündliche  Tumoren  der 
Submaxillarspeicheldrüse/) 

Von 

Dr«  Hfittner 

in  Tubingen. 


M.  H.!  Vor  zwei  Jahren  habe  ich  auf  Grund  zweier  Beobachtungen 
eine  Aflfection  der  Submaxillarspeicheldrüse  beschrieben,  die  ich 
als  „entzündlichen  Tumor"  dieser  Drüse  bezeichnet  habe.  Seit 
der  damaligen  Publication  sind  an  der  Bruns' sehen  Klinik  drei 
weitere  Fälle  zur  Beobachtung  gekommen,  und  es  scheint  demnach 
das  Leiden  nicht  so  besonders  selten  zu  sein.  Da  ausserdem  gar 
nichts  über  ähnliche  Vorkommnisse  aus  der  Litteratur  bekannt  ge- 
worden ist,  so  ist  es  vielleicht  nicht  überflüssig,  mit  einigen  Worten 
auf  die  genannte  Speicheldrüsenaffection  zurückzukommen. 

Die  endzündlichen  Tumoren  der  Submaxillaris  entsprechen  in 
vielen  Punkten  den  von  Riedel  bei  Gallensteinen  beobachteten 
chronischen  Entzündungen  des  Pankreaskopfes.  Bei  diesen  wie  bei 
jenen  ist  das  Wesentliche,  dass  die  Geschwülste  ganz  den  Ein- 
druck echter  maligner  Tumoren  machen  und  dass,  wenigstens  in 
in  den  ausgesprochenen  Fällen,  nur  das  Mikroskop  Aufklänmg  zu 
geben  vermag  über  den  wahren  Charakter  der  scheinbaren  Neu- 
bildung. In  solchen  Fällen  findet  man  bei  der  Untersuchung 
eine  hühnerei-  bis  apfelgrosse  Geschwulst  in  der  Submaxillar- 
gegend,  die  längliche  Gestalt  hat  und  sich  derb  anfühlt.  In 
der  Tiefe  ist  die  Geschwulst  in  Folge  ausgedehnter  Adhäsi- 
onen wenig  verschieblich,  man  fühlt  sie  gut  vom  Munde  aus 
und  kann  mitunter  Verwachsungen  mit  der  Mundschleimhaut  nach- 

*)  Der  Vortrag  wurde  am  4.  Sitzungstage  des  XXVII.  Congresses  der 
Deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie  zu  Berlin  zu  ProtocoU  gegeben. 


874  Dr.  Küttner, 

weisen.  Nur  in  frischen  Fällen  besteht  Druckcrapfindliohkcit,  bei 
Längcrem  Bestehen  ist  die  Geschwulst  schmerzlos  und  macht,  da 
auch  die  Lymphdrüsen  gewöhnlich  vergrössert  sind,  ganz  den  Ein- 
druck einer  malignen  Neubildung.  Die  Kranken  klagen  über  Be- 
hinderung des  Schlingactes ,  vielleicht  auch  des  Sprechens,  Gäh- 
nens, doch  sind  diese  Beschwerden  meist  gering,  und  es  ist  mehr 
die  Furcht,  dass  es  sich  um  etwas  Krebsartiges  handeln  könne, 
welche  die  Patienten  zum  Arzt  führt. 

Die  Exstirpation    des  Tumors    ist    nicht  immer  ganz  einfach, 
man  findet  innige  Verwachsungen  mit  der  Nachbarschaft  und  muss 
gewöhnlich  die  ganze  Geschwulst  scharf  mit  dem  Messer  auslösen. 
Um    alle    Theile    des    scheinbar   malignen    Tumors    zu    entfernen, 
musste    in    einem  Falle    ein  Stück  der  Mundschleimhaut  und    des 
Unterkieferperiostes    mitabgetragen    und    tief   in    die  Substanz  der 
Zunge  vorgedrungen  werden;  die  Art.  lingualis  und  der  Nerv,  hypo- 
glossus,  welche  beide  in  Geschwulstmassen  eingebettet  waren,  fielen 
zum  Opfer.     Zu  der    solche  Eingriffe    bedingenden  Annahme  eines 
malignen  Tumors  wird  man  verleitet  durch  das  rasche  Wachsthum 
der  Geschwulst,  durch  das  Fehlen  entzündlicher  Erscheinungen  bei 
einem  grossen,  derben,  in  derTiefe  wenig  oder  garnichtverschieblichen 
Tumor  und  in  ausgesprochenen  Fällen  auch  durch  das  Aussehen  des- 
selben auf  der  Schnittfläche.   Man  glaubt  bestimmt,  ein  Sarcom  oder 
bösartiges  Endotheliom  vor  sich  zu  haben,  und  ist  erstaunt,  wenn  man 
mikroskopisch  keine  Spur  einer  malignen  Degeneration  findet,  sondeni 
nur  eine  Vermehrung  des  Bindegewebes  und  eine  hochgradige  klein- 
zellige Infiltration,  die  stellenweis  so  erheblich  ist,  dass  die  eigent- 
lichen Speicheldrüsenelemente  von  ihr  ganz  verdeckt  werden.    Das 
makroskopisch    gleichartige  Aussehen    der    aus    verschiedenen  Ge- 
weben   zusammengesetzten  Geschwulstmasse    erklärt   sich    daraus, 
dass    die  hochgradigen  entzündlichen  Veränderungen  nicht  auf  die 
Submaxillaris  beschränkt  bleiben,  sondern  auf  alle  die  Drüse  um- 
gebenden Gewebe  übergehen. 

Es  handelt  sich  also  um  eine  durch  chronische  inter- 
stitielle Entzündung  bedingte  tumorartige  Vergrösserung 
der  Submaxillarspeicheldrüse,  um  ganz  etwas  Aehnliches, 
wie  es  Riedel  an  der  Bauchspeicheldrüse  und  neuerdings  an  der 
Thyreoidea  beobachtet  hat,  und  wie  es  wohl  gelegentlich  auch  an 
der  Subungualis  und  Parotis  vorkommt. 


lieber  enizündliche  Tumoren  der  Subinaxillarspeicheldrüse.         875 

Die  Entstehung  der  Geschwülste  hat  mit  Tubcrculosc  und 
Syphilis  nichts  zu  thun,  sie  ist  wahrscheinlich  auf  Entzündungsprocesse 
zurückzuführen,  die  von  der  Mundhöhle  ihren  Ausgang  nehmen 
und  sich  ascendirend  durch  den  Ausführungsgang  auf  die  Speichel- 
drüse fortsetzen.  Bei  einer  Patientin  hatte  sich  der  Tumor  im 
Anschluss  an  eine  Angina  entwickelt;  die  Entstehung  von  in- 
ficirten  Lymphdrüsen  aus  konnte  in  allen  Fällen  mit  Sicherheit 
ausgeschlossen  werden.  Im  Innern  der  Geschwulst  fand  sich  ein- 
mal ein  ganz  kleiner  Abscess,  das  andere  Mal  ein  kleiner  Granula- 
tionsherd, der  bakteriologisch  steril  befunden  wurde.  In  einem 
dritten  Falle  enthielt  die  ebenfalls  erkrankte  Sublingualspeichel- 
drüse  einen  kirschkerngrossen  Stein,  der  nicht  als  die  Ursache, 
sondern  als  ein  Product  der  Entzündung  angesehen  werden  muss. 

Eine  Rückbildung  der  Geschwulst,  wie  sie  Riedel  bei  seinen 
Pankreasturaoren  festgestellt  bat,  wurde  in  unseren  Fällen  nicht 
beobachtet,  doch  muss  nach  dem  mikroskopischen  Befund  zu- 
gegeben werden,  dass  es  durch  Schrumpfungsvorgänge  zu  einer 
Verkleinerung  des  Tumors  kommen  könnte,  allerdings  unter  Zu- 
grundegehen des  Drüsenparenchyms.  Uebrigens  scheint  es  nicht  rath- 
sam,  sich  auf  diesen  Ausgang  zu  verlassen,  denn  in  unseren  Fällen 
haben  die  Geschwülste  sich  stetig  vergrössert  und  vor  allem 
immer  ausgedehntere  Bezirke  der  Umgebung  in  Mitleidenschaft  gezogen. 

Was  die  klinische  Seite  der  Frage  anbelangt,  so  ist  nur  in 
einem  von  unseren  5  Fällen  die  richtige  Diagnose  gestellt  worden. 
In  einem  zweiten  Falle,  bei  dem  noch  entzündliche  Symptome 
vorhanden  waren,  wurde  eine  chronisch  verlaufende  iiyniphadenitis 
und  zwar  einer  tiefen  cervicalen  Drüse  angenommen,  w^eil  die  im 
hinteren  Ende  der  Speicheldrüse  entwickelte  Geschwulst  sich  nicht 
in  der  Submaxillargogend  vorfand,  sondern  am  vorderen  Rande  des 
Sternocleidomastoideus  unterhalb  des  Kieferwinkels.  In  allen  an- 
deren Fällen  wurde  die  Diagnose  auf  einen  malignen  Tumor  ge- 
stellt, und  darin  beruht  das  klinische  Interesse  dieser  eigenthüra- 
lichen  Geschwulstforra,  denn,  um  die  scheinbar  bösartige  Neubil- 
dung radical  zu  entfernen,  wurden  mehrfach  grössere,  in  einem 
Falle  sogar  ein  sehr  erheblicher  Eingriff  vorgenommen,  der  der 
Operation  eines  grossen  Muudboden-Zungencarcinoms  an  Gefährlich- 
keit nichts  nachgab. 


LXI. 

Mittheilungen  über  Hirn- Chirurgie/) 


Von 

Dr.  Doyen 

in  Paris. 


M.  H.!  Ich  möclitc  mir  gestatten,  Ihnen  mein  vervoUkoramnctos 
Instrumentarium  zu  zeigen,  wie  ich  es  zur  Craniectomie  benutze. 
Seit  der  Construction  der  Kneipzangen  und  meiner  Knochen- 
scheeren,  welche  ich  anlässlich  des  Congresses  vom  Jahr  1895 
die  Ehre  hatte,  Ihnen  demonstriren  zu  dürfen,  habe  ich  das  Instru- 
mentarium verbessert  und  vervollständigt.  Die  Operation  kann  mit 
der  Hand  allein  ausgeführt  werden  oder  mit  Zuhilfenahme  eines 
Elektromotors  von  etwa  einer  Pferdekraft. 

Instrumentarium  für  manuelle  Operation: 

Auf  einen  Collin 'sehen  Trepan  in  Drillbohrerform  setze  ich 
einen  Bohrer  und  mache  damit  5 — 6  Löcher  in  das  Schädel- 
gewölbe.  Dann  ersetze  ich  den  Bohrer  durch  einen  besonders 
construirten  kugelfönnigen  Raspelbohrer,  mit  dessen  Hilfe  man  mit 
ein  wenig  Geschicklichkeit  die  Dura  erreicht,  ohne  Gefahr  zu  laufen, 
dieselbe  zu  verletzen.  Die  Tabula  externa  durchschneide  ich  von 
Loch  zu  Loch  mit  meiner  kleinen  Hand  säge,  wobei  ich  nur  die 
Basis  meines  Haut-Periost-Lappens  stehen  lasse  und  dann  voll- 
ende ich  die  Durchtrennung  mit  meiner  Kneipzange.  Die  Tabula 
interna  spalte  ich  mit  meinem  gedeckten  Meissel,  zuerst  zwischen 
den  beiden  obersten  GefTnungen,  dann  entlang  der  Basis  des 
Lappens    und    schlage    zuletzt    den    Haut-Knochenlappen    zurück. 


')  Dieser  Vortrag  konnte  wegen  Mangel  an  Zeit  nicht  erledigt  werden. 


Mitthoilun<Ten  über  Hirn-Chirurgie.  877 

Elektrisches  Instrumentarium. 

Ich  bevorzugc.das  elektrische  Instrumentarium,  weil  es  glattere 
Wundflächen  schafft.  Ich  setze  auf  meinen  Instrumententräger,  der 
durch  eine  biegsame  von  mir  construirte  Leitungsschnur  mit  dem 
Elektromotor  in  Verbindung  steht,  einen  Raspelbohrer,  wie  ich  ihn 
auch  bei  der  manuellen  Methode  anwende,  und  bohre  mir  3  Löcher 
bis  zur  Dura  mater.  Die  Dura  selbst  schiebe  ich  ab  und  durch- 
säge die  Schädelwölbung  fast  in  der  ganzen  Ausdehnung  des  Haut- 
schnitts. Die  Säge  durchtrennt  mittelst  einer  besonderen  Vor- 
richtung zuerst  die  ganze  Dicke  des  Knochens,  ehe  sie  horizontal 
weitersägt.  Die  Säge,  welche  ich  dazu  benütze,  ist  nach  dem 
Gehirn  zu  gedeckt  durch  eine  auf  der  Dura  gleitende  Metallrinne. 
Die  letzte  Brücke  durchtrennt  man  nur  bis  zur  Tabula  interna: 
hierzu  verwende  ich  eine  feine  Säge,  welche  eine  kleine  Scheibe 
über  den  Zähnen  trägt  und  in  Folge  dessen  nur  bis  zu  einer 
gewissen  Tiefe  eindringen  kann.  Die  Tabula  interna  selbst  und 
die  Basis  des  Lappens  werden  mit  dem  schon  beschriebenen  ge- 
deckten Meissel  durchtrennt  und  sodann  der  ganze  Lappen  zurück- 
geschlagen. Die  Operation  dauert  bei  der  Anlegung  einer  grossen 
OefTnung,  mit  der  Hand  zehn  bis  fünfzehn  Minuten,  mit  dem  elek- 
trischen Apparat  nur  fünf  bis  zehn  Minuten. 

Für  die  Eröffnung  des  Processus  mastoideus  —  Freilegung  des 
Antrum  und  des  Sinus  —  ist  es  besser,  manuell  vorzugehen.  Ich 
benütze  dazu  einen  längeren  cylindrischen  Raspelbohrer  von  vier- 
zehn mm  Durchmesser. 

Mein  elektrischer  Apparat  in  Verbindung  mit  grösseren  Sägen, 
(»infachen  und  Raspelbohrern  ermöglicht  es  mir,  in  wenigen  Augen- 
blicken die  grössten  osteomyelitischen  Herde  an  Diaphysen  und 
Epiphysen  blosszulegen. 

Operative  Resultate. 

Die  Hemi-Craniectomie  ist  selbst  kaum  mit  einer  Gefahr  ver- 
bunden; nur  die  Schwere  der  Gehirnlaesion ,  die  wir  aufsuchen 
wollen,  kommt  in  Betracht. 

Falls  es  aus  dem  Knochen  stark  blutet,  ist  es  am  besten, 
die  Haut  darüber  zu  vernähen  und  die  Dura  erst  sechs  bis  sieben 
Tage  später  zu  eröffnen.  Wenn  die  Dura  durch  starken  intra- 
craniellen  Druck  sehr  gespannt  ist,  so  bewirkt  eine  blosse  Incision 

Archiv  fUr  klin.  Chirurgie.    57.  Bd.    Heft  4.  ^o 


878  Dr.  Doyen,  Mittheilungen  über  Hirn-Chirurgie. 

derselben  sofortigen  Nachlass  der  Symptome  und  der  Puls  steifet 
z.  B.  manchmal  rasch  von  fünfund vierzig  auf  achtzig  Schläge  in 
der  Minute.  —  Augenblicklich  habe  ieh  eine  ganze  Anzahl  von 
Idioten  und  Mikrocephalen  in  Beobachtung,  deren  Besserung  nach 
der  Operation  ausser  Zweifel  steht.  Bei  der  ersten  Patientin,  einer 
Idiotin  mit  Morbus  Basedowii,  die  ich  operirt  habe,  hat  sich  vier 
Tage  nach  einer  doppelseitigen  Craniectomie  der  Exophthalmus  und 
die  Struma  zurückgebildet.  Vor  der  Operation  konnte  sie  kaum 
sprechen  und  erkannte  ihre  nächsten  Angehörigen  nicht  mehr. 
Jetzt  ist  sie  wieder  arbeitsfähig  und  vermag  ordentlich  zu  sprechen 
und  zu  zählen.  Auch  einige  Epileptiker  mit  deutlicher  Besserung 
nach  der  Operation  habe  ich  in  Beobachtung.  Ein  Fall  ist  jetzt 
5,  ein  anderer  6  Monate  frei  von  Anfällen  geblieben.  In  Fällen 
von  Jackson'scher  Epilepsie,  bei  denen  ich  keine  J^äsion  der 
Hirnrinde  sehe,  suche  ich  mir  das  epileptogene  Centrum  durch 
elektrische  Reizung  der  Gehirnoberfläche  auf  und  mache  dann  die 
Excision  dieser  Partie.  Bei  zwei  Fällen  habe  ich  damit  einmal 
guten  Erfolg  gehabt.  Der  zweite  Fall  ist  erst  vor  Kurzem  operirt 
und  noch  in  Beobachtung. 

Ganz  hervorragende  Erfolge  habe  ich  erzielt  bei  der  Exstir- 
pation  eines  grossen  tuberculösen  subcortical  gelegenen  Tumors  und 
bei  der  Eröffnung  mehrerer  tiefgelegener  Abscesse,  deren  Auffindung 
überhaupt  erst  nach  einer  ausgedehnten  Craniectomie  möglich  war. 
Von  weiteren  Fällen  habe  ich  noch  zu  erwähnen  eine  Cvste  an 
dem  rechten  motorischen  Rindencentrum  mit  linksseitiger  Parese 
und  dann  einen  Fall  von  Meningitis  occipitalis  bei  einer  Erwachsenen. 
Ich  habe  bei  dieser  die  Craniectomie  fast  in  extremis  gemacht; 
die  Patientin  ist  genesen. 

Augenblicklich  beschäftige  ich  mich  damit,  auch  Tumoren  der 
Basis  cranii  zugänglich  zu  machen ;  verschiedentlich  gelang  es  mir  ohne 
Schwierigkeit,  das  Chiasraa  zu  erreichen.  Mehrere  Kranke  haben 
durch  die  Operation  nur  vorübergehende  Besserung  erlangt,  die  wohl 
auf  die  ausgiebige  Druckverminderung  zurückzuführen  ist.  Es 
handelte  sich  in  diesen  Fällen,  wie  einige  Monate  später  bei  der 
Autopsie  festgestellt  wurde,  um  Geschwülste  am  dritten  Ventrikel  und 
der  Vorderfläche  des  Kleinhirns,  wohin  ich  nicht  hatte  gelangen  können. 

Es  ist  aber  zu  hoffen,  dass  auch  diese  bisher  ganz  unzugäng- 
lichen Regionen  in  das  Bereich  der  Gehirnchirurgie  einbezogen  werden. 


LXII. 

(Aus  der  chlriirg.  Univ«rsitäts-Klinik  des  Herrn  Geheimrath 

von  Bergmann.) 

Zur  Kenntiiiss  der  Streptokokken-  und 
Pneumokokken-Osteomyelitis. 

Von 

Vr«  £•  lieiLer, 

Privatdocent. 

(Mit  3  Figuren.) 


Die  bisherigen  Beobachtungen  von  Fällen  acuter  Osteo- 
myelitis in  Folge  Infection  mit  dem  Streptococcus  pyo- 
gen es  sind  nicht  sehr  zahlreich.  Es  ist  deshalb  sowohl  das  klinische, 
als  auch  das  pathologisch-anatomische  Bild  der  Erkrankung,  wie 
ich  es  in  dem  Vortrage  „die  Aetiologie  und  die  Mikroorganismen  der 
acuten  Osteomyelitis"^)  auf  Grund  von  wenigen  in  der  Literatur 
beschriebenen  und  einigen  selbst  beobachteten  Fällen  zu  entwerfen 
versuchte,  noch  in  vieler  Beziehung  zu  vervollkommnen.  Hierzu 
dürften  einige  Fälle  zu  verwerthen  sein,  die  in  den  letzten  zwei 
Jahren  in  der  von  Bergmann'schen  Klinik  zur  Beobachtung 
gelangten. 

Es  ist  vorauszuschicken,  dass  die  bisher  publicirten  Fälle  — 
nach  genauer  Sichtung  derselben  konnte  ich  nur  10  ein  wands- 
freie und  genügend  beschriebene  und  3  eigene  verwerthen  — 
in  erster  Linie  dazu  berechtigten,  die  Streptokokkeneiterung 
am  Knochensystem,  wie  dies  bekanntlich  zuerst  Lannelongue 
that,  dem  grossen  Gebiete  der  acuten  Osteomyelitis  einzureihen. 
Denn     nicht    allein     um     periostale     oder     ganz     oberflächliche 


*)  Sammlung   klinischer  Vorträge,      v.  Bergmann,    Erb   und  Winkel. 
No.  173;  mit  Angabe  der  hier  nicht  eigens  erwähnten  Literatur. 

58  • 


880  Dr.  E.  Lex  er, 

iM'teriingcii  hcincloltc  es  sich  in  diesen  Fällen,  sondern  es  gelan^^eu 
auch  eitrige  Infiltrationen  der  Diaphysenspongiosa  (Metaphysc)  und 
intraossale  Abscesse  zur  Beobachtung.  Allerdings  waren  die 
periostalen  resp.  corticalen  Processe  vorherrschend  und  fanden 
sich  nur  kleine  Sequester  von  der  Oberfläche  des  Knochens,  während 
die  wichtigste  und  gefährlichste  p]rscheinung  in  dem  verschieden 
gestalteten  Bilde  der  acuten  Osteomyelitis  noch  fehlte:  die  fort- 
schreitende Markphlegmone,  die  Osteomyelitis  im  eigentlichen  Sinne 
des  Wortes.  Das  Fehlen  grösserer  Sequestrationen  glaubte  ic*h 
ebenso  wie  Lannelongue  mit  der  Thatsachc  in  Einklang  bringen 
zu  müssen,  dass  ausgedehnte  Eiterungen  des  Knochenmarkes  nicht 
beobachtet  worden  w^aren,  während  mir  das  Thierexperiment  gerade 
bei  Streptokokkeninfectionen  einige  Male  die  ausgedehnteste  Mark- 
eiterung und  Sequesterbildung  lieferte^).  Doch  ist  auch  beim 
Menschen  die  Knochenmarkeiterung  schon  beobachtet.  Lu barsch 
sagt  in  seinem  Aufsatze  über  Streptokokken 2),  indem  er  sich  gegen 
die  von  K.  Müller  vertretene  Auffassung  der  einheitlichen  Genese 
der  acuten  Osteomyelitis  als  Werk  der  Staphylokokken  wendet,  er 
habe  selbst  reine  Streptokokken-Osteomyelitis  gesehen.  Herr  Pro- 
fessor Lübars ch  hatte  die  Liebenswürdigkeit  mir  kurze  Notizen 
über  zwei  Fälle  mitzutheilen,  auf  welc^he  er  sich  an  der  citirten 
Stelle  bezogen  hat.  Während  es  sich  in  dem  einen  Falle  um  eine 
ganz  typische  acute  Osteomyelitis  eines  10jährigen  Knaben  handelte, 
lag  im  zweiten  Falle  bei  einem  ca.  20jährigen  Manne  eine  mehr 
chronische  Form  vor,  welche  unter  dem  Bilde  der  Pyämie  in  ein 
acutes  Stadium  übergegangen  war.  Die  Veränderung  der  befallenen 
Knochen  waren  hier  derartig,  dass  fast  nur  das  Knochenmark  be- 
trofi'en  war,  stellenweise  aber  auch  eine  Periostitis  fibrino-purulenta 
bestand.  Im  Knochenmark  des  amputirten  Oberschenkels  fanden 
sich  nur  Streptokokken,  auch  bei  der  Section  der  übrigen  erkrankten 
Knochen,  ebenso  in  den  vorhandenen  Nierenabscessen.  Dagegen 
war  auch  der  Staph.  p.  albus  in  Lungenabscessen  vorhanden. 

Da    in    der    bisherigen    Casuistik    der    Streptokokken-Osteo- 
myelitis von  einer  Markphlegmone  nicht  die  Rede  ist,  so  wird  das 


J)  Archiv  für  klin.  Chirurgie.     53.  Bd.     Taf.  II.     Fig.  11. 
2)  Ergebnisse    der    allgemeinen  Pathologie    und  pathologischen  Auatomie 
des  Menschen  und  der  Thiere.     Lubarsch  und  Ostertag.     III.     Jahr  1896. 


"Zur  Kenntniss  der  Streptokokken-  und  Pneumokokken-Osteomyelitis.     881 

Fehlen  (lieser  Erscheinung  auch  neuerdings  von  Klenim^)  als  be- 
sonderes Merkmal  der  Streptomykose  des  Knochens  angeführt.  In 
der  That  sind  nun  die  folgenden  Fälle,  die  ich  in  der  von  Berg- 
männischen Klinik  beobachtete  und  untersuchte,  im  Stande,  diese 
Lücke  im  Bilde  der  Streptokokken-Osteomyelitis  des  Menschen  aus- 
zufüllen, indem  sie  zeigen,  dass  auch  ausgedehnte  Phlegmonen 
des  Knochenmarkes  und  grössere  Sequestrationsprocesse 
durch  diesen  Mikroben  hervorgerufen  werden  können. 

1)  Gertrud  P.,  1  Jahr  alt.  Seit  24  Stunden  will  die  Mutter  bemerken, 
dass  der  linke  Oberschenkel  etwas  angeschwollen  ist,  und  dass  Berührung 
und  Bewegung  desselben  schmerzhaft  sind.  Vor  3  Tagen  ist  das  Kind  vom 
Sopha  heruntergefallen,  doch  sind  der  Mutter  nach  diesem  Falle  keinerlei 
Schmerzensäusserungen  bei  Bewegungen  des  linken  Beines  aufgefallen.  Das 
Kind  befindet  sich  in  einem  ausgezeichneten  Ernährungszustande,  so  dass  man 
nur  mit  Mühe  am  Oberschenkel  durch  die  dicken  Weichtheile  hindurch  den 
Knochen  palpiren  kann.  Oberhalb  des  Condylus  internus  ist  die  Haut  etwas 
geröthet  und  heiss,  die  ganze  Umgebung  des  Condylus  fühlt  sich  verdickt  an, 
zeigt  jedoch  keine  Fluctuation,  sondern  nur  leichtes  Oedem.  Positive  Anhalts- 
punkte über  die  wahrscheinliche  Eingangspforte  der  Entzündungserreger  er- 
geben sich  nicht,  da  weder  Hautverletzungen,  noch  Entzündungszustände  des 
Rachens,  der  Lunge  oder  des  Darmtractus  vorhanden  sind.  Die  Abend- 
temperatur beträgt  39,5^. 

Durch  einen  Schnitt,  der,  die  entzündete  Gegend  trennend,  sich  nach 
dem  Verlaufe  der  grossen  Adductorsehne  richtet  und  diese  innerhalb  eines 
serös  durchtränkten  Gewebes  freilegt,  wird  hinter  dieser  Sehne  der  Knochen 
erreicht,  dessen  Periost  sich  hier  oberhalb  des  inneren  Condylus  gelblich  ver- 
färbt und  stark  verdickt  praesentirt.  Nach  Incision  dieses  veränderten  Periostes 
ist  zu  sehen,  dass  es  durch  seröse  Flüssigkeit  vom  Knochen  abgedrängt  ist, 
der  dicht  oberhalb  der  Gegend  der  Knorpelfuge  ein  kleines  unregelmässigcs 
Loch  erkennen  lässt.  Auch  hier  ist  noch  kein  Eiter  wahrzunehmen.  Als  aber 
mit  einem  scharfen  Löffel  die  Umgebung  dieses  kleinen  Corticalisdefectes  her- 
ausgehoben wird,  zeigt  sich  die  nächstliegende  Spongiosa  in  ganz  geringer  Aus- 
dehnung eitrig  infiltrirt.  Die  mikroskopische  Untersuchung  von  dieser  Stelle 
ergiebt  zahlreiche  Diplokokken,  hier  und  da  auch  3— öglicdrige  Ketten;  die 
Impfung  weisser  Mäuse  von  den  angelegten  Culturen  wirkt  schon  in  geringer 
Dosis  tödtlich.  Herzblut  und  Organe  enthalten  kurze  Streptokokkenreihen, 
meist  in  Diplokokkenform. 

Die  Wunde,  die  locker  tamponirt  worden  war,  secernirte  in  den  nächsten 


0  Von  der  Abhandlung  Klemm's:  Ueber  Streptomykose  der  Knochen; 
Osteomyelitis  streptoraycotica,  Sammig.  klin.  Vorträge,  Xeue  Folge,  Chir.  No.  65, 
war  mir  nach  Fertigstellung  meiner  Arbeit  (Anfangs  August)  durch  die  Güte 
meines  Chefs  ein  Correcturbogeu  zugänglich,  sodass  es  möglich  war,  noch  auf 
einzelne  interessante  Punkte  des  Klemm'schen  Vortrags  einzugehen  und  seine 
beiden  Fälle  zu  verwerthen. 


882  Dr.  E.  Lexer, 

Tagen  fast  nichts,  sie  sieht  trocken  und  missfarben  aus,  während  die  Tempera- 
tur sich  auf  40,9^  erhebt  und  höchstens  bis  39"  heruntergeht.  Auch  nach  Er- 
weiterung des  Loches  in  der  Corticalis  erfolgt  keine  locale  und  allgemeine 
Besserung.  Die  Untersuchung  des  Blutes  am  5.  Tage  post.  operat.  ergiebt 
durch  Impfung  auf  weisse  Mäuse  Streptokokken.  Der  Exitus  erfolgt  nach 
lOtägigem,  hohem  Fieber. 

0,3  des  Herzblutes  wenige  Stunden  post.  mortem,  tödten  subcutan  eine 
weisse  Maus  in  24  Stunden. 

Bei  der  Section  zeigte  sich  das  Mark  des  ganzen  Femur  in  eine 
zerfliessli  che  graugrüne  Masse  verwandelt,  die,  wie  durch  Impfung 
nachgewiesen  wurde,  Streptokokken  enthielt.  Innerhalb  dieser  verfärbten 
Markmasse  sah  man  vereinzelt  noch  grössere  Gefässchen  und  mehrere  kleine 
Blutungen  hervortreten.  Die  dünne  Corticalis  der  vorderen  Seite  ist  gegen- 
über der  Stelle,  wo  die  Markhöhle  oberhalb  der  Condylen  geöffnet  worden  war, 
infracturirt,  das  Periost  des  ganzen  Knochens  ist  sehr  stark  verdickt,  aber 
nicht  durch  entzündliches  Exsudat  abgehoben.  Die  übrigen  grossen  Röhren- 
knochen, welche  herausgenommen  und  der  Länge  nach  gespalten  wenlen 
konnten  (beide  Humeri  und  Tibiae  und  das  rechte  Femur)  enthielten  normales 
Mark  und  Hessen  keine  Herde  an  den  Knorpelfugen  erkennen. 

Entzündliche  Veränderungen  der  Gelenke,  auch  des  benachbarten  Knie- 
gelenkes und  der  Organe  fehlten,  ebenso  wie  eine  Eingangspforte  für  die  In- 
fcction  nicht  nachgewiesen  werden  konnte. 

Der  Fall  verlief  lethal  in  Folge  der  Allgemeinin fection 
mit  Streptokokken,  deren  einzige  nachweisbare  Localisation  das 
eine  Femur  betraf  und  hier  erstens  in  der  Nähe  der  unteren 
Knorpolfuge  eine  kleine  herdförmige  Eiterung  mit  entzündlicher 
Infiltration  der  Weichthcilo,  dann  zweitens  eine  diffuse  Entzündung 
der  Markhöhle  verursacht  hatte. 

In  dem  folgenden  2.  Falle  ist  eine  schwere  Osteomyelitis 
mehrerer  Knochen  zur  Heilung  gelangt. 

Das  1  Jahr  alte  Mädchen  Gertrud  S.  wurde  wegen  einer  entzündlichen 
Anschwellung  in  der  linken  Achselhöhle  am  19.  Juli  v.  J.  in  die  Universitäts- 
Poliklinik  gebracht.  Die  Impfpusteln  am  linken  Oberarm,  vom  3.  Juni  her- 
rührend waren  offen' und  in  weitem  Umkreis  die  Haut  entzündlich  infiltrirt. 
In  der  Achselhöhle  befindet  sich  ein  Abscess  dem  Durchbruch  nahe.  Derselbe 
wird  sofort  incidirt  und  aus  seiner  Höhle  einige  zerfallene  Drüsenmassen  ent- 
fernt. In  2  Wochen  ist  die  Wunde  geheilt  und  die  Entzündung  am  Oberarm 
vollkommen  zurückgegangen,  so  dass  das  Kind  aus  der  Behandlung  entlassen 
werden  kann. 

Am  20.  August  bringt  die  Mutter  das  Kind  wieder  mit  der  Mittheilung, 
seit  gestern  sei  das  rechte  Handgelenk  etwas  angeschwollen  und  schmerzhaft. 
Trotz  Fixation  des  Armes  mit  Schionenverbiinden  schreitet  in  den  nächsten 
Tagen   die  Anschwollung  über  den  Vorderarm  fort,  es  tritt  hohes  Fieber  auf 


Zur  Kenntniss  der  Streptokokken-  und  Pneumokokken-Osteomyelitis.     883 

und  die  Haut  über  der  Ulna  erscheint  leicht  geröthet.  Eine  Incision  im 
mittleren  und  unteren  Drittel  der  Ulna  zeigt  die  Weichtheile  stark  oedematös, 
das  Periost  ist  verdickt,  und  wie  die  weitere  Incision  ergiebt,  durch 
eine  geringe  Schicht  dünnflüssigen  Eiters  vom  Knochen  ab- 
gehoben. Nach  Eröffnung  der  Markhöhle  sieht  man  dieselbe  gefüllt  mit 
schmierigem  Mark  von  fastgleichmässiger  grünlich  grauer  Farbe, 
die  nur  gegen  die  untere  Epiphyse  zu  einzelne  kleine  gelbliche 
Eiterherde  erkennen  lässt.  Der  Knochen  wird  nach  Verlängerung  des 
Weich theilschnittes  bis  zu  seiner  oberen  Epiphyse  aufgemeisselt  und  enthält 
bis  zu  dieser  verändertes  Mark,  das  möglichst  vollständig  mittelst  Löffel  und 
Tupfer  entfernt  wird.  Darauf  lockere  JodoformgazerTamponnade  und  Fixation 
des  Armes. 

Während  der  Operation  sind  Culturimpfungen  von  dem  periostalen  Eit^r 
und  dem  Knochenmark  angelegt  worden.  In  dem  letzteren  gelang  es  schon 
mikroskopisch  Streptokokken  nachzuweisen. 

Die  Temperatur  blieb  Morgens  und  Abends  in  den  nächsten  3  Tagen  um 
39.  Beim  2.  Verbandwechsel  am  4.  Tage  zeigte  sich  eine  erhebliche  Ver- 
schlimmerung. Die  Eiterung  aus  der  grossen  Wunde  ist  sehr  reichlich,  die 
Ulna,  die  missfarben,  zum  Theil  auch  schwärzlich  verfärbt  aussieht,  liegt 
vollständig  gelockert  in  der  Tiefe  der  Wunde,  an  beiden  Epi- 
physen  gelöst,  und  lässt  sich  ohne  Schwierigkeit  herausnehmen.  Die 
Gegend  des  Ellenbogengelenks  fluctuirt,  es  wird  hier  durch  eine  Incision  in 
der  Verlängerung  der  Wunde  eine  grosse  paraarticuläre  Eitcransammlung  ent- 
leert, sodann  das  ebenfalls  vereiterte  Gelenk  eröffnet.  Der  Vorderarm  erscheint 
im  unteren  Drittel  des  Radius  geröthet  und  geschwollen.  Eine  Incision  er- 
giebt hier  die  nämlichen  Verhältnisse  wie  vor  einigen  Tagen  an  der  Ulna: 
das  Periost  durch  Eiter  abgehoben  und  das  Knochenmark  in 
einen  gelblich  grauen  Brei  verwandelt.  Nach  der  Mitte  des  Knochens 
erscheint  normales  Knochenmark,  so  dass  nur  seine  untere  Hälfte  aufgemeisselt 
und  ausgeräumt  wird.  Zur  Gulturanlage  wurde  der  Gelenkeiter  und  das 
Knochenmark  des  Radius  verwendet.  In  den  nächsten  5  Tagen  bleibt  die 
Temperatur  um  38  ',  nachdem  sie  sofort  nach  der  Operation  abgefallen  war. 

Eine  erneute  Steigerung  der  Temperatur  über  39^  muss  auf  den  sehr 
ungenügenden  Abfluss  des  reichlichen  Eiters  aus  dem  Ellenbogengelenk  zurück- 
geführt werden,  weshalb  von  der  Humernsepiphyse  ein  Theil  resecirt  wird. 
Die  übrigen  Wunden  sehen  verhältnissmässig  gut  aus,  der  Radius  erholt  sich 
allmälig  nach  Abstossung  kleiner  Sequesterchen;  der  weitere  betrelTs  der 
Wundheilung  jetzt  gute  und  fieberlose  Verlauf  wird  nach  2^1^  Wochen  gestört 
durch  den  Ausbruch  einer  Ilachendiphtherie,  die  unter  Anwendung  des 
Behring'schen  Serums  in  einer  Woche  verschwindet.  Die  Wunden  heilten 
langsam  ohne  Fistelbildung. 

Es  war  in  diesem  Falle  bei  der  ersten  Operation  aus  dem  Periosteitor 
und  dem  Knochenmark  der  Ulna  geimpft  worden,  femer  aus  dem  Radius-  und 
dem  Gclcnkeiter  des  Ellenbogens.  Sämtliche  Impfungen  führten  zu  Rein- 
culturen  des  Streptococcus  pyogenes.    0,2  des  Ellenbogengelonkeiters 


884  Dr.  E.  Lexer, 

lötete  eine  weisse  Maus  nach  subcutaner  Injection  in  2  Taigen.  Bei  der  2. 
Operation  wurde  aus  einer  Vene  des  gesunden  Armes  3,0  Blut  entnommen 
und  zur  subcutanen  Injection  bei  3  weissen  Mäusen  verwerthet.  2  starben 
nach  2x24  Stunden,  und  zwar  konnten  aus  ihrem  Herzblute  wieder  Strepto- 
kokken in  Reinculturen  gezüchtet  werden. 

Durch  diese  Untersuchungen  steht  fest,  dass  es  sich  hier 
um  eine  vom  Streptococcus  pyogenes  hervorgerufene,  mit  Ge- 
lenkeiterung und  Epiphysenlösung  complicirtc  Osteo- 
mvelitis  des  Radius  und  der  Ulna  handelte,  die  in  Hei- 
lung  überging,  trotzdem  während  des  Höhepunktes  des 
Processes  Streptokokken  im  Blute  kreisten. 

Einen  Unterschied  in  den  klinischen  Erscheinungen  gegenüber 
dem  typischen  Bilde  der  acuten  Osteomyelitis  fanden  wir  nicht, 
dagegen  fiel  Einiges  schon  bei  der  Operation  auf,  das  vielleicht 
als  Characteristicum  der  Streptokokkeninfection  verwerthet  werden 
kann.  E]rstens  nämlich,  was  ich  schon  früher  hervorhob,  die 
helle,  etwas  grünliche  Farbe  des  dünnflüssigen  Eiters, 
dann  die  fast  gleichmässig  schmutzige  Verfärbung  des 
entzündeten  Knochenmarkes. 

