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FAIERTDE
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Kıbrarp of the Aluseum
COMPARATIVE ZOÖLOGY,
AT HARVARD COLLEGE, CAMBRIDGE, MASS.
Pounded by private subscription, in 1861.
Deposited by ALEX. AGASSIZ.
No. 388-
|
|
|
Nr ERH HLSIEESZ
ARCEIB
FÜR
ANATOMIE UND PHYSIOLOGIE.
FORTSETZUNG DES von REIL, REIL v. AUTENRIETH, J. F. MECKEL, JOH. MÜLLER, °
REICHERT vw. DU BOIS-REYMOND HERAUSGEGEBENEN ÄRCHIYES.
HERAUSGEGEBEN
VON
Ds». WILH. HIS uno De WILH. BRAUNE,
PROFESSOREN DER ANATOMIE AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG,
UND
Dz. EMIL DU BOIS-REYMOND,
PROFESSOR DER PHYSIOLOGIE AN DER UNIVERSITÄT BERLIN.
JAHRGANG 1885.
SUPPLEMENT-BAND
ZUR
PHYSIOLOGISCHEN ABTHEILUNG
LEIPZIG,
VERLAG VON VEIT & COMP.
1885.
ARCHIV
A . FÜR
PHYSIOLOGIE
PHYSIOLOGISCHE ABTHEILUNG DES
ARCHIVES FÜR ANATOMIE UND PHYSIOLOGIE.
UNTER MITWIRKUNG MEHRERER GELEHRTEN
HERAUSGEGEBEN
VON
Dz. EMIL DU BOIS-REYMOND,
PROFESSOR DER PHYSIOLOGIE AN DER UNIVERSITÄT BERLIN,
JAHRGANG 1885,
SUPPLEMENT-BAND.
“MIT 10 ABBILDUNGEN IM TEXT UND 11 TAFELN.
LEIPZIG, |
VERLAG VON VEIT & COMP.
"1885.
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zu Taf. I—V.).
Inhalt.
ÄLFRED GOLDSCHEIDER, Neue Thatsachen über die Hautsinnesnerven. (Hier-
’
ROBERT TIGERSTEDT, Untersuchungen über die aeanlune: der Moksel.
zuckung in ihrer Abhängigkeit von verschiedenen Variabeln. (Hierzu
Tat. VI—XI.) .
Seite
all
Neue Thatsachen über die Hautsinnesnerven.
Von
Dr. Alfred Goldscheider,
Assistenzarzt im Bisenbahnregiment.
(Hierzu Taf. I—V.)
I. Temperatursinn.
Während Kälte und Wärme ihrer Natur nach stets als flächenhafte
diffuse Gefühle aufgefasst worden sind, hat sich neuerdings ergeben,' dass
die Elemente derselben punktförmige Einzelgefühle sind, welche durch sub-
jeetiven Conflux ein flächenhaftes Gefühl vortäuschen. Dieselben kommen
nur an bestimmten, räumlich getrennten Punkten der Haut zu Stande,
während die von solchen Punkten freie Zwischenhaut nicht fähig ist, auf
einen Temperaturreiz mit dem charakteristischen Temperaturgefühl zu re-
agiren. Eine grundlegende Thatsache ist nun, dass diese Punkte für das
Kältegefühl andere sind als für das Wärmegefühl. Diejenigen Punkte der
Haut, welche Kälte percipiren, sind nicht fähig auch Wärme zu perci-
piren und umgekehrt. Man muss demnach zwei verschiedene Arten von
solchen Punkten unterscheiden, welche man füglich als Kältepunkte
und Wärmepunkte bezeichnen kann. Der Temperatursinn erscheint hier-
! Ich habe meine Untersuchungen zuerst in den Monatsheften für praktische
Dermatologie, 1884, Nr. 7—10 veröffentlicht und bereits dort darauf hingewiesen, dass
ch unabhängig von Blix gearbeitet habe, welcher die grundlegenden Thatsachen vor
\nir gefunden hat. Ich operirte mit fallenden kalten und warmen Tropfen; hierbei be-
inerkte ich, dass die grösseren Furchen der Haut (z. B. in der Hohlhand) keine Tem-
‚yeratur wahrnahmen; um dies genauer festzustellen, benutzte ich punktförmige Tem-
‚eraturreize und nun ergab sich die ganze Reihe der Erscheinungen, wie sie im Fol-
enden geschildert werden sollen.
Archiv f.A.u. Ph. i885. Physiol. Abthlg. Suppl.-Bd. 1
2 ALFRED GOLDSCHEIDER:
nach derartig angelegt, dass seine Grundlage ein System von Sinnespunkten,
Temperaturpunkten, welche über die ganze Hautfläche verstreut sind,
bildet; der Temperatursinn erscheint ferner geschieden in einen ‚Kältesinn
und in einen Wärmesinn und jedem dient eim getrenntes System von
Sinnespunkten. Wenn hier von Punkten gesprochen ist, die über die Haut-
fläche verstreut sind, so ist dabei natürlich zu erinnern, dass denselben
Nervenenden, die in der Haut gelegen sind, entsprechen müssen, deren
perceptive Fähigkeit sich als physiologischer Sinnespunkt auf die den Reizungen
ausgesetzte äussere Hautfläche projieirt.
Um die genannten Punkte aufzufinden, bedarf man punktförmiger
Temperaturreize. Ich habe diese für den Kältesinn anfänglich in der Weise
hergestellt, dass ich ein feines Pinselchen in Schwefeläther tauchte und
hiermit die Haut betupfte; es tritt dann jedesmal ein kleines Tröpfchen
Aether aus, welches an gewissen Punkten die Empfindung von Kälte her-
vorruft, dazwischen aber sich dem Gefühl nicht bemerkhar macht. Diese
Methode hat für sich die Vermeidung jedes Druckes; jedoch ist sie nicht
geeignet, um sämmtliche Kältepunkte zu finden, da der Kältereiz nicht
stark genug ist. Als passendstes Instrument sowohl für die Aufsuchung
der Kälte- wie der Wärmepunkte haben sich mir Messingeylinder bewährt,
von ungefähr 1 Dicke und S—9 ®® Länge, welche an dem einem Ende spitz
abgedreht sind; die Spitze selbst ist wieder abgerundet und darf weder zu
lang sein, da sie sonst zu schnell abkühlt, noch zu kurz, da sonst der Be-
rührungspunkt durch den Cylinder dem Auge verdeckt wird. Ich habe
zuerst hohle Cylinder angewendet, die mit einem Ebonitpfropfen zu ver-
schliessen waren, habe aber dann die soliden für praktischer befunden. Zum“
Aufsuchen von Kältepunkten genügt schon der blosse Cylinder, der jedoch
eventuell durch Eintauchen in kaltes Wasser noch abzukühlen ist. Be-
hufs Aufsuchens der Wärmepunkte wird der Cylinder über einer Spiritus-
flamme erwärmt. Selbstverständlich hat dieser Modus den Nachtheil, dass
der Cylinder allmählich abkühlt und so der Wärmereiz kein constanter ist;
ein solcher würde sich herstellen lassen mit Verwendung der Elektrieität,!
und es ist kein Zweifel, dass ein solches Instrument für gewisse Fragen,
namentlich nach der Reizschwelle der Temperaturpunkte, sehr vortheilhaft
sein würde — jedoch zur Feststeliung der Wärmepunkte überhaupt genügt
der Oylinder vollkommen und hat den Vortheil vollkommener Handlichkeit.
Der Messingeylinder ist in einem Ebonitkloben verschiebbar gefasst, welcher‘
ausserdem eine mit dem Cylinder parallel gerichtete, verschiebbare Hülse
trägt zur Aufnahme eines Pinsels oder Schreibstiftes, um die Punkte zu
bezeichnen. Ich bediene mich vorzugsweise kleiner gespitzter Hölzchen, die
! Etwa nach Art des von Eulenburg neuerdings angegebenen T'hermaesthesio-
meters. Vgl. Monatshefte für praktische Dermatolegie. 1885. Bd. IV. Nr. 1.
a
)
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 3
man sich jederzeit aus Zahnstochern herstellen und wieder neu spitzen
kann; ferner der alten Gänsefederposen oder sehr weicher Zeichenfedern,
welche senkrecht aufgesetzt werden müssen. Zum Bezeichnen der Punkte
kann man die gewöhnliche blaue oder rothe Zeichentinte benutzen; für
gewisse Zwecke ist es jedoch erforderlich, zu Anilinfarben zu greifen. Zu
beachten ist, dass die zu benutzenden Flüssigkeiten möglichst verdünnt
‚werden müssen, einerseits damit die Punkte möglichst fein ausfallen, an-
dererseits weil sich sonst der Schreibstift oder die Feder zu schnell verstopft.
Das Aufsuchen und Bezeichnen der Kälte- und Wärmepunkte ist eine
sehr einfache Thätiekeit, erfordert jedoch einige Cautelen. Freilich kommen
diese erst in Betracht, wenn man sich die Aufgabe setzt, von einer um-
grenzten Stelle der Haut alle vorhandenen Kälte- bez. Wärmepunkte zu
bestimmen und kenntlich zu machen. Es tritt hier zunächst die Schwierig-
' keit auf, genau den Punkt der Haut mit dem Schreibstift zu treffen, wel-
cher unter der Spitze des Cylinders als kalt- oder warmempfindend gefühlt
wurde. Ich habe Versuche gemacht mit einem Apparat, bei welchem
Cylinder und Schreibstift an einem stehenden Barren befestigt und der-
artie nach unten gegen einander geneigt sind, dass sie bei ihrer Verschie-
bung abwärts annähernd dieselbe Stelle treffen, jedoch dürfte ein mathe-
matisch genaues Zusammentreffen schon wegen der Veränderungen, welche
der Schreibstift durch den Gebrauch erleidet, unmöglich sen und zudem
ist ein solches Instrument sehr unhandlich und nur für wenige Körper-
stellen brauchbar. Die Fertigkeit, denselben Punkt zu treffen, wird nun
durch die Uebung eine genügend vollständige; für die Kältepunkte kommt
es ausserdem noch zu Statten, dass man bei Bezeichnung des richtigen
Punktes mit der flüssigen Farbe ein leichtes Kältegefühl wahrnimmt, das
, gewissermaassen zur Controle dient. Ausserdem kann man die Richtiekeit
des bezeichneten Punktes durch wiederholte Reizung controliren. Für dicht
gelagerte Punkte endlich kann man behufs richtigen Treffens sich der
Lupe bedienen. :
Ist eine Hautstelle eine gewisse Zeit lang bearbeitet, so findet man
keine weiteren Punkte, und die gefundenen geben gar keine oder eine sehr
schwache Empfindung. Erst nach einer Ruhepause von kürzerer oder län-
gerer Dauer hat sich die Hautstelle so weit erholt, dass man mit dem
‚ Aufsuehen der Punkte fortfahren kann. Die Hautregionen verhalten sich
hierin verschieden, auch kommt die Stärke der angewendeten Reize in Be-
tracht; überall jedoch gilt es, dass durch das systematische Absuchen einer
eircumseripten Stelle die Erregharkeit derselben geschwächt wird. Der
Grund hiervon liest ohne Zweifel in der wiederholten Application der Tem-
peraturreize.
Nähert man sich mit der Cylinderspitze einem Temperaturpunkt, so
1
4 ÄLFRED GOLDSCHEIDER:
hat man in den meisten Fällen schon bei der Annäherung an denselben
ein unbestimmtes, zunehmendes Temperaturgefühl. Es befindet sich also
im Alleemeinen um einen Temperaturpunkt herum eine Zone eines wenige
ausgeprägten, schwachen Temperaturgefühls. Dieser Umstand macht sich °
für das Aufsuchen der Punkte insofern geltend, als man hin und wieder
leicht einen Punkt der Peripherie dieses Zerstreuungskreises als Temperatur-
punkt fixiren kann. Nimmt man nun hinzu, dass häufig der Application
eines Temperaturreizes eine sofortige geringe Herabsetzung der Erregbarkeit-
in der nächsten Umgebung folgt, besonders wenn die Application auf den-
selben Punkt mehrfach hinteremander stattgefunden hat — und man drückt
sehr oft bei schwachem Temperaturgefühl mehrere Male auf denselben
Punkt, um sich zu überzeugen, ob man ihn wirklich als Temperaturpunkt
zu bezeichnen hat —, so leuchtet ein, dass es vorkommen kann, dass die
Mitte des Zerstreuungskreises als der wahre Punkt übergangen und statt‘
dessen ein oder mehrere Punkte der Peripherie bezeichnet werden. Es ist
daher das Annäherungsgefühl zu unterscheiden von dem Gefühl an dem
Temperaturpunkt selbst, d. h. demjenigen Punkte, welcher senkrecht über’
der anzunehmenden Nervenendigung liegt. Anderenfalls würden die fixirten
Punkte zwar auch ein ungefähres Bild der Verbreitung der Nervenenden
geben, aber doch keine hinreichend correcte Projection der Nervenendigungen
auf der Hautoberfläche darstellen. Dieser Fehler macht sich besonders bei
stärkeren Temperaturreizen geltend.
Endlich ist noch einer in der Natur der Sache liegenden Fehlerquelle
zu gedenken; es werden nämlich bei dem systematischen Absuchen einer
Stelle. auch wenn man nach einer bestimmten Regel verfährt, z. B. immer
in parallelen Linien den Cylinder führt, doch stets eine Anzahl von Punkten
übergangen werden; wollte man auch hier einen Apparat anwenden, wel-
cher den Cylinder führt, so würde dadurch die Beschwerlichkeit der Unter-
suchung ausserordentlich vermehrt werden. Hierzu kommt, dass man
wegen der Herabsetzung der Erregbarkeit doch nicht den angefangenen
Modus des Absuchens beibehalten kann, sondern bald diesen, bald jenen
Bezirk aufnehmen muss. — Es liegt endlich in der Art der Aufsuchung
der Punkte noch eine Fehlerquelle, welche kaum umgangen werden zu
können scheint. Diese bezieht sich darauf, dass continuirlich-temperatur-
empfindliche Stücke der Hautsinnesfläche durch unser Verfahren willkürlich
in Punkte aufgelöst werden. Wir können nicht mit Farbstoffen hantiren,
welche momentan eintrocknen, weil dieselben auch am Schreibstift zu
schnell trocken werden. Nun liest folgende Gefahr vor: Man kommt an
einen Kälte empfindlichen Punkt und bezeichnet ihn; um ihn nicht zu
verwischen, fährt man nicht continuirlich, sondern in einer, wenn auch
noch so kleinen Entfernung fort zu reizen und setzt, wenn nun wieder
ii
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 5
Kälteempfindung erfolgt, einen anderen Punkt neben den ersten, während
doch eben so gut ein Kälte empfindliches Continuum da sein kann. Be-
zeiehnet man aber nicht gleich jeden Kälte empfindlichen Punkt, sondern
sucht die Ausdehnung des Kälte empfindlichen Stückes festzustellen, so
‚ kann man die Grenzen nicht genau merken. Ebenso wird man, wenn man
bei dem Abschreiten in parallelen Linien unmittelbar an einem früher be-
zeichneten Punkte wieder Kälteempfindung findet, sehr leicht versucht sein,
ohne Weiteres einen neuen Punkt neben jenen zu setzen, so dass also der
Zwischenraum ganz unbeachtet bleibt. Ein solches Verfahren wird zahl-
reiche Unrichtigkeiten mit sich bringen und man muss «dieselben dadurch
wieder hinweezuräumen suchen, dass man später die Zwischenräume zwi-
schen den Punkten noch ganz besonders prüft. Hierbei wird man sich
der Schwierigkeiten, welche das Annäherungsgefühl macht, in hohem Maasse
bewusst. Man wird nicht selten in den engsten Zwischenräumen noch
Kälteempfindlichkeit finden, manchmal intensivere als auf den benachbarten
Punkten; auch vielfach neben alten Punkten neue, wo vorher keine zu
, existiren schienen. Wir kommen auf dieses Verhältniss noch zurück. Es
ist übrigens hierbei hervorzuheben, dass wir einen absolut spitzen Tempe-
raturreiz nicht anwenden können, derselbe muss immer eine gewisse Aus-
dehnung haben. Zu beachten ist noch, dass der Cylinder nicht schief ge-
halten werden darf; es kann hierbei vorkommen, dass scheinbar jeder Ein-
‚ druck mit dem Cylinder eine Temperaturempfindung veranlasst, weil näm-
lich die Haut sich mit einer gewissen Fläche an den Cylindermantel anlegt.
Aus allem diesem folgt, dass man in einer einzigen Sitzung ein wahr-
heitsgetreues Bild der Temperaturpunkte einer Hautstelle nicht bekommen
kann. Und es ist daher gar nicht zu verwundern, dass man, wenn man
mehrfach zu verschiedenen Zeiten von derselben Stelle die Kälte- oder
Wärmepunkte aufnimmt, jedesmal ein etwas anderes Bild bekommt. Will
man daher eine correcte Aufnahme herstellen, so muss man eine und die-
selbe Stelle wo möglich mehrere Tage lang — die Herabsetzung der Er-
regbarkeit hält zuweilen erstaunlich lange an, besonders wenn eine stärkere
Hyperaemie der Stelle hervorgerufen ist — bearbeiten und controliren und
sich zu diesem Zwecke eben dann der Anilinfarben bedienen, da die anderen
durch die Hautfeuchtigkeit aufgelöst oder abgerieben werden.
Uebrigens aber habe ich die Ueberzeugung gewonnen, dass die an-
geführten Fehlerquellen in einem gewissen Umfange gar nicht zu vermeiden
sind und halte deshalb ein völlig correctes Bild, d.h. eine absolut genaue
Projection der in der Haut gelegenen Nervenendigungen auf die Oberfläche
der Haut für unmöglich. Alle die auch mit den grössten Cautelen her-
gestellten Zeichnungen der Punkte können der wahren Anordnung der
Nervenendigungen nur nahe kommen. Es ist aber auch zweifellos, dass
ALFRED GOLDSCHEIDER:
(er)
dies für die'Sache selbst ganz gleichgültig ist, denn mögen minimale Fehler
der Distancen der Punkte auch vorhanden sein, mag einmal von zwei dicht
nebeneinander stehenden Punkten einer zu viel oder hier und da einer zu
wenig sein — der Typus der Anordnung der Punkte ist mit der ge-
übten Methode vollkommen zu eruiren und darzustellen.
In den Bereich der angeführten Fehlerquellen fällt auch die Beob-
achtung, dass zuweilen auf einem Wärmepunkt der kalte Cylinder als kalt
gefühlt wird. Die genauere. Untersuchung mit dem Aetherpinsel ergiebt
dann immer, dass niemals direct auf dem Wärme empfindlichen Punkt
die Kälte zu spüren ist, sondern dicht daneben. Häufig finden sich einem
Wärmepunkt auf verschiedenen Seiten mehrere Kältepunkte unmittelbar
angelagert. Die Täuschung war hier gelegen theils in dem, was über das
Annäherungsgefühl gesagt worden ist, theils in der relativen Breite der
Cylinderspitze.
Wenn in dem vorher Gesagten kurzweg angenommen wurde, dass die
beschriebenen Punkte den Endigungen der Temperaturnerven entsprechen,
so geschah dies, weil im der That keine andere Erklärung für die That-
sache dieser Punkte möglich ist. Dieselben sind völlig fixer Natur; hat
man ein Punktbild auf die Haut aufgezeichnet, so kann man jederzeit, so
lange die Punkte zu sehen sind, wenn man bei abgewandten Augen sich
von einer andern Person mit dem Cylinder prüfen lässt, angeben, wann
der Cylinder auf einen Punkt kommt. Dass etwa zufällig an diesen Punkten
ein stärkerer Druck mit dem Cylinder stattgefunden hätte oder dass eine
bessere Wärmeleitung hier vorhanden wäre, diese Annahmen können des-
halb gar nicht in Betracht kommen, weil zwischen den Punkten nicht
etwa ein schwächeres, sondern überhaupt gar kein Temperaturgefühl wahr-
genommen werden kann, selbst nicht flächenhafte Temperaturreize, falls sie
so klein sind, dass man damit einen punktfreien Bezirk decken” kann.
Endlich habe ich die Punkte aber auch bei mir selbst nachweisen können,
nachdem ich das Stratum corneum mittelst Collodium cantharidatum ent-
fernt hatte. Es ist also anzunehmen, dass Nervenfasern, welche der Per-
ception der Kälte dienen, und solche, welche der Perception der Wärme
dienen, kurz: Kälte- und Wärmenerven unter einander gemischt verlaufen
und an den Temperaturpunkten ihre Endigungen bez. Endorgane haben.
Damit soll nicht gesagt sein, dass einem Temperaturpunkt immer nur ge-
rade eine einzige Endigung entspricht, es ist auch denkbar, dass hier ein
Complex von Endorganen sich befindet.
Das allgemeine Prinzip der Anordnung der Temperaturpunkte ist
folgendes!: Dieselben reihen sich in Ketten, Linien, aneinander, welche
! Vergl. hierzu die Abbildungen 1—4,
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. je
meist leicht gekrümmt verlaufen. Dieselben strahlen radienartie von ge-
wissen Punkten der Haut aus, welche demgemäss als Ausstrahlungs-
punkte oder Temperaturpunkt-Gentren zu bezeichnen sein dürften.
Die Ketten «der Kältepunkte fallen im Allgemeinen nicht zusammen mit
denen der Wärmepunkte, ihre Ausstrahlungspunkte sind aber ge-
meinsam. Häufig sind nun diese Punktlinien nicht vollständig vorhanden,
sondern nur durch vereinzelte Punkte angedeutet, zwischen welche sich
dann nicht selten Punkte der anderen (Qualität einschieben; auf diese Weise
resultiren dann gemischte Punktketten. Dadurch, dass die Linien verschie-
dener Rayons zusammentreffen, entstehen mehr oder weniger geschlossene
rundlich-eckige, häufig dreieckig-längliche Figuren, deren Peripherie von
Punktketten theils der einen, theils der anderen Qualität, theils von ge-
mischten Ketten gebildet werden. Auf diese Weise kommt demnach die
Erscheinung zu Stande, welche ich in meiner ersten Publication über diesen
Gegenstand als Complementirung der Kälte- und Wärmepunkte zu areo-
lären Figuren beschrieben hatte. Hier und da bilden die Punktketten eine
dichte Masse von Punkten, welche zuweilen gar nicht zu sondern sind, so
dass dann in der That eine Temperatur empfindliche Fläche vorzuliegen
scheint. Es sei hier gleich gesagt, dass dies für den Kältesinn viel häufiger
ist, als für den Wärmesinn. Die Punktketten strahlen meist nicht nach
allen Richtungen aus, sondern vorzugsweise senkrecht zur Richtung der
Spaltbarkeitsebene und in dieser selbst. Man findet auf diese Weise be-
sonders häufig wiederkehrend eine büschelförmige Anordnung der Punkt-
ketten. Eine weitere bemerkenswerthe Thatsache ist nun, dass die Aus-
strahlungspunkte an den behaarten Hautregionen vorwiegend mit den
Härchen zusammenfallen, genauer gesagt, mit den Haarwurzeln oder Haar-
papillen. Letzterer Schluss erscheint dadurch gerechtfertigt, dass die Punkt-
ketten nicht von demjenigen Punkt ausgehen, wo das Haar zu Tage tritt,
sondern bei der meist schrägen Richtung der Haare von einem Punkte, der
ungefähr senkrecht über der Haarpapille liegen dürfte. Hier und da kommen
jedoch auch in behaarten Gegenden Ausstrahlungspunkte ohne Haar vor.
Demgemäss finden sich auch an den Haaren im Allgemeinen immer Temperatur-
punkte. Die Bedeutung der Haare oder besser gesagt der Haarstellen für die
Temperaturnerven tritt sehr deutlich hervor an manchen Hautregionen von
sehr schwacher Temperaturempfindlichkeit. An solchen kommt es nämlich
vor, dass nur an den Haaren Temperaturpunkte liegen und sonst weiter
keine vorhanden sind. Hieraus geht auf das klarste hervor, dass die Haar-
stellen zum mindesten Hauptpunkte für die Vertheilung der Temperatur-
nerven sind, und man kann, wenn man selbst an den Haaren keine Tem-
peraturpunkte findet, sagen, dass überhaupt keine da sind.
Das Verhältniss der an einem Haarpunkt gelegenen Temperaturpunkte -
5 ALFRED GOLDSCHEIDER:
ist nach Zahl und Qualität ein sehr verschiedenes.. Es kommt vor, dass
hier überhaupt — wie eben gesagt — nur ein einziger Kälte- oder Wärme-
punkt zu finden ist; ferner ein Kälte- und ein Wärmepunkt dicht neben-
einander; ein Wärmepunkt und zwei Kältepunkte zusammen — das Um-
gekehrte wurde nicht beobachtet. Die von einem Haarpunkt ausstrahlenden
Ketten sind ebenfalls wieder nach Zahl und Qualität unterschiedlich; es
kommt vor, dass nur ein Strahl vorhanden ist; ferner zwei oder mehrere.
Im ersten Falle enthält der Strahl gewöhnlich nur Punkte einer Qualität;
jedoch kann am Haar, dem Beginn der Kette, ein Punkt der anderen
Qualität liegen, also am Haar ein Kältepunkt mit einem Wärmepunktstrahl,
oder ein Wärmepunkt mit einem Kältepunktstrahl; in ähnlicher Weise ein
Kältepunkt mit mehreren Wärmepunktstrahlen oder ein Wärmepunkt mit
mehreren Kältepunktstrahlen. Nicht selten gehört das ganze von einem
Haarpunkt ausstrahlende Büschel einer und derselben Qualität an. Auf
der anderen Seite findet sich wieder eine scharfe Sonderung der Strahlen,
so‘ dass z. B. je ein Kältepunkt- und ein Wärmepunktstrahl von einem
Haarpunkt nach verschiedenen Richtungen ausgehen. Die Regel, dass an
.den Haaren sich Temperaturpunkte finden, hat übrigens auch Ausnahmen,
es giebt Hautstellen, welche vollkommen unempfindlich gegen Temperaturen
sind und zugleich behaart; hier entbehren dann die Haare der Temperatur-
punkte. — An punktreichen Hautstellen drängen sich naturgemäss an den
Haaren die Temperaturpunkte beider Qualitäten im Allgemeinen dicht zu-
sammen; meist wiegen in der dem Haar anliegenden Punktgruppe die
Kältepunkte vor, seltener die Wärmepunkte. Stets aber kann man die
Kälte und Wärme empfindlichen Punkte als nebeneinander geordnet
nachweisen. |
Aus dieser Darstellung konnte schon -entnommen werden, dass die
Kälte- und Wärmepunkte im Einzelnen sich keineswegs in durchaus gleich-
mässiger Vertheilung befinden. Es kommen Strahlensysteme vor, wo die Kälte-
punkte überwiegen, ja allein vertreten sind, und solche, wo dasselbe mit den
Wärmepunkten der Fall ist; letzteres ist jedoch viel seltener als ersteres. Diese
Ungleichmässigkeit beschränkt sich jedoch nicht auf die Ausstrahlungs-
systeme, sondern erstreckt sich auch auf grössere Gebiete. Es giebt dem-
nach grössere Bezirke, in welchen die eine Qualität von Punkten reichlich
vertreten ist, die andere so verschwindend, dass etwa nur an den Haaren
solche gelegen sind, oder dass überhaupt sich keine vorfinden. Jedoch auch
dies Verhältniss kommt fast nur so vor, dass die reichlich vertretene Qualität
dem Kältesinn angehört. Wenn ein solches Gebiet als einseitig stark
temperaturempfindlich zu bezeichnen sein dürfte, so giebt es andererseits
auch einseitig schwach temperaturempfindliche Bezirke: hier ist die eine
(Qualität (Kälte) schwach, etwa nur an den Haarpunkten vertreten, die an-
_——
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 9
dere gar nicht. Dieses Verhältniss bildet den Uebergang zu der gänzlichen
Anaesthesie für Temperaturreize, von welcher bereits die Rede war.
Das Bild, welches man sich nach diesen Feststellungen über den ver-
muthlichen Nervenverlauf der Temperaturnerven in der Haut machen darf,
könnte also folgendermaassen gezeichnet werden: Die Kälte und Wärme-
fasern — die Annahme der Trennung auch der Nervenfasern wird später
‚Ihre nähere Begründung finden — steigen vegen die Haare hin in der
Haut auf und breiten sich von den Haaren aus radiär- oder büschelartie
aus. Sowohl an den Haaren wie an der büschelartigen Ausbreitung bilden
sie reizbare Endigungen bez. Endorgane. Ob dies in der Weise geschieht,
dass Fasern sich theilen und verästeln oder ob dieselben parallel mit ein-
ander verlaufen und nur in verschiedenen Entfernungen von einander ab-
biegen, dies bleibt vorläufig der Vorstellung überlassen. Die beiden Nerven-
arten verlaufen bis zu den Haaren vorzugsweise, aber nicht immer, ge-
mischt und schlagen dann vorwiegend, aber nicht immer, verschiedene
‚, Richtungen ein. Bei der büschelförmigen Anordnung schlagen die Fasern
‚ in der Mehrzahl die durch die locale Spaltbarkeitsebene vorgezeichnete und
- ganz besonders eine darauf senkrechte Richtung. An unbehaarten Haut-
regionen ist die Vertheilung der Nervenfasern in der Haut eine entspre-
‚ chende. — Dies Verhalten stimmt mit dem überein, was für den Verlauf
‚ der Gefässe und Nerven der Haut durch ganz anders geartete Unter-
‚ suchungen, nämlich durch anatomische, von Tomsa gezeigt worden ist.
Tomsa! sagt: „Es combinirt sich in der Spaltbarkeitsrichtung eines Haut-
_ stückes am häufigsten auf der einen Seite eine grössere Zahl von Binde-
‚ gewebsbündeln mit stärker geneigter Richtung ihres Verlaufs zur Haut-
‚ oberfläche, und es beeinflusst diese Combination im gespannten Zustande
‚ die Gruppirung des Hautgerüstes ‚und seines Inhaltes derart, dass die
‚ Haare, Drüsen und Kreislaufsebenen gegen den subeutanen Ursprung der
‚ zahlreicheren und geneigteren Hautfasern hinneigen. Haare und
‚ Schweissdrüsen, als Gebilde von linearer Ausdehnung ohne Verästelung,
werden in der Spaltbarkeitsebene liegend angetroffen werden müssen, und
‚ die Gefässverästelungen, flächenhaft ausgebreitet, werden zur Spaltbarkeits-
| ebene mehr oder minder senkrecht gestellte Cirkulationsebenen bilden, weil
| sie der nach Obigem besonders in der Tiefe blättrige Bau der Haut dazu
zwingt.“ Wenn man in Rechnung zieht, dass dies Verhältniss nicht in
‚einer absolut mathematischen Regelmässigkeit vorhanden sein wird, so
passen in der That unsere Bilder ganz zu der Tomsa’schen Anschauung
‚ und eine Punktkette würde den Durchschnitt der Ebene der Nervenver-
! Beiträge zur Anatomie und Physiologie der menschlichen Haut. Archiv für
| | Dermatologie. 1873. Bd.V.
10 ALFRED (GOLDSCHEIDER:
ästelung mit der Hautoberfläche darstellen. Hinzufügen müssen wir dann
dieser Vorstellung noch, dass die Haare, wie sie ja auch Punkte besonders
ausgebildeter Vascularisation darstellen, zu diesen Nervenverästelungsebenen
einen Mittelpunkt einnehmen. — Es geht hieraus hervor, wie das Werk-
zeug des Temperatursinnes, die Temperatur empfindlichen Nervenendigungen
in ihrer Anordnung und Vertheilung von den Wachsthumsgesetzen der
Haut influirt werden und somit die Function des Temperatursinnes selbst,
das örtliche Wahrnehmen von Kälte- und Wärmereizen abhängig gemacht
ist von einem organischen Moment, welches auf einem ganz anderen Ge-
biete, als dem der Sinnesthätigkeit gelegen ist.
Die Thatsache der Temperaturpunkte hat um so mehr Frappantes, als
wir gewöhnt sind, Temperaturen immer durch Application einer Fläche zu
messen und Temperaturwahrnehmungen nur als flächenhafte Gefühle zu
kennen — wie schon Eingangs erwähnt wurde. Der am wenigsten exten-
sive Temperaturreiz, der uns im gewöhnlichen Leben vorkommt, ist wohl
der Tropfen. Man ist deshalb begierig, wie die Empfindung eines 'Tempe-
raturpunktes beschaffen sein soll. In der That ist dieselbe nicht eigent-
lich punktförmig, sondern scheibenartig, wie von einem sehr kleinen
- Tropfen, welcher die Haut trifft. Es findet also eine Art von Irradiation
des Gefühles statt, dasselbe erscheint extensiver als der Temperaturpunkt
ist, bez. der reizbare Endapparat. Dass letzterer im der That in unserem
Sinne „punktförmig“ sein muss, geht theils aus der schon erwähnten That-
sache hervor, dass nicht selten Kälte- und Wärmepunkte sehr dicht neben-
‘einander liegen, theils aus anderen später mitzutheilenden Beobachtungen.
Diese Irradiation ist bei den Wärmepunkten grösser, als bei den Kälte-
punkten; sie verhält sich ferner nach den Körperstellen und Hautregionen
verschieden. Es hat mir geschienen, dass die Irradiation geringer ist an
den Regionen mit ausgebildeterem Ortssinn und an denen mit sehr 'stum-
pfem Ortssinn hervorragend bedeutend. Je intensiver endlich die Empfin-
dung eines Punktes ist, desto mehr erscheint sie auch punktförmig, die
schwach empfindenden Punkte irradiiren am meisten. Ist ein Temperatur-
punkt mehrfach gereizt worden, so giebt er eine schwache dumpfe Empfin-
dung und diese erscheint uns zugleich viel breiter als bei den ersten Rei-
zungen; es ist dabei, als ob sich in der Haut eine unbestimmte diffuse
Kühle oder Wärme ausbreite und .dies geht so weit, dass man zuweilen
in Zweifel geräth, ob man die Empfindung überhaupt dem punktförmigen
Reiz zuschreiben könne.
Das Kältegefühl bei Reizung eines Kältepunktes ist ein momentan er-
folgendes, aufblitzendes. Das Wärmegefühl bei Reizung eines Wärme-
punktes dagegen erfolgt nicht momentan, sondern erscheint anschwellend;
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 11
es ist diffuser und gewährt an manchen Körperstellen (Mamillargegend,
Unterleib u. a.) den Eindruck, als ob es sich nach der Tiefe hin aus-
breite.
Die Intensität der Temperaturempfindung eines Temperaturpunktes ist
natürlich von der Stärke der Reizung abhängig; sie ist jedoch auch absolut
verschieden für die einzelnen Temperaturpunkte. Mit demselben Reizohjeet
“erregt giebt der eine Kältepunkt ein sehr kaltes, eisiges Gefühl, der andere
nur ein kühles und dazwischen giebt es Abstufungen; entsprechend verhält
es sich bei den Wärmepunkten. Die intensiveren Punkte — um die mit
intensiverem Gefühl begabten so kurz zu bezeichnen — werden nun auch
durch schwächere Reize erregt, als die weniger intensiven. Man findet des-
halb z. B. mit einem schwachen Kältereiz nur einen Theil der Kältepunkte,
nämlich die intensivsten — worauf oben schon hingedeutet worden ist.
Mit stärkeren Kältereizen kann man dann eine grössere Anzahl davon auf-
finden und so fort. Ebenso ist es bei dem Wärmesinn. Die schwachen
, Punkte geben, mit je stärkeren Reizen sie angegriffen werden, natürlich
, ein um so stärkeres Temperaturgefühl; aber nicht so, dass dasselbe bei
‚ einer gewissen Reizstärke nun dieselbe Intensität erreicht, wie bei den
‚ intensiveren Punkten auf schwachen Reiz; vielmehr zeigen sich viele mit
einer durchaus schwächeren Empfindungskraft begabt, welche gar nicht bis
# zu der Stärke der intensiven Punkte anwachsen kann. Wenn man daher
| auch gerade nicht sagen kann, dass die Temperaturpunkte auf verschiedene
- Reiztemperaturen gleichsam „abgestimmt“ sind, so ist doch in Bezug auf
das Verhältniss von Reizstärke zu Erregungsstärke eine abgestufte Reihe
| ‚ vorhanden, derart, dass zwar durch jedes Sinken oder Steigen der Haut-
temperatur ein Reiz auf alle Kälte- oder Wärmenerven ausgeübt wird, dass
aber bei den in dieser Reihe tiefer stehenden Punkten die Erregung stärker
' sein muss, um als Kälte oder Wärme pereipirt zu werden. Einen Versuch
einer Erklärung dieser Verschiedenheiten der Empfindlichkeit und Empfln-
dungsstärke werde ich weiter unten machen.
Es ist endlich noch zur Beschreibung des Punktgefühles hinzuzufügen,
dass dasselbe meist nicht mit dem Aufhören des Reizes momentan erlischt,
U sondern eine Nachdauer hat. Es tönt ab und geht in ein unbestimmtes,
nicht näher zu beschreibendes Gefühl über. Auch diese Eigenschaft ist
nicht über die ganze Haut in gleicher Weise verbreitet, vielmehr giebt es
‚ Hautregionen, wo dieselbe sehr gering, und andere, wo dieselbe ganz auf-
fallend hervorragend ist. Der Umstand, dass das Punktgefühl eine aus-
| gesprochene Nachdauer hat, ist namentlich für die Theorie des Temperatur-
sinns von Wichtigkeit, wie später gezeigt werden wird. —
Es sind im Folgenden nun noch eine Reihe sehr bemerkenswerther
| Eigenschaften der Temperaturpunkte und -nerven zu schildern.
112 ALFRED GOLDSCHEIDER:
Mechanische und elektrische Erregbarkeit der Temperatur-
punkte.
Es hat sich nämlich zunächst ergeben, dass ar. den Temperaturpunkten
durch mechanische Reizung das entsprechende Temperaturgefühl, also
bei den Kältepunkten Kältegefühl, bei den Wärmepunkten Wärmegefühl
hervorgerufen werden kann. Ich habe dies so vielfältig an mir und Anderen
mit Erfolg ausgeführt, auch ist es von mehreren anderen Seiten bestätigt
worden, so dass kein Zweifel über die Richtigkeit dieser 'Thatsache be-
stehen kann. Freilich wird es nicht Jedem am Anfange gleich gelingen;
denn ein punktförmiges Temperaturgefühl ist uns überhaupt etwas Un-
sewohntes und daher nicht leicht aufzufassen. Die mechanische Erregung
wird in der Weise ausgeführt, dass eine Nadel von Metall oder Glas flach
zur Haut gehalten, in leichten Stössen gegen dieselbe bewegt wird. Blosser
Druck führt zuweilen auch zum Ziele, ist aber nicht so geeignet wie Stösse.
Es empfiehlt sich, zu diesem Versuch Hautstellen auszuwählen, welche ge-
spannt werden können, z. B. Finger- und Handrücken, Gelenkgegenden. In
der gespannten Haut wirkt die durch den Stoss gesetzte Erschütterung
besser auf die Nervenendigung, weil das Unterhautzellgewebe weniger nach-
giebig ist. Man ist, wenn man sich selbst beklopft, weniger gut im Stande,
das entstehende Temperaturgefühl aufzufassen, als wenn man sich bei
abgewandten Augen von einer anderen Person klopfen lässt; letzteres ist
daher zu empfehlen. Man bezeichnet eine Anzahl von Punkten und lässt
dann die beschriebene Manipulation an sich ausführen. Dies Moment ist
wesentlicher als es zunächst den Anschein hat, und so glaublich es mir ist,
dass Viele beim ersten Beklopfen der Temperaturpunkte meine Angaben
nicht bestätigen werden, so unzweifelhaft ist es mir, dass Alle diese bei
der Ausführung mit abgewandten Augen das Gefühl wahrnehmen werden.
Man kann hierbei eine Beobachtung machen, welche die oben ausgesprochene
Behauptung rechtfertigt, dass die Temperaturpunkte, d. h. die Endapparate
in der That punktförmig sind. Der Farbenpunkt nämlich fällt im All-
gemeinen viel breiter aus, als die Spitze des zur Erregung benutzten In-
strumentes ist. Man kann demnach mit letzterer auf dem Farbenpunkt
herumwandern und bemerkt dabei, dass häufig nur an einem bestimmten
„Punkt des Punktes“ die Empfindung mit Deutlichkeit zu produciren ist,
— anzunehmenderweise also demjenigen, welcher gerade senkrecht über
dem Endorgan liegt. Die Wärmepunkte sind meist schwerer zu erregen
als die Kältepunkte und es ist auch die Auffassung des punktförmigen
Wärmegefühls schwieriger und wird erst durch die Uebung eine sichere.
Es beruht dies wohl darauf, dass die Qualität „Kalt“ als solche einen
grösseren Eindruck auf das Bewusstsein macht als die Qualität „\Warm“.
Es ist klar, dass bei der mechanischen Erregung die Auffassung des Tem-
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERYEN. 13
peraturgefühls gestört wird durch das gleichzeitige Gefühl des Druckes und
es ist daher der letztere möglichst schwach zu nehmen, jedoch sind manche
Temperaturpunkte durch schwachen Stoss nieht erregbar, speciell erfordern
die Wärmepunkte wie schon gesagt meist einen stärkeren Druck. Es em-
pfiehlt sich daher die Regel, mit schwächstem Klopfen zu beginnen und
dies allmählich stärker werden zu lassen. Uebrigens wird bei intensiveren
Punkten, sobald die richtige Stelle getroffen ist, kein Gefühl des Druckes
wahrgenommen, sondern lediglich ein Temperaturgefühl. Auch bei mecha-
nischer Erregung finden sich Punkte mit schwacher und solche mit inten-
siverer Empfindungsstärke. Es kann ebensowohl ein eisiges wie ein kühles,
ein brennendes wie ein laues Gefühl erfolgen. Bei Verstärkung des Stosses
wird bis zu einem gewissen (Grade Verstärkung der Empfindung wahr-
genommen; dann hört das Temperaturgefühl ganz auf, indem es durch das
Gefühl des Druckes zurückgedrängt wird. Eine Nachdauer der Empfindung
ist bei mechanischer Erregung im Allgemeinen nicht zu beobachten, jedoch
kommt sie hier und da vor. — Auf eine Cautele ist noch aufmerksam zu
machen: hat man nämlich Temperaturpunkte bestimmt und bezeichnet, so muss
man noch eine kurze Zeit lang warten, ehe man die mechanische Erresung
vornimmt, da die durch die Reizung herabgesetzte Erregbarkeit auch auf
die mechanische Erregung Einfluss übt. Die mechanische Erregung gelingt
nicht an allen Temperaturpunkten, jedoch an der überwiegenden Mehrzahl.
Wenn in dem Vorhergehenden behauptet wurde, dass das entstehende
Temperaturgefühl auf die mechanische Erregung der Nervenenden zurück-
zuführen “st, so geschah dies, weil eine andere Erklärung der Erscheinung
nicht möglich erscheint. Denn wenn man einwenden wollte, dass bei Be-
nutzung der Nadel für die Erregung der Kältepunkte dieselbe lediglich durch
ihre Wärme ableitende Eigenschaft den Kältenerven gereizt habe, so ist
doch diese Erklärung für die Erregung der Wärmepunkte durch die Nadel
hinfällie. Ferner gelingt der Versuch in gleicher Weise, wenn man statt
der Nadel ein gespitztes Hölzchen anwendet. Es ist mir auch in unzweifel-
hafter Weise gelungen, mit der angewärmten Nadel Kältegefühl zu erzeugen
(einige Male auch mit der erhitzten!); hierzu muss man die Haut stark
spannen, also z. B. die Rückenfläche der Fingergelenke bei Flexion der
Finger benutzen und vor Allem den Punkt ganz genau treffen. In ent-
sprechender Weise habe ich mit der abgekühlten Nadel und mit dem
nichterwärmten Messingcylinder von den Wärmepunkten Wärmegefühl durch
mechanische Reizung erzeugen können.
Dass es sich um eine subjective Erscheinung, eine Illusion durch vor-.
gefasste Meinung, um ein eingebildetes Gefühl! nicht handelt, dies wird in
! Ich habe einmal einem jungen Mediciner, der nichts von meinen Untersuchungen
und dem Gegenstande überhaupt wusste, einige Kältepnnkte auf dem Arm bezeichnet;
14 ALFRED GOLDSCHEIDER:
unzweideutiger Weise durch die Methode der Untersuchung bei abgewandten
Augen gezeigt.
Ob durch die mechanische Erschütterung die vorauszusetzenden End-
organe gereizt werden oder die Nervenfasern selbst, ist zunächst nicht zu
entscheiden, jedoch dürfte das letztere wahrscheinlicher sein. Wir werden
Gelegenheit haben, auf diesen Punkt noch einmal zurückzukommen.
Stellt man den Versuch so an, dass man es dem Gehülfen überlässt,
bald zwischen den Punkten, bald auf denselben zu klopfen, so wird man
‚sich überzeugen, dass man — es sei denn, dass bei der Bezeichnung Punkte
übersehen worden waren — zwischen den Punkten nie ein Temperatur-
sefühl wahrnimmt und mit ziemlicher Sicherheit angeben kann, sobald ein
Punkt getroffen ist. Man wird hieraus zugleich wieder einen neuen Be-
weis dafür entnehmen können, dass wirlich nur an den Temperaturpunkten
Endieungen der Temperaturnerven vorhanden sind.
Auch mittels des elektrischen Stromes können die Temperatur-
punkte erregt werden und zwar mittels des indueirten.! Angesichts der
mechanischen Erregbarkeit nimmt die elektrische nicht Wunder. Auch sie
ist einfach zu constatiren und es ist nur wieder nöthig, das zu beachten,
was schon bei der mechanischen Erregung hervorgehoben wurde, dass es
nämlich eine gewisse Uebung erfordert, das entstehende „punktförmige“
Temperaturgefühl als solches aufzufassen, besonders das Wärmegefühl, und
dass es nothwendig ist, genau die Stelle des Nervenendes zu treffen. An-
derenfalls nämlich fühlt man nur das durch die Reizung der Gefühls-
nerven entstehende Prickeln. Um letzteres überhaupt möglichst auszuschalten,
muss man die Stromstärke so schwach wie möglich wählen, ungefähr so,
dass auf mässig empfindlichen Hautstellen wie z. B. am Arm eben ein
leichtes Priekeln entsteht.
Als Reizelektrode kann man eine gewöhnliche Stahlnadel benutzen,
welche mit der Spitze leicht auf die Haut aufgesetzt wird. Es gilt hier
ebenso wie bei der mechanischen Erregung, dass das Temperaturgefühl
schärfer aufgefasst wird, wenn man nicht selbst die Nadel führt und nicht
das Aufsetzen derselben mit ansieht. Es ist wohl in Ueberemstimmung
mit anderen ähnlichen Erscheinungen, dass durch das Mitwirken anderer
Sinnesthätigkeiten und das Ablenken der Aufmerksamkeit auf die vorzu-
nehmenden Manipulationen, welche zum Theil, nämlich in Bezug auf die
Stärke des Druckes und das richtige Treffen des Punktes eine gewisse
Mühe erfordern, die Schärfe der Auffassung der entstehenden Empfindungen
sodann liess ich ihn die Augen abwenden und betupfte ihn mit einem Zahnstocher.
Als ich dabei auf den ersten Kältepunkt kam, rief er: „‚Das wird kalt!“
! Dies ist auch von Magnus Blix festgestellt worden, der sich über eine mecha-
nische Erregbarkeit jedoch nicht äussert.
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 15
leidet. Es empfiehlt sich daher wieder, die Augen abzuwenden und von
einer anderen Person die Nadelelektrode führen zu lassen; zunächst nach
Bezeichnung von Punkten zwischen denselben hindurch und über sie hin-
weg, wobei man durch den Gegensatz des prickelnden oder ganz fehlenden
sefühles zwischen den Punkten gegen das kühle oder warme auf den-
selben sich des letzteren um so schärfer bewusst wird. Bei einiger Uehune
‚ gelingt es auch ohne vorherige Bezeichnung von Punkten solche, d. h.
Stellen aufzufinden, wo das Prickeln zurücktritt und ein Temperaturgefühl
an dessen Stelle rückt. Die Uebung spielt hierbei eine so bedeutende
Rolle, dass einem, wenn man sich mehrere Tage lang wiederholt mit sol-
chen Versuchen beschäftigt hat, die Erscheinung als eine höchst simple
vorkommt, während ich selbst, wenn ich etwa vier Wochen lang ganz diese
Untersuchungen ausgesetzt habe, zuerst Mühe habe, sie wieder an mir
selbst zu constatiren.
Die verschiedene Intensität der Empfindung, mit welcher die Tempe-
raturpunkte begabt sind, äussert sich auch gegenüber der elektrischen Er-
resung. An manchen intensiven, besonders Kältepunkten hört das sonst
gefühlte Priekeln fast ganz auf und macht einem ziemlich reinen Tempe-
raturgefühl Platz. An anderen Punkten tritt das Priekeln nur mehr oder
weniger zurück gegen das Temperaturgefühl. Lässt man die Elektrode eine
Zeit lang auf dem Punkte ruhen, so tritt durch Ausbreitung des Stromes
die Erregung der Gefühlsnerven wieder mehr in den Vordergrund, während
das Temperaturgefühl in Folge der Ermüdung des Nerven schwindet. Lässt
man den Strom anwachsen, so wird, ebenso wie bei der mechanischen Er-
regung, bis zu einem gewissen Grade das Temperaturgefühl stärker, zu-
gleich nimmt aber auch die Erregung der umliegenden sensiblen Nerven
zu und verdunkelt dann, besonders wenn die Schmerzerenze erreicht wird;
die Temperaturempfindung. Wenn man jedoch eine sehr erhebliche Strom-
stärke anwendet, so wird das Temperaturgefühl ein so lebhaftes, dass es
den unter Umständen nicht unbedeutenden Schmerz übertönt; hierzu frei-
lieh ist es geeigneter, eine dem Strom weniger Widerstand bietende Elek-
trode zu wählen, etwa das stumpfe Ende der Nadel aufzusetzen. Das Ver-
fahren eignet sich besonders zur Elektrisation der Wärmepunkte, welche
dabei ein so brennend heisses Gefühl geben, dass über die faktisch produ-
eirte Erregung der hier endigenden Wärmenerven kein Zweifel sich mehr
aufdrängen kann. Ein nützlicher Wink für die Anstellung des Elektrisa-
tionsversuches dürfte es noch sein, dass man möglichst solche Hautregionen
wählt, welche bei geringer Druck- und Schmerzempfindlichkeit intensive
Temperaturpunkte besitzen, wie Handrücken, Rücken des Vorderarmes,
Stirn u.s.w. — Man kann bei dem Elektrisationsversuch mit Benutzung
der Nadelelektrode die Temperaturpunkte noch distineter reizen als bei der
16 ALFRED GOLDSCHEIDER :
mechanischen Erschütterung, weil jede Verschiebung der Haut und die mit
dem Eindruck verbundene Trichterbildung vermieden werden kann. Es ist
daher diese Methode ganz besonders geeignet, um sich die Ueberzeugung
zu verschaffen, dass von einem und demselben Punkt aus immer nur eine
und dieselbe Qualität der Temperaturempfindung, entweder kalt oder warm,
auszulösen ist; dass dagegen nicht selten von sehr nahe nebeneinander ge-
lesenen‘ Punkten aus entgegengesetzte (Qualitäten durch die elektrische
Reizung produeirt werden können. Hierdurch wird das klarste Licht ver-
breitet auf diejenigen Fälle, wo bei der Untersuchung mit dem Messing- 3
cylinder Kälte- und Wärmepunkte zusammenzufallen scheinen; es ist hier
eben mittelst des adäquaten Reizes nicht möglich, eine genügend distincte
Reizung auszuüben.
Man könnte bezüglich der Benutzung der Stahlelektrode behufs Er-
reeung der Kältepunkte den Einwurf erheben, dass dieselbe auch ohne
Elektricität durch das hervorragende Wärmeleitungsvermögen ihres Materials
die Kältepunkte reizen könne. In der That ist selbst die Nadelspitze im
Stande, auf intensiven Kältepunkten durch blosse Wärmeentziehung ein
kühles Gefühl hervorzurufen. Allein man kann sehr deutlich constatiren,
dass dasselbe bei dem Durchströmen der Elektrieität sofort stärker wird,
und dass es ferner, wenn es nach einer gewissen Dauer der Application
der blossen Nadel erloschen ist, sofort beim Schliessen des Stromes von
Neuem und stärker angefacht wird.! Dies ist ganz besonders deutlich,
wenn man starke Ströme und das stumpfe Nadelende in der oben beschrie-
benen Weise benutzt. Es bedürfte kaum noch eines anderen Nachweises, °
dass das elektrische Kältegefühl nicht etwa bloss der Berührung mit der
Metallelektrode zu danken ist; jedoch habe ich noch folgendes Verfahren
in Anwendung gezogen, welches sich im Grunde nicht wesentlich von dem
vorigen unterscheidet: Man betupft eine Anzahl nicht allzu nahe aneinander
gelegener Kältepunkte mit einem Brei .aus Eisenfeilspähnen und Wasser
in möglichst distincter Weise; dann bepinselt man die Haut mit einer
spirituösen Schellacklösung, indem man die Tüpfelchen von Eisenbrei sorg-
fältig frei lässt, und packt sodann auf die getrocknete Schellackschicht, den
Punkten entsprechend, grössere Massen Eisenbrei, welche dann vermittelst
der erst applieirten Häufchen mit den Punkten in Verbindung stehen.
Hierbei entsteht ein vorübergehendes Kältegefühl. Man schliesst nun den
Strom, indem man die Elektrode in Contact bringt mit den Eisenbrei-
! Blix begegnet diesem Einwurf in folgender Weise: er zerstreut mit dem Pul-
verisator Tröpfehen über die Haut und taucht die Elektrode in diese. Jedoch kann
diese Methode als besonders exaet nicht gelten, da nur ein kleiner Theil dieser Tröpf-
chen zufällig auf Temperaturpunkte fallen wird und bei diesen ferner eine Controlle
durch den adäquaten Reiz nicht möglich ist.
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 17
massen und hat dann bei gut gelungener Isolirung ein deutliches Kälte-
gefühl. Dies Verfahren gelingt nicht jedesmal, weil es nicht immer mög-
lich ist, die Häufchen von Eisenbrei genau an den Kältepunkt und mög-
lichst wenig über diesen hinaus anzuheften, jedoch da es überhaupt gelingt,
so ist damit der Sache Genüge gethan. Im Uebrigen würde ja auch der
Einwurf, dass die Metallelektrode an und für sich schon die Kältepunkte
erregt, seine Spitze verlieren Angesichts der elektrischen Erregung der
"Wärmepunkte mittels derselben Elektrode; es dürfte kaum einen Zweck
haben, das, was die Elektrieität gegenüber den Wärmenerven leistet, für
die Kältenerven anzuzweifeln. Unter diesen Umständen ist auch kein
Grund vorhanden, die Metallelektrode für die Elektrisation der Kältepunkte
etwa nicht zu benutzen, wenn die Methode auch als eine von allen Neben-
wirkungen reine, im strengsten Sinne exacte, nicht hingestellt werden kann.
Anaesthesie der Temperaturpunkte gegen Druck- und
Schmerzreize.
Eine weitere wichtige Eigenschaft der Temperaturpunkte ist, dass auf
‚ denselben eine schwache Berührung nicht wahrgenommen wird. Man
kann, um dies zu prüfen, eine Glasnadel, ein zugespitztes weiches Hölzchen,
‚ ein gespitztes, auf eine Nadel gespiesstes Korkplättchen verwenden. Man
‚ wird sich auf diese Weise bei einem Theile der Temperaturpunkte deutlich
‚ überzeugen, dass vorsichtige Berührungen mit diesen Gegenständen nicht
‚, wahrgenommen werden; hier und da wird man sie auch gegen etwas stär-
‚kere Berührung insensibel finden. Auch diese Beobachtung macht sich
‚leichter blind, denn es ist an und für sich schon schwer und etwas für
‚ uns Ungewohntes, die feinsten Nüancen unserer Hautsinnesempfindungen
‚ aufzufassen. Das Hölzchen oder die Nadel muss hierbei möglichst senk-
‚ recht: gehalten werden, damit ein Anlegen der Hautfläche an dieselbe ver-
‚ mieden wird. — Wenn die Erscheinung auch nicht bei allen Temperatur-
punkten zu bestätigen ist, so ist es, bei der Erwägung, dass in der
‚ unmittelbarsten mikroskopischen Nachbarschaft der Endorgane Berührungs-
‚nerven sich finden können, merkwürdig genug, dass diese Beobachtung sich
‚überhaupt machen lässt, und es lässt dies zweifellos den Schluss zu, dass
die Temperaturnerven selbst jedenfalls ein Berührungsgefühl nicht geben
' können. — Es ist wohl kaum nöthig darauf aufmerksam zu machen, dass
bei dieser Untersuchung die Bezeichnung des Punktes mit Farbe unter-
bleiben muss, da die Farbendecke eine gewisse Abschwächung der Sensi-
, bilität herbeiführen könnte, vielmehr empfiehlt es sich, die Punkte dadurch
zu markiren, dass man sie mit Ringen umgiebt. Auch darf man nicht
‚ die Sensibilitätsprüfung unmittelbar nach dem Aufsuchen der Punkte vor-
Archiv f. A. u. Ph. 1835. Physiol. Abthlg. Suppl.-Bd. 2
18 ALFRED GOLDSCHEIDER:
nehmen, da durch das Einwirken der Temperaturen für eine gewisse Zeit-
dauer die Empfindlichkeit auch gegen Berührung geschwächt wird.
Es hat sich ferner gezeigt, dass die Temperaturpunkte auch nicht fähig
sind zu einer Schmerzempfindung. Es kann dies festgestellt werden
mittelst senkrechten Einstechens von sehr fein gespitzten Nadeln. Man
findet, namentlich an Hautregionen mit grober Empfindlichkeit, nicht selten
Punkte, wo man beim Einstechen nicht die Empfindung eines schmerz-
haften Stiches hat, ja, wo man überhaupt, auch bei tiefem Einstechen,
nicht das Geringste fühlt. Zu diesen schmerzlosen Punkten gehören nun
auch die Temperaturpunkte. Es ist dabei jedoch wieder von Neuem
wie oben hervorzuheben, dass man die Erscheinung der Schmerzlosigkeit
bei Nadelstich nicht bei allen Temperaturpunkten feststellen kann, und es
hat dies nichts Wunderbares, wenn man die Configuration der sensiblen
Nervenenden in der Haut, wobei unmittelbar an diejenigen der Temperatur-
nerven solche der Berührungsnerven grenzen können, sich vorstellt. Man
findet demgemäss diese Eigenschaft der Temperaturpunkte am wenigsten
an Hautregionen, welche durch Schmerzempfindlichkeit hervorragen. — Bei
der Analgesie der Temperaturpunkte bestätigt sich übrigens wieder das,
was bei der mechanischen und elektrischen Erregbarkeit bereits betont
wurde, dass nämlich der wahre anatomische Temperaturpunkt, d. h. der-
jenige, welcher die genaue Projection des in der Haut gelegenen empfind-
lichen Endapparates auf die Hautoberfläche darstellt, ein sehr distincter
Punkt ist, denn man findet häufig den Farbenpunkt nur an einer be-
stimmten Stelle schmerzlos, in der übrigen Ausdehnung aber schmerz-
empfindend. Diese, in der That „punktförmige“ Analgesie zusammen-
genommen mit den Beobachtungen über die distinete Localisation bei der
mechanischen und elektrischen Erregung ist wohl em hinreichender Beweis
dafür, dass den auf der Hautoberfläche mittelst des adäquaten Reizes ge-
fundenen Temperaturpunkten, mit ihren Annäherungszonen und ihrem irra-
diirenden Gefühl, relativ eng umgrenzte, für unsere makroskopische Denk-
weise echt punktförmige Dinge entsprechen. Selbstredend sind die End-
apparate der Temperaturnerven wahrscheinlich noch erheblich kleiner als
ein solcher Punkt; der analgetische Punkt bezeichnet ja nicht die Exten-
sität des Temperatur empfindlichen Endapparates, sondern lediglich die
Grösse der Lücke in der Masse. der schmerzempfindlichen Nervenfasern,
Auch gegen den durch faradische Ströme produeirten Schmerz zeigen
die Temperaturpunkte dieselbe Eigenschaft. Freilich wirkt der Strom nicht
blos in senkrechter Richtung und ist demgemäss auch eine absolute Anal-
gesie nicht zu erzielen; jedoch wenn man den Strom so stark macht, dass
bei jedem Aufsetzen der Nadelelektrode ein stechender Schmerz entsteht,
so wird man eine Stelle des Punktes auffinden können, wo ein ganz deut-
NEUE 'ÜTHATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 19
licher Nachlass der Schmerzempfindung eintritt. Ich habe hierbei natürlich
auch in Rechnung gezogen, ob nicht die Farbe den Strom abschwäche und
gefunden, dass dies bei meinen Farben nicht der Fall ist, während es z.B,
bei den gewöhnlichen groben Tuschfarben allerdings stattfindet.
Man kann nicht selten die Beobachtung machen, dass bei sehr inten-
siven Punkten einerseits die mechanische Erregbarkeit, andererseits die
Analgesie in einer grösseren Breite als gewöhnlich nachzuweisen ist. Es
"hat mich dies auf den Gedanken geführt, dass den intensiveren Punkten
ein grösserer anatomischer Complex von Endapparaten bez. Endigungen
entsprechen möchte.
Ganz analog verhalten sich nun die Temperaturpunkte gegen den
Temperaturschmerz. Es könnte absurd erscheinen, behaupten zu wollen,
dass die Temperaturnerven keinen Temperaturschmerz wahrnehmen. —
Dennoch stehe ich nicht an, diese Ueberzeugung auszusprechen. Die Unter-
suchung, um welche es sich hier handelt, kostet eine gewisse Ueberwin-
dung; betrachtet man aber den Schmerz als eine Sinnesempfindung, welche
ebenso gut wie jede andere den Anspruch hat, studirt zu werden, so bleibt
nichts anderes übrig, als sich ihm zu unterziehen. Ich habe nun gefunden
und es immer wieder bestätigen können, dass der durch excessive Hitze
verursachte Schmerz an den Temperaturpunkten schwächer wahrgenommen
wird als in der Umgebung derselben. Tastet man mit dem stark erhitzten
Cylinder die Haut ab, so entsteht bei jedem Aufsetzen desselben ein uner-
träglich stechender Schmerz; sobald man auf einen Temperaturpunkt kommt,
schwindet der Charakter des Unerträglichen; man hat zwar ebenfalls ein
stechendes Gefühl, aber ohne den heftigen Schmerz, man könnte den
Cylinder gleichsam auf dem Punkte ruhen lassen; zuweilen vermisst man
sogar fast jeden Schmerz. An Wärmepunkten tritt natürlich nebenbei ein
brennendheisses Gefühl ein, aber dieses ist eben nur eine hochgradige
Wärmequalität, keine Schmerzqualität. — Wenn die Analgesie gegen Tem-
peraturschmerz auf der einen Seite in Uebereinstimmung erscheint mit der-
jenigen gegen mechanisch erregten Schmerz, so muss man andererseits den
Schluss ziehen, dass das, was man als Temperaturschmerz bezeichnet, nicht
der Qualität der Temperaturempfindung angehört, sondern ein zusammen-
gesetztes ist aus letzterer und Schmerz, welcher durch Erregung der
allgemein sensiblen schmerzempfindlichen Nerven, und zwar mittelst der
excessiven Temperatur als aligemeinen Nervenreiz produeirt ist. Wohl
kann eine Temperaturempfindung Lust und Unlust erwecken, die Wärme
kann behaglich und unbequem, die Kühlung angenehm und unangenehm
sein; es giebt Körperstellen, wo eine nur mässige Erregung eines Kälte-
punktes unbehaglich und die Application einer winzigen Metallfläche höchst
unangenehm ist und Reflexbewesungen verursacht — aber dies ist kein
9%
24
20 ALFRED GOLDSCHEIDER:
Schmerz, ebensowenig wie ein übler Geruch oder das Gefühl der Blendung
Schmerz ist. Ist die Temperatur dagegen so excessiv kalt oder warm, dass
sie nicht bloss Unlust, sondern reellen Schmerz verursacht, so wirkt sie
eben nicht blos auf die Temperaturnerven als adäquater, sondern auch
auf die Gefühlsnerven als allgemeiner Nervenreiz.
Nach diesen Beobachtungen ist es wohl gestattet, die Behauptung auf-
zustellen, dass die Temperaturpunkte, soweit es bei der Complieirtheit des
in der Haut befindlichen Nervengeflechtes möglich ist dies nachzuweisen,
Lücken darstellen in dem Berührungs-, Druck- und Schmerzsinn;
und dies kann seine Ursache nur darin haben, dass die dem letzteren
Sinne dienenden Nerven an jenen Punkten weniger bez. gar nicht vertreten
sind und dass die dort befindlichen Temperaturnerven nicht fähig sind, die
Empfindungen der Berührung, des Druckes, des Schmerzes zu produeiren.
Dieses letztere ist das für uns Interessanteste und lehrt uns, dass die durch
ihre besondere Art der Anordnung von den übrigen Hautnerven oben be-
reits als gesondert erkannten Kälte- und Wärmenerven nicht etwa allge-
mein sensible Hautnerven sind, welche die Kälte- und Wärmeempfindlichkeit
als eine besondere Zugabe besitzen, sondern dass sie ganz specifische
Sinnesnerven sind, derart, dass die Kältenerven nur die Empfindung
Kalt und keine andere, und die Wärmenerven nur die Empfindung Warm
' und keine andere dem Bewusstsein zuleiten oder vielmehr in ihm anregen
können.
Nachdem diese Eigenschaften der Temperaturpunkte mitgetheilt sind,
müssen wir uns noch einmal zu der anatomischen Anordnung derselben
wenden. — Es war bereits oben erwähnt, dass man in die Lage kommt,
leicht getrennte Punkte an einen Ort zu setzen, wo continuirliche Temperatur-
empfindung vorhanden ist, andererseits aber auch hervorgehoben, dass sich
Stellen finden, wo eine Trennung in Punkte nicht möglich ist. Speciell
wird die Localisation derselben in einer dichten Kette leicht fehlerhaft;
prüft man eine solche, ohne Punkte zu setzen, so findet man sie nicht
selten in ihrer ganzen Ausdehnung temperaturempfindlich; wie eine schmale
kalte oder warme Zone zieht sie sich durch die Sinnesfläche hin. Wenn man
eben dieselbe nun mit einem schwächeren Temperaturreiz prüft, z. B. eine an-
scheinend continuirliche Kältepunktkette mit dem Aetherpinsel, so findet man
nur einzelne mehr oder weniger weit von einander entfernte empfindliche
Punkte; mit einem stärkeren Kältereiz deren mehr, während sie mit einem
noch stärkeren, wie gesagt, ganz und gar kälteempfindlich erscheint. Es ent-
steht nun die Frage: Sind hier einzelne Punkte vorhanden, welche durch das
Annäherungsgefühl jedes einzelnen bei einer gewissen Stärke des Reizes mit
einander verbunden erscheinen, oder ist ein Continuum da, dessen Empfind-
lichkeit aber nicht gleichmässig ausgebildet ist? Es liegt nahe, für diese
a
j
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 21
Frage die mechanische Erregbarkeit, sowie die Analgesie der Temperatur-
punkte heranzuziehen. Ich habe bei derartigen Versuchen dann stets ge-
funden, dass auch innerhalb der dichtesten Kette, welche bei Reizen von
einer gewissen Stärke continuirlich erschien, nur eine Anzahl distincter
Punkte mechanisch oder elektrisch erregt Temperaturgefühl gaben. Diese
Versuche wurden in der Weise vorgenommen, dass eine andere Person,
‘während ich selbst die Augen abwandte, die vorher aufgezeichnete Kette
mechanisch bez. elektrisch prüfte; die empfindenden Punkte wurden be-
sonders bezeichnet. Es zeigte sich ferner, dass nicht blos eine bestimmte
Anzahl getrennter Punkte erregbar waren, sondern dass auch bei Wieder-
holung des Versuches eben dieselben immer wieder angegeben wurden.
Meist lagen diese Punkte in einem etwas grösseren Abstande von einander
entfernt als gewöhnlich die Punkte einer dicht gedrängten Kette bezeichnet
zu werden pflegen. Ausser diesen erregbaren Punkten nun fanden sich
bei Prüfung mit der Nadel bez. Nadelelektrode stets eine Anzahl schmerz-
hafter Punkte in den Ketten, während eine andere Zahl analgetisch waren;
einige Male zeigten sich zwei in ganz naher Distanz von einander befind-
liche Kältepunkte durch einen schmerzempfindlichen Punkt getrennt. In
analoger Weise wurden Stellen untersucht, welche über eine gewisse Fläche
hin eine continuirliche Kälteempfindlichkeit zeigten. Auch an diesen fand
sich eine Anzahl von getrennten mechanisch bez. elektrisch erregbaren und
‘ daneben Schmerz empfindende Punkte; ich konnte bis zu 10 mechanisch
| erregbaren Punkten in solchen Kältefeldern nachweisen. Man kann nun
_ einwenden, dass überhaupt bei vielen Temperaturpunkten die mechanische
Erregung nicht gelingt; ich habe mir selbst unter anderem notirt, dass
‚ieh in einer 2wm Jangen Kältepunktlinie keinen einzigen mechanisch erreg-
| baren Punkt gefunden habe. Allein der Befund der Schmerz empfindenden
‚ Punkte innerhalb der Kette zeigt doch deutlich, dass dieselbe nicht bloss
‚ Temperaturnerven, sondern auch Lücken derselben enthält, welche mit
‚ sensiblen Fasern gefüllt sind. Es giebt Kältepunktlinien, welche sich auch
bei schwachem Reiz, z. B. mit Aetherpinsel, als continuirlich empfindend
erweisen. Hier habe ich dann immer sehr viele, zum Theil äusserst dicht
hinter einander stehende mechanisch erreebare Punkte gefunden. Es finden
sich häufig Stellen, wo zwei Punktketten ziemlich dicht neben einander
verlaufen; man kann hier stets constatiren, dass an dem schmalen Zwischen-
stück die Schmerzhaftigkeit auf Nadelstiche eine viel grössere ist als inner-
halb der Ketten.
Wenn ich demnach weder die mechanisch und elektrisch erregbaren
Punkte allein, noch die schmerzhaften und analgetischen allein als Beweis
betrachten würde, so möchte ich doch aus dem Wechsel der erregbaren
und analgetischen Punkte mit schmerzempfindlichen in der Weise, wie er
22 ALFRED GOLDSCHEIDER:
sich bei der Untersuchung darstellt, und aus der Thatsache, dass sich
dieser Wechsel innerhalb einer Kette oder einer Fläche genau so ver-
hält, wie in den Fällen, wo zwischen zwei Ketten ein schmaler Zwischen-
raum besteht, schliessen, dass in der That kein Continuum, sondern ge-
trennte Punkte da sind, d. h. getrennte Endorgane, Auch bei den
Ketten, welche sich bei schwachen Temperaturreizen als continuirlich er-
weisen, ist eine Anordnung getrennter Endorgane vorhanden, denn eine
schmerzfreie Kette kommt nicht vor. Es ist ja auch sehr einleuchtend,
dass die Dichtiekeit der Anordnung dieser anatomischen Gebilde, welche
wir als Endapparat voraussetzen müssen, eine sehr verschiedene sein kann;
es ist vorstellbar, dass dieselben einander so nahe rücken, dass ihre Tren-
nung für den Temperaturreiz durchaus nicht zu erweisen ist. Der mecha-
nische resp. elektrische Reiz kann dies in vollkommenerer Weise, weil er
einerseits mehr punktförmig, andererseits ausschliesslicher senkrecht wirkt.
So kann man ihn überhaupt zur Controle der Temperaturpunkte verwenden
und man findet dann nach einer anscheinend sorgfältig gemachten Punkt-
aufnahme doch hier und da den mechanisch-erregbaren Punkt nicht zu-
sammenfallend mit dem Farbenpunkt, sondern dicht daneben.
Specifische Energie der Temperaturnerven.
Kehren wir nach diesem Nachtrag zur anatomischen Anordnung der
Temperaturpunkte, welcher erst jetzt gegeben werden konnte, weil er die
Kenntniss der mechanischen und elektrischen Erregbarkeit, sowie der Anal-
gesie voraussetzt, zu den unterbrochenen Betrachtungen zurück. Es war
nachgewiesen worden, dass die Kälte- und Wärmenerven specifische
Sinnesnerven sind, insofern sie nur Träger einer einzigen Empfindungs-
qualität sind. Die mechanische und elektrische Erregbarkeit lehrt nun
hierzu noch, dass diese einzige Qualität nicht blos durch den adäquaten
Reiz, den Temperaturreiz, sondern auch durch die allgemeinen Nerven-
reize hervorgerufen werden kann, welche überhaupt im Stande sind, einen
Nerven in Erregung zu versetzen. Es folgt daraus, dass diesen Nerven
nur ein Erregungszustand eigen ist, und dass diesem einzigen Er-
reguneszustand, gleichviel wie er veranlasst ist, die einzige speci-
fische Empfindung folgt. Dies ist nun das, was die Lehre von den
specifischen Energien in ihrer modernen, von Helmholtz begründeten
Form, für die Sinnesnerven lehrt und von ihnen postulirt.
Es war bereits oben die Frage berührt worden, ob bei der mechani-
schen und elektrischen Erregung die Endappaärate oder die Nervenenden
selbst erregt werden. Diese Frage hat eine gewisse Bedeutung für das
(resetz der specifischen Energien. Wenn man annimmt, dass die Nerven- |
VE
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NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 8
faser nicht direet durch den allgemeinen Nervenreiz erregt wird, sondern
nur vom lindapparat her, so ruht dies auf der Voraussetzung, dass durch
den mechanischen und elektrischen Reiz in dem Endapparat ein entspre-
chender Vorgang erzeugt ist, wie durch den adäquaten Reiz. Denn der
Begriff des Endorgans ist doch der, dass dasselbe durch einen bestimmten,
den sogenannten adäquaten Reiz, in einen veränderten Zustand geräth,
welcher derartig beschaffen ist, dass er in der Nervenfaser den Nerven-
process erzeugt. Diesem Begriff widerspricht es durchaus, dass das End-
organ nun durch jeden anderen heiz sollte in denselben Zustand gebracht
werden. So wenig ich mir vorstellen kann, dass der mechanische Reiz die
Lamellen des Corti’schen Organs in denselben Schwingungszustand ver-
setzen kann wie der Ton, so wenig kann ich mir denken, dass der Nadel-
stoss in den Endorganen der Kälte- und Wärmenerven dieselbe Verände-
rung hervorbringen sollte wie die Temperaturreize. Es liest nahe zu
glauben, dass die Endapparate der Kältenerven durch Verdichtung, die der
Wärmenerven durch Ausdehnung auf die Nervenfaser wirken und es dürfte
doch schwierig sein sich vorzustellen, wie beide entgegengesetzten Vorgänge
durch denselben mechanischen Stoss hervorgebracht werden sollten. Da-
gegen wissen wir von den motorischen Nerven, dass die Nervenfaser selbst
durch mechanische sowohl, wie elektrische und chemische Reize zu erregen
ist. Die Irritabilität der Nervenfaser und der Endapparate hat einen gegen-
sätzlichen Charakter: erstere ist durch die verschiedensten Reize erreg-
bar, letztere sind nur auf einen bestimmten Reiz eingerichtet. Es ist.
mir nach dieser Auffassung unvorstellbar, dass die mechanische und elek-
trische Reizung vermittelst der Endorgane auf die Temperaturnerven wir-::
ken sollte. !
Zu den Postulaten der Lehre von den specifischen Energien gehört -
‚nun auch, dass der Erresungszustand, auch wenn er durch einen auf den
Nervenstamm an irgend einer Stelle des Verlaufs einwirkenden allge-
meinen Reiz hervorgebracht ist, das Bewusstsein zu derselben specifischen
Empfindung anregen muss. Ueber die elektrische Erregung der Tempe-
raturnerven finden sich folgende Angaben, die ich in meiner Dissertation
zusammengestellt habe:? Ritter beobachtete (an Volta’scher Säule) wäh-
! Ich habe diesen Punkt deshalb hier besonders hervorgehoben, weil Eulenburg
mir gegenüber die entgegengesetzte Auffassung geltend gemacht hat, wonach die all-
gemeinen Nervenreize auch auf die Endapparate wirken sollen ( Monatshefte für prak-
fische Dermatologie. 1885. IV. Bd. Nr. 1). Dass dieselben auch auf die Endapparate
wirken, ist ja unzweifelhaft; es fragt sich nur, ob letztere dabei eine derartige Ver-
änderung erleiden, dass diese in der Nervenfaser den Nervenprocess anzuregen im
"Stande ist.
” Dehre von den speeifischen Energieen der Sinnesorgame. Berlin 1881. Verlag
von August Hirschwald.
e
24 ALFRED GOLDSCHEIDER:
rend der Schliessung beim aufsteigenden Strom Wärme, beim absteigenden
Kälte und nach der Oeffnung Umkehrung dieses Verhältnisses. Du Bois-
Reymond fühlte bei einer Zinkkupfersäule von 150 Paaren während der.
sanzen Dauer des Stromes ‚„Fluthen von Wärme und Schauer von Kälte“
in den Armen. v. Vintschgau bemerkte bei Galvanisirung der Zunge
unter Umständen Gefühle des Warmen und Kühlen. Ich selbst konnte
bei Schliessung des Stromes, schon von 12 Elementen an, Wärmegefühl
und zwar im Arm der Anode, constatiren, während ich Kälte nicht wahr-
nehmen konnte.
Es war ganz besonders nach der Angabe von du Bois-Reymond
höchst wahrscheinlich, dass durch starke Ströme die Empfindungen von
Wärme und Kälte produeirt werden könnten und dass dabei eine directe
Wirkung des Stromes auf die fraglichen Temperaturnerven vorläge. Jedoch
erschien es mir nothwendig, dass dies in noch deutlicherer Weise nach-
gewiesen werden müsste und derart, dass an jedem Nervenstamme, welcher
voraussichtlich doch gemischt Gefühlsnerven und Temperaturnerven führte,
diese letzteren mit derselben Prägnanz wie die ersteren müssten erregt
werden können.
Ich benutzte den indueirten Strom, und, um die Nervenstämme mög-
lichst für sich treffen zu können, nicht die gewöhnlichen mehr minder breiten
Elektroden, sondern eine möglichst kleine und es erwiesen sich mir als
vollkommen zweckdienlich einfach die an den Leitungsschnüren zum Ein-
schrauben derselben befindlichen Metallstifte mit einer Grundfläche von
0,15—0,2”% Durchmesser. Ich hatte auch nebenbei die Vorstellung, dass
es mit einer solchen schmalen Elektrode sich glücklichen Falles ereignen
könne, dass etwa ein zusammenliegendes Bündel von Temperaturnerven
für sich getroffen würde. Bedient man sich einer solchen Elektrode und
wendet schwache, mässige oder auch starke Ströme an, so bekommt man
an einem Nervenstamm stets nur das bekannte excentrische, d. h. in der
peripherischen Ausbreitung des Nerven gefühlte Prickeln. Erst wenn man
Ströme von solcher Stärke anwendet, wie wir sie sonst bei derartigen Unter-
suchungen nicht zu gebrauchen pflegen, dass sie nämlich nur noch gerade
zu ertragen sind, so gelingt es in der That höchst deutliche excentrische
Kälte- und Wärmeempfindungen zu erzeugen.
Sobald man sich mit dem Stift einem grösseren sensiblen Nerven-
stämmchen nähert, entsteht in der peripherischen Ausbreitung desselben
das bekannte Prickeln, welches, wenn der Stift ungefähr direct auf den
Nerven drückt, in heftiges Stechen übergeht; zugleich tritt meist ein localer
ziehender, oft unerträglicher Schmerz ein. Schiebt man nun’ den Stift vor-
sichtig mit der Haut über die Unterlage, d.h. über die unter dem sub-
cutanen Gewebe liegenden Weichtheile nach den verschiedensten Richtungen,
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B
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N)
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NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 25
bald mässig, bald tief eindrückend, so findet man eine Stellung des Stiftes
heraus, bei welcher deutliche Empfindungen von Kälte und Wärme in der
peripherischen Ausbreitung des Nerven entstehen. Die Temperaturempfin-
dung nimmt dabei nur selten ein ebenso grosses (rebiet ein wie das
prickelnde Gefühl, meist nur einen mehr minder grossen Abschnitt des-
selben; nicht selten tritt, sobald der richtige Punkt gefunden ist, das
Priekeln und Stechen zurück gegen das Temperaturgefühl. Sehr wichtig
ist bei diesen Versuchen, dass man das locale Gefühl an der Aufsatzstelle
des Stiftes völlig ignorirt, auch trotz des oft sehr "heftigen Schmerzes, und
seine Aufmerksamkeit lediglich auf das excentrische Gefühl richtet. Vor-
wiegend und am leichtesten nimmt man excentrische Kälte wahr. Hat
man diese Empfindung in einem bestimmten peripherischen Gebiete er-
zeugt, so muss man, um in eben demselben Wärmeempfindung zu haben,
den Stift wieder in mannigfaltiger Weise sehr langsam verschieben, heben
und senken, die Stromstärke variiren; nicht selten erfolgt Wärmegefühl
bei noch grösserer Verstärkung des Stromes. Die Temperaturempfindung
giebt sich entweder in der Form kalter und warmer Punkte zu erkennen
oder als flächenhaftes Temperaturgefühl — ein Zeichen, dass ein
srösseres zusammenliegendes Bündel von Temperaturfasern getroffen ist.
Die elektrische Erregung der Temperaturnerven ist mir an allen
grösseren Nervenstämmen, wo ich sie überhaupt versucht habe, auch ge-
lungen, so beim N. ulnaris am Ellbogen, bei dem N. peroneus superficialis
an der Dorsalfläche des Fussgelenks, dem N. tibialis unter dem inneren
Knöchel. Am bequemsten und relativ am leichtesten ist sie jedoch zu con-
statiren an den kleineren Nervenstämmchen; so am Handrücken bei den
kleinen Aesten, welche die Finger versorgen; an der Volarfläche des Hand-
gelenks; endlich auch höher herauf an der Volarfläche des Vorderarmes in
seinem unteren Drittel. Ist nun die Elektrisation der Temperaturnerven
überhaupt möglich, so müsste sie in dem ganzen Verlauf eines Nerven-
stammes an jedem Punkte desselben nachweisbar sein. Dennoch hat sich
mir ergeben, dass man in Wirklichkeit nur von gewissen Stellen aus deut-
liche excentrische Temperaturempfindungen bekommt, während von den
dazwischenliegenden Abschnitten des Nervenstammes aus diese nicht zu
Stande kommen. Es ist wohl möglich, dass hier einerseits Lagerungsver-
hältnisse des Nervenstammes überhaupt, andererseits vielleicht solche der
in ihnen enthaltenen Temperaturfasern eine Rolle spielen. Bei den Un-
bequemlichkeiten, welche diese Art der Untersuchung hat, ist es auch nicht
immer leicht, mit Sicherheit ein negatives Urtheil dahin auszusprechen,
dass von bestimmten Stellen aus eine Erregung nicht möglich ist. Ferner
hat man an manchen Stellen nicht selten ein derartig schwach ausgeprägtes
excentrisches Temperaturgefühl, dass man angesichts der gleichzeitig er-
26 ALFRED GOLDSCHEIDER:
regten Gefühls- und Schmerzsensationen nicht genau darüber schlüssig
werden kann, ob man das Gefühlte wirklich der Temperatursinnqualität
zurechnen kann. Diese Umstände mögen es erklären, dass sich mir eine
Anzahl von bestimmten Punkten ergeben hat, von denen aus ich mit un-
zweifelhafter Deutlichkeit excentrisches Temperaturgefühl wahrgenommen
habe. Ich habe diese Punkte — zu denen noch die an Ellbogen und Fuss
gefundenen Stellen hinzuzurechnen sind — aufgezeichnet! und bemerke
nur — was bei Erwägung der eben angeführten Verhältnisse selbstver-
ständlich ist —, dass ich keineswegs diese Punkte als feststehende, auch
bei jeder anderen Person geltende und einzige hinstellen will, sondern nur
den Beweis zu liefern beabsichtige, dass die in Rede stehende elektrische”
Erregung der Temperaturnerven sich in voller Exaetheit und in Ueberein-
stimmung mit den anatomischen Verhältnissen nachweisen lässt. Was die
letzteren anbetrifft, so habe ich die Versuche keineswegs mit der bewussten
Tendenz, die Beziehungen zum anatomischen Nervenverlauf im Detail nach-
zuweisen, vorgenommen — habe mir also nicht vorher ein Bild davon ge-
macht, was ich an jedem Elektrisationspunkt nach Maassgabe seiner Lage '
zu erwarten hätte —, sondern habe völlig empirisch die Oberfläche abge-
sucht, das Wahrgenommene notirt und die Beziehungen zum Nervenverlauf
erst bei der Aufzeichnung mir zum Bewusstsein gebracht. Ein Zeugniss’
davon giebt der Umstand, dass von manchen Stellen aus ein jedenfalls
unerwartetes Resultat erlangt worden ist, z. B. Fig. IH, Nr. 17—20, wo der
Strom von der Dorsalfläche aus den N. medianus getroffen hat.
Ich habe nicht von allen diesen Punkten aus Kälte- und Wärmegefühl
erzeugen können, sondern nur bei einem Theile derselben, allerdings dem
grösseren, beide Sensationen; von anderen nur Kälte; hier und da findet
man übrigens auch Stellen, wo nur excentrisches Wärmegefühl produeirt
wird. Zuweilen findet man an demselben Punkte, wo heute blos Kälte-
gefühl zu produeiren ist, morgen Wärmegefühl sehr deutlich. Häufig wogen
Kälte- und Wärmegefühl durcheinander, in einer Art von Wettstreit, wie
er auch bei anderen Sinnesempfindungen vorkommt, so dass bald die Kälte-
empfindung, bald die Wärmeempfindung die Oberhand hat. Vielfach tritt
auch, wie schon oben angedeutet, das Wärmegefühl an die Stelle des Kälte-
sefühls, wenn man die Stiftelektrode etwas verschiebt oder tiefer eindrückt.
Es ist bei der Beurtheilung dieses Verhältnisses Folgendes zu erwägen: Da
zweifellos in einem sensiblen Nervenstamm Kälte- und Wärmenerven zu-
sammen verlaufen — sei es, dass sich die Fasern jeder Qualität zu bei-
sammenliegenden Bündeln vereinigen, sei es, dass sie untereinander ge-
mischt sind —, so müssten bei der Elektrisation des Nervenstammes beide
Nervenarten gleichzeitig erregt werden, und man müsste demgemäss an
! Vgl. Taf. V, Fig. 3 und 4,
A
u,
a Et et
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 2
dem peripherischen Ausbreitungsgebiet des Nerven gleichzeitig Kälte- und
Wärmeempfindung haben. Dass nun das Kältegefühl überwiegt, leichter
und häufiger gefühlt wird und das Wärmegefühl nicht selten ganz fehlt,
könnte man damit zu erklären versuchen, dass die Kältenerven oberfläch-
licher liegen oder dass die Wärmenerven überhaupt schwerer erregbar seien.
Für beides liest jedoch sonst gar kein Anhalt vor. Es ist nun schon mehr-
‚ fach darauf hingewiesen worden, dass die Auffassung des Wärmegefühls
an sich schwieriger ist als die des Kältegefühls, weil letzteres einfach durch
die Qualität der Empfindung als solche einen grösseren Eindruck auf das
Bewusstsein macht. Den in Rede stehenden Verhältnissen angepasst heisst
dies, dass wenn Kälte- und Wärmenerven sich in einem gleich starken
Erregungszustande befinden, der Grad der empfundenen Wärme uns relativ
geringer erscheint als derjenige der empfundenen Kälte Hierzu kommt
noch der wichtige Umstand, dass die Anzahl der Wärmenerven überhaupt
im Allgemeinen erheblich geringer ist als die der Kältenerven — was oben
schon bei den Punkten mehrfach angedeutet wurde und später noch aus-
führlicher behandelt werden wird.
Bedenkt man nun, dass die Seele doch durch keine Erfahrung daran
gewöhnt ist, an einer und derselben Stelle der Haut zu gleicher Zeit Kälte
und Wärme zu fühlen und dass eine solche gleichzeitige Empfindung wahr-
scheinlich überhaupt eine unmögliche Sinnesleistung ist, so nehmen unter
Berücksichtigung. der vorher angeführten Momente die Erscheinungen bei
der Elektrisation der Temperaturnerven nicht mehr Wunder. Denn wenn
nun eine gleichzeitige, anzunehmenderweise gleich starke Erregung von
Kälte- und Wärmenerven des gleichen Gebietes dem Sensorium zugeleitet
wird, so wird die Kälteempfindung in den Vordergrund treten, weil sie
überhaupt einen stärkeren psychischen Eindruck macht, weil die Kältenerven
an Zahl überwiegen und weil die Seele nur die eine von beiden Empfin-
dungen in einem Moment auffassen kann. Unter günstigeren Umständen
fasst das Sensorium zeitweise die Wärmeempfindung schärfer auf und das
Kältegefüht tritt zurück; durch diesen Wechsel entsteht der Wettstreit.
Wird eine Application der Elektrode gefunden, bei welcher der Strom die
'Wärmenerven besonders günstig trifft oder die Kältenerven besonders un-
günstig, so kann dadurch ebenfalls eine bevorzugte Auffassung des Wärme-
gefühles bewirkt werden. An manchem kleinen Gebiete halten die Wärme-
nerven den Kältenerven das Gleichgewicht; dann wird man Stellen finden,
wo das Wärmegefühl bei elektrischer Erregung auffallend in den Vorder-
grund tritt. Auch der Umstand, dass man nicht selten an derselben Stelle
in der einen Sitzung die eine, in einer anderen die andere Qualität des
Temperaturgefühles findet, spricht dafür, dass die psychischen Auffassungs-
verhältnisse eine Rolle hierbei spielen.
28 ALFRED GOLDSCHEIDER:
Es ist bei der Anstellung und Beurtheilung dieser Versuche noth-
wendig die Möglichkeit folgender Sinnestäuschung zu berücksichtigen. Wenn
nämlich gerade an der Aufsatzstelle der Elektrode intensivere Temperatur-
punkte liegen und also stark erregt werden, wobei sie, wie oben gezeigt, ein
lebhaftes locales Temperaturgefühl geben, und zugleich durch Elektrisation
des an dieser Stelle verlaufenden Nerven einfach excentrische Sensation der
Gefühlsnerven producirt wird, so wäre es denkbar, dass sich beide Gefühle
im Bewusstsein mischten zu einer excentrischen Temperaturempfindung,
Man findet in der That Stellen, wo dieser angenommene Fall mit der an-
genommenen Wirkung auf das Sensorium in der That vorzuliegen scheint
und wo man sich zunächst nicht darüber klar wird, ob dies oder wirk-
liche Temperaturempfindung vorhanden ist. Um das locale Temperatur-
gefühl von dem excentrischen unterscheiden zu können, muss man den
Stift an einem Temperaturpunkt leicht aufsetzen und allmählich stärker
eindrücken; man merkt es dann, sobald die excentrische Empfindung dazu-
tritt und vermag nach einiger Uebung beide scharf zu unterscheiden. Man
überzeugt sich dann leicht, dass beide von einander unabhängig sind, dass
man von Kältepunkten aus excentrisches Wärmegefühl, und umgekehrt, er-
zeugen kann.
Für die Anstellung des Versuches möchten noch einige praktische Be-
merkungen beachtenswerth sein. Es empfiehlt sich, die Haut etwas an-
zufeuchten, bez. den Stift ab und zu einzutauchen. Drückt man den letz-
teren etwas in die Haut ein, so ist darauf zu achten, dass er sich nicht
mit seiner Fläche in grösserer Ausdehnung anlegt. Man muss den Strom
von vornherein so stark machen, dass beim Aufsetzen der Elektrode ein
lebhafter Schmerz entsteht. Derselbe wird übrigens nach einiger Zeit der
Beschäftigung nicht mehr so stark wahrgenommen. Sobald sich jetzt in
der Peripherie ein unbestimmtes Kältegefühl bemerkbar macht, ist der Strom
rücksichtslos zu verstärken, bis dasselbe ganz deutlich hervortritt.
Dass auch ein‘mechanisch durch Druck auf den Nervenstamm hervor-
gerufener Erregungszustand der Temperaturnerven möglich sei und dass er
sich ebenfalls in excentrischer Temperaturempfindung kundgeben müsse,
kann nach Analogie der elektrischen Erregbarkeit nicht zweifelhaft sein
Ich habe nach vielen Versuchen, mich hiervon zu überzeugen, gefunden,
dass ein passendes Material, um ohne Erregung erheblichen Schmerzes und.
ohne Quetschung auf einen Nervenstamm einen gewissen Druck auszuüben,
der Kork ist. Ich habe demgemäss mit einem eingefassten schmalen Kork-
cylinder auf die Nervenstämme eingedrückt und in der That an mehreren
Stellen ein unzweifelhaftes excentrisches Temperaturgefühl erhalten, wenn
dasselbe auch erheblich schwächer ist als bei der Elektrisation. Man muss
den Korkeylinder verhältnissmässig tief eindrücken und den Druck eine
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN, 2)
Zeit lang wirken lassen, indem man den Öylinder leicht hin- und herschiebt;
ist jedoch der Versuch von Erfolg begleitet, so stellt sich meist schon nach
' einigen Secunden Temperaturgefühl ein. Die Stellen, wo mir die mecha-
| nische Erregung gelungen ist, sind in den Figuren mit eingezeichnet.
