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Full text of "Archiv für Physiologie"

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KINRMARDZUNIVERSENY.: 


LIBRARY 


OF THE 


MUSEUM OF COMPARATIVE ZOÖLOGY. 
€ 21383 


GIFT OF 


ALEX. AGASSIZ. | 


| And 21a Frhr 2, 


ARCHIV 


FÜR 


ANATOMIE UND PHYSIOLOGIE. 


FORTSETZUNG DES von REIL, REIL v. AUTENRIETH, J. F. MECKEL, JOH. MÜLLER, 
REICHERT vw. DU BOIS-REYMOND HERAUSGEGEBENEN ARCHIVE 


HERAUSGEGEBEN 
voN 
Je WILHELM I, 
PROFESSOR DER ANA ER UNIVERSITÄT LEIPZIG, 
UND 


Dr. In W. ee 


PROFESSOR DER PHYSIOLOGIE AN DER UNIVERSITÄT BERLIN. 


JAHRGANG 1898, 


* PHYSIOLOGISCHE ABTHEILUNG, 


LEIPZIG, 
VERLAG VON VEIT & COMP. 
1898. 


ARCHIV 


FÜR 


EHYSIOLOGIE. 


PHYSIOLOGISCHE ABTHEILUNG DES 
ARCHIVES FÜR ANATOMIE UND PHYSIOLOGIE. 


UNTER MITWIRKUNG MEHRERER GELEHRTEN 


HERAUSGEGEBEN 


VON 


Dr. TH. W. ENGELMANN, 


PROFESSOR DER PHYSIOLOGIE AN DER UNIVERSITÄT BERLIN. 


JAHRGANG 1898. 


“MIT ABBILDUNGEN IM TEXT UND FÜNF TAFELN. 


LEIPZIG, 
VERLAG VON VEIT & COMP. 
1898. 


Inhalt. 


H. J. HAMBURGER, Eine Methode zur Trennung und quantitativen Bestimmung 
des diffusiblen und nicht-diffusiblen Alkali in serösen Flüssigkeiten . 

H. J. HAMBURGER, Ueber den Einfluss geringer Quantitäten Säure und Alkali 
auf das Volum der rothen und weissen Blutkörperchen 

PauL Schutz, Ueber die Wirkungsweise der Mydriaca und Miotica. (Eiern Taf. 1) 

Ostmann, Ueber die Reflexerregbarkeit des Musculus tensor tympani durch Schall- 
wellen und ihre Bedeutung für den Höract . 

PAaus Schutz, Zur Physiologie der sympathischen Ganglien 

G. ABELSDORFF, Physiologische ee am Auge der Keolkodile Arten 
Taf. IV.) 

G. C. J. VosmAerR und C. a Dean) Ueber ii Nahrtingsaifnahme si 


Schwämmen . 5 
H. SALoMoNnsoHn, Ueber iohtbeusung an Elan nd Tine, INS genbö gen! 
farbensehen) ER 
Lupwıs HeııwIG, Ueber den nenn des Neiven und seine Ehe zum 
Neuron . 


(GEORG BAER, Beben zur Kendtniss de, alla erne u als hiedenen 
Alkoholen . NN: 

ImmAnvEL Munk und Dan: Sonurny, ie Reinbarkeih Ha Neryin an verschie- 
denen Stellen seines Verlaufes 

H. J. HAMBURGER, Ueber den Einfluss von Salzlösungen au da Yolırm ut 
rischer Zellen. Erste Mittheilung 6 

ApoLpH Bary, Ueber die Entwickelung der kandencentren 3 

ImmanueL Munk, Ueber den Nachweis des Gallenfarbstoffs im Bat 

Ernsr Scumior, Ueber Kreatinine verschiedenen Ursprungs 3 

Hans Vogt, Ueber die Folgen der Durchschneidung des N. splanchn. (Biazu Tat. v ) 

A. Loewy, Ueber die Beziehung der Akapnie zur Bergkrankheit . 

Muneo KumaGawA und REnTARoO MıvrA, Zur Frage der Zuckerbildung aus Fett 
im Thierkörper. Ein Beitrag zum Phlorhizindiabetes im Hungerzustande 
WILHELM STERNBERG, Beziehungen zwischen dem chemischen Bau der süss und 
bitter schmeekenden Substanzen und ihrer Eigenschaft zu schmecken 

A. Lorwy, Ein vereinfachtes Verfahren der Blutgasanalyse . 
W. A. NAcEr und A. SAmosLorr, Einige Versuche über die Ueber von 
Schallschwingungen auf das Mittelohr : 


\LEXANDER SAMOJLOFF, Ueber den untermaximalen Tears do: ee eitien 
Muskeln 


Verhandlungen der physiologischen Gesellschaft zu Berlin 1897—98. 


. LEwın, Ueber die Beziehungen zwischen Blase, Ureter und Nieren . 
. Dorn, Sichtbarkeit der Röntgenstrahlen . 
IMANUEL MunK, Ein mikroskopisches Präparat einer vom nein aus eilt Ni iere 


Seite 


VI INHALT. 


Seite 
Cowz, Ueber einen neuen Maulsperrer für Thiere. (Hierzu Taf. II u. III.) 148 
D. Hansemann, Ueber Veränderungen in den Nieren bei Unterbindung des Ureters 147 
A. GOLDSCHEIDER, Ueber die Neuronschwelle . 148 
N. Zuntz, Ueber die Verdauung und den Stoffwechsel der Fische k 149 
A. Lorwy, Apparat zur Analyse der Blutgase . . 260 
N. Zuntz, Ueber die Fettbildung aus Eiweiss . : . -261 
D. Hansemann, Ueber den Einfluss des Winterschlafes auf ie Zelltheihn® 262 
R. pu Boıs- Revaonp, Ueber die sogenannten Wechselgelenke beim Pferde 264 
E. WoERNER, Ueber Kreatin und Kreatinin im Muskel und Harn . 266- 
N. Zuntz, Ueber die Beziehung zwischen Wärmewerth und Nährwerth der Konjes 
hydrate und Fette . . 267 
GREEFF, Veber Längsverbindungen a eathren) I) in dar roensahliehern Kein .: 270 
J. RosentHaL, Ueber die Sauerstofaufnahme und den Sauerstoffverbrauch der 
Säugethiere 271 
ImmAnUEL MuskK, Zeigt de Unversehite No eine erchedene TocAIe aroehher: keit? 281 
A. Neumann, Zur Kenntniss der Nucleinsubstanzen Be 374 
R. pu Boss-Reymonn, Ueber die Athmung von Dytiscus ernelit 378 
M.G. ScuLapp, Ueber Differenzen im Bau der Hirnrinde 381 
CARL HAMBURGER, Besteht freie uummuntauon zwischen vorderer nal handen 
Augenkammer? 382 
Max Davıp, Die rhellagsfselem Befunde Dei ee von nen a! 
todtem Knochenmaterial in Knochendefecten . 384 
Ü. BEenpa, Ueber die Spermatogenese der Vertebraten und höherer hair. 
I. Theil. Ueber die vegetativen Geschlechtszellen . ; 385 
E. Hosur, Ueber das Verhältniss des Bindegewebes zur N eenlkunn 392 
C. BEnDA, Ueber die Spermatogenese der Vertebraten und höherer ee ereten, 
II. Theil: Die Histiogenese der Spermien 393 
Verhandlungen der physiologischen Gesellschaft zu Berlin 1898—99. 
H. KRONECKER, Bericht über: 
LupmILtA ScHILIina, Vergleich von Ludwig’s Kymograph mit Hürthle’s Tono- 
graphen . 526 
CARTER, Ueber Plethy anti ea Herzens 5 530 
PELAGIE BETSCHASNOFF, a der Brennen de Frosehhen 
von seinem Inhalte 531 
NADINE LoMAkınA, Ueber die nervösen HN yeifinelnaeten aa den Han Ab. 
Hunde und Pferde 531 
R. Wysauw, Nichtwirkung des en auf HE Ausserasehe Hi 532 
Juria Divine, Ueber die Athmung des Krötenherzens 533 
Emm Bürsı, Ueber Athmung auf Bergen . 534 
C. Woo», Ueber die Bewegung des Sonobnilanınes 5 836 
H. Iro, Ueber den Ort der Wärmebildung durch Hirnreiz . 537 
N. Zuntz, Ueber die Zuckerbildung in der Leber. 5 er) 
WILHELM Rörn, Beiträge zu der Lehre von den osmotischen Ausgleichsrorgängen 
im Organismus ; 542 
LEVInsoHn, Ueber die freie Bm antehen Arisalen inter und Vorderkumnast 
des Auges 547 
(srRABoOW, Ueber die lhrrtlktihen anilkhenn is Sollen 549 


APR z7 1898 


Eine Methode zur Trennung und quantitativen 
Bestimmung des diffusiblen und nicht-diffusiblen 
‚Alkali in serösen Flüssigkeiten. 


Von 


H. J. Hamburger 
in Utrecht. 


1. Einleitung. 
2. Das Prineip der Methode. 
a) Enthält das alkoholische Filtrat bloss diffusibles Alkali? 
b) Enthält der durch Alkohol verursachte Niederschlag bloss nicht- 
diffusibles Alkali? 
3. Weiteres über die Methode. Prüfung der mit derselben gewonnenen Resultate 
mittelst direeter Diffusionsversuche. 
Abkürzung der Methode behufs vergleichender Bestimmungen. 
Analyse des diffusiblen Alkali. 
Verhältniss zwischen dem diffusiblen und dem nicht-diffusiblen Alkali. 
Zusammenfassung. 


IR 5 


1. Einleitung. 


Bringt man Serum in einen von Wasser umgebenen Pergamentschlauch, 
so geht allmählich Alkali in das Wasser hinüber, ohne dass jedoch der 
Alkaligehalt der wässerigen Flüssigkeit jemals den des Serums erreicht 
Letzteres-rührt daher, dass im Serum das Alkali in zwei Formen vorhanden 
ist, nämlich in einem schwer- und in einem leichtdiffusiblen Zustande. 
Und nun liest es auf der Hand, dass nicht mehr Alkali in die wässerige 
Flüssigkeit hinübergeht als gerade mit dem im Serum vorhandenen, leicht 
diffusiblen übereinstimmt. Das schwerdiffusible bleibt ganz oder fast ganz 
im Schlauch zurück. % 

Leitet man CO, durch das im Schlauch sich befindende Serum, so 


nimmt der Alkaligehalt der Aussenflüssigkeit zu, weil das Alkali des 
Archiv f. A. u. Ph. 1898. Physiol. Abthlg. 1l 


> H. J. HAMBURGER: 


Albuminats durch CO, abgespaltet wird und als Carbonat theilweise den 
Schlauch verlässt. 

Diese wichtige Beobachtung wurde ungefähr gleichzeitig von Loewy 
und Zuntz! und von Gürber? gemacht. Loewy und Zuntz versuchten 
weiter in einem Gemisch von diffusiblem und nichtdiffusiblem Alkali die 
Menge des ersteren quantitativ zu bestimmen und zwar nach der eben- 
genannten Diffusionsmethode. Es stellte sich aber heraus, dass dieselbe für 
den Zweck wenig geeignet war, weil es Tage dauert bis sich das Gleich- 
gewicht zwischen dem Alkaligehalt von Innen- und Aussenflüssigkeit her- 
gestellt hat. Die Verfasser schlugen darum einen anderen Weg ein, wobei 
sie das Prineip des Pflüger’schen Tonometers benutzten. Hierzu umgeben 
sie das in Pergamentschläuchen sich befindende Serum mit Sodalösungen 
von verschiedener Stärke, aber doch muthmasslich etwa dem Gehalt an 
diffusiblem Alkali des Serums entsprechend. Ist die Sodalösung zu schwach, 
so wird dieselbe nach einiger Zeit im Alkaligehalt zugenommen sein; ist 
dieselbe zu stark, so wird umgekehrt der Alkaligehalt der Sodalösung ab- 
nehmen. 

Bei dieser Methode stösst man aber auf drei Schwierigkeiten. 


1. Nehmen die Versuche viel Zeit in Anspruch; die zur Versuchs- 
anordnung erforderliche Zeit nicht mitgerechnet, muss man doch die 
Diffusion wenigstens 12 Stunden vor sich gehen lassen, bevor man zu den 
Titrationen fortschreiten kann. 

2. Müssen, wenn die Grenzen, zwischen welchen die richtige Na,00,- 
Lösung gelegen ist, nicht zu weit auseinander liegen sollen, viele Experi- 
perimente zu gleicher Zeit ausgeführt werden. 

3. Wenn es sich um geringe Alkalidifterenzen handelt, welche bedingt 
werden durch kleinere Unterschiede im CO,-Gehalt, ist die Methode kaum 
brauchbar; denn es ist fast unmöglich, unter den gegebenen Umständen 
den Kohlensäuregehalt während des Versuches unverändert zu halten. Die 
Methode gestattet denn.auch z. B. nicht, den Unterschied des diffusihlen 
Alkaligehalts im natürlichen venösen und arteriellen Blute genau fest- 
zustellen. 


Bei der grossen Wichtigkeit der quantitativen Unterscheidung des 
Alkali in leicht- und schwerdiffusibles, oder was in gewisser Hinsicht auch 
richtig ist, in freies Alkali und Alkalireserve, scheint es mir nicht über- 
flüssig, eine Methode vorzuschlagen, welche die erwähnten Schwierigkeiten 
umgeht. 


* Pflüger’s Archiv. 1894. Bd. LVIIL. S. 511. 
® Sitzungsberichte der med. physik. Gesellschaft zu Würzburg. Februar 1895. 


TRENNUNG U. S. W. VON ALKALI IN SERÖSEN FLÜSSIGKEITEN. 3 


2. Das Prineip der Methode. 


Die Methode beruht auf dem Prineip, dass das leichtdiffusible Alkali 
(Na,CO,, NaHCO,, Na,HPO,, NaH,PO,) nicht, das schwerdiffusible (Alkalial- 
buminat ete.) wohl durch 96°/,igen Alkohol niedergeschlagen wird. 

Die Ausführung geschieht in der Hauptsache folgender Weise: Das 
Serum oder das Biut wird versetzt mit dem zweifachen Volum 96°/,igen 
Alkohols: es entsteht ein Niederschlag. Nachdem .derselbe abfiltrirt ist, 
wird derselbe mit 96°/,igem Alkohol ausgewaschen, die Waschflüssigkeit 
zu dem klaren Filtrat hinzugefügt, und in der also erhaltenen Flüssigkeit 
der Alkaligehalt bestimmt mittelst ?/,.-norm. Weinsäure und Lakmoidpapier 
als Indicator. 

Bevor ich die Methode genau beschreibe, werde ich die Richtigkeit 
des Prineips zu zeigen versuchen. Hierzu zwei Fragen: a) enthält das 
alkoholische Filtrat bloss diffusibles Alkali? b) ist im Niederschlag nur die 
schwerdiffusible Form des Alkali vorhanden ? 


a) Enthält das alkoholische Filtrat bloss diffusibles Alkali? 


100 °® Pferdeblutserum werden mit 200 = 96°/,igen Alkohol versetzt 
und der Niederschlag abfiltrir. Um zu sehen, ob dieses Filtrat bloss 
die leicht diffusible Form des Alkali enthält und nicht auch schwer diffu- 
sibles, werden 200 °" auf dem Wasserbade vorsichtig zum Trocknen er- 
hitzt. Hierdurch ist aller Alkohol vertrieben. Dann wird der Rückstand 
in Wasser gelöst und weiter soviel Wasser hinzugefügt, bis das Volum 
wieder 200 “% beträgt. Dieses wird in vier gleiche Theile getrennt. 50 °® 
werden mittels Weinsäure titrirt; bekanntlich bestimmt man auf diese Weise 
die beiden Alkaliformen zu gleicher Zeit, denn die Weinsäure entzieht nicht 
nur den Natron- und Kalisalzen das Alkali, sondern auch den Albuminaten. 

Es stellte sich. heraus, das 50 °® der wässerigen Flüssigkeit 10-5 
!/,„.norm.-Weinsäure entsprachen. 

Die drei übrigen 50 °® der Lösung werden dialysirt gegenüber drei 
Sodalösungen von verschiedener Stärke: 1. eine Sodalösung, welche genau 
dem soeben genannten Titer entsprach, d. h. eine 0-0084-norm. Na,00,- 
Solution; 2. eine etwas höhere, nämlich eine 0-0092-normale; und 3. eine 
etwas niedrigere Lösung, namentlich eine 0-0076-normale.! 


! Anfangs meinte ich die drei Lösungen auf die gebräuchliche Weise, durch Berech- 
nung, aus einer fertigen "/,-procentigen Na,CO,-Solution herstellen zu können. Als 
aber zur Controle die also erhaltenen Flüssigkeiten mittelst '/,,-norm. Weinsäure titrirt 
wurden, stellte sich heraus, dass sie keineswegs den bereehneten Titer besassen; alle 
drei schienen eoncentrirter zu sein. Anfangs dachte ich, dass vielleicht die Stamm- 
flüssigkeit (!/;-norm. Na,CO,-Lösung) nicht richtig titrirt war, aber bei Wiederholung 
des Versuches erwies sich die Titration als ganz richtig ausgeführt. 

Bald kam ich aber auf den Gedanken, dass es für die Erscheinung der Grenz- 
reaction nicht gleichgültig sein kann, wenn man eine Flüssigkeit mit Wasser verdünnt. 


4 Eh dk HAMBURGER: 


Die von mir gebrauchten Dialysatoren sind sehr einfach; es sind nur 
Glastrichter, welche in gut ausgewaschenem Pergamentpapier eingewickelt 
sind. Das Pergamentpapier ist mittelst Binde lose um den Hals befestigt. 
Der Triehter wird’mit der grossen, also durch Pergamentpapier verschlossenen 
Oeffnung nach unten in ein Glasgefäss mit Wasser gesetzt, wobei natürlich 
dafür Sorge getragen wird, dass das Pergament eine gute Strecke über das 
Niveau der Aussenflüssigkeit hinausragt und die horizontale Pergamentfläche 
den Boden des Gefässes nicht berührt. | 

Innerhalb und ausserhalb des Triehters befinden sich je 50 °°® Flüssig- 
keit. Jeder Apparat ist mit einer Glasglocke bedeckt. 


Die Resultate des ersten Versuchs lassen sich in der folgenden Tabelle 
zusammenfassen. 


Wenn man z. B. 1 «® einer !/,-norm. Na,CO,-Lösung mit '/,;-norm. Weinsäure titrirt, 
so wird man weniger Säure brauchen, als wenn man diesen 1 “= mit 10 = Wasser 
verdünnt hat; denn um die Rothfärbung des Lakmoidpapiers hervorrufen zu können, 
muss die Lösung einen gewissen Procentgehalt an freier Säure besitzen, und um 
diesen Säuregrad zu erhalten, hat man zu der verdünnten Na,CO,-Lösung mehr Wein- 
säure hinzuzufügen, als zu der nicht verdünnten. Eine verdünnte Na,00,-Lösung 
scheint also stärker alkalisch zu sein, als eine die gleiche Molecülzahl enthaltende 
unverdünnte. Wie gross der Unterschied sein wird, hängt von der Empfindlichkeit 
des Indicators, hier des Lakmoidpapiers, ab. Mein Lakmoidpapier erforderte auf 
20 cm Wasser 0-35 «m. Y/,..norm. Weinsäure. Von Zeit zu Zeit wurde es controlirt 
und wenn die Empfindlichkeit sich als abgenommen erwies, durch neu angefertigtes 
ersetzt. | 

Hat man auf die genannte Weise die Empfindlichkeit festgestellt, so kann man 
sehr genau die verlangten Lösungen aus der Stammflüssigkeit bereiten. Wünscht man 
z. B. 1000 °: = einer 0-0076-norm. Na,C0O,-Lösung aus einer O-5-procent. herzustellen, 
so wird, wenn dem Einfluss der Verdünnung auf die Erscheinung der Endreaction 
1000 x 0-0076 

0-5 
Lösung zu 1 Liter verdünnt werden müssen. Titrirt man dann aber die auf diese 
Weise erhaltene Lösung, so stellt sich heraus, dass 20° davon nicht, wie man er- 


keine Rechnung getragen wird, —apszunder 0-5-procent. Na,00;- 


UL ENS? ., 000% u 
warten sollte, übereinstimmt mit 0:0 . x 20 m — 3.8 cm= 1), -norm. Weinsäure, 
2 . 2 ee - 
sondern mit 3-8 + 0-34 = 4-14 “=, wodurch die Lösung als a zn 


0-00828-normale titrirt wird. 

Um nun aus einer 0-5-norm. Na,CO,-Lösung wirklich eine Flüssigkeit zu be- 
kommen, welche sich bei der Titration mittelst /,,;-norm. Weinsäure als eine 0-0076- 
normale ausweist, müssen 20 °® der Na,CO,-Lösung übereinstimmen mit 3-8— 0-34 = 
3-46 m !/,.-norm. Weinsäure. Nach der Berechnung ist eine derartige Na,CO,-Lösung 


5 3:46 x ! > ; 

eine ne = 0:00692 normale, und um diese anzufertigen, muss man 

1000 x 0-00692 : 
er = 13-84 = 0-5-norm. Na,CO,-Lösung zu 1 Liter verdünnen. Diese 


Lösung erwies sich nun bei der Titration mittelst !/,;-norm. Weinsäure in der That 
als eine 0-0076-norm. Na,CO,-Solution. 


TRENNUNG U. S. W. VON ALKALI IN SERÖSEN FLÜSSIGKEITEN. 5 


Aussenflüssigkeit Innenflüssigkeit 
20 °® der Flüssigkeit entsprechen | 20 °°® der Flüssigkeit entsprechen 


vor d. Diffusion | nach d.Diffusion || vor d. Diffusion | nach d. Diffusion 
!/,,„.norm. Weinsäure 1/,„-.norm. Weinsäure 
Im App... 1i. 22% 4.2 cm | Ana Sch 4.2 m | Ale ccm 
EL molar. nv | Aula BE. 4-35,, 
en no Bine lasc, 3:8 „ 3-96 „ 4.2 „ BON 2, 


Aus diesem Versuche geht hervor, dass in Apparat 1, wo als Aussenflüssig- 
keit eine dem Serum entsprechende Na,C0,-Lösung gebraucht wurde, Innen- 
und Aussenflüssigkeit unverändert geblieben sind, mit anderen Worten, dass 
deren diffusibler Alkaligehalt oder wie Loewy und Zuntz es nennen, deren 
Alkalispannung gleich ist. Im Apparat 2 hat die Alkalispannung der 
Aussenflüssigkeit, welche anfänglich 4-6 °® !/,.-norm. Weinsäure entsprach, 
abgenommen auf 4-36, und dementsprechend ist die Alkalispannung der 
Innenflüssigkeit gestiegen von 4-2 auf 4-35. 

Im Apparat 3 hat die Alkalispannung der Aussenflüssigkeit zugenommen, 
offenbar auf Kosten der Innenflüssigkeit. Die Alkalispannung der Innen- 
flüssigkeit war also im Fall 3 grösser als die der Aussenflüssigkeit. 

Das Gleichgewicht zwischen Innen- und Aussenflüssigkeit 
in Fall 1 beweist, dass in der Innenflüssigkeit nur diffusibles 
Alkali vorkommt. 

Zur weiteren Controle wurde durch die Innenflüssigkeit ein CO,-Strom 
geleitet. Die Flüssigkeit blieb klar und zeigte bei der Titration einen un- 
veränderten Alkaligehalt (20 «= = 4-2 «m!/,.-norm. Weinsäure). Hieraus folgt, 
dass in der Flüssigkeit kein neues diffusibles Alkali freizumachen war. 

Ich lasse in den folgenden Tabellen noch zwei Versuchsreihen folgen, 
welche auf dieselbe Weise wie die vorigen, aber mit Serum anderer Thiere, 
ausgeführt wurden. 


“ Aussenflüssigkeit Innenflüssigkeit 
20 °®® der Flüssigkeit entsprechen || 20 °® der Flüssigkeit entsprechen 
vor d. Diffusion | nach d.Diffusion || vor d. Diffusion | nach d. Diffusion 


Y/,,-norm. Weinsäure l/,,„norm. Weinsäure 
ImAppiie. 3.5 ccm Be55cm | ge5em | 8.5 cm 
I, a REN 3.9 „ 3.74 „ | 3.5 „ ol 
ER) Er) 2 ..0. 3-1 Er) 3.4 3 | 3-5 PR | 3-35 er) 


Auch hier sind in Apparat 1, wo als Aussenflüssigkeit eine Na,C0,-Lösung 
genommen wurde, welche gerade mit dem Gesammtalkaligehalt der 
Innenflüssigkeit übereinstimmte, Innen- und Aussenflüssigkeit im Gleich- 


6 H. J. HAMBURGER: 


gewicht, woraus folgt, dass in der Innenflüssigkeit sich nur diffu- 
sibles Alkali befand. 
Jetzt die dritte Versuchsreihe. 


Aussenflüssigkeit | Innenflüssigkeit 


20 «= der Flüssigkeit entsprechen | 20 °® der Flüssigkeit entsprechen 


vor d. Diffusion |nach d. Diffusion | vor d. Diffusion | nach d. Diffusion 
\/,,.norm. Weinsäure !/,;.norm. Weinsäure 
ImsApploa2.i 4.0 cm 4.0 cm 40H 4.0 com 
22 ” Bun. 45 „ 4-25 Er) 40 39 42 s 
en Sa au BeTig, | 40 „ 3-65 „ 


Auch hier wurde wieder durch die Innenflüssigkeit CO, geleitet, ohne 
dass hierdurch der Alkaligehalt zunahm. 


Und jetzt die zweite principielle Frage: 


b) Enthält der Alkoholniederschlag bloss nicht diffusibles Alkali? 


Zur Beantwortung dieser Frage wurden 100 °” Pferdeserum mit 200 © @ 
96 procentigem Alkohol versetzt, der Niederschlag abfiltrirt und wieder- 
holte Male mittelst 96procentigem Alkohol ausgewaschen. Das Auswaschen 
geschah dadurch, dass der feuchte Niederschlag in einem gut gereinigten 
Tuch! ausgepresst wurde, dann in frischem Alkohol vertheilt, wieder aus- 
gepresst u. s. w.,, bis die auf den vierzigsten Theil eingeengte Flüssigkeit 
nicht mehr alkalisch reagirte. 


Der also erhaltene Niederschlag wurde nun vertheilt in Wasser und 
das Gemisch wurde in den Dialysator gebracht. Die Aussenflüssigkeit war 
Wasser. 

24 Stunden nachher war weder im Dialysator noch in der Aussen- 
flüssigkeit alkalische Reaction zu constatiren. Im durch 96procentigen 
Alkohol entstandenen Niederschlag ist also kein diffusibles 
Alkali vorhanden. 

Wohl kann es aus demselben freigemacht werden, wenn man nur CO, 
durch den weissen Brei hindurchleitet. Innerhalb einer Viertelstunde war 
dann die Reaktion der Innen- und Aussenflüssigkeit sehr deutlich alkalisch. 


Aus dem unter a) und b) erhaltenen Daten geht also hervor, dass das 
Prineip der Methode richtig ist. 


" Wo’es sich um solche geringe Quantitäten Alkali handelt wie hier, muss man 
das anzuwendende Tuch sehr sorgfältig ausspülen. Ich liess es, ebenso wie das Per- 
gamentpapier, wenigstens 24 Stunden in kräftig strömendem Wasser liegen, und das 
genügte, um die alkalische Reaetion des Tuches und die saure Reaction des Pergament- 
papieres zu entfernen. 


TRENNUNG U, S. W. VON ÄALKALI IN. SERÖSEN FLÜSSIGKEITEN. fi 


3. Weiteres über die Methode. Prüfung der mit derselben ge- 
wonnenen Resultate mittelst directer Diffusionsversuche. 


Jetzt wollen wir unsere Methode genauer beschreiben und deren 
Resultate prüfen mittelst directer nach dem Loewy-Zuntz’schen Verfahren 
ausgeführter Diffusionsversuche. Sprechen wir erst über die Versuche mit 
Serum, dann über die Experimente mit Blut. 

Wie gesagt, wird das Serum mit dem zweifachen Volum 96proe. 
Alkohol versetzt und dann filtrirt. Filtrtum mit Niederschlag werden 
in einem sorgfältig, mittelst strömenden Wassers ausgewaschenen Tuch aus- 
gepresst, und das trockene Residuum in einem Mörser mit frischem, 
96proc. Alkohol verrieben, wieder filtrirt, ausgepresst, mit Alkohol, ver- 
rieben, filtrirt und ash Die ausgepressten trüben Waschflüssiekeiten 
werden durch ein vorher mit Alkohol befeuchtetes Filter filtrirt und alle 
also erhaltenen Flüssigkeiten. mit dem ursprünglichen Filtrat vermischt. 
Diese alkoholische Flüssigkeit wird auf dem Wasserbade zu einem kleinen 
Volum eingeengt und die von Alkohol. befreite Lösung mit Wasser an- 
gefüllt. Es wird gerade so viel Wasser hinzugefügt, dass die 
Flüssigkeit dasselbe Volum hat, wie das ursprüngliche Serum. 
Die Titration findet statt mit !/,.-norm. Weinsäure, und Lakmoidpapier als 
Indicator. Um empfindliches Lakmoidpapier anzufertigen, kann man das 
käufliche Lakmoid benutzen, und dasselbe reinigen nach der von Böck- 
mann gegebenen Vorschrift.! 

Hierzu wird dasselbe möglichst fein zerrieben und in kochendem Wasser 
theilweise gelöst. Dann lässt man abkühlen und filtrirt. Zu der Flüssig- 
keit wird ein wenig HCl hinzugefügt. Nach einigen Stunden filtrirt man 
wieder, spült den Niederschlag mit reinem Wasser aus und trocknet das 
Filtrum langsam. Nachdem das Lakmoid in Alkohol gelöst ist, wird die 
Flüssigkeit auf dem Wasserbade eingeengt. 

Ich bemerkte soeben, dass man der zu titrirenden Flüssigkeit das 
Volum des gebrauchten Serums ertheilen muss. Das ist in der That un- 
bedingt nothwendig, um richtige Resultate zu bekommen. 

Wir haben ja oben darauf hingewiesen, dass, wenn man eine alkalische 
Flüssigkeit in zwei Theile vertheilt, die eine Hälfte mit Wasser verdünnt, 
die andere nicht, man bei der Titıation für die verdünnte Flüssigkeit mehr 
Säure verbraucht als für die unverdünnte.e Um dem Lakmoidpapier eine 
rothe Nüance geben zu können, muss ja das Säureübermaass eine gewisse 
Concentration erreicht haben, und das ist bei der nichtverdünnten Flüssig- 


! Böckmann, Chemisch-technische Untersuchungsmethoden. Berlin 1893. Bd. 1. 
3. Aufl. 8.127 und 149. 


8 H. J. HAMBURGER: 


keit früher der Fall als bei der verdünnten. Wenn man mit anderen Worten 
100 «= Serum mit 200 «= Alkohol versetzt, dann filtrirt und die Wasch- 
flüssigkeit mit dem Filtrat vereinigt, so bekommt man eine Flüssigkeits- 
menge von etwa 500 °®, in welcher das diffusible Alkali in viel geringerer 
Concentration vorkommt als in den 100 «= Serum. Um nun den Einfluss 
dieser Verdünnung auf das Resultat der Titration zu umgehen, hat man 
nur die 500 «= auf 100 «m einzuengen. Auf diese Weise enthält die wässerige 
Flüssigkeit das diffusible Alkali in derselben Concentration, in welcher es 
auch im ursprünglichen Serum vorkommt. 

Lassen sich nun die auf diese Weise erhaltenen Resultate durch 
Dialyseversuche bestätigen? 

Um diese Frage zu beantworten, wurden drei Na,00,-Lösungen an- 
gefertigt, eine, welche genau dem gefundenen Titer entspricht, eine stärkere 
und eine schwächere. Gegenüber diesen drei Lösungen wird das Serum 
dialysirt. Und was stellte sich nun heraus? Bei allen Versuchen zeigte 
sich, dass die Alkalispannung des Serums vollkommen unverändert blieb, 
wenn die nach meiner Methode gefundene Na,CO,-Lösung als Aussenflüssig- 
keit gebraucht wurde; die Alkalispannung des Serums stieg aber, wenn die 
Na,CO,-Lösung concentrirter und sank hinab, wenn die Na,CO,-Lösung 
weniger concentrirt war als die mittelst meiner Methode gefundene. 


Versuch. 


100 cem Pferdeserum + 200 = Alkohol von 96°/,. 

Der Niederschlag wird abfiltrirt, ausgepresst, in 96proe. Alkohol 
vertheilt, filtrirt u. s. w. Das Gesammtvolum der Waschflüssigkeiten beträgt 
420 °®. Diese Flüssigkeit wird mit dem ursprünglichen Filtrat (216 °®) 
auf dem Wasserbade eingeengt und dann wieder mit Wasser auf 100 «m 
gebracht. 

Titration mit !/,,-norm. Weinsäure, 


200m = + 6 “m 1/,.-norm. Weinsäure, 

40, =11-7 „ ” „ 

40 „ =11-5 „ ” 2) 
Im Mittel 40 °® der Lösung = 11-6 “= 1/, -norm. Weinsäure, 
fololich@ 2100, 70% a — 


” r)] 

Also enthielten nach meiner Methode 100 “@ Serum 29-25 “@_norm. 
diffusibles Alkali. 

Jetzt werden Dialyse-Versuche angestellt. Innerhalb des Dialysators 
75 °°® Serum, ausserhalb 75 m Na,COQ,-Lösung. Es werden drei solche 
Lösungen angefertigt,! a) eine, welche mit dem soeben gefundenen Titer 
übereinstimmt, d. h. von welcher 40 em — 11:6 m !/,,.norm. Weinsäure; 
weiter b) eine stärkere: 40 «m — 13.6 cm !/,,-norm. Weinsäure; und 
c) eine schwächere: 40 m — 9 com 1/, _norm. Weinsäure. 


' Vergl. für die Bezeichnung der Na,CO,-Lösungen die Anmerkung auf S. 3. 


TRENNUNG U. S. W. VON ALKALI IN SERÖSEN FLÜSSIGKEITEN. 9 


Nach Dialysirung während 26 Stunden werden die Aussenflüssigkeiten 
a) b) und e) titrirt. 
Es stellt sich heraus, dass 
40 ccm von Flüssigkeit a) = 11.65 °® !/,,-norm. Weinsäure 
40 „ von ” b) = 13.05 „ ” ” 
40 „ von R: OLE = 3 
Hieraus geht hervor, dass Flüssigkeit a fast ganz unverändert ge- 
blieben ist. Flüssigkeit b ist weniger concentrirt, und Flüssigkeit e con- 
centrirter geworden. 
Meine Methode hat also ein richtiges Resultat geliefert. 
Dasselbe Resultat haben die folgenden Versuche ergeben. 


Versuch. 


100 «= Serum + 200° Alkohol. Der Niederschlag wird ausgewaschen, 
eingeengt und auf 100 °“ zurückgebracht. 
20 cm der also erhaltenen Flüssigkeit entsprechen + 6-5 °® Weinsäure, 
40 „ ” ” ” ” ” 12.3 „ ” 

” ” ” 12.3 „ ” 
Im Mittel 40 «m — 12.3 “ Weinsäure. 

Jetzt werden Dialyseversuche angestellt, mit Serum als Innenflüssigkeit 
und drei Na,CO,-Lösungen als Aussenflüssigkeit. 


” ” ” 


40 °= der Na,CO,-Lösungen entsprechen 


vor der Diffusion | nach der Diffusion 
12-5 cm 1/,.-norm. Weinsäure 12.4 ccm 1/,.-norm. Weinsäure 
13-5 „ D) „ 13 » „ „ 
10 ER 6) „ AT „ ” E2) 
Versuch. 


100 * m Serum -+ 200° Alkohol. Der Niederschlag wird ausgewaschen, 
Filtrat mit Waschflüssigkeit eingeengt und auf 100 °” zurückgebracht. 
Im Mittel 40 em — 12.9 m 1/,.-norm. Weinsäure. 
Dialyseversuche lehren: 


04 


40 «= der Na,CO,-Lösungen entsprechen 


vor der Diffusion nach der Diffusion 
12.9 m 1/, -norm. Weinsäure 12.9 ccm 1/, -norm. Weinsäure 
14 ” ” E 13-4 E vb) „ 
E22, ” „ 11=37,, „ ”» 
Versuch. 


100 ° Serum + 200° Alkohol. Der Niederschlag wird ausgewaschen, 
Filtrat mit Waschflüssigkeit eingeengt und auf 100 °“ zurückgebracht. 
40 m — 14.5 u 1/,.-norm. Weinsäure. 


10 H. J. HAMBURGER: 


Dialyseversuche lehren: 


40 ccm der Na,CO,-Lösungen entsprechen 


vor der Diffusion nach der Diffusion 
14-5 cem !/,.-norm. Weinsäure 14-4 cem !/,.-norm. Weinsäure 
1 ” „ Er 15°5 Er) „ ” 
13.4 Er} er) Er) 14 E+) Er} er} 


Auch aus dem letzten Versuche geht hervor, dass die mittelst 
unserer Methode gewonnenen Werthe von den directen Dialyse- 
versuchen bestätigt werden. | 

Bis jetzt handelte es sich um Serum, auch für das Gesammtblut lässt 
sich die Methode anwenden. 

Als ich aber entsprechend dem beim Serum geübten Verfahren, das 
Gesammtblut mit dem doppelten Volum Alkohol versetzte und in Filtrat 
und Waschflüssigkeit das Alkali bestimmte, so wich im Gegensatz zu dem 
beim Serum Beobachteten das Resultat von dem bei der Dialyse ge- 
wonnenen ab. 

Es schien mir, dass die Ursache darin gelegen sein könnte, dass nach 
Vermischung des Blutes mit Alkohol die Blutkörperchen nicht alles diffusible 
Alkali an die Flüssigkeit abgeben. Ich habe darum die Blutkörperchen 
zerstört und zwar auf zwei Weisen, nämlich durch Vermischung des 
Blutes mit 100°), Wasser und auch durch Gefrieren und Aufthauen. 
Letzteres Verfahren ist aber für Pferdeblut weniger geeignet, weil dasselbe 
schwer lackfarben wird. 


Versuch: 


200 «= Pferdeblut werden mit 200 “m Wasser versetzt. Die wässerige 
Lösung wird in zwei Theile vertheilt; ein Theil wird mit der doppelten 
Alkoholmenge versetzt, während der andere der Dialyse unterworfen wird. 

100 ©°® des verdünnten Blutes werden mit 200 «m 96procentigem 
Alkohol versetzt. Der Niederschlag wird filtrirt, das diffusible Alkali auf 
die beim Serum beschriebene Weise tüchtig ausgewaschen und die Wasch- 
flüssigkeit mitsammt dem Filtrat vorsichtig auf dem Wasserbade eingeengt 
und dann auf 100 °® gebracht. 

Von dieser Flüssigkeit entsprechen 20 em +4 cm 1/9, n. Weinsäure, 

” ” ” ” 40 ” 7 ” 5 » 

” ” ” ) 40 ” OR, las ” ” 

Im Mittel enthalten 100 ““ der Flüssigkeit oder was dasselbe ist, 
100 °®® des verdünnten Blutes 17-4 cm /,,-norm. diffusibles Alkali. 

Jetzt werden drei Na,CO,-Lösungen angefertigt. 

a) eine von welcher 40 «m 6.9 '/ss-norm. Weinsäure entsprechen 

b) ” ” ) 40 „ 8 

€) ” ” ” 40 „ 6 


7 


2 
” „ „ 


” „ . „ 


TRENNUNG U. S. W. VON ALKALI IN SERÖSEN FLÜSSIGKEITEN. 11 


Gegenüber je 75°" dieser Lösungen als Aussenflüssigkeit werden 75 «m 
des ursprünglichen verdünnten Blutes als Innenflüssigkeit während 27 Stunden 
dialysirt. 

Nach dieser Zeit lehrt die Titration Folgendes: 

40 m Flüssigkeit a) — 7 °@ 1/,.-norm. Weinsäure, 
40 „ ; „ b) 7.5 „ ” ” 
40 ” 2) e) 6-6 ” ) „ 

Aus diesen Resultaten geht hervor, dass mit der Na,00,-Lösung 
a die mit Wasser verdünnte Blutflüssigkeit im Alkaligleichgewicht ist, und 
es ist gerade diese Lösung, welche auch durch unsere Alkoholmethode als 
solche angewiesen war. 

Ich werde hier noch zwei der diesbezüglichen Versuche anführen. 


Il 


Versuch. 


200 «m Kalbsblut werden mit 200 °® Wasser versetzt. Diese wässerige 
Lösung wird in zwei Theile vertheilt; ein Theil wird mit der doppelten 
Alkoholmenge versetzt, während der andere der Dialyse unterworfen wird. 


100 «= des verdünnten Blutes werden mit 260 “" 96proeentigem Al- 
. kohol versetzt. Der Niederschlag wird filtrirt; das diffusible Alkali auf die 
beim Serum beschriebene Weise ausgewaschen und die Waschflüssigkeit 
mitsammt dem Filtrat auf dem Wasserbade eingeengt und dann auf 100 °® 
zurückgebracht. 

40 «m dieser Flüssigkeit entsprechen im Mittel 10-8 «= 1/,.-norm. 
Weinsäure. 

Jetzt werden Dialyseversuche angestellt, das mit Wasser verdünnte 
Blut als Innenflüssigkeit und die drei Na,00,-Lösungen als Aussenflüssigkeit. 


Die Dialyseversuche lehren: 


40cm der N 3,00,-Lösungen entsprechen 


vor der Diffusion | nach der Diffusion 
10.8 eem !/,.-norm. Weinsäure | 10-75 eem !/,.-norm. Weinsäure 
12-2 „ ED ” ' 11,8, 5, „ 2) 
9-5 er) 93 2) | 10-2 Er) Er Er 


Versuch. 


200 m Pferdeblut (A. maxillaris) werden mit 200 “® Wasser versetzt. 
In 100 “ des verdünnten Blutes wird nach unserer Methode das diffusible 
Alkalı mittelst Alkohol bestimmt. 

Im Mittel entsprechen 40 “m des verdünnten Blutes 6.9 “® 1/, -norm.- 
Weinsäure. 


12 H. J. HAMBURGER: 


Die Dialyseversuche lehren: 


40 ccm der Na,CO,-Lösungen entsprechen 


vor der Diffusion nach der Diffusion 
6.8 cem !/,.-norm. Weinsäure 6-.8cem !/,.-.norm. Weinsäure 
8 ” N » 7-6 ” „ „ 
5-5 ’ er Er} 6-2 er) 9 er 


Nicht nur für Serum, sondern auch für das Gesammtblut 
giebt also unsere Methode zur Bestimmung des diffusiblen 
Alkali richtige und sehr genaue Resultate. 

Bei allen vorigen Versuchen wurden die Blutkörperchen zerstört durch 
Vermischung des Blutes mit 100°/, Wasser. Wie gesagt, erzielt man ganz 
dasselbe durch Gefrieren und Aufthauenlassen und man hat dabei noch 
den Vortheil, dass das Blut nicht mit Wasser verdünnt zu werden braucht. 
Weil die Pferdeblutkörperchen, sogar nach wiederholtem Gefrieren und Auf- 
thauen, sich schwer zerstören lassen, haben wir für den vorliegenden Zweck 
Schweinsblut und Kalbsblut gebraucht. Ich werde hier zwei Versuche mit 
Schweinsblut und einen mit Kalbsblut anführen. 


Versuch. 


250 °® Schweinsblut werden durch Gefrieren und Aufthauen lack- 
farben gemacht. 

100 °® werden mit 200 «= Alkohol von 96°/, versetzt. Der Nieder- 
schlag wird filtrirt, das diffusible Alkali auf die beim Serum beschriebene 
Weise mit Alkohol ausgewaschen, die Waschflüssigkeit mitsammt dem 
Filtrat auf dem Wasserbade vorsichtig eingeengt und mit Wasser auf 100 em 
gebracht. 


Von dieser Flüssigkeit entsprechen 20 «m + 4 cm !/,,.norm. Weinsäure, 
„ „ 2) „ 40 „ 7.6 „ „ „ 
” 3) „ ”„ 40 „ ö „ „ „ 
Im Mittel enthalten 100 «m der Flüssigkeit, oder was dasselbe ist, 
100 °® des Gesammtblutes 19.2 ccm !/,,-norm. diffusibles Alkali. 


Jetzt werden behufs der Dialyse drei Na,00,-Lösungen angefertigt: 


a) eine, von welcher 40 «m 7.7 ccm "/as-norm. Weinsäure entsprechen, 
b) „ „ „ 40 „ 8-5 „ „ „ „ 
c) „ „ „ 40 ” 6.7 „ „ „ er) 


Innerhalb des Dialysators befinden sich 30 m des lackfarbenen Blutes; 
ausserhalb des Dialysators befinden sich 60 «m der drei Na,CO,-Lösungen. 
Nach 29 Stunden lehrt die Titration der Aussenflüssigkeiten Folgendes: 

20 °°® Flüssigkeit a) = 3.8 em 1/,..norm. Weinsäure, 
20 „ „ b) = 4. „ „ 
20 „ „ ec) = 3-5 „ „ 


” 


” 


TRENNUNG U. S. W. VON ALKALI IN SERÖSEN FLÜSSIGKEITEN. 13 


Aus diesem Resultate geht hervor, dass das lackfarbene Blut mit der 
Flüssigkeit a im Alkaligleichgewicht ist und es ist gerade diese Lösung, 
welche auch durch unsere Alkoholmethode als solche ausgewiesen war. 

Die zwei anderen Versuche geben ein ähnliches Resultat. 


Versuch. 


50 °@ durch Gefrieren und Aufthauen lackfarben gemachtes Schweins- 
blut werden mit 100 °” Alkohol versetzt. Der Niederschlag wird abfiltrirt, 
ausgewaschen, die Waschflüssigkeit mitsammt dem Filtrat auf dem Wasser- 
bade vorsichtig eingeengt und auf 100 “” gebracht. 

40 ° m dieser Flüssigkeit entsprechen 8-1 °" 1/,..norm. Weinsäure. 

Jetzt werden behufs der Dialyseversuche drei Na,00,-Lösungen an- 
gefertigt, eine, deren 40 m 8.1 °m, eine zweite, deren 40 m 9.6 em und 
eine dritte, deren 40 «m 7 ccm 1/..norm. Weinsäure entspricht. 

Diese Na,00,-Lösungen werden als Aussenflüssigkeit, das lackfarbene 
Blut als Innenflüssigkeit genommen. 

Das Resultat ist: 


20cm der Na,CO,-Lösungen entsprechen 


vor der Diffusion nach der Diffusion 


4.05 ccm 1],.-norm. Weinsäure | 4.1 ccm !/,.-norm. Weinsäure 

280, “ E) | A, „» ” 

SD, „ ” | 38 „ „ ” 
Versuch. 


200 «= defibrinirtes Kalbsblut werden lackfarben gemacht durch Gefrieren 
und Aufthauen. 

In 50 @ wird nach Versetzung mit 100 “” Alkohol das diffusible 
Alkali bestimmt. 40 “® des lackfarbenen Blutes enthalten 12.2 m diffu- 
sibles Alkali. Jetzt werden behufs Dialyseversuche drei Na,CO,-Lösungen 
angefertigt. 40 °“ derselben entsprechen 12.2, 14 und 10 “m 1/,.-norm. 
Weinsäure. 

Diese Lösungen werden als Aussenflüssigkeit, das lackfarbene Blut als 
Innenflüssigkeit genommen. 

Das Resultat der Diffusionsversuche ist: 


20 ccm der Na,CO,-Lösungen entsprechen 


vor der Diffusion nach der Diffusion 
6-1 ccm 1/,.-norm. Weinsäure 6.1 ccm 1/,.-norm. Weinsäure 
Ü 2) Ei) er] 6-7 Er] Er} Er) 
d Er} Er} » 5.7 „ Er) ” 


Nicht nur für das durch Wasserverdünnung, sondern auch für 
das durch Gefrieren und Aufthauen lackfarben gemachtes Blut giebt 


14 H. J. HAMBURGER: 


also unsere Methode zur Bestimmung des diffusiblen Alkali genaue 
Resultate. 


Und dass die Resultate des durch Wasserverdünnung und des durch Ge- 
frieren und Aufthauen lackfarben gemachten Blutes dieselben sind, lehrt zum 
Ueberfluss noch der Versuch, wobei das letztgenannte defibrinirte Kalbsblut 
durch Verdünnung mit 100°), Wasser lackfarben gemacht wurde. 

50 m dieses Blutes wurden mit 50 «= Wasser und das Gemisch mit 
200 «= Alkohol versetzt. Der Niederschlag wurde abfiltrirt und aus- 
gewaschen; die Waschflüssigkeit wurde mitsammt dem ersten an ein- 
geengt und die Flüssigkeit auf 50 °® zurückgebracht. 

20 «= dieser Flüssigkeit entsprachen 6-05 °® !/,.-norm. Weinsäure, 
ein Resultat, welches vollkommen übereinstimmt mit dem durch Gefrieren 
und Aufthauen lackfarben gemachten Blute. 


Benutzen wir jetzt unsere Methode zu einem Zweck, für welchen das 
Loewy-Zuntz’sche Verfahren nicht geeignet ist, nämlich zu einer ver- 
gleichenden Bestimmung des Gehaltes an diffusiblem Alkali von Carotis- 
und Jugularisblut. 

In zwei Messcylinder von 100 “=, welche je 50 «= Wasser enthalten, 
werden 50 °® Blut aus der V. jugularis und 50 «m aus der A. carotis 
eines Kalbes aufgefangen. 

Nach guter Vermischung werden die 100 «m mit 200 em Alkohol 
von 96°/, versetzt. Es wird filtrirt, der Niederschlag wird sorgfältig mit 
Alkohol ausgewaschen, Filtrat und Waschflüssigkeit vermischt und das Ge- 
misch wird auf dem Wasserbade eingeengt. Nachdem die Flüssigkeit auf 
100 «m gebracht ist, wird dieselbe titrirt. 

Es zeigt sich nun, dass 

20 °® der demJugularisblute entsprechenden Flüssigkeit durch 6 1 em 
1/,,.norm. Weinsäure; und dass 

20 °°® der dem Carotisblute entsprechenden Flüssigkeit durch 5-6 cm 
/,,-norm. Weinsäure neutralisirt werden. 

Wie gesagt, lassen sich jene vergleichenden Bestimmungen nicht mittelst 
Diffusion machen; denn 1. kann man bei Diffusionsversuchen den natür- 
lichen CO,-Gehalt nicht unverändert halten, 2. findet kurz nach dem Auf- 
fangen Is Blutes in Wasser Gerinnung statt, wodurch natürlich die Dialyse 
unmöglich wird. 

Ein Resultat, welches genau mit dem soeben erwähnten übereinstimmt, 
wurde erhalten bei der Vergleichung des Blutes aus der Vena und Arteria 
masseterica des Pferdes. 

Die gebrauchten Quantitäten waren dieselben wie beim Kalbsblut. 
Es stellte sich nun heraus, dass 


TRENNUNG U. S. w. VON ALKALI IN SERÖSEN FLÜSSIGKEITEN. 15 


90 «cm der dem Blut der Vena masseterica entsprechenden Flüssigkeit 
durch 5.1 m 1/,.-norm. Weinsäure, und 

20 «m der dem Blut der Art. mesenteriea entsprechenden Flüssigkeit 
durch 3.9 «m 1/,.-norm. Weinsäure neutralisirt wurden, 


4. Abkürzung der Methode für vergleichende Bestimmungen. 


Wenn in kurzer Zeit viele Bestimmungen des diffusiblen Alkali ge- 
macht werden sollen, wie es z. B. oft für klinische und auch oft für 
experimentelle Zwecke der Fall sein kann, so ist die beschriebene Methode wohl 
etwas umständlich. Das wiederholte Auswaschen und Filtriren und dann 
das schliessliche Einengen erfordern ziemlich viel Zeit. 


Ich habe mir darum die Frage vorgelegt, ob die Methode nicht dahin 

vereinfacht werden könnte, dass die zu untersuchende seröse Flüssigkeit 
einfach mit dem doppelten Volum Alkohol versetzt würde und man in 
einer bekannten Menge des alkoholischen Filtrates das Alkali auf die gewöhn- 
liche Weise mittelst Weinsäure und Lakmoidpapier bestimmte. Bringt man 
nun das Volum des Niederschlages als Flüssigkeit in Rechnung, so kann 
man durch eine einfache Multiplikation die gesammte Quantität des diffu- 
siblen Alkali berechnen. 

Ein Beispiel: Um den Gehalt von Pferdeserum an diffusiblem Alkali 
zu bestimmen, werden 100 °® mit 200 «= Alkohol von 96°/, versetzt; 
40 «m des Filtrats erfordern 8.4 = !/,.-norm. Weinsäure. Lässt man nun den 
Niederschlag ausser Betracht, und denkt sich im Ganzen 100+200=300 


Flüssigkeit vorhanden, so würden dann die 100 «= Serum nn XS 4.eem 


— 63 «m 1/,,-norm. diffusibles Alkali enthalten. 


Man muss aber bedenken, dass man bei dieser Berechnung drei 
Fehler macht. 


1. ist es nicht gestattet, den Niederschlag als solchen zu vernach- 
lässigen und als Flüssigkeit in Rechnung zu bringen, zumal nicht, weil im 
Serum die Eiweissmenge bedeutend ist und der Niederschlag also ein grosses 
Volum einnimmt. 


2. findet bei Vermischung von Serum und Alkohol eine Zusammen- 
ziehung statt. Nach Hinzufüsung von 200 «m Alkohol zu 100 «m Serum 
ist das Volum nicht 300, sondern + 293; 


3. ist in der alkoholischen Flüssigkeit im Filtrat das Alkali in einer 
grösseren Verdünnung vorhanden als im ursprünglichen Serum. Und wir 
haben auf S. 3 u. 4 gesehen, wie gross der Einfluss der Verdünnung auf 
die Erscheinung der Grenzreaction, d. h. auf den Werth des Titers ist. 


16 H. J. HAMBURGER: 


Und endlich wäre hier noch eine vierte Bemerkung hinzuzusetzen. 
Die Empfindlichkeit des Lakmoidpapiers nämlich ist in wässerigen Lö- 
sungen etwa zwei Mal grösser als in alkoholischen. Zu 20 «m Wasser 
hatte ich 0.35 em, und zu 20 «m 96procent. Alkohol 0.7 «= 1/,,-norm. 
Weinsäure hinzuzufügen, um Lakmoidpapier zu röthen. Bestimmt man nun 
das diffusible Alkali des Serums in alkoholischer und das Gesammt- 
alkali in wässeriger Flüssigkeit, so darf man die Resultate nicht ohne Weiteres 
mit einander vergleichen. 


Es schien mir erwünscht, den Gesammteinfluss der genannten Fehler 
genau festzustellen. 


Hierzu bestimmte ich den Gehalt an diffusiblem Alkali a) nach der 
abgekürzten und für absolute Werthe fehlerhaften und b) nach der unter 
3 beschriebenen richt abgekürzten, richtigen Methode. 


a) 100 «m Pferdeserum werden mit 200 “= Alkohol versetzt. Es 
können 211 «m abfiltrirt werden. 40°" des Filtrats erfordern 6.8 cm 
1/,,.norm. Weinsäure Bringt man die ganze Summe von 100 + 200 «m 
als Flüssigkeit in Rechnung, und vernachlässigt man den Einfluss der 


Verdünnung auf die Erscheinung der Endreaction, so enthalten die 100 "Serum 


= x6-8=51 em !/,,-norm. diffusibles Alkali. 


b) 100 em Pferdeserum werden mit 200 “m Alkohol versetzt. Nach 
Filtration wird der Niederschlag wiederholte Male mit Alkohol von 96°), 
ausgewaschen. Weiter werden die alkoholischen Flüssigkeiten mit einander 
auf dem Wasserbade eingeengt, auf 100 “” gebracht, und endlich wrid in 


dieser Flüssigkeit das diffusible Alkali bestimmt. Die 100 «® Flüssigkeit ent- 
halten 29 «m 1/, -norm. diffusibles Alkali. 


Vergleicht man die zwei unter a) und b) gewonnenen Zahlen, so stellt 
sich heraus, dass mittelst der abgekürzten Methode der Gehalt an diffusiblem = 
Alkali viel zu hoch gefunden wird. Eigentlich wundert uns das nicht, denn 
alle drei oder besser gesagt, alle vier Fehler, treiben den Gehalt in die 
Höhe. Man könnte sich nun die Frage stellen, ob die abgekürzte Methode, 
welche so grosse Fehler macht, wohl brauchbar sei. 


Die Antwort muss abhängig gemacht werden von der Beantwortung 
einer anderen Frage, nämlich ob das Verhältniss zwischen dem ge- 
fundenen und dem wahren Alkaligehalt ein constantes sei. Denn in diesem 
Fall hat man, um den wahren Alkaligehalt zu berechnen, den gefundenen 
nur mit einem Coöfficient zu multipliciren. 


Ich habe darum beim Serum von verschiedenen Pferden diesen Coötfi- 
cienten bestimmt. 


TRENNUNG U. S. W. VON AÄLKALI IN SERÖSEN FLÜSSIGKEITEN. 17 


Die Versuche sind auf vollkommen dieselbe Weise, mit denselben 
(Quantitäten angestellt worden als der im Anfang genannte. Um die Zahlen 
der nicht abgekürzten, richtigen Methode zum Ueberfluss zu controliren, sind 
noch auf die schon beschriebene Weise Diffusionsversuche angestellt worden. 


Tabelle. 


100cem Pferdeserum erfordern 


nach der nicht abgekürzten, Coefficient 


nach der abgekürzten Methode | richtigen Methode 


51 eem !/,.-norm. Weinsäure 29 ccm 1), .-norm. Weinsäure 0.568 
58-5 ,, M 4 Sa he 2 0-564 
» n 36-1 „ = % 0-574 
11 „ 9 „ 34-7 „ en % 0-569 
354 5 > » DA » „ 0-581 


Wie man sieht, weichen die für den Coöfficient erhaltenen Werthe 
wenig von einander ab. Im Mittel beträgt derselbe 0-571. 

Dass die Coöffieienten wirklich mit einander übereinstimmen würden, 
war zu erwarten, denn die Serumsorten wichen wenig im Eiweissgehalt von 
einander ab. Die specifischen Gewichte betrugen 1027-5, 1027, 1028, 
1028.75, 1027. Und schliesslich ist es doch der Biweissgehalt des Serums, 
welcher die Abweichung vom wahren Alkaligehalt herbeiführt. 

Daher kann es denn auch nicht gestattet sein, den gefundenen 
mittleren Coefficient für jede beliebige Serumsorte ohne Weiteres zu ge- 
brauchen. Das geht u. A. hervor aus dem folgenden Versuch, wobei 
Pferdeserum mit dem gleichen Volum Wasser verdünnt und der Eiweiss- 
gehalt also herabgesetzt wurde. 


100 eem des mit 100 Procent Wasser verdünnten Pferdeserums 
erfordern Coöffieient 
nach der abgekürzten Methode nach der nicht abgekürzten Methode 


45 cm !/,.-norm. Weinsäure | 32.6 ccm 1/,.-norm. Weinsäure 0-725 


Dieser Coöfficient ist grösser als der beim unverdünnten Serum ge- 
fundene, oder, was dasselbe ist, bei Verminderung des Eiweissgehaltes 
werden auch die durch Vernachlässigung des Niederschlags herbeigeführten 
Fehler kleiner. 

Indessen zeigen die verschiedenen Serumsorten wohl höchst selten 
Unterschiede im Eiweissgehalt von 100 Proc. und kommt es in sehr vielen 
Fällen nur darauf an, den Alkaligehalt von Serumsorten zu vergleichen, 
welche in Eiweissgehalt nur unbedeutend von einander abweichen, so z. B. 
bei der Untersuchung des Einflusses verschiedener Bakteriengifte und anderer 


Agentien auf die Alkalescenz der Blutflüssigkeit bei demselben Thier oder 
Archiv f. A. u. Ph. 1898. Physiol, Abthlg. 2 


18 H. J. HAMBURGER: 


bei der Vergleichung der Menge an diffusiblem Alkali in arteriellem und 
venösem Blute u. Ss. w. 

In allen diesen Fällen, wo es sich um vergleichende Bestim- 
mungen des diffusiblen Alkali in Blutsera handelt, deren Ei- 
weissgehalt nicht mehr als 1 Proc. von einander abweichen, kann 
man ohne Furcht von nennenswerthen Fehlern die abgekürzte 
Methode anwenden. Man hat nur gleiche Volumina des alko- 
holischen Filtrats zu titriren, und die also gefundenen Zahlen 
geben dann das Verhältniss zwischen den in den untersuchten 
Sera vorhandenen Quantitäten diffusiblen Alkalis an. Wünscht 
man die absolute Quantität zu kennen, was für die meisten 
Fälle überflüssig ist, so hat man nur mit einem Coeffieienten 
zu multiplieiren. 

Zeigen wir an ein paar Beispielen, wie die abgekürzte Methode sich 
anwenden lässt für vergleichende Bestimmungen des diffusiblen Alkaligehaltes 
von Carotis- und Jugularisblutserum. Nehmen wir zu diesem Zweck die 
Sera der ausser Luftzutritt defibrinirten Blutsorte und auch die der coagulirten. 
Stets wurden 50 «= Blut einfach versetzt mit 100 “® Alkohol, filtrirt und 
eine gewisse Menge des Filtrats titrirt. 

(a) 20 «m Filtrat des durch Defibriniren erhaltenen Carotisserums 
— 3.5 cm 1/ norm. Weinsäure. 

(b) 20 «m Filtrat des durch Defibriniren erhaltenen Jugularisserums 
— 4.7 em 1/,,-norm. Weinsäure. 

(a) 20 cm Filtrat des aus dem Blutkuchen ausgepressten Carotisserums 
— 3.4 cm 1/ „-norm. Weinsäure. 

(b) 20 «m Filtrat des aus dem Blutkuchen ausgepressten Jugularisserums 
— 4.8 cm 1/,.-norm. Weinsäure. 

Dass diese Zahlen 3-5, 4-7, 3-4 und 4-8 wirklich die Verhältnisse 
der ganzen in den Sera vorhandenen Mengen diffusiblen Alkalis angeben, geht 
hervor aus den Bestimmungen der absoluten Quantitäten des diffusiblen Alkali 
nach der nicht abgekürzten Methode (Auswaschen, Einengen und mit Wasser 
auf das ursprüngliche Volum zurückbringen). 

50 «m Carotisserum (a) entsprechen 15.2 °m 1, .-norm. Weinsäure. 


50 „ Jugularisserum (b) ” 2 0EUl0E,, > s 
50 „ Carotisserum (a) . 14.7 „ „ > 
50 „ Jugularisserum (b’) 3 20-3 „ 5 h 


Nach der abgekürzten Methode enthält ja Jugularisserum (b) 
Sn ——- x 100 = 34.3 Procent mehr diffusibles Alkali als Carotisserum (a) 


—— x 100 = 41 Procent mehr diffusibles 


Alkali als Carotisserum (a). 


und Jugularisserum (b’) 


TRENNUNG U. S. W. VON ALKALI IN SERÖSEN FLÜSSIGKEITEN. 19 


Die nichtabgekürzte Methode giebt für die Unterschiede bezw. 
u x 100 = 32-6 Procent und a x 100 = 38-1 Procent, 
welche beiden Zahlen mit 34-3 und 41 auf sehr befriedigende Weise über- 
einstimmen; und berechnen wir nun endlich aus den nach der abgekürzten 
Methode -erhaltenen Zahlen 3-5, 4-7, 3-4 uud 4-8 mit Hülfe des 
Coeffiecienten 0-571 die absoluten Mengen diffusiblen Alkalis, so bekommt man 


50 + 100 


(a) 3.5 x 9 #100 x 0.571 = 14-98, 

(b) 4-7 x 039° x 0.571 20.12, 

ken). der a5 FI salasi, lien 
50,+ 100 


(b) 4-8 x 55 x 0571 = 20.55. 

Diese durch Berechnung gefundenen Zahlen: 14.98, 20.12, 14-5, 
20-55 stimmen auf höchst befriedigende Weise überein mit den wirklich 
gefundenen: 15.2, 20-1, 14-7 und 20-3. 

Für das Serum giebt also die abgekürzte Methode aus- 
gezeichnete Resultate. 

Die Bestimmung des diffusiblen Alkali des Gesammtblutes nach 
der abgekürzten Methode ist aber mehr beschränkt, weil das relative Volum 
von Blutkörperchen und Serum grossen Schwankungen unterworfen ist und 
wie Loewy und Zuntz bereits gefunden und ich mittelst meiner Methode 
bestätigen konnte, die Blutkörperchen viel weniger diffusibles Alkali ent- 
halten als das Serum. 

Um einen Eindruck zu bekommen von der Grösse des betreffenden 
Coefficienten wurden wieder zwei Bestimmungen ausgeführt, eine a) nach 
der abgekürzten, die andere b) nach der nicht abgekürzten Methode. Hierzu 
wurde Schweinsblut mittelst Gefrieren und Aufthauen lackfarben gemacht. 

a) 100 ccm des lackfarbenen Blutes werden mit 200 «= Alkohol ver- 
mischt und in 40 “m des Filtrats das diffusible Alkali bestimmt. 

40 ® des Filtrats erfordern im Mittel 5.8 cm 1/,.-norm. Weinsäure. 

300 m Flüssigkeit entsprachen also 00 x 5-8 «= %/,-norm. Wein- 
säure = 43.5 «m 1/,.-norm. Weinsäure. 

b) 100°°® des lackfarbenen Blutes werden wieder vermischt mit 200 
Alkohol, der Niederschlag abfiltrirt und wiederholte Male mittelst Alkohol 
ausgewaschen. Waschflüssigkeit und Filtrat werden zusammen eingeengt 
und dann mittelst Wasser auf 100 «= gebracht. 

Diese 100 «= erfordern 19 «m 1/,.-norm. Weinsäure. 

19 


Der Coäffhieient ist also m5 > 0.407. 


20 H. J. HAMBURGER: 


Indessen muss man bedenken, dass der Coöfficient ein anderer wird, 
wenn das Verhältniss des Blutkörperchenvolums zum Blutflüssigkeitsvolum 
sich ändert. 

Bei vielen vergleichenden Untersuchungen kommt Letzteres jedoch 
nicht in Betracht und in diesen Fällen giebt die abgekürzte Methode sehr 
brauchbare Resultate. 

Das geht hervor aus folgendem Beispiel: 

Vergleichende Bestimmung des diffusiblen Alkali in arte- 
riellem und venösem Kalbsblut (Carotis- und Jugularisblut). 


1. Abgekürzte Methode. 


a) Carotisblut: 25 °® Carotisblut werden in 25 “m Wasser aufgefangen 
und das Gemisch wird mit 100 “® 96procentigem Alkohol versetzt. Der 
Niederschlag wird abfiltrirt. 20 cm = 2.5 «m 1/,.-norm. Weinsäure. 

150 
25 + 25 + 100 = 150 “"® entsprechen also 50x 2:5 =18-75 1/,,-norm. 
Weinsäure. 

b) Jugularisblut: 25 °“ Jugularisblut werden in 25 °m Wasser auf- 
gefangen und das Gemisch wird mit 100 “" 96procentigem Alkohol versetzt. 
Der Niederschlag wird abfiltrirt. 20 m = 2.7 “m 1/,.-norm. Weinsäure. 

150 
25 + 25 + 100 = 150 °® entsprechen also 2x 2.7=20-.25°m1/,.-norm. 


Weinsäure. 


2. Nichtabgekürzte Methode. 


a) Carotisblut: 50 °" Carotisblut werden in 50 m Wasser aufgefangen 
und das Gemisch wird mit 200 “® Alkohol versetzt, der Niederschlag aus- 
gewaschen, eingeengt und auf 100 °® zurückgebracht. 20 Cu — 5.4 cm; 
also 100 cm — 27 «m 1j -norm. Weinsäure. 

b) Jugularisblut: 50 ““ Jugularisblut werden genau auf dieselbe Weise 
behandelt wie die 50 °”“ Carotisblut. Es stellt sich heraus, dass 20 «m der 
wässerigen Flüssigkeit = 5-9, also 100 = = 29.5 «m 1/, -norm. Weinsäure. 

Sowohl die abgekürzte, wie die nichtabgekürzte Methode ergiebt, dass 
das Jugularisblut des Kalbes etwa 8 Procent mehr diffusibles Alkali ent- 
hielt als das Carotisblut. 


5. Analyse des diffusiblen Alkali. 


Unsere Methode erlaubt auch, das diffusible Alkali näher zu analysiren. 
Diese Analyse kann geschehen im ersten alkoholischen Filtrat (welches man 
durch Versetzung der serösen Flüssigkeit mit dem zweifachen Volum 
Alkohol bekomint) oder auch in der wässerigen Flüssigkeit, welche die Total- 
menge des diffusiblen Alkali enthält. 


TRENNUNG U. S. W. VON ALKALI IN SERÖSEN FLÜSSIGKEITEN. 21 


Im ersten, alkoholischen Filtrat ist das diffusible Alkali vorhanden als ein 
Gemisch von NaH,PO,, Na,HPO,, NaHCO, und Na,00, nebst den ent- 
sprechenden 'Kaliverbindungen. In der zweiten wässerigen Flüssigkeit ist 
das diffusible Alkali vorhanden als Na,HPO, und Na,CO,, mit Spuren von 
NaH,PO,. Durch Erhitzung auf dem Wasserbade hat sich nämlich das 
NaH,PO, fast ganz verwandelt in Na,HPO, und das NaHCO, in Na,C0,. 

Analysiren wir erst die zweite Flüssigkeit, welche, wie gesagt, Na,HPO, 
Na,CO, und Spuren NaH,PO, enthält. 

Hierzu bestimmen wir erst das NaH,PO,. Dies kann geschehen mittelst 
Phenolphtalein. Dieser Indicator hat nämlich die Eigenschaft, neutral 
zu reagiren gegenüber Na,HPO, und Na,C0,, aber sauer gegenüber 
NaH,PO,. 

Wir setzen zu 50 °® der zu untersuchenden Flüssigkeit 4 Tropfen 
einer alkoholischen Phenolphtaleinlösung hinzu. Das Gemisch ist gelb. 
Weiter lassen wir aus einer Bürette so. lange eine !/,.-norm. NaOH-Lösung 
tröpfeln, bis die Flüssigkeit roth wird. Was ist geschehen? Das NaOH 
hat das NaH,PO, in Na,HPO, verwandelt, und so lange blieb die Flüssig- 
keit noch gelb, aber nach weiterem Hinzutreten von NaOH fing das 
 Phenolphtalein alkalisch, das ist roth, zu reagiren an. Die hierzu ver- 
brauchte Na0OH-Menge betrug niemals mehr als 1.48 «m, 

Jetzt ist alles Carbonat als Na,0O, und alles Phosphat als Na,HPO, 
vorhanden. Und es ist nun die Frage, die Quantität beider zu bestimmen. 

Hierzu lassen wir !/,,.-norm. Schwefelsäure im Uebermaass "zu der 
rothen Flüssigkeit hinzufliessen. Hierdurch verwandelt sich das Na,CO, in 
Na,SO,; und um die CO, zu vertreiben, erhitzen wir. Die Flüssigkeit ist 
indessen wieder gelb geworden durch das Säureübermaass. Die nicht ver- 
brauchte H,SO, wird mittelst KOH zurücktitrirt. Auf diese Weise findet 
man, mit wieviel !/,,-norm. Säure das Na,CO, übereinstimmt. 

Nun besitzt Lakmoid die Eigenschaft mit Na,HPO, und Na,00, 
alkalisch zu reagiren. Wenn man also die ursprüngliche Flüssigkeit mit 
Weinsäure und Lakmoid titrirt, so bestimmt man die ganze in Na,HPO, 
und Na,CO, vorhandene Basenmenge. Subtrahirt man nun von dieser Menge 
die dem Na,C0, entsprechende Quantität, welche soeben mittelst Phenol- 
phtaleinlösung gefunden wurde, so erhält man das in der Flüssigkeit vor- 
handene Na,HPO,.. 

Wenn es sich nur um das Verhältniss der in den Phosphaten und den 
Carbonaten enthaltenen Basenmengen handelt und nicht um die absolute 
Menge derselben, so-kann man auch das erste alkoholische Filtrat analysiren. 
Bei der Titration mittelst Phenolphtalein verfährt man dann auf die- 
selbe Weise wie soeben angegeben; bei der Titration mit Lakmoid aber 
hat man die alkoholische Flüssigkeit erst zu. erhitzen, um die freie und in 


22 H. J. HAMBURGER: 


dissociablem Zustande gebundene CO, zu vertreiben;! dabei verwandelt sich 
das NaH,PO, in Na,HPO, und das NaHCO, in Na,00,. Diese Erhitzung 
hat bloss Zweck für das Phosphat; denn die Titration von °?(NaH00,) ge- 
währt dasselbe Resultat wie die Titration von Na,CO,; beide Salze reagiren 
gegenüber Lakmoid gleich stark alkalisch. Das NaH,PO, aber verhält sich 
gegenüber Lakmoid neutral, das NaH,PO, dahingegen alkalisch, so dass 
bei Anwesenheit von NaH,PO, die den Phosphaten entsprechende Basen- 
menge mittelst Lakmoid nur theilweise bestimmt wird. 

In der That stellt sich dann auch heraus, dass nach der Erhitzung 
das alkoholische Filtrat bei Titration mit Lakmoid eine grössere Säuremenge 
erfordert als vor der Erhitzung. Und das rührt nicht daher, dass die 
CO, als solche auf die Reaction des Lakmoidpapiers Einfluss hat, sondern 
dass unter deren Einfluss ein Theil des Na,HPO, sich in Na,HPO, ver- 
wandelt. Diese Umsetzung wird aufgehoben durch Vertreibung der C0O,. 

Ich lasse hier ein paar Versuche folgen. 


100 °® Serum werden versetzt mit 200 °" 96procentigem Alkohol; 
der Niederschlag wird abfiltrirt. 

a) Titration mit Schwefelsäure und Lackmoid. 50 “ des Filtrats 
— 11-46 °® !/,.-norm. H,SO,. 

b) Titration mittelst NaOH und Phenolphtalein. 50 “@ des Filtrats 
— 0E Ab norm. NaOE. 

c) Zweite Titration mit Phenolphtalein: Die durch die vorige Titration 
rothgefärbte Flüssigkeit wird mit 10 “® !/,.-norm. H,SO, versetzt; die 
Flüssigkeit wird erhitzt, um die CO, zu vertreiben und der Säureüberschuss 
zurücktitrirt mittelst !/,,-norm. NaOH. Hierzu sind nöthig 2-09; also sind 
verbraucht 7.91 °® 1/,.-norm. Schwefelsäure. Im alkoholischen Filtrat 
waren die Basenmengen also vertheilt in den folgenden Verhältnissen: 


NarlsEO, 2. Veen 20 
Na,HPO,. Ä . .0..11-46— 7.91 = 3-55 
Na,C0, und NaHCo, realer erde 

In einem anderen Serum waren die Ergebnisse: 
NaH. BO, ch a ensadkal.ge „09 
Na,HPO, en ln 0, Tea lee 
Na,CO, und NaHCO, HR IR 7-31. 


Indessen möchte ich nachdrücklich hervorheben, dass ich auf die soeben 
beschriebene Methode kein besonderes Gewicht zu legen wünsche; auch 
andere Titrirmethoden können gebraucht werden. Wir haben nur hervor- 
heben wollen, dass unser Verfahren die Analyse der diffusiblen Salze 
zurückbringt zu einer einfachen Aufgabe der anorganischen 
almeolen Chemie. 


2 ie der die Totalmenge der Salze entlialtenden wässerigen Flüssigkeit war das 
schon auf dem Wasserbade geschehen, wie man sich erinnert. 


TRENNUNG U. S. W. VON ALKALI IN SERÖSEN FLÜSSIGKEITEN. 23 


6. Verhältniss zwischen dem diffusiblen und nichtdiffusiblen 
Alkali. 


Um das Verhältniss zwischen dem diffusiblen und nichtdiffusiblen 
Alkali kennen zu lernen, hat man nur das Gesammtalkali und den diffu- 
siblen Theil zu bestimmen. Die Differenz zwischen beiden giebt den nicht- 
diffusiblen Theil. Für die Bestimmung des Gesammtalkali steht uns unter 
Anderem die Methode von Loewy! zu Gebote.” Der Verfasser hat dieselbe 
angewandt für Serum und für das Gesammtblut. Für beide Zwecke lässt 
er so lange !/,.-norm. Weinsäure hinzutröpfeln, bis die zu untersuchende 
Flüssigkeit Lakmoidpapier roth färbt. Loewy hat gefunden, dass es sich 
sehr empfiehlt, bei der Titration des Blutes dasselbe erst lackfarben zu 
machen, weil sonst wegen des langsamen Hineindringens der Weinsäure in 
die Blutkörperchen die darin vorhandenen Alkalien nur unvollkommen 
gebunden werden. 

Unterlässt man die Hinüberführung des Blutes in den lackfarbenen 
Zustand, so muss man statt dessen lange und kräftig mit der Weinsäure 
schütteln. 

Zu der betreffenden Arbeit Loewy’s möchte ich zwei Bemerkungen 
machen. 

1. Auf Seite 476 der betreffenden Abhandlung liest man, dass der 
Verfasser das Blut lackfarben machte erst mittelst Eiswasser, später mittelst 
Glycerin und Wasser aa, und dann schliesslich mittelst einer 0-2 procentigen 
Lösung von oxalsaurem Ammoniak. Er liess das Blut direct in eine ab- 
gemessene Menge der Lösung einlaufen, so dass ungefähr auf neun Theile 
der Lösung ein Theil Blut kam. 

Nun habe ich unter 3. gezeigt, dass es nicht gleichgültig für das 
Resultat der Alkalescenzbestimmung ist, ob man die zu untersuchende 
Flüssigkeit verdünnt. Je stärker man verdünnt, desto höher fällt der 
Alkaligehalt aus. Wie gesagt, liegt der Grund in der Thatsache, dass 
der Weinsäureüberschuss einen gewissen Procentgehalt betragen muss, 


! Die Methode rührt in der ursprünglichen Gestalt von Zuntz her (Beiträge zur 
Physiologie des Blutes. Inaugural- Dissertation. Bonn 1868), wurde dann u. A. von 
Lassar, Landois, v. Jaksch, Cohnstein, Lehmann und schliesslich von Loewy 
modifieirt (vgl. in seiner diesbezüglichen Arbeit in Pflüger’s Archiv, 1894, Bd. LVIII, 
Hft. 9 u. 10, S. 462 auch die betreffende Litteratur). 

®? Man könnte auch die v. Limbeck’sche anwenden (Wiener med. Blätter, 
1895, Nr. 19; auch in v. Limbeck’s Klinische Pathologie des Blutes, 2. Aufl., S. 50) 
Ich habe bis jetzt nur Versuche mit der Loewy’schen Methode angestellt, weil ich 
dann denselben Indicator (Laknıoid) gebrauchen konnte, welcher auch für meine Be- 
stimmung des diffusiblen Alkali benutzt wurde. Bekanntlich ist bei der v. Limbeck- 
schen Methode das Eiweiss der serösen Flüssigkeit der Indicator. 


24 H. J. HAMBURGER: 


um sich auf dem Lakmoidpapier auszusprechen. Die von Loewy er- 
haltenen Zahlen für den Alkaligehalt des Blutes sind demnach zu hoch. 

Dass seine Zahlen höher sind, als diejenigen anderer Forscher und 
seine Titrirwerthe die aus der Aschenanalyse zu berechnende Alkalimenge 
bei weitem übertreffen, hat Loewy! selbst hervorgehoben, und er hat dies 
dadurch zu erklären gesucht, dass bei der Titrirung die !/,,-norm. Wein- 
säure „durch Zersetzung höher constituirter organischer Molecüle Alkali 
freimacht, dass dieses Alkali beim Titriren mit in Wirksamkeit kommt und 
so die hohen Alkalescenzwerthe hervorgerufen werden, die eben nicht nur 
das anorganisch vorhandene, sondern auch organisch gebunden gewesenes an- 
geben. Daher die Differenzen gegen das in der Blutasche enthaltene eben 
nur anorganische Alkali‘. ? 

Ich glaube nicht, dass man die Ursache für den auch ungefähr gleich- 
zeitig von Lehmann hervorgehobenen Mangel an Uebereinstimmung 
zwischen den Blutanalysen und den entsprechenden Aschenanalysen so weit 
zu suchen braucht, wie es die Verfasser thun. Der hohe Alkaligehalt, 
welchen sie beim Titriren finden, muss jedenfalls theilweise 
aus der starken Verdünnung ihres Blutes erklärt werden. 

Es fehlt mir augenblicklich die Zeit, vergleichende Alkalibestimmungen 
in der Asche und im ursprünglichen Blut auszuführen, und dann zu prüfen, 
inwieweit die Verdünnung im Stande ist, die zu findenden Differenzen 
zwischen den Resultaten zu erklären. 

Indessen ist der Fehler, welchen man durch das Ausserbetrachtlassen 
der Wasserverdünnung machen kann, gewiss sehr bedeutend. 

Ein Beispiel: 

20 °® unverdünntes lackfarbenes Schweinsblut erforderten bei der 
Titration des Gesammtalkalis nach Loewy in einem meiner Versuche 
33.8 «m 1/,.-norm. Weinsäure. 

Nun fand ich, wie auf Seite 4 erwähnt wurde, dass 20 «m Wasser 
mit 0:35 °® N/,,-norm. Weinsäure versetzt werden müssten, um eben eine 
rothe Farbe auf meinem Lakmoidpapier hervorrufen zu können. Wenn 
man also 20 «= unverdünnten lackfarbenen Blutes mit der neunfachen 
(Quantität Wasser oder mit demselben Volum O-2procentiger Ammonium- 
oxalatlösung versetzt, so wird man theoretisch 9mal 0.35 «m — 3.15 ccm 
"/as-norm. Weinsäure mehr brauchen, um die Säurereaction auf Lakmoid- 
papier zu erzeugen, als wenn man nicht verdünnt. Für das neunfach 
verdünnte Blut sind deshalb nöthig 33.8 + 3.15 = 36-95 /,,-norm. 
Weinsäure. 


TRENNUNG U. S. W. VON ALKALI IN SERÖSEN FLÜSSIGKEITEN. 25 


Das Experiment zeigte, dass sogar noch mehr Weinsäure nöthig war, 
nämlich 37.3 m, was uns eigentlich nicht wundert, denn die Empfind- 
lichkeit von Lakmoidpapier ist für farblose saure Flussigkeiten grösser als 
für rothe 

Berechnet man alles auf 100 °" Blut, so stellt sich also heraus, dass 
100 ee ® des unverdünnten lackfarbenen Blutes 169 «= 1/,.-norm. Wein- 
säure erforderten, während 100 «= des mit dem neunfachen Volum 
Ammonsalzlösung verdünnten Blutes mit 186-5 «= 1/,.-norm. Weinsäure 


übereinstimmte, was einem Fehler von Den x 100 = 1-05 Procent 


entspricht. 

Einen gleichartigen Fehler macht auch Kraus!, und so weit mir be- 
kannt hat noch kein Forscher, der sich mit Alkalibestimmungen des Blutes 
und Blutserums befasste, Obiges beachtet. 

2. Die zweite Bemerkung ist die folgende: Auf Seite 465 schreibt 
Loewy: „Ein neuer Zweifel ist ganz kürzlich durch eine Mittheilung 
Hamburger’s? wachgerufen worden, der angab, dass es ihm nicht möglich 
gewesen sei, zu Blutserum zugesetztes Alkali beim Zurücktitriren vollständig 
wiederzufinden. Ich hielt es zunächst für nothwendig, diese Angabe nach- 
zuprüfen, da, im Falle, dass sie sich bewahrheitete, die Bluttitrirung, von 
allen anderen Einwänden abgesehen, schon hierdurch als zu exacten Unter- 
suchungen ungeeignet bezeichnet werden musste. Ich habe eine Reihe 
mehrfach variirter Versuche angestellt, in denen ich aber ausnahmslos . 
innerhalb der Fehlergrenzen alles zugesetzte Alkali wiederfand.“ 

Es handelt sich hier um ein Missverständniss; meine Bemerkung, dass 
- nicht alles zu dem Serum hinzugesetzte Alkali bei Titrirung zurückgewonnen 
wurde, bezog sich, wie ich ja hervorhob, nur auf meine Methode. 

Dieselbe bestand schon damals, wenigstens in der Hauptsache, aus dem 
in der vorliegenden Arbeit beschriebenen Verfahren. Es wurde das Serum 
mit dem zweifachen Volum Alkohol versetzt und im Filtrat das Alkali 
bestimmt. 

Vor kurzer Zeit habe ich die Ursache des erwähnten Deficits gefunden. 
Wenn man nämlich zu dem Serum Alkali hinzusetzt, so bleibt nur ein 
Theil desselben diffusibel, der andere Theil geht in den nichtdiffusiblen 
Zustand über, und wird durch Alkohol niedergeschlagen, also nicht mittitrirt. 

Dass dies wirklich der Fall ist, geht aus Versuchen hervor, erwähnt 
in meinem Aufsatz: „Ueber den Einfluss geringer Quantitäten Säure und 
Alkali auf das Volum der Blutkörperchen.“ 3 


1 Archiv für experimentelle Pathologie und Pharmakologie. Bd. XXVI. 
? Dies Archiv. Physiol. Abthlg. 1892. 
® Zittingsverslag der koninkl. Akademie van Wetenschappen. Februari 1897. 


26 H. J. HAMBURGER: 


Ich werde jetzt ein Paar Versuche vorführen, welche den Zweck hatten, 
im Serum und auch im Blut das Verhältniss des diffusiblen zum nicht- 
diffusiblen Alkali zu bestimmen. 


Versuch. 


Das Verhältniss zwischen dem diffusiblen und nichtdiffusiblen Alkali 
im Pferdeserum. 

1. Titration des Gesammtalkali nach Loewy. 

20 «m Serum erfordern im Mittel 15-1 “m 1/,.-norm. Weinsäure, 

100 „ 2) „ also 75-5 „ 2) 2) 

2. Titration des diffusiblen Alkali nach unserer Methode. 

100 °” Serum werden mit 200 °” 96procentigem Alkohol versetzt; 
der Niederschlag wird abfiltrirt, mit Alkohol ausgewaschen; Waschflüssigkeit 
und ursprüngliches Filtrat werden zusammengefügt und auf dem Wasser- 
bade unter Vertreibung des Alkohols eingeengt, dann mit Wasser auf 
100 © gebracht. 

Die Titration mittelst !/,,-norm. Weinsäure und Lakmoidpapier ergiebt: 
20 °" der Flüssigkeit erfordern im Mittel 5.6 “w !/,.-norm. Weinsäure, 
100 , ” I‘ „ also 28 „ ” „ 


In 100 «= Serum waren also vorhanden 28 «m 1/,.-norm. oder 
97 Procent diffusibles, und 47-5 «m oder 63 Procent nicht- 
diffusibles Alkali. 


Gleichzeitig mit dem vorigen Versuch wurden Alkalibestimmungen 
mit Serum ausgeführt, welches mit CO, geschüttelt war. 


1. Titration des Gesammtalkali nach Loewy. 
20 °® CO,-Serum erfordern im Mittel 15-2 °® 1/,.-norm. Weinsäure, 
100 ” ” ” ” also ” ” 76 „ ” ” 


Dieses Resultat weicht kaum von dem beim normalen Serum ge- 
wonnenen ab, was auch nicht wundern kann, weil CO, auf Lakmoidpapier 
keinen Einfluss ausübt. 


2. Titration des diffusiblen Alkali nach unserer Methode. 

100 «® des CO,-Serum werden mit 200 «= 96procentigem Alkohol 
versetzt; der Niederschlag wird abfiltrirt, mit Alkohol ausgewaschen; Wasch- 
Hüssigkeit und Filtrat werden zusammengefügt und auf dem Wasserbade 
unter Vertreibung des Alkohols eingeengt, dann mit Wasser auf 100 cm 
gebracht. 