Der  Zustand  des  Kindes  im  August  1898  ist  im  Allgemeinen  ein  sehr 
guter;  an  dem  operirten  Arme  zeigt  sich  folgendes:  das  untere  Drittel  des 
Radius  ist  im  Bereiche  der  kaum  sichtbaren  Narbe  ziemlich  stark  verdickt,  eine 
scharfe  dünne  Knochenleisle  liegt  dicht  unter  der  grossen  beweglichen  Narbe 
am  Ulnarrando  des  nur  wenig  verkürzten  Vorderarmes  als  Ersatz  der  zerstörien 
Ulnadiaphyse.  Die  Hand  hat  normale  Stellung  zum  Vorderarme.  Am  Humcrus 
\>i  eine  Verkürzung  gegen  den  anderen  Arm  nicht  zu  bemerken.  Die  einzige 
nachtheilige  Störung,  die  von  der  Erkrankung  und  Operation  zurückblieb,  ist 
das  Schlottergelenk  im  Ellenbogen.  Trotz  desselben  gebraucht  das  Kind 
seinen  Arm  wie  den  gesunden. 

Der  folgende  dritte  Fall  bietet  nicht  nur  durch  die  beginnende 
Sequestration  d<T  erkrankten  Diaphyse,  sondern  auch  durch  die 
nicht  eitrige  Form  der  Entzündung  grosses  Interesse: 

Der  9  Wochen  alte  Erich  W.  erkrankte  nach  Aussage  der  Mutter  schon 
vor  3  \Vochen  mit  einer  Anschwellung  der  rechten  Kniegelenksgegend,  die  an- 
scheinend sehr  schmerzhaft  war.  Auf  Rath  eines  Arztes  wurden  warme  Um- 
schläge gemacht,  worauf  sich  nach  wenigen  Tagen  an  der  Innenseite  des  Knie- 
gelenkes eine  Vortreibung  der  Haut  bildete,  welche  von  selbst  unter  Entleerung 
einer  massigen  Monge  Eiter  aufbrach.  Der  Arzt  erweiterte  mit  dem  Messer  die 
Fistel  etwas,  da  das  Kind  hohes  Fieber  bekam  und  der  Allgemeinzustand 
schlechter  wurde.  Während  der  darauffolgenden  2  Wochen  trat  zuerst 
Besserung  ein,  es  entleerte  sich  genügend  Eiter  aus  der  Fistelöffnung,  die  fast 


Zur  Kenntniss  der  Streptokokken-  und  Pneumokokken-Osteomyelitis.     885 

täglich  mit  aseptischen  Verbänden  versehen  wurde;  allmählich  liess  die  Eiter- 
secretion  nach,  die  Temperatur  stieg   wieder  und  die  Anschwellung  nahm  zu. 

Bei  der  Aufnahme  des  Kindes  in  die  Klinik  war  vor  Allem  der  schlechte 
Ernährungszustand  auffallend.  Fieber  bestand  nicht.  Das  rechte  Bein  wurde 
im  Knie  gebeugt  gehalten,  die  Streckung  und  Berührung  des  Beines  schien 
Schmerzen  hervorzurufen.  Infolge  der  hochgradigen  Abmagerung  war  es  leicht 
die  Veränderungen  am  Knochen  zu  palpiren  und  festzustellen,  dass  das  Knie- 
gelenk vollkommen  frei  von  einem  Erguss  war,  und  dass  das  untere  und  mittlere 
Femurdrittel  eine  bedeutende  Verdickung  aufwies,  die  sich  in  der  Mitte  des 
Oberschenkels  allmählich  verlor.  An  der  medialen  Seite  des  Oberschenkels 
dicht  über  dem  Condylns  internus  befindet  sich  vor  der  Sehne  des  Adductor 
magnus  die  von  dem  Spontanaufbruch  herrührende  Fistelmündung,  aus  der 
sich  auf  Druck  in  die  Umgebung  und  die  Kniekehle  etwas  Eiter  entleert.  Die 
Lymphdrüsen  der  rechten  Leistenbeuge  waren  etwas  angeschwollen. 

Von  einer  bacteriologischen  Untersuchung  des  Fistelsecretes  nahm  ich 
Abstand. 

Bei  der  Auftreibung  des  Knochens  in  der  Nahe  der  unteren  Epipbyse  und 
bei  dem  Durchbruche  oberhalb  des  Condylus  dürfte  als  sicher  angenommen  wer- 
den, dass  es  sich  um  einen  osteomyelitischen  Herd  nahe  der  unteren  Knorpelfuge 
handelte,  der  an  einer  ganz  typischen  Stelle  dicht  oberhalb  der  Epiphysenlinie, 
also  auch  des  Condylus,  nach  hinten  extracapsular  durchgebrochen  war.  In 
der  That  zeigte  sich,  als  der  Knochen  vor  der  Sehne  des  grossen  Adductor 
erreicht  war,  genau  oberhalb  des  Condylus  internus  zwischen  der  medialen  und 
hinteren  Begrenzung  des  Femur  eine  kleine  Oeffnung  in  der  Corticalis,  deren 
Umgebung  sehr  stark  verdicktes  Periost  aufwies  und  mit  der  Hautöffnung  der 
Fistel  communicirte.  Vorsichtig  wurde  dann  mit  einem  scharfen  Löffel  die 
Fistelöffnung  im  Knochen  mit  der  allernächsten  Umgebung  entfernt.  Der 
herausbeförderte  Knochen  war  eitrig  infiltrirte  Spongiosa.  Von  einem  radicalen 
Eingriff  am  Knochen  musste  man  wegen  des  sehr  schlechten  Zustandes  des 
Kindes  absehen.  Dann  wurde  die  kleine  im  Knochen  entstandene  Höhle  leicht 
tamponnirt  ebenso  wie  die  ganze  Wunde,  und  das  mit  Schienen  fixirte  Bein 
suspendirt. 

In  der  ersten  Woche  nach  der  Operation  trat  bei  vollkommen  normaler 
Temperatur  eine  allgemeine  Besserung  ein,  die  drainirte  Wunde  secernirte  nicht 
viel  Eiter  und  bedeckte  sich  bald  mit  guten  Granulationen.  Dann  entstanden 
Durchfälle  und  Erbrechen,  begleitet  von  lelchtemFicber,  und  unter  zunehmender 
Schwäche  starb  das  Kind  zwei  Wochen  nach  der  Operation. 

In  Anbetracht  des  Umstandcs,  dass  wir  gerade  bei  Kindern  in  so  frühem 
Alter  Eiterungen  am  Knochensystem  durch  Streptokokken  beobachtet  haben, 
suchte  ich  noch  bei  der  Section  Klarheit  über  die  hier  vorliegende  Infection 
zu  gewinnen.  Unter  allen  aseptischen  Vorsichtsmaassregeln  wurde  das  ganze 
Femur  herauspräparirt  und  dann  die  untere  Hälfte  der  Länge  nach  gespalten 
und  aus  verschiedenen  Abschnitten  Impfungen  gemacht.  Das  Präparat,  das 
sofort  noch  in  frischem  Zustande  abgezeichnet  wurde,  ergab  folgende  Ver- 
änderungen (Fig.  1).     Zunächst  siebt  man,   dass  die  ziemlich  erhebliche  Ver- 


88fi  Dr.  E.  I.exer, 

<lickuii^  der  gan/.en  anteren  Dia|ihysenhäirte  herrührt  von  einer  entzündlichen 
Verdickung  des  Periostes  und  einer  4  mm  dicken  Schicht  sehr  gefässreichen 
Knochengewebes,  dits  als  Sequesterlade  allseitig  den  Knochen  umgiebt  und 
ihm  Kum  Theil  innig  anfliegt,  zum  Theil  ron  der  Corticalis  durch  eine  Schicht 
schmieriger  Granulationen  getrennt  ist.  Die  Corticalis  unterscheidet  sich 
deutlich    durch    ihre   weiss-gel bliche  Farbe  von    der  liefrothen    der  Knochen- 


Fig.  1. 


Rechtes  Femur.    P  =  Perforation.    H  = 
W  ^  periostale  Knochcimucherung.     C 


Herd,    S  =  beginnende  Schaf tnecrose. 
i.  =  Cond)-l.  int    K  ^  Knoehcnkem. 


aufingerung.  Das  Knochenmark  sieht  achniulz.ig  graugelblich  ans  mit  nicht 
scharf  begrenzten  helleren  Inseln.  Die  Spongiasa  des  unteren  Diaphysenendes 
wird  auf  dem  Schnitte  zn  fast  2  Dritteln  zerstört  ^■orgefunden.  Sie  ist  hier 
(s.  Fig.  1)  ersetzt  durch  eine  von  leicht  rütlieher  Zone  umgebene,  glasig  aus- 
sehende schleimige  Masse,  die  der  Kpiphy^eniinie  dicht  anliegt.  Oberhalb 
des  Condylus  int,  findet  sich  die  kleine,  durch  den  Löffel  bei  der  Operation 
vergrüssiTlc  l'crfonilion  diT  Corlicalis,    die  hier  dicht   oberhalb  der  Knorpel- 


Zur  Kenntniss  der  Streptokokken-  und  Pneumokokken-Osteomyelitis.     887 

fuge  mit  jener  durch  schleimige  Ansammlung  ausgefüllten  Knochenhöhle  com- 
municirt.  Der  mediale  Abschnitt  der  Epiphyse  steht  höher  als  der  laterale; 
doch  liegt  diese  Erscheinung  nicht  an  einer  Verkümmerung  des  Condylus  int., 
sondern  ist  dadurch  bedingt,  dass  die  ganze  Epiphyse  nur  noch  mit  einer 
kleinen  Partie  am  Condylus  ext.  in  fester  Verbindung  steht  und  durch  diese 
fast  vollkommene  Lockerung  in  ihrem  medialen  Bereiche  nach  oben  ver- 
schoben ist. 

Die  anatomische  Untersuchung  ergiebt  demnach: 

1.  Knochenabcess  mit  schleimigem  Inhalt  in  der  unteren  Dia- 
physenspongiosa  mit  Durchbruch  nach  aussen  oberhalb  des  Condylus  internus 
und  theilweiser  Lösung  der  Epiphyse. 

2.  Diffuse  Entzündung  des  Knochenmarkes. 

3.  Beginnende  Schaftnecrose  und  Bildung  einer  Sequester- 
lade. 

Bei  der  bacteriologischen  Untersuchung  ergab  die  Impfung:  aus  dem 
schleimigen  Herde,  dem  missfarbenen  Knochenmark  und  den  Granulationen 
zwischen  Corticalis  und  Knochenauflagerung  das  alleinige  Vorhandensein  des 
Streptococcus  pyogenes,  der  in  massig  langen  Ketten  wuchs. 

Nur  die  Impfung  aus  der  vergrösser ten,  mit  der  Wunde  coramunicirenden 
Perforationsöffnung  hatte  ein  anderes  Resultat,  indem  der  Bacillus  pyoceancus 
und  nur  wenige,  aber  mikroskopisch  festgestellte  Streptokokkencolonien  auf- 
gingen.   Eine  Blutimpfung  post  mortem  blieb  negativ. 

Nach  diesem  Befunde  glaube  ich  annehmen  zu  dürfen,  dass 
die  Erkrankung  auch  hier  durch  Streptokokken  verursacht  war.  Das 
pathologische  Bild  ist  das  einer  mehr  chronischen  Form  und  spricht 
für  eine  wenig  virulente  Infection,  da  es  zu  einer  eigentlichen  Ei- 
terung im  Knochen  nicht  gekommen  ist;  eine  Eiterung  war  nur, 
wie  die  Anamnese  ergab,  in  den  Weichtheiien  entstanden  und  spontan 
durchgebrochen.  Der  schleimige  Herd,  das  diffus  entzündete  Knochen- 
mark, das  Fehlen  von  Eiter  zwischen  Corticalis  und  periostaler 
Aullagerung  sind  der  Grund  zu  der  Annahme  einer  schwachen 
Virulenz  der  p]rreger,  ebenso  wie  der  fast  fieberlose  Verlauf  der 
Erkrankung  während  unserer  Beobachtung. 

Das  Interessanteste  dieses  Falls  aber  liegt  darin,  dass  sich 
der  Streptococcus  pyog.  befähigt  erwies,  auch  grössere 
Sequestrationen  zu  bilden,  noch  dazu  unter  dem  Bilde  einer 
nicht  eitrigen,  serösen  Entzündung.  Bei  einer  Parulis  ist  von 
Garre  constatirt  worden,  dass  Streptokokken,  wie  er  mikro- 
skopisch nach\^ies,  Urheber  eines  serösen  Abccsses  sein  können. 
Für  die  Frage,  ob  die  albuminöse  Form  der  Osteomyelitis  ihre 
Entstehung    einem   von    vornherein  wenig    intensiven  Entzündungs- 


888  Dr.  E.  Lcxcr, 

process  verdanke  (Schlange),  oder  durch  Degeneration  eines  eitrigen 
Exsudates  entstehe  (Vollert,  Garre),  bringt  unser  Fall  keine  Auf- 
klärung. Nur  soviel  geht  aus  dem  Verlaufe  und  Befunde  hervor, 
dass  es  sich  um  eine  weniger  virulente  Infection  handelte,  und  die 
Annahme  einer  solchen  ist  ^h  Grundlage  beider  Ansichten  iioth- 
wendig. 

Auf  das  Vorkommen  einer  chronischen  Entzündungsform  am 
Knochen  durch  Streptokokken  wies  Kocher  hin  mit  einem  sehr 
merkwürdigen  Falle,  einem  13  jährigen  Knaben,  bei  dem  sich  unter 
Schmerzen  in  etwa  einem  halben  Jahre  eine  hühnereigrosse,  breit 
aufsitzende  Exostose  hinten  über  dem  Condylus  externus  entwickelt 
hatte.  Der  Tumor  hatte  eine  1  mm  dicke  Schale,  sonst  bestand 
er  zumeist  aus  weichen  mark-  oder  granulationsähnlichen  Massen. 
3  Tage  nach  der  Operation  eiterte  die  Wunde.  Die  Impfung  aus 
den  Granulationsmassen  ergab  Streptokokken,  weshalb  Kocher 
annimmt,  dass  hier  auf  Grund  einer  Streptokokken-Localisation 
ein  Granulationsherd  entstanden  war,  der  mit  einer  periostalen 
Knochenschale  umgeben  und  abgekapselt  wurde. 

Zu  den  mehr  chronisch  verlaufenden  Erscheinungsformen  gehurt 
auch  der  von  Lanz^)  mitgetheilte,  seit  mehreren  Monaten  bestehende 
Knochenabscess  im  Femur.  Der  Virulenzgrad  der  Erreger  docu- 
mcntirte  sich  hier  sehr  deutlich,  da  nach  der  Incision  und  Auf- 
meisselung  ein  typisches  Erysipel  sich  entwickelte.  Durch  Impfung 
aus  dem  Knochenherd  wurde  der  Streptococcus  in  Reinzucht  gewon- 
nen, so  dass  an  der  Aetiologie  dieser  Eiterung  nicht  zu  zweifeln  ist. 

Während  also    auf  der  einen  Seite    ausgedehnte  Eiterung  des 

befallenen  Knochens,    auf   der    anderen  Seite    die   verschiedensten 

Formen  chronischer  Entzündung  zur  Beobachtung  gelangten,  erfährt 

das  Bild  der  Erscheinungsformen  durch  den  folgenden,  von  Herrn 

Professor  Nasse  untersuchten  Fall  insofern  eine  weitere  Ergänzung, 

als   dieser    zeigt,    dass    eine  unter  den  Symptomen  einer  Pyämie 

verlaufende  Streptokokkeninfection,  ebenso  wie  dies  häufig  bei  der 

Staphylomykosis  vorkommt,  neben  anderen  Metastasen  auch  Locali- 

sationen  am  Knochensystem,   besonders  vor  Abschluss  der  Wachs- 

thumsperiode  hervorrufen  kann. 

Es  handelte  sich  um  einen  20jährigen  Studenten,  der  Endo  Februar 
einen  Schlägerhieb  erhalten  hatte.     Als  die  Nähte  entfernt  wurden,  fand  man 

1;  Lanz,  Correspond<Mizblatt  für  Schweizer  Acrzte.     1897.     No.   13. 


Zur  Kenntniss  doi*  Streptokokken-  und  Pneumokokken-Osteomyelitis.     889 

eine  kleine  Eiteransammlung,  weshalb  die  Wunde  wieder  geöffnet  und  tamponnirt 
wurde.  4  Wochen  später  trat  eine  schmerzhafte  Anschwellung  des  linken  Knie- 
gelenkes ein,  die  auf  Natr.salicyl.  zurückging.  Mitte  April  musste  ein  acut  entstan- 
dener Abscess  unterhalb  des  linken  Kniegelenkes  geöffnet  werden.  Gleichzeitig 
traten  unter  hohem  Fieber  Störungen  des  Allgemeinbefindens  auf  und  schwoll 
die  Gegend  des  rechten  Schultergelenkes  unter  Schmerzen  bei  Bewegungen  an. 

Als  Ende  April  Aufnahme  in  die  Klinik  erfolgte,  zeigte  der  kräftig  ge- 
baute, aber  sehr  blass  aussehende,  hochfiebernde  Patient  über  dem  linken 
Scheitelbeine  innerhalb  einer  Reihe  von  Narben  eine  auf  den  Knochen 
führende  Fistel,  einen  geringen  Erguss  im  rechten  Schultergelenk 
und  eine  starke  Füllung  des  linken  Kniegelenks,  an  dessen  Innen- 
seite sich  eine  entzündliche  Köthung  der  Haut  bis  zur  vorderen  Tibiakante  er- 
streckte, wo  aus  einer  kleinen  Incisionswunde  auf  Druck  Eiter  hervorquoll. 
Mit  einem  grossen  Schnitte  über  die  Innenseite  der  Kniegelenkgegend  werden 
eine  Reihe  von.  grösseren  und  kleineren,  zumTheil  miteinander  communicirenden 
paraartikulären  Abscesse  geötfnet  und  eine  Menge  von  Eiter  entleert. 
Daiauf  wird  das  prall  gefüllte  Kniegelenk  mit  einem  dicken  Troikart  punktirt 
und  eine  trübe,  röthliche,  fibrinöseitrige,  flockenenthaltende  Flüssigkeit  zum 
Abfluss  gebracht. 

Nach  Spaltung  der  fistulösen  Narbe  findet  sich  ein  kleiner  Sequester  der 
Tabula  ext.  umgeben  von  Granulationen  und  eitrig  infiltrirter  Diploe.  Die  Ta- 
bula int.  ist  intact. 

Nachdem  sich  in  den  nächsten  Wochen  das  Allgemeinbefinden  unter  all- 
mählich eingetretenen  normalen  Temperaturen  sehr  gebessert  hatte,  kam  es 
Ende  Mai  plötzlich  wieder  zu  hohen  Abendtemperaturen  und  Verschlechterung 
des  Befindens.  Die  Wunde  am  Schädel  war  geheilt,  die  Schwellung  des  rechten 
Schultergelenks  war  verschwunden  und  hatte  nur  geringe  Steifigkeit  zurück- 
gelassen. Dagegen  nahmen  die  Schmerzen  im  linken  Kniegelenke  zu  und  im 
unteren  Wundwinkel  hatte  sich  über  derTibia  eine  aufrauhen  Knochen  führende 
Fistel  gebildet,  so  dass  man  die  Gelenkentzündung  oder  einen  Herd  im  Knochen 
als  Ursache  desFiebers  vermuthen  musste.  Von  der  früheren  Incisionswunde  aus 
wird  daher  das  Kniegelenk  an  der  Innenseite  geöffnet  (Anfangs  Juni).  Es  enthält 
nur  wenig  Eiter.  Die  Synovialis  ist  geröthet  und  geschwollen.  Zum  Theil  be- 
ginnt schon  die  Verödung  des  Gelenkes  durch  Adhäsionen.  Der  Knorpel  der 
Tibia  ist  zerstört;  der  Defect  führt  in  einen  grossen  Eiterherd  in 
der  Epiphyse,  welcher  sich  nach  abwärts  fast  bis  zur  Mitte  der 
Diaphyse  erstreckt,  wohin  auch  die  oben  erwähnte  Fistel  der  alten  Wunde 
mündet.  Nach  Aufmeisslung  der  oberen  Tibiahälfte  wird  das  eitrig  infil- 
trirte  Knochenmark  ausgekratzt  und  ein  periostaler  Abscess  an  der  Innen- 
seite der  Tibia  geöffnet.  Durch  diesen  Eingriff,  dem  eine  lockere  Tamponnade 
des  aufgemeisselten  Knochens  und  ausgiebige  Drainage  des  Gelenkes  nach  An- 
legen einer  Gegenincision  folgte,  trat  wieder  Besserung  ein,  die  Ende  Juni 
abermals  durch  das  Auftreten  von  Fieber  und  einem  Erguss  im  linken 
Hüftgelenk  gestört  wurde.  Unter  fixiren dem  Verbände  schwanden  die  Schmerzen 
und  der  Erguss  allmählich. 


890  Dr.  E.  Lex  er, 

Endo  Juli  kam  es  wiecierum  zu  Temperaturen  über  39.  l>ie  Granulationen 
der  Wunde  an  der  Tibia  sahen  belegt  aus  und  die  Narbe  am  Schädel  schmerzte. 
An  der  Tibia  fand  sich  nach  Entfernen  der  Granulationen  ein  schmaler  Se- 
quester, ebenso  unter  der  Narbe  am  Kopf  in  Eiter  eingebettet  ein  kleines  los- 
gelöstes Knochenstück. 

Ein  neuer  Fieberanfall  trat  nicht  wieder  ein,  die  Wunden  heilten 
langsam,  der  Patient  konnte  anfangs  November  das  Bett  verlassen.  Nach  einer 
späteren  Mittheilung  des  Hausarztes  ist  das  linke  Hüft-  und  Kniegelenk  voll- 
kommen ankylotisch  geworden,  während  die  Beweglichkeit  des  rechten  Schulter- 
gelenkes nur  wenig  beschränkt  ist. 

Aus  dem  Knochenmarkeiter  der  Tibia  und  dem  Kniegcleuk- 
erguss  sind  Streptokokken  in  Reinkulturen  gewonnen  worden, 
während  dieselben  mikroskopisch  in  dem  Eiter  der  Schädelwunde 
nachgewiesen  wurden.  Nach  diesem  Befunde  darf  man  wohl  an- 
nehmen, dass  von  den  letzteren  aus,  wo  sich  ja  der  Infectionsstoff 
sehr  lange  Zeit  erhielt,  Metastasen  entstanden  sind.  Klinisch  trat 
am  frühesten  der  entzündliche  Erguss  im  Kniegelenk  und  ein 
parostaler  Abscess  an  der  Tuberosit.  tibiae  in  Erscheinung,  beide 
möglicherweise  schon  abhängig  von  einer  Localisation  an  der  oberen 
Knorpelfuge  der  Tibia.  Der  Befund  bei  der  letzten  Operation 
spricht  sehr  dafür,  dass  an  dieser  typischen  Stelle  der  erste  Knochen- 
herd angelegt  war  und  von  da  aus  durch  die  Epiphyse  ins  Ge- 
lenk und  nach  abwärts  ins  Knochenmark  sich  verbreitet  hatte. 
Die  nietastatische  Entzündung  des  Schulter-  und  Hüftgelenken 
hatte  einen  günstigen  Verlauf,  doch  nicht  ohne  im  letzteren  be- 
trächtliche Störungen  zu  hinterlasssen. 

Eine  Reihe  von  weiteren  Fällen  lässt  sich  als  eine  Gruppe 
zusammenfassen  unter  der  Bezeichnung  einer  Streptokokken- 
Osteomyelitis  der  Gelenkgebiete,  bei  welcher  die  Gelenk- 
eiterung im  Vordergrund  der  klinischen  und  auch  der 
pathologischen  Erscheinungen  steht^). 

Ueber  die  beiden  früher 2)  niitgetheilten  Fälle,  die  hierher  ge- 
hören, kann  ich  nur  berichten,  dass  sowohl  der  damals  1jährige 
Knabe  mit  dem  corticalen  Herde  oberhalb  des  Condylus  ext.  femoris 

0  Der  Name  ^Epiphysitis",  den  Herzog  und  Kreutwig  (Müncbeuer 
med.  Wochenschrift  1898,  No.  14)  unter  Hinweis  auf  englische  Autoren  für 
solche  Fälle  empfehlen  und  bei  einem  Falle  von  Epiphysenlösung  und  Gelcnk- 
eiterung  anwenden,  kann  nur  dann  auch  den  pathologischen  Veränderungen 
entsprechen,  wenn  es  sich  um  primär  in  der  Epiphyse  localisirte  und  durch- 
gebrochene Eiterherde  handelt. 

2)  Sammlung  klin.  Vorträge.     No.  173.     S.  675. 


Zur  Kenntniss  der  Streptokokken-  und  Pneumokokken-Osteomyelitis.      891 

und  der  Kniegelenkeiterung,  als  das  7  monatliche  Kind  mit  einem 
primären  ins  Gelenk  perforirten  Eiterherd  in  der  oberen  Humerus- 
epiphyse  eine  fast  vollkommene  Beweglichkeit  in  den  betreffenden 
Gelenken  ohne  nachzuweisende  Wachsthumsstörung  erlangt  haben. 

1.  Fritz  B.,  ein  kräftiges  2jähriges  Kind,  das  vor  einem  Vierteljahr 
Masern  und  vor  4  Wochen  einen  Lungenkatarrh  überstanden  hatte,  soll  vor 
5  Tagen  eine  leichte  Anschwellung  des  rechten  Schultergelenkes  bekommen 
haben.  Der  Mutter  fiel  es  auf,  dass  das  Kind  das  Aermchen  nicht  bewegte 
und  auf  Berühren  der  angeschwollenen  Partie  Schmerzen  äusserte.  Der  hinzu- 
gezogene Arzt  vermutete  eine  Gelenkentzündung  und  sandte  das  Kind  zur 
Klinik  (29.  II.  1897). 

Es  zeigte  sich  erstens,  dass  das  Kind  die  ausgeprägten  Merkmale  der 
Rachitis  aufwies:  Verdickung  der  Knorpelknochengrenzen  an  den  Rippen,  Auf- 
treibung verschiedener  Epipiiysengegenden,  ferner  Verkrümmung  der  Beine, 
rechts  genu  varum,  links  genu  valgum.  Zweitens  war  die  vordere  Partie  des 
Schultergelenkes  massig  angeschwollen,  die  Haut  nicht  geröthet,  aber  hciss, 
und  die  suhcutanen  Venen  sehr  deutlich  durchscheinend.  Die  Temperatur- 
messung ergab  nur  38,2®.  Durch  Punction  konnte  etwa  0,5  einer  eitrig 
getrübten  serösen  Flüssigkeit  aus  dem  Schultergelenk  entnommen  werden, 
welche  sofort  zur  Impfung  auf  Agar-Agar  und  zur  subcutanen  Injection  bei 
einer  weissen  Maus  verwendet  wurde.  Die  letztere  starb  nach  24  Stunden.  Im 
Herzblut  derselben  waren  schon  mikroskopisch  Streptokokken,  meist  in  diplo- 
kokkenform  nachzuweisen.  Die  Agarculturen  stimmten  mit  den  aus  dem  Thier- 
blut  gewonnenen  überein. 

Nach  Vornahme  der  Punction  wurde  der  Arm  am  Thorax  fixirt  und  die  Wir- 
kung der  Ruhigstellung  des  kranken  Gelenkes  die  nächsten2Tage  abgewartet.  Als 
dann  die  Abendtemperatur  etwas  höher,  auf  38,5,  stieg  und  sich  nach  Abnahme 
des  Verbandes  eine  massig  vermehrte  Anschwellung  der  Schulter  und  eine  ent- 
zündliche Röthe  der  Haut  vorne  über  den  Caput  hum.  vorfand,  wurde  die  ent- 
zündete Gelenkgegend  mit  einem  Längsschnitt  blosgolegt,  der  zunächst  nur 
Haut  und  Muskel  über  dem  Sulcus  intertubercularis  durch  trennte.  Die  Weich- 
theile  waren  nur  etwas  ödematös  durchtränkt;  als  dann  aber  durch  Innenrotation 
des  Armes  das  Tuberculum  maius  in  die  Wunde  eingestellt  wurde,  fand  sich 
oberhalb  desselben  dicht  an  der  Epiphysenlinie  und  dem  Kapselan- 
satze eine  kleine,  kaum  erbsengrosse  Stelle  gelblich  aussehenden 
Periostes.  Als  dasselbe  incidirt  war,  entquoll  eine  geringe  Menge  dünn- 
flüssigen Eiters  dem  gleichzeitig  durch  den  Schnitt  geöffneten  Gelenke.  Die 
Gelenkkapsel  wurde  dann  breit  geöffnet  und  duroh  Abhebein  des  Periostes  und 
Kapselansatzes  ein  kleiner  Eiterherd  freigelegt,  der  dicht  an  der  Knorpelfuge 
liegend  den  Durchbruch  eines  in  der  Diaphysenspongiosa  angelegten  Herdes 
ns  Gelenk  darstellte.  Denn  als  ich  zur  Feststellung  der  pathologisch-anato- 
mischen Verhältnisse  den  corticalen  Herd  mit  spitzem  Messer  umschnitt  und 
im  Zusammenhange  mit  der  darunter  liegenden  Spongiosa  auslöste,  zeigte  sich 
deutlich  ein  mit  Eiter  gefüllter  Canal,  der  vom  Kapselansatze  dicht  an  der 


8i)2  Ur.  E.  Lexer, 

Knorpi?lfut;c  in  eine  erhseng rosse,  eitrig  infillrirle  Stolle  der  Spongiosa  fiihrlc. 
Diese  Verhältnisse  suchte  ieli  in  Fig.  2  wiederzugeben.  Mit  dem  lierau<^e- 
schnittencn  Stück  Spongiosa  war  walirsclieinlidi  niclil  die  ganze  citrige  Pnrtie 
aus  derselben  entfernt  worden,  da  aus  der  Knochcnwunde  noch  etwas  Eiler 
heraustjuol].  Die  Menge  desselben  war  jedoch  so  gerinjc,  dass  das  im  Knorhen 
entstandene  Loch  für  den  Ahfluss  des  Eitere  hinreichend  erschien.  Kine 
lockere  .JodoformgiiKetamponnade  der  Knochen-  und  Weichtheilwunde  folgte  der 
Operation. 

Fig.  2. 


Obere  Humerusepiphysc.     K   =  Kapsel.     H  =   Eilerherd. 

Die  Temperatur  liel  in  den  nächsten  Tagen  nur  Norm.  Als  der  in- 
zwischen gelockerte  Tampon  am  M.  Tage  vollkommen  enlfemt  wurde,  zeigte 
sich  nur  wenig  Eiter  in  der  Tiefe  der  Wunde,  dem  ein  dünnes  Drainrohr 
Abfluss  schaffte.  Schon  nach  einer  Woche  konnte  das  Letztere  weggelassen 
werden,  worauf  in  weiteren  2  Wochen  ein  vollkoraniener  Verschluss  der  Wunde 
erfolgte.  Die  Bewegungen  des  Armes  im  Schultergelenk  schienen  nicht  schmerz- 
haft zu  sein,  als  der  Fixationsvcrband  entfernt  wurde.  Nach  1  Monat  hatte  das 
Kind  eine  anscheinend  gute  Beweglichkeit  des  Armes  in  der  Schulter. 

Der  jetzige  Befund,  l'/j  .lahr  nach  der  Knllassung  ist  folgender: 

Das  Kind  sieht  gesund  und  kräftig  aus,  hat  aber  noch  deutliche  Auf- 
treibungen  der  Epiphysen.  Am  rechten  Bein  hat  die  Genu  varum-S toll  uns 
zugenommen,  es  besteht  unterhalb  der  Tuberositas  tibiae  ein  deutlicher  Knick. 
Am  linken  Bein  ist  die  (ienu-valgum-Stellung  fast  verschwunden,  doch  besteht 
ein  hochgradiger  l'Iattfuss. 

Was  den  Trüher  erkrankten  Überarm  und  die  Schulter  bctrilTt,  so  ist  eine 
vollkommen  normale  Beweglichkeit  activ  wie  passiv  vorhanden,  die 
Gegend  des  Tuberculum  maius  fühlt  sich  ein  wenig  verdickt  an,  eine  Wachs- 
thumsstörung  des  Humems  ist  nicht  nachzuweisen. 

Durch  eine  Röntgenaufnahme  wurde  eine  ganz  geringe  Verdickung  des 
oberen  Hnmerus dritteis  festgestellt. 

Das    ganze  Kraiikhdlshild    diesra  Falles  lä,sst  sich  kurz  zu- 

Hanimenfassen  als  acute  eitrige  SehtiUrrgelenkcntzündung  infolge 
einer  nach  dem  Gelenke  pcrforirten  ostcoiuyclitischon  Localisalinn 
an  der  oheron  Knorpelfiige.  Kine  Eingangspforte  für  die  Infeetion 
lie.ss   sich  nicht  nachweisen.      Vom   Verlaufe  ist  bemcrkenswcrth, 


Zur  Kenntniss  der  StioptokoKkcn-  und  l*neuniokokken-()stconiyeliii.s.      893 

dass  die  Eiterung  im  Knochen  und  Gelenke  nach  Freilegung  des 
entzündeten  Gebietes  keine  Progredienz  zeigte,  sondern  sofort  ab- 
nahm, obgleich  besonders  für  den  Knochenherd  nur  eine  kleine 
Stelle  zum  Abfluss  geschafl'en  wurde,  und  ferner,  dass  eine  voll- 
kommen freie  Beweglichkeit  des  Armes  im  Schultergelenke  eintrat. 

2.  Gretchen  M.  Das  sehr  schwächliche  und  sehr  schlecht  ernährte  8 
Monate  alte  Mädchen  wurde  mit  der  Angabe  zur  Klinik  gebracht,  dass  seit 
2  Tagen  die  Gegend  des  rechten  Fussgelenkes  angeschwollen  sei.  Seit  2 
Wochen  bestünde  Lungenkatarrh  und  Husten. 

Am  rechten  Fuss,  der  in  Plantarflexion  gehalten  wird,  ist  die  Gegend 
des  Fussgelenkes  erheblich  angeschwollen.  Die  Schwellung  verliert  sich  ober- 
halb der  Malleolen,  reicht  unten  bis  zum  Mittelfuss  und  ist  am  stärksten  auf 
der  Innenseile  ausgeprägt,  wo  die  Hjiut  unterhalb  des  Knöchels  stark  geröthet, 
glänzend  und  verdünnt  erscheint  und  wo  deutliche  Fluctuation  ebenso  wie 
aussen  unterhalb  des  Malleolus  ext.  nachzuweisen  ist,  während  am  Fussrücken 
nur  Oedem  besteht.  Die  Berührung  des  entzündeten  Gebietes  und  Bewegungen 
des  Fusses  sind  ausserordentlich  schmerzhart.  Die  Temperatur  ist  39,8.  Die 
unteren  Partieen  der  rechten  Lunge  lassen  Hasselgeräusche  erkennen,  die 
Rachenschleimhaut  ist  etwas  geröthet,  die  Tonsille  der  rechten  Seite  stark  ge- 
schwollen. 

Eine  Incision  von  der  Mitte  des  Malleolus  internus  schräg  nach  vorn  über 
die  entzündete  Partie  hinweg  zur  Fusssohle  öffnet  zuerst  einen  grossen  von 
dünnem  Eiter  gebildeten  Abscess,  in  dessen  Grund  die  Plantarfascie  freiliegt. 
Die  Abscesshöhle  setzt  sich  von  der  Achillessehne  nach  dem  äusseren  Knöchel 
fort,  wo  eine  Gegenincision  angelegt  wird.  Aus  dem  Fussgelenk  entleert  sich 
Eiter,  weshalb  dasselbe  möglichst  weit  geöffnet  wird.  Ein  Eiterherd  am 
Knochen  ist  nicht  zu  entdecken. 

Impfungen  aus  dem  Eiter  ergeben  Streptokokken  in  Reinculturen. 

Während  aus  den  Wunden  ein  guter  Abfluss  des  Eiters  stattfindet,  verfällt 
das  Kind  unter  hohen  Temperaturen  immer  mehr,  es  treten  starke  Diarrhoeen 
ein  und  entwickelt  sich  rechts  eine  Bronchopneumonie.  VJ^  Wochen  nach  Be- 
ginn der  Erkrankung  erfolgt  der  Exitus. 

Soweit  das  Knochensystem  nachgesehen  werden  konnte,  sind  keine 
weiteren  Gelenk-  und  Knochenlocalisationen  vorhanden,  nur  am  Mall.  int. 
des  rechten  Fusses  zeigt  sich  Folgendes:  An  der  unteren  Knorpelfuge  der 
Tibia  ist  die  Diaphysenspongiosa  eitrig  infiltrirt  und  enthält  einen  kirschkern- 
grossen  Knochenabscess,  in  dessen  Bereiche  die  Epiphysenfuge  zerstört  ist, 
so  dass  der  kleine  Abscess  mit  den  ebenfalls  eitrig  infiltrirten  Räumen  der 
Epiphyse  communicirt.  Eine  kleine,  tiefe  Usur  des  Gelenkknorpels  zeigt,  dass 
auch  eine  Verbindung  der  vereiterten  Epiphyse  mit  dem  Gelenk  besteht. 

Nach  diesem  Befunde  ist  ein  an  der  unteren  Knoi-pelfuge  an- 
gelegter Eiterherd  durch  die  AVachsthunis/one  und  Epiphyse  ins 
Gelenk   durchgebrochen.      Bei    der  Incision   des  Gelenkes   blieben 

Archiv  fttr  klin.  Chii-urgie.  57.  Bd.  Heft  4.  •      51^ 


894  Dr.  K.  Lex  er, 

diese  Verhältnisse  verborgen.  Auffallend  ist  die  geringe  Zerstörung 
des  citrig  infiltrirten  Gelenkendes,  da  doch  der  ganze  Process  schon 
über  3  Wochen  angehalten  hatte.  Als  Eingangspforte  der  Infection 
ist  die  entzündete  Lunge  ebenso  wie  die  angeschwollene  Tonsille 
zu  verwerthen. 

3.  Erna  B.  Das  6  Monate  alte,  sehr  schwächliche  Kind  soll  schon  längere 
Zeit  krank  sein.  Im  Alter  von  4  Wochen  traten  am  Damm,  an  den  Schamlippen 
and  am  Rücken  kleine  harte,  röthlich  gefärbte  Knoten  in  der  Haat  auf,  die  lang- 
sam von  selbst  verschwanden  und  an  anderen  Stellen  wiederkehrten.  Der  Auf- 
bruch eines  solchen  Knotens  und  dieEntleerung  von  Eiter  wurde  nie  beobachteL 
Zu  diesem  Leiden  gesellte  sich  vor  2  Wochen  ein  plötzlich  auftretender,  über 
den  ganzen  Körper  wandernder  Ausschlag,  der  unter  allgemeinen  Störungen 
und  Fieber  in  8  Tagen  verlief.  Zuerst  war  nur  Bauch  und  Brust,  später  auch 
der  Kücken,  die  Beine  und  das  Gesicht  befallen.  Es  sollen  grosse  rothe  Flecken 
gewesen  sein  (Erythema  exsudativum?).  Nach  Ablauf  dieser  Erkrankung,  die 
das  Kind  sehr  in  seinem  Ernährungszustände  schädigte,  trat  vor  4  Tagen  eine 
Anschwellung  des  rechten  Schultergelcnkes  auf,  wogegen  Einpinseln 
mit  Jodtinctur  angewendet  wurde. 