_ Ausser an diesen habe ich excentrisches Temperaturgefühl noch produeiren
‚ können durch Druck auf den N. ulnaris. An einer Stelle desselben am
- Ellbogen entstand bei Druck schwache Kühle am kleinen Finger; an
"einer anderen Stelle schwache aber deutliche Wärme an der ulnaren Fläche
des kleinen Fingers, dem Kleinfingerballen und dem Wulst der Hohlhand
' zwischen viertem und fünftem Finger. Beim Verschieben’ des Korkes traten
einige kalte Punkte an der Spitze des kleinen Fingers auf. Ferner konnte
' von einer Stelle der Volarfläche des Vorderarmes in der Mittellinie, 14
oberhalb der Handgelenksfurche, bei mässigem Druck schwache Kühle im
- Handteller, bei tiefem ausgezeichnete warme Empfindung im Handteller
und an der Grenze der Hohlhandwülste wahrgenommen werden; beim Var-
schieben des Korkes wanderte letztere deutlich quer über die Hohlhand.
Von einer anderen Stelle der Volarfläche aus, 9 oberhalb der genannten
' Furehe, 1% radialwärts von der Mittellinie, Gefühl der Kühle im zweiten
‚ und dritten Finger.
| Dass bei dem Eingeschlafensein der Glieder auch excentrische Tempe-
- ratursensationen entstehen, ist mir früher schon aufgefallen und seitdem
' ich besonders darauf achte, häufig wieder bestätigt worden. Man hat einer-
seits das Gefühl fallender Tropfen, andererseits über eine grössere Fläche
hin wogende Temperaturempfindungen.! Ich konnte auch beobachten, dass
bei einem unvermutheten Stoss an den N. ulnaris neben dem Schmerz ein
schnell vorübergehendes, am Vorderarm herablaufendes Wärmegefühl vor-
' handen war; dies ist mir auch von anderen Seiten bestätigt worden. Auch
- kommen zweifellos pathologische Temperatursensationen durch Reizung von
Temperaturleitungsbahnen vor. Solche Sensationen sind mir schon sowohl
für Wärme wie für Kälte mitgetheilt worden (Gefühl eines nassen Um-
' schlages u. s. w.) und scheinen sich zuweilen auf ganz begrenzte Nerven-
gebiete zu beschränken. Ich bin überzeugt, dass nicht alle diese Sensa-
tionen durch vasomotorische Veränderungen erklärt werden können — was
‚ durch Messungen der localen Hauttemperatur zu erweisen wäre. Es wäre
wünschenswerth, dass von neuropathologischer Seite den Temperatursensa-
ı E. H. Weber sagt (Tastsinn und Gemeingefühl, Wagner’s Handwörterbuch
der Physiologie. 8. 503): „Bisweilen entsteht auch ein subjectives Gefühl von Wärme
in der eingeschlafenen Hand, niemals aber, soviel ich weiss, dass der Kälte,“ Ich möchte
hierbei gelegentlich erwähnen, dass ich einmal in der eingeschlafenen Hand eine Art
‚ von Kältehyperaesthesie beobachtet habe: Gegenstände, welche mit der anderen Hand
' nicht wesentlich kalt gefühlt wurden, brachten hier ein deutliches Kältegefühl hervor.
30 ÄLFRED GOLDSCHEIDER:
tionen, mit Bezugnahme auf die locale Hauttemperatur, mehr Aufmerksan)
keit zugewendet würde.
Sowohl gegen die elektrische wie die mechanische Erregung könnte
der allgemeine Einwand erhoben werden, dass durch diese Eingriffe eine
Veränderung in der Blutvertheilung bewirkt wäre, welche die Empfindung
von Warm und Kalt durch wirkliche Veränderung der Hauttemperatur
mittelst Anaemie und Hyperaemie zur Folge hätte. Abgesehen nun davon, 1
dass von einem Erblassen oder Erröthen, das bei so starken Temperatur-
empfindungen doch sichtbar sein müsste, nichts beobachtet worden ist, so
genügt auch schon die Thatsache, dass die Reizstellen und die Ausbreitung
des Gefühls mit dem Verlauf der sensiblen Nerven übereinstimmen, um
zu zeigen, dass die Gefässnerven bei diesem Versuch nicht in Betracht
kommen.
Nach diesen Versuchsergebnissen ist also die Behauptung gerechtfer-
tiet, dass die Erregung von Temperaturempfindungen durch elektrische und
mechanische Reizung der Temperaturnerven in ihrer Continuität, nicht blos
an ihren Endigungen, möglich ist. Hiermit ist denn auch Alles erschöpft,
was die Lehre von den specifischen Energien von den Sinnesnerven fordert.
Der Temperatursinn besitzt nach diesen Ermittelungen einen gesonderten
Nervenapparat für sich, und zwar besteht dieser aus besonderen Kälte-
nerven und Wärmenerven. Jeder Erregungszustand derselben, mag er
durch den adäquaten oder durch einen allgemeinen Nervenreiz veranlasst
sein, mag er von den Endorganen oder von einer Reizung in der Conti-
nuität des Stammes ausgehen, wird bei jenen als Kälte, bei diesen als
Wärme empfunden, und ausser dieser einen Empfindung ist der Tempe-
raturnerv einer anderweitigen nicht fähig.
Wie man sieht, genügt nach dieser Feststellung der Temperatursinn
dem Gesetze der specifischen Energien nicht blos im dem Joh. Müller’-
schen Sinne, sondern auch in dem modernen Helmholtz’schen. Um
diesen meist wenige gewürdigten Unterschied hier noch einmal zu präci-
siren, so hatte Joh. Müller bei der Aufstellung seiner Lehre nur an die
Sinnesmodalitäten gedacht. Er wollte damit die herrschende Ansicht
zurückweisen, als seien die Sinnesorgane nur „Siebe“, durch welche die
äusseren Eigenschaften der materiellen Dinge zu unserem Bewusstsein
dringen. Er nahm eine von den Endorganen bis zum Centralorgan sich
verbreitende, je specifisch verschiedene Sinnessubstanz an. und lehrte, dass
' Bei Rückenmarkskranken kommen Temperaturparaesthesien vor: Gefühl von
Brennen oder von Kälte, das sehr lebhafte Grade erreichen kann. Brown-Sequard
schiebt diese Empfindungen zum Theil geradezu auf direete Erregung der die Temperatur-
empfindungen leitenden Fasern im Rückenmark. Erb, Krankheiten des Rückenmarks
8. 73.
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 31
' „die Empfindung nicht die Leitung einer (Qualität oder eines Zustandes der
äusseren Körper zum Bewusstsein, sondern die Leitung einer (Jualität,
eines Zustandes unserer Nerven zum Bewusstsein, veranlasst durch eine
äussere Ursache“ sei. Diese Anschauung dehnte Helmholtz auf die
- Qualitäten der Sinnesemplindungen aus; einmal indem er jeder Nerven-
faser des Corti’schen Organs eine ‚specifische Tonempfindung zuschrieb;
1 dann indem er für die Theorie der Gesichtsempflindungen die Young’sche
, Lehre wieder an das Licht zog und Müller’sche Ideen in sie hineinlegte,
d.h. für jeden empfindenden Punkt der Netzhaut drei gesonderte Leitungs-
‚ bahnen zum Sensorium postulirte, von denen jeder eine specifische Farben-
‘ empfindung eigen sein sollte. In so glänzender Weise diese Lehre für den
, Acusticus bewiesen wurde, so einleuchtend sie für den Opticus erschien,
so wenig konnte sie bei anderen Sinnen, wie namentlich dem Geruchssinn
und den Haut-Sinnesnerven durchgeführt werden.
| Speciell war für den Temperatursinn die Schwierigkeit vorhanden, dass
‚ selbst wenn man besondere Temperaturnerven annahm — für deren Exi-
‘ stenz bis dahin kein weiterer Beweis vorlag als einige pathologische That-
sachen von partiellen Empfindungslähmungen! —, in diesen Temperatur-
| nerven durch blosse quantitative Veränderung des Reizes, nämlich der Höhe
, der einwirkenden Temperaturen, so grundverschiedene Empfindungsquali-
täten wie Kälte und Wärme erregt wurden. Es war mit der Annahme
eines besonderen Nervenapparates für den Temperatursinn wohl der Mül-
ler’schen, aber nicht der Helmholtz’schen Lehre Genüge gethan, man
musste vielmehr in diesen Temperaturnerven die Möglichkeit zweier ver-
schiedener oder irgendwie entgegengesetzter Erregungszustände annehmen.
Dem gegenüber entspricht nun der Temperatursinn nach unseren
Ergebnissen in der vollständigsten Weise der Lehre von den specifischen
Energien in der Helmholtz’schen Fassung. Durch die Thatsache, dass
man diese specifischen Nervenfasern hier getrennt für sich mechanisch und
elektrisch erregen und auch in ihrem weiteren Verlauf innerhalb des ge-
‚ mischten Nervenstammes noch als gesondert nachweisen kann, erhebt sich
‘ der Temperatursinn in Bezug auf seine Beweiskraft für die Lehre über die
anderen: Sinnesnerven — was er seiner leichteren Zugänglichkeit verdankt.
i Dagegen fehlt es für ihn bis jetzt an denjenigen pathologischen Beobach-
| U Es ist hier auch eine Arbeit von Adamkiewiez zu erwähnen. Dieser fand,
dass, während Tast- und Schmerzempfindlichkeit durch Sinapismen an der Stelle der
Reizung erhöht, an der entsprechenden der anderen Seite herabgesetzt werden, ein
solcher sinapiscopischer Transfert beim Temperatursinn nicht möglich ist. Er bezeich-
net deshalb Tast- und Schmerzempfindlichkeit als eine „bilaterale Function“, diese ist
ihm der Ausdruck eines bilateral angelegten Nervenapparates, und deshalb können „die
Temperaturnerven mit denen des Schmerzes und des Tastsinnes nicht identifieirt werden.“
Berliner klinische Wochenschrift. Bd. XVII. Nr. 12 u. 13.
32 ALFRED GOLDSCHEIDER:
tungen, welche für Gehörs- und Gesichtssinn die Helmholtz’sche Theorie
bestätigen (Ausfallen von Tönen, Farbenblindheit);! jedoch erwachsen ihm
dafür neue Beweismomente aus den interessanten Verhältnissen seiner topo-
graphischen Verbreitung am Körper, auf die wir unten näher einzugehen
haben werden.
Für die bereits von E. H. Weber betonte Erscheinung, dass der
adäquate Reiz auf die Temperaturnervenstämme als solche nicht einwirkt,?
sondern eben nur auf die Endapparate, möchte ich hier eine neue Art des
Beweises anführen. Ich habe mir an stark Kälte oder Wärme empfind-
lichen Stellen kalte bez. warme subcutane Injectionen mit der Pravaz’-
schen Spritze gemacht. Man nimmt dabei entweder gar kein oder ein
ziemlich undeutliches dumpfes Temperaturgefühl wahr, während ein Tropfen
aus dem Inhalt der Spritze auf die Oberfläche der betreffenden Stelle ge-
träufelt, ein deutliches Temperaturgefühl giebt. Der Einwand, dass das
Temperaturgefühl unterdrückt sein könne durch den bei dem Einspritzen
entstehenden Schmerz, erledigt sich dadurch, dass es möglich ist, z. B. an
der Dorsalfläche des Vorderarmes, Stellen auszusuchen, an welchen die
Injektion so gut wie gar keinen Schmerz verursacht. — Es geht aus diesem
leicht nachzumachenden Versuch ganz sicher hervor, dass die im subcutanen
Zellgewebe verlaufenden Stämmchen der Temperaturnerven durch den Kälte-
bez. Wärmereiz nicht in Erregung versetzt werden. Zugleich übrigens deutet
das Versuchsergebniss darauf, dass die Temperatur empfindlichen End-
apparate jedenfalls der Oberfläche der Haut näher liegen müssen als dem
subeutanen Gewebe. —
Es entsteht nun die Frage, wie nach den beschriebenen Thatsachen
und den aus ihnen gewonnenen Anschauungen sich eine moderne Theorie
des Temperatursinns gestalten muss.
Theorie des Temperatursinns.
Es sind über den Vorgang, wie die äusseren Temperaturveränderungen
auf die Endapparate der Temperaturnerven als Reize wirken, drei ver-
schiedene Meinungen aufgestellt worden. E. H. Weber meinte, dass ledig-
lieh der Akt des Steigens oder Sinkens der Hauttemperatur von uns
als Wärme oder Kälte percipirt würde; Vierordt, dass die Richtung
! Da bis jetzt jedoch von den Neuropathologen noch nie auf die Unterschiedlich-
keit von Kälte- und Wärmesinn in anatomischer Hinsicht geachtet worden ist, so dürfte
es wohl möglich sein, dass noch Fälle von partieller Lähmung u. s. w. der einen oder
der anderen Qualität zur Beobachtung kommen werden.
® Der Tastsinn nnd das Gemeingefühl. R. Wagner’s Handwörterbuch der
Physiologie.
Dusisien Me
NEUE TharsaoHneN ÜBER Din HAUTsInNESNERVEN. BB)
des durch die Haut fliessenden Wärmestromes maassgebend sei, derart, dass
der nach aussen gerichtete Strom als Kälte, der nach innen gerichtete als
Wärme empfunden würde; Hering, dass für die Temperaturempfindung
das Ausschlaggebende die wirkliche Höhe der Eigentemperatur des cutanen
Nervenapparates sei. — Die Weber’sche Anschauune ist für unsere jetzieen.
1% 5 einig
dureh die Existenz der Kälte- und Wärmenerven geschaflenen Verhältnisse
oO
“die plausibelste.e Kommt irgend ein Object in Berührung mit unserer
Temperatur empfindlichen Haut, so kann die Eigentemperatur derselben nur
entweder zunehmen oder abnehmen oder gleichbleiben. Man kann sich
wohl vorstellen, dass diese beiden entgegengesetzten physikalischen Vorgänge,
die Aufnahme und der Verlust von Wärme, je auf eine verschiedene Ner- |
venart reizend wirken können, vorausgesetzt, dass diese Nerven mit ent-
sprechend adaptirten Endapparaten versehen sind. So wird es leicht ver-
ständlich, dass bei einem sich nur quantitativ verändernden Reiz an einer
relativ scharfen Grenze die Wirkung auf die eine Nervenart aufhört und
auf die andere sich überträgt. Der Vorgang des Sinkens der Hauttempe-
ratur oder der Abgabe von Wärme ist demnach als Reiz für die Kälte-
nerven, des Steigens der Hauttemperatur oder der Aufnahme von Wärme
als Reiz für die Wärmenerven zu betrachten. Damit verliert die absolute
Temperatur der Haut an Bedeutung und es fällt die Schwierigkeit fort,
welche die local verschiedene Eigentemperatur der Haut für die Theorie
der Kälte- und Wärmenerven zunächst zu bieten scheint. Es giebt nicht
eine bestimmte Eigentemperatur der Haut, bei welcher beide Nervenarten
unerregt wären — Nullpunktstemperatur im Hering’schen Sinne —, wäh-
rend alle niedrigeren Eigentemperaturen als Kälte, alle höheren als Wärme
wahrgenommen würden. — In welcher Weise die Endapparate derartig
adaptirt sein sollen, dass die einen durch Wärmeverlust gereizt werden,
durch Wärmeaufnahme aber völlig unberührt bleiben, die anderen ein um-
gekehrtes Verhalten zeigen, darüber dürfte es nur nach mikroskopischen
Befunden gestattet sein, Auslassungen zu machen, jedoch möchte die Reiz-
übertragung wohl im Wesentlichen auf Dichtigkeitsveränderungen beruhen,
sei es dass diese direct auf ein Endorgan des Nerven wirken, sei es dass
letztere vielleicht mit contractilen Blutgefässen in Verbindung stehen.
Jedenfalls erscheint gerade für die Temperaturnerven die Annahme einer
sogenannten freien Endigung am wenigsten angepasst; für die diametral
entgegengesetzte Art der Reizübertragung müssen nothwendig Endapparate
da sein; und auch die einfach celluläre Endigung dünkt mir nicht sehr
wahrscheinlich.
Hering! hat in seiner Theorie des Temperatursinnes die W eber’sche
= Grundzüge einer Theorie des Temperatursinnes. Silzungsberichte der kaiserl.
Akademie der Wissenschaften. 1877. Bd. LXXV. III. Abth. S. 101.
Archiv f. A, u. Ph. 1835, Physiol. Abthlg. Suppl.-Bd. 3
34 ALFRED (GOLDSCHEIDER:
Anschauung als irrig bekämpft; angesichts eines Versuches, den Weber
selbst anführt uud allerdings unzutreffend zu erklären versuchte: „Wenn
man einen Theil der Haut des Gesichts, z. B. der Stirn, mit enem + 2°R.
kalten Metalle einige Zeit, z. B. 30 Secunden, in Berührung bringt und
dasselbe dann entfernt, so fühlt man ungefähr 21 Secunden lang die Kälte
an jenem Theile der Haut.“ Nach Weber müsste allerdings die erkältete
Haut, welche sich ja nun wieder erwärmt, also im Act des Steigens der
Temperatur begriffen ist, ein warmes Gefühl geben. Ebenso dauert auch
die Wärmeempfindung fort nach Entfernung des Wärmereizes, obwohl die
Temperatur der Stelle sinkt. Hering zieht daraus den Schluss, dass die
. Weber’sche Anschauung nicht richtig sei und erklärt diesen Weber’schen
Versuch dahin, dass die Temperaturempfindung abhänge von der jeweiligen
Höhe der Eigentemperatur des nervösen Apparates und dass dieselbe, so
lange sie sich unterhalb der von ihm sogenannten Nullpunktstemperatur
befinde, als kalt, oberhalb derselben als warm empfunden werde. Unter
Nullpunktstemperatur nämlich versteht er diejenige Eigentemperatur der
Haut, bei welcher weder warm noch kalt empfunden wird. Die Deutlich-
keit der Wärme- oder Kälteempfindung wächst mit dem Abstande der
jeweiligen Eigentemperatur von der Nullpunktstemperatur; letztere jedoch
ist selbst wieder innerhalb gewisser Grenzen variabel und zwar von den
Veränderungen der absoluten Hauttemperatur abhängeie. Indem der ner-
vöse Apparat sich den Veränderungen der Hauttemperatur adaptirt, steigt
und sinkt der Nullpunkt mit dem Steigen und Sinken der Hauttemperatur,
jedoch. viel langsamer. Mit der Adaptation bezeichnet Hering somit
einen Vorgang, der sonst als Ermüdung des Nerven aufgefasst zu wer-
den pfleet.
Erinnert man sich jedoch der oben schon angeführten Beobachtung,
dass nach momentaner Berührung eines intensiven Kältepunktes mit dem
blossen, nicht abgekühlten Cylinder eine bemerkbare Nachempfindung ein-
tritt — wo doch von einer irgend erheblichen objectiven Herabsetzung der
Eigentemperatur der Hautstelle nicht die Rede sein kann —, so leuchtet
die Nothwendigkeit ein, der Nachempfindung bei den Temperaturnerven
eine grössere Bedeutung zuzurechnen, als es von Hering geschehen ist.
Die Nachdauer der Erregung ist. sämmtlichen Sinnesnerven in mehr oder
weniger ausgedehntem Maasse eigenthümlich, und wenn man erwägt, wie
ausserordentlich lange der Erregungszustand der Netzhaut nach einem
intensiveren Eindrucke anhält und sich in den Nachbildern documentirt,
so dürfte es nichts Gezwungenes haben, den oben angeführten Weber’-
schen Versuch durch die lange Nachdauer des Erregungszustandes der
Kältenerven zu erklären, besonders in Rücksicht auf die analoge Erschei-
nung am einzelnen Temperaturpunkt, welche durch Hering’s Anschauung
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 35
nicht erklärt werden kann. Einen deutlichen Beweis für die Fortdauer des
Erregungszustandes giebt folgende Erscheinung, die man zuweilen beob-
achten kann: Reizt man eine gut "Temperatur - emplindliche Stelle durch
einen flächenhaften Kälte- oder Wärmereiz, so kann man, nachdem schon
die Nachempfindung abgeblasst ist, durch einen leichten mechanischen Reiz
die kalte bez. warme Empfindung zuweilen wieder zurückrufen; derselbe
scheint auf den noch bestehenden Erregungszustand verstärkend einzu-
wirken.
Die Reizung der Temperaturnerven hinterlässt, wie auch bei anderen
Sinnesnerven, zugleich mit der Nachdauer des Erregungszustandes eine
herabgesetzte Empfindlichkeit für neue Reize. Es ist schon früher
mehrfach erwähnt worden, dass durch das Aufsuchen der Kälte- oder
Wärmepunkte die Temperaturempfindlichkeit der Stelle herabgesetzt wird.
Reizt man einen Kältepunkt wiederholt in kurzen Pausen mittelst des
Cylinders, so nimmt er sehr bald diesen Reiz nicht mehr wahr. Ebenso
wenn man den Cylinder eine gewisse Zeit lang dauernd mit dem Punkt
in Contact lässt. Dasselbe lässt sich an den Wärmepunkten beobachten.
Freilich spielt hier auch die objective Veränderung der Eigen-
temperatur eine Rolle. Durch die Berührung mit dem Wärme - ent-
ziehenden Object sinkt die Eigentemperatur des Kältepunktes und die Tem-
peraturdifferenz zwisehen ihm und dem Öylinder wird immer geringer, und
\ es liesse sich vielleicht denken, dass der Punkt derartig abgekühlt wird,
dass der Cylinder einen merklichen Kältereiz nicht mehr auszuüben im
Stande ist, wenn auch die geringfügige Ausdehnung des Punktes sowie die
von allen Seiten erfolgende Wärmezufuhr dieser Vorstellung Schwierigkeiten
entgesenstellt. Allein wenn man dergestalt versucht, die Anaesthesie des
Kältepunktes lediglich dureh die wirkliche Abnahme seiner Eigentemperatur
zu erklären, so muss man erwarten, dass derselbe, sobald seine Figentem-
peratur wieder zur vorigen Höhe zurückgekehrt ist, wieder in der anfäng-
lichen Stärke auf Kältereize reagirt. Dies ist jedoch nicht der Fall, wie
man sich sehr einfach überzeugen kann. Zunächst hält schon die Herab-
setzung der Erregbarkeit bez. die Anaesthesie des Kältepunktes so lange an,
dass es kaum denkbar ist, wie der so beschränkte Ort der Abkühlung nicht
längst durch Ersatz aus dem umliegenden Gewebe wieder auf seine alte
Eigentemperatur gekommen sein sollte. Man kann jedoch auch ein Uebriges
thun und dem Punkte durch Zuführen eines warmen Luftstromes oder
Application einer leicht erwärmten Fläche noch schneller zu seiner nor-
‚malen Temperatur verhelfen — dennoch reaeirt er, mit dem alten Kältereiz
affieirt, entweder gar nicht oder sehr schwach. Ich habe auch bezüglich
dieser Frage folgenden Weg eingeschlagen: Man kühlt einen Kältepunkt
bis zum Eintritt der Anaesthesie ab und beachtet, nach welcher Zeit auf
9%
o
36 ALFRED GOLDSCHEIDER!
einen bestimmten Kältereiz wieder Kälteempfindlichkeit vorhanden ist, in-
dem man alle 20—40 Secunden prüft und dabei die betreffende Hautstelle
einmal der Luft ausgesetzt hält, das andere Mal in ein wärmeres Medium
bringt. Hierbei zeigte sich, dass die Kälteempfindlichkeit im Wesentlichen
beim letzteren Modus nicht schneller zurückkehrt als bei ersterem. Wenn
man bei solchen Versuchen bald das kalte Medium zuerst in Anwendung
zieht, bald das warme, so gewahrt man, dass gewöhnlich bei dem Secundär-
versuch die Anaesthesie länger dauert, wenn auch die Kälteempfindlichkeit
zu Beginn des Secundärversuchs ebenso stark erschien als beim Primär-
versuch. Es geht daraus hervor, dass die Erwärmung einen wesentlichen
Einfluss auf die Restitution der Kälteempfindlichkeit nicht hat, dass jeden-
falls die letztere nicht mit jener Hand in Hand geht. Vielmehr muss noch
ausser der Veränderung der Differenz zwischen Objectstemperatur und Haut-
temperatur ein Moment vorhanden sein, welches die herabgesetzte Kälte-
empfindlichkeit bedingt, und dies besteht in der essentiellen Ermüdung
des Nerven, welche durch die Stärke der Erregung als solche eingetreten
ist. Bei dem Secundärversuch zeigt sich diese Ermüdung auch noch darin,
dass trotz anfänglicher Reactionsfähigkeit der Reiz auf den schon geschwächten
Nerv nachhaltiger wirkt als beim Primärversuch.! Damit soll nicht gesagt
sein, dass der objectiven Temperaturveränderung der Haut und damit der
nervösen Endapparate und im Zusammenhang damit der verminderten oder
vermehrten Temperaturdifferenz zwischen der Temperatur des Reizobjectes
und der Eigentemperatur des Endapparates gar keine Bedeutung zukäme.
Vielmehr besteht dieses Verhältniss neben der Ermüdung und complieirt
sich mit ihr.
Wenn der Ablauf der Erregung der Temperaturnerven insoweit in
Parallele zu setzen ist mit den Verhältnissen bei anderen Sinnesnerven, so
muss nun im Folgenden eines Umstandes gedacht werden, welcher den
Temperaturnerven ganz speciell eigen ist und bei ihrer Function eine sehr
erhebliche Rolle spielt. Während nämlich bei anderen Sinnesnerven der
Reiz nur eine Art von Veränderung hervorbringt, nämlich den Erregungs-
zustand, wirkt er auf den Temperaturnerven in doppelter Weise, indem er
ihn einmal erregt und zweitens abkühlt oder erwärmt. Diese Veränderung
der Eigentemperatur der Nervenfaser wirkt aber, wiewohl sie mit dem Er-
regungszustand sonst nichts zu thun hat, auf die Erregbarkeit des Nerven
ein. Bei starken Abkühlungen und Erwärmungen ist es ganz sicher, dass
sie die Temperaturempfindlichkeit abstumpfen. Auch E. H. Weber? hat
! Dasselbe gilt bei den Wärmenerven.
” Der Tastsinn und das Gemeingefühl. R. Wagner’s Handwörterbuch. — Ein-
fluss der Erwärmung und Erkältung der Nerven auf ihr Leitungsvermögen. Archiv
für physiologische Anatomie. 8.47.
|
NEUER THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 37
beobachtet, dass dies sich so verhält. Wenn es sich wohl auch nicht um
ein blosses Leitungsphaenomen handelt, sondern auch um eine verminderte
Reizempfänglichkeit der Nervenenden, so kann man doch hier als analoge
Erscheinung die bekannte Thatsache heranziehen, dass auch in den moto-
rischen Nerven durch starke Abkühlung eine Verlangsamung der Leitung
producirt wird. Ich habe auch in der bestimmtesten Weise beobachten
können, dass durch starke Abkühlung die mechanische und faradische Kr-
regbarkeit der Kältepunkte vollständig aufgehoben werden kann.! Es ist
wahrscheinlich, dass diese Herabsetzung der Irritabilität und Leitung nicht
blos für die Zeit besteht, während welcher die Veränderung der Eigen-
temperatur anhält, sondern auch, bei einem genügenden Grade der Ver-
änderung, über diese hinausdauert und allmählich abläuft.
Erwärmt man einen Kältepunkt stark, so giebt er, mit dem Gylinder
berührt, eine schwächere Kälteempfindung als nach einiger Zeit der Pause.
Dies bestätigt sich auch, wenn man nicht den einzelnen Kältepunkt er-
wärmt, sondern ein Flächenstück der Haut, entweder durch Contact mit
einem erwärmten Object oder durch einen stark erwärmten Luftstrom. Diri-
girt man eine Hautstelle in einen sehr erwärmten Luftstrom und applicirt
gleichzeitige an einem Theil derselben einen flächenhaften Kältereiz, so wird
derselbe schwächer wahrgenommen, als man dieselbe Stelle nach Entfernung
des warmen Luftstromes in derselben Weise abkühlt. Dasselbe Verhältniss
kann man für die Wärmepunkte und für flächenhafte Wärmereize con-
statiren. Sehr bequem lässt sich dies in folgender Weise machen: die
beiden Brustwarzen sind gleichmässig und zwar hervorragend wärme-
empfindlich. Kühlt man nun die eine derselben ab und applicirt dann
denselben Wärmereiz erst auf diese, dann auf die andere so empfindet man
ihn an letzterer wärmer. Eine weitere Bestätigung wird diese Erscheinung
finden bei später mitzutheilenden Versuchen. Zugleich werden wir dort auf
die Frage zurückkommen, ob die beregte Einwirkung nur starken Ab-
kühlungen und Erwärmungen oder überhaupt jeder Veränderung der Eigen-
temperatur zukommt.
Die durch Temperaturveränderungen hervorgebrachte Herabsetzung der
Erresbarkeit trifft beide Nervenarten in gleicher Weise. Dadurch treten
dieselben trotz ihrer scheinbaren Unabhängigkeit von einander zu einseitigen
Temperaturreizen in Beziehung und es wird, wie wir noch näher sehen
! A. Eulenburg giebt an, dass er bei Application von Eis Verminderungen des
Raumsinnes sowie der elektrocutanen Sensibilität habe nachweisen können. Lehrbuch
der Nervenkrankheiten. 1878, 2. Aufl. S. 84. — Grützner fand, als er den Einfluss
der Temperaturveränderungen auf die Nerven studirte, dass Erwärmung und Abkühlung
die Erregbarkeit und Leitungsfähigkeit derselben erheblich herabsetzt. Ueber verschie-
dene Arten der Nervenerregung. ner Archiv u.s. w. Bd. XVII.
z
33 ALFRED GOLDSCHEIDER:
werden, etwas Aehnliches erreicht, als was wir sonst einer regulatorischen
semeinsamen Einstellung beider zuschreiben würden.
Ein Temperaturreiz von einer gewissen Stärke entfaltet also folgende,
für neue heize bedeutungsvolle Eiuwirkungen auf die Temperaturnerven:
1) Er verändert die Temperatur der Haut und damit die Grösse der
Wärmeaufnahme oder -abgabe gegenüber den späteren Reizen.
2) Er producirt in den gleichsinnigen Nerven einen Erresungszustand,
welcher zugleich mit seiner eigenen Nachdauer die Reizempfänglichkeit der-
selben herabsetzt.
3) Er verändert mit der Hauttemperatur überhaupt auch speciell diejenige
des nervösen Apparates und setzt, wahrscheinlich in gleiehmässiger Weise, die
Empfindlichkeit sowohl der gleichsinnigen wie ungleichsinnigen Nerven herab.
Es ergiebt sich daraus, dass die ungleichsinnigen Nerven nur durch eine Ur-
sache in ihrer Erregbarkeit abgestumpft werden, während für die gleichsinnigen
mehrere sich compliciren. Es ist deshalb auch vorauszusetzen, wenn auch noch
nicht streng bewiesen, dass Abkühlung stärker herabsetzend auf die Emplindlich-
keit der Kältenerven als auf diejenige der Wärmenerven wirkt und umgekehrt.
Kehren wir nun zurück zu dem Ausgangspunkte dieser Auseinander-
setzungen, nämlich dem Weber’schen Versuch und seiner Erklärung, so
würden wir die Frage, wie derselbe sich nach unserem System erklären
lässt, dahin zu beantworten haben: die abgekühlte und nun jetzt im lang-
samen Erwärmen durch Aufnahme von Blutwärme begriffene Stelle der
Stirn empfindet deshalb Kälte, weil einmal der Erregungszustand ihrer
Kältenerven noch andauert; ferner weil durch die Herabsetzung ihrer Eigen-
temperatur die Reizempfänglichkeit der Wärmenerven derartig verändert
ist, dass der relativ geringe Wärmereiz der Blutwärme, trotzdem die Differenz
der Temperaturen durch die Abkühlung der Stelle vergrössert ist, nicht
hinreicht, um eine Erregung zu produeiren.
In dieser Weise erledigt sich der Hering’sche Einwand gegen die
Weber’sche Theorie. Es ist nun noch nothwendig, die sogenannten „Con-
trasterscheinungen‘“, mit welchen Hering seine Lehre von der Adaptation
stützt, von dem Standpunkte der Kälte- und Wärmenerven aus einer Be-
trachtung zu unterziehen. Hering! schildert folgende Contrasterscheinungen:
„Man bringe eine Flüssigkeit, z. B. das Quecksilber Q auf diejenige Tem-
peratur, bei welcher der eingetauchte Finger weder Kälte noch Wärme
empfindet. Sodann tauche man denselben Finger in ein Quecksilber @/,
welches kälter, z. B. auf Zimmertemperatur ist. Bringt man dann nach
etwa 30 Secunden den Finger in das Quecksilber Q zurück, so empfindet
man in diesem deutliche Wärme.
'Taucht man den Finger, statt in kühleres, in ein warmes Quecksilber
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN, 39
@, welches z. B. die Bluttemperatur hat, so erscheint nachher demselben
Finger das Quecksilber @ deutlich kühl. Diese durch den Contrast ent-
standenen Empfindungen der Wärme oder Kälte sind um so lebhafter, je
länger man den Finger in dem Quecksilber @ oder @” liess und je mehr
die Temperatur des letzteren von der Temperatur des Anfangs weder warm
noch kalt erscheinenden @ecksilbers () abweicht.
Taucht man die eine Hand in kaltes Wasser (6—10° 0), die andere
gleichzeitig in heisses (40—45°) und bringt nach 20—30 Secunden beide
Hände in Wasser von 25—27°, so empfindet die eme Hand das Wasser
deutlich warm, die andere deutlich kalt.“
Wird in dem ersten Versuch der Finger in das kältere Quecksilber
gebracht, so nimmt seine Eigentemperatur ab, zugleich verschiebt sich
die Nullpunktstemperatur nach unten, der nervöse Apparat stellt sich auf
das kalte Quecksilber ein, so wie er vorher auf die Luft eingestellt war
oder auf das temperirte Quecksilber, welches weder warm noch kalt gefühlt
wurde. In Folge dessen wird letzteres nachher warm gefühlt, weil seine
Temperatur jetzt über der augenblicklichen Nullpunktstemperatur liegt. In
analoger Weise erklären sich nach Hering die anderen Versuchsergebnisse.
Da es nach den nunmehr bekannten Thatsachen feststehen muss, dass
die beiden Qualitäten der Temperaturempfindung auf getrennte Nervenarten
vertheilt sind, und wir in Folge hiervon und mit Benutzung anderer That-
sachen zu dem Schlusse gekommen sind, dass die Weber’sche Ansicht die
richtige sei, so verliert die Adaptation für uns ihre Existenzberechtigung.
Denn die Contrasterscheinungen lassen sich nach Weber vollständig und
ohne Adaptation erklären, wie Hering selbst andeutet, indem er sagt:
„Gerade diese Contrasterscheinungen mochten Weber mit dazu bestimmen,
den Act der Temperaturänderung als den wesentlichen Reiz für die Nerven
des Temperatursinnes anzusehen.“ Denn wenn die im kalten Quecksilber
abgekühlte Hand zurückkehrt in das Quecksilber, welches sie vorher zwar
nicht als warm gefühlt hat, weil sie sich in der Luft befunden hatte, welches
aber doch in der That wärmer ist als dasjenige, das sie soeben verlassen
hat, so wird letzteres der Hand objeetiv Wärme zuführen, die abgekühlte
Eigentemperatur der Hand muss steigen und dieses Steigen wird eben nach
Weber als Wärme empfunden.
Wenn so auf der einen Seite sich die Contrasterscheinungen ohne
Adaptation erklären lassen, so hat andererseits die letztere für ein doppeltes
System von Temperaturnerven überhaupt keine Pointe — wie Hering
selbst auseinandersetzt. Denn er benutzt die Adaptation geradezu, um da-
mit gegen die Möglichkeit eines doppelten Nervenapparates zu Felde zu
ziehen. Er sagt:! Man müsste „annehmen, dass z. B. die eingetretene.
AED. 28:
40 ALFRED (GOLDSCHEIDER:
höhere Temperatur nicht blos ein Reiz für den Apparat der Wärmeempfin-
dung sei, unter dessen Wirkung derselbe ermüde, sondern dass die höhere
Temperatur zugleich die Erregbarkeit des Apparates der Kälteempfindung
erhöhe. Und umgekehrt müsste eine Erniedrigung der Hauttemperatur
nicht bloss den Apparat der Kälteempfindung erregen und weiterhin seine
Erregbarkeit herabsetzen, sondern zugleich auch die Erregbarkeit des auderen
Apparates erhöhen. Diese beiden Apparate müssten ferner in so genauer
Harmonie arbeiten, dass, wenn der eine bei einer gegebenen Hauttemperatur
nicht merklich erregt ist, sich auch der andere jedesmal genau ebenso ver-
hält. Dem Nullpunkte der Empfindung müsste also immer in beiden
Apparaten genau dieselbe Eigentemperatur entsprechen, und nie dürfte es
vorkommen, dass die Erregbarkeitsverhältnisse beider Apparate sich ver-
schöben und beide zugleich durch dieselbe Temperatur in merkliche Er-
regung versetzt würden.“
Die von Hering hier angeführten Schwierigkeiten sind in der That
vorhanden, wenn man die Temperaturempfindung abhängig macht von der
jeweiligen Höhe der Eigentemperatur des nervösen Apparates.. Mit der
Weber’schen Anschauung jedoch fallen diese gegen ein doppeltes Nerven-
system gerichteten Argumente zusammen. Die Temperatur der Haut kann
nur entweder constant bleiben oder steigen oder fallen; deshalb können bei
einer Aenderung der Hauttemperatur nur entweder die Kältenerven oder
die Wärmenerven gereizt werden, während bei einem Constantbleiben der
Eigentemperatur eben weder die einen noch die anderen erregt werden
können, ganz gleichgültig, wie hoch oder wie niedrig die Eigentemperatur
ist. Die Schwierigkeit, dass dem Nullpunkt der Empfindung immer in
beiden Apparaten genau dieselbe Eigentemperatur entsprechen müsste, fällt
also fort, und ebenso kann es auch nicht vorkommen, dass „beide zugleich
durch dieselbe Temperatur in merkliche Erregung versetzt würden.“ Das
erste, dass „die höhere Temperatur zugleich die Erregbarkeit des Apparates
der Kälteempfindung erhöhen“ müsse, erledigt sich aus der Weber’schen
Theorie von selbst.
So wenig also von unseren Gesichtspunkten aus diese Einwürfe gegen
einen doppelten Nervenapparat stichhaltig erscheinen können, so sehr spre-
chen sie gegen die Lehre von der Adaptation, sobald das doppelte
Temperaturnervensystem nachgewiesen ist. Es dürfte kaum zweckmässig
erscheinen, angesichts der Kälte- und Wärmenerven noch die Adaptation
retten zu wollen.
Diese Anschauung dürfte noch eine weitere Stütze erhalten durch
folgende Versuche: Hält man einen Finger in Wasser von 40°C. und nach
ca. 10 Secunden gleichzeitig mit dem entsprechenden der anderen Seite,
der sich unterdessen in der Luft befunden hat, in Wasser von 15°C., so
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 41
fühlt der erwärmte Finger die Kälte schlechter. — Hält man einen
Finger in Wasser von 15°C. und dann gleichzeitig mit dem der anderen
Seite in warmes Wasser, so fühlt der abgekühlte Finger die Wärme
schlechter. — Hält man einen Finger in kaltes Wasser von 15°C., den
entsprechenden der anderen Seite in laues von 32°C. und nach ca. 10
Secunden beide in Wasser von ca. 40°C., so fühlt der im lauen Wasser
gewesene Finger die Wärme besser als der abgekühlte.
Es ist ohne Weiteres klar, dass sich nach Hering’s Adaptationslehre
die Erscheinungen nicht erklären lassen. Vielmehr geht aus ihnen hervor,
dass ein im normalen Temperaturgleichgewicht, d. h. innerhalb der ge-
wohnten Eigentemperatur befindlicher Finger die Temperaturreize stärker
wahrnimmt, als ein bis zu einer gewissen Grenze erwärmter .oder abge-
kühlter Finger. Es scheint dies zunächst auch der vorher geltend gemachten
Anschauung zu widersprechen, nach welcher die Temperaturempfindung
lediglich von dem Act des Steigens oder Sinkens der Eigentemperatur der
Haut abhängig ist. Jedoch löst sich dieser Widerspruch, wenn man sich
erinnert, dass durch Abkühlung oder Erwärmung die Erregbarkeit beider
Nervenarten herabgesetzt wird. Die zuletzt mitgetheilten Versuche bestä-
tigen in der vollständigsten Weise diese Thatsache, sowie sie die bereits
oben angeführten Versuche, aus welchen die Herabsetzung der Erregbarkeit
durch Erwärmung und Abkühlung hervorging, ergänzen. Sie zeigen ferner,
wie diese Herabsetzung der Erregbarkeit einen den Contrasterscheinungen
entgegen gerichteten Effeet hat. Denn wenn diese darauf beruhten, dass
eine abgekühlte Hautstelle eine vermehrte Wärmeempfindlichkeit, eine er-
wärmte eine vermehrte Kälteempfindlichkeit besitzt, insofern erstere mehr
geneigt ist, Wärme aufzunehmen, die zweite Wärme abzugeben, so wird
durch die Herabsetzung der Erregbarkeit diese vermehrte Empfänglichkeit
für den entgegengesetzten Temperaturreiz wieder vermindert. W-enn daher
im Contrastversuch der abgekühlte Finger ein Medium warm fühlt, wel-
ches vor der Abkühlung gar keine Temperaturempfindung bei ihm verur-
sacht hatte — weil seine augenblickliche Eigentemperatur steigen muss —,
so ist nach den zuletzt beschriebenen Versuchen anzunehmen, dass der
abgekühlte Finger die vorhandene Wärmezufuhr zwar als warm, aber als
schwächer warm fühlt, als ein Finger von normaler Eigentemperatur
eben dieselbe Grösse der Wärmezufuhr wahrnehmen würde Wenn die
abgekühlte Hand dasselbe Wasser als warm fühlt, welches die erhitzte als
kalt wahrnimmt, so geschieht dies, weil ersterer Wärme zugeführt wird,
wodurch die Wärmenerven, und weil letzterer Wärme entzogen wird, wo-
durch die Kältenerven gereizt werden. Aber wenn derselbe Wärmezufluss,
welcher hier auf die abgekühlte Hand wirkt, auf eine von normaler Tem-
peratur wirken würde, so würde derselbe als wärmer wahrgenommen wer-
42 ALFRED GOLDSCHEIDER:
den im Vergleich zu der hier statthabenden Wärmeempfindung; und wenn
derselbe Wärmeabfluss, der hier sich auf die erhitzte Hand geltend macht,
eine solche von normaler Temperatur treffen würde, so würde derselbe als
kälter wahrgenommen werden im Vergleich zu der hier statthabenden
Kälteempfindung. Dass dies nicht blos Vermuthung ist, sondern sich in
der That so verhält, davon kann man sich durch einen einfachen Versuch
überzeugen. Wenn man einen Finger in Wasser von 40°C. so lange taucht,
bis dasselbe nicht mehr als erheblich warm empfunden wird, und dann in
Wasser von 30°C. taucht, so entsteht zwar ein Gefühl der Kühle; dieses
ist aber nicht annähernd so stark wie dasjenige, welches entsteht, wenn
man den Finger nun von dem 30°C. warmen Wasser in solches von 20°C,
bringt. Ebenso erscheint für den in 35°C. gewesenen Finger Wasser von
30°C. weniger kalt als für den im Wasser von 30°C. getauchten solches
von 25°C. Da wir das 30°C. warme Wasser als ungefähr der Fingerhaut
gleich temperirt ansehen können, so folgt daraus, dass ein gleicher Tem-
peraturabstand von dem normal temperirten Finger stärker wahrgenommen
wird als von dem erwärmten. — Der letzterwähnte Fall lässt übrigens
schliessen, dass nicht blos bei starker Erhitzung die Herabsetzung der Er-
regbarkeit Platz greift, sondern schon bei geringer Zunahme der Eigen-
temperatur. Jedoch nimmt die Herabsetzung der Erregbarkeit jedenfalls
nicht in demselben Verhältniss zu wie die Höhe der Temperatur. Viel-
mehr scheint es, dass bei einer gewissen Grenze der Temperaturerhöhung
die Herabsetzung der Erregbarkeit eine rapid zunehmende wird. Diese
Grenze habe ich an meinen Fingern bei ca. 39°C. gefunden. Wenn ich
den Finger in Wasser von 35°C. tauche und sodann in solches von 30° C,,
so empfinde ich Kühle; diese wächst bei 36°, 37° bis 39°C. Dann jedoch,
bei 40°, tritt eine ganz deutliche Verminderung des Kältegefühles ein,
während doch die Differenz der Temperaturen gewachsen ist, und bald hört
dann die Fähigkeit der Kälteempfindung ganz auf. Die entsprechende untere
Grenze habe ich bei ca. 21°C. gefunden.
Das Gesetz von der Herabsetzung der Erreebarkeit arbeitet demnach
den Erscheinungen des Contrastes entgegen, welche ohne dasselbe grösser
und augenfälliger sein würden. In der That sind sie nämlich ziemlich
schwach und man kann sich nicht verhehlen, dass es zu erheblichen Unzuträg-
lichkeiten führen würde, wenn sie stärker wären. Bei dem häufigen Wechsel
der Aussentemperaturen, welchem unsere unbekleideten Körperstellen unter-
liegen,"würde es unser Urtheil nicht wenig: verwirren, wenn die Contrasterschei-
nungen in dem Hering’schen Sinne Statt hätten, d. h. wenn sich auf jede
neue Aussentemperatur — wenn auch nur innerhalb einer gewissen Grenze
— der Sinnesapparat so adaptirte, dass eine folgende Temperaturveränderung
in voller Schärfe, wie auf den normal temperirten Apparat, auf ihn einwirkte,
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 43
Eine wesentliche Function unseres Temperatursinnes ist die Fähickeit
der quantitativen Wahrnehmung von Reiztemperaturen und der Wahr-
nehmung der Temperaturunterschiede. Nach der früheren Vorstellung
von einem einfachen und gleichmässig verbreiteten Nervenapparat für Wärme
und Kälte, konnte es sich bei dieser Function nur um quantitative Unter-
schiede der Erregungsstärke handeln, die ebenso wahrgenommen wurden,
wie auch bei anderen Sinnesnerven die Unterschiede in der Stärke des
Erregungszustandes pereipirt werden. Nun ist jedoch oben bemerkt worden,
dass die verschiedenen Temperaturpunkte mit einer verschiedenen, aber für
jeden bestimmten Intensität der Empfindung und Reizbarkeit begabt sind.
Es ist z. B. bezüglich der Kältepunkte auseinandergesetzt worden, dass es
Kältepunkte gebe, welche auf einen gegebenen punktförmigen Reiz stark
und schwächer reagiren, dass man mit einem schwachen Kältereiz nur
einen Theil der Kältepunkte in Erregung versetzen kaun, mit einem stär-
keren Reiz deren mehr, und dass sich dies bei den Wärmepunkten ebenso
verhält. Es entsteht also auch die Frage, in welcher Weise sich die, kurz
gesagt, verschieden intensiven Punkte an der Wahrnehmung eines be-
stimmten Temperaturgrades betheiligen. Wenn ein gegebener flächenhafter
Kältereiz eine gewisse Anzahl von Kältepunkten in einer gewissen Stärke
erregt, so wird ein stärkerer flächenhafter Kältereiz nicht nur die frühere
Anzahl stärker erregen, sondern ausserdem noch eine gewisse andere An-
zahl von Punkten dazu erregen, deren Reizbarkeit unterhalb der Grenze
des vorigen Kältereizes gelegen ist. Ob dieser Umstand, dass bei dem
Wachsen des Temperaturreizes mehr Punkte in die Empfindung treten, für
die Intensität der Temperaturempfindung und speciell für die Wahrneh- E
mung des Temperaturgrades von Bedeutung ist, muss sehr zweifelhaft er-
scheinen. Einerseits nämlich ist es noch sehr fraglich, im welchen Grenzen
die Verschiedenheit der Reizschwelle der Temperaturpunkte sich überhaupt
bewegt, d. h. ein wie grosses Steigen bez. Sinken der Eigentemperatur der
Haut nöthig ist, um die unempfindlichsten Wärme- bez. Kältepunkte noch
derart zu erregen, dass sie in die Wahrnehmung treten. Es ist möglich,
dass diese Reizschwelle nur in sehr geringen Grenzen varürt, so dass sie
schon aus diesem Grunde für die Mehrzahl der Temperaturreize nicht in
das Gewicht fällt. Hierüber könnte nur eine genaue Untersuchung der
zur Erregung der verschiedenen Punkte nothwendigen Reizstärke Aufschluss
geben, welehe ich bis jetzt noch nicht angestellt habe. Andererseits ist es
sehr wahrscheinlich, dass für die Stärke, mit welcher ein flächenhafter
Temperaturreiz wahrgenommen wird, gar nicht die ganze Summe aller in
ıım enthaltenen einzelnen Punktempfindungen in Betracht kommt, sondern
dass vielmehr die intensiveren Punktempfindungen in den Vordergrund
treten, während die schwächeren für den Totaleindruck wenig ausmachen,
44 ALFRED GOLDSCHEIDER:
gleichgültig in welcher Anzahl sie vorhanden sind. Es spricht für dieses
Verhalten der Umstand, dass von zwei gleich grossen Flächenstücken, von
denen das eine sehr viele schwache, das andere nur einzelne intensive
Kältepunkte enthält, das letztere einen Kältereiz jeder beliebigen Stärke
stets viel stärker empfindet als das erstere. Es ist daher wohl anzunehmen,
dass gegenüber den intensiven Punkten es nicht viel an der Totalempfin-
dung ändern wird, ob eine geringere oder grössere Summe von schwachen
Punktempfindungen ausserdem vorhanden ist, und dass folglich auch für
das Wahrnehmen der Reizstärke, des Temperaturgrades, vorzugsweise der
(rad der Erregung der intensiveren Nervenendigungen von Bedeutung ist.
Es ist nothwendig, die Vorstellung über die verschieden starken Tem-
peraturpunkte noch etwas zu klären. Das Verhältniss ist nämlich nicht
etwa derartig, dass die Temperaturpunkte tonleiterartig auf bestimmte
Eigentemperaturen abgestimmt sind. Vielmehr wird durch jedes Sinken
der Hauttemperatur auf alle Kältenerven, durch jedes Steigen derselben
auf alle Wärmenerven ein Reiz ausgeübt; bei einem Theil derselben muss
jedoch die Erregung stärker sein, um als Kälte bez. Wärme pereipirt zu
werden, als bei anderen. Und zwar muss sie deshalb stärker sein, weil
dieselben mit einer schwächeren Empfindungsintensität begabt sind, welche
bei einer zu schwachen Erreeung nicht Schwellenwerth gewinnt, um in
das Bewusstsein zu treten. Die Momente, welche diese Auffassung unter-
stützen, sind folgende: Einmal der Umstand, dass die Empfindung in der
That auch bei stärkerer Erregung schwächer ist als bei den leichter reiz-
‚baren Punkten. Ferner, dass dieselben auch bei mechanischer und elek-
trischer Erregung eine schwächere Empfindung geben. Endlich die Beob-
achtung, dass, wenn die Erregbarkeit der Temperaturnerven durch Abküh-
lung bis zur Temperaturanaesthesie herabgesetzt ist, diejenigen Punkte,
welche vorher als die reizbarsten und intensivsten markirt waren, auch
zuerst ihre Empfindlichkeit wiedergewinnen.
Die Wahrnehmung des Temperaturgrades und das Erkennen der Tem-
peraturunterschiede ist bekannter Weise am schärfsten in einer gewissen,
um die normale Hauttemperatur herum gelegenen Grenze. Es erklärt sich
dies wohl zur Genüge aus der Herabsetzung der Nervenerregbarkeit durch
die Veränderungen der Eigentemperatur. Es lässt sich leicht einsehen,
dass durch eben diese Herabsetzung der Erregbarkeit mit ihrer bekannten
doppelten Herleitung, verbunden mit der Nachdauer des Erregungszustandes
das Unterscheidungsvermögen für Temperaturunterschiede überhaupt ge-
schwächt werden muss. Angenommen, die Erregung liefe momentan ab
und der Nerv wäre im Stande, im nächsten Moment wieder einen neuen
Reiz ungeschwächt aufzunehmen, so würde das quantitative Unterscheidungs-
vermögen lediglich eine centrale Leistung sein; hier aber läuft der Erregungs-
NEUE THuATsACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN‘: 45
zustand allmählich ab und die Empfindlichkeit für neue Reize ist herab-
gesetzt, und es müssen dadurch der centralen Fähigkeit des Unterscheidens
Schwierigkeiten bereitet werden. Es erklärt sich vielleicht hieraus, dass in
der That das Vermögen, Temperaturunterschiede zu erkennen, im Vergleich
zu analogen Leistungen anderer Sinne wenig fein entwickelt ist. Die
minutiöseste Leistung überhaupt ist das Unterscheiden der Temperatur-
differenz von 0°2°C.
Angesichts der mechanischen Erregbarkeit der Temperaturnerven muss
man jetzt die Frage aufwerfen, wie sich die gewöhnliche flächenhafte Tem-
peraturempfindung zu jener Eigenschaft verhält. Denn nicht nur, dass ein
grosser Theil unserer Temperaturreize zugleich mit einem mechanischen
Reiz verbunden ist, sondern die Haut, welche die mechanisch erregbaren
Temperaturnerven enthält, erleidet ja auch vorzugsweise mechanische Reize,
welche Temperaturreize zu gleicher Zeit, wenigstens im eigentlichen Sinne,
nicht sind oder sein sollen. Sollten wir nun hier jedesmal Erregung der
Temperaturnerven bekommen, so würde das Urtheil über wirkliche Tem-
peraturreize getrübt werden. Andererseits dürfte wohl kaum ein Grund
sein — da die mechanische Erregbarkeit der Temperaturnerven ausser
Zweifel steht —, weshalb nicht auch ein flächenhafter mechanischer Reiz
dieselben erregen sollte.
Freilich kommt hier in Betracht, dass ein flächenhafter Druck doch
nicht so geeignet ist, die in der Haut verlaufenden Temperaturnervenfasern
zu erregen, als der punktförmige. Denn der letztere verschiebt den Punkt
gegenüber seiner ruhenden Umgebung, während bei den flächenhaften die
Umgebung jedes Punktes dieselbe Bewegung mitmacht wie der Punkt
selbst; und auch die dabei erfolgende allgemeine Compression des Gewebes
dürfte sich auf die Nervenfasern kaum in der Weise geltend machen, wie
die isolirte Druckwirkung auf den einzelnen Nerven.
Dessen ungeachtet ist es möglich, sich davon zu überzeugen, dass auch
der flächenhafte Druck Temperaturempfindungen erzeugt. Man muss zur
Ausübung des Druckes ein Object von sehr schlechtem Wärmeleitungsver-
mögen benutzen, welches ausserdem die Gefühlsnerven nicht zu stark reizt.
Ich kann nach meinen Erfahrungen kleine Pfropfen von nicht zu hartem
Kork — welche man zum Gebrauch anstatt des Gummis in einen Per-
cussionshammer einziehen kann — empfehlen. Lässt man diesen Kork-
hammer leicht auf der Haut ruhen, so fühlt man nur Berührung, keine
Temperatur; bei tieferem Eindrücken wandelt sich das Berührungsgefühl
in ein sanftes Druckgefühl um, und nun treten mit zunehmendem Drucke
deutliche Temperaturempfindungen auf, — meist punktförmige, aufblitzende
Kälteempfindungen, seltener Wärmeempfindungen. An manchen Stellen,
wo die eine oder andere Nervenart bedeutend vorherrscht, bekommt man
46 ÄLFRED GOLDSCHEIDER:
auch flächenhafte kühle oder laue Gefühle. Bei tiefstem Eindruck wird
dann nicht selten das Temperaturgefühl ein ganz bestimmt qualificirtes,
entweder kaltes oder warmes, je nachdem Kälte- oder Wärmepunkte vor-
herrschend sind. Zuweilen tritt während des tieferen Eindrückens ein
Wettstreit der Temperaturqualitäten ein. Auch findet man, dass bei
mässigem Drucke kühles, bei tiefem dann warmes Gefühl entsteht; umge-
kehrt findet es sich zuweilen an Stellen, wo die Wärmepunkte vorherrschen,
dass bei leichtem und mittlerem Drucke deutliches Wärmegefühl entsteht
und erst bei tiefem einzelne Kältepunkte in die Empfindung treten. Viel-
fach tritt erst bei tiefstem Drucke ein Temperaturgefühl auf und an manchen
Stellen konnte ich überhaupt kein solches produciren. Dies ist besonders
der Fall an den Regionen, welche vorzugsweise zum Tasten benutzt werden.
Bei bleibendem Drucke hält die Temperaturempfindung eine Zeit lang an
um dann abzunehmen. An besonders geeigneten Stellen hinterlässt sie eine
Nachempfindung. Sehr deutlich ist das Kältegefühl beim Druck auf die
Stirn. Am Nagelglied der Finger findet man volarwärts blosses Druck-
gefühl, dorsalwärts deutliche Kälte. Drückt man den Kork leicht erwärmt
gegen die Stirn, so kann man unter Umständen beobachten, wie das erste
Wärmegefühl sehr bald einer deutlichen Kühle Platz macht, welche noch
nach Entfernung des Druckes nachdauert, obwohl sich der abgenommene
Kork noch warm anfühlt. An manchen für Wärmeempfindung besonders
geeigneten Stellen ruft kaltes Metall beim tiefen Druck deutliches Wärme-
gefühl hervor.
Auch bei leichtem Beklopfen der Haut mit dem Korkhammer treten
bestimmt qualificirte Temperaturgefühle auf, welche bei stärkerem Beklo-
pfen dann deutlicher werden, — ebenfalls theils punktförmige, theils flächen-
hafte Empfindungen.
Es braucht wohl kaum gesagt zu werden, dass zur Erkennung dieser
mechanisch produeirten Temperaturempfindungen ebenfalls eine gewisse
Uebung und vielleicht mehr als zu den anderen bisher besprochenen Be-
obachtungen nothwendig ist. Man wird die Reizung mittelst Kork viel-
leicht häufige vergeblich machen, aber man wird sie zweifellos bestätigen
können. Vor Allem ist es nöthig, dass man sich vorher in der Auffassung
des mechanisch und elektrisch producirten punktförmigen Temperatur-
gefühles genügend geübt habe, denn vorwiegend sind es auch hier punkt-
förmige Temperaturempfindungen, welche entstehen. Zunächst möchte sich
wohl der Versuch an der Stirn empfehlen. Gegen den Vorwurf einer
Selbsttäuschung glaube ich mich dadurch genügend schützen zu können,
dass ich auch hier mit Controle gearbeitet habe. Man findet nämlich,
wenn man mit dem Korkhammer grössere Gebiete absucht, zuweilen Stellen
— wie schon angedeutet —, welche ein hervorragendes Wärmegefühl,
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 47
andere, welche ein hervorragendes Kältegefühl erkennen lassen. Umzeich-
nete ich solche Stellen und prüfte sie nachher mit dem adäquaten Reiz,
d. h. mit dem kalten oder warmen Oylinder, so konnte ich mich über-
zeugen, dass dieselben auch dann ein ganz besonderes intensives Wärme-
oder Kälteeefühl gaben. Es ist daraus zugleich ersichtlich, dass man in
der That durch den flächenhaften Druckreiz den Charakter einer Hautstelle
in Bezug auf den Temperatursinn erkennen kann.
Wenn wir nun nicht alltäglich diese Temperaturempfindungen bei
Druckreizen haben, so liegt dies wohl zunächst daran, dass sie sich eben
nieht ohne Weiteres der Auffassung präsentiren, sondern ziemlich schwierig
und nur bei darauf concentrirter Aufmerksamkeit wahrzunehmen sind. Sie
gehören zu den Empfindungen, welche, wie die Mouches volantes, vorhan-
den sind, ohne dass wir uns ihrer für gewöhnlich bewusst werden. Auch
sind sie neben der Druckemptindung zu schwach ausgeprägt, um besonders
in das Gewicht zu fallen, namentlich da unsere Aufmerksamkeit auf die
erstere gerichtet zu sein pfllest. Weiter kommt dazu, dass die alltäglichen
Druckreize nach Art des Druckes und Objectmateriales nicht geeienet sind,
die begleitende Erregung der Temperaturnerven zum Bewusstsein zu brin-
gen. Ist der Gegenstand hart, der Druck schmerzhaft, zu-schnell wachsend,
so gelingt es nicht. Ferner haben die drückenden Objecte gewöhnlich die
Nebenwirkung, dass sie in merklicher Weise Wärme an die Haut abgeben
oder der Haut entziehen und dadurch die Temperaturnerven reizen; die
Folge davon ist, dass die etwa gleichzeitig vorhandene mechanische Er-
resung der Temperaturnerven nicht zur Geltung kommt.
Nachdem wir nun über den Reizvorgang Klarheit gewonnen haben, '
ist es nöthig, noch einmal auf das Verhältniss des Temperatursinns zur
Lehre von den specifischen Energien zurückzukommen. Da wir nämlich
jeden Erresungszustand der Kältenerven als Kälte, der Wärmenerven als
Wärme auffassen, jene aber durch Sinken der Hautwärme, diese durch
Steigen derselben erregt werden, so folgt daraus für unsere Auffassung der
auf uns wirkenden Aussendinge, dass wir in unserer Empfindung und so-
mit auch in unserem Gedächtniss und unserer Vorstellung alle diejenigen
Öbjecte, welche der Haut Wärme entziehen, gleichsam mit der Marke
„kalt“, diejenigen, welche derselben Wärme zuführen, mit der Marke „warm“
versehen. Erstere sind aber im Allgemeinen solche Objecte — ich glaube
hierbei von dem Wärmeleitungsvermögen absehen zu dürfen —, welche
niedriger als die augenblickliche Hauttemperatur temperirt sind, letztere
solche, welche höher temperirt sind. Wir nennen also das, was unter
unserer jedesmalisen Hauttemperatur gelegen ist, kalt; das, was über ihr
gelesen ist, warm. Mit anderen Worten: Ausser uns und ausserhalb unseres
. Sinmeslebens giebt es kein Kalt und kein Warm. Für die Materie ist die
48 ÄLFRED (GOLDSCHEIDER:
Scheidung nicht vorhanden, welche wir mittelst unserer Hauttemperatur
und weiterhin unseres doppelten Temperaturnervensystems vornehmen. Die
Objecte, welche auf uns wirken, enthalten nur ein Mehr oder Weniger von
physikalischer Wärme in sich, aber sie enthalten keine Kälte, keine Wärme
in dem gegensätzlichen Sinne unserer Wahrnehmungen und Vorstellungen.
— Freilich hat sich wohl, wer darüber nachgedacht hat, auch vor der
Kenntniss der Kälte- und Wärmenerven schon gesagt, dass der Begriff
Kälte und Wärme lediglich durch unsere Hauttemperatur in die Aussen-
welt hineingetragen wird; jedoch nach der früheren Vorstellung von einem
einfachen Nervenapparat, der das Sinken der Hauttemperatur als Kälte,
das Steigen derselben als Wärme zum Bewusstsein brächte, war doch
immerhin noch eine gewisse Verwandtschaft zwischen Kälteempfindung und
Temperaturabnahme, Wärmeempfindung und Temperaturzunahme gelassen;
wenn derselbe Nervenapparat auf seine Abkühlung mit der Empfinduns
kalt und auf seine Erwärmung mit der Empfindung warm reagirt, so
war damit doch gewissermaassen eine Art von innerem Zusammenhang
zwischen der Empfindung kalt und Wärmeverlust, warm und Wärme-
zunahme gegeben.
Jetzt aber stellt sich das Verhältniss ganz anders. Mit dem Augen-
blick, wo das Endorgan des Kältenerven seine durch die Abkühlung ge-
setzte eigene Veränderung in einen Nervenreiz umsetzt, haben wir es nur
mit einer centralwärts verlaufenden Nervenerregung zu thun, welche selbst
mit dem Vorgange der Abkühlung oder mit physikalischer Wärme über-
haupt nicht das Geringste zu thun hat. Ebenso beim Wärmenerven. Ob
“ die Veranlassung zu diesem Erresungszustand eine Aenderung der physi-
kalischen Wärme, eine Aenderung der Hautwärme gewesen ist, dies ist für
den Erregungszustand selbst und erst recht für die centralwärts ausgelöste
Empfindung völlig gleichgültig. Unser Gehirn signalisirt dem Bewusst-
sein die Frregungszustände unter den sensorischen Unterschiedsmerkmalen
kalt und warm; die Seele ist dadurch in den Stand gesetzt, die Er-
reeungen der Temperaturnerven zu unterscheiden von solchen anderer Sinne,
(des Seh-, Hörnerven u. s. w. und als etwas Besonderes für sich aufzufassen.
Eine andere Beziehung als die der Seelenzeichen haben diese Empfin-
dungsqualitäten kalt und warm nicht, und mit dem Wesen der physi-
kalischen Wärme an sich stehen sie in keiner Art von Relation, ebenso wenig
wie etwa die Farben mit der Anzahl der Aetheroscillationen. Ich könnte mir
ebensogut vorstellen, dass wir die Abnahme der Hauttemperatur als blau,
die Zunahme als roth wahrnähmen. Mit dem doppelten Leitungswege also,
der sich in den Kälte- und Wärmenerven präsentirt, ist jede Verwandtschaft
der Temperaturempfindungen mit den objectiven Temperaturen aufgehoben
und jene lediglich als Lebensäusserungen centraler Ganglienzellen erkannt.
ER EN
BE Su
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 49
Erst mit dieser Darlegung gewinnen wir auch bei den Temperatur-
nerven die ideale Höhe des Gesetzes von den specifischen lEinergien. Auch
hier wieder schrumpft das bunte Leben und Empfinden, die behagliche
Wärme, die fröstelnde Kälte zusammen zu einem Kaleidoskop der Täuschungen
und es bleibt übrig die weder warme noch kalte, in Molecularbewerungen
undulirende Materie.
Es mag hier noch seine Stelle finden, dass ein Aggregiren dieser
Qualitäten kalt und warm in der Fimpfindung zu neuen (Qualitäten, wie
etwa bei Seh- und Hörnerv, nicht vorkommt; vielmehr scheint es, wie bei
der elektrischen Erregung der Nervenstämme angedeutet wurde, dass die
eine oder andere Qualität die Oberhand gewinnt, oder dass „Wettstreit“
eintritt.
Hiermit dürfte Das, was sich bezüglich der Theorie des Temperatur-
Sinnes aus meinen Beobachtungen ergiebt, erledigt sein.
Das Gesammtbild des Temperatursinnes dürfte als abgeschlossen zu
betrachten sein, erst nachdem die Verhältnisse desselben über die ganze
Körperoberfläche hin eine Würdigung erfahren haben. Der Zweck des fol-
genden topographischen Abschnittes ist es, dieser Forderung zu genügen.
Zunächst mögen die Temperaturpunkte selbst einer topographischen Betrach-
tung unterworfen werden.
Topographie des Temperatursinnes.
Im Allgemeinen überwiegen am ganzen Körper überall die Kälte-
punkte. Nur wenn man sehr eng umerenzte Stellen herausnimmt, lässt
sich an solchen bisweilen ein Ueberwiesen der Wärmepunkte nachweisen.
Dies beruht dann darauf, dass gelegentlich in ein Ausstrahlungscentrum
ein Ueberschuss von Wärmefasern eintritt. Eine merkliche oder auch nur
ungefähre Gleichheit in der Anzahl beider Arten von Temperaturpunkten
an einem grösseren Gebiete ist sehr selten. Ein Beispiel davon bietet das
Nagelglied, namentlich in der unteren Hälfte. Das gewöhnliche, gewisser-
maassen als normal zu betrachtende ist, dass die Kältepunkte einfach dichter
stehen als die Wärmepunkte. Weiterhin nun giebt es Gebiete, welche Kälte-
punkte in grosser Anzahl enthalten und der Wärmepunkte gänzlich er-
mangeln — einseitig ausgebilder Temperatursinn —, oder wo die
Wärmepunkte sehr vereinzelt, etwa nur an den Haarpunkten zu finden sind.
Das Gleiche lässt sich von dem Wärmesinn nicht sagen; es kommen
freilich auch Stellen vor, wo die Wärmepunkte ganz allein vertreten sind,
allein dieselben sind so eng umgrenzt, dass es sich eben nur um die schon
berührten Verhältnisse in einem oder mehreren Ausstrahlungssystemen
handelt, nicht um den Charakter eines grösseren Gebietes. Die Verhält-
Archiv f. A. u. Ph. 1835. Physio]. Abthlg. Suppl.-Bd. 4
50 ALFRED (OLDSCHEIDER:
nisse in einem einzelnen herausgerissenen Rayon sind mehr zufällige, wäh-
rend der Charakter eines grösseren Gebietes direct von dem localen Nerven-
reichthum abhängt; es kann in einem nervenarmen Gebiete gelegentlich
auch einmal ein ganzes Bündel von Fasern in ein einziges Ausstrahlungs-
system treten. Es giebt also Gebiete, wo Kälte- und Wärmepunkte gleich-
mässig vorhanden sind, es giebt solche, wo die ersteren vorherrschen, solche,
wo dieselben allein vorhanden sind, aber selten solche, wo die Wärmepunkte
vorherrschen und nie solche, wo dieselben allein vorhanden sind.
Auch von den Gebieten, wo man von einer annähernd gleichmässigen
Anzahl von Kälte- und Wärmepunkten sprechen kann, ist diese nur vor-
handen, wenn man die auf den ganzen Umfang vertheilte Summe in das
Auge fasst. Sucht man eine in’s Einzelne gehende Gleichmässigkeit, so
wird man dieselbe. überhaupt nie finden. Denkt man sich das Gebiet etwa
in eine Anzahl sehr kleiner Quadrate getheilt, so wird man niemals in
einem derselben, oder vielleicht nur ganz zufällig, ein gleichmässiges Ver-
hältniss der Punkte zu einander finden. Dass sich nicht selten in Lücken
der Kältepunkte dichtere Massen von Wärmepunkten einschieben, wurde
schon erwähnt; aber überhaupt schlagen ja die Ketten der Wärmepunkte
vorwiegend eine andere Richtung ein als die der Kältepunkte. Man findet
höchst selten einen von beiden Punktarten gleichmässig durchwirkten Faden
oder eine derartige Gruppe, sondern die Ketten und Gruppen der einen
setzen sich neben die der anderen. Fallen die Ketten zusammen, so ist
fast stets die eine Punktart nur in vereinzelten Exemplaren darin vertreten.
Eine sehr häufige Anordnung ist auch die, dass sich reine Kältepunktketten
in reine Wärmepunktketten fortsetzen und so grössere und kleinere, des
Temperatursinnes baare Stellen umschliessen. Im Einzelnen also nirgends
ein gleichmässiges Zusammengehen, eine gleichmässige Vermischung der
Punkte, sondern ein Nebeneinanderordnen mit dem Charakter der Selb-
ständigkeit für jede Nervenart. Es ist gleichsam nirgends gemässigtes
Klima, sondern Nord und Süd nebeneinander gestellt. Die Anordnung ist
demnach auch nicht eine solche, dass sie den bewussten Zweck durchblieken
liesse, jede Stelle der Haut möglichst kälte- und wärmeempfindlich zu
machen — was dem Bedürfniss der Zweckmässigkeit entsprechen würde
und.was man im Grunde genommen vordem als selbstverständlich voraus-
gesetzt hat. Jetzt, nach der Kenntniss der Verbreitungsweise der Tem-
peraturnerven, — insofern sich dieselben wenigstens auf der Hautoberfläche
ablesen lässt — erscheint die von einander unabhängige Anordnung der
Temperaturpunkte naturgemäss, das Schema der Zweckmässigkeit muss hier
der Nothwendigkeit der Wachsthumsgesetze der Haut weichen.
Die Hautsinnesfläche ist in Bezug auf den Temperatursinn überhaupt
keine empfindliche Fläche als solche, sondern nur von einem empfind-
- NEUB THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 51
lichen Netz durchzogen. Dieser Umstand hat zur Folge, dass kleine Flächen-
reize in unmittelbarster Nachbarschaft eine sehr verschiedene Anzahl von
Punkten treffen müssen und deshalb auch eine sehr verschiedene intensive
Temperaturempfindung geben. Dies kann man als Methode benutzen, um
die Temperatursinntopographie auf grösseren Gebieten zu studiren. Denn
hierzu ist die Aufsuchung der Temperaturpunkte einerseit zu zeitraubend,
ja überhaupt unmöglich, weil die Fehlerquellen eine undurchführbar lange
Zeit beanspruchen; andererseits gewähren die Punkte bei grösseren Gebieten
iı Bezug auf das, worauf es hier ankommt, eine unzureichende Ueber-
sichtlichkeit. Es fragt sich nur, von welcher Grösse man die Reizfläche
nehmen muss. Ist dieselbe zu gross, so werden fast immer Punkte mit-
bedeckt und die gewöhnlichen kleineren punktfreien Räume entgehen völlig
der Beobachtung. Ich habe die Fläche von 0.3—0°4°m Durchmesser am
geeignetsen gefunden. Man muss sich darüber klar sein, worin der Unter-
schied dieser Art von Untersuchung von der Aufsuchung der Punkte be-
steht und wie das aufzufassen ist, was man hier findet. Man prüft mit
der Reizfläche nicht die Anzahl der Temperaturpunkte, auch nicht den
Verlauf der Temperaturnerven direct, sondern lediglich die Empfindlich-
keit des Temperatursinnes. Befinden sich auf der Applicationsfläche gar
keine Temperaturpunkte, so ist auch die Empfindlichkeit gleich Null; be-
finden sich jedoch Punkte auf derselben, so können diese intensiv oder
schwach empfindend sein, oder nur ein gewisser Theil intensiv; danach wird
sich die Stärke der Temperaturempfindlichkeit bei Flächenapplication ver-
schieden gestalten. Dabei wird dann eine Fläche mit wenigen, aber inten-
siven. Punkten ein stärkeres Gefühl geben als eine andere mit mehr, aber
schwachen Punkten. — Während die punktförmigen Reize uns die Ana-
tomie der Temperatursinnesfläche lehrten, gewinnen wir durch die kleinen
Flächenreize ein Bild davon, wie diese Sinnesfläche nun funetionirt, in welcher
Weise sie durch die in ihr vertheilten Punkte gegen die gewöhnlichen Reize
ausgerüstet und reactionsfähie gemacht wird.
Es hat sich empfohlen in Bezug auf die Empfindlichkeit der Haut
gegen kleine Reizflächen gewisse Classen oder Stufen zu unterscheiden.
Wenn auch willkürlich, so ergeben sie sich doch gewissermaassen von selbst.
Ich habe demzufolge die gereizten Flächen markirt als „stark, mittel-
mässig, schwach empfindlich und unempfindlich.“ Noch mehr
Kategorien zu unterscheiden hat deshalb keinen Zweck, weil es im Wesent-
lichen hier darauf ankommt, die empfindlicheren Felder gegen die un-
empfindlichen oder nahezu unempfindlichen abzugrenzen. Daraus ergiebt
sich auch, dass als „schwach“ nur diejenigen Flächen bezeichnet wurden,
_ auf denen das Temperaturgefühl nicht überhaupt geringgradig ist, sondern
als solches eben nur noch zu erkennen ist. Die mittelmässigen Felder
4*
52 ALFRED GOLDSCHEIDER:
sind diejenigen, auf denen ein wohlqualifieirtes ausgeprägtes Temperatur-
gefühl zu produeiren ist, während die starken Felder eine hervorragend in-
tensive Temperaturempfindung geben. Die Art der Bezeichnung wurde
derartig gewählt, dass die starken Felder ausgetuscht, die mittleren schraffirt,
die schwachen punktirt und die unempfindlichen freigelassen wurden. Die
Herstellung geschah in der Weise, dass auf den bekleideten Körperstellen
die Signaturen mit Bismarckbraun aufgetragen wurden. Die Aufnahme
wurde je nach der Grösse des Gebietes in 10—30 Sitzungen, auch darüber,
bewerkstelligt und dauerte bis zu 5 Tagen und darüber. Die Signaturen
wurden wiederholt controllirt und zwar zum Theil bei abgewandten Augen
von einer anderen Person. An den unbekleideten Körperstellen wurden die
Aufnahmen im Verlaufe je eines halben Tages gemacht und gewöhnlich
am nächsten Morgen noch einmal controllirt. — Erst bei wiederholter Con-
trolle erlangen die Aufnahmen eine befriedigende Correctheit; es ist leicht
einzusehen, dass bei der Absuchung der mit Punkten übersäten Sinnes-
fläche in Bezug auf die scharfe Abgrenzung der Felder leicht Fehlerquellen
entstehen können.
Betrachtet man die solchergestalt gewonnenen topographischen
Aufnahmen des Kälte- und Wärmesinnes,! so fällt das bunte Bild,
welches die temperaturempfindlichen Felder darbieten, noch mehr auf als
bei den Punktbildern. Es ist im Vergleich zu unseren früheren An-
schauungen gewiss frappirend, einen derartigen landkartenähnlichen Wechsel
innerhalb der Sinnesfläche zu sehen. Auffallend ist vor allen Dingen die
Häufigkeit der anaesthetischen Stellen namentlich beim Wärmesinn. Sie
sind theils klein, von rundlicher Form, theils mehr minder verbreitert. Die
stark empfindlichen Felder setzen sich häufig gegen die anaesthetischen
scharf ab; andererseits finden sich auch deutliche Uebergänge von einem
anaesthetischen Gebiet bis zu einem stark empfindlichen. Fast überall
stehen die wärmeempfindlichen Felder gegen die kälteempfindlichen an Zahl
zurück, namentlich die stark empfindlichen. — Die Existenz der kleinen
Lücken erklärt sich, wenn man sich des Umstandes erinnert, dass die Ketten
der Punkte vielfach rundlich-längliche Felder umschliessen. Neben diesen
Lücken finden sich nun auch andere, namentlich beim Wärmesinn, von
solcher Ausdehnung, dass man sie nur als derartige auffassen kann, welche
der Innervation gänzlich entbehren. Während also die kleineren Lücken
durch den divergirenden Verlauf der Nervenfasern veranlasst sind, d.h.
durch den Typus der Anordnung als solchen, sind es die grossen durch
einen wirklichen Mangel an Nerven.
Hat man eine topographische Aufnahme des Kältesinnes auf die Haut
! Vergl. hierzu die Abbildungen 16—20.
N“
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 53
aufgezeichnet und prüft dieselbe nun mit Wärmereizen, so findet man, «dass
vielfach in Lücken oder schwachen Feldern des ersteren starkes Wärme-
gefühl vorhanden ist; andererseits aber auch auf mittelmässig und stark
empfindlichen Kältefeldern solches sich vorlindet. Sehr häufig jedoch er-
weisen sich die Kältesinnlücken auch für Wärmereize unempfindlich. Man
kann sich dieses Verhältniss in der deutlichsten Weise vor Augen führen
wenn man von demselben (Gebiete erst eine Aufnahme der einen, dann der
anderen Qualität des Temperatursinnes abzeichnet und diese beiden Zeich-
nungen dann miteinander vergleicht. Ich habe dies für meine Unter-
suchungen immer in der Weise gemacht, dass ich die Zeichnungen, welche
ja von vornherein auf durchsichtiges Papier gebracht werden, durch Auf-
einanderdecken verglich. Man kann es, ohne Deckung, wenn auch un-
bequemer, auch durch Abmessung der Entfernungen oder dursh Einthei-
lung in kleinere Abschnitte thun; endlich habe ich auch die Vergleichung
im Stereoskop für ausführbar befunden. Man ersieht, wenn man eine solche
directe Vergleichung der Kältesinn- und Wärmesinntopographie anstellt,
dass ein Theil der Lücken der einen Qualität durch Felder der anderen
bedeckt werden; dass ein anderer Theil derselben jedoch beiden Quantitäten
gemeinsam ist; endlich kommt es vor, dass eine Lücke der einen Qualität
wohl theilweise durch ein Feld der anderen ausgefüllt wird, dass aber ein
mehr minder grosser Rest derselben stehen bleibt und also beiden gemein-
schaftlich angehört.
Während also für die erste Betrachtung die Kältesinntopographie eines
Gebietes mit der Wärmesinntopographie desselben gar keine Aehnlichkeit
zu haben scheint — ebensowenig wie sie die Punktbilder haben— ergiebt
sich hei näherer Vergleichung doch vielfach eine Uebereinstimmung in der
Anlage. Denn für etwas Zufälliges kann das Zusammenfallen, oft sehr
kleiner Lücken nicht gehalten werden. Dazu kommt nun noch das Ver-
halten des Temperatursinnes in dem Umkreis der Lücken. In der Um-
gebung dieser gemeinsamen Lücken finden sich nämlich meist von jeder
Qualität stark empfindliche Felder und zwar so, dass dieselben für jede
Qualität bestimmte Abschnitte einnehmen, während der Rest des Ringes
durch schwächere Felder geschlossen wird oder auch offen bleibt. Diese
stark empfindlichen Abschnitte nun fallen für die beiden Qualitäten nur
zum geringen Theile zusammen; vorwiegend vielmehr sind sie getrennt,
liegen von der Lücke aus gesehen nach verschiedenen Richtungen. Hin
und wieder findet sich auch eine solche Lücke ganz von stark empfindlichen
Feldern einer Qualität, namentlich des Kältesinnes, umgeben. Wir finden
in diesem gewissermaassen complementären Verhältniss Das bestätigt, was
früher über das Zusammentreten von Kältepunktketten mit Wärmepunkt-
ketten zu rundlichen Figuren, welche leere Räume umschliessen, gesagt
54 ALFRED GOLDSCHEIDER.
war. Diese sich ergänzenden temperaturempfindlichen Ringe entsprechen
also den in einanderlaufenden Punktketten.
Betrachtetet man diese topographischen Bilder, ohne sich der Anoril-
nung der Punkte zu erinnern, so kann man noch auf eine andere Ver-
muthung geführt werden. Diese Lücken nämlich mit den sie umgebenden,
sich ergänzenden Ringen machen den Eindruck, als ob die Lücke dem
Eintritt eines Nervenstammes in die Haut entspricht, dessen Fasern nun
nach allen Richtungen des Umkreises auseinandertreten und zwar derartig,
dass die Kältefasern und Wärmefasern nach verschiedenen Richtungen
divergiren, — etwa wie die Fasern des Sehnerven von der Papille aus. Ich
selbst habe in meiner ersten Publication über diesen Gegenstand gelegent-
lich der Anordnung der Punkte eine solche Anschauung vertreten und
gemeint, dass der Typus der Anordnung ein areolärer sei, indem von dem
centralwärts gelegenen Nervenstämmchen aus die Fasern, wie ein platt-
sedrückter Pinsel, nach der Peripherie ausstrahlten. Diese Anschauung
ist jedoch unrichtie; die rundlichen Figuren stellen keine Einheit dar,
sondern gehören verschiedenen Ausstrahlungsrayons an. Nimmt man von
solchen Stellen des topographischen Bildes, welche den netzhauthaltigen
Bau vortäuschen, die einzelnen Temperaturpunkte auf, so zeigt sich, dass
die letzteren nicht etwa von der Lücke aus divergiren, sondern eben von
den bestimmten Ausstrahlungscentren in der früher beschriebenen Weise.
Dennoch scheint es, als ob einzelnen von den Lücken doch diese
Bedeutung zukomme, dass sie nämlich den Eintritt von Nervenstäm-
men bezeichnen. Nicht nur, dass sich zuweilen bei den Punktbildern
Ausstrahlungscentren finden, welche selbst keine Punkte enthalten, sondern
es zeigen auch manche anästhetischen Lücken der topographischen Auf-
nahme, wenn man das Punktbild damit vergleicht, eine Divergenz der
Punktketten von der Lücke aus.
Es scheinen nach dieser Darlegung demnach die in die Temperatur-
sinnesfläche eingestreuten Lücken eine dreifach verschiedene Bedeutung
zu haben. Die Mehrzahl sind als eigentliche Lücken der Sinnesfläche
nicht zu bezeichnen, denn sie entsprechen den regulären rundlichen Inter-
stitien zwischen den Punktketten, welche durch die Anordnung der End-
organe naturgemäss bedingt sind; sie imponiren uns nur insofern als Lücken,
als wir gewöhnt sind, die unberechtigte Anforderung zu stellen, dass die
Haut in ihrer ganzen Fläche temperaturempfindlich sein soll. Ein Theil
aber sind wirkliche Lücken in der Sinnesfläche; von diesen entspricht
wieder eine Anzahl den Eintrittsstellen grösserer Temperaturnervenstämme
in die Haut, während ein anderer Theil durch die Interstitien zwischen
verschiedenen Innervationsgebieten bedingt ist.
Da der Anordnungstypus der Temperaturpunkte überall derselbe ist
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 55
und die Häufigkeit der Punkte sich nicht immer mit ihrer Empfindlichkeit
deekt, — wie schon hervorgehoben wurde —, so folgt daraus, dass für
das topographische Studium des Temperatursinns am ganzen Körper die
Prüfung desselben mittelst kleiner Reizflächen genügend ist und die Auf-
nahme der Punkte von jedem Körpertheile entbehrt werden kann. Ja,
wir würden mittelst Punktbilder, welchen doch aus oben erörterten Grün-
den gewisse räumliche Grenzen gesetzt sind, nicht einmal eine richtige
Vorstellung über die topographische Verbreitung des Temperatursinns be-
kommen. Es zeigt sich nämlich bei der Untersuchung mit kleinen und
grösseren Reizflächen, dass auch innerhalb einer Körperregion topographische
Unterschiede in grossem Maassstabe vorhanden sind, noch weit ausgedehn-
terer Art, als eben erörtert wurde. Die Ausbildung des Temperatursinnes
ist nämlich überall abhängig von dem localen Nervenreichthum. Man
kanı fast überall constatiren, dass dort, wo die bekannten, anatomisch be-
nannten Hautnerven in die Haut eintreten und sich in derselben zu ver-
breiten beginnen, eine lebhaftere Entwickelung des Temperatursinnes Platz
greift und nach den Grenzen ihrer Verbreitungsbezirke hin abnimmt, um
in den Interstitien zwischen den verschiedenen Innervationsterritorien einer
fast völligen Temperaturanaesthesie zu weichen. Es kann deshalb von
einem und demselben Körpertheile ein herausgegriffener, selbst grösserer
Bezirk sehr wenige, ein anderer sehr viele Temperaturpunkte zeigen —
namentlich bei Wärmepunkten ist dies sogar etwas sehr Gewöhnliches. Es
ist deshalb für topographische Untersuchungen durchaus nothwendig, nicht
einfach bloss die Körpertheile, sondern die Innervationsterritorien der Be-
trachtung zu unterziehen — ein Umstand, der mir bis jetzt nicht genügend
beachtet worden zu sein scheint und auf den ich übrigens noch zurück-
kommen werde. Es empfiehlt sich überhaupt, wenn man Temperaturpunkte,
sleichviel zu welchem Zweck, aufsuchen will, vorerst durch Flächenreize
möglichst empfindliche Partien auszuwählen, und es möchte dieser Wink
speciell für den Fall, dass die Untersuchung der Temperaturpunkte eine
klinische Verwerthung gewänne, beachtenswerth sein.
Wenn man das topographische Verhalten der Temperaturpunkte in
der Weise prüft, dass man Flächenaufnahmen herstellt und von markanten
Partien derselben nun Punktbilder aufnimmt, so ergeben sich dabei gewisse
topographische Verschiedenheiten, welche folgendermaassen zusammengefasst
werden können: Die Kältepunkte stehen an den Kälte empfindlicheren
Körperstellen im Grossen und Ganzen auch dichter, in den empfindlichsten
am dichtesten. An letzteren finden sich nicht selten derartig dichte Gruppen
von Kältepunkten, dass es mittelst des adäquaten Reizes unmöglich er-
scheint, dieselben von einander zu sondern, auch wenn man mit der Loupe
arbeitet. Jeder Punkt eines solchen Flächenstückes erscheint in gleichem
56 ALFRED GOLDSCHEIDER:
Maasse kälteempfindlich. In diesen Anhäufungen ist auch demgemäss ein
Ausstrahlungstypus nicht zu erkennen. An den schwach Kälte empfind-
lichen Körpertheilen sind auch sehr wenig Kältepunkte vorhanden, und es
giebt grosse Gebiete, wo sich nur an den Haaren Kältepunkte finden. Dies
ist das Gegenstück zu dem vorigen in Bezug auf den Ausstrahlungstypus,
welcher sich hier auf die centralen Punkte redueirt hat.
In gleicher Weise zeigen sich auch die Wärmepunkte an den Wärme
empfindlichsten Theilen am dichtesten, während sie sich an den schwach
Wärme empfindlichen auf die Haarpunkte redueiren und oft auf grossen
Strecken nur in dieser Vertheilung zu finden sind. Jedoch stehen die
Wärmepunkte nie in unauflösbar dichten Gruppen, sie erreichen nie auch
nur annähernd eine derartige Dichtigkeit, wie sie bei Kältepunkten etwas
sehr Gewöhnliches ist. — Ausser in ihrer Häufigkeit unterliegen die Tem-
peraturpunkte wesentlichen topographischen Verschiedenheiten in Bezug auf
ihre Reizbarkeit und auf die Intensität ihrer Empfindung —
Dinge, welche, wie wir gesehen haben, Hand in Hand gehen. An den
Kälte empfindlichsten Theilen sind demnach die Kältepunkte nicht blos im
Allgemeinen dichter, sondern in der Mehrzahl von viel grösserer Intensität
der Empfindung. Es giebt Körpertheile, wo diese so gesteigert ist, dass
die Reizung eines einzelnen Kältepunktes mit dem blosen Messingeylinder
ein höchst unangenehm kaltes Gefühl erzeugt. Als den stärksten Grad der
Kälteempfindlichkeit möchte ich übrigens denjenigen bezeichnen, wo das
Kältegefühl einen brennenden Charakter hat; daran reihen sich dann
die Hautstellen, wo, auch bei einfachem Metallreiz, ein nasskaltes Ge-
fühl entsteht; das einfach kalte Gefühl entspricht schon einer viel gerin-
geren Empfindlichkeit.
Die Dichtigkeitsverhältnisse der Temperaturpunkte zeigen übrigens,
dass bei der allbekannten so verschiedenen Temperaturempfindlichkeit der
verschiedenen Körpertheile nicht lediglich ihre Gewöhnung in Betracht
kommt — wie dies meist angenommen zu werden pflegt —, sondern dass
diese Verschiedenheiten durch den Nervenapparat anatomisch begründet
sind. Sehr auffallend ist die Abnahme der Temperaturpunkte, sowohl nach
Zahl wie nach Intensität, an denjenigen Hautstellen, welche vorzugsweise
dem Tastsinn dienen, wie besonders den Fingerbeeren (vgl. Abbildung), den
Hohlhandwülsten an den Metacarpo-Phalangealgelenken, dem Daumen- und
Kleinfingerballen. Die Abbildungen 5—12 zeigen das Verhalten der Tem-
peraturpunkte an verschiedenen Körperregionen.
Auf den durch kleine Reizflächen gewonnenen topographischen Auf-
nahmen sind in nächster Nachbarschaft die verschiedensten Abstufungen
der Temperaturempfindlichkeit neben einander geordnet. Dieselbe Wärme-
quelle wird dicht bei einander verschieden warın, dieselbe Kältequelle ver-
\
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 57
schieden kalt gefühlt. Man muss sich angesichts dieser Verhältnisse fragen,
wie es überhaupt möglich sei, ein bestimmtes Urtheil über den T’emperätur-
grad eines Objects zu bekommen. Denn es erscheint wohl als möglich,
sich auf die Empfindlichkeit verschiedener Körperregionen empirisch einzu-
üben, aber als unmöglich, die Empfindlichkeit jedes kleinsten Bezirkes dem
Gedächtniss einzuverleiben. Es ist wohl in diesem Umstande der Grund
‚dafür zu suchen, dass wir zur Messung von Temperaturen eine grössere
Fläche zu benutzen pflegen. Wird ein grösseres Gebiet annähernd gleich-
zeitig von demselben Temperaturreiz getroffen, so kommt die Summe aller
dort producirten Temperaturempfindungen zum Bewusstsein, d. h. die Summe
aller dort befindlichen intensiveren Kälte- oder Wärmefelder, während die
schwachen ‘Stellen nicht in Betracht kommen und die unempfindlichen
nicht stören. Da nun die topographischen Aufnahmen überall eine ähn-
liche Veranlagung des Temperatursinnes, überall einen ähnlichen Wechsel
von starken, schwachen und unempfindlichen Feldern zeigen, so müsste es
bei einem grossen Flächenreiz ganz gleichgültig sein, welche Körperregion
er trifft. Hierüber giebt nun der Umstand Aufklärung, dass sich an den
verschiedenen Körpertheilen die Empfindungsintensität der Temperaturpunkte
selbst in grossem Maassstabe verschieden verhält. Demgemäss sind auch
die topographischen Aufnahmen mit kleinen Reizflächen nur auf die Empfind-
liehkeitsscala der betreffenden Hautregion berechnet und hergestellt, nicht
auf die Scala des ganzen Körpers. Ein Feld, welches am Vorderarn als
ein intensivstes Kältefeld bezeichnet wird, würde nicht auch am Ober-
schenkel denselben Rang einnehmen; eine Stelle, die am Vorderarm als
ein intensivstes Wärmefeld imponirt, würde am Unterleib nicht als solches
gelten können. Man wird es hiernach als nothwendig anerkennen, die-
jenige Temperaturempfindlichkeit, welche eine beliebige Hautstelle im Ver-
gleich zu den nächstbenachbarten besitzt, zu unterscheiden von derjenigen,
welche einem Organtheil, einem mehr oder minder ausgedehnten, aber
anatomisch irgendwie bestimmten Hautbezirke als gemeinsamer Charakter
anhaftet, und ich halte es für zweckmässig, jene als die locale, diese als
die regionäre Temperaturempfindlichkeit zu bezeichnen. Die Unterschiede
der localen Empfindlichkeit demgemäss werden durch die Grösse der Fläche
überbrückt, selbst aber ist der Flächenreiz und demgemäss die Flächen-
empfindung den Unterschieden der regionären Empfindlichkeit unter-
worfen. |
Die Dicke der leitenden Epidermis wurde bisher noch nicht in Betracht
gezogen. E. H. Weber hat ihr für die Temperaturempfindlichkeit eine
grosse Bedeutung beigemessen.! Er führt z. B. an, dass beim Eintauchen
ı E. H. Weber, Der Tastsinn und das Gemeingefühl. S. 552.
