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•^ BOSTON ^
MEDICAL LIBRARY
IN THE
Francis A.Countway
Library of Medicine
t=, BOSTON ,=j
L
ARCHIV
FÜR
[LINISCHE CHIRURGIE.
BEGRÜNDET
▼on
Dr. B. von LANGENBECK,
«-pü. Wirklirhem Geh. Ruth niid Profpsnor der Chlrurfcie.
HERAUSGEGEBEN
VON
1 7. BEMMANN, Dr. E. ftURLT, De. C. &USSENBAÜER,
*( *»r Cblniruie in Rerlin. Prof. der OliiriirKi« in Berlin. Prof. der Ohirnrjfie in Wien.
SIBBRNIINDPINPZICSTKR BAND.
Mit 4 Tafeln nnd anderen Aiibildiingen im Text.
BERLIN, 1898.
VERLAG VON AUGUST HIRSCHWALD.
N.W. Unter den Lindell No. 88.
^ JAN 5 1899 ^
Inhalt.
Seite
1. Beiträge zur Patholog;ie und Therapie des Darpa verschlusses,
zweiter Th eil, enthaltend Krankengeschichten mif Bemerkungen.
(Aus der Chirurg. Klinik zu* Greifs'vald. . Prof. Helfcrich.)
Von Professor Dr. L. Heidenhain. (Mit 11 Figuren.) ... 1
II. Der äussere Schenkelbruch. Von Dr. Ferdinand Bahr.
(Mit 4 Figuren.) 59
III. üeber die Behandlung der Urach usfistel. (Aus der chirurg.
Ünivcrsitäts-Klinik des Herrn Geheimrath von Bergmann.)
Von Dr. E. Lexer 73
IV. üeber Arteriitis obliterans und ihre Folgen. Von Professor
A. A. Wvedensky 98
V. üeber operative Versuche, die pathologische Schulterstellung bei ^ a.
Dystrophia musculorum progrediens zu verbessern. Von Pro- t^^
fessor Dr. A. Freiherr von Eiseisberg. (Mit 6 Figuren.) 118
VI. üeber die Dermoide des Beckenbmdegewebes. Von Dr. F.
de Quervain . 129
VII. Experimentelle Untersuclmngen über die Entstehung der Er-
krankungen der Luftwege nach Aethernarkose. Von Dr.
Richard Hölscher 175
Vlll. Characteristischer Meteorismus bei Volvulus des S romanum.
Von Professor Dr. Carl Bayer. (Mit 4 Figuren.) .... 233
IX. üeber die neuesten Bestrebungen, die aseptische Wundbehand-
lung zu vervollkommnen. Von Professor Dr. J. Mikulicz . 243
X. Die Ursachen des Misslingens der Asepsis. Von Professor
Dr. Landerer 280
XI. Die aseptische Versorgung frischer Wunden, unter Mittheilung
von Thierversuchen über die- Auskeimungszeit von Infections-
erregern in frischen Wunden. Von Prof. Dr. P. L. Friedrich.
(Mit 2 Figuren.) 188
XII. üeber peritoneale Resorption und Infection. Von Dr. W. N o e t z e I. 311
XI If. üeber Wundsecret und Bacterien bei der Heilung per primam.
(Aus der chirurg. Klinik des Professor Wolf 1er in Prag.) Von
Dr. Hermann Schloffer 322
IV Inhalt.
Seite
XIV. Locale Analgesie bei Operationen. Von Dr. Hacke nbruch . 345
XV. Gastro enterostomia et Enteroanastomosis, ein neues vereinfachtes
Verfahren. Von Professor Dr. A. P od res. (Mit 4 Figuren.) 358
XVI. Experimentelle Untersuchungen und Erfahrungen über Inß-
trationsanästhesie. Von Privatdocent Dr. H. Braun. (Mit
2 Figuren.) 370
XVII. Erfahrungen über lokale Anästhesie in der Breslauer chirurg.
Klinik. Von Dr. Georg Gottstein 409
XVIII. Neue Experimente zur firzeugung von Pankreatitis haemorrhagica
und von Fettnekrosen. Von Professor Dr. Hildebrand . . 435
XIX. Ein neues Verfahren der Blasennaht nach Sectio alta. Von
Professor Dr. W. Rasumowsky. (Mit eincJ Figur.). • • • 438
XX. Ucber die bisherigen Erfahrungen bei der radicalen Operation
des Magencarcinoms (der Magenrcsection und der Magenexstir-
pation) an der Züricher chirurgischen Kliuik. (Aus der chir-
urgischen Klinik in Zürich.) Von Professor Dr, Krön lein . 449
XXI. Ueber Regeneration des Magens nach totaler Rescction. Von
Professor Dr. Schuchardt. (Mit 2 Figuren.) 449
XXII. Die neueren Magenoperationen in der Czerny 'sehen Klinik und
die bisherigen Dauererfolge. Von Stabsarzt Dr. Steudel.
(Mit 3 Figuren.) 454
XXIII. Eine neue Methode der Pylorus- und Darm-Rcscction. Von
Dr. Doyen 460
XXIV. Beitrag zur Anwendung des Murphy -Knopfes. Von Dr. Storp. 465
XXV. Einiges über die Anwendung der Darmknöpfe. Von Professor
Dr. Anton Wolf 1er. (Mit einer Figur.) 475
XXVI. Die anatomischen Veränderungen nach Calot'schem Redresse-
ment, mit Demonstration experimentell gewonnener Präparate;
Angabe einer schonenderen Methode. (Aus der chirurgischen
Universitäts-Klinik zu Halle a. S.). Von Dr. L. Wu listein.
(Hierzu Tafel L) 485
XXVII. Zur Technik des Redressements und des Verbandes an der
gibbösen Wirbelsäule. Von Dr. Vulpius 498
XXVIII. Die Galot 'sehe Behandlung der tuberkulösen Spondylitis. Von
Professor Dr. Hoffa . . .' 501
XXIX. Ein Vorschlag zur Modification des Calot'schen Verfahrens.
Von Professor Dr. Schede. (Mit 4 Figuren.) 507
XXX. Ein Fall von Fractur der Diaphyse des Oberarms mit bisher
noch nicht beobachteter Wirkung des Streck verbau des. (Aus
der Chirurg. Klinik des Herrn Prof. von Bramann zu Halle a. S.)
Von Dr. Ramrastedt. (Mit 2 Figuren.) 517
XXXI. Beiträge zur Technik der Operation des Magencarcinoms, Von
Professor Dr. J. Mikulicz 524
Inhalt. V
Seite
XXXII. lieber die histologischeD VorgäDge nach der Implantation von
Elfenbein und todtem Knochen in Schädeldefecten. Von Dr.
Max David. (Hierzu Tafel II.) 588
XXXIII. Erfahrungen über die Behandlung veralteter Empyeme. (Aus
der Chirurg, Klinik zu Heidelberg.) Von Professor Dr. Jordan 546
XXXIV. Beiträge zur Chirurgie der Lunge und der Pleura. Von Dr.
Karewski 555
XXXV. Ueber den angeborenen Verschluss des Dünndarms und seine
Behandlung. Von Dr. Felix Franke 591
XXXVI. Inhumane Kriegsgeschosse. Von Professor Dr. vonBruns . 602
XXXVII. Ueber Schussverletzungen des Gehirns. Von Professor Dr.
Tilmann 608
XXX VIU. Die Behandlung des Lupus mit Röntgen -Strahlen und mit
concentrirtem Licht. Von Dr. Hermann Kümmell . . . 680
XXXIX. Ueber Peritonitis chronica non tuberculosa und ihre Folgen:
Verengerung des Darmes und Dislocation der rechten Niere.
Von Proiessor Dr. Riedel. (Mit einer Figur.) 645
XL. Ueber dauernde Spiritusverbände. Von Dr. Saizwedel . . 685
XLI. Utrber einen Fall von 5 Darmresectionen uregen Scbussverletzung.
(Aus der Chirurg. Klinik zu Giessen.) Von Professor Dr. P op p ert. 691
XLII. Neue Methode zur blutigen Einrichtung der angeborenen Hüft-
geienksluxation. Von Dr. Doyen . . . 699
XUII. Zur chirurgischen Behandlung der chronischen Mittelohreiterung.
Von Sanitätbrath Dr, Lud ewig 708
XLIV. Ueber die operative Entfernung ausgedehnter Ge&ichtscarcinome.
(Aus der Hallenser Chirurg. Klinik). Von Dr. med. U. Grosse.
(Mit 2 Figuren) 711
XLV. Ueber Oesophagus-Resection und Oesophagoplastik. Von Professor
Dr. C. Garre 719
XLVL Ueber Rectoscopie und einige kleinere operative Eingriffe im
Rectum. Dr. J. v. Fedoroff 728
XL VII. Ueber Craniectomieen nebst einigen Betrachtungen über die
Heilung grosser Operationsdefecte am Schädel. Von Dr. J.
V. Fedorolf 727
XLVIU. Operationen an dem Brustabschnitt der Speiseröhre. Von Professor
Dr. Rehn 733
XLIX. Zur Operation des Stimböblönempyems. Von Professor Dr. Barth.
(Mit 8 Figuren.) 750
L. Ueber die operative Behandlung der Radialislähmung nebst Be-
merkungen über die Sehnenüberilanzung bei spastischen Läh-
mungen. Von Dr. Felix Franke 763
LI. Der erworbene Hochstand der Scapula. Von Professor Dr. Th.
Kölliker 778
VI Inhalt.
Seile
LH. Heber die Beseitigung von Gebärmutterblutungen durch die lo-
cale Anwendung des Dampfes (Vaporisation nach Sneguireff).
Von Dr. Dührssen 780
LI II. Beiträge zui Sorumtherapie bei Diphtherie. Von Dr. Riese . 785
LIV. Zur Frage über Bauchwandschnitte bei Laparotomieen. Von
Privatdocent Dr. Nicolai Wolkowitsch 795
IjV. Ueber die traumatische Lösung der Koplepiphyse des Femur
und ihr Verhältniss zur Coxa vara. Von Professor Dr. Sprengel.
(Hierzu Tafel IIl und IV und 5 Abbildungen im Text.) . . 807
LVl. Die Achseudrehaugen des Coecums. Von Dr. von Zoege-
M an teuf fei 841
LVll. Eine neue Methode temporärer Gaumeu-liesection. Von Professor
Dr. Partscli 847
LVIU. Multiple Knochen- und Knorpelgcschwülste. Von Dr.von Kryger 859
LIX. Ueber die Narkose mit Aethy Ichlorid. Von Dr. GeorgLotheissen.
(Mit 2 Figuren.; 865
LX. Ueber entzündliche Tumoren der Submaxillarspcicheldrüse. Von
Dr. Küttner 873
LXl. Mittheilungen über Hirn-Chirurgie. Von Dr. Doyen. . . . 87G
LXIL Zur Kenntniss der Streptokokken- und Pneumokokken-Osteo-
myelitis. (Aus der Chirurg. Universitäts-Klinik des Herrn Ge-
heimrath von Bergmann.) Von Dr. E. Lexer. (Mit 3 Figuren.) 879
LXIII. Die Verbreitung der Krebserkrankung, die Häufigkeit ihres Vor-
kommens an den einzelnen Körpertheilen und ihrer chirurgischen
Behandlung. Von Dr. Georg Hei mann 911
ARCHIV
FÜR
KLINISCHE CHIRURGIE.
bbgrOndbt
von
Dr. B. von LANGENBECK,
weil. WlrUiohein Qeh. Rath and Profenor der Chtfurgie.
HERAUSGEGEBEN
VON
Db. 1. T. BEMMANlSr, Sb. £. &TTELT, Bb. G. &irSS£lf BAUER
Fret der Cfafaiugie in Berlin. Prof. der Chirurgie In Berlin. Prof. der Chirurgie in Wien.
8IKBBNI]NDPtNFZI«8TBR BAND.
ERSTES HEFT.
Mit 26 AbbUdungen im Toxi.
BERLIN, 1898.
VERLAG VON AUGUST fflRSCHWALD.
N.W. Unter den Linden No. 68.
Inhalt.
Seite
I. Beiträge zur Pathologie und Therapie des Darmverschlusses,
zweiter Theil, enthaltend Krankengeschichten mit Bemerkungen.
(Aus der Chirurg. Klinik zu Greifswald. Prof. Helfer ich.)
Von Professor Dr. L. Heidenhain. (Mit 11 Figuren.) ... 1
U. Der äussere Schenkelbruch. Von Dr. Ferdinand Bahr.
(Mit 4 Figuren.) 59
UL Ueber die Behandlung der ürachusfistel. (Aus der chirurg.
Universitäts-Klinik des Herrn Geheimrath von Bergmann.)
Von Dr. E. Lexer 78
rV. Ueber Arteriitis obliterans und ihre Folgen. Von Professor
^ A. A. Wwedensky 98
V. Ueber operative Versuche, die pathologische Schulterstellung bei
Dystrophia musculorum progrediens zu verbessern. Von Pro-
fessor Dr. A. Freiherr von Eiseisberg. (Mit 6 Figuren.) 118
VI. Ueber die Dermoide des Beckenbindegewebes. . Von Dr. F.
de Quervain 129
VII. Experimentelle Untersuchungen über die Entstehung der Er-
krankungen der Luftwege nach Aethernarkose. Von Dr.
Richard Hölscher 175
VIII. Characteristischer Meteorismus bei Volvulus des S romanum.
Von Professor Dr. Carl Bayer. (Mit 4 Figuren.) .... 283
I.
(Aus der chirurg. Klinik zu Greifswald. Prof, Helferich).
Beiträge zur Pathologie und Therapie des
Darmverschlusses, zweiter Theil, enthaltend
Krankengeschichten mit Bemerkungen').
Von
Pr«fess«r Dr. Et. Heldenhaln
in Worms, frUher^m Secandäranst obiger Klinik.
(Mit 12 Figuren.)
Leider gestattet es meine Zeit erst jetzt, die nachfolgenden
Beobachtungen, welche die Grundlage zu meinen Ausführungen auf
dem letzten Chirurgen-Congresse bilden, in extenso mitzutheilen.
Ich thue dies, trotzdem Krankengeschichten im Allgemeinen nur
von Wenigen gelesen werden, um dem Leser meiner ersten Arbeit
eine ausreichende Kritik meiner Darlegungen zu ermöglichen. Und
die Kritik sowohl seitens der internen Kliniker, wie auch der Fach-
genossen wird wohl nicht auf sich warten lassen. Auf dem Ge-
biete der Diagnose und Therapie des Darmverschlusses sind noch
so viele imklare Punkte, dass meines Erachtens eine Förderung
nur zu erreichen ist durch das Studium und die kritische Betrach-
tung gut beobachteter Krankengeschichten, welche womöglich die
Autopsie in vivo vel in mortuo enthalten müssen. Den Haupt-
grund der weitgehenden Meinungsverschiedenheiten zwischen den
Chirurgen und den internen Klinikern über die Behandlung dieser
Erkrankungen glaube ich darin finden zu müssen, dass bisher kein
interner Kliniker den Versuch gemacht hat, seine Erfahrungen auf
diesem Gebiete zu sammeln und mitzutheilen. Wenigstens findet
>) Siehe dieses Archiv, Bd. 55, Heft 1.
ArohiT fttr kUn, Chimrgie. 67. Bd. Heft 1.
2 Dr. L. Heidonhain,
sich nirgends das Beobachtungsmatcrial der internen Kliniker, die
über den Ileus sprachen oder schrieben, in extenso mitgetheilt.
Von Chirurgen haben ihre gesammten Erfahrungen, und zwar ein
grösseres Material, bisher mitgetheilt Kümmell, Lauenstein,
Obalinski und L. Rehn. Ich muss sagen, dass ich aus diesen
Arbeiten, sowie an prägnanten Beispielen aus der englischen und
amerikanischen Literatur ausserordentlich viel gelernt habe, vor
AUem zur Stellung der Diagnose, sodann in der Technik der ope-
rativen Therapie und Nachbehandlung.
Ich glaube nach einer Erfahrung an nunmehr 38 selbstbeob-
achteten Fällen^) nicht, dass im Allgemeinen die Stellung einer
für die Entscheidung ausreichenden Diagnose so schwierig ist, wie
gewöhnlich zu lesen. Eine genaue Anamnese, sorgfältige Unter-
suchung mit Inspection, schwacher Percussion und Palpation von
aussen, wie per vaginam und per rectum, sowie schliesslich, und
das ist fast der wichtigste Punkt, Vergleichung des vorliegenden
Falles in Gedanken mit anderen, die man gesehen oder gelesen,
führen in sehr vielen Fällen zu einer ausreichenden Erkenntniss,
häufig sogar zu einer nach allen Richtungen zutrefifenden Diagnose.
Fast nicht zu verfehlen ist die Diagnose in den Fällen von
tiefem Danuverschluss durch ein Carcinom im S romanum oder
eine Narbenstrictur daselbst. Der langsame Verlauf über Wochen,
die andauernden Stuhlgangsbeschwerden, die der Ausbildung des
vollen Verschlusses vorhergehen, das Alter des Kranken schliess-
lich lassen die Diagnose mit Sicherheit stellen, selbst dann, wenn
man den Kranken erst mit einem ad maximum ausgedehnten
„Fassbauche" zu sehen bekommt, an welchem der fabelhaften
UeberfüUung der Intestina halber gar nichts mehr zu percutiren
und zu fühlen ist, was auf den Sitz des Hindernisses hinwiese.
Um nicht langweilig zu werden, gebe ich die Krankengeschichten
dieser allgemein bekannten Fälle nicht, mit Ausnahme von No. 1,
welche aus anderen Gründen beachtcnswerth ist, sondern will nur
erwähnen, dass es uns gegangen ist, wie Schede: wir haben alle
sechs Kranken in extremis bekommen, und alle sind gestorben,
entweder im unmittelbaren Anschlüsse an die Enterostomie oder
im Verlaufe an Erschöpfung, Pneumonie und dergleichen Formen
0 33 in Greifswald und 5 in Worms.
Beiträge zur Pathologie and Therapie des acuten Darmverschlusses. 8
des Endes bei todeskranken Leuten, oder an der nachträglichen
Resection des Krebses (2 Fälle). Fortgelassen, als des Interesses
entbehrend, ist ebenfalls die Greschichte eines Kindes von unter
einem Jahre, das mit einer per rectum deutlich fühlbaren Invagi-
nation sterbend in die Klinik eingeliefert wurde. Demnach ge-
langen hier 27 unserer 33 Beobachtungen zum Abdruck.
Die diagnostischen Erwägungen, welche wir anstellten, wie die
Gründe, welche uns im einzelnen Falle zur Operation bewogen,
sind in den Krankengeschichten so ausführlich wiedergegeben,
dass eine besondere Zusammenstellung dieser Punkte wohl nicht
notiiig ist.
Voraussichtlich wird meine Angabe, dass rein functionelle
Störungen der Darmperistaltik, vor Allem ein Enterospasmus, das
Symptomenbild eines acuten Darmverschlusses hervorzurufen ver-
möchten, lebhaft angegriffen oder wenigstens stark bezweifelt wer-
den. Ich hatte mich bemüht, durch eigene Erfahrungen, wie durch
Mittheilung sorgfältig ausgesuchter Fälle aus der Literatur das In-
teresse für diese merkwürdigen Erkrankungen wachzurufen. Wie
ich von vornherein nicht bezweifelt habe, ist man meinen Dar-
legungen recht ungläubig gegenübergetreten. Das ist kein Wunder,
denn bisher sind sichere Anhaltspunkte für die Entstehung eines
Darmverschlusses durch Störungen der Peristaltik allein
nie zu gewinnen gewesen. Es haben mir z. B. schon auf dem
Chirurgen-Congresse die Herren F. König, Gussenbauer, Ger-
suny und manche Andere gesagt, dass sie sich nach ihren grossen
Erfahrungen die Möglichkeit eines spastischen Darmverschlusses
nicht vorstellen könnten, und dass sie geneigt seien, an Beobach-
tungsfehler zu glauben, die bei so complicirten Operationen leicht
gemacht werden könnten. Eine Knickung oder Umdrehung des
Darmes z. B. könne sich im Augenblicke der Eröffnung des Leibes,
che man etwas sehe, lösen, und selbstverständlich habe man dann
bei der weiteren Fortsetzung der Operation keinen Befund, welcher
den schweren Symptomencomplex, der zur Operation veranlasste,
erklären könne. Ich kann derartige Zweifel nicht übel nehmen.
Die ganze Frage ist darum besonders schwierig, weil die Physio-
logen isolirte spastische Contractionen eines bestimmten, umschrie-
benen Darmabschnittes nicht kennen und bisher experimentell am
Thiere nicht haben erzeugen können. Reizung löst beim Thiere
4 Dr. L. Heidenhain,
nur Peristaltik aus. Unter diesen Umständen ist es dringend
wünschenswerth, dass sichere Beobachtungen am Menschen ge-
sammelt werden. Letzten Sommer hatte John B. Murphy die
Freundlichkeit, mir einen Sonderabdruck ^) über Heus zuzusenden,
in welchem ich den folgenden Fall fand, der meine Darstellung
aufs beste zu unterstützen geeignet ist. Er folge hier, wörtlich
übersetzt, mit Zufügung der Originalabbildung von Murphy.
„Mann, 40 Jahre, aufgenommen im Alexian Brothers Hospital
am 10. Juni 1894 und mir zur Operation überwiesen durch den
inneren Arzt vom Dienst. Der Kranke gab folgende Kranken-
geschichte: Vor 5 Tagen erlitt er einen Anfall krampfhafter
Schmerzen im Bauche, welcher von Erbrechen und der Unmög-
lichkeit, zu Stuhle zu gehen, gefolgt war. Der Leib dehnte sich
stark aus, und diese Symptome hielten an bis zur Aufnahme.
Alle Anstrengungen, durch Abfühniiittel, Magen- und Darmaus-
spülungen Stuhlgang zu erzielen, waren vergeblich. Der innere
College, welcher ihn zuvor mehrfach an Anfällen von Bleikolik
behandelt hatte, glaubte, dass dieser Anfall sich wesentlich von
den fmhcren unterschiede, besonders durch seine schon fünftägige
Dauer und durch den Verfall (degi-ee of depression).
Die physikalische Untersuchung zeigte das Abdomen tympa-
nitisch, und es liess sich eine erweiterte Darmschlinge erkennen,
welche zu der Gegend des rechten Rippenbogens aufstieg und dort
plötzlich endete. Der Kranke lokalisirte den Schmerz an diesen
Punkt.
Wir kamen zu der Entscheidung, dass eine Laparotomie we-
niger gefährlich sein würde, als Aufschub, da möglicher Weise ein
mechanischer Verschluss vorläge. Nach Einschnitt in der Mittel-
linie und Hervorziehen des Netzes ging die Hand ein nach der
Gegend des rechten Rippenbogens, ergriff die erweiterte Danti-
schlinge und zog sie in die Wunde. Mit ihr kamen 8 Zoll eines
contrahirten Darmantheiles zum Vorschein, welcher
einem soliden Stricke von 7g Zoll Durchmesser glich
und so steif war, wie ein Tau von diesem Durchmesser
(siehe Fig. 1).
^) Journal of the americ. med. assoeiation. Jan. 4 und 11. 1896.
Beiträge zur Pathologie und Therapie des acaten Daimverschlosses. 5
Fig. 1.
Zuerst glaubte ich, es sei ein« organische Striktur. Der
Darm oberhalb inass über 2^j^ Zoll im Durchmesser und
war ausgedehnt durch Gas imd flüssige Fäces. Unterhalb war
der Darm leer, weich und faltbar. Nachdem der Darm
10 Minuten der Luft ausgesetzt war, begann der Spasmus am
proximalen Ende zu weichen und die Dilatation sehiitt allmälig
dem distalen Ende zu. Nach zwanzig Minuten hatte sich dci
Darm zu einem Durchracs.ser von ungefähr einem Zoll ausgedehnt,
ward zurückgebracht und der Bauch geschlossen. Innerhalb diei
Stunden trat Stuhlgang ein. Der Kranke hatte nicht ein unanarc-
nehmes Symptom und verliess nach 10 Tagen das Krankenhaus
Die Theorie der vorgeschrittenen Bleikolik ist, da^s sie die
Folge einer tonischen Contraction der Darmmuskulatui sei. Aber
nach einer oberflächlichen Uebersicht d( r Literatur über diesen
Punkt kann ich keinen Fall mitgetheilt finden, in welchem die.se
Theorie durch Beobachtung und Prüfung des conlrahirtcn Darm-
antheiles selbst bestätigt worden wäre, wie es in diesem Fall
geschah".
Die Beobachtung von Murphy beweist, was ich auch be-
hauptete, dass beim Menschen isolirte spastische Contracturen um-
schriebener Darm abschnitte vorkommen, welche .so fest .sind, dass
ein regelrechter Darmverschluss, den Symptomen nach, durch sie
verursacht werden kann. Was alles eine solche Contractur lier\ or-
6 Dr. L. Heidenhain,
inifen kann, bleibt zu erforschen. Im ersten Teile dieser Arbeit
wies ich auf verschiedene Möglichkeiten hin. Ich betone, dass an-
scheinend nicht nur Contracturen, sondern auch Lähmungen um-
schriebener Darmabschnitte vorkommen, oder lähmungsartige Schwä-
chen, welche die Symptome eines Darm verschlusses zu erzeugen
geeignet sind. (Yergl. den Fall von Keen auf S. 14 des ersten
Theiles dieser Arbeit.) Ich wäre sehr zufrieden, wenn ich mit
diesen Zeilen erreichte, dass den rein functionellen Störungen der
Darmperistaltik mehr Beachtung geschenkt wird, als bisher, wenn-
gleich ich vollkommen anerkenne, dass es sehr schwer ist, be-
weisende Beobachtungen auf diesem Gebiete zu sammeln. Am
meisten erhoffe ich noch von der genauen Analyse von Ileuslapa-
rotomien ohne Befund, die sich gewiss gelegentlich ereignen.
Danach mögen unsere Beobachtungen über den Darmverschluss
und seine Behandlung folgen.
I. Beobachtungen^ welche das gelegentUehe Yorkommen
eines spastischen Darmverschlusses als wahrscheinlich er-
scheinen lassen (3 Fälle).
1. Johann Bergwitz, 67 J. Aufgen. 23. 8. Gest. 28. 8. 92. Darmverschluss
durch hohe Rectalstrictur, Operation, Spasmus eines Theiles des Dünndarms.
Leidet seit 12 Wochen an hartnäckiger Verstopfung: Zunächst auf hohe
Einlaufe seitens seines Arztes Besserung. Seit 6 Wochen fast vollkommene
oder vollkommene Verstopfung: der Leib schwoll zusehends an; ausser etwas
Milch und Wein wurde alle Nahrung erbrochen. W^iederholte hohe Einlaufe
vergeblich. Auf die innere Station aufgenommen am 20. 8. Von dort am
23. 8. auf die chirurgische Station verlegt.
Am 22. 8. Abends wurde ich zu dem Kranken konsaltirt und fand das
Abdomen fast ad maximum ausgedehnt. In der Oberbauchgegend eine stark
gefüllte Darmschlinge etwas deutlicher abgezeichnet; peristaltische Bewegungen
weder zu sehen noch durch Reizung der Bauchwand zu erzielen. Abdomen
lieferte bei der Palpation keinen abnormen Befund; bei der Percussion überall
voll tympanitisoher Klang bis auf die beiden gedämpft tympanitisch schallenden
Lumbaigegenden. Letzterer Befund wurde auf gefüllte Darmschlingen bezogen,
da Ascites sich nicht nachweisen Hess. Bei der Untei'suchung per Rectum
fand sich ein am Vormittag gegebenes Nährklystier noch vollständig im Mast-
darm vor. Sonst nichts Abnormes zu fühlen. Zunge sehr trocken. Im Laufe
des Tages einmal Erbrechen.
Diagnose: Dickdanncarcinom zweifelhaft ob in dem S romanum oder
an der Klappe, wegen des Alters des Patienten am wahrsoheinlichsten. Die
dringend angerathene Operation erst für nächsten Morgen zugestanden.
Beitrage zur Pathologie nnd Therapie des acuten Darmyerschlusses. 7
23.8. Temp. Morgens 38,20. Pnls kräftig, Zange trocken. Keine Peristaltik.
Laparotomie in der Mittellinie unterhalb des Nabels. Abfliessen einer
geringen Menge seröser Flüssigkeit; vorliegende Dünndannschlingen sehr stark
gebläht und injicirt. Die eingeführte Hand findet weder in der linken, noch
in der rechten Bauchseite, noch im Becken einen Tumor. Um womöglich das
Hindernisa zu entdecken, wird jetzt die vorliegende Dünndarmschlinge aus-
treten gelassen (Verfahren von G. Smith). Der eine Theil derselben tritt
schnell heraas, während der andere Schenkel im Bauche bleibt, anscheinend
fibdrt ist Beim Hervorziehen des im Abdomen verbliebenen Schenkels der
Schlinge kommen vollkommen leere, kollabirte oder kontrahirte Darmschlingen
zum Vorschein, und die genauere Untersuchung ergiebt , dass am Uebergange
der stark gefüllten in die völlig leere Schlinge kein mechanisches Hinderniss
besteht: die Darmgase lassen sich aus der gefüllten mit Leichtigkeit in die
leere Schlinge hinüberdrücken. Die Wand der leeren Schlingen ist unverändert,
insbesondere zeigt sich keine stärkere Injection des Peritoneums an ihnen.
Reposition der Dünndarmschlingen. Hervorholung einer stark gefüllten Dick-
darmscblinge aus der rechten Bauchseite. Anlegung eines Anus praeter-
naturalis (seitliche Fistel). Für die Enterostomie kein Chloroform mehr
gegeben. Verlässt den Tisch mit gutem Puls. (Befund unmittelbar post.
ob. dictirt.)
In der Folge reichliche Entleerungen, aber dauerndes Steigen der Tem-
peratur und Auftreten von Lungen Symptomen. Gestorben 28. 8. Abends.
Section: Keine Peritonitis. Anus artif. am S romanum ! 20 cm
oberhalb des Afters eine geschwürig-narbige Strictur desRectums, wahrscheinlich
Koth-Decubitusgeschwür; oberhalb der Strictur noch ein zweites Geschwür.
In beiden Lungen multiple bronchopneumonische Herde. In der Mitte des
rechten Unterlappens ein kleiner gangränöser Herd. Pleura dieses Lappens
mit dicken fibrinös-eiterigen Auflagerungen bedeckt. In den Bronchien schleimig-
eiterige Massen bei stark gerötheter Schleimhaut.
Epikritisch ist zu dem Falle noch zu bemerken, dass wir oft,
namentlich in mehreren Yolvuluslallen, das geblähte S romanum
in der rechten Beckenschaufel liegend fanden. Gelegentlich ist die
Schlinge an ihrer Form und Verlauf als Flexur zu erkennen
(TCi^l. Volvulus).
2« Eduard Kalnowski, 30 Jahre, Arbeiter. Schlatkow bei Anklam.
Aufgen. 22. 9., entl. 29. 10. 96. Volvulus des S romanum mit spa-
stischem Dunndarmverschluss. Laparotomie, Dctorsion, Fixation. Geheilt.
Früher stets gesund gewesen, insbesondere kein Typhus, keine Ruhr,
keine Quetschung des Bauches, keine Perityphlitis. Schnupft nicht, hat, soviel
zu ermitteln, nichts mit Blei zu thun gehabt.
Stuhlgang bisher regelmässig und täglich. War am 19. 9. noch völlig
gesund. Hat den Tag über gearbeitet. Nachts gut geschlafen. 20. 9. früh
letzter Stuhlgang. Vormittags während der Arbeit wurde ihm übel. Trotzdem
hat er noch Mittag gegessen. Mit dem ersten Spatenstich nach dem Mittag-
8 Dr. L. Heidenhain,
essen begannen heftige Schmerzen im Leibe, welche seitdem angeblich gleich -
massig ohne Unterbrechungen angehalten haben and als Krampf bezeichnet
werden. Seitdem kein Stuhl, noch Winde. Nachmittags schon Erbrechen,
welches seitdem „immerzu^' dagewesen ist.
Befund 22. 9. Nachmittags 6Y4 Uhr: Mittelgrosser, kraftig gebauter
Mann. Frische Gesichtsfarbe, etwas eingefallene Wangen, tiefliegende Augen,
starke Kopfschmerzen. Letztes Erbrechen Vormittags. Puls 511!, ziemlich
kräftig. Rectaltemperatur 38,5. Leberdämpfung schneidet mit dem Kippen-
bogen ab. Bruchpforten frei. Die Mitte des Abdomens und zwar die rechte
Seite eine Kleinigkeit mehr als die linke, ist massig hervorgewölbt. Epiga-
strium flach muldenförmig vertieft. Die Vorwölbuug des Abdomens beginnt in
der Mitte zwischen Nabel und Schwertfortsatz, erstreckt sich nach links eine
Kleinigkeit über den Rand des Rectus abdom. , nach rechts hingegen bis in
die Lumbaigegend , welche zweifelsohne ein wenig mehr ausgefüllt ist als die
linke, dergestalt, dass der äussere Rand des Rectus abdom., welcher links
sich deutlich abhebt, rechts kaum erkenntlich ist. Im Grossen und Ganzen
liegt die Hervorwölbung in einem Umkreise von 10—12 cm um den Nabel
herum; die stärkste Hervorwölbung liegt rechts auf der Verbindungslinie
zwischen Nabel und Spina ant. sup., etwa 3 Finger breit vom Nabel entfernt.
Magen im Traube 'sehen Raum schallt tympanitisch. Auch das Abdomen
liefert überall gleichmassigen tympanitischen Schall bis auf die fast völlig ge-
dämpften Lumbaigegenden. Bei Lagerung auf die rechte Seite bleibt der ge-
dämpfte Schall in* der linken Lumbaigegend. Bei Lagerung auf die linke Seite
hellt sich der Schall in der rechten Lumbaigegend auf. Palpation liefert nichts
Besonderes. Per Rectum ist durch die vordere Mastdarm wand links dicht
oberhalb der Prostata ein empfindlicher, kleinfingerdicker, runderStrang durch-
zufühlen, welcher für eine collabirte Dünndarm schlinge angesprochen
werden müsste, wenn nicht die Consistenz eine auffallend harte
wäre.
Diagnose: Acuter Dünndarm verschluss durch Incarceration (Meckel-
sches Divertikel oder dergl.) Die erhöhte Temperatur ist wohl weniger von
beginnender Peritonitis, als von der Kothstauung und etwas Ascites abhängig.
(Dictat ante op.)
Sofortige Operation war dringend indicirt. In Vertretung von Herrn
Prof. Helfer ich schloss ich sie sofort an. Magen ausspülnng ante operationem
entleert nichts.
Laparotomie in der Mittellinie zwischen Nabel und Symphyse. Nach
Eröffnung des Peritoneum drängt sich sofort ziemlich stark geblähter Dickdarm
in die Wunde. Dieser wird bei Seite geschoben; ein Grifi in das kleine Becken
bringt eine leere, sehr fest contrahirte Dünndarmschlinge hervor. Ein Griff
nach der Radix mesonterii und an dieser aufwärts orientirt über die Verlaufs-
richtung des Dünndarms. Nach Verlängerung des Bauchschnittes aufwärts
bis zur Mitte zwischen Schwertfortsatz und Nabel (erwies sich, um Uebersicht
zu erlangen und schnell zum Ziele zu kommen, durchaus nöthig) wurde an
dem leeren Dünndarm in die Höhe gegangen unter Hervorziehen und sofortigem
Beiträge znr Pathologie und Therapie des acuten Darm verschlusses. 9
Wiederversenken der Darmschlingen. Nach einiger Zeit gelangte ich an gering
und noch weiter aufwärts an etwas starker, aber noch immer schlaff gefüllte
Dönndarmschlingen, so dass einen Augenblick die Vermuthung auftauchte,
durch das Hervorziehen sei der Dünndarm aus einer Incarceration befreit
worden. Allein der Uebergang der ganz fest contrahirten in die gefüllten
Schlingen war ein ganz allmäliger, Schnürfurchen waren nicht zu sehen und
schliesslich war dafür auch die Füllung des Darms zu gering. Ich kam bis
zum Beginne des schlaff gefüllten Jejunum, ohne ein Hindemiss zu finden.
Reposition der letzten Dünndarmschlinge. Das Colon transversum war sehr
stark gebläht. Darum wurde nun die im unteren Wundwinkel gelegene ge-
blähte Dickdarmschlinge hervorgezogen, und es zeigte sich sofort, dass es sich
om einen Volvulus des 50— 60cm langen S romanum handele (Drehung des zu-
führenden um den abführenden Schenkel, Umdrehungspunkt unmiitelbar oberhalb
des Promontorium, Fusspunkte der Schlinge 3—4 Finger breit vonei nander ent-
fernt, Mesenteiium ohne narbige Veränderungen). Rückdrehung der Schlinge.
Einlegung eines Dannrohres in das Rectum, worauf das S romanum sich theil-
weise entleert. Fixation der Convexität der Schlinge mit 8 Seidenknop&iähten
an der medianen Peritonealwunde. Catgut-Etagennaht des Bauchschnittes
neben einigen starken, durch die ganze Dicke der Bauchwand laufenden Seiden-
nähten. — Operationsdauer 1 Stunde.
Während des Schlusses der Bauchwunde hörte, nachdem sie
etwas flacher geworden, die Athmung vollkommen auf, während der Puls
nur wenig nachliess und die Lippen anfänglich noch frisch roth waren. Nach
etwa 10 Secanden begann cyanotische Färbung des Gesichts und Erweiterung
der Papillen. Etliche Comprossionen des Thorax genügten, um wieder spon-
tane Athmung herbei zu führen. Puls am Ende der Operation 60.
Am Abend nach der Operation (22. 9.) Temperatur 36,9, Puls 58. Keine
W^inde , kein Stuhl. Schwarzer Kaffee mit Ricinusöl gegeben , sowie 0,01 g
Morphin wegen Schmerzen.
23.9. Temperatur 36,7. Puls 60 und 57. Hoher Einlauf mit Ricinus :
Einlauf zurück mit wenig Koth. Bauch gleichmässig schmerzhaft,
etwas gespannt. Kein Stuhl, keine Flatus. Abends 10g Glycerin per anum
ohne Erfolg. 0,01g Morphium.
24. 9. In der Nacht Patient ziemlich unruhig. Temp. 37,3 und 36,9.
Puls voll, kräftig, 56 und 60. Keine Winde. Kein Stuhl. Hoher Einlauf
mit kaltem Wasser und Ricinus kommt zurück mit wenig Koth. Dann 0,015 g
Morphium, worauf am Nachmittag reichlich Stuhl. Abends Opium pur. 0,04.
25. 9. In der Nacht zweimal reichlich Stuhl. Temp. 37,1. Puls 60 und
56. Keine Bauchschmerzen mehr. Bauch weich. Appetit gering. Zunge
belegt: Mundspülungen. Morgens und Abends Opium pur.
26. 9. zweimal Opium: Ein Stuhlgang. 27. 9. Opium. 2 Stuhlgänge.
Vom 28. 9. ab regelmässiger Stuhlgang, beschwerdefrei. Opium fort-
gelassen. Wundheilung per primam. 9. 10. Nähte entfernt. Erst am 29. 10.
entlassen, weil die Anfertigung der Bauchbinde sehr lange dauerte.
In der Zeit vom 28. 9. bis 2. 10. schwankte bei Achselhöhlentemperaturen
10 Dr. L. Heideohain,
von 36,1 — 36,5—36,9 der Puls von 51—54—57. Später war er dauernd auf
60. Pulszahlung hört leider vom 4. 10. ab auf.
3. Karl Mann, 30 Jahre, Fischer, Stahlbrode. Aufgen. 25. 2. Entl.
18. 3. 1896. Spastischer Darmverschluss erzeugt durch einen Spulwurm.
Früher nie krank gewesen. Stuhlgang immer normal. Am 16. 2. noch
völlig wohl. Am 17. 2. trat Schwindel, Uebelkeit und heftiges Erbrechen ein ;
das Erbrochene war gelbgrän und roch sehr übel. Appetit war seitdem sehr
schlecht (Fat. hat in 5 Tagen nichts zu sich genommen), Stuhlgang und Winde
gingen nicht ab; Schmerzen im Leibe waren nicht vorhanden. Seit dem
19. 2. mehrfach Einlaufe, welche stets faculent verfärbt, jedoch ohne eigent-
liche Kothmassen zurückkamen.
22. 2. Aufnahme in die innere Klinik (Geheimrath Mosler), welcher ich
die vorstehende Anamnese und die nachstehende Krankengeschichte bis zur
Verlegung in die chirurgische Klinik danke.
Befund am 22. 2. Fat. macht durchaus keinen schwer kranken Eindruck.
Herz und Lungen normal. Fuls 64, kräftig und voll; etwas Schwindelgefühl;
Zunge stark belegt und starker Foetor ex ore; andauernde Uebelkeit und Brech-
neigung, ohne dass es zum Erbrechen kommt. Leib nicht aufgetrieben, eher
noch etwas eingesunken; Bauchdecken stark gespannt; Falpation ergiebt nichts
abnormes, namentlich nirgends Schmerzhaftigkeit. Exploratio per anum ergiebt
nichts als Druckschmerz links oben. Urin: reichlich Urate, Spuren Eiweiss,
kein Zucker, kein Indican.
Zunächst Magenausspülung mit warmem Wasser; bei derselben Erbrechen;
das Erbrochene und das Spülwasser sind durch etwas Blut röthlich gefärbt.
Hoher Einlauf von 2500 ccm lauwarmen Wassers mit etwas Kochsalz geht
nach kurzer Zeit fast ganz klar wieder ab. Mehr wie oben genannt konnte
man wegen sehr heftiger Schmerzen nicht einlaufen lassen.
23. 2. Hat wenig geschlafen. Befinden leidlich, Brechneigung etwas
geringer. Hoher Einlauf von 800 ccm Oel, welches im Jjaufe des Abends ohne
Kothmassen wieder abgeht. Am Nachmittage und in der Nacht hat Fat 6 mal
erbrochen; Erbrochenes grünlich, enthält keinen Gallenfarbstoff. — 24. 2.
Wenig geschlafen. Befinden unverändert schlecht. 10 Uhr Einlauf von 600 ccm
Oel. 12 '/2 ^^^ Einlauf von 1500 ccm lauen Wassers mit etwas NaCl, worauf
etwas Koth entleert wird. Im Laufe des Tages mehrmals Erbrechen brauner,
säuerlich riechender Massen. Abends hoher Einlauf von Wasser mit NaCI,
kommt faculent gefärbt ohne Kothmassen zurück. — 25. 2. Befinden nicht ge-
bessert. Schlaf war schlecht, Erbrechen besteht fort, Temp. bisher normaL
Wegen zunehmender Schwäche Verlegung nach der chirurgischen Station. —
26. 2. Laparotomie in Chi. -Narkose. Schnitt vom Schwertfortsatz bis etwas
unter den Nabel; der in die Bauchhöhle eingeführte Finger gelangt nirgends
auf eine geblähte Darmschlinge, einen Tumor, Strang oder irgend eine Abnor-
mität. Dickdarm massig mit Gas und flüssigen Massen gefüllt. Absuchun^
des Dünndarms: derselbe ist völlig leer und zusammengefallen; an
einer Stelle findet sich — überaus deutlich durch die Wandung fühlbar — ein
Spulwurm in seinem Innern. Schluss der Bauchwunde mit dem Gefühl einer
Beiträge zur Pathologie und Therapie des acuten Darmverschlusses. 11
unnützen und vergeblichen Operation. Im Laufe des Tages kein Erbrechen.
Narkosenachwirkungen leicht; Morphin für die Nacht. — 27. 2. 0,01 Mor-
phium, im Laufe des Tages 3 mal Brühe mit Ei und 2 mal Milch. Puls be-
schleunigt. Temperatur normal. Bei leisem Druck auf den Leib angeblich
Schmerzen. Kein Stuhl, keine Winde, kein Erbrechen. — 28. 2. Status unver-
ändert, kein Stuhl, keine Winde. Peptoncacao, Brühe, Milch ohne Erbrechen
behalten. Morphin 0,01 fiir die Nacht wegen Schlaflosigkeit. — 29. 2. Be-
finden wie gestern; fieberfrei, Puls 112; Abends Morphium.
In der Nacht zum 1. 3. erster spontaner Stuhlgang, am 4. 3. der zweite,
seitdem glatte Genesung. Abgang des Spulwurms hier nicht beobachtet. Ge-
wichtszunahme vom 7.— 14. 3. von 123 auf 131 Pf. Geheilt entl. 18. 3. 1896.
Pat. stellte sich am 16. 1. 1897 in blühendem Gesundheitszustande vor;
er ist seit der Entlassung ans der Klinik stets gesund gewesen und hat nicht
die geringsten Störungen seitens der Verdauung gehabt. Dass ihm ein Einge-
weidewurm abgegangen sei, hat er nicht bemerkt.
U. 6 FUle Ton Einklemmimg:
4 innere Einkleramungen, davon 3 geheilt, 1 gestorben; 2 ver-
borgene Hernien, davon 1 geheilt, 1 gestorben.
Die Beobachtungen sind hier, wie in der Folge, chronologisch
angeordnet.
4. König, Amalie, 34 J., Anklam. Aufgen. 1. 5. Entl. 13. 6. 1891.
Hemia femor. dext. incarcerata. Laparotomie wegen Annahme inneren
Dannverschlusses. Heilung.
Vor 2 Tagen beim Spaziergange plötzlich innerlicher Schmerz, Unver-
mögen, sich weiterhin aufrecht zu erhalten. Im Laufe des heutigen Tages
wiederholt Kothbrechen. Heute Abend Aufnahme in die Klinik.
Befund 1. 5. Abends: Korpulente Frau von wenig kollabirtem Aus-
sehen, klagt über Schmerzen im Abdomen und lokalisirt dieselben ganz be-
stimmt auf eine Stelle zwischen Nabel und Spina ant. sup. sin. Hier ist in
der Tiefe und undeutlich ein Tumor zu fühlen, bei dessen Palpation Pat. in-
tensive Schmerzen angiebt. Durch eine sofortige Magenausspülung werden
reichliche Fäkalmassen entleert. Nach der Entleerung fühlt Patr sich be-
deutend wohler; der schmerzhafte Tumor ist verschwunden, die Ge-
gend desselben auf Druck nicht mehr schmerzhaft. Von weiterem Eingreifen
wird in Folge dessen Abstand genommen. — 2. 5. Ueber Nacht leidliches
Befinden, etwas Aufstossen, kein Erbrechen. Morgens 9 Uhr Erbrechen kothiger
Massen; wiederum Lokalisation von Schmerzen an der bekannten Stelle; Tumor
in der Tiefe nicht so deutlich wie gestern.
Laparotomie (Helferich) sofort ausgeführt. Schnitt median in Nabel-
hohe. Nach Eröffnung der Bauchhöhle quillt stark geblähter Dünndarm hervor.
Bei Verfolgung dieses kommt man schliesslich an ganz koUabirten Darm. In
der rechten Leistengegend fühlt man von innen her den Darm in die Pforto
12 Dr. L. Heidenhain,
einer äusseren Hernie eintreten. Provisorischer Schluss der Baachwunde.
Bruchschniti über einer ganz geringen flachen Resistenz an der rechten Schen-
kelbruchpforte. Hier findet sich eine kleine Darmschlinge eingeklemmt, glück-
licher Weise noch lebensfähig. Radikaloperation des Braches und Schluss der
Bauchwunde. Heilung afebril und glatt.
Epikrise von Prof. Helferich: „Der Fall bestätigt die
alte Regel, dass zunächst nach incarcerirten Hernien geforscht und
der Bruchschriitt gemacht werden muss, wenn nur die geringsten
Zeichen auf eine, solche deuten. Hier war eine ganz geringe, flache
Resistenz rechts an der Schenkelbruchpforte (etwa wie ein Stück-
chen Netz) aber ohne allen Schmerz, sowohl spontanen, wie bei
Berührung. Es erschien eine feine und gut gesicherte Diagnose
eine innere, intraperitoneale Ursache des Ileus anzunehmen. Aber
die Sache entpuppte sich als einfacher Schenkelbruch!'*
Die Beobachtung ist auch noch dadurch von Interesse, dass
sie zeigt, wie geblähter Dünndarm durch eine Magenaus-
spülung völlig entleert werden kann. Die schmerzhafte
Schwellung in der linken Bauchseite, welche am Abend der Auf-
nahme zu fühlen war, entsprach doch sicher dem geblähten zu-
führenden Dünndarm. Nach der Magenspülung, welche reichliche
fäculente Massen entleerte, waren Schwellung und Schmerz ver-
schwunden; für ca. 12 Stunden trat ziemliches Wohlbefinden ein.
5. Johann Walter, 54 J., Arbeiter, Wieck bei Gutzkow, aufgenommen
am 16. 5., gestorben 18. 5. 94.
Acute innere Einklemmung, Laparotomie und Enterostomie. Tod.
Ist früher stets gesund gewesen, hat insbesondere nie Bauchfell-
entzündung oder irgend eine Unterleibserkrankung gehabt. Seit 18 Jahren
besteht eine rechtsseitige Leistenhernie, die durch Bruchband zurück-
gehalten wurde und nie Beschwerden machte. Stuhlgang war stets regel-
mässig. Am 13. 5. Abends erkrankte Pat. plötzlich mit heftigen Leibschmerzen
und dem Gefühl schwerer Erkrankung. Es gingen keine Winde noch Stuhl ab ;
beim Versuche zu essen erbrach er. Am folgenden Tage Erbrechen häufiger,
soll auch kothig gewesen sein. Aufnahme 16. 5. Abends gegen 10 Uhr; vor dem
Transport hatte Pat. eine Morphiumeinspritzung erhalten.
Befund bei der Aufnahme: Leib ziemlich stark aufgetrieben, Leber-
dämpfung etwas verkleinert. Ueber der Symphyse und in beiden Lumbai-
gegenden gedämpfter Schall. Kräftigeres Klopfen ist über dem ganzen Leibe
schmerzhaft, besonders in der rechten Bauchseite etwas unterhalb- der Nabel-
höhe. In derselben Gegend über die Mittellinie hin sich verlierend, besteht
leichtes Hautödem, sodass Fingereindrücke eben noch als bleibende Delle za
sehen sind. Rechter Leistenring für eine Fingerkuppe durchgängig, frei; beim
Beiträge znr Pathologie aod Therapie des acuten Darm verschlusses. 13
Husten, welches keine ScbmerzeD macht, fühlt man in ihm das Anprallen von
BanchinhalL Allgemeinbefinden gut, Pols kräftig aad voll, 94. Nachtwache.
17. 5. War während der ganzen Nacht ruhig, hat etwas geschlafen, kein
Erbrechen gehabt. Erst Morgens 5 Uhr auf einen Schluck Wasser heftiges
kothiges Erbrechen; 10 Uhr dasselbe nochmals. Um 9 Uhr waren auf einen
Einlanf etwas Stuhl und einige Winde, ohne wesentliche Erleichterung
in bringen, abgegangen. Nochmalige Untersuchung Vormittags ergiebt den
gleichen Befand wie Abends Torher; per rectum fühlt man nach links hin eine
geblähte Daimschlinge, nach rechts einige leere Schlingen. Bis 4 Uhr noch
zweimal Erbrechen, deshalb 4 Uhr bei dauernd gatem Pulse (zwischen 80 und
90) Laparotomie (Heidenhain}.
Aethemarkose. Medianschnitt unter dem Nabel. Nach EröfTnang der
Banchhöhle lliesst ziemlich viel röthliche seröse Flüssigkeit ah. Die eingeführte
fland füblt kein Hindemiss. Beim Absuchen des Bauches findet sich in der
rechten Bauchseite etwas unter Nabelhöhe eine stark sugillirte, etwas blau-
rdtblich vererbte, 15 cm lange Dnnndannschlinge mit zahlreichen Ecchymosen
unter der Serosa. Ein Schnürring findet sich nicht. Die Schlinge erscheint
lebensfähig. Offenbar ist dennoch die Schlinge eingeklemmt gewesen. Um
den Eingriff sohneil zu beenden, wird nach dem Hindemiss nicht weiter ge-
sucht. Wegen der ziemlich starken Blähnng des Leibes wird der Diinndarm
dicht oberhalb der eingeklemmt gewesenen Schlinge an die Baucbwand ange-
näht und nach Schluss der Baucbwunde eräffnet; es fliesst nur etwas flüssiger
Koth und wenig Luft ab.
Fig. 2.
Unter Fortdauer der Einklemmnngserscheinungen und ohne dass aus der
Enterostomie wunde genügende Mengen Darminhalt entleert werden, geht Pat.
am Abend des folgenden Tages zu Grunde.
Die Seclion wies nach, dass ein Dünndanndivertikel und der Wurm-
fortsatz durch einen dünnen peritonitischen Strang zu einem King verbunden
14 Dr. L. Heidenhain,
waren, in welchen 3 Dunndarmschlingen hineingeschlüpft waren. Dieselben
fanden sich gangränös. Eine vierte, tiefste Schlinge, welche direct in das
Coecum abführte, trug die Enterostomiewunde. Auch sie war zum Theil
nekrotisch ; offenbar war auch sie eingeklemmt gewesen und bei der Operation
durch irgend welchen Zug befreit worden. Vergl. Bild 2.
Die Krankengeschichte zeigt, dass man Lotterie spielt, wenn
man bei leidlichem Pulse, die wegen acuten Darmverschlusses er-
öffnete Bauchhöhle wieder schliesst, ohne sich mit aller Sicherheit
überzeugt zu haben, dass die Einklemmung gelöst ist. Ich hatte
bei der Operation angenommen, dass in der That die Einklemmung
durch einen zufälligen Zug an der eingeklemmten Sclilinge gelöst
sei und nach dem Sitze der Einklemmung nur darum nicht mehr
forschen woUen, weil ich den Kranken gern so schnell wie mög-
lich in das Bett bringen wollte. Wie leicht wäre es gewesen, die
noch fortbestehende, unmittelbar benachbarte Einklemmung zu
finden! Die Enterostomie am Dünndann nach anscheinend gelöster
Einklemmung geschah, um den überfüllten Darm möglichst schnell
zu entleeren. Denn schon damals hatte ich die üeberzeugung, dass
ein sehr grosser Theil der an Darmverschluss operirten Kranken
an nichts anderem, als der ungenügenden Entleerung des Darmes
mit ihren Folgen zu Grunde geht. Im Verlaufe der practischen
Erfahrung bin ich dann zur Entleerung des Darmes auf dem Tische
und zur baldigen Verabreichung eines Laxans nach der Operation
übergegangen. Gerade die Enterostomirten sind mir alle gestorben
— allerdings wohl ein ZufaU.
6. Grimm, 54 J., Eigenthümerfrau , Teterin bei Anklam, aufgenommen
am 3. 3. entlassen am 6. 4. 95. Innere Einklemmung durch Strang.
Vor 9 Jahren, angeblich beim Uebersteigen eines Grabens, entstand ein
wallnussgrosser Schenkelbruch, der sich stets zurückbringen Hess. Bruchband
nicht getragen. 1. 3. Abends, als sie sich zu Bette legte, bemerkte sie den
Bruch nicht mehr. Ueber Nacht schon stellton sich Leibschmerzen und Er-
brechen ein. Zur Klinik gesendet von Dr. Brüning- Anklam.
Befund am 3. 3.: Kann unter Schmerzen noch gehen, sieht verfallen
und elend aus; Puls schwach, Herz und Lungen normal.
Rechterseits ein offener, für einen Finger durchgängiger Cruralkanal;
keine Hernie fühlbar. Abdomen ungleichmässig gefüllt. In seiner rechten
Seite lagert ein grösseres Packet von Darmschlingen, welche die Bauch-
wandung etwas hervorwölben. Hier sind auch stark gefüllte Schlingen durch-
tastbar.
Bei dem klaren Befund unmittelbar in Aethemarkose Eröffnung des
Leibes am rechten Rectusrande (Helferich), llinderniss schnell gefunden:
Beiträge zur Pathologie und Therapie des acaten Darm verschlusses. 15
die unterste 15 cm lange Ileamschlinge ist durch einen peritonitischen Strang
eingeklemmt and um 180^ gedreht. Vergl. Bild 3. Rückdrehung, Trennung
des Stranges. Abführender Schenkel geht direct in das Coecum über. Koth-
passage erfolgt sofort. Verlauf glatt: erste Flatus am folgenden Tage; spon-
taner Stahlgang am 4. Tage post op. Geheilt entlassen am 6. 4. 95.
Fig. 3.
^fÜTTm^
7. Alwine Müller, 45 J., Usedom, aufgenommen am 7. 9., gestorben am
8. 9. 95. Ileus durch gangränösen interstitiellen Leistenbruch (Darmwand-
bruch). Tod.
Nie krank gewesen. Am 2. 9. Nachmittags Leibschmerzen, die keinen
bevorzugten Sitz hatten. Von da ab Stuhl und Flatus angehalten. Erbrechen
schon in der folgenden Nacht; andauernde Steigerung desselben; 6. 9. Koth-
erbrechen. Vom Hausarzt wiederholt verordnete Abführmittel riefen nur grössere
Schmerzen hervor und wirkten nicht. 7. 9. zur Klinik gesandt.
Befand 7. 9.: Grosse, fettleibige, kräftige Frau. Gesiohtsaasdruck sehr
leidend, Augen tiefliegend, Stimme klanglos; Fat. ist sehr matt; Puls 100,
massig kräftig; Kotherbrechen. Leib aufgetrieben, links etwas mehr, als
rechts, giebt lauten tympanitischen Schall; Lebergrenze am Rippenbogen;
Spannung des Leibes noch nicht trommelartig. Ileocoecalgegend nicht be-
sonders druckempfindlich. Alle Bruchpforten, auch obturatoria, frei. In der
Ileocoecalgegend hört man Darmgeräusche, die auf Reiben des Leibes deut-
licher und zahlreicher werden.
Diagnose: Innere Einklemmung, Sitz ganz unsicher.
Bei der Laparotomie (Hei den hain) drängen sich mit Eröffnung des
Leibes sofort einige weit aufgeblähte Dünndarmschlingen hervor, neben welchen
eng contrahirte, hundedarmähnliche sichtbar sind. Der geblähte Darm zieht
nach der rechten Leistengegend und ist in der Nähe der Leistenbruchpforte,
anscheinend spitzwinkelig, abgeknickt, fest an die Bauchwand, geheftet. Bei
näherem Zusehen und Zufühlen ergiebt sich eine Hernie, welche durch eine
noch nicht bleistiftstarke Bruchöifnung ausgetreten ist; von aussen lässt sich
wegen der Dicke der sehr fetten Bauohdecken nichts von der Hernie fühlen.
Umstopfung der Brachpforte von innen und Incision des eingeklemmenden
Ringes. Entwickelung eines brandigen Darmwandbruohes, Eröffnung
des interstitiell gelegenen Bruchsackes von aussen her und Durchziehen eines
16 Dr. L. Heidenhain,
Jodoformmullstreifens durch ihn (Drainage) von innen her; (Brachsack eben-
falls nekrotisch). Schluss der Baachwande anter Anheftung der nekrotischen
Schlinge an die Bauchwand and Enter ostomie, am den Darminhalt mög-
lichst zu entleeren. Trotz baldiger Verabreichung von schwarzem Oaffee mit
Ricinus entleert sich aus der Enterostomie nur wenig Koth; die Herzschwäche
nimmt trotz starker Excitation immer mehr zu. Tod 8 Stunden nach Beendigung
der Operation.
Diese Beobachtung ist ohne weiteres als innere Einklemmung,
wenigstens vom praktischen Standpunkte aus zu rechnen. Einen
eingeklemmten interstitiellen Darmwandbruch bei einer fetten Frau
kann wohl Niemand diagnosticiren. Fünftägige Einklemmung, be-
handelt mit Abführmitteln, Dann brandig, allgemeiner Verfall: die
Kranke war nicht zu retten. Narkose und Operation waren nicht
die Todesursache. Leute mit brandigen Hernien im Spätstadium
sterben, wenn man sie ohne Narkose operirt, auch meist. Die
Operation ging schnell. Wir setzten die Hoffnung auf schleunige
Entleerung des Darmes, allein derselbe war schon paralytisch; es
entleerte sich durch die Enterostomie wenig mehr.
Der folgende Fall von innerer Einklemmung mit Achsendrehung
des Darmes nach Dickdarmresection wegen Carcinoma coeci, ist
schon im Centralblatt für Chiinirgie, 1896, No. 46, mitgetheilt.
8. Der 43jährige Arbeiter Wilhelm Schröder aus Verchen wurde am
11. 6. 96 durch Herrn Kreisphysikus Dr. Di et er ich wegen eines Tumors in
der Coecalgegend der chirurgischen Klinik zugesendet. Bei der am 15. 6. vor-
genommenen Operation (Prof. Helfer ich) ergab sich derselbe als ein Car-
einem des Coecums. Coecum und Colon asc. bis zur Flexura coli hepatica
mussten entfernt werden. Das Colon transversum wurde blind vernäht und das
getrennte Ileum seitlich in das Colon implantirt. JodoformmuUtampon auf die
Nahtstelle, im Uebrigen primärer Schluss der Bauchwunde. Darmnaht hielt;
glatte Heilung. Entlassen nach vollkommener Vernarbung der Wunde und
ohne Bauch brach am 1. 8. 96.
Sonntag, 9. 8. % Morgens, bekam Pat. plötzlich heftige stechende und
schneidende Schmerzen im Leibe, und zwar um den Nabel herum und links
unterhalb desselben. Er musste sich zu Bett legen. Stuhl und Winde waren
angehalten, es trat Erbrechen ein. Pat. konnte gar nichts gemessen. Dieser
Zustand dauerte bis Mittwoch, an welchem Tage einige Flatus und wenig Stuhl
abgingen. Allein die Schmerzen dauerten nur wenig abgeschwächt fort. Appetit-
losigkeit hielt an ; von Zeit zu Zeit wurden noch geringe schleimige Massen er-
brochen. Letzter spärlicher Stuhl Sonnabend 15. 8., Morgens. Am Abend dieses
Tages Aufnahme in die Klinik. Hier wurde sofort ein hoher Einlauf gemacht,
aber ohne Erfolg.
Status vom 16. 8. Morgens 10 Yg Uhr: Mittelgrosser Mann mit gut ent-
Beiträge idt Pathologie und Therapie des acuten Darniverscblus
17
wickelterHuskalaturuad gutem Fettpolster, initgntem, nur wenig beschleunigtem
Pulse. An der rechten Seite des Abdomens zieht ungefähr in der HammillarHoie
Tom Rippenbogen bis znr Spina ant. sup. die Narbe der ersten Operation.
Etwa alle 5 Hinuten, gelegentlich auch nach längerer Pause, treten lebhafte
, Kolikscbmerzen ein. Die gesammte untere Hälfte des Abdomens vom Nabel
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an abwärts ist stark halbkugelig hervorgewölbt, ohne dass besondere Einwl-
heiten an dieser Hervorwölbnng zu bemerken sind. Gelegentlich sieht man hier
nad da sich lebhaft bewegende Darmschlingen. Das Epigastrium bis
inm Kabel herunter ist flach : unterer Hand der Leberdümpfung am Rippen-
bogen. In beiden Lendengegenden fast völlig gedämpfter Schall, der bei Seiton-
lage sich aufhellt, also Ascites. Palpation des Abdomens ergiebt nichts Be-
sonderes; Rectalantersucbung verabsäumt. Unmittelbar nach der Untersuchung
reichliches kothiges Erbrechen.
lidilT »r klln. Chirurgie. Bd. 67. Haft I. 2
18 Dr. L. Heidenhain,
Bei der schon 8 Tage langen Dauer der Erkrankung war nicht anzu-
nehmen, dass ohne Operation Heilung eintreten werde, zumal da der hohe Ein-
lauf völlig erfolglos gewesen. Im Gegentheil wies der Ascites darauf hin, dass
die Prognose sich schon ernst gestalte. Ich nahm an, dass an der Operations-
stelle sich ein Dunndarmverschluss irgend welcher Art finden werde und fährte .
in Vertretung von Prof. Helferich die Operation sofort aus.
11 V2 Uhr nach Magenausspülung Chlorofonnnarkose , welche nach Ein-
treten der Anästhesie durch Aether fortgesetzt wird. Hautschnitt parallel der
Narbe und 2 Finger breit medial von dieser. Die Eröffnung der freien Peri-
tonealhöhle macht etliche Schwierigkeiten, da von der medialen Seite her Netz
und von der lateralen her Dünndarmschlingen der Bauchwand adhärent sind.
Es drängen sich sofort etliche stark geblähte Dünndarmschlingen in die Wunde
und um einige Uebersicht zu erlangen, muss der Bauchschnitt bis zum Rippen-
bogen und zum Lig. Pouparti verlängert werden. Im oberen Wundwinkel liegt
jetzt der Stumpf des Colon transversum, in welchen der Dünndarm einmündet.
Ungefähr 4 cm vor der Einmündung in das Colon ist der Dünndarm bis zum
Verschwinden des Lumens um seine eigene Längsachse gedreht. Von diesem
Umdrehungspunkte aus zieht nach abwärts, rückwärts und medialwärts ein
stark gespannter Strang, welcher sich beim näheren Zusehen als der freie Rand
des Mesenterium erweist. (Trennungsstelle des Mesenterium bei der Darm-
resection.) Diesseits, d. i. central von der Torsionsstelle, sind die Dünndarm-
sohlingen stark gebläht. Diese nächstgelegen cn starken Dünndarmschlingen
werden aus dem Bauche hervorgezogen, und es zeigt sich nun, dass eine etwa
75cm lange Darmschlinge durch einen zwischen dem freien Mesenterialrande
und dem Colonstumpf verbliebenen Spalt hin durchgeschlüpft ist, wodurch die
oben geschilderte Torsion entstand (vergl. Bild 4)*). Die hindurchgeschlüpfte
Schlinge ist im Uebrigen nicht oder nur ausserordentlich wenig in dem Spalt
comprimirt, so dass der Darmverschluss allein durch die Torsion hervorgerufen
wurde. Circulationsstörungen bestehen trotzdem: die vorliegenden Dünndarm-
schlingen sind geröthet; die Bauchhöhle enthält nicht unbeträchtliche Mengen
blutigen Ascites. Lösung der Torsion von etwa 270^ durch Hervorziehen der
Schlinge aus dem Spalt. Ante reductionem lag die Schlinge lateral vom Me-
senterium, zwischen diesem und der seitlichen Bauchwand und obenauf, be-
deckte den übrigen Dünndarm. Eine vollkommene Reduction der Schlinge ist
nicht möglich, da ihr zuführender Schenkel gleichzeitig mit einem 2 faust-
grossen Convolut geblähter Dünndarmschlingen durch untrennbare Ver-
wachsungen an der seitlichen Bauchwand fixirt ist. (Eine Lösung dieser würde
jedenfalls den Fortgang der Operation ungebührlich aufgehalten haben.) Es
entspricht diese Stelle ungefähr der Wundfläche, welche durch Exstirpation
des obersten Theiles des Colon asc. entstand (vergl. Bild 5). Es wird nun
zunächst der freie Mesenterialrand mit einer fortlaufenden Catgutnaht an die
Wand des zuführenden fixirten Schiingenschenkels der Länge lang festgenäht,
um den Mesenterialspalt zu schliessen. Demnächst Eröffnung des zuführenden
*) Diese Skizzen sind stark schematisch; sie mussten Dinge darstellen,
die nicht zu sehen, sondern nur zu fühlen waren, wie die Radix mesenterii.
Beiträge zur Pathologie nnd Therapie des acuten Darmverschlnsses. 19
fixirten Schlingenschenkels durch einen Querschnitt an der Convexität, um die
stark gefüllten, deshalb auch kaum reponirbaren Dünndarmschlingen zu ent-
leeren: Abfliessen einer Menge Gase und eines Eiterbeckens flüssigen Darm-
inhaltes; Reposition der grossen eventrirten Schlinge. Wegen Gefahr einer
demnächstigen Compression des zuführenden fixirten Schlingenschenkels durch
sich entwickelnde Narbenmassen wird mit dem Murphy knöpf unter Benutzung
des schon vorhandenen Einschnittes eine laterale Anastomose zwischen dem
zuführenden fixirten Schlingenschenkel und der abführenden Schlinge dicht
oberhalb der Einmündung in das Colon hergestellt. Die Verwendung des
Knopfes war zur Aufrechterhaltung der Asepsis dringend nothwendig. Es
ragte nämlich (s. Bild 5) von der zuführenden Schlinge nur die Kuppe hervor,
und aus dem Einschnitt entleerte sich fortdauernd Darminhalt, da es un-
möglich war, die zuführende Schlinge durch Digitalcompression oder gar
anders sicher abzuschli essen. Durch Einführung einer vorläufig verstopften
Knopfhälfte wurde der Darminhalt zurückgehalten. Leider zeigte sich nach
Schluss des Murphy, dass ein stecknadelkopfgrosses Stückchen Schleimhaut
noch nach aussen hervorragte; zudem war die laterale Wand des zuführenden
fixirten Schlingenschenkels durch einen ziemlich tiefen Einriss beschädigt.
Die begonnene üebernähung der beiden gefährdeten Stellen musste ich auf-
geben , weil dadurch das Darmlumen um den Knopf herum zu völligem Ver-
schwinden gebracht worden wäre. Doch wiesen diese Stellen nach aussen;
ringsum war die Anastomose sicher. — Jodoformmulltampon gegen die gefähr-
dete Stelle. Schluss der übrigen Bauchwunde durch Etagennähte. Operations-
dauer 2 Stunden, Ende lV2Uhr. Befinden am Schlüsse gut.
2 Stunden nach dem Erwachen schwarzer Kaffee mit Ricinusöl gegeben;
Abends 6 Uhr Magen ausspülung zur Entlastung des Darmes, da noch kein
Flatus abgegangen.
Auch am folgenden Tage, 17. August, noch keine Flatus bei gutem Be-
finden ohne Erbrechen; deswegen eine Magenausspülung. Es war sicher,
dass der Murphy die Passage wesentlich hemmte. (Vergl. Fall 15.)
18. August erste Flatus. Nachmittags mehrfach Stuhlgang.
In den folgenden Tagen Durchfall. Bei fieberlosem Verlaufe entwickelte
sich die erwartete Darmfistel, durch welche am 26. 8. der Knopf extrahirt wird.
Schluss der Darmfistel durch Naht in 2 Etagen am 28. Sept. in Narkose.
31. October geheilt in vortrefflichem Ernährungszustande entlassen.
Ein analoger Fall von Darmeinklcmmung in dem Mesenterial-
spalte ist kurz nach dem meinen von Braun- Göttingen mitgetheilt
worden. Es ist zweifelsohne nöthig, dass in jedem Falle von
Darmresection der entstandene Mesenterialspalt geschlossen wird,
um so unangenehmen Ereignissen zuvorzukommen. Die bei Re-
section des Coecum und Colon asc. entstandene, recht breite Spalte
lässt sich, wie ich neulich in praxi nach Resection einer chronischen
Invagination erprobt habe, sehr leicht und gut durch Einnähung
eines Tbeiles des dicht anliegenden grossen Netzes verschliessen.
2*
20 Dr. L. Heidenhain,
ü. Johanna Parow, 69 J., Wieck a. D. Aufgen. 23. 9. Entl. 14. 10. 1896.
Innere Einklemmung in eine abnorme Peritonealtasche an der rechten
Seite der Harnblase. Laparotomie; Heilung.
Geschickt von Herrn Dr. Reinecke-Prerow a. D. Rechtsseitiger Leisten-
bruch besteht seit 2 Jahren, war bisher nie eingeklemmt. Stuhl bisher immer
regelmässig; nie krank gewesen, insbesondere keine Bauchfellentzündungen,
kein Kindbettfieber. Am 21. 9. 96 Mittags klemmte sich der Leistenbruch an-
geblich ein: Pat. hatte ihn jedoch bei Ankunft des CoUegen schon selbst re-
ponirt; Schmerzen und Einklemmungsersch einungen fehlten vollständig. In
der Nacht zum 22. 9. viel Schmerzen, mehrmals Erbrechen, keine Winde. Seit
dem 22. 9. besteht auch Urindrang; es kann dabei nur wenig gelassen werden
und gleichzeitig treten Schmerzen in der rechten Leistengegend auf. Wider
den dringenden Rath des Herrn Collegen wurde die Ueberführung in die Klinik
noch einen ganzen Tag verzögert.
Befund am 23. 9. Nachmittags: alte Frau, massig kollabirt. Puls 80
und schwach gespannt, Bronchitis, jammert viel über Leibschmerzen. Leib
nicht aufgetrieben, einzelne Darmschlingen zeichnen sich äusserlich nicht ab;
öfters Kollern und dabei Kolikschmerzen; Erbrechen; Stuhl und Winde völlig
angehalten. Rechte Leistenbruchpforte für eine Zeigefingerspitze durchgängig
und frei. Bei Husten und Pressen drängt sich eine Darmschlinge mit der
Kuppe in den Leistenkanal, geht aber leicht zurück, ebenso ein rundes, in die
Bauchhöhle sich fortsetzendes Gebilde von weicher Consistenz. Letzteres bleibt
aber auch nach Reposition im Grunde der Bruchpforte eben fühlbar; es ist
nicht druckempfindlich. Per vaginam fühlt man im Abdomen in der Gegend
der rechten Leistenbruchpforte eine pralle, druckempfindliche Resistenz: bei
bimanueller Untersuchung kommt man hier mit den Fingerspitzen nicht zu-
sammen. Ob dies eine gespannte, ev. eingeklemmte Darmschlinge sei, ist durch
das Gefühl nicht zu entscheiden. Urin wird unter Drang und Schmerzen nur
ganz wenig auf einmal gelassen.
Diagnose: Reposition en bloc oder Hernia praeperitonealis.
Operation sofort (Heidenhain) in Chloroformnarkose. Schnitt am
äusseren Rande des rechten Rectus, endend am Lig. Poupartii. Nach Eröffnung
des Peritoneums fühlt man an der vorderen Wand des Beckens zur rechten
Seite der Blase einen fast faustgrossen Tumor. Bei näherem Zusehen zeigt
sich, dass durch eine ungefähr in der Höhe des Lig. Poupartii oder etwas
unter ihm liegende ca. zweimarkgrosse Oeffnung eine Darmschlinge in eine
anscheinend präperitoneal gelegene Tasche eintritt und in dieser Oeffnung
fest eingeklemmt ist. Abschliessung der freien Bauchhöhle durch Tücher.
Einkerbung des einklemmenden Ringes nach oben, worauf sofort Bruch wasser
hervorstürzt. Bei ausgiebiger Erweiterung der Bruchpforte wird die Art. epi-
gastrica, welche aussen und oben am einschnürenden Ringe ver-
läuft, durchschnitten. Es wird eine 10 cm lange, stark sugillirte Dünndarm-
schlinge mit massigen Schnürfurchen entwickelt, deren Peristaltik schnell
wiederkehrt. Die Untersuchung des abnormen Bruchsackes zeigt Folgendes :
er verläuft nach medial und abwärts und ist der rechten Wand der Harn-
Beiträge zur Pathologie und Therapie des acuten Darm verschlusses. 21
blase, welche nach rechts lateral verlagert and in Form eines
grossen Divertikels ausgezogen ist, angelagert. Die Tasche liegt an-
scheinend intraperitoneal und zwar ist sie gebildet medial durch das Peri-
toneum der Blase, nach vorn durch das Peritoneum parietale des Beckens,
nach rückwärts und nach lateralwärts durch eine Peritonealduplicatur. Der
Grund der Tasche liegt tief im kleinen Becken, ca. 15 cm von der
Oberfläche entfernt. Leistenbruchpforte frei. Leider ist über die genaue Lage
dieser zu der abnormen Tasche keine Notiz gemacht. Doch ist ganz sicher,
dass der Eingang in die letztere medial von der Epigastrica lag. Der untere
Rand des einschnürenden Ringes (obere Rand der Peritonealduplicatur) war
scharf halbmondförmig und narbig weiss.
Die eingeklemmte Schlinge konnte versenkt werden. Die Peritonealwunde
wurde ganz geschlossen, die Umrandung des Bruchsackes in den unteren
Wandwinkel eingenäht und der Sack drainirt, die Bauchwunde bis auf den
unteren Winkel, durch welchen das Drain herausging, mit Etagennähten ge-
schlossen. Glatter afebriler Verlauf. Da bei sonst gutem Befinden keine Winde
abgingen, am Tage post op. Mittags Ol. Ricini; darauf Nachts zahlreiche
Stühle. Vernarbt entl. 14. 10. 1896.
Diese Krankengeschichte ist schon in der Dissertation von
Otto Kaufmann^) „Ueber abnorme Bauchfelltaschen und einen
Fall von Hemia interna paravesicalis incarcerata" mitgetheilt.
Ueber die anatomischen Verhältnisse dieser abnormen Taschen ist
dort eine recht gute, wenn auch kurze Uebersicht gegeben. Ich
möchte hier noch darauf aufmerksam machen, dass die gründliche
Untersuchung per vaginam und per rectum uns häufig sehr wesent-
liche Aufschlüsse gegeben hat. Bald fühlt man durch die vordere
Wand des Mastdarms leere, hart contrahirte Dünndarmschlingen,
als ein Zeichen, dass der Verschluss im Dünndarm liegt, bald ein
Convolut stark druckempfindlicher Darmschlingen, welche ganz fest
liegen und oflfenbar die eingeklemmten selbst sind, wie in diesem Falle,
oder deneingeklemmten unmittelbar benachbart. Wir haben bei solchem
positiven Befunde das sofortige Eingreifen nie zu bereuen gehabt.
III. 8 FfUle Ton Darmstenosen
durch verschiedenartige peritoneale Bänder und Stränge.
4 geheilt, i gestorben.
Der erste der nachfolgenden Fälle ist im ersten Theile meiner
Arbeit fälschlich unter die „Darmlälimungen" gerechnet. Es ist
bei genauerer Betrachtung des Sectionsbefundes wohl kein Zweifel,
>) Greiiswald 1897.
22 Dr. L. Heidenhain,
dass eine winklige Abknickung des Darms durch Adhäsion die
Ursache der Erkrankung gewesen ist.
In den ersten drei Fällen begann die Erkrankung acut mit
heftigen und andauernden Schmerzen, ganz wie bei einer Incarce-
ration. Ich glaube, dass, wenn unter innerer Therapie eine ver-
meintliche innere Einklemmung zur Heilung kommt, und dass dies
möglich sei, wird ja vielfach behauptet, es sich allemal um eine
Darmstenose mit acutem Einsetzen der Verschlusssymptome ge-
handelt hat. Im vierten Falle (No. 13) waren die Symptome
ähnlich, jedoch die Stenose im Gegensatze zur Einklemmung schon
mit aller Sicherheit zu erkennen. Bei No. 14 fehlt eine genauere,
zur Diagnose gut verwerthbare Anamnese, in den Fällen 15 — 17
war die Darmstenose unverkennbar. Der Kranke Erdmann (No. 11)
hatte 5 Jahre vor der tödtlichen Erkrankung schon einmal eine
ähnliche, ebenfalls acut beginnende, aber in Genesung ausgehende,
durchgemacht. In der Zwischenzeit zwischen den beiden Erkran-
kungen war er völlig gesund. Wer den inneren Einklemmungen
nachspürt, die er durch innere Therapie geheilt hat, wird in vielen
FäUen finden, dass die Kranken an einem Recidiv zu Grunde ge-
gangen sind. Davon bin ich fest überzeugt.
Sehr bemerkenswerth ist, dass in nur zwei unserer 8 Fälle
von Darmstenose durch chronische Peritonitis (No. H, Hernie und
No. 17, Peritonitis tuberculosa) sich die Ursache der chronischen
Bauchfellentzündung ermitteln Hess. Die Kranken hatten weder
Perityphlitis, noch Verletzungen des Bauches, Typhus, Ruhr oder
eine ähnliche Erkrankung durchgemacht. Es ist also bei Stellung
der Diagnose auf einen negativen Ausfall dieses Theiles der
Anamnese kein Werth zu legen. Beachtenswerth ist schliesslich die
Häufigkeit dieser Form von Darmstenosen: wir haben sie 8 Mal
unter dreissig operirten Fällen gesehen.
W. Wilhelmine Gärtner, 74 J., aufgenommen 28. 5., gestorben 30. 5. 91.
Acuter Darmverschloss zweifelhafter Genese.
Fat. warde in hiesiger Augenklinik an Kerato-Iritis sin. behandelt. Gestern
Morgen plötzlich heftige Schmerzen im Leibe und Erbrechen ; heute Morgen Er-
brechen von Koth.
Aufnahmebefand 28. 5. Mittags: Senile schwächliche Frau von kollabirtem
Aussehen. Abdomen massig aufgetrieben ; ein intensives Schmerzgefühl wird
angegeben bei Palpation eines Punktes zwischen Nabel und Spina ant. sup.
sin., ohne dass daselbst etwas Abnormes zu fühlen wäre. In der rechten
fieiträge zur Pathologie and Therapie des acuten Darmverschiasses. 23
Sohenkelbeuge ist ein länglicher, derber, schmerzloser Wulst za fühlen, der
schräg über die Gewisse verläuft und unterhalb des Lig. Poupartii ziemlich
verschieblich ist. Er scheint sich in die Bauchhöhle fortzusetzen and ist in
der That per rectum deutlich zu fühlen.
Sofortige Magenausspülung fördert gelblich-grünliche Massen ; hoher Darm-
einlanf fordert nichts. Patient fühlt sich hiernach bedeutend besser; die
Schmerzhaftigkeit des Abdomens ist geschwanden. Abends wiederum Schmerzen
im Abdomen und Aufstossen gefolgt von kothigem Erbrechen. Narkose, Lapa-
rot4)mie in der Mittellinie (Helferich). Nach Eröffnung des Peritoneums wölbt
sich stark aufgetriebener Dünndarm hervor, der hervorgezogen und abgesucht
wird; die Dünndarmschlingen zeigen an verschiedenen Stellen Auflagerungen
und Verklebungen. Allmälig werden sie immer dünner und gehen in blasse,
kollabirte Schlingen über, ohne dass ein Hindemiss erschienen wäre. Bei der
Palpation der rechten Leisten öffnang ergiebt sich, dass ein Zipfel Netz nach
aussen durchgeht: Herniotomie, Lösung dieses adhärirenden Netzstranges; der-
selbe wird abgebunden. Mit ihm zugleich wird in der Herniotomiewunde ein
woisslicher, platter, solider, federkieldicker Strang isolirt, der auch in die
Bauchhöhle verläuft. Durchtrennung desselben nach doppelter Unterbindung.
Schluss der Wanden. 29. 5. Morgens leidliches Wohlbefinden; kein Erbrechen
über Nacht, jedoch Schmerzen im Bauch. Keine Flatus, trotz hoch in den Mast-
darm vorgeschobenen Darmrohres. Leib etwas aufgetrieben. Verband muss
Mittags etwas gelockert werden. Abends 6 Uhr Schmerzen im Leib, Erbrechen
missfarbiger, nicht fäculent riechender Massen. Dabei keine Flatus. In der
Vorstellung, dass ein Hindemiss übersehen sein könne, wird der Leib noch-
mals eröffnet. Der Darm zeigt an seiner Oberfläche deutliche Zeichen von
Peritonitis, ist bis zum Colon asc. mit Koth gefüllt und aufgebläht, von da ab bis
zum Mastdarm leer, ohne irgend ein Zeichen von Unwegsamkeit. Schluss der Bauch-
wunde. Unter Zunahme der peritonitischen Erscheinungen Nachts Yg^ ^^^ "^^^^
Section (Dr. Kruse): Magere weibliche Leiche mit dürftiger Muskulatur
und massiger Totenstarre. Das Abdomen ist aufgetrieben. Vom Schwertfort-
satz abwärts ist eine durch Nähte geschlossene Laparotomiewunde sichtbar.
Die Wundränder zeigen nach Lösung der Nähte eine verwaschen röthiiche
Färbung. Das parietale Peritoneum ist an der vorderen Bauchwand vonHäroorr-
bagien durchsetzt. Nach Eröffnung der Bauchhöhle sieht man stark ausgedehnte
Dunndarmschlingen, welche unter einander durch zarte Fibrinmassen verklebt
sind. Netz stark geröthet, gleichfalls am Dünndarm festgelöthet, am rechten
Rande mit zwei Ligaturen versorgt. Die Verklebungen des Dünndarms lassen
sich leicht lösen. Die Fai'be der Darmschlingen ist grauroth bis röthlich, ihre
Oberfläche an vielen Stellen mit einem zarten Fibrinbelage versehen. Beim
Loslosen des Darmes vom Mesenterium zeigt sich, dass der Dünndarm in seiner
ganzen Ausdehnung bis auf die letzten zwei Centimeier des Ileum durch Gas
and flüssigen Inhalt stark erweitert ist. Auf dem Boden des kleinen Beckens
finden sich einige ccm. trüber, röthlicher Flüssigkeit. Das Cöcum, Colon asc.
und der grösste Theil des Colon transversum sind stark erweitert. S romanum
und Kectum retrahirt und leer. Stand des Zwerchfells rechts vierte, links fünfte
24 Dr. L. Heidenhain,
Rippe. Im Colon asc. einige kleine Kothballen. 2Y2 Meter oberhalb der
Bauhini 'sehen Klappe, etwa 2 cm vom Mesenterialansatze entfernt findet sich
auf der Aussenfläohe des Darmes ein mit Catgntligatar versorgter Stumpf um-
geben von stark gefüllten kleinsten Blutgefässen. Die weitere Umgebung dieser
Stelle zeigt eine verwaschen grauröthliche Farbe. Die Basis des Stumpfes selbst
sieht opak grau aus. Die Serosa ist matt mit einem zarten Fibrinbelag, die
Schleimhaut an der entsprechenden Stelle lebhaft geröthet. In der rechten
Inguinalgegend eine durch Nähte verschlossene Operationswunde von gutem
Aussehen. Ihr entspricht innen eine gleichfalls gut aussehende Nahtstelle im
Peritoneum, aus deren Grunde ein Stück fetthaltiges Gewebe herausragt.
Das Rectum ist leer. Ungefähr 10 cm. oberhalb des Anus befindet sich
eine 16 Mm. lange, ungefähr 7 Mm. breite Oeffnung, durch welche man in eine
kleine Höhle gelangt, in der ein halbes Fingerglied reichlich Platz hat. Beim
Aufguss von Wasser flottiren die Ränder. Am oberen und unteren Ende sieht
man in der Tiefe zarte, weisse, querverlaufende Streifen. Der Grund der Höhle
ist von grauröthlichem Blut und gelblichem Fettgewebe gebildet, in- welchem
man Blutgefässe verlaufen sieht. Die Schleimhaut der Umgebung zeigt einen
schwachen Grad von Röthung. Die übrige Schleimhaut ist grau. Auf der
Aussenfläche des Rectums entspricht der Höhle eine Stelle der Vorderwand,
im Douglas, 5 cm. über dessen tiefstem Punkte gelegen. Man sieht hier in
einem Kreise von etwa einem Centimeter Durchmesser zarte, mit Blut gefüllte
Gefasschen, sonst keine Veränderung der Serosa.
AnatomischeDiagnose. Laparotomia, Peritonitis fibrinosa, Nekrosis
circumscripta in testin i, Resectio omenti maj., Oedema pulmonum, Broncho-
pneumonia pulmon. d. inf. , Haemorrhagiae subpleurales et subpericardiales,
Endocarditis chron. deformans, Hypertrophia ventriculi sin. oordis, Cicatrices et
ulceraventriculi, Endocarditis coronaria, Cicatrices renüm, Atrophiafusca hepatis.
II. Wilhelm Erdmann, 39 J. Alt-Plestlin, aufgen. 8. 10. gest. 9. 10. 91.
Dai-m verschluss durch alte peri tonitische Stränge. Laparotomie. Tod an
Lungenoedem.
Ist bis vor 5 Jahren nie krank gewesen. Damals erkrankte er
an Magenschmerzen (der Pommer bezeichnet mit „Magen" das ge-
sammte Abdomen!) und Erbrechen; der Stuhlgang blieb acht Tage aus und
erfolgte erst auf Verabreichung einer Medicin. Danach besserte sich sein Be-
finden sehr schnell. Die folgenden 5 Jahre war Fat. gesund. Am 23. 9., also
vor 15 Tagen, erkrankte er plötzlich unter heftigen Leibschmerzen mit Er-
brechen, der Leib schwoll in den nächsten Tagen an, Stuhlgang erfolgte trotz
Einnahme von Abführmitteln nicht bis zum 4. 10., an welchem Tage er in die
medicinische Klinik aufgenommen wurde. 4. 10. Einlauf, kein Stuhlgang;
5. 10. Einlauf, wenig Stuhl; 7. 10. wenig Stuhl unter starken Schmerzen im
Leibe. Oleum ricini mit Ol. crotonis ohne Erfolg. Wegen Steigerung der
Schmerzen auf die chirurgische Klinik verlegt. (Die letzte Medication war in
Abwesenheit des Directors der med. Klinik durch einen jungen Assistenten auf
eigene Faust eingeschlagen).
8. 10. Abends 7 Uhr liegt Pat. wegen Koliken andauernd stöhnend im
Beiträge zur Pathologie and Therapie des acuten Darmverscblusses. 25
Bette. Temp. 36, Puls ca. 80, massig kräftig. Auf dem Betttischchen stehen
ca. 500 ccm dünner iaculenter Flüssigkeit, die eben erbrochen wurde. Bauch
stark aufgetrieben; die Umrisse einzelner Darmschlingen zeichnen sich durch
die Bauchdecken deutlich ab, hier und da sind peristal tische Bewegungen an
ihnen zu erkennen. Oberhalb des Nabels läuft quer durch den Bauch eine stark
gespannte, sich hervorwölbende Darmschlinge, welche das Quercolon zu sein
scheint. Perkutorisch in der oberen und der linken Hälfte des Bauches hoch
tympani tisch er Schall, während in dem rechten unteren Viertel sich stark ge-
dämpft tympanitischer Ton findet. Per Rectum fühlt man im Douglas ein Packet
ziemlich prall gespannter, auf Druck sehr emp6ndlichor Darmschlingen von
anscheinend stark Faustgrösse. Diffuse Schmerzhaftigkeit des Bauches besteht
nicht. Pat. kann sich nicht entsinnen, dass ihm in den letzten Tagen Winde
abgegangen seien.
Der Verlauf im Verein mit der Anamnese sprach ziemlich deutlich für
eine D ärmsten ose. In Anbetracht der schon 15tägigen Dauer des Ileus, des
Untersuch ongsbefundes per Rectum, des noch guten Pulses, der fehlenden Peri-
tonitis wird sofortige Laparotomie beschlossen.
8 Uhr nach Bad und Magenausspülung, die nur wenig entleerte, in
Morphinm-Chloroformnarkose bei Beckenhochlagerung Bauchschnitt (Heiden-
hain) in der Mittellinie von der Symphyse bis etwas über den Nabel. Nach
Eröffnung des Leibes drängten sich sofort einige bis zu einem Durohmesser von
drei Fingerbreiten aufgetriebene Darmschlingen hervor. Die Untersuchung mit
der eingeführten Hand zeigte, dass die rechte Seite des ganzen grossen und
der Eingang des kleinen Beckens mit geblähten Dünndarmschlingen erfüllt war.
Dieselben wurden rasch eventrirt. In der Tiefe des kleinen Beckens lagen leere
Dänndarmschlingen. Die erste sich präsentirende dieser wurde hervorgezogen
and mit ihr kam der Uebergang des gefüllten in den leeren Darm zum Vorschein.
Es erschien zweifellos, dass die erste, oberhalb der Stenose liegende Darm-
schlinge sich um das Mesenterium gedreht und so einen Volvulus gebildet
hatte. Dieser löste sich, sowie die betreffende Schlinge aus dem Bauche hervor-
gezogen wurde. Die stenosirte Schlinge wurde fixirt, die übrigen eventrirten
Schlingen rasch reponirt. Die weitere Untersuchung ergab einen sehr compli-
cirten Befund, den zu entwirren rechte Schwierigkeit machte. Es fand sich
der Uebergang von der gefüllten in die leere Darmschlinge von zahlreichen
peritonitischen Bändern und Strängen umgeben. Ein ziemlich starkes Band,
welches nach der Gegend des rechten inneren Leistenringes zog, fixirte die
Schlinge so stark an der Bauchwand, dass sie nur wenig aus der Bauchwunde
hervorgezogen werden konnte. Es schien, dass diese Fixation den Drehpunkt
für den Volvulus abgegeben hatte. Nach Trennung des Stranges zwischen zwei
Ligaturen Hess sich die Schlinge weiter hervorziehen, und es zeigte sich nun
das Darmrohr comprimirt durch einen starken Strang, welcher vom Mesenterium
in der Gegend des Ansatzes an den Darm ausgehend rund um das Darmrohr
herum wieder zum Mesenterium zog und das Darmlumen auf höchstens Bleistift-
slarke verengert hatte. Zudem war der comprimirte Theil des Darmrohrs und
ein Theil der abfuhrenden Schlinge durch den Zug alter peritonitischer Ad-
26 Dr. L. Heidenbain,
häsionon so um seine Längsachse rotirt, dass der dem Mesenterialansatze gegen-
über! ief^onde Theil des Darmrohres an die Seitenfläche des Mesenteriums fixirt
war. Die Blutung nach Trennung der Stränge und Adhäsionen war minimal.
An 3 Stellen wurde sie durch Uebemahung gestillt. Der Darm zeigte eine tiefe
Schnürfurche, doch trat sofort Darminhalt in den leeren Schlingentheil über.
Kurze Revision der Umgebung zeigte keine weiteren Stränge und lehrte, dass
die Stenose etwa 30 cm. über der Bauhinschen Klappe gelegen hatte. Schluss
der Bauohwunde mit Nähten durch die ganze Dicke der Bauchwand, da der
starken Spannung wegen eine gesonderte Vernähung mit Gatgutetagen nicht
möglich war.
Operationsdauer bis zum Beginn der Bauchnaht Y^ Stunde, von da an
kein Chloroform mehr. Während der Naht erbrach Pat. sehr reichliche Mengen
fäüulontor Flüssigkeit, die bei der Beckenhochlage unschädlich abflössen. Pat..
kam wonig abgekühlt mit kräftigem Pulse ins Bett, erwachte schnell. Morgens
gegen 4 Uhr ging flüssiger Stuhl ab. Etwas später stellten sich Erscheinungen
von Lungenödem ein. Morgens 8 Uhr bestand schon hochgradige Athemnoth
und trotz energischer Anwendung von Analepticis ging Pat. um 12 Uhr Mittags
zu Grunde.
Seotion: Vorliegende Dünndarmschlingen mit einem dünnen Fibrin-
schloior bedeckt und etwas mit einander verklebt. Stelle der Stenose äusser-
lioh nur noch an einer Ligatur zu erkennen. Dünndarm oberhalb stark dilatirt,
seine Muscularis hypertrophisch. Auf derSchleimhaut an der Stelle der Stenose
eine kleine Vcrschorfung. Massiger, etwas getrübter Erguss in der rechten
Pleurahöhle. Schwei'es Lungenödem mit etwas Hypostase. Myocard grauroth
mit trüben Stellen.
Die Art der hior vorliegenden Stenose, Umschnürung des Darms
d\iroh oiii nu\siMileriale.s Band nebst Rotation des Darms um seine
l^'ingsai'hse war sehr merkwürdig. Wir haben eine fast identische
Dannstonose gleichfalls mit Volvuius noch einmal, im Falle P.
(^No. 13^ gesehen. Es war dies meine erste oder zweite lleusope-
ratitM\. Da^ss der Kranke trotz schneller Beendigung derselben an
Krlahmun:r des Herzens zu Gnmde Ärinsr, hat mir einen tiefen Ein-
druck gtMuachi, Ich halte damals schon den Eindruck, dass der
Kranke nii'hl an der Operation, sondern an der ungenügenden Ent-
leerung des Djurmes zu Grunde gegangiMi sei. Die Spannung bei
Schluss des Bauchschnittes war recht stark. Der andauernd hohe
intiaahdoniinalc Druck hat wohl das Her/ erlahmen lassen. Von
meinem jct/igvn Standpniikte muss ich s;igcn, da^*^ die Operation
zunächst nicht haue in Beckenhoi^hla^rcruni: ^nnacht werden dürfen.
Die gx^^lahten und gerülUeu Darmschlinireiu welche auf dem Zwerch-
fell labilen, ersch\\eriM> die ller/arhcii uni!ehuhrlioh. Ich habe darum
auch die TrendelenburgVohe U^e sei:!cm Km IleusojHTationen
Beiträge zur Pathologie und Therapie des acuten Darm verschlusses. 27
nicht wieder verwendet, so sehr sie auch die Arbeit erleichtert;
Herr Prof. Helferich hat sie dabei überhaupt nie angewandt.
Zum zweiten musste bei einem so lange bestehenden Darraverschlusse
schon axif dem Operationstische der Darm entleert werden. Das
zweckmässigste wäre gewesen, entweder nach Lösung der Stränge
den Darm einzuschneiden, zu entleeren, wieder zu nähen und zu
versenken, oder nach Lösung eine Enterostomie oberhalb der Stenose
anzulegen. Die Enterostomie zu machen und die Lösung der Stenose
auf eine zweite Operation zu verschieben, ist darum nicht recht
zweckmässig, weil die geblähten, injicirten, entzündeten Darmschlingen
oberhalb der Stenose schon innerhalb 14 Tagen unter einander und
mit der Bauchwand so fest verwachsen können, dass eine Lösung
des Knäuels fast unmöglich ist. Umgehung der Stenose durch
Enteroanastomose hätte in diesem Falle länger gedauert, als eine
Lösung der Adhäsionen, welche sich schnell bewerkstelligen liess.
Sie hätte bei der Erlahmung der Triebkraft des Darmes denselben
auch nicht schnell genug entleert. Der Kranke wäre trotzderlStägigen
Dauer der Erkrankung zu retten gewesen. Er war in keinem schlech-
teren Zustand, als mancher andere, den wir seitdem durchbrachten.
U. Schröder, 19 J., aufgenommen am 26. 3., gestorben am 27. 3. 94.
Dünndarmverschlass durch peritonitische Bänder. Laparotomie. Tod.
Pat. wird am 26. 3. Ton der inneren Klinik auf die chirurgische verlegt.
Die von dem Assistenzarzt der inneren Klinik gegebene Anamnese lautet dahin,
dass Pat. am 17. 3. im Anschluss an eine Hochzeitsfeier acut mit
Schmerzen in der rechten (Jnterbauchgegend erkrankt ist. Stuhlgang ist
seitdem nicht eingetreten. Am 18. oder 19. trat Erbrechen auf. Der zu Rathe
gezogene College gab ein Laxans, welches das Erbrechen nur verstärkte, aber
keinen Stuhl brachte. Darauf gab er am 21. 3. Opium und sandte den Kranken
der medicinischen Klinik zu. Pat. hat in den letzten 5 Tagen täglich drei hohe
Einlaufe in Knieellenbogenlage erhalten, ohne dass Stuhl zu erzielen war mit
Ausnahme einer ganz unbedeutenden Menge heute früh. Seit Pat. auf der
Klinik beobachtet wird, hat er alle 5 — 10 Minuten einen Schmerzanfall gehabt,
welcher von der rechten Unterbauchgegend ausging. Erbrechen war häufig.
Der Puls, bis dahin gut, liess gestern Abend etwas nach, hob sich aber auf
Kampfer wieder. Temperatur anfangs normal, gestern früh 37,6^, Abends 38,1 ^,
beute früh 37,7 ".
Aufnahmebefund 26. 3. Morgens 10 Uhr. Nicht sehr kräftig gebauter,
etwas magerer 19jähriger Bursche, welcher entschieden nicht den Eindruck
eines Schwerkranken macht. Gesichtsfarbe frisch roth, Augen nicht einge-
fallen, Puls ruhig und ziemlich kräftig. Abdomen flach ; in beiden Lumbar-
gegenden Dämpfung: wahrscheinlich ist das eben gegebene hohe Clysma noch
28 Dr. L. Heidenhain,
nicht ganz abgeflossen. Sonst über dem Abdomen normaler tympanitischer
Schall bis auf einen der Lage des Wurmfortsatzes genau entsprechenden Punkt
auf der Verbindungslinie zwischen Spina ant. sup. und Nabel, etwa 50 mm
einwärts von der Spina, an \felchem Punkte sich ausgeprägter Hetallklang
findet. Nach Angabe des Kranken gehen von diesem Punkte die regelmässigen
Schmerzanfälle aus. Bei der Palpation zeigt sich keine nennenswerthe Empfind-
lichkeit dieser Gegend. Durch die Percussion und Palpation wurde indessen
ein Schmerzanfall ausgelöst, während dessen die betreffende Gegend sich
etwas stärker hervorzuwölben scheint. Darauf ergiebt die Percussion hier und
in der nächsten Umgebung nicht mehr Metallklang, sondern fast völlige
Dämpfung mit einer Spur von tympanitischem Beiklange. Es wird die Dämpfung
darauf bezogen, dass im Schmerzanfalle eine gefüllte Darmschlinge sich der
Bauchwand anlege und jene metallklingende Gegend überlagere. Im Uebrigen
ergab die Palpation der ganzen rechten Unterbauchgegend keine Besonderheiten.
Laparotomie nach den üblichen Vorbereitungen sofort angeschlossen.
Bauchschnitt am äusseren Rande des rechten Rectus abdom. (FJeidenhain).-
Einige massig gefüllte Dünndarmschlingen zeigen sich. Die eingeführte Hand
fühlt weder in der Gegend des Wurmfortsatzes, noch in der des aufsteigenden
Dickdarmes, noch medial nach dem Nabel zu etwas Abnormes. Darauf wurde
nach Greig Smith die vorliegende Dünndarmschlinge austreten gelassen.
Ihr nach aufwärts gelagerter Schenkel entwickelt sich schnell, der untere ver-
bleibt im Abdomen. Indem man diesem fixirten Schlingenschenkel nachgeht,
gelangt man ca. 10 cm abwärts auf einen peritonealen Strang, der von dem
Mesenterium einer benachbarten Schlinge kommend sich umgefähr an der Con-
vexität der Schlinge ansetzt, sie fixirt und massig comprimirt. Er wird
zwischen 2 Ligaturen getrennt. Bei Verfolgung des Darmes nach der einen
Richtung wird die Füllung und Injection der Schlingen geringer, doch findet
sich ca. 50 om von dem ersten Strange entfernt ein zweiter, welcher vom
Mesenterium des Darmes ausgeht, um den Darm herum läuft, sich wieder an
das Mesenterium ansetzt und den Darm ein wenig comprimirt, doch nicht so
stark, dass hierdurch eine Behinderung des Laufes des Darminhaltes hätte
stattfinden können. Das Band ist ziemlich fein, wird ebenfalls getrennt^).
Demnächst wird, da der Darm nach dieser Richtung hin entschieden an
Füllung abnimmt, wieder nach der entgegengesetzten Richtung am Darm ent-
lang gegangen. Es kommen immer stärker gefüllte Schlingen zum Vorschein,
schliesslich solche, die beinahe die Stärke eines leidlich gefüllten Dickdarmes
haben. Zugleich erweist es sich, will man einige Uebersicht behalten, als un-
möglich, die stark gefüllten Schlingen zu reponiren. Es lag ungefähr 1 m Darm
vor, als die letzte Schlinge, nach der Mittellinie etwas unterhalb des Nabels ver-
laufend und sehr stark gefüllt, sich nur mit einiger Mühe herausholen liess. Es
zeigte sich, dass diese unmittelbar in ein vollkommen leeres Darm stück überging,
dessen Caliber so gering war, dass man versucht sein konnte, es als Wurmfortsatz
0 Ganz wie im vorigen Falle. Diese Form der Darmstenose muss häufig
sein; ich habe sie auch schon als Küster'scher Assistent in Berlin einmal
gesehen.
Beitrage zur Pathologie und Therapie des acuten Darmverschlusses. 29
anzusprechen. Die genauere Betrachtung zeigte jedoch, dass die leere und die volle
Schlinge demselben Mesenterium angeheftet waren, d. i. unmittelbar in einander
übergingen. An der Uebergangsstelle fand sich eine Art Schnürfurche; ein
Darmlumen war dort nicht mehr vorhanden. Die Schnürfurche sah
schwärzlich verfärbt aus, wie geschwürig; minimale frische Adhäsionen hefteten
die beiden ungleichen Theile der Schlinge an einander. Beim weiteren Hervor-
ziehen der Schlinge riss die Schnürfurche ein und trotz sofortiger Compression
der beiden Darmtheile lief aus der gefüllten Schlinge etwas dünner Darminhalt
aas und zwar dem Mesenterium entlang in die Bauchhöhle hinein. Säuberung des
Mesenteriums und der Schlinge. Verschluss der beiden Lumina durch 2 am
Mesenterialansatze hindurchgeführte Fäden. Der Darm war an der Schnürstelle
quer völlig durchrissen. Nach Lage der Verhältnisse konnte zunächst nur von
der Anlegung eines künstlichen Afters zur Entleerung des Darmes die Rede
sein. Resection hätte zu lange gedauert, wäre bei der sehr ungleichen Weite
der Darmlumina sehr schwierig und wegen der starken Füllung des zuführenden
Darmes sehr gefahrlich gew^esen. Unter Fixirung der Trennungsstelle ausser-
halb wurde die Reposition der vorliegenden geblähten, einstweilen von warmen
Handtüchern umhüllten Därme versucht, sie erwies sich jedoch auch mit dem
Kümmeirschen Handgriff unmöglich. So wurden denn die Schlingen wieder
eingehüllt, die Bauchhöhle durch eingestopften sterilen Mull und übergelegte
aseptische Tücher fest abgeschlossen und durch Eröffnung des geblähten
Darmes dicht an der Durch reissungsstelle der Darminhalt entleert. Ein Liter
flüssiger Inhalt mochte abgeflossen sein, dann gelang die Reposition. Fixation
der beiden Darmenden ausserhalb der Bauchhöhle durch ein mit Jodoformmull
umwickeltes Drain, welches durch das Mesenterium gezogen wui'de; Um-
stopfang der Darmrohre mit etwas Jodoformmull ; Verkleinerung der Bauch-
wunde durch etliche Nähte; dickes Gummirohr in den zuführenden Darm;
Verband. Operationsdauer ca. IY2 Stunde; verliess den Tisch mit frisch
rother Gesichtsfarbe und recht leidlichem Pulse.
Der Operationsbefund liess es am wahrscheinlichsten erscheinen, dass es
sich um eine stark stricturirende Tuberculose gehandelt hatte, die einerseits
an einer Stelle das Darmlumen fast ganz verschloss, andererseits dicht daneben
im zuführenden Theil durch fortschreitende ülceration die Dannwand durch-
brach. Für eine länger dauernde Entzündung des Darmes sprachen auch die
peritonealen Bänder und Adhäsionen, die im Beginne der Operation gefunden
werden. Für Tuberculose sprach, dass in der Serosa der zuerst zu Tage
tretenden Darmschlingen sich zwei hanfkomgrosse Knötchen fanden, die ganz
den Eindruck verkalkter Tuberkel machten. Die Nachmittags vom Vater auf-
genommene Anamnese ergab keine hereditäre Belastung; Fat. war stets gesund;
Stahlgang sei stets regelmässig gewesen; seit einem Jahre habe er ge-
legentlich über Schmerzen im Leibe geklagt. In der Folge floss aus
dem eingelegten Drain kein Darminhalt ab. Pat. verfiel allmählich und starb
18 Stunden post operationem.
Section (Dr. Busse): Schlanke, männliche jugendliche Leiche mit
zartem Knochenbau, guter Musculatur und reichlichem Fettpolster. In der
30 Dr. L. Heidenhain,
rechten Ileocoecalgegend ein etwa 15 cm lange Schnittwunde, deren Enden
genäht sind. Aus deren Mitte ragen zwei freie Darmenden heraus, von deren
Lumen das eine sehr weit, ca. 7 cm. im Durchschnitt, das andere sehr eng,
etwa 3 cm, ist; sie sind mit flüssigem Kothe bedeckt. Die Serosa beider ist
mit zarten, fibrinoiden Auflagerungen bedeckt. Beim Schnitte vom Kinn zur
Symphyse zeigt sich, dass das Peritoneum parietale mit dem P. viscerale
überall in leicht lösbarer Weise verklebt ist. Ein Darmabschnitt wird ange-
schnitten; aus ihm entleert sich gallig gefärbter, flüssiger Koth. Nach weiterer,
vorsichtiger Ablösung des Peritoneum parietale zeigt sich, dass überall bis
tief ins kleine Becken hinein die Darmschlingen mit einander verklebt sind;
doch sind die Adhäsionen sehr leicht löslich. Im Becken befinden sich 100 ccm
trüber röthlioh-gelber Flüssigkeit.
Es werden nun die weit aufgeblähten Dünndarmschlingen vorsichtig von
einander gelöst und abgetrennt. Hierbei zeigt sich, dass das Ende des Dünn-
danns, welches in die Wunde eingelagert ist, ungefähr 15 cm oberhalb des
Coecum liegt. Die Serosa ist überall matt, mit leicht löslichen Fibrinnieder-
schlägen bedeckt. An einzelnen Stellen sind bis linsengrosse weisse Knötchen
unter der Serosa sichtbar, die beim Durchschneiden mit dem Messer knirschen.
(Mikroskopisch : total verkalkte Drüsen). An anderen Stellen trifft man weiss-
liche Verdickungen des Bindegewebes der Serosa, an deren einer eine Catgut-
Unterbindung befestigt ist ; missfarbige Verfärbung sieht man an diesen Stellen
nicht. Wohl aber läuft ein solcher missfarbener Streifen unterhalb des künst-
lichen Afters um den Darm herum und in diesem befindet sich eine etwa 1 cm
im Durchmesser betragende Perforation. Die Oeffnung senkt sich krater-
förmig von der Serosa in die Schleimhaut. — Der unterste Theil des Ileum,
sowie der Dickdarm sind fast ohne jeden Inhalt, eng contrahirt und ohne krank-
hafte Veränderungen in ihrem Innern. Die Schleimhaut ist grauweiss. Anders
die des höher gelegenen Theiles des Dünndarmes. Hier ist die Schleimhaut
durchweg intensiv dunkelroth und ödematös geschwollen. Im ganzen Ileum
zeichnen sich die Peyer'schen Haufen als ganz umschriebene hellrothe Gebilde
ab, die im Ganzen etwas über die Schleimhaut hervorragen, aber einige linsen-
grosse Vertiefungen mit missfarbenem Grunde zeigen. 15 cm oberhalb des
künstlichen Afters nimmt die dunkle Färbung des Darmes noch zu. Die
Schleimhaut sieht aus, wie mit Kleie bestreut: zahlreiche matte weisse Pünkt-
chen heben sich darin ab. An drei Stellen dieser Gegend ist die Oberfläche
in etwas grosserem Bezirke graugrün gefärbt. — Im Magen sind reichliche
I^ngsfalten, auf deren Höhe sich Hamorrhagieen finden. In der Nähe der
Cardia findet sich eine 7 cm messende runde Stelle mit grosseren, unregcl-
mässig gestellten Hamorrhagieen. Die Schleimhaut ist mit zähem Schleim be-
deckt. — Magen, wie der ganze Dünndarm sind mit reichlichem flüssigem In-
halt erfüllt. Lungen, Herz, Leber, Nieren normal.
Anatomische Diagnose: Peritonitis universalis fibrinosa et puralenta;
gangräna et perforatio intestini: ulcera diphtherica ilei etc.
Dieser Fall bietet dai> typische Bild des acuten Darmver-
sohlusses bei chronischer Pöimdanusienose. Die Anamnese ei^ebt
Beiträge zur Pathologie und Therapie des acuten Darmverschlusses. 31
zunächst nichts über vorausgegangene Verdauungsstörungen,
Koliken etc. Ei-st nach der Operation giebt der Vater an, sein
Sohn habe gelegentlich im letzten Jahre über Leibschmerzen ge-
klagt. Die Compensation ist also sehr gut gewesen. Die Erkrankung
setzt acut ein nach reichlicher Mahlzeit (vergl. Fall 13) und zwar
mit Erbrechen und Kolikschmerzen. Letztere halten, anfallsweise
alle 5 — 10 Minuten wiederkehrend, durch 9 Tage an, bis der Kranke
endlieh zur Operation gebracht wird! Befund vor der Operation
ermöglicht eine sichere Diagnose des Sitzes des Hindernisses. Be-
fund bei derselben: multiple Bänder und Stränge, Nekrose des um-
schnürten Dünndarmes. (Section: nach abwärts von der circulären
Nekrose eine Darmperforation.) Tod durch Peritonitis, weil aus dem
zerreissenden Darme bei der Operation Koth auslief. Sehr beachtens-
weith sind die mächtigen hämorrhagischen Infiltrationen, welche
sich oberhalb des Verschlusses in der gcsammten Schleimhaut des
Magen-Darmkanales fanden und stellenweise schon zur Geschwürs-
bildung geführt hatten. Diese Veränderungen des zuführenden
Darmes sind ein weiterer Grund, operirte Darm verschlusse mit Ab-
führmitteln zu behandeln.
Der folgende Fall ist schon von P. Jacoby (Dissert. Greifs-
wald 1895) mitgetheilt. Er ist ebenfalls sehr charakteristisch durch
Art der Entstehung der Erkrankung und Verlauf derselben.
IS. R. P., 28 Jahre, Inspector aus P. 26. 10. — 7. 12. 94. Dünndarm-
toItuIus, veranlasst durch peritonitische Adhäsionen des Darmes am Mesen-
terium.
Früher gesund gewesen, wurde in diesem Sommer 6 Wochen lang und
zwar mit gutem sabjectivem Erfolge an einem Magenkatarrhe diätetisch behan-
delt. Am 24. 10. hat er tüchtig gekneipt; am folgenden Tage ass er unter
anderem Kohl, welchen er erfahrungsgemäss nur schwer verdauen konnte. Er
bekam Aufstossen und, nachdem er sich sonst den Tag über wohl gefühlt
hatte, am Abend Krämpfe im Bauch, besonders in der Nabelgegend. Diese
worden in der Nacht sehr stark. Am folgenden Tage hatte er etwas Stuhl-
gang, auch Abgang von Flatus ; die Schmerzen Hessen etwas nach. Am 27.
stellte sich Verhaltung von Stuhl, Winden und Urin ein ; er bekam Schmerzen
in der Blasengegend. Aufnahme am 28. 10. 94.
Aufnahmebefnnd : Gesunder, kräftiger Mann, Herz und Lungen ohne
Befand. Gonorrhoe mit geringem Ausfluss, zwei Urethralstricturen, die noch
passirbsr sind ; Urin nur 40 com entleert, ist stark eiweisshaltig. Bauch etwas
aufgetrieben, ohne besonderen Befund, Stuhl und Winde angehalten, Brech-
netgoDg. Bruchpforten frei. — Abwartendes Verhalten.
2. 11. Die Auttrefbnng des Leibes hat etwas zugenommen, obgleich in
32
Dr. L. Heidenhain,
der Nacht etwas Fäces, allerdings keine Winde abgegangen sind. Urin muss
durch Katheter entleert werden, gewonnen 400 ccm, stark eiweisshaltig.
3. 11. Die Auftreibung des Leibes ist noch weiter vorgeschritten; Winde
und Stuhl sind nicht abgegangen; faculehtes Erbrechen, namentlich nach der
Aufnahme von Nahrungsmitteln, dabei starke Kolikschmerzen. Gesammte
Bauchfläche gleichmassig schmerzhaft. Palpatorisch nichts Besonderes am Ab-
domen festzustellen.
Laparotomie (Helferich) wegen der andauernden Verschlechterung
am 3. 11. Medianschnitt über dem Nabel. In die Wunde drängen sich stark
geblähte Dünndarmschlingen. Da der tastende Finger nichts fühlt, Verlänge-
rung des Bauchschnittes vom Schwertfortsatz bis zur Symphyse. Eventration
der gesammten geblähten Dünndarmschlingen. Es zeigt sich sofort die Ueber-
gangsstelle der gefüllten in leere Schlingen. An der Grenze beider besteht
eine Fixation des Dünndarmes an seinem eigenen Mesenterium durch etliche
peritoni tische Adhäsionen: der Darm hat sich gleichsam auf seinem Mesen-
terium aufgerollt und ist in dieser Stellung durch Verwachsungen fixirt. Dazu
ist noch eine Umdrehung der Schlinge gekommen , welche sich bei der Er-
Fig. 6.
Fig. 7.
Fixation des Dünudarmes an seinem eigenen
Mesenterium, wodurch eine Drehung um die
L&ngsaehse des Darmes und damit eine Veren-
gerung entsteht.
Die gefüllte zuführende Schlinge ist um die
tUirte und verengte Stelle B nach ahwftrte ge-
klappt, so dass vollkommener Versohluss ein-
getreten ist.
Öffnung der Bauchhöhle spontan wieder löste. Der Darm wird an der Adhä-
sionsstelle abgelöst und zur Verhütung der Rückkehr in die falsche Lage an
der entgegengesetzten Seite des Mesenteriums durch zwei Knopfnähte fixirt.
Schluss der Bauchhöhle.
4. 11. Heute Winde abgegangen. Temperatur normal, Urinmenge
1275 ccm, Eiweissgehalt desselben geringer. 5. 11. Reichlicher Stuhl und
zwar etwas diarrhoisch. Urin 1600 ccm, eiweissfrei. 8. 11. Opium wegen noch
bestehenden Durchfalles. Durchfall hörte am 8. 11. auf; von da an glatte
Genesung. 7. 12. entlassen.
Beiträge zur Pathologie und Therapie des acuten Darm verschlusses. 33
Die Beobachtung ist wiederum recht charakteristisch: Dünn-
darmstenose bei einem Menschen, der nie an Stuhlgangsstörungen,
aber an „Magenkatarrh" gelitten, acute Erscheinungen nach einem
Excesse in Alkohol, dem am folgenden Tage eine Kohlmahlzeit
folgt. Plötzliches Einsetzen mit Koliken, Verschluss nicht voll-
ständig im Anfange, wird aber vollkommen. Post operationem
einige Tage Durchfälle, eine Folge der durch die Stauung entstan-
denen Enteritis, bei der dann Opium natürlich unwirksam bleibt.
Technisch war bei der starken Füllung der Dünndärme ohne
Eventration das Hinderniss gewiss nicht so im Nu zu finden, wie
das hier vor sich ging. Der Fall ist uns immer ein besonderer
Beweis für die Vorzüglichkeit des Kümm eil' sehen Verfahrens
gewesen.
Herr F. Jacobi hat Versuche über den ursächlichen Zusammen-
hang zwischen der hier gefundenen Fixation des Darmes an seinem
eigenen Mesenterium und der gleichzeitig bestehenden Achsendrehung
gemacht. Fixirte er an der Leiche den Darm so an seinem eigenen
Mesenterium, wie es hier am Lebenden der Fall gewesen und füllte
dann die zuführende Schlinge mit Wasser an, so klappte diese
Schlinge über die durch die Verkürzung des Mesenteriums ein-
geknickte und fixirte Stelle hinweg und es entstand ein völliger
Verschluss. Einen fast genau gleichen Fall von Dünndarmvolvulus
haben wir in dem Falle 11 gesehen.
14. S., Johann, 60 Jahre. Vorbein. Aufgenoramen 7. 12. 94, gestorben
am selben Tage. Darmverschluss durch Knickung und Verwachsung des
Dünndarms.
Anamnestisch ist von dem sehr kranken und schwachen Patienten wenig
zu erfahren. Er will seit 8 Tagen krank sein und Schmerzen im Bauche ge-
habt haben. Winde sind abgegangen, auch Stuhlgang bis vor etwa 2 Tagen;
seitdem kein Stuhl, keine Winde und Auftreten von Erbrechen, welches bis
Jetzt nicht aufgehört hat.
7. 12. 94. Aufnahmebefand: Schwacher, alter, abgemagerter Kranker;
Erbrechen; Bauch trommelartig aufgetrieben; Puls kaum zu fühlen. Links
eine fast kindskopfgrosse, rechts eine etwa hühnereigrosse Leistenhernie, beide
leicht reponibel. Kirschengrosse reponible Ilernia lineae albae fingerbreit unter
dem Nabel. Käthe terisirter Urin eiweissfrei.
Ohne Narkose Einschnitt am Aussenrande des linken M. rectus abd.
(I[elferich). Die den Bauch abtastende Hand findet von hier aus keine Er-
klärung für den Darmverschluss, insbesondere nicht an der linken Bruchpforte.
Zweiter Einschnitt an der symmetrischen Stelle rechts: von hier aus findet der
lasteode Finger ein gut faustgrosses Convolut verwachsener Diinndarmschlingen.
Areliir mr klin. Chirurgie. 57. Bd. Heft 1. 3
34 Dr. L. Heidenhain,
Da dieses durch keinen der bestehenden Einschnitte aus dem Bauche heraus-
gebracht werden kann, dritter Einschnitt in der Mittellinie; es zeigt sich nun,
dass die in das Convolut eintretende Dünndarmschlinge roth und gebläht ist,
die abführende leer. Es kandelt sich um drei unter einander und mit ihrem
Mesenterium verwachsene Dünndarmschlingen, welche alle drei durch Schrum-
pfung des Mesenteriums eine theils stärkere, theils leichtere Einknicknng nach
dem Fusspunkte des Mesenteriums zw erfahren haben. Lösung der Verwach-
sungen unmöglich und nicht versucht. Enteroanastomose durch Naht und
Schluss der Bauch wunde.
Patient hatte sich während der Operation besser befunden, als nach
seinem fast moribunden Zustand erwartet werden konnte, collabirte aber gegen
Ende der Operation plötzlich und starb bald nach Schluss derselben.
Section: Arteriosklerose, braune Herz- und Leberatrophie, Lungen-
emphysem mit katarrhalischer Bronchitis.
15. G., Wilhelm, 42 Jahre, Birkenwerder. 23. 7.-26. 8. 96. Ileus
durch Abknickung einer adhärenten Dünndarmschlinge. Enteroanastomose mit
Knopf. Geheilt.
Allgemeine Anamnese ohne Bedeutung. Leidet seit Mitte Mai d. J. an
Schmerzen im Leibe, Druckschmerz und Koliken, dazu unregelmässigem Stuhl-
gang. Zunahme der Beschwerden. Aerztliche Behandlung beseitigte dieselben,
allein da die strenge Diät nicht befolgt wurde, kehrten die Beschwerden wieder,
worauf Herr Dr. B erg ansky- Masse w i. P. die Aufnahme in die Klinik ver-
anlasste.
Befund 24. 7. 96: Stark abgemagerter Mann; Haut feucht, normal ge-
färbt, keine Oedeme. Herz, Lungen, Urin normal. Puls ziemlich kräftig, 96.
Zunge massig belegt. Appetit gering, kein Stuhl, keine Flatus, kein Erbre-
chen, noch Aufstossen. Abdomen durch Gasansammlung im Darm aufgetrieben.
Kein Ascites. Milz nicht zu percutiren; untere Lebergrenze in die Höhe ge-
rückt. Im Gebiete des ganzen Abdomens sieht man von Zeit zu Zeit peristal-
tische Bewegungen der Därme durch die Bauchdecken hindurch, dabei Bauch-
kneifen. Percussion und Palpation ergeben nirgends Dämpfung oder stärkere
Resistenz. Tiefer Druck wird in der linken Unterbauchgegend dicht neben der
Mittellinie schmerzhaft empfunden; sonst ist der Leib nicht druckempfindlich.
Auf Ricinus kein Stuhlgang. Das Bild der chronischen Darmstenose
war hier so klar, dass man ein Abführmittel wohl versuchen konnte. Einlauf
geht mit wenig Koth wieder ab. Bad.
25. 7. Ueber Nacht reichliches Erbrechen übelriechender Massen.
Morgens 5 Uhr Einlauf, wird mit wenig Koth wieder entleert. 7 Uhr Bad,
10 Tropfen Tct. opii. 8 Uhr Kochsalzinfusion von 600 ccm, Magenausspülung.
9 Uhr Laparotomie (Helfe rieh): Schnitt median unterhalb des
Nabels. Es drängen sich zunächst einige ausserordentlich erweiterte Dünn-
darmschlingen hervor. Nach einiger Orientirung findet man rechts unter und
hinter diesen einige ganz zusammengefallene Dünndarmschlingen. Die erwei-
terten Schlingen sind intensiv gefärbt, etwas livid, haben 6— 8 cm Durch-
messer; die leeren, völlig collabirten Schlingen sind ganz blass. Verlange-
Beiträge zur Pathologie und Therapie des acuten Darmverschlusses. 35
rang des Baucbschnittes bis zum Schwertfortsatz. Es zeigt sich nun, dass
eine der erweiterten Dünndarmschlingen in die Coecalgegend zieht und dort
medial Tom Coecum an der Linea innominata durch alte peritonitische Adhä-
sionen fixirt ist. Es besteht hier eine spitzwinklige Abknickung des Darms :
die Fortsetzung bildet eine der collabirten Schlingen.
Fig. 8.
Anastomose
Dirertikel
CoeeniB
Fig. 9.
Bei den weiteren Manipulationen füllen sich die völlig leeren Schlingen
za einem Theile wieder mit Inhalt, welcher aus den erweiterten in sie über-
tritt. Durch die Ricinusgabe ist wahrscheinlich das obere. Darmstück noch
weiter gedehnt und eine völlige Abknickung an der Yerwachsungsstelle zu
Stande gekommen. Ausserdem findet sich noch an dem dünneren Darmabschnitt,
dicht an der Abknickungsstelle, ein Meckel'sches Diveilikel. Die letztere
liegt nicht weit oberhalb der Klappe im unteren Ileum.
Wegen der starken Verwachsung .wird zur schnelleren Beendigung des
Eingriffs mit dem Murphyknopf eine Enteroanastomose am Dünndarm
ca. 15 cm ober- und unterhalb der Abknickung ausgeführt (vergl. Bild 8).
Dabei wird zunächst der geblähte Dünndarm aufgeschnitten und
so weit als möglich entleert, dann erst die Anastomose angeschlossen.
Darauf Bauchnaht in Etagen, CoUodium verband ; Heisswasserkissen. Wärm-
flaschen.
Die theilweise Entleerung der überfüllten Därme auf
dena Operationstische hat mit Wahrscheinlichkeit dem
Kranken das Leben gerettet, denn im weiteren Verlaufe
zeigte es sich, dass der Murphyknopf die Passage stark
hemmte, wie wir das kurz darauf in noch einem zweiten
3*
36 Dr. L. Heidenhain,
Falle gesehen haben (vergl. No. 8). Wie sehr bei mangelnder
Triebkraft von oben der Knopf die Passage hemmt, zeigt Bild 9.
Am Abend des Operationstages Temperatur normal, keine Flatus;
leichter Schmerz auf Druck. Nährklysnia. 0,01 Morphium zur Nacht.
26. 7. Allgemeinbefinden gut. Keine Flatus, hier und da Bauch-
kneifen ohne Erfolg. Ricinus ohne Erfolg. Kleiner Einlauf ohne Er-
folg. 3 Nährklysraen ; per os Getränke (schwarzer. Kaffee mit Ei, Wein, Cacao).
27. 7. Status idem. Einlauf ohne Erfolg. 2 g Glycerin ohne Erfolg.
28. 7. 10g Glycerin. 3 Flatus. Sonst Status idem. 29. 7. 10g Glycerin,
keine Winde, kein Stuhlgang. 30. 7. Flatus, kein Stuhl. Nach-
mittags Einlauf, danach Stuhlgang. 31. 7. Nachts zwei reichliche
Stühle.
Von da an glatte Genesung. Der gesammte Verlauf war afebril. Wund-
heilung p. pr. ; Knopf am 15. 8. abgegangen. 26. 8 geheilt entlassen.
Diese Beobachtung ist ein recht deutlicher Beweis dafür,
wie ungünstig Abführmittel bei Darmverschlüssen wirken.
Es handelte sich bei der Aufnahme des Kranken sicher um eine
chronische Stenose, und die Beschwerden waren nur massige. Auf
Ricinusöl trat reichliches Erbrechen ein und der Verschluss wurde
vollständig.
Der nachfolgende Fall chronischer Dickdarmstenose durch
einen Strang hatte im Laufe einiger Wochen zu vollkommenem
Versclilusse geführt. Wenn auch im Augenblicke der Operation
keine unmittelbar bedrohlichen Zeichen, namentlich kein Erbrechen,
bestanden, so gehiirt der Fall vom practischen Standpunkte aus
betrachtet, doch hierher.
16. Luise Verchow, 36 J., Eiji^entliümersfrau, Torpelow, aufgenommen
am 4. 9., entlassen am 9. 10. 96. Darm verschluss bei massiger Compression
des Quorcolon durch einen Strang und ausgesprochener Darmatonie.
Ist Mutter von 10 Kindern, deren 7 leben ; früher niemals krank gewesen.
Das jetzige Leiden begann Anfang Juli 96 mit heftigen Schmerzen in der
rechten Bauchseite, die gegen den Nabel und das Brustbein hin ausstrahlten.
Auf dem Höhepunkte der anfallsweise kommenden Schmerzen trat heftiges Er-
brechen ein. Entleerung harter, schwarz aussehender Massen und Durchfalle
wechselten mit 3- 5 Taj^e anhaltender Verstopfung. Seit etwa 4 Wochen be-
steht fast völlige Verstopfung; nur 3 mal ist auf reichliche Gaben von Olivenöl
innerlich (zweistündlich 5 Esslöffel) Stuhlgang eingetreten. Häufige und sehr
starke, täglich vielfach auftretende kolikartige Schmerzan fälle zwangen zur
Darreichung grosser Gaben Morphium (3- 4mal täglich 3 cg). SeitS— lOTagen
ist die Kranke etwas gelb. Der behandelnde Arzt überweist sie der Klinik,
weil kein Stuhlgang? mehr zu erzielen war und er die Ueberzeugung eines
baldificen schlechten Ausganges hat, wenn nicht operativ eingegriffen werde.
Beiträge zur Pathologie und Therapie des acuten Darmverschlussos. 37
Die Kranke verneint aufs entschiedenste je einen Typhus, Ruhr, Bauchfell-
entzündung, Magengeschwür, Gelbsucht gehabt zu haben.
Aufnahmebefund am 4. 9. 96: Kräftig gebaute, korpulente Frau. Herz
und Lungen ohne Befund. Leichter Icterus der Haut und sichtbaren Schleim-
häute. Leib stark aufgetrieben, grosse Rectusdiastase. Es zeichnen sich
deutlich einige geblähte Darmschlingen ab, indessen etwas genaueres lässt
sich durch Palpation nicht ermitteln, da der ganze Leib ein gleichmässig
weiches Gefühl darbietet. Die Stauung ist nicht sehr hochgradig. Der Per-
cussionsschall ist auf der Höhe des Abdomens überall tief tympanitisch, in den
abhängigsten Theilen gedämpft mit tympanitischem Beiklang. Lagewechsol
ändert die Dämpfungsgrenzen nicht. Bei Betasten und Beklopfen des Leibes
ist mehrfach Kollern hörbar; dabei treten Schmerzen auf, Peristaltik würd
sichtbar und die Spannung des Leibes nimmt zu. Einlauf erfolglos.
Operation am selben Tage (Hei den ha in). In Aether-Chloroformnarkose
Bauchschnitt in der Mittellinie und Nabelhöhe. Nach Eröffnung des Peritoneums
liegt stark geblähtes Colon transversum vor, während die Dünndärme nur
massig gefüllt sind. Das Colon descendens ist vollkommen leer und contrahirt
bis zur Flexura lienalis hinauf. An dieser Stelle sind in der Umgebung des
leeren Darmes einige harte Knoten fühlbar. Die Uebergangsstelle des leeren in
den gefüllten Darm ist nicht zu fühlen. Colon transvers. ascend. und Coecum
sind bis zur Breite von 4 Querfingern gebläht.
Diagnose: Carcinom des Colon in der Gegend der Flexura lienalis.
Deshalb Enterostomie in der Mitte des Quercolon.
Sehr auffallend war in den folgenden Tagen, dass aus der
Enterostomiewunde sich trotz aller erdenklichen Bemühungen
weder Flatus, noch Koth in auch nur einigermaassen genügender
Menge entleeren wollten. Es dauerte eigentlich eine vollkommene Ver-
haltung weiter an. Dabei bestand eine sehr starke Aufblähung des
Coecum und Colon asc, welche unter häufigen heftigen Kolik-
anfällen eine starke Spannung annahmen. Der Abilominalbefund war
derartig, dass ich vermuthete, in der Gegend der Flexura hepatica bestehe eine
zweite Stenose und sehr überlegte, ob ich nicht an dem Colon asc. eine zweite
Enterostomie anlegen solle. Diese Erwägungen wurden erst am 4. Tage post
operationem durch einen spontanen Stuhl per anum hinfällig. Im ein-
zelnen war der Verlauf wie folgt:
5. 9. Bisher noch kein Koth aus der Enterostomiewunde abgeflossen,
aach nur spärlich Winde. Mehrfache Morphiuminjectioncn wegen Schmcrz-
anfällen. Morgens einmal Erbrechen. Ausspülung des Darmes von der Wunde
aas fördert nur krümelige Kothbröckel; darauf Oelein lauf durch den künst-
lichen Anus. Mittags einmal Erbrechen reinen Mageninhaltes. Da der Oelein-
lauf nicht gewirkt bat, Faradisation und Erschütterungsmassage des Bauches,
worauf unter deutlichem Eintreten von Peristaltik einige Blähungen und etwas
Koth abgehen. Darauf subjective Erleichterung. Kein weiteres Erbrechen.
Nahrungsaufnahme Tags über befriedigend. 6. 9. Schlaf Nachts mit Morphium
gut. Darmaasspülung vom Anus praeternat. aus ergiebt nur wenig Koth, fast
38 Dr. L. Hoidenhain,
UDT gefärbtes Wasser, dazu einEelne Gssblasen. All gern cinbcfi öden gat,
Nabmog betialten, kein Erbrechen, Gasfüllung des Colon asc. anverändert.
NachinittAgs einige Flatns spontan. 7. 9. Allgemeinbefinden leidlich. Etliche
Flatus, liein Koth, kein Erbrechen. GasRlIInng des Coecum nnd Colon asc.
noch immer sehr stark: das beistehende Bild 10 zeigt den Percnssions-
befund.
Rg. 10.
Frau Vercbo«: Percusaionsbefand vom 3. Tage post enterostoroiaro : enorme
Blähung des Coecum und Colon ascendens.
8. 9. Leidliches Allgemeinbefinden, verschiedentlich Flatus aus der
Entcroslomiewunde und per anum. Mittags spontan reichlich Stuhl per
an um, später reichliche Entleerung aus der Fistel und damit Nachlass
der Schmerzen. 14. 9. Seit dem 8. 9. ist täglich Stuhl auf natürlichem Wege
erfolgt, theils spontan, theils auf Einlauf oder Oleum Ricini per os. Aus der
Fistel hat sich nur wenig Gas entleert. Es bestehen noch dauernd missige
Koltksch merzen, vornehmlich in der rechten Bauchseite. Wenn der Schmerz-
anfall auf der Höhe ist, erfolgt eine Entleerung von Ga,s durch die Fistel. Der
Icterus ist seit dem 10. 9. verschwunden. Naht verheilt.
16. 9. Laparotomie !:ur Beseitigung der Rindernisse (Heiden-
hain). Zunächst Bauchschnitt am Aussenrando des linken Rectus
Beiträge zur Pathologie und Therapie des acuten Darm verschlusses. 39
abd.: Colon leer, Plexura lienalis gesund. Keine Veränderung der Darmwand.
Mesenterium stark fetthaltig, starke Appendioes; letztere sind bei der ersten
Operation wohl für einen Tumor gehalten worden. Colon transyersum eben-
falls leer. Am Uebergange dieses in die Plexura lienalis zieht ein Strang von
der Dicke eines starken Bleistiftes, der von einem Appendix zum Netz verläuft
quer über das Colon hinweg. Dieser Strang liegt dem Colon so lose auf, dass
der jetzt leere Darm durch ihd gamicht comprimirt wird. Auch bei gefülltem
Darm kann er nur eine sehr massige Behinderung geschaffen haben. Darm-
wand daselbst normal. Ein weiteres Hinderniss ist in dieser Bauchhälfte nicht
zu finden. Trennung des Stranges und Uebernähung der Stümpfe. Schluss der
Banchwunde.
Darauf Bauchschnitt am Aussenrande des rechten Rectus:
Trennung einiger feiner Adhäsionen zwischen Colon transyersum und Leber.
Gallenblase gesund und ohne Adhäsionen. Federkieldicker Strang, der von
dem Colon transv. zur grossen Cnrvatur des Magens verläuft, getrennt und die
Stampfe übemäht. Bauchnaht.
Schliesslich Schluss des Anus praeternaturalis durch Ablösung
der Schleimhaut und genaue Naht In der Folge hat die chronische Ob-
stipation und Darmatonie mit Vorhaltung von Winden und leb-
haften Kolikschmerzen noch manche Mühe gemacht. Erst vom 29. 9.
ab erfolgte täglich spontaner Stuhl.
9. 10. %. Entlassen in gutem Allgemeinbefinden. Alle Wunden vernarbt
bis auf eine Fünipfennigstückgrosse Granulationsfiäche an der Stelle der
Enterostomie. Spontaner Stuhl hat angehalten. Der gesammte Krankheits-
Terlauf war afebril.
Die Beobachtung hat eine wesentliche Bedeutung dadurch,
dass sie zeigt, wie bei atonischem Darm (Obstructio alvi chron.)
schon geringfügige ffindeniisse die schwersten Erscheinungen aus-
lösen können.
17. Alma Sehlke, 10 V2 J«? Candelin, aufgenommen am 11. 9., entlassen
am 10. 10. 9G. Darmverschi uss durch Bänder und Stränge bei Mesenterial-
drüsentuberculose und Peritonitis tuberculosa. Laparotomie. Heilung.
Herr Dr. Palleske-Loitz schrieb uns bei der Uebersendung der Kranken:
Pat. ist am 1. 9. unter heftigem Erbrechen und Leibschmerzen erkrankt, seit
etwa 8 Tagen in meiner Behandlang. Eltern gesund. Status im Wesentlichen :
Ascites, Obstructio alvi, Erbrechen mit zeitweise faculentem Geruch, kein
Fieber. Ich fasse das Leiden als Mesenterialtuberculose auf. Das Kind ist an
dem gleichen Zustande, wie jetzt, schon im vorigen Sommer von meinem ver-
storbenen Vorgänger R. behandelt worden. Als Residuen der damals über-
standenen Peritonitis fand ich vor Entstehung des ilscites um den Nabel herum
einen flachen handtellergrossen Tumor. Stuhlgang habe ich weder durch
innere Mittel, noch durch Eingiessüngen von Wasser oder Oel erzielen können.
— Ich halte die Laparotomie für geboten. — Von einer Function versprach
ich mir nichts, habe sie unterlassen.
40 Dr. L. Heidenhain,
11. 9. Aufnahraebefund: Blasses, ihrem Alter entsprechend aus-
sehendes Kind. Lungen und Hera ohne Befund. Puls 120, massig gespannt.
Leib stark und gleichmassig aufgetrieben, subcutane Venen ausgedehnt. Nabel
etwas vorgetrieben. Um den Nabel herum eine spindelförmige, weissliche,
narbenartige Stelle, ca. 5 cm lang und 2 Y2 cm breit , deutlicher Rand einer
Bruchpforte daselbst nicht fühlbar; beim Husten Andrängen von Eingeweiden.
Beim längeren Zusehen sieht man, namentlich nach Betasten des Bauches,
peristaltische Wellen; dabei zieht sich der rechte untere Quadrant der be-
schriebenen narbenähnlichen Stelle ein. Einzelne stärker geblähte Darm-
schlingen nicht sichtbar.
Percussion: Gasgefüllte Därme auf der Höhe des Abdomens. Rechts in
dem Bezirk zwischen Mittellinie und verlängerter Mammillarlinie, der Hori-
zontalen durch den Nabel und der Verbindungslinie zwischen Spina ant. sup.
und Nabel absolute Dämpfung, die bei Lagerung auf die linke Seite den Ort
nicht wechselt. Links seitlich tympani tisch er Schall bis in die abhängigsten
Theile. — Knollen und Stränge bei der starken Spannung der Bauchdecken
nicht fühlbar. — Faculentes Erbrechen.
Laparotomie (Heidenhain) bei der klaren Indication nach den nöthigen
Vorbereitungen unmittelbar angeschlossen. Eröffnung des Bauches in der
Mittellinie und Nabelhöhe. Keine Adhärenz des Dünndarms an der Bauch-
wand, wie wegen der oben beschriebenen Einziehung bei Peristaltik eigentlich
vermuthet. Abfluss von blutigem Ascites. Dünndarm auf Breite von drei Quer-
fmgern gebläht, drängt sich in die Wunde. Da ohne weiteres ein begrenztes
Hinderaiss hier nicht zu finden ist, Eventration der vorliegenden stark ge-
blähten Dünndarmschlingen (ca. 1 m). Es zeigen sich sofort zwei dünne von
der Seitenfläche des Darms zu seinem Mesenterium ziehende Stränge, welche
eine gowisse Knickung des Danues hervorgerufen haben mögen. Trennung
der Stränge. Weiteres Hinderniss an dem vorgelagerten, sehr beträchtlichen
Dünndarmantheil nicht zu finden. Mesenterium stark geschrumpft, enthält
zahlreiche, meist verkalkte, tuberculöse Drüsen. Auf der Darmserosa zahl-
reiche Tuberkel, theil weise erbsengrosse gestielte Solitärtuberkel. Theilweise
Reposition der Därme, Abschluss der Bauchhöhle durch Tücher, Entleerung
der stärkst g-eblähten Schlinge durch Einschnitt: es fliessen etwa
IY2 1 dünnflüssigen, asshaft stinkenden Kothes ab. Doppelreihige Naht der
Incision. Reposition aller noch vorliegenden Schlingen; Schluss der Bauch-
wunde unter Fixation der Kuppe der nächstliegenden geblähten Dünndarm-
schlinge in der ßauchwunde (Quadratcentimetergrosser Theil der Darmwand
mit etlichen Nähten angenäht), um im Nothfalle noch nachträglich ohno
Wiedereröffnung der Bauchhöhle eine Enterostomie machen zu können. Es war
doch sehr möglich, dass weiter abwärts noch eine weitere Behinderung der
Passage durch Bänder und Stränge bestand. Die incidirte und genähte Schlinge
war in die Tiefe der Bauchhöhle versenkt; sie war bei der Reposition ent-
schwunden. Zwei Stunden post operat. kein Erbrechen. Leib weich, völlig
schmerzfrei.
Am folgenden Tage auf einen Esslöffel Ricinusöl drei reichliche,
Beitrage zur Pathologie und Therapie des acuten Darm verschlusses. 41
stinkende Stühle; Allgemeinbefinden gut, Puls kräftig, Leib völlig weich,
schmerzlos.
Der weitere Verlauf war wie nach einer normalen Geburt oder einer
glatten Ovariotomie: Leib weich, stets vergnügtes Gesicht, Appetit gut; unter
Fortgebrauch von Ol. Ricini oder Emulsio ricinosa täglich in der ersten Woche
1 — 3 Stühle; auffallend waren dabei Abendtemperaturen die zwischen 37,6
und 38,5, einmal sogar 39,3 schwankten ; sie wurden auf eine noch bestehende
Enteritis, Folge der Inhaltsstauung im Darm, geschoben, bis am 10. Tage
post op. ein kleiner Bauchdeckenabscess durchbrach, der durch EröiTnung
einiger Nähte völlig entleert wurde. Koth kam nie durch. Die Darmnaht hat
sicher gehalten.
Weitere Heilung glatt. 10. 10. 96 entlassen : kleine oberflächliche Gra-
nalationsfläche im unteren Wundwinkel, Leib weich, in der Umgebung des
Nabels in der Tiefe noch einige harte Knoten zu fühlen, kein Ascites mehr,
Stuhlgang spontan und regelmässig.
Der Vater des Kindes suchte mich am 16. 1. 97 auf und berichtete, dass
dasselbe seit der Entlassung wohl und munter sei und an Gewicht zugenommen
habe; der Stuhlgang sei regelmässig.
IV. 6 Fälle von Volvulus S romani,
4 geheilt und 2 gestorben.
Eine der hierher gehörigen Beobachtungen ist schon unter
No. 2 mitgetheilt wegen des begleitenden und die Lösung des
Hindernisses überdauernden Spasmus eines grossen Theiles des
Dünndarmes. Die übrigen 5 folgen hier.
Zweimal begann die Erkrankung ganz acut, gleichwie bei
einer Incarceration, mitten aus voller Gesundheit, (No. 2 und 22).
Dreimal waren seit kürzerer oder längerer Zeit Stuhlgangs-
beschwerden vorangegangen, worauf der Dannverschluss acut ein-
.sotzte (Fall 19, 20 und 21). Bemerkenswerth ist der acute Be-
ginn des Dann verschlusses in Fall 21 auf eine Dosis Ricinusöl,
welche zur Beseitigung der Verstopfung gegeben wurde. Vielleicht
hat in dem einen oder anderen der Fälle schon seit einiger Zeit
eine Drehung um 180^ oder noch weniger bestanden. Im Falle 18
hatte sich ein chronischer Darmverschluss entwickelt, dessen Ur-
sa<!he ein Volvulus um 190® war.
Im Falle 19 füllte nach Stägiger Dauer der Erkrankung die
geblähte Flexur fast den ganzen Bauchraura aus; sie war, wie die
i Operation erwies, dicht vor dem Platzen. Bei den Kranken No. 2,
I 18, 20, 21 lag der Volvulus in der rechten Beckenschaufel,
42 Dr. L. Heidenhain,
bei No. 22 zwar in der linken Seite des Abdomens, aber
mit einer Neigung nach rechts hinüber (vergl. Zeichnung).
Mit Ausnahme der Fälle No. 2, welcher sehr früh und No. 19,
welcher sehr spät zur Operation kam, war die stark gebläht«
Schlinge schon vor der Operation mit aller Sicherheit als Dick-
darm anzusprechen. Besonders charakteristisch erscheint mir das
Gefühl eines massig gefüllten Luftkissens, welches solch'
stark geblähter Volvulus liefert. Percussion und Palpation liessen
immer erkennen, dass es sich um eine einzige, stark geblähte Dick-
darmschlinge handele.
Die Ergebnisse unserer Operationen zeigen, dass die Ope-
ration eines Volvulus der Flexur eine durchaus günstige
Prognose liefert. Unsere genesenen 4 Kranken befanden sich im
Alter von 30, 55, 66, 70 Jahren. Fall 19, welcher erst nach
Stägiger Dauer der Erkrankung zur Operation kam, war nicht
mehr zu retten. Sein Tod muss auf das Conto der inneren
Medicin, nicht der Chirurgie gesetzt werden. In Fall 22 hat die
Operation ihre Schuldigkeit gethan: der späte Tod an Pneumonie
war nicht zu hindern und steht sicher ebenfalls im Zusammenhange
mit der „Spätoperation".
Der operative Eingrifif selbst bei diesen Erkrankungen ist sehr
einfach, um so mehr, da sich bei früher Operation der Sitz des
Hindernisses ante operationem meist sicher bestimmen lässt, und
die Operation giebt, wenn die Schlinge mit einigen Nähten an dem
Peritoneum parietale fixirt wird, eine sichere Garantie gegen die
Wiederkehr der Drehung, denn die geblähte und entzündete Schlinge
verwächst natürlich in voller Länge mit dem Peritoneum parietale.
Wenn man in der Nachbehandlung regelmässig abführen lässt, so
wird sie sich wahrscheinlich stets so lagern, dass die Adhäsionen
keine Passagestönmgen hervornifen. Zur Resection des Volvulus
haben vnr in unseren Fällen kein ßedürfniss empfimden.
Eine Entdrehung eines vollen Volvulus von mehr wie
270° durch hohe Eingiessungen halte ich, das betone ich
hier nochmals, für völlig unmöglich, einmal weil der abführende
Darraschenkel durch den um ihn gewickelten zuführenden voll-
kommen verschlossen ist, sodann, weil die geblähte Schlinge so
fest im Bauche fixirt liegt, dass sie sich unmöglich drehen kann.
Muss man doch bei der Operation zur Entdrehung ausnahmslos die
Beiträge zur Pathologie und Therapie des acuten Darmverschlusses. 43
Schlinge ganz aas dem Abdomen herausziehen, weil sie sich sonst
nicht drehen lässt.
18. Johann Gaede, 55 J., aufgenommen am 14. 5., entlassen am 4. 6. 91.
Danny erschluss durch Volvulus S romanum um 180 <'. Laparotomie.
Heilung.
Klinische Krankengeschichte mit Anamnese, Befund und Operations-
bericht nach meinem Dictat ist leider verloren. Ich gebe nachfolgend die
wesentlichsten Züge, deren ich mich noch entsinne. (Heidenhain). Ich
wurde zu dem Kranken, einem Stadtarmen, älteren Manne, durch Herrn Prof.
Peiper von hier consultirt. College P. erzählte mir, dass schon einmal im
Laufe der letzten 8 (oder 14?) Tage ein vollkommener Darmverschluss mit Er-
brechen dagewesen sei, der innerer Behandlung mit Eingiessungen wesentlich,
wich. Jetzt bestünde wieder Brechneigung bei angehaltenem Stuhl und Flatus.
Bei dem elenden, abgemagerten, stark senilen Kranken fand sich in der
rechten Unterbauchgegend zwischen Mittellinie und Darmbeinschaufel
eine stark geblähte Darmschlinge, die ihren Ort nicht änderte.
Noch am selben Vormittag wurde Pat. in die Klinik aufgenommen und
von Prof. Helfe rieh operirt. Die geblähte Schlinge erwies sich als ein S
romanum mit sehr langem Mesenterium, welches sich um 180^ gedreht hatte.
Entdrehung des Volvulus, Bauchnaht. Glatte Heilung. Pat. ist im Sommer
1894 an Hirnerweichung gestorben.
Die auffällige Thatsache eines Darmverschlusses
durch einen Volvulus dies S romanum von nur 180^ er-
klärten wir uns durch eine Insufficienz des Darmes bei
dem stark senilen Manne. (Vergl. Fall 16 mit epikritischer
Bemerkung.)
19. V., E., 34 Jahre, Maurer, Pasewalk. Aufgenommen und gestorben
am 14. 7. 95. Volvulus des S romanum. Laparotomie. Tod.
Der früher ganz gesunde Mann hat im letzten Fräl\jahr immer schwere
Arbeit zu verrichten gehabt und schwer heben müssen. Ende Mai 95 hatte er
dadurch heftige Schmerzen im Unterleib, die mehrere Wochen anhielten, doch
konnte er dabei seine Arbeit verrichten. Seit derselben Zeit hatte er auch viel
über Stuhlverstopfung zu klagen, die den ganzen Sommer anhielt, während er
früher nie daran gelitten hatte. Am 6. 7. 95 erkrankte nun Patient mit hef-
tigen Schmerzen im Unterleib, besonders in der linken Seite. Die Schmerzen
nahmen in den nächsten Tagen rasch bedeutend zu. Der Leib wurde von Tag
zu Tag mehr aufgetrieben und gingen keine Winde mehr ab. Dagegen soll
noch Stahlgang erfolgt sein, allerdings nur in ganz geringen Mengen; der
Stuhl soll blutig verfärbt ausgesehen und zum grössten Theil aus Schleim be-
standen haben. - Da am 9. 7. zu den Beschwerden noch Erbrechen hinzukam,
coDSultirte Patient einen Arzt, der Opiumtinctur und Klystiere verordnete. Da
trotz dieser Therapie keine Besserung eintrat, Hess sich Patient am 13. 7. in
die hiesige medicinische Universitätsklinik aufnehmen. Hier wurde die Dia*
gnose auf Ileus gestellt. Patient erhielt sogleich einen hohen Einlauf von
i
44 Dr. L. Heidenhain.
250 g Oleum olivaram, ohne jedoch darauf Stuhlgang zu bekommen. Die Nacht
verbrachte Patient trotz grösserer Dosen Opium und Morphium sehr unruhig.
Die Auftreibung des Leibes, auf den eine Eisblase gelegt wurde, war jetzt
enorm geworden. Die Schmerzen steigerten sich. Das AllgemeinlDefinden des
Patienten wurde zusehends schlechter. Patient wird deshalb am 14. 7. Mor-
gens zwecks einer Operation auf die hiesige chirurgische Abtheilung verlegt.
Status praesens. Patient hat massig kräftige Musculatur und starken
Knochenbau, frequente, kurze Athmung, noch leidlichen Puls und gutes Be-
wusstsein. Das ganze Abdomen ist prall aufgetrieben, die Bauchdecken sind
aufs straffste gespannt. Die Leberdämpfung ist zum grössten Theil ver-
schwunden. Der ganze Bauch mit Ausnahme einer etwa handtellergrossen
Steile dorsalwärts verlaufend gegen die Lendengegend, die gedämpften Schall
giobt, zeigt tympanitischen Schall. Die Auftreibung des Bauches ist
links etwas stärker als rechts. Die Blase ist fast leer, der Urin zeigt
keine pathologischen Bestandtheile. Im Magen, der einer Ausspülung unter-
worfen wird, befindet sich wenig Inhalt.
Operationsgeschichte. Es wird sofort zur Operation in Aether-
narkose geschritten. Nach gründlicher Desinfection wird ein Schnitt von etwa
8 cm Länge, circa 3 cm unterhalb des Nabels anfangend, gemacht. Nach Er-
öffnung des Peritoneums drängt sich eine stark geblähte Darmschlinge in die
Wunde. Der palpirende Finger fühlt in der Bauchhöhle eine stark aufgeblähte,
grosse Schlinge, offenbar dem Dickdarm angehörend, die von links unten nach
rechts oben verläuft. Da von diesem Schnitt aus bei dem starken Meteorismus
unmöglich Klarheit über die Lage und Art des Darmverschlusses geschafft
werden kann, wird die Bauchhöhle durch einen Schnitt von der Symphyse bis
zum Processus ensiformis eröffnet. Es quellen aus dem Abdomen stark ge-
blähte Darmschlingen hervor. Nun erkennt man, dass der lebhaft injicirte und
noch geringe Peristaltik zeigende Dickdarm in der Höhe der Flexura sigmoidea
gedreht ist und zwar, wie die Rückdrehung zeigt, um volle 3G0^, dass der
Darm also zweimal gedreht ist. Es wird nun eine stark geblähte Dickdann-
steile ausserhalb des Bauches gelagert, nachdem die übrigen Darmpartien durch
feuchtwanne aseptische Tücher geschützt sind, und incidirt. Sofort entweicht
Cias und eine beträchtliche Menge dünnflüssigen, stinkenden Kotbes. Nachdem
durch diese Oeflfnung so viel Inhalt entfernt ist, dass eine Reposition der Darm-
schlingen möglich erscheint, wird die Darmwunde nach vorheriger peinlicher
Reinigung der Umgebung genäht. An zwei Stellen ist die Serosa des Dick-
darms in Folge der Spannung geplatzt: auch diese Stellen werden durch Nähte
vereinigt. Dann werden die Intestina in die Bauchhöhle zurückgelagert. Um
vor einer Wiederkehr der Drehung sicher zu sein, werden dann der zu- und
abführende Theil der Flexura sigmoidea je durch eine Naht an die vordere
Bauchwand angeheftet. Darauf erfolgt die Naht der Bauchdecken in Etagen
(Peritoneum, Muskel und Fasoien, Hautdecken). Collodiumverband. Patient
befindet sich nach der Operation relativ wohl. Am Nachmittag jedoch treten
heftige« erschöpfende Durchfalle auf. Gegen Abend ziemlich rasch eintretender
CoHaps, den Excitantien nicht mehr zu heben vermochten. Exitus letalis um
8 Uhr Abends.
Beiträge zur Pathologie und Therapie des acuten Darmverschlusses. 45
Sectionsprotokoll. Kräftig gebaute männliche Leiche mit starken
Knochenformen. Die Haut ist schmutzig graugelb. Das Abdomen ist sehr
stark aufgetrieben, leicht grünlich gefärbt. In der Mitte ißs Bauches verläuft
eine ca. 30 cm lange Schnittwunde, welche durch Nähte geschlosben ist und
von einem schmalen hellrothen Saume eingefasst wird. Die Wundränder sind
verklebt. Nach Eröffnung des Bauches drängen sich durch die Schnittwunde
die excessiv erweiterten Darmschlingen, besonders der ad maximum gedehnte
Dickdarm. An verschiedenen Stellen des Dickdarmes ist die Serosa eingerissen,
so dass die Muscularis auf grössere Strecken hin blossliegt. Drei dieser Serosa-
risse sind durch mehrere Catgutnähte geschlossen. Um zu constatiren, ob die
durch die Operation geschafifene normale Lagerung der Flexur auch bei noch
grösserer Ausdehnung des Darmes erhalten bleibt, wird per rectum Luft in den
Darm geblasen. Hierbei lässt sich zunächst nun feststellen, dass der Darm in
allen Theilen durchgängig ist. Bei stärkerer Füllung des Dickdarms reissen
nun alsbald die genähten Serosarisse wieder auf und bald darauf platzt an
verschiedenen Stellen die Darmwand. Im Bauchraum befinden sich etwa
50 ccm einer trüben, sohmutzig-gelbgrauen Flüssigkeit. Der Peritonealüberzug
der in der linken Bauchhälfte gelegenen Darmschlingen ist trocken, von mattem
Aussehen, theilweise mit weissen, weichen Massen bedeckt. Die Darmschlingen
sind theils nnt«r sich, theils mit der Bauchwunde leicht verklebt. Es wird
nunmehr der Dickdarm herausgenommen, doch so, dass an der Flexur die
Radix des angehörigen Mesenteriums mit ausgelöst wird, so dass auf diese
Weise die Configuration der Schlinge, wie sie in situ war, erhalten bleibt.
Zum Zweck der Auslösung müssen zwei Catgutnähte, die die Flexur mit der
Bauchwand verbinden, durchti'ennt werden. Bei der Herausnahme der Flexur
wird eine weissliche sehnige Verdickung am Ansatz des Mesenteriums sichtbar,
die allmälig gegen die Peripherie der Schlinge hin abnimmt, doch derart, dass
auch die Serosa der Schlinge nicht zart und graudurchscheinend wie normale
Serosa ist. In Folge dieser Narbenbildung (als solche müssen wir sie be-
zeichnen) im Mesenterium der Flexur sind die beiden Ansatzpunkte der Flexur
einander beträchtlich genähert. Der Abstand zwischen beiden Fusspunkten
betragt nur 2Y2 cm. Ferner bemerkt man, dass die Serosa des Ileum etwa
10 cm oberhalb der Bauhin 'sehen Klappe auf einer etwa 5 cm betragenden
Strecke diffus verdickt ist. Diese Stelle befindet sich in unmittelbarer Nähe
des fibrös verdickten Theiles der Flexur. Von dieser Dünndarmschlinge zieht
ein derber bindegewebiger Strang ins Becken gegen das Promontorium hin,
wo er verbreitert inserirt. Das Duodenum enthält flüssigen, fdcal riechenden
Inhalt, der gelblich gefärbt ist. Die Gallengangspapille ist durchgängig. Die
Schleimhaut von gelblich rother Farbe enthält auf der Höhe der Falten zahl-
reiche punktförmige Hämorrhagien. Auch der Magen ist mit kothig riechendem
Inhalt von ungefähr 500 ccm Menge erfüllt. Die Mucosa ist mit Schleim be-
deckt. Auf der Höhe der Falten befinden sich zahlreiche Hämorrhagien in der
graurothen Schleimhaut. Der ganze Dünndarm ist mit fäcalriechendem, reich-
lichem, flüssigem Inhalt erfüllt. Die Serosa fast überall trocken, matt, aber
mit Ausnahme der oben beschriebenen Stelle im Ileum zart. Die Schleimhaut
zeigt an verschiedenen Stellen umfangreiche Blutungen, an anderen Stellen
46 Dr. L. Heidenhain,
ist sie grauroth, aber von etwa gallertiger Beschaffenheit. Im Dickdarm be-
findet sich eine grosse Menge gelblichen, flüssigen, stark übelriechenden In-
halts. Die SchleiiQhaut ist stark ödematös. Im ganzen Dickdarm bis zur
Fiexur hin finden sich massenhafte, schwarzroth aussehende Blutungen in der
Mucosa und Submucosa, Blutungen, welche entweder unregelmässig grosse
Partien des Darmes einnehmen, so besonders im Coecum und im Colon descen-
dens, oder aber in ihrer Ausbreitung dem Verlauf der Tänien und der Septen
zwischen den Haustra coli folgen uud somit in diesen Theilen ganz das Bild
darbieten, wie man es im ersten Stadium der Ruhr findet. In der Mitte dieser,
also „striokleiterartig^^ angeordneten Blutungen trifft man gelblich opak , wie
necrotisch aussehende Schleimhautfelder. Auch oberhalb der grösseren, zu-
sammenhängenden Blutungen trifft man ähnliche, nur entsprechend grössere
Abschnitte nekrotischer Schleimhaut. Distal am unteren Ende der Fiexur hört
diese starke Veränderung der Schleimhaut plötzlich in einer scharfen Linie
auf. Unterhalb dieser Linie ist der Dickdarm oontrahirt, mit wenig Inhalt
erfüllt. Die Schleimhaut grauweiss und mit massigem Blutgehalt in den
Gefässen.
Diagnose: Peritonitis fibrinosa. Dilatatio coli, ilei, j^uni. Discisiones
serosae coli. Colitis haemorrhagioa et gangraenosa. Cicatrix mesenterii.
Peritonitis chronica fibrosa flexurae et ilei. Dilatatio ventriculi cordis sinistri.
Atolootasis lobi inferioris pulmonis utriusque. Pleuritis adhaesiva. Bronchitis
oatarrhalis.
Die Beobachtung ist schon in der Dissertation von Reimers^)
voniffentlicht. Ich habe sie hier vollkommen, namentlich mit dem
ausführlichen Soctionsprotokoll wiedergegeben, weil dieses letztere
zeigt, wie enorme Veränderungen nach durch so lange andauernden
Darmverschluss in den zuführenden Darmtheilen entstehen. Die
Schleimhaut des ganzen Dickdarmes war mit Blutungen durchsetzt
wie in don ersten Stadien der Ruhr; dazu fanden sich Nekrosen
der Schleimhaut. Blutungen fanden sicU noch im Ileum. Der
^anzo Dünndarm war mit gestautem Inhalt erfüllt. Angesichts
solcher schweren anatomischen Veränderungen der Darmwand ist
doch wahrlich post operationcm die gründliche Entleerung des
l>armes durch Abführmittel angezeigt. Es müssen, geschieht dies
nicht, ja mit Nothwendigkeit die schwersten geschwürigen Processe
in der Schleimhaut und mit diesen allgemein septicämische Zu-
stände entstehen! Djiss von solchen schweren Schleimbautverän-
(lerunpM\ sehr Icichi eine secundäre Peritonitis ausgehen kann,
braucht kaum bemerkt i\\ wcnlen o'^^rgl. Fall 12 und 22).
i"^ IWiir«^ lur Li^br^ d<^s Votvulus der Flexura sigmoidea. Greifswald 1896.
Beiträge zur Pathologie and Therapie des acuten Darmversohlasses. 47
2#^). Der 66jährige Arbeiter W. W. gab an, seit mehreren Jahren an
onregelmässigem Stuhlgang und öfteren Kolikschmerzen, welche dem Stuhl-
gang Yoraufgingen, gelitten zu haben. Seit 14 Tagen habe er 3- -4 mal 2 oder
3 Tage keinen Stuhl und dabei Schmerzen im Leibe gehabt ; der Stuhl sei von
selbst wiedergekommen. Bauchfellentzündung, Typhus, Ruhr, Quetschung des
Bauches nicht durchgemacht. Am 17. 8. 95 habe er Morgens vor Beginn der
Arbeit heftige Leibschmerzen bekommen; Stuhl und AVinde seien seitdem völlig
ausgeblieben, anfallsweise Leibschmerzen hätten angehalten. Erbrechen sei
nicht dagewesen, doch habe er absolut nichts zu sich nehmen können.
Aufgenommen am 24. 8. 95. Kräftiger Mann, leidlicher Ernährungs-
zustand, Lungen gesund, Puls gut, kein Fieber.
Starke Hervorwölbung der Bauch wand in der rechten Beckenhälfte durch
eine mächtig aufgetriebene Darmschlinge, welche bis zur Mittellinie reicht.
Des weiteren starke Hervorwölbung, mit ebenfalls hoch tympanitischem Schalle,
über dem Colon desc, transv. und ascend. ; Epigastrium durch das Colon
stark hervorgewölbt; in der Mitte des Bauches, um den Nabel herum, eine
schüsselformige Vertiefung in Folge mangelnder Auftreibung des Dünndarmes.
Paüpation erregt schmerzhafte peristaltische Wellen im Dickdarm, welche zu
noch stärkerer Hervorwölbung dieses führen. Keine diffuse Druckempfindlich-
keit; Bruchpforten frei; per rectum fühlt man durch die vordere Mastdarmwand
ein Bündel schlaffer, wenig gefüllter Dünndarmschlingen.
Die stark geblähte Darmsohlinge in der rechten Beckenschaufel wird als
S Romanum angesprochen. Diagnose: tiefer Dickdarmversohluss (Narben-
strictur, Bänder und Stränge bildende Peritonitis, Carcinom oder Yolvulus;
letzteres möglich wegen der sehr starken Blähung der Flexur).
Bei dem guten Kräftezustande und der Sicherheit über den Sitz des Hin-
dernisses war die Laparotomie dringend angezeigt, da die Vorgeschichte des
Kranken eine spontane Lösung des Hindernisses nicht erwarten liess.
Operation 2 Stunden nach der Aufnahme: Aethernarkose. Nach Eröff-
nung des Leibes in der Mittellinie drängt sich sofort eine stark geblähte Dick-
dannschlinge in die Wunde. Ich lasse dieselbe nach dem Vorschlage von
Greig Smith theilweise austreten; ihr einer Schenkel entwickelt sich schnell,
der andere scheint im Bauchraum fixirt. Entlang dem fizirten Schenkel, der
in der Richtung nach dem Promotorium verläuft, gelangt die Hand, ungefähr
an dem Uebergange des grossen in das kleine Becken, an einen vollkommen
leeren, nur etwa zwei Finger starken Abschnitt der Schlinge. An dem Ueber-
gange des geblähten in den leeren Abschnitt der Schlinge ist irgend ein Band
oder Strang um den Dickdarm geschlungen. Weitere Orientirung war unmög-
lich ohne ein Hervorziehen der geblähten Dickdarmschlinge, welche wenigstens
die Dicke des Vorderarmes eines sehr starken Mannes hatte. Dabei zeigte sich,
dass dieselbe das sehr lange und an seinem Fusspunkte um 360 o, oder fast so
viel gedrehte S Romanum war. Am Fusspunkte der Schlinge starke narbige
>) Aus: L. Heidenhain, lieber Darmlähmung nach Darmeioklemmung,
Deutsche Zeitschrift für Chirurgie, Bd. 48, S. 201, abgedruckt.
48 Dr. L. Heidenhain,
Schrumpfung des Mesenteriums derart, dass die beiden Schenkel der Schlinge
sich fast berührten; ausserdem peritonitische, dünne, strangartige Adhäsionen
der beiden Schenkel an einander. Trennung der letzteren; Entfaltung des
Mesenteriums unmöglich. Quere Incision der Flexur an der Convexitat, Ent-
leerung von Gasen und 400—500 ccm flüssigem Darminhalt durch Druck auf
die Schlinge und den Bauch; Darmnaht; Fixirung der Convexitat der nun
leicht reponirten Schlinge durch zwei Seidennähte am Peritoneum parietale;
Schi US der Bauch wunde. Operationsdauer 1 Stunde, beendet 6 Uhr Nachmit-
tags. Nach Erwachen aus der Narkose zur Anregung der Peristaltik schwarzer
Kaffee verabreicht. Abgang von Flatus; Nachts 3 Uhr Stuhl.
25. 8. Afebril. Wohlbefinden. 26. 8. Seit gestern Abend weder Stuhl
noch Flatus; Dickdarm in ganzer Länge aufgetrieben, fast so stark, wie vor
der Operation. Glycerinklysma schafft nur wenig flüssigen Stuhl, untermischt
mit etlichen härteren Bröckeln, darum Einlauf von 1 Liter Wasser. Stuhlgang,
Auftreibung geringer. 27. 8. Trotz mehrfachen Abgangs von Flatus Dick-
darm wieder stark aufgetrieben; auf Ricinus Stuhlgang mit Weichwerden des
Leibes. Unter Fortgebrauch von Ricinus und gelegentlichen Gaben von Bis-
muth. subnitr. glatte Genesung. Bis zum 8. 9. gelegentlich Störungen durch
Blähung des Dickdarmes.
Geheilt entlassen am 9. 9.
21. K., Joachim, 70 Jahre, Arbeiter, Heidenhof. Aufgenommen am 12. 8.,
entlassen am 29. 8. 96. Volvulus des S Romanum, Laparotomie, Heilung.
Hat nie Typhus, Bauchfell- oder Blinddarmentzündung gehabt. Bauch-
verletzung nicht dagewesen. Stuhlgang bisher regelmässig täglich. 7. 8. letzter
Stuhlgang und zwar etwas weniger als gewöhnlich. 10. 8. Abends der an-
dauernden Verstopfung halber Dr. Hecke- Jarmen um Rath gefragt: Ricinusöl
und Klystiere blieben erfolglos, erregten aber heftige Schmerzen, die seitdem
anhalten. Erbrechen nicht dagewesen.
Befund 12. 8. Mittags: auffallend jugendlich und rüstig aussehender
Mann, frischrothe Lippen, kräftiger, langsamer Puls, geschlängelte Radialis,
ängstlicher Gesichtsausdruck; Musculatur und Fettpolster massig.
Abdomen massig vorgewölbt; die ganze Unterbauch gegend vom Nabel
abwärts weich, eindrückbar; die obere Bauchgegend vom Schwertfortsatz bis
Nabel weist etw^as stärkere Resistenz auf. Der Schwertfortsatz liegt in einer
tiefen Grube. Leberdämpfung ist auf der Vorderseite nicht vorhanden. Im
5. Intercostalraum — Mammillarlinie — geht der Lungenschall in stark tyra-
panitischen Schall über. Keine absolute Herzdämpfung, Spitzenstoss unfühl-
bar, aber sichtbar an normaler Stelle.
Die genauere Betrachtung des Abdomen zeiget Folgendes: In der Höhe
des Nabels zieht querüber eine seichte Furche, durch welche der etwas stärker
gewölbte untere Theil des Bauches von dem oberen abgegrenzt ist. Am stärk-
sten und zwar flächenkugelig ist die Gegend zwischen Spina ant. sup.
dext. und der Medianlinie hervorgewölbt. Wenn ein Kolikanfall eintritt,
was fast alle 4 Minuten der Fall ist, so wird aus der flach kugeligen Her-
Yorwölbung eine halbkugelige und dabei zieht über diese etwa in der Rieh-
Beiträge zur Pathologie und Therapie des acuten Darmverschlusses. 49
tiing von der Symphyse zur Mitte der Lendengegend eine ganz seichte Furche.
Im Uebrigen wird bei jedem Kolikanfalle das gesammte Abdomen stärker her-
Torgewölbt, als im Ruhezustände. Hier und da, insbesondere beim Beginn der
Koliken, sieht man Darmbewegungen durch die dünnen Bauchdecken. Bei der
Palpation weist die geblähte Darmschlinge in der Fossa iliaca dext. das cha-
rakteristische weiche Polsterkissengefühl auf. Man hat entschieden den
Eindruck, als ob die ganze handfläch engrosse, hoch tympanitisch schallende
Prominenz in der rechten Unterbauch gegen d durch eine einzige geblähte
Darmschlinge gebildet würde. Demnächst ist in der linken Bauchseite mit
ziemlicher Sicherheit eine mindestens 3 Querfinger breite, geblähte Darm-
schlinge durchzufühlen, welche etwa von der Symphyse her schräg nach links
aufwärts und aussen zieht und etwa dem Schnittpunkt der linken Mammillar-
linie mit dem Rippenbogen zusteuert, jedoch 2 Querfinger unerhalb des Rippen-
bogens in der Tiefe verschwindet. Das Epigastrium ist, namentlich bei Kolik-
wellen, von einem querverlaufenden , tympanitisch schallenden Wulste ein-
genommen, der offenbar dem Quercolon entspricht.
Die vorderen Theile des Abdomens weisen überall tympanitisch en Schall
auf, die linke Lendengegend bis zur Mammillarlinie stark gedämpft tympani-
tischen, die rechte Lendengegend fast leeren Schall bis zur Axillarlinie. In
der Blasengegend ist der Schall etwas gedämpft. Die stark gefüllte Darm-
schlinge in der rechten Unterbauchgegend verändert ihren Platz durchaus
nicht, auch nicht bei Kolikanfällen, ebenso wenig die schräg verlaufende in
der linken Bauchseite.
Beiderseits eine kleine, leicht reponible Inguinalhernie, deren Bruch-
pforten für 2 Finger bequem durchgängig sind. An den Innenseiten der Bruch-
pforten nichts Abnormes. Bei der Rectal Untersuchung fühlt man mit der
Spitze des Fingers durch die Vorderwand des Mastdarms eine stark hühnerei-
grosse, prall gefüllte Darmschlinge, sonst nichts Besonderes.
Diagnose ante operationem: Der Befund lässt mit fast voller Sicher-
heit einen tiefen Verschluss des Dickdarms annehmen. Die in der rechten
Fossa iliaca gelegenen Darmschlingen mitsammt der Schlinge, welche von
der Symphysengegend nach dem linken Rippenbogen zieht, wird als geblähtes
S Romanum angesprochen. Diese Lagerung der Flexur ist so charakteristisch
für Volvalus flexurae, dass ein solcher als wahrscheinlich vorliegend ange-
nommen wird. Diese Annahme scheint dadurch unterstützt zu werden, dass
bei dem hoch tympanitischen Schalle der obenaufliegenden, mächtig geblähten
Dannschlinge beide Lendengegenden einen stark tympanitisch gedämpften
Schall aufweisen, welcher auf eine Füllung des auf- und absteigenden Colon
hinzuweisen scheint. (Da die Operation einen geringen Ascites nachwies, so
ist dieser ante operationem festgelegte Schluss hinfällig.) Gegen Volvulus
scheint zu sprechen, dass die Krankheit allmälig einsetzte (Freitag Stuhl,
Sonnabend wenig, Sonntag gar keiner; Koliken erst seit dem am Sonnabend
Abend gegebenen Abführmittel). Doch wäre es möglich, dass schon seit län-
gerer Zeit ein noch durchgängiger Volvulus von etwa 180 ^^ bestanden hat, der
sich erst von Sonnabend zu Sonntag oder Montag vollkommen zudrehte. —
ArehiT fttr klin. Chirurgie. 67. Bd. Heft 1. 4
50 Dr. L. Heidenhain,
Bei dem Alter des Patienten ist ein tief sitzendes üickdarmcarcinoin ebenfalls
möglich, doch spricht dagegen einigermaassen die Angabe, dass niemals Obsti-
pation bestanden haben soll. Dass die oben aufliegende, mächtig geblähte
Schlinge Dünndarm sei und ein Dünndarmverschluss bestehe, ist selbstver-
ständlich nicht vollkommen auszuschliessen.
Zunächst 3 Uhr hoher Einlauf von 50l) com Olivenöl, geht ohne Wider-
stand glatt in den Darm hinein. ^/^ Stunden später, nachdem ein grosser Theil
des Oels abgelaufen, hoher Einlauf von 1 Liter Wasser. Um 4Y2 Uhr ist nur
kothig gefärbtes Wasser abgegangen, daher
Operation (Heiden hain) in Narkose (Chloroform bis zum Schwinden
des Bewusstseins , dann Aether in Schüttelmaske): Schnitt vom Nabel bis
2 Finger breit oberhalb der Symphyse. Nach Eröffnung des Peritoneums
drängt sich sofort weit aufgeblähter Dickdarm hervor. Die an diesem nach
der Tiefe in das Becken dringende Hand fühlt sofort in der Höhe des Pro-
montoriums eine Ueberdrehung. Die geblähte Dickdarmschlinge wird
ganz hervorgezogen und erweist siclL-als-jeiii.^zura grossen T heile in der
rechten Beckenhälfte lie^<Si®BWvM>fiiÖ^>des S romanum, Drehung
um 360^ nach links. RücyWfiingj'^MSS^TttCTiumCM sehr lang, Darm-
rohre am Fusspunkte 3 FiMfr breit von einander (»«^rnt, Mesenterium ohne
narbige Veränderungen, Barm sjlM4^6 wIQQQ^läulibh verfärbt, zeigt bald
Peristaltik. DurchmesserWfes Darms ca. 4 FingerlBfo/eit. Darmrohr in den
Anus handbreit eingeführt ;\s etkweiohgi»ontcrZgsaiamenfallen des S romanum
eine Menge Gase und etwasNtM^i^rpji^jj^,jK^osition der Flexur darauf
leicht. Fixation derselben an derPeriTonealwunde des Bauchschnittes durch
drei Seidenknopfnähte zur Vermeidung einer Wiederkehr des Volvulus. Etagen-
naht der Bauchwunde.
Operation gut überstanden. Puls am Ende 72, kräftig. Abends 9 Uhr
schwarzer Kaffee mit 1 Esslöffel Ricinus, dazu Darmrohr in den Anus.
13. 8. Nachts drei Stühle, heute über Tag vier solche. Wohlbefinden.
Verlauf glatt bis auf eine umschriebene pneumonisch-pleuritische Störung
vom 20. — 24. 8. Geheilt entlassen in völligem W^ohlbefinden am 29. 8. %.
23. Carl Neumann, 63 J., Kutscher aus lluhhof. Aufgenommen am 13. 1.,
gestorben am 27. 1. 97. Volvulus des S romanum, Laparotomie und Detorsion.
Tod an Pneumonie.
Bisher stets gesund gewesen. Am 9. 1. Nachmittags kam der N. von
einer längeren Fahrt nach Hause, eine V^iertclstunde später begannen heftige,
anfallsweise auftretende Schmerzen im Unterleibe begleitet von Erbrechen.
Seitdem ist kein Erbrechen mehr da gewesen, allein die Schmerzen hielten un-
verändert bis heute an. Stuhl und Blähungen waren völlig angehalten; nur
heut (13. 1.) früh soll eine Blähung abgegangen sein und während der Fahrt
hierher etwas Stuhl. Der Stuhlgang ist übrigens früher stets regelmässig
gewesen.
Aufnahm ebefund am 13. 1. 97 Abends: Mittelgrosser, magerer Mann,
schwache Musculatur, Gesichtsausdruck leidend, tief liegende Augen. Herz
und Lungen ohne abnormen Befund. Geringe Atheromatose der Gefässe. Puls
Beiträge zur Pathologie und Therapie des acuten Darmverschlusses. 51
kraftig, ca. 100, oft aussetzend. Temperatur normal. Abdomen massig auf-
getrieben, mittelstark gespannt, bei starkem Drucke in der Nabelgegend etwas
empfindlich. Eine stark geblähte und fixirte Darmschlinge liegt in der linken
Bauchseite und ragt ein wenig nach der rechten Seite hinüber. Sie zieht
(vergl. Bild 11) von unten und links nach oben und rechts von der Mittel-
linie bis fast zum Leberrande aufwärts, biegt dann \un und steigt wieder in
der Richtung nach der Spina ant. sup. sin. abwärts. Gesicht und Gefühl
lassen deutlich erkennen, dass es sich um eine sehr stark geblähte Darm-
Fig. 11.
Leberdämpfung
leifht gedimpfler^,---
tjmpanitiseher "-^-,
Bexirk
hoch
tympanitiseh
rün aussen sieht- oud fühlbar stark geblähte Schlinge
Volvulus Neumann.
schlinge handelt. Der Schall über derselben ist hoch tympanitisch, während
über den übrigen Theilen des Abdomens der Schall gedämpft tympanitisch ist.
Feristaltischc Bewegungen des Darmes sind nicht sichtbar. Lebevdämpfung in
der Mamillarlinie zwd Finger breit über dem Rippenbogen, in der Mittellinie
ara Schwertfortsatz. Faustgrosse, leicht reponible Skrotalhernie.
Bei einem hohen Einlauf laufen nur ca. ^/^ 1 ein und gehen sofort wieder
ab, so dass auf ein tief sitzendes Hinderniss geschlossen wird.
Die Lage der mächtig geblähten fixirten Darmschlinge entsprach nach
4*
52 Dr. L. Heidenhain,
unseren Erfahrungen dem S romanum. Dessen gewaltige Blähung und der
acute Beginn sprachen für einen Volvulus des S romanum. Für einen chro-
nischen Verschluss sprach dagegen das gute Allgemeinbefinden und der an-
geblich zeitweilige Abgang von etwas Stuhl und vereinzelten Blähungen, auch
das Alter des Kranken und das etwas kachektische Aussehen. Doch erschien
ein Volvulus noch wahrscheinlicher, als ein Carcinom. Operation, weil der
Kranke sich erst etwas von der weiten Eisenbahnfahrt erholen soll, auf den
folgenden Tag verschoben.
14. 1. Vormittags Laparotomie. Medianschnitt handbreit oberhalb des
Nabels beginnend, bis fast zur Symphyse (Helferich). Bei Eröffnung der
Baachhöhlo wird die stark hervorgewölbte Dannschlinge angeschnitten, und
es entleert sich im Strahle eine grosse Masse von Koth und Gasen, deren Ein-
fliessen in die Bauchhöhle durch schnelles Anziehen der eröffneten Schlinge
leicht verhindert wird. Die Schlinge wird theilweise aus der Bauchhöhle her-
vorgezogen und vollkommen entleert, darauf ausgespült. Naht der Darmwunde
in drei Etagen. Darauf völlige Entwickelung der Schlinge aus dem Bauche.
Sie erweist sich als das vollkommen um seine Achse gedrehte vS romanum.
Die beiden Schenkel der Flcxur sind in ihrer ganzen Länge mit einander ver-
wachsen, so dass sie neben einander liegen, wie die beiden Rohre einer Doppel-
flinte. Die Drehung sitzt, wie gewöhnlich, am Fusspunkte und beträgt 360^
oder fast so viel. Der absteigende Schenkel ist dicht oberhalb des Promon-
toriums mit Dünndarmschlingen verwachsen und von ihnen überlagert, so dass
eine volle Orientirung erst gelingt, nachdem der gesammte Dünndarm aus dem
Bauche herausgehoben und nach rechts hin übergeschlagen ist. Detorsion, Re-
position, Fixation der Flexur in richtiger Lage durch eine Gatgutnaht, Jodo-
formmull in den unteren Wundwinkel. Bauchnaht. — Abends Befinden gut,
schmerzfreL Nach einem Löffel Ricinusöl massenhaft Stuhlgang mit
Blähungen. Puls oa. 100, alle 8 bis 9 Schläge aussetzend, jedoch kräftig und
voll; kein Erbrechen. — 15. 1. Gutes subjectives Befinden; Puls gut und
kräftig. Andauernder Abgang von Stuhl und Winden, kein Erbrechen, Leib
nicht schmerzhaft, Temperatur normal. - 17. 1. Fieber Abends bis 38,8.
Rechts hinten unten abgeschwächtes Athmen, Pfeifen und Rasseln. — Trotz
gi'össter Anstrengungen entwickelte sich bei gutem Appetit und normalen
Darmfunctionen die Pneumonie weiter und am 27. Abends erfolgte der Tod.
Die Sectio n zeigte eine Pneumonie des rechten Unterlappens und
allgemeine Bronchitis, Im Bauch fanden sich nur geringe Verklebungen der
gedreht gewesenen Schlinge, sonst nichts Abnormes. Die Darmwunde war gut
verheilt. Im unteren Theile des Dickdarmes war die Schleimhaut
an vielen Stellen nekrotisch, zeigte zahlreiche schmutzig graue
Fetzchen und mehrere flache Substanz Verluste mit zackigen Rändern, an einer
Stelle einen Zehnpfennigstück grossen Defect bis in ^ie Muscularis mit ge-
schwürigem Grunde.
Der Befund bei der Section zeiirt wiederum deutlich, wie
wichtig es ist bei derartifren Erkrankuniren lange Zeit abfiihron
zu lassen.
Beiträge zur Pathologie and Therapie des acuten Darmverschlusses. 53
T. 2 FUIe Ton Darmlähmung nach Reposition einer ein-
geUemmten Hernie.
1 geheilt, 1 gestorben.
Die beiden Beobachtungen gleichen sich in den wesentlichen
Zögen vollkommen. Die zweite habe ich schon in meinem xVuf-
satzo über „Darmlähmung nach Darmeinklemmung" (Deutsche
Zeitschr. f. Chir. Bd. 43) mitgetheilt und daran eine kritische
Darstellung geknüpft, auf welche ich zurückverweisen muss. Auch
die erste Kranke wäre wohl zu retten gewesen, wenn wir sie nach
der ersten Operation hätten gründlich abführen lassen; allein
damals hatten wir die entsprechenden Erfahrungen noch nicht
gemacht.
23* Frau Fasten, 57 J., aufgenommen am 6. 5., gestorben am 7. 5. 94.
Darmverschluss durch Darmlähmung nach Brucheinklemmung.
Einklemmung einer linksseitigen Schenkelhemie am 29. 4.; Reposition
derselben am 3. 5. durch Herrn Dr. Kutzner. Wegen Fortdauer der Ein-
klemmungserscheinungen Aufnahme in die Klinik am 6. 5.
Aufnahmebefund: lieber ihre Jahre hinaus gealterte, hagere Frau,
klagt über Bauchschmerzen, Stuhldrang und unstillbares Erbrechen. Puls
ziemlich kräftig, 85. Athmung etwas beschleunigt. In der linken Schenkel-
bruchgegend fühlt man eine etwa taubeneigrosse, nicht fluctuirendo Geschwulst,
die sich unter das Poapart'sche Band verfolgen lässt. Daneben geschwollene
Lymphdrüsen. Auf Druck zeigt die Geschwulst geringe Schmerzhaftigkeit.
Hechts in derselben Gegend eine geschwollene Lymphdrüse. Das Abdomen ist
aufgetrieben, giebt überall exquisit tympanitischen Percussionsschall, zeigt
nirgends locale Schmerzhaftigkeit. Es besteht Stuhl verhaltung und Koth-Er-
brechen. Magenausspülung fördert eine Menge stinkenden, galligen Inhalts zu Tage.
Darauf unmittelbar Operation (Helfer ich) in Aethernarkose. Zu-
nächst Eröffnung des linksseitigen Schenkelbrachsackes: es findet sich hier ein
dem Sacke adhärenter Netzstrang, der abgetragen wird; der Netzstumpf wird
versenkt. Da dieser Befund zur Erklärung der Symptome nicht ausreicht und
die Palpation der Bauchhöhle durch die Bruchpforte auch nur ein negatives Er-
gebniss liefert, so wird auch die rechte Cruralbruchpforte freigelegt. Hier findet
sich ein kleiner leerer Bruchsack. Jetzt werden hier durch die Bruch pforte
einige Darmschlingcn hervorgeholt, die sich alle als normal erweisen. Wieder-
versenkung dieser in den Bauch, worauf durch die linke Bruchpforte einige
Darmscblingen hervorgeholt werden. Unter diesen findet sich eine Dünndarm-
schlinge, die auf einer Länge von fast 4 cm und fast circulär (bis auf eine
eine Lücke von etwa einem halben Centimeter) matt dunkelroth verfärbt ist.
In der Mitte dieses verfärbten Darmtheiles ist die Serosa eingerissen. Wund-
fläche nicht ganz von der Grösse eines Pfennigstückes. Die Serosa des ver-
54 Dr. L. Hoidenhain,
färbten Theiles zeigt eine dünne Auflagerung. Offenbar ist diese Schlinge ein-
geklemmt gewesen. Naht des Serosarisses, Versenkung der Schlinge, Naht der
Bruchpforte, Tamponnade der Wunde. Abtragung des rechtsseitigen Bruch -
Sackes, ebenfalls Tamponnade.
Pat. war während des Eingriffes sehr elend, fast moribund. Campher
und Wein. In der Nacht ist sie sehr unruhig, der Puls wird schlechter,
Athmung beschleunigt; kein Abgang von Flatus oder Stuhl.
7. 5. Morgens: Keine Winde, noch Stuhl. Da um Mittag der Puls etwas
besser ist, so wird in der Annahme, dass doch noch ein Hinderniss
bestehen müsse, zur Laparotomie geschnitten. Schnitt in der Mittel-
linie, Palpation lässt nichts Abnormes finden. Schleunige Absuchung des
Dünndarmes von einer fixirten Stelle aus. Es findet sich bald die
nach der Annahme eingeklemmt gewesene Schlinge; ihr centrales Ende ist
etwas aufgebläht, das periphere noch contrahirt und etwas dünner. Da sich
nichts Abnormes weiter findet, Schluss der Bauchwunde. Darauf Einlauf;
Nachmittags Stuhlgang und Abgang von Winden, dabei Verlangen
nach Nahrung ohne Vomitus. Abends gegen 9 Uhr Collaps und Tod trotz Ex-
citantien Nachts 2 Uhr.
Section (Dr. Fränkel): Stark abgemagerte, ältere weibliche Leiche.
Im unteren Theile des Leibes in der Mittellinie eine 6 cm lange Schnittwunde,
welche durch 6 Nähte völlig geschlossen ist, desgleichen in beiden Leisten-
gruben je eine 7 cm lange, lineare, 2 cm tiefe Schnittwunde, durch je eine
Naht geschlossen, deren Ränder und Grund beiderseits eine rothe, granulirende
Beschaffenheit zeigen. Nach Eröffnung der Bauchhöhle zeigt sich das fettreiche
Netz retrahirt zwischen Magen und Dickdarm liegend. Die vorliegenden Darm-
schlingen ziemlich metcoristisch aufgetrieben. Die Rückseite der medianen
geröthet, sonst intact. An einer der vorliegenden Darmschlingen sieht
man in der ganzen Circumferenz eine 6 cm lange Stelle, welche eine schwarz-
rothe Farbe hat, in deren Mitte sich eine 2^/2 cm lange Stelle befindet, die
mit einem graugelblichen, zähen, aber abnehmbaren Belage versehen ist; auf
ihr vier Nähte. Etwa 10 cm von dieser Stelle entfernt wird der Darm plötzlich
ausserordentlich dünn, etwa kleinfingerdick und setzt sich in dieser Stärke
noch eine grosse Strecke weit fort. Im kleinen Becken ca. 5 ccm einer trüben
roth gefärbten Flüssigkeit. Am grossen Netz ein Stumpf desselben von einer
Ligatur umschnürt
Anatomische Diagnose: Peritonitis recens fibrinosa purulenta, Atro-
phia cordis fusca, Oedema pulmonum, Nephritis parenchymatosa et interstitialis,
Gastrectasia chronica, Ileitis circumscripta haemorrhagica.
24. Wilhelm Krause, 51 Jahre alt, besitzt seit 18 Jahren einen grossen
rechtsseitigen, reponiblen Scrotalbruch , der nie Beschwerden machte. Vor
8 Tagen links ein Bruch bemerkt. Einklemmung dieses am 21. 8. 95 bei der
Arbeit; sehr heftige vSchmerzen, Erbrechen; Reposition der Hernie durch Herrn
Dr. Sieberl, Prenzlau; Pat. giebt an, dass damit die Schmerzen wie mit
einem Schlage aufgehört hätten ; trotzdem dauerte das Erbrechen an und wurde
kothig. Von Dr. Siebert, Prenzlau, in die Klinik gesandt, aufgenommen am
25. 9. 95 Nachmittags gegen 6 Uhr.
Beiträge zur Pathologie und Therapie des acuten Darm verschlusses. 55
Kräftiger Mann; Kotherbrechen. Rechts eine grosse reponible Scrotal-
hernie. Linke Seite des Scrotums leer; Abdomen ohne Besonderheiten,
Füllung der Därme gering; Temperatur 37,5 ö. Oberhalb des linken Poupart-
schen Bandes kein Tumor zu fühlen ; Palpation daselbst nur wenig empfindlich.
Uebriger Leib schmerzlos.
Diagnose: Massenreduction auszuschliessen, weil mit der Taxis die
Schmerzen sofort gehoben waren und nicht wiederkehrten. Wahrscheinlich
leichtere Peritonitis in der Umgebung der incarcerirten Schlinge (vielleicht be-
ginnende fleckweise Gangrän) oder Abknickung der reponirten Schlinge, etwa
durch einen an der Bruchpforte adhärenten Netzstrang.
Nach gründlicher Magenausspülung (die hier übrigens bei jeder einge-
klemmten Hernie und bei jedem Ileusfalle ante op. ausgeführt wird) Eröffnung
des Leibes oberhalb der linken Annulus inguin. int. : Bruchsack leer, wird mit
leichter Mühe wie ein Hand seh uhfinger nach dem Bauchraume zu umgestülpt,
an der Basis abgebunden, abgeschnitten, der Stumpf am Peritoneum parietale
fixirt. Kein adhärirender Netzstrang. Nach Beiseiteschieben einer etwas ge-
blähten Dünndarmschlinge findet sich unmittelbar am Annulus inguin. int.
eine mit fibrinösen Beschlägen bedeckte schlaffe Dünndarmschlinge, welche
nicht die geringste Bewegung zeigt. Sie wird hervorgezogen, ist ca. 30 cm
lang, um 180^ um ihr Mesenterium gedreht und ausserdem umgeklappt, so
dass sie der linken Seite des Mesenteriums aufliegt. Richtiglagerung der
Schlinge; an der rechten Bruchpforte nichts Abnormes. Schluss der Bauch-
wunde. Nach Erholung von der Narkose erhält Pat. starken schwarzen Kaffee
mit Ricinusöl. Baldiger Stuhlgang.
Glatte Reconvalescenz quod abdomen. Leider traten sehr bald
Störungen Seitens eines alten Herzleidens auf. Am 19. 10. ging Pat. unter
dem Bilde eines apoplektischen Anfalles zu Grunde.
Section: Hypertrophia cördis cum dilatationc; Myocarditis parenchy-
matosa; Nephritis chron.; fibröse Verdickung des Peritoneums der einge-
klemmt gewesenen Schlinge nebst leichten Verwachsungen, llirnsection nicht
gestattet.
TL 3 Falle toh DarmTerschluss , welche durch hohe Ein-
glessungen geheilt wurden.
In allen 3 Füllen ist es mir zweifelluift geblieben, ob es siel»
um reine und einfache Koprostasen geliandell liat.
2S. Marie Breese, 56 J., Greifswald, aufgenommen am 14. 3., entlassen
am 16. 3. 91. üarmverschluss durch Koprostase.
Ist seit Sonntag (Datum?) bettlägerig, klagt über Schmerzen im Bauch,
Verstopfung und zeitweiliges Erbrechen; Karlsbader Salz vorgeblich angewendet.
Sie giebt femer an, dass seit Sonntag in Folge Anstrengungen und Pressen
beim Stahlgang Hämorrhoiden entstanden seien, welche bluteten. Wegen ähn-
lichen Leidens ist Pat vor 4 Jahren in der hiesigen chir. Klinik mit Pillen
und Darmrohr behandelt.
56 Dr. L. Heidenhain,
Aufnahmebefund atii 14. 3.: Leib stark aufgetrieben, aber wenig
schmerzhaft. Percussionsschall tympanitisch, überall gieichmässige Resistenz.
In der linken Leistenbeuge eine hühnereigrosse, fluctuirende, massig gespannte
Geschwulst von leerem Percussionsschall. Rectum leer. Magenausspülung;
darauf Einlauf unter massigem Druck; Wasser fliesst rein ab. Einführung eines
langen Darmrohres; es entleert sich sofort reichlich flüssiger Koth und Flatus.
Der Leib wird weich und nimmt sichtlich an Volumen ab. Ueber Nacht mehr-
mals reichlicher dünner Stuhl. 16. 3. Morgens nochmals normaler Stuhl. Auf
Wunsch entlassen.
Dio Kranke ist 4 Jahre nach ihrer Entlassung aus dem
Krankenliaiise ganz acut an „heftigen Magenkrämpfen" zu Grund(»
gegangen. Ein Arzt ist erst 12 Stunden vor dem Tode zu Ratlie
£:ezoi{en.(Dr. Kutzner-Greifswald) und hat keine Diagnose stellen
können. Sektion wurde verweigert. Was liegt näher, als an eine
Darm Perforation oberhall) einer Stenose zu denken?
26. August Haacker, 48 J., Crenzow b. Anklam, aufgenommen am 6. 10.,
entlassen am 12. 10. 92. Koprostase mit Erscheinungen von Darmverschluss.
Chronische Darmstenose?
Allgemeine Anamnese ohne Belang. Hat in diesem Sommer 3— 4 mal nach
demGenuss von kaltem Wasser im linken Ifypochondrium krampfartige Schmerzen
verspürt, auf die alsbald Stuhl erfolgte, mit welchem letzteren die Schmerzen
verschwanden. Stuhlgang war sonst regelmässig. Letzter Stuhlgang am 2. 10.
4. 10. Morgens empfand Pat. Schmerzen im linken Hypochondrium, die sich bei
der Arbeit so steigerten, dass Pat. das Bett aufsuchte. Der am 4. Morgens ge-
rufene Arzt gab erst 2 mal Bittersalz, das erbrochen wurde, darauf 2 Einlaufe in
Folge dorenKoth und Winde abgingen. DieEinläufe wiederholte Pat. solbstmehr-
mals. Nur einmal noch ging hierbei etwas Koth ab. Erbrechen ist nicht dagewesen.
Aufnahmebefund am 6. 10. 92: Untersetzter, kräftiger, gut genährter
Mann mit etwas geröthetem und schwcissbedecktem Gesicht ohne verfallene
Züge. Puls voll und kräftig, 92; Temp. (Abends 6 Uhr) 38,4 o, Respiration
ziemlich oberflächlich, 22. Zunge ziemlich trocken und an den Händern be-
legt. Abdomen massig und ziemlich gleichmässig aufgetrieben. Seine Seiten-
gegenden treten etwas stärker hervor. Es hat den Anschein, als ob rechts vom
Nabel eine ganz flache undeutlich begrenzte Prominenz vorhanden wäre. Unter
dem linken Rippenbogen etwa drei Finger breit von der Mittellinie entfernt ist
eine seichte Delle vorhanden, in deren Bereich Pat. auf Druck etwas Schmerz
empfindet. Palpation des Abdomens ergiebt nirgends eine deutliche Resistenz,
aber difl"use, indessen nicht starke Schmcrzhaftigkeit. Percussion: absolute
Dämpfung in der rechten Seitenpartie bis zur vorderen Axillarlinie, in der
linken bis fast zur verlängerten Mammillarlinie. Bei Lagerung auf die ent-
gegengesetzte Seite macht beiderseits die Dämpfung tympanitischem Schalle
Platz. — üeber dem übrigen Abdomen tympanitischer Schall; Leberdämpfung
stark in die Höhe gedrängt und auf einen schmalen Bezirk eingeengt. 6. 10.
noch Abends hoher Einlauf ohne Efl'ect. 7. 10. Auf einen hohen Einlauf
Beiträge zur Pathologie und Therapie des acuten Dannverschlusses. 57
Morgens erfolgt Stuhlgang. Glatte Genesung. 12. 10. 92. Entlassen. Soll
sich in etlichen Wochen wieder zu genauerer Untersuchung auf eine ev. Darm-
stenose vorstellen.
Auf unsere Anfrage nach dem jetzigen Ergehen des Kranken
erhielten wir die folgende Antwort:
„Auf Ihre Anfrage den Schmiedemeister Herrn H. betreffend theile ich
Ihnen im Auftrage derWittwe desselben Folgendes mit: Nachdem H. im Herbste
92 aus der Klinik zurückgekehrt war, ohne seine Gesundheit wieder erlangt zu
haben, gab sich derselbe bei Herrn Dr. D. in A. in Behandlung. Durch Ver-
abreichung von Medicanienten fand sich allmählich mehr Stuhlgang und gingen
oft schwarze, zähe Stücken, wie Theer, ab, bis sich denn schliesslich wieder
normaler Stuhlgang einstellte. Ueber Schmerzen in der Seite hat H. seit vielen
.fahren geklagt, und haben die Aerzte die Diagnose auf Ischias gestellt. Vor
einigen Jahren stellten sich Lähmungserscheinungen der ganzen rechten Seite
ein, denen er am 21. 7. 96 erlag. Ergobenst W., Förster."
Danach ist zweifelhaft, ob eine reine Koprostase vorgelegen
hat. Dr. D. konnte sich des Falles nicht mehr entsinnen.
27. August Stordcl, 59 J., Triebsees, aufgenommen am 7. 2., entlassen
am 17. 2. 96. Darmverschi uss. Koprostase?? Geheilt unter hohen Einlaufen.
Hat im 25. Jahre Typhus gehabt, ist vor 10 Jahren an einer Krankheit
ärztlich behandelt, über deren Symptome er keine Angabe machen kann.
Leidet seit längerer Zeit an Hartleibigkeit, die er auf sitzende Lebensweise
zurückführt; Stuhlgang im Allgemeinen einmal täglich; hier und da auch ein
Tag ohne Stuhl. War bis gestern vollkommen wohl, hat insbesondere nichts
von Abmagerung bemerkt. Gestern Nachmittag gegen 2 Uhr hatte er einen
festen Stuhlgang; ungefähr eine Viertelstunde darauf wurde er von so heftigen
Schmerzen in der linken Lenden- und Weichengegend befallen, dass er laut
aufschreien rausste. Einmal trat Erbrechen auf; dann blieb Uebelkeit, Sin-
gnltus, Verbaltung von Stuhl, Blähungen und Urin bestehen. Herr Dr. Hensel
verordnete Opium und Priessnitz und sendete den Kranken sofort zur Klinik.
Anfnahmebefund am 7. 2. Morgens 4 Uhr: Kräftiger, wohlgenährter
Mann, Gesicht leicht geröthet; Puls voll, ziemlich kräftig, 54 in der Minute.
Klagt über Unruhe, Völle des Bauches, Schmerzen in der Regio lumbaris et
iliaca sin. — Abdomen massig gespannt, auf Druck nur an den bezeichneten
Stellen massig schmerzhaft, zeigt überall tympanitischen Schall, der nur über
den schmerzenden Stellen etwas verkürzt ist. Eine deutliche Resistenz ist
nirgends, auch nicht an den schmerzhaften Punkten zu constatiren. Bruch-
pforten frei. Urin seit dem ersten Schraerzanfall noch nicht entleert. Zunge
massig belegt; Uebelkeit und etwas Singultus besteht noch. Im Rectum nur
einige kleine harte Kothbröckchen zu fühlen.
Bei einem angeschlossenen hohen Einlauf fliessen 2 1 lauen W^assers leicht
ein; dann treten Spannung des Leibes, Schmerzen und vermehrter Singultus
auf. Ein Theil der Flüssigkeit wird mit einigen harten Kothbrocken wieder
entleert Priessnitz, Morphin 0,01.
58 Dr. L. Heidenhain, Beitrage zur Pathologie und Therapie etc.
7. 2. Tags über Zustand nicht wesentlich verändert. Weder Stahl noch
Winde. Puls voll, ziemlich kräftig, 52, Temp. 37,6 in axilla. Pat. klagt
über Schmerzen entsprechend den Ansatzpunkten des Zwerchfells. 12 Uhr Ein-
lauf von 500 ccm lauwarmen Olivenöls. Nach 2 Stunden ein Theil des Oels
mit wenigen harten Kothbröckeln wieder entleert. 4 Uhr hoher Einlauf von
2 1 kalten Wassers; ein Theil desselben mit etwas Oel gemischt und wenigen
Bröckeln nach 2 Stunden wieder entleert. Urin spontan entleert, sauer, gelb-
roth,* enthält ganz vereinzelte rothe Blutkörperchen, aber kein Eiweiss. 8. 2.
Zustand wenig verändert. Im Urin geringe Mengen Indican. Hoher Einlauf
(3 1 lauwarm Wasser) kommt etwas kothig gefärbt zurück. Abends 0,01 Morph.
9. 2. Allgemeinbefinden gut; Puls voll 72. Abdomen wenig auf-
getrieben, wenig schmerzhaft. Keine Flatus; geringerer Singultus. 9 Uhr
hoher Einlauf von 3 1., 10 Uhr der grösste Theil mit Koth gemengt wieder
entleert. Abends Status idem, Temp. 38,0, Puls 60. 10. 2. Status idem. Ein-
lauf am Morgen. Ein Flatus. In der Nacht zum 11. 2. ein reichlicher, theils
fester, theils breiiger Stuhlgang. 11. 2. Allgemeinbefinden gut, keine
Schmerzen, kein Singultus mehr; reichliche Flatus, — Genesung von da an
ununterbrochen.
Ob die Erkrankung als einfache Koprostaso aufzufassen sei,
ist Angesichts des ganz acuten Beginnes mit heftigsten Sclimerzen
mehr als zweifelhaft. Gegen eine Incarceration sprach die un-
bedeutende Sclinierzhaftigkeit im weiteren Verlaufe und der
verlangsamte Puls, von 52 — 54 bei 37,6 ^ Achselhöhlen-
tera[)eratur. Für die Annahme einer Invagination lagen gar keine
Anhaltspunkte vor. Die Besserung des Allgemeinbefindens trat
v'm am 4. Erkrankungstage bei einem Pulse von 72 Morgens; am
Abend dieses Tages noch einmal Puls 60 bei 38,0 Achseltempe-
ratur. In der folgenden Nacht reichlicher Stuhl. Leider ist in
der Folge die Pulszahl nicht mehr notirt. Der niedrige Puls ist
entschieden auffallend und erinnert an den einen Fall von Darm-
verschluss durch Enterospasmus (Kalnowski, No. 2).
Herr Dr. He n sei -Triebsees hatte die Freundlichkeit mir am 29. 1. 97,
also nach einem .lahre, zu berichten, dass der Kranke sich seit seiner Ent-
lassung aus der Klinik einer ungestörten Gesundheit erfreue; er habe vor-
trefflichen A])petit, regelmässig täglich Stuhlgang und wenn dieser einmal
einen Tag aussetze, so htibe er am folgenden Tage zwei Entleerungen; die
Pulszahl sei durchschnittlich 72—76 in der Minute.
IL
Der äussere Schenkelbruch.
Von
»r. Ferdinand Bftlir
in Hannover.
(Mit 4 Figuren.)
Die Hernia criiralis externa, im extremsten Sinne der
Bezeichnung, die Hernie, welche ihren Durchtritt unter dem Liga-
mentum Poupartii durch die Lacuna muscularis nimmt, ist aus-
führlich von A. K. Hesselbach ') im Jahre 1829 beschrieben. Gleich
hier will ich den gelegentlich wohl unter dieser Bezeichnung an-
geführten Fall von Zeis aus der Casuistik ausschliessen. In diesem
(llcrniae cruralis externae historia cum epicrisi. Lipsiae 1832) fand,
sich in einer Abscesshöhle unter dem Ligamentum Poupartii
ohne Bruchsack der Processus vermiformis. Aehnliche Vorgänge
werden heute aus der Geschichte der Perityphlitis bekannt sein,
ohne dass wir deshalb die Diagnose auf eine Hernia cruralis
externa stellen.
Die Geschichte dieser Hernie ist, nachdem sie durch Lin hart
zu Grabe getragen worden, knapp beieinander. Mac Ilwain will
unter mehreren tausend Schenkelbrüchen, welche er als Mitglied
der Gesellschaft für Verabreichung von Bruchbändern untersucht hat,
nur sechs gesehen haben, welche auf der Aussenseito der Gefässe
*) A. K. Hesselbach, Die Lehre von den Eingeweidebrüchen. Würz-
burg 1829^1880. Dieser Hesselbach ist nicht zu verwechseln mit F. C.
Hesselbach, welcher sich ebenfalls um die Herniologie verdient gemacht und
den durch die Fascia cribriformis parzellirten Bruch beschrieben hat (Neueste
anatomisch-pathologische Untersuchungen über den Ursprung und das Fort-
schreiten der Leisten- und Schenkelbrüche, Würzburg 1814, S. 49 und Tafel
Xni), welchen Le Gendre in seinem Memoire sur quelques varietes rares de
la Hernie cnirale, Paris 1858, Hesse Ibach'sche Hernie genannt hat.
60 Dr. F. Bahr,
herabstiegen (Vergl. Holder, Lehrbuch der Unterleibsbrüche nach
Toale's Practical Treatise on Abdominal-Hernia etc. bearbeitet.
Suttgart 1848). Lawrence hat an der Richtigkeit resp. Zuver-
lässigkeit dieser Beobachtung Zweifel geäussert, weil kein Fall nach
dem Tode untersucht war. Es handelte sich hier zunächst um
sechs und nicht um einen Fall, wie Benno Schmidt^) schreibt.
Zu den äusseren Schenkelbrüchen wird man nielit, wie Benno
Schmidt und Andere, die Stanley 'schon Beobachtungen rechnen
dürfen. Er fand bei zwei Leichen den Bruchsack mit weittT
Mündung leer, gerade über den Schcnkelgefässen (Holder 1. (*.).
. Von neueren Schriftstellern, welche sich über die Hernia cru-
ralis externa auslassen, will ich einige citiren.
„Als Hernia femoralis externa bezeichnet Hesselbach einen
Bnicli, welcher auf der äusseren Seite der Sehen kelgefässe seinen
Austritt nahm." (Graser, die Unterleibsbrüche. Wiesbaden 1891.)
Das kann dem Wortlaut nach immer noch ein Brucli durch die Lacuna
vasorum sein, also keine eigentliche Hesselbach 'sehe Hernia f.
externa. Von einem Specialwerk dürfte man billigerweise verlangen,
dass es sicli mit diesen Dingen etwas eingehender beschäftigte.
Tillmanns (Lehrbuch der speciellen Chirurgie. 1894) spricht
von einer Hesselbach'sclien Hernie, welche in der Vsoasscheide
dem Nervus cruralis entlang sich vorstülpt. (?)
„Für die sogenannte Hernia tiniralis externa, welche bald in
die Lacuna muscularis (Hesselbach), bald in die Gefässscheide
am äusseren Rande der Arterie eintreten soll, ha))e ich keinen
sicheren Fall in der Literatur finden können (Stanley, Mackellar)".
(K'önig, Lehrbuch der speciellen Chirurgie. Berlin, 1893.) Neben
dem „Druckfehler" (Mac Ilwain) ist hier die Bemerkung über
Stanley unrichtig (vergl. oben).
Knappe Bemerkungen befinden sich wohl noch da und dort,
aber im Wesentlichen hat man das Krankheitsbild der Hernia cru-
ralis externa vergessen. Wir sind fast bei dem Standpunkt stehen
geblieben: „Hernia cruralis solummodo per annulum cruralcm, sive,
(juod eodem redit, per illud spatium sub arcu crurali, miod inter
marginem eins posteriorem et inferiorem aii^ue venam iliacam re-
>) BcDDO Schmidt, Die Unterleibsbrüche. Deutsche Chirurgie. Lie-
ferung 47. Stuttgart 1896.
Der ä
0 ScbeDkelbnich,
61
maiict, )iotcst descendere". (Goiiimentatio anatoiuico-phirurgica de
Hcmia crurali von 0. G. Walthcr. Leipzig, 1820.)
Ehe ich weitergehe, verweise ich bezüglich der topographischen
Verhältnisse auf äas beigegebene Bild nach Vogt, reproducirt aus
Tillmanns erwähntem Lehrbuch, Aus anatomischen Lehrbüchern
wir«! man leicht eine üborsiehlliche Darstellung der Regio inguinalis
t^ich verschaffen können.
ich komme jetzt zu Hesselbach's auch heute nocJi muster-
gültigen Ausführungen über die Hernia cniralis externa nach seinem
späteren Werke: Die Erkenntniss und Behandlung der Eingeweide-
brüche. Nürnberg, 1840. S. 68. Die auf der Tafel XVI ge-
gebene Abbildung habe ich photographisch reproducirt.
Fig, 1.
(Juerscboitt duTcb die Wcichtheile unter dem Lig, Pouparti (nach Volz).
„Der äussern Schenkelbruch (Hernia cniralis externa) entspringt
iH'ben den grossen Schenkeige fassen nach aussen, zwischen diesen und
(lfm Darmbeinkamme, und wird eben dieses Ursprungs wegen und weil
IT von der Mittellinie des Körpers weiter entfernt ist, der äussere ge-
eenannt. Er entsteht, wenn der ohere .schwächere Theil der Fascia ili-
aca posterior mit dem darauf liegenden Bauchfell durch die Gewalt der
Eingeweide unter die hallunoiid form ige Brücke hin untergeschoben wird.
62
Dr. F. Bahr,
rrborschrciict das vi inl rängen de l^ingewcidc das vordere Lcislcn-
band nicht, sondern bleibt unter der Brücke verborgen, so ist. der
äiissi're .Sdienkelbnicii nnvollkoinnien (llernia enir. ext. iniperfeeta).
Dieser Bnich kommt hfüifiKer vor, lileilit al)er unserer BeobaeJitmif;
verborgen, weil er keine sit^blbare Uesidnvnls! hibb't.
Fig. 2.
Soll der Itrni-Ii voilkonnnen werden, so niusfi das KinReweido
das vordere Leisienband übci-sclireiien und sieb in die Hoble der
Faseia iliaea anierior bini'insenken, .Jetzt erst wird der Itnieb
.-.ii'blbar. indem das ans der ßauebliiible bervorgedräni-'ie Kinireweide
ilie iianze voiilere Wand der Fascie mit der darauflieiienden
Selienkelbaul in eine Gescbwiilst erbebt iHernia crur. ext. perfeeta).
Per vüllkonimeue äussere Si-benkelbrncb ist äusserst selten,
lind nur einiü:e Beispiele sind uns bis jetzt bekannt ireworden.
Der äussere Schenkelbruch. 63
Seine Entstehung wird begünstigt durch schwache Körpercon-
stitution, und man findet beinahe an jeder Leiche, welche schlaffe
Muskeln und Sehnen liat, audi zugleich die Anlage zu diesem Bruche.
AVenn der Psoas minor vorhanden ist, so tritt die halbmondförmige
Brücke der Fascia iliaca post. mit ihrem ausgehöhlten Rand in der
Regel stark henor, wodurch eine tascbenförmige Vertiefung ent-
steht, indem der obere, schwächere Theil der Aponeurose an dem
Rande der Brücke hinuntersinkt. Eingeweide, welche über diese
Gegend hinuntergleiten, nach dem Becken, können sich in der
taschenförmigen Ginibe fangen, und dann weiter unter die Brücke
fi:eschoben werden."
Eigenartig ist nach Hesselbacli dieser Hernie das sehr all-
mählige Entstehen, die Lage zwischen Spina ilei ant. sup. und
den Schenkelgefässen, die breite Basis und die stumpfe Spitze.
Lässt man den Schenkel der kranken Seite nach hinten strecken,
so spannt sich das Ligamentum Poup. durch die Fascia lata und
die obere Grenze wird deutlicher. Die Bruchgeschwulst ist nur
massig erhöht, so dass man nicht unter die Ränder kommen kann.
Nach weiteren Bemerkungen über DiflFerentialdiagnose bezüglich des
Psoasabscesses sagt Hess elb ach: „AVird hier der Bruchschnitt
nuthig, dann zeigt sich die Nothwendigkeit der schichten weisen
Trennung der einschnürenden Theile von vorn nach hinten unbe-
dingt, weil auf keine andere AVeise die gefährliche Verletzung der
Arteria circumflexa ilei, welche jedes Mal vor dem Bruchsackhalse
liegt, vermieden werden kann'^. Ich komme hierauf noch einmal zurück.
Linhart hat seinem Zweifel mit den Worten Ausdruck ver-
liehen: „Die Arteria circumflexa ilei soll an der „oberen" Seite des
Bruchsackhalses verlaufen sein (dies ist mir unbegreiflich!)".
(Linhart, Ueber die Schenkelhernie. Erlangen, 1852.) Linhart
ist hier einem Irrthum verfallen, er scheint allerdings die Hessel-
hach 'sehen Arbeiten nur aus Holder gekannt zu haben, und das
mag ihn entschuldigen. Eine Kenntniss von der Hesselbach'schen
Pubhcation 1840 scheint Linhart überhaupt nicht gehabt zu haben,
wie auc^h Benno Schmidt annimmt. Dass die Arteria circum-
flexa ilei vor oder wenn man in horizontaler Lage von oben her
präparirt, auf der oberen Seite des Bruchsackhalses liegt, darüber
kann kein Zweifel sein.
Ich komme zu meinen eigenen Beobachtungen.
64 Dr. F. Bahr,
I. G. Z., 40jähriger Dienstl<necht, ist am 1. 10. 94 überfahren worden.
Er hatte einen Bruch des Acromion und einiger Rippen links vorne davonge-
tragen, leidet jetzt viel an Herzklopfen und Engigkeit. Der von mir am
8. 11. 97 untersuchte Patient zeigte einen Thorax mit überwiegendem Langen-
durchmesser. Er hatte eine LungenafTection. Interessant war ausserdem an
ihm eine Verbildung des Acromion beiderseits derart, dass dasselbe an seinem
Ansatz nach unten sank, dann den Humerus von aussen wie ein« Spange um-
fasste, nach vorn wieder anstieg und in einer nach oben gelegenen Gelenk-
fläche die Clavicula aufnahm. Ich übergehe die Verletzungsfolgen.
Patient leidet an Kryptorchismus ohne nachweisbare Lage derselben.
Der Penis ist dürftig entwickelt, die Sohamgegend ist weiblicli behaart, das
Becken ein feminales mit breit ausladenden Darmbeinen und kurzem Höhendurch-
messer. Zwischen Spina il. ant. superior dextra und der Arteria femoralis
fand sich unterhalb des Lig. Poup., nicht genau von diesem abzugrenzen, eine
druckempfindliche, fast knochenharte Resistenz. Das Bein konnte im Hüft-
gelenk nur bis zu 90® gebeugt werden, weitere Beugung wurde als schmerzhaft
bezeichnet. Die Geschwulst machte einen derartig harten Eindruck, dass ich
zunächst an eine Auftreibung des Beckenknochens an dieser Stelle dachte,
zumal der Pat. über die Art des Ueberfahrenwerdens sehr unbestimmte An-
gaben machte, so dass eine directe Verletzung nicht auszuschliessen war. Für
einen Psoasabscess fehlte jeglicher Hintergrund, das Becken war ein exquisit
weibliches, die betreffende Beckenpartie lag der Oberfläche näher. Ich sprach
in meinem Attest die Vermuthung einer Beckenverletzung aus. Für eine Ent-
zündung des subiliacalen Schleimbeutels konnte ich mich nicht recht cnt-
schliessen. Der Gedanke hieran lag aber immerhin vor nach der Hoffa'schen
Publication und ich bestellte Pat. auf den übernächsten Tag, um eventuell die
Bursitis im hiesigen ärztlichen Verein zu demonstriren. Bei der kurz vorher
unternommenen Untersuchung stellte sich heraus, dass die Geschwulst ver-
schwunden war. Jetzt gab Pat. auf genauere Erkundigungen an, dass die
Stelle ihm bisweilen anschwelle, die Schwellung aber spontan wieder
zurückginge.
Dies Verhalten, das wir ja bei Leistenbrüchen reichlich zu beobachten
Gelegenheit haben, liess mir als einzige Möglichkeit die Existenz einer Hernia
cruralis externa durch die Lacuna muscularis erscheinen.
II. C. B., 14 Jahre alt, Gärtnerlehrling, stürzte am 1. 9. 97 aus einer
Höhe von circa 20 Fuss auf seine linke Seite und zwar traf der Hauptstoss
die linke Hüftgelenksgegend. (Der Bericht stammt von dem behandelnden
GoUegen.) „Einige Stunden nach dem Unfall traf ich die Vorderseite des
linken Hüftgelenkes und die Schambeingegend massig geschwollen und sehr
druckempfindlich. Der linke Oberschenkel war unverletzt und im Hüftgelenk
passiv frei beweglich, auch in gewöhnlicher Haltung. Crepitation sowie Ver-
kürzung waren nicht nachzuweisen. Es konnte mit einiger Sicherheit auf einen
Querbruch des horizontalen linken Schambeinastes geschlossen werden.
B. konnte nach 3 Wochen mit Hülfe eines Stockes umhergehen und später
leichte Arbeiten wieder verrichten. In der Folge kam es zu einem bedeutsamen
Muskelschwunde des linken Beines. Der augenblickliche Stand der Dinge ist
Der äussere Seh enlcel brach.
65
folgcDtler: B. klagt über Schmerzen beim Gehen und besonders an der Vorder-
stile des linken Beines. Die Streckmuskeln des Oberschenkels und die Muskeln
dta Gesässes sind merklich dünn und weicher, wie rechts und auch dnick-
empfindlicher. Die Gesüssfurche ist links seichter und anscheinend tiefer herab-
g^end wie rechts. Der Umfang des Beines dicht unterhalb der Gesässfurche
belrägt rechts 41, links nur 33,5 cm, der Umfang in der Mitte des Ober-
schenkels rechts 39, links 37 cm. Der Schambeinast ist verdickt, aber schmerz-
frei. Das Gefühl ist auf der ganzen Vorderseite des linken Beins (soll wohl
Fig. 3.
heiasen Oberschenkels) herabgeset/.t, die Sehnenrefloxe beiderseits gleich. Ner-
vige StSrungen fehlen sonst. Die acLiven Bewegungen in allen Gelenken sind
frei und nicht schmerzhaft (vom 30. II. 97). Aufnahme am 34. 12. 97. Der
S[nter verToUsländigte Status ergab ; die linke Spina 11. ant. sup. steht hoher.
I'al. hält beim Stehen und Gehen das Bein in ziemlich starker Aussenrotation.
ti tritt mehr mit der Fussspitze auf und stützt sich stark auf den Stock. Im
Liegen ist eine ausgeprägte Lendenlordose vorhanden, welche sich aber aus-
gleichen lässt ohne Flexion im Hüftgelenk. Feraur für Rotation vollständig
frei. Beugung über 90" wird als schmerzhaft bezeichnet. Unbedeutende
Atrophie der Oberschenkel-Muskulatur. Gesässmuskulatur zeigt bei richtigem
Stehen normale Verhältnisse. Flexion im Knie fehlt. Antreiben des Beines
gegen die Hüftpfanne nicht schmerzhaft. Pat. klagt über vage Schmerzen in
*rekif flr blin. Chinirfie. 67. lU. Heft I. c,
66 Dr. F. Bahr,
der linken Leistenbeuge, welche herab bis zum Knie ziehen. In der Gegend
zwischen Spina il. ant. sup. und den Schenkelgefässen ist ausserhalb des Lig«
Poup. vermehrte Resistenz zu fühlen. Keine Sensibilitfitsstörung an der Vorder-
seite des Oberschenkels.
Wahrscheinlichkeitsdiagnose: Fractura colli femoris sin. event. Pfannen-
verletzung. Die sehr gut gelungene Röntgenaufnahme ergab keinerlei Ab-
normität am Becken oder Femur.
Wahrscheinlichkeitsdiagnose: Coxitis. Fat. sollt« einen Extensionsverband
erlialten, obwohl das Krankheitsbild nicht so ganz hierfür passte. Bei den
wiederholt vorher noch vorgenommenen Untersuchungen ergab sich nun:
Flachheit der Leistenbeuge im äusseren Abschnitt (veiigl. Photographie, auf
welcher leider solche Differenzen nicht immer gut zum Ausdruck kommen).
Unterhalb des Leistenbandes ist bisweilen eine weich elastische Geschwulst
zu fühlen, welche sich bei sachtem Drücken von der Peripherie verkleinem
lässt. Die Geschwulst hat ihre breite Basis an der Aussenhälfte des Lig. Poup.,
ihre sehr abgerundete Spitze 4—5 cm unterhalb derselben.
Diagnose: Hernia cruralis externa.
in. IL W., 55 Jahre, Maurer, hat sich vor etwa 8 Jahren durcfi Sturz
aus 6 m Höhe das linke Fersenbein gebrochen.
Am 28. 7. 97 fiel er aus 4 m Höhe auf die linke Seite und erlitt be-
trächtliche Contusionen der unteren Hälfte des Brustkorbes, der Becken-
knochen und des Oberschenkels in seiner ganzen Länge. Die Contusionen
trafen ebenso Weichtheile wie Knochen. Allenthalben fanden sich Schrammen
und blutunterlaufene Stellen. Am 29. II. 97 waren Zeichen der äusseren Ver-
letzung nicht mehr nachzuweisen.
Aufnahme am 30. XII. Das linke Bein ist 1—2 cm verkürzt als Folge
des zusammengequetschten Fersenbeines. Das Bein wird leicht einwärts rotirt
gehalten. In der aussersten Hälfte der Leistenbeuge fühlt man eine druck-
empfindliche Resistenz. Flexion in der Hüfte etwas beschränkt, ebenso
Rotation und Abduction.
Scoliosislumbalissin., dorsalisdextra, auffallend die starke Lendenlordose.
Das linke Fersenbein ist im Querdurchmesser verbreitert, in seiner Höhe
reducirt, der Fuss ist ein Pes plano-valgus.
Diagnose: Fractura colli femoris sin. Das Röntgenbild ergiebt vöUig
normale Knochen.
Weitere Untersuchungen ergaben nun: die linke Leistenbeuge ist im
äusseren Abschnitt abgeflacht. Unter dem Lig. Pouparti wölbt sich der Ober-
Schenkel etwas vor. Die Vertiefung nach aussen vomSartorius istverschw^unden.
Bei Druck auf die Partie unter der Leistenbeuge war gelegentlich lebhaftes
Darmgurren zu vernehmen. Der Tumor, von sehr wechselnder Resistenz, lässt,
sich mehr und mehr als ein ungefähr halbmondförmiges Gebilde unterhalb
des Lig. Poup. abgrenzen. Bei weniger straffer Resistenz gelingt es auch den
Tumor durch sanften Druck von unten zu verkleinern. Zu vermerken ist bei
diesem' Patienten ebenfalls das Ausladen der Darmbeine.
Diagnose: Hernia cruralis externa.
Der äussere Schenkelbruch. 67
Die specielle Veranlassung zum Studium dieser Frage war ein
ron Hoffa publicirter Fall, den ich theils im Original, theils im
Auszug wiedergebe.
Ein 42jährJgBr Arbeiter TeruDglttclil« Ende 1894 beim Aufwinden von
Blüchern dadurch, dass er mit dem rechten Bein zwischen diese eingeklemmt
tmie. Eine äralliche Untersuchung constatirt ein Jahr später scheinbare Ver-
iüigerang des Beines um 5,5 cm. Beim Stehen wird das Knie leicht flectirt.
Fig. 4.
H. sah den Patienten am 30. T. 93. Das rechte Bein wird im Hüftgelenk
ibducirl und auswärts roUrt gehalten, der grosse Rollhilgel beHndet sich an
normaler Stelle. Das Hüftgelenk kann activ und passiv bewegt werden, und
iwar sind alle Bewegungen frei bis auf die Adduction, Beugung und Einwarts-
rollnng, welche etwas beschränkt sind.
In der rechten Leistengegend findet sich unterhalb des Leistenbandes
sichtbar und fühlbar eine Geschwulst, welche zwischen dem Muse, pectineus
und Psoas maior aus der Tiefe heraustritt. Diagnose: Biirsitis.
Ein Gutachten des Aerate-Collegiums für Unfall angelcgenheiten vom
%■ 6. % gab folgenden. Befund: Pat. steht mit im Kniegelenk gebeugtem Bein.
') Hoaalsachrlrt für Unrallheilkunde. 1897. No. 7. Chronische Ent-
lünduDg der Bursa nubiliaca oder Sehen belhalsfractar als Folge einea Betriebs-
UDfilleg '(
68 Dr. F. Bahr,
Zugleich ist dasselbe im Hüftgelenk stark nach aussen rotirt sowie abducirt.
Pat. kann ohne Stock hinkend gehen.
Liegt Pat. auf dem Boden, bei neben einander gelegten Beinen, so ergiebt
sich folgende Stellung: Rechtes Bein ziemlich stark nach ausse rotirt, so dass
die äussere Fusskante mit dem Boden einen Winkel von 45^ bildet. Rechtes Bein
scheinbar verlängert um 4,5 cm. Tiefstand der Spina il. ant. sup., Lenden-
lordose, so dass man die Hand gut unterführen kann. Aussenrotation voll-
ständig möglich, Innenrotation activ und passiv aufgehoben. Bei Abduction und
Adduction geht das Becken mit, ebenso bei Beugung, wenn dieselbe wenige
Grade übersteigt (Was?). Bei Ausgleich der Lendenlordose und Tiefstand
der rechten oberen Spina il. ant. pathologische Stellung: Beugung 50*^, Ab-
duction 25—30®, starre fast völlige Aussenrotation.
Die Pulsation der Arteria femoralis deutlicher als links. Zwischen ihr
und dem grossen Rollhügel eine in die Augen fallende aus der Tiefe kom-
mende Hervorwölbung. Die Haut derselben zeigt leicht gedehnte Venennetze,
ist im übrigen normal. Die Wölbung ist druckempfindlich, knochenhart, an
der Oberfläche leicht höckerig uud sitzt dem Schenkelhals unbeweglich auf,
gehört demselben also an. Die Verdickung setzt sich nicht auf das Becken
fort. Der innere Rand setzt sich scharf ab, ebenso der untere, ^er obere flacht
sich allmählig ab. Es ist leicht die Darmbeingrube abzutasten. Es findet
sich dort nicht die Andeutung einer Geschwulst.
Diagnose: Eingekeilte Schenkelhalsfractur.
Die BeiiTÜnclung iiiag im Original nachgelesen werden. Hoffa
hält die Diagnose einer Fractur für falsch unter Aufrechterhaltung
der seinigen. Er hält die Knoehengeschwulst des CoUegiums für
einen prall gefüllten Schleimbentel und verweist auf das ähnliche
Verhalten straffgespannter cystischer (jeschwülste, wie Ganglien.
Er vermisst Alles, was eine Fractur wahrscheinlich machen könnte,
namentlich in der Genese des Unfalles.
Das Urtheil des Collegiums erschein! mir unrichtig; ob aber
dasjenige Iloffa's richtiger ist? Die Analogie dieses Falles mit
meinen Beobachtungen ist doch geradezu frappant.
Entzündungen der Bursa subiliaca (eigentlich superior, w-eil es
auch eine .inferior am Tro(?hanter minor giebt) sind fast nur im
Zusammenhang mit Erkrankungen des Hüftgelenks beobachtet.
Iloffa hat sich 1. c. auf einen von Ehrle mitgetheilten Fall be-
rufen, den ich im Original folgen lasse ^).
„Derselbe betraf einen kräftigen Fassbinder von 33 Jahren, der, im
Uebrigen stets gesund, seit 13 Jahren an einem Schmerz entlang der inneren
Seite der rechten unteren Extremität leidet. Der Schmerz geht von einer
0 Medicinisches Korrespondenz -Blatt des württembcrgiscben ärztlichen
Vereines. 1868. No. 34.
Der äussere Schenkelbruch. 69
Stelle unter der Leistenfalte aus, an der Patient vor 4 Monaten zum ersten
Male eine bühnereigrosse Geschwulst bemerkte, ßei gewissen Bewegungen
eiacerbirt der Sehmerz entlang dem inneren Rande des Gliedes (Beines) aus-
strahlend; manchmal localisirt er sich mehr im Knie, er ist mit einem gewissen
Grade von Functionsstörung in Bewegung des Gliedes verbunden. An der
Stelle der Geschwulst trat nie Entzündung auf, noch waren Zeichen von Be-
theiligang des Hüftgelenkes vorhanden.
In Ausübung seines Handwerkes behindert, verlangt Patient nach ver-
geblichem Gebrauche innerlicher und örtlicher ableitender Mittel eine operative
Entfernung der sich seit längerer Zeit gleichbleibenden Geschwulst, von der er
selbst die genannnten Störungen ableitet. Status praesens: In der äusseren
Partie der rechten Leistengegend etwas unterhalb des Po upart 'sehen Bandes,
gegen Aussen von der Arteria femoral is befindet sich eine längsovale Geschwulst,
die in ihrer Längsachse dem Verlauf des inneren Psoasrandes folgt. Die Haut
über dem Tumor ist nicht geröthet, ihre Temperatur ist nicht erhöht, sie ist
mit dem ünterhautzellgewebe über der Geschwulst leicht zu verschieben.
Bringt man den Schenkel in Extensionsstellung d. h. erschlafft man den
lleopsoas, so ist die Geschwulst hart, in der Beugeslellung, in der sich der
lleopsoas contrahirt, ist dieselbe weich und selbst Fluctuation wahrzunehmen.
Man fühlte hierbei, dass der Psoas abgehoben ist und die Geschwulst seinen
inneren Rand überschreitet; sie ist in dieser Stelle mehr circumscript und nament-
lich gegen die Fossa iliaca und den Schenkelbogen hin nicht abgrenzbar.
Der Kranke empfindet den Schmerz besonders bei Extension und Rotation
des Gliedes nach aussen. Durch Beugung und Adduction wird der Schmerz
zum Schweigen gebracht, spontan strahlt er manchmal sehr heftig gegen das
Knie hin aus. Das Hüftgelenk lässt keine Erkrankung erkennen.
M. Riebet machte die Punktion der Geschwulst mit einem gewöhnlichen
Trocart. Es ergoss sich durch die Canüle eine helle, fadenziehendo Flüssigkeit,
in. der einzelne albuminös-fibröse Concretionen suspendirt waren. Nach der
Entleerung wurde wie bei Hydrocele eine Jodinjection vorgenommen. In den
Tagen nach der Operation traten leichte Erscheinungen einer reactiven Ent-
zündung ein, die bald verschwanden und Patient verliess geheilt das Spital".
Ehrle führt noch einen Fall von liursitis an, wo Coramuni-
cation mit dem Hüftgelenk bei Coxitis bestand und eine mündliche
Mittheilung von Luschka, ein Mädchen betreffend, das nach Struma-
exstirpation an Pyämie einging. Vor dem Tode war schmerzhaftes
Oedem des linken Beines aufgetreten. Die Seetion ergab neben
anderen pyämischen Herden einen Eitererguss im recliten Ellen-
bogengelenk, aJle übrigen Gelenke waren frei. Es fand sich eine
eitrige Entzündung der Bursa subiliaca.
Man kann bei der Dürftigkeit der Ehrle^scheii Krankenge-
schichte wohl mit Recht zweifeln, ob hier der Beweis für die Existenz
einer Bursitis erbracht ist. Man wird die Miiglichkeit ni(*ht von
70 Dr. P. Bahr,
der Hand weisen können, es sei vielleicht anch ein Bruchsack
punktirt worden. Wenn also Hoffa seine Diagnose auf diese Be-
obachtung gründet, so dürfte die Basis eine unsichere sein.
Hesselbach sind nur wenige Beispiele einer Hernia cruralis
externa bekannt geworden. Die Oasuistik ist bislang vertreten in
seinen, Mac Ilwains und meinen Beobachtungen. Ich bin über-
zeugt, dass sie nach dieser Anregung in nächster Zeit in frucht-
barer Weise bereichert wird.
„Wie der Leistenbruch häufiger beim männlichen Geschlecht^
ist der Schenkelbruch häufiger bei Frauen. Beim Manne ist nämlich
wegen der steiler gestellten Darmbeinschaufeln das Poupart'sche
Band ebenfalls steiler gerichtet." (Busch, Lehrbuch der topo-
graphischen Chirurgie. Berlin, 1869.) Vergleicht man ein weib-
liches Becken mit einem männlichen, so stehen die Spinae ilei ant.
sup. sowohl absolut als relativ weiter auseinander. Das männliche
Becken stellt einen steileren Trichter dar und die Eingeweide
werden immer mehr auf die Pforten in nächster Nähe der Mittel-
linie drängen. Darin liegt neben anderen Giünden das Ueberwiegen
der Schenkelbrüche beim weiblichen Geschlecht, bei dem sie nach
Graser drei Mal so oft vorkommen. Es ist deshalb gewiss kein
Zufall, wenn ich in zwei Fällen ein für die Hernie disponirendes
Becken constatiren konnte.
Die Art der Bruchhüllen bedarf vielleicht noch einiger Auf-
klärung. A. K. Hesselbach findet dieselben als Haut, Fascia
lata, Fettgewebe, vordere Wand der Fascia iliaca anterior, deren
äussere grössere Hälfte aus viel stärkeren Sehnenfasern be-
steht als die innere kleinere. Unter dieser starken Decke liegt
eine sehr starke Membran, welche den Bruchsack durchschimmern
lässt, nämlich der mitverschobene obere, schwächere Theil der
Fascia iliaca posterior; unter ihr liegt der Bruchsack.
üeber die Entstehung dieser Hernien gelten wohl die sonst
gebräuchlichen Anschauungen. In meinen Fällen H und III, wo
die Beschwerden im Anschluss an einen Unfall unmittelbar vor-
handen waren, wo die betroffene Seite zudem verletzt worden war,
direct nach der Verletzung sogar Anschwellung bemerkt wurde,
habe ich den Unfall als Ursache anerkannt. Ob mit Recht, lehren
vielleicht weitere Studien, M^enn sich solche Fragen überhaupt immer
mit einem Ja oder Nein entscheiden lassen.
Der äasserc Schenkelbruch. 71
Abgesehen von den für Hernien characteristischen Merkmalen,
sei hier noch Folgendes hervorgehoben. Bei dem ersten Andrängen
des Darmes werden wohl selten Beschwerden existiren. Tritt er
aber unter dem Leistenband hervor, so wird bei der abwech-
selnden Raumgrösse beim Gehen ein spannendes Gefühl nicht aus-
bleiben. Der Patient wird vermeiden, sobald der Druck durch Be-
wegungen gesteigert, der Darm gepresst wird, seinem Beine Stel-
lungen zu geben, welche den Raum beschränken, er wird das
Bein einwärts rotiren und beugen in der Hüfte mit einer kompen-
satorischen Lendenlordose. Aber die Beinhaltung hat, wie wir
sehen, nichts absolut typisches; sie hängt eben davon ab, wie es
der einzelne Patient am Besten versteht, die äussere Leistengegend
zu entspannen. Hier werden auch noch andere individuelle Ver-
hältnisse massgebend sein, wie Verhalten der Fascien etc. Man
wird hier auch berücksichtigen müssen, dass es sich in meinen
Fällen um Unfallverletzte handelt, welche in ihren Angaben leider
so oft unzuverlässig sind, so dass es nicht immer leicht ist, den
eigentlichen Kern der subjectiven Beschwerden herauszuschälen.
Bei genügender Entwickelung der Hernie wird die Leistenbeuge
flacher im äusseren Abschnitt, während sie gleichzeitig im inneren
Abschnitt deutlicher wird durch die Zunahme des Femur. Ebenso
verstreicht eine nach aussen vom Sartorius unter der Spina gelegene
meist vorhandene Einsenkung. Die Palpation ergiebt oberflächliche
Resistenz unter dem Leistenband, man kann nicht so gut in die
Tiefe dringen, namentlich vom Ligamentum Poup. her, wenn so
die Evacuation des Darmes verhindert wird. Bei der strafl'en Decke
und einem prall gefüllten Bruchsack kann ein knochenharter Tumor
vorgetäuscht werden. Drückt man von unten her, so gelingt es,
wenn keine Verw'achsungen bestehen, den Tumor zu verkleinern,
wohl auch zum Verschwinden zu bringen. Bezeichnend für die
Geschwulst ist überhaupt der Wechsel in der Consistenz und in
der Grösse, auch kann sie spontan verschwinden.
Die Bruchgeschwulst ist naturgemäss eine sehr flache, wahr-
scheinlich mit zugeschärftem Rande, ihre Basis ist eine breite, so
dass dieselbe anfangs den Längendurchmesser bei Weitem überwiegt.
Bisweilen können wohl auch leichtere Drucksymptome seitens des
Nervus cruralis ausgelöst werden.
Die Einklemmung bei dieser Hernie ist sehr ersehwert, und
72 Dr. F. Bahr, Der äussere Schenkelbrach.
es ist mir kein diesbezüglicher Fall bekannt geworden. Das liegt
an der breiten Ausdehnung des Bruchsackhalses. Koth kann wegen
der Spannung der Pascie nur in massigen Mengen eintreten. Axen-
drehung ist ebenfalls schwer zu denken, da durch die flache Bnich-
pforte die Darmschenkel auseinander gehalten werden. Schiebt
sich aber der Bruch nach seinem Durchtritt durch eine seiner
Hüllen näher an die Oberfläche, indem er durch die wenigen Fasern,
die zwischen ihm und dem vorderen Leistenbandc liegen, gegen
dieses Band hindurchtritt (A. K. Hesselbach, Lehre von den Ein-
geweid ebrüchen. n. Bd., S. 191), dann ist die Einklemmung mög-
lich. Gerade für diese Eventualität war die Warnung Hesselbach 's
vor der Arteria circumflexa, welche jetzt am vorderen Bruchring
liegt und bei einer Lösung der Einschnürung von hinten leicht ge-
troffen werden kann, berechnet. Man muss sich nur erinnern,
welche Rolle Gefässverletzungen in jener Zeit in der Herniotomie
spielten. Die Arteria circumflexa ilei ist hier das Pendant zur
Corona mortis.
Differentialdiagnostisch kommen in Frage Tumoren in der äus-
seren Hälfte der Leistenbeuge selten, Fractura colli femoris oder des
Beckens, — Aufschluss durch Röntgenbild — Bursitis, Psoasabscess
und Coxitis, vielleicht auch Exostosen. Bei der oberflächlichen Lage
der Hernie und sonstigen Eigenthümlichkeiten der letzteren wird man
bei sorgfältiger Beobachtung und Untersuchung die Diagnose sicher
stellen können.
„Das äussere Schenkclbruchband erhält einen noch viel län-
geren Hals, als das innere und eine grosse dreieckige schiefe Pe-
lotte, welche der Form des Bruches genau entspricht und über die
Ränder desselben hinausreicht. Sie ist flach gewölbt und elastisch,
damit sie nicht zu schmerzhaft auf das Hüftgelenk drückt und wird
durch einen Schenkelriemen unven'ückt festgehalten" (Hesselbach).
Ob es sich empfiehlt ein Bruchband tragen zu lassen? Wenn
es nützen soll, bedarf es eines sehr starken Druckes, das wird
atrophische Veränderungen an der gedrückten Stelle absetzen. Und
selbst wenn es stark drückt, wird es bei der eigenthümlichen Con-
stellation das Eindrängen des Darmes nicht hintanhalten.
Operative Erfahrungen auf diesem Gebiet stehen noch aus.
III.
(Aus der chirurg. Üniveraitäts-Klinik des Herrn Geheimrath
von Bergmann.)
lieber die Behandlung der Urachusfistel.
Von
PrivatdoceDt in Berlin.
Eine dauernde Heilung der sogenannten Urachusfistel, dieses
offengebliebenen oder im späteren Alter wieder aufgebrochenen,
foetalen Epithelganges, ist erst dann zu erwarten, wenn sich die
Behandlung an allererster Stelle gegen die Ursachen richtet, welche
im betreffenden Falle bei der congenitalen Fistel das Persistiren
des Ganges, bei der acquirirten den Durchbruch durch den ge-
schlossenen Nabel veranlasst oder begünstigt haben können. Diese
Ursachen aber sind verschieden und mannigfaltig, und oft scliwer
zu entdecken.
Für die Entstehung der congenitalcn Urachusfistel ist
als ein solches Hauptmoment schon lange, wenn auch in vielen
Fällen nicht mehr nachzuweisen, sondern nur als Ursache zu ver-
muthen, die Stauung des Urins in der Harnblase durch weiter ab-
wärts gelegene Hindemisse für den Abfluss des Urins bekannt; es
giebt sich dies am besten in jenen Fällen zu erkennen, in denen
ausser diesem Leiden noch eine angeborene, die Urinentleerung
hindernde Phimose oder ein vollständiger Verschluss der Harnröhre
(Gabrol, Rose, Förster^) beobachtet wurde, besonders aber in
dem Falle von Stadfeldt^), bei dem neben der angeborenen
Phimose alle Zeichen der Stauung im Harnsystem in Gestalt
*) Literaturangaben bei Ledderhose: Deutsche Chirurgie, Die Erkran-
kungen der Bauchdecken.
74 Dr. E. Lexer,
von Erweiterung der Harnröhre, der Blase, der üreteren und
von beiderseitiger Hydronephrose vorhanden waren. Da auch an-
geborene Faltenbildilngen und Verengerungen, besonders bei der
männlichen Harnröhre (Englisch^) die Ursache für Erschwerung
des Harnabflusses bilden können, so ist im gegebenen Falle auch
diese Möglichkeit zu berücksichtigen. Allerdings fanden sich solche
Hindernisse für die Urinentlcerung nur in w^enigen Fällen von an-
geborener Urachusfistel, ja selbst in dem als ünicum dastehenden
Falle von Froriep und Gusserow^), wo die ungespaltene Blase
durch den sehr stark erweiterten Urachus prolabirte, fand sich kein
Anhaltspunkt für die Entstehung dieser hochgradigen Missbildung
in dem angedeuteten Sinne; man kann in solchen Fällen nur mit
Klebs Hindernisse annehmen, die in utero bestanden, nach der
Geburt aber verschwunden sind (Ledderhose).
Es ist selbstverständlich, dass die Beseitigung selbst des ge-
ringsten Hindernisses für die Harnentleerung auf normalem Wege
günstig für den Verschluss des Fistelganges wirken muss. So
gelang es denn auch, sei es, dass ein derartiges Hinderniss zuerst
beseitigt werden musste oder nicht, in einer Reihe von Fällen die
Fistel nur mit Hilfe ganz einlacher Verfahren zur Heilung zu bringen,
wie durch Aetzen, Kauterisiren oder Comprimiren der Fistelmündung.
Am günstigsten liegen hierzu die Chancen möglichst bald nach dem
Abfalle der Nabelschnur, da dann die Bildung der Nabelnarbe
noch (las Ihrige zum Verschluss der Fistel thut. Es erreichte
Lugeol nach Ledderhose durch fortgesetzte, leichte Compression,
Jacoby^) durch Cautcrisation mit nachfolgender Compression einen
dauernden Verschluss in Fällen, die sehr früh nach der Geburt zur
Behandlung kamen.' Die gleichzeitige Anwendung eines Dauer-
katheters neben diesen Verfahren hat nach Delageniere nie günstige
Erfolge gehabt. So verführerisch es auch ist, den Urin beständig
abzuleiten, damit er nicht mehr in den Urachus hineindringt, so kann
sich doch bei der sehr leicht eintretenden Cystitis die Entzündung
in den Hamstrang fortsetzen und den Verschluss des Ganges un-
möglich machen. Ist dagegen der Nabel schon fertig gebildet, ist
1) finglisch, Archiv für JCinderheilkunde. II.
2) Nach V. Ammon, Die angeboreDen chirurgischen Krankheiten des
Menschen.
8) Jacob}', Berliner klin. Wochenschrift. 1877. No. 15.
Ueber die Behandlung der Urachusßstel. 75
eine lippenförmige Vereinigung zi^ischcn Haut und ürachusschleira-
haut entstanden oder prolabirt die letztere an der Fistelmündung
als kleiner Tumor, so ist je nach den vorgefundenen Verhältnissen
die Ligatur dieses oft gestielten Tumors oder die Anfrischung der
Fistelumgebung mit nachfolgender Naht mit Erfolg geübt worden.
Allerdings entstanden bald darauf in den Fällen von Gueniot und
Paget Nabelhernien durch Vernachlässigung des Nabelringes, wie
Delageniere hervorhebt. Ja, es berichtet Gueniot sogar über
die Heilung einer Erwachsenen, einen oft citirten Fall von
Cabrol aus dem Jahre 1550, der ein etwa 20jähriges Mädchen,
die allen Urin aus dem Nabel entleerte, in kurzer Zeit von
ihrem Leiden dadurch befreite, dass er die verschlossene Harn-
röhre durchgangig machte und um den in die Länge gezogenen
Nabel eine Ligatur legte. Angesichts dieser oft schon enviesenen
Thatsache, dass die angeborene Urachusfistel besonders in frühester
Jugend lediglich unter Anwendung ganz einfacher Methoden der
Fistelbehiuadlung zum Verschluss kommen kann, (Gueniot, Stad-
feldt u. A., siehe auch Ledderhose) sind eingreifende Operationen,
die auf die gänzliche oder theilweise Ausrottung des Epithelganges
abzielen, wie z. B. das Verfahren von Delageniere, erst dann
am Platze, wenn mit der einfachsten Behandlungsweise keine Dauer-
erfolge erzielt worden sind. Denn man darf aus den geheilten
Fällen wohl den Schluss ziehen, dass unter günstigen Umständen
im frühen Alter das offen gebliebene Urachuscanälchen wenigstens
zum grossen Theil noch einer verspäteten Obliteration anheimfallen
kann, wenn sich der Urin auf normalem Wege ungehindert entleert
und die Fistelmündung in der Nabelnarbe zum Verschluss kommt.
In anderen Fällen jedoch bleibt trotz aller Bemühungen die
Fistel bestehen. Als Hauptursache hiefür sind wohl die anatomischen
Verhältnisse anzusehen, wie sie sich bei hartnäckigen Fisteln als
starke Erweiterung des offengebliebenen Hamstranges meist zu-
sammen mit abnormer Kleinheit und schlauchartiger Beschaffenheit der
Blase oder als cystische Ausbuchtungen der Wandung des Ganges
fanden. Femer ist das längere Bestehen eines weim auch nur ge-
ringen Hindernisses für die Harnentleerung zu beschuldigen, z. B.
eine Phimose, die übersehen oder zu spät operirt wird, oder es
kann der Urachus selbst mit der Zeit Verändeiungen erleiden, die
einer spontanen Obliteration trotz Herstellung eines normalen und ge-
76 Dr. E. Loxer,
nagenden ürinabflusses und dem Verschlusse der äusseren Mündung
entgegenstehen, indem nach Infection der ürachusschleimhaut von
aussen eine entzündliche Absonderung eintritt und Incrustationen
oder abscessartige Erweiterungen der Wand entstehen.
Ein solches Hinderniss für die Heilung der letzteren Art lag
in einem Falle von Delag6niere vor. Bei dem öYajährigen
Knaben bestand die Fistel seit frühester Jugend; ijn 6. Lebens-
monat hatte sie sich auf der Höhe eines kleinen im Nabel liegenden
Tumors geöffnet. Delageniere umschnitt die Fistel, gelangte dann
hinter dem Nabel in eine mit Granulationen gefüllte buchtige Tasche,
deren unterste Ausbuchtung in den an der Schleimhaut deutlich
erkennbaren Urachuscanal überging. Bei der darauf folgenden Um-
schneidung und Excision dieser Tasche, die ihrer Lage nach wohl
durch eine frühere Entzündung im suburabilicalen Räume entstanden
war, wenn es sich nicht um eine zerfallene Cyste handelte, wurde
das Peritoneum weit geöffnet. Danach fühlte man von der Bauch-
höhle aus den Strang des ürachus sich zur Blase fortsetzen. Derselbe
wurde noch 3 cm weit isolirt und dann durchschnitten. Das Lumen des
Ganges wurde mit Einstülpung der Wandung durch Nähte umschlossen.
Die Fistel heilte nach diesem Eingriffe, den Delageniere als partielle
Rcsection des ürachus bezeichnete; der Knabe blieb gesund.
Neuerdings operirte Stierlin^) bei einem 12jährigen Mädchen
eine angeborene Fistel mit ziemlich weitem Calibcr — sie war für
ein elastisches Bougie, Charriere No. 9 leicht durchgängig. Der Be-
fund einer die Harnröhrenmündung verdeckenden Schleimhautfalte,
sowie eines steil nach hinten gerichteten Verlaufes der Urethra ist
nach Stierlin vielleicht von Wichtigkeit für die Genese. Es wurde
nach genauer Präparation der Nabelmündung die Schleimhaut des
Ürachus angelrischt und mit fortlaufender Naht das Lumen ge-
schlossen, worauf die Naht 'der Hautwunde folgte. Nach 10 Tagen
konnte die Patientin als vollständig geh(;ilt entlassen werden.
Der Erfolg dieser beiden Operationsverfahren war also ein
guter, üb es rationell ist bei älteren Kindern mit angeborener
Fistel sich mit dem äusseren Verschluss des Ganges zu begnügen,
ist eine Frage, auf die ich später bei Besprechung eines Falles von
acquiriilcr Fistel eingehen werde.
*) Stierlin, Deutsche med. Wochenschrift. 1897. No. 12.
lieber die Behandlans: der Urachusfistel. 77
■rr»
Weit grossere Schwierigkeiten stehen der Heilung der erst im
späteren Alter aufgetretenen, sog. acquirirten oder angeboren
secundären^) Urachusfistel entgegen.
Bricht die Fistel schon in den ersten Lebensjahren auf, dann
kommt sie der eongenitalen Form insofern sehr nahe, als man
wohl annehmen darf, dass in solchen Fällen nur das äusserstc Ende
des Hanistranges in der Nabelnarbe verschlossen und obliterirt war.
Harnstauungen in der lilase spielen auch hier eine grosse Rolle.
Für die Erklärung des Wiederaufbruches des ürachus beim
Erwachsenen sind Untersuchungen von grosser Bedeutung, welche
die Thatsache feststellten, dass ein grösserer vom Blasenscheitel
aus zugänglicher Abschnitt des Epithelganges nicht nur in den ersten
Lebensjahren oft sehr ausgeprägt vorhanden ist, sondern auch im
späteren Alter bis zu einem gewissen Grade als Norm gefunden
wird. Dies haben, nachdem schon Walt her. Portal und Mcckel
sich gegen die frühere Ansicht von der schon bei der Geburt er-
folgten vollständigen Obliteration des Urachus ausgesprochen, die
Untersuchungen von Luschka, Suchannek und besonders Wutz
erwiesen. Letzterer fand nicht nur an der Mehrzahl 2) der unter-
suchten Leichen verschiedenen Alters, dass das Ligamentum vesicae
medium in seinem untersten Abschnitte einen sondirbarcn Epithel-
schlauch als Rest des Urachus enthält, der am Blasenscheitel durcli
eine trichterförmige Einziehung und einen klappenartigen Verschluss
kenntlich ist, sondern stellte auch ein extrauterines Wachsthum
dieses Epithelganges fest, der beim Erwachsenen in der Regel etwa
ein Drittel des Abstandes des Blasenscheitels vom Nabel einnimmt.
Bei dem nicht häufigen Vorkommen der sogenannten acquirirten
Urachusfistel ist es wahrscheinlich, dass der nach Wutz als fast
normal anzusehende Ueberrest des Urachus erst dann zum Angriffs-
punkt jener Momente wird, welche schliesslich zum Durchbruch des
Urins am Nabel führen, wenn er in ungewöhnlicher Weite und Aus-
dohnung vorhanden und die ventilartige Schlcimhautfalte an seiner
Blasenmündung insufficient ist (v. Bramann^). Wirken doch die
Ursachen, die den Wiederaufbruch des Urachus herbeizuführen im
*) Letendu- Voillemier nach Güterbock, Die chirurgischen Krank-
heiten der Hamorgane.
') Wutz, Ueber Urachus und Urachussysteni. Virchow's Archiv. 92.
1883.
') V. Bramann, Archiv für klin. Chirurgie. Bd. 36. S..996
78 Dr. E. Loxer,
Stande sind, bei so enorm vielen Fällen von Erkrankungen der
Blase, ohne dass eine ürachusfistel entsteht.
Ebenso, wie für die Entstehung der congenitalen Fistel, spielt
bei der später entstandenen die Stauung des Urins, mehr aber noch
die von der Blase aus fortgesetzte Entzündung der Schleimhaut
eine Rolle. Durch das Hand in Handgehen dieser beiden Momente
ist es nach von Braniann zu verstehen, wie allmälig, auch beim
Erwachsenen, der Rest des Urachus am Blasenscheitel erweitert
wird und dann durch Weitergreifen der Entzündung auf den soliden
Theil des Ligaments schliesslich der gestaute Urin auf dem von
der eitrigen Entzündung gebahnten Weg am Nabel durchbricht.
Die Urinstauung erklärt sich in den einen Fällen allein durch die
vorhandene Cystitis, in anderen durch impermeable Stricturen der
Harnröhre (Jacoby's Fall) oder Prostatahypertrophie.
Den besten Beweis für das Uebergreifen der Eiterung von der
Blase auf Urachusreste ergaben 2 Fälle von Wutz^); in dem ersten,
einem alten Prostatiker, waren 2 dem Urachus angehörende cys-
tische Erweiterungen infolge ihrer Communication mit der entzündeten
Blase durch das durchgängige Urachuscanälchen vereitert, in dem
zweiten Falle handelte es sich um einen 20Jۊhrigen, an Perityphlitis
verstorbenen Mann, hei dem in einer Urachuscyste, die ebenfalls
durch ein feines Canälchen mit der Blase in Verbindung stand,
der Beginn einer, von der Blase aus fortgcleiteten Entzündung sich
nachweisen liess.
Das Mitspielen der Entzündung bei der Entstehung der Fistel,
was sich ja schon klinisch dadurch äussert, dass vor dem Durch-
bruch des Urins am Nabel in der Regel die Bildung eines entzünd-
lichen Infiltrates, eines Abscesses und die Entleerung von Eitermassen
beobachtet wird, bildet natürlich für die Heilung das grösste Hinder-
niss. Es ist daher das erste Erforderniss, die Entzündung der Blase,
die in geringerem oder stärkerem Grade stets dem Wiederaufbruch
des Urachus vorangeht, zum Abschluss zu bringen und bestehende
Hindernisse für die Urinentleenmg zu beseitigen, bevor man mit
Aussicht auf Erfolg an die Behandlung der Fistel herangehen kann.
Oft aber trotzt die Eiterung der Blase und somit auch die Fistel
jeder Behandlung. Es sind dies diejenigen Fälle, in denen sich
0 1. c. S. 403,
lieber die Behandluns: der ürachusfistel. 79
■e
die Kiteruiig von der Blase schon weiter liinauf erstreckt hat,
in denen schon Nierenbecken und Nierenparenchym ergriffen sind,
so das« schliesslich die Blasennabelfistel nur einen ganz un-
wesentlichen Nebenbefund in dem schweren Bild der ganzen Er-
krankung darstellt. So gelang es z. B. in dem Wo rster' sehen
Falle ^), in welchem ein 11 jähriges Mädchen nach 2 jährigem Bestehen
einer Cvstitis eine Urinfistel am Nabel bekam, erst nach 10 Jahren
die Fistel, die sich inzwischen nach Verheilen der Stelle am Nabel
weiter unten in der Linea alba gebildet hatte, durch Anfrischen
und Naht zur Heilung zu bringen. Dagegen endete der Fall von
Cadell^), ein 8 jähriges Mädchen, bei welchem ebenfalls nach län-
gerem Bestehen einer Cystitis eine Blasennabelfistel entstanden war,
schon nach 5 Monaten in Folge der eingetretenen Niereneiterung
tödtlich. Ein ähnlich trauriges Beispiel ergiebt in seinem weiteren
Verlaufe auch der v. Bramann'sche Fall, der gleichzeitig den
ersten Versuch einer radicalen operativen Behandlung
darstellt.
V. Bramann ging nämlich von der richtigen Voraussetzung
aus, dass die epitheliale Auskleidung des erweiterten Urachus das
Haupthindemiss für den Verschluss der Fistel bildete. So suchte
er an seiner Patientin, einem r2jährigen Mädchen, bei dem sich
vor Kurzem eine Blasennabelfistel im Anschluss an eine seit dem
9. Jahre bestehende Cystitis entwickelt hatte, durch Spaltung des
ganzen Ganges unter Leitung einer Sonde und Entfernung der Aus-
kleidung desselben bis zur Blase herab eine Heilung der Fistel zu
erzielen, nachdem eine erhebliche Besserung der Cystitis durch Ein-
igen eines Dauerkatheters und häufige Blasenspülungen erreicht
worden war.
Bei der Entfernung der nahe der Blase sehr festhaftenden
Urachusschleimhaut mit dem scharfen Löffel entstand hier ein
kleiner Riss in der hinteren Wandung mit Verletzung des Perito-
neums in geringer Ausdehnung. -Die in ihrem oberen Abschnitte
vernähte Wunde heilte, doch schloss sich nur vorübergehend trotz
weiterer plastischer Operationen und Kauterisation die ßlasen-
0 Worster, Virchow-Hirsch Jahresbericht 1877. II. S. 403. New York,
Med. Record. 1877.
2) Cadeil, Virchow-Hirsch Jahresbericht 1878. II. S. 416. Edinburgh
med. Journ. 1878, pag. 221,
80 Dr. E. Lexer,
fistel, die schliesslich nur vom Nabel bis zur Symphyse verlagert
worden war.
lieber den weiteren Verlauf des Falles nach der Veröffent-
lichung von V. Bramann ergiebt die Krankengeschichte, dass die
Patientin ein Jahr später an Urämie in der Klinik starb. Die
Fistel über der Symphyse hatte sich nicht geschlossen, die Eiterung
der Blase nahm in hohem Maassc zu, auch der Dauerkatheter be-
währte sich wenig, indem trotz desselben, wahrscheinlich weil er
sich leicht verstopfte, fast aller Urin zeitweise zur Fistel heraus-
kam. Bei der Sectiori fand man beide Nieren vollständig ver-
eitert, zerfallen, beide Ureteren erweitert, den einen durch Con-
cremente verschlossen; die Blase selbst, deren Schleimhaut die
Zeichen schwerster Entzündung bot, bestand nur aus einem
schmalen, 10 cm langen Schlauch.
Durch die vollständige Ausrottung der Epithelbekleidung und
Spaltung der Fistel vom Nabel bis zum Blasenscheitel war wohl
ein Verschluss des ürachusganges erreicht worden, doch blieb seine
Mündung in der Blase offen und damit eine Fistel oberhalb der
Symphyse bestehen. Dass diese letztere trotz plastischer Opera-
tionen nicht zum Verschluss kam, liegt an der hartnäckigen, seit
Jahren bestehenden Gystitis und diese wiederum konnte nicht zur
Ausheilung kommen, nachdem schon die Ureteren und Nieren von
der fortgepflanzten, eitrigen Entzündung ergriffen waren.
Ausserdem aber möchte ich für dasMissIingen noch einen weiteren
Umstand verantwortlich machen, wie ich ihn erst bei der Opera-
tion eines anderen Falles kennen lernte, nämlich das anatomi-
sche Verhalten des Blasenscheitels, dessen abnorme, spitz
zulaufende Gestalt in den meisten zur Obduction gekommenen
Fällen kurz erwähnt wird und höchstwahrscheinlich auch in dem
V. Bramann'schen Falle, in welchem bei der Section die schlauch-
förmige Gestalt der Blase auffiel, vorhanden war. Durch die
Längsspaltung der vorderen Urachuswand bis zu dessen Mündung
am Blasenscheitel war hier ein für den Finger durchgängiges Loch
in der Blase entstanden. Wenn man bedenkt, dass durch diesen
Schnitt nur die vordere Wand des in den offenen Urachus über-
gehenden Vertex betroffen wurde, so hatte die Wunde in der Blase
wenig günstige Verhältnisse für eine Heilung, sei es mit oder ohne
Naht, da ja die hintere Blasenwand sich in die hintere., nur der
üeber die Behandlung der Urachusfistel. 81
Schleimhaut beraubte Wand des ürachus fortsetzte, v. Bramann
versuchte zunächst den Verschluss dieser Blasenwunde durch Tarn-
ponnade unter Mitwirkung des Dauerkatheters herbeizuführen, später
durch Anfrischung der Fistel oberhalb der Symphyse mit nach-
folgender Hautplastik.
Wie sehr eine abnorme Gestaltung des Blasenscheitels bei der
Operation der Urachusfistel für die Heilung ihrer Blasenmündung
von Wichtigkeit sein kann, trat in dem folgenden Falle sehr
deutlieh hervor.
Es handelte sich um einen schwächlich gebauten jungen Mann von
20 Jahren, der bestimmt angeben konnte, dass früher niemals am Nabel Ab-
normitäten bemerkt worden waren. Erst vor l^/g Jahren traten, nachdem
schon mehrere Wochen vorher Beschwerden in der Entleerung des gleichzeitig
sehr trüb aussehenden Urines bestanden hatten, Schmerzen in der Gegend des
Nabels auf, dessen Umgebung anschwoll und sich röthete. Bald darauf soll
sich eines Tages eine Menge eitriger Flüssigkeit aus dem Nabel entleert haben.
Von Zeit zu Zeit hörte diese Absonderung aus dem Nabel auf, um dann auf
einmal wieder aufzutreten, während die Blasenbeschwerden immer heftiger
wurden, häufig Fieber und Schüttelirost sich hinzugesellten und der Patient,
der bisher seine Leiden verheimlicht hatte, sehr stark herunterkam. Ausser
einer hochgradigen Cystitis bestand eine sehr vernachlässigte Blennorrhoe der
Harnröhre, in deren eitrigem Secret massenhaft Gonokokken nachgewiesen
werden konnten, üeber den Zeitpunkt der Entstehung der Gonorrhoe vermied
der Patient jede genauere Angabe. Die Fistelöffnung am Nabel war wegen der
Schwellung und entzündlichen Infiltration desselben nicht sichtbar, doch füllte
sich der Nabeltrichter beim Pressen des Patienten, sobald heftiger Harndrang
sich einstellte, sofort mit schleimigem Eiter und übelriechendem Urin, ebenso
bei Druck auf die Blasengegend, wobei sehr heftige Schmerzen auftraten.
Die Behandlung bezog sich vor allen Dingen auf die Cystitis. Bei den
häufig vorgenommenen Blasenspülungen entleerten sich jedesmal, sobald die
Blase etwas gefüllt war, aus der Nabelfistel zuerst eitrige Flocken, dann die
Spülflussigkeit, so dass schliesslich die ganze eingelassene Menge durch den
Nabel abfloss. Trotzdem ist es uns nicht gelungen, eine dünne Sonde tiefer als
höchstens 2 cm in die Fistel einzuführen. Nach 3 Wochen hatte sich der
Patient erholt, es bestand kein Fieber mehr, der Urin, der ohne schmerzhaften
Drang entleert wurde, sah beinahe normal aus, auch die Entleerung von Eiter
aas der Nabelfistel hatte aufgehört. Aus der letzteren sickerte beständig der
Urin heraus, sobald die Blase wenig gefüllt war, weshalb der Patient in kurzen
Zeiträumen Urin liess. Einen Dauerkatheter einzulegen, unterliessen wir schon
aus dem nahe liegenden Grunde, da die gonorrhoische Entzündung der Harn-
röhrenschleimhaut noch im Abheilen begriffen war. Die Bauchdecken waren
nicht mehr druckempfindlich, so dass man jetzt sehr deutlich einen harten,
über fingerdicken Strang in der Mittellinie durchfühlte, der sich vom Nabel bis
ArehiT tUr klin. C]iirnrfr<«- <^7. Bd. Heft 1. g
82 Dr. E. Lexer,
in die Blasengegond verfolgen liess und in seinem oberen Abschnitte, ent-
sprechend dem subumbilicalen Räume, etwas verbreitert, durch die weichen
Bauchdecken fast zu umgreifen war.
Nach Ablauf der Cystitis konnte an den Verschluss der Blasen-
nabelfistel gedacht werden. Leitend war dabei das Vorgehen
V. Bramann's, das darauf hinausging, die innere Auskleidung des
Ganges resp. Harnstranges zu entfernen. Dass sich jedoch unsere
Operation von Anfang an etwas anders gestaltete, erklärt sich aus
den vorgefundenen Verhältnissen. Da keine Sonde einzuführen und
ferner die obere Hälfte des Stranges deutlich zu umgreifen war,
wurde die Excision desselben, zunächst in seinem oberen Abschnitte,
vorsucht. Nach Umschneidung des Nabels liess sich unschwer in
Zusammenhang mit diesem aus der schwieligen Umgebung ein
kleinfingerdicker Bindegewebsstrang umschneiden, von dem ich an-
nehmen durfte, dass er den nicht sondirbaren, wahrscheinlich also
etwas gewundenen Gang enthielt. Eine Eiteransammluhg oder ein
Granulationsherd war in dem durchschnittenen schwieligen Gewebe
nicht vorhanden, doch muss wohl angenommen werden, dass das
letztere einer früheren Eiterung im sogenannten subumbilicalen
Räume seine Entstehung verdankte. Etwa 2 cm unterhalb des um-
schnittenen Nabels war an dem freipräparirten Strang der Fistel-
gang geöffnet worden. Es erschien hier ein kleines Lumen, von
dem aus sich eine dünne Sonde ohne Schwierigkeit bis in die Ge-
gend der Blase einführen liess. Das weitere Präpariren des Stranges
nach der Verlängerung des Schnittes bis zur Symphyse wurde hier-
durch sehr erleichtert und liess sich noch bis zur Mitte zwischen
Nabel und Symphyse ohne Verletzung des Peritoneums ausführen.
Hier jedoch war dieselbe nicht mehr zu vermeiden, da die unter
dem Nabel noch sehr starke Schwiele allmälig in ein fast nor-
males Peritoneum überging. Von dem Schlitz des Bauchfells aus
konnten die Verhältnisse an der Blase sehr gut übersehen werden.
Die Fortsetzung des bisher freipräparirten Stranges, des Ligamentum
vesicae medium verbreiterte sich kegelförmig und ging ohne
sichtbare Grenze, ganz ähnlich wie dies beim Embryo
der Fall ist, in den sehr hoch stehenden Blasenscheitel über. Um
nun das Bauchfell nicht weiter bis zur Blase zu öffnen, w^urde es
von der hinteren Fläche des sehr dicken LigamentvS, beziehungs-
weise mit einer dünnen Schicht desselben scharf abpräparirt und
Ueber die Behandlung der Urachusfistel. 83
dann der erwähnte Schlitz durch Naht geschlossen. Zuletzt hing
der vollständig freipräparirte Urachusstrang nur noch an dem zipfel-
(ormigen Blasenscheitel, der seine Fortsetzung bildete. Durch diese
eigenthümliche Form und Lage des Vertex, der mehr als 2 Finger
breit trotz leerer Blase die Symphyse überragte und der Bauch-
wand dicht anlag, setzte sich das Bauchfell ohne die gewöhnliche
ümschlagsfalte von der hinteren Fläche der Blase auf die Bauch-
wand fort. Mit der queren Durchtrennung des Stranges an der
Blase war die totale Excision des Fistelganges sammt seinen beiden
Mündungen vollendet. Da die Amputationsstelle in den Bereich
dieses Zipfels der Blase fiel, der ebenso gut einer trichterförmigen
Zuspitzung der Blase, als einer Erweiterung der ürachusmündung
entsprechen konnte, klaffte die Schleimhaut in einer Ausdehnung
von etwa IV2 ci^^- D^ls Betasten des Blaseninnern von hier aus
ergab, da^s die Blase einen langen, dickwandigen Schlauch
darstellte, ähnlich wie nach dem Sectionsbericht in dem v. Bra-
mann' sehen Falle; es liegt nahe, diese zum Theil auch ander-
weitig (z. B. Stadfeldt, Wutz) aufgefallene abnorme Gestalt der
Blase mit dem sehr hoch heraufreichenden, trichterförmig zulau-
fenden Vertex wegen der Aehnlichkeit mit den Verhältnissen beim
Embryo mit der Persistenz des Urachus am Blasenscheitel in Zu-
sammenhang zu bringen.
Das Loch im Blasenscheitel einem spontanen Verschluss wie
in dem v. .Bramann' sehen Falle zu überlassen, schien hier schon
wegen der Nähe der Peritonealnaht nicht rathsam; auch musste
die Anwendung eines Dauerkatheters vermieden werden, um nicht
die kaum abgelaufene Urethritis und Cystitis wieder zu entfachen.
Vor allen Dingen aber waren durch das quere Abtrennen der
ürachusmündung am Blasenscheitel sehr günstige Wundränder
für die Naht entstanden, welche durch den Hochstand des Organes
sehr erleichtert wurde. Durch den Verschluss der Blasenwunde
hatte sich eine dem normalen Vertex mehr entsprechende gewölbte
Blasenkuppe gebildet. Auf die Stelle der Blasennaht kam dann
2UT Sicherheit ein kleiner Tampon, während die ganze übrige Wunde
geschlossen wurde.
Der Verlauf war im Allgemeinen günstig. Die Wunde heilte
schnell, nur der untere Wundwinkel, der tamponnirt worden war,
hrauchte 4 Wochen bis er vernarbt war. Doch kaum hatte er
84 Dr. E. Lexer,
sich geschlossen, so entstand hier in der Narbe ein kleiner Abscess,
der geöifnet wurde. Nach einem Jahre wiederholte sich die
Abscessbildung noch einmal an derselben Stelle. Durch leichte
Auslöifelung wurden einige Seidenligaturen zu Tage befördert. Bis
jetzt — es sind 2Y2 Jahre seit der Operation verflossen — ist
die ürinfistel nie wieder aufgebrochen. Der Patient ist vollständig
gesund geworden, nur ist er noch genöthigt, ziemlich häufig Urin
zu lassen. Da eine Cystitis nicht wieder aufgetreten ist, kann
diese Erscheinung wohl nur durch die geringe Capacität der Blase
bedingt sein. Der gute Erfolg ist in diesem Falle in erster Linie
dem Umstände zu danken, dass die Cystitis sich vor der Operation
beseitigen Hess und zweitens, dass durch das quere Abschneiden
der erweiterten Fistelmündung am Blasenscheitel eine mit
günstigen Rändern für die Naht ausgestattete Wunde in der Blase
entstanden war.
War aber der hier excidirte Fistelgang auch wirklich
eine Urachusfistel?
Ich muss hier diese Frage etwas eingehender berühren, da
gerade bei den unter Entzündungserscheinungen entstandenen Blasen-
nabelfisteln die Entscheidung sehr schwer ist, ob ein partiell offener
Uracliusrest an der Fistelbildung betheiiigt ist oder diese andere
Ursachen hat. Ledderhose betont, dass die Betheiligung des
Urachus in solchen Fällen sehr zweifelhaft ist, bei welchen heftige
entzündliche Erscheinungen und besonders Entleerung, von Eiter
durch den Nabel dem Ausfliessen von Urin vorangingen; es liegt
hier nach Ledderhose die Annahme näher, dass sich der Urin
unabhängig vom Urachus nach vorhergehender Ulceration und Per-
foration der Blasenwand mit subperitonealer Urininfiltration seinen
Weg zum Nabel gebahnt hat. „Allerdings ist ein strenger
anatomischer Beweis für diese Möglichkeit, wie es scheint,
bisher nicht geliefert worden." Bekannt ist jedoch, dass Blasen-
steine diese Gomplication her\'orrufen können (cf. Tillmanns)^).
Es wäre ferner möglich, — und diese Annahme gewinnt viel
Boden durch die Untei*suchungen von Gerota*) über die
anatomischen Verhältnisse der Lymphbahnen und Lymphdrüsen
»^ Tillraanns, Deutsche Zeitschrift für Chünrgie. Bd. 18. S. 198.
2) Gerota, Anatomischer Anseiger. XII. 1896. S. 89.
lieber die Behandlung der Ürachusfistel. 85
der Harnblase und der Nabelgegend i), dass sich unabhängig vom
Urachus eine Entzündung von der Blase bis zum Nabel fortpflanzen
und den Weg für einen etwaigen Durchbruch des Urins vorbereiten
kann. Auch H. Fi scher 2) zieht als Ursache der subumbilicalen
Phlegmone die Fortleitung der Entzündung von der Blase aus in Be-
tracht, allerdings weist er dabei, zumal er in 2 Fällen Plattenepithelien
im Eiter fand, auf die Möglichkeit hin, dass Urachusreste mitbetheiligt
waren, dass also die Entzündung der Blase, ähnlich wie bei den
oben erwähnten Fällen von Wutz auf dem Wege des am Blasen-
scheitel offenen ürachuskanälchens zuerst eine Eiterung in Urachus-
cysten verursachte und von hier aus, vielleicht durch Ruptur einer
solchen vereiterten Cyste der Abscess im subumbilicalen Räume zur
Entstehung kam.
Auf der anderen Seite hat sich Wutz, was die Rolle betrifft,
die dem Urachus bei den acquirirten Blasennabelfisteln zukommt,
in seiner Arbeit dahin ausgesprochen, dass dies durch keine ana-
tomische Untersuchung klargelegt sei. Zwar ist er nicht der
Meinung, dass unter normalen Verhältnissen ein Eindringen von
Urin in den durch eine kleine Querfalte meist verschlossenen
Urachusrest stattfinden könne; denn es war selbst in Fällen hoch-
gradigster Blasendilätation bei Prostatahypertrophie eine Er^^eiterung
des Canälchens niemals zu beobachten; doch gelang ihm, wie
schon erwähnt in anderen Fällen der Nachweis, dass sich von der
erkrankten Blase aus die eitrige Entzündung durch den sondirbaren
Urachusgang hindurch *if einige demselben anliegende Cysten er-
streckt hatte. Es wäre nun leicht denkbar, dass unter Umständen,
wenn der Urachusrest am Blasenscheitel abnonn weit und zu-
gänglich ist oder in dieser Weise durch die Eiterung verändert
wurde, auch der Urin denselben Weg betritt, den die Entzündung
genommen. Deshalb liegt schon in dem Befunde von Wutz ein
gewisser Beweis dafür, dass der Urachusrest bei der Entstehung
von Blasennabelfisteln im späteren Alter sehr wohl betheiligt
sein kann.
1) Lymphdrüsen und -Gefasse entlang der Art. umbilicalis, der Vasa
epigastrica Inf. und seitlich der Blase. Lymphoglandula umbilicalis
Imiter dem Nabelring im subperitonealen Bindegewebe. Lympho-glandulae
Tosicales ant. im prävesicalen Fettgewebe.
*) H. Fischer, Sammlung klin. Vorträge von Volkmann. Neue Fol^e
89. Die Eiterungen im subumbilicalen Räume. 1894.
86 Dr. E. Lexer,
Die Entscheidung jedoch, ob in dem betreffenden Falle ein
wiederaufgebrochener ürachus oder der Fistelgang eines durch-
gebrochenen Hamabscesses vorliegt, ist ohne den mikroskopischen
Nachweis von ürachusepithel, wie er in dem v. Bramann'schen
und meinem Falle (s. Seite 90) gelungen ist, kaum mit Bestimmt-
heit zu treffen; denn die klinischen Symptome, die den Aufbruch
der Fistel am Nabel begleiten, sind zur Beantwortung der Frage,
ob ein Urachusrest den Ausgangspunkt bildet oder nicht, nur wenig zu
verwerthen. Als Anhaltspunkte für die Diagnose geben Ledderhose,
V. Bramann, Güterbock schnell auftretende, heftige Entzündungs-
erscheinungen, ausgedehnte Infiltration und Schwellung der Bauch-
decken an, was für Urininfiltation nach Perforation der Harnblase
sprechen würde, während das mehr symptomlose Entstehen der
Urachusfistel zukommt. Die letztere aber entsteht nur bei ent-
zündlichen Störungen der Blase, die sich in den Rest des Epithel-
schlauches fortsetzen, nachdem davon auch der solide Theil des
Ligamentum med. und mit ihm der subumbilicale Raum ergriffen
ist. Wie aus der Entleerung von Eiter aus dem Nabel vor dem
Durchbruch des Urins zu ersehen ist, können jene Abschnitte stark
durch Entzündung betheiligt sein und es wäre nicht unmöglich,
dass sich auch hier bei dem Wiederaufbruch des Harnstranges Er-
scheinungen einstellen, wie sie für den Durchbruch der Urininfiltrate
oder perivesiculären Abscesse am Nabel gelten. Ferner ist noch
zu bedenken, dass sich ohne stürmische Erscheinungen bei vor-
handener Cystitis die Entzündung sowohl |^f lymphatischem Wege,
als durch ein theüweise offengebliebenes Urachuscanälchen hin-
durch ganz allmälig bis hinter den Nabel fortpflanzen kann, bis
eine weitere Ursache, vielleicht eine lang dauernde Stauung des
Urins, denselben auf der nämlichen Bahn zum Durchbruch am
Nabel führt. Auch hierbei würden uns die genannten Symptome
zur Beurtheilung der vorliegenden Fistel im Stiche lassen. Ich
glaube daher, dass Fälle, deren Deutung als Urachusfistel sich
allein auf das Fehlen dieser klinischen Erscheinungen stützt, nicht
als unzweideutig betrachtet werden dürfen.
So wurde der von Goldschmidt^) operirte Fall, ein lOjähriger
Knabe, wegen der albnählichen Entstehung der Fistel ohne Ent-
<} Verhandlungen der Deutschen GeseUschaft für Chirurgie. 20. Congress
1890. ö. 179. I.
üebor die Behandlang der Urachusfistel. 87
zündungserscheinungen und wegen des Fehlens phlegmonöser Pro-
cesse der Bauehdecken als Urachusfistel angesehen, obgleich der
Autor selbst beifügte, dass erst die mikroskopische Untersuchung,
die nicht gemacht werden konnte, einen sicheren Stützpunkt für
die Diagnose abgegeben hätte. Als Ursache des Aufbruchs fand
sich ein grosser Blasenst^in, der durch Sectio alta entfernt wurde.
Die Fistel, deren eine abscessartige Erweiterung unterhalb des
Nabels schon vorher incidirt worden war — die andere fand sich
beim Steinschnitt hinter dem 1. M. rectus. — heilte nach diesen
Eingriffen und dem Ablauf der Cystitis und ist, wie Herr Gold-
schmidt die Güte hatte mir mitzutheilen, geschlossen geblieben.
Aber selbst dann, wenn eine eingehende Untersuchung mög-
lich ist, sind manchmal nicht alle Zweifel gehoben, vne der folgende
Fall beweist, bei welchem ebenfalls heftigere Entzündungs-
erscheinungen fehlen.
Ein 67jähriger Mann besachte seit 3 Jahren wegen seiner durch Pro-
statahypertrophie und Cystitis herv^orgerufenen Blasen besch werden mehr-
mals die Poliklinik, da er zu einer stationären Behandlung sich nicht ent-
schliessen konnte. Er kam nur, wenn Retentio urinao eingetreten war. Der
Urin wurde mit einem weichen Katheter entleert und die Blase jedesmal aus-
gespült. Ende Juni 1897 meldete der Pat., dass der Urin, nachdem wieder
Verhaltung seit etwa 24 Standen eingetreten war, in der Nacht durch den
Nabel ausgeflossen sei. Der Erscheinung gingen, wie Pat. ausdrücklich be-
tonte, abgesehen von den gewöhnlichen Schmerzen bei der Harnverhaltung,
keine besonderen Beschwerden voraus. Entzündet war die Gegend des Nabels
nicht. Der sammtliche eitrig-schleimige Urin floss durch den Nabel ab. Der
ziemlich weite and tief eingezogene Nabeltrichter füllte sich stets mit Urin,
von dem nichts auf normalem Wege von selbst abging.
Die Untersuchung ergab eine ziemlich stark vergrösserte Prostata; eine
Sonde war am Nabel in der Richtung nach der Blase nur etwa 6 cm weit ein-
zufahren. Vom Nabel bis gegen die Symphyse fühlte man in der Mittellinie
durch die weichen und dünnen Bauehdecken hindurch eine zweifingerbreite
strangartige Verhärtung. Ein dicker Silberkatheter lässt sich ohne besondere
Schwierigkeit in der Pars prostatica so weit in die Blase einführen, dass sein
äusseres Ende am Orificium urethrae steht; dabei bemerkt und fühlt man durch
die Bauchdecken etwa 3 Finger breit oberhalb der Symphyse die Spitze des
Katheters. Dies konnte erklärt werden durch eine stark dilatirte, schlaffe
Blasenwand, darch eine abnorme, mehr schlauchartige Gestalt der Blase mit
hochliegendem Vertex, durch ein Divertikel oder dadurch, dass der Katheter in
den Fistelgang gerathen war.
Das fast völlig symptomlose Auftreten der Fistel sprach am
wenigsten für eine Perforation der Blase mit Urininfiltration, auch
88 l)r. E. Lexer,
wenn man einen mehr chronischen Verlauf derselben in Betracht
zog; deshalb wies die Lage des Fistelganges, der genau in der
Mittellinie dem Lig. ves. med. folgte, soweit man dies aus der
hier fühlbaren, strangartigen Verhärtung schliessen durfte, viel
eher auf eine Urachusfistel hin. Dazu kam die Vermuthung, dass
eine Abnormität der Blase vorhanden war, wie sie ja öfters bei
Urachusfisteln beobachtet wurde; und dann sind gerade hier bei
Prostatahypertrophie mit Cystitis die Ursachen, die für den
Wiederaufbruch des ürachus von Bedeutung sind, die Stauung des
Urins in der Harnblase und die Entzündung derselben sehr aus-
geprägt vorhanden.
Im übrigen ist der Durchbruch des Urins durch den Urachus
bei Prostatahypertrophie nach mehrjähriger Dysurie schon beob-
achtet worden und zwar von Levie^) an einem 79jährigen Manne,
bei dessen Section sich die Annahme bestätigte, dass der Urachus
durchgängig war; seine 1 — 1,5 mm weite Mündung im Blasen-
scheitel war von einem wulstförmigen Rand umgeben.
Bei dem Alter und der Gebrechlichkeit unseres Patienten, so-
wie in Rücksicht auf die erhebliche Vergrösserung der Prostata
und die vorhandene Cystitis konnte man als Ziel der Behandlung
nicht die Heilung der Fistel, sondern nur eine Besserung des Zu-
standes auf dem einfachsten Wege ins Auge fassen. Da es nun
nicht möglich war, durch Einlegen eines Dauerkatheters die Urin-
absonderung aus der Nabelfistel zu beseitigen und sich auch schub-
weise in grösseren Zeiträumen bis zu 2 Tagen aus derselben eine
Menge von Eiter entleerte, so dass man an das Vorhandensein von
Ausbuchtungen des Fistelganges denken musste, welche die Eiterung
unterhielten und Ansammlungen gestatteten, so schien mir das
Verfahren von v. Bramann, wodurch die ganze Fistel mit ihren
Buchten geöffnet und die Fistelmündung vom Nabel zur Symphyse
verlagert wurde, am besten den Anforderungen dieses Falles zu
genügen. Abgesehen davon, dass es wegen der Entzündung der
Blase und der Hypertrophie der Prostata unmöglich gewesen wäre,
die Fistelmündung am Blasenscheitel zum Verschluss zu bringen,
konnte die zur Symphyse verlagerte Fistel bei dem vorhandenen
Leiden nur die Maassnahmen zu dessen Besserung unterstützen.
') Levie, nach Jahresbericht von Virchow-Hirsch 1878, II, S. 416
und Ledderhose 1. c.
Ueber die Behandlung der Urach usfistel. 89
Ich spaltete also unter Leitung einer Sonde den Fistelgang, dessen
Wandung allseitig von enorm festem schwieligen Gewebe gebildet
wurde. Etwa 5 cm oberhalb der Symphyse begann eine wallnuss-
grosse mit dickem eitrigen Urin ausgefüllte und mit schmierigen
Granulationen ausgekleidete Höhle, die hinter der Bauchwand
liegend bis zur Symphyse reichte. Nachdem die Wandung dieses
Hohlraumes ebenso wie die ganze Fistel mit Löffel und Tupfer
gereinigt war, wobei das Bauchfell nirgends verletzt wurde, sah
man an der tiefsten Stelle der Abscesshöhle ein für einen Blei-
stift durchgängiges Loch, durch welches die Fistel, beziehungs-
weise ihre Ausbuchtung mit der Blase communicirte. Die ganze
Wunde wurde mit Jodoformgaze tamponnirt und ein Dauerkatheter
eingelegt. Nach 14 Tagen starb der Patient unter urämischen
Erscheinungen und hohem Fieber. Bei der Section, die vor allem
eine beiderseitige hochgradige Pyelonephritis feststellte, fanden sich
an dem gewonnenen Präparate, das die Harnblase im Zusammen-
hange mit dem mittleren Theil der Bauchdecken bis zum Nabel
enthielt, folgende Veränderungen, die besonders klar nach dem
Sagittalschnitt durch die Mitte des ganzen Präparates zu Tage
treten.
Die kleine dickwandige, von ulcerativer Entzündung befallene
Blase spitzt sich dicht an der Umschlagsstelle des Peritoneums genau
in der Mittellinie zu einem kleinen Trichter zu, der mit der er-
wähnten Oeffnung in die Abscesshöhle mündet. Auf der Innen-
seite der Bauchdecken springt das Ligamentum vesicae medium
als ein 2 cm breiter Wulst vor. Auf der Schnittfläche sieht man,
dass die 1 cm dicke hintere Wand der Fistel von dem sehr derben
Gewebe des Ligaments gebildet wird. Die Schleimhaut der Blase
setzt sich in den erwähnten Trichter eine Strecke weit, bis zu der
Comraunicationsstelle fort.
Nach dem Befunde bei der Operation und an dem Präparate
ist vor allem klar, dass die Blasennabelfistel genau in der Mittel-
linie und zwar in dem sehr stark verdickten Lig. ves. med. ver-
läuft. Die Mündung in der Blase hat ihren Sitz ebenfalls genau
in der Mitte des Vertex vor dem Peritoneum am Ansätze des Lig.
med. Es fanden sich jedoch in dem bei der Operation aus dem
Fiütelgange entfernten Gewebe keine Epithelien, ebenso wenig
konnten in Querschnitten von der Fistelwand Reste einer epithelialen
90 Dr. E. Lexer,
Auskleidung nachgewiesen werden. Wohl lässt sich vermuthen,
da3s bei der starken Eiterung in der Fistel das Epithel zu Grunde
gegangen war, oder dass kleine Reste uns bei der Untersuchung
der ausgeschabten Massen entgangen sind, doch könnte man für
die Annahme einer Urachusfistel nur die anatomische Lage des
Fistelganges im Ligament, med. und seiner Mündung am Blasen-
scheitel verwerthen. Was diese letztere betrifft, so weist ihre
trichterförmige Gestalt im Hinblick auf den spitzzulaufenden
Blasenscheitel in unserem ersten Falle und auf die von Wutz^)
beobachtete Einziehung der Blasenschleimhaut an der Mündungs-
stelle' des Urachuscanälchens zusammen mit ihrer Lage am An-
sätze des Lig. med. mit grosser Wahrscheinlichkeit darauf hin,
dass bei der Entstehung der Fistel ein ürachusrest am Blasen-
scheitel mit im Spiele war, vielleicht nur insofern, als der kleine
Trichter seiner Mündung einen besonders günstigen Angriffspunkt
für die Eiterung der Blase abgab, so dass es gerade hier bei der
oft eintretenden ürinstauung schliesslich zur Perforation kam. Die
Verziehung der Schleimhaut an dieser Stelle würde ohne Bedenken
durch Vernarbung zu erklären sein, wenn der Durchbruch nicht
gerade da, wo man die Einmündung eines Urachusrcstes vermuthen
muss, erfolgt wäre. Dass die Entzündung von der Blase bis zum
Nabel nur langsam fortgeschritten, also der Aufbruch des Nabels
längere Zeit vorbereitet war, dafür spricht die sehr starke Ver-
dickung der ganzen Umgebung des Fistelganges, ebenso wie das
fast erscheinungslose Auftreten.
Was also die Betheiligung des Urachus resp. eines Urachus-
restes an der Bildung der Blasennabelfistel in diesem Falle be-
trifft, so konnte man trotz genauer Untersuchung des Präparates
zu keiner unzweideutigen Entscheidung gelangen.
Eine bestimmtere Antwort gab dagegen die mikroskopische
Untersuchung in unserem 1. Falle (S. 81). Das Präparat besteht aus
einem kleinfingerdicken fibrösen Strang, der die ganze Blasen-
nabelfistel sammt ihrer Mündung am Nabel und ihrer Communi-
cation mit der Blase enthält. Von seiner Blasenmündung aus
1) 1. c. Nach Wutz ist in den meisten Fällen an der Innenfläche der
Blase an der Stelle, wo der Urachus seinen Anfang nimmt, beim Anspannen
der Schleimhaut eine kleine trichterförmige Einziehung wahrzunehmen, deren
Spitze die Oeffnung enthält.
Ueber die Behandlung der Urachusfistel. 91
kann der Fistelgang bis zu der erwähnten, bei der Operation ent-
standenen Oeffnung in der Mitte des Nabels sondirt werden. Der
Nabelantheil des Ganges ist ein unregehnässiger Trichter, in welchen
sich die Haut des Nabels noch bis etwa 1 cm weit hinein erstreckt.
Darauf schliessen sich gegen die Blase zu kleine, mit Granulationen
gefüllte Ausbuchtungen an, die sich bald zu dem Pistellumen ver-
engen, das von hier aus mit einem Durchmesser von 1 — 2 mm
vollkommen gestreckt bis zur Blase verläuft. Die Frage nach der
Auskleidung des Ganges war nicht leicht zu beantworten. Im
mittleren Drittel fand sich nirgends Epithel, überall Granulationen,
zerfallene ZeUmassen bei noch stark entzündeter Umgebung.
Weiter zur Blase entdeckte ich nach langem Suchen im Lumen
des unteren Drittels der Fistel mehrere deutlich 2 — 3 schichtige
Epithelinseln (ovale und kubische Zellen) innerhalb von Entzün-
dongsproducten und Granulationsgewebe als Reste einer epithelialen
Auskleidung des Ganges. Da, wo dieser sich erweiterte, begann
ein regelmässiges, mehrfach geschichtetes Uebergangsepithel, das
jedoch allein eine bestimmte Entscheidung darüber nicht zulässt,
ob die trichterförmige Spitze der Blase zum grössten Theile der
letzteren oder einer erweiterten ürachusmündung angehört. Nur
die Muskelbündel der Umgebung, die hier nicht in geordneten
Lagen verlaufen, sondern hauptsächlich nur eine unregelmässige
Längsfaserung erkennen lassen, würden für die Angehörigkeit
dieses Abschnittes zum Urachus sprechen, der nach Wutz nur
von einer vorwiegend longitudinalen Schicht umgeben ist. Da
auch äusserlich bei der Operation keine Grenze zwischen Blasen-
scheitel und Urachus zu erkennen war, so glaube ich annehmen
zu dürfen, dass hier die Blase mit dem angrenzenden Theil des
Urachus embryonale Verhältnisse zurückbehalten hat, dass also
der zugespitzte Blasenscheitel ohne Begrenzung in die vergrösserte
ürachusmündung übergeht; denn wäre die Erweiterung der letzteren
erst später erfolgt, so müsste doch wenigstens eine Grenze ange-
deutet sein. Für diese Annahme spricht auch die schlauchartige
Gestalt der Blase und der hohe Stand ihres oberen Endes.
Diese erweiterte Ürachusmündung, wie sie sich hier und in
anderen Fällen vorfand^), ist mit der spitz zulaufenden Form des
^) z. B. in dem Falle von Gadell, wo der Eingang des offenen Urachus
ui vorderen oberen Ende des Vertex für den kleinen Finger durchgängig ist.
92 Dr. E. Lexer,
Blasenscheitels sicherlich nicht nur ein wesentliches Hindeniiss
für die Heilung der Blasennabelfistel, sondern auch ein Haupt-
moment für den sog. Wiederaufbruch des Urachus; denn ebenso
wie in anderen Ausbuchtungen der Blase werden gerade an dieser
Stelle bei Entzündungen der Schleimhaut die schwersten Processe
entstehen, die von hier aus sehr leicht auf den soliden Abschnitt
des Ligament, med. übergreifen können.
Es hat demnach dieser Befund auch für die einzuschlagende
Behandlung hartnäckiger ürachusfisteln seine Bedeutung, da man
bei solchen annehmen darf, dass ungewöhnlich grosse Urachusreste
am Blasenscheitel, vielleicht mit abnormer Gestalt desselben,
die erste Ursache zum Durchbruch des Urins am Nabel abgegeben
haben. Man wird deshalb in solchen FäJlen mit einfachen Mitteln,
wie sie bei angeborenen Fisteln sehr bald nach der Geburt in
Gestalt von Kauterisiren oder Aetzen der Fistelmündung mit
Erfolg angewandt wurden, keinen Dauererfolg erzielen, sondern
nur dadurch, dass der epitheltragende Theil des Ganges mit
seiner Blasenmündung entfernt wird, ähnlich wie wir die Kiemen-
gangfistel bis zu ihrer inneren Mündung und den persistirenden
Dottergang bis zum Darm verfolgen. Ob man nun die äussere
Fistelöffnung am Nabel nur aufsucht und vernäht, oder von hier
aus ein Stück der Fistel excidirt, das bleibt sich bezüglich des
Werthes der Operation ziemlich gleich, denn in jedem FaUe ist
die anatomische Ursache der Fistelbildung, der mit der
Blase communicirende Urachusrest, als Hauptfactor für
weitere Recidive bestehen geblieben.
Von diesem Gesichtspunkte aus ist meines Erachtens auch
die von Delag6niere einmal mit Glück an einem 5jährigen
Knaben ausgeführte partielle Resection des Urachus zu beurtheilen,
die er zur Heilung der Urachusfistel für ausreichend hält und
empfiehlt. Wie oben, S. 76 ausgeführt, versteht der Autor unter
dieser Operation die Excision der Nabelmündung im Zusammen-
hange mit einem kleinen Abschnitte des Ganges, worauf die Naht
des Fistellumens folgt, ein Verfahren, das sich nur für die ange-
borene Fistel eignen dürfte, da die im späteren Alter entstandene
wohl selten in ihrem Nabelabschnitte eine Schleimhautauskleidung
trägt. Der Umstand, dass bei dieser Operation eine Eröffnung
der Bauchhöhle nicht vermieden wird, spricht bei der Abschätzung
Ueber die Behandlung der Urachusfistel. 93
der partiellen und totalen Resection des ürachus zu Gunsten der
letzteren. Einen gefährlicheren Eingriff bedeutet die totale Ent-
fernung nicht, wohl aber beseitigt sie jede Möglichkeit eines
Reeidives. Stierlin dagegen hat in seinem Falle die Ver-
letzung des Peritoneums gescheut und dadurch vermieden, dass
er nur die Schleimhaut an der Fistelmündung anfrischte und das
Lumen vernähte. Bei dem Alter seiner Patientin und der vorge-
fundenen Weite des Urachuskanales müssen wir auch für diesen
Fall betonen, dass abnorme, für den Wiederaufbruch des ürachus
äusserst günstige Verhältnisse zurückgeblieben sind: der Blasen-
scheitel läuft hier in ein weites Rohr aus, dessen geschlossenes
Ende im Nabelring liegt.
Aus dem Bisherigen ergiebt sich, dass man bei der conge-
nitalen Fistel schon möglichst bald nach der Geburt die ein-
fachsten Methoden versuchen soll, nachdem vorhandene Hinder-
nisse für die normale Urinentleerung beseitigt sind. Zu diesem
Verfahren rechnen wir auch die Anfrischung der Fistelmündung mit
Naht, wobei auch der Nabelring zur Verhütung vonHemien geschlossen
werden soll. Hat diese Behandlung keinen oder nur vorübergehend
einen Erfolg erzielt, so darf man nach Ablauf der ersten beiden
Lebensjahre wohl als ganz bestimmt annehmen, dass das Offen-
bleiben des ürachus durch die grosse Weite seines Lumens oder
eine cystische Ausbuchtung und sonstige namentlich entzündliche
Veränderungen seiner Wandung bedingt ist. Mit einem gi'össeren
Eingriffe, der für solche Fälle in Frage käme, empfiehlt Dela-
g^niere bis über ein Jahr zu warten. In Anbetracht der Ver-
letzung des Peritoneums, die bei der Resection des Ganges nicht
zu vermeiden ist, wäre diese Altersgrenze nach unserem Dafür-
halten noch um einige Jahre zu verschieben. Grosse Reinlichkeit
zur Verhütung der Entzündung der ürachusschleimhaut und der
Blase, ferner das Tragen einer Druckpelotte über einem aseptischen
Gazebausch können den Zustand des Kindes erträglich machen
und vor Complicationen schützen. Zwingt dann schliesslich die
Hartnäckigkeit der Fistel zur Operation, so hat sich diese, falls
jede Möglichkeit eines Wlederaufbmchs beseitigt werden soll, als
Radicaloperation zu gestalten.
Bei der sog. acquirirten urachusfistel würde ich für den
Anfangsthejl des Ganges dem Verfahren von von Braraann den
94 Dr. E. Lexer,
Vorzug geben, da es am sichersten eine Verletzung des Peritoneums
vermeidet, die bei der oft vorhandenen Entzündung in der Um-
gebung der Fistel nicht ohne Gefahr ist. Erst bei dem epithel-
tragenden Abschnitte, der sich erweiternd in den meist abnorm
geformten Blasenscheitel übergeht, ist der ganze Schleimhaut-
schlauch womöglich mitsammt einer genügenden Schicht der fibrösen,
wahrscheinlich immer verdickten Wandung als Strang zu präpariren,
damit nach querem Durchschneiden desselben am ßlasenscheitel
eine für die Naht und Heilung günstige Wunde entsteht.
Nachtrag.
Ein anfangs als congenitale Urachusfistel gedeuteter Fall, den ich vor
kurzem operirte, führte erst bei der mikroskopischen Untersuchung des ge-
wonnenen Präparates zu der richtigen Diagnose. J)ie Einzelheiten des
interessanten Falles sind folgende:
Die Matter des jetzt lV2Jährigen Knaben bemerkte schon bald nach der
Geburt, als am 5. Tage die Nabelschnur abfiel, das Aussickern von klarer
Flüssigkeit aus dem Nabel. Demselben soll zuerst eine rothe Geschwulst von
der Grösse einer Kleinfingerkuppe aufgesessen haben, die sich von selbst all-
mälig verkleinerte und schliesslich verschwand. Als das Kind Yg Jahr alt
war, gelang es dem behandelnden Arzte mit Salben- und Heftpflasterverbänden
einen Verschluss der Fistel zu erzielen. Doch angeblich nur für 2 Wochen,
während welcher Zeit grosse Unruhe und Störungen des Allgemeinbefindens
auffallend waren. Erst als die Fistelmündung am Nabel wieder aufgebrochen
war und eine grosse Menge wässriger Flüssigkeit sich daraus entleerte, besserte
sich der Zustand. Gelegentlich soll auch einmal etwas Eiter aus der Mündung
herausgekommen sein.
Bei der Untersuchung des ziemlich schwächlichen und blassaussehenden
Kindes fiel vor allen Dingen auf, dass die etwa V2 cm unterhalb des Nabels
liegende, von leicht entzündeter Haut umgebene Fistelöffnung, die für ge-
wöhnlich einen klaren Füssigkeitstropfen enthielt, bei jeder ürinentleerung
eine grosse Menge dieses Secretes ausfliessen liess.
Aus der Harnröhre aber konnte sich der Urin nicht in normalem Strahl
entleeren, sondern floss fast nur tropfenweise ab, denn es bestand eine
hochgradige angeborene Phimose mit ganz feiner Oeffnung im Praeputium.
Diese Erschwerung des Urinabflusses durch ein angeborenes Ilinderniss, ferner
das Aussickern des Secretes aus der Nabelfistel besonders beim Urinlassen
und der etwas urinöse Geruch der aus dem Nabel entleerten Flüssigkeit deu-
teten auf das Vorhandensein einer angeborenen Urachusfistel. In dieser
Diagnose wurde man, abgesehen von der ganzen Anamnese, noch bestärkt
durch die Menge des aus der Fistel geflossenen Secretes, das dünnflüssig und
klar aussehend, weder einen faeculenten Geruch besass, noch irgendwelche
Ueber die Behandlung der üraohusfistel. 95
feste Bestandtheile aufwies. Durch ein am Nabel befestigtes Glasgefäss wurde
bestimmt, dass die während eines Nachmittags entleerte Flüssigkeit etwa
V4— Vs des in dieser Zeit gelassenen Urines entsprach. Die Sonde konnte nur
eine kleine Ausbuchtung unter der Haut feststellen, in den Fistelcanal drang
sie nicht ein. Der Plan der Behandlung bestand zunächst in Operation der
Phimose und mehrmaligem Aetzen und Zusammenziehen der Fistelmündung
durch Heftpflaster.
4 Wochen nach Spaltung des Praeputiums und Herstellung eines nor-
malen Urinabflusses entleerte sich aus der inzwischen noch etwas verklei-
nerten Fistelmündung nur noch sehr wenig Flüssigkeit, besonders fehlte jene
frühere Erscheinung, dass sich der Ausfluss beim Uriniren vermehrte. Doch
die Fistel blieb offen, ihre Mündung feucht und auf Druck in die Blasen-
gegend sickerten regelmässig mehrere Tropfen heraus. Damit
der Sonde eine Unterminirung der. Haut in geringer Ausdehnung festgestellt
war, sollte diese Tasche, die ihre Entstehung wahrscheinlich einer früheren
AbscessbilduDg verdankte, gespalten werden, um nach Freilegung des ein-
mündenden Fistellumens direct auf dasselbe mit dem Aetzmittel einwirken zu
können.
Nach Incision der Haut, 1 cm nach oben und unten von der Fistelöffnung,
lag am Grunde einer kaum haselnussgrossen, mit Granulationen ausgekleideten
Vertiefung das gesuchte Fistellumen mit einem überquellenden Schleimhaut-
rande, das ihm das Aussehen einei; kleinen Warze verlieh. Von dieser Fistel-
mündung aus drang eine Sonde genau in der Mittellinie des Abdomens
ziemlich tief und leicht nach unten bis in die Gegend der Blase
vor; leider musste der Versuch, einen in die Blase eingeführten Katheter mit
dieser Sonde zu fühlen, bald aufgegeben werden, um die Chloroformnarkose
des sehr blass aussehenden Kindes nicht zu sehr zu verlängern. Als die
Schleimhaut der Fistelmündung mit der Pincette gefasst und etwas angezogen
wurde, liess sich aus dem Nabelring ohne jede Schvnerigkeit ein etwa 5 mm
dicker schlauchartiger Strang mehrere Centimeter weit hervorziehen.
Ein dünnes mit diesem Strang sehr locker verbundenes und mit einigen
Fettträubchen vei-sehenes Bindegewebsblatt an dessen oberer, d. h. der Brust
zugekehrten Seite löste sich leicht beim Anziehen des Stranges und wurde
wegen seiner Aehnlichkeit mit dem Peritoneum noch weiter mit einem Tupfer
zurückgeschoben. Als das ganze Gebilde 7 cm weit vor dem Nabel freilag,
konnte man sehen und mit der Sonde feststellen, dass sich das Lumen des
Schlauches allmälig erweiterte, die Wand desselben dicker wurde und die
deutliche Streifung einer Längsmuskellage aufwies. Die Sonde war nur in der
Richtung gegen die Blase weiter einzuführen.
Der bisherige Befund bei der Operation schien die Annahme nochmehr
zu stützen, dass es sich um einen offen gebliebenen Harnstrang handelte. Bei
dem Hochstand des Blasenscheitels im Alter unseres Patienten (siehe Disse.
Die Lage der menschlichen Harnblase. Merkel^ und Bonnet, Anatomische
Hefte L) und besonders bei vorhandenen Anomalien des Urachus konnte die
mit dicker Muskulatur versehene Erweiterung des freipräparirten Stranges
96 Dr. E. Lexer,
nicht mehr weit von dem hervorgezogenen Blasenscheitel sein. Es erfolgte
deshalb hier die Querdurch trennung und Naht des darauf etwa P/2 cm weit
klaffenden mit Schleimhaut ausgekleideten Lumens, worauf sich die Nahtstelle
durch 'den Nabelring zurückzog und dieser, ebenso wie die kleine Hautwunde,
durch einige Nähte geschlossen wurde. Die Heilang erfolgte glatt in wenig
Tagen.
Die mikroskopische Untersuchung des ganzen 7 cm langen Schlauches
ergab, dass nicht ein offener Urachus, sondern ein persistirender Dotter-
gang exstirpirt worden war; denn die Querschnitte, die wir aus den ver-
schiedensten Abschnitten des Stranges anfertigten, zeigten vor allen Dingen
ein mit sehr gut entwickelter Darmschleimhaut versehenes, allmalig nach dem
inneren Ende zu sich vergrösserndes Lumen. Radiarstehende, mit einfachem
Cylinderepithel ausgestattete Einsenkungen in eine Schicht reticulären Binde-
gewebes geben mit ihren zahlreichen Becherzellen und basalliegenden Kernen
das Bild der Lieb erkühn 'sehen Drüsen wieder, nur sind sie mitunter ver-
ästelt und an ihrem peripheren Ende stark ausgebuchtet. Die überall deut-
liche und nirgends durch Drüsen oder Follikel durchbrochene Muscularis
mucosae mit ihrer Rings- und Längsmuskellage erstreckt sich mit Ausläufern
in einzelne gut ausgebildete Zotten hinein, deren im mittleren Abschnitte der
Fistel 2, im inneren 4 — 5 zu sehen sind. Kleine Solitarknötchen mit Keim-
zentren sitzen , in einzelnen Querschnitten bis zu 5, zwischen den Epithelschläuchen
und der Muse, mucosae, die letztere leicht nach aussen ausbuchtend. Darauf
folgt die Submucosa, dann eine ziemlich regelmässige, nach der inneren
Mündung des Präparates an Stärke zunehmende Muscularis mit Rings- und
Längslage. Nur die letztere ist an einzelnen Stellen lückenhaft. Es ist wahr-
scheinlich, dass ein Theil von ihr mit der im Präparate fehlenden Serosa bei
der Operation abgestreift worden ist. Nur im äusseren Viertel des Präparates
findet sich deutliche Serosa bei unverletzter Muscularis, und ferner, ähnlich
wie es Kern (Beiträge zur klin. Chirurgie, XIX, S. 360) erwähnt, in einem
durch das Auseinanderweichen der Serosablätter gebildeten Räume, von lockerem
Bindegewebe und Fett umgeben, mehrere zum Theil obliterirte Gefäss-
lumina, die möglicherweise den Vasa omphalo-mesenterica entsprechen.
Nach dem geschilderten mikroskopischen Befunde ist es klar, dass wir es
mit einem Meckel 'sehen Divertikel zu thun hatten; die Merkmale, die zu
der falschen Annahme eines offenen Urachus verleiteten, und nun nach der
Untersuchung ganz anders zu erklären sind, kann ich kurz zusammenfassen.
Das wichtigste Symptom, die erschwerte Urinentleerung durch die angeborene
Phimose, so dass der Harn nur tropfenweise, unter gleichzeitigem Ausfliessen
von urinähnlichem Sekret aus der Nabelfistel abtloss , ist nur so zu deuten,
dass durch die in Folge der Phimose nothwendige Anstrengung der Bauch-
presse, ebenso wie beim Eindrücken des Abdomens in der Blasengegend der
Inhalt eines oberhalb der Symphyse liegenden Divertikels durch seine Oeffnung
am Nabel entleert wurde. Der urinöse Geruch dieser schon wegen des eben
genannten Symptomes für Urin gehaltenen Flüssigkeit konnte nur Täuschung
sein, die bei der beständigen Benetzung der Haut des Kindes mit Urin leicht
(Jeber die BebandluDg der Uracbasfistel.
97
erklärlich ist. Nar eine chemische Untersuchung des Sekretes hätte
hier zur richtigen Diagnose führen können. Das klare Aussehen und
die Yerhältnissmässig grosse Menge desselben deutet darauf hin, dass os von
einem nach dem Darm zu verschlossenen , wahrscheinlich cystisch erweiterten
Divertikel stammt. Die Täuschung wurde vervollständigt durch den gerade
nach unten gerichteten Verlauf des Sohleimbautrohres und dessen Uebergang
in einen dickwandigen, musculösen, sich stark erweiternden Abschnitt, welcher
der vorderen Bauchwand dicht anlag.
Für den weiteren Verlauf des Falles, bei welchem bis jetzt keinerlei
Störungen aufgetreten sind, ist es wichtig, dass der praparirte Strang un-
möglich am Darm abgetragen sein kann; denn abgesehen davon, dass bei der
niemals faculenten Absonderung aus der Fistel eine Communication mit dem
Darm aasgeschlossen erscheint, ist auch beim Durchtrennen des Schlauches
an seiner erweiterten Stelle kein Darminhalt bemerkt worden. Es bleibt also
nur die Annahme, dass es sich um eine zum Darm abgeschlossene, oberhalb
der Blase liegende Erweiterung eines durch den Nabel mit einer schlauchartigen
Fortsetzung offenen M ecke 1 'sehen Divertikels handelte, von welchem der wahr-
scheinlich grössere Theil nicht entfernt wurde , so dass die Möglichkeit der
Entwicklung eines Enterokystoms eine sehr grosse ist. Das Kind bleibt selbst-
verständlich unter diesen Umständen in ärztlicher Behandlung.
Archiv ntr Uin. Cbinirgie. 57. Bd. Heft 1.
IV.
lieber Arteriitis obliterans und ihre Folgen.
Von
Proressor A. Jk. H^wedenshy
la Tomsk (Sibirien).
Fälle von obliterirender Entzündung der Gefässe, namentlich
der Arterien, sind nicht sehr häufig. Oefter begegnet der Kliniker,
sowohl der Therapeut, als auch der Chirurg, anderen Erkrankungen
des Gefässsystems, der sog. Sclerose und der fettigen Degeneration,
die in der weitaus grössten Mehrzahl der Fälle als für das höhere
Alter characteristisch erscheinen. Sie sind, obgleich therapeutischen
und chirurgischen Massnahmen am wenigsten zugänglich, leicht
diagnosticirbar. Nicht von diesen soll jedoch hier die Rede sein.
Viel seltener sind anderer Art chronische Erkrankungen der Gefasse.
Dieselben vertheilen §ich auf alle Altersstufen, bevorzugen aber
die jugendliche und mittlere. Die Entzündung trägt hier keinen
destruirenden Character, befällt zwei, drei kleine Gefässstämmchen
der Extremitäten oder erstreckt sich auf eine ganze Reihe von Ge-
fässen, sich nicht auf eine Extremität beschränkend; gewöhnlich
führt diese Entzündung zu einer Verengerung des Gefässlumens,
oder aber zu einem vollständigen Verschluss desselben, was seiner-
seits Störungen in der Ernährung und Function der betr. Organe und
Gewebe bedingt. Die vorliegende Krankheit ist sowohl in Bezug
auf ihre Aetiologie, als auch ihren Verlauf noch vielfach in Dunkel
gehüllt; auch die Frage nach der Therapie, ja selbst nach dem
pathologisch-anatomischen Character der Erkrankung kann noch
nicht als abgeschlossen gelten. Die Einen sehen die Arteriitis ob-
lieber Arteriitis obliterans und ihre Folgen. 99
literans als selbststandigen Entzündungsprocess an, der sich primär
in den feineren oder gröberen Gefässstäramen localisirt, während
Andere eine Sclerose der Nervenstämmc als primär betrachten, ent-
standen auf Grund einer bestehenden oder früheren Infection, die
Erkrankung der Gefässe jedoch als secundäre Erscheinung auffassen.
Wie dem auch sei, jedenfalls ist in der Literatur nur eine geringe
Zahl von Arteriitis obliterans beschrieben worden. Hauptsächlich
kommt russischen Aerzten die Ehre zu, viele Fragen bezüglich
dieser Krankheit geklärt zu haben; die casuistischen Mittheilungen
Jaesche's (1) (1864), die mikroskopischen Untersuchungen über das
Verhalten der Blutgefässe von Zoege-Manteuffel (3, 4) (1891),
Wolkowitsch (2) (1890), Nikolsky, Lawrowsky (5) (1892),
Fedorow (6) und Weiss (7), ferner die mikroskopischen Unter-
suchungen der Nerven von Rachmaninoff (8) und Murawjeff (9)
(1895) trugen viel zur Klärung der Pathogenese dieser Krankheit
bei, deren klinisches Bild von Charcot (10) (1868) und seinen
Schülern Detil und Lamy (11) (1893) das pathologisch-anatomische
aber von C. Friedländer (12) (1876) und F. v. Winiwarter (13)
(1878) gegeben ist. Immerhin sind Fälle von Arteriitis obliterans
nicht besonders häufig, der Verlauf recht unbestimmt, bald rapid,
bald langsam, bald beide Extremitäten oder Theile derselben gleich-
zeitig befallend, wie in den von mir beschriebenen Fällen, (1889,
1891) (14, 15) bald erst nach Verlauf mehrerer Jahre von einer
Extremität auf die andere übergehend. Die Verschiedenartigkeit im
Auftreten und im Verlauf der Krankheit kann zu diagnostischen
Inrthümem Veranlassung geben. Grenaue Kenntniss der Symptome
und des Verlaufes und rechtzeitige Diagnose der Krankheit sind
aber äusserst wichtig für die Therapie und zur Verhütung der
traurigen Folgen derselben. Daher hat auch entschieden die Mit-
theilung einzelner Fälle kein geringes Interesse.
Fall 1. Im Juni 1895 trat in das Moskauer Marienhospital der 28jäbrige
Geistliche J. S. ein. Er klagte über Schmerzen in den Zehen des rechten
Fasses, eine nicht heilende Wunde an der unteren Seite der Endphalange
der 3. Zehe, ein oberflächliches Geschwür auf dem Kücken desselben Fussos,
Schmerzen in der rechten Ferse und Schlaflosigkeit.
Anamnese. Im Alter von 14—15 Jahren überstand Fat., nach seinen
Worten, einen acuten Gelenkrheumatismus, der sich besonders auf die linke
Seite erstreckten, d. h. es schmerzte der linke Arm und das linke Bein. Im
Juni 1890 sprang Fat. ungeschickt aus einem Eisenbahnwagen, während der
100 A. A. Wwedensky,
Zug noch in vollem Gange war und beschädigte sich beim Fall den rechten
Vorderarm, das rechte Knie und den Unterschenkel, die linke Handwurzel und
in geringem Grade die linke Seite. An den angeführten Stellen fühlte er etwa
14 Tage hindurch geringen Schmerz. Im Januar 1891 durchfror J.S. gründlich;
bald darauf empfand er Schmerz in der Gegend des rechten Handgelenkes und
im rechten Fusse, wobei, nach seiner Angabe, am Fussrücken Knötchen sich
bildeten. Locale Anwendung von Pflaster, Vollbäder und innerliche Dar-
reichung von Jodkali übten einen günstigen Einfluss aus. Das Frostgefühl,
das im Arm und im Bein bestanden, schwand, die Schmerzen liessen nach
und nach 14 Tagen verliess Fat. das Zimmer, das er bis dahin gehütet. Als-
bald jedoch traten andere Erscheinungen auf: Schwäche in den Beinen, Fat.
konnte nicht lange gehen, ohne zu ermüden ; die Ermüdung gab sich sehr bald
durch Schmerzen im rechten Beine zu erkennen; Ruhe brachte die Schmerzen
zum Schwinden, aber selbst massiges Gehen rief sie sehr bald wieder hervor.
Aehnlich ging es mit dem rechten Arm; Fat. konnte nicht lange arbeiten, z. B.
schreiben, alsbald traten Ermüdung und Schmerzen im Handgelenk und in den
Fingern ein; ausserdem beobachtete Fat. seit Beginn der Krankheit d. h. seit
dem Januar 1891 von Zeit zu Zeit gesteigerte Schweisssecretion in der Gegend
des rechten Handgelenkes und ein Gefühl, als ob dem Arme von innen nach
aussen Stiche versetzt wurden.
Im Sommer verminderten sich die Schmerzen. Im Winter 1892 fingen
der rechte Arm und das rechte Bein an kühl und von Frostgefühl befallen zu
werden, in der Kälte wurden Handwurzel und Finger sehr schnell blau, die
Schmerzen wurden stärker, die Schweisssecretion nahm ab, an der Spitze des
Zeigefingers, dann auch des Goldfingers traten nicht sehr schmerzhafte Ge-
schwüre auf. Innerliche Darreichung von Arsen, Handbäder, abwechselnd mit
Massage der Hand trugen zur Heilung der Panaritien bei, die übrigen Er-
scheinungen jedoch blieben unverändert. 1893 wandte Pat. Electricität,
Massage und aromatische Bäder an. Letztere riefen Jucken hervor; in Folge
von Kratzen sei auf dem Fussrücken das nicht heilende Geschwür entstanden.
1895, im Januar, entstanden, nachdem die Finger erst blau geworden, gan-
gränöse Geschwüre, zunächst eines an der unteren Seite der 4. Zehe, dann
auch der 3. Zehe des rechten Fusses. Nach 3 monatiger Behandlung heilte das
Geschwür an der 4. Zehe, während das an der 3. Zehe Tendenz zur Aus-
breitung, sowohl in die Tiefe, als auch der Oberfläche nach, zeigte. Mit diesem
gangränösen Geschwür trat Pat. ins Hospital ein.
Status praesens. Pat. ist anämisch. Von Seiten der Brust- und
Bauchorgane, als auch der Urogenitalorgane nichts Abnormes. Der Harn ent-
hält weder Eiweiss noch Zucker. Der rechte Vorderarm und die Handwurael
erscheinen magerer und kühler, als auf der linken Seite. Keine Pulsation in
Art. radialis und ulnaris wahrzunehmen ; unbedeutend in der Art. brachialis
in der Gegend des Ellenbogens, dagegen sehr deutlich ausgesprochen in der
Axilla. In der linken Haudwurzelgegcnd empfindet Pat. bald Frostgefühl,
bald Neigung zum Schwitzen. Die Hautsensibilität ist wenig verändert, die
electrische Muskelerregbarkeit ist normal. Periodische Schmerzen im Arm, wie
früher, hat Pat. jetzt nicht.
Üeber Arteriitis obliterans und ihre Polgen. 101
Der rechte Unterschenkel ein wenig magerer, als der linke. Der Sehnen-
reflex erhöht. Sensibilität — normal. Pat. klagt über periodisch auftretende
Schmerzen im unteren Theil des rechten Unterschenkels, in der Ferse und in
den Zehenspitzen. Pulsation weder in der Art. tibial. ant. resp. Art. dorsalis
pedis, noch in der Art. tibial. post Die Art. poplitea pulsirt sehr schwach
im Vergleich zu derselben Arterie des linken Beines. Die Pulsation in der Art.
femoralis ist deutlich.
Am Fussrücken befindet sich ein rundes, oberflächliches Geschwür von
der Grösse eines 10 Pfennigstückes, das nicht tiefer als in die oberflächliche
Pascie dringt; der Boden des Geschwürs ist mit schlaffen, schmerzhaften
Granulationen- bedeckt; an den Rändern ist keine Narbonbildung zu bemerken.
An der unteren Fläche der Nagelphalanx der 4. Zehe befindet sich die Narbe
eines ausgeheilten Geschwüres; an der correspondirenden Stelle der 3. Zehe
sieht man ein rundes gangränöses Geschwür, von etwa 1 Y^ cm im Durch-
messer, die Ränder des Geschwürs sind bläulich, am Boden gangränöser Zer-
fall; die Umgebung des Geschwürs weist ödematöse Schwellung auf, die auf
Berührung schmerzhaft ist; übrigens empfindet zu Zeiten Pat. an dieser Stelle
auch ohne Berührung Schmerzen. Weniger empfindlich sind die 2. und die
kleine Zehe.
Im Marienhospital befand Pat. sich vom 20. 6. bis zum 7. 8. unter Be-
obachtung. Trotz antiseptischer warmer Verbände vergrösserte sich das Ge-
schwür an der 3. Zehe der Oberfläche nach und der gangränöse Zerfall ergreift
auch die tiefer liegenden Gewebe. Am 7. 7. schabte Dr. Serenin unter
Narkose die gangränösen Theile des Geschwüres aus und entfernte mit der
Luer' sehen Zange einen Theil des Knochens der Nagelphalanx. Nach dieser
geringfügigen Operation litt Pat. 2—3 Tage an den quälendsten Schmerzen,
so dass mehrfach zu Morphiuminjectionen geschritten werden musste. Die
Schmerzen strahlten aus der Zehe in den Fuss und in den Unterschenkel aus.
Zwecks Verminderung des Schmerzes und schnellerer Heilung des Geschwüres
wurde Electrisation des rechten Beines mit constantem Strome ausgeführt. Das
Geschwür zeigte jedoch nicht die geringste Neigung zur Heilung, sondern
breitete sich immer mehr aus. Auf eine Amputation des Unterschenkels ging
Pat. nicht ein, sondern gestattete nur Enucleation der 3. Zehe, welche am
27. 7. ausgeführt wurde. Blutung war fast gar nicht, nicht eine einzige
Ligatur war nöthig. Die Schmerzen im Fuss, namentlich in der Gegend des
Knöpfchens des 3. Metatarsalknochen hörten nach der Operation nicht auf;
die Wundränder verbackten nicht, sondern starben stellenweise ab und sehr
bald wurde die ganze Wund fläche gangränös. Die Schmerzen steigerten sich
so sehr, dass ein Verbandwechsel ohne Befeuchten des Verbandzeuges mit
Cocainlösung nicht möglich war.
Zur pathologisch-anatomischen Untersuchung kam leider nur die enucleirte
3. Zehe. Wie schon oben erwähnt, konnte Pat. sich nicht zur Amputation des
Unter- oder Oberschenkels entschliessen und benahm uns daher die Möglich-
keit ein grösseres Material auszunutzen, ich meine vor Allem die veränderten
Gefasse und Nerven des Unterschenkels.
102 A. A. Wwedensky,
Die enacleirte Zohe wies, mit Ausnahme des gangränösen Geschwüres an
der oberen Seite der 2. Phalanx und eines ebensolchen an der unteren Seite
der Nagelphalanx, nichts Besonderes auf. Die Haut war blass, weder ödematose,
noch inflammatorische Sohwellong war zu beobachten; auch waren keine
trophischen Störungen zu bemerken. Auf Querschnitten an der Basis der ersten
Phalanx sieht man an den Stellen, die den beiden Art. digit. plant, und den
beiden Art. digit. dors. und den gleichnamigen Venen entsprechen, kleine
leicht röthlich gefärbte Kreise scleroslrten Gewebes, in dem das Lumen der
Terengteo und wenig Blutkörperchen enthaltenden Venen nur schwer zu unter-
scheiden ist. Die Art. digit. plant, sind unduichgangig in Folge von Bildung
organisirten Gewebes. Was die Art. digit. dorsales anlangt, so ist nur bei der
einen, nämlich der äusseren, das stark verengte, nur für ein Pferdehaar durch-
gängige Lumen.
Zar mikroskopischen Untersuchung wurde der übrige Theil der 3. Zehe
auf 2X24 Stunden in Müller' sehe Flüssigkeit gelegt und alsdann auf eben-
solange Zeit in Spiritus. Das gehärtete und entwässerte Präparat wurde
mittelst Mikrotom in Schnitte zerlegt und die mit Picrocarmin gefärbten
Schnitte bei schwacher und starker Vergrösserung (Mikroskop Hartnack)
durchgesehen.
Bei schwacher Vergrösserung erscheinen die quer durchschnittenen,
kleinen Gefässbündelchen als Cylinder von unbedeutender Grösse; das Lomen
der 3 Arterienstämme ist vollständig von oi^anisirtem Gewebe ausgefüllt ; nach
aussen von diesem gut gefärbten Gewebe sieht man die glänzende, wenig
tingirte elastische Schicht, die an einzelnen Stellen von Canälchen, Oeffnungen,
durch die zum ursprünglichen Lumen neugebiidete Blutgefässe ziehen unterbrochen
ist. DieMuskelsohicht derGefässe ist verdickt; auch in ihr finden sieh Oefinungen
— vasa vasorum. Die Adventitia ist ebenfalls hypertrophisch. Das Bindegewebe
ist in quer gelagerten Bündeln um das Gefäss gelegen. An einigen Schnitten
sieht man dieses Gewebe in die Adventitia der seitlichen Venen übergehen.
Die Adventitia der Arterien und das sie us^ebende Bindegewebe wird
von kleinen Geiässchen mit verdickten Wänden durchzogen, die zum Theil
obliterirt sind. Und so erscheinen als characteristiscbe anatomische Ver*
änderungen, die an dieser Zehe zu beobachten sind : die Hypwtrophie der
äusseren und mittleren Membran der Arterien, eine Verdickung und Verhärtung
des Gewebes des GefässbündelSj Vermehrung der Vasa vasorum in der mitt-
leren und äusseren Schicht der Arterien, Entzündui^sprocesse in der Intima,
die mit vollständiger Obliteration des Gelasses enden.
Starke Vergrösserung gab folgendes Bild: der oblitehrende Pfropl besteht
aus )angem Bindegewebe, flachen und spindelförmigen Zellen und dünnen
Fasern. Sich an einander lagernd bilden diese i&ellen Lumina zum Durchtritt
der neugebildeten oder noch in Bildung begriffenen Gefiisschen. Die Wände
dieser Gefässcken bestehen einzig aus Endothelzellen, mit einem Worte, eine
vollkommen dilTeienzirte Wandung der neugebiideten Gefässchen koanta an
keinem Präparat beobachtet werden. An einigen Präparaten konnten im Paren-
chym des obliterirenden Gewebes überhaupt keine neugebiideten Gelasse ge-
lieber Arteriitis obiiteran» und ihre Folgen. 103
fundeii werden. Solcbe Scbnitte gaben das Bi]d eines Gelasses mft seinen
Wanden : Adventitia, Mnscularis vad eine so staark yerdickte hrtima, dass da-
darch das Lumen des Gkfösses zam Scfawond gebraebt war. Die HypertrO|^bie
des Mnscularis, die bei schwacher Vergrössenmg zn beobaehten war, hängt
von einer Wnehening des Bindegewebes, welches die eoncentriseben Lagen
der glatten Moskelfasem trennt, nnd von einer Wnchernng des vascoiären
Netzes, welches bis zor Intima reicht, ab. Di« Yerdiclning der Adyentftia er-*
klart sich dnrch Masseii«ntwickeiiing des Bindegewebes, des yasetilaren Ge^
webes nnd dnrch ehroniscbe Entzindang der kleinsten Arterien ; dies^ Ent«
zindnng kennzeichnet sich hier durch Infiltration der Gefässrw&nde' ant R«md-
xellen, Verdicknng des Eado^is, die zu Tollst&ndigem Vevschltiss des Gefass-
Imnens fahrt Die Oeßsso des Unterhamtzellgewebes der 3. Zehe sin>d ebenfalls
in Unem Bau verändert; sie haben gleiehssm ihre eigene Wandung verloren
and stellen Canile im umgebenden si^rosirten Bindegewebe ver; ihr Endothel
ist geschwunden. Haatpapillen fehlen zum Tbeil.