Es  fand  sich  eine  sehr  orheblicheAnschwcllung  der  rechten  Schultergelenk- 
gcgend  mit  gespannter,  entzündlich  gerötheter  Haut  und  Fluctuation.  Sehr 
grosse  Schmerzhaftigkeit  bei  Bewegung  des  Armes.  Ausserdem  sind  in  der 
Umgebung  des  Afters  mehrere  kleine  furunkulöse  Abscesse  vorhanden.  Die 
Morgentemperatur  bei  der  Aufnahme  des  Kindes  ist  38.5.  Durch  Punktion  zur 
bakteriologischen  Untersuchung  wurde  eine  Pravaz*sche  Spritze  voll  dünn- 
flüssigen Eiters  aus  dem  Schultergelenk  entnommen  und  davon  auf  verschiedene 
Nährböden  verimpft,  die  alle  Reinkulturen  von  Streptokokken  ergaben.  Im 
Eiter  waren  Streptokokken  in  5—6  gliedrigen  Ketten  zu  sehen.  Eine 
weisse  Maus,  welche  0,5  von  dem  Eiter  subcutan  bekommen  hatte,  starb  nach 
48  Stunden;  aus  ihrem  Herzblute  liessen  sich  wiederum  Keincu4turen  von  Strep- 
tokokken züchten.  Wenige  Stunden  nach  Vornahme  der  Function  wurde  das 
Gelenk  mit  dem  gewöhnlichen  Resectionsschnitt  incidirt.  Nach  Durchtrennung 
des  Deldoides  wird  eine  grosso,  die  Gelenkgegend  vorne,  hinten  und  unten 
umspülende  Eiteransammlung  geölTnet.  Nach  Entfernung  derselben  mit  Tupfern 
sieht  man,  dass  aus  der  noch  unberührten  Gelenkkapsel  nahe  amTuber- 
kulum  minus  aus  einer  feinen  Oeffnung  dünner  Eiter  hervorquillt. 
Die  Kapsel,  deren  Ansatz  hier  etwas  gelöst  ist,  wird  darauf  breit  gespalten  und 
auseinander  t^ezogen.  DerGelenkknorpel  ist  normal,  aber  er  ist  weich,  lässt 
sich  eindrücken,  als  ob  der  ganzeHumeruskopf  aus  einer  Blase  mit 
einer  dünnen  knorpeligen  Wandung  bestände.  Eine  Perforationsstelle 
des  Gelenkknorpels  ist,  soweit  derselbe  sichtbar  wird,  nicht  zu  bemerken. 
Trotzdem  musste  man  annehmen,  dass  das  Innere  der  Epiphyse  zerfallen  sei 
und  ein  kleiner  Einschnitt  durch  den  Gelenkknorpel  zeigte,  dass  der  Humerus- 
kopf  in  der  That  fast  nur  aus  dem  Gelenkknorpel  bestand,  der  eine  gelUlich  ge- 
spren«<elte  Granulationsmasse  enthielt.     Nachdem  dieselbe  vorsichtig  entfernt 


Zur  Kenntniss  der  Streptokokken-  und  Pneumokokken-Osteomyelitis.      895 

war,  sah  man  die  epiphysärc  Seite  der  Wachstliumszono  durch  den  Wundspalt 
des  Gelenkknorpels  hindurch  vor  sich.  Sie  ist  glatt  und  von  rother  Farbe. 
Nur  gegen  die  hintere  Peripherie  zu  entdeckt  man  eine  gelblich  verfärbte  Stelle, 
die  sich  nach  leichtem  Betupfen  als  erbsengrosser  vollkommen  loser  Spongiosa - 
Sequester  zu  erkennen  giebt,  nach  dessen  Entfernung  ein  tiefes  Loch  in  der 
Knorpelfuge  vorhanden  ist.  Es  ist  deutlich  zu  sehen,  dass  die  Epiphyscn- 
fuge  an  dieser  Stelle  perforirt  ist  und  der  Sequester  aus  dem  spongiösen 
Theile  der  Diaphyse  resp.  Metaphyse  stammt.  Wahrscheinlich  war  hier 
der  primäre  Sitz  der  Kokkenlocalisation,  von  dem  aus  nach  Per- 
foration der  Knorpelfuge  der  Knochenkern  der  Epiphyse  zerfiel; 
da  der  Herd  dicht  unter  der  Corticalis  liegt,  so  ist  wohl  anzunehmen,  dass  die 
Perforation  ins  Gelenk  dicht  über  ihm,  •  an  fler  hinteren  Seite  des  Humerus 
erfolgt  war. 

Betreffs  der  Eingangspforte  wurde  kein  Anhaltspunkt  gefunden,  da  die 
als  solche  verrautheten  furunkulösen  Abscesse  am  Damm  etc.  nur  den  Staph.  p. 
aureus  enthielten. 

Die  in  der  Epiphyse  entstandene  Höhle  wurde  mit  Jodoformgaze  locker 
gefüllt,  der  Tampon  nach  2  Tagen  herausgenommen.  DieW^eichtheilwunde  füllte 
sich  schon  nach  1  Woche  bei  fieberlosem  Verlaufe  mit  guten  Granulationen, 
da  die  Eiterung  aus  der  Gelenkhöhle  vollkommen  aufhörte,  und  war  nach  einer 
weiteren  Woche  geschlossen. 

^4  Jahr  nach  der  Operation  hatte  das  Kind  vollständig  freie  active 
Beweglichkeit  in  dem  erkrankten  Gelenk;  es  gebrauchte  den  Arm  wie 
den  andern  und  zeigte  nicht  die  geringste  Wachsthumsstörung  gegen- 
über dem  gesunden  Oberarm. 

4.  Paul  B.  Der  1  Jahr  alte,  vorher  stets  gesunde,  kräftig  entwickelte 
Knabe  soll  ohne  äussere  Veranlassung  vor  2  Wochen  erkrankt  sein  und  fort- 
gesetzt gefiebert  haben.  Husten  oder  Schluckbeschwerden  sind  nach  Aussage 
der  Mutter  nicht  vorhanden  gewesen,  doch  fiel  derselben  schon  wenige  Tage 
nach  Beginn  der  Erkrankung  auf,  dass  das  Kind  bei  Berührung  oder  Be- 
wegung des  linken  Beines  Schmerzen  haben  müsse. 

Ueber  die  mögliche  Eingangspforte  für  die  bei  der  Aufnahme  des  Kindes 
deutliche  Kniegelenksontzündung  ist  absolut  kein  Anhaltspunkt  zu  gewinnen. 
Die  Hautdecken  zeigen  keine  Verletzungen,  die  Rachenorgane  keine  Röthung, 
die  Untersuchung  der  Lunge  ergiebt  normale  Befunde  und  auch  die  Verdauung 
des  Kindes  ist  in  Ordnung. 

Die  ganze  Gegend  des  linken  Kniegelenks  ist  leicht  geröthct  und  diffus 
geschwollen:  die  Bursa  subcruralis  prall  gefüllt,  fluctnirend,  die  Patella  tan- 
zend. Temperatur  38,8.  Durch  Punction  wurde  kein  Gelenkinhalt  entleert,  da 
sich  die  Canüle  mit  Fibringerinnseln  verstopfte.  Das  Bein  wird  zunächst  mit 
Schienenverband  versehen  und  suspcndirt  und  damit  ein  Sinken  der  Tempera- 
tur unter  38  in  den  nächsten  2  Tagen  erzielt.  Dann  trat  jedoch  wieder  38,8 
auf  und  zeigte  sich  beim  Abnehmen  des  Verbandes  nicht  nur  eine  Zunahme 
des  Kniegelenkergusses,  sondern  auch  eine  fluctuirende  Partie  vor  der  grossen 
Adductorsehne.   Vor  dieser  wird  incidirt  und  eine  paraarticuläre  Eiteransamm- 

59* 


«%  Dr.  K.  I.exer, 

liing  cnllcvrl,  sodann  von  demselben'  Srhnitt  aus  Aas  Gelunk  an  dfr  Innen- 
seite eröffnet,  worauf  sich  dünnes,  fast  seröses  Exsudat  mit  dicken  eiterigen 
Flocken  entleerte. 

Aus  dem  Gelenkeiter  wuchs  der  Streptococcus  pyogenes  in  Keinzucbt. 
Von  einer  24  stündigen  Bouilloncultur  tödtet  eine  Dosis  von  0,4,  subcutan 
einer  weissen  Maus  eingespritzt,  dieselbe  nach  24  Stunden. 

Unter  entsprechender  Behandlung  (Offenhalten  und  Drainage  des  Ge- 
lenkes und  des  oberen  Recessus)  lallt  die  Temperatur  zur  Norm,  die  anfangs  sehr 
stjirke  Kiterabsonderung  lässt  allmählich  nach  und  die  Wunde  beginnt  gut  zu 
granuliren,  als  sich  am  iL  Tage  nach  der  Operation  unter  hohem  Fieber  eine 
Pneumonie  entwickelt,  der  das  Kind  in  3  Tagen  erliegt. 


Fig.  S. 


E  ^  titerherd  iii  der  unter  ii  hiitirpeKugi,  des  Imken  l^emur. 

Da  dit  Obduction  erst  nich  3t>  Stunden  vorgenommen  werden  kann, 
sind  liiipfun^en  aus  dem  Blut  und  der  inQltrirten  Lunge  ohne  Werth.  In  dem 
erkrankten  Kniegelenk  ist  der  delenkknorpel  intnct,  nur  am  Condylus  int, 
dicht  oben  am  Knorpelrande  lat  iine  feine  OelTnung,  aus  dei  bei  Druck  auf 
dm  umgel  enden  Knorpel  Liter  herior<|Uillt  Durch  Vbtragen  einer  '/a  cm 
diiken  frontalen  Knochenscheibe  (s  big)  wird  ein  kleiner  Literherd  in 
du  Knorpel  fuge  nnd  der  anliegenden  Diaphjsenspongiosa  ent- 
deckt, der  durch  einen  feinen  sondirbaren  Canat  mit  dem  Gelenk 
communicirl.  Der  Literherd  enthalt  mikroskopisch  nachzuweisende  Strepto- 
kokken. 

5.  Robert  P.  Bei  dem  3  wöchentlichen  Kinde  soll  schon  3  Tage  nach 
der  Geburt  eine  Anscliueltung  des  rechten  Handgelenkes  bemerkt  worden  sein. 
Der  Arzt  punctlrie  ohne  Resultat.  Vor  einigen  Tagen  stellte  sich  auch  am 
linken  Bein  eine  Anschwellung  des  Oberschenkels  und  der  Kniegelcnksgegend 
ein,  weshalb  Massage  angewendet  wurde,  welcher  aber  nur  eine  Verschlimme- 
rnng  folgte. 

Bei  der  Aufnahme  findet  sich  ein  gros>er  Absccss  am  linken  Ul>erschen- 


Zur  Kenntniss  der  Streptokokken-  und  Pneumokokken-Osteomyelitis.     897 

kel  in  der  Umgebung  des  Trochanter  major.  Eine  zweite  Anschwellung  be- 
steht an  der  Beugeseite  des  rechten  Vorderarmes,  dicht  oberhalb  des  Handge- 
lenkes, hauptsächlich  auf  der  radialen  Seite.  Temperaturen  subnormal. 

Die  Incision  des  Abscesses  am  Oberschenkel  ergiebt  eine  Menge  von 
hellem,  rahmigen  £iter,  der  auch  an  einer  Stelle  aus  der  Gelenkkapsel 
herausquillt.  Letztere  wird  geöffnet.  Ein  Herd  am  Knochen  wird  nicht 
entdeckt.  Am  Handgelenk  ist  der  Abscess  am  Kadiusende,  auf  dessen 
radialer  Seite,  subperiostal.  Im  Eiter  der  beiden  Abscesse  finden  sich 
sehr  lange  Streptokokkenreihen.  Culturell  wird  der  Strept.  pyog.  in  Reinzucht 
erhalten. 

Nach  einer  Woche  stirbt  das  Kind  unter  zunehmendem  Verfall  und  stär- 
kerem Sinken  der  Temperatur  bis  auf  35,0^. 

Bei  der  Obduction  finden  sich  in  der  linken  Tonsille  kleine,  mikro- 
skopisch Streptokokken  enthaltende  Abscesse  und  Lymphdrüsen- 
schwellungen an  der  linken  Seite  des  Halses.  In  der  linken  Hüftgegend 
eine  grosse  zusammengefallene  Abscesshöhle,  in  welcher  das  ganze  Hüft- 
gelenk und  seine  Umgebung  freiliegt.  Das  durchschnittene  obere  Femur- 
drittel  zeigt  an  der  Knorpelfuge,  innerhalb  der  Diaphysonspon- 
giosa,  einen  kirschkerngrossen  Abscess  mit  Durchbruch  ins  Ge- 
lenk. Ein  etwas  kleinerer  Eiterherd  sitzt  an  der  Diaphysenseite  der 
unteren  Epiphysenlinie  des  rechten  Radius  mit  Durchbruch  nach 
aussen  unter  das  Periost. 

Das  Bemerkenswerthestc  dieser  7  beobachteten  Fälle,  mit 
Einschluss  der  beiden  früher  beschriebenen,  ist  erstens  das  frühe 
Alter  der  Patienten,  zwischen  3  Wochen  und  2  Jahren,  zweitens 
der  günstige  Verlauf  der  allgemeinen  wie  localen  Erkrankung  bei 
kräftigen  Kindern.  Der  lethale  Ausgang  bezieht  sich  auf  zwei  sehr 
schwächliche,  schlecht  entwickelte  Kinder  von  3  Wochen  und  acht 
Monaten,  bei  denen  der  Eintritt  der  Infection  einen  schnell  zum 
Tode  führenden  Kräfteverfall  hervorrief.  Der  sehr  kräftige,  1  Jahr 
alte  Paul  B.  starb  an  einer  katarrhalischen  Pneumonie,  die  dem 
sonst  sehr  ernten  Verlaufe  eine  Ziel  setzte.  Was  den  localen  Pro- 
cess  betrifft,  so  sehen  wir  in  allen  Fällen  einen  kleinen  Eiterherd 
im  Knochen  an  typischer  Stelle,  d.  h.  an  der  Diaphysenseite  der 
Knorpelfuge,  als  Ursache  einer  Gelenkeiterung  und  einer  paraarti- 
culären  Phlegmone. 

Der  Herd  im  Knochen  scheint  weniger  häufig,  als  dies  bei 
Staphylokokken  der  Fall  ist,  die  Tendenz  zur  Ausbreitung  der 
Entzündung  entlang  der  Knorpelfugcnscheibe  und  zur  Lösung  der 
Epiphyse  zu  haben;  denn  in  den  erwähnten  Fällen  zerfiel  nur  der 
dem  Herde  benachbarte  Abschnitt  der  Corticalis  und  Knorpelfuge, 


898  Dr.  E.  Lexer, 

so  dass  dadurch  Gommunicationen  mit  dem  Gelenkraume  entstan- 
den. Die  Gelenkeiteruns:  liess  den  Knorpel  intact,  obgleich  nach 
dem  Entfernen  des  Knochenherdes  der  entstandene  Defect  einen 
guten  Angriffspunkt  gegeben  hätte;  die  spätere  Function  des  Ge- 
lenkes ist  auch  durch  eine  Schrumpfung  der  Gelenkkapsel  in  den 
geheilten  Fällen  nicht  beeinträchtigt  worden.  Dem  Fortschreiten 
des  Entzündungsprocesses  wurde  stets  durch  die  Incision  ein  Ziel 
gesetzt,  Gelenk-  und  Weichtheileiterungen  hörten  in  wenigen  Tagen 
nach  der  Spaltung  auf,  sodass  niemals  ein  weiterer  Eingriff  nöthig 
wurde. 

Wichtig  scheint  die  Entfernung  des  Knochenherdes  zu 
sein,  denn  in  denjenigen  Fällen,  in  denen  erst  bei  der  Section 
ein  nach  dem  Gelenk  perforirter  Knochenherd  gefunden  wurde, 
blieb  die  eitrige  Secretion  aus  der  Gelenkwunde  bis  zum  Tode 
sehr  reichlich.  In  dieser  Beziehung  ist  auch  der  1.  Fall  von 
Klemm  sehr  lehrreich. 

Als  bei  dem  6  Wochen  alten  Kinde  ein  acut  entstandener  Abscess  an 
der  Aussenseite  des  Oberschenkels  geöffnet  wurde,  fand  sich  eine  kleine 
rauhe,  von  Periost  entblösste  Stolle  im  unteren  Drittel  des  Fe- 
rn ur.  3  Wochen  später,  nachdem  auch  ein  Parotisabscess  incidirt  worden 
war,  entsteht  über  dem  oberen  Drittel  des  rechten  Radius  ein  Abscess,  bei 
dessen  Spaltung  eine  V4  cm  im  Durchmesser  haltende  Rauhigkeit  am 
Radius  an  dessen  oberstem,  dorsalen,  epiphysären  Diaphysen- 
cnde  bemerkt  wird.  Fast  gleichzeitig  bildet  sich  ein  Abscess  an  der  rechten 
Schulter.  Hier  fühlt  man  nach  Entleerung  des  Eiters,  der  übrigens  das  Ge- 
lenk freigelassen  hatte,  eine  kleine  Knochenusur  zwischen  Epiphyse 
und  Diaphyse.  Die  Incisionswunden  heilten,  doch  am  Femur  sowohl  wie 
am  numerus,  hier  nach  7  Monaten,  dort  nach  2  Jahren,  entstehen  an  den- 
selben Stellen  Absresse,  bei  deren  Incision  auch  dieselbe  Knochenpartio 
wie  früher  rauh  und  usurirt  vorgefunden  wird.  Es  erfolgte  darauf 
Heilung. 

Die  abermalige  Abscedirung  an  den  früher  erkrankten  Knochen- 
stellen legt  hier  den  Verdacht  nahe,  dass  die  oberflächlichen  Usuren 
mit  tiefer  im  Knochen  gelegenen  Herden  (ähnlich  wie  z.  B.  in 
Fig.  2  und  3)  im  Zusammenhange  standen  und  aus  diesem  Grunde 
sich  so  lange  Zeit  erhieltcMi.  Kommt  es  auch  nicht  zu  wieder- 
holtem Aufbruch,  so  könnte  doch  ein  bei  der  Eröffnung  des  Ge- 
lenk(\s  verborgen  gebliebener  ossaler  Ilerd  durch  spätere  Verdickung 
des  Knochens,  vielleicht  auch  wegen  der  häufigen  Localisation  an 
der  Knorpelfuge,  durch  Wachsthumsstürung  sich  bemerkbar  machen. 


Zui'  Kenntniss  der  Streptokokken-  and  Pneumokokken-Osteomyelitis.     899 

So  wurde  in  einem  der  von  Vo  1km an n 'sehen i)  Fälle,  den  auch 
Klemm  citirt,  6  Jahre  nach  der  Incision  des  vereiterten  Knie- 
gelenks wohl  gute  Beweglichkeit,  aber  eine  eigenthümliche  Form- 
veränderung und  Verbreiterung  der  Femurepiphyse,  constatirt. 

Im  Falle  Anna  K.  der  folgenden  Gruppe  (Seite  901),  in  wel- 
chem wegen  einer  durchgebrochenen  Hüftgelenkeiterung  incidirt 
worden  war,  ergab  die  Untersuchung  nach  2  Jahren,  dass  wohl 
bald  nach  der  Operation  eine  Lösung  der  oberen  Femurepiphyse 
eingetreten  und  übersehen  sein  musste,  denn  der  stark  verbreiterte 
Trochanter  war  nach  oben  verschoben  und  das  Bein  verkürzt. 

Aehnliche  Veränderungen  am  Knochen  sahen  wir  in  unseren 
Fällen  nicht,  wo  die  kleinen  ins  Gelenk  perforirten  Herde  sorgsam 
ausgekratzt  oder  umschnitten  worden  waren. 

Zu  einer  weiteren  Gruppe  lassen  sich  diejenigen  Fälle  von 
Gelenkeiterungen  zusammenfassen,  bei  denen  eine  primäre 
Erkrankung  des  Knochens  nicht  besteht  oder  nicht  nach- 
gewiesen werden  kann.  Durch  die  Aehnlichkeit  des  klinischen 
Verlaufes  reihen  sich  diese  Fälle  den  früheren  an. 

Es  sind  dies  Gelenkentzündungen,  die  ebenfalls  nur  bei  kleinen 
Kindern  zur  Beobachtung  gelangten,  und  zwar  nicht  immer  mit 
mehr  oder  weniger  schleimigem  Charakter  des  Exsudates,  wie  bei 
der  V.  Volk  mann 'sehen  katarrhalischen  Arthritis,  sondern  auch 
reine  Eiterungen  mit  Durchbruch  in  die  Weichtheile. 

Von  den  früher 2)  erwähnten  Fällen  dieser  Art  war  der  inter- 
essanteste eine  acute  Gelenkeiterung  im  Ellbogen  bei  einem  acht 
Monate  alten  Mädchen,  Gertrud  B.,  bei  welcher  das  einer  Armvene 
vor  der  Operation  entnommene  Blut  Streptokokken  enthielt,  wie 
das  Mäuseexperiment  zeigte.  Der  Fall  heilte  nach  der  Incision. 
Die  Function  ist  z.  Z.,  fast  3  Jahre  nach  der  Erkrankung,  in 
jeder  Beziehung  vollkommen  normal. 

Es  ist  eine  längst  bekannte  Thatsache,  dass  die  Gelenkeite- 
rungen bei  kleinen  Kindern  nach  der  Incision  mit  oft  guter  Func- 
tion ausheilen;  nach  König  haben  die  mono-  und  polyarticulären 
Entzündungen  im  Säuglingsalter  (häußg  das  Kniegelenk  betreffend) 
selten  destruirenden  Charakter.    Da  wir  in  der  Klinik  nicht  gerade 


*)  von  Volkmann,  Beiträge  zur  Chirurgie.     1875.     S.  171. 
2)  Sammlung  klinischer  Vorträge.     173.     S.  678. 


900  Dr.  E.  Loxer, 

selten  solche  Fälle  zur  Behandlung  bekamen,  die  nach  einfacher 
Incision  des  Gelenkes  in  verhältnissraässig  kurzer  Zeit,  und  zwar 
mit  meist  guter  Beweglichkeit  heilten,  so  suchte  ich  seit  einigen 
Jahren  durch  bakteriologische  Impfungen  aus  solchen  acuten  Ge- 
lenkergüssen Anhaltspunkte  über  die  vorliegenden  Infectionen  zu 
erhalten. 

Da  zu  diesen  Untersuchungen  alle  bei  kleinen  Kindern  acut 
aufgetretenen  Gelenkentzündungen  verwerthet  wurden,  so  erstreckt 
sich  die  Beobachtung  auf  einige  Fälle  von  acuten  KniegelenLs- 
tuberculosen,  die  sich  einmal  durch  den  negativen  Ausfall  der  Im- 
pfung aus  der  Punctionsflüssigkeit,  zweitens  durch  den  weiteren 
klinischen  Verlauf  als  solche  zu  erkennen  gaben,  und  ferner  auf 
mehrere  durch  Staphylokokken,  aureus  und  albus,  hervorgerufene 
Gelenkeiterungen.  Bei  diesen  Staphylokokkenentzündungen  war  nicht 
nur  der  Process  in  dem  betreffenden  Gelenke  ein  schwerer,  son- 
dern auch  die  allgemeine  Erkrankung.  Meist  erkrankten  mehrere 
Gelenke.  Fast  immer  fanden  sich  bei  einer  ziemlichen  Anzahl 
solcher  Patienten  osteomyelitische  Herde  im  Bereiche  der  Gelenke. 

■r' 

Ich  habe  die  Fälle  nicht  eigens  gesammelt,  es  sind  ungefähr  20, 
nur  so  viel  will  ich  hier  hervorheben,  dass  die  wenigen  Kinder, 
welche  davonkamen,  nach  langwierigem  Verlaufe  mehr  oder  weniger 
steife  Gelenke  davontnigen. 

Und  doch  steht  an  der  Heftigkeit  des  Auftretens  und  der 
schnellen  Verbreitung  ins  paraarticuläre  Gewebe  die  Streptokokken- 
infertion  dem  Bilde  der  Staphylokokkeneiterung  im  Gelenk  nicht 
nach.  Krause  hat  bekanntlich  zuerst  darauf  aufmerksam  gemacht, 
dass  die  acute  eitrige  Synovitis,  die  acute  katarrhalische  Gelenk- 
entzündung Volkmann^s  bei  kleinen  Kindern  das  Werk  einer 
Streptokokkenin fection  ist.  In  früh  incidirten  Gelenken,  sagt  er, 
finde  sich  Synovia  von  der  Consistenz  dicken  Nasenschleims,  glasig 
hell,  mit  dicken  gelben  Eiterstreifen  untermischt,  später  ein 
mehr  oder  minder  schleimiger  Eiter.  Nach  Lannelongue  sind, 
wie  Mauclaire^)  mittheilt,  diese  von  Krause  beschriebenen  Fälle 
als  Gelenkentzündungen  nach  Osteomyelitis  zu  betrachten,  deren 
Stelle    im  Knochen  verborgen    bleibt.     Auch  Townsend^),    Ars- 


*)  Mauclaire    in:    Trail6  de  Chirurgie.     Le  Den  tu  et  Del  bei    T.  II. 
189G.    p.  542. 

-)  Townscnd,    American.  Journal    of  thc  mcdical  scienccs.    Jan.  1890. 


Zur  Kenntuiss  der  Streptokokken-  und  Pneumokokken-Osteomyelitis.     901 

dalc  und  Koplik*)  vertreten  diese  Ansicht,  ersterer  wohl  mit 
Recht,  da  sich  seine  Beobachtungen  nur  auf  Staphylokokken  be- 
ziehen, letztere  theilen  nur  4  Fälle  (von  2  Wochen  bis  2  Jahren) 
mit,  in  denen  es  sich,  soweit  aus  der  Beschreibung  zu  ersehen  ist, 
um  Osteomyelitis  durch  Streptokokken  mit  Gelenkeiterung  han- 
delte, wenn  nicht  die  Veränderungen  am  Knochen  secundärer  Natur 
waren,  da  spät  operirt  wurde. 

Gewiss  ist  es  richtig,  dass  bei  den  Gelenkentzündungen  kleiner 
Kinder  gerade  bei  den  Streptokokken,  die,  wie  wir  sahen,  meist 
nur  kleine  Herde  an  der  Wachsthumszone  machen,  diese  Ansiedlungs- 
stellen  im  Knochen  versteckt  bleiben  können;  das  zwingt  uns  aber 
nicht  zu  der  Annahme,  dass  sie  vorhanden  sein  müssen,  nament- 
lich aber  dann  nicht,  wenn  eine  schnelle  und  günstige  Ausheilung 
nach  Incision  des  Gelenkes  erfolgt. 

Wie  ich  schon  früher  erwähnte,  fand  ich  nicht  nur  Strepto- 
kokken, sondern  auch  den  Pneumococcus  Fraenkel-Weichselbaum 
bei  der  acuten  Arthritis  kleiner  Kinder,  wie  sie  dem  von  v.  Volk- 
mann und  von  Krause  entworfenen  Bilde  entsprechen.  In  den 
letzten  zwei  Jahren  sah  ich  5  Fälle,  davon  4  mit  Streptokokken. 
Dieselben  sind  in  Kürze  folgende: 

1.  Erich  L.,  9  Monate  alt.  Plötzliche'  Erkrankung.  Fieber  und  An- 
schwellung der  rechten  Schultergelenksgegend.  Nach  2  Tagen  Aufnahme  in 
die  Klinik.  Function  ergiebt  dünnflüssigen  Eitor,  der  Kapseid iplokokken  ent- 
hfält  (nach  Cultur  und  Mäuseimpfung  den  Pneumococcus  F ranke  1 -Weichsel- 
ba um). 

Incision  des  Gelenkes  ergiebt  zuerst  paraarticularen  dünnen  Eiter,  dann 
in  der  Gelenkhöhle  schleimige,  eitrige  Massen.  Tamponnade.  Heilung  mit 
guter  Function,  welche  auch  jetzt  nach  2  Jahren  constatirt  wurde. 

2.  Anna  K.,  10  Mon.  alt.  Vor  4  Wochen  Lungenentzündung,  welche 
in  2  Wochen  unter  hohem  Fieber  verlief.  Dann  bemerkte  man  bei  erneutem 
Fieberanstieg  eine  Anschwellung  der  Hüftgegend  des  in  Beugestellung  ge- 
haltenen linken  Beinchens,  dessen  Bewegungen  äusserst  schmerzhaft  waren. 
Aufnahme  in  die  Klinik  am  10.  Tage  nach  dem  Auftreten  der  Gelenk- 
entzündung. Temperatur  39,0®.  Sofort  Spaltung  eines  grossen  Abscesses 
der  vorher  zur  Culturanlage  punktirt  war,  oberhalb  des  Trochanter  maior. 
Knochen,  d.  h.  Trochanter  und  Becken  im  Bereiche  des  Abscesses 
nirgends  rauh,  aus  einer  Kapselperforation  quillt  Eiter  aus  dem 


*)  Arsdale  und  Koplik,    Streptoc.  Osteomyelitis  in  childrcn.      Americ. 
Journal.     April  1892. 


902  Dr.  E.  Lex  er, 

Hüftgelenk.    Spaltung  der  Kapsel.    Tamponnade.    Abfall  der  Temperatur. 
Nach  3  Wochen  Heilung  der  Wunde. 

Die  Untersuchung  nach  2  Jahren  ergiebt  eine  massige  Beschränkung  der 
Flexion  und  Abduction,  ferner  eine  Verbreiterung  des  Trochant^rs,  dessen 
Spitze  die  Roser-N^laton'sche  Linie  überragt,  und  eine  entsprechende,  2  cm 
betragende  Verkürzung  des  Beines.  Nach  dem  Aktinogramm  ist  es  wie  nach 
dem  Befunde  wahrscheinlich,  dass  die  Veränderungen  durch  eine  Epiphysen- 
lösung  hervorgerufen  sind,  die  wohl  bald  nach  der  Operation  eingetreten  war, 

3.  Richard  K.,  ly^  Jahre  alt.  Seit  3  Tagen  soll  bei  dem  sehr  kraftigen 
Jungen  eine  äusserst  schmerzhafte  Anschwellung  des  linken  Armes,  besonders 
in  der  Gegend  des  Ellenbogengelenkes  aufgetreten  sein.  Ausser  unbedeutendem 
Husten  war  das  Kind  vorher  gesund  und  ist  ganz  plötzlich  mit  Frost  und 
Fieber  erkrankt. 

Temperatur  39,0°.  Beträchtliche  diffuse  Schwellung  der  EUenbogen- 
gegend  mit  leicht  gerötheter  Haut  über  dem  Olecranon,  an  dessen  radialer 
Seite  sich  die  Kapsel  verwölbt  und  Fluctuation  vorhanden  ist.  Function  er- 
giebt dünnflüssigen  Eiter,  in  welchem  mikroskopisch  vereinzelte  Streptokokken 
zu  sehen  sind.  (2  weisse  Mäuse,  0,3  subcutan,  starben  in  24  und  48  Stunden 
mit  Streptokokken  im  Herzblut).  Die  Ausdehnung  der  Anschwellung  nament- 
lich auf  das  untere  Drittel  des  Humerus  machen  eine  acute  Osteomyelitis 
humeri  wahrscheinlich.  Sofort  nach  Function  Incision  am  radialen  Rande 
dos  Olecranon.  Die  Weichtheile  enthalten  reichlich  Oedemflüssigkeit,  aber 
keinen  Eiter.  Erst  nach  EröfTnung  des  Gelenkes  entleerte  sich  dünnflüssiger 
citriger  Erguss  mit  dicken,  rahmigen  Eiterflocken.  Die  Synovialis  ist  stark 
gcröthet.    Tamponnade.    Fixation. 

Nach  2  Tagen  fieberfrei.  Am  6.  Tage  gute  Granulationen,  vollkommenes 
Schwinden  der  Entzündungserscheinungen,  keine  eitrige  Secretion  aus  der 
Tiefe.  Wunde  nach  20  Tagen  geschlossen.  Nach  1 Y^  Jahren  vollkommen  freie 
Beweglichkeit. 

4.  Minna  L.,  2  Jahre  alt.  Unter  allgemeinen  Störungen  und  Fieber  trat 
vor  einigen  Tagen  eine  Anschwellung  der  linken  Kniegelenkgegend  ein.  Das 
sehr  kräftige  Kind  zeigt  eine  Temperatur  von  40,0^,  starke  Schwellung  des 
Knies,  deutlichen  Gelenkerguss,  geringe  Röthung  der  Haut  vor  der  Sehne  des 
Biceps  und  Adductor  magnus.  Function  ergiebt  sehr  hellen,  rahmigen  Eiter 
mit  reichlichen  Streptokokken  im  mikroskopischen  Bilde,  die  auf  dem  Nähr- 
boden als  ReincuUuren  wachsen. 

Grosse  Incisionen  über  beiden  Condylen  entleeren  zuerst  eine  ausserhalb 
des  Gelenkes  gelegene  Eiteransammlung,  dann  eine  Menge  Eiter  ans  dem 
Kniegelenke  selbst.  Lockere  Tamponnade  der  Gelenkwunden;  Abfall  der 
Temperatur  unter  38®:  geheilt  nach  4  Wochen  entlassen.  Nach  Yg  J^h^e 
Flexion  im  Kniegelenk  ohne  Beschwerden  bis  über  den  rechten  Winkel 
möglich. 

5.  Fritz  Seh.  IY2  «^ahr  alt.  Kurz  vor  Weihnachten  fieberhafter  Lungen- 
kaiarrh,  dann  3  Wochen  vollkommen  gesund.  Plötzlich  Schmerzen  im  rechten 
Knie,   so  dass  das  Kind  nicht  mehr  laufen  will  und  das  Bein  flectirt  hält. 


Zur  Kenntniss  der  Streptokokken-  und  Pneumokokken-Osteomyelitis.     903 

Unter  Fieber  tritt  Anschwellung  der  Kniegelenkgegend  auf.  2  Tage  später  ist 
der  linke  Handrücken  angeschwollen  und  schmerzhaft. 

Das  Kind  ist  nicht  sehr  kräftig  und  hat  die  Erscheinungen  leichter 
Rachitis.  Temperatur  39,3^.  Massiger  Erguss  im  rechten  Kniegelenk,  Gegend 
des  linken  Handgelenkes  ödematös  und  sehr  schmerzhaft. 

Bei  der  Function  des  Kniegelenkes  wird  leicht  getrübte,  seröse  Flüssigkeit 
aspirirt,  aus  welcher  der  Streptococcus  pyog.  wächst.  (0,2  einer  24 stündigen 
Bouilloncnltur  subcutan  eingespritzt  tödtct  eine  weisse  Maus  in  48  Stunden, 
Streptokokken  im  Herzblut).  Function  des  Handgelenkes  negativ.  Da  aus  dem 
Kniegelenk  eine  genügende  Menge,  10,0  bis  15,0  entleert  ist,  wird  wegen  der 
serösen  Beschaffenheit  dos  Exsudates  zunächst  die  Wirkung  der  fixirenden 
Verbände  an  Arm  und  Bein  mit  Suspension  abgewartet.  Die  Temperatur  sinkt 
in  der  That  in  den  nächsten  Tagen  stetig  (39.  38,5.  38.  38.  37,7.  37,5. 
37,1.),  so  dass  die  beiden  Verbände  erst  nach  einer  Woche  gewechselt  werden ; 
hierbei  Hess  sich  schon  eine  deutliche  Abnahme  der  Schwellung  der  erkrankten 
Gelenke  nachweisen. 

Unter  weiteren  fixirenden  Verbänden  Heilung  nach  7  Wochen. 

Jetziger  Befund:  vollständig  normale  Beweglichkeit  der  erkrankten 
Gelenke. 

Aus  dem  Verlaufe  dieser  wenigen  Fälle  ist  ersichtlich,  dass  die 
Eröffnung  der  Gelenke  möglichst  früh  nach  dem  acuten  Auftreten 
der  Entzündung,  auch  bei  schon  ausgedehnter  paraarticulärer  Phles:- 
mone  noch  eine  schnelle  Besserung  des  allgemeinen  Zustandes  und 
einen  Stillstand  und  Rückgang  der  Entzündung  zur  Folge  haben 
kann.  Lag  schon  in  dem  früher  veröffentlichten  Falle  Gertrud  B.  mit 
positivem  Blutbefund  vor  der  Incision  ein  Beweis  dafür,  dass  die 
Streptokokkeninfection  auch  bei  Kindern  nicht  immer  die  schwersten 
Formen  annimmt,  wie  dies  Canon  vermuthete,  so  sieht  man  aus 
obigen  Fallen,  was  die  locale  Wirkung  der  Infection  betrifft,  dass 
die  Streptokokkensynovitis  schnell  und  ohne  Schädigung  des  Gelenkes 
verlaufen  kann,  sobald  rechtzeiti,ii-  für  den  Abfluss  gesorgt  wird.  Im 
Fall  5,  wo  ein  für  Mäuse  sehr  virulenter  Streptococcus  nur  eine 
seröse  Entzündung  verursacht  hatte,  ist  lediglich  durch  eine  theilweise 
Aspiration  des  Exsudates  und  HuhigsteUung  des  Kniegelenks  ein 
stetiger  Abfall  der  Temperatur  und  Heilung  eingetreten,  eine  Be- 
stätigung der  schon  von  F.  Krause  erwähnten  Beobachtung,  dass 
in  seltenen  Fällen  auch  eine  Heilung  ohne  Aufbruch  durch  Re- 
sorption erfolgen  kann.  Der  schliessliche  Ausgang  der  eiterigen 
Entzündung  nach  frühzeitiger  Incision  stimmt  mit  dem  überein, 
was  F.  Krause  darüber  sagte:    „In  der  Mehrzahl    der  Fälle  tritt 


904  Dr.  E.  Lexcr, 

Heilung  ohne  Ankylose,  mit  nur  geringer  oder  selbst  ga.i\z  ohne 
Beschränkung  der  Beweglichkeit  ein."  Selbstverständlich  hängt 
vor  Allem  eine  spätere,  gute  Function  davon  ab,  dass  man  beim 
Vorhandensein  von  Eiter  mit  der  lüröflnung  der  Gelenkhöhle  nicht 
wartet,  bis  der  Knorpel  oder  Knochen  secundär  ergriffen  ist.  Der 
meist  gutartige  Verlauf  der  Gelenkeiterung  durch  Streptokokken 
gegenüber  der  durch  Staphylokokken  bedingten  berechtigt  Klemm 
zu  dem  Schluss,  dass  der  „Streptococcus  keine  tiefgreifenden, 
parenchymatösen  Zerstörungen  der  Synovialis  verursacht,  während 
sich  die  staphylomykotische  Eiterung  gerade  durch  Einschmelzung 
des  besiedelten  Bodens  auszeichnet." 

Bezüglich  der  Actiologie  ist  hervorzuheben,  dass  sich  die 
Gelenkentzündungen  ebenso  wie  unsere  Streptokokkeneiterungen 
am  Knochen  ohne  vorausgegangene  Infectionskrankheiten  entwickelt 
haben,  in  deren  Gefolge  besonders  nach  Scharlach  die  Gelenk- 
affection  nicht  gerade  selten  auftritt^).  Nur  in  Fall  3  der  zweiten 
Gruppe  ging  der  Schultergelenkschwellung  ein  über  den  Körper 
wandernder  Ausschlag  unbekannter  Natur  unmittelbar  vorher. 
In  wenigen  unserer  Fälle  ist  ein  Anhaltspunkt  für  den  Infections- 
modus  vorhanden.  Ein  fieberhafter  Lungenkatarrh  ging  dreimal  der 
Gelenkerkrankung,  zweimal  einem  primären  Knochenherde  voraus 
(Gruppe  II,  Fall  1  und  2).  Im  Falle  2  spielte  vielleicht  auch 
die  entzündete  Rachenschleimhaut  eine  Rolle,  bei  Robert  P.  II.  5. 
fanden  sich  Strej)tokokken  in  kleinen  Abscessen  der  Tonsille. 
Eine  schwere  Osteomyelitis  (1.  2.)  schloss  sich  klinisch  an  eine 
Infcction  der  Impfpusteln,  welche  einen  lymphangitischen  Abcess 
in  der  Achselhöhle  verursacht  hatte. 