58 ÄLFRED GOLDSCHEIDER:
der Hand in kaltes Wasser zuerst am Handrücken Kälteempfindung ein-
trete, dann, während diese nachlasse, nach 8 Secunden an der Volarfläche
der Hand ein wachsendes Kältegefühl sich einstellt. Diese Erscheinung,
welche ich bestätigen kann, möchte ich ebenfalls auf die Diekenunterschiede
der Epidermis beziehen, wobei ich bezüglich des Nachlassens der Kälte-
empfindung am Handrücken noch besonders den Umstand hervorheben
möchte, dass an den mit dünnerer Epidermis versehenen Stellen schneller
eine Abkühlung der Nerven selbst und damit eine Herabsetzung der Er-
reebarkeit eintreten werde. Jedoch dürfte die Dicke der Epidermis im All-
gemeinen nicht von zu grossem Einflusse sein. Weber selbst macht schon
auf die an eng benachbarten Stellen oft sehr verschiedene Temperatur-
empfindlichkeit aufmerksam. Die oben dargestellten Verschiedenheiten der
localen Temperaturempfindlichkeit lassen sich offenbar nicht durch den
Leitungswiderstand erklären. Die Wirkung des grösseren Leitungswider-
standes wird hauptsächlich — besonders bei Anwendung von Metall für
den Kältereiz — darin bestehen, dass die Temperaturempfindung später
eintritt. Ferner deuten die verschiedene Häufigkeit der Temperaturpunkte
und die unzweifelhafte Localisation- des intensivsten Temperaturgefühles an
den Endausbreitungen der Nervenstämme darauf hin, dass das Haupt-
moment in der Innervation zu suchen ist, und zwar nicht blos für die
locale, sondern auch für die regionäre Temperaturempfindlichkeit. Zudem
entsprachen die regionären Diekenunterschiede der Epidermis nicht überall
denjenigen der Temperaturempfindlichkeit.e An den Augenlidern zwar,
welche sich durch Temperaturempfindlichkeit auszeichnen, ist die Epidermis
sehr dünn, allein ebenso am Penis, wo die Temperaturempfindlichkeit sehr
gering ist. Am Rücken ist sie dicker als an der Vorderseite des Kumpfes,
an der Streckseite der Glieder dicker als an der Beugefläche — Unter-
schiede, welche für die Temperaturempfindlichkeit im Allgemeinen nicht
ebenso vorhanden sind.
Bezüglich der Frage, ob die Temperaturempfindlichkeit sich auf beiden
Körperhälften topographisch eleich verhalte, habe ich mehrfach topogra-
phische Aufnahmen gleichliesender Bezirke beider Hälften gemacht. Es
hat sich dabei ergeben, dass die Bilder auf beiden Seiten verschieden aus-
sehen. Hin und wieder scheint es, als ob eine Art von complementärem
Verhalten bestände, als ob den Lücken der einen Seite Intensitätsfelder der
anderen Seite entsprechen. An anderen Stellen jedoch ist dies wieder nicht
der Fall, so dass eine derartige Regel entschieden nicht aufgestellt werden
kann, diese Vorkommnisse vielmehr als Zufälligkeiten zu deuten sind, wie
sie bei dem doch überall ähnlichen Anordnungstypus der Punkte nicht
Wunder nehmen können. Es scheint jedoch, dass, wenn auch die Ver-
theilung der Nervenfasern beiderseits eine verschiedene, so doch die Summe
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 59
ungefähr gleich ist und «dass-ebenso das Verhältniss von Kälte- zu Wärme-
nerven auf beiden Seiten ein etwa entsprechendes ist. Auf einzelne beson-
dere Differenzen werden wir noch zurückkommen. Es ist auch dem ent-
‚sprechend im Allgemeinen die regionäre Empfindlichkeit beiderseits gleich.
In Uebereinstimmung hiermit steht es, dass auch die Punktbilder entspre-
‚ ehender begrenzter Stellen beider Seiten nicht übereinstimmen; es wurden
zu den vergleichenden Untersuchungen der Punkte die Rückenfläche der
Nagelphalanx, der Fingergelenke und ähnliche genau bestimmbare Stellen
_ benutzt.
| Zur Untersuchung der regionären Empfindlichkeit wählt man besser
eine grössere Fläche, als sie zur Untersuchung der localen verwendet
wurde. Ich habe die Grundfläche eines Oylinders benutzt, welcher 1 ©" Dieken-
durchmesser hat. Diese Reizfläche wird, indem man den Cylinder sanft
' aufsetzt und nach dem Abheben fortschreitend immer neben die alte Stelle
‚setzt, über die betreffende Region hinbewegt.
Es kommt dabei für die Beurtheilung der Temperaturempfindlichkeit
‚sehr zu Statten, wenn man dieselbe jederzeit mit bestimmten fixen Wer-
then vergleichen kann. Als solche präsentirt sich naturgemäss die Tem-
' peraturempfindlichkeit derjenigen Körperstellen, welche das Maximum von
‚ Temperaturempfindlichkeit am ganzen Körper besitzen. Wir werden dem-
nach eine Kälteempfindune vergleichen mit derjenigen Kälteempfindung,
welche uns auf denselben Reiz hin einer der Kälte empfindlichsten Theile
/ des ganzen Körpers giebt, und entsprechend eine Wärmeempfindung. Wir
, werden dadurch in die Lage gesetzt, einer jeden Region eine ungefähre
‚Stelle in Bezug auf ihren Temperatursinn zuzuweisen. Nebenbei hat dies
Verfahren den Vortheil, dass sich der Umstand des Nichteonstantbleibens
‚ des Temperaturreizes weniger störend geltend macht. Eine eigentliche Scala
' der regionären Temperaturempfindlichkeit aufzustellen, erscheint mir nicht
durchführbar, weil die Verhältnisse auch innerhalb der anatomisch be-
‚ stimmten Körperabschnitte zu mannisfaltis sind. Eher wäre es möglich
\ eine solche Scala zu construiren, wenn man sich lediglich an die Inner-
, vationsterritorien hielte; man würde dann ohne Zweifel’nachweisen können,
‚ dass gewisse Hautnervenstämme mehr Temperaturnerven führen als gewisse
‚ andere. Es sei hier nur bemerkt, dass sich mir als die Temperatur empfind-
‚ lichsten Theile Brustwarze und Augenlid und am wenigsten Temperatur
' empfindlich die Kopfhaut erwiesen haben.
Jedoch möchte es von einigem Interesse sein, eine kurze Notiz darüber
zu geben, welche Entwickelung der Temperatursinnesapparat in den ein-
zelnen Körperresionen gefunden hat, namentlich mit Rücksicht auf das
gegenseitige Verhältniss von Kälte- zu Wärmesinn. Die im Folgenden ge-
machten Angaben sind der Untersuchung am eigenen Körper entnommen
60
ALFRED GOLDSCHEIDER:
und die von besonderer Wichtigkeit erscheinenden bei anderen Personen
verglichen worden.
Kältesinn. Wärmesinn.
Kopfhaut. Im Ganzen wenig entwickelt. Ueberhaupt nur an wenigen ı
Mässig in den Gebieten des N. fron- | Stellen und zwar den Gebieten der
talis, Auriculo-Temporalis, Ocei- | nebenstehenden Nerven vorhanden,
pitalis major.
Stirn. Intensiv, besonders an den seit- Mässig, an den seitlichen Partien
lichen Partien. besser.
Augenlider. Sehr intensiv. Sehr intensiv.
Wange. In ihrem mittleren Theil mässig. Im Allgemeinen wie Kältesinn. .
Nach dem Unterkiefer und dem | Mitte der Wange mässig; nach
Ohr zu ziemlich intensiv, ebenso | hinten, unten und dem Mundwinkel
in der Fossa canina, nach dem | zu stärker, noch mehr nach dem
Mundwinkel und dem Auge zu. Auge zu und in der Fossa canina,
Jochbogen (beimir)rechtsschwach, Auch die Wärmeempfindlichkeit
links mässig. Ebenso ist der mitt- | ist (bei mir) in der Wangenmitte
| lere Wangentheil (bei mir) rechts | und am Jochbogen linkerseits stär-
schwächer als links. ker als rechts.
Schläfe. Ziemlich intensiv, oberer Theil Rechterseits (bei mir) untere
| mehr wie unterer. Behaarte Schläfe | Hälfte mässig, obere stark wärme-
mässig. empfindlich.
Linkerseits die untere Hälfte
stärker als die entsprechenderechts,
obere Hälfte jedoch schwächer.
[ I
Nase. Ziemlich imtensiv,aberschwächer | Nasenrücken-und Flügelschwach,
als die angrenzenden Partien. | jedoch der linke Flügel stärker als
Mittellinie am schwächsten. Beide | der rechte. Der abfallende Theil
Nasenflügel gleichmässig. des Nasenrückens intensiv.
Ohrmuschel. Sehr mässig, nach dem Gehör- Im Allgemeinen schwach. Hin-
gang zu intensiv. tere Fläche des Ohrläppchens und
oberer Theil der kahnförmigen
Haube stärker. Ebenso nach dem
Gehörgang zu.
Lippe. Rother Lippensaum mässig, üb- Rother Lippensaum schwach.
rige Lippenhaut stark. Haut der Unterlippe mässig.
Haut der Oberlippe schwächer.
Kinn. Ziemlich intensiv, nach den Mund- Mässig, nach den Mundwinkeln
winkeln zu noch stärker. zu intensiv.
Hals. Vorn in der Mittellinie schwach, Ebenso wie Kältesinn.
seitlich mässig, nach hinten zu
intensiver.
Brust. Sternum mässig. Sonst meist Sternum schwach. Mamillar-
intensiv. Mamillargegend sehr in- | gegend sehrintensiv. Sonst mässig,
tensiv. schwächer als am Bauch.
I
r
| E Bauch. |
]
I ——
Rücken.
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN.
Kältesinn.
Sehr intensiv, besonders nach
den Leistengegenden zu. Umbilical-
gegend schwächer.
Ueberall sehr intensiv. HFossa
supraspinata schwächer. Mittlerer,
dem Rückgrat entsprechender Theil
ebenfalls schwächer.
Ziemlich intensiv, medianwärts
61
Wärmesinn.
Ebenso wie Kältesinn. Umbili-
calgegend nahezu anaestethisch.
Grösstentheils ziemlich intensiv.
Dem hückgrat entsprechend
schwächer.
Ebenso wie Kältesinn.
Kniescheibe.
|
|
Gesäss.
am stärksten.
Oberarm. Sehr intensiv, Achselhöhle nur Mässig, an manchen Gebieten
mässig. intensiv, relativ am stärksten an
der äusseren Fläche. Achselhöhle
schwach.
Unterarm. In der Nähe des Ellbogengelenks In der Nähe des Ellbogens ziem-
sehr intensiv, nach der Hand zu | lich intensiv; ebenfalls nach der
abnehmend. Haut über dem Ole- | Hand zu abnehmend. Beuge- und
eranon fast anaesthetisch. Streckfläche schwächer als Radial-
und Ulnarfläche. Haut über dem
Oleeranon anaesthetisch.
Hand. Am Handrücken die hintere In allen Stücken entsprechend
Hälfte bedeutend schwächer als | dem Kältesinn.
die vordere, und zwar am Radial-
und Ulnarrande wieder etwas stär-
ker als in der rein dorsalen Fläche.
In der vorderen Hälfte in den
Spatiis interosseis intensiver als
auf den Knochen. Fingerrücken
schwächer als Handrücken, die
Kälteempfindlichkeit nimmt nach
dem Nagelglied zu progressiv ab.
Dorsalläche der Gelenke sehr
schwach.
Handteller mässig, sonst fast
überall an der Volarflächeschwach.
Daumenballen stärker als Klein-
fingerballen. Volarfläche der Na-
gelglieder am schwächsten, II.
Phalanx stärker, I. Phalanx zu-
weilen wieder schwächer; in der
Regel ist die Volarfläche der
Phalangen centralwärts empfind-
licher als nach der Peripherie.
ı Oberschenkel. Vordere und innere Fläche sehr Vordere und innere Fläche
intensiv, bis auf die Interstitien | streckenweise mässig, meist
zwischen den Nerventerritorien. | schwach. Aeussere und hintere
Aeussere und hintere Flächemässig, | Fläche schwächer, besonders äusse-
äussere jedoch nach der Hüfte zu re. An der hinteren Seite verein-
intensiv. zelte mässige Felder.
Mässig. Fast anaesthetisch.
62 ALFRED GOLDSCHEIDER:
TEE |
Kältesinn. Wärmesinn.
Unterschenkel. Im Allgemeinen intensiv. An Im Allgemeinen schwach. Ein-
der Wade etwas stärker als an | zelne mässige Partien, besonde
der vorderen und äusseren Fläche | nach oben zu. Merkbarer Unter-
schied zwischen Wade und ande-
ren Flächen nicht vorhanden.
Fuss. Fussrücken im mittleren Theil Mittlerer Theil schwach, nach
mässig, jedoch nach dem äusseren | vorn und rach dem Fussgelenk zu
und inneren Fussrande zu stärker. | etwas stärker, ebenso an äusseren
Nach dem Fussgelenk zu intensiv; | Fussrande.
ebenso nach den Zehen zu, und
zwar besonders in den Spatiis
interosseis. An der Rückentläche 1
des Nagel-und Mittelgliedes mässige Zehen schwach, mit demselben
Empfindlichkeit, erstes Glied stär- | Unterschiede wie beim Kältesinn,
ker. Grosse Zehe schwächer als
die vier anderen.
Sohlenfläche ziemlich intensiv, Mittlerer Theil der Sohlenfläche
besonders nach dem inneren Fuss- | mässig, sonst ebenso wie beim
rande zu. Vorderer Theil und | Kältesinn.
Ferse schwach. An der Plantar-
fläche der Zehen schwach, erstes
Glied stärker als Mittel-und Nagel-
glied.
Schleim-
häute. Auge.
Der Kältesinn dehnt sich an der
äusseren Fläche der Augenlider bis
an die Cilien aus, am stärksten
am äusseren und inneren Winkel,
sowie an der Caruneula lacrimalis.
Mit dem Beginne der Conjunctiva
hört er auf.
Ehenso wie beim Kältesinn.
Nasenhöhle.
An der Nasenscheidewand geht
die Kälteempfindlichkeit 1-3emhoch
(bei mir); vorn 1:Oem hoch. Auf
den anderen Seiten scheint sie mit
Beginn der Schleimhaut aufzuhören.
Nur an der äusseren Fläche vor-
handen.
——e
Mundhöhle.
Unterlippe.
Oberlippe.
Unteres Zahn-
fleisch.
Innere Fläche der Unterlippe
kälteempfindlich bis auf die mitt-
lere Partie, am stärksten nach den
Mundwinkeln zu. An der Um-
schlagsstelle gegen das Zahnfleisch
hört der Kältesinn auf.
Stärker kälteempfindlich als Un-
terlippe.
Nuran den zwischen den Zähnen
befindlichen Dreiecken vorhanden.
Am linken ersten Backenzahn und
rechten Augenzahn auch der un-
tere Theil des Zahnfleisches kälte-
empfindlich. Die hintere Fläche
desZahnfleisches ebenfalls nach dem
oberen Rande zu kälteempfindlich.
Nnr nach den Mundwinkeln zu,
jedoch äusserstschwach, entwickelt
Ebenso wie Unterlippe.
Keine Wärmeem Bänden z vor
handen.
|
|
‚noch die erstere an Ausdehnung und Stärke übertrifft.
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 63
Kältesinn. Wärmesinn.
Oberes Zahn- Nicht kälteempfindlich, bis auf Keine Wärmeempfindliehkeit vor-
fleisch. den dem beiderseitigen Augenzahn | handen.
entsprechenden Theil des Zahn-
fleisches. Hintere Fläche kälte-
empfindlich.
Backen- Kälteempfindlichkeit vorhanden, Sehr schwach entwickelter Wär-
N oonbant, welche nach hinten zu abnimmt. | mesinn.
' Boden der Sehr schwach entwickelter Kälte- Keine Wärmeempfindlichkeit vor-
Mundhöhle. sinn, handen.
Zunge. Untere Fläche und besonders Aeusserst schwach und undeut-
Spitze stark. Rückenfläche lich.
schwächer, nach hinten zu wieder
etwas zunehmend.
Gaumen. Mitte mässig, nach beiden Seiten | Wärmeempfindlichkeit nicht vor-
ziemlich intensiv. Nach hinten zu | handen.
schwächer; schliesslich kommt ein |
unbestimmtes Gefühl zu Stande.
Zu einer allgemein gültigen Feststellung der Temperatursinns-Topo-
- graphie würde eine viel grössere Anzahl vergleichender Prüfungen an
anderen Personen nothwendig sein. Jedoch habe ich die hauptsächlichsten
_ Unterschiede bis jetzt überall bestätigt gefunden. Die von mir angestellten
' Prüfungen genügen aber vollständig, um einigen allgemeinen Sätzen als
Schlussfolgerungen Raum zu geben.
Es hat sich nämlich zunächst ergeben — was früher schon angedeutet
wurde —, dass der Wärmesinn überall intensiv und extensiv ge-
Es giebt keine Region, wo
Dies Verhält-
Je höher
rtinger angelegt ist als der Kältesinn.
der Wärmesinn stärker entwickelt wäre als der Kältesinn.
niss gilt sowohl für bekleidete wie für unbekleidete Hauttheile.
‚in einer Resion die Wärmeempfindlichkeit entwickelt ist, desto höher auch
die Kälteempfindlichkeit, und zwar in dem Sinne, dass letztere dabei immer
Jedoch gilt dieser
' Satz nicht auch umgekehrt, denn es giebt Regionen, wo die Kälteempfind-
‚liehkeit eine ziemlich ausgebildete ist, während die Wärmeempfindlichkeit
‚ sehr schwach ist oder ganz fehlt. Bei einem mässig entwickelten Wärme-
sinn wird man schon immer einen ziemlich starken Kältesinn, bei einem
stark entwickelten Wärmesinn einen höchst intensiven Kältesinn finden.
Wenn wir nun fragen, wodurch die regionären Unterschiede der Tem-
_ peraturempfindlichkeit bedingt seien, so deuten die Erscheinungen darauf,
' dass hierbei das wesentlichste Moment der unmittelbare Nervenreichthum
"selbst, die Innervation mit Kältenerven und Wärmenerven, ist.
‚ Dies wird nämlich dadurch bewiesen, dass — wie bereits kurz angedeutet
‚ worden ist — überall die räumliche Ausbreitung sowohl, wie die Abstu-
64 ALFRED GOLDSCHEIDER:
fungen der Intensität der Temperaturempfindlichkeit innerhalb einer Körper-
region in directer Abhängigkeit sich zeigt von der anatomischen Verbrei-
tung der Hautnerven. Im. Kleinen sehen wir dies an den Verhältnissen
des Hand- und Fussrückens. Diejenigen Theile der Hautfläche, welche den
Zwischenknochenräumen entsprechen, sind hier sowohl wie da ungleich
empfindlicher gegen Kälte- und Wärmereize als die den Phalangen ent-
sprechenden Theile; es dürfte aber kaum ein Zweifel sein, dass die erst-
genannten Hautabschnitte reicher an sensiblen Nerven sind als letztere.
Dasselbe kann man an der Brust nachweisen, wo die über der Mittellinie
der Rippen gelegenen Hauttheile deutlich an Temperaturempfindlichkeit
hinter den angrenzenden Intercostalräumen zurückstehen. So zeigt die
Haut über dem Olecranon, über dem Processus styloideus radü, über dem
äusseren und inneren Malleolus eine bedeutend geringere Temperatur-
empfindlichkeit als die nächste Umgebung, welche an Gefässen und Nerven
reicher ist als die dicht auf den Knochen lagernden Theile. Aber auch m
grossem Maassstabe lässt sich der behauptete Zusammenhang erweisen.
Vortrefflich zeiet ihn die Haut der Kopfschwarte, wo das Temperaturgefühl
genau an die Endausbreitungen des N. auriculo-temporalis, N. frontalis und
N. oceipitalis major sich hält. Wenn man mit einem flächenhaften Tem-
peraturreiz, etwa der Grundfläche des Messingeylinders, die Kopfhaut ab-
schreitet, wird man sich mit Leichtigkeit hiervon überzeugen. Ich habe
sowohl Leute mit starkem Haarwuchs wie Kahlköpfige hierauf geprüft und
bei beiden Kategorien dasselbe gefunden. Ganz besonders deutlich geht
dies Verhältniss hervor, wenn man Wärmereize anwendet, weil der extensiv
beschränktere Wärmesinn eine schärfere Sonderung der anatomischen
Rayons gestattet als der Kältesinn. — Im Gesicht ist die markanteste
Partie für den Temperatursinn, namentlich den Wärmesinn, diejenige
Gegend, welche die reiche Endverästelung des N. infraorbitalis, den soge-
nannten Pes anserinus minor, in sich aufnimmt. — Auch am Halse kann
man die Beziehungen des Temperatursinns, namentlich des Wärmesinns,
zu den Territorien der Hautnerven erweisen. An der Brust ist das Zuneh-
men der Kälte- und Wärmeempfindlichkeit an den Eintrittsstellen der Nn.
cutanei pectoris anteriores sehr deutlich. — An der vorderen Fläche des
Oberschenkels grenzen sich die Gebiete des N. cutaneus femor. ant. ext.,
des N. cutan. femor. med., des N. cutan. femor. int. und auch des N. ileo-
inguinalis bei Prüfung mit flächenhaften Temperaturreizen von einander
ab.! — Am Unterschenkel sind die zwischen den Bezirken des N. cutan.
femor. poster., N. cutan. surae. int., ext., medius, N. suralis und N. saphen.
major befindlichen Innervationslücken für den Temperatursinn genau nach-
2 Veersl. Tarav, Bic-alau22:
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 65
weisbar. — Am Fussrücken ist der mittlere Theil, wo die Nervenstämme
verlaufen, am wenigsten temperaturempfindlich, während nach vorn, wo die
Eindausbreitung dieser Stämme beginnt, sowie nach dem Gelenk zu, wohin die
Endigungen des N. saphenus maj., des N. cutan. surae ext. et med. noch
reichen, die Empfindlichkeit eine beträchtliche ist. — Auch am Vorder-
arm endlich kann man die Nerventerritorien als temperaturempfindliche
"Gebiete mit genügender Deutlichkeit von einander sondern.
Die Abhängiekeit des Temperatursinnes von den anatomischen Ver-
breitungsbezirken der sensiblen Nerven erklärt es auch, dass derselbe in
der vorderen und hinteren Commissur des Körpers besonders gering aus-
gebildet ist. E. H. Weber hat auf diese Erscheinung zuerst aufmerksam
gemacht, ohne sie zu erklären. Er sagt:! „Die Haut der mittleren, beide
Seitenhälften scheidenden Ebene des Gesichts, der Brust, des Bauches und
des Rückens ist mit einer geringeren Empfindlichkeit für Temperaturver-
änderungen ausgestattet als die Theile, welche mehr seitwärts liegen.“ Es
liest ja nun in der Natur der Sache und wird durch die anatomischen
Verhältnisse durchaus bestätigt, dass das bilateral angelegte Nervensystem
- gerade die Region der Commissuren am stiefmütterlichsten versorgt.
Wie sich im Kleinsten gezeigt hat, dass nur der Punkt der Haut
temperaturempfindlich ist, welcher eine Endigung eines Temperaturnerven
enthält, so hat es sich auch jetzt im Grossen erwiesen, dass nur dort
Temperaturreize wahrgenommen werden, wo ‘sich ein Temperaturnerven
führender sensibler Nervenstamm in der Haut ausbreitet. — Man kann
dabei an manchen Nerventerritorien auch sehr deutlich die Wahrnehmung
machen, dass die räumliche Ausdehnung eines solchen verschiedene Ab-
stufungen der Ausbildung des Temperatursinns zeigt und dass speciell nach
den Grenzen desselben eine Abnahme der Temperaturempfindlichkeit her-
vortritt. Das Verhältniss des Wärmesinns zum Kältesinn nun ist in den
einzelnen. Nerventerritorien ein entsprechendes wie am ganzen Körper über-
haupt, insofern derselbe niemals eine dem Kältesinn gleiche räumliche Aus-
dehnung zeigt. Die kälteempfindlichen Fasern eines Nervenstammes_ be-
decken stets einen grösseren Flächenraum als die wärmeempfindlichen.
Wie sollte man dies anders erklären, als dass die letzteren in erheblich
geringerer Anzahl überhaupt vorhanden sind?
Ich kann mir bei dieser Gelegenheit die Bemerkung nicht ersparen,
dass dieses Handinhandgehen des Temperatursinns mit der Nervenanatomie,
verbunden ausserdem mit dem Nachweis des gesonderten Kälte- und
Wärmesinns, wohl auch der Aufmerksamkeit der Neuropathologen werth
sein möchte und der klinischen Prüfung des Temperatursinns mehr Exact-
ı Der Tastsinn und das Gemeingefühl. S. 555.
Archiv f. A. u. Ph. 1885. Physiol. Abthlg. Suppl.-Bd. 5
66 ALFRED (GOLDSCHEIDER:
heit verleihen und dadurch zugleich mehr Liebe erwecken dürfte, als sie
bisher besessen hat.
Was kann nun, nachdem die Verhältnisse innerhalb einer Region
auseinandergesetzt sind, näher liegen, als die Annahme, dass auch die regio-
nären Unterschiede der Temperaturempfindlichkeit in der Hauptsache auf
der verschiedenen Menge der Temperaturnerven beruhen? Es erfährt diese
Annahme eine bedeutende Stütze dadurch, dass an den temperaturempfind-
lichen Regionen sich auch mehr Temperaturpunkte, d. h. Temperaturnerven-
endigungen finden — sowie die auf unsere topographischen Beobachtungen
hin aufgestellte Behauptung, dass es in jedem Bezirk weniger Wärme- als
Kältenerven gebe, darin ihre Stütze findet, dass es in der That im All-
semeinen fast überall weniger Wärme- als Kältepunkte giebt.
Es scheint aus dem Verhältniss zur topographischen Schmerzempfind-
lichkeit,! dass der Reichthum an Temperaturnerven im Allgemeinen Hand
in Hand gehe mit dem Nervenreichthum überhaupt; jedoch ist ein ge-
wisses reciprokes Verhältniss zu denjenigen Nerven, welche dem Druck-
und Ortssinn dienen, ersichtlich. Von zwei Hautstellen, welche gleich viel
sensible Nerven enthalten, wird diejenige, welche mehr Tastnerven besitzt,
weniger Temperaturnerven haben. Hand, Zunge sind ausserordentlich wenig
temperaturempfindlich im Vergleich zu gewissen anderen Regionen. An
den Extremitäten nimmt der Temperatursinn im Allgemeinen nach dem
humpf hin zu, während die Tastempfindlichkeit nach der Peripherie hin
wächst.
Nun sprechen vielfache Erfahrungen dafür, dass-der Gewöhnung bei
der Temperaturempfindlichkeit eine erhebliche Bedeutung zukommt. Unsere
Körpertheile sind in verschiedenem Grade an den Wechsel der Tempera-
"turen gewöhnt und wir können die Gewöhnung derselben verändern. Es
braucht wohl nur an das Barfussgehen, die Gewöhnung an mangelnde
Kopfbedeckung, an blossen Hals, an offene Brust, an nackte Kniee erinnert
zu werden. Man wird vielleicht schon die Bemerkung gemacht haben,
dass dem Unterschiede zwischen bekleideten und unbekleideten Körpertheilen
in Bezug namentlich auf Kältereize zu wenige Rechnung getragen worden
sei. Die Reizschwelle für Kältereize liegt an den bekleideten Theilen natur-
eemäss höher; hält man die Hand an die blosse Brust, so hat man an
letzterer ein kühles Gefühl. Ein und derselbe Kältereiz bewirkt auf einer
bekleideten Körperstelle eine stärkere Abkühlung in der Zeiteinheit und
damit stärkere Reizung der Kältenerven. Man muss daher, wenn man die
Kälteempfindlichkeit mit derjenigen der unbekleideten Theile vergleicht,
von der Intensität der Empfindung einen gewissen Theil abziehen, welcher
! Vergl. Gefühlssinn.
NEUE THATsAcHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 67
der höheren Reizschwelle entspricht. Das Verhältniss des Wärmesinns zum
Kältesinn ist demnach an den bekleideten Theilen ein etwas anderes als
an den unbekleideten. Der Abstand nämlich zwischen der Kälteempfind-
liehkeit und der Wärmeempfindlichkeit an einer und derselben Stelle ist
an den bekleideten Theilen im Allgemeinen grösser als an den unbeklei-
deten. Angenommen, eine bekleidete und eine unbekleidete Hautstelle
‚ hätten gleich viel Kälte- und Wärmenerven, so wird die bekleidete bei
gleicher Wärmeempfindlichkeit eine grössere Kälteempfindlichkeit besitzen;
ja es wäre möglich, dass sie auch bei einer geringeren Anzahl von Kälte-
und demzufolge auch Wärmenerven noch eine grössere Kälteempfindlichkeit
besässe als die unbekleidete und dabei eine geringere Wärmeempfindlich-
keit. Dazu muss nun noch beitragen, dass die Reizschwelle für den Wärme-
sinn an den unbekleideten Theilen tiefer liest. Jedoch kommt letzteres
Verhältniss für die Beobachtungen, auf welche sich die obigen topographi-
schen Angaben stützen weniger in Betracht, weil dabei nicht die Wärme-
empfindlichkeit an sich, sondern die Fähigkeit einer Hautstelle, überhaupt
ein gesättigtes ausgeprägtes Wärmegefühl zu empfinden, und sei es erst
bei Reizstärken, die an die Schmerzgrenze stiessen, in’s Auge gefasst wurde.
Eine erhebliche Kälteempfindlichkeit mit schwacher Wärmeempfindlichkeit
kann daher bei bedeckten Körpertheilen kaum auffallen. Ist die Wärme-
empfindlichkeit intensiv, so muss nothwendig die Kälteempfindlichkeit äusserst
intensiv sein. Ist eine bekleidete Körperstelle schwach .kälteempfindlich,
so muss eine bedeutende Nervenarmuth vorliegen und ist eine Wärme-
empfindlichkeit überhaupt kaum zu erwarten. Die Vergleichung von Fuss
und Hand bietet ein Beispiel für das eben Gesagte. Es ist wohl kaum
zweifelhaft, dass der Fuss-oder genauer die Fussoberfläche nervenärmer ist
als die Handoberfläche. Dennoch ist er vielfach stärker kälteempfindlich; aber
er ist weit schwächer wärmeempfindlich als die Hand.
Wenn demnach der Gewöhnung der bekleideten Theile an eine höhere
Hauttemperatur ein gewisser Einfluss allerdings beizumessen ist, so dürfte
dieser jedoch nicht so beträchtlich sein, wie es scheint. Keineswegs kommt
die scheinbar viel erheblichere Kälteempfindlichkeit der bekleideten Theile
lediglich auf diesen Umstand. Von den Theilen, welche wir für gewöhnlich
unbedeckt tragen, zeigt die Hand schon deshalb eine geringere Kälteempfind-
lichkeit, weil sie mehr Tastfasern enthält. Das Gesicht dagegen ist vielfach
derartig kälteempfindlich, dass es den bedeckten Theilen nichts nachgiebt.
Auch hält die stärkere Kälteempfindlichkeit mancher bekleideten Theile bei
Entblössung länger an als dies bei einer direeten Abhängigkeit von der
Eigentemperatur der Stelle der Fall sein dürfte. Nimmt man endlich hin-
zu, dass gerade von den bedeckten Körpertheilen viele eine ausserordentlich
grosse Menge von Kältepunkten enthalten, so möchte es gerechtfertigt er-
5*
68 ALFRED GOLDSCHEIDER:
scheinen, den Einfluss der Reizschwelle als einen sehr geringfügigen und
den Nervenreichthum als das Hauptmoment zu bezeichnen.
Wird ein sonst bekleideter Theil angefangen dauernd entblösst getragen
zu werden, so wird die Eigentemperatur desselben auf einen niedrigeren
(rad eingestellt, und es ist wohl anzunehmen, dass dabei nicht eine dauernde
Kältereizung statt haben wird, sondern dass hier in der That eine Art
Adaptation des Temperaturnervenapparates an den veränderten Nullpunkt
mit der Zeit eintreten wird. Jedoch möchte ich auch hierbei wieder der
Veränderung der Reizschwelle keinen allzu grossen Einfluss beimessen.
Hauptsächlich nämlich spielt wohl dabei der Umstand eine Rolle, dass das
Sensorium daran gewöhnt wird, nun diese Stelle kalt zu empfinden. Zwei
gleich starke Sinnesempfindungen können ohne Zweifel sehr verschiedene
psychische Bewegungen hervorrufen und es kommt unter anderem auch
dabei das Moment des Ungewohnten oder Gewohnten in Frage. An einem
Körpertheil, welcher Kältereizen sehr selten ausgesetzt ist, wird eine Kälte-
empfindung caet. par. einen viel stärkeren Eindruck auf das Sensorium
machen als eine gleichstarke — in ihrem sinnlichen Inhalt — Empfindung
an einem Körpertheile, welcher oft Gelegenheit hat, sie an sich produecirt
zu sehen.
Quantitative Unterschiedsempfindlichkeit.
Eine wesentliche Funetion des Temperatursinns besteht darin, die
Stärke der Temperaturreize zu unterscheiden. Es fragt sich nun,
einmal, ob diese Fähigkeit ebenfalls topographische Unterschiede zeigt, und
weiter, ob dieselben entsprechend sind den vorher angeführten topographi-
schen Verschiedenheiten in der Ausbildung des Temperatursinns.
Eulenburg! hat neuerdings die Unterschiedsempfindlichkeit des Kälte-
und Wärmesinns topographisch eingehender geprüft. Es haben sich in der
That nicht nur ziemlich weitgehende Verschiedenheiten derselben — von
0.2—1-.1° & — gefunden, was ja auch früher schon festgestellt worden
ist, sondern vor Allem auch, dass das Unterscheidungsvermögen durchaus
nicht der absoluten Empfindlichkeit und Empfindungsstärke parallel geht.
So werden an der Mammillargegend mit dem Kältesinn nur 0-8°, mit dem
Wärmesinn 0-6° unterschieden, dagegen an der Volarfläche des Nagelgliedes
mit ersterem 0-2—0-3°, mit letzterem 0-.4°%, — während doch die Inten-
sität sowohl der Kälte- wie der Wärmeempfindlichkeit dort eine ungleich
viel grössere ist, als an der Nagelphalanx, wo ja auch. die Temperaturpunkte
' Zur Temperatursinnsmessung. Monatshefte für praktische Dermatologie.
1885. Nr. 1. Zur Methodik der Sensibilitätsprüfungen, besonders der Temperatursinns-
prüfung. Zeitschrift für klinische Mediein. Bd. IX. Hit. 2.
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 69
in geringer Zahl vorhanden sind. Ich erkläre mir die Angaben der von
Eulenburg aufgestellten Tabelle in folgender Weise: Das eine Moment
für die Unterschiedsempfindlichkeit giebt in der That die regionäre Stärke
der Temperaturempfindung, also der Reichthum am Temperaturnerven ab.
Das andere und hauptsächliche jedoch ist in der regionären Uebung zu
suchen, — und zwar der Uebung in doppelter Beziehung: einmal insofern
‚als die bekleideten Körpertheile durchgehends ein gröberes Unterscheidungs-
vermögen zeigen als die unbekleideten; und zweitens, insofern ein gewisser
Parallalismus mit dem taetilen Ortssinn unverkennbar ist. Während die
absolute Temperaturempfindlichkeit im Allgemeinen von der Peripherie nach
dem Rumpf hin zunimmt, wächst die Unterschiedsempfindlichkeit gegen
die Peripherie, sowie der Ortssinn. An den oberen Extremitäten ist dies
nach der Eulenburg’schen Tabelle ziemlich deutlich. Das gröbere Unter-
scheidungsvermögen der bekleideten Theile erklärt sich dadurch, dass die-
selben viel seltener dem Wechsel der Aussentemperaturen ausgesetzt sind,
als die unbekleideten und deshalb ungeübter sind, die Nuancen dieses
Wechsels aufzufassen. Es spielt hierbei vielleicht noch eine Rolle, dass bei
Untersuchung an bekleideten Körpertheilen schon durch die Entblössung
allein eine Herabsetzung der Erregbarkeit hervorgerufen wird. Das Moment
der functionellen Verknüpfung mit dem Tastsinn ist so mächtig, dass es
Theile, welche einen weit geringeren Reichthum an Temperaturnerven be-
sitzen als gewisse andere, obwohl die Unterschiedsempfindlichkeit eben auch
von der Innervationsgrösse abhängt, doch zu einer höheren Unterschieds-
empfindlichkeit befähigt. So möchte es sich erklären, dass die Unterschieds-
empfindlichkeit vom Rumpf zu den Fingerspitzen zunimmt, während andrer-
seits Stirn und andere Gesichtstheile, welche dieselbe in einer den Fingern
entsprechenden Schärfe besitzen, durch Reichthum an Nerven Das ersetzen,
was die Finger voraushaben durch Uebung, und vor dem Rumpf sich aus-
zeichnen, weil sie durch ihre Nacktheit dem Wechsel der Temperaturen
ausgesetzt sind. An den unteren Extremitäten ist das eben entwickelte
Verhältniss weniger deutlich zu ersehen, was sich wohl theils daraus erklärt,
dass dieselben in toto bekleidet sind und theils daraus, dass der Fuss relativ
noch weniger Temperaturnerven zu enthalten scheint als die Hand. Jedoch,
wenn die Unterschiedsempfindlichkeit am Fuss auch nicht unter 0-5° her-
untergeht und an den Zehen sogar nur 0-6—0.7° beträgt, entsprechend
den Werthen vom mittleren und unteren Theil des Oberschenkels, so er-
scheinen diese Werthe doch noch hoch, wenn man die am Fuss im Vergleich
zum Oberschenkel viel geringere absolute Empfindlichkeit für Temperaturen
in Rechnung zieht; es ist deshalb auch hier das Moment der gemeinsamen
regionären Ausbildung mit dem Tastsinn zu erkennen.
Dieser Zusammenhang scheint durch die functionelle Verknüpfung
70 ALFRED GOLDSCHEIDER:
bedingt. Man sollte zwar meinen, dass quantitative Temperaturunterschiede
mit den örtlichen nichts zu thun haben, dass vielmehr hier das Unter-
scheidungsvermögen für Druckunterschiede in Betracht kommen muss.
Dieses zeigt nun bekanntlich ebenfalls topographische Abstufungen, welche
an diejenigen des Ortssinnes sich anlehnen, wenn sie auch nicht so aus-
gesprochen sind wie bei dem letzteren (Vgl. E.H. Weber).! Es lässt sich
daher wohl vermuthen, mit Berücksichtigung der getrennten Centralisation
der den verschiedenen Körpertheilen angehörenden Nerven, dass diejenigen
Gehirntheile, welche für den Tast- und Drucksinn ein feineres Unter-
scheidungsvermögen erworben haben, dies ebenso auch für den Temperatur-
sinn besitzen.
Temperaturortssinn,
An die quantitative Unterschiedsempfindlichkeit schliesst sich natur-
gemäss die Frage nach den Ortsunterscheidenden Fähigkeiten des
Temperatursinnes an. Ueber den Wärmeortssinn hat Kauber? Unter-
suchungen gemacht und eine kurze Mittheilung veröffentlicht. Er benutzte
strahlende Wärme, indem er erwärmte Metallkugeln in Bohrlöcher von
Holzplatten legte, welche auf die. Haut applieirt wurden. Er fand dabei
die Wärmeortssinnkreise entsprechend den Druckortssinnkreisen; nur zu-
weilen waren sie etwas grösser. Der Kälteortssinn wurde nicht untersucht,
was bei der früheren Anschauung von der Einheit des Temperatursinns nicht
Wunder nehmen kann. Die oben hervorgehobenen topographischen Ver-
hältnisse des Wärmesinns im Besonderen, seine Abhängigkeit von .den
Nerventerritorien nnd die relative Seltenheit gut wärmeempfindlicher
Gebiete zeigen jedoch, dass eine derartige Untersuchung mit Fehlerquellen
behaftet sein muss, welche in der anatomischen Anordnung der Temperatur-
nerven begründet sind. — Angesichts nun der Existenz der Temperatur-
punkte und ihrer Auffassung als Endpunkte der Temperaturnervenfasern
sowie der Möglichkeit, durch die Temperaturpunkte sich jederzeit ein Abbild
der Nervenvertheilung in der Haut herstellen zu können, wirft sich von
selbst die Frage auf, ob man nicht den Ortssinn, d. h. die Fähigkeit zwei
Nervenerregungen local zu unterscheiden, an den Punkten selbst prüfen
könne.
Ich habe dies in folgender Weise ausgeführt: Zwei Messingeylinder,
1 Nicht günstig dieser Auffassung sind Eulenburg’s Messungsresultate des
Drucksinns. Vergl. Lehrbuch der Nervenkrankheiten. Berlin 1878. 2. Aufl. 1. Theil.
S. 22. Die Unterschiede sind überhaupt so gering, dass sich eine eigentliche Scala
kaum aufstellen lässt. — Sollte nicht die so verschiedene Nachgiebigkeit der unter der
Haut liegenden Theile von sehr erheblichem Einfluss sein?
® Ueber den Wärmeortssinn. Centralblatt für die medieinischen Wissenschaften.
1869. Nr. 24.
wen;
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 7
“
welche die Spitzen nicht in der Verlängerung der Axe, sondern an einer
Seite in der Verlängerung des Cylindermantels haben, sind durch ein Charnier
von Ebonit verbunden. An einer Stelle der Haut wird eine Anzahl von
Kälte- oder Wärmepunktem»bezeichnet; sodann, nachdem die Stelle ausgeruht
ist, von einer anderen Person, wo möglich unter Abwendung oder Schliessung
der Augen des Untersuchten, die Cylinderspitzen gleichzeitig auf je zwei
Punkte leise aufgesetzt. Die Cylinder werden gleichmässig erwärmt oder
abgekühlt. Es wurde entweder von kleinen Distancen begonnen und zu
orösseren fortgeschritten oder umgekehrt. Die Entfernung der Oylinder-
spitzen oder der Punkte kann leicht gemessen werden." Wegen der schnell
eintretenden Ermüdung der Stelle ist es gut, in dem zu untersuchenden
Gebiete gleich eine gewisse Anzahl von getrennt liegenden Punkteomplexen
zu bezeichnen. Man muss zur Prüfung möglichst nur die intensiveren
Temperaturpunkte auswählen.
Schwierigkeiten bereitet bei einer derartigen Benutzung der geleiteten
Wärme die gleichzeitige mechanische Reizung der Drucknerven. Jedoch
tritt bei zartem und genauem Aufsetzen der Spitzen das Druckgefühl be-
deutend zurück, während das Temperaturgefühl lebhaft in die Empfindung
tritt. Es ist deshalb nothwendig, dieses gleichsam aufblitzende Temperatur-
gefühl im Augenblicke des Entstehens scharf aufzufassen; beim Abwarten
wird es undeutlicher und macht zugleich dem Druckgefühl mehr Platz.
Fühlt man zwei Eindrücke gleichzeitig, so ist nicht immer zu entscheiden,
ob wirklich beide Temperaturgefühle sind.
Für die. Kältepunkte speeiell kann man sich noch eines Verfahrens
bedienen, welches die Druckempfindung fast ganz ausschliesst. Man steckt
auf jede Spitze eines Zirkels ein feines Pinselchen, taucht dieselben in
Schwefeläther und berührt hiermit je zwei Kältepunkte. Hierbei müssen
diese auch vorher mit dem Aetherpinsel aufgesucht werden, da der Aether-
pinsel einen relativ schwachen Kältereiz darstellt und nicht zur Erregung
eines jeden mittelst des Cylinders gefundenen Punktes hinreicht.
Ich habe bei dieser Art der Untersuchung in der That unter Um-
ständen das Gefühl zweier, räumlich getrennter, gleichzeitiger punktförmiger
Temperaturempfindungen gehabt. Dieselben erschienen zum Theil von
gleicher Stärke, zum Theil — und zwar war dies häufiger — von un-
gleicher. Man möge die in der folgenden Tabelle gemachten Angaben
nicht für subjeetive Täuschungen ansehen. Ich habe nur die unzweifelhaften
Resultate als solche berücksichtigt und die Untersuchungen in äusserst
zahlreichen Wiederholungen zu verschiedensten Zeiten, mit langen Zwischen-
pausen, angestellt. Es wurden ferner fast stets Vexierversuche eingeschoben,
! Für feinere Distancen bei dem Kälteortssinn wurde auch ein Metallzirkel mit
abgerundeten Spitzen verwendet,
02 ALFRED GOLDSCHEIDER:
in der Art, dass nur eine Cylinderspitze an einen Temperaturpunkt, die
andere auf die punktfreie Haut aufgesetzt wurde. Als ein beweisendes
Moment möchte ich noch den Umstand ansehen, dass nicht selten unter
vielen vergeblich geprüften ein bestimmtes Punktpaar mit grosser Constanz
immer wieder — bei abgewendeten Augen — doppelt gefühlt wurde. Ueb-
rigens habe ich einzelne der Distancewerthe bei gelegentlichen Prüfungen
an anderen Personen bestätigen können.
Die in der Tabelle angegebenen Werthe stellen nicht mittlere Werthe
dar, sondern Minimalwerthe; es wurden von einem grösseren Punktcomplex
nur immer ein oder einige wenige Punktpaare in diesen Entfernungen
als doppelt empfunden. Die Entfernung ist nach Millimetern angegeben.
Kältepunkte | Wärmepunkte
STIENS a ae 0-8 4—5
Wangen RER 0.8 3
Kinn ZUR SAHIESE 0-8 4
Brusten. ARE ET 2 4—5
Bauch Panama 1—2 4—6
Rücken . . er 1.5—2 4—6
Oberarm (Beugefläche) 1-5 2—3
Oberarm (Streckfläche) . 2 2— 8
Vorderarm (Beugefläche) 2 2
Vorderarm (Streckfläche) 3 3
Hohlbanda una Rene 0-8 2
Handrücken . ok: 2—3 3—4
Oberschenkel . . . . 2—3 3—4
Unterschenkel . . . . 2—9 3—4
Muss za a ne | a
Es geht aus dieser Tabelle hervor, dass man die Temperaturpunkte
‘ unter Umständen in erstaunlich geringen Abständen doppelt fühlen kann;
jedoch bezieht sich diese Eigenschaft immer nur auf einzelne Punktpaare
und zwar nur solche, welche mit hervorragender Empfindlichkeit ausgestattet
sind, ohne dass wieder alle der letzteren Art dieselbe besitzen.
Diese Beobachtungen sprechen gegen die Anschauung, dass es etwa
Temperaturortssinneskreise gebe von bestimmten Umfängen, wie dies in
Anlehnung an die E. H. Weber’sche Lehre von den Empfindungskreisen
im Allgemeinen angenommen zu werden pflegt. Vielmehr, wenn wir die
Punkte als Endigungen von Nervenfasern ansehen, liest es sehr nahe zu
glauben, dass die doppelt empfundenen Punkte zwei verschiedenen Nerven-
fasern angehören und dass die Erregungen dieser getrennt wahrgenommen
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 73
werden, deshalb, weil sie Empfindungen von einer gewissen hierzu nöthigen
Intensität produciren. Da zwischen. den doppelt empfundenen Punkten
vielfach keine anderweitigen 'Temperaturpunkte eingelagert sind, so muss
man schliessen, dass auch die Erregungen von unmittelbar benach-
barten Nervenfasern doppelt empfunden werden können. Dieser Umstand
steht in direktem Gegensatz zu den Anschauungen E. H. Weber’s, welcher
‚ausdrücklich betonte, dass zwei benachbarte anatomische Empflindungs-
kreise, deren jeder von je einer Nervenfaser versorgt sein sollte, noch
keine Doppelempfindung geben könnten.
‚Weiter ist aus der Tabelle ersichtlich, dass die Wärmepunkte durch-
schnittlich in grössern Minimaldistancen doppelt gefühlt werden als die
Kältepunkte. Es muss noch hinzugesetzt werden, dass die Doppelwahr-
nehmung der Wärmepunkte eine viel unsichere ist als die der Kältepunkte
und an nur mässig oder schwach wärmeempfindlichen Regionen über-
haupt nicht zu Stande kommt; so blieb zum Beispiel die Untersuchung am
Fuss trotz häufiger Versuche ohne Resultat. — Die Ursache der grösseren
Minimaldistancen scheint in mehreren Umständen zu liegen. Zunächst
‚ stehen die Wärmepunkte in relativ grösseren Abständen von einander, es
ist deshalb auch anzunehmen, dass die Wärmenervenfasern in grösseren
Abständen von einander verlaufen als die Kältenervenfasern, und es wird
in Folge dessen eine grössere Distance der Reizobjekte nothwendig sein, um
gleichzeitig zwei verschiedene Fasern zu treffen. Ausserdem ist die Wärme-
empfindung als solche nicht so geeignet zur scharfen Localisation, weil sie
nicht so prägnant in das Bewusstsein tritt, wie die Kälteempfindung. End-
lieh ist, wie schon erwähnt, die Irradiation des Punktgefühles bei den
Wärmepunkten grösser als bei den Kältepunkten.
Das gegenseitige räumliche Lageverhältniss der doppelt empfundenen
Punkte wird für gewöhnlich nicht richtig oder überhaupt als solches nicht
empfunden. Man fühlt meist nur, dass überhaupt eine Distance zwischen
den beiden Temperaturempfindungen vorhanden ist. Dabei wird nun durch-
gehends diese Distance zu weit geschätzt, und zwar sehr bedeutend zu
weit. Der Grund hiervon dürfte darin zu suchen sein, dass ein Doppelt-
wahrnehmen nach unseren Erfahrungen nur bei viel grösseren Abständen
der Reizobjecte stattfindet. 5
An den Werthen der Tabelle muss nothwendig auffallen, einerseits,
dass sich dieselben so sehr wenig von einander unterscheiden, während wir
beim Ortssinn die grössten topographischen Unterschiede zu erwarten pflegen,
und andererseits, dass dieselben keine eigentliche Regel, keine unseren ge-
wohnten Vorstellungen und Erfahrungen adäquate Scala erkennen lassen.
— Hierzu muss nun Folgendes bemerkt werden. Zunächst sind die ge-
fundenen Distancen nicht Mittelwerthe, sondern Minimalwerthe, wie
74 ALFRED GOLDSCHEIDER:
schon hervorgehoben, und es ist durchaus nach Lage der Verhältnisse nieht
zu erwarten, dass diese beiden in einem genau übereinstimmenden Verhält-
niss stehen. Es ist sehr leicht möglich, dass eine Untersuchung, welche
die Eruirung der mittleren Entfernung der doppeltempfundenen Punkte
zum Vorwurf hätte (übrigens ein derartig schwieriges Unternehmen, dass
ich es für unausführbar halte), eine unseren Wünschen mehr entsprechende
Scala ergeben würde. Auch die Untersuchung der Minimaldistancen hat
mit so viel Schwierigkeiten und vor Allem Ungenauigkeiten zu kämpfen,
dass ich weit entfernt bin, meinen Werthen eine allgemeine Gültigkeit bei-
zumessen. Wenn ich auch nieht glaube, dass ich zu kleine Distancen an-
gegeben habe, so ist es doch sehr möglich, dass sie hier und da zu gross
sind, dass mir also die eigentlichen Minimaldistancen stellenweise entgangen
sind. Wer diese Versuche nachmacht, muss zugeben, dass dies sehr leicht
geschehen kann. Ich würde mich durchaus nicht wundern, wenn ein
anderer Untersucher zu einer anderen Tabelle gelangen würde und em
dritter wieder zu einer anderen. Es war mir bei den Versuchen haupt-
sächlich darum zu thun, die örtliche Unterscheidungsfähigkeit der Tempe-
raturpunkte bis zu ihren extremsten Leistungen zu verfolgen, daher habe
ich die minimalen Maasse notirt, welche mir begegneten, und die anderen
nicht beachtet — auch wenn diese minimalen Maasse noch so selten vor-
kamen. Ebensowenig bin ich einer Abrundung in der vorhin gedachten
Weise nachgegangen, um etwa ein irgendwie befriedigendes oder mit ge-
wissen Theorien übereinstimmendes Resultat zu erlangen, sondern gebe
meine Aufzeichnungen so, wie sie sich vorfinden, und ohne Tendenz.
Es fragt sich nun aber, ob überhaupt eine derartige Scala, wie sie
etwa für den tactilen Ortssinn in den Zirkelabständen bekannt ist, in ana-
loger Weise für die locale Unterschiedsempfindlichkeit der Temperaturpunkte
zu erwarten ist. Wahrscheinlich nämlich complieiren sich hier zwei Mo-
mente: Einmal ist anzunehmen, dass der regionäre Nervenreichthum, wel-
cher sich in der Dichtigkeit der Temperaturpunkte äussert, von Bedeutung
ist; und weiter, dass der Temperaturortssinn doch wohl nicht ganz unab-
hängig vom Druckortssinn sich verhalten dürfte, vielmehr durch die func-
tionelle Verknüpfung mit ihm dem gemeinsamen Gesetze der Uebung
„unterliegt. Beide Momente müssen sich aber vielfach in ihrer Wirkung
durchkreuzen, denn die vorwiegend ortsempfindlichen Theile sind ärmer,
die mit stumpferem Ortssinn ausgestatteten reicher an Temperaturnerven.
Es werden daher bei der Topographie des Temperaturortssinns nicht die-
jenigen Theile obenan stehen, welche den feinsten Druckortssinn, und auch
nicht die, welche die grösste Temperaturempfindlichkeit besitzen, sondern
solche, welche von beiden Eigenschaften einen möglichst grossen Theil ge-
mischt enthalten. Wenn man mit dieser Schlussfolgerung nun die Tabelle,
nn
nn
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 75
und zwar die des Kältesinns, vergleicht, so kann man bei aller Vorsicht
der Interpretation doch zum mindesten eine Andeutung des entwickelten
Gesetzes darin finden.
Die ortsunterscheidenden Fähigkeiten der 'Temperaturpunkte gehen
nach den angegebenen Entfernungen weit über die Grenzen der sogenannten
Zweckmässigkeit hinaus, ja, sie sind von dieser Anschauungsweise aus über-
‘haupt nicht zu verstehen. Denn der Temperaturortssinn als solcher über-
haupt wird von uns nur selten und in stumpfester Weise benöthiet und
ist von verschwindend geringer Bedeutung neben der quantitativen
Unterschiedsempfindlichkeit; zumal aber stellt er in der angegebenen Fein-
heit gewissermaassen eine Luxuseinrichtung dar. Man sollte sogar meinen,
dass diese Eigenschaften der Temperaturpunkte für die Auffassung der
flächenhaften Temperaturreize sich störend geltend machen müssen; wes-
halb tritt uns nicht bei einem Flächenreiz eine Summe von Punktempfin-
dungen, etwa wie bei der Formication, in das Bewusstsein?
Dies erklärt sich hinlänglich aus dem Umstande, dass die in so nahen
Distancen zu unterscheidenden Punkte in der bedeutenden Minderzahl sind.
Wenn wir an einer Stelle eine Anzahl von Punkten hätten, unter denen
jeder einzelne von jedem einzelnen anderen bei gleichzeitiger Reizung unter-
schieden werden könnte,.so wäre kein Grund vorhanden, warum wir nicht
bei der Application eines Flächenreizes das Gefühl einer Anzahl neben
einander bestehender Punkte haben sollten. Nun liegen aber die Verhält-
nisse so, dass etwa Punkt « vom Punkt 5, aber nicht von c, d, e u. 8. w.
unterschieden werden kann. Wird diese ganze Summe von Punkten
gleichzeitig erregt, so müssen demnach eine gewisse Zahl getrennter Em-
pfindungen in das Bewusstsein treten und nebenher, diese umgebend und
sich zwischen sie einmischend, eine viel grössere Anzahl von mit einander
verschmelzenden Empfindungen. Der Effect muss demnach sein eine flächen-
hafte Empfindung, innerhalb deren einzelne Punkte oder Partien stärker
hervortreten. So ist es aber auch in der That, wie man sich jederzeit bei
aufmerksamer Selbstbeobachtung überzeugen kann. — Aber es scheint sogar,
dass die subtilen ortsunterscheidenden Fähigkeiten der Temperaturpunkte
eine intesrirende Bedeutung für das Zustandekommen der Temperatur-
flächen-Empfindung haben. Denn wenn auf der einen Seite bei absolutem
Unterscheidungsvermögen jedes Punktpaares ein.der Formication ähnliches
Gefühl entstehen müsste, so würde andererseits bei gänzlich mangelndem
Ortssinn der Punkte ebenso wenig ein Flächengefühl produeirt werden kön-
nen, wenn man nicht annehmen will, dass dasselbe überhaupt erst durch Zu-
hülfenahme anderer Sinne, des Gefühls- und Gesichtssinnes, zu Stande komme.
Wie die Verhältnisse aber liegen, so ist es plausibel anzunehmen, dass die-
jenigen Punkte, welche die Schwelle der Doppelempfindung nicht erreichen,
76 ALFRED GOLDSCHEIDER:
zwar unter der Form eines einfachen Eindrucks wahrgenommen werden,
aber eines in die Breite gezogenen; denn innerhalb des einfachen Eindrucks
wirkt die anatomische Geschiedenheit der centralen Zellen noch fort. Letztere
muss, wie schon oben angedeutet, das wesentliche Moment bei der localen
Unterscheidung darstellen.‘ Die Thatsachen des Ortssinnes der Temperatur-
punkte vertragen sich nicht mit der Theorie der „Localzeichen“; man kann
nicht annehmen, dass alle diese doppelt empfundenen Punkte durch ver-
schiedene Färbungen ihrer Qualität auf das Sensorium wirken und dadurch
ihre Unterscheidung ermöglichen sollen. Man muss nothwendig das Haupt-
gewicht auf die anatomische Geschiedenheit der Nervenfasern und centralen
Endigungen derselben legen. Wie nun hierzu das „räumliche“ Moment
sich verhält, ob es unmittelbar vorhanden ist oder mittelst der blossen
Möglichkeit, zwei Erregungen in der Zeiteinheit zu unterscheiden, erworben
wird, ist eine Frage, welche sich zwar hier anschliesst, die aber weiter zu
verfolgen hier nicht durchaus nothwendig ist.
Ich möchte schliesslich nur noch darauf hinweisen, dass man in der
Natur des flächenhaften Temperaturgefühls eine Erklärung finden kann für
die Irradiation der Temperaturpunkte Denn nachdem nun einmal die
Einzelempfindungen dieser sich zu einer flächenhaften Empfindung ver-
einigt haben, ist es leicht verständlich, dass dieselben, isolirt erregt, in der
gewohnten Form, also als kleine Flächenstücke in die Wahrnehmung treten.
II. Gefühlssinn.
Druckpunkte.
Der in der vorstehenden Abhandlung dargebrachte Beweis für die
Existenz eines eigenen gesonderten Nervenapparates für den Temperatursinn
führt unmittelbar zu der Folgerung, dass sich für die anderen mit der
Haut wahrzunehmenden Sinnesqualitäten in entsprechender Weise ebenfalls
ein gesonderter Nervenapparat müsse nachweisen lassen. Da nach der
Analogie des Temperatursinns die Voraussetzung berechtigt ist, dass auch
die Nerven der anderen „Qualitäten an bestimmten Punkten der Haut
endigen, so würde sich zunächst die Aufgabe stellen, auch die denselben
angehörenden Endigungspunkte der Nerven an der Hautoberfläche aufzu-
suchen.
Freilich weist schon die alltägliche Erfahrung darauf hin, dass hier die
Verhältnisse wesentlich anders liegen. Wenn wir über punktförmige Tem-
peraturreize im Allgemeinen keine Erfahrung hatten, so haben wir sie hin-
NEUE TiATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 77
gegen für punktförmige Druck- und Schmerzreize. Wir wissen, dass an
jedem einzelnen Punkte der Haut Druck sowohl wie Schmerz wahrgenom-
men wird. Dennoch existiren auch im Gefühlssinnesfelde gewisse Sinnes-
punkte mit derartigen Eigenschaften, dass wir zu der nothwendigen An-
nahme besonderer specilischer Nerven gelangen, welche an denselben endigen.
Dies lässt sich in der einfachsten Weise feststellen; jedoch eilt Das, was
‚ bei den Temperatursinnuntersuchungen bereits hervorgehoben wurde, in
noch erhöhtem Maasse bei dem Gefühlssinn, dass es sich nämlich um
(Qualitäten handelt, welche nicht so in die Augen springend sind, wie die-
jenigen anderer Sinne, und an deren Auffassung und Sonderung man sich
daher erst gewöhnen muss.
Setzt man eine Nadelspitze so leicht wie möglich auf die Haut auf,
derart, dass man sie gewissermaassen nur auf der Haut ruhen lässt, ohne
einen Druck auszuüben, und führt dieselbe, aufsetzend und abhebend, Punkt
für Punkt über die Haut hin, so macht man die Wahrnehmung, dass die
Berührung nur an gewissen Punkten gefühlt wird. Man muss zum ersten
Versuch nicht die empfindlichsten Hautregionen wählen, sondern solche von
mittlerer Empfindlichkeit, etwa die Beugefläche des Vorderarms. Zwischen
diesen Punkten nimmt man die Nadel erst wahr, wenn man einen stär-
keren Druck ausübt. So leicht man den Einwurf machen kann, dass dieses
Verfahren ein unsicheres sei, insofern man an jenen Punkten vielleicht zu-
fällig stärker gedrückt habe, so sehr überzeugt man sich einerseits, dass
man in der That im Stande ist, die Nadel mit ziemlich gleichbleibendem
Drucke aufzusetzen, und andererseits, dass man stets an denselben Punkten
wieder die Berührung wahrnimmt und dazwischen nicht, und zwar auch,
wenn man bei Abwendung der eigenen Augen von einer anderen Person
die Nadel führen lässt. Es ist hierdurch ausser allen Zweifel gestellt, dass
es Punkte auf der Hautoberfläche giebt, welche einen schwachen Druckreiz
eher wahrnehmen als andere. — Damit ist zunächst nun weiter nichts ge-
sagt, als dass die Haut nicht an allen Stellen eleichmässig druckempfind-
lich ist, sondern einzelne eine hervorragende Empfindlichkeit besitzen, und
man könnte dies sehr einfach erklären durch einen local geringeren Wider-
stand der Epidermis oder durch eine locale Anhäufung von Nerven.
Hier muss ich nun auf die Uebung in der Auffassung der Haut-
empfindungen verweisen und betonen, dass das Folgende vielleicht von
Manchem zuerst nicht bestätigt, nach einer wiederholten Selbstbeobachtung
jedoch als zweifellos und sehr einfach wahrnehmbar zugegeben werden wird.
An diesen empfindlichsten Punkten ist nämlich das Gefühl ein qualitativ
anderes als es zwischen ihnen, selbst bei stärkerem Drucke, ist. Wäh-
rend letzteres stets dumpf und matt ist, präsentirt sich das erstere bei
schwächster Berührung als ein zartes, dabei lebhaftes, häufig etwas kitzeln-
78 ALFRED GOLDSCHEIDER:
des Gefühl, ungefähr so, wie es entsteht, wenn man eines der Härchen
auf der Haut bewegt; bei etwas stärkerem Drucke jedoch gewinnt es eine
sanz charakteristische Qualität, es ist, als ob an dem Punkte sich in der
Haut ein Widerstand befindet, welcher dem Druckreiz entgegenarbeitet,
als ob ein kleines hartes Korn dort läge und in die Haut hineingedrückt
würde. Ich habe zur Beschreibung dieser Empfindung keinen anderen
Ausdruck finden können als den des „körnigen“ Gefühls. Hat man das-
selbe erst einige Male deutlich wahrgenommen, so wird man sich auch
„leicht überzeugen, dass es keinem dieser empfindlichsten Punkte fehlt und
(dass es zwischen ihnen nie zu produciren ist. Dieses körnige Gefühl ist
nun thatsächlich kein neues, sondern einfach das specifische Druck-
gefühl in punktförmiger Gestalt. Man nimmt an demselben jedes
Wachsen und Abnehmen des Nadeldruckes in den feinsten Abstufungen wahr
und man überzeugt sich, dass dies dasselbe Gefühl ist, welches wir haben,
wenn ein schwerer Gegenstand einen flächenhaften Druck auf die Haut aus-
übt und welches man beobachtet, sobald man die Stärke des ausgeübten
Druckes, sein Zunehmen und Abnehmen, seine Unterschiede schätzen will.
Man hat bisher unter einem Druckgefühl sich nie etwas punktförmiges
vorgestellt, ebensowenig wie beim Temperaturgefühl; man hat angenommen,
dass beim Druckgefühl immer eine Fläche betheiligt sei und dass ein
punktförmiger Druck immer ein stechendes Gefühl hervorbringen müsse.
Allein da das körnige Gefühl in der That ein wohl qualifieirtes Druck-
gefühl ist, so müssen wir uns an die Vorstellung gewöhnen, dass eine noch
so fein gespitzte Nadel an gewissen Punkten der Haut ein Gefühl «des
Druckes hervorbringt, während sie zwischen ihnen eine stechende Empfin-
dung producirt. Bei einer gewissen Grenze des Druckes geht das Druck-
sefühl dann allerdings auch in ein schmerzhaftes über; jedoch auch dieses
kann man in seiner Qualität noch von dem zwischen den Punkten ent-
stehenden unterscheiden, denn während letzteres eine matte inhaltlose,
stechende Empfindung ist, stellt sich das erstere als en kräftiges,
schmerzhaft drückendes, quetschendes Gefühl dar — wieder als ob
ein hartes Korn tief in die Haut eindränge; zudem ist jenes auch bei an-
dauerndem Drucke schnell vorübergehend, dieses bleibend.
Diese Eigenschaften berechtigen uns, die gedachten Punkte nicht bloss
als hervorragend empfindliche aufzufassen, sondern als etwas Specifisches
von der übrigen Hautsinnesfläche abzusondern und sie als „Druckpunkte“
zu specialisiren.
Magnus Blix! hat diese Punkte zuerst aufgefunden und als „Druck-
! Experimentelle Beiträge zur Lösung der Frage über die speeifische Energie der
Hautnerven. Upsala läkarefören. föorhandl. XVII. 7 och S. Referat in Schmidt’s
Jahrbücher. Bd. 198.
NEUR THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 79
punkte“ bezeichnet; auch hat er durch sorgfältige Messungen die Druck-
stärke festgestellt, welche zu ihrer Erregung nothwendig ist und welche
erhebliche topographische Unterschiede zeigt. Jedoch hat er diese Punkte
nur als hervorragend empfindliche beschrieben und nicht als Träger einer
speeifischen Gefühlsqualität aufgefasst, wenigstens dies nirgends ausgespro-
chen. Ueber ihre weiteren, in Folgendem zu beschreibenden Eigenschaften
hat er keine Angaben gemacht.
Die Methode, die Druckpunkte aufzusuchen, ist im Vorhergehenden
schon angedeutet. Man kann sich einfach einer Nadel bedienen und sowohl
einer fein gespitzten wie einer etwas stumpferen; jedoch halte ich letzteres
für zweckmässiger und weniger zeitraubend. Dasselbe leistet auch ein ge-
spitztes Hölzehen. Noch besser als mit diesen harten Werkzeugen gelingt
die Aufsuchung der Druckpunkte mittels Kork. Man spiesst ein zugespitztes
Blättchen von gutem, nicht brüchigem Kork auf eine Nadel. Um den
Druck möglichst gleichmässig zu machen, habe ich das Korkblättchen noch
an einer Spiralfeder befestigt. Das Instrument, dessen ich mich bediene,
ist: daher folgendermaassen construirt: Ein kurzer Messingcylinder trägt eine
3m lange Spiralfeder von Messingdraht, an deren Ende eine kurze enge
Hülse aufgelöthet ist. In letztere kann man leicht ein spitzes Hölzchen,
auf welches ein Korkblättchen gespiesst ist, einführen, oder eine Nadel mit
Wachs befestigen. Der Cylinder ist verschiebbar in einem Ebonitkloben
sefasst, welcher ausserdem eine verschiebbare Hülse zur Aufnahme einer
Schreibfeder oder eines Schreibstiftes trägt. Die Spirale darf nicht zu
schwach sein, da sie sonst zittert. Durch die Einfügung der Spirale wird
verhindert, dass sich die Schwankungen des Händedruckes auf das Reiz-
object übertragen, und es ist anzunehmen, dass dasselbe mit ziemlich con-
stanter Druckstärke auf die Haut aufgesetzt wird. — Während für die
Mehrzahl der Hautregionen Kork zur Aufsuchung der Druckpunkte sich
bewährt, giebt es solche mit derartig stumpfer Sensibilität, dass man nur
mit der Nadel zum Ziele kommt. Andererseits ist der Kork für manche
Stellen noch zu grob, z. B. für die Finger an ihrer Volarfläche. Hier habe
ich mich einer passend zugeschnittenen Federfahne bedient, welche nur das
Unvollkommene hat, dass sie sich nicht ganz sicher handhaben lässt.
Die Bezeichnung der Punkte geschieht in entsprechender Weise, wie
bei den Temperaturpunkten, muss jedoch, da die Druckpunkte im Allge-
meinen viel dichter liegen, noch sorgfältiger und nöthigen Falles mit der
Loupe ausgeführt werden; auch ist auf möglichste Verdünnung der Farb-
stoffe zu achten. Man muss bei der Bestimmung der Druckpunkte eben-
falls systematisch zu Werke gehen und ein circumseriptes Gebiet nach
einer gewissen Kegel absuchen.
Hat man an einem Bezirk eine gewisse Anzahl von Druckpunkten
80 ALFRED GOLDSCHEIDER:
mittelst eines minimalen Druckreizes aufgefunden, so kann man sicher sein,
dass dies nicht sämmtliche existirende sind. Denn auch die Druckpunkte
sind nicht gleichmässig erregbar und viele bedürfen eines stärkeren Reizes,
Wenn nun nicht bereits hervorgehoben wäre, dass die Druckpunkte nicht
lediglich hervorragend empfindliche Punkte sind, sondern ein specifisches
Gefühl geben, so könnte man jetzt sagen, dass diese erst durch stärkere
Reize erreebaren Druckpunkte eigentlich gar keine Druckpunkte seien.
Durch das specifische körnige Druckgefühl aber charakterisiren sich die-
selben als Das, was sie sind. Man findet demgemäss, wenn man den
minimalen Reiz etwas verstärkt, nun noch Druckpunkte, wo man vorher
keine gefunden hat. Ein sehr häufiges Vorkommen ist, dass man mittels
des schwachen Reizes ausser deutlichen Druckpunkten solche Punkte findet,
welche ein unsicheres, nicht deutlich zu erkennendes Gefühl geben, das
sich bei nun erfolgender etwas stärkerer Reizung dann als veritables Druck-
gefühl herausstellt. In dieser Weise präsentiren sich gewöhnlich die schwerer
erregbaren Druckpunkte.
Schon bei der Annäherung an einen Druckpunkt, besonders wenn die-
selben nicht besonders dicht stehen, kann man ein undeutlich beginnendes
und dann deutlicher und stärker werdendes Gefühl häufig bemerken; es
gilt deshalb hier dieselbe Cautele, welche schon bei den Temperaturpunkten
hervorgehoben wurde, nämlich sich durch dieses Annäherungsgefühl nicht
täuschen zu lassen und nicht an der Peripherie gleichsam des Zerstreuungs-
kreises einen Punkt einzuzeichnen.
Man kann, sobald man das specifische Druckgefühl mit genügender
Sicherheit erkannt hat, auch mittelst Stiche die Druckpunkte aufsuchen.
An diesen geht das sonst gefühlte scharfe stechende Gefühl über in einen
intensiven schmerzhaften Druck, ähnlich dem neuralgischen Schmerz. Be-
sonders geeignet habe ich hierzu die Seitenfläche der Finger gefunden.
Auch bei diesem Verfahren bemerkt man deutlich das Annäherungsgefühl.
Auch im Uebrigen sind alle Cautelen, welche bei den Temperatur-
punkten erwähnt wurden, bei der sonst sehr einfachen Untersuchungs-
methode zu beachten. Speciell wird ebenfalls die Erregbarkeit der Druck-
nerven durch das andauernde Betupfen der Haut herabgesetzt, und es ist
nothwendig, soll die Aufnahme mögliehst vollständig sein, mehrfach Ruhe-
pausen zu machen oder sie in mehreren Sitzungen anzufertigen. Hierin
verhalten sich die Hautstellen übrigens verschieden und namentlich an
Regionen mit stumpfer Sensibilität ist die Herabsetzung derselben eine im
die Augen fallende und störende. Aber auch an sehr empfindlichen Haut-
partien kann man die Wahrnehmung machen, wie anfänglich die Druck-
punkte ungemein dicht aufeinander folgen, während im Verlaufe der Unter-
suchung die Zahl derselben abnimmt, um nach einer Pause sich wieder zu
N#UE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. s1
vermehren. Diese Herabsetzung der Sensibilität, verbunden mit dem Um-
stande, dass es trotz strengster Regel des Absuchens nieht möglich ist, alle
Punkte der Haut zu reizen, sondern dass eine grosse Anzahl übergangen
werden, namentlich auch die allernächste Umgebung eines schon bezeich-
neten Punktes häufig ausgelassen wird, erklären es hinlänglich, dass man
auch von dem kleinsten Bezirk niemals in einer Sitzung ein correctes
‚Bild bekommt. Man kann sich hiervon in der einfachsten Weise über-
zeugen. Bestimmt man an einer Hautstelle in einer Sitzung die Druck-
punkte, zeiehnet sie durch und löscht sie auf der Haut aus, am nächsten
Tage ebenso und so mehrere Male, so sieht jedes Bild anders aus. Ver-
gleicht man dieselben genauer, so findet sich, dass eine gewisse Anzahl
von Punkten in je zwei Bildern nach ihrer Lage übereinstimmen, andere
nicht, dass aber die Zeichnungen zusammengenommen einen bestimmten
Typus der Anordnung der Punkte erkennen lassen, welcher auf den ein-
zelnen Bildern unvollständig vorhanden ist. Will man daher correctere
Bilder herstellen, so sind mehrere Sitzungen erforderlich unter Anwendung
von Anilinfarbstoffen, welche eine gewisse Zeit lang sich auf der Haut er-
halten. Dennoch halte ich es auch bei Anwendung aller Cautelen und
mit Aufwand der grösstmöglichen Sorgfalt doch nicht für möglich, ein
absolut correctes Bild, d. h. eine genaueste Projection der in der Haut be-
findliehen Endigungen der Drucknerven auf die Hautoberfläche herzustellen,
und zwar hier noch weniger als bei den Temperaturpunkten, weil die
‚Druckpunkte im Allgemeinen ungleich dichter stehen als jene. Bei sehr
sensiblen Hautregionen kommt noch dazu, dass die Farbenpunkte, selbst
wenn sie so fein wie nur möglich hergestellt werden, doch für diese Ver-
hältnisse immer noch zu breit sind, um die feinsten Anordnungen der
Punkte erkennen zu lassen.
Es eilt auch von den Druckpunkten, dass sie mit einer verschiedenen
Intensität der Empfindung begabt sind. Es giebt Druckpunkte, welche ein
so lebhaftes Gefühl geben, dass man thatsächlich meint, doch wohl zu-
fällig stärker geklopft zu haben, und solche, welche ein ganz dumpfes,
eben noch als Druckgefühl zu qualifieirendes Gefühl geben. Zwischen
diesen beiden Grenzen kommen die mannigfaltigsten Abstufungen vor. Je-
doch soll damit nicht gesagt sein, dass an einer und derselben Stelle sich
so viel verschiedene Arten finden, sondern die überhaupt am Körper vor-
kommenden Druckpunkte zeigen in Summa diese Stufenleiter, und es giebt
Körpergegenden, wo das Punktgefühl überall mehr oder weniger dumpf,
und andere, wo es überall mehr oder weniger lebhaft ist. Ein dumpf
empfindender Druckpunkt giebt auch bei stärkster Reizung nie ein den
lebhaften Druckpunkten gleichkommendes Gefühl, und die lebhaften sind
Archiv f. A. u. Ph. 1885. Physiol. Abthlg. Suppl.-Bd. 6
s2 ÄLFRED GOLDSCHEIDER: .
zugleich die am leichtesten zu reizenden. Die Verhältnisse der Druck-
punkte sind also vielfach denen der Temperaturpunkte ähnlich.
An sehr empfindlichen Hautregionen übrigens nimmt man auch sehr
schwache Berührung fast überall wahr; jedoch präsentirt sich das Punkt-
gefühl auch hier durch seine mern Lebhaftigkeit und Schärfe,
während an den anderen Stellen die Berührung matt erscheint.
Der Gefühlseindruck der Druckpunkte ist kein eigentlich punktför-
miger. Wenn man auch nicht sagen kann, dass er flächenhaft irradiirt
wie bei den Temperaturpunkten, so ist er doch breiter als z. B. die stechende
Empfindung, welche in der That als punktförmig zu bezeichnen ist. Man
könnte das Druckpunktgefühl vielleicht als ein dem punktförmigen nahe-
kommendes, aber volleres Gefühl bezeichnen.
An manchen Körpergegenden, wie Rücken, Oberschenkel, zeichnen sich
viele Druckpunkte durch eine besonders lebhafte Nachempfindung aus,
welche das Auffassen neuer Punktgefühle stört. Am geringsten schien mir
die Nachdauer an denjenigen Stellen zu sein, welche vorzugsweise zum
Tasten gebraucht werden.
Die Druckpunkte erweisen sich auch gegen minimale Reize mit dem
indueirten Strom als die empfindlichsten. Es tritt an ihnen ein prickelndes
Gefühl ein bei einer Stromstärke, welche zwischen ihnen keine Empfin-
dung hervorruft. Macht man den Strom etwas stärker, so fühlt man zwi-
schen den Punkten nur ein unbestimmtes Ziehen oder Stechen, auf den-
selben ein kräftiges Prickeln. Bei diesen Versuchen empfiehlt sich als’
Elektrode eine Nadel.
Ich habe, einerseits um mich zu überzeugen, dass die Druckpunkte
anatomisch unveränderlich bestimmt sind, andererseits um ihre Unabhängig-
keit von der Epidermis darzuthun, dieselben an einer Hautstelle bestimmt
und abgezeichnet, dann die Hornschicht durch Collodium cantharidatum
" entfernt und nach genügender Abtrocknung der zu Tage liegenden Stachel-
schicht wieder die Druckpunkte bestimmt und abgezeichnet. Es resultirte
im Grossen und Ganzen ein ungefähr entsprechendes Bild, welches — wenn
man die Fehlerquellen überhaupt und ganz besonders in diesem Falle bei
der Bestimmung und Aufzeichung auf wunder, immer noch feucht wer-
dender Haut in Rechnung zieht — gewiss zur Genüge zeigt, dass den
Druckpunkten fixe in der Cutis liegende Nervenendigungen zu Grunde
liegen müssen.!
Die Anordnung der Druckpunkte ist eine dem Typus der An-
3
ordnung der Temperaturpunkte entsprechende.” Wir finden, dass die Druck-
ı Vergl. Abbildung 25.
® Vergl. hierzu die Abbildungen 21—24.
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 33
punkte sich zu mehr oder weniger diehten Ketten, die jedoch zuweilen nur
angedeutet vorhanden sind, zusammenordnen, und dass diese Ketten von
gewissen Punkten aus nach mehreren Richtungen ausstrahlen. Diese Aus-
strahlungscentren fallen, wie auf den Abbildungen zu ersehen ist, in sehr
deutlicher Weise mit den Haarpunkten zusammen oder genauer — wie bei
den Temperaturpunkten — mit den Haarpapillen. Auch auf den unbe-
“ haarten Hautreeionen herrscht derselbe Typus der Anordnung und auch
hier fallen die Ausstrahlungscentren mit denjenigen der Temperaturpunkte
zusammen. An den behaarten Theilen findet man him und wieder freie
Ausstrahlungspunkte ohne Haar. Viel auffallender als bei den Temperatur-
punkten sind hier die an den Haaren und sonstigen Ausstrahlungscentren
liegenden Anhäufungen von Druckpunkten.
Die Punktketten verlaufen vorwiegend senkrecht oder parallel zur
Haarrichtung. Jedoch ist dies nicht gerade als eine Regel zu betrachten,
man findet nicht selten bedeutende Abweichungen hiervon.
Die Ausstrahlungssysteme sind in sehr verschiedener Vollständigkeit
entwickelt. Man sieht solche, wo von einem dichten centralen Complex
nach den verschiedensten Richtungen dicht bestellte Ketten abzweigen und
solche, wo ein Punktcomplex ganz fehlt und nur eine oder zwei spärlich
besetzte Ketten abstrahlen. Endlich können die Ketten auf nur einige
angedeutete Punkte einschrumpfen und auch schliesslich ganz fehlen, so
dass, wie auch bei den Temperaturpunkten, eine inselförmige Localisation
der Druckpunkte an den Haaren bez. reducirten Ausstrahlungscentren
übrig bleibt.
Auch bei den Druckpunkten treten die Punktketten benachbarter
Rayons gewöhnlich zusammen und bilden rundliche, längliche oder spitz-
winkelige Figuren.
Die Druckpunktketten schlagen vorwiegend eine andere Richtung ein
als die der Wärme- und Kältepunkte, seltener dieselbe. Im Allgemeinen
ist die Dichtiekeit der Druckpunkte eine ungleich grössere als die der Tem-
peraturpunkte. Jedoch giebt es Hautstellen, wo sie von diesen übertroffen
© werden. Auch bilden sie, wie schon erwähnt, Anhäufungen und zwar so
diehte, dass die Möglichkeit sie zu sondern aufhört.- Jedoch sind diese
Complexe, welche zumeist den Centren der Ausstrahlungssysteme entspre-
chen, nie räumlich derartig ausgedehnt, wie wir es z. B. bei den Kälte-
punkten gefunden haben. Dafür giebt es Hautregionen, nämlich an den
Fingerbeeren, wo die Druckpunkte durchgängig so dicht stehen, dass eine
Sonderung oder Bezeichnung, wenn nicht ihre Erreebarkeit etwas herab-
gesetzt ist, überhaupt an dem ganzen Theil nicht durchführbar ist.
Prüft man Druckpunkte mit dem kalten oder warmen Messingeylinder,
so fallen einzelne scheinbar mit Temperaturpunkten zusammen. Vielfach
6*
34 ALFRED (GOLDSCHEIDER:
ist aber die minimale Distanz zwischen Temperatur und Druckpunkt deut-
lich nachweisbar. Das scheinbare Zusammenfallen kann kaum Wunder
nehmen, da der Cylinder doch immerhin nicht punktförmig, sondern anf
eine, wenn auch noch so kleine Fläche wirkt.
Es kommen hier und da Strecken vor, welche der Druckpunkte ent-
behren, allein dieselben sind ziemlich beschränkt an Ausdehnung. Derartig
weite punktfreie Flächen, wie wir sie beim Temperatursinn kennen gelernt
haben, kommen beim Drucksinn nicht vor. Die Anlage der Druckpunkte
und Temperaturpunkte dürfte auch ein allgemein anatomisches Interesse
haben, insofern sie uns in den Stand setzt, den Nervenverlauf der sensiblen
Hautnerven in einer Weise zu studiren, wie sie uns sonst nicht gerade ge-
boten ist.
Da die Druckpunkte rundlich-läneliche punktfreie Räume zwischen
sich lassen, so ist die Möglichkeit gegeben, auch gegenüber flächenhaften
Druckreizen die Punkte mit der punktfreien Haut zu vergleichen. Man
kann mittels eines sehr kleinen Korkeylinders oder auch eines Stecknadel-
kopfes einen Druck auf eine punktfreie Hautfläche üben, und ebenso auf
eine Anhäufung von Druckpunkten oder auch nur auf einzelne oder einen
einzigen. Auch hierbei entsteht bei ersterem ein dumpfes mattes Gefühl; vor
Allem kann man die Stärke des Druckes nicht wahrnehmen, bis das Ge-
fühl bei zunehmendem Druck mehr stechend wird. Auf den Druckpunkten
dagegen hat man ein regelrechtes Gefühl des Druckes und nimmt jede
geringste Veränderung der Druckstärke wahr.
Ortssinn der Druckpunkte.
Sind die Druckpunkte als die Träger des speecifischen Druckgefühles
erkannt, so schliesst sich sofort die Frage daran, ob dieselben auch mit
der dem Druckgefühl anhaftenden Ortsempfindung etwas zu thun haben,
und es präsentirt sich hier dieselbe Art der Prüfung, welche bei den Tem-
peraturpunkten vorgenommen worden ist, nur dass dieselbe hier weit ein-
facher und sicherer auszuführen ist.
Man bezeichnet an einer Stelle eine Anzahl von Druckpunkten und
lässt am besten von einem Gehülfen, bei Abwendung der eigenen Augen,
die Spitzen eines Tasterzirkels gleichzeitig auf je zwei Druckpunkte setzen.
Während man sonst die Aufsatzenden des Tasterzirkels eine gewisse Breite
haben lässt, müssen sie für unseren Zweck fein gespitzt sein, — denn man
muss sich immer vergegenwärtigen, dass die feinste Spitze, welche einen
Druckpunkt trifft, doch immer nur eine Druckempfindung auslösen kann.
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. s5
Es handelt sich bei diesen Versuchen um so kleine Entfernungen, dass der
Tasterzirkel darauf eingerichtet sein muss, dass die Nadeln bis auf 0,1 mm
einander genähert werden können und dass die Entfernung derselben auch
bis auf Zehntelmillimeter abgelesen werden kann.'
Die Prüfungen wurden demgemäss in folgender Weise angestellt: Bin
Gehülfe setzt die beiden Spitzen nach freier Wahl bald auf punktfreie
Räume, bald so, dass die eine Spitze einen Druckpunkt, die andere den
punktfreien Raum trifft, bald so, dass beide Spitzen je einen Druckpunkt
treffen. Nach jedent Aufsetzen wird angegeben, ob doppelt oder einfach
gefühlt wird. Ich habe Doppelempfindungen stets nur auf Druckpunkten
gehabt. Diese Untersuchungen sind ausserordentlich einfach und von einer
frappanten Sicherheit und ich habe dieselben bei allen Personen mit Er-
folg vornehmen können, bei denen ich es überhaupt versucht habe.
Auf die angegebene Weise habe ich nun die verschiedenen Körper-
theile an mir selbst untersuchen lassen und zwar auf die Minimaldistance,
in welcher zwei Druckpunkte bei gleichzeitiger Reizung als doppelt gefühlt
werden können. Ich habe dabei den Weg verfolgt, dass ich entweder, so-
bald bei einer bestimmten Distance die Doppelempfindung mehrfach ein-
getreten war, dieselbe verringerte und so weiter bis zu einer unteren Grenze
drang, oder, nachdem ich in Analogie anderer Messungen schon in’s Un-
sefähre eine Vermuthung über die Minimaldistance aufstellen konnte, unter-
halb derselben anfing und nach vergeblichen Versuchen, die Distance all-
mählich bis zu der richtigen Grenze vergrösserte. Bei weitem die meisten
Körpertheile wurden zu sehr verschiedenen Zeiten und zum Theil in grossen
zeitlichen Zwischenräumen wiederholt gemessen, wobei auch oft die Resul-
tate, jedoch nur um kleine Werthe, differirten. Die beim Anfange dieser
Untersuchungen gefundenen Werthe stellten sich übrigens bei den späteren
Untersuchungen meist als zu gross heraus. — Auch hier gelten, wie bei
den Temperaturpunkten, die gefundenen Minimaldistancen immer nur für
eine gewisse relativ geringe Zahl unter der auf einer Stelle vorhandenen
Summe von Punkten; es ist somit nicht eigentlich der durchschnitt-
liche Ortssinn, der mittlere Werth der localen Unterschiedsempfindlich-
keit gemessen, sondern derjenige Werth, welcher die überhaupt extremste
Grenze der Unterscheidungsfähigkeit darstellt.
Es wurde hierbei die Beobachtung gemacht, dass die zur Doppel-
empfindung nothwendige Distance viel kleiner war bei Punkten, welche
verschiedenen Ketten, als solchen, die derselben Kette angehörten; ferner,
dass die innerhalb einer Kette oder in der Verlängerung derselben auf-
! Ein solches Instrament hat mir Hr. Paul Dörffel in Berlin angefertigt.
56 ALFRED GOLDSCHEIDER:
gesetzten Spitzen häufig bei einer ganz bestimmten Stellung in auffallend
geringen Distancen als doppelt wahrgenommen wurden, nämlich wenn die
eine Spitze auf den Ausstrahlungspunkt oder in der Verlängerung der Kette
über den Ausstrahlungspunkt hinaus oder auf den an der Ecke gelegenen
Punkt rückte Mit ganz besonderer Deutlichkeit und in äusserst kleinen
Distaneen wurden namentlich diejenigen Punkte doppelt wahrgenommen,
welche in der Nähe des Ausstrahlungscentrums liegend zwei verschiedenen
Ketten angehörten. — Diejenigen Punktpaare, welche überhaupt als doppelt
wahrgenommen und dementsprechend angegeben worden waren, wurden
bei Fortsetzung der Prüfung mit grosser Constanz immer wieder als doppelt
gefühlt. — Diese Wahrnehmungen konnten so oft wiederholt gemacht
werden, dass ich mich berechtigt fühle, sie nicht für etwas Zufälliges zu
halten. Es kam an manchen Stellen vor, dass unter der ganzen Menge
von Punkten die gefundene Minimaldistance immer nur an einem bestimmten
Punktpaare zur Doppelempfindung Anlass gab und dass dieses letztere den
eben beschriebenen Verhältnissen entsprach. Ich glaube aus diesen Be-
obachtungen den Schluss ziehen zu dürfen, dass die Punktketten ausstrah-
lenden, sich verästelnden Nervenfasern entsprechen und dass unter Um-
ständen eine Kette ganz oder grösstentheils den Ramificationsbezirk einer
einzigen Faser oder wenigstens von Fasern, welche in besonders engem
anatomischen und functionellen Complex stehen, darstellen kann, während
man bei verschiedenen Ketten sicher ist, zwei verschiedene Nervenfasern
zu reizen. Weiter aber, dass die gleichzeitige Reizung zweier Nervenfasern
unter Umständen zur Doppelempfindung genügt, gleichgültig wie weit die
Reize auf der Hautfläche von einander entfernt sind.
Sobald die Doppelempfindung der Punkte deutlich in das Bewusstsein
tritt, so ist damit in der Mehrzahl gleichzeitig ein ziemlich zutreflendes
Wahrnehmen des gegenseitigen Lageverhältnisses damit verbunden. Man
fühlt, ob die Punkte in der Längsrichtung des Körpers oder der Glieder,
in der Queraxe oder schräg nach der einen oder anderen Richtung stehen.
— Feiner ist die schon bei dem Ortssinn der Temperaturpunkte erwähnte
Erscheinung auch bei den Druckpunkten vorhanden, dass nämlich die Ent-
fernung derselben durchgehends ganz erheblich zu weit geschätzt wird;
man ist geradezu erstaunt, wenn man die wirkliche Distance der Zirkelspitzen
mit derjenigen vergleicht wie sie nach dem bei abgewandten Augen ge-
machten Eindruck vorhanden zu sein schien. |
Die Distanceminima welche ich bei meinen Messungen fesstellen konnte,
sind in der folgenden Tabelle zusammengestellt. Auf die aus derselben her-
vorgehenden topographischen Unterschiede werde ich später noch zurück-
kommen. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal hervorheben, dass, wenn
noch irgend etwas an der Existenz der Druckpunkte zweifelhaft sein könnte,
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 87
die mit exacter Schärfe anzustellenden Beobachtungen über den Ortssinn
derselben diese Zweifel beheben müssen. ;
Millimeter
Millimeter
Rücken 4—6 Hohlhandwülste an den
Brust . 0-8 Fingergelenken . 0.3
Bauch 1-5—2 Dorsallläche der Meta-
Stirn . 0.5—10 carpo - Phalangeal - Ge-
Kopfhaut 1--1.4 lenke Ze 20:9
Wange 04—0-.6 I. und II. Phalange volar 0°2—0.4
Nase 0-3 I. und II. Phalange dorsal 0-4—0-8
Kinn . ne .. 023 Nagelglied volar 0-1
Oberarm, Beugelläche 0°6—0:8 Nagelglied dorsal . 2 0.5
Unterarm, Beugefläche . 05 Schwimmhaut zwischen
Unterarm, Strecklläche . 1:0 den Fingern 0.9
Handrücken 0-.5—0.6 Oberschenkel 3.0
Handteller 0-.1—0.5 Unterschenkel . 0.8—2-0
Daumenballen . 0-.2—0-3 Fussrücken . 0.8—1-0
Kleinfingerballen 0.1—0.2 Fusssohle 0-.8—1-0
Schmerzpunkte.
Man begegnet, wenn man mit der Nadel die Haut abtastet, nicht
selten Punkten, welche auf einen sehr schwachen Nadelreiz mit einer auf-
fallend feinstechenden, bei etwas stärkerem Druck laneinirenden, hervor-
ragend schmerzhaften Empfindung reagiren, wo andere Hautstellen nichts
fühlen oder wenigstens nicht annähernd einen Schmerz wahrnehmen. Man
kann an diesen Punkten auch mittels schwacher faradischer Ströme diese
besondere Schmerzempfindlichkeit nachweisen. Namentlich finden sich die-
selben in den grossen und kleinen Furchen der Haut — wo gerade das
specifische Druckgefühl fehlt. Ich hatte sie in meiner früheren Publication
als Schmerzpunkte bezeichnet, bemerke jedoch ausdrücklich, dass dieser
Name nicht involviren sollte, dass diese Punkte etwas Specifisches seien;
ich bin weit davon entfernt, zu glauben, dass dieselben in irgend einer
besonderen Beziehung zum Schmerzsinn stehen. Ich hatte früher geglaubt,
dass dieselben eine den Druckpunkten ähnliche Anordnung haben. Die
Zeichnungen wurden in der Weise hergestellt, dass eine circumscripte Haut-
stelle mit schwächsten Nadelreizen abgesucht wurde und diejenigen Punkte,
an welchen mir das beschriebene Gefühl auffiel, bezeichnet wurden. Diese
Bilder zeigten einen Typus der Anordnung, welcher dem der Druckpunkte
38 ALFRED GOLDSCHEIDER:
ähnlich war. Jedoch bin ich später zu der Ueberzeugung gekommen, dass
die Bestimmung: dieser Punkte derartig mit Fehlerquellen behaftet ist, dass
es unvorsichtig wäre, irgend welche Sätze auf Grund derselben aufzustellen.