Untersuchung der angefihrten Gkiässe an Schnitten, die tfiit Osaiiafn-'
saire behandelt waren, zeigte, dass von fettiger Degeneration der Ge(ässwände
licht die Rede sei; es handelte sich nicht n» Ath'erottatose.
Die seitlichen Yeaea der Zehe zeigen bei schwacher^ wia^ starker Ver-
grossemng das Büd einer chronischen Enti^ündung^ die Adventiti«^ Media
lad Intima erscheinen verdidrt, z. Th. dmck Bindegewebswucherung, z. Th.
Vascoiaxisation. Das Lumen ist verkleinert, doeh ist nirgends vollständiger
VerscMuss za beobachten.
Zor üptersuehung der Nerve» der amputirten Zehe Worden einige Otter-'
schnitte in Osmtumsaurre (1 : K)0) und Müller' scher FKlssigkeit gehaftet
Bei der mikroskopischen Untersochung dieser Schnitte beobachtete man eine
Verdickung der Wände der Oefasschen^ wekhe zur Emähmng der Nervew
dienen. Die Yeraadenmgen bestanden hauptsächlich im einer Verdickung der
Intima bis zum Verschluss des Gefasslumens und gleixthzeitiger Verdiekong
der Adventitia. Weiter zeigte sid^ bei Untersuchung der Aeste des N. plant,
int, dass die Nervenfibrillen zam grossen Theil geschwunden sind ; man fsuid-
aar das leere Neurilemma ohne Axenoyfinder und Myelin und nur sehr wenige
gesunde NervenfibrHlen — man konnte sie leicht zählen. AehnMche Ver-
ä&demngen siad aueh an den dorsiden Nervenästen der Zehe zn finden, die
vem N. peron. superfio. et prof. kommen. Im Allgemeinen stelkn die Nerven*
der Zehe Bondekhen fibröse» Gewebes vor, das conoentrisch* gelagert ist und
in dem man hin md wieder Fibrillen durch Osmiumsäure dunkel gefärbten
Myeiina sieht
Ich weBde mich nunmehr zur kurzen Wiedergabe des zweiten
Fafles von Gangrän beider Füsse, den ich schon in dem „Jahresb.
der Moskauer chirurg. Gesellschaft, 189Ö," (russisch) genau be-
schrieben. Die nktkFOskopischen Befunde dieses Falles sind von
J. M. Rachettanittoff in der ^Medicinsfcoje Obosrenie, 189i:^No; 10^
niedergelegt.
104 A. A. Wwedensky,
Bei einem 17jährigen Bauern, Tischler seines Zeichens, entwickelte sich
in 3 Tagen eine Gangrän beider Fasse und des unteren Theiles der Unter-
schenkel. Syphilis war ausgeschlossen. 2 Jahre vorher hatte Fat. Flecktyphus
durchgemacht. Darauf empfand er Frostgefühl in den Händen und Füssen,
von Zeit zu Zeit vertaubten die Finger und Zehen. DieYertaubung währte 3 bis
5 Min., worauf krampfartige Zuckungen, verbunden mit Schmerzen in den Muskeln
der Hand- resp. Fusswurzel und dem Vorderarm resp. Unterschenkel folgten.
Solche Anfälle wiederholten sich bald mehrmals am Tage, bald seltener
— einmal in der Woche. 3 Tage vor Eintritt ins Krankenhaus litt Fat. an
schmerzhaftem Frostgefühl in den unteren Extremitäten und starken ziehenden
Schmerzen; alsdann folgte Hitzegefühl in den Füssen, beide Fussrücken
rötheten sich von den Zehen beginnend. Die objektive Untersuchung ergab
Folgendes : Beide Füsse und der untere Abschnitt der Unterschenkel waren
blauroth verfärbt; die Zehenspitzen schwarz. Nach 9 Tagen bildete sich eine
Demarcationslinie. Am 30. 11. wurde der Unterschenkel ampntirt (P. Nikolsky
und N. W. Wassilljew) an der Grenze zwischen dem oberen und mittleren
Drittel. Obgleich die Operationswunde gut heilte, stellte sich am 4. 12. starkes
Fieber ein mit Husten und Schmerzen in der rechten Seite, darauf comatöser
Zustand. Am 16. 12. starb Fat. unter allgemeinem Kräfteverfall. Die von
J. M. Rachmaninoff ausgeführte pathologisch-anatomische Untersuchung der
Nerven und Gefässe zeigte in diesem acut verlaufenen Falle symmetrischer
Gangrän hauptsächlich multiple, oder nach Roth disseminirte Neuritis in
ziemlich gleicher Intensität an den Nn. tibiales ant. et post. beider Beine. „An
Querschnitten der Nerven stellen die Nervenbündel nicht das normale Bild dar
d. h. regelmässig gelagerte von Osmiumsäure dunkel gefärbte Kreise, ent-
sprechend den querdurchschnittenen Markfasern, sondern es zeigen sich viel-
mehr die mit dem gegebenen Reactiv gefärbten unveränderten Nervenfasern in
unregelmässigen Gruppen zerstreut; die Zwischenräume zwischen ihnen er-
scheinen als blasse Inselchen, die mit Zellen, Kernen und Myelinkügelchen
ausgefüllt sind. Was das verschiedene Bindegewebe anlangt, das zur Zu-
sammensetzung der Nerven gehört, so springt im Epineurium (tissu perifascul.
Ran vier) eine ungeheure Monge in den Spalträumen eingelagerter Zellen in
die Augen, die ein braungelbes, körniges Pigment enthalten. Die Gesammt-
menge des Bindegewebes erscheint der Norm gegenüber vermehrt, die Wände
der kleineren Gefösse sind verdickt, um einige sieht man eine kleinzellige In-
filtration, während die Stämme der Aa. tibiales ant. et post. und ihre grösseren
Aeste unverändert sind. Das Perineurium ist deutlich verdickt. In den
kleineren Bündeln sieht man eine massige Wucherung der inneren Schiebt
des Perineuriums. In den grösseren Nervenbündeln sieht man keine derartige
beschränste Wucherung der inneren Perineuriumschicht. Hier beobachtet man
Folgendek: An jenen Knotenpunkten, wo sich von der Innenseite des Peri-
neurium schmale Streifen Bindegewebe abtrennen, die in das Innere des Ge-
webes gehen und das Gewebe in weitere Bändelchen theilen, bemerkt man hin
und wieder eine ciroumscripte Wucherung dieses Gewebes, welches sich keil-
förmig zwischen zwei Bündelchen vorschiebt, und im Centrum desselben ein
Ueber Arteriitis obliterans und ihre Folgen. 105
kleines Gefasschen mit concentrisch geschichteter Wand und gewöhnlich sehr
engem Lumen. In der Regel beobachtet man ausser dem beschriebenen peri-
pheren, dickwandigen Gefasschen an den genannten Stellen auch Inselchen
Ton Bindegewebe, die ein Gefasschen umgeben, dass das Bild eines, im Ver-
gleich zu normalen Capillaren, recht dickwandigen Ringes aufweist, der an
der Innenseite mit Kernen versehen ist. Nur selten hat man statt des bo-
scbriebenen peripheren Geifasses ein dickwandiges, zuweilen beinahe obliterirtes
Gefass grosseren Calibers ausserhalb des Perineuriums."
Was die Aetiologie dieses Falles betrifft, so stimmt Rachmaninoff
der Ansicht bei, die auch ich auf den IV. Congress russischer Aerzte ausge-
sprochen, d. h. dass es sich um eine Neuritis infectiosa handelt, bedingt
durch den yorangegangenen Typhus: „Dass die Neuritis und Gangrän nicht
zufällig zusammenfallen, sondern sich zu einander wie Ursache und Folge
verhalten — das ist zweifellos ; welcher nähere Zusammenhang jedoch zwischen
diesen beiden Processen vorliegt — diese Frage haben frühere Forscher eben-
sowenig lösen können, wie auch ich", sagt Rachmaninoff. „Bemerkens-
werth", sagt er weiter, „ist das, dass in meinen beiden letzten Fällen (Alkohol-
neuritis), wo die Degeneration der Nerven des Beines bedeutend stärker
ausgeprägt war, als im ersten Falle (symmetrische Gangrän), ausserdem
Degeneration der Ganglienzellen des Rückenmarks, allgemeine Arterio-
sklerose, Schwächung der Herzmuskulatur und endlich, wie natürlich, auch
andere, theils nachweisbare, theils nicht nachweisbare Symptome der Alkohol-
dyskrasie vorlagen, sich doch keine Gangrän entwickelte. Das ist eine be-
merkenswerthe, wenngleich bislang nicht erklärliche Thatsache."
Das Auftreten der Gangrän in unserem Falle erscheint um
so auffallender, als in den 3 von genanntem Autor untersuchten
Fällen die Gefässveränderungen die gleichen waren, d. h. diese
Veränderungen bezogen sich in gleichem Maasse auf die kleinen
Arterienästchen, die unter das Epineurium gehen, als auch auf die
an der äusseren Seite desselben verlaufenden. Die Veränderungen
äusserten sich in einer bis zmn Lumenverschluss führenden
Wucherung der Intima und Adventitia der Gefässe; die Verdickung
der Capillarwände hing wahrscheinlich sowohl von einer Quellung
der die Wand bildenden Zellen ab, als auch von einer Wucherung
des umgebenden Bindegewebes. . . . „Das Vorhandensein von
Gefässveränderungen in dem Falle von symmetrischer Gangrän
bei einem 17jährigen Jünglinge schien mir", sagt Rachmaninoff,
^einer besonderen Würdigung werth, und der Gedanke, die Nerven-
degeneration durch Veränderung der Wandungen der die Nerven
ernährenden Gefässe — sehr naheliegend, um so mehr, als es
durch eine solche Hypothese vielleicht leicht wäre, die Pathogenese
106 A. A. Wwedensky,
der verschiedensten Neuritiden nicht traumatischen Ursprungs,
namentlich des toxischen und infectiösen, zu erklären. Es ist ja
noch nie darauf hingewiesen worden, dass die Wirkung der ver-
schiedenartigsten toxischen Substanzen sich in erster Linie und
hauptsächlich an den Wandungen der kleinsten Gefässe äussert,
mit denen sie in Berührung kommen^. Racfamaninoff entschliesst
sich jedoch nicht, auf Grund der pathologisch-anatomischen Daten
allein, in Fällen von Gangrän, die Frage zu entscheiden, „ob der
Proccss mit der Veränderung der Gefässwände und Bindegewebs-
wucherung beginnt, die consecutiv eine Degeneration der Nerven-
fasern nach sich zieht, oder, umgekehrt, die Letztere primär ist,
die Sklerose der Gefässe mit Bindegewebs Wucherung aber secundär.**
Ich glaube, dass_ die Lösung der Frage Aufgabe der Experimental-
pathologic ist. —
Das sind die pathologisch-anatomischen Daten in den beiden
von mir zu versclüedenen Zeiten beobachteten diesbezüglichen
Fällen. Im ersten ist das Bild einer oblrterirenden Gefässentzündung
scharf ausgesprochen und schien sich nicht nur auf die kleinen,
die 3. Zehe versorgenden Gefässstämmchen zu erstrecken, sondern
auch auf die Aa. tibiales ant, et post., da an denselben ein Pols
nicht fühlbar war. Gleichzeitig mit der obliterirenden Gefäss-
entzündung lag Degeneration der xVcste des N. plant, int. und
Dorsal, digit. und N. peroneus superfic. et prof. vor. Im 2. Falle
war multiple Neuritis ausgesprochen; die grösseren Gefässe waren
nicht verändert, sondern nur die Vasa nervorum und Vasa vasorum
obliterirt.
Bei der Darstellung des klinischen Bildes dieser Krankheit,
werde ich nicht die einzelnen Fälle aus der Literatur wiedergeben,
sondern verweise auf die eingehenden Arbeiten von Wolkowitsch,
Koudratsky und Weiss. An der Hand der eigenen Fälle und analoger
aus der Literatur können wir folgendes Krankheitsbild aufstellen.
Die Arteriitis obliterans der unteren Extremitäten ist eine
hauptsächlich Russland eigene Krankheit und kommt namentlich
in Gegenden mit rauhem KDma vor. Sie wird fast ausschliesslich
bei Männern im Alter von 15—60 Jahren beobachtet. Der von
Studensky beschriebene Fall, der sich auf ein SOjähriges Indi-
viduum bezieht, steht ganz vereinzelt da; ausserdem kann dieser
Fall nicht als ein reiner aufgefasst werden: Es lagen hier gleichzeitig
Ueber Arteriitis obliterans und ihre Folgen. 107
mit der obliterirenden Entzündung, fettige Degeneration ond Kalk-
ablagerang in den Gefässwänden vor.
Als Vorläufer der Krankheit treten vorübergehende Schmerzen
in den Extremitäten auf; diese Schmerzen werden weder von
Fieber, noch Schwellung der Gelenke, noch Veränderung an Haut,
Muskeln und Knochen begleitet; Gelenkrheumatismus ist somit
ausgeschlossen. Die Schmerzen treten periodisch auf und neu-
ralgischen Schmerzen ähnlich. An den unteren Extremitäten sind
sie namentlich am Fuss und Unterschenkel, an den oberen — an
den Fingern, der Handwurzel und dem Vorderarm. Sie entstehen
durch Bewegung (z. B. Gehen) und verschwinden während der
Ruhe. Blaufärbung, Krämpfe und Frostgefühl an den
Extremitäten sind die natürlichen Begleiter dieser Schmerzen.
Alle diese Erscheinungen sind in der kalten, rauhen Jahreszeit
stärker ausgeprägt, als in den Sommermonaten. Diese Anfälle,
die zu B^nn der Erkrankung durch zufällige Umstände auftreten,
sind vorübergehend und beunruhigen den Kranken nicht, da er
geneigt ist anzunehmen, es handle sich um „Rheumatismus''. Mit
der Zeit, wo die Gangrän zu beginnen droht, werden die Schmerzen
sehr hochgradig und beständig; zugleich fällt die Temperatur der
Extremitäten, die natürliche Färbung der Haut ändert sich; die
Pulsation der Arterien der erkrankten Extremität wird kaum
fühlbar und schwindet endlich ganz — ein deutliches Zeichen,
dass die Gangrän bald eintreten wird. In der That, sehr bald
zeigen sich auf der Dorsal- (häufiger) und Volar- resp. Plantar-
fläche der Finger resp. Zehen dunkelblaue Flecke, die Epidermis
hebt sieh an diesen Stellen ab durch Ansammlung blutigseröser
Flüssigkeit und es entstehen Blasen. Wird die Extremität unter
günstige Bedingungen gestellt, den Kranken Ruhe gegönnt und
Wärme zugeführt, so kann sich der Process auf die beschriebenen
trophisehen Störungen der Haut beschränken. Im entgegengesetzten
Falle schreitet die Gangrän vorwärts sowohl der Fläche, als auch
der Tiefe nach und nach einiger Zeit sterben eine oder mehrere
Zehen resp. Finger ab. Von hier kann die Gangrän in kürzerer
oder längerer Zeit anf den Fuss und den Unterschenkel übergehen.
Die Gangrän tritt vorzüglich an den unteren Extremitäten
oder tritt wenigstens an diesen gewöhnlich zuerst auf. Zuweilen
jedoch treten die ersten Erscheinungen der Gangrän auch an den
108 A. A. Wwedensky,
oberen Extremitäten auf und die Krankheit kann auch auf diese
beschränkt bleiben, wie z. B. in den Fällen von Uadden (27),
Wischnewsky (16), Will (30), Widcnmann (32), Gould,
Walsham (cit. nach Galizky) und lleydenreich. Nicht iramer
tritt die Krankheit symmetrisch auf und solche Fälle, wie mein
zweiter, sind nur selten; Rachmaninoff fand in der Literatur nur
6 Fälle symmetrischer Gangrän. In der Mehrzahl der Fälle geht
die Krankheit, nachdem sie z. B. am rechten Bein begonnen und
einen schwächeren oder stärkeren Grad der Entwickelung erreicht,
nach einem gewissen Zeitraum, der sich auf 5 — 10 Jahre er-
strecken kann, auf das linke Bein über. In einzelnen Fällen
kommen langdauernde lichte Perioden vor, die frei von Schmerzen
und anderen Symptomen der obliterirenden Entzündung sind; im
Falle von Dutil und Lamy erstreckte sich eine solche Periode
auf 5 Jahre.
Bei der Amputation, die natürlich oberhalb der afficirten Stelle
ausgeführt wird, ist die Blutung aus den Arterien entweder gering-
fügig, oder sie fehlt auch vollständig. Nicht selten werden die
Bänder der Amputationswunde theilweise oder vollkommen nekrotisch,
was selbstverständlich die Narbenbildung hemmt oder gar eine
höhere Amputation nothwendig macht.
Vor oder nach der Amputation werden zuweilen für den
Kranken sehr nachtheilige Complicationen beobachtet, so z. B. im
Charcot'schen Falle — Erabolic der Art. centr. retinae, im Hey den-
reich 'sehen — Asthmaanfälle und Embolie der Lungen.
Nach den publicirten FäUen zu urtheilcn, kann man annehmen,
dass vollkommene Heilung entweder nie, oder nur äusserst selten
beobachtet worden ist. Was das Letztere anlangt, so darf man
nicht ausser Acht lassen, dass eben sehr lange Remissionen der
Krankheitserscheinungen vorkommen.
Ein diagnostisch sehr wichtiges Symptom der Arteriitis ob-
literans, das schon lange vor Beginn der Gangraen auftritt, ist das
periodische Hinken. Auf dieses Symptom wies ich schon bei
Besprechung der Anamnese meines ersten Falles hin. Dasselbe
ist auch in den Fällen von Weiss, Lamy und Dutil und vielen
Anderen angeführt. Nach den Worten von Lamy und Dutil hat
Charcot auf Grund dieses Symptomes schon ein Jahr vor Auftreten
der Gangraen auf die Möglichkeit desselben liingewiesen.
Ueber Arteriitis obliterans und ihre Folgen. 109
Das periodisch auftretende Lahmen ist ein Symptom, das zu-
erst im Jahre 1831 von ßouley an Thieren beobachtet worden
und auf dessen Bedeutung für die Medicin Charcot im Jahre 1858
aufmerksam machte. Dasselbe hat so viele characteristische Züge,
dass man auf Grund desselben den Beginn einer Arteriitis obliterans
diagnosticiren kann. Die Anfälle werden während der Ruhe nicht
beobachtet; Bewegung der unteren Extremitäten ruft zunächst kein
Unbehagen hen'^or. Fängt der Fat. an zu gehen, so fühlt er an-
fangs nichts besonderes; nach einiger Zeit (2 — 5 — 10 Minuten)
treten jedoch mehr oder weniger heftige Schmerzen bald in einem,
bald in beiden Beinen auf. Diese Schmerzen, die andauernd und
zunehmend sind, haben gewisse Eigenthümlichkeiten und sind in
verschiedenen Fällen verschieden ; in einigen Fällen haben die Kranken
ein unangenehmes Gefühl von Blutandrang zu den unteren Ex-
tremitäten, haben das Gefühl von Schwere und Ameisenkriechen,
in anderen Frostgefühl in den unteren Extremitäten. Die Schmerzen
concentriren sich auf verschiedenen Stellen, wie im Gesäss, in den
Waden, am Oberschenkel. In den Charcot'schen Fällen irradiirten
die Schmerzen von den Füssen zum Penis. Wird das Gehen fort-
gesetzt, so werden die Schmerzen äusserst heftig, es treten schmerz-
hafte Krämpfe in den Muskeln auf, und Fat. ist gezwungen, sich
zu setzen, auszuruhen. Der Arzt findet unter diesen Umständen
bei der Untersuchung des Kranken Folgendes: Die Muskeln der
Extremitäten befinden sich im Zustande hochgradiger Contractur,
sind gespannt, treten hervor; die willkürliche Bewegung der er-
krankten Extremität ist in der Gegend des Fuss- und Kniegelenkes
beschränkt und ziemlich empfindlich. Die Haut des Fusses jist
blass, blutarm ; zu anderen Zeiten erscheinen die Extremitäten mehr
oder weniger cyanotisch; die Pulsation im Gebiete der Art. tibialis
ant. resp. Art. dorsalis pedis und der Art. tibial. post. hinter dem
MaUeolus int. ist sehr schwer, zuweilen kaum fühlbar; die Tempe-
ratur des betreffenden Gliedes ist deutlich herabgesetzt. Die Sensi-
bilität der Zehen, des Fusses und zuweilen der ganzen Extremität,
sogar des Gefässes, ist gleichfalls herabgesetzt, wobei in einzelnen
Fällen nur eine leichte Anaesthesie, in anderen eine vollkommene
Analgesie beobachtet wird. 2 — 3 Minuten Ruhe genügen jedoch,
um diese Erscheinungen zum Schwund zu bringen. Schmerzen,
Krämpfe und Kältegefühl schwinden und Pat. kann von Neuem
110 A. A. Wwedensky,
anfangen zu gehen. Nach einigem Gehen treten aber alle Er-
scheinungen von Neuem auf, und zwar in verstärktem Maasse, so
dass der Kranke sogar gezwungen wird, Gehversuche für einige
Zeit vollständig aufzugeben.
Dieses sind die Eigenthüralichkeiten des periodischen Hinkens.
Jedoch nicht immer erscheint die Arteriitis oblit. unter den eben
beschriebenen Symptomen. In einigen Fällen empfinden die Kranken
während des Gehens nur Schmerzen, die auf Ruhe verschwinden,
es kommt nicht zu schmerzhaften Muskelcontractionen und Krämpfen.
Ja, auch die Schmerzen erscheinen nicht immer unter dem gleichen
Bilde. Manche empfinden solche erst nach andauerndem Gehen,
bei Anderen treten sie schon nach wenigen Schritten auf. In dem
einen, wie in dem anderen Falle werden sie durch Buhe gehoben.
Niemals klagen die Kranken über absolute Bewegungsunmöglichkeit.
In anderen Fällen treten zu den Schmerzen quälende Muskelkrämpfe
in den Extremitäten hinzu, besonders wenn die Kranken trotz auf-
tretender Schmerzen: das Gehen fortsetzen.
Zu Beginn der Erkrankung wird das periodische Lahmen selten
als ständiges Symptom beobachtet; es kommen sehr lange Inter-
valle vor, in denen dasselbe scheinbar vollständig geschwunden ist
In den späteren Stadien der Arteriitis obliterans wird es jedoch
mehr oder weniger beständig. Schon nach kurzdauerndem Gehen
treten alle beschriebenen Erscheinungen — Schmerzen und Krämpfe —
auf und die Patienten sind gezwungen, Ruhe zu suchen; zuweilen
können sie kaum noch 2 — 3 Minuten gehen. Ausser den Schmerzen
und Krämpfen treten Bläuung der grossen Zehe oder gar des ganzen
Fusses, starke Schmerzen und Sensibilitätsstörungen auf. Alsdann
werden die Bewegungen erschwert und sogar unmöglich. Mit einem
Worte, man kann sagen, das periodische Lahmen, als solches,
schwindet, um einem anderen Symptom der Arteriitis obliterans,
der Gangrän, den Platz zu räumen. Pat. tritt in eine Periode nicht
enden wollender Gangrän und Amputationen.
Bisweilen erscheint das periodische Lahmen sehr lange (5 Jahre)
vor Beginn der Gangrän als wesentliches Symptom der obliterirenden
Gefässentzündung der unteren Extremitäten und stellt ein sehr
wichtiges Zeichen zur frühen Diagnose der Arterienerkrankung vor.
Zu Anfang der Erkrankung sind die Anfälle nicht sehr ausgeprägt
und es kann daher nicht Wunder nehmen, da&s diese Periode der
Ueber Arteriitis obiiterans und ihre Folgen. 111
Arteriitis obiiterans in klinischer Beziehung zu manchen diagnostischen
Irrtbämem Veranlassung geben kann. Bezugnehmend auf den Ort
der Schmerzen, ihren irradiirenden Character. werden sie häufig irr-
thümlicher Weise für rheumatische, gichtische oder neuralgische
(Ischias) angesehen: auf Grund dessen werden die Kranken mit
Electricitat, Massage und innerer Darreichung meist nutzloser Arznei-
mittel bebandelt und wird damit so lange fortgefahren, bis deutliche
Zeichen des periodischen Lahmens auf den richtigen Weg führen.
Leider wird dieses Zeichen jedoch von den Aerzten vielfach über-
sehen und der Kranke daraufhin nur selten befragt. Dem Rathe
Charcot's folgend mag hier darauf hingewiesen werden, dass mehr
öder weniger absolute und andauernde Ruhe in einigen Fällen das
einzige Mittel zur Abschwächung der Anfälle des Lahmens und zur
Verhinderung der Gangrän ist.
Bis jetzt haben wir das pathologisch-anatomische und klinische
Bild des Leidens betrachtet. Nun noch einige Worte über die
Aetiologie, Diagnose und Behandlung der Arteriitis obiiterans.
Die Ursache der obliterirenden Gefässentzündung ist bisher
noch nicht ergründet. Einige (Heubner, Nikolsky) glaubten,
dieselbe in der Syphilis finden zu müssen, jedoch die meisten
Autoren, angefangen mit Friedländer bis auf die neueste Zeit,
negiren den Einfiuss des Lues. Letztere sehen in Erkältung,
häufigem Abkühlen und Durchnässen der unteren Extremitäten fast
die einzige Ursache der Arteriitis obiiterans. In der That zwingen die
Fälle von Wolkowitsch, Fedorow, Koudratsky, die Beobach-
tungen von Braun(33), die Fälle von Galitzky(39), Michailow(40)
und endlich die meinigen, zu der Annahme, dass unser rauhes Klima
zur genannten Krankheit die Veranlassung gebe. Dem ist aber
nicht so, Erkältung der unteren Extremitäten ruft an sich noch
nicht Gefässerkrankung mit drauffolgender Gangrän hervor. In
meinem ersten Fall kam zur Erkältung noch erhebliche Verletzung
hinzu. Fat. war, während der Zug in Bewegung war, aus dem
Eisenbahnwagen gefallen. Im 2. Falle hatte der Kranke 2 Jahre
vor Auftreten der Gangrän einen schweren Flecktyphus durch-
gemacht, Dass ein Trauma nicht nur der Extremitäten, wie in
unserem Falle, sondern auch des centralen Nervensystems, in der
That Gangrän bedingen kann, zeigen die Fälle von Wischnewsky
und Sutkewitsch (17), Im Falle Wischnewsky's handelte es sich
112 A. A. Wwedensky,
um Fractur des Schläfenbeins, auf welche symmetrische Gangrän
folgte, die an den Fingerspitzen ihren Anfang nahm und von da
auf die Handwurzel und den Vorderarm bis zum Ellenbogen f ort-
schritt. Sutkewitsch giebt einen von Billroth beschriebenen Fall
wieder, in dem ein Arbeiter sich eine Fractur eines Halswirbel zuge-
zogen; nach einigen Tagen stellte sich symmetrische Gangrän der
Zehen ein. Dass Flecktyphus zuweilen Gangrän der Extremitäten nach
sich ziehen kann, zeigen die Untersuchungen von Winogradow (18)
aus dem Jahre 1878. Während des türkischen Krieges herrschte
eine Flecktyphusepidemie, zum Schluss derselben wurde häufig
Gangrän, namentlich der unteren Extremitäten, angetroffen. Bei
der mikroskopischen Untersuchung der amputirten Glieder fand
Winogradow Veränderungen am Endothel der kleinen Gefässe
und Capillaren, welche sich als Hyperplasie kundgaben und Un-
durchgängigkeit der Gefässe und in Folge dessen Störungen in der
Ernährung bedingten. Im Jahre 1887 beschrieb Tandow 2 Fälle
von Gangrän nach Typhus. Ortheschko beobachtete häufig Falle
von Gangrän der Extremitäten während einer Flecktyphusepidemie
im Gefängnisshospital in Tomsk.
Ich glaube kaum, dass Verletzung der Extremitäten, ihre
Abkühlung und Erkältung für die hauptsächlichsten ätiologischen
Momente dieser Erkrankung angesehen werden können ; sie dürften
eher als Anstoss zur schnellen Entwickelung einer schon lange
vorher vorbereiteten Störung des Nerven- und Gefässsystems der
Extremitäten aufgefasst werden. Wenigstens muss man auf Grund
eingehenderen Studiums der Fälle aus der Literatur und meiner
FäUe auf diesen Gedanken kommen. In meinen beiden Fällen
ging der Gangrän Infcction voraus. Rheumatismus in dem einen,
Typhus in dem anderen Falle. In einigen Fällen aus der Literatur
finden wir dasselbe. Freilich trat die Gangrän nicht in allen
Fällen in gleicher Weise auf; zuweilen stellte sie sich unmittelbar
nach der Infection ein und die Nerven- und Gef&ssentzündung
verlief rapid, wie ein acuter Process; zuweilen hingegen wurde
ein grosser Zeitraum zwischen Infection und Entwickelung der
Gangrän beobachtet, der sich über Jahre erstreckte, mit anderen
Worten, der Process trug einen chronischen Character. In diesem
Falle handelt es sich nicht nur um eine Arteriitis obliterans der
Vasa vasorum und überhaupt der kleinen Gefässe und Capillaren
üeber Arteriitis obliterans und ihre Folgen. 113
(Heubner, Winogradow und Rachmauinoff), sondern auch
der mittleren und grösseren Arterien- und Venenstämme (Fried-
länder, Winiwarter).
Auf Grund des Angeführten glaube ich, dass in der Aetiologie
der Gangrän in der Mehrzahl der Fälle verschiedenen Einflüssen,
vor Allem einer Mischinfection : Erkältung der Extremitäten, ihre
häufige Abkühlung, Durchnässung der Füsse — das sind die
Ursachen der Erkrankung der Gefässe, die z. Th. schon durch die
vorangegangene Infection (Malaria, Typhus, Rheumatismus) ver-
ändert worden sind.
Ich wende mich nun zu der Frage, ob nur die obliterirende
Grefässentzündung die Gangrän der Extremitäten bedingt oder ob
an letzterer sich auch andere Organe, wie das Nervensystem,
betheiligen. Auf Grund meiner und der Fälle anderer Autoren,
glaube ich die Antwort in bejahendem Sinne geben zu müssen;
auf Grund der mikroskopischen Untersuchung der Gefässe und
Nerven in meinen beiden Fällen und der gleichen Untersuchungen
in den Fällen von Dutil und Lamy, Murawjew und Fedorow,
Nikolsky und Lawkowsky, Pitres und Vaillard (37), behaupte
ich, dass zum Entstehen der Gangrän unbedingt eine
Affection der Gefässe, als auch des nervösen Apparates
der Extremitäten zugestanden werden muss und dass es
Fälle giebt, in denen die Erkrankung der Nerven in den Vorder-
grund tritt, während die Arteriitis obliterans nur an den kleinsten
Gefässen und Capillaren beobachtet wird. Das Studium solcher
Fälle fahrt uns unwillkürlich zu dem Gedanken, dass an dem
Entstehen der Gangrän weniger die Arteriitis obliterans, als die
Neuritis degenerativa Schuld trage, wie ich schon auf dem Congress
russischer Aerzte in Moskau 1891 betont habe.
Freilich fällt es dem Arzte nicht leicht sich von einer ein-
gewurzelten Anschauung loszumachen, namentlich wenn sie durch
eine Reihe von Beobachtungen unterstützt wird. Heubner, Fried-
länder, Winiwarter, Winogradow u. A. fanden bei der
mikroskopischen Untersuchung stets deutliche Veränderungen an
den Gefässen und schrieben diesen natürlich die Hauptrolle bei
der Entwickelung der Gangrän zu. Die Beobachter nach ihnen
suchten und fanden natürlich dasselbe. Daher bürgerte sich
natürlicher Weise die Ansicht von der Entstehung der Gangrän
ArohiT ftr kHo. Ghirnrgie. 57. Bd. Heft 1. g
114 A. A. Wwedensky,
auf Grund der Gefässveränderung vollkommen ein. Die Anschauung
von der Entstehung der Gangrän auf nervöser Grundlage hingegen
kam entweder Niemandem in den Sinn oder aber wurde für
unwahrscheinlich erachtet. Die meisten Autoren, die sich mit der
Untersuchung der Gangrän befassten, hielten es nicht der Mühe
werth, gleichzeitig mit der mikroskopischen Untersuchung der
Gefässe, auch die der Nerven vorzunehmen.
So ist in den ausführlichen und fleissigen Arbeiten von
Wolkowitsch, Koudratsky, Zoege von Manteuffel, Weiss
der Betheiligung der Nerven nur nebenbei oder auch gar nicht
Erwähnung gethan. Und doch bin ich fest davon überzeugt, dass
es keinen Fall von Gangrän giebt, wo nicht neben der Arteriitis
obliterans gleichzeitig auch Veränderungen an den Nerven der
betr. Extremität vorlägen. Nur unter der Annahme einer gleich-
zeitigen Erkrankung der Gefässe und Nennen können wir uns die
verschiedenen klinischen Symptome bei dieser Kranklieit erklären,
wie z. B. die bald mehr, bald weniger deutlich hervortretenden
Schmerzen, die ständige oder vorübergehende Cyanose und Ver-
taubung der Extremitäten, die Muskelkrämpfe und die verschiedenen
trophischen Störungen der Haut. Endlich kann man auch nur
unter der Annahme einer nervösen Störung die auffallenden Re-
sultate verstehen, die im Beginn der Erkrankung durch electrische
Behandlung erzielt wurden. In dieser Beziehung sind folgende
Fälle von Morosow^ (43), Spischarsky (22) und Djakokow (42)
sehr lehrreich. —
In dem Falle Morosow's handelte es sich um einen 40jährigen
Obristen, der sich im russisch-türkischen Kriege die 2., 3. und
4. Zehe des rechten Fusses erfroren hatte.- AUes verging ohne
weitere Folgen, nur an der 4. Zehe blieb eine besondere Empfind-
lichkeit gegen Kälte zurück. 15 Jahre hindurch fühlte sich Patient
vollkommen gesund. Im October 1892 trat ihm ein Pferd auf den
rechten Fuss; darauf entwickelte sich an der 4. Zehe ein Geschwür
und es traten sehr starke Schmerzen auf. Es wurde Endarteriitis
diagnosticiil. Jegliche Behandlung erwies sich als erfolglos. Moroso w
exarticulirte die 4. Zehe. Die Schmerzen bestanden fort, die
Gangrän schritt weiter. Es wurde Amputation des Unter- resp.
Oberschenkels vorgeschlagen. Zu einer Operation kam es jedoch
nicht. Nach Consultation mit Sikorsky entschloss man sich zur
üeber Arteriitis obliterans und ihre Folgen. 115
Anwendung electrischer Wannen. Alsbald Hessen die
Schmerzen nach und nach 60 Sitzungen bedeckte sich
die Wunde mit einem Schorf. Patient genas.
Im Falle von Spischarsky handelte es sich um eine 52jährige
Frau, bei der ohne greifbare Ursache vor 3 Jahren an der Basis der
Mittelzehe am Fussrücken des rechten Fusses ein Geschwür ent-
standen war. An dieser Stelle waren dem Greschwür etliche
Wochen Schmerzen vorangegangen, die auf Morphiumgebrauch
nicht schwanden. Trotz der verschiedenartigsten Behandlung nahm
das Geschwür an Umfang und Tiefe zu. Energische antisyphilitische
Behandlung (Pjatigorsk) blieb erfolglos, ebenso Auskratzen des
Geschwürs. Nach Consultation mit Scherwinsky und Roth
wurden electrische Wannen, darauf Massage verordnet. Nach
60 Sitzungen begann Yemarbung des Geschwürs und in 3 Monaten
heilte das Geschwür vollständig. Patient ist bis jetzt gesund.
Die zu Beginn der Electrisation kaum pulsirende Art. dorsal, pedis
pulsirte nach Beendigung der Behandlung gut.
Der Fall Djakokow's behandelt einen 60jährigen Gymnasial-
lehrer mit deutlich ausgesprochener Arteriosclerose und beginnender
Gangrän an der grossen Zehe des linken Fusses. Oedem des
Unter- und Oberschenkels. Patient litt an sehr starken Schmerzen,
die ihm den Schlaf raubten. Der AUgemeinzustand war schlecht.
Die Krankheit dauert schon einige Monate und weicht keiner
Behandlung. Djakokow verordnete electrische Bäder. Die Be-
handlung war entschieden nutzbringend; freilich war eine grosse
Zahl von Sitzungen erforderlich. Die Gangrän beschränkte sich
auf einen kleinen Theil der Zehe. Das Oedem wurde geringer
und die quälenden Schmerzen Messen vollkommen nach. Der
Patient konnte seiner Beschäftigung wieder nachgehen.
Bobrow (41) nimmt an, dass die Gangrän sowohl von einer
Nerven- als auch einer Gefässveränderung ausgehen kann. „Es
giebt", sagt er, „Fälle von Gangrän auf rein nervöser Grundlage.
Ich hatte einen Fall von Gangrän nach Verletzung des N. ischi-
adicus durch einen Erdsturz; das grosse Geschwür am Fussrücken
war schmerzlos, die Arterien waren normal." Wie mir scheinen
will, giebt es keine Fälle von Gangrän, in denen nicht neben der
Arterntis obliterans auch eine Aflfection der Nerven zu Tage tritt.
Anders liegt jedoch die Frage danach, ob die Nerven oder die
8*
116 A. A. Wwedensky,
Gefässe zuerst erkranken und es ist schon möglich, dass sie nicht
gleichzeitig afficirt werden.
Das Mikroskop giebt uns in Bezug hierauf bis jetzt noch keine
sichere Antwort. Ob das Experiment diese Frage lösen wird, muss
die Zukunft entscheiden. Jedenfalls ist die Frage höchst wichtig
und interessant.
Bei der Diagnose der Arteriitis obliterans muss man stets
Rheumatismus im Auge haben, da dieser am häufigsten zur Ver-
wechselung Anlass giebt. In Anbetracht des periodischen Lahmens,
des Kältegefühles in den Zehen resp. Fingern, der Veitaubung
der Extremitäten, des fieberhaften Verlaufs, der ausgesprochenen
Schmerzen in den Extremitäten ohne Affection der Knochen und
Gelenke, der abgeschwächten Pulse an den entsprechenden Extre-
mitäten und der beginnenden Gangränescenz an den Zehen resp.
Fingern, namentlich dieses letzten Symptomes, darf die Diagnose
jedoch keine Schwierigkeiten bieten. Ich werde mich nicht
bei der Differentialdiagnose aufhalten, das würde uns zu weit
führen, da eine ganze Reilie chronischer Krankheiten aufgeführt
werden müsste, wie Syphilis, gonorrhoischer Rheumatismus, chro-
nische Muskel- und Knochenerkrankungen, Neuralgien verschiedener
Art u. s. w.
Bezüglich der Behandlung nur noch einige Worte. Mit
Charcot muss den Kranken Ruhe empfohlen werden. In
der Electricität, in Form von electrischen Wannen angewandt,
haben wir, nach den Versuchen von Morosow, Spischarsky
und Djakokow zu urtheilen, ein mächtiges Mittel, welches nicht
nur, nach den angeführten Beobachtungen, den Process zum Still-
stand bringen, sondeni auch vollständige Heilung erzielen kann,
namentlich, wenn die Krankheit noch nicht weit vorgeschritten ist.
Natürlich, wenn die Gangrän schon grössere Abschnitte des Fusses
und des Unterschenkels ergriffen hat und Demarkationslinien sich
bemerkbar machen, ist entschieden die Amputation in verschiedener
Höhe in Abhängigkeit vom einzelnen Falle am Platze.
lieber Arteriitis obliterans und ihre Folgen. 117
Literatur.
l)Jaesche,G. Archiv f. klin. Chirurg. Bd. 6. 1864. S. 694— 711.
— 2) Wolkowitsch, N. M. Chirurg. Westnik. 1890. S. 411—447. — 3)
Zoege V. Manteuffel, Arch. f. klin. Chirurg. Bd. XLII. 1891. S. 567—574.
— 4) Derselbe. Ebendas. Bd. XLV. 1892. S. 221—226. — 5) Nikolsky,
N., und Laurowsky, V. Chirurg. Letopisz. Buch 5. 1892. S. 637—652.
— 6) Pedoroff, S. P. Ibidem. Buch 6. 1894. p. 957— 966. — 7) Weiss,
Deutsche Zeitschrift f. Chirurgie. 1894. S. 1—42. — 8) Rachmaninoff,
J. M*, Medic. Rundschau. 1891. No. 10. S. 918—947. — 9) Murawieff,
Ebendaselbst. 1895. No. 16. S. 315—324. — 10) Charcot, Society de bio-
logie. 1858, Cit. nach Dutil et Lamy. p. 114. — 11) Dutil, A., et Lamy,
H., Archives de m^decine exp^rimentale. T. V. 1893. p. 102—120. — 12)
Friedländer, Carl, Centralbl. f. d. medioin. Wissenschaft. 1876. No. 4.
S. 64—70. — 13) V. Winiwarter, Felix. Arch. f. klin. Chirurg. Bd. XXIII.
1878. S. 201—226. — 14) Wwedensky, A. A. Letopisz d. Chirurg. Gesell-
schaft in Moskau. 1890. Bd. IX. S. 178—201. — 15) Derselbe, Die Arbeit.
d. IV. Congresses russisch. Aerzte in Moskau, Chirurg. Abtheil. 1892. — 16)
Wiscbnewsky. Ebendaselbst. S. 495. — 17) Sutkewitsch. Ebendaselbst.
S. 497. — 18) Winogradow, Med. Westnik. 1878. No. 43, 44. — 19) Tan-
doff. Die Arbeiten d. IV. Congr. russisch. Aerzte in Moskau. 1892. S. 495.
— 20) Studensky, Botkin's klin. Zeitung. 1882. No. 1, 2. — 21) Kon-
daratzky. Letopisz russ. Chirurg. Buch 6. 1896. — 22) Spischarny, J. K.
Ibidem. S. 1066. — 23) Sinitzin, F. J. Die Arbeiten d. IV. Congr. russ.
Aerzte in Moskau. 1892. S. 495. — 24) Sklifassowsky, Ebendaselbst. —
25) Trojanoff, A. A. Ebendaselbst. — 26) Morosoff, P. J., Cit. nach
Spischarny. — 27) Hadden. Lancet. 1888. S. 268. — 28) Burowjun.
Berlin, klin. Wochenschr. 1883. S. 507. — 29) Baumgarten, Ebendaselbst.
— 30) Will, Ebendaselbst. 1886. S. 268. — 31) RiedeL Centr. f. Chirurg.
1888. S. 554. — 32) Widcnmann, Beiträge zur klin. Chirurgie. Bd. IX.
Heft 1. 1892. S. 218. — 33) Bram, Verhandlungen d. deutsch. Gesellschaft
f. Chirurg. Bd. XX. S. 166. — 34) Israel. Berl. klin. Wochenschr. 1882.
S. 705. — 35)Heubner, Die luetische Erkrankung der Hirnarterien. Leipzig.
1874. — 36) Lotin, Bolnitschas gazeta Botkina. 1895. 24. Octob. — 37)
Pitres et Vaillard, Arch. de physiologie. 1885. p. 106. — 38) Joffroy
et Achard, Arch. de mid. exp^rim. 1889. p. 229. — 39) Galitzky, J. P.
Wratscbebnia sapisky. 1895. No. 9. — 40) Michajloff, N. A. Ibid. No. 12.
~ 41) Bobrow, A. A., Letopisz d. chlrurg. Gesellschaft in Moskau. 1896.
Bd. XV. No. 4. S. 269. — 42) Djakonoff, P. J. Ebendaselbst, S. 219—220.
— 43) Moros off, P. J. Die Arbeiten d. V. Congresses d. Aerzte in Peters-
borg. — 44) Podwisotzky, W. W. Die Grundlage d. chirurg. Pathologie.
1894. S. 425—434. — 45) Tillmanns, Die allgemeine chirurg. Pathologie
and Therapie.
V.
lieber operative Versuche, die pathologische
Schulterstellung bei Dystrophia musculorum
progrediens zu verbessern.
Von
Prof« Dr. A. Freiherr ¥011 WSmelfsiherg^
(Königsberg in Pr.)
(Ißt 6 Figuren.)
Unter den zahlreichen Beschwerden, welche die Dystrophia
nauscul. progred. mit sich bringt, ist die pathologische Stellung
der Schulter dann besonders lästig, wenn in Folge von Lähmung
des Muse. cucuUaris die beiden Scapulae flügelartig vom Thorax
abstehen. Da es völlig unmöglich ist, durch irgend ein thera-
peutisches Verfahren den Zustand der Muskeln zu verbessern und
auch eine Muskeltransplantation (Nicoladon i) kaum durchführbar
sein wird, kann von einer Heilung dieser Krankheit keine Rede sein.
Verbesserung der gestörten Function kann höchstens durch
einen Verband oder ein Mieder erzielt werden, wodurch die beiden
abstehenden Scapulae an den Thorax angedrückt und ausserdem
ihre äusseren Ränder gehoben werden. Derartige Verbände wurden
schon wiederholt empfohlen und mit Erfolg angewendet; doch kommt
dieselbe Schwierigkeit in Betracht, die so häufig der Application
von Bandagen und Prothesen hinderlich ist: der Verband hält nur
einige Zeit hindurch gut und muss bald durch einen neuen ersetzt
werden. Bei armen Patienten spielt der Kostenpunkt aller Apparate
eine wesentliche Rolle. Weiter ist ein nur einigermaassen fester
Verband auch schwer, wodurch die an und für sich schon ge-
schädigten Muskeln zu stark in Anspruch genommen werden.
Operative Versuche, die pathologische Schulterstellung zu verbessern. 119
Es lag daher nahe, auf operativem Wege eine Fixation der
Scapola in richtiger Stellung zu versuchen. Natürlich schien von
vornherein nur ein solcher Fall zu einem operativen Eingriffe geeignet,
in welchem derProcess langsam fortschreitet.
Ceber zwei einschlägige Fälle und die durch verschiedene
Eingriffe dabei erzielten Erfolge resp. Misserfolge soll im Nach-
folgenden kurz berichtet werden, da ich glaube, dass die dabei ge-
machten Erfahrungen in ähnlichen Fällen verwerthet werden können.
Fall I. 20jährige Kaufmannstochter aus Kowno in Russland hatte in
frühester Jugend Scharlach und Masern durchgemacht und erkrankte im
8. Lebensjahr zum ersten, im 14. Jahre zum zweiten Male an Typhus. Die
zweite Erkrankung war eine sehr milde und dauerte nur kurze Zeit; nach
3 Wochen war das Mädchen fast ganz hergestellt. Im Laufe der 2. Krank-
heitswoche bemerkte die Pat., als sie eines Morgens erwachte, eine Schwäche
der rechten Schulter, so dass sie ihren Arm nicht mehr wie sonst heben, wohl
aber mit der Hand alle Bewegungen ausführen konnte. Bald zeigte sich eine
gleiche Schwäche links. Die Schultergegend und die beiden Oberarme magerten
ab, beide Schultern sanken herab und konnten activ nur mit Mühe bis zur
Horizontalen gehoben werden.
Pat. war im Jahre 1891 zum ersten Male und dann noch wiederholt in
der medicinischen Klinik in Behandlung. Ich verdanke der Freundlichkeit des
Collegen Lichtheim die Einsicht in die klinischen Krankenprotocolle.
Beim Aufenthalt an der medicinischen Klinik im Jahre 1891 fällt bei der
Pat. ein eigenthümlicher Gesichtsausdruck auf (hebetudo visus). Die Lippen
sind dick, beim Versuch zu pfeifen contrahirt sich die Musculatur in perverser
Weise (l^vre du tapir). Der Lidschluss ist unvollkommen. Beide Scapulae,
besonders die rechte, stehen flügelartig vom Thorax ab. Bei Bewegongsver-
snchen zeigt sich, dass der Oucullaris rechts defect sein muss; be-
sonders die mittlere Portion desselben, welche die Scapula an
die Wirbelsäule heftet, functionirt nur wenig, während der obere
Theil, der das Heben der Schulter bewirkt, ziemlich intact ist. Dadurch stehen
die Scapulae tief und vom Thorax ab. Vor allem sind sie um eine sagittale
Axe gedreht, in der Art, dass die unteren Scapulawinkel sich einander nähern
(mouvement du bascule). Auf der linken Seite ist die Erkrankung weniger
ausgeprägt. Die M. seiratus anticus, supraspinatus, cuculiaris, pectoralis
m^yor, triceps sind leicht atrophisch. Bei der electrisohen Prüfung erweist es
sich, dass diese Muskeln prompt reagrren und nirgends Entartungsreaction
besteht. Die Sensibilität ist normal. — Obwohl die Angabe der Pat. dahin
ging, die Störung sei plötzlich während des Typhus aufgetreten, wurde doch
von Prof. Lichtheim mit Rücksicht auf die typische Localisation der Miiskel-
atrophie auf die Schulter und die mimische Musculatur eine juvenile Form
der progressiven Muskelatrophie (Type Ddjörine-Landouzy) diagnosticirt.
Als die Pat. 4 Jahre später mit Diphtheritis zum zweiten Male in die
120
Dr. A. Freih. von Eiseisberg,
medicinische' Klinik kam, konnte nur eine geringe Zunahme der Schwäche
im linken Arme wahrgenommen werden. Damit stimmte eine stärkere Atrophie
der betreifenden Schultermnskeln überein.
Derselbe Befund wurde bei der Aufnahme ein Jahr später constatirt;
wiederum hatte die Atrophie nur um etwas weniges zugenommen. Speciell die
Erkrankung der linken Schulter schien keine Fortschritte gemacht zu haben,
während die bei der letzten Aufnahme noch leichte Erkrankung der rechten
Schulter sich verschlimmert hatte, so dass der Unterschied zwischen rechter
Fig. 1.
und linker Schulter fast verwischt war. Um die Stellung der Schulter zu ver-
bessern, wurde die Kranke der chirurgischen Klinik überwiesen (Mai 1896).
Bei der im Mai 1896 an der chirurgischen Klinik erfolgten Aufnahme fiel nebst
der oben erwähnten Steifheit des Mundes am meisten die Stellung der beiden
Schulterblätter auf, welche flügelartig vom Thorax abstanden, wie es einer
Cucullarislähmung entspricht (Fig. 1). Aufgefordert die Arme zu heben, machte
die Fat. starke Lordose und erhob die Stemoclavicular-Gelenke, während die
Operative Versuche, die pathologische Schulterstellung zu verbessern. 121
active Hebung im Schultergelenke nicht über 10^ möglich war.
Beide Schultergelenke schienen fast gleich von diesem Uebel befallen zu sein.
Fixirte man die Schulter in der Weise, dass die inneren Ränder der Scapulae
sich berührten, dann konnten sie activ bis zur Horizontalen gehoben werden;
doch die Arme ermüdeten bald und sanken herab. Die Pat., w^elche durch die
Schwäche und die Unfähigkeit, den Arm in den Schultern zu heben, besonders
belästigt war, wünschte dringend eine Abhülfe gegen dieses Leiden.
Es wurde zunächst am 4. 5. 96 ein Gipscorset zwecks Fixation der
Scapulae angelegt, so dass sich die inneren Ränder derselben berührten. Die
Pat. konnte wohl activ den Oberarm in der Schulter bis fast zur Horizontalen
heben, doch behauptete sie, das Corset nicht vertragen zu können, weshalb
eine Vemähung der beiden medialen Scapularänder geplant wurde.
Operation am 10. 5. % in Narkose (Billroth 'sehe Mischung). Durch
einen zungenformigen Lappen mit oberer Basis wurden beide unteren Hälften
der medialen Scapularänder freigemacht, hierauf angefrischt und mittelst
4 Silbemähten exact genäht.
Die Operation, welche bei Leichenversuchen keinerlei Schwierigkeiten
dargeboten hatte, erwies sich als recht mühsam, leider musste wegen zu starker
Spannung auf eine Vernähung der oberen Hälften der Scapula-Ränder ver-
zichtet werden. Die tiefe Wunde wurde zur Vorsicht drainirt.
Der Wundverlauf war nicht reactionslos, insofern, als unter Fieber eine
starke Eiterung aus dem Drain auftrat. Auch eine Angina, sowie ein hart-
näckiges Ekzem complicirten den Verlauf. Endlich kam es zu einer festen,
fast knöchernen Vereinigung. Die Heilung erfolgte nun sehr langsam. Die
Kranke konnte bei ihrer am 30. 7. erfolgten Entlassung den Oberarm activ bis
ca. 65^ im Schultergel^nk abducirten und war mit Ihrem Zustande entschieden
zufriedener als zuvor.
Da jedoch die Wunde nicht ganz heilen wollte, kam die Pat. im October
1896 abermals an die Klinik. Sie konnte activ beide Arme in der Schulter auf
65^ eleviren. Ein weiteres Heben scheiterte an dem Umstände, dass die beiden
Scapulae bloss entsprechend ihrer untersten Hallten an einander fixirt waren,
also ihre Axen nach unten zu convergirten. Drückte man mittelst beider aufge-
legten Hände die mediale obere Hälfte ihrer Ränder an einander, wobei man
das Gefühl hatte, dass die beiden Scapulae sich an ihrer Verwachsungsstelle
federnd gegen einander verschoben, so war sofort active Elevation bis zu
einem rechten Winkel möglich. Immer wieder bedauerte ich, dass es bei
der Operation nicht möglich gewesen war, die oberen Scapulahälften zu ver-
einigen. Am Rücken zeigte sich in der Mitte der strahligen Narbe eine zehn-
pfennigstückgrosse Ulceration. Als Ursache derselben musste ein Silberdraht
angenommen werden, und in der That fand sich bei der daraufhin in Narkose
aniemommenen Operation (17. 10. 96) in der Tiefe des Decubitus eine Silber-
drahtnaht vor. Dieselbe wurde entfernt. Eine fast knochenharte Brücke war
zwischen beiden Scapulae vorhanden. Durch Entspannungsschnitte wurde die
Hautwunde zur Vereinigung gebracht. Die Heilung erfolgte per granulationem.
Am 25. 5. 97 wurde die Pat. wieder aufgenommen, da sie über Schmerzen
122
Dr. A. Freih. von Eiseisberg,
in der linken Schulter klagte. Die Glavicula war immer mehr und mehr nach
hinten za gedrängt worden, so dass Compressionserscheinangen von Seiten des
Plexus (Gyanose), ferner Kaltsein der Hände, Ameisenlaufen and Herabsetzung
der rohen Kraft sich einstellten. Diese Erscheinungen wechselten in der
letzten Zeit. Das Anssehen war schlechter als das letzte Mal. Die Atrophie
hatte keine Fortschritte gemacht. Electrischer Status unverändert. Hingegen
war die Stellung der Schultern insofern yerschlimmert, als der ursprünglich
spitze Winkel, welchen beide Medialränder der Scapulae mit einander
bildeten, in einen stumpfen umgewandelt war (Figur 2), so dass die
beiden Scapulae noch mehr um eine anteroposteriore Axe gesunken erschienen,
und ihre äusseren Ränder fast horizontal zu liegen kamen. Dadurch schien
der Schultergürtel nach hinten und unten gesunken. Gleichzeitig waren aber
die Scapulae in dieser Stellung vom Thorax abgehebelt, und um eine frontale
Axe derart gedreht, dass oberhalb der festen Brücke, welche die beiden Scapulae-
winkel verband, eine tiefe Hauttasche entstand. Diese Verschlimmerung der
Stellung war wohl durch die Wirkung der Schwere und die Fixation der Sca-
Fig. 2.
pulaspitzen bedingt, indem die geschwächten Muskeln nicht mehr im Stande
waren, die heruntersinkenden Schulterblätter aufzuhalten. Die Arme hingen
etwas vom Thorax ab. Ein versuchshalber angelegter Heftpflasterverband ver-
besserte die Function etwas.
Da durch die bisherige Operation nur eine geringe Verbesserung erzielt
war, ja sogar Schmerzen in der Narbe hinzugekommen waren, wurde noch ein-
mal dem Drängen der Fat., durch eine Operation eine Verbesserung zu ver-
suchen, nachgegeben, und dies um so leichter, als es klar geworden war, dass
seinerzeit die Vereinigung der beiden oberen Hälften entschieden zweckmässiger
gewesen wäre.
Am 21. 6. 97 wurde in Narkose durch einen Lappenschnitt mit oberer
Basis der obere innere Rand der Scapulae frei präparirt und mittelst Messer
angefrischt. Hierauf wurden 3 Paar Bohrlöcher am Rande angelegt und durch
dieselben je ein starker Silberdraht gelegt (Fig. 3). Die feste Brücke wurde
mittelst Bajonettschnittes durch trennt. Die Nähte wurden geknüpft. Die alten
Silberdrähte zeigten sich reactionslos und wurden entfernt. Die beiden durch
den Bajonettschnitt gebildeten Knochenlappen, entsprechend der Spitze der
Op6rati?e Versuche, die pathologische SchuUerstellung za verbessern. 123
Scapolae wurden an ihrer Basis eingeknickt und mit ihrer Wnndfläche an ein-
ander gelegt, so dass nunmehr die beiden Scapulae anfgerichtet waren und
ihrem ganzen medialen Rande entsprechend exact an einander lagen (Fig. 4).
Nachdem die Haut ohne Drainage vernäht war, wurde ein Gipsverband
angelegt. Der Wundverlauf war reactionslos. Anfangs bereitete der Gips-
verband viel Unbehagen. Nach 14 Tagen erwies sich die Wunde verheilt, auch
die Scapulae schienen knöchern verwachsen. Nach Abnahme des Verbandes
trat bald Ameisenlaufen und Schmerzen im rechten Arme von der Schulter ab-
Fig. 3.
Fig. 4.
wärts ein, welches besonders im rechten Arm stärker wurde, so dass die
Hand kalt und blau ward ; die rechte Clavicula war durch die jetzige Fixation
der Scapula ganz sagittal gestellt und drückte Arterie und Plexus gegen die
erste Rippe, wodurch der Radialpuls rechts unfuhlbar wurde. Durch Abheben
der Clavicula wurde er fühlbar, um mit dem Nachlassen des Zuges gleich
wieder zu verschwinden. Der Schultergürtel war asymmetrisch gedreht: links
drückte die Clavicula nicht auf die erste Rippe. Mit der linken Hand konnte Fat.
den Kopf erreichen und in der Schulter bis zum rechten Winkel erheben. Durch
einen Velpe au 'sehen Verband waren alle Beschwerden der rechten Seite zu
124
Dr. A. Freih. von Eiseisberg,
beheben, — sobald er abgenommen wurde, stellten sie sich wieder ein. Dess-
halb wurde eine Verlängerung der Clavicula geplant.
Am 28. 7. 97 wurde die 4. Operation in Narkose ausgeführt; Längs-
schnitt über die rechte Clavicula, bajonettartiges Durchsägen mit der electri-
sehen Säge (Fig. 5). Es wurde die Clavicula um 2 cm verlängert und in
dieser Stellung durch Aluminiumbroncedraht fixirt (Fig. 6). Exacte Hautnaht.
Sofortiges Wiederauftreten des Pulses.
Fig, 5.
Fig. 6.
Reactionsloser Verlauf. Heilung per primam. Es trat eine wesentliche
Besserung, sowohl objectiv, als subjectiv auf. Fat. konnte die Arme beider-
seits bis zur Horizontalen erheben.
Am 8. 10. wurden noch in Bromäthylnarkose die Claviculamähte, welche
unter der dünnen Haut sichtbar wurden, entfernt und gleichzeitig das scharfe
Ende der verschobenen Schlüsselbeinränder abgekniflfen. Am 25. 11. wurden
die Silberdrahtnähte aus der Scapula entfernt, da die Fat. von dem Vorhanden-
sein derselben wusste und davon belästigt zu sein angab. Beide Male heilte
die Wunde reactionslos.
• Die Kranke war durch diese vielfachen Eingriffe soweit gebessert, dass
sie im Stande war, wieder durch Handarbeit (als Cigarettenarbeiterin) ihr Brot
zu verdienen. Da nunmehr ab und zu auch in der linken Hand Beschwerden
auftraten, wurde auch auf dieser Seite eine Verlängerung der Clavicula in Aus-
sicht genommen, jedoch diese Idee wieder aufgegeben, da die Symptome bei
weitem nicht so hochgradig waren, als seinerzeit auf der anderen Seite. Bei
ihrer im Februar 98 an der Klinik erfolgten Vorstellung war sie in der Lage,
beide Arme activ seitwärts bis zur Horizontalen zu erheben, so dass sie mit
Operative Versuche, die pathologische Schulterstellung zu verbessern. 125
beiden Händen gleichzeitig sowie einzeln auf ihren Scheitel
fassen konnte. Nach vorwärts konnte sie bis auf 45^ eleviren. Die Scapulae
erweisen sich durch festes Narbengewebe an einander gewachsen, Druck auf
die Nahtstelle derselben ist etwas druckempfindlich. Beide Hände fühlen sich
kalt an nnd sind blauroth verfärbt, der Puls ist beiderseits gleich gut und
kräftig fühlbar. Die Fingerbewegung und Sensibilität ist normal. Die Fat.
klagt nur über leichtes Ameisenlaufen in der linken Hand. Ende Mai 1898 ist
der Zustand befriedigend.
Fall n. 20 jähriger Schuhmachergeselle erkrankte im Jahre 93 plötzlich
an Kreuzschmerzen, worauf er 13 Wochen in einem Krankenhause zubrachte.
8 Tage nach Beginn der Erkrankung konnte sich der Kranke nicht mehr gut
aufrichten und fühlte Schwäche in beiden Oberschenkeln, besonders in dem
rechten. Hierauf trat eine Schwäche beider Arme auf, hauptsächlich des
linken und nahm so zu, dass der Fat. schliesslich nicht mehr die Hand zum
Munde fahren konnte. Auf Umschläge und durch Medicinen besserten sich die
Beschwerden, doch bemerkte der Fat., dass er beim Verlassen des Spitals nicht
mehr so gut gehen konnte als zuvor und seine Schultern auffallend nach hinten
zu vorsprangen.
Bei seiner am 23. 2. 97 in der medicinischen Klinik zu Königsberg er-
folgten Aufnahme zeigt der Fat.: eine starke Lordose des ganzen Rumpfes; die
Schultern stehen noch weiter nach rückwärts vor als das Gesäss. Beide Sca-
pnlae stehen flügelartig ab und zeigen jene characteristische Stellung, welche
der Atrophie der mittleren Fortion des Cucullaris entspricht (mouvement de .
bascule). Der Fat. kann die Arme nur bis zur Horizontalen erheben. Der Pec-
toralis major und Latissimus dorsi sind ganz erheblich an Volumen reducirt,
auf der linken Seite noch mehr als rechts. Cucullaris und Serratus sind ganz
atrophisch. Muse, biceps fehlt fast ganz, triceps ist normal. Auch die Bewegungen
der Hand sind normal. Die Oberschenkelmuskeln sind beiderseits in ihrem
Volumen reducirt, besonders an der Beugeseite. Der Gang ist pendelnd
(Lähmung der Glut. med.). Fat. stürzt bei Druck auf die Bauchmuskeln sofort
in Folge hochgradiger Schwäche seiner Kückenmuskeln zusammen, und kann
sich nicht aufrichten, noch die beiden Beine heben. Die Muskeln der Unter-
schenkel sind kräftiger. Die electrische Erregbarkeit ist überall normal, nur
dem veränderten Volumen der Muskeln entsprechend schwach.
Auf Grund dieses Befundes wurde von Frof. Lichtheim die Diagnose
auf eine juvenile Form der progressiven Dystrophia muscul. gestellt, und da
gerade die Verschlimmerung der Schulter in den letzten Jahren nur sehr
geringfügig gewesen war, also anscheinend eine langsam fortschreitende
Atrophie vorlag, wurde der Kranke zwecks Besserung der besonders schwer
geschädigten Function der Schultern nach der chirurgischen Klinik transferirt.
Die active Abduction beider Oberarme war bloss auf 30 ° ausführbar. Wenn
man dem Fat. mittelst der angelegten Hände die Schultern so nach hinten
staute, dass sich die medialen Ränder der Scapulae berührten, — ein Manöver,
welches leicht gelang,-— konnte er sich sofort viel besser bewegen und
vor allem beide Oberarme bis über die Horizontale erheben. Alle Versuche,
126 Dr. A. Freih. von Eiseisberg,
durch Heftpflasterstreifen oder ein leichtes Gipsmieder eine Fixation der Sca-
pulae und damit Verbesserung der Function zu erzielen, schlugen fehl; es
wurde daher ein operativer Eingriff in Aussicht genommen.
Da damals der erste Versuch der Naht der Scapulaerander in Fall I kein
günstiges Resultat erzielt hatte, wurde nach vorherigen Leichenversuchen, in
Narkose eine Anheftung des Randes der rechten Scapula mittelst
Silberdraht an die 6. und 7. Rippe ausgeführt (16. 6. 97).
Entsprechend dem untersten Drittel wurde der Aussenrand der Soapula
frei gemacht und angefrischt und hierauf die 6. Rippe dort, wo die Scapula
bei äusserster Abduction des untersten Winkels dieselbe berührte, blossgelegt
Das Periost der Rippe wurde vorsichtig abgehebelt und ein dicker Silber-
draht um die Rippe herum geführt, am äusseren Rand der Scapula ein Bohr-
loch angelegt, das eine Ende des Silberdrahtes durch dasselbe durchge-
führt und geknüpft. Um die Fixirung noch fester zu gestalten, wurde der
innere Rand der Scapula in derselben Weise an die 7. Rippe befestigt.
Drainage der Wunde und Hautnaht. Der Wund verlauf war bis auf eine vor-
übergehende Pjocyaneus-Infection reactionslos. Der Erfolg der Operation be-
stand darin, dass der rechte Oberarm viel weiter activ gehoben werden konnte,
als auf der anderen Seite. Leider begann aber der Fat. im selben Maasse, als er
sich mehr bewegte, über Schmerzen entsprechend der Stelle der Nähte zu klagen,
so dass seinem Drängen nachgegeben wurde und einen Monat nach der Opera-
tion die Silberdrähte in Narkose entfernt wurden. Beide waren offenbar durch
die Bewegung gelockert und in Granulationsgewebe eingebettet.
Die Scapula war, wie in Anbetracht der kurzen Zeit zu erwarten, noch
nicht knöchern mit der Rippe verschmolzen, doch durch festes Narbengewebe
daselbst iixirt und somit ein geringer Erfolg erzielt.
Das Resultat erschien jedoch noch sehr verbesserungsfahig. Die durch die
Fixation erzeugten Schmerzen Hessen eine analoge Operation für die andere
Scapula nicht wünschenswerth erscheinen; zudem Hess das mittlerweile ge-
wonnene günstige Resultat der Vemähung der medialen Scapularänder im
Falle I diesen Eingriff zweckmässig erscheinen, weshalb dieser am 29. 7. in
Narkose versucht wurde. Ein Lappenschnitt, ganz analog wie in Fall 1, legte
die Medianränder der Scapulae bloss; rasch waren 4 Bohrlöcher (jederseits
einige Millimeter vom angefrischten Rande entfernt) mit Hülfe des electrischen
Drillbohrers angelegt und vier dicke Silberdrähte durchgezogen. Beim Ver-
such, dieselben zu knüpfen, ergab sich jedoch die unliebsame Ueberraschung,
dass trotz alles Zusammenschiebens und Rückwärtsstauens der beiden Scapulae
die beiden medialen Ränder nicht ganz an einander gebracht werden konnten,
sondern eine 1 Y2 ^^ breite Spalte zwischen ihnen offen blieb.
Da vor der ersten Operation dieses Zusammenschieben leicht vor sich
gegangen war, mussten die durch diesen Eingriff gesestzten bändrigen Ver-
wachsungen zwischen Scapula und Rippe als die Ursache dieses Hindernisses
angesehen werden und dies um so mehr, als der innere Rand der linken Scapula
mit Leichtigkeit bis über die Medianlinie nach rechts zu gezogen werden konnte.
Obwohl nun diese Silberdrahtnaht ziemlich aussichtslos erschien, sah
Operative Versuche, die pathologische Schulterstellung zu verbessern. 127
ich doch von einem Lösen der Adhäsionen zwischen rechter Scapula und Rippe
ab und knüpfte die Silberfaden. Die Haut wurde vernäht. Trotzdem von der
Haut nichts weggeschnitten war, gelang die TIautnaht nur unter starker
Spannung; dies war auch die Ursache, warum ein Theil der Wunde ober-
flächlich nekrotisch wurde. Trotz des unbefriedigenden Verlaufes der Operation
war auch hier ein deutlicher Erfolg zu verzeichnen, insofern als der Pat.
die beiden Schaltern activ entschieden höher heben konnte, als zuvor; jedoch
schmerzten die Silberdrähte, und waren die Schmerzen genau auf die Stelle
derselben localisirt, dass ich mich am 6. 10. entschloss, dieselben zu entfernen.
Die linke Scapula kehrte bald nach der Operation in ihre alte, pathologische
Lage zurück, die rechte blieb, dank ihrer ursprünglichen Fixation an der Rippe,
in der etwas verbesserten Stellung stehen.
Damit stimmte auch die Function der Schultern überein, indem die
rechte am etwa 15^ activ höher gehoben werden konnte, als die linke.
Pat. verliess anfangs December, nachdem er im Laufe der letzten Wochen
constant Phosphor bekommen hatte, die Klinik. Linke Schulter war nicht ver-
bessert, rechte Schulter etwas. Als Pat. im Mai 1897 an die Klinik kam, war
diese geringe Besserung geschwunden, die Muskelatrophie hatte keine Fort-
schritte gemacht.
la beiden Fällen handelte es sich um langsam verlaufende
Formen von progressiver Muskelatrophie, bei welcher besonders
die typische Schulterstellung (Lähmung des Cucullaris) und das
dadurch bedingte Mouvement du bascule die starke Functionsstörung
verursacht hatte. In beiden Fällen wurde versucht, den Patienten
durch einen operativen Eingriff unabhängig von einem immerhin
complicirten und kostspieligen Fixationsapparat zu machen. Der
Eingriff sollte analog der Arthrodese bei gelähmten Gelenken in
der Naht der beiden Scapularränder an einander, resp. der Scapula
an die Rippe bestehen.
Im ersten Falle zeigte es sich, dass vor Allem die obere
Portion der Scapula genäht werden muss, indem das durch
die erste Operation erzielte Resultat für die Patienten be-
lästigender war, als der ursprüngliche Zustand. Erst als eine
exacte knöcherne Verwachsung zwischen den oberen Hälften zu
Stande gekommen war, wurde ein Erfolg erzielt. Derselbe
wurde durch den Druck der in Folge der Fixation ganz sagittal
gestellten Clavicula fast aufgehoben, ja die Drucksymptome von
Seiten dieses Knochens auf die Gefässe erforderten eine neuer-
liche Operation. Sollte nun bei derselben nicht etwa durch
eine Lösung der Naht auf das bisher erzielte Resultat verzichtet
128 Dr. A. Freih. von Eiseisberg, Operative Versuche etc.
werden — so blieb nur die Verlängerung der Olavicula übrig.
Der Bajonettschnitt in die Clavicula gelang überraschend gut und
leicht, und der Erfolg war ein durchaus befriedigender^).
Das Befinden der Patientin kann durch die Operation als
wesentlich gebessert bezeichnet werden. Da es sich hier um
einen Fall von bloss sehr langsamer, wenn überhaupt merkbarer
Progression des Leidens handelt, ist zu hoffen, dass diese Besserung
durch längere Zeit anhält.
Im zweiten Fall war zuerst der Versuch gemacht worden, die
Scapula in einer für die Function günstigen Stellung an die Rippe
zu fixiren. Der Versuch schlug insofern fehl, als wegen Schmerzen
diese Fixation wieder gelöst werden musste, wobei sich ohnedies
schon (wahrscheinlich in Folge des permanenten Zuges) die Drähte
gelockert erwiesen. Trotzdem war eine ziemlich gute Fixation
durch Narbengewebe erzielt. Diese Fixation bewirkte es oflFenbar,
dass der folgende Versuch, die medialen Ränder zu nähen, wegen
Unmöglichkeit einer exacten Adaptirung fehl schlug und die an-
gefrischten Ränder klaffend blieben. Immerhin erscheint mir diese
Art von Fixation jeder Scapula für sich an eine resp. mehrere
Rippen gegenüber der im Fall I befolgten Methode die physiolo-
gisch richtigere.
Da gerade bei der progressiven Muskelatrophie ein so lang-
sames Fortschreiten, wie es im Fall I beobachtet wurde, nicht
häufig vorkommt, werden diese Operationen nur selten zur Aus-
führung gelangen und ausschliesslich zur Bekämpfung des Mouve-
ment du bascule dienen.
Dass in einem progredienten Falle jede ähnliche
Operation zwecklos wäre, braucht nicht hervorgehoben
zu werden.
0 Ich bemerke hierzu, dass ein ähnlicher Schnitt für die Durchtrennung
der Achillessebne, analog der künstlichen Verlängerung der Vorderarm -Sehnen
(Guldenarm) sich schon wiederholt bewährt hat und ich schon seit Jahren
fast jede Tenotomie der Achillessehne in dieser Weise ausführe, wie dies auch
Bayer kürzlich empfohlen hat.
VI.
lieber die Dermoide des Becken-
bindegewebes.
Von
Dr» V. de Querraln,
Ghanx-de-Fonds.
Die tagliche Erfahrung bringt es mit sich, dass man bei einem
nach Jahre langen Hambeschwerden von völliger Harnverhaltung
befallenen Patienten in erster Linie und fast ausschliesslich an
Strictur und Prostatahypertrophie denkt und alle übrigen noch
möglichen Vorkommnisse bei der Beurtheilung des Falles in den
Hintergrund treten lässt. Blasen- und Prostatatuberculose veran-
lassen nicht häufig völlige Harnverhaltung und bieten in Anamnese
und Aussehen des Patienten meist genügend charakteristische Merk-
male. Blasensteine sind vielerorts, so bei uns, überhaupt schon
recht selten und verrathen, auch wenn sie einmal ausnahmsweise
die Harnentleerung völlig verhindern, ihre Gegenwart meist durch
eine nicht zu missdeutende Vorgeschichte. Bei bösartigen Ge-
schwülsten der Blase und ihrer Umgebung berichten die Patienten
nicht von jahrelanger Dauer des üebels, und gutartige Neubildungen
der Blase und Harnröhre veranlassen nicht häufig Harnverhaltung.
Bleiben noch gutartige Geschwülste des kleinen Beckens. Dieselben
sind besonders beim männlichen Geschlecht nicht häufig und dies
ist auch der Grund, warum man nicht leicht an sie denkt. Unter
den am häufigsten erwähnten dürften, ausser den vom Becken-
skelett ausgehenden Neubildungen, wie Osteomen und Chondromen,
die Echinokokken zu erwähnen sein. Freilich liegt die Annahme
einer solchen nicht besonders nahe in Gegenden, wie die unserige, wo
ArekiT Ar klin. Chinirgie. 57. Bd. Heft 1. 9
130 Dr. F. de Quervain,
der uniloculäre Echinococcus sozusagen nicht vorkoramt, er sei denn
von Aussen hereingebracht. Seröse Retroperitonealcysten könnten
beina Manne auch gelegentlich Harnbeschwerden und schliesslich
Harnverhaltung verursachen, doch ist uns kein derartiger Fall be-
kannt. Schliesslich spricht König (1) von Dermoidcysten, welche
man in sehr seltenen Fällen in dem Bindegewebe zwischen Blase
und Mastdarm beobachtet habe.
Dieses letztere Vorkommniss, die Dermoidcysten des
kleinen Beckens beim männlichen Geschlecht, auf Grund
der bisherigen Beobachtungen und des unten mitzutheilenden Falles,
eingehender zu bearbeiten, war die Aufgabe, die ich mir zuvörderst
stellte. Bei näherem Umsehen in der Literatur gelang es mir
jedoch zu meinem Erstaunen nicht, einen einzigen derartigen Fall
aufzufinden. Alle bisher mitgetheilten Beobachtungen von Dermoid-
cysten des kleinen Beckens betrafen das weibliche Geschlecht. Ich
entschloss mich daher, meine Arbeit auch auf die Beckendermoide
des weiblichen Geschlechtes auszudehnen und so die von Sänger (2)
angefangene Sammlung dieser Fälle bis auf das Jahr 1897 fort-
zusetzen.
Bevor ich jedoch auf meine eigene Beobachtung und auf die
in der Literatur mitgetheilten Fälle näher eingehe, möchte ich
kurz die Grenzen besprechen, welche ich der Arbeit gesteckt
habe, um nicht klinisch zu verschiedenartige Fälle unter einander
zu werfen.
Dermoidcysten kommen bekanntlich im Gebiet des ganzen
Rumpfes vor, vom Kopf bis zu der Dammgegend, wenn sie
schon gewisse Lieblingsstellen zeigen, typische Fundorte, wie
die verschiedenen OefTnungen des Gesichts, die tiefen Halsorgane,
die Ovarien, die Analgegend. Die Gruppe, mit der wir uns in
dieser Arbeit beschäftigen werden und der wir mit Sänger eben-
falls den Rang einer selbstständigen Gruppe zuerkennen möchten,
betrifft die im Bindegewebe des kleinen Beckens entstandenen
Dermoide, soweit sie weder von den Genitalorganen, noch von der
Blase ausgehen. Ausgeschlossen sind also erstlich alle Dermoid-
geschwülste, welche erst secundär in das kleine Becken gelangen,
zum Beispiel von der Bauchhöhle her, wie in dem Falle von
Zweifel (3), oder von aussen her, wie in dem Falle von Bryk (4)
(über den man immerhin verschiedener Meinung sein kann, wie wir
Ueber die Dennoide des Beckenbindegewebes. 131
spater ausführen werden). Ausgeschlossen sind ferner alle Der-
moidgeschwülste des weiblichen Geschlechts, bei denen der extra-
peritoneale und von den Genitalien unabhängige Sitz nicht durch
die Operation oder die Autopsie nachgewiesen ist. Nicht berück-
sichtigt werden ferner die zahlreicheren Dermoidgeschwülste, welche
oberflächlich in der Steissgegend, meist zwischen Steissbein und
After gefunden werden. Diese Fälle sind, um nur einige Autoren
zu nennen, von Wölfler (5), v. Bergmann (6), Gussenbauer (7),
Nicaise (8), Hansen (9) und A. so eingehend besprochen worden,
dass ihr Vorkommen wohl allgemein bekannt sein dürfte. Wenn
sie schon genetisch einen gewissen Zusammenhang mit den Der-
moiden des Beckeninnem zeigen können, so sind sie doch klinisch
völlig von denselben zu trennen, da sie meist Dank ihrer Ent-
wickelimg nach aussen nur ein unbequemes Anhängsel, nicht aber
ein für die Function der Beckenorgane hinderlich werdendes Ge-
bilde darstellen.
Wir kommen nun zur Mittheilung unserer eigenen Beobachtung.
Am 13. December 1897 wurde mir Abends in das Spital in Ghauz-de«
Fonds der 58jährige Tagelöhner G. Th. zugeführt, zu dem ich zwei Tage vor-
her von einem Gollegen in ein mehrere Stunden von hier entferntes Dorf ge-
rufen worden war. Patient hatte sich in der Naoht vom 10. auf den 11. Dec.
mit einem zerbrochenen englischen Katheter einen falschen Weg gebohrt und
darauf hin nach seiner Angabe ein halbes Nachtgeschirr voll Blut verloren.
Da mir der Katbeterismus mit keinem der mir zu Gebote stehenden Katheter
gelungen war, so hatte ich damals die in Nabelhöhe stehende Blase punctirt
and dabei einen Liter klaren Urins entleert. Es wurde darauf unverzüglicher
Transport des Kranken in das Spital verordnet.
Die am 13. Dec.^), Abends spät noch vorgenommene Untersuchung des
Patienten ergab folgenden Status:
Patient sieht anämisch und überhaupt eher schwächlich aus. Puls regel-
mässig, 92 in der Minute. Radialis arteriosklerotisch. Temperatur 36,3 o. Das
Abdomen ist, besonders in seiner unteren Hälfte, und zwar am stärksten nach
rechts hin, abnorm ausgedehnt. Die Palpation ergiebt das Vorhandensein von
zwei prall elastischen, undeutlich getrennten Resistenzen, von denen die
grössere besonders die rechte Seite der Unterbauchgegend einnimmt und etwa
einen Querfinger breit die Nabelhöhe überragt. Die kleinere Resistenz liegt
etwas mehr in der Tiefe und nach links und reicht bis etwa einen Querfinger
unter den Nabel. Patient leidet unter beständigem, anfallweise verstärktem
Harndrang, kann aber nicht uriniren. Bei der Rectaluntersuchung fühlt man,
^) Der Patient, durch die Blasenpunction am Abend des 11. Dec. er-
leichtert, konnte sich erst am 13. Dec, entschliesseu, da^ Spital aufzusuchen«
132 Dr. F. de Quervain,
wie schon vor zwei Tagen, eine das kleine Becken einnefamende, diffuse Re-
sistenz, welche für die prall gespannte Blase gehalten wird. Die Prostata,
deren untere Begrenzung im Gegensatz zur oberen deutlich gefühlt werden
kann, scheint etwas breit, aber nicht abnorm vorragend. Es wird nun ver-
sucht, die Blase mit dem Katheter zu entleeren, was aber trotz aller Bemü-
hungen nicht gelingt; die Katheter verirren sich sämmtlich, wie die gleich-
zeitige Rectaluntersuchung ergiebt, in einen falschen Weg, der einige Centi-
meter hoch, unmittelbar an der Mastdarmwand, hinter der Prostata in die
Höhe geht.
Es wird unter diesen Umständen wieder die Blasenpunction ausgeführt,
und zwar erweist sich, wie erwartet, der mehr nach rechts hin entwickelte
Tumor als Blase. Die Harnmenge beträgt wieder circa einen Liter. Durch
diese Punction wird die pralle Spannung des mehr nach links gefühlten Tumors
nicht vermindert; es handelt sich also um gesonderte Gebilde. Die Probe-
punction ergiebt denn auch im linksseitigen Tumor eine geruchlose, hell grau-
braune, eiterähnliche Flüssigkeit (deren sofortige mikroskopische Untersuchung
aus äusseren Gründen nicht stattfinden konnte).
Bezüglich der Anamnese liess sich, wie auch schon vor zwei Tagen, aus
dem beständig stöhnenden Patienten nur so viel herausbringen , dass er seit
19 Jahren sich ab und zu katheterisiren müsse und dazu stets einen ziemlich
grossen, weichen Katheter benutzt habe. Als dieser in der Nacht vom
lO./U. Dec. nicht zum Ziele führen wollte, habe er versucht, einen festeren
(englischen) Katheter einzuführen, worauf Blut gekommen sei. Gonorrhoe
wurde in Abrede gestellt; auch war eine Strictur unter genannten Umständen
von vorn herein nicht anzunehmen. Für eine Prostatahypertrophie war der
frühe Beginn der Harnbeschwerden auffallend, obschon im Uebrigen die sub-
jectiven Symptome völlig mit dieser Annahme übereingestimmt hätten. Was
die Resistenz in der linken Unterbauchgegend betrifft, so hätte man an eine
in Folge des falschen Weges eingetretene Harninfiltration mit beginnender Ver-
eiterung denken können. Doch stimmte damit weder die Fieberlosigkeit des
Patienten, noch die Geruchlosigkeit der trüben Flüssigkeit, noch die scharfe
Begrenzung und die Ausdehnung der Geschwulst — , abgesehen von anderen
Gegengründen. Auch an das Vorhandensein eines grossen, nach oben abge-
kapselten Beckenabscesses konnte gedacht werden, doch stimmte die lange
Dauer des Leidens damit nicht überein und für einen primären tuberculösen
Knochenherd lagen keine Anzeichen vor. Die Annahme einer vereiterten
Echinokokkencyste lag deshalb nicht nahe, weil in der Schweiz der uniloculare
Echinokokkus ausserordentlich selten ist. Auch die Möglichkeit eines ver-
eiterten soliden Tumors hätte in Erwägung gezogen werden können, sowie
schliesslich das Vorhandensein eines Beckendermoids. Dass sich uns die letz-
tere Eventualität, welche die Symptome am ehesten erklärte, ohne die mikro-
skopische Untersuchung nicht von vorn herein aufdrängte, liegt in ihrer
grossen Seltenheit beim männlichen Geschlecht.
Am 14. Dec. musste, da sich die Blase wieder gefüllt hatte und Patient
keinen Tropfen spontan uriniren konnte, zur Beseitigung des Hindernisses ge-
schritten werden. Nachdem die Blase wieder punctirt worden wai;, wurde in
Ueber die Dermoide des Öeckenbindegewefees. 133
Aethernarkose von einem drei Querling^er breit über dem linken Poupart-
schen Bande gelegenen queren Haatschnitte aus auf den Tumor eingegangen.
Nach links hin wurde das Bauchfell auf einen Centimeter geöffnet, aber gleich
durch eine Naht wieder geschlossen. Dann wurde der Tumor ertraperitoneal
freigelegt und nach rechts die mit ihm verwachsene Blase stumpf abgelöst.
Eine neue, von der Wunde her ausgeführte Function zeigte eine Flüssigkeit, die
uns nun mit Bestimmtheit die Diagnose auf ein Dermoid stellen liess. Die
Cyste wurde so weit eröffnet, dass sie mit dem Finger ausgetastet werden
konnte. Dabei ergab sich, dass dieselbe das ganze kleine Becken auskleidete.
Nach hinten reichte sie ziemlich tief in die Kreuzbein schaufei, nach den Seiten
Hessen sich die Foramina ischiadica abtasten und vorn fühlte man unter der
Gystenwand die Samenblasen und den oberen Theil der Prostata. Ueber den
Verlauf des Rectums ergab die Palpation keine Sicherheit. Der Grund der
Cyste lag zu tief, als dass er von oben mit dem Finger hätte erreicht werden
können. Unter diesen Umständen erschien die Ausschälung des Balges als
eine eingreifende Operation. Was uns aber von vorn herein veranlasste, auf
eine primäre Exstirpation des Dermoids zu verzichten, das war das Vorhanden-
sein eines aller Wahrscheinlichkeit nach bis auf die Cyste gehenden falschen
Weges. Wir liefen Gefahr, die Wundverhältnisse durch Infiltration von Harn
complicirt zu sehen, was um so mehr zu vermeiden war, als wir nicht sicher
waren, die Cyste ohne Eröffnung der Peritoneums entfernen zu können und
wir andererseits nicht wussten, ob die Gegend des Blasengrundes nicht schon
durch den unreinen Katheterismus des Patienten inficirt war. Uoberdies war
Patient durch den erlittenen Blutverlust und die Harnverhaltung der letzten
drei Tage so heruntergekommen, dass wir ihm einen so grossen Eingriff nicht
glaubten zumuthen zu dürfen. Wir beschränkten uns deshalb auf das An-
nähen der Cystenwand an die Haut, auf Entleerung des Dermoids und aus-
giebige Drainage desselben.
Vom Moment der Operation weg urinirte Patient wieder spontan , ohne
jegliche Schwierigkeit. Es wurde uns nun auch möglich, eine genaue Ana-
mnese aufzunehmen, die Folgendes ergab:
Im Alter von 39 Jahren begann Patient Schwierigkeiten bei der Harn-
entleerung zu verspüren, ohne dass irgend welche Erkrankung vorhergegangen
wären. Die Beschwerden steigerten sich schon im ersten Jahre einmal zu
völliger Harnverhaltung. Der damals berathene Arzt katheterisirte den Pa-
tienten und leitete ihn an, das in Zukunft selbst zu thun. Während zwei
Jahren machte derselbe von seinem Katheter nie Gebrauch. Von da an aber
musste er in der Regel zwei- bis dreimal wöchentlich zu demselben greifen.
Es bestand fast anhaltender Harndrang mit jeweilen nur geringen Entlee-
rungen : der Harn war dabei stets klar. Zu diesen Harn besch werden trat in
den letzten fünf bis sechs Jahren eine hartnäckige Verstopfung. Die Stühle
waren dabei, wie Patient sich ausdrückt: „plattgedrückt und dünn wie Carton."
Dabei bestanden häufig Kolikschmerzen. Der Appetit war massig. In der
letzten Zeit wurde es femer dem Patienten immer schwerer, sich zu bücken
und er konnte nur noch mit Mühe seine Tagelöhnerarbeit besorgen. Im Bett
fiel ihm auf, dass er nicht mehr auf der linken Seite liegen konnte.
134 Dr. F. de Quervain,
Es stellten sich im weiteren Verlauf keine Folgeerscheinungen von der
Harnröhrenperforation ein; der Harn blieb im Gegentheil klar und wurde mit
Leichtigkeit entleert.
Am 8. 1. 98 wurde nun zur Ausschälung der bisher durch Salicyl-
spülungen reingehaltenen Cyste geschritten. In Aethernarkose wurde der Haut-
schnitt erweitert, der mit der Haut verwachsene Balg ringsum abgetrennt und
erst schneidend, dann stumpf von seinen Verbindungen abgelöst. Besondere
Vorsicht war links nöthig, wo die Vasa iliaca dicht unter der die Cyste um-
hüllenden Bindegewebsschicht lagen, sowie vorn, wo der Balg an Blase und
Samenblasen grenzte. Die Ablösung gelang ohne wesentliche Schwierigkeiten
bis in eine Tiefe von ca. 15 cm, also etwa bis in der Mitte der Kreuzbein-
schaufel. Weiter reichte der Finger nicht, wenn man nicht die Abdominal-
öffnung so weit anlegen wollte, dass die ganze Hand eingeführt werden konnte.
Ein derartiger Versuch zeigte, dass dabei die Peritonealhöhle eröffnet werden
musste — und das war, wenn irgend möglich, zu vermeiden, da das Operations-
gebiet in Folge der Drainage der Cyste trotz bisher reizlosen Verlaufs eben doch
nicht mehr aseptisch war. Es blieb also nur noch die Auslösung der unteren
Hälfte des Balges von der Dammgegend her. So rationell es gewesen wäre,
die Operation gleich von unten her zu Ende zu fähren, so hielten wir es doch
für vorsichtiger, in Anbetracht des Alters und des Allgemeinzustandes des
Fat., diesen letzten Act etwas später auszuführen, um die Operation nicht zu
sehr zu verlängern. Die Wunde wurde tamponnirt und drainirt. Der weitere
Verlauf bot nichts Besonderes. Der Balg stiess sich, soweit er abgelöst war,
nach einigen Tagen ab. Die Wundhöhle wurde in den ersten Tagen mit Jodo-
formgazetampons und dann mit Salicylspülungen behandelt. Am 31. 1. wurde
zur Auslösung des Dermoids von unten her geschritten, nach Ausstopfung des
Oystengrundes mit steriler Gaze. Aethernarkose. Seitenlagerung des Pst.
Parasacraler Schnitt, 1 cm hinter dem After beginnend und bis an das untere
Ende der linken Articulatio sacro-iliaca hinaufreichend. Es zeigte sich beim
Eindringen in die Tiefe gleich, dass das untere Ende des Schnittes, vom
After bis zum unteren Sacralende für die Auslösung der Cyste nicht ge-
nügte. Es wurde desshalb das Lig. sacrotuberosum und saorospinosum durch-
trennt und von da in die Kreuzbeinschaufel eingedrungen. Die mit Gaze ge-
füllte Cyste liess sich nach Durchtrennnng einer fibrösen Bindegewebskapsel
ohne Scliwierigkeit erreichen und in ihrem unteren Umfang stumpf auslösen.
Weiter hinauf war die Ablösung weniger leicht, da der Balg sich bis zur
rechten Incisura iscbiadica major ausdehnte und also in diesem Theil von links
her nur mit Mühe zu erreichen war, trotz des ausgedehnten Hautschnittes.
Der oberste noch bestehende Theil der Cyste wurde so ausgelöst, dass eine
Hand von der Abdominal-, die andere von der Parasacralöffnung her arbeitete.
Eine Verletzung des dem Balg nach rechts und vorn anliegenden Rectum
wurde dadurch zu vermeiden gesucht, dass ein Assistent den Finger so hoch
wie möglich in dasselbe einführte. Auf diese Weise gelang es, die den ganzen
Umfang des kleinen Beckens bis in die Höhe des vorletzten Sacralloches ein-
nehmende Cyste ohne Nebenverletzung und ohne irgend -erhebliche Blutung
auszuschälen. Es ergiebt sich aus dem Gesagten, dass man am Ende der
üeber die Dermoide des Beckenbindegewebes. 135
Operation von der Sacralwunde nach der Abdomin alöffnang und umgekehrt
durch den Fat. direct durchsehen und sich von der totalen Entfernung des
Balges de yisu überzeugen konnte. Es wurden schliesslich von oben und von
unten je ein Jodoformgazestreifen und zwei Drainrohre eingeführt und dann
die parasaorale Wunde bis auf die Durchtrittstelle von Drain und Gaze durch
Naht geschlossen.
Der weitere Verlauf bot nichts Bemerkenswerthes und war, abgesehen von
einer vorübergehenden Temperaturerhöhung auf 39,0, am Tage nach der
Operation, völlig normal. Die Naht der parasacralen Wunde vereinigte sich
bis aaf die Drainstelle per primam intentionem, so dass Fat. am 7. Tag nach
der Operation das Bett verlassen konnte. Von obenher wurde täglich mit steriler
Gaze tamponnirt und überdies die Wunde mit Salicyllösung ausgespült. Im
Verlauf der 4. Woche wurden sammtliche Drains entfernt, da die beiden Wunden
bis auf zwei kleine oberflächliche grannlirende Stellen völlig vernarbt waren.
Am 5. 3. wurde Fat. entlassen und bot folgenden Status : Allgemein-
befinden vorzüglich. Stuhl regelmässig, gut geformt. Harn klar. Hamen t-
leerang normal, Strahl kräftig. In der Kreuzbeingegend eine lineare Narbe,
nur in der Mitte, wo die Drains gelegen, etwas breiter. Am Abdomen eine
rechts lineare, links etwas breitere, eingezogene Narbe. Die Rectaluntersuchung
ergiebt völlig normale Verhältnisse.
Mikroskopische Untersuchung des Cysteninhalts: Die eiter-
ähnliche, bei der Entleerung der Cyste gewonnene Flüssigkeit zeigt schon
makroskopisch die für das Vorhandensein von Gholestearincristallen characte-
ristischen glänzenden Punkte. Unter dem Mikroskop findet man in derselben
zahlreiche Cholestearincristalle, femer Detritus und Körnchenkugeln. Die
Flüssigkeit enthält femer weissliche Flocken von ca. Y2 ^™' Ausdehnung, die
sich bei der mikroskopischen Untersuchung als aus Flattenepithelien bestehend
darstellen, deren Kern nicht mehr färbbar ist.
Untersuchung des Balges: Die Cysten wand zeigt makroskopisch
eine glatte, weissliche Innenfläche, auf der weder Haare, noch sonstige, in
Dermoiden gelegentlich beobachtete Gebilde zu sehen sind.
Die Untersuchung der in Alcohol gehärteten und in Celloidin geschnittenen
Stücke^ die verschiedenen Theilen des Balges entnommen sind, ergiebt bei
Haematoxylin-Eosinfärbung folgendes Resultat:
Die Innenfläche des Balges ist von einer 70—300 (i dicken Epithelschicht
ausgekleidet, deren Aussehen ziemlich genau demjenigen der Epidermis ent-
spricht. Die dem Hohlraum zunächst liegenden Zellen sind abgeplattet, aber
noch mit färbbarem Kern versehen. Die Schicht der abgeplatteten Zellen nimmt
die Eosinfärbung sehr stark an. Die nächstliegenden Zellen zeigen eine mehr
rundliche Form, um schliesslich völlig den Character der Zellen des Rete Mal-
pighi anzunehmen. Was die Papillen betrifll, so fehlt stellenweise jede An-
deutung von solchen, während an anderen Stellen deutliche, regelmässig an-
geordnete Erhebungen des Bindegewebes in die Epithelschicht vorhanden sind.
Die Höhe derselben beträgt bis zu 150 ju. Sie sind an vielen Stellen mit einer
deutlichen Capillaf schlinge versehen. Der Epidermiesschicht anliegend findet
sich eine 450—1000 fi dicke Schicht ziemlich zell- und blutgefassreichen
136 Dr. F. de Quer?ain,
Bindegewebes, gegen die Epithelschicht hin mit einer Zone stark entwickelter
elastischer Fasern versehen (Färbnng nach Tänzer).
An diese Bindegewebsschicht schliesst sich eine 1 — 5 mm dicke Schicht
lockeren Bindegewebes mit Einlagerung von etwas Fettgewebe und haupt-
sächlich von Zügen von glatten Muskelfasern an. Dieselben, sich in ver-
schiedenen Richtungen durchkreuzend, sind zu scharf abgegrenzten Bündeln
geordnet, deren kleinste aus einigen wenigen Muskelfasern bestehen, während
die grösseren, mehr in der Tiefe liegenden bis 1 mm dick sind.
An verschiedenen Stellen, ausnahmsweise in oder an der Epithelschicht,
bisweilen in der darauffolgenden Bindegewebsschicht, am häufigsten aber in
der die glatten Muskelfasern enthaltenden Schiebt, mehrfach in der Umgebung
von Blutgefässen, finden sich Herde von Rundzellinfiltration, die, besonders in
der tiefsten Schicht, stellenweise so ausgesprochen sind, dass man an lymph-
adenoides Gewebe denken könnte, wie solches in der Wand eines Halsdermoides
gefunden worden ist (Dehler) i). Immerhin fehlt die Anordnung des 'Gewebes
in LymphfoUikel, und von Keimcentra ist nichts zu sehen. Es handelt sich
deshalb wohl eher um die Folgen der zwischen der Eröffnung der Cyste und der
völligen Exstirpation des Balges in letzterem aufgetretenen Entzündungsvor-
gänge. Diese letztere Ansicht wird auch dadurch gestützt, dass in dem schon
bei der Eröffnung der Cyste herausgeschnittenen Probestückchen die be-
sprochenen Infiltrationsherde fehlen.
In keinem der Schnitte konnte eine Andeutung von Schweiss- oder Talg-
drüsen, von Haarbälgen oder von irgend welchen Nervenendapparaten gefunden
worden. Ebensowenig waren Knochengewebe, Knorpel, quergestreifte Muskel-
fasern vorhanden.
Epikrise: Es handelt sich in dem vorliegendem Fall um ein
retrorectales Dermoid, dessen Vorhandensein die klinischen
Symptome so einfach erklärt, dass es unnöthig ist, auf Einzelheiten
einzugehen. Was den genauen anatomischen Sitz betrifft, so lag
die Cyste, wie hauptsächlich die letzte Operation ergab, ursprüng-
lich in dem retrorectalen Bindegewebe, also in der Kreuzbein-
schaufel. Die festesten Ver\vachsungen bestanden denn auch, wie
schon die Palpation bei der ersten Operation gezeigt hatte, am hinteren
Umfang der Cyste, gegen die Innenfläche des Sacrum hin, und der
Balg zog sich nach der mehrwöchigen Entleerung von dem vorderen
Umfang des kleinen Beckens weg etwas nach hinten zurück,
freilich immer noch zu beiden Seiten im Gebiet der Incisura
ischiadica major adhaerent. Das Rectum war nach rechts vorne
verlagert, aber erst von dem oberhalb der Ampulle liegenden Theil
weg, so dass die Rectaluntersuchung über diesen Punkt keine Aus-
1) Dehler, Beitrag zur Kenntuiss der sog. tiefen Atheromcysteo am
Halse. Beitr. zur klin. Chirurgie. XX. 2. S. 547. 1898.
lieber die Dennoide des Beckenbindegewebes. 137
kunft geben konnte. Nach vorn nahm die Cyste vor der
Entleerung den ganzen Umfang des kleinen Beckens ein und
drängte den Blasengrund so sehr an die Symphyse, dass die
spontane Hanientleerung unmöglich wurde und dass sich die ge-
fällte Blase stark nach oben und rechts vorschieben musste. Es
erklärt dieses Emporgehobensein der Blase den Umstand, daSs man
den Blasenscheitel am Nabel fühlte und doch nicht mehr als einen
Liter Urin entleeren konnte.
Was die Behandlung betrifft, so könnte unser Vorgehen —
Operation in 3 Zeiten — zu zögernd erscheinen, gegenüber einer
Entfernung der Cyste in einer einzigen Sitzung, mit primärem
Schluss der Wunde auf der ganzen Linie. Wir hätten zweifellos
den letzteren Weg gewählt, wenn uns nicht das Bestehen eines
frischen falschen Weges mit völliger Unmöglichkeit des Katheteris-
mus gezwungen hätte, die Cyste zu entleeren in einem Moment,
wo die Exstirpation wegen des bestehenden falschen Weges und
des Allgemeinbefindens des Pat. durchaus unangebracht war.
Was schliesslich die Exstirpation von oben und von unten in
zwei Zeiten betrifft, so war unser durch den Kräftezustand des
■
Pat. bedingtes Zögern vielleicht nicht genügend gerechtfertigt, und
es wäre zweckmässiger gewesen, die völlige Ausschälung durch den
parasacralen Schnitt gleich der Exstirpation der oberen Hälfte vom
Abdomen her anzuschliessen.
Wir geben nun im Folgenden eine Uebersicht über die bisher
veröffentlichten Fälle von Dermoidcysten des Beckenbindegewebes.
Derselben sei die Bemerkung vorausgeschickt, dass die Arbeit von
Sänger (2), der wir einige Beobachtungen entlehnen, bisher die
einzige eingehende Behandlung des in Frage stehenden Gegen-
standes enthält, auf welche die späteren Mittheilungen von
Schulze (10), Hoefer(ll) und Colonna(12) sämmtiich zurück-
greifen, Hoefer erwähnt die nach Sänger veröffentlichten Fälle
von Page (13) und Schulze nicht, und ersterer Fall ist auch
Schulze und Colonna entgangen.
Den von Sänger unter No. 7 angeführten Fall Küster's (29),
den nach ihm auch Schulze und Hoefer citiren, haben wir weg-
gelassen, weil er entschieden mehr zu den oberflächlichen, ano-
coccygealen Dermoiden gehört, als zu den Beckendermoiden. Da-
gegen geben wir als Anhang eine Uebersicht über einige schon
138 Dr. F. de Quervain,
von Sänger angeführte sogenannte Mastdarmdermoide, da wir die-
selben mit Sänger zum Theil wenigstens für ursprüngliche Der-
moide des Beckenbindegewebes halten.
1. Birkett (14), cit. nach Deahna, 1859. — 25jähr. W. — Geschwulst
seit 2 Jahren bemerkt. — Symptome: Schmerzen in der Geschwulst. —
Wallnassgrosse, fibröse Cyste, nach rechts in der Afterkerbe vorragend, der
Hauptsache nach zwischen Rectum und Steissbein sitzend. Inhalt: athero-
matöser Brei. — Exstirpation. — • Heilung.
2. Manuel (15), cit. nach Sänger, 1864. — Weiblich. — Taubeneigrosse
Balggeschwulst mit atheromatösem Inhalt, links von der Medianlinie in lockerem
Zellgewebe zwischen Bauchfell und Musculus levator ani gelegen (Sections-
befund).
3. Derselbe. — Weiblich. — Reichlich hühnereigrosse Balggeschwulst
mit derraoidähnlichem Inhalt. Sitz am gleichen Orte wie im vorigen Falle
(Sectionsbefund).
4. Deahna (aus Czerny's Klinik), 1875. — ISjähr. W. — Plötzlicher Be-
ginn der Beschwerden. — Symptome: Heftige Leibschmerzen, Erbrechen. Stuhl
und Harnverhaltung. Meteorismus. — Retrorectale Geschwulst, nach unten bis
nahe zum After, nach oben bis in die Mitte zwischen Nabel und Symphyse
^reichend, mehr links gelegen. Rectum und Vagina stark comprimirt. Inhalt:
gelbliche Flüssigkeit, Epidermiszellen enthaltend. — Function vom Rectum
aus. Verjauchung und in. Folge davon rasche Ausdehnung der Geschwulst.
Gangränöser Decubitus der Scheiden- und Hamröhrenwand mit späterer
Gysten-Scheiden- und Scheiden-Hamröhrenfistel. Eröffnung der Cyste durch
einen 4 cm langen Schnitt zwischen Sacrum und Anus. — Eiterung der ver-
jauchten Cyste nach Mastdarm und Scheide hin, nach 10 Monaten noch fort*-
dauernd. Plastischer Schluss der Harnröhren-Scheidenfistel.
5. Walzberg (17) (Klinik von König), 1875, cit. nach Trzebicky. —
26 jähr. W. — Angeborene Geschwulst. — Drei pflaumen- bis zweifaustgrosse
Tumoren zwischen Steissbein und After, mehr nach links gelagert. Tief in das
Becken reichender Fortsatz. Inhalt: dicke, erbsensuppenartige Flüssigkeit
mit Fetttropfen und degenerirten Epithelzellen und ein Knochenstückchen.
Wand mit einschichtigem Platten- und Cylind erepithel bedeckt. — Exstirpation
mit Zurücklassung des in das Becken reichenden Fortsatzes. — Eiterung,
Patientin mit Fistel entlassen.
4. Weinlechner (18), 1877 (war nicht im Original zugänglich). —
Zwei Dermoidcysten, von der vorderen Fläche des Steissbeins ausgegangen. —
Theils Exstirpation, theils Zerstörung mit rauchender Salpetersäure.
7. Solowjew (19), 1883. — 29jähr. W. — Abortus. Symptome: Un-
regelmässigkeit in der Menstruation, Appetitlosigkeit. Schmerzen in den Beinen,
^Nervosität. — Tumor hinter dem Rectum, nach links das kleine Becken ausfül-
lend. Inhalt: Graugelbe Flüssigkeit, mit Cholestearinkry stallen und Feti-
tropfen. — Function von der Vagina aus. Nach 3 Tagen bogenförmiger
Schnitt IV2 c™ ii^h links von der Analöffnung. Abpräparirung der Cyste.
Ueber die Dermoide des Beckenbindegewebes. 139
Ans Furcht vor Verletzung des Peritoneums nur theilweise Entfernung des
Sackes. Drainage. — Scbluss der Höhle nach ca. 2 Monaten.
8. Emmet (20), cit. nach Sänger, 1884. — 22 jähr. W. — Wiederholte
Pel?iperitonitis. Dysmenorrhoe. — Sitz der Goschwulst: Unterhalb des
Bauchfells des Douglas'schen Raumes. Diagnose : Ovarialcyste. -< Laparotomie.
Es findet sich eine subperitoneal sitzende Dermoidcyste. Ausschälung. Linker
Eileiter mit entfernt. Eierstock wegen Verwachsungen nicht aufgefunden.
f. Trzebioky (21) (Klinik von Mioulicz), 1884. - 35jähr. W. — Ge-
schwulst seit ly« J^reii beobachtet. — Symptome: Hindert am Sitzep. Ver-
grösserong der Geschwulst beim Pressen (zum Stuhlgang). Stuhl und Harnent-
leerung normaL — Ueber kindskopfgrosse Geschwulst in der linken Gesässgegend,
durch eine seichte Querfurche in zwei Theile geschieden. Uterus nach rechts
verschoben. Per rectum fühlt man einen fast die ganze linke Hälfte des kleinen
Beckens ausfüllenden Fortsatz der Geschwulst. Diagnose: Senkungsabscess.
Inhalt: gelbliche, eiterähnliche Flüssigkeit, weisse Klümpchen, Haare, Chole-
stearinkrystalle , Epithelzellen. Wandbekleidung: geschichtetes Pflaster-
iind Plattenepithel. — Incision und Drainage. Nach 6 Wochen Ausschälung
des Balges, wobei es sich zeigt, dass es sich um zwei getrennte Cysten han-
delt, von denen die eine einen hoch ins Becken ragenden Abschnitt besass.
Entblössung des Reotums auf ^j^ seines Umfanges. Zwei-faustgrossd Wund-
höhle. Naht, Drainage. — Heilung unter Eiterung, etwa 2 Monate nach der
Exstirpation.
1». Biernacki (22) (Klinik von Gusserow), 1887. — 28jähr. W. —
Tumor erst bei der Entbindung bemerkt. — Die Geschwulst bildet ein Geburts-
hindern iss. Perforation. Kranioklasie. — Sitz der Geschwulst zwischen Kreuz-
bein und Rectum, nach unten bis 4 cm oberhalb der Analöffnung herabrei-
chend. Obere Grenze per rectum nicht palpabel. Hintere Scheidewand vor-
gewölbt. Inhalt: Eiterähnliche Flüssigkeit und Haare. — Function per
rectum während der Geburt. Vereiterung. Fistelbildung nach dem Scheiden-
eingang hin. Mehrfache Incisionen. Eindringen auf den Eiterherd durch Ab-
lösen der Scheide vom Mastdarm, ohne Erfolg. Schliesslich Incision des Der-
moids vom Rectum her. -^ Nach 59 Tagen anscheinend geheilt entlassen.
Nach 2 Monaten Schwellung der r. Nates. Incision. Kein Eiter. Fat. wieder
(wenigstens anscheinend) geheilt entlassen.
II. Sänger (2), 1890. — 42 jähr. W. - Die Geschwulst bei den 3
letzten von 9 Geburten als Geburtshinderniss constatirt. — Abgesehen von
dem Einfluss auf die Entbindung wurde Erschwerung des Stuhlganges und
Drnckgefuhl im Becken angegeben. — Kindskopfgrosse, prall elastische Ge-
schwulst, die sich ein wenig heben und senken lässt, sonst aber un verschieb-
lich ist. Vorwiegend in dekr rechten Beckenhälfte gelegen, das rechte Scheiden-
gewölbe nach unten vorbuchtend, den Uterus nach links vorn oben vordrän-
gend. Scheide und Mastdarm durch die Geschwulst nach links verdrängt und
platt gedrückt. Inhal't: Bräunliche Flüssigkeit mit Plattenepithelien, Fett-
detritus und Cholestearin. — Erst Function vom Rectum aus. 9 Monate
später völlige Ausschälung durch Perineotomie. Einzelne Fetzen der Cyste
140 Dr. F. de Quervain,
«
sitzen gelassen. Tamponnade. — Abstossung der Fetzen, Heilung in 3 Wochen,
bis auf eine granulirende Einziehung am Damm.
12. Page (13), 1891. — 47jähr. W. — 7 mühsame Geburten. Bei der
5. Geburt, vor 20 Jahren, wurde die Geschwulst zum erstenmal bemerkt; lang-
sames stetiges Wachsthum. 6. Geburt schwerer als die bisherigen, 7. Geburt
durch Kraniotomie beendigt. — In den letzten 4 Jahren Fluor albus und zu-
nehmende Harn- und Stuhlbeschwerden. — Nach unten vom Nabel eine Criket-
ballgrosse, seitlich bewegliche Geschwulst. Dahinter ein grösserer, nach oben
bis zum Nabel reichender, nach unten das Becken einnehmender Tumor. Bei
der Vaginaluntersuchung zeigt es sich, dass die kleine, kugelige Geschwulst
den nach vorn oben verdrängten Uterus darstellt. Vagina stark verlängert.
Bei der Rectaluntersuchung findet man eine das Rectum und die Vagina nach
voiTi vordrängende Geschwulst. Function vom Rectum aus ergab eine breiige
Masse und ein Haar, welches die Canüle verstopfte. — 2 Tage nach der Probe-
punction Fieber, dann Erbrechen und Auftreten einer Phlegmone am Damm.
Halbmondförmiger Querschnitt am Damm, mitten zwischen After und Steiss-
bein. Eröffnung der Cyste. Entleerung durch Druck von oben. Ausschälung
mit der Hand , unter geringer Blutung. Drainage. Naht. — Heilung in un-
gefähr 6 Wochen. Fieber bis Ende der 3. Woche.
13. Schulze (10), 1894. -- 33 jähr. W. — Die Geschwulst wurde zum
ersten Mal bei einer Entbindung von der Hebamme bemerkt. Subj. Symptome
traten erst mehrere Jahre später auf. — . Bei der letzten, vor 2 Jahren stattge-
fundenen Geburt bedingte die Geschwulst eine erhebliche Verzögerung der
Austreibung. Seit einigen Monaten Stuhlbeschwerden und Schwierigkeiten beim
Sitzen. — Vorbuchtung zwischen Steiss und After. Sitz der Geschwulst
zwischen Mastdarm und hinterer Beckenwand, von der Analgegend bis zur
linken Kreuzdarmbeinfuge reichend, vom Rectum schalenförmig umfasst
Ovarien normal, Uterus beweglich, retroflectirt. Inhalt: bräunliche, geruch-
lose Flüssigkeit. — Function von der Analgegend aus. Nach 2 Monaten Ex-
stirpation von einem vom Steissbein zum After reichenden Schnitt aus. Es
zeigt sich dabei, dass zwei getrennte Cysten vorhanden sind, die eine über die
andere unter dem M. levator ani sitzend. Naht, Drainage. — Reactionsloser
Verlauf. Heilnng.
14. Hoefer (11), 1896, (Klinik von Fehling). — 37jähr. W. — Erste
Beobachtung der Geschwulst vor 6 Jahren. — Stechende Schmerzen im Tumor
bei schwerer Arbeit. Defäcation und Miction normal. Geburten normal. —
Gut k in dskopf grosse Geschwulst in der linken Gesässgegend, in Knieellen-
bogenlage etwas zurückdrängbar. Rima ani und Schamspalte nach rechts ver-
schoben. Der Tumor reicht bis über den Beckeneingang. Beide Ovarien in
Narkose fühlbar. Rectum nach rechts verdrängt. Inhalt: gelbliche Flüssig-
keit mit Chölestearin, Plattenepithelien und Detritus. Auskleidung: ge-
schichtetes Plattenepithel. — Ausschälung der Cyste durch Perineotomie. Das
Dermoid ragt in die auseinandergefalteten Blätter des Lig. latum. Catgatnähte
in der Tiefe. Drainage. Hautnaht. 1 Monat später vordere und hintere Cd-
porhaphie. Eiterung. Vollständiger Schluss der Wunde 7 Wochen nach der
Operation.
üeber die Dermoide des Beckenbindegewebes. 141
IS. Colon na (12), 1896. — 28jähr. W. — Vor 6 Jahren normale Ge-
bort Seit 5 Monaten Stahlbeschwerden. — Drackgefahl in der Sacralgegend.
Blat im Stuhl. Seit 1 Monat Stahldrang und Schleimabgang aus dem Rectum.
Häofiger Harndrang bei normalem Urin. Abdom. in der Fossa iliaca sinistra
etwas empfindlich. — 4 cm über der Analöffnung findet sich ein kugelförmiger
Tumor, der das Rectum nach rechts vorne verdrängt. Dasselbe ist comprimirt.
Der obere Pol der Geschwulst ist mit dem Finger nicht erreichbar. Bei Rectal-
untersuchang hat man an der Hinterwand das Gefühl einer kleinen, ober-
flächlichen Ulceiation. Tumor weich, elastisch. Uterus nach rechts oben ver-
drängt. Diagnose: gutartige Geschwulst, wahrscheinlich Cyste. — Exstir-
pation von einem parasacralen Schnitt nach Zuckerkand 1 -Wölfler aus. Es
zeigt sich, dass es sich um ein Dermoid handelt. — Heilung nach 26 Tagen.
K. de Quervain, 1898. — 58jähr. M. — Seit 18—19 Jahren Harn-
beschwerden, die sich allmählich steigern. — Erst Harnbeschwerden, wie ein
Prostatiker. In den letzten Jahren auch Stuhlbeschwerden. Schliesslich völlige
Harnverhaltung. Falscher Weg. — Dermoidcyste, das ganze kleine Becken
nach unten bis in die Hohe des 3. Sacralwirbels ausfüllend, nach oben bis
ca. 1 Querflnger unter den Nabel deichend. Rectum nach rechts vom ver-
drängt. Inhalt: bräunliche, eiterähnliche Flüssigkeit mit Kömchen kugeln,
Detritus, Epithelzellen, Cholestearin. Wandauskleidung: Geschichtetes
Platten- und Pflasterepithel. Keine Haare. — Eröffnung und Drainage der
Cyste als Nothoperation. Nach 3 Wochen Exstirpation der oberen Hälfte vom
Abdomen her. Nach weiteren 3 Wochen Exstirpation der unteren Hälfte von
einem Parasacralschnitt aus. — Glatter Verlauf. Heilung 1 Monat nach der
totalen Exstirpation der Cyste.
Anhangsweise seien hier noch 4 Fälle von Dermoid des
Rectums zusammengestellt, über deren Beziehungen zum peri-
rectalen Bindegewebe wir uns noch im Einzelnen aussprechen
werden.
I. Snyers (23). — 35 jähr. W. — Drei mühsame Geburten. 5 Jahre
später wieder sehr mühsame Geburt. Beim Anlegen der Zange trat aus dem
Anus eine Gänseeigrosse, gestielte Geschwulst hervor. — Sitz der Geschwulst
an der hinteren Wand des Mastdarmes. Dieselbe bestand aus 2 Hohlräumen,
von denen der grössere seröse Flüssigkeit und schweinefettartige Substanz ent-
hielt, sowie ein Büschel Haare. Die kleinere Höhle enthielt 3 Zähne. Die
Wand enthielt ein einem halben Unterkiefer ähnliches Knochenstück. Bei der
Nachuntersuchung zeigte sich der Stielrest von einem sich allmählich ver-
kleinernden Wulst umgeben. — Abtragung der Geschwulst nach Unter-
bindung des Stiels. — Heilung nach anhaltender, starker Eiterung aus dem
Rectum.
t* Danzel (24). — 25jähr. W. — Vom 11. Jahre war Haarauswuchs
aus dem After bemerkt, als einziges Symptom ca. 2 72 ^^^^ hoch im Rectum
sitzt an dessen Vorderwand ein Kleinapfelgrosser Tumor, ziemlich beweglich.
Derselbe trägt an seiner, völlig der Cutis entsprechenden Bedeckung lange,
blonde Haare und einen Zahn. Im Innern des (soliden) Tumors: Binde-
142 Dr. F. de Quervain,
gewebe, Knochensabstanz, rudimentäre Gehirnanlage, Nerven, Fettgewebe.
— Entfernung mit der Polypenscfaeere vom Rectum aus. — Starb nach
3 Monaten an einer chronisch verlaufenden Beckenperitonitis.
3. Gel Strom (25). — 24 jähr. W. — Bei der 2. Geburt, vor 4 Jahren, Aus-
tritt einer kleinen Geschwulst vor den Genitalien. Dieselbe verschwand spontan
wieder. — Befund: Flaschenförmiger, an seinem unteren Ende gangränöser
Tumor, der nach einer Geburt aus der Schamspalte vortrat. Fehlen des
Dammes (früherer, durchgehender Dammriss). Die an der Vorderwand des
Rectum inserirende Geschwulst enthält Haare in einer fettartigen Schmiere,
sowie zwei Knochenstücke. — Abbinden des Stiels. Durchschneiden der
Ligatur. Frische Unterbindung. — Glatter Verlauf. Heilung.
4. Börninger, cit. von Sänger (2). — Abgang von eiterähnlichen
Massen und von Haaren aus dem Rectum. — Es liess sich die Einbruchstelle
an der hinteren Mastdarmwand deutlich fühlen.
Zu erwähnen wäre hier noch der Fall von Barker (26), ein
Mastdarradermoid betreffend. Derselbe war mir aber im Originale
nicht zugänglich.
Der pathologisch -anatomischen und klinischen Besprechung
der DeiTOOide des Beckenbindegewebes seien noch einige anatomische
Bemerkungen vorausgeschickt.
Wenn wir von Beckenbindegewebe sprechen, so verlangt dieser
Ausdruck eine genauere Bestimmung und eine gewisse Einschränkung.
In erster Linie sei gesagt, dass wir nur das kleine Becken im Auge
haben. Der Raum des grossen Beckens gehört so sehr zur Ab-
dominalhöhle, dass wir ihn hier ausschliessen müssen.
Zum Bindegewebe des kleinen Beckens gehört nun streng
genommen alles Bindegewebe, w^elches die Blase sammt Prostata
und Samenblasen beim männlichen Geschlecht, sammt Uterus und
Vagina beim weiblichen Geschlecht einschliesst. Dieses Bindegewebe
wird durch das Diaphragma pelvis in ein oberes und ein unteres
Stockwerk getrennt, von denen das letztere räumlich das kleinere
ist, weil der das genannte Diaphragma hauptsächlich darstellende
Musculus levator ani trichterförmig nach unten verläuft, und so
den grössten Theil des verfügbaren Raumes der oberen Hälfte des
Beckenraumes zutheilt. Das untere Stockwerk besteht demnach eigent-
lich nur aus den beiden Fossae rccto-ischiadicae, die nach innen begrenzt
sind von dem dünnen, äussern, dem Levator aufliegenden Blatt der
Beckenfascie und nach aussen vom M. obturator internus und
seiner Fascie. Nach unten wird dieser Raum durch die ober-
flächliche Dammfascie und die Haut abgeschlossen. Der obere
Ueber die Dennoide des Beckenbindegewebes. 143
Raum schliesst in sich : erstlich das peri- und hauptsächlich retro-
rectale Bindegewebe, zweitens das zwischen dem Levator ani und
dem Peritoneum des Douglas liegende Bindegewebe, drittens das
die Blase umgebende Bindegewebe. Beim weiblichen Geschlecht
kommt noch als vierter Bestandtheil des Beckenbindegewebes das
als quere Leiste den Raum des kleinen Beckens durchsetzende
Gewebe der breiten Mutterbänder hinzu. Es ist selbstverständlich,
dass diese drei bezw. vier Bestandtheile des oberen Raumes des
Beckenbindegewebes nicht an allen Punkten scharf getrennt werden
können. Es schien uns aber nichtsdestoweniger nutzlich im Inter-
esse der Klarheit des folgenden Capitels, diese allgemein bekannten
Dinge kurz, wenn auch etwas schematisch, voranzustellen.
Wir kommen zur pathologischen Anatomie der Dermoide
des kleinen Beckens und beginnen mit der anatomischen Lage
derselben.
Es sind schon in allen oben genannten Theilen des Becken-
bindegewebes Dermoide gefunden worden. Dieselben haben jedoch
nicht alle die gleiche klinische Bedeutung und wir wollen gleich
zwei Gruppen von der Betrachtung ausscheiden, nämlich die mit
der Blase und mit dem Uterus in Beziehung stehenden Dermoide.
Was die ersteren betrifft, so handelt es sich in der Regel um in
die Blase durchgebrochene Eierstock-Dermoide, und es ist in den
meisten Fällen dieser Ursprung nicht mit Sicherheit auszuschliessen,
es sei denn, dass die Laparotomie Intactsein beider Ovarien ergeben
habe. In einigen, von Sänger citirten Fällen (Winship, Charcot,
Küster) hatten allerdings an oder in der Blasenwand sitzende
Dermoide nichts mit den Ovarien zu thun und dasselbe ist selbst-
verständlich in der von Martini (35) mitgetheilten Beobachtung
der Fall, wo ein nach der Blase hin offenes Dermoid bei einem
neugeborenen Knaben bei Gelegenheit der Autopsie gefunden wurde.
Da die in die Blase durchgebrochenen Dennoide, seien sie ovariellen
Ursprungs oder nicht, ein eigenartiges Krankheitsbild bedingen, das
völlig von dem bei den übrigen Dermoiden des Beckenbindegewebes
beobachteten abweicht^) (Pilimiction, cystitische Beschwerden), so
schlicssen wir sie hier, wie gesagt, von der Betrachtung aus.
Die zweite Gruppe, welche wir ausschli essen, betrifft die an-
K Vergleiche u. A. den neulich mitgetheilten Fall von LeGendre, Gaz,
des h6pitaux. 1896, No. 136. 26. Nov.
144 Dr. F. de Quervain,
geblichen Uterusdermoide. Wie Sänger annimmt, handelt es
sich in diesen Fällen eher um Dermoide des Beckenbindegewebes,
die z. B. bei Anlass einer Zangenentbindung durch Verletzung der
Geburtswege aus dem Beckenbindegewebe ausgequetscht wurden. Es
ergiebt sich aus dem eben Gesagten, dass diese Fälle zu unbestimmt
sind, als dass wir sie verwerthen könnten. Dasselbe gilt auch von retrou-
terinen, von der Scheide her eröffneten Dermoidcysten vrie sie von
Makris (27), Barette (28) mitgetheilt sind, und bei denen die
Unabhängigkeit von den Ovarien nur durch Laparotomie mit Sicher-
heit erwiesen werden könnte. Es bleiben uns also noch die im Ge-
biete des Rectum und der Ligamenta lata entstandenen, sicher extra-
peritonealen Dermoide. Wenn wir dieselben weiter eintheilen wollen,
so bietet sich als natürlichstes Gruppirungsprincip die Lage der Cyste
zum Diaphragma pelvis. Bei den oberhalb des Levator ani
sitzenden Dermoiden wäre weiter zu unterscheiden zwischen reti'o-
rectalen, seitlichen (subserös liegenden), und im Ligamentum latum
eingeschlossenen Geschwülsten. Die nach unten vom Levator
ani gelegenen Dermoide liessen sich unterscheiden, je nachdem sie
rein medial, nach vorn vom Stcissbein, oder mehr seitlich, im Cavum
recto-ischiadicum entwickelt sind.
Wir können uns demnach mit der von Hoefer vorgeschlagenen
Entheilung nicht befreunden, nach welcher zwei Gruppen aufgestellt
würden, von denen die eine die im Ligamentum latum entwickelten
Dermoidcysten (d. h. einzig den Hoefer 'sehen Fall), die andere die im
Cavum pelvis subperitoneale und subcutaneum sitzenden Cysten,
d. h. mit andern Worten alle übrigen Dermoide des Beckenbinde-
gewebes enthalten sollte.
Es sei bei diesem Anlass noch bemerkt, dass wir den Aus-
druck Sänger's: „Cavum pelvis subperitoneale" lieber ver-
meiden möchten, so bequem derselbe sein mag, um den oberhalb
des Diaphragma pelvis gelegenen Theil des Beckenbindegewebes
zu bezeichnen. Es handelt sich eben normalerweise nicht um ein
Cavum, sondern um das subseröse, der Innenfläche des Levator
ani anliegende Bindegewebe, und das Cavum vrird erst durch die
Geschwulst, oder besser gesagt durch die Exstirpation derselben
gebildet. Das: „Cavum pelvis subcutaneum", synonym
mit der Fossa ischiorectalis oder dem Cavum recto-
ischiadicum verdient schon eher den Namen: „Cavum", insofern
Ueber die Dermoide des Beckenbindegewebes. 145
es sich um einen von Fett ausgefüllten Raum handelt der in Folge
der mehr oder weniger fixen Stellung seiner Wände stets ein ge-
wisses Volumen aufweist und nie auf eine einfache Bindegewebs-
spalte reducirt ist.
Sehen wir nun, wie sich in Wirklichkeit die Localisation der
in Frage stehenden Cysten verhält und inwiefern sich unsere ana-
tomische Eintheilung festhalten lässt.
W^r beginnen mit den unterhalb des Levator gelegenen Der-
moiden. Soweit dieselben ganz oberflächlich liegen, zwischen Steiss-
bein und Afteröffnung, wie in den Fällen von v. Bergmann (6),
Gussenbauer (7), Küster (29) u. s. w. haben wir sie aus dem
Kreis unserer Betrachtung ausgeschlossen, weil sie streng genommen
nicht mehr zur Beckenhöhle gehören. Von den in vorstehender
Tabelle aufgeführten 16 Fällen dürfte nur derjenige von Birkett
ausschliesslich unterhalb des Levator gelegen gewesen sein. Im
Falle Schulz fanden sich zwei Cysten vor, von denen die eine
unterhalb, die andere oberhalb des Levator sass. Ob es sich im
Fall Weinlechner ebenso verhalten hat, kann ich nicht entscheiden,
da mir das Original nicht zur Verfügung stand. In den Fällen
von Walzberg, Trzebicky und Hoefer wölbte der Tumor die
Haut in der Gesässgegend zwar mehr oder weniger vor, reichte
aber andererseits soweit in das Becken hinein, dass der ursprüng-
licher Sitz nicht unterhalb des Levator, sondern oberhalb zu suchen
ist, denn es kann nicht angenommen werden, dass eine unterhalb
des Levator entstandene Cyste sich in der Richtung des grössern
Widerstandes, d. h. nach dem Beckenraum hin entwickeln sollte.
Der Levator ani wurde in diesen Fällen entweder von oben
her durchbrochen, oder hochgradig verdünnt und nach unten ge-
schoben.
Von Verdrängung der Nachbarorgane kann man bei den
unterhalb sitzenden Dermoiden nicht sprechen. Das einzige ver-
drängte Organ ist die. Haut in der Dammgegend, die z. B. in dem
Fall von Schulze soweit vorgewölbt wurde, dass der Abstand
zwischen Steissbeinspitze und Anus 10 cm betrug. Bei den Pa-
tientinnen von Walzberg, Trzebicky und Hoefer war die, stets
etwas seitlich sitzende, Vorwölbung noch erheblich etwas grösser,
mindestens kindskopfgross. Wir werden auf diese Fälle weiter
unt6n noch zurückkommen.
AxehiT fBr klin. Chinirgie. 67. Bd. Heft 1. ^q
146 Dr. F. de Quervain,
Wir haben oben bemerkt, dass die unterhalb des Levator
ani gelegenen Dermoide sich theoretisch in mediane und seitliche
eintheilen lassen, in Wirklickeit scheinen, wie sich aus den Fällen
von Birkett, Küster und Schulze ergiebt, und wie auch Hansen
auf Grund einer grösseren Zahl von ano-coccygealen Dermo-
iden hen'orhebt, diese Cysten stets median zu liegen. Andererseits
muss daran erinnert werden, dass z. B. Gussenbauer in Ver-
bindung mit solchen medianen Dermoiden seitliche Nebenhöhlen
gefunden hat.
Unser Hauptinteresse nehmen die oberhalb des Levator ent-
standenen Dermoide in Anspruch. Es ist selbstverständlich, dass
ihr ursprünglicher Sitz sich nicht immer leicht bestimmen lässt,
wenn sie einmal eine gewisse Ausdehnung erlangt haben. Die
besten Anhaltspunkte gewinnen wir in dieser Beziehung aus der
Verdrängungsweise der benachbarten Organe, im Besonderen des Mast-
darmes. Wenn wir die bisher veröffentlichten Beobachtungen mit
Rücksicht auf diesen Umstand durchgehen, so finden wir, dass in
10 Fällen die Geschwulst hinter dem Mastdarm lag. Derselbe
war entweder direct nach vorn, oder häufiger nach rechts, ausnahms-
weise (Sänger) nach links verdrängt. Es ergiebt sich daraus,
dass die Geschwulst sich mit Vorliebe (in den Fällen von Walz-
berg, Trzebicky, Deahna, Solowjew, Schulze, Colonna,
de Quervain) in dem linken retrorectalen Bindegewebe
entwickelt hat. Nur in dem Fall von Sänger sass sie mehr nach
rechts. In den Beobachtungen von Biernacki und Page sass
(las Dermoid rein median, also völlig retrorectal.
In 3 Fällen (zwei von Manuel, Fall von Emmet) sass die Cyste
unter dem Bauchfell des Douglas'schen Raumes (bei Mannel:
„zwischen Bauchfell und Levator ani").
In dem von Hoefer mitgetheilten Falle endlich hatte sich
die Geschwulst im linken Ligamentum latum entwickelt, von da
bis in die Gesässgegend vordringend.
Anhangsweise könnten wir hier erstlich noch den Fall von
Bryk erwähnen, bei dem ein aus 3 Dermoidcysten bestehendes
Gebilde anscheinend vom Trochanter major her durch die Inci-
sura ischiadica major in das kleine Becken wucherte. Wir glauben
mit Trzebicky, dass sich die Sache vielleicht auch umgekehrt
verhalten kchinte und dass es nicht ausgeschlossen ist, dass der
Ueber die Dermoide des Beckenbindegewebes. 147
ursprüngliche Sitz der Geschwulst im kleinen Becken zu suchen
ist. Ferner seien hier noch die Fälle von sog. Dermoiden des Rec-
tum km-z berührt Wir haben dieselben am Schluss unserer Tabelle
aufgeführt, weil wir mit Sänger der Ansicht sind, dass es sich
wahrscheinlich — zum Theil wenigstens — um perirectale, secundär
in das Mastdarmlumen vorgebuchtete und Polypenfonn annehmende,
oder um in das Rectum durchgebrochene Dermoide handelt.
Im Fall von Snyers sehen wir eine gänseeigrossen Dermoid-
geschwulst während einer Zangenapplication aus dem Rectum vor-
treten, welche von Snyers mit einer die foetale Seite präsentirenden,
von Eihäuten zurückgehaltenen embryonalen Placenta verglichen
wird. Es scheint aus dieser Beschreibung schon mit ziemlicher
Sicherheit hervorzugehen, dass die Geschwulst nicht mit Mucosa
überkleidet war und also nicht einen richtigen Polypen darstellte.
Der platte, mehr als 1 cm breite, V2 cm dicke Stiel schien an
die Hinterwand des Mastdarms zu gehen. Die 25 Tage nach der
Abtragung des Dermoids ausgeführte Nachuntersuchung Hess nach
der Kreuzbeinaushöhlung hin den Stiel sammt Ligatur fühlen, der
sich innerhalb eines mehrere Centimeter im Durchmesser haltenden,
offenbar von der Wand des Rectum gebildeten Walles frei bewegen
lässt und sich nach dem oberen Theil des Kreuzbeines hin zu ver-
lieren scheint. Eine 14 Tage später ausgeführte Untersuchung
zeigte, dass sich der beschriebene Wall verkleinert hatte und den
Stiel nun eng umgab, zum Theil mit demselben verklebt.
Snyers schliesst mit Recht aus diesen Befunden, sowie aus
dem Umstand, dass die Abtragung der Geschwulst von einer für
den blossen Stiel viel zu reichlichen Eiterung gefolgt war, dass
es sich um ein retrorectales Dermoid gehandelt hatte, welches
durch den Druck des Kopfes gegen die Rectalwand gedrängt,
diese zerrissen habe und durch den Riss in das Lumen des Mastdarms
durchgetreten sei. Diese Erklärung, welche wohl keinen Zweifel
zulässt, giebt auch den Schlüssel zu der wahrscheinlich richtigen
Auffassung der von Gel ström mitgeth eilten Beobachtung. Der
Hauptunterschied bestand wohl darin, dass hier die Geschwulst
von der vorderen Mastdarmwand her sich einstülpte. Ob es
sich, wie Sänger anzunehmen scheint, um einen Riss in der
Rectalwand mit Austreten der Geschwulst bei der letzten Geburt
gehandelt — analog dem Fall von Snyers — , oder ob dieses
10*
148 Dr. F. de Quervain,
Ereigniss schon bei der zweiten Geburt eingetreten war, wo schon,
4 Jahre früher, der vorübergehende Austritt einer kleinen Ge-
schwulst aus den Genitalien bemerkt worden war, das lässt sich
nach der Beschreibung Gelstroms nicht sicher entscheiden. Wie
genau sich übrigens die Patientin beobachtete, das dürfte schon
aus dem Umstände hervorgehen, dass ein durchgehender Damm-
riss mit Zerstörung des grössten Theils des Septum rccto-vaginale
von ihr, wie es scheint, in keiner Weise als Unannehmlichkeit
empfunden wurde.
In dem Falle Danzels wurde das Eindringen des Dermoids
in den Mastdarm nicht durch einen Geburtstraumatismus bedingt.
Der Durchbruch der Mastdarmwand musste vielmehr spontan erfolgt
sein. Da das Dermoid seine Innenfläche dem Rectallumen zu-
wandte, so nimmt Sänger an, dass dasselbe erst in den Mastdarm
perforirte und sich dann in denselben umstülpte. Da der Haar-
abgang aus dem Anus erst mit dem 11. Jahre begann, so ist nach
Sänger ein primär gegen das Rectum offenes Dermoid, wie es Mar-
tini (34) bei der Untersuchung dieses Falles vermuthet, nicht wahr-
scheinlich. Es muss aber immerhin bemerkt werden, dass der
auffallend teratoide Bau in diesem Fall die Annahme eines im
Rectum inserirten Teratoms nicht abweisen lässt. Dass der Haar-
wuchs erst im 11. Jahr bemerkt wurde, ist wohl kein absoluter
Gegengrund. Klarer als in den beiden, liegen die Verhältnisse
in dem von Sänger angeführten Falle Börningers. Hier kann
kein Zweifel darüber bestehen, dass es sich um ein retrorectales,
in den Mastdarm perforirtes Dermoid handelte.
In Fällen, wo eine einfache Perforation in den Mastdarm
vorliegt, kann freilich ein Ovarialdermoid nur dann ausgeschlossen
werden, wenn sich die Perforationsöffnung an der Hinter wand
des Mastdarmes befindet, während bei vollständig in denselben
eingestülpten oder polypös eingewachsenen Dermoiden, auch wenn
sie von vorne her kommen, ein ovarialer Ursprung weniger wahr-
scheinlich sein dürfte. Völlig auszuschliessen ist er freilich im
Falle Danzels nicht.
Es ergiebt sich, um auf die Dermoide des Beckenbindegewebes
überhaupt zurückzukommen, aus dem Gesagten, dass die bisher
gemachten Erfahrungen die oben gegebene anatomische Eintheilung
lieber die Dennoide des Beckenbindegewebes. 149
in ihren wesentlichen Punkten rechtfertigen und da«s wir berechtigt
sind, folgende Gruppen aufzustellen:
A. Dermoide, die unterhalb des Levator ani entstanden sind.
Dieselben sitzen in der Regel median, zwischen Mastdarm und
Steissbein.
B. Dermoide, die oberhalb des Levator entstanden sind,
denselben aber bisweilen nach unten durchbrechen. Dieselben
können sitzen:
1. im retrorectalen Bindegewebe, entweder rein median
oder, häufiger, etwas nach links, oder, selten, mehr nach
rechts.
2. im subserösen Bindegewebe zwischen dem Peritoneum
des Douglas und dem M. levator ani.
3. im Ligamentum latum (seltenstes Vorkommniss).
Wir haben der Verdrängungserscheinungen schon kurz gedacht,
soweit dieselben wenigstens den Mastdarm betreffen. Zur Vervoll-
ständigung sei nur noch gesagt, dass auch im Fall Iloefer der Mast-
darm nach rechts verschoben war. Die Verdrängung der übrigen Or-
gane erfolgt in entsprechender Weise. Die Scheide wird in der Regel
im gleichen Sinne verschoben, wie das Rectum. Bei erheblicher
Entwickelung der Cyste wird das Lumen der verdrängten Gebilde
natürlich plattgedrückt, so dass sie schalenartig die Geschwulst
bedecken. Page hebt femer in seinem Fall eine erhebliche Ver-
längerung der Scheide hervor. Der Uterus wird meist nach oben
verschoben, entweder rein median, im Fall Page bis nahe an den
Nabel, oder etwas seitlich, entsprechend der Verschiebung von
Mastdarm und Scheide. Wenn Sänger hervorhebt, dass die Ge-
bärmutter bloss nach oben gedrängt werde, ohne Entfaltung der
breiten Bänder, so hat dies gewiss für die Mehrzahl der Fälle
Geltung. Immerhin macht der Fall Hoefer mit seiner Entwicke-
lung des Dermoids im linken Ligamentum latum eine Ausnahme.
Bei bedeutendem Volumen des Dermoids wird schliesslich noch
die Blase in Mitleidenschaft gezogen, und zwar handelt es sich
um ein Andrängen des Blasenhalses an die Symphyse und — in
unserem Fall — um eine Verdrängung der ganzen Blase nach
oben. lieber die Lage der üreteren sind in keinem Falle Beob-
achtungen gemacht worden.
150 Dr. F. de Quervain,
Die Grösse der Dermoide des Beckenbindegewebes ist recht
verschieden. Als kleinstes Exemplar könnte das von Marchand (30)
bei der Autopsie eines kleinen Mädchens gefundene Gebilde auf-
gefasst werden. Es handelte sich um ein dicht unter dem linken
Ovariura, aber vollständig von ihm getrennt an der hinteren Fläche
des Ligamentum latum sitzendes Knötchen von der Grösse eines
Stecknadelkopfes. Dasselbe bestand, wie die mikroskopische Unter-
suchung ergab, aus den Elementen der Epidermis, eingehüllt von
einer feinen Bindegewcbsschicht. Marchand fasst das Gebilde
als „kleinstes Dermoid im breiten Mutterbande" auf. Wir haben
den Fall nicht in die Tabelle aufgenommen, weil es sich noch
nicht um ein ausgebildetes Dennoid, sondern nur erst um die
Anlage zu einem solchen handelte. Es lag uns aber immerhin
daran, diese interessante und seltene Beobachtung nicht unerwähnt
zu lassen. Um von diesem Miniaturdermoid wieder auf die aus-
gebildeten Cysten zu kommen, so sind die kleinsten in der Tabelle
erwähnten Geschwülste taubonei- bis hühnereigross. iVls grösste
Exemplare dürften andererseits der Fall von Page und der unserige
bezeichnet werden. Im letzten Fall reichte die Geschwulst bis
ca. 1 Querfinger unter den Nabel, im erstercn sogar bis in Nabel-
höhe. Von mehreren Beobachtern wird die obere Grenze gar nicht
angegeben, doch scheint dieselbe die Symphyse in der Regel nicht
erheblich überschritten zu haben. Ueber die Ausdehnung nach
unten haben wir uns schon ausgesprochen; es sei hier nur noch
beigefügt, dass der in das Becken reichende Fortsatz im Falle
Walzberg, der viel weniger voluminös war, als der subcutane
Theil der Geschwulst, vielleicht doch die ursprüngliche Dermoid-
cyste darstellen könnte, deren perinealer Theil in Folge des ge-
ringen Widerstandes der umliegenden Theile eine grössere Au.s-
dehnung angenommen hätte.
Bei der Besprechung des grobanatomischen Verhaltens der
Beckendermoide ist noch eine Frage zu berücksichtigen, über
welche ich in der oben angeführten Literatur keine genauen An-
gaben gefunden habe, und die doch für die operative Technik von
Wichtigkeit ist. Ich habe die Reaction des Beckenbindegewebes
auf das Vorhandensein des Dermoids im Auge. Nur Sänger
theilt mit, dass die Cystenwand von einer feinen bindegewebigen
Kapsel bedeckt gewesen sei. In meinem eigenen Fall handelte
Ueber die Dermoide des Beckenbindegewebes. 151
es sich nicht nur um eine feine Kapsel, sondern um eine verhält-
nissmässig starke Schicht straffen Bindegewebes, die ich am ehesten
mit der verdickten Tunica communis vergleichen möchte, welche
so oft alte Bruchsäcke einhüllt.
Wenn es gestattet ist, aus diesen beiden Beobachtungen
einen Schluss zu ziehen — unter Mitberücksichtigung dessen, was
bei gutartigen Geschwülsten überhaupt beobachtet wird — so
dürften sich die Dinge wohl folgendermassen verhalten:
In der Umgebung jedes wachsenden Dermoides bildet sich^)
eine Vermehrung des Bindegewebes aus, die zu einer gewissen
Abkapselung der Neubildung führt. Dass diese Bindegewebskapsel
nicht mit dem bindegewebigen Theile der Dermoid- Wand zu ver-
wechseln ist, welcher dem Dermoid selbst angehört, das braucht
wohl nicht betont zu werden. In Fällen, bei denen die Dermoid-
cyste ein gewisses Alter erlangt, bevor sie der operativen Behand-
lung anheimfällt — wie in unserem Fall — hat die genannte Kapsel
Zeit, eine gewisse Dicke zu erreichen. Es liegen also wohl die
Verhältnisse ungefähr wie bei den schon oben zum Vergleich herbei-
gezogenen Hernien. In einer grossen Zahl derselben liegt der
Bmchsack einfach im lockern Zellgewebe des Saraenstrangs, ohne
dass irgend welche Verdickung der umhüllenden Fascien zu be-
merken wäre. Bei altern Hernien dagegen bildet sich die Tunica
communis zu einer derben, bindegewebigen Fläche aus, die an Dicke
den Bruchsack oft weit übertrifft.
• Das Fehlen diesbezüglicher Angaben in der Mehrzahl der
Arbeiten möchte ich immerhin nicht ohne weiteres aus dem Fehlen
der Bindegewebskapsel erklären. Die verhältnissmässige Leichtig-
keit, mit der in der Mehrzahl der Fälle die Ausschähmg gelang,
ohne Nebenverletzungen und ohne erhebliche Blutungen, trotz des
Fehlens der Oontrole des Auges, lässt es als nicht unwahi'schcinlich
erscheinen, dass in der Regel eine mehr oder weniger deutliche
bindegewebige Hülle vorhanden war, wenn schon nicht immer in
dem ausgesprochenen Grade, wie bei unserem Falle.
Ich komme endlich zur pathologischen Anatomie der
Dermoide selbst. Dieselben gehörten in der Mehrzahl der Fälle
der einfachen Form der Dermoidcysten an. Der Inhalt, in der
0 Ziegler, Lehrbuch der allgemeinen pathologischen Anatomie. VI. Aufl.
S. 806.
152 Dr. F. de QaerTain,
Regel eine bräunliche, railchkaffeefarbene Flüssigkeit darstellend,
zeigte unter dem Mikroskop meist Detritus, Cholestearinkrystalle
und Platten-Epithelzellen, bisweilen auch grössere Schollen und
Flocken von Epidermiszellen , die schon makroskopisch sichtbar
waren. Haare fanden sich nur in den Fällen von Trzebicky,
Biernacki und Page, Knochen nur bei Walzberg und Zähne in
keinem Fall. Einzig die Beobachtungen von Snyers, Danzel und
Gelstrom, sogenannte Dermoide des Rectum betreflfend, wiesen
einen complicirteren , mehr teratoiden Bau auf. Dieser Umstand
ist zu auffallend, um nicht einen Erklärungsversuch zu verlangen.
Die Lebenseigenschaften der verschiedenen Dermoidformen sind
uns freilich noch zu wenig bekannt, als dass die Deutung, die wir
in Folgendem geben werden, absolute Gültigkeit beanspruchen
könnte. Immerhin glauben wir, ihr einen gewissen Grad von
Wahrscheinlichkeit zuerkennen zu dürfen.
Es ist von vorn herein selbstverständlich, dass nur kleine und
bis zu einem gewissen Grad resistente Dermoide durch die Mast-
darmwand hindurch in diesen hineingedrückt werden können. Diese
Bedingungen treffen nun bei den complicirteren Dermoiden eher zu,
als bei den einfachen, nur aus einem cutisähnlichen BaJg mit
flüssigem Inhalt bestehenden Derraoidcysten. Diese letzteren, welche
meist keine, oder nur kurze Haare enthalten, scheinen, wenn sie
einmal in's Wachsen kommen, schneller an Umfang zuzunehmen,
als die complicirten Cysten, und also weniger lang auf dem Volumen
zu verharren, bei dem ein Eindringen in das Rectum noch möglich
ist. Ueberdies schmiegen sie sich mehr, als die complicirten, mit
Knochen etc. versehenen Gebilde dem verfügbaren Raum an und
weichen also vielleicht bei einer Geburt besser aus, als die festeren,
complicirten Dermoide. Wenn sie dagegen einmal eine gewisse
Ausdehnung erreicht, sich aber trotzdem noch kein Ventil nach
der Dammgegend hin geschaffen haben, so bedingen sie ein
schwereres Geburtshindemiss, als die ersteren, indem sie zu gross
sind, um in das Rectum oder in die Scheide gedrückt und von da
aus ausgestossen zu werden.
Was die äussere Gestalt betrifft, so ist dieselbe bei kleineren
Dermoiden meist mehr oder weniger kugel- oder eiförmig, während sie
bei ausgedehnten Cysten unregelmässig wird und sich innig dem
verfügbaren Räume anschmiegt. So konnte ich in meinem Falle mit
Ueber die Dermoide des Beckenbindegewebes. 153
Leichtigkeit die Contouren des Beckens vom Lumen der Cyste aus
abtasten.
Was das mikroskopische Verhalten der Cystenwand be-
trifft, so enthalten nicht alle Fälle diesbezügliche Angaben. Der
Balg bestand in den untersuchten Fällen aus einer Epithelschicbt
und einer Bindegewebsschicht. Die erstere ahmt meistens in mehr
oder weniger vollkommener Weise die Verhältnisse der Epidermis
nach und lässt, wenigstens andeutungsweise, die beiden Haupt-
schichten derselben, das Statum corneum und das Statum Malpighi
erkennen. Nur im Falle Walzberg wird (nach Trzebicky) von
einschichtigem Platten- und Cylinderepithel berichtet, wenn dabei
nicht irgendwo ein Irrthum mit untergelaufen ist. Der bindegewebige
Theil der Cystenwand enthält bei Höfer keine Papillen, während
solche bei Trzebicky und in unserm Falle mehr oder weniger erkenn-
bar angedeutet waren. Wie schon oben bemerkt, ist übrigens in dieser
Beziehung der Befund bei unserm Fall nicht an allen Stellen der
Cyste derselbe. Abgesehen davon weist die Bindegewebsschicht in
unserm Falle deutlich die Differenzirung von Corium und Statum
subcutaneum auf, Ersteres enthält eine starke Schicht elastischer
Fasern, letzteres, was in keinem der bisherigen Fälle beobachtet
worden war, eine Schicht sich in verschiedenen Richtungen durch-
kreuzender Bändel von glatten Muskelfasern.
Wenn ich nun auf die Aetiologie zu sprechen komme, so
sei gleich Anfangs bemerkt, dass dieses Capitel das dürftigste in
der ganzen Frage der Beckenbindegewebsdermoide ist. Während
man früher glaubte, dieselben von den Ovarien ableiten zu können,
(Walzberg, Biernacki) so ist seit Sänger's Arbeit wohl der
nichtovarielle Ursprung derselben genügend erwiesen — und wäre
er es nicht, so wüi-de unser Fall genügen, um zu beweisen, dass
die typischen Becken-Bindegewebsdermoide mit den Ovarien nichts
zu thun haben. Es giebt ja freilich Ovarialdermoide, die mit der
Serosa des Douglas innig verwachsen können, wie es auch solche
giebt, welche ihren ovariellen Ursprung verlassen und sich von
ihrem Stiel abtrennen. Dieses letztere Vorkommniss ist seit Roki-
tansky mehrfach beschrieben worden und ich habe selbst kürzlich
Gelegenheit gehabt, einen derartigen Fall zu operiren. Die secundär
im Douglas festgewachsenen Ovarialdermoide haben aber das Rectum
hinter sich, nicht vor sich, wie die meisten ßeckenbindegewebs-
154 Dr. F. de Quervain,
dermoide, und sie gelangen nicht in der Gesässgegend zu Tage. Es
ist übrigens völlig überflüssig, näher auf diese Streitfrage einzugehen,
da dieselbe entschieden ist, und wir insbesondere in unsenn Falle
keinen Grund haben, ein Ovarium als Ursprung der Cyste anzu-
schuldigen. Auch die Steissdrüse wollen wir in Ruhe lassen,
der man trotz ihres Mangels an epithelialen Elementen die Bildung
von Dermoiden hat zuschreiben wollen.
Sänger leitet (nach His) die höher oben im Beckenbinde-
gewebe gelegenen Dermoide sowie die coraplicirteren Formen vom
Achsenstrang ab, während er in den einkammerigen, glatten, haar-
losen oder spärlich haartragenden Dermoiden besonders der tieferen
und seitlichen Abschnitte des Beckenbindegewebes embryonale Ein-
stülpungen des Ektoderms sieht.
Diese an sich völlig plausible Erklärung hat immerhin noch
ihre Schwierigkeiten. SoU man z. B. im Fall Schulze, wo das
eine Dermoid unter, das andere über dem Levator ani sass,
einen doppelten Ursprung annehmen? Wohl kaum. — Es sei über-
dies bemerkt, dass sozusagen alle — auch die hochliegenden
Beckenbindegewebsdermoide jenen einfachen Bau zeigen, der nach
Sänger eher für eine Einstülpung des Eklodcrms spricht. Wir
wären deshalb vorsucht, im Gegensatz zu Schulze, alle, auch die
verhältnissmässig hoch hinaufreichenden Beckenbindegewebsdermoide
der alten Lücke 'sehen Anschauung gemäss als Einstülpungs-
producte anzusehen, soweit sie den beschriebenen einfachen Bau
zeigen. Für die viel selteneren zusammengesetzten Dennoide mit
deutlicher Knochen- und Zahnbildung muss freilich die Einstülpungs-
theorie ganz fallen gelassen werden. Die Franke 1 'sehe (35) An-
nahme, dass bei diesen letzteren Dennoidformen eine Einstülpung
des äusseren Keimblattes in das mittlere, mit gleichzeitig erfolgten
Einschlüssen von osteogenetischen Elementen der ürwirbelmasse
aus der Umgebung der eingestülpten Partieen stattgefunden habe,
scheint uns nicht genügend zu sein, um die Schwierigkeiten auf-
zuheben. Woher sollten z. B. bei einer Einstülpung in der Gegend
des Sacrum Zabnkeime herkommen? Nebenbei gesagt, handelt es
sich nicht einfach, wie oft, auch von Fränkel gesagt wird, um
Einstülpung des äusseren Keimblattes in das mittlere und noch
viel weniger um Einstülpung nur im Bereich des äusseren Keim-
blattes (nach Fränkel bei oberflächlichen Demioiden), da ja schon
Üeber die Dermoide des Beckenbindegewebes. 155
in der Wand jeder Dermoidcyste die beiden Keimblätter, äusseres
(Epidermis) und mittleres (Corium) vertreten sind und also stets
ein Theil mittleres Keimblatt mit eingestülpt wird. Wir langen
also für die zusammengesetzten Dermoide wieder bei der Frage
der Incliisio foetalis und der Keimverirrungen an, ohne bis jetzt
irgendwelche Anhaltspunkte zu haben, um einen sicheren Entscheid
treffen zu können. Der Umstand freilich, dass sich z. B. in dem
Präparate Danzers die meisten Gewebsformen des Organismus
vereinigt fanden, scheint doch recht för ein wirkliches Teratom zu
sprechen, im Sinne einer Doppelmissbildung.
Dass in der Analgegend Einstülpungen nicht selten sind, ist
begreiflich, und es wäre, wie Trzebicky mit Recht sagt, wohl
merkwürdiger, wenn sie dort nicht vorkämen.
Warum sie aber im einzelnen Falle vorkommen, das wissen
wir so wenig, wie wir überhaupt die Ursache der meisten con-
genitalen Anomalien kennen. Der erste Schritt zur Erkenntniss
der Aetiologie der Dermoide bestände in einer scharfen Abgrenzung
von einfachen und teratoiden Dermoiden, Teratomen und eigent-
lichen foetalen Inclusionen. Diese verschiedenen Formen sollten
nicht nur morphologisch, sondern auch genetisch unterschieden
werden können. Vorläufig sind wir mit der Aetiologie der uns
interessirenden Geschwülste, wie aus Vorstehendem hervorgeht, noch
nicht weiter gekommen, als es Trzebicky vor 15 Jahren war,
und der Hauptgewinn der letzten Jahre war einzig die Erkenntniss,
dass die in Frage stehenden Dermoide mit dem Ovariura nichts zu
thun haben. Wir enthalten uns weiterer ätiologischer Speculationen
und gehen auf das klinische Verhalten der besagten Ge-
schwülste über.
Wir werden zuerst einige gemeinsame Charactere besprechen,
um sodann auf die Symptomatologie bei beiden Geschlechtem im
Besonderen einzugehen.
Was den allgemeinen Verlauf betrifft, so sei zuerst das Alter
der Patienten besprochen. Wie die Tabelle ergiebt, schwankt das-
selbe zwischen 18 und 58 Jahren. Dieser weite Spielraum schränkt
sich jedoch erheblich ein, wenn man den Moment berücksichtigt,
wo die Geschwulst begann, sich bemerklich zu machen. Wir finden
auf diese Weise einen Spielraum, der vom 18. bis zum 38. Jahre
geht, also von rlcr Pubertät bis auf die Höhe der körperlichen
156 Dr. P. de Quervain,
Entwicklung. Da es sich um angeborene Anlagen handelt, so
müssen wir annehmen, dass die Cyste Jahre lang latent blieb, um
sich während oder etwas nach der Zeit der geschlechtlichen Ent-
wicklung zu vergrössem und durch allerlei Verdrängungserscheinungen
bemerklich zu machen.
Bezüglich des Geschlechts haben wir schon Eingangs be-
merkt, dass alle bisherigen Veröflfentlichungen über Dermoide des
Beckenbindegewebes sich auf das weibliche Geschlecht bezogen,
während das männliche Geschlecht ausschliesslich durch sacro-
coccygeale, also nicht mehr dem eigentlichen Beckenbindegewebe
angehörige Dermoidcysten vertreten war. Unser Fall scheint also
bisher einzig in seiner Art zu sein. Die oben angeführte Be-
merkung von König: „Die Unterscheidung von Dermoidcysten und
Echinococcusgeschwülstcn, welche man in dem Bindegewebe
zwischen Blase und Mastdarm in sehr seltenen Fällen beobachtet
hat, wird ausser durch die Consistenz durch eine Probepunction
zu machen sein," bezieht sich freilich auf das männliche Geschlecht,
da es sich um die Diagnose der Prostatahypertrophic liandelt. Da
mir aber trotz genauer Durchsuchung der Literatur kein Beckender-
moidfall beim Manne zu Gesichte kam, so nehme ich an, dass sich
entweder König auf nicht veröflfentlichte Beobachtungen stützt, oder
dass sowohl Sänger, wie mir der von König seiner Bemerkung
zu Grunde gelegte Fall, entgangen ist. Vielleicht wurde schliess-
lich der erwähnte Passus durch die auch von König selbst (Fall
Walzbcrg) beobachteten Dermoide des Beckenbindegewebes beim
weiblichen Geschlecht veranlasst.
Wie dem auch sei, so besteht ein auflFallender Unterschied
zwischen der BetheUigung der beiden Geschlechter. Derselbe er-
schien als ganz selbstverständlich, so lange man die in Frage
stehenden Geschwülste dem Ovarium zutheilte. Da dies nun aber
nicht mehr angeht, so muss nach einer Erklärung gesucht werden.
Die bequemste wäre wohl die von Latte (39) für die Retroperi-
tonealcysten überhaupt gegebene, dass beim Mann ein Theil der
Geschwülste, weil kein Geburtshin derniss bildend, nicht beachtet
werde. Dieser Auffassung ist insofern beizustimmen, als freilich
der Geburtsact in mehreren Fällen Anlass gab, das Vorhandensein
der Geschwulst zu bemerken. Es muss aber andererseits bemerkt
werden, dass in mindestens 9 von 12 Fällen von Beckenbinde-
üeber die Dermoide des Beckenbindegewebes. 157
gewebsdermoid bei Frauen (Fall 2 und 3 als Leichenbefunde und
Fall 6 als zu unvollständig, werden nicht mitgerechnet) das Vor-
handensein der Neubildung sich durch Symptome zu erkennen gab,
welche von den weiblichen Geschlechtsfunctionen völlig unabhängig
waren. Das Vorwiegen des weiblichen Geschlechts kann dem-
nach nicht wesentlich auf dem üebersehenwerden der Geschwulst
beim männlichen Geschlecht beruhen.
Es Hesse sich nun in erster Linie die Frage aufwerfen, ob
die extragenitalen Dermoide vielleicht überhaupt beim weiblichen
Geschlechte häufiger sind, als beim männlichen. Eine diesbezüg-
liche Statistik besteht meines Wissens nicht, so dass die Antwort
noch aussteht. Man könnte ferner vermuthen, dass die Entwicklung
der weiblichen Becken und Dammgebilde mit ihrer verhältniss-
mässig ausgiebigeren Verbindung zwischen der Körperoberfläche
und den Hohlorganen der Bauchhöhle eine reichere Gelegenheit zur
Einstülpung von Hautbestandtheilen geben. Eine zuverlässige Be-
stätigung für diese Vermuthung können wir freilich in dem Ent-
wicklungsgang der weiblichen Geschlechtsorgane nicht finden. Der
Grund des Ueberwiegens des weiblichen Geschlechts bleibt also
vorläufig noch so unbekannt, wie der Ursprung der Derraoid-
geschwülste überhaupt.
Wir gehen nun auf die beim weiblichen Geschlecht beob-
achteten Symptome der Beckenbindegewebsdermoide ein.
Es lässt sich aus der Entwicklung dieser Cysten vermuthen,
dass der Beginn der Symptome ein mehr oder weniger schleichender
sein rauss. In der That ist dies in der Regel der Fall. Nichts-
destoweniger berichtet De ah na von plötzlichem Beginne mit hef-
tigen Leibschmerzen, Erbrechen, Stuhl und Harnverhaltung,
Meteorismus. Diese Symptome würden sich leicht erklären, wenn
es sich um eine Verjauchung der Cyste gehandelt hätte. Dieselbe
trat aber in dem Falle Deahna's erst 9 Tage später auf, nach
Function der Cyste vom Rectum aus. Es bleibt uns also nur übrig,
anzunehmen, dass die Beschwerden von dem Moment an bemerkt
wurden, wo die Harnentleerung völlig unmöglich wurde. Die ge-
füllte Blase im Verein mit der Geschwulst genügte dann, um auch
die Mastdarmfunctionen zu hindern, und die vielleicht bei der
Patientin etwas lebhafte Reflexthätigkeit that das ihre, um das an-
scheinend schwere Krankheitsbild hervorzubringen. Die Plötzlich-
158 Dr. F. de Quervain,
keit des Auftretens ist wohl nicht anders aufzufassen, als die bis-
weilen ebenfalls plötzlich eintretende Harnverhaltung bei Prostati-
kern, deren Prostata schon lange zu gross war, ohne dass sie es
merkten.
In den übrigen Fällen war, wie gesagt, der Beginn ein all-
raählicher. Mehnnals wurde die Geschwulst zufällig bei Anlass
einer Entbindung bemerkt, lange bevor sie anfing, subjective Er-
scheinungen zu machen.
Die in den verschiedenen Krankengeschichten mitgetheilten
Symptome beruhen theils auf der Entwicklung der Geschwulst nach
der Gesässgegend hin, theils auf Compression und Verdrängung der
Organe des kleinen Beckens durch dieselbe, theils auf Verlegung
der Geburtswege, theils endlich auf Circulationsstörungen im Ge-
biet des kleinen Beckens.
*- Die Entwicklung nach der Gesässgegend hin bedingt Schwierig-
keiten beim Sitzen (so in den Fällen Trzebicky und Schulz.)
Der Druck auf die Beckenorgane kommt in erster Linie an
^ Blase und Mastdarm zur Geltung und äussert sich in verschieden
hohem Grade je nach der Ausdehnung der Cyste und wohl auch
je nach dem Vorhandensein oder Fehlen einer sozusagen als Sicher-
heitsventil dienenden Entwicklung der Geschwulst unter die Haut
der Perineal- oder Glutaealgegend. So waren bei den zu letzterer
Kategorie gehörigen Patientinnen von Trzebicky und Hoefer
Harnentleerung und Stuhlgang normal, während in den Fällen von
Deahna, Sänger, Page, Colonna, bei denen die Geschwülste
im Becken eingeschlossen waren, sich Harn- und Stuhlbeschwerden
geltend machten. Wir beginnen mit den ersteren: Während im
Fall Colonna nur von häufigem Harndrang berichtet wird, so
spricht Page von Erschwerung der Harnentleerung und bei
Deahna haben wir schliesslich die völlige Harnverhaltung. Es
kommt also die ganze Tonleiter der bei mechanischer Erschwerung
der Harnentleerung beobachteten Symptome vor. Dasselbe gilt
von der Stuhlentleerung. Die Kranke von Colonna litt unter Stuhl-
drang, diejenigen von Page, Schulze, Sänger unter Erschwerung
der Stuhlentleerung und bei der Patientin von Deahna kommt es
zu völligen Deuserscheinungen.
Die Verlegung der Geburtswege gehört, wenigstens in ihren
Einzelheiten, nicht mehr in den Bereich der chirurgischen Be-
Ueber die Dennoide des Beckenbindegewebos. 159
sprechung. Immerhin sei erwähnt, dass auch hier die gleichen
Beziehungen zwischen Beschwerden und glutäaler Entwicklung der
Geschwulst bestehen, wie wir sie für die Druckerscheinungen er-
wähnt haben. Im Falle Hoefer wird ausdrücklich erwähnt, dass
die Geburten normal verlaufen seien, und bei Trzebicky wird
von Geburtsstörungen nichts berichtet. Dasselbe gilt zwar auch
vom Falle Colonna, jedoch muss bemerkt werden, dass hier die
einzige Geburt mehr als 5 Jahre vor dem ersten Auftreten von
Erscheinungen von Seiten der Geschwulst stattgefunden hatte. In
den Fällen von Biernacky, Sänger, Page, Schulze dagegen
übte das Vorhandensein der Cyste einen merklichen Einfluss auf
den Geburts verlauf aus, so dass in drei Fällen (Biernacki,
Sänger und Page) die Kraniotomie nöthig wurde. Die zunehmende
Erschwerung der Geburt mit der stetigen Vergrösserung der Ge-
schwulst ergiebt sich am auffallendsten aus den Fällen von Sänger
und Page. Im ersteren folgte auf vier normale Geburten eine
Kraniotomie, dann ein Abortus im 6. Monat, dann wieder, nach
Function der Geschwulst, ein lebendes Kind mittelst Zange. Im
Fall von Page folgte auf fünf schon mühsame Geburten eine noch
viel schwierigere sechste, und die siebente endlich musste durch
Kraniotomie beendigt werden.
Als letzte Folge des V^orhandenseins eines Beckendermoides
haben wir Circulationsstörungen im Bereich der Beckenorgane
genannt. Wir betreten damit ein etwas hypothetisches Gebiet,
glauben aber immerhin, dass sich die zu nennenden Symptome am
ehesten auf Circulationsstörungen im weitesten Sinne des Wortes
zurückführen lassen. In erster Linie muss hier der von Colonna
erwähnte Mastdarmkatarrh angeführt werden, der durch Schleim-
abgang, Blutungen und eine oberflächliche Ulceration der Mast-
darmschleimhaut characterisirt war. Dahin gehört vielleicht auch
der von Page erwähnte Fluor albus und endlich die im Falle von
Solowjew mitgetheilten Symptome: Unregelmässigkeit der Men-
struation, Appetitlosigkeit, Schmerzen in den Beinen, Nervosität
— alles vielleicht Erscheinungen einer durch Circulationsstörungen
bedingten Metritis, der auch der Abortus zugeschrieben werden
könnte. Es ist aber selbstverständlich sehr wohl möglich, dass
trotz des zeitlichen Zusammentreffens diese Symptome mit dem
Dermoid nichts zu thun hatten; es liegt uns fern, das Dermoid,
160 Dr. F. de Quervain,
weil es nun einmal da war, ohne Weiteres für Alles verantwort-
lich machen zu wollen, was an der Pat. bemerkt wurde.
Was endlich noch die spontane Schmerzhaft;igkeit der
Derraoidcysten betrifft, so wird solche von Birkett angegeben.
Bei Hoefer's Patientin finden wir Schmerzen bei schwerer
Arbeit. Sänger und Colonna geben Druckgefühl im Becken an.
Damit hätten wir" die Symptomatologie der Beckenbinde-
gewebsderraoide des weiblichen Geschlechts so ziemlich erschöpft.
Das Symptomenbild dieser Geschwulst beim männlichen Geschlecht
zu zeichnen, wollen wir auf Grund einer einzigen Beobachtung
nicht versuchen. Es genüge daher, wenn wir die in der Kranken-
geschichte eingehender mitgetheilten Erscheinungen hier im Hin-
blick auf die für das weibliche Geschlecht aufgestellten Gesichts-
punkte noch einmal kurz zusammenfassen:
Störungen durch Hervortreten der Geschwulst in der Gesäss-
gegend fehlten bei unserm Patienten, weil die Cyste nicht so weit
herunterreichte. Dagegen war ein anderes Symptom vorhanden,
das bei keinem der bisherigen Fälle erwähnt wird, nämlich die
mehr und mehr zunehmende Schwierigkeit, sich zu bücken. Die-
selbe war die Folge des Hinaufwachsens der Geschwulst in das
grosse Becken. Der Druck auf den Blasengrund, welcher während
19 Jahren die Symptome einer Prostatahypertrophie gemacht hatte,
führte schliesslich zu völliger Harnverhaltung. Die Compression
des Mastdarms hatte nicht nur eine Erschwerung der Stuhlent-
leerung zur Folge, sondern auch eine characteristische Formung
der Faeces : Dieselben sahen nach Angabe des Patienten abgeplattet,
wie Carton, aus.
Weitere Symptome waren nicht vorhanden. Auf Circulations-
Störungen im kleinen Becken deutete nichts hin.
Wir kommen nun zur Diagnose und Differentialdiagnose
der Beckenbindegewebsdermoide. Auch hier ist es unerlässlich, die
beiden Geschlechter getrennt zu besprechen.
Sobald beim weiblichen Geschlecht das Vorhandensein
einer das kleine Becken einnehmenden Geschwulst erwiesen ist, so
handelt es sich in erster Linie darum, zu bestimmen, ob sie be-
weglich ist, oder nicht. Ist sie es in ausgesprochener Weise, dann
gehört sie nicht zu den Dermoiden des Beckenbindegewebes. Im
andern Fall, bei mehr oder weniger unbeweglicher Geschwulst,
Ueber die Dermoide des Beckenbindegewebes. 161
handelt es sich sodann darum, ihre Lage zur Scheide und zum
Mastdarm zu bestimmen. Liegt die Geschwulst vor dem Mast-
darm, also im Douglas, so ist die Differentialdiagnose nicht leicht.
Es kann eine Haematocele retrouterina, ein im Douglas ver-
wachsener Ovarialtumor — vielleicht gerade ein Dermoid — ,
ein Exsudat, und vielleicht gar ein eingeklemmter, retroflectirter,
schwangerer Uterus vorliegen. Wir unterlassen es, die Differential-
diagnose dieser verschiedenen Möglichkeiten hier durchzugehen,
von denen übrigens einzelne schon durch eine genaue Anamnese
ausgeschlossen oder umgekehrt mit Wahrscheinlichkeit diagnosticirt
werden können und bemerken nur, dass bei einem vor dem
Rectum liegenden Tumor überhaupt ohne Operation nicht mit
Sicherheit festgestellt werden kann, ob er vom Beckenbinde-
gewebe, oder von einem Ovarium ausgeht, auch wenn die Function
die Diagnose eines Dermoides gesichert hat. Erst der directe,
durch die Operation ermöglichte Nachweis des Vorhandenseins
beider Ovarien berechtigt in einem solchen Fall zur Annahme
eines Beckenbindegewebsdermoids. Liegt die Geschwulst dagegen
hinter dem Rectum, oder hat sie dasselbe wenigstens stark seit-
lich oder nach vorn und seitwärts verschoben, so ist entweder an
einen vom Becken (Sacrum, Articulatio sacroiliaca, höhere Theilc
der Wirbelsäule) ausgehenden kalten Abscess oder an eine Ge-
schwulst des Beckens oder Beckenbindegewebes zu denken. Erstere
Möglichkeit wird durch eine genaue Untersuchung von Wirbelsäule
und Becken zu bestätigen oder auszuschliessen gesucht. Wir er-
wähnen hier, dass im Fall von Trzebicky die Diagnose auf einen
Senkungsabscess gestellt worden war. Bei der Palpation wird die
mehr oder weniger scharfe Abgrenzung, die Druckempfindlichkeit
und die relative Beweglichkeit der Geschwulst eine gewisse Weg-
leitung geben. Ist ein Abscess ausgeschlossen, so handelt es sich
um eine Neubildung. Wir schliessen die festen Becken- und Rctro-
peritonealtumoren gleich von der Besprechung aus, um uns mit
den cystischen Gebilden zu beschäftigen, welche hier hauptsächlich
in Frage kommen. Ist durch den Nachweis von Fluctuation das
Vorhandensein von Flüssigkeit nachgewiesen, oder durch prall
elastische Consistenz wenigstens wahrscheinlich gemacht, so kommen
noch Echinococcusgeschwülste, seröse Cysten und Dermoide in
Frage. Wenn nicht eine bei letzterer Geschwulst ausnahmsweise
Archiv Ar Uin. Chirnrgie. 67. Bd. Heft 1. ' n
162 Dr. F. de Quervain,
beobachtete Eindrückbarkeit auf Dermoid, ausgesprochenes Hyda-
tidenschwirren, oder unmotivirte Urticaria auf Echinococcus hin-
weisen, so bleibt nur noch die Probepunction übrig, um die
Diagnose festzustellen, üeber die Gefahren und die Ausführung
derselben werden wir weiter unten sprechen.
Beim männlichen Geschlecht fallen bei der Differentialdiagnose
einmal alle mit den Geschlechtsorganen in Zusammenhang stehenden
Tumoren des Douglas hinweg. Dagegen kommen zwei alltägliche
Affectionen in Frage, ob denen in der Regel alle anderen Formen
mechanischer Verlegung der Harnwege in den Hintergrund gestellt
werden, nämlich die Strictur und die Prostatahypertrophie.
Erstere wird sich meist durch Anamnese und Katheterismus aus-
schliessen lassen. Anders die Prostatahypertrophie. Bei ihr ge-
lingt der Katheterismus mit dicken Nummern, die sich der Patient
oft selbst mit Leichtigkeit einführt. Dasselbe war während 19 Jahren
bei unserem Patienten der Fall, so dass er von den Aerzten als
Prostaticus behandelt wurde. Eine bei leerer Blase ausgeführte
Rectaluntersuchung hätte freilich schon Jahre früher die Diagnose
aufgeklärt, oder wenigstens gezeigt, dass etwas anderes als Pro-
statahypertrophie vorlag. Es sei hier noch bemerkt, dass beim
männlichen Ges(;hlecht, wo der Beckenboden nicht so leicht wie
bei der Frau emporgedrängt werden kann, die Rectaluntersuchung
ohne Narkose ein weniger vollsländiges Resultat giebt, als beim
weiblichen Geschlecht. Insbesondere kann es seine Schwierigkeit
haben, zu bestimmen, ob der Tumor vor, neben oder hinter dem
Rectum liegt, falls er nicht über die Mitte des Sacrums her-
unterreicht, da in diesem Falle der unterste Theil des Rectums
seine normale Lage besitzt.
Ist ein cystischer, retrorectaler Tumor nachgewiesen, so han-
delt es sich wieder um die Differentialdiagnose zwischen seröser
Cyste, Echinococcus und Dermoid, für welche wir auf das oben
Gesagte verweisen. Der Gedanke an ein Beckenbindegewebsderraoid
ist freilich dem chirurgischen Bewusstsein gegenwärtig noch so fern-
liegend, dass De Lavigne (31) in seiner Monographie über die
Echinococcen des kleinen Beckens bei der Besprechung der Differen-
tialdiagnose die Dermoide überhaupt nicht erwähnt. Routier (32)
sagt bei der Besprechung der fluctuirenden Geschwülste des kleinen
Beckens beim Manne, es komme so zu sagen nur die abgesackte
Ueber die Dermoide dos Beckenbindegewebes. 163
Peritonitis und der Echinococcus in Betracht. Die Möglichkeit einer
Deniioidcyste wird ebenso wenig erwähnt, wie bei De Lavigne.
Dass ebenso gut wie beim weiblichen Geschlecht die Senkungs-
abscesse in Betracht gezogen werden müssen, ist selbstverständlich.
Gegen sie kann die lange Dauer des Bestehens von Symptomen
verwerthet werden, während dieselbe nicht gegen Echinococcen
spricht. (De Lavigne führt solche von 13- und 19jähriger
Dauer an.)
Es ist, wie schon Sänger hervorhebt, nicht ausgeschlossen,
dass retrorectale Dermoide mehrfach für einen gewöhnlichen peri-
proctalen Abscess gehalten und als solcher behandelt wurden, wie
dies mit fistulösen anococcygealen Dermoiden mehrfach der Fall war.
Aus dieser diagnostischen und differentialdiagnostischen Be-
trachtung ergiebt sich als Hauptresultat die alte Regel, dass man
jeden an Harnbeschwerden leidenden Patienten per rectum unter-
suchen soll und zwar wenn möglich bei leerer Blase. Als wich-
tigste Vervollständigung der Untersuchung — ausser dem Kathete-
rismus — sollte die bimanuelle Untersuchung ausgeführt
werden. So sehr dieselbe beim weiblichen Geschlecht Regel ge-
worden ist, so wenig ist sie es beim männlichen. Wird man auch
hunderte von Malen nichts Besonderes finden, so wird man doch
andererseits in einigen wenigen Ausnahrtiefällen nicht die Haupt-
sa(*he übei-sehen, sondern wird (Jas Hinderniss der Harnentleerung
in etwas anderem finden, als in einer Strictur oder Prostatahyper-
trophie.
Die Prognose quoad vitam der Beckenbindegewebsdermoide
ist durchaus gut und es ist bis jetzt noch kein auf ein solches
zurückzuführender Todesfall bekannt, abgesehen von dem nicht mit
Sicherheit hierher gehörigen Falle Danzel. Freilich ist es wohl
denkbar, dass einmal die Verjauchung der Cyste tödtlich werden
könnte, doch kommt Verjauchung in der Regel blos nach unzweck-
mässiger Behandlung vor. Durchbruch der Cyste in die Becken-
oi^ane, besonders in den Darm, kann zwar auch zur Vereiterung
des Balges führen, doch machen sich nach den bisherigen Erfah-
rungen die meisten Cysten durch Dnickerscheinungen bemerkbar,
bevor es zur Perforation kommt, und können also entfernt werden,
bevor sie irgend welche gefährlichen Complicationen veranlassen.
Auf die Prognose der verschiedenen Behandlungsmethoden bezüg-
164
Dr. F. de Quervain,
lieh der Radicalheilung werde ich bei Besprechung derselben
eingehen.
Unter den bisher in diagnostischer und therapeutischer Ab-
sicht ausgeführten Eingriffen sei zuerst die Function besprochen,
anscheinend der harmloseste und doch bei weitem der gefährlichste.
Es ist nicht ohne Interesse, einen Blick auf die verschiedenen
punctirten Fälle zu werfen, unter Berücksichtigung der Jahreszahl
(Antisepsis!), der Punktionsstelle und des Ergebnisses:
Deahna.
Solowjew.
Trzebicky.
Biernacki.
Sänger.
Page.
Schulze.
Hoefer.
de Quervain.
1875.
1883.
1884.
1887,
1886.
1888.
1891.
1894.
1896.
1897.
Vom Rectum aus.
Von der Vagina aus.
? (wahrscheinlich von d.
Gesässgegend aus).
Vom Rectum her (wäh-
rend der Geburt).
Vom Rectum her (wäh-
rend der Geburt).
Vom Rectum her.
Vom Rectum aus.
Von der Analgegend aus.
Wahrscheinlich von der
Gesässgegend her.
Vom 1. Hypogastrium
her.
Acute Verjauchung.
Nach 3 Tagen Exstirpa-
tion.
Von breiter Eröffnung
gefolgt.
Acute Verjauchung.
Keine Reaction.
Keine Reaction, jedoch
ist 9 Monate später der
Inhaltd.Cyste „höchst
übelriechend".
Acute Vereiterung.
Keine Reaction.
Keine Reaction.
Keine Reaction (am fol-
genden Tage breite
Eröffnung).
Diese kleine üebersicht zeigt, dass in drei der vier vom
Rectum her punctirten FäUen eine acute Vereiterung der Cyste
eintrat. In dem vierten Falle trat keine Reaction auf. Nichts-
destoweniger lässt der 9 Monate später „höchst übelriechende"
Cysteninhalt die Vermuthung aufkommen, dass eben doch eine
wenn auch harmlose Infcction des Dermoids stattgefunden habe.
Die im Falle Schulze von der Analgegend aus ausgeführte Func-
tion hatte keinerlei üble Folgen. In den übrigen Fällen war die
Probepunction so nahe von der breiten Eröffnung, resp. Exstirpa-
tion gefolgt, dass dieselben nicht ohne weiteres zum Vergleich
herbeigezogen werden können, wenn die Function schon keinerlei
Reaction zur Folge hatte.
üeber die Dermoide des Beckenbindeffewebes. 165
Wenn wir aus dem Vorstehenden einen Schluss ziehen wollen,
so ist es der, dass die Function vom Rectum aus zu verwerfen
ist. Trotz aller Vorsichtsmaassregeln ist im Rectum von Asepsis
keine Rede und wenn auch das eine oder andere Mal die Function
ungestraft verläuft, so ist man nicht sicher, stets nur mit einem
übelriechenden Dermoidinhalt, ohne schwerere Erscheinungen, weg-
zukommen. Da nun aber die Frobepunction für die Diagnose und
Therapie doch von Bedeutung ist, so gilt es einfach, eine andere
Stelle zu wählen. Ergiebt die Rectaluntersuchung, dass die Ge-
schwulst weit nach unten reicht, so ist es gewiss zweckmässiger,
die Nadel neben dem Steissbein einzustechen, also in einer Ge-
gend, welche einer gründlichen Desinfection zugänglicher ist, als
das des Rectum.
Sitzt umgekehrt die Geschwulst hoch, so dass sie aus dem
kleinen Becken nach oben heraustritt, so kann es, wie in unserem
Falle, leicht sein, dieselbe ohne Nebenverletzungen von der ünter-
bauchgegend her zu erreichen. Im Falle von Fage hätte eine Function
vom Bauche her die Vereiterung der Cyste vermeiden lassen. Gleich-
gültiger ist natürlich die Wahl der Functionsstelle, wenn man in der
Lage ist, sofort die Exstirpation, oder wenigstens die breite Eröff-
nung der Geschwulst anzuschliessen und es empfiehlt sich von
vorne herein, wie schon Sänger betont, die Frobepunction erst
unmittelbar vor der Operation auszuführen. In welchem Moment
man aber auch punctire, so wird man doch stets eine desinficir-
bare einer undesinficirbaren Einstichstelle vorziehen.
Wir kommen zu den eigentlichen Behandlungsmethoden. Als
solche wurden angewendet:
1. Die Kauterisation mit Salpetersäure, von Weinlechner.
Erfolg?
2. Die Incision mit nachfolgender Drainage und antisepti-
scher Ausspülung, in den Fällen von Deahna und Biernacki.
Von Miculicz (Trzebicky) wurde dieses Verfahren versucht,
führte aber nicht zum Ziel. In unserem Falle wurde es als
Nothoperation angewendet, in Voraussicht der Exstirpation des
Balges.
Was den Erfolg betrifft, so blieb im Falle Deahna nach
schwerer Infection eine Fistel zurück. In dem ebenfalls schwer
inficirten Falle Biernacki's kam es zu anscheinender Heilung,
166 Dr. F. de Quervain,
nach zwei Monaten wurde aber eine sich nach einer resultatlosen
Incision zurückbildende phlegmonöse Schwellung der rechten Nates
beobachtet. Die Heilung der Patientin erscheint denn auch etwas
problematisch. Im Falle von Trzebicky wurde die Drainage
während 6 Wochen aufrecht erhalten, ohne dass die Höhle sich
obliterirt hätte.
Es lässt sich aus dem Gesagten schliessen, dÄss die Incision
mit Drainage ein völlig ungenügendes Verfahren ist. Wenn es in
den Fällen von Deahna und Biernacki zu einem gewissen Grade
von Heilung kam, so beruht das darauf, dass in Folge einer
schweren Infection die Wand der Cvste nekrotisch wurde und sich
abstiess. Im Falle von Trzebicky, wo die Verjauchung durch
eine sorgfältige antiseptische Behandlung verhindert wurde, blieb
die Abstossung der Wand aus und damit die Verwachsung.
Herman (36) behauptet freilich, nach langer Eiterung raodi-
ficire sich die Cystenwand derart, dass Obliteration eintreten kimne.
Thornton (36) hält dem entgegen daran fest, dass Verödung
der Cyste nur dann eintrete, wenn die Innenmembran zerstört sei.
Die von Herman angeführten Fälle verdanken denn wohl ihre
Heilung einer Abstossung der Epithelialschicht. Wie dem auch
sei, so wird Niemand seine Patienten heutzutage „gesund eitern**
lassen, wenn es anders sein kann.
3. Die Exstirpation des Balges, die einzige gegenwärtig
berechtigte Behandlungsmethode, wurde von Birkett, König
(Walzberg), Solowjew, Emmet, Mikulicz (Trzebicky),
Sänger, Page, Krevet (Schulze), Fehling (Hoefer), Co-
lonna und de Quervain ausgeführt. In den Fällen von Walz-
berg und Solowjew war die Exstirpation nicht radical, inso-
fern als im Falle Walzberg ein ins Becken reichender Fortsatz,
im Falle von Solowjew der obere Theil des Balges sitzen gelassen
wurde. Während sich der letztere durch Eiterung abstiess und die
Heilung nicht wesentlich beeinträchtigte, blieb im ersten Falle eine
Fistel zurück. Im Falle Sänger schliesslich war trotz der noch
sitzen gebliebenen Balgfetzen die Wunde nach drei Wochen bis auf
eine granulirende Stelle geschlossen.
Das Hauptinteresse nimmt die Operationsmethode in An-
spruch. Wir unterscheiden bei der Besprechung derselben drei
Categorien von Fällen:
Ueber die Dermoide des Beckenbindegewebes. 167
1. Fälle mit hauptsächlich perinealer Entwickelung der
Geschwulst.
2. Fälle mit hauptsächlich abdominaler Entwickelung.
3. Fälle mit wesentlicher Entwickelung des Dermoids in dem
kleinen Becken.
In den Fällen der ersten Gruppe ist es selbstverständlich,
dass vom Damm aus operirt wird. Die einfachsten Verhältnisse
bieten die unter dem Levator ani sitzenden Dermoide. Die zu
wählende Schnittrichtung ist ziemlich gleichgültig und richtet sich
im Einzelnen nach der Form und Lage der Geschwulst. Bei den
weiter hinaufreichenden Geschwülsten, wie sie in den Fällen von
Trzebicky und Hoefer vorlagen, wird die Schnittrichtung zwar
auch von den Verhältnissen des perinealen Theils der Geschwulst
bedingt, muss aber darauf Rücksicht nehmen, ebenfalls die höher
gelegenen Theile des Dermoids zugänglich zu machen. Welche
Schnitte hierfür in Betracht kommen, das wird bei Besprechung
der dritten Gruppe erörtert werden.
Die zweite Gruppe ist einzig durch den von Emmet operirten
Fall vertreten. Bei demselben war die Diagnose auf Ovarialtumor
gestellt worden und es wurde durch Laparotomie ein unter dem
Peritoneum des Douglas liegendes Dermoid entfernt.
Dies führt uns auf die Verwerthbarkeit des Bauch-
schnittes für die Exstirpation der ßeckenbindegewebsgeschwülste.
Die an unserem Falle gemachte Erfahrung veranlasst uns, die J^apa-
rotoraie für solche Geschwülste nicht zu empfehlen, welche zum
Theil retrorectal entwickelt sind und bis in die untere Hälft des
kleinen Beckens reichen. Sucht man die Geschwulst rein extra-
peritoneal zu entfernen, woxu man unter Umständen durch das
starke Emporgedrängtsein des Peritoneums versucht werden könnte,
sp hat man unter Umständen nicht genügenden Raum, um in der
Tiefe zu arbeiten und bei intraperitonealer Operation, welche eine
ausgedehnte Spaltung der Kapsel der Geschwulst verlangt, läuft
man Gefahr, mit der Gefässversorgung des Rectums in Conflict zu
kommen und überdies bei allfälligem und schwer zu vermeidendem
Platzen der Cyste die Bauchhöhle mit Dermoidinhalt zu über-
schwemmen. Dies ist an sich kein schweres Unglück, sollte aber
doch vermieden werden, wenn es möglich ist.
Als Hülfsoperation kann dagegen die extraperitoneale Aus-
168 Dr. F. de Quervain,
schälung der oberen Geschwulsthälfte recht nützlich sein, in Fällen,
wo das Dermoid mit Verschiebung des Peritoneums nach oben
weit in das grosse Becken, resp. in die Bauchhöhle hinaufreicht.
Page berichtet, dass er bei der perinealen Exstirpation des in
seinem Falle bis in Nabelhöhe reichenden Beckenbindegewebs-
dermoides den grössten Theil des Vorderarms in die Wunde ein-
führen musste. Wenn die Verwachsungen, wie im Falk Page's,
nicht bedeutend sind, so lässt sich freilich in dieser Tiefe noch
schonend und sorgfältig enucleiren. Bestehen aber, wie in anderen
Fällen, stärkere Verwachsungen, so würde ein Schnitt im Hypo-
gastrium die Operation wesentlich erleichtern, gefahrloser gestalten
und vielleicht auch abkürzen, ohne die Wundverhältniss zu com-
pliciren.
Wir kommen zur dritten und wichtigsten Gruppe. Da die
derselben angehörenden Dermoide die Dammgegend nicht vor-
wölben, so war der perineale resp. sacrale Weg nicht von vorne
herein gegeben und er wurde, zuerst von Solowjew zu einer un-
vollständigen Exstirpation, dann von Sänger zu einer fast voll-
ständigen Ausschälung gewählt, weil jeder andere Weg sich als
ungeeignet erwies. Das Verdienst Sänger 's war es dann, diesen
AVeg in systematischer Weise ausgebildet zu haben. In gleicher
AVeise operirte später Fehling in dem Hoef er 'sehen Falle. Page
dagegen ging von einem halbmondförmigen Querschnitt zwischen
After und Steissbein aus und Colonna bediente sich endlich des
Parasacralschnittes, der auch in unserem Falle zur Anwendung
gekommen ist.
Wir haben also drei mit einander in Concurrenz tretende
Schnitte für die perineo- sacrale Exstirpation der Beckenbinde-
gewebsgeschwülste , nämlich die Sängcr'sehe seitliche Perineo-
tomie, den queren retroanalen Dammschnitt und endlich den von
E. Zucker kandl und Wölflcr eingeführten Parasacralschnitt.
Schulze schlägt noch den in seinem Falle zur Verwendung
gekommenen Schnitte von der Steissbeinspitze bis an oder neben
den Anus vor, um den Levator ani zu schonen. Dieser Schnitt
war iii Schulze's Fall ganz angezeigt, da die genannte Distanz
durch die Vorwölbung der Geschwulst auf 10 cm ausgedehnt war.
In der Mehrzahl der anderen Fälle, besonders wenn der untere
Pol der Geschwulst nicht bis zum Steissbein herunterreicht, wird
üeber die Dermoide des Beckenbindegewebes. 169
er nicht genügenden Zugang geben. Schulze schlägt denn auch
für grössere oder seitliche Dermoide den Sänger' sehen Schnitt vor.
Von der sacralen und parasacralen Methode kann man seiner An-
sicht nach wohl ausnahmslos absehen. Sänger selbst verzichtete
darauf, die Perineotomie und ihre Concurrenzoperationen , den
Parasacralschnitt und die Kreuzbeinresectionen, gegen einander ab-
zuwägen, da ein genügend grosses V^ergleichsraaterial ihm (anno 1890)
noch vollständig fehlte. Auch Schulze hat noch keine sacral oder
parasacral operirter Fall zum Vergleich vorgelegen. Sein nichtsdesto-
weniger absprechendes Urtheil gründet er darauf, dass von 10 rctro-
rectalen Dermoidcysten 6 „durch einfachen Hautschnitt von aussen"
aufgesucht worden seien und dass sich unter diesen 6 gerade die
Fälle befunden haben, deren Heilung die kürzeste Zeit in Anspruch
genommen habe. Die Erfahrung spreche somit entschieden dafür,
bei der Operation von retrorectalen Dermoidcysten eingreifende
Voroperationen mit Wegnahme von Knochen und Durchschneidung
von Bändern zu vermeiden. Die Oberflächlichkeit dieses Urtheils
geht schon daraus hervor, dass unter den genannten 6 Fällen sich
z. B. diejenigen von Birkett und Küster befinden, in welchen
es sich um kleine, zwischen Steissbein und After liegende Cysten
handelte, für deren Entfernung der Parasacralschnitt gar nicht in
Frage kommen konnte. Dass diese kleinen Cysten von einem
beliebigen Hautschnitt aus mit kurzer H^ilungsdauer entfernt werden
können, ist selbstverständlich und hat nichts mit der Frage zu
thun, ob für hochsitzende, grosse Cysten die Sänger'sche laterale
Perineotomie, oder der Parasacralschnitt vorzuziehen sei.
Bevor wir die genannten Methoden vergleichen, wollen wir
noch kurz das Vorgehen Sänger 's beschreiben.
„In Steissrückenlage — die Seitenlage bietet vielleicht noch
grössere Raumvortheile — ist durch einen 8 cm langen Hautschnitt
vom hinteren Drittel des Labium majus nach hinten, etwa 2 cm
über den After hinaus, und zwar in der Mitte zwischen Tuber
ischii und letzterem, das Cavum ischiorectale eröffnet. Man sieht
im hinteren Wundwinkel die Bündel des Glutaeus maxiraus, nach
aussen das Tuber ischii, nach innen den Mastdarm sammt Scheide,
nach oben das Diaphragma pelvis. Noch vor dem Durchtrennen
desselben ist die derart freigelegte Höhle des Cavum ischio -rectale
durch die halbe Hand bequem auszutasten. Nach sagittaler Durch-
170 Dr. F. de Quervain,
trennung des Levator ani lässt sich die ganze Hand einführen, bis
hinauf zum Bauchfelle. Mit grösseren Gefässen und Nerven, mit
den Harnleitern stösst man nicht zusammen. Verletzungen der
Scheide und des Mastdarmes sind ausgeschlossen."
Der quere, zwischen Anus und Steissbein gelegte Dammschnitt
bedarf keiner besonderen Beschreibung, ebensowenig der von der
Aftergegend zur Articulatio sacro-iliaca verlaufende Parasacral-
schnitt. Wenn man diese drei Schnitte mit einander vergleichen
will — von der Kreuzbeinresection sehen wir ab, weil sie, für un-
sere Fälle wenigstens, durch den Parasacralschnitt genügend ersetzt
sein dürfte — , so fällt zu Gunsten der Sänger 'sehen lateralen,
sagittalen Perineotomie der Umstand in die Wagschale, dass dieser
Schnitt als einzige Nebcnverletzung einen Levator ani durchschneidet.
Der quere Dammschnitt durchtrennt beide Levatores und der Para-
sacralschnitt opfert die Ligg. sacrospinosum und sacrotuberosura.
Dass die einseitige Durchtrennung dieser Bänder für den Patienten
einen schweren Nachtheil bedeutet, ist nicht anzunehmen. Jeden-
falls ist man dazu berechtigt, sobald die Operation dadurch wesent-
lich erleichtert wird. Bei der Wahl der Methode ist schliesslich
noch das Geschlecht des Patienten zu berücksichtigen. Alle bis-
herigen Operationen wurden beim weiblichen Geschlecht ausgeführt,
dessen Beckenboden sich für den Sänger' sehen Schnitt gewiss
besser eignet, als derjenige des männlichen Geschlechts. Beim
Manne würde der Schnitt nach vorn in die blutreiche Gegend des
Bulbus urethrae reichen, was schon an sich nicht als ein Vortheil
angesehen werdeji kann. Was nun die Hauptsache, nämlich den
Zugang zum Operationsgebiet betrifft, so hat zweifellos jeder der
drei Schnitte seine Vorzüge. Für die selteneren, rein medianen
retrorectalen Dermoide schlägt Sänger selbst den queren Damm-
schnitt vor und empfiehlt, den beiderseitig durchtrennten Levator
ani zu nähen. Vielleicht Hesse sich auch nach querem Hautschnitt
eine sagittale Trennung der beiden Levatores vornehmen, so dass
die Schädigung auf ein Minimum vermindert würde.
Für verhältnissmäÄsig weit nach unten reichende Dermoide,
und ganz besonders beim weiblichen Geschlecht, dürfte, sobald der
Tumor seitlich sitzt, die Sänger' sehe Perineotomie den besten
Zugang geben. Steht dagegen der untere Pol des Dermoids höher,
so wird sich der Parasacralschnitt durch keine andere, die Skelett-
Ueber die Dermoide des Beckenbindegewebes. 171
theilc schonende Schnittführung ersetzen lassen. Es wurde mir
dies deutlich bei der Operation meines Patienten. Ich ging zuerst
von der analen Hälfte des Parasacralschnittes aus in die Tiefe — ,
also in der Gegend, welche der hinteren Hälfte des Sänger 'sehen
Schnittes entsprechen würde — , kam aber nicht auf den Tumor, der
freilich trotz Ausstopfung mit Gaze bei weitem nicht mehr sein
ursprüngliches Volumen hatte. Dann führte ich den Schnitt durch
die Bänder hinauf bis an die Articulatio sacro-iliaca. Nun gelang
es mit Leichtigkeit, die Geschwulst freizulegen und den Balg auch
aus der -entgegengesetzten Beckenhälfte auszuschälen. Der Unter-
schied im Zugang durch den Parasacralschnitt im Vergleich yu dem-
jenigen mit der Sänger'schen Perineotomie schien mir dadurch
klar gelegt. Ich würde demnach, soweit es wenigstens berechtigt ist,
nach einer einzigen Erfahrung zu urtheilen, für alle hochsitzenden
Geschwülste der Kreuzbeinaushöhlung dem Parasacralschnitt den
Vorzug geben.
Es erübrigt nun noch, kurz im Allgemeinen die therapeuti-
schen Indicationen bei Beckenbindegewebsdermoiden zu berühren.
Beim weiblichen Geschlecht besteht ein principieller Unterschied
darin, ob man die Geschwulst ohne oder mit Schwangerschaft resp.
Geburt vor sich hat. Ist die Patientin nicht schwanger, so giebt
es nur eine Indication: die völlige Ausschälung des Balges, sobald
mit Hülfe einer womöglich nicht vom Rectum aus ausgeführten
Probepunction die Diagnose festgestellt ist. Bei der Wahl des Ver-
fahrens wird man sich in der oben angegebenen AVeise nach den
localcn Verbältnissen richten. Sollte die Cyste bauchwärts sehr
aasgedehnt sein, so würde eine Combination der perinealen resp.
parasacralen mit der abdominalen, aber extraperitonealen Methode
in Frage kommen. Die Operation sollte aber immer vom Damme
her begonnen werden, da es eher möglich ist, dieselbe allein von
da aus zu Ende zu bringen, als ausschliesslich von einem Bauch-
schnitte aus. Beim Eingehen auf den Tumor vergesse man nicht,
dass derselbe von einer mehr oder woniger deutlichen Bindegewebs-
kapsel umgeben sein kann, innerhalb welcher die Ausschäliing vorzu-
nehmen ist, wenn man Blutungen und Nebenverletzungen möglichst
vermeiden will. Das die Cyste bedeckende Bindegewebe muss
also Schicht für Schicht sorgfältig durchtrennt werden, bis man
auf den eigentlichen, mehr oder weniger schwartigen, meist gelb-
172 Dr. F. de Quervain,
lieh weissen Balg kommt, zwischen dem und der Bindegewebshülle
die Ausschcälung stumpf an den meisten Stellen ohne Schwierig-
keit gelingt. Ist die Cyste geplatzt, so kann es von Nutzen sein,
sie gleich ganz zu entleeren und dann mit Gaze auszustopfen, um
sich die Ausschälung und besonders die Orientirung in der Tiefe
zu erleichtern. Ist die Exstirpation beendet, so wird die "Wunde
genäht und drainirt. Die Tamponnade wird bei primärer Exstir-
pation besser vermieden. Der Patient ist trotz der Wunde in der
Gesässgegend auf den Rücken zu lagern, damit der Druck der Ein-
geweide die Wundflächen möglichst in Contact erhält.
Findet man eine solche Cyste intra partum als Geburtshin-
derniss, so könnte man freilich mit Sänger daran denken, die-
selbe gleich vom Damm aus zu entfernen. Da man aber nicht
immer in der Lage ist, während einer Geburt dieser Anforderung
gerecht zu werden, so wird man sich in manchen Fällen mit der
Entleerung der Geschwulst begnügen müssen. Am besten wäre
die breite Eröffnung von der zugänglichsten Stelle — aber weder
von der Scheide, noch vom Rectum aus — und ausgiebige Drai-
nage. Daran müsste sich sobald wie möglich die Exstirpation als
einzig rationelle Behandlung anschliessen. Sollten es die Verhält-
nisse nicht einmal gestatten, die sofortige breite Eröffnung auszu-
führen, so wird man freilich im Nothfalle zur blossen Function
greifen müsssn. Doch sollte dieselbe unter keinen Umständen vom
Rectum aus ausgeführt werden. Wenn eine Cyste vom Innern des
Mastdarmes her zu erreichen ist, so ist sie es gewiss auch von der
Steiss- und Kreuzbeingegend her, und es giebt keinen Grund, um die
Entleerung nicht von dieser Stelle aus vorzunehmen, die doch
wenigstens der Bürste zugänglich ist. Nach der Entbindung ist
natürlich die Ausschälung des Cysten balges so rasch als möglich
auszuführen.
Beim Manne, scheint es, sollte eine Nothlage, wie diejenige
einer durch den Tumor behinderten Geburt nicht vorkommen, in
der man zu einer Nothoperation gedrängt werden könnte. Und
doch war dies bei unserm Patienten der Fall, wie oben auseinander-
gesetzt wurde, indem völlige Harnverhaltung, falscher Weg mit
starker Blutung und nicht auszuschliessender Infection ein zwei-
zeitiges Verfahren vorziehen liessen. Als Regel wird man dagegen
Ueber die Dermoide des Beckenbindegewebes. 173
diese keineswegs wünschenswerthe Verzögerung der Behandlung
zu vermeiden suchen und die Geschwulst primär entfernen.
Zum Schluss dürfte es nicht überflüssig sein, noch einmal,
wie es schon Trzebicky und besonders Sänger gethan, in An-
betracht der sich mehrenden Beobachtungen darauf hinzuweisen,
dass die Dermoide des Beckenbindegewebes eine eigene, gut cha-
racterisirtc Gruppe von Dermoiden darstellen, welche in klinischer
Beziehung mehr gewürdigt zu werden verdient, als das bisher der
Fall war.
Literatur.
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2) Sänger, Ueber Dermoidcysten des Beckenbindegewebes und Operation von
Beckengesch Wülsten durch Perineotomie. Arch. f. Gynäk. XXXVII. S. 100.
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Centralbl. für Gynak. 1888. S. 439. — 4) Bryk, Dieses Archiv. Bd. XXV.
S. 805. — 5) Woelfler, Wiener med. Wochenschr. 1885. No. 43. — 6)
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baner, üeber sacrale Dermoide. Prager med. Wochenschr. 1893. No. 36. —
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Ueber Dermoidcysten des Beckenbindegewebes. Inaug.-Diss. Halle. 18%. —
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1896. p. 200. — 13) Page, Large extraperitoneal derraoYd cyst, successfuUy
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and the coccyx. Brit. med. Journ. 1891. I. p. 406. — 14) Birkett, Guy's
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Trzebicky). — 18) Weinlechner, Zwei Dermoidcysten, von der vorderen
Fläche des Steissbeines ausgegangen etc. Ber. d. k. k. Krankenanst. Rudolph-
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174 Dr. F. de Quervain, Ueber die Dermoide des Beckenbindegewebes.
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rectale Dermoidcyste als Geburtshindemiss. Inaug.-Diss. Berlin. 1887. — 23)
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pendant raccouchement. France m^d. Paris. 1864. II. p. 872. — 24)
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burt. Centralbl. für Gynäk. 1889. No. 44. — 26) Barker, Cit. in Duplay'et
Reclus, Trait6 de Chirurg. VII. p. 66. — 27) Makris, Kyste dermoide
alveolaire pilograisseux rötrouterin. Traitement par punction et plus tard par
incision du cöte du vagin. Gui^rison complete. Gazette m6d. de l'Orient. Con-
stantinople. 1885/86. XXVIII. p. 326. — 28) Barette, Tumeur dermoide
du cul-de-sac du Douglas. Congres de gyndcologic etc. Tenu ä Bordeaux.
Semaine ni6dicale. 1,895. p. 343. — 29) Küster, Verhandlungen d. deutsch.
Chirurgencongresses 1884. — 30) Marchand, 22. Bericht der Oberhess. Ge-
sellschaft für Natur- und Heilkunde. (Cit. nach Hoofer.) — 31) Latte,
Ueber ein primär im Retroperitonealraum entstandenes Adenomyoma myxo-
sarcomatodes. Inaug.-Diss. Erlangen. 1897. — 32) De Lavigne Sainte-
Suzanne, Etüde des kystes hydatiques du petit bassin. These de Bordeaux,
1893. — 33) Routier, Kyste hydatique du petit bassin chez l'homme. Kyste
du cul-de-sac v6sico-rectal. Semaine mddicale. 1894. p. 137. — 34) Martini,
Ueber Trichiasis vesicae. Dieses Archiv. XVII. S. 449. — 35) Franke 1,
Ueber Dermoidcysten der Ovarien und gleichzeitige Dermoide (mit Haaren) im
Peritoneum. Wiener med. Wochenschrift. 1883. No. 28, 29 und 30. — 36)
Herman, On the suppuration and discharge into mucous cavities of dermoid
cysts of the pelvis. Lancet. 1885. II. p. 953.
VII.
Experimentelle Untersuchungen über die
Entstehung der Erkrankungen der Luftwege
nach Aethernarkose.
Von
Dr. Richard HSIscher,
Oberärzte an der Egl. chinirg. Klinik zu Kiel.
Seitdem im letzten Jahrzehnt der Aether nicht nur im Aus-
lande, wo er sich ja eigentlich nie durch das Chloroform ganz
verdrängen Hess, sondern auch in Deutscliland als Narcoticum
wieder mehr in Aufnahme gekommen ist, in der Weise, dass jetzt
an sehr vielen Kliniken unseres Vaterlandes der Aether als fast
ausschliessliches Betäubungsmittel, das Chloroform nur in Aus-
nahmefällen angewandt wird, seit dieser Zeit ist in einer grossen
Menge von VeröfiFentlichungen die Streitfrage, welches der beiden
Mittel das bessere, das ungefährlichere sei, in "der mannigfachsten
Weise erörtert worden (vergl. Garre, Körte, Mikulicz, Bruns,
Vogel, Tschmarke, Grossraann, AVitzel, Silex, Riedel,
Poppert, Gurlt's Narkotisirungsstatistiken). Während im All-
gemeinen anerkannt wird, auch von Denjenigen, welche dem Cliloro-
form den Vorzug geben, dass der Aether während der Narkose
selbst bei weitem weniger Gefahr bringt, da er das Herz nicht
schädige, wird andererseits auch von den ^.Aetherfreunden" — wenn
ich sie so nennen darf — zugegeben, dass seine Anwendung in-
sofern Nachtheile habe, als sich häufig üble Nachwirkungen nach
der Narkose einstellen, Nachwirkungen, welche bei der Chloroform-
narkose in der Regel fehlen, und die in einer mehr oder weniger
hochgradigen Affection der Luftwege, einer Bronchitis, manchmal
176 Dr. R. Hölscher,
auch Bronchopneumonie bestehen, welch' letztere unter Umständen
zum Tode führen kann und auch häufig geführt hat. Poppert,
welcher auch das Lungenödem, welches nicht selten bei der
Autopsie in oder nach der Narkose Gestorbener gefunden wurde,
auf die Einwirkung des Aethers zurückführt, formulirt seine Ansicht
über den Werth des Chloroforms und des Aethers als Narcotica
Ibigendermaassen: Beim Aether ist der Tod während der Narkose
seltener, als beim Chloroform, umgekehrt treten nachträglich,
oft noch lange Zeit nach beendigter Narkose beim Aether üble
Zufälle mit und ohne tödtlichen Ausgang ungleich häufiger auf,
als beim Chloroform. Die meisten Beobachter stimmen darin
überein, dass die Ursache der so häufig nach der Aethernarkose
entstehenden AfFectionen der Luftwege, die man deshalb auch
kurzweg Aetherbronchitis und -pneumonie nannte, darin zu suchen
sei, dass die Aetherdämpfe einen specifischen Reiz auf die Schleim-
haut des Respirationstractus ausüben und dadurch eine vermehrte
Secretion und eine Entzündung derselben zur Folge haben. Nach
Bruns beruht diese Reizung der Bronchialschleimhaut nicht auf
der Wirkung der Aetherdämpfe an und für sich, sondern auf der
Wirkung verunreinigten Aethers; nach ihm „bilden sich im Aether
durch einfachen Luftzutritt schädliche Verunreinigungen durch
Oxydationsproducte , von denen zweifellos starke Reizungen der
Schleimhäute beim Einathmen ausgehen können".
Im Laufe der letzten Jahre wurden nun von verschiedener
Seite (Bruns, Körte, Riedel, Gurlt's Statistiken) Beobach-
tungen mitgetheilt, welche geeignet waren, einen Zweifel an der
auch jetzt noch fast allgemein anerkannten Ansicht über die
Ursachen der nach Aethernarkose entstehenden Lungenaffectionen
aufkommen zu lassen. Es wurden Fälle beobachtet ^ bei denen
auch nach Chloroformnarkose, ja sogar nach unter Localanaesthesie
ausgeführten Operationen Bronchitiden und Pneumonieen schwerster
Art auftraten, welche unbedingt, wenn Aether zur Narkose benutzt
worden wäre, diesem in die Schuhe geschoben sein würden. Der-
artige Fälle kamen auch an unserer Klinik, an der bis vor ca.
1 Jahre vorwiegend Chloroform angewandt wurde, vor, auch hier
wurden sogar nach Operationen unter Schleich'scher Local-
anaesthesie verschiedentlich schwere Bronchitiden beobachtet.
Diese Beobachtungen lehren uns, dass man, wie Bruns sagt,
Experiment. Unters, üb. d. Entstehung d. Erkrankungen d. Luftwege etc. 177
das „post hoc ergo propter hoc nicht verallgemeinern darf", dass
man nicht in allen Fällen dem Aether für etwaige nach seiner
Anwendung entstandene Lungenafifectionen die Schuld beimessen
darf. Trotzdem bleibt nach den übereinstimmenden Angaben fast
aller Autoren die Thatsache bestehen, dass nach der Aethemarkose
ungleich viel häufiger Erkrankungen der Luftwege vorkommen,
als nach der Anwendung von Chloroform oder von anderen Nar-
kotisirungsmitteln , eine Thatsache, welche bis jetzt noch eine
grosse Anzahl Chirurgen Deutschlands von der allgemeinen An-
wendung des Aethers zurückgehalten hat.
Nauwerck und Grossmann fanden für diese unbestrittene
Thatsache eine andere Erklärung^. Ersterer kam auf Grund zweier
Sectionen von Leuten, die an sogenannter Aetherpneumonie zu
Grunde gegangen waren, zu der Anschauung, „dass es sich in
diesen Fällen lediglich um eine Autoinfection gehandelt habe". Er
glaubt, „dass die Aetherpneumonie, wenn nicht immer, so doch
häufig, in diesem Sinne zu deuten ist". Als Quelle dieser Auto-,
infection sieht Nauwerck die Mundhöhle an, „die ja gerade die
Bacterien häufig beherbergt, welche bei der Entstehung der akuten
Pneumonieen die Hauptrolle spielen". Die Art und Weise der
Infection erklärt er in folgender Weise: „Zwei Momente kommen
in Betracht, einmal, dass die Aetherdämpfe durch directe Ein-
wirkung eine Anaesthesie resp. Lähmung von Gaumensegel, Zungen-
basis und Kehldeckel erzeugen, so dass reichlich Schleim und
Speichel in die Luftwege fliessen kann. Sodann die vermehrte
Schleim- und Speichelabsonderung, die in meinen beiden Fällen
während der Operation sich durch Röcheln und Rasseln bemerk-
bar machte, und welche, in verschiedenem Grade freilich, die
Aethemarkose häufig zu begleiten scheint. Es ist anzunehmen,
I dass hierbei die Grenze zwischen der infectiösen Mundrachenhöhle
und den im allgemeinen wohl sterilen Luftwegen aufgehoben wird,
indem das beiderseitige Secret, bei der Athmung hin und her
bewegt, sich mischt".
Auf Grund klinischer Beobachtungen kam Grossmann zu
einer ganz ähnlichen Anschauung über die Entstehung der Lungen-
affectionen nach der Aethemarkose. Nach ihm sind „die üblen
Symptome des Schleimrasselns in Trachea und Bronchien, verbunden
mit mühsamer Respiration, Erscheinungen, welche immer als
ArehiT Ar klin. Chirargie. 67. Bd. Heft 1. 12
178 Dr. R. Hölsoher,
charakteristisch für die Aethemarkose angegeben werden, nicht so-
wohl eine Folge des Aethers an und für sich, als vielmehr die
Folge einer falschen Technik in der Anwendung des Aethers.
Sorgt man, so meint Grossmann, während der Narkose dafür,
dass aller in Nase, Mund und Rachen sich bildender Schleim
sofort abfliessen kann und zwar, noch ehe er durch die bei der
Aethemarkose meist etwas erregte Respirationsthätigkeit aspirirt
wird, dann beobachtet man niemals, weder während noch nach
der Narkose, auch nur die geringsten Rasselgeräusche, welche auf
eine Secretion in Trachea und Bronchien hinweisen könnten. Ent-
stehen also bei der Aethemarkose Rasselgeräusche in der Trachea
und den Bronchien, so stammen sie ausschliesslich daher, dass der
in Nase, Rachen und Mund manchmal recht reichlich entstehende
Schleim und Speichel aspirirt wird. Wenn man nun bedenkt, wie
reichlich der Nasen- und Rachenschleim, besonders bei den mit
Foetor ex orc behafteten Personen, an Mikroorganismen ist, so
wird man es begreiflich finden, dass solcher Schleim, wenn aspi-
rirt, Lungenaflfectionen verursacht".
Es stehen sich also über die Ursache der im Gefolge der
Aethemarkose sich entwickelnden Lungenerkrankungen zwei An-
sichten gegenüber, die eine auch jetzt noch fast allgemein herrschende,
dass die erwähnten Erkrankungen auf einer durch die Aetherdärapfe
direct hervorgerufenen Reizung der Schleimhaut der Luftwege be-
ruhen, die andere von Nauwerck und Grossmann vertretene,
dass in vielen Fällen (Nauwerck), oder gar lediglich (Gross-
mann) der Aspiration des bei der Aethemarkose reichlich secer-
nirten Mundspeichels und Schleims die eventuell entstehende
Bronchialaffection zuzuschreiben sei. Einen directen Beweis für
die Richtigkeit ihrer Anschauungen bleiben uns aber sowohl die
Vertreter der ersten, als auch der Hauptvertreter der anderen
Ansicht, Grossmann, schuldig. Während die ersteren aus dem
laut hörbaren Tracheal- und Bronchialrasseln auf eine vermehrte
Secretion in diesen Luftwegen schliessen zu müssen glauben, zieht
G. daraus, dass kein Rasseln entsteht, wenn für guten Abfluss
des Mundinhalts nach aussen während der Narkose gesorgt wird,
den Schluss, dass in den Luftwegen überhaupt keine vermehrte
Secretion statthabe. Bei der ungeheueren Wichtigkeit dieser Streit-
Experiment. Unters, üb. d. EntvStehung d. Erkrankungen d. Luftwege etc. 179
frage beschloss ich, einer experimentellen Prüfung derselben näher
zu treten.
Bei jeder Narkose findet in der Mundhöhle eine Ansammlung
von Flüssigkeit statt, die aus einer Mischung von Speichel und
Schleim besteht, und die, abgesehen von individuellen Verschieden-
heiten, bei der Chloroformnarkose in der Regel in verschwindend
geringer Menge, bei der Aethemarkose dagegen meist in ganz
ausserordentlich hohem Grade abgesondert wird. Es ist ohne
Weiteres klar und verständlich, dass diese sich im Munde und im
Rachen ansammelnde Flüssigkeit unter Umständen in die Luftwege
gerathen kann, sobald bei der Narkose das Toleranzstadium er-
reicht, sobald Lähmung der Gaumenmuskulatur und Insensibilität
des Kehlkopfs eingetreten ist. Da nach Grossmann das bei der
Aethernarkoso entstehende Schleimrasseln in Trachea und Bronchien
auf Aspiration dieses Mundinhaltes beruhen, da die letztere durch
mangelhafte Technik während der Narkose herbeigeführt sein soll,
so war es zunächst wichtig, zu wissen, unter welchen Bedingungen
eine solche Aspiration während der Narkose erfolgt. Dies suchte
ich in einer Reihe von Versuchen zu ergründen, zu denen ich zum
grössten Theil Hunde und Kaninchen verwandte. Die Hunde nar-
kotisirte ich bald mit Chloroform, bald mit Aether, die übrigen
Thiere wegen ihrer geringen Widerstandsfähigkeit gegen das Chloro-
form nur mit Aether. Nach dem Vorgange von Sehrwald, welcher
ausgedehnte Versuche über die Flüssigkeitsvertheilung in den Lungen
nach intratrachealer Injection angestellt hat, färbte ich in den
meisten Fällen, um sicher zu sein, ob etwaige bei der Autopsie
in den Bronchien gefundene Flüssigkeit aus der Mundh()hle stamme
oder nicht, die letztere mit Gentianaviolett, welches ich nach
Beginn des Toleranzstadiums entweder in Substanz, d. h. in etwa
hanfkorngrosser, durch geringen Wasserzusatz breiig gemachten
Klämpchen auf Zunge und Gaumen brachte und durch Auf- und
Zuklappen des Unterkiefers, durch Hin- und Herwälzen der Zunge
im Maule vertheilte, oder in einer concentrirten Lösung zu 1 oder
2 — 3 ccm im Verlauf der Narkose in die Mundhöhle injicirte und
auf dieselbe Weise hier vertheilte. In der Regel Hess ich dann
die Thiere, vom Beginn der tiefen Narkose an gerechnet, eine
Stande in derselben und suchte mich nun über den Eintluss,
12*
180 Dr. R. Hölscher,
welchen die Lagerung des narkotisirten Thieres auf das Hinab-
gelangen der im Munde befindlichen Flüssigkeit in die Luftwege
ausübte, zu orientiren, indem ich die Thiere während der ein-
stündigen Narkose entweder in Horizontallage, oder in Schräglage,
letztere einmal mit hoch, ein anderes Mal mit tief gelagertem Kopf
liegen licss, sie dann tödtete und die Respirationsorgane sofort auf
etwa hineingelangte Mundflüssigkeit hin untersuchte. In der eben
beschriebenen Weise wurden mit geringen Modificationen folgende
Versuche angestellt:
I. Horizontale Lagerung des Körpers und Kopfes.
Versuch 1: Schwarzbrauner Pinscher. Aethernarkose 70 Min. Massige
Speichelsecretion. Bei Beginn der tiefen Narkose Injection von 1 ccm con-
centrirter wässeriger Gentianaviolettfarbung, im weiteren Verlauf der Narkose
werden noch weitere 3 ccm Farblösung im Maule vertheilt. Starkes Rasseln
im Schlünde, Kehlkopf nnd Trachea hörbar. Schaumiger blauer Schleim fliesst,
wenn man den Kopf des Thieres auf die Seite dreht, ab. Tödtung durch Ver-
blutung. Sofort Hals- und Brusteingeweide unter Vorsichtsmaassregeln , so
dass eine Lageveränderung des in den Luftwegen befindlichen Secretes aus-
geschlossen ist, herausgenommen. Befund: Larynx, Trachea, sammtliche
Bronchien, grosso sowohl wie kleine und kleinste, zeigen dunkelviolett im-
bibirte Schleimhaut. Ueberall ist der Farbstoff mehr oder weniger weit in das
Lungengewebe vorgedrungen, an vielen Stellen sogar bis an die Pleura, wo
er deutlich sichtbare, stecknadelkopfgrosse und grössere confluirende Flecken
hervorgebracht hat. Sammtliche Lappen sind ohne grosse Unterschiede befallen,
die unteren etwas mehr als die übrigen.
Versuch 2: Ausgewachsenes Kaninchen. Aethernarkose 35 Min. lang.
Keine Salivation bemerkbar, tropfenweise 2 com Farblösung im Maule vertheilt.
Rasseln. Spontaner Tod. Befund: Trachea und Bronchien von schaumig-
blauem Schleim angefüllt; Lungen stark emphysematös, zahlreiche blaue Flecken
an der Oberfläche, besonders stark beide Oberlappen gefärbt, der rechte mehr
als der linke.
Versuch 3: Grosses braunes Kaninchen. Aethernarkose eine Stunde.
2 ccm Farblösung tropfenweise im Maule vertheilt. Starke Speichelsecretion,
der Speichel fliesst bei Seitwärtsdrehung des Kopfes, blau gefärbt ab. Tracheal-
rasseln ziemlich stark. Tod durch Verblutung. Befund: Auf der Schleimhaut
der Trachea und der Bronchien überall blau gefärbter schaumiger Schleim.
In der linken Lunge sind überall, besonders aber im Unterlappen, die Bronchien,
selbst die kleinsten, intensiv gefärbt, in der rechten Lunge sind die kleineren
Bronchien nur schwach gefärbt. Beide Lungen hellroth, lufthaltig, an manchen
Stellen emphysematös.
Versuch 4: Hund. Chloroformnarkose 1 Stunde lang. 5 Tropfen Färb-
Experiment Unters, üb. d. Entstehung d. Erkrankungen d. Luftwege etc. 181
lösang im Manie vertheilt, später noch ein hanfkorngrosser Klumpen von
Gentiana?iolettbrei. Sehr geringe Speichelseoretion , nur ab und zu Rasseln
hörbar im Schlünde. Tod durch Verblutung. Befund : Kehlkopf und Trachea
bis zur Bifurcation in allmalig abnehmendem Maasse blau gefärbt. Bronchien
und Lungen völlig frei von Färbung.
Versuch 5: Hund. Chloroformnarkose 1 Stunde lang. Der Kopf wird
nur die erste Viertelstunde in Rückenlage gehalten, die übrigen 3 Viertelstunden
auf die linke Seite gelagert. Geringe Speichelsecretion , Gentianaviolettbrei
im Maule vertheilt. Tod durch Verblutung. Befund : Kehlkopf intensiv blau,
Trachea allmalig abnehmend bis 10 cm unterhalb des Ringknorpels (Gesammt-
länge der Trachea = 14 cm) blau gefärbt. Uebrige Trachea, Bronchien,
Lungen ohne jede Färbung.
Versuch 6: Hund. Kopf theilweise in Rücken-, theils in linker Seiten-
lage gehalten, ebenso der übrige Körper. Chloroformnarkose 1 Stunde lang.
Starke Schleimabsonderung, meist starkes Tracheairasseln hörbar. Gentiana-
violettbrei im Maule vertheilt. Tod durch Verblutung. Befund: Kehlkopf,
Trachea und grosse Bronchien mit schaumigem blauem Schleim bedeckt; in den
Bronchien des rechten Lungenlappen ist die Färbung nur schwach, am
stärksten noch in dem obersten rechten Hauptbronchus. Die linken Bronchien
viel intensive gefärbt, selbst die kleineren Bronchien zeigen deutliche blaue
Färbung.
Versuch 7: Grosser Hund. Rumpf in rechter Seiten-, Kopf in Rücken-
lage. Aeihernarkose 1 Stunde lang. Gentianaviolettbrei im Maule vertheilt.
Starke Sali vation, starkes Rasseln. Tod durch Verblutung. Befund: Kehlkopf
gleichmässig schwach blau gefärbt, in der Trachea ist die Blaufärbung nur auf
die rechte Hälfte des Trachealumfanges beschränkt. Die ganze Trachea hinab
zieht sich in ihrer rechten Hälfte liegend ein Streifen zähen, schaumigen
Schaumes, der blau gefärbt ist, mit scharfer Linie die linke Trachealhälfte frei
lässt, sich an der Bifurcation in den rechten Hauptbronchus hincinbegiebt und
sich von hier aus in sämmtliche von Letzterem abgehenden Bronchien vertheilt,
während er den linken Hauptbronchus völlig unberührt lässt.
Versuch 8: Hund. Rumpf und Kopf in rechter Seitenlage. Aether-
narkose 1 Stunde lang. Starke Salivation, Gentianaviolettbrei im Maule ver-
theilt, Rasseln im Schlünde, sehr viel blauer Schleim entleert sich aus dem
rechten Mundwinkel. Tod durch Verblutung. Befund: Kehlkopf und Trachea
bis ^a den obersten 5 Knorpelringen an beiden Seiten ziemlich gleichmässig
blau gefärbt und mit schaumigem Schleim bedeckt. Sonst Trachea und Bron-
chien ohne Färbung und Secret.
Versuch 9. Meerschweinchen. Rumpf und Kopf in Rückenlage. Aether-
narkose IY2 Stunde lang. Massige Salivation, als deren Folge man manchmal
klaren Schleim aus dem Munde hervorkommen sieht; starkes Rasseln. Tödtung
durch Nackenstich, nachdem vorher der Kehlkopf herauspräparirt ist, um As-
piration während derAgone zu verhüten. Befund: Kehlkopf mit grünlichgelbem,
schaumigem Schleim gefüllt, die Trachealwand ebenfalls hinab bis zu den
grossen Brochien mit einer Schicht ähnlichen Schleimes bedeckt. Im Maule
182 Dr. H. HÖlscher,
besonders hinten der nämliche grünlich gelbe Schleim. Mikroskopisch erweist
sich der der Trachea aufliegende Schleim als aus zahlreichen Pflanzenfasern,
Plattenepithelien, spärlichen Leucocyten und Mikrokokkenhaufen bestehend.
Der gelbliche Mundinhalt hat dieselbe Zusammensetzung: In den grösseren und
kleineren Bronchien lassen sich ebenfalls Pflanzenfasern mikroskopisch nach-
weisen.
Versuch 10: Dachshund. Rückenlage. Chlorofonnnarkose 1 Stunde
lang. Geringe Speichelabsonderung. Gentianaviolettbrei im Maule verthoilt.
Im Rachen manchmal Rasseln hörbar, mehrfaches Aufwachen aus der tiefen
Narkose, wobei Schluckbewegungen gemacht werden. Tod durch Verblutung.
Befund: Gefärbt ist nur Kehlkopf und oberster Trachealring, die übrige Trachea
und die Bronchien ohne Färbung und Secret.
Versuch 11: Hund. Seitwärtslagerung des Kopfes und des Rumpfes.
Aethemarkose 1 Stunde lang. Gentianaviolettbrei im Maule vertheilt. Starke
Salivation, der blau gefärbte Schleim fliesst in grossen Mengen seitlich aus dem
Maule ab. Nur ab und zu Rasseln im Schlünde. Tod durch Verblutung.
Befund: Vom Kehlkopf ist nur die obere Hälfte, die oberhalb der Stimmbänder
liegt, blau gefärbt. Trachea und Bronchien ohne jegliche Färbung.
Versuch 12: Jagdhund. Linke Seitenlage des Körpers, Kopf links
gedreht. Aethemarkose IY2 Stunde lang. Ziemlich starke Salivation. Gen-
tianaviolettbrei im Maule vertheilt. Athmung meist frei, nur vereinzelt Rasseln
im Schlünde hörbar. Tod durch Verblutung. Befund: Kehlkopfeingang etwas
blau gefärbt, sonst sind die Luftwege völlig frei von Färbung und Secret.
Bei allen Thieren also, bei denen sich während der Narkose
reichlich Flüssigkeit im Maule befand, die entweder als concentrirte
Farblösung tropfenweise injicirt war, oder sich durch reichliche
Speichel- und Schleimsccretion gebildet hatte, bei denen sich
femer diese Flüssigkeit nicht ohne Weiteres aus dem Maule nach
aussen entleeren konnte (Versuch 1, 2, 3, 6, 7, 9) finden wir
sämmtliche Luftwege, meist sogar bis zu den kleinsten Bronchien
hinab, bedeckt von dem schaumigen Schleim, von dem uns die
blaue Färbung, oder das makro- und mikroskopische Aussehen
(Versuch 9) bewies, dass er aus der Mundhöhle stammte. In den
Fällen dagegen, wo keine Farblösung (oder wie in Fall 4 nur
wenige Tropfen derselben), sondern Farbstoff in Substanz im
Maule vertheilt war, wo gleichzeitig keine reichliche Speichel- und
Schleimabsonderung stattfand, wie in Fall 4, 5 und 10, in diesen
Fällen beschränkte sich die Färbung auf Kehlkopf und die Trachea,
in letzterer mehr oder weniger weit hinabreichond. In Versuch 8
erstreckte sich die Färbung nur auf den Kehlkopf und die obersten
5 Ringe der Trachea, in A^ersuch 11 und 12 gar nur auf den
Experiment. Unters, üb. d. Entstehung d. Erlirankungen d. Luftwege etc. 183
Kehlkopfeingang, während der übrige Kehlkopf, die Traofcea und
die Bronchien völlig frei geblieben waren ; hier war eben durch die
während der Narkose dem Thiere gegebene Seitwärtsdrehung des
Kopfes die Möglichkeit gegeben, dass der secernirte Mundspeichel
zum grössten Theil oder sogar vollständig nach aussen abfliessen
konnte.
Aus dieser Versuchsreihe geht hervor, dass bei horizontaler
Lagerung der Thiere während der Narkose allein die
Kraft des inspiratorischen Luftstroras genügt, etwaige
im Rachen befindliche Flüssigkeit mit sich fort und in
die Luftwege hinein zu reissen. Die Flüssigkeit dringt um
so tiefer in die Luftwege hinein, je grösser die Menge ist, in
welcher sie sich vor dem Kehlkopfeingange angesammelt hat, je
grösser also die Speichclsecretion ist, und je weniger der secernirte
Speichel nach aussen abfliessen kann. Hat sich vor dem Kehlkopf-
eingange eine gewisse Menge Speichel angesammelt, so wird diese
Flüssigkeit, welche allmälig durch die ein- und austretende und
durch sie hindurchstreichende Athraungsluft in eine zähe, schaumige
Masse verwandelt wird, bald zu einem gewissen Hinderniss für die
Athmung, sie beengt den Luftstrom. In Folge dessen muss das
narkotisirte Thier tiefere und kraftvollere Inspirationen machen,
als es für gewöhnlich zu machen nöthig liat, um genügend Luft
zu bekommen; durch diesen verstärkten Inspirationsstrom wird
natürlicher Weise mehr von der vor dem Kehlkopf befindlichen
Schleimmenge mitgerissen, als es bei ruliiger Athmung der Fall
sein würde. Bei der Verthcilung der aspirirten Schleimmassen in
den Lungen wirkt als zweiter Factor in hervorragendem Maassc
die eigene Schwere des hineingelangten Schleimes mit. Diese
Einwirkung der Schwerkraft, welche Sehrwald für die Vertheilung
intratracheal injicirter Flüssigkeiten in den Lungen als besonders
wichtig hervorhob, tritt bei den Versuchen, bei denen sich die
Thiere in horizontaler Rückenlage während der Narkose befanden,
natürlich nicht hervor, wohl aber bei denen, wo den Thieren eine
seitliche Lagerung gegeben worden war. In Versuch 6 lag der
Körper des Hundes ein wenig nach links geneigt, als Folge davon
sehen wir, dass der gefärbte Mundinhalt am stärksten in die
linken, nur ganz wenig in die rechten Lungenlappen hineingelangt
war. In Versuch 7 nahm der Hund rechte Seitenlage ein; der
184 Dr. K. Hölscher,
aspirirtt Mundschleim fand sich als zäher, blau gefärbter Streifen
in der rechten Trachealhälfte liegend und von da aus allein in den
rechten Hauptbronchus hineingedrungen, von hier aus die einzelnen
Lungenlappen anfüllend, die linken Lungenlappen waren völlig frei
geblieben.
II. Schräglagerung des Thieres mit hoeh liegendem Eopf.
Versuch 13: Grosser Jagdhund. Rückenlage. Gentianaviolettbrei im
Maule vertheilt. Chloroformnarkose 1 Stande lang. Keine Spar einer Salivation.
Schleimhaut des Maules, der Zange, des Gaamens wird allmälig im Laufe der
Narkose trocken. Tod in Narkose. Befand: Weder im Kehlkopf, noch inTra<5hea
und Bronchien Färbung oder Secretanhäufung.
Versuch 14: Kaninchen. Rückenlage. Aethernarkose 40 Minuten lang.
lYa^cm Genlianaviolettlösung tropfenweise im Maule vertheilt. Starkes Rasseln
im Schlünde und in der Trachea; allmälig immer mühsamer werdende Athmung.
Tod in Narkose. Befund: Beide Lungen stark emphysematös, fallen nach Er-
öffnung der Pleuren nicht zusammen. Kehlkopf, Trachea und Bronchien von
grossblasigem blauen Schleim völlig angefüllt. In sämmtlichen Lungenlappen,
beiden Unterlappen am stärksten, sind selbst die kleinen Bronchien mitdemselben
Schleim angefüllt; das Lungengewebe selbst hat in den Unterlappen th eilweise
blaue Färbung angenommen, und entleert bei Druck den nämlichen blauen
Schleim aus allen Bronchien.
Versuch 15: Kräftiger Hund. Chloroformnarkose 1 Stunde lang. Sehr
starke Speichelabsonderung, Gentianaviolettbrei im Maule vertheilt. Starkes
Rasseln. Zuerst Rücken- dann rechte Seitenlage. Tödtung durch Nackenstich
(vorher wie bei allen Versuchen Trachea freigelegt und sofort nach dem Nacken-
stich unterbunden.) Befund: Kehlkopf, Trachea und Bronchien angefüllt mit
schaumigem, zähen Schleim, besonders stark die Bronchien der rechten Lungen-
lappen gefärbt, und hier wieder am intensivsten der Unterlappen, wo selbst
die kleinsten Bronchien blaue Färbung aufweisen. Die linken Lungenlappen
sind im Ganzen viel weniger gefärbt, als die rechten, relativ am stärksten die
Unterlappen.
Versuch 16: Kaninchen. Aethernarkose 20 Minuten lang. 1 ccm Gen-
tianaviolettlösung tropfenweise im Maule vertheilt. Rechte Seitenlage. Tod in
Narkose. Befund: Sammtliche Lungenlappen, am stärksten die der rechten
Seite blau gefärbt, auf jeder Seite relativ am stärksten der Unterlappen.
Versuch 17: Kaninchen. Rückenlage. Aethernarkose 20 Minuten lang.
Starke Salivation; nichts in das Maul hinein gebracht. Starkes Rasseln im
Schlünde, allmälig wird die Athmung mühsam, um nach 20 Minuten ganz auf-
zuhören. Befund: Kehlkopf, Trachea und Bronchien mit schaumigem Schleim
angefüllt. Sammtliche Lungenlappen sind sehr stark emphysematös, ballon-
artig aufgetrieben , « auf dem Durchschnitt entleert sich aus den Bronchien
schaumiger Schleim.
Experiment. Unters, üb. d. Entstehung d. Erkrankungen d. Luftwege etc. 185
Trotz der geringeren Anzahl dieser Versuche geht aus ihnen
hervor, dass in den Fällen, in welchen sich im Rachen Flüssigkeit
während der Narkose ansammelte, eine viel ausgedehntere Ueber-
schwemmung der Luftwege mit den aus dem Munde herabge-
kommenen Schleimmengen eintrat, als sie bei horizontaler Lagerung
der Thiere stattfinden konnte. Diese AnfüUung der Luftwege war
in mehreren Fällen so gross, dass sie direct durch Verlegung des
fiir die Passage des Luftstroms nothwendigen Raumes den Tod
der Thiere durch Erstickung herbeiführte. Auch hier sehen wir
die Angaben Sehrwald 's über die Flüssigkeitsvertheilung in den
Lungen wieder bestätigt. Zunächst sehen wir, dass die ünterlappen
in der Regel am meisten befallen sind. Sehrwald erklärt diese
Bevorzugung der ünterlappen durch die in die Luftwege gelangte
Flüssigkeit dadurch, dass einmal die eigne Schwere, sodann die
Richtung des inspiratorischen Luftstromes die in die Trachea
gelangte Flüssigkeit gerade in diese Theile der Lungen zu bringen
geeignet sei. Ferner sehen wir in den Fällen, wo die Thiere
Seitenlage einnahmen, die Lungenlappen der dem Brette auf-
liegenden Körperseite viel intensiver mit dem aspirirten gefärbten
Schleim angefüllt, als die der anderen Seite.
III. Schräglagerung mit tief liegendem oder frei
hängendem Eopf.
Versuch 18: Hund. Kopf liegt tief. Aethernarkose 1 Stunde lang.
Starke Speichelsecretion. Gentianaviolettbrei im Maule vertheilt. Ab und zu
Rasseln im Schlünde hörbar. Tödtung durch Nackenstich. Befund: Während
die ganze Mundhöhle blau gefärbt, ihre Wandungen mit zähem blauen Schleim
bedeckt ist, ist Kehlkopf, Trachea und Bronchien ohne jede Färbung und Inhalt.
Lungen grauroth, lufthaltig.
Versuch 19: Kaninchen. Freihängender Kopf. Aethernarkose 1 Stunde
lang. Gentianaviolettbreiim Maule vertheilt. Geringe Speichelsecretion. Tödtung
durch Nackenstich. Befund: Ganze Mundhöhle intensiv blau gefärbt. Kehl-
kopf, Trachea und Bronchien völlig frei von jeglicher Färbung.
Versuch 20: Kaninchen. Kopf tief liegend. Aethernarkose 1 Stunde
lang. Kein Farbstoff im Maule verrieben. Geringe Speichelsecretion; einige
Tropfen zähen Schleimes fliessen aus dem Maule ab. Manchmal Rasseln im
Schlünde hörbar. Tödtung durch Nackenstich. Befund: Im Rachen sowie am
Kehlkopfeingang schaumiger Schleim. Kehlkopf, Trachea und Bronchien blass,
ohne jeden Inhalt. Lungen rosaroth, lufthaltig.
186 Dr. R. Kölscher,
Aehnliche Versuche wie die letzten 3 stellte ich noch an
einer grossen Anzahl von Thieren, Kaninchen, Hunden und Katzen,
genau in derselben Anordnung an, mit oder ohne Farbstoffvertheilung
im Maule während der Narkose. Häufig trat bei auf geneigtem
Brette tiefliegendem Kopfe Rasseln im Schlünde auf, welches stets
fehlte in den Versuchen, wo der Kopf frei herabhing. Immer aber
war der Befund an den Luftwegen, wie in den Versuchen 18 — 20
ein negativer, weshalb ich darauf verzichte, die A'^ersuche im ein-
zelnen weiter anzuführen.
In allen diesen Fällen genügte die Tieflagerung des Kopfes,
um zu bewirken, dass kein Mundinhalt in die Luftwege hinein-
gelangte. Bei völlig frei hängendem Kopfe war der Abfluss des
secernirten Speichels ein so vollkommener, dass nie Rasseln im
Schlünde auftrat, er war nicht so vollständig, wie das ab und
zu auftretende Rasseln bewies, wenn die Thiere nur mit tief ge-
lagertem Kopfe schräg geneigte Lage einnahmen; immerhin konnte
sich aber auch hier nie so viel Speichel ansammeln, dass eine
Aspiration desselben hätte zu Stande kommen können.
Unter Umständen kommt es nun aber doch, allerdings nicht
bei hängendem Kopf, wohl aber bei einfacher Tieflagerung des
Kopfes auf nur leicht ( — < 20°) geneigter Ebene zu einer Aspi-
ration von Mundinhalt, wie die folgenden beiden Versuche zeigen:
Versuch 21: Kaninchen. Schräge Rückenlage mit tief liegendem Kopfe
auf einem im ^ 15 ® geneigten Brette. Der Kopf wird so gehalten, dass er mit
dem Hinterhaupt dem Brette aufliegt, die Schnauze des Thieres nach oben ge-
richtet ist. Aethernarkose 1 Stunde lang. Einträufelung von ^/2 ocm Gentiana-
violettlösung und Venheilung derselben im Maule. Die erste halbe Stunde der
Narkose tritt kein Rasseln im Schlünde auf, man sieht ab und zu einen Tropfen
blau gefärbten Schleims aus dem Maule abfliesscn. Jetzt wird Trachea «nd
Kehlkopf leicht mit dem Finger comprirairt, es folgen tiefe, mühsame Inspira-
tionen, und zugleich tritt Rasseln im Schlünde auf. Bei Nachlass des Druckes
wird das Rasseln zwar geringer , bleibt jedoch während der ganzen Dauer der
Narkose bestehen, wird bei dem von Zeit zu Zeit wiederholton Druck auf die
Trachea stärker, um bei Nachlassen des Druckes sich wieder zu vermindern.
Stäi'ker wird das Rasseln auch, wenn man den Unterkiefer des Thieres nach
hinten drückt. Tod nach einer Stunde durch Verblutung. Befund: Beide Lungen
lufthaltig, ohne Seci'et, Bronchien ohne Injection und Inhalt. Trachea hinab
bis zur Bifurcation, in allmalig abnehmendem Maasse blau gefärbt und mit
etwas schaumigem, blauen Schleim spärlich bedeckt.
Versuch 22: Hund. Schräge Rückenlage mit tiefliegendem Kopf, der
gleichzeitig mit dem Hinterhaupt aufliegt. Aethernarkose 1 Stunde lang.
Experiment. Unters, üb. d. Entstehung d. Erkrankungen d. Luftwege etc. 187
Massige Speichelsecretion. Im Maule Y2 ccm Gentianaviolettlösung vertheilt.
Es tritt Icein Rasseln auf, trotzdem der Kopf etwas aufgerichtet wird , so dass
die Schnauze etwas steiler liegt. Jetzt Compression der Trachea durch Finger-
druck, sofort tritt Rasseln auf. Die Compression der Trachea wird ^/^ Stuuden
lang fortgesetzt, fortwährendRasseln bei mühsamen Athembewegungen. Tödtung
durch Nackenstich 1 Stunde nach Beginn der Narkose. Befund: Kehlkopf und
Trachea bis zu 10 cm unterhalb des Kehlkopfs blau gefärbt, die Hinterseite der
Trachea mit schaumigem, blauem Schleim bedeckt. Die übrige Trachea und
die Bronchien ohne Färbung und Secret.
Wenn also bei einfacher Tieflagerung des Kopfes während der
Narkose die blosse Anwesenheit von Mundinhalt vor dem Kehlkopf-
eingang nicht dazu ausreicht, eine Aspiration desselben eintreten
zu lassen, so wird dies, wie die beiden letzten Versuche zeigen,
herbeigeführt durch eine künstliche Verstärkung des inspiratorischen
Luftstroms. In beiden Fällen wurde durch Compression der
Trachea ein bedeutendes Hinderniss für die Athmung geschaffen,
die Atherazöge wurden in Folge dessen tiefer und gewaltsamer,
und bekamen dadurch die Kraft, die vor dem Kehlkopfeingang
befindliche Mundfliissigkeit in die Trachea hinauf anzusaugen;
allerdings genügten sie immer noch nicht, um auch in die
Bronchien die Flüssigkeit gelangen zu lassen. Wahrscheinlich
aber würde dies eingetreten sein, wenn die Narkose und die
während derselben künstlich hervorgebrachte Verengenmg der
Trachea noch läns^ere Zeit fortbestanden hätte.
Fassen wir die Resultate der bisher gemachten Versuche
zusammen, so sehen wir, dass das Hineindringen von Mundinhalt
in die Luftwege während der Narkose von mehreren Factoren
abhängig ist.
• 1. Während der Narkose muss überhaupt Speichel
und Schleim abgesondert werden. Das ist mit verschwinden-
den Ausnahmen bei der Aethernarkose in der Regel der Fall; bei
der Chioroformnarkose lehlt die Speichelsecretion meist ganz, oder
ist doch nur sehr unbedeutend.
2. Der secernirte Speichel muss sich vor dem Kehl-
kopfeingange in grösserer oder geringerer Menge an-
sammeln. Es muss also dieser Theil der Mund- und Rachen-
höhle entweder der tiefste Punkt sein, wohin der gesammte
abgesonderte Speichel zusammenfliesst, oder er muss doch so
liegen, dass der Speichel, ehe er anders w^ohin abfliessen kann.
188 üi\ R. Hölscher,
sich theilweise hier eine Zeit lang aufgehalten hat. Die blosse
Ueberlegung lehrt uns, dass der Pharynx dann den tiefsten Punkt
der Mund -Nasen -Rachenhöhle darstellt, wenn das Thier während
der Narkose entweder horizontale oder mit erhöhtem Kopf schräge
Rückenlage einnimmt, und wenn gleichzeitig dabei der Kopf mit
dem Hinterhaupte aufliegt. Ist dies der Fall, so wird sämmtliche
in der Mund -Nasen -Rachenhöhle secernirte Flüssigkeit sich im
Schlünde ansammeln und den Kehlkopfeingang verlegen.
Legt man bei schräger Rückenlage des übrigen Körpers den
erhöhten Kopf seitlich, so wird zw^ar die im vorderen Theile der
Mund- und Nasenhöhle secernirte Flüssigkeit nach aussen abfliessen
können, für das im hinteren Theil dieser Höhlen, sowie im" Nasen-
rachenraum gebildete Secret wird als tiefster Punkt auch hier der
Raum vor dem Kehlkopfeingange den Sammelpunkt bilden. Anders
liegen die Verhältnisse, wenn bei horizontal liegendem übrigen
Körper der Kopf auf die Seite gedreht wird. Bei dieser Lagerung
fliesst der grösste Theil des Mundinhalts aus dem Maule seitlich
ab, der im Nasenrachenraum und am Zungengrunde abgesonderte
Schleim wird zwar erst an der dem Tische aufliegenden Pharynx-
wand zusammenfliessen, dann aber, besonders wenn der Kopf etwas
seitHch überdreht wird, so dass der dem Tisch aufliegende Mund-
winkel noch tiefer zu liegen kommt, als die gleichseitige Pharynx-
wand, bald seitlich über Gaumensegel und Backen hinweg sich
nach aussen begeben. Immerhin wird sich bei dieser Lagerung
eine geringe Menge Secretes eine Zeit lang vor dem Kehlkopf-
eingange aufhalten, ehe sie nach aussen abfliessen kann. Aehnliches
ist der Fall, wenn die Thiere auf einem (im Winkel von 15 — 20^)
geneigten Brette schräge Rückenlage mit tiefliegendem Kopfe ein-
nehmen. Auch hierbei wird sich, wie es das in manchen Fällen
aufgetretene Rasseln im Schlünde bewies, der Mundinhalt, aller-
dings nur in geringer Menge, vor dem Kehlkopf ansammeln können.
Das hat darin seinen Grund, dass bei der nur geringen Schräg-
lagerung des Thieres der Kopf mit seiner vorderen Partie nicht so
weit nach hintenüber sinken kann, dass die Längsachse der Mund-
und Nasenhöhle die Horizontale erreicht oder sich gar unter die-
selbe hinabneigt. Es wird daher der Speichel nur ganz langsam
aus dem Munde abfliessen können, das im Nasenrachenraum ge-
bildete Secret wird sich immer eine Zeit lang hier befinden, den
Experiment. Unters, üb. d. Entstehung d. Erkrankungen d. Luftwege etc. 189
hinteren Theil des Kehlkopfeinganges umgeben und erst allmälig
über das Rachendach, durch die Choanen und Nasengänge sich
nach aussen begaben.
Werden dagegen die Thiere mit noch mehr abwärts geneigtem
oder gar hängendem Kopfe narkotisirt, so kommt es überhaupt
nicht, nicht einmal vorübergehend, zu einer Ansammlung von
Secret vor dem Kehlkopfe. Bei dieser Lage wird natürlich der
sich bildende Schleim sofort bei den steil abfallenden Wänden des
Nasenrachenraumes, der Mund- und Nasenhöhle herunterfliessen
und auf diese Weise auf dem schnellsten Wege nach aussen
befördert. In der That trat bei dieser Lagerung der narkotisirtcn
Thiere nie eine Spur von Rasseln auf.
3. Hat sich der Mundinhalt vor dem Kehlkopfeingange
in grösserer oder geringerer Menge angesammelt, so
spielen für seine Weiterbeförderung in die Luftwege die
Ausschlag gebende Rolle einmal die Kraft des inspira-
torischen Luftstroms, sodann die eigne Schwere der vor
dem Kehlkopf befindlichen Flüssigkeit.
Bei Schräglagerung des Körpers mit hochliegendem Kopfe
wirken diese beiden Kräfte in gleichem Sinne; wie von vorn
herein zu erwarten ist, und wie die Versuche bestätigt haben,
findet daher bei dieser Lagerung des narkotisirtcn Thieres eine
ausgedehnte Ueberschwemmung der Luftwege mit dem hinab-
geflossenen und aspirirten Inhalt der Mundhöhle statt. Weniger
stark, aber immerhin doch noch recht bedeutend ist diese Ueber-
schwemmung bei Horizontallagerung. Hier wirkt die Schwerkraft
weder im günstigen, noch im ungünstigen Sinne, der inspiratorische
Luftstrom, dessen Kraft noch verstärkt wird durch das in Gestalt
der Flussigkeitsansammlung vor dem Kehlkopfe gegebene Athmungs-
hindemiss, ist hier der allein maassgebende Factor. Bei Tief-
lagenmg des Kopfes wirkt Schwerkraft und Inspirationsstrom gerade
in entgegengesetzter Richtung. Die Kraft des letzteren kann erst
dann die erstere überwinden, und auch dann nur bis zu einem
gewissen Grade, wenn sie, wie das in den Versuchen 21 und 22
geschah, künstlich ganz ausserordentlich verstärkt wird. Die durch
die blosse Flüssigkeitsversammlung vor dem Kehlkopf bedingte
geringere Verstärkung ist dazu nicht ausreichend. Wo also die
Schwerkraft ihre Mitwirkung versagt, oder gar direct entgegen-
190 Dr. K. Hölscher,
gesetzten Eiiifiuss ausübt, kommt als weiterer wichtiger Factor für
die Aspiration von Mundinhalt in die Luftwege die Entstehung
eines Respirationshindernisses in Betracht, durch welches die Kraft
des Inspirationsstroraes mehr oder weniger erhöht wird.
Neben der Schwerkraft und der Kraft des normalen oder des
verstärkten Inspirationsstromes spielen die anderen in Betracht
kommenden Momente nur eine untergeordnete Rolle. Wenn wir
zunächst die Exspiration in Erwägung ziehen, so sollte man eigent-
lich denken, dass mit derselben Kraft, mit welcher die Inspiration
den vor dem Kehlkopf befindlichen Mundinhalt ansaugt, durch den
Exspirationsstrom das Aspirirte wieder herausgeschleudert wird.
Wie eine nähere Betrachtung lehrt, kann dies nur theilweise der
Fall sein. Bei jeder Aspiration wird zwar ein Theil der aspirirten
Flüssigkeit wieder aus den Luftwegen hinaus befördert, ein anderer
Theil aber bleibt vermöge der Adhäsionskraft, w^elche gerade bei
der zähen Beschaffenheit des Mundsecretes sehr gross ist, an der
Wand der Luftröhre hängen. Bei jeder folgenden Inspiration wird
nun der wieder aspirirte Mundinhalt auf dem durch die vorher-
gegangene Inspiration gebahnten und schlüpfrig gemachten Wege
immer etwas weiter vordringen, jede folgende Exspiration wird
zwar einen Theil desselben wieder zurückdrängen, einen Theil
jedoch, der um so geringfügiger sein wird, je tiefer in die Luft-
wege hinein die Aspiration bereits stattgefunden hat.
Ebenso wenig wie der Exspiration vermag der Inspiration der
derselben gleichfalls entgegengesetzt wirkende Strom der Fliramc-
rung des Tracheal- und Bronchialepithels hemmend entgegenzutreten.
Trotzdem die Flimmorbewegung während der Narkose erhalten
bleibt, worauf ich später noch zurückkommen werde, ist ihre Kraft-
ontfaltung nicht dazu ausreichend, das einmal Aspirirte noch während
der Narkose wieder nach aussen zu befördeni.
Haben wir so die Bedingungen kennen gelernt, unter welchen
bei narkotisirten Thieren eine Aspiration von Mundinhalt stattfindet,
so können wir umgekehrt aus den Versuchen und den ange-
schlossenen Erörterungen die Schlussfolgerung ziehen, dass man
während der Narkose nur dann eine solche Aspiration verhüten
kann, wenn man erstens eine Ansammlung von Flüssig-
keit vor dem Kchlkopfeingange vorhindert. Dies gelingt
vollständig nur bei stark abwärts geneigtem oder bei frei hängendem
Experiment. Unters, üb. d. Entstehung d. Erkrankungen d. Luftwoge etc. 191
Kopfe, nahezu vollständig bei nur geringer Tieflagerung des Kopfes,
sowie bei horizontaler Lagerung desselben mit Seitwärtsdrehung.
Da bei den beiden letztgenannten Lagerungsarten eine, wenn auch
nur geringfügige Ansammlung von Flüssigkeit vor dem Kehlkopf
stattfinden kann, so muss man zweitens, um eine Aspiration zu
verhüten, sorgfältig darauf achten, dass kein Respirations-
hinderniss durch Knickung der Trachea, Zurückfallen
des Unterkiefers oder des Zungengrundes entsteht, wo-
durch die Kraft des Lispirationsstromes ganz bedeutend gesteigert
werden könnte. -
Es entsteht nun die Frage: Gelten die bei den Thier-
versuchen gemachten Erfahrungen auch für die Narkose
des Menschen, sind die Bedingungen, unter welchen eine
Aspiration von Mundinhalt während der Narkose statt-
fin/let, oder unter welchen man sie verhindern kann,
dieselben oder doch ähnliche, wie wir sie für die be-
treffenden Thicre experimentell festgestellt haben?
Wenn man die einschlägigen Verhältnisse bei der Narkose des
Menschen einer näheren Betrachtung unterzieht, so glaube ich,
wird man diese Frage im Wesentlichen bejahen dürfen.
Zunächst ist es Thatsache, dass bei der Aethemarkose des
Menschen ebenso wie beim Thiere in der Regel eine sehr reich-
liche Sekretion von Speichel und Schleim stattfindet.
Sodann ist gerade der Bau und die Lage der menschlichen
Mund- und Rachenhöhle dazu geeignet, während der Narkose eine
ausgiebige Ansammlung der Mundflüssigkeit vor dem Kehlkopfe
geschehen zu lassen.
Die Mundöffnung des Menschen besitzt im Vergleich zu der
der Thiere, speciell der meist zu den Versuchen verwandten
Hunde, eine relativ geringe Weite, die Backentaschen sind viel
mehr seitlich ausgebuchtet, die Mundwinkel reichen bedeutend
weiter an der Zahnreihe beiderseits nach vorn, als dies bei Hunden
der Fall ist. In Folge dessen wird seftst bei der für einen Ab-
fluss der in der Mundhöhle befindlichen Flüssigkeit günstigsten
Lagerung, d. h. derjenigen, bei welcher der Kopf auf eine Seite
gedreht ist, der Speichel nicht sofort nach aussen abfliessen, sondern
zunächst in der Concavität der Wange, mit welcher der Narkotisirte
aufliegt, einen kleinen See bilden, welcher sich erst, wenn er die
192 Dr. R. Kölscher,
Höhe des betreffenden Mundwinkels erreicht hat, über diesen hinweg
nach aussen entleeren kann. Beschleunigt und erleichtert kann
diese Entleerung werden, wenn man den Kopf seitlich überdreht,
so dass der Mundwinkel eine noch tiefere Lage erhält, oder wenn
man fortwährend, oder doch von Zeit zu Zeit den Mundwinkel
mit Finger oder Spatel niederdrückt und lüftet, wie dies von
Grossmann empfohlen worden ist. Jeder, der viel Narkosen ge-
leitet hat, weiss, wie ermüdend es ist, wenn man andauernd, oder
doch längere Zeit zur Erzielung freier Athmung den Unterkiefer
vorschieben muss; gerade so schwierig und anstrengend für den
Narkotisirenden ist es, den Kopf des Narkotisirten andauernd auf
die eine Seite gedreht zu halten, besonders wenn es sich um Indi-
viduen mit kurzem und steifem Halse handelt. Diese Schwierig-
keit, das Haupterforderniss zu erfüllen, welches dem Mundspeichel
Abfluss verschaffen soll, bringt es naturgemäss mit sich, dass .bei
Erlahmung der Kraft oder der Aufmerksamkeit des Narkotisirenden
nicht selten der Kopf des Patienten die gehörige Seitenlage verlässt.
Die Folge davon wird sein, dass für die in der Backentasche be-
findliche Flüssigkeit es noch schwieriger ist, sich nach aussen aus
dem Munde zu entleeren, dass sie vielmehr über die seitliche
Gaumenwand nach dem Rachen zu fliessen wird, um hier den
Kehlkopf eingang mehr oder weniger zu verlegen. Aber auch wenn
durch die erwähnten Handgriffe in denkbar günstigster Weise dem
im Munde befindlichen Speichel Abfluss verschafft wird — dabei
wird gleichzeitig auch die in der Nasenhöhle etwa abgesonderte
Flüssigkeit aus den Nasenlöchern abfliessen — , wird gerade so
wie beim Thiere, das im Nasenrachenraum und im Rachen selbst
gebildete Sekret sich an der dem Tische aufliegenden Pharynxwand
ansammeln, eine geraume Zeit hier verweilen, ehe es durch Mund
und Nase nach aussen abfliessen kann, und dadurch, durch seine
geringe Menge allerdings nur in unbedeutendem Maasse, ein Hinder-
niss für den den Kehlkopf passirenden Luftstrom abgeben.
Bietet so der Bau def menschlichen Mundhöhle erheblich mehr
Schwierigkeiten, dem speciell im Munde befindlichen Speichel Ab-
fluss zu gestatten, als dies beim Hunde der Fall ist, so begünstigt
andererseits beim Menschen die Lage des Rachens und Nasen-
rachenraumes im Verhältniss zu Mund und Nase ungemein gerade
ein Zusammenfliessen sämmtlicher, in diesen Höhlen gebildeter
Experiment. Unters, üb. d. Entstehung d. Erkrankungen d. Luftwege etc. 193
Flüssigkeit im Rachen. Während bei den Versuchsthieren schon
an und für sich die Längsachse der Mund- und Nasenhöhle mit
der der Trachea und des Rachens einen stumpfen Winkel bildet,
welcher sich bei Rückenlage des Thieres während der Narkose in
Folge des Hintenübersinkens der Schnauze noch vergrössert, ist
der Winkel, welchen beim Menschen die beiden betreffenden Achsen
mit einander bilden, ein spitzer, der bei einfacher Rückenlage un-
veränderlich bleibt und nur bei Tieflagerung des Kopfes zu einem
rechten und stumpfen wird, nie aber die Grösse erreicht, wie das
bei den Thieren der Fall war. Daher w^ird bei aufliegendem
Hinterhaupte der Rachen immer den tiefsten Punkt aller übrigen
Hohlräume, und als solcher den Sammelplatz für das in ihnen
gebilbete Sekret bilden, nur bei sehr starker Tieflagerung des
Kopfes oder bei direct frei hängendem Kopfe wird die Achse der
Mund- und Nasenhöhle sich unter die Horizontale hinabneigen und
so einen directen Abfluss des Speichels und Schleimes nach aussen
veranlassen können.
Als wichtigen Factor für die Aspiration von Mundinhalt hatten
wir bei unseren Versuchen die Entstehung eines Respirationshinder-
nisses kennen gelernt, wie ich es durch Compression der Trachea
künstlich erzeugen konnte, und welches selbst bei einer Lagerung
des Kopfes, die nur vorübergehendes Verweilen geringer Sekret-
mengen vor dem Kehlkopfe zur Folge hat, eine Aspiration der
letzteren zu Stande kommen lässt. Beim Menschen entstehen nun
ähnliche Respirationshindernisse während der Narkose ungemein
häufig; sie sind, wie bekannt, in der Regel dadurch bedingt, dass
der Unterkiefer sammt der Zunge nach hinten sinkt, und auf diese
Weise der Kehlkopf durch den Kehldeckel theilweise verschlossen
wird. Dies kommt, wie ich an meinen A^ersuchsthieren beobachten
konnte, bei diesen während der Narkose spontan fast nie vor, und
das hat wieder darin seinen Grund, dass bei Rückenlage des
Thieres mit horizontal oder tief gelagertem Kopfe die Schnauze,
ihrer Schwere folgend, nach hinten über sinkt. In Folge davon
nimmt der Unterkiefer in seiner Längsrichtung eine mehr horizon-
tale Lage ein; seine eigene Schwere wird ihn nicht nach hinten
gegen den Rachen und Kehlkopf zu sinken lassen, sondern gegen
die Zahnreihe des Oberkiefers andrücken; je mehr er in seinem
vorderen Theile nach rückwärts hinübersinkt, desto mehr wird er
ArehJT fflr klio, Chirnrgie. 57. Bd. Heft 1. ^3
194 Dr. R. Ilölscher,
sich in seinem hinteren Abschnitt heben und den Kehlkopf vor
jedem Druck und jeder Verengerung geschützt halten. Anders ist
dies beim Menschen: hier hat der Unterkiefer bei Horizontal- und
selbst bei massiger Tief lagerung des mit dem Hinterhaupt aufliegenden
Kopfes eine völlig, oder doch nahezu völlig vertikale Richtung, erst
bei starker Tief lagerung oder bei hängendem Kopfe en-eicht er die
Horizontale, oder überschreitet sie nach abwärts. Wenn daher im
Stadium der Muskelerschlaffung der Unterkiefer seiner eigenen Schwere
folgt, so wird er nothwendig den Zungengrund sammt Kehldeckel nach
hinten drücken müssen, wie wir es bei ungefähr % aller mensch-
lichen Narkosen beobachten; nur bei starker Tief lagerung oder
freiem Herabhängen des Kopfes wird er, ähnlich wie beim Thiere,
diese Wirkung nicht ausüben, sondern eine Streckung der oberen
Luftwege und freie Athmung herbeiführen.
Aus diesen Betrachtungen geht hervor, dass beim Menschen
eine Aspiration von Mundinhalt während der Narkose
sehr viel leichter eintreten kann, als beim Thiere, dass
wir beim Menschen mit noch viel grösserer Sorgfalt die-
jenigen Maassregeln beachten müssen, welche diesen
Uebelstand zu verhindern im Stande sind. Diese Maass-
regeln bestehen, wie beim Thiere, darin, dass wir einmal dafür
sorgen, dass eine Ansammlung von Speichel und Schleim vor dem
Kehlkopfe möglichst vermieden wird, und dass weiter kein Hinder-
niss für die x\thmung entsteht.
Wenn auch an der Kieler chirurgischen Klinik noch immer
vorzugsweise Chloroform als Narcoticum verwandt wird, so wurden
doch im Laufe des letzten Jahres verhältnissmässig häufig reine
Aethernarkoscn ausgeführt, und zwar sämmtlich mit der von
Grossmann modificirten Wanscher'schen Maske. Zur Vermei-
dung der Aspiration von Mundinhalt am geeignetsten, für Narkoti-
sirenden und Narkotisirten am bequemsten fanden wir dabei fol-
gende Maassnahmen: Bei dem horizontal auf dem Rücken liegenden
Kranken wird die Kopfplatte des Operationstisches tief
gestellt, sodass Kopf und Hals abwärts geneigt liegen;
gleichzeitig wird der Kopf, so gut es geht, seitlich ge-
dreht, und durch Lüften des Mundwinkels mittelst Fingers
oder Kornzange dem Speichel alle paar Minuten, oder
bei starker Salivation fortwährend Abfluss verschafft.
Experiment. Unters, üb. d. Entstehung d. Erkrankungen d. Luftwege etc. 195
Weiter wird peinlichst darauf geachtet, dass der Unter-
kiefer nicht zurücksinkt. In allen Fällen, in denen sich sorg-
fältig nach diesen Regeln gerichtet wurde, trat nie, oder doch nur
vorübergehend Rasseln im Schlünde auf trotz manchmal recht
reichlicher Speichelsecretion. Umgekehrt konnte letzteres Symptom
in der Regel sofort hervorgenifen werden, wenn man den Unter-
kiefer nach hinten sinken Hess, oder für einige Augenblicke künst-
lich nach hinten drückte, um wieder zu verschwinden, wenn durch
Hebung des Unterkiefers die Athmung wieder frei geworden war.
Wo vom Anfang der Narkose an, oder im Verlaufe der letzteren
nicht so sorgfältig die bezeichnete Lagerung eingehalten, die er-
wähnten Handgriffe angewandt wurden, war regelmässig reichliches
Schleimrasseln im Schlünde hörbar. *
Nach den Ergebnissen meiner an ätherisirten Thieren und
Menschen gemachten Beobachtungen kann ich demnach nur Gross-
mann beistimmen, wenn er sagt, dass das bei der Aether-
narkose so unangenehm auffallende Schleimrasseln im
Schlünde und in der Trachea auf Anwesenheit von Mund-
inhalt beruht, dessen Abfluss nach aussen durch mangel-
hafte Technik der Narkose mehr oder weniger unmöglich
gemacht wird.
Wenden wir uns nun zu der Frage der Einwirkung der Aether-
dämpfe auf die Schleimhäute der Trachea und der Bronchien.
Von einer ganzen Anzahl von Gasen, so z. B. vom Chlor-,
vom Ammoniakgas, von Säuredämpfen etc. ist es bekannt, dass
sie, eingeathmet, auf die Schleimhaut des Respirationstractus einen
chemischen Reiz ausüben, der zu mehr oder minder starker Bron-
chitis, unter Umständen zu catarrhalischer Pneumonie und zum
Tode führen kann. Eine ähnliche Reizung der Schleimhaut der
Trachea und der Bronchien schreibt man der Einwirkung inhalirter
Aetherdämpfe zu und sieht wie schon erwähnt, den Haupteffect
dieser Reizung in der vermehrten Secretion der auf diesen Schleim-
häuten befindlichen absondernden Zellen und Drüsen. Wenn man
die Reizwirkung von Aetherdämpfen auf die Schleimhaut der Mund-
und Nasenhöhle, auf die Conjunctiva an sich selbst prüft, wenn man
sie femer bei mit Aether narkotisirten Kranken an den dem Auge
zugänglichen Schleimhäuten zu beobachten Gelegenheit hat, so wird
man von vornherein zugeben müssen, dass diese Annahme der
13*
196 Dr. R. Hölscher,
durch Aetherinhalation entstehenden Ilypersecretion von Schleina
in den Luftwegen nicht von der Hand zu weisen ist, sondern im
Ge^entheil die grösste Wahrscheinlichkeit für sich hat, zumal da
die Schleimhaut der Mund- und Nasenhöhle in ihrem Verhalten
gegen die Einwirkung mancher Schädlichkeiten — ich erinnere nur
an die Wirkung des Atropins und Pilocarpins — mit der Schleim-
haut des Respirationstractus eine grosse Analogie zeigt.
Wie verhält es sich nun aber mit den Thatsachen, welche
dieser Annahme zu Grunde liegen? Das am meisten im Vergleich
zur Chloroformnarkose in die Augen fallende Symptom bildet bei
der Aethernarkose neben der ausserordentlich v^mehrten Speichel-
absonderung das sich alsbald im Schlünde und in der Trachea ein-
stellende Rasseln, welches durch das Vorbeipassiren des Luftstromes
neben und durch die in Trachea und Schlund befindlichen Secret-
raassen bedingt ist, und häufig einen sehr hohen Grad annimmt.
Diese klinische Erscheinung des Trachealrasselns wird in den
meisten zahlreichen Arbeiten, welche wir über die Aethernarkose
besitzen, ohne Weiteres als Beweis dafür angesehen, dass eine
Hypersecretion der Bronchial- und Trachealschleimhaut durch die
Aetherdämpfe hervorgerufen werde, wodurch die Anwesenheit des
Secretes in der Trachea bedingt sei. Andere Autoren führen als
Beweis für die Secretion in den Luftwegen hen^orrufende Wirkung der
Aetherdämpfe die durch Auscultation festgestellte Veränderung des
Athmungsgeräusches während der Aethernarkose an. So fand
Bouisson (nach Perrin et L allem and): Les bruits respiratoires
sont changes pendant Feth^risation. Au döbut rales sibilants at-
tribues ä juste titre ä l'action irritante locale de l'ether; affai-
blissement v6siculaire domine par le bruit respiratoire bronchique;
sitot que Texcitation est passee, que Tanesth^sie commence dis-
parition du bruit vesiculaire, remplacö par un bruit respiratoire
bronchique, quelquefois tracheal quand la torpeur devient profonde.
Selbstverständlich können diese Begleiterscheinungen der Aether-
narkose nicht als vollkommener Beweis für das Bestehen einer
durch den Aether bedingten Hypersecretion in den Bronchien und
der Trachea gelten; denn wenn man bedenkt, w^lch' einen hohen
Grad die Schleim- und Speichelsecretion in der Mundhöhle bei der
Aethernarkose meist annimmt, und wie schwer es ist, gerade beim
Menschen die Aspiration der in der Mundhöhle angesammelten
Experiment. Unters, üb. d. Entstehung d. Erkrankungen d. Luftwege etc. 197
Flüssigkeit zu verhüten, so hat die Annahme, dass das Tracheal-
und Bronchialrasseln allein der Aspiration vom Mundinhalt seinen
Ursprung verdanke, gerade so viel Berechtigung.
Ebenso wenig Beweiskraft, wie den erwähnten klinischen
Symptomen, kann man aus dem nämlichen Grunde den nicht selten
bei Sectionen vorgekommener Aethertodesfälle gemachten Beob-
achtungen zuerkennen, bei denen sich Schleim in den Luft-
wegen fand. Da in allen diesen, in der Literatur aufgefundenen
Fällen über den Verlauf der Narkose, über etwaige zur Verhütung
von Aspiration getroffene Maassregeb keine näheren Angaben ge-
macht sind, so kann man auch hier absolut nicht siclier sagen,
ob nicht für die Anwesenheit des Schleimes in den Luftwegen die
Mitwirkung oder gar alleinige Wirkung der Aspiration von Mund-
inhalt in Anspruch zu nehmen ist. Ueberhaupt lässt, so lange
nicht mit Sicherheit ein Hinabfliessen und Aspiriren von Speichel
auszuschliessen ist, der positive Befund von Schleim in den Luft-
wegen bei den Sectionen in Aethernarkose Gestorbener durchaus
keine Entscheidung darüber zu, ob das Secret aus den Luftwegen
selbst, oder aus der Mund- und Rachenhöhle stammt. Uebrigens
scheint die Schleimanfüllung von Trachea und Bronchien nur in
einer verhältnissmässig geringen Anzahl der bisher veröffentlichten
Aethertodesfälle bei der Autopsie sich vorgefunden zu haben; zu
dieser Annahme glaube ich deshalb berechtigt zu sein, da meistens
über den Befund an Trachea und Bronchien überhaupt nichts er-
wähnt ist, so dass diese also jedenfalls in normalem Zustande
gewesen sein müssen. Ganz normale Verhältnisse konnten auch
an den Luftwegen in Aethernarkose gestorbener Thiere constatirt
werden. So fanden Lallemand, Perrin et Duroy bei Hunden,
welche in Aethernarkose verendet waren: La muqueuse de la trach6e
et des bronches est päle ou rose, le calibre de ces conduits n'est
obstru6 par aucune s6cr6tion apparente. Aus diesem Fehlen irgend
welcher sichtbaren Secretion, wie es die genannten französischen
Forscher bei Thieren beobachteten, und wie es nach den Sections-
berichten auch bei vielen der in Aethernarkose gestorbenen Menschen
als wahrscheinlich vorhanden gewesen angenommen werden muss,
könnte man, den Schluss zu ziehen, geneigt sein, dass die Aether-
dämpfe überhaupt keine erhöhte Absonderung in den Luftwegen
verursachen. Dieser Schluss hat zwar eine gewisse Berechtigung,
198 Dr. R. Kölscher,
ist aber doch bei näherer üeberlegung nicht richtig, da noch eine
andere Erklärung zulässig ist. Es kann nämlich sehr wohl während
der Narkose eine Hypersecretion in den Luftwegen stattgefunden
haben; der abgesonderte Schleim kann aber durch Einwirkung be-
sonderer Umstände, auf die ich später noch zurückkommen werde,
Gelegenheit gefunden haben, nach aussen abzufliessen, so dass bei
der Autopsie nichts mehr, oder doch wenigstens keine abnormen
Mengen Schleimes in den Bronchien angetroffen werden.
Um mir Aufklärung über die Frage zu verschaffen, ob in Folge
von Inhalation von Aetherdämpfen eine vermehrte Absonderung
auf der Tracheo-Bronchialschleimhaut stattfindet, oder nicht, stellte
ich zunächst Versuche in folgender Weise an: Ich ätherisirte
Kaninchen, Hunde und Katzen verschieden lange Zeit, mindestens
aber eine Stunde lang; während der Narkose suchte ich jede
Aspiration von etwa abgesondertem Mundinhalt dadurch zu ver-
meiden, dass ich den Kopf der Thiere frei hängen, oder zur Seite
gewendet halten Hess. Gleichzeitig suchte ich aber ein etwa zu
befürchtendes Abfliessen des sich eventuell bildenden Bronchial-
sekrets nach aussen dadurch zu verhindern, dass ich mit Ausnahme
des Kopfes und des oberen Theiles des Halses, welche eine nach
unten geneigte Lage einnehmen, dem übrigen Körper des Thieres
eine horizontale, in einigen Fällen auch eine in der Weise schräg
geneigte Lagerung gab, dass der Hals höher als der Thorax zu
liegen kam. Nach Rossbach, dem wir eine höchst interessante
Arbeit über die Schleimbildung in den Luftwegen verdanken, ist
die normale Schleimabsonderuug keine continuirliche. Nach seinen
Beobachtungen, welche er sämratlich bei der Trachea an Katzen
machte, sammelt sich auffallender Weise auch bei stundenlanger
Beobachtung in normalem Zustande nie so viel Schleim an, dass
er in Klümpchenform an verschiedenen Stellen auftritt, oder dass
man überhaupt eine allmälige, weitere Zunahme desselben wahr-
nehmen kann. R. zieht daraus den Schluss, dass unter normalen
Verhältnissen immer nur so viel Flüssigkeit von den Schleimdrüsen
producirt wird, als gerade zur Feuchterhaltung der Schleimhaut
dient. Bei seiner weiteren Untersuchung fand er dann, dass
„gänzliches Versiegen der Schleimsecretion sich durch dauernde
Trockenheit der Schleimhaut, Hypersecretion durch Zusammen*
fiiessen grosser Schleimmassen manifestirte." Wenn ich demnach
Experiment. Unters, üb. d. Entstehung d. Erkrankungen d. Luftwege etc. 199
die Versuchsthiere 1 Stunde lang oder noch länger der Inhalation
von Aetherdämpfen aussetzte, so müsste ich nach den Angaben
Rossbaoh's, falls durch den Aether eine Hypersecretion in den
Bronchien und der Trachea hervorgerufen wird, erwarten bei sofort
nach Beendigung der Narkose angeschlossener Autopsie den Schleim
noch in grösserer Menge in den Luftwegen anzutreffen. Lassen wir
die Versuche darauf antworten.
Versuch 1: Hund. Horizontallage, Kopf hängend, 2 Yg Stunde Aether-
narkose. Ziemlich starke Speichelsecretion. Tod durch Verblutung. Befund :
Tracheal- und Bronchialschleimhaut blass, ohne Injection, feucht glänzend,
eine Auflagerung von Schleim nii'gends sichtbar. Lungen lufthaltig überall,
grau-roth aussehend.
Versuch 2: Grosser Hund. Horizontallage mit hängendem Kopfe.
2^2 Stunde Aethemarkose. Starke Speichelsecretion. Tod in Narkose.
Befund : Schleimhaut des Kehlkopfs und der Trachea in den Zwischenknorpel-
ringen, in letzteren auch am häutigen Theilmässigjinjicirt; Bronchialschleimhaut
blass. Kehlkopf, Trachea sowohl wie Bronchien ohne jegliches Secret, überall
die Schleimhaut feucht glänzend, Lungen lufthaltig, grau-roth.
Versuch 3. Grosser Jagdhund. Horizontale Lage, hängender Kopf.
Starke Speichelsecretion. 2^^ Stunde Aethemarkose. Tod durch Stich in
die Medulla oblongata. Befund: Tracheal- u. Bronchialschleimhaut feucht
glänzend, makroskopisch, ausser ganz vereinzelt am häutigen Theil der Trachea
liegenden st^cknadelkopfgrossen Schleimbläschen kein Schleimbelag auf der
Oberfläche sichtbar. Mit dem Messer lässt sich von der Schleimhaut der
Trachea und den Bronchien etwas zähes gelblich durchscheinendes Secret ab-
streifen, welches zum grössten Theil aus Cylinderepithelien und aus hellen,
mit durchscheinenden Kügelchen angefüllten grossen Zellen besteht. Die
Zwischenknorpelräume der Bronchien zeigen geringe Gefässinjection , die
Bronchien sind blass. Lungen sind grau-roth, überall lufthaltig.
Versuch 4: Grosser Hund. Horizontale Lage des Körpers, Kopf theils
hängend, theiis horizontal, aber auf die Seite gedreht während der 2Y2 stün-
digen Aethemarkose. Sehr starke Salivation. Tod durch Verblutung. Befund:
Im Kehlkopfeingang etwas schaumiger, die Innenfläche der Epiglottis spärlich,
die Sinus Morgagni völlig anfüllender Schleim, der übrige Kehlkopf, sowie die
Trachea und die Bronchien völlig frei von Schleim, glatt, feucht glänzend;
nur an der Pars membranacea einige kleinste Schleimbläschen. Keine Injection
der Gefasse.
Versuch 5: Kleiner, alter Hund. Horizontallage des Körpers, Seiten-
lage des Kopfes. Aethemarkose 2V2 Stunde lang. Geringe Salivation. Tod
in Narkose. Befund, V2 Stunde nach dem Tode aufgenommen: Im Schlünde
und Kehlkopfeingange etwas zäher Schleim. Trachea und Bronchien ohne
jegliches Secret. Schleimhaul feucht glänzend. Zwischenknorpelräurae der
Trachea erscheinen etwas injicirt, Bronchialschleimhaut blass, Lungen luft-
haltig, rosaroth.
200 Dr. K. Kölscher,
Versuch 6: Kleiner Dachshund. Aethernarkose IV2 Stunde. Horizontal-
lage des Köi-pers, Seitenlage des Kopfes. Keine Spur von sichtbarer Salivation.
Tod durch Verblutung. Befund : Am Zungengrunde etwas zäher Schleim, sonst
Gaumen und Mundschleimhaut trocken. Trachea undBronchien feucht glänzend,
ohne sichtbares Secret. Abstreifen lässt sich jedoch etwas mit dem Messer, das
Abgestreifte bestehtwieder grösstentheils aus Epithel ien. Zwischenknorpelräume
massig injicirt; Bronchien blass. Lungen lufthaltig, rosaroth.
Versuch 7. Grosser Jagdhund. Aethernarkose 2 St. Horizontallage
des Körpers, Seitenlage des Kopfes. Sehr starke Speichelsecretion. Tod
durch Nackenstich. Befund: Trachea und Bronchien feucht glänzend, ohne
Secret. Etwas gelblicher zäher Schleim lässt sich von der Sehleimhaut der
Trachea und Bronchien abstreifen, er besteht zum grössten Theil aus Cylinder-
epithelien und Schleimzellen. Eine Injection der Zwischenknorpelräume der
Trachea, oder der Bronchialschleimhaut nicht auffallend.
Versuch 8. Grosser Jagdhund. Aethernarkose 2^4 Stunde lang.
Horizontal läge des Körpers, hängender Kopf. Sehr reichliche Salivation. Tod
durch Verblutung. Befund: Zwischenknorpelräume der Trachea und der
Bronchien erscheinen etw-as injicirt, Schleimhaut derselben von feuchtem Glänze.
Vereinzelte stecknadelkopfgrosse Schleimbläschen auf dem membranösen Theile
der Trachea; das einzige, was als Secret makroskopisch sichtbar ist, sind
kleine lange und zähe Schleimfädchen, die an der Bifurcation der Trachea
liegen. Lungen lufthaltig, grau-roth aussehend.
Versuch 9: Kaninchen. Aethernarkose 1 Stunde. Horizontallage des
Körpers, Kopf hängend, keine sichtbare Salivation. Tod durch Verblutung.
Befund: Am Kehlkopfeingange etwas Schleim, Schleimhaut der Trachea und
der Bronchien blass, ohne jede Injection. Schleim auf der Schleimhaut nirgends
sichtbar, letztere ist feucht glänzend, wie bei normalem Thiere auch.
Versuch 10: Kaninchen. Aethernarkose V2 Stunde lang. Körper
schräg geneigt, Hals am höchsten, Kopf hängt über die Kante des Brettes
hinab. Tod in Narkose, keine auffallende Salivation während derselben.
Befund: Am Kehlkopfeingang etwas Schleim; sonst weder in Trachea und
Bronchien etwas von demselben zu entdecken. Gefässe der Trachea und
Bronchien sind etwas injicirt. Lungen hell rosaroth, lufthaltig.
Versuch 11: Kaninchen. Aethernarkose 1 Stunde. Massige Salivation.
Vor der Tödtung durch Nackenschlag wird der Kehlkopf herauspräparirt und
während des Naekenschlages mit der Oeffnung nach oben gehalten, um ein
Abfliessen etwaiger Secrete und Luftwege nach aussen zu verhindern. Befund:
Trachea und Bronchien ohne jede Schleimauflagerung. Die linke Hälfte der
Trachealwand ist etwas injicirt, sonst ist die Trachea ebenso wie die Bronchien
blass. Lunge hellroth, lufthaltig.
Versuch 12: Kaninchen. Aethernarkose 1 Stunde. Horizontallage des
Körpers, Tieflagerung des Kopfes. Tödtung durch Nackenschlag. Befund:
Trachea und Bronchien ohne Röthung, frei von irgend welcher makroskopisch
sichtbaren Schleimauflagerung. Am Kehlkopfeingang noch Sparen von Schleim
sichtbar. Lungen hellroth, lufthaltig.
Experiment. Unters, üb. d. Entstehung d. Erkrankungen d. Luftwege etc. 201
Versuch 13: Kaninchen. Aethernarkose 1 Stunde. Horizontallage mit
tiefliegendem Kopf. Ziemlich starke Speichelsecretion. Tödtung durch Nacken-
schlag. Befund: Kehlkopf- und Tracheaischleimhaut ziemlich stark hyper-
aemisch, die Hyperaemie nimmt nach unten zu ab, ist in den Hauptbronchien
noch forhanden, hört aber auf an den Eintrittsstellen der grossen Bronchien
in das Lungengewebe. Innerhalb der letzteren ist die Schleimhaut der Bron-
chien ganz blass. Die Schleimhaut von Trachea und Bronchien spiegelt über-
all glatt, eine Schleimauflagerung ist nirgends nachweisbar. Lungen hellrosa-
roth und lufthaltig.
Versuch 14: Katze. Aethernarkose V* Stunde. Horizontale Lage des
Körpers, Kopf tief gelagert. Ziemlich starke Salivation. Tod durch Verblutung.
Befund : Tracheal- und Bronchialschleimhaut feucht glänzend, ohne Schleim-
aaflagerung. Keine Injection der Gefasse bemerkbar. Lungen hellroth und
lufthaltig.
Versuch 15: Katze. Athernarkose 1 V2 Stunden. Horizontal» Lage
des Körpers, tiefe des Kopfes. Spärliche Speichelsecretion. Tod in Narkose.
Befund : Trachea und Bronchien ohne Injection und Inhalt. Von der Schleim-
haut derselben lässt sich etwas Schleim abstreifen, der makroskopisch ohne
Abstreifen nicht sichtbar wai*. Lungen rosaroth, lufthaltig.
In allen diesen Versuchen fand sich also .gleichmässig bei der
Autopsie die Schleimhaut der Trachea und der Bronchien
von feuchtem Glänze, nirgends eine auffallende Schleim-
auflagerung auf derselben, während die Speichelsecretion wech-
selnd, bald spärlich, bald in ausserordentlich hohem Grade vor-
handen gewesen war. Das einzige, was vielleicht als Zeichen einer
Hypcrsecretion in den Luftwegen angesehen werden konnte, war der
Umstand, dass in manchen Fällen kleinste Schleimbläschen auf
der Oberfläche, allerdings immer nur sehr vereinzelt, angetroffen
wurden. Um dies nach der Aethernarkose gefundene Verhalten der
Tracheal- und Bronchialschleimhaut besser beurtheilen zu können,
tödtete ich zum Vergleich mehrere Kaninchen ohne vorangegangene
Narkose durch Nackenschlag, mehrere Katzen und Hunde durch
Chloroform, da ich von diesem Narkoticum nach den allgemein
mit ihm gemachten Erfahrungen keine Hypcrsecretion erwarten
durfte. Anch hier hatte ich bei der Autopsie denselben Befund,
wie nach der Aethernarkose. Die Schleimhaut der Bronchien und
der Trachea feucht glänzend, ohne sichtbare Schleimauflagerung,
bei manchen Thieren dieselben kleinsten Schleimbläschen, wie nach
Aetherwirkung. Die Schleimhaut hatte meist blasse Farbe, manch-
mal waren jedoch die Zwischenknorpelräume der Trachea und ihre
hintere membranöse Partie etwas injicirt.
202 Dr. R. Kölscher,
Ich glaube demnach, aus den mit der Aethernarkose ge-
machten Versuchen schliessen zu dürfen, dass bei den benutzten
Thieren keine merkliche Hypersecretion in den Luftwegen durch
den Aether hervorgerufen würde. Nun hatte ich aber einen Um-
stand ganz ausser Acht gelassen, ich hatte den Einfluss der
Flimmerbewegung des Bronchial- und Trachealepithels, durch welche
etwa abgesonderte Schleiraraengen nach aussen befördert sein konnten,
gar nicht in Rechnung gezogen. Dazu glaubte ich allerdings nach
dem Ergebniss der Untersuchungen Cl. Bernard^s, Huizinga's
und Engelmann's über die Flimmerbewegung berechtigt zu sein.
Ersterer untersuchte an einem unter eine Glasglocke gebrachten
Oesophagus des Frosches den Einfluss der Dämpfe von Chloroform
und Aether, und fand Folgendes: Le vapeur d'ether ou de chloro-
forme fait cesser Fagitation et tomber les cils au rcpos; on constate
alors que le transport de petits corps ä la surface de la membrane
oesophagienne s'arrdte pour reprendre quand ou a fait disparaitre
r6th6risation.
Hui zinga berichtet über die Einwirkung der beiden Narkotica
auf die Fliramerbewegung von Opalina ranarum, dass Chloroform
und Aether, der überströmenden Luft beigemengt, die Flimmer-
bewegung sistirt, Chloroform in 10 — 15 Secimden, Aether oft erst
nach 20 Minuten, dass Zufuhr reiner Luft zu chloroforrairten oder
ätherisirten Opalinen keine Flimmerung mehr bewirkt.
Engelmann machte seine eingehenden Studien über diesen
Gegenstand an der Rachenschleimhaut frisch getödteter Frösche j er
brachte dieselbe in eine eigens von ihm zu diesen Untersuchungen
construirte „Gaskammer", und beobachtete die Einwirkung der Dämpfe
von Aether und Chloroform mit dem Mikroskope. Das Resultat der
Beobachtung war folgendes: „War die Flimmerbewegung in Serum-
oder indiflferenter Kochsalzlösung langsamer geworden, so erwacht sie
beim Zutritt von Aetherdämpfen und kann zuweilen die normale
Höhe wieder erreichen. Bringt man mehr Aether ein, so dass die
Gaskammer beständig mit Aetherdarapf gefüllt ist, so verlangsamt
sich die Bewegung bald wieder und schon nach 2 — 3 Minuten
kann Stillstand im ganzen Präparate sein. Je langsamer der
Aetherstillstand eingetreten ist, und je kürzere Zeit er angedauert
hat, um so leichter ist es, ihn zu beseitigen. Man braucht dazu
nur einen starken Strom atmosphärischer Luft durch die -Kammer
Experiment. Unters, üb. d. Entstehung d. Erkrankungen d. Luftwege etc. 203
zu jagen, allmälig fangen dann die meisten Wimpern wieder an
zu schlagen, erst sehr langsam, dann schneller. Durch neue
Aetherzufuhr kann dann wieder Stillstand der Flimmerung hervor-
gerufen werden, der durch Luft wieder beseitigt wird. Diesen
Wechsel von Stillstand durch Aether, Wiedererregung durch Luft-
zufuhr kann man mehrmals wiederholen, allmälig aber erreichen
die durch Luftzufuhr erzielten Bewegungen keine grossen Höhen
mehr und stehen schliesslich für immer still. War die Aether-
einwirkung so stark, dass Durchsaugen von Luft durch die Kammer
die Bewegung nicht wieder erweckt, oder hatte der Aetherstillstand
zu lange gedauert, so stehn die Zellen für immer still. Weder
Säuren, noch Alkalien, weder reines Wasser, noch Salzlösungen
beleben sie wieder. In der Einwirkung des Chloroforms auf die
Flimmenmg fand Engelmann einen Tuterschied von der Aether-
einwirkung, der darin bestand, dass bei Zufuhr von Chloroform-
dämpfen keine anfängliche Erregung der Flimmerung, wie sie bei
Aetherzufuhr vorhanden war, sondern unter allen Umständen sofort
eine Verlangsamung eintrat, die selbst bei vorher äusserst lebhafter
Bewe^ng bald völliger Ruhe Platz machte. Dieser Chloroform-
stillstand konnte aber, auch wenn er längere Zeit, selbst bis zu
20 Minuten gedauert hatte, durch atmosphärische Luft schnell
wieder beseitigt werden, und selbst 5 — 6 Mal wiederholtes „Chloro-
formiren** und „Erwecken** der Wimperung hatte keine dauernde
Schwächung oder Stillstand dei-selben zur Folge, während dies bei
der Aethereinwirkung die Regel war.
Wenn man nun auch die Ergebnisse dieser Versuche, die ja
an einer vom übrigen Körper völlig losgelösten Membran gemacht
wurden, nicht so ohne Weiteres auf die Verhältnisse des lebenden
Körpers übertragen kann, so glaube ich doch, daraus schliessen zu
müssen, dass die Flimmerung des Tracheal- und Bronchialepithels
bei der Narkose, bei der ja die Dämpfe des Narkoticums einen
ebenso directen Einfluss auf die Flimmerzellen ausüben, wie bei
den Versuchen Engelmann 's, in einer ähnlichen Weise beeiuflusst
werden würde. Wenn in den Versuchen Engel mann 's die Flim-
roerbewegung durch Aetherdämpfe zunächst angeregt, dann ver-
langsamt und zum Stillstand gebracht, durch Luftzufuhr wieder
hervorgerufen wurde, wenn längere Einwirkung von Aetherdänipfen,
oder die öfters wiederholte abwechselnde Einwirkung von Luft und
204 Dr. U. Hülscher,
Aether einen vollkommenen, durch keine Mittel wieder zu beseiti-
genden vStillstand der Fliramcrzellen zu Stande brachte, so sollte
man denken, dass nach einer länger dauernden Aethernarkose durch
die lange Einwirkung der Aetherdämpfe , sowie durch den häufig
wiederholten Wechsel der Einathmung von Aether und Luft die
Flimmerbewegung des Epithels so geschädigt wäre, dass ein völliger
Stillstand eingetreten wäre, der nur nach vollständigem Aufhören
der Einwirkung der Aetherdämpfe, also, da der Aether durch die
Lungen hauptsächlich den Körper wieder verlässt, erst nach völliger
Ausscheidung des Narcoticums sich wieder rückbilden würde.
Nach dieser Ueberlegung musste ich erwarten, wenn ich die Thiere
einer Aethernarkose von ein- und mehrstündiger Dauer aussetzte,
an den in der Narkose getödteten oder gestorbenen Thieren keine
Flimmerung des Traclieal- und Bronchialepithels mehr beobachten
zu können.
Um mir darüber Klarheit zu verschaflFen, schnitt ich sofort
nach dem Tode kleinste Stückchen des Tracheal- und ßronchial-
epithels mit der Scheere heraus und untersuchte dieselben unter
dem Mikroskope frisch in physiologischer Kochsalzlösung. In allen
Fällen, bei denen ich diese Untersuchung anstellte, bei Kaninchen,
Katzen und Hunden sah ich selbst nach 2- und 3 stündiger Aether-
narkose die Cilien in lebhafter Bewegung und die rothen Blut-
körperchen, welche in ihre Nähe kamen, mit grosser Schnelligkeit
an dem flimmernden Saume des Epithels sich fortbewegen. Aehn-
liches konnte ich beobachten, wenn ich das Epithel nicht in Koch-
salzlösung, sondern in dem eigenen Secret der Tracheal- und Bron-
chialschleimhaut untersuchte. Um dies zu können, musste ich,
da, wie erwähnt, makroskopisch sich nie Schleim auf der Schleim-
haut befand, mit dem Messer Secret abschaben und fand in diesem
an den zahlreichen FlimmerzcUen , die es enthielt, regelmässig die
Bewegung der Geissein ebenso erhalten, wie ich es bei Zusatz von
Kochsalzlösung gesehen hatte. Ans diesem Verhalten der Flimmer-
zellen, das ich nach der Narkose festsstoUen konnte, lässt sich
aber kein völlig einwandsfreier Schluss auf ihr Verhalten während
der Narkose selbst ziehen. Die Flimmerung konnte sehr wohl
während der Narkose sich im Aetherstillstande befinden, es wäre
aber denkbar, dass dieselbe durch den Zusatz von Kochsalzlösung
zum Epithel, oder durch die nach dem Tode des Thieres wieder
Experiment. Unters, üb. d. Entstehung d. Erkrankungen d. Luftwege etc. 205
frei auf die Schleirahaut der Luftwege einwirkende atmosphärische
Luft wieder zu neuem Leben angeregt worden wäre. Allerdings
ist dies von vorn herein unwahrscheinlich; denn wenn nach den
Untersuchungen Engelmann *s eine längere Athemwirkung irre-
parablen Stillstand hervorruft, so sollte man annehmen, dass dann
auch nach einer längeren Narkose ein Stillstand eingetreten wäre^
der weder durch Kochsalzlösung, noch auch atmosphärische Luft
wieder hätte beseitigt werden können. Trotzdem aber musste ich,
um diesen Einwand hinfällig zu machen, die Flimmerbewegung
des Tracheo-Bronchialepithels an Ort und Stelle einer einer näheren
Untersuchung unterziehen.
Ich ätherisirte zunächst Katzen und Hunde 1, 1 V2 ^^^ 2 Stun-
den lang, legte dann, ohne die Thiere zu tödten, noch während der
Narkose die Trachea frei und öffnete sie mit einem Galvanokauter.
Sodann brachte ich feine Kohlepartikelchen auf die feucht glän-
zende Schleimhaut und beobachtete dieselben, ob sie durch die
Flimmerung fortgetrieben wurden. Dabei fand sich denn, dass
feinste, eben noch mit blossem Auge sichtbare Kohlepartikelchen
sich sofort, grössere, erst nachdem sie sich mit dem der Schleim-
haut aufliegenden Secret imbibirt hatten, schnell nach dem Kehl-
kopf zu fortbewegten. Um die Schnelligkeit zu messen, mit der
diese Fortbewegung stattfand, grenzte ich mit einem Zirkel einen
Theil der Trachea von 1 cm Länge ab und bestimmte die Zeit,
welche die Kohlepartikelchen gebrauchten, um diesen Raum von
1 cm Länge zu durchlaufen. Hatte die Trachea noch nicht längere
Zeit geöffnet frei gelegen, so durcheilten feinere und auch gröbere
Kohlepartikelchen, sowohl bei Katzen, als bei Hunden, einerlei, ob
die Narkose 1, IY2 oder 2 Stunden und noch länger angedauert
hatt^, diesen Raum von 1 cm Länge mit einer Geschwindigkeit,
die zwischen 1 und IV2 Minuuten schwankte, wenn die Thiere,
die in tiefer Aethernarkose lagen, atmosphärische Luft ei nathmeten;
grössere und in Haufen zusammengeballte Kohletheilchen gebrauchten
längere Zeit, etwa 3 — 5 Minuten. Die Schnelligkeit der Fort-
bewegimg blieb unberührt davon , welche Lage die Trachea ein-
nahm, sie blieb dieselbe, einerlei, ob die Trachea horizontal oder
vertical gehalten wurde, obgleich in letzterem Falle die Bewegung
steil bergan von Statten gehen musste. Liess ich nun durch die
Trachealwunde , innerhalb welcher die Kohlepartikelchen auf der
206 Dr. R. Hölscher,
Schleimhaut sichtbar waren, neue Aetherdärapfe längere Zeit hin-
durch inhaliren, so blieb, trotzdem dieselben direct über die Schleim-
haut strichen, die Flimmerung, oder vielmehr der sich in der Fort-
bewegung der Kohletheilchen äussernde Effect der Flimmerung in
unverändertem Maasse bestehen. Eine Abnahme oder einen Still-
stand in der Bewegung der Kohlepartikelchen sowohl bei Luft- als
bei Acthereinathmung konnte ich dann wahrnehmen, wenn die
Trachea lange Zeit offen gelegen hatte und die frei vorliegende
Schleimhaut etwas trocken geworden war, was ich besonders bei
länger dauernder Aethernarkose an Hunden beobachten konnte.
Oeffnete ich dann aber die Trachea mittelst des Galvanokauters
noch etwas weiter nach unten hin und streute auf die jetzt frei
liegende, feuchte Schleimhaut neue Kohletheilchen, so konnte ich
auch hier wieder ihre durch die Flimmerbewegung hervorgerufene
Fortbewegung bemerken. Um nun auch zum Vergleich die Flim-
merung in ihrer Wirkung an gesunder, durch keine Aetherdämpfe
gereizt gewesener Trachealschleimhaut zu studiren, legte ich an
einem mit dem Rücken aufliegenden Hunde unter Schleich'scher
Localanästhesie, wobei der Hund auch nicht eine Schmerzens-
äusserung von sich gab, die Trachea frei, öffnete sie wie bei den
übrigen Versuchen mit dem Galvanokauter und verfuhr dann zur
Prüfung der Flimmerbewegung in der nämlichen Weise, wie oben
beschrieben ist. Ich kam dabei zu demselben Resultate: 1 cm
Lunge wurde auf der normalen Traehe in ca. 1 Minute von den
Kohletheilchen durchlaufen. Leitete ich nun durch die Tracheal-
wunde die Aethernarkose ein und prüfte dann, nachdem das Tole-
ranzstadium eingetreten war und bereits längere Zeit gedauert
hatte, wieder die Flimmerbewegung mittelst aufgestreuter Kohle-
theilchen, so fand ich ungefähr dieselben Werthe für die Zeit, in
welcher der 1 cm von den Kohletheilchen durchlaufen wurde.
Beiläufig will ich erwähnen, dass ich auch die Einwirkung der
Chloroformnarkose auf die Fliramerzellen der Luftwege prüfte und
hierbei zu ganz ähnlichen Resultaten kam, weshalb ich nicht näher
darauf eingehen will.
Wenn nun auch die gefundenen Werthe für die Schnelligkeit
der durch die Flimmerung erzeugten Bewegung der Kohletheilchen
durchaus keinen Anspruch auf Genauigkeit machen können, da sie
mittelst einer rohen und unvollkommenen Methode erlangt sind,
Experiment. Unters, üb. d. Entstehung d. Erkrankungen d. Luftwege etc. 207
soviel zeigen sie doch, dass die Flimmerung sowohl wäh-
rend der Aether-, als auch während der Chloroform-
narkose ihren ungestörten Fortgang nimmt. Diesen schein-
baren Widerspruch mit den Angaben Cl. Bernard's und Engel-
mann's erkläre ich tnir daraus, dass erstere an einem völlig
aus dem Zusammenhange mit dem übrigen Organismus
gelösten Körpertheile eines Frosches ihre Versuche an-
stellten, während die von mir untersuchte flimmernde Schleimhaut
an Hund und Katze in völligem Contact mit ihrer nor-
malen Umgebung gelassen worden war. Es müssen doch
vom Organismus aus, vielleicht auf dem Wege der Blutbahn, Ein-
wirkungen auf die Flimmerzellen statthaben, welche den von Cl.
Bernard und Engelmann nachgewiesenen schädlichen Einfluss
der Narcotica wieder auszugleichen im Stande sind.
Wenn ich nach dieser Abschweifung mich wieder zu meinen
Versuchen über den Einfluss des Aethers auf die secretorische
Thätigkeit der Schleimhaut der Luftwege zurückwende, so war in
allen bisherigen über diese Frage von mir gemachten Versuchen
nicht auszuschliessen , dass die etwa während der Narkose gebil-
deten Schleimmengen allein durch die Kraft der Flimmerbewegung
die Trachea und den Kehlkopf hinauf in die Nasenhöhle und von
hier durch die Tief- oder Seitwärtslagerung des Kopfes in Folge
der eigenen Schwere nach aussen befördert waren. Dass die Kraft
der Flimmerung euie ziemlich bedeutende ist, dass durch sie selbst
übermässig gebildete Schleiramengen fortbewegt werden können,
davon konnte ich mich bei einem Hunde überzeugen, bei dessen
Autopsie sich eine auf zwei Lungenlappen der einen Seite be-
schränkte eitrige Bronchitis und Pneumonie vorfand; hier sah ich
auf der geöffneten Trachea während der Aethernarkose wiederholt
grössere, umschriebene gelbliche Schleimballen, die offenbar aus
den afficirtcn Lungenabschnitten stammten und manchmal in einer
Dicke von mehreren mm der Schleimhaut auflagen, in gleich-
massiger stetiger Bewegung die Trachea von unten herauf kommen,
sich über die offenliegenden Partien der Tracheal Schleimhaut fort-
bewegen, um allmälig nach dem Kehlkopfe zu zu verschwinden.
Wenn ich mir daher ein Bild über die Menge des während
der Narkose secernirten Schleimes machen wollte, so musste ich
in den neu anzustellenden Versuchen ein Abfliessen des etwa durch
208 Dr. R. Hölscher,
Flimnierung heraufbewegten Secretes nach der Mundhöhle hin ver-
hindern, das letztere vielmehr, ehe es den Kehlkopf verlassen hatte,
aufsaugen. Zu diesem Zwecke verfuhr ich in folgender Weise: Bei
Hunden legte ich unter Sc hl eich 'scher Localanästhesie die Trachea
frei, schnitt die letztere melir oder weniger weit unterhalb des
Kehlkopfs mit dem Galvanokauter quer ab und band in das Tra-
chealende eine Glascanüle so fest ein, dass zwischen ihr und Tra-
chealwand w^der Luft noch Flüssigkeit vorbeipassiren konnte. Bei
allen derartig behandelten Hunden der verschiedensten Race und
Grösse, die theilw^eise während der ein oder mehrere Stunden dau-
ernden Aethernarkose zu anderen Versuchen verwandt wurden, fand
ich bei der Autopsie, die dem in Narkose erfolgten gewaltsamen
oder spontanen Tode sich sofort anschloss, übereinstimmend: die
Bronchial- und Trachealschleimhaut feucht glänzend, ohne makro-
skopisch sichtbares Secret, nur ganz vereinzelt kleinste Schleim-
bläschen, ab und zu sehr feine, lange Fädchen zähen Secretes, die,
der Längsrichtung der Trachea und der Bronchien parallel, in man-
chen Fällen der Schleimhaut auflagen; in der Regel war ein dünner
Belag abstreif bar, derselbe war überall von ziemlich gleichmässiger
Dicke sowohl an dem Theile der Trachea, durch welchen die Aether-
dämpfe während der Narkose hindurchgegangen waren, als auch an
der oberen, vom Zusammenhang mit der übrigen Trachea und den
Bronchien getrennten Partie. Die Canüle war auch nach mehr-
stündiger Narkose stets frei von makroskopisch sichtbarem Secret,
zwischen Trachealwand und der Wandung der Canüle hatte sich
nur in einem Falle etwas zähes, gelbliches Secret angesammelt, als
einziges Zeichen einer etwa durch die Narkose hen^orgerufenen
Secretion, deren Product durch die Flimmerung nach oben ge-
schafft war.
Die Versuche sind im Einzelnen folgende:
Versuch 1: Junger, aber ausgewachsener Schäferhund. Horizontale
Lage des Körpers, tiefe des Kopfes. 2'/^ Stunden lang Aethernarkose.
Starker Speichelfluss. Tod durch Verblutung.
Befund: Schleimhaut der Trachea unterhalb der Canüle feuchtglänzend,
im oberen Theile an der Hinterseite kleinste Schleiniblaschen und geringe, nur
mit dem Messer abstreifbare, sonst nicht sichtbare Schleimauflagerung; an der
BifurcatioDsstelle der Trachea ebenfalls vereinzelt kleine Schleimbläscheu. In
der Glascanüle keine Schleimansammlung, ebenfalls keine zwischen Canüle
und Trachealwand. Bronchien sämmtlich ohne sichtbare Schleimauflagerung.
Experiment. Unters, üb. d. Entstehung d. Erkrankungen d. Luftwege etc. 209
Eine Hyperämie zeigt sich an der Trachea nur dort, wo die Canüle eingebunden
war, sonst nirgends, in den Bronchien ebenfalls nicht. Lungen hell-grau-
roth. Der obere Theil der Trachea, der von Aetherdämpfen nicht berührt war,
zeigt dasselbe Verhalten, wie die tiefer gelegenen Partien: kein Schleim, keine
Injection.
Versuch 2: Grosser Jagdhund. Dieselbe Lagerung. Aetheruarkose
2Y2 Stunden lang. Sehr starker Speichelfluss während der ganzen Narkose.
Tod durch Verblutung.
Befund: Ausser kleinen Schleimbläschen am membranösen Theil der
Trachea keine sichtbare Schleimauflagerung, weder in der Trachea, noch in
den Bronchien. Abstreifen lässt sich ein dünner, in langen, zähen Faden aus-
ziehbarer Belag. Geringe Injection der Zwischenknorpelräume, sowohl in der
Trachea, als auch in den Bronchien. Dort, wo die Canüle sass, ist die Schleim-
haut sehr stark injicirt; Secret in auffälliger Menge weder an noch in der
Canüle. Die oberhalb der Canüle gelegene Partie der Trachea und der Kehl-
kopf zeigt den nämlichen feuchten Glanz, wie die untere, die Schleimhaut
scheint einen Ton blasser zu sein, als die der übrigen Trachea. Lungen grau-
roth, lufthaltig.
Versuch 3: Kleiner, junger Wachtelhund. Dieselbe Lagerung. Aether-
narkose 2 Stunden lang. Keine Spur von Speichelfluss. Tod in Narkose.
Befund: Trachea erscheint etwas injicirt; starke Hyperämie am Sitz der
Glascanüle. Keine Spur sichtbaren Secretes, keine Schleimbläschen, weder auf
der Trachea, noch auf den Bronchien. Oberhalb der Canüle dasselbe Ver-
halten der Trachea. Lungen grauroth und lufthaltig.
Versuch 4: Kleiner schwarzer, junger Hund. Dieselbe Lagerung. Aether-
uarkose 2 Stunden lang. Während derselben ausserordentlich starker Speichel-
fluss. Tod in Narkose.
Befund : Trachea oberhalb wie unterhalb der Canüle gleichmässig feucht
glänzend, ohne eine Spur von Secret; auch an der Canüle keine Secretanhäu-
fung. Geringe Injection der Zwischenknorpelräume, die sich aber kaum unter-
scheidet von der Injection, welche sich oberhalb der Canüle in der Trachea
befindet. Starker ist dagegen wieder die Injection der Trachealschleimhaut am
Sitz der Canüle. Lungen lufthaltig.
Versuch 5: Brauner, grosser Hund. Dieselbe Lagerung. Aetheruarkose
3 Stunden lang; während derselben beständiger, ziemlich starker Speichelfluss.
Tod in Narkose.
Befand: Keine Spar von Secret auf der feucht glänzenden Trachea so-
wohl unter- wie oberhalb der Canüle; auch im Bereich der letzteren keine
Secretanhäufung bemerkbar. Die Bronchien ebenfalls ohne merkliche Auf-
lagerung. An der Trachea geringe Injection der Zwischenknorpelräume; an den
Bronchien nichts dergleichen nachweisbar. Massige Injection der Trachea am
Sitz der Canüle. Langen lufthaltig.
Vers ach 6: Grosser Jagdhund, dasselbe Verfahren. Aethernarkoso
% Standen lang. Geringe Speichelsecretion. Tod in Narkose.
Befund: Ausser zarten, dünnen Fädchen von zähem Secret, die an der
ArcbiT fltr klin. Clürargie. 57. Bd. Heft 1. ]A
210 Dr. H. Ilölscher,
Bifurcation der Trachea sich finden, keine Schleimauflagerung, weder in den
Bronchien, noch in der Trachea bemerkbar. Kein Secret an der Canüle.
Zwischenknorpelräume der Trachea und der Bronchien scheinen etwas starker
gefüllte Gefässe zu besitzen, als normal der Fall sein sollte. Lungen hell-
roth, lufthaltig.
Versuch 7: Kleiner Mops. Dieselbe Lagerung. Aethernarkose 3V2 Std.
lang. Starke Salivation während der ganzen Dauer derselben. Tod durch
Verblutung.
Befund: Kein Secret auf der Schleimhaut der Trachea und Bronchien
bemerkbar, überall feuchter Glanz; nur dort, wo die Glascanüle eingebunden
war, befindet sich auf der stark injicirtcn Schleimhaut der Trachea eine Spur
durch spärliches Blut bräunlich gefärbten Schleimes. Die Zwischenknorpel-
räume der Trachea und der Bronchien scheinen etwas stärker als normal in-
jicirt zu sein, jedoch zeigen die Zwisohenknorpelräume der Trachea oberhalb
der Canüle dieselbe Injection. Lungen lufthaltig, graurosa gefärbt.
Versuch 8: Grosser Schlächterhund. Dieselbe Lagerung. Aether-
narkose 1^/4 Stunden lang; während derselben starke Salivation. Tod in
Narkose.
Befund : Trachea und Bronchien ohne jegliches Secret, feucht glänzend.
Kein Secret an der Canüle bemerkbar. Zwischenknorpelräume der Trachea
unterhalb der Canüle und die der Bronchien zeigen nicht mehr Injection der
Gefässe, als die oberhalb der Canüle befindlichen Theile der Trachea. Lungen
grauroth und lufthaltig.
Das Ergebniss dieser Versuche war also im Wesentlichen das-
selbe. DerSchluss, den ich aus ihnen ziehen kann, ist der, dass bei
Hunden in Folge der Inhalation von Aetherdämpfen, trotz-
dem diese bei ihnen in der Regeleine mehr oder minder
hochgradige Salivation hervorrufen, die Schleimhaut der
Luftwege überhaupt nicht, oder doch nicht zu makros-
kopisch erkennbar erhöhter Secretion angeregt wird.
In der Tracheal- und Bronchialschleimhaut sind neben den
Becherzellen die hauptsächlich Schleim producirenden Elemente
die Schleimdrüsen; da diese nach den Untersuchungen Frank en-
häuser's bei Hunden nur in geringer Anzahl vorhanden sind,
in viel geringerer Menge, als wir sie beim Menschen vor-
finden, so musste ich die Versuche, wenn ich einigermaassen die
Berechtigung erlangen wollte, die Resultate derselben auf den
Menschen zu übertragen, auch noch an solchen Thieren wieder-
holen, bei denen der Reichthum der Schleimhaut an Schleimdrüsen
ebenso, oder doch annähernd so gross ist, wie beim Menschen.
Unter den uns zu unseren Versuchen zur Verfügung stehenden
r
Experiment. Unters, üb. d. Entstehung d. Erkrankungen d. Luftwege etc. 211
Thieren besitzen wir in den Katzen eine Thierart, bei welcher die
Schleimhaut der Trachea und der Bronchien diese erforderliche Be-
dingung des grossen Reichthums an Schleimdrüsen am besten er-
füllt. Ich stellte daher auch an Katzen die Versuche an, modi-
ficirte dieselben aber etwas: Nachdem das Thier in einem Sacke
mit Aether annarcotisirt war, wurde es auf dem Brett aufgebunden
in horizontaler Rückenlage des Körpers und Tief läge des Kopfes;
darauf wurde bis zum Stadium der Toleranz weiter aetherisirt, und
nun die Trachea frei gelegt und mit Galvanokaut er unterhalb des
Kehlkopfes geöffnet. Jetzt wurde der ganze Kehlkopf unter sorg-
fältiger Vonneidung von Bluteinfluss in denselben ringsum frei-
gelegt, aus seiner Verbindung mit Pharynx und Oesophagus befreit
und das offene, obere Ende durch dichte Nähte fest verschlossen.
Das Thier erhielt nun die Aetherdämpfe durch die unterhalb des
Kehlkopfes gebildete Trachealwunde, etwa während der Narkose
gebildetes Secret konnte, da der Kehlkopf verschlossen war, nicht
durch die Flimmerbewegung in die Rachenhöhle befördert werden,
sondern musste sich im oberen Theile der Trachea und im Kehl-
kopfe ansammeln. In dieser eben beschriebenen Weise behandelte
ich vier ausgewachsene Katzen von verschiedener Grösse, zum
Theil dieselben, an denen ich den Effect der Flimmerbewegung
des Epithels der Luftwege beobachtete. Die Thiere wurden
1 — 2^/4 Stunden der Inhalation von Aetherdämpfen ausgesetzt und
nach Beendigung der Narkose und nach dem Tode des Thieres
wurde nachgesehen, ob sich im oberen Theile der Trachea und im
Kehlkopfe Secret angesammelt hatte. Bei 3 von diesen 4 Katzen
konnte ich nun am Schlüsse der IV2 — 2% Stunden dauernden
Narkose deutlich wahrnehmen, dass, während die Trachea und die
Bronchien sonst überall denselben feuchten Glanz darboten, wie
er in allen übrigen Versuchen angetroffen wurde, die Hinterwand
des Kehlkopfes und der oberen IV2 — 2 cm von der Trachea be-
deckt war von einer Schicht klaren, zähen Secretes, die in einem
Falle wohl 1 — IV2 mm dick w^ar. Gelangten die auf die Schleim-
haut der Trachea gebrachten Kohlepartikelchen in Folge der
Fliromerung auf diese Schicht, so hörte die Weiterbewegung der-
selben auf, da ihr Contact mit dem flimmernden Epithel durch die
dicke Secretschicht gehindert war. Bei der vierten Katze konnte
ich keine irgendwie wahrnehmbare abnorme Schleimanhäufung fest-
212 Dr. R. Kölscher,
stellen, trotzdem bei ihr wie bei den übrigen Katzen die Speichel-
secretion einen ziemlich gleichmässig hohen Grad erreicht hatte.
Zum Vergleich verfuhr ich in derselben Weise mit 2 anderen Katzen,
nur nahm ich statt Aether Chloroform zur Narkose. Bei beiden
war keine sichtbare Secretanhäufung, weder im oberen, noch im
unteren Theile der Trachea, noch in den Bronchien zu bemerken.
Dasselbe fand ich bei einem ebenso behandelten Hunde, der die
eine Hälfte der Narkose mit Aether, die andere mit Chloroform
narkotisirt war.
Während man also bei Hunden in keinem Falle ausser ab
und zu auftretenden Schleimbläschen und kleinen Schleimfädchen
irgend ein Zeichen einer erhöhten Schleimsecretion constatiren
konnte, war bei Katzen in einigen Fällen eine Hypersecretiou in
der Trachea und den Bronchien als Folge der Aethemarkose nach-
zuweisen. Dieselbe war allerdings so gering, dass sich selbst nach
mehrstündiger Einwirkung der Aetherdämpfe im oberen Abschnitte
der Trachea und im Kehlkopfe nur eine verhältnissmässig gering-
fügige Auflagenmg von Secret befand; sie muss aber doch wohl
als abnorm, allein durch die Aetherdämpfe hervorgerufen, ange-
sehen werden, da nach Rossbach die Schleimhaut der Trachea
und der Bronchien in normalem Zustande immer nur soviel Schleim
producirt, als zur Feuchterhaltung derselben gerade nothwendig ist.
Konnte so makroskopisch nur bei Katzen, und auch dann nur,
w'cnn besondere Vorsichtsmassregeln getroifen waren, eine ver-
mehrte Schleimanhäufung in den Luftwegen nachgewiesen werden,
so blieb mir noch übrig, mikroskopisch die Schleimhaut der Trachea
und der Bronchien auf eine etwaige vermehrte Schleimsecretion zu
prüfen. Um das Epithel möglichst in dem Zustande, wie es ihn
während der Narkose darbot, zu fixiren, schnitt ich sofort nach
dem in Narkose erfolgten Tode des Thieres kleine Stückchen aus
Lunge, Bronchien und Trachea heraus, fixirte sie in Flemming-
scher Lösung und untersuchte nachher die in Celloidineinbettung
hergestellten Schnitte mit Saffranin- oder Haematoxylin- Eosin-
Färbung. In der Mehrzahl aller Fälle nicht nur bei Katzen,
sondern auch bei Hunden und Kaninchen fand ich die Becherzellen
weniger an der Trachea, mehr an den kleinen und mittleren
Bronchien gequollen und an ihrer dem Lumen zugekehrten Seite
mit hellglänzenden Massen angefüllt; häufig fand sich auch ein
Experiment. Unters, üb. d. Entstehung d. Erkrankungen d. Luftwege etc. 213
solch hellglänzender Tropfen gerade im Begriff, sich von der Zelle
loszulösen, um sich in das Innere des Bronchiallumens hineinzu-
begeben. Das Epithel der Bronchien war in der Regel bedeckt
von einer gleichmässigen Schicht einer homogenen, körnigen Masse,
welche helle Schleimtropfen in sich schloss, und welche die eben-
faUs mit Schleimtropfen angefüllten Zwischenräume zwischen den
Schleimhautfalten überbrückte. Vereinzelt waren, besonders bei
Katzen, kleine Bronchien mit ihrem Durchschnitt mit Schleim-
tropfen angefüllt. Im Innern der Schleimdrüsendurchschnitte fanden
sich ebenfalls ab und zu zahlreiche Schleimtropfen, die Drüsen-
zellen selbst waren manchmal klein und kubisch, lagen, ein weites
Lumen umschliessend, der Drüsenwand mit ihrem Kern dicht an;
in anderen Fällen waren die Zellen mehr von oylindrischer Form,
hatten ein weit in das Lumen hineinragendes Protoplasma.
Obgleich sich nun auch bei der mikroskopischen Prüfung der
Secretionsverhältnisse die Grenze zwischen normal und abnorm
schwer ziehen lässt, zumal da ich auch an nicht narkotisirten
Kaninchen- und chloroformirtcn Katzen- und Hundelungon ähnliche
Bilder fand, so möchte ich doch aus den erwähnten Befunden
schliessen, dass eine vermehrte Sccretion während der
Aethernarkose in den Luftwegen stattfindet. Diese
Secretion ist aber höchst geringfügig, erreicht selbst
bei Katzen nie einen so hohen Grad, dass sich irgendwie
makroskopisch erkennbare Schleimmassen in den Bron-
chien ansammeln können; das gebildete Secret wird viel-
mehr immer schon während der Narkose durch die
Flimmerung des Epithels mit Leichtigkeit wieder nach
aussen geschafft.
Da die Tracheal- und Bronchialschleimhaut der Katzen in
ihrem Reichthum an Schleimdrüsen der des Menschen sehr nahe
steht, so glaube ich zu der Annahme berechtigt zu sein, dass
auch beim Menschen eine Zunahme der Secretion durch die Aethor-
dämpfe in den Luftwegen hervorgerufen wird, die aber wahrschein-
lich ebenfalls nur gering ist, so dass die gebildeten geringfügigen
Secretmengen durch die Flimmerbewegung ebenso leicht nach
aussen befördert werden, wie es bei Katzen geschi(»ht. Für die
Richtigkeit dieser Annahme sprechen die von Grossniann ge-
machten Erfahrungen, die auch von uns, wie schon erwähnt ist,
214 Dr. R. Hölscher,
im Wesentlichen bestätigt werden konnten, und die dahin gehen,
dass nie Rasseln im Schlünde oder in der Trachea während der
Aethernarkose auftritt, wenn auf das Genaueste für einen guten
und ungehinderten Abfluss der im Munde befindlichen oder dahin
gelangten Secretraassen Sorge getragen ist.
Neben einer vermehrten Schleimproduction in der Trachea
und den Bronchien wird den Aetherdämpfen auch eine direct auf
toxischem Reiz derselben beruhende entzündungserregende Eigen-
schaft zugeschrieben, welche nach Poppert sogar zur Entstehung
eines acuten Lungenödems führen kann. Wenn diese Ansicht
richtig wäre, so müsste man nach der Narkose, besonders wenn
sie längere Zeit gedauert hätte, die Anfangsstadien einer Ent-
zündung an der Tracheo-Bronchialschleimhaut zu sehen erwarten.
Man sollte glauben, dass nach 2— '3 stündiger Aethernarkose eine
starke Hyperaemie der Schleimhaut vorhanden wäre, dass mikro-
skopisch die Epithelicn als verändert, und ein Austritt von Leuco-
cyten in die Umgebung der Bronchien und in die Alveolarwände
nachzuweisen wäre. Die an menschlichen Aethertodesfällen ge-
wonnenen Sectionsergebnisse geben uns über diese Frage nur
geringe Auskunft. In den Statistiken Perrin et Lallemand's,
Kappelcr's und Hankel's finden wir ab und zu im Obductions-
befunde die Angabe: Bronchitis, Röthung und Congestion der
Trachea und Bronchien, Congestion der Lungen ; dieselben Befunde
werden aber auch in verhältnissmässig ebenso grosser Menge bei
den von den genannten Autoren zusammengestellten Chloroform-
todesfällen angegeben, so dass sie für die Aethernarkose nichts
Characteristisches haben. An ihren in Aethernarkose gestorbenen
Hunden fanden Perrin, Lallemand et Duroy immer die Schleim-
haut der Trachea und der Bronchien von einer blassen oder rosigen
Farbe, dasselbe konnte auch ich an meinen in Aethernarkose ge-
storbenen Versuchsthieren, Kaninchen, Hunden und Katzen beob-
achten. Manchmal waren die Zwischenknorpelräume der Trachea,
sowie ihre hintere Wand etwas hyperämisch; diese Hyperämie war
aber immer so gering, dass ich sie nicht als über das Maass des
Normalen hinausgehend bezeichnen konnte, um so mehr, da ich
häufig in der Trachea getödteter nicht narkotisirter oder nur chloro-
formirter Thiere dieselbe Injection der Gefässe vorfand. Auch er-
reicht diese Hyperaemie nicht annähernd den Grad, welchen in den
Experiment. Unters, üb. d. Entstehung d. Erkrankungen d. Luftwege etc. 215
Fällen, wo die Thiere durch eine Glaskanüle ätherisirt wurden,
die Trachea an der Stelle aufwies, wo die Kanüle die Schleim-
haut längere Zeit berührt hatte. Hatte ich bei narkotisirten
Hunden, Kaninchen oder Katzen die Trachea mit Galvanokauter
vom in der Längsrichtung geöffnet, so blieb die Luftröhrenschleira-
haut lange Zeit von unverändert blasser Farbe, nur die Zwischen-
knorpelräume und der membranöse Theil der Trachea hatte ein
leicht rosiges Aussehen. Leitete ich nun concentrirte Aether-
dämpfe, die ich in einer, mit einem Ansatzschlauch verbundenen
Flasche im warmen Wasserbade entwickelte, oder auf dieselbe
Weise erzeugte Chloroforradämpfe in gleichmässigem Strome auf die
Trachealschleimhaut, so konnte ich, auch wenn ich längere Zeit
dies fortsetzte, keine Röthung bemerken, vielmehr blieb die Färbung
genau so wie die der übrige Trachea. Liess ich aber die Thiere
mit weit eröffneter Trachea stundenlang liegen, so konnte ich in
der Regel eine allmähliche Röthung der der freien Luft aus-
gesetzten Schleimhaut wahrnehmen, die von der Farbe der übrigen
Schleimhaut, wenn auch nicht erheblich, so doch immerhin deutlich
sichtbar abstach. In den Fällen, in denen ich die Hunde von
Anfang an durch die Trachea ätherisirte (vergl. die angeführten
Versuche), konnte ich bei der Autopsie einen Unterschied der Ge-
fässfüUung zwischen dem unterhalb der Canülc gelegenen Tracheal-
theile, welcher direct der Einwirkung der Aethcrdämpfe ausgesetzt
war, und dem oberhalb der Canüle gelegenen, wo die Schleimhaut
vom Aether überhaupt nicht berührt war, niemals constatiren. Das
mikroskopische Verhalten, welches ich an Präparaten studirte, die
theils mit Flem min g' scher Lösung, theils nur mit Alcoholhärtung
vorbehandelt, und mit Saffranin oder mit Haematoxylin-Eosin ge-
färbt waren, bot nichts, was man zu einer etwaigen Entzündung
der Schleimhaut hätte in Beziehung bringen können. Die Epithelien
waren sämmtlich gut erhalten, Kerntheilungsfiguren nirgends zu
erblicken; eine Rundzellenanhäufung in oder unter der Epithel-
schicht war in keinem Falle, abgesehen von den in der Umgebung
jedes Bronchus liegenden Lymphfollikeln, erkennbar.
Ein Lungenödem, wie es Poppert in seinem Falle von Aether-
tod gesehen, und von dem er noch weitere 6 Fälle aus der
Literatur als nach Aethemarkose vorgekommen anführt, konnte ich
bei keiner einzigen meiner sehr zahh-eichen Autopsicen äthcrisirtcr
216 Dr. R. Kölscher,
Thiere, deren Zahl sich auf weit über 100 beläuft, nachweisen,
immer waren die Lungen hellroth, bei Hunden meist grauroth,
immer lufthaltig, nie hyperämisch. Die Gleichmässigkeit dieser
Befunde spricht dafür, dass, wie Nauwerck hervorhebt, die
Wirkung des Aethers in Gasform auf die Luftwege durchaus nicht
zu vergleichen ist mit der des Aethers in flüssigem Zustande, dass
also auch die Versuche Löwit's, welcher durch Aufbringen von
flüssigem Aether auf die Trachea Lungenödem hervorbrachte,
durchaus nicht, wie es Poppert will, als Beweis für die Möglich-
keit einer Entstehung von Lungenödem nach Aethernarkose heran-
gezogen werden können. Vielmehr möchte ich, da in keinem
meiner Versuche eine entzündliche Reizung der Tracheo-Bronchial-
schleimhaut, oder des Lungengewebes selbst, nachgewiesen werden
konnte, mit Nauwerck glauben, dass, wenn sich einmal Lungen-
ödem nach Aethernarkose vorfindet, dieses in den meisten Fällen
auf andere Ursachen zurückzuführen ist.
Wenn ich noch einmal das Resultat der Versuche, welche ich
über die Frage der Reizwirkung des Aethers auf die Luftwege an-
gestellt habe, zusammenfasse, so ist es kurz Folgendes:
Ausser einer geringfügigen, makroskopisch kaum
erkennbaren Hypersecretion von Schleim findet bei ge-
sunden Lungen keine irgendwie nachweisbare Reizung der
Trachea, Bronchien undj Lungen durch Inhalation von
Aetherdämpfen statt.
Mit diesem aus den Obductionsbefunden an Versuchsthieren
gewonnenem Resultate lässt sich meiner Ansicht nach sehr gut
folgende Beobachtung in Einklang bringen, die ich an einer An-
zahl von Hunden machte. Letztere waren unter Schleich'scher
Localanästhesie tracheotomirt und wurden dann durch einen an
die Canüle angesetzten langen Schlauch ätherisirt. Während ich
bei den Thiercn, welche durch Mund und Nase narkotisirt wurden,
stets ein äusserst heftiges Sträuben gegen die Einathmung des
Aethers wahrnehmen konnte, so dass die Thiere sich ungestüm
mit dem Körper hin und her warfen, fiel mir hier auf, wie die
Hunde — allerdings nicht alle, aber doch die meisten — ruhig
und still dalagen, bis die allgemeine Intoxication mit dem Exci-
tationsstadium einsetzte. Leider hatte ich keine Gelegenheit, an
Experiment. Unters, üb. d. Entstehung d. Erkrankungen d. Luftwege etc. 217
tracheotomirten Menschen zu prüfen, ob diese an Hunden gemachte
Beobachtung auch für sie zutrifft.
Wenn ein Mittel, wie der Aether, welcher durch seine reizende
Wirkung auf die Schleimhaut des Mundes und der Nase bei Hunden
den heftigsten Widerstand gegen seine Application hervorruft, in
Berührung mit der Tracheal- und Bronchialschleimhaut keine
Reaction auslöst, so muss man doch annehmen, dass, wenn über-
haupt, so doch jedenfalls nur ein sehr geringer Reiz auf den be-
treflfenden Schleimhäuten durch dasselbe ausgeübt wird.
Aus alledem geht hervor, dass in dem Verhalten der Schleim-
haut der Mund-, Nasen- und Rachenhöhle zu dem der Tracheo-
Bronchialschleimhaut gegen die Einwirkung von Aetherdämpfen
ein auffallender Gegensatz besteht, der sowohl klinisch, als
anatomisch nachweisbar ist. Hier geduldiges Einathmen der Aether-
dämpfe, dort der heftigste Widerstand gegen dieselben, hier keine
oder doch nur höchst geringfügige Zeichen einer Hypersecretion,
dort die ausgedehnteste Speichel- und Schleimabsonderung. Dieser
Gegensatz der betreffenden Schleimhäute fiel auch Rossbach in
manchen Fällen bei seinen Versuchen auf. Er sah, wenn er die
Trachealschleimhaut mit 4proc. Argent. nitric.-Lösung bepinselte,
keine, dagegen sehr starke Schleimsecretion auftreten, wenn er die
Schleimhaut des Nasenrachenraumes mit derselben Lösung be-
pinselte, und kommt auf Grund dieser Beobachtung zu dem
Schluss, dass „sich die Schleimdrüsen der Trachea und des Kehl-
kopfes ganz anders verhalten müssen, wie die Schleimhäute anderer
Theile des Respirations- und Verdauungstractus."