Den  günstigsten  Verlauf  von  sänimtlichen  Formen  der  Strepto- 
kokkeninfoction  zeigten  demnach  die  Gelenkeiterungen  ohne  Be- 
fallensoin  des  anliegenden  Knochens.  Bei  den  Fällen  mit  primärer 
l^ooalisation  im  Knochen  kam  fast  nur  bei  den  kräftigen  Kindern 
eine  Heilung  zu  Stande,  während  2  kleine  schwächliche  Patienten  die 
Erkrankung  nicht  überstanden.  Ein  Zusammentreffen  mit  Rachitis 
ist  nur  2 Mal,  auch  einmal  bei  einer  Pneumokokkeninfection  beob- 


^)  Eine  Zusammenstellung  der  secundären  Gelenkeiterungcn  durch  Strepto- 
kol(ken  findet  sich  bei  Mauclaire,  Des  Arthrites  suppurees  dans  les  princi- 
pales    maladies    infccticuses.     Paris    1895.     pag.  106.     Pyarthroses    a   strepto- 

coqiies. 


Zur  Kenntniss  der  Streptokokken-  und  rnouniokokkcn-()steon»yelitis.      905 

achtet  worden.  Den  schwersten  Verlauf  zeigen  die  Fälle  von 
Knochenniarkeiterung.  Ein  Kind  erlag  der  Allgenieininfection,  der 
Fall  mit  der  albuminösen  Osteomyelitisform  ging  durch  Darrakatarrh 
zu  Grunde,  während  der  Geheilte  ausgedehnte  Processe  an  den 
befallenen  Knochen  aufwies.  Demnach  steht  die  Streptokokken- 
Osteomyelitis  der  Staphylokokkenform  an  Schwere  der  localen  wie 
allgemeinen  Erkrankung  keineswegs  nach. 

Schon  Lannelongue  suchte  aus  seinen  wenigen  Fällen  Unter- 
schiede beider  Infections formen  der  Osteomyelitis  herauszufinden. 
Wenn  mir  früher  bezüglich  der  pathologischen  Veränderungen  am 
Knochensystem  eine  Uebereinstimmung  schon  deshalb  nicht  zu  be- 
stehen schien,  weil  die  eigentliche  Markeiterung  bei  derStreptokokken- 
form  ganz  zurücksteht,  so  kann  man  nach  den  jetzigen  Erfahrungen 
wohl  sagen,  dass  dieselbe  sich  dem  gewöhnlichen  Bilde  der 
Staphylokokken-Osteomyelitis  mit  seinen  Abarten  und 
Folgen  immer  mehr  zu  nähern  scheint,  je  mehr  von  dieser 
seltenen  Form  bekannt  wird.  Denn  das  pathologische  Bild  der 
von  Streptokokken  hervorgerufenen  Osteomyelitis  ist  soweit  bis 
jetzt  bekannt,  schon  sehr  mannigfaltig.  Wir  sehen  das  Auftreten  des 
Eiterherdes  in  der  Diaphysenspongiosa  an  der  Knorpelfuge,  also  an 
ganz  typischer  Stelle,  mit  Durchbruch  nach  aussen  extra-  und  intra- 
capsulär,  durch  die  Knorpelfuge  und  durch  die  Epiphyse  ins  Ge- 
lenk. Es  fand  sich  ferner  die  totale  Eiterung  des  Knochenmarkes 
mit  abgelöstem  Periost,  beginnende  totale  Sequestration  der  Dia- 
physe,  Epiphysenlösung^),  corticale  und  subperiostale  Eiterung^), 
Erkrankung  eines  platten  Knochens  (Darmbeinschaufel 3),  und  von 
mehr  chronischen  Erscheinungsformen  zeigt  der  angeführte  Fall 
von  Kocher    eine  umschriebene    periostale  Knochenwucherung   im 


1)  s.  Fall  2  Gertrud  S.  unserer  1.  Gruppe.  Ferner  Epiphyseulösung 
auch  bei  Kocher,  Ghipault. 

2)  K.  Müller,  Fischer  und  Levy,  Klemm.  Dieser  2.  Fall  Klemm's 
ist  durch  die  tiefgreifende  Zerstörung  der  Corticalis  bemerkenswerth, 
von  der  sich  später  zwei  6  cm  lange,  fast  den  halben  Umfang  des  Knochens 
betragende  Sequester  abstiessen.  Es  war  bei  dem  7 jähr.  Mädchen,  das 
6  Wochen  vorher  Scharlach  durchgemacht  hatte,  unter  Schüttelfrost  und  Fieber 
eine  Anschwellung  am  Oberarm  und  an  der  Schulter  aufgetreten.  Es  fand  sich 
eine  grosse  Abscesshöhle  mit  dünnflüssigem  Eiter,  der  das  obere  Humerus- 
drittcl  umspülte.  Da  dasselbe  vom  Periost  entblösst  war,  wurde  es  aufge- 
meisselt,  doch  fand  sich  das  Knochenmark  nicht  vereitert.  Das  Gelenk  blieb 
intact.     Nach  mehreren  Wochen  kam  es  zur  erwähnten  Sequestration. 

8)  Sammlung  klin.  Vorträge.     173. 


906  Dr.  K.  Lex  er, 

iinteron  Fcniurdritlol,  während  Lanz  oincn  lan«;c  bestehenden 
Knochciiabscess  in  der  Tibia  eines  Kindes  aufmcissclte.  Die  albu- 
niinöse,  oben  beschriebene  Formbeschliesst  die  Reihe. 

AVenn  somit  das  mannigfache  Bild  der  Veränderung  am  Knochen- 
system dem  der  Staphylokokken-Form  sehr  nahe  kommt,  so  ist 
auch,  wie  ich  schon  betonte,  im  klinischen  Bilde  kein  greifbarer 
Unterschied  zu  bemerken,  nur  der  meist  dünnflüssige  und 
hellgefärbte  Eiter  kann  manchmal  den  Verdacht  auf  eine 
Streptokokken-Eiterung  nahe  legen,  auf  welchen  Punkt  ich  schon 
in  der  früheren  Arbeit  aufmerksam  gemacht  habe.  Ein  ähnliches 
Aussehen  des  Eiters  wird  auch  von  Klemm  angegeben. 

Sehen  wir  unter  den  ausführlich  publicirten  Fällen  von  solchen 
mit  Entzündungen  der  Knochenoberfläche  und  des  Periostes  ab, 
welche  Fälle  (von  Fischer  und  Levy,  und  K.  Müller)  im  Alter 
von  14,  24  und  33  Jahren  standen,  so  gehören  die  übrigen  be- 
kannten Erkrankungen  nur  dem  jugendlichen  Alter  an,  und  von 
diesem  scheint  wieder  das  Kindesalter  ganz  besonders  be- 
vorzugt  zu  sein,  wie  auch  unsere  sämmtlichen  Fälle  nicht 
über  das  9.  Lebensjahr  hinausgehen. 

Betreffs  diagnostischer  Schwierigkeiten  bei  den  Gelenkentzün- 
dungen möchte  ich  nur  bemerken,  dass  ohne  bakterioskopischc  Unter- 
suchung eine  Verwechselung  mit  anderen  acut  entstandenen  Ge- 
Icnkergüssen  (bei  syphilitischer  und  gonorrhoischer  Infection)  und 
der  von  Rovsing^)  beschriebenen  acuten  tuberculösen  Gelenkeite- 
rung möglich  ist.  Besonders  dann  beruht  die  Diagnose  lediglich 
auf  dem  bakteriologischen  Befunde,  wenn,  wie  in  Fall  5  der  dritten 
Gruppe,  eine  seröse  Synovitis  besteht,  die  nach  Punction  und  unter 
fixirenden  Verbänden  zurückgeht.  Ob  die  Arthritis  einem  kleinen, 
durchgebrochenen  Knochenherde  ihre  Entstehung  verdankt,  kann 
naiürlich  erst  nach  Eröffnung  des  Gelenkes  erkannt  werden. 

Dio  Osteomyelitis  durch  Pneumokokken  wird  noch  viel 
seltener  beobachtet,  wie  die  Streptokokken-Erkrankung  des  Kno- 
chens. Schon  die  Verwandtschaft  beider  Mikroben-Arten  bringt 
diese  Osieomyelitisform  in  nahoste  Beziehung  zu  den  vorigen. 

Die  kleine  Casuistik^)  ist  neuerdings  durch  zwei  Fälle  ver- 
mehrt worden. 

1)  Rovsing,  lieber  tubcrculösc  Arthritis  und  Ostitis  im  frühesten 
Kindcsalter.     Archiv  für  klin.  Chirurgie.     Bd.  53. 

2)  Sammlung  klin.  Vorträge.     173.     S.  685. 


Zur  Kenntniss  der  Stieptokokkon-  und  Pncumok()kkcn-().steomyelitis.     907 

Bei  einem  11  monatlichen  Kinde  trat  nach  einer  Mittheilunp:  von 
Perutz^)  im  Anschlüsse  an  eine  katarrhalische  Pneumonie  unter 
erneutem  Fieberanstieg  eine  Entzündung  des  Schultergelenkes  auf.  Es  fand 
sich  eine  reichliche  paraarticuläre  Eiteransammlung,  eine  theilweise  Zer- 
störung der  Gelenkkapsel  und  eine  vollkommene  Lösung  der  im 
Inneren  zerfallenen  Epiphyse.  Nach  Entfernung  der  letzteren  und  eines 
kleinen  Stuckes  der  Diaphyse  erholte  sich  das  Kind  schnell  und  die  Wunde 
heilte  mit  guter,  aber  nur  bis  zur  Horizontalen  möglichen  Beweglichkeit  des 
Armes  in  der  Schulter. 

Ueber  einen  anderen  12  Jahre  alten  Fall  berichtete  jungst  Blecher  aus 
der  Helfer ich'schen  Klinik 2).  Unter  Schüttelfrost  und  hohem  Fieber  ent- 
standen bei  dem  kräftigen  Knaben  die  Erscheinungen  einer  Kniegelenk- 
entzündung. Durch  Incisionen  an  der  Aussen-  und  Innenseite  des  Knies 
findet  man  einen  subperiostalen  x\bscess  und  entdeckt  an  der  letzteren 
eine  längliche  Periostöffnung,.  am  Knochen  jedoch  nichts.  Im  Gelenk  ist 
reichlich  dünnflüssiger  Eiter.  Die  Heilung  trat  mit  stark  beschränkter  Be- 
weglichkeit nach  8  Wochen  ein. 

Bezüglich  der  Aetiologie  seines  Falles  stellte  Blech  er  die 
interessante  Thatsache  fest,  dass  in  dem  eitrigen  Ohrausfluss,  der 
kurz  vor  der  Erkrankung  aufgetreten  war,  ebenfalls  Pneumokokken 
wie  in  den  Abscessen  vorhanden  waren.  Mit  Recht  vennuthet 
Biecher  als  gemeinsamen  Ausgangspunkt  für  Periost-  und  Gelcnk- 
eiterung,  auch  als  Erklärung  der  langanhaltenden  Fieberperiode, 
das  Vorhandensein  eines  Knochenherdes,  der  nach  unserer  Erfah- 
rung wohl  an  der  Knorpelfuge  seinen  Sitz  haben  dürfte. 

Meine  Beobachtungen  erstrecken  sich  auf  2  weitere  Fälle: 

1.  Marie  L.,  1  Jahr  alt.  Seit  9  Wochen  wegen  fieberhafter  Broncho- 
pneumonie in  einer  Kinder-Klinik.  Vor  3  Tagen  bemerkt  die  Mutter  eine  An- 
schwellung des  linken  Kniegelenks,  das  bei  Berührung  schmerzhaft  ist. 

Bei  der  Aufnahme  in  die  Klinik  hat  das  schwächliche  Kind  eine  Abend- 
temperatur von  39;  das  linke  Kniegelenk  enthält  einen  grossen  Erguss,  von 
dem  durch  Function  etwa  15,0  seröser,  leicht  getrübter  Flüssigkeit  entleert 
wird.  (Mikroskopisch  massenhaft  Eiterkörperchen,  vereinzelt  Diplokokken. 
Impfung  auf  Agar  ergiebt  in  24  Stunden  feine,  punktförmige  Culturen,  die 
nach  Gram  färbbare  Diplokokken  enthalten.  Intravenöse  Impfung  von  Kanin- 
chen mit  einer  Culturaufschwemmung  erzielt  eine  nach  24  Stunden  tödtliche 
Allgemeininfection;  Herzblut  und  Organe  enthalten  mikroskopisch  massenhaft 
Diplokokken  mit  Kapseln). 

Zunächst  wird,   da  kein  eitriger  Erguss  vorhanden   ist,  ein  Fixations- 


^)  Perutz,  Münchener  med.  Wochenschrift.     1898,  No.  3. 
2)  Blecher,  Deutsche  Zeitschrift  für  Chirurgie.     1898,  B.  48. 


908  Dr.  K.  Lex  er, 

verband  mit  Suspension  anj^elegt,  wodurch  in  den  nächsten  Tagen  ein  sicti^^er 
Abfall  der  Temperatur  erzielt  wird.    Nach  2  Wochen  ist  der  Hydrops  f<uit  voll- 
kommen zurückgegangen,  das  Kind  hat  sich  bei  normalen  Temperaturen   sehr 
erholt.    2  Tage,  nachdem  wieder  ein  fixirender  Verband  angelegt  war,    tritt 
plötzlich  Verschlechterung  des  Allgemeinbefindens  und  Fieber  ein.    Nach  Ab- 
nahme des  Verbandes  zeigt  sich  die  untere  Femurepiphyse  gelöst,  ohne 
gleichzeitige  erhebliche  Anschwellung  der  Gelenkgegend  und  Zunahme  des 
Gelenkergusses.    Ueber  dem  Trochanter  major,  dessen  Umgebung  stark   an- 
geschwollen ist,  fühlt  man  Fluctuation.    Bei  der  Incision   des  Abscesses  ent- 
leert sich  dünner  Eiter,    der  culturell  den  nämlichen  Mikroorganismus  be- 
herbergt, wie  das  Gelenkexsudat.    Der  obere  Femurabschnitt  und  die  Gegend 
des  Hüftgelenks  sind  vom  Eiter  umspült,  doch  ist  nirgends  eine  Läsion   der 
Gelenkkapsel  oder  des  Periostes  nachweisbar.    Am  wahrscheinlichsten  ist  ein 
Durchbruch  aus  dem  Hüftgelenk,  dessen  Erkrankung  bisher  verborgen  blieb. 
Unter  weiteren   fixirenden  Verbänden  geht  der  Kniegel enkerguss  vollkommen 
zurück,  während  an  der  Stelle  der  Epiphysenlösung  Consolidation  eintritt  and 
die  grosse  Wunde  sich  allmählich  durch  Granulationen  schliesst. 

Geheilt  entlassen  nach  6  Wochen.  Ein  Vierteljahr  später  ist  das  Bein  in 
Knie-  und  Hüftgelenk  gut  beweglich,  an  der  Stelle  der  Epiphysenlösung  ist 
das  Femur  etwas  verdickt. 

2.  Margaretha  K.  2Y4  «^ahr  alt.  Vor  Y2  ''^'^^  soll  Ohrenfluss  einige 
Wochen  lang  bestanden  haben.  Vor  4  Tagen  trat  plötzlich  hohes  Fieber  auf, 
dem  sich  eine  sehr  schmerzhafte  Anschwellung  der  rechten  Fussgelenkgegend 
anschloss.  Bei  der  Aufnahme  zeigt  das  ziemlich  schwächliche  Kind ,  das  mit 
sehr  starken  rachitischen  Verdickungen  sämmtlicher  Epiphysen  behaftet  ist,  eine 
erhebliche  Anschwellung  der  Fussgelenkgegend,  die  sich  einerseits  bis  zum 
Mittelfuss,  andererseits  bis  zum  mittleren  Drittel  des  Unterschenkels  erstreckt. 
Hinter  beiden  Malleolen  gespannte,  geröthete  Haut  mit  Fluctuation.  Die 
Punktion  ergiebt  dünnflüssigen,  nicht  flockigen  Eiter,  in  welchem  mikrosko- 
pisch einige  Diplokokken  mit  Kapseln  nachgewiesen  werden  konnten.  (0,2  des 
Eiters  subcutan  tödtet  eine  weisse  Maus  in  48  Stunden.  Nach  24  Stunden  ent- 
hält ein  Tropfen  Blut  aus  dem  amputirten  Schwanzstück  schon  massenhaft  Diplo- 
kokken mit  deutlichen  Kapseln.  Kaninchen  erliegen  in  1  Tag  der  Allgemein- 
in fection  nach  intravenöser  Injection  einer  Bouilloncultur). 

Unter  Blutleere  wird  die  Phlegmone  durch  2  grosse  über  beide  Malleolen 
hinweggehende  Incisionen  gespalten.  Im  Subcutangewebe  erstreckt  sich  die 
Eiterung  bis  zur  Mitte  des  Unterschenkels  an  dessen  Vorderseite  und  bis  zur 
Mitte  des  Fussrückens.  Seitlich  und  hinten  wird  das  Fussgelenk  von  einer  sehr 
reichlichen  Eiteransammlung  umgeben,  nach  deren  Entfernung  zu  sehen  ist, 
dass  an  der  medialen  Seite  die  Gelenkkapsel  zerstört  ist.  Auch  an  der  Aussen- 
seite  quillt  bei  Bewegungen  desFusses  aus  einer  Kaspelperforation  Eiter  aus  dem 
Gelenke.  Die  Kapsel  wird  hier  geötYnet  und  zum  besseren  Abfluss  des  Gelenk- 
citers  kleine  Theile  der  noch  knorpeligen  Epiphysen  abgetragen.  Dabei  wird  im 
inneren  Knöchel  ein  kleiner  Eiterherd  aufgedeckt,  der  dem  zerfallenen 
Knochenkern  der  Flpiphyse  entspricht.     Die  Vermntung,  dass  dieser  Herd  erst 


Zur  Kenntniss  der  Slreplokokken-  und  Pneumokokken-Osteomyelitis.      909 

secundär  nach  Perforation  der  Knorpelfuge  entstanden  ist,  wird  an  einem  sehr 
schönen  Präparate  bestätif^t,  das  durch  Ausschneiden  eines  schmalen  Längs- 
kciles  aus  der  Gegend  der  Wachsthumszone  erhalten  wird.  Die  Letztere,  rachi- 
tisch gewuchert,  zeigt  an  der  Diaphysenseite  verschiedene  kleine  Eiterherde  von 
denen  aus  ein  mit  Granulationen  gefüllter  Gang  durch  die  Epiphysenfuge  hin- 
durch geht. 

Die  Wunden  werden  locker  tamponnirt,  später  drainirt.  Die  Temperatur 
fällt  sofort  zur  Norm.  Das  Kind  ist  noch  in  Behandlung,  da  erst  2  Wochen 
nach  der  Operation  verflossen  sind. 

Während  dieser  2.  Fall  vollkommene  Aehnlichkeit  mit  den 
durch  Perforation  eines  Knochenherdes  entstandenen  Gelenkentzün- 
dungen durch  Streptokokken  hat,  ist  der  erste  Fall  durch  das 
Zurückgehen  der  serösen  Synovitis  nach  Ruhigstellung  des  Ge- 
lenkes und  durch  die  Lösung  der  unteren  Femurepiphyse  inter- 
essant, die  durch  eine  nichteitrige  Entzündung  entstanden  war  und 
ohne  Eröffnung  der  Exsudatansamralung  in  Heilung  überging.  Es 
ist  noch  zu.  bemerken,  dass  diese  Epiphyseolysis  im  Fixationsver- 
band  zu  Stande  kam  und  jegliches  Trauma  ausgeschlossen  ist.  Der 
Verlauf  dieser  Fälle  entspricht  den  Beobachtungen  Lannelongue's, 
welcher  die  Pneumokokkenform  der  Osteomyelitis  deshalb  für  die 
günstigste  ansieht,  weil  sich  sehr  schnell  am  Knochen  Reparations- 
vorgänge geltend  machen  und  die  ?]iterungen  in  den  Weichtheilen 
nach  der  Spaltung  keinen  progredienten  Charakter  zeigen. 

Was  das  Alter  der  Patienten  und  die  Aetiologie  der  Erkran- 
kung betrifft,  so  sehen  wir  im  Allgemeinen  ebenso  wie  bei  der 
Streptokokkeninfection  das  kindliche  Alter  bevorzugt,  wahrschein- 
lich wohl  deshalb,  weil  hier  häufig,  z.  B.  durch  Affectionen  der 
Jjunge,  eine  Gelegenheit  zur  Infection  gegeben  ist.  Blech  er  macht 
im  Anschluss  an  die  gelungene  Untersuchung  in  seinem  Falle  auch 
auf    die   ätiologische  Bedeutung  der  Mittelohreiterung  aufmerksam. 

Nach  den  bisherigen  Beobachtungen  gehen  die  pathologischen 
Veränderungen  am  Knochensystem  nicht  über  kleine  Eiterherde 
hinaus,  welche  zumeist  an  der  Knorpelfuge  ihren  Sitz  haben  und 
auf  irgend  einem  Wege  zu  Gelenkcomplicationen  führen.  Die  von 
mir  mitgetheilten  Knochenmarkherde  bei  einem  an  AUgemeininfec- 
tion  gestorbenen  Falle  ^)  und  die  Epiphysenlösung  in  dem  eben  be- 
schriebenen sind  Seltenheiten    der   noch  wenig    bekannten  Erkran- 


1)  Sammlung  klin.  Vorträge  173.    Fig.  2,  S.  682. 

Archiv  nir  klin.  Chirurgie.    57.  Bd.  Heft  4.  gQ 


DIO      Dr.  E.  Lexcr,  Zur  Kenntniss  der  Strcplokoklien-Osteoniyelitis  etc. 

kung.  Die  Eiterung  in  den  Weichtheilen  dagegen,  die  paraarticu- 
läre  und  die  periostale  Phlegmone  nehmen  ebenso  häufig  wie  bei 
der  Streptokokkeninfection  eine  bedeutend  grössere  Intensität  und 
Ausdehnung  an,  als  die  Veränderungen  am  Knochen,  demzufolge 
auch  nur  einmal,  in  dem  Falle  von  Ullmann,  eine  Sequester- 
bildung zu  Stande  kam. 

Für  eine  gesonderte  Stellung  der  Pneumokokken-Osteomyelitis, 
die  Klemm  „von  dem  Gros  der  eitrigen  Knochenerkrankungen'' 
getrennt  wünscht,  möchte  ich  nicht  eintreten,  da  sich  die  Pneumo- 
kokken-Entzündung  am  Knochensystem  nach  ihrer  klinischen  und 
pathologischen  Erscheinung  der  durch  Streptokokken  hervorgerufe- 
nen eng  anschliesst  und  noch  viel  zu  wenig  über  diese  seltene 
Fonn  bekannt  ist. 


LXIII. 

Die  Verbreitung  der  Krebserkrankung,  die 
Häufigkeit  ihres  Vorkommens  an  den  ein- 
zelnen Körpertheilen  und  ihrer  chirurgischen 

Behandlung. 

Von 

Ur.  Qeors  HelmAnn, 

Arzt  in  Berlin. 


Die  eigentliche  Ursache  der  Krebserkrankung  ist  bisher  noch 
nicht  in  befriedigender  Weise  klar  gestellt  worden ;  zwar  hat  es  bei 
der  herrschenden  Strömung  in  der  Medicin  nicht  an  vielfachen  Ver- 
suchen gefehlt,  den  Nachweis  der  Einwirkung  eines  organisirtcn 
Giftes,  sei  es  bacterieller  oder  protozoischer  Natur,  zu  führen,  allein 
diese  Bestrebungen  waren  bisher  ohne  Erfolg.  Eine  Anzahl  Patho- 
logen neigt  allerdings  einer  derartigen  Annahme  zu,  viele  von 
ihnen  jedoch  können  sich  einer  gewissen  Zurückhaltung  in  dieser 
Beziehung  nicht  erwehren  und  theilen  den  Stundpunkt  Virchow's^), 
der  zwar  die  Möglichkeit  eines  Krebsbacillus  nicht  einfach  zurück- 
weist, ja  zugesteht,  dass  mit  dem  Auffinden  eines  spccifischen  Ba- 
cillus ein  wichtiger  Fortschritt  in  der  Diagnose  und  Prognose  des 
Carcinoms  gemacht  werden  würde,  aber  doch  folgende  Ansicht 
äussert:  „Der  Versuch,  alle  Erscheinungen  der  Krebs  Wucherung  bis 
zur  Üissemination   und   Metastase  auf  die  Verbreitung  der  Krebs- 


0  Zur  Diagnose  und  Prognose  des  Carcinoms,  Archiv  f.  pathol.  Anatomie, 
1888,  Bd.  111,  S.  18.  Eine  sehr  eingehende  Zusammenstellung  der  Literatur 
über  Entstehung  und  Entwickelung  dieser  Geschwülste,  Vorkommen  an  deu 
verschiedenen  Organen,  operative  Behandlung  u.  s.w.  veröffentlichte  Ben  ecke 
1892  in  Schmidt's  Jahrbüchern,  Bd.  234;  eine  kürzere  Uebcrsicht  Berger 
in  seinem  Aufsatze  „Trauma  und  Carcinom",  Vierteljcihrsschr.  f  gerichtl.  Medi- 
cin, Bd.  14,  1897. 

60* 


1)12  Dr.  G.  Hoimunn, 

zollen  zurück/uführeii,  ist  keineswegs  durch  anatomische  und  cxpori- 
meiitelle  Feststellungen  so  sicher  unterstützt,  dass  für  einen  anderen 
^lodus  der  Erklärung  kein  Raum  übrig  blieb.  Ungeachtet  ist  aber 
auch  das  Bedürfniss  nach  einem  Krebsbacillus  kein  so  grosses,  dass 
wir  ohne  denselben  jeder  Möglichkeit  eines  Verständnisses  beraubt 
sein  würden.  Thierische  und  menschliche  Zellen  besitzen  ebenso 
gut  wie  Bacterien  die  Fähigkeit,  auf  den  Stoffwechsel  bestimmend 
einzuwirken  und  wirkungsfähige  Sekretstoffe  der  verschiedensten  Art 
zu  erzeugen.  Warum  sollten  wir  diese  Fähigkeit  gerade  den  Krebs- 
zellen bestreiten,  welche  in  vielen  und  gerade  den  schlimmsten 
Fällen  in  so  ausgeprägtem  Maasse  den  Habitus  von  Drusenzellen 
an  sich  tragen?" 

Ist  es  so  den  biologischen  Forschungsmethoden  zur  Zeit  noch 
nicht  gelungen,  die  Entstehungs weise  der  Krankheit  zu  ergründen, 
so  sind  doch  durch  klinische  Beobachtungen  gewisse  Einflüsse, 
welche  eine  Disposition  dazu  schaffen,  gewisse  Gelegenheitsmomente, 
welche  dabei  von  Bedeutung  sind,  festgestellt^).  Dass  chemische 
und  mechanische  Reizungen  hier  eine  Rolle  spielen,  kann  keinem 
Zweifel  unterliegen;  ebenso  ist  es  zweifellos,  dass  jüngere  Personen 
nur  ausnahmsweise  von  Krebs  befallen  werden,  endlich  haben  lang- 
jährige Erfahrungen  gelehrt,  dass  die  verschiedenen  Organe  des 
Körpers  —  und  zwar  wieder  in  durchaus  verschiedener  Weise  —  bei 
den  beiden  Geschlechtern  in  ganz  ungleichem  Maasse  karcinomatös  er- 
kranken. In  Bezug  auf  diese  Punkte  habe  ich  das  Zählkartenmaterial 
des  Königlich  Preussischen  Statistischen  Bureaus,  welches  aus  den  all- 
gemeinen Heilanstalten  Preussens  für  die  Jahre  1895  und  1896  dort 
eingegangen  ist,  einer  Durchsicht  unterzogen.  Gerade  bei  dieser 
Krankheit,  deren  Erkenntniss  nicht  selten  auf  Schwierigkeiten  stösst, 
dürfte  die  Krankenhausstatistik  wegen  ihrer  Zuverlässigkeit  von 
besonderer  Bedeutung  sein,  zumal  wenn  eine  so  erhebliche  Zahl 
von  Fällen  (übei'  20000)  zu  Gebote  steht.     Ich  erfülle  eine  ange- 


^)  In  dem  Regulativ  über  das  bei  ansteckenden  Krankheiten  zu  beobach- 
tende Verfahren  vom  8.  8.  1835,  das  noch  jetzt  in  Preussen  Geltung  hat,  wurde 
der  Krebs  zu  diesen  Krankheiten  gerechnet;  in  §  90  wurde  bestimmt,  dass  bei 
bösartigem  Kopfgrind,  Krebs,  Gicht,  die  mit  den  Absonderungen  der  Kranken 
in  unmittelbarer  Berührung  gekommenen  Kleidungsstücke  und  sonstigen  Effecten 
vorschriftsmässig  gereinigt  bezw.  vernichtet  werden  sollen.  Die  Anordnung 
liegt  den  Aerzten  der  Kranken,  die  Kontrolle  der  getroffenen  Maassregeln  der 
Polizeibehörde  ob.  Thatsächlich  findet  eine  strenge  Durchführung  dieser  Be- 
stimmung nicht  statt. 


Die  Verbreitung  der  Krebserkrankung  u.  s.  w.  913 

nehrae  Pflicht,  wenn  ich  dcni  Direktor  des  Königlichen  Preiissisclien 
Statistischen  Bureaus,  Herrn  Geheimen  Oberregierungsrath  Blenck 
sowie  dem  Leiter  der  Mcdicinalabtheilung  des  Bureaus,  Herrn  Ge- 
heimen Medicinalrath  Guttstadt,  meinen  aufrichtigen  Dank  für 
die  üeberlassung  dieses  werthvollen  Materiales  ausspreche. 

Für  die  vorhergehenden  Jahre  enthalten  die  Veröffentlichungen 
des  Bureaus  nur  Nachrichten  über  die  Gesammtheit  der  bösartigen 
Geschwülste,  wozu  ausser  Carcinomen  auch  Sarcome,  Lupus  u.  s.  w. 
gerechnet  sind.  Das  Verhältniss,  in  dem  diese  Geschwulstarten 
während  der  beiden  Berichtsjahre  in  den  genannten  Anstalten  zur 
Behandlung  kamen,  erhellt  aus  nachstehenden  Zahlen.  Es  wurden 
behandelt  Fälle  von: 

bösartigen  darunter:         ^^^^^^ 

Geschwülsten  überhaupt  Carcinom  Sarcom  Lupus  Neubildungen 
189f)  13450  10036       1201      1193  1020 

(100,0)0  (74,61)      (8,93)     (8,87)         (7,59) 

1896  14341  10508       1368      1278  1187 

(100,0)  (73,27)      (9,54)     (8,92)  (8,27). 

Also  rund  drei  Viertel  aller  hierher  gerechneten  Fälle  waren 
solche  von  Krebs.  Dies  vorausgeschickt,  erhellt  die  allmähliche  Zu- 
nahme derartiger  Erkrankungen  in  den  Heilanstalten  Preussens, 
wenn  wir  uns  vergegenwärtigen,  dass  die  Zahl  der  dort  an  bös- 
artigen Neubildungen  Behandelten  seit  dem  Jahre  1877  von  2952 
auf  6438  im  Jahre  1883,  auf  10907  im  Jahre  1890  und  auf  12548 
im  Jahre  1894  gestiegen  ist;  bis  1896  hat  also  eine  mehr  als 
vierfache  Vermehrung  stattgefunden.  Auch  im  Vergleiche  zu  der 
Gesammtzahl  aller  in  den  Heilanstalten  behandelten  Krankheiten 
war  die  Steigerung  eine  beträchtliche.  Von  je  100  aller  Krankheits- 
fälle betrafen  bösartige  Neubildungen 

bei  männlichen  bei  weiblichen 

T^  zusammen 

Personen 

im  Jahre  1887  0,8  2,6  1,4 

„      „      1880  1,0  3,2  1,7 

„      „     1883  1,1  3,6  2,0 

„   Durchschnitte  1886-90  1,4  4,2  2,3 

„              „            1891—95  1,4  4,0  2,3 

„  Jahre  1896  1,5  4,2  2,4. 


')  Die  in  Klammern  gesetzten  fetten  Zahlen  machen  ersichtlich,  wie  viel 
vom  Hundert  der  bösartigen  Neubildungen  insgesammt  auf  die  einzelnen  Ge- 
schwulstarten entfallen. 


914 


Dr.  G.  Hoimann, 


Die  Fälle  von  bösartigen  Nenbildnngen  in  den  allgvMeiw 

nach  Regiemcf 


! 

Zahl  d 

Tab.  I. 

1895 

Regierun  i?s- 

überhaupt 

davon   an 

bezirke. 

bei  Personen 

Carcino 

m 

Sarcom 

Lupus 

anderen 
NeubildoDgea 

m. 

w. 

zus. 

m. 

w. 

zus. 

m. 

w. 

zus. 

m. 

w. 

zus. 

1 
m.      w.     zus. 

• 

Königsberg  . 

.     233 

355 

588 

164 

238 

402 

39 

44 

83 

6 

19 

25 

24 

54 

TS 

Gumbinnen  . 

44 

37 

81 

36 

26 

62 

4 

6 

10 

3 

4 

7 

1 

1 

i 

Danzig   .  .  . 

.      138 

189 

327 

114 

154 

268 

15 

22 

37 

2 

6 

8 

• 

7 

U 

Marie  nwerdcr 

69 

80 

149 

55 

67 

122 

4 

l 

5 

7 

11 

18 

3        1 

4 

Berlin .... 

.      980 

1669 

26411 

765 

1350 

2115 

104 

110 

214 

23 

51 

74 

88;  158 

m 

Poisdam    .  . 

.       78 

128 

206 

64 

112 

176 

8 

3 

11 

2 

4 

6 

4 

9 

IS 

Frankfurt.  . 

78 

100 

178 

.54 

87 

141 

13 

4 

17 

7 

2 

9 

4 

7 

u 

Stettin    .  .  . 

135 

174 

309 

100 

139 

239 

21 

17 

38 

7 

14 

21 

7 

4 

11 

Köslin    .  .  . 

29 

32 

61 

24 

24 

48 

4 

2 

6 

1 

5 

6 

— 

1 

1 

Stralsund  .  . 

.      119 

142 

261 

79 

104 

183 

14 

11 

25 

5 

17 

22 

21 

10 

31 

}*osen  .... 

.      113 

141 

254 

74 

111 

185 

14 

15 

29 

14 

7 

21 

11 

8 

IS 

Bromberg.  . 

31 

42 

73 

29 

34 

63 

1 

3 

4 

4 

4 

1 

1 

i 

Breslau  .  .  . 

.      490 

831 

1321 

347 

643 

990 

46 

54 

100 

31 

64 

95 

66 

70 

13« 

liiegnitz    .  . 

117 

209 

326 

93 

171 

264 

14 

16 

30 

2 

8 

10 

8;    14 

n 

Oppeln  .  .  . 

.      114 

120 

234 

100 

96 

196 

2 

4 

6 

11 

6 

17 

1 

14 

IS 

Magdeburg  , 

.      171 

273 

444 

131 

225 

356 

16 

14 

30 

13 

22 

85 

11 

12 

n 

Merseburg    . 

.      165 

266 

431 

118 

203 

321 

22 

21 

43 

12 

14 

26 

13 

28 

41 

Erfurt.  .  .  . 

32 

67 

99 

27 

56 

83 

2 

5 

7 

2 

4 

6 

1 

2 

l 

Schleswig  .  . 

.      254 

377 

631 

172 

264 

436 

38 

34 

72 

22 

52 

74 

22 

27 

49 

Hannover  .  . 

104 

157 

261 

78 

122 

200 

9 

12 

21 

7 

15 

22 

10 

8 

n 

Hildesheim  . 

.      177 

239 

416 

111 

151 

262 

20 

25 

45 

15 

34 

49 

81 

29 

GU 

Lüneburg  .  .  . 

26 

50 

76 

25 

44 

69 

1 

1 

2 

2 

2 

3       S 

Stade  

9 

21 

30 

9 

16 

25 

— 

4 

4 

— 

1       I 

Osnabrück    .  . 

52 

48 

100 

32 

36 

68 

8 

1 

9 

9 

9 

18 

3 

2 

l 

Aurich    .... 

25 

55 

80 

19 

28 

47 

1 

4 

5 

3 

22 

25 

2 

1 

1 

Münster    .  .  . 

96 

123 

219 

70 

81 

151 

18 

12 

30 

6 

27 

33 

2 

3 

S 

Minden  .... 

34 

57 

91 

20 

36 

56 

3 

6 

9 

9 

11 

20 

2 

4 

1 

Arnsberg  .  .  . 

200 

243 

443 

147 

152 

299 

10 

15 

25 

39 

67 

106 

4 

9; 

Kassel    .... 

153 

227 

380 

96 

151 

247 

19 

23 

42 

24 

42 

66 

• 

14 

1     . 

11 

Wiesbaden  .  . 

173 

274 

447 

131 

202 

333 

22 

25 

47 

17 

33 

50 

3 

14      1 

Koblenz     .  .  . 

74 

86 

160 

56 

62 

118 

6 

5 

11 

12 

16 

28 

8 

Düsseldorf  .  . 

363 

514 

877 

241 

373 

614 

40 

34 

74 

64 

82 

146 

18 

25 

Köln 

375 

417 

792 

257 

287 

544 

46 

37 

83 

39 

53 

92 

33 

40i    } 

Trier 

86 

83 

169 

59 

61 

120 

6 

5 

11 

16 

11 

27 

5 

6      1 

Aachen  .... 

124 

140 

264 

100 

117 

217 

9 

0 

14 

8 

13 

21 

7 

5     I 

Sigraaringen    . 

6 

17 

23 

5 

11 

16 

2 

2 

— 

4 

4 

1 

1    ^ 

Zusammen   .  . 

5467 

7983 

13450 

4002 

1 
6034  ! 

10036 

599 

602 

1201 

438 

755 

1193 

428 

592  'lOl 

davon    gestor- 

]| 

ben  

1654 

1772 

1 

3426 

1439 

1577 

1 

3016 

129 

09 

1 

228 

6 

11 

* 

17 

80 

85 

^ 

Die  Verbreitung  der  Krebserkrankung  u.  s.  w. 


915 


Heilanstalten  Preassens  während  der  Jabre  1895  und  1896, 

bezirken. 


Fälle 

1896 

u 

berhaupt 
Personen 

davon  an 

bei 

Carcinom 

Sarcom 

Lupus 

anderen 
Neubildungen 

m. 

w. 

zus. 

m. 

Mr. 

zus. 

m. 

w. 

zus. 

m. 

w. 

zus. 

m. 

w. 

zus. 