Nur soviel glaube ich behaupten zu können, dass es solche Punkte giebt,
welche bei auffallend schwachen Reizen eine Schmerzempfindlichkeit zeigen.
Theorie des Gefühlssinnes.
Wenn im Folgenden versucht werden soll, eine Theorie des Ge-
fühlssinnes der Haut aufzustellen, so möchte ich die Vorbemerkung
machen, dass dieselbe nicht eine erschöpfende 'Theorie des gesammten Ge-
fühlssinnes sein soll, sondern nur eine Darstellung derjenigen Auflassung
über den Gefühlssinn, welche zunächst aus der Thatsache der Druckpunkte
und ihren Eigenschaften, sowie aus einigen weiteren damit in Zusammen-
hang stehenden Beobachtungen unmittelbar gefulgert werden muss.
Die durch den — allgemein gesagt — Gefühlsnervenapparat der Haut
vermittelten Empfindungsqualitäten sind: “
Berührungsgefühl,
Druckgefühl,
Schmerzgefühl,
Kitzelgefühl.
Ob ausser dem letzteren noch ein davon zu unterscheidendes speci-
fisches Juckgefühl existirt, lasse ich dahingestellt. Ich habe mich bis
jetzt nicht davon überzeugen können, sondern glaube, dass das sogenannte
Jucken nur ein besonders andauerndes Kitzelgefühl- ist.
Stellen wir die an den Druckpunkten entstehenden Gefühlsqualitäten
noch einmal denjenigen der dazwischen liegenden Hautstellen gegenüber,
so haben wir bei jenen einmal die gesteigerte Berührungsempfindlichkeit,
welche sich in dem auf schwächste Reize erfolgenden zarten Berührungs-
sefühle kundgiebt. Dieses geht, wie es denn nichts anderes ist als ein
äusserst schwaches Druckgefühl, bei stärkeren Reizen in die specifische
Druckempfindung über, um sich schliesslich zu einem schmerzhaft
drückenden Gefühl zu steigern. An den punktfreien Hautstellen wird erst
bei relativ stärkeren punktförmigen Berührungsreizen ein Berührungsgefühl
hervorgebracht; dasselbe ist nicht scharf und distinet ausgeprägt wie bei
den Druckpunkten, sondern stumpf, pelzig, unbestimmt. Es geht bei Ver-
stärkung des Reizes über in ein stechendes oder besser stichähnliches, aber
nicht schmerzhaftes Gefühl, d.h. in eine Empfindung, welche punktförmig,
dabei dünn und matt in ihrer Ausdruck ist und — wenn sie auch quan-
titative Unterschiede in sich wohl erkennen lässt, doch ein unmittelbares,
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. sg
objeetivirendes Wahrnehmen der aufgewendeten Druckstärke nicht gestattet.
Dieses Gefühl geht weiterhin über in ein schmerzhaft stechendes, welches
durehdringend, laneinirend ist, meist im Moment des Entstehens am stärk-
sten ist, um schnell zu erlöschen, trotz Fortdauer des Reizes, im Allgemeinen
einen schwächeren Eindruck auf das Sensorium ausübt als die schmerzhafte
Erregung eines Druckpunktes, welche letztere sich noch dadurch vor jener
auszeichnet, dass sie nicht schnell vorübergeht, sondern so lange andauert
als der Reiz und sich meist noch steigert oder steigern lässt. Der Schmerz
der Druckpunkte ist bei starkem Druck viel empfindlicher als zwischen
ihnen, er irradürt häufige und kaun unerträglich werden.
Diese Charakteristik ist natürlich Punkten entnommen, welche in ihrer
Qualität besonders ausdrucksvoll sind. Es giebt, wie schon erwähnt, hier
Abstufungen, und man findet solche, welche einen derartig scharfen Unter-
schied gegen ihre Umgebung nicht erkennen lassen. Dessen ungeachtet
erwächst aus den beschriebenen Verhältnissen die nothwendige Folgerung,
für die Druckpunkte gesonderte Nervenfasern anzunehmen. Mage
man sich eine Einrichtung der etwa hier liegenden Endapparate denken,
wie man will, man kann auf keine Weise die Erscheinung, dass das Punkt-
sefühl von einer anderen Qualität ist, durch irgend welche Endapparate
erklären. Auch die Annahme, dass die gewöhnlichen sensiblen Nerven an
den Punkten etwa in besonderer Dichtigkeit liegen, kann die Qualität des
Druckgefühles nicht erklären. Ich schliesse daher aus den mitgetheilten
Thatsachen, dass es in der Haut neben den Temperaturnerven noch zwei
gesonderte Arten von sensiblen Nerven giebt: die eine von diesen stellt die
allgemein verbreiteten Gefühlsnerven dar, welche im Allgemeinen jeden
Punkt der Haut befähigen, mechanische Reize von einer gewissen Stärke
überhaupt wahrzunehmen. Die andere Art wird gebildet von den speci-
fischen Drucknerven, welche befähigt sind, einerseits hervorragend feine
heize, andererseits die Abstufung der Reizstärke wahrzunehmen, endlich
mit einem eminenten Ortssinn ausgestattet sind. Diese specifischen Druck-
nerven bilden ein eigenes System von Nerven und treten mit den Tempe-
raturnerven zusammen in die Hautsinnesfläche ein, indem die Fasern ge-
meinschaftlich an gewissen Stellen der Haut, besonders den Haarinsertionen,
aufsteigen und sich von hier aus radienförmig in die Fläche ausbreiten.
Das System der Gefühlsnerven scheint die Haut allseitig, ohne bestimmt
erkennbaren Typus der Verzweigung, zu durchziehen und macht im All-
gemeinen jeden Pumkt der Haut zu emem fühlenden. Das System der
Drucknerven dient dagegen einer specifischen Sinnesthätigkeit, welche
ihren besonderen Wirkungskreis hat, nämlich das Ressort der Tast-, Druck-,
Ortswahrnehmungen. Es ergiebt sich hieraus, dass die Gefühlsnerven mehr
die Function haben, unsere Haut selbst uns fühlen zu lassen, die Druck-
90 ALFRED (OLDSCHEIDER:
nerven mehr die Aussenobjecte zu fühlen; und so würden die ersteren
mehr als Träger des sogenannten Gemeingefühls zu betrachten sein, wäh-
rend die Erregungen der letzteren mehr zur Objeetivirung geeignet sind.
Sowohl an den Druckpunkten wie an der punktfreien Haut. wird bei
einer gewissen Grenze der heizstärke das Gefühl ein schmerzhaftes, und
da der Schmerz doch eine neue Qualität darstellt, so tritt uns die Frage
entgegen, wie sich die Schmerzqualität zu den Gefühls- und Druck-
nerven bez. zu den von ihnen geleiteten Empfindungsqualitäten verhält.
— Fasst man den Schmerz als eine eigene Qualität auf, so müsste man
ihm auch eigene Nerven einräumen, Schmerznerven. Die Frage nach den
Schmerznerven hat bis jetzt immer noch nicht erledigt werden können;
man steht wohl grösstentheils auf dem Standpunkt der Schiff’schen Ver-
suche, welcher durch Durchschneidung der grauen Substanz Analgesie
herbeigeführt zu haben beschrieb. Man müsste sich dann, nach dem Vor-
sange Funke’s, Wundt’s und Anderer, die Vorstellung machen, dass die
sensible Faser nach ihrem Eintritt in das Rückenmark sich in zwei Wege
gabelt, von denen der eine durch die graue Substanz geht, mehr Leitungs-
widerstände bietet und daher nur bei starken Erregungen passirbar ist, der
andere durch die Hinterstränge führt. Da die spezifische Energie nicht
eine Eigenschaft der Leitungswege, sondern der centralen Apparate ist, so
müsste man weiter annehmen, dass die getrennten Leitungsbahnen auch
getrennte centrale Endigungen haben, derart, dass die eine bei jeder Er-
regung die Gefühls- bez. Druckqualität giebt, die andere Schmerzqualität.
Man wird demnach auch auf diesem Wege auf die Annahme spezifischer
Schmerzapparate, centraler Schmerzzellen geführt; und die Trennung der
Leitungsbahnen kann danach nur die Bedeutung haben, dass eine Sonderung
der Erregungen nach ihrer Intensität stattfindet, so dass den Schmerzzellen
auch wirklich nur die starken Erregungen zugeführt werden. — Dass man
überhaupt getrennte Leitungsbahnen annehmen muss und nicht Druck und
Schmerz in einem und demselben Wege leiten lässt, wird veranlasst durch
die Erscheinungen der Analgesie Denn wenn an einer Stelle der Haut
Gefühlssensationen wahrgenommen werden, aber kein Schmerz, so kann
man nieht annehmen, dass hier die Empfindlichkeit für schwache Erregungs-
zustände erhalten, für starke aufgehoben sei. Es ist dies zwar geschehen;
man kann sich auch wohl vorstellen, dass eine centrale Ganglienzelle der-
artig verändert werden könne, dass sie wohl in einen schwachen, aber
nicht in einen stärkeren Erregungszustand verfallen könne; jedoch ist es
paradox, dass sie bei einer derartigen Schwächung ihrer Empfindlichkeit
durch die schwächsten Reize überhaupt weiter könne errest werden; dies
muss man aber bei der gedachten Erklärungsart voraussetzen. — Wenn
daher der Schmerz eine neue Qualität sein soll, so kann man die Erscheinung
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 9]
der Analgesie nicht anders auslegen, als indem man entweder eine Spaltung
der Leitungsbahnen und centralen Endigungen oder von vornherein besondere
Schmerznerven annimmt. Letztere Annahme nun hat es mit der Schwierig-
keit zu thun, dass man an jedem Punkt der Haut und auch an den
Druckpunkten eine doppelte Innervation voraussetzen müsste. Ferner sprich
dagegen, dass wir an manchen Körpertheilen Schmerzen nur empfinden
bei krankhaften Veränderungen, z BD. in der Zahnpulpa, in dem serösen
Häuten u. s w. Es müssten danach die hier gelegenen Schmerznerven
im Allgemeinen in völlig unthätigem Zustande verharren und nur zu dem
Zwecke da sein, um bei einzelnen Unglücklichen zu einer gewissen Zeit
des Lebens in Thätiekeit zu treten. Was nun die oben beschriebenen
Schmerzpunkte betrifft, so ist dort schon hervorgehoben, dass denselben
eine besondere Beziehung zum Schmerzsion und speciell zu etwaigen ge-
sonderten Schmerznerven nicht zukommen kann. Vielmehr dürften die-
selben einfach Endigungen der Gefühlsnerven darstellen, welche in besonders
exponirter Lage äusseren heizungen gegenüber sich befinden, so dass schon
‚ein schwächerer Reiz bei ihnen einen Erregungszustand herbeiführt, wie an
den übrigen Stellen ein stärkerer.
Neigt man sich nun zu der Ansicht, dass der Schmerz keine neue
Qualität sei, sondern nur die stärkste Form der den Gefühls- und Druck-
nerven sonst eigenen Qualitäten, so fiele damit die Nothwendigkeit einer
getrennten centralen Endieung fort, man müsste es jedoch auf irgend eine
- Weise plausibel zu machen suchen, dass die eine Bahn, die durch die
Hinterstränge, lediglich für schwache, die andere durch die graue Substanz
ledielich für starke Reize passirbar sei — wie dies Wundt versucht hat.
Die Lehre von den specifischen Energien verlangt es in der That nicht,
dass man den Schmerz als eine differente Qualität hinstellen müsste, be-
sonders da er, wenn er nicht sehr intensiv ist, doch immer gewisse ver-
wandtschaftliche Beziehungen zur Berührungs- und Druckqualität zeigt.
Ich sehe daher keine andere Möglichkeit, als den zur Zeit wohl meist
vertretenen Standpunkt von der Gabelung der Leitungsbahnen festzuhalten,
mit dem Zusatz, dass die gemeinsame centrale Endigung mir wahrschein-
licher ist als die Speeifieität centraler Schmerzzellen.
Danach wäre die Anschauung über die qualitativen Leistungen der
Hautsinnesnerven in folgender Weise zu formuliren: Der Gefühlsnerv
giebt, im Erregung versetzt, jene schon öfter beschriebene matte stichartige
Empfindung, zu welcher sich bei einer gewissen Stärke der Erregung ein
stichartiges laneinirendes Schmerzgefühl gesellt. Der Drucknerv giebt
.
! Dies Argument spricht allerdings auch gegen die specifischen centralen Endigungen
schmerzleitender Fasern überhaupt.
92 ALFRED (GOLDSCHEIDER:
Druckempfindunge, d. h. eine etwas verbreiterte, vollere, körnige, feiner
Abstufungen fähige Empfindungsqualität, zu welcher sich bei einer gewissen
Erregungsstärke ein ziehendes, drückendes, quetschendes, in Vergleich zu
dem der Gefühlsnerven im Allgemeinen intensiveres und nachhaltigeres
Schmerzgefühl gesellt.
Beide Arten von Nerven empfinden nun schwache Erregungszustände
zugleich als Kitzel, und es erübrigt daher, dieser Qualität nach näher zu
treten.
Das Kitzelgefühl ist dem Experiment schwer zugänglich und ich
muss mich begnügen, über dasselbe meine eigene Ansicht hier darzustellen,
welche ich zwar nicht geradezu beweisen kann, welche jedoch durch einige
Beobachtungen für mich einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit hat.
Wir erzeugen überall den Kitzel durch die schwächsten mechanischen
Reize. Er wird nicht etwa durch irgend eine bestimmte Art von Beweg-
ungen hervorgebracht, sondern jede einfache mechanische Reizung erzeugt
ihn, vorausgesetzt nur, dass sie schwach genug ist. Es ist demnach der
Kitzel als eine specifische Empfin dungsqualität irgend eines Nerven-
apparates anzusehen, welche in Folge Reizung desselben durch schwächste
mechanische Reize producirt wird. Es fragt sich nun, ob dieser Nerven-
apparat derselbe ist wie der für die Berührungs- und Druckempfindung
und in welchem Verhältniss die letzteren zum Kitzelgefühl stehen. — Das
Kitzelgefühl entsteht nun im Allgemeinen stets gleichzeitig mit Berührungs-
und Druckgefühl, namentlich aber begleitet es das schwache Berührungs-
und Druckgefühl, während es, wenn letzteres stärker ist, zurücktritt. Dies
verhält sich jedoch topographisch verschieden. An Regionen mit schwachem
Kitzelgefühl ist dasselbe nur bei schwächster Berührung vorhanden; an
solchen mit starkentwickelter Kitzelempfindlichkeit ist es selbst noch bei
derben mechanischen Reizungen, die sich bereits der Schmerzgrenze nähern,
zu bemerken. Angenommen, es gäbe besondere specifische Kitzelnerven,
so wäre nicht einzusehen, warum der Kitzel nicht mit der Stärke der Er-
regung wachsen sollte, wie es bei allen Sinnesempfindungen der Fall ist.
Dies Argument möchte wohl genügen, um wenigstens den Versuch zu
rechtfertigen, eine Vorstellung durchzuführen, nach welcher das Kitzelgefühl
ein Product desselben Nervenapparates sein soll, welcher uns die Berühr-
ungs- und Druckempfindung zuleitet. Da nach dem Gesetze der specifischen
Energien nur quantitative, nicht qualitative Verschiedenheiten des nervösen
Erregungszustandes angenommen werden können, so muss diese Vorstellung
damit beginnen, dass die specifische Empfindung der sensiblen Nerten
nicht die blose Berührungs- und Druckempfindung ist, sondern diese mit
Kitzel vereinigt, in der Weise, dass dieselbe gleichsam in der Färbung
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN.
Pe
_
u
des Kitzels wahrgenommen wird, „wie man mit den Sehnerven stets
ein Objeet mit einer Farbe versehen wahrnimmt. Diese Färbung des
Kitzels tritt am deutlichsten hervor, wenn die Berührungs- bez. Druck-
empfindung mit ihrem Empfindungsinhalt am schwächsten in das Bewusst-
sein tritt; je mehr dieser letztere in den Vordergrund tritt, desto mehr
nimmt darunter die Färbung des Kitzels ab. — Hiernach ist also Kitzel
nicht eine neben der Druckqualität bestehende andere Qualität, sondern
innig mit ihr verbunden, — eben wie die Farbe mit der Gesichtsempfin-
dung und zwar derart, dass er um so intensiver wahrgenommen wird, je weni-
ger der eigentliche Inhalt der Druckempfindung auf die Seele wirkt.
Es giebt mehrfache Erscheinungen, welche für diese Auffassung sprechen.
Sehr häufig entsteht heftiger Kitzel aus inneren in der Haut gelegenen
Ursachen, welche auf die Nervenenden wirken, Hyperämie, Exsudat u. s. w.
Hierbei ist die Berührungs- oder Druckempfindung meistens Null, während
die Kitzelempfindung sehr stark hervortritt, — Applieirt man auf die Haut
einen stärkeren mechanischen Reiz, indem man mit einer Nadel oder einem
Hölzehen einsticht, so ist unmittelbar darauf in einem gewissen Umkreis
die Haut unfähig Kitzel wahrzunehmen. Umgekehrt, streicht man leise
über eine Stelle, so dass ein nachdauerndes Kitzelgefühl entsteht, und reizt
nun in der angegebenen Weise einen Punkt, so ist in demselben Moment
das Kitzelgefühl verschwunden. — Nach mehrfacher Kitzelerregung ist
eine Stelle wohl noch fähig, Berührung wahrzunehmen, aber nicht Kitzel.
— Eine Stelle, welche längere Zeit bedeckt gehalten ist, so dass die sen-
siblen Nerven keine Reizung erfahren haben, wie sie sie sonst durch Frie-
tion, Luftzug u. s. w. fortwährend erfahren, ist empfindlicher gegen Kitzel.
Brillentragende Menschen haben die Neigung, beim Abnehmen der Brille
die Augenlider zu reiben. — Die Empfindlichkeit für Kitzel ist topographisch
verschieden — worauf wir noch zurückkommen. Es ist nun merkwürdig,
dass Körperstellen, deren Haut an starke Druckreize gewöhnt ist, wie
2. B. das Gesäss, gerade hervorragend empfindlich für Kitzel sind, während
andere, deren Nerven vorzugsweise auf schwache Reize eingerichtet sind,
wenig Kitzel wahrnehmen, wie die Finger und Tastballen. Die Nerven
der Gefässhaut sind an starke Erregungen gewöhnt, oder besser, das Sen-
sorium ist an ihre starken Erresungen gewöhnt und nimmt sie nicht mehr
in der ihnen eigentlich zukommenden Empfindungsstärke wahr. Werden
diese Nerven jetzt einmal durch schwache Reize erreet, so tritt die Kitzel-
empfindung äusserst lebhaft in das Bewusstsein, weil die Druckempfindung
als solehe inhaltlich zurücktritt im Folge der Gewöhnung an stärkere Druck-
reize. Die Tastnerven der Finger dagegen sind an schwache Erregungen
gewöhnt und das Sensorium hat schon bei ihren schwachen Erregungen
ausgesprochene Empfindungen des Druckes. Deshalb wird bei diesen die
94 ALFRED GOLDSCHEIDER:
Färbung des Kitzels auch den schwächsten Reizen gegenüber weniger zur
Geltung kommen.
Der Kitzel ist hiernach innig mit der Druckempfindung verknüpft:
je mehr aber gewissermaasen die Contouren der letzteren hervortreten, desto-
mehr tritt die Färbung des Bildes zurück. Einen inneren Zusammenhang
in diesen Vorgang kann man in folgender Weise zu bringen versuchen;
Kitzel gehört zu denjenigen Gefühlen, welche nicht objectivirt zu werden
pflegen. Und zwar wird dies ohne Zweifel verhindert hauptsächlich dureh
die Stärke des psychischen Eindrucks, welchen die Empfindung hervorruft.
Denn sie macht unter Umständen einen dem Schmerz ähnlichen heftigen
Eindruck, ruft die gewaltigsten Reflexbewegungen hervor und stört das
bewusste Denken. Man könnte sich nun vorstellen, dass die Empfindung
des Kitzels überhaupt stets mit der des Druckes verbunden sei. Wir
würden dann nie in die Lage kommen, diese beiden für getrennte Em-
pfindungen zu halten, wie wir es jetzt thun. Es würde jedoch die unzweck-
mässige Folge entstehen, dass wir das Druckgefühl nie objectiviren könnten.
Da nun das Objectivirtwerden eine allgemeine Eigenschaft aller derjenigen
Sinnesempfindungen ist, welche durch Bewegungen merkbar verändert
werden, so ist zu Gunsten dieses allgemeinen Gesetzes die Objectivirungs-
fähigkeit für die Druckgefühle doch erreicht worden, indem zunächst an
den Stellen, welehe hauptsächlich zur Wahrnehmung und Schätzung der
Druckwirkungen verwendet werden, eine Abstumpfung gesen den psychischen
Eindruck des begleitenden Kitzelgefühls sich entwickelt hat und so ein
Verdrängen desselben durch die Objeetivirung des Druckgefühles stattge-
funden hat. Hieraus ist, im Zusammenhang damit, dass für die schwächsten
Druckreize naturgemäss die Objectivirung weniger geübt worden ist —
ausser eben an den Tastflächen — der Zustand resultirt, dass der Kitzel
um so mehr zurücktritt, je schärfer die Erreeung der Drucknerven objecti-
virt wird.
In Bezug auf die Erscheinung, dass ein stärkerer Hautreiz die Kitzel-
empfindlichkeit auf einen gewissen Umkreis hin aufhebt, möchte ich noch
hervorheben, dass man sich dies nieht durch Veränderungen der Haut selbst
erklären kann, sondern lediglich so, dass eine centrale Erregung von Gang-
lienzellen oder Leitungsbahnen von einer gewissen nachdauernden Wirkung
gesetzt ist, welche, wie stärkere Druckempfindungen, das Eintreten der
Kitzelempfindung über die Bewusstseinsschwelle verhindert. Ich denke
mir in analoger Weise die Wirkung des Kratzens beim Jucken. Wenn
es auch nahe liest, anzunehmen, dass die Gewohnheit des Kratzens sich
aus der bewussten Absicht entwickelt habe, irgend welche an der Haut
befindliche kleine Fremdkörper hinwegzuräumen, so ist doch unverständlich,
weshalb wir auch dann, wenn solche nicht vorhanden sind, kratzen und
NkuE TnAtTsacHhEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 115)
weiter, weshalb wir uns nicht begnügen, einfach den Fremdkörper, im Falle
dass einer da ist, aus dem Wege zu räumen, sondern, nachdem dies ge-
schehen, die Kratzbewegungen noch fortsetzen. Endlich kratzen wir auch,
wenn wir überzeugt sind, dass eine innere nicht hinwegzuräumende Ursache
das Jueken hervorbringt, z. B. bei heilenden Geschwüren, und zwar nicht
einmal an der Stelle des Juckgefühls, sondern im Umkreise, da wir sehr
wohl die Erfahrung gemacht haben, dass dies auf eine gewisse Eintfernung
noch wirksam ist zur Unterdrückung des Kitzels. Ich glaube demnach,
dass die Wirkung des Kratzens darin besteht, dass ein stärkerer Erregungs-
zustand der Drucknerven produeirt wird, welcher den schwächeren, die
Kitzelempfindung hervorbringenden unterdrückt. Hierauf deutet es auch,
dass das Kratzen bis zu einer gewissen Sättigung fortgesetzt zu werden
pflegt, nämlich bis der Erregungszustand eine zur Unterdrückung des Kitzels
genügende Stärke erreicht hat.
Dass das Kitzelgefühl sowohl den Berührungs- wie den Drucknerven
angehört, geht daraus hervor, dass einerseits an den Druckpunkten dasselbe
sogar für gewöhnlich besonders stark und durch die schwächsten Reize zu
erzielen ist, und dass es andererseits auch an druckpunktlosen Stellen, z. B.
jungen Narben, sehr ausgeprägt vorhanden ist.
Die über die Ortsempfindung der Druckpunkte mitgetheilten Beobach-
tungen lassen sich kaum vereinigen mit der Theorie der „Localzeichen“,
in der Form, wie dieselbe heute vorgetragen wird. Denn mag man auch
annehmen, dass diese Localzeichen nicht peripherischen Ursprunges sind,
sondern centralen, in der Weise, dass den räumlich getrennten Nerven
gewisse unterschiedliche qualitative Merkmale der speeifischen Empfindung
anhaften, welche eine Unterscheidung in der Zeiteinheit ermöglichen, so
ist es doch kaum vorstellbar, dass die unzähligen unterscheidungsfähigen
Druckpunktpaare durch derartige qualitative Färbungen differenzirt sein
sollten. Auch ist es kaum denkbar, dass die sehr häufige unmittelbare
Wahrnehmung des ungefähren Lagerungsverhältnisses der Druckpunkte
- auf einer erlernten Kenntniss der supponirten qualitativen Färbungen be-
ruhen sollte. Vielmehr wird es wahrscheinlich gemacht, dass die anato-
mische Geschiedenheit der Nervenfasern und ihrer centralen Endigungen
unmittelbar auf das Sensorium wirkt, wobei das Moment, dass die Einzel-
'empfindungen eine gewisse Deutlichkeit haben müssen, noch wesentlich zu
sein scheint. Damit ist noch nicht gesagt, dass den centralen Elementen
eine unmittelbare, eingeborene räumliche Empfindung zukommen solle,
sondern nur die Unterscheidungsfähigkeit in der Zeiteinheit. Da die Empfin-
dungen derselben auf die Hautoberfläche — zunächst — verlegt werden
— was ja schon ein vorhergegangenes Erlernen involvirt —, so können
die gleichzeitig unterschiedenen nicht anders als in der Fläche unterschie-
96 ALFRED GOLDSCHEIDER:
den werden. Es kann nun hier die empirische Thätigkeit insofern weiter
_ gewirkt haben, als, um den einfachsten Fall zu nehmen, Eindrücke, welche
hauptsächlich in der Längsrichtung des Körpers sich ausdehnen, die cen-
tralen Elemente in einer anderen anatomischen Configuration erregen, als
solche, welche die Querrichtung betreffen. In der That spricht manches
dafür, dass die centralen Elemente eine derjenigen der peripherischen
wenigstens in groben Zügen entsprechende Anordnung haben, so dass sich
also auch gewisse Richtungen der Körperoberfläche in durchgreifenden
anatomischen Verhältnissen der Centralapparate documentiren. Hierzu muss
dann noch die weitere Annahme dazukommen, dass bis zu einer gewissen
Grenze die räumliche Anordnung der centralen Elemente als solche auf
die Seele wirken könne, in der Weise, dass eine gewisse Configuration von
erregten Elementen von einer gewissen anderen Configuration unterschieden
werden kann. Mag man nun diese hypothetischen Aufstellungen für be-
rechtigt halten oder nicht, jedenfalls erheischen die über den Ortssinn der
Druckpunkte gemachten Beobachtungen eine andere Erklärung als die zur
Zeit für den Ortssinn der Haut gegebene. Es führt uns dies unmittelbar
zu den Untersuchungen E. H. Weber’s. Dieser meinte, dass in der Haut
anatomische Empfindungskreise existiren, welche je dem Endgebiet einer
"Tastnervenfaser entsprächen. Eine Faser kann nur einen Eindruck in
der Zeiteinheit dem Hirn übermitteln; werden zwei verschiedene Empfin-
dungskreise getroffen, so werden dem Centralorgan dänach zwei Erregungen
zugeführt, welche jedoch erst dann als gesondert aufgefasst werden können,
wenn eine gewisse Anzahl von Empfindungskreisen dazwischen liegt. So
stellt sich die Feinheit des Ortssinnes gewissermaassen dar in einer Ver-
hältnisszahl, die angiebt, wie viel anatomische Empfindungskreise in einem
physiologischen enthalten sind.
Nach der Kenntniss der Druckpunkte, ihrer Anordnung und Eigen-
schaften, ist wohl die Behauptung gestattet, dass mit ihnen die Nicht-
existenz der Weber’schen Gefühlskreise erwiesen ist. Wir haben keine
Kreise, sondern ein System von strahlig angeordneten Nervenendigungen,
deren Ortssinn deutlich in Zusammenhang mit dem Strahlenbau steht.
Dennoch müssen sich die Weber’schen Messungen mit den unserigen in
irgend einen Zusammenhang bringen lassen. Die ortsunterscheidenden
Fähigkeiten nun, welche bei distineter Reizung den Punkten in so hohem
Grade anhaften, werden verschleiert, wenn eine Summe von ihnen gleich-
zeitig getroffen wird. Es folgt dies aus dem schon bei dem Ortssinn der
Temperaturpunkte hervorgehobenen Umstande, dass das unterscheidungs-
fähige Punktpaar umgeben ist von miteinander confluirenden Punktgefühlen.
Ausserdem dürfte das matte eleichförmige Gefühl der Gefühlsnerven
wohl geeignet sein, zwischen den etwa discontinuirlich gefühlten Punkten
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 97
eine ausfüllende Verbindung herzustellen. Auf diese Weise dürfte, ähnlich
wie bei dem Temperatursinn, die Empfindung des Flächenhaften zu
Stande kommen. — E. H. Weber benutzte nun einen Zirkel mit abee-
stumpften Spitzen und reizte mit demselben nicht blos unter Umständen
eine Summe von Druckpunkten, sondern auch zugleich Gefühlsnerven in
ganz zufälligem Verhältniss zu einander. Es gehen dabei dem Sensorium
zwei local getrennte Summen von Nervenerregungen zu, und wenn unter
diesen mehrere einzelne sich befinden, welche für sich allein gereizt doppelt
empfunden werden würden, so können dieselben unter der beiderseitigen
Masse von Einzelempfindungen doch nicht scharf genug vom Sensorium
einander gegenüber gestellt werden. Die Doppelempfindung tritt hier viel-
leicht erst auf, wenn die Mehrzahl der Einzelempfindungen diesseits von
der Mehrzahl der Einzelempfindungen jenseits scharf gesondert werden kann.
Es muss übrigens hierbei bemerkt werden, dass auch die punktfreie Haut
vielleicht nicht gänzlich des Ortssinnes ermangelt, wenn auch derselbe
jedenfalls sehr stumpf ist. — Die Weber’schen Messungen zeigen unge-
fähr, wie der wirkliche Ortssinn der Druckpunkte sich geltend macht im
praktischen Gebrauch. Auf den ersten Eindruck hin nämlich muss es
scheinen, dass uns in dem Ortssinn der Druckpunkte eine Art von Luxus-
einrichtung mitgegeben sei, von welcher wir überhaupt keinen Gebrauch
machen können; denn zu welchen Verrichtungen brauchen wir ein Unter-
scheidungsvermögen von 0-5 "m an der Stirn, oder von 4“m am Rücken,
oder selbst am Finger von 0-1"m? Es verhält sich nun aber so, dass
dieses Unterscheidungsvermögen einzelner Punktpaare uns zunächst direct
gar nicht zu Gute kommt, weil uns die Empfindungen dieser Punktpaare
immer mit gröberen vermischt zugehen. Durch diese Vermischung eben
werden die ortsunterscheidenden Fähigkeiten der Punkte derartig abge-
schwächt, dass nun derjenige Zustand resultirt, welcher uns in den Weber’-
schen Messungen mit abgestumpftem Zirkel entgegentritt. Es ist anzu-
nehmen, dass, wenn das auch für Flächenreize bestimmende Substrat, näm-
lieh die Druckpunkte, einen weniger ausgebildeten Ortssinn hätte, dann
auch der für Flächenreize sich ergebende Ortssinn ein stumpferer sein
würde, als er in den Weber’schen Messungen hervortritt.
Diese Auffassung nun vermag auch die Erscheinung der Uebung
des Ortssinns zu erklären. Man könnte nämlich meinen, dass das Factum
der Uebungsfähigkeit des Ortssinnes einer so starren Basis, wie wir sie in
den Druckpunkten angenommen haben, entgegenstehen. Jedoch da wir es
bei den gewöhnlichen Flächenreizen — als Flächenreiz muss jeder auf-
gefasst werden, welcher mehr bedeckt als einen Druckpunkt — mit einer
Summe von Nerveneindrücken in der Zeiteinheit, zu thun haben, so findet
Archiv f. A. u. Ph. 1885. Physiol. Abthlg. Suppl.-Bd. 7
98 ALFRED (OLDSCHEIDER:
die Uebung als centrale Fähigkeit ein Feld für sich. Wenn wir aus der
bei den gewöhnlichen Tasteindrücken uns zugehenden Summe von Nerven-
erregungen diejenige der Druckpunkte schärfer heraussondern könnten, als
es der Fall ist, so würde nach der uns zu Gebote stehenden anatomisch-
physiologischen Grundlage, wie sie in den Druckpunkten gegeben ist, unser
Ortsgefühl bedeutend verfeinert werden können. Es handelt sich nun bei
der Uebung der Sinnesnerven vielfach darum, aus zwei ähnlichen Summen
von Nervenerregungen differente Erresungen einzelner Nerven herauszuer-
kennen." Die Uebung des Ortssinnes als Uebung der Fähigkeit, aus zwei
Summen von annähernd gleichartigen Einzelempfindungen differentere heraus-
zuerkennen, würde durchaus derjenigen Vorstellung entsprechen, welche wir
uns nach der Darstellung du Bois-Reymond’s von der Uebung machen
müssen. Die über die Uebung des Ortssinnes bekannten Erfahrungen
würden sich sonach auch auf der Basis der Druckpunkte erklären lassen:
so die von Volkmann hervorgehobene Thatsache, dass die Raumschwelle
sich durch methodische Untersuchungen in wenigen Stunden bis auf die
Hälfte verfeinert und dass sich der Erfolg dieser Uebung an einer be-
stimmten Hautstelle auch auf die symmetrischen Stellen der anderen Seite
erstreckt; ferner die Beobachtung von Funke, dass am Rücken nur geringe
Verfeinerungen durch Uebung zu erzielen sind — wo, wie wir sehen, die
Druckpunkte so weit verstreut liegen, dass der stumpfe Tasterzirkel nur
wenige bedecken wird (Taf. IV, Fig. 47); die Valentin’sche Beobachtung,
dass bei verschiedenen Personen an denselben Hautstellen die Raumschwelle
eine verschiedene, das relative Verhältniss der einzelnen Stellen jedoch
ein gleiches ist; endlich die bekannte Verfeinerung des Tastsinnes bei
Blinden.
Wenn nun die Druckpunkte für uns gewissermaassen Ortspunkte
darstellen, so muss es auffallen, dass wir mit einem so unsymmetrisch
durch die Hautsinnesfläche hin verstreuten Apparat, wie es die Druckpunkte
doch sind, arbeiten sollen. Denn wenn wir mit diesem die Gestalt der
Objecte wahrnehmen sollen, so kann dies nicht anders vor sich gehen, als
indem alle diejenigen Punkte der Objectstläche, welche sich auf unseren
Druckpunkten bez. wenigstens den hervorragend deutlichen und u
lichen Druckpunkten abdrücken, von uns wahrgenommen und örtlich zu
sammengeordnet werden, alle übrigen Stellen der Objeetsfläche aber nicht
— denn der Ortssinn der punktfreien Hauttheile ist ein so unentwickelter,
dass wir ganz von ihm absehen müssen. Da die Druck- und Ortsempfind-
! Viele Erscheinungen «der Sinnesübung lassen sich hierauf zurückführen; z. B.
das Unterscheiden ähnlicher Geschmäcke, Gerüche, Gesichtswahrnehmungen u. s. w.
ungern
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 99
ungen der Druckpunkte objectivirt werden, so werden wir alle diejenigen
Punkte des Objects, welche unsere Druckpunkte berühren, auch eben ob-
jectiv wahrnehmen, die übrigen wieder nicht, und die nothwendige Folge
muss sein, dass wir die Contactfläche des Objects nicht mit ihrer wahren
Gestalt und Beschaffenheit wahrnehmen, sondern so, wie sie sich auf unseren
Druckpunkten abdrückt, — gewissermaassen als ob wir mit unseren Druck-
punkten in sie hineindividiren. — Dass dies nun in der That der Fall ist,
davon kann man sich überzeugen mittels geeigneter Tastobjecte. Ich
benutze hierzu grössere und kleinere durchschnittene Federposen. Zeichnet
man auf einer Hautstelle einige Punktketten auf und die von ihnen ge-
bildeten rundlichen Figuren; und führt nun oder lässt führen — eine halb-
durchschnittene Federpose, die gekrümmte Kante derselben leicht aufsetzend
und wieder abhebend, langsam fortschreitend über die Hautstelle hin,
während man seine Aufmerksamkeit ganz auf den jedesmal entstehenden
Eindruck richtet, welchen man von der Form des Objects erhält, so über-
zeugt man sich, dass dieser Eindruck fortwährend wechselt und dass man
eine zutreffiende Vorstellung von der Form des Objects, also in diesem
Falle eine annähernd halbkreisförmige Wahrnehmung nur selten bekommt.
Letzteres tritt im Allgemeinen nur ein, sobald die Kante der Federpose
Sanz zusammenfällt mit einer gekrümmt verlaufenden Kette, mit einem
Abschnitt einer rundlichen Punktfigur. Wird die Kante so aufgesetzt, dass
der mittlere Theil auf einen punktfreien Raum fällt und nur die Enden
auf Punkte, so fühlt man keine gekrümmte Linie, sondern hat nur dis-
continuirliche Druckempfindungen, etwa wie von einer Gabel sehr kleiner
Dimension, oder hat den Eindruck einer geraden Linie. So kann es je
nach der Stellung der Kante vorkommen, dass sie im umgekehrten Sinne
gekrümmt erscheint oder s-föürmig gekrümmt oder rechtwinkelig geknickt.
oder in der Mitte abgeschnitten oder in zwei getrennte geradlinige Abschnitte
getheilt u. s. w. So erscheint die Kante auch bald schwach, bald stark
gekrümmt, bald lang, bald kurz. Man kann auch ohne vorherige Fixirung
von Druckpunkten solche Versuche anstellen, indem man kleine Tastobjecte
über grössere Gebiete der Haut in der angegebenen Weise führen lässt,
etwa über Finger, Hohlhand u. s. w., und man wird dabei die fortwährende
‘Veränderung des Eindrucks, welchen man von der Form des Gegenstandes
bekommt, deutlich wahrnehmen. Eine halbirte Federpose über die Volar-
fläche eines Fingers geführt, wird, wenn sie nicht zu gross ist, erst am
Nagelglied ganz zutreffend gefühlt. Sie erscheint bald geradlinig, bald ver-
schiedentlich gebogen, geknickt u. s. w. Am Nagelglied erscheint sie an
gewissen Stellen auffallend lang und flach gekrümmt und dicht am Nagel
mit einer gewissen Constanz wie ein geschlossener Kreis. Alles dies erklärt
sich, wenn man in Rechnung zieht, dass dieselbe Entfernung, wenn sie in
100 ALFRED GOLDSCHEIDER:
eine Punktkette fällt, viel kleiner erscheint als wenn sie auf zwei Ketten
desselben Rayons fällt und am grössten — obwohl ich letzteres zur Zeit
noch nicht beweisen kann, — wenn sie zwei Ketten verschiedener Rayons
trifft, weil nach den oben mitgetheilten Beobachtungen für den Ortssinn
die mehr minder grosse Geschiedenheit der Nervenfasern von grösserem
Einfluss ist als die wirklichen Entfernungen auf der Hautoberfläche. Aehn-
liche Versuche kann man mit einer geschlossenen kreisförmigen
Kante einer Federpose machen. An einer Gelenkfurche des Fingers schnurrt
die rineförmige Empfindung ganz zusammen, dann wird der Kreis unregel-
mässig gefühlt, scheint Vorsprünge nach innen zu bilden, erscheint auf-
fallend gross, oval, dann wieder sehr klein, hin und wieder wie ein abge-
schnittener halbirter Ring u. s. w. Es schien öfter, als ob die in der
(Juerrichtung der Glieder stehenden Theile der Tastobjecte deutlicher ge-
fühlt würden als die in der Längsrichtung, was- einerseits mit Weber’s
Beobachtungen übereinstimmen würde, andrerseits mit dem Verlauf der
Nerven; denn diese durchziehen die Gliedmaassen in ihrer Längsrichtung
und breiten sich nach den Seiten hin aus; demnach muss ein der Quer-
schnittsebene paralleler Eindruck mehr gesonderte Nervenfasern treffen als
ein der Längsrichtung und damit dem Verlauf der Fasern paralleler. —
In derselben Weise wie mittels lineärer Tastobjecte kann man sich auch
mittels flächenhafter die Ueberzeugung verschaffen, dass die Druckpunkte
bestimmend für unsere Wahrnehmung sind. Ich benutze kleine Stifte mit
ovaler, runder, quadratischer Grundfläche zu solchen Versuchen. Auch
hierbei wechselt die Wahrnehmung bei jeder Verschiebung des Objects,
und nicht blos nach Form und Grösse, sondern auch nach dem Eindruck,
welche man von der Beschaffenheit der Grundfläche bekommt, welche bald
glatt, bald körnig erscheint. Es sei hier gelegentlich erwähnt, dass man
auch leicht Doppeleindrücke mittelst continuirlicher Objecte hervorrufen
kann, indem man ein schmalkantiges Object so auf die Haut auf-
drückt, dass zwei unterscheidbare Druckpunkte von der Kante getroffen
werden.
Es geht hieraus hervor, dass wir thatsächlich nicht das Objeet als
solches. sondern unsere Druckpunkte wahrnehmen und weiterhin ob-
jJeetiviren.
Was die topographischen Verhältnisse ‘der Druckpunkte betrifft,
so ist es eher möglich als bei den Temperaturpunkten, dieselben an kleinen
Flächenstücken zu studiren, weil der Drucksinn im Allgemeinen gleich-
mässiger verbreitet ist als der Temperatursinn. Aus den beigegebenen
Abbildungen! ist zu ersehen, dass die Dichtiekeit der Druckpunkte topo-
! Vergl. zam Folgenden Tafel IV.
NxEuVE THATSACHEN ÜBER DIN HAUTSINNESNERVEN. 101
graphisch die grössten Verschiedenheiten zeigt. Dabei sind noch diejenigen
Theile, welche die grösste Dichtigkeit derselben zeigen, nicht mit vertreten,
wie die Fingerbeeren, weil es nicht möglich ist, die Druckpunkte hier von
einander zu isoliren. Im Allgemeinen zeigt sich die regionäre Häufiekeit
der Druckpunkte im Verhältniss stehend zu der Ortsempfindlichkeit.
Jedoch ist das numerische Verhältniss allein noch nicht maassgebend, da
noch die Empfindlichkeit der Druckpunkte in Betracht kommt, welche
meist bei den seltener stehenden Druckpunkten auch geringer zu sein
pflegt. Weiterhin kann man gerade an den Druckpunkten in sehr deut-
licher Weise sehen, wie der Sinnesapparat der Haut bis auf das kleinste
von der localen Nervenversorgung abhängig ist. Aus den Abbildungen vom
Handrücken (Figg. 30. 32) z. B. geht hervor, dass die den Metacarpalknochen
entsprechende Haut im Allgemeinen viel ärmer an Druckpunkten ist, als die
der Spatia interossea. Die in den letzteren verlaufenden Nerven scheinen
Ausläufer über die Knochen hin zu schicken, welche sich in Punktketten
darstellen. Nach der Mittellinie der Knochen zu werden die Druckpunkte
immer seltener, und es entstehen punktfreie Räume, welche im Vergleich
zu der Dichtigkeit der Druckpunkte und der Kleinheit der von den Punkt-
ketten umschlossenen regulären freien Räume eine auffallende Ausdehnung
besitzen. Aehnliche Verhältnisse zeigen die Abbildungen von Brust- und
Fussrücken. Es geht auch die Ortsempfindlichkeit hiermit Hand in Hand.
Ich habe die locale Unterschiedsempfindlichkeit auf den Mittelhandknochen
stumpfer gefunden als in den Zwischenknochenräumen; ebenso auf den
Rippen stumpfer als in den Zwischenrippenräumen. Entsprechend verhalten
sich andere nervenarme Theile, wie die Haut über den Malleolen, dem
Processus styloideus radii, dem Olecranon.
Die Dichtigkeit der Druckpunkte schreitet im Allgemeinen vom Rumpf
gegen die Enden der Gliedmaassen vor und es documentirt sich damit für
die bekannte in derselben Weise verlaufende Zunahme des Ortssinnes ein
anatomisches Substrat. Nicht auf bloser phylogenetischer Uebung beruht
dieses Vierordt’sche Gesetz, dass mit dem Abstand von der Drehungsaxe
der Ortssinn wächst, sondern auf organischer Entwickelung wirklich vor-
handener nervöser Gebilde. Es ist verständlich, dass der Ortssinn mit der
Dichtigkeit der Druckpunkte in unmittelbaren Beziehungen stehen muss.
‚Wo die letzteren in geringerer Zahl vertreten sind, ist auch die Entfernung
zwischen ihnen und speciell auch zwischen den Punktketten grösser und
deshalb ein grösserer Abstand der Zirkelspitzen erforderlich, um die Enden
zweier verschiedener Nervenfasern zu treffen. Wenn wir den mittleren
Ortssinn der Druckpunkte bestimmt hätten, so würde dieser wahrscheinlich
ziemlich genau dem topographischen Verhältniss der Dichtigkeit der Druck-
102 ALFRED GOLDSCHEIDER:
punkte entsprechen — bis auf die Abweichungen, welche durch die topo-
graphisch verschiedene Empfindlichkeit der Druckpunkte selbst bedingt sein
würden. Es. ist jedoch nicht der mittlere, sondern der je beste Ortssinn,
aus bereits erörterten Gründen, bestimmt worden. Dies Moment ist bei der
Vergleichung der gegebenen Ortssinntabelle mit der topographischen Häufig-
keit der Druckpunkte zu beachten. — Es ist hier der Ort, auf die Be-
ziehungen des tactilen Ortssinnes zum Temperaturortssinn hinzuweisen. Die
Minimalwerthe des letzteren zeigten sich nach der früher gegebenen Tabelle
viel grösser als die für den Ortssinn der Druckpunkte gefundenen. Als
Grund dafür hat sich jetzt die grössere Dichtigkeit der Druckpunkte er-
geben. An Körperstellen, wo die Zahl der Temperaturpunkte eine im Ver-
hältniss zu den Druckpunkten hervorragende ist, wie z. B. Rücken, zeigt
sich auch der Temperaturortssinn, speciell der Kälteortssinn dementsprechend
in seinem Verhältniss zum Druckpunktortssinn.
Wenn man in analoger Weise wie bei dem Temperatursinn kleine
Flächenreize unmittelbar neben einander auf eine Hautregion applieirt, so
kann man ähnlich wie dort einen localen Wechsel der Druckempfindlich-
keit constatiren.” Es wird sich dabei diejenige Ungleichmässigkeit in der
Vertheilung der Drucknerven, welche sich von dem Typus der Anordnung
als solchem herleitet, weniger gegenüber Flächenreizen geltend machen,
weil die punktfreien Räume im Allgemeinen viel kleiner sind als bei den
Temperaturpunkten. Dennoch sind die Unterschiede der Innervation gross
genug, um sich kleinen Flächenreizen gegenüber bemerkbar zu machen. Ich
pflege dabei kleine Korkeylinder zu benutzen, welche ich mit der auch
sonst benutzten Spiralfeder in Verbindung bringe und welche beim Auf-
setzen auf die Haut annähernd nur durch ihr eigenes Gewicht wirken. Die
Cylinder wurden mit einer Grundfläche von 3%" Durchmesser gewählt. Man
fühlt nun eine solche Berührung überall, aber an manchen Stellen lebhaft, an
anderen dumpf; eigentlich anästhetische Stellen sind sehr selten. Vergleicht
man die solchergestalt gewonnenen Aufnahmen mit vorher angefertisten Auf-
nahmen der Druckpunkte derselben Gegend, so finden sich gewöhnlich den
starken, deutlichen Feldern entsprechend dichterstehende Ketten von Punkten
mit Anhäufungen hier und da, den Lücken entsprechend seltenere Punktketten
oder inselförmige Localisation : der. Punkte an den Haaren, dazu häufig
dumpferes Gefühl der einzelnen Punkte selbst — selten völliges Fehlen
der Druckpunkte. — Für die anatomische Realität dieser Drucksinnauf-
nahmen führe ich nur Folgendes an: Macht man an einem correct auf die
Haut aufgezeichneten Bilde des Drucksinnes die Controle in der Art, dass
! Vergl. hierzu die Abbildung 16 c.
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 103
man die Augen abwendet und ein Gehülfe den Korkeylinder aufsetzt, so
kann man nach jedem Aufsetzen genau angeben, ob ein deutliches Druck-
sinnfeld oder eine Lücke getroffen ist — ein untrüglicher Beweis, «dass kein
anderer Umstand als Grund für die Gestaltung des Bildes aufgesucht wer-
den kann als die unveränderliche anatomische Anordnung der Drucknerven
selbst. Man mae ferner das Bild noch so lange auf der Haut aufgezeichnet
erhalten — ich liess es bei einem Versuch 2 Wochen lang —, man wird
stets die Verhältnisse der Empfindlichkeit unverändert finden. — Die auf
solche Weise gewonnenen Abbildungen zeigen, wie an manchen Stellen die
Drucksinnesfläche doch eimem erheblichen localen Wechsel unterliegt. Der
Unterschied der deutlichen und dumpfen Felder erstreckt sich dabei —
wie sich erwarten liess — nicht bloss auf die zunächst geprüfte Reizbarkeit
gegenüber schwächsten Reizen, sondern auch auf stärkere Druckreize.
Bei den von gleichen Gebieten vergleichsweise gemachten topographi-
schen Aufnahmen des Drucksinnes und Temperatursinnes wurde beobachtet,
dass die Lücken des ersteren zum Theil mit solchen des letzteren zusammen-
fallen, zum Theil aber auch auf stark empfindliche Felder des letzteren
treffen. Beim ersteren Falle könnte man wieder geneigt sein, anzunehmen,
dass es sich um Eintrittsstellen von Nervenstämmchen handele, welche aus
Druck- und Temperaturnerven gemischt seien. Jedoch konnte auch hier
eine derartige Bedeutung der gemeinschaftlichen Lücken nicht nachge-
wiesen werden. Der an solchen Lücken applieirte inducirte Strom zeigte
nie die Anwesenheit eines Nervenstammes, und ein Ausstrahlen der Punkte
von hier aus konnte ebenfalls nicht wahrgenommen werden. Vielmehr ge-
staltete sich die Lage der Punkte so, dass sie die kleineren Lücken um-
schlossen, ihre Peripherie bildeten, also durch den Typus der Anordnung
als solchen die Lücke producirten. Wenn dies für einen Theil der Lücken
silt, so sind andere und zugleich meist grössere veranlasst durch Inner-
vationsdefecte, entsprechen also den Interstitien zwischen mehreren
Nervenausbreitungsgebieten. Vergl. Tafel III, Fig. 19.
Wie einfach auch die topographische Aufnahme des Drucksinns ist, so
sind doch auch bei ihr gewisse Cautelen nothwendig. Die Erregbarkeit
wird durch das wiederholte Beklopfen ebenfalls herabgesetzt, wie bei dem
Aufsuchen der Punkte, und es ist nicht möglich, ein und dasselbe Gebiet
längere Zeit zu’ untersuchen. Ausser der Herabsetzung der Erregbarkeit
lässt sich zuweilen noch eine andere Erscheinung beobachten, nämlich eine
Steigerung der Erregbarkeit. Man ist erstaunt wahrzunehmen, wie die
vorher als undeutliche Felder erkannten und bezeichneten Stellen jetzt
beim leisesten Berühren mit dem Korkeylinder ein schwirrendes Gefühl
geben — was natürlich die Fortsetzung der Untersuchung unmöglich
104 ALFRED GOLDSCHEIDER:
macht. Anscheinend ist hier eine allgemeine Hyperaesthesie des Bezirkes
hervorgerufen, welche analog ist der Hyperaesthesie, wie man sie beim „Ein-
seschlafensein“ eines Gliedes beobachten kann, auch hier bringt jede Be-
rührung ein schwirrendes stechendes Gefühl hervor. Erkennt man diese
Hyperaesthesie nicht als solche, so können in der topographischen Aufzeich-
nung grosse Fehler entstehen. — Diese Umstände bringen es mit sich,
dass die topographische Aufnahme des Drucksinns eine grosse Zahl von
Sitzungen in Anspruch nimmt. Sie ist erst dann als correct zu betrachten,
wenn die Controle bei abgewandten Augen durch eine andere Person statt-
gefunden hat. Ich habe demgemäss bei bekleideten Körperstellen stets
etwa 3—5 Tage auf die Herstellung des Bildes und seine Controle verwandt,
indem ich es mit Bismarckbraun aufzeichnete, welches sich eine Reihe von
Tagen gut erhält.
Den regionären Nervenreichthum an Gefühls- und Drucknerven über-
haupt können wir im Grossen und Ganzen messen an der Kitzel- und
Schmerzempfindlichkeit. Denn da für diese beiden nach den oben
entwickelten Anschauungen beide Arten der sensibeln Nerven in Betracht
kommen, sowohl die Gefühls- wie die Drucknerven, so werden dieselben
auch stärker ausgebildet sein, wo diese Summe von sensibeln Nerven
reicher vertreten ist. Dass zwar für die Kitzelempfindlichkeit Abweichungen
an einzelnen Körperregionen — durch ihre Beziehung zur Druckempfind-
lichkeit — vorliegen müssen, geht aus der oben entwickelten Ansicht über
dieselbe hervor. Verfolgt man nun diese Empfindungsqualität in Bezug
auf ihr regionäres Verhalten am Körper gegenüber zarten Berührungsreizen
und ebenso die Schmerzempfindlichkeit mittels des faradischen Pinsels bei
gleicher Stromstärke, so zeigt sich, dass die Ausbildung derselben im
Grossen und Ganzen mit einander Schritt hält und dass sie von einzelnen
interessanten Körperregionen, wo man genau den Verbreitungsbezirk eines
Nervenstammes abgrenzen kann gegen die nervenärmere Umgebung, sich
in Uebereinstimmung zeigt mit dem Nervenreichthum der Region. Weiter-
hin ergiebt sich, dass diese regionäre Ausbildung bis auf wenige Ausnahmen
Hand in Hand geht mit derjenigen des Temperatursinns. Man wird dort,
wo die Temperaturempfindlichkeit zunimmt, im Allgemeinen auch ein Zu-
nehmen der Kitzel- und besonders der Schmerzempfindlichkeit constatiren
können. Auch die Druckempfindlichkeit zeigt sich in ihren regionären
Schattirungen deutlich bestimmt durch die Grenzen der anatomischen
Nerventerritorien. Es stellen sich somit die den verschiedenen Qualitäten
dienenden Nervenarten in ein natürliches und durchsichtiges Verhältniss
zu einander. ie betheiligen sich in gemeinschaftlichem Verbande an der.
Innervation der Haut, gemeinsam zunehmend und abnehmend, die Tem-
peraturnerven mit den sensibeln Hand in Hand gehend und unter ihnen
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 105
wieder Kälte- und Wärmenerven in einem bestimmten, ziemlich constanten
Verhältniss. Daneben aber besteht gleichzeitig eine deutliche Reciproeität
der specifischen Temperaturnerven gegenüber den specifischen Druck -
nerven. Beide Factoren, die gleichmässige Betheiligung an der Innerva-
tionsgrösse einerseits und die Reeiproeität der Druck- und Temperatur-
nerven andererseits, gestalten in ihrer gegenseitigen Durchwirkung die
regionäre Ausbildung der Hautsinnesfläche nach ihren verschiedenen Emplfin-
dungsqualitäten.
106 ALFRED GOLDSCHEIDER:
Erklärung der Abbildungen.
(Tafel I—V.)
Tafel I.
Figg. 1—4 sollen den Typus der Anordnung der Temperaturpunkte und ihr
Verhältniss zu den Haaren zeigen. Die Abkürzung XP bedeutet Kältepunkte, welche
übrigens durchweg blau, WP Wärmepunkte, welche roth bezeichnet sind. Die Pfeile
zeigen die Richtung der Haare an. Die Herstellung der Vergleichsbilder geschah derart,
dass die Circumferenz einer Hautstelle durch Anilinfarbe fixirt und dieselbe nun an
verschiedenen Tagen einmal auf Kältepunkte, weiter auf Wärmepunkte untersucht
wurde. In den Figuren mit der Ueberschrift „Haare“ bedeuten die Punkte diejenigen
Stellen, wo die Haare an der Hautoberfläche zu Tage treten. Die Hautstellen wurden
stets vorher rasirt,
Fig. 1 ist von einer nicht besonders reich mit Punkten versehenen Stelle ent-
nommen, weshalb die Anordnung hier deutlicher hervortritt.
Radiale Hälfte der Dorsalfläche des Handgelenks.
Fig. 2. Dorsalfläche des Vorderarms.
Fig. 3. Radialfläche des Vorderarms.
Fig. 4. Innere Fläche des Unterschenkels.
Fig. 5 stellt einen einseitig kälteempfindlichen Bezirk von der Dorsalfläche
des Vorderarms dar. Die Stelle enthält eine Gruppe von Kältepunkten, ohne einen
einzigen Wärmepunkt.
Figg. 6—8 sind kleine Simultanaufnahmen, wie ich sie hauptsächlich vorzunehmen
pflegte, um die Anordnung der Temperaturpunkte zu studiren. Hier wurden die
Punkte der beiden Qualitäten gleich von vornherein verschiedenfarbig auf der Haut
bezeichnet und dann gemeinschaftlich abgezeichnet.
Fig. 6. Handrücken, Spatium interosseum I.
Fig. 7. Handrücken, Mitte.
Fig. 8. Vorderarm, Beugefläche.
Figg. 9—12 sind ältere, schon in meiner ersten Publication abgebildete Zeich-
nungen. Die nicht ganz regelmässigen Contouren erklären sich naturgemäss aus den
Verschiebungen der Haut.
Fig. 9. Eine ca. 4Ulem grosse Stelle vom Handrücken.
Fig. 10. Hohlhandwulst zwischen Zeige- und Mittelfinger. Die unten angren-
zenden Linien sind die Furchen der Hohlhand.
Fig. 11. Volarfläche des Nagelgliedes des Zeigefingers, bis zu den Seitenrändern
des Nagels. Die Zeichnung ist nicht perspectivisch aufgenommen, sondern auf eine
ebene Fläche abgewickelt.
Fig. 12. Mitte der Stirn. — Von mir bei einer anderen Person aufgenommen.
———
nn Dun
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 107
Tafel II.
Liehtdruckbilder von photographischen Platten. — Die photographischen Auf-
nahmen wurden zu dem Zwecke gemacht, um eine absolut correete Uebertragung der
auf die Haut aufgezeichneten Bilder zu gewinnen. Ks wrırden deshalb die letzteren
auch mit besonderer Sorgfalt hergestellt. Bei den Punktaufnahmen wurden von der
umzeichneten Stelle zunächst die Kältepunkte 3 bis 5 Tage hindurch bestimmt, durch
immer erneutes Aufsuchen vervollständigt, geprüft und corrigirt, sodann photographirt
und gelöscht; in derselben Weise folgten dann die Wärmepunkte. Die Punkte wurden
mit Anilinfarben eingezeichnet und unmittelbar vor der photographischen Aufnahme
geschwärzt. Dass die Bilder nicht von einer idealen Schärfe sind, liegt daran, dass
durch das vielfache Corrigiren und die langdauernde Imprägnation der Farben theils
die Punkte hier und da etwas verwischt erschienen, theils die Haut vielfach ein leicht
gefärbtes Colorit annahm. Bei den topographischen Aufnahmen wurde entsprechend
verfahren.
Fig. 13. Beugefläche des Vorderarms.
a) Kältepunkte, 5) Wärmepunkte. — Die fünf Punkte neben dem Bilde dienen
zur Orientirung.
Fig. 14. Dorsalfläche des Vorderarms.
a) Kältepunkte, 5) Wärmepunkte.
Fig. 15. Beugefläche des Oberarms. Kältepunkte.
Fig. 16. Topographische Aufnahmen des Kälte-, Wärme- und Drucksinnes von
ein und derselben Stelle der Beugefläche des Vorderarms, gewonnen mittels
Prüfung durch kleine Reizflächen (vergl. 8. 51 ff. und 8. 102ff.). Die dunklen Stellen sind
die stark empfindlichen, die schraffirten die mittelmässig, die punktirten die schwach
und die leeren Stellen die gar nicht empfindlichen. Auf die Herstellung jedes Bildes
wurden ca. 5 Tage verwandt. Näheres über die Herstellungsart s. 8. 51. ff.
Tafel III.
Fig. 17. Kälte- und Wärmesinntopographie von ein und derselben Stelle der
vorderen Fläche des Oberschenkels.
Fig. 18. Kälte- und Wärmesinntopographie von der mittleren Region des
Handrückens.
Fig. 19. Kälte-, Wärme- und Drücksinntopographie vom linken Handteller.
Bezüglich des Drucksinns, 19 c, ist zu bemerken, dass hier nur diejenigen Stellen, an
welchen die Berührung mit dem gewöhnlichen Prüfmittel, dem an einer Spiralfeder
befestigten Korkeylinder, nicht wahrgenommen wird, welche also als „Lücken“ des
Drucksinns aufzufassen sind, eingezeichnet sind, und zwar dunkel. Die dunklen Stellen
bezeichnen also hier nicht wie sonst die empfindlichsten, sondern diejenigen Partien,
welche sonst weiss dargestellt sind. Abgesehen von diesen Lücken ist der Handteller
gleichmässig druckempfindlich und in diesem Umstande ist der Grund zu dem hier
abgeänderten Verfahren gelegen. Von einem bestimmten Gebiete des Handtellers sind
vergleichende Aufnahmen der Kälte-, Wärme- und Druckpunkte beigegeben — die der
letzteren hat nicht ganz dieselbe Ausdehnung —, welche einerseits das Verhältniss
der Temperatur- zu den Druckpunkten veranschaulichen, andererseits zeigen sollen,
108 ÄLFRED GOLDSCHEIDER:
wie sich die Prüfung mit kleinen Reizflächen im Vergleich zum Punktbilde gestaltet,
speciell mit Rücksicht auf die Lücken (s. 8. 53 ff.). i
Fig. 20. Kälte- und Wärmesinntopographie vom rechten Handteller.
Tafel IV. l
Topographie der Druckpunkte.
en.
Figg. 21—24 sollen den Typus der Anordnung der Druckpunkte und ihr Ver-
hältniss zu den Haaren zeigen. Die Insertionsstellen der letzteren sind hier innerhalb
der Figur als fette Punkte bezeichnet. Die Pfeile geben die Richtung der Haare an.
Die Hautstellen wurden vor der Prüfung rasirt.
Fig. 21. Dorsalfläche des Vorderarms. |
Fig. 22 und 23. Beugefläche des Vorderarms. |
Fig. 24. Radiale Fläche des Handgelenks.
Fig. 25. Druckpunkte von einer Stelle der Dorsalfläche des Vorderarms, von
welcher später die Oberhaut durch Collodium cantharidatum entfernt wurde.
a) Punkte bei erhaltener Oberhaut.
b) Punkte nach entfernter Oberhant.
Die folgenden Figuren sollen ein Bild von den topographischen Verschiedenheiten
der Druckpunkte geben.
Fig. 26. Mitte der Beugefläche des Vorderarms.
Fig. 27. Mitte der Dorsallläche des Vorderarms.
Fig, 28. Radiale Fläche des Vorderarms, Gegend des Proc. styloideus radii.
Fig. 29. DBeugefläche des Oberarms, unteres Drittel.
Fig. 30. Dorsalfläche des II. Metacarpo-Phalangeaigelenks.
Fig. 31. Handrücken, Gegend des IV. Metacarpalknochens.
Fig. 32, Handrücken, Gegend des II. und III. Metacarpalknochens, quer herüber.
Fig. 35. Handrücken, quer über den I. Metacarpalknochen.
Fig. 34. Schwimmhaut zwischen Daumen und Zeigefinger.
Fig. 35. Dorsalfläche der Nagelphalanx des Daumens.
Fig. 36. Ulnarfläche der I. Phalanx des Daumens.
Fig. 37. Dorsal- und Radialfläche der I. Phalanx des Zeigefingers, auf die
ebene Fläche abgewickelt.
Fig. 58. Vordere Fläche des Oberschenkels, oberes Drittel.
Fig. 39. Vordere Fläche des Oberschenkels, dicht über dem Knie.
Fig. 40. Vordere Fläche des Unterschenkels, Mitte. Der Strich bezeichnet die
laterale Grenze der Tibia.
Fig. 41. Unterschenkel, Gegend des Malleolus internus.
Fig. 42. Fussrücken, Gegend des I. Metatarsalknochens.
Fig. 43. Mitte der Fusssohle.
NEUE THATSACHEN ÜBER DIE HAUTSINNESNERVEN. 109
Fig. 44. Haut des Jochbogens.
Fig. 45. Eine ausrasirte Stelle von der Kopfschwarte des Hinterkopfes. Hier
sind links wieder die Insertionspunkte der Haare angegeben, um an dieser diechtbe-
haarten Region das Verhältniss jener zu den Druckpunkten anschaulich zu machen.
Fig. 46. Nacken.
Fig. 47. Rücken.
Fig. 48. Vordere Fläche der Brust, Gegend des I. und II. Intereostalraums.
Fig. 49. Bauch.
» Tafel V.
Figg. I und II stellen die topographische Verbreitung des Temperatursinns an
der vorderen Fläche des Oberschenkels dar (s. S. 64). Diejenigen Stellen, welche ein
ausgeprägtes Kälte- bez. Wärmegefühl zu geben im Stande sind, sind schraffirt dar-
gestellt. Bei Fig. I ist ein schwaches, undeutliches Kältegefühl auch in den freien
Stellen meist fühlbar. Bei Fig. II dagegen sind diese schwachempfindenden Stellen
punktirt, die freien Stellen demnach völlig anästhetisch. An den Partien, wo die Prü-
fung auf die innere und äussere Seite übergriff, sind die Signaturen über die Contouren
hinaus unperspectivisch aufgetragen. Die Punkte « bis d bezeichnen den Ort, wo die
entsprechenden sensiblen Nervenstämme durch die Fascie treten, und wurden mittels
des inducirten Stromes bestimmt.
Figg. III und IV zeigen die Stellen, an welchen die elektrische bez. mechanische
Erregung der Temperaturnervenstämme gelang (s. S. 26 ff... Die arabischen Ziffern
beziehen sich auf die elektrische, die römischen auf die mechanische Erregung, wobei
der Kreis der Grundfläche des Korkcylinders entspricht.
Fig. II. Dorsalfläche der Hand.
Elektrische Erregung.
1) Daumen, Dorsal- und Ulnarfläche.
2) Daumen und Zeigefinger, die einander zugekehrten Flächen der I. Phalanx.
3) Ebenso.
4) Zeigefinger, radiale Fläche.
5) Zeigefinger, radiale Fläche der I. und II. Phalanx.
6) Zeigefinger, Nagelglied.
7) Zeigefinger, Nagelglied ohne Dorsalfläche.
8) Zeigefinger, alle drei Glieder, Dorsal- und Ulnarfläche.
9) Zeige- und Mittelfinger, Dorsalfläche der I. Phalanx.
10) Zeige- und Mittelfinger, Dorsal- und die einander zugekehrten Flächen der
I. Phalanx.
11) Ebenso, I. und II. Phalanx.
12) Ebenso, aber nur die einander zugekehrten und ein Theil der volaren Flächen.
13) Mittelfinger, radiale Fläche der I. Phalanx.
14) Ringfinger, radiale Fläche.
15) Ring- und kleiner Finger, die einander zugekehrten Flächen des II. und
Nagelgliedes.
16) Ring- und kleiner Finger, Dorsal- und die einander zugekehrten Flächen.
17) Grenze des Daumenballens an dem Handteller,
18) Grenze des Kleinfingerballens an dem Handteller.
19) Theil vom Kleinfingerballen und kleinen Finger.
20) Handteller.
Bei 17 bis 20 hat der Strom auf den Medianus hindurchgewirkt. Bei 11 und 16
gelang die Erregung von einem ausgedehnteren Gebiet aus.
Mechanische Erregung.
I) Zeige- und Mittelfinger, die einander zugekehrten Flächen.
II) Mittel- und Ringfinger, die einander zugekehrten Flächen.
III) Ring- und kleiner Finger, die einander zugekehrten Flächen.
Fig. IV. Volarfläche der Hand.
„ Elektrische Erregung.
1) Daumenballen.
2) Grenze des Daumenballens an dem Handteller.”
3) Radiale Hälfte des Handtellers.
4) Ebenso.
5) Zeige- und Mittelfinger, Nagelglied, Volarfläche.
6) Hohlhandwülste zwischen Zeige- und Ringfinger an den Köpfchen der Mittel-
handknochen,
7) Ebenso.
8) Handteller, Zeige- und Mittelfinger.
9) Handteller.
. 10) Mitte des Handtellers.
11) Ebenso.
12) Ebenso.
13) Ulnarer Theil des Handtellers.
14) Ringfinger, Nagelglied.
15) Kleinfingerballen.
16) Ring- und kleiner Finger.
17) Kleiner Finger, Nagelglied.
Mechanische Erregung.
I) Grenze des Daumenballens an dem Handteller.
II) Ebenso.
III) Radialer Theil des Handtellers.
IV) Peripherischer Theil des Handtellers; Wulst zwischen Zeige- und Mittel-
finger; Zeigefinger, radiale Fläche der I. Phalanx.
V) Zeige- bis Ringfinger, II. und Nagelglied.
VI) Mittelfinger, Nagelglied.
VH) Handteller.
VIII) Ebenso.
|
Untersuchung über die Latenzdauer der Muskel-
zuckung in ihrer Abhängigkeit von verschiedenen
Variabeln.
Von
Dr. Robert Tigerstedt,
Assistenten am physiologischen Laboratorium in Stockholm.
(Aus dem physiologischen Institut zu Leipzig.)
(Hierzu Taf. VI—XI.)
An Carl Ludwig.
Hochgeehrier Herr Professor !
In dieser Abhandlıng habe ich die Ergebnisse einer Versuchsreihe, welche
ich in Ihrem Institute vom December 1883 bis August 1884 ausgeführt habe, zu-
sammengestell. Weil meine eigenen Beobachtungen nur dem Froschmuskel
gelten, habe ich von den Ergebnissen früherer Untersuchungen im Allge-
meinen nur diejenigen berücksichtigt, welche auf dieses Versuchsobject sich
beziehen, und die an anderen Muskeln gewonnenen Ergebnisse nur insofern
benulzt, als sie die am KFroschmuskel erhaltenen aufklären können. Ich
sehe wohl ein, dass meine Arbeit in einigen Kapiteln die Fragen nicht ein-
gehend genug behandelt hat; es ist mir aber unmöglich gewesen, die betreffenden
Lücken auszufüllen, weil ich die Bearbeitung des vorliegenden Beobachtungs-
materials erst hier in Stockholm vorgenommen habe, wo ich die zu diesem
Zwecke nothwendigen Apparate, deren Benutzung ich Ihrer Güte verdanke,
nicht zu meiner Verfügung habe.
In einem einleitenden Kapitel habe ich die mir bekannten physiologischen
Zeitmessungsmethoden besprochen, in der Hoffnung einen Beitrag zu einer
112 ROBERT TIGERSTEDT:
kritischen Sichtung der grossen Menge der bis jetzt vorgeschlagenen derartigen
Methoden zu liefern.
Für die freundliche Unterstützung bei meiner Arbeit, so wie für die un-
schätzbare wissenschaftliche Anregung, welche ich Ihnen verdanke, spreche
ich Ihnen meinen innigsten, tiefgefühlten Dank aus. Ich bitte Sie, diese
Arbeit als ein kleines Zeichen meiner unbeschränkten Hingebung gütigst em-
pfangen zu wollen.
Ihr Schüler und Freund
Robert Tigerstedt.
Stockholm, den 1. Mai 1885.
mn
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 113
.)
Erstes Kapitel.
Geschiehtliche Einleitung.
Die Geschichte der feineren physiologischen Zeitmessungen beginnt
mit Helmholtz’ Untersuchungen über den zeitlichen Verlauf der Muskel-
zuckung und die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Erregung in den moto-
rischen Nerven des Frosches. Noch im Jahre 1844 glaubte Johannes
Müller, dass die Wissenschaft nie die Mittel gewinnen könnte, die Ge-
schwindigkeit der Nervenwirkung zu ermitteln, „da uns die Vergleichung
ungeheurer Entfernungen fehlt, aus der die Schnelliekeit einer dem Nerven
in dieser Hinsicht analogen Wirkung des Lichtes berechnet werden kann“.!
Freilich schlug E. du Bois-Reymond kurz nachher (7. März 1845) vor, die
damals ganz neue elektrische Zeitmessung nach Pouillet zu diesem Zwecke
zu verwenden,” er machte aber keinen Versuch diesen Vorschlag zu
realisiren.
Fünf Jahre später veröffentlichte Helmholtz seine ersten „Messungen
über den zeitlichen Verlauf der Zuckung animalischer Muskeln und die
! Johannes Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen. I. 4. Aufl.
Coblenz 1844. 8.581.
” 8. Die Fortschritte der Physik im Jahre 1846. 8. XV. — Der Versuchsplan
von du Bois-Reymond ist in grösster Kürze in der Revue scientifigue et industrielle
sous la direct. du Dr. Quesneville 1846, t. XXVII, p. 82 veröffentlicht: „M. du Bois-
Reymond a communique le project d’une methode servante a determiner par l’expe-
rience la vitesse de propagation du prineipe nerveux et celle de l’action des muscles.
„Cette methode repose essentiellement sur le prineipe indigue par M. Pouillet pour
mesurer & l’aide d’un mode d’action particulier du courant &leetrique des espaces de
temps extr&mement courts. Iln’y a qu’a faire en sorte que le courant soit interrompu
par Feffet et a Pinstant möme de la contraction, qui a ete excitee par P’etablissement
du eireuit.“ (Citat nach v. Bezold, Untersuchungen über die elektrische Erregung der
Nerven und Muskeln. Leipzig 1861. S. 49, 50.)
Archiv f. A. u. Ph. 1885. Physiol. Abthlg. Suppl.-Bd, 3
114 ROBERT TiGERSTEDT:
Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung in den Nerven“! Unter An-
wendung der Pouillet’schen Zeitmessungsmethode war es ihm vollständig
gelungen, die genannten Fragen in der bewunderungswürdigsten Weise zu
lösen. Es ist hier nicht nöthig, die Versuchsanordnung von Helmholtz
detaillirt zu beschreiben; es genügt zu bemerken, dass unter den zahlreichen
Arbeiten über diesen Gegenstand, welche seitdem ausgeführt sind, keine
einzige dieselbe Schärfe der Experimentalkritik darbietet, wie die grund-
lesende Untersuchung von Helmholtz.
Weil die vorliegenden Studien nur mit der Latenzdauer der Muskel-
zuckung sich beschäftigen, werde ich unter den Ergebnissen von Helmholtz
nur diejenigen berücksichtigen, welche sich darauf beziehen. Bei direeter
Reizung des nicht überlasteten Muskels mittelst eines Oeffnungsinductions-
.schlages fand Helmholtz, dass eine Zeit nach der Reizung vergeht, be-
vor die Energie des Muskels überhaupt zu steigen anfängt. Diese Zeit
betrug in drei von ihm mitgetheilten Versuchen bez. 0.0093”, 0-0073”
und 0.0089”; dabei bestand die Belastung nur aus den wesentlichen
Stücken des Apparates. DBetrefis dieser Werthe bemerkt Helmholtz
selbst, dass sie eigentlich als obere Grenzwerthe aufzufassen sind, denn
abgesehen von anderen, von ihm hervorgehobenen und auf ihren rechten
Werth reducirten Fehlerquellen, zeigte es sich bei den Versuchen ohne
Ueberlastung, dass die Einstellung des zeitmessenden Contactes besonders
schwierig war. „Will man dem zeitmessenden Strome eine hinreichende
Leitung herstellen, so muss man nothwendig den Muskel ein wenig tiefer
einstellen, als es zur ersten zarten Berührung an der Unterbrechungsstelle
nöthig ist. Seine Spannung wird unter diesen Umständen etwas kleiner
sein als die Schwere der Belastung, der Ueberschuss der letzteren würde
also wie eine Ueberlastung wirken. Die gebrauchten Wadenmuskeln werden
durch 108” um !/, bis !/), ”” gedehnt; die kleinste wahrnehmbare Distanz
zwischen Piättchen und Goldkuppe ist !/,,,””; nehmen wir an, man habe
absichtlich zur Herstellung der Berührung den Muskel um das Fünffache
dieses kleinsten wahrnehmbaren Fehlers, also um !/,„”” zu tief eingestellt,
so entspräche dem eine Verminderung der Spannung von !/, bis 1 em,
Der Einfluss dieses Fehlers würde bei Versuchen mit Ueberlastung das
Resultat nicht merklich ändern —; er wird in unserem Falle wegen der
langsamen Ansteigung der Spannung ein viel grösserer sein. Aus diesen
Gründen ist es auf dem eingeschlagenen Wege unmöglich mit grösserer
Genauigkeit zu erfahren, wann die erste Steigerung der Energie eintritt;*
zwei nicht zu beseitigende Fehlerquellen, Schwächung des (zeitmessenden)
Stromes und Ungenauigkeit der Einstellung streben das Resultat in ent-
! Helmholtz, Dies Archiv. 1850. 8. 276—364; die Citate beziehen sich auf den
Abdruck in den Wissenschaftlichen Abhandlungen. Teipzig 1882. Bd. II. S. 764—843.
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 115
gegengesetztem Sinne zu verändern. Es wäre sogar möglich, dass die
Energie gleich vom Augenblicke der heizung an stiege, aber so
langsam, dass sie z.B. in der Reihe I während des ersten Zeit-
raumes von 0:0093 Secunden sich nur um etwa I 8m vermehrt
hätte.“! i
Ferner fand Helmholtz, dass man, so lange die Inductionsströme
hinreichend stark sind, um das Maximum der Reizung hervorzubringen,
ihre Intensität beliebig ändern kann, ohne dass dadurch die Ergebnisse
der Zeitmessungen verändert werden. Wenn aber Ströme angewendet
wurden, welche das Maximum der Wirkung nicht erreichen liessen, so
sanken die Ordinaten der Kräftecurve ganz in derselben Weise, als wenn
sie durch grössere Belastung oder durch Ermüdung des Muskels vermin-
dert worden wären. Demgemäss waren die Ausschläge des Magneten für gleiche
Ueberlastungen desto grösser, je geringer die Intensität dieser Ströme war.?
In einigen Versuchen über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der
Nervenerresung hat Helmholtz eine grössere Anzahl Beobachtungen
unter genau denselben Bedingungen gemacht, um möglichst aus-
sedehnte Zahlenreihen zu erhalten zur Berechnung der Latenzdauer der
Muskelzuckung bei Reizung einer dem Muskel näheren oder von ihm ent-
fernteren Nervenstelle.e Dabei hat er zur Beurtheilung der Genauigkeit
die wahrscheinlichen Fehler nach den Regeln der Wahrscheinlichkeits-
rechnung berechnet. Ich stelle diese Werthe der wahrscheinlichen Fehler
hier zusammen; meines Wissens sind sie die einzigen derartigen Bestim-
mungen, welche wir bis jetzt über den uns hier beschäftigenden Vor-
gang besitzen (siehe umstehende Tabelle).
Die Ueberlastung betrug bei Reihe IX 180 8", Reihe XA 20",
Reihe XB 100 =, Reihe XIA 100 =” und Reihe XIB 20 s=; Reihe XIA
und B wurden an demselben Muskel gemacht. Die Werthe des wahrschein-
lichen Fehlers der einzelnen Beobachtung sind von Helmholtz in Scalen-
theilen angegeben; ich habe dieselben in Secunden umgerechnet.’
! Helmholtz, Wissenschaftliche Abhandlungen. Bd. II. S. 797, 798; die Cursi-
virung ist ven mir.
® Helmholtz, a. a. 0. S. 809.
® Wenn » die Zahl der einzelnen Beobachtungen ist, S die Zahl der unbekannten
(hier = 1), A die absolute Abweichung der einzelnen Beobachtung vom Mittel, so ist
der mittlere Fehler, Z B= DIEDR
Nn—ND
der wahrscheinliche Fehler der einzelnen Beobachtung, r
r = 0:67449 E;
und der wahrscheinliche Fehler des Mittels
m
Vr
g*+
116 ROBERT TIGERSTEDT:
Zahl der ein- Wahrscheinl. Wahrschein-
Reihe. Latenzdauer. | zelnen Beobach- | Fehler der ein- |licher Fehler des
tungen. zelnen Beobacht. Mittels.
IX entlontere 0-04394” In + 0-00032 | + 0-00009
ervenstelle
IX nähere Ner- 0-04219° 11 + 0-00033 | + 0-00010
. venstelle
XA entferntere 0-02437 te) + 0-00056 + 0:00020
Nervenstelle
XA nähere Ner- | 0.02307’ 6 + 0.00039 | + 0-00016
venstelle
XB entferntere 0-031647 8 + 000077 + 0-00027
Nervenstelle
XB nähere Ner- | 0.03039’ 3 + 0-00074 | + 0:.00026
venstelle |
XIA entferntere 0-095857 11 + 0:00093 | + 0-00028
Nervenstelle |
XIA nähere Ner- 0:092448’ 11 + 0-00043 | + 0-00013
venstelle
XIB entferntere 0:-01743° 8 + 0-00054 | + 0-00019
Nervenstelle |
XIB nähere Ner- | 0.016317 em + 0-00061 , +0-00023
venstelle |
In der zweiten Abtheilung seiner „Messungen über die Fortpflanzungs-
geschwindigkeit der Reizung in den Nerven“! beschreibt Helmholtz aus-
führlich die Anwendung der von Ludwig in der Physiologie eingeführten
graphischen Methode für das Studium des zeitlichen Verlaufes der Nerven-
und Muskelthätiekeit. Seine Registrirtrommel hatte einen Umfang von
85.7 mm und machte sechs Umdrehungen in der Secunde; auf derselben
entsprach also 1” einer Zeit von 0-00192”. Helmholtz lenkt die Auf-
merksamkeit auf alle Vorsichtsmaassregeln, welche bei der Anwendung dieser
Methode zu diesem Zwecke zu beobachten sind, und meines Erachtens
haben seine sämmtlichen Nachfolger keine einzige Maassregel aufgestellt,
die nicht schon hier berücksichtigt wäre. Leider hat man die Bemerkung
von Helmholtz über den absoluten Werth der graphischen Zeitbestimmung
zu wenig beachtet, nämlich dass die horizontalen Abstände nicht mit sehr
grosser Genauigkeit sich messen lassen, sonst wäre man in der Muskel.
physiologie nicht so ausschliesslich bei der graphischen Methode stehen ge-
blieben, wie es jetzt der Fall ist. Helmholtz selbst scheint den in dieser
Weise gewonnenen Resultaten keine sehr grosse Bedeutung zuzuerkennen,
denn er sagt nur, dass die Werthe für die Fortpflanzungsgeschwindiekeit
der Nervenerregung ungefähr ebenso gross wie nach der elektrischen
! Helmholtz, Dies Archiv. 1852. 8. 199—216;— Wissenschaftliche Abhand-
lungen. Bd. II. S. 844—861.
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 417
Zeitmessungsmethode sich finden und theilt nur äusserst wenige Zahlen-
beispiele mit.
Im nächsten Zusammenhang mit der uns beschäftigenden Frage stehen
die kurz abgefassten Notizen, welche Helmholtz „über die Geschwindig-
keit einiger Vorgänge in Muskeln und Nerven“ im Jahre 1855 veröffent-
lichte." Hier untersucht er u. A., wie der Muskel bei Reizung durch zwei
schnell auf einander folgende elektrische Reize sich verhält. Wenn die
Reize so schwach waren, dass jeder einzelne nicht das Maximum der Rei-
zung hervorzubringen vermochte, so verstärkten sie sich auch bei der
kleinsten Zwischenzeit. Wenn aber die beiden Reize stark genug waren,
um jeden allein durch eine maximale Zuckung auszulösen, so entstand eine Sum-
mation nur dann, wenn die Zwischenzeit so gross war, dass die durch den
ersten Reiz bewirkte Muskelzuckung ihr Latenzstadium schon überschritten
hatte. Dagegen wirkten zwei maximale Reize nicht stärker als ein einziger,
wenn ihre Zwischenzeit so klein war, dass beim Anfange der zweiten
Zuckung die erste noch keine merkliche Höhe erreicht hatte. Dies traf
ein, wenn die Zwischenzeit kleiner war als 0.0017”. Wenn wir
daran festhalten können, dass bei Reizung mittels maximaler Reize eine
Summation nur stattfinden kann im Falle, dass die durch den ersten Reiz
bewirkte Zuckung wirklich ihr Latenzstadium durchgemacht hat, so wäre
nach diesen Beobachtungen die Latenzdauer. der Zuckung nicht länger als
EDIT".
Unabhängig von Helmholtz hatte zu derselben Zeit A. W. Volk-
mann das Ludwig’sche Kymographion zur Darstellung der Muskelthätig-
keit modificirt und dasselbe sowohl mit vertical wie mit horizontal gestellter
Trommel benutzt? Volkmann selbst hat meines Wissens keine nähere
Beschreibung seines Apparates gegeben; nach Bernstein besitzt derselbe
eine Messinstrommel von ca. 13% Höhe und 400 "m Umfang, welche zur
Aufzeichnung der Curven mit Postpapier überzogen, berusst und durch ein
Uhrwerk bewegt wurde? Nach Vollendung einer Beobachtungsreihe wurde
das auf den Cylinder gespannte Papier abgeschnitten und die im Russ
ausgeführte Zeichnung: mittelst einer Auflösung von etwas Mastie in Alkohol
fixirt.* Helmholtz fixirte seine Curven dadurch, dass er seinen Cylinder
! Helmholtz, Monatsberichte der kgl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin.
1855; — Wissenschaftliche Abhandlungen. Bd. II. S. 881—885.
®A. W. Volkmann, Berichte der kgl. sächsischen Gesellschaft der Wissen-
schaften. Math.-physik. Classe. 1851. S. 1—5, 55.
® Bernstein und Steiner, Dies Archiv. 1875. 8.531.
Bea Volkmann, a. 20.18.55.
118 BoBERT TIGERSTEDT:
auf einer angehauchten Fischleimplatte abrollte;' Volkmann hat also die
jetzt allgemeine Methode zur Fixirung der Curven eingeführt.”
Die zeitmessenden Untersuchungen von Helmholtz wurden bald von
anderen Forschern fortgesetzt. Doch fand die exactere elektrische Zeit-
messung fast gar keine Verwendung, trotzdem dieselbe durch die von du
Bois-Reymond ausgeführte wichtige Verbesserung des Unterbrechers viel
handlicher gemacht wurde.? “Meines Wissens haben nämlich mit Ausnahme
von Helmholtz nur Hermann? und Lamansky° derselben sich bedient.
Dagegen ist die graphische Methode in grossem Maasstabe angewandt
und in allen Richtungen ausgebildet worden; wir besitzen jetzt eine unge-
heure Menge von den verschiedensten Registrirapparaten, ‚Schreibvorrich-
tungen u. s. w. Die Anforderungen, denen jedes gute Myographion ent-
sprechen muss, wenn es zu exacten Untersuchungen verwendet werden
kann, sind in erster Reihe folgende:
1) Die Schreibfläche muss eine constante oder jedenfalls eine in jedem
Augenblicke genau bestimmbare Geschwindigkeit haben;
2) die Muskelcurven dürfen nicht in einander eingreifen, auch darf
die Abseisse nur einmal gezeichnet werden, sonst wird sie zu diek und
daher der Beginnpunkt der Zuckung sehr schwer bestimmbar;
3) es ist wünschenswerth, dass die registrirende Fläche so gross ist,
dass eine grössere Anzahl von Bestimmungen auf derselben gemacht werden
kann.
Ueber die Construction des Schreibhebels werde ich später verhandeln;
vorläufig werde ich in einer gedrängten Uebersicht darstellen, wie in den
verschiedenen Myographien die Anforderungen betreffs der Schreibfläche
und ihrer Bewegung realisirt worden sind. Bei der grossen Zahl von
Myographien ist es möglich, dass einige Apparate sich meiner Aufmerksam-
keit entzogen haben, obgleich ich dahin gestrebt habe, ein möglichst voll-
ständiges Verzeichniss aller bis jetzt veröffentlichten Myographien zu liefern.
Das Myographion von Helmholtz und dessen Modification von du
Bois-Reymond® haben trotz der Vorzüge ihrer Construction den Fehler,
! Helmholtz, Wissenschaftliche Abhandlungen. Bd. II. S. 856.
® Vergl. Hermann, Handbuch der Physiologie. Bd.I. 8.26. Anm. 2.
® du Bois-Reymond, Abhandlungen der kgl. Akademie der Wissenschaften
zu Berlin. 1862; — Gesammelte Abhandlungen. Leipzig 1875. Bd.I. S. 215—227.
* Hermann, Neue Messungen über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Er-
regung im Muskel. Archiv für die gesammte Physiologie. 1875. Bd. X. S. 48—55.'
° Lamansky, Untersuchungen über die Natur der Nervenerregung durch kurz-
dauernde Sue, in Heidenhain: Studien des phı yerobeguichen Instituts zu Breslau.
1868. Bd. IV. 8. 146—225.
° 8. bei v. Bezold, Untersuchungen über die elektrische Erregung. Leipzig
1861. 8. 79— 88,
!
—
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 119
dass die Trommel zu klein ist und nicht gestattet, eine grössere Zahl von
Curven auf derselben zu schreiben. 1" Abseisse entsprach bei Helmholtz
einer Zeit von 0-00192”, bei du Bois-Reymond 0.000437 (Maximum);
durch eine besondere Einrichtung erzielte Helmholtz, dass die Zeichen-
spitze erst dann auf die Trommel schrieb, wenn die Zuckung unmittelbar
bevorstand; beim Instrument von du Bois-Reymond musste der Zeichen-
stift bei jedem einzelnen Versuche einige Zeit vor der Auslösung des Reizes
an den Cylinder mit der Hand angelegt werden; dadurch wurde zuerst
eine grosse Anzahl sich deckender Abseissen gezeichnet, ehe die Zuckungs-
curve begann. Dieser Uebelstand konnte grösstentheils durch die a. a. O0.
S. 87 beschriebene Weise vermieden werden.
Boeck benutzte einen Cylinder von 123””® Länge und 254 "m Um-
fang; bei der grössten Geschwindigkeit entsprach 1" 0-005”.!
Valentin ersetzte den Cylinder durch eine kreisrunde Scheibe.?
Marey führte den Regulator von Foucault zur Regulirung des Ganges
der Registrirapparate ein. Durch das Uhrwerk werden drei horizontale
Axen getrieben; an jeder derselben kann der registrirende Cylinder be-
festist werden. Der Cylinder hat einen Umfang von 420"m und dreht
sich bei der grössten Geschwindigkeit Imal in 1:5”; 1” entspricht also
0.0036”. Ein wichtiger Nebenapparat ist eine kleine Eisenbahn, welche
parallell dem Registrireylinder gestellt wird. Dieser Bahn entlang bewegt
sich mittelst einer Schraube ein Rollwagen, welcher einen Halter für den
Schreibhebel, die feuchte Kammer u. s. w. trägt. Längs der Bahn wird
also der Hebel geführt und schreibt, wenn der Cylinder gedreht wird, an
demselben eine Spirallinie — die Abscisse wird also niemals verwischt und
‘ die Curven greifen nie in einander. Weil die Länge des Cylinders eine
ziemlich bedeutende ist (= 25 ®), genügt er für eine sehr grosse Anzahl
Beobachtungen.” Dieselbe Einrichtung, um den Hebel dem Cylinder ent-
lang zu führen, benutzte nach dem Vorgange der Astronomen schon 1864
Schelske bei seinen Untersuchungen über die Fortpflanzungsgesch windig-
keit der Erregung in den menschlichen Nerven;* unabhängig von Marey
beschrieb im Jahre 1868 v. Wittich dieselbe Methode.°? Bei einigen
Versuchen verwendete Marey eine Kreisscheibe an der Axe des Regulators,
a2 w. Boeck, Ofversigt af Svenska vetenskapsak a demiens forhandlingar. 1855.
8. 257— 287.
® Valentin, Grundriss der Physiologie. 5. Aufl. Braunschweig 1855. S. 528,
529; — Vergl. die Abbildung in Valentin, Physiologische Pathologie der Nerven.
Leipzig 1864. S. 86.
® Marey, Journal de l"anatomie et de la physiologie. 1866. p. 224—242.
* Schelske, Dies Archiw. 1864. S. 151—173.
® v. Wittich, Zeitschrift für rationelle Medicin. 1868. Bd. XXXI. 3. Reihe.
S. 87—125.
120 RoBERT TIGERSTEDT:
um solcher Art eine sehr grosse Geschwindigkeit zu erhalten; später scheint
er diese Methode verlassen zu haben.!
Auch Heynsius? hat einen mit Uhrwerk getriebenen Registrirapparat
beschrieben; bei demselben wird die Trommel mittels einer a. a. OÖ. be-
schriebenen Vorrichtung während ihrer Umdrehung allmählich niederge-
schraubt; die Abscisse bildet also eine Spirallinie und die Muskelzuckungen
greifen nie in einander. Die Höhe der Trommel ist 25°“, ihr Umfang
59.5, Bei der grössten Geschwindigkeit macht die Trommel eine Um-
drehung in ungefähr 1”; I" der Absecisse entspricht also einer Zeit von 0.0017”.
Das Kymographion von Ludwig, wie es jetzt in Leipzig von Baltzar
und Schmidt gearbeitet wird, wird auch viel für myographische Zwecke
angewendet und lässt in Bezug auf Exactheit und Zweckmässigkeit kaum etwas
zu wünschen übrig. Diese Kymographien geben bei der grössten Geschwindig-
keit mm = 0016”; deshalb eignet sich dieser Apparat trotz seiner sonstigen
Vorzüge nicht für ganz feine Bestimmungen” Die Hın. Baltzar und
Schmidt haben nach den Angaben Ludwig’s ein neues Instrument für
feine Zeitbestimmungen gefertigt, welches den meisten Anforderungen in
vorzüglichster Weise genügt. Mit diesem ausgezeichneten Apparate ist die
vorliegende Untersuchung ausgeführt; ich werde denselben in dem nächsten
Kapitel beschreiben.