Dieses Verhalten der Tracheo-Bronchialschleimhaut gegen die
Aetherdämpfe beruht jedenfalls auf einer geringeren Empfindlich-
keit derselben gegen locale Reize. Früher (Henle, rationelle
Pathologie 1853 und andere, vergl. Nothnagel) wurde der
Tracheal- und Bronchialschleimhaut so wenig Empfindlichkeit zu-
geschrieben, dass die Möglichkeit der Erzeugung von Hustenstössen
durch ihre Reizung überhaupt in Abrede gestellt wurde; wenn nun
auch durch die Versuche NothnageTs, die später von Sehrwald
bestätigt werden konnten, nachgewiesen ist, da^s Trachea und
Bronchien, erstere an der Bifurcation, Reizbarkeit besitzen, so
bleibt doch die Thatsache bestehen, dass stärkere mechanische
218 Dr. R. Hölscher,
Reize dazu gehören, eine Reaction hervorzubringen, und dass diese
Reizbarkeit in gar keinem Verhältnisse steht zu der, wie sie z. B.
die Schleimhaut des Kehlkopfes besitzt.
Vom teleologischen Standpunkte aus erscheint diese Annahme
einer geringeren Empfindlichkeit der Trachealschleimhaut gegen
iocale Reize auch sehr plausibel. Die tägliche chirurgische Er-
fahrung lehrt, dass die Baucheingeweide nicht die Fähigkeit haben,
zu fühlen und Schmerz zu empfinden, dass man an ihnen bei
Operationen ohne Schmerzensäusserungen seitens der Patienten
stechen, brennen, schneiden und nähen kann; sie besitzen diese
Fähigkeit nicht, da sie im Innern des Körpers, gedeckt und ge-
schützt durch die Bauchdecken, nicht die Möglichkeit haben, die-
selbe auszuüben, sie haben diese Fälligkeit nicht nöthig. Gerade
so steht es mit der Tracheo-Bronchialschleimhaut; sie hat es eben-
falls nicht nöthig, zu fühlen, oder auf Reize zu reagiren, da ihr
die äusserst empfindliche Schleimhaut der Mund-, Nasen- und
Rachenhöhle diese Arbeit abnimmt, sie dadurch gleichsam ver-
wöhnt, so dass sie, falls einmal Reize auf sie einwirken sollten,
gar nicht die Fähigkeit hat, dieselben zu empfinden.
Beiläufig will ich noch einige Beobachtungen über die Ein-
wirkung des Aethers auf die Speichelproduction ei-wähnen. Zu-
nächst konnte ich auch bei meinen Versuchsthieren, ebenso wie
beim Menschen, feststellen, dass der Grad der Salivation individuell
ungemein verschieden ist; hier profuser Speichelfluss, — und das
in den meisten Fällen — da nur ein sehr geringfügiger, oder über-
haupt keiner zu erkennen. Nach Bruns soll, wie erwähnt, die
Reizwirkung des Aethers auf die Schleimhäute um so stärker sein,
je unreiner der zur Narkose verwandte Aether ist; er empfiehlt
daher zur Narkose nur absolut reinen Aether. Solchen Aether
absolutus pro narkosi (von Kahl bäum bezogen) wenden wir für
die Narkose beim Menschen ausschliesslich an. Bei den Versuchs-
thieren wechselte ich nun absichtlich, nahm bald absoluten Aether,
bald solchen, der in hellen Flaschen wochenlang im Laboratorium
dem Sonnenlicht ausgesetzt gewesen war. Ich muss nun sagen,
ebensowenig, wie ich an den Luftwegen irgend einen Unterschied in
der Einwirkung beider Aethersorten entdecken konnte, konnte ich
einen unterschied im Grade der Speichelsecretion bemerken.
Bald war bei unreinem Aether der Speichelfluss sehr gering, bald
Experiment. Unters, üb. d. Entstehung d. Erl<rankungen d. Luftwege etc. 219
bei Anwendung des absoluten ganz enorm. Sehr auffällig trat der
Gegensatz von dem, was man eigentlich erwarten sollte, zu dem,
was eintrat, bei einer Katze hervor, die ich zweimal in einem
Zwischenraum von 3 Tagen ätherisirte. Bei der ersten Narkose
wurde unreiner Aether benutzt: Die Speichelsecretion war sehr
gering, nur geringes Rassehi im Schlünde hörbar, im Maule selbst
nur geringe Mengen zähen Schleimes. Nach 3 Tagen wurde das-
selbe Thier mit absolutem Aether narkotisirt: sehr starke Speichel-
secretion, der Speichel quoll nur so aus dem Maule hervor.
Auch die Methoden der Aetherisirung fand ich bei den Ver-
suchsthicren als ziemlich belanglos für den Grad der Speichel-
secretion; einerlei, ob ich die sogenannte asphyxirende Genfer,
oder die einschleichende W an sc her 'sehe Methode anwandte, einen
wesentlichen Unterschied konnte ich nicht entdecken, bald war
der Speichelfluss bei der einen grösser, bald bei der anderen, Ver-
schiedenheiten, die sich sehr gut durch individuelle Unterschiede
der Thiere erklären lassen.
Nach Claude Bernard beruht die Speichelsecretion auf einer
directen localen Reizung der Endigungen des N. lingualis durch
die Chloroform- oder Aetherdämpfe, sie tritt nicht auf, wenn man
direct durch die Trachea narkotisirt. Es musste mir daher auf-
fallen, dass, als ich einem Hunde unter Schleich'scher Anästhesie
die Trachea geöffnet hatte und ihn durch diese Wunde ätherisirte,
eine reichliche Speichelsecretion auftrat. Ich beschloss daher, die
Frage einer näheren Untersuchung zu unterziehen. Ich ätherisirte
zunächst 2 Hunde auf natürlichem Wege, je I Stunde lang, der
secemirte Mundinhalt wurde aufgefangen (bei Tieflagerung des
Kopfes) und gemessen. Die Menge betrug bei dem einen 35 ccm,
bei dem andern 30 ccm. Nach 18 resp. 30 Tagen ätherisü^te ich
dieselben Thiere; vorher machte ich aber unter Schleich 'scher
Localanästhesie die Tracheotomie, steckte eine Pressschwamm-
canüle ein und tamponnirte ausserdem den Kehlkopf fest aus, da-
mit nicht etwa doch ätherhaltige Respirationsluft neben der Canüle
vorbei und durch den Kehlkopf in das Maul gelangen konnte.
Während der einstündigen Aethernarkose wurden von dem ersten
Hunde 6 ccm, von dem andern 8 ccm Speichel aufgefangen. Nun
sind diese Versuche nicht einwandsfrei ; die Aetherhaltige Maske
war bei beiden Hunden direct auf die Trachealwunde gelegt
220 • Dr. R. Hölscher,
worden; es konnten daher doch Aetlierdämpfe in den naheliegenden
Mund und die Nase gelangen, und auf diese Weise durch localen
Reiz doch die Speichelsecretion bewirken, daher modificirte ich die
Versuche in der Weise, dass ich nach vorheriger Tracheotomie
unter Schleich'scher Anästhesie eine Glascanüle luftdicht in die
Trachealöffnung einband, an der Glascanüle einen 1 ra langen
Schlauch befestigte, und das Ende dieses Schlauches unter den
Tisch zu der mit Aether getränkten Maske leitete. Auf diese
Weise war jede Möglichkeit, dass Aetherdärapfe mit dem Maule
oder der Nase des Hundes in Berührung kamen, ausgeschlossen;
der verdunstende Aether musste, soweit er nicht inspirirt wurde,
seiner Schwere nach zu Boden sinken, und die ätherhaltige Exspi-
rationsluft konnte nur durch das tiefliegende Schlauchende nach
aussen entweichen. In dieser Weise ätherisirte ich 9 Hunde ver-
schiedener Grösse und gebrauchte noch die Vorsichtsmassregel,
nach Aufhören des Excitationsstadiums das Maul sorgfältig auszu-
wischen und erst von diesem Zeitpunkte an die Speichelsecretion
zu beobachteu, damit ich etwa während der Excitation durch die
Bewegungen der Zunge und der Kiefer hervorgcnifcne Speichel-
secretion von meiner Berechnung ausschliessen konnte. In allen
Fällen fand sich nun eine mehr oder weniger reichliche Salivation,
die manchmal während der ganzen, oft mehrere Stunden dauernden
Narkose anhielt, in den meisten Fällen jedoch gegen Schluss der-
selben aufhörte. Nur in einem Falle, in dem es sich um ein
kleines junges Hündchen handelte, war keine Spur einer Speichel-
secretion bemerkbar, sonst schwankte die Menge des zähen, faden-
ziehenden leicht getrübten Speichels zwischen 5 und 40 ccm. Es
findet demnach, auch wenn jede locale Wirkung, des Aethers voll-
ständig ausgeschlossen ist, trotzdem in Narkose eine Secretion von
Speichel statt, die allerdings, wie die Versuche an den beiden ersten
Hunden zeigen, bedeutend geringer ist, als wenn auf natürlichem
Wege nai'kotisirt wird. Die Speichelsecretion kann also, wenn
auch zum grössten Theil, so doch nicht allein auf einer localen
Reizwirkung des Aethers auf der Schleimhaut des Mundes beruhen;
hier müssen centrale Beeinflussungen mitspielen, vielleicht wird
auch der Aether auf der Schleimhaut des Mundes während der
Narkose wieder ausgeschieden und kann so doch noch eine locale
Wirkung entfalten. Jedenfalls aber ist die Angabe Cl. Bernard's
Experiment. Unters, üb. d. Entstehung d. Erkrankungen d. Luftwege etc. 221
nicht ganz richtig, sie mag wohl für die Glandula submaxillaris
des Hundes, an der er seine Versuche anstellte, Gültigkeit haben;
für die Gesammtheit der in die Mund-, Nasen- und Rachenhöhlc
secemirenden Drüsen, auf deren Thätigkeit es ja in klinischer Be-
ziehung ankommt, gilt sie nicht.
Wenden wir uns nun wieder zu unserer ursprünglichen Frage :
Welchen Schädlichkeiten verdankt die sogenannte Aether-Bronchitis
und -Pneumonie ihre Entstehung?
Da aus meinen Versuchen hervorgeht, dass die Aetherdämpfc
ausser einer kaum merklichen Vermehrung der Schleimsecretion
überhaupt keine Reizung auf die Tracheo- Bronchialschleimhaut aus-
üben, so ist nach meiner Ansicht auch ausgeschlossen, dass bei
gesunden Lungen, wie bisher fast allgemein angenommen wurde,
auf diesem Wege die erwähnten Erkrankungen entstehen. Dass es
bei kranken Lungen der Fall sein sollte, halte ich auch für wenig
wahrscheinlich, obgleich mir dahin gehende Versuche die zur Ent-
.scheidung nothwendige Klarheit nicht verschaffen konnten. Diese
Versuche waren folgende: Nachdem ich mich an 3 Kaninchen
durch die Autopsie überzeugt hatte, dass intratracheale Injectionen
von 1 — 3proc. Chromsäurelösung in kürzester Zeit heftige eitrige
Tracheitis, Bronchitis und Pneumonie verursachte, spritzte ich
6 anderen Kaninchen gleiche Mengen Chromsäurelösung per
tracheam ein, ätherisirte 4 von ihnen einen Tag später bei
hängendem Kopf, um Aspiration |von Mundinhalt auszuschliessen,
eine Stunde lang, und tödtete alle 6 wieder einen Tag später durch
Nackenschlag. Wie zu erwarten war, fanden sich bei allen die
vorher erwähnten Erkrankungen der Respirationsorgane in ausge-
dehntem Grade vor, eine stärkere Erkrankung der ätherisirten
Thiere war nicht nachweisbar, hätte allerdings, auch wenn sie vor-
handen gewesen wäre, nicht ohne Weiteres der Aethereinwirkung
zugeschrieben werden können, da sie gerade so gut auf Zufall be-
ruhen konnte. Ihr Fehlen spricht aber jedenfalls dafür, dass selbst
bei acuten Lungenerkrankungen, wie sie die künstlich erzeugten,
doch waren, der Aether keine besonders auifallende Verschlimme-
rungen hervorruft. Für letztere Annahme lässt sich vielleicht auch
die Beobachtung ins Feld führen, dass von 3 Kaninchen, bei denen
ich dieselbe Erkrankung durch Chromsäure hervorbrachte, 2, die
ich 1 Tag später in der nämlichen Weise 1 Stunde ätherisirt hatte,
222 Dr. R. Hölschcr,
am Loben blieben, die Pneumonie gut überstanden, das dritte da-
gegen, welches ich zur Controlle nicht narkotisirt hatte, 4 Tage
nachher an seiner Pneumonie zu Grunde ging. Wie gesagt, die
Versuche haben keine genügende Beweiskraft, da ihre Zahl viel
zu gering ist, und da ihre Ergebnisse auch keine bestimmte Er-
klärung zulassen.
Wenn demnach die Aetherdärapfe an und für sich nicht für
eine nach der Narkose entstehende Bronchitis oder Pneumonie ver-
antwortlich gemacht werden können, so müssen andere Ursachen
vorhanden sein, welche diese Nachkrankheiten hervorrufen können.
Zunächst ist es natürlich, dass gerade so gut, wie Gesunde ohne
auffindbaren Grund an Bronchitis und Pneumonie erkranken können,
diese Krankheiten auch nach der Narkose auftreten, ohne dass
man der Narkose einen Vorwurf machen kann. Die Aspiration
von Mageninhalt, welcher während der Narkose erbrochen wird,
oder von Blut, welches sich bei Operation in die Mund- und
Rachenhöhle ergiesst, gilt allgemein als eine der Hauptursachen
der nach der Narkose entstehenden Lungenaffectionen. Pietrzi-
kowski fand experimentell für die so häufig nach der Operation
eingeklemmter Brüche auftretenden Pneuraonieen als Ursache eine
Embolie in den Lungen, die nach seiner Ansicht durch Ver-
schleppung von Thromben aus der venös durchtränkten abge-
klemmten Darmschlinge und zugehörigem Mesenterium bedingt ist.
Von jeher hat bei der Erklärung für die Entstehung der Er-
krankungen der Luftwege die Erkältung eine grosse Rolle gespielt,
namentlich seitdem uns Rosen thal ihre Wirkungsweise näher er-
klärt hat. Rossbach hat den Einfluss der Erkältung direct an
der Katzentrachea studirt und ihn in Hyperämie und Schleimab-
sonderung bestehend gefunden, in neuester Zeit hat Dürk allein
durch Erkältung bei Versuchsthieren Pneumonie erzeugen können.
Diese Erkältung ist jedenfalls auch für manche Fälle von Lungen-
erkrankungen nach der Aethernarkose als Ursache in Anspruch zu
nehmen; lässt es sich doch, besonders an viel besuchten Kliniken,
häufig gar nicht vermeiden, dass die Kranken vor, während oder
nach der Narkose, während des Transportes über Corridore, durch
verschiedene Zimmer u. s. w. schroffem Temperaturwechsel, Zug-
luft etc. ausgesetzt werden. Von der Erkältung zu unterscheiden
ist die durch die Narkose an und für sich, durch die Operation
Experiment. Unters, üb. H. Entstehung d. Erkrankungon d. Luftwege etc. 223
selbst und durch die Vorbei-eitungcn zu dorselben bedin,fi:te Ab-
kühlung dos Patienten. Es ist bekannt, dass sowohl bei der
Chlorofonn- als bei der Aethernarkose eine Abnahme der Körper-
temi>eratur eintritt, die nach Comte einmal durcli die Herab-
setzung der Oxydation hn Körper (beim Aether auch durch ver-
mehrte Wärmeabgabe von der Haut), dann durch die ruhige Lage,
oder durch Liegen ohne warme Bedeckung, durch Abwaschungen,
Spülungen zur Desiufection etc. verursacht ist. Nach meinen Er-
fahrungen, die ich im letzten Halbjahr an einer grossen Zahl von
Kranken der chirurgischen Klinik durch rectale Messungen vor
Beginn und nach Beendigung der Narkose gewann, ist dieser Tem-
peraturabfall seinem Grade noch ungefähr der gleiche bei der
Aether- ^ie bei der Chloroformnarkose; er schwankt bei beiden
sehr, zwischen 0,1 und 3,0^ C, nach der Dauer der Narkose,
nach der Anfangstemperatur, (ist z. B. bei hoch Fiebernden be-
deutend stärker als bei Fieberfreien) und nach dem Kräftezustande
(ist stärker bei schwaclien, heruntergekommenen Individuen, als
bei kräftigen). Im Gegensatz dazu fand ich — das will ich neben-
bei erwähnen — unter Leuten, die bei Schleich'scher Local-
anästhesie operirt wurden, nur bei wenigen einen Temperaturabfall,
bei vielen ein Gleichbleiben der Temperatur, bei den meisten so-
gar einen Temperaturanstig um 0,1 — 0,3^ C, welch' letzterer
wohl durch die Aufregung zu erklären ist, in welche die Patienten
durch die vorzunehmende Operation versetzt wurden.
Wenn es auch, soweit mir bekannt ist, nach künstlich hervor-
gebrachten Abkühlungen bei Thieren noch nicht gelungen ist,
Lungenerkrankungen hervorzurufen, was ich ebenfalls an einer
Anzahl von Kaninchen bestätigen konnte, die ich durch kalte
Waschungen in ruhiger Rückenlage, oder durch kalte Waschungen
während Aethernarkose um 6 — 8^ C. abkühlte, so halte ich es
doch bei der auch jetzt noch wenig geklärten Frage der Wirkung
der Abkühlung nicht für ausgeschlossen, dass die letztere für
manche Fälle von Lungenaffectionen, die nach der Aethernarkose
vorkommen, verantwortlich gemacht werden kann.
Alle diese im Bereiche der Möglichkeit liegenden Ursachen
für die nach Operationen auftretenden Lungenaffectionen haben
nun durchaus nichts Charakteristisches für die Aethernarkose, sie
sind in demselben Grade bei der Chloroformnarkose vorhanden
224 Dr. R. Hölscher,
und kommen auch bei Operationen unter Lokalanästhesie in Be-
tracht; das hat die klinische Erfahrung besonders der letzten
Jahre vollauf bestätigt. Es muss daher immer ein Theil der nach
der Aethernarkose einsetzenden Bronchitiden und Pneumonieen auf
ihre Einwirkung zurückgeführt werden; darin unterscheidet sich
also die Aethernarkose durchaus nicht von der Chloroformnarkose.
Das aber, was am meisten als unterschied zwischen Chloroform-
und Aethernarkose äusserlich auffällt, das ist die bei der letzteren
in so ausserordentlich hohem Grade sich bemerkbar machende
Speichel- und Schleimsecretion in der Mundhöhle. In dieser That-
sache liegt nach meiner Ansicht, in üebereinstimmung mit der
von Grossmann vertretenen, die Erklärung für die Entstehung
des Plus an Lungenaflfectionen, das im Vergleich zu anderen Nar-
kosen nach der Aethernarkose auftritt.
In dem ersten Abschnitte meiner Arbeit habe ich den Nach-
weis zu bringen gesucht, dass eine Aspiration des während der
Narkose sich im Munde ansammelnden Speichels bei Thieren leicht
möglich ist, dass sie aber beim Menschen mit noch viel grösserer
Leichtigkeit eintritt, da die Abflussverhältnisse für den secernirten
Speichel hier noch viel ungünstiger liegen.
Seitdem uns Traube gezeigt hat, dass die nach Vagusdurch-
schneidung auftretende Bronchopneumonie lediglich durch das Ein-
dringen von Mundflüssigkeit in die Luftwege bedingt ist, seitdem
diese Angaben von zahlreichen anderen Forschern bestätigt sind,
besteht hinsichtlich der Gefahr einer solchen Aspiration von Mund-
inhalt nirgends mehr ein Zweifel. Allerdings wäre es aber durch-
aus nicht richtig, daraus nun den Schluss zu ziehen, dass in jedem
Falle, wo eine Aspiration zu Stande kömmt, auch mit Sicherheit
eine Lungenafi*ection zu erwarten sei. Wie experimentell fest-
gestellt ist, sind die Lungen gegen schädigende Substanzen, die
in die Luftwege eingebracht sind, zum Theil sehr widerstandsfähig.
So konnten Perl und Lipmann bei Thieren, denen sie von dem-
selben Thiere entnommenes Blut durch eine Tracheotomiewunde
in die Lungen fliessen Hessen, nie eine krankhafte Veränderung
der letzteren nachweisen. Im Gegensatz dazu fand Sommerbrodt
„constant neben anderen Begleiterscheinungen katarrhalische Pneu-
monie als Folge eines Blutergusses in die Alveolen, welche aller-
dings bei den vorher gesunden Thieren stets in Heilung überging,
Experiment. Unters, üb. d. Entstehung d. Erkrankungen d. Luftwege etc. 225
wenn die dazu nöthige Zeit abgewartet wurde." Hohenhausen
zeigte, dass Injectionen von Sand, Fett und Wasser in die Luft-
wege keine Reaction von Seiten der letzteren hervomef, dass nach
Injectionen von deflbrinirtemj dem Thiere selbst entnommenen
Blute Trachea wie Bronchien und Lungen gesund blieben. Dagegen
riefen nur wenige Tropfen faulenden Blutes, fauliger Fischjauche
stets septische Pneumonie und Pleuritis hervor. Nach Schott elius
ist die Einblasung selbst grösserer Quantitäten unorganischer, rein
mechanisch wirkender Substanzen nicht im Stande, tiefer greifende
Zerstörungen in den Lungen herbeizuführen, dagegen führt die
Einblasung organischer, in den Lungen zersetzbarer Staubarten
jedes Mal zu entzündlichen Processen. Corning erzeugte bei
Hunden durch Inhalation zerstäubten Sputums verschiedener Art
Bronchitis und miliare akute Pneumonieen. In neuester Zeit gelang
es Dürk, durch Einbringung von aus Pneumonien isolirten Bacterien-
kulturen in die Luftwege nur dann bronchopneumonische Herde
hervorzurufen, wenn er gleichzeitig scharfen feinen Staub ein-
athmen Hess.
Ich konnte mich daher nicht wundeni, wenn ich bei Ver-
suchen, in denen ich einmal durch intratracheale Injection von
Mundspeichel oder kothigem Mageninhalt, dann durch Einbringen
solcher Flüssigkeiten in die Mundhöhle während der Aethernarkose,
zwar meistens, aber doch nicht in jedem Falle Pneumonieen ent-
stehen sah. Die Versuche, die ich in dieser Hinsicht anstellte,
sind kurz folgende:
I. Injection von Flüssigkeiten durch die freigelegte Trachea
mittelst Pravaz'scher Spritze:
1. Kaninchen. 1 com normalen menschlichen Mundspeichels injicirt.
Schräge Rückenlage, hochgelagerter Kopf. Tödtung nach 1 Tage. Befund:
Lungen rosaroth, lufthaltig, in linken unteren Bronchien etwas schaumige
Flüssigkeit. Mikroskopisch nichts Abnormes.
2. Kaninchen. Dieselbe Anordnung des Versuchs, derselbe negative
Befand.
3. Kaninchen. 2 ccm normalen menschlichen Speichels injicirt. Schräge
Rückenlage, hochgelagerter Kopf. Tödtung nach 26 Stunden. Befund: Trachea
mit schaumigem Schleim bedeckt, oben weniger, an der Bifurcation stärker
geröthet. Aus den Bronchien quillt schaumiger Schleim hervor. Lungen luft-
haltig, rosaroth. Mikroskopisch: Zahlreiche kleine pneumonische Herde im
linken Ober- und Unter- sowie im rechten Unterlappen. Kleinzellige Infiltration
in der Umgebung der Bronchien. Epithel der letzteren theilweise abgestossen.
ArohiT für klin. Chirurgie. Bd. 57. Heft 1. |5
226 Dr. R, Hölsoher,
4. Kaninchen. Dieselbe Versuohsanordnung. Tödtang nach 52 Stunden.
Befund : Kehlkopf- und Trachealschleimhaut stark vergrössert und mit Schleim
bedockt. Lungen lufthaltig, rosaroth. Keine Verdichtungen sieht- und fühlbar.
Mikroskopisch : Im rechten ünterlappen ein etwa 10 Alveolen umfassender pneu-
monischer Herd. Kleinzellige Infiltration in der Umgebung der Tracheal- und
Bronchialschleimhaut, starke Quell ung der Epithelien, zahlreiche Schleimtropfen
in und auf dem Epithel.
5. Kaninchen. Dieselbe Versuchsanordnung wie bei 3 und 4. Tödtung
nach 72 Stunden. Befund: An den Lungen, die zur mikroskopischen Unter-
suchung ganz eingelegt wurden, makroskopisch nichts Abnormes. Mikroskopisch
finden sich im rechten und linken Unterlappen zahlreiche kleine pneumonische
Herde, an den kleinen Bronchien ausgesprochene kleinzellige Infiltration and
Abstossung der Epithelien.
6. Kaninchen. 2 ccm normalen menschlichen Speichels injicirt. Schräge
rechte Seitenlage, Kopf hochgelagert. Tödtung nach 2 Tagen. Befund:
Beide Lungen bis auf den rechten Ober- und die Wurzel des rechten Mittel-
lappens rosaroth und lufthaltig. Rechter Oberlappen dagegen fast völlig bis
auf kleine weisslichrothe, emphysematöse Randpartieen derb infiltrirt, grauroth
gefärbt ; auf der Oberfläche der Lunge steoknadelkopfgrosse gelbliche Höcker,
die über das Niveau der Pleura hervorragen. Auf der Schnittfläche ebensolche
gelblich graue Hervorragungen. Dasselbe, nur nicht so stark ausgeprägt, findet
sich im rechten Mittellappen. Mikroskopisch : Ausgesprochene katarrhalische
Pneumonie in diesen Abschnitten.
7. Kaninchen. 2 ccm Speichel. Kopf hochgelagert, Körper schräg und
auf die rechte Seite. Tödtang nach 2 Tagen. Befund: Im rechten Ober*,
Mittel- und Unterlappen finden sich dem Verlaufe der grossen Bronchien folgend
graurothe, derbe streifenförmige Verdichtungen, die an manchen Stellen kleine
gelbliche, höckerige subpleurale Hervorragungen zeigen. Linke Lunge überall
lufthaltig und rosaroth. Mikroskopisch: rechts ausgesprochene katarrhalische
Pneumonie und Bronchitis, links alles normal.
8. Kaninchen. Dasselbe wie bei 6 und 7. Tod nach 8 Standen. Aatopsie
erst 16 Stunden nach dem Tode. Befund: Rechte Lunge in allen Lappen
dunkelblauroth gefärbt, sehr blutreich, subpleurale Blutungen. Linke Lunge
kleiner als die rechte, weissrosa gefärbt, lufthaltig. Unterlappen massig em-
physematös, nur in der Umgebung des Hilus dunkle Röthe. Trachea und
Bronchien dunkelblauroth verfärbt. Mikroskopisch: Im rechten Unterlappen
zahlreiche Blutungen in die Alveolen; starke kleinzellige Infiltration in der
Umgebung der Bronchien, vereinzelt sieht man in den Alveolen grosse ge-
quollene runde Zellen.
9. Kaninchen. 3 ccm kothige, von einem Ileuskranken erbrochene
Flüssigkeit. Schräglagerung des Körpers auf der rechten Seite, Kopf hoch-
gelagert. Tödtung nach 3 Tagen. Befund: Rechter Mittellappen völlig
pneumonisch infiltrirt, stark vergiössert, ebenso die angrenzenden Theile des
rechten Unterlappens. Rechter Oberlappen ebenfalls in seiner mittleren Hälfte
luftleer und derb. Eitrige Pleuritis des rechten Mittellappens. Linke Lunge
Experiment. Unters, üb. d. Entstehung d. Erkrankungen d. Luftwege etc. 227
YoUig lufthaltig, rosaroth. Mikroskopisch: ausgesprochene katarrhalische
Pnefiinonie der rechten Lungenlappen.
n. Während einstündiger Aethernarkose wird in's Maul künstlich
hineingebrachte, oder durch Salivation hier entstandene Flüssigkeit
durch mehr oder weniger grosse Schräglage des Körpers mit er-
höhtem Kopfe zur Aspiration gebracht.
10. Kaninchen. Rechte Seitenlage. In Pausen werden allmälig 2 ccm
nonnalen menschlichen Speichels in das Maul gebracht. TÖdtung nach 3 Tagen.
Befund: Beide Lungen gleichmassig rosaroth, lufthaltig. Keine Infiltrationen.
Mikroskopisch nichts Abnormes.
11. Kaninchen, ebenso behandelt wie 10. Befund derselbe.
12. Kaninchen, ebenso behandelt wie 10 und 11. Tödtung nach 2 Tagen.
B^und : Langen beiderseits lufthaltig, rosaroth, beide Unterlappen der Hinter-
Seite etwas hyperämisch, nirgends Infiltrate.
13. Katze. Rechte Seitenlage. Zuerst starke Speichelsecretion, die
später aufhört. Injection von 2 ccm menschlichen Speichels in Pausen. Tödtung
nach 3 Tagen. Befund: Rechte Lunge in allen ihren Lappen blauroth ver-
i«rt>t, die verfärbten Partieen fühlen sich derb an, haben mit dem Durchschnitt
graurothliches Aussehen. Die linke Lunge zeigt nur in der untersten Spitze
des Unterlappens eine derartige Verdichtung, ist sonst überall lufthaltig und
hellrosaroth. Mikroskopisch: Starke katarrhalische Pneumonie der rechten
Lunge und des linken Unterlappens.
14. Kaninchen. Rückenlage. Ziemlich starke Salivation. Tödtung nach
1 Tage. Befund: Lungen rosaroth, lufthaltig, ma- und mikroskopisch nichts
Abnormes.
15. Hund. Linke Seitenlage. Massige Salivation. 1 ^/s stündige Narkose.
Tödtung nach 4 Tagen. Befund: Rechte Lunge überall lufthaltig, grauroth.
Bronchien ohne Inhalt. Linke Lunge: Mittellappen völlig verdichtet, derb,
dunkelblauroth, vergrössert, auf dem Durchschnitt heben sich gi*aurothe Herde
von der hyperamischen Umgebung ab. Ein solcher Herd ist in einen etwa
erbsengrossen Abscess umgewandelt. Der linke Unterlappen ist grösstentheils
lufthaltig, in seiner Substanz fühlt man 3 derbe, linsen- bis erbsengrosse Ver-
dichtungen, die sich auf dem Durchschnitt als ebensolche Herde erweisen.
Mikroskopisch: Katarrhalische Pneumonie.
16. Katze. Rechte Seitenlage. Starke Salivation. Tödtung nach
5 Tagen. Befand: Ma- und Mikroskopisch nichts Abnormes.
17. Katze. Linke Seitenlage. Massige Salivation. Tödtung nach 3 Tagen.
Befand: Lungen lufthaltig, rosaroth, nur am linken Unterlappen ist der untere
Rand derb infiltrirt, blauroth verfärbt; in der Substanz des linken Unterlappens
fühlt man zahlreiche etwa hanfkorn- bis linsengrosse Verdichtungen, die sich
sehr derb anfahlen und auf dem Durchschnitt sich als graurothe Knoten er-
weisen; wo sie die Pleura erreichen, ragen sie über das Niveau derselben
hervor« Der Rand des linken Mittellappens ist ebenfalls etwas verdichtet.
Makroskopisch : Pneumonie. Sonst die ganze Lunge gesund.
15*
228 Dr. R. Hölscher,
18. Kaninchen. Rückenlage. In's Maul werden 2 com von der kothigen
erbrochenen Masse eines lleuskranken während der Narkose allmälig gebracht.
Tödtung 1 Tag später. Befund: Lunge hellroth, lufthaltig, nichts Abnormes
mikroskopisch nachweisbar.
19. Kaninchen. Rechte Seitenlage. 2 ccm kothigen Mageninhalts eines
anderen lleuskranken (als Fall 18) werden während der Narkose allmälig im
Maule vertheilt. Tödtung nach 3 Tagen. Befund: Die linke Lunge in allen
ihren Lappen hellroth und lufthaltig; die rechte zeigt in ihren oberen und
mittleren Lappen völlige pneumonische Verdichtung^ im Unterlappen nur linsen-
bis erbsengrosse Herde. Mikroskopisch: Katarrhalische Pneumonie,
Dass zunächst in allen Fällen, wo eine Lungenaflfection auf-
trat, diese ohne Zweifel auf die Einwirkung des aspirirten Mund-
inhalts zurückzuführen ist, darüber lässt wohl die Thatsache keinen
Zweifel entstehn, dass in den Fällen, in welchen den Thieren eine
Seitenlagerung des Körpers gegeben worden war, immer nur die
Lungenlappen der Körperhälfte erkrankten, mit welcher die Thiere
dem Brette auflagen (vergl. Versuch 6 — 9, 13, 15, 17, 19). Nach
den von Sehrwald festgestellten Regeln über die Flüssigkeitsver-
theilung in den Lungen rausste der aspirirte Mundinhalt, wenn nicht
ausschliesslich, so doch hauptsächlich, in die Lungentheile einge-
drungen sein, welche sich bei der Autopsie als erkrankt heraus-
stellten.
Während aber die intratracheale Injection der erwähnten Flüssig-
keit nur in 2 Fällen nicht von dem erwarteten Erfolge begleitet
war, sehen wir in der zweiten Versuchsreihe eine viel grössere
Anzahl von Misserfolgen. Das erklärt sich daraus, dass offenbar
die Menge der in die Lungen hineingerathenden iufectiösen Flüssig-
keit eine grosse Rolle bei der Entstehung der Lungenaffectionen
spielt. Während bei der trachealen Injection die Gesammtmenge
der Flüssigkeit in die Bronchien hineingelangt, bleibt der künstlich
in den Mund hineingebrachte oder dort von selbst durch Secretion
der Speichel- und Schleimdrüsen befindliche Mundinhalt zum Theil
an den Wandungen der Mund- und Rachenhöhle hängen, fliesst
theil weise in den Oesophagus hinein, und nur der Rest gelangt in
die Luftwege, um hier bei genügender Menge Lungenaffectionen hervor-
zurufen. Mit Recht betont Frey nach den Erfahrungen, die er an
seinen Versuchen über Aspirationspneumonie machte, dass ^das
continuirliche, oder, richtiger gesagt, öfters wiederholte
Experiment. Unters, üb. d. Entstehung d. Erkrankungen d. Luftwege etc. 229
Hineindringen von Mandflüssigkeit schliesslich die Entzündung be-
dingt." Für die Entstehung der Lungenaffection kommen aber
neben der Menge des hineingedrungenen Mundinhalts jedenfalls auch
noch andre Momente in Betracht; weshalb sollte sonst bei im
übrigen völlig gleichen Verhältnissen dieselbe Schädlichkeit das eine
Thier verschont lassen, während sie bei dem anderen ausgesprochene
Pneumonie erzeugt, wie die Vergleiche zwischen Versuch 16 und
17, 18 und 19 lehren? Es spielen hier eben dieselben Verhältnisse
mit, über die wir, mögen wir sie individuelle Disposition oder durch
irgend welche Umstände bedingte geringere Widerstandskraft nennen,
auch jetzt noch völlig im Unklaren sind, die wir aber bei der Ent-
stehung der Aspirationspneumonie ebenso wie bei jeder Infections-
krankheit in Erwägung ziehen müssen. In diesen Thatsachen liegt
meines Erachtens auch der Grund, weshalb nach der Aethemarkose
nicht noch bedeutend mehr Bronchitiden und Pneumonieen be-
obachtet werden, als es wirklich geschieht. Wie Nauwerck
hervorhebt, wird in den meisten Berichten über die Aethemarkose
das Schleimrasseln in Trachea und Schlund als etwas ganz Selbst-
verständliches angenommen, manchen Autoren, wie Kr ecke, ist
„das laute Rasseln des Narkotisirten geradezu eine Beruhigung."
Es ist daher Grossmann als Verdienst anzurechnen, wenn er
darauf hingewiesen hat, dass dieses Tracheairasseln durchaus nicht
als etwas Nothwendiges zu der Aethemarkose zugehört, dass das-
selbe vielmehr ein Zeichen beginnender oder bereits stattgehabter
Aspiration von Mundinhalt darstellt, und bei richtiger Technik sehr
gut zu vermeiden ist. Diese Angabe haben wir, wie bereits er-
wähnt, bei unseren Aethernarkosen im Wesentlichen vollauf be-
stätigt gefunden. Allerdings ist die Technik der Aethemarkose
eine äusserst schwierige, viel schwieriger als die der Chloroform-
narkose; und wenn für letztere der Satz gilt, dass der Leiter der
Narkose sich nur mit dieser beschäftigen soll, seine Aufmerksam-
keit in keiner Weise durch die Operation ablenken lassen darf, so
gilt dies in noch höherem Grade von der Aethemarkose. Wird
aber erst die Thatsache allgemein anerkannt werden, dass die Mehr-
zahl der nach Aether entstehenden Luftaflfectionen auf eine As-
piration des infectiösen Mundinhalts zurückzuführen ist, dass diese
letztere jedoch durch geeignete Maassnahmen sehr wohl verhütet
230 Dr. R. Hölscher,
werden kann, dann wird die bis jetzt noch bestehende Furcht vor
der „Aetherbronchitis und -pneumonie" ihre Schrecken veriieren,
dann werden die Worte RiedeTs: „Stände nicht die Bronchitis
hinter dem Aether, so würde ich ihn für ein ideales Anaestheticum
halten" ohne diese Einschränkung Geltung haben können, und die
Anwendung der Aethernarkose nur bei solchen Operationen als
contraindicirt erscheinen, bei welchen durch besondere, in der Art
der Operation liegende Verhältnisse bedingt, ein ungehinderter Ab-
fluss des gebildeten Mundinhalts unmöglich ist, oder bei welchen
die Gefahr einer Entzündung der Aetherdämpfe nahe üegt.
Die Schlüsse, welche ich aus meinen Versuchen und den daraa
geknüpften Erörterungen zu ziehen mich berechtigt halte, sind in
kurzer Zusammenfassung folgende:
1. Ausser einer geringfügigen vermehrten Schleim-
absonderung üben die Aetherdämpfe keinerlei Reizwir-
kung auf die Tracheo-Bronchialschleimhaut aus.
2. Das bei der Aethernarkose vorkommende Tracheal-
rasseln beruht immer auf Aspiration von Mundinhalt,
und ist bei richtiger Technik (Sorge für guten Abfluss
des secernirten Mundinhalts durch Tieflagerung und
Seitwärtsdrehung des Kopfes und Lüftung des Mund-
winkels, Sorge für andauernd freie Athmung durch Vor-
ziehen des Unterkiefers) wohl zu vermeiden.
3. Die nach der Aethernarkose vorkommenden Affec-
tionen der Luftwege sind meist die Folgen einer solchen
Aspiration des infectiösen Mundinhalts.
4. Die Flimmerung des Tracheal- und Bronchial-
opithels ist während der Narkose nicht gestört.
5. Der Speichelfluss beruht bei der Aethernarkose
wenn auch zum grössten Theil, so doch nicht allein auf
einer localen Reizwirkung der Aetherdämpfe, vielmehr
spielen hierbei auch centrale Einflüsse eine Rolle.
Experiment. Unters, üb. d. Entstehang d. Erkrankungen d. Luftwege etc. 231
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VIII.
Characteristischer Meteorismus bei Volvulus
des 8 romanum.
Von
Professer Dr. Carl Hayer
in Prsg.
(Mit 4 Figuren.)
Bei genauer Berücksichtigung der Form eines meteoristisch
geblähten Unterleibes ist es im Allgemeinen nicht schwer, den Sitz
eines bestehenden Hindernisses für die Fortbewegung des Darm-
inhalts beiläufig zu bestimmen, solange der Darm noch nicht voll-
ständig paralytisch geworden. Gewisse Meteorismus-Formen sind
ja bekanntlich ganz characteristisch nnd als diagnostische Sym-
ptome ganz verlässlich. Das aufgetriebene Epigastrium bei sonst
eingesunkenem Unterleibc spricht für ein Hinderniss hoch oben
im Dünndarme; die über den ganzen Unterleib ausgedehnte Auf-
blähung, besonders ausgesprochen als starke Ausdehnung der
Weichen, deutet auf eine Absperrung des Dickdarms hin; eine
halbkugelige Prominenz um den Nabel herum, gleichmässig nach
aUen Seiten abfallend, bei eingesunkenen Flanken, bekundet den
Sitz einer Unwegsamkeit im unteren Ileum resp. im Coecuni.
Namentlich ist diese letztgenannte Form des „Dünndarm-Meteorismus
Kat'exochen" in ihrer Aehnlichkeit mit der ad maximum ausge-
dehnten Harnblase (Besnier)^) geläufig. Entsprechende Com-
binationen ergeben ceteris paribus auch complicirtere Schlüsse,
namentlich, wenn auch unbedeutend scheinende Momente, wie
circumscripte kleine Formveränderungen, an- und abschwellende
I) Cf. Uhde, Chirurgische Behandlung innerer Einklemmungen.
234 Dr. C. Bayer,
Prominenzen im Sinne v. Wahl's „circumsciipten Meteorismus"
berücksichtigt werden. Ist die Darmbewegung noch nicht erlahmt,
so leitet das plötzliche Stocken der pathologisch erhöhten oder
künstlich durch Reiben erzeugten Peristaltik und das sich Auf-
bäumen des unijittelbar vor der Stenose gelegenen Dannabschnittes
auf den Sitz der Verengerung. Unter Umständen erleichtert auch
die Harnuntersuchung (Indican), Sondeneinführung, Infusion etc.
die Diagnose. —
Viel schwieriger ist es, aus der Form des Meteorismus das
Quäle des Hindernisses zu bestimmen. Am leichtesten sind noch
die characteristischen Wülste der Intussusception zu erkennen,
namentlich wenn sie weiter wandernd zugleich sich verlängern.
Mit Zuhülfenahme der Anamnese wird es mitunter auch ge-
lingen zwischen einer Narbe, einem eingekeilten Fremdkörper oder
Gallenstein und einem stenosirenden Tumor bei einer tastbaren
circumscripten Härte zu unterscheiden, wenn auch bei genauer Be-
rücksichtigung aller Momente Irrungen mannigfacher Art möglich
sind. So fand ich bei der Operation einer localisirbaren Stenose
und tastbaren umschriebenen Härte bei bestehendem Dünndarm-
meteorismus mit Ileus einer 65 jährigen marantischen Frau einen
kastaniengrossen Gallenstein, der sieh vor der Bauhini 'sehen
Klappe festgekeilt hatte; laut Anamnese, welche für die Annahme
einer Gholelithiasis keine characteristischen Daten ergab, laut Status
und Krankheitsverlaui hatte ich Carcinom angenommen^). In einem
andern Falle, einen 35 Jahre alten Tapezirer betreifend, kennte
ich dagegen in Würdigung der seit einigen Monaten öfter wieder-
kehrenden, in den letzten 14 Tagen rasch zunehmenden Stenose
1) Der noch nicht veröffentlichte Fall möge hier kurz mitgetheilt werden :
Eine 65 Jahre alte Frau litt angeblich vorher nur ab und zu an Coprostase;
vor 12 Tagen Erbrechen nach einem Diätfehler (Wurst gegessen und viel Wasser
darauf getrunken); zugleich Stuhlverstopfung. Nach einem Abführmittel und
nach Irrigationen ging noch etwas Koth ab, nachher vollständige Darmocclusion.
Seit S Tagen Ileus. Nach der Operation giebt die Frau aut eindringliches Befragen
zu, dass sie häufig auch an ,, Magenkrämpfen^ gelitten und vor einem Jahre
eine Blinddarmentzündung (?) überstanden habe. Bei der Operation (20. Sep-
tember 1896) fanden sich ausser dem oben erwähnten Befund zahlreiche narbige
Darmadhäsionen und zwar am Coecum, an der Flexura coli lienalis und zwischen
eiozelnen Dünndarmschlingen — vielleicht Folgen früher schon abgegangener
Gallensteine. — Entfernung des Gallensteins durch Einschnitt; Darmnaht.
Coecalwärts sah man im Inneren des letzten II cum derbe Narben an der Schleim-
haut. Tod in der Nacht nach der Opesation, nachdem viele Stühle abgegangen
waren. Perforation? Die Section wurde nicht gemacht
Cliaracteristischer Meteorismas bei Volvulus des S romanum. 235
and des rapiden Eräfteverfalls, im Zusammenhang mit dem Nach-
weis eines sich stetig steigernden partiellen Dänndarmmeteorismus
die Diagnose „Tumor intestini tennis'^ durch die Laparotomie veri-
ficiren, obschon eine Geschwulst nicht zu tasten war^). In einem
dritten Falle war die Diagnose einer narbigen Verengerung des
Coecams sowohl aus dem localen Befund als auch aus der
Anamnese mit Sicherheit auzunehmen^). Bei tastbarem, höckerigem
Tumor ist die Diagnose: Coecum-Carcinom nicht schwer; es ist
aber auch hier oft schon Tuberculose statt des supponirten Tumors
bei der Operation gefunden worden; dasselbe gilt von hohen Sigma-
Carcinom, wenn auch gerade hier eine Verwechslung mit chronischer
Colitis, wobei die tastbare Darmwandverdickung mit Krypten und
Kothpröpfen einen Tumor nicht selten vortäuscht, möglich ist. In
solchen zweifelhaften Fällen kann nur eine längere Beobachtung
des Kranken Klarheit bringen. Nur dann, wenn ein Carcinom der
unteren Partien der S-schlinge, vom Rectum aus sowohl als von
oben durch die Bauchdecken dem Tastsinne unerreichbar vorliegt,
ergeben sich gewisse Schwierigkeiten; doch wird hier die Sonden-
untersuchung Aufschluss geben.
Auf ein Moment erlaube ich mir, hier speciell aufmerksam
zu machen , • das mir im Allgemeinen nicht genügend gewürdigt zu
werden scheint; es ist dies das regelmässige Vorkommen der
grössten Spannung und Wölbung der Coecalgegend bei
sonst deutlichem Dickdarmmeteorismus in Fällen, wo erst tief
im Rectum das Hinderniss steckt. Ich fand dieses Symptom
bei einer narbigen Rectumstenose eines Säuglings, bei dem es sich
um einen mächtigen Tumor des Coecums und Colon ascendens
gehandelt hat, welcher einer Nierengeschwulst täuschend ähnlich
sah, doch bei genauerer Untersuchung — Eindrückbarkeit, Luft-
blasenknittem, Volumsänderung — schliesslich mit Sicherheit als
Kothtamor erkannt werden konnte. Ich sah ferner dieses selbe
Symptom erst vor Kurzem in einem Falle von Darmimpermeabilität,
welche durch ein tiefsitzendes Sigmacarcmom bedingt war und
0 Der Fall ist mitgethoilt im Anhang zum Jahresberichte des Spitales
der Barmherzigen Brüder in Prag 1898. Der Tumor sass so ziemlich am
Üebergukge des Jcgunnm iss Denm und erwies sich histologisch als Adeno-
Cardnom (Chiari). Besection. Circuläre Darmnahi Heilung.
^ Gf. „Zur Laparotomie bei Ileus im Ein desalter ^. Prager medicinisehe
Wochenschrift. 1893. No. U und 85.
236
Dr. C. Bayer,
früher schon einmal in einem gleichen Falle, wo es aber in Folge
dieser maximalen Blähung sogar zu Gangrän des Coecums ge-
kommen war, obwohl die Darmabsperrung weit weg davon im
SRomanum ihren Sitz hatte. Die Erklärung dieser Erscheinung
ergiebt sich aus der Rückstauung des Darminhalts durch den gleich-
massig erweiterten Dickdarm bis zur nächsten Üebergangsstelle in's
engere Lumen und dies ist eben die Einmündung des Dünndarms
in's Coecum. Zur Veranschaulichung des Gesagten diene Fig. 1.
Fig. 1.
Sie giebt das Bild wieder, wie man es nach Eröffnung der Bauch-
höhle bei impermeablen Sigmacarcinomen in der Regel vorfindet;
interessant sind auch die Abknickungen des Colon an seinen üm-
biegungsstellen (Flexura hepatica und lienalis) und die bei einem
gewissen Grade der Spannung regelmässig vor diesen Knickungen
wahrzunehmende blindsackartige Auftreibung des Colon, die sich
auch aussen am Unterleibe deutlich als Wellenberg- und thal
markirt (a — a). Ich füge hier die Abbildung an, weil mir die Ver-
gegenwärtigung der Verhältnisse zum Vergleich mit dem für Vol-
vulus characteristischcn Bilde von Wichtigkeit zu sein scheint.
Characteristischer Meteorismus bei Volvulus des S romanum. 237
Verwechselungen der soeben kurz berücksichtigten, häufigsten
Ursachen der Darm-Impermeabilitat (Narben, Stränge, Geschwülste,
Fremdkörper, Koth-Gallensteine) mit inneren Hernien werden kaum
leicht unterlaufen, schon mit Rücksicht auf die characteristische
Form der letzteren, abgesehen von dem wesentlich abweichenden
klinischen Bilde.
Es giebt aber noch eine Absperrungsart des Darmes, deren
Diagnose Schwierigkeiten bereiten kann; ich meine den Volvulus.
Gerade hier können am leichtesten Täuschung en vorkommen wegen
der Umlegung des gedrehten Darmabschnitts in Folge seiner Blähung
von der einen Seite auf die andere; und leichter ist schon die
Deutung, wenn einmal der gedrehte Darmabschnitt als „Geschwulst"
tastbar geworden ist, wenn auch dann viele Täuschungen möglich
sind. Solange keine deutliche Volvulus-Geschwulst vorliegt, wird
die Diagnose in den meisten Fällen unmöglich sein oder höchstens
per exclusionem mit Rücksicht auf die Anamnese: „Rasche Körper-
bewegung — plötzlicher Schmerz;" „Angestrengter Stuhlgang —
heftiger Golikanfall" Vermuthung bleiben, bis weitere Beob-
achtung mit Laparotomie oder Obduction Aufklärung schaffen wird.
Selbst der erfahrene Uhde weiss über den localen Befund bei
Volvulus nicht mehr zu sagen als folgt: „Bauch gering, oder er-
heblich, und zwar gleichmässig aufgetrieben, besonders aber in der
rechten oder linken Fossa iliaca; bei Druck beträchtliche Schmerz-
haftigkeit oder kein Schmerz, zuweilen Kollera in den Gedärmen
wahrnehmbar. — Sitz meistens im Dickdarme. Geschwulst: keine,
oder eine nicht gehörig umgrenzte, von der Schambeinverbindung
nach dem Nabel und dem vorderen Darmbeinstachel hin sich er-
streckende, bei einem Kranken." (1. c. pag. 30.) —
Es ist somit im Beginne dieses Leidens die Diagnose mit
Sicherheit kaum zu stellen, im vorgeschrittenen Stadium durch den
alles verdeckenden allgemeinen Meteorismus unmöglich. Nachdem
nun die Mehrzahl der Fälle von sogenanntem „innerem Darm-
verschluss" zu spät oder mindestens immer im vorgerückten
Stadium demjenigen vorgeführt zu werden pflegen, der eben handelnd
helfen soll, so müsste eigentlich der Chirurg an der Möglichkeit
verzweifeln, je einmal die Diagnose „Volvulus" stellen zu können.
Und doch ist die Diagnose wiederholt schon vor der Operation
gestellt worden und — glaube ich — hätte auch ich dies können,
238 Dr. C. Bayer,
wenn ich in dem eben mitzutheilenden Falle alle vorhandenen
localen Erscheinungen richtig taxirt hätte, ganz abgesehen von der
Beihilfe der Anamnese.
Wohl nahm ich zufolge der Form des Meteorismus an, es
müsse sich um ein Hindemiss unterhalb des SRomanum handeln;
die wahre Natur aber dieses Hindernisses zeigte mir erst der ge-
öffnete Unterleib, und dabei sagte mir die Congruenz der Form
des blossgelegten Darmes mit den Umrissen des Meteorismus, wie
er am uneröflftieten Unterleibe constatirt worden war, dass eine
präcisere Deutung — und nur eine Deutung möglich war.
Eben dieser Umstand veranlasst mich, auf die wahrgenommenen
Einzelheiten bis in's kleinste Detail einzugehen, weil ich glaube,
dass ihnen ein gewisser differenzial-diagnostischer Werth zukommt;
und oft schon ist es auch in der Chirurgie so gewesen, dass ein-
mal Gesehenes leicht und gleich nachher wieder gesehen worden
ist; der letzte Satz möge daher die etwas langathmige Einleitung
zur eigentlichen Sache entschuldigen.
Am 13. December v. J. hatte ich den Zustand eines 50 J.
alten Mannes zu beurtheilen, der am Abend zuvor in's Spital der
Barmherzigen Brüder aufgenommen war. Laut Anamnese litt der
Kranke in den letzten Jahren wiederholt an vollständiger Undurch-
gängigkeit des Darmes, welche sich jedoch binnen wenigen Tagen
immer spontan löste. Fünf Tage vor der Spitalsaufnahme trat
nach einem Stuhlgang unter heftigen Schmerzen derselbe Zustand
wieder ein und hielt unter zunehmender Aufblähung des Unter-
leibes an.
Ich übergehe die Schilderung der bei totaler Darmimpermea-
bilität geläufigen Allgemeinerscheinungen, welche auch hier alle
vorhanden waren, will nur hervorheben, dass der Kranke ganz das
Bild einer inneren Incarceration darbot.
Eine ganz eigenthümliche Form zeigte der enorme Meteorismus,
so dass er schon auf den ersten Blick von den Erinnerungsbildern
jener, die ich bislang gesehen hatte, wesentlich abwich. Der
Bauch des Kranken schien in seiner oberen Hälfte nach
links, in der unteren nach rechts verschoben. Der Ge-
sammteindruck war der eines S-förmigen Wulstes. (Fig. 2 a.) ver-
anschaulicht den äusseren Aspect.
£s war klar, dass die Form des Meteorismus einzig und
r
Characteristischer Meteorismas bei Yolvulns des S romanum. 239
allein auf ein Hinderniss unterhalb des S-Romanum hindeutete;
daffir sprach schon der ausgesprochene „Dickdann-Meteorismus",
dessen epigastrischer Querwulst mit Bestimmtheit als -Colon trans-
yersam zu deuten war. unklar war mir nur der schräg von
links oben nach rechts unten verlaufende, im rechten
Hypogastrium nach links wieder umbiegende Schräg-
wulst, der rechts unten in der Coecalgegend zum Platzen gespannt
und halbkugelrund, «wie ein gebogenes Knie abzutasten war,
und der sattelförmige Einbug links an der Grenze
■Fig. 2 a.
zwischen Epi- und Hypogastrium, wo bei ausgesprochenem
Dickdarmmeteorismus sonst die grösste Vorwölbung vorzukommen
pflegt, ganz conform der gleichen Vorwölbung der entgegengesetzten
Bauchgegend. Es war also die Asymmetrie und die schräge
Gesammtform des Meteorismus das Abweichende von dem ge-
wöhnlichen Typus ^).
1) Als cbaracteristisch für die Torsio flexurae sigm. wird die „viereckige
Form des aufgetriebenen Unterleibes^ für gewöhnlich angenommen , so z. B.
auch Yon Obalinski (Langenbeck's Archiv f. klin. Chirurgie, Bd. 38, Heft 2);
dieses Symptom allein scheint mir nicht zureichend genug zu sein.
240
Dr. C. Bayer,
Ich deutete diesen Befund dahin, dass der untere Theil des
Colon descendens mit denoi Anfangstheil des S-Romanum, oder
dieses letztere allein infolge des absoluten Hindernisses und der
maximalen Darmblähung aus dem retroabdominalen Raum hervor-
getreten und über den Dünndarm nach rechts hinüber sich um-
gelegt hätte.
Nach Eröffnung des Unterleibes, welche sofort vorgenommen
wurde, sah ich, dass der innere Befund an den äusseren Um-
rissen des Meteorismus viel genauer hätte abgelesen werden können,
Fig. 2 b.
als es mir möglich geschienen. Fig. 2 b sagt alles und man muss,
die Skizze des Meteorismus und das Bild des inneren Befundes
nebeneinander betrachtend, sagen, dass das letztere in der ersteren
förmlich hindurchschimmert.
Es wäre somit im Wiederholungsfalle dieser characteristischen
Metcorismusform — einen ähnlichen Zustand der Bauchdecken-
und Darmspannung vorausgesetzt — die praecise Diagnose:
„Volvulus des S-Romanum" möglich.
In unserem Falle war die S-Schlinge zweimal links gedreht
(verkehrter Uhrzeiger); nach Herausholung des oberen Poles unter
Characteristischer Meteorismus bei Volvulus des S romanum. 241
dem linken Rippenbogen dt-ehte sie sich spontan einmal rechts
um; eine zweite Rechtsdrehung vollendete die Detorsion. Ob aus
einer Rechtsdrehung mit Nothwendigkeit eine Umkehr der Obliquität
des Meteorismus — ein schräger Wulst von rechts oben nach links
unten — resultircn würde, bin ich ausser Stande zu entscheiden. —
Ergänzend zum örtlichen Befund an der gedrehten Schlinge
sei noch die geringe Breite des Mesosigraa bei relativer Länge, also
F eine gewisse abnonne Nähe der Fusspunkte der S-Schlinge erwähnt,
ein Vorkommniss, welches gewöhnlich als Gelegenheitsursache des
Volvulus angeführt wird und im mitgetheilten Falle auch von uns
gesehen wurde.
Der Kranke starb 4 Tage nach der Operation bei durch-
gängigem Dar-rac an Gangrän der Drehungsstelle; allgemeine
Peritonitis war nicht vorhanden (HeiT Dr. Zaufal). —
Die Spätoperationen bei Volvulus geben im Allgemeinen un-
günstige Resultate, sei es wegen vorgeschrittener Herzschwäche, sei es
infolge schon bestehender schwerer Girculationsstörungen am Darme.
Es wäre zu erwägen, ob nicht der seinerzeit von Nicoladoni
für das gangrän bedrohte Quercolon nach Magenresection gemachte
academische Vorschlag, eine Dünndarmschlinge in den Tractus des
Dickdarms einzuschalten, in Spätfällen praktischer Verwirklichung
werth wäre, zumal die directe Vereinigung der Darmenden nach
Resection des S-Romanum, wenn auch* unter Umständen ausführbar,
immer schwierig und unsicher, ein Anus im Colon descendens und
Exstirpation des Volvulus eiu kläglicher Nothbehelf bleibt, ein provi-
sorisches Herausleiten der ganzen Schlinge wegen der tiefen Lage
und Fixation der am meisten gefährdeten Stelle unmöglich ist.
In Fällen deutlicher Circulationsstörung, namentlich wenn der
Darm durch die Blähung auch gelitten, bei ausgesprochener Herz-
schwäche, — wie leider nur zu oft, — dürfte bis auf Weiteres
Exstirpation und Anus trotz allen diesem Verfahren anhaftenden
Mängeln das Richtige sein. Die Anlegung des Anus artificialis
könnte in diesen Fällen immerhin so stattfinden, dass auf eine
eventuelle spätere Schliessung Rücksicht genommen würde.
Ist der Kräftezustand des Kranken gerade kein verzweifelter,
so kann der Anus allenfalls durch Ausschaltung des Dickdarmes
in der Art umgangen werden, dass niich Resection des S-Romanum
sein Colonende vernäht und sein rectales Ende in eine Lateral-
Arehir fttr klin. Chirurgie. 67. Bd. Heft I. jg
242
Dr. C. Bayer, Charaoteristischer Meteorismus etc.
Öffnung des letzten Ueum eingepflanzt wird. (Einpflanzung des
rectalen Querschnitts in einen Schlitz der Ueumschlinge und Ver-
nähung des Colon descendens.) Nach den exacten Untersuchungen
von Eiselsberg's^) erscheint die Ausschaltung des Dickdarmes
immerhin zulässig, wenn Sorge für Abfuhr der darin stagnirenden
Secrete getragen wird 2). Die Anastomose zwischen Ueum und
Rest des Enddarmes erfüllt dann auch diese Indication.
Fig. 3.
Wollte man auf die Dickdarraverdauung nicht ganz verzichten,
so bliebe als Ausweg noch die Anlage im Sinne Fig. 3, mit oder
ohne sej)arate Ileoanastomose übrig; doch ist dieser Vorgang schon
viel complicirter und zeitraubender.
1) Nederl. Tijdschr. vor Geneeskunde. 1896, No. 8. — Centralbl. für
Chirurgie. 1896, No. 22.
2) Dies lehren die Fälle von Anus praeternaturalis im letzten Ueum und
besonders der von Ciechomski und Jakowski (Langenbeck's Archiv f.
klin. Chirurgie, Bd. 48, Heft 1, S. 136) mitgetheiltc Fall, in welchem ein wahr-
scheinlich aus tubcrcnlösen UIcerationen hervorgegangener Anus praeternaturalis
im letzten Ueum 85 Jahre lang (!) ohne Nachtheil für den Organismus ge-
tragen wurde.
Gedrnckt bei L. Schnmacher in Berlin.
ARCHIV
FÜR
KLINISCHE CHmUßGIE.
beorOndbt
von
Dr. B. von LANGENBECK,
weil. Wirklichem Gell. Rath und Profciuior der Chirurgie.
HERAUSGEGEBEN
VON
Db. E. y. BEMMANN, Db. E. aüELT, Da. G. aUSSEITBAÜER
Prot der Chirurgie in Berlin. Prof. der Chirurgie in Berlin. Prof. der Chirurgie in Wien.
SieBENIINDFCNFZIGSTER BAND.
ZWEITES HEFT.
Mit 15 Abbildungen im Text.
BERLIN, 1898.
VERLAG VON AUGUST HIRSCHWALI).
N.W. Unter den Linden No. 68.
Inhalt.
Seite
IX. lieber die neuesten Bestrebungen, die aseptische Wundbehand-
lung zu vervollkommnen. Von Professor Dr. J. Mikulicz . 243
X. Die Ursachen des Misslingens der Asepsis. Von Professor
Dr. Landerer 280
XI. Die aseptische Versorgung frischer Wunden, unter Mittheilung
von Thicrversüchcn über die Auskeimungszeit von Infections-
erregem in frischen Wunden. Von Prof. Dr. P. L. Friedrich.
(Mit 2 Figuren.) • .... 288
XII. lieber peritoneale Resorption undinfcction. Von Dr. W. Noetze 1. 311
XIII. lieber Wundsccret und Bactericn bei der Heilung per primam.
(Aus der chirurg. Klinik des Professor Wolf ler in Prag.) Von
Dr. Hermann Schloffer 322
XIV. Localc Analgesie bei Operationen. Von Dr. Hackenbruch . 345
XV. Gastroenterosto^iia et Enteroanastomosis, ein neues vereinfachtes
Verfahren. Von Professor Dr. A. P od res. (Mit 4 Figuren.) 358
XVL Experimentelle Untersuchungen und Erfahrungen über Infi-
trationsanästhcsie. Von Privatdocent Dr. H. Braun. (Mit
2 Figuren.) 370
XVII. Erfahrungen über lokale Anästhesie in der Breslauer chirurg.
Klinik. Von Dr. Georg Gottsteiu 409
XVIII. Neue Experimente zur Erzeugung von Pankreatitis haemorrhagica
und von Fettnckrosen. Von Professor Dr. Hildebrand . . 435
XIX. Ein neues Verfahren der Blasennaht nach Sectio alta. Von
Professor Dr. W. J. Rasumowsky. (Mit einer Figur.) . . 438
XX. Ueber die bisherigen Erfahrungen bei der radicalen Operation
des Magencarcinoms (der Magenresection und der Magenexstir-
pation) an der Züricher chirurgischen Klinik. (Aus der chir-
urgischen Klinik in Zürich.) Von Professor Dr. Krön lein . 449
XXI. Ueber Regeneration des Magens nach totaler Resection. Von
Professor Dr. Schuchardt. (Mit 2 Figuren.) 454
XXII. Die neueren Magenoperationen in der Cz er ny 'sehen Klinik und
die bisherigen Dauererfolge. Von Stabsarzt Dr. Steudel.
(Mit 3 Figuren.) 459
XXUI. Eine neue Methode der Pylorus- und Darm-Resection. Von
Dr. Doyen 465
XXIV. Beitrag zur Anwendung des Murphy -Knopfes. Von Dr. Storp. 470
XXV. Einiges über die Anwendung der Darmknöpfe. Von Pro-
fessor Dr. Anton Wolf ler. (Mit einer Figur.) 475
IX.
lieber die neuesten Bestrebungen, die asep-
tische Wundbehandlung zu vervollkommnen.
Von
Professor Dr. iV. Rllkullcz
in Breslau ').
M. H.! Es waren vor wenigen Tagen 24 Jahre vergangen,
seit Richard von Volkmann in unserer Gesellschaft seinen
Vortragt) über die Listcr'sche Wundbehandlungsniethode
hielt und damit das neue Verfahren dauemd in Deutschland ein-
bürgerte. Inzwischen hat das Verfahren mannigfache Wandlungen
erfahren. Wenn wir diese Wandlungen nach ihrer wesentlichsten
Tendenz kennzeichnen wollen, so können wir 4 Perioden unter-
scheiden. In der ersten Periode galt es, der neuen Idee in Form
der unveränderten Lister'schen Methode allgemeine Anerkennung
zu erkämpfen. In der zweiten Periode wurden die unwesentlichen
Bestandtheile des Lister'schen Verfahrens allmälig beseitigt; man
strebte nach möglichster Vereinfachung der Methode — aber immer
unter Beibehaltung des Princips der Antiseptik.
Inzwischen brachte uns die Bacteriologie die lirkcnntniss, dass
die theoretischen Voraussetzungen der Li st er 'sehen Methode irrig
waren: sie wirkte in ihren einzelnen Bestandtheilen gar nicht oder
*) Abgekürzt vorgetragen am 1. Sitzungstage des XXVII. Gongresses der
Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 13. April 1898.
2) Ueber den Einfluss der List er 'sehen Methode auf den Gang des
Wundheiiungsprocesses. III. Congress. 3. Sitzungstag, Freitag, den 10. April
1874. — Der Vortrag ist später ausführlich erschienen in den Beiträgen zur
Chirurgie und in der Sammlung klinischer Vorträge, No. 96, 1875. (Beide in
Leipzig, bei Breitkopf und Härtel.)
Arthir Ar klin. Chirurgie. 57. Bd. Heft 2. |Y
244 Dr. J. Mikulicz,
nur sehr unsicher bacttTient(')dtend; ihre llauptwirkung auf die
Wundbacterien beruhte vielmehr auf Entwicklungsheramung. Es lag
nahe, an Stelle dieser unzulänglichen, mit vielen Nachtheilen für
Patienten und Arzt verbundenen Methode eine andere zu construiren,
in der die neuen, wissenschaftlich erprobten Steril isirungsraethoden
die Hauptrolle spielten; die dahin zielenden Arbeiten fallen in die
dritte Periode. So entstand die aseptische Wundbehandlung, deren
erste xVnfänge wir in der Kieler Klinik finden, woselbst sich unter
Esmarch's Leitung Neuber bemühte, die alten antiseptischen
Maassrcgeln durch aseptische Maassnahmen im Sinne der Keira-
freiheit zu ersetzen. Den weiteren Ausbau und die Vervollkommnung
des aseptischen Verfahrens zu einer practisch allgemein verwerth-
baren Methode verdanken wir bekanntlich neben zahlreichen an-
deren Chirurgen, die auf diesem Gebiete gleichzeitig thätig waren,
vor allem Bergmann und seinem leider zu früh verstorbenen
Schüler Schimmelbusch.
Mit der Ausbildung der aseptischen Wundbehandlung, wie sie
vor 6 Jahren durch das vortreffliche Büchlein von Schimmelbusch^)
dargestellt wurde, schien zunächst ein gewisser Abschluss erreicht
worden zu sein. In den allerletzten Jahren regt es sich indessen
wieder von den verschiedensten Seiten. Man gesteht kleinere oder
grössere Misserfolge zu, die zum Glück selten sind, aber doch
ein unheimliches Gefühl der Unsicherheit erzeugen und jedenfalls
darthun, dass die Methode nicht absolut verlässlich ist; denn sie
giebt uns kein Gewähr dafür, dass unsere Operationswunden aus-
nahmslos keimfrei bleiben, dass sie immer so heilen wie subcutane
Verletzungen. Und das zu erreichen, muss doch unser letztes
Ziel bleiben. Dass die aseptische Wundbehandlung in der heut
noch fast allgemein geübten Form noch weit von diesem Ziel
entfernt ist, dafür spricht am besten der Umstand, dass die
Drainirung aller grösseren und complicirten Wunden immer noch
als das Normalverfahren gilt, und dass viele Operateure es bei be-
sonders gefährdeten Wunden selbst vorziehen, auf die primäre
Heilung zu verzichten und die Wunde zu tamponniren, um sie im
besten Fall erst nach einigen Tagen zu vernähen. Während wir
das in Folge einer subcutanen Verletzung z. B. Fractur angc-
1) Anleitung zur aseptischen Wundbehandlung. Von Dr. C. Schimmel-
busch. Berlin 1892 (1. Aufl.). August Hirschwald. (II. Aufl. 1893.)
Die neuesten Bestrebungen, d. asept. Wundbehaniilg. zu vorvoUkommnon. 245
sammelte Blut und sonstige Exsudat ruhig seinem Schicksal über-
lassen, wird es beim aseptischen Verfahren als günstiger Nährboden
für Bacterien möglichst sorgfältig nach aussen geleitet. In der schon
citirten Anleitung zur aseptischen Wundbehandlung sagt Schimmel-
busch Seite 76 ausdrücklich: „Sowie eine Wunde auch nur massig
Flüssigkeit absondert, wird das Zukleben illusorisch, ja gefiihrlich".
Die selbst kleinen Fehler des sog. aseptischen Verfahrens sind
heute um so störender, als sich die Anforderungen au die operative
Technik immer mehr steigern und selbst kleine, früher kaum be-
achtete Störungen z. B. Fadeneiterungen bei manchen Operationen
fast Misserfolge bedeuten.
So ist es verständlich, dass von den verschiedensten Seiten
nach den Fehlerquellen der heute geübten Wundbehandlung eifrig
geforscht und so das ganze Verfahren einer gründlichen Revision
unterzogen wird. Die jüngsten Bestrebungen auf diesem Gebiet ge-
hören einer vierten Periode an, deren Aufgabe es ist, das ideale Ziel
der vollkommenen Keimfreiheit beim Operiren zu erreichen oder
ihm wenigstens möglichst nahe zu kommen. Wir werden später
sehen, dass wir uns bei diesen Bestrebungen von dem einseitigen
Princip der Aseptik insofern emancipiren müssen, als wir die
Scerilisirungsmethoden dort, wo sie überhaupt anwendbar sind, bei-
behalten, im Uebrigen aber, namentlich bei der Desinfection der
Haut, die entwicklungshemmenden Desinfectionsmittcl im Sinne der
Antiseptik bis zu einem gewissen Grade wieder zur Geltung bringen.
Ich selbst bin seit 2 Jahren bemüht, mich unter Mitwirkung meiner
Assistenten an dieser Arbeit zu betheiligen; ich hätte mich nicht
an eine so schwierige Aufgabe gewagt, wenn ich nicht die aus-
giebigste Unterstützung bei meinem hochverehrten Collegen Prof.
Flügge gefunden hätte, in dessen Laboratorium und unter dessen
ControUe ein Theil der einschlägigen Arbeiten ausgeführt worden ist.
Ich hatte schon im Juni vorigen Jahres in der Deutschen
med. Wochenschrift (No. 26) einen kurzen vorläufigen Vorbericht
über unsere Versuche erstattet. Heute sei es mir gestattet, über
die weiteren Ergebnisse unserer Arbeiten auf diesem Gebiete zu
berichten.
Als Endziel unserer Versuche haben wir uns, wie schon er-
wähnt, die Aufgabe gestellt, die Methoden derart zu vervollkommnen,
dass eine von Hause aus nicht inficirtc Operationswunde soweit
17*
246 Dr. J. Mikulicz,
keimfrei erhalten bleibt, dass sie nach vollkommenem Ver-
schluss ebenso wie eine subcutane Verletzung reactionslos
heilt. Wenn wir von diesem Gesichtspunkte aus die durch die
Bergmännische Schule ausgebildete aseptische Wundbehandlung
revidiren, so müssen wir zunächst hervorheben, dass dieselbe, so-
weit es sich um die Sterilisirung des Tupf- und Verbandmaterials,
sowie der Instrumente handelt, ihre Aufgabe mit absoluter Sicher-
heit erfüllt. Die zu diesem Zwecke von Schimmelbusch con-
struirten oder modificirten Apparate werden auch heute als muster-
giltig beibehalten werden können.
So sicher nun die Sterilisirung des todten Materials, sei es
durch kochendes Wasser, sei es durch heissen Dampf, sei es durch
entsprechende trockene Hitze, erfolgt, so fehlt es uns doch unter
Umständen an einem sicheren Erkennungszeichen, dass das uns
vorgelegte Material: Tupfer, Compressen, Verbandstücke, kurz alle
die Dinge, die während der Operation mit der Wunde in innige
Berührung kommen, auch thatsächlich und in ausreichender Weise
dem Desinfectionsverfahren unterworfen waren. Auf die Ueber-
zeugung, dass die genannten Gegenstände thatsächlich keimfrei
sind, bauen wir ja unser ganzes Verfahren, ein Versehen in dieser
Richtung kann verhängnissvoll für unsern Kranken werden. Aber
auch abgesehen davon ist es für denjenigen, der den meist kleinen
und oft schwer zu eruirenden Fehlern der heutigen Wundbehandlung
nachforscht, unerlässlich, in diesem einen Punkt absolute Gewiss-
heit zu haben, weil ja bei jedem Misserfolg der Verdacht nicht
ganz ausgeschlossen werden kann, dass gelegentlich einmal auch
eine ungenügende Sterilisirung dieser Gegenstände Schuld an der
Wundstörung trägt. Es ist deshalb gerade für uns eine wichtige
Aufgabe gewesen, brauchbare Controllvorrichtungen in dieser
Richtung zu finden i). In Bezug auf die Instrumente, die nach der
Schim melb US ch 'sehen Vorschrift in kochender Sodalösung steri-
lisirt werden, ist ein ControUapparat nicht mibedingt erforderlich.
1) Ich muss ausdrücklich bemerken, dass das Personal meiner Klinik,
sowohl was die Aerzte als auch die untergeordneten Hilfspersonen betriift, so
gut organisirt ist, dass ich selbst bisher nie Grund hatte, gegen dieselben Miss-
trauen zu hegen. Aber es sind ja auch nur Menschen, die einmal fehlen
können. Wenn man darauf ausgeht, Fehlerquellen nachzuforschen, so muss
man auch dieses, wenn wir wollen mehr psychologische Moment, mit Sicherheit
auszuschalten suchen.
Die neuesten Bestrebungen, d. asept. Wundbehandlg. zu vervollkommnen. 247
Die Instrumente werden ja unmittelbar vor der Operation gewisser-
raaassen vor unsem Augen gekocht; eine Nachlässigkeit und selbst
ein Versehen in dieser Richtung ist bei selbst oberflächlicher Auf-
merksamkeit des Personals kaum möglich i).
Um so nothwendiger ist eine ControUvorrichtung bei den im
heissen Dampfe sterilisirten Gegenständen. Viele Operateure haben,
um in dieser Richtung ein Versehen ganz auszuschliessen, die
Dampfapparate in den Operationssaal selbst verlegt oder wenigstens
so angelegt, dass die Tupfer, Verbandstoffe u. s. w. durch eine
Oeffnung in der Wand des Operationssaales dem Apparat vor den
Augen des Arztes entnommen werden können. Die Dampfsterilisation
muss, wenn diese Einrichtung ihren Zweck erfüllen soll, unmittel-
bar vor der Operation geschehen. Diese Einrichtung ist aber mit
mannigfachen Nachtheilen verbunden, die ich hier nicht weiter
ausfähren will. Es ist jedenfalls viel bequemer, wenn das Tupf-
und Verbandmaterial wenigstens mehrere Stunden vor der Operation
sterilisirt und schon abgekühlt und möglichst trocken gereicht
werden kann.
Die Idee, Controllvorrichtungen nach dieser Richtung zu con-
struiren, ist nicht neu. Soviel ich weiss, benützt Quenu in Paris
schon seit Jahren Glasröhrchen, die mit einer Substanz gefüllt sind,
die bei 100^ oder darüber schmilzt (Wismutlegirungen) , und er-
kennen lässt, dass der Verbandkorb thatsächlich einer bestimmten
Temperatur ausgesetzt war. Ueber die Dauer der Erhitzung giebt
ein derartiger Apparat keinen genügenden Aufschluss, noch weniger
1) Nur in einer Richtung wäre hier allerdings eine Sicherheitsmaassregel
erwünscht, nämlich beim Kochen von Instrumenten, die bei einer Operation
inficirt worden sind und bald darauf bei einer zweiten verwendet werden
sollen. Selbstverständlich wird jeder Operateur, wenn eine Reihe von Operationen
Dacheinander folgen, dieselben so ordnen, dass die absolut aseptischen voran-
gehen, und die in zweifelhaften oder inficirten Geweben vorzunehmenden erst
den Schluss bilden. Aber auch bei dieser Anordnung kann man unversehens
auch einmal mit den Instrumenten ein inficirtes Gebiet in- und ausserhalb der
Wunde berühren, so dass eine abermalige Sterilisirung der Instrumente oft
unerlässlich ist. In der Eile kann es da leicht geschehen, dass die Instrumente
nicht lange genug gekocht, also wieder in Gebrauch genommen werden, bevor
sie noch vollständig sterilisirt sind. Zu diesem Zweck hat Herr Dr. Matthias
eine Vorrichtung construirt, die den einmal geschlossenen Kochapparat erst
nach Ablauf der erforderlichen Zeit von 5 resp. 10 Minuten wieder zu öffnen
gestattet. Der wesentlichste Bestandtheil dieses Apparates ist ein nach dem
Prlncip der Sanduhr construirtes, aber mit Quecksilber gefülltes Glasrohr, dass
nach 5 resp. 10 Minuten in Folge des verlegten Schwerpunktes den das Gefass
verschliessenden Riegel automatisch öffnet.
248 Dr. J. Mikulicz,
darüber — und das ist bei der Dampfsterilisation ausserordentlich
wi(ihtig — , ob der heisse Danopf den Verbandkörb durchdrungen hat
Auch anderwärts wurden nach diesen oder andern Principien con-
struirte Vorrichtungen angewendet, von denen aber meines Wissens
keine allgemeine Verbreitung gefunden hat. Es würde zu weit
führen, hier auf dieselben einzugehn. Herr Dr. Matthias, welcher
sich mit der Sache in meiner Klinik beschäftigt hat, wird bei anderer
Gelegenheit über die anderwärts gemachten Versuche berichten und
gleichzeitig auch ausführlich mittheilen, in welcher Weise wir das
Problem zu lösen gesucht haben. Hier sei nur das Resultat unserer
Versuche kurz mitgetheilt.
Als eine äusserst einfache und für den practischen Gebrauch
sehr empfehlenswerthe Vorrichtung kann ich Ihnen folgende em-
pfehlen: Ein Streifen nicht geleimten Papiers wird an passender
Stelle mit der Aufschrift: „sterilisirt'' bedruckt. Der bedruckte
Theil oder auch der ganze Streifen \ ird mit 3 pCt. Stärkekleist^r
dick bestrichen und halb trocken durch eine Jod-Jodkali-Lösung
(Jod. 1,0 Kai. jodat. 2,0 Aq. dest. 100) gezogen. Der Papier-
streifen nimmt eine dunkelbläulich-schwarze Farbe an, die die Auf-
schrift vollständig verdeckt. Im strömenden Dampf entfärbt sich
der Papierstreifen vollständig oder wenigstens so weit, dass die
Schrift wieder klar sichtbar wird, und auch bleibt, wenn der
Streifen erkaltet. Trockene Hitze, selbst 180 — 190^, entfärbt den
Streifen nicht. In dem bei uns verwandten Dampfsterilisirapparat
von Lautonschiäger, welcher eine Temperatur von 106 —107^
entwickelt, tritt die Entfärbung des frei hängenden Streifens inner-
halb 10 Minuten ein; der im Innern eines Verbandkorbes liegende
Streifen braucht zur Entfärbung 20 Minuten und darüber. Erreicht
die Temperatur des Dampfes weniger als 100°, dann bedarf es
einer mehr als einstündigen Einwirkung desselben zur genügenden
Entfärbung.
Die Entfärbung des Jod-Kleisterstreifens zeigt uns somit an:
1. dass heisser Dampf und nicht heisse Luft auf denselben ge-
wirkt hat. Dementsprechend kann er auch dazu benutzt werden,
uns todte Räume im Sterilisirapparat, welche der heisse Dampf
nicht zu erreichen vermag, anzugeben; 2. dass der Dampf ein be-
stimmtes Minimum von Temperatur eiTcicht hat, und 3. dass die
Einwirkung ein gewisses Minimum an Zeit gedauert hat. Ich
Die neuesten Bestrebungen, d. asept. Wundbehandlg. zu vervollkommnen. 249
glaube, dass die Entfärbung des Jod-Kleisterpapiers eine intensivere
Einwirkung des Dampfes erfordert, als die Abtödtung der uns in-
teressirenden Bakterien. Die bisher im Flügge'schen Laboratorium
angestellten Versuche haben ergeben, dass selbst die resistentesten
Bakterien (Milzbrandsporen, Keime der Gartenerde) früher abgetödtet
werden, als der Streifen vollkommen entfärbt ist. Weitere Unter-
suchungen darüber sind noch im Gange. Nebenbei sei erwähnt,
dass bei uns der Jod-Kleisterstreifen derart in dem Verbandkorb
befestigt wird, dass ein Theil innerhalb desselben zu liegen kommt;
ein Bindfaden befestigt sowohl den Streifen als auch den Deckel
an der Wand des Korbes und wird durch eine kleine Plombe ge-
sichert; die letztere wird erst unmittelbar vor dem Gebrauch abge-
schnitten ^).
Herr Dr. Matthias hat noch einen zweiten, weit exakteren
Apparat konstruirt, der ganz genau die Höhe der Temparatur und
die Dauer der Einwirkung registrirt. Die Grundlage des Apparates
bildet eine gewöhnliche Taschenuhr (Ankeruhr), deren Kompensations-
unruhe bekanntlich aus 2 verschiedenen Metallen (Eisen und Bronze)
zusammengefügt ist, und deshalb bei verschiedenen Temperaturen
ihre Gestalt ändert; bei höherer Temperatur wird ihr Krümmungs-
radius kleiner. Am Uhrdeckel wird nun ein feiner Zapfen ange-
bracht, der bei gewöhnlicher Temperatur die an die Unruhe be-
festigten Ballastschräubchen festhält und damit die Uhr arretirt.*
Erst bei einer bestimmten, empirisch festzustellenden Temperatur
entfernt sich die Unruhe in Folge der vermehrten Krümmunir so
weit vom Zäpfchen, dass die Uhr in Gang kommt. Sowie die
Temperatur sinkt, hört die Uhr wieder auf zu gehen. Durch einen
mit dem Zapfen verbundenen langen Hebel kann die Uhr auf die
gewünschte höhere oder niederere Temperatur eingestellt werden.
Der Apparat ist selbstverständlich nicht dazu zu verwenden, um
zu erkennen, ob das betreffende Object heissem Dämpf oder nur
heisser Luft ausgesetzt war. Er ist auch vorläufig zu kostspielig,
um für gewöhnliche praktische Zwecke verwendet zu werden. Ich
1) Erst nachträglich vurde mir bekannt, dass vor 5 Jahren Hoch on egg
(s. Wiener klin. Wochenschrift, 1893, S. 421) als Gontrolobject einen Farbstoff
zu demselben Zwecke verwendet hat. Es ist eine gelbbraune Alizarinverbindung,
welche beim Erhitzen auf 107 o intensiv roth wird. Soviel mir bekannt ist,
bewiritt aber nicht nur der heisse Dampf, sondern auch trockene heisse Luft
die Aendening der Farbe.
250 Dr. J. Mikulicz,
glaube aber, dass er sich sehr wohl als eine Art von Aichinstru-
ment für Desinfectionsapparate eignen wird.
Eine dritte KontroUvonichtung ist von Herrn Dr. Sticher im
Breslauer Hygienischen Institut konstruirt worden. Derselbe ver-
wendet auch Körper, die bei hoher Temperatur schmelzen, und
zwar das Phenanthren (Schm.-P. 98*^) und das Brenzcatechin
(Schm.P. 101 — 102^). Da diese Körper bei Hitzeeinwirkung, selbst
wenn sie in ein Glasröhrchen gefüllt sind, rasch schmelzen, somit
in Bezug auf die Zeit der Hitzeeinwirkung keinen Aufschluss geben
wurde das betreffende Röhrchen von einem zweiten, grösseren um-
hüllt, derart, dass zwischen beiden Glaswänden eine isolirende
Luftschicht übrig bleibt, die die Einwirkung der Hitze auf den im
Innern befindlichen Körper verzögert. Durch Vergrösserung dieser
Luftschicht kann man die Verzögerung so weit treiben, dass die
für einen bestimmten Zweck gewünschte Zeit vergehen muss, bevor
der im Innern befindliche Körper schmilzt. Jeder Apparat muss
natürlich empirisch erst gewissermaassen geaicht werden. Praktische
Versuche mit diesem Apparat sind in meiner Klinik bisher noch
nicht gemacht worden.
In Bezug auf die Sterilisirung des Naht- und Unterbindungs-
raaterials sind heute die Akten im wesentlichen als geschlossen
anzusehen. Dabei soll zunächst die Frage unberührt bleiben, ob
wir nicht gut thun, heben der Sterilisirung die Seide und das
Katgut mit einem entwicklungshemmenden Antisepticum, z. B.
Jodoform, zu imprägniren. Die Frage soll noch später gestreift
werden. Im übrigen kann es sich höchstens darum handeln, ob
bei dem einen Verfahren das Katgut fester und haltbarer bleibt
als bei dem anderen. Ich verwende in der letzten Zeit das
Hofmeister'sche Formalin-Katgut und bin mit demselben in jeder
Richtung ausserordentlich zufrieden. Dass das Katgut Ausgangs-
j)unkt von Eiterungen wäre, dafür habe ich nie einen Anhaltspunkt
gefunden. Bekanntlich hat Poppert^) in der letzten Zeit darauf
aufmerksam gemacht, dass sowohl Katgut- als auch versenkte
Seidensuturcn ohne Hinzutreten von Bakterien Eiterung erzeugen
können. Im ersteren Falle sollen es die dem Katgut anhaftenden,
0 Ueber Eiterung durch keimfreies Catgut. Deutsche Medicin. Wochen-
schrift. 1896, No. 48. — Ueber Seidenfadeneiterung nebst Bemerkungen zur
aseptischen Wundbehandlung. Deutsche Medicin. Wochenschrift. 1897, No. 49.
Die neuesten Bestrebungen, d. asept. Wundbehandlg. zu vervollkommnen. 251
wahrscheinlich vom Rohkatgut herstammenden toxischen Substanzen
sein, die eine echte chemische Eiterung erzeugen; im zweiten Fall
sollen die durch die versenkten Nähte gequetschten und mortifi-
cirten Gewebe es sein, die auch eine Art von chemisdier Eiterung
hervorrufen. Die Untersuchungen von Poppert sind gewiss sehr
bemerkenswerth, und der von ihm gegebene Rath, versenkte Nälite,
z. B. bei der Radicaloperation der Hernien, nicht all zu fest zu-
zuschnüren, verdient gewiss Beachtung, ich will auch die Möglich-
keit einer derartigen Eiterung durchaus niclit ganz in Abrede
stellen. Jedenfalls ist sie recht selten; sie hat für den Wund-
heilungsprocess wenig Bedeutung und wir thun am besten, sie, da
wir uns hier nur mit der bakteriellen Eiterung beschäftigen, zu-
nächst ganz aus dem Spiele zu lassen^).
Während die bisher erwähnten todterf Materialien leicht und
sicher zu sterilisircn sind, bleiben uns 3 Infectionsquellen übrig,
deren absolute Eliminirung ausserordentliche Schwierigkeiten be-
reitet: die Luft, die Haut des Operationsfeldes und endlich
die Haut unserer Hände.
Die Bedeutung der Luftinfection wurde bekanntlich anfäng-
lich ausserordentlich überschätzt. Der Spray des Lister'schen
Verfahrens sowie andere antiseptische Maassregeln waren dagegen
gerichtet und sind mit Recht als überflüssig und unzureichend auf-
gegeben worden. Man fiel dann aber in das andere Extrem, in-
dem nsan die Möglichkeit der Infection einer Wunde durch die
Luft für so unwahrscheinlich erklärte, dass diese Infectionsquellc
vollständig unberücksichtigt bleiben dürfte. In der That werden
wir auch heute sagen müssen, dass die von Seiten der Luft einer
Wunde drohende Gefahr sehr gering ist. Aber sie besteht doch
und sie steigert sich mit der Dauer der Operation. \Yollen wir
uns bestreben, wirklich möglichst keimfrei zu operiren, so dürfen
wir die Luftinfection nicht ganz ausser Acht lassen.
Bei der üebertragung von Bakterien durch die Luft müssen
1) In meiner Klinik wurde auch etliche Mal bei ganz geringfügigen sub-
cutanen Eiterungen — wenn ich nicht irre, immer im Anschluss an versenkte
Nähte — bacterienfreier Eiter gefunden. Es ist aber nicht undenkbar, dass
diese Eiterungen durch sehr wenig virulente Bacterien hervorgerufen wurden,
die sehr bald im Eiter abstarben und deshalb in der Kultur nicht zum Aus-
druck kommen konnten.
252 Dr. J. Mikulicz,
wir zweierlei Arten von Luftkeimen unterscheiden: die trockenen,
in Staubforra suspendirten und die in feinsten Flüssigkeitströpf-
chen, also in feuchtem Zustande in der Luft suspendirten und
fortbewegten Keime, durch welche nach den neuesten Unter-
suchungen von Flügge^) pathogene und voll virulente Bakterien
verbreitet werden können.
Bekanntlich sind die in Staubform in der Luft suspendirten
Bakterien von sehr geringer Bedeutung. Die meisten Vegetations-
formen, namentlich der uns interessirenden Wundbakterien, gehen
durch Austrocknung allmählich zu Grunde. Unter gewöhnlichen
Verhältnissen, d. h. bei den von der Strasse eindringenden Staub-
partikelchen, in gewöhnlichen Wohnräumen, wird man die Bedeu-
tung dieser Art der Luftinfection in der That gleich Null setzen
können.
Anders verhält sich die Sache, wo die örtlichen Verhältnisse
eine starke Anhäufung von pathogenen Bakterien in der Luft ver-
ursachen können, wi'e in Krankenhäusern. Es kommt hier in Be-
tracht, dass nach den neuesten Untersuchungen von Max Ne isser-)
und Germano^) die uns interessirenden Wundbakterien, insbesondere
Staphylococcus aureus und wie es scheint, selbst Streptococcen
das Austrocknen längere Zeit überdauern, also auch in Staub-
form noch übertragbar sind. Der hierin liegenden Gefahr werden
wir nur dadurch begegnen, dass wir die Gelegenheit zur Verstäu-
bung derartiger Theile in unseren Operationssälen , möglichst ver-
ringern, indem wir die aseptischen Operationsräume von den
andern Räumen der Klinik streng trennen, die Zahl der an-
wesenden Personen möglichst beschränken und dafür Sorge tragen,
dass dieselben nur unter entsprechenden Cautelen den Operations-
saal betreten.
Die ^vergleichende Untersuchung der Luft in grösseren Hör-
sälen einerseits und in kleineren geschlossenen Räumen anderer-
seits hat das übereinstimmende Resultat ergeben, dass in
1) üeber Infection durch Luftkeime in Tröpfchen. Vortrag, gehalten in
der hygienischen Section der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur
am 28. Juli 1897. (Allgemeine Med. Central -Zeitung, 1897, No. 66, und Zeit-
schrift für Hygiene, 1897, Bd. 25.)
2) Ueber Luftstaub-Infection. Zeitschrift für Hygiene und Infections-
krankheiten. Bd. 27.
3) Dieselbe Zeitschrift. Bd. 26, Heft 1.
T
Die neuesten Bestrebungen, d. asept. Wundbehandlg. zu vervollkommnen. 253
erstcren der Keiragehalt der Luft stets grösser ist als in letzteren,
und dass er sich in dem Maasse steigert, als durch das Eintreten
der Zuhörer die Aufwirbelung von Staub im Raum begünstigt wird.
Ich kann die an verschiedenen Stollen in dieser Richtung ange-
stellten Versuche als bekannt voraussetzen, und will nur kurz an-
führen, dass auch in der neuen Breslauer chirurgischen Klinik
Herr Dr. Gottstein eine Reihe von einschlägigen Untersuchungen
vorgenommen hat. Aus diesen ergiebt sich erstens, dass unter
allen Umständen der Keimgehalt der Luft im grossen Hörsaal er-
heblich grösser ist als im aseptischen Operationssaal; in beiden
Räumen bestehen jedoch enorme Unterschiede, je nachdem der
Raum vorher stundenlang von keiner Person betreten worden war
oder ob er eine grössere Zahl von Zuschauern oder den bei der
Operation beschäftigten Personen beherbergt. Am höchsten steigt
die Keimzahl vor Beginn der Operation ; offenbar ist der Grund
dafür im Hin- und Hergehen und den sonstigen Bewegungen der
mit der Vorbereitung zur Operation beschäftigten Personen zu
suchen. Das Durchschnittsverhältniss des Keimgehalts der Luft im
grossen Hörsaal zu jenem im aseptischen Operationssaal ist an
vorlesungsfreien und operationsfreien Tagen 37 : 3 zur Zeit der Vor-
lesungen resp. Operationen dagegen 155:60^). Wir sehen also,
dass auch im aseptischen Operationssaal trotz Verringerung der
Zuschauerzahl der Gehalt der Lu(t an Trockenkeimen noch immer
relativ hoch ist; ob es gelingt, ihn durch andere Maassnahmen,
die den Betrieb nicht allzu sehr kompliciren, noch mehr herunter-
zudrücken, ist mir zweifelhaft.
Wenn wir uns ein Urtheil darüber bilden wollen, welche Be-
deutung die trotz aller Vorsichtsmaassregeln noch vorhandenen
trockenen Luftkeime haben, so kann selbstverständlich nicht
die absolute Zahl berücksichtigt werden, sondern die Zahl der etwa
aufgefundenen pathogenen Keime, speciell Eitererreger. Denn be-
kanntermaassen besteht auch in Operations- und Krankensälen die
Hauptmasse der Luftkeime aus Saprophyten oder wenigstens
Bakterienarten, die für unsere Wunden keine Bedeutung haben.
Es haben sich aber zweifellos bei unseren Untersuchungen auch
Bakterien gefunden, die wenigstens morphologisch den pathogenen
^) Die Zahlen bedeuten die während einer Stunde auf 10 cm im Durch-
messer betragende Petri'sche Schalen (Agar) auffallenden Keime.
254 Dr. J. Mikulicz.
StaphylococcQsarten nahe stehen. Der Versuch, durch Virulenzprüfung
die Bedeutung dieser Keime festzustellen, hat vorläufig wegen der
technischen Schwierigkeiten nicht vorgenommen werden können.
Da wir doch nicht im Stande sind, den Uebertritt von Luft-
keimen in die Luft unserer Operationssäle vollständig zu verhindern,
so müssen wir uns darauf beschränken, die Möglichkeit des Ueber-
ganges von pathogenen, speciell für unsere Wunden gefährlichen
Trockenkeimen möglichst einzuschränken. In dieser Richtung kämen
die am Fussboden, den Wänden, den Tischen und andern Geräthen
haftenden Trockenkeime in erster Linie in Betracht. Durch
die heute allgemein eingeführten Einrichtungen in aseptischen
Operationssälen (Isolirung der Räume, gründliche Reinigung der
Gegenstände u. s. w.) ist diese Infectionsquelle bei genügender
Sorgfalt wohl sicher auf Null zu reduciren. Nur schwer lässt sich .
dagegen die Schwängerung der Luft mit Keimen verhindern, die
durch die anwesenden Personen eingeschleppt werden. Es sind
deshalb alle Maassregeln gerechtfertigt, welche die Infectionsgefahr
von dieser Seite möglichst verhindern. Neben der Einschränkung
der Zuschauerzahl kann man zweifellos noch dadurch wirken, dass
man den eintretenden Personen eine Art Schutzkleidung vorschreibt.
Ich habe in meiner Klinik die Einrichtung getroffen, dass die den
aseptischen Operationssaal betretenden Aerzte und Studirenden —
dieselben werden nur in beschränkter Zahl zugelassen — sterilisirte
bis über die Kniee reichende Leinenröckc anziehen; ausserdem
muss jede den Operationssaal betretende Person Gummischuhe an-
ziehen, die in grösserer Zahl auf einer mit Sublimatlösung durch-
tränkten Filzplatte bereit stehen. Dadurch soll die Möglichkeit
aufgehoben werden, dass die betreffenden Personen aus anderen, in-
ficirten Räumen (z. B. Studirende aus dem pathologischen Institut)
infectiöses Material mit den Füssen hereinschleppen und verstäuben.
Welche enorme Mengen von Schmutz gerade mit den Füssen in
den Operationssaal geschleppt werden können, davon kann man
sich überzeugen, wenn man die deutlich sichtbaren Fusstapfen be-
trachtet, die ein von aussen Eintretender auf den angefeuchteten
weissen Fliessen des Operationssaales zurücklässt.
Eine ungleich grössere Bedeutung hat die Verschleppung von
Bakterien in Form feinster Tröpfchen durch die Luft. Wie schon
Die neuesten Bestrebungen, d. asept. Wundbehandlg. zu vervollkommnen. 255
erwähnt, hat Flügge auf diese Art der Uebertragung von Krank-
heitskeinoen vor kurzem erst aufmerksam gemacht. Wenn wir die
Plügge'schen Untersuchungen für unsere Verhältnisse, verwerthen,
so kommen beim aseptischen Operiren fast nur jene Bakterien in
Betracht, die dem Mund und den Respirationsorganen des Opera-
teurs, seiner Assistenten, des Kranken selbst und seiner weiteren
Umgebung entstammen. Die Expirationsluft ist, wie wir seit den
Untersuchungen von Tyndall wissen, keimfrei. Das gilt aber nur
beim ruhigen Athraen; schon beim ruhigen, viel mehr aber bei
lautem Sprechen, und in erhöhtem Maasse beim Räuspern und
Husten werden grössere oder kleinere Flüssigkeitspartikelchen
nach aussen geworfen, und können, wie Flügge nachgewiesen
hat, auf grosse Distanzen verschleppt werden. Dass beim
Niesen selbst grössere Schleimmassen ausgeworfen werden,
ist ja allgemein bekannt. Am meisten gefährdet ist selbstverständ-
lich das unmittelbar vor dem Sprechenden oder Hustenden be-
findliche Terrain, also ungefähr in der Entfernung, in der das
Operationsfeld vom Operateur und seinen Assistenten sich befindet.
Spielt sich in der Mundhöhle des Betreffenden ein pathologischer
Process ab, bei dem Bakterien an die Oberfläche gelangen, so
kann das Auswerfen derselben schon bei ruhigem Sprechen in un-
geahnter Zahl vor sich gehen. Versuche an Lepra-Kranken in der
Neisser'schen Klinik in Breslau haben u. a. ergeben, dass
bei 10 Minuten langem Zählen 88170 Leprabacillen auf die vor-
liegenden Objectträger ausgeschleudert wurden.
Es muss somit a priori zugegeben werden, dass von der
Mund-Rachenhöhle des Operateurs und seiner Assistenten die Wunde
inficirt werden kann. Wenn man bedenkt, dass manche, besonders
lebhafte Operateure die Gewohnheit haben, während der Operation
zu sprechen, dass manche es nicht unterdrücken können, sich zu
räuspern oder gelegentlich auch zu husten, so wird man diese
Gefahr nicht unterschätzen dürfen. Die beste prophylaktische
Maassregel in dieser Richtung ist zweifellos, bei der Operation
möglichst wenig zu sprechen. Dies war schon lange vor den
Flügge'schen Untersuchungen auch meine Gewohnheit. Wir sind
darauf eingerichtet, uns fast ausschliesslich durch stumme Zeichen
während der Operation zu verständigen. Aber schliesslich muss
256 Dr. J. Mikulicz,
doch gelegentlich ein Wort gesprochen werden. Bei kurz dauernden
Operationen wird die damit verbundene Infectionsgefahr allerdings
ausserordentlich gering sein; sie kann füglich vernachlässigt werden.
Bei länger dauernden Operationen summiren sich aber die Schädlich-
keiten, und gewinnen dann zweifellos eine praktische Bedeutung.
Durch die bekannten Untersuchungen von Miller^) ist festgestellt,
dass in der Mundhöhle des Gesunden neben zahlreichen Saprophyten
sich auch eine Reihe von pathogenen Bakterien finden. Es ist
aber die Virulenz dieser Bakterien nicht festgestellt worden, so
dass für unsere Frage die Mille raschen Untersuchungen noch einer
Ergänzung bedurften. In dieser Richtung hat im Flügge'schcn
Laboratorium Herr Dr. Mieczkowski eine Reihe von Unter-
suchungen angestellt, deren Resultat ich Ihnen kurz mittheilen
will. Es wurden die Mundhöhlen von 48 gesunden Personen unter-
sucht, und zwar nur auf die uns interessirenden Bakterien, Staphylo-
coccus aureus, Streptococcus longus und brevis. 22 mal wurde
Staph. aur., 29 mal Strept. long, und 4 mal Strept. brev. gefunden.
Die Virulenz versuche ergaben beim Staph. aur. in 9 von 13 unter-
suchten Fällen ein positives Resultat, d, h., auf die gesammte
Zahl der Untersuchungen berechnet, ungefähr in ^/g der gesunden
Mundhöhlen virulenter Staph. pyog. aur. Viel geringere Bedeutung
hat bei gesunden Personen offenbar der Streptococcus. Bei
17 Virulenz versuchen fiel nur 1 positiv, 16 negativ aus. Von
Bedeutung ist es aber, dass es bei 3 der avirulenten Streptococcen
dieser Herkunft gelungen ist, bei bestimmter A'ersuchsanordnung
im Thierkörper eine Virulenz hervorzurufen. Eine Ergänzung zu
diesen Untersuchungen bildeten andere, bei denen die Mundbakterien
bei gutartigen Anginen untersucht wurden. Es fanden sich hier
bei 40 Untersuchungen 30 mal Strept. long., 1 mal Strept. brev.,
17 mal Staph. aur. Von 10 untersuchten Staphylococcen er-
wiesen sich 8 als virulent, von 11 untersuchten Streptococcen
waren 4 hochgradig virulent, 3 massig virulent, und nur 4
avirulent. Es geht daraus hervor, dass die Virulenz der
Mundbakterien sich bei localen Erkrankungen ausserordentlich
steigert, und dass unter diesen Umständen die Gefahr der
Verbreitung von Wundbakterien durch die Mundhöhle wesent-
^) Die Mikroorganismen der Mundhöhle. Leipzig 1889.
Die neuesten Bestrebungen, d. asept. Wundbehandlg. zu vervollkommnen. 257
lieh erhöht wird. Es ist wahrscheinlich, dass diese Virulenz auch
längere Zeit nach Ablauf der localen Erkrankung anhält^).
Aus diesen Untersuchungen geht zur Genüge hervor, dass
die Mundhöhle gesunder Menschen relativ häufig virulente Wund-
bakterien beherbergt und dass diese schon beim einfachen Sprechen
auf ihre Umgebung ausgeschleudert werden können. Eine Schutz-
massregel dagegen ist demnach geboten. Man könnte daran denken,
die Mundhöhle vor der Operation durch Ausspülungen möglichst
zu reinigen. Versuche in dieser Richtung wären noch anzustellen 2).
Wer aber weiss, wie wenig erfolgreich Desinfectionsmittel bei der
Reinigung von Schleimhäuten sind, wird sich von Mundspülungen
von vornherein wenig Erfolg versprechen. Ich habe deshalb schon
vor einem Jahre in meiner Klinik eine Art von Mundbinde ein-
gefülirt, welche Mund- und Nasenhöhle und eventuell gleichzeitig
den Bart umschliesst. Herr Dr. Hü bener hat dann eingehend die
Frage studirt und sich bemüht, herauszufinden, in welcher Weise
man in zweckmässiger und doch nicht allzu lästiger Weise die aus
dem Munde ausgeworfenen Bakterien aufhalten könne. Es hat
sich dabei herausgestellt, dass eine einfache Mundbinde nicht ge-
nügt; erst eine doppelte Lage von sterilisirter Gaze ist im Stande,
fast alle Tröpfchen, die beim Sprechen aus dem Munde geschleu-
dert werden, aufzuhalten. Da eine doppelte Gazelage über das
halbe Gesicht gebunden zu unbequem ist und zu warm macht, so
hat Herr Dr. Hüben er eine Art Maske construirt, die die Nasen-
und Mundöflfnung so weit umschliesst, dass beim gewöhnlichen
Sprechen in der Regel alle ausgeworfenen Flüssigkeitstheilchen auf-
gefangen werden. Die Versuche wurden so angestellt, dass zu-
nächst der Mund mit einer Aufschwemmung von Prodigiosusculturen
ausgespült und dann 10 Minuten lang^) gezählt wurde, während
vor dem Sprechenden 4 Agarplatten aufgestellt waren.
^) Nach Untersuchungen von Hugenschmidt (Annales de l'Institut
Pasteur, Vol. X, 10) wirkt der Speichel nicht bactericid. Es ist indessen
nach den oben angeführten Untersuchungen von Mieczkowski wahrscheinlich,
dass viele Bacterien in normalem Speichel wenigstens zum Theil ihre Virulenz
einbüssen.
2) Manche Operateure pflegen vor der Operation ihren Mund mit milden
Äntisepticis oder mit Alkohol, resp. Cognac, auszuspülen.
3) Ein 10 Minuten langes Sprechen giebt selbstverständlich nicht dieselben
Verhältnisse, wie sie bei einer etwa 10 Miauten lang dauernden Operation be-
stehen. Wenn man aber die bei einer 1 bis Vj^ Stunden dauernden schwie-
258
Dr. J. Mikulicz,
Schlecht Gut Gut
sitzende Schleier.
Hübener'sch
e Maske.
Hges
seo.
Sprechversuche, d. h. Zählen 10 Minuten lang.
3— 4 mal.
Husten.
Ima
Nie
Bezeichnung der
Versuchsperson.
H
H
H
H
H
H
M
S
G
H
H
H
U
H
H
Ohne
119
119
581
362
679
233
1507
389
101
423
527
265
223
CO
00
Mit einfach
liegendem Mull
27
3
17
20
42
10
686
156
74! 14
24
180
vacat
Mit doppelt
liegendem Mull
24
0
1
0
0
1
72
10
1
2
0
0
0
0
506
325
Con trollen
vac£
it
00
00
00
oo
00
00
00
CO
00
00
00
00
00
Die Ziffern bedeuten die Gesammtzahl der Prodigiosuscolonien auf 4 Agarplatten.
CO = Unzählbar.
Aus beiliegender Tabelle können Sie, m. H., die Wirksamkeit
der Hüben er' sehen Maske in einfacher und doppelter Mulllage
ersehen. Aus den Versuchen ergiebt sich, dass diese Maske
mit do])pelter Mullage bei der grossen Mehrzahl der Personen^)
bei ruhigem Sprechen einen absoluten Schutz gewährt. Beim
Husten und Räuspern ist der Schutz kein absoluter, aber gerade
hier wird es von Werth sein, dass, wenn dem Operateur oder einem
Assistenten unversehens eine derartige Bewegung passitt, doch nur
ein kleiner Bruchtheil der ausgeworfenen Menge nach aussen ge-
langen kann. Beim Niesen schützt auch diese Maske relativ wenig.
Wir operiren mit dieser Maske schon seit Y2 Jahre und haben
rigen Operation gesprochenen Worte summirt, so kommt leicht eine noch
grössere Wörterzahl heraus, als bei diesen Versuchen, und gerade bei den lang
dauernden schwierigen Operationen bedürfen wir ungleich mehr als bei den
glatten, kurz dauernden, der Keimfreiheit; denn hier ist die Gefahr der In-
fection ungleich grösser, die Folgen derselben ungleich verhängnissvoller.
^) Eine Ausnahme hat bei den Versuchen nur ein junger Kollege gemacht,
der sich durch eine stark gutturale Sprache auszeichnete. Er hatte überdies
bei dem Versuch einen so argen Ekel vor der Prodigiosus-Gultur, dass ihm,
wie er nachträglich gestand, der Speichel im Munde zusammenflos?, den er
aber selbstverständlich nicht verschluckte, sondern beim Sprechen successive
ausspritzte. So ist die grosse Zahl der trotzdem durchgetretenen Keime zu
verstehen. Der ganze Versuch kann deshalb auch nicht gegen die Wirksamkeit
der Hübener'sclien Maske sprechen.
Die neuesten Bestrebungen, d. asept. Wundbehandlg. zu vervollkommnen. 259
uns so daran gewöhnt, dass wir davon keine Belästigung ver-
spüren i).
Während auf diese Weise, wie ich glaube, die Frage der Luft-
infection für die Wundbehandlung in annähernd befriedigender
Weise für die Praxis gelöst ist, steht die Sache ungleich schwieriger
bei dem Versuche, die Haut sowohl an unsern Händen als auch
in der Umgebung des Operationsfeldes keimfrei zu machen.
Ich kann die zahlreichen Arbeiten, die von den verschie-
densten Seiten angestellt wurden, als bekannt voraussetzen.
Neben den älteren Untersuchungen von Forster, Kümmell,
Fürbringer interessiren uns besonders die neuesten Arbeiten von
Krönig, Lauenstein, Lockwood und Samter. In meiner
Klinik hat sich mit der Frage der Desinfection der Haut sowohl
des Operationsfeldes als auch der Hände des Operateurs und seiner
Gehülfen seit fast 2 Jahren Herr Dr. Gottstein sehr eingehend
beschäftigt. Von der Desinfection der Hände wollen wir zunächst
absehen, und uns jetzt ausschliesslich mit der Frage beschäftigen:
wie weit kann die Haut des Operationsfeldes keimfrei ge-
macht werden? Die Untersuchungen sind hier dadurch erleichtert,
dass wir Stückchen der zur Operation regelrecht desinficirten Haut
cxcidiren und nun nach den verschiedensten Methoden bis in die
tiefsten Hautschichten bacteriologisch untersuchen können. Lauen-
stein hat seine Untersuchungen in der Weise angestellt, dass er
kleine Hautstückchen excidirte und dieselben auf den Nährboden
übertrug. Die Untersuchungsmethode Samter 's war mit kleinen
Abänderungen ebenfalls so, dass erbsehgrosse Hautstückchen auf
den Nährboden gebracht wurden. Nur in einigen Versuchen nahm er
auch ein vorsichtiges Zerkleinern der Hautstückchen in kleinste
Partikelchen vor. Nach Samt er 's Untersuchungen hat diese Methode
0 Operateure und Assistenten mit längerem Bart können selbstverständ-
lich durch diesen Keime — wohl meist in Trockenform — auf die Wunde
übertragen. Dasa die Barthaare pathogene Keime enthalten können, die schon
durch leichte Bewegungen herabfallen können» hat früher schon Garre und
neuerdings Dr. Hübener in meiner Klinik nachgewiesen. Ich habe deshalb
früher bei Operationen einfache Bartbinden gebraucht, wie ich sie vor mehreren
Jahren bei Herrn Prof. Bardenheuer in Köln gesehen hatte. Neuerdings
combiniren wir die Hübener'sche Maske mit einer ähnlichen Bartbinde. Ueber
das Nähere wird Herr Dr. Hübener s. Z. berichten.
ArehiT fttr klin. Chirurgie. 67. Bd. Heft 2. ]3
260 Dr. .1. Mikulicz,
die Resultate nicht im geringsten verändert. Nebenbei brachte
Samter auch erbsengrosse Hautstückchen in Bouillon. In meiner
Klinik sind von Herrn Dr. Gottstein die Versuche in der
Weise angestellt worden, dass die Haut durch sterile Messer in
feinste Partikelchen zerschabt wurde; es war dazu nothwendig,
Hautstückchen von mindestens 1 — 3 qcm Grösse zu entnehmen.
Die Schabung wurde in 3 Schichten mit 3 verschiedenen sterilen
Messern ausgeführt; es wurde eine oberflächliche, eine mittlere
und eine tiefe Schicht unterschieden. Es konnte nicht davon
die Rede sein, bei dieser Untersuchungsmethode genau die
einzelnen Schichten von einander zu trennen, da es nicht
absolut zu vermeiden war, dass bei der Schabung der höher
oben gelegenen Schicht auch Partikelchen in die tieferen
Schichten hineingedrückt wurden oder vom Rande übrig blieben;
aber man konnte durch diese Methode oinigermaassen wenigstens
die in den tiefem Schichten gelegene Bacterien von den ober-
flächlichen sondern. Zum Vergleich mit diesen Untersuchungen
wurde die Untersuchungsmethode von Lauenstein und die zweite
Methode von Samter bei einer grossen Anzahl .der Fälle aus-
geführt. Nach der Schabungsmethode wurden 112 Fälle, mehr
als die Hälfte der Fälle ausserdem auch nach der Lauenstcin-
schcn und Samter'schen Methode untersucht. Zu bemerken wäre
noch, dass, während diese Versuche im Gang waren, zur Desinfection
in der allerersten Zeit Carbolsäure und Sublimat^), in der folgenden
Alcohol (90 pCt.) und Sublimat angewandt wurden 2). Femer muss
ich hervorheben, dass die Resultate der Hautdesinfection sich im
Laufe dieser Untersuchungen bedeutend verbessert haben; denn
wir haben erst durch dieselben gelernt, in welcher Weise und wie
weit wir die Desinfection vervollkommnen können.
Die Untersuchungen ergaben in Uebereinstimmung mit jenen
von Lauenstein und Samter, dass nur in der Minderzahl der
Fälle die Haut wirklich steril war^). Es fanden sich 78 mal
0 Vergl. F. Boll, Desinfection der Hände. Deutsche Med, Wochenschr.
1890. No. 17.
2) Seit mehr als einem Vierteljahr verwende ich Alcohol (70 — 80 procent.)
und Lysol (1 procent.).
8) Nach den Laucnstein'schen Untersuchungen fand sich die Haut in
ca. 43pCt. der Fälle keimfrei, nach den Untersuchungen von Samter und
Lockwood nur in ca. Va der Fälle. Die Untersuchungen von Gottstein
ergaben nur in Vö der Fälle völlige Keimfreiheit.
Die neuesten Bestrebungen, d. asept. WundbehandJg. zu vervollkommnen. 261
(unter 79 nicht sterilen .Hautstückchen) Staphylococcus albus,
lOmal Staph. aureus, 5mal Streptococcus, Imal Pyocyaneus u. s. w.
In einer Anzahl von Fällen (15) wurdön die in den excidirten
Hautstückchen gefundenen Staph. albi auf ihre Pyo^enität im
Breslauer hygienischen Institut durch Herrn Stabsarzt Dr. Bischoff
untersucht, der darüber in einer demnächst in der Zeitschrift für
Hygiene erscheinenden Arbeit berichten wird. Diese Untersuchungen
haben ergeben, dass die in der Haut nisteüden Staph. albi in
ca. 75 pCt. der Fälle pyogen waren (in 11 Fällen).
Wenn wir die verschiedenen, bei den Gottstein'schen Unter-
suchungen angewandten Methoden mit einander vergleichen, so
finden wir, dass bei der Schabungsmethode Sterilität erreicht
wurde in 16 Fällen, bei der Methode von Lauenstein in 34, bei
der Samtor'schcn in 28 Fällen, dass also am öftesten Sterilität
beobachtet wurde nach der Lauenstein'schen Methode, mehr
als doppelt so oft als nach der Schabungsmethode. Es ist sehr
wahrscheinlich, dass letztere uns den Keimgchalt der Haut viel
genauer angiebt, als die Lauenstein'sche und auch die Samter-
schc. Natürlich erfordert die Schabung mehr Zeit als das blosse
Einbringen von grösseren Partikelchen in Agarschalcn^). Während
nun die früheren Untersuchungen sich darauf beschränkten, festzu-
stellen, dass überhaupt Keime in der Haut vorhanden sind, kam
es uns besonders auf die Feststellung derjenigen Partieen der
Haut an, in welchen sich die Bacterien fanden. Die eigentliche
Cutis wurde in unseren Fällen nicht mituntersucht, nur die Epithel-
schichten. Es zeigte sich nun, dass nicht nur in den oberston
und mittleren, sondern auch in den tiefen Schichten sich Bacterien
fanden, u. z. recht oft gerade hier in grösserer Zahl als in den
oberflächlichen Schichten. Dies würde den Schluss zulassen, dass
unsere Desinfectionsmethoden resp. die Reinigungsmethode, der wir
die Haut unterziehen, ausreicht, um die Oberfläche keimfrei resp.
keimarm zu halten, dass aber eine Wirkung in die tieferen Partieen
der Haut durch unsere Desinfectionsmittel nur selten zu erreichen
ist. Ein durchgreifender Unterschied in den Desinfectionserfolgen
zwischen der Carbol-Sublimat- und Alcohol-Sublimatdesinfection
*) Um das Hineinfallen von zufälligen Keimen soweit als möglich zu ver-
meiden, wurden die Untersuchungen in einem abgeschlossenen Zimmer mit
ruhiger Luft vorgenommen.
18*
262 Dr. .1. Mikulicz
j
war nicht zu finden. Wenn wir aber die geringen Unterschiede
deuten wollen, so sprechen sie doch zu Gunsten der Alcohol-
Sublimatdesinfcction. Während nämlich bei ersterer die tiefere
Schicht in 59 pCt. inficirt blieb, erwies sie sich bei der Alcohol-
Sublimatdesinfection nur in 47 pCt. als inficirt.
Jedenfalls geht aus diesen Untersuchungen hervor, dass wir
nur in einem kleineren Bruchtheil der Fälle darauf rechnen können,
dass die Haut in der Umgebung der Wunde wirklich keimfrei ist.
Bekanntlich ist die Haut an vielen Körperstellen, namentlich in
der Damm- und Leistengegend besonders reich an Bactericn.
Glücklicher Weise droht von Seiten der umgebenden Haut der
Wunde während der Operation selbst relativ wenig Gefahr,
sobald sie nur oberflächlich möglichst keimfrei ist. Voraussetzung
ist natürlich, dass die Haut mit den besten uns heute zur Ver-
fügung stehenden Mitteln desinficirt ist; welches aber die beste
und verlässlichste Methode ist, darüber sind die Akten noch immer
nicht geschlossen. Die Alcoholdesinfection nach vorausgehender
Reinigung mit Seife und Wasser thut hier — das steht wohl heute
fest — die Hauptsache, während es zweifelhaft ist, ob noch eine
weitere vorübergehende Desinfection mit einem der bisher ge-
bräuchlichen antiseptischen Mittel die Keimarmuth steigert.
Eine directe Berührung der Haut des Operationsfeldes mit
der Wundfläche selbst ist naturgemäss fast ausgeschlossen; es
kann sich also nur um eine indirecte Uebertragung handeln,
deren Gefahr, wenn nur die Haut wenigstens oberflächlich
steril ist, nicht hoch anzuschlagen ist, wenigstens sprechen
alle practischen Erfahrungen dafür. Immerhin wird man aber
diese Gefahr nicht ganz ausser Acht lassen dürfen. Ver-
suchen, aus diesem Grunde die Haut des Operationsfeldes mit
einem undurchlässigen aseptischen Stoff zu bedecken, der während
der ganzem Operation die Haut bekleidet, ist daher nicht alle Be-
rechtigung abzustreiten. Kuhn hat vor kurzem einen derartigen
aus Seidenpapier hergestellten Stoflf, Protectin genannt, empfohlen.
Die in meiner Klinik damit gemachten Versuche haben jedoch
nicht befriedigt. Das Protectin ist zu leicht zerreisslich und haftet
doch nicht genügend fest auf der Haut.
Besonders wünschenswerth wäre ein derartiger Deckstofif in
Fällen, in welchen die Haut im Operationsgebiete durch Acne,
;'
Die neuesten Bestrebungen, d. asept. Wundbehandlg. zu vervollkommnen. 263
Eczerae oder gar durch Pusteln verunreinigt und somit mit meist
hochvirulenten Bacterien besiedelt ist. Man wird in solchen Fällen
eine aseptische Operation am besten aufschieben, bis die Haut
wieder ihre normale Beschafifenheit angenommen hat. Ist man aber
doch genöthigt, eine unaufschiebliche Operation auszuführen, so
gehe ich in solchen Fällen so vor, dass zunächst nur die Haut
und das ünterhautfettgewebe durchtrennt wird; dann wird eine ge-
lochte Compresse mit langen scharf gezähnten Klemmzangen derart
an die Wundränder (ohne dass jedoch die Haut gefasst wird)
befestigt, dass durch das Loch der Compresse nur die Wunde
selbst zum Vorschein kommt, die Haut jedoch vollständig bedeckt
bleibt. Die Compresse ist natürlich nicht undurchlässig; sie giebt
nur einen relativen Schutz; es wäre deshalb zu wünschen, für
solche Zwecke einen ganz undurchlässigen, aber doch schmiegsamen
und leicht sterilisirbaren Stoff zu besitzen.^)
Wenn nun auch eine nicht völlig keimfreie, aber sonst doch normale
Haut während der Operation selbst nur geringe Infectionsgefahr der
Wunde bringt, so kann sie doch während der Wundheilung als
Infectionsquelle wirken und zwar überall da, wo eine offene Com-
munication der Wunde mit der Haut besteht, vor Allem an den
Stichcanälen. Viele der Stichcanaleiterungen sind so zu erklären,
dass die in der Tiefe der Epidermis verborgenen Bacterien all-
mälig in den Stichcanal eindringen und ihn inficiren. Bei tief-
greifenden Nähten kann die Eiterung auf diesem Wege bis in die
eigentliche Wundhöhle fortschreiten. Je fester die Nähte zusammen-
gezogen, je stärker das Gewebe gequetscht wird, je mehr davon
zu Grunde geht, desto günstiger werden die Wachsthumsbedingungen
für die betreffenden Bacterien sein. Es folgt daraus, dass die
Gefahr der Stichcanaleiterungen um so geringer sein wird, je feiner
die Stichcanäle, je weniger gespannt die Nähte sind. Ich lege
deshalb schon seit längerer Zeit dort, wo eine stärkere Spannung
zu überwinden ist, z. B. bei der Vereinigung der Bauchdecken,
versenkte Nähte bis ans ünterhautfettgewebe an. Darüber kommt
dann eine ganz feine, möglichst lose, aber doch sehr cxact
schliessende fortlaufende Seidennaht.
Während des abgelaufenen Jahres wurden von Herrn Dr. Gott-
*) In der letzten Zeit habe ich zu diesem Zweck den sog. Mosetigbattist
verwendet, der sich durch Kochen sicher sterilisiren lässt und undurchlässig ist.
264 Dr. .1. Mikulicz,
stein in einer grösseren Zahl von Fällen die beim ersten Verband-
wechsel entfernten Hautnähte auf ihren Keimgehalt untersucht,
ebenso das im Stichcanal etwa vorhandene Secret. Selbstver-
ständlich handelte es sich nur um von Hause aus aseptische Ope-
rationswunden. Der Verbandwechsel wurde zwischen dem 4. und
11. Tage vorgenommen: nur in einzelnen Fällen (Osteotomien,
Gelenkresectionen) blieb der Verband unberührt bis zu 3 Wochen
liegen^).
Die bacteriologische Untersuchung der Nähte hat nun ergeben,
dass sich unter 93 untersuchten Fällen nur 13 vorfanden, in denen
alle Nähte, die zur Untersuchung verimpft wurden, vollständig steril
waren. In allen anderen 80 Fällen fand sich stets Staph. albus
vor, bald nur an einem der untersuchten Fäden, bald an mehreren,
bald an allen. In 14 von den 80 Fällen war albus mit aureus
combinirt.
Stichcanaleiterung wurde dabei trotzdem nur 12 Mal constatirt,
helle klare Secret-Tröpfchen in 20 Fällen. Das Auffallende ist nun,
dass sowohl die Eitertröpfchen, als auch das helle klare Secret nicht
immer durch albus oder aureus inficirt war; in einer Anzahl von Fällen
erwies es sich als steril. Noch merkwürdiger ist, dass in sechs
Fällen sich aureus vorfand, obw^ohl die tadelloseste Prima intentio
und Aveder Stichcanaleiterung noch Stichcanalröthung vorlag. Die
Prüfung auf Pyogenität des Staph. albus, die durch Herrn Stabs-
arzt Dr. Bisch off im hygienischen Institut vorgenommen wurde,
hat den Staph. albus bis auf einen Fall unter 16 als pyogen er-
wiesen. Bemerkt sei noch, dass wir Gelegenheit hatten, einen
sicheren Fall von schwerer Infection, vcnirsacht durch Staph. albus,
zu beobachten.
Die Gefahr der Secundärinfection durch die Haut steigert sich
zweifellos, w^nn die Wundhöhle längere Zeit, mehrere Tage, drainirt
ist; namentlich in bacterienreichen Gegenden, in der Nahe der
KörperöfFnungcn, kann von hier aus die ursprünglich keimfreie
0 Es sei besonders hervorgehoben, dass Secretion im Stichkanal und
Secretion in der eigentlichen Wunde durchaus nicht immer nebeneinander
cinhergingen. Da es uns daran lag, bei Störungen der Wundheilung, und sei
es auch bei einfacher Stichkanalröthung, die Art der vorhandenen Bacterien zu
eruiren, so wurden diese Fälle viel regelmässiger untersucht, während bei reac-
tionsloser Heilung die Untersuchung namentlich in der ersten Zeit unterlassen
wurde. Dadurch erklärt es sich wohl zum Theil, dass in der grösseren Zahl
der Fälle der Befund ein positiver war.
Die neuesten Bestrebungen, d. asept. Wundbehandl^i:. zu vervollkommnen. 265
Wunde inficirt werden. Gegen diese Art von Socundärinfection
giebt es nur ein sicheres Mittel : von der Drainirung ganz abzusehen
und die Wunde in toto möglichst exact zu verschliessen. Selbst-
verständlich ist das nur zulässig, wenn man ganz sicher ist, dass in
der Wunde keine keimfähigen virulenten Bacterien zurückgeblieben
sind. Ich unterlasse schon seit längerer Zeit principiell bei jeder
aseptischen Wunde mit wenigen Ausnahmen jede Art von Drainage
und Secretableitung; davon soll noch später die Rede sein.
Können wir nun nicht doch etwas unteniehmen, um die trotz
der genannten Vorsichtsmassregeln bestehende geringe Infections-
gefahr noch weiter zu verringern oder ganz zu beseitigen? Es ist
klar, dass wir hier mit. dem Princip der sogenannten Aseptik, d. h.
mit der Anwendung von sicher wirkenden Sterilisirungsmassregeln,
nicht weiter kommen; wir müssen auf entwicklungshemmende
Mittel im Sinne der Antiseptik zurückgreifen. Vor allem- ist
es wunschenswerth , dass der Stichkanal mit einer entwicklungs-
hemmenden Substanz versehen wird. Wir imprägniren zu diesem
Zweck schon seit längerer Zeit die Nahtfäden mit Jodoform. Eine
zweite Massregel, die wir in der letzten Zeit konsequent durch-
führen, ist die, dass wir unmittelbar vor der Operation die Haut
in der nächsten Umgebung des Schnittes ganz oberflächlich mit
Jodtinctur bestreichen, eine Massregel, die wir in ausgedehntem
Maasse ausserdem zur Desinfection unserer Fingerspitzen gebrauchen.
Es ist möglich, dass das angewendete Jod, das bekanntlich zu den
kräftigsten Desinfectionsmitteln gehört, auch eine gewisse bactcrien-
tödtende Kraft bis in die tieferen Epidermisschichten entfaltet;
wahrscheinlich aber kommt hier mehr noch eine protrahirtc Ent-
wicklungshemmung zur Geltung. Eine dritte, nicht minder wirk-
same Maassregel ist ein fest anliegender, unverrückbarer Deckver-
baud, der namentlich in so gefährlichen Gegenden, wie es die In-
guinalgegend ist, das Eindringen von Bacterien aus der weiteren
Umgebung verhindert. Bruns hat zu diesem Zweck vor kurzem
die Airolpaste empfohlen, mit der die ganze Nahtlinie bedeckt
wird. Ich habe zuerst auch die Bruns' sehe Paste angewandt,
später aber an ihre Stelle die ungleich billigere Zinkpastc ge-
setzt, die in ähnlicher Weise wie die Bruns 'sehe Airolpaste zu-
sammengesetzt ist und genau denselben Dienst thut. Es ist
vielleicht übertrieben, diese 3 Maassregeln zu der schon voraus-
266 Dr. J. Mikulicz,
gegangenen Desinfection der Haut hinzuzufügen; sie bringen aber
nach unseren Erfahrungen keinen Schaden und sichern ein so
ideales Aussehen der Stichkanäle, wie wir es früher in dieser
Regelmässigkeit nicht erlebt haben. Selbst nach den grössten
Operationen resultirt eine feine lineare Narbe nait kaum sichtbaren
Stichkanälen.
Ungleich schwieriger ist das Problem der Desinfection imserer
Hände zu lösen. Dasselbe hat eine um so grössere Bedeutung,
als die Berührung unserer Finger mit der Operationswunde eine
directe, viel innigere ist, sodass selbst geringfügige Reste von
pathogcnen Keimen bei den energischen Manipulationen während
der Operation in die Gewebe hineingerieben werden. Dazu kommt,
dass die Hand des Chirurgen naturgcmäss allen möglichen In-
fectionen ausgesetzt ist. Es handelt sich hier somit nicht nur um
die zum Tbeil harmlosen Epiphyten der Haut, wie sie meist das
Operationsfeld verunreinigen, sondern um oft hochvirulente Wund-
bacterien, die zweifellos an unseren Fingern, besonders in den
Subungualräumen, einen günstigen Nährboden finden, und hier trotz
sorgfältiger Reinigung in verborgenen Nestern fortvegetiren können.
Es ist deshalb verständlich, dass gerade der Händedesinfection in
den letzten Jahren die grösste Aufmerksamkeit geschenkt wurde
und dieses Thema von den verschiedensten Seiten bearbeitet wurde.
Eine methodische Bearbeitung der Frage der Händedesinfection
datirt eigentlich erst seit den Arbeiten von Kümmell ^) und
namentlich Fürbringer^), welchem wir bekanntlich die Einführung
der Alkoholdesinfection in die chirurgische Praxis verdanken. Die
Resultate dieser Forscher, sowie der späteren hier nicht erwähnten
Arbeiten, darf ich wohl auch als bekannt voraussetzen. Ich be-
schränke mich darauf, kurz über die einschlägigen Untersuchungen
zu berichten, welche in meiner Klinik auch Herr Dr. Gottstein
angestellt hat.
1) Wie soll der Arzt seine H'ande desinficiren? Centralbl. f. Chirurgie.
1885, No. 17. — Die Bedeutung der Luft- und Gontactinfection fiir die prac-
tische Chirurgie. XIV. Chirurgen-Congrcss u. L an gen beck's Archiv, Bd. 33,
Seite 531.
2) Untersuchungen und Vorschriften über Desinfection der Hände, nebst
Bemerkungen über den bacteriologischen Character des Xagelschmutzes. Wies-
baden 1888.
Die neuesten Bestrebungen, d. asept. Wundbehandlg. zu vervollkommnen. 267
Hierbei müssen die Untersuchungen getrennt werden, die im
ersten Jahre vorgenommen wurden von den im folgenden Jahre
angestellten. Denn im Laufe der Zeit hatte sich durch die ersten
Untersuchungen die Nothwendigkeit herausgestellt, unsere Des-
infectionsmaassregeln zu verschärfen, da die Resultate zu schlechte
waren i).
Im Winter-Semester 1896/97 wurde die Desinfection so aus-
geführt, dass zunächst Waschung Init Wasser und Seife mittelst Holz-
faserbündel ca. 3—5 Minuten, Desinfection mit Alkohol 1—2 Minuten
und dann W^aschung mit 1 prom. Sublimatlösung ca. 2—3 Minuten
ausgeführt wurde. In der späteren Zeit wurde die Desinfection in-
sofern verbessert, als die Waschung mit Wasser und Seife be-
deutend verlängert und besonderer Werth auf eine häufige Wech-
selung des Holzfaserbündels gelegt wurde, von dem Gedanken
ausgehend, dass man ja sonst die von der Hand durch das
Holzfaserbündel abzuwaschenden Bacterien immer wieder von
neuem durch dasselbe in die Hand hineinreibe, dass dies aber
durch einen häufigen Wechsel des Tupfers vermieden werden kann.
Auch wurde bei der Waschung mit Seife später neben dem Holz-
faserbündel auch noch die sterile Bürste verwendet. Seit 1 Jahre
stehen eine so grosse Zahl von in Dampf sterilisirten Bürsten zur
Verfügung, dass für jede Person und zu jeder einzelnen Procedur
der Waschung eine neue Bürste verwendet wird 2).
0 Die folgenden Untersuchungen beziehen sich ausschliesslich auf die von
uns ror den Operatiunen thatsächlich geübte Desinfection. Es kam mir darauf
an, nicht allein durch die bacteriologischen Untersuchungen, sondern ebenso
durch die Erfolge der Wundheilung zu controlliren, wie weit das geübte Ver-
fahren dem praktischen Bedürfniss entsprach. Der ganze Eeinigungs- und Des-
infectionsprocess der Hände nahm entsprechend der andererwärts geübten Praxis
im Durchschnitt ca. 10 — 12 Minuten, selten mehr in Anspruch. Dies muss Den-
jenigen gegenüber hervorgehoben werden, die ad hoc das Desinfectionsverfahren
noch viel intensiver gestalteten und bis auf V2 Stunde und darüber ausdehnten.
Dass dadurch abweichende Resultate erzielt werden können, ist leicht möglich ;
es hat aber, glaube ich, wenig Werth, ein Verfahren in einer Form zu prüfen,
die sich in der Praxis kaum durchführen lasst.
2) Der Gang der mechanischen Reinigung ist somit folgender: Erstens:
Waschung mit Seife und fliessendem, heissem Wasser, mittels steriler Holzfaser-
bündcl. Zweitens: mechanische Reinigung der Subuugualraume mit sterilisirtcm
und in 5 pCt. Carbolsäure aufbewahrten Nagelreiniger resp. Nagelschcere.
Drittens: abermalige Reinigung mit fliessendem, heissen Wasser und Seife
mittels sterilisirter Bürste. Viertens: Reinigung mit Alkohol (in der jüngsten
Zeit 70 proc.) mittels neuer sterilisirter Bürste. Fünftens: Reinigung mit einem
Desinfectionsmittel (früher 1 pro MiUc Sublimat, in der letzten Zeit 1 pCt. Lysol;
eine Zeit lang wurde auch 2V» proc. SolveoUösung gebraucht.) Sowohl der
268 Dr. J. Mikulicz,
Es wurden bei den ersten Untersuchungen im Winter-Semester
1896/97 im ganzen 72 Untersuchungen angestellt, wobei sich fast
2/3 aller Hände als inficirt erwiesen. (Eine Untersuchung bezieht
sich immer auf beide Hände.) In der Hälfte der inficirten
Fälle war die Zahl der gefundenen Keime eine ausserordentlich
grosse. Was die Ausführung der Untersuchungen anbetrifft, so
wurden in einem Theil, nämlich 28 pCt. der Fälle, das Sublimat
durch Schwefelammonium ausgefällt. Es zeigte sich aber, dass es
ziemlich gleichgültig ist, ob man das Sublimat durch Schwefel-
ammonium ausfällt oder nicht; für unsere practischen Unter-
suchungen wenigstens war es von geringer Bedeutung, da die Zahl
der auf die Schalen übertragenen Keime ungefähr dieselbe blieb,
gleichgültig, ob man das Sublimat ausfällte oder nicht.
Was nun die Desinfectionsfähigkeit der einzelnen Opera-
teure und Assistenten betrifft, so zeigte sich bald, dass hierbei
grosse Unterschiede vorhanden sind, dass es Hände giebt, die sich
ausserordentlich schwer desinficiren lassen, während wieder andere
nach verhältnissmässig kurzer Zeit keimfrei resp. keimarm gemacht
werden konnten. Es war von besonderem Interesse, die einzelnen Herren'
nach ihrer speciellen Beschäftigung in der Klinik zu scheiden. Es
war nicht gleichgültig, ob ein Assistent oder Operateur nur mit
aseptischen oder nur mit septischen oder mit aseptischen und
septischen Wunden durch einander zu thun hatte. Es mögen nur
die Gegensätze herausgenommen werden. Derjenige Opdrateur, der
sowohl zahlreiche aseptische wie septische Operationen durch ein-
ander ausgeführt hatte, zeigte sich in 92 pCt. der Fälle inficirt.
Interessant war hierbei, dass niemals eine leichte Infection vorlag;
vielmehr waren in Y^ der Fälle die Hände intensiv inficirt. Ganz
besonders interessant ist, dass hiervon in fast der Hälfte der
Untersuchungen die Hände mit Staphylococcus aureus inficirt
waren. Den Gegensatz dazu bildet der Operationsdiener, der mit
septischen Operationen nichts zu thun hat und überhaupt mit
Alkohol als auch das Antiseptikum werden nach einmaliger Benutzung aus-
geleert, so dass die betreffende Flüssigkeit nie zweimal zur Benutzung kommt.
Der benutzte Alkohol wird durch eine von Dr. Hcnlc angegebene Vorrichtung
gesammelt und vom Apotheker überdcstillirt. Sechstens: Seit Ende Januar
werden die Fingerspitzen in Jodtinctur getaucht und darauf sofort in Lysol
abgespült.
Die neuesten Bestrebunß:en, d. asept. Wundbehandlg. zu vervollkommnen. 269
keinen Kranken in directe Berührung kommen darf. Er ist nur
beschäftigt beim Zureichen der Instrumente bei aseptischen Opera-
tionen und leicht infectiösen Fällen, z. B. Magen- und Darm-
operationen. Er erwies sich nur in Yg der Fälle als inficirt und
hiervon in Y5 ganz leicht, und auch im letzten Fünftel niemals
intensiv, niemals durch Staphylococcus aureus. Von grossem
Interesse ist auch, dass einer der Assistenten, der Leiter einer
septischen Station, sich zwar in Folge der Beschaffenheit seiner
Hände verhältnissmässig leicht seine Hände keimfrei resp. keimarm
erhalten konnte; er war nur in Yg der Fälle inficirt. War es ihm
aber nicht gelungen, seine Hände zu desinficiren, so fand sich
stets Staphylococcus aureus.
Eine wesentliche Ergänzung erfahren die angeführten Beob-
achtungen durch systematische Untersuchungen, welche an be-
handschuhten und unbehandschuhten Händen im Laufe
des letzten Jahres vorgenommen wurden. Diese Untersuchungen
geben gleichzeitig Aufschluss darüber, wie weit die von mir
empfohlenen Zwirnhandschuhe die Keimarmuth der Hand während
der Operation steigern.
Theoretische Vorversuche ergaben für uns von vom herein,
dass die Handschuhe, so lange sie trocken sind, Keime nur durch-
lassen, wenn eine enorm starke Infection der Hände vorher statt-
gefunden hatte und auch dann nur in den seltensten Fällen. In
dem Augenblick aber, wo Flüssigkeit an die Handschuhe gebracht
wurde, traten die Bacterien mit ausserordentlicher Leichtigkeit
durch dieselben hindurch. Quantitative Untersuchungen, ob die
Zahl der Keime an den Handschuhen geringer ist als an den blossen
Fingern, sind nicht angestellt worden. Jedenfalls war auch an
den Handschuhen die Zahl der Keime eine enorm grosse, so dass
bei der groben Art unserer Untersuchungsmethode ein nachweis-
barer Unterschied nicht gesehen werden konnte.
Die Untersuchungen wurden so angestellt, dass die blossen
resp. behandschuhten Finger in ca. l'cm hohe Agarschalcn so
tief als möglich eingetaucht wurden, und zwar so, dass besonders
der Untemagelraum und der Nagelfalz sich im Agar abdrückte;
von genaueren Untersuchungen jedes einzelnen Fingers in Bouillon
und Aussäung in Platten wurde wegen derUmständlichkeit der Methode
270 Dr. J. Mikulicz,
Abstand genomrnen ^). Zur Infection der Finger wurden bei den theore-
tischen Versuchen Prodigiosus-Culturen benutzt. Es zeigte sich aber
bald, wie ausserordentlich schwierig theoretische Untersuchungen
nach dieser Richtung sind. Denn bat man auch die betreffenden
Assistenten ihre Desinfection nicht länger auszuführen als es im
Operationssaale geschieht, so liess es sich doch nicht vermeiden,
dass ein grosser Theil derselben die Zeit bedeutend verlängerte
oder durch viel energischeres Reiben die Hände so gründlich als
möglich zu desinficiren suchte. Es stellte sich auch bei der grossen
Zahl der theoretischen Untersuchungen heraus, dass der Prodigiosus
nicht das geeignete Bakterium für solche Untersuchungen ist, weil
es zu leicht gelingt, ihn von den Händen fortzuschaffen resp. durch
die Desinfectionsmittel abzutödten. Versuche mit andern, resisten-
teren Bacterien, wie mit resistentem Staphylococcus aureus und
Pyocyaneus konnten in der Klinik nicht vorgenommen werden, um
nicht bei diesen Manipulationen durch die vielleicht zurück-
bleibenden Keime die Hände dauernd zu verunreinigen. Theoretische
Untersuchungen darüber müssten von anderer Seite ausgeführt
werden. Um so werthvoller waren desshalb unsere practischen
Handschuhuntersuchungen vor und nach der Operation, nicht
minder aber auch bei dem häufigen Handschuh Wechsel während
der Operation. Zunächst wurden die Hände undesinficirt, dann
nach Waschung mit Wasser und Seife, nach der Waschung mit
Alkohol, nach der Waschung mit Sublimat (resp. Lysol oder
Solveol), nach dem Eintauchen der Fingerspitzen in Jodtinktur,
in trockenen Handschuhen und schliesslich während und am
1) Betont muss . noch werden , dass die Untersuchungen uns keine
absoluten Werthe geben können in Folge der Art und Weise, in der sie an-
gestellt werden. Denn wir haben dieselben nicht in der Weise gemacht, wie
Fürbringer, der aus dem Unternagelraum und Nagelfalz soviel als möglich
von dem noch nach der Desinfection vorhandenen Schmutz herausschabte
und dann auf IMatten ausgoss, um die einzelnen Keime genau prüfen und
isoliren zu können; zu solchen umständlichen Untersuchungen ist bei
einem grossen chirurgischen Betrieb die Zeit nicht vorhanden. Wir h«aben
uns deshalb damit begnügt, die desinficirten Finger in die Schalen ab-
zudrücken. Hierdurch gelangen natürlich nicht die gesammten Keime, die sich
an den Fingerspitzen linden, auf die Schalen, aber doch immerhin ein grosser
Theil derselben, und wenn wir auch kein absolutes Maass haben, so haben wir
doch ein relatives, genügend, um für die praktischen Verhältnisse gültige
Schlussfolgerungon zu ziehen. Es kommt bei diesen Versuchen ja nicht darauf
an, zu wissen, wieviel Keime die Finger noch in verborgenen Nischen unter
den Nägeln enthalten, sondern wieviel sie thatsächlich an die von ihnen be-
rührten Objecte abgeben.
Die neuesten Bestrebungen, d. asept. Wundbehandlg. zu vervoUkümmnen. 271
Schluss der Operation sowohl mit als auch ohne Handschuhe ge-
sondert untersucht.
Was zunächst die Untersuchung der undesinficirten Hände
betrifft, so ergab sich, wie ja zu erwarten war, dass die Hände
stets inficirt gefunden wurden, und zwar waren sie in 80 pCt. der
Fälle auf das aller intensivste inficirt mit allen möglichen Arten
von Bakterien. Nach der Waschung mit Wasser und Seife hatte
sich das Verhältniss in Betreff der Keimfreiheit nicht verändert;
es waren nach der Wasserwaschung in allen Fällen die Hände
inficirt; allein der Grad der Infection hatte sich vermindert; die
2^hl der Keime war in einem Theil der Fälle ungefähr um die
Hälfte geringer geworden. Nach der Waschung mit 96 proc.
Alcohol, welcher in einem Theil der Fälle angewandt wurde ^),
war in 78 pCt. Keimfreiheit erreicht; bei 50 proc. Alcohol da-
gegen nur in 59 pCt. Was die Schwere der Infection betrifft, so
ist dieselbe nach der Alcoholwaschung stets sehr gering, nie wurde
unmittelbar nach der Alcoholdesinfection eine sehr intensive In-
fection gefunden.
Nunmehr folgte die Untersuchung der Hände nach der
Sublimat- resp. Lysol- oder Solyeol-Desinfection. Dabei ergab
sich dass ausserordentlich merkwürdige Resultat, dass nach
der Sublimatdesinfection nur in 47 pCt. der Fälle Keimfreibeit
erreicht wurde. Da nun aber stets die Alcoholdesinfection, die,
wie erwähnt, eine Keimfreiheit von 59 — 78 pCt. erzielte, voraus-
gegangen war, so beweist dies, dass die Resultate, die wir nach
der Alcohol-Desinfection erzielt haben, nicht die wahren Werthe
angeben, da sonst die Zahl der Keime nach der Alcoholdesinfection
und nach der Sublimatdesinfection sich mindestens gleich bleiben
müssten; zu erwarten wäre es sogar, dass sie noch besser würden ;
derselbe Schluss lässt sich bei der Lysol- und Solveol-Desinfection
ziehen. Es ergiebt sich daraus, dass die Alcoholdesinfection, wie
ja schon nach Untersuchungen anderer Forscher zu erwarten war,
eine Art Gerbung der Haut erzielt, die Keime aber nicht voll-
ständig abtödtet. Sobald nun aber der Alcohol wieder von den
Fingern entfernt wird, ist auch die Möglichkeit vorhanden, dass
die Bakterien aus den tiefen Epidermisschichten wieder an die
*) Wie erwähnt, verwenden wir in letzter Zeit 70 proc. Alkohol.
272 Dr. .1. Mikulicz.
Oberfläche kommen. Die Alcoholdesinfection muss man daher bis
zu einem gewissen Grade als eine Art Scheindesinfection bezeichnen.
Trotzdem sind wir weit entfernt davon, den Alcohol auf Grund
dieser Untersuchungen etwa aus unserer Desinfectionspraxis
verbannen zu wollen, er hat als Reinigungs- und Desinfections-
raittel der Haut wohl ganz bedeutenden Werth.
Die Untersuchungen nach dem Eintauchen der Finger in Jod-
tinctur haben in 80 pCt. Keimfreiheit ergeben, und in den 20 pCt.,
wo überhaupt Keime gefunden wurden, war die Intensität der In-
fection stets nur eine ganz geringe.
In trocknen Handschuhen wurden in einigen Fällen (in
4 pCt.) ebenfalls Keime gefunden; woher diese Keime stammen,
hat sich nicht feststellen lassen. Es zeigte sich übrigens
schon bei unseren ersten Vorversuchen, dass, wenn wir die
Handschuhe mit unseren Fingern anziehen, leicht von
letzteren Keime an die äussere Fläche der Handschuhe heran-
kommen. Dies veranlasste die Einführung von Handschuhzangen,
sodass die aus dem sterilen Korbe genommenen Handschuhe, wie
dies von Dr. Gottstein bei seinem Vortrage auf der Braun-
schweiger Naturforscherversammlung auseinandergesetzt wurde, von
einer Wärterin gehalten werden und die Hände, ohne mit der
Aussenfläche der Handschuhe in Berührung zu kommen, in die-
selben hineinfahren.
Von ausserordentlicher Wichtigkeit sind die Untersuchungen
während und am Schluss der Operation mit und ohne Handschuhe.
Ich muss hier hervorheben, dass wir unsere Handschuhe während
einer Operation des öftern wechseln. Die trockenen Handschuhe
werden im Laufe der Operation mit Blut und anderen Flüssig-
keiten imbibirt. Infolge dessen werden ausserordentlich leicht
Bakterien, die von aussen z. B. der Haut des Operationsfeldes
an den Handschuh herankommen, festhaften resp. nach innen
dringen können. Aber ebenso leicht können die an der Finger-
haut befindlichen Bakterien durch den Handschuh nach aussen ge-
langen. In der That finden sich im Verlaufe der Operation in den
Handschuhen meist sehr bald Bakterien. Welchen Weg nun die
grössere Anzahl derselben nimmt, lässt sich durch diese Versuche
nicht feststellen. Die früher angeführten Versuche haben ergeben,
dass nur in etwa der Hälfte der Fälle zu Beginn der Operation die
r
Die neuesten Bestrebungen, d. asept. Wundbeliandlg. zu vervollkommnen. 273
Hände selbst (ohne Handschuhe) oberflächlich keimfrei sind. Wenn
wir aber die Art unserer Untersuchungsmethode (Eintauchen in Agar)
berücksichtigen, welche nur einen Rückschluss auf die oberflächlichen
Partien der Finger gestattet, so ist diese Schätzung sicher noch
zu hoch gegriflfen. Schon aus diesem Grunde ist es sehr wahr-
scheinlich, dass die Hauptmasse der in den Handschuhen vorge-
fundenen Bakterien von der Haut der Finger stammt, natürlich
unter der Voraussetzung, dass wir in absolut aseptischen Geweben
operiren ^).
Nun haben unsere Versuche weiterhin ergeben, dass im all-
gemeinen an den Handschuhen die Menge der Bakterien eine
geringere war als nach Abziehen der Handschuhe an der Hand.
Es ist somit anzunehmen, dass die Hauptsumme der Bakterien an
den Fingern sitzt und von dort durch die Handschuhe nach aussen
dringt. Eine Bestätigung dieser Ansicht ist wohl noch darin zu
finden, dass die Hauptsumme der an der Hand gefundenen
Bakterien im allgemeinen immer wieder die Epiphyten der
normalen Haut sind. Unsere Versuche haben ergeben, dass
der Procentgehalt der inficirten Hände während der Operation
mit Handschuhen insgesammt 69 pCt. beträgt; ohne Handschuhe
ist die Procentzahl bedeutend höher, nämlich 89 pCt. Am
Schluss einer langdauernden Operation ohne häufigen Hand-
schuhwechsel beträgt sie mit Handschuhen 84 pCt., ohne Hand-
schuhe 100 pCt.: je länger die Operation dauert, desto mehr
sind die Hände inficirt. Der Keimreichthum der Hände und
Handschuhe am Schluss der Operation ist zum Theil vielleicht
darauf zurückzuführen, dass beim Nähen der Wunde die operirende
Hand in eine intensivere Berührung mit der Haut des Patienten
kommt. Die Möglichkeit, dass bei dieser Gelegenheit eine grössere
Menge von Hautbakterien des Patienten von den Handschuhen
aufgenommen und festgehalten wird, muss gewiss zugegeben werden.
Auffallend ist, dass am Schluss der Operation die Intensität der
Infection der Hände geringer ist, als während der Operation, so-
*) Nachträgliche Bemerkung: Weno ich Doederlein richtig verstanden
habe, so beziehen sich seine Versuche auch vielfach auf Operationen am Damm
und in der Vagina, also in einem bacterienreichen Gebiet. Dass bei dieser Gelegen-
heit massenhaft Bacterien in die Handschuhe eindringen und von diesen fest-
gehalten werden, ist selbstverständlich. Die hierbei gemachten Beobachtungen
sind natürlich für die hier ventilirte Frage nicht beweisend.
274 Dr. J. Mikulicz
wohl mit als ohne Handschuhe. Auch hieraus wird man schliessen
dürfen, dass wohl die grössere Summe der Bakterien von der
Hand in den Handschuh kommt, und nicht von aussen, sonst
müsste aus den früher angegebenen Gründen gerade am Schluss
der Operation die Bakterienzahl grösser sein als während derselben.
Fassen wir das Resultat der angeführten Untersuchungen,^)
von denen ich nur einige wesentliche Punkte herausgehoben habe, zu-
sammen, so ergiebt sich zunächst in Bezug auf die Desinfection
der Hände, dass die zur Zeit empfohlenen und geübten Methoden
nicht im Stande sind, die Hände mit Sicherheit keimfrei zu machen.
Wenn es auch in einem grossen Procentsatz der Fälle gelingt,
vor Beginn der Operation die Hände oberflächlich von Keimen zu
befreien, so hält dies nicht lange vor; im Laufe der Operation
kommen die in der Tiefe der Epidermislagen verborgenen Bakterien
immer reichlicher an die Oberfläche. Daraus folgt, dass auch von
Seiten der Hände die Infectionsgefahr für die Wunde um so
grösser wird, je länger die Operation dauert.
Was die Zwimhandschuhe betrifft, so war, wie ich schon in
meiner ersten Mittheilung ausdrücklich betont habe, von vorn
herein nicht zu erwarten, dass sie einen absoluten Schutz gewähren;
denn sie sind in hohem Grade durchlässig. Ihr Schutz kann nur
ein relativer sein. Ich muss aber ofi'en gestehen, dass ich den
Grad des Schutzes früher doch höher taxirt habe, als es durch
die vorliegenden Untersuchungen und klinischen Beobachtungen
sich herausgestellt hat. Ich will auch nicht verschweigen, dass
ich im vorigen Herbst trotz Zwirnhandschuhe in der Klinik einige
tiefere Wundin fectionen erlebt habe, die zwar unschwer von den
Operirten überwunden wurden, mich aber doch davon überzeugten,
dass wir uns auf den Schutz der Handschuhe nicht allzusehr
verlassen und namentlich die peinliche Desinfection der Hände
nicht versäumen dürfen. In den erwähnten Fällen von Infection
stellte sich durch die bakteriologische Untersuchung stets ein Zu-
sammenhang zwischen der Infection der Hände und der Operations-
wunde heraus.
Dass die Gesammtresultate bei unseren aseptischen Opera-
0 Die ausführliche Publication erfolgt an anderer Stelle.
Die neuesten Bestrebungen, d. asept. Wundbebandlg. zu vervollkommnen. 275
tionen seit Benutzung der Handschuhe ungleich besser geworden
sind, kann ich auch heute noch ebenso behaupten, wie in meiner
ersten Mittheilung. Die Zahl der ganz reactionslosen Heilungen
hat sich von ca. 83 pCt. auf ca. 94 pCt. erhöht; in ähnlichem
Verhältniss hat sich die Zahl der Stichcanaleiterungen resp. -Rö-
thungen vennindert Allerdings ist es schwer, zu beweisen, dass
die Besserung unserer Resultate ausschliesslich der Anwendung der
Zwimhandschuhe zuzuschreiben ist, denn wie aus den früheren
Auseinandersetzungen hervorgeht, haben wir im Laufe der Zeit
eben auf Grund unserer Untersuchungen unser ganzes Verfahren,
insbesondere auch dieHändedesinfection, erheblich zu vervollkommnen
gesucht. Auch ist nicht zu vergessen, dass bei uns seit 10 Monaten,
die aseptischen Operationen im neu erbauten, auf das Vollkommenste
eingerichteten aseptischen Operationssaale ausgeführt werden. Aller-
dings wurden die ersten Handschuhoperationen w^ährend zw^eier Mo-
nate noch im alten Operationssaale ausgeführt und hier war gerade
der Unterschied ein ganz auffallender. Auch darf ich meine Er-
fahrungen aus der Privatpraxis mit heranziehen, die dieselbe
auffällige Besserung der Wundheilungsresultate ergeben haben,
wie in der Universitätsklinik, obwohl hier in den äusseren
Verhältnissen keine Aenderung eingetreten ist. Eine detaillirte Sta-
tistik der Operationsresultate anzugeben, hat, glaube ich, keinen
Werth. Die derselben zu Grunde liegende Zahl von 435 asepti-
schen Operationen ist doch nicht genügend, um Irrthümer und Fehl-
schlüsse ganz auszuschliessen.
Sie sehen, m. H., dass ich auch heute nicht daran zweifle,
dass wir durch die Anwendung der Zwimhandschuhe die Gefahr
der Infection bei aseptischen Wunden verringern, dass ich aber
weit davon entfernt bin, dieselben als ein ganz verlässliches Schutz-
mittel hinzustellen. Ich werde, so lange kein brauchbarerer Ersatz
dafür geschaffen ist, die Zwimhandschuhe beibehalten. Es muss unser
Streben sein, falls es doch nicht gelingen sollte, unsere Hände sicher
keimfrei zu machen, Operationshandschuhe ausfindig zu machen,
die einen absolut sichern Schutz gewähren. Das können natürlich
nur undurchlässige Handschuhe sein. Was bisher in dieser Richtung
empfohlen worden ist, scheint mir aber noch nicht den Anforde-
rungen der Praxis zu entsprechen. Wölfler, der bekanntlich auch
schon längere Zeit in Handschuhen operirt, hat bald nach meiner
▲rehiT Ar klin. Chirurgie. 57. Bd. Heft 2. 19
276 Dr. J. Mikulicz,
ersten Mittheilung die Eigenschaften aufgezählt, die ein guter Ope-
rationshandschuh haben muss: er muss undurchlässig, weich und
geschmeidig und so dünn sein, dass er das Tastgefühl der Finger
nicht wesentlich beeinträchtigt; er soll sich leicht sterilisiren
lassen und endlich — darf er auch nicht zu theuer sein. Ein
Handschuh, der allen diesen Anforderungen entspricht, ist meines
Wissens noch nicht gefunden worden. Vielleicht hören wir heute
brauchbare Vorschläge. Ich werde der Erste sein, der sie mit
Dank acceptirt^).
Vorläufig müssen wir uns, so gut es geht, mit den uns zur
Verfügung stehenden Mitteln zu behelfen suchen. Ich brauche
nicht hervorzuheben, welche Bedeutung die prophylaktische Rein-
haltung, die Femhaltung jeder schweren Infeotion von den Händen
desjenigen Arztes hat, der viel aseptische Operationen auszuführen
berufen ist. Dass die sorgfältigste Desinfection mit heissem Wasser
und Seife, mit Alkohol und einem Desinfectionsmittel immer noch
die erste Rolle bei der Aseptik spielt, geht aus den firüheren Aus-
einandersetzungen auch hervor. Am meisten ist die Wunde zwei-
fellos durch die Fingerspitzen und Nägel gefährdet. Um in dieser
Richtung die Infectionsgefahr zu verringern, bediene ich mich seit
Anfang Januar eines Mittels, das ich bei Roux in Lausanne kennen
gelernt habe. Dieser bestreicht vor der Operation den Nagelfalz
und die üntemägelräume mit reiner Jodtinctur. Ich gehe so vor,
dass ich, wie früher schon angeführt, die Fingerspitzen in Jod-
tinctur tauche, dann die Hände in Lysol abspüle und nun erst die
Zwirnhandschuhe anziehe. Ich habe schon erwähnt, dass die Jod-
tinctur hierbei wahrscheinlich hauptsächlich als kräftiges entwicke-
lungshemmendes Mittel wirkt. Untersuchungen darüber sind in
meiner Klinik im Gange. Wir haben damit abermals das Princip der
reinen Aseptik durchbrochen; wenn das Mittel aber nur zum Ziele
führt, ohne einen Schaden zu bringen, so wollen wir es ohne Rück-
sicht auf das Princip acceptiren. Wenn ich über den Nutzen
0 Ich habe erst nachträglich erfahren, dass schon 1889 William S.
Halstead Kautschukhandschuhe zu aesptischen Operationen gebraucht bat
und sie auch heute noch verwendet. (John Hopkins Reports, Vol. III, No. 5,
March 1891.) Er verwendet sie nur bei gewissen Gelegenheiten, z. B. Patellar-
naht, Operationen der Gelenkmaus, Hernien oder kleinen einfachen Operationen,
„die ohne feineres Gefühl oder Geschicklichkeit zu machen sind und bei
welchen Eiterungen von schweren Folgen begleitet wären". (Nach W. W. Keen,
Ann. of surgery, 1898, Febr. 224.)
Die neuesten Bestrebungen, d. asept. Wundbehandlg. zu vervollkommnen. 277
der Jodtinctur etwas sagen soll, so kann ich bei der noch geringen
Zahl von damit ausgeführten aseptischen Operationen — es sind
jetzt etwas über 100 — auch nur nach persönlichen Eindrücken
urtheilen. Zunächst haben wir für unsere Finger keinen Schaden
bemerkt. Die Braunfärbung der Pingerspitzen verliert sich am
Schluss der Operation so weit, dass sie nachher kaum bemerkt
wird. Die Haut unserer Finger hat die Jodtinctur in dieser An-
wendung bisher ohne den geringsten Schaden vertragen. Was die
Heilung der Wunden betrifft, so ist sie in dem letzten Vierteljahr
selbst nach den complicirtesten und schwierigsten EingriflFen so
tadellos gewesen, dass ich in dieser Richtung nichts mehr »u wün-
schen übrig habe^). Noch einmal sei hier darauf hingewiesen,
dass wir die Zwimhandschuhe mit Rücksicht auf die früher an-
geführten Gottstein'schen Untersuchungen bei lang dauernden
Operationen häufig wechseln und zwar um so häufiger, je mehr die
Handschuhe von Blut durchtränkt sind.
Zum Schluss möchte ich noch einen Punkt erwähnen. Ich
habe früher angeführt, dass ich immer mehr und mehr bestrebt
bin, von der Drainage und Ableitung des Wundsccretcs abzusehen
und die Wunde ganz zu verschliessen. Viele von Ihnen werden
wahrscheinlich ähnliche Versuche auch schon gemacht und erfahren
haben, dass in manchen Fällen trotz des absolut aseptischen Wund-
verlaufes dem Kranken damit nicht der Nutzen gewährt wird, den
wir anstreben. Bei gewissen Wunden — nach unseren Beobach-
tungen in etwa 10 pCt. der Fälle — bilden sich nämlich Häma-
tome, die nicht gerinnen und somit nur ganz langsam resorbirt
werden, wodurch die endgiltige Heilung der Wunde, wenn auch
nicht erheblich, verzögert wird. Wir haben uns in diesen Fällen
') In Bezug auf die Resultate der Wundheilung dürfen wir nicht ver-
gessen, dass durchaus nicht alle sogenannten aseptischen Operationswunden
gleichwertbig sind. Insbesondere dürfen die einfachen Laparotomieen der
Gynäkologen nicht als Maassstab für die Leistungsfähigkeit einer Wundbe-
handlungsmcthode angeführt werden. Denn das Peritoneum verträgt bekannter-
maassen eine relativ beträchtliche Menge von pathogenen Bacterien, während
grosse Weichtheil-, besonders aber Knochen- und Gelenkwunden oft durch die
geringsten Bacterienmengen inficirt werden können. Von Laparotomieen können
nur diejenigen in Betracht kommen, bei welchen grosse AVundflächen im
Peritoneum zurückbleiben, die zur Bildung der von mir so genannten „todten
Räume^ führen. Nach ausgedehnten Operationen am Magen und Darm bleiben
solche todten Räume nicht selten in grosser Ausdehnung zurück; ich habe sie
früher immer mit Jodoformgaze tamponnirt. Seit einem Jahre schliesse ich
aber auch in diesen Fällen principiell die Bauchhöhle vollständig.
19 ♦
278 Dr. J. Mikulicz,
so geholfen, dass wir die Hämatome mit einer feinen Spritze durch
Aspiration entleert haben. Sie haben sich immer als steril er-
wiesen. Die Hämatombildung ist nur dann störend, wenn das
nachträglich ergossene Blut und sonstige Secret nicht gerinnt,
also nicht in einen organisationsfähigen Zustand geräth. Worin
der Grund dieses Mangels an Gerinnungsfähigkeit liegt, ist noch
nicht festgestellt. Herr Dr. Anschütz beschäftigt sich mit der
Untersuchung dieser Hämatome. Es hat sich bisher herausgestellt,
dass in den nach 6—8 Tagen entnommenen aber auch in ganz frischen
Hämatomen die fibrinogene Substanz vollständig fehlt. Vielleicht ge-
lingt es, ein Mittel zu finden, um die Gerinnung des bald nach der
Operation nachsickemden Blutes zu erzwingen. Dann wurde ein
wesentliches Hindemiss fortfallen, alle Wunden ausnahmslos zu
schliessen^). So lange das nicht der Fall ist, thun wir besser, einzelne
Wunden trotzdem noch zu drainiren, das Drain aber nach 24 Stunden
zu entfernen. Ich habe die Drainage z. B. für jene Kropfresectionen
beibehalten, bei welchen aus dem zurückgebliebenen Rest der Schild-
drüse eine starke Secretion zu erwarten ist.
M. H. ! Meine Auseinandersetzungen werden Sie nicht in jeder
Richtung befriedigt haben. Es wird ein complicirter Apparat in
Bewegung gesetzt, ohne dass Ihnen klare, unzweideutige Resultate
vorgeführt werden können. Ich werde es Niemandem übel nehmen,
wenn er an den neuesten Bestrebungen in der Wundbehandlung
nicht Theil nimmt und mit Ruhe abwartet, wie sich die Sache
weiter entwickelt. Sie müssen aber bedenken, dass es sich um
eine noch lange nicht abgeschlossene, erst in voller Entwickelung
begriffene Angelegenheit handelt. Viele der bisher vorgeschlagenen
Maassregeln mögen übertrieben sein und werden vielleicht später
wieder fallen gelassen werden. Manches Mittel ist — das kann
man schon jetzt sagen — verfehlt und wird durch ein besseres
zu ersetzen sein. Das Ziel, das aber allen diesen Bestrebungen zu
Grunde liegt, dürfen wir nicht aus den Augen lassen, auch wenn
wir auf Umwegen dahin gelangen. Manchem von Ihnen wird es
überhaupt fraglich erscheinen, ob es je gelingen könne, vollkommen
0 Die angeführten Hämatome haben je nach ihrem Alter (5 — 20 Tagen)
eine dunkelbraunrothe bis rothgelbe Farbe und sind von fadenziehender Con-
sistenz. Sie scheinen mit jenen Hämatomen verwandt zu sein, die sich ge-
legentlich auch nach subcutanen Traumen entwickeln, zumal nach den „tan-
gentialen Verletzungen" Gussenbauer's.
Die neuesten Bestrebungen, d. asept. Wundbehandlg. zu vervollkommnen. 279
keimfrei zu operiren. Ich möchte dieses Problem mit einem an-
deren Ihnen wohl bekannten vergleichen: mit der Quadratur des
Kreises. Die Theorie hat dieses Problem nicht gelöst und kann
es auch nie lösen. Für die Praxis ist es aber durch die Ausrech-
nung der Lud olf sehen Zahl längst gelöst. Man kann beliebig
viel Decimalstellen dieser Zahl entwickeln und der Lösung des
Problems so nahe kommen, als es das practische Erforderniss
erheischt. Auch das Problem der Keimfreiheit unserer Operations-
wunden ist einer irrationalen Zahl zu vergleichen. Es kommt nur
darauf an, dass wir uns die Mühe nicht verdriessen lassen, recht
viele Decimalen von dieser Zahl zu entwickeln und so dem idealen
Ziel möglichst nahe zu kommen. Es kommt uns ja bei unseren
Bestrebungen glücklicher Weise die Natur zu Hilfe, die unsere Ge-
webe mit Schutzvorrichtungen versehen hat und sie befähigt, ein
gewisses Minimum von Infection zu überwinden. Aber diese Kraft
der Gewebe ist eine beschränkte; je weniger wir ihr zumuthen,
desto sicherer können wir. des Erfolges sein, desto leistungsfähiger
wird die operative Chiinirgie. In diesem Sinne sind alle Bestre-
bungen auf unserem Gebiete willkommen zu hcissen und in diesem
Sinne bitte ich Sie, auch meine Ausführungen aufnehmen zu wollen.
X.
Die Ursachen des Misslingens der Asepsis.
Von
Profemor Dr. Ijanderer
in Stuttgart^).
Die Ausführungen meines Herrn Vorredners sind für mich die
Veranlassung, im Wesentlichen nur auf diejenigen Punkte meines
Vortrags einzugehen, die er nicht oder nur flüchtig berührt hat.
In den letzten Jahren hat sich in der deutschen Chirurgie —
eigentlich ziemlich unerw^arteter Weise — eine gewisse Unsicher-
heit in der Frage der Wundbehandlung und damit eine gewisse
Nervosität bemerkbar gemacht. Daraus sind Bestrebungen hervor-
gegangen, die Wundbehandlung zu modificiren. Dieser Bewegung
gegenüber halte ich es in erster Linie für meine Pflicht, darauf
hinzuweisen, dass es sich hierbei keineswegs um eine Erschütte-
rung der grundlegenden Ideen, der Principien der Wundbehandlung
handelt. Diese Modificationen sind nur das Zeichen erhöhter An-
sprüche, die wir an unsere Wundbehandlung stellen. Wir
verlangen heute, dass jede Wunde, mag sie einer noch so schweren
0[)eration entstammen, mag noch so lange darin gearbeitet worden
sein, binnen 8 Tagen p. p. i. heilt, ohne einen Tropfen Eiter. Wir
sind unzufrieden, wenn wir über unsere Abtheilungen gehen und
nicht ganze Serien tadelloser aseptischer Heilungen ohne Spur von
Röthung, ohne jede Temperatursteigerung antreffen. .
Es ist vielleicht nicht unangebracht, die Wundstörungen von
heute zu vergleichen mit den Wundstörungen in der Jugendzeit der
0 Auszugsweise vorgetragen am 1. Sitzungstage des XXVII. Congresses
der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 13. April 1898.
Die Ursachen des Misslingens der Asepsis. 281
Antisepsis, in der Zeit der Lister'schen Antisepsis, jener Zeit,
wo Aerzte und Laien mit frischer Bewunderung auf die grossartigen
Erfolge der neuen Wundbehandlungsmethode blickten. Wir Alle,
die wir diese Zeiten noch mit erlebt haben, wissen, dass Sepsis
damals — besonders bei Bauchoperationen — kein seltener Gast
in den chirurgischen Anstalten war, dass Pyämie — z. B. nach
Schädelverletzungen — immer dann und wann gesehen wurde, dass
das Erysipel unter der Carbolantisepsis geradezu häufig war, dass
es erst unter der v. Bergmann-Schede'schen Sublimatantisepsis
verschwand, dass Tetanus auch nach Operationen mitunter noch
vorkam. Auch die gewöhnliche Wundentzündung s. v. v. trug
einen anderen, sehr viel schwereren Character Meist schon nach
24 — 36 Stunden ging die Temperatur steil in die Höhe, die Wunde
entzündete sich in toto, die Wunde musste geöffnet werden, Eiter-
senkungen mussten drainirt werden; kurz, es handelte sich um
schwere Störungen, denen mancher weniger kräftige Patient schliess-
lich erlag.
Dem gegenüber nehmen sich unsere heutigen Wundstörungen
doch recht bescheiden und ungefährlich aus. — Die Temperatur
bleibt normal, oder erhebt sich auf 38° — 38,5 o. Sieht man
nach, so findet man vielleicht eine Naht entzündet, einen
Draincanal geröthet. Nach Entfernung der Naht oder der Drain-
röhre geht die Sache entweder zur Norm zurück, oder man be-
kommt einen kleinen Nahtabscess, eine Fadepfistel und dergl. Un-
bequem werden solche Vorkommnisse nur dann, wenn sich Monate
lang absondernde Fisteln bilden, aus denen schliesslich mit oder
ohne Nachhilfe Ligaturknoten herauskommen. Diese Störungen
sind also wohl unbequem; sie stellen aber den Erfolg der Opera-
tion in keiner Weise in Frage. Sepsis nach Peritonealoperationen
kommt heute nur noch ganz ausnahmsweise, beim Zusammentreffen
besonders ungünstiger Umstände vor; Pyämie nach Operationen
und Verletzungen sieht man in Jahren nicht und selbst in grossen
Krankenanstalten kann es ein Jahr und länger dauern, bis einmal
ein Erysipel im Hause entsteht. Wenn wir dies bedenken, so
scheint eigentlich kein genügender Grund vorhanden, uns — und
unsere Klienten wegen der Misserfolge unserer Wundbehandlung
ernstlich zu beunruhigen. Trotzdem müssen wir bestrebt sein, die
Ursachen dieser Störungen zu ergründen und diese zu vermeiden.
282 Dr. Landerer,
Dass sie nicht nur durch eine einzige Ursache bedingt sind, ist im
Voraus anzunehnaen. Nur einen einzigen Punkt als Ursache her-
auszugreifen, muss als verkehrt erscheinen. Um die Ursache zu
finden, ist es mir als nothwendig erschienen, den ganzen antisep-
tischen Apparat von Zeit zu Zeit bakteriologisch durchzuprüfen.
Die Ergebnisse dieser zahlreichen bakteriologischen Untersuchungen
möchte ich Ihnen kurz mittheilen. Ich kann natürlich nur einige
Hauptpunkte herausgreifen.
Zunächst möchte ich — in Uebereinstimmung mit verschie-
denen neueren Autoren — darauf hinweisen, dass die Luftinfec-
tion gegenüber der Contactinfection doch nicht so sehr zu ver-
nachlässigen ist, wie man dies eine Zeit lang gewohnt war. Ich
möchte hierfür eine Beobachtung an meinem aseptischen Opera-
tionssaal heranziehen. Durch bauliche Veränderungen war ich ge-
nöthigt, in demselben gelegentlich auch nicht aseptische Opera-
tionen und zahlreiche Verbandwechsel vorzunehmen. Schon nach
8 — 10 Tagen fingen die Wundheilungen an, weniger gut zu werden,
fast in keinem Falle erfolgte tadellose prima reunio. Die bakterio-
logische Untersuchung der Luft ergab Staphylokokken. Nach der
Räumung und gründlichen Reinigung des Saales wurden auch —
ohpe jede Aenderung im aseptischen Apparat oder im Personal —
die Ergebnisse wieder gut. Die Luft enthielt keine Staphylokokken
mehr, sondern nur Schimmelpilze in geringer Zahl.
Nebenbei bemerkt, erscheint mir die Einrichtung besonderer
Verbandzimmer für die Verbandwechsel zweckmässig zu sein. Die
Ijuft der Krankenzimmer w^ird so frei von Bakterien und in dem
Verbandraum lässt sich durch Reinlichkeit und Formalindesinfection
die Luft gleichfalls rein halten.
Die Instrumente können wir seit Einführung der v. Berg-
mann-Schimmelbusch' sehen Sodasterilisation als Infections-
träger ohne Weiteres ausschliessen.
Ein sehr schwieriges Capitel ist die Desinfection der Hände.
Um diese Frage dreht sich der Streit der letzten Jahre in erster
Linie. Ich möchte dringend davor warnen, wie es in gewissen
Kreisen Sitte zu sein scheint, jeden Misserfolg in der Asepsis ohne
Weiteres und ohne jede Prüfung lediglich einer mangelnden Des-
infection der Hände zuzuschreiben. Ich habe so ziemlich in jedem
Fall einer Störung die Ursache anderswo finden können und mich
Die Ursachen des Misslingens der Asepsis. 283
deshalb bis jetzt nicht dazu entschlossen, Handschuhe zur Opera-
tion anzuziehen. — Die bakteriologische Prüfung der Sterilität
der Hände scheint mir ungenügend zu sein, da wir die Hände nie
in so innige und dauernde Berührung mit einem Nährboden bringen
können wie bei der Operation, wo die Hände Stunden lang mit
der Wunde in innigster Berührung sind. Mir hat die Kümmell-
Fürbringer'sche Methode bis jetzt genügt. Allerdings scheure
ich die Hände vor der Operation 10 Minuten lang in möglichst
heissem Wasser ab; ebenso wasche ich mir während länger dau-
ernder Operationen die Hände mehrmals in gründlichster Weise mit
heissem Wasser, Seife und Alkohol.
Einen überaus wichtigen Funkt macht aber auch die peinliche
persönliche Prophylaxe aus. Sie ist nach meiner Ansicht unter
grossen und kleinen Verhältnissen möglich. Vor Allem ist die
Berührung eiternder Wunden aufs sorgfältigste zu vermeiden; zu
Scheiden- und Mastdarmuntersuchungen sind Gummifinger zu ver-
wenden. Nach jeder muthm asslichen Infection hat sofort eine
gründliche Desinfection zu folgen.
Dasjenige Gebiet, von dem nach meinen Erfahrungen auch
heute noch die meisten Infectionen ausgehen, das z. Z. viel zu
wenig beachtet wird, ist das Operationsfeld. Es ist Ihnen aus
früheren Untersuchungen bekannt, — ich führe hier namentlich
die Untersuchungen Lauenstein's an — dass es trotz langdauemder
und mühsamer Desinfectionsmaassregeln nur in einem Bruchtheil
der Fälle — etwa 40 pCt. — gelingt, die Haut des Operations-
feldes steril zu gestalten. Die Schwierigkeiten sind hier besonderer
Art. Die am meisten gebräuchlichen Desinfectionsverfahren haben
alle den Fehler, dass sie nur eine Oberflächenwirkung haben. Mit
den üblichen Seifenabscheuerungen , dem Abrasiren und Abreiben
mit Aetherwatte vermag man zweifellos die in den Hautfetten
suspendirten Mikroorganismen mechanisch zu entfernen, um so
mehr als man durch diese Proceduren die obersten Epidermis-
schichten überhaupt entfernt. Ob den darauf folgenden kurz-
dauernden Behandlungen mit einem Antisepticum noch ein wirk-
licher Werth beizumessen ist, steht dahin.
Die in den Tiefen der Haut, in den drüsigen Organen ver-
haltenen Mikroorganismen trifft man damit nicht. Auf die Be-
deutung dieser in den tiefen Hautschichten, den Talgdrüsen, Haar-
284 Dr. Landerer,
follikeln und auch z. Th. in den Lymphspalten der Haut ent-
haltenen Bacterien ist besonders in der ausländischen Literatur,
u. A. von Magrassi und Marcy hingewiesen worden. Aus der
fast regelmässigen Anwesenheit von Mikroorganismen in den tiefen
Hautschichten erklärt sich auch die Beobachtung Schimmel-
busch's, dass selbst bei tadelloser Desinfection etc. doch von
den am Wundrand abgetragenen Hautstückchen meist Mikroorga-
nismen, selbst Staphylokokken auskeimten. Dass diese tiefen
Hautbacterien auf verschiedenen Wegen zu einer Infection der
Wunde führen können, ist selbstverständlich. Sie können während
der Operation in die Wunde hereingestreift werden, und so eine
primäre, eine Frühinfection der Wunde veranlassen, sie können
auch Anlass zu Spätinfectionen werden. Wohl keine Naht streift
nicht an irgend einer Stelle einen Drüsengang oder Haarbalg — die
häufigste secundäre Wundstöi*ung, der Nahtabscess, dürfte so ent-
stehen. Die Acnepusf eichen etc., die man oft unter feuchten Ver-
bänden findet, weisen auf dieselbe Ursache hin. Die Möglichkeit,
dass von der ungenügend desinficirten Haut des Operationsfeldes
aus die Fäden, selbst die Ligaturfäden inficirt werden, muss eben-
falls zugegeben werden. Ich hatte den Eindruck, als ob dies der
Fall wäre, besonders in der Zeit, da ich die Seidenfäden rein
aseptisch behandelte und nur in Alkohol, ohne Zusatz von Des-
inficientien aufbewahrte. — -' Die Möglichkeit, dass die Hände
während der Operation von hier aus inficirt werden, liegt ebenfalls
nahe. Am günstigsten ist die Gelegenheit zu Secundärinfectionen
bei feuchten Verbänden. Hier kann von kleinen offenen Stellen,
Hautuekrosen, auch von den Drainstellen aus die Infection beginnen.
Die Bemühungen, die Hautinfection und die Spätinfection von der
Haut auszuschliessen, treten u. A. auch in dem Vorschlag von
Bruns zu Tage, die genähte Wunde mit Airolpaste zu bestreichen.
Man verschmiert so die Ausgänge der drüsigen Organe und hindert
ihre Mikroorganismen am Auskeimen. Die Versuche, durch länger
dauernde Umschläge mit Sublimat-, CarboUösungen etcn das Ope-
rationsfeld zu sterilisiren, haben keine durchschlagenden Erfolge
aufzuweisen. In schwacher Lösung ^-irken sie nicht, in starken
Lösungen machen sie Eczeme. Die in den Drüsen und Haarbälgen
der Haut enthaltenen Mikroorganismen können nur getroffen werden
durch ein auch in Gasform wirkendes Desinficiens. Deshalb wende
Die Ursachen des Misslingens der Asepsis. 285
ich seit August 1897 zur präliminaren Desinfection der Haut
1 — 2 proc. Formalinlösung an. Die Umschläge werden, wie ich dies
schon im Centralblatt für Chirurgie 1898 raitgetheilt habe, 24—48
Stunden als Priesnitz 'sehe Umschläge, mehrmals gewechselt, an-
gewandt, nachdem die Patienten gebadet und mit Seife abgescheuert
sind. Vor der Operation erfolgt die übliche Desinfection — Seifen-
abscheuenmg, Rasiren, Abreiben mit Aether, Abwaschen mit Sublimat-
lösung. Es ist so gelungen, die Haut des Operationsfeldes in
etwa 85 pCt. steril zu gestalten. Zu beachten ist, dass, wo Störung
der Wimdheilung eintrat, fast ausnahmslos auch die Platten nicht
steril blieben — ein Beweis, dass die Störung von der Haut des
Operationsfeldes, nicht von den Händen ausging. Es blieb übrigens
auch der Wundverlauf z. Th. aseptisch, wo die Haut nicht steril
gefunden war.
Vom Unterbindungs- und Nahtmaterial möchte ich zu-
nächst Einiges über die Seide erwähnen. Es steht für mich völlig
fest, dass das Auskochen der Seide in Sodalösung und das Auf-
bewahren in wässriger Subliraatlösung volle Keimfreiheit gewährt.
Die Nahtabscesse, die Fadenfisteln lassen sich in anderer Weise
erklären, besonders aus der Infection mit den tiefen Hautbakterien.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich übrigens noch einen weiteren
Vorwurf, der der Seide, besonders von gynäkologischer Seite oft
gemacht wird, zu entkräften suchen. Man sagt, die Seidenschlinge
„drainire" Infectionsstoffe von der Haut in die Wunde. Meine
Untersuchungen vermögen diese Annahme nicht zu unterstützen.
Trägt man ein Stückchen von der äusseren, und ein Stückchen
von der inneren Schlinge in Nährflüssigkeiten ein, so ergiebt es
sich, dass die innere Schlinge sehr viel häufiger steril ist, als die
äussere. Drainirte die Seide von aussen nach innen, so müsste
bei oft beträchtlichem Eeimgehalt der äussern Schlinge die innere
gleichfalls öfters inficirt sein. In seltenen Fällen war — bei
trockenen Verbänden — die innere Schlinge inficirt, die äussere
steril. Da diese Beobachtungen aus der Zeit vor dem Formalin
stammen, möchte ich auch hier Infection durch die Mikroorganismen
der Hautdrüsen annehmen. Von Catgut und Silber dürfte ungefähr
dasselbe gelten, da ich — wie gesagt — annehme, dass die
Fadeninfectionen weniger im Material bedingt sind, als in In-
fectionen von anderen Punkten aus. üeber Catgut kann ich
286 Dr. Landerer,
nicht mitreden, da ich seit 15 Jahren keinen Faden Catgut ver-
wandt habe.
Die Drainage betrachte ich als ein noth wendiges üebel, dem
man in einzelnen Fällen — bei grossen buchtigen Wunden — nicht
entgehen kann. Ich wende sie so selten als möglich an, seit ich,
selbst bei tadelloser Prima reunio, im Innern von Drainröhren
und am innern Ende derselben Staphylokokken gefunden habe.
Der Draincanal kann zweifellos eine Pforte für die Secundär-
infection werden, besonders bei Herniotomien.
Was schliesslich die Verbände betrifft, so habe ich gefunden,
dass die trockenen Verbände in überwiegender Mehrzahl steril sind
oder wenigstens keine Eiterkokken halten.
Die feuchten Verbände, d. h. die Verbände mit so lebhafter
Secretion, dass das Secret nicht im Verband austrocknen konnte,
waren alle inficirt. Wie sehr dadurch Spätinfectionen begünstigt
werden, durch Eindringen von Mikroorganismen in Stichcanäle,
Draincanäle , klaffende Nahtstellen, ectropionirte Stückchen von
Unterhautzellgewebe u. dgl., ist selbstverständlich.
AVas ich oben über die Desinfection des Operationsfeldes ge-
sagt habe, ist für mich überzeugend, dass die Infection nicht von
aussen kommt durch Hereinwachsen von Luftkeimen in den Ver-
band, sondern dass die Infection von innen, von der ungenügend
desinficirten Haut kommt. Es schien auch — diese Untersuchungen
sind nicht abgeschlossen und nicht zahlreich, — als ob der Keim-
gehalt der Verbände von den inneren Schichten derselben nach
den äusseren zunimmt. Diese Beobachtungen haben auch ihre
praktische Bedeutung. Das Decken der Verbände, wenn sie durch-
geschlagen haben — die alte Lister'sche Vorschrift, scheint mir
keinen Werth zu haben. Es ist im Gegentheil angezeigt, jeden
feuchten Verband sofort abzunehmen und durch einen neuen
trockenen zu ersetzen. Ueberhaupt scheint es mir zweckmässiger,
den ersten Verband nicht zu lang liegen zu lassen, sondern nach
24 — 48 Stunden zu wechseln. Hierbei kann man überflüssige
Drains wegnehmen und dann den zweiten, wenn es sein muss,
als Dauerverband liegen lassen.
Auf die zweite Hauptregel, um Misslingen der Asepsis
zu vermeiden, die Nothwendigkeit, die natürlichen Schutzvorrich-
Die Ursachen des Misslingens der Asepsis. 287
tungcn des Organismus nicht zu schädigen und zu hindern, will
ich nicht weiter eingehen.
Die Gewebe dürfen keiner Verätzung durch scharfe Antiseptica,
keiner Quellung durch diflferente Flüssigkeiten, keiner Vertrock-
nung ausgesetzt werden. Ausserdem sollen in der Wunde keine
„todten Winkel ** zurückgelassen werden — Fremdkörper, Blut-
gerinnsel, necrotische Gewebe etc., Bäume, in denen sich die
phagocytäre und baktericide Fähigkeit der Gewebszellen und
Gewebssäfte nicht sofort in genügendem Maasse geltend machen
kann. Hierzu gehört selbstverständlich auch eine sorgfältige Blut-
stillung. Man kann die Zahl der nöthigen Unterbindungen und
der in die Wunde versenkten Fremdkörper wesentlich herabsetzen
durch zeitweiliges Abklemmen der kleineren Gefässe und durch
Torsion der mittleren.
Ein methodisches Durchuntersuchen des ganzen Apparatus
antisepticus soll die klinische Beobachtung unterstützen und ver-
vollständigen. Auf diese Weise wird man am Besten vor der
Ueberschätzung einzelner Punkte und der Vernachlässigung anderer
vielleicht ebenso wichtiger bewahrt.
XI.
Die aseptische Versorgung frischer Wunden,
UHter Hittkeilnig tob Thier-VersneheH über die Anskeinmgs-
zeit fon hfeetionserregera ii frisekeH Wnidei^).
Von
Professor Dr« P. Wi. Friedrich,
Director des chirurgiseh-poliklinischen Instituts der Universität Leipzig.
(Mit 2 Figuren.)
Bei der Behandlung frischer Verletzungen werden wir im
Wesentlichen geleitet von den anatomischen Verhältnissen der be-
troffenen Gewebe und von unserer Einsicht in die Vorgänge der
Wundinfection.
Nur den auf die Verhütung der letzteren hinzielenden Maass-
nahmen mögen die nachfolgenden Mittheilungen von Versuchen am
Thierkörper und Beobachtungen am verletzten Menschen gelten.
Die alltägliche ärztliche Erfahrung lehrt, dass die einer Ver-
letzung gelegentlich folgende Infection sich zunächst als eine rein
örtliche Erkrankung zu erkennen giebt; dieses gilt ebenso von
den Staphylo- und Streptokokken-, als Tetanus-, Anthrax-, malignes
Oedem- und anderen Infectionen; eine grosse Zahl von Wund-
infectionen läuft in dieser rein örtlichen Beschränkung ab und
gelangt zur Heilung; in einer anderen Zahl von Fällen zieht der
Infectionsinsult weitere Kreise: schon nach einer Reihe von Stunden
signalisirt die Steigerung der Körperwärme, die Mobilmachung im
Kreislauf und der Gesammtorganismus nimmt an der Erkrankung
nachweisbaren Antheil; oder auch es vergehen Tage, bis objcctiv
hervortretende Erscheinungen das Mitergriffensein des übrigen
0 Auszugsweise vorgetragen am 1. Sitzungstage des XXVII. Congresses
4er Deutseben Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 13. April 1898.
Die aseptische Versorgung frischer Wunden. 289
Organismus darthun. Endlich geht ein beträchtlicher Theil der
Verletzungen in reactionslose Heilung über, ohne dass das in die
Wunde gelangte infectionsverdächtige Material örtlich oder allgemein
schädigende Wirkungen entfaltet hat.
Bis auf den heutigen Tag ist die einmal erfolgte AUgemein-
infection für uns nur Gegenstand palliativer Maassnahmen; die In-
fectionserreger dann noch direct treffende AngrifFsmittcl besitzen
wir nicht; die bisher in dieser Richtung sich bewegenden Versuche
sind nicht als unzweideutig zu betrachten.
Unsere Hauptaufgabe gipfelt daher immer noch in der ört-
lichen Bekämpfung der Wundinfection. Hier spielt sich
auch noch so recht eigentlich der Kampf um die Frage ab:
Anti- oder Asepsis? Während die Werthschätzung der Asepsis
für die Behandlung operativ gesetzter Verletzungen zur Zeit wohl
eine allgemein anerkannte ist, erheben sich Stimmen namhafter
Vertreter unseres Faches, welche auf dem Gebiete der nicht opera-
tiven Verletzungen die Asepsis als unzulänglich brandmarken und
für die chemischen Behandlungsmethoden erneut eintreten.
Die auf die örtliche Bekämpfung der Infectionsgefahr gerichteten
Bestrebungen gliedern sich nach zweierlei Richtung; sie bestehen
1. in der Verhütung des Ausbruchs der Infection;
2. in der Bekämpfung der eingetretenen Infection.
Es ist vielfach klinischer Sprachgebrauch, bei einer stattge-
habten, nicht vom Messer des Chirurgen gesetzten Gewebsverletzung
schlechthin als von einer inficirten zu sprechen; es ist das eine
willkürliche Anticipation. Diese Wunden sind nur infections-
verdächtig. Vor der Hand sind sie durch eingedrungene Fremd-
körper für die Heilung ungünstiger gestellte, durch muthmasslich
hineingelangte Infectionserreger in ihrem Heilverlaufe unsichere
Verletzungen.
Es ist nothwendig, auf die Scheidung dieser Begriife zu
dringen. Hiernach ergiebt sich für uns unmittelbar die Frage:
Wie lange bleibt eine nicht operative Verletzungs-
wunde in dem noch nicht inficirten sondern nur in-
fectionsverdächtlgen Zustande? In praxi lässt sich diese
Frage von Fall zu Fall entscheiden, wobei wir von der Sympto-
matik der Infection uns leiten lassen, die nicht behandelte Ver-
letzungen bieten; wir werden jedoch für die Beurtheilung dieser
290 Dr. P. L. Friedrich,
wi(*htigen Frage eine schärfere Präcisirung allgemeiner Art fordern
müssen, als sie erst im Einzelfall der eingetretenen Infection sich
gewinnen lässt.
Der Theil der Symptomatik der erfolgten Infection, wie sie
sich beim Eintritt von Bactcrien oder deren Toxinen in den Kreis-
lauf durch Ansteigen der Körperwärme zu erkennen giebt, trügt
uns insofern, als dieses Phänomen nicht zeitlich unmittelbar mit
jenen Ereignissen zusammenfällt, sondern erst ihnen folgt, daher
das Zeitmaass bis zum Eintritt der Temperatursteigerung zum Theil
schon dem Rcsorptions-, also Generalisirungsstadium der infectiösen
und toxischen Massen zugehört. Der Temperaturanstieg ist für
den Beginn der Resorption kein Gradmesser. Einen Beitrag zur
Erhärtung dieser an sich beinahe selbstverständlichen Thatsachc
habe ich in einer kleinen Mittheilung i) ehedem zu erbringen ver-
sucht. In zweiter Linie ist ein Trugschluss aus dem Verhalten
der Körpertemperatur dadurch möglich, dass bei Gift- und Keim-
resorption die Temperatur in seltenen Fällen unverändert bleiben,
nicht so gar selten fallen kann. Das Gesagte gilt zum Mindesten
von Streptokokken- und sacrophy tischen 2) Intoxicationen.
Kommen wir zurück auf die Zeit des Infectionseintrittes, wie
sie durch Versuche festgestellt worden ist. Französische und
deutsche Autoren (Renault und Boulay, Colin, Niessen)
zeigten mit mehr oder weniger üebereinstimmung, dass das Auf-
bringen frischen von animalischen Infectionsherden gewonnenen
Infectionsstoflfes (Rotz und Schafpocken bei Pferd und Hammel)
oderReinculturmateriales (Milzbrand beim Kaninchen) innerhalb kurzer
Zeit zur Allgemeininfection führt und weder tiefgehende Verschorfungen
noch Abnahme der inficirten Gliedmaassen nach wechselnden, kurzen
Zeitabschnitten im Stande sind, die inficirten Versuchsthiere vor der
Allgemeininfection zu schützen und am Leben zu erhalten.
In eindrucksvollster und geradezu classischer Weise stützte
Schimmelbusch^) experimentell die durch solche Versuche mehr
0 P. L. Friedrich, Beobachtungen über die Virulenz von subcutan
einverleibten Streptokokken- und Saprophytentoxinen auf den menschlichen
Organismus, insbesondere auf die Körpertemperatur, nebst Bemerkungen über
Intoxications-Herpes. Berliner klin. Wochenschrift 1895, No. 49.
2) Hierunter rechne ich u. A. Coli-, Proteus-Bacterien und Prodigiosus.
8) Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 1893, und
Ueber Desinfection septisch inficirter Wunden. Fortschritte der Medicin 1895,
No. 1 und 2,
Die aseptische Versorgung frischer Wunden. 291
und mehr sich Anerkennung verschaffende Vorstellung von der
schnellen resorptiven Verbreitung der Infectionserreger bei
der Wundinfection. Uns allen sind die Versuche geläufig, in denen
er Mäusen am Schwanz eine Verletzung beibrachte, diese mit
Milzbrand inficirte • und nach verschiedenen Zeiten den Schwanz
höher oben amputirte; es zeigte sich, dass bei dem Verstreichen
von 10 Minuten eine Erhaltung des Thieres nicht mehr möglich war;
alle Thiere gingen an Milzbrand zu Grunde und eine weitere geradezu
bestechende Ergänzung erfuhren diese Experimente durch die später
mitgetheilten Versuchsreihen^), bei welchen er innerhalb kurzer
Zeit die Organüberschwemmung mit Keimen nachweisen konnte.
Die Versuche wurden von verschiedener Seite ^), auch im Koch 'sehen
Institut, wiederholt und ihre Ergebnisse bestätigt^). Ich selbst
führe sie alljährlich in meiner Vorlesung über allgemeine Chirurgie
den Studirenden vor.
Was war und musste die Folge dieser Versuchsergebnisse sein?
Die Auffassung, dass wir, gegenüber der enorm raschen Resorbir-
barkeit der Bacterien von frischen Wunden aus, mit den Mitteln zu
einer örtlichen Bekämpfung zumeist zu spät kommen werden und
gegenüber der Infection machtlos sind.
Seltsamer Weise erfuhren diese, unserer practischen Erfahrung
bei den nicht operativen Verletzungen nicht entsprechenden*)
Versuchsresultate, abgesehen von einer beiläufigen Bemerkung
Schimmelbusch's selbst, nicht die nothwendige Einschränkung;
so zwingend schien die Beweiskraft der technisch schön angelegten
und in das Schema der Koch 'sehen Infectionstheorien passenden
Versuche zu sein. Im Gegentheil, sie inaugurirten, wie nunmehr
zu erwarten war, eine Zeit der Unsicherheit oder des Fatalismus
für die Theorie der Behandlung frischer Verletzungen. Erst all-
0 Schimmelbusch und Rick er, Ueber Bacterienresorption frischer
Wunden. Fortschritte der Medicin 1895, 7, 8 und 9, und Deutsche medicin.
Wochenschrift 1894.
2) Henle, Chirurgen -Congress 1894.
') E. V. Bergmann, Discussion zu den Verhandl. der Deutschen Ge-
sellschaft für Chirurgie, 1894, S. 135, sowie Goldberg, Beitrag zur Frage der
aseptischen Wundbehandlung. Diss. Basel 1896.
*) In dem Autoreferate dieses Vortrages für das Centralblatt für Chirurgie
habe ich mich noch etwas schroffer ausgedrückt, und zwar mit Rücksicht darauf,
dass ich in vielen Köpfen zu lesen Gelegenheit gehabt habe, welche Verwirrung
der Vorstellungen die Schimmelbusch' sehen Versuche bei bacteriologisch
nicht Geübten angerichiet haben.
ArehiT fttr klu. Chinirgie. 57. Bd. Heft 2. 20
292 Dr. P. L. Friedrich,
mälig ward der Kampf gegen die Verallgemeinerang der Consc-
quenzen dieser Versuche aufgenommen, aber: vielmehr ex juvantibus,
als ex nocentibxis!
Mit mehr weniger modificirter Versuchstechnik (Verwendung
von bacterienhaltigem Eiter, von Gelatineculturen des Staphylo-
coccus aureus, mit Streptokokkenculturen) wurden Thiere inficirt
und danach desinficirt und aus der Wirkung der Desinfections-
maassnahmen der Rückschluss auf den Werth oder ünwerth von
Wunddesinfection, auf die Beweiskraft der Schimmelbuscb'schen
Versuche zu machen gesucht. Bald standen sich wieder neue, von
verschiedenen Autoren ausgeführte Versuchsreihen gegenüber; im
Lager der einen Reichet) und HäneP), im Lager der anderen
Messner^) und He nie*); alle diese Experimentatoren verdienen
unser Vertrauen und doch gelangten sie zu gegentheiligen Schlüssen,
und eine allgemein anerkannte Förderung unserer Frage „anti-
oder aseptisch" ward eigentlich nicht gewonnen. Warum? Die
zur Entscheidung gewählte Versuchstechnik war keine einheitliche,
und auch die genannten Autoren bewegten sich in der, für die
Beantwortung der vorliegenden Frage irreleitenden, Richtung
Schimmelbusch's: sie experimentirten mit künstlich gezüch-
tetem oder unmittelbar aus menschlichen Infectionsherden
entnommenem, also .dem Vegetationszustand in der Aussenwelt
bereits entfremdetem, mehr weniger angepasstem und vor Allem
von den bacteriellen Daseinsconcurrenten freiem Infectionsmateriale.
Sie glaubten mit Reincultur oder hoher, der Menscheninfection
adäquater Virulenz die Lösung des Problems zu gewinnen, während
wir am Menschen nie Reincultur- und wohl selten Eiterinfectionen
bei den traumatischen Verletzungen voraussetzen dürfen.
Sie experimentirten endlich mit Material, das in ganz ungleich-
massigen Infectionsbedingungen unter sich (Staphylokokken und
Streptokokken bei Kaninchen) und zum parallelen Infectionsmodus
des Menschen (insbesondere Streptokokken) sich befindet. Die
über Allem stehende brennende Frage
1. Wie lange Zeit bedarf das infectionsverdächtige
*) LaDgenbeck's Archiv. 1895, Bd. 49.
2) Deutsche medicin. Wochenschrift. 1895, No. 8.
3) XXIII. Congress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie.
*) LaDgenbeck's Archiv. 1895, Bd. 49.
Die aseptische Versorgung frischer Wunden. 293
in die Wunde gelangte Material bis zur Entwiekelung der
in demselben enthaltenen Keime und damit bis zum
wirkMeheA Ausbruch der bacteriellen Infection und
2. Wie lange bleibt diese Wundinfection ein örtlicher
Process? ermangelt bis zum heutigen Tage einer experimentellen
Beantwortung.
Henle, dem diese Fragstellung offenbar immer vorgeschwebt
hat, gelangte bei Streptokokken-EiterinfectiojQen des Kaninchens zu
Resultaten, die hinsichtlich dieser Zeitbestimmung zu Schlüssen
verleiten könnten, wenn nicht auch sie von der FeblerqueDe eines
schon angezQchteten Infectionsmateriales ausgingen. Wir wollen im
Folgenden versuchen, einen Beitrag zur Lösung zu üefem.
Für uns stellt die erste der obigen Fragen den Schwerpunkt
für weitere experimentelle Prüfung dar und sie formulirt sich sonach
folgendermaassen :
Wie lange Zeit benöthigen die Bacterien, um in einem frischen
Wundgebiet aus dem Infectionsmaterial , wie es direct aus der
Aussenwelt durch die Verletzung in die Wunde gebracht wird,
Schmutz, Erde etc. in einen resorptionsfähigen und damit erst
inficirenden Zustand zu gelangen?
Denn, meine Herren, es ist ein grosser, immer wieder zu
betonender, nicht selten zu sehr ignorirter Unterschied in der
Wirkung und Resorptionstüchtigkeit rein cultivirter Bacterien, gegen-
über derjenigen, wie sie die unmittelbar aus der Aussenwelt (in
anderem vitalen Zustande, im Gemisch mit anderen Keimen, ge-
deckt und verdeckt von anorganischen und organischen Massen) in
die Wunde gelangenden Bacterien besitzen. Die Forschung stösst
auf bis jetzt nicht überwundene Schwierigkeiten bei der Ergründung
der in der Aussenwelt gewählten Lebensform der meisten Bacterien;
als feststehend darf betrachtet werden, dass die Anpassungs-,
Auskeim ungs- (Incubations-) Zeit, oder wie wir diese Phase der
Infection sonst nennen wollen, auf dem Warmblüter eine wesentlich
verschiedene ist, je nachdem die Keime schon vorher günstigen
Anpassungsbedingungen unterlegen hatten oder nicht.
Greifen wir zuvörderst einmal zu dem zurück, was wir über-
haupt von dem zeitlichen Ablauf der Bacterienvermehrung wissen,
ehe wir dieser Frage in ihrer Beziehung zur Vermehrung in einem
Wundgebiet näher treten. Wir müssen leider bekennen, dass der
20*
294 Dr. P. L. Friedrich,
Schatz unseres Wissens auf diesem Gebiete ein bedauerlich spär-
licher ist; für die sogenannten pyogenen Kokken fehlt es so gut
wie ganz an zuverlässigen und exacten entsprechenden Vorarbeiten i).
Brefeld^) stellte für den Heubacillus fest, dass bei 24® R.
Lufttemperatur alle halbe, bei 20® alle %, bei 15® alle I72 Stunde,
bei 10° alle 4 — 5 Stunden eine Theilung der Stäbchen stattfindet.
Die Sporenbildung nahm bei 24? etwa 12 Stunden, bei 18® einen
Tag, bei 15® 2 Tage, bei 10® mehrere Tage in Anspruch. Der
Kreislauf der Entwicklung eines Bacillus kann sich bei 24® in
24 — 30 Stunden vollziehen, erfordert bei 20® schon 2 Tage, und
bei 15® 4—5 Tage.
Alfred Koch 3) fand, dass die Fäden des Bacillus Carottarum,
um ihre Länge zu verdoppeln, im Mittel
bei 30— 33®C 43 Minuten,
n 40® C 18 „
y, 45® C 22 „
brauchen. Büchner, Longard und Riedlin*) wollen die Ver-
^) Herrn Geheimrath Pfeffer, der mich hei dieser Suche in liebens-
würdigster Weise unterstütst und berathen hat, möchte ich auch hier nochmals
meinen verbindlichsten Dank aussprechen.
2) Brefeld, Untersuchungen über Schimmelpilze. 1881. Heft 4. S. 46.
8) Botanische Zeitung. 1888. S. 294.
*) Centralblatt für Bacteriologie und Parasitenkunde. Bd. 11. — Sie ver-
fuhren folgendermassen :
Eine Platinösc einer Bouillonreincultur von Cholerabacillen wurde in
50 ccm keimfreie 0,6proc. NaCl-Lösung übertragen, tüchtig geschüttelt und
nun von dieser Bacillen Verdünnung 1 ccm in 50 ccm Bouillon übertragen.
Daraus wurden sofort 3 Plattenculturen mit je 1 ccm der Bouillon angelegt:
aus dem auf diesen Platten erfolgenden Coloniewachsthum Hess sich die Ghrösse
der Aussaat ermitteln. Hiernach wurde die Nährlösung (Reincultur auf
gleichem Nährboden wie vor dem Versuchsbeginn) bei 37 "C. 2—3 Stunden
belassen; darnach wieder 1 ccm der inzwischen ausgekeimten Lösung zu
Plattenaussaaten verwandt, wodurch die bei Schluss des Versuchs vorhandene
Keimernte sich feststellen liess.
Die Grösse der Genera tionsdauer, bezw. die Vermehrungsgeschwindigkeit
(n) der Aussaat (a) bis zur Entwicklung der Keimernte (b) ergab die Formel:
v.n 1. rt b logb — loga
aX2n = b;2n = — ; n = — -^-^ 5-^—;
a log 2
Sie ermittelten so eine Generationsdauer von 20 Minuten, wobei jedoch
vorausgesetzt wurde, dass immer aus einer Zelle 2 neue, niemals mehr oder
weniger hervorgingen. Diese Berechnung übersah, dass auch das Zeitverhältniss
nicht von Anfang an ein gleicbmässiges , sondern in Progression sich von
Generation zu Generation verkürzendes sein kann. (In Beziehung zu unserer
Frage handelte es sich aber auch in diesen Versuchen um schon vorbereitetes
Reinculturmaterial bei 37 ^C, welches auf gleichen Nährböden geprüft ward,
so dass die erste Anpassungs- und Keimzeit für diese Verbuche naturgemäss
überhaupt garnicht Gegenstand der Prüfung war.)
Die aseptische Versorgung frischer Wunden. 295
mehrung der Cholerabacillen in Reincultur auf flüssigen Nährmedien
schon nach 20 Minuten beobachtet haben. Ihre Berechnung ist nicht
ganz einwandsfrei. Gottschlich erwähnt die Zeiten der Keira-
vennehrung in dem von ihm bearbeiteten Abschnitte („Fortpflanzung
der Mikroorganismen") in Flügge's „Mikroorganismen" i) ebenfalls
nur für Reinculturen von Typhusbacillus und Cholera. In seiner
grundlegenden Arbeit über den Milzbrandbacillus^) macht R. Koch
folgende Angaben: Die unmittelbare Beobachtung unter dem
Mikroskop bei 40^ zeigt, dass Milzbrandbacillen in Humor
aqueus „in den ersten beiden Stunden kaum merklich sich ändern.
Dann beginnt ihr Wachsthum. Schon nach 3 — 4 Stunden haben
sie die 10 bis 20 fache Länge erreicht; nach einigen weiteren
Stunden sind die einzelnen Fäden schon so lang, dass sie durch
mehrere Gesichtsfelder reichen"; nach 10 bis 15 Stunden er-
scheint der Inhalt der Fäden fein granulirt (Sporenbildung).
„Eine Entwickelung der Sporen zu Bacillen war nach 3 — 4 Stunden
zu beobachten."
Diese Beobachtungen beziehen sich sonach ebenfalls auf schon
reingezüchtetes Material. Die Entwicklungsbedingungen beim Ver-
folg der Vorgänge unter dem Mikroskop können gleichwohl nicht als
günstige bezeichnet werden. Ich habe in ähnlicher Weise mit
dazu eigens construirtera Thermostatraikroskop vor einer Reihe
von Jahren im Kaiserlichen Gesundheitsamte Studien am Cholera-
bacillus^ angestellt und würde nicht wagen, die Uebertragung der
so gewonnenen Resultate auf die Entscheidung der uns beschäftigenden
Frage für zulässig zu halten.
Geradezu werthlos sind vollends die grobmakroskopischen
Beobachtungen von Keimentwicklungsvorgängen im Reagenzglasc,
und wir werden gut thun, ganz von ihnen abzusehen.
Präcise Experimentalbeobachtungen über Auskeimungszeiten
von Bacterienmaterial aus den Zustandsformen der Aussenwelt, aus
*) Flügge, Mikroorganismen. 3. Aufl. Leipzig 1896.
2) R. Koch, Untersuchungen über Bacterien. V, Die Aetiologie der
Milzbrandkrankheit, begründet auf die Entwicklungsgeschichte des Bacillus
Antbracis. — Cohus, Beiträge zur Biologie der Pflanzen. Bd. 2, S. 277 flF.
') P. L. Friedrich, Eine Heizvorrichtung des Mikroskops zu bacteriolo-
gischen Untersuchungen. Arbeiten aus dem kaiserlichen Gesundheitsamte.
Bd. Vni, S. 87, und Vergleichende Untersuchungen über den Vibrio Cholerae
asiaticae (Kommabacillus Koch), mit besonderer Berücksichtigung der diagno-
stischen Merkmale desselben. Ebendaselbst.
296 Dr. P. L. Friedrich,
dcTB diesen anhaftenden organischen und anorganischen Massen
liegen nicht vor. und nur sie könnten uns zu Analogieschlössen
die Basis liefern.
Bei dem Mangel anderweitiger Unterlagen bin ich nun, schon
vor nahezu 4 Jahren, noch als Thiersch'sch^t Assistent, im un-
mittelbaren Anschluss an die Mittheilungen Schimmelbusch's
auf dem Chirurgen-Oongress der experimentellen Prüfung der Aus -
keimungszeiten der Bacterien in frischen Wundgebieten nachge-
gangen, und zwar, wie sich des Weiteren zeigen wird, unter Zuhilfe-
nahme einer Technik, wie wir sie in praxi an Thiersch's Klinik
bereits mit ausgezeichnetem Erfolge übten. Die Ergebnisse waren so
schlagende, dass ich es für selbstverständlich hielt, dass solche Ver-
suche von anderer Seite in gleicher Weise unternommen werden
wurden. Ich habe seit jener Zeit vielfach im theoretischen und
practischen Unterricht der Ohirurgie auf sie hingewiesen, später in
einem Vortrag ^) Gebrauch von ihnen gemacht, einmal in der medi-
cinischen Gesellschaft zu Leipzig 2) in km-zen Zügen über sie berichtet
und möchte heute, nachdem diese experimentell gesicherten
Principien eine nahezu 4jährige Prüfungszeit bei der Behandlung
des verletzten Menschen bestanden haben, einem Kreise berufener
Kritiker dieselben unterbreiten.
Will man zunächst möglichst die bei der Wundinfection vor-
liegenden Infcctionsbedingungen nachahmen, so muss:
Erstens ein Infectionsmaterial gewählt werden, welches gleich-
massig zur AUgemeininfection eines Thierkörpers führt;
es muss zweitens dieses Infectionsmaterial nicht den Cha-
racter einer sorgsam gepflegten Reinkultur, mit unter Umständen
künstlich gesteigerter Virulenz, besitzen, darf nicht der Züchtung
im Brutofen entstammen, sondern muss noch die Bedingungen, wie
sie in der Aussenwelt gegeben sind^), an sich tragen;
drittens muss eine Thierspecies gewählt werden, welche
eine gleichmässige Empfänglichkeit für das betreffende Virus zeigt.
J) P. L. Friedrich, Das Verhältniss der experimentellen Bacteriologie
zur Chirurgie. Antrittsvorlesung. Leipzig 1897, Engel mann.
2) S. Berichte der Verhandl. der medicin. Gesellschaft zu Leipzig 1897.
8) Eine schärfere Formulierung dieses Begriffs vermögen wir zur Zeit noch
nicht zu geben, wenn anders nicht Worte den Mangel einer klaren Vorstellung
verschleiern sollen.
Die aseptische Varsorgang frischer Wunden. 297
Diese Voraussetzungen schienen mir zuzutreffen für die In-
fection mit malignem Oedem, wie wir sie durch Einbringen kleiner
Partikelchen von Zimmerstaub oderGartenerde beim Meerschweinchen
mit einer fast mathematischen Gesetzmässigkeit zu Stande kommen
und ablaufen sehen. Sie ist, wie wir alle wissen, von Koch^) im
Anschluss an die Arbeiten Pasteur's mit dem Vibrion septique
eingehend studirt und beschrieben worden. Es entsteht im An-
schluss an die Infection mit den bezeichneten Substanzen die Ent-
wickelung eines Bacterien-Gemisches, welches vom Orte der In-
fection aus zu ödematös-jauchigen Veränderungen der proximalen
Gewebsabschnitte fuhrt und die Thiere dem Zusammenwirken
vom Allgemein4ntoxißation und -Infection innerhalb kurzer Zeit
erliegen lässt. Die Milz der verendeten Thiere zeigt sich dann
zunächst vergrössert, sehr blutreich, die Lunge grauroth, ab
und zu von einzelnen Blutungen durchsetzt, die ganze Blut^
bahn weist die Bacterien des malignen Oedems in wechselnder
Menge auf; die Bakterien fehlen niemals an den Oberflächen
der Organe der Brust- und Bauchhöhle, und sind auf und
in deren serösem Ueberzug in Masswi nachzuweisen. Bei Mäusen
ist das Obductionsbild makroskopisch von dem des Milzbrandes
nicht zu unterscheiden ; die Keime finden sich namentlich in grossen
M^gen in den Blutgefässen, und in Lunge und Milz.
Bereits Koch stellte fest, dass auch sehr kleine Impf mengen
bei Meerschweinchen und Mäusen fast ausnahmslos tödtlich wirken.
Er ermittelte weiter, dass selbst dann in der Leiche einer Maus,
wenn sie bei Eintritt der ersten Krankheitssymptome getödtet und
sofort untersucht wird, sich schon zahlreiche Bakterien in der
Lunge finden, und dass diese, unter die Rückenhaut einer gesunden
Maus gebracht, dieselbe innerhalb eines Tages unter den schon be^
kannten Sjrmptomen tödtet.
Dieses für die Nager somit sehr infcctiöse, rasch zur Gene-
ralisirung der Infectionskeime und zum Tode führende, ohne An-
passungskünste leicht zu gewinnende, den natürlichen Infections^
insulten daher viel gleichartigere Material schien mir sonach
1) Koch, Zur Aetiologie des Milzbrandes. Mittheilungen aus dem kaiser-
lichen Gesundheitsamt. Bd. I. Berlin 1884.
298 Dr. P. L. Friedrich,
geeignet, die zeitliche Grenzbestimmung des Oertlichbleibens einer
Wundinfection vorzunehmen.
Es ist mir nicht thunlich erschienen, parallel gehende Ver-
suche mit steriler Watte oder sterilisirtem Staub oder sterilisirter
Erde, welchen Reinkulturen von Staphylo- oder Streptokokken zu-
geführt waren, in grösserer Ausdehnung auszuführen; entsprechend
eingeleitete Versuche bestätigten nur erneut unsere allgemeine Er-
fahrung, dass erstens die Bedingung eines sorgfältig präparirten
und rein kultivirten Infectionsmaterials, zweitens aber, das Zu-
sammenmischen von Keimen und sterilisirtem Fremdkörpermaterial
nach kürzerer oder längerer Zeit durch Veränderung der Virulenz
der fraglichen Bakterienarten, endlich die ungleichmässige Empfäng-
lichkeit des Thierkörpers gegen die gedachten Infectionserreger die
Gleichmässigkeit der Versuchsanlage und die Zuverlässigkeit und
Verwerthbarkeit des Versuchsausfalls zu sehr beeinträchtigt. Die
technischen Einzelheiten der von mir angestellten Versuche ge-
stalteten sich daher kurz folgendermaassen: Bei dem auf den
Rücken gelegten und mit den Extremitäten fixirten Thiere wurde
nach sorgfältigen, aseptischen Vorkehrungen am Operationsgebiet
unter allen sonstigen Cautelen des Experimentirenden durch einen
scharfen Längsschnitt der rechte Musculus triceps brachii (Fig. 1)
freigelegt. Er stellt beim Meerschweinchen einen unmittelbar aus
dem Hautschnitt vorspringenden Muskelwulst von meist 1 — IY2 ^^
Breite und 3Y2 — 4 cm Länge dar. In diesen Muskel wurde ein
Längsschnitt gemacht, sodass eine Blutung dabei überhaupt nur
ganz ausnahmsweise entstand ; in diesen Längsschnitt wurde Garten-
erde oder Treppenstaub in der Menge eingebracht, als auf eine
Platinöse von 3 mm Durchmesser aufzuladen ist. Die Muskelwunde
wurde darüber durch 3 Seidennähte geschlossen, darnach die
Hautnaht angelegt.
Es wurde zunächst die Infectionstüchtigkeit meines Infections-
materials, Gartenerde und Treppenstaub, ermittelt; Infectionsform
und Erkrankungsablauf entsprachen den von den Koch 'sehen Ver-
suchen her bekannten Erscheinungen: die Thiere erlagen
der Erdinfection innerhalb 48 — 73 Stunden, durchschnittlich
54 Stunden; der Staubinfection innerhalb 30 — 51 Stunden, durch-
schnittlich 45 Stunden. Die Infection verlief bei beiden Infections-
Die aseptische Versorgung frischer Wunden. 299
formen unter dem Bilde des malignen Oedems, ausgehend vom
Impfortc, stinkender Verjauchung der der Impfstelle benachbarten
Gewebspartieen ; bereits nach 10 und 12 Stunden konnten ge-
legentlich, meist erst um die 16. Stunde, Baktfirien an inneren
Organen nachgewiesen werden. Fast ausnahmslos handelte es sich
um das Stäbchen des malignen Oedems; die Infection vollzieht
sich stets unter der Mitwirkung anderer, meist mehr weniger auf
den Ort des Eintritts beschränkter kleinerer Stäbchen und Kokken.
Keines der Erd- oder Staubinficirten Thiere blieb am Leben; ganz
vereinzelt) fielen Tetanusthiere dazwischen (etwa im Verliältniss
Fig. 1.
von 1 : 15 — 1 : 30). Diese wurden für alle Versuchsreihen aus-
geschaltet.
Hiernach wurde ermittelt, innerhalb welcher Zeiten in der
Nachbarschaft des Infectionsherdes (s. I und II in Fig. 1) Bactcrien
im Schnitt und kulturell nachweisbar sind. In wechselnden Zeit-
räumen nach ausgeführter Erdinfection des Muskels ward derselbe
erneut freigelegt, seine proiiimale Hälfte, in einer Entfernung von
2 mm vom Wuudgebiet beginnend, in 2 Querscheiben abgetragen, je
die Hälfte einer Querscheibe zum Schnittpräparat, die andere zum
kulturellen Nachweis der Keime verwendet. Die hier eingefügte
Tabelle zeigt das Ergebniss der Versuche.
Tabelle 1.
StaubitifectiOD des H. trireps bracbii. Untersuchung der proiimaleo Huskel-
partien in verscbiedenen ZeitabscbDiUeu auf Reime in Schaittea und kulturell.
Sämmtlicbe Thiere wurden, nacb Abtragung der proiimalen UuikelpartieD
zwecks Untersucbung, dem «eiteren Gange der Infection überlassen und er-
lagen derselben.
Zeitdauer bis zur
Untersuchung der
proximalen MÜiakel-
Thierreihe.
Ausgang.
theile in Stunden.
2
o
o
3
ü
o
+
4
n
n
t
6
CJ
o
X
C)
o
o
t + t
8
X
X
X
X
+ t
10
X
X
X
X
+ +
Sonach gelang es nur einmal and zwar kulturell und im
Schnitt bereits nach 6 Stunden im proximalen Muskeitheil Bakterien-
entwickelung nachzuweisen; sonst ausnahmslos erst von der
8. Stunde an. Der positive unzweideutige Nachweis im Schnitt
gelang durchweg schwieriger oder zuweilen erst später als der
kulturelle Nachweis, was beweist, dass von einer Contiguitäts-
infection in grossem Stile um die 6. Stunde noch nicht die Rede
ist, sondern nur vereinzelte Keime hin und wieder in den Lymph-
bahnen erscheinen können.
Die Auskeimung ist sonach zwischen der G. und 8. Stunde
im Infectionsgebiete als dem Abschluss nahe oder abgeschlossen
zu betrachten; die Keimaufnahme in die Lymphbahnen und damit
ihre Generalisirung im Organismus beginnt, oder kann beginnen.
Die sogleich folgende Versuchsreihe bestätigt auf da>s sicherste die
so gewonnene Thatsache.
Sämmtlicbe Versuch sthiere dieser ersten Reibe erlagen in der-
selben Weise, wie die früheren Staubin fcctionscontrolthiere der Ali-
gemeimnCection. Hieraus folgerte sich naturgemäss die zweite
Fragestelluug des Versuchs; Gelingt es irgendwie bis zur 6. Stande
nach der Verletzung (und dem Hineingelangen von Infections-
Die aseptische Versorgung frischer Wunden.
301
material) in das Verletzungsgebiet, das Thier gegen die Allgemein-
infection an malignem Oedem zu schätzen? Die Antwort lautet:
ja; aber nur durch das grobmechanische Mittel der allseitigen
exacten Anfrischung des Wundgebietes 1 — 2 mm im Gesunden
(s. TabeUe 2).
Tabelle 2.
Ifach verschiedcDen Zeiten nach erfolgter Verletzung und Staub- oder Erd-
iDfection wurde das Verletzuugsgebiet im Gesunden in 1 — 2 mm Eutfernung
angefrischt.
Zwischen inficirender
U V
Verletzung u. nach-
mme
Chier
folgend. Anfrischung
d. Wundgebiets ver-
Staub
Erde
Ausgang.
strichener Zeitraum
^ S 1
•ö
in Stunden.
,|
2
n
Gesund.
2
2
n
y>
3
2
w
V
4 .
2
y>
n
5
4
j»
7>
6
4
7t
«
7
1
5V2
»
*
1
n
8
6
n
9
6
V
r>
10
6
• n
n
11
7
»
2 Tage lang nachweisbare Schwel-
lung am Infectionsorte; danach
erholt und gesund.
12
8
)9
Gesund.
18
8
U
Klaffen eines Thells der Wunde durch
mehrere Tage hindurch; kränkelt
etwa 10 Tage, bleibt am Leben.
14 .
8
»
Oertliche Schwellung. Thiermatt,
trisst schlecht, bleibt am Leben.
15
8V3
V
Klaffen der Wunde mit Belag durch
mehrere Tage; kränkelt längere Zeit,
bleibt am Leben.
16
8V2
r>
t nach 30 Stunden.
17
10
r>
t nach 44 Stunden 15 Min.
18
10
»
t nach 48 Stunden.
19
10
»
t nach" 81 Stunden.
20
16
j»
t nach 38 Stunden 50 Min,
21
16
ff
1
t nach 38 Stunden 20 Min.
302 Dr. P. L. Friedrich,
Diese Uebersicht (Tabelle 2.) zeigt, dass bis zur 6. Stunde mit
Sicherheit, bis zur 8. Stunde in ungleichmässiger Weise, eine An-
frischung und damit Abtragung des Infectionsherdes die Thiere
vor der Infection mit malignem Oedem bewahrt und dieselben
gesund, ohne Krankheitszeichen bleiben. Wir haben es hier mit
einem biologischen Gesetz von nur annähernd möglicher zeitlicher
Grenzbestimmung zu thun, weil, wie bei allem Lebenden, wechselnde,
hier nicht zu erörternde Factoren einen zum Theil noch unberechen-
baren Einfluss haben können.
Jedenfalls war hiermit die Auskeimungszeit des das Wundgebiet
inficirenden Materials (für Staub und Erde im Thierversuch) für die
nachfolgende practische Prüfung der Frage annähernd ermittelt.
Vielfältige Beobachtung des Infectionseintritts beim verletzten
Menschen zeigt nunmehr, dass hier hinsichtlich der Staphylokokken-
und Streptokokken-Infectionen die Verhältnisse der Zeit nach zu-
meist mindestens ebenso günstig, wenn nicht noch günstiger liegen.
Ich verschone Sie mit einer Statistik behandelter Verletzungen;
darf doch wohl eine allgemeine üebereinstimmung darüber voraus-
gesetzt werden, dass man ein sicheres Urtheil über eine Verletzung,
ohne sie selbsr gesehen zu haben, besonders mit Rücksicht auf die
vorliegende Frage nur schwer gewinnen kann und alle entsprechenden
Statistiken von fraglichem Werthe sein müssen.
Für die chirurgische Praxis darf aber, in Anlehnung an die
gegebenen Ausführungen und gestützt auf die Erfahrung am ver-
letzten Menschen, gefolgert werden:
Wenn durchführbar, — nach äusseren Umständen (aseptischer
Apparat, Narkose oder örtliche Anästhesie) oder nach Zeit, Art
und Umfang der Verletzung, — muss eine bis zur 6. Stunde bei
frischen, nicht operativen Verletzungen noch bewerkstelligte An-
frischung jegliche Infectionsgefahr für den Träger beseitigen.
Ich brauche nicht vor Fachmännern darauf hinzuweisen, dass die
Technik der Anfrischung sich in subtiler Weise zu vollziehen hat,
dass jegliche vorherige erneute Finger- oder Sondenläsion im Ver-
Ictzungsbereich das Werk der Anfrischung fruchtlos machen kann;
dass nicht die aus infectionsverdächtigem in gesundes und aus
diesem wieder in infectionsverdächtiges Terrain schlagende Scheere
zur Anfrischung benutzt werden darf, sondern ausschliesslich das
Messer; dass die Pincetten brauche der Schmutzseite (a der Fig. 2)
Die aseptische Versorgung frischer Wunden. 303
nicht aus Versehen wieder zurückgleiten darf in die angefrischte
gesunde Fläche und ähnliche Einzelheiten mehr.
Für den Erfolg in der Verhütung der Infection ist aber nun
noch ein anderes ebenso wichtiges, gleich zu erörterndes
klinisch und experimentell erweisbares Moment maassgebend.
Ehe ich mich seiner Besprechung zuwende, möchte ich, in
Ergänzung des oben über die Schimmelbusch 'sehe Resorptions-
Fig. 2.
(Grobes Wundschema).
\
a = „inficirter** Pincettenarm, b = idealer Anfrischungssöhnitt.
theorie Gesagten, gegenüber der von mir betonten Localisations-
theorie, eine lehrreiche Versuchsreihe einfügen. Ueberträgt man
nämlich Infectionsmaterial während der Zeit der Auskeimung
aus der Wunde eines 1. Versuchsthieres unmittelbar in diejenige
eines zweiten, so gestaltet sich die Gesetzmässigkeit des Bakterien-
nachweises in der Nachbarschaft des neuen Wundherdes wesentlich
anders: die nunmehr schon in ihrer Auskeimung geförderten und
partiell an den neuen thierischen Nährboden angepassten Keime
sind jetzt innerhalb viel kürzerer Zeiten in der Nachbarschaft
nachweisbar und die Thiere erliegen viel früher der Allgemein-
infection. Es wird hiermit die Brücke von meinen Versuchen zu
denjenigen Schimmelbusch's geschlagen: je angezüchteter und
304
Dr. P. U Friedrich,
reiner das Impfmaterial, um so grösser ist im allgemeinen ') sein
Resoiptions- und iHfectionscoefficient. nur eine neue Bestätigung
alt« Davaine-, Pasteur-, Koch'scher EbipMimentalerfahrungen
(s. die Tabelle 3).
Tabelle 3.
Es «urde der M, triceps eines MeerscbweiQchena mit Staub inficirt: hiernach
nach verschiedenen Zeiten (Col. 2) der InfectioDsherd ausgeschnitten und eineni
2. Thiere (Col. 1) in den Tricepa eingebracht; danach erneut nach verschiedenen
Zeiten (Col. 8) von diesem 3. Tliiere proximale Muskelstücfce in Präparaten und
culturell auf Keiminvasion untersucht (Col. 41.
1.
2.
3.
4-
5.
4
ei
6.
Nummer
des
Versuchs-
thieres.
Keimzeit im
ersten (nicht in
die Tabelle ein-
getragenen Vor-)
Thiere.
Keimzeit im
Versuch s-
tbiere der
Tabelle.
Äuagang.
■ 1
3
3
i
6
G
7
4
G
6
8
8
11/-
2
1
2
o
X
X
X
X
X
X
X
X
X
X
+ nach 23Vi Stunden.
t nach 23 Stunden.
+•)
t nach 28 Stunden.
f)
t DBCh 19 stunden.
t nach 24 Stunden.
+•) = es ist versäumt worden, die Stucdeniahl, innerhalb deren der Tod er-
folgte, in die Tabelle einzutragen.
Diese Tabelle lehrt, dass nach theilweise erfolgter Aus-
kcimung des Infectionsmateriales in einem ersten {Vor-)Thierc die
Auskeimung, bei Ueberimpfung des Keimherdes auf ein zweites
Thier, in der Nachbarschaft des Infectionsherdes (proximale Muskel-
partie) des zweiten (Nach-) Thi eres weit früher vor sich geht, beaw.
der Eeimnachweis viel früher zu erbringen ist, als bei den Erst-
Infeetionen, wie sie die Tabelle 1 vorführte.
Sie zeigt ausser der rascheren Auskeimung, bezw. dem
rascheren Keimauftreten in der Nachbarschalt eine viel heftigere
Infectionswirkung in Bezug auf den zeitlichen Eintritt des Ver-
Die aseptische Versorgung frischer Wunden.
305
endens des Versnchsthieres: sonst durchschnittliches Verenden
bei Staubinfection nach 45 Stunden, hier durchschnittlich nach
23 Stunden.
Besonders wirkungsvoll gestaltet sich das hier bewiesene Ver-
hältniss der Bedeutung der Erst- und Zweit-Infection (ich vermeide
aus naheliegenden Gründen die Worte primär und secundär) in
den beiden folgenden Versuchsreihen (Tabelle 4).
Tabelle 4.
Es wurde 2 Thieren (I und II) je in deren rechten und linken M. triceps br.
Staub eingebracht. Nach verschiedenen Zeiten (4 und 6V2 St. bei I, 6 und
8V2 St. bei II) wurden proximale Muskeltheile auf Eeimgehalt untersucht; die
inficirten Muskelgebiete ausgeschnitten und je 2 anderen Thieren (Ir. und IL,
Ilr. und III.) in einen M. triceps gebracht; die proximalen Muskeltheile dieser
Thiere wieder nach verschiedenen Zeiten auf Keimgehalt geprüft. Die erst-
maligen Keimzeiten sind halbfett, die nachmaligen (zweiten) in den 2. Thieren
euraw gesetzt. Sonstige Bezeichnungen wie oben.
Thi
erstinfle.
lere
ziceiHnfic.
Infections-
material.
Keim-
zeiten.
Versuchs-
ergebniss.
Ausgang.
I. (Voi
dessen
rechts
1. (Nach-)
Thier
Ir.
•-) Thier
Triceps
links
j Staub.
4
6
0 0
0 0
Lebt.
2. (N
Th
li
f
ach-)
ier
l
4 stündiger
Muskelherd d.
Vorthieres 2.
6 stündiger
Muskelherd d.
Vorthieres 2.
1
1
0 X
X X
t naoh 23V2 Stunden,
t nach 28 Stunden.
II. (Voi
dessen
rechts
1. (Nach-)
Thier
Hr.
r-) Thier
Triceps
links
1 Staub
6
8V2
0 0
X X
t nach 80 Stunden.
2. (N
Th
iL
ach-)
ier
6 stündiger
Muskelherd d.
Vorthieres 1.
8 V2 stündiger
Muskelherd d.
Vorthieres 1.
1
30Min,
X X
X X
t nach 28 Stunden.
t nach 19 Stunden.
Entsprechend dieser Tabelle blieb das in beide Triceps inficirte
Thier, wo nach 4 bezw. 6 Stunden die Anfrischung erfolgte, am Leben;
in seinen proximalen Muskeltheilen waren Keime nicht nachweisbar.
Das nach 6 bezw. 8V2 Stunden angefrischte Thier verendete nach
306 Dr. P. L. Friedrich,
30 Stunden; in den proximalen Muskeltheilen bei Anfrischang
nach 8Y2 Stunden waren reichlich Keime vorhanden.
Die mit den excidirten inficirten Muskeltheilen der Erst-Thiere
inficirten Zweit-Thiere verendeten insgesammt zwischen 19 und
»
28 Stunden und zeigten bereits nach 30 Minuten bis 1 Stunde
Keiminvasion in der Nachbarschaft des Infectionsherdes.
Es hängt sonach die Nachweisbarkeit der Keime in
der Nachbarschaft des Infectionsgebietes ganz von den
vorherigen Anpassungs- (Keimungs-) Bedingungen ab und
diese sind eben in hohem Grade different bei Infection
mit Materialien, die aus der Aussenwelt stammen und
solchen, die schon auf dem Warmblüter bezw. künstlich
vorgezüchtet sind.
Ich komme nun zur Besprechung des zweiten Theiles meiner
Aufgabe, welcher sich folgendermaassen präcisiren lässt{
1. Ist es möglich, während der Auskeimungszeit,
durch Behandlungsmaassnahmen, nieht blutiger Art,
physiealiseh oder ehemiseh die Auskeimung in einer für
den Träger der Verletzung günstigen Weise zu beein-
flussen, bezw. die Infection aufzuhalten und
2. Welche örtlichen Mittel sind hierzu oder bei schon
erfolgter Infection, zu deren Bekämpfung erforderlich?
Es sind dies die beiden Punkte, wo bisher die Wunddesin-
fcction practisch einzusetzen bestrebt gewesen ist. Diese Be-
trachtungen berühren sich daher mit den Experimentaluntersuchungen
der oben genannten anderen Autoren.
Die von mir in dieser Richtung angestellten Thierversuche
können einen Anspruch auf Vollständigkeit nicht erheben. Ich
habe viele der landläufigen oder neuerdings empfohlenen Substanzen
im Experiment geprüft, möchte Ihnen aber die Zeit zu ihrer Durch-
sicht, dem Papier den Raum sparen und verzichte daher darauf,
sie alle hier aufzuzählen und die entsprechenden Versuchsreihen
abzudrucken. Meine diesbezüglichen Versuche umfassen im Ganzen
73 Thiere. Alle solche Versuche tragen schon deswegen zumeist
den Stempel der Unverlässlichkeit an sich, als für sie gefordert
werden müsste, dass jedes Desinfectionsmittel in erschöpfender
Weise und womöglich in Beziehung auf die verschiedenen
Keimspecies für sich, als für Keiragemische einer Prüfung zu
Die aseptische Versorgung frischer Wunden. 307
unterziehen sei. Die Bedeutung des Kampfes der verschiedenen
in das Wundgebiet eingedrungenen Bakterienarten gegeneinander,
deren Endresultat für den Menschen meist das Vorwiegen von
Staphylo- und Streptokokken ist, wird nur zu häufig ignorirt.
Die Wirkung aller jener Mittel ist zwar eine oft unter sich
verwandte, aber keineswegs gleichmässige. Schon ihr Chemis-
mus zu dem der Organzelle, ihr Diffusionscoeffizient, die
osmotischen Widerstände des Infectionsmateriak sind Factoren, die
eine klare Einsicht in den Complex der Vorgänge überaus er-
schweren. Mit dem einfachen Aufträufeln, Einstreuen oder Injiciren
solcher Substanzen ist eine einwandsfreie Entscheidung nicht zu
erzielen. Alle meine darauf gerichteten eigenen Versuche lassen
sich nur dahin zusammenfassen, dass bei sorgfältiger Ausräumung
des Infectionsmaterials aus dem Wundgebiet nach verschiedenen
Zeiten kein chemisches Verfahren mehr, ja die meisten nicht das
gleiche leisten, als die Emleitung einer mehr weniger das
Wundgebiet offenhaltenden Wundbehandlung, ich sage ab-
sichtlich nicht, um Missverständnissen aus dem Wege zu gehen,
„offenen" Behandlung. Sie ist die Kunst in der Vorbeugung und
Behandlung der Infectionen und Sie werden mir beipflichten, wenn
ich sage, dass es von der Erfahrung des betrefiFenden Chirurgen
zeugt, von Fall zu Fall zu entscheiden, ob, wann und in welchem
Umfange man aus der geschlossenen zur mehr oder weniger ofl'en-
haltenden Behandlung übergehen soll.
Eine grosse Menge experimenteller und klinischer
Desinfectionserfolge erledigt sich mit der Klarstellung
^es Umstandes, dass bei ihnen mit der Desinfection die
partielle oder totale offene Behandlung eingeleitet wurde.
Von Reichel^) ist dieses Moment mit Bezugnahme auf das
Experiment bereits in zutreffender Weise hervorgehoben worden.
Und immer wieder bestätigt das Experiment den von Ihnen
Allen gewiss gewürdigten Erfahrungssatz der practischen
Chirurgie, dass jegliche Wundinfection an Heftigkeit ver-
liert, sobald es uns gelingt, das geschlossene Infections-
gebiet in ein offenes umzuwandeln. Es gilt das sogar von
der verhängnissvollen Meerschweinchen-Infection mit malignem
») a. a. 0.
ArehiT fttr klin. GhJrargie. 57. Bd. Heft 2. 21
308 Dl-. P. L. Friedrich,
Oedem, insofern als Thiere, bei welchen man selbst sämmtliches
Staubinfectionsmaterial in der Wunde belasst, bei sofort eingelei-
teter offener Behandlung mindestens noch einmal so lange, meist
länger am Leben zu erhalten sind, als solche, wo der Schluss
der Wunde bewerkstelligt wird.
In wie weit diese offenhaltende Behandlung Platz greife, das kann
nicht mit Buchstabe oder Zahl normirt werden. Die Individuali-
sirung tritt auch hier ihre souveränen Rechte an, gegenüber dem
Streben nach Schematismus.
In einem Falle genügt, wie bekannt, von vornherein statt vollen
Nahtschlusses weit von einander liegende Situationsnaht, mit oder
ohne Drainage ; im zweiten die nachträgliche Entfernung einer Naht ;
im dritten ein Auseinanderdrängen der Hautwundränder; im vierten
ist ein Aufgeben jeglichen Schlusses des Wundgebietes von Nöthen.
W^er den Muth besitzt, bei Zeiten dem grösseren Erfolge zu ent-
sagen, der wird mit dem kleineren wenigstens dem totalen Sfiss-
erfolge aus dem Wege gehen.
Es würde mir nur eine grosse Befriedigung gewahren, wenn
ich Ihnen mittheilen könnte, die oder' die Desinfection der Wunde
beugt der Infection vor. Denn ich lebe der Ueberzeugnng, das&
es doch noch den vereinten Kräften des Chemikers, Bakteriologen
und Arztes gelingen muss, solche Mittel ausfindig zu machen
und darum wird auch noch nicht heute oder morgen die Suche
nach Desinfectionsmitteln erledigt sein. Nur soviel müssen wir
ehrlich eingestehen, dass die bisher uns zu Gebote stehenden
unseren idealen Forderungen sammt und sonders nicht entsprechen
und dass vnr die bisher in Gebrauch gesetzten bei richtiger Würdi-
gung der Gedanken der obigen Ausfahrungen nicht brauchen.
Gleichwohl mag zugegeben werden, dass bei frischen Verletzungen
im Stadium der Auskeimungszeit der infieirenden Keime and
bei voller Zugänglichkeit des Wundgebiets mit mehreren
der gepriesenen Desinfectionsstoffe (insbesondere dem Jodoform)
entwicklungshemmende und damit heilsame Wirkungen erzielt
werden können, obsehon es, wie oben ausgeführt wurde,
schvrierig ist, den Werth der jeweilig applieirten Substanx im
Einzelfalle abzuschätzen und abzugrenzen. Es mag ferner zu-
gegeben werden, dass mit den gleichen Substanzen nach einmal
erfolgter Demareation infeciiöser Processe, Dank der oft zn
Die aseptisolie VersorKung frischer Wunden. 309
intensiver Qewebsreaktion anregenden chemischen Differenz der so-
genannten Desinfectionsmittel, diese auf den Charakter der Granula-
tionen von günstigem Einflüsse sein können; dieses gilt namentlich
gegenüber saprophytischeu Seoundarinfectionen an oder in der
Nahe der Schleimhäute. Ich übergehe hier in einem Kreise von
Fachgenossen selbstredend die Erörterung der Wundverlaufsweisen,
wo ein unseliges Vertrauen auf die Desinfectionskraft eingebrachter
Stoffe zur Ignorirung der für Offenhalten und Abfluss sorgenden
Maassnahmen führt und wo dann die antiseptische Wundbehand-
lung geradezu für einen verhängnissvolleren Ablauf der Infection
verantwortlich gemacht werden könnte.
Wir werden es nach dem Gesagten begreiflich finden, wenn die
Einen, die mehr in Berührung mit nur kleinen Verletzungen kommen
an der Verwendung desinficirender Substanzen Sicherheit und Ein-
fachheit der Technik rühmen, während die Andren, welche viel mit
grossen und unregelmässig gestalteten Verletzungen es zu thun
haben, sich von der Verwendung jeglicher Desinfectionsmittel ab-
wenden nnd ausschliesslich sich von den oben präcisirten Grund-
sätzen leiten lassen.
Einem Fortschreiten der Infection vermag jedenfalls keine
der uns bisher bekannt gewordenen chemischen Substanzen Halt
zu gebieten : sowohl weiterreiohende chemische Contact- als erfolg-
reiche chemische Femwirkungen sind für die Wundinfectionsprocesse
noch nicht ermittelt. Und in vielen solcher Fälle dürfte das Hin-*
zutreten der chemischen Wirkung nicht selten eher von Nachtheil
als von Vortheil für den Kranken sein.
Wenn ich am Scblusse meiner Ausführungen die Hauptsätze
derselben als das Ergebniss meiner experimentellen und klinischen
Erfahrungen nochmals herausheben darf, so sind es die Folgenden:
1. Jegliche durch nicht operative Verletzungen, bez.
durch sogenannte Spontaninfection gesetzte Wund-
infection ist zunächst ein örtlicher Process. Für
seine therapeutische und prognostische Beurthei-
lung ist es von Wichtigkeit, damit zu rechnen,
dass er in der weitaus grössten Zahl der Fälle
bis mindest.ens zur 6. Stunde, oft länger, oder
dauernd ein solcher bleibt. Dieser Zeitraum stellt
gewissermaassen die Auskeimungszeit des Infec-
310 Dr. P. L. Friedrich, Die aseptische VersorguDg frischer Wunden.
tionsmaterials (Latenzzeit der Infection, In-
cubationszeit) dar.
2. Von den in dieser Zeit angreifenden Heilverfahren ist die
exakte Anfrischung des Verletzungsgebietes im Ge-
sunden und in ganzer Ausdehnung des Verletzungs-
gebietes das zuverlässigste Verfahren zur Erzielung einer
infectionslosen Heilung.
3. Wo Umstände dieses Verfahren verbieten oder nicht an-
gezeigt erscheinen lassen (Zeit, Umfang der Verletzung,
Assistenz, künstliche Anästhesie, aseptischer Apparat) ist
eine mehr weniger offenhaltende Behandlung das
beste Präservativ gegen schwere Infectionen.
4. Die Anwendung antiseptischer Stoffe hat nur Sinn, wenn
das Wundgebiet für das Anbringen derselben hinreichend
zugänglich ist, wenn sie in der bezeichneten Auskeimungs-
zeit, oder nach der vom Organismus und nicht von
chemischen Substanzen geleisteten Demarcation desln-
fectionsprocesses erfolgt. Auf progrediente oder
Allgemeininfectionen ist sie einflusslos, manchmal
nachtheilig. Sie leistet insgesammt kaum mehr, als die
von FaU zu Fall geschickt verwerthete Einleitung einer
mehr weniger oflFenhaltenden Behandlung.
Das Gesagte bezieht sich nur auf die Behandlung der nicht
operativen Verletzungs wunden. Welche Schlüsse hieraus ev. für
den Verwundetentransport, für die erste Versorgung des
Verletzten unter ungünstigen und günstigen Umständen im
Frieden und im Kriege zu ziehen sein dürften, überlasse ich
Ihrem eigenen Urtheil.
XII.
lieber peritoneale Resorption und Infection').
Von
Dr. Mf. IVaeteel,
Yolontftrant an der ehirurg. Klinik in KOni^berg.
M. H.! Die Frage nach den Bedingungen des Zustande-
kommens der Peritonitis hat seit den grundlegenden Untersuchungen
Wegner 's so viel neue klinische und experimentelle Arbeiten ge-
zeitigt^, dass ich einer Rechtfertigung bedarf, wenn ich mir
erlaube, Ihnen hier über eigene Experimente zu berichten, um so
mehr als, wie ich gleich vorausschicken will, gerade die eigenen
Versuche mich gelehrt haben, wie eng auf diesem Gebiet die
Grenzen für die experimentelle Forschung überhaupt gesteckt sind.
In einer Zeitperiode aber, in welcher die Chirurgie der Bauchhöhle
nicht nur überhaupt im Vordergrund des Interesses steht, sondern
sich auch bereits mit steigendem Erfolg der Behandlung der eitrigen
Peritonitis bemächtigt hat, beansprucht auch die aetiologische
Forschung wieder erhöhtes Interesse. Daher glaubte ich auch
einen kleinen Beitrag zu der letzteren an dieser Stelle für mit-
theilenswerth halten zu dürfen, der wesentlich zwei bisher noch
strittige Punkte behandelt. Das ist einmal die Bedeutung der
peritonealen Resorption für die Resistenz des Perito-
1) Vortrag, gehalten am 1. SitzuDgstage des XXVII. Congresses der
Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 13. April 1898.
2) Die Literaturangaben konnten der gedrängten Form des Vortrags wegen
hier nicht vollständig gemacht werden, aus dem gleichen Grunde wurde auf
die Wiedergabe der VersuchsprotocoUe verzichtet. Bezüglich beider Punkte
und aller Details muss ich auf die bevorstehende ausführliche Publication der
Arbeit verweisen.
312 th. W. Noetzel,
neums gegen In fection, zweitens die eng hiermit verknüpfte
Frage, ob eine Entzündung des vorher intacten Bauch-
fells herbeigeführt werden« kann durch Infectionserreger
allein, wie Baumgarten, AI. Fraenkel und Pawlowsky be-
haupten, oder ob hierfür irgend welche die Ansiedelung
der Mikroorganismen begünstigende Schädigungen des
Bauchfells Bedingung sind. Den letzteren Standpunkt vertritt
die grosse Mehrzahl der bisherigen üntersucher, vor allem Grawitz,
dann Reichel, Orth, Kraft, Waterhouse, Tavel, Walthard,
Wioland, Silberschmidt u. a.
Die relativ hohe Resistenz des intacten Peritoneums gegen
Bacterien ist aber nicht nur durch diese Untersuchungen über die
Entstehung der eitrigen Peritonitis in ein helles Licht gerückt
worden, sondern sie ergiebt sich noch evidenter aus Beobachtungen
der neueren bacteriologischen Forschung auf dem Gebiet der all-
gemeinen Infectionslebre, vor allem aus den Untersuchungen Kruse's.
Durch dieselben ist es erwiesen, dass Versuchsthiere die intra-
peritoneale Impfung mit grossen Mengen derselben Erreger un-
beschadet ertragen, welche in viel kleinerer Dosis subcutan bezw.
in irgend ein Gewebe injicirt sie krank machen und tödtcn. Diese
Thatsachen waren mir ein Fingerzeig, dass eine neue experimentelie
Arbeit über die peritoneale Infection und speciell über die Ursachen
der Resistenz des Peritoneums sich nicht beschränken darf auf die
eitrigen Peritonitiden , sondern auch andere Infectionskranklieiten
zu berücksichtigen hat, die sowohl von der P^tonealhöhle, als
von andern Stellen aus experimentell erzeugt werden können, gleidi->
giltig, ob der Ausgang derselben von der PeritonealhöUe auch
unter natürlichen Verbältnissen vorkommt oder besonders dutrak^
teristisch ist. Experimente der letzteren Art geben andi daram
eine erwünschte Controle ab für diejenigen mit eigentlichen Eiter^^
erregem, weil es ja genugsam bekannt ist, wie unzuveriässig die
letzteren beim Thierexpcriment sich häufig erweisen. Für eine
grosse Anzahl von Versuchen dienten mir Streptococcen von
verschiedener Herkunft und verschiedener Virulenz als Infections-
material, hauptsächlich, weil dieser Mikroorganismus als häufigster
Erreger der operativen, peritonealen Sepsis hier das grösste Interesse
beansprucht, dann auch, weil er von den Eitererregem bei einiger
Uebung der Cultivirung meiner Meinung nach immer noch am
Ueber peritoneale Eetiorption tind Infectiofl. dl3
sichersten dem Yersuchsthier gegenüber virulent zu erhalteil ist.
Daneben benutzte ich Reinculturen von Proteus vulgaris, B< Coli,
B. Friedländerf Pyocyatieus und bediente mich für den all^
gemeineren Theil der Verbuche auch hier wieder mit Yortheil des
MilzbranderregerS) den ich seiner bei aller Leichtigkeit der
Cultivirüng unbedingt zuverlässigen für die gebräuchlichen Versuchs^
thiere sehr hohen Virulenz wegen als geradezu unentbehrliches
Testobject für alle Untersuchungen über Infectionsmöglichkeiten
bezeichnen möchte. Meine Versuchsthiere waren ausgewachsene,
grosse Kaninchen, in einigen besonderen Fällen Meerschweinchen.
Auf die vollkommen gleichmassige und von allen sichtbaren Cultur-
partikelchen und Bacterienconglomeraten freie Beschaffenheit des
Impfmaterials wurde der grösste Werth gelegt«
Die überlegene Resistenz des Peritoneums in prägnantester
Weise zu demonstriren , gelang mir durch die Versuche mit Milz-
brand. Bei der hohen Virulenz dieses Materials, das von einer
milzbrandkranken Kuh stammt, waren aussserordentliche Ver^
dünnungen nöthig, welche durch Zählplatten coutrolirt wurden.
Die subcutane Impfung mit 60 Keimen rief eine typische,
wenn auch etwas langsamer, innerhalb 5 — 6 Tagen, zum
Tode führende Milzbranderkrankung hervor, während die
intraperitoneale Einverleibung von 1000 Keimen reactions-
los vertragen wurde, ebenso wie die intravenöse. Die
Technik der intraperitonealen und intravenösen Impfung muss hier
eine andere sein, als sonst üblich ^ da sie zugleich die Bedingung
erfüllen muss, die Infection der Umgebung sicher zu verhüten ; das
soll an anderer Stelle genauer besprochen werden« Eine noch so
kleine Li^>arotomie- ja auch eine etwas zu gross ausgefallene Ein-
stichwunde, die sich nicht sofort Wieder geschlossen hatte, wurde
unfehlbar von der Bauchhöhle aus mit Milzbrand inficirt und der
AusgaDgspunkt allgemeiner Infectioo. Das ist verständlich durch
die natürliche Haltung der Thiere, bei welcher die Bauchdecken-
wunde zu den tiefsten Punkten der Bauchwand gehört und sicher
mit dem Infeotionsmaterial in Berührung kommt. Ebenso aus^
geführte Experimente mit andern virulenten Mikroorganismen geben
analoge Resultate. Die Erklärung für diese müsste nach der jetzt
am noeisten vorherrschenden Anschauung in der raschen Resorption
der in die Bauchhöhle gebrachten Keime ins Blut gesucht worden,
314 Dr. W. Noetzel,
welche dadurch in derselben Weise im Körper vertheilt and ver-
nichtet werden, wie bei der intravenösen ImpfiiDg selbst Da es
nun auch durch die Arbeiten v. Recklinghausen 's u. a. bekannt
ist, dass durch den Theil der Lymphbahnen des Zwerchfells, der
ohne eingeschaltete Lymphdrüsen in den Ductus thoracacicus ein-
mündet, eine unmittelbare Communication der Stomata des Centrum
tendineum, also der Bauchhöhle, mit dem Blutgefässsjstem besteht,
so wäre nach einer solchen AuflFassung die intraperitoneale Lnpfung
der intravenösen direct gleichzusetzen, als eine auf dem Umwege
durch die Bauchhöhle ausgeführte intravenöse Impfung aufzufassen.
Weitere Versuche zur Ermittelung der Schnelligkeit der Bacterien-
resorption aus der Bauchhöhle ergaben, dass 10 Hinuten nach
der intraperitonealen Infection mit Milzbrand-Bacillen
diese im Blut nachgewiesen werden können, in derselben
Weise, wie nach der Infection blutender Wunden dies zum ersten
Mal durch Schimmelbusch geschehen ist. Dieser Nachweis be-
darf aber auch hier sehr subtiler Untersuchung nach reichlicher
Impfung und ist auch dann ein relativ spärlicher. Nun ist es
zwar mit Rücksicht auf die an anderer Stelle hervorgehobenen
Schwierigkeiten dieser Untersuchungen nicht ohne Weiteres erlaubt,
daraus zu schliessen, dass auch die Bacterienresorption von der
Bauchhöhle aus nur eine relativ spärliche ist. Aber die vorher
(S. 313) festgestellte Thatsache, dass auch nach einer spärlichen und
für das Thier indifferenten, intraperitonealen Impfung die Bacterien
lange genug in der Bauchhöhle verweilen, um nachträglich die
Bauchdeckenwunde retrograd zu inficiren, scheint mir anzudeuten,
dass nicht rasch genug eine vollkommene bezw. zur Verhütung der
Erkrankung genügende Resorption des Infectionsmaterials in der
Bauchhöhle stattfindet, mit andern Worten, dass die peritoneale
Resorption nicht genügt, die Erkrankung zu verhüten,
also auch nicht die Ursache der überlegenen Resistenz des
Peritoneums sein kann. In der bisher vorhandenen Litteratur
sind es meines Wissens nur Schnitzler und Ewald, welche gegen
die allgemein verbreitete Anschauung auftreten, dass in der raschen
Resorption ins Blut die Ursache der Resistenz des Peritoneums
liege, und die letztere vielmehr in antibacteriellen Vorgängen
in der inficirten Bauchhöhle selbst suchen, Vorgängen, die
sie denjenigen in der Bauchhöhle künstlich immunisirtcr Thiere
Ueber peritoneale Resorption und Infection. 315
(Pfeiffer, Gruber) sich analog zu denken scheinen. Diese Auf-
fassung erhält eine beweiskräftige Stütze durch die Thatsache, dass
das intacte und mit normalem Resorptionsvermögen be-
gabte Peritoneum durch genügend virulente Infections-
erreger allein, auch wenn sie nur in kleinen Mengen
eindrangen, in den Zustand der Entzündung versetzt
werden kann. Damit ist zugleich die zweite der von mir ein-
gangs aufgeworfenen Fragen im Sinne von Baumgarten, AI.
Fränkel und Pawlowsky beantwortet. Meine diesbezüglichen
Experimente sind ausserordentlich zahlreich und ihre Resultate
stimmen überein: nicht nur die Menge der eingeführten Infections-
erreger bestimmt das Schicksal des vorher intacten Peritoneums,
sondern auch die Virulenz. In dem letzteren Punkt liegt das
Beweisende für die in der Resorptionsfrage vertretene Anschauung.
Denn es ist wohl denkbar ^ dass eine geimpfte Bacterienmenge zu
gross sein kann, um schnell genug resorbirt zu werden, aber der
Umstand, dass die Virulenz auschlaggebend ist, zeigt klar, dass
der Kampf in der Bauchhöhle selbst sich abspielt, die
genügend virulenten Bacterien bleiben Sieger und vermehren sich.
Für die Resorption kann die Virulenz keine Rolle * spielen, sondern
nur die mechanische Beschaffenheit des Materials und, wie gesagt,
die Menge. Die minimalen Dosen, die von virulenten Strepto-
kokken und Milzbrandsporen zur Infection genügen, müssten dem-
nach auch resorbirt werden und also event. eine Septicaemie ohne
peritonitischen Anfang erregen. Das Experiment zeigt, dass das
Gegentheil der Fall ist, auch wenn sehr kleine Mengen, Y2 Oese
etc., verwendet und in feinster Vertheilung applicirt werden. Dass
es aber gewisse kleinste Mengen geben muss, die in toto resorbirt
werden, ehe eine Vermehrung möglich ist, ist ja a priori zuzugeben,
ebenso dass diese auch unter Umstanden virulent genug sein können,
utii eine Septicaemie ohne Peritonitis zu erregen. Dies im Ex-
perimente zu demonstriren, dürfte aber besonders schwierig sein
deshalb, weil ja sicher anzunehmen ist, dass die vollkommene
oder unvollkommene Resorption von unberechenbaren Zufälligkeiten
abhängen kann. Nach diesen Ueberlegungen kann also der Re-
sorption für die Resistenz des Peritoneums nur die Bedeutung
eines unterstützenden Vorgangs zuerkannt werden, die Fort-
schaffung eines Theiles der Bacterien. Das steht in Einklang
316 Dr. W. Noetael,
mit den anatomischen Verhältnissen, dieser rasche Uebergang in^s
Blut findet nur in dem im Verhältniss zur ganzen Oberfläche des
Peritoneums kleinen Gebiete der Stomata des Gentram tendineum
statt.
Die Beeinflussung der Infection durch Störungen der Resorption
zu zeigen war der Zweck einer grossen Zahl weiterer Experimente.
Dabei lehnte ich mich zum Theil an die Untersuchungen Schnitzler's
und Ewald 's an, durch welche die resorptionshemmenden Momente
genau festgestellt sind. Ueber diese Versuche kann ich mich um
so kürzer fassen, als sie sich zum grossen Theil mit denjenigen
früherer Untersucher mehr oder weniger decken und anch in dem
Resultat übereinstimmen, dass durch alle Momente, welche die
Resorption verzögern, die Infection befördert wird. In der Deutung
weiche ich insofern ab, als ich hier das ^post hoc, ergo propter
hoc*^ nicht anerkennen kann. Die kritische Prüfung zeigt, dass
dieselben schädigenden Momente auch die Bacterien Vernichtung in
der Bauchhöhle selbst ungünstig beeinflussen, durch Verhinderung
der innigen Berührung der Bacterien mit dem Peritoneum, der
Einwirkung der peritonealen Flüssigkeit; das soll an anderem
Orte noch genauer angegeben werden. Auf die verhängnissvollc
Wirkung von noch so kleinen Läsionen des Peritoneums habe ich
schon bei Wiedergabe der Milzbrandversuche hingewiesen. Nur
auf eine Reihe von Versuchen will ich hier eingehen, die vorher
meines Wissens noch nicht ausgeführt waren, in welchen ich durch
Opiumgaben die Peristaltik der Versuchsthiere lähmte. Dadurch
wird nach Schnitzler und Ewald eine bedeutende Verzögerung
der Resorption bewirkt. Diese Thiere erlagen in der That an
Peritonitis nach Impfungen, welche die ControUthiere reactionslos
vertrugen, sowohl von Streptokokken, als von den anderen ge-
prüften Infectionserregern. Den Grund dafür möchte ich aber auch
hier nicht sowohl in der verzögerten Resorption erblicken, als darin,
dass durch die Aufhebung der Peristaltik die Peritonealhöhle des
wichtigsten Factors ihrer Resistenz beraubt wird, das ist die
ausserordentlich grosse Oberfläche des Peritoneums, auf
welche unter normalen Verhältnissen die Bacterien vertheilt werden.
In Folge des Mangels der Darmbewegungen aber bleibt das In*
fectionsmaterial da liegen, wo es gerade hingerieth, an der tiefsten
Stelle vermuthlich, jedenfalls auf eine beschränkte Ober*
Ueber peritoneale Resoiption und Infection. 817
fläche concentrirt. Damit sind dann Verhältnisse geschaffen;
die denen bei der subcutanen Impfung genau analog sind,
und es ist daher nicht wunderbar, dass das Yersuchsthier auch
analog darauf reagirt. Dass es nicht eine Herabsetzung der
allgemeinen Resistenz der Thiere durch die Opiumvergiftung ist,
welche sie der Impfung kleinerer Mengen erliegen lässt, ergeben
die Controlversuche, nach welchen die Resistenz der Thiere gegen
subcutane oder intravenöse Impfungen nach Opiumbehandlung nicht
herabgesetzt ist» Die Wirkung allgemeiner Schwächungen gelangt
im Uebrigen selbstverständlich auch in einer geringeren Resistenz
des Peritoneums zum Ausdruck, die Bedeutung der Vergiftung
durch die Narkose hierfür hat Bunge dargethan; das Endresultat
ist das gleiche, wie es durch grössere Virulenz der Erreger einem
normal resistenten Individuum gegenüber erreicht wird.
Nun kam es mir noch darauf an, die Resistenz des Peritoneums
zu prüfen von Thieren, bei denen ich durch die Abbindung
des Ductus thoracicus (an seiner Mändung sammt den Venen,
mit denen er communicirt) die directe Communication
der Bauchhöhle mit dem Blutgefässsystem aufgehoben
hatte. Diesen Eingriff überstehen die Thiere, da ja nicht
die ganze Resorption damit aufgehoben ist und offenbar durch
vicariirendes Eintreten der andern Lyraphstämme und Entwicklung
von CoUateralen allmälig eine Anpassung stattfindet. Es ist der-
jenige Theil der Resorption aufgehoben, der die Resistenz des
Peritoneums bedingen sollte. Das Missliche bei diesen Versuchen
ist, dass die intraperitonealen Impfungen ausgeführt werden müssen,
ehe sich eine ausreichende Compensation für die aufgehobenen
Lymphbahnen gebildet haben kann, also sehr bald nach dem
immerhin für die Thiere schweren Eingriff. Auf die in Folge der
letzteren noch herabgesetzte allgemeine Resistenz ist der Tod eines
Theiles der Thiere an Peritonitis zurückzuführen. Es ist aber auch
verstandlich, dass durch eine derartige Unterbrechung der noimalen
Resorption die Ernährung des Peritoneums selbst und die regel*
massige Secretion der Peritonealflussigkeit leidet und hierdurch
auch eine Herabsetzung der localen antibacteriellen Kräfte bedingt
wird« Wesentlich ist aber, dass der grössere Theil dieser
Versuchsthiere die Impfung mit den maximalen sonst
vertragenen Mengen virulenter Streptokokken- und
318 Dr. W. Noetzel,
•Pyocyaneuscultur ebenso reactionslos überstand, wie die
Controllthiere. Interessant ist bei den gestorbenen der Befund
schwerer Vereiterung des ganzen Gebietes der Unterbindungen in
Folge der Resorption der ßacterien aus der Bauchhöhle, welche
hier an einem locus minoris resistentiae, dena Operationsgebiet,
Halt machen rausste. Ein dritter Theil der Thiere endlich ging
nach längerer Zeit (bis zu 14 Tagen) zu Grunde und zeigte bei
der Autopsie keine Peritonitis und nur die durch die geimpften
Erreger bedingte ausgedehnte Vereiterung, die vom Operations-
gebiet ausgehend zu beiderseitiger eitriger Pleuritis, Pericarditis und
Mediastinitis geführt hatte. Der chronische Verlauf spricht in
diesem Fall für die geringe Menge des hierhin resorbirten Ma-
teriales. Dieser Ausgang ist lehrreich, er zeigt die überlegene
Resistenz des Peritoneums recht prägnant, dasselbe war gesund
geblieben und hatte die geimpften Erreger überwunden. Letztere
documentirten aber deutlich ihre Virulenz an einer weniger re-
sistenten Stelle, trotzdem sie hier nur in viel geringerer Menge vor-
handen sein konnten.
Es bleiben nun noch folgende zwei Fragen zu beantworten:
1. wodurch ist nun die grosse Resistenz der Peri-
tonealhöhle gegenüber andern Geweben wirklich
bedingt?
2. weshalb erlischt diese Residenz offenbar sehr
schnell einer grösseren Bakterienmenge gegen-
über?
Was zunächst die erste Fage angeht, so muss man die
Bakterienvernichtung bezw. Entwicklungshemmung in loco analog
andern Erfahrungen der Peritonealflüssigkeit zuschreiben, viel-
leicht auch dem unmittelbaren Einfluss der Endothelzellen. Dass
hier die reichlich durch das Endothel durchwandernden Leukocyten
durch Abscheidung von Alexinen eine Rolle spielen, ist sehr wahr-
scheinlich. Man braucht nun das baktericide Vermögen der
Peritonealflüssigkeit garnicht höher anzuschlagen, als dasjenige
des Blutserums, um zu dem Schluss zu gelangen, dass die Be-
dingungen für eine Ansiedelung und Vermehrung der Bakterien in
der Bauchhöhle viel ungünstiger sind, als in irgend einer Gewebs-
wunde. Dabei kommt schon in Betracht, dass von der im Ver-
hältniss doch kleinen Eingangspforte abgesehen in dem intacten Bauch-
Ueber peritoneale Resorption nnd Infection. 319
feil eine normale Oberfläche, keine Wunde, sondern gesundes
Gewebe den Bakterien gegenübersteht. Femer ist durch die
regelmässige Erneuerung und die gleichmässige Vertheilung der
serösen Flüssigkeit überall gleichmässig die Einwirkung baktericider
Kräfte ermöglicht und zwar, und das halte ich für das wesent-
lichste, auf einer ganz ausserordentlich grossen Ober-
fläche. Durch die peristaltische Bewegung der Därme ist die
Ausnützung dieser ganzen Oberfläche in der denkbar vollkomn>ensten
Weise gegeben. Es ist also auch ohne die Resorption ins Blut
hier dasselbe Prinzip, wie bei der letzteren, das den Thierkörper
gegen die Infection schützt, die Vertheilung der Erreger auf
eine so grosse Oberfläche, dass überall nur einzelne,
jedenfalls sehr wenige Individuen den Kampf mit den
Schutzkräften der thierischen Gewebe aufzunehmen
haben und deshalb in demselben unterliegen. Es kommt
aber noch hinzu, dass in der That auch die bactericiden
Kräfte der Bauchhöhlenflüssigkeit grösser zu sein schei-
nen, als die des Blutserums bezw. der anderen Gewebs-
säfte. Dafür sprechen die Beobachtungen verschiedener Autoren,
und auch eine Reihe von Versuchen, in denen ich die Abtödtung
von B.coli in der Bauchhöhlenflüssigkeit des Kaninchens mit der-
jenigen im Serum desselben Thieres verglich. Darüber behalte
ich mir ausführliche Mittheilungen vor.
Die zweite der noch aufgeworfenen Schlussfragen drängt sich
auf aus der Beobachtung, dass einmal im scheinbaren Gegensatz
zu der hier vertretenen Anschauung von der Resistenz des Peri-
toneums, diejenigen experimentellen Infectionen, welche
mit den gewöhnlich üblichen grossen Bakterienmengen
ausgeführt werden, vom Peritoneum aus viel stürmischer
verlaufen, als von subcutanen Herden aus, sowie auch,
dass, wenn einmal eine Vermehrung der Bakterien in der Bauch-
höhle über einen gewissen Grad hinaus stattgefunden hat, die
Erkrankung rapide auf das ganze Bauchfell sich ausbreitet. Hier
ist dann die grosse Oberfläche, auf welcher die Erkrankung
angreift, gerade verhängnissvoU für den erkrankten Organismus,
ebenso wie die permanente Resorption, die auch, wenn die Er-
krankung einmal da ist, bald nicht mehr zur Vernichtung der
Bakterien, sondern zu der des erschöpften Thierkörpers führen kann.
820 Dr. W. Noetiel,
£s bleibt da meiner Meinung nach keine andere Erklärung, als die^
dass eben durch die Bakterienvermehrung selbst, durch
den Stoffwechsel der Bakterien, das Gewebe sowie seine
Secretion und Resorption sehr rasch so verändert wird,
dass es seine bakterientödtenden Eigenschaften verliert.
Dafür sprechen auch schon frühere Untersuchungen, vor allem
aber die bekannte Thatsaclie, dass das Peritoneum von allen
auch ganz leichten Reizen mechanischer, chemischer
oder thermischer Natur ja sehr rasch und intensiv ge*
schädigt wird. Aus einigen Reihen zur Demonstration dieser
Vorgänge von mir ausgeführter Experimente ergiebt sich, dass
sonst vom Thierkörper intraperitoneal reactionslos ver-
tragene Streptococcenmengen dann zu tödtlicher Peri-
tonitis fähren, wenn man gleichzeitig sterile Toxine mit
einführt. Ebenso werden Streptococcenmengen aus Agarcultur,
in sterilem Wasser augeschwemmt, vertragen von Thieren, die von
einer noch etwas kleineren Menge der vom gleichen Stamm ge^
züchteten Bouilloncultur getödtet werden. Es sind also hier die
Toxine, die das Peritoneum zunächst in der Weise verändern, dass
es der weiteren Vermehrung der Streptokokken nicht mehr Wider-
stand leisten kann,
M. H.! Wenn ich mir erlauben darf, am Schlüsse einer ex-
perimentellen Untersuchung etwaige Analogien mit der Praxis zu
streifen, so glaube ich, dass bei kritischer Prüfung die Thatsachen
der letzteren der Auffassung Recht geben, dass nicht Resorptions-
störungen es sind, welche die Entstehung z. B. operativer Peri-
tonitiden herbeiführen, sondern das für den Körper ungünstige Ver-
hältniss zwischen der eigenen Resistenz und der Virulenz der In-
fectionserreger. Ich verweise hier als auf ein Beispiel nur auf
die Verschiedenheit der Virulenz des Darminhaltes. Häufig kommt es
da nicht zur Peritonitis, wo eine reichlichere Bespülung des Peri-
toneums damit stattgefunden hat, während kleinste Mengen viru-
lenteren Darminhaltes verderblich werden, obgleich die Emährungs-
und Resorptionsverhältnisse des Peritoneums in beiden Fällen gleich
sind. Noch ganz neuerdings hat v. Eiseisberg in seiner Casuistik
von Operationen am Magen-Darmkanal auf diesen Punkt die Auf-
merksamkeit gelenkt. Die Bestrebungen, immer mehr die Ver-
meidung der Infection zu vervollkommnen, sind dadurch als wich«
lieber peritoneale Resorption und Infection. 321
tiger gekennzeichnet, als diejenigen, durch günstige Wundverhält-
nisse die Vermehrung der Erreger zu erschweren, deren Virulenz
ja unberechenbar ist.
Die Experimente mit Opium behandlung rechtfertigen einleuch-
tend den modernen Standpunkt, nach Laparotomien den Stillstand
der Peristaltik zu vermeiden, den auch Reichel in seinem Lehr-
buch in trefflicher Weise klarlegt. Meine Versuche, durch An-
regung der Peristaltik die raschere Vertheilung und Vernichtung
der Bakterien in der Bauchhöhle anzustreben, scheiterten bisher
an der Herabsetzung der allgemeinen Resistenz der Versuchsthiere
durch die zu stürmische Wirkung der betreffenden Mittel. Ich hoffe
aber, durch eine geeignetere Versuchsanordnung auch hier zu klaren
Resultaten zu kommen.
Ich möchte nur noch eine Reihe von Versuchen erwähnen, in
welchen es mir gelang, mit Streptococcen intraperitonal in-
ficirte Kaninchen durch 24 Stunden später ausgeführte
Laparotomie und vorsichtige Toilette des Peritoneums
am Leben zu erhalten, während die Gontrolthiere nach 48 Stunden
an Peritonitis zu Grunde gingen. Es kommt dabei darauf an, die
Manipulationen am Peritoneum auf das Nothwendigste zu beschränken
und möglichst zart auszuführen, um nicht durch Laesionen das
Fortschreiten der Infection zu begünstigen. Ich weiss, dass diese
Versuche für die Praxis keinen Werth beanspruchen können, die
ihnen lange voraus geeilt ist, deshalb ist es aber doch bemerkens^
werth, dass auch Thiere, welche auf die betreffenden Infectionen
in so ausserordentlich viel höherem Gade septicaemisoh reagiren,
als der Mensch, zu retten sind durch einen Eingriff, der hier nur
eine Verminderung der Keime und ihrer Stoffwechselproducte —
grössere Exsudatmassen waren nicht vorhanden — erreichen kann.
Dann gelingt es unter sonst günstigen Verhältnissen den Abwehr-
vorrichtungen des Thierkörpers die noch vorhandenen Infections-
erreger zu überwinden, obgleich es aus technischen Gründen in
diesen Versuchen nicht möglich war, durch Tamponade oder Drai-
nage der Bauchhöhle auch für reicheren Abfluss der Entzündungs>
producte zu sorgen, wie man es nach operativen Eingriffen wegen
eitriger Peritonitis am Menschen vermag.
XIII.
(Aus der chirurg. Klinik des Professor Wolf 1er in Prag.)
lieber Wundsecret und Bacterien bei der
Heilung per primam').
Von
Dr. Hermann SehlolTer,
Assistenten der Klinik.
M. H.! Wenn ich mir erlaube, Ihnen über eine Reihe von
Wundsecret-Untersuchungen zu berichten, die ich im Verlaufe der
letzten 3 Jahre an den chirurgischen Kliniken in Graz und Prag
auf Veranlassung des Herrn Prof. Wolf 1er vorgenommen habe,
so geschieht dies deshalb, weil die Fragen, welche diesen Unter-
suchungen zu Grunde gelegen sind, zum Theil andere waren, als
diejenigen, welche den Ausgangspunkt für die einschlägigen bisher
bekannt gewordenen Untersuchungen gebildet haben.
Schon zur Zeit des Lister -Verbandes hat man sich mit dem
Studium des Bakteriengehaltes unter demselben bei primär heilenden
Wunden befasst, und es ist schon damals die Meinung vertreten
worden, dass auch bei tadellos primärer Heilung der Wunden doch
Formen von Coccobacteria septica im Secrete derselben vorkommen
können.
Als sich die Technik unserer Antiseptik und Aseptik immer
mehr vervollkommnete, und als dadurch die Bedingungen für das
Keimfreibleiben der Wunden sich günstiger gestalteten, hat eine
Reihe von Wundsecret-Untersuchungen, die von verschiedenen
Autoren vorgenommen wurden, neuerlich zur Klärung dieser Frage
beigetragen.
0 Vorgetragen am 1. Sitzungstage des XXVII. Congresses der Deutschen
Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, id. April 1898.
Feber Wundsecret und Bacterien bei der Heilung per primam. 323
Schon Staeheli^), der im Jahre 1886 an Socin's Klinik
seine Untersuchungen vornahm und sich hiebei als Erster des
Plattenverfahrens bediente, kam zur üeberzeugung, dass eine Wunde,
ohne dass dies von Nachtheil für die Heilung wäre, nichtpathogene
sowie pathogene Mikroorganismen enthalten könne. Von den
letzteren, welche störend wirken können, komme besonders häufig
Staphylococcus pyogenus albus und aureus vor. In ähnlicher
Weise sprach sich Bossowski^) aus, der zur selben Zeit auf
Anregung Mikulicz' diese Frage studirte. Er fand unter dem
antiseptischen Jodoformverband ^/g der Wunden keimfrei, ungefähr
die Hälfte seiner Wunden war mit Staphylococcus albus verunreinigt,
aber nur % der ausschliesslich mit diesem Coccus verunreinigten
Wunden heilte trotzdem per primam intentionem. Wenn der
Staphylococcus pyogenes aureus gefunden wurde, dann trat unbe-
dingt Eiterung ein.
Bloch^) hat unter 39 Fällen primärer Heilung 33 mal Staphylo-
coccen in seinen Wunden gefunden; meistens den Staphylococcus
albus, aber mehrmals auch den aureus. Der letztere erzeugte
keine Eiterung. Nach Welch*) ist bei weitem der häufigste Mikro-
organismus in Wunden mit aseptischem Verlaufe der Staphylococcus
epidermidis albus, der, wie er meint, ausser bei der Anwesenheit
einer Drainröhre oder anderer Fremdkörper nur selten Eiterung
verursacht. Bezüglich der Anwesenheit des Staphylococcus pyogenes
aureus ist aber auch er der Ansicht, dass sie von Eiterung be-
gleitet sein müsse. Die ziemlich gleichzeitig erschienenen Arbeiten
von Büdinger^) und Tavel^) haben sich in ihrem Ergebniss in-
sofeni imterschieden, als Budinger in 20 Fällen durchwegs
Staphylococcen, 8 naal sogar den aureus fand, ohne dass Eiterung
') üeber Mikroorganismen unter dem antiseptischen Zinkverbandc.
St^ Gallen 1886. Centralbl. für Chirurgie. 1887. S. 5. Ref.
2) lieber das Vorkommen von Mikroorganismen in Operationswunden unter
dem antiseptischen Verbände. Wiener medicinische Wochenschrift. 1887.
No. 8 und 9.
3) Bemarkninger om Behandling of dar. Nordiskt Med. Arkiv, Band 21
Referat: Baumgarten Jahresberichte 1890. S. 599.
*) Conditions underljing the infection of wounds. The americ. Journ. of
the medic. sciences 1891. p. 439.
8) üeber die relative Virulenz pvogener Mikroorganismen in per primam
geheilten Wunden. Wiener klinische Wochenschr. 1892. No. 22, 24, 25.
ö) Die Sterilität der antiseptisch behandelten Wunden unter dem anti-
septischen Verbände. Gorrespondenzbl. für Schweizer Aerzte. XXII. Jahrgang.
1892. No, 13 und 14.
ArobJT fttr klin. Chirurgie. Bd. 57. Heft 2. 22
324 I>r. H. Schloffer,
hinzukam, während Tavel in 94 primär verheilenden Wunden bei
beiläufig; Y3 der Fälle keimfreies Secret und in Secreten mit posi-
tivem BakU'rien-Befunde meist nur den Staphylococcus cereus albus
oder albus fand. Während er aber diesem nur ausnahmsweise
infectiöse Eigrenschaften zuspricht, hat er bei der Gegenwart von
Staphylococcus aureus stets Eiterung beobachtet. Die letzte mir
bekannte Arbeit über denselben Gegenstand stammt von Boginski^).
Er betrachtet die volle Keimfreiheit der AVunde zwar als das Ziel
der modernen Chirurgie, hält aber dafür, dass unsere jetzigen Me-
thoden der Wundbehandlung die Erreichung dieses Zieles nicht mit
Sicherheit mögli<*h machen, und dass auch pyogene Mikroben bei
Wunden, welche per primam heilen, aiigetroffen werden können.
Von Interesse ist es auch, das» kurzlich Riggenbach^) auch in
accidentellen Wunden den Staph. alb. häufig, 15 mal in 24 Fällen,
antraf und hiebe! 10 mal die Heilung ungestört verlaufen sah.
Darin also stimmen alle angeführten Ergebnisse von Wund-
sccret-Untersuchungen überein, dass trotz der Anwesenheit pyogener
Cocceu eine primäre Heilung möglich sei. Es hat diese Thatsache
begreiflicherweise die Frage nahe gt*legt, warum imd unter welchen
Umständen die Eit<Tung in solchen Fällen ausbleibt, und den Be-
dingungen nachzufrehen, die das Zustand(»koramen der prima intentio
verbürgen.
Es hat deshalb Herr Prof. Wölfler^) alle jene Momente einer
cing(»henden Kritik unterzogen, welclie wir als Schutzkräfte und
Abwehrmaassregeln des Organismus und der Wunde gegen die In-
f(»ction in Betracht ziehen müssen und hiebei auch dem Wund-
secrete besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Denn dass wir die
l)ckafmten ba<tericid(*n Eigenschaft(»n des Blutt»s auch im Wund-
secret vorfinden wenden, war eine.nahelieirende Annahme. Und so
durften wir auch erwarten, in denn Wundsecrcte eine mehr odiör
minder erfolgreiche A bwehmiaassre.irel gegen die Infection der
Wunde zu finden. Einige Versuche der unten mitzutheilenden
0 Bacteriologisohe BeschafifeDhcit der Wunden bei aseptischer und anti-
septischer Ausführung der Operationen. Chirurpe. 1897. No. 8 (russisch).
Referat: Centralblatt für Chirurgie. 1S!>7. S. 1174.
2) lieber den Keimgehalt accidenteller Wunden. Deutsche Zeitschr. für
Chirurgie. Band 47. H. 1.
3) Ueber die Bedingungen der Wuudheilung, Antrittsrede 5. Mai 1895.
Prager med. Wochenschr. 1895. No. .20, 21.
Ueber Wundsecret und Bacterien bei der Heilung per primam. 325
Serien, die Herr Prof. Wölfler damals schon mittheilen konnte,
schienen diese Erwartungen zu bestätigen.
Inzwischen habe ich durch Erweiterung meiner Versuchsreihen
ein Material gesammelt, das schon ziemlich sichere Schlüsse über
die in Rede stehenden Fragen gestattet.
Die Ausgangspunkte zu diesen Untersuchungen lassen sich in
folgenden Fragen zusammenfassen:
1. Kommen im Wundsecret von per primam heilenden Wunden
Bakterien vor und sind namentlich die gewöhnlichen Eiter-
erreger darin anzutreffen?
2. Hat das Wundsecret baktericido Eigenschaften?
3. Wie äussern sich diese baktericiden Eigenschaften gegen-
über den im Secrete bereits vorhandenen Keimen und
gegenüber den gewöhnlichen Eitercoccen?
Yersuchsanordnnng.
Die Secretuntersuchungen betrafen durchwegs Operations-
wunden. Die Operationen wurden streng aseptisch ausgeführt
und abgesehen von der Hautdosinfection alle Desinfectionsrnittel
strenge vermieden. Die Instrumente lagen in gekochtem Wasser
oder solcher Sodalösung; auch die Hände wurden nach der Des-
infection in gekochtem Wasser abgespült. Zum Verband wurde
lediglich aseptische Gaze ohne Imprägnirung verwendet. Nur bei
den Fällen I-XV wurde zum Theil auch Jodoformgaze zum Ver-
band gebraucht, weil diese Fälle lediglich dem Studium der Art
und Virulenz der Wundsecretkeime- dienen sollten.
Bei den Fällen XVI — XXXI aber, die daneben auch noch
einer Prüfung über die Baktericidität des Wundsecretes unterzogen
werden sollten, wurde auch die Jodoform-Gaze weggelassen und
überdies vorher eine möglichst exakte Blutstillung vorgenommen.
Zu bemerken ist noch, dass die Fälle XVI — XIX in einem allen
modernen Anforderungen entsprechenden Operationssaale der Grazer
Klinik ausgeführt wurden, und dass mehrere in diesem Operations-
saale vorgenommene Luft-Untersuchungon nur ganz ausnahms-
weise das Vorhandensein von weissen Staphylococcen, nie von
gelben Staphylococcen oder Streptococcen ergeben haben.
Die Entnahme des Secretes erfolgte bei den Fällen I — XV nur.
einmal und zwar bei Entfernung des Drainrohres am 2. bis 4. Tage
22*
326 Dr. 11. Schloffer,
Es wurde hirrhoi eine mödichst grosse Menge von flussigem oder
coagulirtem Wundsecret auf Agarschalen irebracht und ven>trichen.
Bei den Versuchen XVI — XXXI wurde das Secret in anderer
Weise aufgefangen. Das in die Wunde eingelegte Drainrohr wurde
durch den Verband nach aussen geleitet und an das freie Ende
desselben ein ausgekochtes Glasfläschchen von ca. 40 — 50 ccni
Rauminhalt fest angesteckt. Durch einen zweiten aseptischen
Verband wurde das Fläschchen geschützt. Nach Ablauf einer ge-
wi>sen Zeit wurde dieser zweite Verband abfi:enommen, das
Flaschrhen unt<T streniren aseptischen Cautelen abgezogen^) und in
sterile Gaze gehüllt in das Laboratorium gebracht »sein Inhalt ent-
spricht dem Wj der Tabellen;. An das Gummirohr wurde in-
zwischen ein neues ausirekochtes Glaskölbchen an£:esteckt, um
später mehrmals in derselben Weise gewechselt zu werden. (Wo,
Wg u. s. w. der Tabellen.) Die Untersuchung der auf diese Art
gewonnenen Secret proben, geschah nun nach mehreren Richtungen hin:
1. Wurde jede Secretprobc auf ihren Bakteriengehalt geprüft:
S<»irleich nach der Abnahme des Fläschchens wurde dieses kräftig
geschüttelt und hierauf mittelst steriler Pipette Y^ ccm vom Secreie
aufgesogen und mit verflüssigtem Agar in eine Petri'sche Schale
mit ebenen Boden ausgegossen (Brutofen). Die spätere Unter-
suchung ergab die Art und Anzahl der Keime, die in Y4 ccm
jeder Secretprobc enthalten waren, und der Vergleich der Platten
von den verschiedenen Secretproben eines und desselben Falles ein
Bild über die Veränderung des Keimgehaltes während der Wund-
heilung.
2. Wurde eine grosse Anzald von Se<Tetproben auch auf ihre
bactericiden EiL'enschaft»»n gegenüber den im Secret schon vor-
handenen Keimen hin g^^prüft. Das nach der Entnahme von y^ ccm
zunickizebliebene Secret wurde eranz oder zum Theil in eine sterile
Eprouvette überirefüllt und hierauf in den Brutschrank gestellt. In
gewissen Zeitahsrhiiitten, die aus der Tabelle jedesmal ersichtlich
sind, wurde dann abermals stets V4 ^'^^ ^^^ ^^^ wieder ge-
*) Die Au>beute an Wund^^^rcret war fast stets recht ergiebig, namentlich
die erst abjjenommerjen Fri^i-hohrrii waren meist ;;inz griülit. Besonders
grosse <^uantitäten lie^«>en sich dadurch erzielen, dass entweder ein dickes
Drainrohr oder der Hals de?» GlaatVUohrhens >':Ibst in die Wunde gelegt und
dadurch für die erste Zeit eine Verkltbung der Wundflächen hiutangehalteo
wurde.
lieber Wandsecret und Bacterien bei der Heilung per primam. 327
schüttelten Eprouvette entnommen und mit Agar ausgegossen. Die
so gewonnenen Platten verglichen mit der aus 1. resultirenden
gaben die Veränderungen im Keimgehalt an, die das Secret
während seines Aufenthaltes im Brutofen durchzumachen hatte.
3. In vielen Fällen wurde eine Partie des Secret es mit
Staphylokokken, eine andere mit Streptokokken versetzt, gut ge-
schüttelt und hierauf von Y^ ccm des Gemisches eine Agarplatte
gegossen; dann kam die Mischung in den Brutschrank, um durch
mehrmalige Abnahme und Ausgiessung mit Agar von Y4 ^^'^
während der nächsten Stunden auf die Veränderungen seines künst-
lich geschaffenen Keimgehaltes hin untersucht zu werden. Die hier
in Verwendung gekommenen Staphylokokken- und Slreptokokken-
Culturen waren stets frische Bouiilon-Cuituren junger Generation,
aus frischen eitrigen Processen gewonnen.
Die Zählung der Colonien geschah mittelst der modificirten
Brunner-Zaw^adski'schen Zählplatte ^). Auf Genauigkeit wurde bei.
hohen Oolonienzahlen natürlich kein Werth gelegt und deshalb in
den ProtocoUen häufig nur beiläufige Angaben eingetragen.-
Was den Wundverlauf bei den in die Tabellen aufgenommenen
Operations wunden anbetrifft, so war derselbe durchwegs ein primärer
und wurden alle jene Fälle, bei denen Störungen der Wundheilung
beobachtet wurden, aus meiner Versuchsreihe ausgeschieden. Nur
habe ich absichtlich einige solche Fälle doch beibehalten, weil sie
mir gerade im Hinblick auf die relative Virulenz des Staphylo-
coccus albus Aufschluss zu geben schienen. Es sind das die
Fälle 1, 2 und 23. In dem Falle 31 trat zwar Prima ein, aber
eine vorübergehende Röthung und Schwellung der Wundränder
gaben von nicht tadellosem Verlaufe Zeugniss.
Die TabeUe III enthält die Zusammenstellung der mit Wund-
secretstaphylokokken vorgenommenen Thierversuche. Die Details
sind aus den Rubriken zu ersehen und es sei hier nur bemerkt,
dass bei den Kaninchen die Impfung in der Weise vorgenommen
wurde, dass zuerst mit der Canüle in die Randvene eines wohl
desinficirten Ohres eingestochen 2) und hierauf ein kleiner Theil der
Flüssigkeit intravenös, der übrige subcutan injicirt wurde. Bei
1) Beitr. z. klin. Chir. Bd. 14. S. 829.
2) Da hierdurch unter Umständen Thrombose der Vene henorgerufen
wurde und diese die Eiterung zu begünstigen schien.
328
ür. H, Schloffer,
einigen solchen p]xperiraenien wurde ausserdem noch der Versuch
gemacht, die Wirkung der injicirten Staphylokokken durch vorher
angelegte elastische Ligatur des Ohres (Pawlowsky, Büdinger),
durch Verweilen des Thieres im Eis- oder Brutschranke i) oder
durch gleichzeitige In jection einer Proteuscultur (Trombetta)^) zu
verstärken. Im Anschlüsse bringt Tabelle IV einige Thier\'^ersuche
mit Hautstaphylokokken, von deren Bedeutung unten die Rede
sein wird.
1) Nach Analogie der Versuche Filehne's bei En*sipelimpfungen.
Centralbl. f. Bacteriol. etc. Bd. XVII. S. 477.
2) Centralbl. f. Bacteriol. etc. Bd. XII. S. 121.
Tabelle I. Bakterienbefnnde im Wnndsecret.
a) Secret vom Drainrohr entnommen.
Ref.
■
o
1^
Indication
Secret
~ T
zur
entnommen nach
Ergiebt in der Strichcultur,
Anmerkung.
Operation.
? Tagen.
1.
Freie Leisten-
4 Tagen.
Neben ca. 80 Col. Saprophytcn 4 Col.
Stichcanaleiterg.
hernie.
Staph. alb.
enth. Staph. alb.
2.
Freie Leisten-
hernie.
3 .
Ca. 50 Col. Staph. alb.
In einem Nahtab-
scess Staph. alb.
3.
Struma cystic.
2 .
Zahlreiche Colonien Staph. alb.
4.
Lymphadenit.
colli.
4 .
3 Col. (0. Staph.)
5.
Hygroma
praepatellare.
3 .
Einzelne Colonien Staphyl. alb. Fast
rein.
6.
Carcinoma
mammac.
4 .
Staph. alb. fast rein.
7.
Carcinoma
4 ^
ReincuUu* von Staph. alb. (l Col.
*) Ist nicht sicher-
mammae.
aureus?)*)
gestellt.
8.
Freie Leisten-
hernie.
3 ^
Fast Reincultur von grossen Diplo-
kokken, keine Eiterkokken.
9.
Freie Leisten-
hernie,
H .
Einzelne Colonien grossentheils Staph.
alb.
•
10.
Tuberculosis
testis
(Castratio).
2 .
0
11.
Lymphadenit.
colli.
3 .
U. A. zahlreiche Col. weisser Staph.
12.
Herniainguin.
libera.
3 «
0
13.
Carcinoma
mammae.
3 .
Vornehmlich grosse Diplokokken.
14.
Tuberculosis
testis
(Castratio).
3 „
Vornehmlich Staph. alb.
15.
Lymphadenit.
colli.
4 .
Zahlreiche Colonien, keine Staph.
üeber Wundsecret und Bacterien bei der Heilung: per primani. 329
b) Secret in Fläschchen aufgefangen und mehrmals untersucht.
•
o
Indication
zur
Wundsecret
entnommen nach
Ergiebt culturell nach Verimpfung
4 ■
Anmerkung.
Operation.
? Stunden.
•
von V4 ccm.
16.
Freie Cniral-
Wi nach
4 St.
3 Col. (davon 1 Staph. alb.)
Hernic.
W2
r
IG .
3 , ( » 0 , , ).
17.
Freie Leisten-
w,
T
6 .
3 , (0 Staph. alb.) .
Hemie.
W2
T)
22 ,
10 , (3 , , )
Wa
T
48 ,
2800 „ (Staph. alb.)
18.
Osteo-
w,
9»
6 „
5 , (davon 1 Staph. alb.)
plastische
W,
J?
22 ,
8 , ( , 0 , , )
Amputation.
w.
»)
30 ,
5 . ( , 0 , , )
W4
r
54 ,
1 , ( r 0 , , )
Ws
j»
71 .
14 , ( r 0 r „ )
We
T
92 ,
900 ^ ( , 0 , - )
19.
Sarcoma funi-
w,
r
80 ,
50 , Staph. alb.
*) 1 Ocse verimpft,
culi sper-
W2
9
r
54 ,
10 , , .
da nicht mehr
matici.
W3
5»
78 .
10000 , , ,
vorhanden.
W4
!•
95 ^
1500») „ , ,
20.
Carcinoma
w,
r
11 ,
92 „ „ „
mammae.
W2
j?
23 ,
3 „ (keine Staph.)
W3
r
4 Tg.
00 „ Stäbchen.
21.
Carcinoma
w,
»
8 St.
250 „ vorwiegend Stäbchen.
mammae.
W2
n
17 „
30 „ (5 Col. Staph. alb.)
Ws
»
22 ,
9 ^ grosse Kokken.
«
W4
r
39 ,
1800 r, Stäbchen.
W5
r
63 „
600 „
22,
Struma
w,
r»
5 n
250 y, Stäbchen ca. Vio staph. alb.
cystica.
w.
r
22 ,
39 „ keine Eiterkokken.
•
w.
r
30 ,
Platte verdorben.
W4
w
46 „
0
■
W5
»
67 .
135 Col. Staph. alb.
23.
Carcinoma
W:
«»
22 .
16 „ (davon 7 Staph. alb.)
Am 4. Tage p. op.
m<amroae.
W,
V
46 ,
700 r, Staph. alb.
Fieber bis 38,8
W3
r
70 ,
9500 ^
wegen Secret-
W4
»
94 ,
Dichte Platte, Staph. alb.
retention ; im re-
Ws
«
120 ,
r r r r
tinirtcn Secrot
Staph. alb. in
R.-C.
24.
Lymphadenit.
w,
n
22 ,
2 Col. 1 Staph. alb.
♦) Weil nicht mehr
colli.
W,
«k
46 ,
190 ,, Staph. alb.
Secret vorband.
Ws
j»
60 ,
1100 ,
w.
«
.81 ,
1100 „ , ,
W5
»
106 .
600 y, „ ,, ine. paar Tropf.*)
25.
Fungus pedis
w,
f
24 .
3 Col. (2 Staph.)
(Amputation).
w.
T
48 .
1100 ^ Staph.
w,,
T
69 .
8000 „ Sporenbildend c Stäbchen.
W4
r
98 .
^ r^ -. r
W5
T
120 „
und Kokken.
330
Dr. H. Sohloffer,
•
o
iDdication
zor
1
Wundsecret
entnommen nach
Ergiebt calturell nach Verimpfung
« 1
Anmerkung.
'S
OpeiatioD.
? Stunden.
von V4 <^cm.
26.
Carcinoma
w, ,
80 st
3 Col. (0 Staph.)
mammae.
W2 y,
50 „
10 , (2 . )
w, ,
70,
250 ^ Staph.
w, ,
91 r
900 , ,
27.
CarciDoma
w, ,
6 ,
19 ^ (5 Staph. alb.)
mammae.
W2 ,
22 ,
44 „ (fast ausschl. Staph. alb.)
w, ,
46 ,
4 y, Staph. alb.
W4 .
70 ,
40000 „ grösstentheils Staph. alb.)
^5 »
94 ,
4 „ (2 St^iph. alb.)
28.
Lymbadenitis
w, ,
18 ,
0° r
colli.
"2 n
42 ,
00 ^ darunter auch Staph. alb.
W3 „
66 ,
» r 5» r r •»
W4 r
90 ,
r " r r 1» *•
29.
Fungus pedis.
w, ,
23 ,
0
W2 ,
47 „
0
W3 ^
71 ,
4 Col. (davon 3 Staph.)
W4 „
96 ,
5 , 0 Staphyl.
30.
Ulcus cruris
w, ,
22 ,
1400 „ [fast nur Staph.
(Amputation).
W2 r
46 ,
700 , Staph. alb.
W3 r
72 ,
3100 „, ,
W4 ,
93 „
^ „ VT
31.
Lipoma dorsi.
w, „
22 ,
8 ^ Staph. aureus.
Nach d. Operation
w, ,
46 ,
1200 „ Staph. (alb. u. aur.?)
. Verband abge-
W3 ,
69 ,
CO ^ Staph.
rUsen , Schwel-
W4 „
92 ,
». V
lung u. Röthung
der Wundrander.
Heilung p. p.
Tabelle II. Prfifan/i^ der baktericideii Eigenschaften des Wnndseeretes.
A. Gegenüber den im Wundsecret bereits vorhandenen Keimen.
— . -
Anzahl der
Verwendetes
Colonien in
Anzahl der Colonien in V4 ccm nach
No.
Seeret.
* '4 com gleich nach
der Entnahme.
? Stunden Aufenthaltes im Brutofen.
Anmerkung.
1.
F. 16, Wi.
3 (1 Staph.)
16 St.
20 St.
23 St.
27 St.
43 St.
Von 16 St. an
2
64
310
00
00
keine Staph.
(0 staph.)
2.
F. 16, W2.
3
4 St.
0
7 St.
0
11 St.
0
27 St.
0
—
Keine Staph.
3.
F. 18, \V4.
1
18 St.
3
21 St.
1
25 St.
1
28 St.
19
•—
do.
4.
F. 18, Wß.
14
3 St.
110
7 St.
1300
10 St.
11000
'—
do.
5.
F. 18, We,
900
17 St.
OD
—
do.
Ueber Wundsecret und Bacterien bei der Heilung per primam. 331
Anzahl der
Ko.
Verwendetes
Secret.
Colonien in
V4ccni gleich nach
Anzahl der Colonien in V4 ccm* nach
? Stunden Aufenthaltes im Brutofen.
Anmerkung.
der Entnahme.
6.
P. 20, Wi.
92
12 St.
500
—
•
Staphylokokken.
7.
F. 20, Wa.
3
3 St.
3
8 St.
—
Keine Staphyl.
8.
F. 21, WV
1800
_^
Stäbchen.
13
9.
P. 22, Wi.
250
4 St.
250
18 St.
800
z. Th. Staphyl.
10.
F. 22, Wa.
39
4 St.
8
7 St.
7
Keine Eiterkokk.
•
11.
F. 23, W,.
16 (7 Staph.)
24 St.
600*)
—
—
♦) Fast nur Staph.
12.
F. 23, Wa.
700
3 St.
160
7 St.
36
11 St.
20
Staphyl.
13.
F. 24, \V,.
2 (1 Staph.)
3 St.
4
7 St.
3
22 St.
1
—
Von 3 St. an keine
Staphyl.
U.
F. 24, Wa.
190
5 St.
140
11 St.
125
21 St.
.1900
\
"■"•
Staphyl.
15.
F. 25, Wa.
1100
4 St.
1800
9 St.
4600
20 St.
10000
^^
Staphyl.
16.
F. 27, W4.
40000
3 St.
30000
6 St.
12000
9 St.
7000
Grossentheils
Staphyl.
17.
F. 29, Wg.
4 '(3 Staph.)
3 St.
3
(IStaph.)
9 St.
3
(1 staph.)
18.
F. 30, Wi.
•
1400
8 St.
15000
—
—
—
Fast nur Staph.
alb.
19.
F. 30, Wa-
700
6 St.
130
Staph. alb.
20.
F. 30, W3.
3100
4 St.
800
7 St.
CO
-—
do.
21.
F: 31, W,.
8
2 St.
20
6 St.
9
9 St.
6
Staph. aureus.
22.
F. 31, Wa.
1200
2 St.
600
3 St.
135
^^
23.
F. 31, W3.
Dichte Platte.
2 St.
ver-
mehrt.
5 St.
ver-
mehrt.
B. Gegenüber künstlich eingebrachten Keimen,
a) Staphylococcus pyogenes aureus.
No.
Ver-
wendetes
Secret.
Anzahl der
Keime in
V4 ccm nach
d. Entnahme.
Dasselbe
nach d. Be-
schickung
m. aureus.
Dasselbe nach ? Stunden
Aufenthaltes des Gemisches im
Brutofen.
Anmerkung.
24.
F. 16, Wi.
82 (25)
lest.
8(4)
20 St.
200
(42)
23 St.
1300
00
27 St.
00
332
Dr. H. Schloffer,
No.
Ver-
wendetes
Secret.
Anzahl der
Keime in
'/4 ccra nach
d. Entnahme.
Dasselbe
nach d. Be-
schickung
m. aureus.
Dasselbe nach ? Stunden
Aufenthaltes des Gemisches im
Brutofen.
Anmerkung.
25.
26.
27.
28.
29.
30.
31.
32.
33.
34.
35.
36.
F. 16, Wj.
F. 16, Wa.
F. 17, W2,
F. 21, W2.
F. 22, Wi.
F. 22, W2.
F. ^23, W2.
F. 23, W3.
F. 24, \V,.
F. 25, Wi.
F. 25, Wo.
F. 26, Wo.
37. F.26, W4.
38.
39.
40.
41.
42.
43.
F. 27, W3.
F. 29, Wo.
F. 29, W3.
F. 30, Wo.
F. 30, W3.
F. 31, Wo.
10
30
250
39
700
9500
9
1100
10
900
4
0
4
700
3100
1200
4»)
14
20000
4500
3300
12000
6500
Dichte
Platte.
1100
10
4800
5000
5000
2200
14
Dichte
Platte.
900
20000
5500
4 St.
1
4 St.
4
3 St.
4000
3 St.
400
4 St.
900
4 St.
1900
3 St.
2200
ver-
mehrt.
3 St.
104
5 St.
4
4 St.
ver-
mehrt.
5 St.
4000
3 St.
3000
3 St.
350
6 St.
16
ver-
mehrt.
6 St.
180
4 St.
ver-
mehrt.
3 St.
1000
7 St.
0
7 St.
3
6 St.
8000
est.
220
18 St.
7 St.
1600
7 St.
700
ver-
mehrt.
7 St.
96
11 St.
0
11 St.
792
10 St.
40000
9 St.
140
11 St.
3000
12 St.
118
11 St.
1800
9 St.
ver-
mehrt.
14 St.
20000
8 St.
8000
24 St.
00
9 St.
3
ver-
mehrt.
7 St.
ver-
mehrt.
8 St.
350
21 St.
00
20 St.
CO
27 St.
0
27 St.
00
19 St.
OD
24 St.
5000
24 St.
00
22 St.
2200
*) Ob aureus da-
bei war ist nicht
sicher gestellt.
Nicht aureus, son-
dern sapropb.
Coccus ver-
wendet.
23 St.
00
Die gleichzeitig
untersuchte Bac-
tericidität des
Blutes ergiebt
ein ähnliches
Resultat.
Von 5 St. an
lediglich'Staphy-
lokokken.
Wundsecert - Sta-
pbj-lococc. ver-
wendet.
Ueber Wundsecret und Bacterien bei der Heilung: per primam. 33.3
ß) Streptococcus pyogenes.
No.
Ver-
wendetes
Secret.
Anzahl der
Keime in
V4 ccm nach
d. Entnahme.
Dasselbe
nach d. Be-
schickung
m. aureus.
Dasselbe nach ? Stunden
Aufenthaltes des Gemisches im
Brutofen.
Anmerkung.
44.
F. 18, W3.
5
25000
7 St.
18000
—
—
45.
F. 21, W2.
80
100
3 St.
110
6 St.
200
9 St.
1800
24 St.
00
■ ■ ^
46.
F. 21, Wj.
30
75
3 St.
6 St.
9 St.
24 St.
Eine and. Strepto-
50
40
42
00
cocc.-Art wie im
vorigen Versuche.
47.
F. 22, Wi.
250
300
4 St.
300
18 St.
00
24 St.
00
■
■
48.
F. 22, Wo.
39
200
4 St.
85
7 St.
500
—
^^
49.
F. 22, Wo.
39
350
4 St.
26
7 St.
22
24 St.
00
Strcptoc. anderer
Provenienz wieira
vorigen Versuch.
50.
F. 24, W|.
2
108
3 St.
7 St.
12 St.
22 St.
♦) Davon 14 Strep-
17*)
98
dichte
Platte.
. QO
tococc. Blut des-
selben Pat. zeigt
ähnl. bactericide
Eigensch. gegen
Streptokokk.
51.
F. 26, Wo.
10
180
5 St.
1900
14 St.
dichte
Platte,
52.
F. 27, W3.
4
600
3 St.
300
24 St.
00
Talielle III.
Thiervcrsuche mit Wundsecret-Staphylokokkcn.
No.
Staph. alb.
vom Secret
des Falles:
Alter und
Quantität d.
verimpften
Bouilioncult.
Thier-
gattung.
Resultat des Versuches.
Anmerkung.
1.
5.
24 St.
5 ccm.
KfaninchoD.
Röthung u. Schwellung,
kein Abscess.
2.
7.
24 St
Kaninchen,
t Nachts nach d. Impfung
♦) Culturen weiter
5 ccm.
500 g.
(Fractur d. Wirbelsäule)
in Leber, Milz, Herzblut,
Staph. alb.*)»)
verwendet bei No. 3.
3.
7, gewonnen
2 Tg. 2 V2 ccm
Kaninchen,
t nach 3 Tagen, paren-
*) Culturen bei No. 4,
vom Versuche
St. alb. gem.
3 Woch. alt.
chymatöse Degeneration
5, 6 weiter ver-
No. 2.
mit ebensoviel
Proteusbouill.
d. Organe in denselben.
Staph. alb. rein. •) ')
wendet.
*) Nach den Protocollen des Herrn Dr. Imhofer, der die Sectionen in meiner Ver-
hinderung vornahm.
334
Dr. H. Schloffer,
No.
Staph. alb.
vom Secret
Alter und
Quantität d.
Thier-
Resultat des Versuches.
Anmerkung.
des Falles:
venmpften
Bouilloncult.
gattung.
0
4.
7, gewonnen
24 St.
Kaninchen,
t nach 1 Tag. In den
vom Versuche
5 ccm von
3 Woch. alt.
Organen Staph. alb.
No. 3.
No. 3.
rein. ^)
5.
7, gewonnen
24 St. 2 V2 ccm
Kaninchen,
Nach 3 Tagen Gangrän
vom Versuche
Staph. mit
8 Woch. alt.
des ganzen Ohres.
No. 3.
2V2 ccm
Proteus-
Bouillon.
G.
7, gewonnen
24 St.
Kaninchen,
Die ersten 3 Tage starke
vom Versuche
3 ccm.
8 Woch. alt.
Schwellung u. Röthung.
No. 3.
4. Tag kleine Abscesse.
Staph. alb. in R.-C.
7.
11.
24 St. 2 V2 ccm
Kaninchen,
t nach 1 Tage, keine
zusammen
1000 g.
Veränderung am Ohre,
mit 2V2 ccm
innere Organe enthalten
Proteusbouill.
Staph. alb. rein.
8.
14.
24 St. .
Kcininchen.
Durch mehrere Tage
Vor d, Injection wird
1 ccm.
Schwellung, Röthung,
V2 ccm 5proc. Gar-
9.
14.
24 St.
3 ccm.
do.
wie bei No. 8.
bo 1 injicirt. .
10.
19, W,.
2 Tg.
do.
Röthung des Ohres, die
Subcutan am Ohre
1 ccm.
bald verschwindet.
geimpft.
11.
19, Wi.
do.
do.
Keine Rcciction.
do.
12.
19, Wo.
2 Tg.
IV2 ccm.
do.
do.
do.
13.
19, Wo.
2 ccm.
do.
do.
do.
14.
20, Wa.
2 Tg.
Kaninchen.
Nach 2 Tagen beträcht-
Vor d. Injection mehr-
4 ccm.
900 g.
liches Oedem , keine
Eiterung.
stündiges Verweilen
des Thieres im Eis-
schrank.
15.
21, \Vj.
20 St.
Kaninchen,
Starke Schwellung; am
3 St, vorher elast.
4 ccm.
1500 g.
3. Tage kleiner Abscess
mit weissem dickem
Eiter, enthaltend Staph.
alb. rein.
Ligatur des Ohres u.
Verweilen im Eis-
schrank. Nach der
Impfung 12 St. Eis-
schrank.
16.
22, Wi.
20 St.
Kaninchen,
Schwellung, am 3. Tage
Nachher kommt das
3 ccm.
800 g.
klein. Abscess ; im Eiter.
Staph. alb. rein.
Thier 12 St. in den
Eisschrank.
17.
22, Wi.
2 Tg.
Mittelgrosscr
Nach 2 Tagen ausgebrei-
Subcutan am Bauche
15 ccm.
schwarzer
Hund.
tetes Oedem, geringes In-
filtrat, 4 Tagen stärkeres
Infiltrat, nach '6 Tagen
grosser subcut. Ab-
scess mit ca. 50 ccm
rahmigen Eiters. Cult. :
Staph. alb. rein.
geimpft.
^) Nach den Protocollcn des Herrn Dr. Imhofer, der die Sectionen in meiner Ver-
hinderung vornahm.
üeber Wundsecret und Bacterlen bei der Heilung per primam. 335
No.
Staph. alb.
vom Secret
des Falles:
Alter und
Quantität d.
verimpften
Bouilloncult.
Thier-
gattung.
Resultat des Versuches.
Anmerkung.
IS.
23, Wj.
20 St.
Kaninchen,
Nach 3 Tagen kleiner Ab-
Nach der Injection
4 ccm.
900 g.
scess, der Staph. alb. in
R.-C. enthält.
24 St. im Brutkasten.
19.
23, W,.
20 St.
Kaninchen,
Geringe Schwellung, die
Nach der Injection
5 ccm.
1000 g.
bald zurückgeht.
mehrere Stunden im
Eiskasten.
20.
24, Wi.
24 St.
Kaninchen,
2. Tag: Vene m. eitrig.
Zum Theil intravenös
5 com.
1340 g.
•
Thromb. erfüllt, 3. Tag
ein klein. Abscess neben-
an. Eiter enthält jedes-
mal Staph. alb. rein.
injicirt.
21.
24, W..
2 Tg.
Kaninchen,
Starke Schwellung am
Vor der Injection
6 ccm.
800 g.
4. Tage kleiner Abscess
mit serös-eitrig. Inhalt.
Staph. alb. rein.
elastische Ligatur d.
Ohres.
22.
24, W3.
2 Tg.
Kaninchen,
2. Tag: Hochgrad. Oedem.
4 ccm.
1400 g.
Incision. Oedemflüssig-
keit enthält Staph. alb.
in R.-C.
23.
24, Wo.
2 Tg.
Hund
In d. erst. Tagen schmerz-
Injection am Ober-
20 ccm.
(mittelgross.
hafte Schwellung, die
schenkel. Canüle
Rattler).
zurückgeht. Autopsie am
7. Tage: Geringe Hae-
morrhagie an d. Injec-
tionsstelle.
wird bis an d. Kno-
chen vorgestosscn.
24.
25, W2.
24 St.
Kaninchen,
Schwellung 4. Tag: Klein.
Vor d. Injection sitzt
5 ccm.
1400 g.
Abscess, der Staph. alb.
rein enthält.
das Thier 2 St. im
Eisschrank.
25.
25, Wi.
2 Tg.
Kaninchen,
Röthung u. Schwellung d.
do.
6 ccm.
1800 g.
Ohres, kein Abscess.
26.
25, W».
2 Tg.
Wachtelhund.
Keine Krankheitser-
Intraperitoneal.
30 ccm.
scheinungen.
(Stumpfe Canüle).
27.
27, W3.
2 Tg.
3 com.
Kaninchen.
Leichte Schwellung.
28.
27, Wa.
2 Tg.
5 ccm.
do.
Leichte Schwellung.
29.
29, Ws.
l'/2 Tg.
5 ccm.
■ do.
Am 3. Tage enthält das
seröseitrige Secret unter
einer Borke Staph. alb.
Talielle IV.
Thien-
ersuche mit S<
aphylococcus albus von streng desinficirtcr Haut.
Alter und
No.
Quantität d.
verwendeten
Bouilloncult.
Thier-
gattung.
Resultat des Versuches.
Anmerkung.
30.
2 Tg.
Kaninchen.
Nach 4 Tagen zwei kleine Abscesse, die
4 ccra.
Staphyl. alb
). enthalten.
336
Dr. H. Schloffer,
Alter und
No.
Quantität d.
verwendeten
Bouilloncult.
Thier-
gaftung.
Resultat des Versuches.
•
Anmerkung.
31.
2 Tg.
5 com.
Kanineben.
Sehr geringe Schwellung.
32.
24 St.
3 ccm.
Kaninchen.
Geringe Schwellung.
33.
24 St.
6 com.
Kaninchen.
Eine Spur eitrig-seröse Flüssigkeit unter
einer Borke (5. Tag). Staph. alb.
34.
2 Tg.
4 ccm.
Kaninchen.
Schwellung und Röthung.
35.
2 Tg.
3 ccm.
Kaninchen.
Geringe Reaction, keine Eiterung.
36.
24 St.
6 ccm.
Kaninchen.
Nach 4 Tagen kleiner Abscess. Eiter
nicht untersucht.
Besnltate.
Keimgchalt des Sccrctes, Art und Anzahl der Bacterien.
Die Tabelle I bringt den Bericht über 31 Fälle, bei denen
das Wundsecret 83 Mal untersucht wurde; blos 5 Mal (6 pCt.)
wurde es völlig steril befunden. Zwei dieser Befunde von keim-
freiem Secret gehören zu den Fällen mit nur einmaliger Secret-
untersuchung (X und XII), die anderen betreffen das Secret nach
23 und 47 Stunden des F. XXIX. und das Secret nach 46 Stunden
des F. XXII. Diese letztgenannten 3 sterilen Wundsecrete sind also
auch die einzigen derartigen Befunde bei allen 16 mehrmals im
Verlaufe der Wundheilung untersuchten Fällen, bei welchen alle
anderen Secret[)rol)en, auch jene, die nur wenige Stunden nach der
Operation entnommen wurden, stets Bacterien enthalten haben
(nach 3 Stunden bei Fall XXI, nach 4 Stunden bei Fall XVI,
nach 5 Stunden bei Fall XXU, nach 6 Stunden bei Fall XVII,
XVIII, XXVII). Es handelte sich liierl)ei um wechselnde Mengen
verschiedener Sa[)rophyten, deren nähere Identificirung nur zum
Theile vorgenommen, in den Tabellen aber nie vermerkt worden
ist, weil sie mir nebensächlich zu sein schien. In der weitaus
grössten Mehrzahl der Fälle fand sich entweder allein oder mit
nicht paihogenen Keimen vereinigt der Siaphylococcus albus vor;
blos bei 4 (14 pC't.) von den 29 Fällen mit positivem Bacterien-
befund fehlte er (IV, VIII, Xlll, XV). Hei denjenigen Fällen aber,
bei denen das Wundsecret mehrmals im Verlaufe der Wundheilung
lieber Wundsecrot und Bacterien bei der Heilung per primam. 337
zur Untersuchung kam (F, XVI — XXXI), wurde er durchwegs ge-
funden, allerdings nicht in jeder Secretprobe, aber wenigstens in
einer solchen. So hat sich im F. XVI lediglich aus dem nach
4 Stunden abgenommenen Secret und im F. XVIII aus dem Secret
nach 6 Stunden eine Colonie von Staphylococcus albus züchten
lassen, während beim F. XXIX erst nach 7) Stunden sich 3 von
den 4 aufgegangenen Colonien als Staph. alb. herausstellten,
während in diesen Fällen alle übrigen früher oder später ent-
nommenen Secretproben keine Staphylokokken enthielten. Gelbe
Eiterstaphylokokken konnten nur in einem einzigen Falle von pri-
märer Heilung (F. XXXI) nachgewiesen werden. Hierbei war aber
der Verlauf durch eine, wenn auch vorübergehende entzündliche
Schwellung der Wundränder gestört, nachdem sicli der Kranke
kurz nach der Operation den Verband zum Theile abgerissen hatte.
Streptokokken wurden nie gefunden. —
Die Anzahl der Keime im Secrete war inconstant, sie schwankte
von wenigen bis zu mehreren Tausenden in ^4 ccm.
Bacterieide Elgensehaften des Wundsecretes.
a) im Eprouvettenversuche.
Das Wundsecret, das während der ersten zwei Tage der Wund-
heilung entnommen wurde, hat im Eprouvetienversuche entwicklungs-
hemmende oder bacterientödtende^ Eigenschaften gezeigt. Diese
äusserten sich zunächst iregenüber den im Secrete bereits vor-
handenen Keimen (No. 1 — 23 der Tabelle II) am häufigsten darin,
dass sich bei den hierher gehörigen Versuchen eine erhebliche Ver-
mehrung der Keime in den ersten Stunden nach der Entnahme
des Secretes nicht nachweisen liess, wie dies in besonders deut-
lieber Weise die Versuche No. 1, 3, 7, 9, 13, 17, 21 zeigen, bei
denen während dieser Zeit sich überhaupt eine nennenswerthe
A^eränderung des Keimgchalts nicht einstellte.
Bei 8 anderen Versuchen dieser Reihe hat die Keimzahl des
Secretes im Brutofen abgenommen (No. 8, 10, 12, 14, 16, 19, 20,
22), mehrmals sogar recht erheblich: von 1800 in 8 Stunden auf
13 (No. 8), von 700 in 11 Stunden auf 20 (Xo. 12) u. s. w.
In einem einzigen Versuche (No. 2) sind sämmtliche Keime aus
dem Secrete versehwunden; nach der Entnahme enthielt es 3 Keime
in V4 ccm, nach 4 Stunden war es steril.
338 Ür. H. .Schluffer,
Gegenüber künstlich in das 8ecret eingebrachten Staphylokokken
(aus Eiter gezüchtet) ergaben die Versuche No. 24 — 43 ähnliche
Resultate. Auch hier fand während der ersten Stunden fast nie
eine erhebliche Vermehrung der Keime statt, sondern es war im
Gegentheil fast durchwegs (in 16 von 20 Versuchen) eine Verminderung
derselben zu constatiren, die iji einigen Fällen sogar recht erheblich
war. EineSelbststerilisirung desSecretes ist hier allerdings nicht beob-
achtest worden, wohl deshalb, weil der anfängliche Keimgehalt natur-
gemäss stets ein höherer war, als bei den Versuchen No. 1 — 23.
Auch bei den analogen Versuchen mit Streptokokken (No. 44 —
52) haben sich diese öfters im Secrete durch mehrere Stunden
hindurch nicht vermehren können und in einzelnen Versuchen haben
wir auch wieder eine V^erminderung derselben zu verzeichen. Doch
war diese Verminderung durchschnittlich nicht so erheblich wie bei
den entsprechenden Versuchen mit Staphylokokken.
Bei allen Versuchen der Tabelle 11 war die Beobachtune: zu
machen, dass, wenn das Secret durch mehrere Stunden bactericide
Eigenschaften entwickelt hatte, ein Zeitpunkt eintrat, in dem wieder
eine Vennehrung und zwar oft eine sehr abundante Vermehrung
der Keime stattfand. Dieser Zeitpunkt ist in einzelnen Fällen erst
in der 21. — 28. Stunde nach der Entnahme des Secretes einge-
treten (No. 1, 3, 14 etc.), in anderen Versuchen schon viel früher.
Es crgiebt eine diesbezügliche beiläufige Zusammenfassung, dass
öfters schon nach ca. 5 Stunden, im Durchschnitt nach 10 Stunden,
manchmal auch später, die bactericide Kraft des Secretes in der
Eprouvette erlischt, um einer unter umständen üppigen Vermehrung
der Bacterien Raum zu geben.
b) in der Wunde.
Auch das Verhalten der Keimzahlen in den verschiedenen Secret-
probon eines und desselben Falles, die im Laufe der Wundheilung
entnommen wurden, gestattet einen Schluss auf die Entfaltung bac-
tericidcr Kräfte im Wundsccretc. Wenn wir nämlich die Tabelle I,
Fall XVI— XXXI in dieser Hinsicht prüfen, so fällt auf, dass fast
durchwegs während der ersten 48 (seltener bloss während der
ersten 24) Stunden sich nur eine verhält nissmässig geringe Zahl
von Keimen im Secret nachweisen Hess und dass während dieser
Zeit eine erhebliche Vermehrung der Keime im Secret fast nie
üeber Wundsecrot und Bacterien bei der Heilung per primam. 339
eintrat. Es hat sich vieiraehr in 7 von diesen Fällen eine Ver-
minderung des Keimgehalts im Laufe der ersten Tage der Wund-
heilung eingestellt. In einem dieser Fälle (F. XXII) konnten sogar
nach einem anfänglichen Keimgehalte von 250 (z. Th. Staphylo-
kokken) nach 22 Stunden nunmehr 39. nach 46 Stunden gar keine
Keime mehr nachgewiesen werden.
Zu bemerken ist noch, dass in einzelnen Fällen, in denen
zwar die Keimzahl als solche nicht abnahm, doch der Gehalt an
Staphylokokken geringer wurde, dass also bei der Abnahme der
Keimzahl die Staphylokokken hiervon in erster Linie betroffen
wurden (F. XVI, XVIII, XX— XXIE, XXV, XXIX).
Identität und Pathogenität der weissen Wund-Secret-
Staphylococcen.
Es ist natürlich die Frage aufzuwerfen, ob die im Wundsecret
gefundenen Staphylococcen wirklich zu der Gruppe der pyogenen
Staphylococcen gehören oder nicht. Auf dem Boden der Auffassung
von Kocher und TaveP) über diesen Gegenstand muss ich diese
Fi-age unbedingt bejahen und zwar aus folgenden Gründen:
Es wurden die gefundenen Staphylococcen fast durchwegs
einer genauen Prüfung unterzogen, die darin bestand, dass die
Färbbarkeit nach Gram, das Wachsthum auf Gelatine, in Milch,
auf Agar, in Fleischbinihe, manchmal Züchtung unter Sauerstoff-
Abschluss und häufig auch die Virulenz im Thierexperimente unter-
sucht wurde. Nur in vereinzelten Fällen wurde nebst dem Wachs-
thum auf Agar nur noch das Deckglaspräparat zur Diagnose
herangezogen. Was das letztere betrifft, so ist zu bemerken, dass
sämmtliche als Staphylococcen agnoscirte Culturen im Deckglas-
präparat, genau so, wie das bei allen aus Eiterungen gewonnenen
Staphylococcenculturen der Fall ist, bei aller Unregelmässigkeit der
Anordnung in Gruppen und Häufchen, in einer Hinsicht doch eine
gewisse Regelmässigkeit aufwiesen: in dünner Schicht legen sie
sich nämlich nicht in Klumpen, sondern flächenhaft nebeneinander
und die einzelnen Individuen gruppiren sich wenigstens stellenweise
so, wie etwa die Zellen einer Honigwabe.
') Vorlesungen über Chirurg. Infectionskrankheiten Basel und Leipzig 1895.
Arebiv für klio. Chirurgie. 57. Bd. Heft 2. 23
340 Dr, H. Schloffer,
Alle Culturen färbten sich nach Gram. Die Milch gerann,
allerdings oft erst nach 8 Tagen und später; die Gelatine wurde
meist verflüssigt, selten geschah dies schon in den ersten Tagen,
meist später, bei einzelnen Culturen. begann die Verflüssigung
sogar erst zu Ende der ersten Woche, nur wenige Culturen ver-
flüssigten nicht. Es dürfte sich dabei um eine Abart, den Staphy-
lococcus cereus albus handeln. So oft Anaerobiose versucht wurde,
gelang sie. — Wachsthum auf Agar und Fleischbrühe war typisch.
Agarculturen zeigten den bekannten säuerlichen Geruch.
Da der Nachweis der Virulenz der Staphylococcen, namentlich
der schwach virulenten Culturen bekanntlich im Thier\'ersuche oft
ausserordentlich schwer gelingt und ich ausserdem zu Beginn meiner
Untersuchungen nach Injection von kleinen Mengen Fleischbrüh-
culturen mehrere Misserfolge zu verzeichnen hatte, bin ich bald
zur Verwendung grösserer Culturmengen übergegangen und habe
hierbei thatsächlich in einem Theil der 29 Versuche Eiterung er-
regt, in einem anderen Theile kam es entweder zu keiner Reaction,
oder nur zu vorübergehendem, entzündlichem Oedem. Die beob-
achteten Eiterungen (8 an der Zahl), die zum Theile wohl eine
Folge der verschiedenen Versuche zur Verstärkung der Virulenz
darstellen, hatten allerdings nie einen progredienten Character.
Nach Injection von mehreren ccm. Fleischbrühcultur kam es
bei 7 Kaninchen meist in 3 — 4 Tagen zu ganz kleinen oft gerade
stecknadelkopfgrossen Abscessen, die manchmal erst nach genauer
Untersuchung des Ohres, namentlich in der Umgebung der Injections-
stelle gefunden werden konnten. Bei der geringen Empfänglichkeit
des Kaninchens für Staphylococcen konnte dieses Ergebniss nicht
Wunder nehmen. Dafür ist es aber bei einem Hunde nach Injection
von 15 ccm. gelungen, einen grossen, subcutanen Abscess von ca.
50 ccm. eitrigem Inhalt zu erzielen, der am sechsten Tage eröffnet
den Staphylococcus albus in Reinculturen aufwies.
Aber auch ohne diese Thierversuche scheint mir die Patho-
genität des Wundsecretstaphylococcus durch einige Beobachtungen
am Menschen erwiesen zu sein, auf die später noch zurück-
gekommen werden soll. Aber hier sei »och hinzugefügt, dass es
mir nicht ohne Interesse schien, auch eine Reihe von weissen
Staphylococcen, wie sie aus der desinficirten Haut gezüchtet werden
konnten, culturell und auf ihre Thier-Pathogenität hin zu prüfen.
Ueber Wundsecret und Bacterien bei der Heilung per primam. 341
Wie die beigegebene Tabelle IV zeigt, sind die Resultate ganz
conform jenen, welche wir bei den Wundsecret-Staphylococcen zu
verzeichnen hatten.
Vergleicht man diese Ergebnisse meiner Versuche mit den
früher besprochenen anderer Autoren, so ist zunächst eine Ueber-
einstimmung insofern festzustellen, als auch ich in der über-
wiegenden Mehrzahl der Fälle Bakterien in per primam heilenden
Wunden vorgefunden habe, und dass unter diesen Bakterien der
Staphylococcus albus die erste Stelle einnahm. Eine Differenz hat
sich aber insofern, w-enigstens gegenüber einzelnen Untersuchern,
bemerkbar gemacht, als ich namentlich bei den Fällen mit mehr-
maliger Secretuntersuchung im Verlaufe der Heilung nur ausser-
ordentlich selten (3 mal) steriles Secret beobachten konnte. Es
scheint mir dieser Umstand aber dadurch erklärt, dass ich bei
meinen Untersuchungen stets eine ziemlich grosse Menge vom
Secret verimpft habe (^/4 com), was vordem nie geschehen ist,
und dass ich auch bei der Entnahme des Secretes in den Fällen,
bei denen das Secret aus dem Drainrohr stammte (I — XV), mich
bemühte, jedesmal eine möglichst grosse Menge von Secret auf die
Platte zu bringen.
Auch der häufige Befund von Staphylococcen steht im Ein-
klang mit den einschlägigen Untersuchungen Anderer, wenngleich
auch hier in Bezug auf die Häufigkeit seines Vorkommens kleine
Abweichungen bestehen. Aber auch dafür mag wieder der ge-
änderte Modus der Untersuchungsmethoden, namentlich bei den
Fällen XVI — XXXI herangezogen werden, denn es ist klar, dass
in denjenigen Fällen, wo nur in einer Secn^tprobe einer oder wenige
Staphylococcen nachgewiesen werden konnten, diese der Beobach-
tung entgangen wären, falls ich, wie dies von anderer Seite ge-
schehen ist, geringere Secretmengen zur Verimpfung gebracht hätte;
und es ist deshalb sehr die Frage, ob wir nicht bei Verwendung
noch grösserer Mengen des Wundsocretes zum Plattenguss wenigstens
einzelne Keime in jeder Probe fänden, und ob dann nicht der
Staphylococcus albus als eine beständige Verunreinigung der
Wunden gefunden werden würde. Ich möchte hier auch noch hin-
weisen auf eine Trennung in den verschiedenen Arten der Wund-
secret-Staphylococcen, die Tavel s. o. vorgenommen hat, und welche
ich unterlassen habe. Tavel verbucht beispielsweise den Staphylo-
23*
342 Dr. H. Schloffer,
cocciis cereus albus in seinen Tabellen speciell als Coccus epiderm.
albus non liqucfaciens; wenn man aber in Betracht zieht, dass
Tavel selbst auch diesen Coccus Eiterung hervorbringen sah und
er ihm sonach die Pathogenität nicht abspricht, so scheint mir
eine solche Trennung für die Präcision der Versuchsergebnisse nicht
unbedingt riothwendig zu sein.
Prüfungen über die Baktericidität des Wundsecretes sind vor-
dem nicht angestellt worden. Es hat im Gegentheil Stäheli die
Meinung verfochten, dass sich nicht nur im stagnirenden, sondern
im Wundsecrete überhaupt die Bakterien aufs Beste vermehren
können. Dass diese Meinung eine irrige ist und dass wenigstens
für die ersten Tage der Wundheilung das Wnndsecret keineswegs
als ein guter Nährboden für die Bakterien angesehen werden kann,
ist nach meinen Untersuchungen nicht zu bezweifeln.
Es erübrigt nun noch der Frage nachzugehen, ob und unter
welchen Umständen der Wnndsecret - Staphylococcus für den
• Menschen pathogen werden kann und die Ursachen zu prüfen,
warum trotz der fast constanten Anwesenheit von Staphylococcen
in der Wunde eine primäre Heilung eintritt. Es hat darüber schon
zur Zeit des Lister'schen Verfahrens Büchner^) sich dahin ge-
äussert, dass es ausreiche, wenn die Antiseptik die Lebensthätigkeit
der in der Wunde vorhandenen Pilze herabsetze, wenn sie dieselben
auch nicht tödte, und auch Bloch hat bei der Beantwortung der-
selb(»n Frage die Möglichkeit verfochten, dass die Antiseptik eine
AI)S(*hwächung der Virulenz der im Secrete vorhandenen Staphylo-
co(»cen hervorrufe. Ich glaube dieser Auffassung entgegen treten
zu müssen, denn es hat sich gezeigt, dass bei aseptisch, nicht
antiseptisch bebandelten Wunden, bei denen die Anzahl der Staphylo-
coc(*en im Secret keineswegs abnimmt, die Virulenz derselben
(loch ebenso wie bei antiseptischer Behandhing eine so geringe ist,
dass fast ausnahmslos Heilung per primam eintritt.
x\ber auch noch ein anderer Umstand spricht gegen die er-
wähnte Auffassung. Es kann nämlich heute kaum mehr einem
Zweifel unterliegen, dass die in der Wunde befindlichen Staphylo-
coccen zum grössten Theil der Haut des Kranken entstammen.