Die Titration mittelst !/,,-norm. Weinsäure und Lakmoidpapier er- 
giebt, dass 20 “m der Flüssigkeit im Mittel erfordern 7-5 ccm 1/,,norm. 
Weinsäure; 100 °“” der Flüssigkeit erfordern also 37.5 «= 1/,.-norm. Wein- 
säure. In 100 °” des mit CO, geschüttelten Serums waren also vorhanden 
34.5 cm !/,,.norm. oder 49°), diffusibles und 38.5 «m 1/, norm. oder 
51°/, nichtdiffusibles Alkali. Man sieht, dass, wie Loewy und Zuntz 
gezeigt haben, unter dem Einfluss der CO, das diffusible Alkali auf Kosten 
des nichtdiffusiblen zunimmt. ) 


TRENNUNG U. S. W. VON ALKALI IN SERÖSEN FLÜSSIGKEITEN. 27 


Mittelst dieser Methode ist es möglich, numerisch genau festzustellen, 
wie das Verhältniss des diffusiblen und nichtdiffusiblen Alkali unter dem 
Einfluss bekannter OO,-Mengen sich ändert, eine Untersuchung, welche mit 
der Loewy-Zuntz’schen Methode nicht ausführbar ist, weil der CO,-Gehalt 
während des langen Dauerns der Diffusionsversuche nicht constant gehalten 
werden kann. 

Nach unserer Methode wird das nichtdiffusible unmittelbar nach Hin- 
zufügung von Alkohol vom diffusiblen getrennt und festgelegt. 

Um den Einfluss von CO, auf das Diffusibelwerden von Alkali zu 
zeigen, haben die Verfasser dann auch während der ganzen Dauer des 
Diffusionsversuches einen langsameren Strom des Gases durch das Serum 
geleitet (S. 516). 

Jetzt noch einen Versuch, um das Verhältniss des diffusiblen und 
nichtdiffusiblen Alkali im Gesammtblut zu bestimmen. 

125 °® defibrinirtes Kalbsblut wird lackfarben gemacht durch Gefrieren 
und Aufthauen, nicht durch Verdünnung mit Flüssigkeiten, und zwar auf 
dem besprochenen Grund. 

1. Titrirung des Gesammtalkali nach Loewy. 

20 «m des lackfarbenen Blutes erfordern im Mittel 33.8 °m !/,.-norm. Weinsäure 
0, „ „ also 54.5 „ Ups ” ” 

Es ist nicht leicht, die Grenzreaction auf dem Lakmoidpapier fest- 

zustellen. 


2. Titrirung des diffusibeln Alkali nach unserer Methode. 

50 «m des lackfarbenen Blutes werden mit 100 °“ 96proc. Alkohol 
versetzt; der Niederschlag wird filtrirt und mittelst Alkohol ausgewaschen, 
Filtrat und Waschflüssigkeit vermischt und auf dem Wasserbade erhitzt 
unter Vertreibung des Alkohols. Nachher wird der Rückstand durch Wasser 
auf 50 °® gebracht. 

. 20 m der also erhaltenen Flüssigkeit erfordern im Mittel 3.8 «® 1/,.-norm. 
Weinsäure, 

50 ccm der also erhaltenen Flüssigkeit erfordern im Mittel 9.5 m !/,.-norm. 
Weinsäure. 

In 50 «= Blut waren also vorhanden 9.5 cm 1/,-norm. diffusibles 
und 75 «m 1/.-norm. nichtdiffusibles Alkali, oder, was dasselbe ist, 
11.2 Procent diffusibles und 83-8 Procent nichtdiffusibles 
Alkali.! 


! Vergleicht man die Verhältnisse des diffusiblen und nichtdiffusiblen Alkali im 
Serum und in Blut, so zeigt sich unzweideutig, dass im Serum viel mehr diffusibles 
Alkali vorkommt als in den Blutkörperchen. Die letzteren enthalten das meiste nicht- 
diffusible Alkali. Diese Thatsache stimmt mit dem Befund von Loewy und Zuntz 
(a. a. ©.) überein. 


28 H. J. HAMBURGER: 


Gleichzeitig mit dem vorigen Versuch wurden Bestimmungen aus- 
geführt mit demselben Blute, welches mit CO, geschüttelt und nachher lack- 
farben gemacht war. 

1. Titrirung des Gesammtalkali nach Loewy. 

20 «m des CO,-Blutes erfordern im Mittel 33-2 *® 1/,,-norm. Weinsäure, 
50 „ ” ” ” ” 2] 83 ” ” „ z 
2. Titrirung des diffusiblen Alkali nach unserer Methode. 


50 «m des lackfarbenen CO,-Blutes werden mit 100 °® 96proc. 
Alkohol versetzt; der Niederschlag wird filtrirt und mit Alkohol aus- 
gewaschen, Filtrat und Waschflüssigkeit vermischt und auf dem Wasser- 
bade erhitzt unter Vertreibung des Alkohols. Die übrigbleibende Flüssig- 
keit wird mit Wasser auf 50 ““ gebracht. 

20 ec m der also erhaltenen Flüssigkeit erfordern im Mittel 6.1 “= 1/,,-norm, 
Weinsäure, 

50 «m der also erhaltenen Flüssigkeit erfordern also im Mittel 15-25 «m 
l/,„-norm. Weinsäure. 


Das mit CO, behandelte Blut enthielt also — x100=18.3 Pro- 


cent diffusibles und 81-7 Procent nichtdiffusibles Alkalı. 

Während also in dem mit CO, behandelten Kalbsblute 
18-3 Proc. diffusibles gegen 81-7 Proc. nichtdiffusibles Alkalivor- 
kommen, ist das Verhältniss im nicht mit CO, behandelten 
11-2 Procent zu 88-8 Procent, ein Resultat, welches mit den 
Angaben von Loewy-Zuntz übereinstimmt. Ich verfüge noch über 
viele derartige Versuche, welche zu verschiedenen Zwecken angestellt 
worden sind und an der passenden Stelle Erwähnung finden werden. Hier 
werde ich dieselben nicht anführen. Ich beabsichtigte nur an einem Paar 
Beispielen die Methode vorzuführen. 

Herr J. A. Klauwers, Assistent an meinem Laboratorium, hat mit 
Eifer und Sorgfalt an der Ausführung der Versuche mitgearbeitet. Es ist 
mir eine angenehme Pflicht, ihm hierfür meinen besten Dank an dieser 
Stelle auszusprechen. 


<. Zusammenfassung. 


Die vorstehenden Untersuchungen haben Folgendes ergeben: 


I. Die von Loewy und Zuntz und auch von Gürber gemachte 
Unterscheidung des im Serum und in den Blutkörperchen vorhandenen 
Alkali in leicht- und schwerdiffusibles Alkali wird vollkommen bestätigt. 


II. Die Methode von Loewy-Zuntz zur quantitativen Bestimmung 
des diffusiblen Alkali, welche darin besteht, dass mittelst Dialyseversuche 
ausprobirt wird, mit welcher Na,00,-Lösung die zu untersuchende Flüssig- 
keit im Alkaligleichgewicht ist, enthält drei Schwierigkeiten: 


TRENNUNG U. Ss. w. VON ALKALI IN SERÖSEN FLÜSSIGKEITEN. 29 


. Nimmt die Methode sehr viel Zeit in Anspruch. 

. Müssen, wenn die Grenzen, zwischen welchen die richtige Na,C0,- 
Lösung gelegen ist, nicht zu weit auseinander liegen sollen, viele 
Experimente zu gleicher Zeit angestellt werden. 

. Wenn es sich um geringe, durch kleine Unterschiede im CO,-Gehalt 
bedingte Alkalidifferenzen handelt, so ist die Methode kaum 
brauchbar, denn es ist so gut wie unmöglich, bei Dialyseversuchen 
welche 12 bis 24 Stunden oder länger dauern, den Kohlensäuregehalt 
vom Serum oder Blut vollkommen unverändert zu halten. So ge- 

. stattet z. B. die Methode nicht, den Unterschied des diffusiblen 
Alkaligehaltes im natürlichen venösen und arteriellen Blute genau 
festzustellen. Diese dritte Schwierigkeit ist als eine principielle zu 
betrachten. 


DD 


e) 


III. Man kann die genannten Schwierigkeiten umgehen, wenn man das 
diffusible Alkali auf die folgende Weise bestimmt: Man versetzt nämlich 
das Serum oder das Blut mit dem zweifachen Volum 96procentigen Alko- 
hols. Dadurch wird fast momentan das diffusible vom nichtdiffusiblen 
Alkali vollkommen getrennt, denn der nichtdiffusible Theil wird nieder- 
geschlagen, während der diffusible Theil in Lösung bleibt. 

Um letzteren Theil dann völlig abzusondern, wird filtrirt, der auf dem 
Filter sich befindende Niederschlag wird in einem sorgfältig gereinigten 
Tuch ausgepresst, nachher wieder in Alkohol vertheilt, nochmals ausgepresst 
und dasselbe noch viermal wiederholt. Die ausgepressten trüben Wasch- 
flüssigkeiten werden durch ein vorher mit Alkohol befeuchtetes Filter filtrirt, 
dann alle mit einander vermischt und mit dem ursprünglichen Filtrat auf 
dem Wasserbade bis zu einem kleinen Volum eingeengt, wobei auch der 
Alkohol vertrieben wird. Die Flüssiekeit wird nun mit Wasser genau zum 
ursprünglichen ! Volum des Serums oder des Blutes verdünnt und dann 
titrirt mittelst "/,,-norm. Weinsäure und Lakmoidpapier. Auf diese Weise 
bestimmt man das diffusible Alkali. Das erste alkoholische Filtrat lässt 
sich sehr gut zu einer vergleichenden quantitativen Analyse der diffusiblen 
Alkalisalze anwenden. 


IV. Um das Verhältniss zwischen dem diffusiblen und nichtdiffusiblen 
Alkali kennen zu lernen, hat man nur das Gesammtalkali und den diffu- 
siblen Theil zu bestimmen. Die Differenz zwischen beiden giebt den nicht- 
diffusiblen Theil. Für die Bestimmung des Gesammtalkali in Serum oder 
Blut kann man die Methode von Loewy benutzen, welche darin besteht, 
dass die Flüssigkeiten mit Weinsäure und Lakmoidpapier titrirt werden. 


Verslgsubav: 


30 H. J. HAMBURGER: TRENNUNG VON ALKALIT. 


V. Durch Verdünnung von Serum oder Blut mit Wasser findet man 
den Titer des Alkaligehalts gesteigert. Das rührt daher, dass um die 
Rothfärbung des Lakmoidpapieres herbeizuführen, ein Weinsäureüberschuss 
von einem gewissen Procentsatz vorhanden sein muss. Je mehr man die 
zu untersuchende Flüssigkeit verdünnt, desto mehr Weinsäureüberschuss 
muss man hinzufügen, um jenen erforderten Procentsatz zu erreichen. 

Diesem wird es wohl, wenigstens hauptsächlich, zuzuschreiben sein, dass 
Loewy, der das Blut sogar mit dem 9fachen Volum einer verdünnten 
Salzlösung versetzt, solehe hohe Zahlen für den Alkaligehalt des Blutes be- 
kommt, Zahlen, welche über den der Asche entsprechenden Alkaligehalt 
weit hinausgehen. 

Um den betreffenden Fehler zu vermeiden, muss man unterlassen, 
das Blut zu verdünnen, oder man muss von dem mit der verdünnten 
Flüssigkeit erhaltenen Titer gerade so viel Cubikeentimeter !/,,-norm. 
Weinsäure subtrahiren als nöthig waren, um den Einfluss der Verdünnung 
auf die Erscheinung der Rothfärbung zu überwinden. (Vergl. S. 4 und 16). 


VI. Wenn man nur vergleichende quantitative Bestimmungen des 
diffusiblen Alkaligehaltes zu machen hat, so kann man in den meisten 
Fällen die sub III erwähnte Methode sehr abkürzen. Man hat nur ein ge- 
wisses Volum Serum oder Blut mit dem doppelten Volum Alkohol zu ver- 
dünnen und einen bestimmten Theil des Filtrats mittelst Weinsäure und 
Lakmoidpapier zu titriren. Geht man von gleichen Quantitäten des alko- 
holischen Filtrats aus, so geben die dabei gefundenen Titer auch das 
Verhältniss der totalen in den zu untersuchenden Flüssigkeiten vor- 
handenen diffusiblen Alkalimengen an. 

Bei dieser Abkürzung der Methode wird das wiederholte und zeit- 
raubende Auspressen und Auswaschen des Niederschlages vermieden. 

Man kann mittelst dieser abgekürzten Methode nicht nur das Ver- 
hältniss der diffusiblen Alkalimengen, sondern in vielen Fällen auch die 
absolute Menge bestimmen, und zwar durch Multiplication der am alko- 
holischen Filtrat gewonnenen Werthe mit einem Coöfficienten, welcher, da 
derselbe wesentlich vom Volum des Niederschlages abhängt, für jede Blut- 
und Serumsorte festgestellt werden muss. (Vergl. S. 17). 


Ueber den Einfluss geringer Quantitäten Säure 
und Alkali auf das Volum der rothen und weissen 
Blutkörperchen. 


Von 


H. J. Hamburger 
in Utrecht. 


Vor Kurzem habe ich zwei Aufsätze! über den Einfluss von CO, auf 
das Volum und die Form der Blutkörperchen veröffentlicht. Die vorliegende 
Mittheilung enthält eine Fortsetzung jener Untersuchungen. Es wurde 
nämlich jetzt die Frage gestellt, ob es sich bei der Einwirkung von 00, 
um eine specifische Wirkung dieses Gases handelt oder ob auch andere 
Säuren dieselbe Eigenschaft besitzen, d. h. eine Quellung der rothen und 
weissen Blutkörperchen herbeizuführen im Stande sind, und wenn ja, ob 
dann Alkali das Umgekehrte, d. h. AbSchwellung bewirkt. 


I. Volumetrische Versuche. 


Es wurden vier Mal 100 «= defibrinirtes Pferdeblut abgemessen und 
so lange sich selbst überlassen, bis ein klares Serum sich abgeschieden 
hatte. Auf dieses Serum wurden dann vorsichtig 5 “= Wasser, 5 cm 1/0, 
Y/,- und !/,.norm. HC] geschichtet. Jedesmal wurde unmittelbar nach 
der Hinzufügung der Flüssigkeit geschüttelt und 50 «= von dem Gemisch 
in eine fein calibrirte Mohr’sche Bürette mit Glashahn gebracht.? 

24 Stunden nachher wird das Folgende beobachtet. 


1 Sitzungsberichte der k. Akademie der Wissenschaften zu Amsterdam. 283. Nov. 
1896. 8. 208. — Zeitschrift für Biologie. 1897. 8. 252. 

2 Selbstverständlich wurde die Theilung der Büretten erst controlirt und auch 
das Volum zwischen dem Theilstrich 50 und dem Glashahn genau bestimmt. 


32 H. J. HAMBURGER: 


50 em des Gemisches von 100 “”® Blut + 5 “" Wasser zeigen 19.20 «m 
Bodensatz. 

50 «m des Gemisches von 100 “= Blut +5 “= HCI !/,norm. zeigen 
19.30 °® Bodensatz. 

50 m des Gemisches von 100 °® Blut + 5 “= HC] !/,,-norm. zeigen 
19.42 °@ Bodensatz. 

50 em des Gemisches von 100 “= Blut +5 «= HCl 1/ 9.norm. zeigen 
19.51 °@ Bodensatz. 


Man sieht, dass unter dem Einfluss von Salzsäure die 
Senkungsschicht zunimmt. 

Centrifugalversuche gaben ein entsprechendes Resultat. Es wurden 
nämlich die vier Gemische gleichzeitig centrifugirt und zwar so lange, 
bis keine Volumsveränderung des Bodensatzes mehr ersichtlich war. 


10° m des Gemisches von 100 “= Blut + 5°" Wasser zeigen 3.75 °" 
Bodensatz. 


10 «m des Gemisches von 100 “® Blut + 5 “= HCl !/,,-norm. zeigen 
3.775 m Bodensatz. 


10 em des Gemisches von 100 “m Blut + 5 “m HCl !/,,-norm. zeigen 
3.80 °® Bodensatz. 


10 em des Gemisches von 100 °®@ Blut + 5 “w HCl !/ „nmorm. zeigen 
3.83 ° Bodensatz. 


Zum Ueberfluss wurde nun noch das Volum der körperlichen 
Elemente genauer bestimmt und zwar auf die folgende Weise. Nachdem 
wieder die vier genannten Gemische angefertigt waren,! wurde jedes Ge- 
misch in zwei Theile getheilt; ein Theil wurde sich selbst überlassen, 
und vom abgehobenen Serum wurde das specifische Gewicht bestimmt; der 
andere Theil (50 =) wurde versetzt mit 50 “= einer der osmotischen 
Spannkraft dieses Serums entsprechenden Kochsalzlösung. Auch von der 
jetzt sich abscheidenden Serum-Kochsalzlösung wurde das specifische Ge- 
wicht dosirt. Diese Bestimmungen geschahen mit Hülfe eines Piknometers 
von 21-055 “w Inhalt (15°C.) War nun auch das specifische Gewicht 
der Kochsalzlösung bekannt, so konnte das Volum der körperlichen Elemente 
im Gemisch berechnet werden.? 

Zur Controle wurde immer auch ein Versuch angestellt mit 50 «m Blut 
und 25 ° m Kochsalzlösung. Von den zwei für jedes Gemisch erhaltenen 
Resultaten wurde das Mittel genommen. 


! Von wesentlicher Bedeutung bei derartigen Versuchen mit Pferdeblut ist, dass 
man, mit Rücksicht auf die grosse Senkungsgeschwindigkeit der rothen Blutkörperchen, 
sogar während des Abmessens mittelst der Pipette, das Blut in Bewegung halten lässt. 

° Vergl. zu dieser Methode unsere Arbeit über den Einfluss des respiratorischen 
Gaswechsels u. s. w. Zeitschrift für Biologie. S. 256. 


EINFLUSS VON SÄURE U0.S. W. AUF DAS VOLUM DER BLUTKÖRPERCHEN. 33 


50 «m des Gemisches von 100 ““@ Blut + 5 “m Wasser enthalten 18.20 «m 
körperliche Elemente. 

50° des Gemisches von 100 “= Blut + 5° HCl !/,,-norm. enthalten 
18.31 °“ körperliche Elemente. 

50° des Gemisches von 100 °" Blut + 5 = HC1 ?/,,-norm. enthalten 
18.40 °m körperliche Elemente. 

50 «m des Gemisches von 100 °®® Blut + 5 “® HCl !/,.-norm. enthalten 
18.59 m körperliche Elemente. 


Die folgende Tabelle giebt eine Uebersicht der auf die gleiche Weise 
bei zwei anderen Pferden erhaltenen Resultate: 


| 


Volum des Volum des | 


Volum der 
Bodensatzes von | Bodensatzes von | |. : 

50eem Blut nach | 10 cem Blut | une En 

| 24 St. (ohne (mach Centri- Sofern et 

Centrifugirung) fugirung) 

| ccm ccm cem 
Ursprüngliches But . . .. .| 19-06 3-74 18-10 
100 cem Blut + 4eem Wasser . . 19-40 3.81 18-41 
100B E54, SE@li,s-norm. 19-61 3-85 18-67 
OD A 19.82 3:89 | 18-75 
_ Ursprüngliches But . . . . . 19.07 | 3.75 | 17-17 
100 eem Blut + 6cem Wasser . . 19-61 | 3-86 17:64 
1000 260, HEJ=jr.norm. 19-77 3.89 18-24 
OO 10000 oo 19-93 | 3.92 18.40 
OD. 3502 er 20-08 3-95 18.82 


Es unterliegt also keinem Zweifel, dass HCl eine Quellung 
der rothen Blutkörperchen herbeiführt, und zwar sogar wenn man 
das HCl in sehr geringer Quantität ne 


Enthält je !/,,-norm. HCI- er 63 gmi HCI pro Liter, so enthalten 


5 cm dieser Lösung —,- nn ee on — 0.004625 em HÜI. 

Da in unseren in ‚100 «m Blut mit dieser Quantität versetzt 
2 x 100 = 0.0044 Procent HCl. Diese 
- Quantität ist äquivalent mit "etwa 1,5 Volumprocent CO,-Gas (bei 0°), 
Denn 36-5 zu HCl sind äquivalent mit 22 em CO,; also 0-0044 em HOl 
mit 0 x 22 = 0.00265em C0,. Da 44 em CO, bei 0% und 760 mm 


Hs ein Volum von. 22340 °” besitzt, haben 0-00265 em CO, folglich ein 
OB x 29340 = 1-3 cm, 


wurde, erhielt dasselbe also 


Volum von 


1 50 «= Blut entspricht im ersteren Fall 52, im zweiten Fall 53 = der Gemische. 
Archiv f. A. u. Ph. 1898. Physiol. Abthlg. 3 


34  H. J. HAMBURGER: 


Bekanntlich enthält venöses Blut etwa 4 bis 5 Volumprocent CO, mehr 
als arterielle. Hieraus folgt, dass man durch Hinzufügung von 5 “” 
1/,.norm. HCl zu 100 «® Blut bei weitem nicht eine Säuremenge hinzu- 
setzt, welche übereinstimmt mit dem Unterschied im CO,-Gehalt von 
venösem und arteriellem Blute. Mit diesem Unterschied stimmt erst etwa 
eine Hinzufügung von 5 «= !/, norm. HCl zu 100 “= Blut überein. 

Dass auch Hinzufügung von 5 Volumprocent CO, eine sichtbare Quellung 
herbeiführt, davon kann man sich auf die folgende Weise leicht überzeugen. 
Man füllt eine Mohr’sche Bürette mit Pferdeblut an, lässt 5 Volumprocent 
des Blutes durch CO,-Gas verdrängen, verschliesst und schüttelt. Eine 
zweite gleich grosse Bürette, deren Totalinhalt und Vertheilung mit der 
der ersteren genau verglichen worden ist, wird eben so mit Blut versehen, 
und zwar genau mit eben so viel als in der ersten Bürette noch vorhanden 
ist. Nach Senkung der Blutkörperchen während 24 Stunden wird in 
beiden der Bodensatz abgelesen. Stets zeigte sich derselbe grösser beim mit 
CO, behandelten Blute. 

Ein Paar Beispiele:! 


54.6 °m des ursprünglichen Blutes enthalten 22.9 “® Bodensatz, 


54.6 „ ,, mit 8-proc. CO, behandelten ‚, Bi 23:2 „ n 
56 »  „» ursprünglichen 5 n 20.54 „ 4 
56 »  „» mit 8-proe. CO, behandelten „, & 20-79; a 


Dieses Resultat giebt auch eine vollkommene Bestätigung 
der vor Kurzem von mir gefundenen Thatsache, dass nämlich 
die zuerst von v. Limbeck bei Hindurchleitung grösserer CO,- 
Mengen beobachtete Quellung der rothen Blutkörperchen sich 
auch im Körper nachweisen lässt. 

Die nämlichen Versuche, welche mit Salzsäure ausgeführt wurden, 
habe ich auf gleiche Weise mit äquivalenten Mengen KOH verrichtet. 
Es genügt also, einige Versuchsresultate in einer Tabelle zusammenzufassen: 


| 
Volum des Volum des vl ä 
| Bodensatzes von | Bodensatzes von En aa ne 
‚50eem Blut nach 10cem Blut en ni n 
| 24 St. (ohne | (nach Centri- 5 IE 
Centrifugirung) fugirung) h 
ccm ccm ccm 
100 eem Blut + 4 com Wasser 19.02 3:72 16:96 
100 „ „» +4, KOH!/,-norm. 18-80 3.68 16-70 
ODER A 5 13-62 3-61 16-54 
100 Er in 4 >» » 2ia0 ER) 18-11 3-57 16-38 


1 


und CO,-Blut umgewechselt. 


Sicherheitshalber wurden in diesen Versuchen die Büretten für das normale 


EINFLUSS Von SÄURE U.S. W. AUF DAS VOLUM DER BLUTKÖRPERCHEN. 35 


(Fortsetzung.) 


Volum des Volum des Vol d 
Bodensatzes von | Bodensatzes von kör San hs 
50.cem Blut nach | 10cem Blut BI kr ei 

24 St. (ohne | (nach Centri- en m 
Centrifugirung) fugirung) u 


cem cem cem 
100 cem Blut + 6cem Wasser . . 19-30. 3.78 17-32 
100 „ „+6 „KOH!/,-norm. 19.16 3.74 17-21 
ID. re 19 3.3 17-01 
OO ON 18-71 3-66 16-72 
100 ccm Blut + 5eem Wasser . . 19-26 3.79 ass 
100 » „ +5 ,KOH Y,,-norm. 19-05 3.74 17-03 
OO a 18-43 3-60 | 16-39 


Aus dieser Tabeile erhellt, dass das Blutkörperchenvolum 
unter dem Einfluss von KÖH abnimmt. 


II. Mikroskopische Untersuchung. 


Die mikroskopischen Messungen wurden hier genau auf dieselbe Weise 
ausgeführt, wie bei den Untersuchungen über den Einfluss von CO, (a.a. O.). 


a) Die rothen Blutkörperchen. 


| Summe der 
grossen Bodensatz von 
| Durchmesser von 10 ccm Blut nach 
100 rothen Centrifugirung 
Blutkörperchen 
250 sem Pferdeblut + 10cem Wasser . . . . . 7.66 u 3.250 ccm 
2908. ee + 10 „ Yo-norm. H,SO,. . 1-03, SE32 308 
250 „ BNNION,; SDOPKOH | MhLE= 308), 3.125 „, 
200 em Pferdeblut + 5eem Was . ... .| 78T u 
200 „ > +5 „ !norm. H,SO, | TeHLr,, 
200 Er ” ir 5 er) hs »3 » 6:77 er) z 
200 „ A Be ENAOH MILE ER 
| 
100 eem Pferdeblut + 5cem !/,-norm. H,SO, 7-89 u 
100 E} „ ar 5 3 "/k, „ Er} D . | 7-18 FR 
100 „ e Pan il 0. NaOH FSU 7-44 „ | 
NO 7-69 „ | 


100 33 EL} 


! In normales Serum zurückgebracht, werden die Blutkörperchen wieder biconcav 
und reihen sich wie Geldrollen zusammen. Sie bekommen einen mittleren Durchmesser 
von 7-49 u. 

3% 


Sb H. J. HAMBURGER: 


Diese Versuche lehren, dass der Durchmesser durch Säure und durch 
Alkali abnimmt. Je concentrirter die Säure, desto stärker die Abnahme, 
eine Erscheinung, welche wir auch bei CO, beobachteten. . Das NaOH 
scheint in dieser Hinsicht einer anderen Regel zu folgen. Ich werde hier 
auf diesen Gegenstand nicht eingehen. Nur will ich hier bemerken, dass 
es sich bei dem Einfluss von Säure und Alkali auf die Dimensionen um 
mehrere Factoren handelt: 1. die Vergrösserung des Volums durch Säure 
und die Verkleinerung durch Alkali; 2. die Neigung der biconcaven Scheib- 
chen der Kugelgestalt zuzustreben, welche Neigung unter dem Einfluss 
von Säure und Alkali quantitativ nicht dieselbe ist; 3. der Einfluss der 
mit der Säure und dem Alkali hinzugefügten Wassermenge u. s. w.; so dass 
es schliesslich schwierig ist, voraus zu sagen, welche Aenderung die Dimen- 
sion des Scheibehens erfahren werden bei Hinzufügung von Alkali und Säure 
in verschiedenen Concentrationen und in verschiedenen Verhältnissen zum 
Blutvolum. 


.b) Die weissen Blutkörperchen. 


Um den Einfluss von Säure und Alkali auf die weissen Blutkörperchen 
zu untersuchen, wurde defibrinirtes Pferdeblut, nachdem es durch nicht 
präparirte Gaze von Fibrin befreit war, so lange sich selbst überlassen, bis 
die meisten rothen Blutkörperchen sich gesenkt hatten. Das Serum ist 
dann. röthlich trübe, röthlich durch einige rothe Blutkörperchen, welche 
noch nicht zu Boden gesunken sind; trübe hauptsächlich dadurch, dass fast 
alle weissen Blutkörperchen noch darin vorhanden sind. Von diesem Serum 
werden 25 cm versetzt mit 1 °= Wasser, 1 = !/ norm. HC] und 1 cm 
Y/\.norm. KOH. 2 Stunden nachher werden mikroskopische Praeparate 
angefertigt und werden auf die bekannte Weise! von jedem Praeparate 
100 weisse Blutkörperchen gemessen. j 

Das Resultat der Messungen ist ersichtlich aus folgenden Angaben. 


| Summe der 
' Summe der Diameter von je Diameter von 
| 25 weissen Blutkörperchen 100 Blut- 
| körperchen 
Ursprüngliches Serum . . . . 1197 +196-25+191 +19 | 7179-25 w 
25°» Serum + 1m Wasser. . |207-25 + 201.25 +201 + 207.75 817-257 
Dal. HCIU:n: 204 4209 +215-5+204.5 | 838 „ 
25, „ +1,„KOH „ |205 +192-75+206 4197-75] 801-50. 
i | | 


ı Zeitschrift für Biologie. 1897. S. 281. 


EINFLUSS VON SÄURE U. S. W. AUF DAS VOLUM DER BLUTKÖRPERCHEN. 37 


Durch Hinzufügung von Wasser allein entsteht bereits eine Zunahme 
von 779.25 bis 817.25 u. Gebraucht man statt Wasser dasselbe Volum 
1/onorm. HCl, so entsteht eine Zunahme von 817.25 bis 833 u. Das- 
selbe Volum 1/0 norm. KOH dahingegen bewirkt das Entgegengesetzte; 
hierdurch findet eine Abnahme von 817.25 bis 801.50 u statt. 

Drei andere Beispiele (andere Pferde): 


Summe der 

Summe der Diameter von je Diameter von 

25 weissen Blutkörperchen 100 Blut- 

körperchen 
25cm Serum + 1m Wasser. . | 207 + 215 + 210 + 211.25 843.25 u 
35 5 rn eo. | an ee el 8356-50 „, 
EIERN SNGOHE 109 6004. 91a Dogn Sonn DER 
50m Serum + 1m Wasser. . | 20125 + 207:5 + 204 + 206-5 819.25 u 
De en..HCir..;)| 211-5 #210 + 210-25 + 208-5 840.25 „, 
Bone. 21, ,„ NaOH 203. + 200-25 + 199-5 + 206 808.75 „ 
25cm Serum + 1° m Wasser. . || 204 + 207 +214 +205-25 | 830.25 u 
25,5 » +1, horn. HCl | 217-5 + 212-5 +206-5 + 213-5 | 850 , 
25.» » +1, „NaOH ||200 +205 +198 +198-25 | 801-25 „ 


Wieder dieselben Resultate: Säure bewirkt Zunahme, Alkali dahingegen . 
Abnahme des Durchmessers. 

Ich will hier noch einen Versuch erwähnen, welcher zeigt, dass, wenn 
man Serum schüttelt mit 5 bis 10 Volumprocent CO,, die weissen Blut- 
körperchen eine sichtbare Quellung erfahren. 


| ' Summe der 

Summe der Diameter von je | Diameter von 

| 25 weissen Blutkörperchen 100 Blut- 

| körperchen 
Ursprüngliches Serum . . . ‚197 + 196-25 +19I +19 779.25 u 
100) Serum +. 52.00, . 201 + 196-25 + 19750 + 19950 194-25 „ 
1007; EI LONG i 200 + 202 + 20575 + 196-25 804 23 


III. Erklärung der durch Säure und Alkali herbeigeführten 
An- und Abschwellung der Blutkörperchen und von zwei der 
damit zusammenhängenden Erscheinungen. 


Im ersterwähnten Aufsatze gab ich eine kurze Erklärung für die 
durch CO, herbeigeführte Quellung der rothen Blutkörperchen (S. 214) und 
äusserte dann die Absicht, hier noch auf diese Erklärung zurückzukommen. 


38 H. J. HAMBURGER: 


Es kann als eine festgestellte Thatsache betrachtet werden, dass durch 
die Einwirkung von CO, auf Blut der Alkaligehalt des Serums steigt.! 
Für diese Erscheinung sind wenigstens zwei Ursachen anzuführen: 1. der 
Uebergang von Alkali aus den Blutkörperchen in das Serum; 2. der durch 
Quellung der Blutkörperchen herbeigeführte Wasserverlust des Serums, wo- 
durch eine Concentrationszunahme des schon vorhandenen Serums entsteht 
(v. Limbeck,? Gürber?). 

Das erste Moment ist vor zwei Jahren im Zuntz’schen Laboratorium von 
C.Lehmann* und vonLoewy und Zuntz?° einer sorgfältigen Untersuchung 
unterzogen. Insbesondere haben Loewy und Zuntz hervorgehoben, dass in 
den Blutkörperchen und im Serum das Alkali in zwei Formen vorkommt, 
nämlich als diffusibles und nicht diffusibles, oder genauer gesagt, als 
leicht und als schwer diffusibles Alkali. Zu dem leicht diffusiblen müssen 
gerechnet werden die gewöhnlichen Alkalisalze (Carbonate, Phosphate); schwer 
diffusibel ist das Alkalialbuminat. 


Wirkt nun CO, auf Blut ein, so wird in den Blutkörperchen und im 
Serum ein Theil ‘der Alkalialbuminate zersetzt und es wird diffusibles 
Alkali frei, in den Blutkörperchen viel mehr als im Serum, daher dass 
Alkali aus den Blutkörperchen in das Serum hinübertritt. 


Nun wird schon längst angenommen, dass verdünnte Alkalien das 
Vermögen besitzen, Quellung des Protoplasma zu veranlassen. Es schien 
mir nun nicht zu sehr gewagt, die Hypothese zu stellen, dass durch 
das Freikommen von so viel Alkali, von welchem wie gesagt sogar 


! Over den invloed der ademhaling op de permeabiliteit der roode bloedlichaampjes. 
Verslagen en mededeelingen der kon. Akad. v. Wetensch. 1891. DI. IX. — Ueber 
den Einfluss der Athmung auf die Permeabilität der rothen Blutkörperchen. Zeitschrift 
für Biologie. 1892. S. 405. In dieser Arbeit habe ich leider versäumt zu er- 
wähnen, dass schon im Jahre 1867 Zuntz gefunden hatte, dass, wenn man Blut mit 
. CO, behandelt, der Alkaligehalt des Serums steigt. Unser Weg, welcher zu dieser 
Beobachtung führte, war jedoch durchaus verschieden. Ausserdem zeigte ich, dass der 
Process umkehrbar war und weiter, dass, was sich für künstlich venös gemachtes 
Blut zeigte, bei der Vergleichung von natürlichem venösen und arteriellen zurück- 
gefunden wird. — Over het onderscheid in samenstelling tusschen veneus en arterieel 
bloed. Verhand. d. kon. Akad. v. Wetensch. 1892. DI. I. Nr. 5. — Vergleichende 
Untersuchungen von arteriellem und venösem Blute und über den bedeutenden Ein- 
fluss der Art des Defibrinirens auf die Resultate von Blutanalysen. Dies Archiv. 
1393.28. 197€ 

?” Archiw für experimentelle Pathologie u. Pharmakologie. Bd. XXXV. 8. 309; 
auch Grundriss einer klinischen Pathologie des Blutes. Jena 1896. 2. Aufl. 8. 167. 

® Sitzungsberichte der med.-phys. Gesellschaft zu Würzburg. 25. Febr. 1895. 

* Pflüger’s Archiv. 1894. Bd. LVII. S. 428. 

5 Ebenda. Bd. LVIIL 8. 511. 


EINFLUSS VON SÄURE U.S. W. AUF DAS VOLUM DER BLUTKÖRPERCHEN 39 


ein Theil das Blutkörperchen verlässt und also dessen Protoplasmanetz! 
'passiren muss, Quellung dieses Protoplasma herbeigeführt werden 
musste. 

Nun hat Grijns? vor einiger Zeit eine Methode veröffentlicht, um 
das Volum der Blutkörperchenschatten, d. h. also des protoplasmatischen 
Netzes zu bestimmen und es schien mir angemessen, hierdurch meine Hypo- 
these zu prüfen. Ich hatte nur Bestimmungen des Schattenvolums aus- 
zuführen vor und nach Hindurchleitung von CO,. 

Die Grijns’sche Methode erwies sich aber als unrichtig.? 

Indessen brauchte ich den Misserfolg nicht lange zu bedauern, denn 
die neuen Experimente, wobei sich herausstellte, dass bei Hinzufügung von 
freiem Alkali zum Blute die Körperchen an Volum abnahmen, machte 
die Hypothese ganz hinfällig. 

Es blieb nun wohl nichts Anderes übrig, als die Ursache der Quellung, 
welche offenbar nicht im Protoplasma der Blutkörperchen gelegen sein 
konnte — denn sonst hätte Hinzufügung von Alkali Quellung‘ verursachen 
müssen, — in dem flüssigen Theil der Blutkörperchen, mit anderen 
Worten in dem gefärbten Inhalt zu suchen, welcher in den Maschen des 
Protoplasmanetzes eingeschlossen gedacht werden muss. 

Es kann also nur die rothe Flüssigkeit sein, welche Wasser aus dem 
Serum aufnimmt und das ist nur dadurch möglich, dass ihre osmotische 
Spannkraft zeitweise über die des Serums hinaussteig. Nun kann man 
sich in dieser Hinsicht zwei Fälle denken: 1. durch die Einwirkung von 
CO, auf das Blut steigt nur die osmotische Spannkraft des Blut- 
körpercheninhalts, während die des Serums unverändert bleibt, oder 
2. der osmotische Druck von beiden steigt, aber die Steigerung der osmo- 
tischen Spannkraft des Blutkörpercheninhaltes geht über die des Serums 
hinaus. 


" Nach Allem, was bis jetzt von den rothen Blutkörperchen bekannt geworden 
ist, muss man wohl annehmen, dass dieselben aus einem protoplasmatischen Netz be- 
stehen, in dessen feinen geschlossenen Maschen sich der flüssige gefärbte Inhalt (Para- 
plasma) befindet. 

°” Jaarverslag van het laboratorium voor pathologische Anatomie en Bacterio- 
logie te Weltevreden over het jaar 1894. 8. 78. — Pflüger’s Archiv. Bd. LXII. 
S. 112. 

® Dies Archiv. 1897. S. 486. 

* Bei Hinzufügung grösserer Quantitäten Alkali, z. B. auf 100 «® Blut 5 m 
normal oder !/,-norm. KOH, kann man keine Volumsabnahme mehr constatiren, sondern 
hat das Volum zugenommen. Die rothen und die weissen Blutkörperchen sind dann 
aber durchscheinend und gallertig geworden. Offenbar ist dann das Stroma angegriffen. 
Um derartige Veränderungen handelt es sich denn auch bei den bekannten Angaben 
betreffs des Einflusses von verdünnten caustischen Alkalien auf Zellen. 


40 H. J. HAMBURGER: 


Eine grosse Anzahl von Gefrierpunktsbestimmungen haben mir gelehrt, 
dass nach Hindurchleitung von CO, auch die osmotische Spannkraft des 
Serums steigt.! Es handelt sich also wesentlich um den zweiten Fall. 
Und dass wirklich die rothen Blutkörperchen mehr in wasseranziehender 
Kraft steigen müssen als das Serum, geht hervor aus der Thatsache, dass 
wie jüngst noch Lehmann und früher schon Zuntz gezeigt haben, bei 
Hindurchleitung von CO, durch Blut, die Blutkörperchen viel mehr CO, 
aufnehmen als das Serum. Mit Hülfe der von Loewy und Zuntz ge- 
fundenen Thatsache lässt sich letzteres dadurch erklären, dass die Blut- 
körperchen eine weit grössere Menge nicht diffusibles und durch CO, frei 
zu machendes Alkali enthalten als das Serum. Ich selbst habe mich, 
mittelst einer neuen Methode? für die quantitative Bestimmung des diffu- 
siblen Alkali, davon überzeugt, dass bei der Einwirkung von CO, auf Blut 
in den Blutkörperchen viel mehr diffusibles Alkali frei wird als im Serum. 

Mit den oben stehenden Betrachtungen vollkommen im Einklang steht 
die Thatsache, dass ausser CO, auch andere Säuren eine Quellung und 
Alkali eine Schrumpfung herbeiführt. 


Die Experimente haben nämlich gezeigt, dass, wenn man 
zu dem Blute Salzsäure hinzufügt, der grösste Theil in die Blut- 
körperchen hineindringt, während bei Hinzufügung von Alkali 
gerade das Entgegengesetzte der Fallist. Bei weitem der grösste 
Theil des zu dem Blute hinzugesetzten Alkali bleibt im Serum 
zurück. 

Was das zum genannten Zwecke angewandte Versuchsverfahren be- 
trifit, sei hier nur Folgendes erwähnt: 

Es wurden drei Portionen Pferdeblut von 300 «= senommen; bei 
Portion a wurden 15 «m Wasser hinzugefügt, bei Portion b 15 «m 1/_norm. 
HCl und bei Portion c 15 «® ?/,-norm. KOH. Dann wurden dieselben sich 
selbst überlassen bis ein klares Serum sich abgeschieden hatte. Von den 
drei also erhaltenen Serumsorten bestimmte ich den Alkaligehalt. 

Die Alkalibestimmungen geschehen nach zwei Methoden: 1. nach der 
Methode von Loewy°; nach dieser Methode wird bekanntlich das Serum 
mittelst "/,,-norm. Weinsäure und Lakmoidpapier als Indicator titrirt. 
Auf diese Weise wird alles Alkali bestimmt, welches durch Weinsäure ab- 
gespalten werden kann, also das in schwer diffusiblem Zustande verkehrende, 


ı Vergl. Zeitschrift für Biologie. 1897. 8. 273. 

= Eine Methode zur Trennung und quantitativen Bestimmung des diffusiblen und 
nichtdiffusiblen Alkali in serösen Flüssigkeiten. Dies Archiv. Physiol. Abthlg. 1897. 
D23% 

® Pflüger’s Archiv. 1894. Bd. LVIII. 


EINFLUSS von SÄURE U. S. W. AUF DAS VOLUM DER BLUTKÖRPERCHEN. 


41 


an eiweissartigen Körpern gebundene, und das leicht diffusibele, als Car- 
bonate und Phosphate vorhandene Alkali. 
Mittelst der zweiten von mir selbst ausgedachten Methode wird bloss 


das leicht diffusible Alkali dosirt. 


Dieselbe beruht auf dem Prineip, dass 


die schwer diffusiblen Alkaliverbindungen durch Alkohol niedergeschlagen 
werden, was mit den leicht diffusiblen nicht der Fall ist. 
befinden sich dann im Filtrat und können mittelst Weinsäure und Lakmoid- 


papier austitrirt werden.! 


Die letzteren 


In der folgenden Tabelle sind die Versuche zusammengefasst. 


| Leicht + schwer 


diffusibles Alkali, 
ausgedrückt in 
Cubikcentim.Y/,,- 
norm. Weinsäure 
(Methode Loewy) 


Leicht diffusibles 
Alkali, ausgedr. 
in Cubikcentim. 
!/,„.norm. Wein- 
säure 
(eigene Methode) 


100 m Serum des 


ecm 


mit 5°m H,O versetzten Blutes enthalten . 93.5 26-88 
» 5 „ !/;norm HCl versetzten Blutes enthalten 86-5 24-36 
>> 5 ” Er) KOH ER) 2 3 116 31.92 


Betrachtet man nun die zweite Spalte, so stellt sich heraus, dass durch 
Vermischung des Blutes mit HC] der Alkaligehalt des Serums abgenommen 
hat. 100 «m Serum haben verloren: 93-5 — 86.5 = 7 m 1/,.-norm. 
Alkali. Nun waren in 100 «m HOCI-Blut vorhanden 66-8 = Serum; diese 


En een !/,,-norm. Alkali. 


haben also verloren 7 x 00 
wurden dem Blute hinzugefügt 5 °® !/.-norm. HCl = 25 «= !/,,-norm. HCl. 
Hieraus folgt, dass das Serum nur einen sehr kleinen Theil der dem Blute 
hinzugefügten Säure aufgenommen hat. Bei weitem der grösste Theil 
25 — 4.67 = 20.33 m ist von den Blutkörperchen aufgenommen worden. 
Weiter sieht man, dass durch Hinzufügung von KOH zum Blute der 
Alkaligehalt des Serums zugenommen hat: 100 °= Serum haben eine Ver- 
mehrung von 116 — 93-5 = 22.5 °® !/,.-norm. Alkali bekommen. Nun 
waren in 100 «m KOH-Blut vorhanden 70.5 °” Serum; diese haben also 


—_ x 22.5 = 15.8” !/,,-norm. Alkali. Im Ganzen wurde dem 


Blute hinzugefügt 5 «em !/,-norm. KOH = 25 «m 1/,,-norm. KOH. Hieraus 
folgt, dass das Serum den grössten Theil, die Blutkörperchen den kleinsten 
Theil (25 — 15-8 = 9.2 em) des KOH aufgenommen haben. 


Im Ganzen 


erhalten 


1 Näheres über die Begründung und die Kritik der Methode im vorigen Aufsatz. 
Dies Archiv. Physiol. Abthlg. 1897. S.1. 


42 


H. J. HAMBURGER: 


Die dritte Spalte giebt betreffs des diffusiblen Alkali ein ähnliches 


Resultat.! 


Die folgenden Tabellen enthalten die- Resultate von auf gleiche Weise 
ausgeführten Versuchen mit verschiedenen Pferdeblutsorten: 


Leicht + schwer 


' diffusibles Alkali, 


ausgedrückt in 
Cubikcentim.!/,,- 
norm. Weinsäure 


‚(Methode Loewy) 


Leicht diffusibles 
Alkali, ausgedr. 


| in Cubikcentim. 


!/,„-norm. Wein- 
säure 


(eigene Methode) 


100 «m Serum des ccm cem 


mit 10 cm Wasser versetzten Blutes enthalten . 90-1 25-51 
100,2 6:00 550,0, + Y 76-6 21-12 
„ 10 ”„ „ KOH ” „ 9 153.8 34:64 


100 «= des H,SO,-Blutes enthalten 46 - 1 °°® Blutkörperchen und 53.9 ccm 
Serum. 

100 «= des KOH-Blutes enthalten 39. 3 «m Blutkörperchen und 60.7 «em 
Serum. 

Betrachtet man wieder die zweite Spalte, so stellt sich heraus, dass 
100 «= Serum des mit H,SO, versetzten Blutes 90-1 — 76-6 = 13.5 cm 
!/,,-norm. Alkali weniger enthalten als 100 = Serum des mit Wasser 
verdünnten Blutes. Nun waren in 100 «m Blut vorhanden 53.9 «m Serum; 


>82 _ 7.27 cm 1/,,-norm. Alkali. 


diese haben also verloren 13-5 x 100 


Im Ganzen wurden dem Blute hinzugefügt 10 «= 1/,-norm. H,SO, = 
90 «= 1/,,-norm. H,SO,. Hieraus folgt, dass das Serum nur einen sehr 
kleinen Theil der dem Blute hinzugefügten Säure aufgenommen hat. Bei 
weitem der grösste Theil: 50 — 7-27 = 42-73 = ist von den Blutkörperchen 
aufgenommen worden. 


Weiter sieht man wieder, dass durch Hinzufügung von KOH zum 
Blute der Alkaligehalt des Serums zugenommen hat: 100 «= Serum haben 
eine Vermehrung von 153-8 — 90-1 = 63.7 m 1/,.-.norm. Alkali erfahren. 


* Wenn man Blut oder Serum mit einer bekannten Quantität Alkali versetzt, so 
gewinnt man, wie Loewy hervorgehoben hat (Pflüger’s Archiv. 1894. Bd. LVII) 
und wie ich bestätigen konnte, alles hinzugefügte Alkali mittelst seiner Titrations- 
methode zurück. Dies kann nicht der Fall sein bei Anwendung meines Versuchs- 
verfahrens; denn von dem hinzugesetzten Alkali geht ein Theil in schwer diffusibles 
und der andere Theil in leicht diffusibles über; und nur letzteres wird bei meiner 
Methode dosirt. 


EINFLUSS VON SÄURE U. S. w. AUF DAS VOLUM DER BLUTKÖRPERCHEN. 43 


- 


Nun waren in 100 «= KOH-Blut vorhanden 60.7 «m Serum; diese haben 


60-7 


also erhalten —— x 63.7 = 38.7 m !/,.-norm. Alkali. 


100 


Im Ganzen wurden dem Blute zugefügt 10° !/.-norm. KOH = 
50cm 1/,.norm. KOH. Hieraus folgt, dass das Serum den grössten, die 
Blutkörperchen aber den kleinsten Theil des hinzugesetzten KOH auf- 


genommen haben. 


Von den hinzugefügten 50 «= /,.-norm. KOH haben 


also die Blutkörperchen nur 50 — 38-7 = 11-3“ aufgenommen. 


Leicht + schwer 
diffusibles Alkali, 
ausgedrückt in 
Cubikeentim.!/;3- 
norm. Weinsäure 


Leicht diffusibles 
Alkali, ausgedr. 
in Cubikcentim. 
!/,,-norm. Wein- 
säure 


(Methode Loewy)| (eigene Methode) 
100 «= Serum des cem cem 
mit 5 m Wasser versetzten Blutes enthalten . 94.2 27-13 
aa DPI, sn. He, = 3 85-6 24.78 
BESe SE KOH.-. a 5 124-2 32-34 


100 cm des HCI-Blutes enthalten 38-9 °m Blutkörperchen und 61.1 


Serum. 


100 «“ des KOH-Blutes enthalten 35.7 °® Blutkörperchen und 64.3 cm 


Serum. 


Nach dieser Tabelle (zweite Spalte) hat das Serum von der HCl-Lösung 
aufgenommen: 5.25 “m !/,.-norm., von der KÖH-Lösung 19.1 «= 1/,,-norm., 
während 5 °® 1/.-norm. = 25 “= 1/, -norm. im Ganzen hinzugefügt waren. 


Leicht + schwer | 
diffusibles Alkali, 
ausgedrückt in | 
‚Cubikcentim.'/,;-| 
ı norm. Weinsäure, 


Leicht diffusibles 
Alkali, ausgedr. 
in Cubikcentim. 
!/,;-norm. Wein- 
säure 


(Methode Loewy)| (eigene Methode) 
100 cm Serum des cem ccm 
mit 5 cm Wasser versetzten Blutes enthalten . 92-6 24-31 
nen. SHGIM ” “ 85-4 21-77 
Baer. NaOHE> Di # 122-7 29-62 


100 «= des HCI-Blutes an 36.8 m Blutkörperchen und 63.2 m 


Serum. 


100) Surdes NaOH- Blutes enthalten 33.9 = Blutkörperchen und 66.1” 


Serum. 


44 H. J. HAMBURGER: 


Nach dieser Tabelle (zweite Spalte) hat das Serum von der HCl auf- 
genommen: 4-6 1/, -norm. Flüssigkeit, von der KOH 19.9» !/,,-norm. 
Flüssigkeit, während 5 «m !/.-norm. = 25° 1/,,-norm. im Ganzen hinzu- 
gefügt waren. 

Nach diesen Versuchen unterliegt es also keinem Zweifel, 
dass von Säuren die Blutkörperchen und von Alkali das Serum 
den grössten Theil aufnimmt. 

Schliesslich will ich noch zwei Erscheinungen berühren, welche mit 
der An- und Abschwellung der Blutkörperchen in directem Zusammenhang 
stehen und darin eine Erklärung finden: 1. beobachtete ich, dass, wenn 
man Blut versetzt mit HCl oder H,SO,, der Eiweissgehalt des Serums zu- 
nimmt; versetzt man dahingegen das Blut mit KOH, so nimmt der Eiweiss- 
gehalt des Serums ab. 

Es unterliegt keinem Zweifel, dass die durch Säuren verursachte Steige- 
rung des Eiweissgehalts wenigstens grösstentheils dem zugeschrieben werden 
muss, dass das Serum Wasser an die Blutkörperchen abgiebt, während um- 
gekehrt die durch Alkali herbeigeführte Abnahme des Eiweissgehalts jeden- 
falls für einen grossen Theil auf Rechnung einer der Abschwellung der 
Blutkörperchen entsprechenden Verdünnung des Serums gebracht werden 
muss. In wie weit auch ein eigentlicher Uebergang von Eiweissstoffen 
aus den Blutkörperchen in das Serum oder umgekehrt eine Rolle spielt, 
werden genaue quantitative Untersuchungen entscheiden müssen. Es han- 
delt sich hier um eine ähnliche Frage wie bei der 00,.! 

2. Hat sich früher als eine frappante Erscheinung herausgestellt,? 
dass nach Vermischung des Blutes mit Spuren einer Säure, die Kochsalz- 
lösung, in welcher die Blutkörperchen Farbstoff abzugeben anfangen, ein 
wenig mehr concentrirt ist als die, in welcher die ursprünglichen Blut- 
körperchen Farbstoff abzugeben anfangen. So zeigte sich z.B. (a.a.O. 8. 516) 
dass, wenn man 180°" Blut mit 10° !/ ,-norm. HCl versetzt, die Blut- 
körperchen Farbstoff zu verlieren anfingen in einer 0.68 procentigen NaQl- 
Lösung; während die normalen oder mit Wasser behandelten Blutkörperchen 
darin unversehrt blieben; die letzteren fingen an Farbstoff abzugeben in 
einer 0.66 procentigen NaCl-Lösung. 

Die Erklärung ist jetzt nicht schwer zu geben. Wie gesagt, nimmt 
nach der Vermischung des Blutes mit HC] der Gehalt der Blutkörperchen 


' Sitzungsberichte der k. Akademie der Wissenschaften. Amsterdam 1896. 
8. 215. — Zeitschrift für Biologie. 1897. 8. 277. — Vgl. hierzu auch v. Limbeck 
und Gürber, a. a. ©. 

* Over den invloed van alkali en zuur op gedefibrineerd bloed. Verslagen d. 
koninkl. Akademie van Wetenschappen. 1892. — Ueber den Einfluss von Alkali und 
Säure auf defibrinirtes Blut. Dies Archiv. Physiol. Abthls. 1892. S. 513. 


EINFLUSS VON SÄURE U.S. W. AUF DAS VOLUM DER BLUTKÖRPERCHEN. 45 


an wasseranziehenden Stoffen zu, so dass die NaCl-Lösung, welche nach der 
Vermischung im Stande sein wird, mit dem Inhalt der HCl-Blutkörperchen 
osmotisches Gleichgewicht zu machen, concentrirter sein muss als vor der 
Vermischung mit HCl. In der schwächeren NaCl-Lösung, in welcher das 
normale Blutkörperchen wohl im Gleichgewicht war, wird das HCl-Blut- 
körperchen es also nicht sein: es wird darin quellen. Und da nun das 
Blutkörperchen nur eine beschränkte Anschwellung ertragen kann, ohne 
Farbstoff zu verlieren, so wird das HÜCl-Körperchen seine maximale 
Schwellungsgrenze erreicht haben in einer Salzlösung, in welcher die nor- 
male Blutzelle die Grenze noch nicht erreicht hat, mit anderen Worten 
das HCl-Körperchen wird den Farbstoff verlieren in einer Salzlösung 
(0.68 Procent), in welcher die normale Blutzelle es nicht thut.! 

Dass nun bei einer gewissen Quellung die Blutkörperchen Farbstoff 
verlieren, lässt sich ungezwungen dadurch erklären, dass durch die Aus- 
dehnung des Protoplasma die Distanzen zwischen den Protoplasmatheilchen 
so gross werden, dass die Farbstofftheilchen hindurchgehen können.? 

Es handelt sich hier nicht um ein Bersten der Blutkörperchen, wie 
man es oft auszudrücken pflegt, sondern um eine vergrösserte Permeabilität. 

Weil Alkali statt einer Quellung eine Schrumpfung der Blutkörperchen 
herbeiführt, wird hier auch gerade das umgekehrte Verhalten beobachtet 
werden müssen, und in der That sieht man dann auch, dass die Blut- 
körperchen von 180 «= Blut und 10 «m !/ .-norm. KÖH Farbstoffaustritt 
zeigen in einer 0.53 procentigen Lösung, während bei den normalen oder 
den mit Wasser behandelten Blutkörperchen der Hämoglobinaustritt in 
einer 0.58 procentigen stattfindet (a. a. O.). 


Zusammenfassung. 


Durch die oben erwähnten Untersuchungen ist in der Hauptsache 
Folgendes nachgewiesen: 

1. Wenn man mit Pferdeblut HC] oder H,SO, versetzt, so findet eine 
Anschwellung der rothen Blutkörperchen statt. Sogar Hinzufügung von nur 
0.0044 Procent HCl bringt noch eine deutlich nachweisbare Quellung her- 
_ vor. Diese Salzsäuremenge entspricht nur 1.3 Volumprocent CO,; während 
der Unterschied im Kohlensäuregehalt von venösem und arteriellem Blut 
noch 4 bis 5 Volumprocent beträgt. 


1 Vergl. hierzu auch Zeitschrift für Biologie. 1897. S. 275. 

? Bei dem jetzigen Standpunkt der Ansichten über den Bau und die Eigen- 
schaften der rothen Blutkörperchen darf man. wie schon gesagt, annehmen, dass die- 
selben aus einem Protoplasmanetz bestehen, in deren feinen geschlossenen Maschen 
sich der gefärbte Inhalt (Paraplasma) befindet. 


46 H. J. HAMBURGER: EINFLUSS VON SÄURE U. S. W. 


2. Aus 1 folgt, dass die durch CO, verursachte Volumvermehrung der 
rothen Blutkörperchen nicht auf einer specifischen Wirkung dieses Gases 
beruhen kann, sondern dass es sich dabei um einen besonderen Fall von 
der Wirkung von Säuren im Allgemeinen handelt. 


3. Im Gegensatz zu Säuren veranlasst Alkali Abnahme des Blut- 
körperchenvolums. Auch für Alkali ist die Empfindlichkeit der rothen 
Blutkörperchen sehr bedeutend. Hinzufügung von 0-0067 Procent KOH 
bringt noch eine deutlich nachweisbare Volumsabnahme hervor. 


4. Was für die rothen Blutkörperchen beobachtet wird mittelst volu- 
metrischer Bestimmungen, zeigt sich auch bei den weissen bei mikrosko- 
pischen Messungen: Zunahme des Volums (Diameters) unter dem Einfluss 
von Säuren; Abnahme unter dem Einfluss von Alkali. 


5. Die durch Säuren verursachte Quellung rührt daher, dass die Blut- 
körperchen mehr Säure aufnehmen als das Serum. In Folge dessen ent- 
steht eine Störung. im osmotischen Gleichgewicht, welche dadurch aus- 
geglichen wird, dass die Blutkörperchen Wasser aus dem Serum aufnehmen. 

Die durch Alkali bewirkte Schrumpfung der‘ Blutkörperchen wird da- 
durch veranlasst, dass von dieser Substanz das Serum viel mehr aufnimmt 
als die Blutkörperchen. Durch Hinzufügung von Alkali zu Blut steigt also 
die osmotische Spannkraft des Serums mehr als die der Blutkörperchen. 
Daher wieder eine Störung im osmotischen Gleichgewicht, welche zur Folge 
hat, dass das Serum den Blutkörperchen Wasser entzieht. 


6. Der Einfluss von Säure und Alkali auf den Farbstoffaustritt aus 
den rothen Blutkörperchen wird durch’ die Quellung und Schrumpfung voll- 
kommen erklärt. 


Ueber die Wirkungsweise der Mydriaca und Miotica.' 


Von 


Dr. Paul Schultz, 


Assistenten am physiologischen Institut zu Berlin. 


(Hierzu Taf. I.) 


I. Einleitung. Ueber den gegenwärtigen Stand der Lehre 
von der Pupillenveränderung.? 


. Ueber die Art der Wirkung der Pupillen erweiternden und verengernden 
Mittel ist bereits eine beträchtliche Anzahl von Arbeiten erschienen, ohne 
dass auch nur in Bezug auf eines derselben eine völlige Uebereinstimmung 
erzielt wäre. Dies hat seinen zureichenden Grund darin gehabt, dass man 


! Mydriaca, und nicht Mydriatica, muss es nach den Regeln der Wortableitung 
heissen, wie mir mein Freund Dr. phil. G. Kampffmeyer mittheilt. Ich füge zur 
Vergleichung hinzu: Aphrodisiasis, Aphrodisiaca. 

Miotica, Miosis schreibe ich nach der trefflichen historisch-philologischen Be- 
merkung Hirschberg’s im Archiv für Ophthalmologie, Bd. XXXIIL, Abthlge. 1. 
Diese Bemerkung ist bereits im Jahre 1887 veröffentlicht, und doch findet man noch 
in vielen pharmakologischen, physiologischen und ophthalmologischen Lehrbüchern und 
Abhandlungen Myotica gedruckt. Ein Beweis, dass die vis inertiae nicht bloss die 
physische Welt beherrscht, und ein übles Zeichen, dass die Medieiner sich in Fragen 
des Stils und des Ausdrucks noch immer nicht genieren, „im Schlafrock und Pan- 
toffeln vor die Oeffentlichkeit zu treten“. 

Mydriaca habe ich nach Durchsicht der gangbaren Lehrbücher der Ophthalmologie, 
der Pharmakologie, der Physiologie und sehr vieler einschlägiger Abhandlungen selt- 
samer Weise nur an einer einzigen Stelle gefunden: J. Munk, Lehrbuch der 
Physiologie, 4. Aufl., Berlin 1897 (auch schon in der 1. Aufl., 1882). Man sieht, wer 
hier Wandel schaffen wollte, müsste Goethes Mahnung befolgen: 

„Du Kräftiger sei nicht so still, 

Wenn auch sich Andre scheuen; 

Wer den Teufel erschrecken will, 
Der muss laut schreien.“ 


®° Den unphysiologischen Ausdruck „Pupillenbewegung“ sollte man Laien 
überlassen. 


48 PAUL SCHULTZ: 


sich in Unsicherheit und Unklarheit über den Gegenstand der Untersuchung 
befand. Nicht über die chemischen Mittel; denn der fortschreitenden indu- 
striellen Technik ist es bald gelungen, völlig reine, genau übereinstimmende 
Präparate (z. Th. auf synthetischem Wege) darzustellen. Zudem würde 
hier die Angabe der betreffenden Fabrik genügen, um sich des gleichen 
Präparates, wie es der Voruntersucher verwandte, zu vergewissern. Viel- 
mehr waren es die Organe selbst, deren Kenntniss zu wenig gefördert war, 
um eine Einstimmigkeit ergeben zu können. Zunächst die Muskeln der 
Iris. Ob es einen Dilatator pupillae gäbe oder nicht, das war bis in die 
letzte Zeit hinein die Frage, die eifrig und erbittert von Anatomen und 
Physiologen erörtert wurde. Sodann die Nerven. Ueber den Verlauf des 
Oculomotorius, des Sympathicus und über die Bedeutung des Ganglion 
ciliare gingen die Meinungen weit auseinander. In beiden Fragen ist 
gerade in den letzten Jahren ein völliger Umschwung eingetreten. Durch 
besonders sorgfältige physiologische und histologische Untersuchungen sind 
Ergebnisse gewonnen worden, die zu einer vollkommenen Einigkeit geführt 
haben, so dass man jetzt auch auf diesem Gebiet von begründeten und an- 
erkannten Thatsachen sprechen darf. Durch die Arbeiten von Steinach,t 
Heese”? und Langley u. Anderson? ist das Vorhandensein eines Dilatator 
sichergestellt. In der Beweiskette fehlt nur noch ein einziges Glied, der 
histologische Nachweis, der, da man über die Histologie der längsgestreiften 
(glatten) Muskeln zu wenig unterrichtet war, bisher nicht wohl einwandsfrei 
geführt werden konnte. Nachdem dieser Punkt durch mich seine Auf- 
klärung gefunden hat, wird auch dies in Bälde — ich hoffe durch eine 
meiner nächsten Arbeiten — geschehen. Ebenso hat die gröbere Inner- 
vation der Pupille eine entscheidende Lösung gefunden. Eine Uebersicht über 
die hierauf bezüglichen Arbeiten giebt in Kürze eine neueste Veröffent- 
liehung auf diesem Gebiet, die von Apolant.* Diese so gewonnene neue 
und sichere Erkenntniss in der Lehre von der Veränderung der Pupille ist 
den folgenden Untersuchungen zu Grunde gelegt. Ich fasse sie in folgende 
Sätze zusammen (vergl. Taf. I, Fig. 1): 

I. Es giebt in der Iris zwei längsgestreifte (glatte) Muskeln: Einen 
eirculären Verengerer, den Sphincter pupillae, und einen radiären Erweiterer, 
den Dilatator pupillae. 


" Steinach, Untersuchungen zur vergleichenden Physiologie der Iris. Pflüger’s 
Archiw. Bd. LI. 

®” Heese, Ueber den Einfluss des Sympathieus auf das Auge. Zbenda. Bd. LI. 

° Langley und Anderson, On the Mechanism of the Movement of the Iris. 
Journal of Physiologie. Bd. XII. 

* Apolant, Ueber die Beziehung des Nervus oculomotorius zum Ganglion ciliare. 
Archiv für mikrosk. Anatomie. 1896. Bd. XLVII. 


ÜBER DIE WIRKUNGSWEISE DER MYDRIACA UND MioTica. 49 


II. Das Ganglion ciliare ist ein sympathisches Ganglion, es gehört zum 

N. oculomotorius und zu keinem anderen Nerven. Es endigen sämmt- 
liche in das Ganglion eintretende Fasern des Oculomotorius hier mit 
freien Endbäumchen; und an diese schliessen sich die sympathischen End- 
neurone an, die also, ohne dass sich noch einmal Zellen zwischenschieben, 
direct zum Ciliarmuskel und zum Sphineter ziehen. Die Nerven für den 
Dilatator verlaufen in dem Halssympathieus. Sie endigen im Ganglion 
cervicale supr. mit freien Endbäumchen. An diese schliessen sich die End- 
neurone an, die sich ebenfalls, ohne dass sich noch einmal Zellen dazwischen 
schieben, direct zu den Muskelfasern begeben. Sie trennen sich am Gang- 
lion von den Rami carotidei (vergl. Taf. I, Fig. 2). Diese treten am seit- 
lichen Umfange des Ganglions heraus in mehreren Aestchen nach hinten 
und aussen zur Carotis interna. Jene verlaufen in den 2 bis 3 Fädchen, 
die an dem oberen Ende des Ganglions heraustreten, gelangen in den Schädel 
zum Ganglion Gasseri und vereinigen sich mit dem ersten Trigeminusast, 
um dann in den langen Oiliarnerven am Ganglion ciliare vorüber nach 
dem Auge zu ziehen. Es werden, wie aus Vorstehendem erhellt, sowohl 
der Sphineter wie der Dilatator von sympathischen Neuronen innervirt, 
nur dass die letzteren direct mit dem Sympathieus in Verbindung stehen. 


Ill. Für die Physiologie folgt hieraus, dass Contraction des Sphincters, 
hervorgebracht durch Reizung dieses Muskels oder der Ciliares breves bezw. 
des Oculomotorius, Verengerung der Pupille hervorbringt, Contraction des 
Dilatators dagegen, hervorgebracht durch Reizung dieses Muskels oder der 
Ciliares longi bezw. des Halssympathicus, Erweiterung. Aber damit ist die 
Sache noch nicht erschöpft. Es kommt noch ein drittes Moment hinzu, 
dasjenige, welches gerade die lebhafte Veränderlichkeit, „das seelenvolle 
Spiel“ der Pupille ausmacht: das Nachlassen des „Tonus“ des Oculomo- 
toriuscentrums.2 Hierdurch wird die reflectorische Erweiterung auf sen- 
sible und psychische Reize bewirkt, was zuerst Bechterew? vermuthet, 
S. Mayer und Pribram? durch Versuche unterstützt und in neuester Zeit 
Braunstein“ in 'einer vortrefflichen Arbeit des Ausführlichen dargethan 
und bewiesen hat. 


Für die vorliegenden Untersuchungen kommt freilich, da es sich um 
dauernde Erweiterung oder Verengerung handelt, die reflectorische Pupillen- 


! In Bezug auf die jetzt auch verlassene Hemmungsnerventheorie von Gaskell 
vergl. Heese, a. a. O. und Langley und Anderson, a. a. 0. 

? Ueber den Verlauf der die Pupille verengernden Nervenfasern im Gehirn u. s. w. 
Pflüger’s Archiv. 1883. Bd. XXXI. 

® Studien über die Pupille. Zeitschrift für Heilkunde. 1884. Bd. V. 


* Zur Lehre von der Innervation der Pupillenbewegung. Wiesbaden 1394. 
Archiv f. A. u. Ph. 1898 Physiol. Abthlg. 4 


50 PAUL SCHULTZ: 


erweiterung nicht in Betracht. Die durch Arzneimittel hervorgerufene 
Mydriasis und Miosis kann nur durch anhaltende Erregung oder Lähmung 
des Verengerungs- oder Erweiterungsapparates zu Stande kommen. 


1I. Methodik. 


Es kam darauf an zu prüfen, ob die chemischen Mittel auf die Muskeln, 
auf die in ihnen befindlichen Nervenapparate, oder auf die Ganglien oder noch 
weiter centralwärts wirken. Zu diesem Zweck wurde einmal der Hals- 
sympathicus bis über das Ganglion cervicale supremum hinaus an Kanin- 
chen, Katzen und Hunden nach den üblichen Operationsverfahren freigelegt. 
Das andere Mal wurde bei Katzen und Hunden (bei Kaninchen sind wegen 
der feineren Verhältnisse die Schwierigkeiten zu gross) der Oculomotorius 
mit dem Ganglion ciliare und den Nn. ciliares breves in der Augenhöhle 
präparirt. Die Methoden hierfür sind von Hensen und Völkers! in 
ihrer classischen Arbeit über den Mechanismus der Accomodation und von 
Jegorow” ausführlich beschrieben. Zu bemerken ist nur, dass in unserem 
Falle kein Morphium verwandt werden durfte, da dasselbe Miosis erzeugt. 
Ich habe daher die Thiere zunächst chloroformirt, dann in der Rückenlage 
die Tracheotomie vorgenommen und die Trachea mit einer Wulff’schen 
Flasche verbunden, in der sich ein Gemisch von Alkohol-Aether-Chloroform 
zu gleichen Theilen befand. War tiefe Narcose eingetreten, so wurden die 
Thiere umgedreht, auf dem Bauche liegend befestigt, und die Operation 
begann mit einem T-Schnitt, dessen verticaler Ast von der Mitte der Sut- 
tura sagittalis zur Mitte des Jochbogens herunterstieg, während der hori- 
zontale Ast dem unteren Rand des Jochbogens entsprechend vom äusseren 
Augenhöhlenrand bis zum vorderen Theil der Ohrmuschel verlief. Präparirte 
man jetzt die so entstandenen Hautlappen nach vorn und hinten zurück, 
so lag das ganze Öperationsfeld frei zu Tage. Im weiteren Verfolg der 
Operation habe ich dann den äusseren Orbitalrand nicht, wie die oben ge- 
nannten Autoren, durchtrennt und abgetragen, sondern ihn möglichst breit 
stehen lassen. Zwar wird die Präparation der Nerven dadurch mühsamer, 
insbesondere bei Katzen; man hat aber dafür den Vortheil, dass einerseits 
der Bulbus mehr geschont wird und dass andererseits die Resorptionsver- 
hältnisse für Lösungen, die in die Conjunctiva geträufelt werden, wenig 
beeinträchtigt werden. Letzteres war für unsere Untersuchungen wesent- 
lich. Aus demselben Grunde wurde die Operation im Augenkegel möglichst 


‘ Hensen und Völkers, Experimentaluntersuchung über den Mechanismus der 
Accomodation. Kiel 1868. 


® Jegorow, Ueber den Einfluss der langen Ciliarnerven auf die Pupille. Dies 
Archiv. 1886. 


ÜBER DIE WIRKUNGSWEISE DER MYDRIACA UND MioTIca. Sl 


schonend vorgenommen, und es konnten daher auch die Nerven nicht so 
zugänglich gemacht werden, wie es sonst leicht möglich ist. Dabei möchte 
ich nicht unterlassen zu erwähnen, dass insbesondere bei den Katzen wegen 
möglicher Stromschleifen auf die Ciliares longi, die Wahl geeigneter Elek- 
troden von Wichtigkeit ist. Dieselben sind am besten am unteren Ende 
ein wenig umgebogen und bis auf die innere, concave Fläche dieses um- 
gebogenen Theiles mit isolirendem Material gänzlich verdeckt. 

Bei den Versuchen über Giftwirkungen ist immer zu berücksichtigen, 
dass sowohl die verschiedenen Thierklassen, wie in derselben Thierklasse die 
verschiedenen Individuen sich verschieden verhalten. Ein schlagendes Bei- 
spiel für den letzteren Fall findet sich unten beim Cocain angeführt. Man 
kann daher beispielsweise nicht im Allgemeinen behaupten, wie dies 
Schmiedeberg! gethan, dass Physostigmin bei Katzen nicht den höchsten 
Grad von Miosis hervorbringe, so wie das Muscarin. Das Physostigmin 
vermag das sehr wohl. Ich werde darauf zurückkommen. Es ist vielmehr 
nöthig, in jedem Falle die Stärke der Lösung und die angewandte Menge 
desselben, hier in Tropfenform, anzugeben. Dabei ist noch eines zu be- 
achten. So lange man nicht weiss, wie dies ja bisher der Fall war in der 
_ vorliegenden Frage, in welcher Menge die Gifte ihre vollständige Wirkung 
entfalten, ist es sicherer, eher eine starke als eine schwache Lösung zu 
gebrauchen.” So können bei nervenlähmenden Giften schon Lösungen ge- 
ringer Concentration sehr wohl die zu erwartenden Ausfallserscheinungen 
nur durch Schwächung der Nervenelemente hervorbringen, ohne dass 
deshalb die vollständige Wirkung, die complete Lähmung jener Elemente 
eingetreten ist. Beim Atropin wird hierfür der Beweis erbracht werden. 
Hätte man dies immer berücksichtigt, so wäre nicht eine so völlige und 
bis heute währende Meinungsverschiedenheit über das Verhältniss der Wir- 
kungsweise des Atropins und des Physostigmins entstanden. Schliesslich 
aber ist nöthig, um jenen oben erwähnten Einfluss der Individualität zu 
eliminiren, eine möglichst grosse Anzahl von Versuchen anzustellen. 

Ich habe im Ganzen etwa 70 Katzen, 15 Hunde, 10 Kaninchen ver- 
braucht. Die unten angeführten Versuche sind also nur Stichproben aus 
der grossen Zahl der wirklich angestellten Versuche. Ich will damit her- 
vorheben, dass die mitzutheilenden Ergebnisse auf einer ziemlich breiten 
Basis von beobachteten Thatsachen beruhen. 

Man wird nun freilich im Folgenden finden, um es vorweg zu sagen, 


! Vergl. Schmiedeberg, Grundriss der Arzneimittellehre. Leipzig 1888. 
H. Aufl. S. 81. 

* Vorausgesetzt natürlich, dass sich die Wirkungsweise nicht ändert. So wissen 
wir ja, dass es chemische Agentien giebt, die in mässiger Concentration die Nerven 
lähmen, in starker den Muskel reizen. 

4* 


52 PAUL’ SCHULTZ: 


dass in einigen Punkten im gewissen Sinne nur die herrschende Ansicht? 
bestätigt worden ist, dass hier Einiges nur wiederholt wird, was man längst 
wusste, und Mancher wird vielleicht erstaunt fragen, wozu die Mühe? ? 
Dem gegenüber sei hier zweierlei ausdrücklich hervorgehoben. Zunächst 
wird hier zum ersten Mal in umfassender Weise der Versuch gemacht, die 
Wirkungsweise der Mydriaca und Miotiea nicht wie gewöhnlich bisher durch 
blosse Inspection am Auge, sondern an den Muskeln und Nerven selbst zu 
prüfen. Sodann geschieht diese Prüfung hier zum ersten Male auf Grund 
der neu erworbenen, oben dargethanen Kenntnisse über die Musculatur und 
Innervation der Iris. Durch diese wurde die Fragestellung für unsere 
Untersuchung eine complicirtere, aber zugleich auch schärfere und genauere. 
Damit war zu erhoffen, dass auch die Beantwortung eine eingehendere 
wurde, und dass eine Lösung gegeben werden konnte, die in dem Sinne, 
wie dies bei einer fortschreitenden empirischen Wissenschaft überhaupt 
möglich ist, vielleicht eine endgültige genannt werden kann. 


! Dass es übrigens in Wahrheit in Bezug auf keines der hier in Betracht 
kommenden Mittel eine wirklich herrschende Ansicht giebt, davon überzeugt ein 
Blick auf die Zusammenstellung bei Zeglinski, Experimentelle Untersuchungen über 
die Irisbewegung. Dies Archiv. 1885. Ueber die Atropinwirkung werden dort nicht 
weniger als fünf Gruppen von Erklärungen und Erklärern angeführt. Wenn ich im 
Folgenden darauf verzichtet habe alle die früheren Erklärungen anzuführen, so leitete 
mich das Wort Augustin’s: Non est pro magno habendum, quid homines sonserint, 
sed quae sit rei veritas. 

” Hierzu sei eine allgemeine Bemerkung gestattet. Es ist selbst bei oberfläch- 
licher, einschlägiger Kenntniss überaus leicht (und darum sehr üblich), eine Ver- 
muthung über gewisse Zusammenhänge auszusprechen, oder durch Analogieen eine 
in einem einzigen Gebiet gefundene Thatsache zu verallgemeinern. Mit anderen 
Worten: deduciren ist leichter als induetiv beweisen. So entstehen „herrschende 
Ansichten“. Macht sich nun Jemand daran, methodisch den Gegenstand zu prüfen, 
ihn experimentell nach allen Richtungen hin sorgfältig zu analysiren, und fällt das 
Ergebniss seiner eingehenden Arbeiten mit jenen „horrschenden Ansichten“ 
zusammen, so hält man ihm wohl vor. nicht begreifen zu können, wie so viel 
Mühe verwandt wurde, yAavzaus eis Adyves zoulew, um nur darzuthun, was 
man längst wusste. Es ist dies ganz das nämliche Verfahren der Kritik, welches 
man heute bei der Entscheidung von Prioritätsfragen befolgt. Helmholtz hat dies 
einmal treffend gekennzeichnet: „Oberflächliche Aehnlichkeit finden ist leicht, ist 
unterhaltend in der Gesellschaft, und witzige Einfälle verschaffen ihrem Autor bald 
den Namen eines geistreichen Mannes. Unter einer grossen Zahl solcher Einfälle 
werden ja auch wohl einige sein müssen, die sich schliesslich als halb oder ganz richtig 
erweisen; es wäre ja geradezu ein Kunststüek, immer falsch zu rathen. In solchem 
Glücksfalle kann man seine Priorität auf die Entdeckung laut geltend machen; wenn 
nicht, so bedeckt glückliche Vergessenheit die gemachten Fehlschlüsse. Andere An- 
hänger desselben Verfahrens helfen gern dazu, den Werth eines „ersten Gedankens“ 
zu sichern. Die gewissenhaften Arbeiter, welche ihre Gedanken zu Markte bringen 
sich scheuen, ehe sie sie nicht nach allen Seiten geprüft, alle Bedenken erledigt und 
den Beweis vollkommen gefestigt haben, kommen dabei in unverkennbaren Nachtheil.“ 


ÜBER DIE WIRKUNGSWEISE DER MYDRIACA UND MIoTIcAa. b3 


III. Mydriaca. 


Eine Erweiterung der Pupille, wenn man auf die einfachsten Bedin- 
gungen zurückgeht, kann zu Stande kommen: 

1. Durch Reizung des Erweiterer-Muskels, des Dilatators, oder durch 
Reizung der ihn versorgenden Nerven, sei es peripherischer, sei es cen- 
traler Elemente derselben. 

2. Durch Lähmung des Verengerer-Muskels, des Sphincters, oder 
durch Lähmung der ihn versorgenden Nerven, sei es peripherischer oder 
centraler Elemente derselben. 


Das Atropin. 


Für dieses ist der erste Fall von vorneherein auszuschliessen. Atropin hat 
auf peripherische Organe niemals erregende, reizende Eigenschaften, weder auf 
den Muskel noch auf den Nerven. Dies hat schon v. Bezold! ganz entschieden 
hervorgehoben. Für die Pupille hatten Rossbach und Fröhlich? das Gegen- 
theil behauptet; bei Anwendung von sehr schwachen Lösungen sollte der 
Erweiterung sogar eine Verengerung voraufgehen. Schon Harnack? und 
Krenchel* haben diese Ansicht als durchaus irrig nachgewiesen. Ich 
selbst habe mich an der Pupille ebenfalls überzeugt, dass Lösungen von 
0-001 Proc. Atropin in allmählicher steigender Concentration bis zu 5 Proc. 
niemals eine auch nur geringe Verengerung hervorgebracht haben. Ebenso 
habe ich an den Ohrgefässen des Kaninchens, an der Blase von Kaninchen, 
Katze und Hund, an dem von mir angegebenen Muskelpräparat aus dem 
Magen des Frosches feststellen können, dass Atropin niemals weder in 
schwachen noch in starken Lösungen eine reizende Wirkung auf Muskel 
oder Nerv in den Organen mit längsgestreiften Muskeln ausübt. Aber 
auch dass Atropin neben der lähmenden Wirkung, die es ausübt, zugleich 
eine Reizung der Nervenendigungen im Dilatator, wie man mehrfach an- 
genommen hat, nicht hervorbringt, davon überzeugt ein einfacher Versuch. 
Hat man einer Katze das Gang]. cervic. super. exstirpirt, so tritt bekannt- 
lich in Folge des Ausfalles der vom Rückenmark ausgehenden Erregungen 
für den Dilatator auf der operirten Seite eine Verengerung der Pupille ein 


! v. Bezold, Untersuchungen aus dem physiologischen Laboratorium in Würz- 
burg. Leipzig 1867. Hft. 1. 

® Rossbach und Fröhlich, Verhandlungen der phys.-med. Gesellschaft in 
Würzburg. 1873. Bd. V. Hit. 1. 

® Harnack, Ueber die Wirkung des Atropin u. s. w. Archiv für experim. 
Pathologie und Pharmakologie. Bd. 11. 

* Krenchel, Wirkung des Muscarins auf Accomodation und Pupille. Archiv 
für Ophthalmologie. Bd. XX. 


54 PAUL SCHULTZ: 


Träufelt man unmittelbar danach Atropin in beide Augen, so bleibt bei 
der eintretenden Erweiterung die anfängliche Differenz zwischen beiden 
Pupillen bestehen. Wiedernolt man die Einträufelung etwa 10 Tage später, 
wo man also die gänzliche Verödung der (sit venia verbi) Dilatatorfasern 
und -endigungen sicher annehmen darf, so bleibt ebenfalls die Differenz 
erhalten.’ Das Letztere, und nur das Letztere, sollte man erwarten, wenn 
das Alkaloid neben der Lähmung auch die Nervenendigungen im Dilatator 
reizt. Diese sind im ersteren Fall, unmittelbar nach der Operation, noch 
völlig erhalten, und jede Erregung derselben müsste, da ja die Gegenwirkung 
des Oculomotorius vollständig aufgehoben ist, sich sofort bemerkbar machen, 
zu grösserer, ja zu grösster Erweiterung der Pupille führen. Das Co- 
cain, wie ich zeigen werde, liefert den Beweis für die Richtigkeit dieser 
Erwägungen. Und somit wäre schon die blosse Thatsache, dass Atropin 
die Pupille nicht maximal erweitert, hinreichend, um mit voller Sicherheit 
darzuthun, dass es nicht reizend auf die Nervenendigungen im Dilatator wirkt. 

So kann also hier nur die lähmende Wirkung in Betracht kommen; 
und es ist zu entscheiden, ob diese den Muskel oder den Nerven betrifft. 
Dass ersteres nicht der Fall ist, lässt sich leicht erweisen. Schon an anderer 
Stelle? habe ich den Nachweis geführt, dass in jenem Präparat aus dem 
Froschmagen und am Retraetor penis vom Hunde selbst von den stärksten 
Atropinlösungen (1:5 Ag. dest.) die Muskeln nicht nachweisbar affieirt 
werden. Ebenso kann man sich an der Blase des Hundes, der Katze oder 
des Kaninchens sicher davon überzeugen. Betupft man dieselbe wiederholt 
hinter einander reichlich mit 5 procent. oder noch stärkerer Atropinlösung, 
so erhält man auf einen Reiz der Musculatur mit dem Induetionsstrom eine 
ebenso starke locale Contraction wie vorher. Aber auch an der Pupille 
haben schon Bernstein und Dogiel? gezeigt, dass in erster Linie jeden- 
falls nicht der Sphincter gelähmt wird. Denn sie erhielten dureh directe 
elektrische Reizung der Iris, die durch vier punktförmige der Cornea auf- 
gesetzte Elektroden bewirkt wurde, deutliche Verengerung. Und sie schlossen 
daraus, dass Atropin nicht die Muskelelemente selbst angreift. Mir selbst 
ist in noch schlagender Weise dies darzuthun gelungen. Ich schnitt aus 
einer Katzeniris zwei dem Sphincter entsprechende Kreisstücke heraus, legte 
sie aneinander und brachte sie in den von mir für die Untersuchung der 
längsgestreiften Muskeln angewendeten Muskeltelegraphen. Nachdem das 


* Ich bemerke hierzu, dass im Gegensatz zu anderen Beobachtungen in meinen 
Versuchen (6 Katzen) die Pupillendifferenz in Folge Exstirpation des Ganglion cer- 
vicale nach 10, selbst 14 Tagen nicht zurückgegangen war. 

ı Dies Archiv. Physiol. Abthlg. 1897. 

®* Bernstein und Dogiel, Zur Lehre von der Irisbewegung, Verhandlungen 
des natur.-hist.-medie. Vereines zu Heidelberg. 1866. 


_ ÜBER DIE WIRKUNGSWEISE DER MYDRIACA UND MIoTIca. 55 


Präparat mehrmals mit 5 procent. Atropinlösung betupft war, wurde es mit 
dem Inductionsstrom gereizt: es contrahirte sich, ein Ansteigen der Fahne 
erfolgte, das natürlich den zarten Gebilden entsprechend sehr gering, aber 
doch vollkommen deutlich war. 

Es bleiben demnach nur noch die Nerven als Angriffspunkte des Atro- 
pins übrige. Hier lehrte nun gleich der erste Versuch an den freigelegten 
Nn. ciliares breves, dass es die Nervenendigungen im Sphincter sind, 
welche gelähmt werden. Denn während bei Reizung dieser Nerven in 
normalem Zustande mit mässigen Inductionsströmen (13 ®“ Rollenabstand) 
prompte Verengerung der Pupille erfolgte, trat 15 Minuten nach Ein- 
träufelung einer 1 procent. Atropinlösung selbst bei stärksten Strömen keine 
irgendwie merkliche Verengerung der inzwischen stark erweiterten Pupille 
ein.’ Dies wurde in der Folge an Katzen und Hunden stets mit demselben 
Ergebniss mehrfach wiederholt. Hiernach aber warf sich sofort die Frage 
auf, wie sich denn der Halssympathicus, die Dilatatorfasern dem gegenüber 
verhielten. Es lässt sich mit völliger Evidenz beweisen, dass dieselben selbst 
von stärksten Atropinlösungen beim Kaninchen, beim Hund und der Katze 
gar nicht oder wenigstens nicht wahrnehmbar beeinträchtigt werden. Ich 
weiss nicht, wie man das Gegentheil hat behaupten und zu einem lebhaften 
Streit darüber Anlass hat geben können. Der Versuch ist leicht und 
sicher auszuführen. Selbst nach stärkster Atropinmydriasis bleibt immer, 
besonders schön bei der Katze, ein mehrere Millimeter breiter Irissaum 
bestehen. Dieser wird durch Reizung des Halssympathicus prompt zum 
völligen Verschwinden gebracht. Diese Thatsache hat bei dem gegen- 
wärtigen Stand der Kenntnisse über die Innervation der Iris ein ganz 
anderes Interesse als früher. Denn im Dilatator sind es, wie im Sphincter, 
sympathische Fasern, welche hier endigen. Aber nur diese, nicht jene, 
werden von Atropin. gelähmt. Auf diese höchst auffällige Thatsache werde 
ich noch an anderer Stelle zurückkommen. 

Es kam mir nun darauf an zu prüfen, wie sich das Ganglion ciliare 
gegenüber dem Atropin verhielt. Folgende Versuchsprotocolle mögen darüber 
Aufschluss geben. 


I. Hund, braun, kurzhaarig, 8 ®®. 


Links Freilegen des Ganglion eiliare, des N. oculomotorius und der 
Nn. eiliares breves. Reizung mit dem Inductionsstrom (du Bois-Reymond’s 


! Das hatten auch schon Hensen und Völkers beobachtet, a. a. O., 8. 20. 
Die übrigen Versuche, wo die Wirkung des Atropins durch Reizung des Oculomotorius 
in der Schädelhöhle geprüft wurde, sind auf Grund der neueren Erkenntniss über 
die Endigung des Oculomotorius im Ganglion ciliare vieldeutig und können deshalb 
hier keine Erwähnung finden. 