Um den Gang dieser Registrirapparate zu controliren, hat man viel-
fach Stimmgabeln benutzt, weil man kein rechtes Zutrauen zu der Ge-
nauigkeit der Regulirung gehabt hat. Wenn man aber trotz eines kost-
spieligen Uhrwerkes eine controlirende Stimmgabel braucht, so kann man
ebenso gut das ganze Uhrwerk weglassen und die Schreibfläche einfach
mit der Hand bewegen. Derartige, billige und dennoch ausserordentlich
genaue Myographien sind von Heynsius (1869), Donders (1568),’ Brücke
(1878), Hering (1879),” Lov6n (1883),° Grünhagen (1883)? beschrieben.
! Vergl. Marey, Du mouvement dans les fonctions de la vie. Paris 1868; —
Derselbe, Za methode graphique. Paris 1878. passim.
° Heynsius, Onderzoekingen gedaan in het physiologisch Laboratorium der
Leidsche Hoogeschool. 1869. t.I. p. 7—13.
38. Cyon, Methodik der physiologischen Experimente. Giessen und St. Peters-
burg 1876. 8. 127—132.
* Heynsius, Onderzoekingen gedaan in het physiologisch Laboratorium der
Leidsche Hoogeschool. 1869. t.I. p. 12.
5 Donders, Dies Archiv. 1868. 8. 657—681.
6 Brücke, Sitzungsberichte der k. Akademie der Wissenschaften. Math.-naturw.
Classe. 1878. Bd. LXXVI. Abth. 3. 8. 237—279.
” Hering, Ebenda. 1879. Bd. LXXIX. Abth. 3. S. 25—26 des Sep.-Abdr.
° 8. bei Tigerstedt, Handledning för nybörjare vid praktiska Öfningar i fysio-
logi. Allman Nerv- och Muskelfysiologi. Stockholm 1883. p. 60. 61.
° Grünhagen, Schriften der physikalisch-ökonomischen Gesellschaft zu Königs-
berg i. Pr. 1883. Bd. XXIV. 8. 175—179,
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ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG, 121
Die technischen Einzelheiten bei diesen Instrumenten können hier nicht
näher beschrieben werden; das durchgehende Prineip ist, dass die Zeit
mittels einer Stimmgabel markirt wird; die Schreibfläche ist bei den meisten
ein Cylinder; nur Brücke wendet eine ebene Fläche an.
In vielfacher Weise hat man versucht, die Schwere direct zu benutzen,
um der registrirenden Fläche eine bestimmte Geschwindigkeit zu ertheilen.
Der erste Versuch in dieser Richtung ist von Harless; die ebene Schreib-
fläche wurde nach dem Prineip der Atwood’schen Fallmaschine in gleich-
fürmige Bewegung gesetzt; in dem Apparat von Harless entsprach 1"
einer Zeit von 0.001208”. Jendrässik hat nach demselben Princip ein
Instrument bauen lassen, welches nach ihm mit sehr grosser Genauigkeit
arbeitet; je nach dem er verschiedene Uebergewichte benutzt, entspricht
1m 0.00186”, 0-.00150”, 0-00133”, 0-00118”, 0-00110”.?
Rosenthal hat das Atwood’sche Prineip angewandt um eine mit
der Axe horizontal stehende Kreisscheibe zu bewegen. Mit diesem Appa-
rate erreicht er eine sehr grosse Geschwindigkeit; die Abscisse ist aber
eine Kreislinie, was möglicherweise die genaue Ausmessung der Curven
erschwert, Um den Gang der Scheibe zu controliren, dient eine Stimm-
gabel; nach Belieben macht die Scheibe 1 Umdrehung in 2” — 1 Um-
drehung in 0-5”. Da der hadius der Scheibe 25 “= ist, so entspricht am
RKande derselben 1%, 0.0133” bez. 0-003”. In der Regel wird eine solche
Geschwindigkeit benutzt, dass am äusseren Rande 1m = 0.005”.
In sehr einfacher, aber eleganter Weise hat Fick die Schwere als
Treibkraft benutzt. Ein schwerer Cylinder von 1 Meter Umfang steckt
auf einer stählernen Axe. Auf derselben Axe steckt unter dem Cylinder
eine Rolle von etwa 20" Halbmesser, um welche eine Schnur geschlungen
ist. Das eine Ende derselben bildet ein kleiner Ring, welcher an einem aus
dem Boden des Cylinders hervorragenden Stift angehängt ist, sodass er,
sowie die Schnur ihre Spannung verliert, abfällt; das andere Ende der
Schnur geht zunächst über eine am Stativ befestigte Rolle und trägt einen
starken eisernen Bügel, an welchem das als bewegende Kraft dienende
Gewicht hängt. Durch eine Hebelvorrichtung wird bei gespannter Schnur
der Cylinder festgehalten. Wird er nun losgelassen, so setzt das sinkende
Gewicht ihn in beschleunigte Bewegung. Ist aber das Gewicht durch eine
gewisse Strecke gesunken, so setzt sich der Bügel auf einen in seine Höh-
lung einspringenden und mit Kautschuk gepolsterten Zapfen. Damit hört
ı Harless, Sitzungsberichte der kgl. bayerischen Akademie der Wissenschaften.
1860. 8. 625—634.
® Jendrässik, Carl’s Repertorium für Experimentalphysik. 18713. 8. 312—330.
— Vergl. auch Jendrassik, Dies Archiv. 1874. S.513—597.
3 Rosenthal, Dies Archiv, 1883, Suppl.-Bd, 5. 240—279.
122 ROBERT TiGERSTEDT:
die Beschleunigung und die Spannung der Schnur auf, diese löst sich
durch Abfallen des Ringes vom Cylinder und der Cylinder kann sich
nun ganz frei mit der erlangten Winkelgeschwindigkeit in infinitum weiter
drehen. Werden 3—4!#&"® angehängt und der Fallraum auf sein Maximum
gebracht, so erreicht der Oylinder eine Endgeschwindiskeit, die für die
subtilsten Versuche über Muskelzuckungen genügt. Nach Fick arbeitet
die ganze Einrichtung mit ungemeiner Genauigkeit. Ist einmal ein be-
stimmtes Gewicht angehängt und der Fangzapfen in bestimmter Höhe fest-
gestellt, so erhält man immer wieder genau dieselbe Endgeschwindigkeit
und diese erleidet auch in dem Reste der ersten Umdrehung keine die
Genauigkeit des Resultates irgend merklich beeinträchtigende Verzögerung. Bei
einem Versuch, den Fick mittheilt, entsprach 1 "= einer Zeit von 0-00286”.1
Schon früher hatte Fick die Pendelbewegung für myographische Zwecke
verwendet. An einem grossen, schweren Pendel ist eine berusste Glasplatte
der Schwingungsebene parallel befestigt; daran wird die Zuckung geschrie-
ben. Beim Fallen löst das Pendel einen Reiz aus und wird nach voll-
endeter Halbschwingung festgehalten, so dass keine Verwirrung mit später
gezeichneten Linien entstehen kann. Die Geschwindigkeit ist zwar keine
constante, sie ist aber in jedem Augenblicke genau berechenbar. Seitdem
Helmholtz dessen Construction insofern verbessert hat, dass die Schreibfläche
ohne Veränderung des Schwerpunktes des Pendels verschoben werden kann,?
ist das Pendelmyographion eins der am meisten angewandten physiologischen
Instrumente. Die Modificationen des Pendelmyographions von Wundt?® und
von Putnam erzielen das Instrument billiger herzustellen. Auch Marey hat,
speciell für klinische Zwecke, ein transportables Pendelmyographion construirt.°
Für Vorlesungszwecke construirte du Bois-Reymond ein Myographion
mit ebener Schreibfläche, welche durch eine starke Feder mit grosser Ge-
schwindigkeit vor dem Schreibhebel bewegt wurde. Er benutzte drei un-
gleich starke Federn, mit I erzielte er eine Geschwindigkeit von 1088 m"
in 1”, mit II 1536 “m und mit III 2522 m. Die Geschwindigkeit war natür-
lich eine stetig abnehmende; dies war jedoch von keiner Bedeutung bei
Versuchen, wo nur das Latenzstadium bestimmt werden sollte.* Dieser
" Fick, Mechanische Arbeit und Wärmeentwickelung bei der Muskelthätigkeit.
Leipzig 1882. S. 95—100. |
® Fick, Vierteljahrsschrift der naturforschenden Gesellschaft in Zürich. 1862.
Bd. VII. 8. 307—320. — Helmholtz, Monatsberichte der kgl. Akademie der Wissen-
schaften zu Berlin. 31. März 1870; — Wissenschaftliche Abhandlungen. Bd. Il. S. 940.
® Wundt, Untersuchungen zur Mechanik der Nerven. Erlangen 1871. 1.8.7—11.
* Putnam, Journal of Physiology. 1879. t. II. p. 206—208.
° 8. Mendelssohn, Travaus du Laboratoire de M. Marey. 1880. t. IV.
p. 141—143.
du Bois-Reymond, Proceedings of the Royal Institution of Great Britain.
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG, 123
Uebelstand wurde übrigens gänzlich vermieden, nachdem dem Apparat eine
Stimmgabel applieirt wurde, welche ihre Schwingungen unmittelbar unter
der Muskeleurve zeichnete. Diese Anordnung wurde zuerst von Schwann
eingeführt! Das Federmyographion eignet sich vorzüglich für Demonstra-
tionen; sonst leidet es unter demselben Uebelstande wie das ursprüngliche
Myographion von Helmholtz, nämlich dass nur wenige Zuckungen auf
“eine und dieselbe Platte geschrieben werden können. Eine leicht herzustel-
lende Modification des Federmyographions wurde von Frederieq und
Vandevelde angegeben.?
Eine Feder ist ferner von Vintschgau und Dietl zur Bewegung
eines Cylinders benutzt worden. Die Zeit wird durch eine Stimmgabel
markirt (300 ganze Schwingungen). „Mit annähernder Sicherheit“ lässt
sich noch !/, Schwingung (= 000042”) schätzen. Auf demselben Papier-
streifen können 16 Myogramme Platz finden.’
Bevor wir diese lange Reihe von Myographien endigen, müssen wir
noch einige Apparate erwähnen, bei welchen die Bewegung in anderer
Weise ausgelöst wird. Thiry versuchte das Uhrwerk gänzlich entbehrlich
zu machen dadurch, dass er den Zeicheneylinder an der Axe einer Sirene
befestiste. Eine solche Einrichtung bot zugleich den Vortheil, dass aus
dem Ton der Sirene die Anzahl der Umdrehungen des Cylinders mit der
grössten Genauigkeit berechnet werden konnte. Durch passende Regulirung
der Windstärke konnte die Sirene leicht dahin gebracht werden, dass sie
längere Zeit ein und denselben Ton angab, also längere Zeit eine und die-
selbe Umdrehungsgeschwindigkeit hatte.*
. Hensen und Klünder liessen den Muskel auf einer Glasplatte, welche
durch eine Stimmgabel in fortwährender Bewegung gehalten wurde, seine
Zuckung aufschreiben. Die Stimmgabel machte 100 ganze Schwingungen in
der Secunde; der zeitliche Verlauf der Muskelzuckung war also sehr leicht
zu verfolgen. Jedoch ist es mir nicht recht klar, wie die Latenzdauer der
Muskelzuckung bestimmt werden konnte. Die Stimmgabel wurde in dem
selben Augenblicke losgelassen, als der Muskel gereizt wurde. Während
des Stadium der latenten Reizung wird die Zeichenfläche vor der Schreib-
13. April 1866. t. IV. p. 575—593; — Derselbe, Poggendorff’s Annalen. 1873.
Jubelband S. 596—611; — Gesammelte Abhandlungen. Bd.I. 8. 271—283.
ı 8. Fredericq, Theodore Schwann, Sa vie et ses travauz. Liege 1884.
P- 38.
® Frederieq et Vandevelde, Archives de zoologie exp. et gen. 1880. t. VII.
p. 515518.
® Vintschgau und Dietl, Pflüger’s Archiv u. s. w. 1881. Bd. XXV.
8. 112— 128,
* Thiry, Zeitschrift für rationale Mediein. 1864, Bd. XXI, 3. Reihe. 5. 300—306,
124 ROBERT TIGERSTEDT:
spitze hin- und zurückbewegt; es muss dann, wenn ich die Beschreibung
richtig verstanden habe, die Schreibspitze an der Glasplatte eine einfache
Linie schreiben, wie viele Schwingungen die Stimmgabel während dieser
Zeit auch thun möchte. Die Linie wird natürlich um so dicker, je länger
dieses Stadium dauert, es wird aber nicht möglich sein, zu bestimmen, wie
viele Schwingungen die Stimmgabel in dieser Zeit ausgeführt hat. Mir
scheint daher die Methode, so vorzüglich sie auch ist, um den ferneren
Verlauf der Muskelzuckung zu studiren, nicht gut verwendbar für Beob-
achtungen über die Latenzdauer der Zuckung.!
Cyon benutzte als Schreibfläche theils einen Cylinder, theils eine
Kreisscheibe, welche an derselben Axe befestigt waren. Als Motor bediente
er sich des elektromagnetischen Rotationsapparates von Helmholtz.?
Chauveau hat einen prachtvollen Registrirapparat beschrieben, wel-
cher allen möglichen Zwecken genügt und durch eine Dampfmaschine
getrieben wird. Der Cylinder ist 60°“ lang und hat einen Durchmesser
von 25 ®, Die Zeit wird durch eine Stimmgabel (300 ganze Schwingungen)
markirt. Die Winkelgeschwindigkeit ist so gross, dass 1 @= einer Zeit von
höchstens 0-00082” entspricht.’
Wenn wir die jetzt in grösster Kürze beschriebenen Apparate mit Hin-
sicht auf ihre Leistungsfähigkeit beurtheilen, so finden wir, dass fast in
Allen die Zeit mit grosser Genauigkeit bestimmt werden kann. Bei den-
jenigen Apparaten, welche nicht durch ein Uhrwerk bewegt werden, ist
die Zeitmessung mittels einer Stimmgabel die Regel: die Bestimmung ist
also hier absolut genau. Auch ohne Stimmgabel ist die Zeitmessung voll-
ständig sicher beim Pendelmyographion von Fick-Helmholtz, sowie bei
dem zweiten Myographion von Fick; dasselbe scheint im grossen Ganzen
auch mit dem Fallmyographion von Jendrassik einzutrefien. Durch be-
sondere Vorrichtungen ist bei den Cylindermyographien von Helmholtz“ '
und du Bois-Reymond dafür gesorgt, dass die Reizung nur dann statt-
‚findet, wenn die Bewegung constant geworden ist. Der Registrirapparat
von Marey giebt auch ohne controlirende Stimmgabel sehr genaue Resul-
tate, wie ich bei einigen darauf gerichteten Versuchen gefunden habe. Als
Resultat. betreffs der Zeitmessung steht also ziemlich fest, dass die bis
jetzt angewandten Apparate im Allgemeinen vollständig genügen.
Was die zweite Anforderung an ein gutes Myographion betrifft, dass
! Klünder und Hensen, Arbeiten aus dem Kieler physiologischen Institut 1868.
Kiel 1869. 8. 107—130.
? Cyon, Methodik der physiologischen Experimente. Giessen und St. Petersburg
1876. 8. 433—439.
3 Chauveau, Comptes rendus de l’ Academie des Seiences. 1878. t. LXXXVL.
p. 95—99.
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ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 125
die Muskeleurven nicht in einander greifen dürfen, und dass die Abseisse
nieht mehr wie höchstens einmal von der Schreibspitze gezeichnet werden
darf, so können wir die Apparate in zwei Hauptgruppen theilen. In der einen
dieser Gruppen ist diese Anforderung ohne die geringste Schwierigkeit er-
füllt: hierher gehören alle die Apparate, welche mit der Hand oder mit
einer Feder bewegt werden, sowie die Pendel- und Fallmyographien. Da-
‚gegen sind bei den übrigen Apparaten, d. h. bei denjenigen, welche mit
Uhrwerk getrieben werden, sowie bei den Myographien von Fick, Thiry,
Chauveau besondere Einrichtungen zu diesem Zwecke erforderlich. Ich
habe schon angedeutet, wie Helmholtz und du Bois-Reymond diese
Sehwieriekeit vermieden haben. Marey und v. Wittich haben durch die
„imbrication verticale“ in einfachster ‚Weise dasselbe geleistet. Auch der
„support a bascule“ von Marey ist im dieser Hinsicht von grossem Nutzen;
durch denselben kann der Hebel nach Belieben höher oder tiefer gestellt
und sogar vom Cylinder gehoben werden, bis der Gang desselben gleich-
mässie geworden ist. Beim Cylindermyographion von Fick macht die
Trommel nur eine einzige Umdrehung und wird nachher mit der Hand
aufgehalten. Rosenthal, Thiry, Cyon und Heynsius haben zu dem-
selben Zwecke besondere Vorrichtungen, welche a. a. 0. angegeben sind,
angebracht. Auch in dieser Hinsicht zeigen also die meisten Myographien
unter einander keinen grossen Unterschied.
Dagegen zeigen die Bequemlichkeit der Handhabung und die Kosten
der Apparate bedeutende Unterschiede. Wo es darauf ankommt, grössere
Beobachtungsreihen an ein und demselben Praeparate auszuführen, sind die
kleinen Registrirtrommeln von Helmholtz und du Bois-Reymöond ziem-
lich unbequem, denn man muss dieselben allzu oft umtauschen. Dasselbe
gilt von den Schreibplatten im Federmyographion und im Myographion
=von Brücke. Die meisten von den übrigen sind in dieser Hinsicht voll-
ständig genügend. Je eomplicirter der Apparat gebaut ist, um so kost-
spieliger wird er: die einfacheren Apparate sind daher meines Erachtens
im Allgemeinen denjenigen vorzuziehen, welche mit kostbaren Uhr-
werken oder anderen theueren Bewegungsmechanismen ausgestattet sind,
Ich finde die Uhrwerke u. s. w. vollständig unzweckmässig bei Myographien
für das Studium der latenten Reizung, wenn die dadurch ausgelöste Bewe-
gung nicht so constant ist, dass man keine Stimmgabel dazu nöthig hat,
und wenn nicht eine einzige Person genügt, um alle Manipulationen am
Instrumente auszuführen. In diesem Falle, aber auch nur dann, haben
die mit Uhrwerk getriebenen Registrirapparate den Vorzug vor allen anderen.
Mit wenigen Ausnahmen hat man seit Helmholtz als Regel bei
myographischen Zeitbestimmungen beobachtet, den Reiz durch einen an der
bewegten Schreibfläche befestigten Contact auszulösen. Die wenigen Apparate,
126 ROBERT TiGERSTEDT:
wo dieser Kunstgriff ursprünglich nieht angewendet war, sind jetzt grössten-
theils in dieser Hinsicht verändert. Wie der Contact bei den verschiedenen
Myographien construirt ist, kann hier nicht näher erörtert werden.
Bei jeder myographischen Untersuchung ist die Art wie der Muskel
seine Zuckung auf der Schreibfläche zeichnet von der grössten Bedeutung.
In dieser Hinsicht müssen wir folgende Anforderung in möglichst vollständiger
Weise erfüllen: es muss während der ganzen Zeit der Zuckung und in
jedem Augenblicke die Spannung des Muskels mit der Last des Hebels im
Gleichgewicht sein. Wenn diese Bedingung erfüllt werden soll, ist es vor
Allem nothwendig, dass der Hebel eine sehr kleine Masse besitzt. Denn
im entgegengesetzten Falle, wenn die Masse des Hebels gross ist, so wird
der Hebel schon bei dem ersten Moment der Zuckung in die Höhe ge-
schleudert und während eines grossen Theils der Zeit, während welcher ge-
zeichnet wird, schwebt er gewiss ganz frei, ohne auch nur im Mindesten
den Muskel zu spannen. Der Schreibhebel von Helmholtz, welcher lange
Zeit bei den meisten Myographien benutzt wurde, litt unter diesem Uebel-
stand. Zwar hatten Volkmann und Boeck (a. a. 0.) andere Schreib-
apparate benutzt, bei welchen das Schleudern wahrscheinlich nicht so stark
war; sie fanden aber keine Nachahmung, weil sie die Zuckungen nicht in
vergrössertem Maasstabe wiedergaben und es, besonders bei zeitmessenden
Versuchen, von grossem Nutzen ist, eine mehr weniger starke Vergrösserung
der Zuckung zu erhalten. Zuerst hat Marey, unter Beibehaltung des
Prineipes der vergrösserten Zuckung, Schreibhebel construirt, bei welchen das
Schleudern zum grössten Theile vermieden war. Er benutzte ausserordent-
lich leichte Hebel, welche entweder mit verhältnissmässig grossen um die
Axe des Hebels angebrachten Gewichten belastet wurden, oder auch mittels
einer Feder die nothwendige Spannung erhielten.” „Wenn auch theoretisch
das Schleudern eines Myographionhebels nie ganz zu vermeiden ist, so ist
es doch bei dieser Construction ohne Zweifel auf ein praktisch ausser Acht
zu lassendes Minimum herabgedrückt.“? Auch Donders benutzte, um das
Schleudern zu verhindern, Federspannung statt eines Gewichtes.? Seitdem
Donders und Fick die Prineipien von Marey adoptirt hatten,* ist die
Anwendung eines Hebels von mehr oder weniger grosser Masse immer
mehr vermieden worden, und man sucht jetzt den Hebel so leicht wie mög-
lich zu machen, etwa aus zwei auf einander geleimten, schmalen und sehr
1 Marey, Journal de lanatomie et de la physiologie. 1866. p. 224—242, —
Derselbe, Du mouvement dans les fonctions de la vie. Paris 1868. p. 191—193.
2 Fick, Pflüger’s Archiv u.s. w. 1871. Bd. IV. S. 301—304.
:S. Place, Onderzoekingen gedaan in het physiologisch Laboratorium der
Utrechtsche Hoogeschool. Tweede Reeks. 1868. I. p.83f.
“Rick, alar®.
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 127
dünnen Schilfstreifehen (Fick) mit um die Axe an einem Faden hängen-
dem Gewiehte. Im Allgemeinen ist auch die Spannung des Muskels durch
Federn zu vermeiden, weil bei diesen die den Muskel dehnende Kraft
während der Verkürzung stetig gesteigert wird. Bei ganz speciellen Fällen
leistet jedoch ein Hebel dieser Art ausserordentlich gute Dienste und kann
kaum in irgend einer anderen Weise ersetzt werden.
Die Vergrösserung der Muskelzuekung durch den Hebel ist von grosser
Bedeutung, besonders für die Abmessung der Latenzdauer. Je grösser die
Geschwindigkeit der Schreibfläche ist, um so grösser muss auch die Ge-
schwindigkeit des Schreibhebels, d. h. die Vergrösserung der Muskelzuckung
sein.! Der von Helmholtz und seinen nächsten Nachfolgern benutzte
Schreibhebel bewirkte eine doppelte Vergrösserung; später ist man weiter
gegangen und die neueren Schreibhebel vergrössern die Muskelzuckung
viel stärker, von 4-66 (Vintschgau und Dietl) bis zu 50 (Rosenthal).
Weil die Muskeleurve sehr langsam sich von der Abseisse abhebt, hat es
sich in der Regel herausgestellt, dass die Latenzdauer um so kürzer aus-
gefallen ist, je stärker die Vergrösserung gewesen ist.
Jedenfalls ist es ausserordentlich schwierig, auch bei der am besten
ausgefallenen Muskeleurve den Punkt zu bestimmen, wo die Zuckung
eigentlich anfängt.” Es sind daher mehrere Versuche schon gemacht worden
in irgend einer anderen Weise den Beginn der Zuckung graphisch zu be-
stimmen. Troitzky liess auf der Registrirtrommel den Gang des fallenden
Hebels notiren, welcher vorher durch einen Elektromagneten angezogen
und im Moment der Zuckung, in Folge der dadurch eintretenden Unter-
brechung des magnetisirenden Stromes sich selbst überlassen wurde. Hier-
durch bestimmte er die Zeit zwischen Reizung und Beginn der Zuckung;
dagegen verzichtete er darauf den zeitlichen Verlauf und die Höhe der.
Zuckung zu studiren.?
Lautenbach bestimmte unter Schiff’s Leitung die Latenzdauer der
Muskelzuckung in folgender Weise. Er fixirte den Muskel am Froschunter-
brecher du Bois Reymond’s; der Froschunterbrecher schloss den Strom zu
einem Signal Deprez, welches an einer Registrirtrommel schrieb. Sobald
der Muskel anfing sich zu bewegen, zerriss er einen Quecksilberfaden, der
Strom zum Signal wurde geöffnet, und dadurch die Latenzdauer bestimmt.
Zugleich schrieb der Hebel an einer unbewegten Platte die Höhe der
! Vergl. du Bois-Reymond, Gesammelte Abhandlungen. Bd.I. 8. 277—283.
® Vergl. Rosenthal, Dies Archiv. 1883. Suppl.-Bd. 8. 265.
® Troitzky, Bericht über die physiologischen und histologischen Mittheilungen,
die auf der Versammlung russischer Naturforscher in Kasan gemacht wurden. —
Pflüger’s Archiv u. s. w. 1874. Bd. VIH. S. 599. Nähere Kenntniss dieser Unter-
suchung besitze ich leider nicht.
128 ROBERT TIGERSTEDT:
Zuckung. Die Beobachtungen Lautenbach’s zeigen unter einander ziem-
lich grosse Schwankungen; meines Erachtens sind diese davon bedingt,
dass der Contact durch Zerreissen eines Quecksilberfadens geöffnet wurde,
denn durch eigene Versuche habe ich gefunden, dass es überhaupt ganz
unmöglich ist, in zwei auf einander folgenden Versuchen den Quecksilber-
faden so genau einzustellen, dass die in dieser Art bestimmten Zeiten nicht
grosse Variationen zeigen. Dagegen gelingt dies sehr vorzüglich mit einem
festen Contacte, und der Quecksilberfaden im Froschunterbrecher soll ja
übrigens gar nicht dazu dienen, den Contact zu Öffnen, sondern er bezweckt,
die Wiederherstellung des Contactes zu verhindern.!
Eine ähnliche Methode ist von Langendorff vorgeschlagen. Er reizt
den Muskel mit tetanisirenden Inductionsströmen; der Strom der Kette
wird durch die Schwingungen einer Stimmgabel unterbrochen; ein Signal
Deprez zeichnet auf einer rotirenden Trommel die Zahl derselben. Der
Kettenstrom geht ferner durch einen Froschunterbrecher du Bois-Rey-
mond’s: wenn der Muskel zuckt, unterbricht er den Kettenstrom und das
Signal hört mit seinen Schwingungen auf. Man braucht daher nur die
Zahl der Schwingungen zu zählen, um die Latenzdauer der Zuckung zu
bestimmen. Diese exacte und, wie es scheint, bequeme Methode bietet
unterdessen die Unzweckmässigkeit dar, dass dabei nicht einzelne, sondern
nur tetanisirende Reize verwendet werden können; abgesehen von anderen
Uebelständen ermüdet hierdurch der Muskel viel zu schnell und ist daher
nur für sehr wenige Bestimmungen verwendbar. Wegen den Bemerkungen
des Verfassers über die durch diese Methode zu erreichende Genauigkeit
verweise ich auf das Original. ?
Auch Heidenhain hat sich bei seiner Untersuchung über pseudo-
motorische Nervenwirkungen eines elektrischen Signals bedient, um den
Anfang der Zuckung zu bestimmen.’
Besonders bei den zahlreichen Untersuchungen, welche man über die
Geschwindigkeit nervöser Processe beim Menschen ausgeführt hat, hat man
vielfach auf die Anwendung der graphischen Methode verzichtet. Schon
im Jahre 1855 beschrieb Valentin die Verwendbarkeit des nach einem
Princip von Wheatstone von Hipp construirten Chronoskopes für die Be-
stimmung der Geschwindigkeit nervöser Processe.* Später wurde dasselbe
! Lautenbach, Archives des sciences physiques et naturelles. Nouv. per. 1877,
t. LIX. p. 272287. :
® Langendorff, Breslauer ärztliche Zeitschrift. 1879. Nr. 14. ®
® Heidenhain, Dies Archiv. 1883. Suppl.-Bd. 8.142.
* Valentin, Grundriss der Physiologie. Braunschweig 1855. 5. Auflage.
8. 533536. — Wegen Beschreibung des Chronoskopes s. u. A. v. Bezold, Unter-
suchungen über die elektrische Erregung. 1861. S. 45—49,
7191359020, pe
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 129
Instrument von Hirsch und von Kohlrausch benutzt bei Studien über
Reactionszeiten. Um eine Vorstellung von den Fehlergrenzen des Chrono-
skopes sich zu bilden, machte Hirsch die Prüfung mit der aus gleicher
Höhe fallenden Kugel und berechnete aus den erhaltenen Abweichungen
den mittleren Fehler. Es ergab sich bei nicht zu schwachem, normalem
Strome der wahrscheinliche Fehler des Mittels 0.0002”, und der wahr-
scheinliche Fehler der einzelnen Beobachtung 0-.0011”— 0.0012." Nach
Kohlrausch ist der wahrscheinliche Fehler der einzelnen Beobachtung
sogar höher, bez. 0.003.” Aus diesen Bestimmungen ergiebt sich, dass
das Chronoscop zwar vollkommen genügt bei Versuchen über Reactionszeiten,
aber bei Studien über die Latenzdauer der Muskelzuckung oder über die
Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Nervenerregung gar zu wenig empfind-
lich ist.
Endlich sei hier noch erwähnt ein Apparat von W. Hankel zur
Messung sehr kleiner Zeiträume, mit welchem der Verfasser u. A. eine Be-
obachtungsreihe über Reactionszeiten ausgeführt hat. Der bewegte Körper,
auf welchem die Zeichen aufgetragen werden, besteht aus einem Paraffın-
ringe, der in die Rinne einer 235" im Durchmesser haltenden messingernen
Scheibe eingegossen ist; er wird durch ein grosses Räderwerk in gleich-
föürmige Umdrehung gesetzt. Die Lage der Marken wird mittels eines
Nonius in 0-1 eines ‚halben Grades gemessen. Um die Umdrehungs-
geschwindigkeit der Scheibe zu bestimmen fällt nach je 30 Umlaufen des
Ringes ein Hebel nieder; dieser schliesst einen Strom, welcher durch den
Elektromagneten eines Registrirapparates geht, wie sie bei astronomischen
Beobachtungen im Gebrauche sind. Die Zeitmarken werden durch feine
Spitzen in das Paraffin eingedrückt; durch eine besondere Vorrichtung
werden die Spitzen, augenblicklich nachdem die Marke gegeben ist, von der
Scheibe weggezogen; sie zeichnen also nur kurze Marken und keine voll-
ständigen Kreise in das Paraffin. Die nähere Anordnung des Apparates
kann hier nicht beschrieben werden. Die Zeit, in welcher sich die Scheibe
um 1° dreht, ist 0.0005857”—0.0007034”.? Bis jetzt hat dieser Apparat
in der Physiologie keine andere Verwendung als die oben erwähnte ge-
funden. Die Methode scheint auch ein wenig beschwerlich und complieirt
zu sein; besonders gilt dies von dem Füllen der Scheibe mit Paraffin und
dem nachherigen Abdrehen.
! Hirsch, Moleschott’s Untersuchungen. IX. 8. 183—199. Die Abhandlung
ist vorgetragen vor der naturforschenden Gesellschaft zu Neufchätel am 8. Nov. 1861.
® Kohlrausch, Zeitschrift für rationelle Mediein. 1866. 3. Reihe. Bd. XXVII.
8. 190— 204.
® W. Hankel, Berichte der kgl. sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften.
Math.-naturw. Classe. 1866. 8. 46—74.
Archiv f. A.u. Ph. 1835. Physiol. Abthlg. Suppl.-Bd. 9
130 ROBERT TIGERSTEDT:
Die nach den jetzt beschriebenen Methoden von den früheren Be-
obachtern gewonnenen Ergebnisse werde ich, beim Studium wie die Latenz-
dauer der Muskelzuckung von verschiedenen Variabeln abhängig ist, in Zu-
sammenhang mit meinen eigenen Resultaten eingehend darstellen.
Zweites Kapitel.
Die Versuchsmethode.
Dass das Aufzeichnen der Muskelcurve auf einer bewegten Fläche
für sich allein nicht genügt um die Latenzdauer einigermaassen sicher
zu bestimmen, geht aus dem ersten Kapitel deutlich hervor, und ich
war also genöthigt, in einer anderen Weise meine Versuche vorzunehmen. Es
schien mir der Mühe werth, zu prüfen, ob nicht nach dem Prineip von
Troitzky, Lautenbach und Langendorff brauchbare Resultate durch
die graphische Methode erhalten werden könnten, denn die graphische
Methode ist jedenfalls nothwendig um den Zuckungsverlauf zu studiren,
auch wenn dieselbe nicht für die Bestimmung der Latenzdauer brauchbar
wäre. Wollte ich die Latenzzeiten nach der Pouillet’schen Methode be-
stimmen, so wär ich also jedenfalls gezwungen gewesen, die Zuckung an einer
bewegten Fläche aufzuschreiben; es war aber nicht undenkbar, dass die
genannte Zeitbestimmung an derselben bewegten Fläche mit genügender
Exactheit geschrieben werden konnte. Ich war so glücklich, im Laboratorium
des Hrn. Professor Ludwig einen ausgezeichneten Registrirapparat zu
finden; mit demselben und einem von Hrn. Pfeil in Berlin construirten
elektrischen Signal erhielt ich Ergebnisse, welche an Genauigkeit keines-
. weges hinter denjenigen stehen, welche mit der elektrischen Zeitmessungs-
methode erhalten werden können.
Das Prineip meiner Methode ist ganz einfach folgendes: Der Reiz wird
ausgelöst durch einen unverrückbar am Registrirapparate befestigten Con-
tactunterbrecher; der Muskel schreibt seine Zuckung an der Trommel
mittels eines nach den Grundsätzen Marey’s und Fick’s construirten Hebels;
dieser Hebel ist aber mit einer Contacteinrichtung versehen, durch welche
ein Strom zum elektrischen Signal geöffnet wird, genau in demselben Augen-
blicke, wo die Zuckung beginnt. Dieses Prineip wurde in folgender Weise
durchgeführt.
I. Der Contacthebel. Der Hebel, den ich bei meinen meisten
Versuchen benutzte, bestand aus einen Strohhalm von 120m Länge (incl.
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 131
der Schreibfeder).. 17 "m entfernt von der Axe des Hebels war an dem-
selben ein Platinstiftchen befestigt, welches in leitender Verbindung mit
einer Batterie stand. Gerade unter dies Stiftehen war an der Bodenfläche
des Apparates ein Pfeiler angebracht; dieser Pfeiler trug eine fein gearbeitete
Schraube mit platinirter Oberfläche. Vom Pfeiler ging der Strom weiter
nach dem elektrischen Signal u. s. w. Der Angriffspunkt des Muskels
am Hebel lag in einer Entfernung von 24”"m von der Axe. Die Ver-
grösserung der Zuckung war also genau 5 mal. Nachdem der Muskel in
gewöhnlicher Weise in die feuchte Kammer eingesetzt und am Hebel be-
festigt war, wurde die Schraube langsam gedreht, bis der Contact zwischen
dem Platinstiftehen und der Schraube stattfand. Wenn der Muskel gereizt
wurde und zuckte, wurde der Contact geöffnet und das Signal also demag-
netisirt. Die gesammte Masse des Hebels betrug nur 14°”, und die auf
den Muskel wirkende Last nur 42%; bei einigen Versuchen wurde um
die Hebelaxe ein Gewicht extra angebracht; der Durchmesser der Axe war
4um. der auf den Muskel wirkende Theil dieses Extragewichtes betrug
also nur !/,, desselben. Ich werde diesen Hebel als Hebel I bezeichnen.
Bei einigen Versuchen, wobei eine möglichst kleine Belastung nöthig
war, benutzte ich einen anderen Hebel von nur 2-1 ®m Masse, welcher
sonst ganz ähnlich dem eben beschriebenen war. Die Entfernung des
Contactes von der Hebelaxe war 32 "=; der Angriffspunkt des Muskels
20=%, Die auf den Muskel wirkende Last betrug beim Hebel allein un-
gefähr 0.5:"%; die Belastung konnte vermehrt werden, wenn um die Hebel-
axe oder um eine an derselben befestigte Rolle ein Extragewicht ange-
bracht wurde. Der Durchmesser der Axe war = 2m, derjenige der Rolle
—=5-5mn. im ersten Falle war der auf den Muskel wirkende Theil dieses
Extragewichtes !/,,, im zweiten ungefähr !/,. Ich bezeichne im folgenden
diesen Hebel als Hebel II.
Die Masse dieser Hebel war also sehr klein und das Schleudern muss
also zum grössten Theile vermieden gewesen sein. Um den Einfluss der
zu bewegenden Masse zu untersuchen war es bei einigen, eigens darauf
bezüglichen Versuchen nothwendig, die Masse zu vergrössern ohne die Spannung
des Muskels zu verändern. Zu diesem Zwecke war an der Axe des Hebels I
ein kleines Ebonitstückchen befestigt, und zwar in solcher Weise, dass die
Axe durch die Mitte dieses Stückchens ging. Genau in derselben Ent-
fernung (ungefähr 20%®) von der Mitte trug jedes Ende dieses Stückchens
eine kleine Oese, an welcher Gewichte angehängt werden konnten. Wenn
diese nahezu vollständig gleich schwer waren und also einander equilibrirten,
konnte die zu bewegende Masse vergrössert werden, ohne dass die Spann-
ung des Muskels dadurch verändert wurde. Ich benutzte drei Paare Ge-
wichte, nämlich:
192 ROBERT TIGERSTEDT:
1) 100.115 bez. 100.127 sm
2) 50.115 bez. 50-125 em
3) 20.102 bez. 20.108 sm
Der Unterschied zwischen je zwei Gewichten ist also ganz unbe-
deutend.
Bei anderen Versuchen galt es, die Spannung des Muskels ohne
Aenderung der zu bewegenden Masse zu varüren. Dazu benutzte ich zwei
Stahlfedern (Taf. I, Fig. 1): die eine (Feder I) erlaubte dem Muskel nach
Belieben eine Anfanssspannung von 5—100 em zu geben; durch die
andere (Feder II) konnte die Anfangsspannung von 5--250 Em verändert
werden. Eine kleine an der Seite der Feder stehende Scala s gab die
Grösse der Anfangsspannung an. Sonst waren die federnden Hebel in ganz -
derselben Weise wie die anderen construirt; ihre ‚gesammte Länge betrug
12-5 °®, die Entfernung des Contactes c von dem festen Punkt der Feder
40mm, die Entfernung des Angriffspunktes des Muskels m 25"; die
Zuckung wurde also auch hier 5 mal vergrössert.
Als Schreibspitze benutzte ich ganz dünne Fischbeinstücke, welche zu
diesem Zwecke sich ganz vorzüglich eienen. Am freien Ende des Hebels
war ein kleines |_| -förmiges Stück angebracht, x; die Seitentheile dieses
Stückes waren durchgebohrt und in den Löchern ein kleiner Draht einge-
setzt. An diesem Draht war eine kleine Nadel y angelöthet; das dünn ab-
geschabte und spitz abgeschnittene Fischbein, /, wurde daran aufgestochen
und das obere Ende der Nadel durch ein kleines Kautschukbändchen, 4,
nach hinten sanft gezogen. Hierdurch war die Schreibspitze gezwungen,
immer an der Schreibfläche sich anzulegen; die Frietion gegen die Schreib-
fläche war wegen der grossen Zartheit des Materiales ganz unbedeutend.
Der Muskel war in einer feuchten Kammer eingeschlossen und durch
starre Metalldrähte mit dem Contacthebel verbunden. Bei den Versuchen,
wo eine Stahlfeder den Hebel darstellte und die Anfangsspannung des
Muskels verändert werden sollte, war die Einrichtung getroffen, dass die
Muskel durch eine Schraube höher oder tiefer gestellt und somit die Span-
nung verändert werden konnte, ohne dass der Muskel seine Lage in Bezug
auf die Contactfeder zu verändern brauchte. Bei den meisten Versuchen
wurde der reizende Strom mittels Metallelektroden den beiden Enden des
Muskels zugeführt; ich habe bei deren Anwendung zu dem vorliegenden
Zwecke keinen Uebelstand bemerkt; wo es sich um constante Ströme han-
delte, habe ich mich jedoch auch unpolarisirbarer Elektroden bedient; vom
Kochsalzthon leitete ich den Strom durch in 0.5 Procent Kochsalzlösung
getränkte wollene Fäden, welche um die beiden Enden des Muskels ge-
bunden waren.
|
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUOKUNG. 133
U. Das elektrische Signal. Ich war bei meinen Versuchen so
glücklich, einen neuerdings von Hrn. J. Pfeil in Berlin construirtes
elektrisches Signal benutzen zu können. Dieses Signal (Taf. VI, Figg. 2 u.
3) übertrifft nach meiner Erfahrung weitaus das Signal Deprez, welches
alle übrigen Signale bis jetzt im Schatten gestellt hat. Das Signal Pfeil
ist in folgender Weise construirt. An zwei Stützplatten, a, a, ist eine
63mm lange, 14 "mM breite und 0-5 "m dicke Stahlplatte, d, befestigt. In
der Mitte dieser Platte befindet sich ein kleiner Stab c, welcher an einen
Hebel d. angreift. Die Axe dieses Hebels bewegt sich in Spitzenschrauben,
e, welche von einem kleinen, am äusseren oberen Rande der einen Stütz-
platte befestigten Pfeiler, f, getragen werden. Nach der anderen Seite
wird der Hebel fortgesetzt und endet mit einer fein abgeschnittenen Fisch-
beinspitze. Die Entfernung des Stützpunktes von der Axe ist 3.5 "m; die-
jenige der Schreibspitze 7S“m; die Excursionen der Stahlplatte werden
also etwa 22 mal vergrössert aufgezeichnet. Um die Schwere des längeren
Hebelarmes zu compensiren, ist am kürzeren Hebelarm hinter der Axe ein
kleines Gegengewicht, g, angebracht.
Unterhalb der Stahlplatte befindet sich ein Elektromagnet, Ah. Mittels
einer Schraube, z, kann er der Platte genähert oder von derselben entfernt
und somit die Excursionen derselben grösser oder kleiner gemacht werden.
Wenn der Strom geschlossen wird, so wird die Platte vom Magnet ange-
zogen; wenn der Strom geöffnet wird, nimmt die Platte ihre frühere Gleich-
gewichtslage wieder an. Die Platte darf die Pole des Elektromagnets nie
berühren; in Folge dessen wird die Verzögerung des Signals bei der Oeffnung
des Stromes äusserst klein, wie die später zu liefernden Bestimmungen
deutlich zeigen werden. Wie oben bemerkt, werden die Excursionen des
Hebels durch grössere oder kleinere Entfernung des Magnets von der Platte
kleiner oder grösser; ich habe bei meinen Versuchen eine mittlere Lage
angewandt; dabei waren die Excursionen der Schreibspitze ungefähr 1.2
—1.3®m, Um die Schreibspitze des Signals gegen die Schreibfläche fein
einzustellen, ist der ganze Apparat durch eine Tangentialschraube A um
seine Längsaxe (2, Taf. VI, Fig. 3) drehbar. Endlich ist noch zu bemerken,
dass das Signal an einem Eisenstabe, m, von quadratischem Durchschnitte
befestigt ist; dieser Stab kann in einer, dem Instrumente beigegebenen
Hülse so gestellt werden, dass das Signal sowohl bei horizontaler wie bei
verticaler Axe der Schreibfläche verwendet werden kann.
Zu den grossen Vorzügen, welche dieses Signal durch seine Bequemlich-
keit und Empfindlichkeit besitzt, kommt noch der Vortheil, dass der Draht,
welcher beim Elektromagnet benutzt ist, nicht so fein wie beim Signal
Deprez ist; man kann daher ziemlich starke Batterien, ohne Furcht den
134 ROBERT TIGERSTEDT:
Draht durchzubrennen, benutzen. Ich habe immer 1 Grove angewendet.
Wegen der Prüfung des Signals, siehe den folgenden Abschnitt.
II. Der Registrirapparat. Wie oben gesagt, benutzte ich bei
diesen Versuchen einen nach den Angaben des Hrn. Prof. Ludwig von
Hrn. Baltzar und Schmidt gebauten sehr einfachen Registrirapparat.
Eine Trommel von 130 »m Höhe und 500"m Umfang wird ‘durch ein
Uhrwerk bewegt. Das Uhrwerk wird durch ein schweres Gewicht getrieben;
grosse Windflügel sowie die bedeutende Masse der Registrirtrommel sichern
die Constanz der Bewegung. Zu dem Apparate gehören zwei einander
genau ähnliche Trommeln, welche ich mit dem Buchstaben 4 und B be-
zeichnen will; diese Trommeln machten 100 Umdrehungen in folgenden
Zeiten (bevor die Zählung der Umdrehungen begann, hatte die Trommel
immer 12 Umdrehungen gemacht, damit die Geschwindigkeit constant
werden sollte; dieselbe Vorsichtsmaassregel habe ich immer bei meinen
Bestimmungen beobachtet).
Trommel A.
100 Umdrehungen in 1 mm
= 50000 mm Sec. in Sec.
1 178.4 0.001568
2 79.4 0.001588
3 79.0 0.001580
4 79.2 0.001584
5 79.4 0:001588
6 79.0 0.001580
7 79.0 0.001580
3 79.0 0.001580
Mit tel 7905 0-001581
Mittlerer Fehler + 0.000006”
Wahrscheinl. Fehler der einz. Beobachtung + 0.000004”
Wahrscheinl. Fehler des Mittels . . . + 0.000002”
] wm entspricht also bei Trommel A einer Zeit von
0.001581” + 0.000004”
Trommel B.
100 Umdrehungen in 1 mm
(= 50000 mm) Sec. in Sec.
1 79.0 0.001580
2 80.2 0.001604
6) 79.8 0.001596
En ne
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 135
100 Umdrehungen in 1 mm
(= 50000 mm) Sec. in Sec,
| 4 79-0 0.001580
5 79.6 0.001592
6 79.8 0.001596
7 80.2 0-001604
) 79.6 0.001592
1) 80.0 0.001600
10 S0.2 0.001604
Mittel 79.74 0-001595
Mittlerer Fehler MORE. + 0:000009”
Wahrscheinl. Fehler der einz. Beobachtung + 0.000006”
Wahrscheinl. Fehler des Mittels . . . + 0:000002”
lmm entspricht also bei Trommel B einer Zeit von
0.001595 + 0.000006” Y
Bei den Zeitbestimmungen, die ich gemacht habe, ist es vollständig
genügend, das Ergebniss mit 4 Decimalstellen anzugeben; ich werde also
bei der Berechnung meiner Versuche die folgende Relation zwischen Länge
und Zeit annehmen:
ze = (%0NBT
Meine Werthe für die Latenzdauer bewegen sich im Allgemeinen zwischen
2 und 10mm; auch bei 10m beträgt der wahrscheinliche Fehler der ein-
zelnen Beobachtung nur 0-00004” bez. 0-00006”; die Bewegung der
Trommel kann also für meinen sowie im Allgemeinen für die meisten
“physiologischen Zwecke als vollständig constant aufgefasst werden.
Ich will hier noch ausdrücklich bemerken, dass bei den Versuchen
über die Rotationsgeschwindigkeit der Trommel die beiden Hebel, welche
ich bei meinen Versuchen benutzte, an der Trommel schrieben, und dass
also die Friction hier dieselbe wie in den Muskelversuchen war.
Die Trommel konnte längs ihrer Axe mittels einer Schraube in ver-
ticaler Richtung bewegt werden. Ohne Schwierigkeit konnte ich daran
Raum für 20 und noch mehrere Versuche finden: die Grösse der Trommel
genüst also für die meisten derartigen Zeitbestimmungen.
An der Axe der Trommel befindet sich eine kleine runde Scheibe,
welche ein Metallstiftehen trägt; dies Stiftchen dient als Contactunterbrecher.
Der Contact selbst ist hergestellt durch eine Platinspitze, welche mittels
einer schwachen Feder leise gegen eine Platinplatte gedrückt wird. Diese
einfachste Contacteinrichtung ist an einem Ebonitstück befestigt; dies Stück
136 ROBERT TIGERSTEDT:
wird durch eine Feder aus dem Bereich des contactunterbrechenden Stift-
chens weggezogen. Die Trommel wird umgedreht, man wartet ruhig bis
die Geschwindigkeit constant geworden ist, dann übt man auf die Feder
einen Gegendruck, der Contact kommt innerhalb des Bereiches des an
der Scheibe befestigten Metallstiftchens und der Strom ist geöffnet. Ich
brauche kaum zu sagen, dass durch eine besondere Einrichtung die un-
mittelbare Wiederherstellung des Contactes vermieden ist.
Die Registrirtrommel besitzt also zwei von den Eigenschaften, die ich
früher als nothwendig für solche Apparate bezeichnet habe. Es wäre auch
nicht sehr schwierig alles so herzustellen, dass der Muskelhebel an die
Trommel nicht früher angelegt wird, als die Geschwindigkeit constant ge-
worden ist. Bei meinen Versuchen war eine solche Complication nicht
nothwendig; der Muskelhebel konnte ruhig schreiben, wie viele Abseissen
er nur wollte — die Latenzzeit wurde doch nicht aus der Muskeleurve
gemessen. Und es war sehr leicht, den Hehel des elektrischen Signals
daran zu verhindern, eine grosse Menge sich deckender Abscissen zu zeichnen.
Man brauchte es nur so einzurichten, dass der Strom zum Signale nur
kurz vor der Auslösung des Reizes geschlossen wurde: dies geschah ganz
einfach durch einen quecksilbernen Schlüssel. Während der Zeit, welche die.
Trommel brauchte um eine constante Geschwindigkeit zu erlangen, war der
Signalstrom geöffnet, der Hebel des Signals war nicht vom Magnet angezogen
und die Schreibspitze zeichnete an der Trommel eine Linie, welche von
gar keiner Bedeutung war. Als der Augenblick der Reizung gekommen
war, wurde der Signalstrom geschlössen, der Hebel vom Magnet angezogen,
die Schreibspitze schreibt ihre Linie um 1.2 "m tiefer wie früher, der Muskel
zuckt, der Strom zum Signal wird dadurch früher geöffnet, als die Trommel
eine Umdrehung vollendet hat, und die vom Signal gezeichnete Curve steht
da ganz einfach und sauber: die Schreibspitze hat nur ein einziges Mal
in dieser Linie sich bewegt.
| Nach stattgefundener Zuckung wird die Trommel mit der Hand fest-
gehalten. Bei dem grossen Umfang der Trommel ist diese Manipulation
mit keinerlei Schwierigkeit verbunden.
Nach Allem, was ich über diesen Registrirapparat hier berichtet habe,
und nachdem ich mit demselben mehrere Monate lang täglich gearbeitet
habe, kann ich nicht umhin hervorzuheben, dass. dieser Apparat wahr-
scheinlich die meisten der jetzigen übertrifft, und dass nur wenige
ihm nahe kommen. Er ist ferner ausserordentlich leicht zu handhaben und
solid gebaut wie alle die Instrumente, welche aus der berühmten Werk-
stätte der Hrn. Baltzar und Schmidt hervorgehen.
Jetzt stellt sich die Frage: wie arbeiten der Signal- und der Regis-
trirapparat zusammen? Diese Frage habe ich in der Weise zu entscheiden
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG, 137
gesucht, dass ich durch den Registrirapparat die eigene Latenzdauer des
Signals, d. h. die Zeit zwischen dem Oeffnen des Stromes und der darauf
folgenden Bewegung der Schreibspitze des Signals, bestimmt habe. Die
Versuche wurden in der Weise ausgeführt, dass der Signalstrom durch den
Contact des Registrirapparates geleitet wurde. Die Trommel wurde in
. Bewegung gesetzt und als sie die constante Geschwindigkeit erreicht hatte,
wurde der Signalstrom durch das Unterbrechungsstiftchen geöffnet. Hier-
bei wurde auch die oben erwähnte Vorsichtsmaassregel beobachtet, dass
nämlich der Signalstrom nicht früher geschlossen wurde, als die Geschwindig-
keit der Trommel constant geworden war und die Oeffnung desselben un-
mittelbar nachfolgen konnte. Der Augenblick der Oeffnung wurde in ge-
wöhnlicher Weise durch langsame Umdrehung der Trommel bestimmt.
Ich lasse hier die Beobachtungen über die Latenzdauer des Signals in
extenso folgen.
Latenzdauer des Signals.
Trommel A.
.nzdauer „atenzd , =
Nummer | 1 Secamden Nummer | in Secunden Nummer | jr Secunden
1 0.0007 15 0.0003 29 0.0002
2 0.0005 16 0.0004 80 0.0002
3 0.0002 17 0-0003 ol 0.0005
4 0-0003 18 0-0003 32 0.0002
) 0.0007 19 0.0006 Sp) 0-0005
6 0-0003 20 0-0002 94 0-0003
7 0-0004 21 0-0003 5%9) 0.0005
5 0-0002 22 0-0002 86 0.0003
I 0.0003 23 0-0005 a 0.0002
10 0-0003 24 0-0003 38 0-0002
11 0.0003 25 0.0002 39 0.0003
12 0.0003 26 0.0002 40 0-0006
13 0-0003 DT 0.0002 41 0.0002
14 0-0013 28 0.0003
‘Wenn wir. die Bestimmung Nr. 14, welche viel zu viel von den übrigen
Bestimmungen abweicht, weglassen, so finden wir als Mittel:
Wiesiiatenzdauer.des Sienals. . -. -... .. .. 0.0003”
inlerersltehlerr 0.0. 2.4.00 00002"
Wahrscheinl. Fehler der einzelnen Beobachtung . + 0.0001”
„Wahrscheinlicher Fehler des Mittels . . . . . + 0.00002”!
! Ich werde im Folgenden die Ergebnisse der Zeitbestimmungen und der Wahr-
scheinlichkeitsrechnung nur mit vier Decimalstellen angeben.
138 ROBERT TIGERSTEDT:
Trommel B.
Nummer | Meigeadener ummer | Tatazdaı Mummer | Legmlanee
1 0-0002 15 0-0003 23 | 0.0002
2| 0-0003 16 0-0003 29 0.0003
3 0-0002 7 0-0006 30 0.0002
4 00003 18 0-0003 31.’ 09-0005
5 00002 19 0-0005 32 .| 0.0002
6 | 0.0002 20 0.0004 33 | .0-0005
7 0.0002 2 0.0002 34 | 0-0002
8 00002 2% 0-0002 35 0.0002
9352020003 23 00003 36 0.0003
10 | 0.0002 24 0.0003 37 0.0002
1 09-0002 25 0-0002 38 0-0003
12 0-0003 26 0-0003 39 0.0002
13 0-0003 27 0.0002 40 0.0002
14 0.0003
Wir finden also als Mittel:
Dierlatenzdauer des Signalsw. . 7.2.2 22:5:0200037
Mittlerer- Behler=. wesen er 2 2500
Wahrscheinl. Fehler der einzelnen Beobachtung . + 0-0001”
Wahrscheinlicher Fehler des Mittels . . . . .. + 0-00002”
Als die eigene Latenzdauer des Signals, welche von den Werthen für
die nach meiner Methode bestimmte Latenzdauer der Muskelzuckung ab-
gezogen werden muss, werde ich also annehmen:
0.0003”;
wobei der wahrscheinliche Fehler einer einzelnen Beobachtung nicht grösser
ist als:
0.0001”.
- Um den Einfluss aller Zufälle möglichst zu vermeiden, habe ich bei
meinen Versuchen mich bemüht, eine grosse Anzahl Beobachtungen unter
genau denselben äusseren Bedingungen zu machen und dann auf Grund
dieser Beobachtungen den wahrscheinlichen Fehler des Resultats zu be-
rechnen. Wie die folgenden Abschnitte zeigen werden, haben meine Mittel-
werthe hierdurch eine ziemlich grosse Exactheit gewonnen. Bei einigen
Versuchen ist es mir nicht möglich gewesen dieser Regel vollständig zu
folgen: dies ist der Fall z. B. bei den Versuchen über die Abhängigkeit
der Latenzdauer von der Reizstärke, bei untermaximalen Reizen. Um das
hier obwaltende Gesetz kennen lernen, war es nothwendig die Reizstärke
ziemlich viel zu variiren: hätte ich bei jeder Reizstärke eine grössere An-
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 139
zahl Bestimmungen gemacht, so wäre der Muskel ermüdet und hierdurch
der Vortheil der Wahrscheinlichkeitsrechnung illusorisch geworden.
Die Methode, durch ein elektrisches Signal die Latenzdauer der Muskel-
' zuekung zu bestimmen, ist nur mit zwei anderen vergleichbar: 1) mit der
Methode von Pouillet-Helmholtz und 2) mit der Methode, den Anfang einer
Bewegung durch einen elektrischen Funken zu markiren. Wie verhält
‚ sich die von mir benutzte Methode zu diesen beiden?
Ein grosser Vortheil meiner Methode liegt darin, dass das Signal durch
seine Bewegung den Augenblick angiebt, wann der zeitmessende Strom ge-
schlossen wird. Wenn man den zeitmessenden Contact durch Drehen der
Schraube unterhalb des Contacthebels einstellt, so hat man in der Be-
wesung des Signals das zuverlässigste Zeichen vom Stromschlusse, und
man lernt sehr bald, die Einstellung mit der nothwendigen Feinheit
auszuführen. Weder die Pouillet’sche, noch die Funken-Methode sind in
dieser Hinsicht so empfindlich; jedoch ist es ja mit keinerlei Schwierigkeit
verbunden, auch bei diesen Methoden ein elektrisches Signal als Indicator
des Schlusses des zeitmessenden Stromes zu benutzen.
Meine Methode bietet aber einen anderen, nicht gering zu schätzenden
Vortheil. Wie bekannt, erhebt sich die Muskelzuckung im Beginn nur sehr
langsam; bevor der zeitmessende Strom vollständig geöffnet wird, wird er
also, wegen des allmählichen Steigens der Zuckung, mehr oder weniger
stark geschwächt. Das elektrische Signal markirt dies ausserordentlich
deutlich: weil der Strom nicht plötzlich geöffnet wird, sondern zuerst der
Widerstand, in Folge der allmählichen Entfernung der Contacttheile, steigt,
so löst sich die Signalcurve nicht plötzlich, sondern nur langsam von der
Abseisse ab, und somit wird der erste Verlauf der Zuckung gewissermaassen
‚, abgebildet in der Bewegung des Signals. Dabei ist es zu bemerken, dass
die Ausmessung der Curven hierdurch nicht im höheren Grade erschwert
wird; wenn man bei der Ausmessung ein Mikroskop benutzt, so wird man
in der Regel keine Schwierigkeit haben die Signalcurven auf O-1“m oenau
auszumessen, d. h. eine Genauigkeit von 0-00016” bei der Messung zu er-
reichen.
Hierin scheint es mir, dass meine Methode den Vorzug vor den zwei
anderen verdient, denn die Art, wie durch die allmähliche Schwächung des
zeitmessenden Stromes die Zeitbestimmung nach Pouillet oder mittelst
des elektrischen Funkens beeinflusst wird, ist lange nicht so leicht wie beim
elektrischen Signal zu übersehen. Von nebensächlicher, jedenfalls aber
nicht unwichtiger Bedeutung ist ferner der Umstand, dass bei meiner
Methode die Versuche sehr bequem und ohne die geringste Schwierigkeit
auszuführen sind.
140 ROBERT TIGERSTEDT:
\
IV. Der Stromwähler und die Versuchsanordnung. Es war
nothwendig nicht nur die Richtung des reizenden Stromes, sondern auch \
seine Art ohne Schwierigkeit variiren zu können, und also durch einen :
einfachen Handgriff indueirte und constante Ströme mit einander wechseln
lassen zu können. Die ziemlich complieirte Anordnung, wodurch ich in sehr !
bequemer Weise dies erzielt habe, ist folgende (siehe Taf. VI, Fig. 4).
Der zeitmessende Strom geht von der Batterie , durch den Contact-
hebel C' zum elektrischen Signal S. Der Quecksilberschlüssel @, dient dazu,
den Signalstrom kurz vor der Auslösung des Reizes zu schliessen (vgl.
oben 8. 136).
Der am Registrirapparate befestigte Reizcontact 2 steht durch die »
beiden Drähte XX mit den mittleren Schrauben einer kreuzlosen Pohl’- .
schen Wippe W, in Verbindung. Je nach der Stellung der Arme der '
Wippe dient der Reizeontact zur Auslösung eines Reizes oder zur Unter-
brechung des Signalstromes. Das letztere ist der Fall bei der Aufzeichnung °
des Augenblickes, wann die Reizung stattgefunden hat.
Zur Abwechslung der Reizart dienen die beiden Stromwähler Z und |
M. L besteht aus 6 und M aus 8 mit einander durch Kupferbügel zu
verbindenden Quecksilbergefässen. In Z stehen die Gefässe 1 und 4, 3 undd
durch Kupferdrähte unter einander in steter Verbindung. Die Stromart
kann durch verschiedene Combinationen der Quecksilbergefässe variirt werden,
Ist die Wippe W, so gestellt, dass ihre Arme in die Gefässe a und 5
tauchen, so bildet der Reizcontact eine directe Schliessung der Batterie
5,, wenn im Stromwähler Z die Gefässe 3 und 4 mit einander leitend
vereinigt, und die Verbindungen 1—2, 5—6 aufgehoben sind. Der Reiz-
contact bildet aber eine Nebenschliessung der Batterie, wenn in dem-
selben Stromwähler Z die Gefässe 1 und 2, 5 und 6 vereinist, 3 und 4
aber von einander isolirt sind. Durch diese einfache Umstellung der Ver-
bindungen des Stromwählers Z kann also ohne weiteres derselbe Contact
als directe und als Nebenschliessung verwendet werden.
Der Stromwähler M dient dazu, um nach Belieben constante oder in-
dueirte Ströme zu wechseln. I und II bedeuten die primäre, bez. die
secundäre Rolle des Inductoriums, W, eine Pohl’sche Wippe, @, einen
Schlüssel, Z den Muskel. Werden in M die Gefässe 1 und 2, 5 und 6
vereinigt, so geht ein constanter Strom durch den Muskel; werden dagegen
2 und 3, 4 und 5, 7 und 8 vereinigt, so wird ein inducirter Strom durch
denselben geleitet.
Diese Versuchsanordnung gestattet also, mit der grössten Bequemlich-
keit alle möglichen elektrischen Reize in beliebiger Weise mit einander
wechseln zu können.
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 141
Wenn nichts anderes bemerkt ist, wurde der Reizstrom stets in auf-
steigender Richtung durch den Muskel geleitet.
Ein Versuch wurde im Allgemeinen in folgender Weise ausgeführt.
Nachdem das Praeparat hergestellt und in der feuchten Kammer aufgehängt
war, wartete ich meistens 10—15 Minuten, bevor ich den Versuch begann,
damit der Muskel vom Hebel genügend gedehnt werden konnte. Zuweilen
‚brachte ich während dieser Vordehnung ein Extragewicht an, um die
Dehnung und die Nachdehnung vollständiger zu machen. Dann nahm ich
das Extragewicht kurz vor dem Beginn des Versuches weg. Wenn alles in
dieser Weise vorbereitet ist, die beiden Schreibhebel eingestellt u. s. w.,
wird die Trommel losgelassen; sobald ihre Geschwindigkeit constant geworden,
d. h. nach 12 Umdrehungen, wird erst der Sienalstrom geschlossen, der
Hebel des Signals wird vom Magneten angezogen, einen Augenblick nachher
wird die Contacteinrichtung innerhalb des Bereiches des Unterbrechungs-
stiftehens geschoben, der Muskel wird gereizt, die Curven geschrieben und
dann die Trommel mit der Hand festgehalten. Um nun der Augenblick
der Reizung festzustellen, wird durch Oeffnen des Schlüssels @, und Um-
werfen der Wippe W, der Signalstrom zum Contacte des Registrir-
apparates geleitet; dabei ist, wie oben bemerkt, der Reizstrom davon ganz
ausgeschaltet. Nun wird in bekannter Weise durch äusserst langsame
Drehung der Trommel der Augenblick der Reizung an der Trommel vom
Signal markirt. Hier habe ich den Vortheil, dass ich, um den Punkt der
Reizung an der Trommel zu bestimmen, nicht den Muskel zu reizen brauche,
sondern dies mittels des elektrischen Signals ausführen kann. Dadurch
ermüdet der Muskel natürlicherweise lange nicht so leicht wie sonst.
Die Einstellung des Contactes des zeitmessenden Stromes geschah
immer unmittelbar vor dem Loslassen der Trommel; nach jeder Beobachtung
wurde der Contact auf’s Neue eingestellt, damit der etwaige Verkürzungs-
rückstand und die Nachdehnung einen möglichst kleinen Einfluss ausüben
sollten.
Weil die Temperatur von grossem Einflusse auf die Latenzdauer ist,
so habe ich sie mittels eines in der feuchten Kammer nahe dem Muskel
eingesetzten Thermometers bei jeder Beobachtung abgelesen.
Bei der Ausmessung der Curven bin ich in folgender Weise ver-
fahren. Um die Signalcurven auszumessen, habe ich eine in 0.Imm
getheilte Scala von Zeiss benutzt unter Anwendung 7maliger Ver-
srösserung. Als Anfang der betreffenden Curven habe ich den Punkt
bestimmt, wo die Curve eben anfängt von der Abscisse sich zu entfernen.
Alle in dieser Abhandlung als Belege mitgetheilten Zeitbestimmungen
sind zweimal ausgemessen. Von den in dieser Art ermittelten Werthen
ist in den folgenden Tabellen für die eigene Latenzzeit des Signals
142 ROBERT TIGERSTEDT:
0.0003” weggezogen. Die Höhe der Muskelzuckungen habe ich mit einem‘
Stangenzirkel derart bestimmt, dass ich das eine Bein des Zirkels genau an
der Abscisse anlegte und dann so genau wie möglich das andere Bein als’
Tangent dem Scheitelpunkte der Muskeleurve einstellte.
Drittes Kapitel.
Die Latenzdauer der Muskelzuckung bei gleichstarken über-
maximalen Induetionsströmen.
Die Werthe, welche bisher von verschiedenen Forschern für die Latenz- ı
dauer der Muskelzuckung bei Anwendung übermaximaler Reize von mög- ©
lichst kurzem Verlauf (Oeffnungsinductionsströme) erhalten sind, zeigen unter-
einander sehr grosse Abweichungen. Wie schon mehrmals bemerkt, ist
es mit ausserordentlicher Schwierigkeit verbunden, den Anfangspunkt der
Muskeleurve zu bestimmen. Je stärker die Vergrösserung der Zuckung ist,
um so leichter wird es diesen Punkt festzustellen, und es zeigt sich in der
Regel, dass im Allgemeinen eine um so kürzere Latenzdauer gefunden ist, .
je stärker die Vergrösserung gewesen ist. Ich werde hier die bei Anwen-
dung von übermaximalen Inductionsreizen bei direeter Muskelreizung ge-
wonnenen Resultate in grösster Kürze zusammenstellen.
Helmholtz fand durch die Pouillet’sche Methode die Latenzdauer bei
directer Reizung des nicht überlasteten Muskels in drei Versuchen bez.
0.0093”, 0.0073”, 0.0089.!
Harless bestimmte nach einer sehr complieirten und dabei auch nicht
sehr genauen Methode die Latenzdauer zu 0-0187”;? betrefis der Methode
muss ich auf das Original verweisen.
v. Bezold erhielt mit dem von du Bois-Reymond modificirten
Helmholtz’schen Myographion bei 2maliger Vergrösserung der Muskel-
zuckung eine Latenzdauer von 0-0136”. Die Temperatur war bei diesen
Versuchen etwa 10° C.? Bei den übrigen zahlreichen Versuchen v. Bezold’s
ist die Latenzdauer nur in Millimetern, nicht aber die Umdrehungs-
geschwindigkeit der Trommel angegeben, ich kann daher aus diesen Ver-
suchen die Latenzdauer des Muskels nicht in Secunden umrechnen.
ı Helmholtz, Wissenschaftliche Abhandlungen. Bd. Il. S. 791—792.
2 Harless, Gelehrte Anzeige der kgl. bayerischen Akademie der Wissenschaften.
1859. Nr. 3u.4. Cit. nach v. Bezold, Untersuchungen über die elektrische Erregung.
S. 66—68.
3 v, Bezold, Untersuchungen über die elektrische Erregung der Nerven und
Muskeln. Leipzig 1861. S. 100.
|
Bi
13
E
a
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 143
Place hat in einer ausgezeichneten Arbeit sehr wichtige, leider aber
za wenig berücksichtigte Ergebnisse mitgetheilt. Die Muskelzuckung wurde
mittels eines federnden Schreibhebels und zwar sehr stark vergrössert (bis
zu 18.5 mal) aufgezeichnet; nur blutdurchströmte Muskeln wurden benutzt;
die Zeit wurde durch eine Stimmgabel markirt. Als Reiz diente ein Oeffnungs-
‚ inductionsstrom. Der Augenblick der Reizung wurde in folgender Art regi-
' strirt. Der Strom zur primären Rolle wird geschlossen durch den Anker
eines Elektromagnets; wird ein Strom zu diesem Magnet geschlossen, so
wird der Anker angezogen und der inducirende Strom geöffnet. Am Anker
ist eine Schreibfeder befestigt; in demselben Augenblick, wo der Anker vom
Magnet angezogen und der Contaet des inducirenden Stromes geöffnet wird,
zeichnet diese Feder, welche genau unter die Schreibspitze des Muskelhebels
| gestellt ist, einen Strich an der Trommel. Der Augenblick der Reizung
wird also hierdurch sehr exact angegeben." Die von Place bei nichtüber-
lasteten Muskeln gewonnenen Ergebnisse sind in folgender Tabelle verzeichnet:
Spannung des Muskels Latenzdauer in Sec.
Grm.
2 0-01 — 0.006 Versuch LI.
10 0.0038—0 - 0057 Versuch IV.
0 0.0061—0.0068 Versuch V.
0— 8375 0.0038—0 . 0067 Versuch VI.
Als Mittelwerth der Latenzdauer des Frosch-Gastroenemius nimmt Place
0-005” an.?
Klünder erhielt nach einer schon oben beschriebenen originellen
Methode sehr kurze Werthe für die Latenzdauer. Als Regel fand er eine -
Latenzdauer von 0.0075”; diese Latenzdauer konnte jedoch unter gewissen
Bedingungen viel kürzer gemacht werden; z. B. wenn man dem Schreib-
hebel eine sehr geringe Masse (= 18”) giebt und dann, bevor die Con-
- traction beginnt, den Rahmen stark nach abwärts zieht und sehr leise den
Zug nachlässt, so bekommt man Zuckungen, welche nach dem Ablauf von
0.0025” und vor 0.0050” beginnen. „Das Hauptgewicht fällt auf die
1 Gad (Dies Archiv. 1879. S. 265) hat die Beschreibung der Versuchsanordnung
von Place nicht richtig verstanden, wenn er sagt, dass Place dem in dem Elektro-
magnet eintretenden Zeitverlust keine Rechnung getragen hätte. Place hat ja den
Elektromagnet nicht als elektrisches Signal, sondern in der oben beschriebenen Weise
als Unterbrecher benutzt; die erste Bewegung des Ankers, welche den Augenblick der
Reizung registrirt, löst ja den Reiz aus.
® Place, in Onderzoekingen gedaan in het physiologisch Laboratorium der
‚ Utrechtsche Hoogeschool. Tweede Reeks. 1867—1868. I. p. 73—138; vergl. beson-
ders p. 83—107.
144 ROBERT TIGERSTEDT:
richtige Dehnung des Muskels; je vollkommener diese geglückt ist, desto
früher tritt die Bewegung ein, wenn die Masse des Hebels nur nicht allzu
bedeutend ist.“ Es wurde bei diesen Versuchen hauptsächlich der M. biceps
des Froschschenkels benutzt." Wie oben bemerkt, ist es mir nicht recht
verständlich, wie Klünder nach seiner Methode die Latenzdauer bestimmt
hat, denn bei seinen Absprungscurven scheint es mir ziemlich unmöglich,
zu sagen, wie viel Mal die Schreibspitze des Muskels in derselben Linie sich
bewegt hat; vielleicht habe ich seine Beschreibung nicht richtig verstanden.
Bernstein liess die beiden curarisirten Adductoren vom Oberschenkel des
Frosches ihre Verdickungscurve auf dem Helmholtz’schen Myographion auf-
zeichnen. Der Muskel wurde direct an der Stelle gereizt, welche ihre Ver-
diekung aufschreiben sollte; die Vergrösserung betrug ungefähr 9 Mal. Es
ergab sich, dass in 15 Bestimmungen an 9 verschiedenen Muskeln die Latenz-
dauer zwischen 0.0145” und 0.0226” schwankte.”? Dabei ist zu bemerken,
dass es ausserordentlich schwierig sein muss, den Anfangspunkt der Dicken-
curve zu bestimmen.
Lautenbach bestimmte die Latenzdauer nach der oben beschriebenen
Methode. Er giebt seine Resultate nur in Stimmgabelschwingungen (200
in 1”) an; ich habe dieselben zu Secunden reducirt. Hier werde ich von
seinen Werthen nur diejenigen, welche in jedem Versuch bei der grössten
Reizstärke erhalten sind, berücksichtigen. Die Zahlen von Lautenbach
sind freilich ein wenig zu gross, weil er, wie es scheint, vergessen hat, die
eigene Latenzdauer des Signals von seinen Bestimmungen abzuziehen, wenig-
stens sagt er kein Wort davon. Die bemerkenswerthen Ergebnisse, die
er verzeichnet, gelten somit a fortiori. Weil sie bis jetzt ziemlich wenig
berücksichtigt worden sind, erlaube ich mir aus den 13 Versuchen, die
er über die Latenzdauer des direct gereizten nicht curarisirten Muskels mit-
theilt, die kleinsten Werthe hier zusammenzustellen.
Nr. des Versuches Höhe der Zuckung in Mm. Latenzdauer in Sec.
32 7—1.2 0-0092—0.0089
38 4-9 —5-3 0.0095—0:0113
34 10-1 0.0075
3) loerililoe) 0.005—0.0068
36 lal27 0-005
37 6.8 0.075—0:-0100
38 6.9 0.0089
! Klünder, beiHensen, Arbeiten aus dem Kieler physiologischen Institut. 1868.
Kiel 1869. 8. 108—114. |
° Bernstein, Untersuchungen über den Erregungsvorgang im Nerven- und
Muskelsysteme. Heidelberg 1871. 8. 78—87.
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 145
Nr. des Versuches. Höhe der Zuckung in Mm. Latenzdauer in See.
39 5.4 0.0056
40 8.2 0.0039
41 5.4—4.8 0.0089—0 0095
42 3:4—3:6 0.0075—0.0100
43 5) 0-0068— 0.0130
44 6-8 0.089
Wir haben also hier Zahlen, welche mit denjenigen von Place und
Klünder sehr gut übereinstimmen. Uebrigens ist noch zu bemerken, dass
bei vielen von den Versuchen Lautenbach’s die Reizung gewiss nicht
maximal war.!
Gad untersuchte mittels des Federmyographions von du Bois-Rey-
mond unter Anwendung einer gespannten Feder als Belastung des Muskels
die Latenzdauer und fand bei passender Wahl der Spannung wiederholt von
dem total gereizten M. Gastrocnemius Latenzdauer von nur 0-004” — also
Werthe von derselben Ordnung wie diejenigen von Place, Klünder und
Lautenbach.” Die Bemerkungen Gad’s über die Latenzdauer des Muskel-
elements werde ich im XI. Kapitel besprechen.
Langendorff erhielt nach seiner im ersten Kapitel beschriebenen Methode
bei Tetanisirung des Muskels im Mittel von 6 Versuchsreihen mit 51 Einzel-
versuchen, ohne Ueberlastung, für die Latenzdauer einen Werth von 0-00904;
im Minimum fand er 0.0078”; im Maximum 0-0117”.?
Mendelssohn untersuchte mit den Apparaten Marey’s, wie die Latenz-
dauer der Muskelzuckung unter dem Einflusse verschiedener Variabeln sich
verändert. Als Reiz benutzte er theils Oeffnungsinductionsschläge, theils
die Entladung eines Condensators. Bei nicht curarisirten, aber blutdurch-
strömten Muskeln (Gastrocnemius) fand er Werthe zwischen 0-004’—0.01”
bis 0-012”. Der constanteste Werth für die Latenzdauer ist nach ihm
0.008”; in 17°/, seiner Versuche erhielt er eine Latenzdauer von 0.006”
und im Frühling sogar 0-.004”.*
Yeo und Cash benutzten das Pendelmyographion und erhielten für
die Latenzdauer des nicht überlasteten Muskels, bei allein durch den Schreib-
hebel (1 2m) bewirkter Belastung und bei einer Temperatur von 17—18° C.
folgende Werthe: 0-0103”, 0-0111”, 0-0103”. Wie die genannten Forscher
! Lautenbach, Archives des sciences physiques et natwrelle. Nouvelle pe-
- riode. 1877. t. LIX. p. 272—287.
2 Gad, Dies Archiv. 1879. 8. 250—268.
® Langendorff, Breslauer ärztliche Zeitschrift. 1879. Nr. 14. 8.6. d. S.-Abdr.
* Mendelssohn, Travau.z du laboratoire de M. Marey. 1880. t. IV. S. 99—153.
Archiv f.A.u. Ph. 1885. Physiol. Abthlg. Suppl.-Bd. 10
146 ROBERT TIGERSTEDT:
die Latenzdauer von verschiedenen Variablen abhängig fanden, soll später
dargestellt werden.! |
Fick theilt einen Versuch mit, wo die Latenzdauer 0.007” ist; der
Versuch wurde mit dem oben beschriebenen Myographion und bei zweimaliger
Vergrösserung der Zuckung gemacht.?
Yeo und Cash erhielten in einer späteren Untersuchung kürzere Latenz-
dauer, als sie früher beobachtet hatten. Bei maximaler Muskelzuckung
schwanken ihre Werthe zwischen 0.0093” und 0-0067”; der letztere Werth
ist erhalten bei einer Temperatur von 106° F. (= ungefähr 41° C.); die
Versuchsmethode war dieselbe, wie in den früheren Versuchen der Verfasser.?
Nach einer Notiz von Yeo und Cash soll Rutherford mittels des Signals
Deprez einmal eine Latenzdauer von nur 0.002” gefunden haben.*
Rosenthal hat mit seinem Kreiselmyographion für die Latenzdauer
der Muskelzuckung Werthe, „welche mit der ursprünglichen von Helmholtz
gefundenen Zahl 0.01” sehr nahe übereinstimmen“. Bei starker Reizung
erhielt er also: 0.009”—0-01”.?
Aus den hier summarisch zusammengestellten Untersuchungen geht
mit grosser Bestimmtheit hervor, dass der in den physiologischen Hand-
büchern bis jetzt fast allgemein angenommene Werth für die Latenzdauer
der Muskelzuckung (0-01”) viel zu gross ist, denn die nach verschiedenen
Methoden erhaltenen Werthe von Place, Klünder, Lautenbach, Gad,
Mendelssohn zeigen alle einstimmig, dass die Latenzdauer im Mittel nur
0.005” bis 0.006” beträgt. Jedenfalls scheint es unzweifelhaft zu sein, dass
die Latenzdauer von sehr vielen Variabeln abhängig ist. Ein Beitrag zur
Lösung dieser Frage soll die vorliegende Untersuchung sein.
In diesem Kapitel werde ich einige Versuche mittheilen, in denen ich,
unter genau denselben äusseren Bedingungen, übermaximalen Oefinungs-
inductionsschlägen bei übereinander geschobenen Rollen, 1 Grove in der
primären Strombahn, möglichst constanter Temperatur, unveränderter Be-
lastung u. s. w., die Latenzdauer bestimmt habe. Das Extragewicht (1.62%),
durch welches der Muskel vor dem Versuch ein wenig gedehnt wurde, wurde
immer kurz vor dem Beginn der Reizung weegenommen. Bei den in diesem
Kapitel mitgetheilten Versuchen wurde auschliesslich Hebel I benutzt. Die
! Yeo und Cash, Proceedings of: the Royal Society of London. 1881. Vol. 33.
p- 462—480.
? Fick, Mechanische Arbeit und Wärmeentwickelung bei der Muskelthätigkeit.
Leipzig 1882. 8. 100.
® Yeo und Cash, Journal of physiology. 1883. t. IV. p. 198—221.
* Yeo und Cash, a.a. ©. p. 202. — Die Angabe von Rutherford sollin dessen
Textbook of physiology, p. 155 stehen.
5 Rosenthal, Dies Archiv. 1883. Suppl.-Bd. S. 265.
A ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 147
Muskeln waren nicht curaxisirt. Betreffs der Ausführung der Versuche ist
hier nichts zu der im Kapitel II gegebenen Darstellung hinzu zu fügen, ich
gehe daher ohne Weiteres zu der Mittheilung einiger Versuchsprotocolle über.
Versuch 1. 22. Januar 1884. Muskel angehängt 4" 45’; Beginn
des Versuches 5"0’; Ende 5h 34‘.
Höhe der Latenzdauer
Nummer | Temperatur Zuckung ei
A + in Mm, ug eo:
l 14-2 10-1 00063
2 142 KO) 0.0064
3 14-5 10-4 0.0064
4 14-4 10-4 0.0055
> 14-5 10.5 0.0061
6 14-6 10:5 0.0061
T 146 1025 0-0059
>) 14.7 1025 00063
I 14-7 10-5 0.0061
10 14-7 10-6 0.0071
Hi 14-7 ODER 0-0058
12 14.7 10.8 0.0051
SE | 14-7 10-7 0-0051
14 | 14.8 10-8 0.0055
ae) 14.8 10-7 0.0056
BR 4 00060
Mittlerer Fehler . . . +0°0005
Wahrscheinlicher Fehler der einzelnen Beobachtung + 0.0003
Wahrscheinlicher Fehler deseNitielsenern. er 0-0008
Versuch 2. 23. Januar 1884. Muskel angehängt 10% 30; Beginn
des Versuches 10® 55’; Ende 11" 21’; Länge des Muskels 35 m,
Höhe der
Nummer | Temperatur Anus na aner
1 18-6 | 18.0 0.0043
9 18-7 100 ' 0.0043
3 18.8 1 0.0047
N les 18.2 0.0047
6 unmessbar
wa 18.9 18-5 0.0039
ı Wie oben (8. 135) bemerkt, habe ich alle Zeitbestimmungen auf die 4. Decimal-
stelle abgerundet; auch für die Wahrscheinlichkeitsbereehnung nehme ich also nur
4 Deeimalstellen auf.
10*
148 ROBERT TIGERSTEDT:
(Versuch 2. Fortsetzung.)
| Höhe der |
Latenzdauer |
N T t Zuck |
as empera u as in Se.
8 18-95 16-8 | 0.0051
9 18-95 18-4 0.0040
10 18-95 18-3 0.0040
11 18-95 18-0 | 0.0042
1% 18.95 18-1 0.0040
13 19.0 18-0 0.0040
14 19.0 16-9 | 0.0050
Mitteli ss go U SER Er E A 007000
Mittlerer Fehler Eu A000.
Wahrscheinlicher Fehler de ma Beabaie + 0.0003
Wahrscheinlicher Fehler des Mittels + 0.0001
Versuch 3. 23. Januar 1884. Muskel angehängt 11" 27; Beginn
des Versuches 12" 10°; Ende 12" 35°, Länge des Muskels 30 "m,
Höhe der
Nummer | Temperatur | AUS een
1 17.0 8.8 0.0069
2 17-1 9.0 0.0061
3 17.2 9.0 0.0074
4 17.3 8-7 0.0063
5 17.3 8.7 0.0072 |
Bald 8-6 0.0074
u as 8-6 00067 |
8 17-6 8.4 0.0072
9 17-7 8.3 0-0067 |
Oel 1 8.3 0.0063
11 17-8 8.3 0.0069
12 Ne 8-1 00063 z |
18) 17-95 s-.1 0.0064 |
1120 .0,21850 8.0 0.0063 |
119 18-05 8.0 0.0067 |
IMattels me. de ee a est OU
Mittlerer Fehler . . . + 0:0004 |
|
Wahrscheinlicher Fehler der aan Beopachiuns + 0.0003 |
Wahrscheinlicher Fehler des Mittels. . . . . 2. # 0.0001 |
| ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 149
|
Versuch 4. 23. Januar 1884; Muskel angehängt 3" 50; Beginn
des Versuches 4"15’; Ende 4"40; Länge des Muskels 32",
Hö der |
Nummer | Temperatur | nd | er
| RER in Mm. Re:
| | 15-3 9.9 | 0.0064
2 15-5 10.2 | 0.0063
5) 15-7 10222 2070:0063
4 layer 10-5 0-0065
De) 10-5 | 0-0059
6 16-0 10.0 | 0.0063
X 16-1 10.0 0.0066
) 16:2 9.1 0.0074
) 16-3 9.9 | 0.0063
10 16-55 10-3 | 0.0058
11 16-4 10.3 | 0.0063
12 16-5 10-57 212.020063
13 16-5 10-4 | 0.0061
14 16-6 10-7 | 0.0061
|
| Be. ee... 060088 >
energie er een er er 0.0004
Wahrscheinlicher Fehler der einzelnen Beobachtung + 0.0003
Wahrscheinlicher Fehler des Mittels. . . . 2.2.4 0:0001
Versuch 5. 24. Januar 1884; Muskel angehängt 4" 6’; Beginn
des Versuches 4% 31’; Ende 4" 54°; Länge des Muskels 30 mm,
Latenzdauer
Nummer | Temperatur ne se
1 16-1 11-3 0.0056
2 16-9 11-4 0.0055
3 16-4 11-0 0.0059
4 16-5 11-2 0-0055
5 16-6 11.4 0.0055
6 16-7 11-6 0.0050
7 16-8 11-5 0.0055
6) 16-8 11-6 0-0055
8) 16-9 13836 0.0048
10 16-9 11-9 0-0051
11 17.0 19 0.0048
12 17.0 12.0 0.0047
13 17-1 12-3 0-0047
14 17.1 12-3 0.0053
15 17-15 12.1 0.0051
16 17-2 12.2 0.0048
ROBERT TIGERSTEDT:
Mittel . Keil RAT et 0.0052
Mittlerer Fehler . . . -....# 0.0004
Wahrscheinlicher Fehler der einzelnen Becbachtne + 0.0003
Wahrscheinlicher Fehler des Mittels. . . . 2.2. # 0'0001
Versuch 6. 24. Januar 18384. Muskel angehängt 4" 59; Beginn
des Versuches 531; Ende 5" 53; Länge des Muskels 28 wm,
|
Höhe der Latenzdauer
| |
Nummer Temperatur | une | As
1 16-3 12.9 0.0056
2 16.4 12-9 0-0055
3 16-4 Bol 0-0053
4 16-5 12-8 00051
5 16-5 12-9 0.0055
6 16-6 12.9 0.0050
7 16-6 110102 0.0051
8 16-65 13-2 0.0050
9 16-7 13-2 0.0047
10 16-7 13-3 0-0047
101 16-75 lc} 0.0050
12 16-8 13-4 00048
118 16-8 190% 0.0049
14 16:85 119308) 0.0048
No 1106) 13-2 0-0056
Mittels „ng u ee ee 0
Mittlerer Fehler. . . . + 0.0004
Wahrscheinlicher Fehler Ada TER Beachnme + 0.0003
Wahrscheinlicher Fehler des Mittels. . . . . 2. # 0.0001
Versuch 7. 24. Januar 1884. Muskel angehängt 5 59; Beginn des
Versuches 6® 19’; Ende 6" 39°; Länge des Muskels 32 mm,
Höhe der |
Nummer | Temperatur Zuckung eo:
in Mm. ge
1 16-3 16-2 0.0058
2 16-3 . 1623 0-0058
3 16.3 16.4 0-0066
4 16-4 16-5 0-0056
5 16-45 16-8 0-0056
6 16-5 16-7 0.0058
7 16-5 16-7 | unmessbar _
5 16-55 16-9 0:0056
I 16-6 16-7 0-0055
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 151
(Versuch 7. Fortsetzung.)
Höhe der i
Nummer \' Temperatur | Zuekung | ran
| Ä in Mm. | l au
| 10 16-6 16.8 0-0055
11 16-6 16.7 0-0055
12 16-65 16-7 0.0053
13 16-7 16-8 | 0-0055
ass) 2.160 16-6 | 0-0059
15701 16.7 16-5 | 0-0051
| BE a a einer 00057
| Mittlerer Fehler. . . . a 040003
| Wahrscheinlicher Fehler den ren Bebachiune + 0-0002
| Wahrscheinlicher Fehler des Mittels . . . . 2. .2..# 60-0001
Versuch 8. 25. Januar 1884. Muskel angehängt 4" 23’; Beginn
des Versuches 4" 52°; Ende 5 20’; Länge des Muskels 30 mm,
Höhe der
Nummer ' Temperatur Zuckung | un
in Mm. 3
1 15-55 10-6 0.0055
2 15-65 10-5 0-0055
3 15-7 10-4 0-0059
4 15-8 10-7 0-0051
5 15-9 10-5 0.0067
6 16-0 10-6 0:0058
7 16-1 10-6 0.0053
6) 16-15 10-8 0-0051
9 16-25 10-7 0:0058
10 16-3 10-9 0.0053
11 16-3 11-0 0.0061
12 16-4 11-0 0-0064
13 16-5 10-9 0-0052
14 16-5 11-0 0.0053
| 15 16-5 11-0 0-0055
16 16-55 11-1 0-0052
17 16-55 11-2 0.0050
Mittel . + 0.0056,
Mittlerer Fehler $ ; + 0.0005
Wahrscheinlicher Fehler der zelnen Becpachling + 0.0003
Wahrscheinlicher Fehler des Mittels. + 0.0001
152 ROBERT TIGERSTEDT:
Versuch 9. 25. Januar 1884. Muskel angehänst 5" 23’; Beginn
des Versuches 5% 48°; Ende 6% 14°; Länge des Muskels 28"m,
Höhe der
Nummer , Temperatur Zuckung | u
| in Mm. | 5
1 15-9 12-5 0.0055
2 16-0 12-5 0.0061
3 16-05 12-7 0-0059
4 16-1 12-7 0.0066
5 16-2 1320222020055
6 16-25 13-0 ı 0-0051
“ 16-3 13-2 0.0055
6) 16-3 13-0 0.0058
9 16-35 13-2 0.0053
10 16-4 13-5 0.0051
1 16-45 13-4 0.0051
12 16-45 13-5 0.0055
1l8) 16-5 13-6 0.0050
14 unmessbar
15 16.55 13-5 | 0.0053
16 16-55 13-6 0.0051
Mittel... aa 2 AAN. Re er 05.0055
MittlerersMehler Sr En Bere 200005
Wahrscheinlicher Fehler der einzelnen Beobachtung + 0-0003
Wahrscheinlicher Fehler des Mittels. . . . . ....# 0.0001
Besser wie alles Andere zeigen die jetzt angeführten Versuche die
. Vorzüglichkeit der Methode Wenn wir die Bedingungen, unter welchen
diese Versuche ausgeführt sind, genau präcisiren, so können wir das Ergebniss
der vorliegenden Beobachtungen folgendermaassen formuliren:
Wenn man im Winter bei einer Zimmertemperatur von 14
—19° C. den mit 42 belasteten und vor dem Versuch mit
5.68 gedehnten Froschgastrocnemius mit maximalen Oeffnungs-
inductionsströmen reizt, so vergeht zwischen der Reizung und
dem Anfang der Muskelzuckung eine Zeit von ungefähr 0.005”,
die Extremen sind 0.0043” und 0:0067”. Als Anfang der Zuck-
ung wird dann diejenige Zusammenziehung des Muskels be-
zeichnet, welche genüst, um eine wahrnehmbare Schwächung
des zeitmessenden Stromes zu bewirken.
Das Ergebniss, das ich gefunden habe, stimmt also vollständig mit
denjenigen von Place, Klünder, Lautenbach, Gad und Mendels-
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUOCKUNG. 153
sohn überein. Die kurze. Latenzdauer, welche diese Forscher eefunden
haben, wird um so mehr durch meine Versuche bewiesen, als meine Werthe
nicht zuweilen auftretende sind, sondern die Mittel aus ausführlichen Ver-
suchsreihen "darstellen.
Es ist natürlicherweise hierdurch nicht bewiesen, dass die Latenzdauer
der Muskelzuckung nicht einen noch niedereren Werth haben kann, denn
‚ bei deren Bestimmung hat sich die Energie des Muskels schon so weit
entwickelt, dass der Hebel um eine minimale Höhe gehoben worden ist.
Die kurz als Latenzdauer bezeichnete Zeit, die in solcher Art bestimmt
worden ist, bezeichnet also nur die obere Grenze der wirklichen Latenz-
dauer des Muskels. Es ist daher nothwendig zu untersuchen, in wie fern
diese Zeit sich der wirklichen" Latenzdauer nähert. Bevor ich zu einer
derartigen Untersuchung übergehe, ist es aber nothwendig näher zu studiren,
wie die Latenzdauer von verschiedenen Variabeln abhängig ist. Ich werde
also zunächst den Finfluss untersuchen, welcher auf der Latenzdauer aus-
geübt wird:
von der Stärke des Reizes;
von der Art des Reizes;
von der Blutdurchströmung;
von Curare;
von der zu bewegenden Masse;
von der Spannung;
von der Temperatur.
Nachdem der Einfluss aller dieser Variabeln festgestellt ist, werde ich
versuchen, eine Vorstellung von der Latenzdauer des Gesammtmuskels und
des Muskelelementes zu entwickeln.
Viertes Kapitel.
Die Latenzdauer der Muskelzuckung in ihrer Abhängigkeit von
der Stärke des Reizes; übermaximale Reizung durch Oeffnungs-
induetionsströme.