301 

415 

716 

204 

294 

498 

51 

54 

105 

1 
16 

19 

35 

30 

48 

78 

35 

29 

64 

28 

20 

48 

4 

3 

7 

2 

2 

3 

4 

7 

147 

223 

370 

106 

161 

267 

19 

32 

51 

9 

11 

20 

13 

19 

32 

74 

86 

160 

51 

60 

111 

9 

5 

14 

7 

5 

12 

7 

16 

23 

1017 

1752 

2769 

793 

1425 

2218 

111 

112 

223 

36 

63 

99 

77 

152 

229 

110 

159 

269 

93 

121 

214 

6 

8 

14 

5 

6 

11 

6 

24 

30 

75 

117 

192 

28 

68 

91 

11 

8 

19 

3 

2 

5 

33 

44 

77 

121 

219 

340 

78 

156 

234 

31 

21 

52 

1 

7 

8 

11 

35 

46 

38 

40 

78 

26 

27 

53 

5 

4 

9 

5 

7 

12 

2 

2 

4 

129 

176 

305 

101 

127 

228 

21 

18 

39 

3 

14 

17 

4 

17 

21 

100 

139 

239 

70 

112 

182 

11 

9 

20 

16 

17 

33 

3 

1 

4 

37 

30 

67 

31 

25 

56 

3 

3 

6 

2 

2 

4 

1 

1 

502 

853 

1355 

365 

636 

1001 

49 

64 

113 

33 

77 

110 

55 

76 

131 

108 

196 

304 

90 

173 

263 

9 

14 

23 

1 

7 

8 

8 

2 

10 

105 

151 

256 

81 

,115 

196 

6 

9 

15 

6 

4 

10 

12 

23 

35 

181 

328 

509 

131 

261 

392 

19 

24 

43 

9 

19 

28 

22 

24 

46 

187 

261 

448 

130 

206 

336 

29 

31 

60 

16 

21 

37 

12 

3 

15 

20 

42 

63 

18 

37 

55 

1 

3 

4 

1 

1 

2 

1 

1 

223 

363 

586 

152 

249 

401 

4t 

37 

78 

15 

40 

55 

15 

37 

52 

110 

196 

306 

81 

146 

227 

12 

22 

34 

9 

15 

24 

8 

13 

21 

164 

268 

432 

113 

163 

276 

19 

23 

42 

14 

55 

69 

18 

27 

45 

31 

45 

76 

27 

38 

65 

3 

1 

4 

1 

1 

2 

— 

5 

5 

12 

23 

85 

9 

19 

28 

2 

3 

5 

— 

1 

1 

2 

54 

77 

131 

40 

48 

88 

6 

5 

11 

8 

23 

31 

1 

1 

37 

50 

87 

29 

23 

52 

4 

4 

8 

3 

23 

26 

1 

— 

l 

107 

162 

269 

72 

106 

178 

16 

8 

24 

11 

36 

47 

8 

12 

20 

55 

94 

149 

36 

69 

105 

10 

9 

19 

7 

13 

20 

2 

3 

5 

223 

334 

557 

151 

213 

364 

22 

20 

42 

43 

84 

127 

7 

17 

24 

153 

242 

395 

109 

156 

265 

12 

24 

36 

16 

48 

64 

16 

14 

30 

197 

278 

475 

137 

213 

350 

28 

25 

53 

28 

35 

63 

4 

5 

9 

61 

101 

162 

47 

69 

116 

2 

9 

11 

6 

13 

19 

6 

10 

16 

376 

507 

883 

262 

363 

625 

40 

31 

71 

49 

68 

117 

25 

45 

70 

427 

390 

817 

289 

283 

572 

48 

19 

67 

53 

51 

104 

37 

37 

74 

72 

102 

174 

54 

81 

135 

6 

3 

9 

7 

16 

23 

5 

2 

7 

132 

159 

291 

89 

111) 

208 

24 

13 

37 

12 

19 

31 

7 

8 

15 

5 

8 

13 

4 

6 

10 

— 

— 

1 

2 

3 

— — 

5720 

8615 

14341 

4125 

6383 

10508 

690 

678 

1368 

452 

826 

1278 

459 

728 

1187 

1751 

1957 

3708 

1 

1490 

1683. 

3173 

157 

135 

1 

292 

4 

12 

1 

16 

100 

127 

227 

Di«  FiUle  von  Careinom  in  den  fttlf;eH«iB«B  ([«ilantitaltei  PreDsg«n»i  wührend 
dfr  Jahre  IStm  nnd  1896,  nach  Regieran^beiirken. 


Tab.   II. 

Unter  .je  100  behandelten  Füllen  n 

aret, 

solche  von  Carcinom 

Regierungsbezirke. 

1895               1               1896 

bei  Personen 

m. 

w. 

zus. 

m. 

W.            .US. 

Tiüiiigsherg 

1,6 

3,4 

2,3 

1,8 

4,1 

2,7 

(iumbinmMi 

1.1 

1.6 

1,2 

0,8 

1,1 

0,9 

D.iiizig     . 

1,6 

3,3 

2,3 

1.8 

3,4 

2,1 

Marienwerdi' 

1,0 

2,9 

1,6 

0,9 

2.6 

1.4 

Berlin  .     . 

1,7 

3,4 

2,5 

1,7 

3,7 

2,6 

Potsdam  . 

0,5 

2,2 

1,0 

0.7 

2,2 

1.1 

rmnkfurt 

0.7 

3,8 

1,4 

0,4 

2,6 

0,9 

Stettill 

t,3 

4,2 

2,0 

1,0 

4,3 

2,0 

Koalin.     , 

0.9 

3.0 

1.3 

0,8 

1,9 

1.1 

Stralsund. 

2,7 

5,6 

3,8 

3,2 

5.9 

4,3 

Posci.  .     . 

1.1 

2,8 

1,7 

1,0 

2.7 

1,6 

Broraberg 

1.0 

2.8 

1,5 

2,1 

1.4 

BresLiii     . 

1,3 

3.2 

2,1 

1,3 

8,2 

2.1 

LiegDiti;    . 

1.4 

4,0 

2,4 

1,3 

3,8 

2.3 

OppelD     . 

0,5 

1,4 

0,8 

0,4 

1.6 

0,7 

Magdeburft 

1,1 

2,8 

1,7 

1,1 

3,2 

2.0 

Merseburg 

1,3 

4,1 

2,8 

1,4 

4.1 

2,3 

Krfiirt .     . 

1.1 

2,7 

1.9 

1,1 

3.0 

1,9 

.Schleswig 

l.l 

3.5 

1,9 

1.1 

3,1 

1,8 

1.1 

3.0 

1,8 

1.1 

3.9 

1.9 

llitdesbeim 

1.9 

3,5 

3,9 

2.0 

4,6 

3,0 

LflopbQrg 

0,5 

3.8 

1,2 

0.6 

3,5 

1.2 

Hta^p   .     . 

0,5 

2,9 

1.1 

0,6 

3,3 

1,3 

OsnnbrÜoV 

0,8 

2,0 

1.2 

1,0 

2.4 

1.4 

Auricli .     . 

0.8 

2.0 

1,3 

1,3 

1.3 

1,4 

Münster   . 

0,6 

1,3 

0,9 

o.e 

1,7 

1.0 

Mioden      . 

0.4 

0,6 

0,7 

1,9 

1.2 

Arn.sberg  . 

0,5 

1,7 

0,8 

0,5 

2,3 

0,9 

Kassel.     . 

1.1 

2,9 

1.7 

1,3 

2,9 

1,9 

Wiosbndeti 

1.1 

2,3 

1.6 

1,2 

2.4 

1,8 

Koblenz   . 

1.2 

1,9 

1.5 

1.1 

2,0 

1.5 

Diisspitiorf 

0.7 

2.2 

1.2 

0,7 

2,1 

1.2 

Köln    .     . 

1.4 

2.3 

1,5 

2.2 

1,8 

Trier    .     . 

0,7 

2.5 

0,6 

8,4 

1.2 

Anehen     . 

1,9 

3.5 

sis 

1.5 

8,8 

2,2 

Sigm.irilignn 

1.2 

5,0 

2,5 

0,9 

8.1 

l,fi 

Zusamr 

,.n 

1,1 

2,9 

1.7 

1,1 

3,0 

1,8 

Dass   die   hier  in   diese   Krankhcitsgrupfic   mit   eiiigcroclinetcii 
Krolwerkriiiikungni    cirie    verlü'iltnissim'issifre    Vorniclinmg    erfahren 


Die  Verbreitung  der  Krebserkrankung  u.  s.  w. 


917 


haben,  kann  keinem  Zweifel  unterliegen.  Inwieweit  diese  Zunahme 
nur  in  genauerer  Diagnose  begründet,  also  nur  eine  scheinbare  ist, 
rauss  dahin  gestellt  bleiben;  sicher  ist  dieses  Moment  nicht  ganz 
ohne  Bedeutung. 

Nach  der  Ansicht  vieler  Aerzte  betrifft  übrigens  die  Zunahme 
nur  die  schwer  erkennbaren  Fälle,  während  die  leicht  diagnosticir- 
baren  keine  Vermehrung  aufweisen. 

Endlich  ist  auch  der  Umstand  in  Betracht  zu  ziehen,  dass  in 
den  letzten  Jahren  ein  grösserer  Zugang  von  Krebskranken  zu  den 
Heilanstalten  erfolgte  wie  früher,  weil  häufiger  eine  chirurgische 
Behandlung,  welche  ja  doch  fast  nur  in  Krankenhäusern  durchführ- 
bar ist,  stattfindet. 

Zahl  der  1896  in  den  Kliniken  behandelten  Fälle  von  Krehs. 


Tab.  III. 

Regierungs- 
bezirke. 


Universität 


Anzahl  der  Fälle 

von  Krebs  bei 

Personen 


m. 


w. 


zus. 


In  der  betr.  Klinik  wurden  be- 
handelt vom  Hundert 


aller  in  den 
Heilanstalt,  be- 
handelten Fälle 


der  Fälle  von 
Krebs 


Königsberg 

Berlin 

Stralsund  . . 
Breslau  .... 
Merseburg  . . 
Schleswig  . . 
Hildesheim. . 

Kassel 

Köln 


Königsberg  . 

Berlin   

Greifswald  . 
Breslau  .... 

Halle 

Kiel 

Göttingen . . . 
Marburg  . . . 
Bonn 


113 
225 
97 
159 
86 
46 
82 
30 
87 


128 

432 

111 

186 

123 

72 

91 

34 

72 


341 
657 
208 
345 
209 
118 
173 
64 
159 


16 
26 
66 
12 
36 
16 
35 
16 
11 


48 
29 
91 
34 
62 
26 
62 
25 
28 


In  den  einzelnen  Gebieten  des  Staates  weist  die  Zahl  der  an 
Krebs  Behandelten  bemerkenswerthe  Verschiedenheiten  auf  (siehe 
Tabelle  I  und  II  auf  Seite  914—916).  Den  höchsten  Antheil 
von  den  in  Heilanstalten  Verpflegten  machten  sie  in  den  Re- 
gierungsbezirken Stralsund  (1895  3,8  pCt,  1896  4,3  pCt.),  Hildes- 
heim, Aachen,  Berlin  (2,5  bezw.  2,6  pCt.),  Königsberg,  Danzig 
aus;  überschritten  wurde  die  Durchschnittszahl  für  den  Staat  in 
9  bezw.  7  weiteren  Bezirken;  erreicht  wurde  sie  in  beiden  Jahren 
in  3  Bezirken,  während  in  18  bezw.  20  Bezirken,  die  Verhältniss- 
zahl niedriger  war,  und  zwar  am  niedrigsten  in  Münster,  Minden, 
Arnsberg  und  üppeln  (0,8  bezw.  0,7  pCt.).  Von  allen  Provinzen 
steht  Westfalen    am  günstigsten  da.      Für  die  weiblichen  Kranken 


918  Dr.  G.  Keimann, 

ergeben  sich  übrigens,  ausser  in  den  erwähnten  Regierungsbezirken, 
noch  besonders  in  Liegnitz,  Merseburg  und  Stettin  hohe  Zahl^i. 
Die  Erklärung,  dass  in  den  Heilanstalten  der  Reg.-Bez.  Stralsund, 
Hildesheim  und  Merseburg  ein  so  häufiges  Vorkommen  von  Krebs 
beobachtet  wurde,  liegt  wohl  grossentheils  darin,  dass  derartige 
Kranke  in  Universitätskliniken  besonders  zahlreich  behandelt  werden, 
wie  ein  Vergleich  der  Tabelle  HI  mit  den  Zahlen  für  1896  der 
Tabelle  I  ergiebt. 

In  den  Heilanstalten  des  Deutschen  Reiches  waren  von 
100  Krankheitsfällen  solche  von  Krebs  1886—88  2,06;  1889—91 
2,08;  1892—94  1,98;  in  den  Heilanstalten 

von  1886-88  1889—91     1892-94     1895     1896 

Bayern 0,9  0,9                1,0           1,2       1,3 

Sachsen 2,5  2,3               2,5          2,5       2,4 

Württemberg 1,4  1,3                1,4            —         — 

1892-94  1892-94 

Baden 2,0  Sachsen- Weimar  und  den  thü- 

Hessen 2,4  ringisohen  Herzogthümern    .     2,3 

Oldenburg 1,2  Elsass-Lothringen      ....     2,6. 

Aus  diesen  Zahlen  lassen  sich  bezüglich  der  Einwirkunir 
klimatischer  und  örtlicher  Einflüsse  auf  die  Entstehung  des  in  Fra^c 
stehenden  Leidens  Schlüsse  kaum  ziehen;  denn  der  Begriflf  der 
„bösartigen  Neubildung''  wird  in  den  einzelnen  Theilen  des  Reiches 
verschieden  gefasst;  so  wird  in  Hamburg  und  im  Königreiche 
Sachsen  nur  Krebs  dazu  gerechnet,  in  den  meisten  übrigen  deutschen 
Staaten  aber  auc^h  Sarcom,  Fibrom  u.  s.  w.  Mit  Recht  macht 
ferner  Engelmann  (Med.  statist.  Mitth.  aus  d.  Kais.  Gesundheits- 
amte,  IV,  S.  198)  darauf  aufmerksam,  dass  in  einzelnen  Provinzen 
Preussens  und  einer  Reihe  von  deutschen  Staaten  einer  hohen 
Morbiditätsziffer  eine  niedrige  Sterblichkeitsziffer  und  umgekehrt  in 
anderen  Provinzen  und  Staaten  einer  niedrigen  Morbiditätsziffer 
eine  hohe  Sterblichkeitsziffer  gegenüberstehe. 

1892 — 94  entfielen  von  je  100  Krankheits-  r^.    c*.    ui-  vt   -i.  u  *        •       />* 

fällen  überhaupt  auf  bösartige  Neubildun-  ^^°  Sterblichkeit  betrug  in  pCt. 
gen  in  den  Heilanstalten  von                                              ^^^  Abgangs 

Ostpreussen    ....  3,2                                    21,9 

Pommern 2,9                                     24,7 

Hannover 2,4                                     20,1 

Mecklenburg-Sclnverin  '2^^)                                     14,9 

ßraunscliweig     .    .    .  2,0,                                      1G,6, 


Die  Verbreitung  der  Krebserkrank ang  u.  s.  w.  919 

dagegen 

Brandenbarg  ....  1,2  39,8 

Bayern 1,0  28,8 

Lübeck 1,3  35,7 

Bremen 1,5  37,1 

Hamburg 1,2  43,1. 

In  ersteren  Gebieten  ist  also  der  Krankheitsbegriff  weiter  ge- 
nommen, während  in  den  letzteren  vorzugsweise  die  schweren  Fälle 
gezählt  sind. 

In  den  Heilanstalten  Oesterreichs^)  wurden  im  Jahre  1894 
7670  Fälle  von  Krebs,  d.  i.  2,2  pCt.  aller  Krankheitsfälle,  behandelt. 

Was  die  Betheiligung  der  Geschlechter  betrifft,  so  waren  im 
Jahre  1895  von  den  in  den  preussischen  Heilanstalten  an  Krebs 
Behandelten  4002=39,9  pGt.  männlichen,  6034=60,1  pCt.  weib- 
lichen Geschlechtes;  im  folgenden  Jahre  betrugen  die  Ziffern  4125 
=39,2  pCt.  bezw.  6383=60,8  pCt.2).  Es  waren  also  die  weib- 
lichen Kranken  in  ganz  bedeutender  üeberzahl;  dies  ist,  was  weiter 
unten  ausgeführt  werden  wird,  durch  die  Häufigkeit  des  Carcinoms 
der  weiblichen  Geschlechtsorgane  und  Brustdrüse  bedingt.  Uebrigens 
sind  diese  Unterschiede  in  den  verschiedenen  Altersklassen  nicht 
is:leich  gross,  wie  nachstehende  Zusammenstellung  ergiebt;  besonders 
erheblich  kommt  das  Ueberwiegen  weiblicher  Kranker  in  der  Alters- 
stufe von  30—50  Jahren  zum  Ausdruck.     (S.  Tab.  IV  S.  920). 

Auf  die  jüngeren  Altersklassen  entfallen  überhaupt  nur  kleine 
Zahlen,  die  allerdings  für  das  Alter  von  15  bis  20  Jahren  doch 
höher  sind ,  als  man  erwarten  sollte.  Unter  5  Jahren  waren  in 
beiden  Berichtsjahren  zusammen  15  Krebskranke  (4  männlichen  und 
11  weiblichen  Geschlechtes);  im  Alter  zwischen  5  und  10  Jahren 
standen  10  (je  5  Angehörige  beider  Geschlechter);  10 — 15  Jahre 
alt  waren  8  (1  m.  und  7  w.  G.);  die  nächsten  Altersstufen  zeigten 
schon  eine  nicht  unbeträchtliche  Zunahme:  61  der  Kranken  (32  m. 
und  29  w.  G.)  standen  im  Alter  zwischen  15  und  20  Jahren, 
112  (42  Männer  und  70  Weiber)  waren  zwischen  20  und  25  Jahre 
alt;  336  (101  Männer  und  235  Weiber)  zwischen  25  und  30  Jahre; 
vom  30.  Jahre    an    findet    eine  ganz  rapide  Steigerung  statt:    auf 

0  Oesterreichische  Statistik. 

2)  Unter  der  Gesammthoit  aller  in  den  Heilanstalten  Verpflegten  ist  das 
Verhältniss  nahezu  umgekehrt;  es  waren  darunter  in  den  beiden  .Jahren  rund 
(jA  pCt.  Männer  und  86  pCt.  Weiber. 


920 


Dr.  G.  Hei  mann, 


Die  in  den  allgemeinen  Heilanstalten  Preussens  während  der  Jahre  1895  nnd  1896 

Carcinom  Behandelten i)  nnd  Gestorhenen, 

nach  Altersklassen. 


Tab.  lY. 


Altersklassen. 


1895 


Behandelte 


m.        w. 


zus. 


Gestorbene 


m. 


w. 


zus. 


189  6 


Behandelte 


m. 


w. 


zus. 


Gestorbene 


m. 


w. 


ins^ 


bis  5  Jahre 
über  5  bis  10 
10    ,    15 


15 
20 
25 
30 
40 
50 
60 


7> 

n 


20 
25 
30 
40 
50 
60 
70 


70  Jahr 


1» 

yt 
yt 


unbekannten  Alters 


6 

6 

4 

2 

6 

1 

1 

3 

4 

21 

14 

35 

7 

22 

34 

56 

7 

50 

121 

171 

18 

329 

830 

1159 

101 

843 

1622 

2465 

303 

1193 

1712 

2905 

453 

1019 

1046 

2065 

373 

466 

506 

972 

161 

54 

138 

192 

15 

—       1 
1 

3 

8 

26 

172 

359 

426 

361 

195 

25 


1 

4 

1 

1 

1 

10 

11 

15 

20 

44 

51 

273 

302 

662 

850 

879 

1304 

734 

1004 

356 

471 

40 

107 

5 

3 

4 

15 

36 

114 

845 

1689 

1821 

1160 

514 

177 


9 
4 
4 

26 

56 

165 

1147 

2539 

3125 

2164 

985 

284 


1 
1 

3 

6 

21 

105 

303 

487 

356 

171 

36 


2 

1 
5 

6 
27 
172 
364 
474 
388 
210 
34 


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1 
I 

8 

12 

4v^ 

277 

667 

961 

744 

381 

70 


Zusammen 


4002 


6034  |l0036|l439 


1577 


3016 


4125 


6383 


10508 


1490 


1683  18173 


V  0  n   j  e    100    waren    alt: 


bis  15  Jahre 
über  15  „    20 


V 


20  r  25 

25  ^  30 

30  „  40 

40  .,  50 

50  „  60 

60  ,,  70 
70  Jahr 


r 

ff 

r 

Tt 

r 

r 


unbekannten  Alters 


0,1 

0,2 

0,2 

0,1 

0,1 

0,5 

0,2 

0,3 

0,5 

0,2 

0,5 

0,6 

0,5 

0,5 

0,5 

1,2 

2,0 

1,7 

1,3 

1,7 

8,2 

13,7 

11,6 

7,0 

10,9 

21,1 

26,9 

24.6 

21,0 

22,8 

29,8 

28,4 

28,9 

31,5 

27,0 

25,5 

17,3 

20,6 

25,9 

22,9 

11.7 

8,4 

9,7 

11,2 

12,3 

1,4 

2,3 

1,9 

1,0 

1,6 

100,0 

100,0 

100,0 

100,0 

100,0 

0,1 

0,3 

0.5 

1,5 

9,1 

22,0 

29,1 

24,3 

11,8 

1,3 


0,1 

0,3 

0,4 

1.2 

7,3 

20,6 

31,7 

24,3 

11,4 

2,7 


0,2 

0,2 

0,5 

1,6 

13,2 

26,5 

28,5 

18,2 

8,0 

3,1 


0,1 
0,2 
0,5 

1,5 
10,9 
24,2 
29,7 
20,6 
9,4 
2,9 


0,1 

0,2 

0,4 

1,4 

7,1 

20,3 

32,7 

23,9 

11,5 

2.4 


0,2 
0,3 
0,4 

1,6 
10,2 
21.6 
28,2 
23,0 
12,5 

2,0 


0,2 

0^ 

0,4 

1,5 

8,7 

21,0 

30,5 

23,4 

12.0 

2,2 


Zusammen 


100,0  1 100,0'  100,0 


die  Altersklassen  von  30 — 40  Jahren  kamen  über  5 mal  so  viele 
Krebskranke  wie  auf  das  Alter  zwischen  20  und  30  Jahren:  2306 
(631  Männer  und  1675  Weiber),  d.  i.  ein  Neuntel  aller  Fälle; 
40—50  Jahre  alt  waren  5004  (1693  Männer  und  3311  Weiber), 
d.  i.  nicht  ganz  ein  Viertel  aller  Kranken.  Die  Steigerung  hält 
bis  zum  60.  Lebensjahre  an  und  von  den  einzelnen  Altersdecadcn 
steht  die  von  50  bis  60  Jahren  an  erster  Stelle;  ihr  gehören 
6030  (2497  Männer  und  3533  Weiber),    d.  i.  29  pCt.  aller  Krebs- 


>)  Fälle. 


Die  Verbreitung  der  Krebserkrankung  u.  s.  w.  921 

kranken  an;  imnaerhin  waren  zwischen  60  und  70  Jahren  422J) 
(2023  Männer  und  2206  Weiber),  d.  i.  fast  doppelt  so  viel  wmo 
zwischen  30  und  40  Jahren,  und  über  70  Jahre  alt  waren  1957 
(937  Männer  und  1020  Weiber),  d.  i.  beinahe  ein  Zehntel  aller  Fälle. 

Das  Verhältniss  bei  den  beiden  Geschlechtern  ist,  wenigstens 
vom  25.  Lebensjahre  an,  ungleichartig.  Während  von  100  krebs- 
kranken  Frauen  16  zwischen  25  und  40  Jahren,  27  zwischen  40 
und  50  Jahren  waren,  sind  für  die  Männer  die  entsprechenden 
Zahlen  nur  9  bezw.  21.  Dagegen  finden  wir  in  den  späteren 
Altersstufen  von  50  bis  60  und  60  bis  70  Jahren  bei  den  Män- 
nern höhere  Zahlen,  nämlich  30  bezw.  25,  bei  den  Frauen  nur  28 
bezw.  18. 

In  Bezug  auf  diese  Ergebnisse  sind  die  diesbezüglichen  Ver- 
hältnisse bei  der  Gesararatheit  aller  in  den  Heilanstalten  Ver- 
pflegten von  Interesse.  Wir  müssen  hierbei  auf  die  Zahlen  für 
1894^)  zurückgreifen,  da  für  die  beiden  Berichtsjahre  entsprechende 
Feststellungen  nicht  vorliegen.  Es  entfallen  danach  von  je  100  Be- 
handelten auf  die  einzelnen  Altersklassen: 


m. 

w. 

zus. 

m. 

w. 

zus. 

bis  5  Jahre    .    .    4,1 

6,0 

4,8 

über  25    30  Jahre  11,0 

11,3 

11,1 

über  5 — 15  Jahre    8,0 

11,2 

9,2 

„     30    50      „     30,2 

23,6 

27,7 

„  15-20     „     15,2 

15,6 

15,4 

„    50-60     „       9,5 

6,5 

8,4 

„  20-25     „     14,4 

17,7 

15,7 

„    60  Jahre   .    .    7,6 

8,1 

7,7. 

Ein  Vergleich  mit  diesen  Zahlen  lässt  das  Ueberwiegen  von 
Personen  über  50  Jahren  unter  den  Krebskranken  besonders 
scharf  hervortreten. 

Bei  der  Betrachtung  der  Zahlen  der  Todesfälle  muss  ein 
Mangel,  der  der  Krankenhausstatistik  anhaftet,  in  Rechnung  ge- 
zogen werden,  nämlich,  dass  ein  Theil  der  Kranken  zwar  zeitweilig 
mehr  oder  weniger  gebessert  die  Heilanstalt  verlässt,  aber  doch 
kurz  über  lang  in  der  Häuslichkeit  dem  tückischen  Leiden  erliegt. 
Diese  Fälle  entgehen  daher  der  Feststellung. 

Es  starben  in  den  Krankenhäusern 

im  Jahre  1895  von  4002  männlichen  Krebskranken  1439  =  35,9  pCt. 
„      „      1896    „    4125  „  „  1490  =  36,1    „ 

„      „      1895    „    6034  weiblichen  „  1577  =  26,1    „ 

„      „      1896    „    6383  „  „  1683  =  26,4   „ 

zusammen  1895—96  von  20544  Krebskranken  6189  =  30,1  pCt. 

1)  Preussische  Statistik,  Heft  140,  Einleitung  S.  XX. 


J)22  Dr.  G.  Hei  mann, 

Der  günstigere  Ausgang  bei  weiblichen  Kranken  erklärt  sich 
daraus,  dass  Krebserkrankungen  der  Organe,  welche  bei  Frauen 
vorzugsweise  befallen  werden,  nicht  in  dem  Maasse  tödtlich  ver- 
laufen und  auch  der  chirurgischen  Behandlung  besser  zugänglich 
sind,  als  die  Erkrankungen  der  bei  Männern  am  häufigsten  er- 
griffenen Körpertheile. 

Das  Carcinom  befällt  mit  Vorliebe  gewisse  Organe,  während 
an  anderen  nur  selten  eine  derartige  Erkrankung  beobachtet  wird. 
Aus  nachstehender  Zusammenstellung^)  lässt  sich  in  dieser  Hin- 
sicht folgende  Reihenfolge  entnehmen:  Gebärmutter,  Magen,  Brust- 
drüse, Mastdarm,  Speiseröhre,  Haut  (vornehmlich  des  Kopfes  und 
Gesichtes 2)),  Leber,  Lippen,  Lymphdrüsen  u.  s.  w. 

Während  der  Krebs  bei  den  Frauen  am  häufigsten  an  den 
Geschlechtsorganen  und  der  Brustdrüse  vorkommt,  ist  bei  den 
Männern  der  Verdauungscänal  mit  Vorliebe  betheiligt;  bei  erste- 
ren  machen  die  Erkrankungen  an  den  Genitalien  über  ein  Drittel, 
an  der  Brustdrüse  über  ein  Viertel,  am  Magen  über  ein  Siebentel 
aus;  bei  der  Frau  sind  dann  noch  von  Bedeutung  die  Krebser- 
krankungen der  Leber,  des  Mastdanns  und  des  Gesichts,  zusam- 
men etwa  ein  Achtel  der  Gesammterkrankungen.  Bei  den  Män- 
nern stehen  an  erster  Stelle  die  Krebserkrankungen  des  Magens, 
die  fast  ein  Drittel  von  allen  betragen;  zunächst  sind  am  häufig- 
sten Speiseröhren-,  Lippen-  und  Mastdarmkrebse,  zusammen  gleicli- 
falls  etwa  ein  Drittel;  an  den  Geschlechtsorganen  sind  hier  Krebse 
verhältnissmässig  selten;  hinsichtlich  der  Krebse  des  Gesichts  (ab- 
gesehen von  den  Lippenkrebsen,  welche  bei  Männern  häufiger  be- 
obachtet werden)  sind  die  Zahlen  für  Männer  und  Weiber  an- 
nähernd gleich  gross.  Bei  Personen  bis  zu  30  Jahren  ist  ausser 
am  Magen  und  den  weiblichen  Genitalien  auch  am  Gesichte,  den 
Extremitäten  und  dem  Mastdarme  Krebs  verhältnissmässig  häufig 
(s.  Tab.  V  u.  VI). 


1)  In  dieser  TabeUe  ist,  wenn  mehrere  Körpertheile  zugleich  befallen 
waren,  nur  das  primäre  Carcinom  gezählt;  der  secundären  Formen  wird  übri- 
gens in  den  weiter  unten  folgenden  Ausführungen  gedacht  werden. 

-)  Derartige  Erkrankungen  werden  häufiger  ausserhalb  des  Krankenhauses 
behandelt;  werden  auch  solche  Fälle  berücksichtigt,  so  folgen  sie  der  allge- 
meinen Annahme  gemäss  an  Häufigkeit  gleich  nach  dem  Magen  carcinom. 


Die  Verbreitung  der  Krebserkran kun«^  u.  s.  w. 


923 


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04  04 


924 


Dr.  G.  [fei mann, 


Die  während   der  Jahre  1895  nnd  1896  in   den  allgemeinen  Heilanstalten  Prennsens  an  Krebtl 
handelten  im  Alter  bis  zn  80  Jahren,  mit  Angabe  der  erkrankten  Körpertheile. 


Tab.  VI. 

Von  den  an  Krebs  Behandelten  standen 

im  Älter  von 

Bezeichnung 

i 

^uniiL!» 

des  Körpertheiles. 

0     5J. 

... 

5— lOJ. 

10    15J. 

15-20J. 

20- 

25J. 

25- 

30  J. 

Jahr. 

m. 

w. 

m. 

w.     m. 

w. 

m. 

w. 

m. 

w. 

m. 

w. 

m. 

W.       i 

^    ,         „      ,       ri895 

1 

1 

9 

1.  Rachen,  Mund    .  < .  j^q^ 

— 

1 

4 

»)1 

5 

ü 

2.  Speiseröhre    .  .  .  {loqg 

— 

— 

— 

1 

1 

2 

2 

3 
2 

4 

5 

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2 

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8 

14 

18 

24 

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3 

3 

3 

16 

14 

22 

18 

^-  ^^^^^ {l896 

1 

1 

2 
2 

4 

3 
2 

5: 

5.  Darm  (ohne  Mast-  /1895 

1 

1 

2 

3 

1 

5 

3 

darm) 11896 

— 

— 

— 

2 

2 

4 

2 

6 

4 

Mastdarm  ....<«  qq« 

_. 

1 

1 

1 

2 

7 
7 

5 

7 

8 
6 

5 

6 

17 
13 

10 
16 

6.  Bauchspeichel.      /1895 

— 

- 

1 

1 

2 

drüse 11896 

1 

1 

1 

2 

Bauchfell    ....  (Jg^g 

•— 

1 

2 

4 

1 

2 

4 

2 

7.  Niere  u.  Blase   .  (}^^^ 

1 

1 
1 

1 
1 

1 

l 

1 
1 

2 

1 

2 
2 

4 
4 

8.  Penis  u.  Scheide  |}^^^ 

_ 

1 

•— 

1 

1 

2 
2 

2 
2 

2 
2 

8 

4 

9.  Hoden  und  Eier-  /1895 

1 

1 

1 

2 

1 

5 

2 

9 

stock \1896 

1 

2 

2 

1 

1 

4 

4 

7 

10.  Gebärmutter.  .  .  Ijggg 

3 

4 
3 

40 
89 

44 

45 

f  1895 
11.  Brustdrüse.  .  .  .  {^oqc 

_ 

1 

1 
1 

2 

1 
3 

7 
9 

_ 

18 
18 

■■ 

26    ; 
35    : 

12.  Kehlkopf  U.Lunge  |}^^^ 

•^-" 

1 

3 

1 
1 

4 

1 

1 
8 

4 
7 

3 

1 

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2 

1 

1 

2 

3 

2 

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1 

1 

2 

2 

2 

4 

U.  Gesicht  (ohne  13)  |}^^^ 

— 

2 

1 

1 
1 

3 
3 

2 

1 
1 

2 
4 

4 
4 

7 
5 

8 
8 

14     : 

11:    ! 

15.  Rumpf   und    Ex-   ri895 

2 

2 

1 

2 

2 

4 

4 

13 

8  i 

22     i 

tremi täten  ....  11896 

1 



2 

1 

— 

2 

1 

6 

3 

10     1 

16.  Lymphdrüsen  .  .  {lono 

1 
l 

2 

2 

2 

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1 

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3 

3 

— 

17.  Ohne  Bezeicb-       ri895 

— 

2|-- 

1 

3       4 

4 

7 

6      1 

nung \1896 

2 

—  ;  —  '     1 
1          1 

3       1 

— 

1 

6 

6 

S      ] 

r,                           /1895 
Zusammen   .  .  <  ,gQ/» 

6 

4 

9 

1 

3      21 

14 

22 

34 

50 

121 

98 

1 
180   i'i 

4 

5 

1 

3 

4 

11 

15 

20 

36 

51 

114 

87 

177 

i^ 

0  Zunge. 


Die  Yerbreitun«?  der  Krebserkrankunff  u.  s.  w.  925 

Zieht  man  von  der  Gesammtheit  der  Fälle  die  Carcinome  der 
Geschlechtsori;ane  und  der  Brust  ab,  so  crgiebt  sich  folgendes: 

1895  1896 

über-      männl.     woibl.  über-  männl.     weibl. 

haupt          Personen  haupt  Personen 

Zahl  der  Falle               1(X)36       4002        6034  10508  4125        6383 

davon  abzuziehen            3686           96       3590  3901  112       3789 


bleiben         6350       3906       2444         6607       4013       2594. 

Es  ist  also  durch  die  Häufigkeit  des  Krebses  an  den  ge- 
nannten Körpertheilen  die  grössere  Ziffer,  welche  auf  das  weibliche 
Geschlecht  unter  den  in  den  Heilanstalten  an  Krebs  Behandelten 
entfällt,  erklärt. 

Hinsichtlich  der  Frequenz  von  Krebs  überhaupt  wie  des  Be- 
fallenwerdens der  verschiedenen  Organe  sei  auf  eine  Mittheilung 
von  KlubaP)  hingewiesen,  dass  unter  14  424  in  der  Brünner 
Landkrankenanstalt  während  der  Jahre  1875 — 95  erfolgten  Todes- 
fällen, deren  Ursache  in  der  überwiegenden  Mehrzahl  durch  die 
Section  festgestellt  wurde,  1034  in  Folge  von  Krebs  erfolgten, 
d.  i.  im  Jahresdurchschnitte  waren  unter  686,7  Todesfällen  49,2 
=  7,16  pCt.  durch  Krebs  bedingt.  Es  entfielen  davon  im  Jahres- 
durchschnitte auf 

den  Magen     .   .   15,8  =  2,30pCt.  all.  Todesfälle  u.  32,12pCt.der  Krcbstodesf. 

die  übrigen  Or- 
gane des  Ver- 
dauungscanals  10,9^1,59    „     ,,  ,,  ,,  2?,15 

die  weiblichen 
Gcsohlechtsth.    14,8  =  2,17    „     „  „  „  30,08 

andere  Körper- 
theile  ....     7,7=  1,10    „      „  „  ,,  15,65 

Wie  sich  in  dieser  Beziehung  die  Verhältnisse  in  der  Be- 
völkerung überhaupt  gestalten,  darüber  geben  unter  anderen  nach- 
stehende Mittheilungen  aus  Frankfurt  a.  M.^)  und  der  Schwarz- 
burg-Sondershausen'schen  Unterherrschaft")  Aufschluss. 

Für  1685    (635  bei  M.,    1050  bei  W.)    in  Prankfurt   a.  M. 


11      n  7? 


n      n  ?? 


n      >>  n 


*)  Beitrag  zur  Carcinomstatistik.     Oesterreichisches   Sanitätswesen,    1896, 
Seite  228. 

2)  Jahresberichte   über   die  Verwaltung   des  Medicinalwesons    der    Stadt 
Frankfurt  a.  M. 

3)  Die  Todesfälle  au  Krebs    in  der  Schw.  S.  U.  1885  -95    von  San.-Rath 
Nicolai.     Correspondeuzblatt    des    ärztl.  Vereins  v.  Thüringen,    No.  1,     1897. 

Archiv  nir  klin.  Chirurgie.    57.  Bd.    Heft  4.  ßj^ 


926 


Dr.  G.  Heimann, 


während  der  Jahre  1886 — 95  erfolgte  Krebstodesfälle  war  der  Sitz 
der  Geschwulst 

1.  an  den  Verdauungsorganen 


2. 


77        77 


weiblichen  Genitalien 


3.  „   der  weiblichen  Brust    . 

4.  ,,  anderen  Organen  od.  ohne  Angabe 


Der  Magen  war  befallen    . 
die  Leber      ,,        ., 
der  Darm      ,,        ,, 

darunter  der  Mastdarm 
die  Speiseröhre  war  befallen 
das  Bauchfell       ,,         ,, 
die  Zunge  ,,         ,, 

„    Bauchspeicheldrüse  war  befallen 

„    Gebärmutter  ,, 

,,   Eierstöcke  waren  befallen 

,,    Scheide  war  befallen  . 


'7 


.     980  mal 

:.:■_ 

58,1  pCt 

.     347 

7» 

20,6    „ 

.       98 

77 



5,8    ,, 

3     263 

77 

15,5    „ 

.     403 

77 



23,9    „ 

.     231 

77 

13,7    „ 

.     189 

77 



11,2    „ 

.       92 

77 

-— r: 

J,0    ,, 

.       93 

77 

— 

5,5    ,, 

.       38 

77 

= 

2,3    „ 

.       18 

77 

1,0    „ 

8 

77 



0,5    „ 

.     298 

T7 

r= 

17,7    „ 

.       42 

77 

2,4    „ 

7 

77 

= 

0,5    „. 

Zieht  man  die  Zahlen  von  Krebs  an  den  weiblichen  Genitalion 
und  der  Brust  von  allen  Krebstodesfällen  bei  weiblichen  Personen 
ab,  so  erhält  man  605;  die  Zahl  der  an  Krebs  der  Genitalien  und 
Brust  verstorbenen  Männer  liegt  leider  nicht  vor,  doch  kann  man 
nach  anderweitigen  Erfahrungen  annehmen,  dass  sie  zwischen  20 
und  30  beträgt;  es  würde  also  auch  hier  die  grössere  Häuügkcii 
der  Krebserkrankungen  weiblicher  Personen  durch  die  Genital- 
organe bedingt  sein.  . 

Für  247  (102  bei  M.,  145  hei  W.)  in  der  Schwarzburg. 
Sondershauser  Unterherrschaft  in  den  Jahren  1885 — 1)5  er- 
folgte Krebstodesfälle  war  der  Sitz  der  Geschwulst 

am  Magen  und  an  der  Leber  .     .      123  mal  =  49,8  pCt. 
Darm 


7) 


an  der  Lippe,  /.unge  u.  dem  Kiefer 
Brustdrüse 


77 


77 


Gebärmutter 


77 
77 
77 
77        77 

,,  anderen  Organen 


den  Eierstöcken 

männlichen  Genitalien 


10 

4,1 

77 

8 

3,2 

7J 

11 

— 

4,5 

77 

46 

— 

18,6 

7? 