56 PAUL SCHULTZ: 


Inductionsapparat, Abstand der secundären Rolle von der primären 13 al 
1 Daniell) prompte Verengerung”? vom Oculomotorius und von den Nn. eili- 
ares breves. 

12 Uhr 15 Min. 1procent. Atropinlösung auf das Ganglion, so dass 
es davon überflossen ist. 

12 Uhr 17 Min. Auf Reizung des Nn. oculomotorius sowie der Nn. 
eiliares breves Verengerung wie oben. ; 

12 Uhr 20 Min. Dasselbe. 

12 Uhr 25 Min. Dasselbe. 

12 Uhr 40 Min. Pupille weit; kein Erfolg vom N. oculomotorius, kein 
Erfolg von den Nn. ciliares breves (Rollenabstand 13, 12, 10, 8 und 5 ), 


II. Hund, schwarzbraun, kurzhaarig, 9!/, E®. 


Links Freilegen des Ganglion ciliare, des N. oculomotorius und der 
Nn. ciliares breves. Reizung (13 ““ Rollenabstand) des Oculomot., wie der 
Ciliares breves prompte Verengerung. 

12 Uhr 55 Min. 5procent. Atropinlösung auf das Ganglion eiliare, so 
dass es davon überflossen ist. 

12 Uhr 58 Min. Auf Reizung des N. oculomot. sowie der Nn. ciliares 
breves prompte Verengerung. 

1 Uhr. Auf Reizung des N. oculomot. nur sehr geringe Verengerung, 
auf Reizung der Ciliares breves starke Verengerung wie oben. 

1 Uhr 3 Min. Pupille stark erweitert, kein Erfolg vom N. oculomot., 
kein Erfolg von den Nn. ciliares breves (Rollenabstand 13, 12, 10 u. 5 %). 


II. Katze, grau, 2800 em. 


Rechts Freilegen des Ganglion ciliare, des N. oculomot. und der Nn. 
eiliares breves. Reizung (14 °® Rollenabstand) des Oculomot. Verengerung 
mit sofort folgender (d. h. noch während der Reizung des Oculom. ein- 
tretender) Erweiterung, dasselbe von den Ciliares breves. Dasselbe, erst 
Verengerung, dann sofort Erweiterung bei Reizung mit 12 °@ Rollen- 
abstand. Durchschneidung des Oculomotorius. Darauf ergiebt Reizung des 
N. oculomot., wie der Ciliares breves nur Verengerung. 

11 Uhr 20 Min. 1procent. Atropinlösung auf das Ganglion, so dass 
es davon überflossen ist. 

11 Uhr 23 Min. 12 *“@ Rollenabstand: Kein Erfolg vom Oeculomot., 
wohl aber von den Ciliares breves. 10 °® Rollenabstand: Erfolg auch vom 
Oculomot. 

11 Uhr 26 Min. Kein Erfolg vom Oculomot., wohl aber von den Cili- 
ares breves. 9 °% Rollenabstand: Erfolg vom Oculomot., noch stärker von 
den Ciliares breves. 


* Rollenabstand hier 13 °®, unten mit einem anderen Inductionsapparat 11 «m 
ist derjenige, bei dem die Elektroden auf der Zungenspitze eben einen Strom deutlich 
fühlen lassen. 

° Ich habe es unterlassen, die Pupillengrösse in Millimetern zu bestimmen, da 
es hier nur auf augenfällige, unzweifelhafte Veränderungen ankam. 


ÜBER DIE WIRKUNGSWEISE DER MYDRIACA UND MioTIca. 57 


11 Uhr 29 Min. Kein Erfolg vom Oculomot., wohl aber von den 
Ciliares breves. 7 “% Rollenabstand: Erfolg vom Oculomot. 

11 Uhr 35 Min. Kein Erfolg vom Oculomot., kein Erfolg von den 
Ciliares breves. 5 ““ Rollenabstand, dasselbe. 


IV. Katze, schwarz, 2400 Sm, 


Rechts Freilesen des Ganglion ciliare, des N. oculomot. und der Nn. 
ciliares breves. Reizung (13 ““ Rollenabstand) des Oculomot., wie der Cili- 
ares breves prompte Verengerung. 

1 Uhr 30 Min. 5procent. Atropinlösung auf das Ganglion, dass es 
davon überflossen ist. 

1 Uhr 33 Min. 13 ““ Rollenabstand. Reizung des Oculomot. schwache, 
Reizung der Ciliares breves starke Verengerung. 

1 Uhr 35 Min. Kein Erfolg vom Oculomot., kein Erfolg von den Cil- 
ares breves (Rollenabstand 13, 12, 10 und 5 ®). 


Aus diesen Versuchen ergiebt sich, dass schon 1 procentige Atropin- 
lösung bei Katzen einen hemmenden, aber nicht lähmenden Einfluss auf 
das Ganglion hat. Ebenso schwächt eine 5 procent. Lösung bei Hunden 
und Katzen sehr bald das Ganglion. Ehe man aber feststellen kann, ob 
dasselbe dadurch auch völlig gelähmt wird, tritt hier durch Resorption der 
aufgebrachten Lösung Lähmung der Nervenendigungen im Sphincter ein: 
man erhält dann auch von den Ciliares breves keine Wirkung mehr. Ich 
werde an anderer Stelle noch einmal auf die Art der Einwirkung des 
Atropins auf die sympathischen Ganglien zurückkommen. 

Schliesslich prüfte ich noch die Frage, die bei Besprechung der 
Wirkungsweise des Physostygmins von Wichtigkeit sein wird, in welcher 
Concentration denn das Atropin vollständige Lähmung hervorbringt.! 
Folgende Versuchsprotocolle mögen hier Platz finden. 


Y. Katze, schwarz, 2200 &”% schwer. 


Links Freilegen des Ganglion eiliare, des N. oculomot. und der Nn. 
eiliares breves. Reizung (13 °® Rollenabstand) des Oculomot., sowie der 
Ciliares breves prompte Verengerung. 

10 Uhr 45 Min. 0.001 procent. Atropinlösung, 5 Tropfen in die Con- 
junctiva. 

11 Uhr 10 Min. Auf Reizung prompte Verengerung. 

11 Uhr 15 Min. 0-01 procent. Atropinlösung in die Conjunctiva zwei 
Mal hintereinander reichlich. 

11 Uhr 30 Min. Mässige Mydriasis. Auf Reizung nur schwache Wirkung. 
Rollenabstand 10 °“: deutliche maximale Verengerung. 

11 Uhr 35 Min. Wieder dieselben, 0-01 procent. Atropinlösung, mehrere 
Male hinter einander reichlich in die Conjunetiva gebracht. Starke Mydriasis. 


! Für diese Versuche wurden die zu prüfenden Atropinlösungen frisch bereitet. 


58 PAUL SCHULTZ: 


11 Uhr 45 Min. Auf Reizung kaum merkliche Verengerung. Rollen- 
abstand 7 “: deutliche, wenn auch nicht maximale Verengerung. 

11 Uhr 50 Min. 0-1-procentige Atropinlösung in die Conjunetiva 
mehrere Male. 

12 Uhr 15 Min. Auf Reizung kein Erfolg. Auch bei Verstärkung 
(Rollenabstand 5 und 3 ““) des Stromes keine Verengerung. Ja, bei diesen 
ganz starken Strömen sogar Erweiterung, zugleich heftige Bewegungen des 
Thieres. 


VI. Katze, schwarz, 3030 8"% schwer. 


Rechts Freilegen des Ganglion ciliare, des N. oculomotorius und der 
Nn. eiliares breves. Reizung (11 °® Rollenabstand) der Ciliare breves, prompte 
Verengerung. 

6 Uhr 25 Min. 1 procent. Atropinlösung. 1 Tropfen in die Conjunetiva. 

6 Uhr 40 Min. Mässige Mydriasis; auf Reizung keine Verengerung. 
Rollenabstand 9°“: deutliche, aber mässige Verengerung. 

6 Uhr 50 Min. Starke Mydriasis. Auf Reizung kein Erfolg. 

7 Uhr. Auf Reizung war Erweiterung (Rollenabstand 9 und 7 ®). 

Hieraus wie aus zwei! anderen Versuchen ergiebt sich, dass schwache 
Atropinlösungen (0-001, 0-01, 0-1 Procent) einen schwächenden, aber 
keinen völlig lähmenden Einfluss auf die Endigungen der Ciliares breves 
ausüben, und dass in Tropfenmengen ausgedrückt erst ein Tropfen einer 
1 procent. Lösung eine sichere vollständige Lähmung, aber nur nach längerer 
Einwirkung (etwa 25 Minuten) zu Stande bringen kann. Dabei möchte 
ich besonders hervorheben, dass eine leichte Mydriasis auch nach Einwirkung 
schwächerer Lösung eintritt; dann sind die Nervenendisungen im Sphincter 
nur geschwächt. Ja, selbst das Eintreten starker Mydriasis (vgl. Vers. V) 
beweist noch nicht, dass das Atropin seine ganze Wirksamkeit entfaltet 
hat, dass die Endigungen der Ciliares breves völlig gelähmt sind. 


Das Coecain. 


Ueber die Art der pupillenerweiternden Wirkung des Cocains herrscht 
noch grosse Unklarkeit; man ist über Vermuthungen hierüber kaum hinaus- 
gekommen. Als bisherige Ergebnisse führe ich an, dass die durch Coeain 
erweiterte Pupille durch Atropin noch mehr erweitert werden kann, und 
ebenso umgekehrt; und dass im Gegensatz zum Atropin die durch Cocain 
erweiterte Pupille auf Belichtung und Convergenz ausgiebig reagirt. Ferner 
wird die Cocainpupille durch Pilocarpin, welches die Oculomotoriusendigungen 
reizt, leicht aufgehoben. Dasselbe bewirkt Muscarin und Physostigmin. 
Eine bestimmte Richtung für die zur Erklärung aufzustellenden Hypothesen 
gab die wichtige Beobachtung Schöler’s, dass nach Exstirpation des Gangl. 


aRatzer ie Ehund: 


ÜBER DIE WIRKUNGSWEISE DER MYDrIACA unD MioTicA. 59 


cervic. supr. des Sympathicus die Pupille nicht mehr erweitert wird. 
E. Pflüger erhielt dasselbe Resultat. Die neueste Arbeit auf diesem Ge- 
biete, die von Limbourg, der die obigen Data entnommen sind, und auf 
die ich in Bezug auf die einschlägige Litteratur verweise, bestätigt diese 
Thatsache ebenfalls und kommt zu dem Schluss, „dass das Cocain am Auge 
die Endigungen des Sympathicus reizt; für eine Mitbetheiligung des Oculo- 
motorius lassen sich keine stichhaltigen Gründe anführen.“ 

Indem ich nach dem Eingangs aufgestellten Schema die Frage auf die 
einfachsten Bedingungen zurückzuführen suchte, konnte ich zunächst eine 
Wirkung auf die Muskeln ausschliessen. Am Muskelpräparat aus dem 
Frosehmagen, wie am Auge selbst habe ich mich überzeugt, dass sogar 
eine 5 procent. Cocainlösung weder einen reizenden noch einen lähmenden 
Einfluss auf die Muskeln selbst hat. 

So blieb nur die Wirkung auf die Nerven übrig. Hier muss nun die 
wichtige Bemerkung: vorausgeschickt werden, dass bei Katzen und Hunden 
im Allgemeinen eine 1- und 2 procentige Cocainlösung ! nur eine mässige 
Mydriasis hervorbringt, nicht zu vergleichen mit der durch Atropin be- 
wirkten. 
| Bei Kaninchen hingegen ist die Wirkung stärker, die Mydriasis fast 

maximal. Prüfen wir zunächst, ob diese Erweiterung zu Stande kommt 
durch Lähmung der Nerven, welche den Verengerermuskel, den Sphincter, 
innerviren. Ich gebe folgendes Versuchsprotocoll: 


VH. Katze, rostbraun, 2600 &% schwer. 


Links Freilegen des Ganglion eiliare, des N. oculomot. und der Nn. 
eiliares breves. Auf Reizung der Ciliares breves mässige Verengerung (Rollen- 
abstand 11 ). 

11 Uhr. 2procent. Cocainlösung. 2 Tropfen in die Conjunctiva. 

11 Uhr 30 Min. Leichte Mydriasis. Auf Reizung der Ciliare breves 
und des Oculom. Verengerung wie oben. Mehrere Tropfen derselben Lösung 
in die Conjunctiva. 

11 Uhr 45 Min. Wiederum mehrere Tropfen derselben Lösung in die 
Conjunetiva. 

11 Uhr 55 Min. Dasselbe. 

12 Uhr 10 Min. Mässige Mydriasis. Auf Reizung (Rollenabstand 10 ©”) 
des Oculom., wie der Ciliares breves Verengerung wie oben. 

12 Uhr 25 Min. Muscarin.”? 5procent. Lösung. 1 Tropfen in die Con- 
junetiva. 

1 Uhr 10 Min. Starke, wenn auch nicht maximale Verengerung. 


! Ich verwandte nur Cocain. sulfur. aus der Fabrik von Schering, Berlin. 
?® Hier, wie in allen später mitgetheilten Versuchen, wurde Muscarin artific. von 
Dr. Grübler u. Co., Leipzig, angewandt. 


60 PAuL ScHULTz: 


Rechts ebenfalls Freilegen des Ganglion ciliare, dann Durchschneiden 
der Ciliares breves. 
12 Uhr 10 Min. 5procent. Muscarinlösung. 1 Tropfen in die Con- 


junctiva. 
12 Uhr 40 Min. Maximale Verengerung. 
12 Uhr 45 Min. 2 procent. Cocainlösung. 2 Tropfen in die Conjunetiva. 
12 Uhr 60 Min. Keine Erweiterung. 2 Tropfen Cocain; gleich wieder 
2 Tropfen. 
1 Uhr 10 Min. Keine Erweiterung. 4 Tropfen Cocain. 
1 Uhr 35 Min. Keine Erweiterung. 1 procent. Atropinlösung in die 


Conjunctiva. 
1 Uhr 55 Min. Starke Mydriasis. 


Hieraus wie aus ähnlichen Versuchen am Hunde ergiebt sich, dass die 
mässige Erweiterung der Pupille durch Cocain nicht zu Stande kommt 
durch Lähmung des Oculomotorius oder der Ciliares breves. Wird diese 
aber zu der Wirkung des Cocains hinzugefügt, wie durch Anwendung von 
Atropin, so geht die mässige Mydriasis in eine maximale über. Anderer- 
seits können hinreichend starke Reize, welche ‘den Oculomotorius bezw. die 
Ciliares breves treffen, die Erweiterung aufheben und die Verengerung 
herbeiführen: starke Belichtung, Muscarin, Physostigmin. Ebenso zeigt sich 
diese Cocainlösung unwirksam, wo ein starker Reiz der Ciliares breves 
bereits Verengerung hervorgerufen hat, wie das Muscarin im obigen Versuch. 

Beruht also diese Erweiterung durch Cocain nicht auf einer Lähmung 
der Verengerer-Nerven (sif venia verbo), so kann sie nur auf einer Reizung 
der Erweiterer-Nerven sich gründen, also des Hals-Sympathicus, zunächst 
seiner Endisungen im Auge. Diese Frage zu entscheiden ist der einzig 
mögliche Weg nach dem gegenwärtigen Stand unserer Anschauungen über 
den Aufbau des Nervensystems nicht Durchschneidung des Sympathicus 
am Halse, sondern, wie Schöler es zuerst gethan, Exstirpation des Gangl. 
cerv. supr. Denn hierdurch beseitigt man die hier liegenden trophischen 
_Centra der sympathischen Endneurone und kann diese dadurch vollständig 
zur Verödung bringen. Hat man sie auf diese Weise ausgeschaltet, so 
müsste also Cocain, beruht anders seine Wirkung auf Reizung der Endi- 
gungen dieser Nerven, unwirksam sein. Dies ist, wie schon oben angeführt, 
in der That der Fall. Ich selbst kann diese Angaben der Voruntersucher 
für Kaninchen und Katze nur bestätigen. Hat man nach Exstirpation des 
Ganglions hinreichend lange (etwa 8 Tage) gewartet, so bewirken jene 
Lösungen keine Erweiterung mehr. Nun ist also auch ersichtlich, warum 
bei Atropin-Mydriasis, die allein durch Lähmung des Nn. eiliares breves 
zu Stande kommt, Cocain durch Reizung der Sympathieusendigungen eine 
noch stärkere Erweiterung hervorrufen kann, die stärkste, die man über- 
haupt erhält. 


ÜBER DIE WIRKUNGSWEISE DER MYDRIACA UND MioTicA. 61 


Aber nieht bloss durch Combination dieser beiden Mittel, sondern 
auch durch Cocain allein in geeigneter Concentration lässt sich diese 
stärkste Mydriasis erzielen. Dann tritt zu jener Reizung der Sympathicus- 
endigungen noch ein anderes Moment als Wirkung des Cocains hinzu: 
Lähmung der Endigungen der Ciliares breves. Damit hört natürlich auch 
jede Reaction auf Licht auf, die Pupillen sind absolut starr. 


VII. Hund, schwarz, langhaarig, mittelgross. 


Links Freilegen des Ganglion ciliare u.s. w. Pupille in Folge vorauf- 
gegangener subeutaner Morphiuminjection verengt: 3®W, Auf Reizung 
(Rollenabstand 11 “%) der Nn. ciliares breves prompte Verengerung. 

11 Uhr 55 Min. In die Conjunctiva 2 Tropfen einer 2 procent. Cocain- 
lösung. 

12 Uhr 45 Min. Vollkommene Anästhesie der Conjunctiva, Pupille 
5 mm Auf Reizung der Ciliare breves prompte Verengerung. 3 Tropfen 
einer 2 procent. Cocainlösung. 

1 Uhr 15 Min. Pupille 5 “=. Auf Reizung prompte Verengerung. 
2 Tropfen einer 5 procent. Cocainlösung. 

2 Uhr. Pupille 8®®, Auf Reizung Verengerung. 3 Tropfen einer 
5 procent. Cocainlösung. 

4 Uhr. Maximale Dilatation, Pupillarrand eben noch sichtbar, etwa 
j ©m breit. Auf Reizung der Ciliares breves keine Verengerung (Rollen- 
 abstand 11, 9, 7 und 5 “%), ebenso wenig auf Beleuchtung mit Magnesium- 
drahtlicht. 


Ganz das gleiche Resultat erhielt ich bei der Katze. Hieraus ergiebt 
sich, wie mir scheint, mit aller Evidenz, dass schwache Cocainlösungen 
(1 bis 2 Procent) eine mässige Mydriasis nur durch Reizung der Sym- 
pathieusendigungen hervorbringen; während bei der durch starke Lösungen 
erzeugten maximalen Erweiterung, wo der Pupillarrand noch eben sichtbar 
ist, eine Lähmung der Endigungen der Ciliares breves hinzukommt. 

Aber diese Aussage muss sofort insofern modificirt werden, als es für 
die einzelnen Thierclassen, ja sogar für dieselbe Thierclasse eine absolute 
Grenze zwischen den starken und schwachen Lösungen nicht giebt. Ich 
gebe als Beleg hierfür zwei Versuchsprotocolle wiederum von Hunden. 


IX. Hund, mittelgross, braunweiss, kurzhaarig. 


Links Freipräpariren des Ganglion ciliare u. s. w. Pupille in Folge 
subeutaner Morphiuminjection verengt. Auf Reiz der Ciliares breves (Rollen- 
abstand 11 °®) prompte Verengerung. 

10 Uhr 55 Min. 3 Tropfen einer 2procent. Cocainlösung in das 
linke Auge. 

11 Uhr 15 Min. Auf Reizung prompte Verengerung. 

11 Uhr 30 Min. Pupille mittelweit; auf Reiz prompte Verengerung, 
wiederum 3 Tropfen 2 procent. Cocainlösung. 


62 PAuL SCHULTZ: 


1l Uhr 45 Min. Status idem. Verengerung etwas schwächer, bei 
10 ®® Rollenabstand prompte Verengerung. 

3 Uhr 40 Min. Maximale Erweiterung. Irisrand kaum sichtbar. Auf 
Reizung der Ciliares breves keine Verengerung (Rollenabstand 10, 9 u. 7 ©”). 

4 Uhr. 3 Tropfen einer 1 procent. Physostigminlösung in das linke 
Auge. Gleichzeitig 2 Tropfen in das rechte Auge. 5 

5 Uhr. Rechts fast vollständige Verengerung, Pupille 2 ””, Links keine 
Spur einer Verengerung. 


X. Hund, mittelgross, hellbraun, langhaarig. 


Links Ganglion eiliare u. s. w. frei gelegt. Pupille 4 w® (subeutane 
Morphiuminjeetion). Auf Reizung der Ciliares breves (Rollenabstand 11 °®) 
prompte Verengerung. 

12 Uhr. 2procent. Cocainlösung. 1 Tropfen in das linke Auge. 

12 Uhr 30 Min. Auf Reizung prompte Verengerung. 2 Tropfen der 
2 procent. Cocainlösung in das Auge. 

1 Uhr. Pupille 8 ®%. Auf Reizung Verengerung. 

1 Uhr 30 Min. Verengerung nicht deutlich. Rollenabstand 9%: Ver- 
engerung prompt. 

2 Uhr. Pupille 10 ®®. Verengerung prompt, aber mässig. 

3 Uhr 30 Min. Verengerung wie vorher. 3 Tropfen einer 5 procent. 
Cocainlösung. 

4 Uhr 30 Min. Pupillarrand etwa 3 ®®. Keine Verengerung. Rollen- 
abstand 7 °®; deutliche Verengerung. Wiederum 3 Tropfen 5 procenf. Cocain- 
lösung, bald darauf noch einmal 3 Tropfen. 

5 Uhr 30 Min. Deutliche Verengerung. 


Während in der Mehrzahl der Versuche eine 1 oder 2 procent. Cocain- 
lösung eine mässige, eine 5procent. Lösung maximale Mydriasis hervor- 
brachte, reichte für die letztere in dem Versuch IX schon eine 2 procent. 
Lösung aus; in Versuch X hingegen konnte selbst mehrmalige Anwendung 
einer 5 procent. Lösung maximale Mydriasis und damit völlige Lähmung 
der Endigungen der Nn. ciliares breves nicht erzeugen. 


Diese doppelte Wirkungsweise des Cocains, insbesondere die Mitbethei- 
ligung der Ojiliares breves, der Nervenendigungen im Sphincter, lässt sich 
nun noch durch folgenden Versuch beweisen. Bei einer Katze wird das 
Ganglion cervicale super. auf einer Seite exstirpirt. Nach etwa 8 Tagen, 
also nach völliger Verödung des Iris-Sympathicus wird in beide Augen eine 
5 procent. Cocainlösung mehrere Male eingeträufelt. Ist dann auf der ge- 
sunden Seite maximale Dilatation eingetreten, so dass der Irisrand nur 
eben sichtbar ist, so darf die operirte Seite nur die Erscheinungen einer 
Atropinpupille darbieten, denn hier kann ja nur die lähmende Wirkung 
auf jene Endigungen im Sphincter in Betracht kommen. Dieses ist in der 


ÜBER DIE WIRKUNGSWEISE DER MYDRIACA UND MioTIca. 63 


That der Fall. Ich sah bei einer Katze auf der Seite, wo der Iris-Sym- 
pathicus zur Verödung gebracht war, als Folge der Cocaineinträufelung 
eine mässig erweiterte, starr erscheinende Pupille Gegen sehr starke Licht- 
reize, wie Magnesiumlicht, trat zwar eine geringe Verengerung (etwa um 
2 m) ein, doch betrug die Weite immer noch 5 "= in der Breite und 7 mm 
in der Länge; während bekanntlich am normalen Katzenauge die Pupille 
bei solchen Lichtreizen bis auf einen kaum sichtbaren Spalt verschwindet. 
Bei diesem Thier waren die Endigungen der Ciliares breves nahezu, aber 
noch nicht völlig gelähmt. 


Ich kann an dieser Stelle ein Bedenken gegen die eben gegebene Er- 
klärung der Wirkungsweise des Cocains nicht verschweigen. Leicht wird 
uns die Vorstellung, dass dasselbe Mittel in demselben Organ auf einige 
Nervenendigungen lähmend, auf andere, seien sie auch von der gleichen 
Art, wie hier von sympathischen Muskelneuronen, gar nicht wirkt. Zu 
denken aber, dass unter den nämlichen Umständen neben der lähmenden 
Wirkung auf die einen Nervenendieungen zugleich eine reizende auf die 
anderen statt habe, bietet eine grosse Schwierigkeit. Zwar hat eine frühere 
Zeit eine solche nicht darin gefunden; Ophthalmologen und Pharmakologen 
haben diese zweifache entgegengesetzte Wirkung eines und desselben Mittels 
vielfach als selbstverständlich angenommen und fast für jedes Mydriacum 
und Mioticum hypostasirt. Es findet sich aber sonst in der ganzen Lehre 
von den Nervengiften kein Analogon dafür, und, was gerade das Bedenken 
vergrössern muss, die von mir hier mitzutheilenden Ergebnisse haben gar 
keinen Anhalt für eine gleiche Wirkungsart bei einem anderen Mydriacum 
oder Mioticum ergeben. Hierzu kommt noch, dass die lähmende Wirkung 
auf die Endigungen der Ciliares breves, wie aus den obigen Protokollen 
ersichtlich, erst mehrere Stunden nach der reizenden auf die Ciliares longi 
eintritt, gewiss eine auffällige Thatsache. Trotz alledem wird man, glaube 
ich, auf Grund der mitgetheilten Beobachtungen nicht umhin können, sich 
mit der anfänglich so sonderbaren Vorstellung von der zweifachen Wir- 
kungsweise des Cocains zu befreunden. 


In Bezug auf die reizende Wirkung des Cocains auf den Halssym- 
- pathicus bleibt nun noch eine Frage zu entscheiden. Wir hatten oben nur 
gezeigt, dass die Endigungen desselben im Auge betroffen werden. Aber 
welche sind dies? Die im Dilatator oder die der Gefässe in der Iris oder 
auch sonst noch im Auge. Wie sich im Eingange bei Besprechung der 
anatomischen Verhältnisse ergeben hatte, können wir leicht diejenigen 
Fädehen des Ganglion cervicale supr., in welchen Fasern zum Dilatator 
ziehen, trennen von denen, die sich zur Carotis interna begeben und diese 
mit ihren Verzweigungen begleiten. Darauf beruhte folgender Versuch. 


64 PAUL SCHULTZ: 


XI. Kleine Katze, schwarz, 1430 2"% schwer. 


Am 7. September 1897 werden unter aseptischen Cautelen vom linken 
Ganglion cervicale supr. die nach oben gehenden Dilatatorfasern, vom rechten 
Ganglion die seitlich abgehenden Carotisfasern durchschnitten. Links ist die 
Pupille enger. Auf Reiz des Vago-Sympathieus am Halse (Rollenabstand 
11 ®) tritt rechts prompte Erweiterung, links kein Erfolg an der Pupille auf. 

16. September 1897. Linke Pupille enger. 

10 Uhr. In jedes Auge 2 Tropfen einer 5 procent. Cocainlösung. 

10 Uhr 30 Min. Dasselbe. 

11 Uhr. Wiederum 3 Tropfen in jede Conjunctiva. 

11 Uhr 30 Min. Pupille links 9 ”®%, rechts '11!/, ®%, Irisrand etwa 
1! fa mm 

Dieser Versuch lehrt also, dass die maximale Wirkung nur zu Stande 
kam auf derjenigen Seite, wo die Dilatatorfasern erhalten, aber die Carotis- 
fasern durchschnitten waren; während die andere Seite, wo also umgekehrt 
die Carotisfasern erhalten, aber die Dilatatorfasern durchschnitten waren, 
nur eine mässige Erweiterung, nur die Erscheinungen einer Atropinpupille 
bot: keine Reaction gegen Tages- und Gasglühlicht, geringe Verengerung 

.auf Magnesiumlicht. Das beweist, dass hier die mässige Erweiterung nur 
zu Stande gekommen war durch Lähmung, bezw. Schwächung der Ciliares 
breves. Auf jener Seite aber kam dazu noch die Reizwirkung, und diese 
betrifft einzig und allein die vom oberen Ende des Ganglion cervicale supr. 
abgehenden Dilatatorfasern. Würde man nun annehmen, was freilich noch 
des Beweises bedarf, dass diese Fasern für die Iris in der That ausschliesslich 
den M. dilatator pupillae versorgen und nichts anderes, keine Irisgefässe, 
so wäre damit, wie mir scheint, stringent erwiesen, dass die Cocain-Mydriasis 
unabhängig ist von einer directen oder indirecten Einwirkung auf die Gefässe. 

Da die wichtigste Wirkung des Cocains ist, die Schleimhäute anästhe- 
tisch zu machen und dies am Auge durch Lähmung der Endigungen der 
Trigeminusfasern geschieht, so glaubte Limbourg in seiner oben ange-. 
führten Arbeit, die Beziehungen zu diesem Nerven erörtern zu müssen. 
Zu diesem Ende prüfte er das Mittel an Kaninchen, denen er in der be- 
kannten Weise den Quintus intracraniell durchschnitten hatte. Er fand, 
dass dann das Cocain noch prompt wirkte, ja dass auf der operirten Seite 
trotz der eingetretenen Verengerung die Pupille ebenso maximal erweitert 
wurde, wie auf der normalen. Dazu stellt er in „einen bemerkenswerthen 
Gegensatz“ das Atropin. Dieses glich den bestehenden Unterschied zwischen 
den Pupillen nicht aus. Die Erweiterung an der operirten, also anfänglich 
engeren Pupille, war geringer als an der normalen. Die sich hieran 
schliessenden nicht sehr klaren Betrachtungen führen zu dem Ergebniss, 
dass der Apparat, durch welchen Cocain die Pupille dilatirt, von Trigeminus 
und Sympathicus zugleich innervirt wird, und weiter, dass der Dilatator 


ÜBER DIE WIRKUNGSWEISE DER MYDRIıACA Und MioTicA. 65 


pupillae in näheren Beziehungen zu den Gefässen der Regenbogenhaut 
steht, was man sich am einfachsten in der Weise denken könne, dass der 
Dilatator einen Theil der Gefässwand selbst bildet. 

Zunächst muss ich die Beobachtungen Limbourg’s nach eigenen 
Versuchen durchaus bestätigen. In der That bewirkt Cocain nach jener 
Nervendurchschneidung trotz der eingetretenen Verengerung maximale Er- 
weiterung gerade so, wie auf der nicht operirten Seite; nach Atropin aber bleibt 
auch an den erweiterten Pupillen ein Unterschied zwischen der operirten 
und der normalen Seite bestehen. Aber alle Folgerungen, die Limbourg 
aus diesen richtig beobachteten Thatsachen gezogen hat, sind irrig von 
Anfang bis zu Ende. Sie beruhen auf der falschen Voraussetzung, dass der 
Trigeminus an der Erweiterung der Pupille irgendwie mitbetheiligt sei. 

Wie schon im Anfang dargethan, wissen wir jetzt, dass diejenigen 
Sympathicusfasern, welche den Dilatator versorgen, in der Schädelhöhle zum 
Ganglion Gasseri ziehen und von dort mit dem R. ophthalmieus trigemini 
zum Auge gelangen. Bei der typischen intracraniellen Quintusoperation 
wird nun dieser Nerv peripherisch vom Ganglion Gasseri getroffen. Der ganze 
Nervenstamm wird daher überhaupt nicht durchschnitten, sondern nur der 
I. und II. Ast; Ungeübtere durchtrennen bekanntlich oft nur den I. Ast, 
weil sie das vordere Ende des Messers zuletzt nicht genug gesenkt haben. 
Aber schon mit diesem ersten Ast werden gerade jene Sympathicusfasern ge- 
troffen, welche den Dilatator versorgen. Und lediglich deswegen tritt die 
Miosis ein. Daher erhielten, wie Limbourg selbst berichtet, Donders 
und Brondgeest in 4 von 11 Fällen, und ähnlich Wegner nach Trige- 
minusdurchschneidung keine Pupillenerweiterung auf Reiz des Halssympa- 
thicus. In den anderen Fällen, wo sie eintrat, müssen wir jetzt annehmen, 
dass die Durchschneidung- nicht vollständig gelungen war, oder dass sie 
centralwärts vom Garglion Gasseri erfolgte. Denn schon von Budge und 
Waller und darauf von Balogh und Fr. Franck ist die Thatsache fest- 
gestellt worden, dass nach Durchschneidung des Ramus ophthalmicus n. tri- 
gemini Reizung des Halssympathicus keine Pupillenerweiterung hervorruft. 
Neuerdings wurde dies freilich von Bessau bestritten. Aber ihn hat 
Braunstein! durch sorgfältige und umsichtige Versuche widerlegt und 
: jene frühere Beobachtung bestätigt; zugleich hat er dargethan, dass der 
Stamm des N. trigeminus centralwärts vom Ganglion Gasseri keine Pupillen- 
dilatatoren enthält, und hat wahrscheinlich gemacht, dass er auch keine 
selbständigen, pupillenverengernden Fasern führt. 

Um es also zu wiederholen: es wirkt die typische intracranielle Trige- 
minusdurchschneidung beim Kaninchen in Bezug auf die pupillendilatirenden 


! Braunstein, a. a. ©. 
Archiv f. A. u. Ph, 1898, Physiol. Abthlg. 5 


66 PAUL ScHULTZ: 


Fasern gerade so wie die Durchneidung des Sympathicus am Halse; die 
Impulse vom Rückenmark her hören auf, es tritt Miosis ein. Die Endi- 
gungen aber jener Nerven im Dilatator werden zunächst durch diese Ope- 
ration nicht afficirt; auf diese wirkt Cocain reizend, so stark reizend, als 
es die entgegenwirkende Kraft des Oculomotorius, die absolut genommen 
auf der operirten wie auf der nichtoperirten Seite gleich ist, gestattet; also 
relativ stärker reizend auf der operirten Seite. Daher auf beiden Augen 
die Mydriasis gleich stark ist. Atropin dagegen schaltet nur die auf beiden 
Seiten gleich grosse verengernde Kraft des Oculomotorius aus, daher die 
ursprüngliche Pupillendifferenz erhalten bleibt. 


IV. Miotica. 


Nehmen wir wieder die einfachsten Bedingungen an, so kann eine 
Verengerung der Pupille zu Stande kommen: 

1. Durch Lähmung des Erweiterer-Muskels, des Dilatator, oder durch 
Lähmung der ihn versorgenden Nerven, sei es peripherischer oder centraler 
Theile derselben. 

2. Durch Reizung des Verengerermuskels, des Sphineters, oder durch 
Reizung der ihn versorgenden Nevven, sei es peripherischer oder centraler 
Theile derselben. 

Das Physostigmin. 

Hier sei eine Vorbemerkung gestattet. Nach den zahlreichen Ver- 
suchen, die ich mit diesem Mittel an Katzen angestellt habe, muss ich 
sagen, dass eine 2 procent. Lösung auch an diesen Thieren maximale Miosis 
erzeugt. Diese stellt sich hier bekanntlich so dar, dass die Pupille bis auf 
einen kaum sichtbaren, etwa 3 bis 4 wm Jangen Spalt verschwindet, der an 
seinen Enden ein kreisrundes Pünktchen trägt. Zu Ausnahmen muss ich 
es rechnen, wenn dieser Grad der Verengerung nicht eintritt. 

Dass diese Wirkung des Physostigmins auf einer Lähmung beruhen 
soll, stimmt schon mit dem, was wir sonst über das Mittel wissen, nicht 
überein. Dass dies auch bei der Iris nicht der Fall ist, davon kann man 
sich direct überzeugen. Hat man durch einige Tropfen einer 1 oder 
2 procent. Lösung von Physostigmin sulf. bei Hund, Katze oder Kaninchen 
den höchsten Grad von Miosis erzeugt, so tritt dennoch auf Reizung des 
Sympathicus am Halse prompte Erweiterung auf. | 

Es kann also nur die reizende Wirkung in Betracht kommen. Hier 
führte nun gleich der erste Versuch zu einem überraschenden Ergebniss. 


XII. Katze, grau, 2250 Sm schwer. 


Links Freilegen des Ganglion eiliare. Reizung der Ciliares breves 
(Rollenabstand 11 ®%), geringe Verengerung. 


ÜBER DIE WIRKUNGSWEISE DER MYDRIACA Und MioTicA. 67 


11 Uhr. 3 Tropfen einer 2 proc. Physostigminlösung in die Conjunctiva. 

11 Uhr 45 Min. Pupille maximal verengt. Durchschneiden der Ciliares 
breves. Unmittelbar darauf geringe Erweiterung, die in den nächsten Minuten 
zur maximalen Mydriasis fortschreitet. 


Ganz dasselbe ergab sich beim Hund. Durchschneidet man während 
der Zunahme oder auf der Höhe der Verengerung die Ciliarnerven, so folgt 
unmittelbar eine geringe Erweiterung, die allmählich in wenigen Minuten 
zur maximalen sich ausbildet. 

Hieraus scheint zu folgen, dass die verengernde Wirkung des Physo- 
stigmins nicht wie man bisher geglaubt, eine peripherische, auf den Sphincter 
gehende sein könne, dass sie vielmehr ihren Sitz mehr centralwärts haben 
müsse Merkwürdiger Weise hat nun aber schon Harnack! den Eintritt 
dieser Erweiterung vorausgesagt und doch angenommen, dass das Physo- 
stigmin den Sphincter selbst reize. Er dachte sich, dass vom Centrum her 
beständige kleine Reize zu dem Muskel ausgingen; zu diesen addirt sich 
dann die Wirkung des Physostigmins hinzu. Andererseits, wenn man mit 
Durchschneidung des N. oculomotorius die Zufuhr der Reize vom Centrum 
her aufhöbe, so müsste sich um den Betrag dieser centralen Reize die 
Pupille erweitern. Aber — diesen nothwendig sich ergebenden Nachsatz 
fügt Harnack freilich nicht hinzu — sie müsste immer noch verengt sein. 
Hieraus folgt ein sehr einfacher, die Frage entscheidender Versuch, den 
Harnack (da er ihn nicht angiebt, darf man es wohl schliessen) nicht 
angestellt hat. Man hebt vorher die Reizwirkung vom Centrum auf, lässt 
die Pupille sich einstellen und hat dann bei etwa eintretender Verengerung 
die reine Physostigminwirkung vor sich, also den Betrag an Verengerung, 
der plus der Oculomotoriuswirkung die maximale Miosis giebt. 


XIH. Katze, schwarz, 2060 &"" schwer. 


Rechts Freilegen des Ganglion eiliare.. Reizung der Nn. ciliares breves 
(Rollenabstand 11 °%), mässige Verengerung, auf der äusseren Seite stärker. 
Durchschneidung der Ciliares breves dicht hinter dem Ganglion. Pupillen- 
weite 14 m, 

12 Uhr 55 Min. 3 Tropfen einer 1 procent. Physostigminlösung in die 
Conjunetiva. 

1 Uhr 20 Min. Keine Verengerung, 2 Tropfen derselben Lösung. 

1 Uhr 45 Min. Keine Verengerung, 3 Tropfen derselben Lösung. 

2 Uhr. Keine Verengerung, Pupillenweite 14 "", 

3 Uhr. Keine Verengerung, Pupillenweite 14 m, 


! Harnack, Ueber einige das Physostigmin betreffende Fragen. Archiv für 
experimentelle Pathologie und Pharmakologie. Bd. XII. S. 335. 
5* 


68 Pıvs Scauutz: 


Diesen Versuch habe ich wiederholt an Katzen und Hunden stets mit 
demselben Erfolg angestellt. Sind die Ciliarnerven durchschnitten, tritt 
keine Verengerung nach Physostigmineinträufelung auf. 

Damit schien also bewiesen zu sein, dass es nicht direct peripherische 
Elemente sein können, nicht der Sphincter, nicht die Nervendigungen darin, 
worauf das Physostigmin wirkt. Dann können peripherische Elemente es 
nur noch indirect sein. Es wäre möglich, dass reflectorisch durch Erregung 
der sensiblen Trigeminus-Endigungen im Auge die Verengerung eintritt. 
Auch das trifft nicht zu. Wie schon oben mitgetheilt, ruft Physostigmin 
auch am cocainisirten Auge Miosis hervor, und ebenso, wie ich mich über- 
zeugste, nach completer Anästhesie in Folge intracranieller Trigeminus- 
Durchschneidung beim Kaninchen. 

So blieb nur noch die Folgerung übrig, dass centrale Theile durch das 
Physostigmin gereizt werden. Hiervon kam zunächst das Ganglion eiliare 
in Betracht. Aber auch das musste ausgeschlossen werden. Denn die 
Durehschneidung des Oculomotorius hatte ganz denselben Erfolg, wie die 
der Nn. ciliares breves: geschah sie nach eingetretener Verengerung, so 
erfolgte Erweiterung; wurde sie zuerst vorgenommen, und wurde dann 
Physostigmin eingeträufelt, so trat keine Verengerung ein. Ja selbst reich- 
liches Betupfen des Ganglion ciliare mit Physostigminlösung nach Durch- 
schneidung des Oculomotorius brachte keine Miosis zu Stande. So hatte 
es den Anschein, als müsse sich die höchst sonderbare, um nicht zu sagen 
unerhörte Folgerung nothwendig ergeben, dass das Physostigmin vom Gehirn 
aus, ja sogar von einer Hemisphäre desselben wirke. 

Doch noch ein Ausweg blieb offen. Man kann sich vorstellen, dass 
nach Durchschneidung der Nn. ciliares breves, bezw. des N. oculomotorius 
der dilatirende Sympathicus das Uebergewicht erhalte in dem Maasse, dass 
das nur schwach miotisch wirkende Physostigmin nicht mehr ausreiche, eine 
Verengerung hervorzubringen.! 

Diesem Gedankengang kamen zu gleicher Zeit folgende Beobachtungen 
entgegen. Es hatte sich gezeigt, dass in Fällen, bei denen Durchschneidung 
des Oculomotorius bezw. der Ciliares breves die anfängliche Physostigmin- 
Miosis in maximale Mydriasis verwandelt hatte, am nächsten Tage nach 
dem Versuch eine maximale Miosis eingetreten war. In einem Falle trat 
dieselbe sogar schon an demselben Tage etwa 5 Stunden nach der Durch- 
schneidung der Nn. ciliares breves auf. Damit war einerseits jeder Hypo- 
these, die eine centrale Wirkungsweise annahm, der Boden entzogen. 


‘ Hr. Dr. Apolant hatte die Güte, mich auf diesen Einwand aufmerksam zu 
machen. Inwiefern er von dem oben angeführten Harnack’schen verschieden ist, 
braucht wohl nicht hervorgehoben zu werden. 


ÜBER DIE WIRKUNGSWEISE DER MYDrIACA unD Miorica. 69 


Andererseits fand das späte Eintreten der Miosis durch jenen Einwand 
seine volle Erklärung. Auf das Ueberwiegen, die stärkere Erregung des 
Sympathicus,' unmittelbar nach Ausfall der Oculomotoriuswirkung, folgte 
später eine Abnahme, eine Ermüdung des Sympathicus: dann erst konnte 
die schwache verengernde Kraft des Physostigmins zur Geltung kommen. 

Ein directer Beweis für die Richtigkeit dieser Auffassung wurde ferner 
durch folgende Versuche erbracht. 


XIV. Katze, graugelb, 3100 8% schwer. 


Links ein Stück des Vago-Sympathicus am Halse exstirpirt, Pupille 
6 mm, Dann Freilesen des Ganglion ciliare; auf Reizung der Nn. ciliares 
breves (Rollenabstand 11 °“), prompte Verengerung. Rechts Pupille 9 mm, 

1 Uhr 5 Min. In jedes Auge 3 Tropfen einer 2 procent. Physostigmin- 
lösung. 

2 Uhr. Auf beiden Augen maximale Verengerung. Links Durchschneiden 
des Oculomotorius, dann der Ciliares breves, keine Veränderung, keine Er- 
weiterung am linken Auge. 

2 Uhr 30 Min. Noch immer maximale Verengerung auf beiden Augen. 


XV. Katze, schwarzweiss, 2200 2% schwer. 


Links N. Vago-Sympathieus und Oculomotorius durchschnitten. 

12 Uhr 35 Min. Pupillenweite links: 7" breit, 9 W® Jang; rechts: 
91/, mm breit, 10!/, "m Jang. In jedes Auge 2 Tropfen einer 1 procentigen 
Physostigminlösung. 

12 Uhr 50 Min. Pupillenweite links: 6 %® breit, 8 ®m lang; rechts: 
Se breit, 9 un lang. 

1 Uhr 30 Min. Pupillenweite links: 3 ®® breit, 6 WM ]Jang; rechts: 
2 breit, 5, 2 lang. | 

Bei der ganzen Verengerung zeigt sich links eine Unregelmässigkeit 
der Gestalt. 


XVI. Hund, hellbraun, kurzhaarig, 14 ®e, 


Links N. Vago-Sympathieus und Nn. ciliares breves durchschnitten. 
Eupilles vu’, | 

10 Uhr 40 Min. 2 Tropfen einer 1 procent. Physostigminlösung in die 
Conjunetiva. 
11 Uhr 15 Min. Pupille 6!/, ==. 11 Uhr 25 Min. Pupille 4 wm, 
11 Uhr 40 Min. Pupille 2 m, 

11 Uhr 45 Min. 2 Tropfen 1 procent. Atropinlösung in die linke Con- 
juncetiv.. 12 Uhr 5 Min. Pupille 6 "m, 


Hieraus geht also hervor, dass nach Ausschaltung des Iris-Sympathicus 
die Durchschneidung des N. oculomotorius sowohl wie der Nn. ceiliares 
breves die nach Physostigmin eintretende Miosis nicht beeinträchtigt, weder 
ihr Eintreten hindert, noch, wenn sie bereits eingetreten ist, sie aufhebt. 


70 Pıvu ScHuntz: 


Das heisst aber nichts Anderes, als dass es nur peripherische Elemente sein 
können, auf welche das Physostigmin wirkt. Es galt nun zu entscheiden, 
ob dies die Nervenendigungen der Ciliares breves seien, oder der Sphincter 
selbst. 

Die Methode der Nervendegeneration musste hier am sichersten zum 
Ziel führen. 


XVII. Katze, schwarz, 2850 8% schwer. 


Auf der rechten Seite am 31. Juli 1897 Ganglion cervicale supr. sym- 
path. unter aseptischen Cautelen exstirpirt. Pupille 6 "". 

Am 6. August 1897 auf der rechten Seite das Ganglion ciliare unter 
aseptischen Cautelen exstirpirt. Heilung per secundam. Pupille maximal weit. 

Am 13. August 1897. Die Conjunctivae palpebrarum geröthet, der 
Bulbus normal, die brechenden Medien völlig klar, Pupille maximal er- 
weiter. Aus der Hautwunde am Schädel lässt sich eine geringe Menge von 
Pus bonum ausdrücken, in der Tiefe kräftige Granulationen. 

10 Uhr 30 Min. 3 Tropfen einer 2 procent. Physostigminlösung in 
jedes Auge. 

10 Uhr 45 Min. Dasselbe wiederholt. 

11 Uhr 30 Min. Links maximale Verengerung, rechts Pupille, wie 
vorher, maximal weit. Daher rechts mehrere Tropfen einer 5 procent. Physo- 
stigminlösung in das Auge. 

12 Uhr 30 Min. Rechts keine Verengerung, wiederum 5 proc. Lösung 
in die Conjunctiva. 

1 Uhr, 1 Uhr 30 Min, 2 Uhr. Status idem. 


Hierzu kam noch ein anderer Versuch, wo an einer Katze ebenfalls 
erst das Ganglion ‘cervicale supr. Sympath. und dann das Ganglion ciliare 
exstirpirt war. Am ersten Tage nach der letzteren Operation zeigte sich 
eine 2procent. Physostigminlösung noch wirksam, es trat mässige Ver- 
engerung ein. Am dritten Tage war die Verengerung nur noch gering, 


am achten Tage hatte weder 2 procent. noch 5 procent. Lösung irgend eine- 


Wirkung. Nach vollendeter Degeneration der Nn. ciliares breves war also 
trotz Sympathicus-Ausschaltung Physostigmin völlig unwirksam, während die 
hervorgebrachte Verengerung im Verlaufe der Degeneration um so geringer 
ausfiel, je weiter dieselbe fortschritt. 

Indess bleibt auch hier noch der Einwand übrig, dass in Folge des 
Fehlens der beständigen und lebhaften Oculomotorius-Innervation während 
des langen Zeitraumes von acht Tagen der Sphinctermuskel selbst eine 
Inactivitätsatrophie erfahren habe und überhaupt nicht mehr reizbar und 
zusammenziehungsfähig se. Dann konnte auch das Physostigmin nicht 
mehr wirken. Auch das liess sich auf schlagende Weise widerlegen. An 
der Katze aus dem Versuch XII wurde am folgenden Tage die Einträufe- 
lung von 2procent., dann 5 procent. Physostigminlösung in das Auge der 


TEE WERTET ET E 


ÜBER DIE WIRKUNGSWEISE DER MYDRIACA unD MioTICA. al 


operirten Seite wiederholt. Als nach einer Stunde nicht die geringste Ver- 
engerung sich bemerkbar gemacht hatte, wurde durch einen Inductions- 
strom vermittelst zweier ringförmiger Elektroden, die dem Innenrande der 
Iris aufgesetzt waren, der Sphincter selbst gereizt. Es trat an der bisher 
maximal weiten Pupille eine Verengerung ein, die, da der Reiz wiederholt 
wurde, zu fast maximaler Miosis sich ausbildete. 

Indess noch auf andere Weise lässt sich ein directer Beweis dafür er- 
bringen, dass nicht der Sphincter, wie man bisher allgemein angenommen, 
sondern die Endigungen der Nn. ciliares breves durch das Physostigmin 
gereizt werden. Wie oben gezeigt, lähmt Atropin in der Iris lediglich 
eben jene Nervenendigungen, diese kann man daher müheloser und ein- 
wandsfreier, als durch das Degenerationsverfahren, durch Atropin völlig 
ausschalten. Dies zu erreichen war, wie wir festgestellt hatten, ein Tropfen 
einer 1 procent. Lösung in vier Versuchen gerade ausreichend. Um ganz 
sicher zu gehen, werden wir zwei Tropfen derselben Lösung anwenden. 
Eine stärkere vermeiden wir deshalb, um nicht dem Einwurf ausgesetzt zu 
sein, dass dieselbe mit den Nerven auch den Muskel lähme, obgleich wir 
oben ausdrücklich festgestellt hatten, dass selbst eine 5 procent. Lösung 
weder die längsgestreiften Muskeln im Allgemeinen, noch den Sphincter im 
Besonderen merklich angreife. 


XVII. Katze, schwarzweiss, 2570 SU schwer. 


Am 27. September 1897. Rechts Ganglion cervicale supr. symp. unter 
aseptischen Cautelen exstirpirt. Pupille verengt gegen Links. Heilung per 
secundam. 

Am 5. October 1897. Noch immer deutliche Pupillendifferenz. 

10 Uhr. 2 Tropfen einer 1 procent. Atropinlösung in die rechte Con- 
Junctiva. 

10 Uhr 45 Min. Rechts starke Mydriasis,. In beide Augen 3 Tropfen 
einer 2 procent. Physostigminlösung. 

11 Uhr 30 Min. Links nahezu maximale Miosis, rechts keine Ver- 
änderung. : 

12 Uhr. Status idem. Rechts 3 Tropfen einer 5 procent. Physostigmin- 
lösung. 

12 Uhr 30 Min. Status idem. Rechts die Einträufelung wiederholt. 

1 Uhr. Status idem. 

Am 6. October 1897. Rechts noch immer dieselbe stark erweiterte, 
starre Pupille. 


Diesen Versuch habe ich mehrfach stets mit demselben Erfolg wieder- 
holt.! Da also hierbei der Sphinctermuskel ganz intact bleibt, eine Ver- 
engerung aber trotz der Ausschaltung des Halssympathicus auch nach 


! Selbstverständlich wurden für diese Versuche stets frische Lösungen von Physo- 
stigmin. sulfur. bereitet, 


12 | PAUL ScHULTZ: 


mehrfacher Anwendung starker Lösungen nicht eintritt, so kann Physo- 
stigmin nimmermehr auf den Muskel wirken, sondern nur auf die Nerven- 
endigungen darin. 

Damit ist auch ein für alle Mal der Streit über das Verhältniss des 
Atropins und Physostigmins zu einander wenigstens am Auge entschieden, 
Sie sind in der That echte Antagonisten, sie greifen an demselben Apparat 
in entgegengesetztem Sinne an; sie wirken beide lediglich auf die Endi- 
gungen der Nn. ciliares breves im Sphineter. Worauf die gegentheilisen 
Beobachtungen beruhen, die sich in der Litteratur angegeben finden, vermag 
ich nicht zu sagen. Nur das möchte ich als auffallend hervorheben, dass 
ich mich nur eines genauen Versuchsprotocolls entsinne,! wo sorgfältige Zahl 
der Tropfen und Stärke der Lösung angegeben wird, während sonst nur 
von starken und schwachen Lösungen die Rede ist. Solche Ausdrücke 
finden sich in ophthalmologischen Abhandlungen ebenso wie in den phar- 
makologischen Hand- und Lehrbüchern. Man sollte doch erwarten, dass 
wenigstens Pharmakologen in einer so principiellen und bisher noch offenen 
Frage genau die Dosis angeben, die Stärke der angewandten Lösungen und 
annähernd die verbrauchte Tropfenzahl. Dies ist nicht der Fall. Darum 
war es nöthig, hier das Secirmesser des methodischen Versuches anzusetzen. 
In das „grelle, harte Licht der Thatsachen“, die oben mitgetheilt sind, 
können sich künftighin nicht mehr Behauptungen wagen, die auf solchen 
allgemeinen, nichtssagenden Angaben beruhen. Die Versuche, die ich an- 
gegeben, kann jeder nachprüfen, bei Beachtung der nöthigen Cautelen wird 
er mit mir zu dem Schluss kommen, dass das Physostigmin nur die 
Nervenendigungen im Sphincter reizt. 

Für diese Auffassung möchte ich zum Schlusse noch einen Autor an- 
führen, den einzigen freilich, der mit mir auf diesem Standpunkt steht. 
Kobert sagt in seinem in diesem Jahr erschienenen „Lehrbuch der Phar- 
makotherapie“: „Einige Pharmakologen meinen, dass die Wirkung des. 
Physostigmins eine rein musculäre sei, d. h. in Reizung der Muskelsubstanz 
des Sphincters iridis bestehe. Wenn dies der Fall wäre, müsste auch nach 
stärkster Atropinisirung noch ein Tropfen unseres Mittels genügen, um die 
erweiterte Pupille stark zu verengen. Nun haben aber alle Ophthalmologen 
übereinstimmend die Erfahrung gemacht, dass man wohl die durch Eserin 
verengte Pupille leicht durch Atropin erweitern kann, aber nicht umgekehrt. 
Es muss also auch bei Physostigmin sich bei kleinen Dosen um eine Beein- 
flussung der peripheren Enden des den Sphincter pupillae versorgenden 
Astes des Oculomotorius handeln, und zwar muss Physostigmin diese Enden 


 t E. Harnack, Ueber einige das Physostigmin betreffende pharmakologische 


und chemische Fragen. Archiv f. experimentelle Pathologie und Therapie. Bd. XU. 
S: 334. 


ÜBER DIE WIRKUNGSWEISE DER MYDRIACA UND MioTIcA. 13 


reizen und Atropin sie lähmen. Dem entspricht auch die genau um- 
gekehrte Beeinflussung des Accomodationsapparates durch unsere zwei Mittel. 
Physostigmin: stellt das Auge für die grösste Nähe ein, indem es den 
Nerven des genannten Apparates auf’s stärkste reizt; Atropin hinterher ein- 
geträufelt, lähmt ihn und stellt daher das Auge für unendliche Ferne ein.“ ! 


Das Musearin. 


Muscarin erreot die Nervenendigungen im Sphincter, also die der Nn. 
ciliares breves. Darüber herrscht wohl Einstimmigkeit. Meine eigenen 
Versuche können diese Ansicht nur bestätigen. Doch kam es mir darauf 
an, noch einige weitere Fragen zu prüfen. 

Zunächst ob nicht zu jener Reizung noch eine Lähmung des pupillen- 
erweiternden Apparates hinzukommt, sei es des Muskels, sei es der Nerven. 
Dass dies nicht der Fall ist, erweist sich leicht daraus, dass bei Kaninchen, 
Katze und Hund nach eingetretener Miosis Reizung des Sympathicus am 
Halse prompte Erweiterung hervorruft. Weiter war zu prüfen, ob nicht 
mit den Nervenenden auch der Muskel selbst gereizt würde. Dagegen 
spricht zunächst die schon bekannte Thatsache, dass Atropin die Muscarin- 
- Miosis aufhebt, und umgekehrt, dass Muscarin bei Atropin-Mydriasis un- 
wirksam ist. Ich selbst kann hinzufügen, dass auch bei den Thieren, bei 
welchen die Ciliares breves degenerirt waren, das Alkaloid unwirksam blieb, 
auch wenn der Iris-Sympathicus zugleich degenerirt war. Mit den Nerven- 
endigungen könnte aber ferner auch das Ganglion ciliare gereizt werden. 
Auch dies trifft nicht zu; denn Durchschneidung der Nn. ciliares breves 
peripherisch vom Ganglion hebt weder die bestehende Miosis auf, noch ver- 
hindert sie den Eintritt derselben. Ferner bewirkt 5 procent. Muscarinlösung 
auf das Ganglion cervicale supr. Symp. aufgetragen keine Erweiterung der 
Pupille, die doch eintreten müsste, wenn das Ganglion selbst gereizt würde. 
Vielmehr beginnt schon nach etwa 10 Minuten auf beiden Augen Miosis 
und zugleich mächtige Speichelsecretion. Die Thatsache schliesslich, dass 
bei erhaltenem Sympathieus die Muscarin-Miosis trotz Durchschneidung der 
Nn. ciliares breves bestehen bleibt bezw. eintritt, beweist, dass dies Alkaloid 
ein viel stärkeres Erresungsmittel ist als das Physostigmin, das ja in jenem 
Falle versagt. 

Auf Grund dieser Ergebnisse lässt sich für die besprochenen Mittel 
eine Reihenfolge angeben, in welcher man sie hintereinander an demselben 
Auge anwenden kann, so dass jedes seine eigenthümliche Wirkung ent- 
faltet. Man wähle hierzu einige Tropfen von 2 procent. Lösungen. 


1 Kobert, Lehrbuch der Pharmakotherapie. Stuttgart, 1897. 


74 P. Scauntz: ÜBER DIE WIRKUNGSWEISE DER MYDRIACA U. MIoTIcA. 


I. Physostigmin: Maximale Miosis, Durchschneidung des Oculomo- 
torius oder der Ciliares breves, starke Erweiterung; dann 
II. Muscarin: Maximale Miosis, darauf 
II. Atropin: Starke Mydriasis, die durch 
IV. Cocain verstärkt wird zur maximalen, wo der Irisrand nur noch 
eben sichtbar ist. 


Für die praktische Augenheilkunde ergiebt sich, dass in den Fällen 
von Ophthalmoplegia interna und äusserer Oculomotoriuslähmung, in denen 
Physostigmin noch wirksam ist, die Erkrankung der Verengererbahn nur 
bis zum Ganglion ciliare fortgeschritten sein kann und nicht weiter; dass 
also das von dort beginnende sympathische Endneuron intaet ist. Bleibt 
dagegen auch bei öfterer Instillation nach längerer Zeit das Physostigmin 
unwirksam, so darf man annehmen, dass die Erkrankung über das Ganglion 
ciliare übergegriffen habe, und dass die Nervenendigungen im Sphineter 
verödet sind. 


Ueber die Reflexerregbarkeit des Musculus tensor 
tympani durch Schailwellen und ihre Bedeutung 
P für den Höract. 


Von 


. Prof. Ostmann, 
Marburg a. L. 


Mit einer Arbeit aus dem Gebiete der Pathologie des Gehörorganes be- 
schäftigt, sah ich mich vor die bisher ungelöste Frage gestellt, welchen 
Zwecken die Binnenmuskeln des Ohres dienen, insbesondere ob bezw. welche 
Bedeutung sie für den Höract haben. 

Die Ansichten bezüglich dieses Punktes gehen noch heute trotz 
mannigfacher Bestrebungen, die Wahrheit zu finden, weit auseinander, wie 
schon ein Blick in die Lehrbücher der Physiologie von Brücke und 
Hermann ohne Weiteres zeigt. 

Theils von anatomischen Betrachtungen, theils von Versuchsergebnissen 
am Präparat oder Beobachtungen willkürlicher Bewegung der Binnen- 
muskeln, insbesondere des Muse. tensor tyımpani, ausgehend, glaubten die 
Einen, den Muskeln die Fähigkeit, Bewegungen hervorzurufen, überhaupt 
absprechen zu müssen; sie schienen nichts Anderes als elastische Bänder 
des Schallleitungsapparates zu sein, welche durch ihren elastischen Zug die 
Stabilität der Knöchelchenkette erhöhten; Andere vermutheten in den 
Muskeln Schutzapparate gegen zu starke Schallwellen, Andere wieder hielten 
die Muskeln für Accomodationsapparate, durch deren Wirkung das Trommel- 
fell in veränderte und zwar in die für das Mitschwingen jeweilig beste 
Spannung versetzt werde. 

Bei einem solchen Stande der wissenschaftlich hochinteressanten Frage 
schien es werth, bei ihr zu verweilen, und unter Berücksichtigung aller 
bisher gefundenen objectiven Thatsachen durch neue Untersuchungs- 
methoden eine Lösung der schwebenden Frage zu versuchen. 


76 ÖSTMANN: 


Das, was wir hören wollen und müssen, soll anders unser Verkehr 
mit der Aussenwelt ein unbeengter sein, sind Geräusche und Töne bezw. 
Klänge. Die ersteren haben insbesondere für das scharfe Erfassen der 
Sprache die bei weitem höhere Bedeutung. 

Die Untersuchungen über die Mechanik des Trommelfells haben ge- 
zeigt, dass das sehr stark gedämpfte Trommelfell in hohem Maasse ge- 
eignet ist für die Aufnahme und Fortleitung von Geräuschen, und dass 
jede beträchtlichere Eigenschwingung desselben nur dazu führen könnte, 
die Perception des für das Sprachverständniss wichtigsten Theiles der 
menschlichen Sprache, der Consonanten, zu erschweren. Töne und Klänge 
von einiger Dauer würden dagegen leichter pereipirt, wenn das Trommel- 
fell jeweilig durch Muskelwirkung diejenige Spannung annehmen würde, 
bei der es am leichtesten im Sinne des anklingenden Tones oder Klanges 
mitschwingt. Indess ein gutes Sprachverständniss scheint ein solches Po- 
stulat der Accommodation, oder sagen wir der Anpassung des Trommelfells 
für Töne und Klänge schon theoretisch nicht unbedingt zu fordern. 

Diese einfachen Thatsachen führen zu der von Brücke! vertretenen 
Anschauung, dass wahrscheinlich der ganze Apparat der Gehörknöchelchen 
in Rücksicht auf das Trommelfell mehr als Dämpfer dient, als dass er zur 
Accommodation desselben für Töne von verschiedener Höhe verwendet werde. 

Dieser Anschauung stand bisher anscheinend die von Hensen ge- 
fundene und im grossen Ganzen von Bockendahl bestätigte Thatsache 
gegenüber, dass beim curarisirten Hund der Musc. tensor tympani durch 
Schallschwingungen reflectorisch erregt wird. Für einen jeden, der Curare- 
wirkung kennt, enthält diese Thatsache einen zunächst unlösbaren Wider- 
spruch. Ich werde später zeigen, wie dieser Widerspruch sich löst; damit 
aber auch die Thatsache der refleetorischen Erregung des Muskels bei den 
genannten Versuchen in sich zusammenstürzt. 


Um eine sichere Grundlage für die sachgemässe Beurtheilung dieser 


divergenten Anschauungen sowohl als für eigene Fortarbeit zu gewinnen, 
wollen wir methodisch vorgehen und zunächst fragen, welehe Wirkung 
hat der ruhende Muse. tensor tympani durch seine natürliche tonische 
Spannung auf die bei der Schallübertragung zum Labyrinth stattfindenden 
Bewegungen der Knöchelchen? 

Die Spannung der Sehne des Muse. tensor tympani ist nicht gering; 
man fühlt und hört dies bei der Durchschneidung derselben am Lebenden. 
Nach der Trennung erhöht sich die Beweglichkeit des Hammergriffs und 
Trommelfells um ein Beträchtliches; der Zuwachs entfällt zum grössten 
Theil auf die Bewegung dieser Theile nach aussen. Der natürliche Zug 


! Lehrbuch. Wien 1881. 8. 227. 


2) a Aa a Be me 


DıE REFLEXERREGBARKEIT DES Musc. TENSOR TYMP. 77 


des Musc. tensor tympani bedingt eine gewisse Bewegungsbeschränkung des 
Hammers und Trommelfells und somit der Gehörknöchelchenkette über- 
haupt. Kessel! beobachtete bei seinen Versuchen am Präparat eine Ver- 
grösserung der Hammerkopfschwingungen um ein Viertel nach Durch- 
schneidung der Sehne des Muskels, während Bezold? nach der Tenotomie 
eine Zunahme fast ausschliesslich der Auswärtsbewegung des Apparates 
constatirte; aber auch nach Ausfall des Zuges der Tensorsehne, sagt er 
an gleicher Stelle, reicht die übrige Befestigung der Leitungskette hin, um 
dieselbe in ihrer Ruhelage relativ zum Incursionsmaximum zu erhalten. 
Für die Schallübertragung scheint dies von wesentlichster Bedeutung zu sein; 
denn durchschneidet man in einem normal hörenden Ohr die Sehne des 
Trommelfellspanners, so wird die Hörschärfe nicht herabgesetzt. Dies zeigt 
ein von Kessel” mitgetheilter, in sich etwas dunkler, aber nach dieser 
Richtung voll verwerthvarer Fall. Wohl aber trat Hyperästhesie und zwar 
nur für Töne des oberen Tonbereiches auf; wir werden sehen, dass diese 
Thatsache sich aus der von mir gefundenen Wirkung des Musc. tensor 
tympani erklärt. 

Aus Vorstehendem folgt: 

1, das Vorhandensein des Musc. tensor tympani ist von unwesent- 
lichem Belang für die Feinheit des Gehörs; 

2. Ausfall seiner Wirkung macht das Ohr gegen hohe Töne über- 
empfindlich; i 

3. er verringert die Bewegungsfähigkeit des schallleitenden Apparates, 
insbesondere des Hammers und Trommelfells nach aussen; er ist ein Kräf- 
tiger Schutz gegen übermässige Bewegungen nach dieser Richtung. 

Die Resultate 1 und 2 geben schon wichtige Fingerzeige, in welche 
Richtung die Untersuchung zu leiten ist. 

Vielleicht ergeben sich noch weitere Anhaltspunkte hierfür aus der 
Betrachtung, wie nach den bisher gewonnenen Thatsachen die Con- 
traction des Musc. tensor tympani 1. mechanisch, 2. acustisch wirkt. 

Die mechanische Wirkung der Contraction des Musc. ten- 
sor tympani auf den Schallleitungsapparat ist mehrfach am Prä- 
parat (Politzer, Lucae, Helmholtz), wie auch am eben getödteten, 
aber noch reactionsfähigen Hund untersucht worden (Politzer). Es hat 
sich ergeben, dass die mechanische Wirkung des Muskelzuges eine sehr 
ausgedehnte ist; sie ist nicht allein auf die Paukenhöhle beschränkt, sondern 
reicht in das Labyrinth hinüber. Wird ein Zug an dem Muskel ausgeübt, 


1 Archiv für Ohrenheilkunde. Bd. VIII 8. 89. 
2 Ebenda. Bd. XVI, S.1u. £. 
® Ebenda. Bd. XXXI S. 138; vgl. auch Bd. XXxVI. S. 137. 


78 ÖSTMANN: 


so wird gleichzeitig die Spannung sämmtlicher Befestigungsbänder der Ge- 
hörknöchelchenkette vermehrt (Helmholtz!), die Zähne des Hammer- 
Ambos-Sperrgelenks greifen fester ineinander, das Trommelfell spannt 
sich straffer und durch Hineindrängen der Steigbügelplatte gegen den 
Vorhof wird der Labyrinthdruck erhöht (Politzer). Dieser Vorgang er- 
schwert die Erregung der letzten Nervenenden des Corti’schen Organes 
in doppelter Weise: durch erschwertes Mitschwingen der Knöchelchenkette 
und erschwerte Mitbewegung der Labyrinthllüssigkeit. 

Ersteres wird erwiesen durch folgende Versuche: 

Reizt man unmittelbar nach der Tödtung am abgetrennten Hundekopf 
intracraniell den Trigeminus, in dessen kleiner motorischen Portion viel- 
leicht die Fasern für den Musc. tensor tympani gesucht werden müssen 
(Politzer und Kölliker?), so tritt bei zugeleiteten Schallschwingungen 
eine erhebliche Verminderung der Trommelfellschwingungen ein, so zwar, 
dass, wenn beispielsweise die Grösse der Excursion eines am Hammergriff 
befestigten Fühlhebels drei Linien betrug, dieselbe auf etwa eine Linie ver- 
mindert wird (Politzer°). Gleichartige Resultate wurden erzielt, wenn an 
Präparaten durch künstlichen Tensorzug die Spannung des Trommelfells 
erhöht wurde; die Amplitude der Schwingungen wurde kleiner (Lucae‘), 
oder wenn an Präparaten mit angeseilten Muskeln während Tensorzuges 
die Bewegungen von Trommelfell und Gehörknöchelehen stroboskopisch be- 
obachtet wurden. Die stroboskopischen Bewegungen am vorderen Trommel- 
fellabschnitt wurden sistirt, am hinteren auf einen Bruchtheil der früher 
vorhandenen redueirt (Kessel?); die von hohen Tönen herrührenden 


Schwingungen erschienen relativ weniger beeinflusst (Mach und Kessel®). 


Mit Rücksicht auf diese Versuche am todten Ohr sagt Hensen,? sie 
könnten über die Function des lebenden Muskels noch nicht entscheiden, 
zur Auffindung derselben seien wir auf die Hypothese und den direeten 


Versuch angewiesen. Dies erscheint nur halb richtig. Solche Versuche 


können zwar nicht über die Function des lebenden Muskels entscheiden, 
aber, wenn wir im Lebenden den Muskel bei directem Versuch functioniren 
sehen, so sind ihre Ergebnisse der Faden, der uns zur Wahrheit leitet, 
nicht die Hypothese, wie ich dies an Hensen’s Hypothese zeigen werde. 


! Mechanik der Gehörknöchelchen u.s. w. Pflüger’s Archiv. Bd.I. 1869. 

2 Gewebelehre. 8. 288. 

® Archiv für Ohrenheilkunde. Bd. I. S. 69 u. ff. 

* FEbenda. Bd.1. 8. 311. 

5 Ebenda. Bd. VII. S. 89. 

° Wiener Sitzungsberichte. 1872. 

” Physiologie des Gehörs in Hermann’s Handbuch der Physiologie. Leipzig 
1880. 8. 61. 


u al Ale te ee ee 


Die REFLEXERREGBARKEIT DES MUSC. TENSOR TYMP. 79 


Denn mechanisch wird auch der lebende Muskel nie anders wirken können, 
als der durch intracranielle Reizung erregte. 

Zu zweit wird Tensoreontraction die Mitbewegung der Labyrinth- 
flüssigkeit mit den Bewegungen der Steigbügelplatte erschweren; denn die 
Erhöhung des Labyrinthdruckes, welche von Politzer durch intracranielle 
Reizung des Trigeminus experimentell bewiesen ist, muss die Uebertragung 
kleinster Druckschwankungen auf dasselbe erschweren. Wir sehen einen 
ganz ähnlichen Vorgang zuweilen bei Steigerung des Schädelinnendrucks 
und nachfolgend des Labyrinthdrucks bei Tumoren der Schädelhöhle. Der 
‚steigende Labyrinthdruck wird von steigender Schwerhörigkeit begleitet. 

Das einheitliche Resultat aller Untersuchungen bezüglich der mecha- 
nischen Leistung der Tensorcontraction ist somit, dass durch dieselbe das 
Mitschwingen des Trommelfells und die Fortleitung der Schallschwingungen 
durch die Gehörknöchelchenkette erschwert wird. Als acustischen Effect 
sollten wir demnach erwarten, dass das Ohr bis zu einem gewissen Grade 
schwerhörig gemacht wird. 

In wie weit bestätigen dies die bezüglich des acustischen Effectes 
der Tensorcontraction vorliegenden Beobachtungen ? 

„Der acustische Erfolg einer Steigerung der Paukenfellspannung“, 
sagt Fick,! „muss nach den Prineipien der Mechanik der sein, dass die 
Membran überhaupt weniger stark mitschwingt, besonders aber muss das 
Mitschwingen mit langsamen Schwingungen beeinträchtigt werden. Die 
Theorie fordert also, dass Vermehrung der Paukenfellspannung die Em- 
pfindung aller Töne, insbesondere aber die der tiefen Töne vermindert.“ 

Diese Theorie ist auf den endgültigen acustischen Effect der Tensor- 
wirkung beim Lebenden vielleicht nicht unmittelbar anwendbar, wenngleich 
sie gut mit unseren Erwartungen bezüglich desselben übereinstimmt; denn, 
wie wir sehen, spannt der Tensor bei seinem Zuge nicht allein das 
Trommelfell, sondern er- führt gleichzeitig eine ganze Reihe anderer Ver- 
änderungen im Mittelohr und Labyrinth herbei, die den schliesslichen 
acustischen Effect im Lebenden möglicher Weise anders gestalten, als dies 
die theoretische Betrachtung der Trommelfellmechanik erwarten lässt. 

So sehen wir denn auch, dass, soweit Versuche am Präparat in Frage 
kommen, die Theorie mit den Versuchsergebnissen übereinstimmt, da es 
sich in ihnen wesentlich um Veränderung des Tones bei veränderter 
Trommelfellspannung handelt; sobald aber am Lebenden der acustische 
Effeet der willkürlichen Tensorcontraction geprüft wird, ergiebt sich kein 
einheitliches und mit der Theorie stets übereinstimmendes Resultat. 


! Lehrbuch der Anatomie und Physiologie der Sinnesorgane. Lahr 1864. 
8. 137. 8 177. 


80 OSTMANN: 


Versuche an Präparaten sind vornehmlich von Politzer und Lucae 
ausgeführt worden. 

Auscultitte Politzer! am abgeschnittenen, noch reactionsfähigen 
Hundekopf durch einen in die Wand der Paukenhöhle eingelassenen Aus- 
cultationsschlauch das Mittelohr, so zeigte sich, dass während intracranieller 
Reizung des Trigeminus ein durch Luftleitung, zugeleiteter Stimmgabelton 
auffallend abgedämpft und schwächer gehört wurde, die Obertöne dagegen 
deutlicher hervortraten. 

Wenn Lucae? das Mittelohr eines Präparates von der Tuba auscul- 
tirte und durch einen vom Knochen zugeleiteten Stimmgabelton die Luft 
der Pauke in Schwingungen versetzte, so wurde der Ton abgeschwächt 
gehört, sobald durch Verdichtung der Luft im äusseren Gehörgang die 
Spannung des Trommelfells vermehrt wurde. Da bei der Versuchsanord- 
nung alle anderen Verhältnisse ausser der Spannung des Trommelfells un- 
verändert blieben, so darf die Dämpfung des Tones auf die vermehrte 
Spannung des Trommelfells zurückgeführt werden. 

In beiden Versuchen stimmt somit die Theorie mit den Versuchs- 
ergebnissen völlig überein. Vermehrte Paukenfellspannung bedingt Ab- 
schwächung der Töne, insbesondere der tiefen, wie Politzer’s Versuch im 
Besonderen zeigt. 

Die Versuche an Personen, welche willkürlich ihren Muse. tensor 
tympani zu contrahiren vermochten, zeigen keineswegs ein gleichartiges, 
acustisches Ergebniss. 

Lucae? hat im Ganzen fünf Personen untersucht. 

Von vier zuerst Untersuchten bemerkte nur einer, Dr. v. H., eine 
geringe Dämpfung des Grundtones während der willkürlichen Contraction 
des Muskels; die übrigen drei hörten im Gegentheil tiefe Stimmgabeltöne 
verstärkt. Dieses letztere, der Theorie keineswegs entsprechende |Ergebniss 


hat sich Lucae dadurch zu erklären versucht, dass durch die bei Tensor- 


Wirkung gleichzeitig auftretende Zunahme des Labyrinthdruckes im inneren 
Ohr eine Veränderung hervorgerufen wird, „welche den Einfluss der Span- 
nungsänderung des Trommelfells, besonders auf die Perception tieferer 
Töne, nicht allein wieder aufhebt, sondern letztere sogar zu fördern im 
Stande ist“. 

Bei dem fünften von ihm untersuchten Fall zeigte die Stimmgabel- 
untersuchung, dass die Dämpfung mit der zunehmenden Höhe der Stimm- 
gabeltöne abnahm; indess für c* eine Verstärkung eintrat. 


I Archiv für Ohrenheilkunde. Bd. I. S. 69 u. ft. 

2 Ebenda. Bd. I. 8. 313. 

® Ebenda. Bd. I, S. 316; Bd. III, S. 202; Berliner klinische Wochenschrift. 
1874, Nr. 14 und 1886, Nr. 32. Archiv für Ohrenheilkunde. Bd. XXIV. S. 226. 


DıiE REFLEXERREGBARKEIT DES MUSC. TENSOR TYMP. 8 


Ein weiterer gut beobachteter Fall ist von Politzer! mitgetheilt 
worden. Die Hörweite für die Uhr von rechts 4° 6” und links von 9° 
wurde bei dieser Person während der Contraction des Tensor rechts um 6”, 
links um 3’ herabgesetzt; ein Stimmgabelton wurde während der Con- 
traction dumpfer und schwächer, die Sprache auffallend dumpfer gehört; 
tiefe Töne von Pfeifen bei rasch aufeinander folgenden Zuckungen wie 
staccatirt, hohe dagegen um !/, Ton höher wahrgenommen. 

Die letzte Beobachtung ist von Schapringer? an sich selbst gemacht 
worden. Bei der Contraction des Tensor verschwanden Töne bis zu etwa 
70 Schwingungen ganz, von da erschienen sie geschwächt und leerer in 
der Klangfarbe, bei noch höheren Tönen verlor sich diese Erscheinung 
unmerklich und Stimmgabeltöne der dreigestrichenen ÖOctave erschienen 
einige Male bei nicht foreirter Spannung selbst verstärkt. Die höheren 
Partialtöne der musikalischen Klänge und anderweitiger Geräusche drängten 
sich ihm beim Einziehen des Trommelfells augenblicklich auf; beim Nach- 
lassen der Anstrengung verloren sie ihre Auffälligkeit. — 

Diese Versuche führen uns weder in der Erkenntniss, ob der Tensor 
sich beim gewöhnlichen Hören contrahirt, noch wie die als möglich gedachte 
Contraction beim Höract acustisch wirkt, einen Schritt vorwärts, weil beim 
gewöhnlichen Hören unzweifelhaft keine tetanische Contraction des Muse. 
tensor tympani auftritt. Die tetanische Contraction bedingt ein tiefes, 
schnurrendes Muskelgeräusch, welches wir beim Hören niemals wahr- 
nehmen, und welches, wie Schapringer seinen Schilderungen hinzufügt, 
bei ihm so heftig war, dass er im Beurtheilen der Intensität der Töne 
sehr beirrt war. 

Angenommen also, der Tensor wirkte, indem er sich contrahirt, beim 
gewöhnlichen Hören mit, so müsste doch der Contractionsvorgang ein ent- 
schieden anderer sein; es könnte sich, wie schon Hensen geschlossen hat, 
allein um eine einmalige Zuckung handeln. 

Nimmt man an, dass alle diese subjectiven Beobachtungen durchaus 
richtig sind, was nach. dem freimüthigen Zugeständniss Schapringer’s 
wohl immerhin angezweifelt werden kann, so würde sich ergeben, dass 
tetanische Contraction des Tensor bei verschiedenen Personen acustisch ver- 
‚schieden wirkt, vorwiegend aber musikalische Töne und Klänge abdämpft; 
unser Ohr, wie aus den Mittheilungen Politzer’s hervorgeht, für hohe 
Geräusche, Uhrticken, wie für die Sprache unempfindlicher macht. Ver- 
werthbar wäre somit allein das Resultat, dass tetanische Contraction des 
Tensor acustisch vorwiegend so wirkt, wie die mechanische Betrachtung. 


! Archiv für Ohrenheilkunde. Bd. IV. S. 28. 
? Wiener Sitzungsberichte. 1870. S. 571. 
Archiv f. A. u. Ph. 1898. Physiol. Abthlg. 6 


82 OSTMARNN: 


seiner Wirkung erwarten lässt, nämlich hinderlich für die Wahrnehmung 
der in der Musik und in der Sprache vorwiegend vertretenen Tonhöhen 
und für Geräusche etwa der viergestrichenen Octave. 


Dieses Resultat, zusammengehalten mit dem, welches man aus der 
Untersuchung der Mechanik des Trommelfells und der mechanischen Lei- 
stung des Trommelfellspanners gewonnen hatte, hätte eigentlich ganz von 
dem Gedanken einer, wie Hensen! meint, a priori anzunehmenden Thä- 
tigkeit der Binnenmuskeln des Ohres beim Hören abführen müssen. Denn 
die sich daraus ergebende Vorstellung, dass in einem sonst so äusserst fein 


und zweckmässig construirten Sinnesorgan wie das Ohr, ein Apparat ein- 


geschaltet sein sollte, welcher in dem Moment, wo das Sinnesorgan in Action 
tritt, die Schärfe des Sinnesorganes vermindert, steht mit allen unseren 
sonstigen Erfahrungen in einem derartigen Widerspruch, dass nur die 
zwingendsten Gründe uns dazu führen könnten, an eine derartige paradoxe 
Erscheinung zu glauben. Für diese paradoxe Anschauung lag und liegt 
aber auch heute noch kein anderer Grund vor, als eben die nach Hensen 
a priori anzunehmende Thätigkeit der Binnenmuskeln des Ohres beim Hören. 

Der Vergleich mit dem Auge hat offenbar immer wieder zu solcher 
aprioristischen Annahme geführt, wobei man sich indess anscheinend nicht 
recht klar gemacht hat, dass man bei Untersuchungen über die Accomo- 
dation des Ohres, so wie man sie supponirte, nach etwas ganz Anderem 
suchte, als vergleichsweise die Accomodation für das Auge leistet. 

Das Auge ist im Ruhezustande für eine unendliche Entfernung ein- 
gestellt und bedarf eines besonderen Apparates, um auch aus unendlicher 
Entfernung kommende Strahlen auf der Netzhaut zu einem scharfen Bilde 
zu vereinigen. Das Resultat ist eine Erweiterung der räumlichen Grenzen 
des deutlichen Sehens, aber nicht der Sehleistung für Lichtstrahlen ver- 
schiedener Schwingungsdauer. 

Wollen wir also im Gehörorgan nach Apparaten suchen, welche der 
Leistung des Aeccommodationsapparates des Auges entsprechen, so müssen wir 
nicht nach Apparaten suchen, welche Schallwellen verschiedener Schwingungs- 
dauer zur deutlichen Wahrnehmung bringen, wie dies fast immer ge- 
schehen ist, sondern nach solchen, denen wir zunächst nach ihrer mecha- 


nischen Leistung die Fähigkeit zuerkennen müssen, die räumlichen Grenzen 


des Hörfeldes zu erweitern, oder was dasselbe sagt, das Ohr für Schall- 
schwingungen jeglicher Art, aber von geringerer Amplitude, noch reizbar 
zu machen, als sie von dem ruhenden, nicht accommodirten Sn en 
noch als Reit empfunden werden. 


‘ Physiologie des Gehörs in Herrmann’s Handb. d. Phys. Leipzig 1880. S. 63. 


DiE REFLEXERREGBARKEIT DES MUSC. TENSOR TYMP. 83 


Ich hoffe in einer weiteren Abhandlung darthun zu können, dass das 
_ Ohr einen solchen Apparat besitzt, aber mun darf ihn nicht im Muse. 
tensor tympani suchen, der dem Irisverengerer insoweit entspricht, als 
derselbe durch reflectorische Contraction das Auge vor schädlicher Blendung 
‘ schützt. Aber selbst nach dieser Richtung ist die Wirksamkeit des letz- 
teren noch unmittelbarer und umfangreicher wie die des Trommelfell- 
spanners. Alle vorerwähnten Versuche mit ihren nach bestimmter Richtung 
hinweisenden Ergebnissen haben jedoch den Gedanken nicht abwenden 
können, dass der Muse. tensor ein Accommodationsmuskel sei und Hensen! 
hat zur Beweisführung vor einer Reihe von Jahren neue Wege ein- 
geschlagen. 

Er ist hierbei genau so vorgegangen, wie er später in seiner Physiologie 
des Gehörorganes es als einzig möglich zur Auffindung der Wahrheit be- 
zeichnet hat; er hat eine Hypothese und einen directen Versuch gemacht. 
Betrachten wir zunächst die Hypothese. 

Sie besagt: Der Tensor kann sich, wenn überhaupt, nur durch 
Zuckungen am Höract betheiligen, weil bei tetanischer Contraction störendes 
Muskelgeräusch auftritt. Diese Zuckungen könnten den Sinn haben, das 
Trommelfell, welches durch seine natürliche Steifigkeit und starke Dämpfung 
für die Aufnahme von Consonanten und Geräuschen gut geeignet erscheint, 
durch Spannung zur Aufnahme von Vocalen geeigneter zu machen, indem 
durch die Spannung die Dämpfung relativ vermindert wird, und sich da- 
durch das Verhältniss umkehrt. Es lässt sich vermuthen, dass der Muskel 
im Anfang jeder Silbe zuckt. 

Eine einfache Folgerung aus dem Gedankengange Hensen’s ist die, 
dass die reflectorische Contraction des Tensor nur dann den Höract fördern 
wird, wenn allein periodische, nicht aber auch aperiodische Schall- 
schwingungen den Muskel reflectorisch erregen. Dass Hensen in seinen 
Ueberlegungen zunächst thatsächlich nur an eine Verbesserung des Vocal- 
gehörs durch Tensorzuckung gedacht hat, beweisen seine Ausführungen, wie 
er sich die reflectorische Wirkung des Muskels bei dem Worte „Pracht“ 
vorstellt und Anderes mehr. 

Zwei Voraussetzungen aber, welche die Hypothese macht, über deren 
Nichtzutreffen bezw. Unwahrscheinlichkeit sich Hensen indess an dem 
1878 schon vorliegenden Material hätte orientiren können, zeigen von vorne- 
herein die innere Unwahrscheinlichkeit derselben. 

Sie setzt voraus: 

1. eine bedeutende Kraftleistung des Tensor; 


! Beobachtungen über die Thätigkeit des Trommelfellspanners bei Hund und 
Katze. Dies Archiv. Physiol. Abtilg. 1878. S. 312 u. ff. 


6* 


84 OSTMANN: 


2. ein ständiges Uebersehen der Trommelfellbewegung durch die suppo- 
nirte Tensorwirkung beim Hören. 

Ersteres trifft nicht zu; letzteres ist unwahrscheinlich. 

Die Kraft des Muskels können wir an thatsächlichen Beobachtungen 
abmessen; sie ist relativ als bedeutend anzuschlagen, weil der Tensor ein 
gefiederter Muskel ist; gegenüber der dem Muskel von Hensen zugemutheten 
Leistung indess verschwindend klein. 

Politzer! berichtet von Dr. A., dass er seinen Tensor willkürlich 
sontrahiren konnte. Geschah dies mehrmals in einer Secunde, so konnten 
nach 5 bis 6 Secunden keine Contractionen weiter hervorgebracht werden, 
weil ein Gefühl von Ermattung im Ohre eintrat, welches erst nach /, bis 
1 Minute schwand. Nach dieser Zeit konnten dann die Zuckungen aber- 
mals willkürlich erregt werden. 

Bei der manometrischen Messung der Grösse der Excursionen des 
Trommelfells zeigte sich, dass „nach mehreren rasch aufeinander folgenden 
Zuckungen die Excursionsgrösse des Tröpfchens etwas abnahm“ Also 
ausserordentlich schnelle Ermüdung bis zur vollständigen Reactionsunfähigkeit. 