Schon Helmholtz bemerkt, dass man, wenn man mit Inductions-
strömen arbeitet, welche hinreichend stark sind, um das Maximum der
Reizung hervorzubringen, die Intensität der Ströme beliebig ändern kann,
ohne dass dadurch die Ergebnisse der Zeitbestimmungen verändert werden.!
" Helmholtz, Wissenschaftliche Abhandlungen. Bd. II. 8. 808—809. — Dies
Archiv. 1850. 8. 325.
154 ROBERT TIGERSTEDT:
Mendelssohn findet bei Anwendung „sehr starker Ströme“, dass die
Latenzdauer von kleinen Unterschieden der Stromstärke nicht unabhängig
ist, jedoch ohne dafür experimentelle Belege mitzutheilen.!
Yeo und Cash theilen einen Versuch mit, wo mit 2 kleinen Grove’s
in der primären Strombahn bei steigender Stärke des Inductionsstromes
(Rollenabstand 0— 4") die Zuckungen zwischen 27 und 37 ==, die Latenz-
dauer aber nur zwischen 0-0114” und 0-0125” schwankten. Die Zuck-
ungen nehmen in diesem Versuche nicht nach einem bestimmten Gesetze
zu oder ab, und es ist daher vielleicht nicht erlaubt, aus diesem einzigen
Versuche irgend ein bestimmtes Resultat die uns hier beschäftisenden
Frage betreffend zu ziehen.?
Dieselben Autoren haben später einen andern Versuch veröffentlicht, wo
die Latenzdauer bei 4, 2 und O°” Rollenabstand dieselbe ist (= 0009");
dabei ist jedoch zu bemerken, dass die Höhe der Zuckungen nicht in allen
Beobachtungen gleich war, sie schwankte nämlich zwischen 19-2 und
22.5 =m (übermaximale Zuckungen).?
Diese Angaben sind, so weit ich gefunden habe, die einzigen, die wir
bis jetzt über die Frage besitzen, wie die Latenzdauer der Muskelzuckung
bei übermaximalen Reizen sich verhält. Die Frage ist jedoch nicht ohne
Interesse, denn ihre Lösung wird uns einen, nicht gering zu schätzenden
Einblick geben in die Art und Weise, wie der Muskel gegen übermaximale
Reize sich verhält. Wir wissen, dass die Zuckung, nachdem sie eine ge-
wisse Höhe erreicht hat, auch wenn die Stärke des Reizes sehr beträchtlich
gesteigert wird, nicht mehr in auffälligerem Grade steigt, sondern nur
asymptotisch sich dem wirklichen Maximum nähert. Wenn es sich nicht um
ganz feine Messungen handelt, können wir also von einem gewöhnlich sehr
schnell erreichten Maximum der Hubhöhe sprechen. Es ist aber nicht
ohne Werth zu untersuchen, wie sich die Latenzdauer dabei verhält.
Die Versuche sind sämmtlich mit Oeffnungsinductionsströmen ausge-
führt; die primäre Rolle war von 1 Grove gespeist, der Rollenabstand
wurde Centimeterweise verändert. Vor dem Beginn der Reizung wurde
der Muskel durch ein Extragewicht von 1:6=°”® gedehnt; bei dem Versuche
war der Muskel nur durch den Hebel I belastet.
! Mendelssohn, Travaux du Laboratoire de M. Marey. 1880. Bd. IV. S. 120,
* Yeo und Cash, Proceedings uf the Royal Society of London. 1881. Vol. 33.
p- 473.
® Yeo und Cash, Journal of Physiology. 1883. Bd. IV-p. 211.
* Vergl. Tigerstedt und Willhard, Mittheilungen vom physiologischen Labo-
ratorium in Stockholm. 1884. Hft. 3.
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 155
Versuch 10. 1. Februar 1884. Muskel angehängt 4" 10°; Beginn
des Versuches 4" 37’; Ende 5" 10; Länge des Muskels 30 wm,
| Rollen- Höheder | Tstanzanner-
| Nummer | abstand | Temperatur Zuokung ı| „atenzdauer
) RE in Um. I De0.
1 0 13-3 1903 0.0059
| D 1 13-45 15:6 0.0059
3 2 13=6 16-1 ' 0.0063
| 4 b) Lasst | 16.0 | 0.0063
| 5 4 tsegeenı 162107 1350-0058
i 6 5 13-95 16-5 0.0058
| 7 6 14-0 16-5 0.0060
6) . 14-1 16-3 0-0066
) 9 8 14-2 10232 71020063
| 10 ) 14-3 16-5 | 0.0066
11 10 14-5 i6eo# 7 77020063
12 6 14-5 16.6 | 0.0063
13 6) 14-5 | 16.4 | 0.0063
14 0 14=06540 | 10.9 0.0053
j |
Versuch 15. 4. Februar 1884. Muskel angehängt 5% 25’; Beeinn
/ des Versuches 5# 50°; Ende 6" 21’; Länge des Muskels 28 "m,
Rollen- | | ö der
Nummer | abstand | Temperatur a en Aue
in Cm. in Mm. DES
1 0 13-8 12.6 0.0053
2 2 13-8 12.9 0.0063
3 4 13-9 12297 2 72.030061
4 6 14-0 | 12.A | 0.0061
5 (6) 14-0 | 33, 7220007
6 9 ae, les 0.0087
7 | 7 14-2 | 12-1 0.0066
te) | 5 14-25 | 12-5 0-0055
1) B) 14-3 12-6 0.0051
10 1 14.35 \ 12-9 0.0055
1ake 0 14.4 12-9 0.0056
12 2 14-45 12-8 0.0053
ii® 3 14.5 1228, 270-0059
14 4 14-5 2282 22:0-0055
15 - 5 14-6 12-7 0.0055
16 6 14-6 12-6 0.0058
| ie7 7 14-6 12.2 0-0056
156 ROBERT TiGERSTEDT:
Versuch 16. 4. Februar 1884. Muskel angehängt 6% 20°; Beginn
des Versuches 6" 40; Ende 7" 9; Länge des Muskels 28 mm,
Rollen- | Höhe der
|
Nummer , abstand | Temperatur Zuckung Lime
in Cm. En N De
1 0 se 11-000 0.0058
2 2 14-85 | 10-1 0.0059
B) 4 14-9 10-3 0-0055
4 6 14-9 10-3 0.0051
9) fo) 14-95 10.4 0.0055
6 10 15-0 10.4 0.0079
Ü % 15-0 10.4 0.0061
6) 7 15-0 10-4 0.0055
9) 5) 15-0 10-5 0.0053
10 B) 15:0 KOT 0-0051
tl 1 15:05 10-7 0.0047
12 0 15-05 10.7 | 0.0055
13 2 15-05 10-38 0.0053
14 > 15-05 10-7 0.0053
15 4 15-1 10-8 0.0059
16 5 15-1 10-8 00051
I. 6 15-1 10-9 0.0061
18 7 korale alnlei0) 0.0059
Versuch 17. 5. Februar 18584. Muskel angehängt 10% 48; Beeinn
des Versuches 11% 14°; Ende 11" 42’; Länge des Muskels 26m.
\ Rollen- | Höhe der
Nummer , abstand | Temperatur | Zuckung | Leisten
| in Cm. ee
Do, ee 9.1. | 0-0075
2 6) 18-0 geal 0.0061
3 6 18-0 9.3 00056
4 4 18-0 9-4 00058
5 2 18-05 92577 72020054
6 ) 18-1 9.5 unmessbar
7 1 Se ıl 9.4 | 0.0050
8 B) 18-1 9-5 unmessbar
9 5 18-2 9.5.1 0.0050
10 7 18-2 9.5 | 0.0051
11 9 18-2 9.3 | unmessbar
ID 6) 18-2 9.5 0.0055
las, 7 18.2 936 0.0058
14 6 18-2 9.6 | 0.0053
lan! 5 18-2 9.6. 120-0050
16 4 : 18-2 9.6 0.0051
Ir 3 18-2 9.7 0.0050
18 | 2 18-1 9.7 0.0059
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 157
Versuch 18. 5. Februar 1884. Muskel angehängt 11" 46’; Beginn
| des Versuches 12" 8°; Ende 12431’; Länge des Muskels 26 "m,
Rollen- Höhe der anen
| Nummer | abstand | Temperatur Zuckung Bee
Anl F in Mm. Re
1 10 17.2 12.4 0.0053
2 6) 2 13-3 0-0051
| 3 6 17.2 13-9 0.0048
4 4 17.2 14.0 0.0047
B) 2 1) 14-1 0.0047
6 0 17.3 14 1 0-0045
fl 1 SS) 14.0 0.0045
) 3 17-3 140 0.0043
9 5) 110.5 14-1 0.0051
10 “ 17-3 14-1 0.0048
hi ) 17.3 12.0 0.0061
12 6) 17.3 134 0.0055
13 7 17-8 13-9 0-0051
14 6 17.85 13.8 0.0047
15 6) 17-55 LS 0.0048
Versuch 20. 5. Februar 1384. Muskel angehängt 4" 28’; Beginn
des Versuches 4" 50°; Ende 5%12’; Länge des Muskels 30 m,
a
Rollen- Höhe der
Nummer | abstand | Temperatur Zuckung nr
in Cm. in Mm. 5
1 0 14-75 13-8 0.0055
DR ER) 14.9 13-8 | 0.0059
3 4 15-0 14-0 | 0.0055
4 6 1-1 14:0 | 0.0059
5) 6) 15-3 14-1 0.0061
6 10 15.4 14-1 0.0080
7 I 15°5 14-1. 0.0080
6) 7 15-6 14.1 0.0058
) ) 15:65 14.2 0.0055
10 3 15-7 14.2 000583
11 1 13280 00 112 0.0050
12 0 15.9 143 00059
13 2 15-9 14.3 0.0053
14 4 16.0 14-1 0-0048
15 6 16-0 14.3 0.0051
16 7 16-1 14-1 00050
158 ROBERT TIGERSTEDT:
Versuch 21. 5. Februar 1884. Muskel angehängt 5" 18’; Beginn
des Versuches 5" 44°; Ende 6% 19; Länge des Muskels 26 =,
Rollen- | Höhe der Latenzdauer
Nummer | abstand Temperatur | Zucekun FREE
einem h 1 San Min. Du
000 15-75 12:0 | 0.0055
2 2 | 190% no 0.0056
3 4 | 15-9 Se 0.0051
4 6 15:9 1128 0.0053
5 6) 16-0 Bl ' 0-0079
6 Ü | 16-0 ol 0.0061
7 5 | 16-05 12-1 0.0056
(6) d 16-1 | 12.2 00055
9 1 os 10 0.0050
10 0 16.22 | 12-4 0.0055
1ul 2 1622 | 12.4 0-0059
12 B 0623 | 12-4 0.0050
13 4 16-3 12.4- | 0.0058
14 5 16-3 | 12.5 0.0055
15 6 16-3 | 12.6 0-0053
16 U | NORDSEE 12-5 0.0058
a7 8 1639 1205 0.0063
18 0) 16-4 12-5 | 0.0047
Um diese Versuche berechnen zu können, müssen wir die im Kapitel IT!
verzeichneten Frfahrungen benutzen. Aus denselben sehen wir, dass bei
|
meiner Versuchsanordnung bei gleich starken übermaximalen Reizen (1 Grove, ,
‚RA=0) die Höhe der Muskelzuckungen um 1” schwanken kann, und
dabei jedoch der wahrscheinliche Fehler einer einzelnen Beobachtung nicht
mehr wie + 0:0003” beträgt. Ich werde die in diesem Kapitel mitge-
theilten Versuche aus demselben Gesichtspunkte zusammenstellen, und also
aus denjenigen Zuckungen, deren Höhe nicht um mehr als 1”® schwankt, ,
das Mittel und den wahrscheinlichen Fehler berechnen. Wenn es sich
dabei herausstellt, dass der wahrscheinliche Fehler einer einzelnen Beob-
achtung nicht mehr als + 0-0003” beträgt, so ist erlaubt daraus zu
schliessen, dass bei maximalen, durch Oeffnungsinductionsströme hervor
gerufenen Zuckungen die Latenzdauer von der Stärke des Reizes im grossen
Ganzen unabhängig ist. Wir finden in dieser Weise folgende Resultate,
Versuch 10.
Höhe der Muskelzuckung . . . el
Latenzdauer, Mittel aus 14 Bepacnafgen AN ie ©; 0.0061”
Mittlerer Fehler. . . . . ....#+0-0004°
Wahrscheinlicher Fehler der einen Beopachiäns .. + 0.0003”
Wahrscheinlicher Fehler des Mittels . -. - © 2 2... # 0.0001”
he R
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUOKUNG. 159
Versuch 15.
Höhe der Muskelzuckung . . 12.1 12.9 mm
Beobachtungen I—4, T—17; Reilenktktand 07 gm
Latenzdauer, Mittel aus 15 Basdken ungen a 00057”
Mittlerer Fehler . . . . 2... #+0:.0004”
Wahrscheinl. Fehler der Belen Beachtung Dee 0000
Bahrschein!. Fehler des Mittels . . . . 2 = 22... # 0:0001”
Versuch 18.
Höhe der Muskelzuckung h 13.3—14. | mm
Beoachtungen 2— 10, 12—15; Blend DM _gem
Latenzdauer, Mittel aus 13 euren Dre“ 0.0048”
Mittlerer Fehler . . . . Ser 00003
| Wahrscheinl. Fehler der Erihen Bone 2 7-2.0200024
= Wahrscheinl. Fehler des Mittels . - » > 2 2.2.2.#0:0001”
Die übrigen hier mitgetheilten Versuche zeigen nicht dieselbe Ueber-
‚ einstimmung wie die Versuche 10, 15 und 18. Betrachten wir aber jene
' etwas näher, so werden wir finden, dass auch hier dasselbe Gesetz hervor-
tritt, obgleich es durch einen noch nicht berücksichtisten Umstand ein
wenig verdeckt ist.
| Im Versuch 16 zeigt nur die Beobachtung 6 bei 10°" Rollenabstand
‚ eine erheblich längere Latenzdauer als die übrigen; die Höhe der Zuckung
ist dabei nicht kleiner als diejenige der anderen Zuckungen; sehen wir von
‚ dieser Beobachtung ab, so finden wir:
Höhe der Muskelzuckung . . re I nee
Beobachtungen 1—5, 7—18S; Elenahstar 0—9 m
Latenzdauer, Mittel aus 17 eodnan NN, 00055”
Miilerer Fehler . . 7 . 2.2. # 0.0004”
Wahrscheinl. Fehler der Enreinen Denen Er 0003%
Burschen! Hehler des:Mittels . ._ .. ..... 2222... 50-0001”
Im Versuch 17 finden wir ebenso bei 10m Rollenabstand eine
‚ aussergewöhnlich lange Latenzdauer bei ungefähr maximaler Hubhöhe (Beob-
| achtung 1); wenn wir diese Beobachtung weglassen, so erhalten wir:
Höhe der Muskelzuckung So a a eo
Beobachtungen 2—18; aller = gem
Latenzdauer, Mittel aus 14 Beobachtungen . . ... 0.0054”
Mittlerer Fehier . . . net 0:0004
Wahrscheinl. Fehler der reinen Beobachtung . . . + 0.0003”
Wahrscheinl. Fehler des Mittels . .. ..2..2.22..2.22:.#0-0001”
160 ROBERT TIGERSTEDT:
Im Versuch 20 sind die bei Rollenabstand 9 und 10 (Beobachtung
6 und 7) erhaltenen Zuckungen maximal; deren Latenzdauer ist aber be-
trächtlich länger als diejenige der übrigen Zuckungen; wenn wir diese
Beobachtungen nicht in unseren Berechnungen mitnehmen, so finden wir:
Höhe der Muskelzuckung . . . . ..13.8—14. 35mm
Beobachtungen 1—5, 8—14; Bolleraketend a Ya
Latenzdauer, Mittel aus 14 Benehhngeem ea 00055”
Mittlerer Fehler . . . . 00 .35.0-00045
Wahrscheinl. Fehler der ninen Beobaeae see 000035
Wahrscheinl. Kehlerdes Mittels 7. . . 7777772202000
Im Versuch 21 sind die bei Rollenabstand 8 (Beobachtung 5, 17)
erhaltenen Zuckungen maximal; deren Latenzdauer aber länger als die- -
jenige der übrigen Zuckungen; mit Weglassen dieser Bestimmungen \
finden wir:
Höhe der Muskelzuckung . . en LT 12 De
Beobachtungen I—4, 6—16, 18; ap 0—7 m
Latenzdauer, Mittel aus 16 een RE 0.0055”
Mittleren Kehler ee cr. 2 0-00045
Wahrscheinl. Fehler der inellren Berpachlune ..2 25 #.0:00035
'Wahrscheinl. Fehler des Mittels . - . . . „2... —=0-.0001%
Aus diesen sämmtlichen Versuchen geht also hervor, dass die Stärke
der Reizung innerhalb sehr weiter Grenzen schwanken kann, ohne dass die
Latenzdauer davon abhängig ist, denn wir haben hier für den wahrschein-
lichen Fehler der einzelnen Beobachtung nicht grössere Werthe gefunden,
als bei denjenigen Versuchen, welche bei unveränderter Reizstärke gemacht |
wurden. |
Was bedeuten aber die maximalen, oder wenigstens fast maximalen ı
Zuckungen mit langer Latenzdauer, welche bei grösserem Rollenabstand
in einigen Versuchen zu finden sind? Ich glaube, dass sie ganz einfach |
erklärt werden können. Wie schon bemerkt, waren die bei diesen Ver-
suchen benutzten Muskeln nicht curarisirt. Die specifische Erregbarkeit
der Nerven ist, wie man seit Rosenthal weiss, grösser als diejenige der |
Muskeln, d. h. wenn man mit gleicher Stromdichte einen Muskel direct
oder vom Nerven aus reizt, so erhält man vom Nerven aus eine Zuckung
bei einer Stromdichte, durch welche kein Effect auf den direct gereizten |
Muskel ausgeübt wird. Wenn man aber einen nicht eurarisirten Muskel
mit übermaximalen Inductionsströmen reizt und die secundäre Rolle von der‘
UBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 161
primären stetig entfernt, so muss man einmal zu einer Stromstärke kommen,
welche nur durch Vermittelung der im Muskel enthaltenen Nervenzweige
es vermag, eine maximale Zuckung hervorzubringen. Die bei maximalen
Reizen erhaltenen Zuckungen können also zweierlei Art sein: 1) solche,
welche durch die directe Erregung des Muskels durch den Induetionsstrom
und 2) solche, welche unter Vermittelung der intramusculären Nerven
‚ausgelöst werden.
Nun wissen wir aber durch die Untersuchungen von Bernstein, dass
der Endapparat der Nerven im Muskel eine nicht unbedeutende Latenz-
dauer hat. In zwei Versuchsreihen, die eine mittels der graphischen
Methode, die andere mittels des Rheotomes, hat Bernstein gefunden, dass
die Erregungszeit der Nervenenden im Muskel ungefähr 0-00327 beträgt.
Die Extreme sind bei den myographischen Versuchen 0.0023” bez. 0-00417;
bei den Rheotomversuchen 0-0021” bez. 0-0035”." Die eben näher be-
trachteten Versuche von mir zeigen eine auffallende Uebereinstimmung mit
diesen Werthen von Bernstein. Nehmen wir nämlich an, dass bei den
kürzeren von mir gefundenen Latenzzeiten der Muskel direct gereizt worden
ist und dass die längeren Latenzzeiten bei maximalen Zuckungen dadurch
entstanden sind, dass die betreffenden Zuckungen nur durch Vermittelung
der Nerven ausgelöst sind, so finden wir:
Latenzdauer
directe Reizung Reizung vom Nerven aus Differenz
Versuch 16 0.0055” 0.0079" 0-0024”
Versuch 17 0.0054” 0.007572 0.0021”
Versuch 20 00055” 0.0080” 0.0025”
(Mittel aus 2 Beobachtungen)
Versuch 21 00055” 0.0071” 0.0016”
(Mittel aus 2 Beobachtungen)
Es ist freilich hier zu bemerken, dass die Latenzzeiten der Zuckungen,
welche ich als durch Reizung vom Nerven aus hervorgebrachte bezeichnet
habe, nicht die Mittel aus einer grösseren Reihe von Beobachtungen sind,
sondern, mit Ausnahme von Versuch 20 und 21, einzeln dastehen und also
nicht dieselbe Genauigkeit wie die Latenzdauer „bei directer Reizung“ bean-
spruchen können. Die verschiedenen Versuche zeigen aber untereinander,
sowie verglichen mit den Versuchen Bernstein’s, eine vollständige Ueberein-
stimmung, wodurch natürlich ihre beweisende Kraft nicht unwesentlich
1 Dies Archiv. 1882. S. 329—346.
Archivf. A,u.Ph. 1885. Physiol. Abthlg. Suppl.-Bd. 11
162 ROBERT TIGERSTEDT:
gesteigert wird. Uebrigens habe ich beim Vergleich der Latenzdauer eines
curarisirten und eines nicht eurarisirten Muskels, dieselbe Erscheinung ganz
unzweideutig beobachtet, wie ich im Kapitel VIII näher zeigen werde. Ange-
sichts aller dieser Thatsachen kann ich nichts anderes finden, als dass die
vorliegende Erklärung der längeren Latenzdauer, welche bei grossem Rollen-
abstand trotz einer maximalen Zuckungshöhe eintritt, vollständig genügt,
und ich kann also die Ergebnisse, welche hier beobachtet sind, folgender-
maassen zusammenfassen:
Wenn der Muskel ohne Vermittelung der intramusculären
Nervenenden durch Oeffnungsinductionsströme erregt wird, so
ist die Latenzdauer der Zuckung unabhängig von der Stärke
des Reizes; bei grösserem Rollenabstand zeigen sich zuweilen
maximale Zuckungen mit längerer Latenzdauer: deren Ursache
liegt darin, dass die maximale Zuckung nur unter Vermittelung
der intramusculären Nervenenden ausgelöst ist; in diesem Falle
wird die Latenzdauer durch die Erregungszeit der Nervenenden
vermehrt. Diese Zeit beträgt nach Bernstein’s Versuchen 0.0032”,
nach den meinigen ungefähr 0.0020” oder noch weniger.
Wie die specifische Erregungszeit der Nervenenden eigentlich aufzu-
fassen ist, werde ich im Kapitel VIII näher untersuchen.
Fünftes Kapitel.
Die Latenzdauer der Muskelzuckung in ihrer Abhängigkeit von
der Stärke des Reizes; untermaximale Reizung durch Oeffnungs-
inductionsströme.
Helmholtz sagt in seiner ersten Abhandlung über die Fortpflanzungs-
geschwindigkeit der Erregung: „Wenn wir Schläge anwenden, welche das
Maximum der Wirkung nicht erreichen lassen, so sinken die Ordinaten
unserer Kräftecurven ganz in derselben Weise, als wenn sie durch grössere
Belastung oder durch Ermüdung des Muskels vermindert worden wären.
Es sind demgemäss die Ausschläge des Magneten für gleiche Ueberlastungen
desto grösser, je geringer die Intensität dieser Schläge ist.“!
Lautenbach fasst seine Resultate bezüglich der Abhängigkeit der Latenz-
dauer von der Stärke der Reizung bei untermaximalen Reizen folgender-
! Helmholtz, Dies Archiv. 1850. 8. 325327; — Wissenschaftliche Abhand-
lungen. Bd. 11. S. 808—810.
| P. 473.
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG, 163
maassen zusammen: „Bei Reizung des Muskels vom Nerven aus findet sich
keine Regelmässiekeit zwischen Hubhöhe und Latenzdauer; bei directer
Reizung des curarisirten Muskels findet man zwar, dass bei höheren
Zuckungen die Latenzdauer in der Regel kürzer ist, jedoch ist an mehreren
nacheinanderfolgenden Zuckungen die Hubhöhe nie umgekehrt proportional
der Latenzdauer.“!
Mendelssohn giebt an, dass er in einer Reihe von 30 Versuchen
stets eine umgekehrte Proportionalität zwischen Reizgrösse und Latenzdauer
gefunden hat; dabei steigt die Latenzdauer von 0.008” bis zu 0.032”.
Als er sehr oft die Reizstärke varlirte, fand er, dass die Schwankungen der
Latenzdauer nur dann sich darstellten, wenn der Unterschied zwischen den
Reizstärken mehr oder weniger bedeutend war, d. h. wenn man von sehr
schwachen zu mittelstarken und von diesen zu sehr starken Strömen überging.?
Wenn ich die Darstellung von Mendelssohn richtig verstanden habe, so
gäbe es also für jeden Muskel drei Latenzzeiten, die grösste bei schwachen
Strömen, die mittlere bei mittleren und die kürzeste bei starken Strömen.
Uebrigens theilt er nur aus einem einzigen Versuche drei einzelne Beobach-
tungen mit. Die Muskeln waren nicht curanisirt.
Yeo und Cash fanden, dass, wenn bei Veränderung der Reizstärke
(Oeffnungsinductionsströme) die Zuckungshöhen zu- oder abnahmen, die
Latenzdauer dabei kürzer oder länger wurde. Wenn die Zuckungen von
7:0 bis 26.5mm zunahmen, schwankte die Latenzdauer zwischen 0.0203”
bis 0-0114.3
Die genannten Forscher kamen in ihrer späteren Arbeit auf dieselbe
' Frage zurück und formulirten nach neuen Versuchen das Gesetz, nach
' welchem die Latenzdauer mit der Reizstärke schwankt, dahin, dass bei ge-
steigerter Reizstärke die Latenzdauer stetig und gradweise abnimmt.* Wenn
‚ die Höhe der Zuckung zwischen 19.2 und 22.8" schwankte, varlirte die
Latenzdauer zwischen 0-0125’7 und 0.009”; hei einem anderen Versuch:
Zuckungshöhe 13.8—32.0 m, Latenzdauer 0-01317—0.0083”.
Rosenthal fand, dass bei verschieden starken Reizungen grosse Diffe-
‚ renzen der Latenzdauer nicht vorkommen; beim Vergleich zwischen starken
und schwachen Reizungen fand er z. B. folgende Latenzzeiten:
1) Schwache Reizung 0.0125”, 0-.01125”, 0.012”;
Starke Reizung 0-009”, 0.010”, 0-009”;
! Lautenbach, Archives des Sciences physiques et naturelles. Nouv. per. 1877.
t. LIX. p. 272—287.
® Mendelssohn, Travaux du Laboratoire de M. Marey. 1880. t.IV. p. 119—120.
® Yeo and Cash, Proceedings of the Royal Society of London. 1881. Vol. 33.
* Yeo and Cash, Journal of physiology. 1883. t. IV. p. 201, 211, 217.
=
164 ROBERT TIGERSTEDT:
3) Schwache Reizung 0-0166”, 0.012”, 0.012”;
Mittelstarke Reizung 0-012”,0-0115”,0-01125”, 0-0125”,0-01125”,
Starke Reizung 0-01”, 0-01”, 0-01.
Die Muskeln scheinen nicht curarisirt gewesen zu sein.!
Bei meinen Versuchen habe ich dahin gestrebt, eine grosse Anzahl
Zuckungen von verschiedener Höhe zu erhalten, um das Gesetz, wie die
Latenzdauer sich dabei verändert, zu finden. Wenn man die Reizstärke
durch Veränderung des Rollenabstandes verändert, so hat man bei uncura-
risirtem Muskel sehr grosse Schwierigkeit die für die Auslösung minimaler
Zuckungen eben ausreichende Stromstärke zu finden, weil bei schwachen
Reizen die Nervenenden ausserordentlich empfindlich für die kleinsten
Schwankungen der Reizstärke sind. Ich wollte jedoch nicht darauf ver-
zichten, die betreffenden Versuche am uncurarisirten Muskel auszuführen,
weil es für das Studium der Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Nerven-
erregung von grossem Nutzen ist, die Factoren zu kennen, welche beim
uncurarisirten Muskel die Latenzdauer verändern. Ich habe also die Stärke
der Inductionsströme dadurch varlirt, dass ich bei übereinander ge-
schobenen Inductionsrollen die Stärke des primären Stromes veränderte,
Dies geschah mittels eines einsaitigen Rheochordes. Die Reize wurden durch
diese Versuchsanordnung ziemlich schwach. Für meinen Zweck war es
hauptsächlich nothwendig, verschieden grosse Muskelzuckungen zu erhalten;
die absolute Stärke des Reizes, ebenso wie die relative Stärke der einzelnen
Reizungen waren dagegen von keinem Interesse. Daher habe ich auch die
Stärke des Reizes nur durch die Lage des Rheochordschiebers bestimmt, .
ohne näher zu prüfen, wie die einzelnen Reize sich zu einander verhielten.
Unter diesen Umständen ist es von keinerlei Nutzen diese Zahlen hier anzu-
führen; in den folgenden Tabellen theile ich also nur die Höhe der Zuckung |
und die entsprechende Latenzdauer mit.
Um andererseits die Nerveneinwirkung möglichst vollständig auszu- -
schliessen, habe ich mit curarisirten und blutdurchströmten Muskeln eine
Reihe Versuche über die Abhängigkeit der Latenzdauer von der Stärke des‘
Reizes ausgeführt. Bei diesen Versuchen ist die Reizstärke in gewöhnlicher ı
Weise durch Verschiebung der Rollen verändert worden,
Besonders bei den minimalen Zuckungen hat sich meine Methode, .
die Latenzdauer zu bestimmen, sehr gut bewährt. Wenn man bei sehr‘
langsam aufsteigenden Zuckungen, wie den submaximalen und besonders den |
minimalen, die Latenzdauer zu bestimmen hat, so ist es aus der Muskelcurve
! Rosenthal, Dies Archiv. 1883. Suppl-Bd. S. 267—268.
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG, 165
fast ganz unmöglich zu entscheiden, wo die Curve sich von der Abseisse
abhebt. Mit meiner Methode gelingt dies ebenso leicht bei minimalen wie
bei maximalen Zuckungen, ja das Signal schreibt die Latenzdauer auch in
dem Falle, dass die Zuckung sich kaum über die Abscisse ‘erhebt und also
eine Höhe von nur 0-1" oder weniger erreicht.
Um die Einwirkung der allmählich eintretenden Ermüdung zu ver-
meiden, habe ich nur eine beschränkte Anzahl (15—20) Reizungen an dem-
selben Muskel ausgeführt. Die jeder submaximalen Zuckung entsprechende
Latenzdauer hat also nicht in derselben exaeten Weise, als Mittel einer sehr
grossen Anzahl Beobachtungen, wie die Latenzdauer der maximalen Zuckungen
bestimmt werden können. Die einzelnen Versuche zeigen jedoch unter-
einander eine so grosse Uebereinstimmung, dass ihre beweisende Kraft durch
den genannten Uebelstand nicht sehr viel herabgesetzt werden kann.
Ich lasse hier zuerst die an nicht curarisirten Muskeln ausgeführten
Versuche folgen; in jedem Versuch habe ich die einzelnen Beobachtungen
nicht in Nummerfolge, sondern nach den Zuckungshöhen geordnet, damit
die Abhängigkeit der Latenzdauer von der Höhe der Zuckung deutlicher
hervorgehen möchte. Uebrigens ist noch zu bemerken, dass der Inductions-
apparat von 1 Grove gespeist war, dass der Muskel vor dem Beginn der
Reizung 10—15 Minuten durch 5.6®% gedehnt war, dass der Muskel
während der Reizungen durch den Hebel I allein belastet war.
Versuch 24. 9. Februar 1884. Muskel angehängt 10" 50; Beginn
des Versuches 11" 15’; Ende 1145’; Länge des Muskels 29".
Höhe der
Nummer Temperatur Aue nalen
2 12-5 | 0.0075 ; {
3 15-15 12-1 0-0072
4 15-2 11-9 0:0072 |. ee
- Diese Zuckung ist b
9 15.3 11-1 00083 jaer grössten Stärke
1 14-9 1150 0-0061 !des Reizes erhalten;
6 15-5 10-5 0-0087 ||daher die kurze La-
7 3 10-0 0:0082 | tenzdauer.
8 15-4 8-4 0-0099
9 15-6 6.4 0.0107
11 15-7 6 ee,
12 15-8 6-1 DD. NE
13 15-9 0-4 VE
14 16-05 0-3 00205 12020209
10 15-6 0-2 BO
15 16-15 0-2 Va e
?
166 ROBERT TIGERSTEDT:
Versuch 26. 9. Februar 1854. Muskel angehängt 12" 34°; Besinn
des Versuches 12" 50’; Ende 1" 17’; Länge des Muskels 23 "®,
| Höhe der |
Nummer | Temperatur Zuckung TIL DIE |
| in Mm. AN DER
1° 1 18.2. | 13.47, 10-0089 |
Se ht) 12-9 | 0-0083
3 17-19 12-5 0-0082 |
4 | I 28 9-3 0-0098
Be e36n S.8 unmessbar |
6 1.565 m 6-1 0:0098 | \y
Pe 6-1 0-0109 | a ,
6) KItc 32 0-0117
9 RS 2.9 0:0127 18% 4 f
1080 az:sık 1002-80, Ia-olee E
| IN:85 4] 1-3 0.0159 ;
12 17-9 | 12 00159 Mittel 0-0155” Pe.
13 18-084 v3 0-0168 Ale a oz
14 ik | el 0:0143 abrscheinl. Fehler der ein
2 au = Inen Beobacht. + 0-0008”
E | 1 ; = : z ı B: Kr | Wahrschemal Fehler des Mit,
| -35 . tels + 0-0003”
Ken 18-4: | 1152 - 00167
Versuch 27. 10. Februar 1854. Muskel angehänst 11" 30; Beginn
des Versuches 11® 45’; Ende 12% 16’; Länge 2s"m, =
\ Latenzdauer
Nummer Temperatur Zu g Inaseei
1 14-3 12-8: 180-0079
2 143 13-2 0-0083
3. 2 Ass 12.0 0.0087
u ee: 10-5 0-0088
5 14-5 9.9 0.0088
6 14-5 71-9 0.0093
7 14-5 12 0-0101
S2 14-55 70 0-0117
aan MIST 6-1 0-0111
I 50 0-0125
Be 1A 4-() 0-0122
da. \ unmessbar
13 1A 1-82 5829-0154
42 |5,,714-9 1-6 00159
a 613-0 19 0-0173
16 | En 5 a | Mittel 0-0247”
ae 132
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 167
Versuch 28. 11. Februar 1884. Muskel angehängt 12" 20’; Beginn
des Versuches 12" 35; Ende 1" 2’; Länge des Muskels 33 mr,
| Höhe der |
Nummer | Temperatur | zuckure ins
1 15-35 14-8 0-0072 |ı... Kae
2 15-3 14-7 00080 ı Atittel 0-0070
3 15-3 14-1 0.0087 |
4 15-3 12-9 0-0088
5 15-3 11-7 0.0095 |
6 15-3 10-5 0.0099 |
T 15-3 8-8 0-0103 |
bo) 15-25 4.9 0-0114
21 | Er u Er 0-0119
15 19313, | 3-0 0-0138
a 15:2....0,..257 0.0146
1 2-5 0.0144
16 | 1a-19, | 2.0 00149
17 ze 1-5 0-0157
12 15-2 0-1 0.0258 |}
13 | unmessbar ke: Ba
2,1515], 0=1..\|. 0.0277 mer
a 715.92 21° .0-1 0-0253 |
| Versuch 29. 11. Februar 18S4; Muskel angehänst 4" 0’; Beginn
‚des Versuches 4" 22’; Ende 4" 55’; Länge des Muskels 27 m,
Höhe der
Nummer | Temperatur | Aus az ue
1 13-3 | 14-6 | 0.0089 |
2 13-5 13-9 VO,
300136 Es 0.0082 | 5 Mittel 0-0081
Baer 136 12-4 0-0090
Ber 13:6 ET 0-0096
I Bi 10-0 0-0096
Il 12-65 71-3 0-0096
SE. 13-65 5-8 0-0111
9 13-7 4.9 OS
16. 1..913.7 4.8 1, Mittel 0-0118
11 | 13-7 1-9 0-0135
a 0-4 0.0240
13 3. 0-3 0-0207 Mittel 0-0214”
Der "13.7 0-3 0-0194
} EN, <0-1 Teuıeı. OS
I 13.52 ..<0.1 2.080 Te
168 | ROBERT TIGERSTEDT:
Versuch 30. 11. Februar 1884. Muskel angehängt 5" 0°; Beginn
des Versuches 5" 22°; Ende 5" 44°; Länge des Muskels 26 wm,
5 N T Eur nn der Latenzdauer
ummer empera ur Me in See.
en a on | ne Er
2 13-8 1253 0.0087 3 e
3 13-8 12.2 0-0095 Mittel 0-0091
4 13.9 12-0 00106
5 14-0 11-2 0-0111
6 14-0 9.6 0.0114
7 ol 9.5 0-0115
8 14-2 7-6 0.0119 er ! %
9 14.9 16 0-0125 us 0122
10 14-3 108 0.0119
11 14-3 4.3 0-0141
12 14-4 2.7 0-0175
13 14-4 2-0 0-0178
14 14-5 unmessbar
15 14-5 unmessbar
16 14°6 0-5 0.0210 le r 7
17 14-6 055 | 00-0924 al Garn
18 14-6 0-2 0-0231
Versuch 34 12. Februar 1884. Muskel angehängt 3" 48°; Be-
ginn des Versuches 4" 5°; Ende 4 32°; Länge des Muskels 28",
| Höhe der Latenzdauer
Nummer | ‚Temperatur Aa ug inisac
17 13:0 11-5 00061
16 12-9 10.7 0.0072
14 12:9 NOT 0.0090 ' Mittel 0-0083”
15 12-9 10-6 0-0087 |]
15 12-9 10.4 0:0101
12 12-9 9.6 00109
il 12.9 8:9 00103 N Br;
es oe ss on | Mittel 0-0107
9 12-8 1-9 0.0120
8 1258 6-3 0-0157
7 12.8 5.2 0.0159
6 AUS 0-8 0: 0224
2 12.6 0-3 0-0211
3 or 0-1 0:.0322 !
\ si 4 er | Mittel 0-0325
5 12-7 0-1 0.0474
1 unmessbar
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 169
Aus diesen Versuchen geht unzweideutig hervor, dass die Latenzdauer
der Muskelzuckung um so grösser ist, je kleiner ihre Höhe. Die Ab-
weichungen, welche in den Tabellen vorkommen, fallen grösstentheils inner-
halb der Grenzen des wahrscheinlichen Fehlers einer einzelnen Beobachtung,
Bei den früheren Versuchen ist dieser Fehler bei maximaler Zuckungshöhe
00003” gewesen. Es liegt in der Natur der Sache, dass bei Zuckungen,
welche verhältnissmässig schnell von der Abseisse sich erheben, die Fehler
kleiner sein müssen, als bei Zuckungen, welche nur langsam aufsteigen.
In Versuch 26 haben wir dafür einen Beweis; die Zuckungen 11—17
erreichen eine Höhe von 1-1 bis 1-3”"®; deren Latenzdauer ist im Mittel
0-0155” und der wahrscheinliche Fehler einer einzelnen Beobachtung 0.0008”.
Wenn wir diesen Umstand bedenken, so finden wir aus meinen Versuchen
das Gesetz von der längeren Latenzdauer der kleineren Zuckungen in voll-
ständigster Weise bewiesen.
Um eine nähere Vorstellung zu entwickeln, nach welchem Gesetz die
Latenzdauer bei abnehmender Zuckungsgrösse zunimmt, habe ich von den
hier mitgetheilten Beispielen die Versuche 27, 28, 29 und 34 graphisch
dargestellt (Taf. VII); in der Abseisse entspricht jeder Millimeter der Zuckungs-
höhe 1%; in den Ordinaten bezeichnet jedem Millimeter eine Zeit von 0.0002”.
Wenn zwei Zuckungen um nur 0.1" von einander abweichen, habe ich
dieselben zusammengeschlagen und aus den zugehörigen Latenzzeiten das
Mittel genommen; als Abscisse für die betreffenden Ordinate habe ich die
grössere von den beiden Zuckungen benutzt.
Wenn wir diese Öurven näher betrachten, so finden wir, dass bei ab-
nehmender Zuckungshöhe die Latenzdauer zuerst langsam, später aber immer
schneller zunimmt; das Ganze bietet also das Aussehen einer hyperbolischen
Curve dar. Auch aus den Tabellen sehen wir, wie bei den kleinsten Zuckungen
besonders bei denen, deren Höhe kleiner als 0-5 "m ist, die Latenz-
dauer für jede kleine Verminderung der Zuckungshöhe ausserordentlich
schnell zunimmt.
Ich muss mich also bestimmt gegen die Ansicht Mendelssohn’s aus-
sprechen, nach welcher die Latenzdauer sich nur sprungweise ändern sollte;
wenn man sich vergegenwärtigt, wie mancherlei Schwierigkeiten das Ergebniss
solcher Versuche, wie die vorliegenden, trüben können, so wird man aus
diesen Beobachtungen kein anderes Resultat ziehen können als dasjenige,
dass die Latenzdauer bei abnehmender Zuckungshöhe allmählich und
zwar zuerst langsam dann aber immer schneller zunimmt.
Bei den grössten Zuckungen zeigt sich bei einigen Versuchen (unter
den graphisch abgebildeten besonders Versuch 28, 29 und 34) eine schein-
bare Abweichung von unserem Gesetz. Wenn wir die grössten Zuckungen
nebst der ihnen zugehörigen Latenzdauer näher betrachten, so sehen wir,
170 ROBERT TiIGERSTEDT:
dass die Latenzdauer der grössten Zuckung erheblich kleiner als diejenige
der nächstfolgenden ist, und dass also, streng genommen, das Gesetz über
die Abhängigkeit der Latenzdauer von der Stärke der Muskelzuckung in
der Weise ausgedrückt werden müsste, dass bei abnehmender Zuckungshöhe
die Latenzdauer zuerst schnell zunimmt, dann sich nur langsam verändert,
um bei fernerer Abbnahme der Zuckungshöhe wieder schnell zu wachsen.
Statt einer ihre Convexität der Abscissenaxe stetig wendenden Curve, sollte
unsere Curve also eine doppelte Krümmung haben und zwar zuerst ihre
Concavität und später ihre Convexität der Abseissenaxe zukehren.
Ich glaube jedoch, dass diese Auffassung keine richtige ist; denn wie
schon oben bei den maximalen Zuckungen bemerkt worden ist, ist es ausser-
ordentlich wahrscheinlich, dass die bei directer Reizung des uncurarisirten
Muskels ausgelösten maximalen Zuckungen zweierlei Ursprunges sind.
Die eimen, welche bei grösserer Reizstärke erscheinen, haben ihre Ursache
in der directen Reizung des Muskels; die anderen, welche bei verhältniss-
mässig kleinerer Reizstärke ausgelöst werden, sind durch Reizung von den
Nervenenden aus hervorgerufen. Diese haben eine, um die Erregungszeit
der Nervenenden grössere Latenzdauer. Es scheint mir sehr wahrscheinlich,
dass die eben besprochenen Zuckungen mit verhältnissmässig kurzer Latenz-
dauer eben durch directe Reizung des Muskels ausgelöst sind. Sie sind
nämlich sämmtlich bei der grössten Reizstärke erhalten; addirt man zu
denselben 0.002” für die Latenzdauer der Nervenenden, so findet man,
dass bei jedem Versuche die Curve eine vollständige Gesetzmässigkeit dar-
bietet. Es wäre also die bei den vorliegenden Versuchen bestimmte Latenz-
dauer diejenige des von den Nervenenden aus gereizten Muskels, und wir
können unsere Ergebnisse folgendermaassen zusammenfassen:
Wenn der nicht-curarisirte Muskel durch verschieden starke
Oeffnungsinductionsschläge gereizt wird, so nimmt bei abneh-
mender Zuckungshöhe die Latenzdauer stetig zu und zwar in
solcher Weise, dass sie zuerst langsam, später aber, je kleiner die
Zuckungen werden, immer schneller wächst. Hierbei wird der
Muskel wahrscheinlich nicht direct, sondern von den Nerven-
enden aus erregt.
Theils um die eben entwickelte Ansicht von der Ursache der kürzeren
Latenzdauer der ersten maximalen Zuckungen zu stützen, theils um zu
untersuchen, nach welchem Gesetze bei directer, nicht von Nerven vermittelten
Reizung des Muskels die Latenzdauer mit der Höhe der Zuckung varürt
habe ich ähnliche Versuche am curarisirten Muskel ausgeführt. Schon oben
habe ich die Versuchsmethode besprochen, ich kann daher gleich zu der
Mittheilung einiger Versuchsbeispiele übergehen.
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 171
3/, °°® Curarelösung; Beginn des Versuches 11" 40’; Ende 12" 1’; Länge
|
Versuch 134B. 10. Mai 1884. Muskel blutdurchströmt; 11" 26
| des Muskels 35".
!
2
Rollen- Höhe der
Nummer | abstand | Temperatur , Zuckung | nzlaner
| in Cm. | in Mm. Et
I 0 18-5 7-3 0-0083 |
| 13. 0 18-5 7.0 0.0082
| u |lı 18-5 6-7 | 0.0085 I]
16 ı 9 18-5 6-7 | 0.0083 | | Mittel 0.0084"
1/0 18-35 6-6 | 0.0085 ||
15 3 18-5 6-1 00095 ]
! 4 B} 18-45 6-1 0:0082 | \ Mittel 0-0088”
li 0 2 300.0.,4.,0:0088 . |]
a A.5 Be se 0:0085 |
1) 4 18-45 5.4 0-0088 | | Mittel 0-0092”
er 8 18-4 5-3 0-0096 | J
On Bu: 18-4 4:6 0.0090
14 | 4 18-5 4-6 D40109% ‚| ar. f
10 | 5-25 18-4 4-5 0.0093 | f Mittel 0-0098
9, 5-35 18-4 4-4 0-0098
Ir 5 18-4 4-1 | 0.0104
1 | 53 18-4 3.8 0-0115
7,60 18-4 2-5 0-0149 | 1... x
E18 2.5 or |yrüttel 0,0105
| |
Versuch 135 B. 10. Mai 1884. Muskel blutdurchströmt; 5" 24’
>/, m Curarelösung; Beginn des Versuches 5"50’; Ende 6" 16°; Länge des
Muskels 33 m,
Rollen- \ Höhe der
Nummer abstand | Temperatur Zuckung | Terızen
en Gm. | in Mm. z
3 2 29-3 19% 0-0047 2
rain ae 1) 23-4 12-0 0-0048
Bor 7 22-8 11-9 0-0061
Di e6 22-25 11-9 00055 |
5 - 22.3 11-8 0:0050 | [ Mittel 0-0054”
6 5 29-3 11-8 0-0048 |
0 S 92.3 11-8 | 00055 |
4 3 22.3 11-6 0-0053 |... Er
2 1 99-3 11-6 0-0061 | j Mittel 0-0057
10 9 32.2 11-2 0-0056
20 De 0-0050 |
Zr Be ee] 0-0048 | \ Mittel 0-0049”
92 2 92.2 11-1 0-0048 |
23 GER De 11-1 0-0045 ||
172 ROBERT TIGERSTEDT:
(Versuch 135 B. Fortsetzung.)
Rollen- Höhe der
Nummer | abstand | Temperatur Zuckung Tatenzdauer |
in Cm. in Mm. in Sec. |
19 &) I 2222 10702 70200559 |
IE. el 222 AZ 00067
18 10 22122 Sm 20-006
12 ılıl | 22-2 3°5 0°0085
15 ul 22-2 48 0:0090 | er |
16 u 125985 4-8 | 0.0099 | [Mittel 0-0008
13 a 222 3°5 v-01157
14 a | 0-0119 |
17 unmessbar
ı/, cm Qurarelösung; Beginn des Versuches 7" 40°; Ende 8% 11’; ‚Länge
des Muskels 34 um,
|
Versuch 136 B. 12. Mai 1884. Muskel blutdurchströmt; 7% 25
|
|
Rollen- Höhe der ezdaner
Nummer | abstand | Temperatur Zuckung ; E
in Cm, in Mm. in Sec.
1 0 area | ae 0-0050 .
21 ) 21-8 13-2 00050 | Mittel 0-0030 |
2 1 lo 13-0 0-0051 |
3 2 ale 13-0 00051 Mittel 0-0052” |
4 3 91-7 13-0 0-0053 er
5 A 21-7 12-5 0-0053 |
7 6 21-7 12-5 0-0055 Ä
8 7 RERT 12-5 00055 Mittel 0-0054" |
9 8 21-7 12-5 0-0056
6 5 21:7 12-4 0-0053 |
10 9 21-8 11-8 0-0059 |
11 10 21-75 9-7 0-0061
12 | 105 | 21-8 8-1 | 0.0063 Ä
105 | as 7-9 | 00069
14 1 Alle 21-8 71 0-0072 . |
15% eo 21-8 6-0 0-0082 |
im | Nule 21-8 4+5 0-0093
16 15 2638 4-4 unmessbar
is 21080 21-8 0-2 0:0175 |]
1) | als8 21-8 0-2 0-0160 | } Mittel 0-0166”
>20 | 11-8 21-8 0-2 | .0-0162 J
Versuch 138 B.
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 173
13. Mai 1884.
Muskel blutdurchströmt; 4" 32
1/, m Curarelösung; Beginn des Versuches 4" 48°; Ende 5" 16°; Länge des
Muskels 35 "".
Rollen- Höhe der
Nummer | abstand | Temperatur Zuckung
in Cm. in Mm.
1 Va 14-9
2 l ed) 145
3 2 22.5 14°5
20 0 22°5 145
21 0 22°5 14-4
4 Sei ular, 14-1
B) 4 225 14°0
6 B) 22°5 13°8
& 6 22-5 15.4
8 E80: 12-6
$) 6) 113.228 11-4
10 I In .22°58 9-5
12 9-5 22-55 8.8
hal 9-5 22:55 85
13 10 22-5 76
14 10 22-5 76
15 10°5 22-5 95
18 10°8 22-5 2:8
19 10 22°5 2.6
TO Ar 22°5 0-3
Ra: |,,09-5 02
Versuch 139 B.
13. Mai 1884.
Muskel
Latenzdauer
in Sec.
-0055
-0051
-0058
0048
-0055
-0061
-0058
- 064
-0053
-00683
-0061
- 0072
-0074
-0069
-0095
-0082
-0082
-0103
-0128
-0143
-0131
SOOOOSOOSO9S SE OO eo seoae®
Mittel 0-0053
Mittel 0-0060”
Mittel 0-0088”
| Mittel 0:0137”
blutdurchströmt; 6" 56’
1), m Curarelösung; Beginn des Versuches 7" 14°; Ende 7" 40’; Länge des
Muskels 35 mm,
Rollen- Höhe der
Nummer | abstand Temperatur Zuskung Be S en
in Cm. | in Mm &
1 a) 22-8 16-4 0.0051
1 22.8 16-1 0-0055
3.2 22.85 16.0 0-0051 Mittel 0-0053”
4 3 22.9 16.0 0.0053
5 4 22.85 15-7 0.0055
6 5 22.85 15-1 0:0051 Lt. ann
7 6 22.85 15-0 oe 0rpsl
8 Ü 22.85 14.8 0.0055
S) 8 22.9 13.9 0.0051
174 RoBERT TIGERSTEDT:
(Versuch 139 B. Fortsetzung.)
Rollen- Höhe der
Nummer | abstand | Temperatur | Zuckung RL: |
in Cm. in Mm. nn |
18 ) 93.0 12-1 0-0063 ' ©,
io 98 22.9 12-0 0.0059 | Mittel 0-0061
in. \ 29.9 10-9 0.0063 ee
ao 23.0 10-0 020033 1 ie zu
or 1085 22.9 9.0 0-0079
ein 29.9 Ber ee,
io 93.0 6-6 ana en.
a5 29.9 3.0 0-0109
15% Les 29.9 0-8 0-0136
Versuch 140B. 14. Mai 1884. Muskel blutdurchströmt; 11% 28
!/, cm Curarelösung; Beginn des Versuches 11*50; Ende 12% 19; Länge
des Muskels 35 m,
Rollen- Höhe der
Nummer | abstand ' Temperatur Zuckung Juan Sualamen
in Cm. in Mm. in Dec.
1 ) 22.9 15.7 0:0051 | wi
2 1 22.95 15-7 0.0050 | Mittel 0.0051
3 2 23.0 15-5 00056
4 3 23.0 15-3 0-0051
5 4 23.0 15-1 0-0053 |
6 5 23.0 14.8 0-0050 |
7 6 23.0 14.5 0-0053
8 7 22.9 14.3 0-0051
9 8 22.95 14-0 0.0055
10 9 22.9 12-6 0.0067
12 9-5 29.9 10-8 0.0069 4
11 9.5 92.9 10.7 00066 | Mittel 0-0065
19 | m 22.9 9.6 0:0079
2 | 10 22.8 9.0 0-0069
12 7105 22.85 7.9 0.0080
21, 1.1085 29.8 6-0 0-0090
en 29.8 4-8 0-0095
20 | ıı 29.8 4.5 0-0090
9 les 29.8 1-0 0-0131
160 Mes 22.8 0-4 0-0143
le | ieh 22.8 210.1 0-0221 a
| le 22.8 0-1 0-0221 | tittel 0.0221
|
|
t
1
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 175
Versuch 141 B. 14. Mai 1884. Muskel blutdurchströmt; 4" 52’
1/, com Qurarelösung; Beginn des Versuches 5" 8; Ende 5" 38°; Länge des
Muskels 35 "".
|
Rollen- Höhe der
Nummer | abstand | Temperatur | Zuckung | aubrani |
in Cm. in Mm. In 00.
a) Sl ee 0.0055
2 1 22-3 17-6 0-0069 | 1 1p,4, u
5 4 29-25 17-6 050061 nj> Hrol;0.0085
4 3 22.3 17-3 U Re ER
3 2 22-3 17-2 DETOISSEN AN N ey
6 5 22°8 OT 0.0053
7 Be 9 00:5 13-1 0.0071
(6) 7 | 22-25 12-8 0:0069 |
21 8 29:35 12-0 00064 |... m
9 8 22-2 11-9 0-0086 | 7 Mittel 0-0065
10 9 22-2 10-8 0.0080
20 Ba 122% ge) 0.0082
1 10 22:25 u) 0.0098
12 unmessbar
19 Sol) 22.8 | 6-3 0-0114
18 9-5 92,3 la 1-7 | unmessbar |
13 10.5 22.3 1-4 .0-0143.2.|
14 10-7 22.25 <01 00525
15 10-7 22-25 zo 00317 Sig N
16 | 10.2 | 22-3 <o-1 0:02)
1:7 10-0 22.8 <0-1 0.0240
Aus diesen Versuchen geht hervor, dass auch beim curarisirten Muskel
die Latenzdauer bei kleinen Zuckungen länger wird. Trotz der kleinen,
unvermeidlichen Abweichungen, welche zuweilen vorkommen, lassen die
Versuche sehr deutlich erkennen, dass auch hier die Latenzdauer, wenn
man von stärkeren zu schwächeren Zuckungen übergeht, demselben Gesetze
wie beim nicht curarisirten Muskel folgt, d. h. sie nimmt anfangs lang-
sam, später aber immer schneller zu. Dies zeigt sich am besten in den
Curven, welche nach demselben Princip wie die früheren aus den Versuchen
155 DB, 156.5, 159 B und 141 5 construirt sind (Taf. VII). Ich habe in
diesen Curven eine unterbrochene Linie gezogen, um den allgemeinen Ver-
lauf der Curven deutlicher hervortreten zu lassen. Die Abweichungen der
einzelnen Beobachtungen von dieser „Normalcurve‘“ sind überall nicht sehr
bedeutend, und erreichen nie einen grösseren Werth ais höchstens 0.0012”,
gewiss keine üble Uebereinstimmung. Ich kann also behaupten, dass auch
bei directer Reizung des curarisirten Muskels die Latenzdauer
stets zunimmt, je kleiner die Zuckung wird, sowie dass sie bei
176 ROBERT TIGERSTEDT:
abnehmender Zuckungshöhe zuerst langsam, später aber immer
schneller wächst.
Ferner geben die betreffenden Versuche einen weiteren Beweis für
meine Auffassung der im vorigen Abschnitte dieses Kapitels besprochenen
Zuckungen mit kurzer Latenzdauer, welche nicht mit der allgemeinen Ver-
änderung der Latenzdauer bei abnehmender Zuckungshöhe übereinstimmt.
Es zeigt sich nämlich in den Versuchen am curarisirten Muskel keine
Spur einer solchen steilen Zunahme der Latenzdauer bei Uebergang von
den grössten Zuckungen zu den folgenden, sondern hier erhebt sich die
Curve, abgesehen von den unvermeidlichen Schwankungen, ganz regelmässig
und sehr langsam, wenn man ihr von den grösseren zu den kleineren
Zuckungen folgt.
Es scheint mir daher durch alle die Umstände, die ich hier und im
Kapitel IV speciell betont habe, bewiesen, das die Zuckungen, welche ich
im ersten Abschnitte dieses Kapitels studirt habe, durch Reizung des
Muskels vom Nerven aus ausgelöst sind. Im vierten Kapitel habe ich ge-
zeigt wie einige Beobachtungen von mir die Entdeckung Bernstein’s von.
einer specifischen Erregungszeit der Nervenendigungen vollkommen be-
stätigen.
Im Kapitel VIII werde ich durch eingehenden Vergleich der Latenz-
dauer beim curarisirten und nicht curarisirten Muskel diese Auffassung
ferner zu stützen suchen.
Sechstes Kapitel.
Die Latenzdauer der Muskelzuckung in ihrer Abhängigkeit von
der Art des Reizes.
v. Bezold verglich mittels des Cylindermyographions von du Bois--
Reymond die Latenzdauer von Schliessungs- und Oeffnungszuckungen mit |
denjenigen von Zuckungen, welche durch den Oeffnungsinductionsstrom er-
zeugt wurden. Er fand, dass jene ihrem zeitlichen Verlaufe nach sehr von
den durch Inductionsströme erzeugten abweichen. Erstens sind die durch!
Schliessung oder Oeffnung eines constanten Stromes hervorgebrachten
Zuckungen tetanisch (wie dies schon von Wundt beobachtet wurde). Ferner‘
haben diese Zuckungen im Durchschnitt eine grössere Latenzdauer. Das
Maximum dieser Grösse wurde bei Schliessungszuckungen als das dreifache,
bei Oeffnungszuckungen als das sechsfache von der bis dahin als Latenz-'
dauer bezeichneten Zeitgrösse gefunden. Diese Zeit nimmt bei Schliessungs-
und Oeffnungszuckungen mit der Zunahme der Stromesdichtigkeit und der
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUOKUNG. 177
Schliessungsdauer continuirlich ab. Erst bei einer sehr bedeutenden Dichte
des im Muskel geschlossenen oder geöffneten Stromes wird die Latenzdauer
derjenigen gleich, welche bei den Maximalzuckungen, die auf Oeffnungs-
induetionsströme folgen, beobachtet wird. Endlich ist der zeitliche Verlauf
des Wachsthums der Muskelverkürzung bei Schliessungs- und Oeffnungs-
zuckungen langsamer als bei den auf Induetionsströme folgenden, und nur
bei der Erregung durch sehr starke Kettenströme wird die Geschwindigkeit,
mit welcher der Muskel sich verkürzt, in allen drei Fällen gleich. !
Biedermann fand die Latenzdauer im Allgemeinen um so kürzer, je
grösser die Intensität des zur Reizung benutzten Stromes war; am kleinsten
war das Latenzstadium bei Reizung mit einzelnen Inductionsströmen, am
grössten bei der Erregung durch Oeffnung schwacher Kettenströme. ?
Mendelssohn konnte keinen Einfluss der Art des Stromes auf die
Latenzdauer finden. Wenn er bei demselben Frosch eine gleich grosse
Zuckung einmal durch einen Induetionsstrom, ein anderes Mal durch
Schliessung eines coustanten Stromes hervorrief, constatirte er stets, dass die
Latenzdauer unverändert war, wenn die Zuckung in beiden Versuchen die-
selbe Höhe erreichte. ®
Waller fand bei Reizung von Nerven aus, dass die Latenzdauer der
Oeffnungszuckung grösser als diejenige der Schliessungszuckung ist. ?
Ich habe die Latenzdauer bei Reizung des Muskels mit Schliessungs-
oder Oeffnungsinductionsströmen mit einander verglichen, sowie die Latenz-
dauer der Schliessungszuckung beim constanten Strom mit derjenigen der
durch Schliessungsinductionsströme ausgelösten Zuckung. Ich werde jede
der beiden Reihen gesondert für sich betrachten.
1. Die Latenzdauer der Muskelzuckung in ihrer Abhängigkeit
von der Art des inducirten Stromes.
Die betreffenden Versuche waren in folgender Weise ausgeführt. Der
Oeffnungsinductionsstrom wurde durch vollständige Unterbrechung der
primären Strombahn ausgelöst; der Schliessungsinductionsstrom durch
Oeffnung einer Nebenschliessung. Zu beiden Zwecken diente der am
Reeistrirapparat befestigte Contact; durch eine einfache Umstellung des
Stromwählers konnte ich von Schliessungsinductionsströmen zu Oefinungs-
induetionsströmen, und vice versa, übergehen.
I v. Bezold, Untersuchungen über die elektrische Erregung der Nerven und
Muskeln. Leipzig 1861. S. 199— 207.
? Biedermann, Sitzungsberichte der k. Akademie der Wissenschaften. Math.-
naturw. Classe. 1879. Bd. LXXIX. Abth. 3. S. 27 des Separatabdruckes.
® Mendelssohn, Travaux du Laboratoire de M.Marey. 1880. t. IV. p.118—119.
* Waller, Archives de physiologie. 1882. t. 1. p. 383—385.
Archiv f. A. u. Ph. 1835. Physiol. Abthlg. Suppl.-Bd. 12
178 ROBERT TiGERSTEDT:
Bei jedem Praeparat wurde zuerst eine Reihe mit der einen Strom-
gattung, dann eine mit der anderen ausgeführt; da die Oeffnungsinductions-
ströme schon durch die Versuchsanordnung an und für sich stärker als
die Schliessungsinductionsströme waren, habe ich bei jenen die Rollen immer
von einander entfernt, während ich bei den Schliessungsinductionsströmen
in den meisten Beobachtungen die Rollen übereinander geschoben gehabt
habe. Bei jeder Stromgattung ging der Strom immer in derselben Richtung
(aufsteigend) durch den Muskel. Die Muskeln waren uneurarisirt. Ich
‘lasse hier einige Versuchsbeispiele folgen; in denselben habe ich diejenigen
Beobachtungen weggelassen, welche hier nicht von Interesse sind, d. h.
von der einen oder anderen Stromgattung ausgelöste Zuckungen, welche
nicht zu einem Vergleich zwischen der Latenzdauer bei Schliessungs- oder
Vefinungsinductionsströmen dienen könnten.
Versuch 69. 13. März 1884. Muskel angehängt ohne Extragewicht
4h 55°; Beginn des Versuches 5% 22°; Ende 5* 50’; 1 Grove.
Rollen- Höhe der |
Nummer | abstand | Temperatur Zuckung se
in Cm. in Mm. 5
Oeffnungsinduetionsströme.
1 0 172 15-3 0:0042
> 9 17.2 15-3 0-0042 |
3 4 17-2 15-2 0.0042 2 N .
A 6 17.2 15.2 0.00, 0 u
5 8 17-3 15-2 0.0045
6 10 17-3. ° 299150 0.0050
7 10-5 17:35 15-0 00063
8 il 17-4 15-1 0.0067
9 12 17-4 14-9 | 0.0069
Schliessungsinductionsströme.
12 0 7a See 0055
13 2 es gel 0.0055 N Bi.
29 2 15 ‚allow 00053 rege
33 0 17-45 15-3 0-0051
14 4 165 15-2 0-0061
15 6 125 12158 0.0072
16 8 17.45 Sao 00069
1 9 15 15-1 0-0079
18 10 ums 15-2 0-0074
19 11 ia 185 0.0079
UBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG.
Versuch 71.
11" 15°; Beginn des Versuches 11" 56’;
14. März 1884.
Ende
l Grove.
179
Muskel angehängt ohne Extragewicht
12 080/;
DEE,
| Rollen- | FEN: Höhe der Latenzdauer
Nummeı url | Temperatur AnRLUNE Rss
Oeffnunesinductionsströme.
23 0 | .17.45 19-87. 70-0043: |
9 2 17-25 12.9 0-0045 |
20n | 4 17-3 13-1 0.0061 | Mittel 0-0048"
11 6 0-9 12.9 0-0043
12 Be 4 lite 12.2 0-0048 |
13 10 ıNlo® 10-5 0-0075 |
14 10 1723 10-5 0.0061 Mittel 0-0068”
= 10 1 10-5 0:0069 |
| Schliessungsinduetionsströme
1 0 17-0 11-8 0-0069
2 0 17-05 11-6 0.0079
| 3 0 17-1 11-8 0.0077
4 0 17-1 11-4 0-0063
| 5 0 17-15 11-4 0.0067
| 6 0 17.2 11-4 unmessbar | Mittel 0-0069”
7 0 17-2 11-5 0-0058
Ä >) 0 17-2 11-5 0-0072
| >> 0 17.45 11-8 0-0067
| 21 0 17-4 11-5 0-0069
| 20 2 17-4 11-3 0-0072
| 19 4 17-4 10-9 0-0077
| 18 6 17.4 10-7 0.0080 Kata 0.0079"
| 10 5 17-35 10-6 0.0080
16 10 17.35 10-2 0.0087
Versuch 72. 15. März 1884. Muskel angehängt ohne Extragewicht
10% 25; Beginn des Versuches 10% 40°; Ende 11" 10°; Länge des Muskels
192 m - 1 Grove.
Rollen- ' Höhe de
' Nummer Eon Temperatur | Zuckung nz ur |
\ | in Cm. | ı in Mm. ; | en
Oeffnungsinductionsströme.
8 0 de 16-2 0-0050
| ) 2 | 16-2 16-1 0.0053 |
10 4 16-2 ı 16-1 VEN Er 7
| Ba eie25r | 5.162 unmessbar | et
19 8 16-3 16-0 0-0061
2 ee
180 ROBERT TIGERSTEDT:
(Versuch 72. Fortsetzung.)
Rollen- Höhe de | |
Nummer en Temperatur nung z An |
in Cm. in Mm. an
14 12 16-35 16-0 00080 |
15 i2 16-4 16-0 0-0091
16 12 16-4 16-1 | 0.0088 |
Schliessungsinductionsströme.
il 0 15-75 15-5 0.0074
2 0 15-85 15-6 0-0071
3 0 16-0 15-5 0-0072
4 0 16-0 15-4 0-0083
5 0 16-05 15-4 0.0077 Mittel 0-0076”
6 0 16-1 15-6 0.0077
0) 16-1 15-6 0.0077
1 0 16-4 16-5 0.0087
24 0 16-55 16-2 0.0069
18 2 16-45 16-3 0.0074
19 4 16-45 16-2 0.0079
20 6 16-5 16-3 0.0080
21 8 16-5 16-1 0.0085
Versuch 73. 15. März 1884. Muskel angehängt ohne Extragewicht
1115’; Beginn des Versuches 1130’; Ende 12" 0’; Länge des Muskels
302] "Grove.
Rollen- Höhe der
ö ES Latenzdauer
Nummer | u Temperatur | Aug TER 2
Oeffnungsinductionsströme.
el 0 16.9 10 00045
8 2 16-9 12-5 0.0043 |
9 4 16-95 112405) 0.0043
10 6 17.0 12:6 0-0045 Mittel 0-0045”
11 8 17.0 12.4 - 0.0042
112 10 17.05 12.3 0-0055
13 12 Ikea 12-2 0.0043
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 181
rtollen- | Höhe der |
Nummeı al Temperatur Zuckune | Latenzdauer |
/ in Cm. in Mm. | I BEL.
Schliessungsinductionsströme.
1 0 16.7 12.9 0.0050
| 2 ) 16-75 13-0 0.0056
| Zero 11668 12-8 0.0055
4 | 0 | 16-8 12-6 0.0050
" 0 16-85 125 0.0050 ‚ Mittel 0-0053°
6 | 0 16-9 12-6 0-0058
4 |, .,® 17.2 12.7 0.0050
15 2 17.2 12.2 0-0056
16, | 4 17.2 12.1 0.0053
| Versuch 77. 17. März 1884. Muskel angehängt ohne Extragewicht
or 95’; Beginn des Versuches 12" 40; Ende 1" 13); a ein
almm. Beobacht. 1—19: 1 Grove; Beobacht. 20—23: 2 Grove.
| Roll | ' Höhe der | :
Nummer | Abstand Temperatur | Zhckune | ne |
| in m. | in Mm. * 23 : |
Oeffnungsinductionsströme.
> il 0 17.85 13-6 0.0050
2 2 17.9 Do 0.0048
3 4 17.9 13-6 0-0059
4 6 17-95 13-6 0.0048
5 s 18.0 13-6 0.0048
6 10 18-0 13-1 De elk070051
16 6 18.2 13-6 0.0045
17 S 18-2 1 Sort 0.0048
18 10 18-2 1 0.0050
19 det 18.25 13-0 0.0061
Schliessungsinductionsströme.
9 0 18-1 13-3 0.0055
10 0 18.1 13-3 0.0061
1a 0 18-1 13-3 0:0053
12 0 18-1 13-5 0-0061 Mittel 0-0055"
13 0 18.15 13-2 0.0047
14 0 18-15 180% 0.0055
15 0 18.2 13-5 0-0051 |
20 0 18-25 13-5 0.0047 |
21 0 18-3 13-5 0.0045 r Fe
22 0 18-3 13-4 0-0048 De >
23 0 18:3 13-5 0.0050
ROBERT TIGERSTEDT:
Versuch 78. 17. März 1884. Muskel angehängt ohne Extragewicht |
3% 15°; Beginn des Versuches 3% 30’; Ende 3
ana 2 Groye
Rollen- Höhe der |
Nummer aan Temperatur Zuckung | ee
in Cm. ine Mins | F nenn
effnungsinductionsströme.
1 O7 18-8 0.0040
2 2 ED ee 0-0042
3 4 SU 2 12521326 0-0042
4 6 18.0. | 18-6 0-0048
5 Ro) Sl 1. 10 0.0050
6 10 1305 | lee 0.0050
7 112 18-05 17-6 0.0053
3 13 18-1 boBalds»at 7020063
Schliessungsinductionsströme.
9 0 18:1 Me 0.0050
10 0 18-1 1218-0 0-0047
ıLl 0 18-1577 °71872 0.0045
12 Om 18-15 18-4 0.0050
118) 0 18-15 ® 18-3 | 0.0048
20 0 Or 008 0.0047
14 2 1872890:129318 35 0.0050
15 4 | 11808 0-0061
16 6 lO- 272 18er 0.0061
ze ) 8.2 Bl 0-0051
18 10 ISW2r 0 ler 0.0064
Versuch 81. 18. März 1884. Muskel angehängt ohne Extragewicht |
h 55°; Länge des Muskels
| Mittel 0-0046'
|
Mittel 0-0048”
En un
11" 45’; Beginn des Versuches 12" 0’; Ende 12% 30°; Länge des Muskels '
25 a2 27 Grove.
| Rollen- Höhe der
Latenzdauer |
Nummer | abstand | Temperatur | Zuckun 9
in Cm. n in Te in Sec. |
Oeffnunesinductionsströme.
8 0 17-8 1S-6 0-0047
9 2 17-85 18-1 0-0047 |
10 4 17-85 1S- 1 0.0050, Er ne
11 6 17-9 18-0 0-0049: | ("ltel ODE
12 8 17-9 18-0 | 0.0047 |
13 10 17.95 18-0) 12.02.0048
14 12 18-0 Re927 7720:. 006185
15 14 18-0 17-9 0-0067 |
16 14 15-05 17-8 0.0069
|
|
I.
I 9
{
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUOKUNG, 183
(Versuch 81. Fortsetzung.)
vollen- | Höhe der || |
Nummer en Temperatur | ee | Latenzdauer
' im-Cm. a
Schliessungsinductionsströme.
| 0 17.65 15-0 0.0050
2 0 17-7 18.0 0.0048
> 0 Beet. 18-0 0.0048
4 0 WARST 15.0 0.0047
5 0 17-75 18-0 0-0051 Mittel 0-0048”
6 0 17-8 15-0 0.0045
7 0 17-8 15-0 0.0045
17 0 18-05 17.9 0.0045
18 2 15-05 17-7 0.0048
19 4 18-1 17.7 0.0050
20 6 18-1 1770005005
21 Ss 18-1 17.7 0.0063
22 10 18-1 17.8 0.0069
23 12 18-1 17-8 0-0071
Wir wollen jetzt diese Versuche etwas näher betrachten.
Beim Versuch 69 haben die Beobachtungen 1--6 eine Zuckungshöhe
von 15-.0— 15-3"; ich habe bei dieser Betrachtung die Beobachtungen
7—9 weggelassen, weil sie wahrscheinlich nur vom Nerven aus ausgelöst
sind (Vgl. oben S. 161). Ihre Latenzdauer ist im Mittel 0-0044”. Von
den Schliessungsinductionszuckungen ! haben die vier ersten (Beobachtung
12, 15, 22, 25) eine Höhe von 15-.1—15-5"", also übereinstimmend mit
den Vorhergehenden; ihre Latenzdauer ist aber im Mittel 0-0053”. Dass
diese längere Latenzdauer nicht davon bedinst ist, dass sie durch Reizung
von den Nervenenden aus ausgelöst wären, geht theils daraus hervor, dass
die Beobachtungen 14 und 15 bei einer fast gleichen Zuckungshöhe,
eine viel grössere Latenzdauer haben, theils daraus, dass bei den in den
früheren Kapiteln mitgetheilten Beobachtungen, welche meiner Ansicht nach
durch Reizung von den Nervenenden aus hervorgerufen sind, nie eine so
kurze Latenzdauer wie die hier vorliegende auftritt. Uebrigens ist noch zu
bemerken, dass die durch Oeffnungsinductionsströme ausgelösten und hier
berücksichtisten Zuckungen bei einem Rollenabstand von 0 bis 10, die
anderen aber nur beim Abstand O bis 2°” erhalten sind. Alles in Allen
zeigt also dieser Versuch, dass gleich starke, maximale Zuckungen, wenn
sie durch Schliessungsinductionsströme ausgelöst werden, eine längere-Latenz-
! Ich werde die durch Schliessungs- bez. Oeffnungsinduetionsströme ausgelösten
Zuckungen als Schliessungsinduetions- bez. Oeffnungsinductionszuckungen bezeichnen.
184 ROBERT TIGERSTEDT:
dauer haben, als wenn sie den Oeffnungsinduetionsströmen ihren Ursprung
verdanken.
Beim Versuch 71 finden wir dasselbe a fortiori bewiesen. Die grössten,
vom Schliessungsinduetionsstrome bei Rollenabstand O0 ausgelösten Zuckungen
haben eine mittlere Latenzdauer von 0-0069”; sie sind zwar niedriger wie
die stärksten durch den Oeffnungsinduetionsstrom hervorgebrachten Zuekungen,
deren Latenzdauer im Mittel 0.0048” beträgt; wir können aber dieselben
mit den Beobachtungen 13— 15 vergleichen: da finden wir bei einer
Zuckungshöhe von 10.5" eine mittlere Latenzdauer von 0.0068”, während
die Beobachtungen 1--8, 20—22 bei einer Zuckungshöhe von 11-3—11.8 ==
eine Latenzdauer von 0-0069” besitzen. Wir müssen also auch hier den
Schliessungsinductionszuekungen eine längere Latenzdauer wie gleich grossen
Oefinungsinductionszuckungen anerkennen.
In dem Versuch 72 finden wir dasselbe: die Oeffnungsinduetions-
zuckungen haben eine Zuckungshöhe von 16-0—16-.2"m; die Schliessungs-
induetionszuckungen eine von 15-4—-16-.5"®; bei jenen ist der Rollen-
abstand O— 10° und die Latenzdauer im Mittel 0.0056”; bei diesen bez.
0—2m und 0.0076”. .
Im Versuch 73 wiederholen sich dieselben Verhältnisse: die Oeffnungs-
induetionszuckungen haben beim Rollenabstand 0—12°“ eine Höhe von
12.2—12.7"m und eine mittlere Latenzdauer von 0.0045”; die Schliessungs-
inductionszuckungen dagegen eine Höhe von 12-1—13-0 bei einem Rollen-
abstand von O—4® und einer mittleren Latenzdauer von 0.0053”.
Im Versuch 77 finden wir wieder bei den Oeffnungsinductionszuckungen
Rollenabstand O— 11°“, Zuekungshöhe 13.0— 13.7 und Latenzdauer 0-00517;
bei den Schliessungsinductionszuckungen Rollenabstand 0, Zuckungshöhe
13-.2—13.5, Latenzdauer 0.0055”. Wenn aber die Stromstärke in der
primären Rolle gesteigert wird (2 Grove), so sinkt bei gleich bleibender
Zuckungshöhe die Latenzdauer der Schliessungsinductionszuckungen sogar
unter diejenige der Oefinungsinductionszuckungen und beträgt nunmehr
nur 0-0048”. Bei grösserer Stärke des inducirten Stromes nähert sich
also die Latenzdauer der Schliessungsinductionszuckungen derjenigen der
Oeffnungsinduetionszuckungen. Wir können ohne Schwierigkeit diese That-
sache erklären: die Schliessungsinductionsströme haben einen trägeren Ver-
lauf als die Oeffnungsinductionsströme; die reizende Wirkung jener tritt
daher nicht so plötzlich und schnell ein wie diejenige der letzteren. Wenn
aber die Stärke des in der primären Rolle kreisenden Stromes beträchtlich
vermehrt wird, so wird der Schliessungsinductionsstrom schneller zu einer
für die Muskelerregung hinreichenden Stärke aufsteigen und also die Latenz-
dauer kürzer als sonst ausfallen. Hier finden wir also eine vollständige
Uebereinstimmung mit dem Befunde von v. Bezold, welcher ermittelte, dass
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 185
die grosse Latenzdauer der Schliessungszuckungen bei steigender Reizstärke
immer mehr abnahm, trotzdem dass schon die ersten Schliessungszuckungen
maximal und tetanisch waren.
Die Versuche 78 und 81 bestätigen die Schlussfolgerungen aus dem
Versuch 77; hier sind bei allen Beobachtungen 2 Grove in der primären
Strombahn benutzt. Wir sehen wie die Latenzdauer der Oeffnungs- und
. Sehliessungsinductionszuckungen fast gleich gross ist.
Wir können also die Ergebnisse der vorliegenden Versuche folgender-
maassen zusammenfassen:
Diejenigen maximalen Schliessungsinductionszuckungen,
welche bei directer Reizung des Muskels durch die schwächsten
dazu genügenden Ströme ausgelöst werden, haben eine grössere
Latenzdauer als die entsprechenden Oeffnungsinductions-
zuckungen. Wenn aber die Stärke des induceirenden Stromes
sehr beträchtlich gesteigert wird, so wird, in Folge des schnel-
leren Aufsteigens des Schliessunesinductionsstromes zu einer
für die Erregung des Muskels hinreichende Stärke, die Latenz-
dauer der Schliessungsinductionszuckungen gleich derjenigen
_ der Oeffnungsinductionszuckungen.
II. Die Latenzdauer der Muskelzuckung in ihrer Abhängig-
keit von der Art des elektrischen Stromes: Schliessungsinduc-
tionszuckungen mit Schliessungszuckungen verglichen.
_ Die betreffenden Versuche habe ich nach demselben Princip, wie die
im vorigen Abschnitte beschriebenen ausgeführt. Die Schliessung des Stromes
wurde durch Oeffnen einer Nebenschliessung bewerkstelligt. Der Uebergang
von Schliessungsinductionsströmen zu constanten Strömen geschah mittels
des Stromwählers in der einfachsten Weise. Die Richtung des inducirten
und des constanten Stromes im Muskel ist überall bei den Versuchen an-
gegeben. Die Ströme wurden den beiden Enden des Muskels zugeführt;
der Muskel war stets uncurarisirt. Bevor ich zur Mittheilung der betreffen-
den Versuche gehe, werde ich einige Versuche anführen um zu zeigen, dass
die Richtung eines Inductionsstromes für die Latenzdauer der Muskel-
zuckung von ausserordentlich kleiner Bedeutung ist; die Versuche sind am
uneurarisirten M. gastrocnemius ausgeführt.
Versuch 150. 20. Mai 1884. Beginn des Versuches 5" 40°; Ende
.6%.0'; 1 Grove; Oeffnungsinductionsstrom; Rollenabstand = 0.
186 ROBERT TIGERSTEDT:
Höhe der | Toreszdaner
Nummer | rn Zuckung | Fa RUE, |
in Mm. | ın EC. |
om ee
1 BONN, 19-3 0.0042 |
2 | 20-85 19-2 0-0040 3 2
ee ee 0-0040 ja an
4 I ...21.05 19-3 0.0042 |
Strom absteigend.
5 I | 19-5 | 0.0043 |
6 21-15 19-6 0.0043 | EN:
7 | 21-2 1 0.0010
8 I 21.257, 19.7 , 0.0040 |
Versuch 152. 20. Mai 1884. 1 Grove; Oeffnungsinductionsstrom;
Rollenabstand = 0.
| Höhe der | |
Nummer |, Temperatur | Zuckung Tann |
[ in Mm. j = |
Tom Ans
7 21-5 19-5 0.0039
8 | 21-5 19-6 0.0040
er nn a Mittel 0-0040"
11 21-6 19-8 0:0039 |
12 21-6 19.9 0.0045 |
Strom absteigend
ll 21.35 19.5 | 0.0039
aa Bo 19-2 0.0040
3 21-4 19.8 | 0.0042 N
wu. 10.7 2102020018 asle
5 21-45 19.5 | 0.0042
Da 1950172020039
Bei Anwendung übermaximaler Oeffnungsinductionsströme ist also beim
nicht-curarisirten Muskel die Latenzdauer von der Stromrichtung unabhängig.
Ich gehe jetzt zu den Versuchen über, welche ich ausgeführt habe, um
die Latenzdauer der Schliessungszuckung beim constanten Strom, mit der-
jenigen der Schliessungsinductionszuckung zu vergleichen.
Ich habe diese Versuche in zwei Reihen, mit metallenen und mit unpolari-
sirbaren Elektroden ausgeführt. Die erste Reihe zeist ganz wie die Ver-
suche von y. Bezold, dass bei nicht übermässig starken Strömen die
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 187
Schliessungszuckung eine grössere Latenzdauer als die Schliessungsinduc-
tionszuckung hat, sowie dass im Allgemeinen die Schliessungszuckung bei
directer Muskelreizung sich in einer anderen Weise als die Schliessungs-
zuckung vom Nerven aus oder die Induetionszuckungen verhält. Wundt
fand schon im ‚Jahre 1558, dass, wenn man den Muskel direet mit con-
stanten Strömen reizt, er nach vollbrachter Zuckung noch nicht seine frühere
Länge erreicht, sondern es bleibt eine geringe Verkürzung zurück, die erst
allmählich sich ausgleicht. Dagegen beobachtete er die genannten Erschei-
nungen nicht, wenn er statt durch den Muskel durch den Nerven den
Strom schloss.
v. Bezold fand in den meisten Versuchen, dass die durch constante
Ströme ausgelösten Zuckungen tetanisch waren, dass sie aber langsamer
ansteigen als die Oeffnunesinductionszuckungen, obgleich sie eine grössere
Höhe erreichen. Wenn er die Richtung des constanten Stromes wechselte,
war die Latenzdauer zuweilen unverändert, zuweilen für aufsteigende,
zuweilen für absteigende Ströme länger; z. B.:
Strom aufsteigend Latenzdauer 28 ui! Wenn
Strom absteigend Latenzdauer 24 wm
(1 Grove mit 200 ® Draht-Nebenschliessung)
Strom absteigend Latenzdauer 22 | Touran!
Strom aufsteigend Latenzdauer 19 am
(1 Grove mit 400 °® Draht-Nebenschliessung;)
Strom absteigend Latenzdauer 23 mm Br
Strom aufsteigend Latenzdauer en el
(2 Grove mit 400% Draht-Nebenschliessung)
Strom absteigend Latenzdauer 15.5 "m]
Strom aufsteigend Latenzdauer 18.5 mm[
(2 Grove ohne Nebenschliessung)
Strom absteigend Latenzdauer en ey
Strom aufsteigend Latenzdauer 14.5 mm we
(3 Grove ohne Nebenschliessung)
Strom absteigend Latenzdauer 11.5 mmy A
Strom ed Latenzdauer ne han
(12 Grove ohne Nebenschliessung).
Versuch IV
Die Versuche geschahen am curarisirten M. semimembranosus, und der
Strom wurde ihm durch feine Kupferdrähte zugeführt, welche an jedem
Ende den Muskel klemmend umfassten.?
! Wundt, Die Lehre von der Muskelbewegung. Braunschweig 1858. S. 121—130.
” v. Bezold, Untersuchungen über die elektrische Erregung. leipzig 1861.
8. 195— 203,
188 ROBERT TIGERSTEDT:
Biedermann hat später die bei directer Reizung des Muskels erhaltene
Schliessungszuckung genauer untersucht und gefunden, dass unter günstigen
Umständen der Schliessungsreiz eine dauernde Erregung des Muskels her-
beiführen kann, deren Grösse hauptsächlich von der Stromintensität abhängig
erscheint. Ferner fand er bei totaler Durchströmung des M. sartorius die
Grösse der Latenzdauer von der Stromesrichtung abhängig, sowohl bei
Schliessungs- wie bei Oeffnungserregung und zwar war die Latenzdauer immer
dann kleiner, wenn die Erregung an dem unteren Muskelende entstand,
vorausgesetzt, dass die Stromstärke in beiden Fällen gleich war. Er erklärt
diese Beobachtung, wie mir scheint, in vollständig genügender Weise aus
der assymetrischen Form des M. sartorius, der sich vom Beckenende nach
dem Knie hin zuspitzt, am Knie wird daher der Strom eine grössere
Dichte haben und also eine stärkere Einwirkung ausüben, wie am Beckenende;
die absteigende Stromrichtung muss daher die wirksamere sein.
Wie gesagt bestätigen meine eigenen Beobachtungen vollständig die-
jenigen von v. Bezold und Biedermann, obgleich ich nur mit den un-
curarisirten M. Gastrocnemius gearbeitet habe. Ich lasse hier einige Versuchs-
beispiele folgen, um einen neuen Beweis für die genannten Erscheinnngen
zu liefern.
Versuch 85. 19. März 1884. Muskel angehängt ohne Extragewicht
4415; Beginn des Versuches 4" 33’; Ende 5" 07; Länge des Muskels 36 wm;
2 Grove.
| Rollen- | | Höhe der | al
Nummer | abstand | Temperatur Zuckung Pal:
| in Cm. | | in Mm. | in SaR.
Schliessungsinductionsströme aufsteigend.
1 4 16-3 15.7 0. 0063 | Latenzdauer, Mit-
2 6 16-4 15-4 0-0056 tel aus Nr. 1-3,
3 8 16-4 14-8 0.0063 17, 18 0.0060
A 10 16.5 14.8 0.0080
5 12 16-5 15-0 0.0095
6 14 16-5 12-7 0.0099
17 4 17.0 15-7 0.0055
18 8 17-0 15-0 0.0063
19 10 17-0 15-0 0.0077
20 2 17-0 14-8 0.0088
Constanter Strom; keine Nebenleitung; Schliessung; a. absteigend.
7 16-6 18-9 0.0090 De
8 16-5 18-7 0.0093 | sind sämmich
9 16-7 17-5 0.0090 tetanisch; Latenz-
10 16-75 18-1 0.0093 dauer, Mittel
11 | 16-8 18.2 0.0091 | rg
39m: 2 Grove.
(Versuch 85. Fortsetzung.)
Rollen- Höhe der re ee
Nummer | abstand | Temperatur Zuckung ee
| in Cm. in Mm, Bat
b. aufsteigend.
12 16:85 | unmessbar
13 169 | unmessbar
14 Ioa9r 292 18=7 2.050088
15 16:95 | 18.0 | 0.0082
10 >| 16:95 17:6 | 00083
|
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG.
|
159
Die Zuckungen
sind sämmtlich
tetanisch;; Latenz-
dauer, Mittel
0-0084
Versuch 86. 16. März 13884. Muskel angehängt ohne Extragewicht
545’; Beginn des Versuches 5" 22°; Ende 5" 47’; Länge des Muskels
Schliessungsinductionsströme, a. aufsteigend.
L 16-
8 16°
I 16°
10 16-
11 16-
12 16°
13 16°
14 16-
15 16-
7
7
6)
85
85
9
)
9
)
Constanter Strom; keine Nebenleitung;
20-9 00087
15-7 0.0096
18-9 0.0090
18.0 0.0093
19.7 0.0082
18.4 00085
17.2 00085
19.4 00091
15.9 0.0091
Rollen- Höhe der
Nummer Tone Temperatur Zune ep lsur
i in Mm. in Mm. 2 us
16-7 11-8 00056
16-7 11-9 00055 !
1627 ala 0-0071 a
el aus Nr. 1—3,
16.7 11.5 00079 16—18 0.0059”
16-7 11-5 0:0096
16-7 9.5 0-O0111
b. absteigend.
16 4 1695 15-7 0-0051
17 6 16°95 14.7 00055
18 8 16:95 14.4 0.0066
19 10 16-95 12.9 00083
20 11% 16-95 10-0 0.0096
21 14 16-95 28 00138
Schliessung; aufsteigend.
Die Zuckungen
sind sämmtlich
tetanisch; Latenz-
dauer, Mittel
0-0089”
Mittlerer Fehler
+ 0-0005"
Wahrscheinlicher
Fehler der einz.
Beobachtung
+0.0003”
Wahrscheinlicher
Fehler d.. Mittels
+ 0.0001”
190 ROBERT TIGERSTEDT:
Versuch 87. 20. März 1884. Muskel angehängt ohne Extragewicht
10» 35°. Beginn des Versuches 10" 50’; Ende 11" 16°; Länge des Muskels
28um. 2 Grove.
Rollen- Höhe der
Nummer abend Temperatur Ztekung enalau
in Cm. in Mm. In. .PeR
Schliessungsinductionsströme; aufsteigend.
1 A 125 1ie27022 22020051
2 6 029 DIET 7 720200287
3 SW 255 1125, 21.070056
4 1020| 17-6 11-2 00069
5 12 17-6 11-0 0.0083
6 14 17-6 10-3 0-0082 a nd net
7 16 17.6 1-0 0.0167 ET BUS
17 4 17-8 11.6 | 00-0048 A
18 6 17.8 11-4 0.0050
19 Se 17-85 | lo 0.0050
20 E73 10-8 00079
21 oe 0511285 10-2 0.0082
22 14700 1.0.9 9.8 0.0087
CGonstanter Strom; keine Nebenleitung; Schliessung; aufsteigend.
Die Zuckungen
8 No 18-5 0,,00885 ‚ia a u
| Se tetanisch;
9 | 17.6 18:2 0.0077 Talea
10 | .. 17.65 17.5 0.0082 Mittel 0-0081'
11 | 1727 17-0 0-0082 Mittlerer Fehler
12 in:7 0 suanae «| 0.0000 | Ya
13 17-7 1024 0.0079 Fehler der einz.
14 17-75 16-5 0-0079 Beobachtung
15 17-8 16-0 0.0085 ee a
e . N @42] anrscheinlicher
16 us, 10.1579 62050085 Niemann
| | + 0.0001”
Versuch 88. 20. März 1884. Muskel angehängt ohne Extragewicht
11% 20’; Beginn des Versuches 11" 52; Ende 12% 19; 2 Grove.
Rollen- Höhe der \
Nummer | abstand | Temperatur Zuckung aaa 7:
in Cm. in Mm. ‚
Schliessungsinductionsströme; aufsteigend.
1 4 17.3 15-6 0-0051 |
2 6 17.3 15-0 0-0061 ı Latenzdauer
3 6) 17.3 15-0 0:0063 ae a ;
5 ns en 1m22 0.0077 | 17-20 0-0057”
5) 12 17.35 | 14-8 0.0088 |
EEE. mm mn gm rn mn nme urn nn _ namen) _ nenn Qmmn nn nn uennn ee een.
Nummer
I
|
|
fr
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG.
Rollen- |
abstand,
in Cm.
14
16
2
0
0
10
12
14
(Versuch 88.
Temperatur
17.35
17-4
17-4
17.4
17.7
17-7
17.75
17.8
17-8
17.8
17.8
|
Höhe der
Zuckung
m.
in M
ji
Jim jimmmh immmt fuumh feumnh fumumch fumnch he
de)
.
Or
III IT III
DO a OTO0 DOT SUCH
un
—
Fortsetzung.)
Latenzdauer |
in Sec. |
0-0096
00-0151
00-0055 |
0.0051 |
0-0063
0.0050
unmessbar |
020063 |
ı 0.0079 |
0.0080
0-0109
Constanter Strom; keine Nebenleitung; Schliessung; aufsteigend.
10
11
12
13
14
15
16
|
|
Versuch 91.
ol-
30.
S0-
29.
30.»
30-
29-
QSOoom-DyDe+r
0.0080
0.0082
0.0087
0.0077
0-0077
0.0080
0-0095
Die Zuckungen
sind sämmtlich
tetanisch; La-
tenzdauer Mittel
0-0083”
Mittlerer Fehler
=+ 0.0006”
Wahrscheinlicher
Fehler der einz-
Beobachtung
= 0-0004”
Wahrscheinlicher
Fehler d. Mittels
+ 0.0002”
20. März 1884; Muskel angehängt ohne Extragewicht
4h 42°; Beginn des Versuches 5" 3°; Ende 5" 27; Länge des Muskels 31".
2 Grove.
Rollen- Höhe der E
Nummer | abstand | Temperatur Zuckung ee
in Cm. in Mm. SS:
Schliessungsinductionsströme; aufsteigend.
1 4 16-9 | ao 00056 Latenzdauer
2 6 16-9 | 18:6 0-0055 Aikieljause
3 8 16:95 | 13-5 0:0064 0.0060”
4 10 =) 13-3 | unmessbar
5 12 17:0 13-4 0:0080 |
Be 14 17:05 60 00T
200 | 0 ern 13-9 00063
192 ROBERT TIGERSTEDT:
(Versuch 91. Fortsetzung.)