1 

= 

0,8 

77 

4 

— 

1,6 

77 

44 

— 

17,4 

77 

Weim  wir  die  Zahlen  für  Krebs  der  Genitalien  und  der  Brust 
in  Abrechnun.ü;  bringen,  so  bleiben  97  Todesfälle  bei  Männern  und 
88    bei  Weibern    übriiif.     Also   auch    hier    haben  wir  ein  den  Mit- 


Die  Verbreitung  der  Krebserkrankung  u.  s.  w.  927 

theilungen  der  Heilanstalten  entsprechendes  Resultat.  Oesterlen^) 
korarat  zu  dem  entgegengesetzten  Ergebnisse  auf  Grund  einer  Sta- 
tistik aus  dem  Canton  Genf  für  1838 — 1855.  Dort  entfielen  von 
889  Todesfällen  an  Krebs  320  auf  Männer  und  569  auf  Weiber,  nach 
Abzug  der  Fälle  von  Krebs  der  erwähnten  Organe  verblieben  314 
Krebstodesfälle  von  Männern  und  352  von  Weibern.  Auch  eine 
Statistik  aus  Philadelphia 2)  vom  Jahre  1893  scheint  Oesterlen's 
Ansicht  zu  bestätigen.  Unter  614  Krcbstodesfällen,  von  denen 
183  Männer  und  431  Weiber  betrafen,  war  der  Sitz  der  Geschwulst 

an  der  Brust 80  mal  =  13,1  pCt. 

,,     ,,    Gebärmutter 

„  dem  Magen 


142 

=  23,1    „ 

169 

-  27,6    „ 

56 

-    9,1    „ 

4 

=    0,6    „ 

163 

—  26,5  pCt. 

„  der  Leber 

,,  den  männlichen  Genitalien 
,,  anderen  Organen     . 

Bringt  man  die  Fälle  von  Krebs  der  Brust  und  der  Genitalien 
in  Abrechnung,  so  bleiben  179  Krebstodesfäile  bei  Männern  und 
229  bei  Weibern. 

Im  üebrigen  w^erden  bei  der  Betrachtung  der  Erkrankungen 
der  einzelnen  Organe  die  Unterschiede  für  die  Geschlechter  und 
auch  die  verschiedenen  Altersklassen  noch  eingehender  zu  erörtern 
sein.  Wenn  wir  nun  in  Folgendem  die  in  dieser  Hinsicht  aus 
unserem  Materiale  gewonnenen  Nachrichten  mittheilen,  so  liegt  es 
nahe,  anschliessend  auch  der  stattgefundenen  chirurgischen  Be- 
handlung zu  gedenken,  da  diese  bisher  die  einzige  Möglichkeit  der 
Heilung  bietet.  Nicht  unbeträchtlich  ist  die  Zahl  der  Fälle,  in 
der  man  auf  diesem  Wege  den  unheimlichen  Gegner  zu  überwinden 
sucht.  Im  Jahre  1895  wurden  in  den  Heilanstalten  3842,  im 
Jahre  1896  4018  grössere^)  Operationen  bei  Krebskranken  ausge- 
führt; das  heisst,  in  jedem  der  beiden  Jahre  wurden  38  von  hundert 
Krebskranken  chirurgisch  behandelt,  und  zwar  35  von  hundert 
Männern  und  40  von  hundert  Weibern. 

Verstorben  sind  von  den  Operirten  656  (17,1  pCt.)  bezw.  709 


0  Handbuch  der  mediziu.  Statistik,  Tübingen  1874.  S.  430.  Angesichts 
der  Thatsache,  dass  diese  Zahlen  aus  einer  Zeit  stammen,  wo  man  vielfach  die 
versteckter  liegenden  Carcinome  noch  nicht  erkennen  konnte,  dürfte  ihnen 
nicht  allzuviel  Gewicht  beizulegen  sein. 

2)  Philadelphia  annual  report  of  the  bureau  of  health  1893. 

^)  Aetzungen,  Auskratzungen  und  dergl.  sind  nicht  berücksichtigt. 

61* 


928 


Dr.  G.  Heimann, 


(17,4  pGt.).  Auch  hier  zeigen  sich  bemerkcnswerthc  Unterschir'de 
für  die  Geschlechter;  von  100  inännlicheii  Operirtcn  starben  25.4 
bezw.  26,0,  von  100  weiblichen  Operirtcn  nur  12,3  bezw.  13,2. 
Der  Ausgang  der  Operationen  ist  naturgemäss  je  nach  der  Be- 
deutung des  erkrankten  Organcs  sehr  verschieden;  bei  Mairenope- 
rationen z.  B.  wird  die  Zahl  der  Todesfälle  eine  wesentlich  höhere 
sein  wie  bei  Operationen  an  der  Brustdrüse.  Nähere  Einzelheiten 
sind  aus  der  folgenden  Zusammenstellung  ersichtlich  und  werden 
auch  in  den  nachstehenden  Erörterungen  noch  ausführlicher  dargclofirt 
werden.  (S.  Tab.  Vit.)  Hinzugefügt  sei  hier  noch,  dass  im  Jahre  1894 
in  den  Heilanstalten  Preussens  3248  Operationen  wegen  Carcinom 


Zahl  der  operirten  Krebskranken  i)  »  dei 


Tab.  VII. 

Bezeichnung  des  Körperthcilos. 


1895 


m. 


w. 


zus. 


1.  Zunge 

2.  Mund  und  Rtaclien 

3.  Speiseröhre 

4.  Magen 

5.  Darm  (ohne  6) 

6.  Mastdarm 

7.  Leber  und  Gal leublase 

8.  Bauchspeicheldrüse 

9.  Bauchfell 

10.  Niere 

11.  Blase 

12.  Penis,    äussere    weibliche    Geschlechtstheilc 
und  Scheide 

13.  Hoden  und  Vorsteherdrüse,  Eierstock  .     .     . 

14.  Gebärmutter 

1.5.  Brustdruse 

16.  Kehlkopf 

17.  Schilddrüse,  Luuge 

18.  Lippen 

19.  Kopf  und  Gesicht  (ohne  2  und  18)      .     .     . 

20.  Kiefer 

21.  Knochen,  Haut  u.  s.w.  des  Rumpfes  und  der 
Extremitäten 

22.  Lymphdrüsen 

23.  Ohne  nähere  Bezeichnung 


50  (12) 

40  (10) 

84  (49) 

163  (98) 

55  (31) 

150  (53) 

12  (6) 


8 
6 
5 


(8) 
(4) 
(3) 


21  (11) 

45  (3) 

16  (3) 

15  (2) 

53  (19) 
9  (4) 

312  (4) 

190  (4) 

52  (17) 

54  (1) 
59  (13) 

6  (2) 


13 

4 

10 

144 

46 

102 

39 

2 

23 

3 

1 

99 

89 

478 

1051 

5 

4 

84 

168 

37 

33 
84 

18 


(2) 

(-) 
(4) 

(61) 
(24) 
(26) 
(18) 

0) 

(9) 

(1) 

(-) 

(4) 
(22) 

(61) 
(48) 

(3) 
0) 
(-) 
(3) 
(3) 

(l) 
(3) 
(4) 


63    (14) 

44    (10> 

94    (53) 

307  (159) 

101    (55) 


252 
51 
10 
29 
8 
22 

144 

105 

478 

1066 

58 

13 

346 

358 

89 


(79) 
r24) 

(9) 
(13) 

(4) 

(H) 

(7) 
(25) 

(ßi) 

(50) 

(22) 
(5) 
(4) 
(7) 

(20; 


87  (2) 
93  (16) 
24      (6) 


Zusammen        1405  (357)       2437  (299)       3842  (656) 


0  Die  Zahlen  in  Klammern  bezeichnen  die  Gestorbeneu. 


Die  Verbreitung  der  Krebserkrankung  u.  s.  w. 


929 


ausgeführt  wurden,  worüber  wir  ira  Archiv  für  klinische  Chirurgie, 
Bd.  54,  Heft  2,  berichtet  haben.  Wenn  auch  aus  äusseren  Grün- 
den nicht  die  Vollständigkeit  wie  für  die  späteren  beiden  Jahre 
erreicht  werden  konnte,  so  tritt  doch  besonders  betreffend  der 
Hauptgruppen  ein  durchaus  übereinstimmendes  Ergebniss  zu  Tage. 
Die  Zahl  der  Operationen  bei  weiblichen  Kranken  erscheint  hier 
im  Verhältnisse  zu  der  der  Operationen  bei  männlichen  Kranken  noch 
grösser  wie  in  den  beiden  Berichtsjahren.  Während  in  diesen 
36  pCt.  der  Operirten  männlichen  Geschlechtes,  64  pCt.  weiblichen 
Geschlechtes  waren,  betrugen  diese  Zahlen,  soweit  Nachrichten  vor- 
liegen, im  Jahre  1894  29  bezw.  71  pOt.     (S.  Tab.  VUI.) 


Heilanstalten  Prenssens  1895  und  1896,  nach  Körpertheilen. 


Es  wurder 

1  operirt 

von  100 

Kranker 

i 

1896 

* 

1895 

1896 

m. 

w. 

ZUS. 

m. 

w. 

zus. 

m. 

w. 

zus. 

• 

84 

1 
(21) 

11 

1 
(3)  1 

95 

(24) 

48,5 

7G,5 

52,5  ■ 

64,6 

57,9 

63,8 

ao 

(lO) 

12 

(2) 

51 

(18) 

51,9 

25,0 

47,3 

48,8 

63,2 

51,5 

103 

(5C) 

11 

(6) 

114 

(62) 

21,2 

17,2 

20,7 

21,1 

16,4 

20,5 

188 

(9G) 

155 

(57) 

343  (153)  1 

12,5 

17,5 

14,5 

14,4 

18,0 

15,9 

5-2 

(•25) 

43 

(27) 

95 

(52) 

39,0 

38,7 

38,8 

39,4 

39,1 

39,3 

19() 

(ßl) 

135 

(31) 

331 

(92) 

44,6 

47,0 

45,6 

51,7 

49,6 

50,8 

13 

(9) 

52 

(28) 

Go 

(37) 

7,0 

13,2 

10,9 

6,4 

15,3 

12,3 

4 

(2) 

2 

(1) 

6 

(3) 

25,8 

12,5 

21,3 

27,3 

8,7 

17,8 

3 

(2) 

20 

(10) 

29 

(12) 

20,0 

29,9 

27,1 

14,3 

32,1 

28,4 

7 

(5) 

8 

(0) 

15 

(H) 

38,5 

20,0 

28,6 

35,0 

66,7 

46,9 

17 

(8) 

1 

(-) 

18 

(8) 

26,3 

4,5 

21,6 

25,4 

4,5 

20,2 

G9 

(10) 

84 

(3) 

1.53 

(13) 

75,0 

62,7 

66.1 

92,0 

54,5 

66,8 

18 

(2) 

74 

(27) 

92 

(29) 

44,4 

62,7 

59,0 

48,6 

52,9 

52,0 



59() 

(78) 

59G 

(78) 

— 

24,6 

24,6 

28,0 

28,0 

24 

(-) 

1022 

(38) 

104G 

(38) 

78,9 

78,0 

78,0 

72,7 

74,8 

74.8 

41 

(17) 

0 

(5) 

47 

(22) 

52,5 

33,3 

50,0 

46,6 

50,0 

47,0 

4 

(2) 

7 

(2) 

11 

(4) 

19,G 

20,0 

19,7 

12,9 

23,3 

18,0 

2G4 

(3) 

35 

(2) 

299 

(5) 

80,8 

79  1 

80,7 

69,5 

;  72,9 

69,9 

1G8 

(1) 

140 

(2) 

308 

r3) 

71,4 

57,5 

64,2 

63,4 

53,4 

58,4 

(13) 

42 

(4) 

97 

(17) 

53,6 

80,4 

62,2 

46,6 

93,3 

59,5 

43 

(4) 

2G 

(8) 

69 

(7) 

59,3 

29,5 

42,9 

60,6 

26,8 

41,1 

r.8 

(10) 

43 

(3) 

111 

(13) 

54,6 

54,0 

54.4 

54,8 

''    61,4 

.57,2 

(2) 

22 

(fi) 

27 

(8) 

.5,5 

10,1 

8,3 

5,8 

10,7 

9,3 

14G5 

(305) 

'  2553 

(341) 

■  4018 

(709) 

35.1 

40,4 

38,3 

35,5 

40,0 

38,2 

930 


Dr.  G.  Heimann, 


Zahl  der  operirten  Krebskranken  in  den  Heilanstalten  Preissens  1894, 

naek  Kö'rpertkeilen. 


Tab.  VIII. 

Bezeichnung  des  Körpertheiles. 

m. 

w. 

zus. 

I.  Zunge 

58 

11 

69 

2.  Mund  und  Rachen      .... 

21 

5 

2G 

3.  Speiseröhre  und  Magen  .     .     . 

158 

90 

248 

4.  Darm  (ausser  5) 

38 

30 

68 

5.  Mastdarm 

147 

120 

273 

6.  Bauchorgane    (ausser  den    ge- 

nannten)   

21 

44 

65 

7.  Blase 

4 

4 

8 

8.  Penis 

3 

3 

9.  Hoden,    Vorsteherdrüse,     Eier- 

stock     

3 

46 

49 

10.  Gebärmutter 

577 

577 

11.  Brustdrüse 

7 

1103 

1110 

12.  Kehlkopf 

2 

2 

13.  Schilddrüse 

1 

2 

3 

14.  Lippen 

243 

33 

276 

15.  Gesicht  (ausser  14)    .     .     .     . 

101 

150 

251 

16.  Knochen 

41 

11 

52 

17.  Lymphdrüsen 

71 

60 

181 

18.  Andere  Körpertheile  .... 

8 

29 

37 

Zusammen 

927 

2321 

3248 

Die  Zahl  der  Fälle  von  Magenkrebs  betrug  im  Jahre  1895 
2124,  von  denen  1302  (61,3  pCt.)  bei  männlichen,  822  (38,7  pCt.) 
bei  weiblichen  Personen  zur  Behandlung  kamen.  Im  Jahre  1896 
waren  die  Zahlen  2164  bezw.  1303  (60,1  pCt.)  und  861  (39,9  pCt.); 
sie  machten  1895  21,2,  im  folgenden  Jahre  20,6  pCt.  aller  Car- 
cinome  aus.  Unter  Hundert  von  Krebs  befallenen  Männern  litten  32,5 
bezw.  31,6  an  Magenkrebs,  unter  100  Weibern  nur  13,6  bezw. 
13,5.  Es  verstarben  von  100  Magenkrebskranken  (beider  Geschlechter 
zusammen)  47,8  bezw.  48,0.  Von  den  in  beiden  Jahren  in  den 
Heilanstalten  überhaupt  an  Krebs  Verstorbenen  (6189)  erlagen 
2055  =  33,2  pOt.  dem  Magenkrebs. 

Von  den  an  dieser  Krankheit  behandelten  Männern  standen 
80pCt.  im  Alter  zwischen  40  und  70  Jahren;  die  höchste  Verhältniss- 
zahl entfällt  auf  die  Altersdecade  von  50 — 60  Jahren  (31  pCt).  Von 
den  behandelten  Weibern  waren  75  pCt.  zwischen  40  und  70  Jahren, 
und  zwar  30  [)Ct.  zwischen  50  und  60  Jahren.  Jünger  wie  40  Jahre 
waren  von  den  Angehörigen  beider  Geschlechter  12  pCt.  Der  jüngste 
männliche  Kranke    war    18  Jahre,    während    sich  unter  den  weib- 


Die  Verbreitung  der  Krebserkrankung  u.  s.  w.  931 

liehen  eine  Schülerin  von  14  Jahren  (!)  findet.  Aelter  wie  70  Jahre 
waren  von  den  Männern  8  pCt.  und  von  den  Weibern  10  pCt.  Un- 
bekannt war  das  Alter  bei  1  pCt.  der  Männer  und  3  pCt.  der  Weiber. 
In  den  letzten  Jahren  hat  man  verhältnissmässig  häufig  das  Vor- 
kommen dieser  Erkrankung  im  jüngeren  und  mittleren  Lebensalter 
constatirt;  zum  Theile  beruht  dies  vielleicht  auf  den  Fortschritten  in 
der  Magendiagnostik,  aber  mau  gewinnt  doch  den  Eindruck,  dass 
die  Altersgrenze  allmälig  zurückrückt ^).     (S.  Tab.  IX  und  X.) 

Ueber  den  Theil  des  Magens,  der  befallen  war,  sind  nur  un- 
vollständige Angaben  gemacht;  der  Pylorus  war  im  Jahre  1895 
unter  302  Fällen  239 mal,  im  folgenden  Jahre  unter  335  Fällen 
218mal,  die  Cardia  im  ersteren  Jahre  60mal,  im  letzteren  117  mal 
als  Sitz  des  Garcinoms  bezeichnet;  ferner  waren  im  Jahre  1895  die 
grosse  Curvatur  2  mal,  der  Fundus  Imal,  im  Jahre  1896  die  kleine 
Curvalur  2mal,  Pylorus  und  Fundus  Imal,  die  hintere  Magenwand 
Imal  carcinomatös  erkrankt;  im  ersteren  Jahre  fehlte  für  1822, 
im  letzteren  Jahre  für  1825  Fälle  eine  nähere  Angabe.  Bekannt- 
lich sitzt  über  die  Hälfte  aller  Magenkrebse  am  Pylorus 2)  und  etwa 
ein  Zehntel  an  der  Cardia,  oder  der  kleinen  Curvatur,  am  seltensten 
dagegen  ist  der  Fundus  erkrankt.  Bemerkenswerth  ist,  dass,  während 
beim  Carcinom  die  OriGcien  in  so  überwiegendem  Maasse  befallen 
werden,  diese  beim  Magengeschwür  nur  in  16 — 18  pCt.  der  Fälle 
den  Ort  der  Erkrankung  abgeben 3).  Dass  aus  einem  Ulcus  ven- 
triculi  sich  Carcinom  entwickelt  habe,  ist  im  ganzen  llmal  erwähnt. 

Am  häufigsten  von  anderen  Organen  findet  sich  die  Leber 
als  gleichzeitig  von  Krebs  befallen  genannt:  212*)mal,  d.  i.  in  5 
von  100  Fällen.  Anderweitig  werden  viel  höhere  Zahlen  angegeben: 
von  Ewald^)  25,6 — 30  pCt,  der  auch  daraufhinweist,  dass  Lebert 
bei  seinem  Materiale  diese  Verhältnisszahl  auf  40,9  pCt,  Lange  bei 
der  Analyse  von  210  Obductionen  des  Berliner  pathologischen  Insti- 

^)  Lindner  und  Kuttuer,  Chirurgie  des  Magens,  Berlin  1898;  hier 
werden  Fälle  von  angeborenem  Magenkrebs,  von  solchem  bei  einem  5  Wochen 
alten  und  einem  172JJihrigen  Kinde  u.  s.  w.  angeführt. 

2)  Nach  Lebert  59,6  pCt.,  nach  Brinton  60  pCt,  Katzenellen- 
bogen 58,3  pCt.,  Luton  57  pCt.  Cit.  nach  Ewald,  Klinik  der  Verdauungs- 
krankheiten, II  S.  147.  Hahn  (Berliner  klin.  Wochenschrift,  1885,  No.  50) 
fand  unter  166  secirten  Fallen  den  Sitz  der  (ieschwulst  60  Mal  am  Pylorus, 
40  Mal  an  der  Gardia,  27  Mal  an  der  kleinen  Curvatur  u.  s.  w. 

3)  Ewald,  a.  a.  0. 

*)  Einschliesslich  3  Fällen  von  Gallenblaseukrebs.  Einmal  bestand  zu- 
gleich Carcinom  des  Pylorus,  der  Gallenblase,  des  Zwölffingerdarms  und  der  Leber. 


Die  an  Krebs  der  Verilauungsopgane  ia  den  HeilanitUlleD 

(  A  b  3  o  1 


Tab.  IX. 

Altcrskl.is 


über 
20— ä5 


3Ü- -40 


fiO— 70 
J.ihrc 


Behandelte  .  . 
I         davon  gestorben 

lOpcrirlc 

'        davon  gestorben 

Behandelte  .... 
I  davon  gestorben 

lOptrirle 

•■        davon  gestorben 

Behandelte  .... 
I        davon  gesterben 

lOperirte 

davon  gestorben 

Behandelte  .... 
I        davon  gestorben 

jOpcrirtc 

d.ivoD  gestorben 

Behandelte  .... 
I  davon  gestorben 

(Operirte 

davon  gestorben 

Bohandclt'c  .  . 
I         davon  gcstor 

lOperirte 

'         davon  gestorben 

Behandelte   .  . 
I  davon  gestorben 

lOperirte 

davon  ge.storbeii 

Behandelte  .  .  . 
I         davon  gestorbeiJ 

lOperirte 

davon  gestorben 

Behandelte  .... 
I  davon  gestorben 

davon  gestorben 


10 

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138  100   : 
60'  50 
32,  15 

1991102    : 
4ß'  31 
32|  21 


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I  gestorben 
i  g,',U,rben 


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9.^!  71  \l 

G  KiO  102 
m  2(1 


Die  Verbreitung  der  Krebserkraokung  u.  ; 


1895  nnd  189«  Bebandtiten,  OperirUa  nml  flesturbenen  Dadi  Altersklassen. 

Zahlen.) 


189C 

Carcinom 

Insgesamt  i^.ircinüm  aor 

1^1 

1 

*l 

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1895 

189G 

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Die  Verbreitung  der  Krebserkrankung  u.  s,  w,  935 

tutes  auf  30,9  pCt.  beziffert  habe.  Demnächst  am  öftesten  sind 
Darm  und  dann  Bauchfell  zugleich  befallen,  und  zwar  erstere 
38 mal  (davon  2 mal  Mastdarm),  das  Bauchfell  28 mal;  für  das  Netz 
war  die  entsprechende  Zahl  14,  für  das  Dünndarmgekrösc  (Mesen- 
terium) 2,  die  Speiseröhre  14,  Pankreas  und  Lunge  je  4,  Brustfell  2, 
Kehlkopf  1,  männliche  Brust  2,  weibliche  Brust  1,  Knochen  2 
(Oberschenkel  bezw.  Wirbelsäule),  Gehirn  und  Auge  je  2,  Penis  und 
Prostata  je  1 ;  Metastasen  endlich  ohne  weitere  Bezeichnung  sind 
5  erwähnt.  Ein  Durchbruch  nach  der  Bauchwand  fand  5  mal  statt, 
Drüsenmetastasen  sind  nur  2 mal  angegeben,  was  in  besonders  krassem 
Gegensatze  zu  den  hohen,  in  der  Literatur  verzeichneten  Ziffern 
steht;  allerdings  wird  von  den  Autoren  vielfach  kein  Unterschied 
zwischen  einfacher  Lyraphdrüsenschwellung  und  krebsiger  Entartung 
gemacht.  Dass  es  sich  um  ein  Kecidiv  handelte,  ist  5 mal  an- 
geführt, darunter  2  Fälle  nach  Jahre  lang  vorhergegangenem  Krebs 
der  weiblichen  Brustdrüse. 

Operatives  Eingreifen  wurde  im  Jahre  1895  307mal,  im 
Jahre  1896  343mal,  d.  i.  in  14,4  bezw.  15,9  von  100  Fällen  vor- 
genommen, und  zwar  in  den  beiden  Jahren  bei  12,5  bezw.  14,4  von 
100  behandelten  Männern  und  bei  17,5  bezw.  18,0  von  100  behan- 
delten Weibern.  Bei  letzteren  wurde  also  häufiger  versucht,  auf 
diesem  Wege  Hilfe  zu  bringen.  Vielleicht  ist  dies  so  zu  erklären, 
dass  Frauen  öfter  der  Operation  wegen  die  Heilanstalt  aufsuchten. 
Ucbrigens  starben  von  den  Operirten  im  Jahre  1895  159  =  51,1  pCt. 
und  im  Jahre  1896  153  =  47,5  pCt.  Todesfälle  waren  unter  den 
männlichen  zahlreicher  als  unter  den  weiblichen  Operirten ;  während 
sie  bei  ersteren  60,1  bezw.  51,0  pCt.  betrugen,  waren  die  Zahlen 
für  die  letzteren  nur  42,3  bezw.  36,8  pCt. 

Von  den  Operationen  am  Magen  waren  in  den  Jahren 

1895  1896 

m.  w.  zus.  m.  w.  zus. 

Probelaparotomien!)    26(11)  20    (9)  46  (20)  19    (4)  28    (9)  47  (IM) 

Laparotomien  2)  .    .    20(12)  18    (7)  38  (19)  14(11)  14    (6)  28  (17) 

Ma^renresectionen    .     16(10)  .36(17)  52  (27)  31(13)  31(11)  62  (24) 

Gastrostomien      .    .     11(10)  6    (3)  17  (13)  24(12)  5    (4)  29  (16) 

Gastcroenterostomien    90  (55)  64  (25)  154  (80)  100  (56)  77  (27)  177  (83) 

r63  (98)  144  (61)  307  (159)  188  (96)   155  (7V7)~343~(f53)~ 


0  Die  Zahlen  in  Klammern  bezeichnen  die  tödtlich  verlaufenen  Fälle. 
2)  Ohne  weitere  Angabe. 


936  Dr.  G.  lloimann, 

Es  crgicbt  sich  also,  dass  in  ungefähr  der  Hälfte  der  Fälle  die 
Gasteroenterostomic  ausgeführt  wurde;  zugleich  mit  dieser  Operation 
fand  eine  Magcnrcsection,  soweit  Nachrichten  vorliegen,  in  22  Fällen 
(13  bei  Männern,  9  bei  Weibern)  statt  ^). 

Zum  Vergleiche  der  Resultate  seien  einige  neuere  Veröfifent- 
lichungen  über  die  operativen  Erfolge  bei  Magenkrebs  angeführt. 
Kroenlein  theilt  in  den  „Beiträgen  zur  klinischen  Chirurgie",  Bd. XV, 
2.  Heft,  folgende  chirurgische  Erfahrungen  bei  dieser  Krankheit  mit. 
Von  67  seiner  Patienten  (zw^ischen  27  und  66  Jahren)  wurden  26 
nicht  operirt,  von  den  41  Operationen  waren  22  Probelaparotomien, 
4  Gasteroenterostomien  und  15  Pylorusresectionen.  Von  Interesse 
sind  noch  nachstehende  Angaben.  6  Kranke,  welche  operabel 
erschienen,  aber  die  vorgeschlagene  Operation  ablehnten,  lebten 
danach  im  Durchschnitte  209  Tage;  17  für  inoperabel  Erklärte 
lebten  noch  im  Mittel  77  Tage,  19  Probelaparotomirte  und  eben- 
falls als  inoperabel  Befundene  durchschnittlich  139  Tage,  diese 
36  inoperabelen  Kranken  zusammen  110  Tage.  Von  den  4  Gastero- 
cntcrostomirten  überlebte  nur  1  die  Oi)eration  um  88  Tage,  die 
anderen  starben  3 — 12  Tage  nach  der  Operation.  Von  den  15  Rc- 
sectionen  führten  zur  Heilung  im  Ganzen  11  —  davon  10  hinter- 
einander — ,  4  endeton  tödtlich.  Von  den  11  vorläufig  Geheilten  sind 
4  an  Recidiv,  durchschnittlich  nach  1  Jahre  8  Monaten  (488—704 
Tagen),  gestorben,  1  von  ihnen  lebt  mit  und  4  ohne  Recidiv.  Czerny 
berichtete  auf  dem  Moskauer  intern,  medic.  Congresse  am  21.  8.  1897, 
dass  er  von  22  Rcsectionen  dos  Pylorus  2  dauernde  Heilungen  (3Yo 
und  6V2  Jahre)  beobachtet  habe;  9  Patienten  erlaben  der  Opera- 
tion. Die  Gasteroenteroanastomle  bei  Pyloruskrebs  hat  Czerny 
69 mal  ausgeführt;  die  Mortalität  betrug  29  pCt.  Die  Durchschnitts- 
lebcnsdauer  nach  dieser  Operation  berechnet  er  auf  8,8  Monate;  in 
dieser  Zeit  sind  jedoch  die  Patienten  relativ  besohwerdefrei.  Ausser 
den  erwähnton  Fällen  hat  der  genannte  Chirurg  noch  20  Probe- 
laparotomien (ohne  weiteren  Eingriff)  gemacht.  Die  Durchschnitts- 
lebensdauer betrug  hier  3,5  Monate.  Ratinof  verfügte  damals 
über  1  Fall,  der  seit  8^0  J^^^^'^"  geheilt  war,  Kocher  über  1  von 
7Y2  "iid  Wölfler    über  1  von  5  Jahren.     Hahn   thoilte  auf  dem 


')  Nach  Lindner  und  Kuttner  a.  a.  0.  folgt  der  IVobelapamtomie  in 
57  pCt.  der  Fälle  die  (lasteroiMiterostomie,  in  3:i  pCt.  die  Hesection.  wnhreod 
in   10  pCt.  der  Fälle  keine  weitere  Operation  V'»rgenoninien  wird. 


Die  Verbreitunpr  der  Krebserkrankun«:  u.  s.  \v.  937 


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Chirur^encongressc  in  Berlin  1898  rait,  dass  er  141  Giistcroentero- 
stomicn  und  28  Resectionen  ausgeführt  habe;  unter  den  letzteren 
hatten  12  einen  tödtlichen  Ausgang;  von  den  am  Leben  Gebliebenen 
sind  4  schon  vor  6  bezw.  7  Jahren  operirt  worden.  Ewald*)  end- 
lich hat  von  26  Gasteroenterostomien  14,  von  22  Gasterostomicn 
12  und  von  13  Magenreseotionen  9  tödtlich  enden  sehen. 

Weniger  häufig  als  Magenkrebse  kamen  Darm  krebse  zur  Beob- 
achtung, nämlich  im  Jahre  1895  813mal,  im  nächsten  Jahre  893mal; 
sie  machten  also  8,1  bezw.  8,5  aller  Fälle  von  Krebs  aus.  Männ- 
lichen Geschlechtes  waren  477  bezw.  511  =  58  von  100  an  Darm- 
krobs  Leidenden,  weiblichen  Geschlechtes  336  bezw.  382  =  42 
von  100  derartigen  Kranken.  Von  100  an  Carcinom  überhaupt  behan- 
delten Männern  litten  12,  von  100  Weibern  6  an  Darmkrebs.  Am 
jüngsten  war  ein  Knabe  von  11  Jahren  (Mastdarmkrebs,  nicht  operir- 
bar) ;  ferner  kamen  in  den  beiden  Jahren  7  Kranke  unter  20  Jahren 
in  Behandlung.  Im  Alter  zwischen  20 — 30  Jahren  standen  66,  zwischen 
30  und  50  Jahren  528  (=  31  pCt.  aller  an  Darmkrebs  Leidenden), 
zwischen  50  und  60  Jahren  490  (28  pCt.),  zwischen  60  und 
70  Jahren  415  (24  pCt.),  älter  waren  173  (10  pGt.)2).  Leberkrebs 
fand  sich  gleichfalls  14mal;  häufig  betheiligt  waren  ferner  die  weib- 
lichen Genitalien:  Krebs  der  Gebärmutter  ist  16 mal,  der  Scheide 
15 mal,  der  Eierstöcke  6 mal,  der  Scharalippe  1  mal  angegeben;  weiter 
Krebs  des  Peritoneums  8  mal,  des  Mesenteriums  4 mal,  des  Netzes 
3  mal,  der  Blase  3 mal,  der  Vorsteherdrüse  2  mal,  des  Gehirns,  der 
Lunge  und  der  Scapula  je  Imal;  3mal  bestanden  Metastasen,  die 
nicht  weiter  bezeichnet  sind.  Die  Inguinaldrüsen  waren  4mal  krebsig 
entartet.  Imal  fand  ein  Durchbruch  nach  dem  Magen  statt,  16 mal 
durch  die  Bauchdecken,  9  mal  bestand  äussere  Mastdarmfistel,  3  mal 
Roctovaginalfistel,  3  mal  Darm  vaginal  fistel,  Imal  Reotocervioalfistel, 
2 mal  endlich  erforderte  die  Einklemmung  carcinomatöser  Darmtheile 
die  Eröffnung  des  Bruchsackes. 

Was  die  Abschnitte  des  Darmes  betrifft,  so  handelte  es  sich 
20mal  um  Dünndarm-,  224mal  um  Dickdarm-  (darunter  49 mal 
der  Flexura  sigraoidea)  und  1204 mal  um  Mastdarm  krebs.  Auf 
das  Rectum   entfallen    also  70  pCt.  aller  Darmkrebse.     Die  Mast- 


<)  Berliner  klin.  Wochenschrift.     1897,  No.  37—38. 
2)  36  mal  war  das  Alter  nicht  ersichtlich. 


938  Dr.  G.  Hei  mann, 

darmkrebse  machten  geilen  6  pCt.  aller  überhaupt  behandelten  Krebse 
aus.  Von  den  an  Krebs  dieses  Körperthciles  Leidenden  waren  715 
nicännlichen  und  489  weiblichen  Geschlechtes.  Von  allen  Carcinomen 
bei  Männern  entfielen  auf  den  Mastdarmkrebs  8,8  pCt.,  während  be- 
züglich der  Weiber  die  Verhältnisszahl  4,0  beträgt,  üebrigens  war  für 
258  Fälle  der  erkrankte  Theil  des  Darmes  nicht  näher  bezeichnet. 
Endlich  ist  noch  zu  bemerken,  dass  Imal  ein  Durchbruch  vom 
Colon  ascendens  nach  dem  Colon  transversum  und  je  Imal  bei 
Mastdarrakrebs  eine  Perforation  des  Ileum  und  ein  gleichzeitiges 
Carcinom  des  Coecum  erwähnt  ist.  Es  ist  schon  S.  922  darauf  hin- 
gewiesen, dass  verhältnissmässig  häufig  jugendliche  Personen  an 
Ma^tdarmkrebs  erkranken ;  in  den  beiden  Berichtsjahren  zusammen 
standen  56  der  an  diesem  Uebel  Behandelten  im  Alter  bis  zu 
30  Jahren. 

Während  von  den  übrigen  an  Darmkrebs  Behandelten  293 
(58,4  pCt.)  starben,  war  bei  den  Mastdarmkrebsen  die  Zahl  der 
Todesfälle  im  Verhältnisse  wesentlich  niedriger,  355  (29,4  pCt).  Es 
muss  dies  wohl  grossentheils  den  guten  Heilerfolgen  der  Chirurgie  zu- 
geschrieben werden.  Ist  doch  die  Mastdarmresection  bezüglich  ihrer 
Leistung  und  ihrer  geringen  Lebensgefährdung  eine  der  dankbarsten 
Operationen  auf  dem  Gebiete  der  chirurgischen  Behandlung  des 
Krebses.  Daher  kommt  ein  derartiges  Heilverfahren  verhältniss- 
mässig häufig  zur  Anwendung.  Operativ  behandelt  wurden  im 
Jahre  1895  252  (45  von  100  Mastdarmkrebsen),  1896  331  (50  pCt.) 
Fälle;  von  den  Operirten  starben  79  bezw.  92  (32  bez.  28  pGt.)i). 

Von  den  Operationen  waren  in  den  Jahren 

1895  1896 

Probelaparotomien  2) 4      (2)  3     (1) 

Exstirpationen,   Resectionen,    Amputationen   des 

Mastdarms  3)* 194    (60)  266    (69) 

Anlegung  eines  künstlichen  Afters 54    (17)  62    (22). 


0  Von  HO  Kranken  mit  bösartigen  Neubildungen  des  Mastdarms  bat 
Kraske  80  der  Radicaloperation  unterzogen;  von  diesen  sind  15  (18,7  pCt,) 
in  der  Klinik  gestorben,  in  directem  Zusammenhange  mit  der  Operation  aber 
nur  7  (8,7  pCt.);  an  intercurrcnten  Krankheiten  ohne  locales  Recidiv  und  Meta- 
stasen starben  16  Kranke;  ohne  Recidiv  lebten  3/4 — 8V2  Jahr  nach  der  Opera- 
tion 15.  (Kraske,  Erfahrungen  über  den  Mastdarmkrebs.  Sammlung  klin. 
Vorträge  No.  183—84.) 

2)  Die  Zahlen  in  Klammern  bezeichnen  die  tödtlich  verlaufenen  Fälle. 

3)  1895  Imal,  1896  2  mal  Spaltung  des  Sphincters. 


Die  Verbreitung  der  Krcbserkiankung  u.  s.  w. 


939 


Nach  den  Amputationon  des  Reetums  waren  ira  Jahre  1895 
4,  im  Jahre  1896  noch  6  plastische  Operationen  wegen  Incontincnz, 
Prolapsus  recti  u.  s.  w.  erforderlich.  Vorfall  der  Gebärmutter 
bezw.  der  Scheide  wurde  danach  in  ersterem  Jahre  3  mal  und  in 
letzterem  Jahre  5  mal  beobachtet.  Bemerkensworth  ist  die  rela- 
tive Häufigkeit  der  Recidive  bei  Mastdarmkrebs;  ihre  Zahl  be- 
trug 28,  dagegen  wurden  bei  den  übrigen  Darmkrebsen  deren 
nur  8  gezählt.  Im  Jahre  1895  wurde  bei  101  (39,0  pCt.),  im 
Jahre  1896  bei  95  (39,2  pCt.)  von  diesen  Krebskranken  operativ 
eingegriffen.  Von  den  Operirten  starben  55  (54,4  pCt.)  bezw.  52 
(54,7  pCt.). 

Von  den  Operationen  waren  in  den  Jahren 


am 

Dünndarm    .    .    . 

Dickdarm     .    .    . 

Dai'm  ohne  nähere 

Bezeichnung    . 


1895       1896 
Probelaparo- 
tomien 
2  (2)         - 
5  (.)       3  (.) 


1895 


1896 


1895 


1896 


Laparotomien 


12    (4)       10(5) 


Rescctionen 

2    (1)  - 

24  (17)       38  (-21) 


6  (4)       6  (6)       13    (6)        5  (2)        9    (5)        4    (2) 


zusammen       13  (6)       9  (6)       25  (10)       15  (7)       35  (23)       42  (23j 


am 

Dünndarm    .    .    . 

Dickdarm     .    .    . 

Darm  ohne  nähere 

Bezeichnung    . 


Colostomicn       Enteroanastomosen  zusammen 

~            -  4    (3)        - 

13  (10)      17    (9)      71)  (2)    6  (4)  61  (33)      74  (39) 

5    (3)       4    (2)        3  (1)      2  (1)  36  (19)     21  (13) 


zusammen       18  (13)      21  (11)      10  (3)      8  (5)      101  (55)     95(52). 

Am  häufigsten  wurde  die  Darmresection  ausgeführt;  nächst 
der  Laparotomie  ohne  nähere  Bezeichnung,  von  der  ein  erheblicher 
Theil  wohl  der  Probelaparotomie  zuzurechnen  ist,  folgt  die  Colo- 
stomie,  die  Anlegung  eines  künstlichen  Afters,  während  für  die 
übrigen  Operationsarten  nur  kleine  Zahlen  angegeben  sind.  Zum 
Vergleiche  mit  vorstehenden  Nachrichten  über  die  Todesfälle  nach 
den  Operationen  sei  darauf  hingewiesen,  dass  Wolf  1er  auf  dem 
Chirurgencongresse  1896  miltheilte,  dass  von  114  Dannroseciionen 
15  verschiedener  hervorragender  Operateure  46  =  54  pCt.  tödtlich 
verlaufen  seien  und  dass  die  Colostomie  eine  Mortalität  von 
26pCt.  habe. 


1)  Davon  1  Gasteroeiiterostomie. 


940  Dr.  G.  Heimann. 

Sccundärc  Ma.stdarmkrebsc  sind  U  verzeichnet,  bei  Majoren-, 
Gebärmutier-  und  Eierstockkrebs;  andere  sccundärc  Darmkrelise  32, 
davon  25  bei  Magenkrebs,  die  übrigen  bei  Leber-,  Pankreas-  und 
Eierstockkrebs. 