Nun denke man sich unser Ohr im täglichen Leben beim Anhören 
eines stundenlangen, schnell gesprochenen Vortrages und ermesse, ob man 
dem Muskel die Kraft zuschreiben kann, in jeder Minute ungezählte Male 
beim Erklingen eines Vocales zu zucken und am Schlusse des Vortrages 
nicht müde zu sein. Nein, ich glaube, eine solche Kraft vermag der 
Muskel selbst bei grösster Hochachtung vor seiner Fiederung nicht zu 
entwickeln. 

Des Weiteren berichtet Jacobson * — diese Beobachtung ist erst 1883 
mitgetheilt worden —, dass ein Patient, welcher beim Zukneifen des Auges 
seinen Tensor mitbewegte, schnelle Muskelermüdung empfand und bei oft 
hinter einander wiederholtem Zukneifen des Auges immer leiser den Muskel- 
ton wahrnahm, während sich objectiv die Verminderung der Einwärts- 
ziehung des Trommelfells bei öfterer Wiederholung des Versuches nach- 
weisen liess. 

Die zweite Voraussetzung von Hensen’s Hypothese, sollte sie anders 
eine innere Wahrscheinlichkeit für sich haben, ist die, dass die durch 
Tensorzuckung bedingte Trommelfellbewegung stets übersehen worden ist; 
denn Niemand hatte und hat bis vor wenigen Wochen, wo ich sie als 
Erster unter besonderen Bedingungen gesehen habe, Trommelfellbewegung: 
beim Hören durch Tensorwirkung beobachtet. Ein dauerndes Uebersehen 
einer beim gewöhnlichen Hören sich stets erneuernden, wenn auch sehr 


I Archiv für Ohrenheilkunde. Bd. IV. 8. 27. 
2 Ebenda. Bd. XIX. 8. 44. 


Dıes REFLEXERREGBARKEIT DES MUSC. TENSOR TYMP. 85 


feinen Bewegung, war aber an sich unwahrscheinlich. Selbst Mach und 
Kessel,! welche am Lebenden die Schwingungen des Trommelfells beim 
Anlauten einer Orgelpfeife, also einer periodischen Schwingungszahl gleich 
der des Vocalklanges gesehen hatten, vermochten keine Erscheinungen zu 
beobachten, wie man sie künstlich durch Spannung der Binnenohrmuskeln 
am Präparat hervorrufen kann. 

Alles dies musste die Annahme, dass eine solche Zuckung im Anfang 
jeder Silbe möglicher Weise bestand, von vornherein als höchst unwahr- 
scheinlich erscheinen lassen. 

Indess die Hypothese war da und der Versuch folgte. 

Hensen? beschreibt denselben in folgender Weise: „Die Hunde werden 
so schwach curarisirt (4 bis 5 ”® Curare), dass sie nach Beendigung der 
Operation einigermaassen zuckungs- und athmungsfähig sind. Die Theile 
werden hart unter dem Zungenbein bis zum Pharynx quer durchschnitten 
und die Bulla ossea einer Seite freigelegt.“ Hierbei fand, wie sich aus 
einer nachträglichen Anmerkung ergiebt, eine ausgiebige Unterbindung der 
benachbarten Gefässe statt. „Die Bulla wird dann mit dem Trepan eröffnet 
und mit der Knöchenzange erweitert.“ In den Bauch bezw. Sehnenspiegel 
des Muskels wurde eine Nadel . eingestochen, die frei herausragte, indess 
natürlich nur locker sass. 

Das zweite Experiment glückte nach Hensen’s Erachten vollständig. 
Das Resultat war: „Jeder Ton, jedes Geräusch, jede Silbe brachte die Nadel 
in Bewegung;“ wurde der Ton angehalten, so kam sie zur Ruhe; der 
Muskel war allem Anscheine nach erschlafft. „Jedes neue Geräusch brachte 
dann wieder Zuckungen.“ Doch schienen dieselben auf lautes Geräusch 
etwas energischer zu sein und bei sehr leisem Geräusch konnten sie aus- 
bleiben. Diese letztere Beobachtung erklärt sich Hensen daraus, dass der 
Muskel unter einer gewissen Curarewirkung stand, und die Schallschwin- 
gungen durch Auftreffen auf beide Trommelfellseiten das Mitschwingen 
desselben ungünstig beeinflussten. 

Bei einem weiteren Versuchsthier reagirte der Tensor sehr lebhaft und 
tactmässig auf die Schläge eines Metronoms bis zu 108 Schlägen die Minute, 
während er sich durch den Ton hölzerner Orgelpfeifen sehr wenig erregbar zeigte. 
„Eine hohe Pfeife von 6000 Schwingungen erregte zwar den Muskel stark 
und noch von einem anderen Zimmer aus, aber tiefere Pfeifen erregten ihn 
weit weniger, die Contractionen schienen kleiner zu werden und für Pfeifen 
unter 200 Schwingungen blieb es zweifelhaft, ob überhaupt eine Bewegung 
eintrat.“ „Hier scheint also“, sagt Hensen, ‚ein Angrifispunkt für weitere 
Prüfungen zu liegen.“ 

1 Wiener Sitzungsber. Jahrg. 1872. Archiv f. Ohrenheilk. Bd. VIII. S. 121 u. ff. 

Aa. 0308315: 


86 OÜSTMANN: 


Die Hunde wurden dann weiter benutzt, um einige Näherungswerthe 
für die Zeiten des Eintrittes der Zuckung zu erhalten und ergaben die 
gefundenen Zahlen, „dass der Muskel zu Beginn der Tonerregung reagirt“. 

„An einer noch: nicht halbwüchsigen Katze konnten die am Hunde 
gemachten Erfahrungen bestätigt werden. Man musste deutlich artieulirt 
sprechen, wenn der Muskel bei jeder Silbe zucken sollte, sprach man 
weniger deutlich, so fiel die eine und andere Zuckung aus. Jedoch bei 
Wiederholung desselben Satzes waren es nicht wieder dieselben Worte, für 
welche die Zuckung ausfiel.“ 

„Auch bei diesem Thier zeigte sich grosse Empfindlichkeit für Orgel- 
pfeifen über 2000 Schwingungen, Unempfindlichkeit für solche unter 
1000 Schwingungen. Auf solche unter 200 Schwingungen reagirte der 
Muskel nur, wenn man die Pfeife dicht ans Ohr hielt; dagegen beweete 
er sich auf in tiefem Bass gesprochene Worte recht gut.“ 

Man erkennt, dass die Ergebnisse dieser Versuche, die Hensen übrigens 
nicht als abgeschlossen betrachtete, und aus denen er zunächt keine weiteren 
Schlussfolgerungen. zog als die, dass sie seinen Voraussetzungen völlig zu 
entsprechen schienen, sehr wenig (Gesetzmässiges erkennen lassen. Auf 
periodische wie aperiodische Schallschwingungen antwortete der Muskel bald 
mit Zuckung, bald blieb er in Ruhe, und selbst die gleichen Schall- 
schwingungen wirkten unmittelbar hintereinander entgegengesetzt. Die am 
meisten einheitlichen Ergebnisse sind noch, dass eine gewisse Intensität des 
Schallreizes zur Erzeugung der anscheinenden Reflexzuckung erforderlich 
erschien, und weiter, dass hohe und sehr hohe Pfeifentöne ungleich stärker 
als tiefe den Muskel erregten, auf die theilweise überhaupt keine Reflex- 
zucekung folste. 

Die Frage des Weges der vermeintlichen Reflexactionen blieb ungelöst; 
um eine Art von Sehnenreflexen handelte es sich nicht. Wunderbarer 


Weise vermuthete Hensen, durch Stichverletzung der Schnecke, Berührung 


des runden Fensters und des Gehörganges Muskelzuckungen hervorrufen 
zu können. 

Ich stimme mit Hensen auf Grund dieses Versuchsergebnisses nicht 
darin überein, dass das Resultat seinen Voraussagen völlig zu entsprechen 
schien, nämlich dass der Tensor vermuthlich im Anfang jeder Silbe zur 
Verbesserung des Vocalgehörs zucke. 

Für mein Denken sind es überhaupt ganz eigenartige Vorstellungen, 
die Hensen auf die Vermuthung gebracht haben. Hören wir ihn selbst, 
wie er sich die Muskelwirkung bei dem Worte „Pracht“, welches ihm in 
photographischer Curve vorlag, vorstellt. 

2,P“ braucht etwa °/,,, Secunden und „r“ 0-11 Secunden, beide also 
0.13 Secunden, so dass der Muskel völlig die Zeit gewinnen kann, sich 


DIE REFLEXERREGBARKEIT DES Musc. TENSOR TYMP. 87 


durch den ersten Anschlag des „Z““ zu contrahiren, um die Wahrnehmung 
des auf Pr folgenden „a“ zu erleichtern. Das „a“ dauert 0-22 Secunden, 
es könnte also, selbst wenn ihm nur ein „?“ voranginge, der Muskel, die 
Reflexzeit zu 0-1 Secunden angenommen, sich noch im Verlaufe des Vocales 
contrahiren, um möglicher Weise wieder erschlafft zu sein, wenn das „echt“ 
eintritt.« 

Man mag die Worte drehen und wenden wie man will, man kann es 
nur so verstehen, dass durch das Anlauten von „?“ die Zuckung reflec- 
torisch hervorgerufen werden soll, welche „a‘“ zu Gute kommt. Wie aber, 
wenn statt „Pracht“ „Prezystanki“ oder ein anderer ähnlicher polnischer 
Ortsname ausgesprochen wird? Soll der Muskel dann auch zucken, oder 
nicht? Zuckt er, so erschwert die Zuckung nach Hensen’s eigener An- 
schauung über die Mechanik des Trommelfells und gemäss der von ihm 
angeblich gefundenen Reactionszeit des Muskels die Perception von rez und 
nützt für die Wahrnehmung von „y“ gar nichts; zuckt er nicht, um den 
Höract nicht zu erschweren, dann könnten wir nur die Annahme machen, 
dass das Reflexcentrum es geahnt haben muss, dass dieses Mal hinter „P“ 
nicht „ra“, sondern „rcezy“ folgt. Zum mindesten eine neue dunkle Stelle 
in den schon genügend dunklen Reflexvorgängen, 

Ich habe das Gefühl, der Bann der eigenartigen Hypothese hat 
Hensen das einzige, zuvor hervorgehobene, einigermaassen Gesetzmässige 
in seinen Versuchsergebnissen nicht erkennen lassen und so ist er im Banne 
derselben festgehalten worden, wie sich aus den Darlegungen in seiner‘ 
Physiologie des Gehörs ergiebt. Nur insoweit erscheint seine Anschauung 
über die reflectorische Erregung des Tensor durch Schallwellen später modi- 
fieirt, dass er es für zweckmässig erachtet, „das Trommelfell beim Ertönen 
eines Klanges die verschiedenen Grade von Spannung durchlaufen zu lassen, 
weil dabei die passendste Spannung getroffen werden muss.“ ! 

Eine Erklärung, wie die von ihm gesehenen Zuckungen des Tensor zu 
Stande kommen, hat Hensen nicht geben können, trotzdem aber hat er 
die im Ganzen ganz ungesetzmässige Erscheinung als Bestätigung seiner in 
sich höchst unwahrscheinlichen Hypothese aufgefasst und an derselben fest- 
gehalten. 

Ich will zeigen, wodurch die Zuckungen des Tensor hervorgerufen 
wurden. 

Cl. Bernard? hat gezeigt, dass, wenn man einen Frosch mit Curare 
vergiftet, so dass die motorischen Nervenenden gelähmt sind, und ihre 
Reizung keine Muskelzuckung mehr auszulösen vermag, trotzdem auf direete 


Ara ones. 69: 
° Nach Steiner; das amerikanische Pfeilgift Curare. Habilitationsschrift. 
Leipzig 1877. S. 38. 


38 OSTMANN: 


Reizung des Muskels eine Zuckung desselben eintritt, die sich von der 
eines unvergifteten Muskels nur dadurch unterscheidet, dass die Contrac- 
tionsfähigkeit des vergifteten Muskels länger anhält, als die des unvergifteten. 

Sollte nun bei einem Warmblüter eine im Muskel steckende Nadel 
nicht auch als Reiz wirken? Aller sonstigen Erfahrung nach ohne Zweifel. 
Nun braucht man sich nur die sehr naheliegende Vorstellung zu machen, 
dass der durch die Operation in der heftigsten Weise erschreekte und 
erregte Hund, dessen sensible und sensorielle Nerven intact sind, beim Er- 
tönen eines schrillen Tones oder eines ihn sonst erregenden Geräusches die 
geringste Bewegung macht, die man durch kein Festhalten und Festbinden 
verhindern kann, so wird die nach Hensen’s eigener Angabe im Muskel 
nur locker sitzende Nadel erzittern und diese Nadelbewegung ist dann der 
Anstoss zur Contraction. Die grosse Kraft, die der kleine Muskel in den 
Hensen’schen Versuchen anscheinend gezeigt hat, käme ihm dann nach 
Cl. Bernard von der Vergiftung. So liesse sich einerseits das einzige 
einigermaassen Gesetzmässige in den Versuchen erklären, nämlich, dass eine 
gewisse Intensität des Schallreizes erforderlich schien, und dass vor Allem 
hohe und höchste Pfeifentöne ungleich stärker als tiefe den Muskel erregten, 
andererseits auch die volle Ungesetzmässigkeit, dass der Muskel bei ein 
und demselben Wort bald zuckt, bald in Ruhe bleibt, oder dass tiefe 
Pfeifentöne den Muskel nur dann, wenn man die Pfeife dicht an das Ohr 
hält, erregen; in tiefem Bass gesprochene Worte ihn dagegen zur promp- 
testen Zuckung veranlassen. 

Der physische Eindruck, den der schrille Ton, das im tiefen Bass 
gesprochene Wort auf den Hund macht, gab indirect Veranlassung zur 
Zuckung, indem durch Bewegung des Hundes Bewegung der Nadel auf- 
trat und diese als Reiz wirkte. 

Ich hatte diese Bemerkungen kaum niedergeschrieben, als mir beim 
nochmaligen Durchlesen der gleich zu erwähnenden Bockendahl’schen 
Versuche der Beweis für die Richtigkeit dieser als möglich hingestellten 
Annahme mühelos zufiel. 

Diese Bockendahl’schen,” den Hensen’schen im Wesentlichen 
gleichen Versuche, die unter Hensen’s Leitung gemacht wurden und 
nach des Verfassers eigenen Worten „einen hohen Grad der Unvollkommen- 
heit“ zeigen, haben nach drei Richtungen einen speciellen bezw. mehr all- 
gemeinen Werth; wir brauchten auf sie sonst nicht näher einzugehen. 

Ihr Werth liest darin: 

1. dass Bockendahl die Art der Bewegung des Trommelfells beim 
Hunde durch Tensorwirkung am Präparat richtig erkannt hat; 


! Archiv für Ohrenheilkunde. Bd. XVI. S. 241 u. fl. 


Die REFLEXERREGBARKEIT DES MUSC. TENSOR TYMP. 89 


2. dass durch ein Zugeständniss in der Vorrede zur Arbeit und eine 
Aeusserung gegen Ende derselben der Beweis für die Entstehungsart der 
Zuckungen geliefert wird; “ 

3. dass sie zeigen, dass es für den Erfolg wissenschaftlicher Arbeit 
kaum etwas Nachtheiligeres giebt, als in gänzlicher Befangenheit einer an 
sich höchst unwahrscheinlichen Hypothese zu arbeiten und nun, wie 
Bockendahl sagt, einen Befund, nämlich im Unterschied zu Hensen die 
tetanische Contraction des Muskels während der Schallerregung, durchaus 
machen zu müssen, weil er als ein logisches Postulat eben dieser 
Theorie erschien; was übrigens falsch ist. 

So fanden sie dann wieder, was sie erwartet hatten. 

Auf den zweiten Punkt muss ich hier etwas näher eingehen. 

Bockendahl! schreibt: „Durch Hensen’s Versuche, die auf Grund 
eines rein theoretischen Raisonnements unternommen wurden, war der ex- 
perimentelle Nachweis geliefert, dass der Musc. tensor tympani bei Beginn 
einer Tonerregung, eines Geräusches, einer Silbe mit einer Zuckung reagırt 
— ein Factum, welches ich bei jedem meiner Versuche zu bestätigen in 
der Lage war, so ungünstig sie auch oft in Bezug auf die Beantwortung 
' fernerer, sich an dies Factum anschliessender Fragen sein mochten. Der 
präcise Ausschlag der in den Muskel gesteckten Nadel erfolgte 
stets, selbst wenn eine Zeit von 1 bis 2 Stunden mit erfolglosen 
Bemühungen verstrichen war, auf andere, weiter unten zu be- 
schreibende Weise Bewegungen hervorzurufen.“ Die ganze folgende 
Beschreibung der Versuche lässt aber in Folge direeter Angabe zunächst 
nicht den leisesten Gedanken aufkommen, dass die Nadel bei Beobachtung 
der Bewegung im Muskel gesessen hat, sondern allein den, dass sie im 
Hammer sass und von hier aus die Bewegungen beobachtet wurden. 
Dies ist also nicht der Fall gewesen; die Nadel sass während der Be- 
obachtung der Zuckungen im Muskel, was, wenn es noch eines Beweises 
bedürfte, bewiesen wird durch einen der Schlusssätze der Arbeit. Bocken- 
dahl hat dargelegt, dass er den Tetanus des Muskels finden musste und 
sagt dann: „Dass ein solcher dauernder Contractionszustand 
anfangs der Beobachtung entgehen konnte, lag wohl an der 
wenig genauen Beobachtung, welche die im Muskel sitzende 
und ihn wahrscheinlich bald aushöhlende Nadel überall nur 
gestattete.“ Dabei setzt er wenige Seiten zuvor in eingehender Weise 
auseinander, wie er die Nadel in den Hammer eingebohrt und wie er das 
Ablesen der Bewegung eben dieser Nadel vorgenommen habe. 

Ein Jeder, der diese Versuche nachmacht, wird sich bald davon über- 


I A.2a.0. 8.65. 


90 OSTMANN: 


zeugen, was beim Bohren von dem äusserst spröden Hammer übrig bleibt, 
und was man von weiteren Angaben Bockendahl’s zu halten hat. Ich 
versage es mir, auf eine gebührende Charakterisirung einer derartigen Arbeit 
näher einzugehen. 

Den einzigen Nutzen hat sein zuvor erwähntes Zugeständniss gebracht, 
weil es den strieten Beweis für meine Annahme liefert, dass die von Hensen 
und Bockendahl gesehenen Zuckungen durch den Reiz, den die in dem 
Muskel sitzende Nadel auf denselben ausübte, hervorgerufen sind. 

1 bis 2 Stunden müht sich Bockendahl bei den curarisirten 
Hunden vergeblich ab, ohne directe Verletzung des Tensor vom 
Hammer aus Bewegungen zu beobachten; dann stösst er die 
Nadel in den Muskel, und nun erfolgt sofort der präcise Aus- 
schlag derselben. ‘Wir haben es hier also mit einem Analogon des 
Cl. Bernard’schen Versuches zu thun und ist dadurch auch eine 
Thatsache erklärt, deren Verständniss und Erklärung mir und Anderen 
nicht gelingen wollte, nämlich, dass in einem eurarisirten Thier, ohne dass 
der Tensor aus der Cireulation ausgeschaltet war, so präcise Reflexzuckungen 
auftreten konnten, und dass, wie Bockendahl angiebt, die Schwere der 
Curarevergiftung gar keinen Einfluss auf die Intensität der Muskel- 
zuckungen hatte. 

Man erstaunt, wie wenig Hensen alle die Widersprüche und Unklar- 
heiten in seinen und insbesondere in den Bockendahl’schen Versuchen, 
die unter seiner Leitung angestellt worden sind, gewogen hat. 

Mit dem Nachweis des Ursprunges der Zuckungen fällt die Hypothese 
Hensen’s und mit ihr Alles, was er in seiner Physiologie des Gehörs und 
Andere darauf gebaut haben. In den ihr zu Grunde liegenden Anschau- 
ungen widerspruchsvoll hat sie nicht zur Förderung, sondern zur Verwirrung 
gedient. 


Wir Jüngeren brauchen aber bezüglich der Physiologie des Ohres - 


um so weniger zu klagen: 
„Sie haben uns alles weggenommen“ 
„Die besten Gedanken, das kübnste Wort“ — 
(Heyse) 
sondern wir wollen neu bauen, wenn das Alte stürzt. 


Wir wollen zu diesem Zwecke zunächst noch einmal kurz die That- 
sachen sichten, die bisher zusammengetragen sind, um die Funetion des 
Muse. tensor tympani zu erforschen. 

Die Aufhebung seines natürlichen Zuges im Ruhezustande beeinträch- 
tigt nicht die Hörschärfe, bedingt aber Hyperästhesie gegen hohe Töne 
(Kessel), die Contraction des Muskels verringert die Schallschwingungen 


DıE REFLEXERREGBARKEIT DES MUSC. TENSOR TYMP. 91 


der Gehörknöchelchen und steigert den Labyrinthdruck; das Vorherrschende 
in der acustischen Wirkung seiner willkürlichen tetanischen Contraction ist 
Abdämpfung namentlich von Schallwellen von grösserer Schwingungsdauer, 
nach dem einen vorliegenden Versuch auch von hohen Geräuschen etwa 
aus der vierten Octave. Sein natürlicher Zug im Ruhezustand verhindert 
eine den Zusammenhang der Knöchelchenkette lockernde oder me 
Auswärtsbewegung des Hammers. 

Dies sind die sicheren Ecksteine, auf denen weiter gebaut werden kann 
und muss. Alles weist darauf hin, dass der Muskel zum Schutz da ist, im 
Ruhezustand, eine zu starke Bewegung der Knöchelchenkette nach aussen; 
durch die Contraction, wenn eine solche nachweisbar ist, eine zu intensive, 
nach innen gerichtete Schallbewegung zu dämpfen. 

Will man also an die Prüfung herantreten, so wird man dafür sorgen 
müssen, unter Anderem auch sehr intensive Geräusche und Töne auf das 
Ohr einwirken zu lassen. 

Als ich meine eigenen Versuche begann, war es mir noch nicht ge- 
glückt, die Hensen’schen Versuche zu erklären; aber da ich so viel 
Widersprechendes in ihnen fand, wollte ich sehen, wie und ob die Wider- 
sprüche sich durch andere Versuchsanordnungen lösten. 

Die erste Aufgabe, die ich mir stellte, war: Es soll beim unver- 
gifteten Hunde ohne Verletzung des Trommelfells und Mittel- 
ohres und ohne jede Schmerzeinwirkung geprüft werden, ob 
bei Schallerregungen verschiedenster Art Bewegungen am 
Trommelfell auftreten, die auf Tensorwirkung zu beziehen sind. 

Die Lösung dieser Aufgabe erforderte: 

1. Ein genaues Studium der Bewegungen des Trommelfells durch 
Tensorwirkung beim Hunde, wie sie mechanisch durch Zug am Muskel 
oder auf andere Weise experimentell hervorgerufen werden können; 

2. Eine dem eigentlichen Versuch vorhergehende Freilesung des 
Trommelfells in Aethernarcose unter Vermeidung jeglichen Insultes desselben; 

3. Eine absolut sichere Fixation des Hundes. 

Betrachten wir diese einzelnen Punkte genauer: 

Das genaue Studium der Trommelfellbewegung durch Tensorwirkung 
wurde erzielt: 

1. durch Beobachtung der mechanischen Wirkung des Muskels auf 
das Trommelfell am ganz frischen Präparat. 

Da aber vermuthet werden musste, dass die durch Zug am Muskel 
bedingten Bewegungen gröber ausfallen würden, als solche in Folge Con- 
traction, so wurde 

2. die Trommelfellbewegung studirt, welche durch intracranielle 
Reizung des Trigeminus hervorgerufen wird; 


92 ÜSTMANN: 


und da ein solcher Versuch nur die Möglichkeit in sich schliesst, einige 
wenige Male die Bewegung zu sehen, ein absolut scharfes Einprägen der 
Bewegung mit Rücksicht auf das sichere Wiedererkennen indess im hohem 
Maasse zweckmässig erschien, so wurde 

3. derselbe Hund, der später für den Hauptversuch ausersehen war, 
Wochen vor diesem durch allmählich gesteigerte Strychninvergiftung reflex- 
erregbarer gemacht und dann der Einwirkung derselben Schallquellen, wie 
sie im Hauptversuch gebraucht werden sollten, ausgesetzt. Vielleicht gelang 
es so, Reflexzuckung des Tensor hervorzurufen, und die entsprechende 
-Trommelfellbewegung hinreichend sicher zu studiren. 

So konnte ich hoffen, später jede Bewegung, welche beim unvergifteten 
Hunde möglicher Weise durch Tensoreontraetion am Trommelfell bedingt 
wurde, mit Sicherheit als solche wieder zu erkennen. 

Die Wirkung des Muse. tensor auf das Trommelfell kann am Präparat 
sehr leicht studirt werden. 

Der Kopf eines eben getödteten Hundes wird in der Längsaxe durch- 
sägt; das Gehirn entfernt, die Erhebung der halbzirkelförmigen Canäle, die 
wie Glas splittern, mit dem Meissel oder Zange abgetragen, und die Decke 
des davor liegenden Knochencanales, in dem zum grössten Theil der Muskel- 
bauch liegt, nicht selten mit einem Schlage ohne Eröffnung der Pauken- 
höhle abgehoben. Dann wird das Trommelfell freigelegt; auf das untere, 
etwas breitere Ende des Hammergrifles, wie auf die Mitte des vorderen 
wie hinteren Trommelfellsegmentes werden etwa 1 "= grosse Korkpyramiden, 
deren Spitze man am besten etwas schwärzt, aufgeklebt, und das so armirte 
Trommelfell bei hellem, durch zwei Hohlspiegel reflectirten Licht unter 
etwa vierfacher Lupenvergrösserung beobachtet, während am Tensor ein 
leichter, plötzlich nachlassender Zug ausgeübt wird. Man sieht dann mit 
geradezu überraschender Deutlichkeit, dass das Trommelfell sich um eine 
im Hammergriff verlaufende Axe, wie man ohne nennenswerthen Fehler 
sagen kann, dreht, und zwar am linken Ohr, vom Beschauer aus be- 
trachtet, von links nach rechts. Beobachtet man nämlich die Verschiebung, 
welche die Spitze der auf dem Hammersgriff sitzenden Pyramide bei Tensor- 
zug nach innen macht, von oben bei mässiger Vergrösserung, so zeigt 
sich, dass diese Art der Bewegung eine ganz minimale ist. 

Die ausgiebigste Bewegung macht das hintere Trommelfellsegment. 
Es erklärt sich dieser Bewegungsmodus des Trommelfells beim Hunde aus 
dem nahezu rechtwinkelisen Ansatz des Muskels an einem besonderen 
Muskelfortsatz des Hammers. 

Diese Methode, die Trommelfellbewegungen sichtbar zu machen, er- 
scheint mir sehr viel einfacher, wie die Bockendahl’sche und giebt ein 
sehr instructives Gesammtbild. Die eigenartige drehende Bewegung erkennt 


u u et ra Sn En Fe Dan te a en 


Dıe REFLEXERREGBARKEIT DES Musc. TENSOR TYMP. 93 


man schon viel leichter, wenn man auf den Hammergriff, Mitte des vorderen 
wie hinteren Segmentes mit Russ je einen schwarzen Punkt macht, und 
dann die Verschiebungen dieser Punkte beobachtet. 

So wurde denn auch der Einfachheit halber diese letztere Methode 
verwendet, wo es sich darum handelte, am noch reactionsfähigen Hunde- 
kopf bezw. am lebenden Hund die Trommelfellbewegungen der Tensor- 
contraction zu studiren. 

Dies geschah zunächst am noch reactionsfähigen Hundekopf in 
folgender Weise: 

Ein mittelgrosser Hund wurde strangulirt, und unmittelbar darauf 
wurden die gesammten Weichtheile des Halses und Nackens bis auf die 
Wirbelsäule durchschnitten; sodann wurde der Kopf stark nach hinten 
gebeugt und von der Wirbelsäule mit wenigen Schnitten gelöst. Der Ein- 
spannung desselben in den Schraubstock folgte eine kreisföürmige Um- 
schneidung der Weichtheile des Hinterkopfes in der Richtung des nun 
folgenden Sägeschnittes, welcher von der Mitte des Proc. condyloid. des 
Hinterhauptbeines seinen Anfang nahm und auf der Scheitelhöhe etwa 1 ® 
hinter der stark vorspringenden Protub. oceip. hinauslief. Die Sägefläche 
lief annähernd durch die Mitte des vierten Ventrikel. Durch Aufheben 
des verbliebenen Stumpfes der Med. oblongata mittelst breiten Spatels ge- 
langt man in leichtester Weise zu dem Nerv. trigeminus, der in seinem 
ganzen intracraniellen Verlauf, von seinem Austritt aus dem Pons bis zu 
seinem Durchtritt durch die Dura, vollkommen frei zugänglich daliegt. 
Ich glaube, dass diese Versuchsanordnung vor der Politzer’s, welcher das 
Gehirn auslöffelte, Vorzüge bezüglich der Schnelligkeit wie des völligen 
Intactbleibens des Trigeminus und der umliegenden Hirntheile hat. Nun 
wurde die linke Ohrmuschel mit einem Zuge umschnitten, der häutig- 
‚knorpelige Gehörgang ‚bei mässigem Zuge nach aussen möglichst nahe dem 
Trommelfell durchtrennt, mittelst berusster Sonde die Mitte des hinteren 
Trommelfellsegmentes durch einen schwarzen Punkt gezeichnet, und dieser 
mittelst Hohlspiegel und Gasglühlicht hell beleuchtet. 

Von dem Moment der Strangulation bis zum Moment der ersten intra- 
craniellen Reizung des linken Nerv. trigeminus mittelst Anlegen einer Elek- 
trode waren 3!/, Minute vergangen. Bei der ersten Reizung habe ich eine 
Trommelfellbewegung nicht deutlich gesehen, wohl weil ich durch die 
äusserst schnelle Präparation des Hundes etwas unruhig geworden war. Bei 
der zweiten und dritten Reizung dagegen war die allein auf Tensorwirkung 
zurückzuführende Bewegung des hinteren Trommelfellsegmentes durchaus 
deutlich. Der Punkt bewegte sich beim Einsetzen der Reizung nach hinten, 
und beim Aufhören derselben wieder nach vorn, genau so, wie die Be- 
wegung beim groben Zug am Muskel im ersten Vorversuch beliebig oft 


94 OSTMANN: 


gesehen worden war, nur war die Bewegung bei intracranieller Reizung 
ungleich feiner. 

Bei der vierten Reizung wurde die Bewegung schon erheblich undeut- 
licher, und als bei der fünften und sechsten Reizung stärkerer Strom zur 
Reizung verwandt wurde, wurde jede genaue Beobachtung unmöglich, da 
eine so kräftige Innervation der Kaumuskeln erfolgte, dass der im gekürzten 
Gehörgang steckende Ohrtrichter störend mitbewegt wurde. 

Bei der besprochenen Versuchsanordnung lag die Flüchtigkeit der 
Bewegungserscheinungen in der Natur der Sache. Es schien mir aber 
wichtig, ein möglichst hohes Maass der Sicherheit in der Beurtheilung der 
von Tensorcontraction herrührenden Trommelfellbewegung zu erreichen. 
Deshalb versuchte ich, ob es nicht möglich sei, durch künstliche Steigerung 
der Reflexactionen überhaupt reflectorische Contractionen des Tensor zu er- 
zielen, wenn man intensive Schallwellen auf den Hund einwirken liess. 

Es wurde deshalb folgender dritter Vorversuch gemacht: 

Eine Hündin von 6!/, Kilo Gewicht, welche sich durch ihre Gut- 
müthigkeit ganz besonders für den Hauptversuch zu eignen schien, und 
diese Voraussetzung auch nicht getäuscht hat, wurde, nachdem der Versuch 
mit einem anderen Hunde in Folge Abreissens des Verbandes misslungen 
war, am 13. December 1897, 9 Uhr Morgens in Aethernarcose ohne Mor- 
phium in nachstehender Weise unter strengster Asepsis operirt: 

Nach Abrasiren der Haare — später wurden dieselben in sehr viel 
einfacherer Weise durch Einreibung eines chemischen Präparates entfernt — 
wird die linke Ohrmuschel umschnritten, und unter möglichster Vermeidung 
jeglichen Blutverlustes der knorpelige Gehörgang von seiner Umgebung 
gelöst; dies geschieht sehr leicht, weil nur ganz lockeres Zellgewebe ihn an 
die Muskelfascien anheftet. Einige Vorsicht erfordert nur die Freilegung 
der vorderen, unteren Wand, weil sich die Parotis an diese dicht anlegt, 
und es wegen der Blutung nicht zweckmässig ist, in diese einzuschneiden. 
Unmittelbar nach innen von der Stelle, wo man den nunmehr freigelegten 
äusseren Gehörgang zu durchschneiden wünscht, legt man eine provisorische 
Ligatur, um jedes Hineinlaufen von Blut in den Gehörgang bei der nun 
folgenden queren Durchschneidung desselben zu verhüten. Die Ligatur 
wird später wieder gelöst, und man sieht den hinteren Trommelfellabschnitt 
unversehrt frei zu Tage liegen; doch sogleich wird der äussere Gehörgang 
zum Schutze des Trommelfells mit sterilem Mull wieder geschlossen. Ich 
habe dann auf zwei verschiedene Weisen weiter verfahren. In diesem Falle 
habe ich den Gehörgangsstumpf oben und unten etwa °/, °® durch Scheren- 
schnitte gespalten und den so gebildeten vorderen und hinteren Gehör- 
gangslappen mit der Haut sorgfältig vernäht. Man erhält so eine trichter- 
förmige Grube, in deren Grund das Trommelfell, insbesondere der hintere 


Dis REFLEXERREGBARKEIT DES MUSC. TENSOR TYMP. 95 


Abschnitt desselben gut sichtbar ist. Das ganze Trommelfell war bei den 
von mir operirten Hunden selbst dann, wenn man sich so dicht an dasselbe 
herangearbeitet hatte, wegen des tiefen Sinus, den der kurze knöcherne 
Gehörgang bildet, nicht sichtbar. Bei einer weiteren Operation habe ich 
nicht mehr den Gehörgang mit der Haut vernäht, weil ich den Eindruck 
gewonnen hatte, als ob die Naht als Reiz auf den Gehörgang wirkte, sondern 
ich habe den Gehörgangsstumpf frei in die Wundfläche hineinragen lassen 
und habe die rinnenförmige Vertiefung um ihn herum mit Jodoformgaze 
vorsichtig tamponirt, um jedes Hineinfliessen von Wundsecret in den ausser- 
dem tamponirten Gehörgang zu vermeiden. 


Hiermit habe ich zugleich geschildert, wie ich der zweiten Forderung, 
die sich aus der. gestellten Aufgabe herleitete, nachgekommen bin. Sollte 
nun an dem so freigelegten Trommelfell eine sichere, ungestörte Beobachtung 
möglich sein, so musste zuvor auch die dritte Forderung ihrer Lösung ent- 
gegengeführt werden, d. h. eine Methode gefunden werden, durch welche 
die sichere Fixation des Hundes gewährleistet war. Ich kann nicht ver- 
kennen, dass die Eigenart des Hundes meinen Bemühungen sehr förderlich 
gewesen ist; es war thatsächlich beim Versuch nur eine theilweise Fixation 
. des Hundes in der gleich zu schildernden Weise nothwendig, da, wenn der 
Wärter des Hundes dicht bei ihm stand, und en Sehmerz vermieden 
wurde, der Hund absolut still lag. 


Denkt man sich den Hund stehend, und den Raum zwischen der ge- 
sammten unteren Fläche seines Rumpfes und Kopfes durch plastischen 
Thon ausgefüllt, so erhält man einen genauen Abdruck der unteren Fläche 
seines gesammten Körpers in der natürlichen Haltung. Erhöht man das 
Thongestell dann um etwa 6°”, so liegt der Hund nunmehr ohne jede Un- 
bequemlichkeit auf demselben, findet jedoch an den ganz glatten Wänden 
keinerlei Stützpunkt zum Ansetzen seiner Beine. Er war somit kaum in 
der Lage, nennenswerthe Kraft zu entwickeln. Durch die ganze Masse des 
nahezu 50 Kilo wiegenden Gestells wurden an geeigneten Orten Eisen- 
stangen gesteckt, sodass ein kreuzweises Hinüberführen von Bindentouren 
unter Anwendung grosser Kraft möglich war. Für die sichere Fixation 
des Kopfes waren vorn noch besondere Eisenstangen eingelassen. Durch 
mehrtägiges Trocknen auf warmem Herd wurde dieses Gestell wie Stein, 
welches in Folge seines grossen Gewichtes absolut sicher stand. 


Der unter Umständen grosse Nachtheil dieser Art der Fixation ist 
der, dass man für jedes Thier eine besondere Form bilden muss, was Zeit 
und Mühe kostet; aber für die sichere Fixation eines einzelnen Thieres er- 
scheint mir das Verfahren für den vorliegenden Zweck sehr empfehlens- 
werth. Der Hund lag ohne Fixation in seinem Negativ absolut still, und 


96 OSTMANN: 


erst als er durch allmählich gesteigerte Strychninvergiftung unruhiger wurde, 
wurde Fixation durch straff angezogene Bindentouren nothwendig. 

Am Tage der Operation, Nachmittags 4 Uhr 7 Minuten, nachdem die 
Wirkungen der Aethernarcose völlig geschwunden waren, wurden nun dem 
so fixirten Hunde zunächst 0.0005 ®”” Strychnin in eine Vene der Streck- 
seite der rechten Hinterpfote, welche mit Hülfe der Infiltrationsanästhesie 
unter Benutzung physiologischer Kochsalzlösung schmerzlos freigelegt war, 
injieirt und eine Minute darauf, 4 Uhr 8 Minuten Nachmittags begannen 
die Versuche. 

Die Ton- bezw. Geräuschreihe, ala ich, soweit die Schallquelle eine 
derartige Modification überhaupt zuliess, in drei verschiedenen Stärken zur 
Anwendung brachte, setzte sich zusammen aus drei offenen und einer ge- 
deckten Pfeife von 86 bis 696 ganzen Schwingungen; hieran schlossen sich 
Geigentöne ‚fis?, 9°, e® und c*; hieran die König’schen Klangstäbe von 
8192 bis 20480 Schwingungen und schliesslich die Galtonpfeife bei Theil- 
strich 4-5. Die Tonreihe schlossen die Vocale a, e, i, o, u. 

Die Geräuschreihe setzte sich zusammen aus dem Fallapparat, und 
zwar kamen drei verschiedene Fallhöhen zur Anwendung: 20, 100 und 
200 ®; aus dem du Bois’schen Schlitteninductorium mit einer Belastung 
des Hammers von 810 und 360 "=" Wachs und ohne Belastung, schliesslich 
aus verschiedenen anderen Schallquellen, bei denen nur eine Stärke zur 
Anwendung kommen konnte. Es waren diese: schriller Pfiff, Schuss mit 
einer Salonpistole und die sehr intensiven Geräusche, welche entstehen, 
wenn man eine mit Speichel befeuchtete Glasplatte mit einem breiten Kork 
kräftig streicht. Gleichzeitig wurde mit anderen Schallquellen ein Versuch 
gemacht, der auf die Function des Muse. stapedius abzielte, über den hier 
zunächst nicht weiter berichtet werden soll. 


Die verschiedene Intensität der Pfeifentöne wurde durch verschiedene 


Belastung des Blasebalges erzielt, indem als geringste Tonstärke diejenige 


z 


genommen wurde, welche bei unbelastetem, voll aufgepumpten Blasebalg _ 


entstand, die mittelstarke bei 40 Kilo, die stärkste bei 98 Kilo Belastung 
desselben. 


Allerdings werden durch ein derartig verschieden starkes Anblasen der 
Pfeifen die Töne selbst in soweit verändert, als sie etwas höher werden, 
und auch die Obertöne mehr hervortreten, doch schien dieser Umstand von 
keinem wesentlichen Belang, weil es vor Allem darauf ankam, bei den ver- 
schiedenen Versuchen nur mit stets gleichen Tonquellen zu operiren, somit 
eine gewisse, aber stets gleichbleibende Modification des eigentlichen Grund- 
tones der Pfeifen mit in den Kauf genommen werden konnte. 

Die wechselnde Stärke der mo bedingte die Kunst des Geigän 


DıiE REFLEXERREGBARKEIT DES MUSc. TENSOR TYMP. 97 


spielers, die der Klangstäbe der verschieden starke Anschlag, die der Vocale 
der Wille. 

Die einzelnen Töne und Geräusche folgten in Intervallen von 10 Se- 
eunden, um, falls der Muskel zuckte, eine vorschnelle Ermüdung desselben 
zu verhüten, doch traten mehrere längere Pausen ein, welche zum Ablauf 
der allgemeinen Wirkungen des Giftes zur Erholung des Beobachters wie 
zur Demonstration der Trommelfellbewegung für Hrn. Dr. Noll vom hiesigen 
physiologischen Institut erforderlich waren. 

So dauerte der gesammte Versuch 1?/, Stunden. 

Das Resultat der Untersuchungen war Folgendes: 

Nachdem 4 Uhr 7 Min. !/, "=" Strychnin intravenös injieirt war, wurde 
von 4 Uhr 8 Min. ab die Ton- und Klangreihe in geringster Stärke durch- 
geprüft. Es zeigte sich keinerlei Bewegung des Trommelfells, die auf 
reflectorische Tensorcontraction durch die erzeugten Schallschwingungen 
schliessen liess. Da sich auch bei mittelstarker Tonerregung zunächst 
keine Bewegung zeigte, und die allgemeine Reflexsteigerung des Hundes 
nach anderen Anzeichen im Ganzen gering erschien, so wurden 4 Uhr 
30 Min. weitere 0-0005 ®'"= Strychnin intravenös injicirt und dann mit 
Pfeife 115-4 Schwingungen — mittelstarke Belastung des Blasebalges — 
nach etwa zwei Minuten fortgefahren. Bei den ersten Tonerregungen 
bekam der Hund sehr kurz dauernde, aber allgemeine Zuckungen der 
Gliedmassen, wodurch trotz der Bindenfixation eine genaue Beobachtung 
unmöglich wurde. Nach einigen Minuten konnte die Beobachtung wieder 
aufgenommen werden, die jedoch im Verlaufe der Untersuchung noch 
einige Male durch gleiche Zuekungen unterbrochen wurde. Es haben des- 
halb einzelne Töne mehrmals wiederholt werden müssen, bis ich zu einem 
festen und sicheren Resultat gekommen war. 

Die Tabelle I, so wie sie von dem Assistenten meines Institutes, 
Hrn. Dr. L., niedergeschrieben ist, zeigt, dass nach 0.001 = Strychnin mit 
wenigen, leicht ersichtlichen Ausnahmen (R = Ruhe) auf mittelstarke wie 
starke Töne und Klänge Bewegung des Trommelfells auftrat, welche ihrer 
Art nach auf Zuckung, nicht auf tetanische Contraction des Musculus tensor 
während der ganzen Dauer der Tonerregung mit voller Sicherheit schliessen 
liess. Hr. Dr. Noll, welcher mit Hrn. Dr. Rost, Assistenten am hiesigen 
- pharmakologischen Institut, so freundlich war, mich bei meinen Versuchen 
zu unterstützen, erkannte die Bewegung des hinteren Trommelfellsegmentes 
mit Sicherheit und zwar, dass das hintere Segment sich zunächst nach 
hinten, und dann wieder nach vorn bewegt. Es hatte diese Feststellung 
der Bewegung durch einen zweiten Beobachter, der dieselbe zuvor nicht 
gesehen hatte, in sofern erheblichen Werth, als dadurch die Sicherheit der 


Beobachtung überhaupt wesentlich erhöht wurde. 
Archiv f. A. u. Ph. 1898. Physiol. Abtblg. z 


98 


und 4 Uhr 30 Min. Nachm. 


OSTMANN: 


Tabelle 1. 


A. Prüfung mit periodischen Schallwellen. 
Menge des injieirten Strychnins: 0-0005 + 0-0005, Zeit der Injectionen: 4 Uhr 7 Min. 


Beginn der Beobachtung: 4 Uhr 8 Min. Nachm. Ende 


der Beobachtung: 5 Uhr 50 Min. Nachm. Gewicht des Hundes: 6-25 Kilo. R. = Ruhe; 
Z. = Zuckung. Tonfolge: von 10 : 10 Secunden mit Pausen. 
s Tonstärke 
=) Schallquelle ee Bemerkungen 
= schwach| stark AR 
86 8 R. R. 7. * Injection von 0-0005 8® Strychnin. 
! - en $ x Der Hund bekommt bei den ersten 
2)&| 0 | 115-4 R. 2. 2. Schallerregungen allgemeine Zuck- 
3|S | ged. 258-5 IR Z,** R.? | ungen der Extremitäten. Beobach- 
A tung zeitweilig ausgesetzt. 
4 0 | 696 R. 2.? 2. ** Sehr geringe Bewegung. 
5 fis? R. 2. 2. 
Ben 9° R. 2. 2. 
er he: R. 2. 2. 
8 c* R. 2. 2. 
9 ut" 1 11 du (ben * Der Hund bekommt nochmals 
ae h | 5 allgemeine Zuckungen der Glied- 
10 ei UI R. | = z massen; Beobachtung zeitweilig 
11) Som Sol? Re A Ze ausgesetzt. 
| 3 5 r RB Y 7 ** Reflectorisches Erzittern d.ganzen 
SS = Körpers; Beobachtung kurze Zeit 
13 MJ® R. 2. 2. | ausgesetzt. Wiederholte Prüfung. 
Galton- | Theilstrich 
= pfeife 4-5 ie 
15 | a R. 2. Ze * Nach wiederholter Prüfung ganz 
16 eo e R. Zara a7: deutlich. 
Ss | 
7 ERS i R. ZZ 
> | | 
18 | R. Bu 07. 
19 I R. RI 7 
B. Prüfung mit aperiodischen Schallwellen. 
I 
S Fallhöhe bez. 
5 Schallquelle Belzsiung des en Bemerkungen 
2 ammers 
90 em R * Der Hund bekommt allge- 
meine Zuckungen der Glied- 
1 Fallapparat 100, De | massen. Eine Beobachtung nicht 
200 Z | möglich. Aussetzen des Ver- 
> ; ‚suches für kurze Zeit. 
| g10ms Wachs) RR. 
2| Schlitteninductorium | 360 „ ,„ 7. 
unbelastet 2. | 


DıiE REFLEXERREGBARKEIT DES MUSC. TENSOR TYMP. 99 


(Fortsetzung. 


2 Schallquelle enan, | Bemerkungen 


3) Glasplatte und Kork 2. Versuch mehrmals wiederholt. 
4 Schriller Pfiff P) Ein sicheres Urtheil, ob Ruhe, ob 
Ser Ö Bewegung vorlag, habe ich bei der 
: Plötzlichkeit und eigenen Beein- 
5 Schuss Salon ? flussung durch die Geräusche nicht 
Dee abgeben können. 


Besondere Einzelheiten ergiebt die Tabelle, auf welche ich hiermit 
verweise. Die Beobachtung der Bewegung bei den Geräuschen war im 
Allgemeinen schwieriger und einige derselben, wie der Schuss und schrille 
Pfiff, eigneten sich wegen der Plötzlichkeit der Schallerresung, durch die 
ich selbst im wichtigsten Moment wenigstens soweit beeinflusst wurde, dass 
ich nicht mit schärfster Aufmerksamkeit zu beobachten vermochte, für 
den Versuch überhaupt nicht. Es blieb deshalb zweifelhaft, ob Zuckung 
auftrat oder nicht. So wurde dieselbe nur beim Niederfallen einer Eisen- 
kugel aus 200°” Höhe, bei zwei Versuchen mit dem Inductionsapparat 
_ und nach wiederholt misslungenen Versuchen bei schrillem, von der Glas- 
platte ausgehenden Geräusch beobachtet. 


Diese Versuche beweisen für die Function des Trommelfellspanners 
beim Hören gar nichts, auch nicht, ob sich der Muskel überhaupt jemals 
beim unvergifteten Hund reflectorisch auf Schallwellen contrahirt; aber sie 
deuten darauf hin, dass eine gewisse präformirte Reflexbahn zwischen dem 
acustischen und dem Innervationscentrum für den Musc. tensor tympani 
bestehen dürfte. Vor Allem aber, und das hatten die Versuche zum Ziele 
gehabt, hatten wir jetzt mit voller Deutlichkeit so oft die durch Reflex- 
zuckung des Muskels hervorgerufene Trommelfellbewegung gesehen, dass 
wir sie sicher wieder erkennen konnten und mussten, falls sie beim nor- 
malen Hund während des Ablaufes derselben Ton- und Geräuschreihe zu 
irgend einer Zeit auftraten. 


Es war mein Plan gewesen, sofort nach Ablauf der Strychninwirkung 
eben dasselbe Ohr zu den weiteren Untersuchungen zu benutzen; dieser Plan 
konnte indess nicht ausgeführt werden, da, als ich nach Ablauf der Unter- 
suchungen einem Dritten die Bewegungen zu zeigen wünschte, Wund- 
flüssigkeit in den Gehörgang hineinlief, und bei der hochgradig gesteigerten 
Reflexerregbarkeit des Hundes es beim Reinigen des Gehörganges trotz aller 
Vorsicht geschah, dass das Trommelfell gereizt sein musste. In Folge dessen 
entwickelte sich eine Entzündung desselben, welche die weitere Verwendung 
dieses Ohres leider ausschloss. Glücklicher Weise war das zweite Ohr des 
RE 


100 OSTMANN: 


Hundes normal, so dass das Trommelfell dieses am 5. Januar 1898 um 
11 Uhr Vormittags in Aethernarcose in der vorbeschriebenen Weise frei- 
gelest und um 5!/, Uhr Nachmittags desselben Tages der Hauptversuch 
angestellt werden konnte, um zu erforschen, ob bei dem in keiner Weise 
beeinflussten Hund durch dieselben Schallerregungen wie im vorerwähnten 
Strychninversuch Bewegungen des Trommelfells auftreten würden. 

Keiner von uns hat irgend eine auf Tensorcontraction zu be- 
ziehende Trommelfellbewegung gesehen, wie sich aus Tabelle II 
ergiebt. 

Dies negative Resultat war in sofern von Bedeutung, als wir schliessen 
durften, dass bei dem nicht vergifteten Hund weder durch Töne noch 
Geräusche verschiedenster Art irgend eine reflectorische Zuckung des Tensor 
aufgetreten war. 

Damit war auch der Schluss erlaubt, dass der Muskel beim Hunde 
während des Höractes eine Accommodation, d. h. eine Anpassung des 
Trommelfells an periodische oder aperiodische Schallschwingungen nicht 
herbeiführt. 

Ich sollte indess durch eine zufällige Beobachtung, welche ich während 
der Zusammenstellung der Geräuschreihe an mir selbst gemacht hatte, zu 
einem weiteren positiven Resultat geführt werden. 

Während ich nach möglichst intensiven und nicht allzu schnell ab- 
laufenden Geräuschen suchte, geschah es, dass ich eine deutliche Zuckung 
in beiden Ohren fühlte, als es mir gelang, auf der Glasplatte ein ausser- 
ordentlich schrilles, geradezu verletzendes Geräusch hervorzurufen. Ich 
kenne das Gefühl der Muskelcontraction im Ohr, da ich mit Leichtiekeit 
beim Verschluss der Augen, der gewöhnlichen Annahme nach, den Muse. 
stapedius contrahiren kann. Es war dem Gefühl nach unzweifelhaft eine 
Muskelzuckung gewesen, welche durch das ausnahmsweise unangenehme 
Geräusch hervorgerufen worden war; doch blieb zunächst unentschieden, 
ob sie vom Tensor oder Stapedius herrührte Da eine solche Zuckung den 
Sinn haben konnte, das Ohr unempfindlicher zu machen, und nach den 
Resultaten der bisherigen Untersuchungen der Tensor geeignet schien, mög- 
lieher Weise durch seine Contraction das Ohr zu schützen, so wurde ‘es mir 
wahrscheinlich, dass ich reflectorische Tensorzuckung gefühlt hatte. 

Wenn dem so war, so musste es möglich sein, den Vorgang durch die 


Otoscopie an Anderen objectiv nachzuweisen — denn Tensorwirkung, aller- 
dings nur bei willkürlicher zumeist tetanischer Contraction, war gesehen 
worden —, wenn es gelang, Töne bezw. Geräusche zu erzeugen, die ge- 


nügend stark und unangenehm waren. Dies erscheint leichter, als es ist; 
denn es kostet oft längere, vergebliche Bemühungen, die entsprechenden 
Geräusche hervorzurufen. 


% 


Dis REFLEXERREGBARKEIT DES MUSC. TENSOR TYMP. 101 
Tabelle I. 
A. Prüfung mit periodischen Schallschwingungen. 
: Tonstärke F 
= Schallquelle 
= | I schwach stark sehr stark 
1 offen 86 8 R. R. R. 
2|& 0 115-4 R. R. R. 
au ged. 258-5 R. R. R. 
4 0 696 R R. R. 
5 fis® R. R. R. 
6 g R. R. R. 
Gei \ 
7 a es R. R. R. 
8 e* R. R R 
9 ut? R. R. R. 
10 | MJ' Re R. R. 
11 ns a Sol! R. R. R. 
12 Ben ut R. R. R. 
13 | MJ® | R. R. R. 
14 | Galtonpfeife | Theilstrich R. 
15 | a R. | R. 
16 | e IR | R. 
17 Vocale R. | | R. 
18 b R. | | R. 
19 u | Re. R. 
B. Prüfung mit aperiodischen Schallschwingungen. 
. Be Fallhöhe bezw. E 
z Schallqueile ' Belastung des Hammers Verhalten des Muskels 
20m R. 
1 Fallapparat 100 12% 
200 „ R. 
810 me Wachs 108% 
2 Schlitteninductorium 360 „ ” R. 
unbelastet | R. 
3 Glasplatte und Kork R. 
4 Schriller Pfiff 
B) Schuss aus einer Salonpistole nicht geprüft 


102 | OSTMANN: 


Während ich noch im hiesigen physiologischen Institut, dessen Ein- 
richtungen mir bereitwilligst zur Verfügung gestellt waren, mit den Thier- 
experimenten beschäftigt war, begann ich in meinem eigenen Institut eine 
zweite Untersuchungsreihe am Menschen. Die Einrichtungen meines 
Institutes gestatteten mir nicht, genau die gleiche Ton- und Geräuschreihe 
wie bei den Thierexperimenten zur Anwendung zu bringen, sondern ich 
musste mich mit den vorhandenen Mitteln einrichten, was um so besser 
ging, als diese Untersuchungsreihen von vornherein mehr eine bestimmte 
Richtung durch die Eigenbeobachtung gewonnen hatten. Man wird indess 
bei Durchsicht der beigefügten Tabelle III, welche von der in meinem Institut 
thätigen Krankenschwester protocollirt wurde, nicht verkennen, dass ich alle 
anderen Möglichkeiten einer etwaigen Wirksamkeit des Muse. tensor in 
gleicher Weise mit in Betracht gezogen habe. 


Die Schallquellen setzten sich wiederum aus einer Ton- und Geräusch- 
reihe zusammen. Erstere wurde gebildet durch die Vocale a, e, t, o, u; 
sieben gedeckten Pfeifen, drei Stimmgabeln (32, 1024, 2048 Schwingungen), 
den König’schen Klangstäben a2’, MJ’, Sol’, ut®, MJ®, der Galtonpfeife 
bei Theilstrich 7 und 4-5, sowie einer Hornpfeife, so dass Töne und Klänge 
fast von den tiefsten bis zu den höchsten vertreten waren. 


Die Geräuschreihe bestand aus: dem Fallapparat (20 ®, 1 und 2"); 
einer höchst unangenehm heulenden Radfahrerpfeife; einer Schiefertafel mit 
Griffel; einer Glasscheibe mit Kork und schliesslich einer schweren Vieh- 
kette. Letztere war hinzugekommen, weil eine Patientin gelegentlich äusserte, 
sie habe einmal ein deutliches Zucken in ihrem Ohre empfunden, als eine 
Viehkette im Stalle klirrend niederfiel. Und in der That erzeugt sie beim 
kräftigen Schütteln und Niederfallen ein für Manche recht unangenehmes 
Geräusch. Die Reihenfolge der Prüfung in der Geräusch- wie Tonreihe 
war fast immer die in der Tabelle aufgeführte, nur wurde die Prüfung 
mit der Hornpfeife zumeist derjenigen mit der Geräuschreihe angeschlossen. 


Die Marterinstrumente der letzteren lassen indess keineswegs immer 
das ihnen innewohnende unangenehmste Geräusch hervortreten, sondern es 
will ab und zu gar nicht gelingen, gerade diese zu erzeugen, worauf es 
vor Allem ankommt. Dadurch werden diese Untersuchungen mühsam, 
zeitraubend, ganz abgesehen davon, dass sie, wie jeder Nachuntersucher 
an sich selbst fühlen wird, ein gewisses Maass der Leistung und Ausdauer 
nicht allein von dem Auge, sondern von der ganzen Person des Unter- 
suchers fordern. Ich möchte von vornherein der falschen Auffassung ent- 
gegentreten, dass man nur in das Ohr hineinzusehen brauche, während 
auf einer Schiefertafel gekratzt wird, um Zuckungen zu sehen; man wird 
gar nichts sehen, sondern man wird sich überzeugen, dass es neben anderen 


Die REFLEXERREGBARKEIT DES Musc. TENSOR TYMP. 103 


Vorbedingungen einer ganz ungewöhnlichen Concentration der Aufmerksam- 
keit bedarf, um die flüchtige Erscheinung, sobald sie auftritt, zu erfassen. 

Eine solche Concentration ist aber nicht Jedermanns Sache, und bin 
ich deshalb von vornherein überzeugt, dass es Vielen überhaupt nicht 
gelingen wird, nach der von mir angegebenen Untersuchungsmethode 
die Zuckungen zu sehen. Das Gelingen des Versuches wäre nicht aus- 
geschlossen, durch stärkere Vergrösserung die Zuckungen deutlicher zu 
machen; nur müsste man dann einerseits noch stärkere Lichtquellen, 
andererseits besonders geeignete Gehörorgane auswählen. Für mich hatte 
es keine Bedeutung, eine derartige umständlichere Untersuchungsmethode 
auszubilden, da ich die zuckende Bewegung mit voller Deutlichkeit sah, 
nachdem ich sie nach mannisfachen vergeblichen Bemühungen erst einmal 
scharf erfasst hatte und wusste, wo ich sie zu suchen hatte. Die An- 
strengung verhindert, längere Zeit und ohne Pausen zu untersuchen; denn 
anderenfalls wird durch die Ermüdung das Resultat unsicher; es treten 
Täuschungen auf, denen man gerade bei der Beobachtung so äusserst feiner, 
sehr schnell ablaufender Bewegungsvorgänge leicht ausgesetzt ist. Sobald 
man nicht mehr mit absolutester Schärfe und Ruhe beobachten kann, muss 
die Untersuchung ausgesetzt werden. 

Eine weitere Vorbedingung, die an den Untersucher gestellt werden 
muss, ist eine vollendete Uebung im Otoskopiren; denn sie ist unerlässlich, 
um feinste, schnell vorübergehende Verschiebungen mit Sicherheit mittelst 
eines Auges zu erkennen; wie schwer es aber dem Ungeübten wird, selbst . 
ganz grobe Niveaudifferenzen und Bewegungsvorgänge bei monoculärem 
Sehen zu erkennen, zeigt am besten der Unterricht. 

Um nicht selbst durch die Töne und Geräusche affieirt zu werden, 
so dass z. B. nur ein Lidschlag erfolgt, oder die Aufmerksamkeit einen 
Augenblick gestört wird, muss sich der Beobachter so schwerhörig wie 
möglich machen — ich hatte mir bei allen Untersuchungen die Ohren 
fest verstopft, nachdem ich bei den Voruntersuchungen auf die Bedeutung 
dieses Umstandes aufmerksam geworden war — und er darf nicht so sitzen, 
dass er mit dem nicht beobachtenden Auge sieht, wenn ein Ton oder Ge- 
räusch angegeben wird. Ich sah mit dem anderen Auge auf einen schwarzen 
Vorhang; denn die Ausschaltung aller anderen Sinneseindrücke, soweit wie 
irgend möglich, unterstützt die Concentration der Aufmerksamkeit auf das 
eine zu beobachtende Object. 

Dies das Verhalten und die erforderlichen Eigenschaften des Beob- 
achterss.. Auch der Beobachtete muss bestimmte Voraussetzungen erfüllen. 
Zunächst muss er ein functionell wie anatomisch vollkommen normales 
Gehörorgan besitzen; aber auch unter diesen Personen sind — soweit die 
anatomischen Verhältnisse des Trommelfelles in Betracht kommen — die- 


104 ÖSTMANN: 


jenigen bei weitem am besten geeignet, welche ein möglichst zartes, gerad- 
gestelltes Trommelfell haben, durch welches man die Contouren des Hammer- 
griffes in möglichst geringer perspectivischer Verkürzung vollkommen deut- 
lich hindurchsieht. Nach meinen bisherigen Erfahrungen hat es mir indess 
so scheinen wollen, als ob nicht allein diese anatomischen Verhältnisse für 
die Untersuchung günstig wären, sondern als ob noch ein anderer Umstand 
gerade solche Personen für dieselbe geeignet machte. Es ist mehrfach be- 
obachtet worden — und ich selbst hatte häufiger Gelegenheit dazu —, 
dass musikalisch begabte Personen eine geringe Neigung des Trommelfelles 
aufweisen. Solche Personen sind aber im Allgemeinen gegen kräftige Dis- 
harmonieen empfindlicher als unmusikalische. Da sich nun im Verlauf der 
Untersuchungen zeigte, dass der psychische Eindruck, den ein Ton oder 
Geräusch auf den Untersuchten macht, anscheinend nicht unbedeutsam 
für die im Ohr auftretende Reaction ist, so könnte man meinen, dass auch 
aus diesem Grunde musikalische Personen mit geradgestellten Trommelfellen 
sich besonders gut für diese Untersuchungen eignen. 

Ich habe wenigstens bei keiner Person besser und vollkommener die 
reflectorischen Zuckungen des Tensor gesehen, als eben bei einer solchen, 
der unter Nr. 14 der Tabelle III aufgeführten Frau Bildhäuser. 

Des Weiteren dürfen die zu untersuchenden Personen nicht wissen, 
um was es sich handelt, und weiter darf ihr Ohr unmittelbar vor der 
Untersuchung nicht gleichen Geräuschen ausgesetzt gewesen sein. Es ist 
eine alltägliche Erfahrung, dass ein unangenehmes, heftiges Geräusch uns 
nicht in gleicher Weise afficirt, wenn wir auf das Auftreten desselben vor- 
bereitet sind, als wenn es uns plötzlich überrascht, und ferner wissen wir, 
dass wir uns mit der Zeit selbst an die lautesten, uns zuerst unangenehmsten 
Geräusche mehr und mehr gewöhnen; sie verlieren allmählich, wenn sie 
länger auf uns einwirken, an Unbequemlichkeit. Auf die Bedeutung aller 
dieser einzelnen Factoren wurde ich während der Vorversuche mehr und 
mehr aufmerksam, z. Th. durch Aeusserungen der untersuchten Personen 
selbst. Um den Untersuchten möglichst zu überraschen, ist weiter noth- 
wendig, dass er nicht weiss, wann ein Ton oder Geräusch erfolgt; man 
muss ihn deshalb von der Schallquelle abgewandt setzen, oder ihm die 
Augen verbinden. Durch möglichsten Ausschluss anderer Sinnesempfin- 
dungen wird die Empfindlichkeit des in der Aufnahme von Reizen nicht 
behinderten Sinnes erhöht, ein Umstand, der für das Auftreten der Reflex- 
zuckung des Tensor förderlich sein dürfte, wenngleich, um dies gleich hier 
zu betonen, darin die Ursache der Reflexzuckung unter keinen Umständen 
zu suchen ist; denn dieselben Personen zeigten mit unverbundenen Augen 
gleichfalls Reflexzuckungen, ebenso wie die Personen, welchen überhaupt 
niemals die Augen verbunden worden waren. 


Die REFLEXERREGBARKEIT DES \LUSC. TENSOR TYMP. 105 


Ein weiterer Umstand erscheint schliesslich noch von nicht geringer 
Bedeutung; die physisch-psychische Gesammtbasis, wenn ich so sagen darf, 
auf die der 'zum acustischen Centrum geleitete Schallreiz auftrifft. 

Griesinger hat, soweit mir bekannt, zuerst die hohe Bedeutung dieses 
individuell wechselnden Gesammtverhaltens für das Auftreten psychischer 
Reflexactionen erkannt, und auch für den Ausfall meiner Untersuchungen 
erschien dieses Gesammtverhalten von Bedeutung. Ein und derselbe Sinnes- 
eindruck wirkt unter Umständen auf verschiedene Personen ganz ver- 
schieden, eben weil der schliessliche Effect des Reizes nicht allein von der 
Reizstärke, sondern auch von der Reizempfindlichkeit abhängt; ein und 
derselbe Sinneseindruck wird deshalb auch in sehr verschiedenem Grade 
willkürliche oder unwillkürliche Abwehrbewegungen bedingen können. Man 
ersieht aus der Tabelle, dass ich schliesslich fast nur junge Mädchen und 
Frauen aus den niederen Classen der städtischen Bevölkerung untersucht 
habe, Näherinnen, Büglerinnen u. s. w.; denn sie eignen sich besser zur 
Hervorrufung von Reflexzuckungen des Tensor als kerngesunde Bauern- 
mädchen, die sich so leicht durch ein unangenehmes Geräusch nicht afli- 
eiren lassen. 

Nachdem durch Vorversuche im Allgemeinen die Bedingungen fest- 
gestellt waren, unter denen das Auftreten einer Reflexzuckung am leich- 
testen zu erwarten war, sind bisher 18 Personen untersucht worden, einzelne 
jedoch noch nicht in vollem Umfange, da ich der Personen zunächst nicht 
wieder habhaft werden konnte. 

Bei den Versuchen sass der zu Untersuchende auf einem festen Stuhl, 
an dem eine sichere Stütze für den Kopf und Rücken angebracht war, um 
möglichst jede Bewegung zu verhindern. In den äusseren Gehörgang 
wurde ein möglichst weiter Trichter eingeschoben — es wurden nur Per- 
sonen mit besonders ‚geradgestreckten, weiten Gehörgängen gewählt —, und 
vor diesen eine Convexlinse von 4!/,” Brennweite (9 D.) angeordnet, so 
dass ein mehrfach vergrössertes Bild des Trommelfells entstand, welches 
sehr hell erleuchtet war, wenn Gasglühlicht mittelst Concavspiegel durch 
die Linse in das Ohr geworfen wurde. Der bei Betrachtung mit unbewafl- 
netem Auge als gleichmässig leuchtende Fläche erscheinende Lichtkegel 
löste sich in einzelne leuchtende Streifen und Punkte auf, und die Umrisse 
des in das Trommelfell eingebetteten Hammers schienen auf das Klarste 
hindurch. Eine zweite Person erzeugte in der durch die Tabelle bestimmten 
Reihenfolge die Töne und Geräusche drei Secunden nach Senken eines 
Fingers der rechten Hand des Untersuchers, um diesem nach gegebenem 
Zeichen einerseits noch Zeit zu lassen, seine Aufmerksamkeit und Accommo- 
dation auf das Schärfste anzuspannen, andererseits durch unnöthig langes 
Warten eine vorschnelle Ermüdung zu verhüten. Zwischen der Angabe der 


106 ÜSTMANN: 


einzelnen Töne und Geräusche lag ein sehr verschieden langes Intervall, 
doch niemals ein kürzeres als 15 Secunden. 

So gelang es mir nicht immer, aber doch zumeist mit voller Sicherheit 
zu sagen, ob eine Bewegung des Hammersgriffes stattgefunden hatte oder 
nicht. Wo in der Tabelle den Buchstaben ein ? beigefügt ist, hat eine 
ganz sichere Beurtheilung nicht stattgefunden; wo aber Z steht, ist die 
Beobachtung der Zuckung, wo r, r oder R steht, diejenige der Ruhe eine 
untrügliche gewesen. Wie die verschiedenen Schreibweisen des letzteren 
Buchstabens zu verstehen sind, ergiebt die Anmerkung zu der Tabelle III, 
auf die ich hiermit verweise. 

Das bis jetzt vorliegende Resultat der Untersuchungen ist in der nach- 
folgenden kleinen Tabelle übersichtlich zusammengestellt. 


Tabellarische Zusammenstellung der Versuchsergebnisse. 


Bezeichnung Anzahl der Zahl der 
der Schall- Bezeichnung der Schallquelle produeirten | „eobachteten 
quelle im im Besonderen ‚ Geräusche, Zuckuneen 

Allgemeinen | ı Töne u. s. w. | 5 

Schiefertafel und Griffel 217 | 41 
u Glasplatte und Kork 177 | 20 
= Kette 45 | 6 
E Radfahrerpfeife | 81 | 11 
:c = en Zi Trgals 7 Pesseraren 
= | 20 «= Höhe 29 
SI Hallapparat | 100 , ; 25 
200 , > ?8 
Hornpfeife 67 | 6 
| a 32 0 
| e 32 | 0 
u Vocale D 39 0 
= 
en 0 40 0 
Na & u 39 0 
= 
E schwach angeblasen 46 0 
= PRO) reiner Ton | 
© Ei stark übergeblasen 17 2 
= Su 2 E 
OS Fr | Fr 
= @ | De reiner Ton 44 0 
E | stark übergeblasen 25 2 
o | 
a r reiner Ton 50 0 
| stark übergeblasen 31 8 
| 


Die REFLEXERREGBARKEIT DES MUSC. TENSOR TYMP. 107 


(Fortsetzung.) 

Bezeichnung | Anzahl der Wahl der 
der Schall- Bezeichnung der Schallquelle producirten | Jeobachteten 
quelle im im Besonderen Geräusche, S 

Allgemeinen To Zuckungen 

F reiner Ton 43 
stark übergeblasen | 25 | 7 
ale 
= G reiner Ton 66 0 
© 
En stark übergeblasen 45 15 
[eb] 
Ss a reiner Ton 50 
E stark übergeblasen 26 
H reiner Ton 57 0 
stark übergeblasen | 28 | 3 
3 32 Schwingungen 41 0 
2 | 
S 
50 I 
E = 1024 Schwingungen 44 0 
eo = 
= 2 2048 Schwingungen | 40 | 0 
ı8 
— schwacher Anschlag 33 
° (GE | | 
= ran starker Anschlag | 48 
= “sehr starker Anschlag | 46 
a 
= ur schwacher Anschlag 37 | 0 
3 E | starker Anschlag 43 0 
:o = sehr starker Anschlag 42 4 
za) = 
S Son schwacher Anschlag 48 0 
ob‘ 
& aaa starker Anschlag 38 2 
a sehr starker Anschlag 51 5 
{=10) 7 
E u schwacher Anschlag 35 
= asp. starker Anschlag 49 
sehr starker Anschlag 42 | 
MIS schwacher Anschlag 35 | 0 
ven starker Anschlag 4 1 
sehr starker Anschlag 36 2 
pe Theilstrich 7 65 ) 
alton-Pfeife x 8, 1 


108 OSTMANN: 


Aus der Zusammenstellung ergiebt sich: 

1. Reflectorische Zuckungen des Musc. tensor tympani 
wurden ausschliesslich bei sehr intensiven, durch ihre Eigen- 
art verletzenden Geräuschen, wie bei sehr hohen Tönen von 
grosser Intensität, wie Pfiffen mit der Hornpfeife und bei 
den König’schen Klangstäben beobachtet. Die Schallempfindung, _ 
welche man bei stärkstem Ueberblasen der Pfeifen hatte, war durch- 
aus die eines theilweise sehr unangenehmen Heulens, welches mit dem 
Grundton begann und auf einen hohen Oberton hinüberzog, der zuletzt 
sehr kurz aber scharf ertönte. In allen Fällen, wo beim Ueberblasen der 
Pfeifen Zuckung beobachtet wurde, handelte es sich demnach um eine 
durch ein intensives, unangenehmes Geräusch und nicht durch einen reinen 
Ton veranlasste Zuckung. Ich habe mich oft bemüht, zu erkennen, worin 
die Eigenart gerade derjenigen Geräusche liege, bei denen ich Zuckung 
auftreten sah; 5, 6 Mal und häufiger wurden mittelst Schiefertafel und 
Griffel, oder auf andere Weise laute Geräusche erzeugt, ohne Zuckung zu 
veranlassen, dann plötzlich entstand ein solches Geräusch und löste die 
Zuckung prompt aus. Ich habe mehr und mehr den Eindruck gewonnen, 
dass sie Alle dem Heulen der Pfeifen in sofern etwas Verwandtes hatten, 
als besonders dann Zuckung auftrat, wenn das Geräusch relativ tief an- 
setzte und blitzschnell eine grosse Summe von Tonlagen bis zu den 
höchsten hinauf mit grosser Schallstärke durchlief. Dadurch müssen nach 
der Helmholtz’schen Hypothese, der die von Max Meyer! neuerdings 
aufgestellte deshalb, weil sie einfachen physikalischen Gesetzen zuwiderläuft, 
nicht Abbruch thun kann, eine ausserordentlich grosse Anzahl von Nerven- 
elementen gereizt werden, somit die Erregung des acustischen Centrums 
eine sehr bedeutende sein, zumal da die Erregung aller einzelnen End- 
elemente sich auf eine äusserst kurze Spanne Zeit vertheilt. Man könnte 
sich somit sehr wohl vorstellen, dass gerade diese Art von Geräuschen 
durch die besonders grosse Zahl der erregten Fasern eine besonders starke 
Erregung hervorruft, und so durch sie am leichtesten und vorzugsweise 
die Reflexzuckung ausgelöst wird. Die subjective Empfindung, die dieses 
Uebermaass der Erregung in uns hervorruft, ist die des Unbehagens. 


2. Kein reiner Klang oder Ton von den tiefsten bis zu 
den höchsten mit vorstehender Einschränkung für die letzteren 
löste eine Zuckung aus und auch Geräusche von mässiger und 
selbst erheblicher Intensität, sofern ihnen durch ihre Eigen- 
art. nicht eine besondere Reizstärke inne zu wohnen schien, 


" Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane. Bd. XVI. 
„Zur Theorie der Differenztöne und der Gehörempfindungen überhaupt.“ 


Die REFLEXERREGBARKEIT DES MUSC. TENSOR TYMP. 109 


vermochten nur unter ganz besonderen Bedingungen Reflex- 
zuckungen auszulösen. 

Diese besonderen Bedingungen lernte ich bei Untersuchung der Frau 
Bildhäuser durch ein zufälliges Zusammentreffen kennen. Bei dieser Frau 
konnten zunächst durch die der Schiefertafel wie der Glasplatte entlockten 
Geräusche keine Zuckungen hervorgerufen werden. Die erste, sehr deut- 
liche Zuckung wurde durch das höchst unangenehme und intensive Heulen 
der Radfahrerpfeife hervorgerufen. Die Frau äusserte sofort unaufgefordert: 
„Das war aber unangenehm; es zuckte etwas“. Eine weitere Zuckung 
wurde dann bei Verwendung derselben Schallquelle und eine dritte und 
vierte beim Ertönen der schrillen Hornpfeife in ihrer unmittelbaren Nähe 
wahrgenommen. Nun liess man ohne Vorwissen der Frau die schwere 
Kette etwa 1!/, = hoch niederfallen, was sie in der heftigsten Weise er- 
schreckte. Eine Beobachtung war in Folge der allgemeinen Bewegung nicht 
möglich, gelang jedoch beim zweiten Male, beim dritten und vierten Male 
jedoch wiederum wegen Erschreckens nicht. Es folgte nun der Fallapparat, 
bei dessen Geräuschen weder vorher noch nachher jemals wieder eine 
Zuekung beobachtet wurde. In diesem Fall aber, wo die Frau durch den 
. vorhergegangenen Schreck erregbarer geworden war, zeigten sich schon beim 
Niederfallen des Gewichtes aus 20 °® Höhe drei Mal deutliche Zuckungen, 
und bei Steigerung der Fallhöhe auf 1 und 2” erfolgte jedes Mal leb- 
hafte, auch für sie selbst auf das Deutlichste fühlbare Zuckung des Tensor. 
Ich hatte es leider versäumt, sofort auf einzelne Töne gleichfalls zu unter- 
suchen, um zu sehen, ob auch diese nunmehr Zuckungen auszulösen im 
Stande wären. Ein an einem anderen Tage gemachter Versuch, die Frau 
noch ein Mal in gleicher Weise zu erschrecken und dann das Versäumte 
nachzuholen, misslang. Diese Frage musste somit offen gelassen werden; 
aber insofern war die Beobachtung von wesentlichem Interesse, als sie 
zeigte, dass die psychische Erregung, in die die Frau durch den unmittel- 
bar vorhergegangenen Schreck versetzt worden war, sehr wahrscheinlich 
die Ursache abgegeben hatte, dass schon Geräusche, die sonst niemals 
Reflexzuekungen auslösten, nunmehr solche hervorzubringen vermochten. 
Also nicht allein die Reizstärke, sondern auch die momentane Reizempfind- 
liehkeit schien eine bedeutsame Rolle zu spielen, was in seinem Endeflect 
im Grunde dasselbe ist. 

Bei Durchsicht der Tabelle III wird man häufiger finden, dass nach 
längeren vergeblichen Bemühungen zwei Zuckungen hinter einander folgten, 
und wenn es auch bei der Ungleichheit der producirten Geräusche sich 
um ein zufälliges Zusammentreffen handeln kann, so könnte man doch 
auch daran denken, dass, nachdem erst ein Mal durch ein besonders 

intensives Geräusch eine Zuckung ausgelöst wurde, das nächste Geräusch 


110 OSTMANN: 


durch die noch fortbestehende Erregung um so leichter in gleicher Weise 
zu wirken vermochte. 

In Anlehnung an eine Lotze’sche Definition könnte man sagen: Die 
bei den Versuchen beobachtete reflectorische Contraction des Tensor war 
das zu Tage tretende Ergebniss einer unbewussten Messung des Reizes an 


den jeweiligen Lebensbedingungen. Jede Veränderung dieser muss auch . 


das Endresultat der Messung verändern. 

Wie stellt sich nun die Tensoreontraction dem Auge dar? Als eine 
blitzschnelle, äusserst feine, zuckende Bewegung, die über den 
Hammergriff und die nächstgelegenen Trommelfelltheile hin- 
wegläuft. In einem Falle (vgl. Nr. 16 der Tabelle III) war die Beob- 
achtung besonders instructiv. Das Trommelfell zeigte deutliche Respirations- 
bewegungen und zwar ging dasselbe während der Einathmung nach aussen 
und während der Ausathmung nach innen. In einem zweiten Falle zeigte 
sich genau dasselbe Verhalten. In dem ersteren Fall glückte es nun nach 
mehrfachen vergeblichen Bemühungen, während der langsamen Auswärts- 
bewegung des Trommelfells eine Tensorcontraction herbeizuführen. Ich 
sah, wie die ruhige Auswärtsbewegung eines Lichtpunktes, der gerade am 
untersten Ende des Hammersgriffes sich befand, plötzlich durch eine blitz- 
schnelle Rückwärtsbewegung unterbrochen wurde. 

Welchen Sinn hat nun dies zu Tage tretende Ergebniss? 

Nach Allem, was wir auf Grund der im ersten Theile der Arbeit zu- 
sammengestellten Versuchsergebnisse über die Mechanik des Trommelfells 
und die mechanische Leistung der Tensorcontraction wissen, kann es sich 
nur um eine Abwehrbewegung handeln, durch welche das acustische Cen- 
trum und somit der gesammte Organismus vor weiterer, Unlust erregender 
Einwirkung der unangenehmen Geräusche geschützt werden soll. 

Dies geschieht dadurch, dass das Trommelfell durch Veränderung seiner 


Spannung für die Aufnahme von Geräuschen ungeeigneter gemacht, der Ab- 


lauf der Schallschwingungen in der Gehörknöchelchenkette, ebenso wie die 
Uebertragung derselben auf die Perilymphe durch Erhöhung des Labyrinth- 
druckes erschwert wird. Auch der Sinn der bei höchsten intensiven Tönen 
‚auftretenden Tensorcontractionen dürfte sich durch Punkt 2 und 3 erklären, 
während es unbestimmt bleibt, wie weit eine veränderte Spannung des 
Trommelfells hierbei mitwirkt. Hierbei muss ich einer Beobachtung Er- 
wähnung thun, die ich zeitweise gemacht zu haben glaube, wenngleich bei 
dem ungemein schnellen Ablauf der Bewegung ein ganz sicheres Urtheil 
schwer abzugeben ist. 

Ich habe wiederholt den Eindruck gewonnen, als ob die Bewegung 
des Trommelfells, die ich beim Fixiren des Hammergriffes mit erfasste, 


ganz vorwiegend zu Seiten desselben lag, worauf es denn auch beruhen 


u re En ZU 


u er Tr 


Die REFLEXERREGBARKEIT DES MUSC. TENSOR TYMP. 11 


mag, dass sich die Betrachtung des Lichtkegelgebiets, wie ich herausfand, 
als unzweckmässig erwies. Dieser wiederholte Eindruck macht es mir 
wahrscheinlich, dass bei der Tensorcontraction auch eine Art von Drehung 
des Hammers stattfindet. 

Es stimmt diese Beobachtung bezüglich des Bewegungsmodus bei 
Tensorcontraction, wie ich sehe, völlig überein mit der Anschauung, die 
Gruber! aus seinen anatomisch-physiologischen Studien bezüglich der Be- 
wegung des Trommelfells bei Tensorcontraction gewonnen hat. 


Ich hatte zuvor betont, dass der psychische Eindruck, den ein Geräusch 
auf uns macht, von wesentlicher Bedeutung für das Auftreten der Reflex- 
zuckung zu sein schien; anderweitige Beobachtungen bezüglich der an 
anderen Organen durch Gehörswahrnehmungen ausgelösten Reflexe dürften 
diese von mir ausgesprochene Vermuthung bestätigen. Ich erinnere an die 
Versuche von L. Conty und A. Charpentier,? welche an curarisirten 
Hunden die durch Wahrnehmung von Geräuschen mannichfacher Art auf 
das Herz und das Gefässsystem ausgeübten Reflexwirkungen studirten und 
einerseits fanden, dass mit der Häufigkeit des Schallreizes die Reflexwirkung 
. stetig aknahm, andererseits, dass verschiedene Hunde in sehr verschiedener 
Weise auf den gleichen Schallreiz reagirten. Sodann stellten sie fest, dass 
„le reflexe cardio-vasculaire est liE non & la perception sensitive, mais & un 
travail cerebral, consecutif et contingent; c’est ce travail cerebral, eEmotionnel 
si ’on vent, excessivement variable pour la m&me excitation, qui reagit 
secondairement sur la circulation par l’intermediaire du me&socephale; et en 
resume, une exeitation sensorielle determinera un reflexe cardio-vasculaire 
seulement quand elle sera &motionnelle.“ 

Auch bei meinen Versuchen am Menschen zeigte sich eine verschieden- 
artige Einwirkung gleichartiger Schallreize auf verschiedene Personen. Bei 
zwei meiner Versuchspersonen — Nr. 6 und 10 der Tabelle — habe ich 
überhaupt keine deutliche Zuckung gesehen, wenngleich ich mir schon von 
vornherein Personen aussuchte, bei denen ich einen relativ leichten Ablauf 
von Reflexactionen vermuthen konnte. Es liegt somit die Vermuthung nahe, 
dass z. B. bei kräftigen, vollgesunden Männern, die im Allgemeinen weniger 
als Frauen und junge Mädchen einer Beeinflussung ihres psychischen Gleich- 
gewichtes zugänglich sind, es besonders schwer sein dürfte, durch Geräusche, 
wie ich sie erzeugt habe, Reflexzuckungen hervorzurufen, bei ihnen vielmehr 
noch kräftigere Einwirkungen dazu gehören. 


1 Anatomisch-physiologische Studien über das Trommelfell und die Gehör- 
kenöchelehen. Wien 1867. 
? Archives de physiologie normale et pathologique. 1877. p. 525 u. ff. 


1412 ÖSTMANN: 


Eine Beobachtung von Bürkner! zeigt, dass durch sehr intensive 
Schalleinwirkungen thatsächlich störende Reflexzuckungen des Tensor auf- 
treten können, sofern der besondere Zustand des Trommelfells — Atrophie — 
eine ausnahmsweis ergiebige Bewegung gestattet, und bestätigt auch nach 
anderer Richtung in der schönsten Weise meine Beobachtungen. 

„Ein etwa 30 jähriger Locomotivführer klagte, dass er seit einigen Tagen 
jedes Mal beim Ertönen der Dampfpfeife und mitunter auch bei anderen 
starken Geräuschen ein lautes Knacken und gleichzeitig eine Bewegung im 
rechten Ohr spüre.“ Die Untersuchung ergab, . dass durch laut klingende 
Stimmgabeltöne, Klappern mit den messingnen Eiterschalen und ähnliche 
(Geräusche das vom Patienten beschriebene Symptom nicht zu erzeugen 
war, wohl aber trat es zwei Mal — und zwar für B. durch das Otoskop 
hörbar? — ein, als B. auf der Fensterscheibe mit dem Messer ein sehr un- 
angenehmes kratzendes, quietschendes Geräusch hervorbrachte. 

Man erkennt sofort die vollständigste Uebereinstimmung der Be- 
dingungen, unter denen in dieser Beobachtung von B. und in meinen 
Versuchen Zuckungen auftraten; selbst die subjective Empfindung des Loco- 
motivführers ist ganz ähnlich der, die von meinen Versuchspersonen, sofern 
sie überhaupt eine subjective Empfindung hatten, angegeben wurde, „es 
zuckt Etwas im Ohr“, „es bewegt sich Etwas“. Zur Auffassung der sub- 
jeetiven Empfindung gehört offenbar eine gewisse Feinheit der Selbstbeob- 
achtung; war aber erst ein Mal die Zuckung deutlich empfunden worden, 
so wurde sie von meinen Versuchspersonen in allen Fällen, wo ich Zuckung 
beobachtet hatte, sofort ungefragt angegeben, aber auch einige wenige Male 
sonst, wo ich nicht mit Sicherheit angeben konnte, ob Bewegung oder Ruhe. 
Wie sich aus den Bemerkungen der Tabelle III ergiebt, hatte die Mehrzahl 
der von mir untersuchten Personen kein Zuckungsgefühl, was sich unschwer 
daraus erklärt, dass der Sinnesreiz — das Geräusch, der Ton — den Em- 
pfindungsreiz — das Zuckungsgefühl — weit überwog und so den letzteren - 
nicht zur bewussten Wahrnehmung kommen liess. 

Das Ergebniss der Arbeit lässt sich dahin zusammenfassen: 

Der Muse. tensor tympani ist ein Schutzapparat des Ohres und zwar 

1. im Zustande der Ruhe dadurch, dass der Muskel, ohne 
den Ablauf der Schallschwingungen der Gehörknöchelehen an 
sich zu erschweren, die Schwingungsweite derselben in soweit 
einengt, als für eine empfindungslose Wahrnehmung der sen- 
soriellen Reize erforderlich ist. Dieser Schutz scheint noch für 


\ Archiv für Ohrenheilk. Bd. XXI. S. 176. Tensorkrampf bei Erschütterung 
des Trommelfells. 
® Gesehen hat Bürkner die Zuckung nicht. 


Die REFLEXERREGBARKEIT DES MUSC. TENSOR TYMP. 113 


relativ grosse Amplituden der Schallschwingungen zu genügen 
und gliedert sich harmonisch in die mechanische Leistung des 
gesammten Schallleitungsapparates ein. 

Der Muskel verhindert weiter eine übermässige Auswärts- 
bewegung des Hammers und Trommelfells und wirkt, fügen wir 
hinzu, als Antagonist des Musc. stapedius insoweit, als sein 
natürlicher Zug für die normale Wirkungsweise des letzteren 
in gleicher Weise nothwendig ist, wie dies bei allen anderen 
antagonistischen Muskelgruppen der Fall ist, wo die eine Gruppe 
auch nur unter Mitwirkung der anderen zur vollen und gesetz- 
mässigen Wirkung gelangen kann. 