*) Ueber die Theorie der antiseptischen Wundbehandlung. Deutsche Zeit-
schrift für Chirurgie. Bd. 10, S. 91.
Üeber Wundsecret nnd Bacterien bei der Heilung per primam. 343
Aber eben diese Staphylococcen der Haut haben ja bekanntlich,
soweit man das am Thierversuche contoUiren kann, gleichfalls eine
sehr geringe Virulenz, gewiss keine grössere als die Wundsecret-
Staphylococcen. Es entfällt somit die Nothwendigkeit, die geringe
Virulenz der Wundsecrct-Staphylococcen durch eine künstliche Ab-
Schwächung derselben zu erklären.
Dass aber auch diese schwach virulenten Coccen gelegentlich
Störungen der Wundheilung hervorrufen können, erhellt zunäclist
aus denjenigen Beobachtungen, in denen durch Vermittlung solcher
Coccen verhältnissmässig gutartige, nicht progrediente Eiterungen
zustande kommen, und es sind hier namentlich jene Fälle von
Interesse, bei denen zuerst die Bakterienuntersuchung des Wund-
secretes Staphylococcus albus erweisen konnte und bei denen sich
später derselbe Coccus als die Ursache der gestörten Wundheilung
herausstellte. Ich verweise hier namentlich auf den Fall II, bei
welchem das Wundsecret am 3. Tage Staphylococcen enthielt und
bei dem gegen das Ende der Wundheilung ein subcutaner Abscess
in der Umgebung von versenkten Nähten sich einstellte, aus
welchem sich wieder der Staphylococcus albus rein züchten Hess.
Es scheint mir durch diesen Fall mit Sicherheit der Beweis er-
bracht, dass durch den im Wundsecret vorkommenden Staphylo-
coccus albus jene an sich nicht seltenen Abscesse bedingt werden
können, die wir mit dem Namen Nahtabscesse zu bezeichnen
pflegen und aus denen sich oft der Staphylococcus albus rein
züchten lässt. Selbverständlich bleiben hieboi jene Fälle ausser
Frage, bei denen es sich um inficirtes Nahtmatcrial gehandelt hat.
Eine andere Art der Störung in der Wundheilung, bedingt
durch den Wundsecret-Staphylococcus, repräsentirt der Fall XXUl.
In ähnlicher Weise, wie bei manchen anderen Fällen, welche tadel-
lose Prima aufwiesen, fand sich hier nach 22 Stunden eine geringe
Zahl (7) Staphylococcen, nach 46 Stunden 700 und nach 70 Stunden
mehrere 1000 Staphylococcen vor. Während dieser Zeit war auch
die Prima vom klinischen Standpunkte aus nicht gestört. Am
4. Tage trat aber Fieber bis 38,8 auf und als Ursache dieses
Fiebers fand sich eine Secretretention in einer Nische der nach
der Ausräumung der Achselhöhle zurückgebliebenen Wunde. In
diesem retinirten Secret liess sich nun abermals Staphylococcus
albus in Reinkulturen nachweisen. Nach endgültiger Entleeiung
.^44 Dr. IL Schloffer, Teber Wundsocret und Bacterien etc.
des eitrigen Secretes s:\m die Temi)eratur zur Nomi zurück, die
Wundflächen verklebten bald und die Heilungsdauer war eigentlich
nicht verzögert.
Es lässt sich dieser Fall nur so erklären, dass das dui'ch
mechanische Einflüsse retinirtc Secret im Laufe der Zeit genau so
wie im Eprouvetten Versuche seine baktericiden Eigenschaften
verlor, dass dann eine erhebliche Vermehrung der Staphyloeoccen
Platz greifen konnte, und dass nun diese vermehrten Staphylo-
eoccen im retinirten Secrete auch für den Menschen pathogene
Eigenschaften entwickelten, insofern als eine eitrige Trübung des
Wundsecretes und Fieber eintrat.
Dies führt uns aber wiederum auf den richtigen Weg bei der
Beantwortung der Frage, warum de norma der Staphylococcus albus
für imseiv 0|>erationswunden bedeutungslos bleibt. Zum Theil ja
irewiss deshalb, weil er weniir \irulent ist, dann aber auch, weil
die baktericiden Eiirenschaften des Wundsecretes seiner V ermeh-
runs: im Weiie stehen und schlies>lich, weil in <ler Resel Ver-
hälniis>e, wie sie im Ejirouvetten-Versuche und in den eben ge-
schilderten Fällen eintraten, bei Operati« »n>wunden nicht Platz
ereilen. Natürlicherweise lä^^l es >ich nit-ht in Abreile stellen,
dass bei dem Zustandekommen der primären Heilung auch noch
an«l»^v* Vuriräi.ge eine w»'se!i» liehe Rolle >pielen. Jedenfalls aber
>i!>l di»' ^« hwache Viru'.-riZ der \Vunds«'cnn - Staphylokokken
ur.d die kräf'L'cn lMkteriv*i«lrn Eii:»'!>'hafi«*n des Seore!«^>
iiegen dievibon zwei wi'.h'icre Fak''>n'!i, «r> hier in Betracht zu
zi«'hc!\ >iLd.
E> Ivi^i uns «ii» >e Erk*- :.i'.i<s ab»r a*;oh zu der prakti>t^h
l;.*:£si * ■•ka!.r.:»-!: ¥■ !^'er.:ri: h:*:, da^s wir für einen mT>£:lichst
frvi'-n All?"is> der ^^•.:!- '^e '»•'►' S-ri:»' /•.: iraj»!! lial-vn, und dass
\er<e*kte Näh:c au h l -i :'!»a!>*-r a>'p':<-h«LT Iv -^ar dbir.e d«^^h
u'*.*cr r»i.^';\! «l» ■. d'»- l r^.i i.v fr. W'-rr. a* '\ ::»"■■'• ^■''~i:'^»\ Si'~niri:»*n
d'T W-.:«:.:' - ■' •» ü u? _■ • * k~" * ■ .
XIV.
Locale Analgesie bei Operationen').
Von
Dr. Hackenbmch
in Wiesbaden.
M. H.! Die von Gurlt mit recht dankenswerthera Aufwand
von Zeit und Mühe so energisch durchgeführte Narkosenstatistik
hat wohl nicht wenig dazu beigetragen, dass man sich von vielen
Seiten zu dem Streben einigte, die allgemeine Narkose in dazu
geeigneten Fällen durch die locale Analgesie zu ersetzen. Ich
gebrauche absichtlich den Ausdruck locale Analgesie d. h. ört-
liche Schmerzlosigkeit und sage nicht Joeale Anaesthesie d. h.
örtliche ünempfindlichkeit, weil ja bekanntlich bei den Operationen
unter örtlicher Schmerzlosigkcit die tactile Empfindung, die Wahr-
nehmung der Berührung mehr oder weniger erhalten bleibt und
nicht völlig verloren geht. In dieser Anschauung können wir
Szumann (1888) völlig Recht geben in der Behauptung, dass
das Wort „Anaesthesie" bei der örtlich schmerzlosen Operation
„zu viel bedeute," da ja die Anaesthesie nur in der allgemeinen
Narkose mit Aufhebung des Bewusstseins zu Stande kommt,
während die unter localer Analgesie operirten Kranken stets dessen
bewusst sind und fühlen, dass an ihrem Körper etwas gemacht wird.
Da ich Ihre Aufmerksamkeit nicht zu lange in Anspruch
nehmen darf und auch die Zeit zu kostbar ist, möchte ich, ohne
deshalb der grossen Verdienste um die locale Analgesie, an welche
0 Auszugsweise vorgetragen am 1. Sitzungstage des XXVII. Congresses
der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin ain 13. April 1898.
346 Dr. IlackenbruQivi
sich ihnen wohl bekannte Namen knüpfen, uneingedenk zu sein,
gleich zur Sache selbst schreiten.
Nur gestatten Sie mir zu bemerken, dass ich, als ich im
Juli 1893 meine erste local analgische Operation, welche einen
l^rcmdkörperabscess am linken Daumenballen eines 21jährigen
Schrein ergeh Ulfen betraf, ausführte, leider nur äusserst dürftige
Kenntnisse über die subcutane Cocainapplication besass. Ich wusste
aus der Zeit der pharmakologischen Vorlesungen seitens des Herrn
Geheimrath Binz in Bonn nur, dass das salzsaure Cocain um einen
blossgelegten, sensiblen Nervenstamm am Thiere gewickelt, im
Stande sei, in dem Endbezirke dieses Nerven Aufhebung des
Sclimerzgefühls zu bewirken und dass die Maximaldosis für Cocain
0,05 beträgt.
x\ls weiteres Ilülfsmittel zur Erzeugung localer Analgesie
kannte ich von meiner Assistentenzeit an der Bonner chirurgischen
Klinik her, welche zu dieser Zeit unter Leitung meines hochver-
ehrten Lehrers Herrn iJeheimrath Trcndelenburg stand, ausser
dem Richardson'schen Spray noch das Aethylchlorid.
Da nun der ängstliche Kranke mit dem Abscess am linken
Daumenballen sich nicht narkotisiren lassen wollte und mir die
alleinige Verwendung des Aethylchlorids in diesem Falle nicht
ausreichend zur Erzeugung einer genügenden Schmerzlosigkeit er-
seliien, so besehloss ich in Erinnerung des eben erwähnten Thier-
experimentes und im Hinblick auf die Unmöglichkeit, die Cocain-
lösunp in die gerötheten und gespannten, selbst für leisen Druck
sehr empfindliehen Hautdecken einzuspritzen, ohne heftige Sehmerzen
hervorzurufen, die analgesirende Flüssigkeit rinirs herum um den
Absoess im gesunden Gewel>e zu injiciren, um möglichst alle
Ner\enästehen, welche mit dem Entzündungsherd in schraerzleitender
Beziehung: standen, mit dem Cocain in Contact zu bringen, nach-
dem behufs hessentMi Sehens zur Blutahspernmg eine Nioai*se'sche
Binde am Oberaiin des Patienten angel»^gt worden war. Nach
oiroulärer subcutaner Cocaininjection um den Abscess in rauten-
(t^rmiger Zeichnung mit zwei Einstichpimkten für die Nadel sowie
nach Aufstäubunsi; de^ Aethvlchlorids in der Richtuns: der be-
absiohtiirten Inoision, hatte ich das Glück und die grosse Freude,
die Spaltung des Abs'-esso >tnvie die Extraoti«^n des denselben
verursachenden Hol/^pli:le^s s«^ schmerzlos verlaufen zu sehen«
Locate Analgesie bei Operationen. 347
wie ich dies früher nur bei Verwendung der allgemeinen Narkose
zu sehen gewohnt war; der erreichte Grad absoluter Analgesie
bei dieser Operation war für mich die treibende Veranlassung, in
diesem Sinne der localen Analgesie weitere Versuche zu machen,
während gleichzeitig die Art und Weise der Cocainapplication mir
zum Muster späterer local analgischer Operationen wurde.
Die ein Jahr später im Centralblatt für Chirurgie 1894 er-
folgte Veröffentlichung von Krogius bestärkte mich nur noch
mehr, auf diesem von mir unabhängig und mit grossem Glück be-
tretenen Wege der Cocainapplication weiter zu schreiten, ohne
meine auf demselben Princip beruhende Technik zu Gunsten der
von Krogius beschriebenen zu ändern.
Als ich im Winter 1896 zwecks Niederlegung meiner persön-
lichen Erfahrungen über die Cocainanalgesie die mir zugängliche
Literatur studirte, fand ich, dass auch schon Oberst einer Ver-
öffentlichung von Pernice zufolge in gleicherweise wie Krogius
an Fingern und Zelien local analgisch operirt hatte. Dass diese Arbeit
von Pernice, welche im Jahre 1890 in der Deutschen medicinischcn
Wochenschrift erschienen war, so wenig bekannt geworden ist, dürfte
wohl darin einige Erklärung finden, dass im gleichen Jahre die Ver-
öffentlichung von Robert Koch über ein neues Heilmittel der Tuber-
culose erschien, wodurch für die nächste Zeit die ganze medicinische
Welt in hoher Spannung gehalten wurde. Auch die von Schleich
erfundene Methode der localen Analgesie wurde mir in ihren Details
erst genauer bekannt im Winter 1896. Da ich über die Schleich'sche
Pressionsinfiltration — w'enn ich dieselbe zum Unterschiede gegen die
Reclus'sche Infiltration so nennen darf — keine ausreichende
persönliche Erfahrung besitze, so möchte ich die Besprechung
dieser Analgesirungsmethode einem hierzu mehr berechtigteren
Ilerni einräumen, während ich die von Reclus zuerst in einer
grösseren Monographie „La cocaine en Chirurgie" beschriebene
Art der Cocainapplication, welche in einer successive erfolgenden
Durchtränkung resp. Infiltration der einzelnen Gewebsschichten mit
einer 1% Cocainlösung vor ihrem Durchschneiden ohne wesentliche
Veränderung der anatomischen Fügung der Gewebe besteht, als
bekannt voraussetze.
Einige Berechtigung für den in meiner erwähnten kleinen Mono-
graphie gebrauchten Ausdruck der „circulären Analgesirung" glaubte
348 Dr. Hackenbruch,
ich in der Klarheit dieses Begriffes sowie in der Möglichkeit der Ver-
allgemeinerung dieser Art und Weise der Cocainisirung zu finden,
zu welcher das vorher erwähnte Thierexperiment sowie die anato-
mischen Verhältnisse meiner ersten, zulällig glücklich gelungenen,
local analgischen Operation mich zwangen. Da nun nichts entgegen-
steht, einen Abscess auch als Tumor zu betrachten, den man in
toto zu exstirpiren gedenkt, so musste auch für die Exstirpation
der für gewöhnlich vorkommenden kleinen Geschwülste die gleiche
Anwendungsweise des Cocains zweckmässig erscheinen. Betrachtet
man nun Abscess und Tumor mehr von dem Gesichtspunkte ihres
Hervortretens aus der Körperoberfläche und denkt man sich ins-
besondere den Tumor mehr oder weniger kegelförmig in die Höhe
gewachsen, so gelangt man logischer Weise zu der Vorstellung,
dass die gleiche Weise der Cocainisirung auch bei Operationen an
Fingern und Zehen, sowie am Penis mit grossem Vortheil in An-
wendung gezogen werden kann. Dieser einfache Gedankengang
war in der Folge auch die Veranlassung, bei den so häufig vor-
kommenden Operationen an Fingern die Cocainlösung circulär dicht
oberhalb der Operationszone zu injiciren und zwar ebenfalls von
zwei diametral sich gegenüberliegenden Einstichstellen aus. Da
nun sowohl für die local analgische Operation des mehr oder
weniger acuten umschriebenen Abscesses, als auch für die Exstirpa-
tion der kleineren Tumoren und ferner für die operativen Eingriffe
an Fingern und Zehen die Analgesirungsflüssigkeit circulär injicirt
wurde, so hielt ich die Bezeichnung „circuläre Analgesirung" für
nicht unpassend.
Ehe wir nun zur Beschreibung der von uns geübten und viel-
fach erprobten Methode der „circulären Analgesirung'' — wenn sie
jetzt so genannt werden darf — übergehen, scheint es angebracht
zu sein, auf einige zur Erzielung einer ausreichenden localen
Analgesie nöthige Vorbedingungen unser Augenmerk zu richten.
Von zahlreicher Seite wird mit Recht besonders darauf aufmerksam
gemacht, dass man sich zur Erzeugung örtlicher Schmerzlosigkeit
nur frisch zubereiteter Cocainlösungen bedienen solle, da sich das
Cocain in Lösung bald zersetzt und dann zur Hervorrufung localer
Analgesie untauglich wird. Zur bequemeren Herstellung der von
mir benutzten und empfohlenen Cocain-Eucainlösung habe ich beide
Substanzen zu je 0,05 in Tablcttenform ohne jedwedes Bindemittel
Locale Analgesie bei Operationen. 349
zusammenpressen lassen. Eine solche Cocain-Eucain-Tablette wird
in einem sauberen, weithalsigen Fläschchen mit 10 gv destillirten
Wassers, was kurz vorher in einem Reagensgläschen aufgekocht
wurde, übergössen und nach Verschluss des Fläschchens unter
Schütteln schnell zur Lösung gebracht, wodurch man eine ^'3 proc.
Cocain-Eucainlösung erhält. Zuweilen habe ich auch bei Exstirpa-
tion grösserer Geschwülste, bei der Trendelenburg'schen Varicen-
Operation, wenn es sich dabei um Unterbindung nicht entzündlich
gereizter Venenstücke handelte und ferner bei mehreren Radical-
operationen von Eingeweidebrüchen eine nur V4 proc. Cocain-Eucain-
lösung — also eine Cocain-Eucain-Tablette in 20 g Wasser gelöst
— mit grossem Vortheil in Anwendung gebracht, indem ich dabei
der von Tito Costa vorgeschlagenen Neuerung folgte, die Cocain-
lösung recht warm zu injiciren, da dadurch die Analgesie sehr
viel schneller und relativ ergiebiger eintritt. Zu diesem Zwecke
habe ich die friscli zubereitete noch warme Cocain-Eucainlösung
in ein Gefäss mit heissem Wasser gestellt.
An dieser Stelle möge auch noch die Frage erledigt werden,
warum ich zur localen Analgesie eine Combination von Cocain
und Eucain verwende. Nachdem mir vor gut 2 Jahren (im
Februar 1896) von der Direction der chemischen Fabrik (vorm.
E. Schering) ein Versuchsquantura Eucain, welches Mittel auf Grund
vieler Untersuchungen weniger toxisch wirkt als Cocain, zur Ver-
fügung gestellt worden war, benutzte ich dieses Eucain in 2 und
5 proc. Lösung beziehentlich der erreichten Analgesie mit ziemlich
befriedigendem Erfolge; jedoch klagten die betreffenden Kranken
aUe mehr oder weniger über einen brennenden Schmerz bei der
Injection selbst. Um nun einerseits dem Eucain das Hervorrufen
einer brennenden Empfindung bei der Einspritzung zu nehmen und
andrerseits die Lösung selber weniger toxisch bei gleicher Analge-
sirungskraft zu gestalten, combinirte ich beide Mittel zu gleichen
Theilen und war mit dieser combinirten Cocain-Eucainlösung so-
wohl beziehentlich der Empfindung bei der Einspritzung als auch
der erzeugten Analgesie zufrieden. Da nun das Eucain in der be-
nutzten V2 resp. V4 proc. Lösung beider Mittel in solcher Ver-
dünnung gar nicht zu fürchten ist, so kann es bei Berechnung
der injicirten Menge der Analgesirungsflüssigseit in Bezug auf seine
toxische Wirkung kaum in Betracht kommen.
350 Dr. Hackenbruch,
Dass zur Erzielung einer ausreichenden Analgesie auch die
zu verwendende Su beutanspritze eine bedeutende Rolle spielt,
leuchtet von selbst ein. . Während ich mich früher bei den Injec-
tionen einer gewöhnlichen Pravaz'schen Spritze bediente, zu der
nöthigenfalls mehr oder weniger gekrümmte, selbst bajonettförraig
gestaltete Hohlnadeln gebraucht wurden, benütze ich seit Sommer 1896
ausschliesslich eine Spritze, deren Abflusszapfen schräg abgebogen
ist, w^ährend gleichzeitig durch einen Bajonettverschluss am Nadel-
kopf resp. Ausflusszapfen die Injectionsnadel fest angepresst wird.
Was nun zuerst die Vorbereitung zu einer Operation
unter localer Analgesie durch Cocain im allgemeinen seitens des
Patienten selbst anbelangt, so ist es im Gegensatze zu einem im
allgemeiner Narkose stattfindenden chirurgischem Eingrifl'e unbe-
dingt nöthig, dass der betreffende Patient vorher für genügende
Nahrungsaufnahme gesorgt hat. Stets ist es ferner von Wichtigkeit,
dass man die Patienten in liegender oder mindestens bequem halb-
sitzender Stellung operirt; auch nach der Operation ist es, wie
viele Autoren mit vollem Rechte behaupten, zweckmässig, die
Kranken noch einige Minuten bis zu einer Viertelstunde liegen zu
lassen; bleibt dann der Puls gut und treten keine Erscheinungen
von Aufgeregtheit ein, so kann man den Patienten ruhig sich selbst
überlassen.
Die Technik der Cocainisirung zwecks Ausführung einer
local analgischen Operation, wie selbe in meiner Monographie am
Beispiel einer Trendelenburg'schen Varicenunterbindung be-
schrieben ist, hat im Laufe der Zeit eine kleine Veränderung er-
fahren. Während früher bei dieser Operation von der Verwendung
des Aethylchlorids ausgiebiger Gebrauch gemacht wurde, benutze
ich dieses Kältemittel jetzt nur bei ängstlichen und sehr empfind-
lichen Patienten, um damit punktförmige Scjhmerzlosigkeit für den
ersten Einstich der Injectionsnadel zu erzielen. Die betreffende
Operation verläuft nunmehr folgendermaassen: Nach punktförmig
erzeugter Schmerzlosigkeit mittels Aethylchlorid an einer über der
zu unterbindenden Vene gelegenen Hautstelle vrird die Injections-
nadel der gefüllten Spritze flach in die Haut bis zum Verschwinden
des Canülenschlitzes rasch eingestochen, worauf einige Tropfen in
die Haut injicirt werden, sodass eine Quaddel nach Schleich ent-
steht; dann wird unter gleichzeitigem leisen Druck auf den Spritzen-
. Locale Analgesie bei OperatioDen. 351
Stempel die Spitze der Nadel durch die Haut gestossen bis ins
lockere Unterhautzellgewebe und die Nadel selbst in einem zum
Verlauf der Vene spitzen Winkel subcutan weiter geführt, während
die warme V2 P^^^- Cocain -Eucainlösung langsam injicirt wird.
Nachdem die Nadel bis zu ihrem Kopfende unter der Haut vorge-
schobeji worden ist, wird sie zurückgezogen, ohne dass jedoch die
Spitze die Haut verlässt, also intracutan verbleibt, und dann nach
der andern Seite der Vene zu ebenfalls subcutan eingespritzt.
Dann wird die Nadel völlig entfernt und nach Aethylchloridbestäu-
bung am anderen Endpunkte der beabsichtigten Incision wieder in
die Haut eingestochen und in gleicher Weise wie vorher die Cocain-
Eucainlösung injicirt, sodass eine rautenförmige Figur entsteht.
Sodann wird die Nadel zurückgezogen, aber nur soweit, dass ihre
Spitze intracutan verbleibt, worauf in der Richtung des zu machenden
Einschnittes nach der Methode von Reclus intracutan nach der
zuerst angelegten Quaddel zu die Einspritzung gemacht wird, so-
dass ein bandföniiiger weisser Streifen entsteht. Dies in die Haut-
injiciren geht leichter als man erwarten sollte. Nach nochmaliger
Abreibung des Operationsfeldes mit desinficirender Lösung wird
dann sofort die Operation in der von Trendelenburg angegebenen
W^eise ausgeführt, ohne dass es nöthig ist, nochmals zur Injections-
spritze zu greifen. Der Hautschnitt sowie die Freilegimg der Vene,
deren doppelte Unterbindung nebst Resection des Zwischenstückes
sind unter Beobachtung der angegebenen Injectionsweise absolut
schmerzlos; der Patient behält allerdings tactile Empfindung, er
spürt, dass an seinem Beine etwas gemacht wird; eine völlige
Anaesthesie, d. h. eine Aufhebung des Gefühls und Tastsinnes
wird niemals erreicht.
Der Verbrauch der Analgesirungsflüssiekeit beträgt für ge-
wöhnlich bei dieser Operation 1 bis 2 Spritzen (die Spritze zu 2 g
Inhalt), was einer Cocainmenge von 0,01 bis 0,02 g entspricht.
In den seltenen Fällen, wo die zu unterbindende Vene unter
einer breiten Fettschicht liegt, sodass man sie nicht schon kann,
sondern nur in stehender Position des Kranken als resistenten
Strang fühlt, habe ich unter Anwendung des Reclus'schen Ver-
fahrens die Vene freigelegt und dann vor der Unterbindung und
Resection zu beiden Seiten Analgesirungsflüssigkeit injicirt, was je-
doch nicht in allen Fällen dieser Art nöthig war.
352 Dr. Hackenbruoh,
Der Grund, weshalb ich für gewöhnlich in der vorher an-
gegebenen Weise die Cocainisirung bei der Trendelenburg'schcn
Varicenoperation vornehme, liegt darin, dass dadurch ein Anstechen
der stets sichtbaren Vene leicht und sicher vermieden werden
kann, da man ja im Unterhautzellgewebe zu beiden Seiten der
Vene injicirt.
Analog der Eingangs beschriebenen Abscessspaltung am
Daumenballen unter circulärer Analgesirung gestaltet sich auch die
Erzeugung localer Analgesie bei den so schmerzhaften, entzündlichen
iVffectionen der Haut selbst: ich meine die Furunkel, Carbunkel
resp. furunkulösen Abscesse. Auch hier lässt sich durch circuläre
Injection der recht warmen y, proc. Cocain -Eucainlösung meist
ausreichende Schmerzlosigkeit erzeugen; oft bedarf man hiebei
mehrerer Einstichpunkte für die Nadel, die jedoch stets in der
angrenzenden gesunden Haut liegen müssen.
Bei der Exstirpation der so häufig vorkommenden kleineren
Tumoren (Fibrome, Atherome, Ganglien, Lipome, Cancroide etc)
verläuft die Cocainisirung in ähnlicher rautenförmiger oder mehr
circulärer Weise.
Vortheilhafte Verwendung kann das in Rede stehende Ver-
fahren ferner finden bei der keilförmigen Excision der Lippe, z. B.
wegen eines Cancroids, wobei der Tumor mitten in der durch die
Cocain-Eucain-Injcction gebildeten Gabel zu liegen kommt; die
Schleimhautseite der Lippe wird nach trockener Abwischung mit
einem in 5 oder 10 proc. Eucainlösung getränkten Mullläppchen
analgisch gemacht, indem dasselbe leicht angedrückt einige Minuten
gehalten wird.
In gleicher Weise verläuft auch die submucöse Analgesirung
der Haemorrhoidal knoten zwecks deren Excision oder Caut^risation,
während für die Spaltung des Sphinkters selbst oder für die
Operation der Fisteln in dieser Körpergegend die Reclus'sche
Analgesirung resp. die Schleich'sche Pressionsinfiltration zweck-
mässiger erscheint.
Zur schmerzlosen Herausnahme des Augapfels aus der Orbita
eignet sich die circuläre Analgesirung auf Grund gemachter per-
sönlicher Erfahrungen vorzüglich.
Gestatten Sie, dass ich die erste Enucleation, welche bei
einer 85jährigen Dame ausgeführt wurde, kurz illustrire. Nach
Locale Analgesie bei Operationen. 353
Ansicht des behandelnden Augenarztes musstc das erblindete, acut
glaucoraatös erkrankte, äusserst schmerzhafte linke Auge entfernt
werden, um das gesunde rechte Auge zu retten. Zwei Tage vor-
her hatte der Augenarzt Herr Dr. Kempner zu Wiesbaden ver-
sucht, in Chloroformnarkose der Patientin die Enucleation zu machen;
doch gelang es nicht wegen der excessiven Schmerzhaftigkeit des
Bulbus und weil man angesichts des hohen Alters der etwas
schwächlichen Dame es nicht wagte, eine tiefe Narkose einzuleiten.
Herr Dr. Kempner ermunterte daher mich zu einem Versuche,
die Entfernung unter Cocain an algesie zu ermöglichen, obwohl ich
ihm sagen musste, dass ich in solchem Falle keine Erfahrung be-
sässe. Nach Cocainisirung des äusseren Auges machte ich in
rautenförmiger Weise eine circuläre Cocain-Eucain-Injection hinter
den Bulbus, worauf Herr Dr. Kömpner unter Assistenz von
Herrn Oberstabsarzt Dr. Spieseke und mir die Enucleation des
Bulbus zu unser aller Erstaunen glatt ausführte, während die
Patientin selbst während des Operations Verlaufes absolut keine
Schmerzen zu verspüren spontan angab und in wahrhaft rührender
Weise wiederholt ihren Dank äusserte. Die verbrauchte ein-
gespritzte Cocainmenge betrug 0,025 g.
Da es zu weit fuhren würde, die Möglichkeit der ungefähr-
lichen Anwendung der Reclus'schen Infiltration resp. der circu-
lären Analgesirung für eine ganze Reihe anderer Operationen dar-
zuthun, so möchte ich nur noch bemerken, dass die Verwendung
der genannten Arten der cutanen resp. subcutanen Cocaineinver-
leibung zwecks Erzeugung localer Analgesie ihre natürliche Grenze
findet in der Erreichung der Maximaldosis des Cocains selbst. In
solchen räumlich ausgedehnteren Operationsfällen, wobei man von
vornherein mit einiger Bestimmtheit sagen kann, dass man zur
Erzielung einer ausreichenden Schmerzlosigkeit die Maximaldosis
des Cocains wird überschreiten müssen, tritt die von Schleich
erfundene Pressionsinfiltration in ihr Recht, wobei wir allerdings
die zuweilen als störend befundene Alteration der anatomischen
Verhältnisse mit in Kauf nehmen müssen, wenn man nicht eventuell
die Verwendung des als ungefährlich angepriesenen Anesons oder
die allgemeine Narkose für angezeigt hält.
Bei der Verwendung von reiner Cocain resp. Coeain-Eucain-
Analgesie in den vorher erwähnten Opcrationsfällca bin ich jedoch
354 Dr. Hackenbruch,
trotz der von Schleich empfohlenen Pressionsinfiltration geblieben,
erstens weil ich stets gute Analgesie erreicht und niemals Intoxi-
cationserscheinungen erlebt habe, zweitens weil das Operations-
gebiet durch die Injection in seiner anatomischen Fügung nicht
verändert wird, sodass die Operation gerade so verläuft, als wurde
sie in Ohloroformnarkose des Patienten ausgeführt und femer
drittens, weil ich nach der Aufstellung von Hofmeister z. B. bei
der Krampfaderoperation nicht mehr an Cocain gebrauche, als zu
der gleichen Operation unter der Anwendung der Schlei ch'schen
Methode erforderlich ist.
Die günstigen Erfahrungen, welche Reclus bei Infiltration
von puren Cocainlösungen gemacht hat, stützen sich übrigens auf
die stattliche Zahl von weit über 3000 Operationen, während ich
bei meinen annähernd 500 local analgischen Operationen niemals
auch nur die geringsten unangenehmen Erscheinungen erlebt habe.
Dass die reine Cocain- resp. Cocain-Eucain-Analgesie ins-
besondere bei operativen Eingriffen an Fingern und Zehen, im
Sinne des Princips der circulären Analgesirung angewendet, be-
sonders grosse Vorzüge bietet, liegt klar zu Tage. Die Injections-
technik bei, local analgischen Operationen dieser Körpertheile hat
keine wesentliche Veränderung gegen die in meiner erwähnten
kleinen Monographie beschriebene erfahren; doch brauche ich auch
bei diesen Eingriffen das Aethylchlorid nur bei sehr empfindlichen
Patienten, um den ersten Einstich der Nadel schmerzlos zu machen.
Zwecks Analgesirung eines Fingers resp. einer Zehe wird also
dicht oberhalb der Zone des Gliedes, an dem die Operation statt-
finden soll, von zwei diametral gegenüber liegenden Punkten aus
eine circuläre Injection einer warmen Yg pCt. Coc.-Euc.-Lösung
subcutan um die betreffende Phalanx herum gemacht, nachdem
vorher am Grundgliede ein dünner Gummischlauch, welcher durch
eine gewöhnliche Schieberpincette zusammengehalten wird, zur Blut-
absperrung angelegt worden ist. Nach der Einspritzung ist es ganz
zweckmässig, die Gegend der Injectionsebene etwas raassirend zu
reiben, um die Coc-Eucain-Lösung mit allen passirenden Nerven-
stämmchen in Contact zu bringen.
Besonders möchte ich noch erwähnen, dass die Injection,
wenn der Eingriff z. B. an der Fingerkuppe vorgenommen werden
soll, gemäss der Analgesirung bei der Tumorexstirpation zweck-
Locale Analgesie bei Operationen. 355
massig dicht oberhalb der Fingerspitze gemacht wird und nicht
an dem Grundgliede; soll die Operation aber am letzteren selber
vorgenommen werden, so muss die quere Injectionsebene natürlich
centripetal verschoben werden, während eine Nicaise'sche Gummi-
binde am Oberarm die Blutleere erzeugt.
In analoger Weise können natürlich auch am Penis operative
Eingriffe vorgenommen werden. Für eine einfache Phimosen-
spaltung durch dorsale Incision genügt aber auch eine gabelförmige
Coc.-Euc.-Injection zur Erreichung der nöthigen Schmerzlosigkeit
oder auch die Reclus'sche Analgesirung. Desgleichen kann auch
bei der Operation des eingewachsenen Nagels, wenn man auf be-
sonderen Wunsch des Patienten nur die eingewachsene Nagelhtälfte
entfernen will, ein ausreichender Grad von Analgesie ebenfalls
durch eine gabelförmige Injection erreicht werden, doch muss man
die Analgesirungsflüssigkeit bis auf den Knochen spritzen.
Die zur circulären Analgesirung der soeben genannten Körper-
theile erforderliche Cocainmenge beträgt bei Verwendung der Y2 P^'^c.
warmen Coc.-Euc.-Lösung 0,01 — 0,02 g.
Die circuläre Analgesirung an Fingern und Zehen tritt nun durch
ihre Genese in enge Beziehung zu einer Art der örtlichen Schmerz-
losigkeit, welche als „regionäre Analgesie" bezeichnet wird und die
auf der von Corning am Menschen und gleichzeitig von Feinberg
am Thiere festgestellten Thatsache beruht, dass der Cocainisirung
eines grösseren glatten Nervenstammes nach einiger Zeit Abwartons
und besonders bei gleichzeitiger Blutabsperrung eine deutlich nach-
weisbare Analgesie in dessen Endbezirk folgt. Auch für die local-
analgischen Operationen an Fingern und Zehen glaubte ich jedoch
die Bezeichnung „circuläre Analgesirung" beibehalten zu können, da
ich besonderes Gewicht darauf lege, dass die analgesirenden Einsprit-
zungen zweckmässig dicht an der Operationsstelle gemacht werden,
ja in vielen Fällen in das Operationsgebiet selbst hineinfallen können.
Da ich über die durch Analgesirung grösserer Nervenstämme
erzeugte „regionäre Analgesie*^ keine perscmlichen Erfahrungen be-
sitze, so möchte ieh nunniehr auf die Frage eingehen, ob den er-
wähnten Formen der reinen Cocain- resp. (^cain-Eucuin-Analgesie
eventuell Nachtheile oder Gefahren für das Leben der betrefTenden
Kranken anhaften. Die Antwort hierauf lässt sich kurz dahin
geben, dass kein Grund vorhanden ist, welcher für das Leben des
Archiv fUr klin. CUirurgie. 57. Bd. Uoft 2. 24
35ß Dr. Hackenbruch,
betreffenden Kranken gefahrbringend werden könnte, so lange wir
unter Beobachtung der früher geschilderten Maassnahmen die
Maximaldosis des Cocains nicht überschreiten.
Die in der Literatur beschriebenen, selbst auf Application von
relativ geringen Cocaindosen zuweilen beobachteten CoUapszustände
dürften wohl ohne Zwang entweder auf die Einverleibung eines
unreinen Präparates — was besonders für die Anfangszeit der
Verwendung von subcutanen Cocaininjectionen gelten dürfte —
oder auch auf den Zustand des Patienten selbst zurückzuführen
sein, welcher vielleicht nüchternen Magens und zudem noch in
sitzender oder gar stehender Position operirt wurde. Zudem wäre
es auch noch denkbar, dass in solchen Fällen, wo es sich zumeist
um Verwendung von 3, 5 bis 10 proc. Cocainlösungen handelte,
die betreffende Lösung in irgend eine kleine Vene zufällig injicirt wurde.
Der Heihxrlauf der unter Anwendung der Cocain- resp. Cocain-
Eucain-xVnalgesie gesetzten Wunden bot gar keine Verschiedenheiten
dar gegenüber demjenigen, wie wir ihn unter allgemeiner Narkose
oder ohne letztere zu sehen gewohnt sind.
Bei den nunmehr 491 Operationen unter örtlicher Schmerz-
losigkeit mittels Cocain- resp. Cocain-Kucain-Lösungen schwankte
die gebrauchte Cocainmenge zwischen 0,005 — 0,06 g; bei keinem
einzigen Patienten, deren Lebensalter sich innerhalb der Grenzen
von IY4 bis 85 Jahren bewegte, wurden auch nur die geringsten
Anzeichen einer unangenehmen Wirkung beobachtet, ein überaus
günstiges Resultat, das wohl nicht allein einer glücklichen Fügung
zu verdanken ist, sondern sicth auch auf strenge Innehaltung der
früher angegebenen Maassnahmen gründet. Die Operationen waren
kurz zusammengefasst folgende:
48 Abscessspaltungen (acute, subacute und Congestionsabscesse,
Furunkel etc.).
26 Punctionen (von Gelenken, Ascites, Pleuritis exsudativa).
117 Turaorexstirpationen (Atherome, Fibrome, Lipome, Cancroide,
Ganglien u. dergl.).
20 Fremdkörperextractionen(Holz-, Glas-, Porzellansplitter, Nadeln,
Sclirotkörner).
9 Spaltungen von Cysten, Hydrocelen u. dergl.
52 Panaritien resp. eingewachsener Nagel.
272~
Locale Analgesie bei Operationen. 357
272
2 Fingerexarticulationen.
144 Varicenunterbindungen nach Trend clenburg.
8 Phimosenoperationcn.
3 Heniiotomieen.
12 Radicaloperationen von Hernien (eine unter »Schi eich 'scher
Pressionsinfiltration).
4 Sehnennähte.
4 Nekroscnoperationen.
1 Transplantation nach T hier seh.
15 Iliimorrhoidalexcisionen resp. Fistelspaltungen.
3 Ncrvenresectionen.
3 Tenotonnieen.
14 Zahnextractionen.
1 Castration (einseitig).
1 Probelaparotomie.
1 Hoher Blasenschnitt mit Steinentfernung.
3 Enucleationen des Bulbus.
491 Operationen unter localor Analgesie.
Literatur.
Szumann (Tiiorn), Ein Fall von Cocainintoxication nebst kritischen
Betrachtungen über die zulässige Cocaindosis bei subcutanen Injectioncn des
Mitteis. Therapeut. Monatshefte. 1888. S. 398. — A. Wolf 1er, Ueber die
anästhesirende Wirkung der subcutanen Gocaininjectionen. Wiener in«dicin.
Wochenschrift. 1885. S. 1531. — Derselbe, Zur lokalen Cocainanästhesie.
Wiener niedicin. Wochenschrift. 1887. S. 33. — Derselbe, Zur toxischen
Wirkung des Cocains. Wiener med. Wochenschrift. 1889. S. 673. — A.
Landerer, Lokale Anästhesie mit subcutanen Cocaininjectionen. Centralbl.
f. Chirurgie. 1885. S. 841. — Alex Fränkel, Cocainanästhesie bei chirur-
gischen Eingriffen. Wiener med. Wochenschrift. 1887. S. 125. — F. lleclus,
La cocaine en Chirurgie, Faris, — Krogius, Zur Frage von der Cocainanal-
gesie. Centralbl. f. Chirurgie. 1894. S. 241. — Pernico (aus der Foliklinik
des Prof. Oberst), Ueber Cocainanästhesie. Deutsche med. Wochenschrift.
1890. S. 287. — Schleich, Schmerzlose Operationen. Berlin 1894. —
Tito Costa, Eine Neuerung in der Technik der Cocainanästhesie. Ref.
Deutsche Medicinal-Zeitunsr. 1897. — Hackenbruch, Oertliche Schmerz-
losigkeit bei Operationen, Wiesbaden LS97. — Corning, Xew York Mcdic.
Journal. 1887. Bd. XLTI. lieft 12. — Feinberg, Weitere Mittheilungen zur
physiologischen Cocainwirkung. Berliner klin. Wochenschrift. 1887. S. 106.
24*
XV.
Gastroenterostomia et Enteroanastomosis,
ein neues vereintachtes Verfohren.
Von
Pr«ress«r A. PMires
in Charkow.
(Mit 4 Figuren.)
Das Streben, eine künstliche Anastomose zwischen verschie-
denen Theilen des Magendarmcanals zu bilden, ist in unserer
Zeit so gross, dass die Operation der Gastroenterostomie heute
von den Chirurgen fiir eine gewöhnliche Operation gehalten wird.
Da solche 0])erationen in den meisten Fällen bei Indieatio vitalis
ausgeführt werden, d. h. bei solchen Kranken, welche in Folge
von Durchgängigkeit eines gewissen Abschnittes des Verdauungs-
canais zu Grunde gehen, so sollten dieselben in die Reihe der so-
genannten obligatorischen Operationen, wie Hemiotomia, Tracheo-
tomia u. s. w. eingesetzt werden. Nichtsdestoweniger wird die
Operation der Gastroenterostomie noch jetzt als eine Seltenheit
betrachtet, besonders in Kussland, wo dieselbe von den Universi-
tätskliniken, so zu sagen, monopolisirt wird, trotzdem sie seit
mehr als 15 Jahren in der Praxis anerkannt worden und sehr oft
indicirt ist.
Wenn wir uns fragen, warum die Operationen dieser Art unter
den practischen Aerztcn so wenig verbreitet sind, so kann man
kaum antworten, dass die Ursache in der Nichtanerkennung des
Nutzens derselben liegt, denn wir wissen ja, dass in der alltäg-
lichen Praxis solche Operationen, wie Abrasiren eines Neoplasma
mit Löffel, oder Rectotomia linealis, nach Verneuil geübt werden,
Gastroenterostomia et Enteroanastomosis. 351)
die das Schicksal der Kranken etwas erleichteni, obgleich deren
Leben dabei verkürzt wird.
Was die Magendarmanastomosen anbelangt, so ist bekannt,
dass dieselben, sogar bei carcinomatösen Processen, nicht nur das
Leben der Kranken verlängern, indem die Gefahr einer Stenose
ausgeschlossen wird, sondern auch das Wachsthura der Neubildung
henomen, da der afficirte Theil ausgeschlossen wird; in anderen
Fällen, wo keine Carcinomatose vorliegt, kann die in Rede stehende
Operation von radicaler Bedeutung werden, da der Kranke nach-
her noch lange leben kann, wobei keine Functionsstörungen statt-
finden.
Wir sehen also, dass die Anastomosenoperationen im Ver-
dauungscanal aus ganz anderen Gründen als die Nichtanerkennung
des Nutzens derselben selten geübt werden. Nach unserer Mei-
nung handelt es sich hier um die ziemlich schwere Technik und
auch um die verhältnissmässig grosse Sterblichkeit bei dieser Ope-
ration, welche nach Guinard 41,4 pCt. und nach Dreydorff
43,3 pCt. erreicht. Es ist selbsverständlich, dass ein junger Chirurg
selten so eine riscante Operation unternehmen wird; gewöhnlich
werden solche Kranke in die Universitätsstädte geschickt und die-
selben sterben unterwegs, oder sie kommen in einem solchen Zu-
stande an, dass an keine Operation zu denken ist.
Es bleibt demnach zu wünschen, dass die Operationen der
Bildung einer Magendarmmitmündung von allen practischen Aerzten
ausgeführt werden kann. Um das Ziel zu erreichen, muss ein
Verfahren gefunden werden, die Operation rasch und leicht für den
Kranken, sowie für den Arzt zu machen.
Ich bin auf Grund der Erlernung der modernen Gastroente-
rostomie zu der Uebcrzcugung gelangt, dass die Ursache der er-
wähnten grossen Sterblichkeit in der Technik der Operation licirt,
denn dieselbe ist fast so complicirt und lang dauernd wie bei der
radicalen Pylorectomie oder Pyloroplastik, weshalb auch das Sterb-
Irchkeitsprocent bei diesen drei Operationen fast dasselbe ist. ^Sic
fordern eine langdauemde Narkose, Eröffnung der Organcavitätcn
und Eventration, was unmittelbar den Shock und Collaps hervor-
rufen kann. Was die Folgen betrifft, so werden durch das Ein-
treten von Organinhalt in das Operationsfeld schlechte Vernar-
bung, Auseinanderweichen der Nähte und alle möglichen Folgen
360 A. Podres,
von Secretausiritt in die Bauchhöhle beobachtet. Sogar die
moderne Liieralur, welche, wie bekannt, mehr geneigt ist, die er-
folgreichen als die unglücklichen Fälle zu veröffentlichen, betont
den grossen Einfluss der angeführten Umstände auf die Sterblich-
keitsstatistik. Die nachfolgende Beschreibun«: meines Verfahrens
der Anastoroosenoperation im Magendarmcanale hat zum Ziel: a) die
Vereinfachung dieser Operation : b^ die A'erkürzung der Operations-
zeit, wobei die Kräfte des Kranken am wenigsten erschöpft werden
und die Organe nicht eröffnet werden, damit die Wunde und die
Bauchhöhle nicht die Gefahr einer Ansieckunc laufen: e) die Er-
nähruni: des Kranken durch den Mairen unmittelbar nachdem die
Operation ausgeführt worden ist.
Die stärkeren Kranken werden vorzüglich mit Aeiher narko-
ti>irt, die sehr erschö|»ften bekommen eine locale Co<*ainanäslhesie,
wobei eine ^'o proc. Lösun<r von 4 — 6 Spritzen Cocainum muria-
ticum längs der Schnittlinie eingespritzt wird. Bei der Freiletrung
der Bauchhöhle werden die zu manijmlirendcn Organe wiederholt
mit derselben Lösung betupft. Die Erfahrung zeigte, dass bei
dieser Anästhesie ein fast schmerzloses Operiren behufs Magen-
darmanastomose erreicht werden kann.
Die Operation beirinnt mit einem Schnitt in der Linea alba,
6 — 0 cm lan<r, de>sen Mittelpunkt in der Mitte zwischen dem
Nabel und dem Ende von Processus xyphoideus sterni liegt. Nach-
dem man sich über die Laire der Organe in der Bauchhöhle orien-
tirt hat, werden der MairensTund und die vom Anfange an am
entferntesten ireloirene Dünndarmschlinge in die Oeffnung der Wunde
herausüeführt: die Darmschlinge wird an der hinteren Wandung
des Magens, unweit der Curvaiura major des letzteren fixirt, wobei
die Fixirung entweder oberhalb des Colon transversum oder unter
demseHien stattfindet, je nach den Tniständen des Falles und dem
Zustande dieser Organe: im letzteren Falle wird in die Oeffnong
der Wunde auch ein Thcil des horizontalen Grimmdarmes heraus-
gezogen, dessen Mooeolon gespalten wird, damit die Schlinge
durchgeführt und an derselben Seite des Ventrikels fixirt werden
kann. Endlich folgen die Nähte, welche eine spontane Bildung
der Mitmündung während der nächsien Tage nach der Operation
hervornifen sollen. Als Grund der besehriebenen Methode diente
die folgende Erfahrung: Jedem Chirurgen ist die Thatsache be-
Gastroenterostomia et Enteroanastomosis. 361
kannt, dass die Magen- oder Darmnaht, bei welcher die Nadel die
ganze Dicke des Organes durchdrungen hat, unbedingt eine Fistel
bildet, deren Grösse bei Weitem die Stichöffnung übertrifft; es ist
weiter bekannt, dass eine solche Fistelöffnung nicht spontan ver-
narbt; OS ist dagegen eine sehr coraplicirte Operation erforderlich,
um dieselbe zu schliessen. Ich habe nun diese Thatsache benutzt,
um eine künstliche Anastomosis zu bilden. Nachdem die betref-
fenden Theile des Magens und des Darmes zu freier Berührung
zusammengebracht sind, nähe ich dieselben mit einer perforirenden
gekreuzten Naht folgenderraaassen zusammen: Eine ziemlich dicke
Nadel, mit dickem Seidenfaden versehen, wird durch alle Schichten
der Magenwand von aussen nach innen in die Höhle des Organs
geführt und dann wieder nach aussen, 2 cm weit von dem ersten
Punkte, herausgeführt; nachher wird dieselbe Nadel in die Dicke
des betreffenden Darmtheiles gestochen, entsprechend dem Heraus-
führungspunkte der Nadel aus dem Magen, nach wie vor in die
Höhle des Darms geführt und endlich aus dem letzteren, dem
ersten Stichpunkte am Magen gegenüber, herausgeführt. Auf solche
Weise werden zwei perforirende Nähte durch die betreffenden
Organe erhalten. Wenn diese zwei Nähte nun stark zusammen-
gezogen werden, so findet eine Einklemmung statt, welche die
Perforation der beiden betreffenden Wände und somit die Bildung
der gewünschten Mitmündung zwischen den Organen hervorrufen
wird. Wenn die beschriebene Naht in horizontaler Ebene angelegt
ist, wird eine andere Naht nach denselben Regeln in vorticaler
Ebene geführt; auf solche Weise entsteht eine perforirende Kreuz-
naht und die eingeklemmten Wände der Organe erleiden nach
einigen Tagen eine Perforation, wobei eine regelmässige Mitmün-
dung rhombischer Form gebildet wird.
Wir haben eine ganze Reihe von Experimenten bei Thieren
angestellt und Beobachtungen an Menschen gemacht, um die Zeit
der Bildung einer Anastomose unter den oben beschriebenen Um-
ständen zu erfahren und sind zu dem Schlüsse gelangt, dass 2 bis
4 Tage, bei sehr erschöpften Subjecten 1 — 2 Tage mehr, dazu
genügen.
Unsere Untersuchungen haben auch gezeigt, dass die erwähnten
zwei perforirenden Kreuznähte nicht nur zur Bildung einer Ana-
stomose genügen (bei 9 Experimenten erhielten wir keinen einzigen
Mi2 A. Podres,
Misn/jrfol^;, siff}(hrn aur-h vor der Infer-tion des Peritoneums ganz
HU'hi'.r .schiHzon, da, bevor der Organinhalt durch die Perforation
<?iridrin^^t, ein festes Zusammenwachsen der serösen Oberflächen
rin^s iirn die Nähte stattfindet. Nichtsdestoweniger legen wir, der
si^^heren ^iarantie wegen, bei unseren Kranken noch 4 Lembert-
H<']ui Nälito an, wobei jede von diesen 4 Nähten in jedem von den
4 /wiscJienräiiinen, welche sich zwischen den perforirenden Kreuz-
n/lhten finden, angelegt wird und zwar in den Theilen, wo die
Hmmm lläuto sich am wenigsten berühren. Damit die Speise
nic/ht in die auszuschliessende Lecrdarmschlinge eintrete, wird die
lel/lern vor dem Nähen um eine halbe Tour so umgewendet (um
ihre AcIih(^ herum), dass ihre rechte Seite zur linken wird und das
abfiihrendo Undo nach oben geht (Wölfler).
Mndlic.h werden die herausgezogenen Baucheingeweide nach
V(»rlrtnllg<»r Toilette zurückgebracht und die Wunde mit hermeti-
Nrhen N/ihien geschlossen.
Wenn hei der oben beschriebenen Operation der Leerdarm
unter den\ Colon transversum durch den gespaltenen Thcil des
Mesorolon gobriieht wird, erscheint die Operation coraplicirter, da
die Anaslomose auf der Höhe der Spalte im Mesocolon stattfindet,
Nvo dieselbe mit 2 — 4 Nähten an den Rändern der Mesocolonspalte
des Oiiduiarnis lixirl wird.
I>ie letzte Methode ist zwar technisch complicirter und länger
dauernd, aber dieselbe bietet auch den A^ortheil, dass hier das
(Jekröse als supplementäres IVäservativmittel dient, falls eine früh-
/oin;ie Perforation statlfindet; ausserdem bekommen dabei die
Kranken mehr Kühe in den operirten tVganen.
Oie Kxperimente an Hunden, welche unter meiner Anleitung
\on \M\ Arnstein auiio>ieUt wurden, haben irezeiet, dass die
Thieiv auf das die \\\ Rede >iehonde Operation Wirleiiende Trauma
fa-vt nu ht n\^nvn: diosolbon nehmen nur am ersten Tage keine
\ahrur:: ;u >ivh. die Ten^H^ratur winl j.i- ht erb »ht, am zweiten
Vaii^^ tivwov, >io nvit 1 ',i>r. r.ai h o —4 T;kri^n s:r.d sie vollkommen
4:x^vur,d und de Itr,, r .r^. xoriw'.i s\h r.'^rmal* iV'jU der Veren-
^vvr,'ii dt> rvlon>, \xoM,e roVo^; oor A* a^ivr.. «sei Idunff fast in
Äl^n r\)\^^ ^v^/'. ", v:..r *\:^r,;^r: x^.'^rvUv. *>:. l:r iiar.cr sind 9 Ex-
;v: ',^,»^ An lv'^:on .r^ivv;": \\ -:i * : v»>: a/.:- Th>Mre haben
»"^^o RiVi, . , " v:.v^ v^;v"'ä: sV, i:::/»^::; u* d Un ^rvu lUdete sich
Gastroenterostomla et Enteroanastomosis. 363
eine Mitraündung; nur ein Hund, der nach 48 Stunden i^etödtet
wurde, zeigte eine spalten förmige Durchlöcherung im Bereiche der
Kreuznähte; gewöhiilicli aber bildet sich eine volle Anastomose
schon am Ende des 3. oder am Anfange des 4. Tages. Zuerst
bildet sich eine längliche Spalte mit geschnittenen Winkeln, dann
bekommt die Spalte die Form eines Rhombus mit halbrunden con-
vexen Wänden, weiter werden die Ränder des Rhombus glatter
und der Rhombus bekommt eine mehr regelmässige Form; endlich,
nach einigen Wochen, wenn die Vernarbung zu Ende gekommen
ist, erhalten wir eine ovale üeffnung, deren Längsachse parallel
der Darmachse liegt; wir bekommen also fast dieselbe Figur,
welche man bei Anlegung einer Anastomose, mit Ausschneidung
der Wandungen dos Organs, bildet.
Von den 9 erwähnten Hunden wurde der eine am 2. Tage
obducirt, zwei getödtet und untersucht am 4. Tage, einer am 6.,
einer am 8., einer am 10., einer am 15., endlich sind zwei Hunde
für eine raehrmonatliche Untersuchung ihres Ernährungszustandes
zurückgeblieben.
Unten folgt die Beschreibung von zwei Experimenten mit
photographischen Abbildungen.
Exper. No. 3. Schwarze Hündin von mittlerem Wüchse, einfacher Kace,
•wohlgenährt, wurde nach vorläufiger aseptischer Bearbeitung des Operations-
feldes chloroformirt und operirt. Zwischen der zweiten Scblingo des Leer-
darmes und der hinteren Wand des Magens, unweit des Fundus desselben
(oberhalb des Colon transversum), wurden Nähte für die Anastomoso auf-
gelegt. Die Operation dauerte 12 Minuten, die Vereinigung der üeberdeckung,
sowio die Bildung einer Verengerung in Pars pylorica ventriculi inbegriffen.
Die Verengerung wurde durch seitliche Invagination einer Falte bei der Pars
pylorica, mit nachfolgender Vernähung dieser Falte mit Nähten, ausgeführt.
Am folgenden Tage nach der Operation wollte das Thier nicht fressen und
schien nicht, wie sonst, munter; die Bewegungen waren jedoch activ und
schmerzlos, denn es riss nicht den Verband ab. -- Am 24. December trinkt
es Wasser und bekommt Appetit; es erhält ein Glas Milch, in zwei Portionen;
Temperatur 38,3, läuft munter herum. — 25. December. Das Thier ist munter
nach wie vor, hat ungefähr 2 Glas Bouillon, in zwei Portionen, getrunken;
die Temperatur ist nicht erhöht. — 26. December. Die Temperatur verhält
sich normal; Befinden und Appetit gut; hat während 24 Stunden 2 Glas
Bouillon und 1 Glas Milch ausgetrunken. — 27. December. Gesundheits-
zustand vollständig normal ; wird in getheilten Portionen ernährt. — L. Januar.
Gesundheitszustand normal, wird mit Flüssigkeit in massigen Portionen ge-
füttert. Defäcation täglich, etwas flüssiger Consistenz. Von diesem Tage an
364
A. Podn
bekommt das Tliier die ^wühnliclie Fütterung: Hirsebrei mit feingcschnitlcnem
Fleisch.
Am 15. Tage wird die Hündin getödtet, das orliallcne Präparat ist in
Fif;. 1 dargestellt, welche den Zustand und die Form der AnastomoscnölTnung
Seitens dos Mastis demonsirirt. Man sieht hier, dass die Mitmiindung ihre
rhombische Form TOrliert, an den Winkeln abgerundet wird und allmalig in
die ovalo Form übergeht.
Fig. 1.
p :^ Pflonii mit kflnslllFlier Rlrnos? 0*t«ralB taTiginition).
= Ovffnnug - Aii»lonicuc Soileni ifi Htgep.
GaütrocntcrastOLniu bei lluudcii.
Wir riehtt'n auch die Aufmrrksamkeit auf die Erhöhung im
vorlifgcndcii Präparat^, welche, unseres Wissens iiiflit selten durch
rcaclive Hyperplasie riiiirs um die Ocffnuiig forrairt wird, wobei
eine Art von Klappe oilcr Klemme nin den ncugeliildcten Ausgang
des Magens gebildet wird, was vielleicht eine gewisse Bedeutung
lür den Pmcess der Magen verdauiing haben kann.
Exper. So. G. Am 12. Dccember minie ein Hund nairli den oben er-
wähnten Itcgctn Djierirt , wobei eine Anastomose oberhalb des Colon trans'
vcrsuin gebildet und der Magenausgang durch seilliclic Inragination ge-
schlossen wurde. Der Hund erholte sieh schnell; am Ta^re nach der Opera-
tion bekam er Milch, am 3. Tai^e nahm der Appetit zu, vom 5. Tage ar
tiigliehe Deläcalion normaler Consistenx. Das TliJer wurde am 8. Tage ge-
tödtet, die Fig. i illustrirt den Anastomosenzusland Seitens des Loerdanns:
Gastroenterofitomia et Eiiternnnnslomosis. 365
die schon ganz erweiterte rhotnbit<che OcITnung mit alrophirtcn ktapponnrtigen
Wandungen fuhrt dircct in das abführende Ende des Leerdarms, während das
zuführende Ende, welcbes, wie man aus dem Photogrnmm ersieht, eine Um-
wendung bildet, in Folge der gemachten Deniitour des DnrmeS um die Aclise
des Metten (eriunis sich gegenüber der Bewegung der Nahrungsmnsscn in einer
Lage befindet, die den Eintritt der letzteren in den oberen ausgeschlossenen
Abschnitt des Leerdarms fast nicht erlaubt.
üostroenteroslomic.
Iiih erwähne die anderen unserer Kxperimi'iite nicht, du sie
nichts Neues xu dein schon Gesairtcn hinzufügen würden und gehe
direkt zu den IJcobachlungen über, welche icli ain Krankenbett
gemacht habe. Ich hatte Gelegenheit bei /.wei Kranken die be-
schriebene Operation auszuführen, wobei in einem Falle Exitus
letalis eintrat.
Fall 1. Michael M., 37 Jahre alt, Kaufmann aus Pawlograd, leidet der
AussE^e des l'atienten nach seit lange an Magenkatarrh. Bei der Aufnahme in
die Klinik, welche er am .'50, Deecmber 1897 wegen eines umfangreichen Ge-
schwürs im Bereiche des Suhscrobiculus cordis, eines krankhaften, etwas be-
weglichen, harten und höckerigen Tumors nachsuchte, war der Patient durch
langdauerndes Hungern und beständiges Erbrechen stark erschöpft und ge-
schwächt. Aus der Anamnese erfahren wir: Der Patient stamnit aus einer
gesunden Familie, litt selbst lange an Hagenkatarrhen, beging keine Kxcesse,
war in der Kindheit scrophulüs, ist verheirathet und hat gesunde Kinder.
Ungefähr ein Jahr vorher Gngen die Katharranfälle an, stärker z\i werden, wo-
366 A. P od res,
bei Schmerzen und Erbrechen erschienen, welciie einige Zeit nach dem Essen
stattfanden *). Das Geschwür bemerkte der Patient zum ersten Male vor einem
halben Jahre. Beim Erbrechen erschien nie Blut. Im Anfange trat das Er-
brechen nur bei unvorsichtigem Essen ein, jetzt aber erscheint dasselbe sogar
nachdem etwas Flüssigkeit in den Magen eingeführt worden ist. Der Patient
leidet seit ungefähr zwei Jahren an Verstopfung.
Die äussere Untersuchung ergab: Hohe Statur, stark ausgeprägte Ka-
chexie, Gelbfärbung der [lautdecke. Das Herz und die Lungen verhalten sich
normal, Absonderung und Beschaffenheit des Urins sind normal, die Menge
desselben etwas vermindert, Temperatur 36,4, Puls schwach und leer, bis
86 in der Minute. Im Bereich des Epigastrium, 3 Querfinger unter dem Pro-
cessus xyphoideus, etwas nach rechts, ein harter, höckeriger, gänseeigrosser
Tumor; der ein wenig verschiebbar und beim Betasten sehr empfindlich ist
und bei den Respirationsbewegungen niitbewegt wird. Die Percussion des
betreffenden Bereichs zeigte, dass die Dämpfung weit über die Grenzen des
fühlbaren Tumors ausgedehnt ist, hauptsächlich nach der Leber hin. Der
Magen ist aufgebläht, nach unten links verschoben, seine untere Grenze er-
reicht den Nabel. Die Bauchhöhle ist, ausser der Tumorgegend, eingezogen
und zeigte keine Anomalien; die Milz ist nicht vergrössert; die lymphatischen
Hals- und Inguinaldrüsen sind etwas geschwollen.
Da das Erbrechen trotz aller angewandten Mittel nicht aufhörte, so
wurde ein mechanisches Verfahren eingeschlagen, d. h. eine Anastomose
zwischen dem Magen und dem Darm hergestellt, weil die Ursache des Er-
brechens zweifellos von der Undurchgängigkeit des Pylorus abhing. Der
Kranke war so erschöpft, dass keines von den vorhandenen Operationsverfahren
angewandt werden konnte, weshalb ich eine Anastomose nach dem oben be-
schriebenen Verfahren herzustellen mich entschloss. Am 2. Januar wurde der
Kranke fast ohne Narkose operirt, indem er am Anfange der Operation nur
ein wenig Aether einathmete. Operation: Schnitt längs der Linea alba von
der Mitte des Subscrobiculus cordis bis etwa 2 Querfinger oberhalb des Nabels,
Ausziehung des Magengrundes und der zweiten Schlinge des Leerdarms aus
der Wunde, Anlegung von zwei Kreuznähten, nach vorläufiger Demitour dieser
Schlinge nach Wolf 1er, zwischen dem Magen und der Schlinge, um den Ort
der Anastomose herum werden in den Winkeln 4 Lembert'sche Nähte an-
gelegt.
Die Operation dauerte im Ganzen 15 Minuten, wobei ziemlich viel Zeit
auf die Erkennung der Affection verwendet wurde; afficirt waren nicht nur die
Pars pylorica ventriculi, sondern auch der Bänderapparat des Magens, die
Leber, der Kopf des Pankreas und ein ziemlich grosser Theil des Duodenums.
Nach entsprechender Behandlung der blossgelegten Organe wurden die-
selben in die Bauchhöhle zurückgeführt und die Wunde hermetisch geschlossen.
*) Das Erbrochene enthielt immer wenig oder gar nicht veränderte Nahrungs-
bestandthcile. Fast gleichzeitig mit den beschriebenen Symptomen erschienen
starke Schmerzhaftigkcit, Sodbrennen und Aufstossen nach dem Genuss der
Speisen.
Gastroenterostomia et Enteroanastomosis.
367
3. Januar. Der Kranke klagt ein wenig über Schmerzen; das Erbreclien
eiistirt immer, trotz Cocain und anderer Narcotica innerlich ;" Temperatur 36,7,
scIiwachoT Puls. — 4. Januar. Temperatur etwas erhöht, 38,2, Puls 72,
Schmerzen und Aufblähung des Magens etwas vermindert, kein Erbrechen.
Der Kranke trank aHmälig ungefähr ein Glas Bouillon aus. — 5, Januar. Der
Bauch schmerzlos, Änfblähung vermindert, Erbrechen einmal nach Genuss der
Speise. Temperatur 36,7, Puls 76; der Kranke schlief ein wenig bei Nacht.
— 6. Januar. Erbrechen zweimal ohne üebelkeit und Schmerlen nach Genuss
von mehr als einem Glase Bouillon, — 7, Januar. Status idem. Der Kranke
Fig. 3.
Oastroenterostoi
trank ein wonig Bouillon, Erbrechen einmal ohne frühere Intention, lempc'
ralnr 36,6, Puls 78. - 8 Januar Der Zustand des Kranken ist im \ll-
gemeinen unverändert; Appetit, Schmerzen nnd Frbrechen fehlen — 9 lanuor
Stuhl ohne Klysma, bestehend aus ziemlich harten Mas'icn, kein Erbrechen,
Temperatur 36,7. Puls HU, schwacher — Bis ^um 18 lanuar kein hibiechcn,
der Kranke konnte ohne Schwierigkeit essen, e^ waien überhaupt keine Kenn-
zeichen von Undurchgüngigkcit \urliandcn, nichtsdestoweniger nahm die Fr
Schöpfung zu und am 18 Januar Nachts terstaib der Kranke, duich den
Grnndproceas ganz erschöpft
Die Obduclion (vom Professor det pathologischen Anatomit) ergab
368
A. Podrt
Höchste Krschüpfung, die, wie oben erwähnt, als antnittelbare Ursache des
Exitus letalis betrachtet werden muss, einige alte tuberculöse, xum Theil ver-
narbte Herde; die Leber ist vergrössert und enthalt, wie auch die Bauch-
speicheldrüse, der Fylorus ventriciili und das Daodenuiu eine ausgedehnte
lymphomatöse Geschwulst, welche den Pylorus ganz undurchgüngig gemacht
battc. Die hinlere U'andung des Magens ist in ihrem mitllcren Tbeile, unweit
der Curvatura major, mit einer Lcerdarmsehünge verwncbsen; an diesem Orte
sieht man eine rboinbischc OcfTnnng, 2 cm breit, von Seiten des Magens ist
diese OelTnung etwas schmaler, während von Seiten des Leerdailns dieselbe
die Form eines Vierwinkcis hat. Die unlen folgenden Photogramme -3 und 4
zeigen die Figur dieser Anastomoso von Seiten des Magens und des Leerdarms.
Fig, 4.
Ga.stroenterostomie bei
Der Fall ist in der Hinsicht interessant, dass er die Thier-
expcrimcnte ergänzt, indem er das erklart, was auf experimentellem
Wege niclit erfahren werden kojmte.
kh erlaube mir nun, auf Grund des Obt'iian geführten, folgende
Schlüsse 7.U ziehen:
1. Die -Magen- und Damianastomnseoperation mit perforircndcr
Kreuznaht ist eine leichte, schnelle und fast gefahrlose Methode,
welvhe bei den schwächsten Kranken' von Jedem Chirurgen
atigewandt werden kann.
2. Hei diescTu Verfahren ist die liildung einer Aiia;>tiimosc
nach 2 — 5 Tagen voUkonimen garantirt.
Gasiroenterostomia ot Enteroanastomosis. 369
3. Es ist zu wünschen, dass diese Operation einige Tage
früher, als die Bildung einer Fistel nach anderen Methoden ge-
macht wird.
4. Die Fistel hat eine ringförmig ovale Form, wobei die Grösse
von derjenigen des genähten Gewebes abhängt.
5. Der Kranke läuft nicht die Gefahr des Shock's oder
CoUapses, da die Operation im Ganzen nur einige Minuten dauert
und keine langdauernde Narkose erfordert, oder sogar nur mit
Cocain ausgeführt werden kann, wie ich es in meinem zweiten
Falle gethan habe, der jetzt nicht mitgetheilt werden kann, da
die Beobachtungen über den Verlauf der Nachoperation noch nicht
zu Ende sind.
6. Endlich ist die beschriebene Operation auch in der Hinsicht
vorzuziehen, dass die Kranken während der ersten 2-3 Tage auf
normalem Wege ernährt werden können; nur vom 5, bis zum
9. Tage muss diese Ernährung vorsichtig unternommen werden.
XV I.
Experimentelle Untersuchungen und Er-
fahrungen über Infiltrationsanästhesie/)
Von
Privafdocent Dr. H. Braun
in Leipzig.
(Mit 2 Figuren.)
I. Begriffsbestimmung.
Um über das Princip der älteren und modernen* loeal-
anästhetischcn Methoden eine Verständigung zu ermöglichen, bedarf
es einer Begriffsbestimmung, welche am Besten an der Hand
beistehender seh em atischer Zeichnung (Fig. 1) zu bewerkstelligen
sein wird.
Dieselbe zeigt einen Querschnitt durch Haut und Subcutis,
Ni und No sind zwei sensible Nervenstämme, die im subcutanen
Zellgewebe verlaufen und in der Cutis sich verästeln. Ihre Ver-
breitungsbezirke greifen, entsprechend den Verhältnissen, wie sie
in der Haut des ganzen Körpers gefunden werden, in einander über.
Wir stellen uns nun die Aufgabe, in dem von Kreis I be-
grenzten Bezirk durch Einspritzung einer wässrigen Flüssigkeit in
die Gewebe eine locale Anästhesie hervorzurufen. Das kann auf
dreierlei Weise geschehen.
In dem einen Fall kann der erwähnte Bezirk völlig durch-
tränkt, angefüllt werden mit einer Flüssigkeit, welche die Nerven-
function lähmende Factoren enthält. Diese Factoren können che-
mischer Natur sein, und es giebt überhaupt nur wenige Stoffe, welche
in dieser Form selbst in den niedrigsten, an der unteren Grenze
ihrer specifischen Wirksamkeit stehenden Concentrationen angewendet,
*) Auszugsweise vorgetragen am 1. Sitzungstage des XXVIT. Congresses
der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 13. April 1898.
Eiporiment. Untersuch UDgen u. Erfahrungen üb. Intiltrationsanästhosie. 371
die Sensibilität intact lassen; die meisten reizen und lahmen die
sensiblen Nerven, oft einfach der Ausdruck einer schweren Gewebs-
schädigung oder Gewebszerstörung, wenige lähmen, ohne zu reizen.
Aber auch einige physikalische Eigenschaften wässriger Lösungen
vermögen auf diese Weise Anästhesie zu erzeugen. In jedem Fall
pflegt die Beeinträchtigung der Nervenfunction dem Einspritzen
der Flüssigkeit unmittelbar zu folgen, und in dem ganzen von der
fremdartigen Flüssigkeit durchtränkten Gebiet gleich stark und von
gleicher Dauer zu sein. Ihre practische Verwendung findet diese
Methode als Schloich'schc Infiltrationsanästhcsio.
Fig. 1.
^^äaJü
Der Bezirk I kann aber noch auf eine andere Weise anästhetisch
gemacht werden. Es giebt einige Stoffe, welche, wie das Cocain,
noch in enonner Verdünnung die sensiblen Nervenendigungen spe-
cifisch lahmen, wenn sie mit ihnen in Berührung kommen. Wird
in den kleinen von Kreis II umschriebenen Bezirk die Lösung
eines solchen Stoffs gespritzt von einer Concentration, die um das
vielfache starker ist als diejenige, welche bei unmittelbarem Con-
tact die Nervensubstanü noch lahmt, z. B. eine 1 proc. Cocain-
lösung, so diffundiren geringe Cocainmcngen in die Nachbarschaft,
welche aber genügen, um auch in dem ganzen Bezirk I Anästhesie
oder Analgesie hervorzurufen. Aber es vergehen einige Hinuten,
bis das geschehen ist, und die Intensität und Dauer der Sen-
sibilitätsstörung nimmt nach der Peripherie zu ab, wir beobachten
um ein anästhetisches Centrum, das unter dem Einfluss der dirccten
Infiltration steht, eine hemianästhetischc, analgetische Zone. Die
Ausdehnung dieser Zone hängt von der Concentration der Cocain-
Aiebit nir \\\a. Chinrtrle. 57. Üd. Heft 2. oe
372 Dr. H. Braun,
lösung ab und kann bedeutend erweitert werden, wenn durch Unter-
brechung der Blutzufuhr die Resorption der Cocainlösung verhindert
wird. Ihr Paradigma findet diese zweite Methode in derjenigen
Form der Co(iainanästhesie, welche von fast allen Aefzten, die
sich ihrer vor Schleich überhaupt bedienten, angewendet wurde
und welche in Reclus ihren modernen Hauptvertreter gefunden
hat. Sie untersclieidet sich von der Schleich'schen Infiltrations-
anästhesie dadurch, dass durch kleinere Flüssigkeitsmengen grössere
Gewebsbezirke anfistetisch gemacht werden können, ist' aber sonst
weder in ihrem Wesen, noch in ihrer Technik principiell von ihr
verschieden, hier, wie dort ist die Anästhesie oder Analgesie beschränkt
auf das Gebiet, in welchem lähmende Factoren durch den unmittel-
baren Contact mit den sensiblen Nervenendigungen in Wirksamkeit
treten. Ich möchte daher vorschlagen, diese Fonn der localen An-
ästhesie als Reclus'sche oder indirecte Infiltrationsanästhesio
zu bezeichnen.
Eine dritte Form der localen Anästhesie beruht auf dem Um-
stand, dass chemisch oder' physikalisch different wirkende Flüssig-
keiten, auf einen Nervenstamm applicirt, seine Leitungsfähigkeit
unterbrechen. Praktisch brauchbar sind auch hier nur Stoffe,
welche, gleich dem Cocain, höchst intensiv specifisch lähmen.
Wird in die mit 111 und IV bezeichneten Bezirke nach Unterbrechung
der Blutzufuhr eine Y2 — 1 proc. Cocainlösung gespritzt, so entsteht
daselbst sofort eine locale Infiltrationsanästhesie, bald aber dringt
ein Theil des Cocains in die Nervenstämrae Nj und Ng ein, die
Leitung in ihnen wird unterbrochen und dadurch der Bezirk I und
11 aus der sensiblen Sphäre ausgeschaltet. Wäre nur an einem
der Nervenstämme diese Procedur vorgenommen worden, so wäre
die erzielte Anästhesie eine unvollkommene.
Ich möchte vorschlagen, allein diese Form der localen Anästhesie,
von Grund aus verschieden in ihrem Wesen und in ihrer Technik von
der Infiltrationsanästhesie, als regionäre Anästhesie zu bezeichnen.
II. Experimentelle Untersuchungen über die Inflltrations-
anaesthesie.
Ich habe in Gemeinschaft mit Herrn Dr. Heinz e experimentelle
Untersuchungen über die theoretischen Grundlagen der Infiltrations-
anacsthesie angestellt. Kinen Theil der Ergebnisse derselben hat
Experiment. Untersach ungen u. Erfahrungen üb. Infiltrationsanästhesie. 373
•
Heinzc veröflfentlicht, i) ein anderer Theil bildet den Inhalt dieser
Arbeit. Wiederholungen dessen, worüber auch Heinz e berichtet,
lassen sich nicht immer vermeiden, es ist aber auch von Wichtig-
keit, dass Beobachtungen von natuiigemäss subjectivcm Character
von zwei Personen geprüft werden.
Die Wirkung, welche wässerige Lösungen von Salzen und
anderen Stoffen bei der Einspritzung in die Gewebe speciell auf
die sensiblen Nerven äussern, setzt sich zusammen aus einer An-
zahl von Componenten. Die Temperatur der Lösung, die mit der Ein-
verleibung derselben verbundene mechanische Zerrung und Anacmie
der Gewebe, osmotische Vorgänge, d. h. Quellung und Wasser-
entziebung, endlich chemische Umsetzungen, alle diese Factoren,
wie zunächst angenommen werden soll, wirken zusammen, um die
sensiblen Nerven zu reizen, zu lähmen oder zu tödten.
Es war vor allen Dingen nothwendig, die Wirkung dieser
Factoren von einander zu trennen.
Die üntersuchungsmethode, der wir uns bedienten, war die
von Schleich^) angegebene, d. h. wir spritzten die zu prüfenden
Flüssigkeiten auf Körpertemperatur erwärmt in unsere eigene Cutis
und beobachteten an den für das Auge sichtbaren entstehenden
Quaddeln etwaige Sensibilitätsstörungen oder sonstige Veränderungen.
Es ist das in der That die einzige Methode, welche feinere Diffe-
renzen in der Wirkung verschiedener Lösungen erkennen lässt.
Nur ist zu beachten, dass vergleichende Untersuchungen nur mög-
lich sind an dicht neben einander gestellten Quaddeln, und zur
gleichen Zeit, weil die Sensibilität der Haut nach Ort und Tages-
zeit variabel ist. Exacte Versuche konnte ich nur früh Morgens
anstellen. In späteren Tagesstunden, namentlich aber nach Alcohol-
genuss ist die Sensibilität der Haut beträchtlich herabgesetzt.
Ferner müssen die Quaddeln ungefähr gleiche Grösse haben, da
die Intensität und Dauer etwaiger Sensibilitätsstörungen steigt und
ff
sinkt mit der Menge der auf einen Gewebsabschnitt vertheilLen
Versuchsflüssigkeit und mit der Ausdehnung des infiltrirten Ge-
bietes.
Als wichtigste hier in Frage kommende, allen wässerigen
Lösungen geraeinsame Eigenschaft fanden wir deren osmotische
0 Die Arbeit soll in Virchow's Archiv erscheinen.
2) Schmerzlose Operationen. III. Aufl. Berlin 18U8.
25*
374 Dr. H. Braun,
•
Spannung. Sie äussert sioh darin, dass die Lösungen an die
Gewebe Wasser abgeben oder ihnen Wasser entziehen. Eine be-
stimmte Concentration einer jeden Lösung aber ist osmotisch
indifferent. Lösungen mil der gleichen osmotischen Spannung
nennt man isotonisch oder isosmotisch.
Die ausserordentliche Bedeutung, welche osmotische Vorgänge bei fast
allen Lebensprocessen im Pflanzen- und Thierreich haben, macht es leicht
verständlich, dass Botaniker und Physiologen es zuerst unternommen haben,
die osmotische Spannung von Lösungen verschiedener Salze experimentell zu
bestimmen und die isotonischen Concentrationen solcher Salze zu finden. Der
erste, der, allerdings nicht mit ausgesprochener Absicht, in dieser Richtung
Versuche gemacht hat, warNasse^). Er legte nämlich Froschmuskeln in
Salzlösungen und untersuchte, in welchen Concentrationen dieselben ihre
Erregbarkeit am besten und längsten bewahren. Er fand z. B., dass sie dies
in einer Chlornatriumlösung von 0,6 pCt., einer Jodnatriumlösung von 1,75 pCt.,
einer Natronsalpeterlösung von 1 pCt. thun. Diese Lösungen sind annähernd
isotonisch. Wir wollen uns im weiteren Verlauf unserer Untersuchungen wieder
daran erinnern, dass gerade isotonische Lösungen von Natriumsalzen es gewesen
sind, die gegenüber den Nerven dementen der quergestreiften Muskeln sich
gleich verhielten, während die Lösungen der meisten anderen Salze, welche
Nasse prüfte, einen gesetzmässigen Zusammenhang zwischen osmotischer
Spannung und Wirkung auf die Nervenelemente nicht erkennen Hessen.
Mit Hülfe einer physiologischen Methode hat später De Vries^) eine grosse
Anzahl isosmotische Concentrationen verschiedener organischer und anorganischer
Verbindungen bestimmt. Als Merkmal der Isotonie diente ihm der Umstand,
dass Lösungen von einer bestimmten Concentration einer jeden Verbindung
gewisse durch Wasserentziehung zu erklärende Erscheinungen an Pflanzenzellen
(Plasmolyse) und jungen Pflanzensprossen hervorrufen. Die niedrigst concen-
trirten Lösungen, welche eben noch wasserentziehend wirkten, sind isotonisch.
In ähnlicher Weise benutzten Hamburger^), Köppe^) und Hedin ^) die
rothen Blutkörperchen verschiedener Thiere und des Menschen dazu, um mit
Hülfe der an ihnen zu beobachtenden Erscheinungen der Quellung und Wasser-
entziehung die isotonischen Concentrationen wässriger Salzlösungen zu finden.
Hamburger prüfte, bei welcher Concentration die rothen Blutkörperchen rasch
und vollständig zu Boden ^inken, und bei welcher niedrigsten Concentration
sie eben Farbstoff abgeben, das Mittel aus beiden Werthen ergab die mit den
de Vries -sehen Untersuch unsren imalluremeinen übereinstimmenden isotonischen
») Pflüger's Archiv, Bd. H (1869^ und Bd. XI (1875).
2) P rings heim 's Jahrbücher der wissenschaftlichen Botanik, Bd. 14,
188-4, und Zeitschrift für physikal. Chemie, Bd. 2.
3) Hamburger, Archiv f. Aaat. und Physiol. Physiol. Abth. 1886 u.
1887, Supplement-Band. — Zeitschrift für physikal. Chemie. Bd. VL 1890.
*) Koppe, Zeitschrift für phvsikal. Chemie. Bd. 16, S. 261.
*) Hedin, Skand. Archiv f. Physiologie. Bd. 2, S. 134 u. 160. — Zeit-
schrift f. physikal. Chemie. Bd. 17.
Experiment. Untersuchungen u. Erfahrungen üb. Infiltrationsanästhesie. 375
Concentrationen der Salze. Koppe undHedin verwendeten das durch besondere
Methoden zu bestimmende Volumen der rothen Blutkörperchen, das sich bei
Einwirkung quellender Lösungen vergrössert, bei Anwendung wasserentziehender
Lösungen vermindert, als Prüfstein für die Isotonie der Lösungen.
Die moderne physikalische Chemie aber hat gelehrt, dass die osmotische
Spannung wassriger Lösungen einzig und allein abhängig ist von dem Grad
der Dissociation, in dem sich die Moleküle der gelösten Verbindung befinden,
•hat gelehrt, sie aus den Bestimmungen der elektrischen Leitungsfähigkeit der
Lösungen zu berechnen, und hat gezeigt, dass die durch Lösung von Salzen
in Wasser bewirkten Gefrierpunktserniedrigungen ein sicheres Maass für die
osmotische Spannung abgeben. Es war das ja auch schon de Vries bekannt,
die Technik der Gefrierpunktsbestimmung aber ist durch Anwendung moderner
Instrumente namentlich des Beck mann'schen^) Gefrierpunktapparates, so be-
quem und einfach geworden, dass man wohlkaum noch auf jene an sich so inter-
essanten physiologischen Methoden der Bestimmung isotonischer Concentrationen
zurückgreifen wird. Die für unsere Untersuchungen nothwendigen Gefrier-
punktsbestimmungen sind sämmtlich von mir mit Hülfe des Beckmann 'sehen
Apparates ausgeführt.
Alle wässrigen Lösungen, welche den gleichen Gefrierpunkt
haben, sind isosmotisch, d. h. sie geben entweder mit der gleichen
Kraft Wasser an die Gewebe ab und bringen sie zur "Quellung,
oder sie entziehen ihnen mit gleicher. Intensität Wasser, oder sie
sind osmotisch indifferent.
Die Wirkung osmotischer Spannungsdifferenzen, nämlich Reiz
und Lähmung sensibler Nerven, kann ganz rein beobac^.htct werden
bei Injection von auf Körpertemperatur erwärmtem, reinem Wasser
und wässrigen Lösungen eines chemisch indifferenten Salzes, z. B.
des Kochsalzes in die Cutis.
Osmotisch indifferent sind solche Lösungen, welche den gleichen
Gefrierpunkt haben, wie die normalen Körperflüssigkeiten. Gefrier-
punktsbestimmungen des menschlichen Blutes, der Lymphe, ferner
von Exsudaten und Transsudaten des menschlichen Körpers sind zuerst
von Dreser^), dann von Koranyi und Tauszk^) und von mir selbst
vorgenommen worden. Sie zeigen, dass der Gefrierpunkt dieser
Flüssigkeiten mit geringen Schwankungen nach oben und unten
stets — 0,55 ° sehr nahe liegt. Den gleichen Gefrierpunkt hat eine
Kochsalzlösung von 0,9^0? diese ist also osmotisch indifferent.
^) Zeitschrift für physikalische Chemie. Bd. II.
2) Archiv für experimentelle Pathologie. Bd. 29.
8) Zeitschrift für klinische Medicin. Bd. 33.
376
Dr. H. Braun,
alle stärker coiicentrirten Kochsalzlösungen entziehen dem G«webe
Wasser, alle verdünnteren bringen die Gewebe zur Queilung, um
so mehr, je näher sie dem reinen Wasser stehen. Ich habe ver-
sucht, die physiologischen Wirkungen der Quellung und Wasser-
entziehung auf Fig. 2 durch zwei Curven zu veranschaulichen.
Fig. 2.
OUltA#nA4<MA,,
sjgct: <r 9,^ ^% ^s e,H OiS- e^ olf €0 09 i^ c^ itt% s%
M^rt:£ii^\ -1 I I I I I I I 1 I ,
tTtwOnjoH^': a Ct9^ o,f| c^if o,xr O^ C|$f tiV qv) 0^ o,ii^
Auf der horizontalen Linie A B sind aufgetragen die Concen-
trationen von Kochsalzlösungen von 07oj ^^so Wasser, bis lO^o?
von einem Thoil dieser Kochsalzlösungen sind auch die Gefrierpunkte
angegeben. Die ausgezogene Curve bedeutet den sensiblen Reiz,
welcher bei Einspritzung der Lösungen in die Cutis entsteht, die
punktirte Curve die diesem Reiz folgende sensible Lähmung. Der
Abstand der Curvenpunkte von der Horizontalen entspricht, natürlich
nicht mathematisch genau, sondern ungefähr, der Intensität des
Reizes und der Lälimung. In der Mitte steht die osmotiscli indiffe-
rente 0,9 7o Kochsalzlösung. Sie erzeugt, erwärmt und in die "Cutis
eingespritzt, weder einen Reiz, noch eine Lähmung, sie wird sehr
schnell resorbirt, ohne dass die geringste Gewebsveränderung zurücTc-
bleibt. Werden Kochsalzlösungen in die normale Haut des Vorder-
arms oder Oberarms gespritzt, wie das bei den Experimenten am
eigenen Körper geschieht, so fanden wir eine scheinbar indifferente
Zone von 0,55 % bis etwa 27o) ^^ch ^^ entstand weder ein Injections-
schmerz noch eine deutliche Veränderung der Sensibilität. Werden
aber dieselben Lösungen gelegentlich in hyperästhetische, namentlich
Experiment. Untersuchungen u. Erfahrungen üb. Infiltrationsanästhesie. 377
entzündete Gewebe injicirt, so ergiebt sich, dass die den sensiblen
Nerven gegenüber indifferenten Concentrationen nur in der nächsten
Nachbarschaft der 0,9 proc. Kochsalzlösung zu finden sind. Bei
abnorm sensiblen Menschen werden also die beiden Curven so ver-
laufen, dass sie die Horizontale näher dem Mittelpunkt erreichen.
In der normalen Cutis bewirkt die ersten Quellungssymptome
eine Kochsalzlösung von 0,5 pCt., einen leichten, sehr charakteristi-
schen Quellungsschmerz und ihm rasch folgend eine geringe Herab-
setzung der Sensibilität. Wird weiter verdünnt, so steigert sich
der Injectionsschmerz langsam bis 0,4 pCt, dann rasch bis 0,2 pCt.
um endlieh beim Wasser seine grösste Heftigkeit zu erreichen.
Stets folgt dem Reiz die Lähmung, deren Intensität derjenigen des
Reizes ungefähr parallel geht. Eine Quellungsanästhesie ohne
Queilungsreiz giebt es nicht, die 0,2 proc. Kochsalzlösung erregt
bei der Injection sehr heftigen Quellungsschmerz -und eine kurz-
dauernde Analgesie ohne Parästhesien^). Beim reinen Wasser folgt
dem höchst intensiven Reiz eine Quellungsanästhesie der Gewebe,
die ebenso lange anhält, wie die, welche durch specifisch wii'kende
Anästhetica hervorgerufen werden kann. Ein practisch sehr wichtiges
weiteres physiologisches Symptom der Quellung aber ist eine unver-
kennbare Gewebsschädigung. Das reine Wasser erzeugt nicht selten
Quell ungsnekrosen, jedenfalls hinterlassen stark quellende Lösungen
stets lange bestehen bleibende schmerzhafte Infiltrate in den Geweben.
Auch bei 0,2 proc. Kochsalzlösungen ist dies Symptom noch angedeutet.
An Lösungen, welche mehr als 0,9 pCt. Kochsalz enthalten,
beobachten wir die physiologischen Wirkungen der Wasserentziehung.
Sie bestehen gleichfalls in Reiz und Lähmung der sensiblen Nerven,
doch wird der Reiz in ganz anderer Weise empfunden als der
Quellungsschmerz, er folgt der an sich wenig schmerzhaften In-
jection und hält mehrere Minuten an, während deren die Quaddel
stark hyperästhetisch ist. Hierauf tritt Anästliesie ein. Gleich-
zeitig macht die Quaddel sehr eigenthümliche Formveränderungen
durch. Wenn das Stadium der Hyperästhesie erreicht ist, der
brennende Schmerz nachlässt und die Anästhesie beginnt, sinkt
schnell das Centrum der Quaddel in Form einer Delle ein, während
*) Schleich (1. c. S. 148) behauptet, sie verursache „ein sehr geringes
Gefühl leichter Spaunung, auch vohl etwas Jucken (Parästhesie)" und Anästhesie.
Dem hat übrigens auch schon Güster widersprochen.
378 Dr. H. Braun,
ihr Rand einen circulär erhabenen Wall bildet; der anaemische
Wall und das anaemische Centrum siud meist durch einen schmalen
stärker gerötheten Ring getrennt. Nach etwa 15 Minuten wird
die Quaddel wieder glcichmässig flach, und vergrössert sich nach
der Peripherie, während die Sensibilität wiederkehrt. Bald darauf
verschwindet sie, ohne dass eine Gewebsveränderung zurückbleibt.
Den Symptomen der Wasserentziehung kommt eine praktische Be-
deutung nicht zu, da, wenigstens zur localen Anästhesie, wasser-
entziehende Lösungen niemals verwendet werden.
Ich habe nunmehr den Beweis zu erbringen, dass die ge-
schilderten Vorgänge und Empfindungen wirklich allein Folgen
osmotischer Vorgänge sind.
Schleich (1. c. pg. 151) hat geglaubt, dass die mit der In-
filtration verbundene Anämie der Gewebe und mechanische Irritation
der sensiblen Nervenendigungen von wesentlicher Bedeutung für
das Zustandekommen der Infiltrationsanästhesie sei. Dass diese
Faktoren aber ganz irrelevant sind, ergiebt sich einfach daraus,
dass mit einer auf Körpertemperatur erwärmten 0,9 proc. Kochsalz-
lösung umfangreiche Gewebsbezirke, wie wir wiederholt an uns
selbst konstatirten, prall infiltrirt werden können, ohne dass auch
nur die geringsten Sehsibilitätsveränderungen entstehen. Gegen
Anämie besonders sind die sensiblen Nerven ausserordentlich lange
tolerant. Schnürt man sich den eignen Finger mit einem Gummi-
schlauch ab, so treten zwar sehr bald Parästhesien auf, welche
w^ohl als Folge der directen Compression der Nervenstämme an-
gesehen werden müssen, die Empfindlichkeit der Fingerhaut aber
gegen Berührung und Nadelstiche ist noch nach einer Stunde kau^i
herabgesetzt. In der kurzen Zeit, in welcher unsere kunstlichen
Oedeme bestehen, beeinflusst also die nicht einmal vollständige
Anämie keinesfalls die Sensibilität^).
0 Möglich ist es, dass die Herabsetzung der Sensibilität, -welche an
chronisch ödematösen Geweben bei Kranken beobachtet wird, eine Folge der
lange Zeit anhaltenden Anämie ist, wie Schleich annimmt. Sehr wahrscheinlich
aber ist es, dass auch osmotische Spann ungsdifferenzen der Gewebsflüssigkeiten
bei diesen Sensibilitätsstörungen eine Rolle spielen; denn Koranyi (i. c.) hat
gezeigt, dass der Gefrierpunkt der Gewebsflüssigkeiten bei Herz- und Nieren-
kranken Abweichungen von der Norm zeigt. Schleich (l. c. S. 151) meint
femer, die Bedeutung der Anämie sei dadurch erwiesen, dass in anämischen
Geweben das Cocain wirksamer sei, als in hypcramischen. Ja, meines Er-
achtens liegt das lediglich daran, das in letzteren das Cocain weit rascher
weggeschwemmt wird.
Experiment. Untersuchungen u. Erfahrungen üb. Infiltrationsanästhesie. 379
Verschieden temperirte 0,9 proc. Kochsalzlösung, in die Cutis
injicirt, lässt daher die Einwirkung der Temperatur wässriger
Lösungen auf die sensiblen Nervenendigungen erkennen. Es zeigt
sich hierbei, dass jede stärkere Abweichung der Temperatur der
Lösung von der Körpertemperatur einen Reiz auslöst, um so
intensiver, je kälter die Lösung ist. Abkühlung der Lösung auf
0^ und darunter macht im Anschluss an den Reiz Anästhesie, die
aber in Folge rascher Erwärmung der Lösungen im Körper von
so kurzer Dauer ist, dass ihr jede praktische Bedeutung ab-
gesprochen werden muss. Ein Quell ungsschmerz kann niemals,
wie Schleich (pg. 151) meint, durch Abkühlung der Lösung ver-
mindert oder aufgehoben, sondern nur verstärkt werden, weil sich
zu dem Quellungsreiz noch der Teraperaturreiz .gesellt. Auf 50 bis
55^ erwärmte Lösungen schädigen zweifellos die Gewebe, hinter-
lassen schmerzhafte Infiltrate, ohne die Sensibilität zu verändern.
Der strikte Beweis aber, dass die Quellung allein reizt, lähmt
und die Gewebe schädigt, dass ferner auch die Wasserentziehung
charakteristische, objektiv und subjektiv wahrnehmbare Verände-
rungen an der Quaddel bewirkt, wird dadurch geliefert, dass es
ausser dem Kochsalz noch eine Anzahl von anderen chemisch in-
differenten Stoffen giebt, deren Lösungen bei der Einspritzung in
die Gewebe genau die gleichen Symptome machen, wie Kochsalz-
lösungen mit demselben Gefrierpunkt. Hierzu gehören viele Natrium-
salze und Zuckerarten. Auf Tabelle II ist eine Reihe solcher
Stoffe zusammengestellt:
Tabelle I. Wässrige Lösungen bei 35 ^
I.
TT.
III.
IV.
Mole-
QueUunj^s-
Verbindung
kular-
schmerz
Kein Quellungsschmerz mehr bei:
Ge"wicht
noch bei:
Cblornatrium, NaCl.
58,5
0,5 pCt.
0,55 pCt. Gefrierpunkt — — 0,35 0.
Natrium bicarbooic,
COaNaH
84
0,75 ,
0,8 „ , --0,370.
Natrium nitricum,
NOsNa
85
0,75 ,
0,8 „ , =-0,350.
Bromoatrium, NaBr.
103
0,95 ^
1 , , --0,340.
Jodnalriuro, NaJ. . .
150
1,20 ,
1,25 , „ =-0,320.
Natrium biboricum,
Na2B407 + 5H2O. .
292
1,80 „
1,35 „ „ =-0,350.
380
Dr. H. Braun,
I.
II.
Mole-
UI.
Quellungs-
IV.
Verbindung
kül ar-
schmerz
Kein Quellungsschmerz mehr bei:
Gewicht
noch bei:
Natrium sulfuricum,
S04Na2+10H20. .
322
2,1 .
2,2 .
=-. - 0,33 o.
Natrium phosphoric,
P04Na2 + 12H20. .
358
2,3 „
2.4 „
= -0,345».
Rohrzucker,
G12H22O11
342
5,6 ,
5,8 ,
= — 0,350.
Milchzucker,
Ci2"220ll ~r ^*2^'
360
5,7 ,
5,9 ,
= —0,345».
In Spalte I findet man die betreffenden Verbindungen, in
Spalte II die Molekulargewichte, in Spalte III diejenige stärkste
Concentration der Lösungen in Procenten, bei welchen die Injection
noch eben einen leisen Schmerz verursacht. Niedrigere Concea-
trationen als diese rufen stets, wie beim Kochsalz, einen um so
intensiveren, bei allen Verbindungen gleichartigen Schmerz und
ihm folgend, um so vollständigere Anästhesie hervor, je näher die
Lösung dem reinen Wasser steht. Bei weitei'er Erfiöhung der Con-
centration aber gelangt man bei allen diesen Stoffen in eine in-
differente Zone, innerhalb deren ihre Lösungen weder reizen noch
sonst die Sensibilität verändern. In Spalte IV sind diejenigen
niedrigsten Conccntrationen angegeben, welche noch innerhalb dieser
für die normale Haut indifferenten Zone liegen. Es eiigiebt sich
also, dass Differenzen von Y20 pCt. in der Concentration der
Lösungen von den seusiblen Nerven empfunden werden können i).
Nachdem diese Versuche längst fertig gestellt waren, machte ich
Gefrierpunktsbestimmungen, und fand, dass die in Spalte IV ge-
nannten Lösungen annähernd den gleichen Gefrierpunkt haben,
entsprechend einer Kochsalzlösung von 0,55 pCt. Gelinge Differenzen
ergaben sich aus unvermeidlichen Versuchsfehlern. Diese Lösungen
sind also isosmotisch, und wirken sämmtlich gerade noch so wenig
quellend, dass die normale Haut keinen Quellungsschmerz empfindet.
Unsere Untersuchungsmethode hat demnach geradezu dazu geführt,
^) NB. bei genügender Uebung. Beim Zucker werden nur grössere Dif-
ferenzen unterschieden, "weil die gleiche Menge Zucker die osmotische Spannuog
des Wassers viel weniger verändert, als z. B. die gleiche Menge von Chlor-
natrium. Alle Zahlen sind Mittelwerthc aus odncr grossen Zahl von Versuchen.
Experiment. Untersuchungen u. Erfahrungen üb. Infilirationsanästhesie. 381
von einer Reihe von Salzen die isosraotischcn Ooncentrationen fest-
zustellen. Die obere Grenze der indifferenten Zone ist nur an-
nähernd zu bestimmen, auch ergeben sich für sie keine aus der
osmotischen Spannung abzuleitenden Gresetze, weil in stärker con-
centrirten Lösungen einige dieser Salze sehr bald specifisehe Reiz-
wirkungen äussern. Wenn sie als chemisch indifferent beseichnct
werden, so gilt dies eben nur für niedrige Ooncentrationen.
Offenbar ganz indifferent und auch in starken Ooncentrationen
der isotonischen Kochsalzlösungen durchaus gleichartig wirkend er-
wiesen sich aber namentlich die Zuckerarten. Verfolgen wir den
Rohrzucker noch einmal genauer. Eine Kochsalzlösung von 0,55 pCt.
hat die gleiche osmotische Spannung wie eine Zuckerlösung von
5,8 pCt., letztere bewirkt also auf 35 '^ erwärmt wie jene, bei der Ein-
spritzung in die Outis keinen Reiz und lässt die Sensibilität un-
verändert. 3 proc. Zuckerlösung entspricht einet etwa 0,3 proc.
Kochsalzlösung, macht also wie diese massigen Injectionsschmerz
und Herabsetzung der Sensibilität. Wird aber durch Zusatz von
0,6 pOt. Kochsalz die quellende Wirkung der 3 proc. Zuckerlösung
beseitigt, so erzeugt diese Mischung nunmehr weder Schmerz noch
Anästhesie^). Bei ungefähr 20 — 50 proc. Zuckerlösung, ent-
sprechend einer 2 — 5 proc. Kochsalzlösung ist die Injection hier
wie dort so gut wie schmerzlos, dann folgt mehr oder weniger
heftiges Brennen, Anästhesie und jene beim Kochsalz genauer be-
schriebene eigenthümliche Dellenbildung an der Quaddel. Dieselben
Erscheinungen können mit den entsprechenden isoemotischen
Lösungen von phosphorsaurem, schwefelsaurem, doppelt-kohlen-
saurem Natron und Borax beobachtet werden, Borax schädigt aber
bereits in 10 proc. Lösungen die Gewebe, die übrigen Salze lassen
schon in Lösungen mit einem Gefrierpunkte von wenig unter
— 0,35^ stärkere specifisehe Reizwirkungen erkennen. Mit Salaen
von stark alkalischer Reaktion, wie das kohlensaure Natron, mögen
etwaige Nachuntersucher vorsichtig sein, auch dieses Salz hat eine
für die sensiblen Nerven zunächst völlig indifferente Zone, macht
aber bereits in niedriger Oonoentration (3 — 5 pOt.) Gangrän der
Quaddel.
Die von Physiologen oft discutirte Frage, ob nicht sehr hoch
^) Schleich (1. c. S. 149) hat 8 proc. Zuckerlosung als ein reines An-
ästhetieum bezeichnet.
382 Dr. H. Braun,
concentrirte Kochsalzlösungen auch noch ajidre, als rein physikalische
Veränderungen der Gewebe hervorrufen, soll hier nicht discutirt
werden, soviel aber steht fest, dass Kochsalzlösungen von 0 pCt.
bis 10 [)Ct. uns bei der Einspritzung in die Gewebe die physio-
logischen Symptome der Quellung und Wasserentziehung zeigen.
Daraus folgt, dass jede beliebige wässrige Lösung, abgesehen von
specifischen Einflüssen des gelösten Körpers, die gleiche Wirkung
auf die sensiblen Nerven äussern muss, wie eine Kochsalzlösung
mit dem gleichen Gefrierpunkt. Die Reiz- und Lähmuiigscurven
der Fig. 2 sind also gültig für alle wässrigen Lösungen und es
bedarf nur einer Gofrierpunktsbestimmung, um zu wissen, wie eine
Lösung die sensiblen Nerven physicalisch beeinflusst.
Wir sind nun weiter daran gegangen, eine grosse Anzahl von
chemischen Körpern in Bezug auf ihre speciftsche, namentlich
localanacsthetische Wirkung bei der Einspritzung ihrer Lösungen
in die Gewebe zu prüfen. Es ist klar, dass eine exakte Unter-
suchung in dieser Richtung überhaupt erst ermöglicht wird durch
die Kenntniss der physiologischen Wirkung der Quellung und
Wasserentziehung und die Bestimmung der osmotischen Spannung
der zu prüfenden Flüssigkeiten. Der Gefrierpunkt derselben muss
stets in die osmotisch indifferente Zone fallen, darf sich also nicht
weiter als — 0,35® dem Nullpunkt nähern. Lösungen mit einer
geringeren Gefrierpunkterniedrigung aber bedürfen eines Kochsalz-
zusatzes, am einfachsten stets 0,6 pCt., um ihre specifischen Wir-
kungen auf die sensiblen Nerven erkennen zu können. Die Quell-
ung kann für die normale Cutis dann als ausgeschaltet gelten.
Statt des Kochsalzes kann man sich natürlich auch jedes anderen
indifferenten Salzes in einer Menge bedienen, welche die gleiche
Veränderung der osmotischen Spannung hervorruft, wie ein Zusatz
von 0,6 pCt. Kochsalz.
Im Gegensatz zu den, in niedrigen Concentrationen wenigstens,
chemisch indifferenten Stoffen ist eine zweite Gruppe chemischer
Verbindungen, zu der die Mehrzahl aller in Wasser löslichen Körper
gehört, dadurch charakterisirt, dass ihre Lösungen keine indifferente
Concentrationszone besitzen, sondern stets in Folge von specifisch
chemischen Wirkungen reizen. Dem Reiz folgt fast ausnahmslos
Lähmung der sensiblen Nerven, sehr oft Schädigung und bei
Experiment. Untersuchungen u. Erfahrungen üb. Infiltrationsanästhesie. 383
stärkeren Concentrationcn Tod des Gewebes. Für diese Gruppe
passt aro besten Liebreich's Bezeichnung „Anaesthetica dolorosa".
Tabelle U.
Magnesium sulfuricum
Cblorcalcium
Kalium nitricum . . . .
ßromkalium
Jodkalium
Kalium sulfuricum . .
Chlorbaryum
CoDcentration
3,6 pCt.
1,3 ,
1,0 „
1,1
1,6
1,3
1,8
T
»
Gefrierpunkt
— 0,85
— 0,34
— 0,375
— 0,35
— 0,365
— 0,36
— 0,36
Auf Tabelle II findet man eine Anzahl isosmotischer Lösungen
von Alkali- und Erdalkalisalzen zusammengestellt, deren Gefrier-
punkt — 0,35^ ist oder wenig tiefer liegt. Dies sind also Lösungen,
in denen die Quellung die sensiblen Nerven nicht mehr erkennbar
reizt und lähmt. Trotzdem erzeugt jede dieser Lösungen bei der
Einspritzung in die Cutis Reiz, dem ausgenommen bei Magnesium
sulfuricum eine langanhaltende Anästhesie folgt. Zusatz von
0,6 pCt. Kochsalz zu den Lösungen verändert daran natürlich nichts.
AVerden die Lösungen weiter mit Wasser verdünnt, so gesellt sich
nun zu der chemischen Einwirkung die Quellung, welche ebenfalls
Reiz und Anästhesie macht. Wird aber jetzt zu diesen dünnen
Lösungen 0,6 pCt. Kochsalz hinzugefügt, so kann man beobachten,
dass der Reiz" geringer und geringer wird, je nach dem Grad der
Verdünnung des zu prüfenden Stoffs, bis endlich eine Concentration
erreicht wird, bei welcher Kochsalzzusatz die Lösung völlig indifferent
macht. Damit ist die untere Grenze der chemischen Wirksamkeit
des geprüften Stoffs erreicht, der Reiz, den diese Lösung ohne
Kochsalzzusatz auslöste, war nur noch ein physikalischer. Auf diese
Weise, durch die Bestimmung der unteren Reizgrenze, lässt sich
vielleicht am leichtesten und besser als auf dem von Grützner^)
betretenen Wege, ermitteln, ob und welche Beziehungen
zwischen der Intensität der Reizwirkung und dem Molekulargewicht
chemischer Verbindungen bestehen. Ich fand, dass nächst den
1) Pflüger's Archiv. Bd. 58, S. 69.
384
Dr. H. Braun,
Natriumsalzen die Magnesium- und Calciumsalze sehr wenig, die
Kalisalze weit starker, am stärksten die Baryumsalze reizen. Weiter
bin ich dieser Frage nicht nachgegangen.
Hcinze hat noch eine ganze Anzahl in diese Gruppe gehörige
Stoffe genauer geprüft, ausser Brorakali noch Antifebrin, Antipyrin,
Formanilid, Methylviolett, Methylenblau, Coffein und Morphium.
Alle diese Stoffe sind gelegentlich zur localen Anästhesie empfohlen
worden. Ich verweise, namentlich auch bezüglich der vorhandenen
Litteratur auf Heinze's Arbeit und will hier nur erwähnen, dass
die Angabe Schleich's (1. c. pg. 149) Lösungen von 3pröc. Brom-
kali, 2 proc. Coffeii), 1 proc. Methylviolett seien reine Anästhetica,
völlig in der Luft schwebt, wir vermögen nicht zu sagen, wie er
zu ihr kommt. Nur auf ein Alkaloid, mit dem sich auch S chleich
besonders beschäftigt hat, das Morphium: sei mir gestattet, näher
einzugehen.
Unsere Beobachtungen sind auf Tabelle lU zusammengestellt.
Tabelle IIL ^ Morphium hydroehlorieun.
I.
II.
Ul.
IV.
V.
Coiiceo-
Gefrier-
Lösungsmittel
Injections-
Sensibilität
tration
punkt
bei 35»
scbmcrz
4 pCt.
— 0,350
Wasser
\ starkes Brennen
3 pCt.
— 0,2750
Wasser
> mittelstark
f und Hyper-
) ästhesie, dann
j
2 pCt.
—
Wasser
0,6pCt.NaCl
)
\ Anästhesie.
1 Par-
1 ästhesien
1 pCt.
—
Wasser
0,6pCt.NaCl
stärker
gering
> herabgesetzt
I u. starke
V Vergrös-
0,5 pGt.
Wasser
0,6pCt.NaCI
stärker
geringer
Anästhesie
etwasherabgesetzt
/ serung
j der
l Quad-
0,25 pGt.
W^asser
0,6pCt.NaCl
heftig
sehr gering
Anästhesie
wenigherabgesetzt
1 dein.
0,1 pCt.
Wasser
0,6pCt.NaCl
sehr heftig
keiner
Anästhesie
nicht verändert
*
Die osmotische Spannung der Morphinlösungen ist eine sehr
geringe, wie die aller von Heinz e und mir untersuchten Alkaloide.
Erst eine 4 proc. Lösung hat einen Gefrierpunkt von — 0,35^,
entspricht also ehier 0,55 proc. Kochsalzlösung. Bei allen niedriger
concentrirten Lösungen haben wir demnach Quellung und ihre Folgen
Experiment. Untersuchungen u. Erfahrungen üb. Infiltrationsanasthesie. 385
zu erwarten. Das spricht sich deutlich in unserer Tabelle aus.
2 — 4 proc. Lösungen erregen mittelstarken Injectionsschmerz, der
theils als specifische Morphinwirkung, theils als Quellungssymptom
zu deuten ist, desgleichen die darauf folgende Anästhesie. Bei
1 proc. Lösung tritt die Quellung in den Vordergrund, die locale
Morphinwirkung ist nur noch gering. Denn die wässrige Lösung macht
stärkeren, bei Zusatz von 0,6 pCt. Kochsalz geringeren Injections-
scbraerz, beide Lösungen erzeugen nur eine geringe Herabsetzung
der Sensibilität. Bei weiterer Verdünnung der wässrigen Lösungen
auf 0,5 pCt. und 0,25 pOt. wird der Injectionsschmerz immer
heftiger, und es tritt wiederum volle Anästhesie der Quaddel ein.
Das ist fast ausschliesslich eine Folge der Quellung, da die gleich-
procentigen Lösungen mit Zusatz von 0,6 proc. Kochsalz nur noch
sehr wenig reizen und eine kaum merkliche Veränderung der
Sensibilität hen^orrufen. Bei 0,1 pCt. verhalten sich die sensiblen
Nerven so, wie bei reinem Wasser und reiner physiologischer
Kochsalzlösung.
Allen Lösungen von Morphinsalzen in Wasser oder physiolo-
gischer Kochsalzlösung ist eine eigenthümliche locale Wirkung auf
die Gefässe eigen. Kurze Zeit nachdem eine Quaddel gebildet
worden ist, beginnt sie sich in der Höhe und Fläche zu vergrössern,
röthet sich und nimmt schliesslich einen unregelmässig gestalteten
Raum ein, der meist das 4 — 5 fache der ursprünglichen Quaddel
überschreitet, bei Verwendung stärkerer (1 pro Mille) Morphium-
lösungen entsteht geradezu ein umfangreiches Oedem in der Um-
gebung der Einstichstelle. Diese Erscheinung ist durchaus gleich-
artig den durch Stiche von Insekten verursachten Quaddeln und
Ocdemen der Cutis und ist, wie diese, stets von starkem Jucken
begleitet. Sie entsteht bei geradezu unglaublichen Verdünnungen,
wenn andere locale Wirkungen des Morphium längst nicht mehr
nachzuweisen sind, bei einer Lösung von 1 : 100,000 sind sie noch
sehr intensiv und die Spritze, mit der man morphiumhaltige Lösungen
injicirt hat, kann für andere Versuche garnicht benutzt werden.
Dabei ist zu bemerken, dass die etwa der Injection folgende
Anästhesie oder Herabsetzung der Sensibilität genau auf das Ge-
biet der ursprünglichen primären Quaddel beschränkt bleibt, die
ödematöse Umgebung ist eher hyperästhetisch. Es ist das also
eine eigenartige specifische locale Giftwirkung des Morphiums, die
386 Dr. H. Braun,
Gefiisse in der Umgebung der Injectionsstelle zu lähmen und einen
Flüssigkeitsaustritt aus denselben zu veranlassen. Wir haben die
gleiche Wirkung, und zwar noch intensiver, bei einem anderen
Opiumalkaloid, dem Codein beobachtet, sonst bei keinem anderen
Körper. Bei experimenteller Prüfung der localanästhetischen Wir-
kungen des Morphiums ist sehr zu berücksichtigen, dass schon
geringe Morphiuradosen die Sensibilität des ganzen Körpers erheb-
lich herabsetzen, eine Morphiumquaddel machte uns oft für
Stunden untauglich, weitere Untersuchungen vorzunehmen. Die
Nichtbeachtung dieses Umstandes hat vielleicht Schleich (1. c.
pg. 149) zu der wunderlichen Angabe veranlasst, 0,1 proc. Morphium-
lösung sei ein reines Anästheticum. Diese Lösung wirkt ja, ent-
sprechend ihrem vom Nullpunkt kaum noch messbar abweichenden
Gefrierpunkt, auf die sensiblen Nerven local rein physikalisch,
genau wie reines AVasser. Specifisch ist nur die secundäre Be-
einflussung der Gefässe. Wenn Jemand eine wässrige Morphium-
lösung von 0,1 pCt. bei der Injection in die Cutis als reines
Anästheticum empfindet, sq kann das nur die Folge einer schon
vorher vorhandenen, gänzlich abnormen Sensibilität sein. Unsere
Untersuchungen zeigen, dass die localanästhetischen Wirkungen
des Morphium von ganz untergeordneter Bedeutung sind, und erst
in 3 — 4 proc. Lösungen, welche gleichzeitig reizen, deutlicher
werden. Das Morphium ist also alles andere als ein localcs
Anästheticum.
In eine dritte Gruppe chemischer Körper gehören solche,
die wir mit Recht als locale Anästhetica bezeichnen können,
insofern als bei ihnen specifisch lähmende Wirkungen über den
Reiz überwiegen, oder der Reiz selbst ganz fehlt. Auch dadurch
zeichnen sie sich aus, dass geringe Mengen, welche den Gefrierpunkt
dos Wassers nur wenig verändern, im Stande sind, den Schmerz
des QucUungsreizes zu verdecken, oder wenigstens zu vermindern.
Drei AVerthe sind es, deren Kenntniss uns über die specifische
localanästhetischc Wirkung eines Mittels orientirt:
1. Diejenige geringste Menge, welche noch den Quellungsreiz
der wässrigen Lösung in Folge ihrer lähmenden Wirkung unfühl-
bar macht.
2. Der Gefrierpunkt dieser Lösung, welcher den Grad ihrer
quellenden Potenz anzeigt.
Experiment. Untersuchungen u. Erfahrungen üb. Infilirationsanästhesie. 387
3. Die untere Grenze der Wirksamkeit des Mittels.
Untersuchen wir femer, ob das Mittel specifische Reizwirkungen
auf die sensiblen Nerven ausübt, und wie lange Zeit es ira Stande
ist, sie zu lähmen, ob es endlich die Gewebe schädigt, so wissen
wir, ob es überhaupt sich lohnt, dasselbe praktisch zu versuchen.
Wenn alle diese Punkte geprüft und beachtet worden wären, so
würde die Empfehlung der meisten sogenannten Ersatzmittel für
das Cocain unterlassen worden sein.
In die Gruppe der Localanästhetica gehört zunächst die Carbol-
säure (Tab. IV).
Tabelle IV. Aeidum carbolicnm.
I.
crystalli-
satum,
Gewichts-
procente
Gefrier-
punkt
IL
lique-
factum,
Volum-
procente
annähernd
m.
Lösungs-
mittel
bei 350
IV.
Injections-
schmerz
V.
Sensibilität
5pCt.
2,5 pCt.
1 pGt.
0,5 pCt.
0,3 pCt.
0,2 pCt.
0,1 pCt.
0,05 pCt.
0,930
0,5050
- 0,2 0
5pCt.
3pCt.
0,0750
2pCt.
IpCt.
0,5 pCt.
0,25 pCt.
Wasser
Wasser
0,6pCt.NaCl
Wasser
0,6pCt.NaCl
Wasser
0,6pCt.NaCl
Wasser
0,6pCt.NaCl
Wasser
0,6pCt.NaCl
sehr stark
j^ennger
gerioger
fast keiner
fast keiner
stärker
keiner
heftig
keiner
sehr heftig
keiner
Anästhesie
Anästhesie
sehr kurze An-
ästhesie
Anästhesie
(Dauer 10 Min.)
Anästhesie
(Dauer 1—2 Min.)
tofe) Anästhesie
1-fJ Anästhesie
lange Anästhesie
kurze Herab-
setzung
lange Anästhesie
keine Verände-
rung
Die Lösungen der Carbolsäure wirken von etwa 2 pCt. ab\värts
stark quellend. In einer wässrigen Lösung von 0,3 pCt. (Gewichts-
procente des reinen Phenols), deren Gefrierpunkt — 0,075 ^ einer
0,1 proc. Kochsalzlösung entspricht, wird der Quellungsschmerz ver-
deckt; der geringe Reiz, den diese Lösung verursacht, ist ein
ArohiT fVr klin. ChJjnrgie. 57. Bd. Heft 2. 26
388
Dr. H. Braan,
«pecifisclier Reiz, denn er wird durch Zusatz von 0,6 pCt. Kochsalz
zur Lösung nicht verändert. Die dem Reiz folgende, lang an-
haltende Anästhesie ist zum grössten Theil Quellungsanästhesie,
erst nach Zusatz von 0,6 pCt. Kochsalz erhalten wir die reine Carbol-
wirkung, eine Anästhesie von ausserordentlich kurzer Dauer.
0,1 pCt. ist die niedrigste noch wirksame Concentration, 0,05 pCt.
in Wasser wirkt wie reines Wasser, mit Zusatz von 0,6 pCt. Koch-
salz wie reine 0,6 proc. Kochsalzlösung.
Lösungen von 1 pCt. aufwärts reizen sehr heftig und machen
oft Gangrän der Quaddeln. Wegen der kurzen Dauer der Carbol-
anästhesie, wegen der reizenden und die Gewebe schädigenden
Wirkungen ihrer Lösungen ist die Karbolsäure völlig ungeeignet
zur localen Anästhesie.
Stärkeren localanästhetischen Wirkungen begegnen wir bei den
Chininsalzen (Tab. Y),
Tabelle Y. Chininam hydroehleriem.
I.
IL
111.
IV.
V.
Concen-
tration
Gefrier-
punkt
Lösungsmittel
bei 350
Injections-
schmerz
Sensibilität
5pCt.
3pCt,
— ai5
. (=0,2pCt.NaCl)
Wasser
gering
» .
1 pCt
— 0,1
1
\ Wasser
f 0,6pa.NaCl
sehr gering
/
0.5 pCt,
1
■
\ Wasser
/ 0,6pCtNaCl
fast keiner
> Anästhesie
0,3 pCl.
1
\\ Wasser
,/ 0,6pCtNaa
fast keiner
l
O.l pCt.
1
\ Wasser
'f 0/>pCtNaCl
starker
fast keiner
)
0.05 pCt.
«
\ Weisser
/ 0,6pet,XaCl
1 heftig
l keiner
Anästhesie
1 Analgesie
Der Gofrier|utnkt einer 2 pnH\ Lösung des Chininum hydrochlor.
ist -0,ir>^ der einer 1 pnv. Lösung —0,1 <>. Diese Lösungen
wirken also bonnus stark quellend. Bis herab zu 0,05 pGt ent-
faltoi aln^r dju> Ohininsal/ Äus5res|m>ehenc iociüanäschetische Wir-
kin^en, welche den Quelluui^jjchmerz iKvh bei 0,3 pCu unter-
Experiment. Untersach angen a. Erfahrungen üb. Inültrationsanästhesie. 389
drücken. Ein wenn auch geringer spccifischer Reiz aber geht der
sensiblen Lähmung stets voran.
Heinze hat nun weiter eine Anzahl von Stoffen geprüft, die
neuerdings als Localanästhesie empfohlen worden sind und die
auch wirklich mit mehr oder woniger Recht in diese Gruppe ge-
hören; Guajakol, Guajaryl, Aneson, Orthoform und
Eucain-A. Ich will hier nur erwähnen, dass sie alle Nachtheile
haben, sie reizen sämratlich, schädigen zum Theil die Gewebe und
können, wenigstens für die Infiltrationsanästhesie, entbehrt werden.
Einen Körper, der, me das Guajakol, in Wasser unlöslich ist, der
sehr intensiv reizt und schädigt, zu localan ästhetischen Gewebs-
injectionen zu benutzen (Lannelongue), rauss ich als eine unbe-
greifliche Verirrung bezeichnen.
Keine von den bisher erwähnten chemischen Verbindungen mit
Ausnahme des Eucain A vermag, aus noch zu erörternden Gründen,
eine über die Grenzen der directen Infiltration hinausgehende, oder
eine practisch brauchbare regionäre Anästhesie zu erzeugen, keine
kann in Betreff der Intensität der localanästhetischen Wirkung bei
Abwesenheit eines specifischen Reizes verglichen werden mit äusserst
verdünnten Cocainlösungen.
Die Ergebnisse einer systematischen Prüfung des Cocainum
muriaticura zeigt Tabelle VI (s. umstehend).
Die osmotische Spannung der Cocainlösungen ist eine sehr
geringe, eine 5,8 proc. Lösung entspricht einer Kochsalzlösung von
0,92 pCt., eine 3,7 proc. Lösung einer Kochsalzlösung von 0,6 pCt.
Also etwa von 3,5 pCt. ah abwärts müssen Quellungserscheinungen
entstehen.
Die Gefrierpunktserniedrigung einer 0,1 proc. wässerigen Cocain-
lösung beträgt 0,02^, deren quellende Potenz unterscheidet sich
also kaum von reinem Wasser. Alle wässerigen Cocainlösungen
von 0,1 pCt. abwärts bis zum reinen W^assor erzeugen daher die
lang anhaltende Quellungsanästhesic des Wassers, welche die reine
Cocainwirkung unkenntlich macht. Der Quellungsreiz wird noch
durch einen Cocainzusatz von 0,04 pCt. verdeckt.
Die schädigenden Wirkungen der Quellung machen sich schon
bei 1 proc. wässerigen Cocainlösungen (Gefrierpunkt — 0,115^) gel-
tend, die 0,1 proc. Lösung hinterlässt stets lange Zeit schmerzende
Infiltrate in der Haut, an denen sich sogar, wie beim Wasser, bis-
26*
390
Dr. H. Braun,
Tabelle TL Coeainam muriaticam.
I.
CoDcen-
tration
IL
Gefrier-
punkt.
III.
Lösungsmitte]
bei 350
IV.
Injections-
schmerz
V.
Sensibilität
VI.
Dauer der
Anästhesie
10 pCt.
6 pCt.
5,8 pCt.
4pCt.
3,7 pGt.
3pCt.
2pCt.
1 pGt.
0,1 pCt.
0,04 pCt.
0,02 pCt.
0,01 pCt.
0,005 pCt.
0,0025pCt.
— 0,580
— 0,5650
— 0,4100
— 0,380
— 0,3050
— 0,230
— 0,1150
-0,020
Wasser
Wasser
0,6pCt.NaCl
Wasser
0,2pCt.NaCl
0,6pCt.NaCl
Wasser
0,2pGt.NaCl
0,6pCt.NaGl
Wasser
0,2pCt.NaGl
0,6pGt.NaGl
Wasser
0,2pGt.NaGI
0,6pGt.NaCl
Wasser
0,2pCt.NaGl
0,6pGt.NaGl
gering
keiner
gering
gering
keiner
stark
stark
keiner
sehr heftig
stark
keiner
sehr heftig
stark
keiner
Anästhesie,
die Quaddel-
grenzen über-
schreitend
Anästhesie,
die Quaddel-
greuzen wenig
überschreit.
Anästhesie,
auf d. Quaddel
beschränkt
Anästhesie
Anästhesie
Anästhesie
Anästhesie
Analgesie
Anästhesie
Analgesie
Geringe Her-
absetzung der
Sensibilität
Anästhesie
Analgesie
Keine Verän-
derung.
Vi
— 1 Stunde
25 Minuten
}
ca. 15 Min.
15 Minuten
8 Minuten
8 Minuten
15 Minuten
6 Minuten
6 Minuten
15 Minuten
6 Minuten
kurz
15 Minuten
6 Minuten
sehr kurz
15 Minuten
6 Minuten
weilen dauernde Gewebsschädigungen erkennen lassen. Die reinen
Cocainwirkungcn zeigen uns auf Körpertemperatur erwärmte Lö-
sungen, welche durch Zusatz von 0,6 pCt. bis 0,8 pCt. Kochsalz
osmotisc^h indifferent gemacht wurden. Solche Lösungen verur-
Experiment. Untersuchungen u. Erfahrungen üb. Infiltrationsanästhesie. 391
Sachen keinen Reiz, sie werden rasch resorbirt, ohne eine Gewebs-
veränderung, oder einen Nachschraerz zu hinterlassen.
Die untere Grenze der erkennbaren localen Wirksamkeit des
Cocainum muriaticum liegt ganz erstaunlich tief, kein anderer der
bisher erwähnten StofiFe kann in dieser Beziehung mit dem Cocain
verglichen werden. Ein Zusatz von 0,005 pOt. (1 : 20,000) zu einer
indifferenten Flüssigkeit ruft innerhalb der Quaddel noch eine meh-
rere Minuten anhaltende Herabsetzung der Sensibilität hervor, welche
sehr deutlich erkennbar wird, wenn zum Vergleich neben die Cocain-
quaddel eine solche mit reiner 0,6 proc. Kochsalzlösung gesetzt
wird. War die quellende Wirkung des Wassers zum Theil aus-
geschaltet durch Zusatz von 0,2 pCt. Kochsalz, so zeigt sich Fol-
gendes. 0,2 pCt. Kochsalz allein macht starken Quellungsschmerz
und eine kurzdauernde Analgesie der Quaddel. Auch dieser Quel-
lungsschmerz wird noch durch 0,04 pCt. Cocainzusatz verdeckt.
Stärkere Gewebsschädigungcn finden nicht statt, wenngleich die
Quaddeln in Folge der Quellung stundenlang bestehen bleiben. Die
erste Cocainwirkung beobachten wir bei Zusatz von 0,01 Cocain
zu einer 0,2 proc. Kochsalzlösung, aus der Analgesie wird eine
wenige Minuten anhaltende Anästhesie, von 0,02 pCt. aufwärts ist
eine Differenz gegenüber der reinen Cocainwirkung ohne Quellung
nicht mehr vorhanden, die geringe quellende Potenz des Lösungs-
mittels ist irrelevant. Eine Summation der Quellung und Cocain-
wirkung kann einzig und allein bei einem Cocaingehalt der Lösung
von 0,01 pCt. beobachtet werden. Cocain und 0,2 pCt. Kochsalz
veranlassen jedes allein eine kurzdauernde Analgesie, beide zu-
sammen eine kurzdauernde Anästhesie. Die Injection dieser Lösung
ist aber von starkem Quellungsschmerz begleitet.
Mit der Eigenschaft des Cocains, noch in so enormer Verdün-
nung die sensiblen Nerven zu lähmen, hängt eng zusammen die
Eigenschaft stärker concentrirter Lösungen, von etwa 1 pCt. auf-
wärts, über das direct infiltrirte Gebiet hinaus eine Anästhesie oder
Analgesie zu erzeugen. Eine 1 proc. Lösung enthält das Cocain in
einer Menge, 200mal grösser als diejenige, welche bei directem
Contact die sensiblen Nerven noch lähmt. Daher diffundiren aus einer
1 proc. Lösung genügende Mengen Cocain in die Nachbarschaft des
infiltrirten Gebietes, um auch da zu lähmen. Eine Lösung, 200 mal
392 Dr. H. Braun,
stärker als die niedrigste noch wirksame Concentration, iässt sich
mit den bisher nntersuchten Stoffen entweder gar nicht herstellen,
oder sie reizt und schädigt so stark, dass sie nicht in die Gewebe
injicirt werden kann. Bei Venssendung 10 proc. Cocainlösnng,
2000 mal stärker als die niedrigste wirksame Concentration, über-
schreitet die Anäthesie die Quaddel um das Vielfache ihres Durch-
niessers und im Umkreis um die anästhetische Zone beobachtet
man einen schon von Wölfler beschriebenen hemianästhetischen
King, in welcrhem wohl Analgesie, aber nicht Anästhesie der Cutis
vorhanden ist. Sicherlich hat diese Erscheinung nichts mit der
regionären Anästhesie zu schaffen, sondern ist eine einfache Folge
der Diffusion, vergleichbar mit der Wirkung starker auf Schleim-
häute appliciiter Cocainlösungen. Daher nimmt die secundäre
hemianästhetische Zone mit der Concentration an Umfang rasch
ab, ist bei Verwendung 1 proc. Cocainlösungen nur noch klein.
Von ungefähr 0,5 pCt. abwärts ist die Anästhesie auf die Quaddeln
bes(:hränkt. Wird die Blutzufuhr abgeschnitten, Iässt man dadurch
dem Cocain Zeit, in die Umgebung zu diffundiren, ehe es resorbirt
wird, so können mit Hülfe einer kleinen Menge stärkerer Cocain-
lösungen umfangreiche Gewcbsbezirke anästhetisch gemacht werden.
Spcf.-ifisch reizende Eigenschaften bietet das Cocain in niedrigeren
Concentrationen nicht, erst Lösungen von 3 pCt. aufwärts bewirken
o'mon sehr kurzen, specifischen Reiz, welcher unmittelbar nach der
Injoction verschwindet.
Die Dauer der Cocainanästliesie steigt mit der Concentration,
beträgt bei 0,02 |)Ct. 6 Minuten, bei 0,1 pCt. 15 Minuten, bei 1 pCt.
25 Minuten, bei 10 pCt. bis zu % Stunden und länger. Ich brauche
wohl kaum zu erwähnen, dass diese Zeitangaben nicht absolute,
sondern nur relative Wc^rlJie darstellen.
Mit Rücksicht auf practische Zwecke möge erwähnt werden, dass Cocain-
lösungen ein Abkochen nur in sehr engen Grenzen vertragen, weil sich bei
Siedehitze das Cocain unter Bildung von Ecgonin zersetzt. Eine solche ab-
gekochte Lösung erzeugt zwar im Bereich der infiltrirtenGewebspartie Anästhesie,
um so mehr, je weniger die Quellung ausgeschaltet war, aber das Ecgonin ist
durchaus kein Anästheticum, es vermag den Quell ungssch merz nicht zu com-
pensiren. Ein einmaliges rasches Aufkochen vertragen Cocainlösungen. Hier-
über geben folgende Versuche Aufschluss, welche mit einer 0,04 proc, den
Quellungsreiz noch eben componsirenden wässrigen Cocainlösang angestellt
wurden. Wird die Lösung frisch bereitet injicirt, so wird kein Quellungs-
Experiment. Untersuchungeb u. Erfahrungen üb. Infiltrationsanästhesie. 303
schmerz empfanden, wird eine kleine Menge im Reagensglas bis zum Kochen
erwärmt, so ergiebt sich dasselbe. Wird dieselbe Lösang ^/^ Stunde gekocht,
so erregt sie dann starken Iigectionsschmerz, der beim wiederholten Kochen
immer heftiger wird. Es darf also die Sterilisation von Cocainlösungen durch
Hitze nur mit grosser Vorsicht vorgenommen werden, am Besten ist sie zu
vermeiden.
Es ist weiter von Interesse, mit dem Cocain einmal ein neuerdings viel
empfohlenes Mittel, das An es in oder Aneson, eine wässrige Lösung des
Acetonchloroforms, zu vergleichen. Dasselbe kommt als eine wässrige Flüssig-
keit mit einem Gefrierpunkt von — 0,18<> in den Handel, erfordert also zum
Ausgleich der Quellung einen Kochsalzzusalz von 0,6 pCt. Die Iigection ist
stets mit einem speoifischen Reiz vorhanden, während ein Quellungsschmerz
nicht fühlbar ist. Die entstandene Quaddel wird für mehrere Minuten anästhe-
tisch und hinterlässt auch nach Kochsalzzusatz zur Lösung schmerzhafte und
geröthete Infiltrate. Zur Hälfte verdünnt, macht die Lösung ohne Kochsalz-
zusatz bereits heftigen Quellungsschmerz, verdünnt man sie mit 3 Theilen
Wasser und macht sie durch KochsalzzusMz osmotisch indifferent, so zeigt sich,
dass man bereits die untere Grenze der Wirksamkeit des Mittels erreicht hat.
Das käufliche Aneson enthält also das Acetonchloroform in einer Concentration
etwa 4mal starker als die niedrigste noch wirksame Concentration. Die untere
Grenze der Cocainwirkung fanden wir bei 0,005 pCt., das käufliche Aneson
entspricht also in seiner localan ästhetischen Potenz einer etwa 4 mal stärkeren,
d. h. 0,02—0,05 proc, und nicht, wie V am ossy^) glaubt, einer 2— 2^2 proc.
Cocainlösung. Dementsprechend ist auch das Aneson nicht im Stande, eine
über die Grenze der Quaddel hinausgehende indirecte Infiltrationsanästhesie
oder eine regionäre Anästhesie hervorzurufen, oder bei Application auf Schleim-
häute ausreichend zu wirken. Hierzu wären lOOmal stärkere Concentrationen
des Acetonchloroforms nothwendig. Als besonderer Vorzug des Anesons wird
dessen angebliche Ungiftigkeit hervorgehoben, die Reclame des Fabrikanten
bezeichne das Aneson als „einzig ungiftiges locales Anästheticum". Will man
es nun in dieser Beziehung mit dem Cocain vergleichen, so muss man es
natürlich vergleichen mit einer 0,05 proc. Cocainlösung, welche die gleiche
local anästhetische Potenz besitzt, aber ohne zu reizen und die Gewebe zu
schädigen. Werden 100 ccm Aneson (Kostenpunkt im Engrospreis 3 Mk. 50 Pf.)
einem Kaninchen von 2700 g Gewicht subcutan injicirt , so verfällt dasselbe
für volle 24 Stunden in einen tiefen, todtähnlichen Schlaf, Puls und Respiration
sind stundenlang kaum noch erkennbar, dann erholt sich das Thier allmälig.
100 ccm einer 0,05 proc. Cocainlösung (Kostenpunkt wenige Pfennige) einem
gleich grossen Thiere injicirt, bewirken niemals Allgemeinerscheinungen. Aus
allen den genannten Gründen halte ich das Aneson für völlig obsolet.
Die Autoren, welche das Aneson angewendet haben, sind sich offenbar
nicht bewusst, dass sie das nur in Form der Schleich' sehen Infiltrations-
anästhesie thun können, da ja nur das direct mit dem Mittel infiltrirte Gebiet
^) Deutsche med. Wochenschrift. 1897. No. 86.
394 Dr. H. Braun,
anästhetisch wird. Es sind also sehr reichliche Mengen nöthig, wenn man
auch nur über die allerkleinsten und oberflächlichsten Operationen hinausgeht.
Die betreffenden Autoren mögen getrost zum Cocain zurückkehren, welchem —
falls es in richtiger Weise, d.h. in zweckentsprechend niedrigen Concentrationen
angewendet wird — das Epitheton „ungiftig^' in weit höherem Maasse zukommt,
als dem Aneson.
Es bleibt uns nun noch ein Mittel zu prüfen, das dem Cocain
sehr nahe stehende, von Vinci^) dargestellte Eucain B. Ich
darf auf die vonHeinze raitgetheilten Versuche hinweisen, welche
ergeben, dass beide Mittel in Bezug auf ihre anästhesirende Wirkung
bei directer Infiltration der Gewebe absolut gleichartig sind. Die
üebereinstimraung geht soweit, dass meine Tabelle VI bis auf
einen Punkt wörtlich genommen auch für das Eucain B gültig
ist. Ein Zusatz von 0,04 pCt. Eucain B zum Wasser verdeckt
den Quellungsreiz, die nachweisliche untere Grenze der Wirksamkeit
des Mittels liegt bei 0,005 pCt. und Eucain«B-Lösungen haben
annähernd die gleichen Gefrierpunkte, wie gleichprocentigc Cocain-
lüsungen :
Cocainum muriaticum. Eucainum muriaticum B.
Gefrierpunkt : Gefrierpunkt :
1 pCt. = 0,1150 1 pCt. = 0,1250
2 „ = 0,23 0 2 „ = 0,245«
3 „ = 0,3050 3 „ = 0,360
4 „ = 0,4100 4 „ = 0,450
Einen specifischen Reiz löst Eucain B noch weniger als Cocain
aus, da selbst (durch Erwärmung herzustellende) 10 proc. Lö-
sungen bei der Injection in die Cutis keinen Schmerz verursachen.
Die Intensität und Dauer der durch Eucain-B-Lösungen erzielten
directen Infiltrationsanästhesie ist die gleiche, wie beim Gebrauch
gleichprocentiger Cooainlösungen. Die Ausbreitung der Anästhesie
über die Grenzen des direct infiltrirten Gebiets wird ebenfalls bei
1 proc. Eucain-B-Lösungen beobachtet, erfolgt aber etwas weniger
rasch als beim Cocain. Gcwebsschädigungen fehlen. Es kann also
zunächst darüber kein Zweifel obwalten, dass das Cocain und
Eucain B in der That die beiden einzigen Steife sind, welche bei
der Wahl eines für die Infiltrationsanästhesie geeigneten Mittels in
Betracht zu ziehen sind, sie allein lähmen ohne Reiz, ohne Gewebs-
1) Virchow Archiv. Bd. 149.
Experiment. Untersachungen u. Erfahrangen üb. Infiltrationsanästhesie. 395
Schädigung und bewirkten noch in ausserordentlicher Verdünnung
eine für practische Zwecke genügend lange andauernde Anästhesie
der infiltrirten Gewebe. Von den Vorzügen des Eucain B vor dem
Cocain und den toxischen AVirkungen beider Mittel wird weiter
unten noch die Rede sein.^)
in. Folgerungen.
Die Ergebnisse der vorstehenden Untersuchungen haben zunächst
ein theoretisches Interesse, insofern sie dazu geführt haben, die
Wirkung der allen wässrigen Lösungen gemeinsamen physikalischen
Eigenschaften auf die Gewebe, speciell die sensiblen Nerven trennen
zu können von den specifisch-cheraischen Wirkungen der in den
Lösungen enthaltenen Stoffe, und gezeigt haben, wie sehr die phy-
siologischen Wirkungen der Quellung und Wasserentziehung in Be-
tracht gezogen werden müssen, ja dass ohne deren Kenntniss ein
Verständniss der localen Wirkungen wässriger Lösungen auf die
sensiblen Nerven ganz unmöglich ist.
Dann aber gestattet die systematische Piüfung der local-
anästhetischen Eigenschaften von Lösungen die sichere Wahl eines
für praktische Zwecke brauchbaren Mittels, und zeigt, in welcher
Form dasselbe angewendet werden muss.
Es ist ein grosses Verdienst von Schleich, gezeigt zu haben,
dass Cocainlösungen noch in Concentrationen zweckmässig zur In-
filtrationsanästhesie verwendet werden können, welche der unteren
Grenze der Wirksamkeit des Mittels nahe stehen, wenn man verzichtet
auf eine Ausbreitung der Anästhesie über das Gebiet der directen In-
filtration. Ebenso ist es von grosser Wichtigkeit, dass er Kochsalz
diesen Lösungen zusetzte, welche ohne diesen Zusatz die schäd-
') Anmerkung bei der Correctur. Nach Abschluss unserer Unter-
suchungen hat das Tropacocain eine erhöhte practische Bedeutung erlangt,
weil es von der Merck'schen chemischen Fabrik seit Kurzem billig hergestellt
wird. Ich habe es daher geprüft und gebe hier die betreffenden Daten.
Osmotisch indifferente Concentration : 4 pCt, (Gefrierpunkt — 0,54°). Niedrigste
wirksame Concentration : 0,01 pCt. (Cocain 0,005 pCt.). Quellungsschmerz fehlt
bis 0,08 pCt. Specifischer Reiz schon von 2 pCt. aufwärts, wesentlich stärker
als bei Cocain. Keine Gewebsschädigung. Bezüglich seiner toxischen Wirkungen
scheint es zwischen Cocain und Eucain B zu stehen. In durch 0^6 — 0,8 proc.
Kochsalzzusatz osmotisch indiffiTcnt gemachten Lösungen von 0,1 — 1,0 pCt. ist
das Tropacocain ein ausgezeichnetes locales Anästheticum, welches vor dem
Cocain den Vorzug der Haltbarkeit und Sterilisirbarkeit seiner Lösungen be-
sitzt, gegenüber dem Eucain B aber nur Nachtheile (geringere localan ästhetische
Potenz, grössere Toxlcltät, stärkere Reizwirkungen) aufzuweisen hat.
396 Dr. H. Braun,
liehen Wirkungen des Wassers zeigen müssen. Denn der Gefrier-
punkt und damit die quellende Potenz einer 0,1 proc. wässrigen
Cocainlüsung ist kaum von reinem Wasser unterschieden, eine
Lösung mit diesem Gefrierpunkt erzeugt also auch ohne die spe-
cifische Wirkung des gelösten Körpers eine Schädigung der Gewebe
und eine langanhaltende Quellungsanästhesie. Ueber die Bedeutung
aber der Quellung und des Kochsalzzusatzes und darüber, dass
durch ihn derjenige Factor, der in einer wässrigen Lösmig ausser
dem Cocain noch Anästhesie macht, zum grossen Theil aufgehoben,
die Wirkung der Lösung der reinen Cocainwirkung genähert, practisch
gleich gemacht wird, darüber ist sich Schleich nicht klar geworden.
Ein Kochsalzzusatz von 0,2 pGt., wie ihn Schleich empfiehlt,
genügt nicht zur Beseitigung der Quellung, selbst eine Cocain-
lüsung von 1 pCt. erfordert noch einen Kochsalzzusatz von 0,6 pCt,
um sie osmotisch indifferent zu machen. Der Rest der Quellung,
der in den Schleich 'sehen Lösungen enthalten ist, bewirkt, dass
die schwächste von ihnen, mit 0,01 pCt. Cocaingehalt, stets, die
stärkeren mit 0,1 und 0,2 pCt. Cocain in hypersensiblen, ent-
zündeten Geweben einen mehr oder weniger heftigen Reiz bei der
Infiltration verursachen^), dass sie ferner ohne Morphiumzusatz
häufig sehr heftigen Nachschmerz machen, Wirkungen, die weder
durch weiteren Zusatz von Cocain, das eben die osmotische Spannung
der Lösung wenig verändert, noch durch Abkühlung der Lösungen
beseitigt werden können, wohl aber durch Ausschaltung der
Quellung durch weiteren Kochsalzzusatz und, was sehr wichtig ist,
des TemperatuiTcizes.
Zu Gewebsinjectionen, speciell für die Infiltrations-
anästhcsic, dürfen nur osmotisch indifferente Lösungen
verwendet werden, welche die specifische Wirkung des
in ihnen enthaltenen Anästheticums rein zum Ausdruck
bringen. Es sind das Lösungen mit einem Gefrierpunkt von an-
nähernd 0,55° unter Null = 0,9 pCt. NaCl, während selbst die der
normalen Cutis gegenüber scheinbar indifferente, daher für unsere
experimentellen Untersuchungen wohl brauchbare Kochsalzlösung
1) Der Gefrierpunkt der Sohle ich 'sehen Lösung I ist = 0,155®, der
der Lösung II "= 0,145 ^ die quellende Wirkung dieser Flüssigkeiten ist also
geringer als die der reinen 0,2 proc. Kochsalzlösung, die dritte Lösung Schi ei eh 's
bat annähernd den gleichen Gefrierpunkt wie 0,2 proc. Kochsalzlösung.
Experiment. Untersuchungen u. Erfahrungen üb. Infiltrationsanästhesie. 397
von 0,6 pCt. in hyperästhetischen Geweben Quellungschmerz ver-
ursacht^). Werden solche osmotisch indifferente Lösungen, z. B.
eine Lösung von 0,1 Cocain in 0,8 proc. Kochsalzlösung auf Körper-
temperatur erwärmt, so geben sie in der That die reine Cocain-
wirkung und lähmen ohne jeden Reiz. Also nicht die Benutzung,
wie Schleich meint, sondern die Ausschaltung aller physikalisch
wirkenden Eigenschaften der Lösungen ist es, worauf es bei der
Infiltrationsanästhesie ankommt. Niemals werden wir uns hierbei
der specifischen local anästhetisch wirkenden Gifte cntrathcn können ;
sie allein vermögen die sensiblen Nerven ohne Reiz zu lähmen.
Der Zusatz von .0,02 und 0,005 pCt. Morphium mur., den
Schleich sieinen Lösungen hinzugiebt, kann nach den Ergebnissen
unserer Prüfung des Alkaloids keinerlei spccifische locale Wirkung
auf die sensiblen Nerven haben, diese geringen Morphiummengen
vermögen an sich weder den Quellungsschmerz erkennbar zu ver-
mindern, noch die Cocainanäesthesie zu beeinflussen, auch verändern
sie den Gefrierpunkt der Lösungen und ihre quellende Wirkung
nur unmerklich. Das einzige locale Symptom, was sie machen, sind
die oben erwähnten Parästhesieen und Oedeme, die sich an manchen
Körpertheilen mit sehr lockerem Gewebe recht unangenehm bemerkbar
machen, z. B. am Präputium. Ich habe selbst gesehen und vielfach
darüber klagen gehört, dass nach Phimosenoperationen unter In-
filtrationsanästhesie ganz abnonn starke Oedeme entstehen; sie
sind lediglich eine Morphiumwirkung und fehlen, wenn der In-
jectionsflüssigkeit kein Morphium zugesetzt wird. Aehnliche Morphium-
oedeme werden nach Injection Schleich 'scher Lösungen in das
Zahnfleich beobachtet (Mehler)^) und Korsch^) beschreibt sie
sehr characteristisch und vergleicht sie, ohne zu wissen, dass es
sich um eine Morphiumwirkung handelt, mit der Wirkung eines
Bienenstichs, nachdem er sich mit Schleich 'sehen Lösungen selbst
Quaddeln am eigenen Handrücken gemacht hatte.
Die von Schleich gerühmte Herabsetzung des Nachschmerzes,
welchen der Morphiumzusatz bewirken soll und auch sicher bewirkt,
kann nur eine Allgemein Wirkung des Morphiums sein. Es ist also
1) Die quellende Wirkung der sogenannten physiologischen Kochsalz-
lösung von 0,6 pCl ist schon von Hamburger (Centralbl. für Physiologie,
Bd. VII, S. 193) nachgewiesen.
2) Münchener med. Wochenschrift. 1896, No. 45.
») Militarärztliche Zeitschrift. 1896, S. 114.
398 Dr. H.Braun,
besser, das Morphium, wenn nöthig, an einer anderen Stelle, als
gerade in dem Operationsgebiet zu injiciren.
Wir fanden, dass als Ersatzmittel für das Cocain nur das
ihm für die Erzielung einer directen Infiltrationsanaesthesie völlig
gleichwertige Eucain-B^) in Betracht gazogen werden konnte.
Dasselbe bildet jedoch nicht nur einen Ersatz, sondern ist dem
Cocain unbedingt vorzuziehen, weil es viel weniger giftig ist und
noch weniger specifisch reizt, als dieses, und weil alle seine
Lösungen haltbar sind und beliebig oft ausgekocht werden können.
Ich empfehle daher zur Infiltrationsanaesthesie folgende Lösung:
1,0 Eucain-B.
8,0 Kochsalz.
1000,0 Wasser,
Ihr Gefrierpunkt ist 0,535^, sie ist annähernd osmotisch in-
different und erzeugt in jedem Gewebe, das einer directen In-
filtration zugänglich ist, eine Anaesthesie ohne Reiz von 10 Minuten
bis zu 1 Stunde und mehr Dauer.
Die Dauer der Anaesthesie ist bei jeder Art von Infiltration
abhängig von dem Umfang des infiltrirten Gewebsabschnittes und
der Menge der in denselben hineingespritzten Flüssigkeit, von der
Art der Gewebe und der grösseren und geringeren Lebhaftigkeit
des sie durchkreisenden Blutstroms. Daher verschwindet die
Anaesthesie am schnellsten im hyperaemischen entzündeten Ge-
webe, am langsamsten in sehr lockeren Geweben, wo Oedeme
lange bestehen bleiben. Bei sehr umfangreicher und praller In-
filtration beträgt ihre Dauer das vielfache der von uns an ein-
zelnen Quaddeln beobachteten Zeit. Durch Unterbrechung der
Blutzufuhr kann sie beliebig verlängert werden. Die Temperatur
der Lösung ist für das Zustandekommen dieser Anaesthesie ganz
gleichgiltig , wenn aber entzündete hypersensible Gewebe inCltrirt
werden sollen, so ist die Ausschaltung des Temperaturreizes durch
Erwärmung der Lösung auf Körpertemperatur durchaus nothwendig;
1) Es kommen vielfach Verwechselungen des Eucaiu-A und Eucain-B vor,
es ist daher sehr erfreulich, dass die chemische Fabrik (vorm. E. Schering) in
Berlin, welche die Eucainpräparate zuerst darstellte, die Absicht hat, das um-
brauchbare Eucain-A nicht mehr herzustellen, und von nun an unter der Be-
zeichnung Eucain nur noch Eucain-B in den Handel zu bringen. Einstweilen
muss ich empfehlen, nur das Eucain-B der genannten Fabrik anzuwenden, da
mir verschiedentlich minderwerthige Präparate unter die Hände gekommen sind.
Experiment. Untersuchungen u. Erfahrungen üb. Infiltrationsanasthesie. 399
dann, aber auch nur dann, kann die Infiltration auch solcher Ge-
webe schmerzlos bewerkstelligt werden.
Die practische Brauchbarkeit der 0,1 proc. osmotisch indiÖ'e-
renten Eucain-B-Lösung ist von mir seit Monaten an einer grösseren
Zahl klinischer und poliklinischer Operationen erprobt worden. In
der Regel brauchen wir nur diese einzige Lösung. Denn es ist
nicht anzunehmen, dass man bei Verwendung 1 prom. Eucainß-
Lösungen toxischen Wirkungen begegnen wird.
Ich habe zwei Mal bei einer Operation bis fast 300 cbcm der gedachten
Lösung verbraucht, ein Mal bei der Exstirpation eines grossen Lymphdrüsen-
tumors am Halse, das andere Mal bei der Radicaloperation einer Leisten- und
Schenkelhemie in einer Sitzung. Mehr wird wohl kaum je nothwendig sein.
Schwerlich aber ist damit bereits die Nähe einer gefahrlichen Dosis erreicht,
denn die gleiche Menge, 300 cbcm einer 0,1 proc. Eucain-B-Lösung, kann man
einem Kaninchen subcutan injiciren, man kann also das Thier sozusagen mit
Flüssigkeit aufblähen, ohne dass es sein Verhalten äusserlich verändert. Von
der osmotisch indijOferenten Lösung kann man auch intravenös Thieren grosse
Mengen ohne Schaden einspritzen, es dürfte deshalb auch beim Menschen
eine unbeabsichtigte intravenöse Jnjection kaum von üblen Folgen begleitet
sein. 0,3 Eucain-B in 10 proc. Lösung erzeugt bei Kaninchen leichte, rasch
vorübergehende Intoxication, 0,3 Cocain in 10 proc. liösung tödtet das Thier in
wenigen Minuten. Das Eucain-B ist also, wie wir schon durch Vinci^) wissen,
viel weniger gefahrlich, als das Cocain, es scheint von Nebenwirkungen frei zu
sein und nur zu lähmen. Mit stärker concentrirten Eucain-B-Lösungen aber
wird man ebenso vorsichtig sein müssen, wie mit Cocainlösungen, wie über-
haupt mit hochconcentrirten Lösungen eines jeden Körpers, welcher noch in
grösster Verdünnung bei localer Application lähmend wirkt. Für eine ganz
vergebliche Mühe halte ich das Suchen nach einem „ungiftigen^ localen An-
aestheticum. Denn ein Stoff mit denjenigen Eigenschaften, welche uns das
Cocain und Eucain-B werthvoll machen, muss in Concentrationen angewendet,
die die untere Grenze seiner Wirksamkeit weit übersteigen, ganz unabhängig
von der benutzten Dosis nothwendig gefahrlich werden können, weil dann ge-
legentlich kleine Mengen des Stoffs, in die Gewebe injicirt, relativ wenig ver-
dünnt, an die nervösen Centralorgane gelangen und sie lähmen können. Bei
Verwendung von Lösungen, welche lähmende Körper in der unteren Grenze
ihrer Wirksamkeit nahe stehenden geringen Concentrationen enthalten, fällt
begreiflicher Weise diese Gefahr fort, unerwünschte und andere als rein locale
Wirkungen kann man hier erst erwarten, wenn die auf den ganzen Körper ver-
theilte, toxisch wirkende Maximaldosis erreicht ist. In dem soeben Ausgeführten
liegt offenbar auch die Erklärung der sogenannten Cocain-Idiosynkrasie,
deren Existenz durch nichts bewiesen ist, wenigstens nicht in der Häufigkeit, wie
1) Virchow's iVrchiv. Bd. 149.
390
Dr. H. Braun,
Tabelle VI. Cocainan nuriatieum.
I.
Concen-
tration
II.
Gefrier-
punkt.
III.
Lösungsmittel
bei 350
IV.
Injections-
schmerz
V.
Sensibilität
VI.
Dauer der
Anästhesie
10 pCt.
6 pCt.
5,8 pCt.
4pGt.
3J pCt.
3pCt.
2pGt.
1 pCt.
0,1 pCt.
0,04 pCt.
0,02 pCt.
0,01 pCt.
0,005 pCt.
0,0025pCt.
— 0,580
— 0,5650
— 0,4100
— 0,380
— 0,3050
— 0,230
— 0,1150
-0,020
Wasser
Wasser
0,6pCt.NaCl
Wasser
0,2pCt,NaCl
0,6pCt.NaCl
Wasser
0,2pCt.NaCl
0,6pCt.NaCl
Wasser
0,2pCt.NaCl
0,6pCt.NaCl
Wasser
0,2pCt.NaCI
0,6pCt.NaCl
Wasser
0,2pCt.NaCl
0,6pCt,NaCl
genug
keiner
genng
gering
keiner
stark
stark
keiner
sehr heftig
stark
keiner
sehr heftig
stark
keiner
Anästhesie,
die Quaddel-
grenzen über-
schreitend
Anästhesie,
die Quaddel-
grenzen wenig
überschreit.
Anästhesie,
auf d. Quaddel
beschränkt
Anästhesie
Anästhesie
Anästhesie
Anästhesie
Analgesie
Anästhesie
Analgesie
Geringe Her-
absetzung der
Sensibilität
Anästhesie
AnaTgesie
Keine Verän-
derung.
'A
1 Stunde
25 Minuten
}
ca. 15 Min.
15 Minuten
8 Minuten
8 Minuten
15 Minuten
6 Minuten
6 Minuten
15 Minuten
6 Minuten
kurz
15 Minuten
6 Minuten
sehr kurz
15 Minuten
6 Minuten
weilen dauernde Gcwebsschädigun^en erkennen lassen. Die reinen
Cocainwirkungen zeigen uns auf Körpertemperatur erwärmte Lö-
sungen, welche durch Zusatz von 0,6 pCt. bis 0,8 pCt. Kochsalz
osmotisch indifferent gemacht wurden. Solche Lösungen verur-
Experiment. Untersuchungen u. Erfahrungen üb. Infiltrationsanästhesie. 39 1
Sachen keinen Reiz, sie werden rasch resorbirt, ohne eine Gewebs-
veränderung, oder einen Nachschmerz zu hinterlassen.
Die untere Grenze der erkennbaren localen Wirksamkeit des
Cocainum muriaticum liegt ganz erstaunlich tief, kein anderer der
bisher erwähnten StofiFe kann in dieser Beziehung mit dem Cocain
verglichen werden. Ein Zusatz von 0,005 pGt. (1 : 20,000) zu einer
indifferenten Flüssigkeit ruft innerhalb der Quaddel noch eine meh-
rere Minuten anhaltende Herabsetzung der Sensibilität hervor, welche
sehr deutlich erkennbar wird, wenn zum Vergleich neben die Cocain-
quaddel eine solche mit reiner 0,6 proc. Kochsalzlösung gesetzt
wird. War die quellende Wirkung des Wassers zum Theil aus-
geschaltet durch Zusatz von 0,2 pCt. Kochsalz, so zeigt sich Fol-
gendes. 0,2 pCt. Kochsalz allein macht starken Quellungsschmerz
und eine kurzdauernde Analgesie der Quaddel. Auch dieser Quel-
lungsschmerz wird noch durch 0,04 pCt. Cocainzusatz verdeckt.
Stärkere Gewebsschädigungen finden nicht statt, wenngleich die
Quaddeln in Folge der Quellung stundenlang bestehen bleiben. Die
erste Cocainwirkung beobachten wir bei Zusatz von 0,01 Cocain
zu einer 0,2 proc. Kochsalzlösung, aus der Analgesie wird eine
wenige Minuten anhaltende Anästhesie, von 0,02 pCt. aufwärts ist
eine Differenz gegenüber der reinen Cocainwirkung ohne Quellung
nicht mehr vorhanden, die geringe quellende Potenz des Lösungs-
mittels ist irrelevant. Eine Sunimation der Quellung und Cocain-
wirkung kann einzig und allein bei einem Cocaingehalt der Lösung
von 0,01 pCt. beobachtet werden. Cocain und 0,2 pCt. Kochsalz
veranlassen jedes allein eine kurzdauernde Analgesie, beide zu-
sammen eine kurzdauernde Anästhesie. Die Injection dieser Lösung
ist aber von starkem Quellungsschmerz begleitet.
Mit der Eigenschaft des Cocains, noch in so enormer Verdün-
nung die sensiblen Nerven zu lähmen, hängt eng zusammen die
Eigenschaft stärker concentrirter Lösungen, von etwa 1 pCt. auf-
wärts, über das direct infiltrirte Gebiet hinaus eine Anästhesie oder
Analgesie zu erzeugen. Eine 1 proc. Lösung enthält das Cocain in
einer Menge, 200 mal grösser als diejenige, welche bei directom
Contact die sensiblen Nerven noch lähmt. Daher diffundiren aus einer
1 proc. Lösung genügende Mengen Cocain in die Nachbarschaft des
infiltrirten Gebietes, um auch da zu lähmen. Eine Lösung, 200 mal
392 Dr. H. Braun,
stärker als die niedrigste noch wirksame Concentration, lässt sich
mit den bisher untersuchten Stoffen entweder gar nicht herstellen,
oder sie reizt und schädigt so stark, dass sie nicht in die Gewebe
injicirt werden kann. Bei Verwendung 10 proc. Cocainlösung,
2000 mal stärker als die niedrigste wirksame Concentration, über-
schreitet die Anäthesie die Quaddel um das Vielfache ihres Durch-
messers und im Umkreis um die anästhetische Zone beobachtet
man einen schon von Wolf 1er beschriebenen hemianästhetischen
Ring, in welchem wohl Analgesie, aber nicht Anästhesie der Cutis
vorhanden ist. Sicherlich hat diese Erscheinung nichts mit der
regionären Anästhesie zu schaffen, sondern ist eine einfache Folge
der Diffusion, vergleichbar mit der Wirkung starker auf Schleim-
häute applicirter Cocainlösungen. Daher nimmt die secundäre
hemianästhetische Zone mit der Concentration an Umfang rasch
ab, ist bei Verwendung 1 proc. Cocainlösungen nur noch klein.
Von ungefähr 0,5 pCt. abwärts ist die Anästhesie auf die Quaddeln
beschränkt. Wird die Blutzufuhr abgeschnitten, lässt man dadurch
dem Cocain Zeit, in die Umgebung zu diffundiren, ehe es resorbirt
wird, so können mit Hiilfe einer kleinen Menge stärkerer Cocain-
lösungen umfangreiche Gewebsbezirke anästhetisch gemacht werden.
Specifisch reizende Eigenschaften bietet das Cocain in niedrigeren
Concentrationen nicht, erst Lösungen von 3 pCt. aufwärts bewirken
einen sehr kurzen, specifischen Reiz, .welcher unmittelbar nach der
Injection verschwindet.
Die Dauer der Cocainanästhesie steigt mit der Concentration,
beträgt bei 0,02 pCt. 6 Minuten, bei 0,1 pCt. 15 Minuten, bei 1 pCt.
25 Minuten, bei 10 pCt. bis zu % Stunden und länger. Ich brauche
wohl kaum zu erwähnen, dass diese Zeitangaben nicht absolute,
sondern nur relative Wcrthe darstellen.
Mit Rücksicht auf practische Zwecke möge erwähnt werden, dass Cocain-
lösungen ein Abkochen nur in sehr engen Grenzen vertragen, weil sich bei
Siedehitze das Cocain unter Bildung von Ecgonin zersetzt. Eine solche ab-
gekochte Lösung erzeugt zwar im Bereich der infiltrirten Gewebspartie Anästhesie,
um so mehr, je weniger die Quellung ausgeschaltet war, aber das Ecgonin ist
durchaus kein Anästheticum, es vermag den Quellungsschmerz nicht zu com-
pensiren. Ein einmaliges rasches Aufkochen vertragen Cocainlösungen. Hier-
über geben folgende Versuche Aufschluss, welche mit einer 0,04 proc, den
Quellungsreiz noch eben compensirenden wassrigen Cocainlösung angestellt
wurden. Wird die Lösung frisch bereitet injicirt, so wird kein Quellungs-
Experiment. Untersuch angen u. firfahrnngen üb. Infiltrationsanästhesie. 393
schmerz empfunden, wird eine kleine Menge im Reagensglas bis zum Kochen
erwärmt, so ergiebt sich dasselbe. Wird dieselbe Lösung Y4 Stunde gekocht,
so erregt sie dann starken Injectionsschmerz, der beim wiederholten Kochen
immer heftiger wird. Es darf also die Sterilisation von Gooainlösungen durch
Hitze nur mit grosser Vorsicht vorgenommen werden, am Besten ist sie zu
vermeiden.
Es ist weiter von Interesse, mit dem Cocain einmal ein neuerdings viel
empfohlenes Mittel, das An es in oder Aneson, eine wässrige Lösung des
Acetonchloroforms, zu vergleichen. Dasselbe kommt als eine wässrige Flüssig-
keit mit einem Gefrierpunkt von — 0,18^ in den Handel, erfordert also zum
Ausgleich der Quellung einen Kochsalzzusatz von 0,6 pGt. Die Injection ist
stets mit einem specifischen Reiz vorhanden, während ein Quellungsschmerz
nicht fühlbar ist. Die entstandene Quaddel wird für mehrere Minuten anästhe-
tisch und hinterlässt auch nach Koohsalzzusatz zur Lösung schmerzhafte und
geröthete Infiltrate. Zur Hälfte verdünnt, macht die Lösung ohne Kochsalz-
zusatz bereits heftigen Quellungsschmerz, verdünnt man sie mit 3 Theilen
Wasser und macht sie durch Kochsalzzusatz osmotisch indifferent, so zeigt sich,
dass man bereits die untere Grenze der Wirksamkeit des Mittels erreicht hat.
Das käufliche Aneson enthält also das Acetonchloroform in einer Con centrat ion
etwa 4 mal stärker als die niedrigste noch wirksame Concentration. Die untere
Grenze der Cocainwirkung fanden wir bei 0,005 pCt., das käufliche Aneson
entspricht also in seiner localanästhetischen Potenz einer etwa 4 mal stärkeren,
d. h. 0,02—0,05 proc, und nicht, wie Vamossy^) glaubt, einer 2— 2Y2 proc.
Cocainlösung. Dementsprechend ist auch das Aneson nicht im Stande, eine
über die Grenze der Quaddel hinausgehende indireote Infiltrationsanästhesie
oder eine regionäre Anästhesie hervorzurufen, oder bei Application auf Schleim-
häute ausreichend zu wirken. Hierzu wären 100 mal stärkere Concentration en
des Acetonchloroforms nothwendig. Als besonderer Vorzug des Anesons wird
dessen angebliche Ungiftigkeit hervorgehoben, die Reclame des Fabrikanten
bezeichne das Aneson als „einzig ungiftiges locales Anästheticum^^ Will man
es nun in dieser Beziehung mit dem Cocain vergleichen, so muss man es
natürlich vergleichen mit einer 0,05 proc. Cocainlösung, welche die gleiche
localanästhetische Potenz besitzt, aber ohne zu reizen und die Gewebe zu
schädigen. Werden 100 ccm Aneson (Kostenpunkt im Engrospreis 3 Mk. 50 Pf.)
einem Kaninchen von 2700 g Gewicht subcutan injicirt, so verfällt dasselbe
für volle 24 Stunden in einen tiefen, todtähnlichen Schlaf, Puls und Respiration
sind stundenlang kaum noch erkennbar, dann erholt sich das Thier allmälig.
100 ccm einer 0,05 proc. Cocainlösung (Kostenpunkt wenige Pfennige) einem
gleich grossen Thiere injicirt, bewirken niemals Allgemeinerscheinungen. Aus
allen den genannten Gründen halte ich das Aneson für völlig obsolet.
Die Autoren, welche das Aneson angewendet haben, sind sich offenbar
nicht bewusst, dass sie das nur in Form der Schleich' sehen Infiltrations-
anästhesie thun können, da ja nur das direct mit dem Mittel infiltrirte Gebiet
») Deutsche med. Wochenschrift. 1897. No. 36.
404 Dr. H. Braun,
stamme iu absehbarer Zeit nur dann unempfindlich machen, wenn
sie in die Nervenscheide injicirt werden, wenn also der Nerv direkt
infiltrirt wird. Ich zweifle aber nicht daran, dass die Möglichkeit,
grosse Amputationen unter Infiltrationsanästhesie eventuell unter
Zuhilfenahme einer ganz kurzen Narkose ausführen zu können,
einem Menschen das Leben erhalten kann, der eine längere Narkose
nicht mehr verträgt.
Das psychische Verhalten der Kranken macht, besonders bei
Kindern, oft jegliche Art einer localen Anästhesie unausführbar?
um so mehr, als die gelegentliche Auslösung einer geringen Schmerz-
empfindung bei ausgedehnteren Operationen nicht immer zu ver-
meiden ist, auch bei vollendeter technischer Uebung des Operateurs.
In anderen Fällen ist selbst bei technischer Ausführbarkeit der
localen Anästhesie aus psychischen Gründen die Narkose wünschens-
wcrth. Wo Muskelerschlaifung nothwendig ist, ist die Infiltrations-
anästhesic unbrauchbar.
Das mit der Infiltration verbundene Oedem der Gewebe ist
keineswegs oft, aber doch bei manchen Operationen eine unange-
nehme Beigabe. Es erschwert zweifellos die Orientirung bei
technisch complicirten Operationen, es erschwert die Unterscheidung
gesunder von kranken Geweben und hindert vor allem die durch nichts
zu ersetzende palpatorische Untersuchung der Umgebung des Opera-
tionsterrains nach Ausführung des Hautschnitts. Deshalb ist die In-
filtrationsanästhesie für die Exstirpation von malignen Geschwülsten,
falls sie nicht klein und leicht zugänglich, ohne jede Schwierigkeit
und sicher radikal zu entfernen sind, durchaus zu verwerfen. Ich
erinnere nur an die Ausräumung der Achselhöhle wegen carcino-
matöscr Drüsenerkrankung. Sie ist ja von Schleich und Anderen
ausgeführt worden und ich bezweifle nicht, dass sie technisch
möglich ist, wenngleich sie nicht darin bestehen darf, die Drüsen
einzeln aus dem Fettgewebe der Achselhöhle zu holen, wie das
Schleich^) in seinem Buch beschreibt. Aber auf die technische
Ausführbarkeit der Infiltrationsanästhesie und die etwas grössere
Gefahr der Narkose kommt es hier gar nicht an, sondern lediglich
auf die Sicherheit, welche eine Operationsmethode bezüglich der
Radikalheilung gewährt. Hier ist jedes Verfahren, welches die
1) 1. c. S. 232.
Experiment. Untersuchungen u, Erfahrungen üb. Infiltrationsanästhesie. 405
Orientirung und die rücksichtsloseste Entfenuing des der Erkrank-
ung verdächtigen Gewebes erschwert, und das thut die Infiltrations-
anästhcsie, zu vermeiden.
Auch die Exstirpation von Lymphdrüsengeschwülsten anderer
Art erfordert die aligemeine Narkose, wenn sie nicht ganz um-
schrieben und leicht zugänglich sind, weil bei mehr difluser Er-
krankung, theils wegen der Aufschwemmung der Gewebe, theils
in Folge der von Schleich wiederholt betonten Nothwendigkeit
eines vorsichtigen „tastenden '^^ Operirens sehr leicht Drüsen über-
sehen und zurückgelassen werden. Diese Nothwendigkeit dürfte
überhaupt ein Grund sein, die locale Anästhesie bei Operationen,
welche ein rasches und rücksichtsloses Vorgehen erfordern, welche
bei technischen Schwierigkeiten auch die Möglichkeit unerwarteter
Ereignisse nicht ausschliessen, zu vermeiden, falls nicht die Narkose
direkt contraindicirt erscheint. Mangelhaft ernährte Gewebe zu in-
filtriren ist bedenklich: ich beobachtete an einem gestielten Stirn-
iappen, den ich zur Deckung eines Defekts am inneren Augen-
winkel abgelöst hatte, Gangrän, welche ich nur auf die Infiltration
beziehen kann. Ich benutzte aber damals noch nicht osmotisch
indifferente Lösungen und kannte nicht die schädigenden Wirkungen
der Quellung, es ist daher möglich und wahrscheinlich, dass man
bei Verwendung osmotisch indifferenter Lösungen in dieser Be-
ziehung weniger vorsichtig zu sein braucht.
Eine andere, nicht unwichtige Beobachtung finde ich in den
bisherigen Publicationen über Infiltrationsanästhesie nicht genügend
hervorgehoben^) Es hat nämlich Reclus^) mit Recht darauf
aufmerksam gemacht, dass die Cocainanästhesie sehr schnell ver-
schwindet unter dem Einfluss der Glühhitze, welche das Cocain
zerstört. Dasselbe geschieht auch bei der Eucainanästhesic. Des-
halb lassen sich z. B. Hämorrhoidaloperationen mit dem Thermo-
kauter, wie ich wiederholt beobachtete, nach anfänglicher völliger
ünerapfindlichkeit bei der Dehnung des Afters schlecht zu Ende
führen, während die meist längere Zeit beanspruchenden Excisionen
von Hämorrhoidalknoten sich wie alle anderen uncomplicirten
#
^) Nur Korsch (Militarärzti. Zeitschrift 1896) sagt, dass die Anwendung
des Thermocauters bei Hämorrhoidaloperationen nicht angängig sei, undDippe
(Deutsche med. Wochenschr. 1896) erwähnt, dass sich das Ausbrennen einer
Mastdarmfistel nicht habe schmerzlos machen lassen.
2) La cocaine en Chirurgie. Paris 1895.
27*
406 Dr. H. Braun,
Operationen am After, vortrefflich unter Infiltrationsanästhesie
machen lassen und dabei die Anästhesie weit länger anhält, als
man ihrer bedarf.
Ganz ungeeignet für die Infiltrationsanästhosio sind ferner
diffuse entzündliche Processe, nicht bloss deshalb, weil man ihre
Ausdehnung nicht im Voraus bestimmen kann, sondern auch, weil,
man Gefahr läuft, bei der Infiltration gesunde Gewebe zu inficiren.
Um aber scharf begrenzte acute und chronische Eiterungen zu
eröffnen, ist die Schleich'sche Infilhrationsanästhesie mit osmotisch
indifferenten, erwärmten Cocain- oder Eucain B-Lösungen eine sehr
vorzügliche Methode. Bei Verwendung der von Schleich selbst
angegebenen Lösungen ist hier die Infiltration oft schmerzhaft und
wenn durch Abkochen derselben, wie es von verschiedenen Seiten
empfohlen wird, gar noch ein Theil des Cocain zerstört wird, kann
man bei Operationen in entzündeten Geweben unmöglich befriedi-
gende Resultate erwarten.
Endlich ist die zuerst von Oberst und Pernice^) schon vor
langer Zeit in der Volkmann 'sehen Klinik praktisch erprobte
regionäre Anästhesie, d. h. also die Leitungsunterbrechung von
Nervenstämmen, — an den Fingern und Zehen, wo sie durch
V2 — Iproc. Cocainlösungen oder 1 proc. Eucain-B-Lösungcn leicht
und einfach hervorgerufen werden kann, 2) der Infiltrations-
anästhesie weit überlegen, und ist hier überhaupt eine praktisch
wichtige und ideale Methode. Ob und wie weit sie an
anderen Körperstellen mit der Infiltrationsanästhesie concurriren
kann, will ich noch dahingestellt sein lassen. Gelegentlich wird
man sich der von Hackenbl-uch^) empfohlenen Methode, das
Operationsterrain durch (Jmspritzen mit Y2 — ^ proc. Cocain-
lösungen aus der sensiblen Sphäre auszuschalten, mit Vortheil be-
dienen können. Ein ähnliches Verfahren hat auch Schmitt*) an-
gewendet. Um die theoretischen Grundlagen der unter ganz anderen
Bedingungen wie die Infiltrationsanästhesie zu Stande kommenden
regionären Anästhesie festzustellen und ihr eine sichere wissenschaft-
liche Basis zu geben, sind ganz andere Untersuchungsmethoden
1) Deutsche med. Wochenschrift. 1890, No. 14.
2) cf. Braun, Centralbl. für Chü-urgie. 1897, No. 17.
8) Oertliche Schmerzlosigkeit bei Operationen, Wiesbaden 1897, und die
Verhandlungen dieses Congresses.
*) Münchener med. Wochenschrift. 1896, No. 24.
Experiment. Untersuchungen u. Erfahrungen üb. Infiltrationsanästhesie. 407
nothwendig; nichts von dem, was wir für die Infiltrationsanästhesie
fanden, lässt sich ohne Weiteres auf die regionäre Anästhesie über-
tragen. Selbstverständlich sollen auch hier quellende Flüssigkeiten
nicht verwendet werden. Y2 — Iproc. Cocain- oder Eucainlösungen
erfordern daher einen Kochsalzzusatz von mindestens 0,6 pCt.
Unsere diesbezüglichen experiracntellen Untersuchungen sind noch
nicht abgeschlossen, ich will daher nicht weiter darauf eingehen.
• Ich erwähnte im Eingang dieser Arbeit, dass ich die Schleich-
sche Cocainanästhesie unmöglich in einen principiellen Gegen-
satz zu bringen vermag mit derjenigen Form der älteren Cocain-
anästhesie, deren Technik von Reclus^) in meisterhafter Weise
ausgebildet wurde. Bei letzterer werden die Gewebe, welche dureh-
trennt werden sollen, systematisch, Schicht für Schicht, durchtränkt
mit geringen Mengen stärkerer, bei der Schleich'schen Anästhesie
mit grossen Mengen sehr verdünnter Cocainlösungen : also eine
Infiltrationsanästhesie hier wie dort. Reclus' Technik ist daher
durchaus nicht grundverschieden von derjenigen Schlei ch's, sie
ist ihr vielmehr im Prinicip und in der Praxis überaus ähnlich.
Vor der Reclus 'sehen hat aber die Schleich'sche Infiltrations-
anästhesie den Vorzug absoluter Ungefährlichkeit, auch in der Hand
des weniger Geübten, und an elenden, geschwächten Personen.
Wenn daher auch in manchen Fällen, bei weniger ausgedehnten
Operationen, die indirekte Infiltrationsanästhesie mittelst geringer
Mengen stärkerer Cocain- oder Eucain-B-Lösungen offenkundige
Vortheile besitzt vor der prallen Anfüllung der Gewebe mit grossen
Mengen sehr verdünnter Lösungen, welche ja garnicht immer möglich
ist, so kann ich doch nicht einsehen, warum für gewöhnlich conccn-
trirte Lösungen eines Anästheticums gebraucht werden sollen, wo
mit verdünnten vortreffliche Resultate erzielt werden. Jedenfalls
wird es gut sein bei Verwendung V2 — Iproc. Cocain- oder Eucain-
B-Lösungen, — stärkere Concentrationen sollten von Gewebsin-
jectionen überhaupt ausgeschlossen sein — Wölfler's Maximaldosis
für das Cocain (0,05) inne zu halten, w- eiche für das Eucain B
mindestens um das Doppelte erhöht werden kann. In sehr ver-
dünnten Lösungen aber (1:1000) dürften von 0,1 g Cocain oder von
0,3 g Eucain-B keine schädlichen Wirkungen zu erwarten sein.
') La cocaine en Chirurgie. Paris 1S95.
408 Dr. H. BrauD, Experimentelle Untersuchungen und Erfahrungen etc.
In der Ausdehnung, wie Reclus seine Methode anwendet,
vermag ich sie nicht für ^anz ungefährlich zu halten, auch bei
Beobachtung aller von ihm vorgeschriebenen Vorsichtsmassregeln.
Das werden, abgesehen von allen Einzelheiten, in der Hauptsache
diejenigen Grundsätze sein, welche bei der Auswahl der für die
Schi eich 'sehe Infiltrationsanästhesie geeigneten Fälle in Betracht
gezogen w^erden müssen. Sie wird mit Recht stets mit dem Namen
ihres Erfinders verbunden bleiben, wenn auch die Vorstellungen,
die derselbe über ihr Zustandekommen und ihre theoretisclien Grund-
lagen geäussert hat, einer umfangreichen Correctur bedürfen, und
wenn auch die Zusammensetzung der Infiltrationsflüssigkeiten zweck-
mässig geändert wird. Schleich's Infiltrationsanästhesie ist trotz
aller Einschränkungen bis jetzt diejenige Form der Lokalanästhesie,
welcher, bei absoluter Ungefährlichkeit, das weiteste Feld offen steht;
sie ist deshalb werth, Gemeingut aller Aerzte zu werden. Uebrigens
stehen wir nicht am Ende, sondern am Anfang einer systematischen
Ausbildung der localanästhetischen Methoden.
XVII.
Erfahrungen über lokale Anästhesie in der
Breslauer chirurgischen Klinik.')
Von
Ur. Cieorg CioUsteln,
Volon tArarzt der Klinik.
Seitdem durch Morton und Jackson im Jahre 1846 der
Aether und ein Jahr später durch Simpson das Chloroform als
Anästheticum eingeführt war, wurden diese Mittel jahrzehntelang
fast ausschliesslich in der Chirurgie zur Schmerzbetäubung verwandt;
erst den letzten Jahren ist es vorbehalten gewesen, neben die
Allgemeinnarkose in ausgedehntem Maasse die locale zu setzen.
Reclus^) war der Erste, der die Bedeutung des Cocains für die
die locale Anästhesie erkannte. Seine Methode hat sich aber nicht
den erwarteten Eingang in die Chirurgie verschafft, weil auch sie
gewisse Gefahren in sich birgt. Wenn auch die Zahl der Todes-
fälle, die nach Cocain-lntoxicationen im Anschluss an dieReclus-
scho Methode beobachtet worden sind, keine sehr grosse ist^) und
in keinem Verhältniss steht zu den Todesfällen nach Chloroform,
so waren sie doch hinreichend, das Vertrauen in die Methode zu
erschüttern. Es war demnach begreiflich, dass man die Vortheile,
die die Allgemeinnarkose hat, nicht zu Gunsten der auch nicht
ungefährlichen Reclus 'sehen Methode aufgeben wollte.
Ausser Cocain wurden bekanntlich schon früher andere Local-
anästhctica verwandt. Ich erinnere an den Aether-Spray, an das
^) Abgekürzt vorgetragen am 1. Sitzungstage des XXVII. Congrcsses der
Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 13. April 1898.
2) La cocaine en Chirurgie. Paris 1895.
3) P. Hackenbruch, Oertlichc Schmerzlosigkeit bei Operationen. Wies-
baden, 1887. S. 56—58.
410 Dr. G. Gottstein,
Aethylchlorid. Sie verschafften sich zwar Eingang in der kleinen
Chirurgie, aber wegen der Nachschmerzen, die sie verursachten,
und der nur oberflächlichen Wirkung erlangten sie auch auf diesem
kleinen Gebiete eine nur geringe practische Bedeutung.
Erst die Schleich'sche Infiltrations-Anästhesie i), die mit
minimalsten Mengen von Cocain rechnet, und die es niemals, auch
nicht bei den grössten Operationen, nothwendig macht, über die
Maximaldosis des Cocains hinauszugehen, war geeignet, die All-
gemeinnarkose aus ihrer AUeinhen^schaft zu verdrängen. Wenn
auch die hohen Erwartungen, die der Entdecker der Methode an
sie knüpfte, sich in der Folgezeit nicht in ganzem Umfange be-
stätigten, so w^usste sie sich doch in relativ kurzer Zeit ein so
grosses Gebiet zu erobern, dass sie als eine der wichtigsten
Neuerungen der allgemeinen Chirurgie angesehen werden darf.
Wenn die Schleich'sche Methode allein schon einen enormen
Fortschritt bedeutete, so wurde das Feld für die Chloroformnarkose
durch die Reclus^sche Methode in ihrer modificirten Form, nach
dem Verfahren von Oberst, noch weiter eingeengt. Dass trotzdem
die Chloroform- resp. Aethornarkose niemals gänzlich verdrängt
wird, braucht kaum erst gesagt zu werden. Wir werden über die
Abgrenzung der beiden Hauptverfahren: localer und Inhalations-
Anästhesie noch später zu sprechen Gelegenheit haben.
Vor 1 '/g Jahren hatte ich Gelegenheit, aus der Breslaucr
chinirgischen Klinik eine Statistik der unter Schleich'scher In-
filtrations-Anästhesie operirten Fälle zu veröffentlichen 2). Die Zeit
der Anwendung der Methode war in unserer Klinik damals noch
eine so kurze, dass wir die Grenzen der Verwendbarkeit noch
nicht völlig übersehen konnton. In den der Statistik beigegebenen Er-
läuterungen sagte ich, „dass die eigentliche Domaine der Infiltrations-
Anästhesie die Poliklinik sei, in der diejenigen Operationen aus-
geführt werden, die meistens auch der prac'tische Arzt in seiner
Sprechstunde machen kann.*^ Es zeigte sich indessen schon nach
kurzer Zeit, dass, während für die grossen klinischen Operationen
die Schleich'sche Methode immer mehr an Bedeutung gewann,
für den poliklinischen Gebrauch doch eine gewisse Einschränkung
1) Schleich, Schmerzlose Operationen. Berlin 1894.
2) Berliner klin. Wochenschrift. 1896. No. 41.
Erfahrungen üb. lokale Anästhesie in d. Breslauer chirurgischen Klinik. 411
nothwendig wurde, zumal ja inzwischen andere Methoden localer
Anästhesie vorhanden waren, die viel grössere Vortheile boten.
Die Schleich'sche Methode lässt sich nämlich für entzündetes
Gewebe schlecht verwenden, einerseits weil schon Nadelstiche in
entzündetes Gewebe ausserordentlich schmerzhaft sind, andrerseits
auch eine gewisse Gefahr darin besteht, dass durch die Injection
die Keime, die die Entzündung hervorgerufen haben, direct hinein
in das gesunde Gewebe gepresst werden.
Einen ausserordentlich guten Ersatz für diese Fälle bietet die
Oberst'sche Methode. Wenn man in der Blutleere die sensiblen
Nervenstämme, die zu einem Körpergliede führen, durch geringe
Mengen von 1 pCt. Cocainlösung imbibirt, so wird das umschnürte
Glied schmerzlos. Die Operationen im entzündeten Gewebe, die man
unter der Obers tischen Methode ausführen kann, sind besonders
die Eingriffe an Finger und Zehen. Ein anderer Vortheil, den
diese Methode vor der Schlcich'schen Infiltrations-Anästhesie hat,
besteht darin, dass, hat man erst einmal die sensiblen Stämme
an ihren Wurzeln unempfindlich gemacht, man nicht mehr nach
und nach die Lösung in die Tiefe zu injiciren braucht, wie bei
der Schleich'schen Methode, sondern in die Tiefe vordringen
kjMin, bis in den Knochen hinein, dass man selbst die Gelenke
eröffnen kann, ohne eine Spur eines Schmerzes zu verursachen.
Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Vortheil der Ob erst 'sehen
Methode ist schliesslich der, dass die Differenzirung der Gewebe
nicht wie bei der Schleich'schen Infiltration in Folge des künst-
lichen Oedems erschwert wird.
In den letzten beiden Monaten wurden in der Poliklinik mit der
Methode von Oberst ca. 30 Spaltungen von Panaritien ausgeführt.
Stets erwies sich die Methode als ausserordentlich wirksam. Niemals
wurden auch nur die geringsten Schmerzen bei der Incision und
selbst der Entfernung von Knochenstücken geäussert. Ich möchte
hier noch einige Fälle aus der Klinik anführen. Bei einem jungen
Manne wurde die Resection eines Metacarpus vorgenommen, eben-
falls absolut schmerzlos. Dieser Fall war für die Beurtheilung
der Methode besonders interessant, weil einige Wochen vorher
demselben Pat. unter Schleich'scher Anästhesie ein Metacarpus
resecirt worden war. Dieser Patient konnte am Besten beurtheilen,
welche Methode für seinen Fall die geeignetere war. Er meinte.
412 Dr. G. Gottstein,
dass die Oberst'sche Methode ihm gar keine Schmerzen verursacht
habe, während er bei der Schi eich 'sehen Injection doch Schmerzen
gefühlt hätte.* Femer wurde einem jungen Medicincr in der Klinik eine
Zehe absolut schmerzlos exarticulirt Am interessantesten ist aber ein
dritter Fall, bei dem die Piro gof fische Amputation des Fusses unter
Oberst'scher Localanästhesie fast gänzlich schmerzlos ausgeführt
wurde. Die Operation dauerte fast eine Stunde. (Die Drüsen in der
Leistengegend wurden unter Schleich'scher Anästhesie entfernt.)
So hat uns die Oberst'sche Methode einen Ersatz gegeben
für einen grossen Theil der Fälle, wo die Schleich'sche An-
ästhesie nicht angebracht ist. Es darf hier nicht unerwähnt bleiben,
dass es ein Verdienst von Braun -Leipzig^), Honigmann-Breslau^)
und Man z- Freiburg 8) war, auf die grossen Vortheile der von
Oberst ausgebildeten Methode der Anästhesirung für Operationen
an den Extremitäten hingewiesen zu haben. Wenigstens wurde erst
seit diesen VeröfFentlichungen diese Methode in geeigneten Fällen
in unsrer Klinik und Poliklinik angewendet.
In Betreff der Technik der Ob erst 'sehen Methode verweise ich
auf die Arbeiten von Pernice*) und der oben genannten Autoren.
Ich möchte nur betonen, dass es von' grosser Wichtigkeit,
die Umschnürung des betreffenden Gliedes durch die
Esmarch -Binde der Cocain injection vorauszuschicken
und zwar bei Operationen an Fingern und Zehen ca. 10 Minuten,
bei grösseren Operationen Y4 Stunde und länger vorher. Sonst
kann man nicht auf einen vollen Erfolg rechnen.
An dieser Stelle möchte ich noch erwähnen, dass im Somraer-
semester 1897 in der Poliklinik durch Herrn Dr. Hoffmann
Versuche mit der von Haken bruch angegebenen Methode gemacht
worden sind^). Was ihre Technik anbetrifft, so ist uns von dem
Erfinder selbst auf das Ausführlichste darüber berichtet worden,
so dass es sich erübrigt, dieselbe zu besprechen. Es wurden bei
uns im Ganzen 9 Patienten in dieser Weise operirt und zwar:
1) Centralblatt für Chirurgie, 1897, No. 17 (s. auch Krogius, Central-
blatt für Chirurgie, 1894, S. 241, und Schlatter, Correspondenzblatt für
Schweizer Aerzte, 1896, No. 10).
2) Centralblatt für Chirurgie. 1897, No. 51.
*) Centralblatt für Chirurgie. 1898. Seite 177 fr.
*) Deutsche med. Wochcnschrilt. 1890, No. 14.
^) P. Hackenbruch, Oertliche Schmerzlosigkeit bei Operationen. Wies-
baden 1897.
Erfahrungen üb. lokale Anästhesie in d. Breslauer chirurgischen Klinik. 413
2 Fälle von Atheromen, eine Entfernung einer Nadel aus der Planta
pedis, eine aus einena Finger, ferner eine Exstirpation mehrfacher
Verrucae der Hände, ein Fall von Papillom des Nackens, drei
Unterlippen-Carcinorae mit anschliessender Exstirpation der Sub-
maxillardrüsen. Die Methode hat sich als ganz brauchbar erwiesen,
wurde aber nicht weiter geübt, weil die inzwischen versuchte
Ob er st 'sehe Methode uns grössere Vortheile zu bieten schien.
Wenn nun auch die Schleich'sche Methode von einem Theil
ihres Wirkungskreises verdrängt worden ist, so hat sie doch nach
anderer Richtung hin sich ein weiteres grösseres Feld erobert.
Schon vor IV2 Jahren konnten wir über einige grössere Operationen
berichten, die unter Schleich'scher Anästhesie gemacht waren.
Wir sprachen auch damals die Vermuthung aus, dass diese Methode
in der grossen Chirurgie vielleicht in Zukunft ausgedehnter An-
wendung verdiene, doch konnten wir noch nicht über practische
Erfahrungen berichten. In den letzten IY2 Jahren ist nun eine
grosse Anzahl der eingreifendsten Operationen unter dieser Methode
ausgeführt worden. Speciell wurde ein Theil der wegen Erkrankung
des Intestinaltractus zur Operation kommenden Patienten in dieser
Weise anästhesirt. Als der grösste Eingriff, unter localer Anästhesie
ausgeführt, ist die Magenresection zu nennen. Von 10 Magen-
carcinomen wurden nicht weniger als 8 im letzten Jahr in dieser
Weise resecirt. Die Dauer dieser Operationen schwankt zwischen
1% bis 5V4 Stunden 1).
Die Patienten vertragen diese schweren Operationen, wenn sie
unter localer Anästhesie ausgeführt worden, bedeutend leichter, als
unter der Allgemeinnarkose. Es ist ja leicht erklärlich, dass die
Allgemeinnarkose, die den ganzen Körper in einen Vergiftungs-
zustand versetzt, gewisse schädliche Wirkungen haben muss, die
ein sonst gesunder und widerstandsfähiger Organismus im All-
gemeinen verhältnissmässig leicht überwinden wird, die der decrepide
*) Dass die eine der Resectionen 5V4 Std. in Anspruch nahm, erklärt sich
daraus, dass eine sehr ausgedehnte Drüsenausräumung vorgenommen werden
musste, die allein über IV2 Std. dauerte. In Folge des sehr kurzen Lig.
gastrocolicum trat noch während der Operation Gangraen des Col. transvers.
in ausgedehntem Maasse ein. Dieses musste deshalb resecirt werden. Ferner
wurde noch die Gastroenterostomie mittelst Knopf ausgeführt und Entere-
aoastomosc zwischen den beiden Dünndarmschlingen durch Naht hergestellt.
Unter Chloroformnarkose hätte man dem Patienten eine derartige eingreifende
Operation wohl nicht zumuthcn können.
414 Dr. G. Gottstein,
an Magencarcinom leidende Patient aber viel schlechter verträgt.
Irgend welche Intoxications-Ersch^inungen nach der Schleich'schcn
Methode haben wir in den letzten IY2 Jahren nicht mehr beob-
achtet, abgesehen davon, dass es uns in einer Anzahl von Fällen
aufgefallen ist, dass die Patienten 1 — 2 Tage nach der Operation
über ein gewisses Mattigkeitsgefühl, ein Gefühl der allgemeinen
Abgeschlagenheit, geklagt haben.
Ausser den Magenresectionen wurden in den letzten beiden
Jahren noch ausgeführt: 4 Pyloroplastiken wegen Ulcus ventriculi,
17 Gastroenterostomieen wegen Gare, oder Ulcus ventriculi, 9 Probe-
laparotomien, 2 Jejunostoraien, 4 Darmresectionen, 50 Gastrostomien
20 Hernien, darunter 17 incarcerirte, 5 Ileusfälle, 5 Fälle von
Anus praetemat., 1 Fall von Ascites, sowie eine grosse Zahl
anderer Operationen. Von diesen nicht das Abdomen betreffenden
Operationen sind besonders 6 Strumaresectionen hervorzuheben,
eine Operation, die sich durch Schleich'sche Anaesthesie nicht
schwieriger gestaltet. Ferner 30 Resectionen des Vas deferens
bei Prostatahypertrophien, 15 Rippenresectionen bei Empyeraa
pleurae, Caries costarum u. Bronchiectasie, 7 Fälle von Ligat.
ven. saph. nach Trend elenburg, 2 Fälle von Exstirpation von
Varicen, 2 Tracheotomien bei Pharynxtumoren , 2 Fälle von
Lymph. colli tbc. et carc, eine Probeexcision bei zweifelhaftem
Lyraph. colli. Ein Carc. palpcbr. inf. (Excision und Plastik)
1 Unterlippencarcinom mit Ausräumung der Submaxillardrüse, ein
Carc. linguae, ferner Fälle von Radicaloperation der Hydrocele,
Castrationen aus verschiedenen Indicationen, Exstirpation der Bursa
präpatellar. , Exstirpation verschiedener Geschwülste, (Sarcoraa
femoris, Sarc. reg. sacral., sehr grossem Fibroma pendul., Lipoma
dorsi, Hygroma manus, 1 Aneurysma der Arteria temp.), ferner
Entfernung von Fremdkörpern. Die Dauer dieser Operation schwankte
zwischen 10 Minuten und IY2 Std.
Aus dieser Aufzählung kann man ersehen, in welch' aus-
gedehnter Weise die Schleich 'sehe Methode Anwendung in der
Breslaucr Chirurgischen Klinik gefunden hat. Es hat sich dies
auch sehr deutlich zu erkennen gegeben in der Abnahme der Ope-
rationen unter Chloroformnarkosen. Im Jahre 1895 — 96 betrug
die Zahl der Chloroformnarkosen in der Klinik 815. Diese Zahl
ist in den folgenden Jahren 1896 — 98 auf 547 (pro Jahr be-
Erfahrungen üb. lokale Anästhesie in d. Breslauer chirurgischen Klinik. 415
rechnet) heruntergegangen, wozu noch pro Jahr 20 Aethernarkosen
kommen, während die Zahl der Operationen selbst ungefähr gleich
geblieben ist. Ein ähnliches Vcrhältniss zeigt sich in der Poliklinik,
wo die Zahl der Narkosen von 280 auf 155 zurückgegangen ist.
Unter localer Anästhesie wurden 1896-97 81 Fälle, 1897—98
151 Fälle operirt.
Wie jedoch schon oben angedeutet wurde, wäre es falsch,
wenn man etwa glauben woUte, dass die locale Anaesthesie im
Stande sei, die Allgomeinnarkose zu verdrängen. Der Arzt ist
verpflichtet, auf die Individualität des Menschen Rücksicht zu
nehmen, und es ist nicht Jedermanns Sache, sich den Bauch bei
vollem Bewusstsein aufschneiden zu lassen. Wir müssen hierbei
auf den psychischen Eindruck eine gewisse Rücksicht nehmen.
Diese Fälle sind vor allem auszuscheiden. Ferner werden gewisse
Operationen w^ohl stets nur unter allgemeiner Narkose ausgeführt
werden können, weil die rein mechanischen Erschütterungen, die
bei der Operation gesetzt werden, zu grosse sind. Ich meine
speciell die Trepanationen, Oberkiefcrresectionen etc.
Erwähnt sei hier noch, dass die Infiltrationsmethode für Ope-
rationen an den Schleimhäuten nur mit sehr grosser Vorsicht zu
gebrauchen ist. Dies zeigt ein Fall, wo Herr Geheimrath Mikulicz
unter Schleich'scher Anästhesie ein kleines Zungencarcinom ope-
rirte und im Anschluss daran eine Glossitis und eine ausgedehnte
Phlegmone des Mundbodens erlebte, die glücklicher Weise nach
ausgiebigen Incisionen heilte. Ohne Zweifel sind in dem Falle
durch die Einstiche in die Zungenschleimhaut virulente Bactericn
in das Gewebe hineingepresst worden. In einigen Fällen wurde
die Operation unter Schlei ch'scher Methode begonnen, aber mit
AUgemeinnarkose, meistens nur einer Halbnarkose, fortgesetzt, weil
die Schmerzbetäubung eine zu ungenügende war. Die Schmerz-
empfindung ist bei den verschiedenen Menschen oflFenbar sehr ver-
schieden; der eine erträgt einen Schmerz ohne Zucken, während
der andere sehr jammert. So erklären sich die grossen individuellen
Verschiedenheiten, die wir beobachten konnten. — Was die Technik
betrifft, so weise ich auf meine frühere VeröfiFentlichung hin. Das
von Herrn Geheimrath Mikulicz geübte Verfahren der Injection
von einer einzigen Einstichstelle aus hat sich auch fernerhin bewährt.
Zum Schluss möchte ich noch auf einen Punkt eingehen, der
416 Dr. G. Gottstein,
mir der ganz besonderen Erwähnung werth erscheint. Wir hofften,
als wir die locale Anästhesie einführten, dass man die Spät-
erkrankiingen der Lungen, wie wir sie nach Chloroform, ganz
besonders aber nach Aethernarkosen beobachten, würden vermeiden
können. Es hat aber die klinische Beobachtung und die nach-
folgende Zusammenstellung unserer Fälle diese Hoffnung, wenigstens
für die Abdominaloperationen, nicht bestätigt.
Es war uns aufgefallen, dass wir auch nach localer Anästhesie
eine recht grosse Zahl von Pneumonien und Bronchitiden in den
ersten Tagen nach der Operation und auch in den späteren auf-
treten sahen. Die Zusammenstellung der Fälle hat uns gezeigt,
dass diese Lungenerkrankungen nur bei Fällen beobachtet wurden,
die am Abdomen operirt worden waren.
Im Ganzen wurden in der Klinik und Privatklinik des Herrn
Geheimrath Mikulicz 234 Operationen an 212 Patienten unter
localer Anästhesie ausgelührt. Von diesen 212 Patienten wurden
138 am Bauch operirt, 74 an anderen Körpertheilen. unter diesen
74 wurde im Ganzen ein einziger Fall von Lungenerkrankung be-
obachtet: bei einem Mann mit Prostata-Hypertrophie und Cystitis
purulenta, an der derselbe zu Grunde ging. In diesem Falle
scheint es sich um eine metastatische Pneumonie gehandelt zu
haben. 1)
Bei den 114 in der Klinik am Bauch operirten Patienten wurden
2 7 mal Lungenerkrankungen beobachtet, das ist in 24 pCt.; hiervon
muss jedoch ein bedeutender Theil ausgeschaltet werden, nämlich die
Fälle von lymphatischer Pneumonie bei Peritonitis, sowie diejenigen,
bei denen nach der Operation noch Erbrechen stattgefunden hat.
In diesen Fällen scheint es berechtigt, eine Aspirations-Pneumonie
durch Hineinfallen von Speisetheilchen in die Bronchien anzunehmen.
Es müssen demnach abgezogen werden im Ganzen 4 Fälle von
lymphatischer Pneumonie und 7 Fälle mit Erbrechen nach der
Operation, wovon ich allerdings 3 Fälle besonders notiren möchte,
bei denen nur am Tage der Operation gang geringfügiges Erbrechen
aufgetreten war. Es sind dies zusammen 11 von 27 Fällen, also
1) Abgerechnet sind bei den Zusammenstellungen die am Hals operirten
Fälle, wie Strumen, Pharynx- und Larynxtumoren, Lymphomata colli, weil bei
diesen Fällen fast mit Hegelmässigkcit Bronchitiden auftraten, die sich zum
grössten Theile durch directe Läsiou der beim Schluckakt betheiligten Gebilde
erklären lassen.
Erfahrungen üb. lokale Anästhesie in d. Breslauer chirurgischen Klinik. 417
9,8 pCt. von der Gesaramtzahl der Operationen. Es bleiben dann
noch immer 14,2 pCt. übrig.
Es ist freilich schwierig, nach dieser Richtung hin eine ganz
verlässliche Statistik aufzustellen, weil wir keine Kriterien dafür
haben, wann man berechtigt ist, eine Pneumonie als eine Folge der
Narkose aufzufassen. Weder klinisch noch pathologisch-anatomisch
können wir diese Pneumonien, die bisher ganz allgemein als Chloro-
form- oder Aether-Pneumonien bezeichnet worden sind, von anderen
Bronchopneumonien unterscheiden. Von einigen Autoren ist betont
worden, dass die Pneumonien, die innerhalb der ersten 3 Tage
nach der Operation auftreten, wohl auf die Narkose bezogen werden
müssen. Aus diesem Grunde allein wollen auch wir aus unsrer
Statistik die Fälle ausschalten, wo noch nach länger als 3x24
Stunden Pneumonie aufgetreten ist. Es fällt dadurch im Ganzen
1 Fall fort. Es bleiben aber immer noch 15 Fälle, somit 13 pCt.
Ich stellte nun diese Zahl der Lungenerkrankungen nach
Bauchoperationen, die unter localer Anästhesie ausgeführt worden
waren, denen unter Chloroformnarkose gegenüber und wählte zum
Vergleich das Jahr 1895/96, in dem die Schleich'sche Infiltration-
Anästhesie noch nicht angewandt worden war.
Es wurden im Jahre 1895/96 unter Chloroformnarkose
119 Bauchoperationen vorgenommen, im Anschluss daran wurden
7 Lungenerkrankungen beobachtet, die mit Erbrechen nicht in Be-
ziehung gebracht werden konnten. Das sind 5,8 pCt. In den
Jahren 1896/97 und 1897/98 wurden zusammen 207 Bauch-
operationen in Chloroformnarkose vorgenommen, wovon 6 nach-
träglich Lungenerscheinungen zeigten. (Wie oben, wurden die Fälle,
bei denen nach der Operation noch Erbrechen stattgefunden hat,
ausgeschaltet.) Hiervon traten jedoch 3 erst spät auf und in einem
von diesen bestand auch schon vorher Bronchitis. Es bleiben
dann nur 3 Fälle von Lungenerkrankungen übrig. Dies ergiebt
nur 1,8 pCt. Diese Abnahme von 5,8 pCt. des Jahres 1895/96 auf
1,8 pCt. bei Chloroformoperationen der beiden folgenden Jahre
ist aber leicht erklärlich, denn es wurden ja gerade diejenigen
Fälle unter Localanästhesie operirt, von denen von vornherein an-
zunehmen war, dass sie eine Narkose schlecht ertragen werden.
Es sind also die 207 in den Jahren 1896 — 98 unter Chloroform
operirten Patienten die relativ widerstandsfähigsten gewesen.
418 Dr. G. Gottstein,
Stellen wir die Proceiitzahl bei Chloroforraiiarkosen 5,8 pCt.
und 1,8 pCt. der Procentzahl der Lungenerkrankungen nach Locai-
anästhesie 13 pCt. gegenüber, so ist die Zahl der Lungen-
erkrankungen bei localer Anästhesie eine so auffallend hohe,
dass man sich nicht des Eindruckes erwehren kann, dass die
Schlei ch'sche Anästhesie hier das Zustandekommen der Pneumonie
fördert. Wir müssen aber immer wieder in Betracht ziehen, dass
die Bauchoperationen, die unter Schlei ch'scher Anästhesie aus-
geführt worden sind, die allerschwersten Fälle betreffen, und dass
dadurch die Zahl der Lungenerkrankungen ungewöhnlich in die
Höhe getrieben wird. In den letzten Jahren sind unter der
Schleich'schen Anästhesie viele Patienten zur Operation ge-
kommen, die früher überhaupt nicht operirt worden wären, weil
man ihnen die allgemeine Narkose nicht zugetraut hätte. Deshalb
wäre es falsch, wenn man, wie man von einer Narkosen-Pneuraonie,
ganz besonders Aether- Pneumonie, spricht, ohne Weiteres von
einer Pneumonie infolge localer Anästhesie, also einer Cocain-
Pneumonie sprechen wollte. Es müsste erst nachgewiesen werden,
dass das Cocain eine eigenartige Wirkung auf die Lungen auszu-
üben im Stande ist. Das erscheint mir jedoch wegen der geringen
Mengen Cocain, die wir gebrauchen, unwahrscheinlich. Jedenfalls
wären in dieser Richtung noch Untersuchungen anzustellen. Wir
haben bisher keinen positiven Anhaltspunkt dafür, dass der Organis-
mus und speciell die Lungen durch das Cocain, selbst wenn wir
die Maximaldosis erreichen, was ja manchmal geschieht, durch
Tage in ungünstiger Weise bocinflusst werde. Aber nehmen wir
dies selbst an, so wird damit noch nicht erklärt, warum grade
bei den Bauchoperationen eine so grosse Anzahl von Pneumonien
als Nachwirkung beobachtet wird.
Nur Eins ist fast allen diesen Patienten gemeinsam; es sind
alles ältere Leute, die an und für sich schon zu Erkrankungen des
Respirationstraktus neigen, ganz besonders aber bei dem decrepidcn
Zustand, in dem sich dieselben infolge ihres Leidens, meistens
maligner Natur, befinden.
Sie alle haben Wunden an der Bauchwand, die beim Husten,
wobei die Bauchrauskulatur angespannt wird, gezerrt werden. In-
folge dessen empfinden sie heftige Schmerzen. Um diese Schmerzen
zu vermeiden, unterdrücken sie so viel als möglich den Hustenreiz.
Erfahrungen üb. lokale Anästhesie in d. Breslauer chirurgischen Klinik. 419
Die Folge davon ist, dass die Schlcirapartikelchcn aus dem Mund
und der Trachea, die in die Bronchien und Bronchiolen hinab-
fliessen, nicht expektorirt werden und leicht eine Infection ver-
ursachen können.
Herr Geheimrath Mikulicz hebt seit Langem in seinen klini-
schen Vorlesungen auf das Nachdrücklichste hervor, dass bei jedem
älteren Menschen zumal mit bestehender Bronchitis, aber auch bei
jüngeren heruntergekommenen Personen jede Art von Bauchschnitt
und sei es die kleinste Probeincision trotz Aseptik kein ganz un-
gefährlicher Eingriff sei, wie vielfach behauptet wird. Die Gefahr
liegt lediglich in der Möglichkeit des Auftretens einer Pneumonie.
Die Ursache der Pneumonien ist im Wesentlichen die vorher aus-
einandergesetzte: Jeder Hustenstoss, selbst jede tiefe Inspiration
ist infolge der Bauchdeckenwunde in den ersten Tagen schmerz-
haft; infolge dessen beschränkt sich der Patient auf ganz ober-
flächliches Athmen, und damit ist die Aspirationspneumonie ein-
geleitet^). Aus denselben Gründen hält Herr Geheimrath Mikulicz
z. B. bei älteren Leuten die Radicaloperation einer Hernie, solange
keine Incarcerationserklärungen vorliegen, im allgemeinen für
kontraindicicrt.
Ob nun diese Retention von Secret in den Bronchiolen allein
schon genügt, um die schweren Lungenerkrankungen hervorzurufen,
oder ob noch andere Ursachen prädisponirend mitwirken, um die
Bakterien in Wirksamkeit treten zu lassen, will ich dahingestellt
sein lassen. Nur möchte ich hier an die Untersuchungen von
Gussenbauer-Pietrzikowski^) erinnern, die die Behauptung auf-
stellen, dass die im Anschluss an incarcerirte Hernien auf-
tretenden Lungenentzündungen embolischer Natur sind. Gussen-
bauer nimmt auf Grund seiner klinischen und pathologisch-anato-
mischen Beobachtungen an^), „dass in einem incarcerirten Darm-
stück, das durch längere Zeit eingeklemmt war, das Blut in den
kleinen Capillaren und Venen stagnire und sich deshalb capilläre
Thromben bilden. Wenn nun nach Reposition einer solchen Darm-
0 Aus diesem Grunde wird bei uns nach jeder Laparotomie zur Erleich-
terung der Expectoration Morphium verabreicht.
^) Pietrzikowski, Beziehungen der Lungenentzündung zum einge-
klemmten Bruch. Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu
Berlin. XVIII. Congress.
3) c. 1. Verhandlungen. II, S. 218.
ArehiT fUr kliii. Chirurgie. 57. Bd. Heft 2. 28
420 Dr. G. Gottstein,
schlinge, die sich ja bei den Operationen sehr häufig blauroth er-
weist, die arterielle Circulation nach Hebung des Hindernisses sich
wieder in vollen Gang setzt, so naüssten derlei gedachte capilläre
Thromben wieder in die Circulation gelangen und zu Embolien
Veranlassung geben können. Solange diese Thromben von der
Darmwand aus nicht inficirt seien, könnten sie wohl Embolien er-
zeugen, sie würden aber relativ bedeutungslos sein, weil sie nur zu
vorübergehenden kleinen Infarcten führen könnten. Wenn hingegen
derlei Thromben von der Darmwand aus inficirt sind, und dies
dürfte bei einer länger bestehenden Incarceration wohl als wahr-
scheinlich angenommen werden können, so müssten die daraus
resultirenden embolischen Herde nothwendigerw^eise zur Entzündung
des Lungenparenchyms führen."
Wie nun Pietrzikowski richtig sagt, ist es nur schwierig zu
entscheiden, auf welchem Wege diese Emboli in die Lunge ge-
langen i).
„Sollten diese Thromben das Capillarsystem der Leber passiren
können, dann in die untere Hohlvene und das rechte Herz gelangend,
erst in der Lunge, als einem Organ mit Endarterien zu Embolien
Veranlassung geben? Oder giebt es direkte Communikationen
zwischen den Mesenterialgefässen und den unteren Hohlvenen, so
dass der Leberkreislauf umgangen w^crden kann? Für sehr kleine
Thromben wird wohl die erstere Möglichkeit nicht ganz von der
Hand zu weisen sein, in Bezug auf die zweite Fra^e will ich hier
nur kurz erwähnen, dass nach den in den meisten Lehrbüchern
der Anatomie verzeichneten Angaben, nach den Untersuchungen
von Stahl und Walter, Retzius, Hyrti, Sappey und Anderen
Anastomosen zwischen dem Pfortadersystem und den unteren Hohl-
venen auf verschiedenen Gefässbahnen, wenigstens für den Menschen,
ausser Frage stehen."
Es erscheint mir nicht ausgeschlossen, dass das, was Gussen-
bauer und Pietrzikowski für incarcerirte Hernien als Ursache
der Lungenerkrankungen annimmt, für alle Bauchoperationen
Geltung haben könnte. Es ist nicht nothwendig, dass die Thromben
inficirt sein müssen, es genügt schon, dass in den Lungen durch
die Emboli Cirkulationsst()rungen gesetzt werden; ist erst eine
1) c. 1. Verhandlungen, II, S. 230.
Erfahrungen üb. lokale Anästhesie in d. Breslauer chirurgischen Klinik. 421
Schädigung des Lunii^enparcnchyms erfolgt, so tritt das ans der
Mundhöhle herabgeflossene Secret mit seinen zahllosen virulenten
Bakterien in Wirksamkeit und ruft eine Entzündung des Gewebes
hervor. Bei fast allen Bauchoperationen wird nun oft eine sehr
gi'osse Zahl von Gefässen unterbunden; an all den Ligaturstellen
bilden sich bald grössere, bald kleinere Thromben, die sich bei der
geringsten Erschütterung, bei einem einzigen Hustenstoss loslösen
und in den Kreislauf gelangen können. Hierzu tritt die Unmöglich-
keit, den in den Bronchien sitzenden Schleim fortschaffen zu können,
und so sind alle Bedingungen gegeben, um eine Lungenentzündung
entstehen zu lassen.
Ich halte mich noch nicht für berechtigt, dieses letztere Moment
mit Sicherheit auch als eine der Ursachen der Pneumonien nach
Bauchoperationen hinzustellen, ich wollte nur die Aufmerksamkeit
auf diesen Punkt lenken. Erst genaue Beobachtungen klinischer
und experimenteller Natur können darüber Aufschluss geben; so
lange müssen wir annehmen, dass es sich um Retentions-Aspirations-
pneumonie im Sinne Czerny's^) handelt.
Es seien mir an dieser Stelle noch einige Bemerkungen ge-
stattet, zu denen mir zwei Fälle Anlass gaben. Sie beziehen sich
auf das Auftreten von Bronchitiden nach Gastrostomien in solchen
Fällen, wo vorher noch keine Bronchitis vorhanden war; das ist
eine recht auffallende Thatsache, denn so lange die Patienten
Speisen per os zu sich genommen haben, haben sie keine Bronchitis
acquirirt; nachdem aber auf diesem Wege jegliche Speisezufuhr
aufgehört hat und jegliche Nahrung nur durch den Gastrostomie-
Schlauch zugeführt wird, treten Lungenerkrankungen auf. Hier
kann man nicht daran denken, dass etwa Speisentheilchen die
Erkrankung hervorgerufen haben.
Sehr auffallend ist auch folgender Fall. Ein Patient Herr G.,
Gastroenterostomie 1896/97, erbricht jeden Tag vor der Operation.
Es können bei ihm nicht die geringsten Veränderungen an den
Lungen nachgewiesen werden. Am 7. Tage nach der Operation
acquirirt er eine Bronchopneumonie. — Es ist recht merkwürdig»
dass eine so grosse Anzahl von Patienten, speciell Ma^enpatienten,
oft täglich ein- oder mehrmals erbricht und sich doch keine
0 Gurlt, Narkotisirungsstatistik. v. Langenbeck's Archiv. Bd. 55.
28*
4-22
Dr. G. Gottstein,
Liingencrkrankungen daran aiischlicsscn, und dass andererseits; so
viele Patienten, die täglich erbrochen haben, nach der Operation
auch noch weiter brechen, und doch nicht an den Lungen erkranken,
trotzdem sie sehr decrepide sind. Diesen Lungenerkrankungen
liegen Ursachen zu Grunde, die noch nicht völlig klar ge-
stellt sind.
Es hat mir gänzlich fern gelegen, durch die Mittheilung dieser
Beobachtung etwa vor dem Gebrauch der localen Anästhesie zu
warnen, weil auch nach ihr Pneumonien beobachtet werden. Der
erste Theil meiner Ausführungen hat ja zur Genüge gezeigt, wie
warm von unserer Seite aus die Methode empfohlen werden kann.
Nur das eine habe ich zeigen wollen: Wir werden niemals einen
Theil der nach Operationen am Bauch auftretenden Lungener-
krankungen vermeiden können, seien die Operationen in Aether-
narkose, seien sie in Chlorofornmarkose , seien sie unter localer
Anästhesie ausgeführt.
Tabcllo L
Bauch Operationen unter Chi oro form narkose. Klinik.
1897/98
1. Gastrostomie
2 a. Hernien
2 b. Hern, incarc
3. Pylorusresection
4. Pyloroplastik
5. Gastroenterostomie
6. Laparotom. probater....
7. Jejunostomie
8. Darmoperationen
9. Perityphlitis
10. Heus
11. Niere
12. Leber und Gallenblase
u
1
7
13
30
8
5
1
3
10
10
17
11
11
0
1
9
13
16
5
4
8
2
4
11
4
119
96
0
22
11
2
2
17
12
1
21
8
5
8
2
111
Erfahrungen üb. lokale Anästhesie in d. Breslauer chirurgischen Klinik. 423
1895/96.
Im Jahre 1895/96 kamen vor unter 119 Fällen, die chloro-
forrairt waren, 9 Lungenerkrankungen. ^) Das ergiebt 7,5 pCt.
Hiervon 0,8 pCt. Bronchitis,
3,3 „ Pneumonie ohne Erbrechen,
1,7 „ „ vor der Operation Erbrechen
1)7 ri 77 nach „ „
1896/97.
Im Jahre 1896/97 sind unter 96 Chloroform fällen vor-
gekommen 4 Fälle von Lungenerkrankungen, im Ganzen also 4,2 pCt.
Hiervon 1,1 pCt. ohne Erbrechen,
1,1 „ vor der Operation Erbrechen,
2,0
n
nach
77
1897/98.
Unter 111 Chloroform fällen sind 4 Lungenerkrankungen
vorgekommen, d. h. 3,6 pCt.
Hiervon 0,9 pCt. Bronchitis,
1,8 „ Pneumonie ohne Erbrechen,
0,9 „ „ vor der Operation Erbrechen.
Tabelle H.
Bauch Operationen unter Sehleieta, Klinik und Privat-Klinik.
1896/97
1897/98
Sa. in
Klinik
Sa. in
Privat-
Klinik
Sa. im
Ganzen
1. Gastrostomien
24 + 0 = 24
0 + 2 = 2
2 + 1 = 8
1+0=1
0 + 0-0
1+0-1
1 + 2 = 3
0 + 0 = 0
26 -t- 0 = 26
0+1 = 1
14 + 0=14
8 + 0 = 8
4+0=4
11 + 5 = 16
3+3 = 6
2 + 0 = 2
50
0
16
9
4
12
4
2
0
3
1
0
0
5
5
0
50
2 a. Hernien
2 b. Hern, incarc
3
17
3. Pylorusrescction
4. Pyloronlastik
9
4
5. Gastroenterostom
6. Laparotom. probater. ...
7. Jejunostom
17
9
2
Latus
29 + 5 = 34
68 + 9 -- 77
97
14
111
') Siehe die Tabellen im Anhang.
424
Dr. G. Gottstein,
1896/97
1897/98
Sa. in
Klinik
Sa. in
Privat-
Klinik
Sa. im
Ganzen
TraDsport
8. Darmoperationen
9. Perityphlitis
10. Ileus, Anus praetcrnat.
11. Niere
12. Leber und Galle u. s. w.
29 + 5
0-rO
1 + 2
3 + 0
0 + 0
0 + 1
34
0
3
3
0
1
68 + 9
3 + 1
2 + 4
8 + 0
0 + 1
0^ 1
77
4
6
8
1
1
97
3
3
11
0
0
14
1
6
0
1
2
111
4
9
11
1
2
33 + 8 = 41
81 1-16=97
114
24
138
1896/97.
Unter 33 Operationen unter Schleich aus der Klinik kamen
5 Lungenerkrankungen vor, also 15 pCt.
Hiervon fallen 3 pCt. auf Bronchitis,
6 „ vor der Operation Erbrechen,
6 „ Lymphatische Pneumonie.
1897/98.
Unter Schleich wurden 81 Fälle operirt mit 22 Lungen-
erkrankungen, i) Das ergiebt 27,1 2) pCt. Lungenerkrankungen.
Hiervon kommen
6,2 pCt. auf Bronchitis,
9,8 „ Pneumonie vor der Operation Erbrechen,
8,6 „ „ nach „ „
2,5 „ „ Lymphatische Pneumonien.
Tabelle HL
Schleich- nnd Chi oroforn Operationen zusammen (an Abdomen).
1895/96
1896/97
1897/98
1. (Jastrostomie
2 a. Hernien
11+0=11
7 + 0 = 7
1 + 24 = 25
13 + 0=13
0 + 26 = 26
22 + 0 ^ 22
Latus
18 + 0 = 18
14 + 24 = 38
22 + 26 = 48
*) Siehe die Tabellen im Anhang.
2) Fall 45 des Anhanges ist nicht mit berücksichtigt, weil Perforation
vom Oesophagus in die Trachea eintrat.
Erfahrungen üb. lokale Anästhesie in d. Breslaner chirurgischen Klinik. 425
1895/96
1896/97
1897/98
Transport
2 b. Hernia incarc
18 + 0-18
30 + 0 = 80
5 + 0 = 5
8 + 0 = 8
10 + 0=10
11-1 0-11
0 + 0 = 0
9 + 0 = 9
16 + 0 = 16
4 + 0 = 4
2-r0 = 2
11 + 0 = 11
14 + 24 = 38
8 + 2 = 10
1 + 1 = 2
10 ^ 0=10
17 + 1=18
11 + 1 = 12
1 + 0=1
13 + 0=13
5 + 1=6
8 + 3 = 11
4 + 0 = 4
4 + 0-4
22 + 26 = 48
11 + 14 = 25
3. Pylorusresection
4. Pyloroplastik
5. Gastroenterostomie
6. Laparotom. probat
7. Jejunostoraie
8. Darmoperationen
9. Peritvühlitis
2 + 8-10
2 + 4 = 6
17 + 11 = 28
12 + 3 = 15
1 + 2 = 3
21+3 = 24
8 + 2 = 10
10. Ileus et Anus praet
11. Niere
12. Leber und Gallenblase
5 + 8=13
8 + 0 + 8
2 + 0 = 2
119 + 0-119
96 + 33 = 129
111 + 81 = 192
Im Jahre 1896/97 kamen zusammen 129 Fälle, wovon
9 Lungenerkrankungen waren. Das sind 7,0 pCt.
Unter 192 Fällen also sind 26 Lungenerkrankungen vor-
gekommen, d. h. 13 pCt. Unter den 114 Fällen der Jahre
1896/97 und 1897/98, die in der Klinik unter Schleich operirt
worden sind, sind 27 Lungenerkrankungen vorgekommen, d. h.
ca. 24 pCt.
Wenn wir die Fälle von lymphatischer Pneumonie, sowie
diejenigen, die mit Erbrechen nach der Operation einhergegangen
sind, abziehen, so erhalten mr
1895/96 (nur in Chloroformnarkose)
5,8 pCt. Lungenerkrankungen,
wovon 5,0
7)
Pneumonie.
1896/97.
Chloroform 2,2 pCt. (alles Pneumonien),
Schleich 9 „ Lungenerkrankungen, wovon 6 pCt. Pneum.
1897/98.
Chloroform 3,6 pCt. Lungenerkrankungen, wovon 2,7 pGt. l'neum.
Schleich 16,0 „ „ „ 9,8 „
n
426
Dr. G. Gottstein,
Die in den Jahren 1895—1898 nach Bauchoperationen unter
Chlor oformnarlcose und unter Schleich'scher Anästhesie
aufgetretenen Lungenerkranlcungen.
Lungenerkrankungen bei Chloroformnarkose. 1895/96.
No.
Name,
Alter.
Datum
der
Operation.
Diagnose.
Operation.
Bemerkungen.
1.
3.
4.
5.
6.
7.
Franz B.,
22 J.
25. 3. 95.
AdolfSch.,
56 J.
Wilh. N.,
54 J.
Selma H.,
11 J.
Paul H.,
6 J.
4. 2. 96.
Marie M.,
31 J.
Frau Fr.,
48 J.
17. 7. 95.
21. 6. 95.
27, 3. 96.
18. 10. 95.
17. 6. 95.
I. Ueberhanpt kein Er1)reelieii.
a) Bronchitis.
Peritj-phlitis.
Exstirp. des
Proc. vcrmiform.
b) Pneumonie.
Gare, oesophagi.
do.
Tumor in abdom.
Hydronephrosis
sin.
Gastrostomie.
do.
Laparotomie
probat.
Exstirpatio renis.
Nach 36 St. R. H. U. Bronchitis,
Lungenbefund v. d. Operat. normal.
Vor d. Operat. Lungenbefund normal,
hat niemals Erbrechen gehabt, nach
3 mal 24 St. f. Section ergiebt als
Todesursache doppelseitige Bron-
chopneumonie.
Nach 3 mal 24 St. t- Section ergiebt
Bronchopneum. als Todesursache.
Nach 72 St. Pneumonie. Kein Er-
brechen V. d. Operat. Lungenbefund
normal. Nach 36 St. Temperatur-
steigung, am 5. Tage nach Einsetzen
d. Pneumon. Dämpfung aufgehellt,
am 19. Tage geheilt entlassen.
Nach 48 St. doppelseit. Pneumonie.
Nach 24 St. Temperatursteigung.
Nach 6 mal 24 St. Dämpfung
beiderseits aufgehellt.
11. Nnr vor der Operation Erbrechen.
b) Pneumonie.
Gare, ventric.
Carc. pylori.
Gastroenterost.
Resectio pylori.
Nach 60 St. R. H. ü. Pneumonie.
Häufiges Erbrechen v. d. Operat.
Lungenbefund normal. Nach d.
Operat. kein Erbrech. 4 mal 24 St.
nach Einsetzen der Pneumonie
Dämpfung aufgehellt. Am 17. Tage
geheilt entlassen.
Nach 36 St. Temperatursteigung, am
7. Tage Pneumonie nachgewiesen,
Uebergang in chron. Pneumonie,
damit entlassen.
Erfahrungen üb. lokale Anästhesie in d. Breslauer chirurgischen Klinik. 427
No.
Name,
Alter.
Datum
der
Operation.
Diagnose.
Operation.
Bemerkungen.
8.
10.
11
Frau R.,
55 J.
H. W„
54 J.
Frau M.,
57 J.
OttoScb.,
2 J.
12.
13.
PaulineK.,
61 J.
Gottfr.J.,
66 J.
III. Aneh naeh der Operation Erbrechen.
23. 7. 95.
27. 12. 95.
b)
Carc. pylori.
Pneumonie.
Resectio nach
Billroth.
Carc. ventric.
Gastroenterost.
Am 13. Tage Bronchitis, am 32. Tage
beiderseits Unterlappenpneumonie,
am 35. Tage t- Section ergiebt als
Todesursache beiderseitige lobuläre
Pneumonie.
t am 31. 12. 95. Vor d. Operat. .an
der rechten Spitze Dämpfung mit
feucht. Rasselgeräusch, Section er-
giebt als Todesursache doppel-
seitige Bronchopneumonie.
1896/97.
I. Uebertaanpt kein Erbrechen.
b) Pneumonie (schon vor der Operation Bronchitis).
20. 7, 96.
Echinococcus
lienis.
Laparotomia et
Incisio.
Vor d. Operat. Bronchit. Am 11. Tage
beidcrs. Bronchopneumonie. Nach
5 Tagen Temperaturabfall. Nach
10 Tagen Dämpfung aufgehellt.
II. Nur Yor der Operation Erbrechen.
b) Pneumonie.
19. 6. 96.
Invagination.
Laparotomie.
Nach 72 St, Bronchit. Am 15. Tage
Pneumonie L. H. U. Nach 8 Tagen
aufgehellt. Bis 2 Tage vor der
Operat. Erbrechen. Nach d. Operat.
kein Erbrechen mehr.
III. Aneh naeh der Operation Erbrechen.
b) Pneumonie.
18. 1. 97.
31. 3. 97.
Carc. ventric.
do.
Gastroenterost.
do.
Vor d, Operat. Lungen normal. Nach
d. Operat. 2 mal Erbrechen. Vom
6. Tage an Temperatursteigerung.
Vom 15. Tag an Pneumonie R.H.U.
nachweisbar. Mit chron. Pneumonie
entlassen.
t bei d. Section Pneumonie. Vor u.
nach d. Operat. häufiges Erbrechen.
1897/98.
I. Ueberhanpt kein Erbrechen.
a) Bronchitis.
14.
Franz P.,
57 J.
29. 6. 97.
Fistulastercoral.
Resectio der
Darmschlinge.
Nach 36 St. Bronchit. Temperatur-
steigerung. Emphysem vor der
Operat. Bronchit. nach 6 mal 24 St.
Sehr diflfus.
428
Dr. G. Gottstein,
No.
Name,
Alter.
Datum
der
Operation.
Diagnose.
Operation.
Bemerkungen.
15.
16.
17.
Joseph G.,
42 J.
18. 10. 97.
Jobann U.,
54 J.
1. 9. 97.
Valentin
57 J.
18. 6. 97.
b) Pneumonie.
Ulc. ventric.
Laparotomie
probat.
Schon vorher Bronchitis.
Hern, incarc. Hcrniotomie.
inguin. dext. Radicalopcration
nach Bassini.
Nach 3 Tagen L.H. U. Pneumonie.
Lungen normal. Vor d.Operat. kein
Erbrechen. Am Tage d. Operation
Erbrechen. Nach 36 St, Temperatur-
Steigerung. Nach weiteren 7 Tagen
aufgehellt.
t Vor d. Operat. Bronchit.» kein Er-
brechen. Am 5. Tage Pneum. links.
Nach 48 St. Temperatursteigerung.
Lungenuntersuchung ergiebt ver-
stärkte Bronchit. Am 12. Tage an
Pneumonie gestorben.
II. Nar vor der Operation Erbrechen.
Carc. ventric.
Gastroenterost.
Am 8. Tage L. H. U. Pneumonie. Vor
der Operat. Erbrechen, nach der
Operat. kein Erbrechen. Am S.Tage
Temperatursteig., am 1 1. an doppel-
seitiger Pneumonie gestorben.
18.
Lungenerkrankungen bei Sc bleich 'scher Anästhesie. 1896/97.
II. Nur vor der Operation Erbrechen.
a) Bronchitis.
ErnstBr.,
63 J.
18. 1. 97.
19.
Jettel
Zw.,
76 J.
20.
Heinr. Z..
56 J.
23. 7. 96.
15. 2. 97.
Strictur oesophag.
Gastrostomie.
b) Pneumonie.
Hern. crur. incarc.
Hern, inguin.
incarc. dcxt.
Herniotomie.
do.
Vor d. Operat. Bronchitis, nachher
verstärkt.
48 St. nach d. Operat. doppelseitige
Pneumonie. 6 Tage später Tcm-
peraturabfall. Am 18. Tage geheilt
entlassen. Die letzten beiden Tage
vor d. Operat. Erbrechen. Nach d.
Operat. kein Erbrechen.
Vorher Bronchitis. 48 St. nach d.
Operat. R. H. ü. Pneumonie (Pat
stand sofort nach d. Operat. auf).
Nach 6 mal 24 St. aufgehellt Am
18. Tage geheilt entlassen. AmTage
vor d. Operat. einmal Erbrechen.
Nach d. Operat. kein Erbrechen.
JErfahrungen üb. lokale Anästhesie in d. Breslauer chirurgischeh Klinik. 429
No.
Name,
Alter.
Datum
der
Operation.
Diagnose.
Operation.
Bemerkungen.
c) Pleuropneumonie (Lymphatische).
21.
22.
Joseph P.,
52 J.
Johann St.,
56 J.
8. 12. 96.
10. 4. 96.
Strict. oesophag.
Hern. crur.
iucarc. dext.
Gastrostomie.
Hemiotomie,
Darmscction,En-
teroanastomose.
3 Tage nach d. Operat. L. H. U. Pneu-
monie. Am 10. Tage f. Secticn er-
giebt als Todesursache Peritonitis,
beiderseits lymphatische Pneumon.
Vor d. Operat. mehrmals gebrochen.
Untersuchung d. Lungen ergiebt:
normal. Nach d. Operat. kein Er-
brechen. Am 14, Tage f. Section
ergiebt als Todesursache Peritonit.,
rechte Lunge lymphatische Pleuro-
pneumonie.
23.
24.
25.
26.
27.
Luise K., I 29. 7. 97.
56 J. I
28.
29.
Wolf B.,
58 J.
Joseph R.,
50 J.
Ernst W.,
56 J.
Gottlieb,
49 J.
12.11.97.
4. 1. 97.
11.12.97.
7. 12. 97.
Gustav E.,
46 J.
Gottfried
J.,
58 J.
19. 2. 98.
24. 5. 97.
1897/98.
IL Nor vor der Operation Erbreehen.
a) Bronchitis.
Hern. crur. IHerniotomie, Rc-
sectio part. Ilei,
Entcroaniistom.
Gastrostomie.
incarc. sioist.
Strict. oesophag.
do.
do.
do.
do.
do.
do.
^) Pneumonie.
Strict. oesophag.
do.
Gastrostomie.
do.
48 St. nach d. Operat. Bronchitis.
24 St. vor d. Operat. Erbrechen.
Lungenbefund normal.
Vorher Emphysem, sonst normal.
48 St. nach d. Operat. Bronchitis.
Schon vorher Bronchitis, nach der
Operation verstärkt.
48 St. nach d. Operat. Bronchitis,
vor d, Operat. Erbrechen, Lungen
normal . Nach 48 St. Temperat. 38,2.
Vor der Operat. Lungen normal.
48 St. Temperatursteig, Diffuse
Bronchitis.
Linksseitige Recurrens - Lähmung.
Bronchitis R. IL U. Abgeschwächt.
Athmen u. gedämpft. Pat; sofort
nach d. Operat. aus d. Bett gebracht.
Nach 4 mal 24 St. deutliche Pneu-
monie, nach 8 mal 24 St. Pneumo-
thorax. Am 10. f. Todesursache
Pyopneumothorax lat. dext. As-
pirationspneumonie links.
Nach 36 St. ausgesproch. Pneumonie
R.ILU. Lungen bis auf massiges
Emphysem normal. 8 Tage später
Dämpfung aufgehellt, Temperatur-
abfall 96 St. nach d. ersten Tem-
peratursteig. Pat. am 12. Tage
geheilt entlassen.
430
Dr. G. Gottstein,
No.
Name,
Alter.
Datum
der
Operation.
I^agnose.
Operation.
Bemerkungen.
30.
31.
32.
33.
34.
35.
36.
37.
38.
Johann B.,
55 J.
Albert H..
64 J.
Wilh. G.,
39 J.
Marie L.,
38 J.
26. 6. 97.
22. 1. 98.
9. 2. 97.
13. 10. 97.
Frau H., 20. 12. 97.
44 J.
Reinh. F.,
53 J.
Strict. oesophag.
Gare, ventric.
do.
28. 12.97.
do.
do.
Enteroanastom.
durch Nath,
Anus praeternat.
Gastrostomie.
Gastrocnterost.
durch Naht.
Gastrocnterost.
ra. Murphyknopf.
Gare. col. ascend. Enteroanastom. Am 16. Tage diffuse BroDcbitiä
Pneumonie. Am 15. Tage die
gangränöse Darmschlinge aufge<
schnitten u. abgetragen. Tempera-
tursteig. 38,7. L.H.U. Pneumonie-
Am 18. 8. geheilt entlassen-.
Nach 48 St. L.H.U. Pneumon. Nach
36 St. Temperatsteig. 38,4. Nach
6 mal 24 St. R.H.U. Pneumonie,
Am 26. Tage beiderseits aufgehellt
Am 28. 7. geheilt entlassen.
Vor d. Operat. Erbrechen täglich,
Pneumonie am 7. Tage. Kein Er-
brechen vorhergegangen. Am 14. 5.
geheilt entlassen.
Nach 48 St. Pneumonie. Vor der
Operat. Erbrechen. Nach 36 St.
Temperatur 39. Von d. Operat.
an kein Erbrechen mehr. Am
36. Tage mit den Erscheinungen
einer chron. Pneumonie entlassen.
Nach 48 St. Pneumonie. 24 St. nach
der Operation R. H.ü. Dämpfung.
Temperatursteigerung. Am 7. Tage
Dämpfung aufgehellt.
Vor d. Operat. Erbrech., nach d. Oper.
nicht mehr, nur nach 6mal 24 St Auf-
stossen, Erbrech, fäculenter Massen.
Doch Herunterschlucken derselben.
Nach 7 mal 24 St. Exitus. Section er-
giebt Bronchopneumonie d. linken
Unterlappens u. d. ganzen recht.
Lunge, Gangrän d. recht Lunge.
III. Aach naeta der Operation Erbrechen.
1. Nur einmalig am Tage der Operation.
Resectio pylor.
G.istrocntCrost.
m. Murphyknopf.
Eleonore
Seh.,
57 J.
Joseph W.,
46 J.
Julius Z.,
55 J.
9. 12. 97,
22. 2. 98.
Carc. ventric.
do.
do.
Gastrocnterost.
m. Murphyknopf.
Gastrocnterost.
mit Chlumsky-
knopf
2. Relaparatomie
m. Murphyknopf.
Jejunostomic.
Nach 72 St R.H.U. Pneumon., nach
6 mal 24 St auch L. H. U. Am Tage
d. Operat. Erbrechen, dann nicht
mehr. Am 22. Tage t« Broncho-
pneumonie beider Unterlappen.
t nach 72 St. Pneumonie. L.H.U.
Vor d. Operat. Erbrechen. Lungen
normal. Nach d. Operat. kein Er-
brechen bis zum 4. Tage. Nach
12 St Temperatur 38,1. Gangrän
der rechten Lunge.
Nach 24 St. Erbrechen, nach 48 St
Temperat 38,8, nach 72 St R.H.U.
Pneumonie. Am 10. Tage aufge-
hellt Am 17. Tage entlassen.
Erfahrungen üb. lokale Anästhesie in d. ßreslauer chirurgischen Klinik. 431
No.
Name,
Alter.
Datum
der
Operation.
Diagnose.
Operation.
Bemerkungen.
2. Häutiges Erbrechen nach der Operation.
39.
40.
41.
42.
NatbanSz.,
58 J.
AnnaTh.,
25 J.
Julie S.,
69 J.
Hulda GL,
32 J.
6. 11. 97.
43.
44.
Joseph F.,
51 J.
Juliu^T.,
38 J.
6. 1. 98.
15. 2. 98.
3. 3. 98.
Gare, pylor.
Ileus, Parotitis.
Hern.crur.incarc.
Hern. crur.
incarc. dext.
Gastroentcrost.
m. Murphyknopf.
Laparotomie.
Anus praeternat.
Herniotomie. Re-
sectio part. Hei.
Herniotomie.
Enteroanastom.
Vor d. Operat. häufiges Erbrechen.
Nach d. Operat. täglich Erbrechen.
Am 20. Tage t- Am 13. Tage R. H. U.
Pneumon., am 17. L. H.U. Pneumon.
Todesursache Bronchopneumonie d.
1. Unter- u. Mittellappen u. d. r.
Unterlappeu.
t am 3. Tage l'neumonie, vor der
Operat. Erbrechen, nach d. Operat.
Erbrechen an d. ersten zwei Tagen.
Section: Bronchopneumonie per
aspir. d. 1. Unterlappen u. r. ünter-
u. Mittel läppen, Gangrän in d. r.
Lunge.
Nach 48 St. f- Section; Broncho-
pneumonie in beiden Oberlappen.
t am 15. Tage. Seit 8 Tagen vor d.
Operat. Erbrechen. Nach 48 St. Er-
brechen. Ueber Lungenbefund keine
Bemerkungen. Section: Broncho-
pneumonie per aspir. Todesursache
Inanition.
c) Pleuropneumonie (Lymphatische).
14.12.97.
3. 2. 98,
Gare, ventric.
do.
Resectio pylor.
do.
t Pneumonie. Section: Peritonitis
circumscript. et pneumon. hypost.
lob. inf. pulm. dext. Pleuritis fibrin.
1 11.2.98. Todesursache :Periton it.
circumscripta. Pleurit. fibropurul.
d) Perforation vom Oesophagus in die Trachea.
45. Uohann St.
I.p
22. 3. 98.
Strict. oesophag.
Gastrostomie.
t Todesursache: Bronchopneumon.
et gangraen. pulmon. Perforation
in die Lunge.
Nachtrag.
Bald nach Pfingsten hatten wir Gelegenheit, einen Fall zu
beobachten, der die Möglichkeit eines Zusammenhanges des Auf-
tretens von Pneumonie mit embolischen Processen wahrschein-
lich macht.
Es folgt nachstehend die Krankengeschichte dieses Falles,
432 Dr. G. dottstein,
sowie das SectionsprotokoU, insoweit es für unser Thema von
Interesse ist.
August H. , 58 Jahro alt, aus Freiburg i. S., stets gesund gewesen, nur
soll er während seiner Mililärdienstzeit eine linksseitige Pleuritis durchgemacht
haben, es wurde 3 Mal punctirt, ohne dass sich Flüssigkeit entleerte.
Seit 1 Y2 Jahren Magenbeschwerden, seit ^^ Jahr fühlt Pat. einen harten
Knoten oberhalb des Nabels. Seit Y^ Jahr Erbrechen einige Stunden nach
der Nahrungsaufnahme.
Status praesens. Lunge und Herz nichts Pathologisches nachzu-
weisen. Geringe Artoriosclerose. Deutlicher Tumor zwischen Nabel und rechten
Rippenbogen. Chemische Untersuchung des Magensaftes ergiebt Salzsäure
positiv, Milchsäure negativ.
Operation unter Schleich'scher Infiltrationsanästhesio begonnen und in
Chloroformnarkose zu Ende geführt, weil zu schmerzhaft infolge zahlreicher
Verwachsungen des Tumors mit der vorderen Bauchwand und der Gallenblase.
Es wird Rosection eines grossen .Theils des Magens nach Mikulicz mit Ver-
nähung des Üuodenalstumpfes (Schnürnaht nach Doyen) ausgeführt.
Nach der Operation, die ca. 2 Stunden gedauert hat, erwachte Pat. bald.
Kein Erbrechen während der absolut ruhigen Chloroformnarkose. Abends
Temp. 36,8, Puls 72. Pat. ist ganz ruhig, klagt über nur ganz geringfügige
Schmerzen in der Wunde. 3 Mal täglich 0,01 Morphium. Kein Erbrochen,
kein Aufstossen. — 25. 5. Abends Temp. 37,5, Puls 76. Respiration 28.
Kein Erbrechen, kein Aufstossen. Pat. befindet sich ganz wohl. — 26. 5.
Abends Temp. 37,4, Puls 90. Resp. 24. Kein Erbrechen, kein Aufstossen.
Allgemeinbefinden gut, keine Schmerzen, keine Druckempfindlichkeit im Ab-
domen. — 27. 5. Nachts ist die Temperatur auf 38,2 gestiegen. Eine Ursache
dafür ist nicht aufzufinden. Am Morgen sind die ersten Flatus abgegangen.
— 28. 5. Temp. 37,8, Puls 84. Resp. 32. Pat. fühlt sich ganz wohl. Kein
Erbrechen, kein Aufstossen. — 29. 5. Temp. 38,6, Puls 100. Resp. 36.
Pat. wird heute zum ersten Mal aufgesetzt behufs Untersuchung der
Lungen.
Lungenbefund : R. H, U. bis zum Angulus scapulae Dämpfung, Bronchial-
athmcn, L. H.U. verschärftes Vesiculärathmen. Kein Aufstossen, kein Er-
brechen. Pat. hustet ziemlich viel.
31. 5. 1. Verbandwechsel. Die Nähte werden entfernt. Tadelloseste
prima intentio. Der Auswurf ist heute etwas geringer. — 1. 6. Temp. 38,6,
Puls 92. Resp. 26. Husten heute bedeutend stärker, eitrig klumpige Ballen
ohne Blutbeimischung, niemals rostfarben. Dämpfungsbezirk unverändert,
Bronchialathmen. — 2. 6. Temp. 39,2, Puls 100. Resp. 36. Pat. hustet
grosse Mengen eines leicht grünlich verfärbten Sputums aus. Das Allgemein-
befinden ist bedeutend schlechter geworden. — 4. 6. Temp. 39,6, Pnls 100.
Athmung 52. Der Zustand des Pat. hat sich sehr verschlimmert. R.H. U. hat
sich die Dämpfung bis zur Mitte der Scapulae verbreitert. Bronchialathmen,
Mittelgi'ossblasige feuchte Rasselgeräusche. R.V, Dämpfung bis zur V. Rippe
Erfahrungen üb. lokale Anästhesie in d. Breslauer chirurgischen Klinik. 433
reichend, Bronchialathmen und zahlreiche Rasselgeräusche. L. H. ü. ver-
schärftes Vesiculärathmen. Zahlreiche Rasselgeräusche. Sputum grünlich ver-
färbt, sehr übelriechend (microscopisch keine elastischen Fasern zu finden). —
5. 6. Pat. ist nicht mehr bei vollem Bewusstsein, derselbe erbricht heute
öfters. Unter zunehmender Schwäche tritt Vormittag, am 13. Tage, post op.
Exitus ein. — 6. 6. Section (Herr Dr. Henke).
Todesursache: Gangräna pulmonum, Pleuritis acuta duplex.
Diagnose: Pleuritis acuta fibrinosa dupl. Cavern. gangränosa multi-
plic. pulmonum. Caverna gangränosa magna talis in lob. dext. inf. Bronchitis
purulenta. Thrombosis in ramis majoribus art. pulmonal. — Cicatrix vetus
lienis. Gastroenterostomie.
Herz und Lungenbefund.
Herz: von entsprechender Grösse, anämisch, im Ganzen etwas dilatirt.
Klappen apparat normal.
Linke Lunge: gross, die Pleura des ünterlappens diffus getrübt, be-
sonders an der Basis, mit feinen fibrinösen Auflagerungen bedeckt. Ueber die
ganze Lunge zerstreut finden sich kleinere und grössere disseminirte Er-
weichungshohlräume mit missfarbig-eiterigem Inhalt. Die meisten sind klein-
kirschgross, einer derselben bis kleinapfelgross. Der Inhalt besteht aus
zundrigen, missfarbenen, übelriechenden Massen.
In einem mittleren Pulmonalast findet sioh ein der Wand fest ansitzender,
kleiner, graurother Thrombus.
Rechte Lunge: gross, ödematös durchtränkt. Pleura des Unterlappens
diffus getrübt und mit reichlich fibrinösen Auflagerungen bedeckt. Im Unter-
lappen findet sich eine von aussen sich schwappend anfühlende, fast faust-
grosse Erweichungshöhle, mit übelriechenden, missfarbenen Massen erfüllt. Es
finden sich noch mehrere kleine Gangränhöhlen in der übrigen Lunge.
In einem der Hauptäste der Art. pulmonalis findet sich ein etwa erbsen-
grosser, der Wand fest ansitzender Embolus, an den sich rotho thrombotische
Massen nach auf- und abwärts fortsetzen.
Bronchien schmutzig verflirbt, zum Theil stark hyperämisch. Der übrige
Sectionsbefund ist für uns ohne Belang.
Der hier in der rechten Art. pulmonalis gefundene Thrombus
war ca. 8 Tage alt. Die ersten Erscheinungen an den Lungen
wurden am 6. Tage nachgewiesen. Vermuthlich ist hier der
Embolus ein oder mehrere Tage vorher in die Lunge gerathen.
Woher derselbe stammt, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen.
Das Herz war jedenfalls ganz gesund.
Unsere in der obigen Arbeit mitgetheiltcn Erfahrungen über
das Auftreten von Pneumonie nach Operationen am Bauch sind
auch in den letzten 3 Monaten . bestätigt worden, wo unter
18 Bauchoperationon unter Schleich'scher Anästhesie 3 an capillärer
434 Dr. G. Gottstein, Erfahrungen über lokale Anästhesie etc.
Bronchitis und 4 iin Pneumonie erkrankt sind, ebenso sind unter
32 Bauchoperationen unter Chloroform 2 Pneumonien aufgetreten;
die oben ausführlich mit^etheilte gehört hierher. Auch unter
sechs unter Aethernarkose operirten Hernien trat einmal Pneu-
monie auf.
Die hohe Zahl der Lungenerkrankungen bei der Operation
unter Schleich'scher Anästhesie erklärt sich auch hier zur Genüge
daraus, dass die schwersten Fälle in dieser Weise operirt wurden
und dass an diesen Fällen auch die umfangreichsten Operationen
ausgeführt wurden.
XVIII.
Neue Experimente zur Erzeugung von
Pankreatitis haemorrhagica und von Fett-
nekrosen.')
Von
JProfefluior Dr. Hlldebrand
in Berlin.
Die Frage nach der Enstehung der hacmorrhagischen
Pankreatitis und den dabei beobachteten Fettnekrosen hat noch
immer keine genügende Beantwortung erfahren. Auch die ex-
perimentelle Forschung ist keineswegs zu einem abschliessenden
Urtheil gelangt. Vor 3 Jahren habe ich hier über Experimente am
Pankreas vorgetragen. Es war mir gelungen, durch verschiedene
Eingriffe am Pankreas zu zeigen, dass durch Pankreassecret Fettnekro-
sen erzeugt werden, und ferner ebenso wie Rosenbach, dass Trypsin
Haemorrhagien macht. Auf Grund dieser Experimente kam ich zu
der Anschauung, dass die Pancreatitis haemorrhagica und die Fett-
nekrosen Folgen der Einwirkung von Pankreassekret, des Fett-
ferments und des Trypsines seien, welches sich in Folge einer
cartarrhalischen Schwellung der Schleimhaut des Darmes nicht
entleeren könne und staue. Von verschiedenen Seiten, von Körte,
Williams, wurden meine damaligen Versuche der Hauptsache nach
bestätigt, ebenso durch Experimente, die ich selbst noch einmal
anstellen Hess.
Nun hat aber im vorigen Jahre Hlava auf dem Moskauer
Consress andre Experimente mitgetheilt, die er über diese Frage
1) Vorgetragen am 1. Sitzungstage des XXVII. Congresses der Deutschen
Gesenschaft für Chirurgie zu Berlin, 13. April 1898.
ArohiT für klin. Chirargie. 57. Bd. Heft 3. 20
436 Dr. Hildebrand,
gemacht hat. Er ging von einem andren Gesichtspunkt aus. Da
die betr. Patienten öfters vorher Attaquen von Störungen der
Magenfunktion gehabt haben, kam er auf die Idee, ob nicht etwa
Magensaft und zwar hyperacider in das Pankreas übertreten
und die haemorrhagische Pankreatitis sowie die Fettnekrose hervor-
rufen könne. Im Verfolg dieser Idee injicirte er in das Pankreas
Magensaft, der etwa 2—6 pro mille Salzstäure enthielt, und auch
gleich starke Salzsäurelösungallein, und erhielt darauf haemorrhagische
Entzündung und Fettnekrosen. Als den schuldigen Theil spricht
er die Salzsäure an. Ich habe nun ebenfalls nach dieser Richtung
Versuche gemacht. Ich injicirte erst Salzsäure in das Netz,
Salzsäure in die Substanz des Pankreas, erreichte aber mit
2 — 6 promilligcr Ltisung nichts. Erfolge hatte ich erst, als ich
1 pCt. Salzsäure in den Ausführungsgang des Pankreas einspritzte
und den Ductus abband. Dann trat endlich eine ausgesprochene
sog. haemorrhagische Pankreasnekrose, starke Schwellung, Derbheit
und partielle Nekrose des Organs mit ausgedehnten Blutungen in
der Substanz auf, wie ich es hier deraonstriren kann, Fettnekrosen
waren nur vereinzelt zu finden. Vorsuche mit Pepsin dagegen
führten bis jetzt zu keinem Resultat, doch bin ich damit noch
nicht am Ende. Mit den Lösungen, deren sich Hlava be-
diente, gelang es mir nicht, ein positives Resultat zu erzielen,
sie mussten concentrirter sein; ausserdem wurde von mir viel in-
jicirt und dies durch Abbinden des Ductus alles in dem Pankreas-
theil zurückgehalten. Eine 1 proc. Lösung ätzt gewiss nicht ohne
Weiteres die Gewebe an, aber dadurch, dass viel Flüssigkeit in-
jicirt wurde, wurde der Innendruck stark und infolge dessen ent-
stand wohl eine Anaemie, die natürlich die Anätzung sehr be-
günstigte, um so mehr als es sich um ein Organ handelt, das
selbst nur alkalisches Secret producirt, also doch nicht abgehärtet
gleichsam dagegen ist.
Zweifellos kann auf diese Weise eine hämorrhagische Pankreas-
nekrose erzeugt werden. Ist es nun aber wahrscheinlich, dass sie
beim Menschen auf ähnliche Weise entsteht? Ist es wahrscheinlich,
dass Magensaft in grösserer Menge vom Darm aus in den Aus-
führungsgang des Pankreas eintritt, dass der Magensaft trotz
alkalischer Galle und Pankreassekret so sauer bleibt, dass er
jene Wirkung entfalten kann?
Neue Experimente zur Erzeugung von Pankreatitis haemorrhagica etc. 437
Um den Eintritt einer grösseren Menge Magensaftes in das
Pankreas zu erklären, müsste man doch einen Druck, ein Abfluss-
Hinderniss im Duodenum annehmen. Wie das zu Stande kommen
soll ohne ganz besondere Verhältnisse ist gewiss nicht leicht vor-
zustellen.
Andererseits ist es doch nicht unplausibel, dass analog den
Vorgängen beim catarrhalischen Icterus ein Katarrh der Darm-
schleimhaut sich auf den Ausführungsgang des Pankreas fortsetzt,
die Öbhleimhaut hier zum Schwellen bringt, sodass das Secrct nicht
mehr abfliessen kann, sich staut und so gleichsam eine Selbst-
verdauung des Pankreas zu Stande kommt, wie sie z. B. Chiari
bei Sectionen fand.
Diese Auffassung der Verhältnisse scheint mir vorläufig
immer noch die natürlichere, die ungezwungenere zu sein.
29
^ I
XIX.
Ein neues Verfahren der Blasennaht nach
Sectio alta.
Von
Professor ll¥, S, Httsumoivsfcy
in Kasan.
(Mit einer Figur.)
Vor etwa 4 Jahren veröffentlichte ich^) eine Methode der
Vernähung der Harnblase nach dem hohen Steinschnitt; diese
Methode war von mir in der chirurgischen llospitalklinik ausge-
arbeitet und in 10 Fällen angewandt worden. Die Besonderheit
meiner Methode bestand darin, dass, abgesehen von der sorg-
fältigen Vernähung der Blasenwunde (durch zwei Reihen von
Nähten), die Nahtstelle der Blase an die vordere Bauchwand
fixirt, mithin die sogen. Cystopexie ausgeführt wurde. Die Be-
deutung dieses Ilandgriifes erklärte ich in folgender Weise: eine
der llauptursachcn des Misslingens der Blasennaht, des Auseinander-
weichens der Nähte, beruht meines Erachtens darauf, dass die
Blase ein bewegliches Organ ist, dessen Volum je nach der Harn-
menge, dem Drucke der Bauchpresse, dem Spiele der Blasen-
muskeln u. s. w. sich ändert. Wenn es uns gelänge, diese Be-
weglichkeit zu beseitigen, so würde die Blasenwunde stets per
primam heilen, wie auch eine jede andere Wunde. Allerdings ver-
mögen wir nicht, die Blase in toto unbeweglich zu machen, da-
gegen können wir die Stelle der Blasennaht bis zu einem gewissen
Grade immobilisiren, d. h. mit Hülfe der Cystopexie, wie sie von
mir angewandt wurde, ihre Beweglichkeit einschränken. Die
1) V. Laugenbeck's Archiv. Bd. 48.
Ein neues Verfahren der Blasennaht nach Sectio alta. 439
Cystopexie bietet ferner noch einen anderen Vortheil. Bei der
einfachen Vernähung der Blase, ohne Fixirung derselben, kommen
die vernähte Blasenwunde und die Wunde der Bauchwand in ver-
schiedener Höhe zu liegen: erstere — hinter der Schambeinfuge,
letztere aber oberhalb derselben. Bei solchen Bedingungen wird
der Urin, sobald die Naht auseinandergeht, in das lockere prä-
yesicale Zellgewebe eindringen. Leicht entsteht dann eine Harn-
infiltration, — die allergefährlichste Complication bei dem hohen
St^inschnitt. Anders verhält es sich aber, wenn die Lockerung
der Blasennaht bei Fixirung der Blase an die vordere Bauchwand
eintritt. Dann liegen die Blasen- und die Hautdeckenwunde in
einer Höhe: die eine hinter der anderen — und der Harn wird
natürlich leichter seinen Ausfluss nach aussen finden.
Schon damals hatte ich, in meinem oben citirten Aufsatze,
die Frage vorgelegt, ob nicht die Cystopexie in der Folgezeit auf
den Akt des Urinirens nachtheilig einwirken könne? Auf diese
Frage konnte natürlich nur die klinische Erfahrung eine Antwort
geben. Meine Erfahrung, die sich damals auf 10 Fällen gründete,
erlaubte mir schon zu der Zeit, die dort gestellte Frage verneinend
zu beantworten: es kamen bei meinen Kranken keinerlei Störungen
im Uriniren zur Beobachtung.
Die zweite Besonderheit meiner Lithotomie bestand darin,
dass ich die Nachbehandlung ohne Anwendung des Verweilkatheters
durchführte.
Nachdem ich die Facultätsklinik übernommen, woselbst sich
mir öfter die Gelegenheit zur Steinoperation bot, konnte ich meine
Methode an einer grossen Anzahl von Fällen prüfen. Meine
klinischen Beobachtungen, die sich gegenwärtig auf einem viel
grösseren Material (etwa 40 Fälle) gründen, berechtigen mich zu
dem Ausspruche, dass die Blasennaht in Verbindung mit der
Cystopexie: 1. die heste der gegenwärtig bekannten Behandlungs-
methoden der Blasenwunde ist; 2. dass sie in der Mehrzahl der
Fälle eine Nachbehandlung ohne Verweilkatheter ermöglicht, und
dass sie 3. die Function der Harnblase in der Folgezeit dun^haus
nicht beeinträchtigt. Einige meiner Kranken sah ich nach Ablauf
von 1 — 2 Jahren nach der Operation wieder und keiner von ihnen
klagte über Störungen im Uriniren. Ich glaube sogar, dass die,
durch unser Verfahren verursachte unbedeutende Dislocation der
440 W. J. Rasumowsky,
Blase nur eine teiiiporäro ist, und koinevswe^s für das iranze Leben
bestehen bleibt. Nachträglich, nach Eintritt der regelmässigen
Function der Harnblase werden die normalen anatomischen Be-
ziehungen des Organs zum Bauchfelle und zur vorderen Bauch-
wand wahrscheinlich wiederhergestellt. Diese Ansicht erlaube ich
mir auf Grund eines Falles auszusprechen, in welchem ich etwa
ein Jahr nach vollführtem Steinschnitte, denselben Kranken wegen
Recidives der Steinkrankheit zum zweiten Male opcriren musste.
Die bei der ersten Operation an die vordere Bauchwand fixirte
Harnblase fand ich nicht über der Symphyse, sondern hinter der-
selben und nur das vor der Blase liegende Zellgewebe erschien
etwas verdichtet.
Meine Methode der Blasennaht hat auch seitens einiger
anderer Chirurgen Beifall erworben. Zu Gunsten der Cysto-
pexie haben sich Zuckerkandl,*) Kukula,^) Stierlin^) u. A.
ausgesprochen.
Ich umgehe im Vorliegenden die Fragen über Indicationen
und Contraindicationen zur Anlegung der Blasennaht, sowie die
andere, höchst wichtige Frage — darüber, in welchen Fällen man
ohne Catheter ä demeure auskommen kann und wo namentlich
letzterer unbedingt angewandt werden muss. Das Material, welches
gegenwärtig meiner Klinik hierüber zur Verfügung steht, wird
binnen kurzer Zeit von einem meiner Assistenten veröffentlicht
werden. Hier will i(^h mich nur auf die Beschreibung der ver-
vollkommneten Methode der Vernähung der Blasenwunde be-
schränken, — einer Methode, wie sie von mir letzter Zeit aus-
gearbeitet worden ist.
Eines der erheblichen Nachtheile der Blasennaht, gleichviel
welche Methode der Blasenvernälning auch angewandt worden sei,
besteht darin, dass die Fäden Veranlassung geben, zur [Bildung von
Concrementen, von secundären Steinen. Diese Steine entstehen
nicht nur in dem prävc^sicalen Räume, sondern au(*h in der Harn-
blase selbst, woraus zu erschliessen ist, dass die Blasennähte mit-
unter in das Lumen der Harnblase durchfallen. G. F. Zeidlcr*)
*) AUgemeine Wiener med. Zeitschrift. 1895, No. 2.
2) Wiener kün. Wochenschrift. 1895.
3) Deutsche Zeitschrift f. Chirurgie. Bd. 44.
*) Arbeiten der Chirurg. Gesellschaft v. Pirogoff, 1894—95 (russisch).
Ein neues Verfahren der Blasennaht nach Sectio alta. 441
hat 7 derartige Fälle in der Literatur gesammelt. Solche Fälle
sind auch späterhin mitgctheilt worden: so von Stierlin^), von
Brown 2). Ein derartiger Fall ist mir ferner nach mündlicher Mit-
theilung eines unserer russischen Chirurgen bekannt. Augenschein-
lich kommt diese unerwünschte Gomplication der Blasennaht nicht
besonders selten vor. Ein anderer, zwar minder wichtiger, doch
häufiger sich geltend machender Mangel der Blasennähte, besteht
darin, dass sie mitunter Veranlassung geben, entweder zur Bildung
sehr langsam heilender Fisteln oder zu secundären Abscessen mit
Fistelbildung. Solche Fälle sind keine seltene Erscheinung, die
gewiss einem jeden Chirurgen begegnet sind, welcher viel in diesem
Gebiete operirt hat.
Diese Mängel der Blasennaht bewogen mich, eine solche
Methode der Vernähung auszuarbeiten, bei welcher 1. gleichzeitig
und mittelst einer und derselben Nähte sowohl die Vernähung der
Blase als auch die Cystopexie ausgeführt werde und 2. sämmtliche
Fäden nachträglich entfernt werden können, damit weder in der
Blase noch im prävesicalen Räume Fäden zurückblieben. Die von
mir ausgearbeitete und in 4 Fällen mit Erfolg angewandte Methode
besteht in Folgendem.
Nach Entfernung des Steins, Ausspülung der Blase u. s. w.,
nehme ich einen nicht sehr dünnen Metallfaden (Silberdraht), der
mit 2 Nadeln versehen ist. Diesen Faden führe ich durch die
Blasenwand (ausgenommen die Schleimhaut, welche natürlich nicht
verletzt werden darf) hindurch; Ein- und Ausstich der Nadel an
der rechten Seite und nahe der Blasenwunde. Darauf werden
beide Fadenenden mit den Nadeln quer über die Blasen wunde auf
die linke Seite hinübergelegt und unter den linken Rand der
Bauchdeckenwunde eingeführt, die letztere (Muskeln und Haut-
decken) von innen nach aussen durchstochen, so dass beide Faden-
enden nahe bei einander durch die Haut nach aussen hervorgezogen
werden. In ganz ähnlicher Weise und in derselben Höhe, jedoch
von der gegenüber liegenden Seite aus und daher gewissermaassen
in umgekehrter Reihenfolge wird nun ein ebenfalls mit 2 Nadeln
bcwaifneter Faden angelegt: Ein- und Ausstich durch die Blasen-
wand am linken Wundsaume, Uebertragung der Fadenenden über
1) 1. c.
2) The Lancet 1896, Febr.
442
W. J. Rasumowsky,
die It lasen wunde hinüber aui die rechte Seite und Durchführung
des Fadens von innen nach aussen durc^h die Dicke der Baueh-
dccken an dem rechten Wundrande.
Auf besagte Weise erliälL mau "2 Schlinj^en : eine reclite, deren
.Scheitel links in der lilahi-nwanil üc^t und deren Enden rechter-
seits die Dicke der Dauchwand von inucn nach aussen durchsetzen
und eine zweite, linke Scfilinfre, deren Weheitel am rechten Wund-
saumc die Blascnwand uinfasst, um mit ihren Enden die Bauch-
deeken linkerseits zu durclisctzen. Beide Schleifen greifen gegen-
seitig in einander, wie etwa ein in eine Schlinf^e eingehängter
Haken fvc.rgl. die Figur).
Wenn man nun beide Schlingen an ihren durch die Haut hin-
durchgehenden Enden anspannt, so vereinigen sich zunächst die
ßlasenwundrundor, wobei dieselben sich gleichiteitig nach innen
Ein neues Verfahren der Blasennaht nach Sectio alta. 443
umschlagen, wie z.B. bei der Lern b er t' sehen Darmnaht und da-
nach fügen sich auch die Ränder der Bauchdeckenwunde an ein-
ander.
Diese Naht kann man eine doppelte Matratzennaht nennen.
Je nach der Grösse der Blasenwunde müssen 3 — 4 solcher
paariger Schlingennähte angelegt werden, bis die Blasenwunde
hermetisch geschlossen werden kann.
Ich möchte jetzt auf einige technische Details hinweisen,
welche die Anlegung der Naht erleichtern. Zuvörderst werden die
Schlingen nur durch die Blasenwand hindurchgeleitet und erst nach-
dem sämmtliche Schlingen an ihrem Orte sind, schreiten wir zur
Durchführung der Fadenenden an den entsprechenden Stellen der
Bauchwand. Bei Anziehung der Schlingen beginnt man mit dem
unteren Paare und geht in strenger Reihenfolge von unten nach
aufwärts weiter. Jedes Endenpaar einer und derselben Schlinge
wird über einem kleinen Gazestreifen geknotet, wie dies bei der
Matratzennaht üblich ist.
Ausser diesen Matratzennähten werden die Ränder der Bauch-
wunde noch durch einige einfache Knopfnähte vereinigt; letztere
umfassen die Haut und die Muskeln, welche frühcF schon bei An-
ziehung der Matratzennähte einander genähert worden waren.
Uebrigens bringe ich die Bauchwunde gegenwärtig nicht so wie
früher zu völligem Schlüsse, sondern lege in dem unteren Wund-
winkel einen kleinen Tampon hinein, der mit seinem Ende bis
hinter die Symphyse herabreicht.
Mit Hülfe der beschriebenen doppelten Matratzennähte wird
gleichzeitig sowohl die Blase geschlossen, als auch die Cystopexie
gemacht: die durch die Naht geschlossene Blasenwunde liegt dicht
der hinteren Fläche der gleichfalls vernähten Musculi recti an und
wird solcher Weise immobilisirt und zweitens besitzt sie jetzt
anstatt des lockeren Zellgewebes an ihrer Vorderseite eine feste
Schutzwand. Meines Erachtens bedarf es der Beweise nicht, dass
diese beiden Momente den Erfolg der Blasennaht hinreichend sichern.
Die Nähte werden bis zur festen Verwachsung sowohl der
Blasen- als auch der Bauchdeckenwunde an Ort und Stelle ge-
lassen: für 8 — 10 Tage. Sodann werden die Knopfnähte, sowie
auch die Matratzennähte entfernt; mit den letzteren verfährt man
folgender Weise : eines der Schlingenden wird nahe am Knoten, an
444 W. J. Rasnmowsky,
der Hautoberfläche durchschnitten, und die Schlinge herausgezogen
— beispielsweise die rechte; darauf wird nun auch die ihr ent-
sprc(^hendo linke Schlinge entfernt. Ebenso wird das zweite, dann
das dritte Schleifenpaar entfernt u. s. w. Das Herausziehen der
Mctalldrähte geht erfahrungsgemäss recht leicht und ohne jede
Gewaltanwendung von Statten.
Nach Herausnahme der Fäden bleiben weder an der Harn-
blase noch in dem prävesicalen Räume Nähte zurück, und derart
erhält man die ideale Wundheilung, nach der wir jederorts streben
müssen, nämlich: wir erhalten eine Heilung per priraam an einem
tief gelegenen Organe, ohne dass an demselben sogenannte ver-
lorene Nähte nachbleiben.
Es fragt sich nun, ob dieses Verfahren überall anwendbar ist?
Zunächst ist es in allen jenen Fällen unanwendbar, in denen
eine Vernähung der Blase überhaupt contraindicirt erscheint. Aber
abgesehen von dieser, so zu sagen, allgemeinen Contraindication,
gicbt es auch eine specielle. Bei sehr beleibten Subjecten mit
reichlich entwickeltem Fettpolster der Bauchdecken ist, glaube ich,
diese Naht deshalb kaum anwendbar, weil es w^ohl schwer sein
wird, mit Hülfe- der durch die sehr dicke Bauch wand hindurch ge-
leiteten Fäden eine gute Aneinanderfügung der Blasenwundränder
zu erreichen. Bei solchen Subjecten wird, meiner Meinung nach,
die gewiUinliche, früher von mir angewandte Blasennaht mit nach-
folgender Cystopexie mehr am Platze sein.
In technischer Beziehung kann die von mir vorgeschlagene
Methode keine leichte genannt werden und dies ist allerdings ein
Mangel der Methode. Aber die Blasennaht ist überhaupt keine
leichte Sache. Ich hatte bereits in Dutzenden von Fälfen die
Blaseimaht angelegt und war bisweilen nach beendeter Operation
mit meiner Naht dennoch nicht zufrieden. Am schwierigsten ist
die Vemähung des unteren Winkels der Blasen wunde, besonders
wenn letztere bis tief hinter die Symphyse reicht. Aus diesem
Grunde namentlich empfahl ich in meiner früheren Arbeit, den
Schnitt durch die Blase möglichst hoch anzulegen. Bei einem
solchen Schnitt ist es viel leichter, die Blasennaht anzulegen. Für
die Cystopexie erscheint ein solcher Schnitt gleichfalls vorthcil-
hafter: die Blase wird bei ihrer Fixirung an die vordere Bauch-
wand weniger dislocirt.
Ein neues Verfahren der Blasennc^ht nach »Sectio alta. 445
Als einen Mangel der Methode muss ich ferner noch den Um-
stand anfuhren, dass unter den Gazestreifen, über welchen die
Schleifennähte geknotet sind, ein circumscripter und oberflächlicher
Druckbrand entsteht. Immerhin vergehen einige überzählige Tage
bis zu dessen Verheilung.
Die Zukunft wird zeigen, welche pathologisch -anatomischen
Veränderungen in der vernähten und an die vordere Bauchwand
lixirten Blasenwunde vor sich gehen, ob diese Fixirung sich zu
einer constanten, so zu sagen, fürs ganze Leben bleibenden ge-
staltet, oder ob nach Entfernung der Nähte und nach Wiederein-
tritt der normalen Function der Blase auch das normale anatomi-
sche Verhalten derselben sich herstellt. Jedenfalls betone ich noch-
mals die Thatsache, dass sowohl bei der früheren, als auch bei
der hier beschriebenen neuen Methode der Vernähung und Fixirung
der Blase bei keinem meiner Kranken irgend eine Störung im
Uriniren beobachtet worden ist. Einer der Kranken (s. Kranken-
geschichte No. 2), welchem, abgesehen von dem hohen Steinschnitt,
wegen Nierenkoliken auch noch die Nephrotomie und Uretero-
tomie gemacht wurde, blieb mehrere Monate lang unter meiner
Beobachtung: die ganze Zeit war das Uriniren völlig regelrecht,
sowohl in den ersten Tagen nach der Operation, als auch in der
späteren Zeit.
Ich führe in Kürze die Krankengeschichten an:
No. 1. Th. J. K., 22 jähriger Bauer. Innere Organe unverändert. Er-
nährungszustand befriedigend. Symptome der Steinkrankheit von Kindheit
auf: starke Beschwerden aber verursachte der Stein dem Kranken erst im
Laufe des letzten Jahres.
Tagesmenge des (schwach sauer reagirenden) Harns ca. 2000 ccm. Er-
scheinungen einer katarrhalischen Cystitis. Der Harn triibe, der Niederschlag
enthält Eiterkörperchen , rothe Blutkörperchen, Zellen der oberflächlichen
Schichten des Blasenepithels, häufiges (bis 20 mal täglich) und schmerzhaftes
Urin Iren.
Operation 25. 11. 97. Entfernung des Steines (harnsaure Salze und
3V
Phosphate); Grösse: — - cm. Vernähung der Blase in oben beschriebener
3
Weise. Airolpaste und ein kleiner Verband über die Wunde. Kein Verweil-
katheter. Bis zum Abend urinirte Patient mehrmals, der Harn anfangs blut-
haltig, darauf aber mehr und mehr rein. In den ersten Tagen eine geringe
Temperaturerhöhung (bis 38^), weiterhin aber normal. Selbstgefühl die ganze
Zeit gut.
446 W. J. Rasumowsky,
1. 12. Tampon aus dem unteren Wundwinkel entfernt. 5. 12. Sämmt-
liche Nähte entfernt (am 11. Tage nach der Operation). 9. 12., d. h. 15 Tage
nach der Operation, vollkommen geheilt aus der Klinik entlassen.
No. 2. J. N. E., Dorfschreiber, 37 Jahre alt. Sieht etwas decrepid aus.
Lungenschall über den Lungenspitzen gedämpft, besonders links nach hinten,
bei der Auscultation hört man hier Bronchialathmon. Klage über Husten und
Schmerz in der linken Seite. Präsystolisches Geräusch an der Herzspitze.
Leidet seit 15 Jahren an Harnstörungen und Nierenkoliken. Zeitweise
traten starke Blutungen aus der Harnblase auf. Seit 2 Jahren gehen kleine
Steine durch die Urethra ab, Tagesmenge des Urins ist bis 4(XX) ccm ver-
mehrt, der Harn schwach alkalisch, giebt reichlichen Niederschlag (Eiter-
körperchen, Epithel, Tripelphosphatkrystalle). Die Nieren empfindlich gegen
Druck, besonders die linke, welche zugleich auch vergrösscrt erscheint. Der
linke Harnleiter lässt sich als verdickter Strang durchfühlen. Vor der Opera-
tion nahm der Kranke ca. 2 Wochen lang Guayakol ein.
Operation (Sectio alta) 31. 1. 1*8. Aus der Blase wurde ein hanisaurer
Stein von unregelmässiger Form herausgenommen, der an der Oberfläche
gleichsam mit Fortsätzen bedeckt ist. Blasenvernähung nach derselben Me-
thode. Wundverband wie in dem vorhergehenden Falle. Kein Verweilkatheter.
4 Tage nach der Operation urinirt Patient spontan : der Harn ist blutig ge-
färbt, kleine Coagula. Bei den dai'auf folgenden Harnentleerungen wird der
Urin immer klarer und klarer. 2 Tage darauf starker Anfall von Nierenkolik:
der Kranke liegt nicht ruhig, sondern wechselt häufig seine Lage. Dieser An-
fall dauerte mit kurzen Remissionen 4 Tage lang. Morphium subcutan mehrere
Male. Temperatur und Puls die ganze Zeit normal. Nach 5 Tagen wird der
Tampon herausgenommen. 8. 2. Alle Nähte entfernt. 11. 2, Im Harn Blut,
welches aber bald schwindet. Das Uriniren ist die ganze Zeit regelrocht und
schmerzlos. 14. 2. Die Wunde ist geheilt und Patient wird entlassen.
Nach Verlauf einiger Zeit, 1. 3., wird der Kranke behufs einer Nephro-
tomie aufs Neue in die Klinik aufgenommen. Ich hatte dem Kranken die
Nephrotomie vorgeschlagen, weil er öfter an lange dauernden und qualvollen
Niercnkolikanfällen litt. Als Locus morbi wurde auf Grund der Localisation
des Schmerzes und der objectiven Daten (s. höher oben) die linke Niere be-
trachtet. 10. 3. Lumbaischnitt nach Tuffier. Die Niere wurde blossgelegt,
bis zum Ililus isolirt und bis an das Niveau der Hautwunde hervorgezogen.
4 Finger langer, pathologisch -anatomischer Schnitt am convexen Rande der
Niere; hierbei wurden die Blutgefässe von dem Assistenten gefasst. — Mit
dem in das Nierenbecken eingeführten Finger — wobei eine trübe Flüssigkeit
herausfloss — konnte ich keinen Stein durchfühlen. Daher eröffnete ich den
Ureter durch einen Längsschnitt, etwa 2 Finger weit von dem Nierenbecken.
Die Wände des Harnleiters sind stark verdickt. Ich katheterisirte den Ureter
zuerst in centraler Richtung, gegen das Nierenbecken, in welchem ich, wie
auch zuvor, nichts fand. Ein in peripherischer Richtung ~ nach der Blase
zu — eingeführter Katheter stiess in dem Beckentheil des Harnleiters auf ein
Hinderniss (Strictur). Durch sondirende Bewegungen gelang es mir, dies
Ein neaes Verfahren der Blasennaht nach Sectio alta. 447
Hinderniss zu passiren, anfangs mit einer sehr dünnen, dann aber auch mit
dickeren Bougies (No. 7— -8 der Charriere' sehen Scala). Steine fand ich weder
in der Niere, noch im Ureter. Schliesslich machte ich einen Schnitt durch die
Nierencapsel längs des ganzen convexen Nierenrandes, vernähte den Ureter
mit feinem Catgat (nach Jeferson bereitet) und tamponirte die Nieren wunde
mittelst Jodoformgaze. Die Niere wurde an ihre Stelle zurückgebracht. Etagen-
nalit durch die Bauchwunde, ausgenommen die beiden Wundwinkel, in welchen
die Tampons lagen. In den ersten Tagen Schmerzen in der Lumbaigegend
und Blut im Harn; am 3. Tage bedeutender Meteorismus. Eine Compression
des Colon descendens durch den Tampon voraussetzend — wie dies in einem
Falle von Israel stattgefunden hatte — , entfernte ich den Tampon aus dem
retroperitonealen Räume und aus der Niere. Einführung eines Drains; darauf
schwand der Meteorismus. Der weitere Verlauf war ohne alle Complicationen.
Temperatur und Puls sind die ganze Zeit normal. Kein Harnsickern durch
die Lumbaiwunde, mithin war die Naht des Harnleiters gelungen. In den
ersten Tagen des April wurde der Kranke aus der Klinik entlassen. Während
seines Aufenthaltes in der Klinik hatte er keine Anfälle von Nierenkolik ge-
habt. Das Uriniren ist die ganze Zeit hindurch regelrecht, schmerzlos.
No. 3. E. P. M., Bauer von I9V2 Jahren. Ernährungszustand genügend
gut, keine Voränderungen in den inneren Organen. Anfälle der Steinkrankheit
seit seinem 5. Lebensjahre. Tägliche Ff arnmenge ca. 1500 ccm ; geringer
Niederschlag, saure Reaction.
Operation am 12. 3. 98. Es wurde ein hamsauer Stein entfernt; Durch-
31/0
messer — ^ cm. Vernähung der Blase nach der nämlichen Methode; der
4
gleiche Verband. Kein Verweilkatheter. 1 Stunde nach der Operation urinirt
der Kranke spontan; der Harn enthält Blut. Um 7 Uhr Abends urinirte er zum
zweiten Male; der Harn ist jetzt nur schwach vom Blut gefärbt. In den ersten
paar Tagen Husten und Temperaturerhöhung, der weitere Verlauf ohne Com-
plicationen.
18. 3. Tampon aus dem unteren Wundwinkel entfernt. 23. 3. Alle
Nähte herausgenommen. 3. 4. Aus der Klinik entlassen, üriniren normal,
schmerzlos.
No. 4. J. S. G., Bauer von 21 .Jahren. Ernährungszustand genügend,
innere Organe ohne Veränderungen. S}Tnptome der Steinkrankheit von Kind-
heit an. Harnquantum täglich 2400 ccm. Reaction alkalisch; beträchtliches
Sediment (Eiterkörperchen, Epithel, Tripelphosphatkrystallc). Beständiger
Harndrang, starke Schmerzhafiigkeit.
Operation 21. 3. 98. Es wurde ein grosser Stein entfernt; im Centrum
Urate, an der Oberfläche Phosphate. Durchmesser - - cm; Umfang 11 cm.
4
Bei Herausnahme des Steines wurde der untere Wlmdwinkel der Blasenwundc
eingerissen. Die Wände der Harnblase stark hyperirophirt. Angesichts dieses
Umstandes, sowie auch der alkalischen Harngährung und des Risses in der
Blasenwunde, war ich etwas in Unschlüssigkeit, ob die Blasennaht anzulegen.
448 W. J. Kasumowsky, Ein neues Verfahren der Blasennaht etc.
oder die Nachbehandlung mit Hülfe des Drains durchzuführen sei. Das sagte
ich auch dem als Lithotomist in Kussland bekannten Dr. Assendelft,
welcher der Operation beiwohnte. Nach einigem Schwanken entschloss ich
mich dennoch zu Gunsten der Blasennaht. Anlegung derselben nach dem
oben beschriebenen Verfahren; Verband wie in den vorhergehenden Fällen.
Kein Verweilkatheter. Vom Ende der Operation (12 Uhr Mittags) an bis 5 Uhr
Abends hätt« Patient nicht urinirt, daher wurde ein Katheter eingeführt; es
Hoss ein etwas bluthaltiger Harn ab. Der Katheter wurde für die Nacht in
der Blase liegen gelassen, gegen Morgen vei*stopfte sich der Katheter und
wurde dann durch den Harndruck herausgestossen. Danach bis zum Abend
(dos 2. Tages) urinirto der Kranke spontan (ungefähr lOmal). Am 3. und
4. Tage spontane Urinentleerung; am 5. Tage wurde der Harn wieder mehr*
tnals mittelst des Katheters entleert. Das spontane Uriniren ist schmerzhaft,
der Harn enthält beträchtlichen Niederschlag. In den ersten Tagen hatte der
Patient starken Husten, bei Temperaturerhöhung, jedoch ist das Selbstbefinden,
abgesehen von der schmerzhaften Harnentleerung, genügend gut.
27. 3. Entfernung der Knopfnähte und des Tampons aus dem unteren
Wundwinkel. Bis zum Abend desselben Tages entleerte der Kranke seinen
Urin selbst; am Abend, während eines starken Hustenanfalles, fing der Harn
an, durch den unteren Winkel aus der Wunde durchzusickern. Dieses Durch-
sickern des Harnes durch die Wunde war etwa 4 Tage lang bemerkbar; für
diese Zeit wurde ein Verweilkatheter benutzt.
31. 3. Alle Nähte entfernt. 7. 4. Die Wunde verheilt, am 17. Tage
nach der Operation. Die Erscheinungen der Cystitis dauerten einige Zeit lang,
schwanden aber darauf allmalig unter wiederholten Ausspülungen der Blase
mit Arg. nitricum (1 : 1000). 17. 4. Der Kranke befindet sich gut, urinirt
nicht oft, die letzten Portionen des Urins sind kaum getrübt.
XX.
(Aus der chirurgischen Klinik in Zürich.)
lieber die bisherigen Erfahrungen bei der
radicalen Operation des Magencarcinoms
(der Magenresection und der Magenexstir-
pation) an der Züricher chirurgischen Klinik.
Von
Professor Dr. ürSnlelQ
in Zdricli»).
Kr. will zunächst Mittheilung machen über den weiteren Ver-
lauf jenes Falles von Magencarcinoni, bei welchem Herr
m
Dr. med. C. Schlatter, Secundararzt der chirurgischen Klinik,
im vergangenen Jahre die totale Magen exstirpation mit nach-
folgender Oesophago-Entcrostomie ausgeführt hat.
Dr. Schlatter hat seine Beobachtung und Operation, die voll-
ständig neu ist, im Corresp.-Blatt für Schweizer Aerzte (1897)
und ferner in den Beiträgen zur klinischen Chirurgie Bd. XIX. 1897
beschrieben und es darf daher das Detail der Operationstechnik
und des Heilungs Verlaufs als bekannt vorausgesetzt werden. —
Hier sei nur erwähnt, dass die Patientin 56 Jahre alt war,
0 Vorgetragen am 2. Sitzungstage des XXVII. Congresses der Deutschen
Gesellschaft für &>irurgie zu Berlin, 14. April 1898.
Anmerkung während der Correctur: Seit der Zeit des Vortrages
habe ich weitere 3 Magenresectionen wegen Carcinom ausgeführt,
die alle reactionslos geheilt sind; ich reihe sie als No. 22, 23 und 24 meiner
am Congress gegebenen Statistik an; dadurch werden die im Vortrage früher
angeführten Zahlen etwas verändert, d. h. entsprechend vergrössert.
Zürich, 7. Juli 1898. Krönlein,
450 Dr. Krönlein,
als sie am 6. Septenabcr 1897 von Dr. Schlatter opcrirt wurde
und dass sie sich laut Schlatter's Originalberichten im November
1897 noch vollständig wohl befand. — Seither ist der Verlauf
folgender gewesen:
Die völlig „magenlose" Patientin befindet sich gegenwärtig
d. h. 7 Monate nach der Operation ^) vollständig gesund und bietet
das Bild eines gut conservirten Menschen von 57 Jahren, wie aus
der letzte Woche aufgenommenen Photographie zu entnehmen ist.
— Sie weilt in der Klinik, so zu sagen, als* Ehrengast, weil sie
die Fn^undliclikeit hatte, den Wuusch des Operateurs, durch eine
neue Operation ihr Leben zu retten, zu erfüllen; sie fühlt sich
aber durchaus wolil und ist ohne jede Erinnerung an ihr früheres
Leiden. Sie isst und trinkt wie ein Gesunder und verdaut wie
ein Gesunder. Beispielsweise sei ihr Speisezettel vom
2. April 1898, den sie vollständig erschöpfte, hier angeführt:
Frühstück 7 Uhr: Mih'.h-CafTee 340,0 g, dazu 1—2 Semmel.
Vormittags 10 Uhr: Milch 320,0 g mit einem Ei und
1 Semmel.
Mittagessen 12 Uhr: Suppe 260,0 g. Fleisch 120,0 g,
Kartoffeln 220,0 g, Apfelmus 400,0 g.
Nachmittags 3 Uhr: Milch-Caffee 420,0 g, dazu 1 Semmel.
Abends 6 Uhr: Milch 320,0 g, event. was Pat. vom Mittag-
essen noch etwa übrig gelassen hat.
Ausserdem trinkt Pat. täglich 1 Glas Bordeaux-Wein.
Was ihr Körpergewicht betrifft, so hatte Pat. seit der
Operation bis Anfang October 1897 um 2 Kilo zugenommen. Von
da ab bis heute ist eine weitere Zunahme des Körpergewichtes
um 4,5 Kilo zu constaliren, so dass die Pat. seit der Operation
im Ganzen um 6,5 Kilo oder 13 Pfd. zugenommen hat; sie wiegt
jetzt 39 Kilo. —
Das Interesse an diesem ungewöhnlichen Falle ist damit natür-
lich noch nicht erschöpft; denn es ist wissenschaftlich von höchstem
Werthe, zu untersuchen, wie bei dem Menschen bei vollständigem
Ausschluss des Magens das Verdauungsgeschäft auf die Dauer
1) Anmerkung während der Correctur: Auch heute noch (7. Juli
1898), d. h. genau 10 Monate p. op., ist Pat. gesund und rüstig.
Bisherige Erfahningen bei der radicalen Operation des Magencarcinomsetc. 451
sich vollziehe. Ist auch für die grohe Untersuchung durch das
8 Monate lang genau beobachtete Wohlergehen der Patientin ge-
nügend festgestellt, dass der Mensch ohne Magen gut leben kann,
so verlangt die Wissenschaft doch genauere Belege. Diese Belege
werden demnächst in einigen Arbeiten aus der chirurgischen Klinik
geliefert werden und will Kr. nur ein kurzes Resum6 hier noch
aus einer dieser Arbeiten mittheilen, welches er dem Autor direkt
verdankt. Es lautet:
„Die Ergebnisse der Untersuchungen, die ausführlicher und
mit Zahlenbelegen voraussichtlich noch im Laufe des April in der
„Münchener Medic. Wochenschrift" veröffentlicht werden, lassen
sich in kurzen Worten dahin zusammenfassen:
„Der Koth zeigte stets normale Beschaffenheit und passirte
in IY2 — 2 Tagen den Darmcanal.
Der Ausfall der Magenverdauung, von dem nur bezüglich der
Ausnutzung der Eiweisskörper der Nahrung eine erheblichere
Schädigung erwartet werden konnte, war ohne Belang. In einer
6 tägigen Versuchsreihe mit ausschliesslicher Milch- und Semmel-
kost, so wie einer späteren 9 tägigen mit gemischler Kost (Suppe,
Milch, Wurst, Griesbrei, Semmel) war die Ausnutzung der Al-
buminstoffe eine vorzügliche und entsprach vollkommen
normalen Verhältnissen. — Auch die Fettresorption in der
II. Versuchsreihe w'ar die normale. In der I. Versuchsreihe kam
es noch nicht zum Stickstoflfgleichgewicht, sondern täglich wurden
kleine Mengen N zurückbehalten, ohne dass es zu einer dauernden
Gewichtszunahme kam. Das Körpergewicht hielt sich nach an-
fänglicher rascher Steigerung um circa 9 Pfd. in letzter Zeit auf-
annähernd derselben Höhe. Die Stickstoffretention deutet dalier
auf eine Regeneration des Blutes und ist als eine Vermehrung des
circulirenden Eiweisses im Blutplasma zu betrachten, worauf auch
die tägliche NaCl-Retention im Organismus hinweist.
Eine IStägige Versuchsreihe zeigte, dass eine Beeinflussung
der Darmfäulniss durch den HCl-haltigen Magensaft nicht statt-
hat, da die gefundenen Wertho der Aethcrschwefelsäuren meist
noch unter der Norm lagen.
Die physiologischen Aciditätsschwankungen des normalen
Harns zu verschiedenen Tageszeiten fehlten. Pepsinferment fehlte
im Harn."—
Archiv für klin. Chirnrgip. 57. Bd. Heft 2. ijq
452
Dr. Kronlein,
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Hüsberige Erfahrungen bei der radicalen Operation desMagencarcinomsetc. 453
Nach Mittheilung über diesen Schlatter'schen Fall von
totaler Magenexstirpation giebt Kr. noch einen kurzen üeberblick
über die bis jetzt in seiner Klinik geraachten Erfahrungen über
Magenrcsection wegen Carcinom. Das Wesentliche wird durch
vorstehende Tabelle veranschaulicht.
R 6 s u m 6.
Von den 24 Fällen von Magenrcsection resp. Magen-
exstirpation starben 5 an den Polgen der Operation (1 bis
14 Tage post op.); die Todesfälle vertheilen sich aber sehr ungleich
auf die Anfangs- und die späteren Operationen, so zwar, dass von
den ersten 4 Magenresectioncn 3 starben (1881—1888),
von den folgenden 20 Magenresectioncn dagegen nur 2
(1888 bis 1898). (Mortalität 20pCt.; seit 1888 nur 10 pCt.)
Das weitere Schicksal der 19 geheilten Operationsfälle
ist folgendes:
2 Fälle starben an intorcurrenten Krankheiten (Herz-
paralyse, Pneumonie) innerhalb des 1. — 4. Monats post op. ohne
Becidiv.
8 Fälle starben an Carcinomrecidiv, und zwar
2 im 3. Jahre post op.
^ 77 2- « 77 »7
^ 77 •*•• 77 77 77
Das Mittel der Lebensdauer bei allen 8 an Recidiv Ge-
storbenen betrug von der Operation bis zum Tode: 507 Tage, d. i.
1 Jahr und 5 Monate p. p.
8 Fälle leben zur Zeit (Juli 1898) noch ohne Recidiv.
2 Fälle stehen im 4. Jahre post op.
6 „ „ noch „ 1. „ „ „
1 Fall lebt zur Zeit mit Recidiv.
Die totale Magenexstirpation von Dr. Schlatter be-
treffend, so erfreut sich Fat. heute, d.h. 10 Monate nach
der Operation, einer ungetrübten Gesundheit.
Daran schliesst K. noch kurze Bemerkungen über die Technik
der Operation, im üebrigen auf seine früheren Mittheilungen (s.
Beiträge zur klin. Chirurgie, Bd. XV) verweisen.
30
XXI.
Ueber Regeneration des Magens nach totaler
ßesection. *)
Von
Professor Or. fiichnchfirdt
in Stettin.
(Mit 2 Figuren.)
In der Mehrzahl der Fälle von Magenkrebs, die zur operativen
Radi^albehandlung kommen, handelt es sieh um diejenige Form
des Schleimhautkrebses, wo die Ulceration und der Zerfall über-
wiegt und an der freien inneren Fläche verhältnissmässig keine
erhebliche Geschwulst entsteht, wohl aber eine krebsige Infiltration
der Magenwand, die sich weit über die Grenzen des Geschwüres
erstrecken kami. Diese Form des Magenkrebses führt frühzeitig
zu Drüsenschwellungen und krebsigen Verwachsungen der Um-
gebung und lässt sich daher nur im Anfangsstadium, etwa bis zu
einem halben Jahre nach dem Beginne des Leidens, noch radical
operiren. Hat das Krebsgeschwür bereits einen solchen Umfang
erreicht, dass man geniithigt sein würde, mehr als die Hälfte oder
höchstens zwei Drittel des Magens zu entfernen, so sind gewöhnlich
die übrigen technischen Bedingungen so ungünstig, dass die Ope-
ration nicht mehr ausführbar ist.
Dagegen gicbt es eine mehr infiltrirende diffuse Form des
Magenkrebses, die mit verhältnissmässig geringer innerer Ulce-
ration der Schleimhaut, jedoch mit ausgebreiteter stan'er, oft
knotiger Verdickung der ganzen Magenwand und gewöhnlich
mit beträchtlicher Schrumpfung des Magens einhergeht. Solche
^) Vorgetragen am 2. Sitzungstagc des XXVII. Congresscs der Deutschen
Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 14. April 1898.
lieber Regeneration des Magens nach totaler Resection. 455
Fälle zeichnen sich nicht selten dadurch aus, dass selbst nach
längerem Bestände des Leidens zwar Ascites, aber nur geringe
Drüsenschwellungen eintreten und die Beweglichkeit des stark ver-
kleinerten Magens nicht leidet, imGegentheile durch den mechanischen
Zug des verdickten und schwerer gewordenen Organs oft erheblich
grösser wird als normal.
Aehnliche Verhältnisse bieten auch diejenigen Formen des
Magenkrebses dar, bei denen es sich um umfangreicheGeschwulst-
bildungen handelt, die an schmalem Stiele oder breitbasig von der
Schleimhaut entspringend als blumenkohlähnliche oder kuglige Ge-
wächse in das Innere des Magens hineinreichen. Klinisch zeichnen
sich diese Formen oft durch selir grosse Beweglichkeit der fühlbaren
Geschwulst aus, die sich von einer Seite des Bauches leicht auf
die andere schieben lässt.
Während die Exstirpation selbst kleiner Krebsgeschwüre der
ersten Kategorie, namentlich wenn sie an der hinteren Magenwand
sitzen, oft die grössten technischen Schwierigkeiten darbieten, lässt
sich bei den beiden zuletzt geschilderten Fonnen des Magenkrebses
der grösste Theil des Magens, ja selbst das ganze Organ zuweilen
mit grosser Leichtigkeit entfernen.
unter etwa 60 Operationen, die ich in den letzten Jahren am
krebsigen Magen auszuführen Gelegenheit hatte, habe ich so günstige
Verhältnisse freilich nur etwa 5 Mal angetroflfen, am Ausgcbildetsten
in dem Falle, dessen Präparate ich Ihnen heute vorzulegen die
Ehre habe und bei dem sich die fast gänzliche Entfernung des
Magens vom ersten Hautschnitte an gerechnet, in einer Viertelstunde
ausführen liess. Ich komme heute auf diesen Fall, den ich schon
vor 3 Jahren hier kurz erwähnt habe, deshalb ausführlich zurück,
weil ich in der Lage bin, über seinen weiteren Verlauf und Aus-
gang berichten zu können.
Ferdinand Thiede, 58 Jahre, Steueraufseher, will ausser rheumatischen
Beschwerden früher immer gesund gewesen sein. Der Anfang seines Magen-
leidens ist nioht mit Bestimmtheit zu ermitteln, ist aber wahrscheinlich schon
einige Jahre zurückliegend. Seit einem halben Jahre nahmen die Magen-
beschwerden erheblich zu. Auffallende Abmagerung und fahle Gesichtsfarbe.
Appetit meist schlecht. Niemals Erbrechen. Viel Schmerzen in der Magen-
gegend. (Jebolkeit und Wasserfluss im Munde. Stuhl meist angehalten. Seit
einem Jahre zeitweise Anschwellung beider Beine, auch der linken Hand.
5. 2. 95. Sehr cachektisches Aussehen. Starke allgemeine Abmagerung.
456
Dr. Sohachardt,
Beine ödematös gesell wollon. Bauch schlaff. Id der Kegio epi- und bypo-
gaslrica sin. ein grosser beweglicher Tumor fühlbar. Der aasgeheberte Magen*
saft enthält keine freie Salzsäure. Körpergewicht 118 Pfund. Urin eiweissfrei.
Bei der am 8. 2. 95. ausgeführten Operation ergab sich die Notb wendigkeit,
fast den ganzen Magen, sowie einen Theil des Duodenum und Theile des
krebsig infiltrirlen grossen und kleinen Netzes zu entfernen. Von der Cardia
blieb etwa noch ein Zwickei von 2—3 IJuerlingeru bis zum Oesophagus übrig,
der übrigens ohne besondere Mühe, wenn es erforderlich gewesen wSie, auch
Fig. A.
noch hätte entfernt werden können. Auch die Vereinigung der beiden so weit
auseinanderliegcndon Schnittflächen des Duodenum und der Cardia bot in
Folge der ausserordentlichen Lockerheit der Magen befest igung gar keine be-
sonderen Schwierigkeiten und war um so leichter, als die beiden Querschnitte
der Cardia und des Oesophagus sich einander fast rollsländig entsprachen
und nur ein ganz kleiner Zwickel gebildet zu werden brauchte.
Aus dem Präparate (Fig. A) ist ersichtlich, welch' grosser Umfang der
ßesection hier gegeben wurde. Der Magen ist im Ganzen von noimalei Grösse,
Uober Begeneration des Magens n&ch totaler [UseoUoD.
457
die vordere Hagsn wand lismlioh iolaot, abgesehen von miliaren Krebs-
Itnotsn auf der Serosa in der Pars pylorioa. Die Geschwulst geht im Wesenl-
lieben von der hinteren Uagenwand aus und bildet hier einen nur unbedeutend
uloerirten knolligen, weit über raustgrossen, länglich runden, breitbasrg ent-
springenden Tumor, der von der Cardia bis über die Pylorusgegend sich er-
streckt. Das grosse und kleine Netz sind stark geschrumpft und krebsig in-
filtrirl. Auch das parietale Bauchfell zeigt mehrfach kleine, offenbar
krebsige Knötchenbildungen von dem Aussehen der Knökhcn auf der
Magenserosa. Mikroskopisch /eigio die (ieschwnist das Bild einer Adeno-
carcinoma cylindro-cellulare.
Aehnlich wie die Operation verlief auch die Heconvalescen^ dos
Kranken ungewöhnlich glatt. In der Bauchwunde bildete sich eine kleine
Fistel, die sich bald wieder schloss. Am 23. 3. konnte der Kranke mit einem
Körpergewicht von IIT Pfund entlassen werden, bei ausgezeichnetem Wohl-
befinden. Die Oedeme der Beine sind grössteniheils verschwunden. Patient
ist völlig schmerzfrei und hat eine frischere Gesichtsfarbe bekommen.
458 Dr. Schuchardt, (Jeher Regeneration desMagens nach totaler Resection.
In der nun folgenden Zeit hielt sich der Kranke auf einem' Gewicht von
122 Pfund und fühlte sich so wohl und leistungsfähig, dass er seinen schweren
Beruf als wachthabender Steuerbeamter mit einem Tages- und Nachtdienste
von 8 Stunden wieder volle 2 Jahre versehen konnte. Nur ab und zu
wurde er durch sein altes rheumatisches Leiden gequält und musste deshalb
vorübergehend den Dienst auf kurze Zeit aussetzen. Was seine Magen -
functionen in dieser Zeit anbetraf, so konnte er in der ersten Zeit nach der
Operation nur sehr kleine Mengen Speise auf einmal zu sich nehmen, allmälig
vergrösserte sich aber die Capacität seines Magens, so dass er schon
nach einem Jahre an allen Mahlzeiten in seiner Familie wie ein Gesunder
theilnahm. Eine Prüfung des ausgeheberten Mageninhaltes am 9. 4. 95 ergab
keine freie Salzsäure, aber viel Milchsäure. Zu weiteren Prüfungen war der
Kranke leider nicht zu bewegen, da ihm das Aushebern zu grosse Unbequem-
lichkeiten verursachte.
Im Sommer 1897 fing der bis dahin ganz rüstige Kranke unter Lungen-
erschein hngen an zu kränkeln, während sein Magen bis zu seinem Tode
vollkoipmen normal functionirte. Es bildete sich ein pleuritisches Ex-
sudat, welches von dem behandelnden Arzte punctirt wurde, sich aber bald
wieder einstellte und Ende October den Tod herbeiführte.
Die im Hause des Kranken von einem meiner Assistenzärzte vorge-
nommene Section ergab auffallender Weise im Bauchfell nichts von den Krebs-
knötchen, die wir bei der Operation wahrgenommen hatten, so dass man eine
spontane Rückbildung derselben nicht von der Hand weisen kann. Auch
von Ascites war keine Spur vorhanden. In den Longen fanden sich eine
spärliche Anzahl hanfkornftrosser weisslicher Knötchen, die sich bei mikro-
skopischer Untersuchung als krebsig erwiesen. Eine deutliche Carcinose
der Pleura lag nicht vor, ebenso wenig wie Metastasen in anderen Organen.
Das Skelet hatte nicht untersucht werden können. Das Hauptinteresse con-
ccntrirte sich natürlich auf den neugebildetcn Magen, dessen Präparat ich
Ihnen vorlege (Fig. B). Die Grösse des neu gebildeten Blindsackes erreicht
fast diejenige des exstirpirten Organs ; seine Capacität betrug 500 g.
An seiner unteren Seite, der grossen Curvatur entsprechend, setzt sich ein
sehr stark verdünnter und auseinander gezogener Rest des grossen Netzes an,
in welchen nur 3 stärkere Gefässe hineinziehen. Der duodenale Abschnitt des
Magens ist frei von Netz. Die Magen wand selbst ist hochgradig verdünnt und
beträgt kaum Yg von der normalen Stärke. Die Operationsnarbe am duodenalen
Theile kann man nur mit Mühe erkennen, doch zeigt sich unzweifelhaft, dass
ein ziemlich beträchtlicher Abschnitt des Duodenum durch all-
mäligc Ausdehnung an der Bildung des neuen Magenblindsackes theilgenommen
hat. Dieser Theil hat etwa eine Längenausdehnung von 5—6 cm, also über
Y3 des ganzen neugebildeten Magens. Von einem Recidiv des Krebses am
Magen ist nichts zu bemerken.
XXII.
Die neueren Magenoperationen in der
C z er ny 'sehen Klinik und die bisherigen
Dauererfolge. ')
Von
t^tobsarzt Dr. Dteiidel.
Coraraandiri zur Heidelberger cklrurgischea Klioik.
(Mit 3 Figuren.)
. M. H. ! 2) Die folgende Tabelle zeigt Ihnen die Gesammtzahl der
Magenoperationen an der Czerny'snhen Klinik bis Ende des Jahres
1897, ausgenommen die Gastrostomien. Insgesammt sind es
192 Operationen mit 29 pOt. Mortalität. Die Zahl der Opera-
tionen hat sich mit den Jahren so gesteigert, dass auf die 9 ersten
Jahre 1881 — 89 ungefiihr ebenso viel Operationen fallen, wie auf
die folgenden 4 Jahre, oder wie auf eines der beiden letzten Jahre
1896und97. Sie sehen auf derTabelle unten dieMortalität der einzelnen
Operationen, welche nach der Zahl der in den ersten 30 Tagen
nach der Operationen Gestorbenen Iberechnet ist. Der Zeit nach
ist die Mortalität von anfänglich 45 pCt. auf 16 pCt. im Jahre
1897 gefallen, in den Jahren 1895 und 96 ist die Mortalität wegen
zahlreicher Pneumonien eine höhere. Die Anzahl der Operationen
hat bei der Gastroenterostomie bei weitem am meisten zugenommen.
Die Zahl der Pylorectomien ist relativ kleiner geworden, weil die
*) Vorgetragen am 2. Sitzungstage des XXVII. Congresses der Deutschen
Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 14. April 1898.
2) Eine ausführliche Mittheiluug wird in Bruus, Beitrüge zur klinischen
Chirurgie, erscheinen.
460
Dr. Steudei,
Magenoperationen an der Czeniy^s«heii Klinik.
(Ausgenommen Gastrostomie.)
Jahre
B
S
o
o
Gastroentero-
stomie
Pyloro-
plastik
Probe-
laparotomie
Andere
Magen-
operationen
B
B
s
■4«
1
o
1881-89
13 (5)
14(9)
11 (2)
4(2)
42 (19)
45 pCt
1890—93
7 (3)
17 (2)
3
5(1)
2
34(6)
18 .
1894—95
2
23 (8)
7 (l)
8 (2)
4(1)
44 (12)
27 ,
1896
4(2)
28 (10)
l
2
35 (12)
34 ,
1897
3 (1)
28 (4)
—
4 (1)
2
37 (6)
16 »
1881 97
29(11)
HO (33)
11 (1) 30 (6)
12 (3)
192 (55)
29 ,
Mortalität
38 pCt.
30 pCt.
9pCt.
20 pCt.
25 pCt.
29 pCt.
gutartigen Stenosen, welche im Anfang der Pylorectomie verfallen
waren, an die Gastroenterostomie übergegangen sind. Die Pyloro-
plastik wurde seit Anfang 1896 nicht mehr ausgeführt und auch
die Zahl der Probelaparotomien hat abgenommen, weil besonders
durch die Einführung des Murphyknopfes an der Heidelberger Klinik
die Indicationen für Gastroenterostomie wesentlich erweitert werden
konnten.
Die letzte zusammenfassende Hittheilung aus der Heidelberger
Klinik ist im Frühjahr 1895 erfolgt, etwa die Hälfte aller in obiger
Tabelle aufgeführten Fälle ist noch nicht veröffentlicht. Auf diesen
letzten Zeitraum fallen 8 Pylorectomicn mit 3 Todesfällen. 4 mal
mit 1 Todesfall wurde typisch nach Kocher operirt und 4mal
wurde die Pylorectomie verbunden mit einer Gastroenterostomie mit
Murphyknopf, davon 3mal mit einer hinteren, Imal mit vorderer
Gastroenterostomie. Ein einheitliches Verfahren hat sich an der
Czcrny^ sehen Klinik noch nicht ausgebildet, technisch am leich-
testen und raschesten ausführbar erscheint die Gastroenterostomie
mit nachfolgender Pylorectomie und Vernähung der resecirten Enden.
Das Kocher'sche Verfahren ist deshalb schwieriger, weil man
öfters die Einpflamsung des Duodenums in der Tiefe der Bauch-
höhle vornehmen miiss, jedoch stellt es der Norm mehr entspre^
Die neueren Magen Operationen in der Czerny 'sehen Klinik etc. 461
chende anatomische Verhältnisse her und deshalb scheint die Re-
convalescenz glatter und leichter zu sein.
Geheimrath Czerny versuchte in den letzten Jahren bei Kran«
ken, deren Pyloruscarcinom technisch noch exstirpabel war, deren
Allgemeinbefinden aber eine Contraindication gegen die Pylorectomic
bildete, zweizeitig zu operiren, zuerst die Gastroenterostomie zu
machen und einige Wochen später die Pylorectomie. 3 solche
Fälle haben zu einem negativen Resultate geführt. Die Schwierig-
keit liegt haupsächlich darin, dass die Kranken, wenn sie sich von
der ersten Operation erholt haben und geheilt glauben, sich nicht
oder erst zu spät zu einer zweiten Operation entschliesson können.
Da auch von anderer Seite, so von Kümmel, ähnliche Erfahrungen
gemacht wurden, durfte dieses Verfahren für die Zukunft nicht viel
Aussicht bieten.
Bezüglich der Dauerresultate der Pylorectomie führe ich an,
dass der älteste Carcinomfall 7 Jahre, der nächste 372 Jahre nach
der Operation noch am Leben ist, ein Fall von Pylorectomie wegen
gutartiger Stenose lebt 15 Jahre nach der Operation und ein Fall
von keilförmiger Excision eines Sarcoms ist nahezu 8 Jahre
geheilt.
Von den 1 1 Pyloroplastiken müssen zur Beurtheilung des End-
resultates der Todesfall und 1 Fall, der sich später als Carcinom
entpuppte, ausscheiden. Von den übrigen 9 Fällen sind nur die-
jenigen zwei als gut zu bezeichnen, bei welchen zugleich das Grund-
leiden in Angriff genommen werden konnte, das eineraal Gallen-
steine, welche das Duodenum stenosirten, das anderemal eine Ad-
häsion mit der Leber, welche eine Knickung des Magens bewirkte.
Weitere 2 Kranke erfreuen sich bei Diät und vorsichtiger Lebens-
weise einer leidlichen Gesundheit. Eine Frau ist gelegentlich ihres
Magenleidens in Morphinismus verfallen, ein Mann mussle wegen
Recidiv 2 Jahre nach der Pyloroplastik gastroenterostomirt werden
und ein anderer hat sich wegen seines wieder unerträglichen Zu-
standes in den letzten Tagen dazu bereit erklärt. Die letzten
2 Fälle sind gestorben, einer 7 Monate nach der Operation an Per-
foration eines duodenalen Ulcus und der andere 20 Monate nach
der Operation, nachdem schon 3 Monate nachher sein Leiden wieder
aufgetreten war. Angesichts dieser schlechten Dauerresultate wurde
1
462 Dr. Steudol,
in der Czerny' sehen Klinik seit Anfang 1896 keine Pyloro-
plastik mehr ausgeführt, an ihre Stelle ist die Gastroenterostomie
getreten.
Bei der Ga,stroenterostomie hat sich in der Heidelberger Klinik
der Murphyknopf immer mehr bewährt, so dass seit Juni 96 die
Naht überhaupt nicht mehr zur Anwendung kam. 53 Gastroente-
rostomien mit Murphyknopf ergaben eine Mortalität von 24,5 pCt.,
57 mit Naht eine solche von 36,8 pCt. Bei den 25 Gastroentero-
stomien des letzten Jahres ist die Sterblichkeit auf 14 pGt. ge-
sunken. Die Hauptvortheilo sind die Abkürzung der Operation auf
etwa 20 Minuten und die feste Vereinigung, welche eine Ernährung
durch den Magen schon in den ersten Tagen gestattet. Todesfälle
oder nennenswerthe Störungen in Folge des Knopfes wurden nie
beobachtet; einmal wurde der Murphyknopf bei der Sectiön im
rückführonden Schenkel des Jejunum gefunden, ohne dass er im
Leben Erscheinungen gemacht hätte, im Magen fand er sich nie.
In der grösseren Hälfte der Fälle wurde der Abgang des Knopfes
auf natürlichem Wege festgestellt. Regurgitation wurde sehr selten
beobachtet, unter den letzten 65 Gastroenterostomien findet sich
nur ein reiner Fall, bei dem mit Glück die Enteroanastomose ge-
macht wurde, ein anderer ist zu Grunde gegangen, bei dem es
zweifelhaft ist, ob Blutung aus dem Carcinom, oder Regurgitation
mit Kotherbrecheu die Todesursache war. Der erstere Fall ist
nachWölfler operirt, während sonst immer, wenn es die Verhält-
nisse erlaubten, die von Hacker' sehe Gastroenterostomie vorge-
zogen wunlc. Vielleicht ist das seltene Vorkommen von Regurgi-
tation ausser dieser Operationsmethode dem Murphyknopf zu ver-
danken, welcher wenigstens in den ersten Tagen die Spornbildung
unm(')glich macht.
Bei frischem Tlcus ventriculi wurde 2 mal die Gastroentero-
stomie gemacht, einmal wegen sich häufender Magenblutungon und
einmal wegen unstillbaren Erbrechens; in dem letzteren Falle wurde
zugleich (Mne Leberadhäsion gelöst und das sehr grosse Ulcus zum
Theil excidirt. Beide Fälle zeigten eine auffallend rasche Heilung
und vollständige Herstellung der Arbeitsfähigkeit. In einem an-
deren Falle von Maiienblutuniren wurde Gastroenterostomie und
später, um das vermuthete Ulcus zu suchen, noch eine Gastrotomie
Die neueren Magenoperationen in der Czerny^schen Klinik otc. 463
ausgeführt; nach jeder Operation sistirte das Blutbrechen etwa
einen Monat. Nach dem Verlaufe der Krankheit könnte es sich
um parenchymatöse Magenblutungen gehandelt haben; vielleicht
wird man in Zukunft solche Fälle noch häufiger finden.
Auffallend ist die lange Lebensdauer einzelner Fälle, bei denen
sich die klinische Diagnose „Carcinom" bei der Operation anschei-
nend bestätigt hat. 4 solche Kranke, bei welchen der Tumor
wegen Verwachsung mit dem Pankreas, oder wegen Drüstcnmeta-
stasen inoperabel schien, leben noch jetzt in bester Gesundheit
2'/2, 4, 5 und ö'/a Jahre nach der Operation. Da auch sonst
solche Fälle in der Literatur beschrieben sind und einer davon
von Ahlsfeld nach S'/s Jahren durch die Autopsie Bestätigung
fand, wird man kaum mehr daran zweifeln können, da,ss einzelne
Fälle von Carcinom, ähnlich wie die Peritonealtuberculose, nach
Laparotomie im Wachsthum stillstehen, oder sogar regressive Ver-
änderungen erleiden. Es ist dies ein Punkt, der unser volles Inter-
esse verdient; seine Erforschung könnte vielleicht dadurch gefördert
werden, dass bei Probelaparotomien oder Gastroenterostomien ein
Stückchen des Tumors, oder eine Metastase zur mikroskopischen
Untersuchung excidirt wird. Die durchschnittliche Lebendauer der
Carcinomkranken nach überstandencr Gastroenterostomie beträgt
8, oder bei Mitrechnung obiger Fälle 13 Monate.
Das Endresultat der Gastroenterostomie bei gutartigen Stenosen
ist bei der überwiegenden Mehrheit: vollständige Befreiung von den
Beschwerden und Wiederherstellung der Arbcitsfiihigkeit. Doch
haben bei 2 Fällen nach 3jähriger Gesundheit wieder Magen-
beschwerden begonnen. Bei der Nachuntersuchung der gut ge-
heilten Fälle fand sich durchweg rasche Entleerung nach der Malil-
zeit und Herabsetzung der Salzsäuremenge und der Gesammt-
acidität. Bei der Ausspülung wurde häufig Galle mit ausgehebert.
Die Magendilatation war in der Regel nicht ganz zurückgegangen.
Die raschere Entleerung des Magens und die Herabsetzung der
Acidität geben für die Heilung des Ulcus ventriculi sehr günstige
Bedingungen, so dass die Gastroenterostomie bessere Dauererfolge
zu geben scheint, als die Excision des Ulcus.
Schliesslich möchte ich noch 1 Fall von Entero|)lastik und
2 Fälle von Gastroenteroplastik anführen, welche Geheimrath
464 Dr. Steudel, Die neueren Magenoperationenind.Czcrny 'sehen Klinik etc.
Czerny in letzter Zeit ausgeführt hat, um eine Spornbildung zu
heilen, beziehungsweise die Magenöffnung des abführenden Jejunum-*
schenkeis zu erweitern. Sie sehen an der Abbildung rechts den
Längsschnitt an der Darmwand für die Enteroplastik , er wird
Gastroenteroplastik
nach Czerny.
Enteroplastik nach Czerny.
analog der Pyroplastik quer vereinigt. Die Gastroenteroplastik
wurde an demselben Kranken später ausgeführt, da die erste Opera*
tion keinen Erfolg hatte und noch bei einem anderen, bei welchem
offenbar der andrängende Rand des Mesocolonschlitzcs zur Vor*
engerung der abführenden Schlinge Veranlassung gegeben hatte.
Soweit die Kürze der Zeit dies bcurtheilen lässt, ist das Resultat
in beiden Fällen gut.
XXIII.
Eine neue Methode der Pylorus- und Darm
ßesection/)
Von
Dr. Doyen
in Paris.
M. H., ich möchte mir erlauben, Ihnen meine neue Methode
der Darm-Resection, der Pylorus-Resection und der Gastroentero-
stomie hier kurz zu schildern. Dieselbe hat vor den bisherigen
Methoden einen doppelten Vorzug:
1) Vollkommenste Asepsis des Operationsfeldes ohne die ge-
ringste Gefahr der Infection durch Darminhalt,
2) Bedeutende Abkürzung der Operationsdauer.
Das Verfahren selbst gestaltet sich folgendermassen:
I. Pylorectomle.
Die typische Pylorusresection führe ich seit 1892 nicht mehr
aus, sondern ziehe in allen Fällen, in denen die Pylorusresection
indicirt ist, den gesonderten Verschluss des Duodenum und des
Magens mit nachfolgender Gastroenterostomie vor. — Dieses Ver-
fahren, welches Billroth ausnahmsweise nur für Fälle von weit
vorgeschrittenem Pylorus-Carcinom angewandt hat, scheint mir
ausserordentlich werthvoll in den Fällen von begrenztem Carcinom,
weil es dessen Exstirpation in denkbar weitester Ausdehnung ge-
stattet.
1) Vorgetragen am 2. Sitzungstage des XXVII. Congresses der Deutschen
Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 14. ApriL 1898.
466 Dr. Doyen,
Allerdings hat man diesem Verfahren mit Recht den Vorwurf
einer sehr langdauernden eingreifenden Operation gemacht.
Diesen Uebelstand habe ich durch meine Modification beseitigt
und jetzt stellt die ganze Pylorusresection nur eine kleine Erweite-
rung der Gastroenterostomie dar.
Mein Verfahren beruht auf der Anwendung meiner Hebelpince,
die ich in Moscau zuerst demonstrirt habe.
Ursprünglich construirt zur Compression der Gefässe des Liga-
mentum latum, hat sie sich als ein ausgezeichnetes Hilfsmittel in
der gastro-intestinalen Chirurgie bewährt.
Zunächst wird der Tumor mit den Fingern stumpf vom Netz
losgelöst und, wenn nöthig, Blutung aus kleinen Arterien gestillt,
dann lege ich meine Hebelpince in möglichst weiter Entfernung
von den Tumorgrenzen am Duodenum an, zerquetsche die Darm-
wand langsam und vorsichtig, ohne sie vollständig zu durchtrennen;
die Darmserosa bleibt dabei intact. In die durch die Pince ent-
standene Compressionsfurche lege ich dann um das ganze Darm-
rohr eine starke Seidenligatur. — Eine gewöhnliche Klemme liegt
auf der Seite des Tumors etwa 15 mm von der Ligatur entfernt
am Pylorus. Dann wird das Duodenum auf einer Compresse völhg
durchtrennt.
Kleinere Schleimhautreste werden mit der Scheere abgetragen
und der Stumpf mit dem Paquelin kauterisirt. Eine Tabaksbeutel-
naht mit Seide überkleidet die Ligatur und verschliesst gleichzeitig
das Duodenum. Zur besseren Sicherheit lege ich über dieser ersten
noch eine zweite Tabaksbeutelnahl an.
Das Magenende ist in eine sterilisirte Compresse gehüllt, nach
links gelegt. Jetzt werden 2 starke Klemmzangen unmittelbar hinter
dem Tumor und zwei elastische Magenklemmen in einer Entfernung
von 25 — 30 mm an die intactc Magenwand angelegt. Dann wird
mit meiner Hebelpince die Magenwand zwischen den Pincen von
oben und von unten her zerquetscht, indem man darauf Bedacht
nimmt, bei sehr stark hypertrophischer Muscularis die Pince nicht
vollständig zu schliessen, um nicht die an der Muscularis adhärente
Serosa zu zerreissen. Ein starker Seidenfaden wird als Massen-
ligatur in die entstandene Druckfurche gelegt und allmählich zu-
sammengezogen, indem gleichzeitig die 4 angelegten Klemmen wieder
abgenommen werden, um einen sicheren Schluss der Ligaturen zu
Eine neue Methode der Pylorus- und Darm-Resection. 467
ermöglichen. Eine solche Ligatur ist selbst möglich bei einer Breite
des Magens von 12 — 15 cm. Dann werden wieder 2 starke Klemra-
zangen neben dem Tumor angelegt um Austritt von Mageninhalt zu
vermeiden, und der Magen 10 mm von der Ligatur entfenit durch-
schnitten. Der Stumpf wird kauterisirt und der Magen durch
2 Serosa-Tabaksbeutelnähte geschlossen.
Die Blutstillung der Coronargefässe ist gesichert durch die
Massenligatur.
Nunmehr bleibt nur noch eine hintere Gastroenterostomie übrig,
die absolut aseptisch ausgeführt werden kann, Dank meiner ela-
stischen Pincen.
Die Gastroenterostomie gestaltet sich folgendermaasscn:
1. Hintere Nähte erste Etage.
2. Hintere Nähte zweite Etage.
3. Anlegen der Pincen an Magen und Darm.
4. Incision des Magens und des Darmes, entweder nach
Zerquetschung oder mit Thermokauter.
5. Ringnaht um die Magendarmöffnung.
6. Anlegen der vorderen Naht.
Der obere Schlitz im Mesocolon wird an die Magenwand genäht
und dann mache ich noch eine Enteroanastomose für den directen
Abfluss der Galle.
Die ganze Operation: Isolation und Resection des Pylorus,
Verschluss des Duodenum und des Magens, Gastroenterostomie und
Enteroanastomose dauert 55 Minuten bis IV4 Stunde.
Fällt die Enteroanastomose fort, so wird natürlich die Operations-
dauer abgekürzt. Die eigentliche Gastroenterostomie dauert 12 bis
15 Minuten.
II. Gastroenterostomie ohne Pylorus-Besection.
Die hintere Y- förmige Gastroenterostomie, wobei das obere
Ende des Jejunums die Verlängerung des Ductus choledochus bildet,
ist von allen Verfahren dasjenige, welches in Bezug auf Funktion
des neuen Pylorus die besten Resultate ergiebt. —
Ich hatte indessen Bedenken, die doppelte Anastomose nach
Roux auszuführen, welche mit Rücksicht auf die Infection der tiefen
Nähte dieselben Gefahren hat, wie die typische Pylorectomie.
Diesem üebelstand hilft nun meine Hebelpince ab. —
ArcbiT für klin. Chirurgie. 57. Bd. Kofi 2. 3|
468 Dr. Doyen,
Ich führe 25 — 30 cm unterhalb des Lig. Treitz eine hintere
Gastroenterostomie in der Längsrichtung aus, dann lege ich zwischen
den zwei Jejunalschlingcn eine Enteroanastomose an, sodass keine
nachträgliche Verzerrung stattfinden kann.
Dann zerquetsche ich die aufsteigende Jejunalschlinge zwischen
den beiden Anastomosen mit meiner Hebelpince, lege eine Massen-
ligatur an, zerquetsche nochmals etwas weiter oben, lege eine zweite
Massenligatur an, und durchtrenne den Darm zwischen den beiden
Seidenligaturen. Mittelst 2 Seiden-Tabaksbeutelsnähten werden die
beiden Stümpfe überkleidet.
Dieses Operationsverfahren giebt sehr befriedigende Resultate
und sichert die Heilung auch veralteter Fälle von Magengeschwür
und Gastritis mit Hyperacidität.
Ich habe im ganzen 148 Laparotomieen wegen MagenaflFectionen
gemacht, davon sind 32 Pat. gestorben. 66 Fälle betrafeli Carci-
nome, wovon einige vollkommen inoperabel waren; im ganzen sind
von den Carcinomfällen 20 gestorben. 82 mal habe ich wegen
nicht krebsiger Erkrankung operirt (wegen Ulcus, schwerer Dyspepsie
und gutartiger Stenose) und habe 12 Kranke verloren. Von den
letzten 57 Operationen habe ich nur noch 5 Todesfälle zu ver-
zeichnen.
III. Darm-Besectionen.
Zunächst gehe ich mit dem Finger oberhalb und unterhalb des
Tumors durch das Mesenterium; dann mri der Darm an beiden
Stellen zerquetscht und abgebunden. Oberhalb und unterhalb des
Neoplasmas verschliesse ich den Darm mit einer Pince und durch-
trenne ihn auf beiden Seiten zwischen Ligatur und Klemme. Das
Mesenterium wird ebenfalls, wenn nöthig, in der Hebelpince com-
primirt nnd partieenweise oder en masse abgebunden. Es bleibt
dann noch die Vereinigung der beiden Darmenden übrig.
Man kann diese Vereinigung nach 3 Methoden vornehmen:
1. Seitliche Anastomose nach Verschluss der beiden Darmenden
mit Tabaksbeutelnaht.
2. Verschluss des abführenden Endes und Implantation des zu-
führenden Endes nach Art des Coecum.
3. Circulärnaht. Dabei vernähe ich von hinten anfangend die
beiden verschlossenen Darmenden in y^ der Circumferenz mit
Eine neue Methode der Pylorus- und Darm-Resection. 469
2 Nahtreihen, einer durchgreifenden und einer sero-serösen. Das
Darmlumen wird hinter den Ligaturen abgeklemmt; die Massen-
Jigaturen werden herausgezogen und aufgeschnitten, so' dass die
freie Comraunication wiederhergestellt ist. Dann wird die Naht
beendigt. — Bei der Coecuranaht habe ich nur eine Massenligatur
aufzuschneiden, den unteren Darmtheil zu incidiren und die vordere
Naht zu beendigen.
IV. Dasselbe Verfahren mittelst Zerquetschung und Ligatur
gestattet auch die Exstirpation und Resection des Rectum nach
Kraskc aseptisch auszuführen.
V. Die Resection des Processus vermiformis lässt sich nach
derselben Methode ausführen. Es genügt eine starke gewöhnliche
Klemmzange zur Zerquetschung der Mucosa des Processus vermi-
formis. Dann wird eine Massen-Ligatur* um den Processus vermi-
formis gelegt, derselbe resecirt und kauterisirt und der Stumpf
mit Tabaksbeutelnaht überkleidet.
VL Der Ductus cysticus wird vortheilhaft ebenfalls nach dieser
Methode behandelt, wenn man die Exstirpation der Gallenblase
gemacht hat.
Selbst der Oesophagus könnte auf diese Weise resecirt und
die Enden wieder vereinigt werden, wenn die Strictur keine ausge-
dehnte ist.
81
XXIV.
Beitrag zur Anwendung des Murphy
Knopfes/)
Von
llr« ülorp
in Königsberg.
M. H.! Die Vortheile und Nachtheile bei der Anwendung
des Murphy-Knopfes zum Zwecke der Dann-Vereinigung sind be-
reits mehrmals Gegenstand der Erörterung au dieser Stelle ge-
wesen. Ich erinnere nur an die ausführlichen Mittheilungen,
welche Herr Geh.-Rath Czerny und Herr Küramell über diesen
Gegenstand hier vor 2 Jahren gemacht haben.
Im Allgemeinen sind die Erfahrungen bezüglich der An-
wendung des Murphy-Knopfes wohl günstiger Natur, wie dies ja
auch heute noch durch die Mittheilungen von Herrn Geh.-Rath
Mikulicz und Herrn Steudel auPs Neue bestätigt worden ist,
wenngleich es andererseits nicht geleugnet werden kann, dass
das Einbringen eines nicht resorhirbaren metallischen Fremdkörpers
von dieser Grösse und S(ihwere in den Danntractus immerhin eine
Reihe von Gefahren bedingt, welche vor allen Dingen in der aus
verschiedenen Gründen verhinderten oder erschwerten, späteren
Passage des Knopfes durch den Darmtractus gegeben sind. Dies
ist ja auch der Grund für die in der letzten Zeit mehrfach zu
Tage getretenen Versuche, einen zweckmässigen, resorhirbaren Er-
satz für den Murphy-Knopf zu finden.
Im Nachfolgenden möchte ich mir erlauben, Ihnen über einen
Fall zu berichten, welcher, wie ich glaube, für die Anwendung des
Murphy-Knopfes eine gewisse principielle Bedeutung hat.
*) Abgekürzt vorgetragen am 2. Sitzungstage des XXVII. Congresses der
Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 14. April 1898.
Beitrag zur Anweodung des Murphy-Knopfes. 471
Es handelte sich um einen 54jährigen Mann, welcher seit mehreren Jahren
vielfach an Magen-Darmbeschwerden, besonders an hartnäckiger Obstipation
gelitten hatte. Im letzten halben Jahre soll die Obstipation noch erheblich zu-
genommen, gleichzeitig des Allgemeinbefinden sich verschlechtert und das
Körpergewicht abgenommen haben. Am 24. XII. 97 erkrankte er nach einer
reichlichen Mahlzeit ganz plötzlich unter heftigen, nach dem Nabel hin aus-
strahlenden Schmerzen in der rechten Seite. Stuhl und Winde waren an-
gehalten. Nach reichlichen Abführmitteln und wiederholt applicirten Olysmen
kam es nach mehrmaliger Stuhlentleerung zu einer vorübergehenden Besserung.
Als ich den Fat. vier Tage danach zum ersten Mal sah, klagte er wieder über
anfallsweise auftretende Schmerzen im Leibe, besonders rechts vom Nabel.
Die Untersuchung des blassen, schlecht genährten Mannes ergab eine massige
Auftreibung des Leibes besonders auf der rechten Seite, hier fühlte man deutlich
das wurstförmig geblähte Colon ascendens in seiner ganzen Ausdehnung bis
in die Gegend der Flexura coli hepatica. Das Colon transversum war nicht
palpabel, dagegen fiihlte man in der rechten Unterbauchgegend einzelne, ge-
blähte Dünndarm-Schlingen besonders dann deutlich, wenn spontan oder in
Folge des durch die Palpation gesetzten Reizes vermehrte Peristaltik einsetzte.
Es wurde danach die Diagnose auf Darmverengung durch einen Darm-
tumor wahrscheinlich Carcinom in der Gegend der Flexura coli hepatica gestellt.
Pat. verweigerte zunächst die vorgeschlagene operative Behandlung und ver-
schaffte sich durch Drastica und Clysmen mühsam etwas Stuhlentleerung und
subjective Erleichterung.
Erst am 16. I. 98, als seit 3 Tagen aller Medikationen ungeachtet weder
Stuhl noch Winde abgegangen waren und demgemäss Spannung und Auf-
treibung des Abdomen erheblich zugenommen hatten und es bereits zu Koth-
brechen gekommen war, entschloss Pat. sich endlich zur Operation. Dieselbe
wurde am 17. I. vorgenommen: Nach vorheriger Magenausspülung wurde in
Narcose mit B i 11 roth' scher Mischung das Abdomen in der Linea alba durch
einen 15 cm langen Schnitt eröffnet. Nachdem die stark aufgetriebenen Dünn-
darmschlingen zur Seite geschoben, zeigte sich das Colon transversum im oberen
Wundwinkel ganz leer und koUabirt. Die längs desselben eingeführte Hand
gelangte an der ünterfläche der Leber, etwa der Gegend der Porta hepatis ent-
sprechend, an einen Mannsfaustgrossen harten, höckerigen Tumor: derselbe
umgriff circulär den Anfangstheil des Colon transversum und war durch eine
breite ca. 6 cm lange strangförmige Adhäsion rechts neben der Wirbelsäule
fixirt, so dass er sich absolut nicht vorziehen und zu Gesicht bringen liess.