Höhe der |
Zuckung
in Mm.
Rollen-
abstand
in Cm.
Latenzdauer
AN - .
mperatur :
Nummer emp | insdle
Constanter Strom; keine Nebenleitung; Schliessung;
a. aufsteigend.
6) Iron 24.6 00080 >
9 17-15 23-0 0-0085 | sind ssmmrEcH
10 17.2 22-8 00085 ' tetanisch ; Latenz-
il 22 242 0:0085 dauer, Mittel
m IN 23°5 0.0082 u
b. absteigend.
13 1 al 22-0 0.0085
14 17.3 214 0.0085 Diez
15 17.3 21:0 0.0088 a
16 17.3 20-8 | 0.0082 tetanisch; Latenz-
17 17.3 20-8 0.0083 dauer Mittel
18 17-3 ala 0-0085 0053
19 17-3 20°0 0.0085 |
Versuch 93. 21. März 1884. Muskel angehängt ohne Extragewicht
10% 43°; Beginn des Versuches 11% 3°; Ende 11" 37’; Länge des Muskels
Slam 2Grove:
Rollen- Höhe der
Nummer |. abstand | Temperatur Zuckung nz dauer
in Cm. in Mm. ne
Schliessungsinductionsströme; aufsteigend.
1 4 15:45 140 0.0056 Latenzdauer
2 6 15-55 14:0 0.0061 EN -
3 6) 15:65 14-3 0.0064 19.21 0-0058”
4 10 15-75 14-4 00074,
5 12 15-8 12.4 0.0085
ben. ld 15-85 12.0 0.0093
7 2 15-9 14-0 0.0059
8 0 15-9 14-0 0.0061
19 0 16-4 14-0 0.0051
20 3 16-4 13-9 0.0055
21 6 16-4 13.8 00059 |
Const. Strom; keine Nebenleitung; Schliessung; a. aufsteigend.
14 | 16-2 722218207 227080096 | Die Zuckuneen
15 16.25 | 17.5 | 0.0088 Be en
16 | 16-320 216-77727°020091 tetanisch; Latenz-
17 E80. 35 ee 0008 | dauer Mittel
18 16-4 1 | Sale 000 0.0091”
Nummer
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG.
Versuch 93.
Rollen- Höhe der
abstand | Temperatur Zuckung
in Cm. in Mm.
)
11
12
13
16-0 18-5
| 16-05 16-8
16-1 16-8
16-15 16-7
| 16-2 16:8
Fortsetzung.
Latenzdauer
in Sec.
b. absteigend.
0.0103
0.0095
0.0087
0.0087
0.0083
Die Zuekungen
sind sämmtlich
' tetanisch; Latenz-
dauer, Mittel
| 0-0091"
Versuch 94. 21. März 1884. Muskel angehängt ohne Extragewicht
11% 40’; Beginn des Versuches 11" 56’; Ende 12% 33°; Länge des Muskels
hmm. 2 Grove.
llen- Höhe der
Nummer uni Temperatur Zuckung Balsnzaner
in Cm. in Mm. nn
Schliessungsinductionsströme; aufsteigend.
D 4 16-15 13.4 00063 Latenzdauer,
2 6 16-2 13.3 0.0058 en s
3 8 16-2 13-0 Va | een
4 10 16-25 13.3 0.0085
5 12 16.3 13.3 0.0091
6 14 16-3 8.7 0.0101
7 2 16-3 13.3 0.0051
8 0 16-3 13.4 0.0063
19 0 16-7 13-3 0.0053
20 3 16-7 13-2 0.0063
21 6 16-7 unmessbar |, .0-0059
Constanter Strom; keine Nebenleitung; Schliessung;
a. aufsteigend.
9 16-3 | 20.7 0.0079 Die Zuckungen
10 16-4 18.0 0.0090 sind sämmtlich
Tal I 16.5 | 16-8 0:0080 tetanisch; Latenz-
12 I 16-5 | 16-0 0.0087 a nie!
13 ereen 14-9 0.0083
b. absteigend.
14 16-5 15.2 | 0.0088 Die Zuckungen
15 16-6 14-3 0.0085 sind sämmtlich
16 16-6 14-3 0:0095 tetanisch; Latenz-
7 16-65 14-3 0-0095 en
18 16-7 13-7 0.0090
Archiv f. A. u. Ph. 1885, Physiol. Abth. Suppl.-Bd.
13
194 ROBERT TIGERSTEDT:
Nach der früher näher entwickelten Anschauung über die bei grösserem
Rollenabstand erhaltenen maximalen Zuckungen, habe ich bei Berechnung
des Mittels der Latenzdauer bei den Schliessungsinductionszuckungen nur
diejenigen Beobachtungen benutzt, welche wahrscheinlich durch direete
Reizung des Muskels ohne Vermittelung der Nervenenden ausgelöst sind.
Es zeigt sich bei allen Versuchen, dass die Latenzdauer der Schliessungs-
inductionszuckungen beträchtlich kürzer wie diejenige der Schliessungs-
zuckungen ist, obgleich diese sämmtlich tetanisch sind. Der Unterschied
beträgt in den hier mitgetheilten Versuchen durchschnittlich 0.0030”, die
Extreme sind 0-0024” bez. 0-0038.
Gegen die vorliegenden Versuche könnte man einwenden, dass dabei
metallene Elektroden angewendet worden sind. Mir scheint es jedoch, dass
diese Einwendung von keiner Bedeutung sein kann, denn die Elektroden
waren nicht am Muskel selbst, sondern am Femur und an der Sehne des
Muskels angelest. Durch die Elektroden könnte also die Muskelsubstanz
in keinerlei Weise beschädigt werden. Es zeigen auch die Versuche, dass
die metallenen Elektroden keine beschädigende oder störende Einwirkung
gehabt haben; bei denjenigen Versuchen, wo die Zahl der einzelnen Be-
Fig. 1. Versuch 87.
obachtungen genügend gross gewesen ist, um eine Ermittelung des wahr-
scheinlichen Fehlers zu erlauben, ist dieser im Allgemeinen nicht grösser
wie der wahrscheinliche Fehler bei den früheren Versuchen; wir haben
nämlich hier für den wahrscheinlichen Fehler des Mittels gefunden + 0.0001”
(Versuch 85); + 0.0001” (Versuch 87); + 0.0002” (Versuch 88). Ferner
sind die bei derselben Reizstärke vor und nach den Reizungen mit con-
stantem Strome erhaltenen Inductionszuckungen hinsichtlich ihrer Höhe, ihrer
ÜBER Dız LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 195
Latenzdauer und ihres zeitlichen Verlaufes, unverändert, wenn der Induc-
tionsstrom in derselben Richtung durch den Muskel geleitet ‚worden ist,
Dies gilt für alle Versuche ohne Ausnahme. Vgl. die Curven Figg. 1—3
Seen
>= IE Be
BE e
.
Fig. 2. Versuch 88.
Fig. 3. Versuch 91.
welche nach den Versuchen 87, 88, 91 abgebildet sind. In denselben
bedeuten die Ziffern die laufenden Nummern der Beobachtungen.
Die vom constanten Strome ausgelösten Schliessungszuckungen sind
freilich nicht überall gleich gross, sondern zeigen theils mehr oder weniger
13*
196 ROBERT TIGERSTEDT:
beträchtliche Schwankungen in ihrer Höhe, theils nehmen sie bei unver-
änderter Stromrichtung stetig ab. Diese Thatsache kann jedoch nicht von
den Elektroden bedingt sein, sondern ist complieirterer Natur, wie schon
daraus hervorgeht, dass diese Zuckungen sämmtlich tetanisch sind und
also nicht dem einfachen allgemeinen elektrischen Zuckungsgesetz von du
Bois-Reymond folgen. Wahrscheinlich spielt hierbei die Ermüdung eine
gewisse, wenn auch nicht sehr bedeutende Rolle.
Ich will hier noch einmal ausdrücklich betonen, dass ich nie einen Ver-
such an einem Frosch ausgeführt habe, den ich kurz vorher vom Eisschranke
genommen. Die tetanischen Zuckungen können also nicht davon abhängig
sein.! Ueber die hierbei wirkende Ursache wage ich keine Vorstellungen zu
entwickeln, weil bis jetzt gar zu wenig untersucht wurde, unter welchen Be-
dingungen bei Schliessung eines constanten Stromes anstatt einer einfachen
Schliessungszuckung eine tetanische entsteht. Jedenfalls scheint mir durch
die Untersuchungen von Wundt, v. Bezold, Biedermann u. A,
genügend bewiesen zu sein, dass wenigstens bei directer Muskelreizung
das allgemeine Gesetz der elektrischen Reizung einer Erweiterung bedarf.
Bevor wir aber etwas Bestimmtes hierüber aussagen können, sind neue
Untersuchungen dringend erforderlich.
Es fragt sich jetzt, was ist die Ursache der längeren Latenzdauer der
Schliessungszuckungen? Diese Frage ist keine sehr leichte, denn es ist
möglich, dass ihre Ursache im Muskel selbst liest, und wir kennen den
Muskel noch gar zu wenig, um in dieser Hinsicht bestimmte Anhalts-
punkte haben zu können. Bevor wir aber weiter gehen will ich noch einmal
hervorheben, dass der erregende Strom durch den Femur und die Sehne
des Muskels geleitet wurde; bei dieser Versuchsanordnung musste also der
ganze Muskel, sowie jedes Muskelelement vom Strome betroffen werden,
obgleich angesichts der unregelmässigen Anordnung der Muskelfaser die
Stromdichte nicht überall dieselbe gewesen ist. Für den inducirten Strom
müssen aber dieselben Bedingungen stattgefunden haben, und von diesem Ge-
sichtspunkte aus ist die Thatsache der längeren Latenzdauer der Schliessungs-
zuckung nicht zu erklären. Uebrigens zeigen ja die Versuche von Bieder-
mann, dass auch bei dem im grossen Ganzen so regelmässig gebauten
M. Sartorius die Schliessungszuckung eine bedeutend grössere Latenzdauer
hat als die Inductionszuckungen.
Ich glaube jedoch, dass die jetzt uns beschäftigende Frage aus den
Erfahrungen über die Etablirung des elektrischen Stromes in einfacher Weise
beantwortet werden kann. Der elektrische Strom wirkt nicht erregend durch
seine absolute Dichte, sondern durch die Veränderung der Dichte von einem
! Vergl. v. Frey, Dies Archiv. 1883. S. 43—56.
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUOKUNG. 197
Augenblick zum anderen, und zwar ist die Anregung zur Bewegung, die
diesen Veränderungen folet, um so bedeutender, je schneller sie bei gleicher
Grösse vor sich geht oder je grösser sie in der Zeiteinheit ist. Daraus
erklärt sich die Verschiedenheit der Oeffnungs- und Schliessungsinductions-
ströme in ihrer Wirkung auf die Nerven und Muskeln.
Wie verhalten sich die constanten Ströme in dieser Hinsicht? Steigen
sie, wenn sie durch einen Nerven oder Muskel geleitet werden, ebenso steil
auf, wie die indueirten Ströme? Ich kann nichts anderes finden, als dass im
Nerven und im Muskel constante Ströme mittlerer Stärke (1—3 Grove) weni-
ger steil als Inductionsströme ihre Dichte verändern müssen. Denn angesichts
des grossen Widerstandes der Nerven und Muskeln, muss — ceteris paribus —
die Veränderung der Stromdichte bei grösserer Elektrieitätsspannung schneller
als bei kleinerer vor sich gehen; je nach der Schnelligkeit, mit welcher
die Stromdichte im Muskel sich verändert, können wir also folgende Reihe
aufstellen: 1) Oeffnungsinductionsströme, 2) Schliessungsinductionsströme,
3) constante Ströme.!
Wenn die Spannung eines eonstanten elektrischen Stromes beträchtlich
gesteigert wird, so muss, der eben vorgetragenen Anschauung gemäss, die
Erregung schneller vor sich gehen und die Latenzdauer kürzer ausfallen.
Dies zeigen für Schliessungsinductionsströme meine eigenen Versuche und
für eonstante Ströme die eben eitirte Untersuchung v. Bezold’s. Bei stei-
gender Elektrieitätsspannung nimmt in seinen Versuchen die Latenzdauer
der Schliessungszuckungen stetig ab und nähert sich derjenigen der Oeff-
nungsinductionszuckungen, um sie erst bei 12 Grove’s zu erreichen.
Nach diesen Erwägungen wäre die längere Latenzdauer der
Schliessuneszuckung also von rein physikalischen Faktoren ab-
hängig undanund fürsich eine selbstverständliche Consequenz
des allgemeinen Gesetzes von du Bois-Reymond.
Was die Abhängigkeit der Latenzdauer von der Richtung des Stromes
- betrifft, so kann man aus einem so complicirt gebauten Muskel, wie es der
M. gastrocnemius ist, keine ganz einfachen Resultate erwarten. Jedenfalls sind
die Unterschiede hier äusserst unbedeutend, wie aus den Versuchsprotocollen
hervorgeht; entweder zeigt sich gar keine Differenz (Versuch 93) oder die auf-
steigende Stromrichtung ist bevorzugt wie in den Versuchen 85 (um 0.0007”),
91 (um 0.0002”), 94 (um 0.0007”); diese Differenzen liegen aber theilweise
innerhalb der Grenzen der Versuchsfehler oder streifen jedenfalls sehr nahe
daran.
Die Versuche, die ich mit unpolarisirbaren Elektroden ausgeführt habe,
ı Vgl. Jamin et Bouty. Cours de physique. Paris 1883. IV. 1. p. 66—73.
198 ROBERT TIiGERSTEDT:
sind in mehrfacher Beziehung sehr lehrreich. Ich leitete den Strom zum
Muskel mittels um die Enden desselben gebundener, in 0-5°/, Kochsalz-
lösung getränkter wollener Fäden. Es ist klar, dass bei einer solchen An-
ordnung die elektrischen Ströme nicht in derselben Regelmässigkeit sich
durch den Muskel verbreiten können, wie wenn der Strom unter Vermitte-
lung des Femurs bez. der Sehne dem Muskel zugeführt wird. Je nach
der Art und Weise, wie die Fäden angelegt sind, muss der Strom mit
grösserer oder kleinerer Dichte durch verschiedene Theile des Muskels
passiren; die Muskelfibrillen, durch welche der Strom mit der grössten
Dichte geht, werden vorzugsweise erregt; in anderen Fibrillen kann da-
gegen die Stromdichte sogar so klein werden, dass dieselben gar nicht ge-
reizt werden. Besonders bei Strömen kleinerer Spannung, wie die Ketten-
ströme, können die Muskelzuckungen je nach dem vorzugsweise gereizten
Theile des Muskels sehr verschieden sich verhalten.
Durch die berühmten Versuche von Ranvier wissen wir, dass nicht
alle Skeletmuskeln desselben Thieres in physiologischer Beziehung einander
gleich sind, indem die „blassen“ Muskeln hinsichtlich der Latenzdauer, des
Zuckungsverlaufs u. s. w., sich beträchtlich von den „rothen“ Muskeln unter-
scheiden.” Diese Beobachtungen wurden von Kronecker und Stirling
bestätigt und erweitert.” In der letzten Zeit hat Grützner eine ungemein
interessante Thatsache gefunden, durch welche vielerlei bisher schwebende
Fragen in mehrfacher Hinsicht erklärt worden sind. Er hat nämlich ge-
funden, dass in jedem Muskel ebenfalls die beiden Fasergattungen vor-
kommen, die, wenn sie unvermischt in grösserer Masse da sind, wie beim
Kaninchen, die obenerwähnten rothen und weissen Muskeln bilden. Ranvier
hatte gefunden, dass gewisse grössere Antheile des M. triceps humeri beim
Kaninchen der einen, andere der anderen Muskelart sind. Nun findet
Grützner, dass als Regel gilt, dass die Muskeln im Allgemeinen aus
rothen und weissen Abschnitten zusammengesetzt sind, dass aber die Mi-
schung oft eine viel innigere ist, indem die einzelnen Muskelfasern selbst
untereinander gemischt sind. Um nur von dem M. gastrocnemius des’
Frosches hier zu sprechen, so bemerkt Grützner, dass er, wie wohl jeder
Forscher gelegentlich gefunden hat, sehr häufig, ohne ganz roth zu sein,
eine fast rosarothe Färbung aufweist, welche nicht allen Abschnitten des
Muskels in gleichem Maasse zukommt, denn gewisse Theile sind röthlicher
als andere und die verschiedenen Färbungen gehen entweder sprungweise
oder ganz allmählich in einander über.?
! Ranvier, Archives de physiologie. 1874. T. UI. p. 1—15.
?® Kronecker und Stirling, Dies Archiv. 1878. 8. 1—40.
’ Grützner, Recueil, zoologigque suisse. 1884. I: p. 665—684.
EBENE
ÜBER DIE LATENZDAUER DEKk MUSKELZUCKUNG. 199
Die charakteristischen Unterschiede der beiden Muskelarten sind be-
kanntlich folgende:
Rothe Muskeln. Weisse Muskeln.
Latenzdauer lang Latenzdauer kurz
Zuckungsverlauf träg Zuckungsverlauf schnell
Werden durch wenige Reize pro 1” Bedürfen zahlreiche Reize pro 1”
tetanisirt. um tetanisirt zu werden.
Meine nach der obenbeschriebenen Anordnung ausgeführten Versuche
bestätigen vollständig die Anschauung von Grützner. Bei einer gewissen
Art der Anlegung der wollenen Fäden am Muskel erhält man Zuckungen,
welche vollständig den Verlauf der typischen Zuckung der rothen Muskeln
aufweisen; dies gilt fast als Regel bei aufsteigender Richtung des Stromes.
In anderen Fällen ist der Zuckungsverlauf schneller, die Latenzdauer kürzer,
entsprechend einer Reizung der weissen Muskelfasern. Jedoch ist bei allen
diesen Versuchen die Latenzdauer, sowohl bei den Schliessungsinductions-
zuckungen, wie bei den Schliessungszuckungen durch den constanten Strom,
länger als sonst. Dies ist selbstverständlich, wenn wir uns erinnern, dass
bei der gewählten Versuchsanordnung die Stromdichte wahrscheinlich nur in
einzelnen Abschnitten des Muskels genügend gross ist, um eine Zuckung der
betreffenden Abschnitte auszulösen; die Zahl der sich contrahirenden Fasern
ist kleiner, also auch der Querschnitt und in Folge dessen die Kraft der
Zusammenziehung: es muss daher länger als sonst dauern, bevor bei Reizung
die Spannung des Muskels genügt, um den Contact zu unterbrechen.
Ich lasse hier einige Versuchsbeispiele folgen; dieselben sind eine Aus-
wahl aus einer grösseren Reihe und sollen nur einige Typen darstellen.
Wenn es sich um ein eingehenderes Studium der verschiedenen Gattungen
von Muskelfasern handelte, so würde diese Auswahl lange nicht genügend
sein. Hier gilt es aber nur nachzuweisen, wie die Latenzdauer in einigen
speziellen Fällen sich darstellt.
Versuch 95. 24. März 1834. Muskel angehängt ohne Extragewicht
11" 55’; Beginn des Versuches 12" 10’; Ende 12" 50’; Länge des Muskels 34um,
Rollen- Höhe der
Nummer | abstand | Temperatur Zuckung laner
in Cm. in Mm. ;
Schliessungsinductionsströme; aufsteigend.
1 0 12.5 14-1 0-0101 |
2 0 12-6 14-7 0.0114
3 0 12-6 14.8 0.0106
+ 3 12.65 15-0 0.0098 Latenzdauer,
5 3 12.65 | 15-0 | 0.0104 Mittel 0.0104
6 5 12.65 | 15-0 : 0.0099
21 0 13-0 15.7 0.0111
22 0 13202 2 2715-8582 7.020103
200
ROBERT TIGERSTEDT:
(Versuch 95. Fortsetzung.)
Rollen- Höhe der
Nummer ara Temperatur Znelne ns
in Cm. in Mm un
Const. Strom; 3Grove ohne Nebenleitung;Schliessung; a. absteigend,
7 DER 17.2 | 0.0159
8 unmessbar Die Zuckungen
I unmessbar sind sämmtlich
10 I ot 18-5 0:°0138 tetanisch; Latenz-
ur) I 1205 18.3 0-0135 dauer, Mitte]
12 I Te) 18-6 0.0143 0.0144
13 I 2.8 Be le 0:0146
b. aufsteigend.
14 12.85 8-27.17.020139
15 12285, 0 01287 27.0.0123 Die Zuckungel
16 unmessber sind sämmtlich
17 unmessbar tetanisch; Latenz-
18 unmessbar dauer, Mittel
19 unmessbar 0.0132
20 1229522162522 720201415
Versuch 99. 25. März 1884. Muskel angehängt ohne Extragewicht
35 20’; Beginn des Versuches 3" 35’; Ende 4® 6°; Länge des Muskels 28 mm,
Rollen- Be der
Nummer | abstand | Temperatur Zuckung Latenzdauer
in Cm. in Mm. In Dee,
Schliessungsinductionsströme; aufsteigend; 1 Grove. |
200 Be, la 0.0096
2 0 14.05 16-6 00071 |
3 0 14-1 16-8 0.0082 |
4 3 14.2 16-8 0.0082 |
5 5 14-2 16-8 0-0088 Latenzdauer,
6 8 14-3 or 0.0093 ° Mittel 0-0087
15 3 14-6 Ted) 0.0087
16 3 14-6 17-1 0.0091
17 3 14.65 17.4 0.0082
18 3 14° 65 17.4 0.0093
Const. Strom; 3GroveohneNebenleitung; Schliessung; aufsteigend.
7 14.35 17.5 00096
8 14.4 17.7 unmessbar |
9 14.4 17.8 0.0109 |
10 14-4 17-9 0.0087 Latenzdauer,
11 14:5 18-3 0:0095 | Mittel 0-0098”
12= 14.55 17-5 0-0106
13 14.6 17-8 0.0091
14 14-6 17.4 0.0099
\
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG.
Versuch 100.
20]
25. März 1854. Muskel angehängt ohne Extragewicht
4420’; Beginn des Versuches 4" 35’; Ende 5" 12’; Länge des Muskels 35mm,
tollen-
abstand
in Cm.
Nummer
Temperatur
Höhe der
Zuckung
in Mm
Schliessungsinductionsströme; a
Latenzdauer
in Sec.
ufsteigend; 1 Grove.
In. 0 13-7 14-9 0.0107 |
2 | 2 13-7 14.9 0.0107 | Latenzdauer,
3 2 13-8 15-0 0.0104 | Mittel 0-0108”
4 4 13-8 14-4 0.0114
we 18-85 12.5 0.0117
Ba 8 13-9 10-5 0-0125
3 Grove.
14 32 ar) 15-4 unmessbar Latenzdauer,
15 So RE 15.4 0.0098 wen
16 I 20 as 220.0 oe
17 102,727 14.0 12-8 0-0115
18 0. | ..14.05 15-0 0.0095
19 Drai..14.05 15:1 | 0.0095
Constanter Strom; 3 Grove ohne Nebenleitung; Schliessung;
aufsteigend.
7 I 18-9 12-8 0.0117
>) 8 12.9 0.0122
9 218.95 12.8 0-0119
10 13-95 13.0 0-0133
11 14-0 12-9 0-0104
| ‚atenzdauer,
| | en
20 Nas 0-0112
21 1405 12-0 0-0101
22 14-05 11-8 0-0114
23 14.05 117 0-0112
Versuch 101. 26. März 1884. Muskel angehängt ohne Extragewicht
3" 38); Beginn des Versuches 4" 5’; Ende 4" 35°; Länge des Muskels 30 "";
3 Grove.
Rollen- Höhe der R
Nummer | abstand | Temperatur Zuckung = get
Einfem. 47 7 in Mm. Ey
Schliessungsinductionsströme; aufsteigend.
1 | unmessbar
2 unmessbar
3 4 | 15-15 | 16-4 | 0.0088 | ee
4 67. 16-5 0.0093 a
5 ir 1 ||. er
202
ROBERT TIGERSTEDT:
(Versuch 101. Fortsetzung.)
Rollen- Höhe der
Nummer | abstand | Temperatur Zuckung | we
in Cm. in Mm. ss Y
6 unmessbar
7 unmessbar
6) 10 15-3 | 1220772 20.0095
15 10 lo25 ED 02009
Constanter Strom; keine Nebenleitung; Schliessung; aufsteigend.
9 15-35 20-0 0.0239 1
10 15-4 20-5 0:-0295 Die Zuckungen
Il 15.4 22-3 0-0879 |
1 15.45 22.7 0.0333 dauer, Mitte
13 15-5 24.2 0.0320 0:0296”
14 15-5 25.3 0.0309
Versuch 102. 26. März 1884. Belastung Hebel I + 1-6°”; Beginn
des Versuches 5% 15’; Ende 5 45’
; Länge des Muskels 33m; 3 Grove.
Rollen- Höhe d
Nummer | abstand | Temperatur Zudkume ee
in Cm. in Mm. In Fee
Schliessungsinductionsströme; a. aufsteigend.
1 0 14.5 11-7 0.0091
2 2 14.65 11.7 0.0099
3 4 14-75 unmessbar ee
4 6 14.8 11207 77=2.020095 a.
5 8 14-8 10.4 0.0091, || > ee
21 unmessbar
22 5 15-05 11-5 0.0101
b. absteigend.
19 5 15-05 8.2 0-0109 | Latenzdauer
20 5 15-05 8.0 0.0099 | j Mittel 0-0104°
Constanter Strom; keine Nebenleitung; Schliessung; a. aufsteigend.
6 14.85 7.10.37 | 070864
7 14-9 10.2 0.1040
8 14-9 10-4 0.0896 DI A -
9 14-9 10-4 0.0928 sind. SL au
10 14-9 10-2 | 0.1120 | [done Antter
16 15-0 10-6 0.1040 0-1012"
17 15-0 10-2 0.1104 |
18 1520 10-1 0.1104
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG,
(Versuch 102.
203
Fortsetzung.)
Rollen- Höhe der !
Nummer | abstand | Temperatur Zuckung Dan nenn
in Cm. in Mm, Sn
b. absteigend.
11 14.9 | 12.8 unmessbar | | 9;. Zuckunsen
12 14.95 | 12:8 0.0185 sind sämmtlich
15} 14-95 | 12-0 0.0157 "tetanisch; Latenz-
14 15-0 | 12a] 0.0193 | dauer, Mittel
15 (Se) le 00186 BeuTE)
Versuch 104. 27. März 1884. Muskel angehängt 12" 5’; Beginn
des Versuches 124 30; Ende 12458; Länge des Muskels 35 mm; 3 Grove.
Rollen- Höhe der
Numner aelana Temperatur Zuckung u
in Cm. | in Mm. PA i ei di
Schliessungsinductionsströme; a. aufsteigend.
1 unmessbar
2 4 10-5 13-5 | 0.0069
3 6 17-6 13-4 | 0.0079 Des
AtenzAduer,
4 8 17.65 13.8 0.0069 Mittel 0-0074”
5 unmessbaı
6 10 are 3 0.0079
7 11 ka. ae ulore 0.0083
0) 11-5 17-8 9.9 0.0091
b. absteigend.
20 E 17-95 14.3 00069
21 ) 17.95 11-2 0.0082
22 10 17.95 7.5 0.0099
23 10 17.95 6-0 0.0095
Constanter Strom; keine Nebenleitung; Schliessung;
a. aufsteigend.
14— 16 unmessbar | Ei Aue
17, 17:9 1527 0-0095 sind sämmtlich
is a | 18 | olaee | Anne
19 17:95 14-9 0.0087 0-0090”
b. absteigend.
1 Hr Urs Die Zuckungen
unmessbar nd sämmmtch
11 SS ER RO ante Laters
1% 17:9 15-6 0-0125 dauer, Mittel
13 17-9 15-5 0-0147 0.0134
204
Versuch 10.
ROBERT TIGERSTEDT:
27. März 18584. Muskel angehängt 3" 45°; Belastung
Hebel I +1-6=; Beginn des Versuches 3" 55°; Ende 4" 26’; Länge des
Muskels 31 =; 3 Ehunge.
Rollen- Höhe de
Nummer Altana Temperatur | role en
in Cm. | in Mm. Im DE
Schliessungsinductionsströme; a. aufsteigend.
1 0 14-9 | 10-6 0.0103 |
2 2 14.95 | 9.9 unmessbar |
3 | 15.0 9.5 0.0095
4 6 15-05 | 70) 0.0104 |
5 unmessbar
6 7 215.1 3.9 0.0112
19 5 15-4 8.0 0-0109
20 3 15-4 | 10.0 | 0.0098
b. absteigend.
7 7 15-4 5.2 0-0125
15 5 15-4 8.3 0.0103
2ıl 3 15.4 3.8 0.0099
22 0 15.4 8.8 0.0095
Constanter Strom; keine Nebenleitung; Schliessung;
a. aufsteigend.
15-5 522
15-2 15-9
15-2 15-7
15-3 15-3
15-3 15-0
b. absteigend.
15-2 GE
15-2 9.8 |
15:25 9.6 |
15-3 9.6 ı
15-3 9.4
sind sämmtlich
0.0512 tetanisch; Latenz-
0.0528 dauer, Mittel
0-0544 0-0518”
Die Zuckuugen
sind sämmtlich
.0136 |
.0123 |
-0181 |
.0143
.0127
tetanisch; Latenz-
dauer, Mittel
0.0142”
Sao &
- Wir werden jetzt die eben miteetheilten Versuche näher berücksich-
tigen.
Beim Versuch 95 zeigen sich dieselben Verhältnisse, wie bei den
Versuchen mit metallenen Elektroden: die Latenzdauer der. Schliessungs-
inductionszuckungen ist kürzer als diejenige der Schliessungszuckungen und |
von diesen besitzen die beim aufsteigenden Strom wieder eine um 0.0012”
kürzere Latenzdauer als die bei absteigendem Strome erhaltenen.
Die wahr-
scheinliche Ursache der absolut genommenen längeren Latenzdauer sämmt-
l
h er Die Zuckungen
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 205
licher Zuckungen habe ich schon oben hervorgehoben. Uebrigens sind sämmt-
liche Schliessungszuckungen tetanisch und zeigen einen wellenartigen Verlauf,
indem ungefähr 0.06”—0.09” nach dem Beginn der Zuckung die Curve
eine neue mehr oder weniger deutlich markirte Erhebung darstellt. (Siehe
Fig. 4.) |
Fig. 4. Versuch 95.
Beim Versuch 99 finden wir einen kleineren Unterschied zwischen der
Latenzdauer der Schliessungsinductions- und der Schliessungszuckungen, ob-
gleich es ganz deutlich aus dem Versuch hervorgeht, dass diese eine
grössere Latenzdauer wie jene haben. Der Zuckungsverlauf der Schliessungs-
zuckungen ist einfacher in diesem Versuche als im Versuch 95, denn die
Muskeleurve erreicht in stetigem Zuwachs ihr Maximum; sie sinkt aber
nicht nachher wie die einfachen Inductionszuckungen, sondern erhält sich
auf einer nicht unbeträchtlichen Höhe über der Abscisse.
Dieselben Verhältnisse wiederholen sich beim Versuch 100; nur ist der
Zuckungsverlauf fast ganz ähnlich demjenigen der Inductionszuckungen; so
lange der Strom geschlossen ist, erreicht die Curve dennoch nicht voll-
ständig die Abscisse. (Vgl. Fig. 5.)
Im Versuch 101 begegnen wir wieder anderen Verhältnissen; die
Schliessungszuckungen haben eine sehr bedeutende Latenzdauer (im Mittel
0.0296”), sind tetanisch, erheben sich aber im grossen Ganzen ununter-
‚ brochen und regelmässig. Mir scheint, dass wir hier eine ziemlich reine
‚ Reizung der rothen Muskelfasern haben; die Latenzdauer ist lang, die Curve
‚ erhebt sich verhältnissmässig sehr langsam, ist aber wie gesagt so ziemlich
206 ROBERT TIGERSTEDT:
regelmässig, dass wir nicht gern dieselbe aus den Zuckungen der beiden
Muskelarten zusammengesetzt ansehen können. (Vgl. Fig. 6.)
Fig. 6. Versuch 101.
Aus dem Versuch 102 finden wir eine Bestätigung dieser Vermuthung;
die Schliessungszuckungen beim aufsteigenden Strome sind in ihrem Ver-
lauf vollständig übereinstimmend mit den entsprechenden im Versuch 101,
nur ist ihre Latenzdauer noch grösser (im Mittel 0.1012”), welches, wie |
mir scheint, einfach daraus erklärt werden kann, dass die Zahl der erregten
Muskelfasern hier kleiner als dort sein möchte. Die Schliessungszuckungen
beim absteigenden Strome sind aber hier von dem grössten Interesse. Sie |
ÜBER DIR LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 207
zeigen eine verlängerte Latenzdauer wie alle derartige Zuckungen überhaupt
(im Mittel 0.0183”), ihr Verlauf zeigt aber nicht dieselbe Rtegelmässigkeit
wie die aufsteigenden Schliessungszuckungen. Gerade entsprechend dem-
jenigen Punkte, wo diese sich von der Abseisse erheben, haben jene einen
neuen Inflexionspunkt. Es scheint mir daher, dass dieser Versuch nur in
folgender Weise erklärt werden kann. Beim aufsteigenden Strome ist die
‚ Stromdichte nur in einigen rothen Fasern genügend gross um eine Zuckung
auszulösen; beim absteigenden Strom werden alle beiden Fasern erregt, die
Fig.7T. Versuch 102.
weissen haben eine kürzere Latenzdauer, sie ziehen zuerst sich zusammen,
die rothen werden aber auch erregt und ihre Contraction wird an der
Contraction der weissen Faser superponirt. Gewöhnlich zeigt die Zuckungs-
curve des M. gastroenemius nicht diese Unstetigkeit: die wahrscheinliche Ur-
‚sache davon ist, wie bereits Grützner bemerkt hat, die, dass bei der
schnellen Zusammenziehung der weissen Fasern eine solche Beschleunigung
dem Hebel ertheilt wird, dass die Wirkung der rothen an der Curve gar
nicht zum Vorschein kommen kann. Hier sind aber nur wenige weisse
‚ Fasern erregt, dadurch wird die Beschleunigung des Hebels nicht so gross
und die rothen Fasern können daher ihren Stempel an die Curve drücken.
Dass die Richtung des constanten Stromes für ihre erregende Wirkung auf
den verschiedenen Elementen des Muskels von grosser Bedeutung sein muss,
wenn der Muskel nicht genau parallelfaserig ist, hat schon Biedermann
a. a. OÖ. hervorgehoben, ich brauche daher diesen für meinen Erklärungs-
versuch wichtigen Umstand hier nicht näher zu besprechen. Der Versuch
102 ist Fig. 7 abgebildet.
208 RÖBERT TIGERSTEDT:
Der Versuch 104 bestätigt diese Erklärung; die Schliessungszuckungen
haben hier sowohl beim aufsteigenden wie beim absteigenden Strome den-
selben Verlauf, sie zeigen dieselbe Unstetigkeit, welche ich aus der geson-
l Sc
Fig. 8. Versuch 104.
derten Zusammenziehung der rothen Fasern hergeleitet habe. Nach den
hier erhaltenen Curven wäre die Latenzdauer dieser Fasern ungefähr 0-05”
bis 0-06”. (Vgl. Fie. 8.)
-
Fig. 9. Versuch 105.
Endlich habe ich im Versuch 105 eine Wiederholung derselben Er-
scheinungen gefunden und zwar in solcher Weise, dass ich immer die Rich-
tung des Kettenstromes wechselte. Beim aufsteigenden Strome haben die
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 209
Schliessungszuckungen eine viel grössere Latenzdauer wie beim absteigenden
Strome. Die letzteren Zuckungen verlaufen hier ohne eine Unstetigkeit; sie
würden also reine, ungemischte „weisse“ Zuckungen darstellen. Hierzu ist
noch zu bemerken, dass diese niedriger wie die „rothen“ Zuckungen sind
(9.4 bis 9.8, bez. 15-0 bis 15.9"), Es gilt übrigens bei diesen Versuchen
als Regel, dass nur in denjenigen Fällen, wo die Zuckungscurve bei der
‚einen Stromrichtung eine deutliche Unstetigkeit darbietet, ein beträcht-
lieherer Unterschied zwischen den Zuckungshöhen aufsteigender und ab-
steigender Schliessungszuekungen stattfindet.
Wir können also die in der zweiten Abtheilung dieses Kapitels ent-
haltenen Thatsachen folgendermaassen zusammenfassen:
Die Schliessungszuckungen haben im Allgemeinen eine
längere Latenzdauer als die Schliessungsinductionszuckungen,
vorausgesetzt, dass man sich nicht übermässig starker Ströme
bedient (v. Bezold).
Der Verlauf der Schliessungszuckungen bei directer Mus-
kelreizung ist in der Regel tetanisch.
Wenn man in geeigneter Weise die verschiedenen Faser-
gattungen des Muskels reizt, so stellt essich heraus, dass einige,
welche wir wohl nach den Untersuchungen von Ranvier, Kro-
necker-Stirling und Grützner als „weisse“ bezeichnen dürfen,
eine verhältnissmässig kurze, andere aber, die „rothen“ Fasern,
eine beträchtlich grössere Latenzdauer haben. Durch verschie-
dene Combinationen der beiden Fasergattungen kann eine grosse
Anzahl verschiedener Zuckungsformen resultiren.
Siebentes Kapitel.
Die Latenzdauer der Muskelzuckung in ihrer Abhängigkeit von
dem Blutstrom.
m
Wie oben bemerkt ist, haben einige Forscher bei ihren Versuchen über
' die Latenzdauer blutdurchströmter Muskeln sich bedient. Von vorne herein
ist es, bei der langen Zeit, während welcher die vom Körper ausgeschnittenen
Organe der Kaltblüter noch leistungsfähig bleiben, nicht sehr wahrscheinlich,
dass bei kurzdauernden Versuchen, wie die meisten Versuche über die Latenz-
dauer es ja sind, diese irgend einen Unterschied zwischen blutdurchströmten
‚ und entbluteten Muskeln zeigen dürfte. Jedenfalls schien es mir nicht
ohne Interesse zu sein diese Frage experimentell zu entscheiden, damit ich
Archivf. A. u. Ph. 1885. Physiol. Abthlg. Suppl.-Bd. 14
210 ROBERT TiGERSTEDT:
Anhaltspunkte haben möchte, in wiefern meine Ergebnisse für den ganz
unversehrten Muskel gültig sind.
Die betreffenden Versuche wurden in folgender Weise ausgeführt. Dem
Frosch wurde das Gehirn zerstört, der N. ischiadicus abgeschnitten — um
Reflexe zu vermeiden — und dann das Praeparat genau in derselben Weise
hergestellt, wie es Tiegel in seiner Untersuchung über die Ermüdung des
Muskels empfiehlt." Die von Tiegel benutzten Vorrichtungen habe auch
ich angewendet.
Der Muskel wurde vom Hebel I allein belastet. Die Reizungen ge-
schahen mit Oeffnungsinductionsströmen bei übereinander geschobenen
Inductionsrollen.
Nachdem mit dem blutdurchströmten Muskel eine Anzahl Beobach-
tungen gemacht worden ist, wurde das Thier entblutet, ohne dass das Prae-
parat von seinem Platz bewegt wurde Vom Rücken aus wurden sämmt-
liche Eingeweide des Bauches entfernt und also auch die Bluteireulation
aufgehoben. Die Ergebnisse sind aus den folgenden Versuchsbeispielen
ersichtlich.
Versuch 117. 28. April 1884. Muskel angehängt ohne Extragewicht
11" 20°, Beginn des Versuches 11" 35’; Ende 12% 0’; Länge des Muskels
32 um. 1 Grove; Oeffnungsinductionsstrom; Rollenabstand = 0.
Höhe der
Nummer | Temperatur Au une I RIUNEN
a. Muskel blutdurchströmt.
1 14T | 10-8 0.0064
2 15-4 10-5 0-0061 Latenzdauer, Mittel 0-0069”
b) inc An 210.3 0.0071 us N - 0008”
A 15-4 10:4 0:0083 anrschneınl. Fehler der eınz.
5 15-45 10-7 | unmessbar |. Beobachnne
6 15-45 10-6 0.0064 Mittels + 0-0002”
Ü 15-45 | 10.7 0.0072
b. Muskel entblutet.
8 15-5 10-6 00066
) 15-5 10-5. 0.0069 Latenzdauer, Mittel 0-0067”
10 15:45 10-6 0:0075 a ne 0-00
11 15-4 10-7 unmesshar AUS CU En
Beobachtung =+ 00003
12 15.4 Ion. 0.0064 Wahrscheint Fehler des
13 15-45 11.4 0.0061 Mittels + 0.0001’
1A, 15-45 11-3 0.0067
ı Tiegel, Arbeiten aus der physiologischen Anstalt zu Leinzig. 1875. Bd.X.
S. 10—12.
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 211
Versuch 118. 28. April 1854. Muskel angehängt ohne Extragewicht
3h 40°; Beginn des Versuches 3" 48; Ende 4" 8’; Länge des Muskels
Byzm. 1 Grove; nkertorsstuon Rollenabstand = 0.
| Höhe der |
Nummer | Temperatur | Zuckung eanz 2 Er
| | in Mm. ai 7 hal,
2. . Muskel Tore let ömt.
1 ‘14-95 15-3 0.0066
2 15-0 «| 15-9 0.0071 Latenzdauer, Mittel 0-0071'
ar 25.0 15.0 0.0069 Mittlerer Fehler + 0-0004”
A 15.0 15-0 0:-0071 ‚ Wahrscheinl. Fehler der einz.
ie Beobachtung + 0-0003
d 15- 0 16.7 0.0077 Wahrscheinl. Fehler des
6 15-057 7716-9 0-0077 Mittels + 0-0001”
7 15-1 16-8 0.0067 |
bh. Muskel entblutet.
fo) 15-2 15-8 0-0064 |
9 19-2 15-7 0.0069 Latenzdauer, Mittel 0-0068'
10 150% 15-5 0:0067 Dullene: ee 0.0002”
11 12.19: 15-7 0:0072 , \ Wahrscheinl. Fehler der einz.
S | Beobachtung + 00001”
12 15-15 | 16-1 0.0067 Wahrscheinl. Fehler des
13 19 16-0 0.0069 Mittels + 0-0001”
14 15-1 16-2 0.0069
Versuch 119. 28. April 1884. Muskel angehänet ohne Extragewicht
430’; Beginn des Versuches 4" 43°; Ende 5% 3’; 1 Grove; Oeffnungs-
we... Rollenabstand =.
| Höhe der
Nummer | Temperatur Zuckung nn
in Mm. ;
a. Muskel blutdurchströmt.
1 14:95 | ..15-0 00063
2 19-0 | 14.8 0.0066 Latenzdauer, Mittel 00063"
3 15:0 | 120 0:-0069 ern ee N
4 15:05 | 14-9 0-0063 ahrscheinl. Fehler der einz.
Beobachtu = 0:0002”
B) 15.05 14.9 0.0061 | Wahlgcheint. Fehler des
6 15-05 15-0 0-0058 | Mittels + 0-0001”
7 15-0 15-4 0-0063 |
b. Muskel entblutet.
(6) | 15 16-0 0:0055
9 15-1 15-8 0-0063 Latenzdauer, Mittel 0-0062”
10 15-1 15-7 0.0064 Auge: a en
Hl 15-0 dell 0-0061 anrschneinl. Fehler der eINnZz.
Beobacht = 0.0003"
12 15.0 16.5 0.0063 Wachen Fehler des
19 15-0 15-8 0-0067 Mittels + 0-0001”
14 | 15-0 16-0 0.0063
14*
212 ROBERT TIGERSTEDT:
Versuch 120. 28. April 1884. Muskel angehängt ohne Extragewicht
55 22°, Beginn des Versuches 5" 38°; Ende 5" 56’; Länge des Muskels
36 m. 1 Grove; Offnungsinductionsstrom; Rollenabstand = 0.
Höhe der | ,.
4 | Latenzdauer
Nummer | Temperatuı | Au une, ae
a. Muskel blutdurchströmt.
l 14-8 10.3 0.0069
2 14-85 9.9 0.0069 Latenzdauer, Mittel 0-0072”
g 14.8 10-2 0-0079 as: Hehler 4 0-00087
4 14:8 10-2 0:0077 ahrscheinl. Fehler der einz.
; Beobacht = 0.0003”
d 14.8 107277 53020067 Wahrechöinl Fehler des
6 14.8 10-3 0.0069 Mittels # 0-0001”
7 14-8 10-2 0.0071
bh. Muskel entblutet.
8 14.9 10.2 0.0069
9 14-9 10-0 0:-0072 Latenzdauer, Mittel 0-0070"
10 14:85 10-2 0:.0074 Mauıı ee 0
11 14.85 10.5 0-0067 ahrscheinl. Fehler der einz.
Beobacht + 0-0003”
12 14.8 10-5 0.0061 Wobrecheat more
13 14-8 10-0 0.0069 Mittels # 0-0001”
14 14-8 10-5 0.0077
Ich brauche nur wenige Worte um diese Ergebnisse zusammenzufassen.
Wenn man die Fehlergrenzen berücksichtigt, geht nämlich aus diesen Ver-
suchen mit der grössten Bestimmtheit bevor, dass der blutdurchströmte
Muskel dieselbe Latenzdauer zeigt wie der entblutete.
Wir können also unsere Ergebnisse am entbluteten Muskel unmittelbar
auf den normalen blutdurchströmten Muskel überführen.
Achtes Kapitel.
Die Latenzdauer der Muskelzuckung in ihrer Abhängigkeit von
dem Nerveneinflusse.
Wie bekannt besitzt man in dem Curare ein Mittel den Einfluss der
Nervenfasern auf den Muskel aufzuheben. Trotz der grossen Anzahl Unter-
suchungen, welche über das Curare gemacht worden sind, ist die Frage wie
die Muskelzuckung und ihr zeitlicher Verlauf davon abhängig ist, noch nicht
vollständig entschieden. Ohne eine vollständige Uebersicht der grossen Litte-
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUOKUNG. 213
ratur über das Curare hier geben zu wollen, werde ich einige auf den uns
beschäftigenden Gegenstand bezügliche Angaben kurz zusammenstellen.
Buchheim und Loos fanden, dass die Curve des mit Curare vergifteten
Muskels eine anderthalb und selbst doppelte Länge zeigte; die Dosen be-
trugen 0-0016 bis 0-01 =”, Die Latenzdauer des curarisirten Muskels schien
aber von dem des normalen Muskels nicht verschieden zu sein.!
Mendelssohn erhielt bei subeutaner Einspritzung von 0.000025 bis
0.000052” Curare keine Veränderung weder der Latenzdauer noch des
Zuckungsverlaufes, obgleich dabei die willkürlichen Bewegungen schon deut-
lich beschränkt waren. Bei Dosen von 0-00005 bis 0.0001 2” und mehr,
d. h. bis zum Verschwinden aller Reflexe, fand er einen allmählichen Zu-
wachs der Latenzdauer und eine Schwächung der Muskelcontractilität, welche
letztere sich in einer über das Normale verlängerten Muskelcurve zeigte.?
Yeo und Cash fanden, dass bei Zimmertemperatur und gleich grosser
Belastung die Latenzdauer des direct maximal gereizten Muskels keinen
Unterschied zeigte, ob der Muskel curarisirt war oder nicht.’
Rosenthal spritzte 0.1 °® Curarelösung subcutan ein; der Frosch war
!/, Stunde später gelähmt; nach 3 Stunden betrug die Latenzdauer dann
0.0122”, also ein wenig mehr als bei unvergifteten Muskeln. Dies dürfte
also dafür sprechen, dass Ourare in irgend einer Weise auch direct auf die
Muskelsubstanz selbst einwirkt.*
Die Angaben der verschiedenen Forscher sind also ziemlich schwankend
und veranlassen schon an und für sich zu neuen Beobachtungen. Es kommt
aber noch etwas Anderes dazu; meines Wissens hat bisher Niemand die
Latenzdauer submaximaler Zuckungen bei curarisirten und nichteurarisirten
Muskeln mit einander verglichen; es wäre aber jedenfalls nicht uninteressant
zu studiren, wie es sich damit verhält, denn hierdurch könnte man mög-
licherweise neue Anhaltspunkte zur Kenntniss der Bedeutung der Nerven
für die Muskelzuckung erhalten.
Zuerst muss ich die zu lösende Aufgabe genau praecisiren. Es galt
nicht, die physiologische Einwirkung des Curare auf den Muskel zu studiren,
sondern nur zu untersuchen wie der durch Curare entnervte Muskel be-
züglich seiner Latenzdauer sich verhielt. Es musste also die Dosis von
Curare derart gemessen werden, dass die Nerven eben gelähmt werden
sollten; dabei musste zur selben Zeit eine tiefere Beschädigung des Muskels
durch zu starke Curaredosen möglichst vermieden werden.
! Buchheim und Loos, in Eckhard’s Beiträge. 1870. Bd. V. 8. 179— 251.
® Mendelssohn, Travauz du laboratoire de M. Marey. 1880. t. IV. p.136—138.
® Yeo and Cash, Proceedings of the Royal Society of London. 1881. t. XXXIII
p. 467.
* Rosenthal, Dies Archiv. 1883. Suppl.-Bd. S. 270—271.
Muskel angehängt 10% 50°; Beginn des
Versuches 11® 2°; Ende 11® 25’; 1 Grove. Ä Ende 12% 1’; Länge des Muskels 35m
214 ROBERT TIGERSTEDT:
Um untereinander vollständig vergleichbare Resultate zu erhalten, habe
ich die betreffenden Versuche in folgender Weise ausgeführt. Nur blut-
durchströmte Frösche wurden benutzt; die Praeparation geschah in derselben
Art, wie im Kapitel VII beschrieben ist. Bevor ich den Frosch ceurarisirte,
machte ich in gewöhnlicher Weise eine Reihe Beobachtungen über die
Latenzdauer bei verschiedener Stärke der Oeffnungsinductionsströme. Dann
injieirte ich, ohne dass der Frosch vom Apparat weggenommen wurde, in die
Bauchhöhle ?/, bis ®/, ° einer 0-18 procentigen Curarelösung. Ich wartete
nun ab bis alle Reflexe verschwunden waren und setzte dann den Versuch fort.
Dabei wurde bei der Curarevergiftung stets derselbe Muskel — M. gastro-
cnemius der linken Seite — wie früher benutzt. Meine Beobachtungen als
an demselben Muskel vor und nach der Entnervung ausgeführt, sind also
durchaus miteinander vergleichbar. Ich lasse hier einige Versuchsbeispiel
folgen, um als Basis der Discussion zu dienen.
Versuch 134A. 10. Mai 1884. | Versuch 134B. 1122679
ı Curarelösung; Beginn des Versuches 11%40
|
cer
5 ı=,;| 3 ämis,, Me ee |
EEE WERE Beamer
2 | s2 Ss. &a | 88 = 5-88 |
z | As Su SEE Mainzer ar seele se |
Bi | | | Ss 8
1 0 | 18.5 |10.1[0-0088 I18| 0 | 18-5 | 7.30.0083
2 2 | 18-5 | 9.80.0074 |aricten I19 0 | 18-5 | 7.0 0.0082
14 0 | 18-55 9.5 0-0074| (o-0079” | 17 1 | 18-5 | 6-7 0.0085)
[50 leo 0.0079 | I16| © | 18.5 6-7 0:03 |
3 4 | 18-6 | 9.60.0091) _ ıı 0 | 18.35) 6-6 |0-0085)
5 8. | 18-6 | 9-6.0.0098 Inc 15 3 | 18-5 | 6-1 10-0095) _
6 10 | 18-6 | 9-6.0-0098 4 3 | 18.45) 6-1 0:00 |
4 6 | 18-6 | 9-4.0-0090 2 1 | 18-4 | 6-0 0.0088]
7 11 | 18-6 | 9.00.0106 13| 4-5 | 18-5 | 5-7 00-0085
9 11-5 | 18-6 | 7-5 0-0101 5 4 | 18-45 5-4 |6-0088)
10) 11-6 | 18-6 | 6-9|0-0103|) __ 3 2 | 18.4 | 5.3 0-0096
13) 11-75 18-5 | 6-9,0-.0107 1 | 6 5 .| 18-4 | 4.6 0-0090
11 11-7 | 18-5 | 6-8.0.0103 14 4 | 18.5 4-6 /0-0109) | Mittel‘
12) 11-75 18-5 | 6-0 0.0119 10) 5.25 18.4 4.5 0.0093] [0-0088)
8 11-5 | 18-6 | 4-7 0.0122 | 9) 5.25 18-4 | 4-4 |0-0098)
12) 5 | 18-4 | 4-1 0.0104
11! 5-25) 18-4 | 3-8 0.0115 |
7 6 |1s-4 | 2-5 |0-0149|] Mittel)
: | 8 5-5 | 18-4 | 2-5 |0-0141 ho “0145
! Ich habe die 1, 2, 14 und 15, obgleich die Höhe der Zuckungel
nicht unbeträchtlich schwankt, zusammengeschlagen, weil sie sämmtlich bei der grössten
Stärke des Reizes erhalten wurden und bezüglich ihrer Latenzdauer sehr nahe mit ein-
ander übereinstimmen.
u
1
}
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG,. 215
Versuch 135 A.
[uskel angehängt 4" 48°; Beginn des
ersuches 5" 0°; Ende 5" 237; 1 Grove. |
T
10. Mai 1884.
= S8glaus
[237 38%
3 EIS ee
22-2 | 12-2 10-0047
22.2 -6 /0-0055
22°2 -0 /0-0055|) Mittel
BD? -0 09-0055 No.0085
22.2 -0/0-0063|] Mittel
22.2 11-00-0064 Nos000s”
22:2 -0 10-0077
22.15 11-00-0080 | Mittel
DIRD -9 0.0079! f0-0079 |)
22.4 10-90-0079
22.2 -7 10-0083
Versuch 136.A. 12. Mai 1884.
uskel angehängt 6" 38; Beginn des
‚ersuches 6% 59; Ende 7" 24°; 1 Grove.
Nummer
Versuch 135 Be 5h 24° 3), com
| Curarelösung;; Beginn des Versuches 5 50';
Ende 6" 16; Länge des Muskels 33 "m,
| B E &n | : A
ı as. = Es*| Se
3 2 | 22.3 |12.2|0-0047
1 0 | 22.4 12.00.0048
8 7 | 22-3 [11-90-0061
7:6 22.25 11:9 0.0055 |
5 4 22.3 11-80-0050 | Mittel
6 5 1 022.3 11-8 0.0048 (70
9) 8: | 22.3 |11-8)0-0055
4 3 22.3 11-60-0053 \ Mittel
2 1 | 22.3 |11-6.0-0061| (0-0057”
l10| 9 | 22.2 |11-20-0056
201 5 | 22.2 |11-110-.0050||
ae 22.2 11-10-0048 | Mittel
92,922. 111.1 0.0043 [0 >
23 0 | 22.2 |11-1!0-.0045
19) 9 22.2 10-70-0055
11) 10 | 22.2 | 9.40.0067
181 10 | 22-2 | 8-5 0-0061|
12| 11 | 22.2 | 5-50.0085)
15 11 | 22.2 | 4-8|0-0090|) Mittel
16| 11 | 22.2 | 4.8|0-0099 NozuonB"
13! 11.5 | 22.2 | 3-5 0.0115
14| 11.5 | 22.2 | 3.2 0-0119
1 unmessbar |
Verzsuchn@ls36EB. 1... 257 27, sea
' Curarelösung; Beginn des Versuches 7% 40’;
Ende S* 11’; Länge! des Muskels 34 m,
——ee | =
ur, = Solana] Salz 3 Be
WERE sea Sse Ss
Eisen Blo& | => =
E es) See z ic E SIE amt
21-9 13-10-0048 , 1 0 | 21.8 13-20-0050] Mittel
21.85 13-0 0.0048 | mitte | 21 0 | 21-8 13-2 0.0050) j0-0050
21-85 13-00-0050 fo-0049” | 2 1 | 21-8 13-0 0.0081 |) \
21-9 12-80-0050 3| 2 | 21.75113-0|0.0051| | Mittel
4 3 | 21.7 |13-0.0-0053|]
'" Nummer
ROBERT TIGERSTEDT:
(Versuch 136 A. Fortsetzung.)
(Versuch 136 B. Fortsetzung.)
Versuches 4# 0’; Ende 4% 30°; 1 Grove.
| Br, eine
| @ Saal er = 8 Bars) SEE
| I 1234 250 IEl238| 2 238328
| £ SEE alesr| 5 E32
21-8 |12.8)0-.0056|) _ ES 21-7 [12-50-0053
21-8 \12.7[0-0055 ich 6 21.7 112-5 0.0055
21-8 |12-710-0067 7 ST 21-7 12-.5.0-0055| \ Mit
21.85| 12-60-0064] Mittel | 9) 8 | 21-7 12-5 0.0056| [0004
21.851 12.6 00066 \o20005 65 21-7 |12-4 10-0053
21-8 |12-6 0-0080 | 101 9 21.8 |11-8|0-0059
21.8 12-50-0085 en. 111 10 21:75| 9-70-0061
21.8 12-5 0-0079|| 'ı2| 10.5 | 21.8 | 8.10.0063
91-8 , 5-0[0-0096 13| 10-5 | 21.8 | 7.90.0069
14.14.02, 21-8. 721210.002
15| 11-0 | 21-8 | 6.00.0082
117 11-5 | 21-8 | 4-5 0.0093
16 11.5 21.8 aA
| 18| 12 21-8 | 0-2.0-0175
19] #1-8 | 21-8 | 0.20.0160 | mitt
| 20 11.8 | 21-8, | 0.20.0162 |0-0166
Versuch 138 A. 13. Mai 1884. Versuch 138 B. 4% 32’ 1/, cc Curare
Muskel angehängt 355°; Beginn des | lösung; Beginn des Versuches 4448
Ende 5® 16; Länge des Muskels 35 =m,
= ee = SE: Nu | ® ne - 8 Sea. Nous
1230 5 |20= 55 släsd| 5 Z22l558
= |mS5 3 =&” Eich = ce E Salsa
2 | 22.6 |19.3|0-0048 1 0 | 22.5 |14-9 10-0055
0 | 22.6 |19.0|0-0050 Dil 22.5 |14-5|0-0051|}
4 | 22.6 |18-3|0.0047 3| 2 22.5 [14-5 |0-0058| | mittel
0 | 22.6 118-1/0-0050|) __ 2 0 22.5 114-5|0.0048! (0-0053%
0 | 22.6 |18-1[0-0051 a 31 0 32.5 14-40-0055
0 | 22.6 |18-0[|0-0050 4 3 22.5 |14-1|0-0061|} Mittel
4 6 | 22.6 |16-4|0.0051 SA 22.5 | 14-00-0058 \..0000
51 8 | 22.6 |14-.6 0.0063 6 5 22.5 [13-80-0064
6 9 | 22.6 |14-0[0.0069 16 22.5 [13-40-0053
7 22.6 |13-7|0-0069 8 7 22.5 | 12-60-0063
8 22.6 |13-50-0077|} mittel || 9) 8 22.5 | 11-40-0061
9 22.6 |13-5 [0.0072 N roase 101 9 22.55 9.5 0.0072
10 22.6 |13-3 0-0082 12) 9.5 | 22.55| 8-.8|0.0074
11 22.6 |11.4[0.0087 11! 9.5 | 22.55| 8-5|0-0069
Rollen-
ee er
Ha |
on Be oE Ko, 2,8
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG,.
a 138 A.
abstand
in Cm.
Fortsetzung.)
| Versuch 139 A.
duskel angehängt 6"24°; Beginn des Ver-
REIF
23-337
egal 98
6-8 0-0093
6-4 .0-0095
4.70.0103 Mittel,
4.70.0111, J00107
2:5 0-0127
0-3 0°0160)
19 Mars1884.
217
(Versuch 138 B. Fortsetzung.)
Beg| 8
as
ee
&
1007:1003:5
10 |22.5
10-5 | 22-5
10-8 22.5
10:0 | 22-5
11 22.5
11 29.5
Bin; 0 au
u == Sr, 0]
ar 88
Ba tal
[EB ESIESE m |
7-6 0.0093 | Mittel
7:6 0.0082 [0-0088”
5.5 0.0082
| 2-8 10-0103
2.6 0.0128
0-3 0.0143 | Mittel
0.2 0.0131 j0- 0137’
Versuch 139B. 656’ !/, em (urare-
lösung; Beginn des
Versuches 7% 14);
Ii\
Versuches 11% 0’; Ende 11% 26; 1 Grove.
m co
Nummer
luskel angehängt 10" 43’; Beginn des
= Eng 28; Ende 6% 55’; 1 Grove. Ende 7% 40: Länge des Muskels 35 mm,
A ER | ee ee
SICH 3 SS a alas) 5 EEE
2 | 22.5 | 20-90-0056 1] 0 122.8 ]16.4[0.0051
eo 122.4 | 20-60-0055 2| 1 22-8 16-10-0055] „,
6 | 22.5 | 19-80-0051 3) 2 | 22.85/16-0.0.0051|, Mattel,
0 | 22.95 19-.5/0.0047 ıl 3 | 22.9 |16.0.0.0058| 000
4. | 22.5 | 19-1/0-0053 55 4 | 22.851 15-70-0055)
8 | 22.5 | 16-4/0.0067 6 5 | 22.85 15-1 0-0051|\ Mittel
10 „ 22.5 | 15-0/0-.0069|] Mittel | 7| 6 22-85) 15-0 0.0051 J0-0051"
{1 | 22.55| 15-0/0-0082| jo-0076” | 8| 7 | 22.85|14.8 0.0055
12 | 22.65) 14-60-0087|| mitte | 9) 8 | 22.9 [13-9 0.0051
13 | 22.75] 14.50.0088] j0-0088” | 18| 9 | 28-0 12-10-0068; | Mittel
9 | 22.55) 14-1/0-0083 10 9 | 22-9 |12.00-.0059) jo-0061”
14 | 22.75) 12.20.0093 11 10 | 22-9 110-0 .0-0069|] Mittel
14-5 | 22.9 | 11-80-0106 17 10 | 23.0 |10.00-0083 N bone”
4 14.6 | 22-9 | 9.00.0106 12, 10-5. 22-9 | 9.0 0-0079
2] 15 22.8 |<0-1/0.0309 19 all 22.9 | 6-70-0095.] Mittel
| 16| 11 | 23-0 | 6.6|0-0087 Nonosar
/ | 14 11-5 22-9 | 3-0.0-0109
Ä 15| 11-8 | 22-9 | 0-8 .0-0186
= Versuch 140 A. 14. Mai 1884. Versuch 140B. 11428’ !/, m Curare-
lösung; Beginn des Versuches 11% 50);
Ende 12% 19; Länge des Muskels 35 wm,
D SugE= E Sn s Q ® 5) ı . E So. . ö
SERIE EIER ER ee
SsE=| = 88.|°Sa Blezal = een esse
3. = EN | .- zZ Se > ES as! =
4 22.7 |22-6|0-0055 il 0 | 22.9 |15-7/0-0051|y Mittel
752.7 122.110- 0055 2 1 | 22.95| 15-7 0-0050| J0-0051”
218 ROBERT TIGERSTEDT:
(Versuch 140 A. Fortsetzung.) | (Versuch 140 B. Fortsetzung.)
S| 58 = ad a sa: | Bene
Se ee aaa 2 Bere
= | = | |
19) 0 | 22.8 [21.70.0047 3 2 | 23.0 [15-50-0056
A622 1214 0.0053 4| 3 | 28-0 |15-3)0-0051
1,0 2502270 21210.0064 5 4 | 23.0 |15-10-0053
5l 8 | 22.7 |16-6 |0-0066 6 5 | 23-0 |14-8.0-0050)
61 9 22.7 |15-0 0-0063 7 6 23-0 14-5 0-0053
701008 692.8,111,8)0..0064 a 7 22.9 14-30-0051
10 ı3 | 22.8 [14-6 0.008 9I| 8 | 22-95| 14-00-0055,
8 11 | 22-75114-5|0.0085| | Mittel, | 101 9 | 22.9 |12.6|0-0067
91 12 | 22-8 |14-5 [0.0095 12| 9-5 | 22-9 |10-8|0-0067|, Miele
11 14 | 22.75 14-20-0085 11 9.5 | 22-9 [10-70-0069] jo-0060
12| 14-5 | 22-8 |11-00-0103|] Mitteı | 18] 10 | 22-9 | 9.6|0-0079
13| 14-6 | 22.8 |11-0 0.0099] fo-o101” | 22] 10 | 22-8 | 9-0/0.0069
15) 14-75) 22.75| 5-8 0.0114 | Mittel || 14| 10-5 | 22.85| 7.90.0080)
14| 14-75| 22.75] 5-710.0109| j0-0112” | 21| 10-5 | 22-8 | 6-0|0-0090
16! 14-85] 22.8 | 3.9 0.0133) __ 15| 11 22-8 | 4.8 0-0095
17 14-85) 22.8 | 3-9|0-0114 Kat 20 11 22-8 | 4-50-0090 |
18| 14-9 | 22.8 | 3.9 0.0117 19| 11-3 | 22-8 | 1-0[0-0131 'E
16| 11-3 | 22.8 | 0.40.0143) I
17) 11.5 | 22-8 | 0-1[/0.0221|] mel
| 18, 11.6 22.8 |.0-.10.0938 None y
Versuch 141 A. 14. Mai 1884. Versuch 141B. 4452’ 1/, cm Ourarı®
Muskel angehängt 4" 9°; Beginn des Ver- | lösung; Beginn des Versuches 5t 8°; End
suches 4t 15; Ende 4" 50’; 1 Grove. 5h 38; Länge des Muskels 35 u,
= ‘E
alas a ee alseal a Bea:
= | E28 E ES 338 | a2 E SS
909 22.3 24.6 0-0048| ) Mittel I) 22.3 |17-8/0-0055
1 0 22-3 |24-50-0050 j0-0049” | 2) 1 22.3 117-6 .0-0069|] Mitten
3 4 22.25 21-00-0058 | De 22.25 17-60-0061 f0-0065
10| 13 22-15 18-3 0.0087 4 8 22.3 17-30-0059) Mittel
8 ı1 DD 173) 02000 3 22.3 |17.2|0-0053 \0-0056
9 12 32.15| 17.70.0079 u: 65 22.3 |16-7 10-0053
7 10 22.1 | 17.70.0085 7 6 22.3 \13-1|0-0071
4 6 22.2 17.4 0.0064 ] Mittel | 8 7 22.25 12-.8.0-0069
5 8 22.15 17-30-0077, jo-001” | 21] 8 | 22-35, 12-00-0064] Mittell,
13! 13-5 | 22.15) 17-10-0085 98 99.2 11.9 0.0086, j0-0063) ’
(Versuch 141 A. Fortsetzung.)
ae
a|$°8
eo | 22.1 16.80.0080
st 18-8 | 22.151 11-60-0103
4) 13:65| 22-2 [11-40-0103
71 14-0 | 22-15/ 9-1!0.0099 |
613-9 | 22.15) 7.20.0103] Mittel |
8 14:1 | 22.15) 7.100099! jo-0101”
I) 14-2 | 22-15] 5-3|0-0114
Or 14.3 | 22.15) 5-1 0.0106
1 14-4 | 22-15] 5-1[0-0104
1| 14 92.15] 5-.1|0-0115
14 22-15| 5-0/0-0101|| Mittel!
I 14-5 | 22-2 | 5.0/0-0109) (0-0107”
31 14-6 | 22.2 | 5-0/0-0109
4 14-75| 22.15) 5-0|0-0106
5:0 | 22.1 | 5-0!0-0109
1 Mittlerer Fehler + 0-0004”. Wahrschein-
icher Fehler der einz. Beobachtung + 0-0003”.
‚Vahrscheinlicher Fehler des Mittels #0-0001”.
Versuch 142A. 14. Mai 1884. Muskel
ngehängt 6" 6’; Beginn des Versuches ?;
nde 6449’; 1 Grove.
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG.
219
(Versuch 141 B. Fortsetzung.)
= =) lm 2
ila20| 3 IeAr| 2302|
Blaäs| 3 SBa Sal
A ne 8 RN. |.
10-80-0080
9.0.0:0082
ij Le, Bnee|
201 8-5 | 22-3
11 10 | 22-25) 7.90.0098
1 unmesSsbar
199 0009| 6.3/0.0114
18| - 925. 228 l- T unmessh.
13| 10-5 | 22.3 | 1-40-0143
14| 10-7 | 22-251 <0.10-0325
15| 10-7 | 22-25|<0- 10-0317 | Mittel
16 10-2 | 22.3 |<0-1/0.0240 a
17| 10.0 | 22.3
<0.10.0240
|
Versuch 142B. 6%51° !/, em Cura-
relösung; Beginn des Versuches 7% 10’;
Ende 7" 40°; 1 Grove.
aus = ESDol x 2 - rZ = Se) k &
l Ss S N#HO9 SD >} | NO
es. 3 ee Se | a8 E Era
2 0 | 21.8 |26-0 0.0061 4 3 | 22.25 18-0|0-0064
2 unmessbar 3 2 22-25 17:9 .0-0058 !
a 4 | 21-9 |24.7|0-0058 60257 59223117759)020058| 7, Mittel
4 6 .| 21.9 18-60-0056 5l 4 | 22.3 |17.8/0-0050||°
Bes | 22.0 |17-6 0.0055 2) 1 | 22-251 17-7|0.0055
6) 9 22-05 16-90-0074 7) 6 [22.4 17-50-0051) ypikeen
mo | 22.0 |16.4/0-0082|\ mitte | 1 0 | 22-3 [17.40.0053 ide
1 8 22-05 16-3 0-0059] 0.0071” | 8 7 | 22.6 |17-3|0-0055
8 11 22-05) 15-8.0-0087 9 8 | 22-5 15-00-0063
9| 12 | 22.05) 15-60-0080 20) 9 | 22.8 [12-40-0058
0 10 | 22.05|15-4 0-0082 10 9 | 22-55 12-00-0061
812.5 | 22.0 |15-2|0-0079 9 02228 8:5 N Mittel
12.0 | 22.0 |14-8|0-0085 11| 10 22.5 8-4!0.0083 [0-0083”
220 ROBERT TIGERSTEDT:
(Versuch 142 A. Fortsetzung.) | (Versuch 142 B. Fortsetzung.)
Ei rS BE ER 3 rg IS Vene I
Eee E Ei So.a lea Eee
17. 13-0 | 22.0 |12-2 0-0095 ı 12) 10.5 | 22-6 | 6.0. 0.0109] Mik
10213 22.05) 9-2 a Mittel | 18] 10-5 | 22.8 | 6-0 0.0096) J0-Ot
11 13 22.05) 9-2|0-0104| J0-0101° || 13] 10-8 | 22.7 | 3-5 0-0117
15) 13.2 | 22.0 | 7-.7|0-.0117 ı 14 unmessbar
16 unmessbar na 2107 22 0-0138
14 13-4 | 22.05) 4-3 0-0120 5) 111722581272 020123
12 13.5 | 22.0 1.5 ee) Mittel || 16] 11-5 | 22.8 | 1-1/0-0155
13) 13.5 | 22.0 | 1.4|0-0133| J0-0139” |
Ich habe von diesen Versuchen Nr. 134, 138, 139, 140, 141, 142 m
den Curven (Taf. IX, X) wiedergegeben; die Curven sind nach demselben
Prineip wie die früheren construirt; die Abscisse bedeutet also die Höhe
der Zuckungen, die Ordinate die entsprechende Latenzdauer. Die vollständig
ausgezogene Linie bezieht sich auf den nicht curarisirten Muskel; die unter-
brochene auf den curarisirten.
Schon längst ist durch die Versuche von Rosenthal bekannt, dass
der Muskel eine viel geringere specifische Erreshbarkeit als der Nerv be-
sitzt; daher sehen wir auch aus den vorliegenden Versuchsbeispielen, dass
beim nichteurarisirten Muskel noch Zuckungen erhalten werden bei einem
kollenabstand, wo der curarisirte Muskel lange nicht mehr zuckt. Diese
Zuckungen müssen also durch die intramusculären Nervenenden ausgelöst
sein. Wenn wir dieselben mit den gleich grossen Zuckungen beim cura-
risirten Muskel vergleichen, so finden wir, dass jene in der Regel eine
nicht unbedeutend grössere Latenzdauer haben, denn wir sehen, dass bei
allen Versuchen, mit Ausnahme je einer Beobachtung in den Versuchen Nr. 138,
141, 142, die Latenzdauercurve des nichtcurarisirten Muskels um !/, bis
1 °® höher verläuft wie diejenige des curarisirten, oder mit anderen Wor-
ten bei gleich starken untermaximalen Zuckungen ist die Latenzdauer des
nichteurarisirten Muskels 0.001” bis 0.002” grösser als diejenige des cura-
risirten. |
Der Reiz aber, wodurch gleich starke Zuckungen hervorgebracht wor-
den sind, ist bei curarisirten Muskeln viel stärker als bei nichteurarisirten.
Die Ursache der kürzeren Latenzdauer der Zuckungen des curarisirten
Muskels kann aber nicht darin liegen. Wenn wir die Versuche, welche
die verschiedene specifische Erregbarkeit der Nerven und Muskeln begrün-
den sollen; näher betrachten, so werden wir finden, dass ihre Auslegung
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 291
lange nicht so einfach ist, wie man es gewöhnlich sich denkt. Reizen wir
z. B. mit Induetionsströmen einen curarisirten Muskel, so wird die Muskel-
substanz direct von der strömenden Elektrieität erregt; wird die Muskel-
zuckung aber vom Nerven aus ausgelöst, so wissen wir gar nichts darüber,
durch welche Kraft die Muskelerregung stattfindet, denn wir haben ja
keine Ahnung von der wirklichen Beschaffenheit der Nervenerregung und
wie sie auf den Muskel übertragen wird. Wir vergleichen also einerseits
eine elektrische Stromschwankung bestimmter Art, andererseits den durch
den Nerven dem Muskel zugeführten Bewegungsimpuls.! Dasselbe gilt von
der directen Reizung des nichtcurarisirten Muskels mit Reizstärken, welche
um den curarisirten Muskel zu erregen, nicht genügen; auch hier wird der
Muskel durch die unbekannte Bewegungsart der Nervenerregung gereizt.
Wir haben also hier zweierlei Reize: den Oeffnungsinductionsstrom und die
Nervenerregung, welche nicht näher mit einander zu vergleichen sind.
Wenn wir annehmen dürften, dass bei der Nervenreizung eine wirkliche
Kraftverwandlung stattfinden könnte, d. h. dass die gesammte lebendige
Kraft des Reizes in Nervenerregung verwandelt werden sollte, ohne dass
dabei irgend eine sogenannte „Auslösung“ aufträte, so würde natürlich die
hier zu betrachtende Nervenerresung, absolut genommen, einen schwächeren
Reiz darstellen, als die Oeffnungsinduetionsströme, welche bei curarisirtem
Muskel ebenso grosse, submaximale Zuckungen hervorrufen. Wie sich die
Sache wirklich verhält, darüber wissen wir nichts. Wir wissen aber, dass
der Muskel jedenfalls für den Nervenreiz empfindlicher ist.
Diese Betrachtungen zeigen, dass wir keine Berechtigung haben den
direeten Reiz durch Oefinungsinductionsströme mit demjenigen unter Ver-
mittelung der Nerven zu vergleichen. Wir müssen uns daher zu der Wir-
kung der beiden wenden und können — mit der bei einem so wenig
bekannten Gegenstand nöthigen Reserve — kurz als Maass der Er-
regungsstärke die Muskelzuckung anwenden. Wenn zwei Zuckungen des-
selben Muskels gleich stark sind, wenn der Verlauf der Curven ungefähr
übereinstimmt, werden wir sagen können, dass — mit Rücksicht auf den
augenblicklichen Zustand des Muskels — diese von gleichwerthigen
Reizen ausgelöst sind. Ich sage absichtlich nicht gleichstarken, sondern
gleichwerthigen Reizen, weil ich damit ausdrücklich betonen will, dass die Art
des Reizes von der grössten Bedeutung ist und bei einer günstigeren Reizart,
wie es der Fall mit der Nervenerregung ist, eine kleinere absolute Reizstärke
genüst, um die Zuckung auszulösen. Wir haben also durch zwei gleichwer-
thige Reize zwei Zuckungen, die eine vom curarisirten, die andere vom
! Vergl. Tigerstedt, Studien über mechanische Nervenreizung. Helsingfors
1880. S. 86.
222 ROBERT TIGERSTEDT:
nichteurarisirten Muskel erhalten; die Höhe der Zuckung, der Verlauf der
Curve sind in beiden nahezu übereinstimmend, die Latenzdauer ist aber
beim nichteurarisirten Muskel um 0.001” bis 0.002” länger.
Die Ursache dieser Erscheinung kann zweierlei Art sein. Wie wir oben
gesehen haben, ist die Art des Reizes nicht ohne Einfluss auf die Latenz-
dauer; so ist z. B. die Latenzdauer der Schliessungszuckungen nicht un-
bedeutend grösser als diejenige der Inductionszuckungen, wenn man nicht
sehr starker Ströme sich bedient. Es könnte sein, dass die Nervenerregung
ebenso wie der constante Strom in Folge eines trägeren Verlaufes an und
für sich eine grössere Latenzdauer bedingte. Oder es könnte die Ursache der
uns beschäftigenden Erscheinung, wie Bernstein es annimmt, darin liegen,
dass die Endapparate der Nerven eine specifische Latenzdauer haben.
Wenn wir die Erfahrungen über den Gang der Curarevergiftung uns
vergegenwärtigen, so müssen wir, meines Erachtens, für die letztere Er-
klärungsweise uns entscheiden. Es zeigen nämlich alle Untersuchungen
über die Einwirkung des Curare, dass dieses Gift die Nervenendapparate
lähmt. Bei fortschreitender Vergiftung wird, bei Reizung vom Nerven
aus, die Zuckungshöhe immer kleiner und die Latenzdauer immer grösser:
in den intramusculären Nervenendapparaten wird ein immer stärkeres Hinder-
niss für die Uebertragung der Erregung vom Nerven auf den Muskel gesetzt.
Ich sehe wohl ein, dass hier nicht ein absoluter Beweis dafür vorliegt, dass
auch im völlig normalen Muskel die betreffenden Endapparate irgend ein
derartiges Hinderniss stellen, diese Anschauung wird aber durch die eben
eitirte Thatsache der Curarevereiftung ein wenig wahrscheinlicher. Dasselbe
gilt von den Rheotomversuchen Bernstein’s, welche an und für sich keine
absolute Beweiskraft in dieser Hinsicht besitzen, jedoch die von ihm ver-
tretene Ansicht wahrscheinlich machen. Ich werde also die Verzögerung
der untermaximalen, von Nervenenden aus ausgelösten Zuckungen als durch
die specifische Latenzdauer der Nervenendapparate bedingt auffassen, jedoch
mit der Reserve, die in den vorhergehenden Betrachtungen liest. Diese
Latenzdauer würde nach den hier vorliegenden Beobachtungen bei Zuckungen
mittlerer Grösse ungefähr 0-001” bis 0.002” betragen.
Ob die Latenzdauer der Endapparate constant oder von der Reizstärke
abhängig ist, darüber wage ich nichts Bestimmtes zu sagen. Wie eine Be-
trachtung der Curven der Latenzdauer beim curarisirten und nichteura-
risirten Muskel zeigt, verlaufen beide Curven wenigstens bei Zuckungen
mittlerer Grösse einander fast parallel. Wenn wir aber die aus den m
Kapitel IV mitgetheilten Versuchen construirte, auf der Zuckungshöhe als
Abscisse bezogene Curve der Latenzzeiten mit der entsprechenden Curve
des curarisirten Muskels vergleichen, so finden wir, dass bei jener die Latenz-
dauer bei den kleinsten Zuckungen viel steiler als bei dieser aufsteigt.
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. .223
Man könnte hieraus, wie aus einigen der Parallelversuche an demselben
Muskel vor und nach der Curarevergiftung schliessen, dass bei kleiner Reiz-
stärke auch die Latenzdauer der Nervenendapparate zunimmt. Die Versuche
sind aber nicht vollständig beweisfähig. Bei den ersten Versuchen über die
Abhängigkeit der Latenzdauer von der Zuckungshöhe, wurde der Induetions-
reiz durch Variirung der Stärke des primären Stromes verändert. Dadurch
war es möglich eine ziemlich grosse Anzahl sehr kleiner und minimaler
Zuckungen zu erhalten. Bei den Versuchen aber, welche in diesem Kapitel
mitgetheilt sind, wurde die Reizstärke durch Veränderung des Rollenab-
standes bei gleichstarkem primären Strome varürt. Bei Anwendung der
letzteren Methode ist es ausserordentlich schwierig ganz kleine Zuckungen
zu bekommen, weil man nur um 2 bis 3ww den Rollenabstand zu verändern
braucht, um von ungenügenden zu mittleren oder sogar maximalen
Reizen zu kommen. Das an der Scala des Inductionsapparates gemessene
Reizintervall, innerhalb dessen sehr kleine und ganz minimale Zuckungen
erhalten werden können, ist also ausserordentlich beschränkt. Dies gilt
besonders bei dem nichteurarisirten Muskel. Daher zeigen meine Parallel-
versuche an demselben Muskel, nichteurarisirt oder curarisirt, verhältniss-
mässig wenige ganz kleine Zuckungen; in Folge dessen ist das zum Ver-
gleich der Curve der Latenzdauer bei curarisirten und nichteurarisirten
Muskeln dienende Beobachtungsmaterial eben bei den kleinsten Zuckungen
nicht vollständig genügend, obgleich es scheint, als ob wirklich die Latenz-
dauer der Nervenendapparate bei kleinerer Reizstärke zunähme.
Wenn wir jetzt zu den maximalen Zuckungen übergehen, so müssen
wir die angeführten Versuche in zwei Abtheilungen ordnen: 1) Diejenigen,
bei welchen die Maximalzuckungen vor und nach der Curarevergiftung gleich
gross sind, und 2) die Versuche, bei welchen die Maximalzuckungen des
curarisirten Muskels kleiner als diejenigen des nichtcurarisirten sind. Bei
den ersteren — hierher gehören die Versuche Nr. 135, 136 — finden wir, dass die
Latenzdauer des curarisirten und des nichteurarisirten Muskels gleich sind; die
betreffenden Zuckungen müssen also in beiden Fällen durch directe Reizung der
Muskelsubstanz ausgelöst gewesen sein. Diese Latenzdauer beträgt durchschnitt-
lieh beim Versuch Nr. 135: 0-0056”, bez. 0.0053” beim Versuch Nr. 136:
0.0057” bez. 0-0055”. Ferner finden wir beim Versuche Nr. 135 eine maximale
, Zaekung, erhalten beim Rollenabstand 12, welche die beträchtliche Latenzdauer
von 0-0077” hat; nach der Curarisirung finden wir aber keine maximale Zuckung
mit einer so langen Latenzdauer. Ebenso sehen wir beim Versuch Nr. 136
- maximale Zuckungen, erhalten beim Rollenabstande 10 bis 11-5, welche eine
Latenzdauer von 0.079” bis0-0085” haben, nach der Curarisirung haben alle
maximalen Zuckungen eine kurze Latenzdauer, welche nur zwischen 0.0050”
bis 0.0056” schwankt. Diese in Parallelversuchen an demselben Muskel
224 ROBERT TiGERSTEDT:
erhaltenen Resultate bestätigen also vollständig meine oben ausgesprochene
Anschauung der entsprechenden Zuckungen in den Versuchen 10 bis 22
(S. 155—162), nämlich, dass sie nicht durch direete Reizung des Muskels,
sondern nur unter Vermittelung der Nervenenden ausgelöst sind. Ihre
Latenzdauer ist daher um diejenige der Nervenendapparate vermehrt.
Bei den Versuchen, welche zu der zweiten Abtheilung gehören (Versuche
Nr. 134, 138,139, 140, 141, 142), sind die maximalen Zuekungen beim nicht-
curarisirten Muskel viel stärker als beim curarisirten, die Latenzdauer ist
aber überall dieselbe. Nachdem wir gefunden haben, dass die Nervenenden
eine eigene Latenzdauer haben, so ist es ganz deutlich, dass alle beiden
Zuckungen durch directe Reizung der Muskelsubstanz ausgelöst sind. Was
ist aber die Ursache davon, dass die Zuckungen beim nichtcurarisirten
Muskel so viel grösser sind, wie esz. B. in den Versuchen Nr. 137, 138, 140, 141
der Fall ist? Man könnte von vorne herein glauben, dass dies eine Folge
des Curare wäre, dass durch das Gift die Muskelsubstanz beschädigt worden
sei. Diese Annahme wird, wie mir scheint, ziemlich unwahrscheinlich, wenn
wir uns erinnern, dass dennoch die Latenzdauer in beiden Fällen unver-
ändert ist. Und wenn wir die entsprechenden Muskelcurven beobachten,
so werden wir finden, dass diese Erklärung gar nicht statthaft ist. Ich
habe in Fig. 1 (Taf. XI) die Zuckungscurven des Muskels (Versuch Nr. 142)
vor und nach der Curarisirung so treu wie möglich abgebildet. Wir sehen,
dass die Curven der maximalen Zuckungen beim nichteurarisirten Muskel
einen ganz anderen Verlauf darstellen als diejenigen des curarisirten Muskels.
Diese haben die gewöhnliche Form der Muskelzuckungen, jene heben sich
wie gewöhnlich im Beginn langsam, steigen dann aber ziemlich steil in die
Höhe; ihr ganzer Verlauf deutet darauf, dass hier irgend eine Summirung
vorliegt, und wenn wir nach deren Ursache fragen, so werden wir ohne
Schwierigkeit eine befriedigende Erklärung finden.
Wenn wir einen Inductionsstrom durch den Muskel senden, so reizen
wir dadurch sowohl die Muskelsubstanz selbst als auch die Nervenenden. Wir
nehmen an, dass der Strom durch directe Reizung des Muskels eine maxi-
male Zuckung hervorrufen kann. Diese beginnt also nach einer Latenz-
dauer von ungefähr 0.0050”. Die Nervenenden werden aber auch gereizt
und in denselben eine Erregung ausgelöst; diese Erregung hat aber eine
gewisse Latenzdauer von 0.001” bis 0.0027; die vom Nerven aus kommende
Erresung muss also den Muskel einige Augenblicke später als die direete
Reizung treffen. Wenn die zeitlichen Verhältnisse zwischen den beiden
Reizungen, die directe und die unter Vermittelung der Nervenenden her-
vorgerufene, günstig sind, so tritt eine summirte Zuckung auf; dies wäre
die Ursache der übermaximalen Zuckungen beim uncurarisirten Muskel.!
! Vergl. Sewall, Journal of physiology. 1879. t. II. p. 164—190.
en nn nn un mn _ mm mm gr mt U
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG, 295
In Folge der eigenen Latenzdauer der Nervenenden ist also eine bisher
nicht berücksichtigte Art von Summationserscheinungen nachgewiesen.
Dass diese Summation nicht immer auftritt, liegt in der Natur der Sache,
denn nach den Untersuchungen von Helmholtz und von Sewall rufen
zwei maximale Reize eine summirte Zuckung nur hervor, wenn die zeit-
lichen Verhältnisse zwischen den beiden Reizen sich besonders günstig
‚ stellen.
Wenn wir die in diesem Kapitel näher erörterten Thatsachen noch
einmal zusammenfassen, so finden wir also, dass:
bei Reizungen maximaler Stärke die Muskelsubstanz direct
maximalerreet wird; der Muskel mag curarisirt sein oder nicht,
die Latenzdauer ist unverändert, wenn nicht die Vergiftung
so weit fortgeschritten ist, dass dadurch eine tiefere Beschä-
digung des Muskels stattgefunden hat;
zu selber Zeit werden aber bei nicht-curarisirtem Muskel
die Nervenenden erregt; die Nervenendapparate haben eine
eigene specifische Latenzdauer, welche nach meinen Bestim-
mungen ungefähr 0-001”— 0'002” beträgt; daher trifft die Rei-
zung vom Nerven aus den Muskel später als die directe Rei-
zung; bei günstigen zeitlichen Verhältnissen kann daher eine
summirte Zuckung erscheinen;
bei nicht-curarisirtem Muskel treten bei schwächerer Reiz-
stärke zuweilen maximale Zuckungen mit längerer Latenzdauer
auf; sie sind durch Reizung von dem Nerven aus bedingt; ihre
Latenzdauer ist den anderen maximalen Zuckungen gegenüber
durch die specifische Latenzdauer der Nervenendapparate ver-
mehrt;
die Zuckungen mittlerer und minimaler Höhe haben bei
nieht-curarisirtem Muskel eine längere Latenzdauer wie gleich
grosse Zuckungen beim curarisirten Muskel; jene werden durch
Reizung vom Nerven aus ausgelöst und haben daher eine um
die Latenzdauer der Nervenendapparate verlängerte Latenz-
dauer;
die specifische Latenzdauer der Nervenendapparate im
Muskel scheint beiAbnahme derReizstärke zuzunehmen; dies ist
jedoch nicht einwurfsfrei bewiesen.
Archiv f.A.u. Ph. 1885. Physiol. Abthlg. Suppl.-Bd. 15
226 ROBERT TIGERSTEDT:
Neuntes Kapitel.
Die Latenzdauer der Muskelzuckung in ihrer Abhängigkeit von
der zu bewegenden Masse.
Sämmtliche Forscher, welche den zeitlichen Verlauf der Muskelzuckung
untersucht haben, stimmen darin überein, dass derselbe nicht unbeträchtlich
verzögert wird, je grösser die zu bewegende Masse ist. Freilich existiren
bis jetzt kaum einige ganz reine Versuche über die Abhängigkeit der La-
tenzdauer von der Masse, denn bei fast allen derartigen Versuchen hat
man zu gleicher Zeit sowohl die Masse, wie die Spannung des Muskels
vermehrt, indem man sich equilibrirter Schwungmassen nicht bedient,
sondern die Masse als vermehrte Belastung dem Muskel angehängt hat.
Meines Wissens hat nur Fick die Regel beobachtet, dass wenn man den
Einfluss der zu bewegenden Masse auf den zeitlichen Verlauf der Muskel-
zuckung untersuchen will, man jede durch dieselbe bedingte Dehnung ver-
meiden muss und also nur equilibrirte Schwungmassen verwenden darf.!
Leider hat er dabei nicht die Latenzdauer bestimmt; aus seinen Curven
sieht man aber, dass besonders der Anfang der Zuckung sehr verzögert
ist im Vergleich mit entsprechenden Zuckungen ohne Schwungmassen.
Ich habe Versuche über die Bedeutung der zu bewegenden Masse für
die Latenzdauer in zwei Reihen ausgeführt. In der ersten habe ich eine
möglichst minimale Belastung angewandt; der Muskel war nur vom Hebel I
gespannt. Um die Masse des Hebels möglichst zu verkleinern habe ich
darauf verzichtet die Zuckungshöhen aufzuschreiben und also keine Schreib-
spitze am Hebel befestigt. Weil bei dieser minimalen Belastung die Span-
nung des Muskels sehr klein und also die Einstellung des Contactes sehr
schwierig war, habe ich in den betreffenden Versuchen auch Beobachtungen
gemacht, bei welchen entweder um die Axe oder um die an derselben
befestigten Rolle durch einen Faden ein Gewicht von 202m angebracht
war; die durch dasselbe bewirkte vermehrte Spannung des Muskels betrug
im ersten Falle 12%, im zweiten 2.58%, Der Muskel war stets uncura-
risirt; vor dem Beginn des Versuches fand keine Extradehnung statt. Der
Muskel wurde stets mit übermaximalen Oeffnungsinductionsströmen (1 Grove,
Rollenabstand = 0) gereizt.
In der zweiten Reihe dieser Versuche habe ich den Hebel I benutzt
und die Schwungmassen in der früher angegebenen Weise daran befestigt;
wie bei allen übrigen Versuchen mit alleiniger Ausnahme der eben be-
1 Vergl. Fick, Mechanische Arbeit und Wärmeentwiekelung bei der Muskel-
thätigkeit. Leipzig 1882. S. 120 ff.
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG,. 227
sprochenen wurde die Zuekung auf die registrirende Trommel aufgeschrie-
ben. Uebrigens wurden die betreffenden Versuche ganz in derselben Weise
wie in Reihe I ausgeführt.
Reihe I.
Minimale Masse und minimale Spannung.
Versuch 42. 20. Februar 1884. Muskel angehängt ohne Extra-
gewicht 10% 15; Beginn des Versuches 10% 307; Ende 11" 30°; Länge
des Muskels 30 9m,
| 1}
h tm | Latenzdauer |
Nummer Temperatuı se |
Hebel allein
92, $ Latenzdauer, Mittel 0-0037'
; z n 0 on Mittlerer Fehler + 0-0006”
: 0.0088 ı Wahrscheinlicher Fehler der einzelnen Be-
3 24.8 0-0037 obachtung + 0-0004”
4 95.1 0-0035 Wahrscheinlicher Fehler des Mittels
5 25.1 0-0050 un
17 25-0 0.0035
18 25-0 0.0039
19 25-0 0.0045
20 25-0 0.0032
21 25-0 0-0034
22 25-0 0.0031
28 25.0 0.0029
24 25-0 0.0035
Hebel +1-0:m,
6 25-1 0-0034 | 7 Mikklerer Weiler 0.0008"
T 25-1 0-0031 Wahrscheinlicher Fehler der einzelnen Be-
(6) ae 0.0039 obachtung + 0-0004
9 95.1 00032 ne Fehler des Mittels
10 25-1 0.0043
il 25-1 0-0034
12 25-05 0-0035
13 25-0 0.0047
14 25-0 0-0035
15 25-0 0.0050
16 25-0 0.0039
228
Versuch 44.
gewicht 3® 15’;
Muskels 28m,
Nummer
Temperatur
ROBERT TIGERSTEDT:
20. Februar
| Latenzdauer
| in Sec.