2. Seine Contraction schützt das Ohr dadurch, dass sie 
Aufnahme wie Fortleitung der Schallschwingungen durch den 
Schallleitungsapparat erschwert. Die Contraction wird reflec- 
torisch weitaus am häufigsten durch intensive Geräusche an- 
scheinend besonderer Art, sehr viel seltener durch intensive 
höchste Töne hervorgerufen. Die besondere Art der Geräusche 
scheint darin zu liegen, dass durch sie im Sinne der Helm- 
holtz’schen Theorie eine besonders grosse Zahl von Nerven- 
elementen gereizt wird, ihnen somit vermuthlich eine beson- 
ders erhebliche Reizstärke innewohnt. 


Archiv £. A. u. Ph. 1898. Physiol. Abthlg. S 


114 ÜSTMANN: 
Tabelle III. 
E » BIEMERIT | @eräusche 
z | 1 
© Name, Stand, I : 
E ER Trommelfellbefund | 
= Geschlecht und Alter | | Schiefertafel und Griffel 
1.) Lopitzsch, |Sehr zartes, wenig geneigtes Trommelfell: |RRRRZZZZRRRZZR 
Krankenschwester, || Normale Hörschärfe. Umrisse des Hamıer- Wiederholung: 
29 Jahre alt Igriffes und langen Ambosschenkels sehr RZRRZRZ 
| gut sichtbar ) 
2. Schlienbecker, |Zartes, normal sewölbtes Trommelfell. ZRZRRZZRRZ 
ohne Beruf, weiblich, | Hammergsiff und langer Ambosschenkel | erste Prüfung am 20. Dec. 1897, 
20 Jahre alt | sehr gut siehtbar. Normale Hörschärfe | zweite „, ST 
IR R,7 RR ıR ZER zZ Rare 
RRRRRR 
3.| Rommershäuser, | Trommelfell stärker gewölbt, das Gewebe RR Ro R>ER? 
ohne Beruf, weiblich, |im Ganzen etwas derbe. Hammergriff- || Beim letzten Versuch ganz minim. 
20 Jahre alt umrisse sichtbar. Normale Hörschärfe  plötzl. Veränder. des Lichtkegels, 
erste Prüfung am 21. Dee. 1897, 
zweite „, SER 
| | R RK RiRRIRIRIRER RR 
| RR.RRRRRIIR 
4. Homann, Techniker, | Zartes, mässig stark gewölbtes Trommel-IRPRRRRZZRRRRR 
19 Jahre alt fell. Umrisse vom Hammergriff sehr gut, RRR 
sichtbar. Normale Hörschärfe 24. December 1897 
5.| Ortwein, Dienst- | Trommelfell ziemlich dick, mässig aa RR RRRRRBR 
mädchen, 18 Jahre alt | gewölbt. Umrisse vom Hammer deutlich. | 3. Januar 1898 
| Normale Hörschärfe | j 
6.. Friebertshäuser, | Mittelstark gewölbtes 'Trommelfell mit) RR RrRoRSRoRaReRER 
Dienstmagd, \ leichter Trübung im hinteren Segment; RRRRRRRRRER 
26 Jahre alt sonst Gewebe zart. Umrisse des Hammer- 
| griffes gut sichtbar. Normale Hörschärfe 
7. Alter, Schneiderin || Leicht atrophisches Trommelfell mit An- | RRRRRRRR 
20 Jahre alt deutung von Randknickung. Bei Siegle | 
gute Bewegung. Hammergriff sehr gut, 
durchzusehen. Z. F. für „Zahlen“ nicht 
| ganz normal 
8.) Bürger, Dienst- |Zartes, mittelstark gewölbtes raraimlkealte IRRRZRRRRRRRR 
mädchen, 20 Jahre alt lässt Umrisse des Hammers und langen. 
ı Ambosschenkels gut durchscheinen. Nor- 
| male Hörschärfe 
9, Zimmermann, Beide Trommelfelle leicht atrophisch. RRRRR’ZZZRRRZRZ 
ohne Beruf, weiblich, Hammergriff gut sichtbar. Hörschärfe für 
10 Jahre alt | Flüstersprache ein wenig herabgesetzt 
10.| Scholz, Förstersfrau, | Trommelfell ziemlich derb, mittelstark | RRRRRR 
45 Jahre alt \gewölbt; lässt Hammergriff gut durch- 
scheinen. Normale Hörschärfe | 
Nasemann, Dienst- |Sehr schräg gestelltes, sonst normales, R.R/RZBIRSRERER 


11. 


mädchen, 16 Jahre alt 


Kleines deutsches ‚‚r“ 
sr latemisches ara = 5 en 


Grosses 


mässig dickes Trommelfell. Normale Hör- 


schärfe 


= Ruhe bei geringer Intensität des Schalles. 
mittlerer 5 5 
sehr grosser „, » > 


{73 
E2] „R = > Er] 


Die REFLEXERREGBARKEIT DES Musc. TENSOR TYMP. 


115 


Untersuchungen am Menschen. 


Geräusche 
| 


2. 38 4. >. 6. 
Fallapparat 
i Radfahrer- pP 
Glasscheibe und Kork Kette ee 20 | 100 200 Hornpfeife 
} BE PETER BR DR 1 ee % \ en 
Rezez RR Wurde bei 
diesem Vers. 
noch nicht 
angewandt 
REIZZR ROR, Wurde beim am 23. Dec ırr | rrr | rrr | Beim Versuch 
erste Prüfung am 20. Dec. Versuch am 1897 am 20. Dec. 
1897, zweite Prüfung am | 20. Dee. 1897 RRZRR - 1897 nicht 
23. Dec. 1897 noch nicht angewandt 
RRR’RRRRRRRER angewandt am 23. Dec. 
23. Dec. 1897 1897 
RRR RRR 
RZRZRR’RRRZ RRRR RZRRRZ nicht geprüft RoReRrR® 
erste Prüfung am 21. Dec. | 23. Dec. 1897 | RRZRRR 23. Dec. 1897 
1897, zweite Prüfung am RZ 
23. Dec. 1897 Nur einmal 
RRRRRRRRRRR am 23. Dec. 
1897 geprüft 
h vgl. Anmerk. = 
IR zrR ZI 70 R- RZAZRRR| RRRIR?R? nicht geprüft nicht gepräft 
24. December 1897 24. Dec. 1897 RRR 
24. Dec. 1897 
ZRRRRRR RZR Bezirke Zr Dur rer oniehtiseprüft 
3. Januar 1898 3. Jan. 1898 | 3. Januar 1898 3. Januar 1898 
RRRRRRRRR’R? ua. E 1% 12% Jmooday nicht geprüft BuRuRaRAR 
RRRRR R RR 
RRRR RR-R RR Ba | haar | ar gan RRRRR 
RRRRR 
RaRoR ReRoR-R BRoRsRaR RRRRR 
RRRRRRRRRZ? RR RRRRikR | Tr Dr Tr. RRRR 
RR 
BR RERRRRRR RR BORSEARIRE due | vr RR 
RRRRR RR 


Kleines ‚‚z“ 
Grosses „24“ 


sehr grosser 


EL) 


EL} 


Zuekung bei mittlerer Intensität des Schalles. 


Die Bemerkungen et sich am Schluss der Tabelle S. 122 u. 123. 


8* 


116 ÖSTMANN: 

Tabelle III. 
ei * 5 Töne und 
© ie 8. 
us 
3 Vocale Gedeckte Pfeifen ! 
= 
Sl @ e i 0 NE EDA RI @ ae 
1. 

23 wiplspapid || PR | wien: T rr r 
3% E T T T TOTaren r et 
Tr 
neiscHhatszsoZerprrzustet 
4. Bar srarer error Brärn: rrr rr EN: 
TEN rrr re rı 
2? 
9. Sracht ae | een RR: Dee | Pe | | ee ip rrr rrrırrTr 
TarET: rrr DOSE NarSaTrT Byarscarrarg var: rrr N 
RekaRe ERIRSRS BER IR IR BET: 
6. nicht geprüft BERTET TE ET TT rarSenaraeae: Brenner 
r ee || me 
rrr 
rrrr 
U LBerp| Earn et vr Biemır |iPaelie.spsennl se sp w|ImB Bir Tara TeTrrr 
KeRsRARReRHR IP AP IR rrr RRRR |IRRR/|RRR RR RRRRRRIRR|RR 
RERSRERLERIRERIR IR, RR: RR RRRRR?’RR|RR 
Ra aR RR |R? ROZIZR BAR 
R R RRRR?’I|/RR 
8. 
9. | 
10. nicht geprüft PP o  |Impw| r Tary WeraT 
1, t 


Die REFLEXERREGBARKEIT DES MUSC. TENSOR TYMP. 


(Fortsetzung.) 


117 


Klänge 


9, 10. König’sche Klangstäbe | 11. 
Stimmgabeln: ut! MJ' Sol? ut® MJ® _ Galtonpfeife 
32 1024 2048 8192 10240 12288 | 16384 20450 Theilstrich 
Schwingungen Schwingungen 2 ee 
r Y T BAR APP Becher een ' Be IR Bra} Sp rr 
RRRR RRR A 
RRRR 
m iD T T I ttrrr T T rr 
EIGANEN, TONER IRaR TR SB IPUP ID SeAp up iP Tr 
RR RR R R LT 
TET Ip spaR Tara: eat Eeht erar Et: Det Lars erzuar 
rr Ir Ir Ir rrr Ye 17 NINE | TETST: 
Keakahe RERSRNRARN DRSRERTR RRR Rabe 
R?R?R? RR 
ar CErST rt BB RESTE rare errahe DET: Brenn 
rrr TEITaT; rrr np ® Tarlr RR TALIT 
rr |RRR|RRR IRaR RRR 
Dapn TETal: Trrr TB Rest RrzeIrE: wererenR 2 TR Er enrr 
rrr rrr RR De Ip Tara rarar 
RR RR rr rr 
Tr rrr rrr Eur Tone oe KEreT LET vr rer |rrr 
armen? rrT TErEr TerarT rer rrr |trr 
RRR up ıp ReR RR EITITTT rrr r 
RRR IRARERAr ER RSAR 
RRR RRRR RR 
r Tr r Era Ver: DR tr E% r Y 
RRR Rıhrk rrrrr 
RRR 


118 


OSTMANN: 


=— 


| Geräusche 


Tabelle II. 


z 
= Dans, Stand, Trommelfellbefund | ; f g 
®\ Geschlecht und Alter ' Schiefertafel | Glasscheibe Da 
= | eh Kette | fahrer- 
= | und Griffel und Kork feif 
3 pfeife 
12.| Vogel, ohne Beruf, | Trommelfell mittelstark ge- j RRRRR| RZRZR | RR Zen 
weiblich, 20 Jahre alt, wölbt; Gewebeziemlich derb. "RRZRR | RRRRZ Re RR 
Umrisse vom Hammergerif | ZRRR R RR 
treten scharf hervor. Nor- | 
male Hörschärfe | 
13.. Hoppe, Näherin, | Zartes, mittelstark gewölbtes | RRRZER | R,RR RR SHReR ae 
37 Jahre alt | Trommelfell. Umrisse des |RZRRZ| RRRRR| R | RR 
ıı Hammergriffes und langen | RPRRR? RRR 
| Ambosschenkels gut sichtbar. | 
| Normale Hörschärfe I 
14. Bildhäuser, | Sehr zartes, geradgestelltes | RRRRR RRRRR |R?Z | RZ* 
verheirathet, weiblich, und sehr wenig gewölbtts RRRRR 'RRRRR|RR?| RR 
30 Jahre alt ı Trommelfell. Umrisse ds | RRRRR RRRRR| siehe | RZ 
siehe Anmerkung |) Hammergriffes, langen Am- | RR RR Anm RR 
 bosschenkels u. s. w. sehr R 
| scharf sichtbar. Hörschärfe | | siehe 
| normal. Gutes musikalisches | Anm. 
| Gehör | 
15. Dünker, Schneiderin, | Ziemlich schräg gestelltes,ı RRRZZR RRRRR| RR 272 
18 Jahre alt ı nicht sehr feines Trommel- RRRRR 7 RZRRR RR 
fell. Umrisse von Hammer RHR?R RR RIRZARE R 
deutlich sichtbar, Hörschärfe | 
| normal | | 
16.| Günther, Schneiderin, | Zartes, mässig schräg ge |RRRRZZ RRRRR RZ RR 
17 Jahre alt | stelltes Trommelfel. Um- | ZRZRRR RRRRR | RR |RR 
risse des Hammers deutlich R RZZRR 
sichtbar. Normale Hörschärfe ı, ZRRRN 
17.| Büttner, Büglerin, | Zartes, ziemlich stark g- |RRRRZZ| ZRRZR RZ RR 
28 Jahre alt wölbtes Trommelfel. Um-  RRRRR ZRRR R RR 
ı risse des Hammergriffes gut ZR 
sichtbar. Normale Hörschärfe R 
18.| Möller, Schneiderin, | Zartes, mässig stark ge- | RZZRR ZRRRR 
19 Jahre alt | wölbtes Trommelfel. Um- ZRRRR 
risse von Hammer gut sicht- 
bar. Normale Hörschärfe 
{I 
5 ( Anzahl der producirten Töne und Klänge 
3 Anzahl der beobachteten Zuckungen h schmagn 
8 Anzahl der produeirten Töne und Klänge : 
5 Anzahl der beobachteten Zuckungen mittelst. 
„ | Anzahl der produeirten Töne und Klänge 
E Anzahl der beobachteten Zuckungen Bbark 
= . Anzahl der produeirten Geräusche 217 177 45 81 
2} Anzahl der beobachteten Zuckungen 41 20 6 11 


Dıe REFLEXERREGBARKEIT DES MUSC. TENSOR TYMP. 


(Fortsetzung.) 


Geräusche 


l 


19 


' Töne und Klänge 


5. 6. | ei. 
Fallapparat | 
| ah 
0 | 100 | 200 | Hornpfeife Baal 
m 3 En Ne a | an 
vr er |on| RRZR.| 
| KORSRaRTE || 
| ZR 
1 ıB ne: RuRr Zi | 
RRR | 
| | Sr 
er? 22 ZP 2? I ZDWADZ| BOZERSZRS A E = 
DAZU RR zR in 
Z 7 ReRMZRee | 
| = 
| 
| Mt 
| 
| [oT] 
BP rrr| mr RRReR S 77 
rr =) 
>} 
| m 
rrr Er |rrr RRERRR| A 
rrr DEN ra RI RIRIRER 'rrr|rrr|rer irre |rrr 
RR wRöR rn) re rn 
RRIRRIRR|RR|RR 
| IR ERORS RER ERaR 
rer rr |rrr| rer |rvr 
rrr| rr |RR| rr |RR 
ıRR|IRR| R RRI|RR 
R R 
| 32 | 32,39 | 40| 39 
| 0) Zi) 0 () 0 
67 
6 
29 25 | 28 | 
3 5| 5 


120 OSTMANN: 
Tabelle II. 

5 . 

rS 

8 Gedeckte Pfeifen 

3 » 

5 C D E Ja G 4A H 

2A rer Barr: Pe TATAT: me meer er TILNTET: RT 

rrr, * Ohne dass es beabsichtigt 
war, wurde die Pfeife stark 
übergeblasen, so dass ein 
heulendes Geräusch entstand 

132 Brände: Tersr Tarzr TR: IB IB IP Tr: eh: 

rT 

1A rar, r a ATNTATL \\NEawıR rrprr RR RZaRe meRreh deren 

Ba Wann die en =o BtnTk aber DET am 11. Jan. 1898 Z RER Sr 
BEN Ben NL ae LO ON RR | BETT enRARIR RZ ZA WAnokem IR, Roh 
heulend in die Obertöne hinüber- 5 
on? Fa Ds dBamaT ohekende 22 ZRZZZZ unter dn|RRZ 
Bewegung des spatelförmigen | R Z | Die Zuckungen, die besonders er- gleichenBe- Z RR 
Endes des Hammergriffes be- giebig erscheinen, treten nur bei di P BR RIA 
merkt und Frau B. giebt sofort stärkstem Ueberblasen auf und 1n8. ‚wie 
an, dass es zuckt werden auf das deutlichste gefühlt bei Pfeife @ 

Fund E 
15.|rrrr rr Trvar TAT, rer Tara: TERN 
(Sl Bsp ae np] 1O ap np TaraTN ip ar ip Bars ersr ET rn 

Era rer SZERTRERSRSRERERR N ER ROReRrREZERERaREZ ET nrrralReReß 
RZZ.!RRRR KERRER IRAR 19 19 IR rn ARE 
RRR|RBRR ZZ Kekahnks 
RRRRRRZ RR B-ReRaB 

RR Z? 

Ta rSEET: TaraT: TITIT: TErET, TaTrarerr; san: TATEN 
RRRRRZRIRRRRRRRRRZRR O RRRRZRRRR OCBRRRERRR 
RRRRRRRRRZZRRRRR RZR ReRech  HReRDR 

RRR 19% 

18. 

=) 

= 

u 

8| 46 44 50 43 66 50 57 

Sl 10 0 v ) 0 0 0 

an 25 31 25 | 45 26 28 

a 19 2 8 7 15 2 3 

E E 

2| 


DIE REFLEXERREGBARKEIT DES Musc. TENSOR TYMP. 


121 


(Fortsetzung.) 
Klänge 
8 10. König’sche Klangstäbe 11. 
Stimmgabeln ut" MJ! Sol? ut? MJ® Galtonpfeife 
32 1024 | 1048 8192 10240 12288 16384 20480 Theilstrich 
Schwingungen Schwingungen a a NR 
Dart, er De 3: are Kt See a water LITÄT TaTsR: 
IROTSTS aa aa TST% IE er WERT In ıE 
RakaR 1% IR RER BR IADE Ton er Rau 
arzY LET: rrr BIN RB IB.IE BETST ERTNEHT Hayab IE 12.06 Ab TERST YET, 
KEIzEr JE TEN BETT rap ab TEST 1 m 
RRR RRR 1Ro IR, And, dm, 10% Io An% >| da Any Jay 
PaRayar ae page | Mena ECHT IE 3 3E IE 56.18 76 DET 15 AB a6 Karsr TaraY 
IEYSTar iR ıBeıB,aRyıR a a Re a BT: ie ara PIE InJP IR IST: 
ZZxrZ ZRZ DEZ IIERREIRG ZRR 
IP 18. ie ZZ ZRZZ ZRR Z 
BuRoRIBR RZ 
RZRZ 
ip, 30 IaraY NEE Ye ET KT IE IE TER JPME 15 95 at rar. TarzT 
rrr TEN: RER AR TEE: TErET BETSr: Bit 
IR Ay IR RRR PRrZR | RRR RR rr 
RRRR 
RRRR 
Beer ern rer vaver BR TB B-IB ID Te jegem eva | Serena | per Bar: 
Ip aka TEazEr ID JErIE IE 95 TETZIERET: ET: TErOy: LIEST: 
RR RRR ar: arzt vae lau Rs. |) Pipe 
19 An IRoRsk Verarerer: RRR RR 
RER RER RR 
ZT, Bei stärkstem 
Anschlag über- 
tönt fast das 
Klappen den 
Klang 
rrrr Pr IP TErSTaT: GER tr URCHT E15 IB IB IE 1. 1E 3E TOTAr TOTZT 
Ir IP ib ITEY: IE ae ae EVENT: BErST: NEE: Irak 
RRR 19, IR RORER RRR RR 
RB RR Ra, 
| 33 37 48 35 35 
| 0 0 0 0 0 
41 Anl 43 43 38 49 44 65 62 
0 0 0 3 (0) 2 3 1 0 0 
3. |. ® 46 42 51 42 3 
0 0 2 4 5 2 


122 OSTMANN: 


Bemerkungen zu Tabelle Ill. 


Yen INhr5 Al, 


Es besteht deutliches subjeetives Gefühl der Zuckung. 
Columne 1 und 2 geprüft am 15. December 1897. 


Zu Nr. 2. 


Die Geräusche wurden zum Theil zum ersten Mal am 20. December 1897; zum 
zweiten Mal am 23. December 1897 untersucht. Töne an demselben Tage. 

Subjectives Gefühl: Als ob sich immer Etwas bewege. 

Pfeifen, Stimmgabeln und Galtonpfeife wurden nur in einer Stärke und zwar 
“so stark angegeben, dass die Obertöne der ersteren nicht hervortraten; deshalb r = 
mittlere Stärke gesetzt. 


ZUANGSES® 
ad 4. Jedes Mal, wenn die Bewegung am Trommelfells siehtbar ist, giebt die 
Untersuchte an, „dass es im Ohr zucke‘“; sonst will sie das eigenthümliche Gefühl 
niemals haben. Sie giebt an, dass sie das gleiche Gefühl einmal ganz deutlich gehabt 
habe, als eine schwere Viehkette im Stall hinter ihr zu Boden fiel. „Als es ins Ohr 
hineinklirrte, zuckte es dann.“ 


Zu Nr. 4. 
Hat keine Empfindung im Ohr, wenn Zuckung gesehen wurde. 
Will einmal früher eine deutliche derartise Empfindung gehabt haben, als mit 
dem Griffel auf der Tafel gekratzt wurde. 
Töne am 2. Januar 1898 geprüft. 


Zu Nr. 5. 
Gefühl der Zuckung im Ohr. 
Töne und Klänge geprüft am 4. und 5. Januar 1898. 


Zu'Nt: 6. 


Geräusche geprüft am 3. Januar 1898. 
Töne geprüft am 7. Januar 1898. 


ZUeNKARIE 


Geräusche geprüft am 22. December 1897. 
Töne-und Hornpfeife am 14. Januar 1898. 
Bei den Pfeifen bedeutet das ‚R‘“ Ueberblasen derselben, so stark als möglich. 


Zu Nr. 8. 


Weitere Prüfungen konnten nicht vorgenommen werden, da betr. Bürger nicht 
wieder erschien. 


Zu Nr. 9. 


Weitere Prüfungen konnten nicht vorgenommen werden, da das Kind nicht 
wieder erschien. 


Zu Nr. 11. 
Nur auf Geräusche am 3. Januar 1898 geprüft. 


Die REFLEXERREGBARKEIT DES MUsc. TENSOR TYMP. 123 


Zu Nr. 12. 
Subjeetives Gefühl der Zuckung, nachdem sie auf ihr Ohr aufmerksam ge- 
macht ist. 
Geräusche am 4. Januar 1898, Töne aın 5. Januar 1898 geprüft. 
Sie beschreibt das subjective Gefühl in folgender Weise: „Eine Zuckung ist es; 
es ist, als ob sich etwas im Ohr bewege.“ 


Zu Nr. 13. 
Geräusche am 4. Januar 1898, Töne am 5. Januar 1898 geprüft. 
Z2* Ungefragt äusserte sie, „es zuckt ein bischen‘. 


Zu Nr. 14. 


Die Reihenfolge der Prüfung war: 1., 2., 4, 6., 3., 5. Columne. 

ad 3 der Tabelle: Beim ersten Niederfallen der Kette erschrickt Frau B. ausser- 
ordentlich. Eine Beobachtung deshalb nicht möglich. Beim zweiten Niederfallen 
deutliche Zuckung. Beim dritten und vierten Mal wiederum durch störende Bewegung 
Beobachtung unsicher. 

ad 4 Z* der Tabelle: Frau B. äussert sofort: „Das war aber unangenehm; es 
zuekte so im Ohr.“ Fortan hatte sie stets, wenn Z gesehen wurde, subjectives 
Zuckungsgefühl; aber einige Male auch dann, wenn ich keine Zuckung mit Deutlichkeit 
gesehen hatte. 

Geräusche am 7. Januar 1898; Töne am 8. und 11. Januar 1398 geprüft. 


‘ 


Zu Nr. 15. 


Geräusche am 7. Januar 1898, Töne am 8. Januar 1898 geprüft. 
Kein subjectives Gefühl der Zucknng. 


Zu Nr. 16. 


Geräusche am 11. Januar 1898, Töne am 12 Januar 1898 geprüft. 

Deutliche Respirationsbewegungen des Trommelfells, und zwar geht das Trommel- 
fell bei der Einathmung nach aussen und bei der Ausathmung nach innen. Die Re- 
spirationsbewegungen sind langsame, gleichmässige, wenn auch sehr feine Bewegungen 
und unterscheiden sich durchaus von der durch Tensorzuckung bedingten. Es ereignete 
sich nun zwei Mal, dass die durch Tensorzuckung bedingte Bewegung mitten in die 
nach aussen gerichtete Inspirationsbewegung des Trommelfells hineinfiel. Man sah in 
- beiden Fällen, wie der an der Spitze des Hammergriffes befindliche leuchtende Punkt 
blitzschnell zurückschnellte, um dann die ruhige Bewegung nach aussen weiter fort- 
zusetzen. 


ZUENDLT. 
Kein Zuckungsgefühl. 
Geräusche am 14. Januar 1898, Töne am 16. Januar 1898 geprüft. 


Zu Nr. 18. 


Kein subjeetives Gefühl der Zuckung. 
Geprüft am 15. Januar 1898. 


Zur Physiologie der sympathischen Ganglien. 
Von 


Dr. med. Paul Schultz, 


Assistenten am physiologischen Institut zu Berlin, 


Während durch neuere physiologische und anatomische Arbeiten über 
den Aufbau, die Anordnung und die Ausbreitung des Sympathicus ein so 
klares Bild verbreitet worden ist, befinden wir uns noch über die eigent- 
lich physiologische Bedeutung dieses Nervensystemes in einem hoffnungs- 
losen Dunkel. Zwar sind schon seit langer Zeit nicht wenige Beobachtungen 
über den Reizerfolg gewisser Sympathicusstränge gesammelt worden, aber 
über die Erregbarkeit und Leitungsfähigkeit, über die Fortpflanzungs- 
geschwindigkeit des Erregungsprocesses, über das besondere functionelle 
Verhältniss des Sympathicus zu den Centralorganen ist noch keine einzige 
Thatsache bekannt. Und in Folge dessen ist es hierüber auch noch nicht 
einmal zur Bildung einer Hypothese gekommen, die sonst vereinzelte That- 
sachen unter einem höheren Begriff vereinigt. Nur in einem Punkte ist 
diese Zurückhaltung nicht bewahrt worden. Man hat vielfach, wenn auch 
nicht unbestritten, die Annahme gemacht, dass die sympathischen Ganglien 
automatisch einen Tonus unterhalten. 

Darunter versteht man, dass von den Ganglien beständig eine Erregung 
zu den von ihnen versorgten Muskeln ausgeht, so dass diese in einem mehr 
oder minder starken dauernden Contractionszustand verharren. Diese Er- 
regung sollte automatisch sen. Das kann heute nach Aufstellung des 
Axioms von der Erhaltung der Kraft natürlich nicht mehr heissen, dass 
die Erregung in den Ganglien aus nichts, ohne Kraftverbrauch entsteht, 
selbstverständlich ist sie, das specifische Nervenprincip, nur aus der Um- 
formung einer anderen Energie (chemische Spannkraft, lebendige Moleeular- 
kraft) hervorgegangen. Man nennt vielmehr automatische Erregung eine 
solche, die durch directe, in loco wirkende Reize entsteht,! im Gegensatz zu 


* Richtiger wäre es daher, von autochthoner Erregung zu sprechen. 


PAauL ScHULTZ: ZUR PHYSIOLOGIE DER SYMPATHISCHEN GANGLIEN. 125 


der refleetorischen oder, worauf es für die in Rede stehenden Ganglien 
ankommt, zu der vom Centralorgan ausgehenden Erresung. Die obige An- 
schauung lässt sich also dahin präeisiren, dass ihr zu Folge die sympathischen 
Ganglien auch nach ihrer Trennung vom Rückenmark, nach Durchschnei- 
dung der präcellulären Fasern, lediglich durch örtlich wirkende Reize einen 
Tonus unterhalten. 


Das Prototyp derartiger Erregung stellt bekanntlich das Athemcentrum 
dar. Hier ist es der Kohlensäuregehalt des Blutes, der dieselbe verursacht. 
Und es warf sich sofort die Frage auf, ob nicht das Gleiche auch für die 
sympathischen Ganglien zuträfe. 

Diese Frage zu entscheiden wählte ich das Ganglion cervicale supremum 
des Sympathieus. : 

Das Verfahren war folgendes: Einer Katze ward unter aseptischen 
Cautelen der Sympathicus am Halse, nachdem er auf eine kleine Strecke 
vom Vagus frei präparirt war, unter Schonung des feinen Blutgefässchens, 
das zusammen mit diesen Nerven läuft, durchschnitten; die ganze Operation 
wurde möglichst thoracalwärts vorgenommen, um jede directe und indirecte 
Schädigung des Ganglion cervicale supremum zu vermeiden. Die Wunde 
wurde geschlossen, sie heilte in allen Fällen per primam. Um nun eine 
doch etwa eingetretene Störung in der Vascularisatiin des Ganglions sich 
ausgleichen zu lassen, wurde erst nach einem in den verschiedenen Fällen 
wechselnden Zeitraum von 3 bis 7 Tagen zum eigentlichen Versuch ge- 
schritten. Dieser bestand darin, dass der Katze auf die in der vorher- 
gehenden Abhandlung beschriebenen Weise in der Augenhöhle die 
Nn. ciliares breves durchschnitten wurden, also das Ganglion ciliare aus- 
geschaltet wurde auf der Seite, wo vorher der Sympathicus durchtrennt 
war. Es trat Erweiterung der Pupille ein, doch blieb noch ein 3 bis 4 "m 
breiter Irissaum bestehen, so dass eine noch etwa eintretende Erweiterung 
vollkommen deutlich zu erkennen war." Darnach wurde die Katze tracheo- 
tomirt, ebenfalls unter Schonung der Gegend des Ganglion cervicale 
supremum, eine Canüle in die Trachea eingeführt, mit dazwischen ge- 
schaltenen Speck’schen Athemventilen und diese mit einem Gasometer 
verbunden, das ein Gemisch von 15 Proc. CO,, 15 Proc. OÖ und ad 100 
Luft enthielt. Athmet das Thier diese Mischung ein, so tritt die reine 
Wirkung der CO,-Anhäufung, ohne gleichzeitigen O-Mangel, in Erscheinung. 


! Natürlich hätte dasselbe Ziel, Ausschaltung etwaiger gleichzeitiger Erregung 
vom Ganglion ciliare her, einfacher erreicht werden können durch Instillation von 
Atropin in die Conjunetiva (vgl. vorige Abhandlung). Doch wäre vielleicht dadurch 
trotz meiner früheren Darlegungen irgend einem Einwand gerufen worden. Und 
selbst das wollte ich hier vermeiden. 


126 PAUL ScHULTZ: 


Es zeigte sich nun in der That bei unserer Katze, dass, sobald die CO,- 
Reaction an der Athmung bemerkbar wurde, gleichzeitig eine Pupillen- 
erweiterung auftrat. Diese war in den verschiedenen Versuchen von 
wechselnder Stärke, im Allgemeinen gering, aber immer deutlich; im 
günstigen Fällen betrug sie 2 bis 2!/), ®®, so dass der Irisrand an einigen 
Stellen bis auf einen noch eben nur sichtbaren Saum verschwand. , Wurde 
die CO,-Zufuhr unterbrochen, so rückte der Irisrand wieder vor, es trat 
die frühere Pupillenweite ein. Dieser Versuch konnte an einem Thier be- 
liebig oft wiederholt werden, so dass an der Richtigkeit der Beobachtung 
gar kein Zweifel bestehen kann. Aber es musste noch die Probe auf das 
Exempel gemacht werden, es musste noch bewiesen werden, dass in der 
That die CO, durch Einwirkung auf das Ganglion cervicale supremum, 
durch Reizung der dort liegenden sympathischen Nervenzellen diese Er- 
weiterung hervorbringt. Zu diesem Zweck wurde an Thieren, die besonders 
deutlich die Erweiterung zeigten, das Ganglion herausgenommen und nun 
wiederum CO, mit der Athmung zugeführt. Aus den Versuchen hierüber 
sei ein Beispiel angeführt: 


I. Kater, schwarzweiss, 2700 SU schwer. 


26. Januar 1898. Links Sympathicus 2!/,® oberhalb des Sternum 
unter aseptischen Cautelen durchschnitten. 


29. Januar 1898. Heilung der Wunde am Halse per primam. Links 
Ciliares breves in der Augenhöhle dicht am Ganglion ceiliare durchschnitten. 
Pupille erweitert. Irisrand etwa 2!/, "m. 

11 Uhr 15 Min. Die Trachealcanüle wird mit dem das CO,-Gemisch 
haltenden Gasometer verbunden. Bald darnach maximale Erweiterung der 
Pupille, der obere Rand nahezu verschwunden. Die CO,-Zufuhr wird unter- 
brochen, die Iris kehrt zurück. 

11 Uhr 30 Min. Die Pupillenweite wie zu Anfang. Wieder wird das 
CO,-Gemisch zugeführt. Wieder tritt dieselbe maximale Erweiterung ein; 
und wiederum kehrt, nach Aufhören der CO,-Athmung, der Irissaum zu 
seiner früheren Breite zurück. 

11 Uhr 45 Min. Die Pupillenweite wie zu Anfang. Das linke Ganglion 
cervicale supremum Sympathici wird zusammen mit dem Ganglion jugulare 
N. vagi (um möglichst schnell und sicher zu operiren) herausgeschnitten. 


11 Uhr 55 Min. Pupillenweite nicht verändert. Die Trachealeanüle 
wird mit dem Gasometer in Verbindung gebracht. Nach einiger Zeit tritt, 
gerade wie sonst maximale Pupillenerweiterung ein. Die CO,-Athmung wird 
unterbrochen, die Iris kehrt wieder zu ihrer ursprünglichen Breite von 
etwa 21/, Um zurück. 


12 Uhr 20 Min. Pupillenweite wie zu Anfang. Erneute CO,-Zufuhr 
hat denselben prompten Erfolg. 


ZUR PHYSIOLOGIE DER SYMPATHISCHEN GANGLIEN, 127 


Da also, wie aus diesem Beispiel und den übrigen Versuchen hervor- 
geht, die Pupillenerweiterung eintrat trotz Herausnahme des Ganglion cervic. 
supr., so kann sie nicht von diesem aus zu Stande kommen, nicht dadurch, 
dass die CO, darauf reizend wirkt. 

Der Ursache dieser Pupillenerweiterung, um dies beiläufig zu be- 
merken, bin ich nicht weiter nachgegangen. Doch steht zu vermuthen, 
dass sie in Folge der Reizung des vasomotorischen Centrums durch die CO, 
und dadurch bedingter Contraction der. Irisgefässe eintritt. 

- Kommt nun auch eine automatische Erregung in der Weise, wie beim 
Athemcentrum durch einen gewissen Koblensäuregehalt des Blutes, für die 
sympathischen Ganglien nicht in Betracht, so könnte sie doch noch durch 
andere locale, ihrer Natur nach uns unbekannte Reize erfolgen. Dies schien 
der Untersuchung um so mehr bedürftig, als in neuester Zeit Braun- 
stein! für einen automatischen Tonus des Ganglion cervicale supr. Sym- 
pathiei einen interessanten Beweis erbracht hat. 

Er fand ihn im Folgenden: Wenn er nach Ausschaltung der directen 
centralen Reize für die Erweiterung der Pupille vom Rückenmark her 
reflectorisch durch Reizung eines sensiblen Nerven ein Nachlassen des cen- 
tralen Oculomotoriustonus im Gehirn und damit Erweiterung der Pupille 
hervorbrachte,. so war die Latenzperiode, welche der Erweiterung vorauf- 
ging, länger, wenn jene Ausschaltung durch Exstirpation des Ganglion 
cervicale supr., als wenn sie durch blosse Durchschneidung des Sympathicus 
am Halse (also thoracalwärts von jenem Ganglion) geschah. Mit anderen 
Worten: die reflectorische Pupillenbewegung trat schneller ein, wenn der 
Sympathicus am Halse nur durchschnitten, als wenn das Ganglion cervic. 
supr. exstirpirt war. Diese schnellere Erweiterung sollte eben zu Stande 
kommen dadurch, dass zu dem Nachlassen des centralen Oculomotorius- 
tonus (was allein für die andere Seite mit fehlendem Ganglion in Betracht 
kam) sich noch dazu addirte die active Wirkung der von jenem Ganglion 
beständig ausgehenden Reize, des Tonus. Diese Versuche Braunstein’s 
habe ich nachgeprüft und kann daraufhin seine Beobachtungen nur be- 
stätigen. Aber so richtig diese sind, so irrig ist der daraus gezogene 
Schluss auf das Bestehen eines Tonus in jenem Ganglion. 

Durch eine einfache Massnahme konnte ich dies darthun, Eine Katze 
war so präparirt, dass sie den obengenannten Bedingungen entsprach. Daran 
überzeugte ich mich von dem Unterschied in den Latenzstadien der Pupillen- 
erweiterung der beiden Augen. Um hierfür auch ein einigermassen objectives 
Zeugniss zu haben, verfuhr ich, da ich eine photographische Einrichtung 


! Braunstein, Zur Lehre von der Innervation der Pupillenbewegung. Wies- 
baden 1894. 


128 PAUL SCHULTZ: 


nach Bellarminow nicht zur Hand hatte, folgendermassen. Die eurari- 
sirte Katze wurde in einem vollständig verdunkelten Raum auf einen Tisch 
gestellt, und auf jedes Auge wurde das durch einen concaven Reflector 
gesammelte Licht eines Auer’schen Gasbrenners geworfen. Jederseits vor 
dem Auge, durch einen Pappschirm von einander getrennt, der bis über 
den Kopf des Thieres reichte, nahm ein Beobachter Platz. Jeder von ihnen 
schloss in dem Augenblick, da an der von ihm beobachteten Pupille eine 
Erweiterung eintrat, vermittelst eines Quecksilberschlüssels einen besonderen 
Strom. In diesen war ein Pfeil’sches Signal eingeschaltet, welches diese 
Schliessung jedes Stromes auf einer berussten Trommel eines Baltzer’- 
schen Kymographions markirte. Um eine reflectorische Erweiterung her- 
vorzubringen, wurde der blossgelegte N. ischiadicus mit einem Inductions- 
strom (12m Rollenabstand) gereizt und der Moment der Reizung ebenfalls 
durch ein Pfeil’sches Signal markirt. Auf diese Weise wurde nur der 
Beginn der Erweiterung bezeichnet, also das Latenzstadium derselben ge- 
messen. Aber eben darauf kam es ja hier nur an. Die Genauigkeit der 
Messung ist natürlich keine absolute, kann sich also nicht mit den sorg- 
fältigen Zahlenangaben Braunstein’s vergleichen. Dies ist auch gar nicht 
beabsichtigt, nur eine etwaige Differenz sollte festgestellt werden. Da es 
sich hier um Zeiträume von einer Secunde und mehr handelt, so konnte 
dies auf dem von mir gewählten Wege mit völliger Sicherheit geschehen. 
Die unten beigefügten Diagramme beweisen es. Nachdem also zunächst 
unter denselben Bedingungen, wie in den Versuchen Braunstein’s, ein 
Unterschied in den Latenzstadien der Erweiterung festgestellt war, wurde 
an demselben Thier das Ganglion auf der Seite, wo es erhalten geblieben 
war und mit ihm das nächstliegende Stück der austretenden capitalen 
(Dilatator-) Fädchen auf das schonendste freigelegt und durch Aufbringen 
von Ammoniak reizlos ausgeschaltet. Nun stand zu erwarten, dass der 
nach Braunstein’s Annahme bestehende Tonus beseitigt war, dass also 
jetzt bei einer refleetorischen Erweiterung auf beiden Seiten das Latenz- 
stadium gleich sein musste, jedenfalls, dass es auf der Seite, wo das Ganglion 
vorher noch bestanden hatte, jetzt länger war als vorher. Nichts davon 
trat ein. Die Differenz in den Latenzstadien der Erweiterung bestand gerade 
so wie vorher. 


IH. Kater, schwarz, 2600 8% schwer. 


Am 1. November 1897. Rechts Sympathieus am Halse durchschnitten, 
links Ganglion cervicale supr. exstirpirt. Wunde vernäht. Die linke Pupille 
enger als die rechte, ebenso die ganze linke Lidspalte. Das linke Lid tritt 
stärker vor als rechts und bedeckt fast die Hälfte des Auges. Am 4. No- 
vember sind diese Differenzen zwischen rechts und links geringer. Am 
6. November kaum noch merklich. Am 12. November Versuch, 


ZuR PHYSIOLOGIE DER SYMPATHISCHEN GANGLIEN. 129 


H N. ischiadieus dexter freigelegt und durchschnitten, das centrale Ende gereizt. 


Damit ist meines Erachtens die Annahme eines Tonus widerlegt, sofern 
sie auf jener an sich höchst interessanten Beobachtung Braunstein’s! 
beruht. Aber sie ist damit noch nicht überhaupt widerlegt. Deswegen 
schien eine weitere directe experimentelle Prüfung der Frage nothwendig. 
Ueber diese ‚soll zunächst berichtet werden. Sie ist angestellt an den 
Ganglien, welche auf der Bahn der die Iris versorgenden Nerven liegen. 

Erstlich, weil gerade für sie das Bestehen eines Tonus noch vielfach 
angenommen wird. Gelingt es, für sie die Frage zu entscheiden, so dürfte 
sie wohl überhaupt entschieden sein. Zweitens eignen sie sich vorzugsweise 
für die Untersuchung. Denn sie innerviren zwei antagonistisch zu einander 
wirkende Muskeln. Wird das eine Ganglion ausgeschaltet und damit ein 
möglicher Weise von ihm ausgehender Tonus aufgehoben, so muss die 
Wirkung des anderen hervortreten. Diese, sei sie auch nur gering, lässt 
sich hier an dem Erfolgsorgan, der Iris, mit grosser Schärfe und Bestimmt- 
heit feststellen. 

Zwar hänst das so lebhafte Spiel der Pupille nicht lediglich, wie 
dies eben Braunstein durch sehr sinnreiche Versuche dargethan, von 
dem Entgegenwirken des Sphincters und des Dilatators der Iris ab, es 


! Aus dieser Beobachtung lässt sich jetzt nur folgern, dass die prompte Er- 
weiterungsfähigkeit (vielleicht sogar überhaupt die Beweglichkeit) der Iris leidet, sobald 
die Neurone der Muskelfasern des Dilatators verödet sind. Ich vermeide es absichtlich, 
dies sofort für einen trophischen Einfluss der Neurone im früheren Sinne auszubeuten. 
Doch will ich nicht unterlassen auf eine Dissertationsschrift von Roebroeck hinzu- 
weisen (Het Ganglion Supremum Colli Nervi Sympathiei, Utrecht, van Boekhoven, 
1895). Der Verf. behauptet darin und belegt es durch Abbildungen, dass nach Durch- 
schneidung der capitalen Fädehen jenes Ganglions (vgl. meine Abbildung in der vorigen 
Arbeit) ein bestinnmter Theil des Corpus eiliare der Degeneration verfalle; dies tritt 
nicht ein nach blosser Durchschneidung des Sympathicus am Halse. In jenem Theil 
des Corpus ceiliare, also nicht in der Iris selbst, sieht der Verf. den Dilatator pupillae. 
Jedenfalls bedürfen diese Dinge dringend weiterer Nachprüfung und Aufklärung. 

Archiv f. A. u. Ph. 1898. Physiol, Abthlg, 9 


130 PAUL SCHULTZZ: 


kommt noch eine dritte Componente hinzu.! Diese aber wird durch die 
Durchschneidung des Oculomotorius, wie sie ja für unsere Untersuchung 
nöthig ist, ausgeschaltet. Dann beruht also in der That die Weite der 
Pupille, die sehr genau mit Leichtigkeit gemessen werden kann, nur noch 
auf der Wirkung der Kraft jener beiden Muskeln. 

Die anatomischen Verhältnisse, die diesen Erörterungen zu Grunde 
liegen, habe ich bereits in der vorhergehenden Abhandlung dargelegt. Hier 
möge es genügen, darauf und auf die dort beigefügte Abbildung zu ver- 
weisen. Zu den Versuchen wurden nur Katzen benutzt. Ihre helle, in 
der Mehrzahl hellgelbe Iris lässt sie besonders passend erscheinen; diese 
für die Beobachtung so günstige Färbung macht jede Bewegung derselben 
sofort augenfällig, und ausserdem zeigen die Katzen vorzüglich einen aus- 
giebigen und lebhaften Wechsel der Pupille. Es wurden nach dem Ver- 
fahren, das in der vorhergehenden Abhandlung angegeben ist, der N. oculo- 
motorius mit dem Ganglion ciliare und den Nn. eiliares breves in der 
Augenhöhle und in bekannter Weise der N. sympathieus am Halse mit 
dem Gangl. cerv. supr. und den davon ausgehenden Fädchen für den Dila- 
tator? blossgelegt. Der N. oculomotorius und der Sympathieus (thoracal- 
wärts vom Ganglion supr.) wurden durchschnitten. In einigen Fällen an 
demselben Tage, in anderen erst am nächsten Tage, um die durch Prä- 
paration und Durchschneidung etwa eingetretenen Reizzustände abklingen 
zu lassen, wurden die Versuche angestellt. Diese bestanden 1. in der 
reizlosen Ausschaltung eines Ganglion, 2. in der reizlosen Ausschaltung der 
davon entspringenden Nerven, 3. dadurch, dass diese Nerven für einen 
etwa vom Ganglion ausgehenden Reiz unwegsam gemacht wurden. 

Die Ausschaltung des Ganglions konnte durch Nicotin bewirkt werden. 
Langley hat bekanntlich die bedeutsame Entdeckung gemacht, dass dieses 
die sympathischen Ganglien lähmt. Er giebt aber in seiner ersten Mit- 
theilung®? hierüber an, dass der Lähmung eine kurze Reizung voraufgehe. 
Da jene sicher und schnell eintritt, so würde diese in unserem Falle von 
keinem Belang sein. Ob die Reizung übrigens (um dies beiläufig zu be- 
merken) wirklich vorhanden ist bei localer Application einer I procent. Lösung, 
will mir zweifelhaft erscheinen. Langley schloss dies daraus, dass nach 
Betupfen des Ganglion cervicale supr. Sympathiei der Lähmung eine Pupillen- 
erweiterung voraufgeht. Ich habe eine solche in zwei Fällen nach Durch- 
schneidung des Sympathicus und des Oculomotorius nicht wahrgenommen. 


! Vgl. meine vorhergehende Abhandlung: „Ueber die Wirkungsweise der Mydriaca 
und Miotica“ 8.49. 


? Vgl. vorige Abhandlung. 
® Langley and Dickinson, On the Local Paralysis of Peripheral Ganglia. 
Proceedings of the Royal Society of Lond n. 1889. XLII. 


- 


ZUR PHYSIOLOGIE DER SYMPATHISCHEN GANGLIEN. 131 


Man könnte denken, dass in jenen Langley’schen Versuchen die oben 
erwähnte dritte Componente eintrat, die reflectorische Pupillenerweiterung 
vom Oculomotorius, hier hervorgebracht durch die Einwirkung des Alkaloids 
auf das Gewebe in der Umgebung des Ganglions, Indess einem Einwand 
unterliegt die Anwendung des Nicotins für unseren Zweck doch. Langley 
nimmt an, dass dieses Gift die Ganglienzellen der postcellulären Fasern 
(vgl. die Figur in der vorhergehenden Abhandlung) lähmt. Wahrscheinlich 
mag es sein, aber bewiesen hat er es nicht. In einem solchen sympathischen 
Ganglion befinden sich aber ausser jenen Zellen und deren cellulifugalen 
Axonen noch deren cellulipetale Fortsätze, die Dendriten, und die End- 
bäumchen der präcellulären Fasern. Wie, wenn auf diese nur das Nicotin 
wirkte? Diese feinere Unterscheidung ist für die Langley’schen Versuche 
und Erörterungen gleichgültig, ihr Werth, ihre Richtigkeit und Bündigkeit 
sind dadurch nicht in Frage gestellt. Für die vorliegende Untersuchung 
aber bedeutet sie Alles. Denn würden in der That nur diese Endbäumchen 
oder diese cellulipetalen Dendriten gelähmt, so würde ein von den Zellen 
ausgehender Tonus gar nicht betroffen, er könnte weiter bestehen; unser 
Versuch entschiede nichts. Und diese Möglichkeit liegt nicht gar so fern. 
Denn, dass die Endigungen anderer motorischen Rückenmarksnerven nicht 
von derselben Dosis Nicotin beeinflusst werden, beweist nichts. Giften 
gegenüber verhält sich selbst in derselben Nervengattung eine Endigung 
nicht wie die andere. Wir wissen, dass Atropin z. B. unter gleichen Be- 
dingungen die Endigungen der sympathischen Nn. ciliares breves und der 
mit der Chorda tympani verbundenen sympathischen Drüsenneurone lähmt, 
aber nicht die der sympathischen Nn. ciliares longi, nicht die der vom 
Gangl. cervicale supr. ausgehenden Drüsenneurone und anderer Faser- 
systeme des Sympathicus. 

Ein anderes, zugleich ein völlig einwandfreies Mittel zur reizlosen Aus- 
schaltung eines Ganglions ist das Ammoniak auch in Verdünnung. Für 
das Ganglion ciliare kann man es freilich nicht verwenden, da es durch 
Resorption bald in den Bulbus dringt und die Irismuskeln selbst angreift, 
unbedenklich aber für das Ganglion cervic. supr. Dasselbe Alkali wurde 
auch zur Ausschaltung der Nerven, also nur der vom Grangl. cerv. supr. 
ausgehenden Dilatatorfasern verwandt, Für die Nerven wurde ferner noch 
ein starker constanter Strom (4 kleine Groves) in aufsteigender Richtung 
benutzt; dieses hebt einen etwa von den Zellen herabsteigenden Reiz auf. 
Von dem von Gad eingeführten Abkühlungsverfahren musste leider ab- 
gesehen werden, da die in Frage kommenden Nerven so tief liegen, dass 
eine genügende Abkühlung der Thermode nicht zu erwarten ist. 

Die Beobachtung der Pupille geschah in folgender Weise. Auf die 
Cornea wurden zwei schwarze Fäden rechtwinklig zu einander so aufgelegt, 

9* 


132 * PAUL SCHULTZ; 


dass der eine mit dem oberen, der andere mit dem äusseren freien Rand 
der Iris zusammenfiel. Ein Beobachter nahm vor dem 'Thier Platz und 
betrachtete die Iris möglichst in derselben Haltung, um eine parallaktische 
Verschiebung zwischen Faden und Irisrand zu vermeiden. Im Folgenden 
gebe ich zwei Versuchsprotocolle. 


Ill. Katze, grauweiss, 22008" schwer. 


2. August 1897. Links Vago-Sympathieus durchschnitten, Pupille 6 Um; 
darauf Oculomotorius, Ganglion ciliare und Nn. eiliares breves freigelegt. 
ÖOculomotorius durchschnitten. Pupille 12"®. Reizung (mit dem Inductions- 
strom, Rollenabstand 10%) des Sympathicus Erweiterung, der Oiliares breves 
Verengerung. Die äussere Wunde mit 1pro mill. Sublimatlösung gereinigt 
und vernäht. Am nächsten Tag werden die Nerven wieder freigelegt. Reizung 
mit dem Inductionsstrom giebt denselben Erfolg wie gestern. Die Pupille 
in der beschriebenen Weise beobachtet. Pupille 12 m”, 

11 Uhr 30 Min. Ein constanter Strom von 4 kleinen Groves wird in 
aufsteigender Richtung durch die Nn. ciliares breves geschickt. Beim Schliessen 
und Oeffnen der Kette eine kurze Verengerung, die sogleich zur früheren 
Weite zurückkehrt. Während der Strom durch die Nerven geht keine Er- 
weiterung. Pupille bleibt unverändert stehen. 

11 Uhr 45 Min. Das Ganglion ceiliare wird mit einer 1 procent. Nieotin- 
lösung vermittelst eines darin eingetauchten Pinsels betupft. Die Pupille 
bleibt unverändert stehen, keine Erweiterung. Da nach Langley die Wir- 
kung des Nicotins nach 20 bis 30 Minuten aufhört, so wird 

12 Uhr 15 Min. auf das Ganglion cervicale supr. Sympath. mittels eines 
Pinsels eine concentrirte Ammoniaklösung gebracht. Keine Verengerung, 
Pupille bleibt unverändert stehen. 


IV. Katze, grau, 2800 5% schwer. 


12. August 1897. Rechts in der Augenhöhle Oculomotorius freigelegt 
und durchschnitten. Am Halse Ganglion cervie. supr. Sympath. freigelegt, 
der Sympathieus thoracalwärts durchschnitten. Pupille 11 "m. 

10 Uhr 45 Min. 1procent. Nicotinlösung auf das Ganglion cervicale 
supr. mittels eines Pinsels, so dass es darin schwimmt. Keine Verengerung 
nach 2, 5, 10, 15 Minuten. Darauf concentrirte Ammoniaklösung auf das 
Ganglion keine Veränderung in der Weite der Pupille. 


Diese beiden Beispiele, wie die übrigen vielfach variirten Versuche 
beweisen, soweit dies mit unseren gegenwärtigen Mitteln zu beweisen ist, 
dass die sympathischen Ganglien einen automatischen (autoch- 
thonen Tonus nicht unterhalten. 

Da es aber unserem teleologischen Triebe entspricht, dem besonderen 
Organe auch einen besonderen Zweck zuzuschreiben, so erhob sich nunmehr 
die Frage, ob denn nicht diese Ganglien etwa einen modifieirenden Einfluss 
auf die Fortleitung der Erregung hätten. Die Untersuchung dieser Frage 


ZuR PHYSIOLOGIE DER SYMPATHISCHEN GANGLIEN. 133 
wurde an Katzen in folgender Weise vorgenommen.! Das Thier wurde 
tracheotomirt und in die Trachea eine Canüle eingeführt, durch welche die 
Narcose weiter unterhalten wurde. Jetzt war die Gegend des Ganglion 
cervicale supremum bequem und sicher zugänglich zu machen. Larynx, 
Pharynx und Zungenbein wurden nach der anderen Seite herübergezogen. 
Submaxillardrüse, Biventer und Carotis communis nach aussen. Dann sieht 
man leicht in der Tiefe das Ganglion cervie. supr. durch Bindegewebe innig 
verbunden mit dem Ganglion jugulare des Vagus. Das Ganglion cervicale 
wurde sorgfältigst geschont, und nur die vom capitalen Ende desselben 
heraustretenden 2 bis 3 Fädchen vom umgehenden Bindegewebe befreit. 
Waren sie genügend mit aller Vorsicht isolirt, so wurde ein Faden unter 
sie hindurchgeführt, um’ sie später bequem auf die wohl isolirten Elektroden 
betten zu können. Schliesslich wurde der Sympathicus am Halse, also 
thoracalwärts vom Ganglion supr., in einigen Fällen unterbunden und durch- 
schnitten. In der Mehrzahl der Fälle dagegen wurde er in wechselnder 
Entfernung vom Ganglion nur auf eine kleine Strecke frei präparirt, gross 
genug, ihn völlig isolirt reizen zu können. Die Elektroden waren aus Platin 
gefertigt, 1” von einander entfernt, an den Enden umgebogen und von 
aussen mit einer starken Schicht eines isolirenden Harzgemisches überdeckt. 
Als Reizquelle diente ein du Bois-Reymond’sches Schlitteninductorium, 
das von einem Daniell gespeist war. Da man sich des Oeffnungsinductions- 
schlages bei der Reizung des Sympathicus nicht bedienen kann, so wurde 
in den secundären, den Elektrodenkreis, der Pflüger’sche Fallhammer mit 
Helmholtz’scher Wippe so eingefügt, dass nur während seines Falles 
dieser Kreis geschlossen war. Auf diese Weise erhielt man einen tetani- 
sirenden Reiz von stets gleicher Dauer, in meinen Versuchen = 0-25 Se- 
cunden. Die Thiere erhielten vor Beginn der Operation je nach der Grösse 
0.03 bis 0.04 8m Morphium subeutan. Ausserdem wurden sie durch ein 
Aether-Chloroformgemisch beständig in tiefer Narcose gehalten. Dadurch 
erlangt man, dass das sehr heftige Geräusch des Fallhammers die Thiere 
nicht erschreckt und schon reflectorisch eine Pupillenerweiterung auslöst. 
Dennoch haben wir uns immer im Verlaufe der Prüfung selbst noch aus- 
drücklich überzeugt,” dass weder das Geräusch noch die Erschütterung des 
Hammers uns täuschte, indem wir öfters, ohne zu reizen, ihn fallen liessen; 


1 Einige Versuche wurden auch an Kaninchen angestellt, doch ist ihre Pupillen- 
reaction, selbst bei Albinos, so träge, dass sie sich nicht sonderlich zur präcisen Be- 
stimmung des Schwellenwerthes eignen. Uebrigens stimmten die gewonnenen Ergebnisse 
mit denen bei der Katze durchaus überein. 

? Hr. Prof. I. Munk hatte die Güte, die Beobachtung der Pupille zu, übernehmen 
und mich dadurch wesentlich bei diesen Versuchen zu unterstützen, wofür ich ihm 
an dieser Stelle meinen ergebenen Dank abstatte. 


134 PAUL SCHULTZ: 


dann durfte keine Pupillenerweiterung eintreten. Durch Verschiebung der 
secundären Rolle wurde die Entfernung von der primären bestimmt, in 
welcher noch eben eine Erweiterung zu bemerken war; darauf wurde diese 
Stelle durch mehrfaches Entfernen und Annähern der secundären Rolle 
genau präcisirt. Folgendes Beispiel diene zur Erläuterung: 


V. Kleine Katze, grau, 1000 8”®% schwer. 


Rechts Ganglion cervie. supr. blossgelegt, die capitalen Fäden isolirt, 
ein Faden darunter geführt, der Sympathicus etwa 21/, ““ thoracalwärts vom 
Ganglion isolirt und ebenfalls ein Faden untergelegt. 


(= tral = th Iwärt D 0 1 
centra oracalwärts vom P= peripherisch — capitale Fäden. 


Ganglion. 
25 °%@ nichts 20 °® nichts 
22 „ „ 18 „ „ 
20 „ eben Erweiterung ARTEIURE 
15 ” ) 
13 ” ” 
11 „ eben Erweiterung 
10 „ Erweiterung 
12 „ eben Ereiterung 
13 ,„ nichts. 
Nach 10 Minuten: 
21 °® nichts 16 °® nichts 
20 ” „ 13 „ „ 
18 „ Erweiterung 11 * 
21 , nichts 10 „ geringe Erweiterung 
20 „ Ss 9 „ deutliche Erweiterung 
le 5 10 „ geringe Erweiterung 
18 „ ” 11, „ „ 
17 „ „ 12 „ nichts 
16 „ Erweiterung 11 „ geringe Erweiterung. 
Nach 10 Minuten: 
16 °® Erweiterung 15 °® nichts 
ihre >, + 10 ,„ eben Erweiterung 
15 „ eben Erweiterung aa wemelts 
19 „ nichts 10 „ eben Erweiterung. 
18 „ eben Erweiterung 
19 „ nichts 


In den folgenden Beispielen soll nur die auf solche Weise ermittelte 
Entfernung angegeben werden, die der Reizschwelle entsprach. 


VI. Kater, schwarz, 2500 ®”% schwer. 


Rechts Sympathieus 1% thoracalwärts vom Ganglion (= O) freigelegt, 
ebenso die capitalen Fäden (= P) isolirt. 
Zr ann 39 cm 
= u, mn, 


ZuR PhHYsioLOGIE DER SYMPATHISCHEN GANGLIEN. 135 


VI. Katze, schwarzweiss, 1500 8”% schwer. 


Links Sympathieus 1°” thoracalwärts vom Ganglion (= (©) freigelegt, 
ebenso die capitalen Fäden (= P) isolirt. 
= 39m gem 
= 17, 17 , 


VII. Kater, schwarz, 3500 sm schwer. 


Rechts Sympathieus etwa 2°” thoracalwärts vom Ganglion freigelegt 
und die capitalen Fäden isolirt. 

EI 22h 

Ca 10, 10, 


Aus diesen Beispielen, wie aus allen anderen Versuchen geht zur 
Evidenz hervor, dass zur Reizung der capitalen Fäden beträchtlich grössere 
Stromstärken nöthig sind als zur Reizung des Halssympathicus. Der Ver- 
werthung dieses Ergebnisses zu irgend welchen Folgerungen stellt sich aber 
sofort ein gewichtiger Einwand entgegen. Bei der Reizung der capitalen 
Fäden arbeitet man sehr in der Tiefe. Trotz der Art der angewandten 
Elektroden (s. o.), trotz der Vorsicht, diese capitalen Ausläufer durch den 
untergeführten Faden vorsichtig von der Umgebung abzuheben und sie 
möglichst davon isolirt auf die Elektroden zu bringen, bildet in Folge der 
Enge der Theile und der sich bald ansammelnden Gewebsflüssigkeit der 
ganze Kopf eine gut ableitende Nebenschliessung, die bei dem besser zu- 
gänglichen und leichter isolirbaren Halssympathicus nicht auftritt. Gegen 
dieses Bedenken sprach zwar der Umstand, dass nicht mittelstarke und 
starke Ströme angewandt werden, sondern nur solche, die gerade dem 
Schwellenwerth entsprachen, immerhin sind aber die Stromstärken bei 
Reizung der capitalen Fäden, absolut genommen, recht beträchtliche 
(Rollenabstand 10 ®, 17m, 13), 

Ferner sprachen Versuche gegen diesen Einwand, wo, wie in Bei- 
spiel II, nur 1°® thoracalwärts vom Ganglion der Sympathicus gereizt 
wurde. Dennoch mussten ausdrückliche Vorkehrungen getroffen werden, 
die Bedingungen möglichst gleich zu machen, also auch bei Reizung des 
Sympathicus am Halse Gelegenheit zur Ableitung zu geben. Dies geschah 
einmal, indem unmittelbar neben dem Ganglion (thoracalwärts) der Sym- 
pathicus auf eine kleine Strecke, gerade hinreichend die Elektroden unter- 
zubetten, isolirt und dann gereizt wurde. Das andere Mal wurden dann 
noch über den Sympathicus und die angelesten Elektroden Muskel und 
umgebendes Bindegewebe gedeckt, so dass also der ganze Körper ebenfalls 
eine Ableitung darstellte. Ueber den Erfolg dieser Massnahmen giebt nach- 
stehendes Protocoll Bericht. 


136 PAuL ScHULTz: 


IX. Kater, grau, 3000 8% schwer. 


Tracheotomie, Trachealcanüle. Rechts Sympathieus unmittelbar neben 
dem Ganglion cervicale supr. freigelegt, capitale Ausläufer sorgfältigst isolirt 
und Faden untergeführt. Die Wunde wird in der Tiefe durch vorsichtiges 
Betupfen mit Wattebäuschehen möglichst trocken gehalten. © = Sympathieus 
dicht neben dem Ganglion; P= capitale Fäden. 


1. 030 I een 
ea IT, =, 
Darauf wird während der Reizung des Sympathieus Muskel und um- 
gebendes Gewebe über die Elektroden gedeckt. 
un = 28° IDG er ae 
Te lee, Pa Han 


Hieraus geht zur Genüge hervor, dass auch in den früheren Versuchen 
nicht Abgleichung das oben ausgesprochene auffallende und principiell be- 
deutsame Ergebniss fehlerhaft beeinträchtigt haben kann. Indess noch ein 
anderer Einwand erhebt sich. Bei der vergleichenden makroskopischen Be- 
trachtung sieht es aus, als ob die capitalen Fäden, etwa drei an der Zahl, 
zusammen genommen stärker sind als der sehr feine Halsstrang. Dies 
kann einmal darauf beruhen, dass zwar die Dilatatorfasern an der Zahl die 
gleichen sind wie im Halsstrang, dass aber jeder dieser drei Fäden, in 
denen ihre Bündel liegen, eine starke bindegewebige Scheide hat. Zum 
Anderen kann im Ganglion eine wirkliche Faservermehrung stattfinden,! 
der Art, dass mit je einem Endbäumchen der präcellulären Neurone die 
Dendriten mehrerer postcellulären Neurone in Contact treten. Dann kämen 
also auf ein Neuron. des Rückenmarks zwei, drei oder noch mehr sym- 
pathische Neurone. 

Ein bekanntes Beispiel für ein solches Verhalten bietet das Ganglion 
ciliare. Peripherisch von demselben, also in den sympathischen Ciliares 
breves findet sich eine viel grössere Faserzahl als central in seiner mo- 
torischen Wurzel vom N. oculomotorius. Welche von beiden Möglichkeiten 
hier statthat, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen; denn in den capitalen 
Fäden sind die Fasern marklos und wir haben kein Mittel blosse Axen- 
cylinder auf Querschnitten distinet zu unterscheiden und damit zu zählen.? 
Wie dem aber auch sei, der grössere Querschnitt der capitalen Fäden 


! Sämmtliche pupillenerweiternden Fasern kommen aus dem Rückenmark, treten 
in den Sympathicus ein, ziehen, wie dies Langley in seinen classischen Versuchen 
dargethan, durch das Gang]. cerv. inf. und enden mit freien Endbäumchen im Gangl. 
cerv. supr. Von hier beginnen die sympathischen Neurone (vgl. meine vorige Ab- 
handlung). 

* Hierzu kommt, dass im Sympathicus, wie in den capitalen Fäden noch andere 
als pupillenerweiternde Fasern laufen. 


ZuR PHYSIOLOGIE DER SYMPATHISCHEN GANGLIEN. 137 


müsste, um dieselbe Stromdichte wie der Halsstrang zu haben, eine grössere 
Stromstärke erfordern. Dass auch dies nicht die Ursache der in unseren 
Versuchen hervorgetretenen grossen Differenzen der Reizintensitäten ist, 
lässt sich durch einen einfachen Versuch darthun. 


X. Kater, vom Versuch VII. 


Der Sympathicus rechts wird an einer neuen Stelle 5 “® thoracalwärts 
vom Ganglion cervie. supr. isolirt. Als Schwellenwerth wird ermittelt 20 ” 
Rollenabstand. Darauf werden Sympathicus und Vagus an der nämlichen 
Stelle zusammen auf die Elektroden gebettet. Der Schwellenwerth zeigt 
keine merkliche Veränderung. Schliesslich wird der Vagus allein den Elek- 
troden aufgelegt und über ihn hinweg der Sympathicus, ohne dass er die 
Elektroden berührt. Als Schwellenwerth ergiebt sich jetzt 17% Rollen- 
abstand. 

Drückt man dies in absolutem Maass aus, so verhält sich die Strom- 
stärke bei 17% zu der bei 20% Rollenabstand wie 1:2. Der Vagus 
erscheint aber etwa 3 bis 4 Mal so stark als der Sympathicus. Nehmen 
wir selbst ein gleiches Verhältniss für die capitalen Fasern zum Halsstrang 
an, so genügt dies doch nicht für die an demselben Thier in Versuch VIII 
gefundenen Stromstärken. (= 10%: P= 22 verhält sich in absolutem 
Maass wie 1:16. Ganz ähnliche Werthe ergeben die übrigen Versuche. 


Schliesslich könnte man noch das Bedenken erheben, dass die Fasern 
des Halsstranges eine Markscheide haben, die der capitalen Fäden aber 
marklos sind. Dies hätte aber nur einen Sinn, wenn die Ergebnisse der 
Versuche gerade umgekehrte gewesen wären als wie sie sind, wenn also 
bei Reizung der ersteren Fasern grössere Stromstärken nöthig gewesen 
wären als bei Reizung der letzteren. Denn nach Allem, was man bis jetzt 
weiss und annimmt, ist der Axencylinder der eigentlich functionelle Theil 
der Nerven, der Theil, in dem die Erregung abläuft, der die Erregung 
fortleitet, und der auf Reize die Erregung auslöst. Durch die Umhüllung 
mit der Markscheide, und wäre diese nicht, wie man früher glaubte, als 
Isolirungsschicht aufzufassen, sondern wäre sie selbst ein sehr guter Leiter, 
würde doch immer der Querschnitt des Leiters vergrössert und dadurch 
für die gleiche Stromdichte eine grössere Stromstärke erforderlich sein. 

Nach alledem scheint es zweifellos zu sein, dass das Ergebniss meiner 
Versuche, dass die capitalen Fäden beträchtlich grösserer Reizstärke für 
denselben Erfolg bedürfen als der Sympathicus am Halse, nur in einem 


! Hr. Dr. Cowl hat eine absolute Skala mit Integraleinheit an einem Muster- 
sehlitteninduetorium nach direeten Messungen am Galvanometer aufgestellt, welche er 
bei nächster Gelegenheit zu veröffentlichen gedenkt. Für die vorliegende Untersuchung 
hatte er die Güte, mir dieselbe zur Verfügung zu stellen. 


138 PAuL SCHULTZ: ZUR PHYSIOLOGIE DER SYMPATHISCHEN GANGLIEN. 


Sinne gedeutet werden kann. In diesem: die sympathischen, die post- 
cellulären Neurone erfordern für ihre Reizschwelle stärkere Reizintensitäten 
als die zugehörigen Rückenmarksneurone, die präcellulären Neurone. Da 
nun an der Uebergangsstelle beider Neuronsysteme das sympathische 
Ganglion eingeschaltet ist, in dem die sympathischen Nervenzellen liegen, 
so ergiebt sich als naheliegende, freilich nicht durchaus nothwendige Fol- 
gerung, das Ganglion mit seinen Zellen damit in Beziehung zu setzen. 
Man hat sich dann zu denken, dass in den sympathischen Ganglien, be- 
züglich dessen Zellen mehrere minimale Reize vom Centralorgan gesammelt 
werden, bis durch ihre Summation die für die Schwelle des sympathischen 
Neurons erforderliche Intensität erreicht ist, oder dass jeder minimale Reiz 
vom Centralorgan selbständig vom Ganglion bis zu dieser Intensität ver- 
stärkt wird. In jedem Falle würde die alte, für die Spinalganglien freilich 
nicht zutreffende, Anschauung! für die sympathischen Ganglien wieder auf- 
leben, dass sie als Relais für das Nervenprincip der sympathischen Fasern 
zu betrachten sind. . 


! Auch für das Ganglion jugulare N. vagi trifft sie nicht zu. Vgl. J. Gad und 
M. Joseph, Ueber die Beziehungen der Nervenfaseın zu den Nervenzellen in den 
Spinalganglien. Dies Archiv. Physiol. Abthlg. 1889. 


Verhandlungen der physiologischen Gesellschaft 
zu Berlin. 
Jahrgang 1897—1898. 


(Hierzu Taf. II u. 111.) A 


I. Sitzung am 29. October 1897. 


1. Hr. L. Lewın hält den angekündigten Vortrag: Ueber die Be- 
ziehungen zwischen Blase, Ureter und Nieren. 


Entgegen der früheren Annahme, dass ein Rückstrom von Blaseninhalt 
in den Harnleiter wegen des eigenthümlichen Verschlusses der Ureteren- 
mündung unmöglich sei, wiesen Lewin und Goldschmidt nach, dass bei 
contractionsfähiger Blase sowohl alsbald nach Injection von Flüssigkeiten 
in dieselbe, als auch durch künstliche Retention der Aufstieg von Blasen- 
inhalt oft experimentell direct zur Anschauung zu bringen ist. Die Druck- 
verhältnisse in der Blase selbst sind bei gut schliessender vesicaler Ureter- 
öffnung für das Zustandekommen dieses Phänomens allein nicht ausschlag- 
gebend; denn auch bei weniger als mittlerer Blasenfüllung kann die 
Rückfluth erfolgen und andererseits bei maximalem Binnendruck, der bis an 
die Grenze der Haltbarkeit der Blasenwand heranreicht, kann sie ausbleiben. 
Der Ureterenmund muss sich öffnen. Aus welchen Gründen er dies thut, 
weswegen dies in manchen Versuchen unmittelbar nach der Einspritzung 
von Flüssigkeit in die Blase geschieht, in anderen erst nach einiger Zeit, 
ist bisher nicht wissenschaftlich feststellbar gewesen. Das Phänomen des 
Aufsteigens von Blaseninhalt zum Nierenbecken vollzieht sich in manchen 
Versuchen so schnell, dass es in seinen einzelnen Phasen nicht erkannt 
werden kann, während in anderen der langsamere Verlauf deutlich zu er- 
kennen gestattet, dass eine rückläufige peristaltische Welle den über den 
Uretermund, bezw. durch den intramutralen Uretertheil gedrungenen Blasen- 
inhalt nierenwärts befördert. 

In den berichteten Versuchen wurden gefärbte Lösungen (Methylenblau) 
zur Einspritzung benutzt. Das weitere Schicksal derselben im Nierenbecken 
ist nicht verfolgt worden. Es war nothwendig zur Ergänzung folgende drei 
Fragen ihrer Beantwortung entgegen zu führen: 

1. Können auch feste Körper nach Einbringung in die Blase in die 
Nieren gelangen und zwar bald nach der Einspritzung und unter verschie- 
denem Binnendruck der Blase bezw. nach Retention ? 


! Ausgegeben am 15. December 1897. 


140 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


2. Welche Wege der Verbreitung nehmen event. diese Körper in der 
Niere? 

3. Gehen unter verschiedenen Versuchsbedingungen fremder Inhalt des 
Nierenbeckens, bezw. feste, in ihm vertheilte Körper in das Blut und von 
dort in entfernte Körpertheile über? 


Als Injectionsmasse gebrauchte ich nach vielen unbefriedigenden Vor- 
versuchen mit anderen Stoffen grünes oder blaues, mit Wasser und Gummi 
arabicum verriebenes Ultramarin, das vorzüglich allen Manipulationen, denen 
die Niere für die mikroskopische Untersuchung ausgesetzt werden musste, 
ohne Veränderung wiedersteht. In einigen Versuchen wurde auch eine 
Diatomee, Melosira nummulans in wässeriger Aufschwemmung in die Blase 
eingespritzt. 

Die Dauer der acut beendeten Versuche nach dem Aufsteigen des 
Blaseninhaltes in das Nierenbecken wurde bis zu einer Stunde und darüber 
ausgedehnt, in den Retentionsversuchen dagegen der Penis abgebunden, die 
Bauchwunde vernäht und das Thier längere Zeit am Leben gelassen. 


Die Untersuchung der Nieren führte Hr. Lommen im 2. anatomischen 
Institut aus. 


Die Ergebnisse der mannigfach modifieirten Versuche waren folgende: 

1. Wie die Versuchsanordnung auch getroffen wurde, fanden sich Farb- 
stoff oder Diatomeen im Nierenbecken. Es liess sich auch hier wie bei 
früheren Versuchen aus vielen Gründen die Ueberzeugung nicht wankend 
machen, dass ein hoher Binnendruck als wesentliche Ursache der Ueber- 
windung des vesicalen Ureterschlusses nicht in Frage kommt. 

Wie für den normalen Eintritt des Harns in den Ureter dieser die 
Reizimpulse sehr wahrscheinlich allein vom Harn erhält, so liegt es nahe 
anzunehmen, dass auch für die Rückwärtsbewegung des Blaseninhaltes es 
‚dieser selbst ist, der Ureterbewegungen auslöst, aber in erster Reihe den 
Uretermund zu einer Oeffnung veranlasst. 

Es liegt kein Grund vor, die Annahme unwahrscheinlich sein zu lassen, 
dass ein abnormer Reiz, der ein so dicht mit Ganglien besätes Organstück 
trifft, nicht auch abnorme Bewegungen veranlassen sollte, die sich anfangs 
als ein Auseinandergehen der Ureterlippen darstellen würden. Sobald dieses 
Ereigniss sich vollzogen hat, können Druckdifferenzen zwischen dem Blasen- 
hohlraum und seinem luftleeren Verbindungscanal mit dem Nierenbecken 
den Antrieb zu weiterer Flüssigkeitsbewegung geben, die dann entweder 
auf rein physikalische Weise oder durch die rückläufige motorische Ureter- 
thätigkeit, oder beide Momente vereint, sich bis zum Nierenbecken fortsetzt. 


2. Für die in das Nierenbecken gelangten Faserstofftheilchen oder die 
Diatomee stehen drei Canalräume für ein eventuelles centralwärts gerichtetes 
Weiterdringen zur Verfügung: die Harncanälchen, die Lymphräume und die 
Blutgefässe. In allen drei Systemen wurde der fremde Inhalt des Nieren- 
beckens gefunden. Ein primärer Eintritt desselben in die Gefässe scheint 
nicht zu Stande zu kommen. Vielmehr sind es sowohl die Harneanälchen, 
die sich von der Pupille aus direct bei einem hohen Binnendruck des 
Nierenbeckens — und hierbei spielt der Druck eine wesentliche Rolle — 
vielleicht unter Zurückgetriebenwerden ihres Inhaltes damit füllen, als auch 
die Lymphmengen, die davon aufnehmen. 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — L. Lewin. — E. Dorn. 141 


Die letzteren enthalten am meisten davon. Sind es Saugkräfte, 
die von'den Gefässen her, gleichsam wie eine Bunsen’sche 
Pumpe auf die Anfangstheile der Lymphmenge wirken und 
deren Inhalt ansaugen? Stellenweise liess sich eine vollkommene Aus- 
füllung der Lymphbahnen nachweisen. Als gefärbte Stränge konnte man 
sie von verschiedenen Stellen des Nierenbeckens, auch von der Papille aus, 
in die Niere hinein verfolgen. Dies kann nur dann zu Stande kommen, 
wenn im Nierenbecken ein hoher Druck herrscht. In entsprechender Menge 
partieipiren dann auch die venösen Gefässe, die in einzelnen Versuchen auf 
dem Durchschnitt bei mikroskopischer Beobachtung mit Farbstoff ausgefüllt 
erschienen. 

3. Das Vorhandensein von Farbstoff in den Nierengefässen liess es 
wahrscheinlich sein, dass man ihn auch in entfernteren Körperabschnitten 
finden würde, um so mehr, als es schon Poirier, der dieses Phänomen 
nicht weiter verfolgte, gelungen war, nach Injection von Wasser in den 
Ureter, dieses aus der Vena renalis wieder herausfliessen zu sehen. Es 
gelang mir in einigen Versuchen Ultramarin und die Diatomee im Herzen, 
in den Lungengefässen und der Leber nachzuweisen. Das Blut des linken 
Ventrikels schien viel weniger davon zu enthalten als das des rechten. Im 
Gehirn gelang es mir nicht etwas davon aufzufinden. 

Für die Ableitung pathologischer Vorgänge in den betheiligsten Organen 
sind die positiven Versuche, selbst wenn sie seltener als es der Fall ist, 
einträten, genügend. Sie geben eine Erklärung für secundäre, bisher dunkle, 
aus Vorgängen, in der Niere ableitbare Zustände, bei denen keine einfache 
Resorption, sondern ein Eingeschwemmtwerden corpusculärer Theile aus dem 
Nierenbecken bis zu den grossen abführenden Gefässen und von dort in 
entferntere Körpertheile in Frage kommt. 

Sie zeigen, dass eine Communication zwischen Blase und Herz besteht, 
die unter Umständen für gelöste und ungelöste Stoffe in umgekehrter Rich- 
tung begehbar ist, ja, die selbst den acuten Tod durch Embolie vermitteln 
kann, wenn, wie Lewin und Goldschmidt kürzlich nachwiesen, Luft in 
die Blase gebracht wird. 


2. Der Schriftführer verliest folgende Entgegnung auf die Bemerkungen 
des Hrn. Dr. Cowl, betreffend Sichtbarkeit der Röntgenstrahlen, 
von Prof. Dr. E. Dorx in Halle a. S.: 


Indem ich darauf verzichte, jede einzelne unzutreffende Behauptung 
des Hrn. Dr. Cowl richtig zu stellen, beschränke ich mich auf folgende 
wesentlichen Punkte. 

I. Hr. Dr. Cowr sagt:! „Nun hat Hr. Dorn seine Versuche, die er 
einer Versammlung von Gelehrten und Laien vorgeführt hat, dahin geändert, 
dass er nieht mehr wie früher Inductionsschläge von nur 51/, bis 8°”, 
sondern solche von 40 “" Schlagweite benutzt hat.“ 

Aus der Mittheilung von Dr. Brandes und mir” hätte Hr. Dr. Cowl 
ersehen können, dass dasselbe mächtige Inductorium von 40 
Schlagweite mit 10 Accumulatoren von Anbeginn unserer Ver- 
suche an benutzt ist. 


! Dies Archiv. Physiol. Abthlg. 1897. 8. 549. 
2 Wiedemann’s Annalen. Bd. LX. 8. 479, Zeile 7 von oben. 


142 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


II. Die Controle des Vaeuums der Röntgenröhre durch ein parallel ge- 
schaltetes Funkenmikrometer habe ich keineswegs bei meinen letzten Ver- 
suchen aufgegeben, wie Hr. Dr. Cowl behauptet.‘ Vielmehr halte ich dies 
Verfahren nach wie vor für das sicherste, um günstige Versuchsbedingungen 
zu erzielen. Die Probe mit dem Handschatten auf dem Baryumplatineyanür- 
schirm ? habe ich nur beiläufig gemacht, um einen Vergleich meiner Appa- 
rate mit denen des Hın. Dr. Cowu herbeizuführen. 

HI. Dass die Lichterscheinung bei etwa 6 Unterbrechungen in der 
Seeunde intermittirend war, ist so selbstverständlich, dass ich es für 
überflüssig gehalten habe, ein Wort darüber zu sagen. 

IV. Bei der 8. 548 mitgetheilten Wiederholung des Grundversuches 
habe ich dasselbe Verfahren eingehalten wie bei den beschriebenen? 
mit Hrn. Brandes gemeinsam angestellten Beobachtungen. Es ist mir 
daher unerfindlich, wie Hr. Dr. Cowl S. 549 behaupten kann, ich hätte 
seinen Versuchsplan nebst Cautelen angenommen. 

V. Wenn Hr. Dr. Cowl den Versuch Röntgen’s mit dem engen Spalt 
und meinen eigenen ähnlichen mit dem Röntgenschatten eines Messing- 
stabes nicht zu wiederholen vermochte, so kann ich darin nur einen er- 
neuten Beleg dafür erblicken, dass seine Apparate für Versuche über Sicht- 
barkeit der Röntgenstrahlen weniger geeignet sind. 


II. Sitzung am 12. November 1897. 


1. Vor der Tagesordnung demonstrirte Hr. ImmAnueu Munk ein mi- 
kroskopisches Präparat einer vom Ureter aus injieirten Niere 
und gab dazu folgende Erläuterung: 


In der Discussion, die sich in der letzten Sitzung an den Vortrag des 
Hrn. L. Lewin* anschloss, habe ich unter Anderem die Bemerkung ge- 
macht, dass ich vor 15 Jahren, gelegentlich eines Versuches, die Harn- 
canälchen einer Pferdeniere vom Ureter aus mit Carminleim zu injieiren, 
Präparate gewonnen habe, in denen ein Theil der geraden Harncanälchen 
mit dem Farbstoff erfüllt, daneben aber, so zu sagen durch Extravasation, 
der Farbstoff auch zum Theil in die Blutgefässe eingedrungen war, ohne 
dass sich der Ort des Durchbruchs oder eine Blutung auffinden liess, 

Ich lege Ihnen heute einen solchen Nierenschnitt vor, in dem Sie bei 
schwacher (30 facher) Vergrösserung einen Theil der Tubuli recti (der 
Schätzung nach etwa !/, bis !/, der vorhandenen) mit rothem Farbstoff 
erfüllt sehen, aber nur von der Papille bis zur Grenzschicht oder nur 
wenig in die Rinde hinein, jedenfalls nirgends bis zum sogenannten Schalt- 
stück. Daneben erkennen Sie das bekannte feingegitterte Capillarnetz, das 
die geraden Canäle der Markstrahlen und die gewundenen Rindencanälchen 
umspinnt, zum Theil vollständig mit Farbstoff erfüllt, aber nur knapp bis 


! Vgl. dies Archiv. Physiol. Abthlg. 1897. S, 549, 550. Man sehe dagegen 
meine Mittheilung S. 547. 

27 3.2548.0792,320: 

3 Wiedemann’s Annalen. Bd. LX. 8. 479 u. 480. 

* Dies Archiv. Physiol. Abthl. 1898. 3. 139, 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — IMMANnUEL Munk. — (own. 143 


zu den Glomeruli; in diese, die sich (die Niere stammt von einem Rappen) 
durch die’ reichliche schwarze Pigmentirung ihrer Kapsel noch deutlicher 
als sonst abheben, vollends weiter rückwärts in die Vasa afferentia, in die 
Arteriolae ascendentes und in die Arcus arteriosi ist nirgends der Farbstoff 
eingedrungen. Dagegen findet sich Farbstoff auch in den venösen Gefässen 
der Grenzschicht, die zum Theil damit prall erfüllt sind, und weiter, wenn 
auch spärlicher, in den Venulae rectae des Marks zwischen den Tubuli 
reeti, aber höchstens bis zur halben Marktiefe. 

Offenbar hat der in das Nierenbecken eingespritzte Farbstoff seinen 
Weg durch auf der Papille mündende Sammelröhren des Marks, kaum 
solche der Rinde genommen, ist durch die Wand derselben in die venöse 
Gefässbahn durchgebrochen, und zwar, wie es nach der prallen Injection 
erscheint, entweder in die venösen Gefässbögen oder jedenfalls unweit der- 
selben, ist von da aus aufwärts in die Rinde, die Capillaren bis zu den 
Glomeruli prall erfüllend, und abwärts in einen Theil der büschelförmigen 
Venulae reetae gedrungen. 

Wo dieser Durchbruch aus den in sich abgeschlossenen Bahnen der 
Harncanälchen in das ebenfalls vollständig in sich abgeschlossene Röhren- 
system der Blutgefässe erfolgt ist, dafür bietet auch die sorgfältigste Durch- 
musterung der Praeparate, selbst bei starker Vergrösserung, keinen positiven 
Anhalt. Nirgends ist ein Farbstoff- oder Blutextravasat zu erkennen, das 
den Ort dieses Durchbruchs markirte.e Nur aus dem Umstande, dass die 
Injeetionsmasse die Harncanälchen nicht weit über die Grenzschicht hinaus 
in die Nierenrinde erfüllt und dass einzelne der in der Grenzschicht ge- 
legenen venösen Stämmchen prall injieirt sind, giebt der Vermuthung Raum, 
dass wohl hier in der Grenzschicht der Durchbruch des Farbstoffes aus den 
Harncanälchen in die Blutbahn hinein erfolgt ist. Dass der die Rinden- 
capillaren in grosser Ausdehnung erfüllende Farbstoff nur bis in die Vasa 
efferentia vorgedrungen ist und am Eintritt in die Glomeruli seinen Halt 
gefunden, ist vermuthlich aus den Widerständen zu verstehen, die das an 
sich schon enge Vas efferens bei seiner Aufspaltung in die Glomerulischlingen 
bietet, von denen jede einzelne noch beträchtlich enger ist als das Vas 
efferens. 


2. Hr. Cowr hält den angekündigten Vortrag: Ueber einen neuen 
Maulsperrer für Thiere. (Vgl. Taf. II u. II.) 


Für verschiedene Zwecke der Beobachtung und des Experiments sind 
Maulsperrer für Thiere hergestellt worden. Einmal für die Untersuchung 
der Mundhöhle, des Rachens und des Kehlkopfes, dann für Operationen an 
diesen Theilen, ferner auch für Operationen an benachbarten, sonst schwer 
erreichbaren Organen wie das Gehirn und die an ihrer Basis austretenden 
Nerven. 

Für Versuche mittelst Maulsperrers sind Fleischfresser die geeignetsten 
Thiere, da sie eine ausgiebige Oefinung des Maules gestatten und die 
nöthigen starken Eekzähne besitzen, die einen festen Halt für die Sperr- 
stangen des Instrumentes abgeben. Es wurde auch zuerst ein Maulsperrer 
für Hunde bekannt gegeben, der vor einer Reihe von Jahren von Malassez 
in Paris construirt für mittelgrosse Thiere dient. Derselbe besteht aus zwei 
Theilen, die an einer nach vorn über das Maul hinwegziehenden Lenk- 


144 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


stange seitlich befestigt sind, nämlich vorn zwei Querstangen, die durch 
Schrauben auseinander zu bewegen sind, hinten einen Haken, der den 
Nacken des Thieres umfasst. 

Für die einfache Beobachtung ist die Vorrichtung eine ausreichende; 
bei Operationen kann die nach vorn verlängerte Lenkstange und in noch 
höherem Grade die zur Befestigung dieser an der Unterlage des Thieres 
nothwendige Stützstange sich hinderlich erweisen. 

Vortheilhafter in dieser Hinsicht ist ein von Grossmann vor 6 Monaten 
angegebenes Instrument für Katzen und kleine Hunde, welches in einer 
Arbeit aus dem Wiener physiologischen Institut! beschrieben und abgebildet 
ist. Dasselbe besteht aus einem länglich-elliptischen Metallrahmen, der in 
der Mitte zwei Querstangen trägt, die durch Schraubwerk aus einander zu. 
bewegen sind. Auch durch Schrauben bewegbar sind zwei gepolsterte Bügel, 
die die beiden Kiefer gegen die Querstangen drücken. 