Da keine Metastasen oder ausgedehnte Verwachsungen mit den Nachbarorganen
nachzuweisen waren, so erschien eine Exstirpation des Tumor noch ausführbar,
doch war bei dem elenden Allgemeinzustande zur Zeit an eine derartige ein-
greifende Operation nicht zu denken und so entschloss ich mich daher zunächst
zur Anlogung einer lateralen Anastomose zwischen Colon transversum und
unterem Ileum und zwar mit Rücksicht auf die wünschenswerthe schnelle Be-
endigung der Operation mittelst eines Murphy-Knopfes. Zu diesem Zweck
wurde die unterste lleum-Schlingo vorgezogen und etwa 25 cm von der Iloo-
472 Dr. Storp,
coecal-Klappe entfernt ohne Spannung und mit gleich gerichteter Peristaltik
durch einen Knopf grössten Kalibers mit dem Colon transversum in gewöhn-
licher Weise vereinigt und dann noch eine fortlaufende die Serosa in weiterer
Ausdehnung fassende Naht angelegt. Schluss der Bauchwände durch Etagen-
Nähte. Der Erfolg der Operation war zunächst ein recht günstiger. Schon am
nächsten Tage erfolgten mehrere copiöse Stuhlentleerungen und es besserte
sich der Allgemeinzustand dann relativ rasch.
Am 12. Tage nach der Operation begann der Kranke jedooh wieder über
zeitweise auftretende, colikartige Schmerzen in der rechten Unterbauchgegend
der Lage des Colon ascendens entsprechend zu klagen, ohne dass im üebrigen
Appetit und Stuhl irgend welche Störungen zeigten. Als nach 3 Wochen der
Knopf noch nicht abgegangen war, nahm ich eine Durchleuchtung mit Röntgen-
strahlen vor und constatirte zu meiner grossen Ueberraschung den Knopf im
Colon ascendens vor der Stenose resp. dem Tumor liegend. Derselbe war also
anstatt dem Kothstrom folgend in den Dickdarm zu fallen, im distalen Ileum
weiter abwärts geglitten, hatte dieValvulaBauhini passirt und sass jetzt zwischen
dieser und stenosirendem Tumor gefangen im Colon ascendens. Eine Ent-
leerung desselben per vias naturales war damit also völlig ausgeschlossen.
Da, wie schon erwähnt, eine radicale Exstirpation des Tumor noch ausführbar
erschien und der Allgemeinzustand sich erheblich gebessert hatte, so wurde
26 Tage nach der ersten Operation ein zweiter Eingriff vorgenommen: Nach
den üblichen Vorbereitungen wurde die Bauchhöhle durch einen 18 cm langen
Schnitt eröffnet, welcher vom Aussenrande des rechten M. rectus beginnend,
2 Fingerbreit unterhalb des Kippenbogen diesem parallel schräg nach unten
aussen verlief. Nachdem die Dünndärme nach Durchtrennung mehrerer lockerer
Verwachsungen mit einer Mull-Compresse nach unten geschoben und der vordere
Leberrand in die Höhe geklappt war, lag in der Tiefe rechts neben der Wirbel-
säule der schon beschriebene Darmtumor frei durch mehrfache narbige Stränge
und Adhäsionen mit der hinteren Bauchwand beziehungsweise Pancreas und
Duodenum fixirt. Nach Durchtrennung dieser Adhäsionen wurde zunächst das
Colon transversum 4 cm vom Tumor entfernt querdurchtrennt und das ab-
führende Ende durch Doppelreihige Naht blind geschlossen. Die darauffolgende
Exstirpation des Tumor resp. der Flexura coli hepatica gestaltete sich wegen
der noch vorhandenen narbigen Stränge und Verwachsungen recht schwierig,
gelang indessen doch ohne erheblichen Blutverlust. Da es sich bei der Ope-
ration zeigte, dass das stark geblähte Colon ascendens auffallend kurz — kaum
15 cm lang incl. Coecum — war, so entschloss ich mich, um keinen Blindsack
an dieser Stelle zurückzulassen, dasselbe in toto nebst einem 5 cm langen Stück
des einmündenden Ileum ebenfalls zu exstirpiren. Zu diesem Zwecke wurde
ein zweiter 10 cm langer Hautschnitt vom äusseren Ende des ersten rechtwinklig
nach unten geführt. Die Exstirpation gelang relativ leicht, das zuführende
Ileum wurde ebenfalls blind geschlossen. Schluss der Bauchwunde durch
Etagennähte, bis auf den unteren Wundwinkel, durch welchen ein Jodofonn-
gazetampon eingeführt wurde. Der exstirpirto Tumor erwies sich als ein Cy-
iindcxzellen-Carcinom, welches den Darm circulär in 6 — 9 cm Länge umgriff
Beitrag zur Anwendung des Murphy -Knopfes. 473
und denselben so absolut verschloss, dass sich nicht einmal ein Tropfen Wasser
selbst unter hohen Druck durchpressen liess. Der Murphy-Knopf lag frei be-
weglich in dem im übrigen fast leeren Colon ascendens. Dasselbe war ebenso
wie das Coecum auffallend kurz und stark ausgedehnt, die Wandungen desselben
sehr Terdickt, besonders die Muskulatur stark hypertrophisch. Die Mucosa war
nicht verändert und waren speciell irgend welche Ulcerationen oder sonstige
durch das längere Verweilen des Knopfes bedingte Veränderungen derselben
nicht zu constatiren.
Der Patient hat die zweite Operation nicht überstanden, sondern ist am
4. Tage unter peritonitischen Erscheinungen zu Grunde gegangen.
Die Section ergab eine diffuse eitrige Peritonitis. Die gebildete Anasto-
mose zeigte eine breite, feste Vereinigung der einander anliegenden Serosa-
fläohen ohne sonstige Adhäsionen und Pseudomembranen. Die geschaffene
Communicationsöffnung war fast für 3 Finger durchgängig und zeigte an der
Uebergangs-Stelle vollkommen glatte Ränder, über welche die Mucosa ohne
sichtbare Narbe gleichmässig hinzog. Das distalwärts von der Vereinigungs-
stelle noch restirende Stück des Ileum war 11 cm lang. Die Darmverschluss-
nähte sowohl des Ileum als des Colon transversum waren selbst bei hohem
Druck völlig sufficient.
Die Gelegenheit, resp. Nothwencligkeit, eine Anastomose zwischen
Ileum und Colon transversum anlegen zu müssen, ist öfter gegeben,
sowohl in Folge von Dannverschluss durch l)ösartige inoperabcle
Tumoren, für welche die Flexura coli hepatica eine der Praedi-
lectionsstellen ist, als auch in Folge von gutartigen Stenosen im
Bereich des Colon asc^endens und der Flexura hepatica, bedingt
durch Ulcerationen, Intussusceptionen etc.
Nun ist ja im vorstehend beschriebenen Falle der Exitus
letalis keineswegs der Anwendung des Murphy-Knopfes zur Last
zu legen. Ks ist ^^elmehr anzunehmen, dass ein derartiges ab-
normes Verhalten des Knopfes wohl zu den Ausnahmen zu zählen
ist, und es muss auch zugegeben werden, dass ein derartig ein-
geschlossener Knopf, so lange er wenigstens seine glatte Oberfläche
behält und nicht von Niederschlägen incrustirt wird, keine erheb-
lichen Beschwerden und Gefahren bedingen wird, indessen wird
man doch andererseits in ähnlichen Fällen mit der Möglichkeit
rechnen müssen, dass der Knopf unter Umständen in den falschen
Darmabschnitt hineinfällt — bei Gastroenteroanastomosen ist dies
ja schon des öfteren beobac^htet worden — und dass derselbe
dann dauernd eingeschlossen im Laufe der Zeit ev. zu Ulcerationen
der Darmwandung mit allen ihren Consequenzen führen kann.
474 Dr. Storp, Beitrag zur Anwendung des Murphy -Knopfes.
Ich bin weit davon entfernt, die Anwendung des Murphy-
Knopfes, dessen Vorzüge für die Darmvereinigung ich durchaus
nicht verkenne, damit discreditiren zu wollen, aber ich glaube
doch, dass es in ähnlichen Fällen, wie dem vorstehenden, zweck-
mässiger ist, von der Anwendung des Knopfes abzusehen und die
einfache laterale Anastomose durch die Naht zu machen in der
Weise, wie es zuerst von meinem verehrten früheren Lehrer Herrn
Geh.-Rath Braun angegeben und vielfach mit bestem Erfolg aus-
geführt worden ist.
XXV.
Einiges über die Anwendung der Darm-
knöpfe/)
Von
Professor Dr. Anton H^Slfler
in Prag.
(Mit einer Figur.)
M. H.! Die Frage, welche Vereinigungsmethode der Darm-
ränder die beste sei, steht durch die neuerdings in Anwendung
gekommenen Darmknöpfe wieder im Vordergrund des Interesses
und harrt mehr denn je der Entscheidung. Eine Lösung dieser
Frage dürfte bei dem heutigen Standpunkte überhaupt noch nicht
gelingen, doch erscheint es mir Pflicht jedes Einzelnen, Beiträge
zur Lösung derselben zu liefern, und deshalb sei es auch mir ge-
stattet, auf Grund der Erfahrungen über 40 Fälle, in welchen an
meiner Klinik von mir und meinen Assistenten Darmknöpfe an-
gelegt wurden, einige Bemerkungen zu machen. Man kann mir
vielleicht gleich von vornherein einwenden, dass der Nutzen des
Darmknopfes durch die neuen Arbeiten von Murphy, Hahn etc.
bereits sattsam erwiesen und über allem Zweifel erhaben sei. —
Bezüglich des Nutzens gebe ich dies gerne zu, aber nicht bezüg-
lich des Schadens. Die Unfallstatistik des Murphy knöpf es ist
noch nicht in gleicher Weise und mit gleicher Gründlichkeit durch-
geführt wie die Statistik der Vortheile desselben.
Aber selbst für den Fall, als die Statistik den grossen
Nutzen und den geringen Schaden des Murphyknopfes erwiesen
*) Vorgetragen am 2. Sitzungstage des XXVII. Congresses der Deutschen
Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 14. April 1898.
476 Dr. A. Wölfler,
hätte, so ist die Methode noch nicht so gut, dass sie nicht ver-
besserungsfähig erschiene.
Wir haben ja auch zu der Zeit, als die Darmnaht allgemeine
Verbreitung fand, uns nicht gescheut, ihre Nachtheile zu bekennen,
und solange verbessert, bis sie eine brauchbare Methode geworden
ist, der nur der eine Fehler anhängt, dass sie verhältnissraässig
langwierig ist. Haben wir daher chronische Fälle vor uns, bei
welchen keine Gefahr im Verzuge ist, dann ist nach meiner
Meinung auch heute noch die Darmnaht allen anderen Methoden
vorzuziehen, und unter den verschiedenen Arten der Darmvereini-
gung ist ohne Zweifel als das sicherste Verfahren dasjenige zu
bezeichnen, welches die Darmenden durch seitliche Anastomose
(frora side to side) vereinigt. Diese Sicherheit, welche eine breite
Vereinigung der Darmoberfläche gewährt, ist auch der Grund,
warum beim Vergleich der Darmvereinigungsmethoden die seitliche
Anastomose nicht herangezogen werden kann, weil dieses Verfahren an
und für sich eine Gewähr darbietet und sich unabhängig macht
von der Art der technischen Durchführung. Dies ist auch der
Grund, warum wir gerade bei der Gastro-Enterostomie mit dem
Murphyknopf gute Resultate erzielen, weil hier nur der Vortheil
des Knopfes — das ist die rasche Vollendung der Operation —
in die Erscheinung tritt, während die Nachtheile weniger schädlich
wirken, weil der Inhalt flüssig ist und es als kein Unglück an-
geschen werden kann, wenn der Darmknopf im Magen verweilt
Ich selbst hatte ebenfalls keinen Grund, über den Murphyknopf
bei den Gastro-Enterostomien zu klagen. In meiner Klinik wurden
neun Gastro-Enterostomieen von mir und meinen Assistenten aus-
geführt. Davon kamen 7 mit dem Leben davon, 2 starben ohne
Zusammenhang mit der Technik: Der Eine an Lungengangrän,
der Andere nach einer Verblutung aus dem Carcinomgeschwür.
Aber es wäre verfehlt, daraus den Schluss zu ziehen, dass der
Murphyknopf im Allgemeinen eine tadellose Vereinigungsraethode
darstellt, denn es kann mit der Verwendung des Murphyknopfes
nur verglichen werden die circuläre Darmnaht bei chronischen
und acuten Fällen. Da ich bei den chronischen Darmstenosen
die Anwendung des Murphyknopfes nicht anerkenne, so wurde
an meiner Klinik die Anwendung desselben nur bei den acuten,
an und für sich lebensgefährlichen Fällen von Darmstenosen in
Einiges über die Anwendung der Darmknöpfe. 477
Rechnung gezogen, von dem Grundsatze ausgehend, dass die durch
das Leiden bedingte Lebensgefahr noch grösser ist als die Gefahr,
welche der Knopf bringen kann.
Nehmen wir unter diesen Fällen der Gleichartigkeit der Be-
obachtungen wegen die Resection des Darmes beim eingeklemmten
Bruch, so gebe ich Hahn vollständig recht, wenn er sagt, dass
bei keiner Operation die Wohlthat des Murphy knöpf es sich so
bewähre als gerade bei den Darmresectionen wegen gangränöser
Hernie — aber nur unter der Voraussetzung, dass man Gelegenheit
hat, an einem vollständig beweglichen und gesunden Darmantheile
den Knopf anzulegen. Ist dies der Fall, dann kann man in einer
ganzen Reihe von Fällen schöne Heilungen erzielen. Unter 13
solcher Darmresectionen wurde fünfmal ein ausgezeichneter und
glatter Verlauf bei Anwendung des Murphyknopfes erzielt. Die
meisten dieser Operationen führten meine Assistenten, die Herren
Dr. Schloffer und Dr. Mannaberg aus.
Aber man täuscht sich, wenn man glaubt, dass die mit in-
carcerirten Hernien einhergehenden Pneumonien durch den Knopf
vermieden werden oder dem bereits bestehenden Collaps vorgebeugt
werden kann. Unter 13 Fällen sind uns an bereits bestehenden
Collaps oder Pneumonie 6 gestorben und in 2 Fällen kam es beim
Murphyknopf zu Darmfisteln. Diese beiden Fälle zeigten in
cclatanter Weise den einen Fohler des Murphyknopfes, dass er
wochenlang als Fremdkörper im Darm verweilen kann und zwar
nicht schadlos. In einem Falle von Darmresection wegen eines
incarcerirten Nabelbruches vorweilte der Knopf 4 Wochen lang
in der vereinigten Darmschlinge. Dann erzeugte er einen Anus
praeternaturalis, der später durch Anwendung neuerlicher Resection
und Anlegung eines Frank\schen Darmknopfes zur Heilung ge-
bracht wurde. Im zweiten Falle entst^md ebenfalls nach An-
wendung des Murphyknopfes ein Anus praeternaturalis, und als
später nach etwa 14 Tagen zur Anlegung der Naht geschritten
wurde, da lag der Knopf etwa 10 — 12 cm von dem Anus entfernt
im Darme. Dieser war also nicht im Stande, den Fremdkörper
aus der Fistel zu eliminiren. Die Ursache lag meines Erachtens
darin, dass in beiden Fällen — wie ich mich bei den Operationen
überzeugen konnte — die Därme adhärent waren. Ein solcher
angewachsener Darm büsst offenbar an peristaltischer Kraft ein.
Sic worden sagen: daran ist der Darm schuld und nicht der
Knopf. — M, H,! Das ist richtig. Aber wir müssen mit dieser
Thateachc rechnen, weil sie liäuflg vorkommt. Aber unter solchen
Verhältnissen sind zweifellos die Bedingungen ohne Anwendung des
,g«nihrt.
M urp h y k n 0 p f c H viel günstif^er als bei A nwendung desselben,
denn die Bedingungen für die Heilung werden durch den Murphy-
knopf erschwert. In dncm dritten Falle trat durch den Murphy-
kno])f selbst der Tod ein. Bei einer narbigen Darmstcnoso, welche
nai:h Repusition eines eingeklemmten Bruches entstanden war,
Einiges über die Anwendung der Darmknöpfe. 479
wurde die Darmrescction ausgeführt und ein Murphyknopf ein-
gelegt. Die Patientin starb nach 8 Tagen. Bei der Section fand
man das zuführende Ende erweitert und eine Perforationslücke
an der Stelle der Darmvereiniguug. Die Ursache hierfür musste
darin gefunden werden, dass das Rohr des Murphy'knopfes durch
einen Kirschkern vollständig obliterirt war.
Dass hier nicht der Kern, sondern der Knopf schuld sei, ist
klar. Denn es ist wohl als ein wesentlicher Fehler des Murphy-
knopfes zu verzeichnen, dass das Rohr desselben viel zu eng ist.
Das ist ja auch der Grund, warum wir den Murphyknopf beim
Dickdarm nicht verwenden können, weil das Rohr nur zu leicht
durch den festen Koth verstopft wird. Wollte man dagegen ein-
wenden, das ja ein jeder Murphyknopf den- Dickdarm passiren
müsse, so ist dagegen zu sagen, dass an der Vereinigungsstelle
der Darminhalt nicht zwischen Knopf und Darmwand passiren
kann, was an den normalen Stellen des Darmes leicht möglich ist.
In der Einschränkung einer Operationsmethode für eine bestimmte
Reihe von Fällen liegt aber schon ein schwerer Nachtheil eines
Verfahrens. Aus Alldem geht hervor, dass die Idee der Darm-
vereinigung durch den Murphyknopf ebenso neu als vorzüglich
ist, dass aber das Instrument, mit welchem diese Idee verwirklicht
wird, Fehler an sich trägt. Der Murphyknopf ist nämlich der
erste Knopf, welcher gewissermaassen selbst die Vereinigung be-
sorgt. Er ist ein Darmschliesser, während die übrigen Knöpfe
mehr weniger Prothesen darstellen, auf welchen von uns die Ver-
einigung vorgenommen werden muss.
Schon seit Jahren beschäftigten sich auf meine Anregung
meine Assistenten, Dr. von Frey und Dr. Schloffer mit der
Anfertigung von resorbirbaren Knöpfen. Sie wurden aus Elfenbein
hergestellt und dann entkalkt. Aber bezüglich des Mechanismus
der Darmvereinigung ging es nicht recht vorwärts. — Da kam
Frank und demonstrirte uns seinen resorbirbaren Knopf. Dieser
erschien beachtenswerth, denn er brachte gerade die 2 Vortheilo
mit sich auf die Welt, welche dem Murphyknopf abgehen. Er
ist nur kurze Zeit ein Fremdkörper und hat ein grosses Lumen.
Deshalb wurde er an meiner Klinik am Thier und beim Menschen
verwendet, bei Letzterem in 9 Fällen i), und zwar bei 6 Darm-
0 Hier müssen auch die Gastroenterostomien herangezogen werden.
480 Dr. A. Wölfler,
resectionen ; 3 davon wurden geheilt, 2 starben an Pneumonie bei
vollständig undurchlässigem Darme. So hatte also in 5 Fällen
der Frank'sche Knopf seine Schuldigkeit gethan. Aber im 6. Fall
waren die Darmenden am 3. Tag vollständig auseinander gegangen
und bedingten den Tod des Individuums. Die Darmenden waren
nicht gangränös. Bei 3 Gastro-Enterostomieen mit dem Frank-
schen Knopfe verliefen 2 sehr schön. Im 3. Falle heilte eben-
falls die Gastro-jejunostomie tadellos. Aber der Kranke starb
plötzlich am 8. Tage. Bei der Section zeigte es sich, dass die
Enteroanastomose, welche ich zwischen zuführendem und abführen-
dem Darm angelegt hatte, vollständig auseinander gegangen war,
obwohl Lembert'sche Nähte darüber angelegt worden waren —
ich hatte bis dahin -weder bei der Darmnaht noch beim Murphy-
knopf ein solches vollständiges Auseinandergehen der Darmenden
wie in diesen zwei geschilderten Fällen gesehen.
Welche Gründe sind für diesen Misserfolg anzuführen?
1. Der Frank'sche Knopf ist nicht wie der Murphyknopf
ein Darmschliesser. Er ist vielmehr eine Prothese, höchstens ein
Darmnäherer. Das Drainrohr, welches die beiden Knopfhälft^n
aneinanderbringt, ist nämlich leicht dehnbar, und dann klaffen die
beiden Knopfhälften. Das scheint aber von Wichtigkeit zu sein,
denn ein Jeder von Ihnen wird sich schon beim Murphy knöpfe
die Frage vorgelegt haben, wieso es kommt, dass beim Murphy-
knopfe eine so schöne Vereinigung stattfindet, trotzdem Gangrän
der Darmwand auftritt. Die Antwort darauf ist eben die, dass
durch den Murphyknopf die Darmenden scharf abgequetscht
werden, während man beim Fränkischen Knopf immer fürchten
muss, dass die Gangrän eine nur unvollkommene sei, die dann
leicht mit ihren Folgeerscheinungen — Trombose der Gefässe —
auf die Umgebung übergehen kann. Ist doch nur jene Gangrän
für die Umgebung ungefährlich, bei welcher das Gewebe durch
eine starke und eine allseitige Einschnürung von der Umgebung
abgegrenzt wird. Es ist deshalb als eine wichtige Bedingung auch
für den resorbirbaren Knopf aufzustellen, dass derselbe ein Darm-
schliesser sei.
Was ferner die Resorbirbarkeit dieser Dannknöpfe anbelangt,
so muss die Forderung gestellt werden, dass der Knopf nicht zu früh
zerfalle. Er muss wenigstens 5 — 6 Tage lang seinen Mechanismus
Einiges über die Anwendung der Darmknöpfe. 48-1
beibehalten. Die jetzigen Knöpfe scheinen mir zu früli resorbirt
ZQ werden. Auch ist eine Oonstanz dieser Erscheinung noch nicht
erzielt. Bei einen) Menschen und bei einem Hunde war der Knopf
schon nach 5 Tagen ziemlich stark zerfallen. Hier werden noch
weitere Verbesserungen sich als nothwendig erweisen, sei es, dass
der Knopf nicht vollkommen dekalcinirt wird, oder dass der de-
kalcinirte Knopf nachträglich noch stärker gehärtet wird, als dies
bisher der Fall war. Wenn aber der Knopf durch 5 — 6 Tage
lang functioniren soll, dann müssen wir von ihm verlangen, dass
sein Lumen möglichst gross sei, damit derselbe auch beim Dick-
darm angewendet werden könne. Als ein Fehler des Frank'schen
Knopfes ist es ferner anzusehen, dass man die Darmenden auf dem
Drainrohre knüpfen muss. Dieses leistet aber bei den jetzigen ver-
käuflichen Knöpfen keinen genügenden Widerstand, so dass bei dem
starken Znsammenziehen des Darmendes über dem Drainrohre das
Rohr leicht verlegt wird. Davon habe ich mich in mehreren
Fällen auf das Bestimmteste überzeugen können. Unter solchen
Verhältnissen muss man dann wünschen, dass der Knopf recht
rasch resorbirt werde. Diesem Uebelstande habe ich dadurch ab-
geholfen, dass ich über das Drainrohr ein dekalcinirtes Elfenbein-
rohr legen liess, so dass beim Knüpfen das Lumen nicht mehr
beeinträchtigt wird.
Was sollte aber für den Augenblick unternommen werden,
um zu verhüten, dass die Darmenden nicht zwanglos auseinander
gehen? An dem System des Frank-Knopfes konnten nicht ohne
Weiteres Veränderungen angebracht werden, auch konnte nicht ohne
Vorversuche die Resorbirbarkeit des Knopfes verzögert werden.
Ich ging deshalb daran, die Intensität der Verklebung der Serosa-
flächen zu erhöhen. Dies lässt sich dadurch erreichen, dass die
Serosa der miteinander zu vereinigenden Darmenden mit dem
Scalpell abgeschabt wird.
Gestatten Sie, dass ich für einen Augenblick bei diesem
Punkte verweile: Es hat schon vor mehreren Jahren Greigh-Smith
den scheinbar absurden Satz ausgesprochen, dass es keine schlechtere
Verwachsungsfläche gebe, als die Serosa. In der That verkleben
Därme niemals miteinander, wenn keine Verletzung oder Ent-
zündung vorausgegangen ist.
Bei Prolaps des Rectum, bei der Inversio uteri sehen
482 Dr. A. Wölfler,
wir es ja auch, dass trotz jahrelangen Bestandes keine Verklebung
der einander zugekehrten Scrosaflächen eintritt. Nur dadurch, dasi>
wir bei der Darm Vereinigung Nähte anlegen^ wird die Verwachsungs-
fähigkeit der Darmoberfläche bedingt. Erhöht wird sie noch dadurch,
dass man die Serosafläche zuvor wund macht. Man kanii sich hie-
ven durch einige Experimente überzeugen. Wenn man an einer
Darmschlinge beim Hunde ein Stück ohne Anfrischung der Serosa
vereinigt und ein zweites Stück der Schlinge mit Anfrischung der
Serosa, so sieht man, dass schon nach 7 — 8 Tagen die Adhäsion
am angefrischten Darmstück sich nur dadurch lösen lasse, dass
die Serosa von der Muscularis abgerissen wird. Es war also die
Verwachsung der Serosaflächen eine intensivere als die physio-
logische Vereinigung dar Serosa mit der Muscularis. An den
nicht angefrischten Darmpartien lassen sich die adhärenten Flächen
schon bei einer geringeren Gewalt auseinander reissen. Diese That-
sache habe ich erst vor Kurzem auch bei einer Gastro-Enterostomie
bestätigt gefunden bei einer Kranken, welche an Embolie nach
12 Tagen zu Grunde gegangen war. Bei dieser Kranken wurde
die Gastroenterostomia anterior ausgeführt, und das zuführende
Darmende in der Weise vertical gestellt, wie ich es schon vor
mehreren Jahren angegeben habe. Damit nun diese Stellung des
zuführenden Darmendes in späterer Zeit nicht etwa verschwinde,
wurde, wie dies auch schon von mir vor mehreren Jahren empfohlen
wurde, die Serosafläche des Magens und die Serosafläche des zu-
führenden Daniirohres.mit dem Scalpell abgeschabt. Es war nun
von Interesse, zu sehen, wie nach 12 Tagen diese Verwachsungen
stattgefunden haben. Das vertical gestellte Rohr war unverändert
in dieser Stellung verblieben und die Verklebung erwies sich so
fest, dass von dem pathologischen Anatomen die Serosaflächen nicht
auseinandergebracht werden konnten. Bei dem Versuche, dies aus-
zuführen, riss die Serosa von der Muscularis, aber nicht die Serosa
des Darmes von der Serosa des Magens. Diese Anfrischung der
Serosa wurde in den letzten Fällen, in welchen Darmvereinigungen
ausgeführt wurden, regelmässig mit befriedigendem Erfolg ausgeführt.
Es ist mir unverständlich, dass wir uns bei allen unseren Darra-
nähten bisher dieses Vortheiles entschlagen haben. Ich empfehle
es deshalb auf das angelegentlichste, bei den verschiedensten Arten
von Darmnähten, selbstverständlich auch bei den Darmanastomosen,
Einiges über die Anwendung der Darmknöpfe. 483
die miteinander zu vereinigenden Serosaflächen mit dem Messer
zuerst abzuschaben.
Als einen weiteren Nachtheil des- Frank'schen Knopfes muss
ich hervorheben, dass derselbe schwieriger anzulegen ist als
der Murphyknopf. Besonders die zweite Hälfte des Frank'schen
Knopfes ist schwieriger einzuführen. Man kann sich diese Mani-
pulation jedoch dadurch erleichtern, dass man die Darraenden mit von
Bergmännischen Pincetten an ihrem äussersten Rande fasst und
dadurch das Lumen zum Klaffen bringt. Sowie der Darmknopf in
den Darm eingeschoben ist, werden die von Bergmännischen Pin-
cetten rasch abgenommen und die v'^^chnürnaht wird zusammen-
gezogen. Ferner möchte ich davor warnen, • keine zu grossen Knöpfe
anzulegen, weil die Darmwände dadurch gespannt und verdünnt
und das Anlegen der Lern bcrt 'sehen Nähte erschwert wird.
Man thut überhaupt gut, wenn man zur Anwendung der Lem-
bert' sehen Naht die Darmwand in circulärer Richtung <'twas zu-
sammenschiebt.
Fassen mv jetzt die Anforderungen zusammen, welche an
einen Knopf nach unseren heutigen Erfahrungen gestellt werden
müssen, so sind diese:
1. Er soll zum grössten Theil resorbirbar sein, soll aber
vor 5 — 6 Tagen seinen Mechanismus nicht ändern.
2. Er darf keine einfache Prothese sein, auf der vereinigt
wird, sondern er soll ein Darrasch liesser sein.
3. Er sollte womöglich aus 2 Theilen bestehen, damit er
bequem in den Darm eingeführt werden kann.
4. Das Lumen des Knopfes soll möglichst gross sein.
5. Jene Partie des Knopfes, über welcher die Darmwand zu-
sammengeschnürt wird, muss hart sein.
6. Wenn möglich, sollen die Knöpfe keine Lembert'schen
Nähte in Ans[)ruch nehmen müssen.
Letztere Bedingung wird, wie ich glaube, wenigstens vorläufig
noch als ein fronmier Wunsch angesehen werden müssen.
Um diesen Anforderungen zu entsprechen, habe ich mich
bemüht, einen Knopf anfertigen zu lassen, der nach vielen Aende-
rungen soweit fertig gestellt ist, dass ich es wagen darf, denselben
der geehrten Gesellschaft zu demonstriren. Die Vortheile liegen
darin, dass er
Archiv fllr klin. Chirurgie. 57. Bd. Heft 3. 32
184 Dr. A. ^^ölifier, Einiges «bber di« Anwendwig der Darmknöpfe.
1. ein resorbirbarer Knopf ist,
2. ein Danuschliesser,
3. da8s er ein weites l^umen hat.
Sein«» Nachtheile kenne ich noch nicivt, weil ich noch nicht
genüäfcnd Gelegenheit lialie, »einen Woiih cxperiiiientell zu prüfen.
Solanisre dies nicht geschehen ist, bitte iiA, denselben beim
Menschen noch nicht anzuwenden, weil ich hierfür keine Verant-
wortung übernehmen kann. Für den Augenblick soll er bloss
/iCigen, nach welchen Richtungen hin Verbesserangen in der Con-
structioß der Dannknöpfe anzustreben sind (Demonstration des
Knopfes).
Gedruckt hei L. Schniiiucher in Berlin.
ARCHIV
FÜR
KLINISCHE CHIRURGIE.
BEGRÜNDET
▼Oll
Dr. B. von LANGENBECK,
weil. Wirklichem Geh. Rath und Professor der Chirurgie.
HBRADSGEGEBBN
VON
Db. i. Y. BEB&MMN, Db. E. &IIBLT, Dr. G. öüSSEITfiAÜER
Prof. der Chirurgie in Berlin. Prof. der Chirurgie in Berlin. Prof. der Chirurgie in Wien.
SIEBENIINDFINFZIGSTRR BAND.
DRITTES HEFT.
Mit 2 Tafeln und auderen Abbilduugeu im Text.
BERLIN, 1898.
VERLAG VON AUGUST HIRSCHWALD.
N.W. UnUr den Lindon No. 88.
Inhalt.
Seite
XXVI. Die anatomischeD Veränderungen nach Calot'schem Redresse-
raent, mit Demonstration experimentell gewonnener Präparate;
Angabe einer schonenderen Methode. (Aus der chirurgischen
Universitäts-Klinik zu Halle a. S.). Von Dr. L. Wul Istein.
(Hierzu Tafel I.) 485
XXVII. Zur Technik des Redrcssements und des Verbandes an der
gibbösen Wirbelsäule. Von Dr. Vulpius 498
XXVIII. Die Calot 'sehe Behandlung der tuberkulösen Spondylitis. Von
Professor Dr. Hoffa 501
XXIX. Ein Vorschlag zur Modification des Calot'schen Verfahrens.
Von Professor Dr. Schede. (Mit 4 Figuren.) 507
XXX. Ein Fall von Fractur der Diaphysc des Oberarms mit bisher
noch nicht beobachteter Wirkung des Streckverbandes. (Aus
der Chirurg. Klinik des Herrn ProC von Bramann zu Halle a. S.)
Von Dr. Rammstedt. (Mit 2 Figuren.) 517
XXXI, Beiträge zur Technik der Operation des Magencarcinoms. Von
Professor Dr. .1. Mikulicz 524
XXXII. lieber die histologischen Vorgänge nach der Implantation von
Elfenbein und todtem Knochen in SchädeHefccten. Von Dr.
Max David. (Hierzu Tafel II.) 533
XXXIII. Erfahrungen über die Behandlung veralteter Empyeme. (Aus
der Chirurg. Klinik zu Heidelberg.) Von Professor Dr. Jordan 546
XXXIV. Beiträge zur Chirurgie der Lunge und der Pleura. Von Dr.
Karewski 555
XXXV. Ueber den angeborenen Verschluss des Dünndarms und seine
Behandlung. Von Dr. Felix Franke 591
XXXVI. Inhumane Kriegsgeschosse. Von Professor Dr. von Bruns . 602
XXX VII. Ueber Schussverictzungen des Gehirns. Von Professor Dr.
Tilmann 608
XXXVIII. Die Behandlung des Lupus mit Röntgen -Strahlen und mit
concentrirtem Licht. Von Dr. Hermann Kümmel 1 . . . 630
XXXIX. Ueber Peritonitis chronica non tuberculcsa und ihre Folgen:
Verengerung des Darmes und Dislocation der rechten Niere.
Von Professor Dr. Riedel. (Mit einer Figur.) 645
XL. Ueber dauernde Spiritusverbände. Von Dr. Salzwcdel . . 685
XLI. Ueber einen Fall von 5 Darmresectionen wegen Sehussverletzung.
(Aus der Chirurg. Klinik zu Giessen.) Von Professor Dr. Poppert. 691
XLII. Neue Methode zur blutigen Einrichtung der angeborenen Hüft-
gelenksluxation. Von Dr. Doyen . . 699
XLIII. Zur chirurgischen Behandlung der chronischen Mittelohreiterung.
Von Sanitätsrath Dr. Lud ewig 703
XLIV. Ueber die operative Entfernung ausgedehnter Gesichtscarcinome. .
(Aus der Hallenser chirurg. Klinik). Von Dr. med. U. Grosse.
(Mit 2 Figuren) 711
XLV. Ueber Oesophagus-Rescction und Uesophagoplastik. Von Professor
Dr. C. Garre : . 719
XLVI. Ueber Rectoscopie und einige kleinere operative Eingriffe im
Rectum. Dr J. v. Fedoroff 723
XLVII. Ueber Craniectomieen nebst einigen Betrachtungen über die
Heilung grosser Operationsdefecte am Schädel. Von Dr. J.
v. Fedoroff 727
XXVI.
(Aus der chirurg. Universitäts-Klinik zu Halle a. S.)
Die anatomischen Veränderungen nach
Calot'schem Redressement, mit Demon-
stration experimentell gewonnener Präpa-
rate; Angabe einer schonenderen Methode/^
Von
Or. li. I¥iill8telii,
ABsistenzarzt der Klinik.
(Hierzu Tafel I.)
M. H.! Ueberraschend waren die überaus günstigen, vor-
läufigen Resultate, welche Calot^) bei seinem so kühnen Vorgehen
gegen den Pott'schen Buckel hatte. Schon aber jetzt, nachdem
das Verfahren von verschiedenen Seiten geübt und geprüft ist,
mehren sich die Nachrichten, wo bei diesem forcirten Vorgehen
Todesfälle oder vorübergehende, schwere Complicationen einge-
treten sind, und voraussichtlich werden wir auf noch weitere
Enttäuschungen in Bezug auf das Endresultat nach der für diese
Erkrankung und diese neue Methode ihrer Behandlung unerUiss-
lichen ControUzeit gefasst sein müssen.
M6nard^ hat uns durch drei an Leichen vorgenommene
Experimente gezeigt, welches die unmittelbaren Folgen des for-
cirten Redressement sein können, und ich möchte diesen Bericht
vervollständigen und über weitere derartige Versuche, welche ich
0 Abgekürzt vorgetragen am 2. Sitzungstagc des XXVII. Congresses der
Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 14. April 1898.
2) Calot, Arch. provinc. de chirurg. 1897, No. 2.
■') Menard, Gazette hebdomadaire. 1897. No. 43.
ArchiT fUr klin. Chirurgie. 57. Bd. Heft 3. 33
486 Dr. L. Wullstein,
in der Klinik des Herrn Professor v. Bramann anstellen durfte,
berichten.
M6nard fand nach dem Redressenjent zwischen dem oberen
und unteren Segment der Wirbelsäule einen Zwischenraum von
3,6, ja sogar 8 cm; in einem dieser Fälle war ein Abscess ge-
platzt und stand in Communication mit den Bindegewebsinterstiticn
des Mediastinum; eine Verletzung der Meningen oder des Markes
kam bei Menard's Versuchen nicht zu Stande. Ein in gleicher
Weise von Brun^) angestellter Cadaverversuch ergab auch eine
Lücke von reichlich 8 cm. Vulpius^) konnte ebenfalls bei einem
Kinde, welches 48 Stunden nach dem Redresseraent zum Exitus
kam „eine mehrere Gentimeter breit klaffende Lücke in der
Wirbelkörperreihe an Stelle des grossentheils zerstörten 10. und
11. Brustwirbels" constatiren.
Wir haben das forcirte Rcdressement an den Leichen genau
nach den von Calot veröffentlichten Vorschriften gemacht und,
wie wir glauben, damit unter Verhältnissen, welche denen am
narkotisirten, lebenden Patienten analog sind.
In dem ersten Falle handelte es sich um ein 23 jähriges Individuum.
Die Erkrankung sollte bereits im 4. Lebensjahre begonnen haben, vor 6 Jahren
traten schon vorübergehende Lähmungen der unteren Extremitäten, der Blase
und des Mastdarms auf, welche durch eine mehrere Wochen währende Be-
handlung in der Hallenser chirurgischen Klinik behoben wurden; jetzt lag
Patient wegen einer sehr schweren, eiterigen Pyelonephritis, welche sich an
wieder aufgetretene Blasenbeschwerden angeschlossen hatte, in der medici-
nischen Klinik und kam daselbst zum Exitus.
In den Buckel hineingezogen war die grössere Hälfte der Brust- und
Lendenwirbel; die höchste Prominenz (s. Taf. I, Fig. 1) wurde gebildet durch
die Dornfortsätze des 9. und 10. Brustwirbels.
Unter gloichmässigem und sich allmälig steigerndem Zuge der fünf am
Kopf resp. den Extremitäten ziehenden Assistenten schwand unter mehrmaligem,
krachendem Geräusch der grössere Theil des Buckels; der übrige Theil konnte
jedoch erst durch sehr starken Druck, wobei ich fast meine ganze Körperlast
auflegte, zum fast vollständigen Schwinden gebracht werden. Diese nach
Fortnahrae der vorderen Brustwand angefertigte Röntgen aufnähme *) veran-
schaulicht die nach dem lledressement vorgefundenen Verhältnisse an den
Knochen. Die Diastase beträgt hier nur 7 cm; die Aufnahme wurde absichtlich
nicht unter vollständigem Rcdressement gemacht, da bei der grossen Kraft-
1) Brun, Discussion der Soc. de Chirurgie. II. V. 1897.
2) Vulpius, Centralblatt für Chirurgie. 1897. No. 49.
3) Die Röntgen- Aufnahme wird demonstrirt.
Die anatomischen Veränderungen nach Calot'schem Redressement. 487
anstrengung, welche das vollständige Redressement erforderte^ die Assistenten
selbst während der liurzen Dauer der Aufnahme nicht vollständig still hätten
halten können. Aber eins zeigt die Aufoahme, was an dem Präparat nicht
mehr zu sehen ist, nämlich einige vollständig aus ihrem Zusammenhange mit
der Wirbelsäule gelöste Sequester. Ein anderer ca. Wallnussgrosser Sequester
findet sich an dem Präparat nur noch an einem dünnen Periostfetzen hängend
in der Diastase zwischen den beiden Wirbelsäulen-Segmenten (s.Taf. I, Fig. 2c).
Die Diastase betrug bei vollständig redressirtem Buckel reichlich 9 cm. (siehe
Taf. I, Fig. 2 a — b). In den Pleurahöhlen war zwar kein freies Blut, dagegen
waren im hinteren Mediastinum und zu beiden Seiten der Wirbelsäule in der
Gegend der Articulationes costovertebrales in weiterem Bezirke unter den pa-
rietalen Pleurablättern grössere Blutungen. Die Pleura parietalis war rechter-
seits in dem der höchsten Convexität des Buckels entsprechenden Intercostal*
räum von der Wirbelsäule bis ungefähr 11 cm nach rechts durch den starken
Zug gerissen. Von den Wirbelkörpern war im Bereich der Diastase fast nichts
mehr vorhanden; es fehlten die Körper des V. Brust- bis l. Lendenwirbels
fast vollständig; überall kam hier der palpirende Finger sofort auf die stark
Terdickte, z. Th. verkalkte, äusserst rigide Dura. Im unteren Bereich der
Diastase war auch die Dura in ihrer vorderen Hälfte quer durchrissen und
das Rückenmark lag — allerdings vollständig intact — frei. Zwischen dem
9. lind 10. Dornfortsatz ist die Wirbelsäule vollständig fracturirt (s. Fig. 2d).
Die an der Stelle der höchsten Prominenz an beiden Seiten ansetzenden
Rippen standen mit den z. Th. auch tuberkulös erkrankten Wirbelbögen nur
noch in lockerer, bindegewebiger Verbindung. Auch in den Wirbelsäulentheilen
oberhalb und unterhalb der Diastase sind frische und alte tuberkulöse Herde
sovirohl in den Wirbeln als auch in den Zwischenbandscheiben vom 1. Brust-
wirbel bis zum 4. Lendenwirbel. Ein grosser Abscess befindet sich oberhalb
der Diastase in der Muskulatur an der vorderen Seite der Wirbelkörper, ein
anderer nachher bei der weiteren Section eröffneter Abscess lag unterhalb der
Distötase vorn und seitlich von den Wirbelkörpern (s. Fig. 1 u. 2e u. f.); beide
Abscesse, so gi'oss sie auch waren, waren bei dem Redressement nicht geplatzt.
Bei der Erwähnung der Abscesse darf ich wohl schon eine
Bemerkung einflechten, welche eigentlich in die Discussion gehört.
Herr Hoffa hat in seinem Vortrage als dritte Contraindication
beim Calot 'sehen Redressement das Vorhandensein von Abscessen
genannt, da diese bei dem forcirten Vorgehen leicht platzen und
dadurch eine allgemeine miliare Tuberculose herbeiführen können.
Nun, m. H., wollten wir diese Contraindication alF insgesammt
gelten lassen, dann wäre die Debatte über die Zulässigkeit oder
Uiizulässigkcit des forcirten Rcdrcsscments überhaupt schon ge-
schlossen, dann dürfte das forcirte Uedressement überhaupt nicht
ausgeführt werden, denn erstens giebt es Spondylitiden ohne Ab-
scesse nur sehr wenige und zweitens können wir einen grossen
33*
488 Dr. L. WuUstein,
Theil derselben, da sie Syraptorae überhaupt nicht machen, durch
die klinische Untersuchung nicht feststellen; die letzteren ergeben
sich uns erst bei den Sectionen und jetzt noch zum Theil —
wenigstens bei bestimmter Beschaffenheit des Inhalts und bei ge-
wisser Lage der Abscesse — bei der Untersuchung mit Röntgen-
strahlen. Alle vier Abscesse, welche an den von uns experimen-
tell gewonnenen Präparaten vorhanden waren, waren klinisch nicht
vorher diagnosticirt; zum weiteren Beweise reiche ich Ihnen unter
anderen die Röntgen-Photographie^) der Wirbelsäule eines 18 jährigen,
jungen Mädchens, welches seit Jahren in der Behandlung des Herrn
Professor v. Bramann war und schon lange Zeit für vollständig
geheilt gehalten wurde, gleichwohl zeigte uns die Röntgen- Aufnahme
zu unserer Ueberraschung einen grossen Abscess zu beiden Seiten
der Wirbelsäule im Bereich der früher kranken Wirbelsäulenpartie.
Wenn nun auch in dem zuvor besprochenen Falle wohl
Niemand mehr das forcirte Redressement vorgenommen hätte, so
lagen die Verhältnisse in dem zweiten doch bei Weitem anders.
Die Erkrankung der Wirbelsäule sollte hier, bei der 6jährigen Patientin,
vor ^/^ Jahren im Anschluss an einen Fall entstanden sein. Kurz vor Weih-
nachten war das Kind wegen kurz zuvor aufgetretener Lähmungen der unteren
Extremitäten einige Wochen in der medicinischen Klinik gestreckt und war
dann, als die Lähmungen vollständig behoben waren, von der medicinischen
Poliklinik weiter behandelt wegen Lungentuberkulose, an der es schliesslich
ein Vierteljahr später starb. Die Photoj^raphie 2), welche von der uneröffneten
Leiche vor dem Redressement gemacht wurde, zeigt nun aber zwei Buckel:
einen spitzwinkligen, sich nur sehr wenig erhebenden in der Mitte der Bnist-
wirbelsäule im Bereich des 5. und G. Brustwirbels von ausgesprochen tuber-
kulösem Charakter und einen zweiten, der sich im Bereich des 3. und 4. Lenden-
wirbels nur ganz flach bogenförmig über das Niveau seiner Umgebung erhebt
(s. auch die Aufnahme der Wirbelsäule, Taf. I, Fig. 3 a u. b). Das Redresse-
ment war äusserst leicht; schon unter massigem Zug ohne jeden Druck ver-
schwanden beide Buckel, und als Folge dieses Verfahrens sehen sie an dieser
Röntgen-Aufnahmc ^) und an dem Präparat (s. Fig. 4 a u. b) oben eine Dia-
stase von fast 4 cm und unten eine solche von fast 3 cm; die letztere gebt
trichterförmig nach hinten und in der oberen liegt die Dura vollkommen intact,
aber äusserst prall gespannt vor. V^on der oberen Diastase setzte sich nach
links ein uneröfTneter Abscess ungefähr 5 cm weit auf die Rippen fort (siehe
Fig. 3 c). Im rechten Psoas fand sich ein reichlich gänseeigrosser, ebenfalls
nicht geplatzter Abscess. An der oberen Diastase sehen Sic noch Reste der
0 Die Röntgen -Aufnahme wird demonstrirt.
2) Die Photographie wird demonstrirt.
^) Die Röntgen -Aufnahme wird demonstrirt.
Die anatomischen Veränderungen nach Calot^schem Redressement. 489
Absccss-Kapsel, welche bei der Präparation durchschnitten werden mnsste
(s. Fig. 4 c). An dem oberen Buckel ist der 4. und 7. Brustwirbel theilweis,
der 5. und 6. ganz verloren gegangen, an dem unteren Bück elfehlen der 3.
und 4. theilwelse und der 5. ist in seiner linken Hälfte zusammen gesunken.
Die Wirbelsäule ist zwischen den Domfortsätzen des 5. und 6. Brustwirbels
^ ' auch in ihrer hinteren Hälfte vollständig fracturirt, und etwas tiefer, zwischen
?£' dem 6. und 7. Wirbelbogen, war, wie sich nach dem Aufschneiden der äusserst
,;, prall gespannten Dura zeigte, das sehr weiche Rückenmark derartig gezerrt
und gedehnt, dass es nur mit grosser Mühe vor dem vollständigen Zerreissen
bewahrt werden konnte ; durch die Schrumpfung bei der weiteren Conservirung
'' riss es denn auch noch an dieser Stelle durch. Aus der eben eröffneten, ver-
i^ dickten Dura floss eine relativ grosse Menge seröser Flüssigkeit unter starkem
Druck heraus; die subdurale, ödematöse Flüssigkeit aber hatte, da sie in der
• durch das Redressement stark gespannten Dura voraussichtlich nicht schnell
genug nach oben und unten ausweichen konnte, den noch jetzt recht wohl
' sichtbaren, dellenartigen Eindruck an dem Rückenmark bewirkt.
"-' •
Fassen wir noch einmal kurz die anatomischen Veränderungen,
welche sich fürMönard, ßrun und uns bei der allerdings bisher
kleinen Zahl experimenteller Redressements ergeben haben, zu-
sammen, so waren es ausser den sehr grossen Diastasen von
3 bis reichlich 9 cm Zerreissungcn der Pleura, subpleurale und
mediastinale Hämorrhagieen, geplatzte Abscesse, vollständige Lösung
tuberculöser Knochenstücke aus der Continuität, Zerreissuiigen der
Dura und Dehnung und Zerrung des Rückenmarks; dazu werden
die veränderten Druckverhältnisse im Thorax vor Allem, sowie
die Zerrung und Dehnung, denen die Brust- und Bauchorgane bei
dem plötzlichen, forcirten Redressement ausgesetzt sind, sicherlich
nicht immer gleichgültig für dieselben sein. Es werden sicherlich
ausser den subpleuralen und mediastinalen Hämorrhagieen zuweilen
auch, worauf schon Monod^) hingewiesen hat, Hämorrhagieen im
Wirbelkanal und im Mark vorkommen. Dazu kommen die Ge-
fahren, welche die Narkose in Bauchlage — und sei es selbst im
Nebel'schen^) Schwebelagerungsapparat oder auf den Lange-
schen ^) Gurten — , in Suspension am Kopf oder an den Beinen
sowie der einschnürende, die Functionen der Athmungsorgane
tuberculöser Kinder stark behindernde Verband, in dem die Kinder
mehrere Monate lang liegen müssen, mit sich bringen.
0 Monod, Acad6mie de m6decine, Paris, Sitzung vom U.V. u. 8. VI. 1897.
^) Nebel, Sammlung klinischer Vorträge. Neue Folgte No. 191.
') Lange, Münchener medicin. Wochenschrift. 1897. No. 16.
490 Dr. L. Wullstein,
Bei den 12 bisher veröffentlichten Todesfällen waren 3 Mal
die Narkose, 3 Mal eine sehr bald nach der Operation aufgetretene
Bronchopneumonie, 1 Mal Meningitis und in dem von Malherbe^)
berichteten Falle, wie Hoffa annimmt, Lungenzerreissung die
Ursache, während in den übrigen vier Fällen die Todesursache
sich nicht hatte feststellen lassen; dazu kommen mehrere von
Malherbe^), Vulpius^), Lorenz 8) und Anderen berichtete, übele
Zufälle wie Benommenheit, cerebrale Reizung, Lähmungen, welche
tage- und wochenlang das Leben gefährdeten.
Nun aber zu der Hauptfrage: Was wird aus der Diastase?
Gerade hierauf lässt sich aber eine bestimmte Antwort noch
nicht geben. Wenngleich auch eine Ausfüllung einer so grossen
Lücke an der Wirbelsäule innerhalb von vielen Monaten bei sonst
gesunden Knochen und sonst gesunden Menschen wohl möglich ist,
so ist sie bei einem so destruirenden Process wie der Tuberculose,
welche durch den gewaltsamen Act eher noch in ein florideres
Stadium versetzt wird, nicht wahrscheinlich. Und von wo auch
soll eine derartige ungeheuere Knochenneubildung ausgehen? Das
Periost fehlt regelmässig in der ganzen Ausdehnung der Diastase;
die untere und obere Begrenzung wird in frischeren Fällen zumeist
nur von den mit flockigem, zuweilen rahmigem, schmierigem Eiter
durchsetzten, in ihren Structurverhältnissen kaum noch erkennbaren
Spongiosabälkchen der anstosscnden Wirbelreste gebildet; und nach
hinten finden wir die erhaltene oder zerrissene, entzündlich ver-
dickte Dura mit dem normalen oder gezerrten Rückenmark von
allen Seiten umgeben von den häufig mehr oder weniger in den
Krankheitsprocess hineingezogenen und durch das gewaltsame
Brisement immer in ihrer Verbindung gelockerten, seitlichen und
hinteren Fortsätzen und Wirbelbögen. — Und das Alles bei einem
zumeist elenden, tuberculösen, in dem einschnürenden, circulären
Gipsverbande alimälig abmagernden Kinde!
Aus allen diesen Gründen finden wir nun auch, w^enn wir die
Literatur durchgehen, schon einen Rückgang auf der ganzen Linie;
die Einen wollen schon nur noch eine paragibbäre Correction*)
1) Malherbe, Annales de Chirurgie et d'orthop6die. 1897, No. 7.
') Vulpius, Centralblatt für Chirurgie. 1897, No. 49.
8) Lorenz, Deutsche raedicin. Wochenschrift. 1897, No. 85.
*) Lange, Münchener raedicin. Wochenschrift 1897, No. 16.
Die anatomischen Veränderungen nach Calot^schem Redressement. 491
erzielen, die Anderen wollen etappenweise^) vorgehen und die
Dritten 2) wollen unter scharfer IndicationsstcUung schon nur noch
die leichteren Fälle nach der Calot 'sehen Art behandeln und
sich da eventuell sogar mit einem nur theilweisen Resultat be-
gnügen. Wir meinen, dass wir uns auf die paragibbäre Correction
nur bei den ganz alten, mit grosser Deformität und knöcherner
Ankylose geheilten Fällen beschränken sollen; bei allen anderen
Fällen aber müssen wir das uns von Calot gesetzte Ziel stets im
Auge haben, die vollständige Beseitigung der Deformität und der
tuberculösen Entzündung gleichzeitig anzustreben unter möglichst
günstigen hygienischen Bedingungen und Ernährungsverhältnissen,
aber — im Gegensatz zu Calot — bei vollständiger Conti-
nuitätserhaltung der erkrankten Wirbelsäule.
Soll aber diese letzte Bedingung erfüllt werden, so
ist jedes Redressement ausgeschlossen, ob vollständig
oder partiell, durch w-elches in einem einzigen kurzen
Acte überhaupt eine sichtbare Correction der Deformität
bezweckt und erreicht wird, da jede derartige Correction Dia-
stasen und damit auch alle oben geschilderten Gefahren mit sich
bringt. Wir müssen bei vollständig freien Functionsverhältnissen der
Bauch- und Brustorgane unter ständiger Immobilisirung und Ent-
lastung d. h. den für die Ausheilung der Tuberculose günstigsten Be-
dingungen ganz allmälig durch eine ständig controllirbare, dosirbare
und damit die Continuitätserhaltung der Wirbelsäule und des Rücken-
marks garantirende Dehnung der contrahirten W'eichtheile und der
Wirbelsäule eine Transformation der Wirbel und eventuell des Thorax
zu erreichen suchen. Wir müssen, falls Complicationen auftreten,
jeder Zeit, ohne das Individuum zu gefährden, im Stande sein, die
Behandlung zu unterbrechen und die jeweilige Correction durch ein
Corsett etc. zu fixiren.
Diese Bedingungen können aber nur erfüllt werden durch
einen Lagerungsapparat; der beste bisherige Lagerungsapparat für
Spondylitis ist wohl das Lorenz 'sehe Reclinationsbett ; doch es
ist für diese Zwecke in seiner Form nicht zu gebrauchen, da es
nicht allen genannten Forderungen gerecht wird. Ich habe daher
1) Wolff, Berliner klin. Wochenschrift. 1898, No. 7 und 8.
2) Helferich, Zeitschrift für praktische Aerzto. 1897, No. 16.
492 Dr. L. WiiUstein,
oinen La^eruiigsapparat anfertigen lassen, bei dessen Construction
alle oben genannten Punkte berücksichtigt worden sind. Der
Grundgedanke dabei ist auch hier natürlich wie bei allen seit Jahr-
hunderten gegen den Gibbus angewandten Mitteln Extension, Contra-
extension combinirt mit Reclination und Druck gegen die Spitze
des Gibbus, aber bei ununterbrochener, fast absoluter Immobilisirung
und Entlastung der erkrankten Partieen.
Der Lagerungsapparat ^) stellt sowohl ein Redressionsbett als
auch gleichzeitig eine Redressionsschwebe dar; die Schwebe werden
wir, wie wir später sehen werden, nur ausnahmsweise benutzen,
in dem Redressionsbett dagegen, welches nach einem genauen
Abdruck von dem Körper des betreffenden Individuum — in dem
vorliegenden Falle (s. Fig. 5) aus Holz — gearbeitet ist, soll der
Patient sonst immer liegen.
Bei der Herstellung des Abdruckes liegt das Kind auf dem
Bauch und ist, damit das spätere Bett genügenden Raum für eine
sorgfältige Polsterung gewährt, mit einer bis zur Kniegegend herab-
reichenden, dicken Tafel Watte, über der ein Nesseltuch ausge-
breitet ist, bedeckt, üeber der Hinterhauptsschuppo muss die
Watte in doppelter Lage liegen, denn hier muss, da auf der Hinter-
hauptsschuppe zumeist allein der Zug der Contracxtcnsion lastet,
die Polsterung eine besonders gute sein. Eine Correction des
Gibbus wird bei der Anfertigung des Abdruckes absolut nicht
bezweckt, das Kind hat bei vollständig uncorrigirter Wirbelsäule
den Kopf leicht rcclinirt und die Oberschenkel bei eben ange-
deuteter Hyperextension gespreizt im Winkel von ungefähr 30 bis
40 ^ Das Bett reicht fast bis zur Kniegelenksgegend herunter und
umfasst den Rumpf bis zur vorderen Axillarlinie, sodass eine voll-
ständige seitliche Fixation des Rumpfes ausgeübt wird. In der
Analgegend hat das Bett einen an Charnieren herabklappbaren Aus-
schnitt, durch welchen die Defäcation stattfindet (s. Fig. 6). Das
Bett ruht mit zwei auf jeder Seite befindlichen, in das Bett mittels
Schraubengewinde eingelassenen, eisernen Zapfen, welche in Fig. 6
vor dem herabgenommenen Bett liegend sichtbar sind, auf einem
^) Der Lagerungsapparat ist von dem Bandagisten Friedrich Baumgartel
in Halle a./S. zum Preise von TOM. angefertigt; davon entfallen 12 M. auf das
Bett, den einzigen Theii, der für jeden Patienten neu hergestellt werden muss.
Der Rahmen etc. passt für alle Individuen innerhalb einer gewissen Alters-
grenze — 5 bis 8 Jahre.
Die anatomischen Veränderungen nach Calot'schem Redressement. 493
mit Füssen versehenen , eisernen Rahmen; die Länge der Zapfen
muss mindestens 10 cm betragen, damit nachher, wenn das Bett
entfernt ist und aus dem Redressionsbett eine Redressionsschwebe
(s. Fig. 6) gemacht ist, zwischen Rahmen und Körper so viel Spiel-
raum ist, dass z. B. Gypsbinden bequem hindurchgeführt oder Ab-
waschungen bequem vorgenommen werden können. Das Bett muss
so dem Rahmen aufliegen, dass die Tubera parietalia, die Troch-
anteren und die vorderen Ränder der Malleolen ungefähr in eine
horizontale Ebene fallen.
Die Extension wird bewirkt durch eine am Fussende des Rahmens
befindliche Flügelschraube, welche nach dem Patienten hin in einen
Haken endigt. An diesem Haken eingehängt ist ein Dynamometer,
welches auf seiner anderen Seite mit einem eisernen Bügel ver-
bunden ist; an dem letzteren sind entweder die Spreizbretter der
an die unteren Extremitäten angelegten Heftpflaster-Streckverbände
befestigt, oder es werden an ihn mit Riemen die Gamaschen ein-
geschnallt, mit welchen an den unteren Extremitäten extendirt wird.
Die Gamaschen sind äusserst exakt nach Abdrücken von den Ex-
tremitäten gearbeitet und speciell an den Malleolen und an den
Condylen des Fcmur sind Polsterungen eingelegt, so dass sie sich
hier an den Hauptangriffspunkten für die Zugkraft den Formen
besonders gut adaptiren. Die Unterschenkel ruhen auf einem in
dem entsprechenden Theil des Rahmens ausgespannten Segeltuch,
auf dem die Fersen jedoch nicht mehr aufliegen. Die Füsse werden
durch seitlich am Rahmen befestigte Steigbügel in rechtwinkliger
Stellung zu den Unterschenkeln gehalten und so vor den Einwirkungen
der drückenden Decke bewahrt.
Zur Entlastung der HinterhauptÄSchuppe kann die Contra-
extension, falls der Gibbus nicht in der Halswirbelsäule oder in
der oberen Hälfte der Brustwirbelsäule ist, auch noch an den
Schultern ausgeübt werden. Von zwei an den Rahmen befestigten
Haken verlaufen dann von der hinteren oberen Schultergegend durch
die Achselhöhlen hindurch über die vordere Schulterpartie nach
dem oberen Querbalken des Rahmens zwei mit runder Polsterung
versehene Riemen; die Arme selbst ruhen auf zwei an dem Rahmen
befestigten Brettchen, welche zur Vermeidung von Decubitus auch
am besten gepolstert sind. Die Contracxtension am Kopfe wird
nicht wie sonst gewöhnlich durch eine Sayre'sche Schlinge bewirkt,
494 Dr. L. Wullstein,
sondern der Kopf wird durch ein an den beiden Seiten des Bettes
angeknöpftes Stirnband in der ihm schon bei der Anfertigung des
Abdruckes gegebenen, leicht reclinirtcn Lage fixirt und so ein
Hinübergleiten der Hinterhauptsschuppe über den besonders gut aus-
gearbeiteten und gepolsterten Hals- und Hinterhauptstheil des Bettes
verhindert. Bei dieser Art der Fixirung des Kopfes bleibt der
ünterkieler und das Kinn für die Nahrungsaufnahme vollständig
frei und es fallen alle die Belästigungen, welche gerade der vordere
Theil der Sayre 'sehen Schlinge verursacht, vollständig fort; es
braucht nicht während der Nahrungsaufnahme die Extension am
Kopfe abgenommen zu werden, sondern sie kann unter allen Ver-
hältnissen bei Tag und bei Nacht eine stetige bleiben.
Neben der Extension und Contraextension wird nun eine Re-
clination der Wirbelsäule und damit auch gleichzeitig ein Druck
gegen die Spitze des Gibbus ausgeübt durch einen elastischen Zug,
welcher gerade unter dem Buckel liegt und von hier durch zwei
der Ausdehnung des Buckels entsprechende Ausschnitte der Seiten-
wände des Bettes zu seiner Befestigungsstelle an dem eisernen
Rahmen resp. zu zwei an diesen Stellen dem Rahmen aufgenieteten
Galgen verläuft. Diese aufgesetzten Galgen müssen so hoch sein,
resp. die Seitenwände des Bettes müssen an diesen Stellen so tief
ausgeschnitten sein, dass der elastische Zug in seinem Verlauf
von den beiderseitigen Befestigungsstellen nach dem Buckel an
den Stellen der Ausschnitte dem Bette nicht aufliegt, da sonst bei
Wegnahme des Bettes an dem elastischen Zuge eine Aenderung
des Dehnungscoefficienten eintreten würde.
Erscheint es nun aber wünschenswerth , dass im Laufe der
Behandlung Reinigungen und Abwaschungen zur besseren Haut-
pflege vorgenommen werden, so kann das Bett entfernt werden
(s. Fig. 6) ohne Unterbrechung der Extension und ohne eine Be-
wegung und Erschütterung des Patienten. Zu diesem Zwecke
liegt etwas unterhalb der Trochanterengegend , wo die Seiten-
theile des Bettes wiederum fehlen, ein sonst nicht angezogener
unelastischer Gurt, welchem dann durch Anknöpfen an den Rahmen
eine gewisse Spannung gegeben wird. Unter der Hinterhaupts-
schuppe liegt fernerhin die hintere Hälfte einer aus weichem
Flanell gearbeiteten Sayre 'sehen Schlinge, welche für gewöhnlich
zur weiteren Polsterung dieses Theiles des Bettes beiträgt, bei der
Die anatomischen Veränderungen nach Calot'schem Redressement. 495
Entfernung des BettCvS aber nach Hinzufögung des Kiniitheiles der
Sayre'schen Schlinge den Kopf in seiner Lage erhält. Die
Schlinge wird an dem oberen Bügel des Rahmens befestigt und das
Stirnband zuvor entfernt. Das Bett fällt, nachdem die Zapfen,
mit denen es auf dem Rahmen ruht, ausgeschraubt sind, nach
hinten herunter, ohne dass die Extension, die Reclination der Wirbel-
säule und der Druck auf den Gibbus sich irgendwie ändern und
ohne dass eine Bewegung oder Erschütterung des Patienten ver-
anlasst wird. Alle Manipulationen wie Abwaschen etc. können
jetzt ohne Weiteres vorgenommen werden; ebenso kann das erreichte
Resultat der Redression jeder Zeit, ohne dass eine Lagerungs-
änderung vorgenommen wird, durch einen circulären Gypsverband
oder durch ein Corsett fixirt werden; es würde dabei dann der
elastische Zug und bei einem in der Halswirbelsäule oder oberen
Hälfte der Bi-ustwirbelsäule befindlichen Gibbus auch die Savre-
sehe Schlinge mit eingegypst und nachträglich abgeschnitten.
Es braucht wohl nicht weiter hervorgehoben zu werden, dass,
falls der Gibbus und damit auch der elastische Zug sehr hoch, vielleicht
in Höhe der obersten Brustwirbel ist, unter der Lendenwirbelsäule
noch ein zweiter unelastischer Gurt liegen muss, welcher durch
zwei entsprechende Ausschnitte im Bett nach dem Rahmen hin ver-
läuft und vor Wegnahme des Bettes ebenfalls gespannt werden muss.
Die aus den verschiedenen redressirenden Factoren resultirendc
Wirkung gerade bei diesem hier vor Ihnen im Bett liegenden Kinde
veranschaulichen diese drei Röntgen-Aufnahmcn^), von denen
die erste vor der Behandlung, die andern beiden im Redressions-
bett resp. in der Redressionsschwebe bei einer Extensionskraft von
10 kg angefertigt wurden. Während die letzten .beiden unter sich
keine Verschiedenheiten zeigen, so unterscheiden sie sich von der
crsteren doch wesentlich, denn bei den im Redressionsbctt resp.
in der Redressionsschwebe angefertigten Aufnahmen sehen Sie selbst
an der Stelle des Gibbus schon eine deutliche Differenzirung der
einzelnen Theile der Wirbelsäule, während die vor der Behandlung
angefertigte Röntgen- Aufnahme hier nur einen dunklen Fleck
erscheinen lässt, wie er bei den Röntgenbildern überall da vor-
handen ist, wo mehrfache Knochentheile angehäuft über einander
liegen.
>) Die Röntgen -Aufnahmen werden deraonstrirt.
496 Dr. L. Wullstein,
Ein anderer allerdings nur bis zu einem gewissen Grade ver-
werthbarer Maassstab ist das Verhalten des Kindes. Ist nänalich
im Verlaufe von einigen Stunden nach Ausschaltung des Muskel-
spasmus eine gewisse Stetigkeit in die Kraft der immer nur ge-
linden .Extension gekommen und die letztere nur gerade so stark,
wie sie das Kind ohne Schmerzen ertragen kann, so genügt
schon eine halbe, ja schon eine Viertelumdrehung der Flügel-
schraube resp. die damit verbundene Extensionszunahrae eines
Bnichtheils eines Kilogramms, um das Kind zu lauten Schmerzens-
äusserungen zu verlassen — als Zeichen dafür, eine wie grosse
Dehnung und Zerrung an der Stelle der Erkrankung stattfindet.
Wie stark aber der Muskelspasmus ist und wie lange es währt,
bis er vollständig überwunden ist, zeigt uns das Dynamometer.
Denn sobald das Kind in das Bett gelegt wird und z. B. mit einer
Kraft von 10 kg gezogen wird, so sinkt verhältnissmässig bald
entsprechend der Erschlaffung der Muskeln der Zeiger des Dyna-
mometer herab auf 8, 6, ja 4 kg und erst nach mehreren Stunden,
ja zuweilen erst nach einem halben Tage kommt eine gewisse
Stetigkeit in die Extension; wir haben nun mit einer Kraft zu
rechnen, welche nach Ausschaltung der Muskelcontraction das
Lageverhältniss der erkrankten Knochen beehiflusst. Deshalb
meinen wir, sollten auch diejenigen, welche es vorziehen, die mit
Spondylitis behafteten Individuen während der ganzen Dauer der
Behandlung in einem portativen Apparat umherlaufen zu lassen,
dieselben wenigstens einen halben bis ganzen Tag in einer der-
artigen Redressionss(!hwebe extendiren, dadurch den Muskelspasmus
ausschalten und dann, ohne die Extension zu unterbrechen und
die Lage zu verä.ndern, den circulären Gypsverband anlegen oder
den Abdruck für das Corsett anfertigen, denn niemals wird das
kurze Aufhängen in der Glisson 'sehen Schwebe weder bei der
Spondylitis noch bei der Scoliose die sehr wesentliche und nicht
zu unterschätzende Muskelcontraction genügend beseitigen.
Der Einwurf aber, welcher gegen jeden Lagerungsapparat
wohl gar mit einer scheinbaren Berechtigung erhoben werden kann,
dass die Patienten gezwungen seien, Wochen und Monate in Rücken-
lage zu verhangen, ist nicht stichhaltig, da ja bei dem forcirten
Redressement die Patienten neben all' den Gefahren, welche sie
umschweben, auch Wochen und Monate hindurch sogar in dem
Die anatomischen Veränderungen nach Calot'schem Redressement. 497
unheimlichen Verbände liegen müssen. Aber nicht nur das forcirte,
nein, selbst das geringste in einem einzigen kurzen Acte vor-
genommene, partielle Redressement mit oder ohne Narkose macht
Diastasen in der Wirbelsäule, und daher ist es nach unserer Ansicht
auch hier unmöglich, die Patienten in einem womöglich nur bis zu
den Schultern heraufreichenden Corsett oder circulären Gypsverbande
umherlaufen zu lassen und das an der Stelle der Diastase seiner
knöchernen Hülle beraubte Rückenmark derartiger Individuen den
niemals fehlenden Erschütterungen beim Gange auszusetzen. In dem
Redressionsbett dagegen wird im Gegensatz zu allen anderen Ver-
fahren bei voller Garantie der Continuitätserhaltung der Wirbel-
säule eine ständige Immobilisirung und Entlastung der erkrankten
Partieen und eine geringe Dehnung der Spongiosabälkchen statt-
finden und dadurch eine lebhaftere Entwicklung und Transformation
der letzteren angeregt werden.
Erklärung der Abbildungen auf Tafel I.
Fig. 1. e und f Abscesse in der Muskulatur an der Vorderseite der Wirbel-
körper, von diesen wurde der untere Abscess f bei der nachherigen
Section angeschnitten.
Fig. 2. a Oberes Ende, b unteres Ende der durch das Redressement er-
zeugten Diastase.
c Sequester, nur noch an einem dünnen Periostfetzen hängend,
d Vollständige Fractur der Wirbelsäule.
e und f Abscesse in der Muskulatur an der Vorderseite der Wirbel-
körper, von diesen wurde der untere Abscess f bei der nachherigen
Section angeschnitten.
Fig. 3. a Spitzwinkliger Gibbus.
b Flach bogenförmiger Buckel.
c Abscess an der vorderen und linken Seite der Wirbelkörper.
Fig. 4. a Obere Diastase.
b untere Diastase.
c Kapsel des Abscesses, der bei der Präparation durchschnitten
werden musste.
Fig. 5. Redressionsbett. Am Boden liegt der bei dem Redressionsbett nicht
nothwendige, vordere Thcil der Sayre^schen Schlinge.
Fig. 6. Redressionsschwebe. Am Boden liegt das bei der Redressionsschwebe
nicht nothwendige Stirnband, ferner das herabgenommene Bett und
vor diesem die eisernen Zapfen und der zu dem Eindrehen der Zapfen
in die Schraubengewinde nölhige Schlüssel.
XXVII.
Zur Technik des Redressements und des
Verbandes an der gibbösen Wirbelsäule/)
Von
Dr. Wniplns
in Heidelberg.
Die Thatsache häufiger Todesfölle nach dem Redrcssement
der spondylitisch-dcformirten Wirbelsäule hat die Angaben Calot's,
dass der Eingriff nicht gefährlich sei, modificirt. Die Betrachtung
von Leichenpräparaten lässt Zweifel aufkommen, ob eine solide
Ausheilung der klaffenden Lücke in der Wirbelkörperreihe möglich
sei. Und doch sind wir meines Erachtens verpflichtet, unsere
Versuche mit dem Verfahren vorsichtig fortzusetzen. Deshalb muss
vor allem die ursprüngliche Technik verbessert werden.
Zum Zweck des Redressements ist die manuelle Extension un-
zulänglich, weil ungleichmässig und anstrengend. Sie ist gefähr-
lich, weil die vielen Hände den Narkotiseur stören und auch den
Operateur, insbesondere bei der Verbandanlegung.
Es ist deshalb die horizontale Schrauben extension in irgend
welcher Weise herzustellen, am einfachsten wohl in der Form, wie
ich sie bereits andernorts beschrieben habe, mit Hülfe einer modi-
ficirten Lorcnz'schen Schraube^).
In dieser horizontalen Schwebe bei unterstütztem Becken und
Manubrium Storni kann die Extension, die Impression der Wirbel-
*) Auszugsweise vorgetragen am 2. Sitzungstage des XXVII. Congresses
der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 14. .April 1898.
2) Münchener med. Wochenschrift. 1897, No. 36.
Technik d. Redressements a. des Verbandes an d. gibbösen Wirbelsäule. 499
Säule, die Resection der Darmfortsätze, der Verband bequem be-
werkstelligt werden.
Immerhin hat die verticale Suspension behufs Anlegung des
Verbandes Vorzüge. Das Aufhängen an den Füssen, so sehr es
zunächst abschreckt, ist nicht so übel, es hat sich uns diese
Methode bei etwa 20 Verbänden gut bewährt und keine üebel-
stände gezeigt. Vorzüge dieser Position sind die freie Zugänglich-
keit des ganzen Rumpfes, die Entfeniung des Narkotiseurs aus
dem Arbeitsgebiet, die Möglichkeit direct an der Wirbelsäule und
mit dorsirbarer Kraft eine Gewichtsextension anbringen zu können.
Der Verband rauss den extendirten Kopf mitfassen, wenn ein
dauerndes Bestehen der Correctur gesichert sein soll. Indem der
Verband sich einerseits am Becken, andererseits auf den Schultern,
am Hinterhaupt und Kinn fest aufstemmt, wird die Extension
garantirt und Decubitus an den Dornfortsätzen vermieden.
Dass mittelst dieses Verfahrens auch ungünstig scheinende
Fälle erstaunlich gebessert werden können, möge durch die Be-
obachtung an einem 9jährigcn Jungen bewiesen werden. Seit
5 Jahren bestand Spondylitis und Gibbus, der mächtige Dimensionen
annahm, einen grossen Theil der Wirbelsäule umfasste. In letzter
Zeit erschienen grosse SenkungSabscesse beiderseits. Das Befinden
des anämischen Knaben war sehr schlecht, er konnte kaum gehen
und stehen. Die Absc^esse wurden entleert, mit Jodoform gefüllt
und heilten glatt.
Nach 14 Tagen wurde redressirt, 2 Verbände wurden 8 Monate
getragen, dann durch ein Corset ersetzt. Die Configuration der
Wirbelsäule ist fast nonnal, letztere schmerzlos und anscheinend
consolidirt. Der Knabe hat sich prächtig erholt, ist rothbackig
und munter.
Also es hat den Anschein, als ob die Spondylitis, die De-
formität, der Allgemeinzustand durch das Verfahren ausserordent-
lich günstig beeinflusst worden seien.
Günstiger noch könnten die Verhältnisse und Ileilungsaussichten
bei nicht entzündlichen Deform itälen der Wirbelsäule, namentlich
bei der rachitischen Kyphose sich gestalten. Es ist wohl denkbar,
dass nach Correctur der Belastung die Wirbel sich umformen.
Freilich ist der Entschluss zuiri gewaltsamen Redressement in
solchen Fällen, wo es sich nicht um ein lebensgefahrliches Leiden
500 Dr. Vulpius, Zur Technik des Redressements und des Verbandes etc.
handelt, schwerer. Erfolge habe ich indessen gesehen, unter Anderem
bei einem 5jährigen Mädchen, dessen sehr erhebliche Kyphose
durch das Verfahren mittelst 3 Verbänden in TYa Monaten in einen
massig runden Rücken verwandelt werden konnte, der fixirt zu
sein schien.
Derartige Beobachtungen errauthigen zur weiteren Erprobung
des Oalot' scheu Verfahrens so lange, bis wir ein durch Erfahrung
gesichertes Urtheil fällen können.
XXVIII.
Die Calot'sche Behandlung der tuberkulösen
Spondylitis/^
Von
Professor Ar. Holfo
in Wilrzbai^.
M. IL! Sie alle kennen das grosse Aufsehen, welches die
erste Publication Calot's unter den Aerzten und dem Publicum
hervorrief, und Sie alle wissen, dass Calot seine ersten kühnen
Erwartungen nicht hat in Erfüllung gehen sehen. Er erlebte Ent-
täuschungen, die ihn bewogen, sein erstes gewaltsames Vorgehen
völlig aufzugeben, so dass er zur Zeit die Buckelredression sehr
eingeschränkt hat. Hiermit hat Calot meiner Meinung nach sehr
richtig gehandelt.
Die Frage, die sich jeder von uns wohl vorgelegt hat, ehe er
an die Redression eines Buckels heranging, ist die, ob das Ver-
fahren überhaupt Berechtigung hat. Ist die Redression des Buckels
nicht unmittelbar lebensgefährlich, werden sich nicht im Anschluss
an das gewaltsame Verfahren Abscesse entwickeln, wird sich nicht
die locale Tuberculose generalisiren, droht uns nicht der Ausbruch
einer tuberculösen Meningitis? l^nd wenn diese Gefahren alle
glücklich vermieden sind, wird nach der Redression die entstandene
gros.se Lücke sich wieder mit festem Gewebe füllen, oder wird
nicht vielmehr die Wirbelsäule wieder zusammensinken, sobald der
stützende Verband entfernt ist? Calot hat diese Fragen mit
kühnem Muth zu Gunsten seines Verfahrens beantwortet, und es
*) Abgekürzt vorgetragen am 2. Sitziingstage des XXVII. Congresses der
Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 14. April 1898.
Archiv CUt klin. Chinirgic. 57. Bd. Hoft 3. 34
502 Dr. Hoffa,
muss sich mm zeigen, ob dieser optimistische Standpunkt einer
objectiven Kritik gegenüber eingehalten werden kann. Von vielen
Seiten aus, in Frankreich, England und bei uns in Deutschland
sind Erfahrungen gesammelt worden, und ich möchte ganz kurz
jetzt den Standpunkt skizziren, den wir heute meiner Ansicht
nach dem Calot' sehen Verfahren gegenüber einnehmen müssen.
Es hat sich zunächst gezeigt, dass das Redressement eine
ganze Reihe von Todesfällen zur Folge gehabt hat. Diese Todes-
fälle sind theils der Narkose zugeschrieben worden, theils sind sie
durch Pneumonie, durch Shock, durch Meningitis tuberculosa erfolgt.
Ich kenne aus der Literatur jetzt 14 dieser Todesfälle; doch habe
ich bei der Besprechung mit verschiedenen Kollegen noch von
einer Reihe von Todesfällen gehört, die noch nicht publicirt sind.
Meist war es die tuberculöso Meningitis, der die Patienten erlagen.
Analysirt man diese Todesfälle, so hat es sich in der Regel um
schon viele Jahre bestehende Buckel gehandelt, die mit Ge-
walt eingebrochen waren. In anderen Fällen handelte es sich um
elende Kinder mit Abscessen, Lähmungen und anderen Corapli-
cationen namentlich von Seiten der Lungen. Ereigneten sich nun
auch einige Todesfälle bei noch jüngeren Kindern, so bestand bei
diesen der Buckel doch schon längere Zeit, und müssen wir daher
als erste Oontraindication gegen das Verfahren das Alter des
Buckels bezeichnen. Hat ein Gibbus länger als 3 — 4 Jahre
bestanden, so ist er in der Mehrzahl der Fälle in Ruhe zu lassen,
da sich mit aller Wahrscheinlichkeit eine feste Verwachsung der
Wirbel entwickelt hat. Man hat meiner Erfahrung nach in der
Extension der Wirbelsäule ein gutes Mittel, um zu entscheiden,
ob ein vorsichtiges Redressement gestattet ist oder nicht. Lässt
man ohne Narkose an Kopf und Füssen eine gelinde Extension
ausüben, und sieht man dabei den Buckel sich abflachen, so ist
das ein Zeichen, dass die Thcile noch nachgiebig sind. Dann kann
man, wie gesagt, in gleich zu beschreibender Weise noch einen
weiteren Ausgleich des Gibbus vornehmen. Flacht sich aber der
Buckel nicht ab, so ist vor jeder stärkeren Gewaltanwendung
dringend zu warnen. Ich will gleich hier erwähnen, dass man
auch diesen Patienten noch viel nützen kann, wenn man sie richtig
eingipst, indem man die oberhalb und unterhalb des Gibbus ge-
legenen Partiecn der Wirbelsäule gerade richtet.
Die Calot'sche Behandlaog der tuberkulösen Spondylitis. 503
Es ist nun aber nicht allein das Alter des Buckels, welches
eine Contraindieation gegen das Verfahren giebt. Eine solche wird
vielmehr auch durch den Grad der Buckelbildung gegeben.
An der Zahl der Domfortsätze, die in der Bildung des Gibbus
einbegriffen sind, kann man sich über die Zahl der betheiligten
Wirbel ein ungefähres Bild machen. Stellt man sich nun den bei
der Redression des Buckels vor sich gehenden Process an der
Wirbelsäule vor, so ist es klar, dass bei der Eindrückung des
Buckels ein Klaffen der vorderen Partie der Wirbelsäule zu Stande
kommen wird. Nach den Versuchen von M^nard entsteht bei
Befallensein von 1 — 2 Wirbeln eine Lücke schon von 3—4 cm,
bei Befallensein von 3 Wirbeln eine solche von 5, ja von 8 cm,
und wir müssen es für unmöglich halten, dass bei solchen Defecten
in der Wirbelsäule später eine genügende Tragfähigkeit derselben
zu Stande kommen kann.
Da Herr College Wullstein über diese Frage nachher noch
weiter sprechen wird, will ich weiter nicht auf dieselbe eingehen,
und will nur erwähnen, dass Calot und sein Assistent Ducroquet
behaupten, an Röntgenbildern nachgewiesen zu haben, dass die
Tfiach der Redression des Buckels am Lebenden entstehenden
Lücken in der Wirbelsäule im allgemeinen kleiner sind, als man
dies nach den Leichenbefunden annehmen sollte, indem sich die
stehen gebliebenen Theile der erkrankten Wirbel gewissermasscn
in einander einkeilen. Ob diese Behauptung der Wirklichkeit
thatsächlich entspricht, muss erst noch von anderer Seite be-
stätigt werden.
In den Präparaten, die von den nach der Redression ge-
storbenen Patienten stammen, — und solcher Präparate kennen
wir jetzt schon eine ganze Anzahl, — ist von einer derartigen
Einkeilung nichts zu sehen. Könnten wir uns nun vom patholo-
gisch-anatomischen Standpunkte aus vorstellen, dass kleinere De-
fecte in der Wirbelsäule so reparirt werden können, dass die
Wirbelsäule wieder tragfähig wird, so müssen grössere Lücken die
Trag- und Stützfähigkeit der Wirbelsäule unbedingt 'herabsetzen,
und bilden dalier hochgradige Buckel, wie gesagt, eine absolute
Contraindieation gegen das Verfahren.
Eine weitere Contraindieation gegen irgend ein stärkeres
redressirendes Verfahren bilden Abs c esse. Bei den meisten
34*
504 Dr. Hoffa,
Todesfällen, die an tuberculöser Meningitis erfolgten, ergab die
Scction das Vorhandensein von Abscessen, und es ist leicht zu
verstehen, dass bei dem Redressement die Eiterhöhlen eröffnet und
die tuberculösen Massen in die Blutbahnen fortgeschwemmt werden.
Man hat in der Messung der Temperatur nach dem Redressement
ein fast sicheres Mittel, um sich von dem Vorhandensein vorher
nicht diagnosticirbarer Abscesse zu überzeugen. Sind solche
Absccsse vorhanden, so stellen sich unmittelbar nach dem
Redressement Temperatursteigerungen ein, die man sonst nicht
beobachtet.
Lähmungen der Beine, der Blase und des Mastdarmes
bilden im allgemeinen keine Contraindication gegen das Verfahren;
im Gegentheil haben eine ganze Reihe von Autoren, zu denen ich
auch selbst gehöre, bestehende stärkere Lähmungen unmittelbar
nach dem Redressement zurückgehen sehen.
Fasse ich das Gesagte nochmals kurz zusammen, so warne
ich dringend vor der gewaltsamen Redression älterer und hoch-
gradigerer Fälle. Ebenso warne ich vor einer gewaltsamen
Redression auch geringgradiger Buckel bei jüngeren Kindern, halte
dagegen für erlaubt einen vorsichtigen Ausgleich nicht zu*
lange, d. h. nicht länger als 2 — 3 Jahre bestehender Buckel
bei jüngeren Individuen. Ich empfehle in solchen Fä-Ilen eine
vorsichtige Extension am Kopf und den Füssen des Patienten vor-
zunehmen, einen Druck auf den Gibbus möglichst ganz zu ver-
meiden und die Gorrection der Deformität vor der Eiugipsung der
Eigenschwere des Körpers zu überlassen. Eine Narkose
ist dabei nicht nothwendig. Die Eigenschwerc kommt in der
Weise zur Geltung, dass bei horizontaler Haltung des frei an Kopf
und Füssen extendirten Patienten die Wirbelsäule sich lordotisch
aus biegt. Diese Lordose verstärkt man dann während der An-
leii:ung des Gipsverbandes durch sanften Händedruck. Da später
noch des Näheren von anderen Herren Collegen über die Technik
g(\s|)roclien werden wird, so will ich mich darauf beschränken, zu
sagen, dass mir das Ihnen bekannte ursprüngliche Calot'sche
Verfcihren die besten Resultate geliefert hat, wobei ich aber nicht
unerwähnt lassen will, dass das Mi thereinbeziehen des Kopfes in
den lixirenden Verband zuerst von Schönborn und seinem
Schüler Falkson empfohlen und practisch geübt worden ist. Man
Die Calot'sche Behandlung der tuberkulösen Spondylitis. 505
kann, wenn man Calot's Vorschriften genau befolgt, den De-
cubitus sicher vermeiden.
Was nun meine eigenen Erfahrungen anbetrifft, so habe
ich das ursprüngliche Calot'sche Verfahren mit Resection der
Dornfortsätze viermal geübt. Das vorsichtige Redressement da-
gegen, wie es Calot jetzt auch selbst empfiehlt, 19 mal. Ich
habe also im ganzen 23 Fälle behandelt.
Ich kann nicht anders sagen, als dass ich mit meinen Resul-
taten bisher recht zufrieden bin. Bei zwei Patienten entstanden
nach dem Redressement A bscesse, die vorher nicht nachweisbar
waren. Diese Abscessc habe ich in üblicher Weise mit Function
und Jodofonninjcction behandelt. Von zwei Patienten mit
Lähmungen ging in dem einen Falle die Lähmung vollständig
zurück, schon wenige Tage nach der Redression, in dem anderen
Falle war die Redression ohne Einfluss auf die Lähmung. Was
nun die Beschränkung der Buckelbildung betrifft, so habe ich in
allen Fällen eine oft recht erhebliche Abflachung des Buckels er-
zielt. Mein ältester Fall datirt jetzt 1 Jahr und 4 Monate zurück,
und es kann daher selbstverständlich von einem definitiven
Resultate nicht die Rede sein. Man darf nicht vergessen,
dass es sich neben der Deformität doch noch um eine
tuberculösc Erkrankung der Wirbel handelt, und dass
eine Ausheilung einer solchen Erkrankung mindestens
2 — 3 Jahre beansprucht. Dadurch aber nun, dass man die
Wirbelsäule extendirt, dass man durch lordotische Ausbiegung der
Wirbelsäule in toto die Wirbelkörper entlastet, und dass man dann
die entlastete Wirbelsäule möglichst exact immobilisirt, stellt man
diejenigen Bedingungen her, welche neben der Herstellung
möglichst günstiger Lebensbedingungen die Ausheilung
einer Knochen- oder Gelenktuberculose auf conservativem Wege
am günstigsten beeinflussen.
Ich will Sie nicht länger aufhalten, m. H. Zeit und Er-
fahrungen müssen lehren, ob die erzielten Besserungen Bestand
halten werden, ob die Wirbelsäule später nicht doch wieder die
kyphotische Haltung einnehmen wird. Jedenfalls wird es nöthig
sein, die Behandlung nach Abnahme des typischen Verbandes
durch exact angelegte Stützcorsette noch Jahre lang fortzuführen.
506 Dr. FToffa, Dio Galot'Bche Behandlung der toberkulösen Spondylitis.
Es wäre aber ein Segen, wenn es uns gelingen würde, den
armen Buckligen, welche unter ihrer Deformität oft so sehr leiden,
helfen zu können. Für unsere Hauptaufgabe müssen wir es in
Zukunft jedenfalls ansehen, nicht die Buckel zu redressiren, sondern
der Buckelbildung überhaupt nach Kräften frühzeitig vorzubeugen.
Hatte uns das Lorenz'sche Reclinationsgipsbett in dieser Be-
ziehung schon einen grossen Portschritt gebracht, so wird uns das
Galot'sche Verfahren auf diesem Wege hoffentlich noch einen
guten Schritt weiter bringen.
XXIX.
Ein Vorschlag zur Modification des Calot
sehen Verfahrens.'^
Von
Professor Or. (Schede,
Gell. Hed.-Rath. in Bonn.
(Mit 4 Figuren. )
M. IL! Nach den bereits gehörten Vorträgen kann ich mich
kurz fassen und constatirc zunächst mit Genugthuung die aus den
gesamnitcn Verhandlungen hervorgehende Ueberzeugung der
deutschen Chirurgen, dass die Indicationsstellung für das Caiot-
sche Verfahren gegenüber den Vorschriften des Erfinders wesentlich
eingeschränkt und seine Handhabung eine sehr viel vorsichtigere
werden müsse. Ich stehe in dieser Richtung ganz auf dem Stand-
punkt des Herrn Hoffa und kann also lediglich unterschreiben,
was er gesagt hat. In der That glaube ich, ist wohl einen Jeden
von uns ein Grauen überkommen, als wir zuerst von dem Calot-
schen ausserordentlich brüsken, ja, man darf wohl sagen, rohen
Verfahren hörten, und ich selbst habe mich niemals entschliessen
können, mit seinen Mitteln, mit der uncontrolirbaren Kraft von
6 Assistenten und noch mehr zu arbeiten oder gar, wie es Calot
vorschreibt, unter Anwendung eines sehr beträchtlichen Druckes
auf den Gibbus diesen auszugleichen. Indessen glaube ich, muss
man doch dankbar anerkennen, dass Calot uns gezeigt hat, dass
man den Gibbus wesentlich derber anfassen kann und darf als wir
es bisher zu dürfen geglaubt haben, dass man mit grösserer Kraft
das herbeiführen darf, was auch wir ja durch alle unsere früheren
0 Vorgetragen am 2. Sitzungstagc des XXVII. Congrcsses der Deutschen
Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, U. April 1898.
508 Dr. Schede,
Behandlungsmethoden, die ja im wesentlichen Distractionsmethoden
waren, erstrebten, nämlich dass wir den Druck der kranken Wirbel-
körper aufeinander aufzuheben suchten. Wenn wir mit etwas
grösserer Kraft als bisher und mit grösserer Sicherheit ein leichtes
Klaifen der kranken Wirbelkörper von einander herbeiführen, dem
ulcerösen Decubitus der Knochen, wie Volkmann es so treffend
nannte, sicherer vorbeugen können, so werden wir die kranke
Wirbelsäule unter bessere Verhältnisse bringen, als es bisher
möglich war. Darüber hinauszugehen, den Gibbus noch weiter zu
strecken, die kranken Wirbelkörper so weit auseinander zu reissen,
dass auf der vorderen Seite zwischen ihnen weit klaffende Lücken
entstehen, das hat, auch abgesehen von den Gefahren, die dadurch
heraufbeschworen werden, schon deswegen gar keinen Sinn, weil
man sich gar keine Vorstellung davon machen kann, wodurch
denn diese Lücken ausgefüllt werden sollen. Im allerbesten Falle
doch höchstens durch Granulationen, die sich in Narbengewebc
umwandeln, schrumpfen und dabei den Gibbus wieder herstellen
müssen. Will man das dann durch V^erbände hindern, so wird
man auch die Ausheilung hindern, in vielen Fällen aber an den
Stützpunkten des Gipsverbandes, Hinterhaupt und Becken, nament-
lich aber an ersterem, Decubitus bekommen und dann die ganze
Behandlung aufgeben müssen. Aber wie gering ist bei diesen
tuberculösen Processen selbst die Aussicht auf eine gesunde
Granulationsentwicklung! Und welche Gefahren bei einer zu starken
Streckung drohen, darüber brauche ich nach dem, was Sie heute
gehört haben, kein Wort mehr zu verlieren.
Es ist nun natürlich einfach eine Fnige der Technik, wie wir
am besten unser oben bezeichnetes Ziel erreichen. Wir wollen mit
einer massigen, genau controlirbaren Kraft eine gewisse Distraction
der kranken Wirbelsäule herbeiführen und sicher durch längere
Zeit hindurch aufrecht erhalten, um den Druck der kranken
Wirbelkörpcr aufeinander ganz aufzuheben. Dazu brauchen wir
allerdings eine massige Abflachung des Gibbus und können damit
wohl sicher etwas weiter gehen, als es bisher durch die Rauch-
fu SS 'sehe Schwebe, die Extension an der Glisson 'sehen Schwinge,
den Sayre'schen Jurymast und die übrigen zu seinem Ersatz er-
fundenen Stützapparate für den Kopf geschehen ist.
In welcher Weise ich durch eine Modification des Calot'schen
Ein Vorschlag zur Modificatioii des Calot'schen Verfahrens. 509
Verfahrens dieses Ziel zu erreichen versucht habe, möchte ich Ihnen
jetzt kurz demonstriren.
Der Patient (hier durch das Phantom eines Kindes dargestellt,
bei welchem der Buckel durch eine Stahlfeder nachgeahmt ist)
liegt mit der Bauchseite auf einem Gestell (Fig. 1) dessen mittlerer
Thcil einem kurzen und schmalen Tisch ähnelt. Die Platte des-
selben ist in mehrere quere., bankartige Stücke zerlegt, die be-
liebig entfernt oder auf- und abwärts verschoben werden können.
(Die Figur zeigt bei a einen stehengebliebenen, bei b den bei
Seite gesetzten Theil.) Die Stirn des Kindes ruht auf einem 5 cm
breiten Lederstreifen (c), welcher je nach der Grösse des Patienten
an seinen seitlichen Tragstangen in weiten Grenzen auf- und ab-
wärts verschoben werden kann. Das Gesicht ist also völlig frei
zugängig, so dass eine Narkose, wo sie noth wendig sein sollte,
leicht ausführbar ist.
Die Querstange (e) des am Kopfende des Apparates in
horizontaler Richtung vorspringenden Rahmens (d e f ) dient als Be-
festigimgsort für die Extensionsschnüre der Arme und des Kopfes.
(Erstere hängen in der Figur senkrecht herab, um auf dem Bild
die Art der Construction nicht zu undeutlich zu machen. Soll der
Apparat in Thätigkeit treten, werden sie natürlich über den Kopf
erhoben.) Die Extensionsschnüre für den Arm greifen an gut an-
liegenden Ledermanschetten an, welche fest um die Handgelenke
geschnallt werden.
i Eine besonders wichtige Aufgabe schien es mir, die Extension
^m Kopf so zu gestalten, dass das Anbringen des bleibenden, den
Kopf stützenden und hebenden Verbandstückes dadurch nicht er-
schwert wird. Die Anfügung des Gipsverbandes für Hals und
Kopf an den Rumpftheil des Verbandes bildet bekanntlich durch
feeine Schwierigkeit, die durch den üebergang zur verticalen Sus-
pension nur theilweise gehoben wird, und durch die Zeit, die er
in Anspruch nimmt, einen besonders schwachen Theil der Calot-
schen Technik, und. das Product aller Mühen, der plumpe, un-
gefüge, starre Gipsverband bringt zudem dem Patienten in ganz
hervon'agendcr Weise die Gefahr eines ausgedehnten Decubitus am
Hinterkopfe, der um so leichter eintritt, als der starke, auf den
ganzen Hinterkopf wirkende Druck offenbar sehr bald eine allgemeine
Anästhesie der Haut herbeiführt, welche bewirkt, dass audi sehr
Ein Vorschlag zur ModiRcntion des CalotVlien Verfahrens.
511
cmiirmdlichc Kinder trotz des Decubitus über keine Schmerzen
klagen.
Zu der schon genannten Aufgabe trat also als /weite die, die
Technik so zu modificiren, dass das Kopfslück des Verbandes
ohne jeden Stellungswechsel, also ohne üebergaog aus der Dis-
traction in horizontaler Richtung zur verticalcn Suspension und
512 Dr. Schede,
ohne jede Acndcrung der distrahircnden Kraft angefügt werden und
als dritte die, das Kopfstück so mit dem übrigen Verband zu ver-
binden, dass CS jeden Augenblick entfernt und nach Gefallen
wieder in Benutzun;^ gezogen werden konnte, um so die nr.lhige
Ucborwachnng der gedrückten Theile des Hinterhauptes zu ge-
statten.
Diese Auffrabcn habe ich säinratlich dadurch zu lösen gesucht,
dass ich den Kopftheil di'S Verbandes über einem genauen Gips-
aiiguss in festem Leder herstellen liess. i,Man kann das Gips-
negativ ohne Schwierigkeiten herstellen, wenn mau den Kopf vor-
her mit einem Gunimibeutel oder auch einfach mit einem Tricot-
schlauch überzieht, in welchem nach Art einer Maske für Augen
und Nase Löcher geschnitten sind.) Der Haujittheil dieser Lcdcr-
hülsc {s. Fig. 3), welcher der Hinterhauptsschuppe entspricht, geht
nach vorn in den Stirntlieil über, welcher in der Slitte getheilt ist
nnd nach dem Anlegen durch Riemen und Knopfe zusammen-
gehalten wird. Der ganze Apparat ist sehr sorgfältig mit einer
dicken Lage weichen Filzes ausgekleidet und somit so gleichmässig
glatt gepolstert, wie es durch Watte niemals erreicht werden kann.
Ein Vorschlag zur Modification des Calo tischen Verfahrens. 513
Der den Unterkiefer und das Kinn umgreifende Theil kann für
sich entfernt werden. Eine verstärkende Stahlspange umgreift in
einem nach dem Halse zu absteigenden Bogen den Hinterhaupts-
theil und endet hier in einem, dem Zahn des Epistropheus ent-
sprechenden kurzen, cylindrischen Zapfen. An der Hinterhaupts-
spange und an der Spange, welche dem Kinntheil seine Festigkeit
verleiht, sind je zwei Oesen eingeschraubt. Durch diese werden
feste Schnüre gezogen, und mit deren Hülfe kann nun, nachdem
das Kopfstück angelegt ist, an diesem selbst die Kopf-
extension angebracht werden. Das Kopfstück des Ver-
bandes ist also schon fertig, ehe die ganze Procedur be-
ginnt.
Dem Fussende des Gestelles sind 2 Stangen angefügt, welche
an ihren Enden je einen Kurbelapparat tragen, ganz ebenso, wie
ich dieselben für meinen Apparat für die Einrenkung der an-
geborenen Hüftluxation verwende.
Das Verfahren gestaltet sich nun sehr einfach folgender-
raaassen :
Zuerst wird der lederne Kopftheil angelegt, von dessen ge-
nauem Passen man sich selbstverständlich vorher überzeugt haben
muss. Denn legt man das Kind auf den Tisch und befestigt die
Contraextensionsschnüre für den Kopf und für die Arme an der
Querstange (e). Die Extensionsschnüre, welche durch Umdrehung
der Kurbeln (k) angespannt werden sollen, greifen an ledernen
Knöchelgurten an. Dynamometer (gg) sind beiderseits in den Ex-
tensionszug eingefügt, welche den Grad der verwendeten Kraft
jeden Augenblick abzulesen gestatten. Jetzt beginnen die Um-
drehungen der Kurbeln und damit die Streckung des ganzen
Körpers, und es ist nun im höchsten Grade überraschend, zu
sehen, welche geringe Kraft genügt, um in frischeren Fällen (ich
habe bisher niemals mehr als 2 Jahre alte dem Verfahren unter-
worfen) eine ganz beträchtliche Abflachung des Gibbus zu erreichen.
Eine Zugkraft von 15 — 20 Kilo auf jeder Seite habe ich bisher
nie überschritten. Und das wird so leicht ertragen, dass es
absolut überflüssig zu sein scheint, die Kinder zu narkotisiren. Ich
habe es in den ersten Fällen noch gethan. Als ich mich aber
überzeugte, wie spielend leicht eine genügende Streckung der
Wirbelsäule erreicht wird, habe ich die Narkose weggelassen
514 Dr. Schede,
und mich jetzt schon in drei Fällen überzeugt, dass das
ganz gut geht. Die Kinder geben kaum einen Laut der
Klage von sich, und begreiflicher Weise liegt auch darin ein
nicht zu unterschätzender Vortheil.
Man braucht sich nur die Lage vorzustellen, in welcher ich
einmal war, dass eine schwere Chloroformasphyxie eintritt, wenn
man eben mit dem Gipsverband fertig ist, und nun, um künst-
liche Athembewcgungen und die König'sche Herzmassage aus-
führen zu können, diesen erst wieder entfernen rauss, um denselben
ganz zu würdigen. In meinem Falle lief die Sache noch gut ab,
aber ich kann wohl sagen, dass die Situation zu den unangenehmsten
und aufregendsten gehörte, die ich je erlebt habe.
Hat man den gewünschten massigen Grad von Abflachung
des Gibbus erreicht (es kostet immer eine gewisse Ueberwindung,
sich auf dieses Maass zu beschränken und nicht die volle Streckung
herbeizufuhren, so leicht arbeitet der Apparat), so entfernt man
zunächst die eine der beiden Stützen a und b und rückt die
andere so, dass nur die Oberschenkel noch unterstützt sind. Das
Kind liegt also jetzt nur auf Stirn und Oberschenkeln, Brust,
Bauch und Becken sind völlig frei. Nun wird der Körper von den
Trochanteren bis zur Axelhöhle mit einend grossen Stück dicken,
weichen Filzes umgeben, der sich unter geeigneter Dehnung den
Körperformen ganz faltenlos und glatt anschliesst und in diesen
eingenäht, allenfalls kann aber auch dieser Theil des Verfahrens
schon vor der Extension besorgt werden. Zwei doppelte Streifen Filz
werden dann noch zu beiden Seiten der Process spinosi mit
einigen Stichen befestigt, um diese ganz sicher vor Druck zu
schützen und endlich auch um Darmbein kämme und Spinae noch
eine zweite Lage Filz gelegt. Nun kann in wenigen Älinuten der
Gipsverband um den Thorax angelegt werden.
Um nun die Verbindung zwischen Gipsverband und Kopfkappe
herzustellen, benutze ich ganz einfach die hufeisenförmige, in ihrem
oberen Thcil gehärtete, in ihrem unteren weiche Eisenspange, die
Ihnen allen von dem Sayre'schen Jury'mast her bekannt ist, nur
mit der Modification, dass dieselbe an ihrem oberen Ende eine
Hülse trägt, welche den nach abwärts gerichteten cylindrischen
Zapfen der Hinterhauptsspange aufnimmt (Fig. 4, H). Man hat also
nichts weiter zu tliun, als diese Hülse über den Zapfen zu schieben,
Eid Vorschlag xor Hodiflcation des Calot'schen Verfahre
515
den unteren Theil dor Spange don Körperrormen gut anzupassen
und diesen dann mit 2—3 Gipsbinden um Thorax zu bercstigcn.
Damit ist der gan^e Verband fertig — in einer viel kürzeren Zeit,
als zur Beschreibung des Verfahrens erforderlieh ist. Sie werden
ohne Weiteres zugeben; die Erhaltung des beabsichtigten Grades
dor Wirbelsäulcnstreckung ist völlig eben so sicher, wie im Calot-
schen Gipsverband, aber nicht nur das Anlegen des Verbandes un-
endlich viel weniger mühsam und gefahrvoll, sondern aueh die
Existenz des Patienten in demselben eine ungleich behuii^licherc
und angenehmere. Bei voller Extcnsionswirkung gestaltet der
Apparat nicht nur Drehbewegungen des Kopfes, sondern es wird
auch, wenigstens für die Spondylitis der tieferen Wirbelsäulen-
516 . Dr. Schede, Modification des Calot'schen Verfahrens.
abschnitte, kaum einen Anstand haben, eine gewisse Nickbewegung
zu gestatten. Zu diesem Zweck ist dicht unterhalb des Dreh-
gelenks ein Ghamier (Ch, Fig. 4) mit querer Axe angebracht, dessen
Excursionen durch eine Schraube (S) regulirt und event. ganz ge-
hindert werden können.
Fig. 2 zeigt einen Patienten in dem fertigen Verband. Um
das Kopfstück abzunehmen, hat man nur den Schraubenstift St,
Fig. 4, herauszuziehen, welcher das Charnier Ch zusammenhält.
Das obere Stück der Spange, welches die cylindrische Hülse H
trägt, kann nun leicht entfernt werden, womit die Verbindung
zwischen Kopftheil und Thoraxtheil des Verbandes ohne Weiteres
gelöst ist.
Gestatten Sie mir noch zwei Bemerkungen zur Discussion.
Wenn ich Herrn Lorenz richtig verstanden habe, so verzichtet er
vollständig auf eine Stütze für den Kopf. Das würde ich nicht
einmal für die Erkrankungen der Lendenwirbelsäule für richtig
halten — meiner Meinung nach hört jede Sicherheit, eine gewisse
Distraction aufrecht zu erhalten, mit dem Weglassen der Kopf-
stütze auf.
Gegenüber dem Vorschlag des Herrn W ulistein aber muss
ich doch sagen, dass ich die Rückkehr zu einer Behandlung der
S|)ondylitis in dauernder Rückenlage für einen grossen Rückschritt
haiton würde. Und darin liegt meines Erachtens in meiner Modi-
fication ein weiterer grosser Vorzug vordem ursprünglichen Calot-
schen Verfahren. Der Verband wird so leicht, dass die Patienten
damit ohne Weiteres herumgehen können, ganz ebenso, wie sie es
im Sayre'schen Jurymast oder ähnlicIuMi Apparaten thun. Aber
die Erhaltung der gewünschten Streckstcllung ist eine wesentlich
sich(Tere geworden, als bei diesen älteren Methoden.
XXX.
(Aus der chirurg. Klinik des Herrn Prof. von Bramann
zu Halle a. S.)
Ein Fall von Fractur der Diaphyse des
Oberarms mit bisher noch nicht beobachteter
Wirkung des 8treckverbandes.
Von
Dr. Rammsledl,
Assistenzant der Klinik.
(Mit 2 Figuren.)
Bei allen Oberarm brüchcn, des Kopfes und Halses sowohl,
als auch des obersten Drittels des Schaftes wird neben dem unter
Distraction der Bruc^henden angelegten Gypsverbande oder anderen
fixircnden Verbänden, ebenso häufig der Streckverband mittelst
Heftpflasterstreifen angewandt. Besonders Bardenheuer bediente
sich früher der Heftpflasterstreckverbände auch an den oberen Ex-
tremitäten in der ausgiebigsten und sinnreichsten Weise, mit guten
Resultaten, allerdings waren die Kracnken durch die oft compli-
cirten Streckvorrichtungen während der ersten Wochen der Be-
handlung dauernd an das Bett gefesselt; die Gewichtsextension bei
ambulanter Behandlung an den oberen Extremitäten, speciell am
Oberarme schätzte Bardenheuer im Allgemeinen nicht, weil das
Glied und die Gelenke, um eine gute Streckwirkung zu erzielen,
ruhig gestellt werden müssen durch Anwickelung mittelst Binden
an den Thorax, und weil ferner nur eine Längsextension der Frag-
mente, eine Zugwirkung auf dieselben nach der Seile aber nur
unvollkommen ausgeführt werden kann. Diesem Nachtheil glau))t
Bardenheuer durch die Anwendung seiner Extensionsmaschinen
für die oberen Extremitäten abgeholfen zu haben. Wir haben in
Arehi? Ar klio. Chiruri^ie. 57. Bd. Heft 3. 35
518 Dr. Rammstedt,
der hiesigen Klinik bei Oberarmbrüchen neben der Extensions-
behandlung im Bett ebenso häufig zur ambulanten Behandlung den
Gypsverband und in geeigneten Fällen auch den Heftpflasterstrock-
verband bei rechtwinklig gebeugtem Vorderarm unter Fixation des
ganzen Gliedes an den Thorax durch einige Bindentouren ange-
wandt und konnten mit den Erfolgen dabei durchaus zufrieden
sein. Um so auffallender war uns der Misserfolg bei der Exten-
sion eines ambulant behandelten Oberarmbruches, ein Misserfolc:,
der uns besonders ins Auge fiel, ausser durch den objectiven Befund
an der Patientin, durch die mehrfach angefertigten, vergleichenden
Röntgen-Aufnahmen, welche seiner Zeit bereits auf der Natur-
forscher-Versammlung des Jahres 1897 zu ßraunschweig ausgestellt
waren und Interesse erweckten. . Die nähere Beschreibung dieses
Falles glaubte mein Chef, Herr Professor von Bramann, nicht
schuldig bleiben zu dürfen, dem ich für die Ueberlassung desselben
an dieser Stelle meinen Dank ausspreche.
Es handelte sich um ein 15 jähriges Mädchen, Martha K. aus Halle,
welches am 27. Juni 1897 in der Dunkelheit in eine lYg ™ ^i^f© Müllgrube
gefallen war, angeblich auf den rechten Oberarm. Sie empfand sofort heftige
Schmerzen in demselben und vermochte ihn nicht mehr zu bewegen, doch
wurde erst am anderen Tage, als der Oberarm bis zur Schulter stark ange-
schwollen war, ein Arzt consultirt, welcher einen Oberarmbruch constatirte und
das Mädchen der chirurgischen Klinik überwies.
Hier untersuchte ich dasselbe zuerst Nachmittags am 28. Juni
und machte folgende Wahrnehmungen:
„Für sein Alter wenig gut entwickeltes anämisches Mädchen, von sehr
gracilem Knochenbau, schlecht entwickelter Musculatur und entsprechend ge-
ringem Fettpolster, mit allen Zeichen der Chlorose. Der rechte Oberarm im
oberen Drittel hinauf bis zur Schulter ist stark angeschwollen, die Haut
darüber gospannt und am vorderen und seitlichen Umfange des Schulter-
gelenks braun-gelb verfärbt. Der rechte Arm hängt schlaff herab und ver-
mag ohne Schmerzäusserung nicht bewegt zu werden. Die manuelle Unter-
suchung ergiebt direct unter dem Collum chirurgicum erhöhten Druckschmerz,
abnorme Beweglichkeit und Crepitation; es Hess sich leicht ein Querbruch des
Humcrusschaftes foststellen mit seitlicher und geringer Längs Verschiebung der
Fragmente zu einander, da.'i obere Frapnont stand etwas nach aussen und oben,
der Ifunieruskopf dicht unter dem Acromion in der Gelenkpfanne. — Da Auf-
nahme in die Klinik nicht nöthig erschien und ausserdem wegen dos Kosten-
punktes von der Muttor verweigert wurde, beschloss ich die Patientin ambulant
Ein Fall von Fraelur <icr Diajjhjse des Oberarms etc.
519
mit einem II eflpfl aste rstreck verbände zu behandeln. Um Jedoch die Wirkung
desselben genau conlrolliren lü können, machte iuli vor Anlegung desselben
eine Königen aufnähme, welche in Figur 1 wiedergegeben ist und die Diagnose
beslÄligte.
Figur 1 zeigt eine winklige Stellung der Fragmente zu einander mit der
Spilr.e des Winkels nach aussen. Das obere Fragment ist durch den Zug des
Deltoideus nach aussen und oben, das untere dnrch den Zug des Triceps nach
hinten und oben dislocirt, so dass eine Verkürzung des Humerus durch die
Längs Verschiebung der Fragmente 7,u einander von ungefähr nur I cm vor-
handen war. Der Kopf steht Tollkommen in der Gelenkplanne.
Der He ftp (last erstreck verband wurde in der üblichen WHse angelegt in
Form der das Ellenbogengeienk umgreifenden I le ftp Haste ran sa. Die Streifen
begannen dicht unter der Bruchstelle, um bei dem schwachen Gliede eine
möglichst grosse Angriffsfläche zu gewinnen, zumal dieselben dicht oberhalb
der Condylen des Ellenbogengelenks, welche durch Walteeinwiokehing ge-
schützt waren, aufhörten, anzugreifen. Da das obere Fragment nach aussen
und oben dislocirt war, wurde in die Achselhöhle, um ein Au fein and erliegen
der Haut zu vermeiden, ein nur dünnes VVattepolster eingeschoben. Der
Oberarm und rechtwinklig flectirte Unterarm wurden durch Desaulttouren
an den Thorax fixirt, wobei durch einige festere Touren Sorge getragen wurde,
das nach aussen und obeiv abgewichene obere Fragment möglichst nach innen
zu leiten. Das Extensionsbreltchen wurde mit einem Gewicht von nur 4 l'fund
belastet, welches ich bei dem schwächlichen Körperbau der Patientin für aus-
reichend zur Distraction der Fragmente halten durfte. Nach 2 Tagen sollte
dieselbe zur Durchleuchtung wieder kommen. — Durch ein Missverständniss
jedoch wurde die Pntrentin, da der Verband anscheinend gut lag und nicht
über Schmerzen geklagt wurde in der poliklinischen Sprechstunde forlgeschickt
und in '.i Tagen wieder bestellt, so dass ich sie erst nach 5 Tagen wieder zu
35'
520 Dr. Rammstedt,
Gesicht bekam. Sic gab auf Befragen an, das Gewicht habe tüchtig gezogen,
auch während der Naciit habe sie es zum Bett heraushängen lassen. Wir
konnten danach hoiTen, dass die Streckung des Armes von Erfolg begleitet
war. Um so grösser uar unser Erstaunen, als die Ron Igen aufnähme unseren
gehegten Erwartungen direct wiedersprach,
Fig. 2.
t'i^ur 2 zeigt, dass die winklige Sielhing iler Fragmente zu einander nicht
mehr vorhanden ist, vielmehr stehen beide parallel neben einander, doch ist
die Verschiebung ad longiludinem der Bruchendcn ta einander noch grosser
geworden, fast 3 cm und zwar dadurch, dass das obere Fragment nach unten
gesunken ist. Der Kopf dos llumurus steht fast unterhalb des Tuberculum
infraglenoidale, heinahe subluxirt. Am seillichen Umfange des Gelenks fehlt
die sonst durch den Kopf hervorgerufene Rundung, der Raum unterhalb des
Arcromion ist leer. — Nach Abnahme des Verbandes mil Ausnahme der Heft-
pflaslerstreifen entsprach der objeclive Befund dem Röntgenbilde.
Die Rundung der Schulter am vorderen und seitlichen Umfange fehlte,
die Pfanne war leer und konnte man mit dem Finger unterhalb des Acromion
nach der Pfanne hin eindringen. Am unteren Rande derselben war der Kopf
zu fühlen. Wie wir uns an der Palienlin und auch am Köntgcnphotogramm
überzeugen konnten, lagen die llefipllasterstreifen genau in der Höhe, an der
Innenseite sogar noch unterhalb der Fracturs teile, kannten also nicht zu hoch
angelegt sein und vielleicht einen Zug auf das obere Fragment ausgeübt haben,
Ein Fall von Fractur der Diaphyse des Oberarms etc. 521
■
ganz abgesehen davon, dass, wie Bardcnhener nachgewiesen hat, die Heft-
pflasterstreifen zur longitudinalen Extension unbeschadet der Wirkung bis über
die Bruchstelle hinaus geführt worden können.
Um so auffallender blieb dieser Befund. Eine Erklärung da-
für scheint uns in dem schwächlichen Kcirperbau und speeiell in
der schlaffen, den Knochen umgebenden Musculatur der Patientin
zu finden zu sein. Die dauernde Belastung von 4 Pfd. hatte einen
solchen Zug an der Schulter ausgeübt, dass eine Erschlaffung und
Dehnung der Gelenkkapsel eintrat. Das obere Fragment sank
infolge dessen nach unten, einmal vermöge seiner eigenen Schwere,
sodann aber auch durch den Zug der kurzen Theile des Musculus
Triceps, welcher am hinteren Umfange des Huraerus direct unter
dem Kopfe zu inseriren beginnt. Nur so müssen wir die Ver-
grösserung der Längsverschiebung der Bruchenden zu einander er-
klären, da die anderen Muskehi, welche am oberen Fragmente
noch ansetzen, einen Zug nach unten nicht ausüben können. —
Der weitere Verlauf dieses Falles war folgender:
Durch Unterstützung am Ellenbogen gelang es leicht den Kopf wieder in
die Pfanne dicht unter das Acromion zu heben. Da die Fragmente mit ein-
ander seitlich bereits leichte Verwachsungen eingegangen waren, wurden sie
wieder beweglich gemacht und versucht die Bruchflächen in Contact zu bringen
und zugleich den Kopf in der Pfanne zu halten. Während letzteres leicht ge-
lang durch Unterstützung am Ellenbogen, war es nicht möglich durch geeignete
Maassnahmen, Zug und Gegenzug etc. die Bruchllächen an einander zu halten.
Wir mussten uns deshalb zunächst damit begnügen die Capseldehnung zu be-
seitigen und den Kopf wieder in die Pfanne zu gewöhnen und legten deshalb
ohne Rücksicht auf die Stellung der Fragmente einen Desaultverband an mit
Unterstützung des Ellenbogens.
Abnahme dieses Verbandes nach 8 Tagen. Die Schulter hatte wieder
ihre normale Rundung, der Kopf stand auch ohne Unterstützung fest im Ge-
lenk, doch war die Verschiebung der Fragmente zu einander ungefähr dieselbe,
wie nach Abnahme des Streckverbandes geblieben, wie wir mittelst Röntgen-
aafnahme controlliren konnten. Durch erneute Versuche die Bruchflächen in
Contact zu bringen, und durch geeignete Verbände in demselben zu halten,
mussten wir befürchten, die beseitigte Gapseierschlaffung wieder zu schaffen ;
Herr Prof. von Bramann entschloss sich deshalb nach Stägigem Zuwarten,
in welcher Zeit die Gelenkkapsel sich noch mehr festigte, die Knochennaht
auszuführen, da die messbare Verkürzung des verletzten Oberarms doch 2^/3 cm
betrug und die Callusbildung und die, durch die deforme Stellung der Frag-
mente bedingte, Umformung des Knochens dicht unterhalb des Kopfes keine
günstige gewesen wäre.
Operation am 19. Juli. 10cm langer Schnitt, 2 querfingerbreit unter
522 l)r. Hammstedt,
•
dem Processus coracoideus beginnend, am vorderen Ilande des Deltoideiis im
Längsverlaufc des Gliedes bis auf den Knochen, Freilegung der Bruchstelle,
Ablösung des Periosts rings um dieselbe. Die Fragmente sind seitlich mit ein-
ander durch jungen Callus verwachsen, lassen sich jedoch leicht von einander
trennen. — Das obere Fragment wird durch einen Kesectionshaken aus der
Wunde nach oben gehebelt, das untere durch geringen Zug und Druck am
Ellenbogen. Die quer verlaufenden Bruchflächen sind durch junges Bindegewebe
bereits geglättet und werden deshalb mit der Säge angefrischt, doch so, dass
kaum V2 cm der Länge des ITumerus fortfällt. Genaue Adaption und Fixation
der Bruchflächen mittelst einer Silbernaht. Vernähung des Periost. Naht der
Weichtheile ohne Drainage. Gipsverband mit Schulterkappe. Reactionsloser
Wundverlauf.
3. 8. 1. Verbandwechsel. Primäre Heilung. Entfernung der Nähte.
Fragmente liegen gut aneinander, sind fast consolidirt, federn aber noch.
Neuer Gipsverband. 3. 9. 2. Verbandwechsel. Wunde vernarbt. Bruchstelle
fest. Massage. Medico-mechan. üebungen. 10. 10. Fat. mit vollkommen
normaler Function im rechten Schultergelenk entlassen.
Eine andere Erklärung für die seltsame Wirkung des Stree-k-
verbandes in diesem Falle, als die oben bereits angeführte, scheint
uns nicht geboten. Kapseldehnnngen der Gelenke nach Extensions-
verbänden, besonders am SchultergehMik, sind sclion seit längerer
Zeit vielfach beoba(*.htet und bekannt, eine derartige aber, wie in
unserem Falle, dass das obere Fragment heruntersinkt und die
Dislraction der Bruchenden vollkommen vereitelt wird, war Insher
unseres Wissens nocli nicht beobachtet. Bekanntlich ist bei an-
ämischen Zustünden, spcciell Chlorose oft eine allgemeine motori-
sche Sclnväche vorhanden, welche sich in raschem Ermüden der
willkürlich inervirten Muskeln und beständigem Mattigkeitsgcfiihl
äussert. Um so wahrscheinlicher ist es, dass die an sich schon
schlaffen Weichtheile, und besonders die Gelenkkapsel eines an-
ämisclien jungen Mädchens, durch den angelegten Streckverband
noch mehr gedehnt wurde, als dies bei einem ganz gesunden
Menschen der Fall sein würde. In einem ähnlichen Falle dürfte
es sich deshalb empfehlen, den Streckverband überhaupt nicht,
oder nur unter dauernder ControUe, das heisst, im Bette anzu-
wenden.
Im IJebrigen zeigt unser Fall zur Evidenz, wie werthvoU bei
der Behandlung von Fracturen controllirende Rüntgen-Aufnahmen
derselben im Verbände sind. —
Ein Fall von Fractur der Diaphyse des Oberarms etc. 523
Literatur.
1. Bardenheucr, Die Verletzungen der oberen Extremitäten. Deutsche
Chirurgie. B. 63 ab.
2. Derselbe, Die permanente Extension. Stutt<?art, Enko 1889.
3. Derselbe, Leitfaden der Behandlung von Fracturen und Luxa-
tionen der Extremitäten mittelst Feder- resp. Gewichtsextension. Eben-
daselbst 1890.
XXXL
Beiträge zur Technik der Operation des
Magencarcinoms. '^
Von
Professor l>r. JT. Ifllkiillcs
in Breslau.
M. H.! Die Enderfolge der Rescction des carcinomatösen
Jlagens lassen, wenn auch eine stattliche Zahl von dauernd ge-
heilton Fällen bekannt ist, doch noch viel zu wünschen übrig,
besonders wenn man sie mit den stetig besser werdenden Resul-
taten bei anderer Localisation des Oarcinoras, namentlich bei Brust-
und Gebärmutterkrebs vergleicht. Freilich liegen die Verhältnisse
beim Magencarcinora für den Chirurgen ungleich schwieriger als
bei den eben genannten Localisationen. In der Mehrzahl der Fälle
bekommt der Chirurg den Kranken erst in einem Stadium zu
Gesicht, in welchem eine radicale Operation unausführbar erscheint,
und man gezwungen ist, sich auf die palliative Operation — die
Gastroenterostomie — zu beschränken. Die Schuld an diesen Ver-
hältnissen wird vielfach dem innern Arzt beigemessen, ich glaube
aber, in den meisten Fällen mit Unrecht. Der Kranke wird dem
Chirurgen zu spät überwiesen, weil sich die Krankheit selbst zu
s[)ät bemerkbar macht; nur die am Pylorus sitzenden stenosirenden
Carcinome, die alsbald zu schweren funktionellen Störungen führen,
können rechtzeitig diagnosticirt und in einem relativ frühen Stadium
dem Operateur überwiesen werden. Die meisten anderen Formen,
namentlich die gar nicht seltenen Carcinome der kleinen Curvatur
*) Auszugsweise vorgetragen am 2. Sitzungstage des XXVI I. Congresses
der Deutschen Geseilschaft für Chirurgie zu Berlin, 14. April 1898.
1
Beiträfi^e zur Technik der Operation des Magencarcinoms. 525
verlaufen Monate lang latent und machen sich erst in einem
Stadium bemerkbar, wenn bereits ein grösserer Theil der Magen-
wand infiltrirt, die Lymphdrüsen in weiter Ausdehnung ange-
schwollen und vielleicht gar schon Metastasen im Peritoneum und
in entfernteren Organen sich entwickelt haben.
Es ist gewiss nicht zu bezweifeln, dass die innere Medicin
durch weitere Ausbildung der Diagnostik des Magencarcinoms
zur Besserung der Sachlage noch beitragen wird; aber auch der
Chirurg muss bemüht sein, unter den gegebenen schwierigen Ver-
hältnissen durch Verbesserung der Technik die Enderfolge im
Sinne einer radikalen Heilung zu verbessern. Beim Gebär-
mutter- und Brustkrebs haben wir erst durch eingehendes Studium
der Verbreitungswege der Krankheit gelernt, in welcher Weise wir
derselben operativ radikal beikommen können; in derselben Rich-
tung müssen wir auch beim Magencarcinom die operative Technik
zu verbessern trachten. Es muss unser Bestreben sein, nicht nur
in den bisher als günstig angesehenen Fällen von kleinen Magen-
tumoren radikaler vorzugehen, sondern auch bei grösseren, zur Zeit
als nicht exstirpirbar geltenden Carcinomen durch eine ausgedehnte
Operation doch noch den Versuch einer radikalen Exstirpation des
Tumors zu machen. Wie weit wir in dieser Richtung werden vor-
gehen dürfen, wird wesentlich von der Kenntniss der Verbrei-
tungswege des Magencarcinoms abhängen.
Obwohl das Magencarcinom die Chirurgen schon seit zwei
Decennien eingehend beschäftigt, scheint es, als ob man diesem
Punkt bisher zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet hätte. Die
einzige eingehende Bearbeitung der Frage findet sich in der be-
kannten grundlegenden Arbeit von Gussenbauer und Wini-
warter*) (aus dem Jahre 1876), die auf Grund von 903 Obduktions-
befunden aus dem Wiener pathologisch -anatomischen Institut eine
Statistik der Lokalisation des Magencarcinoms sowie der Ver-
breitung desselben auf entfernte Organe enthält. Gussenbauer
und Winiwarter haben bekanntlich durch diese Arbeit zuerst den
wissenschaftlichen Nachweis erbracht, dass das Magencarcinom ein
sehr dankbares Object für die chirurgische Behandlung abgeben
könne. Die auf dem Sectionstisch gefundenen Verhältnisse sind
1) Die partielle Magenresection. v. Langenbeck's Archiv. Bd. 19.
Seite 347.
526 Dr. J. Mikulicz,
allerdings für den Chirurgen noch nicht ausreichend ; sie müssen
durch die bei den Operationen gefundenen Befunde noch vervoll-
ständigt werden. Wenn ich auf Grund meiner eigenen Erfahrungen
die wichtigsten Momente hervorhebe, so sind es folgende.
Das Mcigencarcinom verbreitet sich im Wesentlichen auf vier
Wegen. 1. Continuirlich in der Magenwand selbst. 2. Durch die
grösseren Lymphbahnen und Lymphdrüsen ausserhalb der Magen-
wand. 3. Transperitoneal, das ist, durch Vermittelung des vom
Carcinom ergriflFenen Peritoneums auf benachbarte und entferntere
Abschnitte des Peritoneums und die von ihm eingeschlossenen
Organe. 4. Auf dem Wege der Blutbahn durch Bildung von Me-
tastasen in entfernteren Körpergegenden.
Die letzgenannten zwei Verbreitungswege haben für den Chir-
urgen nur in so fern eine Bedeutung, als sie in den meisten Fällen
eine Contraindication gegen die radikale Operation abgeben werden.
Bei ausgesprochener Carcinose des Peritoneums mit Ascites, bei
nachgewiesenen Metastasen in der Leber oder anderen Organen
werden wir uns beim Magencarcinom, falls eine Stenose des Py-
lorus vorliegt, nach wie vor auf die Gastroenterostomie eventuell
die Jejunostomie zu beschränken haben.
Von ungleich grösserer praktischer Bedeutung sind die zwei
erstgenannten Verbreitungswege. AVas die Verbreitung in der
Continuität der Magenwand betrifft, so bin ich überzeugt, dass
wir dieselbe bisher zu wenig berücksichtigt haben, dass in der
Kegel zu wenig von der Ma^enwand resecirt worden ist. Das geht
schon daraus hervor, dass ein grosser Theil der Recidive nach der
Magenresektion in der Magenwand selbst auftreten. Bei der Ver-
breitung des Carcinoms in der Continuität verhalten sich die Mucosa
und die Submucosa sammt Muscularis wesentlich verschieden. In
der Mucosa schreitet das Carcinom langsam gleichmässig weiter,
ohne in den makroskopisch unverändert erscheinenden Partieen
Veränderungen zu setzen; anders dagegen in der Submucosa und
Muscularis. Hier werden Carcinomkeime weithin über die makro-
skopisch sichtbaren Grenzen des Tumors verschleppt. Hier kommt
es auch in beträchtlicher Entfernung, selbst viele Centimeter vom
Haui)ttumor entfernt, zur sprungweisen Entwickelung von kleinen
Herden, die zunächst latent in der Submucosa liegen und erst
später die Schleimhaut in Form von linsen- bis erbsongrossen
Beiträge zur Technik der Operation des Magencarcinoms. 527
Knötchen vorwölben. Von grösster Bedeutung ist dabei der Um-
stand, dass sich das Miigencareinom fast ausnahmslos nur in der
Richtung gegen die Cardia zu ausbreitet, während es gegen das
Duodenum zu am Pylorusringc Halt macht. Man findet wohl häufig
eine transperitoneale Infection des Duodenum, dagegen kaum je
eine Ausbreitung in der Continuität der Duodenalwand. Die |)rak-
tische Schlussfolgerung daraus ist, dass wir bei der Resection
des Magencarcinoms uns damit begnügen können, vom Duodenum
einen 5 — 10 mm breiten Saum gesund aussehender Darmwand fort-
zunehmen, während wir beim Magen .ebenso viel in Centimetern
mitrcseciren sollen. Bei Carcinomen der kleinen Gurvatur, die
bis in die Nähe der Cardia reichen, wird meist, wenn überhaupt
noch radikal opcrirt werden soll, die totale Resection des Magens
in Frage kommen.
Wir müssen übrigens in Bezug auf die Verbreitung des Car-
cinoms in der Continuität verschiedene Formen unterscheiden. Die
günstigste, offenbar ausserordentlich seltene Form ist das breitbasig
aufsitzende, S(*,harf begrenzte, nur von der Mucosa ausgehende
Carcinom, das in das Lumen des Magens vorspringt, ohne jedoch
eine Schrumpfung der Magenwand herbeizuführen. (Ein typischer Fall
dieserArtist der bekanntcFall von Schuchardt. In der Sammlung des
Breslauer pathologischen Institutes konnte ich nur einen Fall dieser
Art finden.) Bei dieser seltenen Form des Uarcinoms wird es
meist genügen, auch gegen die Cardia hin einen 1 — 2 cm breiten
Saum gesund aussehender Magenschleimhaut mit zu entfernen.
Diese Fälle sind prognostisch ungleich ungünstiger als die anderen.
Denselben steht als Extrem jene Form gegenüber, bei welcher von
vorn herein die Magen wand, namentlich die Submucosa und Muscu-
laris, diffus infiltrirt ist. Liegt die Infiltration im Bereich des
Pylorus und setzt sie eine schw^ere Stenose, die die Erkrankung
alsbald verräth, so wird der Chirurg durch eine ausgiebige Re-
section vielleicht noch einen radicalen Erfolg erzielen können.
Wird der Pylorus dagegen erst spät und sccundär ift Mitleiden-
schaft gezogen, so kommt der Chirurg wohl meist zu spät. Diese
Fälle geben somit von vorn herein eine äusserst böse Prognose.
Zwischen diesen beiden Extremen liegen die Uebergangsformen,
der die Mehrzahl der Magencarcinome anzugehören scheinen.
Von grösster Bedeutung ist für den Cliirurgen selbstverständlich
528 Dr. J. Mikulicz,
die Ausbreitung des Magencarcinoms durch die Lymph-
bahnen. Wir können im Wesentlichen 4 Hauptzüge von Lymph-
gefässen und Lymphdrüsen unterscheiden, die vom Magen ausgehen.
Eine sehr anschauli(*he Darstellung der Lymphgefässe und Lymph-
drüsen des Magens findet sich in dem bekannten S appey 'sehen ^)
Atlas. Wir müssen unterscheiden:
a) Die Drüsen der kleinen Curvatur; diese bilden eine dichte
Gruppe, die vom Pylorus bis zur Cardia hinaufzieht: Man findet
sie bei den meisten Magencarcinomen schon infiltrirt; ohne Zweifel
spielen sie bei der WcitcFverbreitung des Magencarcinoms eine
Hauptrolle. Ich exstirpire deshalb principiell alle an der kleinen
Curvatur bis an's Zwerchfell herauf palpirbaren Lymphdrüsen.
b) Die Drüsen der grossen Curvatur; sie sind nur in spär-
licher Zahl vorhanden, am reichlichsten in der Pylorusgegend.
Gegen den Fundus zu findet man sie nur ganz vereinzelt.
c) Die Drüsen des Ligamentum gastro-colicum. Diese sind
ebenso wenig wie die sub b genannten zu übersehen; sie bieten
auch der l']xstirpation keine Schwierigkeiten, wenn sie nicht bis
dicht an das Colon heranreichen und zu Verwachsungen mit dem
Mesocolon führen. Dann kann es leicht geschehen, dass die Arteria
colica media unterbunden wird, was bekanntlich zur Gangrän des
Quercolons führt und die Resection dieses Darmabschnittes noth-
wendig macht.
d) Die grössten technischen Schwierigkeiten bieten dem Chir-
urgen zweifellos die pankreatischen Lymphdrüsen, die, hinter dem
Pylorus i;elegen, dem Pankreas dicht anliegen, zum Theil auch in
dasselbe eingebettet sind und sich in manchen Fällen bis an die
Porta hepatis hin erstrecken. Die gründliche Ausrottung dieser
Drüsen kann häufig nur so geschehen, dass man Theile des Pan-
kreas mitresecirt, W'Obei die durch das Pankreas verlaufenden
Gefässe und anderweitigen Gebilde leicht Verletzungen ausgesetzt
sind. Ich habe einmal die Arteria lienalis unterbunden, ohne
nachtheilige Folgen zu beobachten. In einem andern Fall wurde
der einer Lymphdrüse adhärente und stark nach der linken Seite
verzogene Ductus choledochus für ein Gefäss gehalten und unter-
bunden. Ich erlaube mir, an einer nach der Natur gezeichneten.
*) Anatomie, Physiologie, Pathologie des Vaisseauxlymphatiques. Paris 1874.
Beiträge zur Technik der Operation des Magencarcinoms. 529
halb scheraatischen Abbildung Ihnen die hier in Betracht kommenden
topographischen Verhältnisse zu demonstriren. (Demonstration.)
Die Forderung, bei Magencarcinomen radicaler als bisher vor-
zugehen, bringt es mit sich, dass die Operation sich nach jeder
Richtung hin eingreifender gestaltet und dass die Technik, nament-
lich für die vorgeschritteneren Fälle eine Aenderung erfährt. Zur
Verringerung der dadurch gesteigerten Gefahren tragen heute
wesentlich zwei Mittel bei. Erstens die Schleich'schc An-
ästhesie, welche es gestattet, selbst bei heruntergekommenen
Individuen noch eine ausgedehnte Operation auszuführen. Es
kommt bei diesem Verfahren ja gar nicht darauf an, ob die Ope-
ration etwas länger oder kürzer dauert. Zweitens sind die Chancen
dieser eingreifenden Operationen erheblich besser geworden mit
der Vervollkommnung unserer Wundbehandlung. So war
früher z. W. (»in Resectionsstum[)f des Pankreas ausserordentlich
leicht Ausgangspunkt einer Peritonitis, während ich, seitdem ich
mit verbesserter Antiseptik operire, von dieser Seite nie mehr eine
Störung des Wundverlaufes beobachtet habe. Trotzdem haften den
Operationen immer noch genügend Gefahren an. Unter diesen sind
besonders die Pneumonieen hervorzuheben, welche auch bei solchen
Patienten beobachtet werden, die gar nicht erbrochen haben. Ich
habe mehrere, sonst ausserordentlich glatt verlaufende Fälle an
Pneumonie verloren. Die Obductionsbefunde machen es sehr wahr-
scheinlich, dass es sich um embolische Processe handelt, die, wie
es scheint, gerade bei Magenoperationen häufiger sich entwickeln
als nach andern Bauchoperationen. Die Sache bedarf aber erst
noch einer weiteren Aufklärung.
In Bezug auf die Operationstechnik ist hervorzuheben,
dass es vor Allem nothwendig ist, bei der Kesection des Magen-
carcinoms einen ausgiebigen Bauchsehnitt bis an den Processus
ensiformis zu machen, um sicher die Verhältnisse zu übersehen
und bis an die Cardia hin die Lymphdrüsen verfolgen zu können.
Was die Versorgung des übrig gebliebenen Magenslumpfes betrifft,
so ist bei ausgedehnter Resertion die erste Billroth'sche Methode,
d. i. die Vereinigung von Magenstumpf und Duodenum, meist un-
möglich. Ich gehe daher in den meisten Fällen nach dem Princip
der zweiten Billroth'schen Methode vor, die bekanntlich darin
besteht, dass Duodenum und Magenlumen vollständig verschlossen.
530 Dr. .1. Mikulicz,
Her Mairenstunipf abor durch eine typische Gastroenterostomie mit
dem Jejunura verbunden wird. Ich verschliesse das Duodenum
auch vollständig, — in der letzten Zeit mit einer doppcltt*n
Schnüniaht, da die einfache fortlaufende Naht nicht sicher genug
ist, — (las Lumen des Magenstnm|)fes wird aber nicht vollständis:
geschlossen; der unterste Winkel bleibt offen und wird dinget in
eine Jejunuraschlin.ire implantirt. Diese Form der Gastrojejunostomie
vereinfacht das Verfahren ohne Zweifel; es ist auch rationeller mit
Rücksicht auf die Stellung und die Vcrlaufsrichtung des Magen-
stumpfes. Ich habe mich in der letzten Zeit mit Vorliebe zu diesem
Zwecke des Murphy-Knopfes bedient; dadurch wird die Ope-
ration auch noch venMnfacht; ob sie aber dadurch an Sicherheit
gewinnt, möchte ich vorläufig noch nicht behaupten. Nach einer
Reihe günstig verlaufender Fälle habe ich es einmal erlebt, das.s
nach 9 Tagen eines absplut reactionslosen Verlaufs, ohne eine
Spur von vorangegangener Peritonitis, die durch .den Murphy-Knopf
^'cbildete Verbindung nachgab und eine rasch tödtliche Perforations-
Peritonitis sich entwickelte.
Häufig bekommen wir Patienten mit stenosirendem Pylorus-
carcinom in so verhungert<»ni Zustande zur Operation, dass wir
nicht den Muth haben, sie der eingreifenden Magenresection zu
unterziehen, selbst wenn die Verhältnisse technisch durchaus gunstig
liegen. Es wurde mehrfach der Vorschlag gemacht, in solchen
Fällen zunächst eine Gastroenterostomie auszuführen und erst
später, wenn die Patienten wieder zu Kräften gekommen sind, die
Magenresection auszuführen. Dieser Vorschlag ist an und für sich
gewiss berechtig! : ich glaube aber, dass er practisch nur in den
seltensten Fällen auszuführen sein wird. Ich selbst habe schon
etliche Male in dieser Absicht zuerst die Gastroenterostomie ausge-
führt; als aber die Kranken nach mehreren Wochen in wohl-
g(Miährtem Zustande wiederkamen, wiesen sie, was leicht begreiflich
ist, den Vorschlag einer zweiten eingreifenden Operation entrüstet
zurück, da sie sich ja wieder vollkommen gesund fühlten. Da
ich mich nicht für berechtigt halte, in solchen Fällen den Kranken
über die Natur seines Leidens aufzuklären, so unterblieb natürlich
die Operation. Nur einmal hatte ich dein Kranken noch während
des ersten Kingriffs (unter Schleich'scher Anästhesie) auseinander-
gesetzt, die Operation könne nicht auf einmal gemacht werden,
. Beiträge zur Technik der Operation des Magencarcinoms. 531
sondern müsse auf zwei Zeiten vertheilt werden, weil seine Kräfte
für einen grösseren Eingriif nicht sCüsreichten. Der Patient hielt
Wort und kam nach 6 Wochen in gekräftigtem Zustand wieder
zur Operation. Diese gestaltete sich aber ausserordentlich schwer,
nicht nur wegen mannigfacher Verwachsungen des Magens, sondern
auch besonders darum, weil das Carcinom inzwischen ganz rapide
sich vergi'össert hatte. Ich bin überzeugt, dass die Magenresection
in einer Sitzung trotz des schlechten Ernährungszustandes für den
Kranken einen geringeren Eingriff dargestellt hätte als^ die zwei
Operationen.
Zum Schluss möchte ich noch kurz erwähnen, dass ich vor
2 Jahren es einmal versucht habe, ein primäres Cardiacarcinom
sammt einem 3 — 4 cm langen Stück des Oesophagus zu rescciren.
Die Operation gestaltete sich wegen der weiten Ausbreitung des
Carcinoras auf das Pankreas und die retroperitonealen Lymphdrüsen
ausserordentlich schwierig und Patient erlag einer Peritonitis.
Vielleicht ist aber der von mir betretene Weg geeignet, um in
andern günstiger gelegenen Fällen den Cardiacarcinomen, noch
mehr vielleicht den tiefsitzenden Oesophaguscarcinomen bei-
zukommen.
DavS Verfahren ist im Wesentlichen folgendes:
1. Längsschnitt in der Linea alba vom Schwertfortsatz bis
zum Nabel.
2. Querschnitt vom Nabel bis zur vorderen Axillarlinic der
linken Seite (der Schnitt endigt 2 — 3 cm unterhalb des Rippen-
bogens).
.3. Vom Endpunkt dieses Schnittes wird in der vorderen
Axillarlinie ein über die Thoraxwand senkrecht bis in die Höhe
des Schwertfortsatzes verlaufender Schnitt geführt. Während die
ersten zwei Schnitte durch die ganze Bauchwand gehen und somit
die Bauchhöhle eröffnen, durchtrennt der dritte Schnitt, soweit er
im Bereich des 'Hiorax liegt, zunächst nur die Haut bis an die
Rippen und Intercostalmuskeln. Nun wird mit stumpfspitzen
irestielten Nadeln von der Perilonealseitc aus durch das Zwerchfell
und den untersten ln((M-(!OstHlraum ein starker Faden gezoi^en und
damit die unterste der blossgelegten Kippen sammt dem Zwerch-
fellrande fest umschnürt; dies geschieht zweimal und zwar sowohl
lateralwärts als medialwärts neben d(Mi auseinander gezogenen Haut-
^ I
532 Dr. .1. Mikulicz, Beiträjre z. Technik der Operation d. Magencarcigom«.
rändern. Beide Umschnürungsfäden liegen ca. 2 cm von einander ent-
fernt. Darauf wird ein ebenso starker Faden von der Haatseite durch
den letzten Intercostalraum und das Zwerchfell hindurchgeführt und
von der Peritonealseite durch den nächstfolgenden, d. i. den vorletzten
Intercostalraum, nach aussen geleitet; nun wird die vorletzte Rippe
mit dem anliegenden Zwerchfell durch den herumgeschlungenen
Seidenfaden fest verbunden. Es folgt in der gleichen Weise die
Cmschnürung der drittletzten und viertletzten Rippe sammt dem
anliegenden Zwerchfell, bis man in der Höhe des Processus xyphoi-
deus angelangt ist. Schliesslich wird noch im viertletzten, d. i.
dem VI. Inten'ostalraura die Intercostalmusculatur mit dem dazu
gehörigen Zwerchfell durch einen durchgezogenen Seidenfaden ver-
bunden. In dieser Weise wird im Bereich des lateralen Schnittes
das Zwerchfell mit den untersten Rippen in einer 2 cm breiten
Zone so fest verbunden, davss der zwischen den Schnürfäden liegende
Complementärraum von dem Rest der Pleurahöhle dicht abge-
schlossen ist. Nun durchtrennt man in dieser Zone zwischen den
beiden Reihen von Schnürfäden die vier untersten Rippen, sammt
Zwerchfell und Intercostalmuskeln. So wird ein ca. 15 cm langer,
ca. 12 cm breiter viereckiger Lappen mit oberer Basis gebildet,
der zum Theil aus der Bauchwand, zum Theil aus der Thoraxwand
inclusive Zwerchfell besteht. Dieser Lappen lässt sich nun leicht
in die Höhe schlagen. Man gewinnt einen sichern und bequemen
Zugang zur Cardia und zum Foramen oesophageura des Zwerch-
fells; indem man die den Oesophagus umschlingenden Muskelfasern
des Zwerchfells stumpf auseinanderdrängt, kann man das unterste
Ende des Oesophagus auf mehrere Centimenter blosslcgen; übt
man auf den blossgeh^gten Oesophagus einen nur massigen Zug
aus, so kann man ihn noch um einige Centimeter mehr aus dem
Foramen oesophagc^um hervorziehen. Man kann auf diese Weise
ohne übermässige Schwierigkeit ein i—b cm langes Stück des
unteren Oesoj)hagusendes reseciren. Das Verfahren ist, wie schon
erwähnt, vielleicht zur Resection tiefsitzender Oesophaguscarcinome
zu verworthen.
XXXII.
Ueber die histologischen Vorgänge nach
der Implantation von Elfenbein und todtem
Knochen in Schädeldefecten.
Von
Ur. max Ua^ld
in Berlin.
(Hierzu Tafel H.)
In meiner früheren Mittheilung (1), in der ich die histologi-
schen Vorgänge schilderte, welche nach Replantation überlebender
Knochenstücke am Schädel des Hundes zu beobachten sind, war
ich zu Resultaten gekommen, die mit denen, welche Barth 2) bei
ähnlichen Untersuchungen erhalten hatte, in dierectem Widerspruche
standen. Während Barth behauptet hatte, dass auch der lebende
replantirte Knochen unter allen Umständen zu Grunde ginge,
konnte ich nachweisen, dass lebende Knochensubstanz als solche
einheilt, dass also von einem Zugrundegehen und einem Ersatz
derselben durch neugebildeten Knochen keine Rede sein könne.
Da Barth in seiner interessanten Arbeit das, was man nach Re-
plantation überlebenden Knochens mikroskopisch feststellen kann,
in directe Parallele gebracht hatte mit dem, was bei Implantation
macerirten Knochens, Elfenbeins u. s. w., also todten Materials, zu
beobachten ist, — heisst es doch 1. c. pg. 107: „Nichts konnte
die Ergebnisse des ersten Theiles dieser Untersuchungen so sehr
stützen, als der Nachweis, dass todte z. B. macerirte Knochen-
0 David, Ueber die histologischen Befunde nach Replantation trepa-
nirter Knochenstücke des Schädels. Archiv f. klin. Chirurgie. 53. Bd. H. 4.
2) Barth, Histologische Untersuchungen über Knochenimplantationen.
(Abdruck aus ,,Beiträge zur pathologischen Anatomie und zur allgemeinen
Pathologie", Bd. XVII.)
ArehiT fVr klin. Chirurgie. 67. M. Heft 3. 3g
534 Dr. M. David,
stücke unter den nämlichen histologischen Vorgängen in Knochen-
defecten einheilen wie lebende" — , so erwuchs für mich die wissen-
schaftliche Verpflichtung, zu prüfen, ob in der That ein solcher
Parallelismus vorhanden ist..
Zu den Versuchen, die ich dieserhalb ausführte, stellte mir
Herr Professor Herm. Munk in liebenswürdigster Weise die Mittel
seines Instituts wiederum zur Verfugung. Ihm an dieser Stelle
öffentlich dafür danken zu können, ist mir eine angenehme Pflicht.
Die Versuche wurden ausschliesslich am Schädel von Hunden
angestellt und zwar in der Weise, dass ich in den mit einem
Handtrepan, selbstverständlich unter allen aseptischen Cautelen
hergestellten Knochendelect entweder Elfenbeinplättchen einlegte,
welche genau der Grösse des Defects entsprachen, oder das ich
das heraus trepanirte Stück 15 Minuten lang auskochte und dann
implantirte. Durch das Kochen wurde das Stück sicher abgetödtet
und aseptisch erhalten. Ich fuge noch hinzu, dass bei allen
meinen Versuchsthieren der Heilungsprocess ohne irgend welchen
störenden Zwischenfall verlief.
In den folgenden Auseinandersetzungen werde ich mich in
erster Reihe an die Ergebnisse der Elfenbeinversuche hatten. Für
die mikroskopische Untersuchung bietet Elfenbein vor todtem KÄOchen
den grossen Vortheil dar, dass es infolge seiner eigenartigen
Structur sich scharf von der Umgebung abhebt. Todter Knochen
dagegen zeigt immerhin die gleichen Texturverhältnisse wie der
lebende, und darum sind die Bilder, die man erhält, weniger klar
und weniger eindeutig als beim Elfenbein. Erst durch den Ver-
gleich der Resultate der Elfenbeinversuche mit denen mit todtem
Knochenmaterial werden die letzteren verständlich.
Bezüglich der angewendeten Technik sei erwähnt, dass ich in
der gleichen Weise verfahren bin, wie früher, also in Pikrinsalpeter-
säure fixirt und die von celloidinirtem Material hergestellten
Schnitte in Rawitz'schem Glycerin-Alaun-Hämatein gefärbt habe.
A. Elfenbeinversuche.
Die ausserordentliche Resistenzfähiirkeit des Elfenbeins be-
dingt es, dass die Veränderungen, die bei seiner Einheilung mit
ihm vorgehen, ausserordentlich langsam verlaufen. Nach 4,
ja noch na(^h 8 Wochen sind nur ganz undeutliche Spuren einer
Histolog. Vorgänge nach Implantation von Knüchen in Schädeldefecten. 535
Veränderung, nämlich Arrosionen der Randzone des implantiiten
Stückes wahrzunehnaen, aus denen histologisch nichts zu machen
ist. Erst nach der 26. Woche habe ich bei meinen Versuchsthieren
deutliche, wenn auch noch sehr geringe Veränderungen angetroffen.
An der duralen, an der cranialen und an der Narbenseite sieht
man, dass von dem umgebenden Bindegewebe her durch Neubildung
von Grefässen und durch Zellwucherungen das Elfenbeinstück leicht
usurirt wird (Fig. 1). Es sind, wie dies Figur 1, die bei schwacher
Vergrösserung angefertigt ist, deutlich zeigt, geringe Ausbuchtungen
in dem Elfenbeinplättchen zu erkennen, welche den ursprünglich
glatten Contour zu einem zackigen gemacht haben. In Figur 2
sind nur die Zellwucherungen (bei stärkerer Vergrösserung) ge-
zeichnet, und hier tritt schon andeutungsweise das auf, was in
späteren Stadien als charakteristisch für diesen Einheilungsptoccss
bezeichnet werden muss. Man erkennt nämlich (Fig. 2 K), dass
in der Nähe der Zellwucherungen neue Knochensubstanz sich bildet.
Zwar ist in diesem Stadium die Neubildung nur eine sehr geringe^
aber deutlich unterscheidet sich, wie ein Blick auf Figur 2 bei K
lehrt, die Elfenbeinsubstanz von dem neugebildeten Knochen.
Erstere nämlich färbt sich in dem angewendeten Hämatein intensiv
veilchenblau, während die Knochengrundsubstanz nur einen sehr
blassen Farbenton annimmt. Schon diese Diffezenz würde zur
Unterscheidung der beiden Substanzen ausreichen; dazu kommt
noch der fundamentale Unterschied: das Vorhandensein von deut-
lichen Knochenzellen. Für letztere ist offenbar die Matrix in den
Bindegewebszellcn der Umgebung zu suchen.
Noch in einer anderen Beziehung ist dieses Stadium von
grossem Interesse. Man sieht nämlich, dass der Schädelknochen
in der Umgebung der Narbe stark verdickt ist. Das Einzige, was
bei Hunden, die 4 bezw. 8 Wochen nach der Operation getödtet
wurden, auffiel, war ebenfalls diese Verdickung. Im mikroskopi-
schen Bilde erkennt man, dass an dieser Stelle Dura und Peri-
cranium stärker als in der Norm sind. Im Innern der Substanz
des Schädelknochens sind die Haversischen Kanäle stark erweitert,
confluiren stellenweise und bilden dadurch i^rössere und kleinere
unregelraässig geformte Hohlräume. In die Canäle gehen Blut-
gefässe eder stärkere Bindcgewebszüge, beide von der Narbe ent-
springend, hinein und eri^trecken sich bis in die Hohlräume. Die
36*
536 Dr. M.David,
Wände der letzteren sind zum Thcil von Riesenzellen, zum Theil
von mehrschichtigen Lagern unregelmässig geformter Zellen be-
kleidet. Alle diese Erscheinungen sind an der Narbengrenze am
stärksten und nehmen allmählich nach dem stehengebliebenen Thcil
des Schädeldachs hin an Intensität ab.
Die Deutung dieses Befundes ist nicht schwer. Die be-
schriebenen Erscheinungen sind als die Zeichen einer reactiven
Knochenentzündung aufzufassen, durch die der lebende Knochen
sich gegen den implantirten Fremdkörper, das Elfenbeinplättchen,
abzugrenzen bemüht ist. Es gleichen also die am Schädel zu
beobachtenden Verhältnisse insofern denen, die nach Bidder^) am
Röhrenknochen vorkommen, als auch hier offenbar eine „conden-
sirende Ostitis" auftritt.
Das nächste Versuchsthier tödtete ich genau ein Jahr nach
vorgenommener Operation. Das Thier, ein kräftiger, etwa IV2 Jahr
. alter Mops, hatte sich während der ganzen Zeit vollkommen nor-
mal gezeigt. Vor allen Dingen waren niemals an ihm Erschein-
ungen wahrzunehmen gewesen, die auf Beschwerden hinwiesen,
welche von dem Elfenbeinstückchen etwa veranlasst sein konnten.
Die mikroskopische Untersuchung dieses Präparates giebt nun
meines Erachtens einen definitiven Aufschluss über das Schicksal
aseptisch eingeheilter Elfenbeinstücke. Meine Untersuchungen be-
stätigen, was V. Bergmann 2) in seiner Mittheilung über Knochen-
implantation hierüber sagt: „Dagegen verfallen todter Knochen und
Elfenbeinstifte der lacunären Resorption, können aber, wenn sie
nur klein sind, einer organischen Knochenbildung als Conductor
dienen.'* Thatsächlich wird das Elfenbein durch „lacunäre Resorp-
tion'* beseitigt, und an seine Stelle tritt neugebildeter Knochen.
Gleich vorweg sei bemerkt, das in diesem Präparat das Elfenbein
noch nicht vollständig resorbirt ist, aber der Versuch lehrt-, dass,
würde man die Tliiere genügend lange Zeit (vielleicht 2 oder
mehr Jahre) nach der Operation am Leben erhalten, das Elfenbein
spurlos verschwinden müsste.
Betrachtet man ein mikroskopisches Präparat aus diesem
0 Bidder, Neue Experimente über die Bedingungen des krankhaften
Längenwachsthums von Röhrenknochen. Archiv f. klin. Chir. Bd. 18. 1875.
2) V. Bergmann, lieber Knochenimplantation. (Berl. klin. Wochenschrift,
24. Aug. 1891).
Histolog. Vorgänge nach Implantation von Knochen in Schädeldefecten. 537
Stadium bei schwacher Vergrösserung, so findet man selbst im
Centrum des Elfenbcinstückes (Fig. 3) eine ganz beträchtliche
Veränderung. Zu beiden Seiten der Narbe, auf der crg,nialen und
duralen Fläche sind relativ grosse Löcher vorhanden, die sich durch
ihre helle Färbung von dem dunkelblau tingirten Elfenbeine auf
das Allerschärfste abheben. In denjenigen Abschnitten des im-
plantirten Stückes, die der Narbe benachbart sind, also in der
Peripherie des Platt chens, ist die Elfenbeinsubstanz in hohem
Grade rareficirt, (Fig. 6), so dass die neugebildete Knochensubstanz
ihr an Masse etwa gleichkommt. .
' Im Speciellen ergeben sich folgende Resultate:
Der Process der Resorption des Elfenbeins verläuft oifenbar
so, dass sowohl vom Pericranium, wie von der Dura und von der
Narbengegend her Riesenzellennester (Fig. 4 u. 5 r) an das Elfenbein
sich anlagern und als Osteoklasten wirken. Die Zellen legen oflFenbar
Bresche in die harte Masse des Elfenbeins und ermöglichen es den
von den sehr erweiterten Blutgefässen der Umgebung abstammen-
den Gefässschlingen, ihnen nachzudringen (Fig. 4 — 7 g). Hierdurch
entsteht eine üsur und in dieser liegt zunächst die Gefässschlinge
(Fig. 4 — 6 g). Die Zellen der Adventitia derselben verwandeln
dann ihre Form und werden, soweit sich dies an den Schnitten
erkennen lässt, zu typischen Knochenzellen: die ganze Adven-
titia verknöchert. Dies tritt weniger deutlich an Querschnitten,
deutlicher dagegen an Schräg- und Längsschnitten durch die Ge-
fässe hervor, wie ein Blick auf die Figuren 4 und 6 zeigt. Dieser
jugendlichen Knochensubstanz ermangelt zunächst noch der lamellöse
Bau, der erst später klar in die Erscheinung tritt. Unter „später"
ist zu verstehen, dass in der Umgebung derjenigen Gefässe der
lamellöse Bau des Knochens deutlich ist, welche mehr oder weniger
tief im Innern der Elfenbeinsubstanz liegen, von denen also an-
zunehmen ist, dass sie im Vergleich zu den Gefässschlingen, die
in der Peripherie des Plättchens sich finden, die älteren sind,
(cf. Fig. 4).
Es ist ganz selbstverständlich, dass zur Beobachtung dieser
Thatsachen das Studium grösserer Schnittserien erforderlich ist;
denn auf dem einzelnen Schnitte findet man immer nur Bruch-
theile des Processes. Nicht in jedem Schnitte sind die Riesen-
zellennester zu erkennen, ebenso ist nicht in jedem Schnitte der
538 Dr. M. David,
Zosamro«nhang der vordringenden GefässschKngen mit den Ge-
fassen des Pcricraninins etc. ein deutlicher. Bilder, wie ich eiDS
in Figur 7 wiedergegeben habe, sind nicht oberall zu sehen; man
moss sie vielmehr suchen. Daher findet man in den einzelnen
Präparaten bald ein üeberwiegen der Quer-, bald ein üeberwi^en
der Schräg- oder Längsschnitte durch die Gefässe, und erst durch
die Combination der verschiedenen Schnittbilder gelangt man za
einem Verständniss des eigentlichen Processes.
In der Nähe der Narbe sind natürlich die Veränderungen am
intensivsten (Fig. 6); das Elfenbein ist daher hier am dünnsten
und, wie dies Figur 6 deutlich zeigt, ist auch hier am meisten
neugebildeter Knochen vorhanden, während im Centrum des Plätt-
chens die Verhältnisse grade umgekehrt liegen.
Sehr deutlich tritt auch noch in Figur 6 der beachtenswerthe
Umstand heiTor, dass der neugebildete Knochen oft eine carernose
Beschaffenheit annimmt, die fast an das Aussehen der Diploe er-
innert.
Aus den mitgetheilten Thatsachen geht also hervor, dass
Elfenbeinsubstanz in einem Schädeldefect einheilen kann, ohne ir-
gend welche krankhaften Symptome hervorzurufen. Femer wird
in unanfechtbarer Weise dargethan, dass diese Elfenbeinsubstanz
allmählich, allerdings erst' nach sehr langer Zeit durch Knochen
vollkommen ersetzt wird, und endlich, dass bei der Neubildung
dieses Knochens ausschliesslich betheiligt sind Pericranium,
Dura, Bindegewebe der Narbe, während der stehengebliebene Schädel-
knochen zwar eine (nur anftinglich vorhandene) reactive Entzün-
dung erkennen lässt, mit der Knochenneubildung aber Nichts zu
thun hat.
In der von Barth mit Recht als vortrefflich bezeichneten
Arbeit von Bidder (1. c.) werden die Veränderungen von Elfen-
beinzapfen geschildert, die in Röhrenknochen (Tibia) von Kaninchen
eingekeilt wurden. Bidder sagt, dass Knochenbalken, die sich
in der Markhöhle gebildet, stellenweise dicht an den Elfenbeinstift
heranträten und sich ihm anschmiegten. Daneben sollen die Mark-
zellen tiefe Löcher und Gänge in die Elfenbeinmasse bohren, so
dass letztere ein badeschwammartiges Aussehen erreichen könnte.
Man fände oft mitten im Elfenbein Markräume von jungem Knochen-
Histolog. Vorgänge nach Implantation von Knochen in Schädeldefecten. 539
gewebe umlagert. An der Peripherie dieser Räume seien deutliche
Osteoblasten zu sehen. Mit dem Markgewebe drängen Blutgefässe
in die Löcher des Elfenbeingewebes hinein.
Ein Vergleich dieser referirten Angaben mit meinen hier ge*
gebenen Schilderungen zeigt, dass zwischen Bidder's und meinen
Befunden eine Diiferenz besteht, die jedoch nur beruht auf der
Verschiedenartigkeit der von uns beiden untersuchten Knochen.
Alle Einzelheiten, die Bidder angiebt, sind offenbar charakteristisch
für die Röhrenknochen, aber treffen in dieser Weise nicht zu für
das Schädeldach. Vordringende Markzellen, wie Bidder sie er-
wähnt, kann es hier nicht geben ; vordringende in einer Markhöhle
gebildete Knochenblättchen, die sich dem Elfenbein anschmiegen,
sind am Schädeldach ebenfalls eine Unmöglichkeit. Es sollte eine
solche Differenz zur Vorsicht mahnen bei der Verwerthung und
Beurtheilung der Resultate anderer Forscher. Es geht eben nicht
an, das, was man am Schädel gefunden hat, ohne Weiteres in
directe Beziehung zu bringen zu dem, was ein Anderer am Röhren-
knochen gefunden, und umgekehrt. Die Processe mögen in ihren
Endresultaten übereinstimmen — und das ist bei Bidder's und
meinen Untersuchungen der Fall — , in den Einzelheiten braucht
aber ein vollkommener Parallelismus nicht vorhanden zu sein.
B. Todter Knochen.
In ähnlicher Weise wie bei meinen Untersuchungen über die
Einheilung replantirten überlebenden Knochens habe ich auch in
den Versuchen, in welchen das ausgekochte Fragment, also todtes
Material, zur Einheilung zu bringen war, in ganz bestimmten
Zwischenräumen die Versuchsthiere getödtet, und zwar wurde 1,
2, 3, 4, 6, 8, 12 und 26 Wochen post operationcm die mikros-
kopische Untersuchung vorgenommen.
Am Ende der ersten Woche sind das implantirte Stück und
der angrenzende Schädel durch bindegewebige Narbe mit einander
verbunden. Man sieht dabei, wie schon beim Elfenbein bemerkt
wurde, häufig eine 'Auftreibung des normalen Schädelknochcns, die
hier wie dort zu deuten ist als eine „condensirende Ostitis" (cf.
Bidder 1. c). Mitunter findet man auch im Schnitt eine Ungleich-
540 Dr. M. David,
heit der das implantirtc Stück begi*enzenden Theile des normalen
Knochens, derart,' dass die eine Seite stärker verdickt ist, als die
andere. An die stärker verdickte Partie hat sich das Fragment
dicht angelagert, so dass hier die Narbe ausserordentlich schmal ist,
während es an der entgegengesetzten Seite vom Schädel relativ
weit entfernt ist. Es hat also wahrscheinlich durch einen bei An-
legung der Naht ausgeübten äusseren Druck eine Verschiebung des
implantirten Knochenstückes stattgefunden. Das ist leicht ver-
ständlich, wenn man bedenkt, dass das heraustrepanirte Stück (und
dieses wurde immer zu den Versuchen benutzt) nie ganz genau in
die Trepanwundc passen kann, sondern immer um die Dicke der
Trepanwand kleiner sein muss, als der hervorgerufene Defect. * Im
üebrigen findet sich das natürlich durch alle Stadien hindurch.
Die Narbe selber bietet wenig besonders Bemerkenswerthes
dar. Im Allgemeinen sind die Befunde hier die gleichen, wie bei
den Versuchen mit Einheilung überlebenden Knochens^).
Vom Ende der zweiten Woche ab beginnt vom Pericranium
von der duralen Seite und von der Narbe aus ganz wie bei der
Einheilung von Elfenbeinstückchen, eine Zertrümmerung des todten
Knochens und ein Ersatz desselben durch neugebildeten lebenden.
Noch ist (bis zur 8. Woche) die Unterscheidung zwischen todtem
und lebendem Knochen keine ganz leichte. Man findet nämlich
in den Knochenkörperchen des ausgekochten Stückes mitunter die
wohlerhaltenen Zellen, die sich häufig genau so färben, wie die
Zellen des angrenzenden Schädeldachs. Das darf nicht Wunder
nehmen. Durch das Kochen wird ja die Substanz der Zellen nicht
zerstört, sondern vielmehr fixirt — die alten Histologen haben be-
kanntlich sehr häufig an gekochtem Material ihre Untersuchungen
angestellt — ; es ist also erklärlich, dass diejenigen Zellen,
die noch nicht der Resorption verfallen sind, sich genau so färben,
wie die aus der normalen Nachbarschaft.
Doch fahren wir in de^ Schilderung des eigentlichen Pro-
cesses fort!
Zuweilen, und es müssen hier individuelle Differenzen zwischen
den Versuchsthieren vorliegen, ist der Heilungsvorgang ein ausser-
ordentlich langsamer. Wie Fig. 8 zeigt, die nach einem Präparat,
1) David 1. c.
Histolog. Vorgänge nach Implantation von Knochen in Schädel defecten. 541
das der zwölften Woche entstammt, angefertigt ist, ist nur dicht an
der cranialen Seite (Fig. 8®') das Hineinwuchern von Gefässen, und
die Neubildung jungen Knochens unmittelbar am Pericranium zu
beobachten (Fig. S% während im Uebrigen im Innern des todten
Knochenstückes nur wenig Veränderungen, und diese nur in der
Umgebung erweiterter Gefässe, anzutreffen sind. In anderen Fällen
verläuft der Process schneller, und man sieht bereits nach der-
selben Zeit innerhalb des todten Knochens grosse Particen neu-
gebildeter Knochensubstanz. Hier wie da unterscheidet sich der
neugebildete Knochen von dem todten dadurch, dass im Letzteren
die Knochenkörperchcn vollständig leer sind, höchstens noch Zell-
trümmer beherbergen, während in Ersterem die Knochenzellen
durch ihre Färbung in Hämatein deutlich hervortreten.
Im Allgemeinen verläuft der Heilungsvorgang in derselben
Weise wie beim Elfenbein. Es treten aus der Umgebung, also von
der Narbe, vom Pericranium und von der Dura Osteoklasten auf,
die den vordringenden Gefässschlingen den Weg bahnen. Durch
diese wird der todte Knochen usurirt. In ihrer Adventitia bildet
sich die neue Knochensubstanz, und so findet allmählich eine
Resorption des todten und ein Ersatz durch neugebildeten Knochen
statt. Färberisch tritt namentlich die Grenze zwischen beiden sehr
scharf hervor. Immer stärker wird die Resorption des todten und
immer beträchtlicher die Masse des neugebildeten Knochens, so
dass mit der 26. Woche, mit der ich meine Versuche beendete,
das Fragment zum grössten Theile resorbirt war. Es zeigten sich
wohl noch hier und da Inseln von todter in der neugebildeten
Knochensubstanz, doch sind sie nur spärlich vorhanden. Daher
ist das Bild das gerade Gegentheil zu dem, welches man z. B.
nach der achten oder zwölften Woche erhält, in welchen Stadien
man nur Inseln lebender Knochensubstanz in der todten Masse
beobachten kann.
Erwähnenswerth ist noch das Verhalten des an die Narbe
angrenzenden Schädelknochens. Auch hier finden sich Ver-
änderungen oft nicht unbeträchtlicher Art, die namentlich in einer
sehr starken Erweiterung der Haversischen Canäle und in dem
Auftreten kleiner circumscripter todter Stellen bestehen. Das sind
rein reactive Entzündungserscheinungen, für die als ursächliches
Moment der mechanische Insult beim Trepaniren zu betrachten ist.
542 Dr. M, David
7
Endlich sei noch die Thatsache erwähnt, dass zuweilen die Narbe
verknöchern kann. Es ist dies der Fall in denjenigen Versuchen,
in welchen eine seitliche Verschiebung des implantirten Stückes
stattgefunden hatte. An der Stelle, wo todter und lebender
Knochen dicht an einander lagen, trat sehr bald eine vom lebenden
Knochen ausgehende Verknöcherung der Narbe auf.
Nachdem ich somit die Ergebnisse meiner Versuche mit Elfen-
bein und todtem Kno(*hen mitgetheilt, erwächst mir die Pflicht,
nunmehr dieselben in Beziehung zu setzen zu der Darstellung, die
Barth giebt, und zu dem, was ich selbst in meiner früheren Arbeit
mitgetheilt habe.
Ein näheres Eingehen auf die ziemlich umfangreiche Literatur^)
erscheint mir um so weniger nothwendig, als dies bereits seitens
Barth's in erschöpfender Weise geschehen ist. Nur aus einer
Arbeit von Ochotin^) sei eine Stelle angeführt, weil die Er-
gebnisse, welche dieser Forscher bei seinen Versuchen erhalten
hat, geeignet erscheinen, die von mir in meiner früheren Arbeit
vertretene, mit der bis Barth allgemein herrschenden überein-
stimmende Auffassung zu unterstützen. Es heisst nämlich bei
Oc hotin (1. c. S. 107) wörtlich: „Während der transplan tirte
Knochen, indem er von Bindegewebe umgeben ist, mit diesem in
eine organische Verbindung tritt, wird der todte Knochen durch
dasselbe vom lebenden Gewebe nur isolirt, und wenn es denselben
wirklich fixirt, so geschieht dies nur mechanisch. Femer, sobald
der lebende transplantirte Knochen sich mittelst der neugebildeten
Knochensubstanz mit dem Mutterboden verbunden hat, so participirt
er ohne Weiteres an dem Leben und den Functionen des Gesammt-
knochens, während dagegen der todte Knochen von diesem Zeit-
punkt an nur schneller resorbirt und durch neugebildete Knochen*
Substanz ersetzt wird. Das Endresultat ist in beiden Fällen das-
selbe: Ausfüllung des Knochendefects."
Es ergänzen die Ochotin'schcn Angaben über die Einheilung
1) Da ich hier lediglich die histolagischeii Veränderungen schildere, so
glaube ich davon Abstand nehmen zu können, derjenigen Arbeiten zu gedenken,
in welchen ausschliesslich das grob wahrnehmbare Verhalten geschildert wird.
ich gebe mich der Hoffnung hin, dass mir diese Beschränkung nicht als ein
Mangel an wissenschaftlicher Rücksicht und Achtung von den betreffenden
Autoren ausgelegt wird.
2) S. Ochotin, Beiträge zur Lehre von der Transplantation todter
Knochentheile. — Virchow's Archiv, Bd- 124, S. 97.
Histolog. Vorgänge nach Implantation von Knochen in Schädeldefecten. 543
todten Knochens jene Angaben von Adamkiewicz über die Ein-
heilung lebenden Knochens, die mir leider nur aus dem Citat von
Ochotin bekannt geworden sind, da mir das Original nicht zu-
gänglich war. Von Adamkiewicz ist der histologische Nachweis
erbracht worden, dass lebender Knochen als solcher einheilt, wenn
auch die Einzelheiten seiner Ergebnisse in Folge seiner ofifenbar
wesentlich anderen Versuchsanordnung sich mit den meinigen nicht
in allen Punkten decken. Ochotin hat in unzweideutiger Weise
dargethan, dass die histologischen Vorgänge, welche in Röhren-
knochen nach Einbringung todten Materials zu beobachten sind,
toto coelo verschieden sind von denen nach Einbringung über-
lebenden Knochens.
Hinsichtlich des Verhaltens replantirten überlebenden Knochens
decken sich im Wesentlichen — und das W^esentliche liegt im
Erhaltenbleiben des replantirten Stückes — meine Resultate mit
denen von Adamkiewicz, Die histologischen Schicksale im-
plantirten Elfenbeins resp. todten Knochens sind in meinen Ver-
suchen der Hauptsache nach die gleichen wie in den Versuchen
von Bidder und Ochotin. Nur die Differenz findet zwischen
jenen Autoren und mir statt, die bedingt ist durch die Ver-
schiedenartigkeit der üntersuchungsobjecte. {foch einmal sei her-
vorgehoben, dass, wenn auch die schliesslichen Resultate am
Röhrenknochen und am Schädel identisch sind, die Einzelheiten
des Processes durchaus nicht in Uebereinstimmung zu sein
brauchen.
Es ist mir nach alle dem nicht verständlich, wie Barth be-
haupten konnte, dass implantirte todte Knochenstücke unter den-
selben histologisc^hen Vorgängen in Knochendefecten einheilen, wie
replantirte überlel)ende. Vergleicht man z. B. das von mir in
meiner früheren Arbeit nach einem Photogramm auf Taf. X Fig. 9
gegebene Bild, welches die Mitte des replantirten Stückes aus der
11. Woche p. op. darstellt, mit meiner dieser Arbeit beigegebenen
Fig. 8, die die Mitte des todten Knochens aus der 12. Woche
wiedergiebt, so ist der Unterschied ganz augenfällig. Hier, in
Fig. 8, überall leere Knochenköfperchen, keine Spur von Zellen,
dort, in Fig. 9, überall wohlerhaltene, lebensfähige, weil normal
gefärbte Knochenzellen. Hier haben wir todtes Material, dort aber
lebendiges vor uns. Und gerade der Vergleich, so muss ich im
544 Dr. M. David,
Gegensatz zu Barth sagen, der Untersuchungsergebnisse an im-
plantirtem todtera Materiale mit denen am replantirten lebenden
lehrt uns unzweideutig, dass die beiden Processe in allen ihren
Einzelheiten von Grund aus verschieden sind.
Glaubte Barth durch seine Versuche die alte Lehre, dass von
ihrem Mutterboden vollständig losgelöste, aber überlebende Knochen-
stücke mit Erhaltung ihrer Vitalität einheilen können, umgestürzt
zu haben, so muss ich im Gegen theil sagen, dass eine auch mit
allen Hülfsmitteln der modernen histologischen Technik ausgeführte
Untersuchung die alte Lehre in ihrem vollen Unafange stützt.
Todter Knochen, fremdes Material werden resorbirt und durch
neugebildeten Knochen ersetzt; überlebend zur Einheilung ge-
brachter Knochen wird von der Umgebung aus neu vascularisirt
und somit lebend erhalten.
Erklärang der Abbildungen anf Tafel II.
Alle Figuren nach Präparaten vom Schädel des Hundes.
In allen Figuren bedeutet:
c = craniale Seite,
d = durale Seite,
g= Gefäss.
Figur 1 — 7 beziehen sich auf die Elfenbeinversuche. Das Elfenbein ist durch
seine dunklere Färbung sofort zu erkennen.
Fig. 8—9 beziehen sich auf das todte Knochenmaterial.
Fig. 1. 26 Wochen p. op. Theil des Schnittes aus der Mitte des implantirten
Stückes. Schwache Vergrösserung.
m = Muskelbündel.
Fig. 2. Ein Theil des vorigen Stückes bei stärkerer Vergrösserung. Man
sieht die vordringenden Gefässschlingen. Bei k -=r neugebildete
Knochensubstanz.
Fig. 3. 1 Jahr p. op. üebersichtsbild.
Fig. 4. Ein Theil des vorigen Schnittes in der Nähe des cranialen Randes
bei stärkerer Vergrösserung.
k = neugebildeter Knochen,
r = Riesen zellennest.
Fig. 5. r,= Riesenzellennest,
g = nachdringende Gefässschlinge
Fig. 6. Rand des implantirten Stückes bei mittelstarker Vergrösserung. Die
Rarefication der Elfenbeinsubstanz, die Neubildung des Knochens in
> ca. 200 fache Vergrösserung.
Histolog. Vorgänge nach Implantation von Knochen in Schädeldefecten. 545
der Umgebung der Gefasse und die an Diploe erinnernde Stelle sind
hier sehr deutlich,
m = Muskelbündel.
Fig. 7. Vom Pericranium eindringende Gefässschlinge , an deren rechter
Seite der neue Knochen sehr deutlich zu erkennen ist.
Fig. 8. ® und ^' neugebildeter Knochen (cf. Text) vom todten Knochen-
material scharf unterschieden.
12 Wochen p. op.
Fig. 9. Der Unterschied des neugebildeten Knochens vom todten sehr
deutlich.
26 Wochen p. op.
XXXIII.
(Aus der chirurgischen Klinik zu Heidelberg.)
Erfahrungen über die Behandlung veralteter
Empyeme/)
Von
m
Professor Or« Jordan
in Heidelberg.
Einer kurzen Besprechung der Hauptpunkte, die bei der Therapie
chronischer Empyemfisteln in Frage kommen, möchte ich die Er-
fahrungen zu Grunde legen, welche wir an 20 in der Heidelberger
Klinik nach Schede 's Methode operirten Fällen in den letzten
7 Jahren gemacht haben. Wie dieses relativ grosse Material
illustrirt, kommen, trotz aller Fortschritte, die in der Behandlung
der acuten Empyeme im vergangenen Decennium erzielt worden
sind, noch immer Fälle von veralteten Empyemen zur Beobachtung.
Ewalds Ausspruch, dass das Bestehen einer Fistel dem behandelnden
Arzte den Vorwurf eines Kunstfehlers zuziehen müsse, triflFt wohl
für die meisten, aber nicht für alle Fälle zu, denn 2 unserer
Patienten, welche im acuten Stadium der Erkrankung in die
Klinik eintraten, trugen, obwohl sofort eine ausgiebige
Drainage der Brusthöhle mittelst Rippenresection vor-
genommen wurde, und eine dauernde klinische Nachbehandlung
stattfand, eine zur Thoracoplastik nöthigende Fistel davon.
In dem einen dieser Fälle musste man als Ursache des Misserfolges
eine Erkrankung derLungen (Emphysem und Bronchitis) beschuldigen.
Der Erfolg des primären Eingriffes ist also auch abhängig
1) Nach einem am 3. Silzuiigstage des XXVII. CoDgresses der Deutschen
Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin am 15. April 1898 gehaltenen Vortrage.
Erfahrangen über die Behandlung veralteter Empyeme. 547
von dem Zustand der Lunge des von Empyem befallenen
Kranken, eine Thatsache, der bis jetzt kaum Beachtung geschenkt
worden ist und die um so wichtiger erscheint, als sie die zeitliche
Indioation zur Vornahme der Thoracoplastik wesentlich beeinflussen
muss. v^
Ist aus dem einen oder anderen Grunde die Empyemfistel
etablirt, sind die natürlichen Heilkräfte (Verkleinerung der betreffenden
Thoraxhälfte durch Zusammenrücken der Rippen und Heranziehung
benachbarter Organe) erschöpft,, dann treten bekanntlich innerhalb
der Empyemhöhle Veränderungen ein, die die Heilung immer mehr
erschweren, es bildet sich ein immer grösser werdender Circulus
vitiosus. Durch Biudegewebsneubildung und Schrumpfung wird die
Pleura in eine, an Dicke stetig zunehmende gefässlose Schwarte
verwandelt, die zum Eingehen von Verwachsungen immer weniger
geeignet wird. Die retrahirte Lunge wird durch die viscerale Schwarte
comprimirt, gleichsam ummauert und in ihrer Fähigkeit der Wieder-
ausdehnung mehr und mehr beeinträchtigt. In solchen Fällen kann
eine Heilung nur auf operativem Wege herbeigeführt werden
und zwar entweder durch Verkleinerung der Brustwand und
Anpassung derselben an die zurückgesunkene Lunge oder dadurch,
dass man der geschrumpfton Lunge die Wiederausdehnung
und Adaptirung an den Thorax ermöglicht.
Den ersten Weg schlugen Simon, Esthlander und Scheide
ein, den zweiten hat neuerdings D61orme erfolgreich betreten.
Esthlander, an dessen Namen sich die Thoracoplastik insofern
mit Unrecht knüpft, als Simon schon 8 Jahre vor ihm den Vorschlag
ausgiebiger Rippenentfernung machte, empfalil die subperiostale
Resection von Rippenstücken in der ganzen Ausdehnung der Empyem-
höhle von horizontalen, im Intercostalraum angelegten Hautschnitten
aus, ohne die Pleurahöhle selbst zu eröffnen. Esthlander's
eigene Erfolge waren dürftige, denn von 8 Fällen wurden nur 2
geheilt. Im Gegensatz zu Esthlander, welcher die Schrumpfung
der costalen Pleura für den Hauptfactor der Heilung, ihre Er-
haltung daher für unumgänglich nothwendig hielt, kam
Schede schon 1878 zu der Ueborzeugunf^'', dass die Pleuraschwarte
ein Haupthinderniss für die Heilung sei und dass man
dieselbe nebst den Zwischenrippentheilen ebenfalls ent-
fernen müsse. Beide Operationsmethoden zeigen also eine prin-
548 Dr. Jordan,
cipielle Verschiedenheit und wir können bei dem jetzigen
Stand der Lehre sagen, dass die Sehe de 'sehe Anschauung durch
die praktischen Erfahrungen als die richtige bestätigt worden ist.
Die Indicationen zur Anwendung des Esthlander'schen Verfahrens
sind heutzutage sehr beschränkt, Aussicht auf Erfolg bieten nur
Fälle mit circumscripter kleiner Höhle, nachgiebigem, elastischem
Brustkorb (d. h. Patienten jugendlichen Alters) und geringer Dicke
der Pleura (also relati v frische Fälle). Unter solchen Voraussetzungen
kann man, wie u. A. Karewski's günstige Heilresultate bei^Kindem
beweisen, durch diesen schonenden Eingriff in der That Verschluss
der Empyemfisteln erzielen. Bei dem Gros der wirklich ver-
alteten Empyeme, besonders Erwachsener, aber giebt nur die
Schede'sche radicale Methode die Möglichkeit der Ver-
ödung des Pleuraraumes, Esthlander's Methode ist bei diesen
auch schon aus dem Grunde unzulänglich, weil man ohne breite
Eröffnung der Eiterhöhle überhaupt nicht im Stande ist,
die Grenzen der Letzteren mit Sicherheit zu bestimmen.
Die Bildung des Haut-Muskellappens mit oberer Basis nach
der Vorschrift Schede 's scheint mir den Vorzug vor den von
anderer Seite vorgeschlagenen Modificationen, speciell den seitlichen
Lappenbildungen zu verdienen, und zwar aus 2 Gründen, einmal
weil der Schede 'sehe Lappen die vollständige Freilegung aller
Ausbuchtungen und Fistelgänge am sichersten garantirt und zweitens
deshalb weil der, später der Lunge adhärente Lappen unter
dem] directen Einfluss der Armbewegungen steht, welche
auf die Wiederentfaltung der collabirten Lunge günstig einzuwirken
vermögen. Die Grösse des Weichtheillappens wird man im Einzel-
falle in Anpassung an die Empyemhöhle modificiren, so z. B. bei
vorderer oder seitlich gelagerter Höhle den hinteren Sbhenkel vor
den vorderen Rand der Scapula enden lassen, indessen ist in der
Mehrzahl der Fälle die Sehe de 'sehe Schnittführung, welche das
Schulterblatt in den Lappen einbezieht, deshalb zweckmässiger,
weil nach meinen Beobachtungen die Ausheilung der Fistel
gerade durch Höhlenbildungen der Hinterseite, durch
hinter der Scapula nach oben verlaufende Gänge sehr
häufig verhindert wird. Die grössere Starrheit und Festigkeit
der vertebralen Rippenabschnitte und die dadurch erschwerte Ein-
senkung der Brustwand begünstigt die Entwickelung resp. das Zu-
Erfahrungen über die Behandlung veralteter Empyeme. 549
rückbleiben von Rcccssus im hinteren Pleuraraum. Die Eröffnung
derselben wird nur durch das Emporklappen der Scapula ermöglicht.
Da die genauere Bestimmung der Grösse und Ausdehnung der
Hohlräume nur durch die directe Inspection oder Palpation möglich
ist, empfiehlt es sich die Operation mit einer ausgiebigen Erweiterung
der Fistelöffnung durch Resection der 2 oder 3 angrenzenden Rippen
zu beginnen und auf Grund der Exploration sodann die Form und
Grösse des abzulösenden Weichtheillappens festzusetzen. Um dem
letzteren die Möglichkeit der vollständigen Einsi^nkung in die spätere
Mulde und damit der Lunge eine ausreichende Deckung zu ermög-
lichen, halte ich es für zweckmässig, den Lappen etwas grösser
zu nehmen, als den Grenzen des späteren Knochendefectes
entspricht. Nach Ablösung der Weichtheile kann die Resection
der Brustwand entweder in einem Zuge vermittelst einer starken,
schneidenden Zange (Helferich) oder nach Schede's Vorschlag in
2 Absätzen (erst subperiostale Rippenresection, dann Durchtrennung
der Zwischenrippentheile nebst Pleuraschwarte) vorgenommen werden.
Ich habe nach beiden Methoden gearbeitet und kam zu dem Re-
sultat, dass für die Wahl der einen oder anderen der Allgemein-
zustand des Patientc^n, besonders der Zustand des Herzens und der
Lungen entscheidend sein muss, da bei der Resection in einem
Tempo Blutverlust und Shock grösser, di(^ Narkose aber kürzer, bei
dem milderen Vorgehen Schede 's letztere länger, Blutung und
Shock dagege i geringer sind.
Nach Beendigung der Resection wird die Mulde locker tam-
ponnirt (keine Jodoformgaze!), der Lappen reponirt und durch einen,
den Arm mitfassenden Compressionsverband der Lungenoberfläche
adaptirt. Auf Grund unserer Erfahrungen rauss ich die voll-
ständig offene Wundbehandlung als die sicherste be-
zeichnen; eine Vernähung des Lappens birgt die Gefahr des Zu-
rückbleibens unerwünschter Hohlräume in sich. Die durch die
Einziehung und das Zurückweichen des Hautlappens entstehende oft
handgrosse Wundfläche wird hinterher durch Thiersch 'sehe Läppchen
zur Ueberhäutung gebracht.
Bei starker Retraction der Lunge ist eine Heilung nur dann
zu erwarten, wenn die Höhle von jeglicher Knochenüber-
dachung befreit w'ird. Partielle Eingriffe sind in Folge
dessen durchaus zwecklos, das Zurücklassen eines einzigen, eine
ArchiT für kliu. Chirurgie. 67. Bd. Heft 3. 37
550 Dr. Jordan,
llohlniumbildinig ermöglichenden Rippensiiickes kann den Erfolg
selbst des grössten Eingriffes vereiteln. Diese Thatsache spricht
für die Vornahme radicaler Operationen und für das Bestreben
mögliehst in einer Sitzung die Bedingungen für die Aus-
heilung zu schaffen. Der zur Vornahme solcher gewaltigen
Eingriffe nöthige Muth und die Sicherheit bei der Ausführung müssen
vom einzelnen Operateur durch eigene Erfahrung und üebung all-
mählich erworben werden. Diesen Satz illustxiren unsere Kranken-
geschichten, aus denen liervorgeht, dass die ersten Patienten wegen
zu milder Eingriffe sich meist mehreren (bis 8) Operationen unter-
werfen mussten, während bei den letzten mehrfach die lleilunff
durch eine einzige Operation erreicht wurde.
Wie steht es nun mit der Gefahr der Operation? Von unseren
20 Kranken starb nur einer und zwar ein Sjähriger Knabe an den
unmittelbaren Erfolgen der Operation; die übrigen 1^ überstanden
den Eingriff gut. Gleichwohl ist der persönliche Eindruck in jedem
Falle der gewesen, dass es sich um eine recht gefahrvolle
Operation handelt. Mehrfach musste der drohende CoUaps durch
intravenöse Kochsalzinfusion und starke Excitantien bekämpft werden.
Bei eintretender Pulsschwäche empfiehlt es sich daher die Operation
abzubrechen und die Beendigung der Resection auf eine
zweite, ev. auch dritte in kurzen Intervallen folgende
Sitzung zu verschieben.^)
Wa^ die Endresultate betrifft so sind von unseren 20, aus-
schliesslich nach Schede operirten Fällen, 9 vollständig geheilt,
6 gebessert, 1 ungeheilt geblieben und 4 gestorben. Von den
1) geheilten sind 5 wieder vollständig arbeitsfähig. Von
den 6 gebesserten Patienten sind 3 sozusagen als geheilt
zu bezeichnen, denn sie haben nur noch eine kleine, kaum sc-
cernirende Fistel und sind dabei vollständig arbeitsfähig; 1 im Herbst
1897 operirter Patient befindet sich noch in Behandlung und hat
die besten Aussichten auf vollständige Genesung; von 2 gebessert
aus der Klinik Entlassenen ist das Endergebniss unbekannt. Von
den 4 Todesfällen war der (nne durch Collaps post. operat. ver-
anlasst, die anderen 3 wurden durch Miliartuberculose einige AVochen
nach gut überstandener Opi^ration herbeigeführt. Sondert man die
') Ein Vorschlag, den bereits Schede selbst gemacht hat.
Erfahrunjj:en über die Behandlung veralteter Empyeme. 551
Empyeme nach ihrer Aotiologie, so haben wir 16 Fälle von pyo-
genem Empyem mit 8 Heilungen, 6 Besserungen, 1 Todes-
fall und 1 Nichtheilung und 4 tuberciilöse Empyeme mit
1 Heilung — es handelte sich um eine circumscripte Höhle —
und 3 Todesfällen. Was das functionelle Resultat hei den
Geheilten betrifft, so glich sich in mehreren Fällen die Ein-
senkung der Brustwand im Laufe der Jahre allmählich fast
vollständig aus und die früher retrahirte Lunge betheiligte sich
wieder ausgiebig an der Athmung. Mehrfach wurde ferner ein
vollständiges Verschwinden der vor der Operation beträcht-
lichen Skoliose constatirt. l'nsore Beobachtungen in functioneller
Hinsicht stimmen mit denen Schede's, Karewski, Körte's überein.
5 der Patienten gehörten dem Kindesaker an (3. — 13.
Jahr). Bei der milderen Form der Empyeme — es handelt sich
meistens um Pneumokokkeninfection — und der gi'össeren Elasti-
cität des Brustkorbes sind Empyemfisteln bei Kindern im Ganzen
selten. Ist aber durch eine Fistel die Indication zur Thoracoplastik
vorliegend, so kann man letztere, bei allerdings grösserer Vorsicht
um so eher vornehmen, als die Bedingungen zum Ausgleich
nach der Heilung weit günstigere sind wie beim Erwach-
senen. Noch rascher und sicherer als bei Letzterem geht beim
Kinde die oft beträchtliche Verkrümmung der Wirbelsäule zurück,
die Wiederausdehnung der Lunge kann eine fast vollständige werden,
ja es kann sogar, wie wir es zweimal beobachteten, zu einer voll-
kommenen Regeneration der resccirten Thoraxpartie kom-
men. Zur Illustration dieser Verhältnisse stelle ich Ihnen diesen
jetzt 11jährigen Knaben vor, bei dem vor 7 Jahren wegen eines
veralteten, linksseitigen Empyems 6 Rippen (die 5. — 10. incl.) in
der Länge von je 8 — 10 cm sammt Pleuraschwarte entfernt worden
sind. Bei der Nachuntersuchung vor einigen Monaten war ich er-
staunt zu constatiren, dass die frühere beträchliche Einsenkung des
Thorax nahezu ganz gehoben, und dass der knöcherne Defect
vollständig knöchern und zwar durch einzelne Rippen er-
setzt und die Haut auf der Unterlage verschieblich geworden ist.
Von Skoliose der Wirbelsäule ist nichts mehr zu bemerken. Der
Junge ist ganz gesund und in keiner körperlichen Anstrengung be-
hindert. Eine ähnliche günstige Erfahrung machten wir bei einem
23 j. Manne, bei dem i. J. 1893 eine abgegrenzte kleinere Empyem-
37*
552 Dr. Jordan
j
höhle durch die Resection von 5 Rippen nebst Pleura zur Heilung
gebracht wurde. Auch bei diesem Patienten ist der Defect durch
Knochenneiibildung ausgefüllt, ohne dass sich aber einzelne
Rippen nachweisen lassen. Der Mann ist völlig gesund und arbeits-
fähig und hat sich seit seiner Heilung 7 Ehrenpreise als Turner
erworben.
Unsere Operationserfolge bei tuberculösen Empyemen
sind, den Erfahrungen anderer Chirurgen entsprechend, schlechte
gewesen, denn von 4 Fällen wurde nur 1 geheilt, während die
3 übrigen einige Wochen nach der Operation an Allgemeintuber-
culose zu Grunde gingen. Wenn die Tuberculose im Hinblick auf
den einen geheilten Fall auch nicht eine absolute Contraindication
gegen die Thoracoplastik bildet, so niuss doch im Einzelfalle die
Chance eines Eingriffes unter Berücksichtigung des Allgemein-
zustandes und des Lungenbefundes genau erwogen werden. Denn
die Bedingungen zur Ausheilung der Empyemhöhle sind
an und für sich viel ungünstiger als bei den durch pyo-
gene Infection verursachten Empyemen, weil die Widerstands-
kraft in Folge der constitutionellen Erkrankung erheblich herab-
gesetzt ist und die Lunge gerade bei den tuberculösen Formen
häufig die hochgradigste Retraction aufweist.
Physiologischer als die Sehe de* sehe Methode der Thoraco-
plastik ist zweifellos das Verfahren von Delorme, die sogenannte
Decortication pulmonaire, da dasselbe die Wiederausdehnung
der verkleinerten Lunge und ihre Adaptirung an die unverändert
bleibende Brust wand erstrebt. Die Berechtigung auf diesem Wege
vorzugehen gründet sich auf die sowohl durch Sectionsbefunde, wie
durch operative Erfahrung festgestellte Thatsache, dass dieretra-
hirte Lunge unter der sie umhüllenden Pleuraschwarte
ihre Ausdehnungsfähigkeit während mehrerer Jahre be-
wahren kann. Durch temporäre Resection der Brustwand in
Form eines Thürflügellappens wird die Empyemhöhle breit eröffnet,
durch Auswischen und Ausschabung gründlich gereinigt, die ver-
dickte Lungen pleura sodann vorsichtig bis zur Lungenoberfläche
gespalten und stumpf mit Hohlsonde oder Fingern möglichst in der
ganzen Ausdehnung des betreffenden Lungenlappens abgelöst. Diese
Ablösung ist in günstigen Fällen von einer oft mächtigen Entfaltung
der Lunge gefolgt, so dass der Thoraxraum rasch vollständig aus-
Erfahrungen über die Behandlung veralteter Empyeme. 553
gefällt wird. Der Brustwandlappen wird sodann reponirt und ver-
näht. D^lorrae konnte auf dem französischen Chirurgen congress
von 1896 bereits über 18 derartige Operationen berichten, mit
5 vollständigen Heilungen, 2 Besserungen, 3 Todesfällen und
8 Misserfolgen. C^stan konnte diesen kürzlich noch 9 weitere aus
der Litteratur gesammelte Beobachtungen hinzufügen, so dass die
Casuistik der Delorme' sehen Operation jetzt 27 Fälle umfasst,
von denen angeblich 11 vollständig geheilt (= 40,7 pCt.) und
3 gebessert wurden, während 9 ungebessert blieben und 4 starben ;
die Todesfälle kamen auf Rechnung der Tuberkulose. Von Seiten
der deutschen Chirurgen scheinen noch keine diesbezüg-
lichen Erfahrungen vorzuliegen. Ich selbst versuchte das
Verfahren in Combination mit der Schede 'sehen Thoracoplastik
bei einem Kranken, der abgesehen von dem chronischen Empyem
an starkem Emphysem und Asthma litt und bei dem daher die
möglichste Wiederherstellung der Lungenfunktion fast eine Indicatio
vitalis war. Nach Vornahme einer ausgedehnten Thoraxresection
spaltete ich die schwartig verdickte Lungenpleura in ganzer Länge.
Es erfolgte nach diesem einzigen Eingriff innerhalb 10 Wochen
vollständige Ausheilung und die eingesunkene Thoraxhälfte
hob sich späterhin auffallend rasch und gut, so dass eine
günstige Wirkung der Pleuraspaltung mit grosser Wahr-
scheinlichkeit angenommen werden durfte. Die Ver-
bindung der Schede'schen und Delorme'schen Operation
scheint mir daher weiterer Versuche werth zu sein und den
Vorzug vor der D6cortication allein schon deshalb zu verdienen,
weil man im Einzelfalle über den Zustand der Lunge im Voraus
nie Bestimmtes wissen kann und die hinsichtlich der Wiederaus-
dehnungsfähigkeit der Lunge günstigen Fälle doch nicht all zu
häufig angetroffen werden dürften.
Der Patient, den ich Ihnen nun zum Schluss demonstriren
möchte, erweckt besonders Interesse durch einen Folgezustand
der gelungenen Thoracoplastik, nämlich das Freiliegen des
Herzens im Bereich des Thoraxdefectes. Der jetzt 24 jähr,
junge Mann wurde im Dez. 95 wegen einer seit Febr. 95 bestehen-
den Empyem fistel operirt und zwar wurden die 2. bis 9. Rippe in
der Länge von je 10 — 15 cm nebst Pleuraschwarte entfernt. Die
Heilung erfolgte nach dem einmaligen Eingriff, war aber erst
554 Dr. .lordan, Erfahrunp:cn über die Behandlunj? veralteter Empyeme.
April 97 beendet. Patient ist scildom andauernd ircsund, ist zwar
zu schwerer körperliclier Arbeit nicht fähig, vermag aber als
Hausirer den i^anzen Tag über auf den Beinen zu sein. Gefühl
von Herzklopfen stellt sich nur beim Treppensteigen oder sonstigen
körperlichen Anstrengungen ein. Das Herz ist nach unten und
links verzogen und liegt dem tiefnml<Ienförmig zwischen den Resec-
tionsenden eingezogenen dünnen Hautlappen dicht an. Bei seitlicher
Betrachtung kann man deutlich Yorhof- und Kammereontraction
unterscheiden. Die Pulsation des Herzens ist eine über Erwarten
mächtige. Die Herztöne sind rein. Die Lunge hegt der Thorax-
wand allerseits an und dehnt sich, wie ein Blick auf die starke
inspiratorische Yorwölbung der Axilla zeigt, vorzüglich aus. H. ist
bis zur 10. Rippe, V bis zur i, Rippe voller Lungenschall und
Yesiculärathmen vorhanden. Zur Abhaltung äusserer Gewaltein-
wirkung, welche bei der exponirten Lage des Herzens verhängniss-
voll w'crden könnte, trägt Patient eine geeignete Bandage.
XXXIV.
Beiträge zur Chirurgie der Lunge und der
Pleura/)
Von
nr. Hareivskl
in Berlin.
Operative Eingriffe am Thorax zur Beseitigung von PJeura-
Eiterungen sind jetzt so zum Allgemeingut der Aerzte geworden,
dass sie kaum noch einer Besprechung in wissenschaftlichen Ge
Seilschaften bedürfen. Auch die Resectionen grosser Stücke der
Thoraxwand nach dem Vorgange Esthlander's und Schedes zur
Heilung von alten Empyemfisteln haben sich seit langer Zeit das
Bürgerrecht in der Chirurgie erworben. Der Schritt weiter, die
Lunge selbst anzugreifen, ist zwar auch schon von Alters her ver-
sucht worden, aber doch in so seltenen Ausnahmen und mit so
geringen Erfolgen, dass selbst in der neuesten Epoche der Chirurgie
die Zahl derartiger, glücklich ausgeführter Operationen noch
keine sehr beträchtliche ist. Indessen hat das letzte Jahr-
zehnt eine nicht geringe Zahl von Publicationen gebracht, welche
zeigen, dass wir dank der Aseptik, der feineren Diagnostik und
der besseren Operationstechnik auf dem \Yq^q sind, eine Chirurgie
der Lungen zu etabliren, und es ist ein besonders erfreuliches
Zeiclien, dass auch von den inneren Medicinern die Initiative er-
griffen wird, für eine grosse Zahl von Lungenaffectionen die Hilfe
der Chirurgie in Anspruch zu nehmen. Nichtsdestoweniger zeigen
die Arbeiten von Runeberg, Quinke, Richerolle, Tuffier,
*) Auszugsweise vorgetragen am 3. Sitzungstage des XXVII. Congrosses
der Deutschen (tesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 15. April 1898.
556 Dr. Karewski,
Sonnenburg, Freihan u. v. A., dass wir bisher nur immer erst
über eine Casuistik auf diesem Gebiete verfügen, welche noch
durchaus kein abschliessendes Urtheil über unsere Maassnahmen,
Indicationen und Erfolge gestattet. Wir sehen, dass bei einzelnen
Autoren Affectionen als unantastbar für das Messer gehalten werden,
welche ganz kurze Zeit hinterher als auf blutigem Wege geheilt
berichtet werden.
So ist deim auch das Resultat aller Arbeiten auf diesem Ge-
biete dieses, dass die Autoren es für nothwendig halten, jeden
einzelnen Fall zu publiciren und von ihm aus neue Schlüsse für
die Zukunft zu machen. Eines ist nun bisher als sicheres Er-
gebniss festgestellt worden, dass nämlich für infectiösc
Affectionen nur dann auf Erfolg durch die Operation
zu rechnen ist, wenn man vor dem Berühren der Lunge
selbst Adhaesionen der Pleurablätter vorher gehabt
oder künstlich hergestellt hat. Es scheint aber, dass
die Zahl der Fälle, wo solche Adhäsionen bestehen, sehr häufig
ist, und dass die Befürchtung des Operateurs, bei eitrigen
Lungenprocessen auf intacte Pleura zu stossen, nur in einer
verhältnissmässig geringen Zahl von Fällen begründet ist. Die
Verletzung der jungfräulichen Pleura, w^elche man bei Ent-
fernung von Tumoren des Brustkorbes gemacht hat, haben sich
als ebenso harmlos erwiesen wie sich diejenigen bei eitrigen Lungen-
processen als deletär gezeigt haben. Mit dem Augenblick, wo
Pleura-Adhäsionen vorhanden sind, scheint der Eingriff an der
Lunge nicht viel erhel)licher zu sein als der, welchen man vor-
nimmt, um alte Pleura-Eiterungen zu beseitigen. Es besteht dann
nur noch die Gefahr einer Blutung, welche aber nach der Statistik
von Tuffier keine sehr grosse ist, und die andere Gefahr, da5s
der gemachte Eingriff nicht den Krankheitsherd vollkommen be-
seitigt hat, also der gewollte Zweck nicht erreicht ist, und der
Kranke trotz der Operation am Grundleiden stirbt.
Die grossen Resectionen der Thoraxwand sind ja immer un-
gefährlicher geworden. Ich selbst habe grOvSse Thoraxoperationen
im Ganzen 18 Mal ausgeführt und nur einen Fall an acuter
Nephritis verloren, welche ich auf den Gebrauch von Jodoformgaze
beziehen möchte. Von den 18 Fällen betrafen 13 Empyeme, resp.
Beiträge zur Chirurgie der Lunge und der Pleura. 557
Empyemfisteln, 5 primäre oder secundäre entzündJiche Affec'tionen
der Luni^e.
Ich möchte zunächst einige Worte über 2 Fälle von secundärcr
LungenafFection sprechen, weil diese fast am besten zeigen, wie
erfolgreich man mit Eingriffen an der Lunge sein kann. Dan
ersten dieser Kranken habe ich bereits früher einmal in der
Berl. med. Gesellschaft gezeigt.
I, Chronische Pyaemie in Folge von in die Lunge durch-
gebrochenen Empyems.
Der 38 Jahre alte Herr G. war bis zum Februar 1885 immer gesund.
Daraals entstanden beim Gehen zuerst in der rechten Brustseite Schmerzen,
die auf Pleuritis gedeutet wurden. Er lag mehrere Monate zu Bett. Vom
April bis November 1888 konnte Patient wieder seinem Beruf nachgehen.
Dann kamen von Neuem die alten Beschwerden, Fieber, Schweisse, rechts-
seitige Brustschmerzen. Er Hess sich November 1888 in das Augusta-IIospital
aufnehmen. Es sollen ihm dort auf der rechten Brustseite grosso Mengen
grünen Eiters durch die Function abgezapft worden sein. Im Januar 1889
wurde die Function wiederholt, ergab aber nur etwas Blut; er wurde dann
als geheilt entlassen ; December 1892 bekam er eine Geschwulst an der rechten
Brustseite, die sich nach Anwendung von Schröpfköpfen verkleinerte. April
1893 kehrte die Geschwulst wieder, damals consultirte er mich zum ersten
Male. Es wurde eine über raannsfaustgrosse, fluctuirende Geschwulst hinten über
der 8. Rippe festgestellt, keine Dämpfung im Pleuraraum, sondern nur im Be-
reich dieser Schwellung. Bei dem herabgekommenen, aber in Bezug auf die
Lunge gesunden Manne stellte ich die Diagnose auf einen Gongestionsabscess
infolge Rippencaries. Bei der Operation zeigte sich, dass die Eiterung nicht
von den Rippen ausging, sondern mit einem Gang oberhalb der achten Rippe
sich medianwärts zur Wirbelsäule fortsetzte und in einer mannsfaustgrossen
Höhle vor der Wirbelsäule endete. Der sechste Brustwirbelkörper war rauh,
und in dem Eiter fand sich Knochengruss. Die Spaltung, Auskratzung und
Tamponade beseitigte zwar zunächst die Beschwerden des Kranken, es blieb
aber eine Fistel zurück, die verschieden reichlich secernirte. Jedesmal wenn
die Fistel sich schloss, bekam der Kranke Fieber, Hustenreiz, allgemeines
Krankheitsgefühl. Einmal soll sogar P^itor ausgehustet worden sein und da-
nach der Zustand sich gebessert haben. Im Februar 1894 acquirirte Patient
einen Gelenkrheumatismus, der von nun an häufig recidivirte, und zwar dann
am meisten, wenn die Fistel verschlossen war. Im August 1894 habe ich des-
wegen von Neuem den Kranken operirt, ihm zwei Rippen in grosser Ausdehn-
ung resecirt; die Fistel wurde gespalten, ausgekratzt, ein Wirbelkörper nach
Möglichkeit evidirt und nun durch Tamponade die Wunde zur Heilung zu
bringen gesucht. Leider kam mir der Patient persönlich ans den Augen, die
Tamponade wurde nicht lange genug fortgesetzt, die Wunde schloss sich sehr
558 Dr. Karcwski,
schnell, es entstand von Neuem Verhaltung, Cielenkrheumatisnius und Husten,
Patient kam sehr herunter und Hess sich Mai 1895 in desolatem Zustand
wieder in meine Behandlung aufnehmen. Ich constatirte damals in der rechten
hinteren Axillarlinie in der Höhe der achten Rippe eine tief eingezogene, stark
secernirende Fistel: eine lange Sonde ging 15 cm zur Wirbelsäule hin und
traf auf rauhen Knochen. In der unmittelbaren Umgebung der Fistel bestand
Dämpfung und fehlte das Athemgerausch, sonst war in der Lunge nichts nach-
weisbar, alle anderen Organe gesund. Bei der Operation wurde nun die achte,
siebente, sechste, fünfte und vierte Hippe in einer Ausdehnung von 18, 13 Yg»
13, 11 cm resecirt. Die Zwischenrippenmuskeln wurden nach Durchstechung
durchtrennt, eine vorliegende dicke Schwarte zum grossen Theil exstirpirt,
von neuem ausgekratzt, der Knochen, soweit es anging, ausgelöffelt, und nun
tamponirt. Der Wundverlauf wurde gestört durch ein vier Wochen lang
dauerndes Erysipel. Nichtsdestoweniger wurde mit aller Sorgfalt darauf ge-
achtet, dass nicht von Neuem eine spontane Heilung der Wunde mit Verschluss
der Höhle zustande kam. Als dieselbe gut granulirte, wurde sie in meiner
Abwesenheit von meinem Assistenten durch Thiersch'schc Läppchen trans-
plantirt und so die ganze Höhle mit einem Kpidermisüberzug versehen. Zehn
Wochen nach der Operation konnte der Patient bis auf eine Fistel geheilt
entlassen werden.
2Y2 Jahve sind es jetzt her, dass der Patient von mir in der
Ber]. me(L Ges. geheilt vorgestellt worden ist. Der Zustand hat
sich seit jener Zeit nicht verschlechtert, G. ist dauernd erwerbs-
fähig und gesund gewesen. Jene Zeichen einer chronischen Pyä-
niie, die vorher ihn dauernd krank machte, sind nicht wiedero:c-
kehrt. Aber die? restirendc Fistel hat sich mit Sicherheit als eine
Ijungenfistel erwiesen, und da jetzt keinerlei Zustände von Spon-
dylitis vorhanden sind, scheint es mir möglich, dass eine solche
überhaupt nicht bestanden hat, viehnohr ein Empyem, das bis
zur Wirbelsäule hin gereicht hat, diese arrodirte, wie es
späterhin in die Lunge durchbrach. Zum mindesten wäre
es sehr auffällig, wenn selbst eine circumscripte Carics eines Wir-
belkörpers so glücklichen Ausgang genommen hätte. Ich habe
vor wenii^en Tagen b(M dem Kranken folgenden Befund aufge-
nommen:
Befund im April 189b.
Pat. hat seit der letzten Zeit nicht wieder an Rheumatismus gelitten,
auch nicht an Husten. Seine allgemeine (Jesundheit ist dauernd eine gute ge-
blieben, sein Krnährungszustand ein vorzüglicher, wenn auch im Sommer bei
geringcMcr Arbeit besser als jetzt, wo er bei schwerer körperlicher Arbeit (Pat.
thut (Ion Dienst eines Packotfahrtbeamten von 24 Std. alternirend mit einem
freien Tag und hat grosse Lasten zu tragen) etwas an CJewicht verloren hat.
Beiträge zur Chirurgie der Lunge und der Pleura. 559
Von Zeit zu Zeit schliesst sich die feine, secernirende Fistel und dann
bekommt der Pat. Boklemmungsgefühl.
Status vom 8. April 1898: Blühend aussehend, wohlgenährt. Keine
Haltungsanomalie, höchstens wird die rechte Schulter etwas höher gehalten
als die linke. An der Wirbelsäule kein Gibbus, keine Skoliose, keine schmerz-
haften Druckpunkte.
Bei der Respiration hat man den Eindruck, als ob die rechte Thorax-
hälfte etwas zurücktritt, und das rechte Hypochondrium stärker eingezogen
wird als das linke, auch giebt der Kranke an, dass er das Gefühl, hat, als ob
die rechte Thoraxhälfte nicht so hoch gezogen würde als die linke. Unzweifel-
haft besteht auch eine gewisse Abflachung, namentlich der unteren Partieen
des rechten Thoraxumfanges. Von hinten gesehen fällt vor allen Dingen die
sehr tief eingezogene Narbe der alten Resectionsstelle auf, welche bei Elevation
des Armes sich in einem 24 cm langen, 4 cm breiten und 4 cm tiefen Defect
verwandelt.
Perkussion: Auf den Lungenspitzen beiderseits gleicher voller tiefer
Lungenschall, ebenso auf der ganzen vorderen Thoraxpartie rechts und links.
Herz in norinalen Grenzen. An der Seiten wand des Thorax Schall kürzer und
weniger laut als links. Junten Gleichheit bis zur Narbe, von der Narbe an
abwärts rechts complette Dämpfung.
Auskultation: Vorne rechts und links reines vesikuläres Athmen ohne
Nebengeräusche, auch an beiden Seitenwänden reines vesikuläres Athmen.
Hinten bis zur Narbe beiderseits reines vesikuläres glcichmässiges Athmen
ohne Nebengeräusche. Von dort abwärts auf der rechten Seite sehr stark ab-
geschwächtes Athmen. In der tiefsten Stelle der Narbe findet man eine feine
Oeffhung, aus welcher sich spärlicher Eiter entleert. Derselbe soll öfters
hämorrhagisch sein, besonders nach Körperanstrengungen. Wenn man den
Patienten stark husten lässt, so entleert sich Eiter mit Luftblasen gemischt.
Dieses Secret enthält ausser Eiterkörperchcn zahlreiche multiforme Platten-
epithelien einzeln und in Lagen mit gut erhaltenem Kern und ohne Zeichen
von Verhornung oder Degeneration, muss also als Bronchialsecret angesprochen
werden.
Die übrigen Organe sind gesund.
Sic werden sich gleich an dem Pat. selbst überzeugen können,
dass er zwar eine Lungenfistel hat, im (.'(»brigen aber ein durchaus
gesunder Mann ist, und an der Röntgenphothographie, welche
ich Ihnen herumreiche, werden sie auch ohne Weiteres den
Defect, welchen ich durch miMiie Operation gesetzt habe, erkennen
können, gleichzeitig auch, r'ass eine Thoraxschrunipfung vorhanden
ist. Es ist also in diesem Fall möglich gewesen, eine präverte-
brale Eiterung, welche in die Lunge perforirt war und die Zeichen
einer chronischen Pyämie gemacht hatte, abgesehen davon, dass
sie schwere Lungenerscheinungen verursacht hatte, durch einen
560 Dr. Karewski,
radicalen Eingriff am Thorax mit Freilegung der (M'krankten Lunge
zur Heilung zu bringen war. Dieser Fall wird aber gleich-
zeitig ein Beispiel sein für die Möglichkeit, am hinteren
Thoraxurafang gelegenen Affectionen der Lungen beizu-
kommen.
Dass man nun nicht immer so ^^lücklich ist, intrathorakale
Eiterungen, welche die Lunge arrodirt haben und zu chronischer
Pyämie geführt haben, zu beseitigen, zeigt ein anderer Fall, welcher
gleichzeitig auch sonst ein sehr hervorragendes Interesse hat,
II. Metastasirende Pyämie in Folge von eitriger Strumitis
substernalis mit Arrosion der Lunge.
Der achtjährige F. G., der immer ein gesundes Kind gewesen war, sich
aber stets darch laute, tönende Respiration und leicht auftretende Athemnoth
bei Körperanstrengung bemerkbar gemacht hatte, war im Februar 97 zu-
nächst von leichten Windpocken, acht Tage später von Influenza befallen
worden. Im Verlauf dieser Krankheit traten heftij^c Schmerzen in der obe-
ren rechten Thoraxgegend auf, ohne dass man etwas wahrnehmen konnte.
Stets fiel während der ganzen Krankheit die grosse Athmungsfrequenz auf.
Krst im März 97 fand man eine Dämpfung an der betreffenden Stelle,
und seit dieser Zeit hat immer ohne Pause bis zum August ein J^ektisches
Fieber bestanden, welches Abends bis zu sehr hohen Temperaturen anstieg,
während Morgens recht niedrige sich zeigten. Am 23. April hatte ein Kollege
empfohlen den Dämpfungsbezirk an der linken oberen Thoraxwand, welcher
sehr schmerzhaft war, durch Operation freizulegen, eine Autorität der inneren
Medicin hatte aber davon abgerathen, weil er eine Punktion wegen der Ge-
fährlichkeit der Nachbarschaft für unausführbar hielt. Es bildete sich eine
Krankheit aus, welche multiple Abscesse in der Haut, aber auch eine Ophthal-
mie des rechten Auges zeitigte. Auf diese letztere weiter einzugehen, interessirt
hier nicht, indessen ist zu erwähnen, dass sie für tuberkulös gehalten worden
ist, und deswegen die Diagnose auf multiple Tuberkulose gestellt wurde. Das
Kind stammt zwar aus einer tuberkulösen Familie, es fehlten jedoch ausser
der IrisalTection alle Anzeichen dafür, dass das Kind selbst irgendwie tuber-
culös wur: Dass es sich hier jedoch nicht um Tuberculose ge-
handelt hat, erhellt daraus, dass gerade die Augenaffektion zur Heilung
gekommen ist. Vielmehr trug das ganze Krankheitsbild den Character der
metastasirenden Pyaemie.
Am 27. August wurde nun eine starke Schmerzhaftigkeit im
linken Kniegelenk bemerkt, dasselbe schwoll an, und man berief mich, um
diese zu beseitigen. Ich fand ein äusserst abgemagertes Kind vor, das hoch
fieberte (.'59,S), Respiration betrug 48, Puls 120 [)ro Min. Am Körper finden sich
eine sehr grosse Anzahl von lncisioiisnarl>en, welche aber ausschliesslich Haut-
narben sind ohne Adhärenzen der Tiefe. Rechtes Auge: Cornea besonders
Beiträge zur Chirurgie der Lunge und der PJeura. 561
im unteren Quadranten stark getrübt, im unteren Theil der vorderen Augen-
kammer befinden sich eitrige Massen, auf der Iris feinste Knötchen, grosse
Lichtscheu, es bestehen kleine Synechien. Lunge: Die Grenzen sind allerseits
leicht verschieblich. Ueberall voller Lungenschall mit Ausnahme der nachher
zu beschreibenden Stelle, scharfes Vesiculärathmen, nirgends katarrhalische
Erscheinungen. Beide Thoraxhälften von gleicher Ausdehnung und gleicher
Athraungsweite. üeber der 3. und 4. Rippe, nahe am Sternalrand, oberhalb
der Herzdämpfung eine circumscripte Dämpfung und Schmerzhaftigkeit, aber
keinerlei Vorwölbung und Schwellung, am Herzen nichts Pathologisches, Urin
enthält kein lüiweiss, keine anderen pathologischen Bestandtheile. Am ganzen
Körper fehlen Drüsenschwellungen, sind nur noch die schon genannten Narben
vorhanden. Das linke Kniegelenk hat die normale Konfiguration verloren, das-
selbe ist diffus geschwollen, die Haut ist gespannt, heiss, Patella ballotirend, das
Gelenk steht in Flexionsstellung, bei Berührung äusserst schmerzhaft, die linken
Inguinaldrüsen sind geschwollen. Die Operation wurde noch am selben Abend
vorgenommen. Mit einem äussern Bogenschnitt wurde das Knie eröffnet, es
findet sich in demselben dünner Eiter, die Synovialis ist stark geschwollen und
geröthet, sie wird mit Rücksicht auf die vorhandene Idee der Tuberculose
gänzlich herausgenommen, dann das Gelenk mit Jodoformgaze austamponiii;
und verbunden. Es wird nun auch an den Herd in der Lunge gegangen,
indem mit einer Pravaz' sehen Spritze eine Probepunction gemacht wird,
welche positiven Befund von Eiter hatte. Vom linken Sternalrand aus wird die
3. Rippe freigelegt und in einer Ausdehnung von 5 cm resezirt. Man kommt auf
eine Schwarte. Als man mit der Spritze wieder Eiter entleert, wird unter Führung
der Nadel mit dem Paquelin eine Eröffnung des Abscesses gemacht. Schon
dicht an der Punctionsöffnung liegt die anscheinend normale Pleura vor, so
dass eine grössere Incision nicht thunlich erscheint, sondern die mit dem
Paquelin gemachte Ocffnung vorsichtig dilatirt und mit Jodoformgaze ausge-
füllt wird. Die mediane Seite der Oeffnung der Wunde pulsirt.
Das Kind war bereits am andern Tage entfiebert, aus der Lungenhöhle
entleerte sich ziemlich viel Eiter, sein Befinden bessert sich täglich, am 6. 11.
wird in die Lungenhöhle ein Drain eingeführt.
10. IX. Erster Verband des Kniegelenks, Entfernung der Tamponade,
geringe Secretion aus dem Gelenk, gutes Allgemeinbefinden, kein Fieber.
Tägliche Untersuchung der Secrete auf Tubercelbacillen
negativ!
16. IX. Heute wieder etwas stärkere Secretion aus der Caverne, am
Grunde der Wundhöhle sieht man Pulsationen. Abendtemperaturen 38,2^,
leichter ßronchialkatarrh, Urin eiweissfrei.
18. IX. Kein Fieber, Temperatur dauernd unter 37.
22. IX. Die Secretion aus der Lungenwundhöhle sistirt, dieselbe hat
aber keine Tendenz sich zu verkleinern, die Gelenkwunde des Kniegelenks ist
beinahe zugeheilt.
24. IX. Abendtemperatur 37,8^. Im Grunde der Lungenhöhlc einige
Trgpfen Eiter, dieselbe wird deshalb mit Jodoformgaze austamponirt, da dies
562 Dr. Karewski,
die einzige Metliode zu sein scheint, um einen dauernden Abfluss zu ermög-
lichen. Es zeigt sich in der J'^olgc, dass immer dann, wenn die Lungenhöhle
tamponirL ist, völlige Fieberfreiheit besteht, bei andern Methoden aber Eiter-
retentioncn mit Fieber stattfinden. Niemals konnte nachgewiesen werden, dass
in diese Lungenhöhle Luft aspirirt oder oxspirirt wurde. Indessen macht jede
Berührung der Höhlenwand starken Hustenreiz. Der Augenbefund hat sich in
der letzten Zeit dahin geändert, dass die Lichtscheu völlig verschwunden ist,
nach wie vor jedoch sieht das Auge eitrig infiltrirt aus, aber auch dieser Zu-
stand nimmt ab. Wiederholte Untersuchungen auf T.-B. immer
negativ.
29. IX. Es besteht nur nocli eine ganz kleine granulirende Stelle am
Kniegelenk. Pat. kann das Knie sogar bewegen, so dass der Versuch gemacht
wird, den Kranken ohne Contcntivvcrband zu lassen. Die Knötchen am Auge
und das Infiltrat desselben verringern sich, sowie sich das Allgemeinbefinden
des Knaben bassert, indessen hört man an der linken hinteren Thoraxwand,
entsprechend der vorderen Wund höhle, knarrende und reibende Geräusche,
während auf der übrigen Lunge bronchitische Zustände zu bestehen scheinen.
Die Befreiung vom Contentivverband bewährt sich nicht, sondern man muss,
da der Knabe doch wieder Schmerzen bekommt, am 2. October von Neuem
einen Gipsverband mit Fensterung anlegen. Die Untersuchung der ex-
stirpirten Gelenkkapsel hatte keine Zeichen von Tuberculose
ergeben.
Es macht sich am Halse eine Anschwellung bemerkbar über dem luguium,
die wie ein Struma aussieht, nicht fluctuirt und nicht schmerzhaft ist. Pat.
hat seit 3 Tagen Diarrhoe. Es beginnt nun eine Periode abendlicher Tem-
peraturen, für welche zunächst die Diarrhoeen beschuldigt werden, am 5. Octo-
ber aber bemerkt man starke Secretion in der Lungenhöhle.
7. X. Fieber und Diarrhoe sind geschwunden, die Lungenhöhle ist jetzt
breit olTen gehalten worden, indem man immer stärkere Drains eingeführt hat,
so dass schliesslich ein Loch von 2 cm Durchmesser vorhanden ist. Es be-
steht zwar keine Rctcntion, jedoch eine sehr starke Secretion, der Verband
ist jedesmal mit Eiter durchtränkt, und die Entleerung desselben geschieht
mittels Tamponade.
9. X. — 11. X. Neue Temperatursteigerungen von 38,2^ und 38,6^.
Bei einer heut vorgenommenen Untersuchung wird eine vorsichtige Sondirung
des Abscesses gemacht, man ist imstande mit einer Sonde von der Oeffnung
her, in einem starken Bogen nach hinten — unzweifelhaft am Heizen entlang,
da die Sonde dauernd von dessen Pulsation erschüttert wird — wohl 8 cm
tief nach unten zu gelangen. Es entleert sich darauf eine grosse Quantität
Eiter. Die vor 8 Tagen bemerkte Schwellung am Jugulum hat sich vergrössert
und fluctuirt, sie wird incidirt, eine Communication derselben mit der Lungen-
höhle scheint zu bestehen, ist aber nicht mit Sicherheit nachzuweisen. Der
Urin ist eiweissfrei, Allgemeinzustand wesentlich verschlechtert. Es wird nun
täglich durch Auskippen des Knaben versucht, den Eiter aus der Brusthöhle
total zu entleeren, und das hat auch den Edect, dass in den nächsten 3 Tagen
wieder Fieberfreiheit herrscht.
Beiträge zur Chirurgie der Lunge und der Pleura. 563
14. 10. Nachmittags 5 Uhr. Krämpfe. Oas Kind wird mitten aus
vollem Wohlbefinden plötzlich besinnungslos, starrt vor sich hin, erkennt seinen
Vater und die übrige Umgebung nicht mehr und fangt an mit einer eigenthümlichen
dem Cheyne-Stokes'schen Typus ähnlichen Weise zu athmen, reagirt nicht mehr auf
Anrufen, bleibt aber weiter aufrecht im Bett sitzen. Die linke Pupille ist sehr
dilatirt. Dieser Zustand ist auch durch flaches Hinlegen des Kranken und Haut-
reize nicht zu ändern. Ungefähr 10 Minuten nach Beginn des Anfalles bemerkt
man beim Aufdecken des Kindes eine Erectio penis. Alsbald danach entstehen
Zuckungen im rechten Facialis, anfangs in geringem Umfange, dann immer
heftiger werdend , in immer rasenderer Folge sich erneuernd. Dabei wird die
Athmung eigenthümlich klingend, wie schluchzend. Man applicirt dem Kind
ein Glycerinklystier , das schnell dünnen Stuhlgang befördert. Indessen hat
auch das keinen Einfluss, vielmehr beginnen jetzt auch Zuckungen im rechten
Arm, und zwar sieht man zuerst Bewegungen im Daumen, Streckung, Beugung,
Ab- und Adduction, dann machen die Finger Greifbewegungen, das Hand-
gelenk wird geschüttelt, das Ellenbogengelenk gebeugt und gestreckt, der ge-
sammte Arm im Schultergelenk gehoben und gesenkt. Es dauert nicht lange,
und dieselben Bewegungen stellen sich im rechton Bein ein, allerdings weniger
heftig als im Arm, ohne dass es möglich wäre zuconstatiren, in welchem Abschnitt
die Krämpfe beginnen. Zuckungen werden immer stärker, die Augen bleiben
krampfhaft nach rechts oben gedreht, die linke Pupille immer ad maxiraum
erweitert. Man lässt das Kind etwas Aether einathmen und hat auch den Ein-
druck, dass die Krampferscheinungen nachlassen, die Zwangsstellung der
Augen hört auf, die Pupille verengt sich, die Facialiskrämpfe sistiren. Aber
auch als für ganz kurae Zeit der Anfall vorübergeht, bleibt die schluchzende
Athmung übrig. Es erscheint so, als wenn ein Kind, welches heftig geweint
hat, sich allmählich unter »Schluchzen beruhigt. Der Anfall kehrt bald wieder
und zwar immer in derselben Reihenfolge, wie oben beschrieben. Neue Aetheri-
sirung macht ihn wieder verschwinden, aber nur für kurze Zeit. Die Krämpfe
wiederholen sich zum 3. Male mit grosser Vehemenz. Morphium injection von
3 mg beruhigt. Das Kind athmet noch einige Male tief auf und liegt dann für
wenige Minuten wie schlafend da. Bald jedoch beginnen die Anfälle von
Neuem, und zwar diesmal auf der linken Seite, Krämpfe in beiden Körper-
hälflen gleichzeitig kommen nur ganz vorübergehend vor. Der Puls ist wäh-
rend der ganzen Zeit äusserst frequent, aber von guter Spannung. Das
Gesicht erscheint dauernd überaus blass von greisenhaftem Ausdruck. Zeit-
weise ist deutlich Gheyne-Stokes'scher Athemtypus vorhanden, und man hat
den Eindruck, dass das Kind moribund sei. Dieser Zustand dauert bis gegen
11 Uhr Abends.
Es ist zu bemerken, dass während der ganzen Zeit keine Jjähmungen zu
constatiren sind; dass in der Nacht furibunde Delirien bestehen. Am andern
Tage hat das sonst äusserst intelligente Kind keine Erinnerung an den Vorfall,
nur wird es von der Vorstellung beherrscht, dass es seinem Vater eine ihm
jetzt nicht mehr erinnerliche Mittheilung habe machen wollen. Ferner erkennt
das Kind zeitweise seine Umgebung nicht, es wird ihm schwer an ihn ge-
richtete complicirtcre Fragen zu verstehen und zu beantworten. Bis zum Nach-
564 Dr. Karewski,
mittag liJit sich auch in dieser Beziehung schon eine wesentliche Besserung
eingestellt, und am 20. 10. kann man wohl sagen, dass die Intelligenz des
Kindes die alte, der Gesichtsausdruck wieder ein natürlicher geworden ist, die
allgemeine Schwäche jedoch noch äusserst hochgradig. Eine Parese ist auch
heute nicht zu constatiren, im Urin findet sich Eiweiss.
Bis zum 26. 10. keine wesentliche Veränderung im Befinden des Kranken,
dauerndes Fieber, lletentionszustände in der Lungenhöhle, die durch Um-
kippen des Knaben von Zeit zu Zeit verringert werden. Aeusserst elender AUge-
meinzustand, weinerliche Stimmung, Klagen über Schmerzen im linken Knie.
Die Abnahme des Gipsverbandes zeigt objectiv nichts, es wird ein leichter
Spahnverband gemacht.
Nachdem wiederholt festgestellt war, dass man von der Scapulaspitze
nach unten hin zur Axillarlinie nach unten bis zur 11. Rippe gedäraptt tym-
panitischen Schall vor sich hat, soll am 26. trotz des überaus elenden Zu-
standes des Kindes der Versuch gemacht werden, die Eiterhöhle nach unten
zu drainiren. Zu diesem Eingriff drängte nicht nur der zu-
nehmende Verfall des Kindes, sondern auch die von einem her-
ber vor agenden Nervenarzt au fgestellteMeinung, dass jene Krampf-
anfälle nicht, wie wir glaubt en, durch einen Hirn ab sc es s verursacht
sei, sondern als toxische aufgefasst werden müssten. Es hatte
sich inzwischen wieder hektisches Fieber eingestellt, die ner-
vösen Anfälle hatten sich nicht wiederholt, die Psyche des
Knaben war wieder normal geworden, es bestanden keine Läh-
mungen oder auch nur lähmungsartige Schwäche.
26. 10. Zweite Operation am Thorax.
Verschiedene Probepunctionen im 10. und 11. Intercostalraum , da wo
matter Schall ist, ergeben keinen Eiter. Man kann nur feststellen, dass die
Nadel zunächst schwartiges Gewebe passirt, und dann, wenn sie lang genug
ist, in einen lufterfüllten Hohlraum kommt (die Spritze füllt sich mit Luft,
während sie an anderen Stellen entweder luftleer wird beim Ansaugen oder
Blut aspirirt). Nach Resection der 10. Rippe in der Scapularlinie wird constatirt,
dass die Pleura costalis mit der Pleura pulmonalis verwachsen ist, aber nicht
schwartig verdickt ist. Nachdem sie zwischen zweiPincetten gespalten ist, legt
man die Lunge frei: sie retrahirt sich nicht. Es wird von hier aus nach vorn
oben wiederholt punctirt, nichts gefunden. Es wird noch einmal die Lungen-
höhle sondirt und sicher festgestellt, dass sie nach hinten unten geht. Und
da nun angenommen werden muss, dass nur das Herz ihr die Richtung be-
stimmt, die hinteren Lungenpartien an sich wahrscheinlich gar nicht von der
Eiterung ergriffen, sondern comprimirt sind, soll der Versuch gemacht werden,
von vorne der Sache beizukommen.
In der Mammillarlinie wird die sechste Rippe resecirt, genau derselbe
Zustand der Lunge und der Pleura vorgefunden, Function negativ. Bei Druck
auf die Lunge von unten nach oben entleert sich viel Eiter aus der Fistel, die
Sonde aber kann nicht nach den freigelegten Lungenpartien soweit vor-
geschoben werden, dass man sie fühlt; dieselbe bleibt vielmehr stets von Er-
Beiträge zur Chirurgie der Lunge und der Pleura. 565
Schütterungen des Herzens hin und her bewegt, und zwar medianwärts davon.
Die Rippe wird nun bis zum Sternalrand entfernt, man hat dann folgenden
Situs:
Medianwärts die sieht- und fühlbar pulsirende Herzspitze,
bedecktvon einer dicken, häutigen Schicht, lateralwärts die mit
ihr adhärirende vordere Lungengrenze, welche sich hier gleich-
falls nicht retrahirt aber freie Beweglichkeit zeigt.
Mit aller Vorsicht wird noch einmal versucht, das untere Sondenende
vorzuschieben, und man fühlt dasselbe da, wo Lunge und Herz sich begrenzen.
Auf die Gefahr hin, den Herzbeutel zu eröflfnen, wird auf die Sonde ein-
geschnitten. Es ist das nur möglich, indem man sie ziemlich stark gegen die
vordere Brustwand andrängt, was eine vorübergehende Synkope zur Folge hat;
zwei Campherinjectionen, vorübergehende Unterbrechung der Operation bringen
dieselbe zum Verschwinden; sie ist offenbar auf Compression des Herzens zu
beziehen. Der Sack wird nun an der Stelle, wo man ihn mit der Sonde vor-
drängen kann, mit der Pincette gefasst und incidirt. Er ist ca. 1 mm dick
und auf dem Durchschnitt mit gelben Einsprengungen versehen. Es ist sehr
schwer, die Sonde zu Gesicht zu bringen ; schliesslich aber eYitleert sich aus
der unteren Oeffnung Eiter, und der Sondenknopf kommt zum Vorschein. Es
wird nun der Sack an die äussere Wunde angenäht, ein Jodoformgazestreifen
in ihn so hoch wie möglich hinaufgeschoben; im übrigen Vorband wie bisher.
29. 10. Die Folgen der Operation sind spurlos an dem Knaben vorüber-
gegangen, er ist entfiebert, ohne abnorm niedrige Temperatur. Die hintere
Operationswunde ist gänzlich reactionslos, die Lunge liegt flach an. Die vor-
dere Wunde: In der Lunge eine tiefe Delle, von der Tamponade herröhrend,
neben derselben die präsumptive Eiterhöhle tief eingezogen, trocken. Es ent-
leert sich aus ihr kein Eiter, hingegen fliesst bei Druck der Eiter wieder oben
aus. Erst bei sehr tiefen Inspirationen profuser Erguss der zähen Eitermassen
nach unten. Man hat den Eindruck, dass es nicht gelungen ist, bei der Ope-
ration den eigentlichen Sack genügend an die Oberfläche zu bringen.
Es wird nun die Sonde von oben her auf dem alten Wege vorgtjschoben
und kommt nicht zum Vorschein. Gleichzeitige Sondirung von unten giebt
nicht die Möglichkeit, die Sonde zu palpiren. Erst als man mit dem elec-
trischen Scheinwerfer die Höhle observirt, entdeckt man am hinteren Umfang
der künstlich geschaffenen Höhle ein kleines Loch, aus dem Eiter hervorquillt.
Dieses führt in den eigentlichen Abscess, hier treffen sich die Sonden. Es ist
also der Sack zwar angenäht worden, es hat sich aber seine innere Schicht,
die den Abscess direct begrenzt, retrahirt; die Tamponade ist auch nicht in
den eigentlichen Abscess gegangen, sondern hat die Abscesswand vor sich
hergeschoben. Der ausfliessende Eiter ist reichlich mit Luftblasen untermischt,
bei der Respiration hört man das characteristische Geräusch der Luftansaugung
und -auspressung. Unter Leitung des electrischen Lichtes wird die feine
Oeffnung mit der schlanken Kornzange zu dilatiren gesucht und diesmal mit
Sicherheit ein .Jodoformgazestreifen eingeführt.
31. 10. Die Wundhöhle ist vollkommen übersichtlich, der Eiter hat nach
Archiv fUr klin. Chirurgie. 57. Bd. Heft 3. 3^
566 Dr. KarewsKi,
unten freien Abfluss; zwischen der oberen Abscessöffnung und der unteren
besteht eine freie Comnuinication ; Einlegung von Drains. Pat. ist noch immer
äusserst elend, jedoch vollkommen fieberfrei.
3. 11. Bei der heutigen Untersuchung war es nicht möglich, eine freie
Communication zwischen den beiden Wunden nachzuweisen. Jedoch findei
keine Retention statt. Fat. hat ständig Diarrhöen. — 15. 11. Es wird fest-
gestellt, dass der Eiter sich oben und unten entleert. Trotzdem sind in den
letzten Tagen wieder Fieberbewegungen, gestern Abend 38,8. Die Macies des
Kindes nimmt andauernd zu. Es klagt über Schmerzen im linken Oberschenkel.
Man stellt daselbst einen Abscess fest, welcher die Aussenseite einnimmt. Der
Verband wird entfernt, das Kniegelenk ist vollkommen ausgeheilt. Zu er-
wähnen ist noch, dass bei dem Kind wiederholt die Erscheinungen einer
rechtsseitigen Facialislähmung auftreten, und dass am 12. Nachmittags wiederum
ein kleiner Insult eintrat, darin bestehend, dass Pat. unbesinnlich war, Aphasie
auftrat, und er fortwährend weinte.
'20, 11. Facialislähmung immer mehr ausgeprägt, Lähmungen der
Exiremiiäten fehlen. Pat. ist vollkommen theilnahmslos und lässt Stuhl und
Irin unter sii.'A. Die Wundhöhle der Brust secemirt nur wenig. — 22. II.
Aussresprochene Parese der ganzen rechten Körperhälfte. Pat. reagirt gut auf
Frairen, Bewusstsein frei. Fieber. Die vorgeschlagene Operation wird verwci-
ffert. "Jö. 11. Rechte Pupille ad maximum dilatirt, die linke eng. Die linke
Scheitolsregend ist auf Bekloplen mit dem Finger äusserst schmerzhaft. Pai.
kann nur unaniculirte Laute von sich geben, Worte fehlen gänzlich. Bewusst-
sein vollkommen erhallen. — 5. 12. Pat. klagt über heftigste Kopfschmerzen
in der Stirn^eirend : weint viel und fährt beständig mit der Hand nach der
Siirn links bierseligst sind die Hautvenen stark dilatirt. Seil beute reagirt
er auf Fruiren wietier bes<er. Seit :\ Tagen hat sich in der Vorderarra-
niu>iulauir links ein Abscess eiablirt, der durch eine kleine Oeffnung slinkcn-
tion Kiur enilom. - 11. 1l>. l)a der Abscess nicht zur Verbeilung kommt,
\\ird houie InoiMun iienuuht: Zwischen den Muskeln reichlich Eiler. Nekrosen-
l iMur.vr. l)io Faoiali<liihniunir irehi etwas zurück. Puls ständig 140— 160.
IKuiornd a''.eiivilio]ie Fielortemperaiuren bis zu 4tK während Morgens immer
unter ;Ui i\ -- \\ le. Kxitus.
>ortiiMi<lei'und: Aeu«erst abiremair^^rte Leiche, in der Gegend der
uri::on Uirj.e, /wt-i Fiitirer Iren link^ vum Siemum eine runde Wundöffoang,
oa. 1 o::i lHinf.:'>.>xrr, \^.n wvi.her man mit der Sonde im Bogen nach hinten
i.t::en iroLiru';. In d-r H :>' yUr a.hien Kit le, in der vorderen Axillariinie
e-i^ e:N\.i :.\i.--i:r.w<o i.ira:i:;:a-:.^!i<tlä,-he, v-u; der aus man nicht in die Tiefe
ir"..i:\:en ka::n. A:u l;':;-;ri t •• »'r<.'i>iik^l ein 5 om lanser schmaler Granu-
;a::.-;«te:^-\ u-:>-:«:i:> i^ < K'-o5 e-n- ti- riri.s Uiegte WandÜäohe.
Vrr ^r. :..:-: i.-. »...^ ^larkre Air::> ^u:>- *wr Unken Hälfte auffällig.
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Nao- F-i:'*e:-:::-..^- .i».^ Hr-i>^:Ke! Le> sich: man die obere
Beiträge zur Chirurgie der Lunge und der Pleura. 567
Thoraxapertur eingenommen von einer an der Oberfläche glatten
Geschwulst von grauer Farbe, mit der rechten Lungenspitze ver-
wachsen, nach unten sieht man beide Lungen mit dem Herzbeutel
fest verwachsen, so dass eine Grenze zwischen ihnen nicht nach-
weisbar ist. Zwerchfellstand links 6. Rippe, rechts 5.; in der linken
Pleurahöhle findet sich in reichlicher Menge serös sanguinolente Flüssigkeit,
die beiden Pleurablätter beiderseits leicht verwachsen. Entfernung sämmt-
Jicher Brust- und llalsorgane in toto. Bei Entfernung der Leber findet sich
zwischen ihrem linken Lappen und dem Zwerchfell etwa zwei EsslöiTel dicken
rahmig-grünen Eiters, welcher sich bis hinter den Magen abwärts verfolgen
lässt. Die Leber ist auf ihrem Durchschnitt trüb, grau, Abscesse fehlen jedoch.
Die Milz kapsei wird an ihrem medialen Pol von dem Eiter des subphroni-
schen Abscesses bedeckt, ist verdickt und zeigt käsige Auflagerungen. Die
linke Niere ist vergrössert, auf der Oberfläche von graugelblicher Farbe, mit
kleinen Abscessen von krüml icher Beschaffenheit, die rechte Niere von gleicher
Grösse zeigt einen wallnussgrossen Abscess in der llindensubstanz. Der
Ureter ist beiderseits frei von Eiter. Das Schädeldach ist links mit der
Dura fest verwachsen, welche ihrerseits mit der Hirnsubstanz innige Ver-
wachsung eingegangen ist. Bei der gewaltsamen Entfernung der Dura finden
sich über die ganze linke Hemisphäre verbreitet zahlreiche F^iteraustritte mit
reichlichem, rahmigem, dickem Eiter, welcher an den meisten Stellen in die
weisse Substanz eingedrungen ist. Die Hirnkerne sind frei von Eiter, ebenso
wie die Ventrikel, dagegen bildet der Pes hippocampi und der Calcar avis
wallnussgrosse dünnwandige Abscesse. Rechte Hemisphäre und Kleinhirn
sind stark ödematös, ebenso die Medulla oblongata, an der Sella turcica
ebenfalls dicker, rahmiger Eiter.
Brustorgane: Hinter der 3. Rippe eine Fistelöffnung, die der Beginn
eines zwischen hinterem Herzbeutel und linker Lungenwand, welche übrigens
beide innig verwachsen sind, verlaufenden Canals ist, der an der Basis des
Herzens endigt. Bei der Präparation der Bronchien und der grossen
Gefässe quillt überall gelber dicker Eiter hervor. Jedoch ist die
Intima der Gefässe und die Schleimhaut der Bronchien voll-
kommen frei. Nur an der Innenfläche der Vena cava sup, findet
man eine linsengrosso Auflagerung, durch welche man hin-
durch in den das ganze obere Mediastinum ant. einnehmen-
den Abscess gelangt. Die Vorderfläche des Pericards, welches beider-
seits mit den Lungen eng verwachsen sind, ist ziemlich glatt, seine
Innenfläche ist mit dem visceralen Blatt des Pericards innig verwachsen.
Bei der gewaltsamen Lösung beider Blätter war eine Verletzung des Herz-
muskels nicht zu vermeiclen. In der Gegend der Herzspitze findet sich
nicht nur eine Nekrose dos Pericards, sondern auch ein krümlicher Zerfall
der im Uebrigen äusserst dünnen Musculatur des rechten Herzens. Die
Musculatur des Herzens ist atrophisch und von gelblich-bräunlicher Färbung.
Die Klappen sind frei von Auflagerungen, nur zeigt die Intima der Aorta im
Anfangsthcil leicht athoromatöse Beschaffenheit. Das Herz ist nach oben
38*
568 Dr. Karewski,
begrenzt von der gut apfelgrossen, mit Absce^sen durchsetzten,
zum grössten Theil aus nekrotischen, krümlichen Massen be-
stehenden vorher genannten Geschwulst (Thymus?), die nach
oben bis zum Schildknorpel reicht und nach recht-s mit der
Lungenspitze verwachsen ist, woselbst sie einen über wallnuss-
grossen Contactherd bewirkt hat; ein ähnlicher Herd findet sich
an der Grenze zwischen Mittel- und Unterlappen der rechten
Lunge, ebenfalls durch Contact entstanden, nach links besteht
eine Verwachsung der Thymus (?) mit dem oberen Rand des
Unterlappens. Medial davon findet sich die Oeffnung des er-
wähnten Canals. Die Glandula thyreoidea ist im Ganzen ver-
grössert, links nekrotisch mit grünlich käsigen Massen durch-
setzt, rechts hyperämisch, überall mit dem Mediastinaltumor
verwachsen. In der Umgebung beider Bronchien sowie im Mediastinum
post., das mit den in ihnen gelegenen Organen eitrig infiltrirt ist, finden sich
eine Anzahl geschwollener hyperämischer Drüsen, vollständig frei von
Nekrose und Eiter.
Die mikroskopische Untersuchung des Eitersackes,
welche man bei der Section als Thymus angesprochen
hatte, ergab überraschender Weise, dass seine Wand
nicht aus Thymus, sondern aus typischem Strumagewebc
bestand, ganz conforni demjenigen, welches die hypertrophische
Schilddrüse aufwies. Nirgends Spuren von Tuberculose.
Wenn wir dies(^ Krankengeschichte und das Resultat der
Section in unser Gedächtniss zurückrufen, so hat man den Fall
aufzufassen als eine chronische Pycämie, hervorgegangen
aus einer acuten Strumitis substernalis, welche infolge
von Influenza entstanden war. Es kann keinem Zweifel
unterliegen, dass die vor der Krankheit beobachteten eigenthüm-
lichcn Respirationserscheinungen hervorgerufen waren durch die
Struma substernalis, und dass die nach der Influenza aufgetretene
Dämpfung im oberen linken Thoraxabschnitt nichts anderes be-
deuteten als Schwellung und Vereiterung dieser Schilddrüsen-
hypertrophie.
Man darf wohl annehmen, dass es möglich gewesen
wäre, als im März 1897 die ersten Erscheinungen der
Pyämie und die Dämpfung im 3. Intercostalraum auf-
trat, durch Probepunction den Eiter festzustellen und
durch einen entsprechenden Eingriff die ganze Krank-
heit zu coupiren. Auch wäre wohl zu jener Zeit diese Probe-
Beiträge zur Chirurgie der Lunge und der Pleura. 569
punction nicht so gefährlich gewesen, dass man sie aus diesem
Grunde unterlassen musste. Nachdem sie aber erst einmal ver-
absäumt worden war, hat die Eiterung die Grenzen der Schilddrüse
überschritten und nun durch Weiterwandern per continuitatem
nicht nur die nächstgelegenen Lungenpartien, sondern auch das
ganze vordere und hintere Mediastinum ergriffen. Eine adhäsive
Pericarditis brachte den Herzbeutel zur Verödung, aber gleich-
zeitig propagirte die Vereiterung und durchbrach den Herzbeutel
an der • rechten Basis, hier auch das Herzfleisch angreifend,
wanderte weiter an die V. cava heran und wölbte einen Abscess
in dieselbe vor. So war natürlich Thür und Thor für .die
metastasirende Pyämie geöffnet. * Nicht nur in der äusseren Haut
und im Auge kam es zur Eiterung, sondern auch in inneren
Organen etablirten sich Metastasen, die zunächst völlig latent ver-
liefen. Die Vorstellung, dass es sich um eine multiple Tuber-
culose handelte, verhinderte auch. jetzt noch einen radicalen Ein-
griff, und erst als eine acute Gonitis auftrat, unerträgliche
Schmerzen die Hülfe des Chirurgen erheischten, wurde, allerdings
nunmehr zu spät, der Eingriff vorgenommen. Als ich den angeb-
lichen Lungenherd an der HL Rippe eröffnete, war es nicht mehr
möglich, den Krankheitsverlauf noch günstig zu beeinflussen. Zu
jener Zeit bestand bereits die eiterige Mediastinitis, wahrschein-
lich auch schon die Affection des Gehirns, welche ja so oft ohne
auffällige Zeichen Monate lang existiren kann. Erst im weiteren
Verlauf meiner Beobachtung gelang es nachzuweisen, dass der
scheinbare Lungenabscess eine zwischen Lunge und Herz
liegende Eiterung war. Dieser noch beizukommen, war un-
möglich, wenngleich es gelang, an der Herzspitze den Sack zu
drainiren. Auch in dieser Beziehung ermangelt dieser Fall nicht des
Interesses, weil er zeigt, dass es unter Umständen möglich ist,
unter günstigen Bedingungen einer eiterigen hinteren Mediastinitis
beizukommen durch Drainage nach vorn. Wenn also dieser Fall
auch einen unglücklichen Verlauf genommen hat, so ist doch auch
er beweisend dafür, dass mit rechtzeitigen Eingriffen in die Thorax-
höhle deletären Processen allerschlimmster Natur beigekommen
werden kann.
Auf die übrigen höchst bemerkenswerthen Vorgänge in diesem
Falle einzugehen ist hier nicht der Ort. Wir unterlassen aber
1
570 Dr. Karewski,
nicht, darauf hinzuweisen, dass eine subphrenische Eiterung und
ein Nierenabscess völlig syraptoralos verliefen, dass ein Hirn-
abscess seine ersten wahrnehmbaren Erscheinungen in Gestalt
eines Anfalls von Jackson'scher Epilepsie machte, welcher sich
nicht wiederholte, während der Exitus erst viele Wochen später
unter fortschreitender halbseitiger Lähmung erfolgte. Auch die
Thatsache, dass eine angeborene Struma substernalis im Gefolge
einer acuten Infectionskrankheit zur Vereiterung gekommen ist,
bietet des Ungewöhnlichen genug, um diese Beobachtung noch be-
sonders hervorzuheben.
. Haben wir bisher von Fällen gesprochen, welche secundär
von der Pleura auf die Lunge übergewandert sind und diese ver-
nichtet haben, so habe ich jetzt von 3 Fällen zu berichten, in
denen die primäre Erkrankung die Lunge betraf, die secundäre
die Pleura, und in welchen die letztere die Indication gegeben
hat, nicht nur zur Behandlung der Pleura, sondern auch der
Lunge selbst.
Der erste von ihnen betrifiFt eine tuberculöse Peripleuritis,
ausgegangen von einer kleinen Caverne im linken unteren Lungen-
lappen. Ich habe die Pat. vor einem Jahr als geheilt der Berl.
Chirurg. Vereinigung vorgestellt, habe sie aber nicht veranlassen
können, sich heute hier Ihnen zu zeigen, und so beschränke ich
mich darauf, Ihnen eine vor 3 Tagen aufgenommene Photographie
der linken Thoraxwand zu zeigen.
III. Peripleuritis tuberculosa in Folge Durchbrach einer
Caverne der Lunge.
Es handelt sich um eine Dame von ca. 30 Jahren, welche äusserst hyste-
risch und zur Uebertreibung ihrer Krankheitszustände geneigt, wiederholt von
mir an Blasencatarrhen und dergleichen behandelt worden war, mir dann aber
lanß:e Zeit aus dem Gesichtkam, bis sie eines Tages wieder mich consultirte wegen
einer heftigen linksseitigen Intercostalisneuralgie. Zunächst musste ich sie
lange Zeit behandeln, ohne dass sie sich bereit finden Hess, eine Untersuchung
vornehmen zu lassen, weil sie sich scheute, den profanen Blicken eines Mannes
ihren Körper zu zeigen. Schliesslich licss sie sich eines Tages zu einer Unter-
suchung bereit finden, ich konnte aber nichts weiter als einen linksseitigen
Spitzen catarrh nachweisen, und nahm nun an, dass dieser die Ursache der
Neuralgie war.
Im December 1895 kam sie wieder einmal zu mir; bei einer damals vor-
genommenen Untersuchung zeigte sich, dass sie ein pleuritisches Exsudat
Beiträge zur Chirurgie der Lunge und der Pleura. 571
der ganzen linken Thoraxwand hatte. Sie wurde der inneren Behandlung
eines befreundeten CoUegen überwiesen, und nach mehrwöchentlichem Kranken-
lager von ihrer Pleuritis geheilt. Es bestand jedoch nach wie vor heftige
Intercostalisneuralgie, und als ich im Februar 1896 die Kranke wiedersah, konnte
ich feststellen, dass die Dämpfung von der alten Pleuritis nicht vollkommen
beseitigt war, sondern dass in den abhängigen Partien des Thorax von der
6. — 9. Rippe kürzerer und etwas gedämpfter Schall bestand. Da gleichzeitig
Temperatursteigerung vorhanden war, war ich zunächst der Meinung, dass os
sich um ein abgesacktes Empyem handelte, konnte aber bei wiederholten Probe-
punctionen keinen Eiter finden. So zog sich die Sache mehrere Monate hin,
bis endlich im April am vorderen linken Rippenbogen eine kleine Anschwellung
auftrat, die äusserst schmerzhaft war, und diese nun natürlich mit ganzer Sicher-
heit auf eine intrathoracische Eiterung hinwies. Nach langem Deliberiren ent-
schloss sich die Kranke zur Operation. Es wurde nun festgestellt, dass ausser
einem doppelseitigen Spitzencatarrh auch catarrhalische Geräusche über derganzen
linken hinteren Thoraxwand bestanden, ferner eine Dämpfung von der 6. Rippe
abwärts, von hinten nach vorn sich herum erstreckend, von der Mammilla bis
zum Rippenbogen; am Rippenbogen, und zwar da, wo die Mammillarlinie
denselben streift, eine fluctuirende äusserst schmerzhafte Schwellung; sonst
keinerlei Erkrankung, aber ausserordentliche Macies und Anacmie bei hectischen
Temperaturen, die Abends bis 39® C. gingen.
Die Operation, 25.4., beginnt mit Freilegung und Incision des Abscesses,
von demselben aus lässt sich eine gebogene Sonde nach hinten bis fast herum
zur Wirbelsäule bringen. Es wird daher mit einem grossen, nach unten con-
vexen Bogenschnitt, der von dem Rippenbogen bis nach hinten fast an die
Wirbelsäule reichte, die ganze untere vordere und hintere Thoraxapertur frei-
gelegt. Nach Resection der 9. Rippe, welche der OefTnung in der Pleura ent-
spricht, kommt man in eine ganz flache Höhle, welche ausgefüllt ist mit
käsigen Granulationen, nach oben sich bis zur 7., nach unten zur 11. Rippe
erstreckt, eine grössere Tiefenausdehnung an keiner Stelle hat, nirgends
flüssigen Eiter aufweist, sondern überall nur käsige krümliche Massen enthält.
Um sie völlig freizulegen, wird die 8., 10. und 11. Rippe in grosser Aus-
dehnung, von der 7. ein kleines Stück resecirt. Die Rippen sind überall noch
vom Periost bedeckt, nirgends arrodirt, oder gar selbst der Herd tuberculöser
Processe, Nachdem mit dem scharfen Löffel alles Käsige entfernt
ist, hat man die Lungenoberfläche vor sich, und an einer Stelle
der Axillarlinie, in Höhe der 7. Rippe, quellen aus der Lunge
käsige Massen hervor. Es werden mit dem scharfen Löffel auch
diese aus der Lunge entfernt, so dass schliesslich in letzterer
eine walnussgrosse Oeffnung entsteht. Das umgebende Lungengewebe
ist derb, aber ohne Harten. Nach oben hin, an der Grenze der pleuritischen
Höhle, fühlt man gesunde Lungenpartien und sieht, dass die beiden Pleura-
blätter durch succulente Adhäsionen miteinander verklebt sind.
Wir hatten es also in diesem Falle zu thun mit einem tiiber-
culösen Herd der Lunge, welcher peripleuritisch durchi^ebroehen
572 Dr. Karewski,
war. Jene Pleuritis serosa ist wohl nur als eine secundäre von
der Peripleuritis hergeleitete aufzufassen. Sie war abgelaufen,
der tuberculöse Process aber war bestehen geblieben, und hatte,
me er wohl früher jene hartnäckige Intercostalisneuralgien veran-
lasst hatte, auch nach Heilung der Pleuritis die Schmerzen unter-
halten. Erst als das Empyema necessitatis sich zeigte, war es
möglich gewesen, den operativen Eingriff vorzunehmen.
Nach dem bei diesem vorhandenen Befunde schien die Prognose des
Processes eine rocht schlechte zu sein. Aber dieser Fall hat sich weiterhin
ganz günstig gemacht. Die ganze Wunde wurde offen gelassen und mit .Jodo-
formgaze angefüllt. Unter dauernder Tamponnade kam zunächst eine Ver-
kleinerung derselben zu Stande durch Auftreten von Granulationen. Aber sehr
bald zerfielen diese von Neuem, und es traten wieder hectische Temperaturen
auf. Es musste deshalb Anfangs Juli wiederum eine ausgedehnte Auslöffelung
der ganzen Wunde vorgenommen werden, der scharfe Löffel gelangte von
Neuem zu dem Lungenherd, dieser wurde dieses Mal nicht nur ausgekratzt,
sondern auch ausgebrannt, und nach diesem Eingriff kam schliesslich die
Patientin Ende September zur completen Heilung.
Es sind nicht nur die Neuralgien dauernd verschwunden, auch
die Wunde ist nicht wieder aufgebrochen, die Lungenerscheinungen
sind jedenfalls nicht schlimmer als vor der Operation, und Avir
können mit dem jetzt seit 2 Jahren bestehenden Resultat wohl
überaus zufrieden sein. Man wird den Erfolg um so höher
schätzen müssen, als erfahrungsgemäss die Operation
tubercuiöscr Herde in der Lunge die allerschlimmste
Prognose giebt, so dass man im Allgemeinen dieselbe
verlassen hat. Dieser Fall aber, wie ähnliche, weist
darauf hin, dass, wenn erst einmal die Pleurahöhle zur
Verödung gekommen ist, dann man auch mit Aussicht
auf Erfolg an die käsigen Zustände der Lunge heran-
gehen kann.
Der nächste Fall hat insofern eine gewisse Aehnlichkeit mit
dem eben beschriebenen als auch bei diesem die pleuritischen
Zustände hingewiesen haben auf die Erkrankung der Lungen und
einen glücklichen Eingriff ermöglicht haben.
IV. Lungenabscess nach Pneumonie.
Die 35j}ihrige Frau war im Januar 1891 unter nicht ganz prägnanten
Lungenerscheinungen erkrankt, welche zunächst für eine Pneumonie erklärt
worden waren. Rostbraunes Sputum soll einige Tage beobachtet worden sein,
Beiträge zur Chirurgie der Lunge und der Pleura. 573
eine typische Art der Erkrankung aber oder des Verlaufs wie sonst bei Pneu-
monie war von vornherein nicht in die Erscheinung getreten.
14 Tage nach der Erkrankung wurde eine Pleuritis sinistra erwiesen,
welche, mit hohem Fieber verlaufend, starke Dyspnoe machte, punctirt wurde,
sero-fibrinöses Exsudat zeigte, dann aber zur Resorption gekommen sein soll.
Nichtsdestoweniger aber bestanden dauernd Schmerzen der linken Thoraxhälfte,
welche bis zum Nabel ausstrahlten, fortwährender, quälender Husten, ohne dass
etwas ausgeworfen werden konnte, und eine circumscripte Dämpfung von der
Schulterblattspitze abwärts. Wiederholte Functionen an dieser Stelle mit den
gewöhnlichen Prjvvaznadeln hatten zu keinem Ergebniss geführt. Der Verlauf
der Krankheit war derart, dass Wochen der Erleichterung kamen und dann
wieder schlechtere Zustände auftraten. Man hatte sich begnügt anzunehmen,
dass es sich um eine Pneumonie handelte, welche in Verkäsung ausging und
der Kranken das Leben kosten musste. Anfang Mai war von Neuem eine Ex-
sudation im linken Thoraxraum nachgewiesen worden, und man zog mich
hinzu, um die Function vorzunehmen. Als man mir mittheilte, dass das Ex-
sudat nur die oberen Partien des Thorax einnahm, während unten, wo auch
complette Dämpfung bestand, kein Exsudat sich befand, kam ich auf die Vor-
stellung, dass es sich um einen Frocess handeln musste, der grosse Schwarten-
bildung an der Stelle der Dämpfung unten gemacht habe. Der Zustand der
Patientin war ein sehr schlechter, sie hatte Abends immer Temperaturen bis
39® C, Morgens häufig subnormale, sie klagte fortwährend über Schmerzen in
der linken ßrusthälfte bis zum Nabel, konnte Nachts wegen starken Hustens
nicht schlafen. Der Befund am Thorax ergab keinerlei Zeichen eines Spitzen-
catarrhs oder einer sonstigen diffusen Erkrankung der Lungen, abgesehen von
jener Dämpfung, die damals von der Spina scapulae bis zur unteren Thorax-
grenze reichte und an dem in diesem Bereich theils abgeschwächten, theils
aufgehobenen Athmungsgeräusch konnte nichts Pathologisches gefunden werden.
Das spärliche schleimig-eitrige Sputum war wiederholt auf Tuberkelbacillen
und elastische Fasern untersucht worden, hatte jedoch nichts desgleichen
gezeigt, auch meine eigenen Untersuchungen ergaben keinen positiven
Befund.
Ich veriTiuthete, dass es sich in diesem Falle, vielleicht analog
einem anderen früher beobachteten Falle, um einen praevertebralen
Abscess handeln konnte, welcher Schwartenbildung nach links
hinüber gemacht hatte. Sonst aber war nichts nachweisbar, sie
war nicht mit Tuberculose behaftet und Mutter gesunder Kinder.
Auffällig war nur, dass die Dämpfung im Pleuraraum abschnitt,
in der Axillarlinie und nach vorn hin nichts mehr nachzuweisen
war. Die von mir vorgenommene Probepunction ergab oberhalb
der Spitze der Scapula seröses Exsudat, unterhalb aber, als ich
mit starken und langen Nadehi wohl 6 cm tief einging, dicken
rahmigen Eiter. Indem ich nun annahm, dass es sich um ein
574 Dr. Karewski,
abgesacktes Empyem handelte, welches durch Schwarten einge-
schlossen war, rieth i(^h zur Operation.
Bei der Operation am 5. Mai wurde die 7. Rippe in einer Ausdehnung
von 5 cm resecirt, und zwar mit Rücksicht auf die Lage der Eiterung ziemlich
nahe der Wirbelsäule. Man gelangte nach deren Fortnahme auf eine harte
Schwarte, deren Function erst in einer Tiefe von 3 cm auf Eiter führte. Die
freie Incision derselben zeigte, dass hinter ihr eine fast apfelgrosse Höhle sich
befand, welche direct in die Lunge hineinführte, glatte Wände hatte und einen
dicken, zähen, fast schleimigen Eiter enthielt. Um diese Höhle, die ganz starre
Wände hatte und deshalb gar keine Aussicht auf spontane Verkleinerung gab,
ganz freizulegen, wurde auch von der oberen und unteren Rippe je ein ent-
sprechendes Stück fortgenommen, und dann die rückwärtige Schwarte in der
Grösse eines 3 Markstückes frei excidirt; auf dem Durchschnitt schon
zeigte sich, dass es sich nicht um eine rein fibrinöse Pleura-
schwarte handelte, da mitten in ihrem weissen festen Gefüge
auf dem Durchschnitt sich schwarze Einsprengungen zeigten. Es
war also ganz klar, dass man es mit einer Lungenhöhle zu thun
habe, und diese Annahme wurde noch bestätigt durch die mikro-
skopische Untersuchung des Stückes, in welchem alveolärer Bau,
elastische Fasern und schwarzes Pigment nachgew-iesen werden
konnten. Es war keine Communication mit einem Bronchus bemerkbar. Im
Gegentheil hatte man den Eindruck, als ob eine pyogene Membran dieLungen-
höhle auskleidete. Die letztere wurde zunächst mit Gaze tamponnirt und später
mit einer Drainage verschen. Im weiteren Verlauf, der imUebrigcn vollkommen
reizlos war, hatte man zeitweise den Eindruck, dass bei der Respiration Luft
aspirirt und exspirirt wurde, aber eine Bronchienöffnung wurde niemals nach-
gewiesen.
Der Fall ist mir später aus den Augen gekommen, von der
Wunde ist er geheilt worden, das Pleuraexsudat kam zur Resorption.
Was aber aus ihm geworden ist, kann ich nicht sagen. Man wird
diesen Fall auffassen müssen als einen aus lobulärer Pneumonie
hervorgegangiMien Lungenabscess von sehr schleichendem Verlauf,
sein besonderes Interesse lie;u^t darin, dass die pleuritischen Er-
scheinuniren in d(*n Vordergrund der Erscheinungen traten, während
die Lungensymptome selbst weniger auf die schweren V^eränderungen,
die doch notorisch vorhanden waren, hinwiesen. Die Actiologie
dieses Falles ist unklar, aber nicht mehr als die vieler anderer
Lungenabscesse nach Pneumonie.
Bei keiner Lungenaffection machen sich die pleuritischen
Zustände auffallender bemerkbar, als bei der allerdings seltenen,
aber um so bedrohlicheren Erkrankung der Lungen an Akti-
nomvkose.
Beiträge zur Chirurgie der Lunge und der Pleura. 575
Wir wissen seit den grundlegenden Untersuchungen J. Israels,
welche von allen Autoren ausnahmslos bestätigt worden sind, dass
der latente Verlauf dieser Krankheit erst dann unter-
brochen wird, wenn die Propagation des Zerstörungs-
processes an die Lungeno^berflcäehe gekommen ist, das
Brustfell ergreift und nun hier in sehr characteristischer
Weise adhäsive und exsudative Processe nebeneinder
verursacht. In der Regel verläuft die Krankheit so, dass
sogar erst das Auftreten der Brustfellentzündung den
Kranken, welcher bis dahin an ihm selbst dunklen und
von ihm wenig empfundenen bronchitischen oder anderen
Lungen-Erscheinungen gelitten hat, veranlasst zum Arzt
zu gehen. Dieser findet eine Pleuritis, oder aber eine Dämpfung,
welche als Pleuritis imponirt, und welche bei Probepunction sich
häufig nicht als eine Exsudation erweist. In der Regel ist sclion um
diese Zeit der Lungen |)rocess soweit vorg(\schritten, dass Lungen-
schrumpfung vorhanden ist. Man kann fa^t sagen, dass die gleich-
zeitig mit pleuritischen Symptomen bestehenden Lungenschrum-
pfungen beim Mangeln von Erscheinungen, die auf Tiiberculose hin-
deuten, mit einiger Sicherheit die Diagnose Aktinomykose zulassen,
selbst wenn weder im Sputum noch bei Probepunc^tionen Aktinomy-
ces gefunden wird. Sicherer wird die Diagnose dann, wenn der
Kranke in jenes Stadium tritt, wo die Aktinomykose auf die
Thoraxoberfläche überwandert, sich die Symptome eines Empyema
necessitatis oder eines Brnsttumors zeigen. Dieses Stadium ist ja
dasjenige, in welchem in der Regel der Kranke erst zum Chirurgen
gebracht wird. Es ist nicht meine Aufgabe, mich hier des W^eiteren
über Lungenaktinomykose zu verbreiten, es ist Ihnen aber allen
bekannt, dass diese Krankheit bisher für unheilbar und zum Tode
führend gehalten worden ist, und dass an dieser Thatsache auch
die 2 Heilungen nichts haben ändern können, welche aus der
V. Bergmännischen Klinik berichtet wurden, weil diese Fälle
einige Besonderheiten hatten, welche in der Regel bei Lungen-
aktinomykose nicht vorhanden sind, und welche die beiden Fälle
als ausnehmend günstige hinstellen.
Ausser den beiden vou v. Bergmann behandelten Fällen war
bisher, wie gesagt, keine Heilung bekannt, und in der schönen
Arbeit von Tufficr über Lungenchirurgic finden wir die Notiz,
576 Dr. Karewski,
dass die Lungenaktinomykose ein „Noli me tangere" für die chirur-
gische Therapie sein müsse.
In der That haben ja auch die vielen Fälle von Incision der
Lungenaktinomykose, die Auslöffelungen, Aetzungen etc-. keinen
Erfolg gehabt, und auch die Behandlung mit Jod hat bisher keine
nennonswerthen Heilungen gezeitigt.
Nichtsdestoweniger glaube ich Ihnen beweisen zu können, dass
auch diese Affection, rechtzeitig erkannt und rechtzeitig
in Angriff genommen, in einer gewissen Zahl von Fällen
geheilt werden kann, da es mir selbst gelungen ist, einen be-
reits ziemlich vorgeschrittenen Fall zur Genesung zu bringen. Im
Uebrigen hat vor einiger Zeit, wie ich aus dem „Centralblatt für
Chirurgie" ersehe, auch Jankowsky einen, wie es allerdings
scheint, sehr günstig liegenden Fall von Aktinomykose hergestellt.
V. Aktinomykose der Lunge und der Thoraxwand.
Anamnese: Patient ist früher stets gesund gewesen, stammt aus einer
gesunden Familie, in der keine Lungenkrankheiten vorgekommen sind, erinnert
sich nicht irgend welcher schweren Erkrankungen aus früherer Zeit, nur hat
er zeitweise an Erkältungen gelitten, während seine Lungen stets intakt ge-
wesen sind. Derselbe hat nie mit Getreide oder Vieh zu thun gehabt, hat ins-
besondere auch nicht die Gewohnheit gehabt, rohes Getreide zu essen und
Getreideähren in den Mund zu nehmen. Er lebt seit 1883 in Berlin als Bureau-
vorstehcr eines Rechtsanwalts. Am 22. August 1897 erkrankte Herr T. plötz-
lich mit Stichen in der rechten Seite. Sein Arzt, Dr. Rosenthal, constatirte
eine Pleuritis. Der Patient hustete wenig, hatte sehr geringen Auswurf, der
übrigens nie blutig gewesen ist. Nach 6tägiger Besserung verschlimmerten
sich die Krankheitserscheinungen von Neuem: heftige Schmerzen, Schiittelfrost
und hohes Fieber. Auch jetzt kein bräunlich-blutiger Auswurf. Indess wurde
die Diagnose auf Pneumonie gestellt. Ende September war der Pat. genesen
und begann seine Thätigkeit von Neuem wieder. Aber er hatte dauernd etwas
Husten. Schon Ende October traten wiederum heftige Schmerzen in der rechten
Seite auf, und der Husten nahm stark zu. Dabei magerte der Kranke ab.
Wenn auch zeitweise Besserung der Beschwerden eintrat, so war er doch
dauernd kränklich. Vor etwa 4 Wochen bemerkte er in der rechten Brustseite
eine Geschwulst, die sich schnell vergrösserte. Seit Anlang seiner Krankheit
bis zum Tage, wo ich den Pat. sah, hatte er 40 Pfd. an Gewicht abgenommen.
Er wurde mir zur Begutachtung mit der von autoritativer Seite gestellter Di-
agnose eines Sarkoms zugeführt. Bei der am 11. XII 97 vorgenommenen
Untersuchung wurde ausser den später zu schildernden physikalischen Er-
srheinuntyen festgestellt, dass die Geschwulst, welche für ein Sarkom erklärt
worden war, ans weichen und harten Partieen zusammengesetzt war. Auf
Beiträge zur Chirurgie der Lunge und der Pleura. 577
ihrer Kuppe wai* die Haut, welche überall mit dem Tumor fest zusammen-
hing, geröthet. Auch bestanden einzelne kleinere Einziehungen. Das Auf-
fallendste aber war eine brettharte Beschaffenheit der die Geschwulst unmittel-
bar umgrenzenden Weichtheile, welche sich zugleich in einem Zustand von
Retraktion befanden. Es wurde daher mit Rücksicht auf den klini-
schen Verlauf und den localen Befund die Diagnose auf Akti-
nomykose der Lunge gestellt, welche den Thorax durchbrochen
hatte. Eine sofort vorgenommene Probepunction mit starker Pravaznadel
ergab positiven Befund. (Erst nachdem die Diagnose sicher gestellt war,
wurde mir mitgetheilt, dass bereits 2 Tage vorher Prof. A. Fränkcl die
Vermutung der Aktinomykose ausgesprochen hatte, aber bei der Probepunk-
tion keine Kömchen gefunden worden waren).
Status bei der Aufnahme: Mittelgrosser, in seiner allgemeinen Er-
nährung herabgekommener Mann, von allgemeiner Blässe, mit Cyanose der
sichtbaren Schleimhäute. Derselbe fühlt sich so schwach, dass er nicht lange
stehen kann, klagt über Husten, Schmerzen in der rechten Seite, Gefühl schwerer
Krankheit und Beschwerden bei Bewegung des rechten Armes. Oedeme be-
stehen nicht. In der rechten Axillargegend findet sich eine grosse Geschwulst, .
welche von längsovaler Form ist, von kugeliger Oberfläche, aber mit Einziehungen
an derselben, und von entzündlich gerötheter Haut überzogen ist. Die Grösse
derselben lässt sich dahin bestimmen, dass sie etwa 2 Querlinger breit rechts
vom Sternum beginnt, nach hinten bis zur Axillarlinie und über dieselbe hinaus
zum Rücken zieht, oben beginnt sie in der Axilla und geht nach unten etwa
bis zum unteren Rand der 6. Rippe. Sie erhebt sich über den Thorax etwa
3 cm hoch (schätzungsweise). Druck auf die Geschwulst ist überall schmerz-
haft. Ihre Consistenz ist im allgemeinen prall elastisch, aber an einzelnen
Stellen, besonders da, wo die Einziehungen bestehen, hat man das Gefühl der
Fluctuation. Unmittelbar an die Geschwulst schliessen sich harte Weichtheile
an, welche den Eindruck von Narbengewebe machen. Die Haut ist hier etAvas
eingezogen und mit erweiterten Venen durchsetzt. Im Uebrigen besteht eine
deutliche Umfangsverminderung der rechten Thoraxhälfte. Die Respiration ist
im Wesentlichen abdominal, die rechte Thoraxhälfte bleibt stark bei der Ath-
mung zurück, auch bei tiefster Inspiration, so dass sie kaum zu athmen scheint.
Nur die unteren Thoraxpartieen dehnen sich aus. Die Mammilla ist nach
rechts und oben verzogen, die rechte Supraviculargrube ist erheblich flacher
als die linke, die Infraclaviculargegend ebenfalls eingesunken, was um so auf-
fälliger ist, als die daselbst schon beginnende Geschwulst den Thoraxumfang
vermehrt. Von hinten gesehen prominirt der Achseltumor nicht so stark, wie
von vorne, aber es ist auch hier die Thoraxwand ebenso wie die Schulter-
gegend erheblich flacher als die der gesunden Seite. Die Entfernung der
Seiten wände des Thorax zur Wirbelsäule ist rechts geringer als links. Die
Messung ergiebt, dass die Entfeniung der Achselfalte zur Wirbelsäule links
21 cm, rechts 19 cm trotz des Vorhandenseins der Geschwulst beträgt. Sehr
auffallend ist die Abflachung der Schulterwölbung und der Scapulargegend ;
auf letzterer steht die Spina scapulae scharf heraus, die Supra- und Infra-
578 Dr. Karewski,
scapularregion ist direkt concav. Der rechte Arm wird dauernd etwas ele-
virt und abducirt gehalten, weil die Geschwulst sein Fferabsinken verhindert,
auch kann er kaum bis zur Horizontalen erhoben werden, weit sich dann
heftige zuckende Schmerzen einstellen. Die Geschwulst selbst schmerzt da-
bei nicht.
Perkussion: Rechts in der Supraclaviculargrube leicht gedämpfter Schall,
in der Infraclaviculargrube gleichfalls kurzer, wenn auch Lungenschall. Von
der Höhe der 3. Rippe an wird die Perkussion äusserst schmerzhaft und der
Schall complet gedämpft (Schenkelschall). Ueberall auf der Geschwulst voH-
kommene Dämpfung. Diese Dämpfung geht unmittelbar über in die Leber-
dämpfung. Dieselbe reicht nach unten bis zur 9. Rippe in der Axillarlinic
und überragt nicht den Rippenbogen. Hinten auf der rechten Seite beginnt
unmittelbar an der Scapula complete Dämpfung, welche nach vorne übergeht
in die Dämpfung des Tumors und der Leber. Auf der linken Seite überall
voller Lungenschall, die Herzgrenze ist normal. — Auskultation: ergiebt
rechts überall abgeschwächtes, aber vesiculäres Athmen bis zur 4, Hippe. Von
dort an ist das Athmungsgeräusch überhaupt kaum mehr zu hören. Dasselbe
ist da, w^o man es hört, mit Reibegeräuschen und Knisterrasseln untermischt.
Namentlich hinten ist das Athmungsgeräusch abgeschw^ächt und reichlich mit
Knarren und Rasseln versehen. Links besteht überall sehr rauhes, vesiculäres
Athmen. Die Leber und Milz sind nicht palpabel, die Nieren ebensowenig.
Im Urin weder Eiweiss noch Zucker, noch körperliche Elemente; im Abdomen
nichts Besonderes.
D'iQ Zähne sind in gutem Zustande; nur 1 Zahn fehlt, der vor 10 Jahren
extrahirt worden ist, aber die Ränder des Zahnfleisches sind mit einer weiss-
lichen Masse bedeckt, welche mikroskopisch fast nur aus Leptothrix besteht.
Wir hatten es also zu tluiii mit einem Kranken, der seit
4 Monat*'n lungenleidend war, bei dem sich unter den Erscheinuni^en
einer chronischen Lungenentzündung eine auffallend starke Retraction
der rechten Thoraxwand entwickelt hatte, und gleichzeitig ein Tu-
mor, welcher aus weichen und harten Partieen bestehend bei dor
Probepunction den vermutheten Befund von Aktinomykose ergeben
hatte. Es konnte keinem Zweifel unterließen, dass die Aktinomy-
kose in der Lunge begonnen hatte und nach dem Durchbruch in
die Weichtheile der Thoraxwand in der auch sonst bei der Aktinomy-
kose des Thorax üblichen Weise übergegangen war. Da derartige Er-
krankungen erfahrungsgemäss zum Tode führen, der Allgemeinzustand
des Kranken immerhin noch einen Eingriff gestattete, so schlug ich
den An.irehörigen imter voller Würdigung der vorliegenden Ver-
hältnisse und der schh^chien Prognose des Falles die Operation
vor. Dieselbe wurde acceptirt und von mir am 15. 7. 97 in
folgender Weise ausi^e führt:
Beiträge zur Chirurgie der Lunge und der Pleura. 579
Chloroformmorphiumnarkose. Grosser Bogenschnitt, der die Geschwulst
unten umkreisend vom vSternum bis zum linken Rand der Achselhöhle geführt
wird. Derselbe durch trennt Haut und Muskeln im Gesunden, fällt aber in den
tieferen Schichten in bereits verändertes schwartiges Gewebe und trifft den
Abscess, welcher sich unter den mit ziemlich starkem Druck angezogenen
Haken entleert. Allmählich wird nun möglichst stumpf die ganze Bedeckung
des Abscesses: Haut, Muskeln und Fascien, bis auf die Rippen exstirpirt. Es
zeigt sich, dass die Eiterung bis tief in die Achselhöhle geht und die charakteri-
stischen aktinomykoti sehen Granulationen die ganze vordere Thoraxwand be-
decken, von der 3. bis zur 8. Rippe hin. Im 6. Intercostalraum findet
sich eine Fistel, aus welcher die Aktinomy kose vom peri pleuralen
Raum her zur Oberfäche des Thorax gewandert ist. Die beiden Mus-
culi pectorales sind diffuse durchsetzt von kleinen Körnchen und goldgelben
Granulationen. Sie werden bis zur 2. Rippe hin nach oben, bis zum Sternal-
rand nach links, und nach hinten bis in die Axillarlinie exstirpirt, wobei auch
noch ein Theil des Serratus anticus entfernt werden muss. Ebenso muss der
Latissimus dorsi theilweise resecirt werden. Alsdann wird zunächst die
6. Rippe von der Achselhöhle bis hart zum Stern um resecirt. Die untere pe-
riostale Schicht ist mit goldgelben Granulationen besetzt, und man gelangt
von jener Fistel aus in eine fast die ganze Vorderwand des Thorax in der be-
schriebenen Weise einnehmende flache Höhle, welche angefüllt ist mit aktinomy-
kotischen Granulationen, Eiter und Körnchen. Die Erkrankung geht nach
vorne bis zum rechten Sternalrand, nach hinten bis zur hinleren Axillarlinie,
nach oben bis zur 3., nach unten bis zur 7. Rippe. Zu ihrer Freilegung werden
noch die 3., 4. und 5. Rippe in grosser Länge resecirt. Nach Abschabung
des so gewonnenen Raumes zeigt sich Folgendes: Von der ursprünglichen
Fistel aufwärts gehen 2 flache Rinnen in das Lungengewebe hinein, so dass
dieses wie angenagt aussieht, deren eine nach vorne, deren andre nach hinten
zieht. Sie befinden sich in einer Lungenpartie, welche von der Pleura nicht
mehr bedeckt erscheint, da diese bei der Abschabung mit fortgenommen worden
ist, aber in der Umgebung davon sieht man die allerdings verdickte, jedoch noch
durchscheinende Pleura, anscheinend gesunde Lunge bedeckend, welche sich
unter der Pleura bewegt. Aus den Rinnen, welche mit dem scharfen Löffel
tief ausgekratzt werden, entleeren sich unzweifelhaft Körnchen, welche in
schiefrig indurirtem Lungengewebe, und goldgelben, in die Lunge hinein-
gehenden Grcinulationen liegen.
Von dem veränderten Lungengewebe werden 2 kleine Stückchen zur
mikroskopischen Untersuchung excidirt, alsdann zunächst mit dem spitzen
Paquelin tiefe Löcher in die Lunge gebrannt, um zu sehen, ob ein Abscess
vorhanden, aber es wird keiner gefunden. Nun werden die beiden Rinnen mit
dem Kuppelbrenner tief ausgebrannt, das zwischen ihnen liegende Lungen-
gewebe mit dem Brenner total entfernt und erst als sich nirgends mehr Eiter
findet, von weiteren Eingriffen abgesehen. Es besteht nunmehr eine wohl
faustgrosse Lungenhöhle, welche mit .Jodoformgaze tamponirt wird, ebenso
wie die ganze übrige Wundhöhle mit Gaze angefüllt wird. Nach der Operation
580 Dr. Karewski,
sehr kleiner, kaum fühlbarer Puls, tiefer Collaps, Campherinjectionen. Schon
Abends ist der Kräftezustand etwas besser, Temperatur 35,4, Puls 120. Es
ist zu bemerken, dass die zweite Hälfte der Operation, d. h. vom
Zeitpunkt der vollendeten Rippenresection ab, mit Rücksicht
auf den schlechten Puls ohne Narkose ausgeführt wird. Der Pat.
ist bei vollem Bewusstsein, als die Lunge mit dem Paquelin
gebrannt wird. Das Ausbrennen des Lungengewebes, welches
eine geraume Zeit einnimmt, wird weder schmerzhaft empfunden,
noch reizt es zum Husten.
Am 16. XII., den ganzen Tag nach der Operation befindet sich Pat. in
schwerem Collaps, der Puls ist sehr klein und frequent, kaum zu fühlen. Der
Kranke klagt viel über Athemnoth und Hustenreiz, hustet aber nicht. Tem-
peratur 36,6, 37,2. Pat. bekommt viel Reizmittel.
17. XII. Befinden etwas besser, dauernd Hustenreiz. Verbandwechsel.
Wunde trocken und reizlos. T. 37,2, 37,2. 18. XII. Die Klagen über
Oppression und Bedürfniss zu husten, das nicht befriedigt werden kann,
dauern fort; die Kräfte des Pat. heben sich aber, seine Respirationsfrequenz,
die vorher sehr erheblich gewesen ist, nimmt ab. T. 36,2, 37,4. 20. XII.
Abends T. 39,0®, ohne wesentlichen Befund, nur vermehrter Hustenreiz. Täg-
lich Verbandwechsel. Am 21. XII. Morgens 37,4 o, Wohlbeündeo, Verband-
wechsel Abends 36,8®. Die folgenden Tage bis zum 24. XII. tägliche Ver-
bände, bei welchen sich Pat. in jeder Beziehung wohler fühlt, Temperaturen
unter 38®. Der Kranke klagt nicht mehr über Oppression, er wird täglich
auf den Stuhl gesetzt und fühlt sich dabei behaglich, bekommt aber kolossale
Oedeme der Beine. Ferner besteht unterhalb des Verbandes starkes Rücken-
oedem. Ebenso ist der rechte Vorderann teigig angeschwollen. Dabei ist der
Urin frei von Eiweiss und sonstigen Bestandtheilen. Der Brandschorf an der
Lunge beginnt sich abzustossen, es entwickelt sich eine ziemlich profuse Se-
cretion schleimigen Eiters, in dem vergeblich nach Körnchen gesucht wird,
der aber zahlreiche elastische Fasern und Lungenfetzen enthält. Die Peripherie
der Lungenwunde ist in üppiger Granulation, die Lungenwunde selbst sieht
grau-schmierig, mit schwarzen Fetzen bedeckt, aus. Vom 25. XII. — 27. XII.
werden Verbände mit schwacher Jodlösung gemacht, dieselben müssen aber
wegen starken Hustenreizes fortgelassen werden. Vom 28. — 30. XII. täglich
trockene Jodoformverbände; Pat. bekommt Appetit, fühlt sich wohl, tägliche
Untersuchungen auf Körnchen negativ. Am 30. XII. werden in der Tiefe der
Lungenwunde drei kleine Löcher entdeckt, welche wohl stecknadelkopfgross
sind und welche ebenso viel Oeffnungen von Bronchien entsprechen, was daraus
hervorgeht, dass Luft von ihnen eingesogen und ausgestossen wird, und
Hustenstösse sich an ihnen in derselben Weise markiren. Neue Untersuchungen
auf Körnchen und zwar gerade aus der Umgebung dieser Löcher sind negativ.
Sehr interessant zu sehen ist, dass die Ränder der Wunde, welche bereits zu
granuliren anfangen, bei der Inspiration anaemisch werden, bei der Exstirpa-
tion hyperaemisch. Pat. klagt dauernd über Schmerzen in der rechten Schulter,
dabei ist die passive Bewegung des Gelenks ziemlich frei, aber die Atrophie
Beiträ|^e zur Chirurgie der Lunge und der Pleura. 581
der Musl(ulatur nimmt rapide zu. Aktive Bewegungen in der Schulter kann
Pat. überkaupt nicht ausführen. Die Ellbogengegend bis fast zum Handgelenk
hin ist dauernd ödematös, und zwar steigert sich das Oedem dann, wenn die
Achselhöhle durch recht dicken Verband comprimirt wird.
Vom 1. Januar an täglich Creol in verbände. Die grosso Wund höhle fängt
an, sich zu reinigen. Im Bereich der Lungenpartieen fehlen Granulationen;
jedoch verkleinert sich die Wundhöhle als Ganzes ziemlich schnell. Im Spu-
tum findet man Lungengew^ebe, mit Eiterkörperchen erfüllt. Aktinomyces-
körnchen sind weder im Sputum noch im Wundsecrete nachweisbar. Pat.
klagt über Schmerzen in den Beinen, welche sich beim Sitzen und Herab-
hängen der Beine steigern sollen, objoctiv ist ausser starkem Oedem nichts
nachweisbar. Nachts feuchtwarme Einwicklung der Beine. Am 7. 1: In der
Wunde liegen jetzt 4 grosse Bronchienöffnungen und eine Un-
zahl kleinerer frei. Man kann die grösseren Oeffnungen sondiren
und hat das Gefühl dabei, in grössere Hohlräume zu kommen.
Sobald man etwa 1 cm weit eingedrungen ist, muss der Patient
heftig husten. Secretproben von den verschiedensten Stellen
der Wunde her erweisen sich frei von Aktinoraykose, während
überall ausser elastischen Fasern und ganzen Lungenalveolen
auch zahlreiche Leptothrixmassen nachweisbar sind. — Der All-
gemeinzustand erhebt sich dauernd. Gewicht: 134 Pfund. 14. I. Wund-
verhältnisse sind dauernd dieselben, nur verkleinert sich die Wunde fort-
während. Tägliche Untersuchung auf Aktinomykoso ergiebt nichts, dagegen
finden sich jetzt immer Leptothrixmassen, besonders an den Bronchial-
öffnungen. Die gleichen Massen sind im Munde vorhanden. 15. I. Die
Zahl der BronchialöfTnungcn vermehrt sich, und zwar vollzieht sich der
Process in folgender Weise: In dem schiefrig indurirten Lungengewebe
markiren sich deutlich gelb-weisse peribronchitische Herde. Diese zer-
fallen, und an ihre Stelle treten dann die Oeffnungen von Bronchien. 22. I.
In den letzten Tagen sind wiederholt Versuche gemacht w^orden, mit Argent.
nitr. und Wasserstoffsuperoxyd auf die Lungenfläche einzuwirken. Indess hat
der Pat. jedesmal heftige Reizerscheinungeu danach bekommen, stundenlang
dauernden Husten. Es wird dabei unzweifelhaft festgestellt, dass der Reiz
sich dann am heftigsten einstellt, wenn die Chemikalien in die Bronchien-
öffnungen hineinlaufen. Dabei hat die Wunde keine rechte Tendenz, sich mehr
zu verkleinern, immerhin hat man den Eindruck, als ob die Lunge sich immer-
mehr retrahirt und die von aussen herantretenden Granulationen einen immer
grösseren Raum einnehmen. Es wird von heute an die Wunde mit einem in
2 proc. Arg. nitr. Lösung getauchten Lappen bedeckt. 25. I. Die Lungen-
oberfläche hat jetzt eine mehr rosige Farbe, sieht aus, als ob sich eine dünne
Granulätionsschicht darüber bildet, auch kommen Granulationen von oben her,
die an den Pulmonaldefect heranziehen. Die Achselhaut hat sich stark einge-
stülpt, die Secretion der Wunde ist sehr geringfügig, enthält nicht mehr so
viel Leptothrix, der Pat. ist jetzt im Stande zu gehen. 1. IL Die Haut über
dem oberen Wundrand ist stark in die Wunde hineingezogen, die sichtbare
Archiv nir klia. Chirurgie. 57. Bd. Heft 3. 39
582 Dr. Karewski,
Lungenwunde verkleinert sich zwar, hat aber immer dasselbe Aussehen. Von
allen Wundverbänden bekommen dem Kranken am besten trockene oder solche
mit Creolingaze. Der Pat. kann durch die BronchionÖffnungen in der Wunde
frei athmen, wenn ihm Mund und Nase fest zugehalten werden. 4. IL Trans-
plantation nach Thiersch: Vom rechten Oberarm auf die Granulationen der
Wunde, einige Läppchen werden auch auf die Lungenfläche gelegt; Verband
mit Kochsalz. 12. IL Die Läppchen sind angeheilt mit Ausnahme derjenigen,
welche auf die Lunge selbst gelegt worden sind. Diese sind dircct hernnter-
geblasen worden. — Der Pat. wiegt jetzt 140 Pfund. 24. IL Erneute Trans-
plantation der noch restiren den Granulationsfläche. 5. März Entlassung.
5. 3. 98. Entlassungsbefund: Wohl aussehend, in gutem Ernährungs-
zustände, hat seit der Operation 5 kg zugenommen, kann den rechten Arm
schon zum Schreiben benutzen, wenn auch nicht anhaltend, hat keinen Husten.
Wenn aber das Bedürfniss vorhanden ist, Schleim auszuwerfen, so fallt dies
schwer wegen der BronchienöfTnungen in der Achselhöhle. Eigentliche Be-
schwerden sind nicht vorhanden, nur ist die Beweglichkeit des rechten Armes
eine ausserordentlich beschränkte, besonders ist die Elevation nur in sehr ge-
ringem Umfang möglich, und jeder Versuch, dieselben passiv vorzunehmen,
ausserordentlich schmerzhaft.
Bei der Besichtigung von vorn fällt auf: ausserordentliche Abflachung
der rechten Schulter und Halsgegend. Es sieht aus, als ob der Kopf nach
rechts hinübergesetzt ist (auch giebt der Kranke an, dass er stets das Be-
dürfniss hat, den Kopf nach rechts hinüberzulegen). Die Supraclaviculargegend,
welche links geradezu hervorgewölbt ist, ist rechts abgeflacht. Der rechte
Arm hängt um mehrere Centimeter herab. Die rechte Thoraxhälfte flacher als
die linke und nach hinten gezeiTt. Von der rechten Achselhöhle an beginnt
der durch die Operation gesetzte Defect. Die linke Mamilla ist zwar etwas in
diesen Defect hineingezogen, steht aber nichtsdestoweniger der Mittellinie des
Sternums bedeutend näher als die linke, 11 : 14 cm. Auch die rechte Ober-
bauchgegend tritt etwas zurück in den Defect hinein. Noch viel auffalliger ist
die Retraclion der rechten Thoraxhälfte von hinten gesehen. Während links
der Thorax hinten gut gewölbt ist, ist er rechts flach, eingezogen, wie bei
einer sehr hochgradigen Scoliose. Dabei besteht ein geringer Grad von Links-
scoliose (jedoch giebt der Kranke an, schon früher schief gewesen zu sein).
Die Musculatur der rechten Schulter und des rechten Schulterblatts ist zwar
geringer als die der linken Seite, aber stärker wie zur Zeit der Aufnahme.
Percussion. Hinten rechts von der Spitze an abw-ärts bis querfingerbreit
unterhalb der Scapula heller Lungenschall, w^enn auch kürzer wie auf der
linken Seite. Ein Querfinger breit unterhalb der Scapula beginnt gedämpfter
Schall, der sich bei tiefer Inspiration etwas aufhellt. Auf der linken Seite
kann man vollen, tiefen, sonoren Lungenschall bis zur 11. Rippe nachweisen,
nach vorne hin markirt sich sehr auffällig die Milzdämpfung.
Percussion vorn : Bis zum Defect rechts kurzer, aber voller Lungenschall,
etwas oberhalb der Mamilla parasternal beginnt die absolute Leberdämpfung
und setzt sich dann direct in den Defect hinein, so dass bereits die trans-
Beiträge zur Chirurgie der Lunge und der Pleura. 583
plantirte Stelle des Defectes Dämpfung zeigt. Nach unten reicht die Leber-
dämpfung parasternal und in der Mittellinie des Bauches einen querfingerbreit
unter den Rippenbogen bezüglich Processus xiphoideus. Die Herzdämpfung
beginnt rechts am Sternalrand und reicht nach links hinüber bis zwei Quer-
finger breit vor die Mamilla, daselbst auch der Ictus cordis zu fühlen.
Auscultatorisch vorn und hinten rechts im Bereich der angegebenen
percutorischen Lungengrenzen abgeschwächtes, aber reines vesiculäres Athraen,
links sehr scharfes, rechts reines vesiculäres Athmen, beiderseits ohne Neben-
geräusche. Herztöne rein. Milz und Leber nicht palpabel.
Befund an der Resectionsstelle. Der in die Thoraxwand gesetzte Defect
hat die Form eines schiefen Trichters. Der Rand wird gebildet unten durch
das vermittelst Transplantation übernarbte Zwerchfell, an welches sich dann
anschliesst die freiliegende Lunge. Der Umfang der letzteren ist wohl noch
reichlich fünfmark stückgross. Sie wird von zahlreichen BronchienölTnungen
durchbohrt, deren Lumina um so grösser sind, je höher hinauf man kommt.
An der Spitze des Trichters ist die grösste BronchienöfTnung. Der obere Um-
fang des Trichters wird gebildet durch die in den Defect hineingezogene
Achselhaut. Der Uebergang von Achselhaut zur Lunge geschieht durch einen
schmalen Granulationsstreifen. Der obere Umfang des so gebildeten Trichters
ist wesentlich kleiner als der untere. Der Cylinder des Trichters wird gebildet
-durch einen starken Bronchus.
Im Secret der Lunge Leptothrix nicht mehr nachweisbar. Im Urin keine
fremden Bestandtheile. — Jodkali.
Ich halte mich für l)erechtigt, diesen FaH für geheilt zu er-
klären, trotzdem er noch nicht völlig abgelaufen ist^). Es besteht
ja noch die Lungenfistel, und es dürfte fraglich sein, ob weitere
operative Eingriffe sie zum Schluss bringen werden. Ich habe
bisher meine guten Gründe gehabt, nichts an derselben vorzu-
nehmen, erstens weil ich glaubte, dass es besser wäre, wenn doch
noch eventuell vorhandene Körnchen den natürlichsten und kür-
zesten Weg nach aussen finden, zweitens aber, weil ich den Kranken
nicht von Neuem operativen Eingriffen aussetzen wollte, bevor er sich
völlig erholt hat, und weil es dem Kranken vor allen Dingen darauf
ankommt, nach einem 4 monatlichen Krankenlager wieder seinem
Beruf nachzugehen, schliesslich weil die Fistel dauernd an Umfang
abgenommen hat, so dass man vielleicht auch auf gänzlichen Schluss
.derselben rechnen kann. Jedenfalls sind alle Erscheinungen der Ak-
tinomycose beseitigt. Die Eiterung ist versiegt, die Infiltration der
1) Anmerkung bei der Correctur. 1. August: Die Lungenwunde ist jetzt
nur noch Markstückgross: Allgemeinbefinden dauernd gut. Keine Aktinomy-
cose n a ch w(' i sb a r.
39*
584 Dr. Kare WS ki,
Weichtbeile vollkommen geschwunden. Die Lunge ist ausser-
ordentlich geschrumpft, aber ohne physikalisch nachweisbare Krank-
heitssyraptome; die linke Lunge befindet sich im Zustand des
vicariirenden Emphysems, das Herz ist nach rechts verzogen, aber
gesund. Actinomyceskörnchen sind seit der Operation, trotz der
sorgfältigsten Untersuchung, nicht mehr gefunden worden. Die
lange Zeit regelmässigen Erscheinungen von Leptothrixmassen sind
auf ein Minimum reducirt. Der Allgemeinzustand ist ein vortreff-
licher geworden. Aus dem blassen, überaus schwächlichen Mann
ist ein kräftiger, blühender, seinen Beruf wieder ausfüllender her-
vorgegangen, sein Gewicht hat um 10 Pfund zugenommen, und so
glaube ich denn, dass der Patient Chancen hat, auf eine Dauer-
heilung zu rechnen.
Von grossem Interesse ist die Frage, inwieweit in diesem
Falle cxceptionell günstige Umstände, unter denen er sich be-
funden, die Heilung ermöglichten, ob er also als ein Unikum zu
betrachten, oder ob man darauf rechnen kann, des öfteren mit
grossen operativen Eingriffen die Lungenactinomycose im vor-
geschrittenem Stadium zu heilen. Aus dem genaueren Stu-
dium der bisher publicirten Krankengeschichten scheint
hervorzugehen, dass erstens oft genug die Actinomycose
früher hätte erkannt werden können, als dies thatsüch-
lich geschah und zweitens, dass sie nicht selten zu einer
Zeit diagnosticirt worden ist, in der erfolgreiche Ein-
griffe hätten unternommen werden können. An einer an-
deren Stelle habe ich diese Dinge ausführlicher auseinandergesetzt
und begnüge mich daher an dieser Stelle mit dem einfachen Hin-
weis darauf, dass in der That die Hoffnung, die Actinomycose
mit dem Messer und Glüheisen heilen zu können, keine trügerische
sein wird.
Dieser Fall ist aber ausserdem geeignet, ein Ausgangspunkt
für die Erörterung einiger anderer für die Lungenchirurgie sehr
wichtiger Fragen zu dienen. Es ist in erster Linie ein klassisches
Beispiel für die ausserordentliche Toleranz der Lunge
gegenüber schweren operativen Eingriffen und äusseren
Einflüssen.
Diese erstaunliche Toleranz eines Organes, von dem wir ge-
wöhnt sind, es als ausserordentlich empfindlich für krank machende
Beiträge zur Chirurgie der Lunge und der Pleura. 585
Einflüsse anzusehen, ist schon oft von den Operateuren bewundert
worden. Wir haben in unserem letzten Fall gesehen, dass Be-
arbeiten mit dem scharfen Löffel und Glüheisen während der Ope-
ration nicht empfunden wurden, ja den nicht narcotisirten Kranken
nicht einmal zu Husten reizten. Ebensowenig scheinen Lungen-
wunden zu pneumonischen Verdichtungen zu disponiren. Wenn je,
so hätte man in dieser grossen gebrannten Höhle, die zu lang-
wieriger Eiterung Anlass gab, eine Ursache für Pneumonie er-
warten sollen. Wenn nun auch anzunehmen ist, dass die Lunge
bereits weitgehend fibrös de^enerirt war, und aus diesem Grunde
resistenter, so geben doch andere Fälle den Beweis, dass tiefe
Functionen und Probeincisionen ebensowenig Entzündungsursachen
sind, selbst dann, wenn Asepsis derselben nicht garantirt ist. So
sahen wir in unserem zweiten Falle, dass zahlreiche Functionen
der, wie sich bei der Section ergab, an diesen Stellen ganz ge-
sunden Lunge, gar keine Veränderungen zur Folge hatte. Man
wird wohl nicht irren in der Annahme, dass der Eitererreger in
zwei Fällen nur der Lunge gefährlich wird, L als embotischer
Herd und 2. als Secundärinfection einer bereits anderweitig er-
krankten, also widerstandsunfähigen Lunge (Phthisis, Abscess nach
Pneumonie). Diese Thatsache ist von grosser Bedeutung insofern
sie zeigt, dass man grosse Lungenwunden anlegen darf,
ohne befürchten zu müssen, dass während ihrer so überaus
langsamen Vernarbung grosse Gefahr für eitrige Infection
vorhanden ist. So sehen wir denn auch, dass jetzt seit sechs
Monaten eine grosse Lungenwunde frei der Luft und allen Schäd-
lichkeiten der unmöglich keimfrei zu haltenden Umgebung aus-
gesetzt sein kann, unbeschadet der guten Function und Beschaffen-
heit des Organs.
Diese Thatsache ist um so auffallender, als sich nicht etwa
die Lungenwunde mit einer Schicht von Granulationen bedeckt hat,
die als Wall gegen die Eitererreger dienen, sondern scheinbar un-
verändert geblieben ist seit der ganzen Zeit, in welcher sich die
Abstossung des Brandschorfes vollzogen hat. Sie hat dauernd das
Aussehen frisch durchschnittenen, im Zustand fibröser Dege-
generation befindlichen Lungengewebes. Alle Versuche, Granu-
lationsbildung .zu erzeugen, die ja für die Retraction und Ver-
narbung der Wunde von grosser Bedeutung wären, sind fehl-
586 Dr. Karewski,
geschlagen. Genau so wie bei grossen Erapycmwunden geht die
Verkleinerung und Epidermisirung von aussen her vor sich, indem
die Granulationen von der Thoraxwunde sich auf die Lunge vor-
schieben und ihre bindegewebige Umbildung die Verkleinerung der
Lungenfistel, allerdings ausserordentlich langsam, besorgt.
Dass übrigens keine schützende Granulationsschicht, die etwa
dem unbewaffneten Auge nicht bemerkbar ist, auf der Lunge liegt,
wird noch durch eine andere sehr bemerkenswerthe Thatsache be-
wiesen. Die Wunde resorbirt alle auf sie gebrachten chemischen
Substanzen momentan. In dem Augenblick, wo man mit dem
HöUcnsteinstift, dem Jodpinsel, eine Lösung von Wasserstoffsuper-
oxyd u. a. m. über die Wundfläche hinwegfährt, selbst bei sorg-
fältigster Vermeidung der jetzt nicht mehr zahlreichen Bronchial-
öflfnungen, empfindet der Kranke nicht nur einen Hustenreiz im
Kehlkopf, sondern er hat den entsprechenden Geschmack im
Munde. Diese Thatsache der auch sonst auf physiologischem
Wege erprobten excessiven Resorptionsfähigkeit der Lunge giebt
uns wohl die Erklärung dafür, warum alle Antiseptica bei grossen
Thoraxwunden so deletären Einfluss auf den Patienten haben.
Wahrscheinlich hat selbst die durch langwierige Eiterung veränderte
Pleura, die ja selbst niemals zu Granulationsbildung kommt, die-
selbe Fähigkeit, alle Chemikalien aufzusaugen, oder sie giebt
wenigstens keine die Osmose der Lunge hindernde Schicht ab.
So angenehm also häufig in der Lungen- und Pleura-
chirurgie die Anwendung antiseptisch wirkender Mittel
sein dürfte, so müssen wir doch ein für alle Mal auf die-
selbe verzichten.
Was nun die Methodik der Eingriffe an der Lunge be-
trifft, so geht auch aus meinen Beobachtungen hervor, was sich
aus allen über die Lungenchirurgie gemachten Mittheilungen er-
giebt. Alle meine Fälle hatten einen operativ glücklichen Erfolg,
weil sie ausgedehnte Pleuraverwachsungen hatten, und in allen
gingen diese Verwachsungen über viel grössere Flächen hinweg,
als man nach der physikalischen (Untersuchung und der klinischen
Beobachtung annehmen durfte. Die Adhäsion der Pleura pul-
monalis an der Pleura costalis ist absolute Vorbedingung
für Heilerfoli^e bei infectiösen Processen. Sie ist aber bei ihnen
so häufig vorhanden, dass man nur ausnahmsweise künstliche Er-
Beiträge zur Chirurgie der Lunge und der Pleura 587
zeugung von Verwachsungen nöthig haben wird. Wenn diese Noth-
wendigkeit an uns herantritt, so ist ganz gewiss die Vernähung
die sicherste Methode, sie allein giebt die Garantie, dass die Lunge
sich nicht wieder ablösen kann. Um die Vernähung sehr gut vor-
nehnnen zu können, aber ist es nöthig, grosse Thoraxwunden an-
zulegen, von vornherein eine grosse Zahl Rippen zu reseciren, die
Thoraxwand so beweglich zu machen, dass sie flottirend sich an
der Lunge anlegen kann. Sollte dabei selbst ein Pneumothorax
passiren, so wissen WMr ja von derartigen Zufällen bei Resectionen
von Tumoren der Thoraxwand, dass ein traumatischer Pneumo-
thorax unter aseptischen Verhältnissen keine grosse Gefahren hat.
Wenn man also nur im Stande ist, die Vernähung der Lunge mit
der Thoraxwand ausserhalb des eiterigen Lungenhei'des, d. h. so,
dass dieser zunächst nicht eröffnet wird, vorzunehmen, so dürfte
es in den meisten Fällen gelingen, ohne Gefahr die Verklebung
der Pleurablätter herbeizuführen, bevor man den Ilerd incidirt.
Ich glaube also, dass in erster Linie die grosse Thorax-
resection von Nutzen ist, selbst da, wo der Lungen-
herd nur ein kleiner ist. Sie giebt auch eine grosse Er-
leichterung für die Orientirung und die Möglichkeit der definitiven
Heilung in den FäUen, wo der Abscess oder die sonstige
Affection der Lunge in starrer Umgebung liegt, welche einen
Verschluss der Höhle durch Ausdehnung der benachbarten Lungen-
partien nicht erlaubt. Gerade so wie bei alten Empyemen
die künstlich herbeigeführte Nachgiebigkeit der Thoraxwand die
Ausdehnungsfähigkeit der Lunge ersetzen muss, muss bei aus-
gedehnteren, längere Zeit bestehenden Lungeneiterungen die Chance
gegeben werden, dass die Weichtheile sich in den Thorax hinein-
ziehen können.
Aus diesem Grunde scheint auch in jedem Falle eine pri-
märe oder secundäre Verkleinerung der Wunde durch
Naht zu verwerfen zu sein. Sie giebt gar zu leicht die
Möglichkeit ab zur Bildung von Buchten und Höhlen, in denen sich
Secret staut, so dass eine Radicalheilung ausbleibt. Nur ein Mal
habe ich einen Misserfolg von einer Thoracoplastik gehabt, und das
war, als mein Assistentin meiner Abwesenheit die allerdings colossale
Wundhöhle durch die Naht zu verschliessen versuchte. Dauert die
Heilung zu lange, so giebt uns die Transplantation der granu-
1
588 Dr. Karewski,
lirenden Fläolipn ein vorzügliches Mittel, dieselbe zu beschleunigen.
Sie versagt fast nie und hat auch noch den Vortheil, dass die
häufig gefährdete Beweglichkeit des zugehörigen Arraes besser er-
halten bleibt.
«
Wenn aber wirklich mal eine feine Bronchialfistel restirt,
so hat sie so lange keinen Schaden, als sie direct nach
aussen mündet, d. h. so lange die Möglichkeit für directen
Secretabfluss und die Verhinderung von Secretansammlung gegeben
ist. Das beweist in eklatanter Weise unser Fall 1, der nunmehr
seit 3 Jahren bei- immer sich bessernder Gesundheit und Arbeits-
fähigkeit mit einer feinen ßronchialfistel existirt. Im Uebrigen
hat Friedrich den Beweis erbracht, dass der Paquelin ein gutes
Mittel ist, die Fisteln zur Verödung zu bringen. Sobald also
keine bestimmten Ursachen vorliegen, die Fistel absichtlich per-
sistiren zu lassen, wie bei unserem Kranken mit Lungenaktinomycose,
kann man zum Paquelin seine Zuflucht nehmen — um so mehr,
als gebrannte Lungen- und Bronchialwunden ganz hannlos zu sein
scheinen.
Vielfach ist die Frage erörtert worden,- ob man an der
Lunge selbst mit dem Paquelin oder mit dem Messer operiren
darf, und die Beantwortung ist verschiedenartig ausgefallen. In-
dessen wird man wohl keine für alle Fälle zutreffende Anweisung
geben können, sondern muss sich nach den im Einzelfall vor-
liegenden Verhältnissen richten. Ungefährlicher in Bezug auf
Blutung und Infectionsgefahr ist jedenfalls der Paquelin; übersicht-
licher das Operiren mit dem Messer. Eine Combination des Ge-
brauchs beider Instrumente nach den jeweiligen Verhältnissen dürfte
das Entsprechendste sein.
Wichtiger ist, darüber zu entscheiden, ob man die Narkose
entbehren kann. Nach meinen Erfahrungen glaube ich, dass, wenn
man erst den Weichtheilschnitt gemacht und die Rippen resecirt
hat, zwei Eingriffe, die wohl mit localer Anästhesie gemacht
werden können, man eine weitere Narkose sehr oft entbehren kann.
Ich kann das besonders deshalb behaupten, weil ich einmal in der
Lage war, bei einem Collegen, dem man weder allgemeine noch
locale Anästhesie zutrauen konnte, die ganze Operation ohne Nar-
kose zu machen, und von dem Patienten hörte, dass die Schmerzen
nicht gerade übermässige gewesen sind.
Beiträge zur Chirurgie der Lunge und der Pleura. 580
Im Grossen und Ganzen wird man wohl sagen können,
dass die Eingriffe an der Lunge sich technisch nicht
wesentlich unterscheiden von denjenigen, welche zur Be-
seitigung alter Empyeme und Lungenfisteln gemacht wer-
den, und dass auch die Lungenoperation keine grösseren
Gefahren hat als die eben genannten. Aus diesem Grunde
auch soll man sich nicht scheuen vor möglichst weit-
gehenden Entfernungen der Thoraxwand, da in diesen
die Garantie des Erfolges liegt. Die Operation wird nicht
wesentlich gefährlicher.
Was aber schliesslich die durch den Eingriff verursachten
Entstellungen des Kranken betrifft, so sollte diese zwar bei
einem so schwer wiegenden Leiden überhaupt nic^ht in Frage
kommen, ich halte aber überhaupt die Ansicht für falsch, dass die
Thoraxresection an sich eine irgendwie beträchtliche Deformirung
verursacht. Vielmehr hängt der Grad der Entstellung aus-
schliesslich ab von dem Mass der Veränderungen im
Thoraxraum selbst. Nicht die Entfernung des äusseren
Brustumfanges, sondern die Schrumpfung seines Inhaltes
bedingt die Entstellung. Das wird bewiesen durch solche Fälle,
wie der Ihnen vorhin gezeigte mit jetzt noch bestehender Lungen-
fistel, der fast gar keine Schrumpfung des Thoraxumfanges hat,
ferner dun^h Fälle von sehr ausgedehnter Rippen resection bei
Caries, die, wie ich bei früherer Gelegenheit zeigte, selbst bei
kleinen Kindern keine Skoliose oder dergleichen herbeiführt, das
wird auf der andern Seite bewiesen durch die Thoraxschrumpfung,
ohne dass man überhaupt Rippen resecirt hat, wenn sonst nur
retrahirende Processe im Brustkorb stattgefunden haben. Dies
möchte ich Ihnen aber auch beweisen, indem ich Ihnen hier drei
jugendliche Patienten vorstelle. Dem jüngsten von ihnen, einem
kleinen Mädchen (jetzt 6 Jahre alt), habe ich vor 3 Jahren eine
grosse Brust wand resection wegen alten Empyems gemacht. Bei
dem nächst älteren (12 Jahre) ist eine eiterige Empyemfistel
V(m mir auf conservativem Wege zur Heilung gebracht worden,
das Empyem war nur mit Incision und Contraincision be-
handelt worden. Und der dritte Fall ist ein junger Mann
(18 Jahre), bei dem eine Pleuritis überhaupt ohne jeden ope-
rativen Eingriff, auc^h ohne Function geheilt worden ist. Dieser
I
590 Dr. Karewski, Ein Beitrag zur Chirurgie der Lunge und der Pleura.
hat die schlimmste Defonnirung, während den geringsten Grad die
grosse Thoraxresection aufweist. Die Thoraxform richtet sich eben
nach ihrem Inhalt. Ja, ich habe sogar den Eindruck, als ob ein
grosses Loch im Thoraxraum die Heilung des Empyems be-
schleunigt, und dass man, wenn man schon einmal Empyem- oder
Lungenoperationen macht, nicht zu sparsam mit Rippenresectionen
sein soll. Ich habe fernerhin gesehen, dass bei jungen Individuen
die Lunge sich, wenn sie erst einmal wieder mit der Thoraxwand
verwachsen ist, schnell und gut ausdehnt, und dann auch den
Thoraxumfang selbst wieder vermehrt, so dass die Entfernung der
knöchernen Theile gar keinen Einfluss haben kann.
Nichtsdestoweniger wird man alle Bestrebungen, auch das
Empyem durch verbesserte Punktionsdrainage oder Aspiration nach
Thoracotomie zur Heilung zu bringen, mit Freude begrüssen. Die
Thoraxresection ist eben für diejenigen Fälle das Normalverfahren,
welche auf dem conservativen Wege nicht zur Ausheilung kommen.
XXXV.
üeber den angeborenen Verschluss des Dünn-
darms und seine Behandlung/)
Von
Dr. Felix Franke,
Oberarzt doR Diakonissenhauses MarienKtift zu Braanschweig.
M. H.! Wenn angeborener Verschluss des Mastdarms nament-
lich in der Aftergegend gar nicht so selten beobachtet wird, so ist
das verhältnissmässig leicht zu erklären an der Hand unserer
Kenntnisse über den regen ümbildungsprocess, der während des
intrauterinen Lebens an der Kloake vor sich geht. Dass dabei
auch einmal fehlerhafte Bildungen entstehen können, entweder ein
Offenbleiben einer Oeffnung, die sich eigentlich schliessen müsste,
oder ein Wiederzuwachsen einer für das extrauterine Leben an-
gelegten Oeffnung, kann nicht wunderbar erscheinen, zumal nach
den klaren Ausführungen Frank 's-), die bekanntlich letzteren Vor-
gang als die Hauptursachc des angeborenen Mastdarraverschlusses
wahrscheinlich machten. In grössere Verlegenheit kommen wir,
wenn wir die Ursachen und Vorgänge, welche bei der Entstehung
eines höher oben sitzenden Darmverschlusses mitspielen, nach-
weisen sollen. Und insbesondere dürfte das zutreflFen für den Ver-
schluss des Dünndarms. Es ist dieser im Verhältniss zur Atresia
ani bisher nur selten beobachtet worden, soweit wenigstens die
Literatur Aufschluss giebt. Noch seltener ist er Gegenstand
chirurgischen Eingreifens geworden. So finde ich ihn z. B. bei
>) Abgekürzt vorgetragen am 3. Sitzungstage des XXVII. Congresses der
Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 15. April 1898.
2) R. Frank, lieber die angeborenen Vcrschliessungen des Mastdarms.
Wien 1892.
1
592 Dr. F. Franke,
Karewski, Die chirurgischon Krankheiten des Kindesalt ens, 1894,
überhaupt nicht erwähnt. Baginski geht in der neuesten (5.)
Auflage seines Lehrbuchs der Kinderkrankheiten (1896) ganz kurz
über ihn hinweg mit der Bemerkung, dass er zumeist die Folge
peritonitischer Processe sei, während Marchand in seinem vor
Kurzem erschienenen ausgezeichneten Artikel über Missbildungen
in der 3. Auflage von Kulenburg's Realencyclopädie sagt: „jeden-
falls haben sie (die Stenose und Atrcsie) nichts mit peritonitischen
Processen zu thun, welche in späteren Stadien des Fötallebens als
Ursache kraakhafter Verengerungen in Frage kommen können
(Syphilis)'*. Die Lehrbücher der pathologischen Anatomie, sowie
die einzelnen in der Literatur verstreuten Mittheilungen geben uns
wohl Kenntniss über das Vorkommen der angeborenen Atresie des
Dünndarms, aber über seine Ursache liefern sie auch keinen be-
stimmten Aufschhiss. Meist wird er ganz zufällig bei Sectionen
von Neugeborenen gefunden, die todt geboren sind oder bald nach
der Geburt, nach 1 oder 2 oder 3 Tagen starben, ohne dass be-
stimmte Erscheinungen die Aufmerksamkeit der Hebamme oder
des Arztes auf das Leiden hingelenkt hätten.
Die vorliegenden Berichte und die Angaben der Lehrbücher,
auf die im Einzelnen einzugehen sich hier kaum verlohnen dürfte,
zeigen wohl, dass die Atresie bezw^ Stenose des Dünndarms an
allen Stellen desselben vorkommen kann, lassen dabei aber doch
erkennen, dass sie an einigen Punkten mit einer gewissen Vorliebe
stattfindet, nämlich an der l']inmündungsstelle des Ductus chole-
dochus in den Darm, sodann in der Blind dar ragegend und am
Pylorus. Erst in letzter Zeit ist die angeborene Pylorusstenose
Gegenstand grösserer ärztlicher Aufmerksamkeit geworden, wie eine
Mittheilung aus der Kinderklinik der Charite beweist^). Ich selbst
auch habe einen derartigen Fall beobachtet bei einem zw^eijährigen
Knaben.
Der Verschluss oder die Stenose kann einfach oder mehrfach
auftreten, die betroffene Stelle kann verschiedene Länge besitzen,
der Darm kann mehr oder weniger geschwunden sein. Bisweilen
findet sich an Stelle des Darms im Bereich der obliterirten Stelle
nur noch ein ganz dünner Strang, es kann aber auch jede xVn-
0 Finkc Ins tfti n, Ucbor angeborene Pvlorusstonosc im Säuglingsalter.
Jabrb. für Kinderkrankbeiten. Bd. XLÜI, Holt 1. 1896. S. 105.
Ueb. den angeborenen Verschluss des Dünndarms und seine Behandlung. 593
deutiing eines Darms fehlen, wie der eine der unten niitzutheilen-
den Fälle zeigt ^). Dann sind die beiden frei neben einander
lagernden, blindendigenden Darraenden nur durch das Mesenterium
mit einander verbunden. Das obere Darmende ist natürlich, sobald
das Kind auch nur einen oder gar einige Tage gelebt hat, mehr
oder weniger stark aufgetrieben, das untere dagegen ganz dünn,
wie zusammengeschrumpft.
Die meisten der an solchem Darmverschluss leidenden Säug-
linge sind gestorben, ehe eine ärztliche Behandlung Platz griff, oder
ehe ein Entschluss zur Operation gefasst war. Der Tod erfolgte
entweder einfach an Schwäche oder infolge von Perforations-
peritonitis. Es ist bisher, soweit ich aus der Literatur ersehe, nur
drei Mal der Versuch gemacht worden, das kindliche Leben mit
Hülfe einer Operation zu erhalten. Auf diese drei Fälle will ich
im Folgenden kurz eingehen.
Im Jahre 1887 zeigte von Tischendorf^) auf dem 16. Chi-
rurgencongress das Darmpräparat von einem Kinde, bei dem er
am 6. Lebenstage wegen vermutheter hochsitzender Atresia ani
den Bauchschnitt mit folgender Enterostomie gemacht hatte. Das
Kind war fast 3 Wochen später bei gut functionirender Darmfistel,
nachdem es sic^h anfangs erholt hatte, an Darmstörungen und Soor
zu Grunde gegangen. Der Darmverschluss sass 25 cm oberhalb
der lleocöcalklappe. Der ganze unterhalb gelegene Darmabschnitt
war bindfadendünn (ob noch eine Lichtung weiter unten vorhanden
war, ist aus dem Bericht nicht deutlich ersichtlich), der oberhalb
gelegene Theil auf etwa 20 cm Länge zu einem sehr weiten, mit
Meconium prall gefüllten Sack ausgedehnt.
Ueber einen an derselben Stelle sitzenden Darmverschluss be-
richtet J. Bland Sutton^). Er sass 18 Zoll von der lleocöcal-
klappe entfernt, bot diesdben Erscheinungen wie im vorigen Falle
und wurde ebenfalls mit Enterostomie behandelt. Der Tod erfolgte
G Stunden später, obgleich schon am 2. Tage operirt wurde.
*) Vergl. auch Carini, Ueber einen Fall von congenitalcm Darmverschluss,
bedingt durch eine seltene Bildungsanomalic des Darmes. Internation. klin.
Rundschau, 1890, No. 5.
2) von Tischendorf, Enterostomie bei angeborener Atresic des Ileum.
Selbstbericht im Centralbl. f. Chirurgie, 1887, No. 29. Die Verhandlungsberichte
enthalten keine genaueren Angaben.
3) Bland Sutton, Imperforate Ilcum. Amer. Journal for the med.
science. 1889. S. Centralbl. f. Chir. 1890, No. 9.
594 Dr. F. Franke,
üeber die näheren Umijtände, sowie über den genaueren patho-
logisch-anatomischen Befund enthält das kurze Referat nichts (das
Original war mir nicht zugängig).
Der 3. Fall ist genau untersucht und veröffentlicht worden^).
Es war bei dem betreffenden Neugeborenen am 3. Lebenstage
wegen der Annahme eines hochsitzenden Mastdarmverschlusscs die
Proktoplastik vom Damm aus versucht und, als diese nicht zum
Ziele führte, die Laparotomie mit folgender Enterostomie gemacht
worden. Das Kind war am nächsten Tage gestorben an be-
ginnender acuter Peritonitis. Bei der Section fand sich der Darm
vom Magen an auf die Länge von 97 cm stark gebläht, um dann
plötzlich dem Beckencingang gegenüber blind zu endigen. Die
Fortsetzung war ein dünner, harter, federkieldicker Strang, der
unter dem rechten Leberlappen seitlich von der Gallenblase als
zusammengeballter Knäuel beginnend, sich bis zum After hin-
zog und, wie der Befund des deutlich erkennbaren hochsitzen-
den Blinddarms mit 4 cm langem Wurmfortsatz bewies, aus
dem unteren Theil des Jejunum, dem Ileum und dem ganzen
Dickdarm bestand. Der Strang besass ein Lumen, welches Schleim
und Detritusmassen enthielt. Sonst w^ar aus zahlreichen alten Ver-
wachsungen der Bauchorgane und fibrösen Strängen noch der
Jieweis dafür zu entnehmen, dass früher sich eine Bauchfell-
entzündung abgespielt hatte. Die Frage, ob die Ursache des
Darmverschlusses diese Bauchfellentzündung gewesen ist oder eine
Achsendrehung, auf die der Befund am ehesten sich anwenden
lässt, bleibt nach Hecker unentschieden. Ganz ungewöhnlich ist
die Thatsache, dass die beiden auf einander folgenden, aber jetzt
durchtrennten Darmtheile sich so weit von einander entfernt hatten.
Dieses Voneinanderweichen erklärt II eck er damit, dass der obere
Theil des Dünndarms, der anfangs auch ^ben an der Leber in der
Nähe des folgenden Darmtheils lag, durch die Füllung mit Me-
conium und später mit Speise schwerer wurde und infolgedessen
nach unten sank. Auch die Aufblähung mit Luft bezw. Gas mag,
weil sie geeignet war, den Darm zu strecken, an der Verlagerung
mitgewirkt haben.
1) Th. [lecker, Zur Frage über congeuitale Darmocclusion (Aus dem
Elisabeth-Kinderhospital z. St. Petersburg. St. Petersburger med. Wochenschr.
1896, No. 115. S. Centralblatt f. Kinderheilkunde. 1897, No. 6.
Ueb. den angeborenen Verschluss des Dünndarms und seine Behandlung. 595
Der Fall, den ich zu beobachten und zu operiren Gelegenheit
hatte, war folgender:
Im Noveniber 1896 wurde ich eines Abends zu einem 2 Tage
alten Neugeborenen geholt, weil er alle Nahrung wieder von sich
gab, zuletzt auch Kindspech gebrochen hatte, wie die Hebamme
angab, auch trotz" öfterer Klystire noch keinen Stuhlgang gehabt
hatte. Ich fand bei dem kräftigen fieberlosen Kinde den Leib in
der linken Seite etwas aufgetrieben, nicht empfindlich; ein Tumor
oder eine bestimmte Darmschlinge licss sich nicht tasten; der
Schall war hell. Der After liess den Ansatz des Irrigators leicht
passiren; von dem eingesandten warmen Wasser floss ungefähr die
Menge von 50 — 60 g ein, um dann sofort wieder abzufliessen.
Als ich am nächsten Morgen denselben Zustand fand, von Hernie
nichts zu entdecken war, machte ich unter Chloroformnarkose den
Bauchschnitt in der linken Seite unten, weil ich annahm, dass es
sich um einen Verschluss des Colon descendens oder der Flexura
sigmoidea, eventuell einen Volvulus der letzteren handle. Sofort
nach dem Einschneiden des Bauchfells drängte sich eine stark
aufgeblähte, massig geröthete Darmschlinge hervor, die aber nicht
das erwartete Colon, sondern Dünndarm war. Dieser aufgeblähte
Theil endete blind, kolbig, das Ende hatte die Form und Grösse
der dicken Hälfte eines grossen Hühnereies. Dann folgte auf die
Strecke eines Centimeters nur Mesenterium, dessen freier Rand sich
weiterhin allmählich verdickte bis zu einem bleistiftdicken, grauen,
runden Strange, der sich bis nach der Blinddarmgegend zu mit
dem Finger verfolgen liess und dort offenbar in das Colon des-
cendens überging. Der Strang war nicht solide, sondern hatte eine
Lichtung, wie sich deutlich fühlen liess, wenn ich ihn zwischen
zwei Finger nahm. Was jetzt thun? Eine Enterostomie, an die
ja zuerst zu denken war,' um die Operation m("»glichst schnell zu
beendigen und der Indicatio vitalis zu genügen, erschien mir zu
gefährlich bezüglich ihrer Folgen, da ich glaubte, dass die lilrnähr-
ung des Kindes bei vollständigem Wegfall des unterhalb liegenden
Danntheils auf die Dauer nicht ausreichend sein werde. Nach
kurzem Besinnen entschloss ich mich zur Enteroanastomose ; eine
Resection mit folgender circulärer Vereinigung der Darmenden ver-
bot sich von selbst wegen der grossen Ungleichheit in der Dicke
der beiden Darmtheile. Nach Entleerung des oberen geblähten
596 Dr. F. Franke,
Theils von seinem grünlichen, flüssigen Inhalt und Gas durch
einen fast 2 cm langen Schnitt und Ausspülung mit Kochsalz-
wasser ncähtc ich den absteigenden Theil mit feinster Seide in zwei
Etagen auf die Länge von etwa 3 cm so an, dass das dann durch
Einschnitt in den Strang gebildete, über 1 cra lange Loch etwa
10 cm von der Verschlussstelle entfernt war; Die erste Xaht
diente zur Vereinigung der Serosaflächen, die zweite fasstc die
ganze Muskularis mit. Als ich dann aber auf der andern Seite
nach Anlegung der Muscularisnaht die Serosanaht vornehmen
wollte, fand ich, dass Gefahr vorlag, dass dann der doch ziemlich
dünne Strang so zugeschnürt würde, dass die Lichtung zum
grössten Theil oder sogar ganz verloren ging. Um nun diese ein-
reihige Nahtlinie etwas zu sichern, legte ich den grössten Theil
des überschüssigen Strangstücks nach Durchtrennung zwischen
zwei fest abschnürenden Catgutfäden herum und befestigte ihn
über der Nahtlinie mit feinen Catgutfäden. Sodann versenkte ich
den gereinigten Darm, machte die Bauchnaht und pinselte Jodo-
formcollodium auf. Das Kind hatte die bei der Schwierigkeit der
Nahtanlegung doch etwas zeitraubende, im Ganzen fast eine Stunde
dauernde Operation gut überstanden. Trotz des ziemlich guten
Pulsos während der Narkose hatte ich aber doch, um Zeit zu
sparen, den überschüssigen Strangtheil nur doppelt abgebunden
und durchtrennt, ohne die Enden einzustülpen und zu vernähen.
Ich glaubte mich zu diesem Vorgehen berechtigt, weil der an dem
aufgeblähten Darmende Jiängende Theil doch früher aseptisch w^ar,
der andere aber an seinem freien Ende höchst wahrscheinlich
aseptisch bleiben würde, da wegen der Uraknickung Darminhalt
in ilm nicht gut übertreten konnte, er ausserdem von dem sich
nun wahrscheinlich weitenden Darm nur noch mehr zusammen-
gepresst würde. Ausserdem nahm ich an, dass die Abschnürungs-
stelle bald verheilen würde.
Das Kind nahm gierig die Brust und bekam schon wenige
Stunden später Stuhlgang, der sich in den nächsten beiden Tagen
mehrmals wiederholte. Das Erbrechen blieb aus. xVls ich am
Morgen des 3. Tages nach der Operation nachsah, fand ich das
Kind elend, collabirt mit kaum fühlbarem, nicht zu zählendem
Pulse, aufgetriebenem Leibe; wenige Stunden später war es todt.