Die  Anzahl  der  Krebse  der  Leber  betrug  im  Jahre  1895 
416  (158  bei  Männern  und  258  bei  Weibern),  im  folgenden  Jahre 
ebenfalls  416  (154' bei  Männern  und  262  bei  Weibern),  d.  i.  4,0 
aller  Carcinome^),  ungerechnet  die  secundären  Fälle,  die  hier  ja 
häufig  sind.  Allerdings  ist  es  wahrscheinlich,  dass  auch  unter 
unseren  Fällen  noch  eine  nicht  unbeträchtliche  Zahl  secundärer 
Erkrankungen  enthalten  ist,  ohne  dass  es  aus  den  Zählkarten 
ersichtlich  war;  denn  „die  Erscheinungen  der  primären  Carcinome 
sind  gegenüber  der  secundären  Krebsentwickelung  in  der  Leber, 
welche  zuweilen  enorme  Dimensionen  annehmen  und  das  Krank- 
heitsbild vollständig  beherrschen  kann,  oft  sehr  gering"  2).  Meist 
handelt  es  sich  um  Organe,  welche  mit  dem  Gebiete  der  Pfortader 
direct  oder  durch  Collateralen  in  Verbindung  stehen,  Uterus,  Mast- 
darm, Magen,  Pankreas  u.  s,  w.  Unter  280  (130  bei  Männern, 
150  bei  Weibern)  secundären  Leberkrebsen,  welche,  soweit  zu 
ermitteln,  in  den  Heilanstalten  behandelt  wurden,  waren  primär  an 
Krebs  erkrankt  der  Magen  2 12 mal,  die  weibliche  Brustdrüse  17mal 
und  die  weiblichen  Geschlechtsorgane  8 mal;  in  den  übrigen  43  Fällen 
handelte  es  sich  um  Krebs  des  Darmes  und  des  Pankreas.  Budd^) 
erklärt  die  Häufigkeit  der  secundären  Leberkrebse  aus  der  ausser- 
ordentlichen Viiscularität  dieses  Organes  und  der  langsamen  Circu- 
lation  in  dem  dichten  Oapillarnetze,  andererseits  daraus,  dass  die 
Leber  zuerst  das  aus  dem  Darmcanale  zurückkehrende  Blut  in  sich 
aufnimmt;  zuweilen  handelt  es  sich  auch  um  unmittelbares  Ueber- 
greifen  per  contiguitatem,  namentlich  gilt  dies  bezüglich  des  Magen- 
krebses. Dass  die  portalen  Lymphdrüsen  krebsig  entartet  sind, 
bekanntlich  ein  häufiges  Vorkomniss,  ist  4 mal  angegeben.  Das 
weibliche  Geschlecht  leidet  häufiger  als  die  Männer  an  Leberkrebs; 


*)  Leichten  Stern  fand  unter  6019  Sectiouen  des  Wiener  allgemciuen 
Krankenhauses  174  Leberkrebse  =  2,87  pCt.;  Kiesenfeld  unter  2601  Sec- 
tioncn  des  Berliner  pathologischen  Instituts  69  Leberkrebse  =  2,65  pCt. 

2)  Lcube,  Diagnose  der  inneren  Krankheiten.  Leipzig  1889,  S.  185.  — 
Eichhorst,  Specielle  Pathologie  und  Therapie.     I,  S.  934. 

3)  Diseases  of  the  liver,  citirt  nach  Aufrecht  und  Friedeberg  iu 
Eulen burg's  Real-Encyklopädie  der  Heilkunde.     3.  Aufl.     Bd.  XllI,  S.  362. 


Die  Verbreitung;  der  Krebserkrankung  u.  s.  w.  941 

es  entfallen  auf  weibliche  Personen  fast  63  pCt.  unser  Fälle.  Uebri- 
gens  machten  die  Lebercarcinorae  bei  Männern  3,8.  bei  Weibern 
4,2  pCt.  aller  Carcinome  aus.  Der  Grund  wird  in  dem  nicht  sel- 
tenen Hinzutreten  der  krebsigen  Erkrankung  dieses  Organes  bei 
Gebärmutter-  und  Brustkrebs  zu  suchen  sein;  vielleicht  ist  auch 
die  Disposition  von  Frauen  in  den  reiferen  Jahren  zu  Fettleber 
und  besonders  das  Einschnüren  des  Organes  durch  das  Corset  nicht 
ohne  Einfluss.  Von  sonstigen  Momenten,  welche  die  Entstehung 
des  Leidens  begünstigen,  ist  das  Vorhandensein  von  Gallensteinen 
16mal  und  chronischer  Alkoholismus  5 mal  (davon  3 mal  mit  Leber- 
cirrhose)  erwähnt.  Anschliessend  sei  hier  berichtet,  dass  Trunk- 
sucht überhaupt  im  Ganzen  62  mal  bei  Krebskranken  (52  mal  bei 
männlichen,  lOmal  bei  weiblichen  Personen)  festgestellt  wurde,  d.i. 
3 mal  auf  1000  Krebskranke;  ohne  Zweifel  bleiben  diese  Zahlen  hinter 
der  Wirklichkeit  zurück.  Zu  erwähnen  ist,  dass  es  sich  52  mal 
um  Krebs  der  Verdauungsorgane  handelte  und  zwar  2  mal  um  Krebs 
der  Lippen,  Imal  des  Mundes,  8 mal  der  Speiseröhre,  30mal  des 
Magens  (davon  5 mal  bei  weiblichen  Personen),  Imal  des  Mastdarmes, 
2 mal  des  Darmes,  5 mal  der  Leber  (Imal  bei  einer  weiblichen  Person), 
3mal  der  Gallenblase  (sämmtlich  beiweiblichenPersonen);  lOmal  hatte 
der  Krebs  andere  Organe  ergrififen.  In  14  Fällen  von  Alkoholismus 
(8  bei  Männnern,  6  bei  Weibern)  war  Lebercirrhose  vorhanden. 

Was  das  Alter  der  an  Leberkrebs  Erkrankten  betrifft,  so  waren 
darunter  1  Knabe  von  7  Jahren  und  ein  junges  Mädchen  von  19  Jahren ; 
je  4  männliche  und  weibliche  Personen  waren  zwischen  25  und 
30  Jahren;  23  männliche  und  42  weibliche  zwischen  30  und 
40  Jahren;  zusammen  also  unter  40  Jahren  75  oder  9  pCt.  der 
an  Leberkrebs  Behandelten,  während  187  oder  22  pCt.  im  Alter  von 
40  bis  50  Jahren,  254  oder  32  pCt.  im  Alter  von  50  bis  60  Jahren, 
221  oder  26  pCt.  zwischen  60  bis  70 Jahren  und  74  oder  8  pCt.  altera) 
w^aren.  Es  verstarben  in  jedem  Jahre  261  (62,7  pCt.)  dieser  Kranken 
und  zwar  von  den  Männern  101  bezw.  99,  von  den  Weibern  161 
bezw.  162. 

Gleichfalls  bestand  Krebs  der  Gallenblase  19  mal,  des  Bauch- 
felles 5 mal,  des  Netzes  3 mal,  des  Dünndarmgekröses  (Mesenterium) 
Imal,  des  JVlittclfells  Imal,  des  Brustfells  4mal,    der  Lunge  3mal 


*)  21  oder  3  pCt.  unbekanutcu  Alters. 

Archiv  fUr  klin.  Cliirargie.    57.  Bd.  Heft  4.  (^2 


942  Dr.  G.  ff  ei  mann, 

des  Mastdarmes  2 mal,  des  Zwölffingerdarmes  Imal  und  des  Darmes 
(ohne  nähere  Bezeiclinung)  2 mal;  ferner  fand  sich  zugleich  Krebs 
in  der  Cutis  2  mal,  am  Nabel,  am  Brustbein,  an  der  Vena  cava 
inferior,  in  den  Mediaslinaldrüsen  und  in  den  Bronchialdrüsen  je 
Imal;  Imal  war  eine  Metastase  zugleich  in  dem  Herzmuskel,  dem 
Herzbeutel,  dem  Brustfell  und  der  Zunge.  Bekanntlich  sind  bei 
Leberkrebs  Thrombosen  häufig;  verzeichnet  ist  je  1  mal  Thrombose 
der  Pfortader,  beider  Venae  femorales  und  der  Arteria  pulmonalis. 

Krebs  der  Gallenblase  finden  wir  ausser  den  schon  er- 
wähnten 19  Fällen  bei  Leberkrebs  und  3  Fällen  bei  Magenkrebs 
in  den  beiden  Jahren  147  mal  angegeben,  wobei  wahrscheinlich 
nur  noch  eine  geringe  Anzahl  secundärer  Natur  sind;  denn  im 
Gegensatze  zu  dem  Krebs  des  Lebergewebes  handelt  es  sich  bekannt- 
lich an  der  Gallenblase  ebenso  wie  am  Ductus  cysticus  und  cholc- 
dochus  fast  stets  um  eine  primäre  Neubildung.  Auch  unter  diesen 
Kranken  überwiegt  das  weibliche  Geschlecht,  auf  welches  114  Fälle 
kamen,  während  nur  33  Männer  an  Gallenblasen  krebs  behandelt 
wurden.  Keine  von  den  betroffenen  Personen  war  unter  30  Jahren; 
37  (26  pCt.)  waren  zwischen  30  und  50  Jahren,  56  (38  pCt.)  zwischen 
50  und  60  Jahren  und  54  (36  pCt.)  älter.  Der  Ductus  cysticus  ist 
2  mal  als  befallen  bezeichnet,  der  Ductus  choledochus  3  mal,  An- 
haltspunkte zur  Entscheidung  der  Streitfrage,  ob  die  Gallensteine 
Folge  oder  Ursache  des  Krebses  seien,  gewährt  unser  Material 
nicht;  in  5  unserer  Fälle  sind  Gallensteine  beobachtet  worden^). 
2 mal  ist  eine  (tödtiiche)  Perforation  der  Gallenblase  erwähnt. 

Die  Chirurgie  der  Leber  und  Gallenblase  ist  zur  Zeit  noch 
in  ihren  Anfängen  begriffen  und  findet  begreiflicher  Weise  nur  ein 
beschränktes  Arbeitsgebiet.  Die  Zahl  der  Operationen  betrug  116 
mit  61  Todesfällen  (52  pCt.).  Operativ  behandelt  wurden  12  von 
100  Fällen.    Was  die  Art  der  Operationen  betrifft,  so  waren  davon 


')  Courvoisicr  fand  bei  103  Fällen  von  Gallenblasenkrebs  84  Mal, 
(1.  i.  in  fiist  ■'/fi  der  Fälle,  Gallensteine.  (Heidenhain,  Deutsche  Medicin. 
Wochenschr.,  1897,  S.  54.)  —  Nach  Spohr,  Ein  Beitrag  zur  Pathogenese  des 
Gallenblasenkrebses,  Dissertation,  Giessen  1892,  finden  sich  Steine  in  88  pCt. 
der  Fälle.  —  Grawitz  (Klinische  Beobachtungen  über  den  Krebs  der  Gallen- 
blase, Charitd-Anualen  Bd.  XXI,  8.  160)  erklärt  das  häufigere  Erkranken  von 
Frauen  an  Gallenblascnkrcbs  aus  ihrer  grösseren  Disposition  zu  Galleustein- 
erkrankung.  —  Auf  der  Naturforschcrversammlung  1898  erwähnte  Löbker,  dass 
er  17mal  und  Riedel,  dass  er  23 mal  Carcinom  auf  dem  Boden  der  Chole- 
lithiasis  gesehen  habe. 


Die  VerhreituTiff  der  Krebserkrankun^  u.  s.  w.  943 


•r> 


fast  flie  Hälfte  Probelaparotomien:  53  (28  t);  Laparotomien  ohne 
weiteren  Zusatz  41  (20  f);  bei  einer  derselben  wurde  gleichzeitig 
die  Zerquetschung  eines  Gallensteines  vorgenoraraeu;  2  mal  fand 
die  Resection  eines  carcinomatösen  Lebcrstückes  statt;  Imal  (f) 
eine  Exstirpation  der  Gallenblase.  Die  Cholecystotomie  wurde  19  mal 
(12  t)  ausgeführt,  Iraal  dabei  gleichzeitig  eine  Choledochotomie; 
endlich  wurde  3  mal  (2  t)  <>itto  Anastomose  zwischen  Gallenblase 
und  Dünndarm  angelegt. 

Die  Bauchspeicheldrüse  nimmt  in  der  Reihenfolge  der  von 
Carcinom  befallenen  Körpertheile  nur  eine  niedrige  Stelle  ein; 
immerhin  ist  Krebs  die  am  häufigsten  vorkommende  Krankheit 
dieses  Organes.  Die  Zahl  unserer  Fälle  betrug  92,  von  denen  53 
bei  männlichen,  39  bei  weiblichen  Personen  zur  Beobachtung 
kamen.  Die  Bevorzugung  des  männlichen  Geschlechtes  entspricht 
der  allgemeinen  Annahme.  Was  das  Alter  betrifft,  so  waren  am 
jüngsten  2  weibliche  Personen  von  20  Jahren;  ferner  waren  2  weib- 
liche Personen  zwischen  25  und  30  Jahren,  7  Personen  zwischen 
30  und  40  Jahren,  46  Personen  (50  pCt.)  zwischen  40  und  60  Jahren, 
35  (38  pCt.)  älter.  Die  Leber  war  in  14  Fällen  gleichfalls  erkrankt, 
das  Duodenum  2 mal,  das  Netz  und  der  Hoden  je  Iraal.  In  einem 
Falle  fand  ein  Durchbruch  nach  der  hinteren  Magenwand  statt  und 
der  Kranke  verblutete  sich  durch  Arrosion  der  Arteria  coronaria 
inferior;  Iraal  brach  der  Krebs  nach  dem  Herzbeutel  durch.  Secun- 
därer  Krebs  der  Bauchspeicheldrüse  ist  4  mal  bei  Magenkrebs  notirt. 
Ueber  das  Vorkomraen  von  Steinen  oder  etwaigem  gleichzeitigen 
Diabetes  ist  nichts  mitgetheilt.  Die  Zahl  der  Todesfälle  betrug 
73  (80  pCt.).  Operirt  wurden  16  Fälle  (12  t),  und  zwar  wurden 
6  Probe-  und  10  Laparotomien  ohne  weitere  Bezeichnung  aus- 
geführt. 

Krebs  des  Bauchfelles  findet  sich  209 mal  angegeben  (1  pCt. 
aller  Carcinome).  Auch  hierunter  sind  wahrscheinlich  eine  Anzahl 
secundärer  Krebse  inbegriffen,  da  diese  Erkrankung  hauptsächlich 
secundär  bei  den  Garcinoraen  der  Bauchhöhle  auftritt.  Während 
auf  die  Männer  nur  51  Fälle  kommen,  beträgt  die  Zahl  für  die 
Weiber  158  (76  pCt.).  Es  ist  dies  Verhältniss  vermuthlich  durch 
die  Häufigkeit  des  Krebses  an  den  weiblichen  Genitalien  bedingt. 
Ära  jüngsten  von  den  Betroffenen  war  eine  weibliche  Person  von 
21   Jahren,    7   Kranke    waren    zwischen    25    und    30  Jahren,    32 

62  ♦ 


944  Dr.  G.  Hei  mann, 

zwischen  30  und  40  Jahren  (15  pCt.),  45  zwischen  40  und  50  Jahren 
(22  pCt.),  74  zwischen  50  und  60  Jahren  (35  pCt.),  33  zwischen 
60  und  70  Jahren  (15pCt.),  12  älter  (7  pCt.)  und  5  unbekannten 
Alters.  Gestorben  sind  von  den  Erkrankten  103,  also  fast  die  Hälfte. 
Es  handelte  sich  40  mal  um  Krebs  des  Netzes,  13  mal  um  solchen 
des  Dünndarragekröses  (Mesenterium).  Krebs  des  Nabels,  bekanntlich 
ein  werthvolles  diagnostisches  Zeichen,  fand  sich  7  mal.  Von  gleich- 
zeitiger Erkrankung  der  Inguinaldrüsen  ist  3  mal  berichtet.  Imal 
bestand  zugleich  Krebs  des  Brustfelles,  des  Herzbeutels  und  des 
Zwerchfelles.  Von  Operationen  wurden  ausgeführt:  Probelaparo- 
tomien 23  (8  t),  Laparotomien  35  (17  f). 

Von  secundärem  Bauchfellkrebs  finden  sich  113  Fälle  (22  bei 
männlichen  und  91  bei  weiblichen  Personen)  erwähnt.  Es  sind 
dabei  nur  die  wirklichen  Carcinome,  nicht  auch  die  chronischen 
Bauchfellentzündungen ,  die  sich  so  häufig  bei  Krebs  der  Bauch- 
organe einstellen,  mitgerechnet.  Immerhin  erscheinen  die  Zahlen 
zu  klein,  um  den  Thatsachen  entsprechen  zu  können.  Von  den 
secundären  Bauchfellkrebsen  sind  angegeben:  1  bei  primärem  Krebs 
der  Speiseröhre,  34  bei  Krebs  des  Magens  (14  männlicher  und 
20  weiblicher  Personen),  6  bei  Leberkrebs  (2  männl.  und  4  weibl. 
Personen),  9  bei  Darmkrebs  (3  männl.,  6  weibl.  Personen),  2  bei 
Pankreaskrebs,  1  bei  Nierenkrebs,  1  bei  Prostatakrebs,  37  be* 
Gebärmutterkrebs  und  22  bei  Eierstockkrebs. 

Wenn  wir  jetzt  zu  den  oberhalb  des  Magens  gelegenen  Organen 
des  Verdauungscanales  übergehen,  so  wurde  Krebs  der  Speiseröhre 
im  Jahre  1895  455  mal  (397 mal  bei  Männern  und  58  mal  bei  Wei- 
bern), im  Jahre  1896  556  mal  (489  mal  bei  Männern  und  67  mal 
bei  Weibern)  behandelt.  Das  Carcinom  dieses  Kürpertheiles  machte 
5  pCt.  aller  behandelten  Carcinome  aus.  Die  Männer  sind  ganz 
vorherrschend  betheiligt,  auf  sie  entfallen  88  pCt.  der  Fälle.  Von 
den  Carcinomen  männlicher  Personen  waren  10  pOt.  solche  der 
Speiseröhre,  während  für  die  weiblichen  Behandelten  diese  Zahl 
nur  1  betrug.  Der  Jüngste  der  an  Speisenröhrenkrebs  Leidenden 
war  19  Jahre  alt;  im  Ganzen  waren  5  pCt.  derselben  unter  40  Jahren, 
23  pCt.  zwischen  40  und  50  Jahren,  38  pCt.  zwischen  50  und 
60  Jahren,  25  pGt.  zwischen  60  und  70  Jahren,  8  pCt.  älter.  Tödt- 
lieh  verliefen  im  Jahre  1895  204,  im  folgenden  Jahre  260  Fälle 
(46  pCt.)     Ueber  den  Theil  der  Speiseröhre,  welcher    krebsig  er- 


Die  Verbreitung  der  Krebserkranltung  ii.  s.  w.  945 

krankt  war,  sind  keine  Angaben  gemacht.  Nach  Rindfleisch  ist 
der  gewöhnliche  Sitz  das  mittlere  Drittel;  nach  Förster  kommt 
ein  Drittel,  nach  Mackenzie  fast  die  Hälfte  aller  Carcinome  auf 
das  obere  Ende  der  Speiseröhre,  während  nach  Petri  und  Zenker 
und  V.  Ziemssen  das  obere  Ende  mit  15,5,  das  mittlere  mit 
51,7  und  das  untere  mit  63,8  pCt.  betheiligt  ist  (Petri,  Krebs  der 
Speiseröhre,  Inaugural-Diss.,  Berlin  1868,  Zenker  und  v.  Ziemssen, 
Krankheiten  des  Oesophagus,  1877) i).  Die  Unterscheidung  von 
Speiseröhren-  und  Cardiakrebs  ist  zuweilen  schwierig;  Fälle,  wo 
beide  gleichzeitig  vorkommen,  sind  hier  unter  Magenkrebs  ver- 
rechnet. Von  sonstigen  Organen  waren  ebenfalls  an  Carcinom  er- 
krankt: die  Leber  9 mal,  die  Wirbelsäule  2 mal  (es  war  beide 
Male  Compressionsrayelitis  zu  constatiren),  Brustbein,  Schilddrüse, 
Kehlkopf,  Luftröhre,  Lunge,  Bronchien,  Niere,  Bauchfell,  Zwerch- 
fell je  ImaL  Drüsenkrebse  sind  5  verzeichnet;  4 mal  wurde  links- 
seitige Recun-enslähmung  beobachtet.  Von  besonderer  Bedeutung 
ist  hier  die  Gefahr  des  Durchbruches 2)  in  benachbarte  Organe; 
8  mal  fand  ein  solcher  in  die  Lunge  (3mal  in  die  linke  und  5  mal 
in  die  rechte  Lunge)  statt,  6 mal  in  die  Luftröhre,  4 mal  in  die 
rechte  Pleurahöhle  (Imal  Rippenresection  wegen  Pyopneumothorax), 
2  mal  in  die  Aorta.  3 mal  ist  Lungengangrän  nach  Perforation  an- 
gegeben, weiterhin  noch  5 mal  Lungengangrän,  ohne  dass  eine 
solche  Ursache  angeführt  ist,  wenn  sie  auch  wahrscheinlich  vor- 
liegt. Um  die  Ernährung  zu  ermöglichen,  wurde  im  Jahre  1895 
86  mal,  im  Jahre  1896  107  mal  die  Gastrostomie  gemacht.  Von  5 
der  behandelten  Männer  wurde  je  1  dieser  Operation  unterworfen. 
Es  endeten  tödtlich  von  diesen  193  Operationen  107.  7  mal  wurde 
die  Tracheotomie  ausgeführt,  dabei  2  mal  zugleich  die  Oesophago- 
tomie,  Imal  auch  noch  die  Strumectomie  wegen  Schilddrüsenkrebs. 
Ausserdem  wurden  noch  8  Oesophagotomien  gemacht.  Von  diesen 
Operirten  starben  8.  Recidive  sind  nicht  erwähnt.  Czerny  be- 
richtete auf  dem  Moskauer  intern,  med.  Congresse,  das  die  Re- 
section  des  Oesophagus  bei  Carcinom  bisher  keine  günstigen  Er- 
folge aufzuweisen  habe.     Von   10  derartigen  Operirten  blieben  nur 


^)  Citirt  Dach  Rosenbeim,  Oesopbaguskrankheiten  in  Eulenburg 's 
Real-Encyklopädie. 

2)  Nach  Rosenheim  kommt  es  in  mehr  als  der  Hälfte  der  Fälle  von 
Speise  röhrenkrebs  zur  Perforation. 


946  Dr.  G.  Heimann, 

3  am  Leben  und  zwar  je  18,  11  und  8  Monate.  Auoh  die  Oeso- 
phagostouiie  hat  keine  nennenswerthen  palliativen  Erfolge;  dagegen 
schafft  die  Gastrostomie  zuweilen  eine  Lebensverlängerung;  von  14 
auf  diese  Weise  Operirten  starben  3  im  1.  Monate,  die  anderen 
lebten  bis  11  Monate. 

Krebs  des  Rachens  und  des  Mundes  wurde  1895    93  mal 
(77  mal    bei    Männern    und    16  mal    bei    Weibern),     1896    99  mal 
(80  mal    bei    Männern    und    19  mal    bei  Weibern)    beobachtet;   er 
machte  1  pCt.  aller  Carcinome  aus.    Auch  hier  waren  die  Kranken 
ganz    vorwiegend    (in  80    von  100  Fällen)    Männer.     Der  jüngste 
der  Behandelten  war  16  Jahre  alt;  ferner  waren  2  männliche  Per- 
sonen zwischen  20  und  25  Jahren;    im  Ganzen  machten  Personen 
unter  40  Jahren  10  pCt.,  von  40  bis  60  Jahren  50  pCt.,  von  60  bi> 
70  Jahren  23  pCt.  und  ältere  15  pCt.  der  an  Krebs  dieser  Körper- 
theile  Leidenden  aus.     Tödtlich  verliefen  1895  19,  1896  18  Fälle, 
d.  i.  nicht  ganz  20pCt.    Der  Rachen  war  56 mal,  der  harte  Gaumen 
lOmal,  der  weiche  11  mal,  das  Zäpfchen  2mal,  die  Tonsille  31mal, 
der  Mundboden   19  mal,  das  Zahnfleisch  Imal,  die  Mundschleimhaut 
62  mal    befallen.     Gleichfalls    bestand    Kieferkrebs   in    16  Fällen. 
Drüsenkrcbserkrankungen  sind  verhältnissmässig  häufig,  15mal,  ver- 
zeichnet. Einmal  trat  Verblutung  in  Folge  Durchbruch  des  Carcinoms 
in  die  Arteria  lingualis  ein.     Operationen    wurden    95    ausgeführt, 
darunter  21  Kieferrcsectioncn  (5  temporäre),  2  Gastrostomien  (wegen 
Schlundkrebs)  und  6Trachcotomicn.  28  Operationen  führten  zum  Tode. 
Es  sei  erwähnt,  dass  Krocnlein  auf  dem  Chirurgcncongresse  1897 
berichtete,    er    habe    in    den  Jahren  von   1881 — 96  61   Fälle   ^on 
Carcinoma  pharyngis  (56  bei  Männern,  5  bei  Weibern)  beobachtet, 
d.  i.  1  auf  15  Carcinome  überhaupt.     30  davon  sassen  im  Cavum 
pharyngo-oralc,    29  im  Cavum  pharyngo-laryngeale,    2   im  Cavura 
pharyngo-nasalc ;    die  Prädilectionsstellen   entsprechen    genau   dem 
Wege,    welchen  die  Speisen  nehmen,    wius    für    die  VirchowVhe 
x\nschauung,    dass  Insulte    an    der  Aetiologic    des  Carcinoms   be- 
thciligt    sind,    spricht.     Nur  29  von    den  61   Carcinomen    konnten 
operirt  werden,    1 1    starben  an  der  Operation,    2  wurden    geheilt, 
alle  anderen  starben  an  Recidiven.    Der  Lebensgewinn  im  Vergleiche 
mit    den  Nichtoperirten    betrug  7  Monate.     Ein  Patient  lebt  noch, 
nachdem  2  Jahre  seit  der  Operation  verflossen  sind,  recidivfrei. 
Die    Zahl    der    Zuni^enkrebse    betrug    im    Jahre   1895    120 


Die  Verbreitung  der  Krobserkranlcung  u.  s.  w.  947 

(103  bei  Mcänncrn,  17  bciWciborn),  1896  149  (130  bei  Männern  und  19 
bei  Weibern),  d.i.  l,4pCt.  aller  Krebse.  Auf  das  männliche  Geschlecht 
entfielen  87  pCt.  Sie  machten  von  allen  Carcin(imen  männlicher 
Personen  2,6  bezw.  3,1  pCt.  aus.  Der  jüngste  der  Behandelten  war 
27  Jahre,  alle  anderen  über  30  Jahre,  nämlich  9  zwischen  30  und 
40  Jahren,  55  zwischen  40  und  50  Jahren  (20  pCt.),  96  zwischen 
50  und  60  Jahren  (36  pCi),  75  zwischen  60  und  70  Jahren 
(28  pCt.),  27  älter  und  unbekannten  Alters  6.  Es  endeten  ^g  bezw\ 
über  7^  der  Fälle  tödtlich:  40  bezw.  38.  Die  Bösartigkeit  dieser 
Carcinome  beruht  nach  Heidenhain-  (Chirurgencongress,  Berlin 
1897)  meist  darauf,  dass  die  Zungencontractionen  die  inficirende 
Substanz  in  die  Lymphbahnen  weiter  befördern;  die  Hauptlymph- 
drüsen der  Zunge  sind  die  submaxillarcn  und  die  tiefen  cervicalen 
Drüsen.  Krebserkrankungen  derselben  sind  in  24  Fällen,  d.  i. 
etwa  in  9  pCt.  der  Fälle,  erwähnt.  Gleichzeitig  ergriffen  war  der 
Unterkiefer  8  mal,  der  Gaumen  6  mal,  die  Tonsille  2  mal,  der 
Pharynx  ebenfalls  2  mal,  die  Nase  1  mal.  Ein  operativer  Eingriff 
fand  1895  63  mal  (52  pCt.),  1896  95  mal  (64  pCt.)  statt.  Mit 
der  Exstirpation  wurde  21  mal  eine  Kieferresection  verbunden 
(davon  16  temporäre  Rcsectionen) ;  die  Tracheotomie  wurde 
in  10  Fällen  ausgeführt,  dabei  noch  in  einem  Falle  die  Carotis 
unterbunden  und  die  Laryngofissur  gemacht.  Der  Tracheotomie 
folgte  in  5  Fällen  die  Exstirpation  des  Carcinoms,  in  einem  Falle 
die  Pharyngotomia  subhyoidea.  Die  Zahl  der  Recidive  betrug  22. 
Wenn  wir  nun  nachstehend  die  Krebserkrankungen  im  Ver- 
dauungscanale zusammenfassend  betrachten,  so  fällt  besonders  die 
stärkere  Betheiligung  des  männlichen  Geschlechtes  ins 
Auge.  Von  den  4226  Fällen  des  Jahres  1895  kommen  2589 
(61  pCt.)  auf  dieses  und  nur  1637  Fälle  (39  pCt.)  auf  Weiber.  Ent- 
sprechend war  das  Verhältniss  im  folgenden  Jahre:  von  4520 
Fällen  betrafen  2729  (61  pOt.)  Männer  und  1791  (39  pCt.)  Weiber. 
Im  Ganzen  machten  die  Carcinome  des  Verdauungscanais  42,5 pCt. 
aller  Carcinome,  65,4  pCt.  der  bei  männlichen  und  27,6  pCt.  der 
bei  weiblichen  Personen  aus.  Von  den  verschiedenen  Altersklassen 
hatte  die,  welche  das  Alter  von  50 — 60  Jahren  umfasst,  den 
grössten  Antheil  aufzuweisen,  nämlich  1895  30pCt.,  1896  33pCt.; 
über  60 — 70  Jahre  waren  23  bezw.  24  pCt.,  zwischen  40  und 
50  Jahren  24  bezw.  21  pCt.,    unter    40  Jahren   je    11    und    über 


948  Dr.  G.  II  e  im  an  n, 

70  Jahren   10  bezw.  8  pCt.  der  an  Krebs    dieses  Körpertheils  Be- 
handelten.    (Vergl.  Tab.  IX  und  X,  S.  932-  934). 

Die  Zahl  dqj  Todesfälle  belief  sich  auf  46,8  bezw.  46,4pCL 


War  beim  Manne  der  Verdauungscanal  der  Hauptsitz  der 
Krebserkrankung,  so  fällt  beim  Weibe  diese  Rolle  dem  Gcnital- 
apparate  und  der  Brustdrüse  zu. 

Die  Caroinome  der  weiblichen  Geschlechtsorgane  be- 
liefen sich  im  Jahre  1895  auf  2243,  d.  i.  22,3  pCt.  aJler  Carci- 
norae  oder  37,1  pCt.  aller  Krebse  bei  Weibern;  im  Jahre  1896 
war  die  Zahl  dieser  Carcinome  2423,  d.  i.  23pCt.  aller  Carcinomc 
und  37,9  pCt.  der  Krebse  bei  AVeibern.  Was  den  Familienstand 
betrifft,  der  bei  diesen  Erkrankungen  von  Bedeutung  ist,  so  waren 
von  den  an  Genitalkrebs  leidenden  Weibern  1895  200  =  8,9  pCt., 
1896  215  =  8,8  pCt,  ledig,  verheirathet  im  ersteren  Jahre  1386 
=  61,9  pCt.,  im  letzteren  1575  =-  65,0  pCt.,  verwittwet  oder 
geschieden  im  ersteren  Jahre  635  ==  28,3  pCt.,  im  letzteren  616 
=  25,5  pCt.  (für  22  bezw.  17  derartiger  Kranken  fehlte  die  An- 
gabc des  Familienstandes).  Vergleiche  mit  in  den  Heilanstalten 
überhaupt  behandelten  weiblichen  Personen  sind,  da  Feststellungen 
über  deren  Familienstand  nicht  vorliegen,  nicht  möglich. 

In  Bezug  auf  die  Betheiligung  der  Altersklassen  machen  sich 
Verschiedenheiten  hinsichtlich  der  einzelnen  Organe  bemerkbar.  An 
den  äusseren  Geschlechtstheilen  kommt  das  Carcinom  bei  weib- 
lichen Personen  unter  50  Jahren  seltener,  über  70  Jahren  liäufiger 
vor  wie  an  Gebärmutter  und  Eierstock.  Auch  Scheidenkrebs 
wird  öfter  bei  älteren  Personen  beobachtet  wie  Gebärmutter-  und 
Eierstockkrebs. 

Die  Zahl  der  Carcinome  der  Gebärmutter  betrug  im  Jahre  1895 
1943,  im  Jahre  1896  2129,  d.  i.  19,3  bezw.  20,2  pCt.  aller  oder 
32,2  bezw.  33,4  pCt.  der  bei  weiblichen  Personen  behandelten 
Carcinome. 

Bezüglich  des  Häufigkeitsverhältnisses  zu  den  übrigen  Erkran- 
kungen der  Geschlechtsorgane  überhaupt  sei  angeführt,  dass  Thorn^) 
in  Magdeburg  unter  10500  gynäkologischen  Kranken  226  ==•  2  pGt. 
an  Gebärmutterkrebs  Leidende  hatte;  dies  ist  bei  einer  ausschliess- 

1)  Thorn,  Statistisches  und  Klinisches  zum  Carcinoma  uteri.  Münchoner 
Medicin.  Wochenschrift.     1897,  No.  45—47. 


Die  Verbreitung  der  Krebserkrankung  u.  s.  w.  949 

lieh  gynäkologischen  Clientel  ein  sehr  niedriger  Procentsatz;  an 
grösseren  Universitätsstädten  strömt  das  Material  aus  weit  ent- 
legenen Gegenden  zusammen  und  so  muss  sich  natürlich  eine  höhere 
Ziffer  ergeben. 

Es  wurden  an  diesem  Uebel  von  1887/88—1892/931)  in  den 
preussischen  Universitätskliniken  (stationären)  für  Frauenkrank- 
heiten behandelt  2724  Fälle,  d.  i.  10,2  pCt.  aller  26641  dort 
behandelten  Fälle. 

In  der  Berliner  Universitätsklinik  (Artilleriestrasse)  betrug  ihre 
Zahl  während  des  erAvähnten  Zeitraums  688  =  12,6  pCt.  von 
5470  Fällen  überhaupt;  in  der  gynäkologischen  Universitätsklinik 
der  Berliner  Charite  464  =■  10,6  pCt.  der  dort  behandelten 
4360  Fälle;  in  letzterer  Klinik  wurden  1893/94—1895/96  189  Fälle 
von  Gebärrautterkrebs  (d.  i.  7,1  pOt.  aller  2675  Fälle)  be- 
handelt 2). 

In  allen  Universitätspolikliniken^)  für  Frauenkrankheiten 
wurden  in  dem  Jahrzehnt  1887/88—1896/97  4155  Fälle  von  Gebär- 
mutterkrebs (d.  i.  2,9  pCt.  aller  139523  Fälle)  behandelt.  Davon 
entfallen  auf  die  Anstalten  der  einzelnen  Universitäten: 

[n  Breslau       bei  19853  Fäll,  überhaupt  926 Fälle v.Gebärmutterkrobs  -  4,6pCt. 


„  Berlin 

„  42340 

ji 

ri 

1359 

11 

11 

11 

-3,2  „ 

„  Halle 

„  24933 

n 

11 

784 

11 

11 

11 

=3,1  „ 

„  Greifs wald 

„     4986 

11 

11 

145 

11 

11 

11 

=  2,9  „ 

„  Göttingen 

„     7141 

n 

11 

192 

11 

n 

11 

=2,7  „ 

„  Marburg^) 

„     3985 

V 

11 

99 

11 

11 

11 

=  2,5  „ 

„  Bonn 

„     7201 

11 

11 

149 

11 

11 

11 

=  2,0  „ 

„  Königsberg 

„  12184 

V 

11 

233 

11 

11 

11 

=  1,«  „ 

Während  der  letzten  5  Jahre  1892/93—1896/97  trat  insofern 
eine  Verschiebung  ein,  als  Greifswald  mit  3,2  pCt.  an  die  zweite 
Stelle  rückte,  während  die  Zahlen  für  die  übrigen  Universitäten 
sich    (in    derselben  Reihenfolge)  zwischen    2,9    und    1,9  bewegten. 


•)  Die  Zahlen  für  die  Jahre  1887/88  und  1891/92  nach  dem  Klinischen 
Jahrbuch,  Bd.  I— V,  1892/93  nach  Zusammenstellungen  des  Königl.  Statist. 
Bureaus. 

2)  Charite- Annalen.    Jahrgang  20 — 22. 

8)  Die  Zahlen  bis  1892/93  wie  oben;  für  die  folgenden  Jahre  nach  Zu- 
sammenstellungen des  Königl.  Statist.  Bureaus;  es  sei  darauf  hingewiesen, 
dass  eine  Anzahl  von  aus  den  Polikliniken  den  stationären  Kliniken  überwiesenen 
Fällen  beide  Male  gezählt  sind. 

4)  Es  fehlen  die  Angaben  für  1888/89  und  1892/93. 


950 


Dr.  G.  Heimann, 


In  der  gynäkologischen  Universitätspoliklinik  der  Berliner  Cha- 
rite  wurden  1887/88—1892/93  267  Fälle  von  Gebärmutterkrebs 
behandelt,  d.  i.  1,7  pCt.  aller  15149  Fälle;  für  die  späteren  Jahre 
stehen  die  Zahlen  nicht  zu  Gebote.  Für  die  Poliklinik  in  Kiel 
liegen    nur  Nachrichten    für  die  Jahre  1888/89 — 1894/95  vor;    in 

Die  an  Krebs  der  weiblichen  Gesehlechtsor^ane  in  den  Heilanstalten 

nach  Älter  uod 


Tabelle  XL 


Alter. 


Familienstand. 


Alter. 

bis  20  Jahre  .     .     . 

davon  operirt  .     . 
über  20  bis  25  Jahre 

davon  operirt  .     . 
über  25  bis  30  Jahre 

davon  operirt  .     . 
über  30  bis  40  Jahre 

davon  operirt  .     . 
über  40  bis  50  Jahre 

davon  operirt  .     . 
über  50  bis  60  Jahre 

davon  operirt  .     . 
über  60  bis  70  Jahre 

davon  operirt  .     . 
über  70  Jahre     .     . 

davon  opertrt  .     . 
unbekannten  Alters 

davon  operirt  .     . 


Zusammen     . 
davon  operirt 

Familienstand. 

Ledig 

Vcrheirathet 

Verwittwet  und  geschieden 
Ohne  Angabe       .... 


C  ar  ci 


der  äusseren 

weiblichen 

Geschlechts- 

theilc 


Be- 
han- 
delte 


davon 
gestor- 
ben 


der  Scheide 


Be- 
han- 
delte 


davon 
gestor- 
ben 


des  Uterus 


Be- 
han- 
delte 


davon 
gestor- 
ben 


der  Ovarien 


Be- 
bfin- 
de Itc 


davon 
gestor- 
ben 


1 
1 


15 

4 

12 

1 

14 

2 

9 

23 

3 

19 

1 

24 

2 

20 

1 

14 

1 

10 

2 

2 

12 
4 

16 
R 

16 
5 
8 
S 
7 
.9 
4 
H 


1 
1 


93 

12 

65 

7H 

S 

26 

9 

2 

7 

56 

7 

39 

28 

3 

19 

— 

1 

2 
1 


4 

1 

40 

14 

349 

92 

645 

170 

545 

141 

239 

44 

11 

6 

44 

10 


1943 
47S 


165 

1196 

561 

21 


8 

4 

56 

11 

125 

21 

100 

16 

11 

7 

39 

1 

4 

1 


409 
Gl 


58 

178 

171 

2 


1 
1 
2 


4 

23 

19 

51 

H6 

42 

22 

14 

5 

3 

1 

1 

1 


142 

H9 


19 

95 

27 

1 


1 

1 
1 
3 
2 

10 
H 

18 

4 

1 
1 
1 


40 

22 


4 

21 

15 


Die  Verbreitung  der  Krebserkrankung  u.  s.  w. 