Seitlich am Metallrahmen befindet sich eine Gabel ähnlich der am 
Czermak’schen Kaninchenkopfhalter, die in Verbindung mit der verti- 
calen Stützstange des Thierbrettes verstellbar ist. 

Vor zwei Jahren, bei der Vorführung einer Reihe neuer Aufspannungs- 
vorrichtungen für Säugethiere, Vögel und Kaltblüter ” zeigte ich an dieser 
Stelle, nebst einem einfachen Maulsperrer für Kaninchen (Abbildungen 11 
u. 11a), einen einfachen rasch beweglichen Maulsperrer (Abbildungen 12, 
13a u. 16a), der sowohl allein als zusammen mit verschiedenen Kopf- 
haltern für Katzen und Hunde bequem zu gebrauchen ist. Derselbe besteht 
aus zwei Querstangen, die an den Enden mit zwei aufrechten Führungs- 
stangen in Verbindung stehen. Die obere Querstange lässt sich mit 
einer einzigen Handbewegung von der unteren entfernen und ebenso 
wieder zurückführen. Im letzten Falle greift man einen seitlichen, verstell- 
baren Zahn, der der oberen Querstange einen festen Halt an einer der Ein- 
kerbungen der rechten Führungsstange gegeben hat, mit an. 

Zur sicheren Befestigung grösserer Katzen und kleiner Hunde zieht 
man eine Klemmschraube an dem anderen Ende der oberen Querstange 
gegen die linke Führungsstange an. Zur leichteren Anbringung namentlich 
bei Katzen ist das Instrument auseinandernehmbar. 

In Folge der Leichtigkeit wie der Raschheit der Auf- wie der Zu- 
sperrung des Maules ist es z. B. möglich, die Stimmbandbewegungen zu 
jeder Zeit während einer Exstirpation ihrer Inneryationscentren bezw. 
-leitungsbahnen, wo wie am verlängerten Mark die Operation bei ge- 
neigtem Kopfe und in Folge dessen bei geschlossenem Maule vorgenommen 
werden muss, zu controliren. Auch sonst ist eine rasch einzustellende Vor- 
richtung von erheblichem Werth, namentlich für die Beobachtung des Isthmus 
faueium bezw. der Chordae vocales bei nicht narkotisirten Thieren, insbesondere 
sobald dieselben täglich einige Zeit hindurch untersucht werden müssen. 

Der vorliegende kleinere Maulsperrer hat sich in der Zwischenzeit in 
der von Prof. Im. Munk geleiteten speciell physiologischen Abtheilung des 
hiesigen physiologischen Instituts für Thiere geeigneter Grösse vollkommen 
ausreichend erwiesen. Namentlich ist derselbe für Operationen durch die 


! Archiv für Laryngologie. Bd. VI. 2. S. 315, 316. 
? Dies Archiv, Physiol. Abthlg. 1896. S. 185. 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — (OWL. 145 


Schädelbasis hindurch am N. oculomotorius der Katze! von Nutzen ge- 
wesen (s: Abbildung 16a). 


In Verbindung mit einem dem Bernard-Cyon’schen ähnlich construirten 
Kopfhalter (Abbildungen 13 u. 13a), bei dessen Gebrauch der Maulsperrer 
an Stelle der einfachen Querstange gesetzt wird, dient derselbe zur un- 
mittelbaren Besichtigung der Stimmbänder wie des Rachens und der 
Mundhöhle sowohl bei der Rücken- wie bei der Bauchlage des narkotisirten 
bezw. nicht narkotisirten, befestigten bezw. nicht befestigten Thieres. 


Abbildung 13a zeigt einen Hund von 6 3 Gewicht in befestigter Bauch- 
lage auf dem a. a. O. beschriebenen Thierbrett mit aufgesperrtem Maul 
zur Demonstration der Stimmbänder mittelst direct einfallendem Tages- bezw. 
Lampenlichtes. Das ursprünglich photographische Bild wurde vom nicht 
narkotisirten Thiere während einer Expositionszeit der empfindlichen Platte 
von zwei Minuten gewonnen und giebt Zeugniss für die schonungsvolle 
Art der Aufspannung, da bekanntlich ängstliche Thiere in Folge ihres 
Sträubens scharf ausgeprägte Aufnahmen unmöglich machen. 


Von den Einrichtungen der einfachen oben beschriebenen Maulsperrer 
ausgehend, habe ich im vorigen Semester, veranlasst durch vorzunehmende 
Versuche? des Geheimraths B. Fränkel, einen vereinigten Kopfhalter und 
Maulsperrer in einem Instrument für Hunde verschiedenster Grösse 
eonstruirt, den die Abbildungen 17 u. 17a veranschaulichen. | 


Das Instrument besteht aus zwei Theilen, erstens einer weiten recht- 
winkligen Gabel, welche den Maulsperrer trägt und den Unterkiefer des 
Thieres gegen die untere Querstange desselben anzudrücken gestattet, sowie 
auch zur Befestigung des Ganzen an dem Öperationsbrett und zum Halten 
einer Zungenzange wie eines Kehldeckelhalters (siehe Abbildungen 18, 
19 u. 20) dient, zweitens aus dem eigentlichen Maulsperrer nebst Ober- 
kieferbügel; letzterer verschiebt sich spielend leicht auf Führungen an 
seinen Enden und wird in einer ihm gegebenen Lage durch Schnell- 
schraubenmuttern in der Weise befestigt, dass der Oberkiefer zwischen 
Bügel und oberer Sperrstange fest zu sitzen kommt. 


Die von der Mitte der Gabel nach unten reichende Stange dient ausser 
zum Halten und Verstellen von Nebeninstrumenten zur Befestigung des Thier- 
kopfes an dem Operationsbrett für Thiere bis 6 Y® Gewicht (siehe Abbildungen 
17 u. 24). Zum Festhalten des Instrumentes bei grösseren wie auch bei 
kleineren Thieren, die auf einem Operationsbrett wie dem Bernard-Cyon’schen 
aufgespannt werden, dienen zwei cylindrische Verlängerungen der Quer- 
stangen der Gabel, die auf jeder Seite mittelst einfacher Kreuzmuffen auf 
einer am Brett angebrachten Stützstange herauf oder herunter zu schieben 
und zu befestigen sind, wie die Abbildung 17a veranschaulicht. 


Durch Drehungen des Thierkopfes sammt Maulsperrer um die Quer- 
stange der Gabel als Axe, bei sonst richtiger Aufspannung des Thieres, 
ergiebt sich dann die zweckmässigste Lage für die Beleuchtung und Be- 
obachtung der betreffenden Theile. 


! Hugo Apolant, Ueber die Beziehung des N. oculomotorius zum Ganglion 
eiliare. Archiv für mikroskopische Anatomie. Bd. XLVIL S. 655. 
2 Inzwischen veröffentlicht im Archiv für Laryngologie. Bd. VI, 3. 8. 598. 
Archiv f. A. u. Ph. 1898. Physiol. Abthlg. 10 


146 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


Im Falle dass der Thierrumpf zu weit nach vorn liegt und es un- 
erwünscht erscheint, denselben zu verlegen, kann auf jeder Seite zwischen 
Kreuzmuffe und Stützstange eine Stange mit Muffe eingeschaltet und auf 
dieser der Kopf sammt Sperrhalter und Kreuzmuffen bis zur nöthigen Weite 
verschoben und befestigt werden. 

Die beschriebene Vorrichtung für grössere wie kleinere Thiere hat sich 
im Laboratorium des Hrn. Prof. Munk seit 6 Monaten für Versuche wie 
für Demonstrationen und für tägliche Beobachtungen der Stimmbänder bei 
nicht narkotisirten, sogar häufig auch bei nicht aufgespannten wie 
bei narkotisirten Thieren als vollkommen zweckentsprechend erwiesen. Das 
Instrument selbst, wie auch die erwähnten Nebenapparate werden von den 
hiesigen Fabrikanten F. und M. Lautenschläger in solider Weise her- 
gestellt. 


Erklärung der Abbildungen. 
(Taf. II u. IIL) 


Fig. 11. Ein Maulsperrer für Kaninchen. 

Fig. 11a. Anwendungsweise desselben mit Magensonde. 

Fig. 12. Maulsperrer für Katzen und kleine Hunde. 

Fig. 15. Kopfhalter zur Anwendung des Maulsperrers 12 bei der Bauchlage 
des Thieres. 

Fig. 13a. Anwendungsweise des Kopfhalters 13 und Maulsperrers 12 zur un- 
mittelbaren Demonstration der Stimmbänder beim Hunde. 

Fig. 16. Einfache Klemmgabel zum Fixiren der Oberkiefer am Thierbrett. 

Fig. 16a. Anwendungsweise des Maulsperrers 12 und der Klemmgabel 16 zu 
Operationen an verschiedenen Theilen wie der Schädel- bezw. Gehirnbasis. 

Fig. 17. Vereinigter Kopfhalter und Maulsperrer. 

Fig. 17a. Anwendungsweise des Maulsperrers 17 beim Hunde zu unmittelbareren 
Beobachtungen und Demonstrationen sowie zu Operationen an den Stimmbändern 
bezw. im Isthmus faucium. 

Fig. 18. Zungenzange (siehe Fig. 17a bei Z). 

Kio.219. Zansenhalterre », 2 aitare rk): 

Fig. 20. Kehldeckelpincette mit feinen stumpfen Zähnen zum unblutigen Fest- 
halten (siehe Fig. 17a bei P). 

Fig. 21. Eine Doppelmuffe: I. an der Lenkstange VF des Maulsperrers ver- 
schiebbar mit Oeffnung zum Durchschieben des Zungenhalters 7, mit welchem die 
Zungenzange Z nebst Kehldeckelpincette P in jeder Höhenlage festgehalten werden 
können (siehe Fig. 17a bei M). II. zur Befestigung der beiderseitig verlängerten 
Querstange der Gabel A des Maulsperrers 17 an den angebrachten Stützstangen am 
Operationsbrett für grosse ‚Thiere. 

Figg. 22 u. 23. Operationsbrett für grosse Thiere, mit dem Bernard-Cyon- 
schen Kopfhalter an abnehmbarer Stativstange befestigt, abgebildet (vergl. Fig. 17a). 

Fig. 24. Universal Operationsbrett mit auswechselbaren Kopfhaltern für Thiere 
bis zum Gewicht von 6% und etwas darüber (vergl. Figg. 11a, 13a, 16a), die auch 
durch den vereinigten Kopfhalter und Maulsperrer (siehe Fig. 17) ersetzt werden können. 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — (own. — D. HAnsEMmAnn. 147 


III. Sitzung am 26. November 1897. 


1. Hr. D. HansemAnv hält den angekündigten Vortrag: Ueber Ver- 
änderungen in den Nieren bei Unterbindung des Ureters. 


Die nachfolgenden Untersuchungen, über die ich kurz berichten möchte, 
habe ich schon vor längerer Zeit angestellt zu meiner eigenen Orientirung. 
Die Verhältnisse aber, die in der vorvorigen Sitzung im Anschluss an den 
Vortrag des Hrn. Levin zur Sprache kamen, veranlassen mich, die Resultate 
dieser Versuche hier mitzutheilen. 

In den physiologischen Lehrbüchern findet sich vielfach noch die alte 
Weber’sche Angabe wiedergegeben, dass der Urin verhindert würde in die 
Niere zurückzutreten, weil die Canälchen durch den starken Druck im 
Nierenbecken comprimirt würden. An anderer Stelle finde ich die Angabe, 
dass bei der Hydronephrosenbildung die Canälchen sich zuerst erweitern, 
später aber sich wieder schliessen. Endlich war es die Cohnheim’sche 
Mittheilung, dass durch Unterbindung eines Ureters eine wesentliche Hydro- 
nephrose nicht zu erzielen sei, sondern, dass eine solche nur bei intermitti- 
rendem oder allmählichem Verschluss des Ureters zu Stande komme, die mich 
zu den Versuchen veranlasste. Diese Versuche wurden in der gewöhnlichen 
Weise ausgeführt, indem der Ureter bei Kaninchen doppelt unterbunden und 
durchschnitten wurde. Die Thiere wurden nach 1, 2, 3, 5 Tagen, 2, 3, 
6 Wochen, 3 und 5 Monaten getödtet. Der Wundverlauf war in allen 
Fällen ein tadelloser und die Thiere zeigten niemals Krankheitserscheinungen. 

Was zunächst die Cohnheim’sche Ansicht betrifft, so kann ich diese 
im Wesentlichen bestätigen. Es entstehen bei der Unterbindung zwar 
Hydronephrosen, aber diese nehmen keine sehr grossen Dimensionen an. 
Ich besitze auch zwei Präparate von Menschen, bei denen, gelegentlich einer 
gynäkologischen Operation, ein Ureter unterbunden wurde. Sie sehen hier 
an den Präparaten, dass die Nieren zwar hydronephrotisch zu Grunde ge- 
gangen sind, dass aber keine sehr starke Erweiterung des ausserhalb der 
Niere gelegenen Abschnittes des Beckens zu Stande gekommen ist. Dasselbe 
findet sich an den 'Thiernieren. 

Die Weber’sche Ansicht dagegen erscheint vollständig unrichtig. 
Einmal ist normaler Weise überhaupt kein hoher Druck im Nierenbecken 
vorhanden, so dass für den Harn gar keine treibende Kraft in der Richtung 
nach den Nierencanälchen vorliegt. Entsteht aber ein solcher Druck, so 
dringt auch der Harn sofort in die Niere ein und die Canälchen werden 
nieht comprimirt, sondern erweitert. Nicht nur diese füllen sich mit Harn, 
sondern derselbe wird, wie das schon lange bekannt ist, auch in die Lymph- 
spalten gepresst und es entsteht nach vorübergehender Hyperämie von 1 oder 
2 Tagen ein anämisches Oedem der Niere und ihrer Umgebung. 

Betrachten wir nun die feineren Veränderungen, so sehen wir, dass in 
den ersten 24 Stunden an den Canälchen überhaupt nicht viel zu sehen ist, 
wahrscheinlich, weil die Urinsecretion zunächst einmal durch die Operation 
aufhört. Vom zweiten Tage an aber treten Erweiterungen der Canälchen 
auf, die zuerst deutlich in der Marksubstanz sind und sich später bis in 
die Rindensubstanz hinein erstrecken. Niemals werden alle Canälchen gleich- 
mässig erweitert, sondern es sind immer nur einzelne betroffen, während 
die dazwischen liegenden comprimirt werden und schliesslich verschwinden. 

108 


148 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


In späterer Zeit sind es immer weniger Canälchen, die erweitert erscheinen 
und immer mehr, die comprimirt werden, aber auch bis zuletzt findet man noch 
erweiterte Canälchen. Diese werden gleichzeitig kürzer, sie werden nach 
aussen umgestülpt und ihre Innenfläche so allmählich Nächenartig aufgerollt. 
Theile, die also ursprünglich in der Tiefe der Niere lagen, werden nun zur 
Oberfläche des Hydronephrosensackes. 

Vom dritten Tage an findet sich an den Epithelien der erweiterten 
Canälchen eine Zellwucherung die immer lebhafter wird, so dass man nach 
etwa 14 Tagen in jedem Gesichtsfeld mehrere Mitosen findet. Sie liegen 
stets in den Sammelcanälchen und nur einmal fand ich eine Mitose in einem 
Tubulus contortus. Gleichzeitig entwickeln sich Wucherungen im Binde- 
gewebe der Rindensubstanz, die herdweise auftreten und ebenfalls eine leb- 
hafte Zelltheilung nach dem Typus der Bindegewebszellen erkennen lassen. 
Ich will besonders bemerken, dass irgend welche bakterielle Reizung voll- 
ständig fehlte. Bakterien waren weder durch Cultur noch mikroskopisch 
nachgewiesen und der Hydronephroseninhalt war auch makroskopisch ganz 
klar. Man könnte sich nun vorstellen, dass die Mitosen in den Canälchen 
durch die Zerrung bei der Erweiterung veranlasst würden. Das ist auch 
wohl zum Theil der Fall. Aber bald geht die Zellbildung weit über das 
nothwendige Maass hinaus, so dass die Zellen in den erweiterten Canälchen 
dicht gedrängt stehen und eylinderförmige Gestalten annehmen. Von der 
dritten Woche an fangen die Mitosen an, an Zahl abzunehmen und nach 
5 Monaten findet man nur noch nach langem Suchen ganz vereinzelte. Dann 
werden die Zellen allmählich immer platter und sind schliesslich zu ganz 
flachen Schüppchen ausgezogen. Es muss also ausser der Zugwirkung noch 
ein anderer Reiz auf die Zellen wirken, der sie im Anfang zur Proliferation 
anregt und später nicht mehr vorhanden ist. Auch lassen sich die inter- 
stitiellen Herde nicht durch einfache mechanische Momente erklären. Man 
muss vielmehr annehmen, dass das gestaute Exsudat in den Saftspalten einen 
solchen Wucherungsreiz auf die Zellen auszuüben im Stande ist. 


2. Hr. A. GoLDSCHEIDER hält den angekündigten Vortrag: Ueber die 
Neuronschwelle. 


Bis zur Neuronlehre galt die Anschauung, dass die Nervenzellen in 
die netzförmig verzweigten Leitungsbahnen eingestreut seien. Man misst 
den Nervenzellen bezüglich der Fortleitung einige Eigenschaften bei, von 
denen die wichtigsten folgende sind: die Nervenzellen leiten die Erregung 
auf andere Bahnen über, speichern Erregungen in sich auf (Summation), 
verzögern die Fortleitungsgeschwindigkeit der Erregung; in ihnen haupt- 
sächlich spielen sich die Vorgänge der Bahnung und Hemmung ab. 

Vortragender stellt nun folgende Betrachtungen an: Die Nervenzellen 
bilden den Hauptwiderstand für die Fortleitung der Erregung, einen Wider- 
stand, welcher von ihrer Erregbarkeit abhängig ist. Das sogenannte Aus- 
schleifen der Bahnen hängt von der Herabsetzung dieses Widerstandes ab. 
Von den Widerstandsverhältnissen der einzelnen Nervenzellen ist es auch 
abhängig, wie weit und auf welchen Wegen sich ein Reiz im Nervensystem 
verbreitet. Vortragender sucht die vorstehenden Behauptungen durch die 
Erfahrungen über Bahnung, Strychninwirkung u. s. w. zu beweisen. Während 
man nun bisher diesen Widerstand auf den Act des Uebertretens der Er- 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — A. GOLDSCHEIDER. — N. Zuntsz. 149 


regung vom Axencylinder in die Nervenzellen verlegen musste, ist auf Grund 
der Neurontheorie eine andere Anschauung gerechtfertigt. Sieht man von 
gewissen noch strittigen Punkten ab und stellt man sich auf den Standpunkt, 
dass die Neuronkette diseontinuirlich ist, die Neurone also nur durch Contact 
mit einander verbunden sind, so folgt, dass die Erregung eines Neurons als 
Reiz auf. das Contactneuron wirkt; die durch äussere Reizung des End- 
neurons gesetzte Erregung läuft in diesem Neuron ab, wirkt aber bei ge- 
nügender Stärke als Reiz für das nächste Neuron, und so wiederholt sich 
bei jedem Neuron der Reizvorgang. Vortragender bezeichnet als Neuron- 
schwelle dasjenige Maass der Erregung eines Neurons, welches eben hin- 
reicht, um im Contactneuron eine Erfolgserregung (zur Empfindung, Bewe- 
gung u. s. w. führende) hervorzurufen. Hiernach würde also der Widerstand 
nicht mehr in dem Uebertritt der Erregung vom Axencylinder in die Zelle, 
sondern in dem Uebergang von einem Neuron auf das andere gelegen sein. 
Dieser Widerstand ist abhängig von der Erregbarkeit des Neurons für Reizung 
vom Contactneuron her; welche einzelnen Factoren für diese Art der Erregbarkeit 
massgebend sind (Erregbarkeit an sich, Beschaffenheit der Dendriten, der Zwi- 
schensubstanz u. s. w.) entzieht sich zunächst der Beurtheilung. Vortragender 
führt Gründe dafür an, dass diese Anschauung mehr für sich hat, als die 
frühere, nach welcher der hauptsächliche Widerstand in dem Act des Ein- 
trittes der Erregung vom Axencylinder in die Nervenzelle gelegen sein 
sollte. Wichtig ist nun, dass die Neuronschwellenwerthe veränderliche 
Grössen und namentlich vom Gebrauch abhängig sind (Bahnung), aber dass 
jedes Neuron:‘ seinen Schwellenwerth festzuhalten sucht (Uebung). Diese 
Anschauung von der Neuronschwelle steht nach dem Vortragenden mit 
keiner einzigen physiologischen Thatsache in Widerspruch; sie ist geeignet 
für die Vorgänge der Bahnung, Hemmung, für die gesetzmässige Fortleitung 
und Verbreitung der Erregung im Centralnervensystem u. s. w., sowie für 
gewisse pathologische Erfahrung eine weitreichende Erklärungsbasis ab- 
zugeben. 


IV. Sitzung am 10. December 1897. 


Hr. N. Zunzz hält den angekündigten Vortrag: Ueber die Ver- 
 dauung und den Stoffwechsel der Fische (nach Versuchen von 
Hrn. Karl Knauthe). 


Die directe Veranlassung zur Ausführung der Versuche gaben die sehr 
wechselnden Resultate, welche bei der künstlichen Fütterung von Karpfen 
durch verschiedene Beobachter erhalten waren. Es ist klar, dass, wenn man 
zu einem sicheren Urtheil auf diesem Gebiete gelangen soll, die einzelnen 
Faktoren, welche den Erfolg der Fütterung beeinflussen, experimentell scharf 
gesondert werden müssen. Bei diesen von K. Knauthe ausgeführten Ver- 
suchen sind auch eine Anzahl physiologisch interessanter Ergebnisse gewonnen 
worden, welche ich hier mittheilen möchte; die ausführliche Publication er- 
folgt demnächst in der „Zeitschrift für Fischerei und deren Hülfswissen- 
schaften“, (Berlin). 

Die vorgezeichnete Aufgabe verlangte die Beantwortung folgender zwei 
Fragen: 


150 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


1. Wie gross ist der Nährstoffbedarf der Fische, wie ist derselbe ab- 
hängig von den äusseren Verhältnissen, von den Lebensphasen und den 
Leistungen des Thieres? 

2. Welche Nährstoffe sind für den Fisch verdaulich, und in welchem 
Maasse? 

In Bezug auf den Nährstoffbedarf der Fische kann man bis jetzt nur 
Schlüsse aus den nach dem Vorgange von v. Humboldt und Provencal, 
von Baumert, Quincaud, Jolyet und Regnard ausgeführten Respi- 
rationsversuchen ziehen. Diese Versuche lehren einmal eine weitgehende 
Abhängigkeit des Stoffbedarfes von der äusseren Temperatur: beispielsweise 
brauchten dieselben Goldkarpfen von ca. 90 2% Gewicht pro Kilogramm 
und Stunde 


beine MM. Ina end. al ter ELA ap 
a0) Heiko nik, en ErunSncBi 
er‘ re ra ne wu el San 


andererseits lehren dieselben eine Abhängigkeit von der Körpergrösse in 
dem Sinne, dass die grösseren Thiere zwar absolut mehr, auf die Einheit 
des Gewichtes bezogen aber weniger brauchen als die kleineren. Im An- 
schluss an die theoretischen Betrachtungen von Hoesslin ist es wahr- 
scheinlich, dass auch bei den Fischen der Verbrauch der Körperoberfläche 
bezw. dem Quadrat der dritten Wurzel des Körpergewichtes proportional 
ist. Unter dieser Voraussetzung und der weiteren Annahme, dass zwischen 
10 und 30°C. ein geradliniges Anwachsen des Verbrauches mit der Tempe- 
ratur stattfindet, berechnet sich aus Regnard’s Zahlen der Sauerstoffver- 
brauch eines 500 ®” schweren Karpfen bei +18°C. zu 1088 m per Kilo- 
gramm und 24 Stunden. Wenn dieser Sauerstoffverbrauch ausschliesslich 
zur Umsetzung von Eiweisssubstanzen in der Art, wie sie im Körper des 
Warmblüters stattfindet, dienen würde, entspräche sie der Ausscheidung von 
187 ®® N unter Erzeugung von 4-86 Cal. 

Die Stickstoffausscheidung von Fischen ist meines Wissens bisher noch 
niemals untersucht, sie wurde von Hrn. Knauthe für das hungernde 
Thier in 16 Versuchsreihen in der Art festgestellt, dass aus dem wohl 
durchlüfteten Aquarium der Koth so rasch wie möglich herausgenommen 
und für sich untersucht wurde. In passenden Durchschnittsproben des 
Wassers wurde der N-Gehalt, den dieses durch den Harn und die Haut- 
secrete empfangen hatte, ermittelt. 13 Versuche wurden im Winter bei 
einer Zimmertemperatur von +16 bis 20° ©. angestellt, 3 im Sommer bei 
17 bis 22°C. Bezogen auf 1‘ Körpergewicht und 24 Stunden wurden 


mitdem. Rothe. a re nn le Dissnileibe u 
durch sämmtliche Ausscheidungen zusammen . 23-0 „473-4 „ „ 
ausgeschieden. 


Bei Betrachtung der einzelnen Versuchsreihen erklären sich die grossen 
Unterschiede im Wesentlichen nach folgenden Gesichtspunkten: 1. die Koth- 
bildung wie der gesammte N-Umsatz sind grösser bei Thieren, die bis kurz 
vor dem Versuch reichlich gefüttert waren, und scheinen im Laufe einer 
längeren Hungerperiode abzunehmen; 2. die kleineren Thiere haben per 
Kilogramm einen grösseren N-Umsatz als grössere; 3. bei laichreifen Thieren 
ist der N-Umsatz ein höherer. — Den höchsten Umsatz von 473 ®8 fand 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — N. ZUuNTZ. 151 


man bei den kleinsten Thieren (209 ®® Gewicht), welche in der heissesten 
Sommerzeit aus nährstoffreichem Teiche entnommen und nach zweitägigem 
Hunger zum Versuch benützt waren. 

Es ist interessant, diese Ergebnisse mit einigen Erfahrungen an Warm- 
blütern zu vergleichen: 


Nach Meiss] braucht das Schwein im Hunger 55—64 "Ss N pro Kg. u. 24 St., 
beim hungernden, mageren Menschen fand 

I. Munk nn a ER LIE IA HN N A 
beim Kaninchen fand Rubner am 4.Hungertag 608, , 


” ” ” 24 2 
‘ Der kaltblütige Karpfen braucht also unter Umständen im Hunger mehr 
Eiweiss als grosse Säugethiere; jedoch erheblich weniger als solche von 
seinen Körperdimensionen gebrauchen würden. — Auch die Kothbildung im 
Hungerdarm bewegt sich in ähnlichen Grenzen wie beim Warmblüter. Wir 
fanden beim 
hungernden Cetti . . 5-9 %5 N pro Kg. u. 24 St., 
bei®breithaupu ge SE 00 REN, Er 


Wenn wir die allerdings sehr unsichere vorher gemachte Schätzung 
eines Energiebedarfes von 4-86 Cal. mit der dem N-Umsatz entsprechenden 
Krafterzeugung vergleichen, so finden wir, dass in der Mehrzahl der Ver- 
suche, bei etwa 60 "8 N-Ausscheidung annähernd !/, der ganzen Energie 
durch den Eiweissumsatz gedeckt wird, ?/, würden alsdann auf Fettver- 
brennung entfallen. Das Verhältniss ist ganz ähnlich, wie wir es bei Säuge- 
thieren kennen. { 

Ehe ich über die analogen Versuche bei gefütterten Thieren berichte, will 
ich die über die Leistungen der Verdauungssecrete ausserhalb des Körpers 
gesammelten Erfahrungen besprechen: 

Der Karpfen hat, wie bekannt, keinen eigentlichen Magen, da die Galle 
gleich unterhalb des kurzen Oesophagus in den hier erweiterten Darm ein- 
mündet. Nirgends im Verdauungsapparat findet sich saure Reaction, nirgends 
lässt sich ein pepsinähnliches, d. h. in saurer Lösung eiweissverdauendes 
Ferment nachweisen. Das Extract der Darmschleimhaut zeigt starke tryp- 
tische Wirkung in alkalischer Lösung, stärker für den oberen Abschnitt als 
für den unteren; noch stärker wirksam ist bei Anwendung gleicher Ge- 
wichtsmengen das bei diesen Thieren mächtig entwickelte Hepatopankreas. 
— Die Galle zeigt keine tryptische Wirkung, es wird also das Trypsin aus- 
schliesslich durch die direct im Darm mündenden kleinen Ausführungsgänge, 
welche ihrerseits, wie es scheint, keine Galle enthalten, in den Darm geführt. 
— Die an sich unwirksame Galle verstärkt in hohem Maasse die tryptische 
-Wirkung des Extractes von Darm und Hepatopankreas. So lösten bei einem 
Winterversuch: 

2.5 8” Hepatopankreas für sich in 10 Stunden fast 0.92 8'% frisches 
Fibrin, in ferneren 36 Stunden 0-99 8% trockenes Fibrin; 

2.58'm Hepatopankreas +2 “m Galle in 8 Stunden fast 1.84 sm frisches 
Fibrin, in ferneren 17 Stunden 1-49 sm trockenes Fibrin; 

1-5 2% Darmschleimhaut für sich in 10 Stunden fast 0:83 2% frisches 
Fibrin, in ferneren 36 Stunden 1.6 &'% trockenes Fibrin; 

1-5 8m Darmschleimhaut + 2 <= Galle in 7 Stunden fast 2.068” frisches 
Fibrin, in ferneren 17 Stunden 2.9 zm trockenes Fibrin. 


152 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


Eine fettspaltende Wirkung konnte sowohl für die Substanz des Hepato- 
pankreas, wie der Darmschleimhaut, besonders im ersten Abschnitt, nach- 
gewiesen werden. Auch hier erzeugte die Galle, ohne selbst wirksam zu 
sein, eine erhebliche Steigerung des Erfolges. Es geht dies aus folgenden 
Versuchszahlen hervor: 


Das ganze Hepatopankreas lieferte beispielsweise bei Sommerthieren an 
abgespaltener Fetitsäure auf Oelsäure berechnet in 5!/, Stunden: 


iezohnerGaller same 52.60 ms, 
As 5 a 0, 
N) ur 00, 41-03 „, ‚mit Galle 0 200 BSD 
Re MER se er eu le. 


Analoge Erfahrungen an Kaninchen haben vor Jahren schon Gad und 
Rachford in dieser Gesellschaft mitgetheilt. 

Eine mehr oder minder starke Zuckerbildung aus Stärke zeigten mit 
Ausnahme der Mundschleimhaut alle Abschnitte des Verdauungsapparates 
und in besonders intensivem Maasse das Hepatopankreas. Auch die Galle, 
welche weder tryptische noch fettspaltende Wirken für sich allein zeigt, 
wirkt deutlich diastatisch. Die diastatische Wirkung wächst mit steigender 
Temperatur bis zu einem Maximum, das bei etwa +23°C. liegt. Bei 
weiterem Ansteigen der Temperatur sinkt die Wirkung wieder rasch ab. 
Beispielsweise produeirten 5 ®"% eines Hepatopankreasbreies in 3 Stunden: 


ber JA CH du ze aa 2 BHRler Zirekers 

en 
rc Ne 
u DO nee See an 


Auf Cellulose, welche bekanntlich im Darme der Säugethiere nur durch 
Bakterien verdaut wird, wirkt das Hepatopankreasextraet kräftig lösend; die 
‚wirksamen Infuse waren mit Chloroform oder Thymol versetzt, so dass 
Bakterienwirkungen ausgeschlossen sein dürften. Ueber die Natur der ent- 
standenen löslichen Produete sollen erst weitere Untersuchungen Auskunft 
geben. : 

Um noch präeiser festzustellen, welcher Grad der Ausnützung der 
Nahrung im Fischdarm zu erwarten sei, wurden mit einer Anzahl der in 
den noch zu besprechenden Fütterungsversuchen in Frage kommenden Sub- 
stanzen Verdauungsversuche nach dem Stutzer’schen Prineip ausgeführt. 
Bekanntlich geben bei Säugethieren derartige Versuche Resultate, welche 
mit dem Ergebniss direeter Fütterungsversuche sehr gut harmoniren. In 
Anlehnung an die Stutzer’schen Vorschriften wurden haltbare Extraete 
aus der Darmschleimhaut und dem Hepatopankreas hergestellt. Je 100 «m 
dieser Extracte wurden mit je 1 bis 2 2” der entfetteten Substanz bei 
Zimmertemperatur angesetzt; nach 18 Stunden war das Maximum der Lösung 
erreicht. Eine Combination von Darm und Hepatopankreas leistete nicht 
mehr als letzteres allein. — Die Verdauung N-reicher Nährstoffe war in 
diesen Versuchen eine ebenso vollkommene, wie sie bei der Verwendung der 
Verdauungssecrete von Warmblütern bei Körpertemperatur zu sein pflegt. 
Die einzelnen mit derselben Substanz bei Verwendung verschiedener 
Extraete angestellten Versuche stimmten bis auf 1 bis 2 Proc. des Werthes, 
d. h. so weit die Fehlergrenzen dieses zuliessen, mit einander überein, 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — N. ZUNTz. 153 


Von verschiedenen Fleischmehlsorten wurden 86 bis 92 Proc. des N 
verdaut,. von dem durch Eindampfen des Blutes in Schlachthäusern ge- 
wonnenen Blutmehl 94 bis 96 Proc. Bemerkenswerth ist, dass eine Probe 
solchen Blutmehles, welche bei der Bereitung überhitzt war, nur noch 29 Proc. 
des N in verdaulichem Zustande enthielt. Es stimmt dies mit anderweitigen 
Erfahrungen, wonach Ueberhitzung und andere coagulirende Einwirkungen 
(Alkohol) die Verdaulichkeit der Eiweisskörper in hohem Maasse schädigt. 
— Von den untersuchten pflanzlichen Nährstoffen zeigten Lupinen 82 bis 
89 Proc., Sonnenblumenmehl 92 bis 94 Proe., Wieken 91 Proc. des N ver- 
daulich. In Weizenkleien waren nur 71, in Mais 20 bis 33 Proc. den Ver- 
dauungssäften des Karpfen zugänglich. 

In der Zeit vom Februar bis September d. J. wurden im Ganzen 
25 Stoffwechselversuche an gefütterten Karpfen in der Art angestellt, dass 
der Gehalt des den Thieren verabreiehten Futters an N, Fett und Kohle- 
hydraten ermittelt wurde; dasselbe geschah mit den gesammelten Futter- 
resten und dem Koth der Thiere; ferner wurde die im Laufe des Versuches 
im Wasser sich ansammelnde Menge Stickstoff, Fett und Kohlehydrate analy- 
tisch bestimmt. Der N-Gehalt des Wassers entstammt natürlich zum grössten 
Theil den Harnentleerungen; das Fett und die Kohlehydrate sind grössten- 
theils aus Futter und Koth in Lösung gegangen, ersteres entstammt auch 
zum geringen Theil den Hautabsonderungen der Thiere. — Um einiger- 
massen ermitteln zu können, wie viel von den gefundenen Stoffen den 
Futterresten, wie viel den Ausscheidungen der Thiere zugehört, wurden 
letztere in eınem Theil der Versuche in einem besonderen Aquarium ge- 
füttert und dann in anderes Wasser versetzt; sie brachten bei diesen Ver- 
suchen meist 10 Stunden im „Futteraquarium“, 14 Stunden im „Harn- 
aquarium“ zu. 

Die Differenz zwischen zugeführtem und wiedergefundenem N muss 
nach den üblichen Anschauungen, wenn man keine gasförmige Stickstoff- 
ausscheidung der Fische annehmen will, als in Form von Fleisch angesetzt, 
bezw. bei negativer Bilanz, als das Resultat einer Fleischzersetzung an- 
gesehen werden. — Unter 23 Versuchen war nur drei Mal eine negative 
N-Bilanz vorhanden. — In Summa dieser 23 Versuche wurden 10-26 2" N 
nieht wiedergefunden. Da Karpfenfleisch einen N-Gehalt von 3-5 Procent 
hat,! so müssten aus diesen 10-26 © N = 293 8" Karpfenfleisch gebildet 
sein. Die Wägungen ergaben nur eine Zunahme von 138-5 8”; da nun 
jedenfalls neben Fleisch auch noch etwas Fett angesetzt sein dürfte, so ist 
es wahrscheinlich, dass sich eine geringe Menge N der Bestimmung ent- 
zogen hat. Ohne jetzt schon über die Ursache dieses N-Verlustes Bestimmtes 
aussagen zu wollen, möchte ich es für das Wahrscheinlichste halten, dass 
die starke Ventilation geringe Mengen durch Harnstoffzersetzung entstandenen 
Ammoniaks in die Luft geführt hat, trotzdem, um solche Verluste zu ver- 
meiden, dem Wasser zeitweilig geringe Mengen Salzsäure zugefügt wurden. 
— Was von Fett und Kohlehydraten nicht wiedergefunden wurde, musste 
entweder als Fett im Thierkörper angesetzt oder durch die Respirations- 
processe verbraucht sein. Endgültig werden hierüber erst die jetzt in Vor- 
bereitung begriffenen Respirationsversuche Klarheit schaffen. 


1 Vergl. Koenig, Nahrungs- und Genussmittel. S. 204. Nr. 34. 


* 


154 VERHANDL. DER BERLINER PHYSIOLOG. GESELLSCHAFT. — N. ZUNTZ. 


Aus den durch die Stoffwechselversuche gewonnenen Zahlen möchte ich 
hier nur ein paar Beispiele anführen, welche zeigen, in wie weitem Maasse 
das Verhältniss von Nh:Nfr bei normalem Verlaufe des Wachsthums 
schwanken kann. Das engste Nährstoffverhältniss zeigt ein Versuch vom 
27. August bis 2. September 1897, in welchem vier zusammen 1166 Em 
wiegende 1!/, sömmerige galizische Karpfen ausschliesslich mit entbitterten 
Lupinen gefüttert wurden. Es wurden in diesem Versuch nicht wieder- 
gefunden, also angesetzt bezw. für die Respiration verbraucht 1-78 8® N, 
1.33 sm Fett und 0-60 E’" Kohlehydrate. Aufgenommen wurden mit der 
Nahrung 4.575 sm N, ausgeschieden im Koth 0.318 3%, also verdaut 
4.257 am N = 26:6 2% Eiweiss. Von Fett wurden aufgenommen 3.026 8m, 
im Koth gefunden 0.424 E'%, also verdaut 2.602 ®'”, entsprechend 6 245 8m 
Kohlehydrate, ferner 0-6 2" Zucker; im Ganzen also 6.84 2” Stärkeäqui- 
valent. Das Nährstoffverhältniss ist also 26-6:6-84 = 1:0-25. Hierbei 
wurden, wie oben gesagt, 1-78 ®@ N entsprechend 51 3" Karpfenfleisch 
angesetzt. Die Wägung ergab eine Gewichtszunahme von 26-3 2”, Das 
entgegengesetzte Extrem finden wir in dem Versuch vom 6. bis 12. Juli 
1897, in welchem einem Karpfen von 498 ®”” ein Gemisch von 80 Procent 
Maisschrot, 12 Procent phosphorsaurem Kalk und 8 Procent Zucker gegeben 
wurde (Zucker oder, wo derselbe vermieden werden sollte, Dulein, erwies 
sich als ein vorzügliches Mittel, die Karpfen zur Nahrungsaufnahme an- 
zuregen). In diesem Falle betrug der Ansatz bezw. Respirationsverbrauch 
0:035 ®8 N, 0.987 8m Fett und 36.85 &% Kohlehydrate. — Im Futter 
wurden aufgenommen 0-474 SU N, im Koth ausgeschieden 0°067 2%, also 
verdaut 0-407 sm N = 2-54 Em Eiweiss, ferner 2-037 3% Fett = 4.89 5m 
Stärke und 36-85 5% Zucker. Das Nährstoffverhältniss ist 2-54 : 38-06 = 
1:15. Das entspricht dem extremsten im Erhaltungsfutter der Wieder- 
käuer gefundenen Verhältnis. Den angesetzten 0.035 ®” N entspricht 
1 © Fleisch, die Gewichtszunahme von 9.7 3% beruht also zum grössten 
Theil auf Ansatz von Fett oder Glykogen. — Der Wärmewerth der zu- 
geführten Nahrung entspricht in diesem letzten Falle (2-54 + 38-06) 
x 4:1 = 166-5 Cal.; aus den Versuchen von Regnard lässt sich der Ver- 
brauch eines 500 E”% schweren hungernden Karpfen bei 19°C. in 6 Tagen 
zu 16 Cal. berechnen, es stehen also etwa 150 Cal. für die Verdauungsarbeit 
und den Stoffansatz zur Verfügung. Auch bei hoher Bewerthung der Ver- 
dauungsarbeit erscheint hiernach ein Ansatz von 93% Fett sehr wohl 
möglich. 

Bemerkenswerth ist noch, dass bei dieser kohlehydratreichen Kost der 
Eiweissumsatz des Thieres niedriger ist, als er in manchen Fällen beim 
Hunger gefunden wurde. Es beträgt die N-Ausscheidung in’s Wasser pro 
Kilogramm und Tag 124 “s, eine Zahl, welche von dem Ergebniss einiger 
Hungerversuche bei ähnlicher Temperatur übertroffen wird. Es harmonirt 
dieser Befund mit ähnlichen Ergebnissen, welche I. Munk beim Hunde und 
in den oben schon erwähnten Hungerversuchen am Menschen gefunden hatte. 


SEP 23 1898 


Physiologische Beobachtungen am Auge der Krokodile. 


Von 


Dr. G. Abelsdorff, 
Assistenten am physiologischen Institut der Universität Berlin (physikalische Abtheilung). 


(Hierzu Taf. 1V.) 


M. Schultze’s Ansicht, dass die Netzhautstäbchen der farblosen 
Helligkeitsempfindung dienen, gründet sich vorzugsweise auf vergleichend 
anatomische Untersuchungen an Säugethieren und Vögeln, indem er bei den 
nächtlichen Thieren unter ihnen eine an Stäbchen besonders- reiche Netz- 
haut fand. Für diese durch neuere physiologisch- optische Arbeiten noch 
weiter und besser ausgebildete Hypothese scheinen mir in vergleichend 
anatomischer Beziehung auch die Befunde am Reptilienauge eine weitere 
Stütze zu liefern. 

Das Sinnesepithel im Sehorgane der meisten Reptilien ist durch den fast, 
ausschliesslichen Besitz von Zapfen ausgezeichnet; nur bei wenigen treten 
die Stäbchen in den Vordergrund, unter den Sauriern sind es die Geckonen, 
bei einzelnen derselben scheinen sogar die Zapfen ganz zu fehlen !, eine weitere 
Ausnahme bilden die Krokodile, und drittens sind auch unter den Schlangen 
in der Netzhaut von Boa Stäbchen von Heinemann? beschrieben worden. 
Der Gecko nun sowohl wie. das Krokodil und die Riesenschlange sind nächt- 
liche Thiere, die erst bei Eintritt der Dämmerung munter werden und auf 
Raub ausgehen, um mit Anbruch des Morgens ihre Thätigkeit einzustellen. 
Die Krokodile sind nicht nur durch ihre an Stäbchen reiche Netzhaut zum 
Sehen bei sehr geringem Lichte in dem erwähntem Sinne befähigt; das 
Vermögen, sich auch in tiefer Nacht zurecht zu finden, wird bei ihnen 
noch durch einen besonderen lichtverstärkenden Apparat erhöht, der in 
Gestalt eines noch näher zu beschreibenden Tapetums die oberen Theile des 


ı J.Carriere, Die Sehorgane der T'hiere. 1885. 
2 Heinemann, Beiträge zur Anatomie der Retina. Archiv für mikroskopische 
Anatomie. 1817. Bd. XIV. S.409 bis 441. 


156 G. ABELSDORFF: 


Auges einnimmt und durch Reflexion der Lichtstrahlen die Sehzellen dem 
zweimaligen Reize derselben aussetzt. Besonders im Wasser bedürfen auch 
die oberen Theile des Auges mehr einer Verstärkung des Lichteindruckes 
als die unteren, da ja die ersteren nur von dem schwachen, aus der Tiefe 
des Wassers reflectirten Lichte getroffen werden. 

Gerade diese durch die Anpassung an die Lebensweise gegebene Sonder- 
stellung des Krokodilauges veranlasste mich zu dem Versuche, der bereits 
vorhandenen, wenn auch noch lückenhaften morphologischen Kenntniss des- 
selben das Studium des physiologischen Verhaltens, besonders in Bezug auf 
Licht und Dunkelheit hinzuzufügen. 

Ich konnte hierzu mehrere junge Exemplare von Alligator lucius (mis- 
sissippiensis), zur einmaligen ophthalmoskopischen Beobachtung auch Crocodilus 
cataphractus verwenden. 


Refraction und Accommodation. 


Die einen verticalen Spalt bildende Pupille ist wegen der quergestreiften 
Museulatur des Sphincter durch Atropin nicht zu erweitern, bei intensiver 
Belichtung verengt sie sich zu einer äusserst schmalen Linie, die bei ge- 
nauerer Betrachtung ihre grösste Breite in der Mitte zeigt; der hintere 
(temporale) Schenkel der Pupille ist stärker gekrümmt als der vordere. Bei 
Erweiterung, die besonders ausgesprochen kurze Zeit nach dem Tode ein- 
tritt, nimmt die Pupille eine rundliche ovale Form an. 

Die Cornea ist schwach gekrümmt, die Linse von annähernd kugliger 
Gestalt, die vordere Fläche etwas flacher als die hintere. 

Die Refractionsbestimmung mit dem Augenspiegel ergab bei jungen 
4 bis 6 Monate alten Alligatoren (25 bis 30°“ lang) eine Hypermetropie 
von 7 bis 8 Dioptrien. Die Hypermetropie ist keine scheinbare, d. h. nicht 
etwa dadurch bedinet, dass ich zur scharfen Einstellung die vordere, nach 
dem Glaskörper zu gelegene Fläche der Netzhaut benutzte, während ja in 
Wahrheit die sehenden Elemente, die Stäbchen und Zapfen, weiter hinten 
liegen. Ich vermied diesen Fehler, indem ich das stärkste Convexglas be- 
stimmte, mit dem eine Pigmentscholle, welche dem Pigmentepithel an- 
gehört, noch scharf gesehen werden konnte. Diese Pigmentscholle lag 
allerdings nicht central, sondern gehörte dem unteren Theile des Augen- 
hirtergrundes an, so dass hierdurch die Hypermetropie etwas erhöht sein 
mag. Der beste Beweis für das gute Accommodationsvermögen der Thiere 
wird dadurch gegeben, dass es mir unter den zahlreichen Untersuchungen, die 
ich an demselben Thiere vornahm, nur wenige Male gelang, den angegebenen 
Grad von Hypermetropie festzustellen. Meist fand ich nur etwa 2 Dioptrien, 
zwei Mal fand ich sogar eine Myopie von 1 Dioptrie. Diese Zunahme der 


PHYsIoLOGISCHE BEOBACHTUNGEN AM AUGE DER KROKODILE. 157 


Brechungskraft lässt sich nur durch gesteigerte Accommodation des beob- 
achteten Auges erklären, da ich selbst natürlich accommodationslos den Augen- 
hintergrund im aufrechten Spiegelbilde betrachte. 

Diese Beobachtungen waren bereits abgeschlossen, als die Arbeit Th. 
Beer’s über „die Accommodation des Auges bei den Reptilien“! erschien. 
Da derselbe bei Alligator 1. nur Emmetropie oder geringe Hypermetropie 
und die Accommodation sehr dürftig fand, so glaubte ich, der Widerspruch 
zwischen seinen und meinen Beobachtungen würde durch das verschiedene 
Alter der Thiere bedingt, da Beer ältere, 2- bis Sjährige Alligatoren zur 
Verfügung standen. Ich benutzte daher die mir zufällig gebotene Gelegen- 
heit, auch ein 2jähriges, 45 °® langes Exemplar zu untersuchen, auch hier 
fand ich jedoch bei dem mit weiten Pupillen starr vor sich hinblickenden 
Thiere 7 Dioptrien Hypermetropie. Die Untersuchung eines 63 °® langen, 
21/,jahrigen Crocodilus cataphractus ergab 5 Dioptrien Hypermetropie. Da 
die Mehrzahl der Untersuchungen geringere Werthe ergab, ein Theil der 
Hypermetropie also durch Accommodation der Thiere in der Regel latent 
blieb, so kann ich zur Erklärung des Widerspruches, wenn man nicht die 
etwas unwahrscheinliche Annahme individueller Abweichungen so beträcht- 
lichen Grades macht, zunächst nur die Vermuthung aussprechen, dass Beer. 
vielleicht die Gelegenheit zu häufig wiederholten Untersuchungen fehlte 
und die Thiere accommodirten. Allerdings fand er dieselbe Einstellung am 
frisch enucleirten Auge. 

Die Frage hat insofern allgemeineres biologisches Interesse, als Beer 
meint, dass, wenn die Untersuchung von mehr Exemplaren, als ihm zur 
Verfügung standen, seine Ergebnisse bestätige, das Gesetz hervorgehe, dass 
die Accommodation des Auges bei vielen nächtlichen Reptilien (auch den 
Geckonen) „abweichend vom Verhalten der lichtmunteren Verwandten an 
Bedeutung zurücktritt“. Für das Krokodil kann ich diesen Satz nicht be- 
stätigen. Was die Refraction betrifft, so ist zu bedenken, dass diese Unter- 
suchungen einen nur bedingten Schluss über dieselbe bei ausgewachsenen 
Thieren zulassen. Wenn nach Angaben in Brehm’s „Thierleben‘“ Croco- 
dilus cataphractus eine Länge von 8, Alligator wississippiensis von 5” er- 
reichen kann, wie sehr kann dann auch noch das Längenwachsthum des 
Auges zunehmen! Für das Sehen im Wasser wird es übrigens auf einige 
Dioptrien Hypermetropie nicht ankommen, denn mit dem Wegfall der Horn- 
hautbrechung im Wasser wird das Auge, mag es nun emmetropisch oder 
hypermetropisch in der Luft sein, hochgradig hypermetropisch. Die hier- 
durch entstehenden Zerstreuungskreise werden wohl durch die Enge der 
Pupille so weit beseitigt werden, als es für das an sich unscharfe 


ı Pflüger’s Archiv für Physiologie. 1898. Bd. LXIX. 8.507 bis 568. 


158 G. ABELSDORFF: 


Sehen im Dunkeln in dem nicht immer durchsichtigen Flusswasser erfor- 
derlich ist. Das Krokodilauge zeigt also, der Lebensweise der Thiere ent- 
sprechend, ein dem Fischauge entgegengesetztes Verhalten. Letzteres ist 
in der Luft hochgradig myopisch, um im Wasser schwach myopisch bezw. 
emmetropisch zu werden. Die Hornhaut ist so uneben und astigmatisch, 
dass in der Luft, wie man sich mit dem Augenspiegel leicht überzeugen 
kann, nur stark verzerrte Bilder zu Stande kommen. Im Gegensatze hierzu 
ist die Schärfe der Bilder, die in der Luft im hypermetropischen Krokodil- 
auge erzeugt werden, keineswegs geringer als im Auge der Landthiere. 


Tapetum retinale. 


Nach mehrfachen früheren Andeutungen in der Litteratur finde ich 
eine wirklich zutreffende Beschreibung dieses Tapetums allein bei Chievitz 
in seinen „Untersuchungen über die Area centralis retinae“.! Er beschreibt 
hier ein die oberen Theile des Auges einnehmendes weisses Tapetum reti- 
nale, das ebenso wie bei manchen Fischen durch Einlagerung von Guanin 
in die Pigmentepithelzellen gebildet wird. Ich kann diesen interessanten 
Befund nicht nur bestätigen, sondern hinzufügen, dass das Guanin nicht 
nur auf das Auge des Krokodils beschränkt ist, sondern auch in der ihm 
phylogenetisch nahestehenden Haut vorkommt. Wenn man eine weisse 
Schuppe der Bauchhaut mit Salpetersäure über dem Feuer abdampft, so 
färbt sich der gelbe Rückstand bei der Befeuchtung mit Natronlauge intensiv 
roth; setzt man jetzt etwas Wasser hinzu und erhitzt weiter, so tritt beim 
Unterbrechen der Erwärmung eine schöne Purpurfärbung ein.? 

Die Lage des guaninhaltigen Tapetums im Auge wird durch Taf. IV, Fig.1 
veranschaulicht. Auf einem durch das Auge sagittal geführten Schnitte 
ist der grössere Theil des Tapetums und der ganze untere tapetumfreie 
Theil getroffen. Da das weisse Tapetum undurchsichtig ist, im durchfallenden 
Lichte also schwärzlich, dem Pigment ähnlich erscheint, so ist der Schnitt 
bei auffallendem Lichte gezeichnet worden und dient mit Verzicht auf alle 
histologischen Einzelheiten nur zur Veranschaulichung der topographischen 
Verhältnisse. Auf der linken Seite der Zeichnung (oberer Theil des Auges) 
schiebt sich zwischen Chorioides und Retina das weisse Tapetum ein, das 
nach rechts zu (unterer Theil des Auges) in einen schwarzen Saum, das 
guaninfreie, nur pigmenthaltige Epithel übergeht. Letzteres schliesst sich 


ı Dies Archiv. Anat. Abthlg. 1889. Suppl. 8. 164. 

® Vgl. A. Ewald und C. Fr. W. Krukenberg, Ueber die Verbreitung des 
Guanin. Untersuchungen aus dem physiologischen Institut der Universität Heidelberg. 
1832. Bd. IV. S.253 bis 263. Dieselben haben bereits in der Haut anderer Reptilien 
Guanin nachgewiesen. 


PHYSIOLOGISCHE BEOBACHTUNGEN AM AUGE DER KROKODILE. 159 


ganz peripherisch auch oben an das Tapetum an, ist aber in der Zeichnung 
nicht mehr dargestellt. Man sieht, dass auch topographisch das Tapetum 
der Krokodile wesentlich von dem der Säugethiere verschieden ist, das ja 
der Chorioides angehört. Es gleicht dagegen demjenigen mancher Fische 
(Bley, Kaulbarsch), bei welchen Kühne! zuerst ein retinales Tapetum be- 
schrieben hat. Bei den Fischen liest jedoch der Sehnerveneintritt innerhalb 
des tapetumhaltigen Theiles, hier liegt er, wie Taf. IV, Fig. 1 zeigt, ausserhalb. 

Ich hatte gehofft, die Wanderungen des Pigmentes unter dem Einflusse 
des Lichtes in den vom Guanin vorgezeichneten Bahnen verfolgen zu können, 
das Pigment zeigte aber wider Erwarten im Dunkel- und Hellauge dieselbe 
Lagerung. Das Pigment ist hier leichter als im Fischauge auch bei durch- 
fallendem Lichte vom Guanin zu unterscheiden, da es dunkler und nicht, 
wie im guaninhaltigen Fischepithel, amorph, sondern krystallinisch ist. Bei 
starker Vergrösserung erkennt man, dass das Guanin in Form amorpher 
Körnchen die Zelle erfüllt und in der Kuppe weniger dicht liest. Hier 
findet sich spärliches Pigment in Form einzelner Stäbchen in der Um- 
gsebung des Kernes, vereinzelte lagen auch in den Fortsätzen der. Zellen 
sowohl an einem im Dunkeln gehaltenen, als einem 1!/, Stunde mit 
Auer’schem Glühlichte belichteten Auge. Auch nach Entfernung des 
Guanins durch Kalilauge kann man keine Spur von Verbindung zwischen 
dem chorioideal- und retinalwärts gelegenen Pigment entdecken, was man 
doch bei einer stattfindenden Wanderung erwarten sollte und daher ebenfalls 
für eine feste, von der Lichtwirkung unabhängige Lagerung des Pigmentes 
spricht. Indessen wäre es denkbar, dass das Pigment in den Fortsätzen 
unverändert bleibt, eine intensivere und längere Belichtung aber das Pig- 
ment aus den Kuppen verdrängt. 

Je mehr sich die Zellen dem Rande des Tapetums nähern, um so 
stärker wird die Pigmentanhäufung in dem der Retina zugewandten Theile 
der Zellen, bis dann in dem nicht tapetirten "Theile des Augengrundes die 
Zellen gänzlich von Pigment erfüllt sind. Das Pigment nimmt hier und 
besonders am Tapetumrande auch am Dunkelauge eine Stellung ein, die 
man beispielsweise beim Frosche als charakteristische Lichtstellung be- 
zeichnen würde. Taf. IV, Fig. 2 stellt eine solche Zelle dar, wo das Pig- 
ment das Guanin zu verdrängen anfängt. Man sieht einige Pigmentnadeln 
in der Kuppe der Zelle, der übrige Theil ist von gelbgezeichneten, in 
Wirklichkeit weissen Guaninkörnchen erfüllt, die Wurzeln der Fortsätze 
und sie selbst zeigen dichte Pigmentanhäufung, die auch im dunkel ge- 
haltenen Auge bestehen bleibt. Es scheint sich um eine allen mit Retinal- 


! W. Kühne und H. Sewall, Zur Physiologie des Sehepithels. Untersuchungen 
aus dem physiologischen Institut der Univ. Heidelberg. 1880. Bd. III. 8. 221 bis 277, 


160 ($. ABELSDORFF: 


tapetum versehenen Ausen gemeinsame Eigenschaft zu ‚handeln, dass in 
dem nicht tapetirten Theile die Lage des Pigmentes durch Licht nicht 
beeinflusst wird. Kühne hebt nämlich ebenfalls hervor, dass er „in dem 
guaninfreien Epithel des Bleys nicht die geringste Veränderung in der Ver- 
theilung des Fuscins entdecken“! konnte. Wenn ich also auch die Frage, 
ob das in den Kuppen liegende Pigment nicht bei langer Belichtung vor- 
rückt, unentschieden lasse, so halte ich es doch für sicher, dass das 'den 
Fortsätzen und dem Uebergange derselben zur Basis angehörige Pigment 
keiner durch Licht oder Dunkelheit bedingten Veränderung unterliegt. 


Sehpurpur. 


Wenn auch über das Vorhandensein von Stäbchen in der Krokodil- 
netzhaut im Allgemeinen Uebereinstimmung herrscht, so differiren doch 
gerade über die Alligatornetzhaut die Ansichten der verschiedenen Forscher. 
W. Krause? meint, man könnte die Stäbchen hier für kleinere Zapfen 
nehmen, Chievitz? sagt, über die Stäbchenzellen könne er nach seinen 
Präparaten nichts Sicheres mittheilen. Tafani* dagegen hat grosse Stäbchen 
von charakteristischer Form ahgebildet, ich kann nach meinen Präparaten 
(Osmiumsäure) die Richtigkeit derselben bestätigen, die Stäbchen sehen den 
rothen des Frosches sähr ähnlich, haben aber einen geringeren Dicken- 
durchmesser. Obwohl sich aus der Anwesenheit von Stäbchen nicht auch 
der Besitz von Sehpurpur mit Sicherheit vorhersagen lässt, da es ja auch 
purpurlose Stäbchen giebt, so liess doch eine Angabe von Tafani Sehpurpur 
in der Netzhaut erwarten. Er erwähnt, dass es ihm unmöglich war, „de 
mettre en evidence, ou plutöt de conserver la couleur splendide des cellules 
visuelles“, indem die Farbe viel vergänglicher war, als der Purpur der 
Tauben und Cephalopodennetzhaut. Gerade dieser, auf irrigen Voraus- 
setzungen beruhende Vergleich sprach dafür, dass in der That Sehpurpur 
vorhanden ist; denn bei den Cephalopoden ist die Farbe eben deshalb nicht 
vergänglich, weil sie gar nicht durch Sehpurpur bedingt ist; ebenso wenig 
verdankt das sog. rothe Feld der Taubennetzhaut seine allerdings dem 
Lichte widerstehende Farbe nicht dem Sehpurpur, sondern einer körnigen 
Einlagerung in den Innengliedern der Zapfen. 

War demgemäss Sehpurpur in der Alligatornetzhaut höchst wahrschein- 
lich vorhanden, so war durch die Anwesenheit des Tapetums eine sehr 


ı A. 2.0... 8. 244. 

° W.Krause, Die Retina der Reptilien, Monatsschrift für Anatomie und Phy- 
siologie. 1893. Bd.X. 

EN 220: 182162. 

* Tafani, Parcours et terminaison du nerf optique dans la retine des crocodiles 
(Champsa Lucius). Archives italiennes de biologie. 1884. T. IV. p. 210 bis 233, 


PHYSIOLOGISCHE BEOBACHTUNGEN AM AUGE DER KROKODILE. 161 


günstige Gelegenheit zu seiner Betrachtung in situ gegeben, indem dasselbe 
einen sehr geeigneten weissen, keine störenden Interferenzfarben bietenden 
Hintergrund liefert. 

Hat man das Auge des 24 Stunden bis zum Tode im Dunkeln ge- 
haltenen Alligators bei rothem Lichte eröffnet, so zeigt der hintere Ab- 
schnitt des Augapfels, bei Tageslicht betrachtet, folgendes Bild: An einen 
schmalen, schwarzen, oberen Saum schliesst sich ein über die Hälfte des 
Augengrundes einnehmendes, breites. röthlich violett gefärbtes Feld, das 
vorn und hinten fast bis an die Ora serrata reicht und ohne scharfe Grenze 
in den unteren schwarzen Theil übergeht. In diesem liegt der runde 
Opticuseintritt etwas temporalwärts (caudalwärts), er ist von dunkelgelber 
Farbe und hat einen kurzen, bräunlich pigmentirten Pecten. Die Purpur- 
farbe der Netzhaut ist nicht etwa auf jene oberen Theile des Auges be- 
schränkt, sondern ebenso wie bei tapetirten Fischaugen (Bley) wegen des 
weissen Hintergrundes nur hier von vorn sichtbar; hebt man die Netzhaut 
über dem schwarzen Theile ab und betrachtet sie von der Stäbchenseite 
aus, so zeigt sie auch an dieser Stelle Purpurfärbung. Es kann vorkommen, 
dass man umgekehrt im tapetirten Theile den Sehpurpur von vorn, aber 
nicht von hinten erkennen kann; wenn nämlich das Epithel bei der Netz- 
hautabhebung in der Mitte durchreisst, so ist die Stäbchenseite von einer 
undurchsichtigen Guaninschicht überzogen, welche das Purpurlicht nach 
vorn (nach dem Glaskörper) reflectirt und von dieser Seite aus er- 
kennen lässt. 

Die Bleichung geht am Tageslichte bei bedecktem Himmel zwar schnell 
vor sich, die Zeit reicht aber aus, um auch Einzelheiten wahrzunehmen. 
An Stelle der Purpurfarbe tritt ein helles Roth, das zuerst rosa werdend 
erbleicht. Ein gelbes Zwischenstadium war nicht wahrnehmbar. Spektro- 
photometrische Untersuchungen führten E. Köttgen und mich! zur Unter- 
scheidung zweier Arten von Sehpurpur, zur einen gehören die Fische (Ab- 
sorptionsmaximum bei 540 ««), zur anderen die Amphibien, Vögel und 
Säugethiere (Absorptionsmaximum bei 500 uu). Die Frage, ob der Sehpurpur 
der Reptilien dem einen oder anderen Typus angehört, muss ich zunächst 
offen lassen, da ich das spärliche Material nicht zu Purpurlösungen ver- 
wandte und mir ein Urtheil nach der Betrachtung mit: blossem Auge nicht 
zutraue. 

Nach Zerstörung des Purpurs bleibt der untere Theil des Auges natür- 
lich schwarz, der obere ist von weisser Farbe mit einem leichten Stich in’s 


! E. Köttgen und G. Abelsdorff, Die Arten des Sehpurpurs in der Wirbelthier- 
reihe. Sitzungsberichte der Berliner Akademie. 1895. 8.921 bis 926. — Absorption 
und Zersetzung des Sehpurpurs bei den Wirbelthieren. Zeitschrift für Psychologie 
und Physiologie der Sinnesorgane. 1896. Bd. XII. S. 161 bis 184. 

Archiv f. A. u. Ph. 1898. Physiol. Abthlg. 11 


162 G. ABELSDORFF: 


Gelbliche oder Bräunliche. An der Grenze zwischen schwarzem und weissem 
Theile sieht man zum Zeichen des allmählichen Ueberganges feine schwarze 
Linie senkrecht in das weisse Feld hineinstrahlen. Durch das letztere zieht 
horizontal, 1 X” vom unteren Rande entfernt eine Furche, die von Chievitz! 
bereits als Area centralis beschrieben worden ist. Ohne den Angaben dieses 
Autors, dass hier nur Zapfen vorhanden sind, widersprechen zu wollen, 
halte ich es doch für bemerkenswerth, dass auch im purpurhaltigen Auge 
die Farbe dieser Furche nicht wesentlich gegen die Umgebung absticht, 
vielleicht etwas bräunlieher aussieht. 

Wenn ich auch bei der Bleichung ein gelbes Zwischenstadium nicht 
wahrnehmen konnte, so will ich doch als gelegentlichen Befund erwähnen, 
dass das Auge eines im Dämmerlichte gestorbenen Alligators, ohne Licht- 
schutz eröffnet, einen stark gelblichen Hintergrund zeigte; die Intensität 
des Gelb nahm bei Belichtung ab. 

Aehnlich wie ich? es zuerst bei Fischaugen, Ändogsky? später auch 
bei Kaninchenaugen beschrieben hat, blieb die Purpurfärbung der Netzhaut 
eines 24 Stunden in 5procent. Formollösung gehärteten Alligatorauges er- 
halten. Während aber bei Fischen und Kaninchen die Lichtempfindlichkeit 
des Purpurs durch Formol stark herabgesetzt wird, war hier ein Unterschied 
in der Bleichungszeit eines frischen und gehärteten Auges nicht fest- 
zustellen. 


Ophthalmoskopische Erkennbarkeit und Regeneration des 
Sehpurpurs. 


Es war zu erwarten, dass das retinale Tapetum, welches eine Betrach- 
tung des Sehpurpurs in situ ermöglicht, auch die ophthalmoskopische Sieht- 
barkeit desselben während des Lebens gestatten würde. Wie gut auf diesem 
weissen undurchsichtigen Grunde, der die Aderhautröthe völlig verdeckt, 
der Sehpurpur sich ophthalmoskopisch abhebt und mit Sicherheit zu sehen 
ist, habe ich bereits für das Fischauge beschrieben.* Da beim Alligator 
die Bedingungen die nämlichen sind, verweise ich auf die dort gegebene 


1 A.a.0. S.160 bis 163. 

° G. Abelsdorff, Die ophthalmoskopische Erkennbarkeit des Sehpurpurs. Zeit- 
schrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane. 1897. Bd. XIV. 8.83. 

®° Andogsky, Ueber das Verhalten des Sehpurpurs bei der Netzhautablösung. 
v. Graefe’s Archiv für Ophthalmologie. 1897. Bd. XLIV. 2. $. 422. 

* @. Abelsdorff, Ueber die Erkennbarkeit des Sehpurpurs von Abramis Brama 
mit Hülfe des Augenspiegels. Sitzungsberichte der Berliner Akademie der Wissen- 


schaften. 1895. 8. 325 bis 829. — Die ophthalmoskopische Erkennbarkeit des Seh- 
purpurs. A.a.0. 


PHYysIoLoGISCHE BEOBACHTUNGEN AM AUGE DER KROKODILE. 163 


Erklärung und verzichte auf eine nochmalige ausführliche Erörterung der 
hierbei in Betracht kommenden optischen Verhältnisse. 

Ich beschreibe zunächst das ophthalmoskopische Aussehen des Augen- 
hintergrundes eines im Dunkeln gehaltenen Alligators." Besser noch als 
durch Worte wird der Gesammteindruck durch die beigegebenen Abbil- 
dungen erläutert. Hr. Prof. Greeff hatte die dankenswerthe Güte, die- 
selben nach eigener Anschauung anzufertigen und so meine mangelnde 
zeichnerische Begabung durch die seinige zu ersetzen. 

- Der obere Theil (Taf. IV, Fig. 3) zeigt ein gleichmässiges helles Roth, in 
dem man bei Betrachtung im aufrechten Bilde einzelne kleine schwarze und 
hell glitzernde (ebenfalls schwarz gezeichnete) Punkte unterscheidet. Je 
mehr man sich dem unteren Theile nähert, um so mehr mischt sich dem 
Roth eine schwärzliche Punktirung zu, die schliesslich einer ausgedehnten 
Schwarzfärbung Platz macht. Letztere ist durch die Ansammlung dicht 
gedrängt liegender Pigmentschollen bedingt, zwischen welchen schmale, gelb- 
lich rothe Zwischenräume hervorleuchten. Einzelne Schollen sind hell und 
nur schwarz umrandet. In diesem unteren Theile liegt temporalwärts der 
Sehnerveneintritt, der sich als schwarz umsäumte kreisförmige Scheibe dar- 
stellt. Innerhalb derselben liegen zahlreiche Pigmentmassen (vgl. auch Taf. IV, 
Fig. 1), die sich durch ihre hellere Färbung von denjenigen der Retina 
unterscheiden. In den von Pigment freien Abschnitten ist der Opticus 
von grauröthlicher Farbe. Nicht bei allen Exemplaren fand ich den Seh- 
nerveneintritt von einem weissen Ringe umgeben, der einmal auch nur 
den unteren Theil einnahm, am besten mit jener Sichel vergleichbar, 
welche die Ophthalmologen als Conus bezeichnen. An dem Auge, dessen 
Durchschnitt Taf. IV, Fig. 1 wiedergegeben ist, würde die Sichtbarkeit einer 
weissen Sichel am ınteren Rande des Sehnerven verständlich sein, denn 
hier reicht das retinale und chorioideale Pigment nicht bis an den Seh- 
nervenkopi, so dass man also bis zur weissen Sclera hindurchblicken kann. 
In die umgebende Netzhaut strahlen grauschwarze Nervenfasern aus, bei 
dem zur Abbildung verwendeten Exemplar divergirten sternförmig von der 
Papille dicke, schwarze Linien. Professor Greeff gelang es, auch die 
ganz peripherischen, oben an das rothe Feld sich anschliessenden Theile zu 
sehen, welche den unteren gleichende schwarze Pigmentmassen aufweisen. 

Hat man den Alligator längere Zeit mit dem Spiegel untersucht, so 
wird das Roth rosa. Die Rosafärbung ist nicht etwa ein Ermüdungs- 


! Einige Bemerkungen über das ophthalmoskopische Bild des Alligatorauges finden 
sich auch bei Beer, a.a. O., und schon früher bei Hirschberg, der zutreffend be- 
merkt: „Der grössere obere Theil des Augengrundes zeigt reines Roth, der, kleinere 
untere dunkles Grauschwarz.“ Eulenburg’s ZRealencyklopädie der gesammten Heil- 
kunde. Artikel Ophthalmoskopie. 

il“ 


164 G. ABELSDORFF: 


phänomen des Beobachters; denn man braucht dann nur ein noch nicht 
untersuchtes Thier zu nehmen, um das ursprüngliche Roth wiederzufinden. 
Uebrigens findet man zuweilen mehrere grosse weisse Flecke. Besonders 
häufig haben dieselben die Gestalt eines sich horizontal durch das Roth hin- 
ziehenden weissen Bandes, dass ich anfänglich für identisch mit der vorher 
erwähnten Area centralis hielt. Diese Annahme war aber irrig, es gelang 
mir überhaupt nicht mit Sicherheit, dieselbe ophthalmoskopisch nachzu- 
weisen. Die Erklärung für die horizontale Ausdehnung des weissen Bandes 
fand ich dadurch, dass ich das Thier um 90 Grad neigte, so dass die 
Längsaxse des Kopfes nicht mehr parallel, sondern vertical zur Bodenfläche 
stand.! Jetzt verlief nach längerer Spiegelung ein weisser Streifen, wenn 
derselbe überhaupt sichtbar war, vertical durch den rothen Theil des 
Augengrundes. Da man, wenn nicht gerade die Peripherie berücksichtigt 
werden soll, die Neigung hat, den Spiegel seitlich, um seine verticale Axe 
drehend zu bewegen, so verlief also die grösste Ausdehnung jenes weissen 
Feldes parallel der Bewegungsrichtung des Spiegels. 


Diese Versuche verlangen jedoch viel Uebung und Geduld, da die 
Thiere die an sich schon durch die Enge der Pupille erschwerte Unter- 
suchung durch Augenbewegungen stören. Wenngleich die Demonstration 
der ophthalmoskopischen Erkennbarkeit des Sehpurpurs bei Fischen viel 
leichter ist, lässt sich dieselbe doch auch beim Alligator in folgender Weise 
‘ mit Sicherheit ausführen. 

Um eine Bleichung des Sehpurpurs zu erzielen, ist zunächst nöthig, 
die lichtscheuen Thiere am Lidschluss zu verhindern. Setzt man sie näm- 
lich blendendem Lichte aus, so schliessen sie krampfhaft die Lider, während 
der Frosch unbeweglich hineinstarrt und ein Fisch sich dem Lichteinfall 
wegen fehlender Lider nicht entziehen kann. Ein kleiner Lidsperrer erwies 
sich nicht als ausreichend, weil der Alligator dann noch seine Nickhaut 
von der Seite vorschieben kann. Die Niekhaut wurde daher abgeschnitten, 
schädliche Folgen dieser kleinen, leicht auszuführenden Operation für das 
Auge machten sich während einer Beobachtung von mehreren Monaten 
nicht bemerkbar. Dagegen musste nach zwei Monaten die Nickhaut von 
neuem abgetragen werden, weil sie zum grössten Theile regenerirt war. 
In physiologischem Sinne ist die Regeneration allerdings sehr unvollständig, 
da die wiedergewachsene Nickhaut eine dicke weissliche Haut, die ursprüng- 
liche aber eine durchsichtige Membran ist. 


‘ Bei passiven Kopfdrehungen tritt eine sehr deutliche compensatorische Rad- 
drehung der Augen auf, wie sie W. A. Nagel auch bei Ridechsen beschrieben hat: 
Ueber compensatorische Raddrehungen der Augen. Zeitschrift für Psychologie und 
Physiologie der Sinnesorgane. 1896. Bd. XII. S. 348. 


PHYSIOLOGISCHE BEOBACHTUNGEN AM AUGE DER KROKODILE. 165 


Da ich die Thiere längere Zeit am Leben erhalten wollte, führte ich 
wegen der kalten Jahreszeit die Versuche nicht im Freien aus, zumal da 
die Sonne nur selten hervortrat, sondern benutzte Auer’sches Glühlicht; 
ein viertel Meter von diesem entfernt wurde das der Nickhaut beraubte 
Thier mit eingelegtem Lidhalter auf einem Brette gefesselt aufgestellt. 
Während der Belichtung tropfte ich in das Auge Kochsalzlösung von 
0.6 Procent von Zeit zu Zeit, um die Hornhaut vor Eintrocknung zu 
schützen. Auch das gefesselte Thier darf man nicht unbeobachtet lassen, 
damit es nicht durch Kopfbewegungen das Auge dem Einfall des Lichtes 
entzieht. Um die Wirksamkeit desselben sichtbar zu machen, war min- 
destens 1!/, Stunde nothwendig. 

Zur Beobachtung der dann eingetretenen Veränderung bedarf es-keiner 
grossen technischen Fertigkeit; man werfe nur mit einem Planspiegel das 
Licht einer Gaslampe in das Auge, und der vorher gelblichroth leuchtende 
obere Theil des Augengrundes giebt einen deutlich weissen Reflex. Bei 
genauerer Einstellung sieht man, dass der untere schwarze Theil unver- 
ändert ist, darüber ist aber eine Fläche von kreidig weissem Aussehen 
sichtbar, die ohne scharfe Grenzen in das Roth der peripherischen Theile 
übergeht (Taf. IV, Fig. 4, die auch im Weissen sichtbaren glitzernden 
Punkte sind fortgelassen). Es ist mir niemals gelungen, auch dieses hinweg- 
zubleichen, was bei der während der Belichtung maximal verensten Pupille 
nicht verwunderlich ist. 

Der nächstliegende Einwand, dass es sich bei diesen Versuchen um 
Veränderungen der Netzhaut analog den durch Blendung mit directem 
Sonnenlichte erzeugten handle, ist leicht zu widerlegen. Die schädlichen 
Wirkungen einer Concentrirung der Sonnenstrahlen auf die Netzhaut, wie 
sie zuerst experimentell von V. Özerny! studirt wurden und auch mehr- 
fach klinisch beschrieben worden sind, rufen eine Trübung der Netzhaut 
hervor, die mit dem durchsichtigen glänzenden Aussehen des belichteten 
Hintergrundes am Alligatorauge nichts gemein hat. Ausserdem sind Ver- 
änderungen so ausgedehnten Grades, wenn sie überhaupt zurückgehen, nicht 
in einer Stunde zu beseitigen. Man braucht den Alligator nur eine Stunde 
im Dunkeln zu lassen, und die weisse Farbe des Hintergrundes ist wieder 
der rothen gewichen, zugleich ein Beweis, wie lebhaft der Regenerations- 
process des Sehpurpurs verläuft. Ich hatte dann allerdings den Eindruck, 
dass es auch leicht in relativ kurzer Zeit gelang, umschriebene Stellen mit 
dem Spiegel zu bleichen. Das Roth verwandelte sich in ein blasses Rosa, 
in dem zuerst einzelne weisse Streifen auftauchten, die an Ausdehnung 


' V.Czerny, Ueber die Blendung der Netzhaut durch Sonnenlicht. "Sitzungs- 
berichte der Wiener Akademie. 1867. Bd. LV1. 


166 G. ABELSDORFF: 


zunehmend zu einem gleichmässigen Weiss verschmolzen. Da nicht anzu- 
nehmen ist, dass der Sehpurpur durch die Belichtung lichtempfindlicher, 
d. h. leichter zersetzbar geworden ist, wird es wahrscheinlich, dass durch 
die lang dauernde Belichtung das Gleichgewicht zwischen Regeneration und 
Zersetzung des Sehpurpurs gestört worden ist und das regenerirende Epithel 
sich noch einige Zeit nachher in einem gewissen Zustande der Erschöpfung 
befindet. 

Die Regeneration des Sehpurpurs ist nicht an das Leben des Thieres 
gebunden, sondern besteht nach dem Tode fort. Das Alligatorauge ist zu 
Versuchen hierüber besonders geeignet, da man sich ja von der Existenz 
des Sehpurpurs durch Betrachtung der Netzhaut von vorn überzeugen 
kann, ohne dieselbe vom Epithel abzuheben. Ich habe ein Auge eröffnet, 
am Tageslichte gebleicht und ins Dunkle zurückgebracht. Nach zwei 
Stunden war schwache Purpurfärbung wahrnehmbar, welche ich wiederum 
durch Bleichen beseitigte. Das Auge blieb dann während der Nacht im 
Dunkeln, und am nächsten Morgen war die Purpurfärbung so vollkommen, 
als sie am frisch enucleirten Auge des im Dunkeln gehaltenen Thieres 
gewesen war. Die Intensität der postmortalen Regeneration des Sehpurpurs 
steht hiernach zwischen der bei Fischen und Fröschen beobachteten, indem 
sie der ersteren überlegen ist. 

Ausser dem Alligator konnte ich, wie schon vorher erwähnt, ein Croco- 
dilus cataphractus ophthalmoskopisch untersuchen. Das Spiegelbild ist im 
Wesentlichen dasselbe, auch hier findet sich ein oberer rother und ein 
unterer schwarzer Theil, in dem der Sehnerveneintritt gelegen ist. Der 
rothe Theil reicht hier aber noch weiter nach unten als beim Alligator. 
Der Eintritt des Sehnerven hat ein von dem des letzteren abweichendes 
Aussehen. In einem polygonalen dunkelgrauen Felde liegt eine kohlschwarze, 
kreisrunde Scheibe (Taf. IV, Fig. 5). Das Bild erinnert an die Zeichnung, 
die Soemmering schon zu Anfang des Jahrhunderts vom Krokodilauge 
gegeben hat.! Er bildet den Sehnerveneintritt bei Crocodilus sclerops als 
einen runden, schwarzen Fleck ab, der rings von einem hellen Rande um- 
geben ist. Eine Veränderung des Roths im Augengrunde war während 
der Untersuchung mit dem Spiegel nicht nachweisbar. 


! Soemmering, De oculorum hominis animaliumque sectione horizontali com- 
mentatio. Göttingen 1818. Tab. III. 


PHYSIOLOGISCHE BEOBACHTUNGEN AM AUGE DER KROKODILE. 167 


Erklärung der Abbildungen. 
(Taf. IV.) 


Fig. 1. Sagittaler Durchschnitt durch das Auge von Alligator 1. Ungefärbtes 
Glycerinpräparat, bei auffallendem Lichte gezeichnet. Zeiss Object. AA. Oc.2. Ver- 
grösserung 12:1. 

N.O. = Nervus opticus. 


pP: = Pigment. 

8. — Sclera. 

Ch. = Chorioides. 

P.E. = Pigmentepithel. 

T. = Tapetum. 

iv: = Retina. z 


Die beim Uebergang des Tapetums in das Pigmentepithel sichtbare Spaltung 
des letzteren in zwei Lamellen ist ein Kunstproduct. 


Fig. 2. Epithelzelle vom unteren Rande des Tapetums. Zeiss Object. F. Oec. 4. 


Vergr. 1000:1. 
@. 


pP. 


Guanin. 
Pigment. 


Il 


Il 


Fig. 3. Augenbintergrund eines im Dunkeln 
gehaltenen Alligators. Aufrechtes auf die Hälfte ver- 


Fig. 4. Augenhintergrund eines belichteten kleinertes Spiegelbild. 


Alligators. 


Fig. 5. Sehnerveneintritt bei Crocodilus cataphractus. Umgekehrtes Spiegelbild 
in natürlicher Grösse. 


Ueber die Nahrungsaufnahme bei Schwämmen. 


Von 


G.C.J. Vosmaer und C. A. Pekelharing 


in Utrecht. 


Im Jahre 1856 berichtete Carter, dass bei Spongilla durch die Poren 
der Körperoberfläche Wasser in das Innere des Schwammes hineinströmt, 
und dass, wenn dem Wasser fein vertheiltes Carmin hinzugefügt wurde, 
Carmintheilchen in den Schwammzellen und den sogenannten „Zoosperms“! 
zu finden sind. 

Lieberkühn veröffentlichte in demselben Jahre seine ebenfalls an 
jungen Spongillen gemachten Beobachtungen und kam, unabhängig von 
Carter, in der Hauptsache zu demselben Schlusse.” „Um die Aufnahme 
von Substanzen durch die Spongillen zu beobachten, wurde der Flüssigkeit, 
in der sie sich befanden, Carmin zugesetzt; es drangen in mehreren Fällen 
die rothen Körnchen in eine oder zwei Oeffnungen ein, welche in einiger 
Entfernung von der kegelförmigen Erhebung lagen, und färbten fast die 
ganze Spongilla roth; viele der rothen Körnchen steckten im Inneren der 
Schwammzellen selbst, was sich beim Zerreissen der Spongilla unter An- 
wendung starker Vergrösserungen leicht nachweisen liess“ (S. 497). 

Im folgenden Jahre veröffentlichten Carter und Lieberkühn beide 
neue Beobachtungen. 

Carter brachte kleine, junge Exemplare ‚von Spongilla in ein Uhrglas 
mit Wasser und fügte dann Carmin hinzu. Die Carmintheilchen wurden 
schnell in die Poren hineingesogen, und zwar, nach Carter’s Beschreibung, ® 
‚not vortically but directly,“ durch die Lacunen und Canäle fortbewegt 
und in „the ampullaceous sacs, where they remain a quarter of an hour 
or more“ geführt (p. 28). Carter theilt mit, dass er die Oeffnung der 


! Annals and Magaz. of Nat. Hist. Ser. 2. Vol. XVII. p. 242. 
? Dies Archiv. 1856. 
® Annals and Magaz. of Nat. Hist. Ser.2. Vol. XX. p. 27. 


G.C.J. VOSMAER UND Ü. A. PEKELHARING: NAHRUNGSAUFNAHME U.S.w. 169 


Geisselkammer, durch welche die Theilchen hineindrangen, hat beobachten 
können. '„When,“ so sagt er, „the aperture happens to be on one side 
of the sac, the particles may be seen to pass through it into the interior 
and generally to adhere to the first part with which they come into contact, 
when they are instantly inclosed by the sponge-cell on which they impinge.“ 
Er vergleicht das Aufnehmen der festen Theilchen von den Zellen mit 
dergleichen Erscheinungen an Amöben und hält die Bewegungen der Fla- 
gellen für die Ursache, dass die Theilchen mit den Zellen in Berührung 
kommen. Er fand, dass bei isolirten Choanocyten das Flagellum Bewegung 
in der Richtung des Zellkörpers verursachte, „on either side of the cilium, 
by which the particles may be seen to be thrown almost point-blank on 
its surface and at the same time eaught up...and rapidly passed into 
the interior. Hence we may easely conceive the united efiort of all the 
ciliated sponge-cells in the ampullaceous sacs being sufficient to produce 
a considerable current into its interior and thus catch the particles which 
are passing through the afferent canals“ (p. 30). Carter glaubte, dass 
„there was no direet communication between the afferent canals or the 
ampullaceous sacs and the efferent canals“ (p. 29), sondern dass die Zell- 
vacuolen Wasser mit darin suspendirten Theilchen in das System der Aus- 
führgänge austrieben. „When we consider,“ so spricht er p. 30, „the 
powerful organ which the contracting vesieles of all the ampullaceous cells 
8 must form for effecting this function, it does not seem unreaso- 
nable...to conclude that the currents, both afferent and efferent, of the 
sponge may be produced in that way.“ 

Lieberkühn beschreibt ähnliche Beobachtungen bei Spongilla.ı „Die 
einströmenden Carminkörnchen,“ sagt er S. 384, „dringen schnell in die 
Canäle hinein und bleiben in grösserer oder geringerer Entfernung von der 
Eingangsöffnung plötzlich in kugelförmigen Räumen stecken; diese kugel- 
förmigen Räume sind die Wimperorgane.“ Lieberkühn fand, dass die 
Körnchen theilweise in das Gewebe des Schwammes aufgenommen wurden, 
theilweise aber die Geisselkammern passirten und durch die Apopyle, welche 
von diesem Forscher, im Gegensatz zu Carter, beobachtet wurde, in die 
Ausführgänge hineingelansten. Ueber das Aufnehmen von Körnchen in 
die Zellen äussert Lieberkühn sich sehr reservirt. „Es gleitet,“ sagt er 
S. 887, „ein Theil (der Körnchen) in die eigentliche Gewebsmasse des 
Körpers hinein und bleibt, von Zellen rings umgeben, lange Zeit darin 
zurück; nur bisweilen kamen Fälle vor, wo innerhalb der Zellen selbst 
Carminkörnchen zu stecken schienen zwischen Kernen und Zellenwand, den 
Kern rings umgebend. Beim Zerreissen solcher Spongillen liessen sich 


I! Dies Archiv. 1857. 8. 376. 


170 G. ©. J. VOSMAER UND Ü. A. PEKELHARING: 


immer Zellen auffinden, in denen Carminkörnchen sassen. Es ist jedoch 
schwierig zu entscheiden, ob die Zellenwand in solchen Fällen unversehrt 
war.“ Offenbar hielt Lieberkühn es für gewagt, zu behaupten, dass die 


unversehrten Zellen eines Schwammes Körperchen von aussen in sich auf- 


zunehmen im Stande sein würden. Auch wo er beschreibt, wie ein in das 
Parenchym des Schwammes hineingerathenes Infusorium aufgelöst wurde, 
vergleicht Lieberkühn zwar den Vorgang mit den Veränderungen von in 
das Innere von Actinophrys sol aufgenommenen Körperchen, der Vergleich 
betrifft aber nur die Verdauung eines Infusoriums in dem einen und in 
dem anderen Organismus. Von intracellulärer Verdauung ist bei Lieber- 
kühn nicht nur nicht die Rede, sondern aus seiner ganzen Auseinander- 
setzung geht hervor, dass der Gedanke daran ihm gewagt scheinen würde. 