Der Vater gab an, dass es am Abend vorher im Leibe des Kindes
Ueb. den angeborenen Verschluss des Dünndarms und seiu/j Behandlung. 597
„geknallt" habe, wobei dasselbe aufgeschrieen habe. Danach habe
es gebrochen, nichts von der Nahrung mehr bei sich behalten, auch
keinen Stuhlgang wieder gehabt; es sei aber nicht übermässig un-
ruhig gewesen.
Es wurde mir nur die Oeffnung des Leibes und Her-
ausnahme des erkrankten Darmstückes erlaubt. Ich fand die
Zeichen einer acuten allgeraeinen Peritonitis; an der Stelle der
Enteroanastomose, wo das über die einreihige Naht herübergenähte
Strangstück endete, war eine kleine ofiFene Stelle, aus der Darm-
inhalt herausgetreten war. Der Darm enthielt dicken käsigen Brei.
Reste einer alten abgelaufenen Peritonitis fand ich nirgends, auch
sonst keinen Anhalt, der mir zur sicheren Erklärung des Darm-
verschlusses hätte dienen können, kein Band, keinen Strang, kein
Divertikel. Auch im üebrigen war das Kind nach dem Ergebniss
meiner Untersuchung frei von x\bnormitäten. Wie Sie an dem
Präparate noch sehen können, befindet sich die Verschlussstelle un-
gefähr 23 — 25 cm vom Blinddarm entfernt. Der früher so stark auf-
geblähte Dünndarm ist noch immer ziemlich stark aufgetrieben,
der absteigende Theil und das Colon ist ziemlich dünn. Der
372 cm lange Wurmfortsatz mündet von unten her in den Blinddarm.
Ueber die Ursache des Todes im vorliegenden Falle gestatten
Sie mir einige Worte. Dass ein Nichthalten der Naht die Schuld
trägt, unterliegt wohl keinem Zweifel. Ich glaube aber, sie nicht
allein. Meiner Meinung nach dürfte die Nahrung des Kindes nicht
unbetheiligt sein an dem unglücklichen z\usgange. Der Darm-
inhalt des ausgeschnittenen Stücks war, wie Sie jetzt noch be-
merken können, dickbreiig und etwas bröcklig, flockig, der steno-
sirte bezw. geschrumpfte Darm aber war an der vernähten Stelle
durch die Naht noch mehr stenosirt. Es ist begreiflich, dass
irgendwie dicker Darminhalt diese verengte Stelle nicht mit Leichtig-
keit passiren konnte. Kam nun noch, wie in diesem Falle, die
Wirkung einer lebhaften Peristaltik hinzu, so konnte die doch et-
was mangelhafte Naht den an sie gestellten Anforderungen auf die
Dauer nicht genügen.
Die . von mir vorgenommene Section der Bauchhöhle des
Kindes hat leider wie in den meisten derartigen Fällen die Ur-
sache des Darm verschlusses fast ganz im Dunkeln gelassen. So-
viel aber hat sie doch bewiesen, dass eine frühere Peritonitis mit
Arehiv fttr kliu. Chirurgie. 67. Bd. Heft 3. ^Q
598 Dr. F. Franke,
grösster Wahrscheinlichkeit nicht bestanden hat, wenigstens keine,
die schwere Veränderungen, Verwachsungen, Strangbildungen u. s. w.
zur Folge gehabt hat, dass also einer Peritonitis nicht wohl die
Schuld an der Atresie zugemessen werden kann. Von Tischendorf
sowohl wie Sutton bringen in ihrem Falle die Missbiidung mit dem
Ductus ophalomesaraicus in Verbindung. Und in der That hat diese
Deutung viel für sich, auch für meinen Fall. Mindestens ist es doch auf-
fallend, dass sowohl in diesen beiden wie in meinem F^alle die Stelle
des Darm verschlusses sich ungefähr gleich weit vom Blinddarm be-
fand (25 cm bezw. 18 ZoU). Der Ductus aber geht im Mittel un-
gefähr von dieser Stelle ab, wie mir die Berechnung aus einer Reihe
von V'eröfFentlichungen über das MeckeFsche Divertikel ergab.
Die Abgangsstelle wird bisweilen näher am Blinddarm, bisweilen
weiter oben, ja selbst über 1 m weit vom Blinddarm entfernt
angegeben. Die Berechnung kann keine ganz genaue sein, sondern
kann nur auf Schätzung beruhen, da das Meckel'sche Divertikel
in jedem Lebensalter beobachtet wurde, und es natürlich schwer
ist, ja unmöglich sein dürfte, die Maasse am Darme verschieden
alter Menschen genau auf die des Säuglingsdarmes, noch dazu
eines krankhaft veränderten zu roduciren. Wie nun das Meckel-
sehe Divertikel oder vielmehr der Ductus omphalomesaraicus ge-
wirkt haben mag, diese Frage kann nur vermuthungsweise be-
antwort(*t. werden. Sollte man eine Abschnürung der Darmschlinge
durch den Ductus annehmen, so müsste er freilich nach geschehener
Abschnürung — und die Atresie scheint erst im späteren Fötal-
lebcn eingetreten zu sein — seinen Rückbildungsprocess wie unter
normalen Verhältnissen durchgemacht haben, da ja bei den Kindern
keine Spur mehr von ihm nachzuweisen war. Näher liegt es aber
auf die eben geschehenen Ausein anders(^tzungen des HeiTn Collagen
Walzberg^) zurückzugreifen, wonach es infolge von Zerrungen am
Darm zur Abknickung desselben, ausserdem aber zur Gangrän an
der Abgangsstelle des Ductus kommt, deren Folge dann beim Fö-
tus die Atresie ist. Doch sind die Möglichkeiten der Entstehung
der Atresie noch nicht erschöpft. Neuerdings hat Cawardine^)
0 Walzberg, Ueber den Ductus omphalo-mesaraicus als Ursache von
Darmeinklemmung. Vortrag, gehalten am 2. Sitzungstage des XXVII. Congresses
der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 14. April 1898.
2) Ca wardine, Volvulus of MeckeTs diverticulum. Brit. med. joum.
December 1897.
Ueb. den angeborenen Verschluss des Dünndarms und seine Behandlung. 599
bei einem Neugeborenen Darmverschluss beobachtet, der durch
einen Volvulus des MeckeTschen Divertikels erzeugt war. Wäre
der Volvulus schon einige Zeit vor der Geburt aufgetreten und
hätte er zur Nekrose geführt, so wäre bei der Geburt einfach eine
Dünndarmatresie gefunden worden. Sucht man die Ursache des
Verschlusses in anderer Richtung, so kommt hauptsächlich eine
innere Einklemmung in einer der Fossae coecales in einem Mesen-
terialschlitz oder -Loch u. dgl. in Betracht. Doch es hat keinen
besonderen Zweck an dieser Stelle solchen und ähnlichen Ver-
muthungen und theoretischen Erörterungen weiter nachz\igehen.
Wichtiger ist für uns die Behandlung des Leidens. Sollen
wir uns mit einer Enterostomi(^ begnügen oder sollen wir die Re-
section oder die Enteroanastomose vornehmen und wie? l^nd wie
soll die Nachbehandlung sein?
Es wird sich das alles zu richten haben in erster Linie nach
dem Kräftezustande des Kindes. Selbstverständlich muss zunrst
die richtige oder wenigstens annähernd richtige Diagnose gestellt
sein, nämlich die, dass es sich um einen höher oben am Darm
sitzenden Verschluss handelt. Man wird sehr selten mit der An-
nahme dieses Leidens fehlgehen, wenn man einem Neugeborenen,
der alle Nahrung und schliesslich auch Meconium erbricht, keinen
Stuhlgang hat, fieberlos ist, und bei dem keine Hernie und keine
Mastdarmatresie und keine Bauchgeschwulst nac^hgewiesen werden
kann, wenn man diesem wohl ein Klystir geben kann, dieses aber,
ohne eine entleerende Wirkung gehabt zu haben, wieder abfliesst.
Jedenfalls soll man mit Rücksicht auf die grosse Wahrscheinlich-
keit der Richtigkeit dieser Annahme nicht mit der Operation zögeni.
Ich unterlasse es, genauer auf die klinischen Erscheinungen des
Leidens einzugehen, da ihre Aufzählung weniger praktischen Werth
hat, als die eben gegebene Zusammenstellung der für die Diagnose
wichtigen Momente. Erwähnen möchte ich nur noch, dass der
Leib nicht stark aufgetrieben zu sein braucht, sondern auch weich
und leicht eindrückbar gefunden wurde, wie z. B. in dem oben
mitgetheilten Falle von Carini.
Die Eröffnung des Leibes wird man am praktischsten an der
Stelle der stärksten Auftreibung, und wenn eine Auftreibung fehlt,
in der Mittellinie vornehmen. W^rd nun eine Atresie des Ileum
gefunden, so würde ich bei grosser Schwäche des Kindes die En-
40*
600 Dr. F. Franke,
terostoniie für geboten halten, weil in solchem Falle erst die In-
dicatio vitalis zu erfüllen ist und von der Enterostomie am sicher-
sten erfüllt wird. Bei kräftigen Kindern darf man aber, ja muss
man einen Schritt weiter gehen, denn die Enterostomie ist doch
nur ein trauriger Nothbehelf und unter Umständen, wenn die
Atresie sehr hoch sitzt, sogar ein recht mangelhafter, ja selbst
ganz ungenügender. Denn im letzteren Falle, die Atresie sitze
etwa im obersten lleum oder gar im Jejunum, lässt der angelegte
Kunstafter den Speisebrei wieder zu zeitig austreten, sodass das
Kind infolge von mangelhafter oder ungenügender Ernährung zu
Grunde geht. Aus diesem Grunde muss man sich über den un-
gefähren Sitz der kranken Stelle zu vergewissern suchen und muss
bei hochsitzender Atresie unter allen Umständen die Enterostomie
durch ein besseres Verfahren zu ersetzen suchen.
Die Resection mit folgender circulärer Darmnaht wird wohl
kaum jemals auszuführen sein, da ja die Lichtungen der beiden
Darmtheile stets so ungeheuer ungleich sind. Man könnte allen-
falls daran denken, ob sich eine Vereinigung nicht leidlich bequem
würde dadurch herstellen lassen, dass man das untere Darmende
nach der queren Durchtrennung noch der Länge nach etwas auf-
schlitzt und die so entstandenen Ecken abrundet, darauf aber an
dem oberen Darnitheil über seinen Pol weg einen Schnitt so lang
führt, dass jene beiden Lippen mit denen dieses Darmtheils sich
glatt vereinigen lassen.
Richtiger ist es aber wohl, diese Künsteleien zu lassen und
lieber die Enteroanastoniose vorzunehmen. Sie lässt sich freilich
auch nicht leicht ausführen, da man mit den feinsten Nadeln und
der feinsten Seide arbeiten muss und man es an dem absteigenden
Darmtheil wegen seiner geringen Dicke mit einem nur eine geringe
Vereinigungsfläche bietenden Organe zu thun hat. Eine zweireihige
Naht wird sich nur selten auf beiden Seiten der Anastomose an-
bringen lassen. Dann aber dürfte für die eine Seite, welche nur
eine einreihige Naht besitzt, das von mir angewendete Verfahren
Nachahmung verdienen, Herumschlagen und Aufnähen des freien
Endes des Zwischenstrangs. Die Anastomosenöffnung am ab-
steigenden Darmtheil soll mindestens 10 cm weit von der Strictur
sitzen.
Dann bleibt von dem Strang genug übrig für den beabsich-
(Job. den angeborenen Verschluss des Dünndarms und seine Behandlung. 601
tigten Zweck. Die üebernähuDg, überhaupt die ganze Naht rauss
mit der peinlichsten Sorgfalt ausgeführt werden.
Soll nun der anastomosirte Darm versenkt und die Bauch-
höhle geschlossen werden? Ich möchte davon mit Rücksicht auf
die von mir gemachte Erfahrung abrathen. Hätte ich durch die
z. Th. ofifen gelassene Bauchwunde einen Jodoformdocht an die
Anastomosenstelle geführt und womöglich diese Stelle durch eine
das Mesenterium fassende Naht an die innere Bauchwandfläehc
angeheftet, so hätte das Kind mit grosser Wahrscheinlichkeit keine
Peritonitis, sondern nur eine Darmfistel bekommen, die allmählich
von selbst geheilt wäre oder später mit grösserer Sicherheit hätte
geschlossen werden können. Eine offene Bauchwunde aber lässt sich
bei einem so kleinen Kinde mit grosser Sicherheit aseptisch erhalten.
Doch nicht nur die Operation und Wundversorgung, auch die
Nachbehandlung ist für das Leben des Kindes von grosser Bedeutung.
Auch in dieser Beziehung hat mein Fall mir eine wichtige Lehre er-
thoilt, wie ich oben schon angedeutet habe. Selbst bei tief unten in der
Nähe des Blinddanns sitzender Dünndarmatresie kann bei reich-
lichem Milchgenuss dicker, noch unverdauter Käsebrei gerade in den
ersten Tagen nach der Operation an die operirte Stelle gelangen,
weil dass Kind mit grosser Gier trinkt, der Magen infolge dessen
leicht überladen wird und sich vielleicht leichter und eher nach
dem Dünndarm hin entleert, weil aber ausserdem in den ersten
Tagen nach der Operation eine lebhafte Peristaltik besteht, die
den Speisebrei schnell nach unten schafft. Dieser dicke Brei kann
die Anastomosenstelle verstopfen und, vorgedrängt durch die leb-
hafte Peristaltik, die Naht bezw. die Darmvereinigung zum Platzen
bringen. Ich würde es daher für richtig halten, dass das betr.
Kind in den ersten 4 — 6 Tagen nur Schleimsuppen bekommt event.
mit geringem Milchzusatz.
Ich habe diese Mittheilung gemacht, weil ich sie nicht, für
ganz unnütz halte, da nach den Veröffentlichungen der letzten
Jahre die angeborenen Stenosen und Atresien des Darms, auch
des Dünndarms, doch nicht so selten zu sein scheinen, als der
Einblick in die frühere Littoratur es erwarten lässt, und ihre Be-
handlung noch der Besprechung bedarf.
XXXVI.
Inhumane Kriegsgeschosse/)
Von
Professor Dr. won Bruns
in Tübingen.
Vor Kurzem ist von dem englischen Chirurgen Davis in der
verbreiteten Wochenschrift ^British medicalJournal*^ (17. Dec. 1897)
eine Mittheilung über die neuesten Gewehrprojeclilc erschienen,
wie sie von den englischen Truppen in ihrem jüngsten indischen
Grenzkriege im Tschitral in Anwendung gezogen worden sind. Die
englischen Soldaten führen das Lee-Metfordgewehr, das unserem
deutschen Ordonnanzgewehr M. 88 im Ganzen ähnlich ist. Das
Geschoss, von 7,7 mm Caliber, hat Bleikern und Nickelmantel.
Wie Davis berichtet, konnten die englischen Truppen mit diesen
Geschossen die Feinde in ihrem wilden Ansturm nicht aufhalten,
und so kamen die Soldaten auf das „practische und ingeniöse"
Verfahren, die Spitze des Nickelmantels durch Reiben mit scharfen
Steinen abzufeilen, um den weichen Bleikern hervortreten zu lassen.
Nun hatten diese Geschosse, welche sie „VVeichnasen" nannten,
den gewünschten Effect. Denn beim Durchdringen des Körpers
staucht sich der Bleikern pilzförmig und sprengt den Mantel oder
zerspritzt und bewirkt „wahrhaft grausame Verwundungen."
Nach diesem Vorgange wurden seither in der Munitionsfabrik
Dum-Dum derartige Geschosse hergestellt, welche den berüchtigten
Namen „Dum-Dumkugeln" erhalten haben. Sie haben einen dünneren
Nickelniantel und kurze Bleispitze und erzeugen so schreckliche
1) Abgekürzt vorgetragen <ani 4. Sitzungstage des XXVII. Congresses der
Deutschen (lesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 16. April 1898.
Inhumane Eriegsgeschosse. 603
Wunden, dass sie, wie Davis meint, in einem europäischen Kriege
wahrscheinlich verboten würden. Vorerst sind sie „im Truppen-
versuch gegen die Grenzstämme.**
So weit der englische Berichterstatter. Bisher war nur be-
kannt, dass bei der Jagd auf Hochwild gelegentlich solche Mantel-
geschosse mit Bleispitze (Halbmantelgeschosse) verwendet werden.
An ihre Verwendung im Kriegsfalle hatte man bisher offenbar
noch nicht gedacht.
Die Wirkung dieser Geschosse kann ich Ihnen an einer Reihe
von Schusspräparaten vor Augen führen. Sie stammen von Schiess-
versuchen, die ich gemeinsam mit meinem Assistenzarzt, Herrn
Dr. Wendel, angestellt habe. Wir verwendeten Mantelgeschosse
mit kurzer Bleispitze (von 5 mm Länge). Mit diesen w'urde auf
25 — 50 m Entfernung aus dem Ordonnanzgewehr M. 88 mit voller
Ladung geschossen.
Diese Nahschüsse sind kaum mehr als Gewehrschuss-
wunden zu erkennen, sondern gleichen denen durch
grobes Geschütz. Haut, Weichtheile und Knochen sind in
weiter Strecke zerrissen, zerfetzt und zersplittert, dazu noch ganze
Stücke herausgeschlagen, so dass die Glieder oft nur nur noch
durch Hautstreifen und einzelne Sehnen zusammenhängen.
Ausserordentlich schwer sind schon die einfachen Weich-
theilschüsse. Erinnern wir uns, dass bei den Mantelgeschossen
der Einschuss in der Haut durchschnittlich 7 — 8, der Ausschuss
9 — :10, höchstens 15 mm beträgt, sowie, dass der Schusscaital in
den Muskeln eine cylindrische Röhre von etwas grösserem Durch-
messer als das Geschosscaliber bildet.
Dagegen lässt ein Schuss quer durch die Musculatur an der
Innenseite des Oberarms gar keinen Ein- und Ausschuss erkennen,
vielmehr ist die Haut in der ganzen Länge des Schusses quer ge-
platzt und zugleich durch mehrere Längsrisse in schmale Streifen
und Fetzen zertheilt, so dass ein handbreiter Defect besteht. Die
Musculatur ist mehrere Finger breit zertrümmert, die Gefässo und
Nervenstämme zemssen, die Wunde klafft 11 cm breit bis auf den
unversehrten Knochen.
Bei einem Schuss quer durch die Musculatur an der I Unter-
seite des Oberschenkels ist ein runder Hauteinschuss von 11 mm
Durchmesser vorhanden, der Ausschuss bildet einen stark klaffenden
604 Dr. von Bruns,
Längs- und Querriss von 12 und 13 cm Länge, wie nach einem
Kreuzschnitt, und der Schusscanal in den Muskeln zeigt eine
gänseeigrosse Zertrümmerungshöhle.
Ein anderer Schuss traf den Oberschenkel bei knieender
Stellung in der Längsa(»hso. Der Schusscanal verläuft 46 cm lang
in den Weich theilen der Aussenfläche: seine untere Hälfte bildet
eine handbreit klaffende Platzwunde der Haut und Musculatur, in
deren Grund der Knochen entblösst, aber unversehrt daliegt. Die
obere Hälfte des Schusscanals ist für 3 Finger durchgängig, das
Geschoss ist pilzförmig gestaucht.
So kommt also schon bei den einfachen Weichtheil-
schüssen eine kolossale Sprengwirkung zur Geltung, wäh-
rend die Mantelgeschosse aus demselben Gewehr fast gar keine
Sprengwirkung in der Haut und den Muskeln entfalten. Die Haut
platzt in mehreren parallelen Längsrissen und wird hierdurch in
Schmale Streifen gespalten, welche zum Theil noch quer zerrissen
sind und dann als Fetzen in die Wunde hängen. In den Muskeln
entstehen kleinfaustgrosse Zertrümmerungshöhlen und weite Canäle,
welche für 3 Finger durchgängig sind.
Noch weit verheerender ist aber die Sprengwirkung bei den
Knochenschüssen. Ein Schuss drang durch das obere Ende
der Diaphyse beider ünterschenkelknochen von vorne nach hinten.
An der Vorderseite neben der äusseren Tibiakante ist ein runder
Einschuss, an der hinteren Seite ein mehr als mannsfaustgrosses
Loch in der Haut und den Muskeln, mit Weichtheilfetzen, Knochen-
splittern und feinen Geschossfragmenten austapezirt. Die Haut
ist in einer Strecke von 20 cm in Streifen zerrissen und defect,
in derselben Ausdehnung sind die Muskeln zerfetzt. Beide Knochen
sind zersplittert, die Tibia nur durch einen Streifschuss.
Ein anderer Schuss durchdrang den Oberschenkelknochen von
vorne nach hinten oberhalb der Condylen. Am Einschuss zeigt
die Haut einen 13 cm langen Riss, am Ausschuss mehrfache Risse
bis 22 cm Länge. Der Ausschuss bildet einen faustgrossen De-
fect in Haui, Muskeln und Kno(-hen, die Gefässstämme sind zer-
rissen, nur der Nervenstamm ist in seiner Continuität erhalten, der
Knochen in zahllose feine Splitter zerschmettert.
Bei einem Schuss auf den Fussrücken ist von Ein- und Aus-
schuss nichts zu erkennen, sondern im Bereich der Fusswurzel ein
Inhumane Kriegsgeschosse. 605
enormer Befect: die Haut fehlt in der Länge von 10 cm bis auf
einen Streifen an der Innenseite und nur einige Sehnen spannen
sich über den Defect hinüber. Die Fusswurzelknochen sind in
feinste Splitter zertrümmert und zum grösstcn Theil nach aussen
geschleudert, die ganze Ferse hängt lose nach abwärts.
Bei einem Schuss durch das untere Ende des Oberarms ist
an der Hinterseite ein runder Einschuss, an der Vorderseite ein
enormer Defect, so dass der untere Theil des Glieds nur durch
eine 8 cm breite Brücke von Haut und einigen Muskeln zusammen-
hängt. Die Haut ist durch zahlreiche Längsrisse von 7 — 12 cm
Länge gespalten und fehlt in Handbreite über dem ganzen Defect.
In den Muskeln ist ein Zertrümmerungsherd von 4 Finger Breite
und fast in derselben Ausdehnung fehlt der Knochen.
Bei einem Schuss quer durch den Vorderarm hängt der untere
Theil des Gliedes nur noch an einigen schmalen Hautstreifen und
Sehnen, da in der Breite von 3 Fingern die übrigen Weichtheile
und die Knochen vollständig zertrümmert und herausgeschlagen
sind. In der Haut sind mehrere bis 15 cm lange Risse, die Wunde
ist mit Haut-, Muskel- und Sehnenfotzen sowie mit zahllosen
Knochensplittern ausgekleidet.
Diese Ergebnisse unserer Schiessversuche übertreffen noch die
schlimmsten Befürchtungen und zeigen mit erschreckender Augen-
fälligkeit, welch gewaltige Wirkung die einfache Entfernung der
Mantelspitze erzeugt. In der That, die Verletzungen sind
ohne jeden Vergleich schwerer als alle bisherigen Ge-
wehrschusswunden.
Die Ursache liegt auf der Hand: zu der enormen Anfangs-
geschwindigkeit der kleincalibrigen Geschosse gesellt
sich die Weichheit derselben. Das Blei deformirt sich im
höchsten Grade und zerspritzt — daher die furchtbare Spreng-
wirkung in den harten und ganz besonders in den weichen
Körpergeweben. Sind doch schon die einfachen Fleischschüsse
grosse Platzwunden der Haut mit Zertrümmerungshöhlen der Mus-
keln, weil sich schon beim Durchdringen der Muskeln das Blei
staucht.
Diese Deformirung des Geschosses erfolgt in ganz
regelmässiger Weise: Die Bleispitze staucht sich und sprengt den
Mantel von vorne her in 2—3 mm breite Streifen, welche an
606 Dr. von Bruns,
ihrem hinteren Ende im Zusammenhang bleiben und sich nach
hinten umroUen. Beim AuftrefiFen auf harte Knochen zerspritzt
das Blei und zerschellt der Mantel in kleine und kleinste Frag-
mente, die im Röntgen -Bild über die ganze Wunde zerstreut
sind. Diese Dcformirung des Geschosses beeinträchtigt natürlich
in hohem Grade die Durchschlagskraft: sie ist bei Nahschüssen
in Holz um das Vierfache geringer als bei den Mantelgeschossen.
Bei Fernschüssen nimmt daher die Wirkung erheblich ab und ist
den Mantelgeschossen unterlegen.
Die Ergebnisse unserer Schiessversuche lehren aber auch zur
Evidenz, welch hohe Bedeutung den Mantelgeschossen in humani-
tärem Sinne zukommt. Dürfen wir uns auch nicht verhehlen, dass
ihre Einführung mit dem Kleincaliber nur aus rein technischen
Gründen erfolgt ist, so hat doch die Härte und geringe Deformir-
barkeit des Stahlmantels die Nachtheile der gesteigerten Geschwin-
digkeit so weit auszugleichen vermocht, dass zwar nicht in den
Knochen, wohl aber in den Weichtheilen die Zerstörung durch
Sprengwirkung entschieden herabgemindert worden ist. In diesem
Sinne habe ich die viel angefochtene Bezeichnung „humane" Ge-
schosse gebraucht — sie ist heute mehr als je gerechtfertigt, denn
den englischen Soldaten sind sie ja allzu human und diese haben
wieder die alten Bleigeschosse verlangt, um den Feind sicher
niederzustrecken. Vollends gerechtfertigt ist aber die Bezeichnung
„human" gegenüber den neuesten Geschossen, welche sogar ent-
gegen den technischen Rücksichten und auf Kosten der Durch-
schlagskraft lediglich zu dem Zwecke construirt sind, um die
Verletzungen schwerer zu gestalten. Das sind inhumane Ge-
schosse, welche wahrhaft grausame Wunden erzeugen!
Wir sind damit zu dem wichtigsten Punkte unseres Gegen-
standes gekommen, nämlich zu der Frage des völkerrechtlichen
S<!hutzes gegen die Verwendung kleincalibriger Geschosse mit Blei-
spitze. Es liegt ja die Befürchtung nahe, dass in einem künftigen
Kriege solche Geschosse mitgeführt oder von den Soldaten her-
gestellt werden, und gegen die Verwendung von soliden Blei-
projectilen hat noch niemals ein Verdict bestanden. Die einzige
auf die Gewehrprojectile bezügliche internationale Vereinbarung ist
die Convention von St. Petersburg aus dem Jahre 1868, welche
zwischen sämmtlichen europäischen Mächten abgeschlossen worden
Inhumane Kriegsgeschosse. 607
ist. Sie verbietet in einem Kriege zwischen diesen Mächten Ge-
schosse von weniger als 400 g Gewicht zu verwenden, welche ex-
plosibel oder mit entzündlichen und brennbaren Stoffen versehen
sind^). Wie konnte man aber damals die Fortschritte in der Ge-
wchrconstruction voraussehen, welche eine so enorme Vermehrung
der Anfangsgeschwindigkeit herbeigeführt haben, dass die soliden
Bleigeschosse selbst zu Explosivgeschossen wurden.
M. H. ! Ich bin Ihrer Zustimmung gewiss, wenn ich an dieser
Stelle dem Wunsche Ausdruck gebe, es möchten von der Deutschen
Heeresleitung die Schritte ausgehen, um durch internationale Ver-
einbarung eine Ergänzung der Petersburger Convention in dem
Sinne zu bewirken, dass nur solche kleincalibrige Bleigeschosse
verwendet werden dürfen, welche entweder ganz oder mindestens
an der Spitze mit einem Mantel aus hartem Metall versehen sind.
Allen civilisirten Staaten gilt es ja als ein Gebot der Menschlich-
keit: Die Kugel soll den getroffenen Gegner kampfunfähig machen,
aber nicht immer verstümmeln und tödten.
0 Der Wortlaut ist: „Les parties contractantes s'engagcnt a renoncer
mutuel lernen t, en cas de guerre entrc elles, a Teraploi par leur troupes, de
terre ou de mer, de tout projectile d'un poids inferienr ;i 400 grammes, que
serait ou explosible ou charge de malieres fulminantes ou inflammables*^.
XXXVII.
Ueber Schussverletzungen des Gehirns/^
Von
Professor Dr. Tllmann,
Oberarzt an der Chirurg. Klinik in Oreifswald.
Bei allen Untersuchungen über Schuss Verletzungen haben von
jeher die Schädelschussverletzungen ein besonderes Interesse be-
ansprucht, einerseits wegen der Dignität des von dem Schädel-
knochen eingeschlossenen Organs, andererseits weil die Schädel-
schüsse der theoretischen Erklärung gewisse Schwierigkeiten boten.
Der Schädel ist gewissermassen das Paradigma der Hohlorgane
des Körpers, und fassten alle Erklärungen an dieser Eigenschaft
desselben an. Seitdem durch zahlreiche Schiessversuche bewiesen
ist, dass der enthirnte Schädel beim Beschuss nur Lochschüsse
aufweist, während der Vollschädel in derselben Distanz beschossen
völlig zersprengt wird, weiss man, dass das Gehirn, der Inhalt
des Schädels, dasjenige ist, was die grosse Zerstörung des knöchernen
Schädels bedingt. Die theoretische Erklärung dieses Vorganges
steht nun schon seit Jahren auf der wissenschaftlichen Tages-
ordnung. Am meisten Anklang hat wohl die Theorie des hydrau-
lischen Druckes gefunden, die in dem Sinne ja bestehen bleiben
muss, dass die Gesetze der Fortpflanzung des Druckes in Flüssig-
keiten anwendbar bleiben auf die Zerstörungen des Schädels durch
den Schuss; war aber die.se Theorie im Sinne der hydraulischen
Presse gemeint, so muss sie fallen, da der Schädel kein ab-
geschlossener Hohlraum ist, und die Zerstörung des Schädels selbst
^) Au.sziigsweise vorgetragen am 4. Sitzungstage des XX VII. Congresses
der Deutscheu Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, IG. April 1898.
Ueber Schussverletzungen des Gehirns. 609
Zeichen darbietet, die eine derartige Erklärung nicht zula^jsen. In
dem neuesten grösseren Werke der Medicinal- Abtheilung des
preussischen Kriegsministeriums wurde dann die Theorie des hydro-
dynamischen Druckes, und endlich in dem neuesten Werke des
Prof. Köhler^) wird die Theorie aufgestellt, dass die Explosiv-
erscheinungen bei Schädelschüssen auf keilförmiger Zerstörung des-
selben beruhe; dieser Vorgang werde dadurch ermöglicht, „dass
gegenüber der Geschwindigkeit des Geschossfluges die Wasser-
theilchen des Schädelinhalts ihre Labilität nicht bethätigen können".
Aber nicht nur theoretisches, auch ein hervorragend prac-
tisches Interesse haben die Schädelschussverletzungen. Diese beiden
Seiten des Interesses ergänzen sich sogar gcwissermassen. Während
die Theorie sich vorwiegend mit der Erklärung der sog. Explosiv-
schüsse befasst, würdigt die Praxis gerade die leichtesten Ver-
letzungen, die, welche in ärztliche Behandlung kommen, die Friedens-
schussverletzungen, welche meist durch Revolver bei Selbstmord-
versuchen gesetzt sind. Diese wiederum sind nicht wesentlich
verschieden von den Schädelschüssen, die im Feldzug in ärztliche
Behandlung kommen werden. Wir wissen, dass bis über 2000 m
alle durch unser Infanteriegewehr gesetzten Schädelschüsse wohl
tödten werden, und erst bei 2500 m, wo auch das Infanterie-
geschoss im Schädel stecken bleibt, kann man hoffen, den Ver-
letzten in ärztliche Behandlung zu bekommen, und die Verletzung,
die der Schädel dann zeigt, ist im Grossen und Ganzen dieselbe,
wie sie durch ein Revolvergeschoss hervorgerufen wird. Nun ist
man ja, durch klinische Erfahrung geschult, in der Lage, aus den
Symptomen die Prognose und Therapie im Allgemeinen herzuleiten,
es fehlt aber bis jetzt doch eine klare sichere Vorstellung von der
anatomischen Läsion, die wir uns am Gehirn vorzustellen haben.
Während Klebs^) vollkommen glatte, nicht mit Blut verunreinigte
Schusscanal Wandungen sah, constatirte von Bergmann in den
Wandungen des collabirten Schusscanals zahlreiche kleine Extra-
vasate. Letztere Beobachtung ist auch andererseits vielfach be-
stätigt. Namentlich der letztere Punkt, die Zerstörung des Gehirns
selbst, ist nun gegenüber dem Studium der Knochenzerstörungen
zu sehr in den Hintergrund getreten, deshalb habe ich, um über
*) Die modernen Kriegswaflfen. Berlin, Verlag von Enslin 1897.
2) Kleba cit. nach v. Bergmann, Kopfverletzungen 1880.
610 Dr. Tilmann,
diese Punkte Klarheit zu erhalten, schon seit Jahren Schiess-
versuchc angestellt. Von dem Studium der ausgedehnten Hirn-
Zerschmetterungen rausstc füglich abgesehen werden, und wählte
ich gerade die geringgradigsten Zerstörungen des Hirns zum
Studium. Alle Versuche wurden angestellt mit einem 9 mm
calibrigen Revolver, der, wie ein Vorversuch lehrte, beim Beschuss
des menschlichen Schädels die erste Knochenwand durchbohrte,
das Hirn durchdrang und gegen die gegenüberliegende Knochen-
wand anschlug, ohne sie noch durchbohren zu können. Bohrte
ich ein Trepanationsloch, und schoss durch dieses, so war das
Geschoss auch noch in der Lage; die Ausschusswand des Schädels
durchbohren zu können. Vor Allem kam es mir darauf an, sicher
zu sein, dass das Gehirn in ganzer Länge vom Geschoss durchs
bohrt würde. Beschoss ich mm mit diesem Revolver das aus dem
Schädel herausgenommene Gehirn, so flog dasselbe vollkommen
auseinander, ganze Hirnt heile, einzelne Spritzer flogen nach allen
Seiten, und es war mir nicht möglich, das Gehirn wieder voll-
kommen zu reconstruiren. Um dies zu vermeiden, wickelte ich
nun das Hirn in ein Tuch, und beschoss es nun wieder. Ein ein-
faches Leintuch genügte nun, um das Explodiren des Gehirns zu
hindern; dieses Tuch zeigte nun aber an der Stelle, mit der es in
2 Lagen die Ausschussstelle bedeckte, in beiden Lagen Risse, die
sich kreuzten und je 10 cm lang waren. Nahm ich nun ein stär-
keres Tuch, das für die Kugel kein nennenswerther Widerstand
war, so fehlten auch diese Risse im Tuch. Nun bedeckte ich das
Gehirn mit einem abgesägten Schädeldach. Dieses wurde beim
Beschuss vom Gehirn abgehoben, was klar daraus hervorging, dass
der Einscihuss im Knochen sich nicht mit dem Einschuss im Hirn
deckte, sondern etwa 2 cm höher stand. Noch ausgesprochener
war dieses Symptom des Abhebens des bedeckenden Schädeldachs,
wenn der Schuss durch ein in diesem schon vorhandenes Trepa-
nationsloch hineingesandt wurde. In letzterem Falle traten auch
Risse bis zur Hirnrinde im Gehirn auf, entsprechend der Richtung
des Schusscanals, sonst fand aber keine Zersprengung des Gehirns
statt. Da nun aber die Möglichkeit vorlag, dass das an der Aus-
schussseite gegen das deckende Schädeldach anschlagende Geschoss
diese Hebung veranlasst habe, so bedeckte ich nunmehr nur eine
Hälfte des Gehirns mit einem halben Schädeldach, so dass das
Ueber Schussverletzungen des Gehirns. 611
Geschoss nach Durchbohrung des Gehirns den Knochen nicht mehr
traf. Aber auch hier dasselbe Bild. Der Knochen wurde ab-
gehoben, sodass der Knocheneinschuss dem Hirneinschuss nicht
mehr entsprach. Legte ich die Knochenschale auf die Ausschuss-
seite und schoss direct in das Gehirn, so explodirte das Gehirn
wiederum, indem seine Theile nacli allen Seiten flogen. Hier ent-
steht die Frage, wo bleibt die Kraft, die das Gehirn ohne Um-
hüllung auseinander sprengt, wenn dasselbe durch eine Umhüllung
oder Bedeckung daran gehindert wird. Die Risse im Tuch, vor
xMlem aber das Abheben der Knochenschalen, deuten darauf hin,
dass das Gehirn beim Beschuss gedehnt wird, dass vorübergehend
in der auf die Geschossaxe senkrecht stehenden Ebene das Gehirn
ein grösseres Volumen einnimmt; dass also mit andern Worten die
Himtheile radiär vom Schusscanal geschleudert werden, aber durch
die Umhüllung bezw. durch die Bedeckung gehindert, wieder
zurückfliegen. Um nun zu beweisen, dass thatsächlich eine solche
vorübergehende Dehnung stattfinde, bediente ich mich der Electri-
cität. Senkrecht zur Richtung des Schusses brachte ich zwei
Electroden einer starken galvanischen Batterie an, in welche ich
ein sehr empfindliches Galvanometer einschaltete; die Electroden
wurden in verschiedener Entfernung vom Gehirn gehalten. Dieses
selbst war in ein dünnes feuchtes Leintuch gehüllt. Die Versuche
hatten nun das interessante Resultat, dass thatsächlich bei einem
Abstand von je 4 mm ein Ausschlag der Nadel erfolgte. Damit
war der Beweis geliefert, dass thatsächlich beim Beschuss das
Gehirn vorübergehend radiär vom Schusscanal gedehnt und aus-
einander gesprengt wird. Die Gewalt, mit der diese Explosion —
denn so kann man es doch nennen — stattfindet, ist indess eine
so geringe, dass schon eine Umhüllung mit einem Tuch genügt,
um die Theile zusammen zu halten. Das Bestreben derselben,
auseinander zu fliegen, äussert sich aber in einer Dehnung des
Hirns, deren Grösse abhängig ist von der Festigkeit des Tuches
und der lebendigen Kraft der Theilchen des Gehirns.
Diese Veränderungen bezw. Einwirkungen auf das Gehirn beim
Beschuss sind nun mehr grob anatomisch, die nächste Frage ist
natürlich die, wie sieht es im Inneren des Gehirns aus. Die
Untersuchung der durchschossenen Gehirne hat in allen Fällen
nicht frisch, sondern nach Härtung in 5 — lOproc. Formollösung
612 Dr. Tilraann,
stattgefunden, eine Methode, die ich sehr empfehlen kann, da die
Organe schon wenige Tage nach dem ßeschuss bequem untersucht
werden können.
Das cxplodirte Gehirn zeigte einen klaffenden breiten Spalt
vom Hinterhaupt bis zur Stirn, der der Schussrichtung entsprach;
derselbe war nach der Convexität zu offen, nach der Basis, mit
der das Gehirn aufgelegen hatte, geschlossen. Die freiliegenden
Hirntheile waren oberflächlich zertrümmert, sonst nichts Besonderes.
Alle übrigen Schusscanäle theilen sich in 2 Klassen, 1. diejenigen,
die von Gehirnen herrühren, bei denen das Geschoss, bevor es in
das Hirn drang, erst noch einen Knochen durchbohrt hat, 2. die,
bei denen das Geschoss mit ungemilderter Kraft das Gehirn traf.
Die Resultate, die ich erhielt, sind, da ich stets mit dem-
selben Revolver und den gleichen Patronen schoss, und auch fast
stets die gleiche Schussrichtung wählte, so identisch, dass es hier
wohl. genügt, wenn ich einige ProtocoUe mittheile.
Schuss aus 10 cm Entfernung auf ein in ein Tuch eingewickeltes Gehirn.
Schussrichtung quer vom linken zum rechten Scheitelbein.
Einschuss im Tuch stellt einen runden Defect mit zerfasertem Rande,
etwa 9 mm gross, dar. Die Fasern ragen in die Schussöffnung des Gehirns
hinein. Der Ausschuss ist ein 10 mm grosser Defect, dessen Ränder von innen
nach aussen umgeschlagen sind.
Die Pia mater ist am Einschuss unregelmässig zerrissen, und zeigt einen
Defect von 20—30 mm Durohmesser. Am Hirnausschuss ist die Pia in einer
Ausdehnung von 30—40 mm zen*issen.
Die Untersuchung des Schusscanals ergiebt zunächst, dass ein klaffender
Schusscanal mit einem bestimmten Lumen nicht vorliegt, sondern dass es sich
im vorliegenden Falle um einen röhrenförmigen Defect handelt, der mit krüm-
liger Hirnsubstanz angefüllt ist. Der Einschuss ins Gehirn stellt einen 25 mm
im Durchmesser betragenden unregelmässigen Defect dar.
In 2 cm Tiefe ist der Schusscanal 28 X 25 mm weit, die Wandung zeigt
etwa 4—5 mm tief eine verminderte Festigkeit des Gewebes, sowie zahlreiche
radiär gestellte streifige Risse in die Hirnsubstanz, die sich etwa 3—4 cm weit
fortsetzen.
In 3 cm Tiefe ist der Befund im Allgemeinen derselbe. Der Zertrümme-
rungsbezirk beträgt 25 X 40 mm.
In 6 cm: 40 X 30 mm grosser Zertrümmerungsbezirk. 5 mm tiefe Zer-
klüftung und Auflockerung des Gewebes, dann noch 2—3 cm lange Risse in
die Hirnsubstanz, die nicht klaffen.
In 9 cm : 20 X 25 mm grosser Defect mit krümeliger Hirnsubstanz gefüllt.
Einzelne (2 deutliche) Risse in der Hirnsubstanz.
In 11 cm: dasselbe Bild wie bei 9 cm.
Ueber Schussverletzungen des Gehirns. 613
In 13 ein: Zertrümmerungsbezirk 10Xli>^ni. Keine sichtbaren Ein-
risse in die Hirnsubstanz. Aeusserst geringe oberflächliche Zermalmung,
In 15 cm : Schusscanal 10 mm im Durchmesser.
In 16 cm : Ausschuss.
Das zweite Gehirn wurde beschossen, ira Vollschädel an der
Leiche.
Kräftige männliche Leiche. Einschuss an der linken Stirn, Ausschuss
am linken Hinterhaupt.
Der Knocheneinschuss stellt eine kreisrunde OelTnung dar, von 10 mm
im Durchmesser, die in der Lamina interna 15 mm beträgt. Am linken Hinter-
haupt sieht man einen schwarzen Punkt auf der Dura mater, der der Stelle
entspricht, wo das Geschoss das Gehirn verlassen hat. Die Kugel selbst aber
liegt 3 cm tiefer auf dem Tentorium cerebelli, muss also an der bezeichneten
Stelle abgeprallt sein.
Die Pia mater ist am Einschuss in 23 X ^7 mm Ausdehnung zerrissen,
am Ausschuss in 20/25 mm.
Hirneinschuss 15 mm hoher, 10 mm breiter Zertrümmerungsherd, in
welchem Knochensand und Knochensplitter eingesprengt sind. Der Ausschuss
stellt ein kleines, 9 mm im Durchmesser betragendes Loch vor, mit drei seit-
lichen, 12, 5 und 7 mm langen Einrissen in die Ilirnsubstanz.
Der Schusscanal selbst ist gefüllt mit Hirnkrümel, seine Wandungen sind
oberflächlich gequetscht, bis 6 cm Tiefe ist Knochensand eingesprengt. Die
Weite des Schusscanals beträgt:
in 2 cm Tiefe 15/20 mm
n '^ »7 11 1^/19 ji
„ 8 „ „ 20/15 „
„ 10 „ „ 21/25 „
bis hierher etwa 2 — 5 mm tiefe, oberflächliche Quetschung der Wände des
Schusscanals, sowie zahlreiche, bis zu 20—40 mm weit zu verfolgende Ein-
risse in die Substanz des Hirns.
In 12 cm Tiefe 15/18 mm
77 ^*^ 77 77 ^^ 77
„ 16 „ „ Ausschuss.
Von besonder(5m Intoresse ist noch folgender Schuss, dessen
ProtocoU ich noch hinzufüge.
Schuss aus 20 cm Entfernung auf ein mit einem Schädeldach bedecktes
Gehirn.
Schussrichtung vom linken Hinterhauptshöcker zum Stirnhöcker.
Die Pia mater ist am Einschuss in einer Ausdehnung von 5/7 cm zer-
rissen. Oberhalb des Einschusses ist die Pia in 7 cm Breite von der Hirn-
oberfläche abgehoben. Diese Abhebung setzt sich fort an die mediale Fläche
der linken Hirnhälfte bis zum Corpus striatum, in einer Breite von etwa 2 cm.
Auch an der rechten Hirnhälfte ist der den Schusscanal deckende Theil der
Hirnoberfläche in 1,5 cm Breite von der Pia mater entblösst.
Archiv fUr klin. Cliirurgle. 57. Bd. Heft Ä. 41
614 Dr. Tilmann,
Am Ausschuss zeigt die Pia einen Defect von 3 cm Höhe und 2,5 cm
Breite.
Am Gehirn ist die Einschussöffnung 20 mm lang, 15 mm breit. In einer
Tiefe von 1 cm vom Einschuss finden sich folgende Veränderungen: Der
Schusscanal hat eine Weite von 10/7 mm. Die Wandung wird durch kräme-
lige Hirnmasse gebildet. Ein Einschnitt in die Wand zeigt zunächst einen
etwa 3—4 mm breiten Saum auf der Schnittfläche, der von aufgelockerter
Hirnsubstanz gebildet wird.
In 5 cm Tiefe hat der Schusscanal eine horizontale Ausdehnung von
12 mm, während die verticale 8 mm beträgt. An dem Schusscanal befindet
sich ein Bezirk von zertrümmerter Hirnmasse von 20/25 mm, und zwar ist
diese Zertrümmerung besonders stark ausgesprochen in den grauen Hirnknoten
am Boden des Seitenventrikels, welche das Geschoss seitlich gestreift hatte.
In der weissen Hirnsubstanz ist diese Zerstörung weniger stark ausgesprochen.
In 7 cm Tiefe: In der Richtung nach oben vom Schusscanal ziehen zahl-
reiche radiär gestellte kleine Spalten etwa 3 — 4 cm weit. Nach unten reicht
diese Zertrümmerung nur bis zur nächsten Furche, die benachbarte Hirnwin-
dung ist unversehrt. Der Zertrümmerungsherd hat eine Ausdehnung von
15/12 mm.
In 8 cm Tiefe ein Knochensplitter. Schusscanal 10/8 mm.
In 12 cm: Schusscanal 11/7 mm, auch hier lässt ein Einschnitt in die
\Vand eine Auflockerung des Ilimgewebos erkennen, jedoch nur sehr schmal
und wenig ausgesprochen. Hisse und Sprünge ins Gewebe fehlen.
In 15 cm verläuft der Schusscanal nur in der weissen Substanz, seine
Weite beträgt 4/8 mm. In der Umgebung vereinzelte Risse.
In 16 cro Tiefe 5/2 mm, ebenfalls einzelne Risse.
Das Bild, das wir von dem Hirnschusscanal durch die vor-
stehenden Protocolle bekommen, ist ein im Allgemeinen einheit-
liches. Dun^hweg ist bemerkenswedh eine Zunahme der zerstörten
llirnpartien vom Einschuss bis etwa zur Mitte des Schusscanals,
dann eine Abnahme bis zum Ausschuss derart, dass der Hirn-
ausschuss kleiner ist, wie der Hirneinschuss. Danach würde der
Schusscanal etwa die Form einer Spindel haben. Der Canal selbst
war erfüllt mit krümeliger Hirnmasse, die Wand des Canals war
zerklüftet, mit Hirnkrümeln bedeckt. Besonders bemerkenswerth
war indess die Betheiligung der benachbarten Hirnpartien bei der
Zerstörung. War die Wandung von weisser Hirnmasse gebildet,
so umgab den Schusscanal mantelförmig eine Zone aufgelockerter
Ilirnmasse, die sich durch quere und schräire Streifung deutlich
von der sonstigen weissen Hirnma^se unterschied. An anderer
Stelle war diese Auflockerung gesteigert zu einer Zerstörung des
Zusammenhanges des Hirngewebes, zu einer Zertrümmerung, und
Ueber Schussverletzungen des Gehirns. 615
hier trat das auffällige Symptom hervor, dass die grauen Kerne,
wenn sie vom Geschoss durchbohrt waren oder dem Sehusscanal
benachbart lagen, mehr und in grösserer Ausdehnung zertrümmert
waren als die weisse Substanz, die an derselben Stelle des Schuss-
canals vielleicht nur eine leichte Auflockerung zeigte. So kam es,
dass man den Eindruck erhielt, als ob inmitten sonst unzerstörter
Hirntheile plötzlich ein Zertrümmerungsherd läge. Ausserdem
fanden sich zahlreiche, meist radiär zum Schusscanal verlaufende
Risse in der Hirnsubstanz, die ja meist nur sehr schwer, oft erst
mit der Lupe zu erkennen waren, aber doch deutlich vorhanden
waren. Man konnte dieselben mehrere Centimeter weit in das
Hirngewebe verfolgen; sie endeten meist in einer Hirnfurcho,
sprangen nie über eine solche auf die anliegende Hirnwindung über.
Bedenkt man, dass das Caliber des Geschosses 9 mm betrug,
so übertrifft das Volumen des Cauals ersteres stets in ganzer
Länge, imr in den letzten Abschnitten desselben entspricht der
Defect dem Caliber oder ist sogar noch etwas kleiner. Die Här-
tung des Gehirns durch Formalin kann höchstens in der Weise
auf die Gestalt des Schusscanals eingewirkt haben, dass derselbe
enger und kleiner erscheint, da das Gehirn bei der Härtung immer*
hin etwas schrumpft. AVir können uns also die wirkliche Zer-
störung noch ausgedehnter vorstellen. Die Hirnmasse ist vom
Geschoss nicht bei Seite geschoben, sondern zerstört und zer-
trümmert, und diese Zertrümmerung betrifft nicht nur die direct
vom Geschoss betroffenen Theile, sondern auch die dicht anliegen-
den benachbarten Theilchen, die ebenfalls zerstört und zertrümmert
sind. Die Wand des Schusscanals ist nicht die glatte Wand eines
Rohres, sondern in ihr fest eingesprengt oder aufliegend sind kleine
Hirnkrümel deutlich sichtbar. Im ersten Theil des Schusscanals,
in der Einschussstrecke, ist die Zerstörung der Hirnsubstanz am
ausgesprochensten, sie nimmt an Umfang und Ausdehnung sogar
noch zu, so dass der Durchmesser der zerstörten Hirnpartie bis zu
50 mm beträgt, also das 5 — 6 fache des Geschosseali bers. Diese
Zunahme des Lumens des Schusscanals ist keine absolut gleich-
massige, sondern oft sieht man plötzlich Ausbuchtungen des Canals,
für die ein directer Grund nicht zu finden. Im Allgemeinen be-
trägt der Einschussdefect 10 — 25 mm. Der Canal zeigt im Beginn
dieselbe Weite, nimmt dann bis etwa zur Mitte an Durchmesser
41*
616 Dr. TilQiann,
zu, bis 30 — 50 mm, dann bemerkt man eine Abnahme des Durch-
messers bis zum Ausschuss, der 9 — 15 mm beträgt.
Dieser Schusskanal stellt nun die Hirntheilc dar, die durch
das Goschoss direct oder indirect völlig zerstört werden, so dass
nur Hirnkrümel, oder richtiger gesagt, am ungehärteten Gehirn
„Hirnbrei" übrig bleibt.
Nun ist aber noch eine zweite Zone, oder besser gesagt, ein
zweiter Grad der Zerstörung deutlich vorhanden. Das sind die
den Schusskanal umgebenden oder in seiner nächsten Nähe liegenden
Hirntheilc, die eine Auflockerung ihres Gewebes oder sogar eine
geringgradige Zertrümmerung zeigen, die man wohl als Quetschungs-
herde auffassen könnte, und die vorwiegend der grauen Hirn-
substanz, dem Hirnknoten angehören, in der weissen dagegen
weniger deutlich ausgesprochen sind. Man kann diese Zone der
Geschosseinwirkung nicht bestimmt abgrenzen und beschränken,
da die Uebergänge in die unveränderten Himtheile ganz allraälige
sind und bestimmte Merkmale fehlen. Sie erstreckt sich bis zu
2 — ^3 cm in da.s um den Schusskanal liegende Gewebe hinein.
Damit ist nun aber die Geschosseinwirkung auf das Gehirn
noch nicht erschöpft. In der weiteren Umgebung des Schusskanals
sieht man im Hirngewel)e zahlreiche Risse und Sprünge, die an
den Stellen, wo die Formalinflüssigkeit hat eindringen können, als
deutliehe feine Striche erscheinen, die unregelmässig, aber meist
radiär vom Schusskanal verlaufen in das Himgewebe hinein. Sie
sind am deutlichsten zu sehen bei Schnitten senkrecht auf die
Axe des Schusskanals. Sie verlaufen bis zu 5 cm in das Him-
gewebe hincMU, endigen entweder blind, oder an der Oberfläche
einer Hirnwindung, ohne indess jemals auf die jenseits der Hirn-
furche liegende Windung überzuspringen. Besieht man die Schnitt-
fläche mit einer Lu|)e, so sieht man noch mehrere feinere Spining-
linien im zarten Hirngewebe, die ebenso verlaufen, wie eben be-
schrieben. Es lag nahe, anzunehmen, dass in diesen weiter vom
Schusskanal abliegenden Regionen am lebend beschossenen Gehirn
sich durch Gefässzerreissungen und Blutungen noch handgreiflichere
Symptome finden liessen. Die bisher bei Obductionen erhobenen
Befunde haben nun darin zweifelsfreie Befunde nicht ergeben.
Entweder waren die Zerstörungen so kolossale, dass von einem
Studium der einzelnen Zerstörungen Abstand genommen werden
Ueber Schussverletzungen des Gehirns. 617
musste, oder die vitale Reac^tion, die Entzündung, das Oedem, die
nachträgliche Blutung, sowie endlich die cadaverösen Veränderungen
zwischen Tod und Obduction hatten das Bild so verwischt und
verändert, dass eine Feststellung von Einzelheiton schwer war.
Deshalb griflF ich zu dem Mittel, möglichst grosse Hunde durch
Schuss mit meinem beschriebenen Revolver zu tödten, sofort nach-
her das Gehirn zu entnehmen und nach Härtung in Formalin zu
untersuchen. •
Eins der gewonnenen Protocolle lautet:
Der Hund wurde durch einen Schuss quer durch den Kopf getödtet: der
Schädel wird sofort geöffnet, das Gehirn herausgenommen und gehärtet. Bei
der Besichtigung und Section ergab sich Folgendes:
Der Hauteinschuss stellt einen Vo nim gi'ossen Defect dar. Im M. tem-
poralis ein etwa 10 mm im Durchmesser betragender Defect, die. Umgebung
der Musculatur ist in 3 cm Länge und 2,5 cm Breite blutig durchtränkt.
Der Knocheneinschuss in der linken Schläfenschuppe ist ein 10 mm im
Durchmesser betragendes Loch. Von ihm geht eine Fissur nach vorne, eine
zweite nach der Basis, eine dritte nach hinten. Auf der rechten Schläfenbein-
schuppe liegt der ^^20 mm grosse Ausschussdefect. Von ihm verlaufen fünf
radiäre^ Fissuren nach allen Richtungen des Schädeldaches. Hinter dem Aus-
schuss in der Musculatur ein ^^/^q mm im Durchmesser haltender Schusskanal,
in dem Hirnthcile und Knochensplitter eingesprengt sind. Die Musculatur ist
in 2 cm Umgebung blutig imbibirt.
Am Hirneinschuss ist die Pia in ^Vas mm Ausdehnung abgelöst, die
oberflächliche Hirnschicht ist zertrümmert.
In 1 cm Tiefe besteht in der Hirnsubstanz ein 10 mm im Durchmesser
betragender Defect, der mit Hirnkrümel angefüllt ist. Die AVandung ist braun-
schwarz, enthält ebenfalls viele Hirnkrümel. In der nächsten Umgebung des
Schusskanals sieht man zunächst eine Auflockerung und blutige Durch-
tränkung des Gewebes, dann einzelne Sprünge in das Gewebe.
In 3 cm Tiefe ein 12 mm betragender Defect, Der Kanal streift und er-
ülTnet noch den Seiten Ventrikel. Im Boden desselben eine 3 cm hohe und 2 cm
breite Zone, die eine feste Consistenz zeigt, aber durch zahlreiche Blutpunkte
braun gesprenkelt erscheint. Nach oben zu sind 4 Spalten im Hirngewebe zu
erkennen.
In 5 cm Tiefe: im Pons ein 17 mm breiter, 10 mm hoher Defect. Nach
hinten zu in die Medulla oblongata hinein zahlreiche grössere und kleinere
Blutergüsse in die Substanz der Medulla.
In 7 cm Tiefe: Ein ^^/jj) mm grosser Defect in der ganzen Umgebung
in einer Ausdehnung von 3 — 4 cm zahlreiche Blutj)unkto, ohne dass, ab«resehen
von einer schmalen Zone zerstörter Hirnsubstanz in directer Umgebung des
Schusskanals sonstige Zerstörungen im Gewebe nachweisbar wären. Nur ein
feiner Spalt ist mit der Lupe zu erkennen.
618 Dr. Tilmann,
In 8 cm ist der Ausschuss, der einen ^^/^^ mm grossen Defect darstellt.
Die Pia ist in 50 mm Ausdehnung abgehoben.
Nachträglich wurde der auf gleiche Weise behandelte Quer-
schnitt eines frischen Hundehirns mit dem beschossenen ver-
glichen und fand sich, dass in den Partien, die am durch-
schossenen Gehirn noch als fast normale gegolten hatten, be-
deutend mehr Blutpunkte nachweisbar waren, als in dem
normalen Hirn; und zwar namentlich in der Nähe des Schuss-
kanals abnehmend bis zur Rinde. Beid^Kleinhirne vom durch-
schossenen und nicht erschossenen Hunde zeigten keinen
wesentlichen Unterschied in der Anzahl und Grösse der Blut-
punkte.
Die Obduction der durch Erschiessen von Hunden gewonnenen
Gehirne hat demnach im Wesentlichen dasselbe ergeben, wie die
L'ntersuchung der menschlichen Gehirne. Der Schusskanal stellt
ebenfalls einen Defect, der mit Hirndetritus gefüllt ist, dar. Die
Zone der directen Ilirnzerstörung ist grösser, als die vom Geschoss
unmittelbar getroffenen Theile. In der nächsten Umgebung finden
sich noch Gcwebsqiietschungen, die sich durch zahlreiche Blutaus-
tritte in das Gewebe deutlich raarkiren. Darüber hinaus aber ist
die dritte Zone deutlicher, die sich objectiv durch Vermchning
der Blutpunkte, namentlich in directer Umgebung des Schusskanals
markirt, die nach der weiteren Peripherie zu, der Hirnrinde, all-
mälig abnimmt.
Hiernach liegt also die Berechtigung vor, 3 Grade der Ein-
wirkung auf das Hirn als Folge der Durchschiessung
festzustellen. Zunächst die Zermalmung des Gehirns im
Schusskanal, die Quetschung der nächsten Umgebung
desselben, und endlich eine Art von Erschütterung, die in
der Vermehrung der Blutpunkte, und in feinsten Zer-
reissungen im Hirngewebe ihren Ausdruck findet.
Um nun die Art der Schädigung dieser einzelnen Hifnthcile
zu verstehen, muss man sich ihr Zustandekommen klar zu machen
suchen. Das unbedeckt beschossene (Jehirn explodirt, d. h. grosse
Hirnl heile werden aus dem Zusammenhange herausgeschleudert
und zwar aus der directen Umgebung des Schusskanals. Dies
kann nur dadurch zu Stande kommen, dass das Geschoss den von
ihm getroffenen Hirntheilen Geschwindigkeit mittheilt. Die sehr
labilen Hirntheilchen fliegen zur Seite und treffen dort die ihnen
benachbarten aji, die sie ebenfalls aus ihrem Zusammenhange
lieber Schussverletzungen des Gehirns. 619
reissen, um ihnen ebenfalls Geschwindigkeit raitzulheilen. Die
erste Wirkung ist eine Zertrümmerung auch des nächstliegenden,
zunächst von dem Geschoss nicht getroffenen Hirngewebes. Diese
raitgetheilte und übertragene Kraft kann nun nicht mehr so gross
sein, wie die, welche den zuerst getroffenen llirntheilchcn mit-
getheilt war, deshalb zeigt die zweite Zone nur eine Auflockerung
des GewT.bes. Die Kraft der Hirntheilchcn ist noch nicht erschöpft,
sie pflanzt sich weiter fort, und da der Zusammenhang der
einzelnen Hirntheile ein sehr labiler ist, so fliegt das Hirn aus-
einander. Die Hirntheilchen fliegen 2 m weit. Trotzdem ist die
Kraft, mit der die einzelnen Theile geschleudert sind, keine sehr
grosse, denn schon die Umhüllung des Hirns mit einem Leinwand-
tuch genügt, um die Explosion zu hindern, um die Hirntheile zu-
sammen zu halten. Hieraus geht ohne Weiteres hervor, dass das
ganze Gehirn bei einem Durchschuss direct afficirt und in seinen
kleinsten Molekülen gezerrt wird. Denn ob das Gehirn bedeckt
ist oder nicht, die Schusswirkung auf die einzelnen Theile muss
doch in beiden Fällen gleich sein ; sie kommt nur nicht zur Kennt-
nis» bei dem umhüllten Gehirn. Das Bestreben, das Hirn zu zer-
sprengen, hat eben auch bestanden, d. h. die Hirntheile sind gegen
die Umhüllung angestürmt, prallten aber zurück, da die Festigkeit
des Tuches gi'össer war, als ihre Kraft. Dieses Anstürmen ist
natürlich nur möglich mit einer gewissen Dehnung des Gehirns,
oder besser gesagt einer gewissen Aufblähung, in einer ungefähr
senkrecht zum Schusskanal stehenden Richtung. Nun giebt ja
das Tuch etwas nach, war auch nicht absolut fest umwickelt, kurz
diese Dehnung findet statt, und ihre Existenz ist bewiesen durch
den Versuch mit den electrischen Drähten. Diese Verscliiebung
der Hirntheile ist nur möglich durch eine mechanische Störung der
Hirnmoleküle bezw. ihres Zusammenhanges. Man muss sich die-
selbe wohl vorstellen als eine im Sinne der Zerrung stjitlfindende
Störung, die anatomisch ihren Ausdruck in den kapillaren Blutungen
am Hundehirn findet. Diese* Zerrung ergreift das ganze Gehirn,
verläuft radiär vom Schusskanal nach der Peripherie, ist in der
Nähe des Schusskanals am stärksten und nimmt nach der Peri-
pherie zu ab. Die Kraft, die einwirkt, hat das Bestreben, die
Hirntheile radiär vom Scluisskanal und nach dem Ausschuss zu
gerichtet aus ihrem Zusammenhang zu reissen, hat also, wie ich
620 Dr. Tilmann,
nochmals betone, eine bestimmte Richtung. Natürlich findet dabei
auch ein Anpressen der Hirnoberfläche gegen den sie umhüllenden
Gegenstand, bezw. gegen das Schädeldach statt, das auch als
anatomische Läsion aufzufassen sein dürfte.
Einige weitere Fragen betreffend die Beschaffenheit des Schuss-
kanals sind noch zu lösen. Dass die graue Hirnsubstanz grössere
Zerstörungen zeigt, findet seine Erklärung zunächst in dem grösseren
Blut- und Gefässreichthum derselben, dann in der geringeren
Festigkeit der grauen gegenüber der weissen Hirnmasse. Dani-
lewski^) fand, dass die graue Substanz eine Festigkeit von 1038
gegenüber 1043 der weissen hat.
Weiterhin ist es entschieden auffallend, dass der Hirnschuss-
kanal sich vom Einschuss bis etwa zur Mitte erweitert, dann aber
bis zum Ausschuss sich wieder verengert. Zunächst liegt es nahe,
an die eingesprengten Knochensplitter zu denken, und diese als
Ursache der Erweiterung des Schusskanals bis zur Mitte etwa auf-
zufassen. Sie mögen gewiss dabei mitwirken, aber als alleinige
Ursache können sie nicht angesehen werden, da ja an den Ge-
hirnen, die ohne vorherige Durchbohrung eines Knochens getroffen
sind, der Schusskanal dieselbe Gestalt zeigt. Man muss deshalb
nach einer anderen Erklärung suchen. Das Geschoss giebt an die
einzelnen getroffenen Hirntheilchen Kraft ab, verliert aber selbst
bei seinem Vordringen in feuchten Medien Viel Kraft, so z. ß. fliegt
ein unter Wasser mit voller Pulverladung al)gefeuertes Geschoss
unseres Infcinteriegcwehres nur 1,83 m weit. Anfangs war also
die Kraft des Geschossivs am grössten und dem entsprechend auch
die Ilirnzerstörung, nahm dann allmälig al), konnte also in dem
letzten Theil des S(»husskanals den Hirntheilchen keine Kraft mehr
abgeben; je mehr Kraft aber dem einzelnen Hirntheilchen über-
tragen wurde, um so grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass das
umliegende Gewebe zerrissen wird, und umgekehrt, je weniger
Kraft übertragen wird, um so mehr wird der Schusskanal dem
Caliber des Geschosses entsprechen, und um so geringer wird die
Zerstörung des umliegenden Geweb(\s sein.
Diese Erklärung stimmt vollkommen überein mit der hvdro-
dynamischen Druckwirkung, wie sie von der Medicinal- Abtheilung
*; P Girier, Traite d'anatomie. Paris, pag. 735.
lieber SchussverletzuiTgen des Gehirns. 621
des Preussischen Kriegsministeriums aufgestellt ist, und ergeben
die vorstehenden Untersuchungen einen neuen Beweis für die
Richtigkeit dieser Theorie, die für die Schädelschlisse ein voll-
kommen klares und zutreflfendes Bild giebt.
Die Versuche, wie sie angestellt sind, stellen die gering-
gradigsten eben möglichen Zerstörungen des Gehirns bei einem
Durchschuss dar. Stellt man sich die Gewalt des Geschosses ge-
steigert vor, so rauss auch die den Hirntheilchen übertragene Ge-
walt gesteigert sein, und diese stürmen dann mit einer lebendigen
Kraft gegen den Schädel an, der dieser nicht mehr Stand halten
kann. Jedenfalls kann kein Grund eingesehen werden, warum bei
den sogenannten Explosivschüssen des Schädels besondere pliysi-
calische Vorgänge angenommen werden sollen, wie es R. Köhler
thut. Sind denn die Explosivschüsse Schüsse, die zur Erklärung
ihrer Wirkung besonderer Gesetze bedürfen?
Das Platzen des Gehirns bei einem so geringen Schuss, wie
in unsern Versuchen, das ist auch ein Explosivscluiss, aber schon
das Umhüllen des Gehirns mit einem Tuch hindert die Explosion,
und wir haben nur einen Ein- und Ausschuss und einen Schuss-
kanal. Was heisst überhaupt ein Explosivschuss? Man spricht
von Sprengschüssen, Explosivschüssen u. s. w. und verbindet dabei
die Vorstellung, als ob es sich dabei um etwas Besonderes handeln
müsse, während es sich thatsächlich doch nur um eine stärkere
Geschosswirkung handelt, ohne dass sonst irgend was Besonderes
hinzukommt.
Wie ich oben gezeigt habe, werden die Hirntheilchen that-
sächlich mit einer gewissen Gewalt gegen ihre Umhüllung ge-
sc^hleudert. Stellen wir uns diese Gewalt durch erh(')hte Ge-
schwindigkeit und Arbeitsleistung des Geschosses erheblich ge-
steigert vor, so wird die Umhüllung nicht halten; übertragen wir
dasselbe auf den Vollschädel, so ist das Bild mutatis mulandis
dasselbe. Die Dura und der Knochen werden den andrängenden
Hirntheilchen nicht Stand halten, sie reissen, sobald ihre Festigkeit
überwunden ist; dann kommt die äussere Bedeckung in Betracht,
durch die anstürmenden Massen wird die Haut, die hoch elastisch
ist, zunächst gedehnt bis zum höchsten Grad ilm^r Elasticität; ist
dieser erreicht, dann reisst die Haut ein. Nun reisst aber eine
elastische Haut, deren Elasticität übermässig in Anspruch ge-
622 Dr. Tilmann,
■
nonimen ist, nicht an einer kleinen Stelle, sondern gleich in grosser
Ausdehnung. Daher kommt es, dass bei Explosivschüssen die Haut
von der Stirn bis zum Hinterhaupt einriss. Sonst liegt nur ein
Eiuschuss- und ein Ausschussloch vor. Auf diese Weise entstehen
allerdings Sprünge in der Geschosswirkung, die aber nur durch
die Eigenschaft der Elasticität der Schädelhaut bedingt sind. Also
nur das Platzen der Schädelhaut bedingt den Eindruck des Ex-
plosivschusses, und ist derselbe weiter nichts, als eben die Folge
gesteigerter Geschosswirkung. Dass dem so ist, kann man durch
einen einfachen Versuch zeigen. Füllt man einen kleinen Gummi-
sa^k prall mit Wasser, so dass seine Wand gespannt ist, und
durchschiesst ihn, so wird derselbe vollkommen entzwei gerissen.
Füllt man dasselbe Wasserquantum in einen grösseren Gummisack,
dessen Wand keinerlei Spannung auszuhalten hat, so platzt der
Sack beim Durchschiessen nicht, er hat nur zwei Schusslöcher.
Der Grund, warum der zweite nicht reisst, ist der, dass seine
Elasticität beim Beschuss noch gar nicht in Anspruch genommen
war, und deshalb eine starke Dehnung vertragen konnte, während
im ersten Fall die Elasticität schon in Anspruch genommen war.
Bei der dann erfolgenden Dehnung über die Elasticitätsgrenzc hin-
aus, riss er gleich völlig entzwei. Man muss sich den Vorgang
also wohl so vorstellen, dass der Kopf beim Beschuss vorüber-
gehend das Aussehen eines Wasserkopfes hat. Nur so kann man
au(*h die Thatsache erklären, dass die Schädelhant nur an der
Mitte der Knochensplitter haftet, in die der Schädel zertrümmert
ist, während sie an den peripheren Theilen sich zurückgezogen hat.
Der Bogen, den das Schädeldach beschreibt, ist erhöht und weiter
geworden. Der Knochen kann sich nicht dehnen, er zerbricht.
Die Schädelhaut aber wird gedehnt und muss sich deshalb von
den Händern der Knochensplitter abziehen. Zieht man weiterhin
in Betracht, dass das Geschoss l)ei Explosivschüssen den Schädel
schon verlassen haben muss, ehe der Schädel springt^), so hat
man in der iMitstehung der Zerstörung des Schädels durch einen
Schuss eine gewisse Reihe von Ereignissen, die sich ja in äusserst
kurzer Zeit abspielen, die al>er doch eine gewisse Reihenfolge
^) Wirkung und kTiegsrhinirjrische Bedeutung der neueren Handfeuer-
waflFen. Berlin 1S93, S. 3Ga.
lieber Schussverletzungen des Gehirns. 623
haben müssen. Zuerst fliegt das Geschoss durch den Schädel,
dann wird derselbe gedehnt, dann platzt er, dann erst fliegen die
Knochen- und Hirntheile nach allen Seiten. In neuerer Zeit ist es
nun durch die Fortschritte der Technik ermöglicht durch eine rasch
aufeinander folgende Reihe von photographischen Aufnahmen, die
einzelnen Phasen einer Bewegung zu fixiren und zu rcproduciren.
Diese Apparate arbeiten zur Zeit so schnell, dass über 50 Auf-
nahmen in der Secunde gemacht werden können. Von vorne
herein mag es scheinen, als ob Aufnahmen nicht genügten, da das
Geschoss in einer Secunde 600 m zurücklegt, und der ganze Vor-
gang am Schädel nicht länger als ^I^q Secunde in Anspruch nimmt.
Ein Versuch versprach indess doch gute Erfolge, und wurde auf
folgende Weise angestellt.
Auf dem Terrain der Deutschen Versuchsanstalt für Hand-
feuerwaffen, das mir Dank der Freundlichkeit des Herrn Major
Thiel zur Verfügung stand, wurden 2 Vollschädel aufgestellt, und
hinter denselben 2 Pappscheiben, die erste dicht hinter dem
Schädel, die zweite etwa 20 cm weiter ab. In 5 m Entfernung
lagerten zwei Schützen mit dem Infanterie-Gewehr No. 88 be-
waffnet. Seitlich von diesen stand der Apparat der Firma
Ad. Messter, Berlin, Friedrichstr. 94, welche die kinemato-
graphischen Aufnahmen freundlichst übernommen hatte. Herr
Dr. Kurlbaum von der physicalisch-technis(^hen Reichsanstalt hat
mich bei den Arrangements freundlichst unterstützt. Während der
Apparat spielte, gaben die Schützen mit einem Zwischenraum von
1 Secunde Feuer. Der eine Schädel flog nun vollkommen aus-
einander, die Knochensplitter und Hirntheilchen spritzten 10 — 15 m
weit, schliesslich brach der Schädel in 2 Stücke auseinander, von
denen eines zur Erde rollte, während das andere auf dem Tisch
liegen blieb. Der zweite Schädel zeigte vom Hinterhaupt zur Stirn
einen klaffenden Sprung, und am Ausschuss einen handtellergrossen
zerfetzten Defect, flog aber nicht auseinander. Dass der zweite
Schädel nicht explodirte, hatte zunächst seinen Grund in der
grösseren Festigkeit desselben. Die Knochen waren fest und dick,
bestanden fast nur aus compacter Knochensubstanz, während die
des ersten Schädels dünn spongiös waren, und der Leiche eines
wenig kräftigen Weibes angeliörten. Ein zweiter Grund ist der,
dass das Geschoss den Schädel nicht im grössten Durchmesser
624 Dr. Tilmann,
traf, sondern zieralich dicht unter der Schädeldecke verlief, und
deshalb nicht soviele Hirntheile in Bewegung setzen konnte, da
CS eine gerinii^ere Strecke durch das Gehirn verlief.
Wie stellte sich nun dieser Vorgang auf den photographischen
Aufnahmen dar. Der Beschuss, also der Moment, in dem der
erste Schädel getroffen wurde, ist in das Intervall zwischen zwei
Aufnahmen gefallen. Während auf dem Vorbild noch Alles in
Ruhe ist, sieht man auf dem nächsten schon bedeutende Ver-
änderungen. Beide Pai)pschirme sind bereits nach hinten um-
gebogen, der erste ganz zertrümmert, im zweiten Pappschirm sieht
man den Durchschuss des Geschosses deutlich 3 cm unterhalb des
oberen Randes. Die Wand muss also noch gestanden
haben, als das Geschoss ankam, und kann noch nicht so
umgebogen gewesen sein, wie man es auf dem Bilde sieht, da die
Kugel sonst darüber hinw^eg geflogen wäre. Dieses Umbiegen
muss also erst nachher durch die nachstürmenden Hirn-
theilchen geschehen sein. Die erste Wirkung des Geschosses
ist nun sehr deutlich auf dem Bilde zu sehen. Nach dem Aus-
schuss zu und über diesen hinaus fliegen die Hirntheilchen, ausser-
dem aber sieht man aus der Mitte des Schädels senkrecht zur
Geschossaxe nach oben und nach den Seiten einen Strahl, oder
"b(\sser gesagt eine ganze Garbe von Hirntheilchen fliegen, jedoch
nicht nach dem Einschuss zu. Die ganze Einschussw^and,
der Hintertheil des Schädels steht vollkommen intact
und fest und isl das Einschussloch noch deutlich zu er-
kennen. Aul dem nächsten Bilde fehlt auch die Einschusswand,
und sieht man jetzt nach allen Richtungen, nur nicht nach
vorne, die Hirniheile fliegen. Auf dieser zweiten Aufnahme nimmt
die Explosion noch zu, da die zweite Pai)pw\and noch mehr um-
gebogen ist als auf der ersten. Auf dem dritten Bilde fängt sie
an sich wieder zu heben und hat auf dem siebenten Bilde ihre
frühere Höhe wieder (Treicht. Auf dem zweiten bis achten Bilde
sieht man noch Hirniheile in der Lufi fliegen, jedoch sind die
einzelnen Vorgänge am Schädel nicht mehr zu erkennen. Die
Schusswirkung dauert aber noch fort. Auf dem zw^ölften Bilde
si(*ht man, dass sich dor Schädelbasisrest in 2 Hälften spaltet,
von denen eine vom Tisch auf die Erde fällt. Erst auf dem
27. Bilde gelangt er auf dem Erdboden an. Lässt man dieses
üeber Schussverlelzungcn des Gehirns. 625
Herunterfallen ausser Betracht, so umfasst die Wirkung des Ge-
schosses auf den Schädel 12 Aufnahmen, also, da 50 Auf-
nahmen in der Secunde gemacht sind ^^/go, als etwa ^/^ Secunde.
Die Absprengung des Schädeldaches dauert 2 Aufnahmen
lang = 2/.Q = Y25 Secunde. Hirntheilchen sieht man am stärksten
auf der zweiten und dritten Aufnahme, dann abnehmend bis zur
achten fliegen, also in ^/so = Ve Secunde.
Der Beschuss des zweiten Schädels ergab folgende Bilder:
Auf dem Bilde, das dem nachher mitgetheiltem voranging, waren
noch keine Aenderungen zu erkennen. Auf dem ersten Bilde sieht
man im zweiten Schirm einen grösseren, dem Längsschnitt des Ge-
schosses entsprechenden Durchschuss; am Kopf selbst sieht man zu-
nächst vom Scheitel desselben ein lappenförmiges Gebilde in die Luft
hinein ragen. Besonders wichtig ist indess das Verhalten des Schä-
dels als Ganzes. Vergleicht man sein Verhalten zu dem direct hinter
ihm stehenden Pappschirm, so ragt auf allen früheren Bildern der
obere Rand desselben über das Niveau des Schädels hinaus, wäh-
rend auf dem eben erwähnten Bilde der Scheitel des Schädels
über den obern Rand der Pappplatte sich erhebt. Noch
deutlicher ' ist das auf dem nächsten Bild, auf dem noch eine
Steigerung dieser Erhebung zu constatiren ist. Auf dem dritten
Bilde hiniregen senkt sich der Scheitel des Schädels wieder, um
auf dem oberen Bilde wieder in die vor dem Beschuss einge-
nommene Lage zurückzukehren; die Pappplatte überragt jetzt
wieder das höchste Niveau des Schädels. Da der Schädel selbst
sich nicht vom Tisch gehoben hat, sondern nachher noch in der-
selben Lage sich befand, wie vorher, so ist diese Hebung nur
möglich durch eine Dehnung bezw. Aufblähung derSchädel-
höhle. Die ganze Wirkung des Beschüsses erstreckt sich
auf 6 Bilder, hat also ^50 = Vs Sekunden gedauert.
Wenn man nun durch einen Projectionsapparat die gewonnenen
Bilder auf einem Schirm entwirft^), und die Bilder zunächst langsam
hintereinander folgen lässt, so werden die im Vorstehenden er-
örterten Vorgänge b(\sonders deutlich. Lässt man nach Art der
kinematographischen Vorführungen die Bilder so schnell sich folgen,
da,ss man den Gesamniteindruck des sich abspielenden Vorgangs
0 Demonstratiou auf dem Chirurgen-Coiigress.
626 Dr. Tilmann,
hat, so sieht man deutlich den ersten Schädel platzen und
die Hirnthoile nach allen Seiten fliegen: Bei dem zweiten
Schädel sieht man nur, dass derselbe gedehnt bezw. auf-
gebläht wird und wieder zusammenfällt. Deutlicher giebt
sich indess der ganze Vorgang kund, wenn man die einzelnen
Photographien studirt.
Die Untersuchung der Schädel selbst hat nichts Besonderes
ergeben. Der erste war ja in einzelne Fetzen zerrissen, und
waren keine Vorkehrungen getroffen, um die einzelnen Splitter auf-
zufangen. Der zweite zeigte auf der Höhe des Schädels einen
handtellergrossen Defect, das ganze Gehirn war in Brei verwandelt.
Unter der erhaltenen Haut war das ganze Schädeldach in Splitter
verwandelt, die in der Mitte noch mit dem Periost und der Haut
zusammenhingen, während am Rande beides abgezogen war.
Die Versuche haben' wohl gezeigt, da^s auf diesem Wege
etwas zu erreichen ist, dass es indess wünschenswerth ist, die
Zahl der Aufnahmen noch mehr zu erhöhen etwa bis auf 100, um
noch mehr Einzelheiten zur Fixirung zu bringen. Es könnte sich
auch empfehlen mehrere Apparate aufzustellen, von denen der
zweite das, was bei dem ersten in das Intervall zwischen zwei
Anfnahmen fällt, fixiren könnte.
x\uf diese Art könnte man in der Lehre von den Schuss-
wirkungen viele belehrende Aufklärungen erhalten durch kinc-
matographische Aufnahmen. So z. B. könnte man bei einem Extre-
mitätonknochenschuss mit grossem zerfetzten Ausschuss gewiss die
vorherige Aufblähung der ganzen Gegend des betreffenden Gliedes
zur Anschauung bringen u. s. w.
Was kann man nun aus den kinematographischen Aufnahmen
der Schädelschüsse schliessen? Sie bestätigen vollkommen und
in allen Stücken die im Vorstehenden erörterte Theorie der
Entstehung der Schädelschussverletzungen, welche mit der
von der Medicinal-Abiheilung desKgl. preussischen Kriegsministeriums
zuerst aufgestellten hydrociynamischen Druckwirkung identisch
ist. Sie zeigen, dass der Schädel durch eine von innen nach
aussen wirkende Gewalt aufgebläht wird, und dann wieder
zusammenfällt, oder vollkommen auseinander fliegt. Dass
Geschoss kommt an einem 25 cm hinter dem Schädel an-
gebrachten Schirm früher an, als die llirntheile. Der
üeber Schussverletzungen des Gehirns. 627
Vorgang ara zersprengten Schädel ist keine Explosion
nach allen Seiten; die Hirntheile werden in einem Streu-
kcgel zunächst nach dem Ausschuss zu, sowie nach den
Seiten geschleudert, die Einschusswand bleibt zunächst
stehen und fällt erst später. Damit ist denn durch die
Photographie direct bewiesen, dass von hydraulischem Druck im
Sinne der hydraulischen Presse absolut keine Rede sein kann.
Ferner geht aus den Bildern deutlich hervor, dass die Kohl er 'sehe
Theorie nicht richtig sein kann. Die einzelnen Hirntheilchen be-
halten ihre Labilität, die nach Köhler bei starken einwirkenden
Gewalten verloren gehen soll. Zunächst erfolgt ein Sprühregen
feinster Hirntheilchen, die nach hinten und radiär vom Schuss-
canal geschleudert werden. Auf der Photographie markiren sich
dieselben durch feine lineare Striche, die wie ein Strahlenkranz
nach den Seiten und nach hinten verlaufen. Erst nach späteren
Bildern folgen gröbere Hirn- und Knochentheile, die als dickere
Punkte sich auf dem Bild markiren. Es findet also kein Aus-
einanderschieben des Gehirns gewissermasscMi als Ganzes statt.
Auch das Stehenbleiben der Einschusswand, sowie der Umstand,
dass das Geschoss früher den hinter dem Schädel aufgestellten
Pappschinn erreicht, wie die folgenden Hirntheilchen, ist mit der
Köhler'schen Theorie unvereinbar. Endlich haben die Aufnahmen
gezeigt, dass die sogenannten Explosivschüsse nichts weiter sind,
als der Ausdruck einer gesteigerten Geschoss Wirkung, die nur in
Folge der Elasticität der menschlichen Haut besonders ho(^hgradi^'e
Zerstörungen aufweisen. Es ist deshalb kein Grund vorhanden,
für die Explosivschüsse besondere physikalische Erklärungen und
Theorien heranzuziehen.
Für die Frage nun, die den Gegenstand meiner Untersuchungen
bilden sollte, die Pathologie der Hirnschüsse, haben die Kineto-
gramme den Beweis erbracht, dass die Erklärung, die ich den
von mir festgestellten Veränderungen des Gehirns beim Beschuss
zu Grunde legte, richtig ist. Wir haben also gesehen, dass selbst
bei den Schüssen mit der enormen Gewalt des Infanterie-Geschosses
unter Umständen ein Aufblähen des gesaramten Schädels stattfindet.
Dieser Umstand beweist theoretisch die Wichtigkeit meiner Aus-
führungen. 'Uebertragen wir nun die an den Leichen und ana-
tomischen Präparaten gewonnenen Resultate auf den Lebenden,
628 Dr. Tilmann,
SO kommt noch die Blutung hinzu, die durch Anfüllung der Ven-
trikel, durch Bildung von Hämatomen besondere Symptome machen
könnte. Klinisch ist ja der durch derartige Blutergüsse bedingte
Hirndruck oft der Diagnose zugänglich. Schwieriger ist es schon,
sich ein Bild von der Ilirnzerstörung und Hirnquetschung zu
machen, da die direct getroflFenen und verletzten Hirntheile und
demnach auch die Symptome je nach dem Bild der Hirnverletzung
erheblich variiren. Kaum möglich wird es sein, von diesen Symptomcn-
komplexen dann noch einen besonderen zu differenziren für die beim
Beschuss stattfindende Zerrung des gesammten Gehirns. Diese
Läsion hat ja Aehnlichkeit mit dem Bild, das wir uns von der
Hirnerschütterung zu machen gewöhnt sind, die das Hirn in toto
betrifft, oft die MeduUa oblongata ergreift, und auch einzelne
Quetschungsheerde setzen kann. Sie entspricht demselben aber
nicht, insofeni bei Schüssen vorwiegend die Markmasse und erst in
letzter Linie die Rinde betroffen wird. Dann ist die Gew'alt-
cinwirkung eine ganz andere. Bei der Gehirnerschütterung wird
das ganze Gehirn in toto gleichmässig erschüttert, beim Beschuss
wirkt eine Gewalt von innen nach aussen, welche die Hirntheile
aus ihrem Zusammenhang zu reissen bestrebt ist, und gleichzeitig
das Hirn gegen seine Umhüllung drückt, die Zerrung der Hirn-
theilchen nimmt vom Schusscanal bis zur Peripherie an Intensität
ab, und ist an der Rinde am geringsten, betrifft also die centrale
Hirnmasse mehr, als die graue Rinde. Letztere ist nur in so fern
betheiligt, — natürlich abgesehen von den Rinnenschüssen —
als in ihr sich Defecte finden für den Ein- und Ausschuss.
Diese Hirnzerrung nun möchte ich als besonders
characteristisch für die Schusswirkung auf das Gehirn
reclamiren, da sie bei keiner anderen, auf das Gehirn
einwirkenden Gewalt zum Ausdruck kommt. Zu dem Ge-
sammtbild der Schusswirkung auf das Gehirn tritt dann noch die
Hirnzerstörung bezw. Quetschung und die Blutung hinzu.
Diese in ihren Ursachen verschiedenen Hirnläsionen lassen
sich nun in ihren Symptomen unmöglich trennen, sondern
combiniren sich heim Beschuss zu einem Gesammtbild, denn sie
sind bei jeder Schussverletzung vorhanden und fehlen nie. Des-
halb müssen auch alle vorhandenen Symptome klinisch auf die
Gesammtheit der für die Hirnschussverletzung charac-
Uebcr Schussveiietzungen des Gehirns. 629
teristischon Läsionen bezogen werden. Dann wird man
violleicht ein klareres klinisches Bild erhalten. Es ist dagegen
unmöglich zu sagen, hier ist Hirndruck, hier Erschütterung, hier
Contusion, sondern es kann nur Gradunterschiede geben für
den einen Begriff „Schussverlet/ung des Gehirns."
Dieses Bild ist nnehr oder weniger in allen Fällen vorhanden,
bei denen das Geschoss in die Ilirnsubstanz eintritt, und durch
Uebertragung von Geschwindigkeit an die einzelnen Hirntheilchen
das Bild der Schussverletzung erzeugt, also auch, wenn das Ge-
schoss z. B. nur wenige Centimeter in das Hirn eintritt. Es fehlt
dagegen, wenn z. B. das Geschoss nur die Knochenwand eindrückt,
dann im Niveau stecken bleibt, höchstens einzelne Splitter ins Ge-
hirn treibt, oder selbst vielleicht die Dura noch eben durchbohrt.
Die Fälle haben eigentlich für Schusswirkung nichts Charakteristi-
sches, sie unterscheiden sich in Bezug auf das Trauma in
nichts von einer durch stumpfe Gewalt bedingten Impres-
sionsfractur des Schädeldachs und sollten aus der Rubrik
„Schussverletzung des Gehirns" ausscheiden. Diese Fälle sind ja
durch nachweisbare Rindenläsion oft der Diagnose, und damit
einer event. aggressiven Therapie zugänglich.
Bezüglich der Behandlung der wirklich durchbohrenden Schädel-
schüsse haben diese Auseinandersetzungen ergeben, dass die ex-
spectative Therapie die einzig richtige ist. Die beschriebene Hirn-
läsion ist nicht zu beeinflussen, Knochensplitter sind bis 6 ja 8 cm
eingesprengt und können doch nicht extrahirt werden, und das
Suchen nach der Kugel, das namentlich im Ausland noch immer
betrieben wird, sollte nun endlich aufhören, nachdem wiederum
festgestellt ist, dass die im Schädel stecken gebliebene Kugel meist
nicht in directer Verlängerung des Schusscanals steckt, sondern
entweder sich gesenkt kat, oder winklig vom Schädeldach re-
cochettirt ist.
Archiv für kliii. Cliirurgie. 57. Bd. Heft 3 ^2
\
XXXVIII.
Die Behandlung des Lupus mit Röntgen
Strahlen und mit concentrirtem Licht.')
Von
Dr« Hermann Miimmell^
I. Chirurg. Oberarzt des Neuen Allgemeinen Krankenhauses kq Hamburg-Eppendorf.
M. H.! Als ich auf dem letzten Chirurgencongress die Ehre
hatte, vor Ihnen „Ueber die Bedeutung der Röntgon'schen Strahlen''
für die Chirurgie zu sprechen, erwähnte ich kurz, dass wir einen
Fall von Lupus des Gesichts günstig durch die Einwirkung der
X-Strahlen beeinflusst hätten, dass allerdings dieser EIrfolg anfangs
von einer ausgedehnten Zerstörung der Haut begleitet gewesen wäre.
Wir haben im Laufe des Jahres unsere Versuche fortgesetzt, die
lästigen, nicht nothwendigen Nebenerscheinungen nach Möglichkeit
beseitigt und bei ausgedehnter lupöser Erkrankung Erfolge erzielt,
welche mir eine weitere Verwendung des neuen Verfahrens em-
pfohlenswerth erscheinen lassen.
Die Anregung, welche nach dieser Richtung hin eine Mit-
theilung von unserer Abtheilung durch Dr. Gocht „üeber die the-
rapeutische Verwendung der Röntgen-Strahlen^)'* geben sollte,
scheint nicht von weitem Erfolg begleitet gewesen zu sein; denn
nur wenige Fälle von Lupus sind bisher mit Röntgenstrahlen ge-
heilt oder behandelt. Schiff berichtete auf der Naturforscher-
Versammlung zu Braunschweig über zwei mit dieser Methode er-
folgreich behandelte Fälle und Albers-Schönberg stellte im
1) Abgekürzt vorgetragen am 4. Sitzungstage des XXVIT. CoDgresses der
Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 16. April 1898.
*) Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgen -Strahlen. Heft I.
Die Behandlung (1. Lupus milRönlgen-Strahlen u. mit conccntrirlem Licht. 631
ärztlichen Verein zu Hamburg zwei Patienten vor, bei denen der
Lupus des Gesichts in zwei Fällen, und einmal der der Hand
durch Einwirkung der Röntgenstrahlen geheilt waren ^). Weitere
Bestätigungen der in unserem Krankenhause gewonnenen Resultate
konnte ich in der Litteratur des letzten Jahres nicht auffinden.
Was die heilende Wirkung der Röntgenstrahlen auf den Lupus
anbetrifft, so beruht dieselbe nicht auf einer Zerstörung oder Ver-
brennung der Haut, wie wir sie durch Cauterisation mit heisser
Luft oder dem Thermo- und Galvanokauter hervorrufen. Eine
tiefgehende arteficielle Dermatitis ist zur Erzielung eines günstigen
Erfolges nicht nothwendig und lässt sich in den meisten Fällen
bei genauer Beobachtung und vorsichtiger Handhabung des Ver-
fahrens vermeiden. Eine leichte Röthung der Haut, wie wir sie
zuweilen bei Einwirkung der Sonne auf eine empfindliche Gesichts-
hant sehen, ist nicht ganz auszuschliessen und ist das Zeichen,
dass die Behandlung kurze Zeit einzustellen ist. Bei einiger üe-
bung bemerkt man schon vor dem Auftreten dieses Erythems
nach mehr oder weniger langer Bestrahlung als erste Veränderung
eine leichte gelbliche Verfärbung der Haut etw^a so, wie wir sie
von längerem Aufenthalt an der See oder im Gebirge infolge der
Einwirkung der Sonne auf unsere Haut kennen. Ihr folgt dann
sehr bald die in Röthung der Haut und leichtem Brennen be-
stehende erwähnte Dermatitis. Diese wird selten grössere Dimen-
sionen annehmen oder in die Tiefe gehen, wenn man sofort beim
ersten Auftreten der Pigmentirung der Haut, der gelblichen Ver-
färbung, die Bestrahlung einstellt. Einfache Bleiwasserumschläge
beseitigen am schnellsten die Dermatitis und gestatten bald eine
Fortsetzung der Behandlung. Anfangs glaubten wir durch eine
möglichst energische Einwirkung der Strahlen auf die Haut am
schnellsten und sichersten Heilung des Lupus zu erzielen, es ent-
standen dann ausgedehnte, die erkrankte Partie weit überschreitende
Zerstörungen der Haut, welche nur sehr langsam heilten, sodass
oft der Lupus früher vernarbt war, als die grossen granulirenden
Flächen der früher gesunden Haut. Sehr bald haben wir dann ge-
lernt, die gesunde Haut gegen die Einwirkung der Strahlen zu
schützen und auch den oft erheblichen Ausfall der Haare, welche
^) Fortschritte auf dem Gebiete der Ron igen -Strahlen. Bd. I, H. 2 u. 3.
42*
632 Dr. H. Kümmel I,
sehr langsam oder gar nicht wieder wuchsen, zu vermeiden. Wir
behandelten die zu bestrahlenden Körpertheile mit dünnem Blei-
blech oder mit Masken aus dünnem Staniol, welches sich den
Formen des Kopfes und Gesichts leicht anschmiegt und schnitten
aus dieser schützenden Bedeckung so grosse Oeffnungen heraus,
als die erkrankte Partie erforderte. Bei ausgedehntem, das ganze
Gesicht einnehmendem Lupus wurden nur die Haare event. die
Augen geschützt. Diese Vorsichtsmaassregeln erweisen sich als
vollkommen ausreichend, um die gesunden Partieen der Haut
mit Sicherheit gegen die unerwünschte Einwirkung der Strahlen
zu schützen.
Früher näherten wir die zu bestrahlenden erkrankten Körper-
partieen der Röntgenröhre bis auf 10—6 cm, wodurch oft eine
sehr heftige Reaction nach relativ kurzer Zeit eintrat. Um diese
zu vermeiden, haben wir den Abstand der Röhre wesentlich ver-
grössert und wählen anfangs die bei den röntgographischen Auf-
nahmen übli(*he Distanz von ca. 40 cm und verringern erst all-
mählich, wenn keine Reaction eintritt, die Entfernung des Objects
von der Röhre auf ca. 20 cm. Auch hier ist ein Individualisiren
nothwendig, und eine empfindliche, leicht reagirende Haut muss
selbstverständlich vorsichtiger und mit grösserem Röhrenabstand
behandelt werden als eine iorpidere auf die Strahlen wenig re-
agirende. Wichtig ist es ferner, die Intensität und Wirksamkeit
der zu verwendenden Röhre zu kleinen, um nicht bei etwa dem-
selben Abstand und derselben Sitzungsdauer bei vorheriger An-
wendung einer anderen Lichtquelle schwere Reactionen und Ver-
brennungen der Haut beobachten zu müssen. Bei einer Patientin
mit schwerem, ausgedehntem Lupus des ganzen Gesichts und
des Halses war bereits eine schöne glatte Vernarbung der früher
mit dicken Borken und tiefen l'lcerationen bedeckten Haut bei
sehr geringer Reaction eingetreten, als wir zur Fortsetzung der
Behandlung und zur Beseitigung einer verdächtigen Stelle eine Volt-
Ohm-Röhre verwandten. Unter denselben Bedingungen der An-
wendung trat nach wenigen Sitzungen eine ziemlich ausgedehnte
Verbrennung am Kinn ein, W(*lche zur Aussetzung der Behandlung
nöthigte und so die Heilung wesentlich verzögerte.
Was die Dauer der einzelnen Sitzungen anbetrifft, so haben
wir die Patienten meist zweimal täglich 74 Stunde, höchstens Vj
Die Behandlung d. Lupus mit Köntgen-Strahlen u. mit concentrirtem Licht. 633
den Röntgenstrahlen ausgesetzt. Ist eine grössere Anzahl Patienten
vorhanden, welche täglich bestrahlt werden müssen, so sind die
Anforderungen, welche an den Apparat gestellt werden, sehr grosse;
derselbe ist bei uns zuweilen fast den ganzen Tag in Thätigkeit.
Um Ruhepausen eintreten zu lassen und die Leistungsfähigkeit
nicht herabzusetzen, arbeiten wir gewöhnlich mit zwei grossen
Inductionsapparaten, von denen der eine im Wesentlichen thera-
peutischen Zwecken dient, der andere zu Aufnahmen verwandt
wird. Die Funkenlänge beträgt 40 resp. 50 cm, jedoch sind
kleinere Apparate nicht weniger wirksam. Die Behandlung des
Lupus mit Röntgenstrahlen, eine unblutige und schmerzlose Me-
thode, verlangt zu ihrer Durchführung bis zur Heilung längere
Zeit. Die Dauer der Behandlung schwankt zwischen circa 4 Wochen
und mehreren Monaten. Je mehr wir gelernt haben die anfänglich
starke Reaction zu vermeiden und durch die zur Heilung einer
tiefergehen den acuten Dermatitis nothwendigen Pausen die Behand-
lung wesentlich abzukürzen, um so schneller sind wir zum Ziele
gekommen. Wie ich bereits erwähnte, war in einzelnen Fällen
der Lupus schon beseitigt, keine Knötchen mehr aufzuweisen, und
immer befanden sich die Patienten noch in Behandlung, um eine
oft schlaffe, wenig gut granulirende Hautpartie zur Heilung bringen
zu lassen. Bei der nöthigen Vorsicht sind diese die Heilung ver-
zögernden und den Patienten Unbequemlichkeit und womöglich
Schmerzen bereitende Erscheinungen mit wenig Ausnahmen zu
vermeiden, oder auf ein Minimum zu reduciren.
Um die oft langsam eintretende Wirkung der Bestrahlung zu
beschleunigen, haben wir eine Zeit lang die Patienten durch unter
die Stühle gestellte Glasuntersätze isolirt. Trotzdem der Organis-
mus auf diese Weise in keiner directen Berührung mit einem elec-
trischen Körper steht, ist er mit Electricität geladen, sodass man
überall aus dem isolirten Patienten Funken hervorspringen lassen
kann und zwar um so stärker, je näher er der Röhre sitzt. Durch
diese Isolirungen wurden sehr starke und unberechenbare, nicht
vorauszusehende Reactionen hervorgerufen, sodass wir bald wieder
von diesem Verfahren Abstand nehmen mussten. — Als Beispiel
der intensiven Wirkung auf die Haut möchte ich kurz den Fall
eines mit einem angeborenen Naevus behafteten Knaben envähnen.
Das 3Y2 Jahre alte Kind hatte auf der Rückseite der linken Hand-
634 Dr. H. Kümmell,
gelenksgegend einen mit Haaren besetzten, über die Haut etwas
prominirenden Naevus von 6Y2 zu 5 cm Ausdehnung. Er war
von braungelber Farbe, die Epidermis etwas verdickt; die Haare
waren in letzter Zeit besonders lang geworden und von dunkler,
fast schwarzer Farbe; in letzter Zeit deutliche Vergrösserung des
Naevus. Da wir mehrfach bei Anwendung der Röntgenstrahlen
Haarausfall beobachtet und dieselbe auch zur Decapilirung mit Er-
folg ohne schädliche Nebenwirkungen verwandt hatten, so wurde
die Hand des kleinen Knaben, um zunächst eine Beseitigung der
Haare zu erreichen, täglich den Röntgenstrahlen V2 Stunde aus-
gesetzt. Der Knabe sass auf dem Isolirstuhl, die gesunde Haut
war durch Bleiblech geschützt, Abstand von der Röhre 10—6 cm.
Trotz dieser intensiven Bestrahlung trat in den ersten 14 Tagen
keine Reaction ein, einzelne Haare Hessen sich leicht entfernen.
Dann trat eine leichte Röthung der Haut des Naevus und der ihn
umgebenden Randpartie ein. Da die Haare noch nicht ausfielen
und eine starke Reaction sich nicht zeigte, wurde die Bestrahlung
noch etwa 10 Tage fortgesetzt und dann als leichte Blasenbildung
eintrat unterbrochen.
In den nächsten Tagen hatte der entzündliche Process be-
deutend zugenommen, die Oberhaut hatte sich im ganzen Gebiet
des Naevus in einer derben Blase losgelöst, die Haare klebten zum
grössten Thcil an dem aufgelegten Verband. Das Corium war
ödematös geschwollen, massiger Juckreiz und Schmerzhaftigkeit.
Die Röthung umgriff den ganzen Vorderarm und führte zu einer
ringförmigen Granulationsfläche. Haare und Pigment waren voll-
ständig verschwunden. Die Heilung ging sehr langsam von statten,
besonders die den Strahlen am intensivsten ausgesetzte Stelle des
Naevus. Dieselbe war dauernd mit einem fibrinösen, an Wundcroup
erinnernden Belag bedeckt. Nur selten gelang es die Membran
mit der Pincette theilweise zu entfernen; stets fand sich am
folgenden Tag derselbe Belag wieder vor. Erst nach Ablauf eines
halbes Jahres war die Wunde fest vernarbt.
Die Narbe ist flach, leicht braun pigmentirt. Die beiden Bilder,
vor und nach der Operation aufgenommen, mögen zur Illustration
des Gesagten dienen.
Was nun die mit Röntgenstrahlen behandelten Lupusfälle an-
betrifl't, so w^urden im Ganzen 16 Patienten behandelt. Zwei sind
Die Behandlung d. Lupus niitUöntgen-Strahlen u, mit concentrirteni Licht. 635
erst zu kurze Zeit in Hehandlung, um, obwohl deutliche Fort-
schritte bereits zu constatiren sind, näher darauf einzugehen. Zwei
Patienten mit verhältnissmässig wenig ausgedehnter Erkrankung
konnten nur kurze Zeit mit Röntgenstrahlen behandelt werden. Ein
an ausgedehntem Lupus des Fingers leidender junger Mann wurde
längere Zeit den Strahlen ausgesetzt und vollständige Heilung des
Lupus erzielt. Später wurde der Finger, da er wegen vorange-
gangener cariöser Zerstörung der Knochen, welche operativ zur
Heilung gebracht waren, absolut unbrauchbar war, von Herrn
Dr. Sick entfernt.
Bei einem Patienten, bei dem Anfangs ein Lupus der Nase
und der Mundschleimhaut angenommen wurde, blieb eine vier-
wöchentliche Bestrahlung ohne jeden Erfolg. Der einzige Fall, bei
welchem wir keine Aenderung zum Bessern constatirten. Wie sich
bei weiterer Untersuchung herausstellte, handelte es sich nicht um
Lupus, sondern um eine luctische Affection, welche unter antisy-
philitischer Behandlung rasch heilte. —
Was die übrigen 10 Patienten anbetrifft, so bin ich in der
Lage Ihnen den zuerst behandelten Patienten vorzustellen.
vSch., 19 Jahre alt, leidet seit 13 Jahren an Lupus der Wange, welcher
mehrfach mit Auskratzung und Caulerisation behandelt wurde. Wie Sie noch
auf der Photographie sehen können, ist die ganze rechte Wange mit zahl-
reichen Knötchen bedeckt, in der Mitte mit ausgedehntem geschwürigem Zer-
fall, Wange und Nase stark geschwollen und geröthet, ebenso die Gegend
unterhalb der Nase und Oberlippe afficirt.
Behandlung mit Röntgen'schen Strahlen 24/10 96. Entfernung von der
Röhre 10—6 cm, täglich V2 Stunde. Nach einer Woche deutliche Besserung,
beginnende Ausheilung des Geschwürs nach 16 Tagen, starke Dermatitis und
H<'iarausfall in der rechten Schläfengegend.
Die Haut intensiv geröthet, löste sich in Bläschen ab, auch die rechten
Cilien, Augenbrauen und Barthaaro fielen aus. Die Heilung geht langsam
von statten, der Lupus vollständig beseitigt. Da sich Anfang März noch eine
verdächtige Stelle an der rechten Nasenseite zeigte, wurden nunmehr mit grosser
Vorsicht und unter dem Schutz einer Bleimaskc weitere Bestrahlungen vor-
genommen, und sofort aufgehört, wenn sich eine Reaction zu zeigen begann.
Die Knötchen schwanden bald und Anfang Juli war auch die Dermatitis ge-
heilt und Patient wurde mit zarter weisser Narbe entlassen. Wie Sie sehen,
ist jetzt eine gleichmassige, feste, schöne, nicht entstellende Narbe von weiss-
licher Farbe vorhanden. Spuren von Knotenbildung nirgends zu entdecken.
Seit Y4 Jahr ist Patient vollkommen geheilt, die Haare sind nur sehr spärlich
wieder gewachsen.
636 Dr. H. Kümmel 1,
Fall n. Otto M. 16, tuberculös belastet. Seit dem 4. Lebensjahre an
Lupus leidend. Beide Wangen, Nase, Ohren, Hals bis zum Sternum herab-
reichend sind theils mit dicken Borken, theils mit deutlichen Knötchen und
ausgebreiteten Uicerationen bedeckt, welche üblen Geruch verbreiteten. Linkes
Knie fungös erkrankt. Nach vergeblicher conservativer Behandlung von Herrn
Dr. Sick resecirt und geheilt. Am L 8. 97 wird Patient, nachdem Tuberculin-
injection starke Reaction, jedoch keine Besserung hervorgebracht, die Behand-
lung mit Röntgen'schen Strahlen begonnen. Schon nach wenigen Sitzungen
fielen die Borken ab, und einzelne Geschwürsstellen vernarbten. Eine nennens-
werthe Reaction, welche zum Aussetzen der Behandlung nöthigte, ist nicht
eingetreten, die Heilung macht rasche Fortschritte. Anfang Januar ist der
Lupus des Gesichts, der Nase, Lippe und des Halses vollkommen geheilt. Am
rechten Ohrläppchen noch eine kleine mit Borken bedeckte Stelle, welche noch
weiter bestrahlt wird, und rasch ausheilt. Wie Sie jetzt sehen, ist die grosse
lupöse Fläche vollkommen verheilt mit einer glatten, nicht entstellenden Narbe.
Am Unterkiefer noch eine kleine Drüse. Allgemeinbefinden sehr gut.
Fall HL Martha G. 7 Jahre alt. Multiple Knochentuberculose am Ellen-
bogengelenk und Fuss. Lupus der rechten Wränge, Kinn und rechte Nasenhälfte.
Nach operativer Behandlung der Knochentuberculose, Einwirkung der Röntgen-
strahlen auf den Lupus vom L 2. 98 ab. Trotz vorsichtiger Behandlung in
der Mitte der Wange eine starke Reaction. Lupus Ende März vollkommen ge-
heilt bis auf eine 10 Pfennigstück grosse gut granulirende Stelle, den Rest der
acuten Dermatitis; Lupusknötchen oder kranke Stelle nirgends zu constatiren.
Fall IV. Hertha S. 16 Jahre, tuberculös belastet. Seit 6 Jahren am
Lupus des Gesichts und der Nase. Vor zwei Jahren von mir operirt. Jetzt Re-
cidiv an Wange und Nase. Behandlung mit Röntgenstrahlen 30. 9. Keine
irgendwie störende Reaction, vorhandenen Borken und Schorfe abgefallen,
keine Knötchen zu sehen. Patient wird 25. 10. entlassen und noch einige
Zeit ambulant mit Röntgenstrahlen behandelt. Seit Anfang Dccember geheilt.
Dieser Fall zeigte keine grosse Ausdehnung der lupösen Erkrankung.
Fall V. Bertha S. 16 Jahre. Tuberculös belastet. Seit 6 Jahren an
Lupus des Gesichts leidend, vordere Partie der Nase zerstört, das ganze Ge-
sicht gedunsen mit dicken Borken und lupösen Geschwüren bedeckt. Beide
Lippen ulcerirt geschwollen, borkig belegt, Inframaxillardrüsen geschwollen.
Das ganze Gesicht eine entstellte geschwürige Fläche, auf der nur wenige ge-
sunde Hautpartieen zu sehen sind. Patientin wird mit Tuberculininjection vom
1. 4. ab behandelt, während eine andere, zu derselben Zeit aufgenommene
Patientin (Fall 6), welche ungefähr die gleich schwere Zerstörung des ganzen
Gesichts darbot, von vornherein den Röntgenstrahlen ausgesetzt wird. Unter
vorsichtiger Tuberculinbehandlung stossen sich die Borken ab und verringert
sich die Geschwürsfläche; da jedoch keine Neigung zur Vemarbung eintritt
und mehrere Wochen kein Fortschritt zu bemerken ist, wird mit Röntgenstrahlen
begonnen Mitte Juli. Rasch fortschreitende Vernarbung, keine störende Re-
action. Am 21. 9. noch eine kleine Geschwürsfläche an der Nase und eine
linscngrosse an der Oberlippe. Aus pecuniären Gründen wird Patientin zur
DieBehandlung d. Lupus milRöntgen-Strahlen u. mit concentrirtem Licht. 637
ambulanten Behandlung entlassen. Die letzten Ulcera vernarbten rasch. Patientin
hat jetzt ein vollkommen glattes Gesicht mit blasser Narbe, Lippe von normaler
Form. Nirgends Knötchen oder ülceration zu entdecken.
Fall VL Alma Gr. 17 Jahre. Tuberculös belastet. Seit 4 Jahren an
Lupus leidend. Mehrfach mit Tuberculin, Milchsäureätzung, Auskratzung und
Cauterisation behandelt. Der Lupus ulcerans hat jetzt die ganze Umgehung
des rechten Auges ergriffen, Nase, Lippen, Wange, den ganzen Hals bis zum
Sternum; Spitze und Flügel der Nase vollständig zerstört, Cornea des rechten
Auges getrübt. Auch an der Schulter ulcerirte Stellen. Gesicht an vielen
Stellen mit dicken Borken bedeckt. Beide Spitzen erkrankt, Stimme stark
heiser. Am 22. 3. 2 Mal täglich Y^ Stunde bestrahlt. Bei Eintritt der ge-
ringsten Reaction Aussetzen der Bestrahlung. Gleichzeitig wird ein lupös er-
krankter Zehen und Arm mit Röntgenstrahlen behandelt. Am 14. 8. sind ohne
wesentliche Reaction die Ülceration im Gesicht völlig verheilt und vernarbt.
Einzelne Knötchen am Halse und hinter dem Ohr werden weiter bestrahlt.
Anfang des Jahres ist das ganze Gesicht in eine glatte blasse Narbe ver-
wandelt; eine verdächtige Stelle am Kinn wird mit einer Volt-Ohmröhre be-
sirahlt, wodurch eine starke, thalergrosse Vernarbung eintritt, welche sehr
langsam heilt. Ausser dieser arteficiellen Ülceration vollständige Heilung der
ausgedehnten lupösen Zerstörung. Diese Patientin wurde eben zu gleicher
Zeit mit Fall V (Tuberculininjection) behandelt. Die Fortschritte in der Hei-
lung bei der Bestrahlung waren viel rascher und führten früher zum Ziel,
während die andern Patienten später erst nach Erfolglosigkeit der Tubcr-
culinbehandlung mit Röntgenstrahlen geheilt wurden.
Fall VH. Frau K. 56 Jahre. Tuberculös belastet. Mit 15 Jahren Lupus
der Nase. Spitze der Nase und linke Seite, sowie beide Gesichtsseiten derb
infiltrirt und mit zahlreichen Knötchen und Ulcerationen bedeckt. Typische Be-
handlung mit Röntgenstrahlen. Geringe Reaction; Pause von wenigen Tagen.
Dreimonatliche Behandlung; vollständige Heilung. Die Spuren der früiieren
Erkrankung kaum noch zu sehen.
Fall VIII. Frau D. 28 Jahre. Seit 10 Jahren Lupus der Nase, seit
5 Jahren in ärztlicher Behandlung. Ganze Nase mit Knötchen, Ülceration und
Borken bedecht, Nasenflügel z.Th. zerstört. Typische Behandlung mit Röntgen-
strahlen 2 Mal täglich Y^ Stunde 29. U 97. Am 13. 1. Ulcerationen vernarbt,
Borken beseitigt, keine Knötchen nieiir, Nase nicht geröthet. Wird ambulant
weiter behandelt. Beginnendes Abblassen der rotlien Hautfarbe.
Fall IX. Elise M. 29 Jahre wunde wegen ausgedehnten Lupus des
Gesichts 1894 und 95 mit Auskratzung, Cauterisation und Tuberculininjection
behandelt. Letztere wurden 5 Monate lang ohne örtliche Reaction fortgesetzt
und wurden 60 g verbraucht. Patientin wurde gebessert entlassen. Aus-
gedehnter Lupus des ganzen Gesichts bis auf die Stirn übergehend und bis
zur rechten Schulter sich erstreckend. Zwischen den einzelnen Knötchen aus-
gedehnte Ulcerationen. Um die Wirkung einer andern Methode mit den Röntgen-
strahlen vergleichen zu können, wurde bei der gleichen Ausdehnung der lang-
jährigen Zerstörung über beide Gosichtshälften die rechte Seite mit Heissluft-
638 Dr. IT. Komme II,
Cauierisation behandelt. Dr. Holländer nahm sehr freundlich die Operation
vor und demonstrirte uns dabei seine Methode 13. 2. Die ganze rechte Ge-
sichtsseite und ein Theil des Halses waren in einen derben, lederartigen Schorf
verwandelt; derselbe stiess sich bald ab und frische Granulationen traten zu Tage.
In überraschend schneller Zeit war die Vernarbung eingetreten. Ausser einem
durch Narbenzug hervorgerufenen Ectropium des rechten äusseren Augenlids
eine glatte mit Epidermis überkleidete Fläche ohne narbige Schrumpfung.
Sobald es der Zustand der Patientin gestattete, wurde die rechte Seite mit
Köntgen'schen Strahlen behandelt 1. 3. Geringo Reaction. Aussetzen während
einiger Tage. Rasch fortschreitende Vernarbung. Heilung der ülceration und
Verschwinden der Knötchen. Anfang dieses Monats ist die linke Seite ver-
heilt, eine glatte rothe Hautlläche. An einzelnen Stellen beginnt schon ein
Blasswerden der Haut. Auf der cauterisirten Seite werden einzelne Lupus-
knötchen fühlbar.
Fall X. Emma E. 23 Jahre. Seit längeren Jahren Lupus des Gesichts
vielfach behandelt, multiple Nasen tuberculose. Ausgedehnter Lupus der Nase
und beider Wangen, Nasenspitze zerstört. Seit 4. 8. Anwendung der
Röntgenstrahlen. Bei der zarten Haut stärkere Reaction, welche zum Aussetzen
nöthigt. Dieselbe tritt nicht wieder ein, nachdem Patientin weit von der Röhre
entfernt ist. Am 22. 12. wird Patientin für einige Zeit entlassen. An der
Nasenspitze glatte weisse Narbe, Heilung der Oberlippe, Knötchen nehmen ab ;
jetzt noch einige auf der Wange zu sehen.
Die vorgelegte Photogi*aphie illustrirt nur sehr mangelhaft die einzelnen
Resultate. Sommersprossen und einige Pigmentflecken imponiren darauf leicht
als Lupusknötchcn.
In allen behandelten Fällen ist stets ein Erfolg eingetreten
und bei i^enügend lani^er Anwendung auch Heilung, die bis jetzt
weniastons anhält. Es ist nicht zu leui^nen, dass die Dauer der
Bchandlun.ir oft eine recht lange ist und mehr Zeit erfordert
als bei andern Methoden; dafür ist dieselbe auch bei richtiger
Ilaiidhabunij; schmerzlos, ohne Narkose und oft eingreifende Maass-
nahmen auszuführen. Was mir das AVesentliche an der Methode
zu sein scheint, ist das gute Endresultat. Es entstehen glatte
Narben, die der normalen Haut so nahe kommen, wie sie nach
meinem Dafürhalten durch keine andere Methode der Behandlung
erzielt wurden. Die Hc^lunir vollzieht sich im Ganzen in derselben
äusserlich sichtbaren Weise. Die Geschwüre reinigen sich und
vernarben, die Borken trocknen ein und faHen ab, die Knötchen
schrumpfen, die Haut schuppt ab, die Röthung der Haut schw^indet
allmälig und macht einer weissen Narbe Platz. Für kleinere
circumscriple lupüse Herde wird man gewiss der Excision mit
Die Behandlung d. Lupus mitRöntgen-Strahlen u. mit concentrirlem Licht. 639
nachfolgender Naht oder Transplantation den Vorzug geben, weil
dadurch im Grossen und Ganzen der Ileilungsverlauf abgekürzt
wird. Für die ausgedehnten Fälle von Lupus, welche das ganze
Gesicht einnehmen, Nase, Augenlider, Lippen bereits in Mit-
leidenschaft gezogen haben und auf den Hals bis zum Sternum
reichen, wie es in den meisten unserer Fälle war, kann ich mir
keine schonendere Methode denken, welche alles Gewebe erhält,
welches zu erhalten ist, die Gescliwüre rasch zur Vernarbung
bringt und mit einer glatten blassen Narbe abschliesst; von tiefer-
gehender Narbenschrurapfung ist nichts zu sehen, Ectropium der
Augenlider, wie man sie bei chirurgischen Methoden so häufig
entstehen sieht, haben wir nie gesehen.
Nachdem wir jetzt gelernt haben, die schwere Zerstörung
der Haut zu vermeiden und mit minimaler Reaction oder ohne
eine solche zum Ziel kommen, behandeln wir die Patienten
meist so lange, bis der Schorf abgestossen, die Geschwüre verheilt
und die Knötchen zum grössten Theil verschwunden sind. Alsdann
könnten die Kranken, wo es ihre Verhältnisse erlauben oder es
gewünscht wird, zur ambulanten Behandlung entlassen werden.
Sie werden dann ohne Störung des Berufs täglich V4 — Yo Stunde
der Bestrahlung ausgesetzt. Bei der geringsten Reaction Aus-
setzen der Behandlung und wenn nöthig, Bleiwasserumschläge,
welche sich uns am Besten zur Beseitigung der acuten Dermatitis
bewährt haben. Dass es sich in unsern Fällen zunäclist nur um
zeitweilige Heilungen handelt, ist selbstverständlich. Die Zeit ist
bis jetzt zu kurz, um von Dauerresultaten sprechen zu können.
Worauf beruht imn die Wirkung der Röntgenstrahlen auf das
lupöse Gewebe. Sind es specifische Wirkungen der in ihrem
Wesen unbekannten X-Strahlen oder die Wirkungen des Lichts
oder speciell des electrischen. Finsen in Kopenhagen hat ,in
ausgedehntem Maasse Versuche mit concentrirtem Sonnen- und elec-
trischem Licht angestellt, die Wirkung desselben auf die ver-
schiedensten Bacterienarten beobachtet und dasselbe zu thera-
peutischen Zwecken verwandt. Da man das Sonnenlicht nicht
immer zur Verfügung hat, ist es für regelmässige therapeutis(the
Maassnahmen nicht zu gebrauchen. Finsen verwandte deshalb
ein System von Sammellinsen und eine Bogenlampe von 25 Am-
pere und erzielte damit sehr günstige Heilerfolge bei Lupus.
640 Dr. n. Kümmel 1,
Circa 50 Patienten wurden behandelt, ein grosser Theil ist
noch in Behandlung, 20 wurden geheilt. Aus der interessanten
Arbeit geht hervor, dass Lupus auch durch concentrirtes Sonnen-
licht, vor Allem durch concentrirtes electrisches i^icht zu heilen
ist. Eine specifische Wirkung der Röntgen-Strahlen ist
hiernach auszuschliessen. Ebenso ist die Wirkung der Wärme
und die durch diese hervorgerufene Verbrennung auszuschliessen,
da wir, wie ich mittheilte, ohne solche Verbrennung seit längerer
Zeit gute Erfolge erzielten und in dem Einsen 'sehen Apparat
ebenfalls die Wärmestrahlcn ausgeschaltet wurde. Um die inter-
essanten Einsen 'sehen Versuche nachprüfen und die Wirkung des
concentrirten Lichtes auf den Lupus beobachten zu können, haben
wir in unserem Krankenhause den Finsen'schen Apparat aufstellen
lassen. Der Einfachheit halber möchte ich Ihnen den Haupttheil
des Apparates, das Linsensystem vorführen, die Anordnung des
Ganzen werden Sie aus der Photographie ersehen. Die Lichtquelle
bildet eine von Siemens und Halske hergestellte Bogenlampe von
25 Ampere und 65 Volt. Der Brennpunkt muss ein absolut fester
sein, um eine richtige Einstellung des Linsensystems zu ermög-
lichen; auch das letzte muss feststehen und keinen Schwan-
kungen unterworfen sein; um dies zu ermöglichen, ist Lampen-
und Linsensystem an einem festen Eisengestell angebracht; oben
befindet sich die Bogenlampe mit festem Brennpunkt, in einem
Abstand von 10 mit 12 Ampere von der fjichtquelle werden
die Linsen eingestellt. Die fernrohrähnliche Messinghülse, welche
die Linse enthält, ist an einem seitlichen, in einem Winkel
von g(Miau 130 pCt. befestigten Eisenstab verschieblich an-
gebracht. Das Linsensystem besteht aus 4 Bergkrystalllinsen
in zwei getrennten Röhren, welche in einander verschieblich sind,
in dem vorderen Theil befindet sich ein grosser Behälter zur Auf-
nahme von Wasser zur Ausschaltung von Wärmestrahlen oder von
Methylenblaulösung zur Erzielung der chemisch wirksamsten con-
centrirten blauen Strahlen. Ohne Wasser wird durch das Linsen-
system natürlich eine sehr starke Wärme erzeugt, welche die
Haut sofort verbrennen würde und welche Papier sofort verkohlt.
Na(^h Einschaltung des Wassers macht sich nur die Wirkung des
electrischen Lichtes geltend, eine Wärmeentwicklung findet absolut
Die Behandlung d. Lupus nutKöntgon-Stralilen u. mit conccntrirtem Licht. 641
nicht statt. Um das chemisch indifferente rothe Licht, welches
durch das Blut der Hautgefässe abgegeben wird, auszuschalten,
presst Pinsen auf die zu bestrahlenden lupösen Partien etwa
thalergrosse Glasplatten auf, um dieselben anämisch zu machen.
Diese Druckgläser bestehen aus zwei einen Hohlraum bildenden
Glasplatten, zwischen denen zur sicheren Ausschaltung aller Wärme-
strahlen, w^enn nöthig, noch kaltes Wasser circuliren kann. Durch
das Aufpressen dieser Glasplatten treten die einzelnen Lupus-
knötchen mit grösserer Deutlichkeit zu Tage, wenn der Lichtkegel
auf sie fällt. Die zur Zeit beleuchtete Fläche ist nur eben Zehn-
pfennig-Stück gross und muss eine Stelle nach der andern der
Beleuchtung unterworfen worden. Die Behandlung zieht sich wie
bei Anwendung der Röntgen-Strahlen über Wochen und Monate
hin. Einige Lupusknötchen können zuweilen in einer Sitzung von
etwa 20 Minuten Dauer beseitigt werden. Diese sehr wirksame
Methode mit conccntrirtem electrischem Licht hat, wie es scheint,
den Röntgen-Strahlen gegenüber den Nachtheil, dass zur Zeit
nur kleine Partieen bestrahlt werden können, während bei den
letzteren sofort die gesammte erkrankte Fläche in Behandlung ge-
nommen wird. Es scheint mir nicht unpraktisch event. eine Com-
bination beider Methoden eintreten zu lassen, indem die grossen
lupösen Flächen mit Röntgen-Strahlen in Behandlung genommen
werden und einzelne noch zurückbleibende Knötchen mit dem con-
centrirten Licht des Finsen'schen Apparats beseitigt werden.
Die weitere Frage, ob die heilende Wirkung der Röntgen-
strahlen etwa auf einer Vernichtung der Bacterien beruhe, rausste
unsererseits im negativen Sinne beantwortet werden. Es war von
vornherein anzunehmen, dass die Kathodenstrahlen, welche nach
den Untersuchungen von Wiedemann und Ebert eine grössere
Energie der Schwitigungen besitzen, als die Strahlen des hellsten
Sonnenlichts, auch gleich diesen die Eigenschaft haben würden,
pathogene oder sonstige Bacterien zu vernichten.
Die Versuche von Mink, welcher Typhusbacillen 2 — 8 Stunden
der Einwirkung von Röntgenstrahlen aussetzte, blieben negativ.
Beck und Schultz haben ebenfalls bei Einwirkung von 20 Mi-
nuten bis 2V2 Stunden undbei 25 cm Röhrenabstand negative Resultate.
Berton hatte bei 64 stündiger Exposition, Sabrazcs und
642 Dr. 11. Kümmell,
Rivioro bei 20s(iindigor boi Diphlhoriebacillen rosp. bei Bacill.
prodigiosiKS nur negative Resultate; die Culturen wuchsen ebenso
üppi^ wie die nicht behandelten.
llerlet und Genoud befassten sich mit der Wirkung der
Röntgenstrahlen auf Tuberculose, indem sie in der Leistengegend
Kaninchen mittuberculöserMilzaufschweramung impften. DieControU-
thiere zeigten an der geimpften Stelle Geschwüre, mit reichlicher
eitriger Secretion und Schwellung der Leistendrüsen, während die
an der geimpften Stelle mit Röntgenstrahlen behandelten Thicre
keine Absonderung zeigten und in gutem Ernährungszustande
blieben. Ebenso glaubte Fiorentini und Linaschi bei Thier-
experimenten durch Einwirkung der Röntgenstrahlen die Ent-
wickelung von Tuberculoseinfection zu verzögern.
Rieder^) ist der erste, welcher positive Resultate erzielte.
Der Inductor hatte 30 cm Funkenlänge, Röhrenabstand 10 cm,
Expositionszeit 1 — 3 Stunden. Bei Tuberculosebacillen glaubte er
eine Beeinträchtigung des Wachsthums der Bacterien annehmen zu
müssen.
In Agar-ßlutserum oder Gelatine[)latten suspendirte Bacterien
gehen sicher zu Grunde schon bei ca. 1 Stunde dauernder Ein-
wirkung der Röntgenstrahlen. Auch Bouillonculturen z. B. der
Cholera können durch länger dauernde Bestrahlung abgeschwächt
werden, dagegen gelang der Versuch, andere Colonien in ihrer
weiteren Entwickelung aufzuhalten, z. B. in Gelatineculturen nach
24stündigem Wachsthum nur theilweise.
Unsere Versuche lieferten ein absolut negatives Resultat.
Zur Verwendung kamen Bacterium coli, Sta|)hylococcus aureus,
Streptococcus und ^licroc. prodigiosus. Selbst nach 12stündiger Ein-
wirkung wuchsen die in Petri'sche Schälchen untersuchten Colonieen
ebenso üppig, wie die Controlculturen. Bei 3 mit Tuberkelbacillen
angestellten Versuchsreihen, bei denen die Culturen täglich V2 Stunde
den Strahlen ausgesetzt waren, wuchsen selbst nach Fortsetzung
der Bestrahlung während 24 Tagen, die behandelten Culturen ebenso
üppig, wie die nicht bestrahlten.
Worauf die Verschiedenheit der Resultate Rieder's und der
') Münchener med. Wochenschrift. 1898. No. 4.
Die Behandlung d. (jupus mitKöntgon-Strahlen u. mit concentrirtem Licht. 643
anderen Beobachter beruht, ist sdiwer zu sagen. Was die Ein-
wirkung des concentrirten Lichts auf Bacterien anbetrifft, so er-
zielte Finsen in relativ kurzer Zeit fJositive Resultate.
Benutzt wurden Culturen von Microc. prodigios., Bact.
fluorescens, Bact. coli, Typhus und Milzbrand, in der Hauptsache
Microc. prodigiosus. Die Versuche wurden so angestellt, dass zwei
Parallelculturen, die eine rait dem concentrirten blauen Licht, die
andere mit directem Bogenlicht, bei 75 cm Abstand beleuchtet
wurden. Das unconcentrirtc Licht schwächte die Wachsthurasfähig-
keit nach 1 Yg Stunden ab und tödtete nach 8 — 9 Stunden, während
das concentrirte blaue Licht nach 4 — 5 Minuten abschwächte und
nach 15 — 20 Minuten tödtete.
Wie wir sehen, ist auch die Bacterienwirkung der Röntgen-
strahlen als wirksamer Factor in der Heilung des Lupus wohl mit
ziemlicher Sicherheit auszuschliessen, nicht so beim concentrirten
Licht. Es handelt sich um bis jetzt noch nicht gekannte Ein-
wirkung auf das Gewebe, vielleicht trophoneurotischer oder chemisch-
electrischer Art.
Fassen wir unsere Erfahrung über die Wirkung der Röntgen-
strahlen und des concentrirten Lichtes auf den Lupus kurz zu-
sammen, so möchte ich folgende Punkte besonders hervorheben:
L Die Röntgenstrahlen bilden ein sehr werthvolles thera-
peutisches Mittel zur Behandlung resp. zur Heilung des
Lupus.
2. Die Heilung geht um so sicherer und schneller von Statten,
je mehr die eine längere Unterbrechung erfordernde schwere
Verletzung der Haut vermieden wurde.
»S. Eine specifische Wirkung ist den Röntgenstrahlen bei der
günstigen Wirkung auf den Lupus nicht zuzuschreiben.
4. Die Heilung des Lupus durch die Röntgenstrahlen beruht
nicht auf der durch zu starke Stnime oder zu geringe
Entfernung des Objects von der Röhre veranlassten acuten
Dermatitis, sondern auf einer in seiner Eigenart noch
nicht näher bekannten lieeinflussung des lupösen Gewebes;
vielleicht handelt es sich um einen electro-chemischen
Prozess (Jankau) oder um eine trophoneurotische Ein-
wirkung (Barth eleu ny).
t)4:4 Dr. H. Kümmell, Die Behanriluiij^ d. Lupus mit Röntgen-Strahlen elc.
5. Dasselbe gilt von der Wirkun^^ des conccntrirten Lichtes
(Finscn), wodurch der Lupus ebenfalls günstig beeinflusst
resp. geheilt wird.
6. Die durch Anwendung der Röntgenstrahlen entstandenen
Narben sind weit glatter und schöner als die durch andere
Behandlung entstandenen. Narbencontractionen mit ihren
verunstaltenden Nebenwirkungen, haben wir bis jetzt nicht
beobac-htet.
7. Für Behandlung grosser lupöser Flächen ist die Röntgen-
strahlung der mit concentrirtem Licht vorzuziehen.
XXXIX.
lieber Peritonitis chronica non tuberculosa
und ihre Folgen: Verengerung des Darmes
und Dislocation der rechten Niere/)
Von
Professor Dr. Riedel
in Jena. '
(Mit einer Figur.)
M. H.! In weitaus den meisten Fällen entstehen Verwachsun^M*n
in der Bauchhöhle dadurch, dass secundär entzündete seröse
Flächen mit einander verkleben; der primäre entzündliehe Process
spielt gewöhnlich in der Schleimhaut der Intestina resp. im Paren-
chym der Unterleibsdrüsen; von dort setzt er sieh auf den serösen
Ueberzug der genannten Organe fort, veranlasst die Verklehung
und sodann die Lageveränderung derselben. Derartig entstandene
Adhaesionen sind im Laufe der letzten Jahre vielfach Gegenstand
operativer Behandlung gewesen.
Heute möchte ich die Aufmerksamkeit auf diejenigen Lage-
veränderungen der Baucheingeweide lenken, die umgekehrt vor-
wiegend durch primäre Entzündung der serösen Flächen entstehen
bei intacten Schleimhäuten resp. Parenchymen der unterliegenden
Organe.
Diese chronische partielle Peritonitis ist längst bekannt und
oft beschrieben worden. Virchow^) hat sich schon 1853 ausführ-
lich über dieselbe ausgesprochen, auch über die Fntwickelung des
Leidens genauere Angaben gemacht: „Auf der Oberfläche des Bauch-
felles bilden sich flache faserstoffige Lxsudatschichten, welche mehr
0 Abgekürzt vorgetragen am 1. Sitzungstage des XXVII. Congresses der
Deutschen (iresellschaft für Chirurgie zu Berlin, 13. April 1898.
2) Virchow^s Archiv. V, S. 335.
Archiv für klin. Chirurgie. Bd. 57. Heft 3. ^3
646 Dr. Riedel,
oder weniger grosse Stellen bedecken und, ohne Verklebuugen von
Baucheingeweiden hervorzubringen, gewöhnlich sehr bald zur Binde-
gewebsbildung schreiten. Wie fast alles neugebildete Bindegewebe
geht auch dieses sehr bald eine Volumsreduction ein, es contrahirt
sich, die Peripherie des weisslichen Sehnenfleckes zieht sich strahlig
ein, die Mitte erhebt sich als sternförmige Narbe, und die Ober-
fläche der befallenen Stelle muss nothwendig dieser Einziehung
folgen. Das Mesenterium verkürzt sich in gewissen Richtungen,
es faltet sich ein und bekommt eine harte callöse Beschaffenheit.
An der Flexura sigmoidea wird durch diese Oontraction zuweilen
eine Art Abschnürung ihres Gekröses hervorgebracht, der nicht
selten eine Achseudrehung und eine vollständige Umdrehung folgt.**
Virchow citirt schon damals zahlreiche Arbeiten über diese
Krankheit; sie wird von allen Autoren erwähnt, welche die Ano-
malien der Bauchhöhle eingehender studirt haben; in neuester Zeit
ist sie von Curschmann^) in ihren Consequenzen ausführlich ge-
schildert worden.
Die Chirurgen haben sich besonders mit einer, schon von
Virchow erwähnten Consequenz des Leidens beschäftigt, nämlich
mit der Annäherung der Fusspunkte des S-romanum, wodurch die
Prädisposition für die Achsendrehung gegeben ist; es unterliegt
keinem Zweifel, dass durch Schrumpfung des Mesenterium vom
S-romanum die günstigsten Bedingungen für das Umschlagen der
Flexur geschaffen werden.
Weniger ist berücksichtigt worden, dass die Schrumpfung des
Mesenterium vom S. romanum an sich schon, bevor es also zur
Achsendrehung kommt, zu Ileus resp. zu ileusartigen Erscheinungen
führen kann, dass der gleiche Schrumpfungsprocess auch an an-
deren Theilen des Mesenterium resp. im Peritoneum der hinteren
Bauchwand s|)ielen, zu Verlagerungen und Verengerungen besonders
des Dickdarmes und zur Dislocation der Niere führen kann. In
Betreff der Darm Verengerungen habe ich-) kürzlich diese Lücke
auszufüllen gesucht, und an (hn- Hand von 8 Fällen ausgeführt,
dass diese Schrumpfung als wahrscheinlic^h primäre Krankheit im
Gebiete des Coecum und des unteren lleumendes vorkommt, dort
zu Verwachsungen der genannten Darniabschnitte führt, so da^js
1) Deutsches Archiv für kl in. Medicin. Bd. LIII.
2) Mittheilungen aus den Grenzgebieten. IL Bd., S. 529.
Uobcr Peritonitis chronica non tnbcrculosa und ihre Folgen. 647
Ileus entstehen kann (3 Fälle). Bei der Besprechung der Schrumpfung
des Mesenterium vom S romanum (5 Fälle) wurde hervorgehoben,
dass die bekannten Vorläufer der Achsendrehung (ileusartige Er-
scheinungen, die durch Wassercinläufe beseitigt werden) wahrschein-
lich auf Passagestörungen zurückzuführen seien, die durch jene
Schrumpfungen entständen; es sei auch anzunehmen, dass in ein-
zelnen Fällen die Beseitigung eines solchen durch Schrumpfung
hervorgerufenen Hindernisses als spontane oder durch Wasser-
einläufe herbeigeführte Rückdrehung des um seine Achse gedrehten
S romanum gedeutet worden sei.
Ueber die Genese dieses Schrumpf ungsprocesses habe ich mich
sehr vorsichtig ausgedrückt. Sicher ist, dass derselbe schon an-
geboren als primäres Leiden des Mesenterium beobachtet ist; es
erscheint also durchaus wahrscheinlich, dass er auch im späteren
Leben als primär chronische Entzündung auftreten kann. Da er
aber gerade da am häufigsten vorkommt, wo relativ oft Koth-
massen stagniren, so könnte man auch annehmen, dass die
Schrumpfung ein secundärer Process sei: Zuerst wiederholte An-
häufung von Kothmassen im Coecum resp. in der Flexura sigmoidea,
dadurch intensiver Zug besonders am Mesenterium des S romanum,
multiple Rupturen im Bindegewebe des Mesenterium, reactive
Narbcnbildung. Gegen diese Annahme spricht aber der Umstand,
dass die Narbenbildung immer am intensivsten an der Radix des
Mesenterium vom S romanum zu sein pflegt, während sie nach
der Peripherie, d. h. also nach dem Darme zu, immer geringfügiger
wird, sehr selten auf letzteren selbst sich fortsetzt.
In allerneuester Zeit habe ich aber erst Gelegenheit gehabt,
diese anatomischen Verhältnisse an einem ganz einwandfreien Falle
genau feststellen zu können, so dass ich jetzt wohl ziemlich sicher
den Beweis führen kann, dass das Leiden in den meisten Fällen
— weiter möchte ich auch jetzt noch nicht gehen — . primär im
Mesenterium auftritt. Das Gleiche dir für die erwähnte Vijr-
sehiebung der rechten Niere nach links; auch dort konnte man im
Zweifel sein, ob erst die Niere nach links w<in(lerle und dann das
der Niere aufliegende Periloneum sich secundär entzündete und
verdickte, oder ob umgekehrt die Schrumpfung des Peritoneum das
primäre sei. Die nachfolgende Darstellung wird keinen Zweifel
lassen, dass in vielen Fällen die Narbenbildung im Peritoneum
43*
648 Dr. Riedel, • •
Ursache der Nieren Verschiebung ist, während man in anderen
Fällen in der That unsicher darüber sein kann, ob die Narben
nicht etwa secundär entstanden sind.
I. Narbenbildung in den Mesenterien.
Seit dem Abschlüsse meiner oben erwähnten Arbeit (Juli 1897)
sind 4 weitere Fälle zur Operation gekommen, in toto also 12;
von ihnen fallen 10 in die letzten IV2 Jahre, eine höchst auf-
fallende Cumulation, die nur dadurch erklärt werden kann, dass
überhaupt in hiesiger Klinik in neuester Zeit die Zahl der Lapa-
rotomien eine verhältnissmässig sehr grosse ist. Gesehen habe ich
speciell die Schrumpfung des Mesenterium vom S romanum noch
in einem 13. Falle bei Gelegenheit einer Gallensteinoperation; bei
2 weiteren Kranken mit Beschwerden in der linken Bauchseite
(einmal oft sich wiederholende Bildung eines rundlichen Tumors
in der linken LTnterbauchgegend , krampfliafte Schmerzen daselbst,
Obstipation, Tumor verschwindet innerhalb 8 — 14 Tagen) wurde
die Diagnose auf Schrumpfung des genannten Mesenterium ge-
stellt, aber nicht operirt, so dass diese Fälle nicht als sicher be-
zeichnet werden können. Dasselbe gilt von einem 4. Kranken mit
chronischer Peritonitis im Bereiche des Coecum, den ich in neuester
Zeit gesehen habe; er demonstrirte eine fast typische Erscheinung:
den vor meinen Augen auftretenden, mit J^uft gefüllten, harten
wurstförmigen Tumor oberhalb des rechten Lig. Poup., der nach
wenigen Minuten wieder verschwand. Er entsteht durch krampf-
hafte peristaltische Bewegungen im unteren Theile des lleum resp.
im Coecum. Patient litt seit vielen Jahren an Beschwerden von
Seiten des Magens und des Darmes, ohne je acut erkrankt gewesen
zu sein, so dass die Diagnose auf chronische Peritonitis höchst
wahrscheinlich zutrifft; operirt habe ich ihn vorläufig nicht.
Bei den 4 operirten Kranken handelt es sich 2 Mal vorwiegend
um Schrumpfungen im Gebiete des Mesenterium vom S-romanum,
doch waren auch die Mesenterien der übrigen Abschnitte des Dick-
darmes mehr oder weniger betheiligt; 2 Mal war fast ausschliess-
licli das Mesenterium der Flexura Renalis ergriffen. Ich theile zu-
nächst die Leidensgeschichte eines Kranken mit, der die beschrie-
benen Narbenbildungen am intensivsten und zwar an der Radix
mesentcrii S-romani zeigte (vergl. Fig. 1).
üeber Peritonitis chronica non tubercalosa und ihre Folgen. t>49
No. 1. Adam Kessler, 66 Jahre alt, aufgenommen ]]. 10. 97.
Im letzten Winter mehrraoh Abgang ron Schleim und Blut mit dem Stuhl-
gänge, sonst stets gesund.
Pat. hat sich vor 6 Tagen angeblich eine rechtsseitige Hernie aurück-
gebracht; seitdem kein Stuhlgang mehr, kein Abgang von Winden; kein Er-
brechen. St. pr. : Bauch nur relativ wenig aufgetrieben , dculliche peristal tische
Bewegungen in grossen Wülsteu bemerkbar; Mastdarm frei; es laufen nur
Fig. 1.
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Schnitt durch den dicksten Tbei! der Narbe. Schwache Vergrösserung. Junges
Bindegewebe mit vielen Gefassen und eingelagerten Kettträubehcn.
600,0 Wasser in den Üarm ein; sie werden mit grosser Gewalt wieder entleert.
Puls 82, voll. Brufihpfonen frei. Sofort Narkose.
11. 10. 97. Schnitt in der Mittellinie legt gewaltiges S romannm frei,
Parm enorm aufgebläht. Narben im Mesenterium desselben, nach der Radix
zu immer dichter werdend, Ganz in der Tiefe läuft ein derber Balken zum
Duodenum hinüber, so, dass er die oberste Kante eines vorspringenden Drei-
eckes bildet, was sich mit dieser Kante weil von der hinteren Bauchwand ent-
fernt; Fusspnnkte des S romanum sind circa ö — 10 cm von einander entfernt,
also nicht sehr zusammen gezerrt. Die Flexnr ist mehr dadurch nndurchgängig
geworden, dass ihre Radix durch die Bildung des Dreieckes nach vorne ge-
650 Dr. Riedel,
knickt ist. Vordere Kante und Seitentheile dieses Dreieckes sind mit 2 mm
dicken Pseudomembranen bedeckt, grauweiss, sammtartig, leicht abziehbar;
weiter nach dem Darme zu werden sie dünner, glänzend weiss, sie liegen in
continuirlicher Schicht; noch weiter dislalwärts fahren sie in einzelnen Zacken
auseinander; nirgends erreichen sie den Darm selbst. Alles dieses übersieht
man erst genau, nachdem ein derber Troicart ins S romanum eingestochen
und viel Luft entleert ist, wodurch auch Colon transversum (von Anfang an
gefüllt) und Flexura lienalis (bei Beginn der Operation leer, später vom Colon
transversum aus mit Luft gefüllt) zusammengesunken sind.
Es werden die ganz dicken, theilweise auch die flachen Narbenmassen
abgetragen, wodurch ein tiefer Raum zwischen Rad. mes. S r. und Duodenum
geschaffen wird.
Typhlon gleichfalls aufgetrieben; der vollständig obliterirte Wurmfort-
satz hat sich, in Adhaesionen geliüllt, um das Colon und das untere Ende des
lleum herumgeschlagen; er wird entfernt, Bruchpforten frei. Schluss der
Bauchwunde.
Verlauf: 12. 10. 72 P. gut. Temp. 37,0; kein Abgang von Winden,
desshalb Klysmata. — 13. 10. Morgens 38, Abends 38,6. Bronchitis. Es
können immer nur 6()0,0 Flüssigkeit in den Darm eingeführt werden. — 15. 10.
Puls und Temp. qormal. Darmschlingen noch immer in Gestalt von grossen
Wülsten sichtbar, dabei aber Abgang von Winden; Allgemeinbefinden gut. —
18. 10. Reichlicher Stuhlgang nach Abführmitteln. — 31. 10. Dauerndes
Wohlbefinden, Husten geringer. Wunde fast verheilt.
2. 11. Seit gestern Abend Erbrechen, kein Abgang von Winden mehr. Puls
120, gut. Temp. normal. Leib so gespannt, dass man nur undeutlich peristaltische
Bewegungen sieht; 1500,0 Wasser laufen per rectum ein, so dass also das S ro-
nwinum frei sein muss. In Narkose deutliche peristaltische Bewegungen sichtbar.
Schnitt neben dem früheren. Es findet sich die Spitze der Schleife vom
S romanum fest verwachsen mit dem oberen Ende der Bauch wandnarbe; hinter
dem Dickdarm sind Jejunumschlingen durchgerutscht und stark aufgebläht,
gleichzeitig sind sie lose mit einander und mit Netzmassen verwachsen.
Letztere sind auch am Col. transv. adhaerenl; dasselbe ist dadurch umgekippt,
alles ein Wirrwarr. Weiter unten ist auch das lleum in 10 Pfennigstück
grosser Ausdehnung mit der Bauchwandnarbe verwachsen; bei der Ablösung
desselben entsteht ein grosser Substanzverlust in der Musculatur des Darmes,
so dass Catgutnaht erforderlich ist. Jetzt wird vom Duodenum an der ganze
Dünndarm abgesucht und gelöst, sodann das S romanum nochmals geglättet.
Schluss der Bauchwunde.
3. 11. Morgens Temp. 37,3, Puls 120, klein. Kein Abgang von Winden.
— 4.11. Abends 38,1, Puls 118, sehr klein. Schmerzen im Abdomen,
letzteres in toto aufgctrieljen. — 5. 11. Abends Temp. 38,6, Puls 140, mini-
mal. Pat. ganz klar, fühlt, dass er sterben wird. Athemnoth. — 6. 11.
Mittags 12 Uhr f.
Obduction: Pleuropneumonia duplex. Herz gesund. Diffuse Peritonitis,
(.lallenblase mit dem Duodonuni, der rechte Loborlappen mit der Flexura hep.
lieber Peritonitis chronica non tuberculosa und ihre Folgen. 651
coli fest verwachsen. An der Wurzel des Mesenterium vom Ileum ein drei-
eckiger Defect, grössere Wundflächen in der Serosa der Flexur, desgleichen in
der Mesoflexur. Die Serosa längs des Colon desc. stellenweise verdickt,
schiefergrau, mit strahligen Narbeneinlagerungen versehen.
Bei diesem Kranken kann es sich in der That nur um pri-
märe Erkrankung des Mesenterium gehandelt haben; die am
weitesten vom Darme entfernten Theile des Mesenterium, also die
Radix desselben war am intensivsten erkrankt. Es war nicht das
„flache faserstoffige Exsudat", was Virchow beschreibt, sondern
vielleicht das nächste Entwickelungsstadium desselben, eine samraet-
artige, in dicken Schichten leicht abstreifbare Membran, die sich
auf der in Form eines Dreiecks eraporgezerrten Radix mesenterii
entwickelt hatte; letztere lief direct auf das Duodenum zu; die
vordere Kante der Radix näherte sich in erheblichem Maasse der
vorderen Bauch wand.
Durch diese Winkelbildung, die sich weit nach dem Darme
hin fortsetzte, muss die Durchgängigkeit des Darmes geschädigt
sein ; die Annäherung der Fusspunkte der Schlinge war keine über-
mässig grosse, wenn das Spatium von 8 — 10 cm auch immerhin
ein bedenkliches ist.
Die Diagnose war nicht auf Achsendrehung gestellt; in ge-
waltigen Wülsten sah man den Darm sich bewegen, aber der Leib
war nicht extrem aufgetrieben. Dass ein Hindemiss im- Dickdarme
existirte, das war evident; kein Erbrechen, obwohl die Stuhl-
verstopfung schon 6 Tage dauerte, dazu die mächtigen Darm-
schlingen; sie konnten voraussichtlich nur dem Dickdarme an-
gehören.
Leider täuschte die „Wasserprobe"; das Wasser wurde stets
mit grosser Gewalt wieder entleert; man musste an Carcinom im
S romanum denken, bei dem Alter des Patienten immerhin das
wahrscheinlichste, zumal Blut und Schleim mit dem Stuhlgange
abgegangen sein sollten. Hätte man die Wassereinläufe in Narcose
fortgesetzt, so wäre man ins Klare gekommen; durch die Narcose
hätte man die schmerzhaften Empfindungen beseitigt, die stets
entstehen werden, wenn bei |)rall gespanntem Bauche Wasser per
rectum injicirt wird. Der Schmerz verhindert das Einlaufen von
grösseren Mengen Wasser, er zwingt die Kranken, geringe Massen
alsbald wieder heraus zu pressen.
652 Dr. Riedel,
Hätte ich die Wassereinläufe in Narkose fortgesetzt und da- j
durch die Diagnose gestellt, so würde ich sicherlich nicht operirt '
haben, eben weil sich das Leiden hätte durch die Wasseneinläufe
beseitigen lassen, wenn auch nur vorübergehend. Damit war aber
viel gewonnen ; die Chancen für das Gelingen der Operation stiegen
erheblich, wenn man einen zusammengesunkenen Darm biossiegte,
während man jetzt auf dilatirte entzündete Intestina traf. Sie
hatten 6 Tage lang unter dem Drucke des angehäuften Kothes ge-
standen, waren dementsprechend hyperaemisch, die Wand derselben
erschien etwas ödematös. Die Neigung zu Verwachsungen mussto
dadurch erheblich vergrössert werden.
Drei Wochen lang spürte man nichts von neuen Verwach-
sungen, dann setzte der Sturm ein, wahrscheinlich deshalb, weil
Jejunumschlingen über das in der Bauchnarbe adhaerente S romanum
hinübergerathen waren; bis dahin hatte Patient die verschiedenen,
oben erwähnten Verwachsungen ganz gut ertragen. Die zweite
Operation brachte gar keinen Nutzen mehr, aus der Bronchitis
wurde rasch eine Pleuropneumonie, Peritonitis gesellte sich dazu
und Patient ging unter endlosen Qualen zu Grunde. Etwas besser,
aber auch nicht ganz nach Wunsch ging es dem zweiten Falle:
No. II. Luise Richter, 62 J., Neuengonna. Aufgenommen am 4. 3. 98,
operirt am 16. 3., entlassen am 10. 4.
Fat. stammt aus gesunder Familie: Mutter mit 81 J., Vater an Hals-
bräune gestorben. Pat. selbst ist ebenfalls immer gesund gewesen. 4 mal ge-
boren; 4 gesunde Kinder.
Ihre jetzige Erkrankung begann vor 3 Jahren langsam: Aufstossen, be-
sonders nach dem Essen, träger Stuhlgang, dabei aber immer reger Appetit.
Neben diesen allgemeineren Beschwerden, denen Pat. keinen allzu grossen
Werlh beimass, hatte Pat. häufig, zuletzt fast stets Schmerzen in der linken
Unterbauchgegend, die zwar nicht sehr heftig waren, Pat. aber doch wegen
ihrer Constanz sehr genirten und besonders lästifi: beim Liegen sich erwiesen.
Die Beschwerden blieben andauernd dieselben, ohne dass Pat. in ihrem All-
ji:emeinzustande sich erheblich verändert hätte. Sie wurde wiederholt auf
„Magenleiden" behandelt, ohne jeden Erfolg. Zuletzt glaubte ein Arzt in der
bestehenden Diastase der Kecti einen Angriffspunkt gefunden zu haben und
schickte Pat. behufs Operation zur Klinik.
Status praesens: Cnchectische Frau; 76 Pfund. Emphysema pulm.,
Bronchitis. Diastase der llecti mit Bildung eines flachen Bauchbruches;
letzterer wölbt sich beim Husten stark vor, ist aber vollständig reponibel.
Mit Rücksicht auf die Bronchitis w^ird zunächst abgewartet. Da Pat.
aber beständig über Leibschmerzen klagt und auf der Operation besteht, so
Ueber Peritonitis chronica non tuberculosa und ihre Folgen. 653
wird am 16. 3. in der Mittellinie eingeschnitten. Bruchsack frei, dagegen
findet sich ausserordentlich stark entwickelte Mesenterialperitonitis im Gebiete
des S. llomanum. Die Schenkel der Schlinge sind durch weiche Narbenmassen
in toto dicht an einander herangezerrt, dabei hat sich die Schlinge mit ihrer
Kuppe nach oben gewandt, ist dort mit dem lienalen Theile des Col. transv.
verwachsen; letzteres ist stark aufgebläht, während das S-romanum gänzlich
collabirt ist. Weiterhin ist das Gol. transv. mit der Gallenblase und mit dem
Magen verwachsen unter gleichzeitiger Drehung um seine Längsachse. Gallen-
blase weich, Duct. choled. aber weit, so dass doch wohl einst Steine vorhanden
gewesen sind, llechterseits ist die Flexura hepatica coli durch einen derben
Strang am Periton. parietale fixirt, endlich besteht noch rechtsseitige Wander-
niere; das Coecum liegt auf der Niere, steht relativ hoch. Alle die genannten
Verwachsungen werden gelöst, die Narbenmassen durchtrennt; die Wander-
niere bleibt unberührt. Schluss der Bauchwunde. 17. 3. Keine Reaction, nur
Leibschmerzen werden geklagt. 23. 3. Fieberloser Verlauf. Durch wiederholte
Wassere in laufe ist reichlicher Abgang von Flatus und Koth erzielt worden.
Leib weich und flach, doch klagt Pat. unverändert weiter über Schmerzen in
der linken Seite. 2.4. Wunde geheilt. 9. 4. entlassen, 80 Pfund. Fsbestehen
noch immer Schmerzen in der linken Seite; Stuhlgang träge; vielfaches Auf-
stossen. Laut Brief des behandelnden Arztes vom 15. 6. ist der Allgemcin-
zustand der Kranken ein leidlicher, doch klagt sie andauernd über die linke
Bauchseite.
Erst nach langem Zögern und nur auf dringenden Wunsch
der Kranken entschloss ich micli zur Operation. Die Diagnose
war ziemlich sicher auf Verwachsungen im Gebiete des S-romanum
zu stellen; die lange Dauer des Leidens, die mehr oder weniger
beständigen Schmerzen in der linken Seite des Leibes, die chronische
Obstipation, alles dieses sprach für Verwachsungen, also für ein
relativ benignes Leiden; ein Carcinom würde ja Patientin nicht
3 Jahre lang am Leben gelassen haben. Gerade weil die Diagnose
ziemlich sicher war, lehnte ich die Operation bei der alten, an
Emphysem leidenden Frau ab; konnte man sich schon vorher sagen,
dass die Verwachsungen wahrscheinlich weit ausgedehnt, dem-
nach Recidive höchst wahrscheinlich sein würden. Da Patientin
auch jetzt noch über linksseitige Leibschmerzen klagt, so zweifle
ich nicht, dass ihr Dickdarm abermals ausgedehnt verwachsen ist.
Sie kam glatt mit der Operation durch, weil sie zu einer günstigen
Zeit, bei leerem Darm operirt wurde, aber dauernden Nutzen hat
sie nicht von derselben gehabt. Unseren chirurgischen Eingriflen
sind eben die Grenzen gezogen; so dankbar und nutzbringend die
Beseitigung circumscripter Verwachsungen , die Entfernung von
654 Dr. Riedel,
isolirten Strängen u. s. w. ist, so wenig erfolgreich sind Angriffe
auf weit verbreitete Adhäsionen; zuweilen erreicht man ja auch da
Unglaubliches, doch hängt das von Zufälligkeiten ab, die wir nicht
beherrschen.
Sind die Narben im Mesent. vom S-romanura, um zunächst
bei diesem zu bleiben, wenig ausgedehnt, so kann man sie noch
mit Erfolg beseitigen; zweimal ist mir das recht gut gelungen
(vergl. No. 4: und 5 in Abschnitt A der oben citirten Arbeit);
sind aber die Narben diffus, ist obendrein noch, wie in No. 2 die
Kuppe des S-romanum secundär mit dem Col. transv. verwachsen
— was wohl nicht durch primäre Mesenterialperitonitis zustande
gekommen ist, sondern durch Kothstauung und Entzündung im
S-romanum — so wird man auf wenig Erfolg zu rechnen haben.
Ich habe mich deshalb auch bei den beiden oben erwähnten Kranken
lediglich mit der Diagnose begnügt, keinen operativen Eingriff
vorgeschlagen, weil sie voraussichtlich diffuse Narben im Mes. vom
S-romanum haben. Sollte ihr Zustand unerträglich werden, so
wäre es wohl besser, dem Vorschlage Curschmann's entsprechend
das ganze S-romanum zu reseciren, als lediglich die Narben zu
lösen.
Bekommen diese Kranken aber gelegentlich Ileus durch Be-
ten tion von Koth im S-roman., so wird man, ialls die Diagnose ge-
stellt ist, sich lediglich auf hohe Eingiessungen event. in Narkose
beschränken. Durch letztere wird meist die Diagnose möglich
sein, wenn man überhaupt an die chronische Mesenterialperitonitis
denkt und das ist die Hauptsache. Nachdem sich herausgestellt
hat*, dass das Leiden gewiss nicht selten ist, muss man aber in
jedem unklaren Falle an dasselbe denken und dementsprechend
vorgehen; der practische Arzt hat gewiss manchen Ileus unbe-
wusster Weise mit diesem Remedium kurirt. Erst wenn der acute
Ileus beseitigt, kann man an die weiteren, oben erwähnten Ein-
griffe denken, aber auch da nur mit grösster Vorsicht.
Entwickelt sich die chronische Mesenterialperitonitis im nächst
oberen Abschnitte des Dickdarmes, in dem Mesent. der Flexura
lienalis, so sind ebenfalls sehr ernste Störungen zu erwarten; die
Situation ist sogar noch bedenklicher als bei Schrumpfung im Ge-
biete des Mes. vom S-romanum, weil die Flexura lienalis, versteckt
lieber Peritonitis chronica non tuberculosa und ihre Folgen. 655
unter dem linken Rippenbogen gelegen, chirurgischen Eingriffen
weniger gut zugänglich ist. Der Darm muss herunter geholt
werden; oft ist man im Zweifel, wo die normale Fixation desselben
aufhört und die. pathologische beginnt:
No. HI. Hans K., 20 Jahre, aufgenommen am 29. 10. 97, operirt am
31. 10., gestorben am 10. 11. 97. Vater leidet an Gallensteinen; Mutter lebt,
ist gesund, ebenso die Geschwister.
Als Kind war Pat. zwar stets schvv'ächlich. Vom 8.---12. Lebensjahre
hatte er öfter Schmerzen links oben im Leibe. Mit 14 Jahren längere Zeit
Schmerzen und Schwellung des rechten Kniegelenkes, angeblich Tuberculose,
was sicher nicht zutrifft. Seit ca. 2 Jahren hat Pat. eigenthümliche Er-
scheinungen von Seiten des Darmes. Während für gewöhnlich der Stuhl
ziemlich regelmässig ist, tritt in ungleichen Zwischenräumen von mehreren
Wochen ohne bekannte Ursache Verstopfung ein, es entstehen Schmerzen in
der linken Oberbauchgegend und dort bildet sich eine deutliche, circumscripte
Anftreibung; es gehen keine Winde ab; dagegen tritt Aufstossen, öfter auch
Erbrechen auf, letzteres nie fäculente Massen zu Tage fördernd. Dieser Zu-
stand, in dem sich Pat. äusserst elend fühlt, dauert 1 — 2 Tage; dann ver-
schwindet unter Entleerung grosser Mengen von Blähungen die Auftreibung,
es erfolgt Stuhlgang; das Befinden wird wieder vollkommen normal; in der
Zwischenzeit keinerlei Beschwerden. Ausdrücklich giebt Pat. an, dass er nie
vor und während der Anfalle eine auffällige Abnahme des Urins, nie beim Ver-
schwinden eine auffällige Vermehrung desselben bemerkt habe. Die AnRille
treten in letzter Zeit häufiger, alle 3 — 4 Wochen auf; die Schmerzen sind be-
sonders während der letzten Anfälle sehr heftig gewesen. Seit vorgestern
wieder ein Anfall: sehr heftige Schmerzen, so dass die Reise hierher um einen
Tag verschoben werden musste, öfter erbrochen; vollständige Stuhl- und Gas-
verhaltung.
Status praesens. 29. 10. Mannskopfgrosser Tumor, prall gespannt;
beim Aufblasen des Darmes legt sich letzterer vor die Geschwulst, so dass zu-
nächst eine linksseitige Nierengeschwulst (Hydrocele) diagnosticirt wird. Ab-
führmittel. 30. 10. Tumor ist verschwunden. Beim Einblasen von Luft per
rectum zeigt sich, dass dieselbe unter gurrenden, flüsternden Geräuschen ein-
dringt, dann treten deutlich sichtbare peristaltische Bewegungen auf und mit
ihnen entleert sich jedes Mal Luft per anum. Diagnose muss also wieder auf
Darmaffection gestellt werden.
31. 10. Incision ergicbt Col. transv. ziemlich prall mit Luft gefüllt; im
Mesenterium desselben einzelne weisse Plaques. Dann kommt links oben in
der Ecke narbiges Netz zum Vorschein, an der sehr beweglichen Milz adhärent;
an der Milz gleichfalls narbige Stränge; Flexura lienalis stark geschlängelt,
die einzelnen Windungen derselben durch weiss glänzendes Narbengewebe
an einander fixirt. Nach Lösung der Narben im Mesenterium dehnt sich der
Darm mehr und mehr aus, so dass man die fixirt gewesenen Partien der
Flexura lienalis bis zur Mittellinie verschieben kann; man übersieht in ganzer
656 Dr. Riedel,
Länge den normal weiten Darm. Milz lässt sich ziemlich leicht nach oben
reponiren. Naht der Längswunde im Rectas abdominis mit derbem Catgut,
Hautnaht (Seide).
Verlauf: Abends 37,2. Am nächsten Tage heftige Bronchitis (Aether)
bei 38,0 M. T. und 100 guten Pulsschlägen. Grosses H&matom unter der
Hautwunde, so dass alle Hautnähte entfernt werden müssen. Abends 38,5.
In den nächsten Tagen beständig 38,4 und 5 Abends bei starkem Auswurfe
von eitrigen Massen. Erst am 6. 11. ist die Temperatur Abends normal, doch
bleibt der Husten bestehen. 8. 11. Wunde blutig zerrissen durch den per-
manent andauernden Husten, desshalb derbe Heftpflasterstreifen über den
kleinen, direct der Wunde aufliegenden Verband. 10. 11. Heftiger Husten
Nachts 2 Uhr, aber keine besonderen Klagen. Morgens 8^/2 Uhr finden sich
beim Verbandwechsel Dünndarmschlingen frei unter dem Verbände, mit Hefl-
pflastermasse beschmiert, unter einander verklebt. In Narkose wird nachge-
wiesen, dass Flexura lienalis und Col. desc. fest mit der vorderen Bauchwand
im oberen Wundwinkel verwachsen sind. Col. transv. aufgetrieben, wird zu-
nächst punctirt, dann werden die Dünndarmschlingen gereinigt und reponirt,
Col. transv. wird dicht vor der Verwachsung der Flexura lienalis mit vorderer
Bauchwand in die Wunde eingenäht, weil voraussichtlich das Colon sich als-
bald wieder mit Luft füllen wird, da Lösung der Flexura lienalis unmöglich ist.
Es gelang mir das gleichfalls in der Wunde adhärente Col. desc. abzulösen;
oberflächlicher Defect im Darme durch Catgutnaht geschlossen. Abends 38,6
Tcmp. und 140 P., klein. 11. 11. Morgens 37,5 und 140 P. Zunehmende
Symptome von Peritonitis, Mittags f.
Die Obduction ergab beiderseits eitrige Bronchitis und circumscripte
pneumonische Herde in den Unterlappen der Lunge. Herz etwas gross
(97 : 116). Bicuspidalis längs des Randes mit einer fest zusammenhängenden
Reihe graugelber leicht trüber papillärer Excrescenzen besetzt. Magen und
Quercolon stark von Gas aufgetrieben. Zwischen der Flexura lienalis coli und
den anliegenden Dünndarmschlingen braungelber mit Gasblasen untermischter
Eiter. Die in der unteren Hälfte des Bauches gelegenen Dünndarmschlingen
fein injicirt, matt glänzend, unter einander und mit der Bauchwunde mehrfach
durch fibrinöse Belege verklebt. Substanzverlust von 8 mm Länge im Colon
desc, Reste von Catgut neben demselben. Medianwärts von der linken Niere
ein faustgrosser, fluctuirender grauweisser Sack. Linke Niere (152 : 46) fötal
gelappt. Becken und Kelche sehr erweitert, ihre Schleimhaut glatt, massig
verdickt, grauweiss. Der Eingang in den Ureter klappenförmig. Ureter selbst
für die Sonde unschwer passirbar, 12 mm im Umfange; 24mm hinter der Ab-
gangsstelle etwas verengt. Rechte Niere (132 : 46) leicht fötal gelappt, Becken
und Kelche eLwa,s weit.
Die Causa mortis war in diesem Falle die Aetherbronchitis,
Pat. liaite, wie viele junge Leute, die Tendenz, sich für vollständig
gesund zu erklären; er wollte üfficier werden, wollte nicht krank
sein. Deswegen verschwieg er sorgfältig, dass er wiederholt an
Ueber Peritonitis chronica non tuberculosa und ihre Folgen. 657
Bronchitis gelitten hatte, so oft er auch befragt wurde. Die Aether-
bronchitis setzte mit excessiver Heftigkeit ein; bald gab es ein
llaematom unter der Hautwunde, so dass die Nähte entfernt, das
Blut ausgeräumt werden musste. Die Bauchmuskeln und Fascien
waren mit sehr starkem Catgiit vernäht, letzteres hielt, aber die
Muskelsubstanz gab nach unter dem Drucke der Hustcnstösse,
zumal Pat. augenscheinlich von der Lunge aus inficirt war, sogar
schon Endocarditis acquirirt hatte; es kam nächtlicher Weile zum
Prolaps der Darmschlingen, was Patient gar nicht merkte; erst
6 Stunden später wurden die vorgefallenen Darmschlingen entdeckt.
Wäre aber der Kranke auch von allen diesen Complicationen ver-
schont geblieben, wäre er vorläufig mit dem Lehen davon ge-
kommen, wer weiss, wie sich dann die Verhältnisse in der Bauch-
höhle gestaltet hätten. Es ist ja nicht sicher, dass bei ungestörtem
Verlaufe Flexura lienalis und Col. desc. mit der Wunde in der
vorderen Bauchwand verwachs(*n wären, wie das jetzt der Fall
war, aber rechnen muss man doch mit dieser Möglichkeit; trat
diese Verwachsung ein, so war Patient wahrscheinlich nicht besser
daran, als früher. Mit besserem Erfolge wurde Fall IV operirt:
No. IV. Frl. F., 53 Jahre alt, aufgenommen am 12. 7. 97.
Pat. wurde im März 1895 operirt wegen gewaltiger Gallensteine, des-
gleichen wurde damals die sehr mobile rechte Niere fixirt; Verlauf vollkommen
reactionslos, trotzdem erholte Pat. sich nicht so, wie andere wegen Gallen-
steine und Wanderniere operirte Kranke. Sie klagte weiter über Magen-
beschwerden, dazu kamen Schmerzen linkerseits im Bauche; Pat. hatte un-
regelmässigen Stuhlgang, litt an Flatulenz. Die Intersuchung ergab im All-
gemeinen negative Resultate, nur wurde Dilatatio vcntriculi festgestellt, weil
beim Aufblasen des Magens die grosse Curvatur zwischen Nabel und Symphyse
stand. Freie Salzsäure vorhanden.
18. 7. Schnitt in der Mittellinie: Magen ganz unverändert; Pylorus, dos-
gleichen Duodenum mit Gallenblase, weithin fast bis zum Fundus verwachsen ;
letzterer in einer Ausdehnung von 2 [^cm an der vorderen Bauchwand ad-
härent. Ablösung des Pylorus und des Duodenum von der Gallenblase gelingt
leicht. Nun wird links von der Mittellinie weiter p:esucht; es findet sich das
Col. transv. 7 Ctm. jenseits der Linea alba, sowohl direct (an 20pfennigstück-
grosser Stelle) als indirort mittelst des Netzes mit der vorderen Bauchwand
verwachsen. Netz enthält weisse, zarte Narben. Die gleichen Narben im
Mesenterium der Flexura lienalis: letztere ist ebenso zusammen^eschnurrt, als
das Netz; es gelingt alle Narben zu trennen, Netz und Flexur zu entfalten, so
dass man diesen Darmabschnitt vollständig übersehen kann. Linke Niere
etwas zu beweglich, rechte frülier fixirte liegt fest an normaler Stelle.
658 Dr. Riedel,
Verlauf vollständij^ rcactionslos , nur einmal am 5. Tage 38,1. Trotz-
dem sehr langsame Reconvalescenz, so dass Pat. erst am 4. 9. entlassen
werden konnte. Seitdem dauerndes Wohlbefinden, noch im Juli 1898 con-
statirt.
Die hier bestehenden Narben waren nicht so ausgedehnt, wie
im Falle III; ihre Beseitigung machte keine Schwierigkeiten. Die
Aethernarkose wurde gut ertragen, so dass der Verlauf post op.
völlig ungestört war. Dadurch erklärt sich das gute Endresultat
der Operation, doch ist die Beobachtung noch zu kurz, als dass
man ein definitives ürtheil abgeben könnte.
Im Allgemeinen wird auch bei den geschilderten Anomalien
der Flexur abwartendes Verfahren angezeigt sein; die beim Lösen
der Adhäsionen entstehenden Wunden sind zu ausgedehnt; stets
müssen wir mit AViederverwachsungen rechnen, und ob die nun
sich bildenden Adhäsionen an günstigen oder an ungünstigen
Stellen liegen, darüber entscheidet lediglich der Zufall. Werden
die Beschwerden unerträglich, so wird man auch hier an Resec-
tion des betreffenden Darmal)schnittes zu denken haben. Finden
sich gleichzeitig Verwachsungen der Flexura hepatica mit der
Lober und der Gallenblase, des Colon ascendens mit der vorderen
Bauchwand und dem Colon transv., ist also fast der ganze Dick-
darm durch Adhäsionen geknickt und verzerrt, so bleibt schliess-
lich nur Knterostomie zwischen unterem Ileumende und S-romanum
übrig. Ich werde diese Operation wahrscheinlich in den nächsten
Tagen bei einer 65 jährigen Dame machen. Sie leidet an diffusen
Verwachsungen fast des ganzen Dickdarmes; warum Col. asc. und
Flexura hepatica verwachsen sind, das ist unklar; die Flexura
lienalis ist in einen entzündlichen Process hineingezogen, der sich
in der Magenwand entwickelt hat (fast ringförmiges Ulcus ventriculi,
durch die aufgelagerte Flex. li»Mi. an der Perforation in die freie
Bauchhöhle verhindert). Der grösste Theil des Magens ist am
30. 7. 98 mit Glück entfernt worden; jetzt triit aber die Stenose
im BenMche des Dickdarmes so in den \'ordergrund, dass der er-
wähnte Eingriff nöihig werden wird, wenn i)eständig zu wieder-
holende hohe l'jnläufe nicht zum Ziele führen.
Bekommen die Kranken schliesslich gelegentlich Ileus, so
werden auch hier hohe Eingiessungen am Platze sein aus den oben
erwähnten (iründen; erreicht man mit ihnen sein Ziel nicht, so
üeber Peritonitis chronica non tuberculosa und ihre Folg:cn. 659
dürfte es immer noch richtiger sein, einen Anus praeternaturalis
oberhalb des Hindernisses anzulegen, als frei und weit die Bauch-
höhle zu eröffnen. Ich habe mich einmal vor einer Reihe von
Jahren, als ich diese Zustände noch gar nicht kannte, verführen
lassen, einem circa 50jährigen Kranken, der schon wiederholt
schwere Attaquen von Ileus gehabt hatte, linkerseits das Abdomen
zu öffnen; ich fand dort Verwachsungen, konnte mich aber über
die Ursache derselben bei dem mangelhaften Lichte — die Op.
fand auswärts in einem Privathause statt — nicht orientiren; ich
glaube, dass ich chronische Mesenterial Peritonitis vor mir gehabt
habe, doch ist der Fall unsicher, weil keine Section gemacht wurde.
Jedenfalls war die Operation ohne jeden Erfolg, der Kranke ging
4 Tage später zu Grunde; möglich, dass die Operation den Tod
desselben beschleunigt hat, möglich, dass man durch Fortsetzung
der hohen Eingiessungen doch noch Hülfe gebracht hätte, obwohl
Fieber und Pulsbeschleunigung (120) bestanden und grosse Mengen
freier Flüssigkeit in der Bauchhöhle bei der Op. nachgewiesen
wurden.
Alle Individuen mit Ileus zu retten, ist unmöglich; man soll
die Laparotomie da vermeiden, wo sie voraussichtlich nicht zum
Ziele führt, weil durch Misserfolge günstige Fälle abgeschreckt
werden. Das ist allerdings leichter gesagt, als gcthan; wer will
die Diagnose auf chronische Mescnterialperitonitis mit Sicherheit
stellen? Ein einfacher, rasch zu beseitigender Netzstrang, um den
sich das Colon desc. lose herumgeschlungen hat, wird genau die-
selben Erscheinungen machen können, als die Schrumpfung der
Mesenterien, dort wäre es ein Fehler nicht zu operiren, hier ist
es umgekehrt; nach der Operation weiss man das ganz genau,
vor der Operation weiss man es leider für gewöhnlich nicht. Wir
werden immer wieder, falls hohe Eingiessungen in Narkose nicht
zum Ziele führen, bei Ileus operiren auch auf die Gefahr hin, dass
wir gelegentlich Niederlagen erleiden; von lürfolg wird die Opera-
tion meist sein bei secundär entstandenen Adhäsionen, falls letztere
nicht allzusehr ausgedehnt sind; zum Misserfolir wird sie meist
dann führen, wenn primär chronische Peritonitis vorliegt, weil
letztere gewöhnlich tlächenhaft ausgebreitet ist.
660 Dr. Riedel,
II. Die Narbenbildung im Peritoneum praerenale.
Wie der Darm, so kann auch die Niere durch Schrumpfung
des ihr aufliegenden Peritoneum verschoben resp. an abnormer
Stelle fixirt werden; hier wie dort ist dieser Schrumpfungsprocess
entweder ein primärer oder ein secundärer; der letztere ist längst
bekannt; in jeder genaueren Darstellung der Lehre von der
Wanderniere (Ebstein, Küster, Prior u. s. w.) findet sich die
Angabe, dass eine Wanderniere secundär durch entzündliche Pro-
cesse an abnormer Stelle festgelegt werden könne, docli wird dieser
Vorgang als relativ selten bezeichnet. Nicht erwähnt ist bis jetzt,
dass auch primäre Schrumpfung des Peritoneums zu Dislocation
und zu Fixation der Niere führen kann. Nur das hat man ge-
wusst, dass entzündliche Processe in der Gallenblase sich zuweilen
auf das Peritoneum der hinteren Bauchwand fortsetzen und dadurch
die Niere nach oben und median wärts verzerren. Ich selbst
habe diesen Vorgang wiederholt beobachtet; entweder handelte es
sich um zartere Narben oder um derbe speckige Infiltrate im Peri-
toneum, durch welche die Niere mit grosser Gewalt nach oben ge-
zogen und festgelegt wurde. Diese Beobachtungen liefern zunächst
den Beweis, dass die Niere dem Zuge des ihr aufliegenden Peri-
toneum folgen kann resp. folgt.
Ganz analog verhält sich die Niere gegenüber dem Zuge, der
durch primäre chronische Peritonitis hervorgebracht wird; sie
verlässt ihren normalen Standort, rückt nach innen und wird
bald M'eiter oben, bald weiter unten fixirt; fast regelmässig wird
das Duodenum durch den gleichen Schnimpfungsprocess beeinflusst;
während die Niere nach links verzogen wird, macht das Duodenum
eine Wanderung nach rechts vor der dislocirten Niere vorbei;
mehr oder weniger heftige Str)rungen seitens des Magens sind die
Consequenzen dieser Verzerrung des Duodenum.
Wie oft nun dieser Schrumpfungsprocess im Peritoneum
wirklich das primäre Leiden ist, wie oft er secundär dadurch zu
Stande kommt, dass eine ursprünglich echte AVanderniere secundär
entzündliche Processe im praerenalcn Peritoneum erregt, das ist
schwer nach dem mir vorliegenden Materiale zu entscheiden. Als
charakteristisch für die primäre Peritonitis betrachte ich die Bil-
dung von weissglänzenden, dreizipfeligen Narben; ich gestehe zu,
lieber Peritonitis chronica non tuberculosa und ihre Folgen. 661
dass ich sie in den zuerst operirten Fällen nicht gesehen, resp. auch
nicht beachtet habe, was recht wohl möglich ist. Stand ich doch
unter dem deprimironden Eindrucke vollständig falscher Diagnosen, als
ich diese auffallende Verschiebunif der Niere zuerst vor mir hatte.
Erst später gelang es, an einem ganz besonders typischen Falle
(No. 8) den sicheren Nachweis zu führen, dass die primäre chro-
nische Peritonitis die Verzerrung der Niere verursacht habe. Mög-
lich ist auch, dass die Bindegewebswucherungen, die mir in den
zuerst operirten Fällen zu Gesicht kamen, die Vorstadien jener
dreieckigen Narben repräsentiren.
Für den Patienten ist es übrigens ziemlich gleichgiltig, ob der
Schrumpfungsprocess primär oder socundär im praerenalen Peri-
toneum auftritt; die klinischen Folgen sind immer dieselben:
Fixation der nach links verlagerten Niere an abnormer Stelle,
Wanderung des Duodenum nach rechts und dadurch bedingte
mehr oder weniger starke 'Symptome von Verengerung des Duo-
denum resp. des Pylorus. Wichtiger für den Kranken ist es, ob
auch die Einmündungsstelle des D. choledochus in das Duodenum
durch die Verschiebung der genannten Organe beeinflusst wird, ob
also Icterus auftritt oder nicht.
Mit der Gelbsucht entsteht ein gefährliches Allgemeinleiden,
während es sich bis dahin um eine zwar sehr störende, aber immerhin
nicht zum Tode führende, local beschränkte AfFection handelt.
Von dieser soll zuerst die Rede sein:
No. I. Hulda Kraft, 25 .1., aufgenommen 23. 2. 97, entlassen 2. 5. 97.
Vater an Lungenentzündung gestorben. 3 Geschwister leben, 5 sind gestorben.
Pat. ist seit 12 J. krank. Anfangs litt sie an Bleichsucht mit Magen-
beschwerden. Gefühl von Vollscin, Appetitlosigkeit. Mit 15 Jahren Rippen-
fellentzündung (13 Wochen). Pat war dann weiter nicht recht gesund und
auch nicht recht krank. Ernster erkrankte sie im Jahre 93; sie wurde vom
Mai bis Juni wegen Magengeschwür und Magenerweiterung in der med. Klinik
behandelt. Blutbrechen nie vorhanden gewesen, einige Blutfaserchen beim
Magonausspülen. Die Schmerzen liestanden damals andauernd und traten
nicht anfallsweise auf. Sept. bis Dec. 93 nochmals in der med. Klinik, desgl.
Aug. 94. Damals wurde zuerst undeutlich eine Geschwulst unterhalb der Leber
entdeckt. vSeit dieser Zeit halte Pat. immer leise Schmerzen, seit 95 aber rich-
tige Anfälle: Würgen (nie Erbrechen), Auftreibung des Leibes, Schmerzen in
der Gallenblasengegend, ausstrahlend nach Rücken und Schulter, so heftig,
dass Pat. hätte schreien mögen. Diese Anfälle waren unrcgelmässig, setzten
ArchiT fllr klin. Chirurgie. 57. Bd. Heft 3. 44
662 Dr. Riedel,
plötzlich ein, dauerten einige Tage, pausirten dann wieder wochenlang. Von
Icterus weiss Fat. nichts. Starke Gewichtsabnahme.
Befund. Schlanke, sehr blasse Frau, Leib weich, Leber überragt den
Rippenbogen um 2 Finger. In der Gallenblasengegend ein derber, schmerz-
hafter Tumor, der sich bis über die Medianlinie, aber nicht nach hinten schie-
ben lässt. Urin klar, frei von Eiweiss und Zucker.
27. 2. Schnitt, durch den M. rect. abd. d. Der gefühlte Tumor erweist
sich als eine sehr hochstehende Niere; sie hängt mit dem Duodenum durch
sehr derbes Bindegewebe zusammen, besonders ein, allerdings sehr feiner
Strang ist ausserordentlich fest. Das Duodenum erscheint etwas, nach oben
dislocirt, noch höher steht der Pylorus; letzterer ist spitzwinklig abgeknickt;
der nach links vom Pylorus gelegene Theil des Magens hat sich direct ans
Duodenum angelegt; Magen nicht dilatirt. Die Niere wird vom Duodenum ab-
gelöst und nach hinten geschoben; darauf lässt sich das Duodenum ebenfalls
nach unten verschieben, wodurch die Knickung am Pylorus beseitigt wird.
Gallenblase klein, weich, ohne Steine. Schluss der Bauchwunde.
Sodann Schnitt von hinten auf die Nierengegend; Niere fehlt dort, das
Messer fällt durch das Peritoneum hindurch, so dass die Leber frei liegt;
Catgutnaht. Weiter unten liegt die Niere; sie lässt sich nach oben drücken.
Kapsel anfangs schwer, dann leicht abziehbar, lässt sich in gewohnter Weise
am Quadrat, lumb. fixiren. Drei Tampons.
Reactionsloser Verlauf; Tampons 14 Tage post operationem entfernt.
9. 5. 97 mit 4 Pfd. Gewichtszunahme völlig frei von Beschwerden ent-
lassen.
15. 6. 98 vorgestellt. Dauernd gesund geblieben, Pat. kann alle Speisen
vertragen: sie arbeitet Tag für Tag in der Fabrik, sieht dementsprechend
bleich aus.
No. II. Frau Scheidt, 29 J., aufgenommen 8. 3. 97, entlassen 27. 5. 97.
Eltern leben und sind gesund, Geschwister desgl.
3 Wochen nach der ersten Entbindung im Januar 91, bekam Pat. bei
dem ersten Ausgange sehr heftige Schmerzen in der rechten Seite; sie zogen
sich nach hinten und unten; die Kranke musste gähnen, sie konnte die Augen
nicht recht öffnen , da der Schmerz gleichsam die Augen zuzerrte. Alsbald
(1 Stunde nach Beginn des Anfalls) trat heftiges Erbrechen auf, nachdem Pat.
sich ins Bett gelegt hatte. Sie kauerte in letzterem zusammen, weil die Schmerzen
dann etwas nachliessen. Das Erbrechen hörte am ersten Abende auf, die
Schmerzen wurden aber immer heftiger, hielten sich am nächsten Tage auf glei-
cher Höhe; während der Nacht wurden sie geringer und am nächsten Tage ver-
loren sie sich langsam. Ob Fieber bestanden hat, lässt sich nicht mehr ent-
scheiden, doch hatte Pat. Hitze im Kopfe. 6 Wochen lang hatte Pat. jetzt vollständig
Ruhe, sie fühlte sich ^anz gesund; da trat nach heftiger Bewegung des Armes
bei der Arbeit (Wirkerei) der zweite Anfall ein. Dieses und die nächsten Male
setzte der Schmerz leise ein, wurde dann heftiger; wenn der Schmerz seinen
Höhepunkt erreicht hatte (circa 5—6 Stunden nach Beginn des Anfalles), kam
es zu lohhaftem Erbrechen; die Schmerzen hielten noch einige Stunden lang
in gleicher Stärke an und verschwanden dann leise nach 2—3 Tagen.
Ueber Peritonitis chronica non tubcrculosa und ihre Folgen. 663
Derartige Anfälle wiederholten sich in den ersten Jahren circa alle
6 Wochen, später alle 4 Wochen. W^iederholte Graviditäten (6 Kinder) waren
ohne Einfluss auf das Leiden. 6 Wochen vor der Aufnahme traten die Anfälle
häufiger auf, alle 2 Tage, so dass jetzt schmerzfreie Pausen fast gänzlich auf-
hörten.
Die Diagnose der Aerzte schwankte zwischen Blinddarmentzündung,
Gallensteinkoliken und Magenkrämpfen; eine Geschwulst war von ihnen nie
gefühlt worden. Von Seiten der ürinentleerung waren keine Störungen vor-
handen, nur einmal (1 Jahr nach Beginn der Anfalle) hatte Pat. 8 Tage lang
Urinzw^ang; später wurde nichts Abnormes mehr wahrgenommen.
Status praesens. Kräftige Frau, im 3. Monate gravida. Deutlich pal-
pabler fanstgrosser Tumor unterhalb der Leber in der Gegend der Gallen-
blase, massig verschiebbar, auf Druck empfindlich.
12. 3. Narkose. Tumor lässt sich auch jetzt nicht von der Leber trennen,
deshalb Schnitt durch den Rect. abdom. Die gefühlte Geschwulst erweist sich
als eine ausserordentlich derb ans Duodenum fixirte Niere; sie liegt dicht an,
zum Theil vor der Wirbelsäule, das Duodenum ist nach rechts und vorne ver-
zogen und in ganzer Ausdehnung mit der kleinen weichen Gallenblase ver-
wachsen; es bestehen auch Verbindungen zwischen Quercolon und Niere; alle
genannten Organe hängen dort eng zusammen.
Nach Ablösung des Col. transv. und des Duodenum von der Niere resp.
der Gallenblase lässt sich der Zwölffingerdarm nach rechts hin schieben, da-
gegen folgt die Niere einem Zuge nach links nur in massigem Grade; ein quer
zur Mittellinie verlaufender Strang, die deutlich pulsirende Art. renalis, leistet
Widerstand. Schluss der Bauchwunde; Schnitt von hinten auf die Nioren-
gegend. Niere lässt sich, weil die Arteria renalis nicht genügend nachgiebt,
nur so weit nach oben drängen, dass kaum das obere Dritttheil derselben unter
dem Rippenbogen verschwindet. Festlegung in gewohnter Weise.
Reactionsloser Verlauf; Schmerzen vollständig beseitigt.
Schon im Laufe des April erholt Pat. sich trotz der Gravidität in erfreu-
lichster Weise; sie wird dick und rund im Bette.
27. 5. geheilt entlassen.
Mitte April 98 stellte Pat. sich wieder vor: sie war eine gesunde blü-
hende Frau geworden; von der Niere nichts zu fühlen; Beschwerden dauernd
beseitigt.
Diese beiden Fälle sind am längsten beobachtet, haben also
klinisch den grössten Werth.
In beiden Fällen war die Diagnose auf Gallensteine gestellt;
diese Diagnose wurde auch noch bei der Untersuchung in Narcose
festgehalten, weil der Tumor absolut nicht von der Leber zu
trennen war. Dazu sprach der ganze Verlauf des Leidens fast
rait völliger Sicherheit für Gallensteine: bei No. I zuerst das „Magen-
leiden", das so oft dem Steine in der weichen Gallenblase seinen
44*
664 Dr. Riedel,
Ursprung vordankt, dann die meist gar nicht existirende „Magen-
dilatation", die gleichfalls oft auf dasselbe Leiden zurückzuführen
ist; CS folgt der mehr continuirlichc Schmerz, d. h. die Gallen-
blasenwand verdickt sich, der D. cysticus verschwillt und jetzt
folgt der erste entzündliche Schub, die acute seröse Gallenblasen
cntzündung. Mit letzterer setzte das Leiden anscheinend bei
No. II ein; sie erkrankte sofort unter heftigen Schmerzen und inten-
sivem Erbrechen. Diese Anfälle wiederholten sich in so typischer
AN'eise, zwischen denselben herrschte so vollständige Ruhe, dass man
wieder mit voller Sicherheit auf Gallensteine schliessen musste.
Wodurch erklären sich nun die Anfälle? Von einer Achsen-
drehung des Organes mit nachfolgender Abknickung der venösen
Gefässe kann doch nicht die Rede sein, ebenso wenig von Harn-
stauung. Die Nieren lagen ja vollständig fest, konnten sich gar
nicht drehen. Diese acuten Aüaquen, die sehr an die Zustände
erinnern, welche als Folgen von Niereneinklemmnng u. s. w^ bei
veritabler Wanderniere bes(*hrieben werden — gesehen habe ich
leider eine solche Niereneinklenimung nie — gleichen am meisten
den durch Adhäsionen zwischen Gallenblase, Duodenum und Quer-
colon hervorgerufenen Schmerzanfällen; sie verlaufen wohl durch-
weg ohne Temperaturerhöhung, treten hier wie dort bald spontan,
bald nach körperlichen Anstrengungen ein, sind vorläufig überhaupt
nicht zu erklären, so viel wir auch über dieses Thema debattiren
mögen. Vorhanden sind die Adhäsionen Jahr und Tag; warum
machen sie oft nur vorübergehende Beschwerden, warum liegen
Monate lange, völlig schmerzfreie^ Pausen zwischen den Anfällen?
w-arum häufen sie sich g(*legentlich? Nc^scimus.
Im Falle 11 spielte wahrscheinlich die Verwachsung von Niere
und Duodenum mit der Gallenblase noch eine Rolle; es kam zu
excessivem Erbrechen, während No. I nur an Würgen litt, doch
haben andere Kranke, ohne dass die Gallenblase adhärent gewesen
wäre, gleichfalls an heftigem Erbrechen gelitten (vergl. Fall 5).
Die Fälle beweisen, dass nicht bloss die an abnormer Stelle
fixirte Niere excessive Beschwerden verursachen kann, sondern dass
die Nieren auf ihrer sogenannten Wanderung bis zu jener Stelle hin
Störenfriede I. Ranges sein können.
Bei No. 1 hatte man 1893 noch keine Geschwulst gefühlt,
obwohl damals das Magenleiden bereits 7 Jahre lang bestand;
Ueber Peritonitis chronica non tuberculosa und ihre Folgen. 665
die Diagnose war auf Dilatatio ventriculi infolge von Ulc. Pylor.
sanat. gestellt worden. Erst im August 1894 entdeckte man
einen undeutlichen Tumor unterhalb der Leber; diese Geschwulst
wurde allmählich — Pat. blieb dauernd unter Controle der hiesi-
gen Poliklinik — immer deutlicher, bis sie sich im Februar 1897
als derber, wenig verschiebbarer Tumor in der Gegend der Gallen-
blase präsentirte. Es wurde also die Niere auf ihrer Reise von
hinten rechts nach vorne links genau verfolgt; die Beschwerden
wurden allmählich stärker, vorhanden waren sie aber vom Beginn
der Reise an.
Bei No. II wurde die Geschwulst erst hier entdeckt; die
früher behandelnden, sehr erfahrenen Aerzte hatten sie nißht ge-
fühlt. Daraus ist zu schliessen, dass auch hier die Niere lang-
sam denselben Weg genommen hat, wie die Niere von No. 1;
auch hier steigerten sich die Beschwerden allmählich entsjarechend
der weiteren Verschiebung der Niere; vorhanden waren sie aber
stets.
Ich glaube nun nicht, dass die Dislocation der Nieren als
solche die ausserordentlich starken Beschwerden hervorgerufen
hat, die hier geklagt wurden, sondern dass die Verwachsungen
die Hauptschuld tragen, da frei bewegliche Nieren kaum jemals
so schwere Störungen verursachen. Sie verhalten sich ja sehr
vers(*hieden, verursachen bald wenig, bald viel Beschwerden; indi-
viduelle Empfindlichkeit spielt eine grosse Rolle, so dass ein Ver-
gleich mit der Retroflexio uteri zulässig ist.
Wiederholt habe ich bei Gallensteinoperationen bewegliche Nie-
ren zu Gesicht bekommen; sie glitten unter einem intact(*n prä-
renalen Peritoneum auf und nieder; ich habe mich gar nicht um
die Niere gekümmert, sie einfach an Ort und Stelle belassen; Klagen
von Seiten der Kranken sind mir bisher nur einmal — es wurde
Y4 Jahr nach Entfernung der Gallensteine Fixatio renis nöthig —
zu Ohren gekommen, was doch wohl der Fall gewesen wäre,
wenn die Patientinnen häufig Beschwerden behalten hätten.
Eine vor circa 7 Jahren operirte Dame mit Gallensteinen und
Wanderniere gleichzeitig ist lediglich von ihren Gallensteinen be-
freit worden; die AVanderniere liess ich in Ruhe, trotzdem fährt,
reitet, schwimmt die sehr lebenslustige Grossgrundbesitzerin, erfreut
sich dauernd dos besten Wohlseins; anderen mit Wanderniere ist
666 Ör. Riedel,
CS ebenso gegangen. Noch ganz kürzlich habe ich wieder einen
mit Gallensteinen coraplicirten Fall von Wanderniere genauer unter-
suchen können.
No. 231. Frau Flechtner, 33 J., aufgenommen 21. 6. 98.
Seit 3 Jahren magenkrank, seit l^g Jahren an deutlichen Gallenstein-
koliken leidend, 3 mal mit Erbrechen in letzter Zeit, einmal soll Icterus vor-
handen gewesen sein.
Status praesens. Blasse, weinerliche Frau. Deutlicher grosser, mit der
Athmung sich stark verschiebender Tumor in der Gallenblasengegend; Druck
daselbst schmerzhaft.
26. 6. Incision ergiebt Wanderniere, keine Spur von chronischer Perito-
nitis oder von Gewebsverdickung vor der Niere. Duodenum liegt medianwärts
von derselben, es steht in keiner festen Verbindung mit der Niere; man kann
es leicht etwas aufheben und weiter nach links hinüberlegen; die Niere gleitet
hinter dem intacten Peritoneum auf und ab, lässt sich weithin verschieben,
ohne dass das Duodenum irgendwie beeinilusst wird. Gallenblase klein, weich,
unverwachsen, enthält zahlreicheSteine von Slecknadelkopfgrösse und schwarze,
zähe Galle. D. choled. augenscheinlich dilatirt, aber frei von Steinen. Gallen-
steine entfernt; zum Schlüsse der Operation fliesst bereits normale Galle.
Verlauf: 29. 6. kein Fieber, viel Galle im Verbände. 20. 7. Gallenfistel
geschlossen.
Die weitere Beobachtung wird lehren, ob Patientin nach Ent-
fernung ihrer Steine noch Beschwerden von ihrer Wandemiere
haben wird; vorläufig ist sie seit der Operation, also 3 Wochen lang,
vollkommen schmerzfrei; dies kann sich ja ändern, wenn sie das
Bett verlässt; sehr wahrscheinlich ist es mir nicht, dass sie ernstere
Störungen erleben wird. Die Niere bewegte sich leicht und glatt
hinter dem Peritoneum, sie übte kaum irgend einen Zug auf das
Duodenum aus.
Dass also in manchen Fällen eine bewegliche Niere wenig oder
fi:ar keine Störungen macht, das lässt sich nicht leugnen; manche
Autoren gehen so weit, dass sie überhaupt jede schlimme Folge
der Wandeniiere bestreiten, dass sie in jedem Falle mit einer Ban-
dage aus zu kommen glauben; andere halten die Wanderniere für
ein ernstes, der Operation bedürftiges Leiden. Wie erklären sich
diese Widersprüche? Zum grösseren Theile natürlich durch Zu-
und Abneigung für Operationen, zum kleineren Theile vielleicht —
ich sage ausdrücklich „vielleicht" — auch dadurch, dass jenen
Autoren vorwiegend Fälle von veritabelen beweglichen Nieren ohne
jede Tendenz zu Verwachsungen zugingen, während diese — und
üeber Peritonitis chronica non tuberculosa und ihre Folgen. 667
das werden voraussichtlich meist die Chirurgen gewesen sein —
Kranke beobachteten, deren bewegliche Nieren Tendenz zu Ver-
wachsungen hatten und dass diese Nieren, auch wenn sie noch
leidlich beweglich sind, erhebliche Beschwerden machen
können, das mögen die jetzt folgenden Fälle beweisen:
No. IIL Fr. Auguste Hennicke, 50 J., Weimar; aufgenommen 6. 1. 98,
operirt 11. 1. 98, entlassen 3. 4. 98. Vater mit 73 Jahren an Influenza ge-
storben, Mutter an Üteruskrebs. Sonst weiss Fat. nichts von Krankheiten in
ihrer Familie anzugeben.
Fat. selbst nach lOjähriger Ehe seit 18 Jahren Wittwe; 3 Partus, vor
dem 1. Partus ein Abort. 1 Sohn im 23. Jahre an Schwindsucht gestorben,
Fat. machte mit 25 Jahren ein schweres Nervenfieber durch , war bis dahin
immer gesund.
Seit 24 Jahren leidet sie am Magen: ab und zu traten Anfälle von Magen-
krämpfen auf, die etwa 12 Stunden dauerten und in Pausen von 6 — 12 Monaten
wiederkehrten. Als vor 24 Jahren der erste Anfall auftrat, musste sie dieses-
wegen ihr Kind entwöhnen. Nach den Krämpfen trat in der Regel ein mehr-
stündiger Schütteifrost auf. Erbrechen, Icterus, Stuhlgangs Veränderungen hat
Fat. damals nie bemerkt, auch hat Fat. in ihrem Allgemeinzustande wenig
gelitten.
Vor 4 Monaten etwa traten auch Schmerzen weiter nach der Seite zu auf,
Pat. will dabei eine etwa taubeneigrosso Geschwulst in der R. V. Axillar-
linie unter dem Rippenbogen bemerkt haben. Seit 4 Monaten etwa hat Pat.
fast ununterbrochen krampfartige Schmerzen, die ins Kreuz hineinstrahlen;
kein Erbrechen, dagegen neuerdings sehr heftiges morgendliches Würgen;
auch will Pat. in den 4 Monaten sehr elend ge\vorden sein. Sie wird mit der
Diagnose ,, Gallensteine" der Klinik überwiesen, zumal auch die Schmerzen
in beide Schultern ausstrahlen.
Status praesens: Kümmerlich genährte Frau ; objectiver Befund nega-
tiv, zumal Pat. bei jeder Berührung die Bauchdecken ausserordentlich stark
spannt. In Narkose (11. 1. 98) fühlt man in der Gallenblasen gegen d einen
ziemlich verschiebbaren Tumor.
Inc. durch den Rect. abd. legt eine ganz normale Gallenblase und eine
dislocirte Niere frei. Vor derselben sieht man derbe Stränge, die vom Duode-
num auf die Leber lateralwärts von der Gallenblase zulaufen. Duodenum liegt
ganz vorne, dicht hinter der vorderen Bauchwand, vor dem medialen Theile
resp. dem Hilus der Niere. Letztere ist durch die erwähnten Stränge sowie
durch weitere ßindegewebsmassen, die sich in dem vor der Niere gelegenen
Peritoneum entwickelt haben, so weit median wärts verzerrt, dass der Hilus
der Niere resp. der Ureter unmittelbar an der seitlichen Fläche der Wirbel-
körper liegen; weisse glänzende Narben fehlen. Nierenvene läuft deutlich
sichtbar steil nach oben, so dass also die Niere stark nach abwärts gewandert
ist; Nierenarterie wird nicht gesehen; es spannt sich bei der jetzt vorgenom-
menen Reposition der Niere kein derber Strang an. Nach Lösung aller Stränge
1
668 Dr. Riedel,
wird die Bauchwunde geschlossen, sodaiin von hinten auf die Niere einge-
schnitten. Es gelingt, dieselbe durch etwas energischeren Zug an ihren nor-
malen Standort zu bringen und dort zu fixiren; Tamponade in gewohnter
Weise.
Verlauf: Vielfache Störungen infolge von Erbrechen und Durchfall,
sodann rechtsseitige centrale Pneumonie mit geringfügigem pleuritischem Ex-
sudate. Anfang Februar normaler Verlauf, aber sehr langsame Reconvalescenz.
3. 4. entlassen mit 11 Pfund Gewichtszunahme, frei von Beschwerden. Laut
Brief vom 7. 8. 98 ist das Befinden dauernd ein gutes. Die Frau besorgt
ohne Mühe 2 Aufwartestellen, befindet sich vollkommen wohl.
No. IV. Bertha Seiler, 27 Jahre. Aufgenommen 31. 3. 98, ent-
lassen 8. 5. 98. Pat. stammt aus einer angeblich gesunden Familie, nur die
Mutter (70 Jahre) und eine Schwester (33 Jahre) sollen ,, magenleidend" sein.
Pat. selbst will immer ganz gesund gewesen sein. 8 Tage vor Weihnachten 97
traten ganz plötzlich, ohne dass Pat. eine Ursache anzugeben wusste, krampf-
artige Schmerzen in der Gegend der Magengrube auf. Diese Schmerzen stellten
sich ganz unabhängig von den Mahlzeiten anfallsweise4— 5mal am Tage ein und
dauerten jedesmal etwa eine Viertelstunde. Dazwischen waren ganz schmerz-
freie Intervalle. Während der Attaquen Auftreibung des Leibes, aber kein
Uebelsein, kein Erbrechen. Die Schmerzen waren stärker im Liegen wie im
Umhergehen. Diese Schmerzanfalle haben sich bis jetzt immer wiederholt, nur
haben sie an Intensität verloren, dagegen an Zeitdauer zugenommen (Anfalle
von 2 stündiger Dauer in der letzten Zeit). Stuhlgang soll immer regelmässig
gewesen sein, Appetit dagegen sehr gering; auch in den schmerzfreien Zeiten
getraute sich Pat. nur wenig zu essen, so dass ihr Körpergewicht von
144 Pfund auf 119 sank. Mitte März war Pat. nicht mehr im Stande, ihre
Arbeit als Dienstmädchen zu verrichten; sie ging deshalb in ein Kranken-
haus; von dort wurde sie wegen Verdachtes auf Gallensteine in die hiesige
Klinik verlegt.
Status praesens: Grosses, kräftiges, nicht krank aussehendes Mäd-
chen. Negativer Befund, nur leichte Empfindlichkeit auf Druck rechts unter-
halb der Leber.
4. 4. 98. Incision ergiebt, dass weiche Gallenblase mit dem Duodenum
verwachsen ist; keine Steine in derselben. Dagegen ist die rechte Niere ganz
nach der Mittellinie zu verzogen ; ihr liegt das Duodenum auf, es folgt dem
Zuge an der Niere. Narben dort nicht sichtbar, wohl aber unten in der
Gegend des Processus vermiformis; letzterer, an der Aussenseite des Typhlon
gelegen, ist in Adhäsionen eingeschlossen, die an ihrer Oberfläche weissglan-
zende Narben tragen. Processus selbst verdickt, augenscheinlich chronisch
entzündet, wird entfernt. Es gelingt sodann leicht, das Duodenum von der
Niere zu trennen, worauf letztere nach hinten sinkt. Schluss der Bauchwunde,
keine Fixation der Niere.
Reactionsloser Verlauf, nur Störung infolge von Durchfall; Bauchdecken-
wunde heilt per primam. Beschwerden Seitens der Niere fehlen gänzlich
während der ruhigen Lage im Bette.
lieber Peritouitis chronica nori tuberoulosa und ihre Folgen. 669
Pat. wurde am 8. 5. in ein auswärtiges Krankenhaus translocirt, weil
sie hier auf Freibett lag. Auch dort befand sie sich zunächst gut; als sie aber
später aufstand, traten die alten Schmerzan fälle wieder auf. Sie tendirt aber-
mals in die hiesige Klinik, um nun die Fixation der Wanderniere vornehmen
zu lassen.
No. V. Frl. U., 51 Jahre alt, aufgenommen 12. 6. 98. Vater (Arzt) gestor-
ben an Kehlkopfschwindsucht, Mutter leidet an Morbus Basedowii; ein Bruder
magenleidend. Schon im Alter von 5 — 8 Jahren bestand oft heftiges Erbrechen
von galligen Massen mit Anflug von Icterus; diese Anfälle wiederholten sich
in der Entwickelungsperiode. Dann gesund bis zum Alter von 29 Jahren.
Nach heftiger Gemüthsbewegung ein 8 Stunden lang dauernder Anfall von
Gallensteinkolik mit starkem Erbrechen und heftigen Schmerzen in der Leber-
gegend; im Stuhlgange fand sich ein bräunlicher Stein, bohnenförmig, mit
rauher Aussenseite. Diese Anfälle, die oft nur 4—6 Stunden dauerten und
von heftigen Kopfschmerzen in der Stirngegend begleitet waren, wiederholton
sich in unregelmässigen Zwischenräumen; sie endeten meist mit Durchfällen.
Man fand keine Steine, wohl aber kiesartige Substanzen im Stuhlgange. Im
Jahre 83 ein besonders schwerer Anfall von Gallensteinkolik (48 Stunden
dauernd, 41 ^ Temperatur, Icterus), Stuhlgang nicht untersucht. 5 maliger
Besuch von Karlsbad, stets mit gutem Erfolge. Seit 7 Jahren keine heftigen
Kolikanfälle mehr, aber von Zeit zu Zeit heftiges Erbrechen von Galle, stets
hinterher Diarrhoe, worauf Uebelkeit und Kopfschmerzen schwanden; in
neuester Zeit erhebliche Abmagerung.
Status praesens: Mangelhaft ernährt, aber geistig frisch. Schmerz-
punkt in der Gallenblasengegend, Tumor nicht mit Sicherheit fühlbar; kein
Icterus. U. s. A.
16. 6. Narkose. Jetzt deutlich fühlbarer Tumor weit rechts im Abdomen.
Incision: Kleine Gallenblase ohne Steine, nur ganz unten etwas verwachsen,
der gefühlte Tumor erweist sich als dislocirte Niere. Leber in der Ausdehnung
von 10cm Länge und 2 cm Breite zunächst mit dem der dislocirten Niere auf-
liegenden Peritoneum nnd dann mit der Vena cava inferior verwachsen. Nach
Lösung dieser Adhäsionen sinkt die Niere etwas, aber nicht erheblich nach
rechts; man kann sie nicht an ihren richtigen Platz schieben, weil die Arteria
renalis sich stark anspannt; sie verläuft median wärts und nach oben. Das
Duodenum ist nicht sehr erheblich nach rechts verzerrt, wohl aber ist das
Quercolon nach oben verlagert bis zum Magen; an letzteren (Pylorustheil) hat
sich das Duodenum ca. 2— 3 cm weit fest angelegt, beiden liegt das Quercolon
auf. Nach Ablösung des Quercolon gelingt es auch, den Magen vom Duo-
denum zu trennen, so dass die spitzwinklige Knickung des Pylorus beseitigt
ist. Weiterhin bestehen noch Adhäsionen zwischen Colon ascendens und
Flexura coli hepatica, sie werden gelöst. Processus vermiformis am distalen
Ende obliterirt, hängt tief ins kleine Becken hinein, ist dort adhärent; er wird
abgelöst, aber nicht entfernt. Schluss der Bauchwundo; doppelreihige Catgut-
naht durch Muskeln und subcutanes Fettgewebe.
Verlauf reactionslos.
670 Dr. Riedel,
14. 7. Schnitt auf die Niere; letztere liegt fast an noniialer Stelle. Ge-
ringfügiger Bluterguss unter die Capsula fibrosa noch jetzt vorhanden. Kapsel
schwer abziehbar, Nierensubstanz sehr weich, reisst hier und da etwas ein.
Niere lässt sich leicht nach oben schieben ; sie wird in gewohnter Weise fixirt.
20. 7. Ungestörter fieberloser Verlauf. 28. 7. Tampons entfernt. 15. 8. fast
geheilt entlassen.
Diese drei Patientinnen wurden mit der Diagnose: „Gallen-
steine*^ der Klinik überwiesen, so intensiv waren die Beschwerden
derselben; No. V hatte sicherlich auch einst Gallensteine gehabt,
doch waren die letzten Steine augenscheinlich im Jahre 1883 bei
dem letzten schweren Anfalle durch die Papille hindurchgetrieben
worden. No. III und IV hatten nie Steine gehabt; erstere litt
seit 24 Jahren an Schmerzanfällen, die in den letzten 4 Monaten
eine excessive Höhe erreicht hatten, so dass Patientin rapide ab-
gemagert war; der gleiche rasche Gewichtsverlust wurde bei
No. IV und V beobachtet. In allen drei Fällen glaubten die be-
handelnden Aerzte ein schweres Leiden vor sich zu haben und in
allen dreien lag lediglich eine nur leicht iixirte, also noch ziem-
lich verschiebbare Wanderniere vor. Dies wurde stets ante opera-
tionem, aber erst in Narkose bei völlig schlaffen Bauchdecken con-
statirt, die Diagnose konnte also wenigstens im letzten Momente
gestellt werden, was in Fall I und II wegen völliger Fixation der
Nieren ganz unmöglich war.
Zwei Mal (No. 111 und V) waren die Nieren medianwärts und
gleichzeitig nach unten verschoben; die Nierengefässe liefen steil
nach oben. Mit den Nieren war auch das Duodenum anscheinend
etwas nach unten gezerrt worden; No. 4 hatte lediglich Verschie-
bung der Niere nach der Mittellinie zu erlebt.
Ob in diesen Fällen primäre chronische Peritonitis als Causa
morbi vorliegt oder ob die Veränderungen im Peritoneum secun-
därer Natur sind, das wage ich nicht mit Sicherheit zu entscheiden;
für wahrscheinlicher halte ich ersteres. Besonders die Verwach-
sungen dt\s Peritoneum praerenale mit der Leber und der Vena
Cava inferior, die Adhäsionen zwischen Quercolon und Magen im
Falle V lassen sich nicht wohl anders erklären.
Leider ist erst Fall 111 abgeschlossen; Patientin ist vollstän-
dig hergestellt. No. IV bedarf noch der Fixatio renis, bei No. V
ist letztere erst vor 4 Wochen vorgenommen. Ich erwarte dauernde
Ueber Peritonitis chronica non tuberculosa und ihre Folgen. 671
Heilung, obwohl die Ablösuni^en in der Bauchhöhle ziemlich aus-
gedehnt waren ; bis jetzt arbeiten Magen und Dickdarm trotz dieser
Ablösungen ganz vortrefflich.
In den geschilderten 5 Fällen glich das Krankheitsbild also
am meisten dem einer Gallenblasenentzündung infolge von Stein,
doch waren auch Dilatatio ventriculi resp. Ulcus ventriculi sana-
tura und andere Magenleiden in Frage gekommen. Drei Mal hatte
erst die Untersuchung in Narkose Klarheit gebracht. Diesen fünf
Fällen steht ziemlich schroff No. VI gegenüber; bei ihr war die
Diagnose auswärts auf Appendicitis gestellt worden, während hier
Wanderniere, complicirt mit Appendicitis, angenommen wurde:
No. VI. Elise Secbcr, 29 Jahre, Ilmenau. Aufgenommen 21. 1. 98, ope-
rirt 26. 1. 98 und 19. 3. 98. Vater mit 46 Jahren an einer Rückenmarkser-
kTankung gestorben, Mutter lebt und ist gesund. Von Krankheiten in der Fa-
milie ist Pat. nichts bekannt. Sic selbst von 93 bis 97 verheirathet, 2 Partus,
kein Abortus. Pat. will früher ganz gesund gewesen sein. In ihrem
19. oder 20. Lebensjahre bemerkte Pat., als sie eine Bürste von einem ziemlich
hohen Kleiderschranke herabholen wollte, plötzlich einen „Knax** in der rech-
ten Seite. Seitdem hatte sie stets einen ziehenden Schmerz an dieser Stelle,
besonders beim Gehen. Im Laufe der Zeit haben sich diese Schmerzen immer
mehr nach vorn, nach dem Bauche zu gezogen, auch bemerkte Pat. in den
letzten 2 Jahren, dass sich etwas im Bauche hin und her bewegte; sie selbst
konnte dabei von aussen auch einen „Klumpen" fühlen. Beim Liegen ver-
schwanden die Beschwerden. Kurz vor Weihnachten 97 bekam Pat. starken
Hustenreiz bei vollständig; negativem Befunde an der Lunge, gleichzeitig traten,
ohne dass eine Ursache zu finden gewesen wäre, auch Schmerzen in der Ileo-
cöcalgegend auf. Pat. empfand es doppelt schmerzhaft, wenn der bewegliche
Klumpen gegen diese schmerzhafte Stelle stiess. Ab und zu trat Erbrechen
auf, Pat. hatte über Hitze im Leib und unregelmässigen Stuhlgang zu klagen
und wurde wegen ,, Appendicitis** der Klinik überwiesen.
Status praesens: Ziemlich kümmerlich genährte Frau; undeutlich
wird rechterseits eine Resistenz gefühlt, die als Wanderniere imponirt. Wegen
Unsicherheit der Difignose cxspectatives Verhalten. Da traten am 26. 1. mor-
gens, bei 37,7^ Temperatur, heftige Schmerzen in der lleooöcalgegend auf;
man sieht dort eine leichte Vorwölbung, glaubt geringfügige peristaltische Be-
wegungen zu erkennen, so dass jetzt die Diagnose auf Appendicitis gestellt
und alsbald die Narkose eingeleitet wird. In derselben fühlt man wieder deut-
lich den Tumor, der früher als Wanderniere gedeutet wurde. Trotzdem
Schnitt auf die lleocöcalgegend. Dort wird nur ein Strang entdeckt, der vom
Cöcum hinauf zum Colon transversum geht. Wurmfortsatz an seinem distalen
Ende atrophirt, jedenfalls nicht entzündet. Oben ist das Netz an der Leber
mit einzelnen Strängen adhärent. Weiter unten liegt, gleichzeitig ziemlich
672 Dr. Riedel,
stark medianwärts verzerrt, die Niere hinter dem nach rechts verschobenen
Duodenum; sie wird von letzterem abgelöst und reponirt. Schluss der Bauch-
wunde; vorläufig keine Fixatio renis, weil verhältnissmässig viel Blut in die
Bauchhöhle geflossen ist.
Verlauf: reactionslos; Wunde heilt per primam. Pat. klagt aber dau-
ernd über unbestimmte Empfindungen in der rechten Seite, deshalb am 19. 3,
Schnitt von hinten auf die Niere. Letztere liegt fast an normaler Stelle, ist
nur noch sehr verschiebbar. Fixation.
Verlauf: einige Tage lang 38,0— 38,4 ^ bei 120 Pulsschlägen, sodann
fieberfrei bis 16. 4. Bei gut granulirender Wunde zunächst Angina, später
Erysipelas faciei, wodurch Pat. stark herunterkommt. Sie konnte erst 18. 5.
geheilt und frei von Beschwerden entlassen werden. Gewichtszunahme erst
4 Pfund. 25. 7. Befinden gut. Narbe noch etwas schmerzhaft auf Druck.
Die Operation hat den Fall klar gestellt; der Strang zwischen
Coecum und Col. transv. hatte die Appendicitis vorgetäuscht. Der
Strang repräsentirte eine Complication, die ganz unabhängig von
der dislocirten Niere war. Letztere erwies sich als noch in er-
heblichem Grade verschiebbar, dementsprechend fehlten auch derbere
Stränge im Peritoneum praerenale, die Niere verhielt sich mehr
als veritabele Wanderniere, sie verursachte auch imr geringfügige
Beschwerden, bis jene Complication hinzutrat. Augenscheinlich
wurde der Strang durch die sich bewegende Niere gezerrt, wo-
durch schmerzhafte Empfindungen, schliesslich sogar Erbrechen
entstand.
Wir haben einen „Ausnahmefall" vor uns; als solcher hat er
kein allgemeines Interesse; man wird nicht leicht Appendicitis mit
Ren mobile fixatum verwechseln; letztere wird immer am häufig-
sten mit dem Gallensteinleiden verwechselt werden. Das wird be-
sonders dann der Fall sein können, wenn die fixirte W^anderniere
sehr hoch unter der Leber steht und wenn sie bei Männern zur
Ausbildung kommt, also überhaupt nicht fühlbar ist:
No. 7. Herr Dr. med. F., 32 Jahre alt, aufgenommen 13. 7. 98. Vater f
an einem Lungenleiden. Mutter lebt, soll Spitzencatarrh gehabt haben. Pat.
stets schwächlich und nervös, erkrankte im 14. Le])ensjahre an Scharlach mit
Nephritis; es bestanden Symplome von Urämie, Erbrechen u. s. w. Winter
Sl/82 traten die ersten Erscheinungen des jetzigen Leidens auf: Pat. ging
rasch nach dem Mittagessen zum Schlittschuhlaufen, er bekam dabei Schmerzen
dicht unter dem Rippenbogen am äusseren Rande des Rect. abd., so dass er
bald nach llauso gehen und sich hinlegen musste; die Schmerzen hörten nach
1 — 2 Stunden wieder auf. Etwa V2 Jain* später kam eine heftige Attaque; sie
lieber Peritonitis chronica non tuberciilosa und ihre Folgen. 673
ö'
dauerte 2—3 Tage. Ungefähr in Pausen von ^''2— 1 Jahr wiederholten sich
dann die Anfalle, meist im Anschlüsse an starke körperliche Bewegungen oder
an Genuss von schwer verdaulichen Speisen oder von Alcoholica; die Schmerzen
traten meist erst mehrere Stunden nach der Einwirkung der genannten Schäd-
lichkeiten auf, oft erst am nächsten Tage; sie waren dumpf und sehr quälend.
Mehrere Male brach kalter Schweiss aus, auch wurde Pulsverlangsamung bis
auf 50 Schläge gegen 70—100 in der Norm beobachtet. In der Zwischenzeit
war Pat. frei von Beschwerden, nur musste er schwere Speisen vermeiden.
Mai 89 gab eine Angina diphtheritica den Anstoss zum Ausbruche einer
hochgradigen nervösen Erschöpfung; im rechten Hypochondrium wurde jetzt
permanentes Druckgefühl gespürt, dasselbe steigerte sich beim geringsten Diät-
fehler oder bei körperlicher Anstrengung zu schmerzhaften Empfindungen.
Dieser Zustand besteht jetzt seit 9 Jahren, kaum ein Tag ist ungestört. Die
Diagnose der behandelnden Aerzte schwankte zwischen Gallensteinen und Py-
lorusgeschwür; man verordnete strenge Diät, so dass Pat. Jahre lang nur von
leichten Speisen lebte. Eine Kur in Karlsbad im Frühling 1898 verschlimmerte
das Leiden, dagegen besserte sich der Zustand in Königsborn bei Unna
(Dr. Wegele); das Gewicht stieg von 116 auf 119^/2 Pfund, aber der Ap-
petit blieb gering. Die Untersuchung des Magensaftes ergab Hyperacidität;
die verdauende Kraft des Magens war gut: Y2 '"Stunde nach Einnahme eines
Probefrühstückes war durch die Magensonde nur noch wenig Schleim zu ge-
winnen; von einer reichlichen Mittagsmahlzcit war Abends nicht das geringste
im Magen zurückgeblieben. Ich bin, so schreibt Pat., am Schlüsse seines Be-
richtes, in meinem gegenwärtigen Zustande nahezu ganz leistungsunfähig.
Nach jeder grösseren körperlichen Anstrengung treten die erwähnten Schmerzen
auf, die mich meist zum Liegen zwingen. Geringfügige Diätfehler, Gemüths-
bewegung sowie auch angestrengte geistige Arbeit haben denselben Einfluss.
Ich würde mein Leiden für ein vorwiegend nervöses halten, wenn nicht die
strenge Localisation bestände und nicht die betreffende Stelle während der An-
fälle auf Druck äusserst empfindlich wäre. Auch jede stärkere palpatorische
Untersuchung ruft eine Verschlimmerung des Zustandes hervor, indem danach
stärkere Schmerzen auftreten. Dieselben strahlen übrigens oft nach hinten
sowie in die Gegend des Blinddarmes aus. Ein von mir consultirter hervor-
ragender Nervenarzt ist gleichfalls der Ansicht, dass meine Nervosität ihren
Ursprung in einem localen Leiden habe.
St. pr. : Magerer blasser, auffallend jugendlich aussehender Mann.
Rechtes Hypochondrium durch Senfteige u. s. w. dunkel verfärbt, auf Druck
sehr empfindlich; kein Tumor nachweisbar.
In der Blinddarmgegend anscheinend kleiner auf Druck schmerzhafter
Knoten. Brustorgane gesund. Urin ohne Albnmen.
17.7. Schnitt durch den M. rect. abd. d.; Leber klein, Gallenblase des-
gleichen, nicht verwachsen. R. Niere steht hoch und dicht an der Wirbelsäule,
Duod. ist etwas nach rechts verzogen, vollständig abgeplattet; Veränderungen
im Peritoneum praerenale sind kaum nachweisbar; das Gewebe ist durchweg
zart. Ablösung des Duod. von der Niere p^clinjrt leicht; Duod. entfaltet sich
674 Dr. Riodel,
darauf nach vorne. Magen mit Duod. durch eine einzige schmale weiss-
glänzende Narbe ve^lölhet, so dass der Pylorus etwas, aber nur in minimalster
Weise abgeknickt ist; Trennung der Narbe. Appendix ganz gesund; Dickdarm
voll Skybala, obwohl reichliche Abführmittel gegeben waren. Bauchhöhle
lässt sich vom Schnitte aus übersehen, Netz liegt ganz normal, nirgends werden
weitere Anomalien im Bauche entdeckt; Schluss der Bauchwunde. 21. 7.
Reactionsloser Verlauf, nur dadurch gestört, dass Pat. in liegender Stellung
keinen Urin lassen kann. Yg last geheilt.
Wenn sich ein Arzt zur Laparotomie entschliesst, dann muss
er sehr erhebliche Beschwerden haben; von „Nervosität" kann
man hier nicht sprechen; Patient macht gar keinen nervösen Ein-
druck, er ist ein ruhiger, entschlossener Mann, der ganz genau
weiss, dass er Grund hat, sich operiren zu lassen. Bei ihm fand
man selbst in Narkose gar nichts; die Niere lag aber hoch oben
unter der Leber, letztere war klein, verschwand unter dem Rippen-
bogen; es war nach der Oeffnung der Bauchhöhle ganz klar, dass
man diese Niere hätte nimmermehr ante operationem
fühlen können.
Der Fall ist wichtig, besonders im Hinblicke auf No. 9;
möglich, dass noch öfter „nervöse Magenbeschwerden" durch der-
artig versteckt liegende dislocirte Nieren verursacht werden. Leider
ist die Sache noch nicht spruchreif; erst wenn nach Fixatio rcnis
alle Beschwerden beseitigt sind, wird man zu sicheren Schlüssen
berechtigt sein.
Alle die bisher erwähnten Patienten hatten Beschwerden, die
einen mehr, die anderen weniger, aber das Leben war nicht be-
droht; ernster wird das Leiden, wenn Icterus sich hinzugesellt. In
der Literatur ist mehrfach intormittirender Icterus bei Wanderniere
erwähnt; sehr ausführlich schildert Litten (Charite-AnnaL V. 1878,
S. 193) einen einschlägigen Fall (zweimal sich wiederholender
Icterus, die zweite Attaque ganz schmerzlos auftretend), doch ist
meines Wissens noch kein Fall durch Incision verificirt worden;
ich theile deshalb zwei durch Obductio in vivo klar gestellte Be-
obachtungen mit; die erste Kranke bot ein leichtes, der zweite
ein ausserordentlich schweres absolut undurchsichtiges Krank-
heit sbild:
Ueber Peritonitis chronica non tuberculosa und ihre Folgen. 675
No. 8. Alwine Walther, 33 J., Lauscha. Aufgenommen 28. 3. 98, operirt
31. 3. 98.
Mutter mit 58 Jahren an Gehirnleiden gestorben. Vater hat eine Zeit
lang Gallensteine gehabt, die aber von selbst abgegangen sind, zur Zeit ist er
ganz gesund. Sonst weiss Pat. von Krankheiten in der Familie nichts anzu-
geben. Sie selbst ist bis auf ein geringfügiges Mutterleiden vor der ersten
Geburt immer ganz gesund gewesen. 3 Partus, 3 starke gesunde kräftige Kinder.
Die. jetzige Erkrankung begann Weihnachten 1896 plötzlich mit kolik-
artigen Schmerzen in der Magengrube, als deren Ursache sie viel Aerger und
Sorge in jener Zeit annimmt. Diese Schmerzanfälle dauerten damals einige
Stunden und waren begleitet von üebelsein (kein Erbrechen), Aufstossen und
Auftreibung des Leibes. Nach einigen Tagen trat ein leichter Icterus auf von
etwa dreiwöchentlicher Dauer. Bis Ostern 1897 hatte Pat. in der Woche 2 bis
3 Anfälle, durch die sie sehr herunter kam. Im Sommer sistirten die Anfälle,
so dass Pat. wieder arbeiten konnte. Im November aber begannen sie wieder,
zuerst ganz selten, traten aber gegen Weihnachten wieder häufiger und heftiger
auf. Der letzte Anfall von etwa einstund iger Dauer am 21. 3. 98.
Befund: Grazile, kleine, entschieden herunter gekommene Frau, sehr
weinerlich und aufgeregt. Gelbgraue Färbung der fettarmen Haut, Icterus im
Gesichte nicht ausgesprochen, vielleicht ein kleiner Stich ins gelbliche in den
Coigunctivcn. Brustorgane gesund. Abdomen flach, überall weich, Druck in der
Rep. epig. und in der Gallenblasengegend auffallend schmerzhaft. Leber-
dämpfung beginnt am unteren Rande der 5. Rippe und überragt den Rippen-
bogen in der Mamillarlinie. Die Leber ist sehr deutlich zu fühlen, desgleichen
die anscheinend prall gefüllte Gallenblase, besonders wenn man von der
Nierengegend her einen Gegendruck ausübt. Stuhlgang von normaler Farbe
und Beschaffenheit. Urin frei von Eiweiss und Zucker, Gallen farbstoff nicht
nachweisbar. Es besteht Retroflexio Uteri fixati. Puls regelmässig, 96. Tem-
peratur: 36,0 bezw. 37,0.
1. 4. Incision ergiebt, dass die gefühlte, als prall gespannte Gallenblase
angesprochene Geschwulst eine dislocirte und an abnormer Stelle fixirte Niere
ist. Quercolon und Duodenum durch weiss schi'lerndes, über die dislocirte
Niere hin weglaufen des Narbengewebe mit der unteren Fläche des rechten Leber-
lappens verwachsen. Diese Verwachsung beginnt 3 cm nach rechts vom Halse
der ganz intacten kleinen Gallenblase, 6 cm hinter dem vorderen Rande des
rechten etwas nach unten ausgezogenen Leberlappens. Die nach Ablösung der
Adhäsionen auf der Leber, speciell auf einem kleinen Extralappen derselben
zurückbleibende dreieckige Wundfläche ist ca. Thalergross. Jetzt steht die
Niere mit ihrem Hilus seitlich dicht vor der Wirbelsäule; ein dünnes vom Hilus
nach der Wirbelsäule zu laufendes Gefäss spannt sich so stark an, dass eine
Verschiebung lateralwärts kaum möglich ist; der Ureter dagegen spannt sich
nicht an. Colon ascendens mit Colon transversum durch weisse Narbenmassen
verwachsen, ersteres an der vorderen seitlichen Bauchwand adhärent. Das
stark nach rechts verzerrt gewesene Duodenum wird nach der Mittellinie zu
verschoben, die Verwachsungen der verschiedenen Abschnitte des Colon werden
676 Dr. Riedel,
gelöst, während die Niere unberührt an Ort und Slelle bleibt. Schluss der
Bauch wunde. Keactionsloser Verlauf, nur am dritten Abende stieg die Tem-
peratur auf 38,1; später war der Verlauf völlig fieberlos; die zuerst noch vor-
handene Spur von Icterus verschwindet im Laufe der nächsten Wochen gänzlich.
10. 4. Schnitt von hinten auf die Niere; letztere liegt noch immer weit median-
wärts, so dass sogar versehentlich das Bauchfell geöffnet wird (sofort durch
Catgutnaht geschlossen). Niere von Kapsel entblösst, wird allmälig vorge-
zogen, was ohne erheblichen Widerstand gelingt; Fixation an normaler Stelle.
Verlauf ungestört; höchste Temperatur 37,5. 20. 6. geheilt und frei von Be-
schwerden entlassen. 14. 8. vorgestellt. Keine Leibschmerzen mehr; alle
Speisen werden vertragen. Blasenkatarrh in Folge der Retrofl. Uteri.
Diese Kranke bot am deutlichsten das Bild der primären
chronischen Peritonitis; weiss glänzende Narben zogen von Duo-
denum und Quercolon über das Peritoneum praerenale hinüber zur
Leber, dort in der Ausdehnung von ca. Thalergrösse langgestreckt
endigend. Auch weiterhin am Colon asccndens und transversura
fanden sic^h die gleichen Narben, ohne dass die genannten Darra-
abschnitte jemals nachw-eisbar erkrankt gewesen wären; die
Bildung secundärer Adhäsionen war somit ziemlich ausgeschlossen.
Mit Rücksicht darauf, dass der Vater der Patientin an Gallen-
steinen gelitten, dass früher einmal Icterus vorhanden und jetzt
abermals aufgetreten war, dass ein Tumor unterhalb der Leber
gefunden wurde — lautete die Diagnose mit Sicherheit auf
Gallensteine. Die Ueberraschung war gross, als die Gallen-
blase sich als ganz unverändert, frei von Adhäsionen, also
wohl von jeher gesund erwies; diese Gallenblase konnte schwerlich
jemals Steine beherbergt haben; der einstige wie der jetzige Icterus
waren darauf zurückzuführen, dass die dislot^irte Niere an dem
Duodenum zerrte und wohl gelegentlich den intraduodenalen Theil
des Duct. choled. beeinflusste. Ich hätte aber doch noch Zweifel
gehegt, wenn ich nicht ^3 J^^^ zuvor einen völlig beweisenden
Fall von Icterus gravis nach Dislocatio renis operirt gehabt hätte:
No. 9. Herr von C, 42 Jahre alt, aufgenommen am 10. 10. 97.
Vater starb im 65. Lebensjahre an Ulcus duodeni (durch Obduction veri-
ficirt; Diagnose war auf Carcinoma ventriculi gestellt). Fat. selbst bot mit
22 Jahren Erscheinungen, die auf Ulcus ventriculi hindeuteten; er musste
sich stets etwas schonen, konnte nicht alle Speisen vertragen. Er war und
blieb mager, sah besonders im letzten Jahre oft sehr angegriffen aus, obwohl
er in sehr behaglichen Verhältnissen lebte und wenig zu thun hatte. Vor
5 Wochen erkrankte Fat. nach leichtem Schüttelfrost vollkommen SChmerzIos
Teber Peritonitis chronica non tuberculosa und ihre Folgen. 677
an Gelbsuclit; die Temperatur wurde zu Anfang nicht gemessen, spater fehlte
nachweislich jegliches Fieber. Bald wurde der Icterus ausserordentlich stark,
der Stuhlgang thonfarbig, Pat. verlor vollständig den Appetit, magerte rapide
ab, hatte aber absolut keine Schmerzen.
Status praesens: Icterus gravis; Stuhlgang zurZeitwieder etwas gefärbt.
Objectiver Befund YoIIstäBdig Begativ. Urin dunkel, fast wie Tinte, enthält
viel Gallen färb Stoff, aber kein Eiweiss. Gewicht 132 Pfund. Vom 10. — 16, 10.
kein Fieber. 16. 10. Schnitt durch den Rect. abd. dextr. : Netz nach oben ge-
schlagen, mit der Leber verwachsen, letztere an der vorderen Bauch wand ad-
härent. Alle Organe icterisch; Leber gleichmiissig dunkel icterisch; nirgends
Geschwülste nachweisbar. Duodenum mit rechter Niere verwachsen, nach
rechts verzogen und völlig platt gezerrt. Niere liegt weit vorne rechts neben
der Wirbelsäule; nach Ablösung des Duodenum von der Niere rückt ersteres
nach vorne und links, während die Niere weit zurück nach rechts in die Tiefe
sinkt. Schluss der Bauchwunde.
Verlauf. Ab. T. 36,7, P. 70, gut. 17. 10. T. 37,3. Ab. 38,9. P. 90
resp. 120, gut. 18. 10. T. M. 38,9, P. HO. Verbandwechsel, auffallend
viel Secret im oberen Wundwinkel. Leib flach. Urin enthält jetzt neben
Gallenfarbstoff sehr viel Eiweiss. 21. 10. Temperatur bleibt hoch (38—39,0);
Entfernung der Niihte; viel Secret im oberen Wundwinkel, offenbar aus der
Tiefe der Bauchhöhle stammend, intensiv gelb gefärbt; Wunde wird oben er-
weitert. 23. 10. Temperatur abgefallen (37,5, P. 90). Ein Drainrohr lässt sich
8 cm tief unter die Leber einführen. Urin enthält weniger Gallenfarbstoff und
weniger Eiweiss; I. Stuhlgang, gefärbt. 1. 11. Weiterhin fieberloser Verlauf.
Sehr starke Secretion aus dem Drainrohre, so dass Tag für Tag Verband-
wechsel nöthig ist. Weder Eiweiss noch Gallenfarbstoff im Urin. 5. 11.
Gestern Abend Frösteln bei 39,5 Temp. Grosse Mengen von Secret hinter den
Bauchdecken angehäuft. 10. 11. Verband noch immer gefärbt, Temperatur
normal. Icterus geringer. 19. 11. Gestern Abend wieder Frösteln bei 38,9 T.
Secretverhaltung beseitifc^t durch Einführung eines längeren Rohres. 1. 12.
Fieberloser Verlauf, gelegentlich 37,6 Abends; Secretion nimmt beträchtlich
ab. Wunde klafft nur noch im oberen Winkel. Pflasterverband. 14. 12.
Dauernd reactionsloser Verlauf; Gewicht am 6. 12. noch 129 Yj Pfund, ist
jetzt auf 136 gestiegen; kaum noch Gelbsucht. 3. L Gewicht 142 Pfund. Pat.
hat das Bett verlassen. Icterus vollständig verschwunden. Appetit und Ver-
dauung sehr gut. 23. 1. Geheilt und vollständig gesund entlassen. 7. 2.
155 Pfund. 15. 7. In gleichem Zustande bei 152 Pfund Gewicht vorgestellt.
Niere nicht zu fühlen. Zuweilen bemerkt Pat. jetzt wieder dieselbe Er-
scheinung, die er in früheren Jahren an sich beobachtete. Zuerst läuft der
Speichel im Munde zusammen, dann folgt allgemeines Unbehagen, sodann Zu-
sammenziehen des Magens mit wenig Schmerzen — nach 10 — 15 Minuten ist
alles vorüber.
Meine Diagnose lautete in diesem Falle: Carcinoma duodeni
mit fast vollständigem Abschlüsse des Ductus cholod. Der Vater
des Patienten hatte an UIc. duod. gelitten, Pat. selbst schien
ArehiT fttr kliii. Chirurgie. 57. Hd. Heft 3. 45
678 Dr. Riedel,
20 Jahre zuvor gleichfalls ein Geschwür daselbst gehabt zu haben.
Stets etwas „magenleidend", war er jetzt schleichend, schmerz-
und fieberlos erkrankt, binnen 5 Wochen skelettartig abgemagert,
im höchsten Grade hinfällig, graugelb — was konnte das anderes
sein, als eine maligne Geschwulst entweder im Duodenum oder im
Duct. choled. oder im Pankreas. Meine Absicht war, den Fundus
der Gallenblase abzulösen und ihn mit dem Duodenum in Verbin-
dung zu bringen, um das Leben des Kranken noch um einige
Monate zu verlängern. Aber das Carcinom war nicht zu finden,
auch die chronische Entzündung des Pankreas'), die mich einst
in grosse Verlegenheit gebracht hatte, fehlte; ich sah lediglich das
Duodenum ganz nach rechts verzerrt und platt gedrückt durch
die nach links dislocirte Niere. Derbere Narben fehlten anschei-
nend gänzlich; möglich, dass sie bei dem starken Icterus nicht
sichtbar waren ; die Verwachsungen des NetzQ3 mit der Leber, der
Leber mit der vorderen Bauchwand deuten aber darauf hin, dass
auch hier primäre chronische Peritonitis gespielt hat.
Dass der Ductus choled. direct verzerrt gewesen sei, das
habe ich nicht eruiren können; so weit er frei lag, schien er ganz
normal zu sein; wahrscheinlich ist der intraduodenale Theil des-
selben verlegt gewesen.
Die Operation wurde abgeschlossen mit dem unbefriedigenden
Gefühle, dass der Fall nicht klargestellt, dass doch noch ein Car-
cinom überselien worden sei. Dies war um so fataler, als Patient
eine sehr bekannte und gleichzeitig sehr beliebte Persönlichkeit
war. Am Tage nach der Operation liefen 53 Telegramme ein mit
der Anfrage nach dem Befinden des Patienten. Was sollte man
antworten? Wanderniere? Von dieser war bisher noch nie die Rede
gewesen, und nun sollte sie mit einem ^lale die Causa morbi ge-
wesen sein. Die Situation wurde noch peinlicher, als Patient am
2. Tage zu fiebern anfing, der Urin eiweisshaltig wurde. Es wurde
das Vorhandensein eines primären Leberleidens erwogen, einer un-
bekannten Tnfection; nichts wollte stimmen. Nach einigen Tagen
fand sich die Causa febris; augenscheinlich hatte sich, begünstigt
resp. verursacht durch den Icterus, eine erhebliche Menge von
Serum im oberen Theile der Bauchhöhle ani^ehäuft. Dieses in-
tensiv gelb gefärbte Serum verschaffte sich allmählich Abfluss
*) Berliner kliri. Wochenschrift. 189C,- No. 1.
Ueber Peritonitis chronica non tuberculosa und ihre Folgen. 679
durch den oberen Theil der Wunde; man- konnte ein Drainrohr
tief unter die Leber führen, worauf die Temperatur abfiel, doch
kam es trotz der Drainage noch wiederholt zu Retention von Secret.
Der Ausgang des Falles beweist, dass das schwere Leiden
ausschliesslich durch die Dislocation der Niere resp. des Duo-
denum bedingt war. Diese dislocirte Niere hat niemals Schmerz-
anfälle verursacht, sie hat sich also nicht anders verhalten", als
diejenigen dislocirten Nieren, die ich oben als zufällige Neben-
befunde bei den Gallenstein Operationen erwähnt habe. Sie machte
sich erst dann geltend, als das Duodenum heran- und plattgezerrt
wurde; daran war die chronische Peritonitis, nicht die Wander-
niere Schuld, letztere folgte einfach dem Zuge des sich retrahiren-
den Peritoneum. Es liegt auf der Hand, dass, falls Vorstehendes
richtig ist, gelegentlich auch chronische Peritonitis allein, also
ohne Dislocation der Niere, eine Verzerrung des Duodenum mit
Abknickung des intraduodenalen Theiles vom Ductus choled. zu
Stande bringen muss.
Ein einschlägiger Fall steht mir zur Disposition; ich führe
ihn hier an, weil er beweist, wie gefährlich die chronische Perito-
nitis in. dieser Gegend der Bauchhöhle werden kann:
Herr P., 46 Jahre alt, aufgenommen 22. 5. 98. Der früher stets gesunde,
in guten Verhältnissen lebende Mann erkrankte Pfingsten 97 ohne jede Veran-
lassung an schwerem Icterus, ohne dabei Schmerzen zu verspüren. Seit jener
Zeit blieb Pat. dauernd icterisch; er litt viel an Erbrechen und an Obstipation,
magerte infolge dessen mehr und mehr ab; seit Weihnacht-en 97 lag er be-
ständig im Bette, «uweilen fieberte er Abends bis 38^. Die Diagnose wurde
von den verschiedensten Aerzten auf maligne Geschwulst gestellt, doch war
man sich über den Ausgangspunkt derselben nicht klar.
Status praesens: Cachektischer, dunkelgelb gefärbter Mann. Objec-
tiver Befund vollständig negativ. Mageninhalt enthält freie Salzsäure. Tem-
peratur 38,0^. Urin. s. alb. Mit Rücksicht auf die Unsicherheit des Falles
und weil Pat. einmal in seiner Jugend einen 3 Wochen lang dauernden Tripper
gehabt hatte. Versuch mit Jodkali.
31. 5. Zunehmende Verschlechterung des Allgemeinzustandes, fast tät-
lich Erbrechen. Seit vorgestern unvermögend, Urin zu entleeren, so dass ka-
theterisirt werden muss; retardirter Stuhlgang. Nachdem seit der Aufnahme
Temperatur normal gewesen war, gestern Abend 38,0 o, deshalb als letzter
Versuch Incision rechts von der Mittellinie. Grosse Gallenblase adhärent an
dem stark nach rechts verzogenen Duodenum, weiterhin laufen Bindegewebs-
stränge von letzterem zur Leber hinüber; unterhalb des Duodenum und des
Pylorus sieht man die weisslichen Narben der chronischen Peritonitis. Von
45*
680 Dr. Riedol,
der unteren Fläche der Leber hängt eine ca. wallnussgrosse Nebenleber an
dünnem Stiele nach Art eines Polypen herab, sie drückt gerade auf den Duc-
tus choledochus mit ihrer unteren Fläche. Nach Ablösung des Duodenum von
der Gallenblase lässt sich dasselbe nach links verschieben; die Nebenleber
wird entfernt. Niere liegt an normaler Stelle, hier relativ weit vom Duodenum
entfernt. Naht der Bauchwunde. Abends noch leidlich gutes Befinden, am
nächsten Morgen, 5 Uhr, ziemlich plötzlicher Collapsus und Exitus.
Obduction: Oedema pulmonum in massigem Grade. Herz gesund, ab-
gesehen von einzelnen kleinen Verkalkungen in der Kranzader. Bauchhöhle
frei von Entzündung. Einzelne gezackte Verdickungen und Verkürzungen in
der Mesoflexur. Magen-Darmcanal intact, bis man dicht oberhalb der Valvula
Bauhini auf ein 40 mm langes und 14 mm breites, flaches Geschwür konunt.
Weiterhin in der hinteren Wand des Coecum und im Colon ascendens ausge-
dehnte graugelbe ülcerationen; die zwischenliegende Schleimhaut theils blau-
roth, theils flach sugillirt, theils völlig bleich und glatt. Im Quercolon die
ganze Schleimhaut theils blauroth, theils schiefergrau, überall bald mehr lose,
bald fest haftend graugelb bis grünlichgelb belegt. Im Colon descendens
Schleimhaut massig ödematös, bleich und glatt. Colon ascendens 136, Quer-
colon 114 mm Umfang, also erheblich dilatirt.
Das scliwere, endlich zum Tode fülirende J^eideii des einst
ausserordentlich kräftigen Mannes lässt sich meiner Ansicht nach
nur durch die chronische Peritonitis mit Verzerrung des Duct.
choled. erklären; ob die kleine Nebenleber eine Rolle gespielt hat,
das bleibe dahingestellt; jedenfalls kam sie erst indirekt zur Geltung;
nachdem der chronisch entzündliche Process das Duodenum an die
Gallenblase herangezogen hatte, mag die Nebcnleber auch noch
weiteren Druck auf den Duct. choled. ausgeübt haben. Letzterer
erwies sicli bei* der Obduction als vollständig intact und durcli-
gängig; er muss lediglich abgeknickt gewesen sein.
Eine primäre Leberkrankheit, wodurch der Icterus gravis zu er-
klären gewesen wäre, bestand nicht; Embolien der Vena port., event.
ausgehend von den Geschwüren im Darme, wurden auch nicht
nachgewiesen; die Ulcera hatten den Charakter von Druckge-
schwüren, bedingt durch Kotstauung bei einem cachectischen
Menschen; ein primäres Darmleiden bestand sicherlich nicht. So
bleibt nur die oben erwähnte Causa morbi übrig; und diese an
sich unbedeutende Kranklieit vernichlete hier langsam und schmerz-
los — letzteres ist besonders mit Rücksichl auf Fall 9 (v. C.) zu
erwähnen — ein blühendes Menschenleben, wie unzweifelhaft auch
Fall 9 zu Grunde gegangen wäre, wenn man nicht rechtzeitig ein-
gegriffen hätte. Letzterer bedarf wohl noch der Fixation seiner
Ueber Peritonitis chronica non tuberculosa und ihre Folgen. 681
Wanderniere, da ohne dieselbe Recidiv zu fürchten ist (vergl. oben
Fall 4); bis jetzt hat Patient sich nicht dazu entschliessen können ;
hoffen wir, dass seine Niere lediglich in Folge der Ablösung und
der Reposition an die normale Stelle, durch die darauf folgende
fast dreimonatliche Lage in gestreckter Stelle dort fest geworden
ist, wohin sie gehört; ich bin froh, dass vorläufig eine 2. Operation
nicht nöthig zu sein scheint.
Nun noch ein Wort über die Operationen. Alle 9 ^) Patienten sind
zunächst mittelst Bauchschnittes operirt worden ; bei 6 Kranken ist
die Niere entweder sofort oder später fixirt worden. Die Laparotomie
ist gemacht worden entweder weil eine falsche, eine unsichere oder
weil gar keine Diagnose gemacht war oder weil Complicationen
zum Bauchschnitte zwangen. So sehr ich mich auch besonders
über die falschen Diagnosen in Fall 1 und 2 alterirt habe, so zu-
frieden bin ich doch, dass ich diese Kranken sowie alle übrigen
mittelst Laparotomie behandelt habe. Einmal sind Beobachtungen
gemacht worden, die bei dem bekannten oft beklagten Mangel von
Obductionsbefunden bei Wanderniere von besonderem Interesse sind,
und zweitens sind die Kranken z. Theil nur durch dieses ein-
greifende Verfahren wirklich geheilt worden.
Zur Behandlung einer völlig beweglichen Niere genügt der
Schnitt von hinten mit nachfolgender Fixation der Niere; hier hat
es sich durchweg um W^andernieren gehandelt, die mehr oder
weniger fest an abnormer Stelle fixirt waren, und ob bei diesen
immer die einfache Fixation an normaler Stelle genügt, das ist
wohl etwas zweifelhaft. In den meisten Fällen wird sie ein brauch-
bares Resultat geben, weil stets die Fettkapsel der Niere abgelöst
wird; dadurch wird es wohl dem Duodenum möglich sein, sich
nach links hin zu retrahiren. Manche Operateure lösen auch die
Capsula fibrosa ab; das wird dem Duodenum weiteren Spielraum
gewähren.
Bestehen aber, wie in den Fällen 2, 3, 4 gleichzeitig mehr
oder weniger ausgedehnte Verwachsungen des Duodenum mit der
Gallenblase resp. der Leber oder ist das pracrenale Peritoneum
1) Anmerk. während der Correctur. Am 17. 8. wurde No. X operirt.
Niere ausserordentlich fest mit der Leber verwachsen ; wahrscheinlich secundäro
Fixation einer durch Trauma entstandenen veritabelen Wanderniere.
682 Dr. Riedel,
besonders stark geschrumpft, so wird das Duodenum in seiner
abnormen La^e verharren, die Erscheinungen von Seiten des Magens
werden bleiben, weil die Passage der Speisen durch das Duodenum
gestört ist. Melirfach (Fälle 2, 5 und 8) fanden sich auch gleich-
zeitig Adhäsionen zwischen Magert und Duodenum resp. Quercolon,
die einer Lösung bedurften, endlich wurden die Fälle No. 7 und
No. 9 überhaupt erst durch die Laparotomie aufgeklärt; sie wird bei
Männern immer nöthig sein, weil man bei den stark entwickelten Rectis
eine hoch unter der Leber stehende Niere niemals fühlen kann.
In den ersten drei Fällen folgte der Laparotomie so-
fort die Fixatio renis, später habe ich zweizeitig operirt, die
Niere erst 4 Wochen nach der Operation festgelegt, weil die
Kranken zu angegriffen waren, um zwei Operationen gleichzeitig
aushalten zu können. Man sollte immer zweizeitig operiren, wenn
auch die Behandlung sich dadurch etwas in die Länge zieht. Nicht
auf die Dauer des Krankenlagers, sondern auf den endgültigen
günstigen Erfolg der Behandlung kommt es an.
Was endlich die Fixatio renis anlangt, so bin ich durchaus
dem Operationsverfahren treu geblieben, das ich im Jahre 1892
(Berl. Kl. Woch. 1892. No. 28) publicirt habe; es liegt für mich
kein Grund vor, von demselben abzuweichen, da ich mit den er-
zielttMi Resultaten sehr zufrieden bin^).
Die erste Kranke, die ich 16. 9. 90 nach dieser Methode
operirt habe, befindet sich noch heute vortrefflich, desgl. eine zweite
(5. 2. 91 op.); die anderen di-ei habe ich aus dem Gesichte ver-
loren. Seit jener Zeit sind eine grosse Anzahl von Wandernieren
operirt worden; von Misserfolgen ist mir nichts bekannt geworden^
doch werde ich gelegentlich eine Generalmusterung meiner Fälle
veranstalten; möglich, dass noch einzelne Kranke klagen; das
werden voraussichtlich solche sein, die nicht an reiner W^anderniere,
sondern an einer mehr oder weniger fixirten Wanderniere litten^
die also ev. Adhäsionen zwischen prärenalem Peritoneum, Gallen-
blase und Duodenum zurückbehalten haben.
1) Reineboth (l'eber dio Annähiing der Wanderniere, Inaug.-Diss. Jena
1892) hat 55,9 pGt. giuter Erfolge an den von mir operirt^n Kranken heraus-
gerechnet; diese Zahl ist in die Litteratur übergegangen. Ich bemerke, dass
ich damals überhaupt erst 5 Kranke (eine doppelseitig) nach dieser Methode
operirt hatte; eine Statistik auf Grund von 5 Fällen hat ausserordentlich
wenig Werth, zumal 2 von diesen Kranken noch an anderweitigen Anomalien
litten.
üeber Peritonitis chronica non tuberculosa und ihre Folgen. 683
Eine am 15.8.95 wegen rechtseitiger Wandemiere operirte Dame
ist am 13. 6. 96 an einer acut von einem kleinen Herde aus sich ent-
wickelnden Tuberculosis pulra. gestorben; die Section ergab laut
Protokoll die Niere wie eingemauert etwas mehr seitwärts von der
Wirbelsäule, zwei Finger breit tiefer stehend als die linke; Narbe
circa i — 5 cm lang, 2 cm breit, nicht abziehbar. Es ist somit die
Sicherheit des Verfahrens auch durch die Obduction bewiesen.
Einige unwesentliche Modificationen sind im Laufe der Zeit erfolgt:
1. ich spalte die Tunica propria nicht mehr in ganzer Ausdehnung
von der lateralen Seite der Niere her, sondern erhalte den unter-
sten Theil derselben, um mittelst dieses Theiles des derben Sackes
die Niere nach oben unter das Zwerchfell zu schieben. Die hintere
Partie dieses Sackes wird sodann mittelst 2 oder 3 derber Oat-
gutnähte mit der vorderen Fläche des Quadratus lumbormn, unter
sorgfältiger Schonung des dem Muskel aufliegenden Nerven ver-
einigt; weitere Nähte werden vermieden.
2. Alle drei Tampons (der oberste flache zwischen obere
Nierenhälfte und Zwerchfell geschobene, der unterste grösste in
das frühere Lager der Niere geführte, der mittlere kleine direct
auf die untere hintere Fläche der Niere, so weit sie lateralwärts
vom Quadratus herausschaut, applicirte, mit schwarzem Faden
versehene) werden zum oberen Muskelwundwinkel herausgeleitet;
der untere, weitaus grösste Theil des Muskelschnittes wird mittelst
derber Catgutnaht vereinigt.
3. Die Tampons bleiben statt 4 nur noch 2 Wochen liegen,
da ich mich davon überzeugt habe, dass Htägige Tamponade ge-
nügt; die Heilung der Wunden erfolgt dementsprechend rascher.
4. Jegliches Antisepticum wird vermieden.
Diese Verbesserungen sind, wie gesagt, unwesentlich; das
Princip des Verfahrens: „Narbenbildung zwischen hinterer oberer
Nierenfläche und Zwerchfell durch flachen aber breiten Tampon''
ist geblieben. Ich halte an demselben fest, weil das Nieren-
parenchym selbst durch keinerlei Naht verletzt wird; es blättert
zuweilen beim Ablösen der Tunica propria oberflächlich ab, das ist
aber auch die einzige Sc^hädigung desselben, die gelegentlich vor-
kommt; derartige oberflächliche Nieren wunden heilen rasch und
anstandslos. Die Niere kommt bei diesem Verfahren gleichzeitig
hoch unter dem Zwerchfell und tief (in der Richtung von hinten
684 Dr. Riedel, Uober Peritonitis chronica non taberculosa etc.
nach vorne) auf dem Quadratus lumborum zu liegen. Man fühlt
nach der Heilung der Wunde die Niere nicht mehr, ebenso wie
man niemals eine gesunde, an normaler Stelle liegende Niere
fühlen kann^). Bei Fixation des unteren Poles der Niere an die
12. Rippe habe ich wenigstens die Niere stets in der Narbe gefühlt,
weil dieser untere Pol zu weit nach hinten rückt (der obere
entsprechend zu weit nach vorne); man soll aber den unteren Pol
einer gut fixirten Niere nicht in der Narbe fühlen; ist das doch
der Fall, so liegt sie eben zu flach, nicht in normaler Tiefe. Nach
wie vor vermeide ich jede Hautnaht, weil es zu Retention von
Secret kommen kann; wenn in Folge mangelnder Hautnaht die
Heilung der Wunde etwas länger dauert, so schadet das nicht; die
Narben in der Tiefe werden fester; Recidive habe ich noch
nie gesehen. Ich will auch durch das Offenlassen der Haut-
wunde das Verfahren absolut ungefährlich gestalten; wegen der
Fixation einer einfachen Wanderniere darf Niemand zu Grunde
gehen, und ist mir auch noch Niemand zu Grunde gegangen. Ist
aus der Ren mobile eine Ren mobile fixatum geworden, ist von vorn
herein Ren mobile fixatum infolge von primärer chronischer. Peri-
tonitis vorhanden, ist also event. Laparotomie nöthig, so wird es
gelegentlich — bei heruntergekommenen anämischen Menschen;
dieselben vertragen Laparotomie nicht immer — einen Unglücksfall
geben; dann aber stirbt der Kranke an den Folgen des Bauch-
schnittes; an den Folgen der Fixatio renis von hinten stirbt und
darf Niemand sterben. Dass diese Operation aber in sehr vielen,
besonders aber in den mit Tendenz zu Verwachsungen einher-
gehenden Fällen nöthig ist, davon werden sich, wie ich hoffe, im
Laufe der Zeit auch die ausgesprochensten Gegner der Nierenfixation
überzeugen. Wenn man einen Menschen durch eine ungefährliche
Operation, die höchstens 25 Minuten dauert, von seinen Qualen
befreien kann, so ist es Unrecht, ihm diese Wohlthat vorzuent-
halten, ganz abgesehen davon, dass das Leiden ja auch gelegent-
lich recht gefährlich werden kann.
*) Bei manchen Meuschen ist ja die rechte Niere fühlbar, ohne dass Be-
schwerden geklagt werden (vergl. Becker und Leunhof. D. med. Woch.
1898. No. 32). Diese Nieren liegen eben nicht ganz an normaler Stelle.
XL.
Ueber dauernde Spiritusverbände/)
Von
in Berlin.
M. H. Bisher habe ich gezöo;ort, vor dieser hervorragendsten
Versammlung deutscher Chirurgen über die Erfolge zu berichten,
welche ich seit fast 12 Jahren durch die Anwendung dauernder
Spiritusverbände bei der Behandlung der Entzündungen erzielt
habe. Ich fürchtete, dass mein Beobachtungsmaterial Ihnen zu
klein erscheinen w^ürde, um durch dasselbe die Behauptungen zu
stützen und zu belegen, welche ich in Folge meiner Erfahrungen
aufstellen musste, Erfahrungen, welche von dem Hergebrachten in
vielen Dingen abweichen. Deshalb habe ich vorgezogen, meine
Beobachtungen zunächst in kleineren Kreisen und durch die Fach-
presse zu veröffentlichen. Eine grössere Anzahl von Fachgenossen
hat jetzt meine Beobachtungen geprüft, und es sind mir zum Theil
direct, zum Theil durch literarische Veröffentlichungen vielfache
Bestätigungen meiner Behauptungen zugegangen. Ich darf in erster
Reihe dankend die Mittheilungen erwähnen, welche Herr Geheim-
rath Bardenheuer durch seinen Assistenten, Herrn Stabsarzt
Loew, hat veröffentlichen lassen (Berl. klin. Wochenschr., 1897,
No. 36, Mittheilungen über die SalzwedeTsche Spiritusbehand-
lung), und ich nehme Gelegenheit an dieser Stelle Sr. Excellenz
dem Generalstabsarzt der Armee, Herrn von Goler dafür zu
0 Abgekürzt vorgetragen am 4. Sitzungstage des XXVII. Congresses der
Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 16. April 1898.
686 Dr. Salzwedel,
danken, dass or mein Verfahren in mehreren grossen Lazarethen
hat prüfen lassen. Es ist mir mitgetheilt worden, dass diese
Prüfung meine Behauptungen im Allgemeinen bestätigt hat, und
dass die Absicht besteht, die Versuche in erweitertem Maasse
fortzusetzen. — Die sonach von vcrscliiedenen und ernsten Be-
obachtern gewonnenen günstigen Erfahrungen dürften sich jetzt auf
viele Hunderte einschlägiger Krankheitsfälle beziehen und so glaube
ich die Berechtigung wie die Verpflichtung zu haben, auch die Mit-
glieder dieser Versammlung um Anstellung weiterer Versuche zu
bitten.
Ich habe zu meinem Bedauern erfahren, dass einzelne Herren
Kliniker Abstand genommen hätten, das Verfahren zu prüfen,
bezw. zu lehren, weil ich von den Incisionen bei Panaritien und
Phlegmonen abgerathen hatte. Dies kann nur auf einem Missver-
ständniss beruhen. Ich habe ausdrücklich gesagt, dass ich keines
der sonst zur Behandlung der Phlegmonen u. s. w. gebräuchlichen
Mittel, wie Ruhigstellung, Hochlagerung, Stichelung und am
wenigsten das Messer entbehren möchte. Ich habe ausdrücklich
ausgesprochen, dass Jeder incidiren solle, wo er nach seinen Er-
fahrungen den Einschnitt für indicirt hält. Aber ich bin nach
wie vor überzeugt, wer die Verbände systematisch anwendet, wird
die Indication seltener zu stellen haben. Das dürfte doch kein
Vorwurf für das Verfahren sein.
Ich kann wohl annehmen, dass in Folge meiner vorauf-
gegangenen Verr)fTentlichungen (Deutsche militärärztliche Zeitschrift,
1894, Heft 7 und Berl. klinische Wochenschrift, 1896, No. 46 und
47) die Technik des Verfahrens, sowie das über die Theorie der
Wirkungsweise zu Sagende bekannt sind. Nur wenig Neues habe
ich hinzuzufügen. Herr Loew hat darauf aufmerksam gemacht,
dass eine Anätzung der Haut durch den Spiritus leicht da auf-
trete, wo die Haut vorher durch x\nwendung feuchter Verbände
erweicht war. Ich kann Dies bestätigen und hinzufügen, dass
dieser Uebelstand gelegentlich auch da eintritt, wo die Haut durch
ihre eigene Schweissabsonderung stai'k durchfeuchtet ist, z. B. in
der Achselhöhle, am Handteller, bei Schweissfüssen u. s. w. Hier
kommt es wohl auch zu Schmerzen. Erklären könnte man den
Vorgang auf folgende Weise, Wo der Spiritus auf trockene Haut
kommt, erhärtet er schnell das Stratum corneum und verschliesst
Ueber dauernde Spiritusverbände. 687
sich so selbst den Weg für das Eindringen als Flüssigkeit. Er
kann mir gasförmig in die tieferen Epithel- und Ilautschichten ge-
langen. Ist das Epithel aber stark gequollen und wasserhaltig,
so erhärtet es nicht schnell genug um dem Spiritus das Eindringen
durch Osmose zu versperren. Die ätzende Flüssigkeit gelangt in
das Stratum Malpighii und an den empfindlichen Papillarkörper.
— Werden die Verbände regelrecht angelegt, d. h. wird durch
eine genügend dicke Watteschicht, in der sich der Spiritus ver-
theilen kann und durch eine langsame Verdunstung von der Ober-
fläche des Verbandes, wie sie der perforirte Gummistoff zulässt,
dafür gesorgt, dass der Alcohol die Haut nicht zu lange als
ätzende Flüssigkeit benetzt, so kann man sicher sein, dass der
erwähnte Missstand höchstens Unbequemlichkeiten, aber keinerlei
ernstere Schädigung hervorruft. Es ist mir meist gelungen, auch
die Unbequemlichkeiten zu vermeiden. An den erwähnten Stellen
lasse ich den durchlöcherten Stoff so lange aus dem Verbände fort
bis die Haut völlig trocken erscheint, oder ich bepudere die Haut
dick mit Bismuthum subnitricum. Das an sich sehr wirksame Be-
streichen der Stellen mit Fetten darf da, wo eine directe Ein-
wirkung des Spiritus stattfinden soll, nicht vorgenommen werden,
weil es jedes Eindringen des AlcohoLs in die Haut verhindert.
M. H. Das Bedürfniss nach einer zuverlässigen und dabei
einfachen Methode für die Behandlung frischer inficirter, bezw. in-
fectionsverdächtiger Wunden wird wohl allgemein empfunden. Das
zeigt die häufige lürörterung dieses Themas auf den Congressen.
Die Schwierigkeit, den in die Gewebe einmal eingedrungenen In-
fectionskeimen mit den bekannten antiseptischen Mitteln nachzu-
kommen, hat uns Herr Friedrich am ersten Tage dieses
Gongresses illustrirt. Die vorhandenen Mittel und besonders ihre
wässerigen Ijösungen wirken eben alle nur superficiell. Jedenfalls
können sie. weder von der Wunde, noch von der Hautoberfläche
her schnell genug und in einer für die Desinfection genügenden
Concentration in die Gewebe eindringen. — Daneben ist die
Durchsetzung der tieferen Epithelsclnchten mit Infectionskeimen,
auf die Herr Schi off er hinwies, wohl nicht zu selten und sehr zu
beachten.
Der Vorschlag, den Herr Friedrich gemacht hat, inficirte
Wunden dadurch zu schützen und aseptisch zu machen, dass man
688 Dr. Salzwedol,
die Wundoberflächc mit dem Messer abträgt, leuchtet ein und er
hat ja nach den Ausführungen seines Autors die practische Be-
stätigung gefunden. Aber seine Anwendung dürfte zu beschränkt
sein, weil man, wie Herr Friedrich selbst ausspricht, seiner
Wirksamkeit nur in den ersten Stunden nach der Verletzung sicher
ist. Bei schon bestellender Entzündung ist von dem technisch
schwierigen und doch sehr eingreifenden Verfahren wohl nicht all-
zuviel zu erwarten. Jedenfalls dürften bei Massenverletzungen im
Kriege und im Frieden Zeit, Mittel und geeignete Kräfte fehlen,
um es durchzuführen. M. H. Die in ihrer Anwendung so einfache
Spiritusbehandlung hat sich mir bei solchen Wunden auch in
neuerer Zeit als ein so wirksames und sicheres Verfahren erwiesen,
dass ich begründete Hoffnung habe, sie werde diese empfindliche
Lücke in der Wundbehandlung grösstentheils ausfüllen können.
Wenn die Spiritusbehandlung im Stande ist, der Entzündung noch
bei so schweren Erkrankungen, wie bei den Phlegmonen, nach
Loew sogar bei den septischen Formen derselben, Schranken zu
setzen, so war von vorn herein anzunehmen, sie werde noch
sicherer die beginnende Entzündung günstig beeinflussen und in-
fectionsverdächtige Wunden entzündungsfrei halten können. Der
Erfolg hat bisher meine Erwartungen übertroffen. Ich sah heftige
Entzündungen, welche mehrere Tage bestanden hatten, in unmittel-
barem Anschluss an die Anlegung der Verbände zurückgehen, in
2 — 3 Tagen war die Entzündung soweit beseitigt, dass ich meist
wagen konnte, die Wunden durch Nähte zu vereinigen, und ich
habe bisher stets gute Heilungen gesehen. Ich habe die Wunden
weder ausgeschabt noch ausgewaschen. Nur sichtbaren Schmutz
habe ich möglichst peinlich mit der Pincette und durch Abwischen
mit stark ausgedrückten Aetherbäuschen entfernt. Ebenso habe
ich die Haut der Wundumgebung durch Abwischen mit Aether-
bäuschen so gut wie möglich gesäubert und entfettet. Auf ent-
zündete Wunden habe ich wenige Körnchen Jodoform aufgestreut
oder sie mit einer dünnen Schicht Jodoformmnll bedeckt. — Ich
halte es weder für nöthig noch für wünschenswerth, dass die
Wundfläche von dem flüssigen Spiritus direct berührt werde. Ich
suche sie vielmehr durch dicke Lagen trockenen Mulls vor der
Benetzung mit dem Medicament möglichst zu schützen und bemühe
mich, den Alcohol nur gasförmig auf die Wunde wirken zu lassen.
Ueber dauernde Spiritusverbände. 689
Je vollständiger man Dies erreicht, um so weniger worden die Ge-
webe in ihrem physiologischen Verhalten beeinträchtigt, denn das
Alcoholgas dürfte sie kaum verändern. Gelänge es, den Alcohol
rein gasförmig einwirken zu lassen, so würden für die Gewebe
Verhältnisse geschaffen, die denen beim aseptischen Verfahren nicht
unähnlich sind.
Was die Naht solcher entzündet gewesenen Wunden betrifft,
so habe ich stets nur vereinzelte Knopfnähte mit dünner, frisch
in physiologischer Kochsalzlösung ausgekochter Seide augelegt.
Die Wundränder wurden nur leise einander genähert, nicht anein-
andergepresst. Ich würde die Nähte nie in kleineren Abständen
als 1,5, höchstens 1,2 cm von einander anlegen, glaube dann aber,
wenigstens weim die Wunden nicht allzu tief sind, einer Drainage
entbehren ^u können. Ich war stets bereit, beim Eintreten der
geringsten Schmerzhaftigkeit, Schwellung, Fieber oder sonst eines
Zeichens von Verhaltung die Nähte zu lösen, habe es aber nie
nöthig gehabt. Die Stichkanäle haben niemals die leiseste Ent-
zündung oder Eiterung gezeigt. — Ich theile Dies jedoch unter
der RcvServe mit, dass mein Beobachtungsmaterial weder der Zahl
noch der Schwere der Verletzungen nach genügt, um ein ab-
schliessendes Urtheil zu gewinnen oder um die Grenzen der Zu-
verlässigkeit des Verfahrens zu bestimmen. Es war aber ge-
nügend um weitere Versuche berechtigt und angezeigt erscheinen
zu lassen.
M. H. Da ich glaube annehmen zu dürfen, dass der Spiritus
durch den längeren Contact, welcher durch die Verbände ermöglicht
wird, nicht nur die Hautoberfläche gründlich desinficirt, sondern
dass er auch die tieferen Gewebsschichten, in denen sich die Ent-
zündung verbreiten könnte, in gasförmigem Zustande mit des-
inticirender Kraft durchdringt, so halte ich mich, zugleich auf
Grund der practischen Erfahrungen, für berechtigt, die Verbände
.als einen technisch sehr einfachen und doch zuverlässigen
Nothverband besonders da zu empfehlen, wo eine ausgiebige
Desinfection frischer Wunden nach den bisherigen Regeln nicht
stattfinden kann, oder wo die Haut so verschmutzt ist, dass sie
sich trotz sorgfältiger Reinigung nicht sicher desinficiren lässt. Um
die Einführung dieser Nothverbände zu erleichtern, habe ich durch
690 Dr. Salzwedel, lieber dauernde Spiritus verbände.
die VorbandstofTfabrik von Pech in Berlin Verbandpäckchen zu-
sammenstellen lassen, welche in sehr handlicher Form alles zur
Anlegung eines Spiritus Verbandes Nothige enthalten: 1. Einen (Jodo-
form-) Mullbausch; 2. die mit Spiritus stark getränkte Mullcom-
presse; 3. die Watteschicht; 4. den perforirten Gummistoff;
5. Aetherbäusche zur Reinigung der Haut; 6. Eine Mullbinde.
M. H. Ich hoffe, dass das Verfahren Ihre Prüfung weiter gut
bestehen wird, und ich hoffe und bitte, dass Sie es prüfen, ob-
gleich Manches in meinen Ausführungen neu und ungewohnt er-
scheinen mag.
XLL
(Aus der chirurg. Klinik zu Giessen.)
lieber einen Fall von 5 Darmresectionen
wegen Schussverletzung/)
Von
Professor Dr. Poppert
in Giessen.
Scitdein wir uns daran gewöhnt haben, bei penetrircnden
Bauchwunden thatkräftiger vorzugehen und schon bei blossem Ver-
dacht auf eine Verletzung wichtiger innerer Organe zur Laparotomie
schreiten, ohne erst auf die Zeichen der drohenden Peritonitis zu
warten, sind in der Literatur bereits eine grössere Reihe operativer
Heilungen schwerer Verieizuiigen des Magendarnikanals bekannt
geworden. Vor einigen Monaten war ich in der Lage, wegen zahl-
reicher Darm Perforationen in Folge eines Pistolenschusses einen
sehr schweren Eingriff vornehmen zu müssen, der in der Resection
von 5 Darmstücken bestand. Mit Rücksicht auf die ungewöhnliche
Ausdehnung und Schwere des Eingriffes möge es erlaubt sein, den
Fall mitzutheilen.
Ein Student der Giessener Hochschule, der als Einjährig-Freiwilliger
diente, hatte am 15. 9. 97 in einem Pistolenduell beim zweiten Kugelwechsol
einen Schuss in den Unterleib erhalten, nachdem im ersten Gang das Geschoss
am Beckenknochen ab|?ei)rallt war. Obwohl der Verwundete alsbald nach der
Klinik verbracht wurde, gingen doch 4 Stunden verloren, bis zur Operation ge-
schritten werden konnte, weil man seinem Duellgegner, der ebenfalls einen
Bauchschuss davongetragen hatte, zuerst ärztliche Hülfe angcdeihen Hess.
^) Vorgetragen am 2. Sitzungstage des XXVII. Congresses der Deutschen
Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, l-i. April 1898.
692 Dr. Poppert,
Bei seiner Ankunft in der Klinik bot der Vorletzte keine bedenklichen
Erscheinungen dar; nach einiger Zeit aber klagte er über heftige Leibschmerzen,
CS stellte sich starkes Durstgefühl ein und mehrmaliges Erbrechen; die anfang-
lich massige Blutung aus der Schusswunde wurde sehr reichlich und schliess-
lich entwickelte sich das Bild einer bedrohlichen Anämie. Die Untersuchung
der Wunde ergab nun, dass die Kugel, die ein Caliber von 10,5 mm hatte,
rechterselts 2 Querfinger nach innen von dem vorderen oberen Darmbeinstachel
in die Bauchhöhle eingedrungen war, eine Ausschussöffnung war nicht vor-
handen. Ausserdem fand sich noch eine unbedeutende Hautquetschung etwas
unterhalb des rechten Därmbeinkamms, die von der ersten abgeprallten Kugel
herrührte. Nachdem die Narkose eingeleitet und die Bauchschusswunde er-
weitert worden war, quoll ein starker Blutstrom aus ihr hervor, so dass wir
die Verletzung eines grösseren Gefässes annehmen zu müssen glaubten. Um
die Blutungsquelle freizulegen, wurde die Bauchhöhle durch einen am äusseren
llectusrande geführten Schnitt breit erölTnet, das Zurechtfinden in der Bauch-
höhle war aber gleichwohl sehr erschwert, weil allerorts zwischen den Darm-
schlingcn das Blut massenhaft hervordrang. Schliesslich konnten wir uns aber
überzeugen, dass die grossen Gefässe unversehrt waren und dass das in der
Bauchhöhle befindliche, unter hohem Drucke stehende Blut aus den verletzten
Gefässen des Darms und besonders des Mesenteriums stammte.
Schon bei diesen Manipulationen waren uns Darmschlingen zu Gesicht
gekommen, die Schnsslöcher aufwiesen; bei genauerem Zusehen wurden
schliesslich im Dünndarm, der nach und nach fast in ganzer Ausdehnung vor
die Bauchwunde gebracht worden war, nicht weniger wie 12 Perforationen
und 1 Streifschuss im Mesenterialansatz entdeckt, ausserdem wurden
noch 5 stark blutende Löcher im Mesenterium gefunden.
Unsere erste Aufgabe bestand natürlich in der Stillung der Blutung aus
den Mesenterialgefässen, was theils durch die Unterbindung, theils durch die
Umstechung erreicht wurde. Die eigentliche Darmverletzung bot jedoch für
unser therapeutisches Handeln die denkbar ungünstigsten Verhältnisse dar.
Abgesehen von der grossen Zahl der Perforationen hatten diese, entsprechend
dem Geschosskaliber von 10,5 mm, einen solchen Durchmesser, dass eine ein-
fache Verschliessung derselben durch eine Lembert'sche Naht nicht angängig
erschien, somit blieb nur die Darmresection übrig. Ungünstiger Weise aber
war die Mehrzahl der Scliusslöcher so weit von einander entfernt, dass man
genöthigt gewesen wäre, den grössten Theil des Dünndarms zu rcseciren,
wenn man etwa versucht hätte, mit nur einer oder zwei Resectionen auszu-
kommen. Unter diesen Umständen blieb kein anderer Ausweg, als an 5 ver-
schiedenen Stollen mehr oder weniger grosse Stücke aus dem Darm heraus-
zuschneiden. •
War die Prognose schon durch die Aussicht auf einen so schweren Ein-
griff von vorn herein eine sehr ernste, so wurde sie noch bedeutend ver-
schlimmert durcli den slaltgefundenen Blutverlust, der mittlerwelle zu einem
bedenklichen Grade von Anämie geführt hatte. Der Radialpuls, der im Be-
ginn der Operation noch gefühlt werden konnte, setzte bald aus, das Gesicht
Ueber einen Fall von 5 Darmrcsoclionen wegen Schussverletzung. 693
war marmoiblass und mit kaltem Schweiss bedeckt, die Extremitäten waren
kühl und die Athmung leicht dyspnoisch.
Als weiteres ungünstiges Moment kam hinzu, dass die Entwicklung einer
Peritonitis in sicherer Aussicht zu stehen schien, durch die gi'össeren Per-
forationsöffnungen hatte sich zweifellos reichlich Darminhalt in die Bauchhöhle
ergossen, auch konnte bereits bei der Eröffnung des Bauches eine lebhafte
Röthung der Serosa festgestellt werden.
Die Lage war also eine recht verzweifelte, sie schien so gut wie völlig
hoffnungslos zu sein. Wenn man trotzdem einen ernstlichen Versuch der
Rettung unternehmen wollte, so konnte dieser nur dann eine gewisse Aussicht
auf Erfolg bieten, wenn es gelang, den erforderlichen chirurgischen Eingriff
möglichst rasch und ohne Zuhülfenahme einer längeren Narkose auszuführen.
Deshalb wurde vor allem die Narkose ausgesetzt und die Operation bei wachem
Zustande des Verletzten zu Ende geführt, was übrigens auch ausführbar war,
ohne dass der Verwundete beim Durchschneiden des Darmes und bei der
Darmnaht erhebliche Schmerzen empfunden hätte. Nur das Berühren des
Peritoneums mit dem Tupfer und Zerrungen am Darm riefen lebhafte Schmerz-
äusserungen hervor. Während ich nun mit der Operation am Darm beschäftigt
war, Hess ich zur Bekämpfung der Anämie von einem Assistenten eine intra-
venöse Transfusion von 1 Liter Kochsalzlösung in die Vena mediana vor-
nehmen, die auch augenscheinlich von günstigem Erfolge war. Bei der Aus-
führung der Darmresectionen kam es mir auf möglichste Eile an, es wurde
deshalb die fortlaufende Seidennaht benutzt. Die beiden ersten Darmresectionen
wurden zweireihig genäht, bei den 3 letzten Reseotionen begnügte ich
mich mit einer einzigen fortlaufenden Lembertnaht.
Bei diesem Vorgehen war es möglich, die 5 Darmresectionen in verhält-
nissmässig kurzer Zeit, in etwas über einer Stunde zu Ende zu führen. Nun-
mehr blieb noch übrig, den vorliegenden Dünndarm wieder in die Bauchhöhle
zurückzubringen. Hierzu war aber nochmals die Narkose erforderlich, weil der
Verletzte, der unterdessen ungeduldig und ungeberdig geworden war, bei dem
Versuch der Reposition stark presste und die lebhaftesten Schmerzen äusserte.
Nach gelungener Rücklagerung fand sich noch ziemlich viel Blut in der Bauch-
höhle, von einer sorgfältigen Reinigung der letzteren von Blut und Darminhalt
musste jedoch mit Rücksicht auf den bedrohlichen Zustand des Verwundeten,
der jeden Augenblick zu collabiren drohte, Abstand genommen werden, ebenso
wenig könnt« von einem genauen Absuchen der Bauchhöhle nach weiteren
Verletzungen wichtiger innerer Organe die Rede sein. Auch über den Verbleib
der Kugel vermochten wir uns unter diesen Umständen keinen Aufschluss zu
verschaffen. — Schliesslich wurden 4 lange Gummiröhren und einige Jodo-
formgazestreifen nach verschiedenen Richtungen zwischen die Darmschlingen
vorgeschoben und die Bauchwunde bis auf eine 4 cm lange Lücke durch
Seidennähte geschlossen. — Der Eingriff hatte im ganzen etwas über 2 Stunden
gedauert.
Von den resecirten Darmtheilen haben 3 eine Länge von 4 cm und zeigen
je 2 Perforationen (Ein- und Ausschuss), ein Darmstück ist 9 cm lang und be-
Archiv nir klin. Chirargie. 57. Bd. Heft 3. 4ß
694 Dr. Poppeit,
sitzt 2 Perforationen und 1 Streifschiiss am Mesentcrialansatz ohne Verletzung
der Schleimhaut, das 5. Darmstück hat eine Länge von 24 cm und weist vier
Perforationen auf. Der Darm war also an 12 verschiedenen Stellen von der
Kugel durchbohrt und einmal gestreift worden. Das Aussehen und die Grösse
der Schusslöcher war sehr verschieden, ein Theil der Perforationen zeigte
glattwandige Händer, bei anderen waren die Ränder unregelmässig, stark ge-
quetscht und die Schleimhaut stark nach aussen evertirt; auch der Durchmesser
der Schusslöcher zeigte grosse Schwankungen, je nachdem die Schlinge senk-
recht oder tangential getroffen war.
Der Verwundete war während der ersten Stunden nach der Operation
ausserordentlich angegriffen und unruhig, der Radialpuls war überhaupt nicht
zu fühlen, er stellte sich erst gegen Abend wieder ein. Auch am nächsten
Tage fühlte sich der Kranke sehr hinfällig und zeigte grosse Unruhe, die
Anämie war noch sehr ausgeprägt, der Puls aber deutlich zu fühlen. Der
Kranke wurde jetzt von häufigem Erbrechen und Aufstossen geplagt, was sich
am darauffolgenden Tage noch steigerte. Daneben stellte • sich leichter
Meteorismus und massige Druckempfindlichkeit in der oberen Bauchgegend ein.
Fieber blieb jedoch aus. Am 18. 9. war der Zustand unverändert, erst
am 19. 9., also am 4. 'i'age nach der Operation, trat eine Wendung zum
Besseren ein, es gingen zum ersten Mal Darmgase ab und Abends erfolgte der
erste Stuhl. Gleichwohl erschien dor Kranke noch immer in Gefahr, Aufstossen
und Erbrechen bestanden, wenn auch in geringerer Heftigkeit, fort, der Kranke
war noch immer sehr bleich und elend, litt an Schlaflosigkeit und zeigte an-
dauernd grosse Unruhe. Erst allmälig besserte sich das Aussehen und kehrten
die Kräfte wieder, die Wegsamkeit des Darms erlitt keine Störung, Fieber trat
auch während des weiteren Verlaufs nicht ein, das Aufstossen wurde nach und
nach seltener und vom 9. Tage an blieb das Erbrechen ganz aus. Von nun an
schien die Gefahr der Peritonitis beseitigt und der Verletzte machte in der
Folge eine ungestörte Genesung durch. Die Wunde, aus der sich die ersten
24 Stunden eine reichliche Menge blutiger Flüssigkeit entleerte, blieb reizlos,
die Gummiröhrijn wurden am zweiten, die Gazestreifen vom 5. — 7. Tage ent-
fernt. Der Rest der Bauch wunde, auf deren Grund Darmschlingen sichtbar
waren, wurde am 8. 10. durch mehrere versenkte Silberdrahtnähte verschlossen.
Gegen Ende der 4. Woche stand der Verletzte auf und am 22. 10. veriiess er
völlig geheilt das Krankenhaus. — Bisher haben sich von Seiten des Darms
keinerlei Beschwerden geltend gemacht, der Stuhl ist regelmässig, Schmerzen
im Leib sind nie aufgetreten, der Verwundete fühlt sich wieder vollkommen
gesund und ist so leistungsfähig wie früher.
B('i dem mitgctheillcn Fall muss uns am meisten die Wider-
standsfähigkeit des Verwundeten in Erstaunen setzen, der einen so
schwerwiegenden Eingriff glücklich überwand, obwohl er nahezu
verblutet war. Zu diesem günstigen Ausiiang haben meiner Ueber-
zeugung nach 2 Umstände wesentlich beigetragen: einmal die Ver-
üeber einen Fall von 5 Darmrosectionen wegen Sohuss Verletzung. 695
racidung einer längeren Narkose und dann die rasche Ausführung
der Operation. Wäre zu dem Blutverlust der schädliche Einfluss
einer längeren Narkose hinzugekomnaen, dann würde der Verletzte
den ohnehin mehrere Stunden andauernden Collaps kaum über-
wunden haben. Ein Ersatz der allgemeinen Narkose durch die
zeitraubende örtliche Anästhesie war im vorliegenden Falle nicht
in Betracht gezogen worden. Denn die Verblutungsgefahr machte
vor allem rasches Handeln nöthig, es galt deshalb, beim Absuchen
der Bauchhöhle, beim Vorziehen und Reponiren der Schlingen nicht
durch die Rücksicht auf die Schmerzempfindungen des Verwundeten
behindert zu sein. Dagegen war es möglich, bei dem Eingriff am
Darm selbst, beim Durchtrennon und Nähen der Darmwand, die
Narkose ganz zu entbehren.
Die durch die Pistolenkugel hervorgerufene Verletzung des
Darmkanals war im vorliegenden Falle eine sehr schwere. Es
wurden, wie schon erwähnt, 12 Perforationen aufgefunden. Nun
gehören ja mehrfache Durchlöcherungen des MagendarmkanaJs bei
Schussverletzungen keineswegs zu den Seltenheiten, es hängt dies
ganz von der Richtung der Kugel ab und von der Stelle, wo jene
in die Bauchhöhle eindringt. So haben wir in einem vor mehreren
Jahren beobachteten Fall von vSchussverletzung durch ein Flaubert-
geschoss 13 Darmperforationen gezählt, ja os sind Fälle bekannt,
wo 17 Löcher^) aufgefunden wurden. Sind die Oeffnungen klein,
so lassen sie sich auf einfache Weise durch Lembert-Nähte
schliessen, ohne dass man Gefahr läuft, die Wegsamkeit des
Darms zu beeinträchtigen. Im vorliegenden Falle aber, wo das
Geschosskaliber 10,5 mm betrug, Hess sich auf so einfache Weise
ein sicherer Verschluss nicht erreichen, weil die nahe zusammen-
liegenden Ein- und Ausschussöffnungen mehr wie die Hälfte des
Darmumfangs einnahmen. Es blieb somit keine andere Wahl, als
zur Resection zu schreiten, die aber ungünstiger Weise aus den
oben angeführten Gründen an 5 verschiedenen Stellen vorgenommen
werden musste. Nun gehört die Darmresection bekanntlich zu den
längere Zeit in Anspruch nehmenden Operationen, bei denen es
vor allem auf grosse Sorgfalt in der Ausführung der Naht an-
kommt. Hätte man indess in unserem Falle die übliche Naht in
0 S. Mannaberg, Zur Casuistik der vielfachen Schussverlctzungen des
Dünndarms. Beitr. z. klin. Chirurgie. 20. Bd., 2. Heft.
46*
696 . Dr. Poppert,
2 oder gar in 3 Schichten anlegen wollen, dann würde die ganze
Operation statt 2 Stunden vielleicht die doppelte Zeit in Anspruch
genommen haben; und dann wäre der Verletzte mit Sicherheit
verloren gewesen. Ich habe deshalb statt der Knopfnaht die fort-
laufende Naht benutzt und habe mich ferner, allerdings nur bei
den 3 letzten Rcsectionen mit nur einer Nahtreihe begnügt. Der
Erfolg hat bewiesen, dass die einreihige Serosanaht bei gesundem
und nicht überfüUtera Darm ausreicht, bei vorhandener Koth-
stauung aber und bei entzündlicher Infiltration der Darmwandung,
z. B. bei einer Bruchgangrän, müsste natürlich eine solche Naht
für ganz unzuverlässig erachtet werden. — Die Anwendung des
Murphy-Knopfes zur Abkürzung der Operationsdauer war in unserem
Falle ausgeschlossen, die erforderlichen 5 Knöpfe würden bei den
zu erwartenden Adhäsionen den Darm wohl kaum passirt haben,
ohne zu den bedenklichsten Störungen Anlass zu geben.
Sehr auffallend ist bei unserem Verletzten das Ausbleiben der
Peritonitis, obwohl eine auch nur halbwegs gründliche Reinigung
der Bauchhöhle von dem ergossenen Blut und dem Düimdarm-
inhalt nicht durchgeführt werden konnte. Es kam im weiteren
Vorlauf nur zu einer leichten peritonitischen Reizung, die sich in
den ersten Tagen durch Brechreiz und Druckempfindlichkeit der
oberen Bauchgegend kenntlich machte. Warum nun kam es hier
nicht zur Entwicklung einer schweren Peritonitis? In erster Linie
müssen wir wohl annehmen, dass die im Dünndarminhalt befind-
lichen Bacterien von geringer Virulenz waren, dann aber ist viel-
leicht auch in dem Bestehen der acuten Anämie ein günstiges
Moment zu erblicken, insofern hierbei durch die gewaltig gesteigerte
Resorption der Peritonealraum rasch trocken gelegt wurde, so dass
den etwa vorhandenen Organismen die Bedingungen für ihre Fort-
entwicklung fehlten. In gleichem Sinne muss wohl auch der im
vorliegenden Falle zur Durchführung gekommenen ausgiebigen
Drainage der Bauchhöhle durch Gummiröhren und Jodoformgaze
ein günstiger Einfluss auf den Ausgang zugeschrieben werden.
So wenig wie wir in diesem Fall einen glücklichen Verlauf
erwartet hatten, ebenso unvermuthet kam uns der tödtliche Aus-
gang bei dem anderen Duellanten, der ebenfalls eine Darm-
verletzung, und zwar dos Dickdarms, davongetragen hatte. Da
auch dieser Fall eines gewissen, allgemeineren Interesses nicht ent-
lieber einen Fall von 5 Darmresectionen wegen Schussverletzung. 697
behrt, so möge er hier anhangweise noch kurz Erwähnung linden.
Bei diesem Verwundeten war die Kugel unter dem rechten Rippen-
bogen eingedrungen und hatte das Colon transversum getroffen,
an dessen Mesocolonansatz sich ein etwa 2 cm im Durchmesser
haltendes Loch vorfand. Da die Laparotomie hier schon sehr
frühzeitig, IY2 Stunden nach der Verwundung, vorgenommen
worden war und da ausser der Dickdarmperforation keine ander-
weitigen Verletzungen vorhanden waren, glaubten wir einen günstigen
Verlauf in Aussicht stellen zu dürfen, um so mehr, als der nur
spärlich ausgetretene, allerdings höchst übelriechende Darminhalt
durch Tupfer sorgfältig entfernt worden war. Zur Sicherheit hatten
wir noch die Vorsicht gebraucht, die Umgebung der Darmwunde
mit Jodoformgaze und Gummiröhren ausgiebig zu drainiren, um für
den Fall des Eintritts einer Eiterung diese zu localisiren. Gegen
Erwarten stellte sich indess schon nach 12 Stunden eine Ver-
schlechterung des Pulses ein, er wurde auffallend frequent und
klein, mehrfach traten OoUapsan fälle auf, am folgenden Tage
wurden die Erscheinungen einer acuten Nephritis festgestellt, der
Verletzte klagte über starke Schmerzen in der Nierengegend, die
Harnabsonderung war nahezu aufgehoben, der Urin enthielt Eiweiss,
gekörnte Cylinder und andere Formelemente. zVm Beginn des
3. Krankheitstages erfolgte der Tod, ohne dass Zeichen von diffuser
Peritonitis oder Fieber sich eingestellt hätten. Bei der Section
fand sich in der Umgebung der Darniwunde eine abgegrenzte
Peritonitis, die übrige Bauchhöhle aber war vollkommen frei.
Ausserdem wurde eine hochgradige Nephritis mit Nekrose fast
sämmtlicher Glomeruli und der Harnkanälchen festgestellt, ferner
Milzschwellung und doppelseitige Bronchopneumonie.
Trotzdem die Darmverletzung also eine verhältnissmässig ein-
fache und der Verwimdete durch keinen erschöpfenden Blutverlust
geschwächt war, ging dieser doch zu Grunde und zwar, wie nach
dem Sectionsbefund geschlossen werden muss, an acuter Sepsis.
Da es uns gelungen war, mit Hülfe der Jodoformtamponnadc die
Eiterung auf einen verhältnissmässig kleinen Herd zu beschränken
und eine diffuse Bauchfellentzündung zu vermeiden, so müssen wir
nothgedrungen annehmen, dass die Virulenz der aus dem Darm
stammenden Bactcrien eine ungewöhnlich grosse war. Möglicher
Weise hat die vor dem Duell bestandene zweitägige StuhlvcrhaUung
698 Dr. Poppert, Ücber einen Fall von 5 Dannresectionen etc.
dazu beigetragen, die Virulenz des Darrainhalts zu steigern, jeden-
falls aber darf man annehmen, dass der Ausgang nicht so ver-
hängnissvoU gewesen wäre, wenn der Dickdarm zur Zeit der Ver-
wundung zufällig leer gewesen wäre.
Bekanntlich wird allgemein die Anschauung vertreten, dass
die Schussverletzungen des Dickdarms eine bessere Prognose wie
die des Dünndarms gäben, weil bei ersteren Spontanheilungen
häufiger sind. Diese geringere Gefährlichkeit hängt zweifellos mit
den anatomischen Verhältnissen zusammen, insofern als der Dick-
darm nicht überall von Peritoneum umgeben ist und der Bauch-
wand dicht anliegt, so dass also der austretende Koth durch die
Bauchwunde nach aussen gelangen kann. Deshalb ist auch die
Prognose bei einer Verletzung des Colon ascendens und des Colon
descendens besser, wie bei einer Verletzung des Colon transversuin '),
in welch letzterem Falle der Koth ebenso leicht in die Bauchhöhle
treten kann wie bei einem Dünndarmschuss. Ist dieses Ereigniss
eingetreten, so ist die Gefahr der septischen Peritonitis aber un-
gleich grösser, wie bei einem Erguss von Dünndanninhalt, der,
wie zahlreiche Beobachtungen beweisen, in grösserer Menge in die
Bauchhöhle gelangen kann, ohne nothwendiger Weise Peritonitis zu
erzeugen.
*) Vergl. Kocher, Zur Lehre von den Schusswunden durch Kleinkaliber-
geschosse. Biblioth. mcdica.
XLll.
Neue Methode zur blutigen Einrichtung der
angeborenen Hüftgelenksluxation.')
Von
Dr. Doyen
in Paris.
Ich habe die Ehre, Ihnen eine neue Methode der blutigen
Reduction der angeborenen Hüftgelcnksluxation mitzutheilen, welche
bei Fällen bis zum 18. oder 20. Lebensjahre und darüber anwend-
bar ist.
Die Operation umfasst drei Acte:
1. üie Loslösung des Femurkopfes,
2. Die Wiederherstellung der Pfanne,
3. Die Einrenkung.
I. Die Loslösung des Schenkelkopfes.
Die Pseudarthrose wird freigelegt durch einen senkrecht auf
den innern Rand des Musculus tensor fasciac latae geführten
Schnitt, welcher, im Bogen nach hinten verlaufend, unter der
Spina anterior superior bis in die Nähe des Schenkelkopfes geht. —
Nach Durchtrennung des Muskels und seiner Aponeurose wird die
Kapsel eröffnet, resecirt und der Schenkelkopf im ganzen Umfange
des Halses freigelegt.
Die wahre Gelenkpfanne wird jetzt mit Hülfe eines Wund-
hakens unter der Sehne des Musculus rectus femoris sichtbar
gemacht.
1) Vorgetragen am 4. Sitzungstage des XXVII. Congresses der Deutschen
(resellschaft für Chirurgie zu Berlin, IG. April 1898.
700 Br. Domren,
II. Wiederherstellung der Pfanne.
Ich setze jetzt auf die Stelle der Pfanne einen dieser schneiden-
den Hohlcyiinder, an dessen unterem Ende sich vier gekrümmte
Zähne befinden, die so arbeiten, dass sie das die Gelenkpfanne
ausfüllende Gewebe in schmalen Spänen heraushobeln. Wird jetzt
die Röhre in der gegebenen Richtung gedreht, so wird der Knochen
entsprechend ausgehöhlt und die Späne steigen aufwärts in das
Rohr. Man fühlt bald einen Widerstand: die Schabfläehe des
Instruments hat die harte Knochenlaraelle erreicht, welche die
Wand der Beckenhöhle bildet. — Die Oberfläche der Pfanne wird
jetzt polirt, indem man den Tubus in umgekehrter Richtung
dreht. —
III. Einrenkung des Femurkopfes.
Die Einrichtung ist sehr leicht bei kleinen Kindern. — Ich
mache sie in der folgenden Weise: Mein Assistent zieht an der
unteren Extremität; ich drücke mit meinen beiden Daumen zu-
gleich auf den grossen Trochanter und den Schenkelkopf und
befördere den letzteren in die Pfanne. —
Wenn die Reposition nicht beim ersten Versuche gelingt,
führe ich sie mit dem Ihnen hier vorliegenden Apparate aus. —
Ebenso verfahre ich immer bei älteren Patienten.
Dieser Apparat, der direct auf das obere Femurende wirkt
und w elcher den Maximaloffect der angewendeten Kraft zu erzielen
gestattet, besteht aus einer, nur um die senkrechte Achse dreh-
bare Hauptstütze, an deren oberem Ende ein horizontal gestellter
Arm gleitet. Dieser Arm, der sich nicht drehen kann, endet in
einer quergestellten cylindrischen Manchette. Durch diese hin-
durch geht ein starkes Schraubengewinde, dessen eines Ende den
senkrecht verschiebbaren Repositions-Stab aufnimmt, welcher unten
löifelförmig endigt.
Mit diesem Löffel wirkt man auf den Schenkelkopf oder den
grossen Trochanter.
An dem oberen Ende des Repositions-Stabs setzt sich ein
Hebel an, am hinteren Ende des Schraubengewindes ein kräftiges
Schraubenrad.
Der Patient wird nun horizontal gelagert, die Symphysis oss.
pub. mit der Hauptstütze des Apparats in Contaet gebracht.
Neue Methode zur blut. Einrichtung d. angeborenen Ilüftgelenksluxation. 701
Da^ Becken wird auf einem mit zahlreichen symmetrisch
angeordneten Löchern durchbohrten Brette fixirt mit Hülfe von
6 — 8 Holzstäbchen, welche die Beckenschaufeln umrahmen. —
Der Arm des Apparates, welcher das Schraubengewinde trägt,
wird auf die gewünschte Länge ausgezogen und der Löifel an den
grossen Trochanter oder den Femurkopf angelegt. Man dreht
jetzt den ganzen Apparat 15 — 25 Grade um seine Achse und
stellt das Schraubengewinde so, dass es den Femurkopf nach der
Pfanne dirigirt.
Dann drehe ich langsam das Rad, welches das Schrauben-
gewinde anzieht. — Wenn der Schenkelkopf hierdurch genügend
herabgedrückt ist, führe ich am Hebel des Repositionsstabes eine
Rotationsbewegung nach innen aus, der Kopf gleitet leicht in
die Pfanne und der Repositionsapparat wird in toto herausgehoben.
Das Operationsfeld wird mit schwacher CarboUösung gewaschen,
ausgetupft und die Wunde genäht.
Ein Glasdrain wird in den unteren hintern Wundwinkel ein-
gelegt und die Naht mit sterilisirtcn Compressen bedeckt.
Für die Anlegung der Binden und die Anfertigung des Gyps-
verbandes wird der Patient auf einen allseitig zugängliclien Metall-
rahmen aus beweglichen Stäben gehoben. Bis der Verband trocken
ist, bleibt der Patient auf der Bahre, nur mit Stützen unter Schultern
und Füssen. — Der Gypsverband muss vom Thorax bis unter das
Kniegelenk gehen. — Das operirte Glied wird in leichte Abductions-
stellung gebracht.
Dieser Verband wird am nächsten Tage vorne, mittelst zweier
eingegypster Metallstäbe verstärkt und für den Verbandwechsel
wird ein Fenster eingeschnitten. Passive Bewegimgen werden um
die 3. oder 4. W^oche begonnen.
Dieser Einrichtungsmodus der angeborenen Hüftgelenksluxation
ist den bisher angewandten Methoden weit überlegen:
1) Durch die Art der Wiederherstellung der Gelenkpfanne,
welche bisher die Anwendung von Meissein, scharfen Löffeln und
anderen schwer und mühsam hantierbaren Instrumenten erforderte.
2) Mit meinem mechanischen Repositionsapparat können schwere
Fälle, selbst bei Erwachsenen, operirt werden.
Ausserdem kann die Wunde primär vernäht werden, da die
Operation von kurzer Dauer ist, und glatte Wundverhältnisse schafft.
702 Dr. Doyen, Neue Methode zur blut. Einrichtung d. angeborenen etc.
Die primäre Vemähung ist für die Erreichung einer guten Beweg-
lichkeit im Gelenk bedeutend günstiger als die Taraponnade.
Die bei meinen Operationen entfernten Kapselreste waren
5—6 mm dick, die Knochenmasse, die ich zur Bildung der neuen
Pfanne entfernen musste, war fast so gross als der Femurkopf.
Ich kann deshalb nicht verstehen, wie man auf unblutigem
Wege die Reposition ausführen will.
Selbst wenn es möglich wäre, den Schenkelkopf genügend
herabzuziehen, kann man ihn doch nicht in eine Pfanne bringen,
die gar nicht existirt, sondern vollständig obliterii-t ist.
Die blutige Einrichtung ist deshalb das einzige wirksame
Verfahren bei der angeborenen Hüftgelenksluxation.
Die neue Methode, welche ich mir erlaube, Ihnen vorzuschlagen,
ermöglicht, diese Operation mit einer bisher nicht erreichten Sicher-
heit und Vollkommenheit auszuführen.
XLIII.
Zur chirurgischen Behandlung der
chronischen Mittelohreiterung.')
Von
fiMkDltfttorath lir. liUdeivlg;,
Ohrenarzt in Hamburg.
M. H.! Bevor ich beginne, erlaube ich rair, Ihnen einige
Präparate herumzureichen, zunächst als das Punctum saliens meines
heutigen Vortrags eine Anzahl Gehörknöchelchen, an welchen Sie
die beginnende, wie die weit fortgeschrittene Zerstörung derselben
durch Caries leicht ersehen können. Alle diese Präparate sind
durch Operation am Lebenden gewonnen, aber als die characteri-
stischsten aus meiner Sammlung paarweise ausgewählt. Zur besseren
Orientirung habe ich jeder Tafel ein Paar normaler Knöchelchcn,
Hammer und Ambos, vorangesetzt.
Sodann gebe ich Ihnen hier ein Paar Schläfenbeine, welche
derartig aufgesägt sind, dass der durch das Ambos-Steigbügelgelenk
gelegte Schnitt alle Räume des Mittelohrs zeigt: die Paukenhöhle,
den Attic, das Antrum mastoideum und die lufthaltigen Zellen des
Warzenfortsatzes. Dieselben Verhältnisse veranschaulichen hier
diese stcreoscopischen Bilder, welche ich der schönen Sammlung
des Herrn Dr. Katz entnommen habe und schliesslich diese Photo-
graphie.
Früher, meine Herren, war die Augenheilkunde gerade so ein
untergeordneter Theil der Chirurgie, wie es die Ohrenheilkunde
*) Abgekürzt vorgetragen am 4. Sitzungstage des XXVII. Congresses der
Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 16. April 1898.
704 Dr. Ludewig,
noch ist. Aber während sich jene längst losgemacht hat von ihrer
Mutter und heute selbstständig dasteht — denn welcher Chirurg
macht heute wohl noch eine Staaroperation? — ist es ihrer
Schwester, der Otiatrie, noch nicht im ganzen Umfange gelungen,
sich die Anerkennung zu verschaffen, welche ihr gebürt, weder bei
den Aerzten noch bei den Patienten.
Die Gründe hierfür sind auf der Hand liegend.
Die chronische Mittelohreiterung, oder richtiger gesagt, ihre
Folgezustände, werden heute sowohl von dem Vertreter der Allge-
meinen Chirurgie als auch von dem Ohrenarzt, der auf chirurgi-
schem Standpunkt steht, operirt. Und da .scheint es mir ange-
bracht und an der Zeit zu sein, wenn diese Beiden, der Chirurg
und der Ohrenarzt, die gemeinsame Arbeit besprechen und ihre
Erfahrungen und Beobachtungen austauschen.
Es sollte mir eine aufrichtige Freude sein, wenn Sie, meine
Herren Chirurgen, meine Anregung so auffassen möchten, wie ich
sie gebe, wenn Sie durch eine Disscussion meines Themas der
Wichtigkeit der Sache und meinem guten Willen, zu derselben ein
bescheidenes Körnlein beizutragen, Ihre Anerkennung nicht ver-
sagen möchten!
Ich will mich zunächst der möglichsten Kürze beiieissigen,
um zu sehen, in welchem Grade es mir gelingen wird, Ihr In-
teresse zu erregen, werde aber zu weiterer Ausführung der ein-
zelnen Punkte sofort bereitwilligst zur Verfügung stehen.
Der Chirurg bekommt eine Ohreiterung erst in die Hand —
sei es vom Hausarzt oder von einem Ohrenarzt, dessen Thätigkeit
sich auf Spritzen und Pusten beschränkt — wenn dieselbe den
Raum der Paukenhöhle überschritten und Entzündungserscheinungen
in den Nebenräumen hervorgerufen hat mit Fieber und Schmerzen.
Und was thut er nun? Er racisselt den Knochen hinter dem Ohr
auf. Ist er bis auf den Eiterherd im Knochen vorgedrungen, so
ist seine Thätigkeit meist erschöpft, der Erfolg ein zufrieden-
stellender: das Fieber fällt ab und die Schmerzen hören auf. Ich
habe gesagt „meisf. Ganz selbstverständlich giebt es eine An-
zahl hervorragender Chirurgen, die sich mit solchem Eingriff nicht
begnügen, sondern bestrebt sind, gründlicher vorzugehen. Diese
Operateure, welche ein specielles Interesse für die chirurgischen
Zur chirurgischen Behandlung der chronischen Miltelohreiterung. 705
Erkrankungen des Ohres an den Tag gelegt haben, wie besonders
von Bergmann und Küster, sind sich über den einen Punkt,
glaube ich, einig mit dem Ohrenarzt, dass es bei der Aufmeisslung
der Mittelohrräume wegen chronischer Eiterung allein darauf an-
kommen muss, aus Gehörgang, Paukenhöhle, Attic, Antrum
mastoideum und den lufthaltigen Zellen des Warzenfort-
satzes eine einzige grosse Höhle zu machen.
Wie das erreicht wird, ob die Operation von vorn nach hinten
ausgeführt wird, wie Koerner das vorzieht, welcher mit Weg-
nahme der hinteren Gehörgangswand beginnt, oder von hinten nach
vom, nach Schwartze, der zunächst das Antrum mastoideum auf-
meisselt, dann den Atticus und dann die hintere Gehörgangswand
wegnimmt, erscheint irrelevant.
Ausser den Genannten haben eine ganze Reihe von Ohren-
ärzten sich um diese „Radical-Opcration'* verdient gemacht und
eigene Methoden oder Modificationen des ursprünglichen Schwartze-
schen Verfahrens angegeben, wie z. B. Betzold, Hessler, Kretsch-
mann, Reinhard, Wegenerund ganz besonders Jansen, Pause
und Stacke. Eine Eigenart hat die Operationsweise Zaufal's,
welcher allein viel mit der Knochenzange arbeitet, während alle
Anderen dem Meissel den Vorzug geben.
Ich möchte auf diese Operation, die „Aufmeisslung" vorläufig
nicht des Näheren eingehen, sondern die Aufmerksamkeit der Ver-
sammlung auf ein anderes Operationsverfahren lenken, welches
gerade in Chirurgenkreisen noch weniger bekannt sein dürfte und
von welchem ich doch behaupten muss, dass es die grösste Würdi-
gung verdient, dass es im Stande ist, in vielen Fällen die
Aufmeisslung zu ersparen.
Dieses Verfahren besteht in der Extraction von Hammer und
Ambos, in der Ausräumung der Paukenhöhle vom Gehörgang aus
und ist besonders geübt worden von Ferrer, Grunert, Gomperz,
Kessel, Kretschmann, Pause, Reinhard, Sexton u. A.
Nichts liegt mir ferner, als diese Operation für eine Panacee
ausgeben zu wollen für alle chronischen Mittelohreiterungen; im
Gegentheil: es ist ganz selbstverständlich, dass dieselbe für die
Fälle nicht ausreichend sein kann, in welchen die Caries das
Schläfenbein selbst schon in weiterem Umfange ergriffen hat, so
706 Dr. Lud ewig,
z. B. das.s die hiritiTc Gehörgangswaiid schon von Granulationen
durchbrochen ist, oder in welchem ein Cholesteatom im Knochen
sicher nachgewiesen ist.
Aber für eine ganze Reihe von Fällen chronischer Mittelohr-
eiterung genügt die Hammer-Arabosextraction, so lange die Caries
auf die Gehörknöchelchen beschränkt ist, oder die Eiterung in *ab-
gekapselten Räumen meist der oberen Partie der Paukenhöhle sitzt,
welche durch hintere Synechien, neugebildete, theils bindegewebige,
theils verknöcherte oder verkalkte Stränge häufig gebildet werden.
Ich werde die Indication für diese Operation später noch weiter
stecken, wie das auch Kessel schon vor mir gethan hat. Heute
will ich nur andeuten, dass ich dieselbe auch für durchaus noth-
wendig halte bei Residuen einer abgelaufenen Mittelohreiterung, bei
welchen das Trommelfell oder der Rest desselben und die Kette
der Gehörknöchelchen stark retrahirt (letztere ankylosirt) und un-
beweglich geworden sind. Denn hier wird die Stapesplattc in das
ovale Fenster hineingedrückt, die Endungen des Acusticus stehen
unter erhöhtem Druck und verfallen allmählich der Atrophie.
Vorläufig halte ich mich an mein Thema.
Die chronische Mittelohreiterung, welche mit Caries an den
Gehörknöchelchen einhergeht, oder ihren Sitz hauptsächlich im
Atticus hat, zeigt meist charakteristische Trommelfellbilder. Bei der
Caries am Hamraerkopf findet sich oft eine Fistel in der Mem-
brana Shrapnelii überdem Processus brevis, (Kretsch mann, Walb),
bei der Amboscaries sehen wir eine Ablösung des Trommelfells
hinten oben, beide Beispiele bei sonst intactem, d. h. vorhandenem
Trommelfell. Sehr häufig bietet sich aber auch da« Bild eines
Totalverlustes des Trommelfells mit Ausnahme eines Restes der
Membrana Shrapnelii, welcher den Hammerrest enthält.
Was nun das Operationsverfahren anbetrifft, so ist das kurz
Folgendes:
Nehmen wir an, wir haben ein Trommelfell vor uns, welches
nur eine Fistel in der Membrana flaccida über dem* Processus
brevis oder eine Ablösung im hinteren, oberen Quadranten auf-
weist: so schneidet man mit dem geknöpftem Messer, nachdem
man eine Paracentese gemacht hat, vor und hinter dem Hammer-
griff in die Höhe bis zum Knochenrand, geht dann mit dem Te-
notom in den hinteren Schnitt ein und durchschneidet die Sehne
Zur chirurgischen Behandlung der chronischen Mittelohreiterung. 707
des Tensor tyrapaui, welche ungefähr in der Höhe des von aussen
sichtbaren Processus brevis inserirt, und dreht dann das Tenotom
um 180° nach hinten, um event. das Arabossteigbügelgelenk zu
lösen.
Dann durchtrennt man die Brücke, welche das Haramergriff-
ende mit dem unteren Knochenrande noch verbindet, fasst den
Hammergriff mit der Wild ersehen Schlinge möglichst hoch, über
dem Processus brevis und extrahirt ihn, indem man den Kopf
unter dem Knochenrand hervorhebelt. Darauf geht man mit dem
Amboshaken ein in den Atticus da, wo der Haramerkopf gesessen
hat, und bringt den Ambos durch eine Drehung des Instrumentes
um 90° nach hinten in das Gesichtsfeld, resp. gleich an das
Tageslicht.
Ist die Caries auf die beiden ersten Gehörknöchelchen be-
schränkt, so ist damit genug geschehen, ist aber der Atticus oder
der hintere Theil der Pauke noch mit Granulationen oder Detritus-
massen ausgefüllt, so werden diese ausgelöffelt, event. alle Rauhig-
keiten am Knochenrande ausgekratzt.
Ich will Sie, meine Herren, mit der Schilderung der Nach-
behandlung, welche nicht selten nur einige Tage oder Wochen in
Anspruch nimmt — geheilt nenne ich nur einen Fall, der min-
destens ein Jahr lang trocken geblieben ist — nicht aufhalten,
sondern nur kurz hinzufügen, dass die Eiterung jetzt ausheilt ent-
weder mit Neubildung eines Trommelfells, welches von der Pe-
ripherie aus nach der Mitte zu wächst und sich völlig wieder
schliessen kann; oder aber der Defect bleibt bestehen. In diesem
Fall epidermisirt sich allmählich die Paukenschleimhaut und wird
mit der Zeit widerstandsfähig gegen von aussen in das Ohr ein-
dringende Schädlichkeiten, wie gegen die durch die Tube vom
Nasenrachenraum aus sich verbreitenden Entzündungen.
Ich möchte mir nur erlauben, in aller Kürze — mit Hinweg-
lassung der Krankengeschichten — Zahlen vorzulegen, und zwar
über die ersten Hundert meiner 250 Hamburger Operationen, welche
ich, soweit es überhaupt möglich ist, bis in die neueste Zeit ver-
folgt und im Auge behalten habe. Ich betone ausdrücklich, dass
ich nicht etwa eine Auswahl getroffen, sondern dass ich die Fälle
von 1 bis 100 genommen und keinen Fall ausgelassen habe, selbst
solche nicht, bei denen es von vornherein zweifelhaft erschien, ob
708 Dr. Ludewig,
die Caries auf die Gehörknöchelchen noch beschränkt war. Von
diesen Fällen will ich Ihnen heute das Resultat der Operation
vorlegen in Bezug auf
1. den Befund an den Gehörknöchelchen,
2. das Verhalten der Eiterung und
3. das des Hörvermögens nach der Operation.
Der Hammer war gesund bei carösem Ambos ... in 33 pCt. der Falle,
der Hammer cariös bei gesundem Ambos »^ ^ « ti r
beide Knöchelchen waren cariös „ 48 „ „ „
beide gesund « -1 n v n
Hammer cariös, vom Ambos nichts gefunden . . . „ 4 „ „ „
Hammer gesund, vom Ambos nichts gefunden . . . „ 1 „ „ „
die Operation wurde wegen zu starker Blutung ab-
gebrochen und nicht ausgeführt „ 2 „ „ „
Hammer- Ambos-Ankylose fand sich darunter 4 mal.
Ich habe hier die fünf Fälle, in welchen vom Ambos nichts
aufgefunden wurde, besonders aufgeführt, obgleich ich die Ueber-
zcugung habe, dass in vier derselben der Ambos durch Caries
gänzlich zerstört war. Lassen wir aber auch diese fünf Aiiibose
ausser Betracht, so bleibt die Amboscaries immer noch erwiesen
in 81 pCt. der Fälle (cf. F. Kretschmann's Festschrift zur Feier
des 50jährigen Bestehens der Magdeburger Med. Gesellschaft, und
Grunert A. f. G. Bd. 33 pag. 207).
Was den Erfolg der Operation in Bezug auf die Eiterung an-
belangt, so ist zu verzeichnen:
Eiterung geheilt SOmal
„ nicht geheilt ... 8 „
Erfolg unbekannt .... 9 „
„ zweifelhaft .... 3 „
Als zweifelhaft führe ich hier drei Fälle, auf, in welchen die
Epidermisirung der Paukenschleimhaut wohl vollständig eingetreten
ist, aber die Patienten kamen in den letzten Jahren wieder mit
einer schneü vorübergehenden, schleimigen Secretion, welche aus
der Tube stammte.
Rechnen wir nun auch die weggebHebenen Fälle, deren Er-
folg unbekannt ist, und die zweifelhaften zu den ungeheilten, so
haben wir immerhin 80 pCt. Heilung gegen 20 pCt. Nicht-
heilung. —
Zur chirurgischen Behandlung der chronischen Mittelohreiterung. 709
Das Hörvermögen wurde durch die Operation
gebessert 75 mal
blieb dasselbe 13 „
wurde verschlechtert 2 „
ist nach der Operation unbekannt 9 ,,
Die Hörprüfung war vor und nach der Operation
unmöglich 1 ,,
Die Hörverbesscrung war in \ielen Fällen eine ganz beträcht-
liche.
Um z. B. die dreissig Patienten herauszugreifen, welche vor
der Operation Flüsterzahlen nur direct ins Ohr gesprochen, oder
das nicht einmal mehr, hörten, so wurden von diesen Flüster-
zahlen nach der Operation gehört:
13 mal bis 2 m
4 5
3 „ „8 „
Die beiden Hörverschlechterungen sind folgende: in dem einen
Falle hörte das Ohr vor der Operation Flüsterzahlen auf 2 m,
nach der Operation nur auf 1 m. Die Eiterung ist mit Neubildung
einer Membran geheilt, der Schaden in Bezug auf das Gehör ein
dauernder. In dem anderen Falle hörte das Ohr vor der Operation
normal, nach der Operation, wiederum nach Neubildung eines
Trommelfells, welches zum grössten Theil verkalkte, auf 1 m.
Durch Massage mit der Wegen er'schen Vibrationsmaschine ist in
der letzten Zeit das Hörvermögen dieses Ohres auf 3 — 4 m für
Fiüsterzahlen nachträglich gebessert worden.
M. H.! Durch meine heutige Mittheilung hoffe ich, wenn
nicht mehr, so doch mindestens die Berechtigung der Hammor-
Ambosextraction als ein Heilmittel der chronischen Jlittelohreiterung
bewiesen zu haben. Es bleibt mir noch übrig, hinzuzufügen, dass
ich unter den angezogenen Fällen üble Folgen der Operation, wie
Facialislähmung, beträchtlichen oder erwähnenswerth andauernden
Schwindel oder Kopfschmer/en nicht zu beobachten hatte.
Zum Sohluss, meine Herren, will ich Ihnen auch eine gegne-
rische Ansicht nicht vorenthalten, welche mir in diesen Tilgen zu
Gesicht gekommen ist. „Die Indicationen zur operativen Behand-
Arehiv fttr klin. Chirui^ie. 67. Bd. Heft 3. 47
710 Dr. Ludewig, Zur chirurgischen Behandlung etc.
lung der Mittelohreiterungen" betitelt sich eine Arbeit des Herrn
Stabsarzt Dr. Richard Müller aus der Trautmann'schen Ohren-
Abtheilung der Kgl. Charit^ zu Berlin, welche in No. 13 der
Deutschen med. Wochenschrift vom 31. März d. J. veröffentlicht
ist und der Aufmeisslung unter allen Umständen das Wort redet,
selbst bei einfachen Schleimhauteiterungen!
Was die chronische Mittelohreiterung anbetrifft, so urtheilt
Herr Stabsarzt Dr. Richard Müller über die von mir heute
dringend empfohlene Hamnier-Ambosextraction, wie folgt:
„Bei blosser Caries der Gehörknöchelchen ist die
Radicaloperation nicht ohne Weiteres indicirt. Man kann
sich zunächst auf die Extraction von Hammer und Ambos
beschränken.
Aber erstlich ist die Diagnose einer isolirten Caries
dieser Knöchelchen überaus schwierig, und zweitens kommt
erfahrungsgemäss, selbst wenn nur Hammer und Am-
bos cariös waren, die Mittelohreiterung mit ihrer Extraction
meist doch nicht zur Heilung, so dass man sich, nach-
dem man Zeit verloren, schliesslich doch zur Radical-
operation u. s. w. veranlasst sieht." — —
Interessant wäre es, zu erfahren, auf wie viele Fälle von
Hammer-Ambosextraction sich dieses erfahrungsgemäss des Herrn
Stabsarzt Dr. Richard Müller bezieht.
Aber es kommt noch schöner:
Die Indication des Herrn Müller für die Aufmeisslung bei
der acuten Mittelohreiterung lautet wiederum wörtlich:
„Jede acute Mittelohreiterung, die trotz sachgemässer
Behandlung vierzehn Tage lang in unveränderter Stärke
ohne Wendung zum Besseren erkennen zu lassen besteht,
ist mit der Eröffnung des Antrum mastoideum zu be-
handeln, auch wenn bedrohliche Erscheinungen noch nicht
vorhanden sind."
M. IL! Eine solche Indicationsstellung muss als entschieden
zu weit gehend und durchaus willkürlich energisch zurückgei^lesen
werden !
XLIV.
(Aus der Hallenser chirurgischen Klinik.)
lieber die operative Entfernung aus-
gedehnter Gesichtscarcinome/)
Von
Dr. med. IJ« Grosse^
Assistent der Klinik.
(Mit 2 Figuren.)
M. H. ! In den letzten fünf Jahren sind in der Klinik des
Herrn Professor v. Bramann eine Reihe von ausgedehnten Gar-
cinomen der Gesichtshaiit — solche der Nase und der Lippen
kommen dabei nicht in Betracht — zur Behandlung und Ope-
ration gekommen. Einen Theil derselben würde gewiss mancher
schon zu den inoperabeln Tumoren gere(*,hnet haben und daher
sicli garnicht oder nur ungern zu einem operativen Eingriff haben
entschliessen können.
Die Resultate, welche bei uns durch allerdings sehr aus-
giebige Entfernung auch der benachbarten knöchernen Theile dos
Schädels erzielt sind, geben mir Veranlassung, Ihnen einen kurzen
Uebcrblick über die operirten Fälle zu geben und Ihnen die eine
Patienlin, bei der das Carcinom ganz besonders ausgedehnt war,
hier vorzustellen.
In allen operirten Fällen, die hier in Betracht kommen,
handelte es sich um fläcihenhaft ausgedehnte Carcinome, die mehr
oder weniger in die Tiefe griffen, oder in benachbarte Höhlen
hineingewuchert waren; um Tumoren, die in den Knochen hinein-
^) Auszugsweise vorgetragen am 4. Sitzungstage des XXVII. Congresscs
der Deutseben Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 16. April 1898.
47*
712
Dr. Ü, Grosse,
gewachsen waren, ihn usurirt hatten oder mit demselben doch in
innigem Zusammenhange standen.
Es sind im Ganzen 24 solcher Carcinome operirt worden,
wobei ich nochmals betone, dass Carcinome der Lippen oder der
Haut der Nase völlig ausser Acht gelassen sind. In 6 dieser
Fälle war eine Betheiligung des Bulbus selbst oder doch der die
Orbita füllenden Weich theile vorhanden, so dass eine Enucleatio
bulbi gleichzeitig erfolgen musste. Bei allen 24 Fällen sind die
in Betracht kommenden regionären Lymphdrüsen sorgfältig ent-
fernt worden, auch wenn sie keine durch das Gefühl oder das
unbewaflfnete Auge nachweisbaren Zeichen der Erkrankung auf-
wiesen.
Der entstandene Defect wurde fast stets sofort plastisch ge-
deckt, nur in 2 Fällen, wo eine solche Deckung nicht gleich
indicirt war und andererseits mit grossen Schwierigkeiten bezüglich
der Lappenbildung verknüpft gewesen wäre, wurde erst später der
gut granulirende Defect durch Thiersch'sche Läppchen gedeckt.
Gehe ich jetzt kurz auf die Resultate ein, so glaube ich diese
Ihnen am besten durch eine tabellarische Zusammenstellung er-
läutern zu können.
Alter
Datum
Datum
No.
und
Geschlecht
Sitz der Geschwulst
der
Operation
Operation
der Ent-
lassung
Erfolg
1
60 J. ra.
L. Schläfe, auf das
17. 3. 93
Entfernung beider Augen-
30. 3. 93
Recidiv nach
#
obere Augenlid
ühergreifend.
lider zur Hälfte und Ab-
meisselung des Knochens
der Schläfe mit Wegnahme
der äusseren Orbitalwand.
Plastik.
3 Jahren, cf.
No. 13.
2
57 J. m.
R. Schläfe, Augen-
lider und Bulbus,
auf die Backe noch
übergreifend.
30. 8. 93
Entfernung nebst Bulbus,
ganzer äusserer und un-
terer Wand der Orbita,
oberer Wand des Antr.
Highmori des Nasenbeins,
der Muscheln, Theil des
Stirnbeins. Plastik.
26. 10. 93
Starb im Jahre
1897 an in-
tercurrenter
Krankheit.
Kein Recidir.
3
52 J. w.i)
R. Schläfe, Wange,
Augenlider u. Bul-
bus.
21.G.93
Cf. später, wie Anmerkung
besagt.
31.7.93
Recidivfrei u.
geheilt bis
heute.
1) Cf. später die genaue Krankengeschichte, da dies der vorgestellte Fall ist.
Üeber die operative Entfernung ausgedehnter Gesichtscarcinome. 7l3
Alter
und
Geschlecht
Sitz der Geschwulst
Datum
der
Operation
Operation
Datum
der Ent-
lassung
Erfolg
40 J. m.
59 J. w.
63 J. w.
46 J. w.
50 J. w.
R. Wange.
R. Augenwinkel, bei-
de Augenlider er-
griffen, auf Wange
und Nase u. etwas
auf die Stirn über-
greifend.
L. Augenwinkel und
Schläfe.
L. Schläfe u. Augen-
winkel.
R. Nasolabialfalte u.
Wange bis auf d.
untere Augenlid.
77 J. w.
48 J. m.
73 J. w.
48 J. m.
R. Schläfe, beide
Augenlider, Bulbus
betheiligt, Wange,
Stirn.
R. Schläfe.
Stirn, bis an die
Nasenwurzel, Kno-
chen stellenweise
usurirt und frei-
liegend.
R. Schläfengegend
u. Wange.
6. 1. 94
9. 5. 94
25. 7. 94
25. 8. 94
1. 9. 94
10.1.95
12. 5. 95
27. 7. 95
4. 2. 96
Entfernung der Geschwulst
und der vorderen Wand
des Antrum Highmori.
Plastik.
Entfernung der Geschwulst,
wobei die beiden Augen-
lider zur Hälfte fortfallen.
Entfernung von Nasen-
bein, Stirnbein, etwas von
der Wand des Antrum.
Plastik.
Entfernung der Geschwulst
mit äusserer Orbital wand
und Jochbein, Abmeisse-
lung des Schläfenbeins.
Plastik.
Entfernung der Geschwulst
mit äusserem Orbitalrand
und Theilen des Stirn- u.
Schläfenbeins. Plastik.
Entfernung der Geschwulst
mit vorderer Wand des
Antr. Highmori, Abmeisse-
lung des Oberkiefers. Ent-
fernung d. grössten Theils
der rechten Nasenhälfte.
Plastik.
Entfernung der Geschwulst
mit Bulbus, Theile des
Os frontis, sowie fast die
ganze Orbita kommen in
Fortfall.
Entfernung mit äusserer
Orbitalwand. Plastik.
Entfernung der Geschwulst
nebst Nasenwurzel und
vorderer Wand des Sinus
front. Plastik.
Entfernung der Geschwulst,
des Jochbeins und eines
Theils der äusseren und
unter. Orbitalwand. Plas-
tik.
10. 2. 94
29. 5. 94
Recidivfrei n.
4 Jahren.
Recidivfrei u.
gesund nach
4 Jahren.
16. 8. 94
12. 9. 94
21.9.94
Recidivfrei u.
gesund bis
heute (also
4 Jahre).
Recidivfrei u.
gesund bis
heute (also
4 Jahre).
Recidivfrei u.
gesund bis
heute (33/4
Jahre).
16. 2. 95
80. 5. 95
28. 8. 95
Gesund und
recidivfrei bis
heute (also
31/4 Jahre).
Gesund und
recivfrei (al-
so 3 Jahre).
Ohne Nach-
richt.
5. 3. 96
Gesund und
recidivfrei (al-
so 21/4 Jahre).
1
714
Br. ü. Grosse,
No.
13
14
15
16
17
IS
19
20
21
Alter
und
Geschlecht
Sitz der Geschwulst
63 J. m.
60 J. w.
45 J. m.
27 J. m.
35 J. ni.
72 J. m.
R. Augenlider und
Bulbus, bes. am
inneren Augenwin-
kel. Recidiv. Cf.
No. 1.
Stirn und Nasen-
wurzel.
R. Schläfe, Orbita
und Bulbus nebst
unterem Augenlid.
Link. Ohr, Schläfe,
Wange, Hals. (Re-
cidiv nach einer
' vor 2 Jahren in
einem ander. Kran-
kenhaus stattge-
habten Operation.)
R. Ohr und Haut
des Scheitelbeins,
05 J. m.
05 J. m.
L. Wange u. Schlä-
fengegend, vordere
Wand des Antr.
Highmori an einer
Stelle zerstört.
R. Schläfe mit Kno-
chenusur.
R. Schläfengegend
u. Stirn mit obe-
rem Augenlid.
I
05 J. m. Vor d. r. Ohr, auf
dasselbe übergrei-
ft'ud bis in den
(ichörgang.
Datum
der
Operation
6. 2. 96
30. 4. 96
30. 6. 96
11.2.97
und
15. 5. 97
12. 2. 97
23. 2. 97
11.3.97
2. 4. 97
22. 5. 97
Operation
Datum
der Ent-
lassung
Erfolg
Entfernung der Lider, des
Bulbus, des Stirnbeins im
unteren Theil, der äusse-
ren, inneren und unteren
Orbitalwand, des Nasen-
beins. Plastik.
Entfernung der Geschwulst
und der oberflächlichen
Knochenpartien. Plastik.
Entfernung der Geschwulst,
des Bulbus der vorderen
Wand des Antr. Highmori,
des Jochbeins und der
oberflächlichen Theile des
Schläfenbeins. Plastik.
Entfernung von Ohr, hin-
terem Theil der Wange,
Jochbein, Mu.scul. tempo-
ral., aufsteigendem Kiefer-
ast bis zum Tricuspis,
Rcscction der Arteria ca-
rot. ext. u. Vena jugul.,
d.Proc. mastoideus. Trans-
plantation.
Entfernung der Geschwulst
und der Ohrmuschel, so-
wie der oberflächlichen
Knochenschichten. Plas-
tik.
lEntfernung mit Jochbein
und vorderer Wand des
Antr. Plastik.
Entfernung mit Knochen -
platte vom Stirn- und
Schläfenbein, äusserem
Orbitalrand. Plastik.
Entfernung nebst Jochbein,
äusserer Orbitalwand und
oberflächlichen Schichten
von Stirn- und Schläfen-
bein. Plastik.
Entfernung mit Ohr und
Gehörgang sammt Trom-
melfell, Ausräumung der
Paukenhöhle und Entfer-
nung des Prec. mastoi-
deus. Plastik.
10. 3. 96
26. 4. 96
21.7.96
5. 7. 97
5. 3. 97
Bisher recidir
frei.
t unter den
Erscheinung,
der Ben-
schwäche.
Gesund und
ohne Recidir
(also 2 Jahre).
Geheilt, gcsd.
und ohne K«-
cidivb. heute.
Gesund und
recidiv frei (al-
so 1 Jahr\
12.3.97 Starb im De-
cember 97 an
Pneumonie.
19. 3. 97
27. 4. 97
3. 8. 97
t Pneumonie.
Gesund und
ohne Recidi?
(1 Jahr).
Gesund und
ohne Recidiv.
lieber die operative Entfernung ausgedehnter Gesichtscarcinome. 715
Alter
Datum
.
Datum
No.
und
Geschlecht
Sitz der Geschwulst
der
Operation
Operation
der Ent-
lassung
Erfolg
22
62 J. m.
R. Augenlider, Bul-
bus, Stirn, Wange.
31.5.97
Entfernung mit Bulbus ,
Stirnbein, Orbita, vorderer
Wand des Antrum, Joch-
bein. Plastik.
2. 7. 97
Gesund und
ohne Recidiv
(CompUcat. :
Pneumonie).