951 


diesen  6  Jahren  wurden  104  Fälle  von  Gebärrautterkrebs  behan- 
delt, d.  i.  5,3  pCt  aller  1951  Fälle,  eine  Zahl,  die  auffällig  hoch 
erscheint. 

Auch    die    sociale  Lage  der  Clientel    ist  von  Bedeutung.     Es 
ist  bekannt,    dass  besser  Situirte    seltener  an  Carcinoma  uteri  er- 

Prenssens  1895  and  1896  Behandelten,  Operirten,  Gestorbenen, 

FamilienstaDd. 


n  0  m 


der  äusseren 

weiblichen 

Geschlechts- 

theiie 


Be- 
han- 
delte 


davon 
gestor- 
ben 


der  Scheide 


Be- 
han- 
delte 


davon 
gestor- 
ben 


des  Uterus 


Be- 
han- 
delte 


davon 
gestor- 
ben 


der  Ovarien 


Be- 
han- 
delte 


davon 
gestor- 
ben 


Insgesammt 

Carcinom  der  weiblichen 

Genitalien 


1895 


Be- 
han- 
delte 


189G 


davon 

Be- 

gestor- 

han- 

ben 

delte 

6 

3 

1 

5 

4 

9 

45 

5 

18 

63 

399 

14 

141 

138 

lb2 

29 

232 

122 

745 

27 

215 

83 

281 

8 

84 

42 

88 

2 

18 

5 

102 

2 

39 

davon 
gestor- 
ben 


1 
1 


3 

2 

14 

6 

22 

16 

23 

16 

22 

9 

3 

2 


88 
52 


12 
50 
26 


1 
1 


2 
1 

13 
5 

15 
6 

18 
.9 

10 
6 
6 
3 
1 
1 


5 
1 
3 
1 
5 
1 
1 


3 

2 

39 

15 

362 

125 

682 

197 

659 

168 

231 

52 

bl 

4 

93 

33 


7 

66 

18 

32 

3 

10 

3 

2 

39 

7 

5 

17 

8 

— 

2129 
596 


168 

1402 

544 

15 


76 

13 

126 

30 

129 

22 

57 

10 

27 

2 

9 

1 


431 

78 


52 

227 

149 

3 


2 

2 

1 

1 

4 

2 

21 

9 

41 

23 

46 

22 

17 

10 

3 

5 
3 


140 


25 

84 

29 

2 


2 
^ 
1 
1 
1 
1 
2 
2 

16 
S> 

19 
.9 
7 

1 

1 
i 


50 

27 


14 
22 
14 


1 
1 

7 

.2 

47 

18 

399 

726 

626 

187 

285 

75 

101 

20 

51 


2243 
6Ö6 


200 

1386 

635 

22 


463 

2423 

87 

754 

64 

215 

208 

1575 

189 

616 

2 

17 

2 

1 

9 

1 

82 

75 

147 

40 

152 

.9i 

69 

i4 

34 

2 

10 


506 
108 


69 

258 

176 

3 


952 


Dr.  G.  HeimanD, 


Die  an  Krebs  der  weibliehen  Gesehleehtsorgane  in  den  Hell- 

nach  Altersklassea 


Tabelle  XII. 


BezcichnuDg  des  Körpertheiles. 


Äeussere  weibliche  Ge-  f  1895 

schlechtsthcile  \  1896 

^  ,    . ,  /  1895 

Scheide |  j^g^g 

TTf  /  1895 

^      .  /  1895 

Ö^''-^"«" \  1896 


Von  je  100  Behandelten 


bis  20  Jahre 


Be- 
han- 
delte 


Ge- 
stor- 
bene 


1^ 

0,1 
0,7 
1,4 


Zusammen 


\  le 


1895 
896 


0,1 
0,2 


4,0 


üb.  20-25  J. 


Be- 
han- 
delte 


Ge- 
stor- 
bene 


üb.  25—30  J. 


Be- 
han- 
delte 


Ge- 
stor- 
bene 


üb.  30— 40  J. 


Be- 
han- 
delte 


1,1 
1,1 


0,2 
0,1 
1,4 
0,7 


0,4 


0,3 
0,2 






8,1 

3,0 

5.6 

2,1 

2,0 

— 

1,8 

1,6 

2.5 

3,5 

2,5 

2,0 

2,9 

2,0 

0,2 

2,1 

1.9 

0.2 

1,9 

1,8 

16,1 
3.4 
18,5 
19,7 
18,0 
17,0 
16,2 
15,0 


17,8 
16,5 


Ge- 
stor- 
bene 


B3,3 
14,3 

16,6 

13,7 

17,7 

7.5 

4,0 


13,6 
16,2 


kranken,  wie  Angehörige  der  ärmeren  Klassen  der  Bevölkerung^). 
Bei  ungünstigen  socialen  Verhältnissen  ganzer  Völker  wird  man  ein 
häufiges  Vorkommen  dieser  Krankheit  erwarten  dürfen;  v.  Kez- 
marszky's  Klinik  in  Budapest  weist  unter  1195  gynäkologischen 
Kranken  705  =•  6,35  pCt.  an  Gebärmutterkrebs  Leidende  auf-). 

Bezüglich  des  Lebensalters  der  in  den  preussischen  Heil- 
anstalten Behandelten  ergeben  die  Tabellen  XI  und  XU,  dass 
während  der  Jahre  1895  und  1896  die  Höchstzahl  der  Stufe 
von  40 — 50  Jahren  angehört:  32,6  pOt.;  demnächst  betreffen  die 
meisten  Fälle  Personen  zwischen  50  und  60  Jahren,  29,5  pCt.;  im 
Alter  zwischen  30  und  40  Jahren  standen  17,5,  zwischen  60  und 
70  Jahren  11,6  pCt. ;  über  70  Jahre  waren  3,3,  zwischen  20  und 
30  Jahren  2,1  pCt.;  jünger  waren  3  Kranke  (zwischen  17  und 
19  Jahren)  3).  Besonders  ist  also  die  Blüthezeit  und  das  Klimakte- 
rium gefährdet.  In  dem  gleichen  Alter  treten  auch  vorwiegend  die 
katarrhalischen  Erkrankungen  der  Schleimhaut   auf   und  man  geht 


1)  Vergl.  Schröder,  HaDdbuch  der  Krankheiten  der  weibl.  Geschlechts- 
organe.    1879,  S.  268. 

2)  Thorn,  a.  a.  0. 

^)  Von  100  überhaupt  in  den  Heilanstalten  behandelten  weibl.  Personen 
waren  (1894)  32,8  unter  20  J.,  29,0  zwischen  20  und  30  J.,  23,6  zwischen  30 
und  50  .f.,  fi,5  zwischen  50  und  CO  J.,  älter  8,1  Personen. 


Die  Vcrbreilung  <\«t  Kicbserkrankung  u.  ( 


»8Ui1t«R  Pmm>«  1895  niid  1891t  BehaidellcD,  OeNturbenen, 

(Rt-lativzahleu). 

beaw.  üeatorbeDBü  war 

en  alt 

Sun 

üb.  40-50J. 

üb.  50 

-60J, 

üb.  60 

-70J. 

über  70  Jahre 

uQbek 

Altera 

Be- 

Ge- 

Be. 

Ge- 

Be- 

Ge- 

Be- 

Ge- 

Be- 

Ge- 

Behan- 
delte 

Gestor- 
bene 

bäD- 

stor- 

han- 

ätor- 

ban- 

stor- 

han- 

stor- 

han- 

stor- 

delte 

bSDG 

delte 

beoe 

delte 

bene 

delte 

bene 

delte 

beoe 

15,1 

16,7 

24,7 

25,0 

35,8 

16,7 

15,1 

8,3 

2,1 

_ 

100,0 

100,0 

l,'.,H 

25,0 

14,3 

26,2 

25,0 

71,4 

3,4 

100,0 

100,0 

'2+,« 

50,0 

24,« 

50,0 

12,3 

10,8 

6,1 

100,0 

100,0 

■22,7 

27  ft 

27.8 

i6,e 

15,2 

27, S 

9,1 

5,6 

1,5 

100,0 

100,0 

a:^M 

3111; 

MKI) 

24,4 

12,3 

1«,K 

4.0 

9.5 

2,2 

1,0 

100,0 

100,0 

32,1 

29,3 

31,0 

»0,0 

10,9 

18,2 

3,7 

6,3 

4,» 

1,9 

100.0 

100,0 

35.M 

25,0 

29,7 

4.'.,(1 

.■i,0 

0,7 

2..'. 

100,0 

ab,3 

32.0 

32,9 

38,0 

12,1 

14,0 

2,1 

2,0 

3,6 

2.0 

100,0 

32,4  :    29,8 

27,9 

2fi,4 

12.7 

17,9 

4,5 

9,1 

2,2 

1.1 

100,0 

100,0 

31,1 

29,1 

30,8 

80,1 

11,6 

18,7 

3,6 

6,7 

4,1 

1,8 

100,0 

100.0 

vielleicht  nicht  zu  weit,  wenn  man  ihnen  cino  Vermittlerrolle  zu- 
schreibt, insofern  sie  den  Boden  für  das  Haften  des  Krebs^iftes 
geeignet  machen  sollen.  „Nicht  so  selten  hat  man  das  Uebergohen 
einer  gutartigen  Erosion  der  Portio  in  ein  Carcinom,  die  Umwand- 
lung der  gewöhnliehen  (ungösen  Endometritis  in  ein  malignes  Adenom, 
oder  auch  in  ein  echtes  Carcinom  beobachtet" '). 

In  Uebereinstimmung  mit  diesen  Feststellungen  sind  die  von 
Gusserow  und  von  Winckel  gefundenen  Zahlen^).  Ersterer  hatte 
unter  3385  an  Gebärmutterkrcb.s  Leidenden  {davon  2  unter  20  Jahren) 
3,3  pCt.  zwischen  20  und  30  Jahren,  22,7  pCt.  zwischen  30  und 
40  Jahren,  34,5  pCt.  zwischen  40  und  50  Jahren,  25,2  pGt. 
zwischen  50  und  60  Jahren,  10,0  pCt  zwischen  60  und  70  Jahren, 
5,7  pCt,  zwischen  70  und  80  Jahren;  letzterer  1,3  zwischen  20  und 
30  Jahren,  25,7  zwischen  30  und  40  Jahren,  32,2  zwischen  40 
und  50  Jahren,  30,3  zwischen  50  und  60  Jahren,  8,6  zwischen  60 
und  70  Jahren,  1,9  zwischen  70  und  80  Jahren. 

Bei  577  Fallen^},  welche  in  der  gynäkologischen  Klinik  der 
Berliner  Charit^  in  den  Jahren   1883 — 9H   behandelt   wurden,    war 


')  Thorn.  a.  a.  0. 

=)  Citirt  nach    0.  MüMer,    Zur  Lehre 
AnDalea.    Jahrgang  XVUI,  S.  528. 


uteri.      Charit6- 


954  Dr.  (i.  Heimann, 

die  Zeit  der  Erkrankung  vom  Cliinaktcrium  nach  dem  Alter  der 
Geschlechtsreife  hin  verschoben.  Es  waren  nämlich  von  den 
Kranken  zwischen  20  und  30  Jahren  24  (4,16  pCt.),  zwischen  30 
und  40  Jahren  176(30,5),  zwischen  40  und  50  Jahren  227  (39,8), 
zwischen  50  und  60  Jahren  112  (19,6),  zwischen  60  und  70  Jahren 
33  (5,7),  zwischen  70  und  80  Jahren  5  (0,8).  Mehr  als  ein  Drittel 
war  unter  40  Jahren.  Müller  sucht  die  Erklärung  darin,  dass 
die  Kranken  der  Oharitö  auschliesslicher  als  in  anderen  Univcrsi- 
täts-  und  sonstigen  Krankenanstalten  der  ärmeren  und  ärmsten 
Klasse  der  Bevölkerung  angehören,  bei  denen  diese  Krankheit  nicht 
nur  häufiger,  sondern  auch  früher  eintrete.  Er  macht  auch  darauf 
aufmerksam,  dass  nach  seinen  Erfahrungen  die  Menopause  bei  den 
Personen,  welche  später  an  Oarcinom  erkrankt  seien,  erst  nach 
dem  gewöhnlichen  Zeitpunkte  (dieser  ist  für  die  arbeitende  Klasse 
vor  dem  47.  Lebensjahre)  einzutreten  pflege. 

Es  standen,  wie  er  anführt,  von  524  seiner  in  der  Charite 
Behandelten  (für  die  übrigen  waren  genaue  Angaben  nicht  zu  er- 
langen) in  der  Menopause  163  =  31,1  pCt.,  im  beginnenden 
Climakterium  140  =  26,7  pCt.,  dagegen  in  sicherer,  mehr  oder 
weniger  regelmässiger  Menstruation  221  =r  42,2  pCt.  Dass  Ge- 
schlechtsgenuss  und  Entbindungen  von  Einfluss  auf  die  Entstehung 
des  Gebärmutterkrebses  sind,  ist  eine  bekannte  Thatsache.  Von 
den  in  den  preussischen  Heilanstalten  an  dieser  Krankheit  Behan- 
delten waren  im  Jahre  1895  1196  =  61,6  pCt.,  im  Jahre  1896 
1402  =  65,9  pCt.  verheirathet;  verwittwet  oder  geschieden  waren  im 
crsteren  Jahre  561  =  28,9  pCt.;  im  letzteren  Jahre  544  =  25,5  pCt.; 
ledig  im  ersteren  Jahre  165=  8,5  pCt.,  im  letzteren  Jahre  168 
==  7,8  pCt.;  unbekannten  Familienstandes  21  =  1,0  bezw.  15 
=  0,8  pCt. ').  Auch  auf  die  Häufigkeit  der  Geburten  wird  vielfach 
Werth  gelegt.  In  dieser  Beziehung  liefert  das  Material  des  stati- 
stischen Bureaus  keine  Nachrichten.  Von  Interesse  sind  hier  die 
Mittheilungen  Müll  er 's.  Unter  528  krebskranken  Frauen  der 
Charite  zählte  er  nur  28  ==  5,3  pCt.,  die  noch  nicht  geboren  hatten  2). 
Das    Durchschnittsalter    dieser    28    Personen    betrug    46,4   Jahre, 


0  Vcrgl.  Tab.  XI,  S.  950;  von  100  weiblichen  Personen  zwischen  30 
und  HO  J.  waren  in  der  Bevölkerung  überhaupt  im  Jahre  1895  verheirathet 
74,8,  verwittwet  oder  geschieden  12,7,  ledig  12,5;  es  ist  dabei  zu  berück- 
sichtigen,   dass  Verheirathetti    seltener  wie  Ledige  das  Krankenhaus  aufsuchen. 

2)  Gusserow  fand  unter  1540  Fällen  121  =  7,8  pOt. 


11 


Die  Verbreitung  der  Krebserkrankung  u.  s.  vv.  955 

17  von  ihnen  waren  über  45  Jahre.  Von  den  übrigen  500  waren 
106  =  21,2  pCt,  die  nur  Inial  geboren  hatten  (darunter  7  Per- 
sonen mit  Imaligem  Abort);  227  =  45,4  pCt,  die  2 — 5mal  ge- 
boren hatten;  167  =  33,4  pCt.,  die  6 — 16mal  geboren  hatten. 
Auf  diese  500  Kranke  fallen  —  Zwillingsgeburten  nicht  gerechnet 
—  2225  Geburten  und  284  Aborte,  d.  i.  auf  jede  Kranke  durch- 
schnittlich 4,45  Geburten  und  0,57  Aborte  =  5,02  Schwanger- 
schaften; es  wird  also  auffälliger  Weise  die  mittlere  Zahl  von  Ge- 
burten in  Preussen  —  nach  Lothar  iMeyer  4,6  —  nicht  erreicht. 
Eine  Erklärung  findet  Müller  darin,  dass  unter  den  Krebskranken 
verhältnissmässig  viele  nur  Iraal  geboren  hatten.  Die  Zahl  der 
Aborte  war  bedeutend;  32,4  pOt.  dieser  Kranken  hatten  wenigstens 
Iraal  abortirt  und  die  Zahl  der  Aborte  verhielt  sich  zu  der  Zahl 
der  Geburten  wie  12,8 :  100.  Ein  Einfluss  besonders  schwerer, 
oder  schnell  auf  einander  folgender  Geburten  Hess  sich  nicht  fest- 
stellen. In  46  Fällen  schloss  sich  die  Erkrankung  direct  an  ein 
Wochenbett  oder  eine  Schwangerschaft  an;  12 mal  mehr  weniger 
unmittelbar  an  einen  Abort,  so  dass  die  Unterbrechung  der  Schwanger- 
schaft wohl  bereits  als  Folge  der  schon  vorhandenen  Erkrankung 
angesehen  werden  konnte.  Fügen  wir  diesen  Mittheilungen  aus 
MüUer's  Bericht  über  die  Charitc  gleich  hinzu,  dass  in  den  beiden 
Berichtsjahren  21  Fälle  von  Gebärmutterkrebs  bei  Schwangeren  in 
den  preussischen  Heilanstalten  (estgestellt  worden  sind*),  von  denen 
5  tödtlich  endeten. 

Uebrigens  haben  nach  Schroeder^)  Prostituirte  keine  beson- 
dere Neigung,  an  Carcinom  zu  erkranken.  Der  unbändige  Ge- 
schlechtstrieb, an  dem  manche  krebskranke  Frauen  leiden,  ist  nach 
seiner  Ansicht  nur  Symptom  einer  uterinen  Erkrankung.  Im  All- 
gemeinen ist  „der  ausser  Function  getretene  Uterus  bei  Frauen 
über  60  Jahre  weniger  ausgesetzt,  während  in  diesem  Alter  sich 
die  Disposition  des  Magens  um  so  mehr  steigert"  (Virchow,  Zur 


0  Bezüglich  des  Verlaufes  ist  Folgendes  ersichtlich:  2  Mal  trat  Abort 
ein,  einmal  im  4.  Monat;»  in  einem  dritten  Falle  wurde  die  künstliche  Früh- 
geburt eingeleitet,  eine  Kranke  starb  bei  der  Entbindung;  einmal  wurde  nach 
Abort  die  hohe  Amputation  des  Cervix  gemacht.  Die  Totalexstirpation  des 
Uterus  wurde  bei  12  Schwangeren  ausgeführt  (4  t);  2  dieser  Operirten  waren 
im  5.  Monat  der  wSchwangerschaft.  -  Im  Uebrigeu  vcrgl.  auch  Olshausen, 
Carcinom  des  Uterus  und  Schwangerschaft.  Zeitschrift  für  Geburtshülfc.  Bd.  37, 
Heft  1. 

2)  a.  a.  0.  S.  2G7. 


956  Dr.  G.  Hei  mann, 

Geschwulst.statistik,  Archiv  f.  pathol.  Anat,  Bd.  27,  1863).  Allein 
wenn  man  sich  vergegenwärtigt,  dass  nur  ein  Bruchthcil  der  Frauen 
dieses  Alter  erreiclit,  niuss  man  zugeben,  dass  auch  nach  Eintritt 
der  Menopause  die  Zahl  der  Krebserkrankungen  der  Gebäniiuttcr 
nicht  unbeträchtlich  ist;  die  senile  Involution  des  Organes  bildet, 
wie  bei  den  übrigen  Körpertheilen,  einen  geeigneten  Boden  für  die 
Entstehung  dieser  Geschwulst').  In  Bezug  auf  das  Alter  seien 
hier  noch  nachstehende  Zahlen  über  die  Todesfälle  an  Gebärmutter- 
krebs in  Berlin  2)  angeführt.     Es  starben  daran 

,    .         Per-  darunter  im  Alter  von 

scliniue    ^^^^^    10-20.1.  20-30 J. 30-40 J.  40-50 J.  50-60 J.  60-70 J.  70-80 J. älter 


d. Jahre 

i:7\^t.iv&i 

Av    *<\y  »^ 

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>  c»\y — xx/ t»  • 

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KJ\j~\r\j  t»  . 

\f\J~  t  \J  u  , 

f  \J-Kj\y  %. 

«  •  OlbV^I 

1886-90 

194,0 

0,2 

•2,8 

33,0 

70,2 

49,8 

30,6 

6,0 

h* 

1891-95 

207,0 

0,4 

3,8 

33,8 

70,0 

57,8 

30,2 

10,6 

(1,4 

Von  10000  weiblichen  Personen  über  30  Jahren  verstarben  an 
Neubildungen  der  Gebärmutter 


im  Durch- 

über- 

darunter im  Alter  von 

schnitte 

haupt 

30-40  J. 

40-50  J.     50-60.].     60-70  J. 

70-80  J 

1886    90 

2,9 

2,3 

7,4             8,8             9,0 

4,1 

1891    95 

2,8 

2,2 

6,6             8,5             8,0 

6,0 

Uebrigens  starben  in  Frankfurt  a.  M.^)  an  Krebs  der  Gebär- 
mutter im  Durchschnitte  der  Jahrfünfte 

1866—70    12,8  Personen  1881—85    21,8  Personen 

1871—75    15,2       „  1886-90    29,2        „ 

1876-80    17,2       „  1891-95    30,4        „ 

Das  Ostiuin  uterinum  ist,  wie  überhaupt  die  verschiedenen 
Ostien  des  Körpers  (besonders  die  Lippen,  der  Pylorus,  der  Ma^jt- 
darm),  auffallend  häufig  an  Carcinom  erkrankt.  Hinsichtlich  des 
Thciles  der  Gebärmutter,  der  betroffen  wurde,  sind  etwa  in  einem 
Viertel  der  Fälle  (1895  501  mal,  1896  GOOmal)  Angaben  gemacht. 


^)  Paget  erklärt  das  frühzeitige  Auftreten  von  Gebärmutter-  und  Brust- 
krebs daraus,  dass  diese  Organe  frühzeitig  rückgängig  werden.  Spencer 
Wells,  Ueber  Krebs,     (Sammlung  klin.  Vorträge  Nö.  337.) 

2)  Statist.  Jahrbuch  der  Stadt  Berlin.  Diese  Zahlen  beziehen  sich  auf 
die  Bevölkerung  überhaupt,  nicht  nur  auf  die  in  Heilanstalten  Gestorbenen. 
Ueber  die  Todesfälle  an  Gebärmutterkrebs  in  Wien  berichtete  Glatter  in 
der  Vierteljahrsschrift  für  öfiFentl.  Gesundheitspflege.     1870,  Bd.  II,  S.  165. 

3)  Jahresberichte  über  die  Verwaltung  des  Medicinalwesens  der  Stadt 
Frankfurt  a.  M.  —  Die  weibliche  über  30  Jahre  alte  Bevölkerung  in  dieser 
Stadt  belief  sich  1895  auf  47323  Personen. 


Die  Verbreitung  der  Krebserkrankung  u.  s.  w.  957 

Es  waren  davon  Carcinomc      der  Portio     des  Cervix     des  Körpers 

1895 244  206  51 

1896 295  256  49 

Das  im  Allgemeinen  seltene  Carcinom  des  Körpers  findet  sich 
häufiger  als  das  des  Cervix  bei  Personen  in  höherem  Alter  und 
verschont  nicht  in  so  auffälliger  Weise  die  Nulliparen  wie  dieses*). 
Von  unseren  100  Fällen  betrafen  Ledige  13,  Verheirathete"  57, 
Verwittwete  und  Geschiedene  30.  Zwischen  30  und  40  Jahren 
waren  4,  zwischen  40  und  50  Jahren  18,  zwischen  50  und  60  Jahren 
50,  zwischen  60  und  70  Jahren  28. 

Verhältnissmässig  oft  breitet  sich  der  Krebs  von  der  Gebär- 
mutter auf  die  Scheide  aus:  1895  ist  dies  60mal,  1896  58mal 
vermerkt;  Krebse  der  Vulva  fanden  sich  zugleich  2 mal  bezw.  5 mal, 
der  Eierstöcke  13  mal  bezw.  7  mal  (je  Imal  zugleich  Pyosalpinx). 
Die  Parametrien  waren  1895  23 mal,  1896  17 mal,  das  Bauchfell  4mal 
bezw.  5 mal  carcinomatös  erkrankt.  Je  2  mal  wurde  Carcinom  des 
Ureters  beobachtet  (1  Ureterenscheidenfistel),  der  Blase  18  mal  bezw. 
8mal  (1  bezw.  2mal  mit  der  Urethra  verwachsen).  Blasenscheidenfisteln 
sind  im  ersteren  Berichtsjahre  10,  im  zweiten  9  notirt.  Auf  das 
Rectum  ging  das  Carcinom  1895  3mal,  1896  2 mal  über.  Mast- 
darmfisteln sind  3  bezw.  5  angegeben.  Wie  es  in  Folge  der  Raum- 
beengung der  Ureteren  durch  carcinomatöse  Wucherungen  und  durch 
perimetritische  Processe  zur  Retention  des  Urins,  zu  Hydronephrose 
(2  bezw.  3  Fälle,  von  denen  2  doppelseitig)  und  Nierenaffectionen 
kommt,  so  sind  auch  Darmverengerungen  nicht  selten.  Wir  finden 
deren  14  (9 mal  wurde  ein  künstlicher  After  angelegt)  erwähnt; 
2  mal  ist  ein  Durchbruch  in  die  Bauchhöhle  angegeben.  Gebär- 
muttervorfall trat  4 mal,  Scheidenvorfall  Imal  ein.  Krebs  der 
Leber 2)  ist  10 mal,  Krebs  der  Mamma,  des  Femur,  der  Augen- 
lider, der  Orbita  (Ausräumung)  je  Imal  beobachtet;  3 mal  ist  Krebs 
der  nächsten  Lymphdrüsen  (Gland.  sacral.,  iliac,  inguin.)  notirt. 
In  jedem  Jahre  wurde  Imal  ein  Carcinoma  uteri  retroflexi  fixati 
behandelt. 


1)  Schroeder,  a.  a.  0.  S.  295.  —  Rüge  und  Veit,  Der  Krebs  der 
Gebärmutter.     Zeitschrift  f.  (Jeburtshülfe  u.  Gynäkologie,     ßd.  6 — 7. 

2)  Nach  Zusammenstellungen  von  Schroeder  a.  a.  0.,  S.  276,  kommt 
secundärer  Eierstock-  und  Leberkrebs  viel  häufiger  bei  Uteruscarcinom  vor; 
unter  292  Fällen  verschiedener  Frauenärzte  fand  sich  51  mal  Eierstock-  und 
24  mal  Leberkrebs. 

ArchiT  fttr  klin.  Chirurgie.    57.  Bd.   Heft  4.  (^3 


5)58  Dr.  G.  Hei  mann 


j 


1895 

1896 

5  (2t) 

4  (It) 

22  (It) 

41  (It) 

391  (41t) 

479  (58  t) 

60  (17  t) 

72  (18t) 

Von  den  an  Gebännuttcrkrcbs  Erkrankten  starben  im  en>t^n 
Berichtsjahre  409  =  21,0  pCt.,  im  letzteren  431  --  20,2  pCt.;  die 
Zahl  der  Rccidivc  betrug  1895  43  und  1896  46. 

Einer  Operation  unterzogen  sich  im  erstcren  Jahre  478  =  24,6 
von  100  Kranken,  im  zweiten  Jahre  596  =  28,0  pCt.^).  Von  den 
Operationen  waren 

Probelaparotomien 

Amputationen  der  Gebär muttor    . 
Totalexstirpatiorien  von  der  Scheide  . 
„  durch  Bauch  schnitt 

~478  (61t)         596  (78  t) 

Von  100  Operirten  starben  also  12,8  bezw.  13,0.  Bei  weitem 
am  häufigsten,  in  81  pCt.  der  Fälle,  wurde  die  Totalexstirpation 
von  der  Scheide  aus  gemacht,  mit  einer  Mortalität  von  15  bezw. 
12  pCt.  Thorn^)  giebt  an,  dass  im  Allgemeinen  kaum  5  pCt. 
dieser  Operationen  einen  tödtlichen  Ausgang  haben;  Olshausen 
hatte  unter  100  vom  October  1894  bis  Mai  1896  ausgeführten  der- 
artigen Operationen  nur  1  Todesfall^).  Küstner*)  theilt  mit,  dass, 
während  Freund  selbst  noch  zwei  Drittel  der  Kranken,  bei  welchen 
die  Totalexstirpation  durch  Bauchschnitt  ausgeführt  war,  durch  den 
Tod  verlor,  er.  Küstner,  in  den  letzten  SYg  Jahren  von  16  Ex- 
stirpationen  durch  Bauchschnitt  nur  4  habe  tödtlich  enden  sehen 
(2  an  Peritonitis,  2  an  Pneumonie);  von  im  Ganzen  683  in  der- 
selben Zeit  Laparotomirten  starben  5,4  pCt.  und  von  76  vaginalen 
Totalexstirpationen  wegen  Carcinom  endeten  nur  2  tödtlich  (l  an 
innerer  Einklemmung,    1  in  Folge  Durchbruchs   einer  Blascnmeta- 


'i      .  ^.  ^_-___^__-j_, ______    _____         ., 

Derartige  Vergleiche  haben  allerdings  nur  sehr  bedingten  AVerth,  wenn  man  die 
höhere  und  geringere  Intelligenz  der  Bevölkerung,  die  gynäkologische  Durch- 
bildung der  Allgemeinheit  der  Aerzte,  die  Individualität  des  Operateurs  in  An- 
rechnung bringt."     Thorn  a.  a.  0.  —  Im  Jahre  1894  wurden   in  den  Heilan 


^)  a.  a.  0. 

■')  Congr.  d.  Deutschen  Gesellschaft  f.  Chirurgie.    Sitzung  vom  29.  Mai  1896. 
*)  .Sitzung    der  Schlcsischen  (rcsellschaft    für    vaterländische  Kultur    vom 
30.  März  1807. 


Die  Verbreitung  der  Ivrobserkrankung  ii.  s.  w.  959 

stase  in  das  Peritoneum).  Die  Operation  durch  den  Bauchschnitt 
ist  mit  viel  grösserer  Lebensgefahr  wie  die  vaginale  verbunden;  sie 
verlief  fast  in  einem  Viertel  unserer  Fälle  tödtlich').  Andererseits 
bringt  nach  der  Ansicht  vieler  Frauenärzte  die  Entfernung  der 
Gebärmutter  von  der  Scheide  aus  häufig  nur  vorübergehende 
Besserung;  nach  kurzer  Zeit  sehe  man  meist  den  Krankheitsprocess 
wieder  aufflackern.  So  schreibt  Thorn  diesbezüglich:  „Aus  allen 
Statistiken  lässt  sich  herauslesen,  dass  kaum  30  pCt.  der  Operirten 
5  Jahre  gesund  blieben."  Von  62  seiner  Operirten  recidivirten  27 
=  43,5  pCt.  innerhalb  2  Jahren.  Olshausen^)  sprach  sich 
folgendermaassen  aus:  „Ueber  die  Dauerresultate,  wie  sie  sich  nach 
den  Operationen  der  letzten  Jahre  gestalten  werden,  lässt  sich 
natürlich  erst  nach  längerer  Zeit  ein  Urtheil  fällen.  Täuscht  uns 
nicht  der  Eindruck  unserer  diesbezüglichen  Erfahrungen,  so  sind 
die  Recidive  gegen  früher  ungleich  seltener  geworden  und  dann  ist 
die  Behauptung  auch  gew-iss  richtig,  dass  der  Krebs  an  kaum 
einem  einzigen  Organe  des  Körpers  mit  mehr  Aussicht  auf  voll- 
kommeneren Erfolg  operirt  werden  kann,  als  gerade  am  Uterus.*^ 
V.  Ott  theilte  auf  dem  intern,  med.  Congress  in  Moskau  (Sitzung 
am  23.  8.  1897)  mit,  dass  er  mit  der  vaginalen  Totalexstirpation 
recht  günstige  Dauererfolge  erzielt  habe:  er  sah  Fälle  12,  11,  10 
und  mehrere  6 — 8  Jahre  geheilt. 

Primäre  Scheidenkrebse  kamen  1895  65,  1896  66  zur  Be- 
handlung. Sie  machten  0,6  pCt.  aller  Carcinome  und  1,1  pCt.  aller 
bei  weiblichen  Personen  behandelten  Carcinome  aus.  Die  jüngste 
der  Befallenen  war  2  Jahre,  4  weitere  zwischen  25  und  30  Jahren, 
25  (19  pCt.)  zwischen  30  und  40  Jahren,  31  (23  pCt.)  zwischen 
40  und  50  Jahren,  34  (26  pCt.)  zwischen  50  und  60  Jahren,  31 
(23  pCt.)  älter  und  5  unbekannten  Alters.  Das  Alter  von  40  bis 
60  Jahren  ist  in  geringerem,  das  Alter  über  70  Jahre  in  höherem 
Maasse  betheiligt,  wie  beim  Gebärmutterkrebs.  Verheirathet  waren 
von  den  Betroffenen  in    jedem  Jahre  je  39,    also  über  die  Hälfte, 

1)  Nach  einer  älteren  Statistik  vön  Hegar  (Elegfar  und  Kaltenhach, 
Operative  Gynäkologie,  Stuttgart  1881)  kamen  auf  93  abdominelle  Exstirpa- 
tiouen  26  Genesungen,  63  (72  pCt.)  Todesfälle,  4  unvollendete  Operationen, 
während  auf  32  Exstirpationen  von  der  Scheide  aus  21  Genesungen,  8  Todes- 
fälle (25  pCt.)  und  3  unvollendete  Operationen  entfallen.  Diese  Zahlen  lassen 
die  jetzt  durch  die  Fortschritte  in  der  Technik  erzielton  Erfolge  in  hellem 
Lichte  erscheinen. 

2)  Siehe  Anm.  3),  S.  958. 

63* 


960  Dr.  G.  Heimann, 

19  bczw.  17  verwittwct,  ledig  7  bczw.  10.    Es  starben  im  Ganzen 

20  Kranke  (15,3  pCt.).  Operirt  wurden  58  (44  pCt),  von  denen 
4  starben.  Gleichfalls  von  Krebs  befallen  war:  die  Vulva  2 mal, 
die  Urethra  und  das  Parametrium  je  Imal;  Blascnscheidenfistel 
bestand  2 mal.  Die  Zahl  der  Recidive  war  verhältnissig  nicht 
unbeträchtlich:  17. 

Carcinorae  an  den  äusseren  Geschlechtsthcilen  wurden 
1895  93,  1896  88 mal  behandelt;  sie  machten  0,8  pCt.  aller  Car- 
cinome  und  1,5  derer  bei  weiblichen  Personen  aus.  Die  jüngeren 
Altersklassen  sind  in  geringerem,  die  höheren  in  erheblicherem 
Maasse  befallen  wie  bei  Gebärmutterkrebs.  Die  jüngste  der  Er- 
krankten war  24  Jahre,  ferner  war  1  von  ihnen  25  Jahre,  18 
(10  pOt.)  standen  im  Alter  zwischen  30  und  40  Jahren,  28 
(15  pCt.)  zwischen  40  und  50  Jahren,  45  (25  pCt.)  zwischen  50 
und  60  Jahren,  47  (26  pCt.)  zwischen  60  und  70  Jahren  und  36 
(20  pGt.)  waren  über  70  Jahre.  In  Bezug  auf  den  Familienstand 
lag  ungefähr  dasselbe  Verhältniss  vor  wie  bei  den  Scheidenkrebsen: 
106  Kranke  waren  verheirathet,  54  verwittwet  oder  geschieden  und 

21  ledig.     Tödtlich  verliefen  19  Fälle. 

Von  den  181  Fällen  betrafen  übrigens  die  Labien  73,  die 
Clitoris  20,  die  Urethra  17;  für  die  übrigen  fehlte  eine  nähere 
Bezeichnung.  125  (also  fast  70  pCt.)  der  Erkrankten  wurden 
operativ  behandelt;  bei  2  Operationen  erwies  sich  gleichfalls  eine 
Plastik  als  nothwendig.  Die  Gefahr  des  Eingriffs  ist  eine  geringe; 
die  Zahl  der  nach  den  Operationen  Gestorbenen  betrug  daher  nur  3. 
Die  Leistendrüsen  waren  verhältnissmässig  oft  befallen.  28  mal,  d.  i. 
bei  15  von  100  Kranken.     Recidive  sind  15  notirt. 

Carcinorae  der  Ovarien  sind  häufiger  zur  Behandlung  ge- 
kommen: 1895  142mal,  1896  140mal.  Sie  machen  1,4  pCt. 
aller  Garcinome  und  2,3  pCt.  derer  bei  weiblichen  Personen  aus. 
An  diesem  Organe  tritt  der  Krebs  nicht  so  selten  schon  in  jugend- 
ichem  Alter  auf.  So  wurde  in  einem  unserer  Fälle  ein  Schul- 
mädchen von  12  Jahren  von  linksseitigem  Ovarialcarcinome  durch 
die  Ovariotomie  geheilt;  weitere  14  Fälle  betrafen  Personen  unter 
30  Jahren;  zw^ischen  30  und  40  Jahren  waren  44  (15  pCt.)? 
zwischen  40  und  50  Jahren  92  (32  pCt.),  zwischen  50  und 
60  Jahren  88  (31  pCt.);  die  späteren  Altersstufen,  besonders  die 
über  70,    sind  weniger    betheiligt,    wie    bei    den   übrigen   Genital- 


Die  Verbreitung  der  Krebserkrankung  u.  s.  w,  961 

krebsen:  31  waren  zwischen  60  und  70  Jahren  (11  pCt.)  und  nur 
6  (2,5  pCt.)  älter.  Verheirathet  waren  179  (63  pCt.),  verwittwet 
und  geschieden  56  (20  pCt),  ledig  44  (16  pCt.)  und  unbekannten 
Familienstandes  3.  Unter  123  Fällen  waren  beide  Ovarien  62 mal, 
ein  Ovarium  61  mal  befallen;  für  159  Fälle  fehlte  nähere  Angabe. 
Gleichfalls  an  Krebs  erkrankt  war  das  Bauchfell  22 mal,  das  Netz 
9  mal,  die  Leber  6  mal,  je  2  mal  das  Rectum,  der  Darm  (beide  Male 
bestand  Kothfistel)  und  das  Becken,  je  Imal  die  Mamma,  die  Blase 
und  das  Gehirn;  Metastasen  ohne  weitere  Bezeichnung  sind  6mal 
notirt.  Die  Tuben  waren  4  mal  gleichfalls  ergriffen.  Auch  ist 
1  Fall  von  primärem  Tubencarcinom  hier  mit  eingerechnet,  eine 
Erkrankung,  die  Schröder  in  der  8.  Auflage  seines  Handbuches 
noch  als  nicht  vorkommend  bezeichnete  *),  welche  in  den  letzten 
Jahren  aber  mehrfach  beobachtet  wurde. 

Die  Zahl  der  Todesfälle  betrug  90  (32  pCt.),  die  der  Opera- 
tionen 163  (57  pCt.);  es  waren  Probelaparotomien  29  (9f);  Lapa- 
rotomien ohne  weitere  Angabe  54  (21t);  Ovariotomien  69  (17  f); 
Salpingoophorectomien  8  (2  t);  Punctio  per  vaginam  3  (— ).  Im 
Ganzen  endeten  49  Operationen  (30  pCt.)  tödtlich. 

Secundärer  Eierstockkrebs  ist  besonders  häufig  bei  Gebärmutter- 
krebs —  20  mal  —  erwähnt. 


^)  Vergl.  die  Abhandlung  von  Orthmann  über  primäres  Tubencarcinom, 
Zeitschrift  f.  CTcbiirtshülfe  und  Gynäkologie.     Bd.  XV,  Heft  1.     1888,    S.  212. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Oedrnekt  bei  L.  Sehumaeher  in  Berlin. 


B.Lajiaaiba^ 


,         .,  \s  1  ^  '^T