Carter kam später mehrmals auf seine oben erwähnten Beobachtungen 
zurück. Im Jahre 1870, bei der Beschreibung seiner Untersuchungen über 
marine Schwämme,! sagt er (p. 334): „Thus it is proved that the ampulla- 
ceous sac is the eating-organ in Spongilla and in the marine sponges, both 
calcareous and siliceous, generally.“ 

Merkwürdiger Weise berufen sich Haeckel und Metschnikoff beide 
auf die soeben erwähnte Mittheilung Lieberkühn’s zur Stütze ihrer ganz 
entgegengesetzten Anschauungen. Nach Haeckel? ist „die Aufnahme fester 
und gefornter Körperchen durch die Geisselzellen durch zahlreiche Fütte- 
rungsexperimente mit Carmin- und Indigokörnchen festgestellt, welche 
Bowerbank, Lieberkühn und Carter bei Spongilla, Sycandra und 
anderen Schwämmen angestellt haben“ (S. 372). Haeckel selbst hat, wie er 
mittheilt, diesen Befund durch eigene Versuche an verschiedenen Schwämmen 
bestätigen können. Metschnikoff dagegen behauptet, dass Haeckel ganz 
andere Resultate als Lieberkühn erhalten hat.” Während Haeckel von 
Lieberkühn nur sagt, dass er mit diesem Forscher einverstanden ist, 
meint Metschnikoff, dass Haeckel entgegengesetzter Meinung ist als 
Lieberkühn und stellt er selbst sich „auf Grund eigener Untersuchungen 
durchaus an die Seite des letztgenannten Forschers“. 

Thatsächlich ist weder Haeckel noch Metschnikoff ganz derselben 
Ansicht wie Lieberkühn. Letzterer hat nicht gesagt, dass die Choano- 
cyten feste Theilchen verschlucken, sondern nur, dass er bisweilen Carmin 
in den Zellen gefunden hat. Ueber die Art und Weise, auf welche die 
Carminkörnchen in den Zellkörper hineingelangt seien, äussert er sich sehr 
zurückhaltend. In dieser Hinsicht stimmt also Haeckel nicht völlig mit 
Lieberkühn überein. Andererseits aber theilte, wie gesagt, Lieberkühn 


! Annals and Magaz. of Nat. Hist. Ser. 4. Vol. VI. p. 329. 
® Die Kalkschwämme. Bd.1. Berlin 1372. 
% Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie. Bd. XXX. S. 371. 


ÜBER DiE NAHRUNGSAUFNAHME BEI SCHWÄMMEN. Ihren 


mit, dass das Carmin in die Geisselkammern geführt wird und theilweise 
darin bleibt, während Metschnikoff behauptet, dass bei Carminfütterung 
„die Wimperkörbchen, bezw. deren Zellen, für gewöhnlich leer bleiben,“ 
und schliesst: „Es stellt sich also heraus, dass bei einigen Schwämmen die 
Rolle der Nahrungsaufnahme ausschliesslich von Mesodermelementen aus- 
geführt wird“ (S. 373). 

Auch von Lendenfeld ist der Auffassung, dass die Nahrung von 
den Kragenzellen aufgenommen werde, entgegengetreten.! Indessen ist der 
Unterschied zwischen der von “#esem Forscher vertretenen Anschauung 
und der von Metschnikoff. vertheidisten Meinung noch ziemlich gross. 
von Lendenfeld fand wohl Carmin in den Kragenzellen, er glaubte aber, 
diese Zellen hätten eben die Function, die Körnchen aus dem Körper des 
Schwammes herauszubefördern. Er schliesst (S. 252): „Nach diesen Beob- 
achtungen möchte ich es als erwiesen annehmen, dass bei Aplysilla violacea 
kleine organische Körper von den ectodermalen Plattenzellen des Subdermal- 
epithels aufgenommen und den amöboiden Zellen, welche darunter liegen, 
übergeben werden. In diesen Zellen werden die aufgenommenen Körper 
verdaut, und es wandern die amöboiden Zellen mit den unverdauten Resten 
zu den Geisselkammern, übertragen die Auswurfstoffe auf die Kragenzellen 
und diese stossen dieselben aus.“ Ein Jahr später äusserte sich dieser 
Forscher, jetzt im Allgemeinen über Schwämme handelnd, folgendermaassen: 
„I think that my scientific colleagues universally agree to my statement 
that the nourishment is absorbed in the canals and not in the ciliated 
chambers.‘“? 

Mit Beistimmung werden diese Befunde und Auffassungen v. Lenden- 
feld’s erwähnt von Pol6jaeff,’ welcher Forscher aber keine eigenen Ver- 
suche oder Beobachtungen über diese Frage mittheilt. 

Wenige Jahre später hat von Lendenfeld aber eine seiner früheren 
gerade entgegengestellte Ansicht vertheidigt.* Am Schlusse einer sehr aus- 
führlichen Abhandlung, in welcher eine grosse Zahl von Versuchen über 
Fütterung verschiedener Arten von Schwämmen mit Carmin, Milch, Stärke, 
mit oder ohne Zusatz von Giften, beschrieben werden, versichert er (S. 674): 
„Obwohl an den Canalwänden der gefütterten Spongien einzelne Carmin- 
körner haften bleiben, so ist doch klar, dass die Kragenzellen es sind, 
welche das im durchströmenden Wasser enthaltene Material 
normaler Weise aufnehmen,“ und weiter: „Von den Kragenzellen 
werden die aufgenommenen Substanzen theilweise verdaut und in mehr 


1 Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie. Bd. XXXVIIl. 8. 234. 

? Proc. of the Linnean Soc. of New South- Wales. Vol. IX. p. 437. 
3 Challenger-Report. Vol. VIU. Part. XXIV. p. 14. | 
* Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie Bd. XLVIII. 8. 406. 


2 G. ©. J. VOoSMAER unD (. A. PERELHARING: 


oder minder assimilirtem Zustande den Zellen der Zwischenschicht über- 
geben, welche den Transport der Nahrungsstoffe besorgen.“ 

Nach diesen Aussprüchen kann also von von Lendenfeld nicht mehr 
gesagt werden, dass er in Bezug auf das Aufnehmen von Nahrung von 
den Kragenzellen zu den Gegnern von Carter, Lieberkühn und Haeckel 
gehöre, und so wird die von Pol6jaeff geäusserte Meinung, dass die 
Resultate der genannten Forscher und diejenigen von Keller, Metschni- 
koff, Vosmaer und Krukenberg über die Zellen, welche bei Schwämmen 
die Nahrungsaufnahme besorgen, „are so Very conflieting“! noch schwächer 
begründet, als sie schon war. 

Keller spricht zwar in der von Polejaeff citirten Arbeit? über 
amöboide Zellen in Schwämmen, welche befähigt sind Nahrungsbestandtheile 
zu transportiren, dass er aber, was die Nahrungsaufnahme betrifft, den- 
jenigen, welche Metschnikoff gegenüber stehen, sich an die Seite stellt, 
geht klar genug hervor aus seinen Worten: „Physiologisch wären also 
diese Wanderzellen die Vermittler oder Zwischenträcer, welche die von 
den Geisselzellen der Wimperkörbe aufgenommene und assimilirte Nahrung 
übernehmen“ (S. 572). 

Krukenberg berührt in der von Pol6jaeff citirten Arbeit? die hier 
besprochene Frage gar nicht. Er untersuchte, ob in Schwämmen tryptische 
oder peptische Enzyme nachzuweisen seien, über die von dieser Frage aber 
grundverschiedene, ob die feste Nahrung von den Kragenzellen der Geissel- 
kammern oder von anderen Zellen aufgenommen wird, äussert er sich nicht. 

Später, im Jahre 1888, hat auch Bidder Versuche über Carmin- 
fütterung bei Leuconia aspera veröffentlicht,* in welchen es sich heraus- 
stellte, dass die Körnchen von den Kragenzeilen aufgenommen wurden. 
Im Jahre 1895 hat dieser Forscher auf’s Neue die Meinung vertheidigt,° 
dass die Kragenzellen es sind, welche die Nahrung aufnehmen. 

Der einzige der von Polejaeff genannten Autoren (von Lendenfeld, 
der seine Meinung gänzlich geändert hat, nicht mitgerechnet), welcher aus 
seinen Versuchen nicht gerade das Gegentheil der Metschnikoff’schen 
Auffassung gefolgert hat, ist der Eine von uns, Vosmaer. Ueber von 
ihm in Neapel angestellte Fütterungsversuche berichtet er Folgendes: „De 
dieren werden in afzonderlijke bakjes met karmijn en andere kleurstoffen 
gevoederd, om kort daarna mikroskopisch te worden onderzocht. Het bleek 
ook mij ten duidelijkste, dat de kraagcellen zoowel als de zoogenaamde 


A220, DA, 

° Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie. Bd. XXX. 8.570. 
® Vergl. Physiologische Studien. Bd.I. 8.65. 

* Proc. Cambridge Philos. Soc. Vol. VI. Part. 4. 

® Quarterl. Journ. of Micr. Science. Vol. XXXVII. p.9. 


ÜBER DIE NAHRUNGSAUFNAHME BEI SCHWÄMMEN. 173 


amoeboide cellen gretig voedsel (hier de korrels karmijn enz.) tot zich nemen. 
Intusschen schijnt het voedsel in de kraagcellen slechts korten tijd te 
blijven, daar verreweg de meeste karmijnkorrels in de amoeboide cellen 
gevonden werden.“! Aus diesen Worten geht aber nicht hervor, dass 
Vosmaer sich der Metschnikoff’schen Auffassung angeschlossen und 
der Meinung der anderen Forscher gegenüber gestellt hat. 

Thatsächlich ist Metschnikoff der Einzige, der annimmt, dass die 
mit dem Wasser durch die Poren der Oberfläche in den Schwammkörper 
hineingedrungenen festen Theilchen nicht von den Zellen der Geisselkammern, 
sondern von den „Mesodermzellen“ aufgenommen werden. Den Grund 
für diese Meinung findet er hierin, dass er bei mit Carmin gefütterten 
Schwämmen die Farbstoffkörner in reichlicher Menge in den Zellen des 
Mesoderms und des Entoderms fand, in viel geringerer Zahl aber oder auch 
gar nicht in den Kragenzellen. Auch fand er in Ento- und Mesoderm- 
zellen öfters fremde, sicher von aussen aufgenommene Körperchen, Sand- 
körner, Diatomeenreste u. s. w., und beobachtete er das Aufnehmen von 
Körperehen, wie Chlorophylikörner von lebenden Mesodermzellen. 

Zwar kann es nicht bezweifelt werden, dass die Parenchymzellen von 
Schwämmen, welche, in lebendem Zustande untersucht, gewöhnlich sehr 
kräftige amöboide Bewegungen zeigen, Körnchen in sich aufzunehmen im 
Stande sind. ° Das ist hier aber nicht die Hauptfrage Metschnikoff 
sagt, namentlich von Spongilla, dass die Rolle der Nahrungsaufnahme 
ausschliesslich von Mesodermelementen ausgeführt wird, und diese Be- 
hauptung ist mit den Beobachtungen Carter’s und Lieberkühn’s nicht 
gut in Einklang zu bringen. Zu deren Begründung ist es nicht genügend, 
bei den Parenchymzellen Phagocytose nachzuweisen, sondern es muss gezeigt 
werden, dass in. den Geisselkammern nach Carminfütterung der Farbstoff 
nicht zu finden ist. 

Dass unter gewissen Verhältnissen das Nichtvorhandensein von 
Carmin in den Kragenzellen eines mit Carmin gefütterten Schwammes 
noch nicht ohne Weiteres ‘beweist, dass diese Zellen die Körnchen nicht 
aufgenommen haben, ist schon von anderen Forschern gesagt und auch 
uns aus unseren Beobachtungen klar geworden. Die Zeit, welche zwischen 
dem Anfang der Fütterung und dem Tödten des Schwammes verläuft, ist 
von grosser Bedeutung für den Befund. Von diesem Factor spricht 
Metschnikoff nicht. Dennoch lag es auf der Hand, daran zu denken. 
Von verschiedenen Forschern ist mitgetheilt, dass die Kragenzellen aus den 
Geisselkammern aufgenommene Theilchen den tiefer gelegenen Parenchym- 
zellen übertragen. Vosmaer sprach, wie gesagt, sogar die Vermuthung 


1 Voorloopig berigt. Ned. Sfaatscourant. 1881. 
12 g 


174 G. ©. J. VOSMAER UND (. A. PEKELHARING: 


aus, dass die Kragenzellen die verschluckten Theilchen nur kurze Zeit 
behalten. 

Masterman! glaubt nicht, dass die Choanoeyten das aufgenommene 
Carmin den Parenchymzellen übergeben, sondern nimmt an, dass die 
Kragenzellen, sobald sie eine gewisse Zahl von Carminkörnchen verschluckt 
haben, Flagellum und Kragen verlieren und sich als amöboide Zellen in 
das Parenchym zurückziehen. Die von den Kragenzellen offen gelassenen 
Stellen würden dann von bald Kragen und Geissel bildenden Parenehym- 
zellen eingenommen werden. 

Auch wenn diese Auffassung, wofür wir aber in unseren Präparaten 
niemals einigen Grund haben finden können, richtig wäre, so könnte es 
leicht vorkommen, dass, einige Zeit nach der Fütterung, die Geisselkammern 
ganz oder nahezu carminfrei gefunden würden, ohne dass daraus geschlossen 
werden dürfte, dass die Körner nicht dort zuerst in das Gewebe des Schwammes 
aufgenommen wären. 

Wir haben zahlreiche Fütterungsversuche angestellt mit Carmin bei 
Spongilla lacustris und bei Sycon eiliatum, bei Spongilla auch mit Milch. 
In der Beschreibung dieser Versuche können wir uns kurz fassen. Nach- 
dem der Schwamm eine bestimmte Zeit lang in dem mit Carmin oder Milch 
vermischten, durch einen langsamen Luftstrom genügend sauerstoffreich 
gehaltenen Wasser gelegen hatte, wurde das Thier entweder sogleich ge- 
tödtet, oder in reines Wasser übergebracht und erst einige Stunden später 
getödtet. Das Tödten geschah immer mittelst 1procent. Osmiumsäure. Die 
Untersuchung fand statt an dünnen Querschnitten und an Zupfpräparaten. 
Die hierzu von uns gebrauchten Methoden haben wir früher beschrieben.? 

Bei Schwämmen, welche !/, bis 2 Stunden in mit Carmin oder Milch 
vermischtem Wasser gelegen hatten und dann sogleich mittelst Osmium- 
säure fixirt wurden, fanden wir jedesmal, in den Schnitten sowohl wie in 
den Zupfpräparaten, die Carminkörnchen oder die Milchkügelchen in reich- 
licher Menge in den Kragenzellen, bei Spongilla ebenso wie bei Sycon, 
während in den Parenchymzellen und den Pinakocyten, zumal bei Spon- 
gilla, wo diese Elemente so reichlich und stark entwickelt vorhanden sind, 
die Fremdkörperchen zwar hier und da, aber in viel geringerer Menge wie 
in den Kragenzellen gefunden wurden. Bei Sycon war das Carmin ziem- 
lich gleichmässig über die Kragenzellen des ganzen Körpers vertheilt, bei 
Spongilla aber nicht. Hier fand man in den Schnitten stellenweise die 
Geisselkammern schon bei schwacher Vergrösserung durch ihre rothe Farbe 
vom umgebenden Gewebe unterschieden, während in anderen Geissel- 


! Annals and Magaz. of Nat. Hist. Ser.6. Vol. XIII. p. 485. 
® Onderz. Physiol. Laborat. Utrecht. Reeks. 4. D1. III. p. 202. 


En 


ÜBER DIE NAHRUNGSAUFNAHME BEI SCHWÄMMEN. 175 


kammern erst mit Hülfe homogener Immersion, bei genauer Betrachtung, 
einzelne 'Carminkörnchen nachgewiesen werden konnten. Wurde der 
Schwamm längere Zeit, bis 24 Stunden lang, im Carminwasser belassen, 
und dann getödtet, so wurden im Parenchym noch mehr Körnchen wie 
in den Kragenzellen gefunden, und wenn der Schwamm, nach dem Ver- 
bleib in Carminwasser, einige Stunden in frischem Wasser, ohne Carmin, 
gelegen hatte, waren die Körnchen in grosser Menge in den Parenchym- 
zellen zu finden, in den Kragenzellen aber nicht, oder nur in geringer Zahl. 

Bei Milchfütterung wurde dasselbe beobachtet. Von einer in mit 
Milch vermischtes Wasser gebrachten Spongilla wurde ein Stückchen nach 
1!/, Stunde, ein anderes nach 3 und ein drittes Stückchen nach 17 Stunden 
in Osmiumsäure gebracht und dann macerirt. Bei I war in den isolirten 
Kragenzellen die Zahl der Fettkörnchen viel grösser wie in den Parenchym- 
zellen, bei II enthielten die Parenchymzellen schon mehr Fettkügelchen 
wie die Kragenzellen und bei III war das Verhältniss noch mehr zu Gunsten 
der Parenchymzellen verändert, obgleich auch hier noch in zahlreichen 
Kragenzellen 10 bis 20 Milchkügelchen gezählt werden konnten. Im All- 
gemeinen erhielten wir den Eindruck, dass in den Parenchymzellen die 
Fettkörner grösser waren als in den Kragenzellen. 

Wir haben auch versucht Spongilla mit Körperchen, welche thatsäch- 
lich als Nahrung dienen könnten, zu füttern, und zwar mit Bakterien; das 
ist uns aber nicht gelungen. Wiewohl die dem Wasser zugefügten Bakterien 
aus dem Wasser selbst, in dem die Schwämme zu leben gewohnt waren, 
gezüchtet worden waren, entweder in Berührung mit der Luft oder anaöro- 
biontisch, dieselben wirkten schädigend auf die Schwämme, sobald sie in 
grösserer Menge in das Wasser gebracht wurden. Wurde der Schwamm 
bald, nachdem die Bakterien dem Wasser hinzugesetzt waren, untersucht, 
so wurden darin nur wenige Bakterien, bisweilen weniger als in normalen 
Spongeillen, gefunden. Wahrscheinlich hatte der Schwamm, nach dem 
Bakterienzusatz, seine Poren geschlossen und so die Wasserzufuhr zum 
Stillstand gebracht, so dass keine Bakterien mehr hineindringen konnten, 
während die schon im Gewebe des Schwammes vorhandenen grösstentheils 
verdaut und dadurch unkenntlich gemacht wurden. Nach einem längeren 
Aufenthalt in dem mit Bakterien verunreinigten Wasser wurden die Thiere 
schlaf! und verloren die Zellen ihr normales Aussehen. Vielleicht würde 
es, nach fleissigem Suchen, wohl gelingen, irgend einen Organismus aus- 
findig zu machen, welcher, in grösserer Menge geboten, vom Schwamme 
gut aufgenommen und als Nahrung gebraucht werden könnte, und wäre 
es dann möglich, die Veränderungen der Theilchen innerhalb der Schwamm- 
zellen zu verfolgen. Wir wollen aber auf das weitere Schicksal der von 
den Kragenzellen aufgenommenen Körperchen nicht eingehen. Dieses nur 


176 G. C. J. VosmAaER und (. A. PEKELHARING: 


glauben wir als sicher annehmen zu dürfen, dass die Kragenzellen die 
Organe sind, von welchen im Wasser schwebende Theilchen in das Gewebe 
des Schwammes übergeführt werden. Diese Theilchen werden, wie Carter 
und Lieberkühn es bei Spongilla unmittelbar beobachten konnten, durch 
die Poren der Oberfläche aufgesogen und nach den Geisselkammern geführt. 
Hier verändert sich die regelmässige Strömung plötzlich in eine höchst 
unregelmässige Bewegung; die Theilchen werden in den Geisselkammern hin 
und her geschleudert und dabei finden dieselben zwar theilweise einen 
Ausweg durch die Apopyle nach den Abfuhrcanälen, zahlreiche Körnchen 
aber werden in den Kragen der Zellen gelangen, von dem Protoplasma 
der Choanocyten verschluckt und später nach den Parenchymzellen über- 
geführt. Damit ist nicht gesagt, dass nicht auch vereinzelte Körnchen 
von den die Canäle auskleidenden Zellen aufgenommen werden können, 
das ist aber Nebensache. Die Auffassung Metschnikoff’s, die Geissel- 
kammern sollten nicht die eigentliche „eating-organs“ der Schwämme sein, 
wie Carter es ausdrückte, findet, wie wir gesehen haben, in den beob- 
achteten Thatsachen keinen ausreichenden Grund. 

Es ist klar, dass die Geisselkammern nicht gut als Fangapparate für 
die im Wasser schwebenden Theilchen functioniren könnten, wenn das 
Wasser dieselbe in einem gleichmässigen Strom durchsetzte und nicht in 
wirbelnde Bewegung geriethe. So findet dann auch Polejaeff! eine grosse 
Schwierigkeit gegen die Annahme, dass die Kragenzellen es seien, welche 
die Nahrungsaufnahme besorgen, eben in der Weise, in welcher er sich den 
Wasserstrom, z. B. in den radiär gestellten Röhren bei Sycon, vorstellt. 
Hier ist, wie dieser Forscher es sich denkt, in der Geisselkammer ein 
schneller axialer Strom, welcher das Wasser nach dem centralen Canal 
des Schwammes führt, und eine langsame, einigermaassen wirbelnde Be- 
wegung an den Wänden, in der unmittelbaren Nähe der Kragenzellen. 
Für die mit dem Wasser durch die Poren hineinströmenden Theilchen ist 
also, wie Polejaeff annimmt, die Möglichkeit, dass sie von dem Strom 
nach der Axe mitgerissen und in den Centralcanal übergeführt werden, 
viel grösser als eine Beute der Kragenzellen zu werden. 

Die Vorstellung Polejaeff’s beruht aber nicht auf Beobachtung, son- 
dern auf Raisonnement. Dabei ist nicht im Auge behalten, dass die Kragen- 
zellen bei Sycon sehr lange Geisseln tragen, welche bis weit in das Lumen 
der Geisselkammer hineinreichen, und dass das Wasser durch eine sehr 
grosse Zahl von über die ganze Wand der Geisselkammer verbreiteten Poren 
hineinströmt. In Bezug auf diese Frage waren uns die Bilder, welche wir 
sehr oft an Schnitten von mit Carmin gefütterten, mittelst Osmiumsäure 


usa Open: 


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ÜBER DIE NAHRUNGSAUFNAHME BEI SCHWÄMMEN. 177 


fixirten und in Paraffin eingebetteten Syconen beobachten konnten, auf- 
fallend. Nicht nur enthielten die Geisselzellen zahlreiche Carminkörner, 
sondern wir fanden auch in den Geisselkammern grosse Detritusklumpen, 
in welchen eine grosse Zahl von Carminkörnchen gleichmässig vertheilt 
war. Ganz bestimmt mussten diese Klumpen, deren Durchschnitt die Weite 
der Poren um viele Male übertraf, in den Geisselkammern selbst gebildet 
und dabei mit Carmin beladen worden sein. Man kann sich nicht denken, 
wie das ohne eine ausgiebige Wirbelbewegung möglich gewesen sein sollte. 
Eine gleichmässige Strömung des Wassers durch den axialen Theil des 
Rohrs würde die Bildung dieser allerseits mit Carmin beladenen, grossen 
Flocken verhindert haben. 


In den soviel kleineren, kugelförmigen oder halbkugelförmigen Geissel- 
kammern von anderen, complicirter gebauten Schwämmen würde man sich 
eine regelmässige Strömung nicht gut denken können, auch wenn man ein 
sehr künstliches Zusammenwirken der einzelnen Flagellen voraussetzen wollte. 
Hier ist überdies die Wirbelbewegung (bei Spongilla) sowohl von Carter 
als von Lieberkühn unmittelbar beobachtet worden. 


Wir glauben, dass die Bewegung der Flagellen eben darauf eingerichtet 
ist, das Wasser in den Geisselkammern fortwährend, so zu sagen, umzu- 
rühren und die. darin schwebenden Theilchen soviel wie möglich mit den 
Kragenzellen in Contact zu bringen. Trotz der Behauptung von v. Lenden- 
feld: „itappears that the cilia in the entodermal collar-cells move, pendulum- 
like, backward and forward, similarly to the cilia of the polyeiliar epithe- 
liumecells in the respiratory tracts and other parts of vertebrates“,! trotz 
dieser Behauptung, welche übrigens nicht auf Beobachtung gegründet zu 
sein scheint, glauben wir dafür halten zu dürfen, dass bei den Flagellen 
der Choanocyten nicht die Rede ist von Coordination, von Zusammenwirken 
nach irgend einer Regel. 


Es ist begreiflich, dass Mittheilungen über Beobachtungen der Flagellen- 
bewegung kaum vorliegen... Bei sehr vielen Schwämmen sind die Geissel- 
kammern zu klein für eine genaue Untersuchung dieser Bewegung. Auch 
wenn es gelingt, eine lebende Geisselkammer von dem umgebenden Gewebe 
zu isoliren, dann wird noch eine genaue Beobachtung der Geisseln durch 
die Zellenkörper verhindert. Oeffnet man die Kammer, so wird dabei so 
viel zerstört, dass es nicht mehr erlaubt ist, aus dem Beobachteten auf die 
Bewegung der Flagellen im normalen Zustand zu schliessen. 

Besser für diesen Zweck geeignet ist Sycon, mit seinen grossen, radiär 
gestellten Geisselkammern, und noch besser Leucosolenia. 


ı A Monograph of the Horney Sponges. London 1889. p. 754. 
Archiv f. A. u. Ph. 1898. Physiol. Abthlg. 12 


178 G. C. J. VoOSMAER UND (. A. PEKELHARING: 


Lieberkühn erwähnt, dass er die Bewegung der Flagellen bei „Grantia 
botryoides“ gesehen habe, er spricht aber nur von „Wimpern, die lebhaft 
hin und her schwingen“! Bowerbank dagegen sagt, in Bezug auf die 
Flagellen von „Grantia compressa“, ausdrücklich: „Their motions are not 
synchronous, each evidently acts independently of the others.“” Daran fügt 
er hinzu: „the upper portion of the cilium was thrown gently backward 
towards the surface of the sponge, and then lashed briskly forward towards 
the osculum, and this action was steadily and regularly repeated.“ 

Unsere Beobachtungen stimmen mit denjenigen Bowerbank’s überein 
in Bezug auf die Unabhängigkeit der Flagellen unter sich, nicht aber in 
Bezug auf den Ausschlag der Flagellen in der Richtung des Osculum. 

Anfangs sahen wir die Bewegungen der Flagellen nur bei Sycon. Ein 
aus der ‘Wand einer Geisselkammer herausgeschnittener Theil wurde, mit 
den Kragenzellen nach oben, in einem Tropfen Seewasser untersucht. Die 
Bewegung der langen Geisseln zeigte dann die grösstmögliche Unregelmässig- 
keit. Wir wagten es aber nicht, aus diesen Beobachtungen einen bestimmten 
Schluss zu ziehen, da jedes Mal nur ein kleines und vielleicht schon zu 
schwer geschädigtes Stückchen der Wand für die Beobachtung zugänglich 
gemacht werden konnte. Später aber hatten wir die Gelegenheit, in der 
unmittelbaren Nähe eines Austernparkes eine sehr dünnwandige Leuco- 
solenia zu untersuchen. Ein etwa 1 °® langes Stück der cylindrischen Röhre 
wurde vorsichtig und schnell in der Länge aufgeschlitzt, mit der cloakalen 
Seite nach oben in einem Tropfen Seewasser ausgebreitet und mit einem 
Deckglas bedeckt. Die nach oben hervorragenden Spitzen der vierstrahligen 
Spicula stützten das Deckglas, so dass die Flagellen in der Bewegung nicht 
wesentlich gestört wurden. Untersucht wurde mit Zeiss’ homogener Im- 
mersionslinse 1.40:3, Oc. 12. 

Es war jetzt deutlich zu sehen, dass die Flagellen ganz unabhängig 
von einander schlugen, in verschiedener Richtung. Die Bewegung einer 
jeden Geissel fand in verschiedenen Ebenen statt und war den einen Augen- 
blick kräftiger in der einen, den anderen in einer anderen Richtung. Bis- 
weilen kam ein Flagellum in seiner ganzen Länge nahezu horizontal zu 
liegen. Auch wurde beobachtet, dass ein Flagellum einige Augenblicke 
ganz ruhig blieb und dann wieder anfing sich kräftig zu bewegen. Oefters 
kreuzten sich benachbarte Flagellen, ohne sich jedoch je unter einander 
zu verwirren. In dem Wasser schwebende Körperchen wurden von den 
peitschenden Fäden in eine hin und her gehende, oder drehende, nicht in 
fortschreitende Bewegung gebracht. Kurz, das Bild war grundverschieden 


1 Dies Archiv. 1865. 8. 735. 
” Monograph of the British Spongiadae. London 1864. p. 129. 


ÜBER DIE NAHRUNGSAUFNAHME BEI SCHWÄMMEN. 179 


von dem einer mit Flimmerepithel bekleideten Schleimhaut. Von irgend 
einer Coordination der sich berührenden Zellen war hier keine Andeutung 
zu beobachten. 

Diese Art von Bewegung kann nur als vortheilhaft für die Aufnahme 
der schwebenden Theilchen von den Kragenzellen betrachtet werden, nicht 
nur in den Fällen, wo die Kragenzellen die eigentliche Geisselkammer aus- 
kleiden, sondern auch bei den cylindrischen Rohren von Leucosolenia. Wenn 
alle Flagellen am kräftigsten in der Richtung des Osculum peitschten, 
würden die mit dem Wasser durch die Poren hineinströmenden schwebenden 
Theilchen grösstentheils alsbald nach der Axe des Rohres geführt und durch 
das Osculum wieder entfernt werden. Jetzt aber wird von den Flagellen 
dafür gesorgt, dass die Theilchen, sobald sie die Poren durchsetzt haben, 
in die Kragen der Choanocyten hineingelangen und in den Bereich des 
contractilen Protoplasmas kommen. 

Ueberhaupt scheint es uns möglich, aus der unregelmässigen Bewegung 
der Flagellen die, zumal seit Grant’s darauf bezüglichen Untersuchungen 
so oft studirte, regelmässige Durchströmung der Schwämme zu erklären. 

Bei der mikroskopischen Untersuchung eines mittels Alkohols oder 
Osmiumsäure fixirten Stückes von Leucosolenia, mit tingirten Zellkernen, 
lassen sich die Poren, sowohl wenn die cloakale als wenn die dermale 
Fläche nach oben gekehrt ist, sehr gut beobachten. Bei in Osmiumsäure 
fixirten und dann mit Wasser ausgewaschenen Präparaten werden leicht 
stellenweise Kragenzeilen fortgespült. An solchen Stellen sieht man mit 
starker Vergrösserung sehr gut, dass die Pore einen Canal darstellt, dessen 
Durchmesser in der Mitte am grössten ist und nach der cloakalen Seite sowohl 
wie nach der dermalen Seite abnimmt, und zwar so, dass die dermale 
Oeffnung die kleinste ist. Diese Poren sind von Bidder! und neuerdings 
von Minchin? genau beschrieben. Beide Forscher kamen zu dem Schlusse, 
dass dieselben innerhalb contractiler Zellen gelegene Canäle darstellen. Die 
Möglichkeit darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass diese Zellen beim 
Uebertragen des Schwammes aus dem Wasser in die Fixationsflüssigkeit 
noch Zeit finden, sich, wenigstens theilweise, zusammenzuziehen (in unseren 
Präparaten ist die dermale Oefinung von in Alkohol fixirten Exemplaren 
kleiner als bei in Osmiumsäure fixirten), und dass also bei dem Thier, 
während es Nahrung aufnimmt, der Grössenunterschied zwischen der der- 
malen. und der cloakalen Oeffnung verschwindet oder sogar umkehrt. Für 
die Realität dieser Möglichkeit spricht die einer früheren Abhandlung 
Minchin’s beigegebene Abbildung eines Längsschnittes von Leucosolenia, 


1 Proc. of the Royal Soc. Vol. LI. p. 474. 
 ? Quarterl. Journ. of Mier. Science. Vol. XL. Part. 4. p. 483. 


12* 


180 G. C. J. VOSMAER UND (. A. PEKELHARING: 


wo einzelne Poren als weit nach aussen geöffnete Trichter gezeichnet sind.! 
An unseren Schnitten von Sycon haben wir wiederholt Aehnliches beob- 
achten können. Auch wenn der Canal nicht die Form eines sich nach 
aussen erweiternden Trichters hat, ist dennoch bei dem lebenden Schwamm 
der für das hineindringende Wasser zu überwindende Widerstand kleiner 
als der Widerstand, welcher zu überwinden wäre für einen Strom von innen 
nach aussen. Denn überall, wo die Kragenzellen gut an der Stelle ge- 
blieben sind — und das ist bei gut fixirten, vorsichtig behandelten Prä- 
paraten bei weitaus den meisten der Fall — findet man, dass dieselben 
die cloakale Porenöfinung unmittelbar umringen und, sogar in den flach 
ausgebreiteten Präparaten, nicht vertical auf die Oberfläche gestellt, sondern 
ein wenig über die Oeffnung hingeneigt stehen. A fortiori muss dies also 
der Fall sein in dem lebenden Schwamm, der die Form eines Oylinder- 
mantels besitz. Wenn also innerhalb der Cloaca der Wasserdruck erhöht 
wird, werden die Zellen, wie Klappen, die Porenöffnung verengern. Wird 
dagegen in der Nähe .einer Pore der intracloakale Druck geringer, dann 
wird das Wasser leicht zwischen den jetzt ausweichenden Choanocyten hin- 
durch hineinströmen können. Die unregelmässige Bewegung der Flagellen 
aber ist Ursache, dass der Druck auf der Innenfläche des Rohres, welches 
als Ganzes, der Spicula wegen, als rigide betrachtet werden darf, an jedem 
Punkte fortwährend schwankt. Erhöhung bleibt ohne merkbaren Erfolg, 
jede Erniedrigung des Druckes aber veranlasst, so lange die Poren nicht 
durch Contraction der Zellen geschlossen worden sind, das Einströmen von 
Wasser. Der Schwamm muss also Wasser aufsaugen, welches in der 
Richtung des Osculums einen Ausweg findet. Hier am Osculum findet 
sich, bei mehreren Asconformen wenigsten®, noch eine Eigenthümlichkeit, 
welche nur die Regelmässigkeit der Strömung fordern kann. Lieberkühn 
erwähnt in Bezug auf „Grantia botryoides“: „Kurz vor dem Rande der Aus- 
strömungsöffnungen hört der Wimperbezug mit gerader oder welliger Ab- 
grenzung auf.“” Minchin giebt in seiner soeben citirten Abbildung das- 
selbe an, und unsere Präparate von Leucosolenia stimmen in dieser Hinsicht 
vollkommen mit der Abbildung Minchin’s überein. Ein solches Ansatz- 
stück, in welchem, weil die Flagellen fehlen, keine unregelmässige Bewegung 
hervorgerufen wird, muss die Bedeutung eines Zugcanales haben. Es scheint 
uns beachtenswerth, dass die in dem von Minchin beschriebenen Schwamm 
vorkommende, siebförmig durchlöcherte Platte, welche als Schutzapparat 
gegen Eindringlinge dienen kann, eben an der unteren Grenze des Zug- 
canales ihren Platz findet, bei welcher Stellung die Ausströmung des Wassers 
möglichst wenig behindert wird. 


ı Quarterl. Journ. of Mier. Science. Vol. XXXU. Part.2. Plate X, Fig. 1. 
®2 Dies Archiv. 1865. 8. 735. 7 


ÜBER DIE NAHRUNGSAUFNAHME BEI SCHWÄMMEN. 181 


Dieser Zugeanal ist aber hier, auch wenn er durch einen Kranz von 
Spicula gegen Zusammenfallen geschützt ist, seiner geringen Länge wegen 
von nicht sehr grosser Bedeutung. Bei diesen einfach gebauten Schwämmen, 
welche im Verhältniss zu der Oberfläche nur eine geringe Gewebsmasse 
besitzen, ist dann auch ein kräftiger Wasserstrom wohl unnöthig. 

Anders ist es, sobald der Bau mehr verwickelt wird. Auch in dieser 
Hinsicht sind die, zumal nach Dendy’s Untersuchungen,! zwischen Asconen 
und Syconen bestehenden Uebergangsformen von Bedeutung. 

Bei Sycon, welcher den zweiten Typus des Canalsystems repräsentirt,? 
kommt der Zugcanal mehr in den Vordergrund. Hier findet sich ein 
centrales Rohr, von welchem radiär gestellte Seitenrohre in grosser Zahl 
abgehen. Der Centralcanal ist mit platten Epithelzellen ausgekleidet und 
trägt an seinem freien Ende, dem Osculum, ein steifes, eylindrisches Röhr- 
chen; die Seitenrohre sind die Geisselkammern, welche von zahlreichen Poren 
durchlöchert sind und deren jede mit einer weiten Oeffnung in den Central- 
canal ausmündet. Die Form der Poren ist dieselbe wie bei Leucosolenia. 
Bemerkenswerth ist es, dass die an der Spitze der Geisselkammer sich 
befindende Pore, eben an der Stelle also, ‘wo die Wand am stärksten ge- 
krümmt ist und die Choanocyten am besten, wie Klappen, den Ausfluss 
des Wassers verhindern können, alle anderen Poren an Grösse übertrifft, 
und dass hier öfters ein stark entwickeltes Bündel von Spieula gefunden 
wird, welches zugleich die Erhaltung der Form sichert und Verstopfung 
dieser wenigstens an der Aussenseite weiten Poren verhindern kann. Das 
durch die Flagellen in fortwährender unregelmässiger Bewegung gehaltene 
Wasser kann aus den Geisselkammern nicht durch die Poren entweichen, 
- wohl aber durch die weite Oeffnung, wodurch dieselben mit dem Central- 
canal verbunden sind. Dagegen kann durch die Poren hindurch, ebenso 
wie bei Leucosolenia, leicht Wasser hineinströmen. Aus den Geisselkammern 
in dem Centralcanal angelangt, weicht das Wasser in der Richtung des 
geringsten Widerstandes, des Osculum, aus. So erhält das Wasser im 
Centralcanal eine Geschwindigkeit, welche, einmal entstanden, denselben 
Dienst leistet wie das Flugrad, welches die Maschine über den todten Punkt 
hinausbringt, in diesem Falle der Gefahr vorbeugt, dass gegenüberliegende 
Geisselkammern, beide Wasser auswerfend, sich hindern sollten. Es ist 
klar, dass das Fehlen der Flagellen in dem centralen Rohr hier vortheilhaft 
ist. Jede hier durch Geisselbewegung hervorgerufene Unregelmässigkeit 
der Strömung würde die Leistung des „Flugrades“ nur hindern können. 
Wenn auch die Geschwindigkeit, mit welcher das Wasser aus dem Osculum 


! Trans. Royal Soc. Victoria. Vol. II. 
” Vosmaer, Aanteekeningen over Leucandra aspera. Leiden 1880. 


182 G. ©. J. VOSMAER UND Ü. A. PEKELHARING: 


hervorströmt, beträchtlich sein kann, muss dennoch die Geschwindigkeit, 
mit welcher es die Geisselkammern passirt, klein sein, da die in der Zeit- 
einheit durch das Osculum ausströmende Flüssigkeitsmenge der in derselben 
Zeit von allen Geisselkammern zusammen in das centrale Rohr ausge- 
worfenen Menge gleich sein muss und der Gesammtdurchschnitt aller 
Geisselkammern hunderte Mal grösser ist als der Durchschnitt des Osculum. 

Bei den Schwämmen, welche dem dritten Typus des Canalsystems 
entsprechen, kommt das Bindegewebe mehr in den Vordergrund. Die Masse 
des Thieres wird im Verhältniss zur Oberfläche grösser und die Geissel- 
kammern rücken in die Tiefe. Anstatt einer mehr oder weniger cylin- 
drischen, nehmen die Geisselkammern eine Gestalt an, bei der die Wand in 
allen Richtungen gekrümmt ist und die Choanocyten deshalb noch sicherer 
als Ventile wirken können. An der Aussenseite der Geisselkammern finden 
sich geräumige Lacunen, aus denen das Wasser durch die Prosopylae hin- 
durch im die Kammern hineinströmen kann, indem dasselbe mittels einer 
grossen Zahl von Oeffnungen an der Oberfläche des Schwammes, den Poren, 
jedenfalls durch die Treibkraft der Flagellen aufgesogen wird. Immer sind 
die Einflussöffnungen der Geisselkammern (Prosopylae) enger wie die Aus- 
flussöffnung (Apopyle). Das System der Zugcanäle ist hoch entwickelt. 
Oft sind diese Canäle an ihren freien Enden mit über die Oberfläche 
des Körpers hinausragenden Röhrchen ausgestattet, welche sicher wohl die 
Regelmässigkeit der Strömung fördern, dafür aber, wie Grant schon nach- 
wies,! nicht unentbehrlich sind. Die Ausflussöffnungen an der Oberfläche 
sind immer der Zahl nach kleiner und den Dimensionen nach grösser 
als die Poren. In Folge dessen ist die Geschwindigkeit der Ausströmung 
grösser als diejenige der Einströmung, und sehr viele Mal grösser als die 
Geschwindigkeit, mit welcher das Wasser die Geisselkammern passirt. 

Bei den nach dem vierten Typus des Canalsystems gebauten Schwämmen 
ist die Körperoberfläche im Verhältniss zu der Gewebsmasse noch kleiner 
geworden. Hier kommt das durch die Poren hineingesogene Wasser nicht 
in unregelmässige, grosse Lacunen, sondern in cylindrische Röhren, von 
welchen es nach den Geisselkammern geführt wird. In diesen dichotomisch, 
spitzwinklig verzweigten Röhren ist: der für das Wasser zu überwindende 
Widerstand nicht gross, so dass die Saugkraft der Geisselkammern, wenn 
dieselbe auch schwach ist, für die Fortbewegung des Wassers genügend 
erachtet werden darf. Die Form der Geisselkammern ist hier sehr bemerkens- 
werth, wie F. E. Schulze für Chondrosia, Oscarella und andere nachgewiesen 
hat. Ein Blick auf die von Schulze gegebenen Abbildungen? macht es 


ı Edinb. Philosoph. Journ. 1825. Vol. XII. p. 339. 
? Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie. Bd. XXIX. Taf. VIII, Fig. 10; 
Bd. XXXV. Taf. XXII, Fig. 8. 


ÜBER DIE NAHRUNGSAUFNAHME BEI SCHWÄMMEN. 183 


sofort klar, dass die Peitschenschläge der Flagellen in der Richtung der 
Spitze des birnenförmigen Körpers Ausströmung durch die Apopyle und 
Einströmung durch den Prosodus zur Folge haben muss, dass aber Be- 
wegung der Geisseln in entgegengesetzter Richtung das Wasser nicht durch 
den Prosodus herauszutreiben vermag, indem die Kragenzellen sich wie 
Wächter über die Einflussöffnung hinneigen. „Die eigenthümliche, im All- 
gemeinen als birnenförmig zu bezeichnende Gestalt der ganzen Geissel- 
kammer,“ so lautet die von Schulze gegebene Beschreibung,! „erscheint 
hauptsächlich dadurch bedingt, dass die prismatischen Kragenzellen je einer 
Kammer . nicht sämmtlich streng radiär gerichtet sind und so eine voll- 
ständige Hohlkapsel formiren, sondern dass sie nur die äusseren, d. h. die 
den zuführenden Canälchen zugewandten drei Viertheile der Kammerwand 
einnehmen, während die innere, direct in das abführende Canälchen sich 
fortsetzende Partie der Geisselkammer der Kragenzellen entbehrt, statt 
dessen von flachen, platten Zellen ausgekleidet zu sein scheint und sich in 
der Regel wie ein trichterförmig ausgezogenes, oder richtiger, wonpelgn: 
förmig gestaltetes Endstück darstellt.“ 


Die zuführenden Rohre zeigen bei Chondrosia und anderen Schwämmen 
dieses Typus noch eine eigenthümliche Vorrichtung. An der Körperober- 
fläche finden sich in Gruppen gestellte Poren, welche zu engen, cylindrischen 
Canälchen Zugang geben. Diese Canälchen vereinigen sich zu einem weiten, 
durch das Eetosoma verlaufenden Rohr, welches sich dann wieder in immer 
feiner werdende Aeste, aus welchen schliesslich die Prosodi hervorgehen, 
auflöst. Diese Einrichtung liefert den Vortheil, dass das die feste Nahrung 
enthaltende Wasser über eine viel grössere Oberfläche, als dem Durch- 
schnitt des Canals entspricht, aufgesogen wird, während doch die Gefahr, 
dass grössere Körperchen eindringen und den Canal verstopfen könnten, 
verhütet worden ist. 


Der hier angegebene Versuch, die regelmässige Durchströmung des 
Schwammkörpers in bestimmter Richtung aus der unregelmässigen Be- 
wegung der Flagellen zu erklären, wäre verfehlt, wenn man gezwungen 
wäre, mit Miklucho-Maclay, Haeckel und einzelnen anderen Forschern 
anzunehmen, der Wasserstrom könnte in demselben Canal im einen Augen- 
blick in der einen, im anderen in der anderen Richtung stattfinden. Man 
hat aber wohl das Recht daran zu zweifeln, ob je von einer wahrem Um- 
kehrung des Stromes bei Schwämmen die Rede sein kann. Viele Unter- 
sucher, und darunter Grant, der doch, sowohl was die Sorgfältigkeit der 
Beobachtung als was den Reichthum seiner Erfahrung betrifft, unter die 


1 Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie. Bd. XXIX. 8. 107. 


184 G. C. J. VoSMAER UND (. A. PERELHARING: 


ersten Autoritäten auf diesem Gebiet, gerechnet werden darf, haben niemals 
eine Umkehrung des Stromes beobachten können. Und wenn schon ein 
Mal das Einströmen von Wasser gesehen wird in eine Oeffnung aus welcher 
zu anderer Zeit Wasser ausfliesst, so darf daraus noch nicht auf eine völlige 
Umkehr des Stromes geschlossen werden. Bowerbank beschreibt eine in 
dieser Hinsicht sehr merkwürdige Beobachtung." Bei einem Exemplar von 
„Hymeniacidon caruncula“ fand er zwei Gruppen von Ausflussöffnungen, eine 
grössere und eine kleinere, aus welchen, wie es gewöhnlich der Fall ist, 
die Ausströmung aufhörte, wenn das Wasser, in welchem das Thier lebte, 
während einiger Zeit nicht erneuert worden war. Die eines Tages gemachte 
Beobachtung beschreibt er in den folgenden Worten: „At 10 o’elock I put 
fresh sea-water to the sponge and within a minute the ex-current action 
was apparent at both the large groups of oscula and in a few minutes 
became in full vigour. The central smaller single osculum was perfectly 
closed and not the slightest appearence of it was to be detected with a 
2-inch lens. The action in the two groups of oscula continued in full 
force until half-past 12, when the group at the small bend had ceased to 
act and the smaller oscula of the group had contracted to about half their 
full diameter. I placed a drop of water charged with indigo immediately 
above this osculum and watched the effect with a 2-inch lens, and was 
surprised to find that its action was reversed and the molecules of indigo 
passed into it with a considerable degree of rapidity. I repeated the appli- 
cation of the drops of water charged with indigo several times, and the 
result was the same. Üccasionally the ex-current action was resumed for 
an instant and a large molecule of indigo would be expelled, but the next 
moment the in-current action would be resumed. At half-past 1 I repeated 
the application of the drops of water charged with indigo with the same 
result, when it suddenly broke forth again into strong ex-current action, 
elevating the surface of the water immediately above it in the usual manner 
and continued thus to act. The reversal of the action in the osculum in 
this instance was apparently effected by the vigour of the action in the 
other group of oscula; the whole of these organs being more or less con- 
nected, not only by the intermarginal canals, but also by the general 
system of interstitial canals of the mass of the sponge.“ Auf diese Weise 
erklärt Bowerbank den Vorgang, ohne eine völlige Umkehr des Stromes 
annehmen zu dürfen. Wenn in einem zusammenhängenden Röhrensystem 
in einzelnen Aesten die Geschwindigkeit zufälliger Weise sehr gross wird, 
so können diese Aeste aus Seitenzweigen Wasser ansaugen. Dass aber den 
Geisselkammern jemals Wasser durch die Apopylae hindurch zugeführt und 


1 Reports of the Brit. Assoc. f. the Advance. of Science for 1856. p. 443. 


ÜBER DIE NAHRUNGSAUFNAHME BEI SCHWÄMMEN. 185 


durch die Prosopylae daraus abgeführt werden könne, das ist durch keine 
Beobachtung bisher wahrscheinlich gemacht. 

Ein anderer Grund gegen unseren Erklärungsversuch könnte in der 
sogenannten „Astomie‘“! oder „Lipostomie“? gefunden werden. 

In dem Sinne, in welchem Schmidt und Haeckel diese Worte ge- 
braucht haben, sind aber Astomie und Lipostomie gar nicht sicher nach- 
gewiesen. Seit es sichergestellt ist, dass Schwämme im Stande sind, sowohl 
die Oscula, als die Poren zu schliessen, kann dem Zustand, welcher Lipo- 
stomie genannt wird, nicht mehr die Bedeutung zugeschrieben werden, 
welche Schmidt und Haeckel demselben beilegten. Es wäre nicht schwer, 
durch mehrere Beispiele zu zeigen, dass Schmidt und Haeckel sich hierin 
geirrt haben. Es wird aber genügen, auf die Beobachtung von Minchin 
hinzuweisen, der bei Leucosolenia clathrus, einem Schwamm, bei welchem 
Haeckel Lipostomie angenommen hatte, sehr schöne Oscula fand, sobald 
das Thier nur unter günstige Verhältnisse gebracht war.’ 

Das von einzelnen Forschern über Umkehrung des Stromes und über 
Lipostomie Mitgetheilte scheint uns also nicht genügend begründet und 
deshalb keinen triftigen Grund gegen unseren Erklärungsversuch der Wasser- 
durchströmung bei Spongien liefern zu können. 

Dagegen macht unsere Auffassung es leicht verständlich, dass bei Ver- 
schliessung der Einströmungs- oder der Ausströmungsöffnungen, oder beider 
zu gleicher, Zeit, die Durchströmung sofort zum Stillstehen gebracht wird, 
und zwar ohne dass zu Druckunterschieden von einiger Bedeutung inner- 
halb des Körpers des Schwammes Veranlassung gegeben wird. Wenn der 
Strom durch ein gut organisirtes Zusammenwirken von in bestimmter Rich- 
tung das Wasser forttreibenden Cilien verursacht würde, so würde die Ver- 
schliessung der an der Oberfläche gelegenen Oefinungen zwar der Strömung 
ein Ziel setzen, dabei wären aber Spannungsunterschiede, welche leicht 
schädigend auf das zarte Gewebe des Schwammes einwirken könnten, un- 
vermeidlich. Zur Verhütung dieser Gefahr wäre ein ziemlich hoch ent- 
wickeltes Nervensystem erforderlich, mittels welchem ein Reiz zur Hemmung 
der Flagellenbewegung von der Körperoberfläche nach allen Geisselkammern 
geleitet werden müsste. Wie wir uns aber den Vorgang denken, dürfen, 
auch wenn an der Oberfläche Gefahr droht, die Geisseln ruhig fortschlagen, 
ohne Nachtheil anzurichten. Sobald die Oeffnungen der Oberfläche sich 
verschliessen, muss die Strömung aufhören, weil dann der Widerstand für 
die Zufuhr des Wassers nach den Geisselkammern sowohl, wie für die Abfuhr 


10. Schmidt, Grundzüge einer Spongienfauna des Atlantischen Gebietes. 
Leipzig 1870. 8.10. 

? Haeckel, Die Kalkschwämme. 1872. 8. 267. 

3 Quarterl. Journ. of Mier. Science. Vol. XXXIII. p. 479. 


1S6 G.C.J. VOSMAER UND Ü.A. PERELHARING: NAHRUNGSAUFNAHME U.S$.W. 


aus denselben sofort ansteigt, und die von der unregelmässigen Geissel- 
bewegung im Innern der Geisselkammern verursachten Aenderungen des 
Druckes so geringfügig sind, dass dadurch nur dann ein Strom hervor- 
gerufen werden kann, wenn die Zufuhr vollkommen frei und die Abfuhr 
durch eine gewisse Geschwindigkeit in den Zugcanälen gesichert ist. 

Die ganze Organisation der Schwämme ist, wie wir glauben, in Ueber- 
einstimmung mit dem Mangel an Coordination der einzelnen Gewebselemente. 
Unserer Auffassung nach sind eben die Porifera geeignet, eine Vorstellung 
zu geben von der Höhe der Organisation und von der Zweckmässigkeit der 
Einrichtung, welche bei Metazoen schon durch eine richtige Zusammen- 
fügung von im Interesse der Arbeitstheilung in verschiedener Richtung ent- 
wickelten Zellen erreicht werden kann. Dennoch ist hier der Evolution 
bald eine Grenze gesteckt, welche wegfällt, sobald die Zellen des Organismus 
in solcher Weise unter sich in Zusammenhang gebracht werden, dass ein 
Reiz von der einen nach der anderen Zelle fortgeleitet werden kann, mit 
anderen Worten, sobald das beim Nervensystem zu höchster Entwickelung 
gekommene Prineip eingeführt wird. 


Ueber Lichtbeugung an Hornhaut und Linse 
(Regenbogenfarbensehen). 


Von 


Dr. H. Salomonsohn 
in Berlin, 


(Aus der physikalischen Abtheilung des physiologischen Institutes zu Berlin.) 


\% 


Die farbigen Kreise, welche das menschliche Auge und in erster Reihe 
das glaucomatöse ohne äussere Ursache um Lichtquellen wahrnimmt, besitzen 
eine unverkennbare Aehnlichkeit mit den Lichthöfen und Farbenringen um 
Flammen, die von Wasserdunst umhüllt sind, oder die wir durch ein leicht 
angehauchtes oder mit Bärlappsamen bestreutes Glas betrachten. Sie gleichen 
auch der Aureole und den Farbenkreisen, die um den Vollmond erscheinen, 
wenn er durch eine dünne Wolkenschicht hindurchscheint, und die sich 
auch um die leicht verschleierte Sonne zeigen, wenn man ihr Bild gleich 
Newton in einem ruhigen Wasserspiegel beobachten kann. Seit langer 
Zeit haben derartige Farbenerschenungen bei den Physikern lebhaftes 
Interesse gefunden und eine Reihe von Arbeiten gezeitigt, von denen Kennt- 
niss zu nehmen trotz ihres mehr physikalischen und meteorologischen 
Charakters auch für den Physiologen und Ophthalmologen einigen Nutzen 
haben dürfte, nicht nur weil auch intraocular entstehende Farbenringe be- 
sprochen werden, sondern auch weil die physikalischen Erörterungen wichtig 
sind für das Verständniss der Genese dieser in verschiedener Hinsicht 
interessirenden Farbenphänome. 


1» 


‚Die Lichtkränze, bei denen man einen inneren die Flamme umgebenden, 
gleichfarbigen oder dunklen Theil als Aureole oder Lichthof im engeren 
Sinne von den farbigen äusseren Bändern unterscheidet, stehen in ihrer 
ganzen Erscheinung den Mondhöfen unverkennbar näher als dem Regen- 
bogen. Sowohl die durch äussere Mittel erzeugten als die intraocular ent- 
stehenden Farbenringe um Lichtquellen zeigen ebenso wie die Mond- und 


188 H. SALOMONSOHN: 


Sonnenhöfe Farbenbänder mit einer spectralen Farbenfolge, wobei, auch 
wenn mehrere Bänder vorhanden sind, in jedem die rothe Farbe von der 
Lichtquelle abgewendet ist, während bekanntlich ein zweiter Regenbogen 
die umgekehrte Farbenfolge des ersten aufweist. Der oft gebrauchte Aus- 
druck „Begenbogensehen“ als Bezeichnung für die Erscheinung der Licht- 
kränze ist also wenig correct, aber er erinnert daran, dass man in erster 
Zeit ohne Unterschied für alle diese Farbenbänder die von Descartes für 
den Regenbogen gegebene Erklärung anwenden zu dürfen glaubte. 
Descartes! selbst erklärte zwar die Mondhöfe auch aus der Reflexion 
und Refraction des Lichtes, wie den Regenbogen, meinte aber in Würdigung 
vieler Differenzen beider Erscheinungen, dass dieselbe nicht an Wassertropfen, 
sondern an Eispartikeln vor sich gehe. In ähnlicher Weise postulirte 
Huygens? für das Zustandekommen der Mondhöfe durchsichtige Schnee- 
flöckchen in der Grösse von Rübsamen mit undurchsichtigem Kern, der 
einen Theil der Strahien zurückhalten sollte. Nach Gassendi,? Deschales,*® 
Mariotte,’ Weidler* ist für die Mondhöfe, ganz wie für den Regenbogen, 
wiederholte Brechung und Rückstrahlung des Lichtes in den feinen Wasser- 
bläschen der zwischen Himmelskörper und Beobachter gelagerten Wolke 
anzunehmen. Newton’ war der Erste, der einen Unterschied machte 
zwischen kleinen Mond- und Sonnenhöfen, die allein uns hier interessiren, 
und grossen Höfen, worunter seltener zu beobachtende Ringe in 45° und 
90° Abstand von Mond oder Sonne zu verstehen sind. Während er für 
diese in Anschluss an Huygens die Anwesenheit von Eiskrystallen vor- 
aussetzte, erklärte er jene mit seinem Prineip der Anwandlungen des Lichtes 
durch die feinen Dunstbläschen der Wolke und berechnete, dass kleine 
Tropfen von !/,oo Zoll Durchmesser rothe Ringe von 7!/,°, 10!/,° und 12!/,° 
geben müssten und dass noch kleinere Bläschen grössere Ringe erzeugen 
würden. Hube° und Jordan? machten zuerst den Versuch, die Farben- 


! Cartesius, 1637, Opera. Lugduni (1685). Meteora. Cap. IX. p. 230. 

® Huygens, 1667, Op. posthuma (1703). Dissert. de coronis. p. 293f. 

® P. Gassendi, 1658, Op. omnia. Vol. I. De meteoris. Cap. VI. p. 103. 

* Deschales, 1674, Cursus s. mundus mathematicus. Lugduni 1690. T. Il. 
Prop. XXI (De coronis). 

® Mariotte, Oeuvr. compl. (1717.) T.I. p. 268. 

° Weidler, Commentatio de parhelüs. Wittenberg (1731). p. 24. 

” Newton, Optics. Ed. 1704. Lib. I. Pars 2. Prop. IX. p. 134; Lib. II. Pars IV. 
Observ. 13. p. 110. 

® Hube, Vollständiger Unterricht in der Naturlehre. Leipzig 1793. Brief 68. 
8. 543. 

°G.W.Jordan, An account of the Irides and Coronae, which appear arround and 
contiguous to the Bodies of the Sun, Moon and other luminous objects. London 1799. — 
Entdeckungen in der Lehre von der Beugung des Lichtes. Nach dem Englischen 
bearbeitet von Gilbert. Gilbert’s Annalen der Physik. (1804.) Bd. XVII. S. 27. 


NG 


ÜBER LICHTBEUGUNG AN HORNHAUT UND Linse. 189 


ringe um den Mond durch Diffraetion (Liehtbeugung) zu erklären und 
den Strahlengang bildlich darzustellen. Sie begingen nur noch den Irrthum, 
für die Beugung nicht die Dunstkügelehen der Wolke in Anspruch zu 
nehmen, sondern die zwischen ihnen bleibenden Zwischenräume. Diese 
Anschauung hat nach den Diffractionsgesetzen zur Bedingung, dass diese 
Zwischenräume gleiche Grösse haben, was recht unwahrscheinlich ist, und 
führt zur nothwendigen Folgerung, dass eine dichtere Wolke grössere Farben- 
ringe erzeuge, was der Beobachtung widerspricht. Je dichter die Wolke, 
desto grösser werden in der Regel auch darin die Wassertropfen sein. 
Schon Weidler! benutzt in einer emphatischen Anrede an seine Leser 
die Erfahrung, dass Mondhöfe Regen bringen. Je grösser aber die Tropfen 
in der Wolke, je kleiner werden die Lichthöfe und Farbenringe, daher die 
alte Bauernregel „Kleiner Hof, grosser Regen“. Dass die Anwesenheit 
gleichgrosser Wassertröpfehen die Bedingung für das Auftreten von 
Mondhöfen darstellt, hatte schon Th. Young? ausgesprochen, aber erst 
Fraunhofer? brachte den experimentellen Nachweis, dass sich Farben- 
kreise wie bei den Mondhöfen künstlich erzeugen lassen, dass sie in ihrer 
Grösse umgekehrt proportional sind den Dimensionen der verwendeten 
Körper und als Producte der Lichtbeugung anzusehen sind. 

Fraunhofer streute eine Anzahl Staniolscheibehen gleicher Grösse 
unregelmässig zwischen zwei Glasplatten und erhielt, wenn er durch diese 
Platten nach einer kleinen Lichtquelle sah, den Mondringen identische 
Bilder, d. h. die Flamme erschien umgeben von einem hellen Hof und 
einer Anzahl farbiger Kreisbänder, wobei jedes Band die Spectralfarben so 
angeordnet zeigte, dass Violett nach innen und Roth nach aussen gelagert 
war. Diese Farbenkreise hatten einen um so grösseren Radius, je kleiner 
der Durchmesser der Staniolscheibehen gewählt wurde. Die Winkel, unter 
denen die verschiedenen rothen Ringe dem Auge erschienen, verhielten sich 
so zu einander, dass ihre Sinus proportional waren den ganzen Zahlen. 
Fraunhofer wies durch ein zweites Experiment nach, dass diese licht- 
beugenden Körperchen nicht undurchsichtig wie die Staniolplättchen zu sein 


! Weidler, 1708, Gedanken über die Kronen und Höfe derer Gestirne. Der 
Schlusssatz lautet: „Lerne aber vor allen Dingen, o Sterblicher! Lerne! Die unbe- 
ständigen Farben der Höfe des Himmels verlieren sich nicht so geschwinde, als offter- 
mahls die Farben des Glücks bei denen Höfen auf Erden verschwinden, und ehe man 
es sich versiehet, verändert sich dasjenige, was man in der grösten Herrlichkeit eines 
prächtigen Glantzes gesehen, wie die Dünste der Sonnenhöfe plötzlich in einen nassen 
Regen betrübter Thränen.“ 

° Th, Young, An account of some cases of the production of colours. Philosoph. 
Transact. of the royal Soc. of London. 1802. p. 387. Miscell. works. p. 170. 

®? Fraunhofer, Ueber die Höfe, Nebensonnen und verwandte Phänomene. Schuh- 
macher’s Astronomische Abhandlungen. 1824—25. Bd. TI. 


KOT H. SALOMONSOHN: 


brauchten, sondern, den Dunstbläschen der Wolke noch ähnlicher, auch 
durchsichtig sein können, ohne das Zustandekommen des Phänomens zu 
verhindern. Er stellte sich nämlich durch schnelles Schmelzen feinster 
Glasfäden eine grosse Zahl gleichgrosser Glaskügelchen her, streute diese 
über eine Glastafel aus und betrachtete mit Hülfe zweier geneigter Spiegel 
durch diese Kugelschicht hindurch die Lichtquelle. Die Erscheinnng war 
dieselbe wie bei der früheren Anordnung des Versuches. Eine Bedingung 
für das Gelingen ist die weitgehende Gleichheit der Staniolplättchen resp. 
Glaskügelchen. Ist diese nicht vorhanden, so erhält man besten Falls nur 
einen lichten Hof um die Lichtquelle, aber keine Farbenringe, — wie ja 
meist auch um den Mond nur eine helle Aureole sichtbar ist. 

Dass in der That die von so vielen Autoren in Anspruch genommenen 
Wasserkügelchen einer dünnen Wolkenschicht vor dem Himmelskörper das 
ursächliche Moment für das Auftreten des Mondhofes abgeben, wird schon 
durch eine Beobachtung Otto von Guericke’s! bewiesen, der solche 
Farbenringe um ein hinter seinem luftleeren Recipienten stehendes Licht 
auftreten sah, als er Luft in diesen einliess, also in dem Augenblicke, wo 
sich durch die stattfindende Abkühlung in der einströmenden Luft Nebel 
bilden. Ferner durch die altbekannte, von Weidler? mit Recht gegen 
die Huygens’sche Theorie der Mondhöfe angeführte Thatsache, dass solche 
Höfe sich um jede Flamme zeigen, sobald man diese in einem mit Wasser- 
dunst erfüllten Raum betrachtet. Das Verhältniss der einzelnen rothen Ringe 
zu einander, das Fraunhofer in seinen Experimenten gefunden hatte und 
welches die ganze Erscheinung als ein Diffractionsphänomen charakterisirte, 
konnte von Delezenne®? auch an den Mondhöfen nachgewiesen werden. 
Freilich wechselt hier die absolute Grösse der Radien ziemlich schnell, was 
sich daraus erklärt, dass die Dunstbläschen der Wolke zwar im gegebenen 
Momente gleichgross, aber in verschiedenen Theilen der vorüberziehenden 
Wolke ungleicher Grösse sind. Endlich brachte Dove* den experimentellen 
Beweis, dass eine angehauchte Glasplatte sich vollkommen verhielt wie 
ein künstliches, lichtbeugendes „Gitter“. Nicht unerwähnt mag bleiben, 
dass Musschenbroek° schon 1756, als er durch ein überfrorenes Fenster 
bliekend den Mond von Farbenkreisen umgeben sah, die bei geöffnetem 


1 Otto von Guericke, Zixrperimenta de vacuo spatio. 1672. Liber III. Cap. 1. 

®2 Weidler, Commentatio de Parhelüs. 1731. 

®? Delezenne, Sur les couronnes. Memoires de l’acad. des sciences de Lille. 
1835 — 37. ! 

* Dove, Versuche über die Gitterfarben in Beziehung auf kleine Höfe. Poggen- 
dorff’s Annalen. 1832. Bd. XXVL S. 310. 

5 Musschenbroek, Introductio ad philosophiam naturalem. 17162. Vol. II. 
$ 2450. 


ÜBER LICHTBEUGUNG AN HORNHAUT UND LinsE. 191 


Fenster verschwunden waren, erkannt hatte, dass diese Erscheinung ebenso 
von feinen’ Partikelchen auf dem Glase abhänge, wie die Mond- und Licht- 
höfe von Wasserdunstkügelchen. Die grosse Aehnlichkeit und Verwandt- 
schaft aller dieser Phänomene mit jenen spectralen Farbenringen, die sich 
durch feinkörnige, auf Glas vertheilte Substanzen wie Blutkörperchen, 
Semen Lycopodii,! Weizenbrandmehl u. A. erzeugen lassen, ist ohne 
Weiteres klar. Für sie alle finden die gleichen Gesetze der Diffraction in 
gleicher Weise Anwendung. Wenn nun auch die Farbenringe, welche 
intraocular entstehen, das sog. „Regenbogensehen“ oder besser Regenbogen- 
farbensehen nur zum Theil, wie ich hier vorgreifend bemerken möchte, 
analog denen der Lycopodiumplatte oder der Mondhöfe erklärt und mit 
ihnen in Parallele gestellt werden können, so muss man doch, um die 
intraoculare Entstehung der spectralen Farbenbänder zu verstehen, genaue 
Kenntniss dieser Diffractionsgesetze besitzen. Eine genaue Darlegung und 
Begründung der in Betracht kommenden Gesetze dürfte hier schon allein 
aus Rücksicht auf den dazu erforderlichen Raum nicht möglich sein. Es 
muss diesbezüglich auf die eingehenderen Lehrbücher der Physik und die 
einschlägigen Specialarbeiten verwiesen werden.” Aber eine kurze Erinnerung 
an einzelne uns hier interessirende Facta aus der Lehre von der Diffraction 
im Anschluss an die eben erwähnten Phänomene dürfte, mehr’ im Sinne 
einer Anleitung zum Studium, wohl zweekmässig erscheinen. 


2. 
Wenn durch einen schmalen Spalt als parallel anzusehende Lichtstrahlen 
gehen, so breiten sich von jedem Punkte in diesem Spalt Lichtstrahlen 


! Die Verwendung des Lycopodium zum Erzeugen von Farbenringen wird von 
J. Hirschberg (Deutsche medicinische Wochenschrift. 1886. Nr.3 u. 4) Fraun- 
hofer unter Hinweis auf dessen Arbeit in Schuhmacher’s Astronomischen Abhand- 
lungen zugeschrieben. In dem eitirten Aufsatze findet sich aber kein Wort davon. 
Der Irrthum dürfte daher stammen, dass in der französischen Ausgabe von Verdet’s 
„Wellentheorie des Lichtes“ das Verweisungszeichen auf die Fraunhofer’schen Aus- 
führungen nahe an das Wort „Lycopode“ gerathen ist. Nach Babinet (Sur les cou- 
ronnes. Comptes rendues de l’acad. de Paris. T.IV. p.643) haben wir die Ver- 
wendung der Lycopodiumplatte von Th. Young gelernt. Ich habe allerdings in dessen 
Werken eine einschlägige Stelle nicht finden können. 

2 B. Verdet, Oeuvres compl. T.V u. VI. — K. Exner, Verdet’s Vorlesungen 
über die Wellentheorie des Lichtes. Deutsche Bearbeitung, — Müller Pouillet, 
Lehrbuch. der Physik. — Neumann’s Vorlesungen über theoretische Optik. Heraus- 
gegeben von E.Dorn. — Fraunhofer, Neue Modification des Lichtes durch gegen- 
seitige Einwirkung und Beugung der Strahlen. Sitzungsberichte der Münchener 
Akademie der Wissenschaften. 1821—22. Bd. VIII. — Kurzer Bericht von den Resul- 
taten neuerer Versuche über die Gesetze des Lichtes und die Theorie derselben. 
Gilbert’s Annalen der Physik. 1823. Bd. LXXIV. 8.337. — Schwerd, Die 
Beugungserscheinungen. Mannheim 1835, u. A. m. 


192 H. SALOMONSOHN: 


(Aetherwellen) nach allen Richtungen aus genau so als ob jeder Punkt eine 
selbständige Lichtquelle wäre. Daher erscheint der Spalt breiter, als er 
der geometrischen Construction nach sein dürfte. Man nennt alle Strahlen, 
die einen Winkel mit den ersten, geradlinig durchgehenden, einschliessen 
„gebeugte Strahlen“. Werden nun die unter einander parallelen gebeugten 
Strahlen homogenen Lichtes durch das Objectiv eines Fernrohres oder durch 
den lichtbrechenden Apparat des Auges in einem Punkte vereinigt, so 
werden dieselben zur Interferenz kommen, so oft die Schwingungsphase 
der einzelnen Aethermolecüle eine entgegengesetzte ist, und es werden neben 
dem verbreiterten Spaltbilde helle und dunkle, der Spaltrichtung parallele 
Streifen (Interferenzfrangen) auftreten. (Die senkrecht zur Spaltrichtung 
auftretenden Interferenzen kommen wegen der relativ grossen Spalthöhe 
nicht zur Beobachtung resp. hier nicht in Betracht). Die Interferenzbe- 
dingung wird gegeben sein, so oft die Wegdifferenz eines vom Rande des 
Spaltes und eines von seiner Mitte kommenden Strahles eine halbe Wellen- 
länge beträgt oder, was dasselbe ist, wenn die Randstrahlen eine ganze 
Wellenlänge Wegdifferenz haben. Jeder, in irgend einer Distanz vom 
Rande ausgehende Strahl findet ja dann 
I] einem anderen, ebenso weit von der Spalt- 
“|| mitte entfernten, der mit ihm um eine halbe 
Wellenlänge differirt. Diese Weegdifferenz 
gleich einer Wellenlänge (BC in Fig. 1) wird 
abgeschnitten durch das von einem Spalt- 
rande (4) auf den vom anderen (2) aus- 
gehenden Randstrahl gefällte Loth (AC) und 
ist gleich der Spaltbreite (42) multiplieirt 
mit dem Sinus des Winkels (CAB = Öö), 
um welchen die gebeugten Strahlen von den 
ungebeugten abweichen, also des „Beugungswinkels“ (BC=4= ABsind). 
Da nun die Interferenz auch ebenso eintreten wird, so oft die Wegdifferenz 
der Randstrahlen ein Multiplum der Wellenlänge ist, so werden wir (bei 
Verwendung homogenen Lichtes), senkrechte Ineidenz der ersten Strahlen 
auf die Spalte vorausgesetzt, symmetrisch zu beiden Seiten des Spaltbildes 
dunkle Streifen (Minima) erhalten. Ist A die Wellenlänge des verwendeten 
Lichtes, d= AB die Spaltbreite, ö der Beugungswinkel, m eine ganze Zahl, 
so haben wir also für den Ort der Minima die Formel 


I) ino= mL: 


Dagegen werden helle Streifen (Maxima) auftreten, wo die Weg- 


differenz der Randstrahlen = oder eine ungerade Zahl von halben Wellen- 


ÜBER LIiCHTBEUGUNG AN HORNHAUT UND Linse. 193 


längen ist, was ausgedrückt wird durch die Formel für den Ort der 
Maxima 
I) sind = (2m — 1) - 

Vom Maximum zum Minimum wird die Helliskeit allmählich abfallen. 

Es springt in die Augen, dass der Abstand der Minima und Maxima 
vom Mittelpunkte der ganzen Erscheinung indirect proportional ist 
der Spaltbreite (je grösser d, desto schmaler werden die Frangen), und 
direct proportional ist der Wellenlänge (in rothem Lichte also grösser, 
als in violettem), und dass die Minima bei einer einzelnen Spalte sich 
verhalten wie die geraden, die Maxima wie die ungeraden Zahlen. 
In nicht homogenem, gemischtem Licht müssen demnach die Maxima der 
verschiedenen Farben neben einander fallen, es müssen beiderseits farbige 
Streifen entstehen, die immer Violett nach der Mittellinie, Roth nach aussen 
zeigen. Dies sind die Seitenspectra erster Classe. Hat man nicht 
eine, sondern n zwar sehr dicht bei einander, aber in ungleichem Abstande 
von einander stehende parallele Spalten vollkommen gleicher Breite, so 
werden die Maxima, da ja die parallelen Strahlen immer wieder in einem 
Punkte vereinigt werden, eine nfach grössere Helligkeit zeigen, weil n Mal 
mehr Licht durch die Spalten drinst. Man nennt eine solche Spaltanord- 
nung ein „unregelmässiges Gitter“. 

Nehmen wir nun ein „regelmässiges Gitter“, d.h. eine sehr grosse 
Zahl äquidistanter Spalten, deren Spaltbreite wieder gleich d, deren 
Spaltdistanz gleich s sein möge, so dass der Abstand zweier Spaltmitten 
gleich d-+s, so werden wieder alle solche parallelen gebeugten Strahlen 
homogenen Lichtes zur Interferenz kommen, deren Wegdifferenz einer halben 


Wellenlänge oder einem ungeraden Mul- % B A B’ 


>> 


von einem Spaltrande (4 in Fie. 2 I 


> 


Il I 
ıl I 
ı N 
Rande der benachbarten Spalte (4’2°) I 


tiplum davon gleichkommt. Die Weg- Mm I 
differenz wird abgeschnitten durch das nn —, 
j 
AN Mh 
auf den vom symmetrisch gelegenen \ı Il) 
/ } 
ausgehenden Randstrahl gefällte Loth . 
(4C). Wie oben ergiebt sich 4 C = = . 


= (4B + BA)sinö’, wenn Ö’ der / N 
Beugungswinkel ist, und dd AB=d 
und BA=s, so erhalten wir für den 
Ort der Minima des regelmässigen Spaltgitters die Formel 


Fig. 2. 


h 1 
I % — — ee en 
II) sind = (2m Ngars 
Archiv f. A. u. Ph. 1898. Physiol. Abthlg. 13 


194 H. SALOMONSOHN: 


und für den Ort der Maxima die Formel 
h 
(d + s) \ 

Diese Maxima und Minima liegen natürlich der Mittellinie näher als 
die der einzelnen Spalten, weil ja d+ s immer grösser als d.. Nun werden 
aber nicht nur die in einem Abstande von d + s ausgehenden Lichtstrahlen 
zur Interferenz kommen, sondern in Folge der regelmässigen Anordnung 
auch solche, deren Abstand das Doppelte, Dreifache, Vierfache u.s. w. dieser 
Grösse darstellt, es werden dadurch eine grosse Zahl neuer Minima ge- 
bildet, d. h. Licht ausgelöscht, und Maxima nur dort gelassen, wo die 
Wegdifferenzen genau ganze Wellenlängen betragen. Dadurch werden die 
Maxima auf schmale, in Folge der grossen Spaltzahl aber sehr helle Streifen 
redueirt. Bei Anwendung von weissem Licht erhält man wieder Spectren, 
die Seitenspectra zweiter Ölasse, die aber, weil der Helligkeitsabfall 
vom Maximum ein plötzlicher ist, im Gegensatz zu denen der ersten Classe, 
sehr rein sind und jene völlig verdecken und überstrahlen. Zu beachten 
ist, dass hier sind, d. h. die Frangenbreite, nicht mehr abhängige ist von 
der Spaltbreite d, sondern nur von der Distanz der Spaltmitten d+s; es 
gäbe also ein Gitter mit schmalen Spalten, getrennt durch breite Zwischen- 
räume, genau dieselben Spectren zweiter Olasse, wie ein solches mit breiten 
Spalten und engen Zwischenräumen, wenn nur d+s in beiden Fällen 
gleich ist. Auf den Einfluss, den das Verhältniss d:s für die Beugungs- 
erscheinung hat, haben wir hier nicht weiter einzugehen. Es verhalten 
sich, wie man sieht, beim regelmässigen Spaltgitter die Maxima wie die 
geraden, die Minima wie die ungeraden Zahlen. Es entsteht noch eine 
dritte Classe von Seitenspectren (von Schwerd theoretisch postulirt und 
dann auch gefunden), die dicht neben der Mittellinie liegt und die be- 
merkenswerthe Wirkung hat, durch ihre zahlreichen Minima — die Maxima 
werden durch ihre Lichtschwäche kaum wahrnehmbar — neben dem cen- 
tralen Spaltbilde völlig dunkle Räume zu erzeugen, so dass die Lichtquelle, 
durch ein regelmässiges Gitter gesehen, nicht mehr verbreitert erscheint, 
sondern von den Seitenspectren durch dunkle Zwischenräume getrennt ist. 

Die Helligkeit der Seitenspectra nimmt nach den Seiten hin sehr schnell 
ab. Die ersten Maxima, erzeugt durch gebeugte Strahlen mit einer Weg- 
differenz gleich einer Wellenlänge, geben ein Bild, das nur 0-4 der Hellio- 
keit besitzt, die die ungebeugten Strahlen liefern; die zweiten Maxima mit 
der Wegdifferenz von zwei Wellenlängen sind neun Mal lichtschwächer als 
die ersten. 

Die Formeln zeigen sofort, dass man aus zwei gegebenen bezw. beob- 
achteten Grössen die dritte berechnen kann, also die Wellenlänge einer 
bestimmten Lichtart aus den beobachteten Beugungswinkeln und den 


IV) sind’= m: 


ÜBER LicHTBEUGUNG An HORNHAUT UND Linse. 195 


bekannten Verhältnissen der Spalten, oder die Spaltbreite oder den Abstand 
der Spaltmitten bei gegebener Wellenlänge und bekanntem Beugungswinkel. 

Fragen wir, wie die Spectren liegen, so ist klar, dass die violette Farbe 
in einer Entfernung von der Mittellinie auftreten wird, wo die Wegdifferenz 
einer Wellenlänge des violetten Lichtes, also etwa 400 u. (Linie 4) beträgt, 
die rothe Farbe aber, d.h. das Ende des ersten Seitenspectrums, in einer 
Entfernung, die 680 bis 750 «u (Linie 2 bis A) entspricht. Da das zweite 
Maximum des violetten Lichtes erst in einer Entfernung proportional zwei 
Mal 400 fallen kann, ergiebt sich, dass zwischen dem Ende des ersten 
Spectrums und dem Beginn des zweiten sich ein dunkler Zwischenraum 
befindet. Das Ende des zweiten Spectrums aber würde proportional zwei 
Mal 680 (bezw. 750) = etwa 1400 von der Mittellinie entfernt sein, also 
entfernter, als der Beginn des dritten, der mit drei Mal 400 = 1200 ge- 
geben ist. Es fallen also die peripherischen Seitenspectra mehr und mehr 
auf einander. f 

Ein Spalt ist als ein sehr hohes Rechteck zu betrachten. Würde zur 
Erzeugung der Diffraction ein Quadrat oder ein Dreieck oder ein Parallelo- 
gramm verwendet, so ändert sich die resultirende Beugungsfigur, indem 
nicht wie vorher ein, auf der Spaltrichtung senkrecht stehendes Band, 
sondern mehrere sich kreuzende Reihen von Spectren erzeugt werden. 
Das entstehende Bild ist stets charakteristisch für die Form der verwendeten 
Gebilde, so lange diese in dem angewendeten „Gitter‘‘ gleich gerichtet sind. 
Würde man aber Diffraction erzeugen durch eine grosse Zahl von Drei- 
ecken, Quadraten u. s. w., die nach allen möglichen Richtungen orientirt 
sind, so wird das Charakteristische der einzelnen Beugungsöffnung verwischt 
und es entstehen kreisförmige Spectren, die selbstverständlich ihre vio- 
letten Enden dem Centrum zukehren. Eine einzelne kreisförmige Oeff- 
nung giebt in Folge ihrer symmetrischen Form schon an und für sich 
ein kreisförmiges Beugungsbild, also bei homogenem Licht helle und dunkle 
Ringe um den centralen hellen Kreis, aber diese Maxima und Minima 
liegen so, dass der Ort für die ersten Minima gegeben ist durch die 
Formel 
v) sn,=1.22%; snd,=2.2334; ıind- 3.2385, 


annähernd durch ! 
und der Ort der Maxima durch 
| sind, — 1.638 4 sin d, — 2-66 
VI) 
| sin d, = 3.694 7 sind, = 4-722 7. 
13* 


196 H. SALOMONSOHN: 


Hier ist unter d der Durchmesser des Kreises zu verstehen. Die 
Minima verhalten sich also nicht analog denen einer einzelnen parallelo- 
grammatischen Oefinung wie die Zahlen 1:2:3:4, sondern wie die Zahlen 
1098: 2009: 2914; und die Maxima nicht wie 1:3:5, sondern wie 
1475 : 2400 : 3325. 


Verdet,! der diese Verhältnisszahlen giebt (sie sind leicht durch 
Multiplication aus den Formeln V) und VI) zu erhalten), führte den 
mathematischen Beweis, dass eine grosse Zahl gleich grosser, unregelmässig 
vertheilter, kreisrunder Oeffnungen — wir wollen hierfür der Kürze halber 
den Ausdruck „unregelmässiges Siebgitter“ anwenden — ein nur 
durch die grössere Intensität von der Beugungsfigur einer einzelnen Kreis- 
öffnung unterschiedenes Diffractionsphänomen liefert. Er vollendete damit 
die Erklärung Fraunhofer’s für das Zustandekommen der Höfe um Mond 
und Sonne. Allerdings sind nun in der Wolke ebenso wenig wie bei den 
Fraunhofer’schen Experimenten und einer angehauchten, oder mit Lyco- 
podium oder Blutkörperchen bestreuten Glasplatte kreisförmige Oeffnungen 
die Ursache der Diffraetion, sondern im Gegentheil dunkle Körperchen von 
mehr oder minder kreisrundem Querschnitt, aber dies ändert die Sachlage 
nicht, weil ein Schirmchen genau dieselbe Beugung erzeugt, wie eine gleich 
gestaltete und gleich grosse Oeffnung. Man kann in einem Siebgitter alle 
Oeffnungen durch congruente Schirmchen, die Zwischenräume durch Oeff- 
nungen ersetzen, ohne andere als ganz unwesentliche Aenderungen der 
erzeugten Beugungsbilder zu bewirken (Exner?) Dies ist der Inhalt des 
Principes von Babinet:? „Complementäre Beugungsgitter geben 
dasselbe Phänomen.“ Haben wir ein Beugungsgitter mit Kreisöffnungen 
oder, was also völlig identisch ist, mit Schirmchen von Kreisform, die 
regelmässig angeordnet sind, also etwa so, dass je drei benachbarte Kreis- 
mittelpunkte ein gleichschenkliges Dreieck bilden, so kann ein solches 
regelmässiges Siebgitter, wie wir kurz sagen wollen, auch durch die 
gleichmässiger geformten Zwischenräume ähnlich wirken wie ein regel- 
mässiges Spaltgitter, d. h. es können Interferenzspectren höherer Classen 
entstehen. So erklärt sich der von Exner 1877 hervorgehobene, be- 
merkenswerthe Unterschied zwischen dem Beugungsbilde einer Lycopodium- 


ı E. Verdet, Sur Pexplication des phenomenes des couronnes. Annales de 
Chimie et de Physique. 1852. III. Serie. T. XXXIV. p. 129. 

® K. Exner, Ueber die Fraunhofer’schen Ringe, Quetelet’schen Streifen und 
verwandte Erscheinungen. Sitzungsberichte der Wiener Akademie der Wissenschaften. 
Bd. LXXVI. 2. S. 522. 

® Babinet, Sur les couronnes. Comptes rendus de l’acad. de Paris. T.IV. 
p. 6388. — Beiträge zur meteorologischen Optik. Poggendorff’s Annalen. 1837. 
Bd. XLI. S. 135. 


ÜBER LicaTBEUGUNG AN HORNHAUT unD Linse. 197 


platte und dem eines behauchten Glases. Jene zeigt bekanntlich um die 
Lichtflamme einen hellen Kreis (eine Aureole), diese aber einen völlig 
dunklen Raum, was Exner damit begründet, dass die Wasserbläschen 
beim Anhauchen des Glases sich mehr regelmässig auf dasselbe nieder- 
schlagen. Die Richtigkeit dieser Auffassung konnte er! einer abweichenden 
Ansicht von Donle? gegenüber dadurch stützen, dass er statt des schnell 
vergänglichen und daher schwer mikroskopisch zu beobachtenden Wasser- 
dampfes auf dem Glase Schwefeldämpfe sich condensiren liess, welche genau 
die gleichen regelmässigen Scheibchen zeigten, aber keine strichförmigen 
Gitter, die Donle angenommen hatte. Recht interessant ist der Nachweis 
des Letzteren, dass das ungleichmässige Aussehen der Aureole einer Lyco- 
podiumplatte, die zahlreichen darin erkennbaren leuchtenden Pünktchen 
durch zahllose einander nur zum Theil deckende Spectren erzeugt seien. 

Wir haben nun noch den Fall zu betrachten, dass ein Gitter schräg 
gegen die Lichtquelle gehalten werde, dass also die Lichtstrahlen nicht, 
wie bisher angenommen, das Gitter senkrecht, sondern unter irgend einem 
Winkel durchsetzen. Ueber die Wirkung einer solehen Anordnung giebt 
folgender Satz Exner’s? Auskunft. „Projieirt man eine schief gegen die 
directen Strahlen stehende Beugungsöffnung auf eine Ebene, welche durch 
einen beliebigen Punkt der Oeffnung geht und auf den directen Strahlen 
senkrecht steht, so ist der in irgend einer Richtung durch die gegebene 
Oeffnung resultirende gebeugte Strahl identisch mit jenem, welchen eine 
andere, mit der Projection zusammenfallende Oeffnung in derselben Beu- 
sungsrichtung hervorbringen würde.“ Da diese Projection kleiner sein 
wird, als die gegebene Oeffnung oder, was wie gesagt, dasselbe ist, als das 
gegebene Schirmchen, so ist verständlich, dass bei schiefer Gitterstellung 
die Diffractionswinkel grösser werden. 

Eine solche Projection kann sich aber nicht nur durch die Grösse, 
sondern auch durch die Form von dem gegebenen, lichtbeugenden Gebilde 
unterscheiden. Dadurch wird eine weitere, von Donle? hervorgehobene 
Differenz zwischen der Lycopodiumplatte und anderen, zu erklären sein. 
Neigt man nämlich eine angehauchte Glasplatte oder ein Glas, das mit 
runden rothen Blutkörperchen bestreut ist, während man durch dasselbe 
nach der Lichtquelle blickt, so wird aus dem vorher kreisförmigen Beugungs- 


1.K. Exner, Ueber die kleinen Höfe und die Ringe behauchter Platten. Silzungs- 
berichte der Wiener Akademie der Wissenschaften. 1889. Bd. XCVII. 2. S. 1150. 

2 W.Donle, Ueber Fraunhofer’sche Ringe und die Farbenerscheinungen be- 
hauchter Platten. Wiedemann’s Annalen. 1888. Bd. XXXIV. 8. 801. 