23
45 J. w.
L. untere Augenlid,
Wange und Naso-
labialfalte,Knochen
freiliegend.
2. 9. 97
Entfernung mit Jochbein,
unterem Augenhöhlenrand
und vorderer Wand des
Antr. Highmori. Plastik.
20. 10. 97
Gesund und
ohne Recidiv
(musste noch
Lidplastik fol-
gen).
24
58 J. m.
Oberes r. Augenlid,
Stirn und Schläfe
(Bulbus noch frei
beweglich u. oph-
thalmoskopisch nor-
mal).
13. 1. 98
Entfernung mit einem Theil
des Stirnbeins, der äusse-
ren Orbital wand und des
Os zygomatic. Plastik.
10. 2. 98
Bisher gesund
(Recid. even-
tuell zu er-
warten , da
Pat. sich den
Bulbus nicht
fortnehmen
liess).
Von diesen 24 Fällen starben unmittelbar nach der Operation,
d. h. im Verlauf der ersten 8 Tage, 2 Patienten; beide über
60 Jahre alt. Die übrigen wurden geheilt entlassen und sind bis
auf 4 weitere noch heute gesund und ohne Recidiv. Von den
letzten 4 ist der eine vor 1 Jahr gestorben, er hatte ein locales
Recidiv; zwei sind an intcrcurrenten Krankheiten verstorben und
von der einen Patientin habe ich keine Nachricht erhalten können.
Die übrigen 18, von denen 6 ganz besonders ausgedehnte Tumoren
hatten, die gerade die grössten Operationen durchgemacht haben,
leben und sind recidivfrei. Bei den meisten von diesen 6 liegt
die Operation 4 — 5 Jahre zurück, wie bei der einen Patientin, die
ich Ihnen jetzt zeigen möchte.
Aus der Anamnese ist folgendes hervorzuheben:
Die damals 52 jährige Frau, — sie wurde im Juni 93 von
Herrn Prof. v. Bramann operirt — war hereditär nicht belastet
und im Wesentlichen gesund gewesen. Seit ihrem 15. Lebens-
jahre hatte sie „eine Flechte" auf der rechten Backe und vor
dem rechten Ohre, die ganz langsam an Grösse zunahm und bis
zum 30. Jahre etwa die Grösse eines Markstückes erreicht hatte.
Bisher war die Flechte völlig trocken gewesen, jetzt fing sie an
zu nässen. Die Frau begab sich in Behandlung verschie<lener
?16
t)r. U. Grc
Aerztc, die Iheil» mit Salben, thcils mit innerlichen Mitteln die
Flechte zu beseitigen suchten. Doch halfen alle diese Verordnungen
nichts, die Flechte wuchs langsam weiter. Seit 4 Jahren, also
seit dem 48. Lebensjahre, hatte Patientin ein rascheres Waehs-
thuin der Flechte bemerkt, die jetzt Wülste und Erhabenheiten
bildete, stinkendes Secret absonderte und zeitweise Schmerzen
verursachte. Seit 1 Jahr sind die Bewegungen des rechten Auges
behindert, und vor kurzer Zeit war Blindheit eingetreten,
Fig. 1.
So kam die Frau endlich nach der Klinik.
Den Status gehen Ihnen einige Photographien ^). Sie er-
sehen daraus, dass es sich um einen handtellcrgrossen, flächcnhaft
ausgebreiteten, unrcgelmassig höckerigen Tumor handelte, der fast
die ganze rechte Gesichtshälfte einnahm. Es war ein Carcinom,
Aussebeu der Patientin vor und nach der
Uebcr die operative tntfernung aiisgedelinter Gesichlscarcitionie. 717
das entstanden war auf einem Lupus und das das rechte Ohr
völlig zerstört und auf das rechte Auge übergegrilTun hatte.
Am 21. Juni 1893 wurde dio Entfernung des Tumors vür-
genemmen: Dabei Ausräumung der Orbita nacli Enuclcatio bulbi.
Fortnahme des Jocbbogens, der vorderen und seitlichen Wand des
Antr. Highmori, der untern und äussern Wand der Orbita, sowie
eines Theils der obem, Entfernung des Sinus frontalis bis auf die
Fig. 2.
hinlere Wand; Fortfall des äussern Oliro.s nclist di'U umgebenden
Knochenpartien, so dass das Trommeifoll in's Niveau der Wunde
kommt, Fortnahme des Proc. mastoideus und der angrenzenden
Knochentlicile bis auf das Kiefergclonk. Die Dura wird an zwei
Stellen bloss gi'legt. luipjantutinn von Knochenstiickchen , die
durch Zusammenziehen der Wundränder bedeckt werden und auf
diese Weise Verkleinerung des Defectes, der später transplantirt
718 Dr. ü. Grosse, Ueber die operative Entfernung etc.
wird. Sorgfältige Entfernung aller Drüsen am und unter dem
Kiefer.
Am Rande der ehemaligen Wunde finden sich einige Jahre
später noch Lupusknötchen, die noch mehrmals durch Kauteri-
sation entfernt werden — zum letzten Mal vor 8 Monaten.
Seit 5 Jahren ist die Patientin ihr Leiden los und hat sich
sehr erholt.
Im Anschluss an diesen vorgestellten Fall wurden noch einige
weitere besprochen, von denen Photographien herumgezeigt wurden,
auf die des Näheren einzugehen ich mir noch vorbehalte.
XLV.
Ueber Oesophagus-ßesection und
Oesophagoplastik/)
Von
Professor Dr. C* Garre
in Rostock.
Nach einer im verflossenen Jahre erschienenen Arbeit von
Xarath ist bisher in der Literatur nicht mehr als über 10 Fälle
von Oesophagusresection berichtet. In all' den Fällen hat aber
weniger die Wegnahme des erkrankten Theiles des Oesophagus,
als vielmehr die nachherige Wiederherstellung des Schlundrohres
den Operateuren Schwierigkeiten bereitet. Ausnahmslos wurde die
Halshaut zur Plastik benutzt, sei es, dass gestielte Lappen einen
Theil der exstirpirten hinteren Schlundwand ersetzen mussten —
oder dass Halshautlappen von beiden Seiten her thürflügelfönnig
umschlagen wurden zur Bildung des Oesophagus. Nur in einem
Falle gelang es, die resccirten Theile so weit zu mobilisiren
(Narath), dass sie durch die Naht vereinigt werden konnten;
aber auch hier musste die vordere Speiseröhrenwand durch Lappen
aus der Halshaut gebildet werden.
Ich hatte dreimal Gelegenheit, grössere Theile des Oesophagus
zu reseciren. In allen Fällen handelte es sich um Carcinom, und
alle drei Fälle haben den operativen Eingriff gut überstanden.
Beim ersten Patienten (52 jährige Frau) sass ein ringförmig
stricturirendes Carcinom am Eingang in den Oesophagus. Nach
>) Abgekürzt vorgetragen am 4. Sitzungstage des XXVII. Congrcsses der
Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 16. April 1898. — Ausführliche
Arbeit s. Beiträge zur klinischen Chirurgie.
720 Dr. C. Garre,
der vorausgeschickten Oesophagolomie gelang es, durch Verlänge-
rung des Schnittes am Rande des M. sterno-cleido das Carcinora,
unter Erhaltung des Kehlkopfes zu exstirpiren. Eine schmale
Sclilcimhautbrücke blieb an der Resectionsstelle noch stehen. Nach-
dem die Wundverhältnisse durch gute Granulation sich consolidirt
hatten, wurde ein Theil der hinteren Oesophagusvvand durch einen
gestielten Lappen aus der Halshaut gebildet, ähnlich wie es Mi-
kulicz in einem Falle gemacht hat. Recidiv trat nach einigen
Monaten auf, dem der Patient ca. 1 Jahr nach der Operation
erlag.
Beim nächsten Falle war das Speiseröhrencarcinom in die
Platte des Ringknorpels hineingewuchert, der Kehlkopf musste mit
exstirpirt werden, aber vom Oesophagus konnte ein 2 cm breiter
Streifen der Hinterwand stehen bleiben, während der Rest auf eine
Länge von 5 cm resccirt wurde. Durch Vernarbung der tampon-
nirten Wundflächen legte sich die Halshaut zu beiden Seiten an
die schmale Schleimhautbrücke an und so entstand eine Halbrinne,
die plastisch bis auf eine Lücke zur Einführung der Schlundsondc
10 Wochen nach der Resection durch Thürflügellappen aus der
Halshaut und Verschiebung von Halshautlappen über dieselben ge-
schlossen wurde (Methode Hochenegg).
Im letzten Falle, den ich vor einigen Monaten operirt habe,
bin ich in der Weise vorgegangen, dass ich die gesunde Kehlkopf-
schleimhaut ausschälte, um sie zur Bildung des neuen Schlund-
rohres zu benutzen. Dieser Schleimhauttubus ist und blieb sehr
gut vascularisirt; er erwies sich als ein vorzügliches Material zur
Plastik, so dass ich in entsprechenden Fällen wieder dasselbe ver-
wenden würde. Ich will im Folgenden in aller Kürze die be-
trefifende Kranken- und Operationsgeschichte skizziren,
Janker, Minna, 28 Jahre alt, leidet seit Anfang September 1897 an
Schluckbeschwerdcn, sie vermochte feste Kost nicht so gut zu schlingen wie
früher. Nach einem Wochenbett Ende September nahmen die Schling-
beschwerden erheblich zu — sie konnte fast nur flüssige Kost zu sich nehmen;
eingeweichtes Brod müsse sie fest mit der Zunge anpressen, sonst blieb es
stecken. Kein Erbrechen, keine Schmerzen beim Schlucken, zunehmende Ab-
magerung. Beim Sondiruugsversuch stösst man 12 cm hinter der Zahnreihe
(also hinter dem Kehlkopf) auf ein unüberwindliches Hinderniss; selbst die
dünnsten ürethralbougies lassen sich nicht einführen. Beim Touchiren, mit
Gegendrängen des Kehlkopfs stösst der Finger auf eine derbe Resistenz, die
(Jeber Oesophagus-Resection und Oosophagoplastik. 721
dem Anfangstheil des Oesophagus angehört. Laryngoskopisch ausser leicht
angeschwollenem Aryknorpel nichts; kein Tumor sichtbar. Palpation von
aussen ist ergebnisslos.
Diagnose: ringförmiges hartes Carcinom im Anfangstheil des Oesophagus.
13. Jan. 98. Oesophagotomie dicht oberhalb des Jugulum an der
linken Halsseite. Vom Oesophagus aus ist ein harter kleiner Tumor zu fühlen,
der für eine Sonde No. 6 durchgängig ist. Oesophagusfistel angelegt. — Unter
guter Ernährung mit der Schlundsonde durch die Oesophagusfistel nimmt die
Patientin zu.
2. Febr. Resection des Oesophagus. Exstirpation des La-
rynx mit 5 Tracheairingen. Längsschnitt am vorderen Rande des Sterno-
kleido. Grosse Gefässe nach aussen gezogen ; Oesophagus von der Wirbelsäule
stumpf abgelöst; quere Abtrennung des Oesophagus vom Pharynx. Beim Ver-
such, den Oesophagus von der Trachea und der Cartilago cricoidea abzulösen,
zeigt sich die hintere Trachealwand vom Carcinom auf eine Länge von ca. 5 cm
durchwachsen. Die Trachea muss also resccirt werden. Nach vorgängiger
tiefer Tracheotomie wird unterhalb des 4. Ringes die Luftröhre abgetrennt und
sogleich in ihrem Querschnitt dicht oberhalb der eingelegten Canüle durch die
Naht fest verschlossen nach submucöser Ausschalung des 5. Tracheairinges.
Der rechte Schilddrüsenlappen ist carcinomatös infiltrirt, er wird mit der Tra-
chea weggenommen. Da eine Wiederherstellung der Continuität der Trachea
bei so grossem Defect unmöglich ist, wird der Kehlkopf für die Kranke dauernd
ausser Function bleiben. Er ist nutzlos und wird mit exstirpirt. Die Schleim-
haut des ganzen Kehlkopfs bleibt mit der Epiglottis in Continuität erhalten
und wird zur plastischen Deckung des Oesophagusdefectes verwendet und zwar
so, dass die Schleimhaut der Gegend der Aryknorpel durch Nähte mit dem
Pharynxende (obere Rescctionsstelle) vereinigt und der Oesophagusstumpf mit
der ausgeschälten subglottischen Schleimhaut vernäht wird. [Die nähere Er-
klärung geschieht an der Hand einer schematischen Tafelzeichnung.]
Nun wird die ursprünglich röhrenförmige Kehlkopfschleimhaut vorn bis zur
Basis der Epiglottis geschlitzt, so dass nach deren Fixirong durch die Naht
am Oesophagus die neugebildete Speiseröhre vorn offen bleibt. Der Rest der
Wunde wird tamponnirt.
Trotzdem am 10. Tage die unteren Fixationsnähte durchschnitten, wich
der transplantirte Schleimhautlappen nur 2Y2 c™ weit zurück. Die Lücke
wurde später leicht durch Thiersch'sche Hautläppchen gedeckt.
Im Uebrigen heilte, abgesehen von einer mehrtägigen Fieberperiode, in
Folge mediastinaler Eitersenkung die mächtige Wunde gut. 2 Monate nach
der Exstirpation konnte die tiefe, mit Kehlkopfschleimhaut ausgekleidete Rinne
in einfachster Weise zum Canal gevSchlossen werden, durch den eine finger-
dicke Sonde leicht passirte.
Die Kohlkopfschleimhaut blieb auch an ihrem neuen Bestimmungsort, da
der Nerv, laryng. sup. bei der Operation geschont worden war, normal em-
pfindlich, selbst Berührungen lösten Hustenreiz und Hustenparoxysmen aus.
So blieb es nur zunächst fraglich, ob beim Schlucken, wenn Flüssigkeiten
722 Dr. C. Garre, Ueber Oesopliagus-Resection und Oesophago plastik.
oder Speisen diese Theile passiren, nicht auch ein schwer zu bekämpfender
Hustenreiz auftreten würde und event. die nachträgliche Aufsuchung und Durch-
schneidung des N. laryng. sup. nothwendig machen würde. Die Sorge war
unbegründet. Die Kranke schluckt Flüssigkeiten, ohne dass Hustenreiz aus-
gelöst wird und die Schlundsonde wird ebenfalls ganz gut vertragen.
Dieser Fall von gelungener Plastik beweist, dass die Kehl-
kopfschleiraha\it sehr wohl zura plastischen Ersatz eines Theiles
des Oesophagus verwendbar ist; selbst in den Fällen, wo nur die
Seitentheile der Larynxschleimhaut noch verwendbar sind, lassen
sich dieselben sehr wohl zura mindesten zur Bildung der hinteren
Speiseröhrenwand gebrauchen.
XLVI.
lieber Rectoscopie und einige kleinere
operative Eingriffe im Rectum.'^
Von
Dr. S, T. Fedoroir,
I. Assistent an der ehinirgiscben Faknltfttsklinik Ton Prof. Bobrow- Moskau.
M. H.! Im Jahre 1895 war die Arbeit von Kelly über die
Rectoscopie erschienen, eine neue üntersuchungsmethode, auf deren
Möglichkeit vielleicht schon im Jahre 1889 von Otis hingewiesen
wurde. Meine eigenen Erfahrungen über diese Untersuchungs-
methode die im Anfange 1896 beendigt waren, sind aber ohne Be-
rücksichtigung der Kelly'schcn Arbeit gemacht worden, weil mir
dieselbe damals noch nicht bekannt war.
Die Rectoscopie als Untersuchungsmethode beruht auf der
Möglichkeit, gerade, unbiegsame, bis 40 cm lange Tuben ins
Rectum und noch höher in die Flexura sigmoidea einzuschieben.
Wie es mir aber meine Leichenexperimente zeigten, ist es bis jetzt
nicht gelungen ein gerades Rohr, ob es noch ein leicht federndes
oder ein unbiegsames Ende besitzt, über den unteren Theil der
Flexura zu schieben. DavS Instrument passirt nie die Flexur, und
die Länge des eingeschobenen Thciles des Tubus hängt nur von
der Beweglichkeit derselben, also von der Länge des Meso-
sigraoideums, ab. Auf der Abbildung, die einen Frontalschnilt
durch eine gefrorene Leiche darstellt, kann man die Verhältnisse
des bis in die Gegend des linken Epigastriums eingeführten
40 cm langen Rectoscops zu den Bauchorganen sehen.
*) Abgekürzt vorgetragen am 8. Sitzungstage des XXVII. Congresses der
Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 15. April 1898.
724 Dr. J. V. Fedoroff,
Meine Rectoscopo bestehen aus 4 Röhren von Metall von ver-
schiedener Länge und Stärke, von denen eins photographischen
Aufnahmen im Rectum angepasst ist. Die Obturatoren zu den
Tuben sind jetzt auch aus Metall angefertigt. Das Anbringen
eines Handgriffes zu den rectoscopischen Tuben, wie es zum Bei-
spiel bei den Rectoscopen von Herzstein gemacht ist, hat keinen
Zweck und macht das Instrument nur schwerer und zu plump.
Die Tuben werden durch besondere Zwischenstücke mit dem
Gas per 'sehen Panelectroscop verbunden, welche an ihrer ganzen
unteren Peripherie einen Ausschnitt besitzen. Dadurch ist die
Möglichkeit gegeben, das Innere des Darmes auszuspülen oder aus-
zutupfen ohne die Besichtigung selbst zu unterbrechen. Das ab-
fliessende Wasser benetzt auch nicht die Hände des Operateurs,
selbstverständlich, wenn nur nicht zu ungestüm gespült wird.
Eine schräge Oeffnung am Ende des Rectoscops ist meiner
Ansicht nach auch ganz überflüssig. Zum Operiren benutze ich
lange galvanokaustisch Schlingen, Brenner und Zangen. Die Zangen
sind derart construirt, dass sie zerlegbar sind und eine jede Branche
derselben dann auch als scharfer Löffel dienen kann.
Nach vorläufigem Klysma und Einführung des Rectoscopes
wird die Höhle des Rectums mit Tupfern nochmals gereinigt und
dann mit electrischer Stirn- oder Handlampe beleuchtet. Die
Bilder im Rectum und der Flexura, die kaum an Klarheit noch
etwas zu wünschen übrig lassen, können uns, wie diese Ab-
bildungen hier zeigen, ganz gut über die Natur der Erkrankung
im Darme informircn.
Ausserdem giebt die Rectoscopie, worüber ich auch etwas
ausführlicher sprechen will, die Möglichkeit, den Sitz und die Aus-
dehnung des pathologischen Processes im Darme zu bestimmen,
Stücke zur mikroskopischen Diagnose von den höchsten Partieen
des Rectums und der Flexura zu nehmen, endlich kleinere Opera-
tionen, wie Auslöffelungen oder Abtragungen von Polypen u. s. w.
vorzunehmen.
So konnte bei einem 45jährigen Mann, der ein noch operir-
bares Carciiiom des Afters hatte, ein kleines Geschwür auf einer
Höhe von 25 cm vom Orificium ani entfernt, bei völlig intacter
Schleimhaut der anderen Partieen des Darmes mittelst des Rectoscops
nachgewiesen und darum von der Exstirpation der Geschwulst
Ueber Rcctoscopu? und einige kleinere operative Eingriffe im Kectum. 725
Abstand genommen werden. Ein zur mikroskopischen Unter-
suchung genommenes Stückchen des Geschwürs bestätigte seine
carcinomatöse Natur.
In zwei anderen Fällen bei einem 30jährigen Mann und einer
22jährigen Frau konnten die oberen Grenzen der Geschwülste
(Carcinome), die dem Finger unzugänglich waren, sowie auch die
Grösse resp. x\usdehnung der letzteren genau mit dem Rectoscop
bestimmt werden.
In noch anderen Fällen konnten bei massig ausgeprägten
polypösen Catarrhen in Rectum und Flexura , kleine polypöse
Wucherungen, auf verschiedene, bis 30 cm, Entfernung ab orificio
ani, geätzt, abgequetscht oder abgebrannt werden.
Auch grössere Tumoren können mit Hülfe des Rectoscops
unter fortwährender Gontrole des Auges leicht operirt werden.
Ein Mann von 28 Jahren klagt über schweren Stuhl seit ein Paar Jahren
und von Zeit zu Zeit aus dem Rectum hervortretende massige Blutungen. Hat
auch ein Gefühl von Drängen und Schwere im Kreuzbein. War schon bei
einigen Aerzten, die innere Hämorrhoiden constatirten und verschiedene ad-
stringirende Clysmata vorschrieben. Aber alle solche Maassnahmen halfen
wenig.
Bei der Hectoscopie konnte ich einen Pflaumengrossen Schleimhautpolyp
constatiren, der auf einer Höhe von etwa 10 cm entfernt ab orificio ani ge-
stielt aufsass und mit einer galvanokaustischen Schlinge sofort entfernt wurde;
dabei kleine Blutung. Da ausser dem Polypen ein ziemlich ausgeprägter
CataiTh der Rectalschieimhaut gefunden war, wurden dem Kranken Dermatol-
clysmata verordnet. Nach etwa 1^/2 Monaten konnte der Kranke für gesund
erklärt worden.
Im zweiten Falle, bei einem 23jährigen Fräulein, das über Tenesmen
und Blutverlust bei der Delacation klagte und mit der Diagnose eines Polypus
recti zu mir kam, konnte auch ein solcher, 6 cm vom Orificium ani entfernt
mit dem Rectoscop nachgewiesen werden. Der Tumor, der etwa Mandelgross
war, sass auf einem kurzen Stiel und wurde ebenso wie im ersten Falle mit
der galvanokaustischen Schlinge entfernt. Die Blutung etwas stärker. Bei
mikroskopischer Untersuchung erwies sich der entfernte Polyp sarcomatös.
Ich selber sah die Kranke nicht mehr nach der Operation, habe aber noch
nach 4 Monaten Nachricht bekommen, dass die Kranke sich von ihrem früheren
Leiden für ganz befreit hält.
In einem noch interessanteren Falle, den ich vor einem Jahre zu beob-
achten Gelegenheit hatte, handelte es sich um einen 36jährigen, gut gebauton
Mann, der vor etwa 2 Monaten bei sich Blut im Stuhle bemerkte und dadurch
auf kleine schleimig-eitrige Klumpen, die sich fast bei jedem Stuhle entleerten,
aufmerksam gemacht wurde. Bei der Rectoscopic fand ich auf einer Höhe von
Archiv fVr klin. Chirnrgie. 67. Bd. Heft 3. ^^
726 Dr. J. V. Fedoroff, Uebcr Hectoscopie e^tc.
15 cm, also etwa am Ucbergang des Rectums in die Fiexura ein Markgrosses
Geschwür mit flachem mit Eiter bedecktem und schlecht granulirendem Grunde
und flacheft und unregelmässigen Rändern. Irgend eine stärker ausgeprägte
Infiltration in der Nähe des Geschwürs oder noch andere Geschwüre konnte
ich nirgends constatiren. Die Schleimhaut des Darmes, soviel ich sie sehen
konnte, war gcröthet, aufgelockert, hier und da etwas erodirt und mit wenigen
schleimig-eitrigen Klumpen bedeckt. Weil in der Anamnese keine Syphilis
oder irgend welche vorhergegangene stärkere Entzündung der Darmes con-
statirt werden konnte, blieb ich bei der Diagnose eines tuberculösen Geschwürs
im Rectum obwohl weder in der Anamnese irgend welche Anhaltspunkte dazu
waren, noch nachher Tuberkelbacillen im »Secret des Geschwürs gefunden
wurden.
Nach Reinigung des Rectums mittelst Clysma, schabte ich das Geschwür
mit scharfem Löffel aus, ohne beim Kranken zu grosse Schmerzen hervorzu-
rufen. Die ziemlich starke Blutung w^urde durch Compression mit Watte-
bäuschen gestillt und die Wunde danach mit Jodoformpulver bestreut.
Die folgende Therapie bestand aus Spülungen des Rectums mit warmem
Wasser und Dermatolclysmata. Das Geschwür selbst wurde zwei- bis dreimal
wöchentlich mit Hülfe des Rectoscops mit Tupfern gut gereinigt und mit etwas
Jodoform bestreut. Es wurden auch Aetzungcn mit Arg. nitricum in Substanz
ebenfalls durch das Rcctoscop vorgenommen. Das Geschwür fing an gut zu
granuliren und verkleinerte sich in 3 Wochen fast bis zu einem 20-Pfennig-
grossen Stück. Leider verlor ich den Kranken aus dem Gesicht, weil er wegen
Geschäfte die Stndt verlassen musste.
Schon aus dieser kleinen Zahl der von rair aufgeführten That-
sarhon, können Sie sich. m. H., über die Nützlichkeit der Recto-
scopie, nicht nur zur Stellung in verschiedenen Richtungen exacter
Diagnose, sondern auch für einige kleinere Operationen im Rectum,
die anders schwer oder sogar unmöglich auszuführen sein würden,
ein richtiges Urtheil machen.
Noch will ich darauf aufmerksam machen, dass die Unter-
suchungen des Rectums mit den Rectoscopen von den Kranken
entschieden besser, als mit verschiedenen Arten von Specula ver-
tragen werden.
XLVII.
Ueber Craniectomieen nebst einigen
Betrachtungen über die Heilung grosser
Operationsdefecte am Schädel/)
Von
Hr. Jf. w. FedorolTi^
I. Assistent an der ehirargisehen Fakiilttttsklinik von Prof. Bobrow-Moskau.
M. H.! Es ist eine alte Sache, die Trepanation, die docli
immer noch neu bleibt und der in den letzten Jahren besonders
grosse Aufmerksamkeit von den Chirurgen gewidmet wird. Alt
bleibt das Bohren eines Loches im Schädel, neu sind aber die
Kenntnisse in der Pathologie der Schädelkrankheiten, die Maass-
nahmen um die letzteren zu beseitigen, endlich die Technik und
die Indicationen zur Trepanation, oder, besser gesagt, zu der
Schädelresection.
Die moderne Chirurgie muss schon jetzt zwei ganz ver-
schiedene Operations verfahren an den Schädelknochen, als zwei be-
sondere Typen auffassen: erstens, die ausgedehnten temj)orären
Resectionen am Schädel, die einen breiten Weg in's Cavum cranii
gestatten und von denen ein Theil, als Probecraniotomieen ana-
log den Probelaparotoniieen aufgefasst werden kann, zweitens
— alle Resectionen wo Theile von erkrankten Schädelknochen mit-
weggenommen werden müssen — die Craniectomieen.
Wenn nun die ersteren, die Craniotomieen, an sich selbst, ein
verhältnissmässig einfacheres und für den Kranken weniger gefähr-
liches Verfahren darstellen, sind schon die Craniectomieen, be-
^) Abgekürzt vorgetragen am 4. Sitzungstagc des XXVII. Congrcsses der
Deutseben OeseHschaft für Chirurgie zu Berlin, 16. April 1898.
48*
^28 l)r. J. V. Pedoroff,
sonders wo grosse Stücke des Schädeldaches entfernt werden
müssen, eine für das Leben des Patienten ernste Operation.
Die meisten der Craniectomicen, die in der antiseptischen
Aera ausgeführt wurden, hatten das Ziel, irgend eine bösartige,
innig mit dem Knochen verwachsene Gesehwulst zu entfernen und
was die Literatur anbetrifft, so konnte ich nur gegen 30 Fälle,
wo die Exstirpation des Tumors beendigt war und der Knochen-
defect dabei mindestens 6 cm im Diameter hatte, mit einer
Mortalität von etwa 28 pCt., auffinden. Damm scheint es mir
auch nicht überflüssig zu sein, meine Fälle von ausgedehnten
Craniectomicen der geehrten Versammlung vorzuführen.
Der erste Fall betrifft einen 18jährigen jungen Mann, bei welchem in
etwa 5 Monaton ein fauslgrosser Tumor in der Gegend des rechten Scheitel-
beins ohne irgend welche llirnsymptome gewachsen war. Es wurde die
Diagnose eines Knochensarcoms gestellt und, während der Operation, nach
Freilegung des Tumors, derselbe in Grenzen des gesunden Knochens mit der
D ah Igren' sehen Knochenzange und ein Paar Meisselsch lägen in etwa zehn
Minuten entfernt. Die ziemlich starke Blutung durch Tamponnade gestillt.
Da die Geschwulst auch mit der Dura etwas verwachsen war, so excidirte man
ein etwa 20 Pfenniggrosses Stück derselben. Naht der Dura und der Haut.
Prima intentio. Nach 3 Wochen gesund nach Hause entlassen. Der Defect des
Schädeldaches betrug 10 X 12 cm.
Nach 6 Monaten Recidiv an der Stelle der ersten Operation. Der Tumor
war noch grosser, als früher, war aber auch dieses Mal ohne irgendwelche
Hirnsymptome gewachsen.
Zweite Operation: Der Tumor wurde mit zwei bogenförmigen Schnitten
bis auf den gesunden Knochen umschnitten, und derselbe, theils mit Kreis-
säge, theils mit Meissel durch trennt. Die Geschwulst war dieses Mal fast auf
ihrer ganzen inneren Peripherie mit der Dura und im Bezirke der Präcentral-
windung mit dem Gehirn verwachsen, so dass sie in grosser Ausdehnung mit
excidirt werden musstc. Die Operation dauerte etwa 35 Minuten unter fort-
währender starker Blutung, die zuletzt gerade enorm wurde. Nach einer halben
Stunde nach der Operation konnte der Kranke noch einige Worte sprechen, —
dann Bewusstlosigkeit und Tod 3 Stunden nach der Operation. Grosse
Anämie der inneren Organe. Die Grösse des Schädeldefectes nach der Operation
war 15x14 cm.
Zweiter Fall: Priester, 25 Jahre alt, kommt wegen eines pflau mengrossen
Tumors in der Gegend der rechten Stirnhöhle, welcher nach einem Trauma in
etwa 3 Monaten herangewachsen war. Diagnose : Sarcom, wahrscheinlich der
rechten Stirnhöhle.
Operation : Nach dem Anlegen von 4 Bohrlöchern an den Ecken des zum
Reseciren bestinunten Knochenstückes, Heraussägen mit der electrischen Kreis-
säge. Sehr starke Blutunsr. Der Knochen wird aber schnell entfernt und dann
Ueb. Cianiectomie u. die Heilung grosser Operation sdefecte am Schädel. 729
die Blutung leicht mit Hakenpincetten gestillt. Die Dura mater völlig intact.
Die Grösse des rcsecirten Knochens GX^ cm. Glatte Heilung per primam.
M. H., bei allen solchen Fällen von ausgedehnten Craniec-
toraieen werfen sich hauptsäcbHch folgende Fragen auf, die sich
theils an die Operation selbst, theils an die Postoperationsperiode
knüpfen.
Wie gross die Rescctionsdefecle am Schädeldach und, wenn
nöthig, auch an der Dura sein können; wie dieselben heilen und
ob sie nachher später durchaus geschlossen werden müssen.
Was die Grösse der Resectionsdefecte anbetrifft, so scheint
der erste von meinen Fällen bis jetzt in dieser Hinsicht der Einzige
zu sein, da bei der zweiten Operation fast die ganze rechte Hälfte
des Schädeldaches weggenommen werden musste. Leider starb der
Kranke in Folge starker Blutung während der Operation. Der
nächste nach der Grösse des resecirten Knochen kommt der Fall
von Delageniere, wo ein Stück Knochen von 10x8 cm mit
einem grossen Theil der Dura entfernt wurde. Der Kranke blieb
am Leben. Die Grösse der von anderen Operateuren resecirten
Knochen schwankt zwischen 6 — 9 cm im Diameter.
Wie schon von mir erwähnt wurde, ist die Mortalität bei
solchen Resectionen eine ziemlich beträchtliche, besonders wenn
man darauf achtet, dass der Tod in Folge der Operation selbst
und wegen starker Blutung eintritt. Viele namhafte Chirurgen
verloren Kranke, oder konnten wegen Blutung die Resection bei
der Entfernung von viel kleineren Tumoren, als die hier erwähnten,
nicht zu Ende führen.
Es ist also die Blutung während der Operation die erste
Lebensgefahr für den Kranken, der wir vorzubeugen haben. Hier,
mehr als irgendwo, muss man schnell und sicher operiren und ein
dazu geeignetes Instrumentarium besitzen. So lange der Knochen
noch nicht entfernt ist, ist die Blutung sehr stark, noch stärker
wird sie beim Abheben des Knochens mit der Geschwulstmassc
von der Dura und wird bei der ümschneidung der letzten in
manchen Fällen geradezu enorm. Auch hier ist es nöthig, die
Dura möglichst schnell mit der Scheere herauszuschneiden. Ist
nun der Knochen entfernt, und wenn nöthig, auch die Dura her-
ausgeschnitten, so wird man der Blutung bald Herr durch An-
legung, am besten von breiten (besonders dazu geeigneten) Ilaken-
730 Dr. .1. V. Fedoroff,
pincctten und Compression der blutenden Diploe mit Gaze. Das
Tamponniren der beim Durch trennen des Knochens geraax^hten
Schlitze mit Gaze während der Operation sehe ich als eine nur
palliative und unsichere Blutstillung an. Selbstverständlich sind
also bei solchen Operationen alle langsam arbeitenden Knochen-
instrumente, wie Meissel oder Trepane zu verwerfen, und das
beste, was uns jetzt bleibt, sind die Kreissägen, die von einem
Klectromotor getrieben werden. Es ist zwar dabei Gelegenheit ge-
geben, bei schneller Arbeit die Dura hier und da mit der Kreis-
säge etwas zu schädigen, aber das bleibt eigentlich ohne Nachtheil
für den Patienten.
Bei 22 Resectionen des ganzen oder des grössten Theiles des
Schädeldaches bei Hunden, habe ich nur zwei Thiere verloren:
beide in Folge starker Blutung in einigen Stunden nach der
Operation, und gerade diese zwei wurden mit Meissel und Dahl-
gren'scher Knochenschcere operirt, während alle anderen, die am
Leben blieben — mit der Kreissäge. Selbstverständlich ist der
Blutverlust grösser bei den ausgedehnten Schädelresectionen als
bei den kleineren, wenn auch verschiedene Blutversorgung des
Tumors und Circulationsstörungen in seiner Nähe im Knochen und
der Dura nicht ohne Bedeutung sind. Die momentane Entblössuiig
des Gehirns von der Dura, auf eine grosse Strecke, ist wegen
des dadurch plötzlich verschwindenden Gehirndruckes auch als
gefährliches Unternehmen anzusehen, obwohl in der Ijiteratur
mehrere Fälle bekannt sind, wo Stücke von der Dura ohne "Nach-
theil für den Patienten von 3 — 5 cm im Diameter und sogar hand-
tellcrgross, excidirt waren.
Was meine Experimente darüber anbetrifft, so resecirte ich,
wie man es aus den pholographischen Aufnahmen sehen kann, in
1() Fällen bei Hunden das stanze Schädeldach, oder die beiden
Hälften des letzteren und excidirt c sofort die Dura in den Grenzen
des Knochendefectes bei einigen Thieren auch mit dem Sinus lon-
gitudinalis zusammen. Dann wurden Muskeln und Haut über dem
entbl(')ssten Gehirn mit Naht vereinigt. Die Thiere vertrugen die
Operation ganz gut und konnten nach (5 - 7 Tagen als gesund an-
erkannt werden. Nach 8 — 4 Monaten wurden dieselben getödtet
und die gewonnenen Präparate untersucht.
Ueb. CraniectT)mie u. die Heilung grosser Operationsdeffcte am Schädel. 731
Makroskopisch wurden überall lockerere oder derbererc Ver-
wachsungen des Gehirns mit den Muskeln oder der Haut gefunden.
Mikroskopisch fand sich immer eine Schicht von lockerem
Bindegewebe zwischen dem Gehirn und den dasselbe bedeckenden
Weich theilen ; die subarachnoidealen Räume sahen meistens sehr er-
weitert aus und waren von grösserer Anzahl; die Oberfläche der
Gehirnrinde schien etwas degenerirt. Wenn die Dura nicht ex-
cidirt wurde, so fanden Verwachsungen nur zwischen derselben
und der Haut statt. Zwischen Gehirn und Dura konnte man in
solchen Fällen niemals Verwachsungen oder sogar Verklebungen
constatiren.
Anderes war es, wenn die Dura irgendwie verletzt wurde oder
Ligaturen oder Nähte an derselben angelegt wurden. Es ent-
standen dabei immer stärkere oder schwächere Verwachsungen des
Gehirns mit der Dura, die besonders stark waren dort, wo Nähte
oder Ligaturen angelegt waren.
Nach allen Schädelresectionen ist es auch von Wichtigkeit,
den Schädeldefect, wenn möglich auch osteoplastisch, zu decken.
Aber eine solche, sir.h sofort an die Operation anschliessende
osteoplasti.sche Deckung des Defectes bei Exstirpation maligner
Tumoren ist als frühzeitig anzusehen, weil man während gewisser
Zeit immer an ein Recidiv denken muss. Darum bleibt uns eine
Deckung der entblössten Dura oder sogar des Gehirnes nur mit
Weichtheilen übrig. Nun ist ein solches Verfahren, wie es meine
und in der Literatur schon bekannte Fälle zeigen, ohne Bedenken
vorzunehmen. Der erste junge Mann konnte während etwa vier
Monaten nach der Operation alle seine schweren Bauerarbeiten
ganz gut verrichten. Der zweite, der Priester, kann jetzt auch
seinen Dienst verrichten, ohne irgend welches Unbehagen wegen
des grossen Defectes im rechten Stirnbein zu fühlen.
Ich erinnere mich auch an einen Bauer, der wegen eines
Trauma am Schädel vor etwa 22 Jahren von Prof. Nowatzky-
Moskau operirt war, wobei nach der Operation ein mehr als hand-
tellergrosser Defect nachblieb, der fast den ganzen linken Stirn-
knochen und den grössten Theil des Scheitelbeins einnahm. Diesen
Kranken sah ich also 22 Jahre nach der Operation. Während
dieser Zeit trug er niemals eine Prothese, arbeitete bis zu den
732 Dr. ,!. V. Fcdoroff, l'ebcr Craniectomie etc.
letzten Jahren, wo er schon älter und schwächer geworden war,
alles Dasselbe wie die Anderen, und klagte nur zeitweilig, während
schlechten Weiters über Kopfschmerzen. Die Pulsation des Ge-
hirns war deutlich an der Stelle des grossen Schädeldefectes zu
bemerken. Meine Experimente endlich, wo bei Hunden das ganze
Schädeldach mit der Dura zusammen ohne irgendwelche
Störungen im folgenden Leben der Thiere entfernt wurde, stimmen
mit den oben erwähnten klinischen Erfahrungen vollkommen
überein.
Wenn ich nun die klinischen und experimentellen Erfahrungen
über die Schädelresectionen bei malignen Tumoren zusammenfasse,
so komme ich zu folgenden Schlussfolgerungon :
1. Die malignen Geschwülste des Schädeldaches müssen
möglichst weit im noch völlig gesunden Knochen exstirpirt werden,
wobei auch die Dura, wenn sie auch nur verdächtig erscheint, mit
fortgenommen werden muss.
2. Die Grösse des dabei entstandenen Schädeldefectes und
der Dura kann, wenn nöthig, die Hälfte und vielleicht noch mehr,
des Schädeldaches betragen.
3. Solche grosse Defecte können lange Zeit nur mit Haut be-
deckt bleiben, ohne dem Kranken grosse Gefahren für sein Leben
zu verursachen und ihn in seiner gewöhnlichen Arbeit zu beein-
trächtigen.
4. Muss bei der Operation dem Blutverluste die grösste Auf-
merksamkeit geschenkt werden und darum so schnell wie mög-
lich und mit dazu geeigneten Instrumenten operirt
werden, denn ich bin fest überzeugt, dass der ei-ste Kranke auch
nach der zweiten Operation am Leben geblieben wäre, wenn die
Dauer der Operation noch hätte verkürzt werden können und der
Kranke dadurch weniger Blut verloren hätte.
Üedraekt bei L. SehumAcher in Berlin.
Taf. I.
^^
y—
.Lanffi
i
XLVIII.
Operationen an dem Brustabschnitt der
Speiseröhre.')
Von
Professor Dr. Rehn,
Frankfurt a. M.
Vor einiger Zeit sahen wir uns vor die Frage gestellt, oh es
möglich sei, den Oesophagus in seinem Verlaufe durch das hintere
Mediastinum ohne Verletzung lebenswichtiger Organe freizulegen,
und zwar derart, dass mit hinreichender Sicherheit unter Leitung
des Auges ein Eingriff an demselben vorgenommen werden konnte.
Veranlassung zu diesen Erwägungen und den sich daran an-
schliessenden Thier- und Leichenversuchen boten zwei verzweifelte
Fcälle der chirurgischen Abtheilung des städtischen Krankenhauses
zu Frankfurt a. M. Bei dem einen an sich rettungslos verlorenen
Kranken, welcher an einem Oesophagus-Carcinom litt, dessen in
den Magen hinabfliessende Zerfallsproducte die Verdauung und
Ausnutzung der durch Magenfistel zugeführten Nahrung und durch
Resorption von Toxinen das Allgemeinbefinden in hohem Maasse
beeinträchtigten, schwebte der Gedanke vor, dem Jaucheherd nach
Freilegung des Carcinoms und eventueller Unterbindung des unter-
halb belegenen Oesophagusabschnittes Abüuss nach aussen zu ver-
schaffen, während der zweite wichtigere Fall einen gesunden, jungen,
22 jährigen Patienten betraf, bei dem sich im Anschluss an ein
Conaraen suicidii durch Trinken von Schwefelsäure eine durch
keinerlei Mittel zu überwindende Strictur der Speiseröhre heraus-
*) Abgekürzt vorgetragen am 4. Sitzungstage des XXVII. Congresscs der
Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 16. April 1898.
ArchiT fUr kliu. Chirurgie. 57. Üd. Heft 4. ^()
734 Dr. Rehn,
gebildet hatte, und bei dem es sich darum handelte, die Verenge-
rung aufzusuchen, zu spalten, und so die normale Passage in den
Magen wiederherzustellen.
Obschon, namentlich in den letzten Jahren, besonders durch
die Arbeiten von Mikulicz, Rosenheira, v. Hacker und An-
deren die Diagnostik der pathologischen Veränderungen im Oeso-
phagus mittelst Oesopliagoskopie in vorzüglichster Weise gefördert
und ausgebildet ist, und auch durch Ersinnen neuer Methoden und
Verbesserung der Sondirungs-Technik (v. Hacker) die Behandlung
selbst sehr enger, im Brusttheil des Oesophagus belegener Stric-
turen erfreuliche Fortschritte und günstige Resultate gezeitigt
hat, so ist doch für eine grosse Anzahl von Fällen mit Erkran-
kungen der Speiseröhre, mögen dieselben nun gutartiger oder ma-
ligner Natur sein, von den bisher geübten Verfahren therapeutisch
oft nicht viel oder gar nichts zu erwarten: es sind lediglich Pal-
liativa oder, wie Czerny sich ausdrückt, „nothwendige üebel",
die den Arzt in keiner Weise zu befriedigen vermögen, und durch
welche auch „der Kranke niemals die Empfindung einer, wenn
auch nur temporären, Heilung von seinem Uebel erhält und nur
zeitweise vor den Qualen des Hungertodes geschützt wird". Bei
dieser Ohnmacht des ärztlichen Könnens gegenüber den im Brust-
und Bauchtheil des Oesophagus localisirten Krankheitsprocessen
kann es nicht wunderbar erscheinen, wenn Hand in Hand mit
dem Fortschreiten der Technik das Bedürfniss und Verlangen nach
einer Methode, auch dieses so versteckt im Körperinnern belegene
Organ dem chirurgischen Messer zugänglich zu machen, laut wurde
und seinen Ausdruck fand in mannigfaltigen Operationen und
Leichenversuchen, die zur Erreichung dieses Zieles unternommen
und beschrieben wurden.
Die ersten Versuche, operativ in das Innere des Brustraumes
vorzudringen, lie^^n freilich auf anderem Gebiete. Die vielfachen
und grossen Gefahren, welche bei tuberculöser Erkrankung der
Wirbelsäule den Patienten in Gestalt der Senkungsabscesse und
Wirbelverschiebungen drohen, leiteten den Engländer Treves auf
den Gedanken, die Proc. transversi und Vorderflächen der Wirbel-
körper im Bcreicli der erkrankten Partie freizulegen und hier die
Krankheitsherde selbst anzugreifen, eine Methode, die ursprünglich
nur für die Lenden- und den 12. Brustwirbel angegeben, später
Operationen an dem Brustabsclmitl der Speiseröhre. 735
von Scbacffcr, Aiiffret und Vincent weiter ausgebildet und
in ihrer Anwendung auf die gesammtc Wirbelsäule ausgedehnt
wurde. Waren die Bestrebungen der genannten Autoren nur dar-
auf gerichtet, tuberculöse Herde in den Wirbelkörpern aufzusuchen
und zu entfernen, so ging Nasiloff einen Schritt weiter und
theiltc im Jahre 1888 eine aus Leichenversuchen gewonnene Me-
thode mit zur Freilegung des hinteren Mediastinums und der in
demselben verlaufenden Gebilde, besonders des Oesophagus. Zu
diesem Zwecke bildet er ungefähr niännerhandbreit von den Dorn-
fortsätzen entfernt einen viereckigen Weichtheillappen, dessen Basis
gegen die Wirbelsäule sieht, und der direct bis auf die Rippen
durchdringt. Je nachdem er den oberen Theil des Oesophagus in
seinem Verlaufe durch das hintere Mediastinum erreichen will oder
den unteren Abschnitt, legt er den Lappen links oben oder rechts
unten am Rücken, resecirt dann eine Anzahl von Rippen und
drängt die Pleura costalis stumpf von der Brustwand ab, bis er
an die Vorderfläche der Wirbelkörper gelangt, wo es dann leicht
ist, den Oesophagus von den Nachbarorganen zu isoliren. Li ähn-
licher Weise wie Nasiloff gingen Quenu und Hartmann vor.
Sie machen 4 Querfinger breit von der Wirbelsäule entfernt, parallel
zu derselben, einen Längsschnitt durch die Haut; die Muskeln
werden theils zur Seite gezogen, thcils durchschnitten, bis man
auf die Rippen gelangt, von denen man 2 cm breit resecirt, so
dass vom unteren Rand der H. bis zum oberen der VL Rippe
eine 10 — 12 cm grosse OefFnung in der Brustwand entsteht, durch
die man bequem mit der Hand einzugehen und die Pleura abzu-
lösen vermag. Im Gegensatz zu Nasiloff bevorzugen Quenu
und Hartmann unter allen Umständen die linke Rückenhälftc,
um zum Oesophagus zu gelangen, und führen zu Gunsten ihres
Vorgehens das Verhalten der rechten Pleura an, welche sich
zwischen Wirbelkörper und Oesophagus einstülpt, die Medianlinie
überschreitet und gegen die rechte Seite der Aorta hin einen Blind-
sack bildet, welcher der linken Pleura nahe liegt. Unter diesen
Umständen gelange man bei der Ablösung der linken Pleura, von
einem linksseitigen Schnitt ausgehend, leichter und gefahrloser
direct auf den Oesophagus, als von der rechten Seite her. Bryant,
der ebenfalls an der Leiche operirt hat, geht für die oberhalb des
Aortenbogens belegenen Theile des Oesophagus sowohl links wie
49*
786 Dr. Rehn,
rcclits von der Wirbelsäule ein, lieber links, weil cangcblich leichter,
während er für alle tieferen Abschnitte ausschliesslich die Eröff-
nung dos Thorax auf der rechten Seite empfiehlt. Theils genau
nach den Vorschriften Quenu's und Hartmann's, theils mit un-
wesentlichen Veränderungen ist Zimbicki vorgegangen, dessen
Fall von retrooesophagealer Phlegmone, noch bevor er zur Opera-
tion schreiten konnte, zum Exitus kam, so dass er die Operation
nur an der Leiche ausführen konnte. Üeber Erfahrungen am
Lebenden, bei denen es sich zumeist um Erkrankung der Brust-
wirbel handelte, berichtet Obalinski, der mit den Erfolgen der
Operation, trotz mehrmaligem artificiellen Pneumothorax, sehr zu-
frieden war, und erwähnt in seiner Publication noch einen Fall
von praevcrtebralcr Phlegmone aus der Rydygicr'schen Klinik,
der demjenigen Zimbicki 's sehr ähnlich ist.
Der Vollständigkeit wegen erwähnen wir zum Schluss aus der
einschlägigen Literatur noch die iMittheilungen Biondi's auf dem
italienischen Chirurgen-Congress 1895, die lediglich auf die Resec-
tion der Cardia und die Pars abdominalis oesophagi Bezug haben,
und endlich die in neuester Zeit publicirten „Versuche über die
Resection der Speiseröhre" von Levy, welcher eine Anzahl von
Operationen an lebenden Hunden ausführte und eine Methode her-
ausbildete, die nach seinen eigenen Worten „auf den Menschen zu
übertragen unmöglich ist".
Nach diesen kurzen literarischen Mittheilungen mögen einige
Worte über die Anatomie des Oesophagus Platz finden, in denen
wir, abgesehen von eigenen Beobachtungen an der Leiche und am
Lebenden, im Wesentlichen der Darstellung JoesseTs folgen.
Der Oesophagus beginnt als unmittelbare Fortsetzung des
Pharynx in Höhe des VL Halswirbels, hinter dem unteren Rande
der Cartilago cricoidea, und steigt an der Vorderflächc der Wirbel-
säule zusanmien mit den Gebilden des hinteren Mediastinums durch
die Länge der Brusthöhle und das Foramen oesophageum in die
Bauohhr)hle hinab, um dort entsprechend der Lage des X. und XL
Brustwirbels, ohne sichtbare äussere, jedoch durch den Wechsel
des Schleimhautepithels scharf charakterisirte Grenze, in den
Cardiatheil des Magens überzugehen. Die Gesammtlänge des Or-
ganes, welches 15 cm hinter den oberen Schneidezähnen seinen
Anfang nimmt, beträgt im Durchschnitt 25 — 26 cm, wovon 7 — 8
Operationen an dem Brust^abschnitt der Speiseröhre. 737
auf die Strecke bis zu seinem Eintritt in den Brustraum, 17 bis
18 cm auf den übrigen Theii bis zur Cardia entfallen, so dass
die Entfernung des Magenraundcs von den oberen Schneidezähnen
rund 40 cm ausmacht. Der Oesophagus stellt sich in situ als ein
von vorn nach hinten abgeplatteter, in seinem Caliber an den ver-
schiedenen Stellen seines Verlaufes wechselnder Canal dar, welcher
in seinem Halstheil, durch den Druck der Nachbarorgane zusam-
mengepresst, stets ein geschlossenes Lumen aufweist, während er
im Brusttheil bald als ein offenes, bald als ein geschlossenes Rohr
erscheint, wie aus Leichendurchschnitten, sowie aus der Beobach-
tung Mikulicz's hervorgeht, welcher mit Hilfe eines bis zum
Manubrium sterni eingeführten Oesophagoskops bis zur Cardia
herabzusehen vermochte. Wie schon oben angedeutet, ist der
Oesophagus in seinem Verlaufe nicht überall von gleichmässiger
Weite, sondern es wechseln ziemlich oonstant mehr oder weniger
ausgedehnte weitere Strecken mit Verengerungen ab, von denen
die erste gleich hinter der Uebergangsstelle vom Pharynx, die
zweite in Höhe des 3. und 4. Brustwirbels an der Kreuzung mit
dem linken Bronchus, und die dritte endlich an der Durehtritts-
stelle durch das Foramen oesophageum belegen ist. An seinem
Ursprung liegt der Oesophagus genau in der Mittellinie des Kör-
pers, zwischen Trachea und Wirbelkörper, weicht aber bald von
dieser medianen Lage ab und beschreibt Curven in frontaler und
sagittaler Richtung, wodurch eine langgezogene Schraubenlinie zu
Stande kommt, in der er sich um die Aorta herumzieht. Was
nun im Einzelnen seine anatomische Lage und seine Beziehungen
zu den Nachbarorganen betrifft, so wird der Halstheil des Oeso-
phagus an seiner vorderen Fläche von der Trachea, und zwar der
Pars raembranacea bedeckt, mit welcher er ebenso wie mit der
unmittelbar hinter ihm liegenden Reihe der Wirbelkörper durch
eine Schicht lockeren Bindegewebes verbunden ist, die, je weiter
er nach unten bis zur Bifurcation gelangt, um so verschieblicher
wird. Liegt der Oesophagus an seinem Anfang unmittelbar hinter
der Luftröhre, so verschiebt er sich im weiteren Verlaufe bald
nach links und ragt hier etwas über den freien Rand der Trachea
hervor, so dass infolge dieser Verlagerung der Raum zwischen ihm
und den grossen Gefässstämmen des Halses auf dieser Seite ge-
ringer erscheint als rechts. Zu beiden Seiten, links nach vorn
738 Dr. Rehn,
noch l)egrcnzt vom linken Schilddrüsenlappcn, der hier den über-
stehenden Thcil der Speiseröhre bedeckt, verläuft in der Furche
zwischen Oesophagus und Trachea der liamus recurrens vagi, wel-
cher sich von unten her um den Arcus aortae herum zur Inner-
vation des Kehlkopfes nach oben schlägt.
Die einmal zur Trachea eingenommene Richtung nach links
behält der Oesophagus im Bereich des übrigen Hals- und Beginn
des Brusttheiles bis zu seinem Eintritt in das hintere Mediastinum
etwa in Höhe des 2. Brustwirbels bei. Hier läuft er immer noch
links von der Medianlinie dicht an der hinteren Fläche des Aorten-
bogens zwischen diesem und der Wirbelsäule entlang und kreuzt
gleich neben der Theilungsstelle der Trachea unterhalb des Aorten-
bogens den linken Bronchus, welcher unmittelbar vor ihm, und in
der Regel durch einzelne kleinere Muskelbündel (Musculus broncho-
oesophagcus) mit dem Oesophagus verbunden, zur linken Lunge
hinübergeht. Nacji seiner Kreuzung mit dem linken Bronchus
schlägt sich der Oesophagus unter Zunahme des zwischen ihm
und den Wirbelkörpern befindlichen Zellgewebes allmählich nach
rechts herüber, so dass er in Höhe des 7. — 8. Brustwirbels fast
ganz dem rechten Rand der einzelnen Wirbelkörper anliegt. Dies
kommt dadurch zu Stande, dass die Aort<i descendens aus' ihrer
anfänglich durchaus linksseitigen Lage immer mehr und mehr in
die Mittellinie dos Körpers rückt und so den Oesophagus nach
rechts hinüberdrängt. Li diesem Theile, von der Bifurcation der
Trachea nach abwärts, grenzt der Oeso|)hagus in ziemlicher Aus-
dehnung direct an die hintere Wand des Pericards, soweit dasselbe
oberhalb des Herzens selbst noch die Pulmonalis und dann weiter
nach unten die hintere Wand des linken Vorhofes überkleidet.
Li diesem auch Pars pericardiaca benannten Abschnitt treten
die beiden Vagi, nachdem sie, der rechte direct, der linke vorbei
an der Vorderwand des Aortenbogens, auf die hintere Seite der
beiden Bronchi gelangt sind, in unmittelbare Nähe zum Oeso-
phagus und begleiten denselben unter Bildung eines vielzweigigen
Rote oesophaireum nach abwärts bis zur Cardia des Magens, in-
dem der linke mehr die vordere, der rechte mehr die hintere
Speiseröhrenfläche versorgt. Ausser diesen beiden Xn. vagi sind
in diesem Boreiche des Oesophagus auch noch die Beziehungen
desselben zu den übrigen Gebilden des hinteren Mediastinums
Operationen an dem Briistabschnitt der Speiseröhre. 739
wichtig. So findet sich unmittelbar hinter ihm in der Mitte vor
der Wirbelsäule verlaufend der Ductus thoracicus, und zur Seite
der Wirbelkörper dicht neben ihm rechts die stärkere Vena azy-
gos, welche die quer über den 8. Wirbelkörper verlaufende und
von links kommende Vena hemiazygos aufnimmt, und sich, vor
dem Oesophagus hinziehend und nach vorne wendend, über dem
rechten Bronchus, unmittelbar über der ümschlagsstelle des Peri-
cards, in die hintere Wand der Vena cava ergiesst. Abwärts vom
8. Brustwirbel wendet sich der Oesophagus, unter Kreuzung der
nunmehr fast ganz in die Medianlinie und hinter ihn getretenen
Aorta, in scharfer Biegung mit Entfernung von der Wirbelsäule
nach vom, und gleichzeitig wieder nach links herüber, so dass er
bereits am unteren Rand' des 9. Brustwirbels, bevor er, begleitet
von beiden Vagi, durch den Hiatus oesophageus des Zwerchfelles
in die Bauchhöhle gelangt, mehr links als rechts von der Aorta
gelegen ist, eine Lage, welche während des Durchtrittes durch
das Zwerchfell noch ausgesprochener wird. Etwa 2 — 3 cm tiefer,
ganz zur linken Seite der Wirbelsäule, geht der Oesophagus unter
trichterförmiger Erweiterung seines Lumens in Höhe des 9. Brust-
wirbels in den Cardiatheil des Magens über.
Fragt man nun unter Berücksichtigung dieser anatomischen
Verhältnisse, von welcher Seite man am leichtesten ohne Ver-
letzung wichtiger Organe zu dem intrathoracalen Theil des Oeso-
phagus vom Rücken her vordringen kann, so ergiebt sich, dass
dies, entsprechend den Angaben von Nasiloff und Bryant, für
die im Bereich des 4. — 8. Brustwirbels belegene Partie zweck-
mässig von rechts her auszuführen ist. Bildet man nämlich einen
mit der Basis nach der Wirbelsäule zu liegenden grossen Haut-
Muskellappen, welcher vom Proc. spinosus des 3. Halswirbels bis
zum 9. Brustwirbel im Bogen nach aussen bis zum medialen Sca-
pularrand sich erstreckt und bis auf die Rippen geht, so kann
man, wie wir uns am Lebenden und zu wiederholten Malen an
Leichenversuchen zu überzeugen Gelegenheit hatten, nach ausgiebi-
ger Resection der freigelegten Rippen ohne Schwierigkeit die Pleura
costalis von der Fascia endothoracica bis zu den Wirbelkörpern
loslösen und durch eingeführte lange Ilaken mitsamnit der Lunge
nach vorn ziehen, wodurch unmittelbar der den rechten Wirbel-
körperrand an dieser Stelle überragende und leicht durch eine
740 Dr. Reh D,
eingeführte starre Sonde besser erkenntlich zu machende Oeso-
phagus sichtbar wird. Die einzige Aufgabe ist es, bei der Rippen-
Resection die Pleura nicht zu verletzen, eine Complication, die
leicht vermieden werden kann, wenn man zunächst mit äusserstcr
Vorsicht eine der unteren Rippen in einer Ausdehnung von meh-
reren Centimetern resecirt und nun, in die Rippenöflfnung mit dem
Finger eingehend, Schritt für Schritt von jeder nächsten zu rescci-
renden Rippe erst die Pleura abdrängt und dann resecirt. Ist
man auf diese Weise vorgegangen, so spielt die Pleurafalte, welche
sich nach den Darstellungen von Braune gerade im Bereich des
6. — 8. Brustwirbels nach hinten vom Oesophagus zwischen diesem
und den Wirbelkörpern einschieben soll, und deren Verletzung von
Quenu und Hartmann sosehr gefürchtet wird, keine Rolle mehr,
da sie durch die zuvor schon vorgenommene Ablösung der Pleura
bereits hinter dem Oesophagus mithervorgezogen und ausgeglichen
ist. Wenigstens haben wir bei unseren Leichenversuchen und Ope-
rationen am Lebenden an dieser Stelle, wenn sonst ein Pneumo-
thorax vermieden war, nie das Zustandekommen einer Pleuraver-
letzung beobachten können. Unter den übrigen Gebilden, die bei
einem derartigen Vorgehen eventuell beschädigt werden können,
ist zunächst der Grenzstrang des Sympathicus zu nennen, doch
bleibt derselbe an seiner normalen Stelle, entsprechend der Lage
der Rippenköpfchen-Gelenke infolge fester Verwachsungen daselbst
mit der Fascia endothoracica, trotz gewaltsamer Abdrängung der
Pleura ruhig liegen. Ebenso wenig kommt die Vena azygos in
Gefahr oder genirt irgendwie bei der Freilegung. Infolge der Be-
festigung des Oesophagus nach vorn und hinten mittelst einer
mehr oder weniger stark entwickelten Schicht lockeren Binde-
gewebes ist auch die vollständige Lsolirung des Organes ohne
Scliwierigkeiten unter Schonung der Vagi und der übrigen benach-
barten Gebilde auszuführen, und hat man erst an einer Stelle die
Loslösung circulär fertig, so lässt sich mit einem Haken der Oeso-
phagus unter Ausgleichung seines schraubenförmigen Verlaufes
leicht aus seiner ursprünglichen Lage heraushel)en und dem Niveau
der äusseren W^imde um ein Beträchtliches nähern. Diese Ver-
schiebbarkeit des Oesophagus lässt sich aber nicht allein durch
directen Zug am Organ nach Freilegung desselben vom Rücken
aus wahrnehmen, sondern auch beim Anziehen des Magens durch
Operationen an dem Brustabs chnilt der Speiseröhre. 741
die Zwerclifellöffnung liiüdurch unter Verlängerung des in der
Bauchhöhle belegenen Oesophagustheiles fortleiten, wie Schlatter
schon gelegentlich seiner Totalexstirpation des Magens und Ver-
nähung des Oesophagus mit einer Dünndarinschlinge beobachtet
und berichtet hat. Hat man den Oesophagus in seinem Brusttheil
eine Strecke weit isolirt, so sinkt er, sich selbst überlassen, bei
linker Seitenlage des Patienten erheblich nach links herüber, eine
Verlagerung, die bei erschwerter Respiration noch ausgeprägter
wird, so dass er, infolge Aspiration von Seiten der Lunge, ganz
dem Auge entschwinden kann. Die Aspirationskraft, welche die
Lunge auf den ebenfalls unter dem negativen Thoraxdruck stehen-
den Oesophagus ausübt, kommt auch sclion ohne Freilegung des
Organes bei normalem Situs zur Geltung und äussert sich in eigen-
thümlichen regelmässigen Bewegungen seiner Wände derart, dass
dieselben bei der Inspiration auseinanderweichen, bei der Exspira-
tion sich einander nähern. Ausser diesen respiratorischen Be-
wegungen, welche man bei jeder Oesophagoskopie im Bereiche des
Brus-ttheiles der Speiseröhre zu beobachten Gelegenheit hat, sind
noch die in der Gegend des Aortenbogens und der Pars pericar-
diaca des Oesophagus am deutlichsten wahrnehmbaren pulsatori-
schen und die über die ganze Länge des Organes sich erstrecken-
den peristaltischcn Bewegungen von Wichtigkeit. Namentlich die
letzteren, welche bei Schluck-, Würg- und Brechbewegungen des
Patienten auftreten, dürften unter umständen auch nach Freileffunii;
des Organes von der Wunde aus zu Gesicht kommen und für die
Unterscheidung des Oesophagus von den anderen Gebilden des
hinteren Mediastinums verwerthet werden können, besonders wenn
die Einführung einer Sonde zur leichteren Orientirung aus irgend
welchen Gründen contraindicirt oder unmöglich ist.
Im Hinblick auf gewisse pathologische Veränderungen, sowie
auf eine Operation am Brusttheil des Oesophagus haben wir den
Vorgängen unsere Aufmerksamkeit zu schenken, welche beim Er-
brechen stattfinden. Infolge Contraction des Zwerchfelles wird
beim Erbrechen des Erwachsenen der Oesophagus gestreckt und
Mageninhalt unter stossweiser Anstrengung der Bauchpresse durch
die Cardia in die Speiseröhre getrieben. Hierbei ist der Pylorus
fest geschlossen, in gleicher Weise, wie sich die Cardia durch re-
floctorische Contraction der longitudinalcn Muskelfasern, welche
742 Dr. Rehn,
^cgen die Einmündungsstellc der Speiseröhre hinziehen, weit öffnet.
Es ist klar, dass im Moment des Erbrechens der Druck innerhalb
der Speiseröhre positiv wird und unter Umständen sogar eine nicht
un beträch tliclie Höhe erreichen kann. Wenn der Inhalt eines stark
gefüllten Magens mit der enormen Kraft der Bauchpresse in den
Oesophagus geschleudert wird, und weiter aus irgend einem Grunde
der Ocsophagus-lnhalt nicht so rasch nach oben entleert wird, wie
stossweise vom Magen neue Massen nachgepresst werden, so ist
die Anforderung, welche an die Widerstandsfähigkeit des unteren
Abschnittes gestellt wird, keine unbeträchtliche, und werden die
Sprengwirkungen begreiflich, welche als Rupturen des Oesophagus
mitsammt der Pleura oder gar des Zwerchfelles in der Literatur
beschrieben sind. Alle sicheren Fälle von Rupturen der Speise-
röhre sind bei heftigem Brechact zu Stande gekommen, und es ist
einleuchtend, dass dieses unglückliche Ereigniss durch venninderte
Widerstandsfähigkeit, wie sie u. a. bei den verschiedenen ülcera-
tionsprocessen der Oesophagus wand und auch beim inneren Stric-
turschnitt an einer oder mehreren Stellen vorhanden ist, sehr be-
günstigt wird, und durch Entstehung einer mediastinalen Phleg-
mone verhängnissvoll werden kann.
Bezüglich der Entstehung des perioesophagealen Emphysems
nach penetrirenden Verletzungen der Speiseröhre hat Fischer be-
hauptet, dass dasselbe inspiratorischer Natur sei. Für gewöhnlich
ist, wie wir durch die Untersuchungen von Mikulicz wissen, der
Eingang in die Speiseröhre durch den Musculus constrictor pha-
ryngis inferior sphincterartig abgeschlossen, wodurch eine Aspira-
tion von Luft in den Oesophagus und Magen unmöglich ist. Das
Emphysem kann also nur durch Luftschlucken und directen Ein-
tritt der Luft in das mediastinale Gewebe durch die Verletzungs-
stclle erfolgen, oder es wird beim Würgen und Brechen Luft aus
dem Magen durch die Wunde getrieben und dadurch ein Emphy-
sem hen orgerufen, so dass hierbei nur von einem exspiratorischen
Zustandekommen die Rede sein kann.
Als Beispiel für die GriKSsc des mitunter auftretenden intra-
oesophagealen Druckes sei folgende Erfahnmg mitgetheilt, welche
vor einiger Zeit gelegentlich einer Strumectomie gemacht wurde
und welche für jede O))eration am Brusttheil der Speiseröhre von
grosser Bedeutung ist. Es handelte sich um einen riesigen Kropf,
Operationen an dem Brustabschnitt der Speiseröhre. 743
der wegen hochgradiger Athera- und Schlingbeschwerden entfernt
werden sollte. Die Operation fand in zwei Zeiten statt, so dass
zuerst die rechts gelegene Kropfgeschwulst operirt wurde. Vier-
zehn Tage nach der ersten Operation sollte der Rest resecirt wer-
den. Es stellte sich heraus, dass in der Zwischenzeit durch Ver-
lagerung der stehen gebliebenen Kropfpartie eine starke Verschie-
bung der Halsweichtheile eingetreten, so dass Kehlkopf und Luft-
röhre mitsaramt der Speiseröhre extrem nach rechts dislocirt
waren. Nach einer mühsamen Operation war endlich der Kropf
bis auf eine Mittellappenpartie entfernt, Trachea und Oesophagus
lagen in grosser Ausdehnung frei. Plötzlich sah man, wie bei
einer heftigen Brechbewegung der Patientin der Oesophagus von
der Tiefe der Brust stark gebläht wurde, so wie etwa der Bulbus
jugularis bei starker Exspiration anschwillt. Zu unserer unange-
nehmen Ueberraschung bemerkten wir weiter, dass aus einer klei-
nen Oeffnung der ad maxiraum aufgetriebenen Speiseröhre, etwa
in Höhe der Art. thyreoidea inferior, Luft und Schleim austraten.
Die Aufblähung der Speiseröhre setzte sich etwa bis zur Höhe
des Ringknorpels fort und nahm von der Brustaperlur bis zum
Kehlkopf spindeKörmig ab. Mit dem Nachlassen der Brech- und
Würgbewegungen des Patienten klappte der Oesophagus wieder
zusammen. Wir bemerken, dass der Patient keinerlei Speisen im
Magen hatte und für die Operation mit rückwärts gebogenen)
Kopfe gelagert war. Im weiteren Verlaufe des Eingriffes hatten
wir Gelegenheit, diese Erscheinungen des Aufblähens und Wicder-
zusammenfallens der Speisercihre sich mehrere Male wiederholen zu
sehen. Diese Beobachtung zeigte, dass schon durch die im Mfigen
befindliche Luft eine immerhin recht erhebliche Auftreibung der
Speiseröhre bis zu ihrem Anfangstheil bei Brechbewegungen her-
vorgerufen werden kann, welche besonders bei Ulcerationsprocessen
und Verletzungen der Wand der Speiseröhre, sowie nach Anlegung
des inneren Stricturschnittes leicht zur Perforation des Organes
führen kann. Schon aus diesem Grunde, ab^^esehen von einer ge-
sicherten Ernährung des Patienten, muss einer jeden Operation am
Brusttheil des Oesophagus die Anlegung einer Magenfistel voran-
gehen, welche bei derartigen Vorfällen, wie der mitgetlieilte, gewisser-
maassen als Sicherheitsventil zu wirken und die im Magen befind-
liche Luft resp. Speisereste herauszulassen im Stande ist.
744 Dr. Rehn,
Nach diesen theoretischen Erörterungen, welche uns für die
Vornahme einer Operation am Brusttheil des Oesophagus wichtig
erschienen, gehen wir zur Mittheilung der Krankengeschichten un-
serer beiden Fälle über.
1. F. B., 22jähriger Pat. Familien an amnese ohne Belang. Fat. will in
seiner Jugend stets gesund gewesen sein, bis er sich im .Jahre 1894 als Soldat
durch Sturz vom Pferd ein Unterleibsleiden zuzog, das ihn militäruntauglich
machte. Seitdem sollen sich bei ihm auch „krampfartige Anfalle" eingestellt
haben, die in unbestimmten Zwischenräumen, oft im Anschluss an kleine Auf-
regungen ausgebrochen sein sollen.
Im Jahre 1896 acquirirte Pat. eine Appendicitis, wurde laparotomirt und
geheilt aus dem Krankenhause entlassen. Schon am Abend seines Entlassungs-
tages am 28. 1. 97 wurde Pat. wiederum ins Krankenhaus eingeliefert in einem
so aufgeregten und tobenden Zustand, dass seine Verlegung auf die Deliranten-
Abtheilung der städtischen Irrenanstalt nöthig wurde. Nach einigen Wochen
wurde Pat. dort geheilt entlassen, vermochte aber keine Arbeit zu finden, und
machte einige Tage darauf in einem Anfall von Verzweiflung und Unzu-
rechnungsfähigkeit — genaueres weiss er selber nicht darüber anzugeben —
einen Selbstmordversuch durch Trinken von Schwefelsäure. In schwerkrankem
Zustande wurde er ins Heilige Geist-Hospital verbracht und dort bis gegen
Ende April 1897 verpflegt. Nach Entlassung aus dem Hospital stellten sich
bald Schluckbeschwerden ein, Pat. hatte das Gefühl, als ob ihm etwas im
Halse stecken bliebe, weswegen er um Aufnahme im städtischen Krankenhause
nachsuchte (27. 5. 97).
Bei der Sondenuntersuchung fand sich 32 cm hinter der oberen Zahn-
reiho ein Hinderniss im Oesophagus, das für mittelstarke Sonden leicht zu
überwinden war. Beim weiteren Vordringen gegen den Magen hin spürte man
unmittelbar vor dem Passiren der Cardia eine zweite Strictur, die bedeutend
geringfügiger war, als die erste. Im üebrigcn zeigte Pat. damals abgesehen
von alten Laparotomiewunden völlig normale Verhältnisse und leidlichen Er-
nährungszustand. Von Speisen vermochte Pat. Brei und Nahrung von ähn-
licher ConMstenz ohne Schwierigkeit zu schlucken. Trotz fortgesetzter Son-
dirung verengte sich die obere Strictur des Oesophagus immer mehr und mehr,
so dass bald Grlesbrei auch nicht mehr geschluckt werden konnte, und nur
Flüssigkeiten noch langsam hinunterflössen mit deutlich wahrnehmbarem
Üurchspritzgeräusch in der Gegend des 5.-7. Proc. spin. der Brustwirbel. Es
wurde nunmehr, zumal da das Körpergewicht beständig abnahm, die Gastro-
stomie nach Witzel beschlossen und am 12. 7. in Chloroformnarkose ausge-
führt. Wundverlauf reactionslos, die Fistel functionirte gut. Nach einigen
Wochen völligster Ausschaltung des Oesophagus für die Speiseaufnahme unter
erfreulicher Zunahme des Körpergewichts, wurde die Sondirung wiederum auf-
genommen, zunächst mit ganz feinen Bougies, und allmälig zu stärkeren
Nummern ansteigend. Von diesen Versuchen durch Sondiren die Passage
wiederherzustellen, musste nach einiger Zeit wieder abgestanden werden, da
Operationen an dem Bnistabschnitt der Speiseröhre. 745
nach jedesmaliger Einführung der Instrumente Fieber bis über 39^ auftrat und
die Kräfte des Fat. rasch consumirte. Nach Aussetzen der Sondirungen blieb
die Temperatur dauernd normal. Ein Versuch, die Sonde im Oesophagoscop
unter Leitung des Auges einzuführen, misslang, und man versuchte wiederum
mit feinsten Bougies beginnend und dann allmalig zu stärkeren ansteigend die
Verengerung zu erweitern. Dies gelang bei täglichem Einführen bis zu Sonden
von der Stärke eines Gänsekiels, alle Versuche dickere Nummern anzuwenden
schlugen fehl, Fat. bekam nach jedesmaliger Behandlung immer die heftigsten
bis in die Herzgegend ausstrahlenden Schmerzen, auch traten kleine Blutungen
auf, die zu einem Aussetzen der Sondirung zwangen. Nach einem Pausiren in
der Behandlung über 3 Tage hinaus wegen heftigster Schmerzen und kleinen
Blutbeimengungen im Speichel ungefähr Ende August 1897 gelang es seitdem
auf keine Weise mehr selbst mit den dünnsten Sonden die Strictur zu passiren.
Der Speichel sammelte sich in dem oberhalb der Strictur befindlichen Oeso-
phagustheil wie in einem Steigrohr an und wurde von Zeit zu Zeit unter würg-
artigon Bewegungen in reichlicher Menge entleert. Noch oftmals wiederholte
Versuche, die 32 cm hinter der Zahnreihe beginnende Undurchlässigkeit des
Oesophaguslumens zu passiren, führten sämmtlich nicht zum Ziele, ebenso-
wenig die mehrmals, auch in Narkose vorgenommenen Sondirungen von der
Magenfistel aus.
Am 8. 11.97 wurde Fat. unmittelbar über der Clavicula oesophagotomirt,
der Oesophagus in das Niveau der äusseren Haut gezogen und mit dieser ver-
näht. Wundverlauf ohne Besonderheiten, nach Heilung der Wunde wurde
wiederholt versucht, die Strictur von der SpeiserÖhrenfistel aus zu sondiren.
Man kam von der Fistel nach 15 cm auf die Strictur. Starke Speichelsecretion
aus der Oesophagusfistel heraus. Auch auf diese Weise gelang es nicht durch
die Verengerung durchzukommen. In Folge dieses Zustandes wurde Fat. fast
von Tag zu Tag aufgeregter, vermochte nur unter Morphium in ziemlichen
Dosen zu schlafen und erklärte wiederholt, dass er, wenn ihm nicht geholfen
werden würde, sobald als möglich einen neuen Selbstmordversuch, diesmal
aber mit sicherem Erfolge, ausführen werde.
Am 1. 12. 97 wurde in Narkose versucht von hinten her nach Resection
einiger Rippen auf den Oesophagus zu kommen, um eventuell das Hindcrniss
zu beseitigen.
Operateur: Frof. Dr. Rehn. Chloroformnarkose nach 0,02 Morph, sub-
cutan. Narkose äusserst unruhig. Schnitt auf der rechten Seite des Rückens
beginnend am Proc. spin. thor. IV, von dort in grossem nach aussen rechts
verlaufenden Bogen bis 10 cm Distanz ungefähr von der Wirbelsäule entfernt
zum Proc. spin. thor. Vlll verlaufend. Der Schnitt durchtrennt sämmtliche
Weichtheile bis auf die Rippen. Zurückpräparation des Hautweichtheillappens
bis fast zu seiner Basis an der Wirbelsäule und Zurückklappen desselben.
Nunmehr Abhebelung des Periostes an den einzelnen Rippen und Resection
derselben, beginnend an der 8. und schrittweise bis zur 4. aufsteigend, unge-
fähr ebenfalls 10 cm vom vertebralen Ende entfernt. Nach Durchtrennung der
Rippen werden die Fragmente nach rechts und nach links zurückgezogen,
746 Dr. Tlehn,
wodurch die Thoraxöffnung zum breiten Klaffen g;ebracht wird. Bei diesem
Zurüclizichcn brechen die 7. und 8. Rippe nahe der Wirbelsäule ab und worden,
da sich die ziemlich spitzen und scharfrandigen Fracturstellen gegen die bis-
her unverletzte Pleura vordrängen und Gefahr einer Brust feil Verletzung vor-
liegt, vollständig entfernt. Es wird nunmehr die Pleura costalis dextra stumpf
von den zurückgeschlagenen Rippen und dem vorderen Theil der Wirbelsäule
zurückgedrängt, was sehr leicht ohne Verletzung derselben gelingt. Mittelst
breiter und lanjrer Ifaken wird die abgelöste Pleura costalis mitsamrat der
rechten Lunge zurückgehalten und dadurch eine grosse Höhle gebildet, welche
sich bis zum vorderen Rand der Wirbelkörpcr erstreckt, und die im hinteren
Mediastinum liegenden Organe mit Deutlichkeit überschauen lässt. Ein in die
Oesophagusfistcl bis zur Strictur eingeführtes Schlundrohr fühlt man aufs ge-
naueste von der Wunde aus durch die frei zu Tage liegende Oesophaguswand
hindurch im Bereich des oberen Theiles der Wundhöhle an der Vorderfläche
der Wirbelkörpcr.
Inzwischen ist die Narkose sehr unruhig geworden, Fat. athmet sehr
schwer und unregelmässig. Bei joder Respiration prosst sich die Pleura stark
aus der äusseren Wunde hervor und reisst plötzlich in Folge Hängenbloibens
an einem Rippenstumpf ein. Unter zischendem Geräusch coUabirt die Lunge;
Die Athmung wird immer schwieriger und oberflächlicher, der Puls wird eben-
falls geringer, so dass man nach Anlegung einiger Nähte durch die Pleura-
wunde die Operation abzubrechen gezwungen ist. Die Höhle wird mit Jodo-
formgaze tamponnirt, der zurückgehaltene Lappen in seine ursprüngliche Lage
auf den Tampon zurückgeklappt und mit einigen Nähten fixirt. Verband.
Nach der Operation erholt sich Pat. relativ rasch, klagt nur über sehr
heftige Schmerzen in der Brust und über Luftmangel. Puls beschleunigt und
klein, aber regelmässig. Athmung ziemlich oberflächlich. — 2. 12. Verband-
wechsel, da der Verband durchfeuchtet. Tampon bleibt liegen. Es besteht
vollständiger rechtsseitiger Pneumothorax. Klagen über Schmerzen heftiger
Art in der Brust und Luflmangel. — 3. 12. Puls Morgens sehr frequent und
klein. Schmerzen und Luftmangel stärker wie zuvor. Reichliche Narcotica,
w^orauf Athmung freier und Puls besser wird. — 6. 12. Nachdem Pat. sich
Tags zuvor aehr elend befunden hatte, stets über heftige Schmerzen und
grossen Luftmangel geklagt, auch mehrmals Erbrechen gehabt hatte, sind heute
die Schmerzen im Allgemeinen geringer, nur strahlen dieselben noch in alter
Intensivität in den rechten Arm aus. Athmung immer noch beschleunigt, auf-
fallend ruhiger im Schlaf, Puls kräftiger, aber immer noch beschleunigt.
Nahrungsaufnahme durch die Magenüstel ohne Brechreiz genügend. — Ver-
bandwechsel, da leichte Temperatursteigerung zu verzeichnen, und Entfernung
der Tampons aus der Wundhöhle. Die Tampons sind von Secret sehr durch-
tränkt, jedoch findet sich keine Retention vor. Aussehen der Wunde selbst
reactionslos. Rechtsseitig noch immer completer Pneumothorax, man hört die
Luft nach Entfernung der Tampons laut in die Pleurahöhle ein- und aus-
streichen. Kleinere Tamponade der Höhle. — Nach dem Tamponwechsel ist
die Athmung ruhiger, auch haben die heftigen Schmerzen nachgelassen, nur
Operationen an dem Brustabschnitt der Speiseröhre. 747
von Zeit zu Zeit schreit Fat. laut auf und klagt über lebhafte dnrcbschiessende
Schmerzen im Rücken, die von der Operationsgegend bis in das rechte Bein
ausstrahlen sollen. — 8. 12. Wunde vollkommen reactionslos. Pneumothorax
besteht fort. Es legt sich der zurückpräparirte Hautlappen immer mehr und
mehr in die Wundhöhle hinein. Gegen Abend Temperatursteigerung bis über
38°. — 9. 12. Allgemeiner Zustand leidlich, Pat. hat noch immer Schmerzen
4m Rücken, besonders beim Liegen und bringt daher den Tag und die Nacht
meist in halb oder ganz sitzender Stellung zu. Wunde sieht gut aus, geringe
Sccretion vorhanden. Rechts besteht noch immer Pneumothorax, nirgends
Athmungsgeräusch wahrnehmbar. Ab und zu Anfalle von stärkerer Athem-
noth, besonders nach kleinen Aufregungen, die entweder spontan oder auf
Morphium zurückgehen. Pat. ist überhaupt Nachts sehr unruhig. — 12. 12.
Pat. hat besonders Abends immer Temperatursteigerungen, ohne dass eine
Secretretention oder Infcction der Wunde nachzuweisen ist. Es wird eine
Probepunction der abhängigsten Partien der rechten Pleura von der Wunde
aus vorgenommen mit negativem Erfolg. Athmungsgeräusch rechts noch nicht
wahrzunehmen, Percussion ergiebt rechts überall vorn und seitlich hellen
tympanitischen Schall. Auf der linken Lunge normale Verhältnisse. — 14. 12.
In der Wundhöhle der abgelösten Pleura aufsitzend leichte übrinöse Beläge,
keine abnorme Secretion der Wunde. Allgemeinbefinden bedeutend besser,
Athmung ausgiebiger und Puls kräftig und regelmässig.' Die Wundhöhle
wird mit Borlösung ausgespült. — 17. 12. Allmäliger Rückgang der Fieber-
temperaturen, trotzdem die fibrinösen Beläge der Wundhöhle reichlicher ge-
worden sind, und die Anfangs nur in geringem Maasse vorhandene Secretion
erheblich zugenommen hat. Es sind zeitweise stärkere Schmerzen vorhanden,
die jedoch meist wieder nach kurzer Dauer vorüberzugehen pflegen. Der Haut-
weichtheillappen legt sich, trotz reichlicher Unterpolsterung mittelst eingeführter
Tampons immer mehr in die Wundhöhle hinein, wodurch ein freier üeberblick
über die gesammte Wunde allmälig unmöglich geworden ist. Man vermag von
der Wunde aus nicht mehr die Bewegungen des Oesophagus zu erkennen,
welche durch ein in die Halsfistel bis auf die Strictur geführtes Bougie hervor-
gerufen werden können. — 19. 12. Es wird mit einem Catheter, an demselben
luftdicht angebunden, ein kleiner Gummiballon durch die Oesophagusfistel bis
auf die Strictur hinab eingeführt und im Oesophagus aufgeblasen. Auch hier-
bei kann man keinerlei Auftreibung der Speiseröhre oder irgend welche Be-
wegungen in der Tiefe der Wundhöhle wahrnehmen. Die Wundhöhle ist nun-
mehr mit dicken fibrinösen Belägen vollständig austapezirt, Secretion ziemlich
reichlich. Allgemeinbefinden unverändert, nur Nachts immer grosse Unruhe
und Aufregungszustände, die die Anwendung von Morphium und dergleichen
erforderlich machen.
24. 12. Täglicher Verbandwechsel und Neu-Tamponnade der Wundhöhle
durch den in Folge Einziehung des Hautweichtheillappens immer mehr ver-
kleinerten Zugang. Die Wunde secernirt eitrige mit fibrinösen Fetzen durch-
setzte Flüssigkeit. Kein Fieber. Versuche, den Oesophagus von unten durch
die gut functionirende Magenfistel zu sondiren, misslingen ; ebenso die vom
748 Dr. Rehn,
Magen aus versuchte Auftreibung des unter der Fistel belegenen Oesophagus-
abschnittes. Pat. hat in der letzten Zeit wieder mehrmals durch die Magen-
fistel erbrochen, sieht seit einigen Tagen viel elender aus als zuvor, fühlt sich
auch im höchsten Grade schwach und abgespannt. Häufige Einführungen nur
kleiner Speisemengen. Bism. subnitr. pro die 4 g mit gutem Erfolge. — 27. 12.
Magenbeschwerden haben nachgelassen. Nahrungsaufnahme und Verdauung
geht, nach Aussetzen jeglicher Versuche durch die Magenfistel in den Oeso-
phagus zu gelangen, wieder normal vor sich. Aussehen und Allgemeinbefinden
des Pat. besser. Zustand der Wunde unverändert, Secretion eitriger Flüssig-
keit aus der Wunde dauert fort, kein Fieber. Die rechte Lunge hat sich zum
Theil wieder ausgedehnt, Pneumothorax vorn nicht mehr nachweisbar. Pat.
klagt über starke Schmerzen im rechten Arm, Fixationsverband des Annes,
worauf die Beschwerden nachlassen. — 3. 1. 98. Im Allgemeinen keine
Aenderung im Zustand, ab und zu starke Schmerzen in der Brust, die meist
spontan wieder nachlassen. — 5. 1. Pat. befindet sich im Allgemeinen leidlich
wohl, bringt einige Stunden des Tags ausser Bett zu. Secretion der Wunde
gering. Der Zugang zur Wundhöhle hat sich immer mehr verkleinert, so dass
die Tamponeinführungsstelle nur noch etwa daumengross ist. Der Einblick ist
dadurch nur noch in sehr geringem Grade möglich, die Vorderfläche der
Wirbelkörper ist nicht mehr zu erkennen. Die rechte Lunge hat sich immer
mehr ausgedehnt. Athmungsgeräusch rechts deutlich und ohne Nebengeräusche
wahrnehmbar. — 9. 1. Keine Aenderung, nur hat sich der Kräftezustand des
Pat. unter reichlicher Nahrungszufuhr noch gehoben. Aussehen des Pat. gut.
Die nochmals verschiedentlich vorgenommenen Sondirungsversuche , sowohl
von oben als von unten her, scheitern sämmtlich. — 10.1. Operation in Chloro-
formnarkose nach 0,02 Morphium subcutan, unmittelbar zuvor 1 Glas griech.
Wein. Operateur: Prof. Dr. Rehn.
Verlauf der Narkose leidlich ruhig, nur ab und zu stärkeres Spannen.
Pat. liegt auf der linken Seite auf einem grossen Nierenoperationskissen.
Schnittführung in der alten Narbe, um den bei der ersten Operation ge-
bildeten Hautmuskel läppen mitsammt den Rippen wieder zurückzuschlagen.
Es zeigt sich, dass die früher durchtrennten Rippen durch ziemlich beträcht-
liche Callusmassen wiederum fest verwachsen sind, so dass oben und unten
eine Mobilisirung der Rippen erst nach einer neuen Resection erzielt werden
kann. Hierauf wird der Lappen mit den Rippenstümpfen zurückgeklappt, wo-
durch der Eingang zur alten Wundhöhle frei zugänglich wird. Die Höhle ist
rings an iliren Wänden bedeckt von dicken fibrinös belegten Schwarten und
Granulationen, vor denen nach vorn zu die rechte Lunge vollkommen abge-
schlossen sich bei der Athmung bewegt; es ist unmöglich von der Wundhöhle
aus den Oesophagus und die übrigen Organe des hinteren Mediastinums zu
sehen, oder auch blos durch die Schwarten hindurch in der Tiefe eine bis auf
die Strictur in den Oesophagus eingefüiirtc Sonde zu fühlen. Auch gelingt
dies nicht nach Wegnahme der Granulationen mit dem scharfen Löffel. Es
wird nunmehr gegen die Ursprungstheile der Rippen und peripheren Enden
der Wirbelquerfortsätze, mit einem Scalpell die dicke aufsitzende Schwarte in
Operationen an dem BVustabschnitt der Speiserölire. 749
Ausdehnung der Wunde von oben nach unten gespalten, und von diesem
Schnitt aus analog nach der Ablösung der Pleura costalis bei der 1. Operation,
die Schwarte von den Rippen und Wirbelkörpern relativ leicht und ohne er-
hebliche Blutung abgedrängt, und mit einem stumpfen Haken gegen das Lumen
der alten Wundhöhle zusammen mit der rechten Lunge nach vorn gezogen.
Hierbei reisst in der Tiefe die stark verdickte Pleura ein, doch sinkt die Lunge
in Folge breiter Verwachsung beider Pleurablätter nicht zurück. Nach Ablösung
der Schwarten gelingt es mit dem tastenden Finger bis auf die Gegend des
Oesophagus vorzudringen, der an der Vorderfläche der Wirbelkörper etwa in
der Mitte des Operationsgebietes, also der 6.-7. Rippe entsprechend, auf der
rechten Seite liegt. Man fühlt deutlich durch die Oesophaguswand hindurch
die in die Fistel von oben eingeführte Sonde. Unter ganz unwesentlicher
Blutung wird theils stumpf, theils präparatorisch mit feinem Messerchen die
Isolirung und Mobilisirung unter genauer Beobachtung des N. vagus vorge-
nommen, zunächst nach vorn, wobei man bis zum Herzbeutel und weiter nach
links bis zur Aorta vordringt und deutlich die Pulsation derselben und des
Herzens zu fühlen im Stande ist. Bei dieser Mobilisirung des Oesophagus
kommt auch die Vena azygos zu Gesicht, die geschont wird. Auch von hinten
her wird versucht, den Oesophagus aus seiner Umgebung loszulösen, um ihn
aus der grossen Tiefe der Wunde mehr in das Niveau der äusseren Haut zu
ziehen. Um den ganzen Oesophagus läuft das feine Vagusgeflecht herum,
welches nach Möglichkeit erhalten und mit dem Nervcnhauptstamm nach vorn
stumpf abgelöst wird. Auf diese Weise gelingt es relativ leicht, den Oesophagus
an dem Beginn der Sti'ictur zu mobilisiren und vormittelst der eingeführten
starren Sonde gegen den Operateur und das Hautniveau emporzuheben. Ein
Weiterführen der Sonde über 15 cm von der Oesophagusfistel aus, ist unmög-
lich. Es wird nun mit der Loslösung des Oesophagus ays seiner Umgebung
nach unten zu fortgefahren, es zeigt sich, dass hier die Adhäsionen bedeutend
stärker werden, und durch dieselben der Oesophagus mehr nach links zu fixirt
wird. Beim Fortschreiten der Isolirung des Oesophagus dringt die Sonde
plötzlich einige Centimeter tiefer, was auf der Ausgleichung der vorher er-
wähnten Dislocirung und Fixirung nach links beruhte (Perioesophagitis). Ein
weiteres Vorschieben der Sonde ist nicht ausführbar. Die Wand des Oeso-
phagus an dieser Stolle, wo er zugleich von rechts über die Aorta nach links
lind vorn zum Foramen oesopbagum verläuft, ist stark verdickt. Es wird jetzt
etwa in der Höhe des 7. oder 8. Brustwirbels in den Oesophagus quer zu
seiner Achse verlaufend eine Incision gemacht von ungefähr 1 cm Länge. Die
Wand ist sehr derb, etwa 4—5 mm dick, die Blutung aus der Wand ist uner-
heblich. Durch die IncisionsötTnung wird in das Oesophaguslumen eine dünne
Sonde eingeführt, welche ohne weiteres 10 — 15 cm tiefer gegen den Magen
vorgeschoben werden kann, der Versuch ein stärkeres Bougie durchzubringen
misslingt, weshalb der Schnitt mittelst einer Längsincision nach unten ver-
grössert wird. .Jetzt passirt ein stärkeres klein fingerdickes Bougie ohne
Schwierigkeit, besonders nachdem die unmittelbar hinter der Eröffnung des
Oesophagus liegende Partie noch mit der Kornzange gedehnt ist. An dieser
AifliiT fllr kliii. Cliinir^dc. 67. Bd. Heft 4. ^q
750 Dr. Rehn,
Stelle befand sich nämlich die hochgradige Verengerung des Oesophagus-
lumens, welche besonders, da durch perioesophageale Verwaohsungcn noch
eine Drehung des Speiserohres zu Stande gekommen war, für das Passiren der
Sonden stets ein unüberwindliches Hindemiss abgegeben hatte. £s wurden
nunmehr noch Sonden bis zur Fingerstärke hindurch bis in den Magen geHihrt,
und mit einer durch die Fistel in den Magen geleiteten Kornzange zu fassen
versucht. Nach verschiedenen Misserfolgen dieser Art gelang es schliesslich
unter Einführung eines Fingers durch die Fistel das Sondenende zu fühlen,
auf dem Finger mit der Zange zu fassen und durch die Fistel herauszuziehen.
An dem Sondenknopf wird ein starker Seidenfaden befestigt, und derselbe
durch die Oesophagus wunde und weiter zur Halsfistel herausgeleitet Mittelst
dieses Seidenfadens wird jetzt eine an ihm befestigte mittelstarke Schlundsonde
von der Oesophagusfistel zum Magen und von hier zur Gasbrostomiewuode
herausgezogen. Die Eröffnung des Oesophagus! umens in seinem Brusttheii
wird über der Schlundsonde mittelst Naht quer geschlossen. Um den Oeso-
phagus herum wird ein Jodoformgazetampon gelegt, ein zweiter grosser direct
auf die Naht des Oesophagus und aus der Wunde herausgeleitet; darauf der
zurückgeschlagene Hautweichtheillappen wieder in seine ursprüngliche Lage
zurückgebracht und mit einigen Situationsnähten iixirt. Nach dem Erwachen
aus der Narkose klagt der Fat. über heftige Schmerzen in der Brust und Athem-
noth. Puls leidlich kräftig und regelmässig. Aussehen collabirt, Temp. 35,0,
im Laufe des Tages allmälig zur Norm ansteigend.
Pat. ist im Allgemeinen sehr unruhig, klagt Abends über unerträglichste
Schmerzen in der Brust und heftige Athemnoth, weswegen er Morphium sub-
cutan bekommt, worauf er ruhiger wird. Es besteht Brechreiz und mehrmfUiges
Erbrechen aus der Magenfistel. Puls gegen Abeud kräftig und regelmässig,
etwas beschleunigt. Aussehen des Pat. besser als unmittelbar nach der
Operation. — 11. 1. In der Nacht wird der Puls allmälig immer lebhafter,
Pat. ist sehr unruhig, klagt über Schmerzen in der Brust und Athemnoth,
Gegen Morgen Puls kaum fühlbar, ca. 200 Schläge per Minute. Dabei kalter
Seh Weissausbruch, Athmung nicht sehr beschleunigt. Klagen über Athemnoth
und Beklemmungsgefühl über der Brust. Reichlich Oampherinjectionen und
Wein per Fistel, worauf sich der Puls langsam bessert, ebenso wie das All-
gemeinbefinden. — 11 Uhr Vorm. Verbandwechsel. Puls immer noch sehr
frequent und klein, 150 pro Minute. Entfernung der Situationsnähte und Her-
ausnahme des Tampons aus der WundhÖhle, worauf sich hinter den Tampons
eine kleine Menge Secretes entleert. Einführung zweier Drains und leichter
Occlusivverband, ohne Tamponnade der Höhle. Nach dem Verbandwechsel
bessert sich der Zustand zunächst etwas. Die Athmung wird freier, das Be-
klemmungsgefühl über der Brust und die Schmerzen lassen angeblich nach.
Puls jedoch immer noch stark beschleunigt (160) und unregelmässig. Starker
heisser Kaffee per Fistel, Campherinjection. — 12 Uhr. Puls immer noch stark
beschleunigt und unregelmässig, Athmung jetzt vollkommen frei, ruhig und
tief, Nachlassen der Schmerzen. Allmälig wird der Puls immer kleiner und
unregelmässiger bis zur ünfühlbarkeit, Extremitä^n und Nasenspitze kalt.
Operationen an dem Brastabschnitt der Speiseröhre. 751
Äthmüng wird beschleunigter ond oberflächlicher. Leichte Cyanose, allmäliger
Schwund des Bewusstseins. Um 1,55 Minuten unter weiterem Fortschreiten der
Herzschwäche, Exitus letalis.
Der zweite Fall, in welchem eine Freilegung des Oesophagus von
hinten erfolgte, betraf einen 49jährigen Bauern, M. W. , welcher an einem
Oesophaguscarcinom litt. Patient, der sonst immer gesund gewesen sein will,
bemerkte im Juli 1897 Schluckbeschwerden, namentlich für festere Speisen.
Ailmälig verschlechterte sich der Zustand unter gleichzeitiger Krstfteabnahme
so sehr, dass seit Anfang December feste Speisen überhaupt nicht mehr ge-
nossen werden konnten, weswegen Patient verschiedene Autoritäten consultirte,
die ihm Aufnahme in ein Krankenhaus anriethen. Bei der Untersuchung ergab
sich, dass 28 om von den oberen Schneidezähnen entfernt die Sonde auf ein
Hinderniss im Oesophagus stiess, welches für dickere Nummern nicht zu über-
winden war. Durchleuchtung mit Röntgenstrahlen zeigte, dass eine Metall-
sonde bis zur Höhe des IV. Brustwirbels vordringen konnte und deutlich auf
der linken Seite des Wirbelkörpers mit ihrem Ende lag. Die Diagnose konnte
nicht zweifelhaft sein, es handelte sieh um ein Oesophaguscarcinom. Am
28. Jan. wurde eine Gastroenterostomie angelegt und seitdem die Ernährung
durch die Fistel ausgeführt. Trotz reichlicher Nahrungszufuhr in concentrir-
tester Form hob sich der Kräftezustand des Patienten nur wenig, im Gegen-
theii, die schon bei der Aufnahme etwas cachektische Gesichtsfarbe nahm zu,
ebenso klagte Patient nach längerem Zubringen ausser Bett immer über grosse
Mattigkeit. Zugleich wurde bemerkt, dass der Auswurf des Patienten einen
stark fauligen Geruch annahm, der sich trotz Gurgeln mit desinficirenden Lö-
sungen nur wenig einschränken liess. Denselben Foetor wie im Sputum nahm
man in der Umgebung der Magen fistel, besonders am Morgen und beim Wech-
sein des Magenrohres wahr, so dass es auf der Hand lag, dass das Carcinom
im jauchigen Zerfall begriffen war und die Zerfallsproducte theils nach oben
mit dem Sputum entleert wurden, theils nach unten in den Magen hinab-
flössen. Aus diesem Grunde wurden täglich Ausspülungen des Magens durch
die Fistel vorgenommen und durch dieselbe in Zersetzung begriffene Speise-
reste in groser Menge entfernt. Nachdem diese Magenspülungen einige Zeit
lang fortgesetzt waren, hob sich mit einem Male der Körperzustand, Patient
fühlte sich kräftiger und nahm trotz der gleichen Ernährung an Körpergewicht
zu. Die früher häufig auftretenden Fiebertemperaturen bis 38,6 wurden im
Anfang nach dem Einführen der Magenspülungen seltener und verschwanden
schliesslich ganz und gar. Durch diese Beobachtungen wurde man darauf hin-
geleitet, dass durch das ewige Hinabfliesson der Gar cinomj auch o und Beimen-
gung derselben zu der Nahrung eine völlige Ausnutzung derselben nicht vor
sich ging, und dass man bestrebt sein musste, die Zerfallsproducte nach Mög-
lichkeit auszuschliessen, wenn man den Patienten noch einige Zeit am Leben
erhalten wotlte. Unter solchen Erwägungen reifte der Plan, ähnlich wie bei
dem erst geschilderten Fall vorzugehen und von hinten den Oesophagus frei-
zulegen, um eventuell unterhalb des Carcinoms den Oesophagus zu reseciren
und mittelst Occlusivnaht zu verschliessen, oder direct das Carcinom nach
50*
752 Dr. Rehn,
aussen zu drainiren, da eine Totalexstirpation des aller Wahrscheinlichkeit
nach schon weit vorgeschrittenen Carcinoms nicht mehr ausfüiirbar zu sein
schien. Die Operation wurde am 25. März vorgenommen. Bildung eines
giossen Hautmuskollappens auf der rechten Ruckenseite, vom 3. Hals- bis
8. Brustwirbel, genau wie bei der ersten Operation. Freilegung einer Rippe
und Resection derselben, wobei in Folge Verwachsungen zwischen Fascie endo-
thoracica und Pleura costalis die Pleurahöhle verletzt wurde. Die Lunge colla-
birte nichts da jedenfalls anderweitige Verwachsungen zwischen beiden Pleura-
blättern noch bestanden. Es wurden von der Resectionsstelle sowohl nach
oben als nach unten, unter mehrfacher Verletzung der Pleura, noch mehrere
Rippen (III. — VI.) resecirt, worauf man nach Auseinanderziehen der Rippen-
stümpfe einen Einblick in die Brusthöhle bekam. Es wurde nunmehr die
Pleura gegen die Vorderiläche der Wirbelkörper abgelöst, was ganz leicht ge-
lang. In der Tiefe, entsprechend der normalen Oesophaguslage, fanden sich
starke Verwachsungen. Man fühlte etwas unterhalb der Bifurcation eine derbe
Tumormasse, die theils stumpfem, theils scharfem Lospräpariren energischen
Widerstand entgegensetzte. Eine genaue Orientirung durch das Gesicht war
ebenso wenig wie durch Palpation möglich. Die ganze freiliegende Partie des
hinteren Mediastinums pulsirte lebhaft, ohne dass eine genaue Grenze zwischen
der Aorta, dem Herzbeutel und den übrigen Organen zu erkennen war. Unter
diesen Umständen wurde die Operation abgebrochen, ein Jodoformgazetampon
in die Tiefe gelegt, mittelst zweier grösserer steriler Tampons die Rippen-
stümpfe geschützt. Darauf die Weichtheilwunde durch einige Nähte ver-
schlossen.
Patient erholte sich von der Operation verhältnissmässig sehr rasch,
klagte nicht viel über vSchmerzen, Puls und Athmung waren ruhig, die Wund-
hohle secernirte sehr stark, so dass täglich ein- bis zweimal der vollständig
durchfeuchtete Verband gewechselt werden musste. Beim Verbandwechsel
häufig, in den letzten Tagen mehr als in den ersten, Coliapszustände, welche
reichlich Camphor erforderlich machten. Aber auch ohne Verbandwechsel
traten in der letzten Zeit, besonders Nachts, derartige Schwäcbeanfälle auf,
welche unter Verabreichung von Camphor und starkem Kaffee oder Wein-
klystieren überwunden wurden. Im Allgemeinen wurden die Kräfte aber
schwächer, und als noch in den letzten Tagen Fiebertemperaturen in den
Abendstunden auftraten, erfolgte am 31. März, Nachts, in einem neuen Collaps
der Exitus letalis.
So weit (iio Kranken- und üporationsgeschichten unserer beiden
Patienten, aus denen hervorgeht, dass es technisch sehr wohl
durchführbar ist, den Oesophagus in seinem Brusttheile freizulegen
und etwaige Eingriffe an demselben vorzunehmen. In dem zuletzt
milgetheilten Falle veranlasste der äusserst schlechte Zustand des
Patienten zu einem Eingriff, dessem Folgen der Kräftezustand nicht
^c:eAvachs(T. war, was um so betrübender war, als dem Kranken
Operationen an dem Brustabsohnitt der Speiseröhre. 753
durch die Operation nichts genützt war. Immerhin lebte der Pa-
tient noch sechs Tage und würde ohne seine alte Pericarditis,
welche die Section ergab, vielleicht die Freilegung des Oesophagus
überstanden haben. Anders lag die Situation im ersten Falle, der
einen jungen sonst vollkommen gesunden Menschen betraf und bei
dem sich alles darum handelte, die normale Passage in den Magen
wieder herzustellen, nachdem alle Sondirungsversuche sowohl von
oben als vom Magen aus fehlgeschlagen waren.
Was die Operation selbst betrifft, so ist es klar, dass der
Zugang zu dem eigentlichen Operationsgebiet, dem im hinteren
Mediastinum verlaufenden Oesophagus, nur durch eine ausgiebige
Durchtrennung der Rippen mit nachfolgender Resection grösserer
resp. kleinerer Partien aus denselben zu erzielen ist, was an der
Leiche bei einiger Uebung in kurzer Zeit geschehen ist. Wesent-
lich schwieriger liegen jedoch die Verhältnisse bei der Operation
am Lebenden, welcher xAthemzüge macht und öfter noch recht
stürmische bei einer unruhigen Narcose. Hier ist es, wie auch
andere Autoren gelegentlich ihrer Mittheilungen über Operationen
an cariösen W^rbelkörpem mittheilen, oft unvermeidbar, die Pleura
costalis von den Rippen ohne Entstehung eines Pneumothorax ab-
zulösen. Jedenfalls steht fest, dass bei Vermeidung einer Pleura-
verletzung eine grosse Gefahr und Complication der Operation ge-
schwunden ist. Geringer ist der Umstand zu veranschlagen, dass
wir genöthigt sind, während der Operation durch Zurücktamponniren
der rechten Lunge die athmende Fläche derselben zu verkleinern.
Die Respiration wird vollkommen genügend von der linken Lunge
allein ausgeführt und nach der Operation dehnt sich trotz Tam-
ponnade die zurückgedrängte Lunge ziemlich rasch wieder aus, wie
wir uns bei der ersten Operation unseres ersten Falles, sowie bei
den Autopsien zu überzeugen Gelegenheit hatten. Eine grosse Er-
leichterung bei unserem Vorgehen bieten schon vor der Operation
bestehende Verwachsungen beider Pleurablätter mit einander, wo-
durch das Zustandekommen eines Pneumothorax mit Collaps der
Lunge sicher vermieden wird. Eine weitere Frage, die sich uns
bei Behandlung des Stoffes aufdrängte, war die, ob sich durch Ver-
legung des Haut- und Rippenschnittes mehr nach der Wirbelsäule
hin und Ablösung der Pleura costalis von der Fascia endothoracica
in medialer lateraler Richtung anstatt lateral medial, wie
754 Dr. Rehn,
wir es gethan hatten, leichter eine Pleuraverletzung umgeben
Hesse? In einem Falle von artificieller Ruptur des Oesophagus
mittelst Sonde, der zu einem Lungenabscesse und sccundärer Sepsis
geführt hatte, wurde, um dem im rechten Oberlappcn localisirten
Abscess Abfluss zu verschaffen, so vorgegangen, dass in einem
langen parallel zur Wirbelsäule verlaufenden Schnitt die Gegend
der Rippenköpfchen der 2. — 5. Rippe freigelegt wurde und nach
vorsichtiger Ablösung der Pleura von zunächst einer Rippe diese
resccirt wurde, worauf erst die Durchtrennung der anderen folgte.
Nach Entfernung der drei genannten Rippen unmittelbar neben der
Wirbelsäule in einer Ausdehnung von 3 — 4 cm war genügend Raum
vorhanden, um mit der Hand einzugehen und von der Rescctions-
stelle aus die Pleura latcralwärts in grosser Ausdehnung abzu-
drängen, was in dieser Richtung ungleich leichter als in lateral
medialer, wie wir es bei den ersten Operationen gethan hatten, vor
sich ging. Auf diese Weise wurde ein grösserer Bezirk der Pleura-
oberHäche ohne Verletzung derselben freigelegt und nach einigem
Suchen der jauchige gangränöse Lungenabscess gefunden und nach
aussen entleert. Der Patient, der sehr elend auf den Operations-
tisch kam, überstand die Operation recht gut, leider war jedoch
die Sepsis schon so weit vorgeschritten, dass er ihr einen Tag
später erlag.
Fragt man nun unter Berücksichtigung aller erwähnten Mo-
mente, unter welchen Umständen man wohl eine immerhin sehr
eingreifende Operation, wie die geschilderte, vorzunehmen berechtigt
wäre — denn die Ausführbarkeit eines Eingriffes ohne Verletzung
lebenswichtiger Organe beweist noch lange nicht, dass die Opera-
tion selbst eine zweckentsprtM^hende ist — , so möchten wir schon
jetzt nach unseren geringen Erfahrungen behaupten, dass die Frei-
legung des hinteren Mediastinum, spociell des Oesophagus, unbe-
dingt indicirt ist bei allen periösophagealen Phlegmonen, um
direct dem Eiter nach aussen Abfluss zu verschaffen und so den
Versuch zu machen, ein sonst sicher verlorenes Leben zu retten.
In zweiter Linie käme die Operation in Betracht bei Fremd-
körpern, welche im Brusttheil des Oesophagus stecken geblieben
sind und' auf keine andere Weise, weder nach oben noch nach
unten, entfernt werden können. Die Gefahr, eine spontane Be-
freiung der Fremdkörper in diesen Fällen abzuwarten, welche meist
Operationen an dem Brustabschnitt der Speiseröhre. 755
erst nach mehr oder weniger ausgedehnter Druckgangrän in der
Umgebung mit unmittelbar oder später folgendem Eintritt einer
tödtlichen periösophagealen Phlegmone stattfindet, scheint uns zum
mindesten ebenso gross, wie eine zum Zwecke der directen Ent-
fernung von hinten her vorgenommene Operation. Dass es endlich
gutartige Stricturen der Speiseröhre giebt, welche jedem Versuch
der Erweiterung mittelst Sonden trotzen und bei denen einzig und
allein Freilegung, Spaltung und wieder Nahtvereinigung des Oeso-
phagus in querer Richtung Aussicht auf Erfolg und Befreiung von
dem unglücklichen und qualvollen Dasein selbst mit einer gut
functionirenden Magenfistel bietet, beweist unser erster Fall. „Bei
der allerhäufigsten Erkrankung der Speiseröhre, dem Carcinom,
hat, um mit v. Hacker zu reden, die Klarstellung der Diagnose
namentlich in den Anfangsstadien in vielen Fällen eine grosse
klinische Bedeutung. Die Frühdiagnose in solchen Fällen würde
auch in therapeutischer Beziehung einen hohen Werth gewinnen,
wenn es in Zukunft gelänge, durch operative Methoden,
wenigstens an bestimmten Stellen, durch Entfernung des
Carcinoms ähnliche Erfolge zu erzielen, wie dies bei man-
chen Darmcarcinomen der Fall ist." Ob und in wie weit dieses
hohe Ziel sich erfüllen wird, muss die Zukunft lehren.
XLIX.
Zur Operation des Stirnhöhlenempyems/^
Von
Professor Dr. Oartta,
Oberant in Danzig.
(Mit 3 Figuren.)
Die operative Behandlung des Empyems der Stirnhöhle hat
fast ebenso viele Methoden als Autoren, welche über diesen Gegen-
stand geschrieben haben. Zur Heilung sind diese Empyeme, wie
es scheint, nach allen Methoden gebracht worden, aber das Klage-
lied von einer langen Heilungsdauer mit einer die Geduld er-
schöpfenden Nachbehandlung, von Fistelbildung und Nachoperationen,
und von entstellenden Narben klingt durch viele dieser Veröffent-
lichungen durch.
Die osteoplastischen Trepanationen der Stirnhöhle nach
Czerny2) und nach Küster^) mit nachfolgender Drainage nach
der Nasenhöhle liaben wohl die wesentlichsten Nachtheile, welche
früheren Methoden anhafteten, beseitigt, und sie dürften wohl heute
von vielen Chirurgen geübt werden. So ganz schnell erfolgt aber
auch hier die Heilung nicht, nach meinen Erfahrungen deswegen,
weil die Drainage nach der Nasenliölile nicht immer gut functionirt.
Das dünne Drain, welches man durch die künstlich angelegte
Perforationsöffnung nach der Nasenhöhle hindurchzieht, verstopft
1) Abgekürzt vorgetragen am 4. Sitzungstagc des XXVII. Congresses
der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 16. April 1898.
2) V. Czcrny, Osteoplastische Eröffnung der Stirnhöhle. Verhaudl. der
Deutschen Gesellschaft f. Chirurgie zu Berlin. 1895, II, S. 211.
3) Mitgethcilt in der Inaug.-Dissert. von Gustav Hupperz, Die Er-
krankungen der Stirnhöhlen und ihre Behandlung. Marburg 1896.
Zur Operation dos Stirahöhlonempyems. 757
sich gar zu leicht, und man ist dann für längere Zeit auf Drainage
durch die Operationswunde und Ausspülungen angewiesen. Das
dürfte wohl auch der innere Grund sein, dass eine Reihe von
Operateuren wie Herz fei d^), Kuhnt^) u. A. bei der Trepanation
der Stirnhöhle auf die hergebrachte Drainage nach der Nasenhöhle
überhaupt keinen Werth legen und die Heilung durch adstringirende
Behandlung der Schleimhaut und breite Tamponnade der ganzen
Höhle, oder aber durch Entfernung der Schleimhaut und der
ganzen vorderen Sinuswand herbeizuführen suchen, was entweder
sehr geraume Zeit beansprucht oder aber zu nicht unerheblichen
Entstellungen führt ^).
Mir scheint, dass das Küster 'sehe Princip*), bei Eiterungen
in starrwandigen Höhlen den Abfluss am tiefsten Punkt der Höhle
zu sichern, für das Empyem der Stinihöhle um so weniger ver-
nachlässigt werden darf, als dasselbe ja in einer Verlegung des
natürlichen Abzugskanals nach unten seine eigentliche Ursache
hat und ich glaube, dass die anscheinend recht häufigen Miss-
erfolge der künstlich angelegten Drainage nach der Nasenhöhle
durch eine rationellere Technik zu vermeiden sind.
Ich bin zu diesem Zweck in zwei Fällen so vorgegangen, dass
ich die Gegend des Ausführungsganges osteoplastisch freilegte, in-
dem ich von einem etwa 2Y2 cm langen, nahe dem Seitenrande
der Nasenwurzel geführten Längsschnitt aus (s. Fig. 1) das Nasen-
bein und den Processus nasalis des Stirnbeins durchmeisselte und
seitlich aufklappte. s)
1) J. Herz fei d, Zur Behandlung der Stirnhöhlenempyeme. Deutsche
med: Wochenschrift. 1895, S. 195.
2) H. Kuhnt, Ueber die entzündlichen Erkrankungen der Stirnhöhlen
und ihre Folgezustande. Wiesbaden 1895.
8) Besonders drastisch werden die Schwierigkeiten, eine leistungsfähige
Drainage nach der Nasenhöhle zu erreichen, in der kürzlich aus der chirurg.
Klinik zu Jena erschienenen interessanten Dissertation von Heinrich Schenke
(Ueber die Stirnhöhlen und ihre Erkrankungen) dargestellt, welche mir nach-
träglich von Herrn Geheimrath Riedel zuging. In 10 Fällen ist Riedel mit
einer einfachen Trepanation und Drainage nach der Nase nicht ein einziges Mal
zum Ziele gekommen, sondern war stets zu einer „Radicaloperation" gcuöthigt,
welche in der Fortnahme der ganzen vorderen und unteren Wand der Stirn-
höhle bestand. Die Entstellung durch eingezogene Narben war nach dieser
Operation meist eine bedeutende.
*) Küster, Ueber die Grundsätze der Behandlung von Eiterungen in
starrwandigen Höhlen. Deutsche med. Wochenschrift. 1889, No. 10—13.
^) Aehn liehe Ziele verfolgen die Methoden von Killian und von Win ekler,
die mir erst nachträglich bekannt wurden. Siehe Win ekler, Arch. f. Laryngo-
logie. Bd. 7, Heft 1.
758
Dr.]
Seitliche llülfsschnitle durch die Haut waren hierzu Dicht nöthig, sondern
es wurde nur dus Periost von den Endpunkten der Knochenwunde aus seitlich
durchbrennt und der Knochenlappen mit einem schmalen Ueissel In derselben
Linie ^^ürrai^ (nach An der osteoplastischen Schädolresectionon) umschnitten,
so dass er mit dem als Hebel dienenden Meissel mühelos nach aussen umge-
legt werden konnte. Die untere Wand des Sinus frontalis wird dabei im Be-
reich des Knochonlappens durchbrochen resp. mit dem Meissol durchlrennt.
Der ^nze Act ist einfach und leicht zu bewerkstelligen.
Im oberen Tlieil der Wunde wölbt sich alsdann die Schleim-
haut der Stirnhöhle vor und wird eröffnet, und nach Entleerung
des Eiters und provisorischer Tamponnade der Stirnhöhle wird
mit Möisscl, Knochenzange, Scheero und Pincette der obere
Theil der Nasenhöhle völlig frei gemacht, so dass eine
breite Communication zwischen Stirnhöhle und Nasen-
höhle hergestellt ist. I>ie Methode hat den Vortheil, dass
eine Erkrankung der Siebbeinzellen, welche bekanntlich eine häufige
Coraplication der Stirnhöhlcnciterung darstellt, der Untersuchung
nicht entgehen kann, da dieselben in der Wunde zu Tage liegen.
Man kann von ihnen dann soviel fortnehmen, dass eine Eiterver-
haltung unmöglich ist. Ein weiterer Vortheil ist der, dass man
in der Eröffnung der Stirnhöhle, deren seitliche Ausdehnung be-
kanntlieh individuell sehr schwankt, nicht fehl gehen kann, und
aueh eine Eröffnung der anderen Stirnhöhle, falls sie erforderlich
ist, hat von der Wunde aus keine Schwierigkeit,
I) Vergl. Kuhat, 1. c. Fall XUI, S. 250.
Zur Operation dea Stimhöhler
759
Nach Reinigung cvcnt. Ausschabnni^ der Stirnhöhle wird ein
Urain von der Nasenhöhle aus in die Stirnhöhle gelegt, der Pcriost-
knnchenlapptn zurückgelagert und die äussere Wunde geschlossen.
In meinem ersten Fall glaubte ich auf die hergebrachte Drainage
durch die äussere Wunde nicht verzichten zu können und die
völlige Heilung dauerte hier immerhin noch 5 Wochen. Im nächsten
Fall — CS handelte sich um ein 1 Jahr zurückdatirendes Influenza^
cmpycm, in dessen Eiter InHuenzabacillen nachgewiesen wurden —
scliloss ich die Wunde in der beschriebenen WVise ganz und es
erfolgte die völlige Vernarbiing in 14 Tagen, ao dass Patient am
15. Tage seine Arbeit als Tagelöhner in vollem Umfange wieder
aufnehmen konnte. Auch die Eiterung nach der Nase war bei
beiden Patienten in der angegebenen Frist versiegt, wenigstens war
bei der rhinoskopischcn Untersuchung kein Eiter nachweisbar. Die
andauernde Heilung wurde bei beiden Pattenten nach 9 rcsp.
4 Monaten festgestellt.
Fig. 2.
In kosmetischer Beziehung lässt die Methode nicht-s zu
wünschen übrig, wie die beigegebene Figur 2 des zweiten Falles,
welche i Monate nach der Operation aufgenommen ist, darthut.
Das Wesentliche aber bleibt, dass diese Operation das (Jebel ge-
wissermaassen an der Wurzel angreift, indem sie die schwierigen
Verhältnisse des Secretabflusscs in den oberen Partieen der Nasen-
höhle in übersichtlicher und zuverlässiger Weise regelt, und sie
760 Dr. Barth,
dürfte deshalb auch in anderen Fällen am schnellsten zur Heilung
führen und genüiifend vor Recidiven schützen.
Ich verkenne nicht, dass die Empyeme der Stirnhöhle nicht
alle gleichwerthig sind, und dass namentlich secundäre Erkrankungen
der knöchernen Sinuswand grössere Eingriffe erfordern. Es hiesse
Jedoch weit über das Ziel hinausschiesscn, wenn man sich in jedem
Fall von Stirnhöhlenempyem die Verödung der ganzen knöchernen
Höhle nach den Methoden Kuhnt's und RiedePs zur Aufgabe
setzen wollte. Ich bin der Ueberzeugung, dass diese Eingriffe,
welche stets grosse und meist entstellende Narben hinterlassen,
nur in den seltensten Fällen unumgänglich nöthig sind, und darf
unsere Beobachtungen als Beweis hierfür ansehen.
Die Krankengeschichten meiner beiden Fälle erlaube ich mir
anhangsweise in extenso mitzutheilen.
Fall 1. Ed. Pioch, 28 Jahre alt, Arbeiter aus Ohra, hatte bei Gelegen-
heit der Centenarfeier am 22. 3. 97 einen .Messerstich gegen die rechte Stirn-
seite erhalten. Aus der IY2 cm langen, oberhalb der rechten Augenbraue be-
findlichen Wunde hatte es stark geblutet, ebenso aus der Nase, da er jedoch
keine Beschwerden hatte, war er am folgenden Tage, ohne ärztliche Hülfe in
Anspruch zu nehmen, der Arbeit nachgegangen. Erst am 24. 3. liess er sich
in das Stadtlazarcth aufnehmen, weil er von Zeugen der Messeraffaire gehört
hatte, dass die Messerklinge abgebrochen sei und in seinem Schädel zurück-
geblichen sein müsse. Die Wunde war verklebt und völlig aseptisch, Temperatur
normal, von Seiten des Gehirns und der Stirnhöhle nicht die geringsten Er-
scheinungen. Die Angaben des Fat. schienen mir unter diesen Umständen
Fig. 3.
nicht beweisend genug, um die aseptische Wunde zu öffnen und ich beschränkte
mich auf Verband und sorgfältige Beobachtung des Verletzten. Am 26. 3.,
ohne dass eine Aenderung in dem Befunde eingetreten wäre, entschloss ich
mich indess auf Drängen des Pat. zur Operation. Ich öffnete und erweiterte
die Wunde und fand in der That einen Splitterbruch des Schädels, der die
Stirnhöhle betheiligte. Nach Entfernung eines Knochenfragments .quoll Gehirn-
masse aus der Tiefe der Wunde und der untersuchende Finger fühlte die Bruch-
fläche einer eingekeilten Messerklinge, welche alsbald nach Erweiterung der
Knochenwunde extrahirt wurde. Die 7 cm lange Klinge, welche ich in natür-
licher Grösse obenstehend abbilde, war rostig und im vordersten Theil der
Zur Operation des Stirnhöhlenempyems. 761
Schneide schartig. Sie lag fast in ganzer Ausdehnung im Stirnhirn. Ich
tamponnirte die Wunde und der Verlauf der Heilung war günstig, von Seiten
des Gebims traten nicht die geringsten Erscheinungen ein. Dagegen zwangen
voi übergehende Secretstauungen , welche unter Kopfschmerzen und hohen
Temperaturen am 3. und 10. April sich einstellten, zum erneuten Einführen
eines Drains, und l^ei der am 15. 5. erfolgten Entlassung des Pat. aus der An-
stalt bestand noch eine, wenn auch wenig secernirende Fistel.
Vorübergehend schloss sich diese Fistel, um alsbald unter starken Kopf-
schmerzen, Schwindel und Fieber wieder aufzubrechen. Am 17. 7. 97 kam
Pat. dieserhalb nochmals zur Aufnahme, nachdem er sich bis dahin unserer
Behandlung entzogen hatte. Die Sonde führte in die rechte Stirnhöhle, die
Eitersecretion war reichlich. In Chloroformnarkose wurde die osteoplastische
Freilegung der Stirn- und Nasenhöhle in der oben beschriebenen Weise be-
>verkstelligt und nach Herstellung einer breiten Communication zwischen beiden
Höhlen ein Drain durch den oberen Theil der Wunde, Stirn- und Nasenhöhle
quer hindurchgelegt. Reposition des Knochenlappens und theilweise Naht der
Wunde. Definitive Entfernung des Drains am 17. 8., völlige Vernarbung der
äusseren Wunde und Entlassung am 23. 8. 97.
Am 9. 4. 98 habe ich den Pat. wieder untersucht und völlige Heilung
festgestellt. Pat. ist andauernd völlig frei von Beschwerden. Die Trepanations-
narbe, welche nicht genäht war, ist breit und etwas wulstig, die Narbe der
Empyemoperation dagegen zart und ohne Entstellung. Khinoskopisch sind
keine Veränderungen in der Nasenhöhle wahrzunehmen.
Fall 2. Franz Walter, 28 Jahre, Arbeiter aus Ohra. Erkrankte vor
einem Jahre an Influenza , deren Hauptbeschwerden in Kopfschmerzen und
starkem Schnupfen bestanden. Nach 5 Wochen war er wieder gesund und
arbeitsfähig. Vor einigen Wochen stellten sich von neuem Kopfschmerzen ober-
halb des rechten Auges ein, die sich bisweilen so steigerten, dass er fast ohn-
mächtig wurde. Hierzu kamen in den letzten Tagen stechende Schmerzen im
rechten Augapfel, Fieber mit Schüttelfrost und Uebelkeit. Er Hess sich des-
halb am 8. 12. 97 in das Stadtlazareth aufnehmen. Temperatursteigerungen
bestanden bei der Aufnahme nicht.
Die Gegend der Stirn oberhalb der rechten Orbita war erheblich vorge-
trieben und ausserordentlich druckempfindlich, die Haut darüber etwas ge-
röthet. Die Orbita selbst war frei, Bulbus nicht vorgetrieben, Bewegungen
desselben frei, Sehvermögen ungestört, keine Gesichtsfelddefecte. Augenhinter-
grund ohne pathologischen Befund. Die rechte Nasenhöhle für die Athmung
verlegt. Khinoskopisch: Schwellung der Schleimhaut, kein Eiter, keine Borken-
bildung. Sondirung der Stirnhöhle misslingt. Sensorium frei. Puls be-
schleunigt. 9. 12. Chloroformnarkose bei steiler Lagerung des Kranken und
bei Tamponnade der rechten Nasenhöhle. Osteoplastische Freilegung der
oberen Nasenhöhle und des unteren Theils der rechten Stirnhöhle in der be-
schriebenen Weise (s. Fig. 1). Die Schleimhaut der Stirnhöhle wölbt sich vor
und wird eröffnet, es fliesst reichlich dicker Eiter aus, in welchem von Herrn
Dr. Petrus chky Influenzabacillen fast in Reincultur nachgewiesen wurden.
762 Dr. Barth, Zur Operation des Stirahöhlenempyems.
Ausschabang der verdickten Sehleimhaut. Stirnhöhle sehr gross, Ansräamon^
des oberen Theiis der Nasenhöhle, so dass eine breite, glattwandige Com-
munication zwischen Stirn- und Nasenhöhle entsteht. Drainage der Stirnhöhle
nach der Nase. Hücklagerung des Knochenlappens und völliger Verschluss
der Wunde. Fieberloser Verlauf. Entfernung des Drains am 17. 12., völlige
Vernarbung der Wunde bis zum 23. 12. Keinerlei Beschwerden seit der
Operation. Rechte Nasenhöhle für die Athmung frei; rhinoskopisch ist bei der
Entlassung am 24. 12. kein Eiter nachweisbar. Dieselben Verhältnisse wurden
am 10. 4. 98 bei einer Nachuntersuchung festgestellt. W. hat seit der Eai»
lassung aus dem Lazareth in vollem Umfange gearbeitet und ist frei von allen
Beschwerden. Die Vorbuch tung der rechten vorderen Stirnhöhlen wand hat
sich etwas zurückgebildet, die Nasenwurzel zeigt eine symmetrische Gon-
figuration, die Operationsnarbe ist zart und auf Zimmer weite nicht zu erkennen
(s. Fig. 2).
lieber die operative Behandlung
der Radialisläbmung nebst Bemerkungen
über die Sehnenüberpflanzung bei s{)as-
tischen Lähmungen.')
Von
Dr. Felix Frimlie,
Oberant des Diakonissenhaases Marienstift za Braansehweig.
M. H.! Im vorigen Jahre erlaubte ich mir durch Vorführung
eines Knaben, dem ich durch Sehnenüberpflanzung vor jetzt 3 Jahren
die in Folge paralytischen Klumpfusses ausserordentlich beein-
trächtigte Gehfähigkeit wieder verschafft hatte, Ihre Aufmerk-
samkeit auf ein Operationsverfahren zu lenken, das, obgleich eins
der segensreichsten auf dem Gebiete der orthopädischen Chirurgie,
noch wenig bekannt, aber noch weniger angewandt worden war.
Zu meiner Freude kann ich feststellen, sowohl aus den in der
Literatur enthaltenen Berichten, als aus privaten Mittheilungen,
die ich von Verschiedenen von Ihnen in diesen Tagen erhalten
habe, dass die Anwendung der Methode sich mehr und mehr aus-
breitet, üass sie noch viel zu wenig angewandt wird, können
Sie aus dem eben gehaltenen Vortrage des Herrn CoUegen Vulpius
entnehmen. Wenn dieser seit vorigem Jahre in 25 Fällen, im
Ganzen bisher in 28 Fällen paralytische Deformitäten der unteren
Extremitäten mittels Sehnenüberpflanzung behandelt und beseitigt
hat, wenn Drobnick, der wohl nicht über das Material verfügt,
0 Abgekürzt vorgetragen am 4. Sitzungstage des XXVII. Congresses der
Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 16. April 1898.
764 Dr. F. Franke,
das Herrn Collegen Vulpius zu Gebote steht, schon im vorigen
Jalire über 16 Kranke, bei denen er mit Erfolg die Sehnen-
überpflanzung angewendet hat, berichten konnte, wenn Sie da-
gegen erfahren, dass nur ganz wenige Chirurgen und dann nur in
vereinzelten Fällen von* dem Verfahren bisher Gebrauch gemacht
haben, so werden Sie sich sagen müssen, dass noch unzählige
Kranke und Krüppel herumlaufen oder vielmehr „hinken," denen
mit der Sehnenüberpflanzung ein Nutzen erwiesen werden könnte,
der nicht hoch genug anzuschlagen ist. Wie die bisherigen Be-
richte zeigen, und Herr College Vulpius eben auch erwähnte, ist
die Operation fast nur bei paralytischen Deformitäten der unteren
Extremitäten benutzt worden. Seinem Ausspruch, dass sie vicl-
lei(!ht von noch grösserer Tragweite bei ihrer Anwendung auf die
oberen Gliedmassen zu werden verspreche, muss ich beipflichten.
Ich habe diesen Ausspruch schon im vorigen Jahre gethan und
unterdessen bereits in die That umgesetzt. Sie erinnern sich viel-
leicht, dass ich im Anschluss an meine damalige Demonstration
bemerkte, dass die Methode sich unter anderem wahrscheinlich
auch zur Behandlung der Radialislähmung verwerthen Hesse, und
dass ich mit einer Patientin in dieser Hinsicht einen Versuch ge-
macht habe, der erfreuliche Hoffnungen erwecke. Es hat sich in
der Fol.i»:e herausgestellt, dass die erzielte Heilung zum grossen
Theil auf Rechnung eines andern Factors gesetzt werden muss.
Die an der betreifenden Kranken gemachten Erfahrungen haben
mich aber in den Stand gesetzt, in einem andern Falle die
Radialislähmung in anderer Weise mit gutem Erfolge in Angriff
zu nehmen und ein Verfahren auszusinnen und anzuwenden, das
vielleicht als typisch für die operaiive Behandlung der Radialis-
lähmung bezeichnet werden kann. Es besteht aus einer Ver-
bindung der Sehnenüberpflanzung mit Sehnenverkürzung.
Es sind an der oberen ExtnMiiität sonst schon Sehnenüber-
pflanzungen vorgenommen worden. Dabei handelte es sich fast
stets nur um Ersatz des Ausfalls einer Sehne, eines Muskellheils
oder eines ganzen Muskels; nur einmal waren mehrere Mu.skeln ge-
lähmt, aber es war nur der Ersatz eines Muskels dringend nöthig
und die entsprechende Operation ausgeführt worden. Drobnik, der
den Fall bebandelt hatte, fügte später noch eine zweite Operation
Üobor die operative Bebandlung der Radialislähmung etc. 765
hinzu ^). Ich habe die Fälle in einer eben erschienenen Arbeit 2)
zusammengestellt, auf die ich wohl verweisen darf, und dort auch
eine derartige, von mir selbst vorgenommene Seh'nenüberpflanzung
mitgetheilt. Die Verhältnisse lagen, ausser in dem Falle von
Drobnik, sehr einfach und demnach war 'auch das Verfahren ein
sehr einfaches. Durch eine Verletzung war stets nur eine Sehne
so geschädigt, dass die durchtrennten Enden sich nicht wieder
vereinigen Hessen. Deshalb wurde das periphere Ende der ver-
letzten Sehne in übercorrigirter Stellung an eine Nachbarsehne
angenäht und dadurch ein guter Erfolg erzielt. Bei der Kranken
Drobnik 's war die Sache schon etwas venvickeltcr. Es bestand
in Folge einer essentiellen Kinderlähmung eine theilweise Lähmung
im Radialisgebiet. Ausser den Supinatores und Extensorcs carpi
radiales waren sämtliche anderen vom N. radialis versorgten
Muskeln des Vorderarms und der Hand gelähmt: Es waren dies
der Extensor digitorum communis longus, Extcnsor carpi ulnaris,
Abductores (und Extensor) poUicis. Ausserdem waren die Mm.
interossei gelähmt. Drobnik übertrug die Function des M. ex-
tensor radialis longus auf den M. extensor digitorum communis
longus dadurch, dass er nach Durchschneidung der Sehne des
erstcren deren centralen Theil mit der Sehne des letzteren ver-
nähte, wodurch er die Streckung der Finger erzielte, soweit sie
bei der Lähmung der Mm. interossei überhaupt zu erreichen war,
und überwies mit gutem Erfolge die Aufgabe, den Daumen zu
strecken, einem Theile des M. extensor carpi radialis brevis, in-
dem er den Muskel und die Sehne halbirte und den unten quer
abgeschnittenen centralen Sehnentheil mit der Sehne des Daumen-
streckers vernähte.
Bei weitem verwickelter als in allen diesen Fällen liegen die
Verhältnisse bei der vollständigen Radialislähmung. Dort sind
stets noch einige Muskeln derselben Seite kräftig und in Thätigkeit,
hier auch nicht ein einziger. Drobnik hatte noch zwei Muskeln
derselben Seite, zwei Strecker zur Verfügung, deren Function er
1) Drobnik. Ueber die Behandlung der Kinderlähmung mit Functions-
theilung und Functionsübertragung der Muskeln. Deutsche Zeitschr. f. Ghir.
Bd. 43. S. 273 ff.
2) F. Franke, Functionelle Heilung der Radialislähmung durch Sehnen-
plastik. Mittheilungen aus den Grenzgebieten der Medicin und Chirurgie.
3. Bd. Heft 1. S. 60 und 61.
ArobiT flir klin. Chirurgie. 67. Bd. Heft 4. r^y
766 Dr. F. Franke,
anderen gelähmten Streckern zuweisen konnte. Die Verhältnisse
sind ceteris paribus am Arm auch ungünstiger als am Beine.
Denn an diesem lassen sich manche Beuger und Strecker leichter
mit einander verbinden als an jenem. Zum Beispiel, ist es ein
leichtes, die Function der Waden muskulatur ganz oder thcilweise
auf die Peronei oder den M. tibialis posticus zu übertragen. Der-
artiges ist am Vorderarm fast ganz unmöglich wegen der etwas
anderen Anordnung der Beuge- und Streckmuskeln. Man muss
sich deshalb in anderer Weise zu helfen suchen. Es geschieht
das in der oben von mir angedeuteten und in einem Falle von
Radialislähmung mit gutem Erfolge angewandten Weise. Ich gehe
hier noch einmal genauer auf diese Frage ein, weil ich einige
Punkte noch besprechen möchte, die ich in meiner oben erwähnten
Arbeit garnicht oder nur kurz abgehandelt habe, z. Th. aber noch
garnicht erledigen konnte.
Bei der Radialislähmung haben wir bekanntlich mit einer
der in ihren Folgen schwersten Lähmungen zu thun. Von beson-
derer Bedeutung ist die Lähmung der die Hand- und Finger-
bewegung vermittelnden Strecker. Die betreffenden Kranken
können, da sie die Hand auch nicht eine Spur strecken können,
und in Folge dessen die Beuger, die nur bei Streckstellung der
Hand eine wirksame Thätigkeit auszuüben vennögen, dieser ihrer Auf-
gabe ohnmächtig gegenüber stehen, oft auch nicht den leichtesten
Gegenstand, selbst wenn er ihnen in die Hand gelegt wird, bei
den verschiedenen Stellungen der Hand und des Armes festhalten.
Es muss deshalb das erste Bestreben sein den Fingerbeugern die
Möglichkeit, sich wirksam zusammenzuziehen, zu geben, d. h. der
Hand die Streckfähigkeit zu verschaffen. Diese Absicht
aber lässt sich nicht erreichen durch eine Sehnenüberpflanzung.
Man könnte sich ja versucht fühlen einen der Handbeugemuskeln,
den der Radial- oder der LJlnarseite, diesem Zwecke zu opfern.
Aber bei genauerer Ueberlegung sieht man ein, dass dieses Opfer
ein vergebliches ist. Ich habe diese Einsicht überdies durch die
Erfahrung aus einem derartigen fehlgeschlagenen Versuche ge-
wonnen. Schlägt man nach Ablösung der Sehne eines der Beuger
(am Handgelenk oder in dessen Nähe) diese nach dem Rücken
des Handgelenks herüber und vernäht sie daselbst mit der Sehne
des entsprechenden Streckers der Hand, so kann der Beuger nur
Uebcr die operative Behandlung der Radialislähmung etc. 767
nach dem Gesetze des Parallelogramnjs der Kräfte wirken, d. h. die
Hand wird nicht gestreckt, sondern höchstens wagerecht gehalten
werden können. Treten nun die Hand- und Fingerbeuger in
Thätigkeit, so ist ihre Kraft genügend, die Hand aus dieser wage-
rechten Stellung in die Beugestellung zu führen und — der geplante
Zweck ist also nicht erreicht. Ich hatte in meinem ersten Falle
dem Flexor carpi ulnaris die Aufgabe der Streckung der Hand
zugewiesen durch Vernähung des centralen Theils seiner in der
Nähe des Handgelenks durchtrennten Sehne mit dem Extensor carpi
ulnaris. Der Erfolg war, wie schon angedeutet, ein sehr mangel-
hafter. Das Ergebniss wäre das gleiche gewesen, wenn ich den
Flexor carpi radialis mit dem Extensor carpi radialis verbunden
hätte. Ich kam deshalb auf den einzig richtigen Gedanken, die
Hand mechanisch in Streckstellung zu halten. Dass diese Absicht
sich nicht oder nur wenig genügend durch Apparate erzielen lässt,
ist sattsam bekannt. Das Handgelenk und der zur Verfügung stehende
Theil der Hand bieten nicht genug Angriffsfläche für einen der-
artigen Apparat. Zudem sind solche Apparate doch meist zu
schwer, zu complicirt, zu störend, zu theuer u. s. w. Das ein-
fachste Mittel, derartige Apparate zu ersetzen, ist eine Verkürzung
der Sehne eines oder beider Streckmuskeln der Hand. Wenn ich
zu diesem Zwecke den M. extensor carpi radialis gewählt habe,
so that ich das aus dem Grunde, weil, wenn auch die Hand nach
der Seite des verkürzten Muskels verzogen wird, eine in Adduction
stehende Hand doch leistungsfähiger ist als eine etwa durch Sehnen-
verkürzung des Extensor ulnaris abducirte Hand, üebrigens steht
es ja dem Operateur frei, nachträglich auch noch den Extensor
ulnaris oder im Anfang gleich beide Handstrecker zu verkürzen.
Die Verkürzung geschieht durch Durchtrennung der Sehne und
Vernähen der bei Ueberstreckstellung der Pland übereinander ge-
legten Sehnenenden. Dass die Hand nach dieser Operation die
Beugefähigkeit so gut wie vollkommen für immer verloren hat, ist
freilich ein Nachtheil, aber doch nur ein massiger Nachtheil, der
von dem erzielten Vortheil bei weitem aufgewogen wird.
In zweiter Linie muss man dafür sorgen, dass die Finger
wieder die Fähigkeit, sich zu strecken, erhalten. Für diesen
Zweck eignet sich kein Muskel besser als der Flexor carpi ulnaris.
Denn seine Sehne lässt sich ziemlich bequem nach der Streckseite
51*
768 Dr. F. Franke,
herüber schlafen und dort mit der des Extensor digitorum communis
vereinigen. Ausserdem ist er am ehesten sonst zu entbehren. Die
Ausübung seiner Thätigkeit ist ja durch die mechanische Fest-
stellung der Hand in Streckstellung überflüssig geworden. Ausser-
dem wirkt er trotz seiner neuen Bestimmung immer noch etwas
abducirend und dadurch der starken Adductionsstellung der Hand
entgegen. Die Ueberpflanzung seiner Sehne wird so vorgenommen,
dass sie zuerst dicht an ihrem Ansatz am Handgelenk gelrennt
wird, nachdem sie durch einen etwa 8 cm langen Hautschnitt zu-
gänglich gemacht ist, der mehr nach der Streckseite des Vorder-
arms zu entlang der Ulna geführt ist, bis auf diese eindringend
und deren unteres Ende um 1 — 2 cm überschreitend. Von diesem
Schnitte aus kann man unter Hautverziehung leicht an die Sehne
des Flexor carpi ulnaris einerseits und die des Extensor digitorum
andererseits herankommen. Erstere wird nun über den äusseren
Rand der Ulna und die Sehne des Extensor carpi ulnaris herüber-
geschlagen und, während die Hand in st-arker Streckstcllung von
dem Assistenten gehalten wird, unter starker Spannung an die Sehne
des Extensor digitorum communis angenäht, entweder an die noch
ungetheilte Sehne oder dort, wo sie sich fächerförmig theilt. Sie
sammt dem Muskel in 4 Theile zu theilen und die einzelnen
Sehnenstränge an die 4 Strecksehnen der Finger anzunähen dürfte
wohl eine Künstelei sein, die man besser unterlässt. Denn diese
einzelnen Stränge würden doch bei der massigen Dicke, die sowohl
der Muskelbauch als die Sehne des Flexor carpi ulnaris besitzt, zu
zart werden, als dass man sie ohne Gefahr des Zerreissens der
grossen Spannung, unter der sie vernäht werden müssen, aussetzen
könnte. Unterlässt man aber diese Spannung, so wird das Ergeb-
niss der Sohnenüberpflanzung ein sehr mangelhaftes. Denn der
Flexor ulnaris giebt selbst bei anfänglich sehr starker Spannung
dem starken Zuge der kräftigen Fingerbeuger etwas nach, indem
er sich dehnt, wie ich in meinem Falle nachträglich erfahren musstc.
Die anfangs ganz ausgezeichnete Streckfähigkeit der Finger hat
mit der Zeit wieder etwas nachgelassen. Weiter würde es eine
recht überflüssige Künstelei sein, wenn man, w-oran ich auch im
Anfang gedacht habe, die Sehne des Flexor ulnaris von der Beuge-
seito her durch das Spatium interosseum zwischen Ulna und Radius
lieber die operative Behandlung der Radialislähmung etc. 769
durchstecken und dann mit der Sehne des Fingerstreckers ver-
einigen wollte. Der Erfolg wäre mindestens ein recht zweifelhafter.
Für die Vernähung der beiden Sehnen gebe ich den Rath,
das Ende der Sehne des Flexor ulnaris abzuschrägen und auf die
Sehne des Fingerstreckers aufzunähen. Man vermeidet auf diese
Weise einen scharf abgesetzten Wulst, der dem Gleiten der Sehne
etwas hinderlich sein könnte.
Die active Streckbarkeit des Daumens erzielt man am
besten durch Benutzung des Flexor carpi radialis. Man hat nicht
den ganzen Muskel nöthig, es genügt, die Sehne und den Muskel-
bauch zu halbiren und diesen Sehnentheil an die Sehne des Daumen-
streckers anzunähen, wie ja schon der von Drobnik in seinem
Falle en*eichte schöne Erfolg beweist. Dass auch hier bei der Ver-
einigung der Daumen möglichst gestreckt und der Flexor carpi
radialis möglichst straff gespannt wird, habe ich wohl kaum noch
nöthig hervorzuheben.
Die übrigen Streckmuskeln der Finger, der Indicator
und Extensor digiti minimi, lassen sich, da kein entsprechender
Muskel zur Verfügung steht, nicht ersetzen. Doch besitzen sie
gegenüber den besprochenen Streckmuskeln einen so geringen
practischen Werth, dass ihr Verlust kaum gefühlt wird, und die
Mühe, die man auf ihren Ersatz verwenden wollte, auch nicht in
irgend einem Verhältnisse stände zu dem etwa zu erreichenden
Erfolge.
Wichtiger ist dagegen der Ersatz der in Folge der Lähmung des
M. supinator brevis ausgefallenen Möglichkeit den Vorderarm zu
supiniren, die Iland zu drehen. Denn sie steht fortwährend in Pro-
nationsstcUung, die für manche Zwecke doch hinderlich ist. In meiner
oben erwähnten Abhandlung hatte ich den Gedanken ausgesprochen,
dass es sich vielleicht verlohnen würde, die Sehne des Supinator
brevis ähnlich wie die des Extensor carpi radialis für die Streck-
stellung der Hand, so für die Supinationsstellung der Hand zu
verkürzen und dadurch die Hand in dauernde Supinationsstellung
zu bringen. Ausserdem hatte ich geplant, den Pronator teres vom
Radius abzulösen, um die Pronationsfähigkeit möglichst zu schwächen.
Dass die Ausführung beider Pläne ein nicht unbeträchtliches Uebel
sein würde, habe ich mir nicht verhehlt und darum die entsprechenden
770 Dr. F. Franke,
operativen Eingriffe, z. Th. auch durch äussere Verhältnisse ge-
nöthigt, immer wieder hinausgeschoben. Dass das Uebel aber nicht
einmal ein nothwendiges war, davon habe ich mich überzeugt durch
Versuche mit einer Schiene mit Spiralzug, der oben von der Ulnar-
seite über die Streckseite des Vorderarms nach unten radialwärts
herübergelegt supinirend wirkt. Die Schiene, aus Celluloid gefertigt
und daher sehr leicht, umfasst den untern Theil des Oberarms
und obem Theil des Vorderarms und besitzt ein Gelenk für die
Ellenbogengelenksgegend. Der erwähnte Supinationszug wird be-
wirkt durch eine Stahldrahtspirale, die unterhalb des Olecranon an der
Schiene befestigt ist und dicht oberhalb des Handgelenks auf der
Radialseite an einem festzuschnallenden Armband aus Celluloid
angehakt wird. Die Hand wird nun passiv in Supinationsstellung
gebracht durch diesen Spiralzug, hat aber die Möglichkeit behalten
activ die Pronationsstellung einzunehmen. Zu diesem Zweck darf
man natürlich weder eine zu starke, noch zu schwache Drahtspirale
wählen.
Bezüglich des Nahtmaterials bei der Sehnenvemähung möchte
ich die Bemerkung nicht unterdrücken, dass ich Seide empfehlen
muss, da ich in einem Falle, in dem ich Catgut verwendet hatte,
erlebte, dass in Folge frühzeitiger Resorption nach der ersten Ab-
nahme des Verbandes am 9. Tage die ganze Hautwunde klaffte.
Zwar waren die Sehnen vereinigt geblieben, doch habe ich von da
an zur Sehnennaht nie wieder Catgut benutzt, da ich ja nie die
Gewissheit hatte, ob nicht auch einmal die Sehnennaht zu zeitig
rcsorbirt werden könnte.
Ich bin gefragt worden, ob der überpflanzte Muskel sich bald
seiner neuen Bestimmung anbequemt habe. Diese sehr berechtigte
Frage kann ich dahin beantworten, dass, wie ich und andere
Operateure wissen, merkwürdigerweise die Muskeln der unteren
Extremität nach der Sehnenüberpflanzung sehr schnell, oft schon
nach der ersten Verbandabnahme ihrer neuen Aufgabe entsprechend
arbeiten, und dass das auch der Fall gewesen ist bei der kleinen
Kranken, die ich Ihnen vorgestellt habe. Schon nach der ersten
V^erbandabnahme war bei vorsichtigen activen Streckversuchen der
Finger zu sehen, dass sie gelangen.
Natürlich muss bei der Na(*.hbehandlung das Augenmerk be-
sonders auf eine Uebung der überpflanzten Muskeln gerichtet sein.
Ueber die operative Behandlang der Radialislähmung etc. 771
Diese kräftigen sich durch sorgsame, abgestufte, nur ganz all-
mählich von leichteren zu schwereren übergehende üebungen ganz
ausserordentlich. Was man überhaupt durch solche Üebungen er-
reichen kann, war bis jetzt noch wenig bekannt. Thilo gebührt
das Verdienst^), nachdem er selbst wunderbare Erfolge auf diesem
Gebiete durch seine grosse Beharrlichkeit und Sorgsamkeit erzielt
hat, in zusammenfassender und wissenschaftlicher Weise den Werth
lange fortgesetzter, vorsichtig abgestufter üebungen bei den ver-
schiedensten Lähmungszuständen dargelegt zu haben. Hat er doch
bewiesen, dass durch diese Üebungen scheinbar unheilbare, Jahre
lang bestehende Lähmungen, namentlich solche nach der cerebralen
oder spinalen Kinderlähmung, wieder vollständig beseitigt werden
können.
Ich erlaube mir nun im Folgenden das Wesentliche aus der
Krankengeschichte der einen der beiden vorgestellten Mädchen, bei
dem ich die Operation fast genau in der oben von mir vorge-
schlagenen Weise ausgeführt habe, zu erwähnen:
Hildegard Jensen, acht Jahre alt, erblich nicht belastet, hat nach
einer im 2. Lebensjahre durchgemachten, fieberhaften, aber kurz anhaltenden
Erkrankung eine Lähmung fast der gesammten Armmusculatur rochterseits
zurückbehalten, die trotz aller möglichen therapeutischen Bemühungen bis
jetzt sich nicht gebessert hat.
Bei dem mittelkräftigen, geistig normal entwickelten, auch sonst ge-
sunden Mädchen sieht man auf den ersten Blick, dass der rechte Arm sammt
Schulter, aber abgesehen von der Hand, die an Aussehen und Grösse an-
nähernd der linken gleicht, sehr atrophisch ist. Das ganze Glied ist aber
nicht blos bedeutend magerer, sondern auch kurzer als das linke. Es hängt
schlaff herab mit solcher Innendrehung, dass der Handrücken gegen den
Oberschenkel sieht. Active Bewegungen in der Schulter und im Ellenbogen-
gelenk sind unmöglich, passive dagegen sehr ausgiebig auszuführen, das
Schulterblatt kann nur wenig nach oben und vorn gezogen werden. Die Hand
zeigt die typischen Erscheinungen der Radialislähmung: Unmöglichkeit activ
die Hand (und die erste Phalanx der Finger) zu strecken, sie zu supiniren
und kräftig adduciren; der ulnare Beuger der Hand ist kräftiger als der radiale:
bei Beugungsversuchen wird die Hand ulnarwärts verzogen, die Endphalangen
der Finger können gestreckt werden, ebenso mit massiger Kraft der Daumen.
Bei erhobenem Arm hängt die Hand schlaff herab, eine Contractur besteht
nicht. Die Hand steht in Pronationsstellung.
Streckt man die Hand passiv, so kann das Kind mit einiger Kraft die
Finger beugen und nicht zu schwere Gegenstände fest halten, unterlässt man
*) Thilo, Hebungen. Volk ra an n's klin. Vorträge. Neue Folge. No. 176.
772 Dr. P. F^ranke,
diese passive Streckung, so kann nicht einmal ein Bleistift gefasst und fest*
gehalten werden.
Die Haut hat normale Farbe. Gefühlsstörangen sind nicht vorhanden.
Sehnenreflexe fehlen. Die elektrische EiTcgbarkeit ist nur bei den Hand- und
Fingerbeugern normal erhalten, bei allen andern Muskeln des ganzen Armes
erloschen.
Das Kind, welches ohne jeden Erfolg schon vielen Aerzten, auch an-
erkannten chirurgischen Autoritäten zugeführt worden war, trug, als es zu
mir kam, einen Apparat, der die Einwärtsdrehung des Arms verhindern sollte,
dies aber nur höchst mangelhaft that, dagegen das Kind durch seine Schwere
und durch den zu seinem Halt um den Brustkorb laufenden Gurt sehr be-
lästigte.
Das Hauptziel der Behandlung war in erster Linie die Brauchbarmachung
der Hand. Ich erreichte es durch die im Vorhergehenden beschriebenen Ein-
grilTe.
Am 27. Juli 1897 nahm ich die Verkürzung der Sehne des Extensor
carpi radialis longus vor. Darauf durchschnitt ich nach äusserem, vom Proc.
styloideus ulnae etwa 9 cm weit nach aufwärts gehenden und bis auf die
Ulna dringenden Längsschnitt die Sehne des Extensor und Flexor carpi olnaris,
erstere, um für diese gewissermassen eine Rinne zu schaffen, und nähte nun
das centrale Ende der Beugesehne, nachdem ich diese nach dem Handrücken
zu herübergeführt hatte, an die Sehne des Extensor digitorum communis an,
dort wo sie sich fächerförmig theilt, indem ich es dabei breit für die einzelnen
Fächertheile verzog. Selbstverständlich zog ich den Flexor ulnaris stark an
und Hess die Hand in starker Streckstellung halten. Da der Daumen, wenn
auch schwach, gestreckt werden konnte, nahm ich an ihm keine Operation vor.
Gyps verband.
Nach Abnahme desselben am 10. August war Heilung per primam er-
folgt. Das Kind konnte die Finger activ vollständig strecken und beugen; die
Hand stand in radialwärts gestreckter Stellung.
Es wurde kein neuer Verband angelegt, sondern sofort mit vorsichtigen
Uebungcn, Massage und Elektrisiren begonnen.
Am 16. August nahm ich noch von einem oberen Querschnitt aus die
Arthrodese des Schultergelenks vor, um die Einwärtsdrehung des Arms zu
verhindern und dem Arme die, wenn auch nur schwachen Bewegungen des
Schulterblatts zu übermitteln. Nach Entfernung der Kapsel und der ober-
flächlichen Knorpelschicht an Kopf und Pfanne des Gelenks nähte ich den
Kopf mit zwei Silberdrähten an das Akromion an und nagelte ihn von der
Seite her mit einem Stahlnagel an die Pfanne fest an. Gypsverband bei Ab-
ductionsstellung des Arms mit leichter Richtung nach vorne.
Die Heilung erfolgte nur langsam, wenn ich darunter das Festwachsen
in der Pfanne verstehen soll.
In der Folge erlitt der Flexor carpi ulnaris sowie der Extensor carpi
radialis eine leichte Verlängerung, offenbar durch Dehnung, sodass, zumal da
auch wegen mehrmonatlicher schwerer Erkrankung der Mutter, die schon
üeber die operative Behandlung der Radialislähmung etc. 773
längere Zeit die Uebungen controlirt hatte, diese nicht mehr vorgenommen
worden waren, die active Streckfähigkeit der Finger etwas verloren hat.
Der Zustand ist trotz alledem jetzt ein verhältnissmässig sehr günstiger,
wie die Herren selbst sehen konnten.
Das Kind kann jetzt den Arm ein wenig nach vorn und seitwärts heben,
es kann die Finger activ bis über die Horizontale hinaus mit einiger Kraft
strecken, kann aber auch die Hand, die bis etwas unter die Horizontale ge-
beugt werden kann, wieder zurück strecken. Diese Streckung der Hand scheint
mit vom überpflanzten Flexor ulnaris besorgt zu werden. Natürlich kann das
Kind jetzt nicht allzu schwere Gegenstände greifen und festhalten und kann
überhaupt eine Menge von Leistungen verrichten, an die früher nicht zu denken
war. Das Kind hat sogar gelernt, sich Brust, Hals und linke Schulter zu
waschen; zu diesem Zwecke wirft es mit einem Ruck des Körpers und der
rechten Schulter den im Ellenbogengelenk ja schlotternden Arm nach der
linken Seite hinüber und beugt sich dann etwas zurück.
Die Untersuchung mit dem faradiscben Apparat ergiebt nach wie vor
das Fehlen jeder Erregbarkeit der gesammten Streckmusculatur und des N.
radialis.
Im Hinblick nun auf diesen schönen Erfolg der operativen
Behandlung der Radialislähmung kann ich mit Recht behaupten,
es giebt keine unheilbare Radialislähmung mehr, so lange
wenigstens nicht der N. raedianus bezw. ulnaris gelähmt ist. Die
Radialislähmung ist operativ, wenigstens in functioneller Beziehung,
heilbar.
Es gilt das natürlich für jede Radialislähmung, mag sie spi-
naler oder cerebraler, mag sie neuritischer Art, durch Verletzung
entstanden sein u. s. w.
Dieser Erfolg muss nun aber ein Sporn sein, die Sehnenüber-
pflanzung in noch ausgedehnterem Maasse nicht nur bei Lähmungen
der unteren, sondern gerade auch der oberen Gliedmaassen anzu-
wenden. Es ist ja keine Frage, dass die Lösung der Frage nach
der functionelten Heilung der Radialislähraung ohne den glück-
lichen Kunstgriff der Sehnen Verkürzung noch ihrer practischen Er-
ledigung harren würde, aber eben so wenig zweifelhaft ist es, dass
die vollständige Lösung jener Aufgabe erst durch das Verfahren
der Sehnenverpflanzung ermöglicht ist.
und meine Mittheilung hat in der Hauptsache den Zweck,
die Herren Collegen zum Nachdenken anzuregen, ob man in diesem
oder jenem Falle, in dem man mit der nun schon bekannt ge-
wordenen Sehenüberpflanzung allein nicht zum Ziele gelangt, davS
774 Dr. F. Pranke,
erstrebenswerthe Ziel nicht vielleicht durch ein corabinirtes Ver-
fahren erreichen könne.
Dass die Sehnenüberpflanzung sich aber nicht allein auf das
Gebiet der einfachen Lähnaungen oder der gewöhnlichen paralyti-
schen Contracturen bisher beschränkt hat, sondern auch schon
auf Nachbargebiete übergegriffen hat, kann ich zeigen an einem
Falle von spastisch-paretischera Klunnpfuss, bei dem es sich
weniger um Lähmungszustände, als vielmehr um schwere Spasmen
handelte.
Der betr. Kranke, ein Knabe Karl Tackmann aus Mecklen-
burg, 9 Jahre alt, hatte sein Leiden, einen rechtsseitigen Klurap-
fuss, seit seiner ersten Kindheit. Die Untersuchung ergab kurz
gefasst vollständige Unversehrtheit der Beugemuskeln bezüglich
ihrer Kraft, aber starke Spasmen in denselben, ferner Parese der
Zehenstrecker und der Peronei. Beide letzteren reagirten schwach
auf den faradischen Strom, die ersteren sehr lebhaft. Ausserdem
litt der Knabe an athetotischen Bewegungen der rechten Hand,
die aber sehr unbestimmt und ungleichmässig waren, sodass ich
es ablehnen musste, operativ gegen sie einzuschreiten.
An dem Fusse glaubte ich durch Verlängerung der Achilles-
sehne in der von Bayer angegebenen Weise mittels eines Zick-
zackschnitts und Ucberpflanzung eines Theils der Sehne auf die
Pcroneussehne einen gewissen Erfolg erzielen zu können. Durch
eine sehr ausgiebige Verlängerung der Achillessehne sollte nicht
nur die Tesequinus-Stellung bequem beseitigt werden, sondern
wollte ich auch die Spannung im Muskel herabsetzen und damil
dessen Reizbarkeit bezw. dessen Fähigkeit, sich auf irgend welche
Reize hin noch stark zu verkürzen. Der Erfolg des am 11. Nov.
V. J. gemachten Eingriffs war nur ein theilweiser. Die Klump-
fussstellung war zwar beseitigt und blieb auch beseitigt, nachdem
der Knabe, vom Gypsverband befreit, Gehversuche gemacht hatte,
aber es blieben immer noch Spasmen der Zehen zurück, die beim
Gehen sehr hinderlich waren. Deshalb nahm ich am 2. Dec. die
Tcnotomie der Sehne des Flcxor digitorum longus vor. Doch auch
nach diesem Eingriff blieben die Beugerspasmen der Zehen zurück,
ein anfangs mich einigermaassen verblüffender Umstand. Da er-
innerte ich mich, dass ziemlich oft eine Verbindung der Sehne
des Flexor hallucis longus mit der des Flexor digitorum longus
Ueber die operative Behandluiig der Radialislähmang etc. 775
in der Fusssohle bestehen soll, und hatte nun den Verdacht, dass
vielleicht Spasmen ira ersteren Muskel sich durch diese Verbindung
auf letzteren übertrügen. Mein Verdacht wurde gerechtfertigt durch
die Beobachtung, dass, als ich an der Sehne des Flexor hallucis
nach ihrer Freilegung hinter dem inneren Knöchel einen Zug aus-
übte, sich säramtliche Zehen beugten, und vollständig bestätigt
durch die Thatsache, dass nach Durchtrennung der Sehne die
Spasmen in den Zehen auch nach erfolgter Heilung fast ganz ge-
schwunden waren. Dann aber zeigte sich auf einmal wieder, dass
durch Ueberpflanzung der Achillessehne auf die Peroneussehne des
Guten zu viel erreicht war: der Fuss stand in zu starker Ab-
ductionsstellung, bei der es sich zugleich um leichte Spasmen zu
zu handeln schien. Nachdem am 23. Dec. noch die Tenotomie
der Peroneussehne ausgeführt und der Fuss in corrigirter Stellung
eingegypst war, wurde endlich ein Ergebniss erzielt, das mich
einigermassen, den Vater des Knaben dagegen sehr befriedigte.
Als der Knabe am 9. Januar auf Wunsch des Vaters entlassen
wurde, stand der Fuss in normaler Stellung; der Gang war be-
deutend gebessert, immerhin bestanden noch, wenn auch ganz
leichte Spasmen in den Zehen. Diese Gewirkten, dass das Ab-
wickeln der Fussohle vom Boden zuletzt mit einem leisen Ruck
geschah. Weitere Eingriffe wünschte der Vater des Knaben nicht,
deshalb konnte diese noch bestehende leichte Störung nicht be-
seitigt werden. Vor der Entlassung des Knaben wurde noch ein
Gehgypsverband angelegt.
In dem eben beschriebenen Falle gebührt nun zwar der Sehnen-
überpflanzung nicht das Hauptverdienst an der erreichten Besserung,
aber er lässt doch erkennen, was die Sehnenüberpflanzung in Ver-
bindung mit anderen Methoden, hier der Sehnenverlängerung bezw.
der Sehncndurchschneidung, zu leisten vermiig. Der Knabe war
früher auch von einer Autorität auf dem Gebiete der Chirurgie
untersucht, aber als nicht besserungsfähig abgewiesen worden.
Noch erstaunlicher als in diesem und ähnlichen Fällen ist der
Erfolg, dessen neuerdings Eulenburg durch Sonnenburg an
einem Kinde sich erfreuen konnte i), das an der Diplegia spastica
1) Eulenburg, Zur Therapie der KinderläbmuDgen. SelmenüberpflaD-
zung in einem Falle von spastischer Paraplegie. Deutsche med. Wochcnschr.
7. April 1898.
776 Dr. F. Franke,
infantilis (Little'sche Krankheit) litt. Die eigenthümlichen, con-
tracturähnlicben Zwangsstellungen, durch die sich diese Krankheit
in einer die Kranken ausserordentlich belästigenden Weise aus-
zeichnet, die in vorliegendem Falle das Gehen so gut wie unmöglich
machten, wurden durch die mittels der Methode der Sehnenüber-
pflanzung bewirkten Functionstheilung und Functionsübertragung
der Muskeln so günstig beeinflusst, dass das Gehen wieder er-
möglicht wurde. Die Einzelheiten der Technik, die in diesem
Falle angewandt wurde, sowie die beraerkenswerthen Ausführungen
und Erörterungen, die Eulen bürg an den Bericht über seinen
Fall anschliesst, verdienen im Original nachgelesen zu werden. Ich
erlaube mir daher, die Herren CoUegen auf die Leetüre desselben
zu verweisen.
Es freut mich aber, feststellen zu können, dass Eulen bürg
zu ganz denselben Schlussfolgerungen gelangt ist, die ich schon
früher aus meinen Erfahrungen gezogen habe, die mich ja auch
bewogen haben, den von mir operirten Knaben in Behandlung zu
nehmen.
Eulen bürg ist wie ich der nun wohl begründeten Meinung,
dass die bei paralytischen Deformitäten bewährte Sehnenüber-
pflanzung sich auch für die Behandlung der spastischen (zunächst)
Fussdeformitäten eignen wird. So ist es gar nicht unwahrschein-
lich, dass manchem Hemiplegiker, der an theilweisen Lähmungen,
an Contracturen oder Spasmen leidet, unter Benutzung der Sehnen-
überpflanzung, evont. in Verbindung mit Sehnendurchschneidung,
Sehnenverlängerung und Sehnenverkürzung noch häufig ein recht
erlieblicher Nutzen geleistet werden kann. Gerade durch die Ver-
bindung der erwähnten Operationsverfahren lässt sich, wie ich durch
meine Behandlung der Radialislähraung bewiesen zu haben glaube,
noch manches erreichen, was zu erzielen eins der Verfahren allein
nicht erlaubt. Ich habe den Wunsch und die Ansicht Eulenburg's
am Ende seines Aufsatzes, dass man die Sehnenüberpflanzung auch
in schweren, veralteten und aussichtslos erscheinenden Fällen peri-
pherischer Partiallähmungen z. B. einzelner Arranervenstämme ver-
suchen solle, schon verwirklicht, ja ich glaube, durch mein com-
binirtes Verfahren bereits überholt, wenn ich so sagen darf.
Ich bin am Schlüsse meiner Ausführunfi:cn. Wenn ich da.s
ßewusstsein haben darf, dass meine vorjährige Mittheilung und
Ueber die operative Behandlung der Radialislähmung etc. 777
Demonstration diesen und jenen der Herren CoUegen angeregt hat,
in einem geeigneten Falle die Methode der Sehnen Überpflanzung
zu versuchen, so würde es mir grosse Befriedigung gewähren, wenn
mein diesjähriger Bericht zur weiteren Verbreitung der Methode
beitrüge und den Herren die Ueberzeugung verschaffte, dass das
Verfahren berufen ist, namentlich auch in Verbindung mit anderen
Methoden gewisse Gebiete von Nerven- und Muskelleiden der
operativen Chirurgie zum Nutzen der leidenden Menschheit zu er-
schliessen.
LI.
Der erworbene Hochstand der Scapula.'^
Von
Professor Dr. Tli. KSIIlker
in Leipzig.
M. IL! Während bis jetzt schon etwa 20 Fälle von an-
geborenem Hochstand des Schulterblattes bekannt sind — ich
selbst habe drei Fälle beobachtet und beschrieben und den einen
mit Resec^tion äes oberen, inneren Schulterblattwinkels behandelt —
ist mir aus der Literatur kein Fall von erworbenem Hochstand
des Schulterblattes zur Kenntniss gekommen. Ich sehe dabei
natürlich von dem höheren Stand der einen Scapula bei oberen
Dorsal- und bei Cervicodorsalskoliosen ab.
Nun war ich kürzlich in der Lage, einen Fall von erworbenem
Ilochstand des Schulterblattes zu behandeln und besitze zugleich
ein Präparat, das geeignet ist, über die anatomischen Verhältnisse
dieser Deformität Aufschluss zu geben. Das Präparat stammt
von einer 57 Jahre alten schwer rachitischen Frau; meine Patientin
ist ein Mädchen von 14 Jahren, das die Deformität erst nach dem
sechsten Lebensjahre erworben hat.
Der erworbene Ilochstand des Schulterblattes, der einseitig,
aber auch doppelseitig beobachtet wird, ist eine rachitische De-
formität und besteht in einer Umkrümmung des Schulterblattes
nach vorn, verbunden mit Verlängerung und Verbreiterung des
Rabenschnabelfortsatzes und ;Venderung der Stellung der Gelenk-
1) Vorgetragen am 4. Sitzungstage des XXVII. Congresses der Deutschen
Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 16. April 1898.
Der erworbene Hoch stand der Soapula. 779
pfannc, die mehr nach vorn hin gerichtet ist. An denn vor-
liegenden Präparate sieht man sowohl die Krümmung des Schulter-
blattes, als auch die Veränderungen, die die Pfanne und der
Rabenschnabelfortsatz erlitten hat, dieser ist verbreitert und stark
in die Länge gezogen.
Die klinischen Erscheinungen der Deformität sind folgende:
Die Scapula steht abnorm hoch, der untere Schultcrblatt-
winkel steht stark ab, die Schulter ist nach vorn, innen und be-
sonders nach unten gesunken, der laterale Cucullarisrand springt
stark vor, die untere Halsgegend ist verbreitert, die Supraclavicular-
grube vertieft, — ist die Deformität doppelseitig, dann erscheint
die ganze Brust tief eingesunken, während die sternalen Enden
der Claviculae stark vorspringen — , der Rabenschnabelfortsatz lässt
sich als breiter, langer Knochen leicht abtasten, der obere, innere
Schulterblattwinkel steht hart oberhalb des Schlüsselbeines.
Störung der Function besteht in so fern, als der Arm im
Schultergelenke nur bis zur Horizontalen erhoben werden kann.
Was die Behandlung anbelangt, so ist bei leichtern Fällen
ein Apparat zu empfehlen, der das Schulterblatt durch elastische
Züge nach hinten und unten zieht. Bei schwereren Fällen ist der
Apparat-Behandlung die Resection des Processus coracoideus vor-
auszuschicken.
LH.
lieber die Beseitigung von Gebärmutter-
blutungen durch die locale Anwendung des
Dampfes (Vaporisation nach Sneguireff).')
Von
Dr. Diihrssen
in Berlin.
M. H.! Indem ich Sie an den denkwürdigen Vortrag von
Herrn v. Esmarch auf dem 25. Congress unserer Gesellschaft
„Ueber künstliche Blutleere'* erinnere, erbitte ich mir Ihre Auf-
merksamkeit für eine Methode, welche ebenfalls bezweckt, kranken
Frauen Blut zu sparen, — zwar nicht bei Gelegenheit von
Operationen, sondern bei den menstruellen Blutungen, die so oft
ins Pathologische übergehend, die Gesundheit der Frau untergraben,
ja sogar den vorzeitigen Tod herbeiführen können. Diese Methode
ist die locale Anwendung des Dampfes, die Vaporisation nach
Sneguireff. Die Anregung zu seiner ersten Publication gab
Sneguireff ein chirurgischer Fall im engeren Sinne, nämlich eine
Leberblutung bei Exstirpation eines Ecchinococcussackes, die schwer
zu stillen war. Die auf Grund dieses Falles von Sneguireff aus-
geführten Thiercxperimente ergaben, dass man unter Beihülfe des
Dampfes beliebig grosse Stücke der Leber ohne den geringsten
Blutverlust reseciren und ferner die Blutung aus der durchschnit-
tenen A. femoralis des Hundes durch Vaporisation stillen kann.
Ich habe diese Experimente an 2 Kaninchen wiederholt. Sie sehen
hier das von mir rosecirte Stück der Leber und hier die später
herausgenommene Leber, deren starke Blutung durch Vaporisation
1) Abgekürzt vorgetragen am 4. Sitzungstage des XXVII. Congresses der
Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 16. April 1898.
lieber die Beseitigung von Gebärmutterbliitimgen etc. 781
beseitigt wurde. Bei der späteren Section fand sich kein Tropfen
Blut in der Bauchhöhle. Auch zeige ich Ihnen hier noch 2 Prä-
parate von Femoral arterien, bei denen die Blutung aus der durch-
resp. angeschnittenen Arterie des Kaninchens durch Vaporisation
gestillt wurde.
Der hierzu benutzte Apparat ist ein sehr einfacher. Er be-
steht aus einem Spirituskocher, welcher durch einen Schlauch mit
einem dünnen Metallrohr in Verbindung steht. Bei der uterinen
Vaporisation wird dieses Rohr, sobald der Dampf aus demselben
ausströmt, in einen vorher in den Uterus eingeführten gefensterten
Katheter eingeschoben. Den im Oervix liegenden Abschnitt des
Katheters umgebe ich mit einem schlechten Wärmeleiter, einem
Drainrohr, um den Gervix vor jeder Einwirkung des heissen
Katheterrohrs zu bewahren. Sie sehen hier einen aus anderen
Gründen vaginal exstirpirten Uterus, den ich vorher experimenti
causa vaporisirt habe. Während die Corpushöhle gleichmässig ver-
schorft ist, sieht man, dass die Cervixschleimhaut in Folge des
überzogenen Drains keine Spur der Hitzewirkung zeigt. Der
von mir benutzte Apparat ist ein Originalappara't von Sneguireff,
doch zeige ich Ihnen hier einen von Pincus construirten uud von
dem medicinischen Waarenhaus gelieferten Apparat, welcher durch-
aus zweckentsprechend construirt ist.
Um die Wirksamkeit des Verfahrens zu erproben, wandte
ich dasselbe zunächst in 2 ganz verzweifelten Fällen an, die mir
zur Vornahme der Totalexstirpation zugeschickt waren. In dem
einen Falle handelte es sich um eine 37jährige Bluterin, die durch
langjährige, profuse Menstruationen ausserordentlich heruntergekom-
men war. Patientin konnte vor Schwäche nicht mehr gehen, der
Puls war kaum zu fühlen. Unter diesen Umständen war die Pro-
gnose der scheinbar unumgänglich nothwendigen Totalexstirpation
eine sehr schlechte.
Versuchsweise nahm ich daher am 23. October 1897 bei der
Patientin eine Vaporisation von 2 Minuten Dauer vor, wodurch die
Blutung sofort gestillt und 9 Tage später ein röhrenförmiges, 9 cm
langes Gebilde ausgestossen wurde. Die mikroskopische Unter-
suchung desselben ergab, dass es sich um die necrotische Uterus-
schleimhaut nebst den angrenzenden Partien der üterusmusculatur
handelte.
Archiv fHr kliii. CLirargie. 57. Bd. Heft 4. ^9
782 Dr. Dührssen,
Mit diesem Befund, den weder Sneguireff, noch die anderen
Autoren erwähnen, die über Vaporisation berichtet haben, war für
mich die sichere patliologisch-anatomische Basis gewonnen, um die
Erfolge des Verfahrens beurtheilen zu können: Nachdem die
ganze Utcrusschleimhaut exfoliirt war, musste es noth-
wcndiger Weise zu einer Verwachsung der ganzen üterus-
höhle kommen. So geschah es auch! H Tage später hatte die
Patientin noch eine Blutung, die durch eine Vaporisation von
IV2 Minuten Dauer beseitigt wurde. Seitdem erfolgte keine Blu-
tung mehr, es trat eine völlige Obliteration der Uterushöhle
und Atrophie des Uterus ein. In Folge der 6 monatlichen Cessatio
mensium ist die Patientin mittlerweile schon zu einem lebensfrohen
Individuum wieder herangeblüht.
Bei der Kürze der Zeit will ich auf den zweiten und einen
dritten, nicht ganz so schweren Fall nicht näher eingehen. Jeden-
falls beweisen diese Fälle, dass man es in Folge der durch die
Vaporisation erzeugten Exfoliation der Uterusschleimhaut in der
Hand hat, ohne Narkose, ohne operativen Eingriff, ohne
der Patientin Schmerzen zu machen — denn das Verfahren
ist nur sehr wenig schmerzhaft — lebensgefährliche uterine
Blutungen zu heilen und hierdurch den Patientinnen grosse,
unter diesen Umständen bei der Anämie lebensgefährliche Eingriffe,
wie die Uterusexstirpation, zu ersparen.
Das Verfahren ist natürlich ausgeschlossen bei malignen Neu-
bildungen, bei Retention von Eiresten; in diesen Fällen ist der
Uterus mit Laminaria zu dilatircn, auszutasten und eventuell behufs
mikroskopischer Untersuchung zu curettiren. Die Dilatation ist
sowieso für die Einführung des mit dem Drain überzogenen Kathe-
ters noth wendig. Contraindicirt ist ferner jugendliches Alter. So-
mit findet das Verfahren seine Anwendung bei den er-
schöpfenden Blutungen der 40ger Lebensjahre, die durch
Metritis chronica mit oder ohne gleichz eitige Wuche-
rung der Körperschleimhaut, durch abnorme Brüchigkeit
der Uterusgefässe, durch interstitielle Myome bedingt
sind. Diese pathologischen Blutungen werden von den meisten
Frauen gleichmüthig bis zur völligen Erschöpfung ertragen, weil der
unglückselige Glaube, auch bei vielen Aerzten, besteht, dass diese
Blutungen regelmässige Begleiterscheinungen der Wechseljahre sind.
Ueber die Beseitigung von Gebärmutierblutungen etc. 783
Einen Fall möchte ich noch kurz deswegen anführen, weil in
ihm die Blutungen durch ein apfelgrosses interstitielles Myom er-
zeugt waren. Es handelte sich um eine 47jährige Nullipara, bei
welcher ich Ostern 97 die stark gewucherte Uterusschlcimhaut
durch Curettement entfernt hatte. Hierdurch wurde aber die
Stärke der Blutung nur vorübergehend herabgesetzt, besonders Weiii-
nachten 97 trat die Menstruation wieder ausserordentlich stark ein
und dauerte, als ich die Patientin zum ersten Male wiedersah,
bereits 25 Tage. Die Patientin war ausserordentlich hinfällig, ihr
Puls nur zeitweise ganz schwach zu fühlen.
Am 20. Jan. 98 vaporisirte ich die Patientin 1 Minute lang,
wodurch die Blutung sofort stand und erst am 30. März 98 in
Form einer ganz schwachen und nur Itägigen Menstruation wieder
auftrat. Patientin hat sich ganz ausserordentlich wieder erholt.
Dieser Fall bildet schon den Uebergang zu denjenigen Fällen,
wo man zwar abnorme Uterusblutungen beseitigen, aber keine Ver-
ödung der Uterushöhle herbeiführen will — , Fälle also, in denen
es sich um jugendliche Individuen handelt. In diesen Fällen halte
ich eine Vaporisation über V4 Minute Dauer für zu lang. Ich sah
nämlich nach Vaporisationen von nur Y2 Minute Dauer mehrmonat-
liche Amenorrhoe eintreten — , ein Beweis, dass die Einwirkung
in diesen Fällen eine zu energische gewesen war.
Bei der Harmlosigkeit der ganzen Procedur wird man leicht
verleitet, die Vaporisation länger auszudehnen. Ich kann ferner
nur dringend davon abrathen, sie, wie Sneguireff es empfiehlt,
schon nach 4 Tagen zu wiederholen, vielmehr warte man den
Verlauf der nächsten Menstruation ab. — In einigen Fällen sah ich
beginnende Stenosen, die durch Dilatation rasch beseitigt wurden.
Sie waren bedingt durch die zu starke Einwirkung des erhitzten
Katheterrohrs auf die Cervicalschleimhaut und lassen sich in der
schon geschilderten Weise leicht verhüten.
Zum Schluss erwähne ich noch, dass die Vaporisation an-
scheinend mit Erfolg auch bei Puerperalfieber, speciell der
septischen und putriden Endometritis angewandt worden ist. Sie
scheint mir auch bei der Behandlung der acuten Uterusgonor-
rhoe, als sicherstes Abtödtungsmittel der Gonokokken, Erfolge zu
versprechen.
So kann ich nach meinen Erfahrungen die Vaporisation als
52*
784 Dr. Dübrssen, Uober die Beseitigung von Gebärmutterblutungen etc.
ein sicheres blutstillendes Mittel bezeichnen, welches unter Beob-
achtung der raitgetheilten Cautelen frei von Nachtheilen ist und
mir berufen scheint, die operative Behandlung lebensgefähr-
licher, uteriner Blutungen, speciell der durch Myome
erzeugten Blutungen, bedeutend einzuschränken! In dem
berichteten Falle von Myom habe ich eine deutliche Verkleinerung
nicht nur des Uterus, sondern auch des Myoms constatiren können,
so dass Tiiöglicher Weise die Vaporisation bei Myomen nicht nur
eine palliative Behandlungsmethode, sondern auch eine radicale
dadurch darstellt, dass sie in Folge der erzeugten Amenorrhoe zu
einer Schrumpfung kleinerer interstitieller Myome führt.
Ich glaube daher, die Vaporisation als eine wirkliche Berei-
cherung der gynäkologischen Therapie warm empfehlen zu können.
LIII.
Beiträge zur Serumtherapie bei Diphtherie/)
Von
Dr. Riese
in Britz bei Berlin.
M. H.! Wenn ich mir ci^aube, nach dem Vortrage des Herrn
Kroenlein das Wort über die Serum therapie zu ergreifen, so ge-
schieht es deshalb, weil es hier, wie ich aus persönlicher Erfahrung
weiss, und wie auch die Durchsicht der Literatur zeigt, immer
noch eine grössere Zahl von Aerzten giebt, die sich den Er-
folgen der Serumtherapie gegenüber ganz skeptisch verhalten und
behaupten, ohne dieselbe könnten die Erfolge ebenso gute, wenn
nicht bessere sein, falls man nur die Behandlung frühzeitig be-
ginne und nach richtigen Principien leite. Schriftstellerisch ist
für diese Ansicht namentlich Hennig (Königsberg) eingetreten,
der mit seiner Behandlungsmethode, die hauptsächlich in Anti-
phlogose und Medication von Ferrum sesquichloratum und Jodkali,
sowie der Benutzung von Gargarismen mit Kalkwasser besteht,
unter fast 2000 Fällen von Diphtherie nur 3 pUt. Todesfälle ge-
habt habe. Das ist allerdings ein fabelhaftes Resultat, nach dem
die Diphtherie aus der Zahl der besonders gefährlichen Infections-
krankheiten überhaupt zu streichen wäre, nur kann der nü(5htorne
Beobachter ein gewisses Misstrauen gegen eine solche Zahl nicht
ganz überwinden, zumal genauere Belege für dieselbe fehlen. Und
doch sind wir zur evidenten Nachweisung der Nützlichkeit der
*) Dieser für den Congress aügemeldete Vortrag konnte wegen Mangel an
Zeit nicht erledigt werden.
786 Dr. Riese,
Senimbehandlung an die Statistiken gebunden; ich möchte aber
der Meinung Ausdruck geben, dass, wenn man diesen Standpunkt
als richtig anerkennt, nur die Statistiken einen entscheidenden
Werth haben, die aus der bakteriologischen und klinischen Beob-
achtung gewonnen werden, vor allem die Statistiken aus Kranken-
häusern, in denen möglichst jeder Fall bakteriologisch untersucht
wird. Derartige Statistiken bestehen nun in grösserer Anzahl und
ergeben als kaum noch bestreitbares Resultat, dass sich die all-
gemeine Sterblichkeit bei Diphtherie durch die Serumbehandlung
sehr beträchtlich vermindert hat; dass auch zweifellos schwere
Fälle von Diphtherie nach der Seruminjection leichter verlaufen,
als wir es früher bei anderen Behandlungsmethoden zu sehen ge-
wohnt waren, dass die Beläge sich rascher abstossen, und dass
Tracheotomien seltener noth wendig werden und einen sehr viel
günstigeren Verlauf nehmen, als früher. Ich glaube, dass Jeder,
der sich mit der Serumtherapie der Diphtherie eingehender be-
schäftigt hat, eine günstige Wirkung derselben unmöglich mehr
ableugnen kann. Immerhin scheint aber, auch aus den Statistiken
hervorzugehen, dass die ganz schweren septischen Fälle von Diph-
therie auch durch das Serum nur zu einem geringen Bruchtheil
zu retten gewesen sind, und gerade dieser Punkt verleiht immer
noch den Gegnern der Serumtherapie den Muth, auf ihrer Opposi-
tion zu beharren. Ich glaube daher, dass wir jetzt besonders die
Frage zu entscheiden suchen müssen, ob das Serum nur bei den
reinen Diphtheriefällen, d. h. den Fällen von Bretonneau'scher
Krankheit, die lediglich durch die Löffler'schen Bacillen hervor-
gerufen sind, seine Wirkung entfaltet, oder ob auch die schweren
septischen Fälle von Diphtherie durch das Serum günstig beein-
(lusst werden, die durch eine Mischinfection mit Diphtheriebacillen
und Streptokokken zu Stande kommen. Weiterhin muss entschie-
den werden, ob Fälle von ganz besonders schwerer Diphtherie,
bei denen sich bakteriologisch zwar nur Löfflerbacillen nach-
weisen lassen, die aber wohl infolge besonders starker Giftigkeit
der wirksamen Toxine bisher trotz Serumbehandlung meist tödt-
liöhen Ausgang hatten, etwa durch Verstärkung der Serumdosen
zum grössten Theile gerettet werden können. Schliesslich muss
noch genau präcisirt werden, wie lange wir mit der Injection
warten können, ohne dass der günstige Erfolg derselben aufge-
Beiträge zur Serumtherapie bei Diphtherie. 787
hoben wird, da in der Praxis die Forderung, am ersten Tage zu
spritzen, sich selten erfüllen lässt.
Die Annahme, die von Seiten der Bakteriologen gemacht und
deren Richtigkeit durch Experimente zu erhärten gesucht worden
ist, dass die Virulenz der Streptokokken durch die gleichzeitige
Anwesenheit von Diphtheriebacillen erhöht, und dass durch Ver-
nichtung der Toxine der letzteren auch die Virulenz der ersteren,
herabgesetzt wird, ist wohl noch nicht als thatsächlich richtig
sicher bewiesen. Wäre sie es, so müsste theoretisch die Ileil-
seruminjection auch die durch die vereinte Wirkung beider Mi-
krobenarten hervorgerufenen schweren Fälle von Diphtherie zu
heilen im Stande sein. Bevor diese Frage theoretisch sicher ent-
schieden ist, können wir sie klinisch zu entscheiden versuchen.
In den Statistiken müssen zur Entscheidung aller dieser
Fragen die Fälle von reiner Diphtherie von den bakteriologisch
als durch Mischinfection zu Stande gekommenen scharf geschieden
werden; es muss untersucht werden, ob diese Fälle und die von
Anfang an schwer toxisch erscheinenden Fälle von reiner Diph-
therie durch grosse Serumdosen in der Mehrzahl gerettet werden
können ; es muss genau ermittelt werden, an welchem Krankheits-
tage die Einspritzung vorgenommen worden ist.
Selbstverständlich dürfen auch die anderen bisher berücksich-
tigten Fragen: Auftreten von Albuminurie, Lähmungen, Zeit der
Abstossung der Beläge, Verhältnisszahl der nothwendig werdenden
Tracheotomien, x\ngabe des Tages der Entfernung der Canüle,
Heilungsdauer etc. nicht unberücksichtigt bleiben. In der Erwar-
tung, dass erst durch grosse Statistiken diese Fragen zur sicheren
klinischen Entscheidung kommen werden, erlaube ich mir als
kleinen Beitrag hierzu einen Bericht über die relativ kleine An-
zahl von 100 Fällen anatomisch und klinisch zweifelloser Diph-
therien vorzulegen, die im Britzer Krankenhause mit Serum be-
handelt wurden.
82 der Fälle wurden bakteriologisch untersucht: Das Ergeb-
niss war 11 mal negativ, ohne dass die klinische Diagnose: ^'-^^P'^'
therie" irgendwie zweifelhaft sein konnte, da in der Mehrzahl dieser
Fälle tracheotomirt werden musste und lange Membranen ausge-
worfen wurden. In 64 Fällen wurden so gut wie Reinculturen
von Löffler-Bacillen gewonnen. In 3 Fällen diese ungefähr zur
788 Dr. Riese,
Hälfte mit Staphylokokken gemischt, in 9 Fällen Löffler- Bacillen
mit Streptokokken, in 4 Fällen Staphylokokken, in einem Fall
Strepto- und Staphylokokken, in einem nur Streptokokken. Mög-
lich, dass in den letzten Fällen trotz fehlenden Nachweises Diph-
theriebacillen vorhanden waren, da auch hier bei einem Theil der-
selben trachcotomirt werden musste und Membranen zu Tage ge-
fördert wurden.
17 von den 64 reinen Diphtherien wiesen ganz besonders
schwere Erscheinungen auf, die Zeichen für eine Wirkung beson-
ders giftiger Toxine waren bei ihnen so stark ausgesprochen, dass
die Prognose als durchaus schlecht erscheinen musste. Von diesen
17 starben 5, also fast 30 pCt., und zwar:
Ein einjähriges Kind, dem am 3. Kran kheits tage 600 I.-E. eingespritzt
wurden und das gleich tracheotomirt werden musste.
Ein zweijähriges Kind, dem erst am 8. Krankheitstage 1000 I.-E. injicirt
wurden, sehr bald nach der sogleich vorgenommenen Tracheotomie.
Ein fünfjähriger Knabe mit schwerster gangränöser Nasen- und Rachen-
diphtherie, der am 3. und 5. Krankheitstage je 1000 I.-E. einverleibt bekam
und am 6. Krankheitst«ige starb.
Ein sechsjähriges Kind, das am 7. Tage mit 1000 l.-E. gespritzt wurde
und noch am selben Tage starb.
Schliesslich ein siebenjähriges Mädchen, Schwester des fünQährigen
Knaben, das die gleichen Erscheinungen darbot wie dieser, und an denselben
Krankheitstagen mit gleich grossen Dosen von Serum behandelt wurde. Es
starb am 11. Tage nach der ersten Injection.
Bei dreien dieser Kinder wurde bei der Section absteigender
Croup gefunden, bei den beiden Geschwistern war die Diphtherie
nicht über den Rachen nach unten fortgeschritten, bei beiden wur-
den aber Petechien im Pericard und Pleura und braune Atrophie
des Herzmuskels nachgewiesen. 2000 I.-E., allerdings erst am
3. und 5. Krankheitstage in zwei Einzeldosen eiuverleibt (hier
wurde sofort nach der Aufnahme injicirt), hatten also nicht ge-
nügt, um den Tod abzuwenden, obgleich die Diphtherie sich nicht
weiter ausgedehnt hatte, bei dem Mädchen die Beläge \ielmehr
bereits abgestossen waren, und obgleich eine Tracheotomie nicht
nöthig wurde. Von den 12 durchgekommenen Patienten waren:
2 einjährige Kinder am 2. resp. 3. Tage mit 1000 l.-E. behandelt
worden, eins davon musste am 2. Tage nach der Injection trache-
otomirt werden.
Beiträge zur Serumtherapie bei Diphtherie. 789
Ein 2 jähriges Kind hatte 1750 I.-E. am 5. und 6. Tage (erst 750, dann
1000) bekommen und musste einige Stunden nach der ersten Einspritzung
tracheotorairt werden. Bei einem 12 jähr. Knaben, der am 6. Tage 1500 I.-E.
injicirt bekam, musste ebenfalls nach kurzer Zeit der Kehlkopfschnitt gemacht
werden.
Allen übrigen 8 Patienten, säramtlich Kinder unter 10 Jahren,
wurden am 2. resp. 3. Tage 1000 I.-E. eingespritzt, und 7 von
ihnen mussten tracheotorairt werden. Es sind also nur die am
2. oder 3. Tage mit mindestens 1000 I.-E. Behandelten zum
grössten Theile, wenn auch erst nach Tracheotomien, durchge-
kommen, w^ährend bei den später zur Injection Gekommenen in
allen ausser einem Falle mehr Serum gebraucht wurde, und nur
2 davon mit dem Leben davonkamen. Ich halte es für nicht un-
wahrscheinlich, dass auch von den Gestorbenen ein Theil hätte
durchkommen können, wenn ich gleich grosse Einzeldosen von
2000 — 3000 I.-E. angewandt hätte. Vielleicht wäre auch noch
ein Theil der durchgekommenen Patienten durch diese energischere
Behandlung vor der Tracheotomie bewahrt geblieben.
Die 9 Patienten mit Mischinfection von Diphtheriebacillen
und Streptokokken zeigten bis auf drei, die mittelschwer verliefen,
besonders schwere Symptome; es starb aber nur ein dreijähriges
Kind, dessen Krankheitsgeschichte besonderes Interesse darbietet.
Dasselbe war nämlich 38 Tage vor seinem Tode an Diphtherie
erkrankt, damals am 2. Krankheitstage mit 1000 l.-E. gespritzt
worden, am 3. Tage danach wegen Stenosenerscheinungen trache-
otorairt worden, nachdem aus dem Belag eine Reincultur von
Löffler-Bacillen gezüchtet worden war, und konnte 13 Tage vor
seiner Wiederaufnahme absolut gesund entlassen werden. Bei
dieser war das Allgemeinbefinden ein sehr schlechtes, es bestanden
Cyanose, Somnolenz, hohes Fieber, aber keine beträchtlicheren
Stenosenerscheinungen und kein Belag auf den Tonsillen. Die
Krankheit sollte 4 Tage vorher begonnen haben. Ich spritzte zu-
erst sofort 750 l.-E., so wenig, weil es mir zweifelhaft schien, ob
es sich um Diphtherie oder um schwere capilläre Bronchitis handle,
aber schon nach 14 Stunden starb das Kind im Collaps trotz
Campher und Alkohol. Die bakteriologische Untersuchung des
Schleims förderte zahlreiche Streptokokken und Diphtheriebacillen
zu Tage. Die Section ergab absteigenden Croup. Möglich, dass
auch dieser Fall durch eine hohe Serumdosis zu retten gewesen
790 Dr. Riese,
Wtäre. Jedenfalls zeigt er wieder, dass eine Immunität durch das
Behring'sche Serum auf längere Zeit nicht erzielt wird, da nicht
etwa eine fortgesetzte, sondern eine ganz neue Infection nach dem
ganzen Verlauf mit Sicherheit anzunehmen ist. Bei den übrigen
Fällen von Mischinfection handelte es sich 3 mal um schwere
Nasen- und Rachendiphtherie. Bei einem von diesen 3 Patienten
konnte erst am 9. Tage injicirt werden (1000 I.-E.). Am 10. Tage
Hess ich wegen der Schwere der Symptome eine 2. Einspritzung
von 1000 I.-E. machen. Der Belag stiess sich zwar am 5. Tage
danach ab, es kam aber zu einer Gaumenlähmung und einer Ne-
phritis: 30 Tage lang wurde viel Albumen ausgeschieden. Bei
den beiden anderen Patienten mit Nasendiphtherie, bei denen am
3. Tage 1000 resp. 1500 l.-E. eingespritzt wurden, verlief die
Kranklieit ebenfalls schwer, in dem einen Falle kam es zu einer
Ilalsdrüscnphlegmone, bei deren Incision Eiter zu Tage gefördert
wurde, der Streptokokken in Reincultur enthielt.
Die beiden noch übrig bleibenden Fälle von Mischinfection
mit schwerem Verlauf betrafen erstens:
Ein 2 jähriges Kind, dem am 3. und 5. Tage je 1000 I.-E.
eingespritzt wurden, und bei dem die Tracheotomie einige Stunden
nach der Aufnahme ausgeführt werden musste, und Eiwciss im
Urin nachgewiesen wurde; zweitens:
Ein 3 jähriges Kind, bei dem 1000 I.-E., am 3. Tage einver-
leibt, genügten, um es zu retten, ohne dass jedoch der Kehlkopf-
schnitt vermieden werden konnte.
Von den 3 Patienten, bei denen der Verlauf als mittclschwer
bezeichnet werden konnte, mussten.2 tracheotomirt werden, nach-
dem ihnen am 3. Tage 1000 I.-E. eingespritzt waren, der dritte
kam nach Injection von 1200 I.-E. am 3. Tage ohne Tracheoto-
mie davon, doch trat eine Gaumenlähraung auf.
Die nähere Betrachtung dieser Fälle von Mischinfection lässt
die Serumbehandlung in sehr günstigem Lichte erscheinen, und
ich glaube, dass grössere Statistiken die zweifellose Wirksamkeit
des Serums auch bei diesen Formen der Diphtherie so sicher, als
es überhaupt m('»glich ist, erweisen werden. Aber auch für diese
Form der Bretonneau'scheu Krankheit dürfte es am richtigsten
sein, grosse Dosen von Serum mCjglichst früh und auf einmal zu
injicircn, da die Injection an sich sicherlich wenig schädlich ist,
Beiträge zur Serumlherapie bei Diphtherie. 791
jedenfalls kaum schädlicher, als eine Localbehandlung der Beläge
mit Carbolätzungen, Aetzungen mit Ferrum sesquichloratum und
eine Allgeraeinbehandlung mit Jodkali und Quecksilberverbindungen.
Dass es besonders wichtig ist, früh mit der Serumbehandlung zu
beginnen, das wird nicht nur durch die schon erwähnten Fälle
von schwerer toxischer Diphtherie bewiesen, auch die genauere
Analyse der übrigen, zur Hälfte mit ganz schweren Stenosener-
scheinungen verlaufenden Fälle ergiebt dies Resultat in eklatanter
Weise. Ein üeberblick über die sämmtlichen 100 Fälle ergiebt
folgendes:
Es starben von den 100 Patienten 8. Diese Gesammtmorta-
lität von 8 pCt ist ein so günstiges Ergebniss der Serumtherapie,
dass ich nicht umhin kann, anzunehmen, dass sich das Endresultat
von einer grösseren Anzahl von Fällen, unter denen sich vielleicht
noch ein grösserer Procentsatz von ganz schweren Diphtherien
finden wird, eher verschlechtern als verbessern wird. Immerhin
halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass mir die Serumbehand-
lung in dem nächsten Hundert von Diphtheriefällen ein ähnlich
günstiges Ergebniss liefern wird.
Von den 100 Fällen mussten wegen hochgradiger Stenosen-
erscheinungen 56 tracheotomirt werden, wobei ich bemerke, dass
ich ohne strenge Indication nicht operirt habe, wie schon daraus
hervorgeht, dass ich mehrere Fälle, die mir von CoUegen zur so-
fortigen Tracheotomie zugeschickt wurden, nach sofort vorgenom-
mener Injection vor jener habe bewahren können. Immerhin hoffe
ich, in der Zukunft im sicheren Vertrauen auf die Wirksamkeit
des Serums noch einen grösseren Procentsatz von Diphtherien mit
schwerer Larynxstenose ohne Tracheotomie durchzubekommen.
Von den 56 Tracheotomirten sind 4 gestorben; von diesen
4 Todesfällen habe ich 2 bereits erwähnt, den dritten erlebte ich
bei einem Kinde, das erst am 10. Tage von mir gespritzt werden
konnte, am 8. Tage post operationem. Die Section ergab ab-
steigenden Croup. Der vierte kam durch einen Unglücksfall zu
Stande :
Das Kind verblutete sich nämlich am 3. Tage post opera-
tionem, als eine in der Pflege von Diphtheriekranken noch unge-
wandte Schwester gegen die Instruction die ganze Canüle behufs
Reinigung entfernte und dann die Canüle wieder in die Trachea
792 Dr. Riese,
hineinzubohren versuchte. Als der Stationsarzt hinzukam, war
das Kind bereits in extremis.
Für die tracheotomirten Fälle ergiebt sich also eine Mortalität
von 7 pCt. resp. von 5,3 pCt., wenn man den letztgenannten ün-
gläcksfall nicht mitzählen will.
Von den 44 nicht tracheotomirten Patienten starben 4, über
die ich näheres bereits berichtet habe, also 9 pOt. Es findet sich
somit das höchst auffallende Resultat, dass die tracheotomirten
einen günstigeren Verlauf nahmen, als die nicht tracheotomirten Fälle.
Von den 100 Patienten konnten nur 3 am ersten Tage der
Krankheit gleich mit Serum behandelt werden, einer von ihnen,
ein 4 jähriges Kind, bekam nur 600 I.-E., am 3. Tage entstand
eine so hochgradige Stenose, dass noch einmal 1500 I.-E. einge-
spritzt wurden, erst dann besserte sich das Befinden so, dass nach
einigen Stunden an die schon vorbereitete Tracheotomie nicht mehr
gedacht zu werden brauchte. Alle 3 Fälle verliefen gut. Am
2. Tage konnten in 20 Fällen die Einspritzungen gemacht werden.
Bei 9 von diesen musste tracheotomirt werden, also in 45 pCt.,
und zwar bei 3 Patienten gleich, bei einem nach 12 Stunden, bei
vieren nach 24 Stunden, bei einem nach 48 Stunden. Alle zwan-
zig Patienten genasen, obwohl zwei Drittel schwer erkrankt waren.
Am 3. Tage wurde mit der Serumbehandlung bei 55 Patienten
begonnen; von ihnen mussten bereits 31, d. h. 56,5 pCt., trache-
otomirt werden, und es starben 4, resp., wenn man den Ver-
blutungstod ausser Rechnung lässt, 3, d. h. 5,4 pOt. Von den
Gestorbenen war das erste ein 1 jähriges Kind, das nur 500 I.-E.
bekommen hatte, das zweite und dritte waren die schon er-
wähnten zwei Geschwister mit schwer septischer Nasen-Rachen-
diphtherie. Nur das erste Kind war tracheotomirt worden.
Am 4. Tage wurde die Injection in 9 Fällen gemacht. Von
diesen starb 1, mithin 11,5 pCt., ohne Tracheotomie (es war das
bereits erwähnte, über 1 Monat vorher schon tracheotomirte, aber
geheilt entlassene Kind); 6, d.h. 66,6 pCt., mussten tracheotomirt
werden, kamen aber alle durch.
Am 5. Tage wurde bei 3 Patienten gespritzt, davon mussten
2 gleich tracheotomirt werden, also ebenfalls 66,6 pCt., bei den 3
trat eine postdiphtheritische Lähmung auf. Die Fälle waren mittel-
schwer und kamen durch.
Beiträge 7Air Serumtherapie bei Diphtherie. 793
Am 6. Tage wurde einmal gespritzt, Trachcotomie wurde
nothwendig, und es trat Lähmung auf.
Erst am 7. Tage wurde bei 3 Patienten Serum injicirt, von
ihnen starb 1 ohne Tracheotomie, 2 mussten operirt werden, der
Krankheitsverlauf war bei beiden sehr schwer, beide Male kam es
zur Lähmung und zu Eiweissausscheidung.
Bei je einem Patienten wurde am 8., am 9. und 10., und am
10. Tage gespritzt. Der erste und letzte starben, der zweimal
gespritzte kam schliesslich durch, nachdem eine Lähmung aufge-
treten und durch 30 Tage Albuminurie bestanden hatte.
Es ergiebt sich aus dieser Zusammenstellung, dass diejenigen,
bei denen die Serumbehandlung bis zum 2. Tage einsetzte, am
besten daran waren, dass aber auch die am 3. Tage in Behand-
lung Gekommenen noch relativ gut wegkamen. Bei ihnen wäre
der Krankheitsverlauf vielleicht noch leichter gewesen, wenn ich
sogleich grössere Dosen, ca. 2000 ccm bei Kindern, hätte injiciren
lassen, wie ich es zukünftig thun werde.
Bei den später zur Injection kommenden wird man natürlich
erst recht grössere Mengen nehmen müssen, um besseren Erfolg
zu haben. Dass bei den früh mit Serum Behandelten auch das
Decanulement frühzeitiger vorgenommeif werden konnte, falls die
Tracheotomie nöthig wurde, geht ebenfalls aus meinen Beobach-
tungen hervor, doch gebe ich der Kürze halber keine genaueren
Zahlen. Im Allgemeinen wurde die Canüle am 5. Tage entfernt.
Diphtherie der Wunde trat nur einmal auf. Was schliesslich
die Allgemeinwirkung der Injectionen betrifft, so fand sich niemals
ein Gelenkerguss, kein Exanthem. Nur in 25 pCt. der Fälle trat
Albuminurie auf, doch bestand dieselbe meist schon vor der In-
jection und schien durch dieselbe eher geringer zu werden. Ein-
mal fanden sich ausser Ei weiss granulirte Oylinder im Urin, die
Diphtheriebacillen enthielten, mikroskopisch und durch Culturver-
fahren bewiesen. Von Lähmungen wurden ausscliliesslich Gaumen-
segel- und Schlundmuskellähmungen, sowie Lähmung der Stimm-
bänder beobachtet, im Ganzen in 11 Fällen. Ich schliesse mit
folgenden Sätzen:
Die Serumbehandlung ist unschädlich; je früher mit derselben
begonnen wird, desto günstiger ist der Krankheitsverlauf, am
besten bei Einspritzung am 1, oder 2. Tage. Im Allgemeinen
794 Dr. Riese, Beiträge zur Serumtherapie bei Diphtherie.
sollen sogleich grosse Dosen von Serum einverleibt werden, vor
Allem aber soll dies geschehen, wenn die Einspritzung erst am
3. Tage oder später vorgenommen werden kann; ebenso in Fällen
von Mischinfection und von schwerer toxischer Diphtherie. In
den beiden letzteren Fällen scheint das Serum ebenfalls günstig
zu wirken, Sicherheit in dieser Beziehung werden aber erst weitere
Beobachtungen bringen. Ebenso muss durch solche die Menge
von Serum, die in den einzelnen Fällen am geeignetsten ist, noch
genauer festgesetzt werden.
LIV.
Zur Frage über Bauchwandschnitte bei
Laparotomien.
Von
Prlvatdocent Or. MIcolai %¥olkowlt8Ch,
Torstand der Chirurg. Abtheilung des Alexandor^Stadthospitals zu Kiew.
Zu den Schattenseiten der in letzter Zeit so in Aufnahme ge-
konamenen Laparotomien gehören ohne Zweifel die an der Bauch-
wandnarbe sich nachträglich bildenden Hernien. Wir beobachten
dieselben sowohl in dem Falle, wenn der Schnitt längs der Linea
alba geführt wird, als auch besonders bei Operationen in den seit-
lich gelegenen Partien, so z. ß. bei dem jetzt so häufigen ope-
rativen Eingriff, der die Entfernung des Wurmfortsatzes zum Zwecke
hat. Zu den Maassregeln, die einer derartigen Complication vor-
beugen sollen, gehört das Tragen eines Bauchgürtels, welcher eine
Dehnung der Narbe durch die unter dem Drucke der Bauchpresse
stehenden Abdorainalorgane verhüten soll, ferner eine sorgfältig an-
gelegte Naht der Bauchdeckenwunde, mit anderen Worten die so-
genannte Etagennaht. Wenn auch die Beobachtung aller dieser
Vorsichtsmassregeln die Häufigkeit der post laparotomiam beob-
achteten Hernien herabgesetzt hat, so bietet sie uns doch keine
vollständige Garantie, umsomehr als einerseits bei vielen Patienten
nach überstandener Operation, in Folge ihrer Berufsart die Bauch-
presse häufig in Anwendung kommt, dann aber auch oft an ein
Vernähen der Bauchwunde nicht gedacht werden kann, so z. B. in
dem Falle, wenn die Nothwendigkeit eines Einfahrens von Tampons
in die Bauchhöhle vorliegt.
796 Dr. N. Wolkowitsch,
Alles dieses zwingt uns, der Sache näher auf den Grund zu
gehen und vor Allem die Ursache der nachträglichen Hcrnien-
bildung in der Art und Weise zu suchen, wie wir den Bauchdecken-
schnitt ausführen, d. h. die einzelnen Schichten der Bauchwand
passircn. Dass bei dem gewöhnlichen Operationsverfahren un-
günstige Verhältnisse geschaffen werden für eine Haltbarkeit der
vernarbten Schnittstelle, ersieht man aus dem anatomischen Ver-
halten der Bauchwand. Fassen wir z. B. den am häufigsten an-
gewandten Schnitt längs der Linea alba in's Auge. Anatomisch
ist letztere die Vereinigimgsstelle aller Aponeurosen, sow^ohl der
Muse, recti, als auch der breiten Seitenbauchmuskeln, deren Apo-
neurosen, wie bekannt, in die Scheide der geraden Bauchmuskeln
übergehen und dort inseriren; die Seitenbauchmuskeln contrahiren
sich in einer fast vertical zur Linea alba verlaufenden Richtung; ihre
Wirkung wird paralysirt einerseits durch die Contraction der
geraden Bauchmuskeln, dann aber hauptsächlich Dank der Festig-
keit der Linea alba, wo die Scheiden der geraden Bauchmuskeln
sich treffen; kommt es hier zu einer Narbe, deren Resistenzfähigkeit
bedeutend geringer ist, so bietet die Linea alba den Contractionen
der Seitcnmuskeln , welche die Muskelscheiden der Mm. recti
auseinander zu ziehen suchen, bedeutend geringeren Widerstand
und die beide Muskelscheiden zusammenhaltende Narbe wird aus-
einander gezerrt. Zu diesem Umstand kommt noch hinzu, dass
die Narbe sich an einer Stelle befindet, wo im Gegensatz zu der
übrigen Bauchwand nur Bindegewebe vorhanden ist und wo von
Hause aus Hernienbildung beobachtet wird (namentlich in dem
breiteren, über dem Nabel befindlichen Theile der Linea alba).
Wird der Laparotomieschnitt in einem seitlich gelegenen
Theile der Bauch wand ausgeführt, so werden doch die einzelnen
Aponeurosen- und Muskelschichten, welche an dieser Stelle in ver-
schiedener, ja mitunter entgegengesetzter Richtung verlaufen, derart
getrennt, dass die Schnittfläche im besten Falle mit der Verlaufs-
richtung nur einer Schicht zusammenfallen kann, während die
übrigen Muskeln und Aponeurosen quer oder annähernd quer zer-
schnitten werden. Bei einem derartigen Vorgange kann auch die
sorgfältigst angelegte Naht die Bauchwandungen nicht vollständig
restituiren, da ein wesentlicher Theil der durch den Schnitt ge-
trennten Muskel bündeln, wie man sich davon bei der Operation
Zur Frap:e über Bauch wandschnitte bei Laparotomien. 797
selbst überzeugen kann, von der Schnittfläche sicli zurückzieht.
zVuch wird eine Narbe, sofern sie nicht parallel der Verlaufsrichtung
der Muskelfasern zu liegen kommt, bei Contractionen derselben
allmälig gedehnt, und wie günstig sind die Aussichten für eine
nachträgliche Bruchbildung in dem Falle, wenn eine solche Wunde
nicht geschlossen werden kann, weil durch dieselbe Tampons in
die Bauchhöhle eingeführt werden müssen!
Daher bin ich in letzter Zeit von dem allgemein üblichen
Laparotomieschnitt abgekommen und suche derart durch die Bauch-
decken zu gelangen, dass die Continuität aller Muskel- und Apo-
neurosenschichten geschont wird. — Statt längs der Medianlinie
einzuschneiden, pflege ich, wie das schon öfters empfohlen wurde,
einen Längsschnitt durch einen der geraden Bauchmuskeln zu
machen. Ohne auf eine nähere Beschreibung dieses Verfahrens
einzugehen, das von mir nach bekannter Weise geübt wird, möchte
ich bloss erwähnen, dass ich die Naht derart anlege, dass das
Peritoneum und die hintere Muskelscheide duixh eine Reihe von
Knopfnähten (Seide) geschlossen wird, während alle übrigen Bauch-
wandschichten durch eine weitere Reihe von Knopfnähten in Contact
gebracht werden (bloss die Haut wird apart mit fortlaufender Naht
vernäht). Wenn ich auch nicht bestreite, dass es vielleicht besser
wäre, Muskel und vorderes Fascienblatt gesondert zu vernähen,
so bin ich von der Noth wendigkeit desselben nicht überzeugt, da
der Muskel doch in seiner Längsrichtung getrennt wird und eine
jede Naht unausbleiblich einen, wenn auch geringen Substanz-
verlust von Muskelgewebe nach sich zieht und daher im Resultat
zu einer Schwächung des Muskels führt, welcher doch Dank seinem
Tonus einem Auseinandergehen der Wundränder vorbeugen soll,
was diesem Schnitt auch den Vorzug vor dem Schnitt längs der
Medianlinie giebt. Freilich bietet der Schnitt durch den geraden
Bauchniuskel noch den Vortheil, dass die sich bildende Narbe von
bedeutend grösserer Breite in der Richtung von vorne nach hinten
ist und Dank dem Umstände, dass sie durch verschiedene, wenig
fest mit einander verbundene Schichten verläuft, ist sie verzen't,
d. h. kommt nicht in ein und derselben sagittalen Ebene zu
liegen.
Bei Operationen in den lateral gelegenen Partien der Bauch-
wand gelange ich in die Bauchhöhle, indem ich die Aponeurosen
Archiv fUr klin. Cliirurgie. 57. Bd. Heft 4. r^Q
708 Dr. N. Wolkowitsch ,
und Muskolschicliion nicht quer durchschneide, sondern sie ent-
sprechend ihrer Verlaufsrichtung trenne. In den seitwärts und
unten gelegenen Partien führe ich den Schnitt durch die Haut-
decken gewöhnlich in der Richtung schräg von aussen und oben
nach innen und abwärts, d. h. parallel der Verlaufsrichtung der
ersten Muskolschicht (M. obl. ext.). Die I^änge des Schnittes soll
im Allgemeine]! grösser als bei dera gewöhnlichen Operations-
verfahren sein, da Zwecks einer ausreichenden Blosslegung der
tiefer gelegenen Schichten die oberste Muskelsohicht entsprechend
weiter getrennt werden muss, wozu ein grösserer Hautschnitt
nöthig ist. Muss die Bauchhöhle mehr oberhalb eröffnet werden,
so führe ich den Schnitt von einer höher und weiter nach hinten
gelegenen Stelle, wo der M. obl. ext. beginnt, schräg nach innen
und abwärts (ungefähr so, wie es v. Bergmann bei Nierenope-
rationen zu thun pflegt). Der äussere schiefe Bauchmuskel wird
parallel seiner Verlaufsrichtung auseinander getrennt, stumpf, wo
man auf den Muskelbauch trifft, wie bei höher gelegenen Schnitten,
mit dem Messer resp. Scheere — die Aponeurose. Mit breiten
Haken wird der Muskel auseinander gezogen und von der folgenden
Schicht getrennt (mit der er durch lockeres Bindewebe verbunden
ist), man gelangt zum inneren schiefen Bauchmuskel, welcher
stellenweise eine fast entgegengesetzte Verlaufsrichtung aufweist.
Kr wird in seiner ganzen Länge stumpf getrennt, d. h. von der
Spina resp. Crista ossis ilei bis zur Scheide des geraden Bauch-
muskols und mit Haken auseinander gezogen, worauf wir zur
dritten Schicht gelangen — M. abd. transv. — welcher mit der
vorhergehenden fester verbunden ist, als diese mit der obersten,
und in den mehr abwärts gelegenen Partien eine ähnliche Ver-
laufsrichtung zeigt (bei dieser Gelegenheit können die zwischen
diesen Schichten verlaufenden, für die Bauchmuskeln bestimmten
Nerven in Sicht kommen und geschont werden). Da dieser Muskel
bald in eine Aponeurose (Spigelii) übergeht, so wird letztere bis
zum geraden Bauchniuskel mit dem Messer i-esp. Scheere incidirt;
somit hat der Schnitt der dritten Schiclit eine vollständig quere,
dem M. rectus perpcndiculäre Richtung bekommen, in welcher
Richtung auch das Peritoneum incidirt wird. Da das Peritoneum
die Neigung hat, hinter dem Muskelrande von der Wundfläche sicli
zurückzuziehen, so wird es provisorisch durch ein paar Nähte an
Zur Fi"A*i;c über Bauchwandsclmitle hei Laparolomien. 71)i)
die Muskciränder fixirt. Wird kein Tampon in die Bauchhöhle
eingeführt, so wird die Wunde durch schichten weise angelegte
Nähte geschlossen, und zwar in der Weise, dass mit einer Reihe
von Knopfnähten Peritoneum und M. transv. zusammengebracht
werden, mit einer zweiten Reihe vernäht man Muse. obl. int., dann
Muse. obl. ext. und schliesslich vereinigt die Hautdecken noch eine
fortlaufende Naht. Auch hier ist es nicht rathsara, viele Muskel-
nähte anzulegen, da Spalten in Muskelschichten ohnehin eine ent-
schiedene Neigung sich zusammenzuziehen besitzen.
Freilich hat bei dieser Methode die Schnittwunde gewisse
feste Grenzen, und wenn dieselben Zwecks Erweiterung der Wunde
überschritten werden, so verletzen wir die Grund principien der
Methode. Der oben beschriebene Schnitt, welcher, wie gesagt, dem
V. Bergmännischen Schnitt bei Nierenoperationen ähnlich ist,
giebt einen grösseren Operationsraum (Vi seh er empfiehlt, wie wir
weiter unten sehen werden, ebenfalls einen ähnlichen Schnitt auch
bei Operationen am W^urmfortsatze). Wird der Schnitt weiter unten
ausgeführt, wie das im Allgemeinen bei Operationen der Appen-
dicitis gebräuchlich ist, so ist die Gesammtlänge der Schnittwunde,
von der Spina ant. sup. ossis ilei bis zum Aussenrande des ge-
raden Bauchmuskels, vier Querfinger breit. Nicht immer erweist
sich die Wunde genügend weit für die ihr folgenden operativen
Eingriffe, besonders wenn man die Rigidität der Wundränder in
Betracht zieht. Daher wird erstens, wie erwähnt, der M. obl. ext.
möglichst weit eingeschnitten und auseinander geschoben, zweitens
muss die Trennung der Muskelfasern der zweiten und dritten
Schicht womöglich von der Spina oder Crista ilei beginnen und
drittens setzte ich, wenn nöthig, den Schnitt in der queren Rich-
tung, in welcher er durch die letzte Muskelschicht und das Bauch-
fell geht, bis zur Scheide des geraden Bauchmuskels fort und
schneide selbst den letzteren ein. Selbst eine unbedeutende Ver-
längerung: des Schnittes nach dieser Seite hin gab schon bedeutende
Raumerweiterung, was sich dadurch erklären lässt, dass auf diese
Weise die sehr feste und daher das Auseinandcrscliioben der Wund-
ränder stark behindernde Aponeuroso, ^ebildt^t durch Voreinigunii'
der Aponeurosc der Mm. obliqui et transv. mit der Scheide des
M. rectus, zerschnitten wird. Ein derartiges Einschneiden der Apo-
neurosc beeinträchtigt in bedeutender Weise, vom obn\ erwähnten
53*
800 Dr. N. Wolkowitsch,
Standpunkte aus, weder die Function des geraden Bauchmuskels,
noch die der queren Muskeln, eben weil die Schnittrichtung eine
quere ist, mit anderen Worten mit der Zugrichtung der hier insc-
rirenden breiten Bauchmuskeln zusammenfällt. Ich führe dieses
hier an, im Gegensatz zu der, wie wir weiter unten sehen werden,
von einigen Chirurgen vorgeschlagenen Erweiterung der Wunde
durch einen längs dem Aussenrande des M. rectus gemachten
Schnitt.
Ein derartiges Vorgehen kann, meiner Meinung nach, nicht
ohne bedeutenden Nachtheil für die Function der breiten Bauch-
muskeln bleiben, da wir dieselben von ihrer Insertionsstelle auf
diese Weise trennen. Was das Einschneiden des geraden Bauch-
muskels selbst anbelangt, so ist dasselbe in Betracht der geringen
Grösse des Schnittes nicht von Belang. In den beiden letzten
Fällen, wo ich Zwecks Entfernung des Wurmfortsatzes operirte,
blieb der gerade Bauchmuskel von einer Incision verschont und
ich beschränkte mich darauf, dass ich bloss das vordere imd hintere
Blatt der Muskelscheide einschnitt, wodurch allein mehr Raum ge-
schafft wurde, da auf diese Weise der gerade Bauchmuskel ge-
nügend weit nach innen gezogen werden konnte. Wird eine Lapa-
rotomie in den höher gelegenen Partien gemacht, so führt man
den Schnitt vom Rippenrande abwärts, parallel der Verlaufsrichtung
des M. obl. ext, obgleich ich in einem Falle vorzog, im linken
Hypochondrium einen Doppelschnitt zu machen, zuerst parallel dem
M. obl. ext., dann fast imter einem rechten Winkel den ersten
Schnitt kreuzend, parallel dem Rippenbogen. Dieser zweite Schnitt
entsprach ungefähr der Verlaufsrichtung des M. obl. int. und gab
uns die Möglichkeit, denselben und den darunter liegenden M. transv.
gehörig freizulegen und zu zertrennen, ohne den ersten Schnitt
durch den M. obl. ext. unnöthigerweise zu verlängern. In solchen
Fällen kommt die Wunde eigentlich mehr in den seitlich resp.
abwärts gelegenen Theilen des Hypochondrium zu liegen, da man
in den oberen Partien desselben den geraden Bauchmuskel antrifft,
der hier eine Breite von vier Querfingern erreicht. Daher ist es
manchmal praetischer, statt durch die breiten Muskeln in die
Bauchhöhle zu gegangen, sich zu den betreffenden Organen (lieber
oder Magen z. B.) durch den entsprechenden geraden Bauchmuskel
einen Weg zu bahnen; da sowohl der M. rectus als auch die
Zur Frage über Bauohwandsclmitte bei Laparotomien. 80 1
Linea alba sich hier durch grosse Breite auszeichnen, so kann der
Schnitt stark seitwärt.s von der Medianlinie durch oben erwähnten
Muskel gemacht- werden; sollte er sich als ungenügend weit er-
weisen, so empfiehlt Abbe^), ihn durch einen vom oberen Ende
nach aussen geführten Querschnitt zu erweitern. Ein derartiges
Verfahren kann nach Abbe ieine nachtheiligen Folgen haben, da
der höher gelegene Theil der Bauchwand, Dank dem Umstände,
dass die Bauchorgane sich nach unten zu lagern suchen, geringe
Neigung zur Hernienbildung zeigt. Nach eben beschriebener Art
operirte ich in folgenden Fällen (die Laparotomien, wo der Schnitt
statt längs der Linea alba durch den Rectus geführt wurde, zählen
nicht mit) : Entfernung eines Tumors des grossen Netzes am Fundus
ventriculi gelegen, Eröffnung eines lienalen Haematoms, Abtragung
des Wurmfortsatzes (3 Fälle), totale Ausschaltung des an Tuber-
culose stark erkrankten Blinddarms und Colon ascendens (1 Fall),
in zwei Fällen von Enteroanastomose bei Kothfistel nach Ilernia
cruralis, Anlegung eines Anus praeternaturalis an der Flex. sig-
moidea bei Mastdannkrebs , auch operirte ich einen Leberabscess
unter Beobachtung dieser Regeln. Ein derartiges Operations-
verfahren gilt, wie ich mich an Leichen überzeugte, auch für
extraperitoneal ausgeführte Nierenoperationen (ganz zu geschweigen
von dem intraperitonealen Vorgehen); sehr brauchbar ist hierbei
der dem v, Bergmann 'sehen ähnliche Schnitt, angefangen von
den letzten Rippen, nicht weit vom Aussenrande des M. erector
trunci quer nach unten und jnedianwärts, die Spina ant. sup.
ausserhalb liegen lassend. Wird noch ein Kissen unter die gegen-
überliegende Seite geschoben, so gewinnt man genügend Raum,
um leicht zur Niere resp. zum Harnleiter zu gelangen. Man kann
denselben Schnitt machen, um zum rechten Leberlappen zu ge-
langen, obgleich in diesem Falle und bei Operationen an der
Gallenblase der Schnitt weiter medianwärts practischer erscheint.
Dieselben Regeln befolge ich bei Operationen in der Lendengegend
(z. B. bei mehreren Fällen von tiefliegenden paranephri tischen
Abscessen), d. h. die Muskeln werden längs ihrer Verlaufsrichtung
gespalten und höchstens wird in den Rand des M. latissimus dorsi
eingeschnitten. Uebrigens wird in solchen Fällen am besten der
1) Annals of surgery. 1896. Vol. XXIII, pag. 287.
802 Dr. N. Wolkowitsch,
Scliiiilt län.i;s dorn Ausscnrando des M. crector tniiici ii:efuhit und
beim Uarmbein jäh nach vorne abgebogen. Dabei erhalten wir
genügend Raum, um im Nothfalle die hier inserirenden breiten
Bauchmuskeln zu spalten. Schliesslich lasse ich mich von den-
selben Erwägungen leiten bei der Operation der Leistenbruche, in-
dem ich der Methode den Vorzug gebe, wo die Continuität der
Aponeurosen und Muskeln geschont wird, so z. B. ziehe ich der
Methode von Bassini die von Kocher vor (besonders seine letzte
Modification, Umstülpung und Einführung des Herniensackes durch
die künstlich in der Bauchwand hergestellte Oeffnung^). Operire
ich nach dieser Methode, so mache ich die Oeffnung für den ein-
zuführenden Bruchsack in der Weise, dass ich nicht die Bauch-
wand in toto durchschneide, sondern die einzelnen Schichten der-
selben parallel ihrer Verlaufsrichtung zu spalten suche.
Bei Beobachtung dieser Operationsregeln konnte ich in der
That in den Fällen, wo der Operation die Genesung folgte, einen
grossen Unterschied in der Narbenbildung constatiren, im Vergleich
mit nach gewöhnlicher Weise operirten Fällen. Die Operations-
stelle unterschied sich in keiner Weise, mit Ausnahme der Haut-
narbe, von den übrigen Bauchwand partien, weder beim Befühlen,
noch bei Hustenstössen zeigte sie eine geringere Widerstandsfähig-
keit, auch bemerkten wir, dass die Operationsstelle bei Contraction
der Bauchmusculatur nicht nachbleibt und keine Ausbuchtung bildet.
In dieser Hinsicht war ein grosser Unterschied im Verhalten der
Narbe aucli in dem Falle nicht zu bemerken, wenn die Wunde
wegen Einführung eines Tampons nicht vollständig geschlossen
wurde. Nach Herausnahme desselben näherten sich die Wund-
ränder sehr bald, die Wunde verheilte rasch, ohne an der Ope-
rationsstelle besondere Veränderungen der Bauch Wandungen zu
hinterlassen. Dieses alles wird begreiflich, wenn wir in Betracht
ziehen, dass l. bei dieser Methode eine Continuitätstrennung der
Muskelschichten und Aponeurosen vermieden wird und die auf diese
Weise erhaltenen Spalten in denselben keine Neigung zum Klaffen
zeigen, 2. dass Dank der verschiedenen, mitunter entgegengesetzten
Verlaufsrichtung der Muskelschichten, die Spalten in verschiedenen,
manchmal unter einem rechten Winkel zu einander stehenden
1) (\'ntrnlblatt f. Chirurgio. 1897. Xo. 19.
Zur Frage über Bauchwandschnitte bei Laparotomien. 803
Ebenen liegen. Selbst in dein Fall, wenn die unter gewissem
Drucke befindlichen Bauchorgane eine Spalte zu durchdringen im
Stande sind, so finden sie an der nächsten Schicht, deren Verlaufs-
richtung schon eine andere ist, genügenden Widerstand.
Ist der Schnitt durch den geraden Bauchrauskel, wie erwähnt,
schon öfters empfohlen worden, so kam ich auf den Gedanken,
unter oben beschriebenen Gesichtspunkten in den seitlich gelegenen
Bauchwandpartien zu operiren, von selbst, imd die Idee schien mir
neu zu sein, bis ich Hinweise auf diese Operationsmethode in der
amerikanischen Literatur fand. So empfahl McBurney im Jahre
1894 1) bei Operationen am Wurmfortsatze die Bauchwand nicht
zu durchschneiden, sondern die Muskeln derselben in ihrer Längs-
richtung zu trennen und dieser Gedanke fand Anklang unter an-
deren amerikanischen Chirurgen, wie Stimson^), Abbe^), Meyer^);
Vischer*) andererseits, wie oben erwähnt, schlug einen anderen
Schnitt vor, welcher im Vergleich mit dem üblichen mehr nach
hinten und oben zu liegen kommt; seiner Meinung nach ist der
Wurmfortsatz auf diese Weise bequemer zu erreichen und auch die
Bedingungen für den Abfluss der Wundsecrete sind Dank der Lage
des Schnittes mehr nach hinten zu günstiger. Schliesslich hat
auch Roux^) darauf Acht gegeben, dass bei Operationen am
Wurmfortsatze die Bauchmusculatur längs ihrer Verlaufsrichtung
incidirt wird.
Aus der angeführten Literatur ist zu ersehen, dass nach dieser
Methode der Wurmfortsatz nicht nur in den anlallsfreien Intervallen
entfernt wurde, wie es McBurney nur für solche Fälle vor-
schlug, sondern auch in complicirten Fällen, wo mit anderen Worten
es auf einen recht freigelegten Operationsraum ankam; da aber
nun der Zutritt zum Proc. vermicularis durch die OeflFnung, welche
wir beim Spalten der Muskelschichten in ihrer Längsrichtung er-
halten, ein beschränkter ist und mitunter ungenügend weit er-
scheint, so schlugen Stimson^) und Meyer*^ vor, noch einen
*) Annals of surgery. Vol. XX, pag. 38.
2) Ibidem 1897. März-Heft pag. 364.
3) Annals of Surgerj-. 1887. August-Heft pag. 227.
*) Annals of Surgery. 1897. November-Heft pag. 625.
*) Semaine m6dicale. 1897. No. 41. Siehe Bericht über die Verband 1,
der chir. Section des Moskauer internationalen Aerzte-Congresses.
6) 1. c.
7) l. c.
804 Dr. N. Wolko witsch, Zur Frage über Bauch wandschnilte etc.
Schnitt längs dorn Aussenrand des geraden Bauchmuskels hinzu-
zufügen (ein Längsschnitt wie ihn Kämmerer^) empfahl bei Ope-
rationen am erkrankten Wurmfortsatze; ähnlich ist gleichfalls der
Jalaguier'sche Schnitt^). Doch ich erwähnte schon oben,
warum in solchen Fällen, meiner Meinung nach, gerade ein querer
liinschnitt in die Scheide des geraden Bauchmuskels gemacht
werden sollte.
1) Annais of Surgery. 1897. August-Heft pag. 226.
2) Presse medicale. 1897. No. 10.
LV.
lieber die traumatische Lösung der Kopf-
epiphyse des Femur und ihr Verhältniss
zur Coxa vara/^
Von
Professor Ur. t^prengel,
Oberarzt am HereogUehcn Krankenhause zu Braunsehweig, Chirurg. Abthoilung.
(Hierzu Tafel III und IV und 5 Abbildungen im Text.)
M. H.! Die Zahl der sicher beobachteten und anatomisch
festgestellten Fälle von traumatischer Trennung der Sehen kelkopf-
epiphyse ist eine sehr geringe. Ob thatsächlich so gering, wie
man nach Angabe der meisten Lehrbücher annehmen möchte,
denke ich weiterhin zu erörtern; jedenfalls darf es als ein un-
gewöhnlicher Zufall bezeichnet werden, dass ich im Laufe eines
Jahres in kurzem Zwischenräume 2 einschlägige Fälle beobachten
und durch anatomische Untersuchung analysiren konnte.
Ich lasse zunächst die beiden Krankengeschichten folgen:
I. Br., Dienstknecht, 17 Jahre alt, aufgenommen 14. April 97.
Patient stammt aus gesunder Familie, war selbst bis auf eine Diphtherie,
die er vor 6 Jahren durchmachte, gesund. Ueber die Entstehung seines Lei-
dens sagte er bei seiner Aufnahme (im Gegensatz zu späteren, weiter unten
zu besprechenden Angaben) aus, djvss er vor 3 Wochen plötzlich beim Gehen
Schmerzen in der linken Hüfte ohne traumatische Veranlassung und
ohne Zeichen sonstiger Erkrankung bekommen habe. Von dem Augenblick an
will er gehinkt haben und bemerkte, dass das linke Bein kürzer sei. Bis vor
3 Tagen ist er noch umhergegangen, dann musste er sich, da die Schmerzen
heftiger wurden, auf Veranlassung seines Dionstherrn legen. Auf besonderes
') Auszugsweise vorgetragen am 4. Sitzungstage des XXVII. Congresses
der Deutschen Gesellschalt für Chirurgie zu Berlin, 16. April 1898.
806 Dr. Sprengel,
Bcfraijen bemerkt Talient, ilass er bereits im ganzen letzten Winter ?.u*'ejlen
Scliniei'zen ini Hiirtgelenk geliabt und dass er das Bein immer etwas nach-
gezogen habe.
Status praesens. Patient ist im Stande, mühsam und äusserst kümmer-
tich am Stock sich zu bewegen. Linkes Bein steht, wie auch das Photogramm
sehr gut wiedergiobl, in starker Adduclion (linke Beckenseile um ca. 5 cm
nach oben verschoben) und Aussen roiation, so dass der äussere Fussrand dem
Lager aufliegt.
Fig. 1.
Fig. 2.
Vor ier Operatioi
Knch der Operatior
Funclionelle Verkürzung des linken Beines
(ans der Differenz der Malleolen gemessen) = 7 cm,
scheinbare Verkürzung = ^ „
reelle Verkürzung = 2 „
Koscr-NiSlaton'scIie Linie ist nicht festzustellen, weil das Bein nicht zum
Uebor die traumatische Lösung der Kopfepiphyse des Femur etc. 807
rechten Winkel gebeugt werden kann; doch lässt sich in der Streckstellung
constatiren, dass der Abstand des Troohantei^s vom Darmbeinkamm links deut-
lich geringer ist als rechts und dass eine von der Trochanterspitze nach der
Sp. a. s. gezogene und über letzteren Punkt nach oben verlängerte Linie,
rechts, der Norm entsprechend, durch den Nabel verläuft, links unterhalb des-
selben vorbeigeht.
Die Gegend dos Hüftgelenks ist links etwas voller, nicht schmerzhaft;
Trochantergegend nicht verändert; weder bei der äusseren Betastung der
Darmbeinschaufel, noch bei der Untersuchung der Innenfläche des Beckens per
rectum lässt sich etwas Abnormes naohweisen. Umfang des Oberschenkels
(12 cm über dem oberen Patellarrand) links 82 cm, rechts 35 cm.
Die passive Beweglichkeit des Hüftgelenks ist in jeder Richtung äusserst
beeinträchtigt; in Narkose lässt sich der Oberschenkel um 60^ beugen, gut
nach innen rotiren, dagegen nicht abduciren. Keine abnorme Beweglichkeit
bei dem Versuch, das Bein nach oben oder unten zu verschieben. Bei Rota-
tionsbewegungen geringes weiches Reiben im Gelenk.
4. 5. Im Anschluss an die Untersuchung Freilegung des Hüftgelenks
durch einen Schrägschnitt am hinteren Rande des Tensor fasciae latae,
zwischen ihm und Glutaeus medius verlaufend, und einen an das obere Ende
dieses Schnittes sich anschliessenden, dem Beckenrand entlang gehenden
Schnitt (cf. Sprengel, „Zur operativen Nachbehandlung alter Hüftresec-
tionen". Beiträge zur wissenschaftlichen Medicin. Festschrift der 69. Vers,
deutscher Naturforscher und Aerzte. Braunschweig 1897, bei Harald Bruhn).
Die Veränderungen am Schenkelhals lassen sich erst nach Eröffnung der stark
verdickten Kapsel übersehen. Es zeigt sich jetzt, dass der Schenkelhals stark
verbogen, resp. dicht am Kopf so abgeknickt ist, dass eine nach oben gerichtete
starke Convexität erscheint. Die Luxation des Kopfes gelingt sehr leicht;
Pfanne zum Theil von Wucherungen der Synovialhaut überzogen. Absägen
des Halses dicht an seinem Ansatz am Schenkelhals. Der Trochanter wird
etwas verkleinert, so dass er in Abdnctionsstellung in die Pfanne gestellt
werden kann. Partielle Naht der Wunde, Tamponnade des mittleren Theils
derselben. Beckengipsverband in abducirter Stellung.
Verlauf anfangs leicht fieberhaft. Am 11. 5. erster Verband. Neuer
Gipsverband. 14. 5. Verband. Stärkere Secretion; Extensionsverband. An
der tamponnirten Stelle bleibt noch Monate lang eine kleine Fistel zurück, die
am 11. 10. eine partielle Spaltung der Narbe noth wendig macht. Entfernung
zweier kleiner Sequester am oberen Femurende. Danach schnelle Heilung.
Am 15. 1. 98 wird Patient entlassen. Er geht am Stock im Stiefel mit er-
höhter Sohle sehr gut, das linke Bein ein wenig nachschleppend und hat dabei
keine Schmerzen; ohne Stock kinkt er stark. Stehen auf dem linken Bein ist
nicht möglich, angeblich wegen Schmerzen in der Hüfte.
Untersuchung Anfang April 98.
Fnnctionelle Verkürzung = 5 cm,
Beckensenkung = 1 »i
reelle Verkürzung = 6 „
Parallelstellung der Beine; keine Contractur; keine Andeutung von
808 Dr. Sprengel,
Lordose. Einwärts- und Auswärtsrotation frei, auch activ gut möglich. Ab-
duction ohne Mitbewegung des Beckens um 15^. Flexion ohne Mitbewegung
bis 125^. Heben des Beins im Liegen nur momentan möglich. Festigkeit des
Gelenks vollkommen.
2. V. H. , 18 Jahre alt, aufgenommen 17. Nov. 97. Hatte schon im
Sommer öfter Schmerzen in der rechten Hüfte, so dass er das Bein etwas nach-
zog. Bei der Aufnahme wurde trotz mehrfachen Befragens ein Trauma zu-
nächst in Abrede gestellt, vielmehr behauptet, dass vor 6 Wochen beim
Spazierengehen heftigere Schmerzen und danach Hinken aufgetreten sei.
Später, als die traumatische Entstehung für uns ausser Zweifel lag, ergab
nochmaliges dringendes Nachfragen, dass Patient beim Spielen vom Knie eines
anderen jungen Mannes auf die Erde und zwar auf Fiiesenfussboden gefallen
sei. Er hatte heftigen Schmerz und konnte nicht w^ied er aufstehen, musste mit
Unterstützung ins Bett gebracht werden. Die am nächsten Tage von Neuem
angestellten Gehversuche waren wieder vergeblich, wurden aber fortgesetzt, weil
der Arzt angeblich eine „Sehnenentzündung^' annahm und Bewegungen em-
pfahl. Patient hinkte unter ziemlich heftigen Schmerzen . am Stock umher.
Dieser Zustand blieb bis zur Aufnahme unverändert.
Status praesens. Etwas lang aufgeschossener, im Uebrigen aber gesund
aussehender junger Mann. Rechtes Bein steht in starker Aussenrotation,
leichter Flexion und Abduction. Obwohl die rechte Beckenhälfte um etwa
2 cm tiefer steht als die linke, beträgt die functionelle Verkürzung immer noch
2 cm, die reelle also etwa 4 cm. Trochanterspitze ragt rechts deutlich abnorm
weit nach oben und hinten; Trochanter selbst nicht verbreitert. Vordere Ge-
lenksgegend rechts deutlich voller als links, etwas druckempfindlich. Patient
gehr sehr schlecht, nur mit Unterstützung und unter Schmerzen.
Da es sich nach vorstehendem Befunde nur um eine schw^ere Verände-
rung am Schenkelhals handeln kann, die wir — aus weiter unten zu erör-
ternden Gründen — als eine solche im Sinne der Coxa vara betrachten, wird
die Freilegung des Schenkelhalses und je nach Befund Osteotomie oder Re-
section beschlossen.
Die Untersuchung in der zum Zwecke der Operation eingeleiteten Nar-
kose — 22. 11. — bestätigt im Wesentlichen den obigen Befund. Die Flexions-
stellung lässt sich zum Theil ausgleichen; Bewegungen in jeder Richtung sehr
beschränkt.
Schnitt zwischen Tensor fasciae und Glutaeus medius mit darauf-
gesetztem Beckenrandschnitt. Nach Ablösung des Hautmuskel-Periostlappens
sieht man zunächst nur den Schenkelhals, der, während der Trochanter weit
nach hinten steht, stark nach vorn prominirt und scharf mit einer etwas
rauhen Kante absetzt, so dass man den Eindruck einer Fractur bekommt.
Pfannenrand und Kopf sind zunächst nicht zu übersehen. Durch starke Aussen-
rotation wird der Kopf luxirt und mit der Gigli*schen Säge der Schenkelhals
dicht am Schaft abgetragen. In der Pfanne einige schwammige, aber sicher
nicht tuberculöse Wucherungen. Vom Lig. teres kaum noch Spuren vorhanden.
Die Wunde wird bis auf eine vordere Lücke, durch die ein Drain in die Pfanne
•
Ueber die iranmatische Lösung der Kopfepiphyse des Fcniur etc. 809
gelegt wird, durch tiefe und oberflächliche Nahte geschlossen. Extensionsver-
band, durch welchen die Abductionsstellung mit Leichtigkeit erzielt wird.
Verlauf günstig. Nur die Drainstelle bedarf etwas längerer Zeit zu völ-
ligem Verschluss. 4. 11. Beckengipsverhand in stark abducirter Stellung.
Patient fangt an, am Gehbänkchen sich zu bewegen.
Febr. Neuer Gipsverband bis zum Knie reichend; mit Verband entlassen.
März. Wieder aufgenommen zu Uebungen im med. mech. Institut.
Status. 6. 5. 98. Gang an zwei Stöcken gut, an einem Stock leidlich,
ohne Stock schwierig, aber zur Noth möglich. Stehen auf dem operirten Bein
unmöglich i).
Functionelle Verkürzung =4 cm,
Beckensenkung z=i 1 „
reelle Verkürzung = 5 „
Roser -Nelaton nicht zu bestimmen, weil Beugung nicht bis zum H. ge-
lingt. Trochanter-Spinallinie geht unterhalb des Nabels vorüber. Keine Lordose.
Beugung bis 45^; Abduction 15- -20®. Rotation relativ sehr ausgiebig.
Die beiden durch die Operation gewonnenen Präparate wurden
von dem Prosector des herzogl. Krankenhauses, Herrn Dr. ßeneke,
genau untersucht. Ich gebe die von ihm niedergelegten ausfülir-
lichen makro- und mikroskopischen Befunde nachstehend wieder
und zwar in extenso, weil eine gleich genaue anatomische Unter-
suchung einschlägiger Präparate bisher nicht existirt. Der an zweiter
Stelle beschriebene Fall (v. H.) hat, als der in mancher Hinsicht
ausgeprägtere, eine etwas ausführlichere Darstellung gefunden.
Fall 1. (Br.) Der Gelenkkopf zeigt im Ganzen normale Configuration.
Seine Oberfläche ist von weissem, ziemlich rauhem Knorpel überzogen, welchem
überall ein als dünnes Häutchen abziehbares Perichondrium aufliegt. An
zwei Stellen zeigt der Knorpel flache, breite Gruben; doch liegt der Knochen
nicht frei, sondern wird noch durch eine weisse, dünne Knorpelschicht be-
deckt, so dass die Herde den Eindruck vernarbter Defecte machen. Die Form
derselben zeigt insofern etwas Aufl"allendes, als sie mehrfach in lange Spitzen
auslaufen, als ob die Knorpelfläche geplatzt und auseinander gewichen wäre.
Am oberen hinteren Knorpelrand findet sich ein deutlicher, 2^0 cm
breiter Rissdefect; derselbe setzt sich mit stark zerfetzten Rändern 2 cm weit
nach hinten fort, wo dann ein dem Knorpelriss entsprechender hinterer Riss-
rand angedeutet ist. Hier sind durch die Operation erzeugte Defecte im
Bindegewebe und andererseits liegen bereits vorgeschrittene Narbenbildungen
vor, so dass eine genauere Verfolgung der Linie nicht mehr möglich ist.
Immerhin ist die Natur der breitklafl'enden Lücke als Risswunde unverkennbar.
Den Boden der Risswunde bildet spongiöses Gewebe der Diaphyso, welches
vielfach kleine, hyaline, nicht weisse Knorpelinseln trägt. An den beiden seit-
') Anm. während d. Correctur. Function seitdem wesentlich gebessert.
810 l>r. Spjcngcl,
liclion Händem siUt ein luppigea dichtes Fettgewebe. Die Diapliyse liegt dem
(ielenkkopr derartig an, d&ss die untere Fläche des Halses der Epiphyseolinie
zunächst parallel verltluft. Auf dem Sägescbnitt zeigt sich, dass sie dann
weiterhin, etwa in der Mitte der Eptphysenlinie, mit dieser in spitzem Winkol
zusammentrifft. Das Periost ist theilweise zwischen den Gelenkkopf und den
Hals hincingepresst. Der oberste Theil der Peripherie der unteren Fläche des
Femurhalses ist durch Knochengewebe fest mit der Epiphyse verbunden.
Fig. 3.
Die SägeHache des Durchschnittes (s. Fig. 3) zeigt eine normale Structur
der Kpipjiyso (A), die Epipliysenlinie (d) ist etwas unregelmässig gestaltet,
veibrcilerl, streckenweise stark hyperämisch. Der unterste Theil derselben,
welcher eine ziemlich starke Krümmung, parallel dem üusseren Gclenkknorpet
bildet, ist ganz intact und von beiden Seiten von intacter Spongiosa begrenzt.
Auf der Diaphysenseite bildet die letztere ein dreieckiges Feld (e), dessen
Grenze gegen die Diaphjse durch knorpelig knöchernes Callusgewebe gebildet
wird, welches die Fortsetzung des gleichen Gewebes darstellt, mit dem die
Verbindung des gegen die Epipliysenlinie vorgetriebenen Diaphysonstückes mit
der letzteren in ihren übrigen Abschnitten hergostelll wird. Dieses Callus-
gewebe (c) ist ausserordentlich schmal (durchschnittlich 2—3 mm) und völlig
unverscliieblicb. Die anliegende Diapbyse zeigt im Wesentlichen noch die
alten Ari'tiitertursyslemc, doch sind diese zum Theil an.scheinend in Resorption
begrilTen und amiorcrscits linden sich uuch neue dichte Itiilkchensj'slemo in
unmillel barer Nähe der Callusbildung; zu letKterer gehört wohl auch ein Theil
des scharr gebogenen Sporns. Blutungsreste sind nicht crkeniil)ar. In der
üebev die traumatischo Lösun«» der Kopfcpiphysc des Feraur etc. 811
Hauptsache bildet die Calluslinie einen flachen Bogen zwischen der Hissstelle
des oberen Knorpelrandes (b) und dem unteren Knorpelrand (a).
Mikroskopisch erscheinen der Gelenkknorpel und die von ihm aus-
gehende Knochenbildung der Epiphyse in der Hauptsache vollkommen normal,
namentlich findet sich keine Andeutung von Rachitis. Die Knochenbalkchen
der Epiphyse enthalten nur für kleine Strecken unterhalb des Knoi-pels Reste
von Knorpelgewebe, das Knochenmark ist fast vollständig von Fettgewebe
gebildet und enthält relativ wenig Lymphoidzellen , aber viele Blutgefässe.
Die Rissstelle des Knorpels (b) zeigt einen ziemlich scharfen Rand, welcher
aber überall unmittelbar in ein ausserordentlich zellenreiches Fibroblasten-
gewebe übergeht, dessen junge Gefasssprossen vielfach in die Knorpelmasse
eindringen.
Der Epiphysenknorpel ist vielfach in physiologischer Weise bereits von
Knochenbalkchen durchbrochen. Seine Knorpelzellen sind verschieden gebaut.
Streckenweise finden sich lange Knorpelzellensäulen, welche an Rachitis erin-
nern ; an anderen Stellen fehlen derartige Säulen ; sonstige Andeutungen rachi-
tischen Knochenwachsthums sind nicht erkennbar, namentlich fehlt in der
Nähe des Knorpels eine Osteoidzone. Die Färbung und die sonstige Structur
des Epiphysenknorpels lassen auf keine besonderen Störungen schliessen.
Wo das Callusgewebe der Epiphysenlinic sich anlegt, sind die Verhält-
nisse verschieden, je nachdem diese Knorpelinseln enthält oder nicht; wo letz-
teres der Fall ist, findet sich zwischen der Markmasse des diaphysäien und
epiphysären Knochens directe fibröse Callusverbindung von geringer Aus-
dehnung und derber Resistenz; von beiden Seiten dringen in diesen, an weiten
Bluträumen reichen Callus dicht mit Osteoblasten besetzte junge Knochen-
balkchen vor. Hauptsächlich liefert die Diaphyse solche Bälkchen; dieselben
stützen sich theilweise auf alte Diaphysenbalken ; letztere sind in der Nähe des
Callus theilweise stark mit Osteoblasten und neuen Knochenlagen bedeckt,
theilweise werden sie lacunär resorbirt, letzteres in geringem Grade; perfori-
rende Canäle finden sich nicht, wohl aber bisweilen Gruppen von Riesen-
zellen. Wo andererseits der Knorpel in Callus übergeht, finden sich theil-
weise dichte, junge Knorpelwucherungen, theilweise allmaliger unmittelbarer
üebergang des Knorpelgewebes in ein fibröses, derbfaseriges Gewebe, welches
die für die sogenannte primäre Verkalkung charakteristische feinkörnige Punc-
tirung in langen Strecken aufweist und dann weiterhin in gewöhnliches Callus-
gewebe übergeht. Die Gesammtmassc des Callus ist sehr gering, namentlich
sind besonders zellreiche Partien nur klein und selten. Auf Seiten der Epi-
physe sitzen zum Theil auch noch an anderen Stellen als in dem Gebiete e
ältere, Knorpelresto umschliessende Knochenbalkchen; ein Beweis dafür, dass
die Fractur zum grossen Theil im Spongiosagewebe der Diaphyse erfolgte.
Andererseits zeigt die in der Knorpelkapselwunde frei vorliegende Fläche
der Spongiosa (d'), also das untere Frarturstück, die erwähnten Knorpel inscln
als unzweifelhaft der E[)iphysenlinie angchöri^. Dieselben sind hier zum Theil
in Quellung und Degeneration, zum Theil werden sie von dem umgebenden
Fibroblastengowebo allmälig durchwuchert; vielfach zeigen sie auch deutliche
Wucherungen ihrer Zellen innerhalb erweiterter Kapselräume. Jene freie
812 Dr. Sprengel,
Knoclienoherllächo zeigt ausserdem kleine zertrümmerte Reste von Knochen
und ganz nccrotischem Knorpel, welche in riesenzellreichem Granulations-
gewebe eingeschlossen sind. Diese Zone ist nur ganz oberflächlich ; stärkere
Markquetschungen fehlen fast vollständig.
Wo das Periost des Halses gegen die Epiphyse vorgezerrt, beziehungs-
weise der oberen Fracturfläche der Diaphyse angepresst ist (bei a), zeigt das-
selbe starke Verdickung, lebhafte Zellwucherung, Bildung von Knorpel und
Osteoidbälkchen. Mit der Fracturfläche ist dasselbe bereits vollständige fest
verwachsen. Die Structur jenes 3 eckigen Spongiosastückes (e) im Winkel
zwischen Epiphysen- und Gelenkknorpel einerseits und Oalluslinio andererseits
zeigt nichts Besonderes. Sehr deutlich ist streckenweise zwischen der Periost-
wucherung und der Fracturlinie der Epiphyse im Gebiet von e noch eine
schmale, besonders gefässreiche Calluszone zu erkennen, welche versprengte,
meist necrotische Knorpelkeime enthält. Offenbar handelt es sich um die
Narbe einer organisirten Blutung, in welcher Partikelchen vielleicht verrieben
worden waren.
Epikrise. In allen wesentlichen Punkten stimmt der Fall I
(Br.) so genau mit Fall II (v. H.) überein, dass auch auf dieselbe
dort zu besprechende mechanische Entstehungsart der Fractur ge-
schlossen werden kann. Offenbar ist nur im Falle I (ßr.) die
Pressung der Fracturenden gegen einander noch viel dichter und
die Diastase durch Blutungen wohl nur an beschränkten Stellen
von einiger Ausdehnung gewesen. Hiermit stimmt das Auftreten
neugebildeter Knorpellagen im Callusgewebe insofern überein, als
solche Bildungen nach den neuestens durch Kapsammer^) be-
stäligten Befunden Koller's^) nur dann im Callus vorkommen,
wenn die Fracturenden sich während der Heilungsperiode häufig
an einander verschieben, sodass die elastische polsterartigc Be-
schaffenheit eines Knorpelzwisc^henlagers functionell beansprucht wird.
Fall II. V. II. Oberschenkelkopf von normaler Con6guration. Der
Knorpel zeigt streckenweise einige flache Rauhigkeiten, an einer Stelle in der
Art einer Abschürfung. Am Ligamentum teres quillt aus der Fovea heraus ein
mchrlappiger Fettgcwebewulst stark über die Knorpeloberfläche vor. Das Fett-
gewebe geht direct in die Scheide des Ligamentum über; letzteres zeigt nichts
Besonderes. Unmittelbar neben dem Kopf am unteren Rand liegen zwei gleich-
falls aufi'allend dicke myxomartig pralle Fettgewebeballen, der grössere von
der Grösse einer Zvvetsche. Beide verdecken seitlich die Spalte zwischen dem
Kopf und dem angei)rossten Halstheil und scheinen sich aus dem streckenweise
etwas briiunlich i)igmpntirten Periost zu entwickeln. Der Knorpel des Kopfes
endigt an der oberen hinteren Fläche mit einem scharfen, unregelmässig ge-
») Virchow's Archiv, Bd. 152. Heft 1. 1898.
2) Archiv für Eiitwickluugsrnechaiiik, Bd. 3, Heft 4. 1896.
IJebcr di« lr;iuma tische l.nsunjt iIit linprcpiiiliysi' des I-Viiiiir Hr. 813
1 Rand, welcliera einige weiche kleine K n och enb rocke I leicht vciscliicb-
lich anliegen. An beiden Seiten dieses freien Randes, dessen Breite 4Y2 ^"^
beträgt, geht das Perichondrinm des Kopfes in Fasergewebe über, welches
weiter nach hinten abermals einen freien, sehr stark fetzigen, knorpeligen
Rand bildet, und zwar in der Art, dass zwischen beiden freien Kändern eine
annähernd quadratische Lücke von 4 cm Länge und Breite vorliegt. Un-
;!weifelhaft sind die beiden freien Ränder ursprünglich zusammengehörig ge-
wesen nnd nunmehr auseinander geplatzt. In das Loch zwischen den beiden
Rändern drängt sich eine fetzige, rauhe KnechenoberfläiChe vor, an welcher
slellenweis kleine Inseln von Knorpelgewebe, welches viel durchscheinender
als dor Kopfknorpcl und daher wohl als Epiphysenknorpel zu deuten ist, fest-
sitzen. Die äassersle Kante dieses Knochens bildet einen etwa rechten Winkel,
Fig. 4.
so dass er also 2 Facetten zeigt; die hintere steht in unmittelbarer Verbindung
mit der hinleren Grenzlinie des Knorpolrisses und wird streckenweise von dieser
aus bereits mit Pasergewebe übersogen. Anf der entgegengesetzten unteren
Fläche des Präparates findet sich die Sägefläche der Resection, welche den
Femurhals schräg durchschneidet; dieselbe zeigt, dass der untere Rand des
Halses etwas verdickt und dem Knorpelkopf derartig dicht angepresst Ist, da^is
nur eine schmale Poriostmasse, welche oben beiderseits in das oben beschriebene
myxomatöso Fettgewebe übergeht, die Spalte ansfülit.
Der Sägeschnitt durch dio Langsame {s. Fig. 4) ergiebt, dass der Kopf (a)
bis zur hipiphysentinie (d) normal ist. Von letzterer sind hier und da deutlich
kleine Knorpelinscln zu erkennen. Lfnniiticlbar an die sanft gebogene blpi-
Arebii rur klin. Cbicuritie. S7. Bd. Hart 4, 54
814 Dr. Sprengel,
physonlinie schliesst sich eine in der Mitte 12 mm breite, nach der Peripherie
zu sich verschmälernde Bindegewebsmasse (C) von gleicher Richtung, welche
mit der Epiphysenlinie durch ein dichtes, etwa 2 mm breites, sehr zartes
Knochenbälkchennetz verbunden ist, dessen Bälkchen im Allgemeinen auf der
Epiphysenlinie senkrecht stehen. Genau in gleicher Weise verbindet sich die
Bindegewebsmasse auf der entgegengesetzten Fläche mit der der Epiphysenlinie
annähernd parallel verlaufenden unteren Halsfläche, letztere biegt sich etwas
spornförmig gegen den oberen Theil der Epiphysenlinie vor (bei x) und bricht
dann plötzlich ab, um senkrecht nach aussen in die freie, höckerige Knochen-
fläche (d^), welche in der Knorpelrisswunde vorspringt, überzugehen. Der
Schnitt beweist schon klar, dass die letztere Knochenfläche dem oberen Rande
der Diaphyse entspricht, und dass die Verbindungsmasse zwischen Hals und
Epiphyse nur eine Wucherung des Halsperiostes darstellt. Dieselbe entspricht
durchaus einem fibrösen Callus, zeigt mehrfach blutgefüllte kleine Caverncn
und geht am unteren Rande (bei a) direct in die Umschlagsstelle des Gelenk-
knorpels über. Die Structur des Halstheiles und des Kopfes (vergl. das
Röntgenbild Taf. 111, Fig. 4) 'zeigt annähernd normalen Typus, nur ist die
äusserste Randfläche des dem Callus anliegenden Halstheiles offenbar etwas
rareficirt. Der Callus gestattet eine deutliche Verschiebung des Kopfes am
Halstheil, wenn auch nur mit einem Ausschlag von 1 — 2 mm.
Mikroskopischer Befund. Eine dünne flache Scheibe des Knochens
wird mit der Laubsäge entnommen und in Salpetersaure-Formalin entkalkt *),
hierauf mit dem Gefriermicrotom geschnitten und mit Hämatoxylin und Pikrin-
säure, sowie nach van Gieson gefärbt.
Der Knorpel des Gelcnkkopfes erscheint vollständig normal, an der
Innenfläche besteht keine Andeutung einer rachitisähnlichen Knorpelzellen-
wucherung. Ebenso ist der Bau des Epiphysenknorpels vollständig normal.
Die den beiden Knorpelarten anliegenden Knochenbalken enthalten nur in der
nächsten Nähe des Knorpels noch Knorpelkerne. Das Perichondrium des
Gelenkknorpels zeigt streckenweise ungleichmässige Verdickungen aus zell-
reichem Gewebe (Folge traumatischer Reizung?). Das Markgewebe der Epi-
physe besteht aus Fettgewebe mit relativ normalem lymphocytärem Gewebe.
Nach dem Callus zu findet sich zunächst am Epiphysenknorpel streckenweise
normales Knochen- und Markgewebe, welches weiterhin in ein jüngeres, osteo-
blastenreiches Knochenbälkchensystem übergeht. An anderen Stellen schliesst
letzteres sich direct an den Epiphysenknorpel an, oder es zeigen auch die von
letzterem entspringenden, offenbar älteren Knochenbälkchen, einen dichten Be-
lag von Osteoblasten und junge, sie verbindende Zwischenpfeiler. Die neu-
gebildeten Knochenbälkchen sind zellreich und wegen starker Hämatoxylin-
färbung der Zellausläufer dunkel. Das sie umgebende Markgewebe wird in
raschem Uebergang aus dem Fetimark dicht fibrös, sehr spindelzellreich und
gefässarm. Die Knochenbälkchen enden sämmtlich in annähernd gleicher Höhe.
') s. Bcneke, Spondylitis deformans, in den Beiträgen zur wisssenschaft-
lichen Mcdicin. Braunschweig. Festschrift zur Naturforschcrversammlurg 1897.
Ueber Hie iraumatische Lösung der Kopfepiphyse des Femur etc. 815
Das Markgewebe geht dann über in das Spindelzellgevvebe dos Gallus, dessen
Faserzüge, Zellen und Gefässe in der Hauptsache sämmtlich die gleiche
Richtung wie die jungen Knochenbälkchen haben, nämlich senkrecht zur Epi-
physenlinie. Die Blutgefässe in dem sehr zelienreichen Gallus nehmen von der
oberen bisher beschriebenen Grenze nach unten gegen den Femurhals (B) zu
an Zahl und Weite rasch zu, sodass in den tieferen Lagen, namentlich an den
unteren Knochengrenzlinien stellenweise ein fast cavernöses Gewebe besteht
— ein deutlicher Beweis dafür, dass die Vascularisation des Gallus von der
Diaphyse bezw. deren Periost her erfolgt ist. Um die Blutgefässe des Gallus
herum liegen spärliche einkernige Lymphocyton, fast gar keine gelappt kernige
Loukocyten. Die tieferen Lagen des Gallus zeigen derbere Fibrillen und spär-
lichere Zellen als die oberen, nach der Epiphyse zu gelegenen. Das Gewebe
maclit hier stellenweise durchaus einen sehnenartigen Eindruck, die Zellen
zeigen vielfach Verbindungen ihres Protoplasmas durch zarte oder plumpere
Fortsätze.
In dies derbe Gewebe reichen nun auch von der Diaphysengrenzc her
reichliche, dicht gedrängte junge Knochen- bezw. Osteoidbälkchen hinein,
welche von sehr dichten Lagern grosser Osteoblasten- umgeben sind. Sie
stehen in directer Verbindung mit knorpelh altigen, offenbar alten Knochen-
bälkchen von erheblicher Dicke, deren ehemalige mehr räumliche Beziehung
zum Epiphysenknorpel aus den eingeschlossenen Knorpelresten sicher zu er-
schliessen ist. Diese alten Knochenbälkchen sind in der Gegend von x
grösstentheils nekrotisch, zeigen hier und auch sonst streckenweise reichliche
Howship'sche Lacunen, ferner vielfach Ueberkleiduug mit jungem, kernreichem
Knochengewebe (Osteoidgewebe?). Die Bälkchen der Diaphyse werden von
einander getrennt durch derbfibröses Mark , mit reichlichen jungen Spindel-
zellen, und sind im Allgemeinen in normaler Entfernung von einander; stellen-
weise aber, namentlich bei x und in der Linie d', stehen sie auch auffallend
dicht, dann erscheint das Knochenmark zwischen ihnen zertrümmert, nekrotisch,
von Leukocyten durchsetzt und enthält neben den nekrotischen Resten des
Fettgewebes auch Trümmer von Knochenbälkchen, welche stellenweise dicht
zusammengepresst liegen und von Zonen von Lymphoidzellen abgeschlossen
werden. Riesenzellbildung findet sich an diesen Trümmern nicht. Diese
Gruppen repräsentiren unzweifelhaft zertrümmertes Knochengerüslgewebe.
Stellenweise finden sich Reste von rothen Blutkörperchen diffus zerstreut; aber
nirgends Pigment.
Am äusseren Rand des Knochens geht das Gallusgewebe direct in das
Periost, bezw. dasPerichondrium über; auch streckenweise in den anstossenden
Gelenkknorpcl, welcher hier ganz local eine kleine Wucherung bildet, indem
seine vergrösserten Kapseln übermässig viel Zellen enthalten.
An den breitesten Stellen des Gallus (Milte) zeigt derselbe zahlreiche
Einsprengungen sehr kleiner Gewebstrümmcrchen , sowohl Knochen- als
Knorpelstückchcn; dieselben erscheinen meist nekrotisch und bilden jedesmal
den Mittelpunkt einer kleinen organisirenden Zelhvucherung. Einzelne Knorpel-
stückrhen zeigen von aussen eindrinp:onde Zellsträngo sowie Wuchorunj^on
54*
816 Dr. Sprongol,
der Knorpelzellennester. Ferner finden sich hier grössere und kleinere Haufen
abgestorbener rother Blutkörperchen, welche von dichteren Fibroblastenhaufen
umringt und durch reichlich vordringende Zellen organisirt werden; auch hier
fehlen Pigmentzellen. Jene Gewebstrümmer können ihrer Lage nach nur
durch Verreibung in einer Flüssigkeit (Blut) die beschriebene Anordnung er-
halten haben. Wo das Callusgewebe sich seitlich aus dem Periost des Femur-
halses entwickelt, gleicht dasselbe durchaus einem gewöhnlichen Fractur-
callus, seine Bälkchen stehen im Ganzen senkrecht auf der Richtung der alten
Knorhenbälkchen des Femurhalses ,ein deutlicher Beweis für die Abhängigkeit
der Richtung neuer Callusbälkchen von der veränderten Beanspruchungs-
richtung, eventuell selbst im Gegensatz zu der ursprünglichen Anordnung der
Periostfasern.
Das Knochengewebe des Femurhalses zeigt im Uebrigen keine Besonder-
heiten, namentlich ist auch die Resorption durch Lacunen zwar überall nach-
weisbar, aber nicht auffallend stark. Um einige grössere versprengte Knochen-
bälkchen, im Innern des Callus, welche nekrotisch zu sein scheinen, haben
sich junge Osteoblastcnlager gebildet, von denen auch kleine Knochenspiculae
ausgehen.
In Präparaten mit Giesonfarbuhg ist die Richtung und derbe Beschaffen-
heit der Callusfibrillen sehr deutlich. Um die Gefasse herum besteht gewöhn-
lich ein etwas faserärmerer Raum; sehr scharf sind die massenhaft in die
jungen Knochenbälkchen eindringenden Sharpey'schen Fasern zu erkennen.
Den alten Knochenbälkchen fehlen solche Fasern vollkommen.
Der Gelenkknorpel erscheint an einer Stelle unmittelbar neben dem Ab-
gang des Epiphysenknorpels (bei a) aus einander gesprengt. Die Lücke ist
hier ausgefüllt mit einem schmalen Zug von Spindelzellen, jungen Knorpel-
zollen, welche viel kleiner als die alten sind und osteorblastenreichen Osteoid-
bälkchen, im Ganzen also typischem Callusgewebe, welches sich auch direct
in das anstossende Callusgewebe fortsetzt.
Epikrisc. Aus den vorliegenden Befunden ergiebt sich, dass
durch plötzliche einmalige Gewalt die Epiphysenlinie gebrochen
und die Diaphyse aus derselben heraus luxirt ist. Den Beweis
hierfür liefert, abgcselien von der aus der Fig. 4 ersichtlichen Ver-
schiebung der Diaphyse, der breite Riss des Gelenkknorpels an
seinem Uebergang auf den Femurhals; ferner die Zertrümmerung
des spongiösen Gewebes der Diaphyse in unmittelbarer Nähe der
Rissspalte und die Versprengung zahlreicher kleiner der Epiphysen-
linie und ihrer Nachbarschaft entstammenden Gewebereste inner-
halb des Callusgewebes. Diese Versprengung kann in der eigen-
ihümliclien Form nur aus einer Verreibung der Trümmer in Flüssig-
keit, also offenbar einer Blutung, erklärt werden. Reste einer
solchen Blutung sind mehrfach erkennbar, indessen meistens in
lieber die traamatisclie Lösung der Kopfepiphyse des Fcmur etc. 817
starker Organisation begrifTen; der Uebcrgang dieses Organisaiions-
gewcbes in das Callusgewebc deutet mit Sicherheit darauf hin,
dass letzteres wohl mindestens grösstcntheils sich durch die
Organisation eines ehemals grösseren ßlutcoagulums entwickelt hat.
Diese Organisation ist unzweifelhaft, wie die Anordnung der Blut-
gefässe beweist, ganz vorwiegend gegen die Epiphyse vorgedrungen.
Gleichzeitig ist von dem Periostgewebe der ersteren, welches die Blut-
gefässe lieferte, sowie von der zerrissenen Epiphysenlinie der Epiphyse
eine typische Knochencallusbildung unter Benutzung der älteren
Knochenbälkchen als Stützpunkt ausgegangen. Alle diese Bilder ent-
sprechen durchaus den gewöhnlichen Callusbildungen bei Fracturen u.a.
Von Interesse ist die Thatsache, dass in dem Organisations-
gewebe blutpigraenthaltige Zellen fehlen; der Blutfarbstoff war ver-
muthlich schon zur Zeit der Operation, d. h. in den zur Beobach-
tung gelangten Organisationsstadien aus dem längst abgestorbenen
Blutcoagulum ausgelaugt. Ferner sind jene Knochenbälkchen,
welche im Callusgewebc versprengt den Mittelpunkt kleiner Osteo-
blastenw^ucherung darbieten, histologisch von Interesse. Da nirgends
sonst im Callusgewebe ausser an ihnen — abgesehen von den aus
der Spongiosa sich entwickelnden Knochenwucherungen — Osteo-
blasten sich finden, so ist es klar, dass die Knochentrümmer diese
Osteoblasten mitgeschleppt hatten; resp. das Material zu ihrer
Entwickelung lieferten.
In beiden Fällen ist es aufifallend, wie wenig die Structur der
Spongiosa in unmittelbarster Nähe der- Fractur verändert worden
ist. Hieraus scheint hervorzugehen, dass es sich bei dem Trauma
vielmehr um eine plötzliche Verschiebung der Fracturenden , eine
Torsion in der Epiphysenlinie als um eine Einkeilung der Fractur-
flächen in einander gehandelt hat. Irgendwelche anatomische Be-
funde', auf welche die Annahme einer erhöhten Nachgiebigkeit der
Knochen gegründet werden könnte (sogenannte Spätrachitis o. ä.)
wurden in beiden Fällen nicht erhoben. Das Eigenartige dieser
Fracturform scheint demnach nicht in einer allgemeinen be-
sonderen Schwäche (Disposition) des Knochengewebes, sondern
darin zu liegen, dass eine physiologisch nachgiebigere Stelle,
nämlich die noch nicht vollkommen consolidirte Epiphysenlinie,
bezw. die ihr unmittelbar anliegenden Zonen jungen Knochengewebes
durch ein Trauma ganz specifischer Richtung betrolfen werden.
818 Dr. Sprcnprcl,
nämlich dcrarl, dass die Fracturenden wie bei einer Torsion an
einander vorschoben werden. Weiterhin ist dann dafür, dass die
Fracturenden nicht auseinander weichen, sondern im Bilde einer
Coxa vara zusammengehalten werden, das Vcrhältniss ausschlag-
gebend, dass die derbe, fibrös-knorpelige Bandmasse, welche vom
üelenkknorpel auf den Hals übergeht, nur zum Theil geplatzt ist,
an den Seitenflächen aber noch ausreicht, um die Fracturenden fest an
einander zu ketten; so lange diese seitlichen Bänder noch festhalten,
kann sich die Diaphyse vielleicht an der Epiphyse in der Art eines
einachsigen, durch Seitenbänder fixirten Gelenkes in geringem Maasse
hin- und herschieben, während indessen eine völlige Trennung der
Fracturflächen von einander ausbleibt. Die Breite des Risses in dem
geplatzten Band muss auch dafür maassgebend sein, wie weit die
Fracturfläche der Diaphyse aus dem Risse herausragt.
Zu vorstehendem Bericht des Herrn Prosector Bencke möchte
ich bemerken, dass die Untersuchung der beiden Knochenpräparatc
gleichzeitig, d. h. erst nach Gewinnung des letzteren (Fall v. H.)
erfolgte. Auch die Durchsägung des Knochens unterblieb bis dahin.
Das war practisch ohne Belang, vom wissenschaftlichen Standpunkt
bedauerlich, weil dadurch das Resultat der anatomischen Unter
suchung, das erst nach Durchsägung des Schenkelhalses
und Kopfes klar zu Tage trat, für den zweiten Fall nicht
mehr diagnostisch verwendet werden konnte. Nach der äusseren
Configuration des resecirten Knochens nahm ich an, dass meine in
beiden Fällen auf Coxa vara lautende Diagnose durch die gewon-
nenen Präparate bestätigt sei.
Um für die Demonstration eine schnelle Orientirung zu er-
möglichen, habe ich von dem oberen Femurende der Leiche eines
ungefähr gleichaltrigen Individuums den Kopf und soviel vom
Schenkelhals abgetragen, wie bei unseren Fällen durch die Operation
geschehen war, und nun die durch die Operation gewonnenen Prä-
parate in der Stellung, die sie im Leben eingenommen hatten,
eingefügt. Man wird mir zugeben, dass das Bild (cf. Tafel III
und IV, Fig. 1, 2 und 5) der Coxa vara durchaus gleicht, und
dass man nothwendig auf den Gedanken kommen musste, es
handle sich um diese neuerdings so viel besprochene Deformität.
Man hat thatsäehlich das Bild eines von oben nach unten ver-
üeber die traumatische LösuDg der Kopfepiphyse des Femur etc. 819
bogcnon Schenkelhalses vor sich, nur dass in unseren Fällcu die
Abbiegung zu einer Art Einknickung geführt zu haben scheint.
Auf dem Sägeschnitt macht sich die Sache freilicli wesentlich
anders. Man erkennt hier ohne Weiteres, dass eine Lösung in
der subcapitalen Epiphyse und eine Verschiebung des Kopfes nach
unten, resp, des Halses nach oben stattgefunden hat. Die Lösung
ist in beiden Fällen eine vollkommene, die Verschiebung aber ver-
schieden. In Fall I (ßr.) (cf. Tafel III, Fig. 3, 4 und 6) war sie
relativ geringfügig, sodass die Epiphyse gewissermaassen imr ein
Stück weit an der oberen Fläche der Diaphyse herabgeglitten ist
und zu ihrem grösseren Theil noch der Diaphyse anliegt, nur dass
sich nicht mehr die ursprünglich entprechenden Stellen berühren;
in Fall II (v. H.) (cf. Tafel IV, Fig. 3, 4 und 6) dagegen war die
Verschiebung so beträchtlich, dass nur noch die untere Kante
der Diaphyse dem oberen Winkel der Epiphyse gegenübersteht.
Ich betrachte es als einen besonders glücklichen Umstand,
dass mir zwei offenbar nur graduell verschiedene Fälle zur
Beobachtung vorliegen. Denn wenn in Fall 1 allenfalls noch ein
Zweifel auftauchen könnte, und thatsächlich anfangs auch bei mir^)
entstand, ob die angenommene Lösung in der Epiphysenlinie that-
sächlich stattgefunden hat, so muss, meines Erachtens, ein genauer
Vergleich beider Präparate und namentlich der Röntgenbilder
Tafel III und IV, Fig. 4 jeden Zweifel beheben. Dieselben wurden
nach einem von Prosector Dr. Beneke in der Festschrift für die
69. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte beschriebenen,
vielleicht auch schon anderwärts versuchten Verfahren in der
Weise gewonnen, dass mit der Säge dünne Scheiben in frontaler
Richtung aus den Resectionspräparaten ausgeschnitten und nach
Roentgen photographirt wurden. Man sieht bei beiden, dass die
Epiphyse die untere Kaute der Diaphyse eigenthümlich pilzförmig
überragt, dass beide Epiphysen an sich ihre charakteristische Ge-
stalt behalten haben, dass in beiden Fällen Epiphyse und Diaphyse
durch ein eigenthümliches, weissliches, opakes, fast gallertartig er-
scheinendes Zwischengewebe (C) an einander befestigt sind. Dass
dieses Zwischengewebe im Fall I (Br.) Tafel III, Fig. 4 etwas
^) Ebenso wie bei Hoffraeister, der bei Gelegenheit des Chirurgen-
Congresses die Güte hatte, meine Präparate zu studiren.
820 Dr. Sprengel,
schmäler, in Fall H (v. H.) Tafel IV, Fig. 4 etwas breiter ist, kann
offenbar einen wesentlichen Unterschied nicht ausmachen. Ebenso
wenig darf es unsere Auffassung beeinflussen, dass in Fall I die
obere Kante der Diaphyse etwas abgerundeter erscheint, während
sie in Fall II ihre normale scharfkantige Gestalt bewahrt hat, und
dass die untere Kante in Fall I etwas mehr, in Fall II etwas
weniger spornartig ausgezogen ist. Diese letzteren Veränderungen
der Diaphyse sind meines Erachtens als secundäre, nicht durch die
Verletzung an sich, sondern durch die veränderte Function des
Knochens bedingte, gewissermaassen als Anpassungsvorgänge auf-
zufassen, und ihre graduelle Verschiedenheit findet darin eine aus-
reichende Erklärung, dass in dem Fall I der Patient beinahe
3 Monate, in dem Fall II aber nur etwa 6 Wochen mit der ver-
letzten Extremität umhergehinkt war. Naturgemäss mussten in
ersterem Falle die secundären Veränderungen ungleich hoch-
gradiger sein.
Dass in Fall I die Lösung nicht ganz genau in der Epiphysc
erfolgt ist, sondern an der Epiphyse ein kleines, dreieckiges Stück
der Diaphyse hängen geblieben ist, wird man kaum gegen unsere
Auffassung zu verwerthen versuchen. Im Grunde ist es sogar eine
weitere Stütze für dieselbe, da es einerseits nur durch die An-
nahme eines Trauma zwanglos erklärt werden kann, und anderer-
soits mit der auch sonst bekannten Thatsache übereinstimmt, da^s
die sogenannten traumatischen Epiphysenlösungen nicht immer
i-enau im Epiphysenknorpel selbst, sondern meist in dem an-
grenzenden Theil der Diaphyse erfolgen. Für die Auffassung einer
Verletzung als Epiphysenlösung genügt der Nachweis, dass die
Trennung in der unmittelbaren Nähe der Epiphyse auftritt und
dem Verlauf derselben im Wesentlichen folgt.
Endlich aber möchte ich für die Annahme, dass es sich
thatsächlich um eine traumatische Epiphysenlösung handelt, auf
(las Resultat der genauen mikroskopischen Untersuchung von
Dr. Beneke hinweisen, und aus derselben namentlich zweierlei
hervorheben :
1. Die erwähnte Zwischensubstanz (C in den Textfiguren 3
und 4 und in Figur 4 und 6 der Tafeln) ist nicht etwa ver-
breiteter Epiphysenknorpel, sondern echtes Callusgewebe, die Reste
des Epiphysenknorpels finden sich vielmehr theils an der dunkel
Ueber die traumatische Lösung der Kopfepiphyse des Femur etc. 821
coiitourirten Linie (d), thcil« an den Stellen (d^), wo die Diaphyse
gewissermaasscn durch den fibrösknorpeligen Uebcrgang an der
Grenze zwischen Kopf und Hals durchgeplalzt ist.
2. In heiden Fällen lassen sich im Oallusgewebe mikro-
skopisch „grössere und kleinere Haufen abgestorbener rother Blut-
körperchen" und „zahlreiche Einsprengungen sehr kleiner nekrotischer
Knochen- und Knorpeltrümmer nachweisen, die ihrer Lage nach
nur durch Verreibung in einer Flüssigkeit (Blut), die hier zu
beobachtende Anordnung erhalten haben können."
Diese beiden Momente, d. h. einerseits das sicher nach-
gewiesene echte Callusgewebe und andererseits das Vorhandensein
von Blutresten und abgesprengten, mit dem Bluterguss fortgespülten
Knorpel- und Knochenpartikelchen, lassen sich überhaupt auf keine
andere Weise als durch die Annahme eines Trauma erklären. Im
Verein mit den oben beschriebenen makroskopischen und aus den
Abbildungen ohne Weiteres abzulesenden Veränderungen des
Knochens machen sie unsere Auffassung, wie ich glaube, völlig
einwandfrei. Es handelt sich in beiden Fällen um trauma-
tische Lösung der Kopfepiphyse des Femur, Verschiebung
derselben nach unten und Wiedervereinigung mit dem
Schenkelhals an abnormer Stelle.
Bevor ich daran gehe, meine Fälle epikritisch zu beleuchten,
muss ich bezüglich der Anamnese folgendes hervorheben. Es fehlte
in derselben jeder Hinweis auf ein erlittenes Trauma. Von dem
ersten Kranken (Br.) wurde Anfangs ein Trauma überhaupt in Ab-
rede gestellt. Die Schmerzen traten angeblich „3 Woclien vor
der Aufnahme in das Krankenhaus plötzlich auf," ohne jegliche
traumatische Veranlassung, und gleichzeitig bemerkte Patient,
„dass das linke Bein kürzer sei." So lauteten damals seine An-
gaben. Nach Untersuchung des durchsägten Präparates hielt ich
es für meine Pflicht, den Kranken nochmals kommen zu lassen
und die ßerufsgenossenschaft, auf deren Veranlassung er zu uns
gebracht war, zu bitten, mein anfänglich abgegebenes Urtheil (das
auf statische Coxa vara gelautet hatte) nach nochmaliger Erhebung
der Anamnese modificiren zu dürfen. Der Kranke hatte zuerst,
wie er sagte, aus Furcht vor seinem Vater, Scheu gehabt, einen
Unfall als Ursache seines Leidens anzugeben. Nachdem er in-
zwischen ~- wohl nicht ohne Beeinflussung von derselben Seite —
822 Dr. Sprengel,
die wohlthätigc Wirkung eines Trauma für die berufegenossen-
scliaftliche Abschcätzung in Erfahrung gebracht hatte, gab er die
Scheu auf und iheilte uns Folgendes über den Unfall mit: Er sei
— etwa im Januar, d. h. 3 Monate vor der Aufnahme — eines
Tages beschäftigt gewesen, eine Bahre zu tragen. Beim Abwerfen
der Last habe er sich mit einem kräftigen Ruck nach der linken
Seite übergebeugt und dabei einen plötzlichen Schmerz in der
linken Hüfte verspürt. Er konnte nicht weiter arbeiten, war aber
im Stande, am nächsten Tage den mindestens eine Stunde weiten
Weg zum Arzt, weim auch am Stock stark hinkend, zurückzulegen
und sich weiterhin, dem Rath des Arztes folgend, mit leichter
Hofarbeit zu beschäftigen.
Bei dem zweiten Kranken wurde zunächst ebenfalls jedes
Trauma geleugnet, vielmehr angegeben, dass er vor 6 Wochen
beim Spazierengehen plötzlich heftigere Schmerzen bekommen
habe, sodass er nicht weiter gehen konnte. Erst nachträglich er-
fuhren wir etwas von dem in der Krankengeschichte beschriebenen
Unfall, als uns die Untersuchung des Resectionspräparates zu noch-
maliger dringender Nachforschung veranlasste.
In beiden Fällen waren dem Eintritt der mehr acuten Er-
scheinungen, welche das Gehen sehr beschwerlich machten,
Schmerzen in der betreffenden Hüfte vorausgegangen. Wir hatten
also für die Diagnose folgende Momente:
Es handelte sich um 17- und 18jährige junge Männer, die
nach vorangegangener Sclimerzhaftigkeit in der Hüftgelenksgegend,
angeblich ohne traumatische Veranlassung, heftigere Beschwerden
bekommen hatten, durch welche der Gang zwar schwierig, aber
nicht unmöglich geworden war. Die Untersuchung ergab in dem
ersten Fall Hochstand des Trochanters, Adduction und Aussenrota-
tion, in dem zweiten Fall Aussenrotation mit leichter Flexions- und
Abductionsstellung des Oberschenkels; in beiden Fällen reelle Ver-
kürzung der Extremität. Aeussere Zeichen einer vorangegangenen
Knochenverletzung — Grepitation, Bluterguss etc. — fehlten.
Die Beweglichkeit war beide Male in jeder Richtung herabgesetzt.
Man hatte nach Anamnese und Untersuchungsbefund in dem
ersten Fall ein beinahe klassisches Beispiel einer Coxa vara vor
sich und auch in dem zweiten Falle sprach die Anamnese voll-
kommen für diese Annahme; die Stellung des Beins sprach
üeber die traumatische Lösung der Kopfepiphyse des Femur etc. 823
wenigstens nicht dagegen, da nach Ansicht derjenigen Autoren,
welche über das grösste Material auf diesem Gebiete verfügen,
specicll nach Hofmeister (Coxa vara, eine typische Form der
Schenkclhalsverbiegung. Beitr. zur klin. Chirurgie, Bd. XI, S. 269,
Tabelle No. 9) bei Schenkclhalsverbiegung auch ausnahmsweise
Flexion und Abduction bei gleichzeitiger Aussenrotation vor-
kommen kann.
Wenn ich bei meinen Fällen so vollkommene üeberein-
stiramung mit den in der Literatur beschriebenen Symptomen fand,
um die Diagnose auf Coxa vara zu stellen, und trotzdem beide
Male einer Täuschung unterlag, so muss ich mir bei einer epi-
kritischen Betrachtung derselben naturgemäss folgende Fragen
vorlegen :
1. Sind die bisherigen diagnostischen Hülfsmittel überhaupt
nicht ausreichend, um zwischen traumatischer Epiphysenlösung und.
Coxa vara sicher zu unterscheiden?
2. Lassen sich unsere Fälle von unvollkommener traumatischer
Epiphysenlösung unter den Begriff der Coxa vara, wie er bis heute
verstanden wurde, subsumraircn, oder sind sie klinisch und ana-
tomisch abzusondern?
3. Sind die Erfahrungen, die man aus unseren Fällen her-
leiten darf, für zukünftige Fälle diagnostisch zu verworthen?
Zu der Frage 1 muss ich bemerken, dass Kocher in seinem
ausgezeichneten Werke (Beiträge zur Kenntniss einiger practisch
wichtigen Fracturformen. Carl Sallmann. Basel und Leipzig.
1896) S. 269 auf die Schwierigkeit der Diagnose traumatischer
Epiphysenlösungen hinweist, und dass ferner Hofmeister (1. c.
S. 274) ausdrücklich hervorhebt: „Die einzige Abnormität, der
gegenüber eine objective Unterscheidung (von Coxa vara) unmög-
lich sein dürfte, wäre eine mit Dislocatiou geheilte Schenkelhals-
fractur oder Epiphysenlösung. Aber das ist schliesslich im ana-
tomischen Effect auch nichts Anderes, und hier muss ausschliess-
lich die Anamnese entscheiden." Schon Müller in seiner be-
kannten ersten Publication über Coxa vara (Beitr. zur klin. Chir.,
Bd. IV, S. 137 ff.) bespricht die diagnostische Abgrenzung der
Coxa vara gegenüber der Epiphysenlösung. Er meint eine solche
deshalb ausschliessen zu können, weil „bei den allerdings be-
scliränkten Rotationsbewegungen der Trochanter einen dem Grad
824 Dr. Sprengel,
der Rotation entspreclicnd grossen Kreisbogen beschreibt." In
neuester Zeit hat de Quervain (Semaine raedicale, 1898, No. 6)
in einem sehr vollständigen kritischen Referat über die bisher in
Angelegenheit der Ooxa vara veröffentlichten Arbeiten auf die
Schwierigkeit hingewiesen, die Coxa vara mit Sicherheit von einer
alten Sehen kelhalsfractur zu unterscheiden, und Charpentier (De
rincurvation du col femoral, attribuee au rachitisme, ou coxa vara.
These de Paris, 1897. Ref. Centr. f. Chir. 1898, No. 11)
beschliesst seine Arbeit, in der er eine sehr weit gehende
Kritik an den bisher veröffentlichten Fällen von Coxa vara übt,
mit dem Hinweis auf die von Royal Whitman veröffent-
lichten Fälle von Schenkelhalsfracturen jugendlicher Individuen.
Auch er vertritt die Ansicht, dass man manche in der Literatur
als Coxa vara beschriebenen Fälle mit dem gleichen Recht als
traumatische Schenkelhalsfracturen wird bezeichnen dürfen.
Die vorstehenden Citate, die ich leicht noch um einige ver-
mehren könnte, werden genügen, um die Schwierigkeit der Diffe-
rentialdiagnose zwischen Coxa vara und veralteten Epiphyscn-
lösungen resp. Schenkelhalsfracturen jugendlicher Individuen zu
erhärten.
Leider sind die Rathschläge, welche gegeben werden, um
diesen Schwierigkeiten zu begegnen, nur sehr spärlich.
Wenn Hofmeister (1. c.) sagt, „ausschliesslich die Anamnese
muss entscheiden," so kann man diesem Satz für alle diejenigen
Fälle zustimmen, in denen das Trauma ein sehr prägnantes war
und auch in der Anschauung des Kranken das ganze Krankheits-
bild beherrschte. War das Trauma aber so geringfügig, dass es
den Kranken und ihren Angehörigen nicht als solches imponirte,
oder aber waren dieselben aus irgend welchen Gründen veranlasst,
dasselbe zu verheimlichen, so würde mit der unvollständigen
Anamnese auch im Sinne Hofmeister's das letzte differentiell
diagnostisch verwerthbare Moment wegfallen. Leider muss man
heut zu Tage, wo die Rücksicht auf gesetzliche Entschädigungs-
ansprüche die Aussagen der Kranken aus den arbeitenden Klassen
so vielfach beeinflusst, nicht blos doppelt vorsichtig, sondeni be-
züglich der Anamnese geradezu misstrauisch sein. Unser erster
Fall bietet in dieser Hinsicht ein klassisches Beispiel. Als wir
den Kranken zuerst gründlich und sorgfältig examinirten, gab er
lieber die traumatische Lösung der Kopfcpiphyse des Femur etc. 825
an, dass er ohne jeglichen traumatischen Anlass Schmerzen in der
Hüfte bekommen und die Verkürzung des Beins bemerkt habe,
nachdem schon längere Zeit Schmerzen bestanden. Später be-
hauptete er, keine vorhergehenden Schmerzen gehabt, dagegen den
oben erwähnten Unfall erlitten zu haben. Damals war angeblich
die Furcht vor seinem Vater, jetzt die Rücksicht auf die erhoffte
Entschädigung maassgebend. Läge nicht das entscheidende Prä-
parat vor, so müsste man sich an seine erste Aussage halten und
ihn demnach mit seinen Entschädigungsansprüchen abweisen. Da-
mit soll selbstverständlich der Werth der Anamnese, sobald sie
einen positiven und sicheren Anhalt ergicbt, nicht geleugnet
werden.
Der Hinweis von Müller, dass bei Lösungen in der Epi-
physenlinie der Trochanter bei Rotationsbewegungen einen kleineren
Kreisbogen beschreibt, als man nach dem Grad der Rotations-
bewegungen erwarten sollte, ist wohl nur für frische Fälle zu ver-
werthen. Aeltere Fälle von Epiphysenlösung könnten mindestens
von denjenigen Fällen von Coxa vara, welche schmerzhaft und in
ihrer Beweglichkeit beeinträchtigt sind, nach diesem Gesichtspunkt
nicht unterschieden werden.
Kocher (Beitr. zur Kenntu. etc., S. 243) hat auch in einem
veralteten Fall von traumatischer Epiphysenlösung bei einem
14 jährigen Mädchen mit grosser Sicherheit die richtige, durch die
spätere Resection bestätigte Diagnose gestellt. Er schreibt: „Wäh-
rend links die Trochanterspitze 6Y2 cm unter der horizontalen
Spinalinie sich befindet, ist dieselbe rechts 2 cm über derselben.
Der Trochanter lässt sich leichter umgreifen, als auf der gesunden
Seite. Bei Rotationen fühlt man, der Stelle des Schenkelhalses
entsprechend, eine deutliche Resistenz, welche bei der Auswärts-
rotation vorn einen Vorsprung bildet, der aber nicht knorpelig ist,
sondern etwas unregelmässig und in seiner Form dem Schenkel-
hals entspricht. Der Kopf an der normalen Stelle bewegt sich
nicht mit."
Hier kamen also die durch die Epiphysenlösung bedingte
secundärc Wachsthumsstörung und die Fühlbarkeit eines scharfen
Knochenfragments in Betracht. Günstig für die Möglichkeit einer
präcisen Diagnose war die feststehende Thaisachc eines voran-
gegangenen schweren Traumas.
826 Dr. Sprengel,
Ucbcreinsümmencl wird von mehreren Seiten der Werth der
Röntgon-Photographie betont. Royal Whitmann (Further obser-
vations on fracture of the neck of tho femur in childhood, with
ospecial reference to its diagnosis and to its more remote results.
Annais of surgery. June 1897) will mit Hülfe der Durchleuchtung
die Richtigkeit seiner Diagnosen auf Schenkelhalsinfraction haben
bestätigen können, und Hofmeister (Ueber Coxa vara nach
Röntgen-Aufnahme. Verhandlungen der deutschen Ges. f. Chir.
1897) theilte auf dem letzten Chirurgencongress mit, dass er in
einer Anzahl einschlägiger Fälle die Röntgen-Photographie ange-
wandt und mit Hülfe derselben die auf Coxa vara gestellte Dia-
gnose habe bestätigen resp. modificiren können. Hofmeister hat
die Aufnahmen in Bauchlage der Kranken gemacht. Auch in un-
seren beiden Fällen wurde das Röntgen-Verfahren, allerdings in
Rückenlage der Kranken, angewendet. Es hat — in unseren
Fällen — nicht genügt, um die Fehldiagnose zu verhüten; wir
konnten durch dasselbe nur feststellen, dass der Trochanter mehr
als normal dem Kopf genähert war; über Art und Form der
Schenkelhalsveränderung konnten wir nichts Bestimmtes eruiren,
waren aber der Ansicht, dass das gewonnene Bild der Diagnose
von Coxa vara zum mindesten nicht widerspräche. Diese Erfah-
rungen sind natürlich zu gering, um gegenüber den grösseren Be-
obachiungsrcihen, wie sie z. ß. Hofmeister aufzuweisen hat, ent-
scheidend in Betracht zu kommen. Wenn ich aber in der von
ihm gegebenen Beschreibung den Passus lese: „Von den verschie-
denen Krümmungen, welche in der Coxa vara vereinigt sein können,
der Abwärts-, Rückwärts und Torsionskrümmung, ist es naturge-
mäss fast allein die erste, welche bei der sagittalen Projection
zur klaren Wiedergabe gelangt. Sie finden wir in der That in
allen 6 Fällen ausgesprochen, im Einzelnen freilich oft die Form
recht wecliselnd, bald einem platt gewölbten Bogen gleichend, bald
mehr oder weniger winklig eingeknickt. Eine exacte Bestimmung
des Schenkelhalswinkels ist nicht möglich, da die Achse des Halses
keine gerade, sondern eine nach oben convexe, krumme Linie
bilde*. Praktisch viel bedeutungsvoller als die Beschaffenheit der
oberen Schenkclhalscontour erscheint, wie in meinen Bildern, das
Verhalten seiner unteren Begrenzungslinie. Eine hochgradige
Verkürzung und Concavität dieser letzteren ist das gemeinsame
Lieber die traumatische Lösung der KopFepiphyse des Fomur etc. 827
Characteristicum aller Fälle. Man kann bei manchen Becken
geradezu von einer Einrollung des Schenkelhalses nach unten
sprechen, welche zuweilen so stark wird, dass der untere Rand
des Kopfes die Pfanne verlässt und sich filzhutartig über den Hals
zurückstülpt. Daraus resultirt eine ganz ausserordentliche An-
näherung des Kopfes an den Trochanter minor'' — so kann ich
nicht umhin, in dieser Beschreibung eine ganz ausserordentliche
Uebereinstimmung mit meinen Fällen zu sehen. Wenn man sich
ein Röntgenbild denkt, das die Oontouren derselben in idealer
Weise wiedergäbe, so müssten sich auf demselben die „winklie^e
Einknickung'^ an der oberen Umrandung des Schenkelhalses, die
„hochgradige Verkürzung und Concavität" seiner unteren Begren-
zungslinie wiederfinden. Ja, man müsste — eine richtige Wieder-
gabe durch die Photographie vorausgesetzt — „geradezu von einer
Einrollung des Schenkelhalses nach unten, welche so stark wird,
dass der untere Rand des Kopfes die Pfanne verlässt und sich
filzhutartig über den Hals zurückstülpf*, sprechen, wenn man das
supponirte Röntgenbild beschreiben wollte.
Nach der Uebereinstimmung der von Hofmeister beschrie-
benen Röntgenbilder, aus denen er selbst (1. c) den Schluss zieht,
dass „gerade das filzhutförmige Ueberwuchern des Kopfes ent-
schieden auf die Knorpelfuge als Ursprungsherd der Deformität
hinweist", mit meinen Präparaten von Lösung und Verschiebung
des Kopfes in der Epiphysenlinie kann ich — wenigstens auf
Grund der bisherigen Erfahrungen — nicht zugeben, dass die
Röntgen-Photographie eine sichere Unterscheidung zwischen beiden
Affectionen erbracht hat, rauss vielmehr für die Fälle, in denen
ein anatomischer Nachweis nicht vorliegt, die Möglichkeit, dass es
sich in den als Ooxa vara gedeuteten Fällen — rein anatomisch
gedacht — auch um Epiphyseolyse gehandelt haben kann, offen
halten.
Schwieriger ist die zweite der von mir aufgestellten Fragen
zu beantworten; auch dürfte es mir nicht zustehen, sie definitiv
zu entscheiden. Indessen gebe ich Folgendes zur Erwägung. Es
ist für mich zweifellos, dass eine grosso Uebereinstimmung zwisc^hen
meinen Präparaten und einigen der von Kocher in seinen ver-
schiedenen Arbeiten über Coxa vara gebrachten Abbildungen be-
steht, obwohl diese Aehnlichkeit auf den ersten Blick deshalb
828 Dr. Sprengel,
nicht ohne Weiteres erhellen mag, weil die Koch er 'sehen Präpa-
rate durch Resection unterhalb des grossen Trochanters gewonnen
wurden, während in meinen Fällen die Resection im Schenkelhals
erfolgte. Für mich steht aber, wie gesagt, die Aehnlichkeit zwi-
schen meinen Fällen und dem von Kocher in seiner ersten Publi-
cation über Coxa vara abgebildeten Präparate (D. Z. f. Chir., 38,
S. 536, Fig. 5 u. 6), ganz besonders aber mit der schematischen
Figur in seiner dritten, denselben Gegenstand betreffenden Publi-
cation (D. Z. f. Ch., 42, S. 510) unumstösslich fest. Kocher
hat nun bekanntlich schon in seiner ersten Arbeit hervorgehoben,
dass er „als Sitz der Verbiegung die zwischen Hals und Kopf ver-
laufende Epiphysenlinie und nicht eine entfernt von dieser Linie
befindliche Stelle zwischen Hals und Schaft" betrachtet (I. c,
S. 545). In seiner zweiten Arbeit (1. c, S. 422) sagt er: „Wäh-
rend sowohl bei Müller als bei Hofmeister die Abknickung und
Verkleinerung des Winkels zwischen Hals und Schaft mehrfach
betont ist, haben wir ausdrücklich hervorgehoben, dass es der
Kopf, d. h. die eigentliche Epiphyse im engeren Sinne ist, welche
gegen den Schenkelhals verschoben und gedreht ist: abwärts, rück-
wärts und, hinten abwärts." In seiner dritten Arbeit endlich (D.
Z. f. Gh., Bd. 42, S. 509) hebt er den Unterschied zwischen
seinen und den Anschauungen von Müller-Hofmeister durch
folgenden Satz hervor: „Wir müssen uns nämlich je mehr und
mehr überzeugen, dass die echten typischen Fälle von Coxa vara
dann entstehen, wenn die mechanischen Momente (Ueberbelastung)
bei Nachgiebigkeit speciell in der Epiphysenlinie die Hauptrolle
spielen, während die abweichenden Formen, namentlich die als
geringster Grad der Coxa vara aufgefasste Gruppe I von Hof-
meister, unsere Coxa adducta, dann zu Stande kommen, wenn
intensivere, ausgedehntere oder anders localisirte Störungen in der
Resistenz des oberen Feraurcndes bestehen."
Der springende Punkt in diesen Sätzen ist der Hinweis auf
die Epiphysenlinie als Sitz der Entstehung der Coxa vara (im
Koch er 'sehen Sinne). Auch in meinen Fällen war die Epiphysen-
linie Sit/ der Erkrankung, auch bei ihnen handelt es sich um eine
Verschiebung im Sinne der Adduction und Auswärtsrotation, nur
dass nicht das mechanische Moment der Ueberbelastung, sondern
das des Trauma das ursächliche war. Es wäre deshalb meines
Ueber die tnuimatische Lösuni^ der Kopteplphyse des Femur etc. 820
Erachtens nicht widersinnig, auf Grund unserer Fälle von einer
traumatischen Coxa vara zu sprechen; denn nach meiner Vor-
stellung kann unter Umständen ein einzelnes Trauma dieselbe Wir-
kung ausüben, wie sie vom Gesichtspunkt der Belastungsdeformi-
tät durch die Belastung, d. h. durch eine Reihe sich wiederholen-
der Traumen erfolgt. Auch würden für eine solche Benennung die
Analoga nicht fehlen. Will man trotzdem den von mir hiermit
vorgeschlagenen Namen der Coxa vara traumatica nicht ohne
Weiteres acceptiren, so wird man doch, wie ich hoffe, folgende
Schlussfolgerungen zugeben :
Wenn feststeht, dass
1. das durch Anamnese und klinische Untersuchung lixirte
Bild meiner Fälle von dem typischen Bild der Coxa vara nicht
zu unterscheiden war,
2. die von mir abgebildeten Präparate einerseits den von
Hofmeister beschriebenen Röntgenaufnahmen ausserordentlich
ähnlich, andererseits den von Kocher als Typen der Coxa vara
(in dem speciell Koch er 'sehen Sinne) gegebenen Abbildungen
mindestens sehr nahe standen,
3. es sich in meinen Fällen um echte (traumatische) Lösung
und nachträgliche deforme Wicderverw'achsung in der Kopfepiphysc
des Femur handelt,
so darf man behaupten:
1. die Lehre Koch er 's, dass das Bild der echten statischen
Coxa vara durch Verbiegung in der Region der Kopfepiphysc zu
Stande kommt, erhält durch meine Fälle eine weitere Stütze.
2. das Bild der echten Coxa vara (im Kocher'schen Sinne)
kann nicht blos durch Verbiegung im Bereich der Epiphysenlinic,
sondern auch durch echte Epiphysenlösung und nachfolgende
Wiederverwachsung in deformer Stellung zu Stande kommen.
3. es ist wahrscheinlich, dass zwischen der traumatischen
vollkommenen Epiphyseolyse und der durch Trauma bedingten
Verschiebung des Schenkelkopfes eine Reihe von Uebergangsstufen
vorkommen. Je unvollkommener die Epiphyseolyse ist, um so
mehr wird sie sich klinisch und anatomisch dem Bild der stati-
scHen Coxa vara (im Kocher'schen Sinne) nähern.
Die oft erörterte und auch in unseren Fällen naheliegende
Vermuthung, dass ein relativ geringfügiges Trauma einen erkrankten
Arcliiv nir klio. Chirurgie. 57. Bd. Heft 4. 5^
830 Dr. Sprengel,
g
Knochen betroffen und dadurch an demselben die Epiphysenlösun
herbeigeführt habe, hat in der genauen mikroskopischen Unter-
suchung keine Bestätigung gefunden. Weder deutliche Spuren von
Rachitis, noch Veränderungen im Sinne der v. Recklinghausen-
sehen juvenilen Osteoraalacie Hessen sich nachweisen. Die in bei-
den Fällen längere Zeit vor dem Trauma beobachteten Schmerzen
an dem später betroffenen Gelenk können demnach in keiner be-
stimmten Richtung gedeutet werden. Bis auf Weiteres müssen
wir uns mit der Annahme begnügen, dass die £piphysenlinie bis
an das Ende des Knochenwachsthums eine Region geringeren
Widerstandes bildet, die eventuell auch schon einem geringen oder
in besonders günstiger Richtung auftreffenden Trauma nachgeben
kann. Vielleicht wird gerade das Ende der Wachsthumsperiode
als relativ günstig für das Zustandekommen der statischen oder
traumatischen Coxa vara zu betrachten sein, weil dem noch nicht
völlig ausgebildeten Skelett nach Form und Dauer ungewöhnliche
Belastungen oder aber durch die Wucht des Körpergewichts ver-
stärkte Traumen zugemuthet werden.
Die eben gemachten Bemerkungen haben, obwohl sie sich auf
die Pathologie der Coxa vara beziehen, doch auch für die Dia-
gnostik praktische Bedeutung und leiten zu der Beantwortung der
dritten von mir aufgeworfenen Frage nach der diagnostischen Ver-
wcrthung unserer Fälle über.
Meines Erachtens lehren oder bestätigen sie in erster Linie,
dass die traumatische Lösung der Kopfepiphyse des Femur doch
wohl nicht ganz so selten ist, wie man noch bis vor Kurzem an-
nahm. In der oft citirten Zusammenstellung von Bruns (üeber
traumatische Epiphysentrennung, v. Langen beck's Arch., Bd. 27,
S. 240, und Lehre von den Knochenbrüchen, Deutsche Chirurgie,
S. 117) aus dem Jahre 1886 konnte unter einer Gesammtmasse von
81 Epiphysenabsprengungen nur ein von Bousseau beschriebener
Fall aufgeführt werden, der bei einem 15 jährigen Knaben durch
üeberfahren zu Stande kam. Neuerdings stellte Tubby (Annais
of Surgery, März 1894, ref. Centralbl. f. Ohir., 1894, S. 556) im
Ganzen 14 Fälle aus der Literatur zusammen; er betrachtet aber
selbst nur 9 Fälle als zweifellos und von diesen 9 Fällen ist wie-
derum nur ein einziger durch die Autopsie sichergestellt. In die-
sem einzigen Fall findet man aber bei genauerer Betrachtung den
üeber die traumatische Lösung der Kopfepipliyso lies Femur etc. 831
alten Bekannten aus der Bruns'schen Monographie wieder. Bis
dahin hatten also die Lehrbücher Recht, wenn sie die fragliche
Verletzung als Rarität ziemlich nebensächlich behandelten.
König sagt in seinem Lehrbuch, VI. Auflage, 1894, bei Be-
sprechung der Schenkelhals bräche: „Ja, man hat sogar eine Anzahl
von Fällen berichtet (Hamilton, Hutchinson), welche als
Lösung der Schenkelepiphyse aufgefasst wurden, freilich ohne bis
jetzt einen anatomischen Nachweis dafür erbringen zu können, da
sie sämmtlich rasch und gut heilten."
Hoffa (Lehrbuch der Fracturen und Luxationen, Würzburg,
1896) giebt das von mir erwähnte Referat über die Tubby'sche
Arbeit wieder; eigene Beobachtungen standen ihm anscheinend
nicht zur Verfügung. Helferich (Atlas und Grundriss der trau-
matischen Fracturen und Luxationen, München 1897) nennt die
traumatische Epiphysentrennung am oberen Femurendc „eine ganz
ausserordentlich seltene Verletzung". Er betont, dass „hier der
grösste Unterschied zwischen Femur und Huraerus besteht; denn
am oberen Humerusende sind Epiphysentrennungen relativ häufig".
In manchen anderen Lehrbüchern werden die traumatischen Epi-
physentrennungen am oberen Femurende überhaupt nicht erwähnt.
In neuester Zeit hat zunächst Royal Whitman die Schenkel-
halsfracturen des jugendlichen Alters zum Gegenstand eines spe-
ciellen Studiums gemacht. In seiner oben citirten Arbeit, die ich
sowohl bei Kocher (Beitr. zur Kenntniss einiger praktisch wichti-
gen Fracturformen) als bei Oharpentier (1. c.) erwähnt finde, hat
er sämmtliche von ihm beobachtete, zum Theil schon früher ver-
öffentlichte Fälle von Schenkelhals Verletzungen des jugendlichen
Alters zusammengestellt. Es sind im Ganzen 10 Beobachtungen,
welche Kinder im Alter von 2Y2 bis zu 8 Jahren betreffen.
R. Whitman vertritt die Anschauung, dass es sich in seinen
Fällen ausnahmslos um Brüche des Schenkelhalses — also nicht
um traumatische Lösung der Kopfepiphyse — gehandelt hat.
Allerdings sollen sich diese Brüche dadurch von den Altcrsfrac-
turen unterscheiden, dass sie keine vollkommene Continuitätstrcn-
nungen, sondern Einknickungen oder blosse Biegungen darstellen,
„^reen stick fractures", wie W., oder „fraclures en bois vort", wie
Charpentier (1. c.) sie nennt. Einen anatomischen Beweis für
die Richtigkeit seiner Anndune kann R. W. nicht beibringen, denn
55 ♦
832 Dr. Sprengel,
in keinem seiner Fälle war eine anatomische Untersuchung bei
Gelegenheit der Operation oder Autopsie möglich; die Röntgen-
Aulnahmen wurden nur in 2 der Fälle ausgeführt. Ich habe mich
schon oben über den relativ geringen Werth der Röntgen-Photo-
graphie für die Entscheidung der hier in Betracht kommenden
difficilen anatomischen Unterscheidungen geäussert; wenn vollends
die Aufnahmen erst 4 Jahre resp. 13 Monate nach erlittenem Un-
fall erfolgen, wie das bei den Fällen von R. W. geschah, so kön-
nen sie meines Bracht ens, zumal die Kinder zur Zeit des Unfalls
erst 2Y2 ^"d 3V2 Jäli^ S'lt gewesen sein sollen, also einen noch
sehr kurzen Schenkelhals hatten, keinerlei Bedeutung beanspruchen.
Von den Gründen, welche R. W. für die Diagnose Schenkelhals-
bruch und gegen die Epiphysenlösung vorbringt, ist der eine be-
achtenswerth. R. W. betont, dass er in seinen Fällen meist nur
eine sehr geringe Functionsstörung bei relativ starker Verschiebung
des Trochanters nach oben * beobachtet habe. Das sei mit der An-
nahme einer Epiphysenlösung nicht wohl verträglich, weil eine
solche, da sie intraarticulär gelegen sei, nothwendig eine erhebliche
Functionsstörung hervorrufen müsse. Ich lege selbst bei meinen
Fällen auf diese Functionsstörung, wie ich gleich noch erörtern
werde, diagnostisches Gewicht, möchte aber bezweifeln, ob dies
Symptom bei Kindern denselben Werth beanspruchen kann, wie
in einem späteren Alter, zumal wenn dieselben, wie es bei R. \V.
der Fall war, fast ausnahmslos nicht frisch, sondern erst zu einer
Zeit in Behandlung kamen, wo sich die Störungen am Gelenk
schon einigermaassen ausgeglichen haben konnten.
Noch weniger beweisend ist die zweite Behauptung R. W.'s.
Er sagt, die meisten Epiphysenlösungen kämen durch Hebelwir-
kung, welche mittels der Gelenkbänder auf die Epiphyse ausgeübt
wird, zu Stande. Da nun die Hebelkraft an der Kopfepiphyse
des Femur als an dem besonders geschützten Knochentheil einen
sehr ungünstigen Angriffspunkt finde, so sei a priori ein Bruch am
Schenkelhals viel eher zu erwarten, als eine Epiphysenlösung.
Thatsächlich seien auch die meisten beobachteten Epiphysenlösun-
gen durch extreme Gewalten zu Stande gekommen.
Abgesehen davon, dass ich nicht zugeben kann, dass die
Kopfepiphyse des Femur sich in einer anatomisch ungünstigeren
Situation für das Eingreifen einer hebelartig wirkenden Gewalt be-
Ucber die traumatische Lösung der Kopfepiphyse des Femur etc. 833
findet, als andere Epiphysen des Körpers, kann ich einfach auf
meine Fälle hinweisen, bei denen die anatomisch nachgewiesenen
Epiphysenlösungen unter Einwirkung eines geradezu erstaunlich
geringen Traumas erfolgten. Der einzige, von R. W. und auch
von mir (S. 830) citirte Fall von Bousseau ist nicht beweisend,
da bei ihm die Epiphysenlösung lediglich Theilerscheinung mehr-
facher, sehr complicirter ßeckenverletzungen war. Selbstverständ-
lich können Epiphysenlösungen auch bei schweren Gewalteinwir-
kungen vorkommen — die von Kocher angeführten und anato-
misch untersuchten Fälle beweisen das zur Genüge — ; dass aber
ceteris paribus der Schenkelhals jugendlicher Individuen leichter in
der Epiphysenlinie nachgeben wird, als an einer anderen Stelle,
ist ein Axiom, das durch R. W.'s Deductionen in keiner Weise
erschüttert wird. Höchstens könnte man sagen, dass die Kranken
R. W.'s für eine Epiphysenlösung zu jung waren, und diesen Um-
stand für die Annahme einer „Fracture en bois vert" ver-
werthen. Denn es ist auffallend und auch von T u b b y (1. c.)
hervorgehoben worden, dass die Kranken mit Epiphysenlösung ge-
wöhnlich am Ende der Wachsthumsperiode sich befanden, wo der
Pemurkopf nicht mehr im Wesentlichen aus Knorpel besteht, son-
dern nahezu verknöchert und deshalb unfähig ist, wie Tubby
sagt, „of accomodating itself to sudden shocks".
Indessen will ich mich hier nicht in anatomische Streitfragen
verlieren, die meines Erachtens in manchen Fällen nicht einmal
durch den blossen Anblick des resecirten Knochenstüeks, sondern
sicher und überzeugend nur dadurch entschieden werden können,
dass man frontale Sägeschnitte anlegt und diese nach dem oben
erwähnten Verfahren mit Hülfe der Röntgen-Strahlen photographirt.
Was ich an dieser Stelle hervorheben möchte, ist der Satz: Neuere
Untersuchungen haben gelehrt, dass die traumatischen
Continuitätstrennungen im Schenkelhals auch bei jugend-
lichen Individuen keineswegs so selten sind, wie man
bisher annahm, und dass unter ihnen die Lösungen der
Kopfepiphyse wahrscheinlich eine ziemlich wichtige
Rolle spielen. Es ist wohl kein Zufall, dass unter den 23
FäUen — 9 Fälle Tubby, 10 Fälle Royal Whitman, 2 Fälle
Kocher, 2 Fälle Sprengel — von Continuitätstrennungen im
Schenkelhals jugendlicher Individuen, welche sich in der neueren
834 Dr. Sprengel,
Literatur vor/oichiiet finden, sämmtlichc 5 Fälle, welche Gegen-
stand genauer anatomischer Untersuchung wurden, Trennungen in
der Kopfepipliyse darstellten.
Für die Diagnose wird man aus dieser Thatsache die Regel
entnehmen dürfen, dass man in jedem, ein jugendliches Individium
betreffenden Fall, dessen Anamnese und objective Symptome die
Annahme einer Continuitätstrennung im Schenkelhals nahe legen,
in erster Linie mit der Möglichkeit einer Trennung in der Kopf-
epiphyse rechnen muss.
Die eben erwähnte Thatsache hat aber auch für die Unter-
scheidung der traumatischen Trennung der Kopfepiphyse von der
Coxa vara eine augenscheinliche Bedeutung. Man wird unter Be-
rücksichtigung derselben bei der Diagnose der Coxa vara einem
vorangegangenen Trauma, auch wenn es anscheinend nur gering
ist, eine wesentlich grössere Bedeutung beilegen müssen, als es
bisher üblich war, ja, man wird in der Anamnese geradezu nach
einem solchen forschen müssen. Ich glaube nicht zu viel zu sagen,
wenn ich behaupte, dass, unter diesem Gesichtspunkt betrachtet,
manche der in neuerer Zeit unter der Diagnose Coxa vara ver-
öffentlichten Fälle eine andere Auffassung zulassen möchten. So
bin ich, um nur Einiges zu erwähnen, nicht in Uebereinstimmung
mit Borchard, wenn er in seiner Arbeit „Zur Symptomatologie
und Therapie der Coxa vara" (Centr. f. Chir. 1897. p. 689.) den
von ihm beschriebenen interessanten Fall als Belastungsdeformität
auffasst und das zweifellose, wenn auch vielleicht nicht sehr heftige
Trauma nur nebensächlich in Betracht zieht, jedenfalls nicht für
die Aetiologie des Leidens verantwortlich macht. Borchard
fasst das Trauma nur als Ursache der Verschlimmerung einer
schon bestehenden Coxa vara auf und erinnert zur Stütze seiner
Annahme an die plötzlichen Beschwerden, die ein „schon länger
symptomlos bestehender pes planus" nach einem Trauma verursacht
Vom Standpunkt der Belastungsdcformität gewiss eine berechtigte
Analogie. Aber sollte es nicht ebenso berechtigt sein, dem Trauma
in der Aetiologie des ganzen Falles eine wichtige, resp. die ein-
zige Rolle zuzuweisen? Ein Vergleich des Falles mit den unserigen
ergiebt nach Anamnese und Untersuchungsbefund eine so auffallende
Uebereinstimmung, dass ich keinen Grund sehe, ihn anders zu be-
urlhoilen als jene. - Auch der von L<uisser (Münchn med.
Ueber die traumatische Losung der Kopfepipliyse des Femuv otc. 835
Wochenschrift 1895. No. 30.) als Coxa vara beschriebene Fall
lässt zwanglos die Auffassung einer traumatischen Epiphysentrennung
zu; die Diagnose „Infraktion des Schenkelhalses" war auch that-
sächlich anfangs gestellt worden. Ich sehe, wenigstens aus dera
Referat, keinen Grund, warum diese Diagnose späterhin eine Ab-
änderung erfuhr. Endlich dürften auch manche der von Hof-
meister in seiner Tabelle angeführten Fälle — zum Mindesten
in dieser summarischen Form — nicht über allem Zweifel stehen.
In zweiter Linie möchte ich die in meinen Fällen beobachtete
Fuüctionsstörung für die Differentialdiagnose auf traumatische
Ti-ennung der Kopfepiphyse resp. Verbiegung in der Epiphysenlinie
in Betracht gezogen wissen. Wenn man sich (der Kocher'schen
Auffassung folgend) die beiden Formen der Schenkelhalsverbiegung
vergegenwärtigt, welche den Gegenstand der neuesten Untersuchungen
gebildet haben, so begreift man, dass die Störung für das Hüft-
gelenk um so grösser sein wird, je mehr die Verbiegung des
Schenkelhalses medialwärts liegt. Die Verkürzung der unteren
Fläche des S(*.henkelhalses (durch den etwas überstehenden Kopf),
das Vorstehen einer starken Convexität der oberen Fläche (cf. auch
unsere Bilder) müssen unter Umständen schon durch Anstossen an
den Pfannenrand ein directes mechanisches Hinderniss abgeben.
Kommt dazu, was Kocher für die Fälle von Coxa vara als ty-
pisch betrachtet, und was auch für unsere Fälle zutraf, dass der
Schenkelkopf nicht blos nach unten, sondern auch nach hinten
gewendet ist, so müssen weitere schwer wiegende Bewegungs-
hemmnisse entstehen, und zwar müssen diese Hemmnisse, worauf
ich Gewicht legen möchte, schon bei relativ geringfügigen Form-
veränderungen eintreten. Handelt es sich dagegen um eine Ver-
biegung des gesammten Schenkelhalses, so wird das Moment der
unmittelbaren mechanischen Bewegungshemmung zurücktreten oder
wenigstens zurücktreten können. — Natürlich werden diese functio-
nellen Störungen um so ausgeprägter sein, je schneller sich das
Leiden entwickelt, am ausgeprägtesten, wenn es — wie ich es
für manche Fälle von Coxa vara supponire — traumatisch entsteht.
Ceteris paribus wird man also bei sehr ausgesprochener Functions-
störung an eine Verbiegung in unmittelbarer Nähe des Gelenks, — d.h.
an Verbiegung (Kocher) oder Lösung (Sprengel) in der Knorpel-
fuge — , bei relativ geringfügiger Fuüctionsstörung an die Coxa vara im
836 Dr. Sprengel,
Sinne von Miiller-IIofmeister denken müssen. Dass für die
Entstehung der ei'wähnten functionellen Störungen nicht blos das
mechanische Moment der Knochen verbiegung resp. Verschiebung,
sondern auch Veränderungen der Synovialis, die in unseren Fällen
als starke, wulstige Auflockerungen erschienen, von Bedeutung
sind, geht aus der Beschreibung unserer Präparate ohne Weiteres
hervor.
Der Vollständigkeit wegen mag noch betont werden, dass in
unseren Fällen die Erkrankung einseitig war, dass rachitische Symp-
tome fehlten, und dass die Kranken dem Ende der Wachsthums-
periode nahestanden. Man sollte in jedem einschlägigen Fall aucli
diese Momente bei der,Diflferentialdiagnose zwischen traumatischer
Epiphysenlösung und Coxa vara in Betracht ziehen; auch unter
voller Berücksichtigung derselben wird sie noch schwierig ge-
nug sein.
Ich möchte meine Arbeit nicht schliessen, ohne zu der Frage
der Therapie Stellung genommen zu haben, zumal dieselbe auch
bezüglich der Coxa vara keineswegs als abgeschlossen gelten
kann. Zunächst ist zu betonen, dass die Entscheidung, ob bei
der Coxa vara (und verwandten Affectionen) konservativ behandelt
oder operirt werden soll, nicht principiell, sondern von Fall
zu Fall getroiTen werden muss. Sicher wird man, schon weil
es sich nicht um gleichgültige Eingriffe handelt, bestrebt sein,
zunächst auf nicht operativem Wege so viel zu erreichen, wie irgend
möglich ist. Sind die Aussichten auf Besserung aber abgeschlossen,
oder ist die bestehende Deformität und die sie begleitende Functions-
Störung von vorn herein so gross, dass die Herstellung erträglicher
Verhältnisse nicht erwartet werden darf, so ist der Versuch, auf
operativem Wege zu diesem Ziel zu gelangen, durchaus berechtigt.
Dieser Weg ist denn auch von verscliiedenen Autoren empfohlen
und beschritten worden. Die drei konkurrirenden Methoden, die
Osteotomie unter dem grossen Trochanter (Hofmeister), die
lineare oder Keil -Osteotomie im Schenkelhals, (Büdinger und
Kraske) und die Resection (meist unterhalb des Trochanters aus-
geführt) haben auf dem Chirurgencongress von 1897 (Verhand-
lungen u. s. w. p. 56 ff.) eine eingehende kritische Besprechung
durch Hofmeister und Nasse erfahren. Man wird aus derselben
vor Allem beherzigen müssen, dass die Osteotomia subtrochanterica
Ueber die Iraumatischc Lösung der Kopfepipliyse dos Femur etc. 837
bisher wenig Anklang gefunden hat, und dass die theoretisch am
besten begründete Operation, nämlich die Osteotomie im Schenkel-
hals,' weil sie jedenfalls nicht in allen Fällen, wahrscheinlich nur aus-
nahmsweise ohne Eröffnung des Gelenks ausgeführt werden kann,
als gefährliche Operation angesehen werden muss. Ein Patient
ist gestorben, ein zweiter schwebte zur Zeit der Besprechung in
dringender Lebensgefahr. Man wird daher zur Osteotomie im
Schenkelhals, so rationell sie zweifellos ist, doch nur in besonders
günstigen, d. h. in denjenigen Fällen sich entschliessen dürfen, bei
denen der Schenkelhals sich verlängert findet. Nach meinem Da-
fürhalten wird das eher bei der Coxa adducta (Müller-Hofmeister)
als bei der Coxa vara (Kocher) zu erwarten sein, weil bei ersterer
die Form des ganzen Schenkelhalses, bei letzterer der Schenkel-
hals an sich normal und nur das Verhällniss von Schenkelkopf
zu Schenkelhals verändert ist.
Leider ist es aber mit den uns bis jetzt zu Gebote stehenden
Hülfsmitteln schwerlich möglich, durch äussere Untersuchung die
Form der Schenkelhalsverbiegung so genau festzustellen, um danach
eine bestimmte Entscheidung zu treffen, wenn auch die Röntgen-
photographie wohl einen gewissen Anhalt a priori geben mag.
Erst die übersichtliche Freilegung des Schenkelhalses kann unser
Handeln definitiv entscheiden.
Von diesem Gesichtspunkt aus glaube ich ein Operationsver-
fahren empfehlen zu dürfen, das ich in der Festschrift zur 69. Ver-
sammlung deutscher Naturforscher und Aerzte, ßraunschweig 1897,
Harald Bruhn, veröffentlicht habe, (Sprengel: „Zur operativen
Nachbehandlnng alter Hüftresektionen") und das ursprünglich dazu
bestimmt war, bei alter fistulöser Uüftgelenkseiterung eine möglichst
übersiclitliche Freilegung des gesammten Hüftgelenks und der an-
grenzenden Partieen des Beckens zu erzielen. Die dort beschriebene
und ausführlich motivirte Schnittführung hat nicht nur in den ge-
nannten chronischen und völlig desolaten Fällen Ausheilungen er-
geben, wie sie nach anderen Methoden völlig unerreichbar schienen,
sondern hat sich mir auch bei acuten Eiterungen unter der Glutaeal-
musculatnr, bei Nekrotomieen am Becken und endlich auch in den
beiden Fällen, welche dieser Arbeit zu Grunde liegen, auf das
Beste bewährt.
Der Schnitt (cf. Fig. 5 im Text) verläuft zunäclist entlang
838
Dr. Sprensei,
dem liintcrcn Hand des Tensor fasciae, üwischtn ihm und Gliitacus
medius, entspricht ilso m^ovscit dir Upeiation, wie sie Lorenz
für die blutige Reposition dci kon(,enitalen Hüfthixation und Kraske
für die Osteotomie im Schenkelhals angegeben hat; dann aber
biegt er winkelig ab (cf tig 6 im le'^l) und folgt dem äusseren
Rande der Cnsta liei bis m die Gegend der Spina posterior
superior. Führt man den Schnitt, ■ioweit er am Beckenrand ver-
läuft, gleich bis auf den Knochen, t>o gilingt es jetzt leicht und
ohne jede Blutung, den dunh den fachnitt umschriebenen grossen
Haut-Muskel-Periostlappen naih unten und hinten umzuklappen
und damit äussere Beckenfläche und Hiiftgelenksgegend in geradezu
beliebiger Ausdehnung dem freiesten Einblick zugänglich zu machen.
Nach vollendeter Knochenoperation pflege ich einen grösseren oder
geringeren l'heil der grossen Wunde — je nach Lage des Falles
— durch versenkte und oberflächliche Nähte zu schlies&en und
nur vorn so viel offen zu la.ssen, um einen Tampon an den tief*
stL'n Thcil der Wunde einzuführen.
Ueber die tranmatische Lösiinf? der Kopfepiphyse des Femur etc. 839
Es liegt auf der Hand und ist durch Operation an der Leiche
leicht zu erweisen, dass man von diesem Schnitt aus die Schenkel-
halsgegend frei übersielit, und man wird daher auch im Fall einer
Coxa vara die vorliegenden Verhältnisse auf das Sicherste beur-
theilen und bestimmen können, wie man weiter verfahren will.
Die Entscheidung kann nach meiner Meinung nicht schwer fallen.
Ist der Schenkelhals verlängert, also hinlänglich Platz vorhanden
so ist die Osteotomie als nicht oder sehr wenig verstümmelnde
Operation indicirt; bei Verkürzung des Schenkelhalses (Coxa vara
im Sinne Kocher's oder unserer Coxa vara traumatica) wird die
Resection auszuführen sein.
Ich habe mich in meinen Fällen begnügt, die Resection im
Schenkelhals vorzunehmen, den Trochanter und einen Theil des
Schenkelhalses also zurückzulassen. Nach den obigen Auseinander-
setzungen ist das ohne Weiteres verständlich; der Sitz der Er-
krankung war die Gegend der Epiphysenlinie, eine Abtragung un-
mittelbar unterhalb derselben musste also ausreichen, um die
Störung zu beseitigen. Das functionelle Resultat war, wie man
aus dem Schlussbericht meiner Krankengeschichten ersehen mag,
durchaus befriedigend und verspricht nach dem bisherigen Erfolg
noch weitere Besserung. Kocher hat in seinen Fällen die Re-
section unterhalb des grossen Trochanters vorgezogen. Sie mag
in den Fällen von starker Verbiegung des gesammten Schenkel-
halses ihre Vorzüge haben; doch würde ich auch hier einen Ver-
such mit der weniger ausgiebigen Resection des Kopfes empfehlen.
Ich betrachte es als einen Vorzug der von mir empfohlenen Schnitt-
führung, dass sie den Schenkelhals in voller Ausdehnung freilegt
und gewissermassen dazu auffordert, an dem Sitz der Deformität
selbst, sei es die Osteotomie, sei es die Resection, vorzunehmen. —
840 Dr. Sprengel, Ueber die traumatische Lösung der Kopfepiphyse etc.
Erklärung der Abbildungen auf Tafel UI und lY.
Tafel 111.
Fig. 1. Phoiogramra von Fall I (Br.) von vorn. Dem Resectionspräparat ist
der Knochen der Leiche eines gleichaltrigen Individuums angefügt.
Fig. 2. Photogramm von Fall I (Br.) von hinten.
Fig. 3. Photogi'amm desselben Präparates, durchsägt und aufgeklappt. Aaf
der rechten Hälfte ist ein Stück zur Herstellung des Röntgenbildes
ausgesägt.
Fig. 4. Röntgenbild der aus dem Resectionspräparat ausgesägten frontalen
Scheibe.
Fig. 5. Zeichnung nach dem Präparat. Fall L
Fig. 6. Zeichnung nach dem Präparat. Sägeschnitt. Fall L
Tafel IV.
Fig. 1 -6. Dieselben Photogramme und Abbildungen von Fall II (v. IL).
LVI.
Die Achsendrehungen des Coecums/^
Von
llr« ¥oii Zoeffe-Rlanteuirel
in Dorpat.
Eine Achsendrehuiig des Coccuras kann nur zu Stande
kommen bei bestellendem Mesenterium commune ileo-eocci. Diese
Hemmungsbildung entsteht dadurch, dass die Vcrklebung der Megen-
terialplatte dieses Darmabschnittes mit der hinteren Leibeswand
ausbleibt. Mir scheint diese Missbildung nicht selten zu sein,
da Sowohl von Seiten der Anatomen eine Reihe einschlägiger Fälle
beschrieben werden (Gruber, Toldt), als auch Leichtenstern die
Invaginatio ileocoecalis, bei der die Valvula Bauhini an der
Spitze des Invaginatum sich befindet, zu den häufigsten zählt. Es
kann nun wohl füglich diese Invagination nicht zu Stande kommen,
wenn nicht ein freies Mesenterium coeci besteht. Auf meine Ver-
anlassung hat Dreike im Moskauer Findelhaus Untersuchungen
angestellt und sehr häufig ein Mesenterium commune gefunden.
Dagegen habe ich in der Literatur nicht mehr als circa 20 Fälle
von Drehungen dieses beweglichen Coecum ausfindig machen
können. Es mag sein, dass bisher noch zu wenig auf die Ana-
tomie geachtet wurde, obgleich Curschniann schon einmal vor
nicht langer Zeit auf diese Dinge aufmerksam gemacht hat,
Leichtenstern sie erwähnt und Trewes sie beschreibt und 4 Fälle
anführt. Den bereits bekannten 20 Phallen kann ich 4 weitere
0 Abgekürzt vorgetragen am 3. Sitzungstage des XXVII. Congresses der
Deutschen (lesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 15. .Vpril 1898.