1884. Muskel angehängt ohne Extra-
Beginn des Versuches 3% 40°; Ende 4" 12’; Länge des
Hebel allem,
18.9 0-0047
18-9 0.0048
18-9 0-0051
18.9 0:0048
18-9 0-0047
18-9 0.0047
18-9 0.0056
18-9 0.0047
18-9 0.0047
18-9 00047
18-9 0.0053
Hebel + 1.0:m.,
18-8 0.0048
18-8 0.0053
18-8 0.0045
18:85 0.0048
18.9 0.0047
18.9 0.0048
18-9 0.0051
18-9 0.0047
18-9 0.0047
18.9 0.0050
19-9 0.0049
18.8 0.0048
18.8 0.0042
18.8 0.0048
Latenzdauer, Mittel 0-0049'
Mittlerer Fehler £ 0-0003”
Wahrscheinlicher Fehler der einzelnen Be-
obachtung + 0.0002"
Wahrscheinlicher Fehler des Mittels
+ 0-0001”
Latenzdauer, Mittel 0-0048°
Mittlerer Fehler # 0-0003'
Wahrscheinlicher a der einzelnen Be-
obachtung + 0-000
Wahrscheinlicher RES des Mittels
= 0:0001”
Versuch 45. 20. Februar 1884. Muskel angehängt ohne Extragewicht
4b 15’; Beginn des Versuches 4" 42°; Ende 5" 17’; Länge des Muskels 26mm,
Nummer | Temperatur Latenzdauer
in Sec.
Hebel allein.
I
” ittlerer Fehler .
2 17.9 0. 0050 Wahrscheinlicher Fehler der einzelnen Be-
3 17.9 0.0050 obachtung + 0-0003"
4 17.9 0.0051 Wahrscheinlicher Fehler des Mittels
5 17-95 0-0047 + 0.0001”
6 17-95 0.0050
Nummer
ÜBer DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG.
(Versuch 45.
Versuch 46. 21. Februar
Nummer
N
SOXODI9UPBVOD-
Do
De
“Hebel allei
Temperatur
in Sec.
Temperatur er
18-0 0.0050
15-0 0.0055
18-0 0.0049
18-0 0.0055
18-0 0.0045
17-9 0.0045
17-8 0.0048
17.8 0.0040
138 0.0053
17.8 0.0042
Hebel +1-0s5m,
18.0 0.0045
18:0 0.0040
18-0 0.0050
18:0 0.0050
18-0 0-0047 .
18-0 0.0048
17.95 0:0042
17-95 0.0045
17:95 00047
17.95 0-0055
17.9 0.0046
229
Fortsetzung.)
Latenzdauer, Mittel 00047"
Mittlerer Fehler £ 00004”
Wahrscheinlicher Fehler der einzelnen Be-
obachtung + 00003”
Wahrscheinlicher Fehler des Mittels
0-0001"
1884. Muskel angehängt ohne Extra-
gewicht 10% 20’; Beginn des Versuches 10" 35’; Ende 11® 17’; Länge des
Muskels 28 “m,
| Latenzdauer |
20-1
20-2
20-3
20.4
unmes
20-5
20.55
20-6
20-65
20-7
20-9
20-9
n.
0.0047
0.0039
0.0039
0.0042
sbar
0.0039
0.0051
0.0039
0.0037
0.0039
0.0034
0.0031
Latenzdauer, Mittel 0.0038
Mittlerer Fehler + 00005”
Wahrscheinlicher Fehler der einzelnen Be-
obachtung + 00003”
Wahrscheinlicher Fehler des Mittels
+ 0.0001"
230
ROBERT TIGERSTEDT:
(Versuch 46. Fortsetzung.)
Nummer | Temperatur ne
23 20.9 0.0032
24 20-9 0.0035
25 20.9 0.0032
26 20.9 0.0039
Zau 21-0 0.0034
28 21.0 0.0037
Hebel + 1.0: m.
1 a
: 004 ittlerer Fehler + 0-
12 20 3 0.0043 Wahrscheinlicher Fehler der einzelnen Be-
13 20.35 0.0039 obachtung + 0-0003''
14 20-9 0.0034 Wahrscheinlicher Fehler des Mittels
15 20-9 0:0042 + 0-0001”
16 20.9 0.0032
17 20.9 ' 0.0039
18 20.9 0:0037
19 20-9 0.0039
20- 20.9 0.0040
Versuch 47. 21. Februar 1834. Muskel angehängt ohne Extragewicht
11% 20°; Beginn des Versuches 11 43°; Ende 12% 18’; Länge des Muskels
2m
I
Nummer | Temperatur
|
Latenzdauer |
in
Sec.
-
OOSOQODÄAI9TROD m
Free}
atom
Hebel + 1.0.2,
21-5 0.0040
21-3 0.0042
21-35 0.0039
21-15 0.0055
21-1 0.0042
21-0 0.0043
20-9 0.0039
20-85 0.0048
20.8 0.0043
20.7 0.0045 °
Hebel + 2-5. m,
20-6 0.0040
20°6 0.0045
20-5 0.0037
20-5 0.0039
20.4 0.0045
Latenzdauer, Mittel 0-0044”
Mittlerer Fehler + 00005”
Wahrscheinlicher Fehler der einzelnen Be-
obachtung + 0.0003”
Wahrscheinlicher Fehler des Mittels
+ 0.0001"
Latenzdauer, Mittel 0-0040"
Mittlerer Fehler #0-0003'
Wahrscheinlicher Fehler der einzelnen Be-
obachtung + 0-0002”
Wahrscheinlicher Fehler des Mittels
= 0.0001”
- Beginn des Versuches 5R 15’;
Nummer | Temperatur
16 20.35
17 20.35
18 20-3
19 20-25
20 20.25
0
Latenzdauer
in
0:
0.
0:
Sec.
0041
0-0039
0037
0037
0035
(Versuch 47.
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 231
Fortsetzung.)
Versuch 50. 21. Februar 1884. Muskel angehängt ohne Extragewicht?
Ende 5% 48’; Länge des Muskels 29 mm,
Latenzdauer br
Nummer | Temperatur a
Hebel +1-08",
1 22.7 00037
2 22.8 00036
3 23-0 0.0039
4 | 000837
5) 23-15 00040
6 23.2 0.0039
rt. 23-3 0.0036
8 23.4 00035
9 23.4 0-0045
10 23.95 0.0039
11 23-6 0.0034
Hebel +2.5:m,
12 DIET 00040
13 2ou7. 00038
14 23°7 00037
15 231 00039
16 23.75 00031
17 2328 00035
18 23°8 00036
19 23°8 0-0037
20 238 0.0042
2] 23°8 00047
22 23:85 00036
Latenzdauer, Mittel 0-0038”
Mittlerer Fehler £ 0.0003’
Wahrscheinlicher Fehler der einzelnen Be-
obachtung + 0-0002”
Wahrscheinlicher Fehler des Mittels
= 0.0001"
Latenzdauer, Mittel 0-0038’
Mittlerer Fehler £ 0.0004
Wahrscheinlicher Fehler der einzelnen Be-
obachtung + 0:0003"
Wahrscheinlicher Fehler des Mittels
+ 0:0001”
& Wenn wir berücksichtigen, dass bei diesen Versuchen die Temperatur
in der Regel eine ziemlich hohe war (17.8° bis 25-1° C.), so können wir
' aus diesen Versuchen nichts anderes schliessen, als dass auch bei sehr ge-
232 ROBERT TIGERSTEDT:
ringer Masse die Latenzdauer nicht unter denjenigen Werth sinkt, den wir
bei der Anwendung des Hebels I in den früheren Versuchen gefunden
haben. Ferner sehen wir, dass eine kleine Vergrösserung der Spannung
des Muskels keinen Einfluss auf die Latenzdauer ausübt. Bei einigen Ver-
suchen ist sogar die Latenzdauer bei stärkerer Spannung kürzer, als bei
kleineren (vergl. Versuch 44, 45, 47); der Unterschied ist aber überall so
gering, dass er vollständig innerhalb der Grenzen der Versuchsfehler fällt,
und übrigens ist es leicht erklärbar, wenn bei sehr schwach gespanntem
Muskel, die nach meiner Methode bestimmte Latenzdauer zuweilen ein
wenig länger ausfallen würde, denn die Einstellung des zeitmessenden Con-
tactes ist unter diesen Umständen bedeutend schwieriger als sonst.
Reihe II.
Constante Spannung; die zu bewegende Masse wird bis zu
200% gesteigert.
Versuch 144. 19. Mai 1884. Muskel angehängt 1154);
des Versuches 12" 8°; Ende 12% 45’; Länge des Muskels 34 "m,
Höhe der
Beginn
Nummer | Temperatur Auekan 8 Tabenz pet
1 21.025 15°9 0-0051 a BE ea
9 21-8 16-3 0:0047 ur Hebel; Latenzdauer,
3 21-3 16-4 0.0048 Mittel! 0.0049"
4 DRS 26-1 0.0050 er
45 ; ım Schwungmasse;
: a 2 e 2 ” ae r | Latenzdauer, Mittel 0-0049'
7 unmessbar
8 216 7731-6 0-0051 100 grm Schwungmasse;
9 21-65 32-1 0-0052 Latenzdauer, Mittel 0-0051”
10 21-7 33-1 0-0050
ul 21-7 30-8 0.0050
12 21-75 30-6 0-0061 ee nn
; i £ rm Schwungmasse;
en a un Or Latenzdauer, Mittel 0.0051”
15 21-9 30-6 | 0.0048
Versuch 145. 19. Mai 1884. Muskel angehängt 5* 8°; Beginn des
Versuches 5# 23°; Ende 5" 53’; Länge des Muskels 25m,
Höhe der
Nummer , Temperatur Zuckung Tan
in Mm. ;
1 21.3 13-2 00058 en
© > : ur Hebel; Latenzdauer,
2 | 215 100 | 0-0068 en
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 233
(Versuch 145. Fortsetzung.)
Nummer | Temperatur che el |
in Mm.
3 4 _ unmessbar j |
x 5 u 2 : aka, | 40 grm Schwungmasse;
E 7 91.45 90-5 0.0053 | Latenzdauer, Mittel 0-0053”
; en > 4 | 100 grm Schwungmasse;
13 91.5 29.4 0.0064 | Latenzdauer, Mittel 0-0060"
N 5, > FR ne | 200 grım Schwungmasse;
12 | 21-5 39-9 0-0061 | Latenzdauer, Mittel 0-0060"
Versuch 146. 19. Mai 1834. Muskel angehängt 5" 58’; Beginn des
= Versuches 6" 14’; Ende 6" 45’; Länge des Muskels 35 "".
# Höhe der |
Nummer | Temperatur Zuckung an
in Mm. ;
1 20°45 18-5 0.0042 | N abacd
2 20-5 18-4 0:-0045 | ur eDe atenzAauer,
3 20-55 18-5 0-0085 Mittel 0-0044°
4 unmessbar
5) 2057 32-8 0-0053 1 =
e . .005 grm Schwungmasse;
: a $ | = en 5 | Latenzdauer, Mittel 0-0052°
8 20:75 39.7 0.0048 |
9 20-8 39.8 0.0040 100 grm Schwungmasse;
10 20-8 40:0 _ 0:0048 | Latenzdauer, Mittel 0-0050"
11 20-8 38-9 0.0064
12 20:9 40-0 0.0047 200 a
7 . erm Schwungmasse;
n = z Es ie n nn Latenzdauer, Nittel 0-0054”
Versuch 147. 20. Mai 1884. Muskel angehängt 10° 20°; Beginn des
Versuches 10" 42°; Ende 11® 12’; Länge des Muskels 33 "",
Höhe der |
Nummer | Temperatur Zuckung - en
_ in Mm. se:
1 20.6 20-1 0.0043
2 2120 20-1 0.0050 Nur Hebel; Latenzdauer,
3 21:0 20:5 0:0050 Mittel 0-0048”
4 21.0 20-6 0.0047
234 ROBERT TIGERSTEDT:
(Versuch 147. Fortsetzung.)
Höhe der
Nummer | Temperatur ne rn
5 21-1 5526 2 0700:0050° N
oT - b : grm Schwungmasse;
: a : m = { | i oo | Latenzdauer, Mittel 0-0044” |
8: 21-25 40.7 0.0050 A
2 004 ım Schwungmasse;
in En s 5 R f : 1 3 nn Latenzdauer, Mittel 0 0046”
1lıl 21.4 | 41-6 0.0047
12 21.45 | 41.2 unmessbar 200 grm Schwungmasse;
13 21608 41-4 0:0051 Latenzdauer, Mittel 0-0054”
14 21-6 41-4 0.0058
15 21.65 41.8 0.0058
Versuch 148. 20. Mai 1884. Muskel angehängt 12. 37’; Beginn
des Versuches 12" 40’; Ende 1% 0; Länge des Muskels 33 “m,
I}
Höhe der ST b
Nummer | Temperatur | Zuckung en ze |
in Mm. \
1 21-4 20-3 0-0043
2 21-5 20:0 0-0037 | | Nur Hebel; Latenzdauer,
4 1.8 32.7 0.0045
5 an .85 32.7 00048 | 407m Schwungmasse;
6 21.9 93.7 0-0042 Latenzdauer, Mittel 0-0043
7 2. 3.9 - O047
8 5 in n 0 ni 2 | 100 g:m Schwungmasse;
9 22.1 39.0 0.0042 Latenzdauer, Mittel 0-0044
1 22.1 39.1 0.0053
Mn 22.2 ae 0- iR 200 81m Schwungmasse;
12 29.2 95.5 0-0047 Bi Mittel 0-0049
Versuch 149. 20. Mai 1884. Beginn des Versuches 3" 38’; Ende
442’; Länge des Muskels 37 "",
Höhe der k
Nummer Temperatur Zuckung nn E
| N a Latenzdauer
5 ur Hebel; Latenzdauer
% % es | | Mittel 0-0038”
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 235
(Versuch 149. Fortsetzung.)
i Höhe der de u
— Nummer | Temperatur Zuckung Es Dia
4 in Mm. E
4 21-9 40-8 0.0051 |
5 21°9 42+3 0.0048 | 40 gm Schwungmasse;
6 29-0) 49.8 0-0056 ı | Latenzdauer, Mittel 0-0052”
7 22-1 43.2 unmessbar
‘ R 0) 5 R a 9) |
i sc a A | | . 100 grm Schwungmasse;
10 00.05 | 51.3 00048 | | Latenzdauer, Mittel 0-0045
3 51-4 0.0045
12 29.85 51-4 0.0048 | 202m Elan pnanad))
13 99.4 | 51-6 0:0039 | Latenzdauer, Mittel 0-0044
Diese Versuche lassen aufs deutlichste den Einfluss der Schwung-
"massen auf die Muskelthätiekeit erkennen; die Zuckungshöhe, ebensowie die
Zuckungsdauer steigen im höchsten Grade; der Hebel wird gewaltig in die
Höhe geschleudert und schwebt während des grössten Theils der Zuckung
ganz frei. Bei den von mir angewandten Muskeln erreicht das Schleudern
ihr Maximum bei 100m Schwungmaasse; bei noch vergrösserter Schwung-
Masse (2002%) ist die Wurfhöhe entweder unverändert (Vers. 146, 147,
149) oder kleiner (Vers. 144, 145, 148). Dabei zeigt es sich aber constant,
dass je grösser die Schwungmasse ist, um so länger ist die Zuckung, oder
Tichtiger die Zeit, während welcher der Hebel über die Abseisse emporge-
hoben ist; dies gilt auch in dem Falle, dass die Wurfhöhe bei grösserer
‚Schwungmasse kleiner wäre, wie bei geringerer.!
\ Von diesen Versuchen ist Vers. 144, Fig. 10 abgebildet;? wenn wir
aus den Muskeleurven die Latenzdauer bestimmen wollten, so könnten
wir nicht umhin, die Latenzdauer bei grösserer Schwungmasse bedeutend
länger zu finden. Die mittelst des elektrischen Signals gewonnenen Werthe
für die betreffende Zeit zeigen jedoch, dass eine derartige Bestimmung gar
nicht richtig wäre. Die oben mitgetheilten Versuche zeigen nämlich sämmt-
‚lieh, dass bei grösserer Schwungmasse die Latenzdauer freilich ein wenig
| zunimmt, dass aber diese Zunahme ausserordentlich klein ist; wir haben
! Vergl. Fick, Mechanische Arbeit und Wärmeentwickelung bei der Muskelthätig-
keit. Leipzig 1882. S. 110—130.
| Bj * Bei den Zuckungen 7 a und 12a (siehe umstehende Curve) hat das Signal nicht
| die Latenzdauer geschrieben, sie sind daher von der Versuchstabelle weggelassen.
f
236 ROBERT TIGERSTEDT:
Schwungmasse
144 ' 0.0049” 0.0049" 0.0051” | 0-0051”
145 0.0056” 0-0053° 00060” | 0.0060’
146 0.0044” 0.0052” 00050” 0.0054”
147 0.0048” 0.0044” 0.0046” 0.0054”
148 0.0044” 0.0043” 0:0044” 0.0049”
149 0.0038” 0.0052” 0-0045°. | 0.0044”
Der Unterschied der Latenzdauer bei Zuckung ohne Schwungmasse
(= Hebel allein) und mit 200 =” ist höchstens 0.001” (Vers. 146), sinkt!
aber bis zu 0.0002” (Vers. 144). Als Mittel aus nur wenigen Bestim- +
mungen haben diese Werthe natürlich keinen Anspruch auf eine derartigen ı
Genauigkeit, wie die früher mitgetheilten Versuche; darum zeigt sich auch ı
Fig. 10. Versuch 144.
zuweilen die Latenzdauer bei einer grösseren Schwungmasse kleiner als"
bei einer geringeren, wie besonders im Versuch 149. Diese kleinen Un-
regelmässigkeiten können aber unmöglich das Hauptresultat unsicher machen;
im Gegentheil zeigen die hier mitgetheilten Versuche vollständig bestimmt, .
dass, |
wenn die vom Muskel zu bewegende Masse bis zu 2008m
gesteigert wird, die Latenzdauer nur sehr wenig verlängert |
wird und zwar höchstens um 0-001”, wenn die Latenzdauer
beim ziemlich massenlosen Hebel mit derjenigen bei demselben ı
Hebel + 200 sm Schwungmasse verglichen wird. |
Bei durch äquilibrirte Massen gehemmter Zuckung wird also der
Beginn der Zuckung nicht merkbar verzögert; die Verzögerung findet da-
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 237
gegen im aufsteigenden Theil der einmal eingeleiteten Zuckung statt;
daher löst sich die Curve nur sehr langsam von der Abseisse ab und
bei alleiniger Betrachtung jener hat es den Anschein, als ob auch die
‘ TLatenzdauer dabei nicht unbeträchtlich verlängert wäre. Dies ist aber nicht
der Fall; man merkt dennoch sogar an der Signalcurve, dass die Zuckung
Jangsamer als sonst ansteigt, denn der Signalhebel wird nicht so schnell
) als sonst vom Elektromagneten vollständig losgelassen und es dauert also
‚eine längere Zeit, bevor die Exeursion des Signalhebels vollständig statt-
‚gefunden hat.
| Ich will mich hier auf die Frage von der mechanischen Arbeit des
' Muskels und deren Abhängigkeit von der zu bewegenden Masse nicht ein-
lassen; ich möchte aber nur bemerken, dass die hier mitgetheilten Erfahrungen
r ein, wie mir scheint, nicht unwesentliches Supplement bilden zu den Unter-
suchungen von Hermann über die Arbeitsleistung des Muskels bei ver-
‚ schiedener Belastung und minimaler Hubhöhe,! und denjenigen von Fick
‚ über den gesammten Arbeitsvorgang im Muskel.” Die nähere Betrachtung,
wie die Arbeitsleistung des Muskels durch die Veränderung des zeitlichen
Verlaufes der Zuckung, besonders in ihrem Beginn, beeinflusst wird, muss
für eine andere Gelegenheit verschoben werden.
Zehntes Kapitel.
Die Latenzdauer der Muskelzuckung in ihrer Abhängigkeit von
der Spannung des Muskels.
Place ist, meines Wissens, der einzige Forscher, welcher die Latenz-
‘dauer der Muskelzuckung in ihrer Abhängigkeit von der Spannung des
. Muskels rein, d. h. ohne Veränderung der zu bewegende Masse untersucht
hat. Bei einem nach der oben beschriebenen Methode angestellten
Versuche ohne Ueberlastung erhielt er, wenn die Anfangsspannung des
Muskels von O0 bis 375 sm schwankte, für die Latenzdauer Werthe, welche
zwischen 0.0038” und 0.0067” varirten. Die Latenzdauer war also
ziemlich wenig abhängig von der Anfangsspannung. Da die Arbeit von
Place, wie es scheint, nicht genügend bekannt ist, so erlaube ich mir, seinen
ersuch hier abzudrucken.
1 Hermann, Dies Archiv. 1861. S. 369—396.
> NER, Ei Or 08
338 ROBERT TIGERSTEDT:
Anfangsspannung Latenzdauer Mittel
Nummer Grm. Sec.
1., 31 0 0.0038 0.0051 0.0045
2., 30 25 0.0045 0.0054 0.0050
3, 29 50 0.0054 0.0063 0.0059
4. 28 75 0.0038 0.0054 0-0041
5., 27 100 0.0045 0.0054 0.0050
6., 26 125 0.0045 0.0045 0.0045
125 150 0-0045 0.0045 0-0045
S., 24 175 0-0054 0.0067 0-0061
Y 28 200 0.0054 0.0054 0.0054
10., 22 225 0-0063 0.0062 0-0063
Ill 250 0.0051 0.0063 0.0057
1220 275 0.0063 0.0056 0.0060
13., 19 300 0.0044 0.0054 0.0049
14., 18 325 0.0063 0.0063 0.0063
15,217 850 0.0054 0.0051 0.0053
16., 16 375 0-0063 0.0065 1
Systematische Bestimmungen der Latenzdauer bei einer gleichzeitig
mit der zu bewegenden Masse vermehrten Spannung sind von Mendels-
sohn, sowie von Yeo und Cash am Froschmuskel, von Richet am Krebs-
muskel ausgeführt.
Mendelssohn untersuchte, wie die Latenzdauer sich veränderte, wenn
bei Vergrösserung der zu bewegenden Masse dieselbe mittels eines elasti-
schen oder eines starren Zwischenstückes am Muskel angehängt wurde.
Im ersten Falle fand er die Latenzdauer unverändert, wenn die Belastung
von 30 bis 508% zunahm. Bei höherer Belastung nimmt die Latenzdauer
zu; ihre Zunahme ist aber nicht proportional der Belastung, sondern wächst
sprungweise: „ainsi, une charge de 50 grammes ayant determine un allonge-
ment de la periode latente, les charges suivantes de 55, 60, ete. n’augmentent
pas cet allongement; il faut arriver jusqu’a 75 grammes, par exemple,
pour qu’une nouvelle augmentation se produise. A partir de 100 grammes
environ jusqu’a 200, l’augmentation d&ja acquise ne s’exagere pas sensi-
blement, bien que le muscle soit soumis & des charges relativement con-
siderables“,
Wenn die Masse mittels eines starren Fadens am Muskel angehängt
war, nahm die Latenzdauer vom Anfang an stetig zu; die Zunahme war
kleiner bei grösseren Massen.?
Yeo und Cash fanden, dass bei grösserer Belastung die Latenzdauer
‘ Place, in Donders, Onderzoekingen gedaan in het physiologisch Laboratorium
der Utrechtsche Hoogeschool. Tweede Reeks. 1867—1868. I. p. 104.
? Mendelssohn, Travaux du Laboratoire de M. Marey. 1880. t.IV. p. 132—135.
Ä
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 239
stetig zunimmt, z. B. von 0.011” bei Hebel allein bis 0.018” bei 100 sm
\#
- Belastung. '
Richet giebt nur an, dass mit grosser Belastung die Latenzdauer
der Krebsmuskeln beträchtlich zunimmt.?
Meine Versuche sind nach der oben (S. 132) beschriebenen Methode
und zwar in zwei Reihen ausgeführt: in der ersten Reihe betrug die Anfangs-
‚ spannung 0 bis 100 2”, in der zweiten 100 bis250 8'”, Die Reizung geschah
“ durch übermaximale ne uleiionscchiaee (1 Grove, Rollenabstand
= 0); der Muskel (M. gastroenemius) war stets uncurarisirt. Vor der Reizung
wurde der Muskel während 10 bis 15 Minuten durch eine etwas höhere
Spannung als diejenige, bei welcher die ersten Reizungen geschahen, ge-
_ dehnt. Bei jedem Grade der Spannung wurden 3 oder mehr Bestimmungen
“
ü B
'
&;
=
I 4
|
gemacht. Wenn, nachdem diese Bestimmungen gemacht worden waren, die
Spannung vergrössert werden sollte, liess ich, bevor der Versuch weiter
fortgesetzt wurde, den Muskel während 5 en unter einer um 10 gm
(Reihe I) oder 25s'm (Reihe 2) höheren Spannung stehen, damit die in
- Folge der stärkeren Spannung bewirkte Nachdehnung möglichst ausgeschlossen
werden sollte. Bei einigen Versuchen bin ich vom Maximum der zu unter-
suchenden Spannung ausgegangen; es hat sich herausgestellt, dass die Er-
gebnisse einerlei sind, ob man von dem niedrigsten oder von dem höchsten
_ Grade der Spannung beginnt.
Reihe I.
Versuch 121. 30. April 1884. Muskel angehängt bei 10 °°% Spannung
| 4" 50°; Beginn des Versuches 5" 14°; Ende 6® 5’; Länge des Muskels 39".
Höhe der
u es
1 14-9 2-1 | -0051
2 14-9 n ol ” es | Spannung ungefähr 5 Bm;
3 14-9 12.2 0-0055 Latenzdaner, Mittel 0-0053
4 15-05 14-1 0:0053 | i ”
b) 15-05 14-3 0.0059 N
6 15-05 14-4 00063 Latenzdauer, Mittel 0-0058
7 15-15 14-5 0.0059 | a Re
8 15-15 14-8 00055 pannung zu,
9 15-15 14-9 0.0059 Latenzdauer, Mittel 0- 0058”
10 159-2 15.0 0-0058 | & En
11 15-2 15.9 0:0056 pannung 60cm; —
12 15-2 15-2 0-0056 Latenzdauer, Mittel 0-0057
13 15-2 15-3 0.0058 | R u
14 15-2 sen! unmesshar pannung SOem; —
15 15-2 15-2 0-0061 Latenzdauer, Mittel 0:-0059
1 Yeo and Cash, Proceedings of the Royal Society of London. 1881. Vol. 33.
p. 465—466; — Vergl. auch Journal of physiology. 1883. t. IV. p. 203—205.
? Richet, Archives de physiologie. 1879. t. VI. p. 278 u. 279.
240 ROBERT TIGERSTEDT:
Versuch 123. 1. Mai 1884. Muskel angehängt bei 10:"= Spannung
11" 50; Beginn des Versuches 12% 8; Ende 1" 0’; Länge des Muskels
34mm,
Höhe der
ß Latenzdauer
Nummer | Temperatur Auch Se
1 15-4 9.7 0-0047 & a
a 1 x annung ungefä grm,
: n hs ai ion | Detenndate Mittel 0-0052”
4 1526 12.2 0-0069 | |
R Spannung 20 grm;
2 ” : 0. ne | N Mittel 0-0062”
7 15-7 12.9 00059
8 15-7 13-0 0-0058 Spannung 40 Bm;
9 15265 13-0 0-0059 Latenzdauer, Mittel O- -0059
10 15-6 13:0 0.0058
11 15-6 13-2 0.0071 Spannung 60 srm;
12 15-6 13-3 0-0055 Latenzdauer, Mittel 0- 0060”
13 15-6 1322 00058
14 15.6. 13-1 0-0061
15 15-6 13-3 0.0056 Spannung 80 grm;
16 15-6 13-3 0:0071 Latenzdauer, Mittel 0-0063”
1% 15-6 13-5 unmessbar
18 15-6 12.9 0:0058 & in
A 1 annun grm;
ss re . 4 = Di ne ee Mittel 0-0056”
Versuch 124. 2. Mai 1884. Muskel angehängt bei 108” Spannung
11% 43’; Beginn des Versuches 11" 59; Ende 1? 9; Länge des Muskels
Se,
Höhe der
} x Latenzdauer
Nummer | Temperatur un: user
1 14- 6.4 -0061
2 a 6-1 oe | Spannung ungefähr Sem;
9 13-95 6-0 0-0066 j Latenzdauer, Mittel O- 0063
4 14-05 112627 77.020053 s Be
5 14-05 12-3 000553 Bang SVEN R.
6 14.05 Dos 0-0055 Latenzdauer, Mittel 0: 0054
7 unmessbar
8 14-1 1392 0.0050 Spannung 40 rm;
9 are 13.4 0-0059 Latenzdauer, Mittel 0- .0055”
10 1lesaıı 13-5 0:0055
Lil 13-9 do 0-0061 ä a
12) 13-9 13-8 0.0059 a
13 13-9 13-8 0-0061 Latenzdauer, Mittel O- 0060
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG.
241
(Versuch 124. Fortsetzung.)
Nummer
14
15
16
1%
18
19
Versuch 125.
2. Mai 1884.
Mittel 0-0056
Spannung S0grm;
Latenzdauer,
Spannung 100 grın;
| Latenzdauer, Mittel 0-0061”
Höhe der Latenzdauer
Temperatur Zuckung ns
Temperatur In Alm. te
13-95 14-3 0% 0055
13-95 14.5 0.0051
13-95 145 0.0061
14-0 14-9 00057
14-0 149 0.0059
14-0 unmessbar | 00066
Muskel angehängt bei 10°” Spannung
3h 40°; Beginn des Versuches 3%59’; Ende 4" 48’; Länge des Muskels 33 vm
Nummer | Temperatur | Zuckung nn
in Mm N : 8
1 13-6 10°6 00061 | S RL.
92 13-7 10-5 00056 pannung ungefähr 5erm;
3 13-7 10-5 0-0055 | Latenzdauer, Mittel 0.0057
4 13°8 16 0°0067
5 13-8 14176 00066 Sp annung 20 grm;
6 1338 11-5 00055 Late edaen. Mittel 0-0062"
7 13°85 28 00059
(6) 39 Ill os 00067 x I;
9 13-9 1 O6) 00067 pannung 40 erm;
10 13 -9 Is 00063 en Mittel 0- 0066”
l 13-9 1102! 0°0063 N m
12 1a) 11-4 00061 pannung 60 8m;
13 13-9 1:5 00067 . | Latenzdauer, Mittel 0- 0064”
14 140 110) 00061 a Be
15 140 10:9 0-0064 pannung 80 sım;
16 14-0 10:9 0-0063 | Latenzdauer, Mittel 0» 0063”
ed 14°0 10.4 00067
15 140 1025 0-0056 S 0
19 14-0 10-3 0-0064 pannung grm;
20 14-0 10-2 0:0064 Latenzdauer, Mittel 0- 0063”
21 14-0 unmessbar | 0-0063
Versuch 128.
3. Mai 1884. Muskel angehängt bei 30 sı” Spannung
9» 40’; 959’ Spannung 110m; Beginn des Versuches 10% 4’; Ende 10635‘;
Länge des Muskels 32 mm,
Höhe der
Latenzdauer
Nummer |, Temperatur Anke in Sek
1 13-3 12-8 0-0069 : =
. . :-005 yannung grm;
: ne a ice atenrdarer, Mittel 0.0064”
Archiv f. A.u. Ph. 1885. Physiol, Abthlg. Suppl.-Bd.
16
242 ROBERT TIGERSTEDT:
(Versuch 128. Fortsetzung.)
Höhe der
Nummer | Temperatur Auekung | \ :
4 13.5 13.2 0.0074 ]
b) 13-5 230% 0-0064 ı Spannung 80 grm;
6 13-55 13.2 0-0066 | Te Mittel 0-0068”
7 13-65 13-7 0.0063 |
6) 13.7 13-6 0.0063 Spannung 60 grm; #
9 13-7 13-6 0: 0064 | Latenzdauer, Mittel 0-0063
10 13-8 14-0 0.0063
ill 13.8 13-9 0-0059 Spannung 40 em; B:
12 13-85 13-9 0:0068 Latenzdauer, Mittel 0-0062
118 13-9 14-2 0.0058 R
13-9 0 a spannung 20 grm;
ie es u | MB Mittel 0-0059”
16 13-95 13-2 0.0059 S =
o ; I pannung ungefä grm;
n 5 2 2 2 5 N nn | | Latenzdauer, Mittel 0.0057"
Versuch 129. 3. Mai 1884. Muskel angehängt bei 30 sm Spannung
10% 40°; 10% 55° Spannung 1108"; Beginn des Versuches 11" 0’; Ende
11% 35’; Länge des Muskels 33 “m.
| Höhe der a
Nummer | Temperatur | Zuckung ALEDZEAUST
| in Mm. in Sec.
1 14-1 10-4 0.0068 || 5 B:
2 14-2 10.5 0-0066 pannung 1008m;
3 14-2 10-4 0-0063 | Latenzdauer, Mittel 0-0064
+ 14-25 10-5 0-0064 s ir
5 14-8 10-5 0:0072 pannung SOsm;
6 14-3 105 0-0067: | | Tatenzdauer, Mittel 0-0068
7 14-3 10-6 0-0074 h A
eo) 14-35 10-5 00067 pannung 60m;
9 14-4 10-4 0-0064 Bee: Mittel 0-0068
10 14-55 10-5 0:-0072 & En
11 14.62 2000-3 0:0063 pannung 408m;
12 14-6 10-2 0-0067 | Latenzdauer, Mittel 0-0067
13 14-65 9.9 0-0061 s >
14 14lo7 9.7 0-0056 pannung gm; a
15 14-7 Mo 0-0058 at Mittel 0.0058
14-8 7-3 0061
1 14-8 6-8 oe | Spannung ungefähr 58m;
DI
18 14-8 6-6 0-0061 Latenzdauer, Mittel 0-0062
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 243
F Versuch 130. 3. Mai 1834. Muskel angehängt bei 110 «m Spannung;
Beginn des Versuches 12" 9; Ende 12" 30’; Länge des Muskels 33 "m,
Höhe der
Nummer | Temperatur AN urE Zunlenztlaner
Bas) 11:0 |] 0.0064 : En AB
R | a £ Jannung zum ;
: ss M “ anas Tate aner, Mittel 0-0062”
. ; Spannung 80 grm;
. > 2 ia alle | Latenzdauer, Mittel 0-0064”
4.7 labt 0-0055
$ 14 unmessbar I N Ebunnung 160 7 2
7 14-7 11-9 0:0063 | atenzdauer, Mittel 0-0059
8 14-7 12.3 0.0055 ER 2408
9 14-7 a! 0-0058 ns, n; SL
10 14-7 12-1 0:0064 N Mittel 0-0059
11 14-7 12-5 0-0055 | N ni006
12 14-7 12.4 00055 a EN
13 14.7 12-5 0-0053 Imasuantr Mittel 0-0054”
. 147 11-8 0-0053
1 14.7 ililee 0-0050 | Spannung ungefähr 5 u
16 14-7 115 0-0047 Latenzdauer, Mittel 0-0050
Reihe II.
Versuch 161. 6. August 1884. Muskel angehängt bei 1258”
Spannung 5" 40°; Beginn des Versuches 5% 45’; Ende 6% 17’; Länge des
Muskels 39",
E}
Höhe der
F \ , Latenzdauer
I Nummer. | Temperatur Auen ge
I 9.5 - 0039
I > =E 9-5 \\ i Spannung 100 er; We
N 3 03.9 9-6 | 0-0043 | atenzdauer, Mittel 0-00
Ei / | 3.9 } | .
ee
2 6 23-2 8.4 0-0045 | Eu
'# U 23-1 8:2 00042 nude 300
| S 23-1 8-1 00047 Bu SUB R-
| s 9 93.1 S-1 0-0056 Latenzdauer, Mittel 0 - 0048
| 10 23.05 7-5 0-0045 3 Da
ill 23-05 7-4 0.0047 pannung ZU Sm,
12 93.05 Te 0-0047 Latenzdauer, Mittel 0- 0046
16*
244
Versuch 162.
Spannung 6" 34°; Beginn des Versuches 6" 40; Ende 7411;
Muskels 40 m,
ROBERT TIGERSTEDT:
6. August 1884.
Muskel angehängt bei 125 em
Länge des
Höhe der
Latenzdaner
Nummer | Temperatur Zuehunz ge |
s 22 ” "is | 0.0039 | | Spannung 1003;
3 29.65 8.8 0-0042 | | Latenzdauer, Mittel 0-0041”
4 22.65 Ze) 0-0045 | S De
5 22.65 MS 0-0043 pannung 150°;
6 99.65 7.8 0-0042 | | Latenzdauer, Mittel 0-0043"
7 22.5 1.2 0.0042 |
8 22.5 oil 0:0055 | | N Daun 200 8m;
9 99:5 7-0 | 0.0050 | atenzdauer, Mittel 0-0049"
07 A 6:4 0.0045 | \ S eh
11 22.4 6.3 0-0050 .
12 99.4 a) 00048 B Latenzdauer, Mittel 0-0048
Versuch 163.
8. August 1884.
Muskel angehängt bei 125 2m
Spannung 12% 23°; Beginn des Versuches 12% 30°; Ende 1# 2°
Höhe der 2
1 : Latenzdauer
Nummer | Temperatur Zuchns Inlose,
il 22-1 10-1 0.0042 i Fr
2 DDEN 10-0 0-0039 | pannung 100°”;
B 92-15 10-0 0-0040 Latenzdauer, Mittel O- 0040"
: 5 Ss Re a 1508m;
6 29-15 8.7 0-0053 Latenzdauer, Mittel 0-0049"
7 22.2 (625) 0.0051
fe) 22-2 7-5 0:-0045 | RE a BR
9 | 29.92 TEA 0:0045 | atenzdauer, Mittel 0-0047”
10 | 22:2 6-4 0-0053 | : SE
I 722225 6-3 0-0048 pannung 250 sw;
12 | 29-8 es 00056 | Latenzdauer, Mittel 0-0052
Versuch 164. 8. August 1884. Muskel angehängt bei 125 s’= Spannung.
Höhe der |
ı Latenzdauer
N era Te t Zuckung
ummer mperatur Br kun | DR
1 ale 10:3 0.0047 B A
2 FANOT« 10.2 | 0.0043 | pannung 1008%;
3 91-7 102022 00.00008 | Latenzdauer, Mittel O- 0043”
|
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG, 245
I Höhe der
| \ al Latenzdauer |
4 Nummer | Temperatur aneFine Ben;
E | Ä n Sn Ts | Spannung 150 #
| 6 | 91 ‚75 8. 5 00048 Latenzdauer, Mittel 0-0044”
{ ia Se 5 Ri | | Spannung 200F";
9 91.75 8.2 0-0047 | Latenza auer, Mittel O* "0046"
“ a x | ande | Spannung 250°”; L
12 21-8 6-8 | messbar | Latenzdauer, Mittel 0.0056
— zusammen.
| Ich stelle hier die mittlere Latenzdauer der eben angeführten Versuche
Reihe I.
u Latenzdauer bei einer Spannung von
Versuch 5) grm 20 gım 40 gım | 60 grm s0 Er 100 grm
121 0.0053 | 0-0058 ' 0-0058 | 0°0057 | 00059 —
= 123 | 0.0052 | 0.0062 | 0°0059 | 0-0060 | 0.0063 00056
5 124 0.0063 | 0-0054 , 0-0055 | 0-0060 | 00056 00061
* 125 0-0057 | 0°0062 0.0066 0°0064 00-0063 00063
128 0-0057 | 0°0059 ' 0-:0062 0.0063 | 0.0068 00064
129 0.0062 | 00055 , 00067 0.0068 00068 0.0064
130 0-0050 ı 0:0054 | 0°0059 ' 00059 | 0.0064 00062
Ä Reihe II.
Versuch Ne Bar u anne von ee
161 0.0044 0.0044 | 0.0048 00046
162 0.0041 | 0.0043 | 0.0049 00048
163 ı 0.0040 | 0.0049 | 0.0047 | 0.0052
164 00043 | 0:0044 | 0.0046 00056
Aus der ersten Reihe geht hervor, dass die Latenzdauer, wenn die Anfangs-
spannung des Muskels von 5 bis 100 em inel. gesteigert wird, nur äusserst
unbeträchtlich zunimmt; der Unterschied zwischen den kleinsten und den
grössten Werthen ist nämlich im Versuch 121 um 0°0006”, im Versuch
123 0-0011”, im Versuch 124 0:0007” (wenn wir von der ersten Gruppe
bei 5m Spannung absehen), im Versuch 125 0.0009”, im Versuch 128
0.0011”, im Versuch 129 0.0010” und im Versuch 130 0.0014”. Die
Unterschiede betragen also höchstens 0-0014”, sind aber im Mittel nur
-
246 ROBERT TIGERSTEDT:
0°0010”. Dabei ist noch zu bemerken, dass die Latenzdauer mit der
Anfangsspannung nicht stetig zunimmt, sondern sie zeigt bei den verschie-
denen Spannungen Schwankungen, welche von den unvermeidlichen Fehlern
bei derartigen Bestimmungen abzuleiten sind. Alles in Allem lehren also -
die Versuche der Reihe I übereinstimmend mit dem Ergebniss von Place,
dass die Latenzdauer der Muskelzuckung bei einer Anfangsspannung von
5 bis 100 sm ziemlich dieselbe ist,
Dies Ergebniss wird in vollständigster Weise durch die Reihe II be-
stätigt, denn hier zeigt sich, dass die Latenzdauer bei einer Anfangsspannung
von 100 bis 250 8” im Mittel nur um 0.0009 zunimmt. Wir können
also behaupten, dass
wenn die Anfangsspannung des Muskels zwischen 5 und
100%, und zwischen 100 und 2508"® schwankt, die entsprechende
mittlere Latenzdauer nur um ungefähr 0.001” schwankt; prak-
tisch ist sie also, innerhalb dieser Grenzen, unabhängig von der
Anfangsspannung.
Den Einfluss höherer Anfangsspannungen zu studiren, scheint mir
beim Froschmuskel keinen besonderen Zweck zu haben, denn eine Anfangs-
spannung von mehr als 250.” hat der Froschgastroenemius im Leben
gewiss nie zu überwinden.
Die Versuche der ersten Reihe zeigen aber noch eine andere interes-
sante Eigenschaft. Wenn Place die Anfangsspannung von O bis 252m
vermehrte, fand er, dass die Zuckungshöhe, trotzdem während der Zuckung
die zu überwindende Spannung immer stärker wurde, dennoch zunahm
(a. a. O.), und es ist wohl eine ziemlich allgemein beobachtete Thatsache,
dass ein genügend gespannter Muskel bei derselben Reizstärke eine höhere
Zuckung als ein zu wenig gespannter ausführt. Bei Anwendung eines
federnden Schreibhebels ist dies insofern merkwürdiger, als die Spannung
während der Zuckung stetig zunimmt und der zu überwindende Widerstand
also immer weiter wächst. Aber Place hat schon gefunden, dass auch
bei dieser Versuchsanordnung die Zuckungshöhe zunimmt, wenn die
Spannung von O bis 258m steigt.
Bei einigen unter den Versuchen der Reihe I wächst aber die Zuckungs-
höhe nicht nur, wenn man von einer Anfangsspannung von 52” zu einer von
20 sm übergeht, sondern noch weiter, wenn die Anfangsspannung von 20 bis auf
4089 wächst. Die Zunahme der Zuckungshöhe ist hierbei nicht unbe-
deutend, die Zunahme der Arbeitsleistung natürlich noch grösser. Im
Versuch 123 ist die mittlere Zuckungshöhe bei 5m Spannung 9-7, bei
20 8@ 12.2, bei 40Sm 13 "m und wächst bei noch stärkerer Spannung
noch ein wenig. Im Versuch 124 haben wir bei 5sm 6-2, bei 208m 12-8,
bei 408m 13-4, bei 60 8%. 13.8, bei SOSTm 14.4 und bei 100 8m 14.9",
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 247
also einen stetigen Zuwachs während des ganzen Versuches. Auch wenn
der Versuch bei der grössten Spannung anfängt, wiederholt sich dieselbe
Erscheinung; im Versuch 129 ist bei 40 =" Spannung die Zuckungshöhe
im Mittel 10.3, bei 20®"® 9.7 und bei 5erm nur 6.9 mm,
Ich wage es nicht einen Erklärungsversuch dieser merkwürdigen Er-
scheinung zu entwerfen, ich möchte aber noch einen Umstand, welcher
vielleicht hier von irgend einer Bedeutung sein mag, hervorheben. Wenn
wir den zeitlichen Verlauf dieser Zuckungen berücksichtigen, so finden wir,
dass die Zuckungscurve nicht die gewöhnliche Form der Muskeleurven be-
sitzt, denn sie zeigt in ihrer Mitte eine Einbiegune, nach welcher sie sich
wieder erhebt. Als Beispiel mag die Curve Fig. 2, Taf. XI dienen; sie
ist eine genaue Copie des Versuches 123. Ich will den ersten aufsteigenden
Theil der Curve als die primäre Erhebung, den zweiten als die secun-
däre Erhebung bezeichnen. Die mitgetheilte Curve zeigt, dass die Ursache
der stärkeren Zuckungshöhe bei stärkerer Spannung grösstentheils darin
liest, dass die secundäre Erhebung innerhalb gewisser Grenzen stetig wächst.
Um dies noch deutlicher hervortreten zu lassen, stelle ich die Höhe der
primären Erhebung, die gesammte Höhe der Zuckung und den daraus
berechneten Werth der secundären Erhebung hier zusammen. Weil sich, wie
die Fig. 2, Taf. XI mitgetheilte Curve zeigt, bei höherer Anfangsspannung
die Kuppe der primären Erhebung nicht vollständig frei von der Umgebung
abhebt, habe ich nur die Zuckungen bei einer Anfangsspannung von 5
bis 40 sm hier aufgenommen.
Höhe der | Gesammt- | Höhe der
= 2 B ne Bas an a en |
= T. ö
= | uckune |; Ma | mM. | in Mm.
123 a I ee) 1221 1-1
| 2er‘ 2 ee | Spannung igefähr Sec
8. NOS 12:2 1-3
Aare tl 14-1 3.0 |
5 le 1423 3:2 | Spannung 20:
6 11.0 144 3.4
7 11-0 14°5 3.8
6) LOST 148 | 4.1 | Spannung 408m
9 1028 14-9 4.1
122 1 8.4 84 —!
2 Pen 82 _ Spannung ungefähr 5ew
3 8:2 832 —_
ı Durch die seeundäre Erhebung wird die Gesammthöhe der Zuckung nicht ge-
steigert.
#
248
ROBERT TIGERSTEDT:
| Höhe der Gesammt- | Höhe der
= | ae an ne der seeundären
- B n
= 1 Zuckung | Sn Mn | a Man | m une
122° 4 8.4 10-3 1-9 |
5 8.4 1052 1-8 Spannung 208m
6 are |
123 1 9.7 ERTL — 1
| 2 9.7 9-7 a | Spannung ungefähr 5 sm
3 9-8 9.8 —
4 10-5 1222 1-7
5 10-5 12-2 OR ER | Spannung 208m
6 10-5 11202 1-7
7 10-1 12-9 2.8
Ro) 10.1 13.0 2.9 Spannung 40m
| 9 10-1 13.0 2.9
125 | 1 8-8 10-6 1-8
| 2 8.7 10-5 1-8 Spannung ungefähr 5em
3 8.7 1055 1.8
4 8.7 11-6 2.9
: = Er on | Spannung 208"
7 8-5 10S 3.3
128 18 9.9 13-2 3.3
RAS 10.0 13°2 3.2 Spannung ungefähr 5sm
I 16 10.0 11992 3-2
I 18) 9.6 14-0 4.4 |
14 9.6 14-0 4.4 Spannung 208"
13. 9.7 14-2 4.5
129 18 6-3 6°6 0-3
17 6-6 68 0-2 Spannung ungefähr 5s=
16 6-9 73 0-4
15 6°9 I=5 2.6 \
14 7.0 IT 2.7 Spannung 20°"
13 7-0 ge) 2.9 }
130 16 88 11-5 2.7
15 88 116 2.8 Spannung ungefähr 5m
14 8.9 18 2.9 |
13 85 12-5 4.0 |
12 8:6 12-4 3-8 Spannung 20°"
11 8.4 12-5 4.1
Worin liegt aber die Ursache dieser secundären Erhebung, von welcher
man bei gewöhnlichem Schreibhebel in der Regel keine Spur wahrnimmt?
‚Meines Erachtens liest sie darin, dass der Gastrocnemius aus zweierlei
! Siehe die Anmerkung auf voriger Seite.
*
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 249
Fasern zusammengesetzt ist. Ich habe es nicht nöthig, hier die oben eitirten
- Untersuchungen von Ranvier, Kronecker-Stirling und Grützner
nochmals zu referiren. Ich möchte nur bemerken, wie der gesammte Ver-
lauf der uns jetzt beschäftigenden Zuckungen für die daselbst näher ent-
- wiekelten Ansichten spricht, und demgemäss muss ich als Ursache der
‚seeundären Erhebung den trägeren Zuckungsverlauf und» die grössere Latenz-
- dauer der rothen Muskelfasern bezeichnen. Wenn der Muskel durch eine
- gespannte Feder belastet ist, können die zuerst sich zusammenziehenden
weissen Muskelfasern den Schreibhebel nicht mit solcher Geschwindigkeit
wie sonst in die Höhe schleudern, auch die trägeren rothen Fasern können
‘daher in der Form der Curve sich geltend machen.
Die Thatsache, dass der Muskel aus zweierlei Fasern zusammengesetzt
ist, erklärt also sehr einfach verschiedene Sonderbarkeiten, welche bis jetzt
‚aller Erklärung gespottet haben. Ich brauche nicht die hier sich an-
knüpfenden, von früheren Forschern wie z. B. Funke! gefundenen That-
sachen näher zu discutiren, weil schon Grützner a. a. OÖ. dieselben aus
- diesem Gesichtspunkte berücksichtigt hat und wir wahrscheinlich in der
nächsten Zukunft ausführlichere Mittheilungen von ihm erwarten dürfen.
Nach den eben mitgetheilten Erfahrungen über die relative Bedeutung
der blassen und rothen Muskelfasern für den Zuwachs der Zuckungshöhe
bei stärkerer Anfangsspannung sehen wir, dass die rothen Fasern dabei
“den grösseren Antheil haben. Bei stärkerer Anfangsspannung wird also
- vorzugsweise die Thätigkeit der rothen Fasern begünstigt. Diese That-
sache steht in Uebereinstimmung mit der Erfahrung von du Bois-Rey-
mond, nach welcher die Leistungsfähigkeit, die Ausdauer u. s. w. eines
Froschgastrocnemius stärker ist, je röther er ist,” d. h. je mehr rothe Fasern
= er besitzt.
Uebrigens will ich bemerken, dass ich bei einem einzigen Versuch
eine Andeutung einer tertiären Erhebung beobachtet habe (Versuch 124,
- vel. Taf. XI, Fig. 3). Wie diese Erscheinung, welche ich nur ein einziges
- Mal gesehen habe, zu erklären ist, ist mir ganz dunkel.
Elftes Kapitel.
Die Latenzdauer des Gesammtmuskels und des
Muskelelementes.
In den vorhergehenden Abschnitten dieser Untersuchung habe ich dar-
zustellen gesucht, wie die Latenzdauer der Muskelzuckung von verschiedenen
ı Funke, Pflüger’s Archiv u.s. w. 1873. Bd. VII. S. 236 u. 237.
° Grützmer, Recueil zoologique suisse: 1884. t.1. p. 670.
250 ROBERT TIGERSTEDT:
Variabeln abhängig ist. In diesem Kapitel will ich zuerst untersuchen,
wie gross die Latenzdauer des gesammten Froschgastrocnemius in der Regel
anzunehmen ist, um dann der Frage von der Latenzdauer des Muskel-
elementes ein wenig näher zu treten.
Um einen bestimmten Ausgangspunkt für unsere Betrachtungen zu
erhalten, werde ich- zunächst die Mittelwerthe aller meinen Versuche über
die Latenzdauer bei übermaximaler Reizung und Oeffnungsinductionsströmen
hier zusammenstellen. Freilich sind die Belastung und die zu bewegende
Masse bei diesen Versuchen nicht dieselben gewesen, denn bei einigen habe
ich den Hebel I, bei anderen den Hebel II und wiederum bei anderen den
federnden Schreibhebel benutzt, ich glaube jedoch, dass sie unter einander
vergleichbar sind, denn es hat sich bei meiner Untersuchung ja heraus-
gestellt, dass, wenn die Unterschiede in der Spannung oder der zu bewegen-
den Masse nicht zu gross sind, die Latenzdauer der Muskelzuckung nur
unbedeutend varürt. Die jetzt folgende Tabelle enthält alle Angaben, welche
nöthig sind, um die Resultate ‘unter einander zu vergleichen, nämlich die
Temperatur, die Zuckungshöhe, die Art der Belastung, die Stromstärke in
der primären Strombahn, den Rollenabstand, die Anzahl der einzelnen
Beobachtungen, welche dem Mittelwerth der Latenzdauer zu Grunde liegen.
| | | RS
Kt | 25 as: 8 |
s = Höhe der Ss, | Art der’ 228 = | re
< E 2 ‚Tempexatur Zuckung ey Belastung 82. ST | Beobach-
j = in Mm. 2®0| 2ER =ı 2.8
32 3353| 38= = tungen
z Sram Se
Jan. 1 |14-2 —14-8 | 10-1—10-8 |0-0060) Hebel I 1 0.71 See
2 |18-6 —19-0 | 16-8—18-5 |0-0043| x 1 | 13
3 117-0 —18-05, 8-0— 9-0 00067 < 1, 10 15
4 |15-3 —16-6 | 9-1—10-7 |0-0063| 10 14
5 j16-1 —17-2 | 11-0-—12-3 |0-0052 a 1 0 16
6 [16-3 —16-9 | 12-9—13-4 |0-0051 "= 1 0 15
7 116-3 —16-7 | 16-2—16-9 |0-0057) = 1 Dan 14
8 |15-55—16-55 10-4—11-2 |0-0056 H 1 0 17
9 15-9 —16-55 12-5—13-6 |0-0055 RL { 0 15
Febr. 10. |13-3 —14-6 | 15-5—16-5. |0-0061 a 1,000 14
11 |15-0 —15-45| 14-5—15-7 |0-0061 R 1. 21,08 9
12 12-2 —ı2-5 | 13-1—14-5 |0-0064|. , er! 11
13 |12-8 —13-0 | 13-3—13-7 |0-0070 & 122 007 11
15 |13-8 —14-6 | 12-1—12-9 |0-0057 “ ie 00% 15
16 14-8 —15-1 | 10-1—11-0 00055 T 1 8110-9 17
17 |ı18-0 — 18-2 | 9-1— 9-7 |0-0054 e rs 14
18 |17-2 —17-35| 13-3—14-1 |0-0048 S 108 13
19-2|47-1 —17-2 | 7-4— 7-8 |0-0056 * 1,009 17
20. |14-75—16-1 | 13-8-14-3 |0-0055 & 17. 1088 14
231 115-75—16-4 | 11-7—12-5 |0-0055 = 10907 16
37 eirea 29-0 = 0-0033 Hebel II 1 0 13
40 |16-6 —17-0 Zen 0.0058 St 1 0. 13
A en 1548 BR 0-0050/Hebel II. + 1-08 w| 1 0 S
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 251
8 38 EEE
Sn 2 . (ER | SHo2|.8 Zahl der
8 BIS | m ARE Höhe der Aa | Art der “25 2A | einzelnen
8 | 33 | Temperatur | Zuckung | „'” Belastun 80... 3” | Beobach-
= E in Mm. 55 8 2a 3 2
= Sa] Eine m tungen
zz» 58 SER g
Ha 4. 2, ne IL SPEER m N: Bm lu re
IBebr.| 42 |23-75—25-0 | _ 0-0037 Hebel II N 0 13
4 43 |22-75—22-95 — 0-0040 Hebel I +1-0s8= 1 .- 0 11
44 [18-9 - 0-0049 Hebel II al: Ba a) 11
45 /17-9 —1S-.0 — 0-0047 Hebel II + 1-0°=| 1 0 11
| 46 120-1 —21-0 = 0-0088 Hebel II 1.0620 18
| 47T |20-25— 20-6 = 0-0040 Hebel I + 2.559 1 | 0 10
| 485 19-8 —20-1 — 0-0039| Hebel IH + 2-52” 1 0 10
| 49 |23-25—23-45} — 0-0036 Hebel II + 252m 1 0 11
| 50 122-7 —23-6 = 0-0038 Hebel II + 1-0®”| . 1 0 11
März | 69 |17-2 —17-3 | 15-0—15-3 10-0044 Hebel I 1 0—10 6
# 70 116-6 —16-65| 15-0—15-6 |0-0046 > 1l 0-—8 5)
71 |17.25—17-45| 12-2—13-1 |0-0048 »» il 0—8 B)
| 72 116-2 —16-3 | 16-0—16-2 |0-0056 ER 1 0—10 B)
| | 73 [16-9 —17-1 | 12-2—12-7 10-0045 „> 1 0-12 7
ı 74 |17-25—17-4 | 11-8—11°9 10-0045 » 1 0—5 6
75 16-9 —17-25 9-4—10°0 10-0047 > 1 0—8 fo)
| | 76 |17-85—17-9 | 11-9—12°6 0-0046 en 1 0—4 b)
ı 77T ,17-85—18-25| 13-0—13-7 |0-0051, » 1 0—11 10
| 78 17-9 —18-05, 17-6—18-8 10-0046 »s 2 0—12 7
| 19 17-6 —17-75| 16-1—17-0 [0-0047 En 2 0—10 7
'E 80 ı16-65—16-85) 17-9—18-8 0.0049) » 2 0—10 5
| 81 17-8 —17-95 18-0—18-6 |0-0047 E 2 6
| ı 82 /18-1 —18-2 | 19:7—20-2 |0-0046 5 2 3—10 3
‚83 /17-85—18-0 | 11.0—12:2 |0-0054 ER 2 0—12 Re)
u 84 117-7 —17-85) 13-9—14-5 \0-0049) 9 2 0—12| 10
April | 116 |15-5 — 15-6 9.4—10-3 0.0065 es 1 0 6
I 117 15-4 —15-45 10-3—10-6 /0-0067 » 1 0 6
118 |15-1 —15-2 | 15-5—-16-2 |0-0068 > 1 0 7
119 |15-0 —15-1 | 15-8—16-5 |0-0062 > 1 0
120 114-8 —14-9 | 10-0—10-5 |0-0070 >. LO T
121 |14-9 12-1—12-2 0-0053, Feder I; Anfangs- 1 0 3
spannung 5®”"
Mai | 122 |15-6 — 1575| 8-2— 8-4 10-0053 2) 1 0 3
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252 ROBERT TIGERSTEDT:
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139B | 22-8 —22-9 | 15-0- 16-4 |0-0052, 33 j 0—6 | 7 H,
140B | 22-9 — 23-0 | 14-3-15-7 |0-0052 & 1 0—5 | 6 „=
141B 22-3 16-7—17-8 10-0058] 2 1... 1,0—5. Or
142B 22.25 -22.9 | 17-3—18:0 |0-0054 > 1 0—7|9 ”
143 20-4 —-20-6 | 21-0—21-5 |0-0038 > 1 0 3
144 |21-3 15.9—16-4 |0-0049 35 1 0 3
145 |21-3 —21-4 | 17-.9—18-3 10-0056) 5 1 0 3
146 |20-45—20-55, 18-4—18-5 |0-0044 > 1 0 3
147 120-6 —21-0 | 20-1— 20-6 0.0048] 3 1 0) 3
148 |21-4 —21-65| 20:0—20-3 0-0044 5 1 oe
149 121-75—21-9 | 25-3—25-8 0-0038 co 1 0 3
150 20-7 —21:05| 19-2—19-3 |0-0041 ns 1 0 4
151 |21-2 21-2—22-0 0.0046 5 1 0) 5
152 |21-5 —21-6 | 19-3—19-9 0-0040 > 1 0 6
Aug. | 161 |23-2 9-5— 9-6 0-0044 Feder II; Anfangs- 1 0 3
spannung 100 8 |
162 22-6 8-S- 9-0 |0-0041 5 al 0 3
163 | 22-1 10-0—10.:1 10-0040 N | 1 0 3
164 |21-7 10-0—10-3 |0-0043 og Il 0 3
Es wäre natürlich ganz unstatthaft, aus diesen Zahlen den Mittelwerth
zu berechnen und als normalen Werth der Latenzdauer darzulegen. Ich
habe daher, um eine nähere Vorstellung der Latenzdauer zu geben,
procentisch berechnet, in wie vielen Versuchen die Latenzdauer 0.003”,
0.004” u. s. w. gewesen ist.! Die Resultate sind in der folgenden Tabelle
verzeichnet.
Latenzd F Zahl d i
i Se Ve Procentisch
0.008 1 1.2
0.004 19 22-1
0005 35 40-7
0.006 24 27.9
jr 0.007 6 6-9
0.008 1 2
86 100.0
Die Latenzdauer des Froschgastrocnemius würde also 0.004”—0.006”
betragen; in der grössten Anzahl der Versuche (41°/,) beträgt sie 0.005”,
1 Ueber die Berechnungsweise vergl. Tigerstedt und Bergquist, Zeitschrift
für Biologie. 1883. Bd. XIX. $.23—25.
|
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 253
Ich habe aber noch nicht den Umstand berücksichtigt, dass bei diesen
"Versuchen die Temperatur sehr verschieden gewesen ist. Es ist aber un-
umgänglich nothwendig, die Temperaturunterschiede sorgfältig zu beobachten,
denn, wie schon die Untersuchungen von Helmholtz zeigten, ist die Latenz-
dauer von der Temperatur sehr abhängig. Um die einzelnen Versuche unter
einander vergleichbar zu machen, darf man also nur diejenigen Versuche
vergleichen, bei welchen die Temperatur nur unerheblich varürt hat. Ich
theile also sämmtliche Versuche in drei Gruppen ein: 1) mittlere Temperatur
12°—16°-9; 2) mittlere Temperatur 17°—18°.9; 3) mittlere Temperatur
20°— 29°! und berechne procentisch, wie viele der innerhalb jeder dieser
Gruppen fallenden Versuche eine Latenzdauer von 0-003”, 0004” u. s. w.
haben. Die Ergebnisse sind folgende:
Procent der Versuche mit einer Latenzdauer von Anzahl der
Temperatur Tale
0-003 | 0-004 | 0-005 | 0-006 | 0.007 | 0-008 | Versuche
Baal.) — 31-4 | .54.8| 14-3) 35
| en
ang) — ae ler 4-7 | Ans Fi
Bas 323) 56-0 | 26-7.) nn line
Aus dieser Tabelle geht hervor, dass die Temperatur einen sehr grossen
Einfluss auf die Latenzdauer ausübt, und dass man daher — ceteris pari-
bus — nicht von einem bestimmten Werth der Latenzdauer sprechen darf,
denn man muss nothwendig dabei auch die Temperatur genau berücksichtigen.
Dies ist ja an und für sich nichts Neues, es scheint mir aber, dass man
bis jetzt bei den Angaben über die Latenzdauer viel zu wenig diesem Um-
stande Rechnung getragen hat.
Für eine Temperatur von 12°—16°.9 ist die Latenzdauer in der Hälfte
(54 Procent) aller Versuche 0.006”, in einem Drittel ist sie 0-005”, und nur
ausnahmsweise (14 Procent) 0007”. Für eine Temperatur von 17°—18.9° ist
die Latenzdauer in Zweidrittel (76 Procent) aller Versuche 0005”, in 10 Procent
nur 0.004”; ausnahmsweise ist sie höher als 0.005”. Nur in einem ein-
zigen Falle habe ich bei übermaximalen Oeffnungsinductionsströmen eine
‚mittlere Latenzdauer von 0-008” gefunden. Für eine Temperatur, über-
steigend 20° ist die Latenzdauer in 57 Procent aller Versuche 0.004”, in 27
Procent 0005” und nur in 13 Procent 0°006”. In einem Versuch bei einer
Temperatur von ungefähr 29° betrug die Latenzdauer nur 0-003”.
Wir können also folgende mittlere Relation zwischen Temperatur und
Latenzdauer aufstellen:
ID—1E%8 0.006”
17°—18°%-9 0.005”
über 20° 0004”
! Bei keinem einzigen Versuche ist die Temperatur 19°C gewesen.
DDAsE: ROBERT TIGERSTEDT:
Bei dieser Zusammenstellung habe ich die verschiedenen Jahreszeiten
und deren Einfluss noch nicht berücksichtigt. Meine Versuche sind zu-
wenig zahlreich, um den Einfluss des genannten Factors mit der nöthigen !
Exactheit bestimmen zu lassen. Ich habe jedoch dieselben aus diesem !
(Gesichtspunkte hier zusammengestellt. Zu der folgenden Tabelle will ich
nur bemerken, dass meine Frösche im Allgemeinen. nur kurze Zeit in Ge-
fangenschaft gelebt haben, sowie dass sie während der warmen Jahreszeit
im Froschteich des physiologischen Instituts aufbewahrt waren. Sie waren
also so wenig wie möglich denjenigen Schädlichkeiten ausgesetzt, welche -
sonst die Erregbarkeit und Leistungsfähigkeit der Frösche in so bedeuten-
dem Grade herabsetzen.
Latenz- z a en ı Zahl der Versuche in
Monat ‚dauer 5 ih A |
In Bee. 9016.90 170 18-90 | 200290 | -a b c
Januar 0.004 — 50 _
0-005 | 29 Rz e2 | : | a
0.006 el — —
0.007 2 50 1
Februar 0-00 | — — 125
0.004 — — Su
0.005 10 80 _ 10 B) 8
0-006 so 20 _
0.007 10 a J
März 0.004 Eu |) — |
0.005 34 De | — | B} 13 _
0.006 | 66 en |
April 0.005 | 17 “re 3a
0.006 AT, _ — 6 — —
0-007 66 — —
Mai 0.004 — — N 33:8
0-005 56 — | 44-4
0.006 | 44 0 | aa
so 1000 |
Ausust 0.004 — — .,.100 — = 4
Mir scheint, dass aus dieser Tabelle keine Schlüsse gezogen werden
können, inwiefern die Latenzdauer von der Jahreszeit abhängig ist. Es ist
selbstverständlich, dass man, um vergleichbare Resultate zu erhalten, nur
solche Versuche mit einander vergleichen darf, welche zu verschiedener
Jahreszeit bei ungefähr derselben Temperatur gemacht worden sind. Dabei
darf man natürlicherweise. nur gut aufbewahrte Frösche verwenden, denn
wenn die Frösche in Folge der Aufbewahrung gelitten haben, so sind daraus
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG, 255
keine richtigen Schlüsse zu ziehen. Um eben diesen Anforderungen zu ge-
nügen, müssen die einschlägigen Versuche viel zahlreicher als die vor-
liegenden sein. Ich habe diese Tabelle auch nur desshalb entworfen „ um
zu zeigen, in welcher Art solche Untersuchungen meines Erachtens aus-
zuführen sind.
ß Ich komme jetzt zu der Frage von der Latenzdauer des Muskel-
- elementes. Darüber sind wohl alle Forscher einig, dass die in irgend welcher
Weise bestimmte mechanische Latenzdauer nur die obere Grenze der wirk-
‚lichen Latenzdauer darstellt, denn ihr Endpunkt ist ja dadurch bestimmt,
dass dann die Energie des Muskels schon so weit entwickelt ist, dass der
Schreibhebel merkbar über die Abscisse gehoben, bez. der zeitmessende
Strom geöffnet oder merkbar geschwächt ist. Wie gross ist aber die Latenz-
- dauer des Muskelelementes?
Obgleich schon Helmholtz ausdrücklich bemerkt hat, das die so-
genannte Latenzdauer nur eine obere Grenze darstellt, hat erst Gad die
Latenzdauer des Muskelelementes näher betrachtet. Unter Beachtung der
mechanischen Verhältnisse bei der Muckelzuckung hat er folgende Schlüsse
gezogen:
: 1. „Der belastete Muskel übt, so lange er bei seiner Contraction der
Last eine Beschleunigung nach en ertheilt, einen stärkeren Zug auf seinen
Aufhängepunkt aus, als in der Ruhe.“
| 2. „Die noch nicht in Contraction begriffenen Theile des Muskels (auch
Sehnen) erleiden aus diesem Grunde eine merkliche Dehnung.“
3. „Das mechanische Latenzstadium des Gesammtmuskels ist aus diesem
‘Grund wesentlich länger als das mechanische Latenzstadium des Muskel-
elementes.‘‘!
. Wir kennen also schon zwei Bedingungen, welche die Latenzdauer
‚länger als sie wirklich ist, erscheinen lassen: 1) die durch die Contraction
-hervorgebrachte Dehnung der noch nicht sich contrahirenden Theile des
Muskels und 2) der Umstand, dass die Energie des Muskels schon über
F einen gewissen Werth en sein muss, bevor er den Aufnahmeapparaten
A
eine minimale Bewegung ertheilen kann. Es kommt aber noch etwas dazu.
Durch die Untersuchungen von v. Bezold u. A., welche neuerdings
_ durch die aus dem Institute Hering’s hervorgegangene Untersuchung
# Biedermann’s in hervorragender Weise bestätigt sind, wissen wir, dass am
I _ Muskel ebenso wie am Nerven, sowohl der constante wie der indueirte
‚elektrische Strom nur am negativen Pole erregend wirkt.” Bei einem voll-
f
1%
l
F 1 Gad, Dies Archiv. 1879. S. 268.
# ° Biedermann, Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften.
Math.-phys. Classe. April 1879. Bd. LXXIX. III. Abth.; — Vergl. auch Hering,
ebenda. April. 1879. Bd. LXXIX. III. Abth.
256 ROBERT TIGERSTEDT:
kommen regelmässig gebauten Muskel wie z. B. dem Sartorius des Frosches
wird also primär nur eine einzige Stelle erregt, auch wenn der Muskel vom
Strome total durchgeströmt wird, und von dieser Stelle breitet sich die Er-
regung mit einer gewissen Geschwindigkeit über den ganzen Muskel aus.
Beim Gastrocnemius wird die Sache insofern complicirter, als er nicht regel-
mässig gebaut ist, in Folge dessen wird der elektrische Strom verschiedene
(uerschnitte mit verschiedener Dichte durchlaufen, hierdurch entstehen im
Muskel mehrere Kathoden und die Erregung muss also an melıreren
Punkten stattfinden. Jedenfalls muss aber die wesentlichste Erregung da
stattfinden, wo die Aenderung der Stromdichte am grössten ist, d. h. da,
wo der Strom den Muskel verlässt (der negative Pol).
Nun wissen wir, dass die Erregung im Muskel mit einer gewissen,
ziemlich kleinen Geschwindigkeit sich fortpflanzt. Diese Geschwindigkeit
beträgt nach den von Hermann am Froschsartorius ausgeführten Be-
stimmungen 2.698” in der Secunde! oder rund 3".
Wenn wir jetzt als Mittelwerth für die Latenzdauer der Muskelzuckung
eine Zeit von 0.004” annehmen, so finden wir, dass die Erregung wäh-
rend dieser Zeit sich um 12"m fortpflanzen kann. Es wäre daher mög-
lich, dass die Latenzdauer des primär gereizten Muskelelementes ausser-
ordentlich klein wäre, und dass die mechanische Latenzdauer nur dadurch
bedingt wäre, dass erstens eine beträchtliche Zahl von Muskelelementen
zusammenwirken mussten, bevor eine äusserlich sichtbare Wirkung erzielt
werden kann, und zweitens, dass der erste Theil der Muskelzuckung ausser-
ordentlich langsam verläuft. Ich werde aus diesen Gesichtspunkten die
Erscheinung näher analysiren.
Zuerst muss die Frage näher erörtert werden, wie die durch die un-
regelmässige Form des Gastrocnemius bedingte mehrfache primäre Erregung
dieses Muskels aufzufassen ist. Es ist ohne Zweifel, dass wir hier mehrere
Kathoden haben, denn da, wo die Stromdichte mehr weniger stark ver-
ändert wird, entsteht eine Kathode und da findet eine Erregung statt. Es
ist aber dennoch nicht unmöglich, dass die Veränderung der Stromdichte
an jenen im Muskel liegenden Kathoden ‘so geringfügig ist im Vergleich
mit der Veränderung der Stromdichte an dem Orte, wo der Strom vom
Muskel heraustritt, dass jene wenigstens für die Latenzdauer keine merk-
bare Bedeutung haben können.
Es ist natürlicher Weise schwierig oder unmöglich, diese Frage direct
zu beantworten. Wenn aber die Erregung in genügender Stärke an meh-
reren Punkten des Gastrocnemius stattfindet, so muss unter sonst gleichen
Bedingungen der Temperatur u. s. w. die Latenzdauer des Gastrocnemius
! Hermann, Pflüger’s Archiv u.s. w. 1875. Bd.X. 8. 48—55.
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 257
kleiner sein, als diejenige des Sartorius, welcher bei vorsichtiger Praepara-
- tion nur eine einzige Kathode besitzt, denn jener würde primär an meh-
reren Stellen gereizt werden. Es war also nothwendig, den Sartorius mit
dem Gastroenemius in dieser Hinsicht zu vergleichen. Ich lasse hier einige
Versuche am curarisirten M. sartorius folgen. Der Strom wurde durch
zwei Klemmpincetten Kronecker’s beiden Enden des Muskels zugeführt;
der Muskel war durch Hebel I belastet. Die Reizung geschah mit Oeffnungs-
induetionsströmen bei über einander geschobenen Rollen.
Versuch 156. 5. August 1884. M. sartorius eurarisirt. Länge des
Muskels 40”®,. Temperatur nicht angegeben.
Höhe der
x Latenzdauer
Nummer AS Re.
Strom aufsteigend.
1 26-8 ' 0.0045
: ER ne Latenzdauer, Mittel 0-0046
4 23.0 0:0047
Strom absteigend.
5 24.8 0.0045 |
; a. lose » Latenzdauer, Mittel 0-0049"
S 22.8 0.0051
Versuch 157. 5. August 1884. M. sartorius eurarisirt. Länge des
Muskels 40®n,
Nummer | Temperatur | Zuckung | Tabenzdauer
in Mm. 5
Strom aufsteigend.
1 | 20-15 28.2 0-0048
2 20.4 274 0.0047 eh Br
> | 20.55 96-9 0.0047 | f Fatenzdauer, Mittel 0-0047
4 20.6 26-3 | 0.0047
Strom absteigend.
5 =20265 25.7 0.0048
6 20-7 25-2 0-0045 5 ”
7 920-7 94.5 | 0.0048 Latenzdauer, Mittel 0-0047
Sa 20577511 232800:14°0.-0047
Archiv f. A. u. Ph. 1885. Physiol. Abthlg. Suppl.-Bd. 7
258
ROBERT TIGERSTEDT:
Versuch 158. 5. August 13884. M. sartorius curarisirt. Länge des
Muskels 34 "m,
I}
" Höhe der |
h i ı Latenzdauer |
Nummer Temperatur | ne a; Sec. |
Strom aufsteigend.
1 21:6 23-2 0.0043
2 21-75 22.8 0.0047 ee hr
3 91-8 99.5 0.0039 | no Mittel 0-0043
4 219 21-9 | 0.0042 |
Strom absteigend.
) | 21.9 21-5 00050 | |
6 21-95 21-0 0.0042 5
7 29.0 20-5 0.0039 | Latenzdauer, Mittel 0-0044
8 22.0 20-4 0.0045
Versuch 159.
Muskels 40 um,
. August 1884. M. sartorius curarisirt. Länge des
Höhe der
Nummer | Temperatur ins naar
Strom aufsteigend.
1 21.9 28.2 | 0.0043
2 21.45 28-3 0.0043 No, %
2 91.55 07.9 | 00045 Latenzdauer, Mittel 0-0046
4 21-6 27.6 | 0.0051
Strom absteigend.
5) 21.65 27:2 | 0-0053
6 21-7 269 0.0043 we
7 91.7 96-7 0.0047 Latenzdauer, Mittel 0-0048
6) I Allor 26°5 0.0048
Versuch 160.
Muskels 40"m,
Nummer
Temperatur
Höhe der {
Zuckung a
in Mm, E
5. August 1884. M. sartorius curarisirt. Länge des
Pom-
21-
21.
21-
21-
[eb 7 Sg era)
Strom aufsteigend.
28.0 00045 |
26-9 0-0045
26-3 0.0051
26.2 0.0043
Latenzdauer, Mittel 0-0046
|
|
|
|
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 259
(Versuch 160. Fortsetzung.)
Höhe der N ER
Nummer | Temperatur Zuekung a
in Mm. 7
Strom absteigend.
om 21.5 25-8 | 0.0043
6 21-5 25.4 0.0045 |
| an ‚abenzuü2a ar, I | 0-0 5"
7 91.5 95.9 ' 0.0047 Latenzdauer, Mittel 0-0045
S 21.5 | 3-0 | 0.0043
| Die zur selben Zeit am M. gastroenemius gemachten Versuche, gaben
folgende Werthe für die Latenzdauer (vgl. S. 245):
Versuch 161 — 0.0044”
Versuch 162 — 0.0041”
Versuch 163 — 0.0040”
Versuch 164 — 0.0043”
Die Unterschiede der Latenzdauer des M. sartorius und des M. gastro-
cnemius sind nur unbedeutend, wenngleich die Latenzdauer des Gastrocne-
mius um 0.0002” bis 0-0004” kürzer ist. Mir scheint daher, dass es
einigermaassen berechtigt ist auch für den Gastrocnemius anzunehmen, dass
" die wesentlichste, primäre Erregung an der hauptsächlichen Kathode
geschieht, und dass die in Folge des unregelmässigen Baues dieses Muskels
an verschiedenen Stellen desselben befindlichen Kathoden zweiter Ordnung
keinen nennenswerthen Einfluss auf die Latenzdauer ausüben. Dies ist ja
auch von vornherein annehmbar, denn die Veränderung der Stromdichte
an verschiedenen Orten innerhalb des Muskels ist natürlicher Weise lange
nicht so gross, als an demjenigen Orte, wo der Strom vom Muskel
heraustritt.
Um jedenfalls für die folgenden Betrachtungen "ganz einwurfsfreie Ver-
suche zu benutzen, werde ich hier zunächst nur diejenigen am M. sartorius
ausgeführten verwenden. Die mittlere Latenzdauer ist 0.0046”. Wenn
wir, wie oben, annehmen, dass die primäre Erregung im Augenblicke der
Reizung geschieht, so hat die Erregung beim Ende der Latenzdauer sich
— um 12mm fortgepllanzt. Die Muskelelemente oder Muskelquerschnitte,
welche dieses Stück von 12” bilden, befinden sich aber nicht alle in
demselben Grade der Zusammenziehung. Der primär erregte Querschnitt
hat sich am meisten zusammengezogen, der folgende etwas weniger u.s.w.
bis zum letzten, welcher eben nur angefangen hat sich zusammenzuziehen.
Wenn die Gerade A—B (Taf. XI, Fig. 4) den Muskel und AC das
beim Ende der Latenzdauer contrahirte Stück darstellt, und die Ordinaten
@, 5 u. s. w. die relative Grösse der Zusammenziehung jedes Elementes
iz
.
260 ROBERT TIGERSTEDT:
bezeichnen, so hat sich der Muskel beim Ende der Latenzdauer um
eine Länge verkürzt, welche der Summe der Zusammenziehungen aller
einzelnen Muskelelemente gleich ist. Es würde also die mechanische Latenz-
dauer des einzelnen Muskelelementes verschwindend klein sein können, und
die Latenzdauer des Gesammtmuskels dadurch bedingt, dass eine grosse
Menge Muskelquerschnitte zusammenwirken müssten, um eine äusserlich
wahrnehmbare mechanische Wirkung hervorzurufen.
Um die Richtigkeit dieser Auffassung zu prüfen, habe ich den Aigen
den Versuch gemacht. Ich stelle mir vor, dass sich während der Latenz-
dauer die Erregung im M. sartorius um ungefähr 12m fortgepflanzt hat
(A—(C, Taf. XI, Fig. 4). Wenn ich nun den Muskel n D—E durch-
schneide, so fallen die bei dem Ende der Latenzdauer in Wirksamkeit be-
sriffenen Muskelelemente 6—£ ganz weg und 0.004” nach dem Augen-
blicke der Reizung sind nur die Elemente &—y zusammengezogen und
zwar gleich stark, wie vor der Durchschneidung. Diese Verkürzung des
Muskels genügt aber nicht, um den zeitmessenden Contact zu öffnen, denn
dazu waren beim unversehrten Muskel noch die Elemente d—& nöthig.
Die zurückgebliebenen Elemente &—y müssen sich also stärker zusammen-
ziehen und die Latenzdauer entsprechend länger ausfallen. Dies ergiebt -
sich auch aus den einschlägigen Versuchen. Diese sind ausschliesslich am
eurarisirten M. sartorius ausgeführt. An jedem Ende des Muskels war eine
Klemmpincette Kronecker’s befestigt; sie diente auch als Elektrode. Nach-
dem eine Reihe Bestimmungen gemacht war, wurde der Muskel durch-
geschnitten, die Klemmpincette wieder angelegt u. s. w. Die Reizung ge-
schah stets durch Oeffnungsinductionsströme bei über einander geschobenen
Rollen.
Versuch 155. 22. Mai 1884. M. sartorius curarisirt. Muskel an-
gehängt 12% 15’; Beginn des Versuches 12" 20°; Ende 12" 53’; Strom auf-
steigend.
Nummer | Temperatur Zuckung un
in Mm ? „
1 20.1 14.4 0.0051
2 20.1 14-4 0-0056 | Länge des Muskels 34 ww;
3 20:2 14-3 0-0061 | Latenzdauer, Mittel 0-0056"
4 20.2 14.0 unmessbar
5 19.7 8.8 0.0056 |
6 19-85 8.4 0.0059 Länge des Muskels 21";
7 19.9 Ss.0 0-0053 | Latenzdauer, Mittel 0: 0055”
fo) 19.9 1-8 0.0053
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 96]
(Versuch 155. Fortsetzung.)
Höhe der TRETEN
Nummer | Temperatur ek un % I naar }
922,.20-05 3.0 0.0063 |
10 20.83 2.9 0.0059 Länge des Muskels 12 mm;
11 20.4 1.4 00069 Latenzdauer, Mittel 0-0066
1-4 0-0075
12 | 20-4 |
Versuch 156. Vergl. S. 257. Muskel angehängt 11" 30’; Beginn
des Versuches ? Ende 1240’; Strom absteigend. Temperatur nicht an-
gegeben.
Höhe der
Nummer Zuckung analger
in Mm. |
za 24:3S—22.8| 0:0049 Mittel; Länge des Maskeis
40 mm
1) 9.9 0.0047
10 9.8 0.0047 Länge des Muskels 20m;
in 9.4 0.0043 Latenzdauer, Mittel 0-0046”
12 9.2 0.0048
13 3-1 0.0053
14 2.7 0.0063 Länge des Muskels 10W;
15 2.5 0:0063 Latenzdauer, Mittel 0-0061
16 Del 0.0064
Versuch 157. Vergl. S. 257. Beginn des Versuches 3%45’; Ende”
4415. Strom absteigend.
Höhe der \
Nummer | Temperatur Zuckung = as
in Mm. ;
iR 20-1 25-7 _23.8 0:004% | Mittel; Länge des Muskels
9 21-15 11.1 0-0047 | N
10 | -. 21.4 10.7 0.0042 Länge des Muskels 22%;
lil 21-5 10-0 0-0047 | Latenzdauer, Mittel 0-0046”
12 21-6 9.7 0.0048
13 21-3 4-5 0-0043
14 21-45 4-85 0-0053 Länge des Muskels 10WW;
15 21-5 4-0 0-0045 ( Latenzdauer, Mittel 0-0047”
16 21-55 3.8 0.0047
262
. ROBERT TIGERSTEDT:
Versuch 158. Vergl. 8. 258. Beginn des Versuches 125 40°; Ende
1% 57; Strom absteigend.
Höhe der
Latenzdauer
Nummer | Temperatur a san
Bes ol -9 22.021 .5—20-4| 0:-0044 Mittel; Länge des Muskels
9 unmessbar 32
10 22-0. 3.| 1-1 0.0077
11 22 0.8 0.0090 Länge des Muskels 10”";
2 29.3 0-5 0-0071 Latenzdauer, Mitte] 0-0082'
13 22.3 0.2 0.0091
Versuch 159. Vergl. S. 258.
5h 55, Strom absteigend.
Beginn des Versuches 5% 32°; Ende
Höhe der es
Nummer | Temperatur Zeus . oc
8 21.7 27:2—26-5| 0-0048 Mittel, Länge des Muskels
9 31.2 We 100-0053 E
10 21.6 4.3 0.0048 Länge des Muskels 12”;
11 21:75 Aral 0-0047 Latenzdauer, Mittel 0-0050”
12 21.8 3.9 0.0053
Der Muskel wird noch einmal durchgeschnitten; seine Länge
ist jetzt 5==; bei Reizung sieht man, dass er zuckt; er hat aber
nunmehr nicht die Kraft, den zeitmessenden Contact zu öffnen;
die Latenzdauer kann daher nicht bestimmt werden.
° Versuch 160. Vergl. 8.259. Beeinn des Versuches 6% 20'; Ende
6% 55, Strom absteigend.
Höhe der
Nummer | Temperatur Zuckung ns
in Mm. DD
5—8 21.5 BE .S—-25.0 0:-0045 Mittel; Länge des Muskels
9 >14 77 92509.0.0:00% =D |
10 21-6 | 0.0043 Länge des Muskels 15";
ul 21-7 8.7 0-0047 Latenzdauer, Mittel 0-0046’
12 21-8 8-6 0-0047
118) 21-35 5-7 0.0047
14 21.6 5.2 0.0053 länge des Muskels 12 "®;
15 21-8 5.1 0-0050 | [ Latenzdauer, Mittel 0-0050"
16 21-8 4.9 0.0050
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 263
(Versuch 160. Fortsetzung.)
Höhe der verd r
Nummer | Temperatur | Zuckung De
in Mm. h
17 21-2 2.0 0-0063 |
az »21.6 2.0 0.0063 | | Länge des Muskels sw;
19 21.8 1.9 0-0061 meer Mittel 0-0066
20 21.9 1.7 0.0077
21 21-6 0.5 0-0112 ‘ Länge des Muskels 5";
23 21-9 0-5 0-0095 | fLatenzdauer, Mittel 0-0103"
|
Beim Versuch 155 ist die mittlere Latenzdauer des Muskels bei einer
Länge von 34, bez. 21m 0.0056’—0.0055”; bei einer Länge von 12"
aber 0-0066”. Beim Versuch 156 finden wir bei einer Länge von 40,
bez. 20"® die Latenzdauer 0-0049”— 0.0046”; bei einer Länge von 10"
0-0061”. — Wenn die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Erregung im
Muskel kleiner als die oben angenommene Zahl (3%) ist, so ist der beim
Ende der Latenzdauer erregte Theil des Muskels kürzer; um die hier uns
beschäftigende Erscheinung in diesem Falle zu beobachten, muss man ein
entsprechend kleineres Stück vom Muskel zurücklassen. Daher erhalten wir
beim Versuch 157 keine Zunahme der Latenzdauer, wenn der Muskel bis
zu 10mm abgeschnitten ist. Beim Versuch 158 haben wir wieder die Latenz-
dauer bei 34"m Länge 0-0044”, bei 10mm Länge 00082”. Beim Versuch
159 ist bei 40 und 12mm Länge die Latenzdauer 0:0048”, bez. 00050”.
Der Muskel wird aber noch einmal durchgeschnitten; seine Länge ist jetzt
nur 5m; bei Reizung sieht man, dass er zuckt; er hat aber nunmehr nicht
- die Kraft, den zeitmessenden Contact zu öffnen; die Latenzdauer kann daher
mit den hier benutzten Mitteln nicht bestimmt werden. Beim Versuch 160
ist bei einer Länge von 40, 18 und 12m die Latenzdauer fast unverändert
- (0:0045”, 0:0046”, 0:0050”); bei einer Länge von SW” aber ist die Latenz-
- dauer 0-0066” und bei 5m Länge 00103”.
Diese Versuche beweisen, meines Erachtens, ziemlich deutlich die
Richtigkeit meiner Annahme. In Betracht derselben, sowie derjenigen von
Helmholtz, Gad, v. Bezold, Biedermann u. A. ermittelten Thatsachen
scheint es also ziemlich sicher herausgestellt:
dass innerhalb derjenigen als Latenzdauer der Muskelzuckung
bezeichneten Zeit, welche zwischen dem Augenblicke der Reizung
und dem in irgend einer Weise ermittelten Beginn der Muskel-
zuckung vertliesst, eine grosse Menge Muskelelemente schon in
mechanischer Wirksamkeit begriffen sind; die Latenzdauer des
- Muskelelementes muss also viel kleiner, als diejenige des Ge-
sammtmuskels sein.
264 ROBERT TIGERSTEDT:
Wie gross ist aber die Latenzdauer des Muskelelementes? Nach Allem,
was ich hier bemerkt habe, kann ich keinen anderen Schluss aus dem vor-
liegenden Beobachtungsmaterial ziehen, als diesen, dass die mechanische
Latenzdauer des Muskelelementes eine Grösse derselben Ordnung, wie die
Latenzdauer der negativen Schwankung oder des Actionsstromes darstellt.
Wenn die negative Schwankung überhaupt eine Latenzdauer hat, ist sie,
wie die Untersuchungen v. Bezold’s!, Bernstein’s? und Hermann’s?
nachgewiesen haben, jedenfalls nicht länger als 0-001”. Eine Grösse der-
selben Ordnung ist nun auch die mechanische Latenzdauer des Muskel-
elementes. Wir besitzen aber kein Mittel, die letztere nachzuweisen, immer
müssen ausserordentlich viele Muskelelemente thätig sein, bevor eine äusser-
lich sichtbare mechanische Wirkung auftritt, während die elektrophysiologische
Technik längst schon die Mittel besitzt, um das augenblickliche Erscheinen
der negativen Schwankung nachzuweisen. Nach meiner Anschauung be-
einnt sofort nach der Reizung auch die Verkürzung des betroffenen Muskel-
elementes; an und für sich ist aber ein einziges Muskelelement viel zu klein,
um allein durch seine, wenn auch maximale Zusammenziehung eine äussere
Wirkung erscheinen zu lassen. Mehrere Elemente müssen daher zusammen-
wirken, und jedes in einem.gewissen Grade sich verkürzen. Die Zuckung
des Gesammtmuskels steigt aber im Beginn äusserst langsam auf, dasselbe
muss auch der Fall mit der Zusammenziehung des Muskelelementes sein.
Wenn der Muskel direct, ohne Vermittelung des Nerven, gereizt wird,
sehe ich keinen Umstand, der gegen diese Auffassung der Latenzdauer des
Muskelelementes verwendet werden könnte. Bei Reizung vom Nerven aus
stellt sich aber die Sache viel complieirter, wie u. A. schon daraus hervor-
geht, dass dabei die Latenzdauer erheblich grösser als bei direeter Muskel-
reizung ist. Die Art der functionellen Verbindung zwischen Nerven und
Muskel ist also lange nicht so einfach wie man von vornherein sich es vor-
stellen möchte. Ich wage aber keine Hypothesen darüber zu entwickeln,
weil das thatsächliche Material dazu lange nicht genügt und die Frage an
und für sich ausserhalb des Rahmens dieser Untersuchung fällt.
Als Endresultat dieser Erwägungen über die Latenzdauer des Muskel-
elementes bei directer Reizung des Muskels möchte ich also hervorheben, dass
die mechanische Latenzdauer des Muskelelementes eine Grösse
derselben Ordnung, wie die Latenzdauer der negativen Schwan-
kung oder des Actionsstromes ist.
! y. Bezold, Monatsberichte der Berliner Akademie. 1861. S. 1023—1026.
1862. S. 199 —202.
2 Bernstein, Untersuchungen über den Erregungsvorgang im Nerven- und
Muskelsysteme. 1871.
3 Hermann, Pflüger’s Archiv u.s. w. 1877. Bd. XV. S. 233—245.
ÜBER DIE LATENZDAUER DER MUSKELZUCKUNG. 265
Erklärung der Tafeln.
Taf. VI. Fig. 1. Der Contacthebel (siehe S. 132).
Figg.2 und 3. Das elektrische Signal von Pfeil (siehe S. 1353).
Fig. 4. Die Versuchsanordnung (siehe S. 140).
Taf. VII. Graphische Darstellung der Versuche über die Abhängigkeit der Latenz-
dauer von der Grösse der Muskelzuckung bei nicht curarisirtem Muskel (siehe S. 165 ff.).
Die Abseisse bedeutet die Höhe der Muskelzuckung und zwar entspricht hier 1°
wm Zuckungshöhe. In den Ördinaten bedeutet 1°” eine Zeit von 0.002",
Taf. VIH. Graphische Darstellung der Versuche über die Abhängigkeit der Latenz-
dauer von der Grösse der Muskelzuckung bei curarisirtem Muskel (siehe S. 171 ff.). Die
Curven sind nach demselben Prineip wie in Taf. VII construirt. Die unterbrochenen
Linien sollen den ‚idealen ‚Verlauf‘ der Latenzdauercurve andeuten.
Taf. IX. Graphische Darstellung der Versuche über den Einfluss der Nerven-
enden auf die Latenzdauer (siehe 8. 214 ff.). Die Curven sind. nach demselben Princip
wie diejenigen in Taf. VII construirt. Die vollständig ausgezogenen Linien beziehen sich
auf den nichteurarisirten, die unterbrochenen auf den curarisirten Muskel.
Taf. X. Dasselbe (siehe S. 217 fi.).
Taf. XI. Fig. 1.) Zuckungsforınen beim nichteurarisirten (A) und curarisirten
(B) Muskel (siehe S.224. Die Ziffern bezeichnen die laufenden Nummern der Be-
obachtungen.
Figg. 2 und 3. Zuckungsformen bei Anwendung einer Stahlfeder zur Spannung
des Muskels (siehe S. 246 u. 247). Die Schwingung bei « ist eine Eigenschwingung
der Feder beim Ende der Zuckung.
Fig. 4. Schematische Darstellung zur Frage von der Latenzdauer des Muskel-
elementes (siehe S. 259).
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b) W. P.
Fig. 16. Beugefläche des Vorderarms.
b) Wärmesinn - Topographie. c) Drucksinn - Topographie,
Fig. 15. Beugefliche des Oberarms.
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Verlag Veit & Comp. Leipzig.
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