:
842 Dr. von Zoegc- Man teuf fei,
hinzufügen, die ich in den letzten 2 Jahren zu beobachten Gelegen-
heit hatte, und die mir über den Mechanismus dieses interessanten
Volvulus einen genügenden Aufschluss zu geben scheinen, um die
aus diesen Beobachtungen gezogenen Schlüsse dieser hochgeehrten
Versammlung vorlegen zu dürfen.
Wir können 2 Formen von Drehungen des Coecums unter-
scheiden:
1. Drehung um die Darmachse,
2. Drehung um die Mesenteiialachse.
Die Drehungen um die Darmachse führen blos zum Ver-
schluss der Darmlichtung ohne die Ernährung des ganzen Darm-
theils vorab zu schädigen. Sie kommen zu Stande an der
Stelle, wo das freie Colon ins fixirte übergeht. Der völlig freie
Dünndarm wird dabei nicht geknickt oder gedreht. Recidivirende
derartige Drehungen können zu Narbenstenosen an der Uebergangs-
stelle führen. Die Drehung wird naturgemäss 90^ meist nicht
viel fiberschreiten, kann aber auch bis 180° gehen, wobei, je nach
den anatomischen Verhältnissen, auch schon Mesenterium resp.
Dünndarm mit herumgewickelt werden kann. Hiermit ist der
Fall schon der 2. Oategorie hinzuzählen, der Drehung um die
Mesenterialachse. Hierbei leidet nicht blos die Kothpassage,
sondern die Ernährung des gesammten gedrehten Darmstückes
dun»h Compression der Mesenterialgcfässe. —
Die Drehung erfolgt stets, wie es scheint, in rechts gewun-
dener Spirale. Leider ist die Ausdrucksweise in den bisher
publicirten Fällen zu allermeist so wenig klar, dass ich mich bei
dieser x\ngabe wesentlich auf eigene Beobachtungen stützen muss
und auf die Ueberlegung, dass eine links gewundene Spirale füglich
nicht zu Stande kommen kann, da hier die Bauchwand einerseits —
der am Coecum hängende Dünndarm andererseits die Drehung
hindert. Ich schlage vor für die Darmdrehungen ausschliesslich
die Bezeichnungen: rechts gewundene und links gewundene Spirale
(von den Gynäkologen) zu acceptiren, da sie einzig fraglos und
unzweideutig sind.
Wie kommt es nun aber zur Drehung des freien Coecum-
Ileum? Die Ueberfüllung des pendelnden Coecums giebt ihm ein
grösseres Gewicht, Traumen verschiedener Art können es hinauf-
schleudern. Am neuen Ort wird es dann durch Blähung und
Die Achsendrehungen <1es Coecums. 843
Andrängen gegen die Bauchwand fixirt oder durch Umlagcrung
verdrängten Dünndarms verhindert an die alte Stelle zurückzukehren.
Diesen Mechanismus illustriren Ihnen Fall Herrmann (IV) und
Fall V. Wahl (III); namentlich in letzterem Falle ist die Anamnese
so klar, dass ich es mir nicht versagen kann sie Ihnen vorzulegen.
Ueberstreckung des Rumpfes bei hoch erhobenem rechten Arm, um
einen hochkommenden Lawn-Tennis-Ball zurückzuschlagen, der aber
gefehlt wird, bedingen hier ein so heftiges Hintenüberwerfen des
Rumpfes bei angespannter Bauch presse, dass der voluminöse be-
wegliche Darmtheil nach oben geschleudert wird und unter den
Rippenbogen sich einkeilt. Aehnliche Momente spielen ja auch
dieselbe Rolle, wenn es sich um Verlagerung des Netzes über die
Leber handelt. Auch bei Fall 4 handelt es sich augenscheinlich
um ganz ähnliche Vorgänge. Der Knabe halte sich erst herum-
gebalgt, danach schon Schmerzen bekommen und dann im niedrigen
Schlitten ohne Lehne eine Fahrt von circa 100 Werst bei ausscr-
gewöhnlicb gmbigem Wege zurückgelegt, wobei sein Rumpf fort-
während hintenüber und wieder nach vorne geschleudert wurde.
Wenn ich somit dem Trauma eine erhebliche Rolle bei der
Entstehung der Achsendrehungen des Coecums zumesse, so kann
ich doch nicht verhehlen, dass dieses Moment in anderen Fällen
in der Anamnese vermisst wurde. —
Die klinischen Symptome der Drehung des Coecums
zeigen ein recht wechselndes Bild. Dennoch aber konnte ich nach
von Wahl ungezwungen 2 Formen auch hier von einander unter-
scheiden: Den Obtrationsileus und den Strangulationsileus. Das
Bild des Obturationsileus zeigt uns bald acuten, bald allmäligen
Beginn — eine geblähte Schlinge an der Stelle des Colon trans-
versum, doch weiter unten quer über den Bauch ziehend, zeigt
deutliche Peristaltik; als Ursache fanden wir Drehung um die
Darmachse — wenn Attaquen vorausgingen, Narbenstenose. Der
Strangulationsileus zeigt uns durchweg acuten Beginn und das
von Wahl 'sehe Symptom einer geblähten, der Bauch wand an-
liegenden Schlinge, an der keine Peristaltik zu sehen ist. — Ich
habe schon oben angeführt, dass die Drehung um die Darmachse
sich nicht scharf von der Drehung um die Mesenterialachse trennen
lässt. Dementsprechend werden wir auch wohl hier Fälle haben,
in denen anfangs eine kurze Zeit die Peristaltik vorhanden ist,
844 Dr. von Zoegc-Manteuffel,
um erst naclilier zu erlöschen, wodurch wir dann erkennen, dass
es sich um Mesenterialstrangulation handelt. In ganz complicirtcn
Darnidrehungen, wo viel Dünndarm betheiligt ist, kann wohl auch
das V. Wahl'sche Symptom fehlen, worauf zuerst v. Samson
(Dünndarmdrehung) hingewiesen hat.
Die topographische Lage der Geschwulst des Tumors
hat meist völlig irre geführt. Man hat die Geschwulst für Colon
transversum, Flexura sigmoidea etc. gehalten. Statistische Er-
hebungen werden vielleicht erweisen, dass Stenosen und Drehungen
an der Flexura Renalis noch seltener sind und auf diese Weise
einen Rückschluss gestatten. Auf einen Umstand möchte ich
jedoch noch ihre Aufmerksamkeit lenken: Wenn wir einen als
geblähtes Colon transversum imponirenden sichtbaren Tumor haben,
der Peristaltik zeigt — so muss die Peristaltik am Quercolon von
rechts nach links, am verlagerten Coecum von links nach recht«
gehen. Bei dünnen Bauchdecken kann dieses Symptom vielleicht
mal Aufschluss geben. — Im Fall IIl schliesslich stellte ich
anfangs die Diagnose auf Coecumdrehung in Mesenterium commune
i. c, verwarf aber diese Diagnose zu Gunsten eines Verschlusses
am Duodenum, weil kein Erbrechen trotz stürmischer Erscheinungen
statt hatte. In der That fand sich Goecumtorsion und Compression
des Duodenum durch das unter den Rippenbogen verlagerte gan-
gränöse Coecum. — Die Diagnose ist also schwer und Irrthümer
sehr leicht möglich.
Viel günstiger lauten die Berichte über die Therapie,
wenigstens die operative. Die exspectative Therapie hat gar keine
Erfolge zu verzeichnen. Sämmtliche 13 Fälle sind gestorben.
2 Mal ist Anus praeternaturalis angelegt worden, einmal nach
Laparotomie, einmal direct, beide Kranke sind gestorben. 5 Mal
ist laparotomirt worden, davon sind blos 2 gestorben. Hierzu
kommen meine 4 Fälle. In einem Falle von Drehung um die
Darmachse (TI) legte ich nach Laparotomie und Rücklagerung einen
Anus praeternaturalis an, der nicht functionirte, da die Patientin
schon Peritonitis hatte, an der sie denn auch zu Grunde ging.
In allen anderen 3 Fällen, von denen einen mein Assistent
Dr. Fick operirte, trat Heilung ein. Und zwar handelte es sich
im Fall 1 um eine Drehung um 180^ und Verschluss der Mescn-
terialgefässe und drohende Gangrän (im Fall 2 um Drehung um
Die Achsendrehunjfen «ies Coeciiius. 845
die Darma<^hse 180® und Narbenstenose). Im Fall 3 um Drohung
um die Mesenterialacbse und Gangrän, im Fall 4 um Drehung um
die Darmachse 100® und Abschnürung durch Dünndarm. In allen
Fällen fand ich Injection und fibrinöse Auflagerung an den an-
liegenden Darmschlingen und Exsudat.
Was die Technik anlangt, so ist die einfache Reposition,
der ich in Zukunft wohl die Fixation durch die Naht folgen lassen
würde, nur erlaubt, wo noch bei offener Bauchhöhle der Darm seine
physiologische Arbeit wieder beginnt. Alle anderen Fälle sind
wohl besser sofort zu reseciren, d. h. sowohl die chronischen
Stenosen und die Drehungen um die Darmachse, die zu Ver-
änderungen der Wand geführt haben, als auch die Drehungen um
die Mesenterialacbse, bei denen die Ernährung des Darms direct
gefährdet ist. — Ueber die Technik der Resection gestatten sie
mir meine Herren noch eine kurze Bemerkung. Es ist natürlich
wünschenswerth die Operation namentlich bei gangränösem Darm
extraperitoneal zu machen. Zu dem Zweck wird ein Querschnitt
durch die ßauchdecken wohl unvermeidlich sein. Trotzdem gelingt
es nicht immer die präsumptive Resectionsstelle vor die Bauch-
wand zu bringen. Ich half mir in einem Falle so, dass ich, da
das Mesenterium zu kurz war, den Darm so lange voin Mesen-
terium löste, bis geunder Darm vor der Bauchhöhle lag. Hier
schnitt ich dann ab, vernähte beide Enden blind und stülj)te sie
so lange ein bis ich mit der definitiven Serosanaht in den Bereich
des am Mesenterium hängenden Darras kam. Eine seitliche
Enteroanastomose stellte die Continuität des Darmrohrs wieder
her. Es hatte dieser Modus i)rocedendi den Vortheil, dass ich ganz
extraperitoneal operirte, jedoch den Nachtheil, dass ich 2 Blind-
säcke nachliess. Es kann sein, dass ein Abscess, der nach 2 Monaten
ins Rectum durchbrach, auf diese Blindsackbildung zurückzuführen
war. In allen Fällen Dauertamponnade excl. Fall IV.
Ich kann mir nicht versagen zum Schluss auf die Indications-
stellung noch einmal zurückzukommen. Ich habe hier vor
9 Jahren den Standpunkt vertreten, dass das Wahl'sche Sym-
ptom direct zur Laparotomie auffordere und zwar bedingt bei be-
stehender Peristaltik — unbedingt bei erloschener, wenn nur ein
sieht- und fühlbarer Tumor unsere Hand leitet. Mir wurde damals
widersprochen und darauf hingewiesen, dass, wo die Peristaltik
Archiv fVr kliii. Cliirurgie. 57. Üd. Heft 4. :^g
846 Dr. von Zoege-Man teuffei, Die Achsendrehungen des Coecums.
erloschen sei, auch von einer Laparotomie nichts zu hoffen sei, da
hier schon Peritonitis bestände. Ich habe damals schon diesen
Einwand zurückgewiesen und mich bemüht zu zeigen, dass damit
alle Hoffnung auf operative Heilung der Achsendrehungen um die
Mesenterial achse abgeschnitten wäre. Ich gehe jetzt noch einen
Schritt weiter. Nicht die beginnende Peritonitis lähmt den Darm
zuerst, sondern die Abschnürung des Darmgekröses. Aber auch
die Peritonitis bildet keine Contraindication, da sie im Anfang
durch die Daucrtamponnade sehr wohl mit Erfolg bekämpft
werden kann. —
Die Prognose der Coecumdreliungen müssen wir schliesslich
als eine günstige ansehen, wenn wir noch rechtzeitig operiren.
Ohne Operation sind die Kranken wohl rettungslos verfallen, da
hohe Eingiessungen etc. hier nichts nützen können. Als einziges
Verfahren, das Aussicht auf Erfolg hat kann nur die Laparotomie
angesehen werden. —
Ich hoffe durch meine Mittheilung weitere Publicationen zu ver-
anlassen. AVas ich jetzt nur vermuthungsweise aussprechen durfte,
bedarf noch der Bestätigung oder Widerlegung durch w^eitere Er-
fahrungen.
LVII.
Eine neue Methode temporärer Gaumen
Resection/)
Von
Professor Dr« Partech,
dirig. Arzt des Hospitals der Barmherzigen BrUder zu Breslau.
Die Frage, wie maii die von der Schädelbasis herunter kom-
menden Geschwülste der Nase und des Nasenrachenraumes am
besten angreift, scheint immer noch nicht endgiltig gelöst. Den
facialen Methoden, von der Spaltung des Nasenflügels an bis zur
osteoplastischen Resection Langenbeck's haftet sämmtlich der
Fehler kosmetischer Entstellung an, um so mehr, je tiefer bei
ihrer Ausführung das Knochengerüst des GesichtsschädeLs in Mit-
leidenschaft gezogen wird. Dabei genügen sie, selbst wenn man
den Oberkiefer zurückklappt, nicht, um das Operationsfeld, den
Ursprungsort des Tumors in genügender Weise frei zu legen und
mit Sicherheit die leider unvermeidlichen schweren Blutungen zu
beherrschen.
Deshalb haben sie im Wesentlichen den oralen Methoden —
der Ausdruck buccal wie ihn Güssen bauer gewählt hat, scheint
mir nicht ganz zutrefifcnd zu sein — weichen müssen und alle
neueren Vorschläge, wie sie von Kocher, Lanz und in jüngster
Zeit von Habs gemacht worden sind, bewegen sich nach dieser
Richtung hin.
*) Vorgetragen am 4. Sitzungstage des XXVII. Gongresses der Deutschen
Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 16. April 1898.
56*
848 Dr. Partsch,
Es bleibt das grosse Verdienst Gussenbauer's, in Deutsch-
land zuerst auf diese Art der Hilfsoperationen hingewiesen zu
haben, welche bei hinlänglich freiem Zugang Entstellung und
Functionsstörungen nicht im Gefolge haben. Die in gleicher Ab-
sicht von Maisonne uve ausgeführte partielle Resection des harten
Gaumens tauschte gegenüber dem eigentlichen Vorlheil eines be-
quemen Zuganges zum Krankheitsherd die dauernde Communication
der Mund- und Nasenhöhle ein, ein Nachtheil, der so schwer ist,
dass man wohl kaum mehr von der Operation Gebrauch macht.
Ebensowenig hat sich die spätere Boutonniere palatineMaisonneuve's
oder Nölaton's Resection der Gaumenbeine Bürgerrecht in der
Chirurgie erwerben können.
Gussenbauer^) schlug eine Spaltung des mucös-periostalen
Ueberzugs des harten Gaumens in der Medianlinie in der ganzen
Länge vor, ferner Ablösung der Schleimhaut nacli beiden Seiten
bis in die Nähe der Alveolarfortsätze, Entfernung der Processus
palatini und Gaumenbeine mit Meissel und Hammer und nach Ex-
stirpation der Geschwulst mit Messer und Scheere und Blutstillung
mit dem Thermocauter Wiedervereinigung des harten Gaumen-
überzuges.
Wenngleich in dem von Gusse nbauer zuerst so operirten
Falle vorüberirehend in der Nahtlinie Fisteln auftraten, welche
Secundärnaht, oder Lapisätzung erforderlich machten, war doch das
Endresultat so gut, dass es AVunder nimmt, dass nach der Litte-
ratur zu urtheilen diese Operationsmethode nicht umfangreicher
geübt wurde. 0. Riegner^) hat auf die Vorzüge derselben neuer-
dings wieder aufmerksam gemacht und sie bei Exstirpation eines
ziemlich grossen Nasenrachenfibroids bewährt gefunden.
Daneben sind in den letzten Jahren neue Vorschläge gekommen,
die in anderer Weise vom Gaumen her zur Schädelbasis Zugang
zu gewinnen bezweckten. So veröffentlichte Lanz^) die von
Kocher ersonnene Methode, nach totaler Spaltung der Oberlippe
0 Gussenbauer, üeber die buccalo Exstirpation der basilaren Rachen-
gpschwülste. V. Lange nbeck's Archiv. Bd. 24, S. 265. 1879.
*) 0. Riegner, Exstirpation eines basilaren Rachentumors nach Resection
des harten Gaumens (Methode von Gussenbauer). Deutsche med. Wochen-
schrift. 1894. No. 33, S. 660.
8) Lanz, Osteoplastische Resection beider Oberkiefer nach Kocher.
Eine neue Methode zur Freilegung der Sch<ädelbasis und des Pharyngeal-
nasalraumes. Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. 35. Bd. Leipzig 1893.
Eine neue Methode temporärer Gaumenrcsection. 849
vom betreffenden Nascnloche aus die Schleimhaut über dem Al-
veolarrande an der Umschlagstelle zu trennen und beide Ober-
kiefer über dem Alveolarrande zu durchmeisseln. Dann soll der
harte Gaumen in der Medianlinie mit dem Meissel durchgeschlagen,
und beide horizontalen Hälften des Oberkiefers kräftig auseinander
geklappt werden. Damit ist ein freier Ueberblick über die Nasen-
höhle von vorn nach hinten geschaffen und auch der Racjhenrecessus
für etwaige Eingriffe zugängig. Die Umständlichkeit der Operation,
ihre beträchtliche Blutungsgefahr, die Nothwendigkeit," durch die
Schleimhaut des ganzen Gaumens hindurch eine Naht anlegen zu
müssen, scheinen Grund gewesen zu sein, dass die Methode noch
nicht viel Nachahmer gefunden, trotzdem sie von Kocher in seiner
Operationslehrc warm empfohlen wird.
Habs^) hat neuerdings ein bereits 1886 von Chalot ange-
gebenes Verfahren zur Entfernung eines stark blutenden Angiomyxo-
fibroms des Nasenrachenraumes wieder aufgenommen. Es besteht
darin, dass an dem sitzenden Patienten die Oberlippe und der
Nasenansatz abgelöst und in die Höhe gedrängt wird; dann wird
an der Uebergangsfalte die Schleimhaut durch einen queren Schnitt
getrennt, von einem ersten Backzahn bis zum andern reichend.
Von diesem bis zum Knochen geführten Schnitt aus werden die
Weichtheile mit dem Elevatorium bis zur Spina na,salis ant. inf.
und dem Boden beider Nasenhöhlen abgelöst. Die Schleimhaut
des Bodens der Nasenhöhle wird beiderseits von unten her mit
dem Scalpell durchstossen und durch diese Wunde ein Nelaton-
katheter jederseits durch den unteren Nasengang durch den Rachen
in die Wundhöhle geführt. Die Enden der beiden Katheter werden
mit denen einer Gigli'schen Säge verbunden, an ihnen die Säge
durch die Nasengänge schleifenartig um den Vomer gezogen und
mit der Säge das Septum von hinten nach vorn durchsägt. Nach-
dem beiderseits die Eckzahne entfernt, wird von den Zahnlücken
aus jederseits der harte Gaumen längs des Alveolarrandes bis zum
Ansatz des weichen Gaumens mit dem Meissel durchtrennt, wobei
eine starke Blutung erfolgt. Nach rascher Durehtrennung des
Alveolarfortsatzes zwischen Eckzahnalveole und Nasenhöhle, wird
1) Habs, Exstirpation eines von der Schädelbasis ausgehenden Angio-
Tnygotibroms des Nasenrachenraums mittelst temporärer Rescction des harten
Gaumens (Ghalot). Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. Bd. 47. S. 100.
850 Dr. Partsch,
der harte, nur noch am weichen Gaumen inserirende Gaumen fall-
thürartig auf die Zunge lieruntcrgeklappt. Wenngleich eine be-
queme Uebersichl üher das Operationsfeld durch diesen künstlichen
Wolfsrachen gegeben war, musste der hintere Theil des Septums
doch noch resecirt werden, um die Tumorbasis gut entfernen zu
können. Nach Entfernung des Tumors wird das Mittelstück des
harten Gaumens wieder aufwärts geschlagen und rechts und links
mit Silbersuturen befestigt. Zwischen ihnen werden noch Catgut-
nähte zur Vereinigung der Schleimhäute und des Periosts geführt
Die Heilung verlief ohne Complication ; 18 Tage nach der Operation
konnte die Patientin entlassen werden. Aler Monate nach der
Operation federt der Alveolarfortsatz mit den in ihm sitzenden
Schneidezähnen noch etwas. Die Nahtlinien sind gut verheilt. Die
Athmung ist ungestört, die Sprache normal. Die eine Entstellung
nicht hinterlassende Operation war ohne praeliminare Trache-
otomie ausführbar.
Es ist nicht zu leugnen, dass alle diese Methoden noch einen
complicirten Weg verfolgen, um freies Feld für die operative In-
angriffnahme des Geschwulstbodens zu gewinnen, und sich den Zu-
gang erzwingen unter nicht unerheblicher Vermehrung der ohnehin
beträchtlichen Blutungsgefahr. Jede Verlängerung der Opera-
tion, wie sie selbst in der geschultesten Hand die compli-
cirten Nähte an dem weichen und harten Gaumen unweigerlich
bedingen, fällt gerade bei diesen blutigen Operationen schwer
ins Gewicht. Ob es dabei immer möglich sein wird, die Naht
in der Hast des Augenblicks so sorgfältig zu machen, dass
überall eine feste Verlöthung erfolgt und und nicht da und dort
eine Fistel eintritt, welche mindestens den Heilungsverlauf aufhält,
wenn nicht zu dem erheblichen Nachtheil einer dauernden Ver-
bindung zwischen Nase und Mundhöhle führt, bleibt auch noch
fraglich und bei dem Entschluss zu einer solchen Operation zu
erwägen.
Als ich mich im Januar d. J. vor die Frage gestellt sah, bei
einem 17jährigen Knaben das umfangreiche, breit aufsitzende Re-
cidiv eines Nasenrachentumors zu operiren, kam mir eine Erfah-
rung in Erinnerung, welche ich nicht allzu lange vorher zu machen
Gediegenheit gehabt hatte.
Eine neue Methode temporärer Gaumenresection. 851
Im October 1897 wurde ein 20jühriger Arbeiter Max F. in das Hospital
der Barmh. Brüder aufgenommen, der in einer Oelfabrik mit dem Beladen
eines Fahrstuhls beschäftigt, von diesem, als er voreichtig nach unten in Be-
wegung gesetzt worden war, erfasst und mit dem Gesicht so gegen den Fuss-
boden gedruckt wurde, dass ihm mehrere Zähne ausgebrochen wurden und er
dem Fahrstuhl nach in die untere £tage fiel. Bald verlor er das Bewusstsein
und erlangte es erst wieder, als er bereits in die Krankenanstalt überführt
war. Bei dem Kranken waren beide Augenlider so stark durch Blutunter-
laufungen geschwollen, dass eine OefTnung des Auges unmöglich war. Die
Nase erschien nach rechts gerichtet, aus dem rechten Nasenloch entleerte sich
blutig schleimige Absonderung.
Nasenflügel und Nasenrücken zeigten eine grosse Anzahl oberflächlicher
Hautabschürfungen. Die Sprache hatte einen nasalen Beiklang, und beim
Sprechen konnte man deutlich wahrnehmen, wie Patient vermied, die Zunge
an die obere Zahnreihe oder den Gaumen zu legen.
Während am Oberkiefer keine besondere Blutunterlaufung der Schleim-
haut vorhanden war, waren am Unterkiefer die Zähne vom 1. seitlichen Schneide-
zahn bis Eckzahn so zertrümmert, das Zahnfleisch in diesem Bereich so zer-
quetscht, dass die Wurzelreste mit der Zange entfernt und die Schleimhaut-
fetzen mit Scheere und Pincette abgetragen werden mussten.
Die Palpation des Gesichtsschädels ergab ausser einer seitlichen ab-
normen Beweglichkeit der Nasenbeine eine vollkommene Verschieblichkeit des
harten Gaumens und der Alveolarfortsätze des Oberkiefers. Ohne dass die
Dentur des Oberkiefers Schaden gelitten hatte, konnte man die Zahnreihen
fassend den Gaumen theil sammt den Alveolarfortsätzen leicht hin und her
verschieben, soweit es die unversehrte Schleimhaut des Alveolarfortsatzes zu-
liess. Trotzdem eine Zerreissung der Schleimhaut der Nasengänge nicht nach-
zuweisen, musste doch ein Bruch des Vomer erfolgt sein, da eine vollkommene
seitliche Verschiebung, nicht bloss ein Wippen des Gaumens auf dem unver-
sehrten Vomer möglich war. Die Blutung aus der Nase schien nach Reinigung
derselben lediglich von den Brüchen der Nasenbeine herzurühren; aus den
unteren Nasengängen oder den Kieferhöhlen kam kein Blut.
Am Hinterkopf und der Hals Wirbelsäule waren keine Verletzungen vor-
handen.
Da der bezahnte Oberkiefer durch den Unterkiefer in richtiger Stellung
gehalten wurde, erwies sich eine besondere Befestigung desselben durch einen
Schienenapparat nicht erforderlich. Auch machte die starke Schwellung der
Gesichtsweichtheile namentlich die der Augenlider die Ausschaltung jedes
Druckes auf diese Theile wünschenswerth. Bei Behandlung in sitzender
Stellung, sorgfältiger Reinigung der Mund- und Nasenhöhle bildeten sich die
Blutaustritte rasch zurück, die unförmige Schwellung nahm ab, die Augen
konnten wieder geöffnet werden, das Gesicht nahm wieder ein menschliches
Aussehen an. Dabei fiel auf, dass die Heilung des Oberkieferbruchs ohne jede
Schmerzhaftigkeit, ohne stärkere Schwellung, ohne Lockerung oder Empfind-
lichkeit der Zähne erfolgte; so rasch trat die Vorlöthung ein, dass schon am
852 Dr. Partscli,
Knilc der erslcMi Woche Patient ohne jede Mühe breiige, festweichc Speisen zu
gen i essen vermochte. Schon in der 3. Woche stand der Kiefer wieder so fest,
dass Fleisch und Brot ohne Schwierigkeit genossen und gut gekaut werden
konnte. Auffällig war, dass kein Zahn gelockert oder empfindlich ei-schien,
noch auffälliger, dass bei einer Sensibilitätsprüfung derselben der Patient aufs
Bestimmteste genau zu localisiren vermochte.
Es war der Abbruch des Horizontaltheils des Oberkiefers ohne die ge-
ringste Schädigung des Gebisses in kurzer Zeit fest und ohne Störung einer
Function zur Heilung gekommen.
Diese Erfahrung legte mir den Gedanken nahe, in dem vor-
liegenden Falle eines umfangreichen, schwer erreichbaren Na.sen-
rachentumors mir den Zugang zum Ausgangspunkt der Geschwulst
zu bahnen auf dem Wege der Abtrennung des Gaumentheils der
Oberkiefer, in operativer Nachahmung der Verletzung, deren rasche,
leichte und sichere Heilung der Verlauf des oben geschilderten
Krankheitsfalles erwiesen hatte.
Ich fühlte mich umso mehr dazu veranlasst, als ich bei dem
durch wiederholte starke Blutungen aus dem Tumor anämisch ge-
wordenen Knaben auf möglichste Blutsparung bedacht sein musste.
Die schwer stillbaren Blutungen aus den Art. palatinae, wie sie
sowohl die Koclier'sche, als auch die Ilabs'sche Operation be-
gleiten müssen, waren auf dem von mir in Aussicht genommenen
Wege vermeidbar, weil diese Gefässe ja vollkommen unversehrt
bleiben und im Gegentheil auf ihre Erhaltung besonders Bedacht
genommen werden muss, da sie ja den ernährenden Stiel des nach
unten zu klappenden Gaumens bilden sollen.
Auch schien mir die Abkürzung der Operationszeit bei einem
jedenfalls mit starkem Blutverlust verknüpften Eingriff nicht be-
deutungslos. Die complicirte, selbst bei bester Technik zeitraubende
Naht durch harten und weichen Gaumen fiel bei dem von mir in
x\ussicht genommenen Verfahren weg. Es machte ledighch eine
ras(*h ausführbare Schleimhautnaht im Mundvorhof erforderlich.
So entschloss ich mich denn im. Januar d. J. diis Verfahren
praktisch anzuwenden in folgendem Falle.
Der löjälirige Bauergutsbesitzerssohn Kurt G. aus Buchitz wurde von
Herrn Dr. Kayser, Specialarzt für Nasen- und Ohrenkrankheiten, im Sep-
tember 1897 dem Klosterhospital der Barmh. Brüder zu Breslau wegen eines
grossen Nasenrachentumors überwiesen, der seit IY2 «fahren bestehend, jetzt
solche Dimensionen angenommen hatte, dass er nicht nur den ganzen Nasen-
raciienraum sondern auch den linken Nasengang ausfüllte und zum linken
Eine neue Methode temporärer Chiumenreseclion. 853
Nasenloch herauswuchs. Der weiche Gaumen wurde vom Tumor so stark
nach unten gedränj^t. dass der Patient kaum vernehmlich sprechen konnte und
besonders Nachts oft zu ersticken drohte.
in meiner Abwesenheit entfernte der Assistent des Hospitals, Herr
Dr. Dirbach durch Spaltung des linken Nasenflügels den Tumor nach Mög-
lichkeit. Da sich eine Erasion mit dem scharfen Löffel wegen der festen Struc-
tur des Tumors nicht bewerkstelligen liess, sondern der Tumor nur stück-
weise mit Pincette und Scheere abzutragen war, gelang bei der umfangreichen
Verbreitung des Tumors, der bereits in die linke Kieferhöhle eingebrochen
war, und bei dem relativ schmalen Zugang, der durch die Spaltung der Nase
gewonnen worden, die Beseitigung des fast kindskopfgrossen Tumors nicht
vollkommen. Jedoch hatte Patient durch das Freiwerden der Nasenathmuiig
grosse Erleichterung; die vorher sehr häufig wiederkehrenden starken Blutungen
traten nur sehr vereinzelt und rasch vorübergehend auf. Trotzdem wuchs die
Geschwulst wieder, behinderte allmählich die Athmung stark, verschlechterte
die Sprache, so dass der Patient wieder das Hospital aufsuchen musste. Der
für sein Alter kräftig entwickelte Knabe sah sehr blass aus. Die linke Wangen-
hälfte schien vorgetrieben; links von der Mittellinie zog eine lineare, weisse
Narbe über den Nasenflügel abwärts. Die rechte Nasenhälfte erwies sich für
den Luftstrom völlig durchgängig; links war der Luftstrom behindert. Linker-
seits sieht hinter dem weichen Gaumen ein Abschnitt des Tumors hervor; die
linke Choane ist bei der Palpation vollkommen durch eine von links von der
Schädelbasis herunterkommende, der Lamina pterygoidea folgende Geschwulst,
die sich sehr hart und derb anfühlte, ausgefüllt. Bei der Untersuchung mit
dem Nasenspiegel erwies sich die linke Nasenhälfte vorn erweitert; die Muscheln
fehlen. Die linke Kieferhöhle wird von einem röthlichen, zum Theil ge-
schwürig zerfallenen, sonst aber ziemlich glatten Tumor eingenommen.
Da die mikroskopische Untersuchung der zuerst entfernten Geschwulst
ergeben hatte, dass es sich um ein mit Gefässen reich durchzogenes Fibrom,
ohne sacromatöse V^eränderungen handelte, w^urde am 22. Januar 1898 zur
Operation geschritten.
Bei Morphium-Chloroformnarkose wird zunächst in sitzender Stellung
ein vom 2. Mahlzahn rechts bis 2. Mahlzahn links reichender Schnitt durch
die Schleimhaut des Vestibulum oris hoch oben an der Umschlagsfalte ober-
halb der Zahnreihe des Oberkiefers geführt, und von ihm aus durch Zurück-
schieben der Weichtheile mit dem Elcvatorium der Knochen rasch freigelegt.
Nachdem die Nasenhöhle von vorn unten aus durch Abtrennen der Schleimhaut
von der Apertura pyriforrais eröffnet worden, wird, während die Weichtheile
mit stumpfem Haken kräftig nach oben und aussen gezogen werden, ein sehr
breiter Meissel so in die Wunde eingesetzt, dass er oberhalb der Schleimhaut
des Bodens der Nasenhöhle das Septum narium, und oberhalb der Schleimhaut
der Kieferhöhlen die Vorder- und Aussenwände der Kieferhöhlen durchtrennt
bis an die Tubera maxillaria. Mit massigem Druck gelingt es, den ganzen
Gaumen, um eine quer durch die hinteren Enden des Oberkieferkörpers ge-
lehrt gedachte Axe fallthürartig nach unten zu klappen und so einen Raum zu
854 Dr. Partsch,
jl^ewinnen, in welchem der zu entfernende Tumor ausgiebig frei blossliegt.
Nun wird die Stellung des Patienten geändert, er wird mit herabhängendem
Kopfe gelagert; der Gaumentheil wird mit einem st^irken Resectionshaken so
weit als möglich von dem oberen Abschnitt entfernt gehalten, die Weichtheile
mit Haken weit bei Seite gezogen. Nun sieht man den Tumor die linke Choane
ausfüllen, die linke Kieferhöhle durchsetzen bis an die Orbita hin. Andrerseits
zieht er sich hoch hinauf nach der Schädelbasis. Da die Geschwulst so derb
ist, dass sie dem Zuge des scharfen Löffels nicht folgt, muss sie mit Pincette
und Scheere stückweise entfernt werden. Die beträchtliche Blutung wird durch
intermediäre Tamponnade immer wieder zum Stillstand gebracht So wird die
Geschwulst sorgfältig bis zur Schädelbasis fortgenommen. Die beträchtliche
Blutung macht Injection von Aether und Eingiessnngen von Kochsalzlösung
in den Mastdarm nothwendig.
Sobald das Operationsfeld rein erscheint, wird ein langer Jodoformgaze-
streifen an die Stelle, welche durch Entfernung des Tumors verursacht ist,
geführt, und mit weiteren Streifen die ganze Höhle so ausgefüllt, dass das
Ende des Streifens aus dem linken Nasenloch heransgeleitet werden kann.
Ohne Mühe gelingt es, mit leichtem Druck den Gaumen in seine normale Lage
hineinzudrängen und in derselben durch eine die Incisionswunde im Mund-
höhlenvorhof vereinigende fortlaufende Schleimhautnaht festzuhalten.
Zufuhr von Wärme, warmes Getränk, subcutane Injectionen von Campheröl
bewirken eine rasche Erholung des coUabirten Patienten. Der anfangs fre-
quente Puls geht in den Tagen nach der Operation langsam herunter. Am
linken Auge macht sich eine blutige Verfärbung bei massiger Schwellung des
Gesichts bemerkbar. Die anfangs lebhaften Schmerzen schwinden rasch. Am
2. Tage schon geniesst Patient mit gutem Appetit flüssige Speisen. Die Stel-
lung des Kiefers ist gut; das Schlucken ist nicht behindert. Durch Mund-
Spülungen und Abreibungen der Schleimhaut mit Thymollösnngen gelingt es,
die katarrhalische Stomatitis fem zu halten.
Am 31. Januar wird der Tampon aus der Nasenhöhle, sowie die Naht
im Vestibulum entfernt; die Nasenhöhle mit Borsäurelösung ausgespült. Ein
neuer Tampon wird nicht mehr eingelegt. Die blutige Verfärbung am linken
Auge ist im Verschwinden. Der Patient verlangt nach gekochten Eiern, die
er mit den Zähnen zu bearbeiten vermag. Er nimmt geschabtes rohes Rind-
fleisch und Semmel in Milch erweicht.
Am 8. Februar ist der rechte Oberkiefer schon deutlich befestigt, der
linke ist noch loser. Patient bekommt schon andere weiche Speisen.
Am 13. Februar stösst sich oberhalb des linken mittleren Schneidezahns
ein 3 mm langes, 1 mm breites Knochenstückchen ab. Am 25. Februar ist
der Kiefer bereits so fest, dass Pat. alle Speisen zu essen vermag. Die linke
Wange erscheint immer noch etwas vorgetrieben; der Alveolarfoitsatz ist be-
reits rechterseits so fest, dass nur sehr starker Druck ihn noch zu bewegen
vermag; der linke, der anscheinend in der Mittellinie gegenüber dem rechten
etwas beweglich geworden, weicht beim Druck noch immer etwas aus. Durch
Mangel der miitleren Wand der Kieferhöhle, wie durch Blähung der äusseren
Eine neue Metliode temporärer Gaumenresection. 855
Wand durch den andrängenden Tumor sind die Befe»tigungs mittel viel ge-
ringer als rechts.
Die linke Nasenhöhle borkt stark und muss durch häufige Spülungen
rein gehalten werden. Patient hat sich sonst sichtlich erholt; bei gutem Ap-
petit hat er bereits 2 Pfd. an Körpergewicht zugenommen. Er wird Mitte Mai
aus der Anstalt geheilt entlassen.
Als ich den Patienten dem diesjährigen Chirurgencongress vorstellen
durfte, war er kräftig und gesund. Im Gesicht war keinerlei Zeichen einer
Entstellung wahrnehmbar, bis auf die feine lineare Narbe im linken Nasen-
flügel, die von der ersten Operation herrührte. Die linke Gesichtsseite, ins-
besondere die linke Oberkiefergegend erwies sich durch die Blähung, w^elche
der Tumor hervorgerufen hatte, immer noch etwas stärker als die rechte.
Beim Einblick in den Mund war von der vorgenommenen Operation kaum
etwas wahrnehmbar. Die Zahnreihen articuliren gut. Von der Narbe im Ye-
stibulum war nur bei besonderer Mühe etwas zu sehen. Die Zähne des rechten
Oberkiefers stehen vollkommen fest, klingen bei Percussion ; keiner ist gelockert
oder schmerzhaft. Bei Prüfung der Empfmdungsfähigkeit giebt Patient genau
jede Berührung am Zahn an. Linkerseits ist noch ein geringer Grad von ela-
stischer Nachgiebigkeit vorhanden, aber doch so wenig, dass Patient in keiner
Weise in seiner Nahrungsaufnahme oder beim Kauen behindert ist.
Die Sprache ist noch nasal, weil einerseits der früher durch den -Tumor ge-
dehnte Gaumen immer noch nicht vollkommen die hintere Rachenwand bei
der Phonation erreicht, andrerseits die linke Nasenhöhle durch Fortfall der
mesialcn und hinteren Wand der Kieferhöhle und der Muscheln beträchtlich
erweitert erscheint: Die schleimige Absonderung aus der Höhle, sowie die Nei-
gung zur Borkenbildung hat sich bereits vermindert; von irgend einem Recidiv
ist nirgends etwas zu erkennen.
Das Allgemeinbefinden des Patienten lässt nichts zu wünschen
übrig.
Somit darf die Operation als gut gelungen bezeichnet werden.
Als Vorzüge derselben möchte ich den Mangel jeder Ent-
stellung bezeichnen. Selbst bei der Güssen bauer\schen Methode
bleibt, auch wenn die Vereinigung der Schleimhaut durch i)rimärc
Heilung geglückt ist, immer noch an der Stelle des Gauraen-
defectes eine trichterförmige Einziehung der Schleimhaut zurück.
Hier kann man nur mit Mühe die Nahtlinie hoch oben im Vesti-
bulum nachweisen. Sie liegt an einer Stelle, an welcher innerhalb
der Mundhöhle die geringste Gefahr einer Beeinträchtigung der
Heilung vorliegt. Denn hierher pflegen sich Speisereste kaum zu
verirren. Der Wangendruck begünstigt die Annäherung der Wund-
ränder; die Naht ist den mechanischen Einwirkungen beim Schlingen
und Schlucken nicht ausgesetzt; die Gegend der Wunde ist mit
856 Dr. Part seh,
Leichtigkeit sauber. zu haiton. Die rasche und mühelose Anlegung
der Naht trägt zur Verkürzung der Operationsdauer erheblich bei.
Eine Störung des Zahnsystems wird durch die Operation nicht
herbeigeführt. Alle Zähne haben oline jede Veränderung den Ein-
griff ausgehalten, sie sind in ihrer Vitalität in keiner Weise be-
einträchtigt worden; ihre Empfindungsfähigkeit ist unverändert ge-
blieben. Ja während der Heilung sind keinerlei entzündliche Rei-
zungserscheinungen an denselben aufgetreten.
Will man der Gefahr entgehen, event. Wurzeln hoch hinauf
ragender Eckzähne zu verletzen, muss man mit dem Meisselschlage
hoch über dem Alveolarfortsatz bleiben, was keinerlei Mühe macht.
Aber etwaigen Bedenken möchte ich mit der Erfahrung begegnen,
die ich bei der von mir geübten Wurzelresection gemacht habe^),
dass auch nach Entfernung der W^urzelspitze die Zähne fest und
funktionsfähig im Kiefer bleiben.
Absichtlich habe ich die Durchtrennung der Wände der Kiefer-
höhle oberhalb des Bodens der Höhlen und oberhalb der Schleim-
haut der Nasenhöhle ausgeführt, und nicht submucös nach Ab-
lösung der Schleimhaut vorgenommen. Einerseits wird die ent-
stehende Wundfläche erheblich kleiner. Man erhält mit dem Meissel-
schlage nicht eine breite, sondern fünf schmale Wundflächen,
die, in der Schleimhaut gelegen, viel günstigere Heilungsbedin-
gungen haben. Die Ernährung des Knochens, und damit die Hei-
lung der gesetzten Wunden ist ganz anders gesichert, wenn die
Schleimhaut in ganzer Ausdehnung mit der Unterlage erhalten
bleibt. Darauf ist wohl auch die rasche und gute Heilung ohne
jede Nekrose zurückzuführen. Der kleine, am Ende der 2. Woche
entfernte Knochensplitter war wohl ein von der Operation her
zurückgebliebener Splitter. Sollte Jemand bei der Heilung ein
Empyem der Kieferhöhle fürchten, so wäre es ein Leichtes, durch
Auszwicken eines Stückes aus der mesialen Wand der Kieferhöhle
einer Eiteransammlung in derselben vorzubeugen. Ich habe weder
in dem ersten Falle einer Fractur noch in dem operirten Falle ein
Empyem entstehen sehen.
0 Partsch, lieber Wurzelresection. Monatsschrift für Zahnheilkunde.
Jahrgang 1898. S. 80.
Eine nouc Methode temporärer Gaumen resection. 857
Die Blutung ist bei der Durchtrennung der Knochen gering.
Nur aus der Naso-palatina blutet es etwas stärker; aber ein kurzer
Druck lässt schnell die Blutung zum Stillstand koramen. Die be-
trächtliche Blutung aus dem Tumor wird natürlich nur schwer zu
vermeiden sein; aber vielleicht gelingt es auch hier, wo man auf
dem von mir gezeigten Wege den Tumor freier übersichtlich und
umfangreicher vor sich hat, durch zweckmässige Methoden, Ligatur,
Umstechung u. s. w. , die Blutung mindestens einzuschränken.
Jedenfalls braucht man nicht in Sorge zu sein wegen etwaiger
Aspiration; die Lage bei herabhängendem Kopf gestattet dem
Operateur, seine ganze Aufmerksamkeit auf die Beseitigung der
Geschwulst und auf die Blutstillung zu vei-wenden ; er braucht nicht
ängstlich auf die Narkose zu achten.
Der Zugang zum Schädelgrunde von der Keilbeinhöhle bis
zum Siebbein ist durch die Operation so übersichtlich geschaffen,
dass man sorgfältig, fein, mit subtilster Technik operiren kann.
Das bequeme ßeiseiteziehen der Wangenweichtheile schafft so viel
Licht, dass man Alles genau zu übersehen vermag. Denen, welche
die Operation an der Leiche prüfen wollen, möchte ich rathen,
recht auf vollständige Beseitigung der Todtenstarre der kräftigen
Kaurausculatur zu achten. Ist sie nicht vollkommen überwunden,
so hindert sie die weite Eröffnung des Kiefers. Am Lebenden ist
die Llebersichtlichkeit leicht durch weites Herabziehen des Gaumens
und Beiseiteziehen der Gesichtsweichtheile zu schaffen.
Trotzdem gelingt die Annäherung des Gaumens an die Kiefer
nach Beendigung des Vorgehens an der Schädelbasis mühelos. Die
Vereinigung der Schleimhaut hat mir genügt, um die Gaumen an
jeder seitlichen Verschiebung zu hindern und in richtiger Position
zu halten. Eine besondere Schiene, wie sie von Kingsley oder
Angle für die Fixation bei Oberkieferbrüchen angegeben ist, er-
wies sich als überflüssig. Schon nach wenigen Tagen wird der
Kiefer so weit fest, dass eine erhebliche Dislocation ausge-
schlossen ist.
Die Befestigung nimmt viel rascher zu, als ich ursprünglich
l)ei der Dünne der Wände erwartet hatte.
Wenn sie in dem vorgestelltem Falle links ni(;ht ganz voll-
kommen erreicht worden ist, lag das an der durch die frühere
858 Dr. Partsch, Eine neue Methode temporärer Gaumenresection.
Operation und den Tumor angerichteten Zerstörung der Knochen-
partieen und dem die äussere Wand bereits betreffenden Druck-
schwunde.
So glaube ich diese neue Methode der temporären Gaumen-
rescction als einfach und bequem ausführbar, als zweckmässij[^
zur Erreichung von Krankheitsprocessen, welche die oberen Ab-
schnitte der Nasenhöhle, den Schädelgrund vom Siebbein bis Keil-
beinhöhle betreffen, zur Nachprüfung den Herren CoUegen
empfehlen zu dürfen. Sie hat den Mangel jeder Entstellung vor
allen facialen Methoden, die leichte und blutsparende Ausführ-
barkeit vor den anderen oralen Methoden voraus.
LVIIL
Multiple Knochen- und Knorpelgeschwülste/)
Von
Dr. w. ULrfger^
Pritatdoeent in Erlangen.
Eines jener bekannten und wunderbaren Zusammentreffen von
seltneren Erkrankungen gleichen oder ähnlichen Characters gab
mir im letzten Winter Gelegenheit, fast neben einander drei
interessante Fälle multipler Knochen- bczw. Knorpelgeschwülste zu
beobachten. Es handelte sich um Myositis ossificans progressiva,
multiple cartilaginäre Exostosen und multiple Euchondrome. Ich
sehe davon ab, ausführliche Beschreibungen zu geben und will
nur das Characteristische jedes einzelnen Bildes herausheben.
Der erste Fall bot das, man darf wohl sagen, typische Bild einer Myo-
sitis ossificans, wie es in den Arbeiten von Münchmeyer, Mays, Helferich
nnd Cahen beschrieben ist. Bei dem 4 V2 jährigen gut genährten Mädchen
setzte das Leiden vor 2 Jahren acut ein. Unter stark entzündlichen Er-
scheinungen bildete sich zuerst am Rücken etwas links von den untersten
Rückenwirbeln ein blaurother, schmerzhafter Knoten, die Haut darüber war
sehr gespannt, so dass man meinte, die Geschwulst würde aufbrechen. Die
Schwellung ging aber grösstentheils zurück und an ihrer Stelle wurde nun ein
rundlicher Knochen vors prung bemerkt. In mehrfachen Schüben breitete sich
der Process dieser Art häufig unter Fieber, fast immer mit Entzündungs-
erscheinungen weiter aus über den Rücken, den Nacken, die Arme, den Unter-
leib und die Hüften, zuletzt wurden Hals und Gesicht befallen. Jetzt ist die
Wirbelsäule ein fester Stab, von dem lange, unregelmässige KnochenriiTe aus-
gehen, die Schultern sind emporgezogen, die Oberarme stehen abducirt unbe-
weglich, die Unterarme rechtwinklig gebeugt, wenig beweglich, die Hände
1) Abgekürzt vorgetragen am 4. Sitzuugstage des XXVII. Coogresses
der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin, 16. April 1898.
860 Dr. V. Kryger,
liegen gekreuzt auf dem Leih, die Beine sind in der Hüfte leicht gebeug-t, das
rechte abducirt unbeweglich. Der Kopf ist nach vorn und links geneigi, (las
Gesicht etwas nach rechts gedreht. Die Wangen- und Mundmusculatur ist sehr
hart, der Mund kann nur noch bis zu einer Yj» cm breiten Spalte geöffnet
werden, das Essen ist nur durch vSeitliche Verschiebungen des Unterkiefers
möglich, üeberall in den Muskeln fühlt man derbe Stränge oder Knochen-
spangen, die theils in Verbindung mit dem Skelett stehen, theils frei im Ge-
webe zu liegen scheinen, fast immer dem Faserverlauf folgen, nur hin und
wieder denselben kreuzen. An den Rippen, den Wirbeln und am Becken
springen wirkliche Exostosen senkrecht zur Haut hervor. Es fehlt auch nicht
die von Helferich zuerst gewürdigte Microdactylie der beiden grossen Zehen.
Dieselben zeigen anscheinend nur ein Glied, das in Valgusstellung dem Meta-
tarsus aufsitzt.
Der Verlauf des Processes hält die von Münchmeycr genau
gekennzeichneten drei Stadien innc. Auf eine teigige, fluctuirende
Schwellung mit Oedem der weiteren Umgebung folgt eine derbe
fibröse Verdichtung des Gewebes, auf dieser Stufe macht die Ent-
wicklung zuweilen Halt, dafür sprechen hier die Stränge im Sterno-
cleidomastoideus und Obliquus abdominis. Die Höhe des Processes
ist durch die Verknöcherung des Gewebes ausgezeichnet.
In der so strittigen Frage nach der Entstehung der Myositis
ossificans neigt man in neuerer Zeit immer mehr zu der Ansicht,
dass es sich um eine Geschwulstbildung handelt, wie dies zuerst
von Mays klargelegt wurde. In unserm Fall zeigt das mikro-
skopische Bild eines Schnittes aus einer wie eine Finger-Phalange
geformten Wucherung am Becken in grösster Deutlichkeit den üebcr-
gang des intermusculären Bindegewebes in kleinzelligen Knorpel,
aus dem sich dann eine Schicht voll ausgebildeten Knorpels ent-
wickelt. Mit scharfer geradliniger Grenze setzen sich daran
Knochenbälkchen, die grössere Markräume einschliessen. Mit
Cahen, der dasselbe bei durch Trauma entstandenen Verknöcherungen
sah, halte ich diese endochondrale Entstehung bezeichnend für
Geschwulstbildung.
Als Ausgangspunkt muss man neben dem Knochensystem
Sehnen, Fascien und das Bindegewebe innerhalb des Muskels an-
sehen. Ein Theil der Wucherungen geht unzweifelhaft vom Skelett
aus in Form von Exostosen; so^ sind wohl die Geschwülste am
Kopf und an den Wirbeln aufzufassen und die Vorsprünge am
BeckiMi, die sich nicht in der Richtung eines Muskels entwickeln.
Ein anderer Theil entsteht in den Weichtheilcn, dafür sprechen
Multiple Knochen- und Knorpelpfoschwülste. 861
die ganz isolirt vom Skelett angetroffenen Spangen. Von den
Spangen, die im Verlauf eines Muskels von Skelett zu Skelett
gehen, ist es schwer zu sagen, ob zwei dem Muskel folgende aus
dem Knochen entstandene Zacken sich vereinigt haben oder ob der
Beginn in den Weichtheilen lag und dann nach beiden Seiten hin
die Verbindung mit den Knochen erfolgt ist.
Der zweite Fall betrifft ein 15 jähriges Mädchen, das angeblich im
10. Lebensjahre zuerst einen kleinen Knochenhöcker auf der rechten Schulter
bemerkte und jetzt nun zahlreiche Exostosen trägt. Dieselben haben vornehm-
lich in der Nähe der Gelenke an den langen Knochen ihren Sitz, dort wo die
Epiphysenlinie zieht; sie sind theils pilz- und stachelartig vorspringend, thcils
breit, massig, in Form von dicken Leisten, in letzterem Falle erstrecken sie
sich noch eine Strecke weit über die Diaphyse und verjüngen sich nach der
Mitte des Knochens zu. An den Rippen ist ihr Sitz am Uebergang von Knorpel
ZQ Knochen, am Becken sitzen sie kranzartig dem Rande auf. Eine Ver-
erbung liegt nicht vor, da, soweit man nachforschen konnte, kein anderes
Familienmitglied Aehnliches aufweist. Von Rachitis sind keinerlei Zeichen
nachzuweisen. Die zuerst von Volkmann beschriebenen und als rachitische
Kennzeichen angesehenen, später dann von Helferich und seinen Schülern,
besonders eingehend von Bes sei -Hagen ihrer Bedeutung gemäss gewürdigten
Wachsthumsstörungen der mit Exostosen besetzten Knochen finden sich bei
dem Mädchen in ausgedehntem Maasse. Die Messungen ergaben kaum bei
einem Knochen für beide Seiten gleiche Zahlen. Im Ganzen bleiben die
Knochen der rechten Körperhälfte in der Länge gegen die andere Seite zurück,
während in den meisten Fällen von Bessel-Hagen dieses Missverhältniss
gekreuzt erschien. Die Körperproportionen zeigen ein gleiches Missverhältniss.
Die ganze Körperhöhe beträgt nur 145 cm, sicher weniger als dem Alter des
Mädchens im Durchschnitt entspricht. Der obere Symphysenrand steht 71 cm
über dem Boden, also etwas unter der Mitte des Körpers, während er nach
Quetelet in der Mitte liegen sollte.
Verkrümmungen sind nur an den beiden Vorderarmknochen der rechten
Seite vorhanden, Radius und Ulna sind dorsal- und radialwärts convex ge-
bogen. Die häufig beobachtete Regel, dass der Grad der Wachthumsstörung
von der Grösse und der Zeit der Entwicklung der Exostosen abhängig ist, trifft
hier am rechten Vorderarm zu, da am linken Arm nur am distalen Ende kleine
Knöpfe sitzen, während sich rechts frühzeitig eine wallnussgrosse Exostose am
Radius dicht unter dem Köpfchen enti^ickelt hatte. Der Radius ist auch um
2 cm kürzer als die Ulna. An den unteren Extremitäten trifft die Regel aber
nicht zu, die Exostosen sind auf beiden Seiten so ziemlich gleich an Zahl und
Grösse, links am unteren Femur- und oberen Tibiaendo sogar zahlreicher und
trotzdem sind rechts alle Knochen kürzer. Näherliegond ist es wohl mit
Rubinstein und Reich anzunehmen, dass Exostosen sowohl wie diese
Störungen an den Knochen beide gleichwerthige Zeichen einer Entwicklungs-
anomalie des intermediären Knorpels sind.
Archiv fttr klin. Chirurgie. Bd. 57. Heft 4. 5Y
862 l>r. V. Kryger,
Die so häullg als Folge der ungleichmässigcn Entwicklung
beobachtete Gelenkanoraalie, die Subluxation des Radius sehen wir
in unserem Fall am rechten Ellbogen, ohne dass aber die abnorme
Kürze der Ulna die Schuld trüge, sondern wahrscheinlich bedingt
durch die Knickung des Radius dicht unterhalb des Köpfchens und
Lockerung des Gelenkapparates in Folge der Exostose. Genu
valgum ist besonders ausgeprägt am rechten Knie, aber nach
Bessel-Hagen wohl nicht abhängig von der Exostosenentwicklung,
da diese ganz vornehmlich an der Innenseite besteht. Dagegen
kann es kaum einem Zweifel unterliegen, dass der Pes valgus
rechterseits durch die besondere Verkürzung der Fibula hervor-
gerufen ist.
Eine von der linken Tibia entnommene Jlxostose zeigte auf
dem Schnitt das bekannte Bild im Bau und Anordnung von
Knorpel und Knochen, eigenthümlich war ihr eine bis auf die Ba.si.s
herabreichende grosse Bursa, die aber streng geschieden war vom
Kniegelenk.
Was die Genese der Exostosen betrifft, so sind dieselben als
Geschwülste anzusehen, die mit Vorliebe im jugendlichen Alter
durch Wucherung aus dem intermediären Knorpel der langen
Knochen und nachfolgender Ossification entstehen, seltener an
den platten Knochen aus den Theilen, die länger knorpelig per-
sistiren.
Recht eigenartig erscheint der dritte Fall von multiplen Enchondromen.
Bei einer jetzt 54jährigen Frau hatten sich im 7. Lebensjahre Knorpelwuche-
rungen an der rechten Hand entwickelt, später auch an der linken Hand und
am rechten Fuss, im 20. Jahre gesellten sich dazu kirschgrosse Beulen an der
Radialseite des rechten Zeigefingers und volar zwischen den Köpfen der Meta-
carpalknochen, erst in den letzten 10 Jahren traten weitere Geschwülste am
Daumen hinzu. An den Fingern beider Hände, an den Zehen beider Fasse,
aber auch an den Köpfen der Mittelhand- und Mittelfussknoohen sitzen die
Knorpelgeschwülste stets an der Epiphyse, nie in der Diaphyse. Ausserdem
finden sich nun an der rechten Hand eine Anzahl weicher, gut umschriebener
Knoten, die sich etw«as verschieben lassen, dicht unter der verdünnten und ge-
spannten Haut liegen, einige bläulich durchschimmernd, hier und da föhlt
man beim Zusammendrücken der Geschwulst kleine harte Theile im Innern.
Ihren Platz haben sie in der Handfläche zwischen den Köpfen der Mittelhand-
knochen und in Fonn einer Schnur grosser Perlen am ganzen Daumen entlang
durch den Ballen hindurch bis auf die Beugeseite des Vorderarms. In dieser
letzteren Anordnung treffen wir sie wieder am äusseren rechton Fnssrand,
vereinzelt auch am Mittelfuss.
Multiple Knochen- und Knorpelffcsrhwülsto. 8f)3
Der rechte Fuss ist ausserdem unförmig durch eine liokosnussgrossc Gc-
schwulst um den 1. Metatarsus herum, die Haut über demselben ist gespannt,
glänzend roth, die Consistenz prall elastisch, der Druck schmerzhaft. Dies
Gebilde sollte sich in den letzten drei Wochen aus einer flachen Schwellung am
innern Fussrande gebildet haben, die angeblich auch nur vier Wochen bestand.
Bei der Operation dieser Geschwulst wurden auch eine Reihe der weichen
Knoten am Fuss und rechten Daumenballen entfernt. Man konnte "die bläulich
und braun schimmernden Knoten gut herausschälen, sie hatten eigene Hüllen,
die allerdings stets innig mit einer Vene zusammenhingen. Man sah peripher
ganz gut den Zutritt des Gefasses, konnte dasselbe am andern Ende leider
nicht verfolgen. Zu dem übrigen Gewebe bestand keine besondere Beziehung,
die kleinsten Gebilde schmiegten sich innig in die Lücken zwischen Sehnen
bezw. Muskeln hinein, reichten auch bis auf den Knochen, liessen sich aber
überall gut lösen. Wurde ein oder das andere Bläschen eröffnet, so sprang ein
hirsekorngrosses, gelbliches, knorpelhartos Körnchen heraus, daneben floss
etwas venöses Blut ab. Schnitte aus diesen Gebilden zeigten deutlich das Bild
eines cavernösen Angioms, nach dem Befunde bei der Operation offenbar aus
den Venen entstanden. In den kleinen gelblichen harten Körpern findet sich
kein Knorpel, nur ringförmig geschichtetes zellloses oder sehr zellarmes fibröses
Gewebe. Ich wäre am ehesten geneigt, das Ganze als übereinstimmend mit
dem in den Fällen von Käst und v. Recklinghausen und Steudel er-
hobenen Befund zu erklären, es bestand dort auch die Gombination von
Enchondromen mit phlebogenen cavernösen Angiomen.
V. Recklinghausen schildert die harten Körnchen, sowie wir sie ge-
sehen haben, auch ähnlich ihre Zusammensetzung und erklärt sie für Phlebo-
lithen. Ob die Analogie eine vollständige ist und welcher Art die Beziehungen
zwischen Angiomen und Enchondromen sind, das zu untersuchen soll einer
besonderen Bearbeitung vorbehalten bleiben.
Mit dem bisher Geschilderten sind jedoch die Veränderungen noch nicht
erschöpft. Auch bei diesem Falle haben wir erhebliche Wachsthumsstörungen
an den Knochen des rechten Beins und des rechten Arms. Das rechte Bein
ist 5 cm kürzer als das linke, Femur, Humerus, Radius, Ulna, Tibia und
Fibula sind wesentlich kürzer als dieselben Theile der linken Seite, der
Humerus ausserdem verkrümmt, nach der Brust und nach hinten convex, Femur
und Tibia im unteren, bezw. oberen Drittel nach hinten und aussen convex.
An letzteren beiden Knochen bestehen an der Epiphysengrenze vielzackige,
massige Exostosen. Im rechten Knie ist ferner noch der Unterschenkel etwas
nach hinten und oben verschoben, Subluxation der Tibia.
Recht auffällig ist das Missverhältniss der Körperproportionen, bei einer
Höhe von 144 cm, die weit unter dem Mittelmaass bleibt, beträgt der Abstand
des oberen Symphysonrandes vom Boden nur ßO cm, während er die Hälfte der
Körperlängo, 72 cm haben sollte.
Die gleichzeitige Beobachtung dieser Geschwulstbikler legte
den Gedanken nahe, nach bestimmten Beziehungen derselben zu
einander zu forscheu. Dass solche zwischen Exostosen und Enchon-
0/*
<S64 Dr. V. Krygor, Multiple Knochen- und ICnorpelgeschwülste,
clromen bestehen, hat Nasse bereits nachgewiesen und fand sich
dies auch in unsern Fällen bestätigt, namentlich soweit es sich um
Wachsthumsstörungen und Corabination beider bei demselben Indivi-
duum handelt. Die Myositis ossificans stellt allerdings in dieser Hinsicht
etwas ganz Eigenartiges dar. Vergleicht man aber alle drei Ge-
schwulstarten rücksichtlich ihrer Entstehung, so ergiebt sich doch
eine gewisse üebereinstimmung. In den drei besprochenen FäDen
begann das Leiden in den Jahren, in denen das Knochenwachs-
thum am lebhaftesten vor sich geht, man darf daraus den Schluss
ziehen, dass es sich bei der Entstehung der Wucherungen um
Störungen in der Knochen bildung handelt. Für Exostosen und
Enchondrome folgt man jetzt wohl allgemein der Ansicht Virchow's,
dass beide Formen durch Abnormitäten in der Umwandlung des
transitorischen Knorpels zu Knochen bedingt sind. Für einen Theil
der Geschwülste bei der Myositis ossificans scheint dies ebenfalls
zuzutreffen, nämlich für die vollkommen nach dem Typus der
Exostosen gebauten Auswüchse. Dazu kommen nun hier allerdings
noch Reizzustände in all den Geweben des Bewegungsapparates,
die wir auch sonst als knochenbildende kennen.
Eine offene Frage ist es, welche Momente zu diesen Störungen
im Knochenwachsthum führen, ob die Rachitis eine Disposition
schafft oder ob die Ursachen sich weiter zurück in der embryonalen
Anlage finden. Für unsere Fälle von Exostosen und Enchondromen
lässt sich die Rachitis als prädisponirendes Moment abweisen, da
die Verkrümmungen der Knochen die eine Körperhälfte so be-
sonders auszeichnen und sonst alle Zeichen überstandener Rachitis
fehlen; viel mehr Wahrscheinlichkeit hat die Annahme, dass der
Gnmd in einer abnormen Anlage der Knochen zu suchen ist. Auf
die gleiche Ursache dürfte auch die Entwicklung der Myositis ossi-
ficans zurückzuführen sein, dafür spricht in hohem Grade der Um-
stand, dass sich fast regelmässig bei den davon befallenen Kranken
noch ein anderes Zeichen einer angeborenen Abnormität der Knochen
findet, die symmetrische Mikrodactylie an den grossen Zehen. So
scheinen in der That die drei in ihren ausgebildeten Formen ver-
schiedeneu Geschwulstarten durch dieselbe Anomalie bedingt zu
sein, durch Störungen in der embryonalen Anlage des Knochen-
systems.
LIX.
üeber die Narkose mit Aethylchlorid/^
. Von
Dr. Georg liOthelssen,
Assistenten an Prof. t. Hacker's Klinik in Innsbruck.
(Mit 2 Figuren.)
Zur Localanästhesie \^ird Aethylchlorid schon lange Zeit ziem-
lich allgemein angewandt, woniger gebräuchlich ist seine Verwendung
zur Inhalationsanästhesie. Im Sommer 1896 wurde in der Münchner
medicin. Wochenschrift (JJo. 27) ein kurzer Bericht des Bulletin
medical (No. 35) abgedruckt, in dem Aethylchlorid zur Narkose
empfohlen wird^). Auf Anregung Prof. Soulier's waren damals
schon in den Spitälern Lyon's 8417 Narkosen mit Aethychlorid,
dem sogenannten „Kelen'' der Firma Gilliard, Monnet und Cartier
ausgeführt worden. Niemals sollten sich üble Zufälle ereignet
haben. Da nun bisher kaum ein Inhalationsanästheticum bei einer
so grossen Zahl von Narkosen ohne Todesfall geblieben war, wagte
ich es im August 1896, als ich in Vertretung Prof. v. Hacker's
die Klinik zu leiten hatte, eine solche Kelen-Narkose auszuführen.
Da uns damals die Wirkungsweise des Mittels aus eigener
Anschauung noch nicht bekannt war, verwendete ich vorsichtshalber
die Tropfmethode, od(?r wie man hier richtiger sagen muss die
Spritzmethode, sowie die Esmarch'sche Maske. Soulier hatte
zwar gesagt, dass man damit schwer oder gar nicht zum Ziel
komme, in diesem Fall war der Erfolg aber überraschend.
Es handelte sich um ein junges Mädchen mit einem Panaritium.
*) Der obige für den Congress angemeldete Vortrag konnte wegen Mangel
an Zeit nicht zur Erledigung gelangen.
2) Schon vorher hatte Dr. Henning (Berlin) es empfohlen auf Grund der
Thierversuche Schleich 's (Schmerzlose Operationen, 2. Aufl. Berlin 1897) ohne
Anklang zu finden.
8()() Dr. 0. Lotheissen,
Die leisoslr RowPiziing dos Fingers entlockte ihr lehliafte Schinorz-
äusserungen. Wie orslaniitcn wir nun, als nach 1 Minute, ohne
dass auch nur die Spur einer Excitadon vorausgegangen w-äre.
vollkommene Anästhesie eingetreten war und man nun die Operation
anstandslos ausführen konnte. Kaum war der Korb entfernt, so
schlug die Patientin die Augen auf, nach w^enigen Sekunden war
sie ganz bei sich und wollte nicht glauben, dass sie schon operirt
worden wäre.
Dieser günstige Erfolg veranlasste Herrn Prof. v. Hacker
auch weiterhin auf seiner Klinik Narkosen mit Aethylchlorid vor-
nehmen zu lassen. In den Beiträgen zur klinischen Chirurgie^)
berichtete Ludwig über 66 Fälle, inzwischen ist die Zahl unserer
Kelen-Narkosen auf 170 angewachsen. Diese Zahl mag wohl
relativ klein erscheinen, erklärt sich aber leicht damit, dass wir,
wenn es irgend anging, lieber die allgemeine Anästhesie vermieden
haben und die Infiltrationsanästhesie nach Schleich anwandten.
Da wir niemals bei der Kelen-Narkose üble Zufälle bemerkt haben.
r
möchte ich mir erlauben, Ihnen in Kürze Einiges über unsere Er-
fahrungen mitzutheilen.
Was zunächst die Technik der Kelen-Narkose betrifft, so hat
sich gezeigt, dass man eine luftdicht dem Gesicht aufsitzende
Maske brauclit, um in allen Fällen sichere Anästhesie zu erreichen.
Wir verwendeten darum eine Zeit lang die Julliard'sche Aether-
maske. Da es aber gewiss nicht gleichgültig ist, wenn der
Patient stets die Exspirationsgaso wieder einathmen muss, sind wir
von dieser Maske abgegangen und verwenden nur mehr den
Breuer'schen Korb (bis jetzt in 125 Fällen)^). Dieser ist eine
Modification der Clover'schen Maske. Er besteht aus einem
Metallhelm, der mit einem Gummiring armirt ist, welcher ermöglicht,
dass man ihn fest an das Gesicht anpasst, so dass Mund und
Nase vom Helm gedeckt sind. Er hat ein Inspirations- und ein
Exspirationsventil. Auf ersteres lässt sich eine Hohlkugel aufstecken.
Diese besteht aus zwei Hälften, die gut in einander passen, man
kann sie also öffnen und nun ein Stück entfetteten Mull hinein-
legen als Träger des Narkoticums. lüine Oeffnung in der Kugel
(Tmöglicht das Aufgiessen von aussen, ohne den Korb zu lüften
1) Band XIX, Heft 3.
') Vax bcziclicn von L. Scimimei.stcr, Mechaniker, Wien IX, Spitalgasse fi.
Ueber die Narkose mit Aetliylclilorid.
867
(vgl. Fig. 1 und 2). Breuer hat Kcincineit') diesen Korh angegeben,
um damit an der chirurgischen Abtheilung Prof. v. Hacker'.s im
Sophienspital zn Wien die l'entai-Narkosen durchzuführen.
Fig. 1.
Die Vorbereitung ist die gleiche, wie für die Chloroform-Narkose.
Der Patient soll als» wenn möglich nüchtern sein; doch liahen
wir auch einige Palienten der Ambulanz, wenn die Operatior
dringend war, narkotisirt, obwohl sie gegessen hatten. Herz und
l:unge wurden stets genau geprüft, ebenso der Harn untersucht. Pul.s
undAthmung wurden während der ganzen Dauer derNarkose eontrolirt.
Da die Narkose schnell eintritt und auch schnell vorübergeht
') Siehe Wiener klinische Wochenschrift, 1892, No. 3 und 4.
868 Dr. G. Lotheissen,
ist es ixui , rnsl.nimentc, Verbandstoffe etc. vorher vollständig vor-
zurichten, damit sofort mit der Operation begonnen werden könne.
Es ist darum auch empfehlenswerth, dass zu Anfang im Operations-
raura völlige Ruhe herrsche, da sich sonst der Eintritt der Narkose
verzögert, und man grössere Mengen von Aethylchlorid verbraucht.
Fig. 2.
Schematischer Durchschnitt des Breuer'schen Korbes.
a Hohlkugel, b Iiispirations-, c Exspirationsventil, d Gummiring.
Wir machen unsere Narkosen mit dem französischen Präparat
von Monnet. Die bisher im Handel vorkommenden Tuben sind
für die locale Anästhesie und daher mit haarfeiner Ausflus.söffnung
construirt, was für die Narkose bisweilen störend ist, da man doch
etw-as grössere Mengen auf einmal braucht. Wir haben aber bei
der Fabrik in Anregung gebracht, graduirte Tuben mit grösserer
Oeffnung zu Narkosezwecken anzufertigen und hoffen diesen Wunsch
bald erfüllt zu sehen ^). Man spritzt circa 3 bis 5 g. Aethylchlorid
auf den Mull. Nun fordert man den Kranken auf ruhig zu
athmen und bringt die Maske vor das Gesicht des Patienten, indem
*) Anm. während der Correctur: Die Versuche mit derartigen Tuben
haben inzwischen ergeben, dass es nicht gut ist, die Ausflussöffnung zu
vcrgrössern, da dann das Aethylchlorid nicht gefriert, und deshalb zuviel
davon auf einmal iuhalirt wird. Es tritt sehr heftige Excitation auf und zu-
gleich starke Cyanosc. Wir sind daher zu den alten Tuben zurückgekehrt.
Uebor die Narkose mit Aethylohlorid. 869
man sie leicht andrückt, damit sie luftdicht schliesse. Diese
Aethylchloridmenge reiclit aus für etwa 3 bis 4 Minuten; soll die
Narkose länger dauern, so muss man vor Ablauf der genannten
Zeit aufs Neue aufspritzen.
Charakteristisch ist der rasche Eintritt der Anästhesie; etwa
1 bis 172 Minuten nach dem Aufsetzen der Maske (bei Kindern
schon nach V2 ^^^ 1 Minute) kann man die Operation beginnen i).
Ein Excitationsstadium fehlt meist oder ist sehr gering, nur bei
etwa 13 pCt. der Kelenisirten war eine nennenswerthe Excitation
zu verzeichnen.
Ist die Narkose eingetreten, so besteht wohl vollkommene
Analgesie, doch sind die Corneal- und Pupillarreflexe meist voll-
kommen erhalten, ja es kommt vor, dass der Patient die Augäpfel
bewegt, sozusagen „herumsieht." Da wir niemals eine tiefere
Narkose brauchten, lüfteten wir in den wenigen Fällen, in denen
diese Reflexe verschwunden waren, sofort die Maske bis Pupille
und Cornea wieder prompt reagirten.
Die Qualität des Pulses ändert sich während der Narkose
nicht, die Frequenz wechselt ein wenig, in der Regel nimmt sie
etwas ab. Die Zahl der Respirationen wird meist etwas gesteigert,
doch ohne irgendwie beunruhigend zu werden, speciell fehlt fast
immer die Cyanose: nur in 3 Fällen konnten wir sie beobachten.
Das Erwachen aus der Narkose geht im Vergleich zu anderen
Narkoticis sehr rasch; das Bewusstscin kehrt aber nicht so schnell
wieder, als es bei Einleitung der Narkose schwand; wie ein
College uns schilderte, der wegen eines Panaritiums operirt wurde
und Narkose wünschte. Erbrechen sollte nach Soulier's Angaben
stets ausbleiben. Wir konnten es in einigen (18) Fällen beobachten,
doch dauerte es nur kurz. Manche Patienten fühlten sich aber
nach der Narkose so wohl, dass sie mit Appetit essen konnten.
Jedenfalls hinterlässt die Kelen-Narkose keinen derartigen Wider-
willen, kein Ekelgefühl wie die Chlorofomi-Narkose; wie der Um-
stand beweist, dass einige Patienten (und nicht bloss Erwachsene
sondern auch Kinder) selbst eine zweite Kelen-Narkose wünschten,
als abermals ein operativer Eingriff vorzunehmen war.
^) Nur wenn die Narkose anfangs nicht regelrecht ausgeführt wurde, wenn
z. B. die Maske dem (lesicht nicht fest anlag, trat die Analgesie nach 3 bis
4 Minuten ein.
870 Dr. G. Lotheissen,
Ebenso wie clor Conical- und Pupillarreflex erhalten bleiben,
erhält sich auch der Muskeltonus; völlige Muskelerschlaffung fehlt
meistens. Dieser Umstand einerseits, sowie andererseits das leichte
Erwachen aus der Narkose, welches eintritt, wenn man nicht
rechtzeitig nachgiesst, lassen wohl die Narcose mit Aethylchlorid
für länger dauernde Operationen und für Eingriffe, bei denen
Muskelerschlaffung unbedingt nöthig ist, ungeeignet erscheinen.
Wir gebrauchen sie darum hauptsächlich bei eitrigen Processen,
speciell ausgedehnten Phlegmonen, wo locale Anaesthcvsie nur
schwer anzuwenden wäre; ferner auch bei Auskratzungen
wegen Knochencaries, bei vereiterten Lymphdrüsen; ferner zur
Einrichtung von Knochenbrüchen und Luxationen (besonders ver-
alteten), die ohne Narkose nicht gelangen, weil die Kranken zu
heftigen Schmerz äusserten und ihre Muskeln geradezu krampfliaft
anspannten, liier wurde stets ein für die Einrichtung eben hin-
reichender Grad von Muskelerschlaffung erzielt. Auch zum Re-
dressement bei Contracturstellungen und bei Pes varus, zur Dila-
tation der weiblichen Harnröhre, um die Ureteren zu sondiren,
erwies sich die Kelennarkose sehr geeignet. Dazu kämen noch
jene Operationen, wie z. B. die Exstirpation kleiner Tumoren,
welche sich leicht mit Infiltrationsanästhesie hätten ausführen
lassen, wo aber die Kranken selbst eine Narkose verlangten.
Die Aufzählung dieser operativen Eingriffe zeigt schon an,
dass wir dazu niemals lange (lauernder Narkosen bedurften. Für
gewöhnlich dauerte die Narkose 5 bis 10 Minuten, nur 18 Mal
währte sie bis zu 15 Minuten, in 2 Fällen hatten wir Narkosen
von 20 und 25 Minuten zu verzeichnen. Die Menge des Nar-
koticums, die für gewöhnlich zu den Kelennarkosen benöthigt wird,
schwankt zwischen 8 bis 10 Gramm, ist jedoch individuell ver-
schieden. Das Minimum verbrauchten wir bei einem IV2 jährigen
Kind, nämlich 3 Gramm. Dies war das jüngste Individuum, dass
wir kelenisirten, das älteste war ein Mann von 72 Jahren. In der
Art der Narkose zeigte sich bei allen Lebensaltern kein Unterschied.
Unangenehme Zufälle konnten wir nie bemerken; niemals
traten Erscheinungen der Herzschwäche, gestörter Respiration auf,
noch weniger also einc^ wirkliche Asphyxie. Trotzdem muss man
auch beim Aethylchlorid zu steler Vorsicht mahnen, denn nach
einer brieflichen Mittheilung Soulier's ist in letzter Zeit in Lyon
Ceber die Narkose mit Aethylchlorid. 871
ein Todesfall vorgekommen und in einer Abhandlung über „Fuss-
gelenk- und Fusswurzeltuberculose" aus Prof. Koch er 's Klinik i)
erwähnt J. Spengler unter dem Kcipitel: „Todesursachen der
resccirten Fälle" einen Mann von 27 Jahren, der „nach der Ope-
ration gestorben ist an den Folgen der Cloraethylnarkose"^).
Leider konnten wir über beide Fälle keine nähere Auskunft erhalten.
Eine schädigende Wirkung auf die Nieren war auch nicht zu
beobachten; wir fanden, obwohl fa^t in jedem Fall der Harn auch
nach der Narcose untersucht wurde, niemals Albuminurie; ja bei
einem Mädchen, welches schon hochgradige Albuminurie hatte
(Allgemeintuberculose, Amyloidose der Nieren), war die Eiweiss-
menge nach der Narkose nicht gesteigert, obwohl wir das hier
erwartet hatten und darum die genauesten Messungen anstellten.
Interessant ist es nun, dass unsere Erfahrungen am Menschen
zum Theil in Widerspruch stehen mit jenen, die Schleich^) auf
Gnmd von Thierexperimenten gewonnen hat; während sie anderer-
seits theilweise damit übereinstimmen. Schleich hat gefunden,
dass ein Narcoticum um so schneller wirke, je weiter sein Siede-
punkt von der Körpertemperatur entfernt liegt. Da nun das fran-
zösische Aethylchlorid bei -f- 10® C. siedet (andere Präparate bei
+ 15 C), wäre die rasche Wirkung begreiflich. Da das Aethyl-
chlorid nach Schleich in den Lungen in Form gespannten Dampfes
enthalten sein muss wegen des starken Temperaturunterschiedes,
wird es natürlich auch raeh wieder abgegeben. Daher das schnelle
Erwachen nach der Narkose.
Schleich folgert aber daraus, dass das Aethylchlorid in
dieser Form die Lungen passirt, dass es zu schweren Schädigungen
des Respirationstractus kommen müsse*). Wir konnten das beim
Menschen niemals beobachten. Wir haben Patienten, die zuvor
nach wiederholten Narkosen mit Billroth-Mischung jedesmal
heftige Bronchitiden durchgemacht hatten, mit Aethylchlorid nar-
1) Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. Bd. 44. 1896.
2) In der Tabelle (S. 68) heisst es dann freilich, dass er „bei der Nar-
kose" starb an „Chloraethylvergiftung'*.
8) 1. c.
^) 1. c. S. 48). „Es kommt zu ganz turbulenten Respirationsstörungen,
zu deutlicher Orthopnoe, Galopprhythmus der Athmung, unter gleichzeitiger
Cyanose, wenn der Siedepunkt tiefer liegt als die Körpertemperatur. Diese
Störungen lösen sich am heftigsten aus, je weiter sich der Siedepunkt nach
unten von der Körpertemperatur entfernf*.
872 Dr. G. Lotheissen, Ueber die Narkose mit Aethylchlorid.
kotisirt und danach ^ar keine Alteration der Lunge bemerken
können. Ja, wir haben gerade deshalb bei einigen Patienten, die
an hochgradigen Lungenaffectionen litten, die Kelen -Narkose aiLS-
geführt. Hier combinirten wir mit grossem Vortheil die Infiltrations-
anästhesie mit der Narkose. Phthisiker, ja selbst ein Patient mit
Pneumonie, bei denen wegen hochgradiger Oaries oder septischer
Eiterungen eine Amputation vorgenommen werden musste, wurden
zur Ablösung des Periostes und zum Durchsägen der Knochen ke-
lenisirt, nachdem die Weichtheile unter Infiltrationsanästhesie durch-
trennt waren. Freilich haben diese Narkosen nur sehr kurz ge-
dauert, aber nicht einmal zeigte sich nachher eine Verschlimmerung
der Lungenerkrankung.
Schleich meint auch, dass von einem Körper mit so nie-
drigem Siedepunkt in der Zeiteinheit viel mehr in die Lunge ge-
langen müsse als von einem höher siedenden Aether. Das dürfte
wohl beim Aethylchlorid bei unserer Applicationsweise nicht der
Fall sein. Es gelangen keineswegs z. B. die auf einmal aufge-
spritzten 5 g in die Lunge, obwohl die Zimmertemperatur höher
ist als der Siedepunkt des Aethylchlorids. Die erste Menge ver-
dunstet rasch auf dem Mull und erregt hier solche Kälte, dass die
weiteren Mengen Aethylchlorid zu einer weissen Kruste gefrieren,
die nur sehr langsam wieder sich in Gas umwandelt.
All dies zusammen genommen drängt mich zu der Annahme,
dass die Wirkungsweise eines Narcoticums, wie es das Aethyl-
chlorid ist, nicht bloss vom Siedepunkt und dessen Verhältniss zur
Körpertemperatur abhängig sein kann, sondern dass die chemische
Zusammensetzung auch einen Einfluss haben muss, wie ja Schleich
selbst 1) für das Bromäthyl zugiebt.
Wenn wir darum die Narkose mit Aethylchlorid zu weiterer
Prüfung empfehlen, so soll damit noch nicht gesagt sein, dass es
ungefährlich ist; denn ein gefahrloses Narcoticum giebt es wohl
gar nicht. Da man aber nicht in allen Fällen ohne Narkose aus*
kommt, und mancher Patient sogar die Narkose verlangt, ist es
.gewiss nicht ohne Vortheil, ein Mittel zu kennen, das vielleicht
weniger gefährlich ist als die andern.
1) l. c. S. 33.
LX.
lieber entzündliche Tumoren der
Submaxillarspeicheldrüse/)
Von
Dr« Hfittner
in Tubingen.
M. H.! Vor zwei Jahren habe ich auf Grund zweier Beobachtungen
eine Aflfection der Submaxillarspeicheldrüse beschrieben, die ich
als „entzündlichen Tumor" dieser Drüse bezeichnet habe. Seit
der damaligen Publication sind an der Bruns' sehen Klinik drei
weitere Fälle zur Beobachtung gekommen, und es scheint demnach
das Leiden nicht so besonders selten zu sein. Da ausserdem gar
nichts über ähnliche Vorkommnisse aus der Litteratur bekannt ge-
worden ist, so ist es vielleicht nicht überflüssig, mit einigen Worten
auf die genannte Speicheldrüsenaffection zurückzukommen.
Die endzündlichen Tumoren der Submaxillaris entsprechen in
vielen Punkten den von Riedel bei Gallensteinen beobachteten
chronischen Entzündungen des Pankreaskopfes. Bei diesen wie bei
jenen ist das Wesentliche, dass die Geschwülste ganz den Ein-
druck echter maligner Tumoren machen und dass, wenigstens in
in den ausgesprochenen Fällen, nur das Mikroskop Aufklänmg zu
geben vermag über den wahren Charakter der scheinbaren Neu-
bildung. In solchen Fällen findet man bei der Untersuchung
eine hühnerei- bis apfelgrosse Geschwulst in der Submaxillar-
gegend, die längliche Gestalt hat und sich derb anfühlt. In
der Tiefe ist die Geschwulst in Folge ausgedehnter Adhäsi-
onen wenig verschieblich, man fühlt sie gut vom Munde aus
und kann mitunter Verwachsungen mit der Mundschleimhaut nach-
*) Der Vortrag wurde am 4. Sitzungstage des XXVII. Congresses der
Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin zu ProtocoU gegeben.
874 Dr. Küttner,
weisen. Nur in frischen Fällen besteht Druckcrapfindliohkcit, bei
Längcrem Bestehen ist die Geschwulst schmerzlos und macht, da
auch die Lymphdrüsen gewöhnlich vergrössert sind, ganz den Ein-
druck einer malignen Neubildung. Die Kranken klagen über Be-
hinderung des Schlingactes , vielleicht auch des Sprechens, Gäh-
nens, doch sind diese Beschwerden meist gering, und es ist mehr
die Furcht, dass es sich um etwas Krebsartiges handeln könne,
welche die Patienten zum Arzt führt.
Die Exstirpation des Tumors ist nicht immer ganz einfach,
man findet innige Verwachsungen mit der Nachbarschaft und muss
gewöhnlich die ganze Geschwulst scharf mit dem Messer auslösen.
Um alle Theile des scheinbar malignen Tumors zu entfernen,
musste in einem Falle ein Stück der Mundschleimhaut und des
Unterkieferperiostes mitabgetragen und tief in die Substanz der
Zunge vorgedrungen werden; die Art. lingualis und der Nerv, hypo-
glossus, welche beide in Geschwulstmassen eingebettet waren, fielen
zum Opfer. Zu der solche Eingriffe bedingenden Annahme eines
malignen Tumors wird man verleitet durch das rasche Wachsthum
der Geschwulst, durch das Fehlen entzündlicher Erscheinungen bei
einem grossen, derben, in derTiefe wenig oder garnichtverschieblichen
Tumor und in ausgesprochenen Fällen auch durch das Aussehen des-
selben auf der Schnittfläche. Man glaubt bestimmt, ein Sarcom oder
bösartiges Endotheliom vor sich zu haben, und ist erstaunt, wenn man
mikroskopisch keine Spur einer malignen Degeneration findet, sondeni
nur eine Vermehrung des Bindegewebes und eine hochgradige klein-
zellige Infiltration, die stellenweis so erheblich ist, dass die eigent-
lichen Speicheldrüsenelemente von ihr ganz verdeckt werden. Das
makroskopisch gleichartige Aussehen der aus verschiedenen Ge-
weben zusammengesetzten Geschwulstmasse erklärt sich daraus,
dass die hochgradigen entzündlichen Veränderungen nicht auf die
Submaxillaris beschränkt bleiben, sondern auf alle die Drüse um-
gebenden Gewebe übergehen.
Es handelt sich also um eine durch chronische inter-
stitielle Entzündung bedingte tumorartige Vergrösserung
der Submaxillarspeicheldrüse, um ganz etwas Aehnliches,
wie es Riedel an der Bauchspeicheldrüse und neuerdings an der
Thyreoidea beobachtet hat, und wie es wohl gelegentlich auch an
der Subungualis und Parotis vorkommt.
lieber enizündliche Tumoren der Subinaxillarspeicheldrüse. 875
Die Entstehung der Geschwülste hat mit Tubcrculosc und
Syphilis nichts zu thun, sie ist wahrscheinlich auf Entzündungsprocesse
zurückzuführen, die von der Mundhöhle ihren Ausgang nehmen
und sich ascendirend durch den Ausführungsgang auf die Speichel-
drüse fortsetzen. Bei einer Patientin hatte sich der Tumor im
Anschluss an eine Angina entwickelt; die Entstehung von in-
ficirten Lymphdrüsen aus konnte in allen Fällen mit Sicherheit
ausgeschlossen werden. Im Innern der Geschwulst fand sich ein-
mal ein ganz kleiner Abscess, das andere Mal ein kleiner Granula-
tionsherd, der bakteriologisch steril befunden wurde. In einem
dritten Falle enthielt die ebenfalls erkrankte Sublingualspeichel-
drüse einen kirschkerngrossen Stein, der nicht als die Ursache,
sondern als ein Product der Entzündung angesehen werden muss.
Eine Rückbildung der Geschwulst, wie sie Riedel bei seinen
Pankreasturaoren festgestellt bat, wurde in unseren Fällen nicht
beobachtet, doch muss nach dem mikroskopischen Befund zu-
gegeben werden, dass es durch Schrumpfungsvorgänge zu einer
Verkleinerung des Tumors kommen könnte, allerdings unter Zu-
grundegehen des Drüsenparenchyms. Uebrigens scheint es nicht rath-
sam, sich auf diesen Ausgang zu verlassen, denn in unseren Fällen
haben die Geschwülste sich stetig vergrössert und vor allem
immer ausgedehntere Bezirke der Umgebung in Mitleidenschaft gezogen.
Was die klinische Seite der Frage anbelangt, so ist nur in
einem von unseren 5 Fällen die richtige Diagnose gestellt worden.
In einem zweiten Falle, bei dem noch entzündliche Symptome
vorhanden waren, wurde eine chronisch verlaufende iiyniphadenitis
und zwar einer tiefen cervicalen Drüse angenommen, w^eil die im
hinteren Ende der Speicheldrüse entwickelte Geschwulst sich nicht
in der Submaxillargogend vorfand, sondern am vorderen Rande des
Sternocleidomastoideus unterhalb des Kieferwinkels. In allen an-
deren Fällen wurde die Diagnose auf einen malignen Tumor ge-
stellt, und darin beruht das klinische Interesse dieser eigenthüra-
lichen Geschwulstforra, denn, um die scheinbar bösartige Neubil-
dung radical zu entfernen, wurden mehrfach grössere, in einem
Falle sogar ein sehr erheblicher Eingriff vorgenommen, der der
Operation eines grossen Muudboden-Zungencarcinoms an Gefährlich-
keit nichts nachgab.
LXI.
Mittheilungen über Hirn- Chirurgie/)
Von
Dr. Doyen
in Paris.
M. H.! Ich möclitc mir gestatten, Ihnen mein vervoUkoramnctos
Instrumentarium zu zeigen, wie ich es zur Craniectomie benutze.
Seit der Construction der Kneipzangen und meiner Knochen-
scheeren, welche ich anlässlich des Congresses vom Jahr 1895
die Ehre hatte, Ihnen demonstriren zu dürfen, habe ich das Instru-
mentarium verbessert und vervollständigt. Die Operation kann mit
der Hand allein ausgeführt werden oder mit Zuhilfenahme eines
Elektromotors von etwa einer Pferdekraft.
Instrumentarium für manuelle Operation:
Auf einen Collin 'sehen Trepan in Drillbohrerform setze ich
einen Bohrer und mache damit 5 — 6 Löcher in das Schädel-
gewölbe. Dann ersetze ich den Bohrer durch einen besonders
construirten kugelfönnigen Raspelbohrer, mit dessen Hilfe man mit
ein wenig Geschicklichkeit die Dura erreicht, ohne Gefahr zu laufen,
dieselbe zu verletzen. Die Tabula externa durchschneide ich von
Loch zu Loch mit meiner kleinen Hand säge, wobei ich nur die
Basis meines Haut-Periost-Lappens stehen lasse und dann voll-
ende ich die Durchtrennung mit meiner Kneipzange. Die Tabula
interna spalte ich mit meinem gedeckten Meissel, zuerst zwischen
den beiden obersten GefTnungen, dann entlang der Basis des
Lappens und schlage zuletzt den Haut-Knochenlappen zurück.
') Dieser Vortrag konnte wegen Mangel an Zeit nicht erledigt werden.
Mitthoilun<Ten über Hirn-Chirurgie. 877
Elektrisches Instrumentarium.
Ich bevorzugc.das elektrische Instrumentarium, weil es glattere
Wundflächen schafft. Ich setze auf meinen Instrumententräger, der
durch eine biegsame von mir construirte Leitungsschnur mit dem
Elektromotor in Verbindung steht, einen Raspelbohrer, wie ich ihn
auch bei der manuellen Methode anwende, und bohre mir 3 Löcher
bis zur Dura mater. Die Dura selbst schiebe ich ab und durch-
säge die Schädelwölbung fast in der ganzen Ausdehnung des Haut-
schnitts. Die Säge durchtrennt mittelst einer besonderen Vor-
richtung zuerst die ganze Dicke des Knochens, ehe sie horizontal
weitersägt. Die Säge, welche ich dazu benütze, ist nach dem
Gehirn zu gedeckt durch eine auf der Dura gleitende Metallrinne.
Die letzte Brücke durchtrennt man nur bis zur Tabula interna:
hierzu verwende ich eine feine Säge, welche eine kleine Scheibe
über den Zähnen trägt und in Folge dessen nur bis zu einer
gewissen Tiefe eindringen kann. Die Tabula interna selbst und
die Basis des Lappens werden mit dem schon beschriebenen ge-
deckten Meissel durchtrennt und sodann der ganze Lappen zurück-
geschlagen. Die Operation dauert bei der Anlegung einer grossen
OefTnung, mit der Hand zehn bis fünfzehn Minuten, mit dem elek-
trischen Apparat nur fünf bis zehn Minuten.
Für die Eröffnung des Processus mastoideus — Freilegung des
Antrum und des Sinus — ist es besser, manuell vorzugehen. Ich
benütze dazu einen längeren cylindrischen Raspelbohrer von vier-
zehn mm Durchmesser.
Mein elektrischer Apparat in Verbindung mit grösseren Sägen,
(»infachen und Raspelbohrern ermöglicht es mir, in wenigen Augen-
blicken die grössten osteomyelitischen Herde an Diaphysen und
Epiphysen blosszulegen.
Operative Resultate.
Die Hemi-Craniectomie ist selbst kaum mit einer Gefahr ver-
bunden; nur die Schwere der Gehirnlaesion , die wir aufsuchen
wollen, kommt in Betracht.
Falls es aus dem Knochen stark blutet, ist es am besten,
die Haut darüber zu vernähen und die Dura erst sechs bis sieben
Tage später zu eröffnen. Wenn die Dura durch starken intra-
craniellen Druck sehr gespannt ist, so bewirkt eine blosse Incision
Archiv fUr klin. Chirurgie. 57. Bd. Heft 4. ^o
878 Dr. Doyen, Mittheilungen über Hirn-Chirurgie.
derselben sofortigen Nachlass der Symptome und der Puls steifet
z. B. manchmal rasch von fünfund vierzig auf achtzig Schläge in
der Minute. — Augenblicklich habe ieh eine ganze Anzahl von
Idioten und Mikrocephalen in Beobachtung, deren Besserung nach
der Operation ausser Zweifel steht. Bei der ersten Patientin, einer
Idiotin mit Morbus Basedowii, die ich operirt habe, hat sich vier
Tage nach einer doppelseitigen Craniectomie der Exophthalmus und
die Struma zurückgebildet. Vor der Operation konnte sie kaum
sprechen und erkannte ihre nächsten Angehörigen nicht mehr.
Jetzt ist sie wieder arbeitsfähig und vermag ordentlich zu sprechen
und zu zählen. Auch einige Epileptiker mit deutlicher Besserung
nach der Operation habe ich in Beobachtung. Ein Fall ist jetzt
5, ein anderer 6 Monate frei von Anfällen geblieben. In Fällen
von Jackson'scher Epilepsie, bei denen ich keine J^äsion der
Hirnrinde sehe, suche ich mir das epileptogene Centrum durch
elektrische Reizung der Gehirnoberfläche auf und mache dann die
Excision dieser Partie. Bei zwei Fällen habe ich damit einmal
guten Erfolg gehabt. Der zweite Fall ist erst vor Kurzem operirt
und noch in Beobachtung.
Ganz hervorragende Erfolge habe ich erzielt bei der Exstir-
pation eines grossen tuberculösen subcortical gelegenen Tumors und
bei der Eröffnung mehrerer tiefgelegener Abscesse, deren Auffindung
überhaupt erst nach einer ausgedehnten Craniectomie möglich war.
Von weiteren Fällen habe ich noch zu erwähnen eine Cvste an
dem rechten motorischen Rindencentrum mit linksseitiger Parese
und dann einen Fall von Meningitis occipitalis bei einer Erwachsenen.
Ich habe bei dieser die Craniectomie fast in extremis gemacht;
die Patientin ist genesen.
Augenblicklich beschäftige ich mich damit, auch Tumoren der
Basis cranii zugänglich zu machen ; verschiedentlich gelang es mir ohne
Schwierigkeit, das Chiasraa zu erreichen. Mehrere Kranke haben
durch die Operation nur vorübergehende Besserung erlangt, die wohl
auf die ausgiebige Druckverminderung zurückzuführen ist. Es
handelte sich in diesen Fällen, wie einige Monate später bei der
Autopsie festgestellt wurde, um Geschwülste am dritten Ventrikel und
der Vorderfläche des Kleinhirns, wohin ich nicht hatte gelangen können.
Es ist aber zu hoffen, dass auch diese bisher ganz unzugäng-
lichen Regionen in das Bereich der Gehirnchirurgie einbezogen werden.
LXII.
(Aus der chlriirg. Univ«rsitäts-Klinik des Herrn Geheimrath
von Bergmann.)
Zur Kenntiiiss der Streptokokken- und
Pneumokokken-Osteomyelitis.
Von
Vr« £• lieiLer,
Privatdocent.
(Mit 3 Figuren.)
Die bisherigen Beobachtungen von Fällen acuter Osteo-
myelitis in Folge Infection mit dem Streptococcus pyo-
gen es sind nicht sehr zahlreich. Es ist deshalb sowohl das klinische,
als auch das pathologisch-anatomische Bild der Erkrankung, wie
ich es in dem Vortrage „die Aetiologie und die Mikroorganismen der
acuten Osteomyelitis"^) auf Grund von wenigen in der Literatur
beschriebenen und einigen selbst beobachteten Fällen zu entwerfen
versuchte, noch in vieler Beziehung zu vervollkommnen. Hierzu
dürften einige Fälle zu verwerthen sein, die in den letzten zwei
Jahren in der von Bergmann'schen Klinik zur Beobachtung
gelangten.
Es ist vorauszuschicken, dass die bisher publicirten Fälle —
nach genauer Sichtung derselben konnte ich nur 10 ein wands-
freie und genügend beschriebene und 3 eigene verwerthen —
in erster Linie dazu berechtigten, die Streptokokkeneiterung
am Knochensystem, wie dies bekanntlich zuerst Lannelongue
that, dem grossen Gebiete der acuten Osteomyelitis einzureihen.
Denn nicht allein um periostale oder ganz oberflächliche
*) Sammlung klinischer Vorträge, v. Bergmann, Erb und Winkel.
No. 173; mit Angabe der hier nicht eigens erwähnten Literatur.
58 •
880 Dr. E. Lex er,
iM'teriingcii hcincloltc es sich in diesen Fällen, sondern es gelan^^eu
auch eitrige Infiltrationen der Diaphysenspongiosa (Metaphysc) und
intraossale Abscesse zur Beobachtung. Allerdings waren die
periostalen resp. corticalen Processe vorherrschend und fanden
sich nur kleine Sequester von der Oberfläche des Knochens, während
die wichtigste und gefährlichste p]rscheinung in dem verschieden
gestalteten Bilde der acuten Osteomyelitis noch fehlte: die fort-
schreitende Markphlegmone, die Osteomyelitis im eigentlichen Sinne
des Wortes. Das Fehlen grösserer Sequestrationen glaubte ic*h
ebenso wie Lannelongue mit der Thatsachc in Einklang bringen
zu müssen, dass ausgedehnte Eiterungen des Knochenmarkes nicht
beobachtet worden w^aren, während mir das Thierexperiment gerade
bei Streptokokkeninfectionen einige Male die ausgedehnteste Mark-
eiterung und Sequesterbildung lieferte^). Doch ist auch beim
Menschen die Knochenmarkeiterung schon beobachtet. Lu barsch
sagt in seinem Aufsatze über Streptokokken 2), indem er sich gegen
die von K. Müller vertretene Auffassung der einheitlichen Genese
der acuten Osteomyelitis als Werk der Staphylokokken wendet, er
habe selbst reine Streptokokken-Osteomyelitis gesehen. Herr Pro-
fessor Lübars ch hatte die Liebenswürdigkeit mir kurze Notizen
über zwei Fälle mitzutheilen, auf welc^he er sich an der citirten
Stelle bezogen hat. Während es sich in dem einen Falle um eine
ganz typische acute Osteomyelitis eines 10jährigen Knaben handelte,
lag im zweiten Falle bei einem ca. 20jährigen Manne eine mehr
chronische Form vor, welche unter dem Bilde der Pyämie in ein
acutes Stadium übergegangen war. Die Veränderung der befallenen
Knochen waren hier derartig, dass fast nur das Knochenmark be-
trofi'en war, stellenweise aber auch eine Periostitis fibrino-purulenta
bestand. Im Knochenmark des amputirten Oberschenkels fanden
sich nur Streptokokken, auch bei der Section der übrigen erkrankten
Knochen, ebenso in den vorhandenen Nierenabscessen. Dagegen
war auch der Staph. p. albus in Lungenabscessen vorhanden.
Da in der bisherigen Casuistik der Streptokokken-Osteo-
myelitis von einer Markphlegmone nicht die Rede ist, so wird das
J) Archiv für klin. Chirurgie. 53. Bd. Taf. II. Fig. 11.
2) Ergebnisse der allgemeinen Pathologie und pathologischen Auatomie
des Menschen und der Thiere. Lubarsch und Ostertag. III. Jahr 1896.
"Zur Kenntniss der Streptokokken- und Pneumokokken-Osteomyelitis. 881
Fehlen (lieser Erscheinung auch neuerdings von Klenim^) als be-
sonderes Merkmal der Streptomykose des Knochens angeführt. In
der That sind nun die folgenden Fälle, die ich in der von Berg-
männischen Klinik beobachtete und untersuchte, im Stande, diese
Lücke im Bilde der Streptokokken-Osteomyelitis des Menschen aus-
zufüllen, indem sie zeigen, dass auch ausgedehnte Phlegmonen
des Knochenmarkes und grössere Sequestrationsprocesse
durch diesen Mikroben hervorgerufen werden können.
1) Gertrud P., 1 Jahr alt. Seit 24 Stunden will die Mutter bemerken,
dass der linke Oberschenkel etwas angeschwollen ist, und dass Berührung
und Bewegung desselben schmerzhaft sind. Vor 3 Tagen ist das Kind vom
Sopha heruntergefallen, doch sind der Mutter nach diesem Falle keinerlei
Schmerzensäusserungen bei Bewegungen des linken Beines aufgefallen. Das
Kind befindet sich in einem ausgezeichneten Ernährungszustande, so dass man
nur mit Mühe am Oberschenkel durch die dicken Weichtheile hindurch den
Knochen palpiren kann. Oberhalb des Condylus internus ist die Haut etwas
geröthet und heiss, die ganze Umgebung des Condylus fühlt sich verdickt an,
zeigt jedoch keine Fluctuation, sondern nur leichtes Oedem. Positive Anhalts-
punkte über die wahrscheinliche Eingangspforte der Entzündungserreger er-
geben sich nicht, da weder Hautverletzungen, noch Entzündungszustände des
Rachens, der Lunge oder des Darmtractus vorhanden sind. Die Abend-
temperatur beträgt 39,5^.
Durch einen Schnitt, der, die entzündete Gegend trennend, sich nach
dem Verlaufe der grossen Adductorsehne richtet und diese innerhalb eines
serös durchtränkten Gewebes freilegt, wird hinter dieser Sehne der Knochen
erreicht, dessen Periost sich hier oberhalb des inneren Condylus gelblich ver-
färbt und stark verdickt praesentirt. Nach Incision dieses veränderten Periostes
ist zu sehen, dass es durch seröse Flüssigkeit vom Knochen abgedrängt ist,
der dicht oberhalb der Gegend der Knorpelfuge ein kleines unregelmässigcs
Loch erkennen lässt. Auch hier ist noch kein Eiter wahrzunehmen. Als aber
mit einem scharfen Löffel die Umgebung dieses kleinen Corticalisdefectes her-
ausgehoben wird, zeigt sich die nächstliegende Spongiosa in ganz geringer Aus-
dehnung eitrig infiltrirt. Die mikroskopische Untersuchung von dieser Stelle
ergiebt zahlreiche Diplokokken, hier und da auch 3— öglicdrige Ketten; die
Impfung weisser Mäuse von den angelegten Culturen wirkt schon in geringer
Dosis tödtlich. Herzblut und Organe enthalten kurze Streptokokkenreihen,
meist in Diplokokkenform.
Die Wunde, die locker tamponirt worden war, secernirte in den nächsten
0 Von der Abhandlung Klemm's: Ueber Streptomykose der Knochen;
Osteomyelitis streptoraycotica, Sammig. klin. Vorträge, Xeue Folge, Chir. No. 65,
war mir nach Fertigstellung meiner Arbeit (Anfangs August) durch die Güte
meines Chefs ein Correcturbogeu zugänglich, sodass es möglich war, noch auf
einzelne interessante Punkte des Klemm'schen Vortrags einzugehen und seine
beiden Fälle zu verwerthen.
882 Dr. E. Lexer,
Tagen fast nichts, sie sieht trocken und missfarben aus, während die Tempera-
tur sich auf 40,9^ erhebt und höchstens bis 39" heruntergeht. Auch nach Er-
weiterung des Loches in der Corticalis erfolgt keine locale und allgemeine
Besserung. Die Untersuchung des Blutes am 5. Tage post. operat. ergiebt
durch Impfung auf weisse Mäuse Streptokokken. Der Exitus erfolgt nach
lOtägigem, hohem Fieber.
0,3 des Herzblutes wenige Stunden post. mortem, tödten subcutan eine
weisse Maus in 24 Stunden.
Bei der Section zeigte sich das Mark des ganzen Femur in eine
zerfliessli che graugrüne Masse verwandelt, die, wie durch Impfung
nachgewiesen wurde, Streptokokken enthielt. Innerhalb dieser verfärbten
Markmasse sah man vereinzelt noch grössere Gefässchen und mehrere kleine
Blutungen hervortreten. Die dünne Corticalis der vorderen Seite ist gegen-
über der Stelle, wo die Markhöhle oberhalb der Condylen geöffnet worden war,
infracturirt, das Periost des ganzen Knochens ist sehr stark verdickt, aber
nicht durch entzündliches Exsudat abgehoben. Die übrigen grossen Röhren-
knochen, welche herausgenommen und der Länge nach gespalten wenlen
konnten (beide Humeri und Tibiae und das rechte Femur) enthielten normales
Mark und Hessen keine Herde an den Knorpelfugen erkennen.
Entzündliche Veränderungen der Gelenke, auch des benachbarten Knie-
gelenkes und der Organe fehlten, ebenso wie eine Eingangspforte für die In-
fcction nicht nachgewiesen werden konnte.
Der Fall verlief lethal in Folge der Allgemeinin fection
mit Streptokokken, deren einzige nachweisbare Localisation das
eine Femur betraf und hier erstens in der Nähe der unteren
Knorpolfuge eine kleine herdförmige Eiterung mit entzündlicher
Infiltration der Weichthcilo, dann zweitens eine diffuse Entzündung
der Markhöhle verursacht hatte.
In dem folgenden 2. Falle ist eine schwere Osteomyelitis
mehrerer Knochen zur Heilung gelangt.
Das 1 Jahr alte Mädchen Gertrud S. wurde wegen einer entzündlichen
Anschwellung in der linken Achselhöhle am 19. Juli v. J. in die Universitäts-
Poliklinik gebracht. Die Impfpusteln am linken Oberarm, vom 3. Juni her-
rührend waren offen' und in weitem Umkreis die Haut entzündlich infiltrirt.
In der Achselhöhle befindet sich ein Abscess dem Durchbruch nahe. Derselbe
wird sofort incidirt und aus seiner Höhle einige zerfallene Drüsenmassen ent-
fernt. In 2 Wochen ist die Wunde geheilt und die Entzündung am Oberarm
vollkommen zurückgegangen, so dass das Kind aus der Behandlung entlassen
werden kann.
Am 20. August bringt die Mutter das Kind wieder mit der Mittheilung,
seit gestern sei das rechte Handgelenk etwas angeschwollen und schmerzhaft.
Trotz Fixation des Armes mit Schionenverbiinden schreitet in den nächsten
Tagen die Anschwollung über den Vorderarm fort, es tritt hohes Fieber auf
Zur Kenntniss der Streptokokken- und Pneumokokken-Osteomyelitis. 883
und die Haut über der Ulna erscheint leicht geröthet. Eine Incision im
mittleren und unteren Drittel der Ulna zeigt die Weichtheile stark oedematös,
das Periost ist verdickt, und wie die weitere Incision ergiebt, durch
eine geringe Schicht dünnflüssigen Eiters vom Knochen ab-
gehoben. Nach Eröffnung der Markhöhle sieht man dieselbe gefüllt mit
schmierigem Mark von fastgleichmässiger grünlich grauer Farbe,
die nur gegen die untere Epiphyse zu einzelne kleine gelbliche
Eiterherde erkennen lässt. Der Knochen wird nach Verlängerung des
Weich theilschnittes bis zu seiner oberen Epiphyse aufgemeisselt und enthält
bis zu dieser verändertes Mark, das möglichst vollständig mittelst Löffel und
Tupfer entfernt wird. Darauf lockere JodoformgazerTamponnade und Fixation
des Armes.
Während der Operation sind Culturimpfungen von dem periostalen Eit^r
und dem Knochenmark angelegt worden. In dem letzteren gelang es schon
mikroskopisch Streptokokken nachzuweisen.
Die Temperatur blieb Morgens und Abends in den nächsten 3 Tagen um
39. Beim 2. Verbandwechsel am 4. Tage zeigte sich eine erhebliche Ver-
schlimmerung. Die Eiterung aus der grossen Wunde ist sehr reichlich, die
Ulna, die missfarben, zum Theil auch schwärzlich verfärbt aussieht, liegt
vollständig gelockert in der Tiefe der Wunde, an beiden Epi-
physen gelöst, und lässt sich ohne Schwierigkeit herausnehmen. Die
Gegend des Ellenbogengelenks fluctuirt, es wird hier durch eine Incision in
der Verlängerung der Wunde eine grosse paraarticuläre Eitcransammlung ent-
leert, sodann das ebenfalls vereiterte Gelenk eröffnet. Der Vorderarm erscheint
im unteren Drittel des Radius geröthet und geschwollen. Eine Incision er-
giebt hier die nämlichen Verhältnisse wie vor einigen Tagen an der Ulna:
das Periost durch Eiter abgehoben und das Knochenmark in
einen gelblich grauen Brei verwandelt. Nach der Mitte des Knochens
erscheint normales Knochenmark, so dass nur seine untere Hälfte aufgemeisselt
und ausgeräumt wird. Zur Gulturanlage wurde der Gelenkeiter und das
Knochenmark des Radius verwendet. In den nächsten 5 Tagen bleibt die
Temperatur um 38 ', nachdem sie sofort nach der Operation abgefallen war.
Eine erneute Steigerung der Temperatur über 39^ muss auf den sehr
ungenügenden Abfluss des reichlichen Eiters aus dem Ellenbogengelenk zurück-
geführt werden, weshalb von der Humernsepiphyse ein Theil resecirt wird.
Die übrigen Wunden sehen verhältnissmässig gut aus, der Radius erholt sich
allmälig nach Abstossung kleiner Sequesterchen; der weitere betrelTs der
Wundheilung jetzt gute und fieberlose Verlauf wird nach 2^1^ Wochen gestört
durch den Ausbruch einer Ilachendiphtherie, die unter Anwendung des
Behring'schen Serums in einer Woche verschwindet. Die Wunden heilten
langsam ohne Fistelbildung.
Es war in diesem Falle bei der ersten Operation aus dem Periosteitor
und dem Knochenmark der Ulna geimpft worden, femer aus dem Radius- und
dem Gclcnkeiter des Ellenbogens. Sämtliche Impfungen führten zu Rein-
culturen des Streptococcus pyogenes. 0,2 des Ellenbogengelonkeiters
884 Dr. E. Lexer,
lötete eine weisse Maus nach subcutaner Injection in 2 Taigen. Bei der 2.
Operation wurde aus einer Vene des gesunden Armes 3,0 Blut entnommen
und zur subcutanen Injection bei 3 weissen Mäusen verwerthet. 2 starben
nach 2x24 Stunden, und zwar konnten aus ihrem Herzblute wieder Strepto-
kokken in Reinculturen gezüchtet werden.
Durch diese Untersuchungen steht fest, dass es sich hier
um eine vom Streptococcus pyogenes hervorgerufene, mit Ge-
lenkeiterung und Epiphysenlösung complicirtc Osteo-
mvelitis des Radius und der Ulna handelte, die in Hei-
lung überging, trotzdem während des Höhepunktes des
Processes Streptokokken im Blute kreisten.
Einen Unterschied in den klinischen Erscheinungen gegenüber
dem typischen Bilde der acuten Osteomyelitis fanden wir nicht,
dagegen fiel Einiges schon bei der Operation auf, das vielleicht
als Characteristicum der Streptokokkeninfection verwerthet werden
kann. E]rstens nämlich, was ich schon früher hervorhob, die
helle, etwas grünliche Farbe des dünnflüssigen Eiters,
dann die fast gleichmässig schmutzige Verfärbung des
entzündeten Knochenmarkes.
Der Zustand des Kindes im August 1898 ist im Allgemeinen ein sehr
guter; an dem operirten Arme zeigt sich folgendes: das untere Drittel des
Radius ist im Bereiche der kaum sichtbaren Narbe ziemlich stark verdickt, eine
scharfe dünne Knochenleisle liegt dicht unter der grossen beweglichen Narbe
am Ulnarrando des nur wenig verkürzten Vorderarmes als Ersatz der zerstörien
Ulnadiaphyse. Die Hand hat normale Stellung zum Vorderarme. Am Humcrus
\>i eine Verkürzung gegen den anderen Arm nicht zu bemerken. Die einzige
nachtheilige Störung, die von der Erkrankung und Operation zurückblieb, ist
das Schlottergelenk im Ellenbogen. Trotz desselben gebraucht das Kind
seinen Arm wie den gesunden.
Der folgende dritte Fall bietet nicht nur durch die beginnende
Sequestration d<T erkrankten Diaphyse, sondern auch durch die
nicht eitrige Form der Entzündung grosses Interesse:
Der 9 Wochen alte Erich W. erkrankte nach Aussage der Mutter schon
vor 3 \Vochen mit einer Anschwellung der rechten Kniegelenksgegend, die an-
scheinend sehr schmerzhaft war. Auf Rath eines Arztes wurden warme Um-
schläge gemacht, worauf sich nach wenigen Tagen an der Innenseite des Knie-
gelenkes eine Vortreibung der Haut bildete, welche von selbst unter Entleerung
einer massigen Monge Eiter aufbrach. Der Arzt erweiterte mit dem Messer die
Fistel etwas, da das Kind hohes Fieber bekam und der Allgemeinzustand
schlechter wurde. Während der darauffolgenden 2 Wochen trat zuerst
Besserung ein, es entleerte sich genügend Eiter aus der Fistelöffnung, die fast
Zur Kenntniss der Streptokokken- und Pneumokokken-Osteomyelitis. 885
täglich mit aseptischen Verbänden versehen wurde; allmählich liess die Eiter-
secretion nach, die Temperatur stieg wieder und die Anschwellung nahm zu.
Bei der Aufnahme des Kindes in die Klinik war vor Allem der schlechte
Ernährungszustand auffallend. Fieber bestand nicht. Das rechte Bein wurde
im Knie gebeugt gehalten, die Streckung und Berührung des Beines schien
Schmerzen hervorzurufen. Infolge der hochgradigen Abmagerung war es leicht
die Veränderungen am Knochen zu palpiren und festzustellen, dass das Knie-
gelenk vollkommen frei von einem Erguss war, und dass das untere und mittlere
Femurdrittel eine bedeutende Verdickung aufwies, die sich in der Mitte des
Oberschenkels allmählich verlor. An der medialen Seite des Oberschenkels
dicht über dem Condylns internus befindet sich vor der Sehne des Adductor
magnus die von dem Spontanaufbruch herrührende Fistelmündung, aus der
sich auf Druck in die Umgebung und die Kniekehle etwas Eiter entleert. Die
Lymphdrüsen der rechten Leistenbeuge waren etwas angeschwollen.
Von einer bacteriologischen Untersuchung des Fistelsecretes nahm ich
Abstand.
Bei der Auftreibung des Knochens in der Nahe der unteren Epipbyse und
bei dem Durchbruche oberhalb des Condylus dürfte als sicher angenommen wer-
den, dass es sich um einen osteomyelitischen Herd nahe der unteren Knorpelfuge
handelte, der an einer ganz typischen Stelle dicht oberhalb der Epiphysenlinie,
also auch des Condylus, nach hinten extracapsular durchgebrochen war. In
der That zeigte sich, als der Knochen vor der Sehne des grossen Adductor
erreicht war, genau oberhalb des Condylus internus zwischen der medialen und
hinteren Begrenzung des Femur eine kleine Oeffnung in der Corticalis, deren
Umgebung sehr stark verdicktes Periost aufwies und mit der Hautöffnung der
Fistel communicirte. Vorsichtig wurde dann mit einem scharfen Löffel die
Fistelöffnung im Knochen mit der allernächsten Umgebung entfernt. Der
herausbeförderte Knochen war eitrig infiltrirte Spongiosa. Von einem radicalen
Eingriff am Knochen musste man wegen des sehr schlechten Zustandes des
Kindes absehen. Dann wurde die kleine im Knochen entstandene Höhle leicht
tamponnirt ebenso wie die ganze Wunde, und das mit Schienen fixirte Bein
suspendirt.
In der ersten Woche nach der Operation trat bei vollkommen normaler
Temperatur eine allgemeine Besserung ein, die drainirte Wunde secernirte nicht
viel Eiter und bedeckte sich bald mit guten Granulationen. Dann entstanden
Durchfälle und Erbrechen, begleitet von lelchtemFicber, und unter zunehmender
Schwäche starb das Kind zwei Wochen nach der Operation.
In Anbetracht des Umstandcs, dass wir gerade bei Kindern in so frühem
Alter Eiterungen am Knochensystem durch Streptokokken beobachtet haben,
suchte ich noch bei der Section Klarheit über die hier vorliegende Infection
zu gewinnen. Unter allen aseptischen Vorsichtsmaassregeln wurde das ganze
Femur herauspräparirt und dann die untere Hälfte der Länge nach gespalten
und aus verschiedenen Abschnitten Impfungen gemacht. Das Präparat, das
sofort noch in frischem Zustande abgezeichnet wurde, ergab folgende Ver-
änderungen (Fig. 1). Zunächst siebt man, dass die ziemlich erhebliche Ver-
88fi Dr. E. I.exer,
<lickuii^ der gan/.en anteren Dia|ihysenhäirte herrührt von einer entzündlichen
Verdickung des Periostes und einer 4 mm dicken Schicht sehr gefässreichen
Knochengewebes, dits als Sequesterlade allseitig den Knochen umgiebt und
ihm Kum Theil innig anfliegt, zum Theil ron der Corticalis durch eine Schicht
schmieriger Granulationen getrennt ist. Die Corticalis unterscheidet sich
deutlich durch ihre weiss-gel bliche Farbe von der liefrothen der Knochen-
Fig. 1.
Rechtes Femur. P = Perforation. H =
W ^ periostale Knochcimucherung. C
Herd, S = beginnende Schaf tnecrose.
i. = Cond)-l. int K ^ Knoehcnkem.
aufingerung. Das Knochenmark sieht achniulz.ig graugelblich ans mit nicht
scharf begrenzten helleren Inseln. Die Spongiasa des unteren Diaphysenendes
wird auf dem Schnitte zn fast 2 Dritteln zerstört ^■orgefunden. Sie ist hier
(s. Fig. 1) ersetzt durch eine von leicht rütlieher Zone umgebene, glasig aus-
sehende schleimige Masse, die der Kpiphy^eniinie dicht anliegt. Oberhalb
des Condylus int, findet sich die kleine, durch den Löffel bei der Operation
vergrüssiTlc l'crfonilion diT Corlicalis, die hier dicht oberhalb der Knorpel-
Zur Kenntniss der Streptokokken- und Pneumokokken-Osteomyelitis. 887
fuge mit jener durch schleimige Ansammlung ausgefüllten Knochenhöhle com-
municirt. Der mediale Abschnitt der Epiphyse steht höher als der laterale;
doch liegt diese Erscheinung nicht an einer Verkümmerung des Condylus int.,
sondern ist dadurch bedingt, dass die ganze Epiphyse nur noch mit einer
kleinen Partie am Condylus ext. in fester Verbindung steht und durch diese
fast vollkommene Lockerung in ihrem medialen Bereiche nach oben ver-
schoben ist.
Die anatomische Untersuchung ergiebt demnach:
1. Knochenabcess mit schleimigem Inhalt in der unteren Dia-
physenspongiosa mit Durchbruch nach aussen oberhalb des Condylus internus
und theilweiser Lösung der Epiphyse.
2. Diffuse Entzündung des Knochenmarkes.
3. Beginnende Schaftnecrose und Bildung einer Sequester-
lade.
Bei der bacteriologischen Untersuchung ergab die Impfung: aus dem
schleimigen Herde, dem missfarbenen Knochenmark und den Granulationen
zwischen Corticalis und Knochenauflagerung das alleinige Vorhandensein des
Streptococcus pyogenes, der in massig langen Ketten wuchs.
Nur die Impfung aus der vergrösser ten, mit der Wunde coramunicirenden
Perforationsöffnung hatte ein anderes Resultat, indem der Bacillus pyoceancus
und nur wenige, aber mikroskopisch festgestellte Streptokokkencolonien auf-
gingen. Eine Blutimpfung post mortem blieb negativ.
Nach diesem Befunde glaube ich annehmen zu dürfen, dass
die Erkrankung auch hier durch Streptokokken verursacht war. Das
pathologische Bild ist das einer mehr chronischen Form und spricht
für eine wenig virulente Infection, da es zu einer eigentlichen Ei-
terung im Knochen nicht gekommen ist; eine Eiterung war nur,
wie die Anamnese ergab, in den Weichtheiien entstanden und spontan
durchgebrochen. Der schleimige Herd, das diffus entzündete Knochen-
mark, das Fehlen von Eiter zwischen Corticalis und periostaler
Aullagerung sind der Grund zu der Annahme einer schwachen
Virulenz der p]rreger, ebenso wie der fast fieberlose Verlauf der
Erkrankung während unserer Beobachtung.
Das Interessanteste dieses Falls aber liegt darin, dass sich
der Streptococcus pyog. befähigt erwies, auch grössere
Sequestrationen zu bilden, noch dazu unter dem Bilde einer
nicht eitrigen, serösen Entzündung. Bei einer Parulis ist von
Garre constatirt worden, dass Streptokokken, wie er mikro-
skopisch nach\^ies, Urheber eines serösen Abccsses sein können.
Für die Frage, ob die albuminöse Form der Osteomyelitis ihre
Entstehung einem von vornherein wenig intensiven Entzündungs-
888 Dr. E. Lcxcr,
process verdanke (Schlange), oder durch Degeneration eines eitrigen
Exsudates entstehe (Vollert, Garre), bringt unser Fall keine Auf-
klärung. Nur soviel geht aus dem Verlaufe und Befunde hervor,
dass es sich um eine weniger virulente Infection handelte, und die
Annahme einer solchen ist ^h Grundlage beider Ansichten iioth-
wendig.
Auf das Vorkommen einer chronischen Entzündungsform am
Knochen durch Streptokokken wies Kocher hin mit einem sehr
merkwürdigen Falle, einem 13 jährigen Knaben, bei dem sich unter
Schmerzen in etwa einem halben Jahre eine hühnereigrosse, breit
aufsitzende Exostose hinten über dem Condylus externus entwickelt
hatte. Der Tumor hatte eine 1 mm dicke Schale, sonst bestand
er zumeist aus weichen mark- oder granulationsähnlichen Massen.
3 Tage nach der Operation eiterte die Wunde. Die Impfung aus
den Granulationsmassen ergab Streptokokken, weshalb Kocher
annimmt, dass hier auf Grund einer Streptokokken-Localisation
ein Granulationsherd entstanden war, der mit einer periostalen
Knochenschale umgeben und abgekapselt wurde.
Zu den mehr chronisch verlaufenden Erscheinungsformen gehurt
auch der von Lanz^) mitgetheilte, seit mehreren Monaten bestehende
Knochenabscess im Femur. Der Virulenzgrad der Erreger docu-
mcntirte sich hier sehr deutlich, da nach der Incision und Auf-
meisselung ein typisches Erysipel sich entwickelte. Durch Impfung
aus dem Knochenherd wurde der Streptococcus in Reinzucht gewon-
nen, so dass an der Aetiologie dieser Eiterung nicht zu zweifeln ist.
Während also auf der einen Seite ausgedehnte Eiterung des
befallenen Knochens, auf der anderen Seite die verschiedensten
Formen chronischer Entzündung zur Beobachtung gelangten, erfährt
das Bild der Erscheinungsformen durch den folgenden, von Herrn
Professor Nasse untersuchten Fall insofern eine weitere Ergänzung,
als dieser zeigt, dass eine unter den Symptomen einer Pyämie
verlaufende Streptokokkeninfection, ebenso wie dies häufig bei der
Staphylomykosis vorkommt, neben anderen Metastasen auch Locali-
sationen am Knochensystem, besonders vor Abschluss der Wachs-
thumsperiode hervorrufen kann.
Es handelte sich um einen 20jährigen Studenten, der Endo Februar
einen Schlägerhieb erhalten hatte. Als die Nähte entfernt wurden, fand man
1; Lanz, Correspond<Mizblatt für Schweizer Acrzte. 1897. No. 13.
Zur Kenntniss doi* Streptokokken- und Pneumokokken-Osteomyelitis. 889
eine kleine Eiteransammlung, weshalb die Wunde wieder geöffnet und tamponnirt
wurde. 4 Wochen später trat eine schmerzhafte Anschwellung des linken Knie-
gelenkes ein, die auf Natr.salicyl. zurückging. Mitte April musste ein acut entstan-
dener Abscess unterhalb des linken Kniegelenkes geöffnet werden. Gleichzeitig
traten unter hohem Fieber Störungen des Allgemeinbefindens auf und schwoll
die Gegend des rechten Schultergelenkes unter Schmerzen bei Bewegungen an.
Als Ende April Aufnahme in die Klinik erfolgte, zeigte der kräftig ge-
baute, aber sehr blass aussehende, hochfiebernde Patient über dem linken
Scheitelbeine innerhalb einer Reihe von Narben eine auf den Knochen
führende Fistel, einen geringen Erguss im rechten Schultergelenk
und eine starke Füllung des linken Kniegelenks, an dessen Innen-
seite sich eine entzündliche Köthung der Haut bis zur vorderen Tibiakante er-
streckte, wo aus einer kleinen Incisionswunde auf Druck Eiter hervorquoll.
Mit einem grossen Schnitte über die Innenseite der Kniegelenkgegend werden
eine Reihe von. grösseren und kleineren, zumTheil miteinander communicirenden
paraartikulären Abscesse geötfnet und eine Menge von Eiter entleert.
Daiauf wird das prall gefüllte Kniegelenk mit einem dicken Troikart punktirt
und eine trübe, röthliche, fibrinöseitrige, flockenenthaltende Flüssigkeit zum
Abfluss gebracht.
Nach Spaltung der fistulösen Narbe findet sich ein kleiner Sequester der
Tabula ext. umgeben von Granulationen und eitrig infiltrirter Diploe. Die Ta-
bula int. ist intact.
Nachdem sich in den nächsten Wochen das Allgemeinbefinden unter all-
mählich eingetretenen normalen Temperaturen sehr gebessert hatte, kam es
Ende Mai plötzlich wieder zu hohen Abendtemperaturen und Verschlechterung
des Befindens. Die Wunde am Schädel war geheilt, die Schwellung des rechten
Schultergelenks war verschwunden und hatte nur geringe Steifigkeit zurück-
gelassen. Dagegen nahmen die Schmerzen im linken Kniegelenke zu und im
unteren Wundwinkel hatte sich über derTibia eine aufrauhen Knochen führende
Fistel gebildet, so dass man die Gelenkentzündung oder einen Herd im Knochen
als Ursache desFiebers vermuthen musste. Von der früheren Incisionswunde aus
wird daher das Kniegelenk an der Innenseite geöffnet (Anfangs Juni). Es enthält
nur wenig Eiter. Die Synovialis ist geröthet und geschwollen. Zum Theil be-
ginnt schon die Verödung des Gelenkes durch Adhäsionen. Der Knorpel der
Tibia ist zerstört; der Defect führt in einen grossen Eiterherd in
der Epiphyse, welcher sich nach abwärts fast bis zur Mitte der
Diaphyse erstreckt, wohin auch die oben erwähnte Fistel der alten Wunde
mündet. Nach Aufmeisslung der oberen Tibiahälfte wird das eitrig infil-
trirte Knochenmark ausgekratzt und ein periostaler Abscess an der Innen-
seite der Tibia geöffnet. Durch diesen Eingriff, dem eine lockere Tamponnade
des aufgemeisselten Knochens und ausgiebige Drainage des Gelenkes nach An-
legen einer Gegenincision folgte, trat wieder Besserung ein, die Ende Juni
abermals durch das Auftreten von Fieber und einem Erguss im linken
Hüftgelenk gestört wurde. Unter fixiren dem Verbände schwanden die Schmerzen
und der Erguss allmählich.
890 Dr. E. Lex er,
Endo Juli kam es wiecierum zu Temperaturen über 39. l>ie Granulationen
der Wunde an der Tibia sahen belegt aus und die Narbe am Schädel schmerzte.
An der Tibia fand sich nach Entfernen der Granulationen ein schmaler Se-
quester, ebenso unter der Narbe am Kopf in Eiter eingebettet ein kleines los-
gelöstes Knochenstück.
Ein neuer Fieberanfall trat nicht wieder ein, die Wunden heilten
langsam, der Patient konnte anfangs November das Bett verlassen. Nach einer
späteren Mittheilung des Hausarztes ist das linke Hüft- und Kniegelenk voll-
kommen ankylotisch geworden, während die Beweglichkeit des rechten Schulter-
gelenkes nur wenig beschränkt ist.
Aus dem Knochenmarkeiter der Tibia und dem Kniegcleuk-
erguss sind Streptokokken in Reinkulturen gewonnen worden,
während dieselben mikroskopisch in dem Eiter der Schädelwunde
nachgewiesen wurden. Nach diesem Befunde darf man wohl an-
nehmen, dass von den letzteren aus, wo sich ja der Infectionsstoff
sehr lange Zeit erhielt, Metastasen entstanden sind. Klinisch trat
am frühesten der entzündliche Erguss im Kniegelenk und ein
parostaler Abscess an der Tuberosit. tibiae in Erscheinung, beide
möglicherweise schon abhängig von einer Localisation an der oberen
Knorpelfuge der Tibia. Der Befund bei der letzten Operation
spricht sehr dafür, dass an dieser typischen Stelle der erste Knochen-
herd angelegt war und von da aus durch die Epiphyse ins Ge-
lenk und nach abwärts ins Knochenmark sich verbreitet hatte.
Die nietastatische Entzündung des Schulter- und Hüftgelenken
hatte einen günstigen Verlauf, doch nicht ohne im letzteren be-
trächtliche Störungen zu hinterlasssen.
Eine Reihe von weiteren Fällen lässt sich als eine Gruppe
zusammenfassen unter der Bezeichnung einer Streptokokken-
Osteomyelitis der Gelenkgebiete, bei welcher die Gelenk-
eiterung im Vordergrund der klinischen und auch der
pathologischen Erscheinungen steht^).
Ueber die beiden früher 2) niitgetheilten Fälle, die hierher ge-
hören, kann ich nur berichten, dass sowohl der damals 1jährige
Knabe mit dem corticalen Herde oberhalb des Condylus ext. femoris
0 Der Name ^Epiphysitis", den Herzog und Kreutwig (Müncbeuer
med. Wochenschrift 1898, No. 14) unter Hinweis auf englische Autoren für
solche Fälle empfehlen und bei einem Falle von Epiphysenlösung und Gelcnk-
eiterung anwenden, kann nur dann auch den pathologischen Veränderungen
entsprechen, wenn es sich um primär in der Epiphyse localisirte und durch-
gebrochene Eiterherde handelt.
2) Sammlung klin. Vorträge. No. 173. S. 675.
Zur Kenntniss der Streptokokken- und Pneumokokken-Osteomyelitis. 891
und der Kniegelenkeiterung, als das 7 monatliche Kind mit einem
primären ins Gelenk perforirten Eiterherd in der oberen Humerus-
epiphyse eine fast vollkommene Beweglichkeit in den betreffenden
Gelenken ohne nachzuweisende Wachsthumsstörung erlangt haben.
1. Fritz B., ein kräftiges 2jähriges Kind, das vor einem Vierteljahr
Masern und vor 4 Wochen einen Lungenkatarrh überstanden hatte, soll vor
5 Tagen eine leichte Anschwellung des rechten Schultergelenkes bekommen
haben. Der Mutter fiel es auf, dass das Kind das Aermchen nicht bewegte
und auf Berühren der angeschwollenen Partie Schmerzen äusserte. Der hinzu-
gezogene Arzt vermutete eine Gelenkentzündung und sandte das Kind zur
Klinik (29. II. 1897).
Es zeigte sich erstens, dass das Kind die ausgeprägten Merkmale der
Rachitis aufwies: Verdickung der Knorpelknochengrenzen an den Rippen, Auf-
treibung verschiedener Epipiiysengegenden, ferner Verkrümmung der Beine,
rechts genu varum, links genu valgum. Zweitens war die vordere Partie des
Schultergelenkes massig angeschwollen, die Haut nicht geröthet, aber hciss,
und die suhcutanen Venen sehr deutlich durchscheinend. Die Temperatur-
messung ergab nur 38,2®. Durch Punction konnte etwa 0,5 einer eitrig
getrübten serösen Flüssigkeit aus dem Schultergelenk entnommen werden,
welche sofort zur Impfung auf Agar-Agar und zur subcutanen Injection bei
einer weissen Maus verwendet wurde. Die letztere starb nach 24 Stunden. Im
Herzblut derselben waren schon mikroskopisch Streptokokken, meist in diplo-
kokkenform nachzuweisen. Die Agarculturen stimmten mit den aus dem Thier-
blut gewonnenen überein.
Nach Vornahme der Punction wurde der Arm am Thorax fixirt und die Wir-
kung der Ruhigstellung des kranken Gelenkes die nächsten2Tage abgewartet. Als
dann die Abendtemperatur etwas höher, auf 38,5, stieg und sich nach Abnahme
des Verbandes eine massig vermehrte Anschwellung der Schulter und eine ent-
zündliche Röthe der Haut vorne über den Caput hum. vorfand, wurde die ent-
zündete Gelenkgegend mit einem Längsschnitt blosgolegt, der zunächst nur
Haut und Muskel über dem Sulcus intertubercularis durch trennte. Die Weich-
theile waren nur etwas ödematös durchtränkt; als dann aber durch Innenrotation
des Armes das Tuberculum maius in die Wunde eingestellt wurde, fand sich
oberhalb desselben dicht an der Epiphysenlinie und dem Kapselan-
satze eine kleine, kaum erbsengrosse Stelle gelblich aussehenden
Periostes. Als dasselbe incidirt war, entquoll eine geringe Menge dünn-
flüssigen Eiters dem gleichzeitig durch den Schnitt geöffneten Gelenke. Die
Gelenkkapsel wurde dann breit geöffnet und duroh Abhebein des Periostes und
Kapselansatzes ein kleiner Eiterherd freigelegt, der dicht an der Knorpelfuge
liegend den Durchbruch eines in der Diaphysenspongiosa angelegten Herdes
ns Gelenk darstellte. Denn als ich zur Feststellung der pathologisch-anato-
mischen Verhältnisse den corticalen Herd mit spitzem Messer umschnitt und
im Zusammenhange mit der darunter liegenden Spongiosa auslöste, zeigte sich
deutlich ein mit Eiter gefüllter Canal, der vom Kapselansatze dicht an der
8i)2 Ur. E. Lexer,
Knorpi?lfut;c in eine erhseng rosse, eitrig infillrirle Stolle der Spongiosa fiihrlc.
Diese Verhältnisse suchte ieli in Fig. 2 wiederzugeben. Mit dem lierau<^e-
schnittencn Stück Spongiosa war walirsclieinlidi niclil die ganze citrige Pnrtie
aus derselben entfernt worden, da aus der Knochcnwunde noch etwas Eiler
heraustjuol]. Die Menge desselben war jedoch so gerinjc, dass das im Knorhen
entstandene Loch für den Ahfluss des Eitere hinreichend erschien. Kine
lockere .JodoformgiiKetamponnade der Knochen- und Weichtheilwunde folgte der
Operation.
Fig. 2.
Obere Humerusepiphysc. K = Kapsel. H = Eilerherd.
Die Temperatur liel in den nächsten Tagen nur Norm. Als der in-
zwischen gelockerte Tampon am M. Tage vollkommen enlfemt wurde, zeigte
sich nur wenig Eiter in der Tiefe der Wunde, dem ein dünnes Drainrohr
Abfluss schaffte. Schon nach einer Woche konnte das Letztere weggelassen
werden, worauf in weiteren 2 Wochen ein vollkoraniener Verschluss der Wunde
erfolgte. Die Bewegungen des Armes im Schultergelenk schienen nicht schmerz-
haft zu sein, als der Fixationsvcrband entfernt wurde. Nach 1 Monat hatte das
Kind eine anscheinend gute Beweglichkeit des Armes in der Schulter.
Der jetzige Befund, l'/j .lahr nach der Knllassung ist folgender:
Das Kind sieht gesund und kräftig aus, hat aber noch deutliche Auf-
treibungen der Epiphysen. Am rechten Bein hat die Genu varum-S toll uns
zugenommen, es besteht unterhalb der Tuberositas tibiae ein deutlicher Knick.
Am linken Bein ist die (ienu-valgum-Stellung fast verschwunden, doch besteht
ein hochgradiger l'Iattfuss.
Was den Trüher erkrankten Überarm und die Schulter bctrilTt, so ist eine
vollkommen normale Beweglichkeit activ wie passiv vorhanden, die
Gegend des Tuberculum maius fühlt sich ein wenig verdickt an, eine Wachs-
thumsstörung des Humems ist nicht nachzuweisen.
Durch eine Röntgenaufnahme wurde eine ganz geringe Verdickung des
oberen Hnmerus dritteis festgestellt.
Das ganze Kraiikhdlshild diesra Falles lä,sst sich kurz zu-
Hanimenfassen als acute eitrige SehtiUrrgelenkcntzündung infolge
einer nach dem Gelenke pcrforirten ostcoiuyclitischon Localisalinn
an der oheron Knorpelfiige. Kine Eingangspforte für die Infeetion
lie.ss sich nicht nachweisen. Vom Verlaufe ist bemcrkenswcrth,
Zur Kenntniss der StioptokoKkcn- und l*neuniokokken-()stconiyeliii.s. 893
dass die Eiterung im Knochen und Gelenke nach Freilegung des
entzündeten Gebietes keine Progredienz zeigte, sondern sofort ab-
nahm, obgleich besonders für den Knochenherd nur eine kleine
Stelle zum Abfluss geschafl'en wurde, und ferner, dass eine voll-
kommen freie Beweglichkeit des Armes im Schultergelenke eintrat.
2. Gretchen M. Das sehr schwächliche und sehr schlecht ernährte 8
Monate alte Mädchen wurde mit der Angabe zur Klinik gebracht, dass seit
2 Tagen die Gegend des rechten Fussgelenkes angeschwollen sei. Seit 2
Wochen bestünde Lungenkatarrh und Husten.
Am rechten Fuss, der in Plantarflexion gehalten wird, ist die Gegend
des Fussgelenkes erheblich angeschwollen. Die Schwellung verliert sich ober-
halb der Malleolen, reicht unten bis zum Mittelfuss und ist am stärksten auf
der Innenseile ausgeprägt, wo die Hjiut unterhalb des Knöchels stark geröthet,
glänzend und verdünnt erscheint und wo deutliche Fluctuation ebenso wie
aussen unterhalb des Malleolus ext. nachzuweisen ist, während am Fussrücken
nur Oedem besteht. Die Berührung des entzündeten Gebietes und Bewegungen
des Fusses sind ausserordentlich schmerzhart. Die Temperatur ist 39,8. Die
unteren Partieen der rechten Lunge lassen Hasselgeräusche erkennen, die
Rachenschleimhaut ist etwas geröthet, die Tonsille der rechten Seite stark ge-
schwollen.
Eine Incision von der Mitte des Malleolus internus schräg nach vorn über
die entzündete Partie hinweg zur Fusssohle öffnet zuerst einen grossen von
dünnem Eiter gebildeten Abscess, in dessen Grund die Plantarfascie freiliegt.
Die Abscesshöhle setzt sich von der Achillessehne nach dem äusseren Knöchel
fort, wo eine Gegenincision angelegt wird. Aus dem Fussgelenk entleert sich
Eiter, weshalb dasselbe möglichst weit geöffnet wird. Ein Eiterherd am
Knochen ist nicht zu entdecken.
Impfungen aus dem Eiter ergeben Streptokokken in Reinculturen.
Während aus den Wunden ein guter Abfluss des Eiters stattfindet, verfällt
das Kind unter hohen Temperaturen immer mehr, es treten starke Diarrhoeen
ein und entwickelt sich rechts eine Bronchopneumonie. VJ^ Wochen nach Be-
ginn der Erkrankung erfolgt der Exitus.
Soweit das Knochensystem nachgesehen werden konnte, sind keine
weiteren Gelenk- und Knochenlocalisationen vorhanden, nur am Mall. int.
des rechten Fusses zeigt sich Folgendes: An der unteren Knorpelfuge der
Tibia ist die Diaphysenspongiosa eitrig infiltrirt und enthält einen kirschkern-
grossen Knochenabscess, in dessen Bereiche die Epiphysenfuge zerstört ist,
so dass der kleine Abscess mit den ebenfalls eitrig infiltrirten Räumen der
Epiphyse communicirt. Eine kleine, tiefe Usur des Gelenkknorpels zeigt, dass
auch eine Verbindung der vereiterten Epiphyse mit dem Gelenk besteht.
Nach diesem Befunde ist ein an der unteren Knoi-pelfuge an-
gelegter Eiterherd durch die AVachsthunis/one und Epiphyse ins
Gelenk durchgebrochen. Bei der Incision des Gelenkes blieben
Archiv fttr klin. Chii-urgie. 57. Bd. Heft 4. • 51^
894 Dr. K. Lex er,
diese Verhältnisse verborgen. Auffallend ist die geringe Zerstörung
des citrig infiltrirten Gelenkendes, da doch der ganze Process schon
über 3 Wochen angehalten hatte. Als Eingangspforte der Infection
ist die entzündete Lunge ebenso wie die angeschwollene Tonsille
zu verwerthen.
3. Erna B. Das 6 Monate alte, sehr schwächliche Kind soll schon längere
Zeit krank sein. Im Alter von 4 Wochen traten am Damm, an den Schamlippen
and am Rücken kleine harte, röthlich gefärbte Knoten in der Haat auf, die lang-
sam von selbst verschwanden und an anderen Stellen wiederkehrten. Der Auf-
bruch eines solchen Knotens und dieEntleerung von Eiter wurde nie beobachteL
Zu diesem Leiden gesellte sich vor 2 Wochen ein plötzlich auftretender, über
den ganzen Körper wandernder Ausschlag, der unter allgemeinen Störungen
und Fieber in 8 Tagen verlief. Zuerst war nur Bauch und Brust, später auch
der Kücken, die Beine und das Gesicht befallen. Es sollen grosse rothe Flecken
gewesen sein (Erythema exsudativum?). Nach Ablauf dieser Erkrankung, die
das Kind sehr in seinem Ernährungszustände schädigte, trat vor 4 Tagen eine
Anschwellung des rechten Schultergelcnkes auf, wogegen Einpinseln
mit Jodtinctur angewendet wurde.
Es fand sich eine sehr orheblicheAnschwcllung der rechten Schultergelenk-
gcgend mit gespannter, entzündlich gerötheter Haut und Fluctuation. Sehr
grosse Schmerzhaftigkeit bei Bewegung des Armes. Ausserdem sind in der
Umgebung des Afters mehrere kleine furunkulöse Abscesse vorhanden. Die
Morgentemperatur bei der Aufnahme des Kindes ist 38.5. Durch Punktion zur
bakteriologischen Untersuchung wurde eine Pravaz*sche Spritze voll dünn-
flüssigen Eiters aus dem Schultergelenk entnommen und davon auf verschiedene
Nährböden verimpft, die alle Reinkulturen von Streptokokken ergaben. Im
Eiter waren Streptokokken in 5—6 gliedrigen Ketten zu sehen. Eine
weisse Maus, welche 0,5 von dem Eiter subcutan bekommen hatte, starb nach
48 Stunden; aus ihrem Herzblute liessen sich wiederum Keincu4turen von Strep-
tokokken züchten. Wenige Stunden nach Vornahme der Function wurde das
Gelenk mit dem gewöhnlichen Resectionsschnitt incidirt. Nach Durchtrennung
des Deldoides wird eine grosso, die Gelenkgegend vorne, hinten und unten
umspülende Eiteransammlung geölTnet. Nach Entfernung derselben mit Tupfern
sieht man, dass aus der noch unberührten Gelenkkapsel nahe amTuber-
kulum minus aus einer feinen Oeffnung dünner Eiter hervorquillt.
Die Kapsel, deren Ansatz hier etwas gelöst ist, wird darauf breit gespalten und
auseinander t^ezogen. DerGelenkknorpel ist normal, aber er ist weich, lässt
sich eindrücken, als ob der ganzeHumeruskopf aus einer Blase mit
einer dünnen knorpeligen Wandung bestände. Eine Perforationsstelle
des Gelenkknorpels ist, soweit derselbe sichtbar wird, nicht zu bemerken.
Trotzdem musste man annehmen, dass das Innere der Epiphyse zerfallen sei
und ein kleiner Einschnitt durch den Gelenkknorpel zeigte, dass der Humerus-
kopf in der That fast nur aus dem Gelenkknorpel bestand, der eine gelUlich ge-
spren«<elte Granulationsmasse enthielt. Nachdem dieselbe vorsichtig entfernt
Zur Kenntniss der Streptokokken- und Pneumokokken-Osteomyelitis. 895
war, sah man die epiphysärc Seite der Wachstliumszono durch den Wundspalt
des Gelenkknorpels hindurch vor sich. Sie ist glatt und von rother Farbe.
Nur gegen die hintere Peripherie zu entdeckt man eine gelblich verfärbte Stelle,
die sich nach leichtem Betupfen als erbsengrosser vollkommen loser Spongiosa -
Sequester zu erkennen giebt, nach dessen Entfernung ein tiefes Loch in der
Knorpelfuge vorhanden ist. Es ist deutlich zu sehen, dass die Epiphyscn-
fuge an dieser Stelle perforirt ist und der Sequester aus dem spongiösen
Theile der Diaphyse resp. Metaphyse stammt. Wahrscheinlich war hier
der primäre Sitz der Kokkenlocalisation, von dem aus nach Per-
foration der Knorpelfuge der Knochenkern der Epiphyse zerfiel;
da der Herd dicht unter der Corticalis liegt, so ist wohl anzunehmen, dass die
Perforation ins Gelenk dicht über ihm, • an fler hinteren Seite des Humerus
erfolgt war.
Betreffs der Eingangspforte wurde kein Anhaltspunkt gefunden, da die
als solche verrautheten furunkulösen Abscesse am Damm etc. nur den Staph. p.
aureus enthielten.
Die in der Epiphyse entstandene Höhle wurde mit Jodoformgaze locker
gefüllt, der Tampon nach 2 Tagen herausgenommen. DieW^eichtheilwunde füllte
sich schon nach 1 Woche bei fieberlosem Verlaufe mit guten Granulationen,
da die Eiterung aus der Gelenkhöhle vollkommen aufhörte, und war nach einer
weiteren Woche geschlossen.
^4 Jahr nach der Operation hatte das Kind vollständig freie active
Beweglichkeit in dem erkrankten Gelenk; es gebrauchte den Arm wie
den andern und zeigte nicht die geringste Wachsthumsstörung gegen-
über dem gesunden Oberarm.
4. Paul B. Der 1 Jahr alte, vorher stets gesunde, kräftig entwickelte
Knabe soll ohne äussere Veranlassung vor 2 Wochen erkrankt sein und fort-
gesetzt gefiebert haben. Husten oder Schluckbeschwerden sind nach Aussage
der Mutter nicht vorhanden gewesen, doch fiel derselben schon wenige Tage
nach Beginn der Erkrankung auf, dass das Kind bei Berührung oder Be-
wegung des linken Beines Schmerzen haben müsse.
Ueber die mögliche Eingangspforte für die bei der Aufnahme des Kindes
deutliche Kniegelenksontzündung ist absolut kein Anhaltspunkt zu gewinnen.
Die Hautdecken zeigen keine Verletzungen, die Rachenorgane keine Röthung,
die Untersuchung der Lunge ergiebt normale Befunde und auch die Verdauung
des Kindes ist in Ordnung.
Die ganze Gegend des linken Kniegelenks ist leicht geröthct und diffus
geschwollen: die Bursa subcruralis prall gefüllt, fluctnirend, die Patella tan-
zend. Temperatur 38,8. Durch Punction wurde kein Gelenkinhalt entleert, da
sich die Canüle mit Fibringerinnseln verstopfte. Das Bein wird zunächst mit
Schienenverband versehen und suspcndirt und damit ein Sinken der Tempera-
tur unter 38 in den nächsten 2 Tagen erzielt. Dann trat jedoch wieder 38,8
auf und zeigte sich beim Abnehmen des Verbandes nicht nur eine Zunahme
des Kniegelenkergusses, sondern auch eine fluctuirende Partie vor der grossen
Adductorsehne. Vor dieser wird incidirt und eine paraarticuläre Eiteransamm-
59*
«% Dr. K. I.exer,
liing cnllcvrl, sodann von demselben' Srhnitt aus Aas Gelunk an dfr Innen-
seite eröffnet, worauf sich dünnes, fast seröses Exsudat mit dicken eiterigen
Flocken entleerte.
Aus dem Gelenkeiter wuchs der Streptococcus pyogenes in Keinzucbt.
Von einer 24 stündigen Bouilloncultur tödtet eine Dosis von 0,4, subcutan
einer weissen Maus eingespritzt, dieselbe nach 24 Stunden.
Unter entsprechender Behandlung (Offenhalten und Drainage des Ge-
lenkes und des oberen Recessus) lallt die Temperatur zur Norm, die anfangs sehr
stjirke Kiterabsonderung lässt allmählich nach und die Wunde beginnt gut zu
granuliren, als sich am iL Tage nach der Operation unter hohem Fieber eine
Pneumonie entwickelt, der das Kind in 3 Tagen erliegt.
Fig. S.
E ^ titerherd iii der unter ii hiitirpeKugi, des Imken l^emur.
Da dit Obduction erst nich 3t> Stunden vorgenommen werden kann,
sind liiipfun^en aus dem Blut und der inQltrirten Lunge ohne Werth. In dem
erkrankten Kniegelenk ist der delenkknorpel intnct, nur am Condylus int,
dicht oben am Knorpelrande lat iine feine OelTnung, aus dei bei Druck auf
dm umgel enden Knorpel Liter herior<|Uillt Durch Vbtragen einer '/a cm
diiken frontalen Knochenscheibe (s big) wird ein kleiner Literherd in
du Knorpel fuge nnd der anliegenden Diaphjsenspongiosa ent-
deckt, der durch einen feinen sondirbaren Canat mit dem Gelenk
communicirl. Der Literherd enthalt mikroskopisch nachzuweisende Strepto-
kokken.
5. Robert P. Bei dem 3 wöchentlichen Kinde soll schon 3 Tage nach
der Geburt eine Anscliueltung des rechten Handgelenkes bemerkt worden sein.
Der Arzt punctlrie ohne Resultat. Vor einigen Tagen stellte sich auch am
linken Bein eine Anschwellung des Oberschenkels und der Kniegelcnksgegend
ein, weshalb Massage angewendet wurde, welcher aber nur eine Verschlimme-
rnng folgte.
Bei der Aufnahme findet sich ein gros>er Absccss am linken Ul>erschen-
Zur Kenntniss der Streptokokken- und Pneumokokken-Osteomyelitis. 897
kel in der Umgebung des Trochanter major. Eine zweite Anschwellung be-
steht an der Beugeseite des rechten Vorderarmes, dicht oberhalb des Handge-
lenkes, hauptsächlich auf der radialen Seite. Temperaturen subnormal.
Die Incision des Abscesses am Oberschenkel ergiebt eine Menge von
hellem, rahmigen £iter, der auch an einer Stelle aus der Gelenkkapsel
herausquillt. Letztere wird geöffnet. Ein Herd am Knochen wird nicht
entdeckt. Am Handgelenk ist der Abscess am Kadiusende, auf dessen
radialer Seite, subperiostal. Im Eiter der beiden Abscesse finden sich
sehr lange Streptokokkenreihen. Culturell wird der Strept. pyog. in Reinzucht
erhalten.
Nach einer Woche stirbt das Kind unter zunehmendem Verfall und stär-
kerem Sinken der Temperatur bis auf 35,0^.
Bei der Obduction finden sich in der linken Tonsille kleine, mikro-
skopisch Streptokokken enthaltende Abscesse und Lymphdrüsen-
schwellungen an der linken Seite des Halses. In der linken Hüftgegend
eine grosse zusammengefallene Abscesshöhle, in welcher das ganze Hüft-
gelenk und seine Umgebung freiliegt. Das durchschnittene obere Femur-
drittel zeigt an der Knorpelfuge, innerhalb der Diaphysonspon-
giosa, einen kirschkerngrossen Abscess mit Durchbruch ins Ge-
lenk. Ein etwas kleinerer Eiterherd sitzt an der Diaphysenseite der
unteren Epiphysenlinie des rechten Radius mit Durchbruch nach
aussen unter das Periost.
Das Bemerkenswerthestc dieser 7 beobachteten Fälle, mit
Einschluss der beiden früher beschriebenen, ist erstens das frühe
Alter der Patienten, zwischen 3 Wochen und 2 Jahren, zweitens
der günstige Verlauf der allgemeinen wie localen Erkrankung bei
kräftigen Kindern. Der lethale Ausgang bezieht sich auf zwei sehr
schwächliche, schlecht entwickelte Kinder von 3 Wochen und acht
Monaten, bei denen der Eintritt der Infection einen schnell zum
Tode führenden Kräfteverfall hervorrief. Der sehr kräftige, 1 Jahr
alte Paul B. starb an einer katarrhalischen Pneumonie, die dem
sonst sehr ernten Verlaufe eine Ziel setzte. Was den localen Pro-
cess betrifft, so sehen wir in allen Fällen einen kleinen Eiterherd
im Knochen an typischer Stelle, d. h. an der Diaphysenseite der
Knorpelfuge, als Ursache einer Gelenkeiterung und einer paraarti-
culären Phlegmone.
Der Herd im Knochen scheint weniger häufig, als dies bei
Staphylokokken der Fall ist, die Tendenz zur Ausbreitung der
Entzündung entlang der Knorpelfugcnscheibe und zur Lösung der
Epiphyse zu haben; denn in den erwähnten Fällen zerfiel nur der
dem Herde benachbarte Abschnitt der Corticalis und Knorpelfuge,
898 Dr. E. Lexer,
so dass dadurch Gommunicationen mit dem Gelenkraume entstan-
den. Die Gelenkeiteruns: liess den Knorpel intact, obgleich nach
dem Entfernen des Knochenherdes der entstandene Defect einen
guten Angriffspunkt gegeben hätte; die spätere Function des Ge-
lenkes ist auch durch eine Schrumpfung der Gelenkkapsel in den
geheilten Fällen nicht beeinträchtigt worden. Dem Fortschreiten
des Entzündungsprocesses wurde stets durch die Incision ein Ziel
gesetzt, Gelenk- und Weichtheileiterungen hörten in wenigen Tagen
nach der Spaltung auf, sodass niemals ein weiterer Eingriff nöthig
wurde.
Wichtig scheint die Entfernung des Knochenherdes zu
sein, denn in denjenigen Fällen, in denen erst bei der Section
ein nach dem Gelenk perforirter Knochenherd gefunden wurde,
blieb die eitrige Secretion aus der Gelenkwunde bis zum Tode
sehr reichlich. In dieser Beziehung ist auch der 1. Fall von
Klemm sehr lehrreich.
Als bei dem 6 Wochen alten Kinde ein acut entstandener Abscess an
der Aussenseite des Oberschenkels geöffnet wurde, fand sich eine kleine
rauhe, von Periost entblösste Stolle im unteren Drittel des Fe-
rn ur. 3 Wochen später, nachdem auch ein Parotisabscess incidirt worden
war, entsteht über dem oberen Drittel des rechten Radius ein Abscess, bei
dessen Spaltung eine V4 cm im Durchmesser haltende Rauhigkeit am
Radius an dessen oberstem, dorsalen, epiphysären Diaphysen-
cnde bemerkt wird. Fast gleichzeitig bildet sich ein Abscess an der rechten
Schulter. Hier fühlt man nach Entleerung des Eiters, der übrigens das Ge-
lenk freigelassen hatte, eine kleine Knochenusur zwischen Epiphyse
und Diaphyse. Die Incisionswunden heilten, doch am Femur sowohl wie
am numerus, hier nach 7 Monaten, dort nach 2 Jahren, entstehen an den-
selben Stellen Absresse, bei deren Incision auch dieselbe Knochenpartio
wie früher rauh und usurirt vorgefunden wird. Es erfolgte darauf
Heilung.
Die abermalige Abscedirung an den früher erkrankten Knochen-
stellen legt hier den Verdacht nahe, dass die oberflächlichen Usuren
mit tiefer im Knochen gelegenen Herden (ähnlich wie z. B. in
Fig. 2 und 3) im Zusammenhange standen und aus diesem Grunde
sich so lange Zeit erhieltcMi. Kommt es auch nicht zu wieder-
holtem Aufbruch, so könnte doch ein bei der Eröffnung des Ge-
lenk(\s verborgen gebliebener ossaler Ilerd durch spätere Verdickung
des Knochens, vielleicht auch wegen der häufigen Localisation an
der Knorpelfuge, durch Wachsthumsstürung sich bemerkbar machen.
Zui' Kenntniss der Streptokokken- and Pneumokokken-Osteomyelitis. 899
So wurde in einem der von Vo 1km an n 'sehen i) Fälle, den auch
Klemm citirt, 6 Jahre nach der Incision des vereiterten Knie-
gelenks wohl gute Beweglichkeit, aber eine eigenthümliche Form-
veränderung und Verbreiterung der Femurepiphyse, constatirt.
Im Falle Anna K. der folgenden Gruppe (Seite 901), in wel-
chem wegen einer durchgebrochenen Hüftgelenkeiterung incidirt
worden war, ergab die Untersuchung nach 2 Jahren, dass wohl
bald nach der Operation eine Lösung der oberen Femurepiphyse
eingetreten und übersehen sein musste, denn der stark verbreiterte
Trochanter war nach oben verschoben und das Bein verkürzt.
Aehnliche Veränderungen am Knochen sahen wir in unseren
Fällen nicht, wo die kleinen ins Gelenk perforirten Herde sorgsam
ausgekratzt oder umschnitten worden waren.
Zu einer weiteren Gruppe lassen sich diejenigen Fälle von
Gelenkeiterungen zusammenfassen, bei denen eine primäre
Erkrankung des Knochens nicht besteht oder nicht nach-
gewiesen werden kann. Durch die Aehnlichkeit des klinischen
Verlaufes reihen sich diese Fälle den früheren an.
Es sind dies Gelenkentzündungen, die ebenfalls nur bei kleinen
Kindern zur Beobachtung gelangten, und zwar nicht immer mit
mehr oder weniger schleimigem Charakter des Exsudates, wie bei
der V. Volk mann 'sehen katarrhalischen Arthritis, sondern auch
reine Eiterungen mit Durchbruch in die Weichtheile.
Von den früher 2) erwähnten Fällen dieser Art war der inter-
essanteste eine acute Gelenkeiterung im Ellbogen bei einem acht
Monate alten Mädchen, Gertrud B., bei welcher das einer Armvene
vor der Operation entnommene Blut Streptokokken enthielt, wie
das Mäuseexperiment zeigte. Der Fall heilte nach der Incision.
Die Function ist z. Z., fast 3 Jahre nach der Erkrankung, in
jeder Beziehung vollkommen normal.
Es ist eine längst bekannte Thatsache, dass die Gelenkeite-
rungen bei kleinen Kindern nach der Incision mit oft guter Func-
tion ausheilen; nach König haben die mono- und polyarticulären
Entzündungen im Säuglingsalter (häußg das Kniegelenk betreffend)
selten destruirenden Charakter. Da wir in der Klinik nicht gerade
*) von Volkmann, Beiträge zur Chirurgie. 1875. S. 171.
2) Sammlung klinischer Vorträge. 173. S. 678.
900 Dr. E. Loxer,
selten solche Fälle zur Behandlung bekamen, die nach einfacher
Incision des Gelenkes in verhältnissraässig kurzer Zeit, und zwar
mit meist guter Beweglichkeit heilten, so suchte ich seit einigen
Jahren durch bakteriologische Impfungen aus solchen acuten Ge-
lenkergüssen Anhaltspunkte über die vorliegenden Infectionen zu
erhalten.
Da zu diesen Untersuchungen alle bei kleinen Kindern acut
aufgetretenen Gelenkentzündungen verwerthet wurden, so erstreckt
sich die Beobachtung auf einige Fälle von acuten KniegelenLs-
tuberculosen, die sich einmal durch den negativen Ausfall der Im-
pfung aus der Punctionsflüssigkeit, zweitens durch den weiteren
klinischen Verlauf als solche zu erkennen gaben, und ferner auf
mehrere durch Staphylokokken, aureus und albus, hervorgerufene
Gelenkeiterungen. Bei diesen Staphylokokkenentzündungen war nicht
nur der Process in dem betreffenden Gelenke ein schwerer, son-
dern auch die allgemeine Erkrankung. Meist erkrankten mehrere
Gelenke. Fast immer fanden sich bei einer ziemlichen Anzahl
solcher Patienten osteomyelitische Herde im Bereiche der Gelenke.
■r'
Ich habe die Fälle nicht eigens gesammelt, es sind ungefähr 20,
nur so viel will ich hier hervorheben, dass die wenigen Kinder,
welche davonkamen, nach langwierigem Verlaufe mehr oder weniger
steife Gelenke davontnigen.
Und doch steht an der Heftigkeit des Auftretens und der
schnellen Verbreitung ins paraarticuläre Gewebe die Streptokokken-
infertion dem Bilde der Staphylokokkeneiterung im Gelenk nicht
nach. Krause hat bekanntlich zuerst darauf aufmerksam gemacht,
dass die acute eitrige Synovitis, die acute katarrhalische Gelenk-
entzündung Volkmann^s bei kleinen Kindern das Werk einer
Streptokokkenin fection ist. In früh incidirten Gelenken, sagt er,
finde sich Synovia von der Consistenz dicken Nasenschleims, glasig
hell, mit dicken gelben Eiterstreifen untermischt, später ein
mehr oder minder schleimiger Eiter. Nach Lannelongue sind,
wie Mauclaire^) mittheilt, diese von Krause beschriebenen Fälle
als Gelenkentzündungen nach Osteomyelitis zu betrachten, deren
Stelle im Knochen verborgen bleibt. Auch Townsend^), Ars-
*) Mauclaire in: Trail6 de Chirurgie. Le Den tu et Del bei T. II.
189G. p. 542.
-) Townscnd, American. Journal of thc mcdical scienccs. Jan. 1890.
Zur Kenntuiss der Streptokokken- und Pneumokokken-Osteomyelitis. 901
dalc und Koplik*) vertreten diese Ansicht, ersterer wohl mit
Recht, da sich seine Beobachtungen nur auf Staphylokokken be-
ziehen, letztere theilen nur 4 Fälle (von 2 Wochen bis 2 Jahren)
mit, in denen es sich, soweit aus der Beschreibung zu ersehen ist,
um Osteomyelitis durch Streptokokken mit Gelenkeiterung han-
delte, wenn nicht die Veränderungen am Knochen secundärer Natur
waren, da spät operirt wurde.
Gewiss ist es richtig, dass bei den Gelenkentzündungen kleiner
Kinder gerade bei den Streptokokken, die, wie wir sahen, meist
nur kleine Herde an der Wachsthumszone machen, diese Ansiedlungs-
stellen im Knochen versteckt bleiben können; das zwingt uns aber
nicht zu der Annahme, dass sie vorhanden sein müssen, nament-
lich aber dann nicht, wenn eine schnelle und günstige Ausheilung
nach Incision des Gelenkes erfolgt.
Wie ich schon früher erwähnte, fand ich nicht nur Strepto-
kokken, sondern auch den Pneumococcus Fraenkel-Weichselbaum
bei der acuten Arthritis kleiner Kinder, wie sie dem von v. Volk-
mann und von Krause entworfenen Bilde entsprechen. In den
letzten zwei Jahren sah ich 5 Fälle, davon 4 mit Streptokokken.
Dieselben sind in Kürze folgende:
1. Erich L., 9 Monate alt. Plötzliche' Erkrankung. Fieber und An-
schwellung der rechten Schultergelenksgegend. Nach 2 Tagen Aufnahme in
die Klinik. Function ergiebt dünnflüssigen Eitor, der Kapseid iplokokken ent-
hfält (nach Cultur und Mäuseimpfung den Pneumococcus F ranke 1 -Weichsel-
ba um).
Incision des Gelenkes ergiebt zuerst paraarticularen dünnen Eiter, dann
in der Gelenkhöhle schleimige, eitrige Massen. Tamponnade. Heilung mit
guter Function, welche auch jetzt nach 2 Jahren constatirt wurde.
2. Anna K., 10 Mon. alt. Vor 4 Wochen Lungenentzündung, welche
in 2 Wochen unter hohem Fieber verlief. Dann bemerkte man bei erneutem
Fieberanstieg eine Anschwellung der Hüftgegend des in Beugestellung ge-
haltenen linken Beinchens, dessen Bewegungen äusserst schmerzhaft waren.
Aufnahme in die Klinik am 10. Tage nach dem Auftreten der Gelenk-
entzündung. Temperatur 39,0®. Sofort Spaltung eines grossen Abscesses
der vorher zur Culturanlage punktirt war, oberhalb des Trochanter maior.
Knochen, d. h. Trochanter und Becken im Bereiche des Abscesses
nirgends rauh, aus einer Kapselperforation quillt Eiter aus dem
*) Arsdale und Koplik, Streptoc. Osteomyelitis in childrcn. Americ.
Journal. April 1892.
902 Dr. E. Lex er,
Hüftgelenk. Spaltung der Kapsel. Tamponnade. Abfall der Temperatur.
Nach 3 Wochen Heilung der Wunde.
Die Untersuchung nach 2 Jahren ergiebt eine massige Beschränkung der
Flexion und Abduction, ferner eine Verbreiterung des Trochant^rs, dessen
Spitze die Roser-N^laton'sche Linie überragt, und eine entsprechende, 2 cm
betragende Verkürzung des Beines. Nach dem Aktinogramm ist es wie nach
dem Befunde wahrscheinlich, dass die Veränderungen durch eine Epiphysen-
lösung hervorgerufen sind, die wohl bald nach der Operation eingetreten war,
3. Richard K., ly^ Jahre alt. Seit 3 Tagen soll bei dem sehr kraftigen
Jungen eine äusserst schmerzhafte Anschwellung des linken Armes, besonders
in der Gegend des Ellenbogengelenkes aufgetreten sein. Ausser unbedeutendem
Husten war das Kind vorher gesund und ist ganz plötzlich mit Frost und
Fieber erkrankt.
Temperatur 39,0°. Beträchtliche diffuse Schwellung der EUenbogen-
gegend mit leicht gerötheter Haut über dem Olecranon, an dessen radialer
Seite sich die Kapsel verwölbt und Fluctuation vorhanden ist. Function er-
giebt dünnflüssigen Eiter, in welchem mikroskopisch vereinzelte Streptokokken
zu sehen sind. (2 weisse Mäuse, 0,3 subcutan, starben in 24 und 48 Stunden
mit Streptokokken im Herzblut). Die Ausdehnung der Anschwellung nament-
lich auf das untere Drittel des Humerus machen eine acute Osteomyelitis
humeri wahrscheinlich. Sofort nach Function Incision am radialen Rande
dos Olecranon. Die Weichtheile enthalten reichlich Oedemflüssigkeit, aber
keinen Eiter. Erst nach EröfTnung des Gelenkes entleerte sich dünnflüssiger
citriger Erguss mit dicken, rahmigen Eiterflocken. Die Synovialis ist stark
gcröthet. Tamponnade. Fixation.
Nach 2 Tagen fieberfrei. Am 6. Tage gute Granulationen, vollkommenes
Schwinden der Entzündungserscheinungen, keine eitrige Secretion aus der
Tiefe. Wunde nach 20 Tagen geschlossen. Nach 1 Y^ Jahren vollkommen freie
Beweglichkeit.
4. Minna L., 2 Jahre alt. Unter allgemeinen Störungen und Fieber trat
vor einigen Tagen eine Anschwellung der linken Kniegelenkgegend ein. Das
sehr kräftige Kind zeigt eine Temperatur von 40,0^, starke Schwellung des
Knies, deutlichen Gelenkerguss, geringe Röthung der Haut vor der Sehne des
Biceps und Adductor magnus. Function ergiebt sehr hellen, rahmigen Eiter
mit reichlichen Streptokokken im mikroskopischen Bilde, die auf dem Nähr-
boden als ReincuUuren wachsen.
Grosse Incisionen über beiden Condylen entleeren zuerst eine ausserhalb
des Gelenkes gelegene Eiteransammlung, dann eine Menge Eiter ans dem
Kniegelenke selbst. Lockere Tamponnade der Gelenkwunden; Abfall der
Temperatur unter 38®: geheilt nach 4 Wochen entlassen. Nach Yg J^h^e
Flexion im Kniegelenk ohne Beschwerden bis über den rechten Winkel
möglich.
5. Fritz Seh. IY2 «^ahr alt. Kurz vor Weihnachten fieberhafter Lungen-
kaiarrh, dann 3 Wochen vollkommen gesund. Plötzlich Schmerzen im rechten
Knie, so dass das Kind nicht mehr laufen will und das Bein flectirt hält.
Zur Kenntniss der Streptokokken- und Pneumokokken-Osteomyelitis. 903
Unter Fieber tritt Anschwellung der Kniegelenkgegend auf. 2 Tage später ist
der linke Handrücken angeschwollen und schmerzhaft.
Das Kind ist nicht sehr kräftig und hat die Erscheinungen leichter
Rachitis. Temperatur 39,3^. Massiger Erguss im rechten Kniegelenk, Gegend
des linken Handgelenkes ödematös und sehr schmerzhaft.
Bei der Function des Kniegelenkes wird leicht getrübte, seröse Flüssigkeit
aspirirt, aus welcher der Streptococcus pyog. wächst. (0,2 einer 24 stündigen
Bouilloncnltur subcutan eingespritzt tödtct eine weisse Maus in 48 Stunden,
Streptokokken im Herzblut). Function des Handgelenkes negativ. Da aus dem
Kniegelenk eine genügende Menge, 10,0 bis 15,0 entleert ist, wird wegen der
serösen Beschaffenheit dos Exsudates zunächst die Wirkung der fixirenden
Verbände an Arm und Bein mit Suspension abgewartet. Die Temperatur sinkt
in der That in den nächsten Tagen stetig (39. 38,5. 38. 38. 37,7. 37,5.
37,1.), so dass die beiden Verbände erst nach einer Woche gewechselt werden ;
hierbei Hess sich schon eine deutliche Abnahme der Schwellung der erkrankten
Gelenke nachweisen.
Unter weiteren fixirenden Verbänden Heilung nach 7 Wochen.
Jetziger Befund: vollständig normale Beweglichkeit der erkrankten
Gelenke.
Aus dem Verlaufe dieser wenigen Fälle ist ersichtlich, dass die
Eröffnung der Gelenke möglichst früh nach dem acuten Auftreten
der Entzündung, auch bei schon ausgedehnter paraarticulärer Phles:-
mone noch eine schnelle Besserung des allgemeinen Zustandes und
einen Stillstand und Rückgang der Entzündung zur Folge haben
kann. Lag schon in dem früher veröffentlichten Falle Gertrud B. mit
positivem Blutbefund vor der Incision ein Beweis dafür, dass die
Streptokokkeninfection auch bei Kindern nicht immer die schwersten
Formen annimmt, wie dies Canon vermuthete, so sieht man aus
obigen Fallen, was die locale Wirkung der Infection betrifft, dass
die Streptokokkensynovitis schnell und ohne Schädigung des Gelenkes
verlaufen kann, sobald rechtzeiti,ii- für den Abfluss gesorgt wird. Im
Fall 5, wo ein für Mäuse sehr virulenter Streptococcus nur eine
seröse Entzündung verursacht hatte, ist lediglich durch eine theilweise
Aspiration des Exsudates und HuhigsteUung des Kniegelenks ein
stetiger Abfall der Temperatur und Heilung eingetreten, eine Be-
stätigung der schon von F. Krause erwähnten Beobachtung, dass
in seltenen Fällen auch eine Heilung ohne Aufbruch durch Re-
sorption erfolgen kann. Der schliessliche Ausgang der eiterigen
Entzündung nach frühzeitiger Incision stimmt mit dem überein,
was F. Krause darüber sagte: „In der Mehrzahl der Fälle tritt
904 Dr. E. Lexcr,
Heilung ohne Ankylose, mit nur geringer oder selbst ga.i\z ohne
Beschränkung der Beweglichkeit ein." Selbstverständlich hängt
vor Allem eine spätere, gute Function davon ab, dass man beim
Vorhandensein von Eiter mit der lüröflnung der Gelenkhöhle nicht
wartet, bis der Knorpel oder Knochen secundär ergriffen ist. Der
meist gutartige Verlauf der Gelenkeiterung durch Streptokokken
gegenüber der durch Staphylokokken bedingten berechtigt Klemm
zu dem Schluss, dass der „Streptococcus keine tiefgreifenden,
parenchymatösen Zerstörungen der Synovialis verursacht, während
sich die staphylomykotische Eiterung gerade durch Einschmelzung
des besiedelten Bodens auszeichnet."
Bezüglich der Actiologie ist hervorzuheben, dass sich die
Gelenkentzündungen ebenso wie unsere Streptokokkeneiterungen
am Knochen ohne vorausgegangene Infectionskrankheiten entwickelt
haben, in deren Gefolge besonders nach Scharlach die Gelenk-
affection nicht gerade selten auftritt^). Nur in Fall 3 der zweiten
Gruppe ging der Schultergelenkschwellung ein über den Körper
wandernder Ausschlag unbekannter Natur unmittelbar vorher.
In wenigen unserer Fälle ist ein Anhaltspunkt für den Infections-
modus vorhanden. Ein fieberhafter Lungenkatarrh ging dreimal der
Gelenkerkrankung, zweimal einem primären Knochenherde voraus
(Gruppe II, Fall 1 und 2). Im Falle 2 spielte vielleicht auch
die entzündete Rachenschleimhaut eine Rolle, bei Robert P. II. 5.
fanden sich Strej)tokokken in kleinen Abscessen der Tonsille.
Eine schwere Osteomyelitis (1. 2.) schloss sich klinisch an eine
Infcction der Impfpusteln, welche einen lymphangitischen Abcess
in der Achselhöhle verursacht hatte.
Den günstigsten Verlauf von sänimtlichen Formen der Strepto-
kokkeninfoction zeigten demnach die Gelenkeiterungen ohne Be-
fallensoin des anliegenden Knochens. Bei den Fällen mit primärer
l^ooalisation im Knochen kam fast nur bei den kräftigen Kindern
eine Heilung zu Stande, während 2 kleine schwächliche Patienten die
Erkrankung nicht überstanden. Ein Zusammentreffen mit Rachitis
ist nur 2 Mal, auch einmal bei einer Pneumokokkeninfection beob-
^) Eine Zusammenstellung der secundären Gelenkeiterungcn durch Strepto-
kol(ken findet sich bei Mauclaire, Des Arthrites suppurees dans les princi-
pales maladies infccticuses. Paris 1895. pag. 106. Pyarthroses a strepto-
coqiies.
Zur Kenntniss der Streptokokken- und rnouniokokkcn-()steon»yelitis. 905
achtet worden. Den schwersten Verlauf zeigen die Fälle von
Knochenniarkeiterung. Ein Kind erlag der Allgenieininfection, der
Fall mit der albuminösen Osteomyelitisform ging durch Darrakatarrh
zu Grunde, während der Geheilte ausgedehnte Processe an den
befallenen Knochen aufwies. Demnach steht die Streptokokken-
Osteomyelitis der Staphylokokkenform an Schwere der localen wie
allgemeinen Erkrankung keineswegs nach.
Schon Lannelongue suchte aus seinen wenigen Fällen Unter-
schiede beider Infections formen der Osteomyelitis herauszufinden.
Wenn mir früher bezüglich der pathologischen Veränderungen am
Knochensystem eine Uebereinstimmung schon deshalb nicht zu be-
stehen schien, weil die eigentliche Markeiterung bei derStreptokokken-
form ganz zurücksteht, so kann man nach den jetzigen Erfahrungen
wohl sagen, dass dieselbe sich dem gewöhnlichen Bilde der
Staphylokokken-Osteomyelitis mit seinen Abarten und
Folgen immer mehr zu nähern scheint, je mehr von dieser
seltenen Form bekannt wird. Denn das pathologische Bild der
von Streptokokken hervorgerufenen Osteomyelitis ist soweit bis
jetzt bekannt, schon sehr mannigfaltig. Wir sehen das Auftreten des
Eiterherdes in der Diaphysenspongiosa an der Knorpelfuge, also an
ganz typischer Stelle, mit Durchbruch nach aussen extra- und intra-
capsulär, durch die Knorpelfuge und durch die Epiphyse ins Ge-
lenk. Es fand sich ferner die totale Eiterung des Knochenmarkes
mit abgelöstem Periost, beginnende totale Sequestration der Dia-
physe, Epiphysenlösung^), corticale und subperiostale Eiterung^),
Erkrankung eines platten Knochens (Darmbeinschaufel 3), und von
mehr chronischen Erscheinungsformen zeigt der angeführte Fall
von Kocher eine umschriebene periostale Knochenwucherung im
1) s. Fall 2 Gertrud S. unserer 1. Gruppe. Ferner Epiphyseulösung
auch bei Kocher, Ghipault.
2) K. Müller, Fischer und Levy, Klemm. Dieser 2. Fall Klemm's
ist durch die tiefgreifende Zerstörung der Corticalis bemerkenswerth,
von der sich später zwei 6 cm lange, fast den halben Umfang des Knochens
betragende Sequester abstiessen. Es war bei dem 7 jähr. Mädchen, das
6 Wochen vorher Scharlach durchgemacht hatte, unter Schüttelfrost und Fieber
eine Anschwellung am Oberarm und an der Schulter aufgetreten. Es fand sich
eine grosse Abscesshöhle mit dünnflüssigem Eiter, der das obere Humerus-
drittcl umspülte. Da dasselbe vom Periost entblösst war, wurde es aufge-
meisselt, doch fand sich das Knochenmark nicht vereitert. Das Gelenk blieb
intact. Nach mehreren Wochen kam es zur erwähnten Sequestration.
8) Sammlung klin. Vorträge. 173.
906 Dr. K. Lex er,
iinteron Fcniurdritlol, während Lanz oincn lan«;c bestehenden
Knochciiabscess in der Tibia eines Kindes aufmcissclte. Die albu-
niinöse, oben beschriebene Formbeschliesst die Reihe.
AVenn somit das mannigfache Bild der Veränderung am Knochen-
system dem der Staphylokokken-Form sehr nahe kommt, so ist
auch, wie ich schon betonte, im klinischen Bilde kein greifbarer
Unterschied zu bemerken, nur der meist dünnflüssige und
hellgefärbte Eiter kann manchmal den Verdacht auf eine
Streptokokken-Eiterung nahe legen, auf welchen Punkt ich schon
in der früheren Arbeit aufmerksam gemacht habe. Ein ähnliches
Aussehen des Eiters wird auch von Klemm angegeben.
Sehen wir unter den ausführlich publicirten Fällen von solchen
mit Entzündungen der Knochenoberfläche und des Periostes ab,
welche Fälle (von Fischer und Levy, und K. Müller) im Alter
von 14, 24 und 33 Jahren standen, so gehören die übrigen be-
kannten Erkrankungen nur dem jugendlichen Alter an, und von
diesem scheint wieder das Kindesalter ganz besonders be-
vorzugt zu sein, wie auch unsere sämmtlichen Fälle nicht
über das 9. Lebensjahr hinausgehen.
Betreffs diagnostischer Schwierigkeiten bei den Gelenkentzün-
dungen möchte ich nur bemerken, dass ohne bakterioskopischc Unter-
suchung eine Verwechselung mit anderen acut entstandenen Ge-
Icnkergüssen (bei syphilitischer und gonorrhoischer Infection) und
der von Rovsing^) beschriebenen acuten tuberculösen Gelenkeite-
rung möglich ist. Besonders dann beruht die Diagnose lediglich
auf dem bakteriologischen Befunde, wenn, wie in Fall 5 der dritten
Gruppe, eine seröse Synovitis besteht, die nach Punction und unter
fixirenden Verbänden zurückgeht. Ob die Arthritis einem kleinen,
durchgebrochenen Knochenherde ihre Entstehung verdankt, kann
naiürlich erst nach Eröffnung des Gelenkes erkannt werden.
Dio Osteomyelitis durch Pneumokokken wird noch viel
seltener beobachtet, wie die Streptokokken-Erkrankung des Kno-
chens. Schon die Verwandtschaft beider Mikroben-Arten bringt
diese Osieomyelitisform in nahoste Beziehung zu den vorigen.
Die kleine Casuistik^) ist neuerdings durch zwei Fälle ver-
mehrt worden.
1) Rovsing, lieber tubcrculösc Arthritis und Ostitis im frühesten
Kindcsalter. Archiv für klin. Chirurgie. Bd. 53.
2) Sammlung klin. Vorträge. 173. S. 685.
Zur Kenntniss der Stieptokokkon- und Pncumok()kkcn-().steomyelitis. 907
Bei einem 11 monatlichen Kinde trat nach einer Mittheilunp: von
Perutz^) im Anschlüsse an eine katarrhalische Pneumonie unter
erneutem Fieberanstieg eine Entzündung des Schultergelenkes auf. Es fand
sich eine reichliche paraarticuläre Eiteransammlung, eine theilweise Zer-
störung der Gelenkkapsel und eine vollkommene Lösung der im
Inneren zerfallenen Epiphyse. Nach Entfernung der letzteren und eines
kleinen Stuckes der Diaphyse erholte sich das Kind schnell und die Wunde
heilte mit guter, aber nur bis zur Horizontalen möglichen Beweglichkeit des
Armes in der Schulter.
Ueber einen anderen 12 Jahre alten Fall berichtete jungst Blecher aus
der Helfer ich'schen Klinik 2). Unter Schüttelfrost und hohem Fieber ent-
standen bei dem kräftigen Knaben die Erscheinungen einer Kniegelenk-
entzündung. Durch Incisionen an der Aussen- und Innenseite des Knies
findet man einen subperiostalen x\bscess und entdeckt an der letzteren
eine längliche Periostöffnung,. am Knochen jedoch nichts. Im Gelenk ist
reichlich dünnflüssiger Eiter. Die Heilung trat mit stark beschränkter Be-
weglichkeit nach 8 Wochen ein.
Bezüglich der Aetiologie seines Falles stellte Blech er die
interessante Thatsache fest, dass in dem eitrigen Ohrausfluss, der
kurz vor der Erkrankung aufgetreten war, ebenfalls Pneumokokken
wie in den Abscessen vorhanden waren. Mit Recht vennuthet
Biecher als gemeinsamen Ausgangspunkt für Periost- und Gelcnk-
eiterung, auch als Erklärung der langanhaltenden Fieberperiode,
das Vorhandensein eines Knochenherdes, der nach unserer Erfah-
rung wohl an der Knorpelfuge seinen Sitz haben dürfte.
Meine Beobachtungen erstrecken sich auf 2 weitere Fälle:
1. Marie L., 1 Jahr alt. Seit 9 Wochen wegen fieberhafter Broncho-
pneumonie in einer Kinder-Klinik. Vor 3 Tagen bemerkt die Mutter eine An-
schwellung des linken Kniegelenks, das bei Berührung schmerzhaft ist.
Bei der Aufnahme in die Klinik hat das schwächliche Kind eine Abend-
temperatur von 39; das linke Kniegelenk enthält einen grossen Erguss, von
dem durch Function etwa 15,0 seröser, leicht getrübter Flüssigkeit entleert
wird. (Mikroskopisch massenhaft Eiterkörperchen, vereinzelt Diplokokken.
Impfung auf Agar ergiebt in 24 Stunden feine, punktförmige Culturen, die
nach Gram färbbare Diplokokken enthalten. Intravenöse Impfung von Kanin-
chen mit einer Culturaufschwemmung erzielt eine nach 24 Stunden tödtliche
Allgemeininfection; Herzblut und Organe enthalten mikroskopisch massenhaft
Diplokokken mit Kapseln).
Zunächst wird, da kein eitriger Erguss vorhanden ist, ein Fixations-
^) Perutz, Münchener med. Wochenschrift. 1898, No. 3.
2) Blecher, Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. 1898, B. 48.
908 Dr. K. Lex er,
verband mit Suspension anj^elegt, wodurch in den nächsten Tagen ein sicti^^er
Abfall der Temperatur erzielt wird. Nach 2 Wochen ist der Hydrops f<uit voll-
kommen zurückgegangen, das Kind hat sich bei normalen Temperaturen sehr
erholt. 2 Tage, nachdem wieder ein fixirender Verband angelegt war, tritt
plötzlich Verschlechterung des Allgemeinbefindens und Fieber ein. Nach Ab-
nahme des Verbandes zeigt sich die untere Femurepiphyse gelöst, ohne
gleichzeitige erhebliche Anschwellung der Gelenkgegend und Zunahme des
Gelenkergusses. Ueber dem Trochanter major, dessen Umgebung stark an-
geschwollen ist, fühlt man Fluctuation. Bei der Incision des Abscesses ent-
leert sich dünner Eiter, der culturell den nämlichen Mikroorganismus be-
herbergt, wie das Gelenkexsudat. Der obere Femurabschnitt und die Gegend
des Hüftgelenks sind vom Eiter umspült, doch ist nirgends eine Läsion der
Gelenkkapsel oder des Periostes nachweisbar. Am wahrscheinlichsten ist ein
Durchbruch aus dem Hüftgelenk, dessen Erkrankung bisher verborgen blieb.
Unter weiteren fixirenden Verbänden geht der Kniegel enkerguss vollkommen
zurück, während an der Stelle der Epiphysenlösung Consolidation eintritt and
die grosse Wunde sich allmählich durch Granulationen schliesst.
Geheilt entlassen nach 6 Wochen. Ein Vierteljahr später ist das Bein in
Knie- und Hüftgelenk gut beweglich, an der Stelle der Epiphysenlösung ist
das Femur etwas verdickt.
2. Margaretha K. 2Y4 «^ahr alt. Vor Y2 ''^'^^ soll Ohrenfluss einige
Wochen lang bestanden haben. Vor 4 Tagen trat plötzlich hohes Fieber auf,
dem sich eine sehr schmerzhafte Anschwellung der rechten Fussgelenkgegend
anschloss. Bei der Aufnahme zeigt das ziemlich schwächliche Kind , das mit
sehr starken rachitischen Verdickungen sämmtlicher Epiphysen behaftet ist, eine
erhebliche Anschwellung der Fussgelenkgegend, die sich einerseits bis zum
Mittelfuss, andererseits bis zum mittleren Drittel des Unterschenkels erstreckt.
Hinter beiden Malleolen gespannte, geröthete Haut mit Fluctuation. Die
Punktion ergiebt dünnflüssigen, nicht flockigen Eiter, in welchem mikrosko-
pisch einige Diplokokken mit Kapseln nachgewiesen werden konnten. (0,2 des
Eiters subcutan tödtet eine weisse Maus in 48 Stunden. Nach 24 Stunden ent-
hält ein Tropfen Blut aus dem amputirten Schwanzstück schon massenhaft Diplo-
kokken mit deutlichen Kapseln. Kaninchen erliegen in 1 Tag der Allgemein-
in fection nach intravenöser Injection einer Bouilloncultur).
Unter Blutleere wird die Phlegmone durch 2 grosse über beide Malleolen
hinweggehende Incisionen gespalten. Im Subcutangewebe erstreckt sich die
Eiterung bis zur Mitte des Unterschenkels an dessen Vorderseite und bis zur
Mitte des Fussrückens. Seitlich und hinten wird das Fussgelenk von einer sehr
reichlichen Eiteransammlung umgeben, nach deren Entfernung zu sehen ist,
dass an der medialen Seite die Gelenkkapsel zerstört ist. Auch an der Aussen-
seite quillt bei Bewegungen desFusses aus einer Kaspelperforation Eiter aus dem
Gelenke. Die Kapsel wird hier geötYnet und zum besseren Abfluss des Gelenk-
citers kleine Theile der noch knorpeligen Epiphysen abgetragen. Dabei wird im
inneren Knöchel ein kleiner Eiterherd aufgedeckt, der dem zerfallenen
Knochenkern der Flpiphyse entspricht. Die Vermntung, dass dieser Herd erst
Zur Kenntniss der Slreplokokken- und Pneumokokken-Osteomyelitis. 909
secundär nach Perforation der Knorpelfuge entstanden ist, wird an einem sehr
schönen Präparate bestätif^t, das durch Ausschneiden eines schmalen Längs-
kciles aus der Gegend der Wachsthumszone erhalten wird. Die Letztere, rachi-
tisch gewuchert, zeigt an der Diaphysenseite verschiedene kleine Eiterherde von
denen aus ein mit Granulationen gefüllter Gang durch die Epiphysenfuge hin-
durch geht.
Die Wunden werden locker tamponnirt, später drainirt. Die Temperatur
fällt sofort zur Norm. Das Kind ist noch in Behandlung, da erst 2 Wochen
nach der Operation verflossen sind.
Während dieser 2. Fall vollkommene Aehnlichkeit mit den
durch Perforation eines Knochenherdes entstandenen Gelenkentzün-
dungen durch Streptokokken hat, ist der erste Fall durch das
Zurückgehen der serösen Synovitis nach Ruhigstellung des Ge-
lenkes und durch die Lösung der unteren Femurepiphyse inter-
essant, die durch eine nichteitrige Entzündung entstanden war und
ohne Eröffnung der Exsudatansamralung in Heilung überging. Es
ist noch zu. bemerken, dass diese Epiphyseolysis im Fixationsver-
band zu Stande kam und jegliches Trauma ausgeschlossen ist. Der
Verlauf dieser Fälle entspricht den Beobachtungen Lannelongue's,
welcher die Pneumokokkenform der Osteomyelitis deshalb für die
günstigste ansieht, weil sich sehr schnell am Knochen Reparations-
vorgänge geltend machen und die ?]iterungen in den Weichtheilen
nach der Spaltung keinen progredienten Charakter zeigen.
Was das Alter der Patienten und die Aetiologie der Erkran-
kung betrifft, so sehen wir im Allgemeinen ebenso wie bei der
Streptokokkeninfection das kindliche Alter bevorzugt, wahrschein-
lich wohl deshalb, weil hier häufig, z. B. durch Affectionen der
Jjunge, eine Gelegenheit zur Infection gegeben ist. Blech er macht
im Anschluss an die gelungene Untersuchung in seinem Falle auch
auf die ätiologische Bedeutung der Mittelohreiterung aufmerksam.
Nach den bisherigen Beobachtungen gehen die pathologischen
Veränderungen am Knochensystem nicht über kleine Eiterherde
hinaus, welche zumeist an der Knorpelfuge ihren Sitz haben und
auf irgend einem Wege zu Gelenkcomplicationen führen. Die von
mir mitgetheilten Knochenmarkherde bei einem an AUgemeininfec-
tion gestorbenen Falle ^) und die Epiphysenlösung in dem eben be-
schriebenen sind Seltenheiten der noch wenig bekannten Erkran-
1) Sammlung klin. Vorträge 173. Fig. 2, S. 682.
Archiv nir klin. Chirurgie. 57. Bd. Heft 4. gQ
DIO Dr. E. Lexcr, Zur Kenntniss der Strcplokoklien-Osteoniyelitis etc.
kung. Die Eiterung in den Weichtheilen dagegen, die paraarticu-
läre und die periostale Phlegmone nehmen ebenso häufig wie bei
der Streptokokkeninfection eine bedeutend grössere Intensität und
Ausdehnung an, als die Veränderungen am Knochen, demzufolge
auch nur einmal, in dem Falle von Ullmann, eine Sequester-
bildung zu Stande kam.
Für eine gesonderte Stellung der Pneumokokken-Osteomyelitis,
die Klemm „von dem Gros der eitrigen Knochenerkrankungen''
getrennt wünscht, möchte ich nicht eintreten, da sich die Pneumo-
kokken-Entzündung am Knochensystem nach ihrer klinischen und
pathologischen Erscheinung der durch Streptokokken hervorgerufe-
nen eng anschliesst und noch viel zu wenig über diese seltene
Fonn bekannt ist.
LXIII.
Die Verbreitung der Krebserkrankung, die
Häufigkeit ihres Vorkommens an den ein-
zelnen Körpertheilen und ihrer chirurgischen
Behandlung.
Von
Ur. Qeors HelmAnn,
Arzt in Berlin.
Die eigentliche Ursache der Krebserkrankung ist bisher noch
nicht in befriedigender Weise klar gestellt worden ; zwar hat es bei
der herrschenden Strömung in der Medicin nicht an vielfachen Ver-
suchen gefehlt, den Nachweis der Einwirkung eines organisirtcn
Giftes, sei es bacterieller oder protozoischer Natur, zu führen, allein
diese Bestrebungen waren bisher ohne Erfolg. Eine Anzahl Patho-
logen neigt allerdings einer derartigen Annahme zu, viele von
ihnen jedoch können sich einer gewissen Zurückhaltung in dieser
Beziehung nicht erwehren und theilen den Stundpunkt Virchow's^),
der zwar die Möglichkeit eines Krebsbacillus nicht einfach zurück-
weist, ja zugesteht, dass mit dem Auffinden eines spccifischen Ba-
cillus ein wichtiger Fortschritt in der Diagnose und Prognose des
Carcinoms gemacht werden würde, aber doch folgende Ansicht
äussert: „Der Versuch, alle Erscheinungen der Krebs Wucherung bis
zur Üissemination und Metastase auf die Verbreitung der Krebs-
0 Zur Diagnose und Prognose des Carcinoms, Archiv f. pathol. Anatomie,
1888, Bd. 111, S. 18. Eine sehr eingehende Zusammenstellung der Literatur
über Entstehung und Entwickelung dieser Geschwülste, Vorkommen an deu
verschiedenen Organen, operative Behandlung u. s.w. veröffentlichte Ben ecke
1892 in Schmidt's Jahrbüchern, Bd. 234; eine kürzere Uebcrsicht Berger
in seinem Aufsatze „Trauma und Carcinom", Vierteljcihrsschr. f gerichtl. Medi-
cin, Bd. 14, 1897.
60*
1)12 Dr. G. Hoimunn,
zollen zurück/uführeii, ist keineswegs durch anatomische und cxpori-
meiitelle Feststellungen so sicher unterstützt, dass für einen anderen
^lodus der Erklärung kein Raum übrig blieb. Ungeachtet ist aber
auch das Bedürfniss nach einem Krebsbacillus kein so grosses, dass
wir ohne denselben jeder Möglichkeit eines Verständnisses beraubt
sein würden. Thierische und menschliche Zellen besitzen ebenso
gut wie Bacterien die Fähigkeit, auf den Stoffwechsel bestimmend
einzuwirken und wirkungsfähige Sekretstoffe der verschiedensten Art
zu erzeugen. Warum sollten wir diese Fähigkeit gerade den Krebs-
zellen bestreiten, welche in vielen und gerade den schlimmsten
Fällen in so ausgeprägtem Maasse den Habitus von Drusenzellen
an sich tragen?"
Ist es so den biologischen Forschungsmethoden zur Zeit noch
nicht gelungen, die Entstehungs weise der Krankheit zu ergründen,
so sind doch durch klinische Beobachtungen gewisse Einflüsse,
welche eine Disposition dazu schaffen, gewisse Gelegenheitsmomente,
welche dabei von Bedeutung sind, festgestellt^). Dass chemische
und mechanische Reizungen hier eine Rolle spielen, kann keinem
Zweifel unterliegen; ebenso ist es zweifellos, dass jüngere Personen
nur ausnahmsweise von Krebs befallen werden, endlich haben lang-
jährige Erfahrungen gelehrt, dass die verschiedenen Organe des
Körpers — und zwar wieder in durchaus verschiedener Weise — bei
den beiden Geschlechtern in ganz ungleichem Maasse karcinomatös er-
kranken. In Bezug auf diese Punkte habe ich das Zählkartenmaterial
des Königlich Preussischen Statistischen Bureaus, welches aus den all-
gemeinen Heilanstalten Preussens für die Jahre 1895 und 1896 dort
eingegangen ist, einer Durchsicht unterzogen. Gerade bei dieser
Krankheit, deren Erkenntniss nicht selten auf Schwierigkeiten stösst,
dürfte die Krankenhausstatistik wegen ihrer Zuverlässigkeit von
besonderer Bedeutung sein, zumal wenn eine so erhebliche Zahl
von Fällen (übei' 20000) zu Gebote steht. Ich erfülle eine ange-
^) In dem Regulativ über das bei ansteckenden Krankheiten zu beobach-
tende Verfahren vom 8. 8. 1835, das noch jetzt in Preussen Geltung hat, wurde
der Krebs zu diesen Krankheiten gerechnet; in § 90 wurde bestimmt, dass bei
bösartigem Kopfgrind, Krebs, Gicht, die mit den Absonderungen der Kranken
in unmittelbarer Berührung gekommenen Kleidungsstücke und sonstigen Effecten
vorschriftsmässig gereinigt bezw. vernichtet werden sollen. Die Anordnung
liegt den Aerzten der Kranken, die Kontrolle der getroffenen Maassregeln der
Polizeibehörde ob. Thatsächlich findet eine strenge Durchführung dieser Be-
stimmung nicht statt.
Die Verbreitung der Krebserkrankung u. s. w. 913
nehrae Pflicht, wenn ich dcni Direktor des Königlichen Preiissisclien
Statistischen Bureaus, Herrn Geheimen Oberregierungsrath Blenck
sowie dem Leiter der Mcdicinalabtheilung des Bureaus, Herrn Ge-
heimen Medicinalrath Guttstadt, meinen aufrichtigen Dank für
die üeberlassung dieses werthvollen Materiales ausspreche.
Für die vorhergehenden Jahre enthalten die Veröffentlichungen
des Bureaus nur Nachrichten über die Gesammtheit der bösartigen
Geschwülste, wozu ausser Carcinomen auch Sarcome, Lupus u. s. w.
gerechnet sind. Das Verhältniss, in dem diese Geschwulstarten
während der beiden Berichtsjahre in den genannten Anstalten zur
Behandlung kamen, erhellt aus nachstehenden Zahlen. Es wurden
behandelt Fälle von:
bösartigen darunter: ^^^^^^
Geschwülsten überhaupt Carcinom Sarcom Lupus Neubildungen
189f) 13450 10036 1201 1193 1020
(100,0)0 (74,61) (8,93) (8,87) (7,59)
1896 14341 10508 1368 1278 1187
(100,0) (73,27) (9,54) (8,92) (8,27).
Also rund drei Viertel aller hierher gerechneten Fälle waren
solche von Krebs. Dies vorausgeschickt, erhellt die allmähliche Zu-
nahme derartiger Erkrankungen in den Heilanstalten Preussens,
wenn wir uns vergegenwärtigen, dass die Zahl der dort an bös-
artigen Neubildungen Behandelten seit dem Jahre 1877 von 2952
auf 6438 im Jahre 1883, auf 10907 im Jahre 1890 und auf 12548
im Jahre 1894 gestiegen ist; bis 1896 hat also eine mehr als
vierfache Vermehrung stattgefunden. Auch im Vergleiche zu der
Gesammtzahl aller in den Heilanstalten behandelten Krankheiten
war die Steigerung eine beträchtliche. Von je 100 aller Krankheits-
fälle betrafen bösartige Neubildungen
bei männlichen bei weiblichen
T^ zusammen
Personen
im Jahre 1887 0,8 2,6 1,4
„ „ 1880 1,0 3,2 1,7
„ „ 1883 1,1 3,6 2,0
„ Durchschnitte 1886-90 1,4 4,2 2,3
„ „ 1891—95 1,4 4,0 2,3
„ Jahre 1896 1,5 4,2 2,4.
') Die in Klammern gesetzten fetten Zahlen machen ersichtlich, wie viel
vom Hundert der bösartigen Neubildungen insgesammt auf die einzelnen Ge-
schwulstarten entfallen.
914
Dr. G. Hoimann,
Die Fälle von bösartigen Nenbildnngen in den allgvMeiw
nach Regiemcf
!
Zahl d
Tab. I.
1895
Regierun i?s-
überhaupt
davon an
bezirke.
bei Personen
Carcino
m
Sarcom
Lupus
anderen
NeubildoDgea
m.
w.
zus.
m.
w.
zus.
m.
w.
zus.
m.
w.
zus.
1
m. w. zus.
•
Königsberg .
. 233
355
588
164
238
402
39
44
83
6
19
25
24
54
TS
Gumbinnen .
44
37
81
36
26
62
4
6
10
3
4
7
1
1
i
Danzig . . .
. 138
189
327
114
154
268
15
22
37
2
6
8
•
7
U
Marie nwerdcr
69
80
149
55
67
122
4
l
5
7
11
18
3 1
4
Berlin ....
. 980
1669
26411
765
1350
2115
104
110
214
23
51
74
88; 158
m
Poisdam . .
. 78
128
206
64
112
176
8
3
11
2
4
6
4
9
IS
Frankfurt. .
78
100
178
.54
87
141
13
4
17
7
2
9
4
7
u
Stettin . . .
135
174
309
100
139
239
21
17
38
7
14
21
7
4
11
Köslin . . .
29
32
61
24
24
48
4
2
6
1
5
6
—
1
1
Stralsund . .
. 119
142
261
79
104
183
14
11
25
5
17
22
21
10
31
}*osen ....
. 113
141
254
74
111
185
14
15
29
14
7
21
11
8
IS
Bromberg. .
31
42
73
29
34
63
1
3
4
4
4
1
1
i
Breslau . . .
. 490
831
1321
347
643
990
46
54
100
31
64
95
66
70
13«
liiegnitz . .
117
209
326
93
171
264
14
16
30
2
8
10
8; 14
n
Oppeln . . .
. 114
120
234
100
96
196
2
4
6
11
6
17
1
14
IS
Magdeburg ,
. 171
273
444
131
225
356
16
14
30
13
22
85
11
12
n
Merseburg .
. 165
266
431
118
203
321
22
21
43
12
14
26
13
28
41
Erfurt. . . .
32
67
99
27
56
83
2
5
7
2
4
6
1
2
l
Schleswig . .
. 254
377
631
172
264
436
38
34
72
22
52
74
22
27
49
Hannover . .
104
157
261
78
122
200
9
12
21
7
15
22
10
8
n
Hildesheim .
. 177
239
416
111
151
262
20
25
45
15
34
49
81
29
GU
Lüneburg . . .
26
50
76
25
44
69
1
1
2
2
2
3 S
Stade
9
21
30
9
16
25
—
4
4
—
1 I
Osnabrück . .
52
48
100
32
36
68
8
1
9
9
9
18
3
2
l
Aurich ....
25
55
80
19
28
47
1
4
5
3
22
25
2
1
1
Münster . . .
96
123
219
70
81
151
18
12
30
6
27
33
2
3
S
Minden ....
34
57
91
20
36
56
3
6
9
9
11
20
2
4
1
Arnsberg . . .
200
243
443
147
152
299
10
15
25
39
67
106
4
9;
Kassel ....
153
227
380
96
151
247
19
23
42
24
42
66
•
14
1 .
11
Wiesbaden . .
173
274
447
131
202
333
22
25
47
17
33
50
3
14 1
Koblenz . . .
74
86
160
56
62
118
6
5
11
12
16
28
8
Düsseldorf . .
363
514
877
241
373
614
40
34
74
64
82
146
18
25
Köln
375
417
792
257
287
544
46
37
83
39
53
92
33
40i }
Trier
86
83
169
59
61
120
6
5
11
16
11
27
5
6 1
Aachen ....
124
140
264
100
117
217
9
0
14
8
13
21
7
5 I
Sigraaringen .
6
17
23
5
11
16
2
2
—
4
4
1
1 ^
Zusammen . .
5467
7983
13450
4002
1
6034 !
10036
599
602
1201
438
755
1193
428
592 'lOl
davon gestor-
]|
ben
1654
1772
1
3426
1439
1577
1
3016
129
09
1
228
6
11
*
17
80
85
^
Die Verbreitung der Krebserkrankung u. s. w.
915
Heilanstalten Preassens während der Jabre 1895 und 1896,
bezirken.
Fälle
1896
u
berhaupt
Personen
davon an
bei
Carcinom
Sarcom
Lupus
anderen
Neubildungen
m.
w.
zus.
m.
Mr.
zus.
m.
w.
zus.
m.
w.
zus.
m.
w.
zus.
301
415
716
204
294
498
51
54
105
1
16
19
35
30
48
78
35
29
64
28
20
48
4
3
7
2
2
3
4
7
147
223
370
106
161
267
19
32
51
9
11
20
13
19
32
74
86
160
51
60
111
9
5
14
7
5
12
7
16
23
1017
1752
2769
793
1425
2218
111
112
223
36
63
99
77
152
229
110
159
269
93
121
214
6
8
14
5
6
11
6
24
30
75
117
192
28
68
91
11
8
19
3
2
5
33
44
77
121
219
340
78
156
234
31
21
52
1
7
8
11
35
46
38
40
78
26
27
53
5
4
9
5
7
12
2
2
4
129
176
305
101
127
228
21
18
39
3
14
17
4
17
21
100
139
239
70
112
182
11
9
20
16
17
33
3
1
4
37
30
67
31
25
56
3
3
6
2
2
4
1
1
502
853
1355
365
636
1001
49
64
113
33
77
110
55
76
131
108
196
304
90
173
263
9
14
23
1
7
8
8
2
10
105
151
256
81
,115
196
6
9
15
6
4
10
12
23
35
181
328
509
131
261
392
19
24
43
9
19
28
22
24
46
187
261
448
130
206
336
29
31
60
16
21
37
12
3
15
20
42
63
18
37
55
1
3
4
1
1
2
1
1
223
363
586
152
249
401
4t
37
78
15
40
55
15
37
52
110
196
306
81
146
227
12
22
34
9
15
24
8
13
21
164
268
432
113
163
276
19
23
42
14
55
69
18
27
45
31
45
76
27
38
65
3
1
4
1
1
2
—
5
5
12
23
85
9
19
28
2
3
5
—
1
1
2
54
77
131
40
48
88
6
5
11
8
23
31
1
1
37
50
87
29
23
52
4
4
8
3
23
26
1
—
l
107
162
269
72
106
178
16
8
24
11
36
47
8
12
20
55
94
149
36
69
105
10
9
19
7
13
20
2
3
5
223
334
557
151
213
364
22
20
42
43
84
127
7
17
24
153
242
395
109
156
265
12
24
36
16
48
64
16
14
30
197
278
475
137
213
350
28
25
53
28
35
63
4
5
9
61
101
162
47
69
116
2
9
11
6
13
19
6
10
16
376
507
883
262
363
625
40
31
71
49
68
117
25
45
70
427
390
817
289
283
572
48
19
67
53
51
104
37
37
74
72
102
174
54
81
135
6
3
9
7
16
23
5
2
7
132
159
291
89
111)
208
24
13
37
12
19
31
7
8
15
5
8
13
4
6
10
—
—
1
2
3
— —
5720
8615
14341
4125
6383
10508
690
678
1368
452
826
1278
459
728
1187
1751
1957
3708
1
1490
1683.
3173
157
135
1
292
4
12
1
16
100
127
227
Di« FiUle von Careinom in den fttlf;eH«iB«B ([«ilantitaltei PreDsg«n»i wührend
dfr Jahre IStm nnd 1896, nach Regieran^beiirken.
Tab. II.
Unter .je 100 behandelten Füllen n
aret,
solche von Carcinom
Regierungsbezirke.
1895 1 1896
bei Personen
m.
w.
zus.
m.
W. .US.
Tiüiiigsherg
1,6
3,4
2,3
1,8
4,1
2,7
(iumbinmMi
1.1
1.6
1,2
0,8
1,1
0,9
D.iiizig .
1,6
3,3
2,3
1.8
3,4
2,1
Marienwerdi'
1,0
2,9
1,6
0,9
2.6
1.4
Berlin . .
1,7
3,4
2,5
1,7
3,7
2,6
Potsdam .
0,5
2,2
1,0
0.7
2,2
1.1
rmnkfurt
0.7
3,8
1,4
0,4
2,6
0,9
Stettill
t,3
4,2
2,0
1,0
4,3
2,0
Koalin. ,
0.9
3.0
1.3
0,8
1,9
1.1
Stralsund.
2,7
5,6
3,8
3,2
5.9
4,3
Posci. . .
1.1
2,8
1,7
1,0
2.7
1,6
Broraberg
1.0
2.8
1,5
2,1
1.4
BresLiii .
1,3
3.2
2,1
1,3
8,2
2.1
LiegDiti; .
1.4
4,0
2,4
1,3
3,8
2.3
OppelD .
0,5
1,4
0,8
0,4
1.6
0,7
Magdeburft
1,1
2,8
1,7
1,1
3,2
2.0
Merseburg
1,3
4,1
2,8
1,4
4.1
2,3
Krfiirt . .
1.1
2,7
1.9
1,1
3.0
1,9
.Schleswig
l.l
3.5
1,9
1.1
3,1
1,8
1.1
3.0
1,8
1.1
3.9
1.9
llitdesbeim
1.9
3,5
3,9
2.0
4,6
3,0
LflopbQrg
0,5
3.8
1,2
0.6
3,5
1.2
Hta^p . .
0,5
2,9
1.1
0,6
3,3
1,3
OsnnbrÜoV
0,8
2,0
1.2
1,0
2.4
1.4
Auricli . .
0.8
2.0
1,3
1,3
1.3
1,4
Münster .
0,6
1,3
0,9
o.e
1,7
1.0
Mioden .
0.4
0,6
0,7
1,9
1.2
Arn.sberg .
0,5
1,7
0,8
0,5
2,3
0,9
Kassel. .
1.1
2,9
1.7
1,3
2,9
1,9
Wiosbndeti
1.1
2,3
1.6
1,2
2.4
1,8
Koblenz .
1.2
1,9
1.5
1.1
2,0
1.5
Diisspitiorf
0.7
2.2
1.2
0,7
2,1
1.2
Köln . .
1.4
2.3
1,5
2.2
1,8
Trier . .
0,7
2.5
0,6
8,4
1.2
Anehen .
1,9
3.5
sis
1.5
8,8
2,2
Sigm.irilignn
1.2
5,0
2,5
0,9
8.1
l,fi
Zusamr
,.n
1,1
2,9
1.7
1,1
3,0
1,8
Dass die hier in diese Krankhcitsgrupfic mit eiiigcroclinetcii
Krolwerkriiiikungni cirie verlü'iltnissim'issifre Vorniclinmg erfahren
Die Verbreitung der Krebserkrankung u. s. w.
917
haben, kann keinem Zweifel unterliegen. Inwieweit diese Zunahme
nur in genauerer Diagnose begründet, also nur eine scheinbare ist,
rauss dahin gestellt bleiben; sicher ist dieses Moment nicht ganz
ohne Bedeutung.
Nach der Ansicht vieler Aerzte betrifft übrigens die Zunahme
nur die schwer erkennbaren Fälle, während die leicht diagnosticir-
baren keine Vermehrung aufweisen.
Endlich ist auch der Umstand in Betracht zu ziehen, dass in
den letzten Jahren ein grösserer Zugang von Krebskranken zu den
Heilanstalten erfolgte wie früher, weil häufiger eine chirurgische
Behandlung, welche ja doch fast nur in Krankenhäusern durchführ-
bar ist, stattfindet.
Zahl der 1896 in den Kliniken behandelten Fälle von Krehs.
Tab. III.
Regierungs-
bezirke.
Universität
Anzahl der Fälle
von Krebs bei
Personen
m.
w.
zus.
In der betr. Klinik wurden be-
handelt vom Hundert
aller in den
Heilanstalt, be-
handelten Fälle
der Fälle von
Krebs
Königsberg
Berlin
Stralsund . .
Breslau ....
Merseburg . .
Schleswig . .
Hildesheim. .
Kassel
Köln
Königsberg .
Berlin
Greifswald .
Breslau ....
Halle
Kiel
Göttingen . . .
Marburg . . .
Bonn
113
225
97
159
86
46
82
30
87
128
432
111
186
123
72
91
34
72
341
657
208
345
209
118
173
64
159
16
26
66
12
36
16
35
16
11
48
29
91
34
62
26
62
25
28
In den einzelnen Gebieten des Staates weist die Zahl der an
Krebs Behandelten bemerkenswerthe Verschiedenheiten auf (siehe
Tabelle I und II auf Seite 914—916). Den höchsten Antheil
von den in Heilanstalten Verpflegten machten sie in den Re-
gierungsbezirken Stralsund (1895 3,8 pCt, 1896 4,3 pCt.), Hildes-
heim, Aachen, Berlin (2,5 bezw. 2,6 pCt.), Königsberg, Danzig
aus; überschritten wurde die Durchschnittszahl für den Staat in
9 bezw. 7 weiteren Bezirken; erreicht wurde sie in beiden Jahren
in 3 Bezirken, während in 18 bezw. 20 Bezirken, die Verhältniss-
zahl niedriger war, und zwar am niedrigsten in Münster, Minden,
Arnsberg und üppeln (0,8 bezw. 0,7 pCt.). Von allen Provinzen
steht Westfalen am günstigsten da. Für die weiblichen Kranken
918 Dr. G. Keimann,
ergeben sich übrigens, ausser in den erwähnten Regierungsbezirken,
noch besonders in Liegnitz, Merseburg und Stettin hohe Zahl^i.
Die Erklärung, dass in den Heilanstalten der Reg.-Bez. Stralsund,
Hildesheim und Merseburg ein so häufiges Vorkommen von Krebs
beobachtet wurde, liegt wohl grossentheils darin, dass derartige
Kranke in Universitätskliniken besonders zahlreich behandelt werden,
wie ein Vergleich der Tabelle HI mit den Zahlen für 1896 der
Tabelle I ergiebt.
In den Heilanstalten des Deutschen Reiches waren von
100 Krankheitsfällen solche von Krebs 1886—88 2,06; 1889—91
2,08; 1892—94 1,98; in den Heilanstalten
von 1886-88 1889—91 1892-94 1895 1896
Bayern 0,9 0,9 1,0 1,2 1,3
Sachsen 2,5 2,3 2,5 2,5 2,4
Württemberg 1,4 1,3 1,4 — —
1892-94 1892-94
Baden 2,0 Sachsen- Weimar und den thü-
Hessen 2,4 ringisohen Herzogthümern . 2,3
Oldenburg 1,2 Elsass-Lothringen .... 2,6.
Aus diesen Zahlen lassen sich bezüglich der Einwirkunir
klimatischer und örtlicher Einflüsse auf die Entstehung des in Fra^c
stehenden Leidens Schlüsse kaum ziehen; denn der Begriflf der
„bösartigen Neubildung'' wird in den einzelnen Theilen des Reiches
verschieden gefasst; so wird in Hamburg und im Königreiche
Sachsen nur Krebs dazu gerechnet, in den meisten übrigen deutschen
Staaten aber auc^h Sarcom, Fibrom u. s. w. Mit Recht macht
ferner Engelmann (Med. statist. Mitth. aus d. Kais. Gesundheits-
amte, IV, S. 198) darauf aufmerksam, dass in einzelnen Provinzen
Preussens und einer Reihe von deutschen Staaten einer hohen
Morbiditätsziffer eine niedrige Sterblichkeitsziffer und umgekehrt in
anderen Provinzen und Staaten einer niedrigen Morbiditätsziffer
eine hohe Sterblichkeitsziffer gegenüberstehe.
1892 — 94 entfielen von je 100 Krankheits- r^. c*. ui- vt -i. u * • />*
fällen überhaupt auf bösartige Neubildun- ^^° Sterblichkeit betrug in pCt.
gen in den Heilanstalten von ^^^ Abgangs
Ostpreussen .... 3,2 21,9
Pommern 2,9 24,7
Hannover 2,4 20,1
Mecklenburg-Sclnverin '2^^) 14,9
ßraunscliweig . . . 2,0, 1G,6,
Die Verbreitung der Krebserkrank ang u. s. w. 919
dagegen
Brandenbarg .... 1,2 39,8
Bayern 1,0 28,8
Lübeck 1,3 35,7
Bremen 1,5 37,1
Hamburg 1,2 43,1.
In ersteren Gebieten ist also der Krankheitsbegriff weiter ge-
nommen, während in den letzteren vorzugsweise die schweren Fälle
gezählt sind.
In den Heilanstalten Oesterreichs^) wurden im Jahre 1894
7670 Fälle von Krebs, d. i. 2,2 pCt. aller Krankheitsfälle, behandelt.
Was die Betheiligung der Geschlechter betrifft, so waren im
Jahre 1895 von den in den preussischen Heilanstalten an Krebs
Behandelten 4002=39,9 pGt. männlichen, 6034=60,1 pCt. weib-
lichen Geschlechtes; im folgenden Jahre betrugen die Ziffern 4125
=39,2 pCt. bezw. 6383=60,8 pCt.2). Es waren also die weib-
lichen Kranken in ganz bedeutender üeberzahl; dies ist, was weiter
unten ausgeführt werden wird, durch die Häufigkeit des Carcinoms
der weiblichen Geschlechtsorgane und Brustdrüse bedingt. Uebrigens
sind diese Unterschiede in den verschiedenen Altersklassen nicht
is:leich gross, wie nachstehende Zusammenstellung ergiebt; besonders
erheblich kommt das Ueberwiegen weiblicher Kranker in der Alters-
stufe von 30—50 Jahren zum Ausdruck. (S. Tab. IV S. 920).
Auf die jüngeren Altersklassen entfallen überhaupt nur kleine
Zahlen, die allerdings für das Alter von 15 bis 20 Jahren doch
höher sind , als man erwarten sollte. Unter 5 Jahren waren in
beiden Berichtsjahren zusammen 15 Krebskranke (4 männlichen und
11 weiblichen Geschlechtes); im Alter zwischen 5 und 10 Jahren
standen 10 (je 5 Angehörige beider Geschlechter); 10 — 15 Jahre
alt waren 8 (1 m. und 7 w. G.); die nächsten Altersstufen zeigten
schon eine nicht unbeträchtliche Zunahme: 61 der Kranken (32 m.
und 29 w. G.) standen im Alter zwischen 15 und 20 Jahren,
112 (42 Männer und 70 Weiber) waren zwischen 20 und 25 Jahre
alt; 336 (101 Männer und 235 Weiber) zwischen 25 und 30 Jahre;
vom 30. Jahre an findet eine ganz rapide Steigerung statt: auf
0 Oesterreichische Statistik.
2) Unter der Gesammthoit aller in den Heilanstalten Verpflegten ist das
Verhältniss nahezu umgekehrt; es waren darunter in den beiden .Jahren rund
(jA pCt. Männer und 86 pCt. Weiber.
920
Dr. G. Hei mann,
Die in den allgemeinen Heilanstalten Preussens während der Jahre 1895 nnd 1896
Carcinom Behandelten i) nnd Gestorhenen,
nach Altersklassen.
Tab. lY.
Altersklassen.
1895
Behandelte
m. w.
zus.
Gestorbene
m.
w.
zus.
189 6
Behandelte
m.
w.
zus.
Gestorbene
m.
w.
ins^
bis 5 Jahre
über 5 bis 10
10 , 15
15
20
25
30
40
50
60
7>
n
20
25
30
40
50
60
70
70 Jahr
1»
yt
yt
unbekannten Alters
6
6
4
2
6
1
1
3
4
21
14
35
7
22
34
56
7
50
121
171
18
329
830
1159
101
843
1622
2465
303
1193
1712
2905
453
1019
1046
2065
373
466
506
972
161
54
138
192
15
— 1
1
3
8
26
172
359
426
361
195
25
1
4
1
1
1
10
11
15
20
44
51
273
302
662
850
879
1304
734
1004
356
471
40
107
5
3
4
15
36
114
845
1689
1821
1160
514
177
9
4
4
26
56
165
1147
2539
3125
2164
985
284
1
1
3
6
21
105
303
487
356
171
36
2
1
5
6
27
172
364
474
388
210
34
•>
1
I
8
12
4v^
277
667
961
744
381
70
Zusammen
4002
6034 |l0036|l439
1577
3016
4125
6383
10508
1490
1683 18173
V 0 n j e 100 waren alt:
bis 15 Jahre
über 15 „ 20
V
20 r 25
25 ^ 30
30 „ 40
40 ., 50
50 „ 60
60 ,, 70
70 Jahr
r
ff
r
Tt
r
r
unbekannten Alters
0,1
0,2
0,2
0,1
0,1
0,5
0,2
0,3
0,5
0,2
0,5
0,6
0,5
0,5
0,5
1,2
2,0
1,7
1,3
1,7
8,2
13,7
11,6
7,0
10,9
21,1
26,9
24.6
21,0
22,8
29,8
28,4
28,9
31,5
27,0
25,5
17,3
20,6
25,9
22,9
11.7
8,4
9,7
11,2
12,3
1,4
2,3
1,9
1,0
1,6
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
0,1
0,3
0.5
1,5
9,1
22,0
29,1
24,3
11,8
1,3
0,1
0,3
0,4
1.2
7,3
20,6
31,7
24,3
11,4
2,7
0,2
0,2
0,5
1,6
13,2
26,5
28,5
18,2
8,0
3,1
0,1
0,2
0,5
1,5
10,9
24,2
29,7
20,6
9,4
2,9
0,1
0,2
0,4
1,4
7,1
20,3
32,7
23,9
11,5
2.4
0,2
0,3
0,4
1,6
10,2
21.6
28,2
23,0
12,5
2,0
0,2
0^
0,4
1,5
8,7
21,0
30,5
23,4
12.0
2,2
Zusammen
100,0 1 100,0' 100,0
die Altersklassen von 30 — 40 Jahren kamen über 5 mal so viele
Krebskranke wie auf das Alter zwischen 20 und 30 Jahren: 2306
(631 Männer und 1675 Weiber), d. i. ein Neuntel aller Fälle;
40—50 Jahre alt waren 5004 (1693 Männer und 3311 Weiber),
d. i. nicht ganz ein Viertel aller Kranken. Die Steigerung hält
bis zum 60. Lebensjahre an und von den einzelnen Altersdecadcn
steht die von 50 bis 60 Jahren an erster Stelle; ihr gehören
6030 (2497 Männer und 3533 Weiber), d. i. 29 pCt. aller Krebs-
>) Fälle.
Die Verbreitung der Krebserkrankung u. s. w. 921
kranken an; imnaerhin waren zwischen 60 und 70 Jahren 422J)
(2023 Männer und 2206 Weiber), d. i. fast doppelt so viel wmo
zwischen 30 und 40 Jahren, und über 70 Jahre alt waren 1957
(937 Männer und 1020 Weiber), d. i. beinahe ein Zehntel aller Fälle.
Das Verhältniss bei den beiden Geschlechtern ist, wenigstens
vom 25. Lebensjahre an, ungleichartig. Während von 100 krebs-
kranken Frauen 16 zwischen 25 und 40 Jahren, 27 zwischen 40
und 50 Jahren waren, sind für die Männer die entsprechenden
Zahlen nur 9 bezw. 21. Dagegen finden wir in den späteren
Altersstufen von 50 bis 60 und 60 bis 70 Jahren bei den Män-
nern höhere Zahlen, nämlich 30 bezw. 25, bei den Frauen nur 28
bezw. 18.
In Bezug auf diese Ergebnisse sind die diesbezüglichen Ver-
hältnisse bei der Gesararatheit aller in den Heilanstalten Ver-
pflegten von Interesse. Wir müssen hierbei auf die Zahlen für
1894^) zurückgreifen, da für die beiden Berichtsjahre entsprechende
Feststellungen nicht vorliegen. Es entfallen danach von je 100 Be-
handelten auf die einzelnen Altersklassen:
m.
w.
zus.
m.
w.
zus.
bis 5 Jahre . . 4,1
6,0
4,8
über 25 30 Jahre 11,0
11,3
11,1
über 5 — 15 Jahre 8,0
11,2
9,2
„ 30 50 „ 30,2
23,6
27,7
„ 15-20 „ 15,2
15,6
15,4
„ 50-60 „ 9,5
6,5
8,4
„ 20-25 „ 14,4
17,7
15,7
„ 60 Jahre . . 7,6
8,1
7,7.
Ein Vergleich mit diesen Zahlen lässt das Ueberwiegen von
Personen über 50 Jahren unter den Krebskranken besonders
scharf hervortreten.
Bei der Betrachtung der Zahlen der Todesfälle muss ein
Mangel, der der Krankenhausstatistik anhaftet, in Rechnung ge-
zogen werden, nämlich, dass ein Theil der Kranken zwar zeitweilig
mehr oder weniger gebessert die Heilanstalt verlässt, aber doch
kurz über lang in der Häuslichkeit dem tückischen Leiden erliegt.
Diese Fälle entgehen daher der Feststellung.
Es starben in den Krankenhäusern
im Jahre 1895 von 4002 männlichen Krebskranken 1439 = 35,9 pCt.
„ „ 1896 „ 4125 „ „ 1490 = 36,1 „
„ „ 1895 „ 6034 weiblichen „ 1577 = 26,1 „
„ „ 1896 „ 6383 „ „ 1683 = 26,4 „
zusammen 1895—96 von 20544 Krebskranken 6189 = 30,1 pCt.
1) Preussische Statistik, Heft 140, Einleitung S. XX.
J)22 Dr. G. Hei mann,
Der günstigere Ausgang bei weiblichen Kranken erklärt sich
daraus, dass Krebserkrankungen der Organe, welche bei Frauen
vorzugsweise befallen werden, nicht in dem Maasse tödtlich ver-
laufen und auch der chirurgischen Behandlung besser zugänglich
sind, als die Erkrankungen der bei Männern am häufigsten er-
griffenen Körpertheile.
Das Carcinom befällt mit Vorliebe gewisse Organe, während
an anderen nur selten eine derartige Erkrankung beobachtet wird.
Aus nachstehender Zusammenstellung^) lässt sich in dieser Hin-
sicht folgende Reihenfolge entnehmen: Gebärmutter, Magen, Brust-
drüse, Mastdarm, Speiseröhre, Haut (vornehmlich des Kopfes und
Gesichtes 2)), Leber, Lippen, Lymphdrüsen u. s. w.
Während der Krebs bei den Frauen am häufigsten an den
Geschlechtsorganen und der Brustdrüse vorkommt, ist bei den
Männern der Verdauungscänal mit Vorliebe betheiligt; bei erste-
ren machen die Erkrankungen an den Genitalien über ein Drittel,
an der Brustdrüse über ein Viertel, am Magen über ein Siebentel
aus; bei der Frau sind dann noch von Bedeutung die Krebser-
krankungen der Leber, des Mastdanns und des Gesichts, zusam-
men etwa ein Achtel der Gesammterkrankungen. Bei den Män-
nern stehen an erster Stelle die Krebserkrankungen des Magens,
die fast ein Drittel von allen betragen; zunächst sind am häufig-
sten Speiseröhren-, Lippen- und Mastdarmkrebse, zusammen gleicli-
falls etwa ein Drittel; an den Geschlechtsorganen sind hier Krebse
verhältnissmässig selten; hinsichtlich der Krebse des Gesichts (ab-
gesehen von den Lippenkrebsen, welche bei Männern häufiger be-
obachtet werden) sind die Zahlen für Männer und Weiber an-
nähernd gleich gross. Bei Personen bis zu 30 Jahren ist ausser
am Magen und den weiblichen Genitalien auch am Gesichte, den
Extremitäten und dem Mastdarme Krebs verhältnissmässig häufig
(s. Tab. V u. VI).
1) In dieser TabeUe ist, wenn mehrere Körpertheile zugleich befallen
waren, nur das primäre Carcinom gezählt; der secundären Formen wird übri-
gens in den weiter unten folgenden Ausführungen gedacht werden.
-) Derartige Erkrankungen werden häufiger ausserhalb des Krankenhauses
behandelt; werden auch solche Fälle berücksichtigt, so folgen sie der allge-
meinen Annahme gemäss an Häufigkeit gleich nach dem Magen carcinom.
Die Verbreitung der Krebserkran kun«^ u. s. w.
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924
Dr. G. [fei mann,
Die während der Jahre 1895 nnd 1896 in den allgemeinen Heilanstalten Prennsens an Krebtl
handelten im Alter bis zn 80 Jahren, mit Angabe der erkrankten Körpertheile.
Tab. VI.
Von den an Krebs Behandelten standen
im Älter von
Bezeichnung
i
^uniiL!»
des Körpertheiles.
0 5J.
...
5— lOJ.
10 15J.
15-20J.
20-
25J.
25-
30 J.
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0 Zunge.
Die Yerbreitun«? der Krebserkrankunff u. s. w. 925
Zieht man von der Gesammtheit der Fälle die Carcinome der
Geschlechtsori;ane und der Brust ab, so crgiebt sich folgendes:
1895 1896
über- männl. woibl. über- männl. weibl.
haupt Personen haupt Personen
Zahl der Falle 1(X)36 4002 6034 10508 4125 6383
davon abzuziehen 3686 96 3590 3901 112 3789
bleiben 6350 3906 2444 6607 4013 2594.
Es ist also durch die Häufigkeit des Krebses an den ge-
nannten Körpertheilen die grössere Ziffer, welche auf das weibliche
Geschlecht unter den in den Heilanstalten an Krebs Behandelten
entfällt, erklärt.
Hinsichtlich der Frequenz von Krebs überhaupt wie des Be-
fallenwerdens der verschiedenen Organe sei auf eine Mittheilung
von KlubaP) hingewiesen, dass unter 14 424 in der Brünner
Landkrankenanstalt während der Jahre 1875 — 95 erfolgten Todes-
fällen, deren Ursache in der überwiegenden Mehrzahl durch die
Section festgestellt wurde, 1034 in Folge von Krebs erfolgten,
d. i. im Jahresdurchschnitte waren unter 686,7 Todesfällen 49,2
= 7,16 pCt. durch Krebs bedingt. Es entfielen davon im Jahres-
durchschnitte auf
den Magen . . 15,8 = 2,30pCt. all. Todesfälle u. 32,12pCt.der Krcbstodesf.
die übrigen Or-
gane des Ver-
dauungscanals 10,9^1,59 „ ,, ,, ,, 2?,15
die weiblichen
Gcsohlechtsth. 14,8 = 2,17 „ „ „ „ 30,08
andere Körper-
theile .... 7,7= 1,10 „ „ „ ,, 15,65
Wie sich in dieser Beziehung die Verhältnisse in der Be-
völkerung überhaupt gestalten, darüber geben unter anderen nach-
stehende Mittheilungen aus Frankfurt a. M.^) und der Schwarz-
burg-Sondershausen'schen Unterherrschaft") Aufschluss.
Für 1685 (635 bei M., 1050 bei W.) in Prankfurt a. M.
11 n 7?
n n ??
n >> n
*) Beitrag zur Carcinomstatistik. Oesterreichisches Sanitätswesen, 1896,
Seite 228.
2) Jahresberichte über die Verwaltung des Medicinalwesons der Stadt
Frankfurt a. M.
3) Die Todesfälle au Krebs in der Schw. S. U. 1885 -95 von San.-Rath
Nicolai. Correspondeuzblatt des ärztl. Vereins v. Thüringen, No. 1, 1897.
Archiv nir klin. Chirurgie. 57. Bd. Heft 4. ßj^
926
Dr. G. Heimann,
während der Jahre 1886 — 95 erfolgte Krebstodesfälle war der Sitz
der Geschwulst
1. an den Verdauungsorganen
2.
77 77
weiblichen Genitalien
3. „ der weiblichen Brust .
4. ,, anderen Organen od. ohne Angabe
Der Magen war befallen .
die Leber ,, .,
der Darm ,, ,,
darunter der Mastdarm
die Speiseröhre war befallen
das Bauchfell ,, ,,
die Zunge ,, ,,
„ Bauchspeicheldrüse war befallen
„ Gebärmutter ,,
,, Eierstöcke waren befallen
,, Scheide war befallen .
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. 980 mal
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77
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17,7 „
. 42
77
2,4 „
7
77
=
0,5 „.
Zieht man die Zahlen von Krebs an den weiblichen Genitalion
und der Brust von allen Krebstodesfällen bei weiblichen Personen
ab, so erhält man 605; die Zahl der an Krebs der Genitalien und
Brust verstorbenen Männer liegt leider nicht vor, doch kann man
nach anderweitigen Erfahrungen annehmen, dass sie zwischen 20
und 30 beträgt; es würde also auch hier die grössere Häuügkcii
der Krebserkrankungen weiblicher Personen durch die Genital-
organe bedingt sein. .
Für 247 (102 bei M., 145 hei W.) in der Schwarzburg.
Sondershauser Unterherrschaft in den Jahren 1885 — 1)5 er-
folgte Krebstodesfälle war der Sitz der Geschwulst
am Magen und an der Leber . . 123 mal = 49,8 pCt.
Darm
7)
an der Lippe, /.unge u. dem Kiefer
Brustdrüse
77
77
Gebärmutter
77
77
77
77 77
,, anderen Organen
den Eierstöcken
männlichen Genitalien
10
4,1
77
8
3,2
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11
—
4,5
77
46
—
18,6
7?
1
=
0,8
77
4
—
1,6
77
44
—
17,4
77
Weim wir die Zahlen für Krebs der Genitalien und der Brust
in Abrechnun.ü; bringen, so bleiben 97 Todesfälle bei Männern und
88 bei Weibern übriiif. Also auch hier haben wir ein den Mit-
Die Verbreitung der Krebserkrankung u. s. w. 927
theilungen der Heilanstalten entsprechendes Resultat. Oesterlen^)
korarat zu dem entgegengesetzten Ergebnisse auf Grund einer Sta-
tistik aus dem Canton Genf für 1838 — 1855. Dort entfielen von
889 Todesfällen an Krebs 320 auf Männer und 569 auf Weiber, nach
Abzug der Fälle von Krebs der erwähnten Organe verblieben 314
Krebstodesfälle von Männern und 352 von Weibern. Auch eine
Statistik aus Philadelphia 2) vom Jahre 1893 scheint Oesterlen's
Ansicht zu bestätigen. Unter 614 Krcbstodesfällen, von denen
183 Männer und 431 Weiber betrafen, war der Sitz der Geschwulst
an der Brust 80 mal = 13,1 pCt.
,, ,, Gebärmutter
„ dem Magen
142
= 23,1 „
169
- 27,6 „
56
- 9,1 „
4
= 0,6 „
163
— 26,5 pCt.
„ der Leber
,, den männlichen Genitalien
,, anderen Organen .
Bringt man die Fälle von Krebs der Brust und der Genitalien
in Abrechnung, so bleiben 179 Krebstodesfäile bei Männern und
229 bei Weibern.
Im üebrigen w^erden bei der Betrachtung der Erkrankungen
der einzelnen Organe die Unterschiede für die Geschlechter und
auch die verschiedenen Altersklassen noch eingehender zu erörtern
sein. Wenn wir nun in Folgendem die in dieser Hinsicht aus
unserem Materiale gewonnenen Nachrichten mittheilen, so liegt es
nahe, anschliessend auch der stattgefundenen chirurgischen Be-
handlung zu gedenken, da diese bisher die einzige Möglichkeit der
Heilung bietet. Nicht unbeträchtlich ist die Zahl der Fälle, in
der man auf diesem Wege den unheimlichen Gegner zu überwinden
sucht. Im Jahre 1895 wurden in den Heilanstalten 3842, im
Jahre 1896 4018 grössere^) Operationen bei Krebskranken ausge-
führt; das heisst, in jedem der beiden Jahre wurden 38 von hundert
Krebskranken chirurgisch behandelt, und zwar 35 von hundert
Männern und 40 von hundert Weibern.
Verstorben sind von den Operirten 656 (17,1 pCt.) bezw. 709
0 Handbuch der mediziu. Statistik, Tübingen 1874. S. 430. Angesichts
der Thatsache, dass diese Zahlen aus einer Zeit stammen, wo man vielfach die
versteckter liegenden Carcinome noch nicht erkennen konnte, dürfte ihnen
nicht allzuviel Gewicht beizulegen sein.
2) Philadelphia annual report of the bureau of health 1893.
^) Aetzungen, Auskratzungen und dergl. sind nicht berücksichtigt.
61*
928
Dr. G. Heimann,
(17,4 pGt.). Auch hier zeigen sich bemerkcnswerthc Unterschir'de
für die Geschlechter; von 100 inännlicheii Operirtcn starben 25.4
bezw. 26,0, von 100 weiblichen Operirtcn nur 12,3 bezw. 13,2.
Der Ausgang der Operationen ist naturgemäss je nach der Be-
deutung des erkrankten Organcs sehr verschieden; bei Mairenope-
rationen z. B. wird die Zahl der Todesfälle eine wesentlich höhere
sein wie bei Operationen an der Brustdrüse. Nähere Einzelheiten
sind aus der folgenden Zusammenstellung ersichtlich und werden
auch in den nachstehenden Erörterungen noch ausführlicher dargclofirt
werden. (S. Tab. Vit.) Hinzugefügt sei hier noch, dass im Jahre 1894
in den Heilanstalten Preussens 3248 Operationen wegen Carcinom
Zahl der operirten Krebskranken i) » dei
Tab. VII.
Bezeichnung des Körperthcilos.
1895
m.
w.
zus.
1. Zunge
2. Mund und Rtaclien
3. Speiseröhre
4. Magen
5. Darm (ohne 6)
6. Mastdarm
7. Leber und Gal leublase
8. Bauchspeicheldrüse
9. Bauchfell
10. Niere
11. Blase
12. Penis, äussere weibliche Geschlechtstheilc
und Scheide
13. Hoden und Vorsteherdrüse, Eierstock . . .
14. Gebärmutter
1.5. Brustdruse
16. Kehlkopf
17. Schilddrüse, Luuge
18. Lippen
19. Kopf und Gesicht (ohne 2 und 18) . . .
20. Kiefer
21. Knochen, Haut u. s.w. des Rumpfes und der
Extremitäten
22. Lymphdrüsen
23. Ohne nähere Bezeichnung
50 (12)
40 (10)
84 (49)
163 (98)
55 (31)
150 (53)
12 (6)
8
6
5
(8)
(4)
(3)
21 (11)
45 (3)
16 (3)
15 (2)
53 (19)
9 (4)
312 (4)
190 (4)
52 (17)
54 (1)
59 (13)
6 (2)
13
4
10
144
46
102
39
2
23
3
1
99
89
478
1051
5
4
84
168
37
33
84
18
(2)
(-)
(4)
(61)
(24)
(26)
(18)
0)
(9)
(1)
(-)
(4)
(22)
(61)
(48)
(3)
0)
(-)
(3)
(3)
(l)
(3)
(4)
63 (14)
44 (10>
94 (53)
307 (159)
101 (55)
252
51
10
29
8
22
144
105
478
1066
58
13
346
358
89
(79)
r24)
(9)
(13)
(4)
(H)
(7)
(25)
(ßi)
(50)
(22)
(5)
(4)
(7)
(20;
87 (2)
93 (16)
24 (6)
Zusammen 1405 (357) 2437 (299) 3842 (656)
0 Die Zahlen in Klammern bezeichnen die Gestorbeneu.
Die Verbreitung der Krebserkrankung u. s. w.
929
ausgeführt wurden, worüber wir ira Archiv für klinische Chirurgie,
Bd. 54, Heft 2, berichtet haben. Wenn auch aus äusseren Grün-
den nicht die Vollständigkeit wie für die späteren beiden Jahre
erreicht werden konnte, so tritt doch besonders betreffend der
Hauptgruppen ein durchaus übereinstimmendes Ergebniss zu Tage.
Die Zahl der Operationen bei weiblichen Kranken erscheint hier
im Verhältnisse zu der der Operationen bei männlichen Kranken noch
grösser wie in den beiden Berichtsjahren. Während in diesen
36 pCt. der Operirten männlichen Geschlechtes, 64 pCt. weiblichen
Geschlechtes waren, betrugen diese Zahlen, soweit Nachrichten vor-
liegen, im Jahre 1894 29 bezw. 71 pOt. (S. Tab. VUI.)
Heilanstalten Prenssens 1895 und 1896, nach Körpertheilen.
Es wurder
1 operirt
von 100
Kranker
i
1896
*
1895
1896
m.
w.
ZUS.
m.
w.
zus.
m.
w.
zus.
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1
(21)
11
1
(3) 1
95
(24)
48,5
7G,5
52,5 ■
64,6
57,9
63,8
ao
(lO)
12
(2)
51
(18)
51,9
25,0
47,3
48,8
63,2
51,5
103
(5C)
11
(6)
114
(62)
21,2
17,2
20,7
21,1
16,4
20,5
188
(9G)
155
(57)
343 (153) 1
12,5
17,5
14,5
14,4
18,0
15,9
5-2
(•25)
43
(27)
95
(52)
39,0
38,7
38,8
39,4
39,1
39,3
19()
(ßl)
135
(31)
331
(92)
44,6
47,0
45,6
51,7
49,6
50,8
13
(9)
52
(28)
Go
(37)
7,0
13,2
10,9
6,4
15,3
12,3
4
(2)
2
(1)
6
(3)
25,8
12,5
21,3
27,3
8,7
17,8
3
(2)
20
(10)
29
(12)
20,0
29,9
27,1
14,3
32,1
28,4
7
(5)
8
(0)
15
(H)
38,5
20,0
28,6
35,0
66,7
46,9
17
(8)
1
(-)
18
(8)
26,3
4,5
21,6
25,4
4,5
20,2
G9
(10)
84
(3)
1.53
(13)
75,0
62,7
66.1
92,0
54,5
66,8
18
(2)
74
(27)
92
(29)
44,4
62,7
59,0
48,6
52,9
52,0
59()
(78)
59G
(78)
—
24,6
24,6
28,0
28,0
24
(-)
1022
(38)
104G
(38)
78,9
78,0
78,0
72,7
74,8
74.8
41
(17)
0
(5)
47
(22)
52,5
33,3
50,0
46,6
50,0
47,0
4
(2)
7
(2)
11
(4)
19,G
20,0
19,7
12,9
23,3
18,0
2G4
(3)
35
(2)
299
(5)
80,8
79 1
80,7
69,5
; 72,9
69,9
1G8
(1)
140
(2)
308
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71,4
57,5
64,2
63,4
53,4
58,4
(13)
42
(4)
97
(17)
53,6
80,4
62,2
46,6
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59,5
43
(4)
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(8)
69
(7)
59,3
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60,6
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43
(3)
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(13)
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35.1
40,4
38,3
35,5
40,0
38,2
930
Dr. G. Heimann,
Zahl der operirten Krebskranken in den Heilanstalten Preissens 1894,
naek Kö'rpertkeilen.
Tab. VIII.
Bezeichnung des Körpertheiles.
m.
w.
zus.
I. Zunge
58
11
69
2. Mund und Rachen ....
21
5
2G
3. Speiseröhre und Magen . . .
158
90
248
4. Darm (ausser 5)
38
30
68
5. Mastdarm
147
120
273
6. Bauchorgane (ausser den ge-
nannten)
21
44
65
7. Blase
4
4
8
8. Penis
3
3
9. Hoden, Vorsteherdrüse, Eier-
stock
3
46
49
10. Gebärmutter
577
577
11. Brustdrüse
7
1103
1110
12. Kehlkopf
2
2
13. Schilddrüse
1
2
3
14. Lippen
243
33
276
15. Gesicht (ausser 14) . . . .
101
150
251
16. Knochen
41
11
52
17. Lymphdrüsen
71
60
181
18. Andere Körpertheile ....
8
29
37
Zusammen
927
2321
3248
Die Zahl der Fälle von Magenkrebs betrug im Jahre 1895
2124, von denen 1302 (61,3 pCt.) bei männlichen, 822 (38,7 pCt.)
bei weiblichen Personen zur Behandlung kamen. Im Jahre 1896
waren die Zahlen 2164 bezw. 1303 (60,1 pCt.) und 861 (39,9 pCt.);
sie machten 1895 21,2, im folgenden Jahre 20,6 pCt. aller Car-
cinome aus. Unter Hundert von Krebs befallenen Männern litten 32,5
bezw. 31,6 an Magenkrebs, unter 100 Weibern nur 13,6 bezw.
13,5. Es verstarben von 100 Magenkrebskranken (beider Geschlechter
zusammen) 47,8 bezw. 48,0. Von den in beiden Jahren in den
Heilanstalten überhaupt an Krebs Verstorbenen (6189) erlagen
2055 = 33,2 pOt. dem Magenkrebs.
Von den an dieser Krankheit behandelten Männern standen
80pCt. im Alter zwischen 40 und 70 Jahren; die höchste Verhältniss-
zahl entfällt auf die Altersdecade von 50 — 60 Jahren (31 pCt). Von
den behandelten Weibern waren 75 pCt. zwischen 40 und 70 Jahren,
und zwar 30 [)Ct. zwischen 50 und 60 Jahren. Jünger wie 40 Jahre
waren von den Angehörigen beider Geschlechter 12 pCt. Der jüngste
männliche Kranke war 18 Jahre, während sich unter den weib-
Die Verbreitung der Krebserkrankung u. s. w. 931
liehen eine Schülerin von 14 Jahren (!) findet. Aelter wie 70 Jahre
waren von den Männern 8 pCt. und von den Weibern 10 pCt. Un-
bekannt war das Alter bei 1 pCt. der Männer und 3 pCt. der Weiber.
In den letzten Jahren hat man verhältnissmässig häufig das Vor-
kommen dieser Erkrankung im jüngeren und mittleren Lebensalter
constatirt; zum Theile beruht dies vielleicht auf den Fortschritten in
der Magendiagnostik, aber mau gewinnt doch den Eindruck, dass
die Altersgrenze allmälig zurückrückt ^). (S. Tab. IX und X.)
Ueber den Theil des Magens, der befallen war, sind nur un-
vollständige Angaben gemacht; der Pylorus war im Jahre 1895
unter 302 Fällen 239 mal, im folgenden Jahre unter 335 Fällen
218mal, die Cardia im ersteren Jahre 60mal, im letzteren 117 mal
als Sitz des Garcinoms bezeichnet; ferner waren im Jahre 1895 die
grosse Curvatur 2 mal, der Fundus Imal, im Jahre 1896 die kleine
Curvalur 2mal, Pylorus und Fundus Imal, die hintere Magenwand
Imal carcinomatös erkrankt; im ersteren Jahre fehlte für 1822,
im letzteren Jahre für 1825 Fälle eine nähere Angabe. Bekannt-
lich sitzt über die Hälfte aller Magenkrebse am Pylorus 2) und etwa
ein Zehntel an der Cardia, oder der kleinen Curvatur, am seltensten
dagegen ist der Fundus erkrankt. Bemerkenswerth ist, dass, während
beim Carcinom die OriGcien in so überwiegendem Maasse befallen
werden, diese beim Magengeschwür nur in 16 — 18 pCt. der Fälle
den Ort der Erkrankung abgeben 3). Dass aus einem Ulcus ven-
triculi sich Carcinom entwickelt habe, ist im ganzen llmal erwähnt.
Am häufigsten von anderen Organen findet sich die Leber
als gleichzeitig von Krebs befallen genannt: 212*)mal, d. i. in 5
von 100 Fällen. Anderweitig werden viel höhere Zahlen angegeben:
von Ewald^) 25,6 — 30 pCt, der auch daraufhinweist, dass Lebert
bei seinem Materiale diese Verhältnisszahl auf 40,9 pCt, Lange bei
der Analyse von 210 Obductionen des Berliner pathologischen Insti-
^) Lindner und Kuttuer, Chirurgie des Magens, Berlin 1898; hier
werden Fälle von angeborenem Magenkrebs, von solchem bei einem 5 Wochen
alten und einem 172JJihrigen Kinde u. s. w. angeführt.
2) Nach Lebert 59,6 pCt., nach Brinton 60 pCt, Katzenellen-
bogen 58,3 pCt., Luton 57 pCt. Cit. nach Ewald, Klinik der Verdauungs-
krankheiten, II S. 147. Hahn (Berliner klin. Wochenschrift, 1885, No. 50)
fand unter 166 secirten Fallen den Sitz der (ieschwulst 60 Mal am Pylorus,
40 Mal an der Gardia, 27 Mal an der kleinen Curvatur u. s. w.
3) Ewald, a. a. 0.
*) Einschliesslich 3 Fällen von Gallenblaseukrebs. Einmal bestand zu-
gleich Carcinom des Pylorus, der Gallenblase, des Zwölffingerdarms und der Leber.
Die an Krebs der Verilauungsopgane ia den HeilanitUlleD
( A b 3 o 1
Tab. IX.
Altcrskl.is
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Die Verbreitung der Krebserkrankung u. s, w, 935
tutes auf 30,9 pCt. beziffert habe. Demnächst am öftesten sind
Darm und dann Bauchfell zugleich befallen, und zwar erstere
38 mal (davon 2 mal Mastdarm), das Bauchfell 28 mal; für das Netz
war die entsprechende Zahl 14, für das Dünndarmgekrösc (Mesen-
terium) 2, die Speiseröhre 14, Pankreas und Lunge je 4, Brustfell 2,
Kehlkopf 1, männliche Brust 2, weibliche Brust 1, Knochen 2
(Oberschenkel bezw. Wirbelsäule), Gehirn und Auge je 2, Penis und
Prostata je 1 ; Metastasen endlich ohne weitere Bezeichnung sind
5 erwähnt. Ein Durchbruch nach der Bauchwand fand 5 mal statt,
Drüsenmetastasen sind nur 2 mal angegeben, was in besonders krassem
Gegensatze zu den hohen, in der Literatur verzeichneten Ziffern
steht; allerdings wird von den Autoren vielfach kein Unterschied
zwischen einfacher Lyraphdrüsenschwellung und krebsiger Entartung
gemacht. Dass es sich um ein Kecidiv handelte, ist 5 mal an-
geführt, darunter 2 Fälle nach Jahre lang vorhergegangenem Krebs
der weiblichen Brustdrüse.
Operatives Eingreifen wurde im Jahre 1895 307mal, im
Jahre 1896 343mal, d. i. in 14,4 bezw. 15,9 von 100 Fällen vor-
genommen, und zwar in den beiden Jahren bei 12,5 bezw. 14,4 von
100 behandelten Männern und bei 17,5 bezw. 18,0 von 100 behan-
delten Weibern. Bei letzteren wurde also häufiger versucht, auf
diesem Wege Hilfe zu bringen. Vielleicht ist dies so zu erklären,
dass Frauen öfter der Operation wegen die Heilanstalt aufsuchten.
Ucbrigens starben von den Operirten im Jahre 1895 159 = 51,1 pCt.
und im Jahre 1896 153 = 47,5 pCt. Todesfälle waren unter den
männlichen zahlreicher als unter den weiblichen Operirten ; während
sie bei ersteren 60,1 bezw. 51,0 pCt. betrugen, waren die Zahlen
für die letzteren nur 42,3 bezw. 36,8 pCt.
Von den Operationen am Magen waren in den Jahren
1895 1896
m. w. zus. m. w. zus.
Probelaparotomien!) 26(11) 20 (9) 46 (20) 19 (4) 28 (9) 47 (IM)
Laparotomien 2) . . 20(12) 18 (7) 38 (19) 14(11) 14 (6) 28 (17)
Ma^renresectionen . 16(10) .36(17) 52 (27) 31(13) 31(11) 62 (24)
Gastrostomien . . 11(10) 6 (3) 17 (13) 24(12) 5 (4) 29 (16)
Gastcroenterostomien 90 (55) 64 (25) 154 (80) 100 (56) 77 (27) 177 (83)
r63 (98) 144 (61) 307 (159) 188 (96) 155 (7V7)~343~(f53)~
0 Die Zahlen in Klammern bezeichnen die tödtlich verlaufenen Fälle.
2) Ohne weitere Angabe.
936 Dr. G. lloimann,
Es crgicbt sich also, dass in ungefähr der Hälfte der Fälle die
Gasteroenterostomic ausgeführt wurde; zugleich mit dieser Operation
fand eine Magcnrcsection, soweit Nachrichten vorliegen, in 22 Fällen
(13 bei Männern, 9 bei Weibern) statt ^).
Zum Vergleiche der Resultate seien einige neuere Veröfifent-
lichungen über die operativen Erfolge bei Magenkrebs angeführt.
Kroenlein theilt in den „Beiträgen zur klinischen Chirurgie", Bd. XV,
2. Heft, folgende chirurgische Erfahrungen bei dieser Krankheit mit.
Von 67 seiner Patienten (zw^ischen 27 und 66 Jahren) wurden 26
nicht operirt, von den 41 Operationen waren 22 Probelaparotomien,
4 Gasteroenterostomien und 15 Pylorusresectionen. Von Interesse
sind noch nachstehende Angaben. 6 Kranke, welche operabel
erschienen, aber die vorgeschlagene Operation ablehnten, lebten
danach im Durchschnitte 209 Tage; 17 für inoperabel Erklärte
lebten noch im Mittel 77 Tage, 19 Probelaparotomirte und eben-
falls als inoperabel Befundene durchschnittlich 139 Tage, diese
36 inoperabelen Kranken zusammen 110 Tage. Von den 4 Gastero-
cntcrostomirten überlebte nur 1 die Oi)eration um 88 Tage, die
anderen starben 3 — 12 Tage nach der Operation. Von den 15 Rc-
sectionen führten zur Heilung im Ganzen 11 — davon 10 hinter-
einander — , 4 endeton tödtlich. Von den 11 vorläufig Geheilten sind
4 an Recidiv, durchschnittlich nach 1 Jahre 8 Monaten (488—704
Tagen), gestorben, 1 von ihnen lebt mit und 4 ohne Recidiv. Czerny
berichtete auf dem Moskauer intern, medic. Congresse am 21. 8. 1897,
dass er von 22 Rcsectionen dos Pylorus 2 dauernde Heilungen (3Yo
und 6V2 Jahre) beobachtet habe; 9 Patienten erlaben der Opera-
tion. Die Gasteroenteroanastomle bei Pyloruskrebs hat Czerny
69 mal ausgeführt; die Mortalität betrug 29 pCt. Die Durchschnitts-
lebcnsdauer nach dieser Operation berechnet er auf 8,8 Monate; in
dieser Zeit sind jedoch die Patienten relativ besohwerdefrei. Ausser
den erwähnton Fällen hat der genannte Chirurg noch 20 Probe-
laparotomien (ohne weiteren Eingriff) gemacht. Die Durchschnitts-
lebensdauer betrug hier 3,5 Monate. Ratinof verfügte damals
über 1 Fall, der seit 8^0 J^^^^'^" geheilt war, Kocher über 1 von
7Y2 "iid Wölfler über 1 von 5 Jahren. Hahn thoilte auf dem
') Nach Lindner und Kuttner a. a. 0. folgt der IVobelapamtomie in
57 pCt. der Fälle die (lasteroiMiterostomie, in 3:i pCt. die Hesection. wnhreod
in 10 pCt. der Fälle keine weitere Operation V'»rgenoninien wird.
Die Verbreitunpr der Krebserkrankun«: u. s. \v. 937
•O "•'^' .•.V.V/./w».».«.....«..j,
Chirur^encongressc in Berlin 1898 rait, dass er 141 Giistcroentero-
stomicn und 28 Resectionen ausgeführt habe; unter den letzteren
hatten 12 einen tödtlichen Ausgang; von den am Leben Gebliebenen
sind 4 schon vor 6 bezw. 7 Jahren operirt worden. Ewald*) end-
lich hat von 26 Gasteroenterostomien 14, von 22 Gasterostomicn
12 und von 13 Magenreseotionen 9 tödtlich enden sehen.
Weniger häufig als Magenkrebse kamen Darm krebse zur Beob-
achtung, nämlich im Jahre 1895 813mal, im nächsten Jahre 893mal;
sie machten also 8,1 bezw. 8,5 aller Fälle von Krebs aus. Männ-
lichen Geschlechtes waren 477 bezw. 511 = 58 von 100 an Darm-
krobs Leidenden, weiblichen Geschlechtes 336 bezw. 382 = 42
von 100 derartigen Kranken. Von 100 an Carcinom überhaupt behan-
delten Männern litten 12, von 100 Weibern 6 an Darmkrebs. Am
jüngsten war ein Knabe von 11 Jahren (Mastdarmkrebs, nicht operir-
bar) ; ferner kamen in den beiden Jahren 7 Kranke unter 20 Jahren
in Behandlung. Im Alter zwischen 20 — 30 Jahren standen 66, zwischen
30 und 50 Jahren 528 (= 31 pCt. aller an Darmkrebs Leidenden),
zwischen 50 und 60 Jahren 490 (28 pCt.), zwischen 60 und
70 Jahren 415 (24 pCt.), älter waren 173 (10 pGt.)2). Leberkrebs
fand sich gleichfalls 14mal; häufig betheiligt waren ferner die weib-
lichen Genitalien: Krebs der Gebärmutter ist 16 mal, der Scheide
15 mal, der Eierstöcke 6 mal, der Scharalippe 1 mal angegeben; weiter
Krebs des Peritoneums 8 mal, des Mesenteriums 4 mal, des Netzes
3 mal, der Blase 3 mal, der Vorsteherdrüse 2 mal, des Gehirns, der
Lunge und der Scapula je Imal; 3mal bestanden Metastasen, die
nicht weiter bezeichnet sind. Die Inguinaldrüsen waren 4mal krebsig
entartet. Imal fand ein Durchbruch nach dem Magen statt, 16 mal
durch die Bauchdecken, 9 mal bestand äussere Mastdarmfistel, 3 mal
Roctovaginalfistel, 3 mal Darm vaginal fistel, Imal Reotocervioalfistel,
2 mal endlich erforderte die Einklemmung carcinomatöser Darmtheile
die Eröffnung des Bruchsackes.
Was die Abschnitte des Darmes betrifft, so handelte es sich
20mal um Dünndarm-, 224mal um Dickdarm- (darunter 49 mal
der Flexura sigraoidea) und 1204 mal um Mastdarm krebs. Auf
das Rectum entfallen also 70 pCt. aller Darmkrebse. Die Mast-
<) Berliner klin. Wochenschrift. 1897, No. 37—38.
2) 36 mal war das Alter nicht ersichtlich.
938 Dr. G. Hei mann,
darmkrebse machten geilen 6 pCt. aller überhaupt behandelten Krebse
aus. Von den an Krebs dieses Körperthciles Leidenden waren 715
nicännlichen und 489 weiblichen Geschlechtes. Von allen Carcinomen
bei Männern entfielen auf den Mastdarmkrebs 8,8 pCt., während be-
züglich der Weiber die Verhältnisszahl 4,0 beträgt, üebrigens war für
258 Fälle der erkrankte Theil des Darmes nicht näher bezeichnet.
Endlich ist noch zu bemerken, dass Imal ein Durchbruch vom
Colon ascendens nach dem Colon transversum und je Imal bei
Mastdarrakrebs eine Perforation des Ileum und ein gleichzeitiges
Carcinom des Coecum erwähnt ist. Es ist schon S. 922 darauf hin-
gewiesen, dass verhältnissmässig häufig jugendliche Personen an
Ma^tdarmkrebs erkranken ; in den beiden Berichtsjahren zusammen
standen 56 der an diesem Uebel Behandelten im Alter bis zu
30 Jahren.
Während von den übrigen an Darmkrebs Behandelten 293
(58,4 pCt.) starben, war bei den Mastdarmkrebsen die Zahl der
Todesfälle im Verhältnisse wesentlich niedriger, 355 (29,4 pCt). Es
muss dies wohl grossentheils den guten Heilerfolgen der Chirurgie zu-
geschrieben werden. Ist doch die Mastdarmresection bezüglich ihrer
Leistung und ihrer geringen Lebensgefährdung eine der dankbarsten
Operationen auf dem Gebiete der chirurgischen Behandlung des
Krebses. Daher kommt ein derartiges Heilverfahren verhältniss-
mässig häufig zur Anwendung. Operativ behandelt wurden im
Jahre 1895 252 (45 von 100 Mastdarmkrebsen), 1896 331 (50 pCt.)
Fälle; von den Operirten starben 79 bezw. 92 (32 bez. 28 pGt.)i).
Von den Operationen waren in den Jahren
1895 1896
Probelaparotomien 2) 4 (2) 3 (1)
Exstirpationen, Resectionen, Amputationen des
Mastdarms 3)* 194 (60) 266 (69)
Anlegung eines künstlichen Afters 54 (17) 62 (22).
0 Von HO Kranken mit bösartigen Neubildungen des Mastdarms bat
Kraske 80 der Radicaloperation unterzogen; von diesen sind 15 (18,7 pCt,)
in der Klinik gestorben, in directem Zusammenhange mit der Operation aber
nur 7 (8,7 pCt.); an intercurrcnten Krankheiten ohne locales Recidiv und Meta-
stasen starben 16 Kranke; ohne Recidiv lebten 3/4 — 8V2 Jahr nach der Opera-
tion 15. (Kraske, Erfahrungen über den Mastdarmkrebs. Sammlung klin.
Vorträge No. 183—84.)
2) Die Zahlen in Klammern bezeichnen die tödtlich verlaufenen Fälle.
3) 1895 Imal, 1896 2 mal Spaltung des Sphincters.
Die Verbreitung der Krcbserkiankung u. s. w.
939
Nach den Amputationon des Reetums waren ira Jahre 1895
4, im Jahre 1896 noch 6 plastische Operationen wegen Incontincnz,
Prolapsus recti u. s. w. erforderlich. Vorfall der Gebärmutter
bezw. der Scheide wurde danach in ersterem Jahre 3 mal und in
letzterem Jahre 5 mal beobachtet. Bemerkensworth ist die rela-
tive Häufigkeit der Recidive bei Mastdarmkrebs; ihre Zahl be-
trug 28, dagegen wurden bei den übrigen Darmkrebsen deren
nur 8 gezählt. Im Jahre 1895 wurde bei 101 (39,0 pCt.), im
Jahre 1896 bei 95 (39,2 pCt.) von diesen Krebskranken operativ
eingegriffen. Von den Operirten starben 55 (54,4 pCt.) bezw. 52
(54,7 pCt.).
Von den Operationen waren in den Jahren
am
Dünndarm . . .
Dickdarm . . .
Dai'm ohne nähere
Bezeichnung .
1895 1896
Probelaparo-
tomien
2 (2) -
5 (.) 3 (.)
1895
1896
1895
1896
Laparotomien
12 (4) 10(5)
Rescctionen
2 (1) -
24 (17) 38 (-21)
6 (4) 6 (6) 13 (6) 5 (2) 9 (5) 4 (2)
zusammen 13 (6) 9 (6) 25 (10) 15 (7) 35 (23) 42 (23j
am
Dünndarm . . .
Dickdarm . . .
Darm ohne nähere
Bezeichnung .
Colostomicn Enteroanastomosen zusammen
~ - 4 (3) -
13 (10) 17 (9) 71) (2) 6 (4) 61 (33) 74 (39)
5 (3) 4 (2) 3 (1) 2 (1) 36 (19) 21 (13)
zusammen 18 (13) 21 (11) 10 (3) 8 (5) 101 (55) 95(52).
Am häufigsten wurde die Darmresection ausgeführt; nächst
der Laparotomie ohne nähere Bezeichnung, von der ein erheblicher
Theil wohl der Probelaparotomie zuzurechnen ist, folgt die Colo-
stomie, die Anlegung eines künstlichen Afters, während für die
übrigen Operationsarten nur kleine Zahlen angegeben sind. Zum
Vergleiche mit vorstehenden Nachrichten über die Todesfälle nach
den Operationen sei darauf hingewiesen, dass Wolf 1er auf dem
Chirurgencongresse 1896 miltheilte, dass von 114 Dannroseciionen
15 verschiedener hervorragender Operateure 46 = 54 pCt. tödtlich
verlaufen seien und dass die Colostomie eine Mortalität von
26pCt. habe.
1) Davon 1 Gasteroeiiterostomie.
940 Dr. G. Heimann.
Sccundärc Ma.stdarmkrebsc sind U verzeichnet, bei Majoren-,
Gebärmutier- und Eierstockkrebs; andere sccundärc Darmkrelise 32,
davon 25 bei Magenkrebs, die übrigen bei Leber-, Pankreas- und
Eierstockkrebs.
Die Anzahl der Krebse der Leber betrug im Jahre 1895
416 (158 bei Männern und 258 bei Weibern), im folgenden Jahre
ebenfalls 416 (154' bei Männern und 262 bei Weibern), d. i. 4,0
aller Carcinome^), ungerechnet die secundären Fälle, die hier ja
häufig sind. Allerdings ist es wahrscheinlich, dass auch unter
unseren Fällen noch eine nicht unbeträchtliche Zahl secundärer
Erkrankungen enthalten ist, ohne dass es aus den Zählkarten
ersichtlich war; denn „die Erscheinungen der primären Carcinome
sind gegenüber der secundären Krebsentwickelung in der Leber,
welche zuweilen enorme Dimensionen annehmen und das Krank-
heitsbild vollständig beherrschen kann, oft sehr gering" 2). Meist
handelt es sich um Organe, welche mit dem Gebiete der Pfortader
direct oder durch Collateralen in Verbindung stehen, Uterus, Mast-
darm, Magen, Pankreas u. s, w. Unter 280 (130 bei Männern,
150 bei Weibern) secundären Leberkrebsen, welche, soweit zu
ermitteln, in den Heilanstalten behandelt wurden, waren primär an
Krebs erkrankt der Magen 2 12 mal, die weibliche Brustdrüse 17mal
und die weiblichen Geschlechtsorgane 8 mal; in den übrigen 43 Fällen
handelte es sich um Krebs des Darmes und des Pankreas. Budd^)
erklärt die Häufigkeit der secundären Leberkrebse aus der ausser-
ordentlichen Viiscularität dieses Organes und der langsamen Circu-
lation in dem dichten Oapillarnetze, andererseits daraus, dass die
Leber zuerst das aus dem Darmcanale zurückkehrende Blut in sich
aufnimmt; zuweilen handelt es sich auch um unmittelbares Ueber-
greifen per contiguitatem, namentlich gilt dies bezüglich des Magen-
krebses. Dass die portalen Lymphdrüsen krebsig entartet sind,
bekanntlich ein häufiges Vorkomniss, ist 4 mal angegeben. Das
weibliche Geschlecht leidet häufiger als die Männer an Leberkrebs;
*) Leichten Stern fand unter 6019 Sectiouen des Wiener allgemciuen
Krankenhauses 174 Leberkrebse = 2,87 pCt.; Kiesenfeld unter 2601 Sec-
tioncn des Berliner pathologischen Instituts 69 Leberkrebse = 2,65 pCt.
2) Lcube, Diagnose der inneren Krankheiten. Leipzig 1889, S. 185. —
Eichhorst, Specielle Pathologie und Therapie. I, S. 934.
3) Diseases of the liver, citirt nach Aufrecht und Friedeberg iu
Eulen burg's Real-Encyklopädie der Heilkunde. 3. Aufl. Bd. XllI, S. 362.
Die Verbreitung; der Krebserkrankung u. s. w. 941
es entfallen auf weibliche Personen fast 63 pCt. unser Fälle. Uebri-
gens machten die Lebercarcinorae bei Männern 3,8. bei Weibern
4,2 pCt. aller Carcinome aus. Der Grund wird in dem nicht sel-
tenen Hinzutreten der krebsigen Erkrankung dieses Organes bei
Gebärmutter- und Brustkrebs zu suchen sein; vielleicht ist auch
die Disposition von Frauen in den reiferen Jahren zu Fettleber
und besonders das Einschnüren des Organes durch das Corset nicht
ohne Einfluss. Von sonstigen Momenten, welche die Entstehung
des Leidens begünstigen, ist das Vorhandensein von Gallensteinen
16mal und chronischer Alkoholismus 5 mal (davon 3 mal mit Leber-
cirrhose) erwähnt. Anschliessend sei hier berichtet, dass Trunk-
sucht überhaupt im Ganzen 62 mal bei Krebskranken (52 mal bei
männlichen, lOmal bei weiblichen Personen) festgestellt wurde, d.i.
3 mal auf 1000 Krebskranke; ohne Zweifel bleiben diese Zahlen hinter
der Wirklichkeit zurück. Zu erwähnen ist, dass es sich 52 mal
um Krebs der Verdauungsorgane handelte und zwar 2 mal um Krebs
der Lippen, Imal des Mundes, 8 mal der Speiseröhre, 30mal des
Magens (davon 5 mal bei weiblichen Personen), Imal des Mastdarmes,
2 mal des Darmes, 5 mal der Leber (Imal bei einer weiblichen Person),
3mal der Gallenblase (sämmtlich beiweiblichenPersonen); lOmal hatte
der Krebs andere Organe ergrififen. In 14 Fällen von Alkoholismus
(8 bei Männnern, 6 bei Weibern) war Lebercirrhose vorhanden.
Was das Alter der an Leberkrebs Erkrankten betrifft, so waren
darunter 1 Knabe von 7 Jahren und ein junges Mädchen von 19 Jahren ;
je 4 männliche und weibliche Personen waren zwischen 25 und
30 Jahren; 23 männliche und 42 weibliche zwischen 30 und
40 Jahren; zusammen also unter 40 Jahren 75 oder 9 pCt. der
an Leberkrebs Behandelten, während 187 oder 22 pCt. im Alter von
40 bis 50 Jahren, 254 oder 32 pCt. im Alter von 50 bis 60 Jahren,
221 oder 26 pCt. zwischen 60 bis 70 Jahren und 74 oder 8 pCt. altera)
w^aren. Es verstarben in jedem Jahre 261 (62,7 pCt.) dieser Kranken
und zwar von den Männern 101 bezw. 99, von den Weibern 161
bezw. 162.
Gleichfalls bestand Krebs der Gallenblase 19 mal, des Bauch-
felles 5 mal, des Netzes 3 mal, des Dünndarmgekröses (Mesenterium)
Imal, des JVlittclfells Imal, des Brustfells 4mal, der Lunge 3mal
*) 21 oder 3 pCt. unbekanutcu Alters.
Archiv fUr klin. Cliirargie. 57. Bd. Heft 4. (^2
942 Dr. G. ff ei mann,
des Mastdarmes 2 mal, des Zwölffingerdarmes Imal und des Darmes
(ohne nähere Bezeiclinung) 2 mal; ferner fand sich zugleich Krebs
in der Cutis 2 mal, am Nabel, am Brustbein, an der Vena cava
inferior, in den Mediaslinaldrüsen und in den Bronchialdrüsen je
Imal; Imal war eine Metastase zugleich in dem Herzmuskel, dem
Herzbeutel, dem Brustfell und der Zunge. Bekanntlich sind bei
Leberkrebs Thrombosen häufig; verzeichnet ist je 1 mal Thrombose
der Pfortader, beider Venae femorales und der Arteria pulmonalis.
Krebs der Gallenblase finden wir ausser den schon er-
wähnten 19 Fällen bei Leberkrebs und 3 Fällen bei Magenkrebs
in den beiden Jahren 147 mal angegeben, wobei wahrscheinlich
nur noch eine geringe Anzahl secundärer Natur sind; denn im
Gegensatze zu dem Krebs des Lebergewebes handelt es sich bekannt-
lich an der Gallenblase ebenso wie am Ductus cysticus und cholc-
dochus fast stets um eine primäre Neubildung. Auch unter diesen
Kranken überwiegt das weibliche Geschlecht, auf welches 114 Fälle
kamen, während nur 33 Männer an Gallenblasen krebs behandelt
wurden. Keine von den betroffenen Personen war unter 30 Jahren;
37 (26 pCt.) waren zwischen 30 und 50 Jahren, 56 (38 pCt.) zwischen
50 und 60 Jahren und 54 (36 pCt.) älter. Der Ductus cysticus ist
2 mal als befallen bezeichnet, der Ductus choledochus 3 mal, An-
haltspunkte zur Entscheidung der Streitfrage, ob die Gallensteine
Folge oder Ursache des Krebses seien, gewährt unser Material
nicht; in 5 unserer Fälle sind Gallensteine beobachtet worden^).
2 mal ist eine (tödtiiche) Perforation der Gallenblase erwähnt.
Die Chirurgie der Leber und Gallenblase ist zur Zeit noch
in ihren Anfängen begriffen und findet begreiflicher Weise nur ein
beschränktes Arbeitsgebiet. Die Zahl der Operationen betrug 116
mit 61 Todesfällen (52 pCt.). Operativ behandelt wurden 12 von
100 Fällen. Was die Art der Operationen betrifft, so waren davon
') Courvoisicr fand bei 103 Fällen von Gallenblasenkrebs 84 Mal,
(1. i. in fiist ■'/fi der Fälle, Gallensteine. (Heidenhain, Deutsche Medicin.
Wochenschr., 1897, S. 54.) — Nach Spohr, Ein Beitrag zur Pathogenese des
Gallenblasenkrebses, Dissertation, Giessen 1892, finden sich Steine in 88 pCt.
der Fälle. — Grawitz (Klinische Beobachtungen über den Krebs der Gallen-
blase, Charitd-Anualen Bd. XXI, 8. 160) erklärt das häufigere Erkranken von
Frauen an Gallenblascnkrcbs aus ihrer grösseren Disposition zu Galleustein-
erkrankung. — Auf der Naturforschcrversammlung 1898 erwähnte Löbker, dass
er 17mal und Riedel, dass er 23 mal Carcinom auf dem Boden der Chole-
lithiasis gesehen habe.
Die VerhreituTiff der Krebserkrankun^ u. s. w. 943
•r>
fast flie Hälfte Probelaparotomien: 53 (28 t); Laparotomien ohne
weiteren Zusatz 41 (20 f); bei einer derselben wurde gleichzeitig
die Zerquetschung eines Gallensteines vorgenoraraeu; 2 mal fand
die Resection eines carcinomatösen Lebcrstückes statt; Imal (f)
eine Exstirpation der Gallenblase. Die Cholecystotomie wurde 19 mal
(12 t) ausgeführt, Iraal dabei gleichzeitig eine Choledochotomie;
endlich wurde 3 mal (2 t) <>itto Anastomose zwischen Gallenblase
und Dünndarm angelegt.
Die Bauchspeicheldrüse nimmt in der Reihenfolge der von
Carcinom befallenen Körpertheile nur eine niedrige Stelle ein;
immerhin ist Krebs die am häufigsten vorkommende Krankheit
dieses Organes. Die Zahl unserer Fälle betrug 92, von denen 53
bei männlichen, 39 bei weiblichen Personen zur Beobachtung
kamen. Die Bevorzugung des männlichen Geschlechtes entspricht
der allgemeinen Annahme. Was das Alter betrifft, so waren am
jüngsten 2 weibliche Personen von 20 Jahren; ferner waren 2 weib-
liche Personen zwischen 25 und 30 Jahren, 7 Personen zwischen
30 und 40 Jahren, 46 Personen (50 pCt.) zwischen 40 und 60 Jahren,
35 (38 pCt.) älter. Die Leber war in 14 Fällen gleichfalls erkrankt,
das Duodenum 2 mal, das Netz und der Hoden je Iraal. In einem
Falle fand ein Durchbruch nach der hinteren Magenwand statt und
der Kranke verblutete sich durch Arrosion der Arteria coronaria
inferior; Iraal brach der Krebs nach dem Herzbeutel durch. Secun-
därer Krebs der Bauchspeicheldrüse ist 4 mal bei Magenkrebs notirt.
Ueber das Vorkomraen von Steinen oder etwaigem gleichzeitigen
Diabetes ist nichts mitgetheilt. Die Zahl der Todesfälle betrug
73 (80 pCt.). Operirt wurden 16 Fälle (12 t), und zwar wurden
6 Probe- und 10 Laparotomien ohne weitere Bezeichnung aus-
geführt.
Krebs des Bauchfelles findet sich 209 mal angegeben (1 pCt.
aller Carcinome). Auch hierunter sind wahrscheinlich eine Anzahl
secundärer Krebse inbegriffen, da diese Erkrankung hauptsächlich
secundär bei den Garcinoraen der Bauchhöhle auftritt. Während
auf die Männer nur 51 Fälle kommen, beträgt die Zahl für die
Weiber 158 (76 pCt.). Es ist dies Verhältniss vermuthlich durch
die Häufigkeit des Krebses an den weiblichen Genitalien bedingt.
Ära jüngsten von den Betroffenen war eine weibliche Person von
21 Jahren, 7 Kranke waren zwischen 25 und 30 Jahren, 32
62 ♦
944 Dr. G. Hei mann,
zwischen 30 und 40 Jahren (15 pCt.), 45 zwischen 40 und 50 Jahren
(22 pCt.), 74 zwischen 50 und 60 Jahren (35 pCt.), 33 zwischen
60 und 70 Jahren (15pCt.), 12 älter (7 pCt.) und 5 unbekannten
Alters. Gestorben sind von den Erkrankten 103, also fast die Hälfte.
Es handelte sich 40 mal um Krebs des Netzes, 13 mal um solchen
des Dünndarragekröses (Mesenterium). Krebs des Nabels, bekanntlich
ein werthvolles diagnostisches Zeichen, fand sich 7 mal. Von gleich-
zeitiger Erkrankung der Inguinaldrüsen ist 3 mal berichtet. Imal
bestand zugleich Krebs des Brustfelles, des Herzbeutels und des
Zwerchfelles. Von Operationen wurden ausgeführt: Probelaparo-
tomien 23 (8 t), Laparotomien 35 (17 f).
Von secundärem Bauchfellkrebs finden sich 113 Fälle (22 bei
männlichen und 91 bei weiblichen Personen) erwähnt. Es sind
dabei nur die wirklichen Carcinome, nicht auch die chronischen
Bauchfellentzündungen , die sich so häufig bei Krebs der Bauch-
organe einstellen, mitgerechnet. Immerhin erscheinen die Zahlen
zu klein, um den Thatsachen entsprechen zu können. Von den
secundären Bauchfellkrebsen sind angegeben: 1 bei primärem Krebs
der Speiseröhre, 34 bei Krebs des Magens (14 männlicher und
20 weiblicher Personen), 6 bei Leberkrebs (2 männl. und 4 weibl.
Personen), 9 bei Darmkrebs (3 männl., 6 weibl. Personen), 2 bei
Pankreaskrebs, 1 bei Nierenkrebs, 1 bei Prostatakrebs, 37 be*
Gebärmutterkrebs und 22 bei Eierstockkrebs.
Wenn wir jetzt zu den oberhalb des Magens gelegenen Organen
des Verdauungscanales übergehen, so wurde Krebs der Speiseröhre
im Jahre 1895 455 mal (397 mal bei Männern und 58 mal bei Wei-
bern), im Jahre 1896 556 mal (489 mal bei Männern und 67 mal
bei Weibern) behandelt. Das Carcinom dieses Kürpertheiles machte
5 pCt. aller behandelten Carcinome aus. Die Männer sind ganz
vorherrschend betheiligt, auf sie entfallen 88 pCt. der Fälle. Von
den Carcinomen männlicher Personen waren 10 pOt. solche der
Speiseröhre, während für die weiblichen Behandelten diese Zahl
nur 1 betrug. Der Jüngste der an Speisenröhrenkrebs Leidenden
war 19 Jahre alt; im Ganzen waren 5 pCt. derselben unter 40 Jahren,
23 pCt. zwischen 40 und 50 Jahren, 38 pCt. zwischen 50 und
60 Jahren, 25 pGt. zwischen 60 und 70 Jahren, 8 pCt. älter. Tödt-
lieh verliefen im Jahre 1895 204, im folgenden Jahre 260 Fälle
(46 pCt.) Ueber den Theil der Speiseröhre, welcher krebsig er-
Die Verbreitung der Krebserkranltung ii. s. w. 945
krankt war, sind keine Angaben gemacht. Nach Rindfleisch ist
der gewöhnliche Sitz das mittlere Drittel; nach Förster kommt
ein Drittel, nach Mackenzie fast die Hälfte aller Carcinome auf
das obere Ende der Speiseröhre, während nach Petri und Zenker
und V. Ziemssen das obere Ende mit 15,5, das mittlere mit
51,7 und das untere mit 63,8 pCt. betheiligt ist (Petri, Krebs der
Speiseröhre, Inaugural-Diss., Berlin 1868, Zenker und v. Ziemssen,
Krankheiten des Oesophagus, 1877) i). Die Unterscheidung von
Speiseröhren- und Cardiakrebs ist zuweilen schwierig; Fälle, wo
beide gleichzeitig vorkommen, sind hier unter Magenkrebs ver-
rechnet. Von sonstigen Organen waren ebenfalls an Carcinom er-
krankt: die Leber 9 mal, die Wirbelsäule 2 mal (es war beide
Male Compressionsrayelitis zu constatiren), Brustbein, Schilddrüse,
Kehlkopf, Luftröhre, Lunge, Bronchien, Niere, Bauchfell, Zwerch-
fell je ImaL Drüsenkrebse sind 5 verzeichnet; 4 mal wurde links-
seitige Recun-enslähmung beobachtet. Von besonderer Bedeutung
ist hier die Gefahr des Durchbruches 2) in benachbarte Organe;
8 mal fand ein solcher in die Lunge (3mal in die linke und 5 mal
in die rechte Lunge) statt, 6 mal in die Luftröhre, 4 mal in die
rechte Pleurahöhle (Imal Rippenresection wegen Pyopneumothorax),
2 mal in die Aorta. 3 mal ist Lungengangrän nach Perforation an-
gegeben, weiterhin noch 5 mal Lungengangrän, ohne dass eine
solche Ursache angeführt ist, wenn sie auch wahrscheinlich vor-
liegt. Um die Ernährung zu ermöglichen, wurde im Jahre 1895
86 mal, im Jahre 1896 107 mal die Gastrostomie gemacht. Von 5
der behandelten Männer wurde je 1 dieser Operation unterworfen.
Es endeten tödtlich von diesen 193 Operationen 107. 7 mal wurde
die Tracheotomie ausgeführt, dabei 2 mal zugleich die Oesophago-
tomie, Imal auch noch die Strumectomie wegen Schilddrüsenkrebs.
Ausserdem wurden noch 8 Oesophagotomien gemacht. Von diesen
Operirten starben 8. Recidive sind nicht erwähnt. Czerny be-
richtete auf dem Moskauer intern, med. Congresse, das die Re-
section des Oesophagus bei Carcinom bisher keine günstigen Er-
folge aufzuweisen habe. Von 10 derartigen Operirten blieben nur
^) Citirt Dach Rosenbeim, Oesopbaguskrankheiten in Eulenburg 's
Real-Encyklopädie.
2) Nach Rosenheim kommt es in mehr als der Hälfte der Fälle von
Speise röhrenkrebs zur Perforation.
946 Dr. G. Heimann,
3 am Leben und zwar je 18, 11 und 8 Monate. Auoh die Oeso-
phagostouiie hat keine nennenswerthen palliativen Erfolge; dagegen
schafft die Gastrostomie zuweilen eine Lebensverlängerung; von 14
auf diese Weise Operirten starben 3 im 1. Monate, die anderen
lebten bis 11 Monate.
Krebs des Rachens und des Mundes wurde 1895 93 mal
(77 mal bei Männern und 16 mal bei Weibern), 1896 99 mal
(80 mal bei Männern und 19 mal bei Weibern) beobachtet; er
machte 1 pCt. aller Carcinome aus. Auch hier waren die Kranken
ganz vorwiegend (in 80 von 100 Fällen) Männer. Der jüngste
der Behandelten war 16 Jahre alt; ferner waren 2 männliche Per-
sonen zwischen 20 und 25 Jahren; im Ganzen machten Personen
unter 40 Jahren 10 pCt., von 40 bis 60 Jahren 50 pCt., von 60 bi>
70 Jahren 23 pCt. und ältere 15 pCt. der an Krebs dieser Körper-
theile Leidenden aus. Tödtlich verliefen 1895 19, 1896 18 Fälle,
d. i. nicht ganz 20pCt. Der Rachen war 56 mal, der harte Gaumen
lOmal, der weiche 11 mal, das Zäpfchen 2mal, die Tonsille 31mal,
der Mundboden 19 mal, das Zahnfleisch Imal, die Mundschleimhaut
62 mal befallen. Gleichfalls bestand Kieferkrebs in 16 Fällen.
Drüsenkrcbserkrankungen sind verhältnissmässig häufig, 15mal, ver-
zeichnet. Einmal trat Verblutung in Folge Durchbruch des Carcinoms
in die Arteria lingualis ein. Operationen wurden 95 ausgeführt,
darunter 21 Kieferrcsectioncn (5 temporäre), 2 Gastrostomien (wegen
Schlundkrebs) und 6Trachcotomicn. 28 Operationen führten zum Tode.
Es sei erwähnt, dass Krocnlein auf dem Chirurgcncongresse 1897
berichtete, er habe in den Jahren von 1881 — 96 61 Fälle ^on
Carcinoma pharyngis (56 bei Männern, 5 bei Weibern) beobachtet,
d. i. 1 auf 15 Carcinome überhaupt. 30 davon sassen im Cavum
pharyngo-oralc, 29 im Cavum pharyngo-laryngeale, 2 im Cavura
pharyngo-nasalc ; die Prädilectionsstellen entsprechen genau dem
Wege, welchen die Speisen nehmen, wius für die VirchowVhe
x\nschauung, dass Insulte an der Aetiologic des Carcinoms be-
thciligt sind, spricht. Nur 29 von den 61 Carcinomen konnten
operirt werden, 1 1 starben an der Operation, 2 wurden geheilt,
alle anderen starben an Recidiven. Der Lebensgewinn im Vergleiche
mit den Nichtoperirten betrug 7 Monate. Ein Patient lebt noch,
nachdem 2 Jahre seit der Operation verflossen sind, recidivfrei.
Die Zahl der Zuni^enkrebse betrug im Jahre 1895 120
Die Verbreitung der Krobserkranlcung u. s. w. 947
(103 bei Mcänncrn, 17 bciWciborn), 1896 149 (130 bei Männern und 19
bei Weibern), d.i. l,4pCt. aller Krebse. Auf das männliche Geschlecht
entfielen 87 pCt. Sie machten von allen Carcin(imen männlicher
Personen 2,6 bezw. 3,1 pCt. aus. Der jüngste der Behandelten war
27 Jahre, alle anderen über 30 Jahre, nämlich 9 zwischen 30 und
40 Jahren, 55 zwischen 40 und 50 Jahren (20 pCt.), 96 zwischen
50 und 60 Jahren (36 pCi), 75 zwischen 60 und 70 Jahren
(28 pCt.), 27 älter und unbekannten Alters 6. Es endeten ^g bezw\
über 7^ der Fälle tödtlich: 40 bezw. 38. Die Bösartigkeit dieser
Carcinome beruht nach Heidenhain- (Chirurgencongress, Berlin
1897) meist darauf, dass die Zungencontractionen die inficirende
Substanz in die Lymphbahnen weiter befördern; die Hauptlymph-
drüsen der Zunge sind die submaxillarcn und die tiefen cervicalen
Drüsen. Krebserkrankungen derselben sind in 24 Fällen, d. i.
etwa in 9 pCt. der Fälle, erwähnt. Gleichzeitig ergriffen war der
Unterkiefer 8 mal, der Gaumen 6 mal, die Tonsille 2 mal, der
Pharynx ebenfalls 2 mal, die Nase 1 mal. Ein operativer Eingriff
fand 1895 63 mal (52 pCt.), 1896 95 mal (64 pCt.) statt. Mit
der Exstirpation wurde 21 mal eine Kieferresection verbunden
(davon 16 temporäre Rcsectionen) ; die Tracheotomie wurde
in 10 Fällen ausgeführt, dabei noch in einem Falle die Carotis
unterbunden und die Laryngofissur gemacht. Der Tracheotomie
folgte in 5 Fällen die Exstirpation des Carcinoms, in einem Falle
die Pharyngotomia subhyoidea. Die Zahl der Recidive betrug 22.
Wenn wir nun nachstehend die Krebserkrankungen im Ver-
dauungscanale zusammenfassend betrachten, so fällt besonders die
stärkere Betheiligung des männlichen Geschlechtes ins
Auge. Von den 4226 Fällen des Jahres 1895 kommen 2589
(61 pCt.) auf dieses und nur 1637 Fälle (39 pCt.) auf Weiber. Ent-
sprechend war das Verhältniss im folgenden Jahre: von 4520
Fällen betrafen 2729 (61 pOt.) Männer und 1791 (39 pCt.) Weiber.
Im Ganzen machten die Carcinome des Verdauungscanais 42,5 pCt.
aller Carcinome, 65,4 pCt. der bei männlichen und 27,6 pCt. der
bei weiblichen Personen aus. Von den verschiedenen Altersklassen
hatte die, welche das Alter von 50 — 60 Jahren umfasst, den
grössten Antheil aufzuweisen, nämlich 1895 30pCt., 1896 33pCt.;
über 60 — 70 Jahre waren 23 bezw. 24 pCt., zwischen 40 und
50 Jahren 24 bezw. 21 pCt., unter 40 Jahren je 11 und über
948 Dr. G. II e im an n,
70 Jahren 10 bezw. 8 pCt. der an Krebs dieses Körpertheils Be-
handelten. (Vergl. Tab. IX und X, S. 932- 934).
Die Zahl dqj Todesfälle belief sich auf 46,8 bezw. 46,4pCL
War beim Manne der Verdauungscanal der Hauptsitz der
Krebserkrankung, so fällt beim Weibe diese Rolle dem Gcnital-
apparate und der Brustdrüse zu.
Die Caroinome der weiblichen Geschlechtsorgane be-
liefen sich im Jahre 1895 auf 2243, d. i. 22,3 pCt. aJler Carci-
norae oder 37,1 pCt. aller Krebse bei Weibern; im Jahre 1896
war die Zahl dieser Carcinome 2423, d. i. 23pCt. aller Carcinomc
und 37,9 pCt. der Krebse bei AVeibern. Was den Familienstand
betrifft, der bei diesen Erkrankungen von Bedeutung ist, so waren
von den an Genitalkrebs leidenden Weibern 1895 200 = 8,9 pCt.,
1896 215 = 8,8 pCt, ledig, verheirathet im ersteren Jahre 1386
= 61,9 pCt., im letzteren 1575 =- 65,0 pCt., verwittwet oder
geschieden im ersteren Jahre 635 == 28,3 pCt., im letzteren 616
= 25,5 pCt. (für 22 bezw. 17 derartiger Kranken fehlte die An-
gabc des Familienstandes). Vergleiche mit in den Heilanstalten
überhaupt behandelten weiblichen Personen sind, da Feststellungen
über deren Familienstand nicht vorliegen, nicht möglich.
In Bezug auf die Betheiligung der Altersklassen machen sich
Verschiedenheiten hinsichtlich der einzelnen Organe bemerkbar. An
den äusseren Geschlechtstheilen kommt das Carcinom bei weib-
lichen Personen unter 50 Jahren seltener, über 70 Jahren liäufiger
vor wie an Gebärmutter und Eierstock. Auch Scheidenkrebs
wird öfter bei älteren Personen beobachtet wie Gebärmutter- und
Eierstockkrebs.
Die Zahl der Carcinome der Gebärmutter betrug im Jahre 1895
1943, im Jahre 1896 2129, d. i. 19,3 bezw. 20,2 pCt. aller oder
32,2 bezw. 33,4 pCt. der bei weiblichen Personen behandelten
Carcinome.
Bezüglich des Häufigkeitsverhältnisses zu den übrigen Erkran-
kungen der Geschlechtsorgane überhaupt sei angeführt, dass Thorn^)
in Magdeburg unter 10500 gynäkologischen Kranken 226 ==• 2 pGt.
an Gebärmutterkrebs Leidende hatte; dies ist bei einer ausschliess-
1) Thorn, Statistisches und Klinisches zum Carcinoma uteri. Münchoner
Medicin. Wochenschrift. 1897, No. 45—47.
Die Verbreitung der Krebserkrankung u. s. w. 949
lieh gynäkologischen Clientel ein sehr niedriger Procentsatz; an
grösseren Universitätsstädten strömt das Material aus weit ent-
legenen Gegenden zusammen und so muss sich natürlich eine höhere
Ziffer ergeben.
Es wurden an diesem Uebel von 1887/88—1892/931) in den
preussischen Universitätskliniken (stationären) für Frauenkrank-
heiten behandelt 2724 Fälle, d. i. 10,2 pCt. aller 26641 dort
behandelten Fälle.
In der Berliner Universitätsklinik (Artilleriestrasse) betrug ihre
Zahl während des erAvähnten Zeitraums 688 = 12,6 pCt. von
5470 Fällen überhaupt; in der gynäkologischen Universitätsklinik
der Berliner Charite 464 =■ 10,6 pCt. der dort behandelten
4360 Fälle; in letzterer Klinik wurden 1893/94—1895/96 189 Fälle
von Gebärrautterkrebs (d. i. 7,1 pOt. aller 2675 Fälle) be-
handelt 2).
In allen Universitätspolikliniken^) für Frauenkrankheiten
wurden in dem Jahrzehnt 1887/88—1896/97 4155 Fälle von Gebär-
mutterkrebs (d. i. 2,9 pCt. aller 139523 Fälle) behandelt. Davon
entfallen auf die Anstalten der einzelnen Universitäten:
[n Breslau bei 19853 Fäll, überhaupt 926 Fälle v.Gebärmutterkrobs - 4,6pCt.
„ Berlin
„ 42340
ji
ri
1359
11
11
11
-3,2 „
„ Halle
„ 24933
n
11
784
11
11
11
=3,1 „
„ Greifs wald
„ 4986
11
11
145
11
11
11
= 2,9 „
„ Göttingen
„ 7141
n
11
192
11
n
11
=2,7 „
„ Marburg^)
„ 3985
V
11
99
11
11
11
= 2,5 „
„ Bonn
„ 7201
11
11
149
11
11
11
= 2,0 „
„ Königsberg
„ 12184
V
11
233
11
11
11
= 1,« „
Während der letzten 5 Jahre 1892/93—1896/97 trat insofern
eine Verschiebung ein, als Greifswald mit 3,2 pCt. an die zweite
Stelle rückte, während die Zahlen für die übrigen Universitäten
sich (in derselben Reihenfolge) zwischen 2,9 und 1,9 bewegten.
•) Die Zahlen für die Jahre 1887/88 und 1891/92 nach dem Klinischen
Jahrbuch, Bd. I— V, 1892/93 nach Zusammenstellungen des Königl. Statist.
Bureaus.
2) Charite- Annalen. Jahrgang 20 — 22.
8) Die Zahlen bis 1892/93 wie oben; für die folgenden Jahre nach Zu-
sammenstellungen des Königl. Statist. Bureaus; es sei darauf hingewiesen,
dass eine Anzahl von aus den Polikliniken den stationären Kliniken überwiesenen
Fällen beide Male gezählt sind.
4) Es fehlen die Angaben für 1888/89 und 1892/93.
950
Dr. G. Heimann,
In der gynäkologischen Universitätspoliklinik der Berliner Cha-
rite wurden 1887/88—1892/93 267 Fälle von Gebärmutterkrebs
behandelt, d. i. 1,7 pCt. aller 15149 Fälle; für die späteren Jahre
stehen die Zahlen nicht zu Gebote. Für die Poliklinik in Kiel
liegen nur Nachrichten für die Jahre 1888/89 — 1894/95 vor; in
Die an Krebs der weiblichen Gesehlechtsor^ane in den Heilanstalten
nach Älter uod
Tabelle XL
Alter.
Familienstand.
Alter.
bis 20 Jahre . . .
davon operirt . .
über 20 bis 25 Jahre
davon operirt . .
über 25 bis 30 Jahre
davon operirt . .
über 30 bis 40 Jahre
davon operirt . .
über 40 bis 50 Jahre
davon operirt . .
über 50 bis 60 Jahre
davon operirt . .
über 60 bis 70 Jahre
davon operirt . .
über 70 Jahre . .
davon opertrt . .
unbekannten Alters
davon operirt . .
Zusammen .
davon operirt
Familienstand.
Ledig
Vcrheirathet
Verwittwet und geschieden
Ohne Angabe ....
C ar ci
der äusseren
weiblichen
Geschlechts-
theilc
Be-
han-
delte
davon
gestor-
ben
der Scheide
Be-
han-
delte
davon
gestor-
ben
des Uterus
Be-
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davon
gestor-
ben
der Ovarien
Be-
bfin-
de Itc
davon
gestor-
ben
1
1
15
4
12
1
14
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23
3
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1
24
2
20
1
14
1
10
2
2
12
4
16
R
16
5
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7
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4
H
1
1
93
12
65
7H
S
26
9
2
7
56
7
39
28
3
19
—
1
2
1
4
1
40
14
349
92
645
170
545
141
239
44
11
6
44
10
1943
47S
165
1196
561
21
8
4
56
11
125
21
100
16
11
7
39
1
4
1
409
Gl
58
178
171
2
1
1
2
4
23
19
51
H6
42
22
14
5
3
1
1
1
142
H9
19
95
27
1
1
1
1
3
2
10
H
18
4
1
1
1
40
22
4
21
15
Die Verbreitung der Krebserkrankung u. s. w.
951
diesen 6 Jahren wurden 104 Fälle von Gebärrautterkrebs behan-
delt, d. i. 5,3 pCt aller 1951 Fälle, eine Zahl, die auffällig hoch
erscheint.
Auch die sociale Lage der Clientel ist von Bedeutung. Es
ist bekannt, dass besser Situirte seltener an Carcinoma uteri er-
Prenssens 1895 and 1896 Behandelten, Operirten, Gestorbenen,
FamilienstaDd.
n 0 m
der äusseren
weiblichen
Geschlechts-
theiie
Be-
han-
delte
davon
gestor-
ben
der Scheide
Be-
han-
delte
davon
gestor-
ben
des Uterus
Be-
han-
delte
davon
gestor-
ben
der Ovarien
Be-
han-
delte
davon
gestor-
ben
Insgesammt
Carcinom der weiblichen
Genitalien
1895
Be-
han-
delte
189G
davon
Be-
gestor-
han-
ben
delte
6
3
1
5
4
9
45
5
18
63
399
14
141
138
lb2
29
232
122
745
27
215
83
281
8
84
42
88
2
18
5
102
2
39
davon
gestor-
ben
1
1
3
2
14
6
22
16
23
16
22
9
3
2
88
52
12
50
26
1
1
2
1
13
5
15
6
18
.9
10
6
6
3
1
1
5
1
3
1
5
1
1
3
2
39
15
362
125
682
197
659
168
231
52
bl
4
93
33
7
66
18
32
3
10
3
2
39
7
5
17
8
—
2129
596
168
1402
544
15
76
13
126
30
129
22
57
10
27
2
9
1
431
78
52
227
149
3
2
2
1
1
4
2
21
9
41
23
46
22
17
10
3
5
3
140
25
84
29
2
2
^
1
1
1
1
2
2
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50
27
14
22
14
1
1
7
.2
47
18
399
726
626
187
285
75
101
20
51
2243
6Ö6
200
1386
635
22
463
2423
87
754
64
215
208
1575
189
616
2
17
2
1
9
1
82
75
147
40
152
.9i
69
i4
34
2
10
506
108
69
258
176
3
952
Dr. G. HeimanD,
Die an Krebs der weibliehen Gesehleehtsorgane in den Hell-
nach Altersklassea
Tabelle XII.
BezcichnuDg des Körpertheiles.
Äeussere weibliche Ge- f 1895
schlechtsthcile \ 1896
^ , . , / 1895
Scheide | j^g^g
TTf / 1895
^ . / 1895
Ö^''-^"«" \ 1896
Von je 100 Behandelten
bis 20 Jahre
Be-
han-
delte
Ge-
stor-
bene
1^
0,1
0,7
1,4
Zusammen
\ le
1895
896
0,1
0,2
4,0
üb. 20-25 J.
Be-
han-
delte
Ge-
stor-
bene
üb. 25—30 J.
Be-
han-
delte
Ge-
stor-
bene
üb. 30— 40 J.
Be-
han-
delte
1,1
1,1
0,2
0,1
1,4
0,7
0,4
0,3
0,2
8,1
3,0
5.6
2,1
2,0
—
1,8
1,6
2.5
3,5
2,5
2,0
2,9
2,0
0,2
2,1
1.9
0.2
1,9
1,8
16,1
3.4
18,5
19,7
18,0
17,0
16,2
15,0
17,8
16,5
Ge-
stor-
bene
B3,3
14,3
16,6
13,7
17,7
7.5
4,0
13,6
16,2
kranken, wie Angehörige der ärmeren Klassen der Bevölkerung^).
Bei ungünstigen socialen Verhältnissen ganzer Völker wird man ein
häufiges Vorkommen dieser Krankheit erwarten dürfen; v. Kez-
marszky's Klinik in Budapest weist unter 1195 gynäkologischen
Kranken 705 =• 6,35 pCt. an Gebärmutterkrebs Leidende auf-).
Bezüglich des Lebensalters der in den preussischen Heil-
anstalten Behandelten ergeben die Tabellen XI und XU, dass
während der Jahre 1895 und 1896 die Höchstzahl der Stufe
von 40 — 50 Jahren angehört: 32,6 pOt.; demnächst betreffen die
meisten Fälle Personen zwischen 50 und 60 Jahren, 29,5 pCt.; im
Alter zwischen 30 und 40 Jahren standen 17,5, zwischen 60 und
70 Jahren 11,6 pCt. ; über 70 Jahre waren 3,3, zwischen 20 und
30 Jahren 2,1 pCt.; jünger waren 3 Kranke (zwischen 17 und
19 Jahren) 3). Besonders ist also die Blüthezeit und das Klimakte-
rium gefährdet. In dem gleichen Alter treten auch vorwiegend die
katarrhalischen Erkrankungen der Schleimhaut auf und man geht
1) Vergl. Schröder, HaDdbuch der Krankheiten der weibl. Geschlechts-
organe. 1879, S. 268.
2) Thorn, a. a. 0.
^) Von 100 überhaupt in den Heilanstalten behandelten weibl. Personen
waren (1894) 32,8 unter 20 J., 29,0 zwischen 20 und 30 J., 23,6 zwischen 30
und 50 .f., fi,5 zwischen 50 und CO J., älter 8,1 Personen.
Die Vcrbreilung <\«t Kicbserkrankung u. (
»8Ui1t«R Pmm>« 1895 niid 1891t BehaidellcD, OeNturbenen,
(Rt-lativzahleu).
beaw. üeatorbeDBü war
en alt
Sun
üb. 40-50J.
üb. 50
-60J,
üb. 60
-70J.
über 70 Jahre
uQbek
Altera
Be-
Ge-
Be.
Ge-
Be-
Ge-
Be-
Ge-
Be-
Ge-
Behan-
delte
Gestor-
bene
bäD-
stor-
han-
ätor-
ban-
stor-
han-
stor-
han-
stor-
delte
bSDG
delte
beoe
delte
bene
delte
bene
delte
beoe
15,1
16,7
24,7
25,0
35,8
16,7
15,1
8,3
2,1
_
100,0
100,0
l,'.,H
25,0
14,3
26,2
25,0
71,4
3,4
100,0
100,0
'2+,«
50,0
24,«
50,0
12,3
10,8
6,1
100,0
100,0
■22,7
27 ft
27.8
i6,e
15,2
27, S
9,1
5,6
1,5
100,0
100,0
a:^M
3111;
MKI)
24,4
12,3
1«,K
4.0
9.5
2,2
1,0
100,0
100,0
32,1
29,3
31,0
»0,0
10,9
18,2
3,7
6,3
4,»
1,9
100.0
100,0
35.M
25,0
29,7
4.'.,(1
.■i,0
0,7
2..'.
100,0
ab,3
32.0
32,9
38,0
12,1
14,0
2,1
2,0
3,6
2.0
100,0
32,4 : 29,8
27,9
2fi,4
12.7
17,9
4,5
9,1
2,2
1.1
100,0
100,0
31,1
29,1
30,8
80,1
11,6
18,7
3,6
6,7
4,1
1,8
100,0
100.0
vielleicht nicht zu weit, wenn man ihnen cino Vermittlerrolle zu-
schreibt, insofern sie den Boden für das Haften des Krebs^iftes
geeignet machen sollen. „Nicht so selten hat man das Uebergohen
einer gutartigen Erosion der Portio in ein Carcinom, die Umwand-
lung der gewöhnliehen (ungösen Endometritis in ein malignes Adenom,
oder auch in ein echtes Carcinom beobachtet" ').
In Uebereinstimmung mit diesen Feststellungen sind die von
Gusserow und von Winckel gefundenen Zahlen^). Ersterer hatte
unter 3385 an Gebärmutterkrcb.s Leidenden {davon 2 unter 20 Jahren)
3,3 pCt. zwischen 20 und 30 Jahren, 22,7 pCt. zwischen 30 und
40 Jahren, 34,5 pCt. zwischen 40 und 50 Jahren, 25,2 pGt.
zwischen 50 und 60 Jahren, 10,0 pCt zwischen 60 und 70 Jahren,
5,7 pCt, zwischen 70 und 80 Jahren; letzterer 1,3 zwischen 20 und
30 Jahren, 25,7 zwischen 30 und 40 Jahren, 32,2 zwischen 40
und 50 Jahren, 30,3 zwischen 50 und 60 Jahren, 8,6 zwischen 60
und 70 Jahren, 1,9 zwischen 70 und 80 Jahren.
Bei 577 Fallen^}, welche in der gynäkologischen Klinik der
Berliner Charit^ in den Jahren 1883 — 9H behandelt wurden, war
') Thorn. a. a. 0.
=) Citirt nach 0. MüMer, Zur Lehre
AnDalea. Jahrgang XVUI, S. 528.
uteri. Charit6-
954 Dr. (i. Heimann,
die Zeit der Erkrankung vom Cliinaktcrium nach dem Alter der
Geschlechtsreife hin verschoben. Es waren nämlich von den
Kranken zwischen 20 und 30 Jahren 24 (4,16 pCt.), zwischen 30
und 40 Jahren 176(30,5), zwischen 40 und 50 Jahren 227 (39,8),
zwischen 50 und 60 Jahren 112 (19,6), zwischen 60 und 70 Jahren
33 (5,7), zwischen 70 und 80 Jahren 5 (0,8). Mehr als ein Drittel
war unter 40 Jahren. Müller sucht die Erklärung darin, dass
die Kranken der Oharitö auschliesslicher als in anderen Univcrsi-
täts- und sonstigen Krankenanstalten der ärmeren und ärmsten
Klasse der Bevölkerung angehören, bei denen diese Krankheit nicht
nur häufiger, sondern auch früher eintrete. Er macht auch darauf
aufmerksam, dass nach seinen Erfahrungen die Menopause bei den
Personen, welche später an Oarcinom erkrankt seien, erst nach
dem gewöhnlichen Zeitpunkte (dieser ist für die arbeitende Klasse
vor dem 47. Lebensjahre) einzutreten pflege.
Es standen, wie er anführt, von 524 seiner in der Charite
Behandelten (für die übrigen waren genaue Angaben nicht zu er-
langen) in der Menopause 163 = 31,1 pCt., im beginnenden
Climakterium 140 = 26,7 pCt., dagegen in sicherer, mehr oder
weniger regelmässiger Menstruation 221 =r 42,2 pCt. Dass Ge-
schlechtsgenuss und Entbindungen von Einfluss auf die Entstehung
des Gebärmutterkrebses sind, ist eine bekannte Thatsache. Von
den in den preussischen Heilanstalten an dieser Krankheit Behan-
delten waren im Jahre 1895 1196 = 61,6 pCt., im Jahre 1896
1402 = 65,9 pCt. verheirathet; verwittwet oder geschieden waren im
crsteren Jahre 561 = 28,9 pCt.; im letzteren Jahre 544 = 25,5 pCt.;
ledig im ersteren Jahre 165= 8,5 pCt., im letzteren Jahre 168
== 7,8 pCt.; unbekannten Familienstandes 21 = 1,0 bezw. 15
= 0,8 pCt. '). Auch auf die Häufigkeit der Geburten wird vielfach
Werth gelegt. In dieser Beziehung liefert das Material des stati-
stischen Bureaus keine Nachrichten. Von Interesse sind hier die
Mittheilungen Müll er 's. Unter 528 krebskranken Frauen der
Charite zählte er nur 28 == 5,3 pCt., die noch nicht geboren hatten 2).
Das Durchschnittsalter dieser 28 Personen betrug 46,4 Jahre,
0 Vcrgl. Tab. XI, S. 950; von 100 weiblichen Personen zwischen 30
und HO J. waren in der Bevölkerung überhaupt im Jahre 1895 verheirathet
74,8, verwittwet oder geschieden 12,7, ledig 12,5; es ist dabei zu berück-
sichtigen, dass Verheirathetti seltener wie Ledige das Krankenhaus aufsuchen.
2) Gusserow fand unter 1540 Fällen 121 = 7,8 pOt.
11
Die Verbreitung der Krebserkrankung u. s. vv. 955
17 von ihnen waren über 45 Jahre. Von den übrigen 500 waren
106 = 21,2 pCt, die nur Inial geboren hatten (darunter 7 Per-
sonen mit Imaligem Abort); 227 = 45,4 pCt, die 2 — 5mal ge-
boren hatten; 167 = 33,4 pCt., die 6 — 16mal geboren hatten.
Auf diese 500 Kranke fallen — Zwillingsgeburten nicht gerechnet
— 2225 Geburten und 284 Aborte, d. i. auf jede Kranke durch-
schnittlich 4,45 Geburten und 0,57 Aborte = 5,02 Schwanger-
schaften; es wird also auffälliger Weise die mittlere Zahl von Ge-
burten in Preussen — nach Lothar iMeyer 4,6 — nicht erreicht.
Eine Erklärung findet Müller darin, dass unter den Krebskranken
verhältnissmässig viele nur Iraal geboren hatten. Die Zahl der
Aborte war bedeutend; 32,4 pOt. dieser Kranken hatten wenigstens
Iraal abortirt und die Zahl der Aborte verhielt sich zu der Zahl
der Geburten wie 12,8 : 100. Ein Einfluss besonders schwerer,
oder schnell auf einander folgender Geburten Hess sich nicht fest-
stellen. In 46 Fällen schloss sich die Erkrankung direct an ein
Wochenbett oder eine Schwangerschaft an; 12 mal mehr weniger
unmittelbar an einen Abort, so dass die Unterbrechung der Schwanger-
schaft wohl bereits als Folge der schon vorhandenen Erkrankung
angesehen werden konnte. Fügen wir diesen Mittheilungen aus
MüUer's Bericht über die Charitc gleich hinzu, dass in den beiden
Berichtsjahren 21 Fälle von Gebärmutterkrebs bei Schwangeren in
den preussischen Heilanstalten (estgestellt worden sind*), von denen
5 tödtlich endeten.
Uebrigens haben nach Schroeder^) Prostituirte keine beson-
dere Neigung, an Carcinom zu erkranken. Der unbändige Ge-
schlechtstrieb, an dem manche krebskranke Frauen leiden, ist nach
seiner Ansicht nur Symptom einer uterinen Erkrankung. Im All-
gemeinen ist „der ausser Function getretene Uterus bei Frauen
über 60 Jahre weniger ausgesetzt, während in diesem Alter sich
die Disposition des Magens um so mehr steigert" (Virchow, Zur
0 Bezüglich des Verlaufes ist Folgendes ersichtlich: 2 Mal trat Abort
ein, einmal im 4. Monat;» in einem dritten Falle wurde die künstliche Früh-
geburt eingeleitet, eine Kranke starb bei der Entbindung; einmal wurde nach
Abort die hohe Amputation des Cervix gemacht. Die Totalexstirpation des
Uterus wurde bei 12 Schwangeren ausgeführt (4 t); 2 dieser Operirten waren
im 5. Monat der wSchwangerschaft. - Im Uebrigeu vcrgl. auch Olshausen,
Carcinom des Uterus und Schwangerschaft. Zeitschrift für Geburtshülfc. Bd. 37,
Heft 1.
2) a. a. 0. S. 2G7.
956 Dr. G. Hei mann,
Geschwulst.statistik, Archiv f. pathol. Anat, Bd. 27, 1863). Allein
wenn man sich vergegenwärtigt, dass nur ein Bruchthcil der Frauen
dieses Alter erreiclit, niuss man zugeben, dass auch nach Eintritt
der Menopause die Zahl der Krebserkrankungen der Gebäniiuttcr
nicht unbeträchtlich ist; die senile Involution des Organes bildet,
wie bei den übrigen Körpertheilen, einen geeigneten Boden für die
Entstehung dieser Geschwulst'). In Bezug auf das Alter seien
hier noch nachstehende Zahlen über die Todesfälle an Gebärmutter-
krebs in Berlin 2) angeführt. Es starben daran
, . Per- darunter im Alter von
scliniue ^^^^^ 10-20.1. 20-30 J. 30-40 J. 40-50 J. 50-60 J. 60-70 J. 70-80 J. älter
d. Jahre
i:7\^t.iv&i
Av *<\y »^
> *<\^ «p/Vft»
> c»\y — xx/ t» •
^L\7 %^\J %ß .
KJ\j~\r\j t» .
\f\J~ t \J u ,
f \J-Kj\y %.
« • OlbV^I
1886-90
194,0
0,2
•2,8
33,0
70,2
49,8
30,6
6,0
h*
1891-95
207,0
0,4
3,8
33,8
70,0
57,8
30,2
10,6
(1,4
Von 10000 weiblichen Personen über 30 Jahren verstarben an
Neubildungen der Gebärmutter
im Durch-
über-
darunter im Alter von
schnitte
haupt
30-40 J.
40-50 J. 50-60.]. 60-70 J.
70-80 J
1886 90
2,9
2,3
7,4 8,8 9,0
4,1
1891 95
2,8
2,2
6,6 8,5 8,0
6,0
Uebrigens starben in Frankfurt a. M.^) an Krebs der Gebär-
mutter im Durchschnitte der Jahrfünfte
1866—70 12,8 Personen 1881—85 21,8 Personen
1871—75 15,2 „ 1886-90 29,2 „
1876-80 17,2 „ 1891-95 30,4 „
Das Ostiuin uterinum ist, wie überhaupt die verschiedenen
Ostien des Körpers (besonders die Lippen, der Pylorus, der Ma^jt-
darm), auffallend häufig an Carcinom erkrankt. Hinsichtlich des
Thciles der Gebärmutter, der betroffen wurde, sind etwa in einem
Viertel der Fälle (1895 501 mal, 1896 GOOmal) Angaben gemacht.
^) Paget erklärt das frühzeitige Auftreten von Gebärmutter- und Brust-
krebs daraus, dass diese Organe frühzeitig rückgängig werden. Spencer
Wells, Ueber Krebs, (Sammlung klin. Vorträge Nö. 337.)
2) Statist. Jahrbuch der Stadt Berlin. Diese Zahlen beziehen sich auf
die Bevölkerung überhaupt, nicht nur auf die in Heilanstalten Gestorbenen.
Ueber die Todesfälle an Gebärmutterkrebs in Wien berichtete Glatter in
der Vierteljahrsschrift für öfiFentl. Gesundheitspflege. 1870, Bd. II, S. 165.
3) Jahresberichte über die Verwaltung des Medicinalwesens der Stadt
Frankfurt a. M. — Die weibliche über 30 Jahre alte Bevölkerung in dieser
Stadt belief sich 1895 auf 47323 Personen.
Die Verbreitung der Krebserkrankung u. s. w. 957
Es waren davon Carcinomc der Portio des Cervix des Körpers
1895 244 206 51
1896 295 256 49
Das im Allgemeinen seltene Carcinom des Körpers findet sich
häufiger als das des Cervix bei Personen in höherem Alter und
verschont nicht in so auffälliger Weise die Nulliparen wie dieses*).
Von unseren 100 Fällen betrafen Ledige 13, Verheirathete" 57,
Verwittwete und Geschiedene 30. Zwischen 30 und 40 Jahren
waren 4, zwischen 40 und 50 Jahren 18, zwischen 50 und 60 Jahren
50, zwischen 60 und 70 Jahren 28.
Verhältnissmässig oft breitet sich der Krebs von der Gebär-
mutter auf die Scheide aus: 1895 ist dies 60mal, 1896 58mal
vermerkt; Krebse der Vulva fanden sich zugleich 2 mal bezw. 5 mal,
der Eierstöcke 13 mal bezw. 7 mal (je Imal zugleich Pyosalpinx).
Die Parametrien waren 1895 23 mal, 1896 17 mal, das Bauchfell 4mal
bezw. 5 mal carcinomatös erkrankt. Je 2 mal wurde Carcinom des
Ureters beobachtet (1 Ureterenscheidenfistel), der Blase 18 mal bezw.
8mal (1 bezw. 2mal mit der Urethra verwachsen). Blasenscheidenfisteln
sind im ersteren Berichtsjahre 10, im zweiten 9 notirt. Auf das
Rectum ging das Carcinom 1895 3mal, 1896 2 mal über. Mast-
darmfisteln sind 3 bezw. 5 angegeben. Wie es in Folge der Raum-
beengung der Ureteren durch carcinomatöse Wucherungen und durch
perimetritische Processe zur Retention des Urins, zu Hydronephrose
(2 bezw. 3 Fälle, von denen 2 doppelseitig) und Nierenaffectionen
kommt, so sind auch Darmverengerungen nicht selten. Wir finden
deren 14 (9 mal wurde ein künstlicher After angelegt) erwähnt;
2 mal ist ein Durchbruch in die Bauchhöhle angegeben. Gebär-
muttervorfall trat 4 mal, Scheidenvorfall Imal ein. Krebs der
Leber 2) ist 10 mal, Krebs der Mamma, des Femur, der Augen-
lider, der Orbita (Ausräumung) je Imal beobachtet; 3 mal ist Krebs
der nächsten Lymphdrüsen (Gland. sacral., iliac, inguin.) notirt.
In jedem Jahre wurde Imal ein Carcinoma uteri retroflexi fixati
behandelt.
1) Schroeder, a. a. 0. S. 295. — Rüge und Veit, Der Krebs der
Gebärmutter. Zeitschrift f. (Jeburtshülfe u. Gynäkologie, ßd. 6 — 7.
2) Nach Zusammenstellungen von Schroeder a. a. 0., S. 276, kommt
secundärer Eierstock- und Leberkrebs viel häufiger bei Uteruscarcinom vor;
unter 292 Fällen verschiedener Frauenärzte fand sich 51 mal Eierstock- und
24 mal Leberkrebs.
ArchiT fttr klin. Chirurgie. 57. Bd. Heft 4. (^3
5)58 Dr. G. Hei mann
j
1895
1896
5 (2t)
4 (It)
22 (It)
41 (It)
391 (41t)
479 (58 t)
60 (17 t)
72 (18t)
Von den an Gebännuttcrkrcbs Erkrankten starben im en>t^n
Berichtsjahre 409 = 21,0 pCt., im letzteren 431 -- 20,2 pCt.; die
Zahl der Rccidivc betrug 1895 43 und 1896 46.
Einer Operation unterzogen sich im erstcren Jahre 478 = 24,6
von 100 Kranken, im zweiten Jahre 596 = 28,0 pCt.^). Von den
Operationen waren
Probelaparotomien
Amputationen der Gebär muttor .
Totalexstirpatiorien von der Scheide .
„ durch Bauch schnitt
~478 (61t) 596 (78 t)
Von 100 Operirten starben also 12,8 bezw. 13,0. Bei weitem
am häufigsten, in 81 pCt. der Fälle, wurde die Totalexstirpation
von der Scheide aus gemacht, mit einer Mortalität von 15 bezw.
12 pCt. Thorn^) giebt an, dass im Allgemeinen kaum 5 pCt.
dieser Operationen einen tödtlichen Ausgang haben; Olshausen
hatte unter 100 vom October 1894 bis Mai 1896 ausgeführten der-
artigen Operationen nur 1 Todesfall^). Küstner*) theilt mit, dass,
während Freund selbst noch zwei Drittel der Kranken, bei welchen
die Totalexstirpation durch Bauchschnitt ausgeführt war, durch den
Tod verlor, er. Küstner, in den letzten SYg Jahren von 16 Ex-
stirpationen durch Bauchschnitt nur 4 habe tödtlich enden sehen
(2 an Peritonitis, 2 an Pneumonie); von im Ganzen 683 in der-
selben Zeit Laparotomirten starben 5,4 pCt. und von 76 vaginalen
Totalexstirpationen wegen Carcinom endeten nur 2 tödtlich (l an
innerer Einklemmung, 1 in Folge Durchbruchs einer Blascnmeta-
'i . ^. ^_-___^__-j_, ______ _____ .,
Derartige Vergleiche haben allerdings nur sehr bedingten AVerth, wenn man die
höhere und geringere Intelligenz der Bevölkerung, die gynäkologische Durch-
bildung der Allgemeinheit der Aerzte, die Individualität des Operateurs in An-
rechnung bringt." Thorn a. a. 0. — Im Jahre 1894 wurden in den Heilan
^) a. a. 0.
■') Congr. d. Deutschen Gesellschaft f. Chirurgie. Sitzung vom 29. Mai 1896.
*) .Sitzung der Schlcsischen (rcsellschaft für vaterländische Kultur vom
30. März 1807.
Die Verbreitung der Ivrobserkrankung ii. s. w. 959
stase in das Peritoneum). Die Operation durch den Bauchschnitt
ist mit viel grösserer Lebensgefahr wie die vaginale verbunden; sie
verlief fast in einem Viertel unserer Fälle tödtlich'). Andererseits
bringt nach der Ansicht vieler Frauenärzte die Entfernung der
Gebärmutter von der Scheide aus häufig nur vorübergehende
Besserung; nach kurzer Zeit sehe man meist den Krankheitsprocess
wieder aufflackern. So schreibt Thorn diesbezüglich: „Aus allen
Statistiken lässt sich herauslesen, dass kaum 30 pCt. der Operirten
5 Jahre gesund blieben." Von 62 seiner Operirten recidivirten 27
= 43,5 pCt. innerhalb 2 Jahren. Olshausen^) sprach sich
folgendermaassen aus: „Ueber die Dauerresultate, wie sie sich nach
den Operationen der letzten Jahre gestalten werden, lässt sich
natürlich erst nach längerer Zeit ein Urtheil fällen. Täuscht uns
nicht der Eindruck unserer diesbezüglichen Erfahrungen, so sind
die Recidive gegen früher ungleich seltener geworden und dann ist
die Behauptung auch gew-iss richtig, dass der Krebs an kaum
einem einzigen Organe des Körpers mit mehr Aussicht auf voll-
kommeneren Erfolg operirt werden kann, als gerade am Uterus.*^
V. Ott theilte auf dem intern, med. Congress in Moskau (Sitzung
am 23. 8. 1897) mit, dass er mit der vaginalen Totalexstirpation
recht günstige Dauererfolge erzielt habe: er sah Fälle 12, 11, 10
und mehrere 6 — 8 Jahre geheilt.
Primäre Scheidenkrebse kamen 1895 65, 1896 66 zur Be-
handlung. Sie machten 0,6 pCt. aller Carcinome und 1,1 pCt. aller
bei weiblichen Personen behandelten Carcinome aus. Die jüngste
der Befallenen war 2 Jahre, 4 weitere zwischen 25 und 30 Jahren,
25 (19 pCt.) zwischen 30 und 40 Jahren, 31 (23 pCt.) zwischen
40 und 50 Jahren, 34 (26 pCt.) zwischen 50 und 60 Jahren, 31
(23 pCt.) älter und 5 unbekannten Alters. Das Alter von 40 bis
60 Jahren ist in geringerem, das Alter über 70 Jahre in höherem
Maasse betheiligt, wie beim Gebärmutterkrebs. Verheirathet waren
von den Betroffenen in jedem Jahre je 39, also über die Hälfte,
1) Nach einer älteren Statistik vön Hegar (Elegfar und Kaltenhach,
Operative Gynäkologie, Stuttgart 1881) kamen auf 93 abdominelle Exstirpa-
tiouen 26 Genesungen, 63 (72 pCt.) Todesfälle, 4 unvollendete Operationen,
während auf 32 Exstirpationen von der Scheide aus 21 Genesungen, 8 Todes-
fälle (25 pCt.) und 3 unvollendete Operationen entfallen. Diese Zahlen lassen
die jetzt durch die Fortschritte in der Technik erzielton Erfolge in hellem
Lichte erscheinen.
2) Siehe Anm. 3), S. 958.
63*
960 Dr. G. Heimann,
19 bczw. 17 verwittwct, ledig 7 bczw. 10. Es starben im Ganzen
20 Kranke (15,3 pCt.). Operirt wurden 58 (44 pCt), von denen
4 starben. Gleichfalls von Krebs befallen war: die Vulva 2 mal,
die Urethra und das Parametrium je Imal; Blascnscheidenfistel
bestand 2 mal. Die Zahl der Recidive war verhältnissig nicht
unbeträchtlich: 17.
Carcinorae an den äusseren Geschlechtsthcilen wurden
1895 93, 1896 88 mal behandelt; sie machten 0,8 pCt. aller Car-
cinome und 1,5 derer bei weiblichen Personen aus. Die jüngeren
Altersklassen sind in geringerem, die höheren in erheblicherem
Maasse befallen wie bei Gebärmutterkrebs. Die jüngste der Er-
krankten war 24 Jahre, ferner war 1 von ihnen 25 Jahre, 18
(10 pOt.) standen im Alter zwischen 30 und 40 Jahren, 28
(15 pCt.) zwischen 40 und 50 Jahren, 45 (25 pCt.) zwischen 50
und 60 Jahren, 47 (26 pCt.) zwischen 60 und 70 Jahren und 36
(20 pGt.) waren über 70 Jahre. In Bezug auf den Familienstand
lag ungefähr dasselbe Verhältniss vor wie bei den Scheidenkrebsen:
106 Kranke waren verheirathet, 54 verwittwet oder geschieden und
21 ledig. Tödtlich verliefen 19 Fälle.
Von den 181 Fällen betrafen übrigens die Labien 73, die
Clitoris 20, die Urethra 17; für die übrigen fehlte eine nähere
Bezeichnung. 125 (also fast 70 pCt.) der Erkrankten wurden
operativ behandelt; bei 2 Operationen erwies sich gleichfalls eine
Plastik als nothwendig. Die Gefahr des Eingriffs ist eine geringe;
die Zahl der nach den Operationen Gestorbenen betrug daher nur 3.
Die Leistendrüsen waren verhältnissmässig oft befallen. 28 mal, d. i.
bei 15 von 100 Kranken. Recidive sind 15 notirt.
Carcinorae der Ovarien sind häufiger zur Behandlung ge-
kommen: 1895 142mal, 1896 140mal. Sie machen 1,4 pCt.
aller Garcinome und 2,3 pCt. derer bei weiblichen Personen aus.
An diesem Organe tritt der Krebs nicht so selten schon in jugend-
ichem Alter auf. So wurde in einem unserer Fälle ein Schul-
mädchen von 12 Jahren von linksseitigem Ovarialcarcinome durch
die Ovariotomie geheilt; weitere 14 Fälle betrafen Personen unter
30 Jahren; zw^ischen 30 und 40 Jahren waren 44 (15 pCt.)?
zwischen 40 und 50 Jahren 92 (32 pCt.), zwischen 50 und
60 Jahren 88 (31 pCt.); die späteren Altersstufen, besonders die
über 70, sind weniger betheiligt, wie bei den übrigen Genital-
Die Verbreitung der Krebserkrankung u. s. w, 961
krebsen: 31 waren zwischen 60 und 70 Jahren (11 pCt.) und nur
6 (2,5 pCt.) älter. Verheirathet waren 179 (63 pCt.), verwittwet
und geschieden 56 (20 pCt), ledig 44 (16 pCt.) und unbekannten
Familienstandes 3. Unter 123 Fällen waren beide Ovarien 62 mal,
ein Ovarium 61 mal befallen; für 159 Fälle fehlte nähere Angabe.
Gleichfalls an Krebs erkrankt war das Bauchfell 22 mal, das Netz
9 mal, die Leber 6 mal, je 2 mal das Rectum, der Darm (beide Male
bestand Kothfistel) und das Becken, je Imal die Mamma, die Blase
und das Gehirn; Metastasen ohne weitere Bezeichnung sind 6mal
notirt. Die Tuben waren 4 mal gleichfalls ergriffen. Auch ist
1 Fall von primärem Tubencarcinom hier mit eingerechnet, eine
Erkrankung, die Schröder in der 8. Auflage seines Handbuches
noch als nicht vorkommend bezeichnete *), welche in den letzten
Jahren aber mehrfach beobachtet wurde.
Die Zahl der Todesfälle betrug 90 (32 pCt.), die der Opera-
tionen 163 (57 pCt.); es waren Probelaparotomien 29 (9f); Lapa-
rotomien ohne weitere Angabe 54 (21t); Ovariotomien 69 (17 f);
Salpingoophorectomien 8 (2 t); Punctio per vaginam 3 (— ). Im
Ganzen endeten 49 Operationen (30 pCt.) tödtlich.
Secundärer Eierstockkrebs ist besonders häufig bei Gebärmutter-
krebs — 20 mal — erwähnt.
^) Vergl. die Abhandlung von Orthmann über primäres Tubencarcinom,
Zeitschrift f. CTcbiirtshülfe und Gynäkologie. Bd. XV, Heft 1. 1888, S. 212.
(Fortsetzung folgt.)
Oedrnekt bei L. Sehumaeher in Berlin.
B.Lajiaaiba^
, ., \s 1 ^ '^T