3 K. Exner, Ueber die durch zahlreiche unregelmässig vertheilte Körperchen 
hervorgerufenen Beugungserscheinungen. Sitzungsberichte der Wiener Akademie der 
Wissenschaften. 1884. Bd. XC. 2. 


198 H. SALOMONSOHN: 


bilde ein elliptisches und zwar so orientirtes, dass die lange Axe der Ellipse 
senkrecht steht auf der Drehungsaxe der Platte. Der Grund hierfür ist 
klar. Die Projection auf die zum Gang der Lichtstrahlen senkrechte Ebene 
macht aus jedem der kleinen Scheibchen von kreisförmiger Form eine 
Ellipse, deren kurze Axe senkrecht steht zur Drehungsaxe. Eine Ellipse 
oder eine grosse Zahl derselben, in gleicher Richtung angeordnet, erzeugt 
aber eine elliptische Beugungsfigur, die, wie leicht verständlich, um einen 
rechten Winkel gedreht sein muss. Macht man dasselbe Experiment mit 
einer Lycopodiumplatte, so bleibt das Beugungsphänomen ungeändert kreis- 
förmig, denn die lichtbeugenden Lycopodiumkörner sind als kugelförmig! 
zu betrachten, ihre Projection liefert also ebenso wie ihr Querschnitt ein 
kreisförmiges Gebilde. 


BR 


Dass das menschliche Auge auch ohne Hülfsmittel und ohne Mit- 
wirkung von Wasserdunst farbige Kreise in spectraler Anordnung sowohl 
in gesundem Zustande, als auch bei Catarrh der Bindehaut erblicken könne, 
war den Physikern schon wohlbekannt. Ihre Erklärungsversuche schliessen 
sich natürlich mehr oder minder den Theorien der Mondhöfe an. Als 
ersten Autor hierüber führt Pristley? in seiner Geschichte der Optik 
Simon Kotelnikow°® an, indessen haben schon vor diesem Descartes, 


! Die Körner sind nicht kugelförmig, sondern von drei flachen und einer ge- 
wölbten Fläche begrenzt. Letztere nimmt etwa 250° ein. Auf dem Querschnitt fehlt 
also ein Kreissegment. Dies ändert an der lichtbeugenden Wirkung nichts, weil die 
Körnchen ja nach allen möglichen Richtungen orientirt sind. Hirschberg referirt 
in seiner Erörterung der lichtbeugenden Wirkung dieser Körner einen Absatz aus den 
Vorlesungen Verdet’s, übrigens unter Anführungsstrichen, und fügt bezüglich des 
ganz zutreffenden Satzes: „Die Diffraction ist dieselbe, als wenn eine grosse Anzahl 
kleiner kreisförmiger, gleich grosser, aber unregelmässig vertheilter Oeffnungen vor- 
handen wäre“ hinzu: „Hierzu möchte ich freilich bemerken, dass unter dem Mikroskop 
allerdings die dunklen Lycopodiumkörner ziemlich gleich gross..., aber die hellen 
Zwischenräume zwischen den Körnern durchaus unregelmässig und mehr netz-, nicht 
kreisförmig gefunden wurden.“ Hierzu wäre zu bemerken, dass solche kugelartigen 
Körper selbstverständlich keine kreisförmigen Zwischenräume lassen können, und dass 
Hirschberg, indem er auf die Zwischenräume bei der Erklärung der Diffraction 
Werth legt, denselben Irrthum begeht, wie einst Jordan und Hube. Wie wiederholt 
oben betont worden ist, wirken nach dem Principe von Babinet die dunklen Körner 
genau wie Kreisöffnungen, so dass die Physiker von Oeffnungen sprechen können, 
selbst wenn es sich im Experimente um dunkle Scheibehen handelt. 

? Pristley’s Geschichte der Optik übersetzt von Klügel 1776. 

® Simon Kotelnikow, Novi commentarii academiae scient. imperialis Petro- 
politanae. 17155—59. T. VI. 


ÜBER LICHTBEUGUNG AN HORNHAUT UND Linse. 199 


Deschales,! De la Hire,? auch Newton? über die im Auge entstehenden 
Farbenringe geschrieben. Descartes und Newton(?) fanden, dass die Er- 
scheinung auftrete, wenn das geschlossene Auge gedrückt und dann geöffnet 
wurde und suchten deren Entstehungsursache in der Anwesenheit von 
Runzeln (rugae, wrinkles) auf der Hornhaut oder, wie Descartes auch für 
möglich hält, auf der Vorder- oder Hinterfläche der Linse. Deschales 
weiss ebenfalls, dass „lipii et ii, quibus humidi sunt oculi, coronas videant 
item qui a somno recenter surguent“ und sieht die Ursache der Höfe in 
den Flüssigkeitstropfen, welche diesem Auge anhaften, gegeben. De la Hire 
nimmt Unregelmässigkeiten in Hornhaut oder Linse an und führt gegen 
die Ansicht des Descartes in’s Feld, dass solche Falten und Runzeln von 
Keinem gesehen worden seien, und dass nicht zu verstehen sei, wie sie 
die Höfe erzeugen möchten. G. W. Jordan meint, dass die Lichthöfe 
und Ringe sich fänden, „wenn die äussere Hornhautfläche mit halb-durch- 
sichtigen Säften überzogen ist.“ Dagegen führt Henry Brougham* 
1796 das Phänomen auf Beugung des Lichtes zurück an feinen und un- 
durchsichtigen Fasern auf der Hornhaut. „The rays which enter the pupil 
are infleeted in their passage through the fibres, which extend over the 
cornea and which are very minute but opaque. By these they are decom- 
pounded into fringes.“ Durch Druck würden diese Fasern -aneinander 
gedrängt und die Lichtbeugung verstärkt. Desgleichen meint Brandes?’ 
mit den Worten, die Ringe entständen ‚ohne Zweifel, weil feine, undurch- 
sichtige Verdichtungen sich auf den Häuten des Auges befinden.“ 

Trotz mannigfacher Irrthümer recht interessant ist ein im Jahre 1851 
erschienener Aufsatz von Wallmark.® Dieser Autor litt an einem kleinen, 
randständigen Cornealgeschwür, welches zeitweise seine Hornhaut mit Leu- 
kocyten überschwemmte. In solcher Zeit sah er um Lichtquellen siebzehn 
farbige Kreise mit spectraler Farbenordnung, worunter sich drei rothe 


! Deschales, a.a. O. 

®? De la Hire, Sur les differents aceidents de la vue. 1693. Anc. Memoire de 
Vacad. de Paris. 17130. T.IX. p. 364. 

® Newton wird in diesem Sinne öfter eitirt, doch bezieht sich die Stelle in 
seinen Werken, welche wohl gemeint ist und auf die von Brougham (a. a. O.) 
verwiesen wird (Optics. Lib. IIT sub finem [Quaestio XVI]), offenbar auf Druck- 
phosphene. 

* Henry Brougham, Experiments and Observations on the Inflection, Reflection 
and Colours of Light. Philosoph. Transact. of the royal soc. of London. 1796. p. 259. 

° Brandes 1829 in Gehler’s Physikalischem Wörterbuch. Bd.V. S. 438. 
Artikel „Hof“. 

6 Wallmark, Ueber die Ursache der Farbenringe, die bei gewisser Krankhaftig- 
keit des Auges um leuchtende Gegenstände gesehen werden. Poggendorff’s Annalen. 
Bd. LXXXII. S. 129., 


200 .H. SALOMONSOHN: 


Ringe befanden. Er maass nun unter dem Mikroskop die seiner Horn- 
haut aufliegenden Körperchen - und fand deren Durchmesser 0.0088 
(+ 0.0002)"; er maass, bei einer Entfernung A seines Auges von der 
Lichtquelle gleich 200", den Durchmesser C des ersten rothen Ringes 
mit einem Zirkel und fand 30.3", dann für den zweiten rothen Ring 
60.0"m und für den dritten 90.7”®=, Ein violetter Ring hatte einen 
Durchmesser von 34.6””, ein zweiter einen solchen von 64", Da die durch- 
schnittliche Wellenlänge einer Farbe eine bekannte Grösse darstellt und 
sich aus den Messungen die Durchmesser der lichtbeugenden Körper ebenso 
wie die Beugungswinkel ergeben, so musste, falls ein Diffractionsphänomen 
vorlag, durch die für die Lichtbeugung maassgebenden Formeln aus zwei 
dieser Grössen die dritte durch Rechnung zu erhalten sein. Bei Benutzung 
der von Fraunhofer gegebenen Werthe erhielt Wallmark das ge- 
wünschte Ergebniss nicht,! dagegen stimmte für die rothen Ringe die 
Gleichung, als er die von Babinet aufgestellte Formel verwendete. 
Babinet hatte für die Diffraction eines „Siebgitters“ die Formel dd = mA 
erhalten, worin d den Durchmesser der Körperchen, A die Wellenlänge 
der betreffenden Farbe, m die Ordnungszahl des Farbenringes und 5 den 
„Winkeldurchmesser“ desselben Farbenringes bedeutet. Unter letzterer 
Bezeichnung ist das lineare Maass des Bogens zu verstehen, den der Ge- 
sichtswinkel des betreffenden Ringdurchmessers in bestimmter Entfernung 
ergiebt. Es sei 24, der Gesichtswinkel des ersten rothen Farbenringes, 
der 30.3"m Durchmesser hatte, so ergiebt der Quotient C = 30.3 mm 


durch 4 = 200”® uns den Werth für 2tgp. Aus en erhält man 


dann den Winkeldurchmesser d. Die Rechnung ergiebt für g, (Gesichts- 
winkel für den Radius des ersten rothen Ringes) den Werth 4°29’ 50”; 
für @, den Werth 8°31’50”; für @, den Werth 1204633” und daraus 
eine Wellenlänge für rothes Licht bei dem ersten rothen Ring gleich 
0.001331”, bei dem zweiten gleich 0-001311””, bei dem dritten gleich 
0.001508". Nun giebt Wallmark als Wellenlänge des rothen Lichtes 
die Durchschnittsgrösse 0.001376 unter Hinweis auf Fraunhofer und 
0.00130 unter Hinweis auf Herschel, womit die aus seiner Rechnung 
resultirenden Zahlen eine genügende Uebereinstimmung zeigten. Die von 


ı Er fand durch die Formel Z = 2001025 ;» wo y der Durchmesser der licht- 


beugenden. Oeffnung, also in diesem Falle gleich 0-0088 ==, der Zähler Wellenlänge in 
Pariser Zoll und Z der Peugungswinkel oder sein Sinus sein soll, einen Winkel, dessen 
doppelter Tangentenwerth mit 200 multiplicirt einen Werth für C, = 31-7 ergab; in 
gleicher Weise durch die Furmel Fraunhofer’s $, = SON + Z, für C, = 58-4 


und für 0, = 85-6 statt der wirklich gemessenen Werthe. 


ÜBER LICHTBEUGUNG AN HORNHAUT UND Linse. 201 


Wallmark angeführte Wellenlänge ist fast doppelt so gross, als die that- 
sächliche, die durchschnittlich 0.000680 bis 0.000750 "= beträgt, und ich 
habe auch weder bei Fraunhofer, noch bei Herschel! eine derartige 
Angabe gefunden. Dieser mir nicht erklärliche Fehler dürfte ziemlich da- 
durch ausgeglichen sein, dass auch der „Winkeldurchmesser* Babinet’s 
einen etwa doppelt so hohen Werth hat, wie in unseren Formeln der 
Sinus der Beugungswinkel. Für violettes Licht benutzt Wallmark die 
Grösse 0.000729 bis 0.000792 "m und berechnet mit der Babinet’schen 
Formel, dass die Leukocyten einen ersten violetten Ring von 33-1" und 
einen zweiten von 66-5"m ergeben müssten. Die Differenz gegen das 
Ergebniss der Messung auf einen Fehler der letzteren zurückzuführen, 
habe er bei der Genauigkeit seiner Messung keinen Grund. Trotzdem dies 
also für ihn unaufgeklärt bleibt, erklärt er es doch „für unwiderleglich 
dargethan, dass die Farbenringe, die er gesehen, eine Folge sind der 
Beugung, die das Licht während seines Durchganges neben den auf der 
äusseren Hornhaut befindlichen Körperchen erleidet.“ 

Wallmark würde dies womöglich mit noch grösserer Bestimmtheit 
ausgesprochen haben, wenn es ihm nicht entgangen wäre, dass der erste 
violette Ring mit dem Durchmesser von 34-6"m oar nicht dem ersten 
Beugungsspectrum -angehören konnte, weil ja der erste rothe Ring nur 
30.3um Diameter hatte, und das erste violette Maximum gemäss der 
kleinen Wellenlänge kleiner sein muss, als das erste rothe. Setzt man nun 
seinen Werth von 34-6"m als zweiten violetten Ring in die Wall- 
mark’sche Art der Berechnung ein, so erhält man für das Violett eine 
Wellenlänge von 0.000755", also ebenfalls ein mit seinen Annahmen 
harmonirendes Resultat. Da nun ferner seine rothen Ringe sich annähernd 
wie die ganzen Zahlen verhalten, muss man folgerichtig auch den violetten 
Ring von 64” Durchmesser nicht als dem dritten Spectrum, ”? sondern als 
dem vierten angehörig betrachten und erhält bei dementsprechenden Ansatze 
eine Wellenlänge von 0-0006975 "” für violettes Licht, also ebenfalls ein 
noch annehmbares Ergebniss im Sinne Wallmark’s. 

Diese Arbeit Wallmark’s verdient trotz ihrer Mängel einiges Inter- 
esse nicht nur als Beobachtung eigener Art an sich, sondern auch als 
erster Versuch, die Gesetze der Diffraction für die intraocularen Gitter- 
phänomene zu verwenden. Recht überraschend aber ist das günstige 
Rechnungsergebniss, wenn man bedenkt, dass Wallmark seine Ansätze 
gemacht hat genau so, als ob die Lichtbeugung ausserhalb des Auges 
stattfände, und ebenso wenig wie spätere Autoren berücksichtigt hat, dass 


' Herschel, Vom Licht. Deutsch von Schmidt. 1831. 
° Dessen Violett mit 52 "= auch in das zweite Spectrum fallen müsste. 


202 H. SALOMONSOHN: 


doch die Diffraction beeinflusst werden muss durch die Art, wie wir intra- 
oculare Objecete nach aussen projiciren, ferner durch den Brechungseinfluss 
der Linse und durch den Verlauf in einer Flüssigkeit! In der Beobach- 
tung Wallmark’s sind uns anscheinend alle für eine Berechnung der 
Diffraetion im Auge wesentlichen Grössen gegeben. Wir kennen die Grösse 
der lichtbeugenden Körper, die Grösse der rothen und violetten Farbenringe 
und den Ort des Gitters im Auge. Wir müssten aus diesen gegebenen 
Werthen bei richtiger Anwendung der Diffractionsformeln eine richtige 
Gleichung erhalten können. Es hat auch in einer weiterhin eingehend zu 
besprechenden Abhandlung Donders die Anmerkung gemacht, die auch 
Hirschberg wiederholt, dass wir die Grösse der am Auge Diffraction 
erzeugenden Gebilde würden berechnen können, wenn wir ihren Ort kennten. 
Wenn wir aber einer solchen Rechnung uns unterziehen und dabei die 
Wallmark’sche Beobachtung und Messung als Controle benützen, so 
kommen wir zu bedeutenden Schwierigkeiten und zu dem Endergebniss, 
dass das günstige Resultat dieses Autors mehr Sache des Zufalls gewesen. 


Versuch einer Berechnung der intraocularen Diffraction. 


Nehmen wir an, dass sich in der vorderen Frontalebene der Hornhaut 
lichtbeugende Körperchen oder Oeffnungen irgend einer Form befänden, und 
dass die gebeugten Strahlen irgend einer Wellenlänge den Winkel ö mit 
der optischen Axe bilden. Da wir unter Benutzung der von Helmholtz! 
für das schematische Auge eines Emmetropen gegebenen Werthe Thränen- 
flüssigkeit, Hornhautsubstanz und Augenflüssigkeit mit gleichem Brechungs- 
index ansetzen, werden die Lichtwellen sich ungestört bis zur Linse fort- 
pflanzen. Durch diese aber müssen nun die gebeugten Strahlen der Axe 
zu gebrochen, also der Beugungswinkel ö verkleinert werden. Die Horn- 
hautoberfläche sei 3-6 "® von der Vorderfläche der Linse und 5.726 
—= 3:6 + 2-126 "® von der ersten Hauptebene derselben entfernt, die 
Brennweite der Linse in der sie umgebenden Flüssigkeit gleich 50-617 m, 
so ergiebt die bekannte Formel /,!, = F?, dass die von einem Punkte der 
Cornealoberfläche ausgehenden Beugungsstrahlen so gebrochen werden, als 
ob sie von einem 6-.456"m vor der zweiten Hauptebene der Linse oder 
0.532”"” vor der Hornhaut liegenden Punkte ausgingen. Treffen die in 
der Nähe der optischen Axe im Winkel ö abgehenden Strahlen die erste 
Hauptebene der Linse in der Entfernung ? von der optischen Axe (Fig. 3), 


so haben wir in tangö = einen Werth für den Beugungswinkel. 


t 
5.726 
Tragen wir auf der zweiten Hauptebene, die ja das Bild der ersten, eben- 
falls die Entfernung ? ab und ziehen durch den Endpunkt von jenem 
0.532" vor der Hornhaut gelegenen Punkte eine gerade Linie, so haben 


wir den Gang des gebeugten Strahles construirt. Die Grösse des durch 


" v. Helmholtz, Physiologische Optik. II. Aufl. $ 12. S. 140. (Neuere Werthe.) 


ÜBER LICHTBEUGUNG AN HORNHAUT UND Linse. 203 


die Linsenbrechung verkleinerten Beugungswinkels ö, erhalten wir aus 


tangd, = 5.455: Fine Division ee ergiebt uns 
VII) tang = 2..,,tangdı . 


Die Verkleinerung des Winkels ö müsste noch stärker sein, wenn die Linse 
im Zustande der Accommodation ist. Wir kennen nun den Ort der Cardinal- 
punkte der Linse bei einem be- d,.8------....0,532 

liebigen Grade der Accommoda- N 
tion nicht, doch giebt Helmholtz 
für ein auf 152.46” vor der 
Hornhaut (gleich etwa 6-5 Diop- 
trieen) accommodirendes Auge 
durch Beobachtung und Rechnung 
gewonnene Zahlen, bei deren ana- 
loger Verwendung man erhält 
5.984 


VIa) tangdo=_. 


ol: 


Der Winkel ö, ist aber noch 
nicht identisch mit dem Winkel ö,, 
unter dem uns der Radius eines 
Farbenkreises erscheint, denn, 
wenn nun die gebeugten Strahlen 
in der Retina zur Interferenz! 
kommen und Lichtmaxima und & 
-Minima erzeugen, so projieiren 
wir ja den Netzhautabstand eines Fig. 3. 
Maximums von dem Bilde der .e Hornhaut, ZZ Linse, %, vordere, A, hintere 
Lichtquelle (in der Macula) so, dass Hauptebene der Linse, RR Netzhaut, X zweiter 
wir nicht einen Punkt in oder vor Knotenpunkt des Auges. 
der Cornea zum Scheitelpunkt des 
Gesichtswinkels nehmen, sondern den zweiten Knotenpunkt des Auges. Die 
Tangente des Gesichtswinkels ö, verhält sich zur Tangente des Winkels , 
— da man das genannte Netzhautstück als geradlinig ansehen kann — 
umgekehrt proportional den Entfernungen der beiden Scheitelpunkte vor 
der Netzhaut. Die Länge des Auges ist 22.819", der Ort des zweiten 
Knotenpunktes 7.321 ® hinter der Hornhaut. Daraus ergiebt sich 

tangö, __ 22-819 + 0-532 23-351 23-351 
N en, ra Ten a il st rer 


FE 


reg 


nt m 


tang d.. 


! Die einander parallelen gebeugten Strahlen werden zwar durch die Linse con- 
vergent gemacht, aber nicht in einem Punkte der Retina vereinigt, da diese nicht in 
der Brennebene der Linse liegt. Trotzdem ist Interferenz denkbar, da ja jedes Netzhaut- 
element die Rolle des Punktes spielt. Wo diese Vorstellung nicht ausreicht, müsste man 
annehmen, dass bereits etwas convergent vom Gitter der Hornhaut ausgehende Strahlen 
zur Interferenz kämen. Davon wäre abzusehen. Auch die Brechung der Augenmedien, 
die Constanten u. s. w. sind für die verschiedenen Farben verschieden und nicht be- 
kannt. Auf mathematische Genauigkeit kann also kein Anspruch gemacht werden, 


204 H. SALOMONSOHN: 


Für das 6-5 Dioptrieen accommodirende Auge, in welchem der zweite 
Knotenpunkt weiter vorn liegt, ergäbe sich 


23-351 


VIlla) tang od, = TEae52 


tang d,. 
Rechnen wir, dass ein myopisches Auge von 5 Dioptrieen Axenmyopie um 
1.73 mm länger sei, als das schematische, so erhalten wir 


23-351 + 1-73 
15-498 + 1-73 


VIIIb) tang 0, — tang d, = 15, tang 0. 

Es hängt somit die Winkelgrösse, unter der uns die Farben- 
ringe erscheinen, nicht allein von dem Beugungswinkel ab, 
sondern auch vom Bau und Accommodationszustande des Auges. 
Durch Vereinigung der Werthe! von VII) und VIII) erhält man für einen 
Emmetropen 


IX) tung 0 — 62456 „15-408 


tang d, = 0-74835 tangd,, 


— 5.726 23-351 
für ein 6-5 Dioptrieen accommodirendes Auge 
5-984 15-854 2 
IXa) tang d = S10 32351 tang ö, = 0:7805 tang d, 
und für den Myopen von 5 Dioptrieen 
6-456 17-23 
IX b) tangd = STE Dan tang ö, = 08067 tang Ö,. 


Noch ein dritter Umstand muss als wesentlich betrachtet und berücksichtigt 
werden, nämlich dass die oculare Diffraction nicht in Luft, sondern in einer 
Flüssigkeit vor sich geht, deren Brechungscoöfficient mit 1-3365 anzusetzen 
ist. Da die Wellenlänge derselben Farbe in verschiedenen Medien um- 
gekehrt proportional ist den Brechungscoäöfficienten, muss man 


somit bei Anwendung der Diffractionsformeln stets für A den Werth e 


setzen,” wenn n den Brechungsindex bedeutet. 


Demnach würde, wenn ein Auge mit bekanntem Bau auf dem Mittel- 
punkte der Hornhaut lichtbeugende Gebilde hätte, die Aufgabe, aus dem 
gemessenen Durchmesser der in bekannter Entfernung vom Auge gesehenen 
Farbenringe die Grösse der lichtbeugenden Gebilde zu berechnen, lösbar 
sein. Auch wenn kugelförmige Körper auf oder in der Hornhaut die 
Diffraction bewirkten, wäre die Aufgabe leicht zu lösen, da ja die Projection 
dieser Körper auf eine zur Blicklinie senkrechte Ebene gleiche Grössen wie 
der Querschnitt dieser Körper liefert. Dieser Fall läge in der Wallmark’- 
schen Beobachtung vor, wenn wir annehmen, dass die Leukocyten nicht an 


I 2 rd tang ö,, worin DA die Zahl der 
accommodirten Dioptrieen, DM die Grösse der Myopie. | | 
* Diese Correctur der Wellenlänge compensirt recht genau die vorher gegebene 
des beobachteten Winkels, woraus sich erklärt, dass Wallmark’s Berechnungen 
stimmten, obwohl er auf die ocularen Verhältnisse gar keine Rücksicht genommen. 


! Annähernd tang od = 


ÜBER LiCHTBEUGUNG AN HORNHAUT UND Linse. 205 


der Hornhaut klebten (wodurch sie zu kleinen Scheibehen würden, wie die 
Wassertropfen der behauchten Glasplatte), sondern frei in der Thränen- 
flüssigkeitsschicht der Hornhautoberfläche schwebten. Wallmark hatte in 
200” Entfernung, dem Fernpunkte seines Auges, die Durchmesser der 
rothen Ringe mit 30-3"m, 60-.0""% und 90.7"" gefunden, woraus wir 
einen Gesichtswinkel für die Radien von bezw. 4°19’55”, 8° 31750” und 
1204633” berechnet haben. Indem wir diese Winkel mit Benutzung der 
Gleichung IX’b) umrechnen, erhalten wir die Beugungswinkel 3° 29’ 48”, 
6°53’57” und 10°21’54”. Berechnet man den Sinus dieser Winkel, so 
erhält man die Zahlen 0-061, 0:121 und 0-18. Diese Sinus verhalten sich 
also, trotzdem bei Wallmark doch kreisförmig gestaltete Gebilde als licht- 
beugend wirksam waren, nicht gemäss den von Verdet angegebenen Zahlen 
oder den Gleichungen V) oder VI); sondern überraschend genau wie die 
ganzen Zahlen. Multiplieirt man die Sinus mit der Zahl 0.0088 (Durch- 
messer der Leukocyten) und mit n=1:-3365 und dividirt das Resultat mit 
m = 1, 2 und 3, wendet man also die dementsprechenden Diffractionsformeln 
an, so erhält man als Wellenlänge des rothen Lichtes in Luft aus dem ersten 
rothen Ring den Werth 0-000 71678; aus dem zweiten 0.000705 87; aus 
dem dritten 0-000 70483; also Zahlen, die unter einander und mit den 
gültigen genügend harmoniren, nur dass sie ein wenig hoch erscheinen. 
Dies könnte sich daraus erklären, dass die Zahl 0°0088 zu gross ist für 
das thatsächlich lichtbeugende Moment. Da auch die Formel für Siebgitter 
sich nicht als anwendbar erwiesen, liegt die Vermuthung nicht fern, dass 
die Leukoeyten auf Wallmark’s Hornhaut nicht als Kügelehen schwammen, 
sondern als Scheibchen klebten. In diesem Falle würde ein bisher noch 
nicht hervorgehobener Umstand wirksam sein, nämlich die Krümmung der 
Hornhaut. Die ungebeugten Strahlen, die bei einer Entfernung der Licht- 
quelle von 20 °% schon an und für sich nicht mehr als parallel angesehen 
werden können, treten schräg durch das Gitter. Um die Wirkung hiervon 
zu erhalten, müssen wir die Leukocyten auf eine zur Blickrichtung senk- 
recht durch die Hornhaut gelegte Ebene projieirt denken, und diese optisch 
wirksame Projection verändert und verkleinert den Querschnitt der 
Körperchen, und zwar um so mehr, je entfernter dasselbe vom Hornhaut- 
centrum gelagert ist. Die Grösse der Projection ist der Berechnung leicht 
zugänglich, doch ist ohne Weiteres klar, dass sie bei gleicher Entfernung 
der Lichtquelle (und gleichem Hornhautradius) alle möglichen Werthe 
zwischen eins und einem kleinen Bruchtheil annehmen kann.! Daraus folgt, 
dass wir, selbst wenn der Beugungswinkel, die Wellenlänge und der Ort 
der lichtbeugenden Gebilde bekannt ist, immer noch nicht deren Grösse 


! Ist r der Radius der Hornhautkrümmung, ö’ der durch die Thränenflüssigkeit 
gebrochene Einfallswinkel der zu beugenden Strahlen, y der Centriwinkel der licht- 
beugenden Körper, welcher erzeugt wird, wenn man die Endpunkte des Durchmessers 
des Körperchens mit dem Krümmungsmittelpunkte der Hornhaut verbindet, so ist die 


Projection P = 2r cosö' sin L. Träfen nämlich der Blicklinie parallele Strahlen die 


Hornhaut unter einem Bogenabstand von der Hornhautmitte gleich & eine lichtbeugende 
Oeffnung (Opaeität), deren „Centriwinkel“ y ist, und gingen ungebrochen hindurch, 
so ist die Projection 


206 H. SALOMONSOHN: 


berechnen können, wie Donders und Hirschberg meinten, man müsste 
denn unter Ort auch gleich die seitliche Entfernung von der optischen Axe 
verstehen. Wie wir uns das Zustandekommen von Interferenzfrangen bezw. 
Farbenringen erklären können, trotzdem die Projectionen der lichtbeugenden 
Körper verschiedenste Grösse haben, werden wir weiterhin noch erörtern. 
Die Messungen Wallmark’s im Violetten ergeben unter Berücksiehtigung der 
oben gemachten Bemerkung die Beugungswinkel 3°59'30” und 7921’15”, 
als Sinus derselben die Zahlen 0.0696 und 0-128 und als Wellenlänge 
des Violett in Luft 409 uu und 377 uu, also ebenfalls annehmbare Resultate. 
Die zu kleinen Wellenlängen sind, von anderen Erklärungsmöglichkeiten 
abgesehen, zwanglos daraus verständlich, dass bei der Messung, die bei 
Violett ganz unsicher ist, mehr nach dem Roth des vorhergehenden Speetrums 
zu gemessen wurde. 

Es liegt nun zwar der Gedanke nahe, aus Wellenlänge und Beugungs- 
winkel die Grösse der Körperprojeetion in der Wallmark’schen Beobach- 
tung zu berechnen und aus dem Resultat einen Schluss zu ziehen auf den 
Abstand von der Mittellinie, den die wirksamen Leukocyten auf der Horn- 
haut gehabt haben. Indessen dürfte dafür das Fundament zu unsicher sein, 
denn alle Beobachtungen und Messungen der Diffraction in gemischtem 
Lichte leiden daran, dass wegen der stattfindenden Ueberlagerung die hellsten 
Stellen einer Farbe noch nicht deren Maximum zu entsprechen brauchen, 
worauf Verdet! hinwies, und dass Messungen am Ende des Roth recht 


unsicher sind. 


Ebenfalls im Jahre 1851 theilte Beer? mit, dass er bei verdecktem 
rechten Auge eine Kerzenlamme von einem hellen Hofe umgeben erblicke, 


P=rcs(&-(0+2)) rn |&- (0-4) =rsin (o+%) — rsin (© - 4) 


= 2r c080 sin 2. 


In diesem Falle ist der Einfallswinkel = ». Nun werden die einfallenden Strahlen, 
bevor sie auf das Gitter fallen, durch die Thränenflüssigkeit auf der Hornhaut dem 
Lothe (Hornhautradius) zu gebrochen und divergiren nunmehr weniger von demselben. 
Der Brechungswinkel 2’ ist aus dem Einfallswinkel bekannt. Letzterer ist bekannt, wenn 
Abstand der Lichtquelle e und Winkel » gegeben sind, denn tangi = @ = ann 
(e+r)cso—1 
Der Einfluss des, im Vergleich zu dem ersten Fall, weniger schrägen Durchgangs der 
Strahlen durch die Oeffnung auf die Projection wird nun dadurch ausgeglichen, dass 


in dem eben entwickelten Werth z’ statt & genommen wird. Der Ausdruck 2r sin 2 
ist constant und beinahe gleich dem Durchmesser des lichtbeugenden Gebildes. Somit 
ist die Projectionsgrösse proportional dem Cosinus z’, kann aber nicht auf 0 sinken, 


weil der Brechungswinkel ja nicht 90° annehmen kann. 

1 Verdet, Sur l’explication des phenomenes des couronnes. Annales de chimie. 
1852. II. Serie. T. XXXIV. 

2 Beer, Ueber den Hof um Kerzenflammen. Poggendorff’s Annalen. 1851. 


Bd. LXXXIV. S. 518; 1853. Bd. LXXXVIO. S. 595. 


ÜBER LICHTBEUGUNG AN HORNHAUT UND Linse. 207 


dessen Durchmesser 6° betrage, und an dessen Rande sich ein Doppelbild 
der Flamme befände, welches sich bei Neigung des Kopfes gleichsinnig an 
der Peripherie dieser Scheibe bewege. Er lässt dieser ersten Mittheilung 
1853 eine zweite folgen, worin angegeben wird, dass sechs andere Beobachter 
ebenfalls um Lichte einen Hof, einzelne auch farbige Ringe mit einem 
Durchmesser von 3° bis 3° 50° wahrgenommen hätten. Beer glaubt aut 
Grund seiner Beobachtung eine radiäre Faserung der Linse als Ursache 
der Erscheinung annehmen zu dürfen, theilte aber zugleich eine wichtige 
Beobachtung von Wöhler mit, von der er selbst sagt, dass sie gegen seine 
Annahme spreche und auf die Hornhautoberfläche als Sitz der ursächlichen 
Momente hinwiese. Wöhler bemerkte nämlich, dass die farbigen Ringe 
in besonders schöner Weise bei ihm auftraten, sobald er sich in einer nach 
Osmiumsäure riechenden Luft aufgehalten hatte. 

Einige Jahre später unterzog H. Meyer,! Lehrer an der Handels- 
academie in Leipzig, das Phänomen der Lichthöfe einer eingehenderen 
Untersuchung: „Bei flüchtiger Beobachtung tritt namentlich ein die Licht- 
quelle zunächst umgebender und mit derselben gleichfarbiger (also bei 
gelber Farbe der Lichtquelle gelber) Ring hervor, der aussen von einem 
rothen Ringe eingeschlossen wird; bei aufmerksamem Betrachten der Licht- 
quelle lässt sich jedoch ausserdem noch ein blaugrüner und äusserer rother 
Ring deutlich unterscheiden. Diese Ringe werden, soweit meine Versuche 
reichen, von allen Beobachtern wahrgenommen, nachdem sie auf das Vor- 
handensein dieser Ringe aufmerksam gemacht sind.“ Auf Grund dieser 
Worte muss man wohl Meyer das Verdienst zuerkennen, das Physiologische 
dieser Erscheinung zuerst erkannt zu haben, Der Autor beschreibt das 
Phänomen genauer in folgenden Sätzen. „Betrachte ich die Flamme eines 
gewöhnlichen Stearinlichtes, so kann ich sowohl mit blossem Auge, inner- 
halb und ausserhalb der deutlichen Sehweite (da mein Auge in ziemlich 
hohem Grade kurzsichtig ist), als auch durch die Brille deutlich um die 
Flamme einen Lichthof unterscheiden, dessen Durchmesser um so grösser 
wird, je grösser die Entfernung zwischen dem Auge und der Lichtquelle 
ist. In dem Grade, als der Durchmesser des Hofes zunimmt, wird derselbe 
aber auch lichtschwächer, so dass derselbe in grosser Entfernung kaum noch 
deutlich zu unterscheiden ist. Dieser Hof ist zunächst der Lichtquelle von 
gleicher Farbe mit derselben, also gelb, dann wieder roth, dann kommt 
ein in’s Grünblau fallender Ring und dieser wird wieder von einem rothen 
Ringe umgeben. Je weiter nach aussen der farbige Ring liegt, um so 
lichtschwächer ist derselbe; der mit der Flamme gleichfarbige (gelbe) und 


ı H.Meyer, Ueber den die Flamme eines Lichtes umgebenden Hof, sowie Bei- 
träge zur Unempfindlichkeit der Netzhaut in der Nähe starker Lichteindrücke, „Mond- 
höfe, Löwe’sche Ringe u.s.w.“ Poggendorff’s Annalen. 1855. Bd. XCVI. 8. 235. 


208 H. SALOMONSOHN: 


erste rothe Ring sind ziemlich intensiv, die anderen Ringe weit weniger; 
das Roth des äussersten Ringes ist nicht recht rein, es ist mehr braunroth. 
Zwischen diesem äusseren Roth und dem Grünblau ist ein gelber Streifen 
deutlich nicht wahrnehmbar, doch sehe ich allerdings das Roth in der 
Nähe des grünblauen Ringes etwas mehr in’s Gelbe fallen. In einer Ent- 
fernung von 1 bis 4 Ellen sind alle diese Ringe ganz deutlich zu unter- 
scheiden, bei grösserer Entfernung wurden aus Mangel an Helligkeit 
namentlich die äusseren Ringe undeutlich und die Farben derselben schwer 
mit Sicherheit zu bestimmen. Bei grösserer oder kleinerer Lichtquelle oder 
veränderter Intensität der Lichtquelle werden natürlich diese Zahlen andere. 
Auch über den äusseren rotben Ring hinaus ist noch Licht vorhanden,... 
doch kann man die Farbe dieses Lichtes nicht mehr unterscheiden, auch 
lässt sich die äussere Grenze nicht angeben, der Eindruck wird nach 
aussen immer schwächer.“ 

Meyer hat mit beiden Augen zugleich beobachtet, weil „bei Anwendung 
nur eines Auges der Lichthof weit schwächer an Licht sich darstellt, die 
Erscheinung aber dieselbe ist“. Von seinen weiteren Bemerkungen ist 
noch hervorzuheben, dass die Farbenringe, wenn man das Auge auf diese 
statt auf die Lichtflamme richtet, unverändert bleiben, aber deutlicher 
werden, indem „jetzt die Farben auf den empfindlicheren Theil der Netz- 
haut fallen.“ „Sieht man nach der Mitte der Flamme, so ist der Theil 
des Ringes linker Hand vom Beobachter stets deutlicher, als der Theil 
rechts“. Aus Messungen,! denen er nur eine geringe Genauigkeit zuschreibt, 

! Die Messungen sind nicht nur von ihm, sondern auch von zwei anderen Beob- 
achtern angestellt und beziehen sich auf den äusseren Rand der Farbenringe. Sie 


lassen sich, übersichtlicher als in Meyer’s Mittheilung, in folgender tabellarischer 
Anordnung wiedergeben. 


Beobachter ‚Flamme Gelb | Roth I | nn | Roth II Man Bemerkungen 
Meyer | — ie oe 
i | — 102297 _ 3 34 _ 2 0 Ohne Brille 
& ae 5 
5 | 0° 17 1222 2 12 334 4° 57 2% 55 ss 
>> | 0 25 1 22 2 29 4 15 8 18 29 5 SB 
g LE oz ae ‚Bro E # 
35 | — 1 20 2 10 4 28 5 30 80 55 69 
h; - _ Ole 0334047467370 Ohne „ 
Knop I 1 34 1955 3 40 4 32 8:3) 29 ch 
7 | — 1 18 25 4 4 — 6 0 Mit > 
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Er = 1.39.1973 — — 68 Lichtquelle 
N _ 1 22 — _ u) Mit Farbenglas 
Im Mittel: |) 10272 02:5700232502 MA57 | 


Daraus ergäbe sich für die Mitte von Roth I: 1° 47’, von Roth II: 4° 23'. 


ET Zen 


ÜBER LicHTBEUGUNG AN HORNHAUT UND Linse. 209 


glaubt er schliessen zu dürfen, dass bei grösserer Lichtquelle „die schein- 
baren Durchmesser der Ringe um den scheinbaren Durchmesser der Licht- 
quelle vergrössert werden“, und dass „die Grösse des Netzhautbildes (welches 
dem Hof entspricht) ziemlich unabhängig sei von der Entfernung“. Be- 
trachte man das Licht aus kurzer Distanz mit einem grünen Glase, so 
würden die rothen Ringe deutlich dunkel, durch ein rothes Glas gesehen 
seien sie deutlich gefärbt, aber auch der erste blaugrüne Ring nicht dunkel, 
sondern ebenfalls rothes Licht zeigend. Ein unmittelbar vor das Auge ge- 
haltenes Diaphragma mit einer Oeffnung von 0.24” (6-5) Durchmesser 
änderte die Erscheinung nicht, weil die Projeetion der Pupillenweite auf 
die Ebene des Diaphragma kleiner war, nämlich nur 0.16” (4.4 m) betrug. 
Nahm Meyer aber eine Öeffnung von nur 0.12” (3-25 "”), so blieb nur 
die rothumsäumte Aureola deutlich, während die farbigen Ringe ziemlich 
schwach wurden. Ein mitten vor das Auge gehaltener Streifen von 0-05” 
(1-35 m) Breite ändert nichts, ein solcher von 3.25 wm lässt den ganzen 
Hof verschwinden, „während die Ränder des Lichtes, allerdings geschwächt, 
noch sichtbar sind“. Wird von der Seite her ein Blatt Papier vor die 
Hornhaut geschoben, „so bleibt die Erscheinung so lange ziemlich unver- 
ändert, bis die Mitte des Lichtes verdeckt ist, dann verschwindet auf beiden 
Seiten zugleich zunächst der äussere rothe Rand und bei wenig weiterem 
Hineinschieben - auch der innerste rothe und gelbe Ring. Dabei ist aller- 
dings zu berücksichtigen, dass, ehe der Papierstreif die Mitte der Lichtquelle 
verdecken kann, er schon ziemlich die ganze Pupille verdecken muss, und 
nur noch einige seitlich hereinfallende Strahlen das geschwächte Bild des 
halben Lichtes erzeugen“. 

Meyer erörtert dann die Frage, wie dieser Hof im Auge gebildet 
werde, und schreibt Brewster die Ansicht zu, dass man es mit einer „im 
Auge stattfindenden Reflexion an der concaven Oberfläche der Krystalllinse 
oder an der Cornea zu thun habe“, und hält diese Meinung durch seine 
Versuche für widerlegt, ohne sie weiter zu erörtern. Brewster! hat aber 
eine derartige Theorie gar nicht aufgestellt, sondern spricht an der von 
Meyer angezogenen Stelle nur von der entoptischen Wahrnehmung der 
Netzhautgefässe nach Purkinje. Brewster hat die Gefässe nicht bemerken 
können, sondern nur eine braune Lichtmasse, und meint, dass diese durch 
Reflexion des Lichtes an den genannten Concavitäten hervorgerufen sein 
dürfte. Meyer bespricht dann die Theorie, dass die Erscheinung durch 
Brechung des Lichtes an feinen die Hornhaut bedeekenden Wassertröpfchen 
entstände. Er citirt als Vertreter dieser Theorie Cartesius und Newton, 
was nicht ganz richtig ist, da diese, wie wir sahen, Runzeln supponirten. 


! Brewster, Poggendorff’s Annalen. 1833. Bd. XXVII. 8. 496. 
Archiv f. A. u. Ph. 1898. Physiol. Abthlg. 14 


210 H. SALOMONSOHN: 


Ihre Namen würden also durch den des Dechales! zu ersetzen sein. 
Gegen diese Theorie wendet Meyer ein, dass „eine grosse Zahl zusammen- 
stehender Tröpfehen der Deutlichkeit des Sehens Eintrag thun dürfte“, dass 
„die gelbe Aureole gleichförmiger sei, als sie durch sich überdeckende Zer- 
streuungskreise sein würde“, ferner, dass die Resultate der seitlichen Ab- 
blendung und die Unabhängigkeit der Hofgrösse von der Entfernung der 
Lichtquelle dagegen sprächen, und endlich, dass die Durchmesser der 
Farbenringe nicht mit denen harmonirten, die man aus einer Berechnung? 
der brechenden Wirkung so kleiner Wasserlinsen erhält. Er entscheidet 
sich somit dafür, dass das Phänomen durch Diffraction des Lichtes zu er- 
klären sei und führt als Beweis die weitgehende Aehnlichkeit mit der 
Lichtbeugung einer behauchten Glasplatte und des Lycopodiums an, wobei 
er übrigens auch die Zwischenräume als das wirksame Moment betrachtet. 
Als Ursache der intraocularen Diffraction nimmt er ein engmaschiges Netz- 
werk im Auge an und lässt es offen, ob man sich dasselbe in oder auf der 
Hornhaut, in Linsenkapsel oder Linsensubstanz gelagert zu denken habe. 
Die von Descartes hervorgehobene Verstärkung des Phänomens durch 
Pressung des Auges könnte zwar zu Gunsten der Hornhautoberfläche 
sprechen, „liege aber wohl nur in der grösseren Empfänglichkeit des Auges, 
nachdem es einige Zeit geschlossen war“. Um einen ungefähren Anhalt 
für die Maschenbreite zu erhalten, rundet Meyer die Messungsresultate 
dahin ab, dass er für die Mitte der ersten rothen Ringbreite 1° 40’, für 
die der zweiten 5° ansetzt, und berechnet dann unter der (willkürlichen) 
Annahme, dass das Netzwerk ein regelmässiges Gitter darstelle, in dem 
jede Spalte von der anderen um ihre eigene Breite entfernt sei, eine 
Maschengrösse von 0-0158"®, Er betont selbst, dass seine Annahmen meist 
nicht zutreffen würden, besonders da er „auf die veränderte Wellenlänge 
in den Mitteln des Auges nicht Rücksicht genommen habe“. 

Ein Vergleich mit den weiterhin mitzutheilenden Beobachtungen zeigt, 
dass die Angaben Meyer’s im Wesentlichen zu bestätigen sind, dagegen 
müssen die aus den Messungen gezogenen Schlüsse zweifellos beanstandet 
werden. Diese, von verschiedenen Augen mit verschiedenen Refractionszu- 


! Dechales, Oursus s. mundus mathemat. Vol. III. Propositio XXII. Theorema 
„Coronae lucernarum in ipsis oculis efformantur“ p. 758. „Dico ergo quod guttae 
tenues et ciliis et ipsi corneae adhaerentes radios refringere possint, ut colores aliquos 
induant.“ 

° Meyer nimmt in seiner Berechnung die Krüämmungsradien der Linse mit 5 und 
em, ihre Brennweite im Glaskörper mit 19-4”=, den Abstand der Netzhaut vom 
zweiten Knotenpunkte mit 15" an. Eine Verwendung der heute gültigen Werthe 
ergiebt Resultate, die für die Brechungstheorie noch ungünstiger sind, als die von 
Meyer erhaltenen. 


ÜBER LICHTBEUGUNG AN HORNHAUT UND Linse. Dat 


ständen bald mit bald ohne Brille, die ja auch die Knotenpunkte und damit 
das Verhältniss zwischen Beugungs- und Beobachtungswinkel ändert, ange- 
stellt, müssen nothwendigerweise verschiedene Resultate ergeben, und wenn 
auch die Fehler, wie wir oben anmerkten, sich im Einzelfalle annähernd 
compensiren können, so macht doch der Einfluss der Hornhautkrümmung 
einen Strich durch die Rechnung, sofern es sich nicht um kugelförmige 
Gebilde handelt oder die Hornhautmitte als Sitz des Beugungsgitters anzu- 
sprechen ist. Diese aber konnte Meyer ja ohne Schaden durch einen 
schmalen Papierstreifen ausschalten. Endlich aber dürften die Dinge über- 
haupt anders und complicirter liegen, als bisher angenommen wurde. 

Die gleichen Einwände müssen gegen die etwa zwei Decennien später 
von K. Exner! publieirten Berechnungen erhoben werden. Dieser Forscher 
beobachtete im Verein mit Guido Goldschmidt die gleichen Farbenringe 
um Lichtquellen wie Meyer und fand, dass diese Meyer’schen Ringe sich 
nur insofern von jenen unterscheiden, die man erhält, wenn man nach dem 
Vorgange Wöhler’s das Auge der Einwirkung von Osmiumsäure-Dämpfen 
aussetzt, als diese Letzteren eine grössere Intensität aufweisen. Er zog 
daraus den Schluss, dass das Phänomen zweifellos an der Oberfläche der 
Hornhaut erzeugt werde Da er dann, mit seinem Bruder Sigm. Exner 
zusammen, sich an- einer Froschcornea überzeugen konnte, dass durch 
Ösmiumsäuredampf die vorher kaum sichtbaren Grenzen der Epithelzellen 
der Hornhaut sehr deutlich wurden, glaubte er die Epithelzellen als die 
Oefinungen ansehen zu können, an deren dunklen Rändern die Lichtbeugung 
erfolge, und die ganze Erscheinung als identisch mit den von Fraunhofer 
bei seinem Studium der Mondhöfe durch opake Scheibchen hervorgerufenen 
Farbenringen erklären zu dürfen. Dementsprechend berechnet er unter 
Anwendung der für „Siebgitter“ gültigen Formel aus den Messungsresultaten 
Meyer’s die Grösse der Hornhautepithelien. Er erhält auf diese Weise aus 
dem ersten rothen Ring, den er mit 1°41’ als Durchschnittswerth ansetzt, 
als Grösse der Epithelien 0.023", und aus dem zweiten, für den er 4° 16’ 
als Mittel giebt, 0-017 m, Seine Ansicht, dass diese Werthe mit den von 
Kölliker angegebenen 0.022" bis 0-05” genügend übereinstimme, kann 
wohl ebenso gut bestritten wie zugegeben werden. Wie wenig aber die 
verwendete Formel passt, wie sehr die Differenz der beiden Resultate das 
zulässige Maass überschreitet, wird klar, wenn man den Werth 0-023 in 
die Gleichung für den zweiten, den Werth 0.017 in die für den ersten 
Ring einsetzt und die Wellenlänge berechnet. Man erhält dann 769 uu 


! E. Exner, Ueber Fraunhofer’sche Ringe, Quetelet’sche Streifen und ver- 
wandte Erscheinungen. Sitzungsberichte der Wiener Akademie. 1817. Bd. LXXVI. 2. 
S. 522. 


14* 


219 H. SALOMONSOHN: 


und 395 wu, also äusserstes Roth und äusserstes Violett, also eine Differenz 
um die ganze Länge des Specetrums! Wenn Exner in einer Anmerkung 
hinzufügt, es sei die Thatsache, dass manche Beobachter nicht eine helle 
Aureole von der Farbe der Lichtquelle, sondern einen dunkeln Raum 
innerhalb des ersten rothen Ringes um die Flamme sehen, wohl dadurch 
zu erklären, dass „die wirksamen Epithelzellen nicht bei allen Beobachtern 
gleich unregelmässig gelagert seien, so dass an die Stelle des Phänomens 
der Fraunhofer’schen Ringe dasjenige der behauchten Platten trete“, so 
kann meines Erachtens dem nicht zugestimmt werden, weil die anatomische 
Anordnung der Epithelien wohl kaum weitgehende Differenzen zeigt, vor 
Allem aber, weil durch den Einfluss der Hornhautkrümmung auch die 
regelmässigste Anordnung unwirksam gemacht werden muss. _ 

Wenn ich nun noch anführe, dass Billet! ohne weitere Erläuterungen 
behauptet „Les couronnes, qu’on voit souvent autour des chandelles, le 
matin en se levant, sont dues a des globules de sang injectes dans 1a 
conjonctive pendant la- sommeil‘“ —, so dürften wir eine Uebersicht über 
die von den Physikern vertretenen Ansichten bezüglich des Regenbogen- 
sehens gewonnen haben und könnten uns zur ophthalmologischen Litteratur 
wenden. Da indessen in dieser von allen diesbezüglichen Arbeiten, die wir 
in Obigem besprochen haben, keine einzige eine Erwähnung gefunden hat, 
dagegen die dort beschriebenen Diffractionserscheinungen eine zum Theil 
ganz andersartige Genese haben dürften, als die Meyer’schen und 
Wöhler’schen Ringe, so kann es für die Klarheit der Darstellung nur 
förderlich sein, wenn hier zunächst der Bericht über meine eigenen Be- 
obachtungen und eine Erörterung derselben sich anschliesst. 


4. 


Die durch das Auge selbst erzeugten, regenbogenfarbigen Kränze um 
Lichtquellen, wie sie Meyer zuerst zwar nicht gesehen, aber doch als 
physiologisch genauer beschrieben hat, und die wir mit Exner als Meyer’sche 
Ringe bezeichnen wollen, sind eine sehr lichtschwache Erscheinung, so dass 
es eigens darauf gerichteter Aufmerksamkeit und günstiger Nebenumstände 
bedarf, um sie zu bemerken. Günstig für die Beobachtung ist eine recht 
helle Lichtquelle in 15 bis 30 ® Entfernung, wie electrisches Bogenlicht 
oder Auerlicht, welches sich gegen den dunkelen Abendhimmel oder noch 
besser gegen dichtes Waldeslaub abhebt, ohne dass blendende andere 
Flammen gleichzeitig das Auge beleuchten. Sehr geeignet ist für das Studium 
auch ein völlig dunkler Raum mit tiefgeschwärzten, möglichst wenig 


' Billet, Traite d’optique physique. 1858. T.I. p. 232. 


ÜBER LIiCHTBEUGUNG AN HORNHAUT UND Linse. 213 


reflectirenden Wänden,! in welcheın man eine einfache Stearinkerzenflamme 
oder ein Gasglühlicht betrachtet, das abgeblendet wird durch einen ge- 
schwärzten Metalleylinder mit einer Oeffnung von 0-5 bis 2 Centimeter. 
Die geeienetste Entfernung hängt von der Intensität des Lichtes ab. Eine 
kleine schwachleuchtende Flamme kann und muss in kurzer Distanz be- 
trachtet werden, je intensiver aber das Licht, um so mehr stört die 
Blendung in der Nähe die Wahrnehmung des Phänomens. Auch im 
dunklen Wohnzimmer wird man die Ringe um ein Kerzenlicht beobachten 
können, nur muss sich das Licht in allen Fällen vor einem leeren Raum 
befinden, denn selbst ein stumpf-schwarzer Schirm, unmittelbar hinter die 
schwachleuchtende Kerzenflamme gestellt, kann sehr störend wirken. In 
höherem Grade natürlich noch ein farbiges Möbel oder eine helle Tapete 
in kurzem Abstande vom Lichte. Auch die Uebung spielt zweifellos eine 
Rolle. Je öfter man darauf achtet, desto leichter und genauer treten die 
Farbenringe auch unter weniger günstigen Umständen hervor, so dass die- 
selben schliesslich um jede Strassenlaterne mehr oder minder vollständig 
und zahlreich erscheinen. Sie am klaren wolkenlosen und unverschleierten 
Abendhimmel um den Mond wahrzunehmen, wie Meyer, ist mir erst nach 
mehrmonatlicher Uebung gelungen. Ist das beobachtende Auge myopisch, 
so darf die Lichtquelle nicht gar zu weit ausserhalb der deutlichen Sehweite 
sich befinden, weil sonst der Zerstreuungskreis die Farben undeutlich macht. 
Corrigirende Gläser müssen selbstverständlich sehr sorgfältig gereinigt 
sein, damit nicht durch die darauf befindlichen Verunreinigungen störende 
Reflex- oder Interferenz- und Diffractionserscheinungen erzeugt werden. 

In Uebereinsimmung mit den mitgetheilten Beobachtungen früherer 
Autoren erscheint meinem Auge der Hof um eine Kerzenflamme als eine 
Aureole leicht gelber Farbe, die von einem rothen (inneren) Ringe umsäumt 
ist. Dann folgt ein dunkler Raum, der mit einem blaugrünen und einem 
(äusseren) rothen Ringe abschliesst. Für Auerlicht erscheint die Aureole 
mehr grünlich, für Bogenlicht mit Milchglasglocke mehr weisslich innen 
und blaugrün nach aussen. Der stärkeren Lichtintensität entsprechend ist 
hierbei die Erscheinung ausgesprochener und zeigt unter günstigen Ver- 
hältnissen vor dem inneren Roth und manchmal auch vor dem äusseren 
einen schmalen, oft recht deutlichen, gelben Ring, der sich also zwischen 
grün und roth einschiebt. Ferner aber kann ich meist bei einer Ent- 
fernung der Lichtquelle über zwei Meter noch einen mittleren Ring innen 
grünlich, aussen röthlich wahrnehmen, der vom inneren wie vom äusseren 


" Einen solchen konnte ich im Berliner physiologischen Institut benutzen. Als 
Lichtquelle diente mir für kurze Distanzen bis etwa 1!/,” eine Kerze, sonst eine Auer- 
flamme mit Metalleylinder, dessen grosse Oeffnung noch durch einen grossen schwarzen, 
mit variirbaren Blenden versehenen Schirm verdeckt war. 


214 H. SALOMONSOHN: 


durch einen dunklen Reifen getrennt, aber sehr viel lichtschwächer ist, 
als die übrigen Ringe. Das Roth ist in allen Farbenbändern, also auch 
im Saum der Aureole, für mich mehr rothbraun; die Uebergänge von einer 
Farbe in die andere sind allmähliche, wenig markirte; die Aureole sowohl 
wie die Farbenringe gleichförmig und ruhig. Allerdings muss hierbei völlig 
abgesehen werden von dem Haarstrahlenkranz, der besonders bei kleinen 
starkleuchtenden Lichtquellen radienförmig die Erscheinung durchsetzt und 
für manche Augen, besonders die gereizten, entzündeten sehr störend hervor- 
tritt. Der mittlere Farbenkreis verschmilzt mit dem inneren Roth und 
verschwindet, sobald das Auge der Flamme näher kommt. Dies konnte 
auch von einem Collegen beobachtet werden. 

Eine Reihe von Personen mit gesunden, d. h. nicht entzündeten Augen, 
Aerzte und Laien, bei denen ich nach den Meyer’schen Ringen forschte, 
erblickten, darauf aufmerksam gemacht, die Aureole, oft auch den inneren 
rothen Ring sofort und nach einigen Bemühungen auch den äusseren blau- 
grünen und rothen; manche sahen das Gelb sehr deutlich; der mittlere 
Ring wird dagegen meist nicht wahrgenommen. In gleicher Entfernung 
erscheinen verschiedenen Beobachtern die Kreise verschieden gross zu sein, 
stets aber werden die Ringe mit wachsender Entfernung grösser und licht- 
schwächer und ziehen sich bei Annäherung scheinbar zusammen. Dass 
die Erscheinung auf der einen Seite deutlicher wäre, als auf der anderen, 
habe ich nicht bemerkt. Ebensowenig gelang es mir, bei Benutzung eines 
farbigen Glases das von Meyer Beschriebene wahrzunehmen, sondern für 
mich verschwand bei derartigem Versuch die ganze Erscheinung, allenfalls 
blieb noch eine sehr schwache Aureole erkennbar. Dagegen erscheinen die 
Ringe auch mir (und Anderen) binocular gesehen deutlicher als bei Be- 
nutzung nur eines Auges und ändern sich nicht, wenn das Auge nicht 
auf die Flamme, sondern auf die Ringe selbst gerichtet wird. Ob die 
Ringe sich bei grösserer Lichtquelle (grösserer Diaphragma-Oeffnung) wirk- 
lich um den scheinbaren Durchmesser derselben vergrösserten oder nicht, 
konnte ich selbst durch messende Beobachtung nicht entscheiden, denn in 
bestimmter Entfernung sind grosse Differenzen in der Grösse der Licht- 
quelle nicht gut anwendbar, und kleine nicht entscheidend, Differenzen 
der Ergebnisse auch nicht ohne Weiteres auf den Flammendurchmesser zu 
beziehen. 

Messungen habe ich ziemlich zahlreich in der Weise angestellt, dass 
unmittelbar vor dem Kerzen- oder Auerlicht auf einem Laufbrett mit 
Millimetertheilung zwei senkrechte Eisenstangen durch Schnurlauf so ver- 
schoben wurden, dass sie den zu messenden rothen Ring möglichst genau 
an seiner hellsten Stelle tangirten. Aus dem so gemessenen Durchmesser 
und der gewählten Entfernung ergiebt sich der Gesichtswinkel für den 


ÜBER LICHTBEUGUNG AN HORNHAUT UND Linse. 215 


Durchmesser resp. Radius. Eine Einstellung auf das Ende des Roth er- 
schien mir ganz unsicher. Auch so differirten zwar hinter einander aus- 
geführte Messungen nur um wenige Minuten, aber an verschiedenen Tagen 
waren bei gleicher Anordnung doch die Ergebnisse von einander im Mittel 
bis zu !/, Grad abweichend. Es spielt dabei zweifellos nicht nur der 
Durchmesser der Lichtquelle, sondern auch ihre Helliskeit und damit 
zusammenhängend die Weite der Pupille eine grosse Rolle. Ich fand im 
Mittel 


Abstand der Einen inneren Einen mittleren | Einen äusseren 
Lichtquelle -rothen Ring  rothen Ring | rothen Ring Bemerkungen 
vom Auge | vom Radius vom Radius | vom Radius 
0.45% 20 29 | = 4° 51' \ Kerzenlicht 
0-67 2 18-5 — ao " 
0 DET — 4 42 | 83 
9.75 1 32-5 20 30. 4 10 K ohne Blende 
3.0 1422 da I PAR 2 | —3-5Dioptr. vor dem Auge 
3-0 1 21-3 2 25-5 | 4 17-3 |\Auerlicht. Blende v.1"Rad. 
4*5 11.0) | 20 MAG h - 3-5 Dioptr. vor dem Auge 


Trotz der-hervortretenden Ungleichheiten, deren Vermeidung bei fortge- 
setzten Studien wohl zu erreichen gewesen wäre, aber nach dem Gesagten 
eine Verwerthung kaum gestattet, lassen die obigen Angaben gesetzmässig 
hervortreten, dass einerseits, wie schon der grobe Augenschein lehrte, das 
Verhältniss der Durchmesser des inneren und äusseren Ringsystemes mit 
wachsender Lichtdistanz sich änderte, und dass andererseits entgegen dem 
Augenschein bei Annäherung des Auges an die Flamme, was den inneren 
rothen Ring, d. h. die Aureole und ihren Saum anbetrifft, das Netzhautbild 
nicht kleiner, sondern grösser wurde. Für das äussere Farbenband kann 
man wohl eine ziemliche Constanz des Netzhautbildes annehmen. 


Wurde vor das beobachtende Auge ein Diaphragma mit variabler 
Oefinung gehalten, so war eine Aenderung des Phänomens, abgesehen von 
der Intensität, nicht mit Sicherheit zu beobachten; vielleicht wurden die 
Ringe etwas enger. Bei einer engen Oeffnung wurde die Erscheinung durch 
Lichtschwäche unerkennbar. Ein sehr schmaler Papierstreif blieb ohne 
Wirkung, ein Schirm von der Seite her vor die Pupille geschoben, änderte 
in erster Reihe ebenfalls die Intensität, was leicht den Eindruck hervorruft, 
als ob die äusseren Ringe verschwänden, und nur die Aureole mit oder 
ohne Saum zurückbliebee Dann aber konnte ich, nicht jedes Mal, aber 
wiederholt die eigenthümliche Beobachtung machen, dass an den ’äusseren 
Farbenkreisen, sobald der seitlich vorüber geführte Blendschirm die Mitte 


216 H. SALOMONSOHN: 


der Pupille überschritten hatte, ein Stück durch einen Schatten verdeckt 
wurde, und zwar in der Art, dass der Rand des Schirmes den Defeet 
halbirte Stand also der Schirm senkrecht vor dem Auge, so fehlt oben 
und unten ein Sector oder Segment, während rechts und links die Farben 
noch erkennbar waren. Dies war aber nur zu beobachten, wenn ein wenig 
mehr als die Pupillenhälfte bedeckt war, denn eine weitere Verdeckung der- 
selben vernichtete durch zunehmende Lichtschwäche die ganze Erscheinung. 
Auch müsste ein günstiger Tag für die Beobachtung sein, so dass das 
Regenbogenfarbensehen schon an sich recht ausgesprochen war, und es 
bedurfte auch dann noch gespannter Aufmerksamkeit. An der Aureole und 
ihrem Saum war das Auftreten eines solchen Schattens nicht zu bemerken. 
Dieser sectorenförmige Schatten erregte mein lebhaftes Interesse, weil er 
in physikalischer Hinsicht sehr charakteristisch ist. 

Um die Wirkung der Ueberosmiumsäure zu studiren, wurde ein Auge 
fest mit Watte verschlossen, das andere, mit geöffneten Lidern, möglichst 
dicht so lange über eine ein- und zweiprocentige Lösung der Säure gehalten, 
welche bis zur Dampfentwickelung erhitzt war, bis ein Brennen im Con- 
junctivalsack die geschehene Aetzung anzeigte.! Dann wurde das Farben- 
phänomen der beiden Augen verglichen. Der momentane Effect war gleich 
Null. Dagegen war fünf bis sechs Stunden nachher das „Begenbogensehen“ 
auf dem geätzten Auge sehr viel ausgesprochener, allerdings nur in Hinsicht 
auf die Intensität der Aureole; der äussere, blaugrüne und rothe Farben- 
ring erschien unverändert; die Aureole mit ihrem Saum dagesen nun sehr 
glänzend, nicht mehr so gleichmässig, sondern, genau wie bei der Diffrac- 
tion einer Lycopodiumplatte, „granulirt“, mit feinen zahllosen Liehtpünktchen 
durchsetzt und um !/, bis !/, grösser, als bei den Meyer’schen Ringen. — 

Man wird wohl K. Exner durchaus darin beistinmen können, dass 
die Ursache des Phänomens ihren Sitz an der Oberfläche der Hornhaut 
haben müsse. Dafür spricht mit Entschiedenheit, dass die durch Osmium- 
säuredampf erzeugten Wöhler’schen Ringe mit den Meyer’schen, wenn 
auch nicht völlig identisch sind, so doch die grösste Aehnlichkeit haben. 
Die gegentheilige Ansicht von Beer kann uns nicht beirren, denn es ist 
fraglich, ob dieser eine Beugungserscheinung beobachtet hat und nicht nur 
eine unregelmässige Lichtbrechung durch die Linse. Seine monoculäre 
Diplopie spricht dafür und lässt vermuthen, dass er in seiner Linse anders- 
brechende Speichen gehabt und an beginnender Cataract gelitten hat. Dafür 


! Bei Wiederholung des Experimentes ist grösste Vorsieht geboten. Manche 
Augen sind wie das meine gegen Osmiumsäure wenig empfindlich, andere reagiren 
schon, wenn sich nur eine Spur von Geruch nach Osmium zeigt, mit einer heftigen 
schmerzhaften Conjunctivitis. Für derartige Augen würde ein Versuch, wie der obige, 
deletäre Folgen haben können. 


ÜBER LICHTBEUGUNG AN HORNHAUT UND LINSE. DIT 


spricht auch, dass er das Phänomen nur einseitig hatte, auch Farbenringe 
persönlich nieht wahrgenommen zu haben scheint. Aehnlich wie Osmium- 
säuredampf scheinen andere Stoffe zu wirken. So berichtet Laqueur von 
einer Beobachtung des Phänomens nach Aufenthalt in einem mit Kupfer- 
dampf durchsetzten Raume. 

Dass wir es nicht mit einer Brechung des Lichtes, etwa an kleinen 
Tröpfehen auf der Cornea, zu thun haben, dürfte aus den schon von 
Meyer erörterten Gründen kaum noch einem Zweifel unterliegen. Dagegen 
erscheint es an sich nicht undenkbar, dass eine Theorie, wie sie Meyer 
irrthümlich Brewster zuschrieb, einen berechtigten Kern habe, dass also 
Lichtstrahlen durch wiederholte Reflexionen im. Augeninneren zur Inter- 
ferenz kämen und so Farbenringe bildeten. Es wären dies Hooke-New- 
ton’sche Ringe, für deren Zustandekommen die convexen und concaven 
Flächen von Hornhaut, Linse und Linsenkapsel verschiedene Combinationen 
möglich machen, wie die zahlreichen Purkinje-Tscherning’schen Bild- 
chen beweisen. Thatsächlich scheinen sogar derartige Interferenzfarben im 
Auge zu Stande zu kommen.! Diese Theorie würde eine spectrale Anord- 
nung der Farben, eine Vervielfältigung der Farbenbänder und ein stärkeres 
Hervortreten des brechbareren Theiles des Spectrums in den Ringen um 
elektrisches Licht zwangslos erklären können und damit, ohne doch die 
Diffraction des Lichtes in Anspruch zu nehmen, den drei Gründen genügen, 
aus denen es für Hirschberg? zweifellos ist, dass das Regenbogensehen 
auf Diffraction beruhe. Trotzdem aber hatte Meyer Recht, als er diese 
Anschauung zurückwies, denn wir müssten, lägen die Verhältnisse wirklich 
so, Curven doppelter Krümmung statt der Farbenkreise erhalten, sobald 
Fovea, Hornhautmitte und "Lichtquelle nicht centrirt sind, während das 
Phänomen doch in Wirklichkeit unverändert bleibt, wenn man auch den 
Blick auf oder neben die Farbenringe richtet. 


Wenn wir somit ebenfalls dahin kommen, das Phänomen der Meyer- 
Wöhler’schen Ringe als Lichtbeugung anzusprechen, werden wir als 
Substrat derselben nicht Runzeln oder kreisförmige Fasern, wie Descartes 
wollte, sondern zellige Gebilde der Hornhautoberfläche anzunehmen haben. 
Dass aber nun die Epithelkittleisten, wie K. Exner meinte, die Diffraction 
bewirke, möchte ich nicht für wahrscheinlich halten. Das Experiment mit 
ÖOsmiumsäure scheint mir eher dagegen, als dafür zu sprechen, denn, wenn 
in der That hierbei die Verfärbung der Zellzwischensubstanz das Wirksame 


! Vgl. R. Geigel, Ueber Reflexion des Lichtes im Inneren des Auges und einen 
neuen Versuch zur Erklärung der Haidinger’schen Polarisationsbüschel. Wiede- 
mann’s Annalen. 1888. Bd. XXXIV. S. 347. 

2 Hirschberg, Deutsche medieinische Wochenschrift. 1886. Nr. 3. 


218 H. SALOMONSOHN: 


wäre, so müsste der Effect der Aetzung sich doch wohl sofort bemerkbar 
machen. Wenn dies aber nicht der Fall, wie ich regelmässig beobachten 
konnte, sondern erst Stunden später, so wird man wohl lieber an Epithel- 
zellen oder deren Kern denken, die sich absterbend getrübt oder sonst 
eine Veränderung erlitten haben. Bestimmtes lässt sich darüber nicht 
aussagen, denn es liegen über die Einwirkung des Osmiumsäuredampfes 
auf das lebende Hornhautgewebe Untersuchungen noch nicht vor. Doch 
bin ich im Begriff, diesbezügliche Versuche anzustellen. Das Verhalten 
der Farbenringe bei wechselnder Distanz der Lichtquelle zeigt aber auch, 
dass die Epithelzellen allein nicht zur Erklärung genügen. Wenn sich die 
verschiedenen rothen Ringe, aliis verbis Seitenspectra bei kurzem Abstand 
etwa wie 1:2, in Weiterem wie 1:3 und 1:4 verhalten, wenn dazwischen 
ein mittleres Spectrum auftritt, das lichtschwächer ist, als das äussere, und 
in kleiner Lichtdistanz von dem inneren verdeckt wird, so ist das unver- 
einbar mit der Annahme, dass die diversen Farbenringe den Seitenspectren 
eines irgendwie gestalteten Gitters entsprechen, sondern es ist augenschein- 
lich, dass. wir es mit einer Uebereinanderlagerung der Beugungsspectra 
zu thun haben, die durch verschieden grosse lichtbeugende Ge- 
bilde erzeugt sind, und dass jeder Farbenkreis als einem ersten 
Spectrum angehörig aufzufassen ist. Lichtbeugend werden nicht 
nur die Hornhautepithelien wirken können, sondern auch deren Kerne, 
auch die auf der Hornhaut schwimmenden Schleimkörperchen und zelligen 
Gebilde der Conjunctiva. 

Kaum nöthig dürfte sein, noch besonders auszusprechen, dass die hei 
Conjunetivitis aufretenden Farbenringe nur intensive Meyer’sche Ringe sind, 
und dass alle bisherigen Ausführungen demnach auch für sie gelten. ' 

Die in Rede stehenden Beugungserscheinungen bis in’s Detail genetisch 
zu erklären, dürfte vorläufig nicht möglich sein, aber auf einen Umstand 
möchte ich noch einmal zurückkommen, nämlich auf jenen segmentartigen 
Schatten, der von dem Rande eines an der Pupille vorübergeschobenen 
Schirmes halbirt zu werden scheint. Das Auftreten eines solchen Defectes 
am kreisförmigen Spectrum erinnert nämlich an die Wirkung eines Ring- 
spaltes. Haben wir uns in ein Blatt Staniol, das auf Glas geklebt sein 
"möge, mit einer Zirkelspitze eine kreisförmige Linie geritzt und beobachten 
die Diffraction dieses Gebildes, so erhalten wir kreisföürmige Spectra, die 
sich aber nicht wie die einer kreisförmigen Oeffnung verhalten, sondern 
wie die eines Spalte. Es kommt gar nicht auf den Durchmesser des ge- 
zogenen Kreises an, sondern nur auf die Breite der Linie. Hat man ein 
ganzes System solcher concentrisch angeordneter heller Kreise auf dunklem 
Grunde oder dunkler Linien auf hellem Grunde, so hat man ein ring- 
förmiges Spaltgitter, das regelmässig oder unregelmässig sein kann, übrigens 


ÜBER LicHtTBEUGUNG AN HORNHAUT UND Linse. 219 


nach dem Vorgange von Dove! so imitirt zu werden vermag, dass man 
ein gewöhnliches parallelspaltiges Gitter schnell rotiren lässt. Verdeckt 
man nun eine solche Ringspalte (Fraunhofer)? oder ein concentrisches 
System derselben zur Hälfte, so wird an der Beugungserscheinung Nichts 
geändert, abgesehen von einer Verminderung der Intensität. Leicht ver- 
ständlich, denn man kann ja alle an den Enden eines Kreisdurchmessers 
gelegenen Theile der Ringspalte als parallele Spalten betrachten, und es 
bleibt ja noch die eine Hälfte aller Kreislinien frei. Verdeckt man nun 
aber mehr als die Hälfte, so erscheinen jederseits vom Schirmrande nur 
Kreisbögen, die eine Ausdehnung jederseits von genau so viel Winkelgraden 
haben, als von der Ringspalte auf der einen Seite noch frei geblieben sind, 
und es fehlen doppelt so viel Grade am Kreise als verdeckt wurden, und 
der Defect wird durch den Schirmrand halbirt. 


Ist man nun geneigt, den äusseren rothen Ring bei dem ocularen 
Phänomen als Effeet eines Ringspaltengitters anzusehen, so entsteht natürlich 
die Frage, wo .die Hornhaut denn ein Substrat dafür aufweise? Diesbezüg- 
lich wäre nun an die Erörterungen zu erinnern, die wir "einerseits (S. 198) 
über die Diffractionswirkung einer um eine Axe gedrehten, behauchten 
Glasplatte, andererseits über den Einfluss der Hornhautkrümmung (S. 205) 
angestellt hatten. Wenn durch eine Neigung des „Siebgitters‘“ mit runden 
(oder polygonalen) Gebilden aus der idealen Projection elliptische oder 
elliptiforme Beugungserscheinungen hervorgehen, so ist klar, dass poly- 
sonale Gebilde auf der Hornhaut, wie Epithelien, oder runde Scheib- 
chen wie Leukocyten durch die Projection zu Ellipsen werden 
müssen, deren kurze Axe immer im Meridian des Auges, deren 
lange Axe (bei directer Fixirung der Lichtquelle) parallel zum Aequator 
desselben liegen muss, und dass diese zahlreichen elliptiformen Pro- 
jectionen sich einigermassen zu concentrischen Kreisen gestalten, deren 
Mittelpunkt jeweilig in der Blicklinie liest. Wäre die Cornea genau eine 
Kugelcalotte, so würden freilich die kurzen Axen der Ellipsen, sowie ihre 
Abstände von einander proportional dem Cosinus abnehmen, und da dann 
kein Ring die gleiche Breite hätte wie sein Nachbar oder ein anderer, so 
könnte, streng genommen, keine Beugungserscheinung zu Stande kommen, 
aber der Hornhautradius ist nicht constant, die Krümmung ist ja mehr 
ellipteid, und so ist wohl denkbar, dass eine Zone oder mehrere vorhanden 


1 Dove, Beschreibung eines Stephanoskops. Poggendorff’s Annalen. 1847. 
BASILXXT. Ss. 10). 

? Fraunhofer, Neue Modification des Lichtes durch gegenseitige Einwirkung 
und Beugung der Strahlen. Sitzungsberichte der Münchener Akademie. 1821—22. 
Bd. VI. 


220 H. SALOMONSOHN: 


sind, in denen die Projectionen der lichtbeugenden Gebilde den erforder- 
lichen Grad von Gleichheit der concentrischen Ringe besitzen.! 

Diese Einzelheit würde ich nicht weiter erörtert haben, wenn es nicht 
merkwürdig wäre, dass wir uns mit dieser Erklärung eines Theiles der 
Erscheinung der Anschauung des Descartes näherten. Zwar haben wir 
keine eirculären Runzeln, aber doch Ringe als Ursache des Phänomens, 
die zwar anatomisch nicht vorhanden, aber doch in Folge der eigenartigen 
ocularen Verhältnisse als das physikalisch wirksame Moment zu betrachten 
sind. Dann aber wird es mit Hülfe unserer Annahme vielleicht möglich, 
eine eigenthümliche Beobachtung zu verstehen, die bisher eine Erklärung 
oder auch nur einen Versuch dazu nicht gefunden hat und auch, soweit 
ich sehe, in anderer Weise kaum zu begreifen ist. J. Tyndall? berichtet 
nämlich 1856 von einem Künstler, der darüber klagte, dass er um leuch- 
tende Punkte mit seinem rechten Auge eine Reihe von Farbenringen 
erblicke, die mit der Zeit immer breiter geworden seien. Der Patient 
hatte viele Aerzte consultirt, glaubte an einer Netzhauterkrankung zu leiden 


und fürchtete, blind zu werden. Die Farbenringe waren. genau derselben 


Art wie die durch eine Lycopodiumplatte erzeugten, was durch Vergleich 
beider festgestellt wurde, nur waren sie breiter und nicht geschlossen 
(not perfect eircles). Blickte der Kranke von einem Tisch herab auf ein 
Licht, so waren die Ringe sehr deutlich, verschwanden aber vollkommen, 
so bald er umgekehrt nach einem höher stehenden Lichte schaute Tyn- 
dall tröstet damit, dass die Vergrösserung der Farbeuringe nicht auf einen 
Fortschritt, sondern auf beginnende Heilung des Leidens schliessen lasse, 
und füst hinzu: „I will leave il to physiologiste to say what possible par- 
ticles withim the humours of the eye could act the part of the spores of 
Lyeopod withous the eye, but I entertain very little doubt, that is it 
from the presence of such partieles, a thin film or some equivalent optical 
cause, and not from any affection of the retina, that the effects observed 
Mr. S. arise.“ Wir können uns nun wohl vorstellen, dass Mr. S. eine 


‘ Wäre die Hornhaut kugelförmig und wären, der Exner’schen Anschauung 
gemäss, die feinen Kittleisten der Epithelien die Ursache der Diffraction, so könnte 
man die Projeetionen dieser feinen Linien als constant betrachten, während ihr Abstand 
von: einander durch die Projection (der wesentlicheren Grösse der Epithelien wegen) 
allmählich im Verhältniss des Cosinus sich verringern würde. Die Verhältnisse an 
der Hornhaut lieferten uns dann, wie mir ein befreundeter Physiker bemerkte, eine 
Art Soret’sches Gitter. Ueber die merkwürdigen Eigenschaften derselben — sie ver- 
einigen Eigenschaften eines Plan-, Convex- und Concavglases,in sich — vergleiche 
man: Soret, Ueber die durch Kreisgitter erzeugten Diffractionsphänomene. Poggen- 
dorff’s Annalen. 1875. Bd. CLVI. S. 99. 

® J. Tyndall, On a peculiar case of Colour Blindness. The London, Edinbourgk 
and Dublin philosoph. Magazine. (4.) Vol. XI. p. 332. 


ÜBER LICHTBEUGUNG AN HORNHAUT UND Linse. Bo 


Zahl opaker Zellen in dem oberen Theile seiner Hornhaut hatte, deren 
Projection auf eine zum Gang der Lichtstrahlen senkrechte Ebene eine 
Reihe concentrischer, bogenförmiger Linien ergab, deren Diffractionswirkung, 
da sie noch nicht Halbkreise bildeten, nicht geschlossene, nämlich rechts 
und links defeete, Farbenkreise erzeugen musste, welche natürlich ver- 
schwanden, so bald, beim Blick nach oben, der obere Theil der Hornhaut 
durch das Lid ausgeschaltet wurde. 


5. 


In der ophthalmologischen Litteratur wird das Auftreten von Farben- 
kreisen als Symptom der Conjunctivitis in älterer Zeit einfach registrirt, 
regt aber zu eingehenderen Erklärungsversuchen selbst dann noch nicht 
an, als man schon darauf aufmerksam geworden war, dass das gleiche 
Phänomen sich auch im Beginn jenes Symptomcomplexes zeigte, welchen 
wir heute unter dem Namen Glaucom verstehen.’ Im Jahre 1851 schreibt 
Arlt? in Bezug auf den Bindehautcatarrh „Der farbige Dunstkreis, welche 
derlei Kranke um die Kerzenflamme sehen, scheint so wie das zeitweilige 
Trübsehen durch dünne Schleimschichten auf der Hornhaut bedinst zu 
sein, wenn nicht durch Störung in dem Epithelialleben der Hornhautober- 
Däche.“ Diese Erklärung, vertieft durch den Hinweis auf die Aehnlichkeit 
mit einer Lycopodiumplatte oder die kurze Bemerkung, dass es sich um 
Difiraction handle, giebt bezüglich der Conjunctivitis auch den Standpunkt 
späterer Autoren, den wir ja auch unter den oben dargelesten Erweiterungen 
und Einschränkungen theilen können. 

In Bezug auf das Regenbogenfarbensehen bei Glaucom scheint als 
Erster sich Albr. von Graefe® eingehender ausgesprochen zu haben. Er 
sagt nämlich 1857 hierüber „Die farbigen Erscheinungen haben einen 
ähnlichen Charakter, als wenn man sie durch Druck auf das Auge hervor- 
ruft; sie hängen nicht von Diffraetion oder accommodativen Verhältnissen 
ab, sondern sind bereits auf eine pathologische Innervation der Netzhaut 
zu beziehen. Dasselbe gilt von den Obscurationen.“ 


! In Graefe-Sämisch, Handbuch der Augenheilkunde. Bd. V. 8. 76 wird 
diesbezüglich verwiesen auf Weller, Krankheiten des menschlichen Auges. 1826. 
Doch findet sich das Symptom bei Glaucom schon erwähnt in Weller’s Zcones oph- 
thalmologicae s. selecta circa morbos humani oculi. Dresden 1824, und auch schon 
1822 bei Demours, Denkschrift über das Glaucom. Graefe-Walther’s Journal 
der Chirurgie und Augenheilkunde. Bd. IV. S. 242. 

° Arlt, Krankheiten des Auges. 1851. Bd.1. 8.11. s 

® A.v. Graefe, Ueber die Iridectomie bei Glaucom und über den glaucomatösen 
Process. Archiv für Ophthalmologie. Bd. III. 8. 473. 


222 H. SALOMONSOHN: 


Dieser Theorie, welche also das Zustandekommen der farbigen Ringe 
analog den Druckphosphenen aus einer Reizung der Nervenfasern in der 
Retina erklären möchte, reiht sich eine zweite an, die hierfür Diffraction 
in der Linse in Anspruch nimmt und Donders! zu ihrem Vertreter hat. 
Dieser betont, dass die Farben in ihrer Folge denen gleichen, in welche 
das Licht durch Brechung oder Interferenz getheilt werden kann. „Dies 
scheint uns schon aufzufordern, einen physikalischen Grund dafür in den 
brechenden Medien zu suchen, anstatt eines physiologischen in der Netz- 
haut.“ Hierfür spräche auch, dass das Phänomen nicht in allen Fällen 
von Glaucom zur Beobachtung komme und ebensowenig dem Glaucom 
ausschliesslich zukomme, denn es sei auch vorhanden „im Beginne 
einiger Cataractformen, besonders bei der der Glashläser‘“ — was 
Donders fünf Mal beobachtet hat — „und fehlt auch nicht in vielen 
normalen Augen, insonderheit, wenn die Pupille etwas er- 
weitert wird. Donders selbst sah den Farbenkranz, so oft er wollte, 
„auch ohne künstliche Erweiterung der Pupille;“ er brauchte „dazu nur 
für seinen Fernpunkt zu accommodiren, wobei die Pupille einen grossen 
Durchmesser bekommt“. Die Einzelheiten der Beobachtung mögen wegen 
ihrer Wichtigkeit an sich und für unsere Erörterungen wörtlich wieder- 
gegeben werden: „Um Verengerung der Pupille zu verhüten, darf das 
Licht nicht zu stark sein und nur mit einem Auge angesehen werden. 
Wird das zweite Auge geöffnet, so verschwindet der Ring ungefähr eine 
Viertelstunde später plötzlich, ohne erst sich zusammen zu ziehen und 
zwar genau in dem Augenblick, wo der Durchmesser der Pupille bis zu 
einer gewissen Grenze verkleinert ist. Bei künstlicher Erweiterung der 
Pupille bleibt der Ring vor beiden Augen, auch bei einem helleren Licht, 
gleich deutlich. Sieht man nur durch eine Oefinung von 4”", dann ver- 
schwindet er. Die Accommodation hat an und für sich keinen Einfluss auf 
den Ring, ebenso wenig wie positive und negative Gläser, vorausgesetzt, 
dass die Zerstreuungskreise nicht zu grosse werden. Der Hintergrund muss 
schwarz sein, der Kranz tritt darauf schärfer hervor und die Pupille wird 
dabei auch weiter.“ Der Ring zeigt „keine merkbare Parallaxe bei Be- 
wegungen des Auges; sei es, dass man die Flamme selbst fixirt, oder einen 
Punkt an der Peripherie oder auch einen Punkt ausserhalb des Ringes, 
der Ring bleibt immer unveränderlich an denselben Platz gebunden. 
Richtet man das Auge weit ab, so verschwindet er. Aussen ist er roth, 
innen grünblau. Der Uebergang findet durch die gewöhnlichen prisma- 


! Die Donders’schen Ansichten und Beobachtungen sind publieirt in „Beiträge 
zur Kenntniss des Glaucoms“ von J. H. A. Haffmanns. Archiv für Ophthalmologie. 
1861. Bd. VIII. S. 165—-168. Ferner (mir nicht zugänglich) Donders, Kleurenzien 
ned. Zancet. 1851. Vol. II. 6. p. 609. 


ÜBER LiCHTBEUGUNG AN HORNHAUT UND Linse. 223 


tischen Farben statt, mit dem Unterschied, dass der Abstand zwischen 
roth und 'gelb grösser, der zwischen gelb und blaugrün kleiner scheint, als 
in einem dioptrischen Spectrum. Der Radius des gefärbten Ringes wird 
desto grösser, je weiter man von der Flamme entfernt ist. Seine Länge 
bis zum äussersten Roth entspricht einem Gesichtswinkel von etwa 31/,°, bis 
an’s innerste Blau einem Winkel von 21/,°. Der Ring ist nicht gleich- 
mässig, es sind zahlreiche hellere Strahlen darin, welchen gegenüber sich 
sowohl das Rothe weiter nach aussen, als auch das Blaue weiter nach 
innen erstreckt. An der Aussenseite des Roth ist der Hintergrund schwarz 
und sind weiter keine Ringe mehr zu bemerken; an der Innenseite des 
Blau ist er ziemlich dunkel, nimmt aber nach innen an Helligkeit zu, 
ohne deutliche Farben zu zeigen und ist unmittelbar um die Flamme 
(durch die gewöhnliche Irradiation) ziemlich hell. Eigenthümlich sind 
ferner die Erscheinungen, die sich beim Vorschieben einer undurchsichtigen 
Platte vor einen Theil der Pupille zeigen. Bedeckt die Platte die unterste 
Hälfte der Pupille, so verschwindet der Ring in dem äusseren oberen und 
in dem inneren unteren Quadranten, bedeckt sie die obere Hälfte, dann 
scheinen die beiden anderen Quadranten verschwunden. Ist die äussere 
Hälfte bedeckt, so fehlt oben und unten ein Segment, beim Bedecken der 
inneren dagegen aussen und innen. - 

„Aus allem diesem folgt, dass der Farbenring durch die Medien ver- 
ursacht wird, und zwar durch einen ausserhalb der Axe gelegenen Theil 
derselben. Offenbar ist hierbei Interferenz im Spiele. Dass der Ring so 
viel mehr bei Glaucom bemerkt wird, ist einestheils der Erweiterung der 
Pupille zuzuschreiben, anderentheils vielleicht einer Veränderung der Linse 
wobei mehr Diffraction entsteht.“ 

Eine dritte Theorie lässt auch bei Glaucom das Phänomen des farbigen 
Lichtkranzes entstehen durch Diffraction an feinkörnigen Trübungen der 
Hornhaut oder — was ja für die physikalische Betrachtung wenig Unter- 
schied macht — der Augenflüssigkeit und betrachtet somit die Erscheinung 
bei Glaucom als identisch mit der von uns ausführlich erörterten, bei 
Conjunetivitis oder am normalen Auge zu beobachtenden. Auch diese An- 
schauung ist auf Albr. von Graefe zurückzuführen, wenigstens machte 
er A. Sichel! darauf aufmerksam, dass man durch eine mit Eisblumen 
bedeckte Glasscheibe blickend, genau dieselben Farbenringe erhalte wie bei 
Glaucom. Graefe’s Beobachtung ist übrigens genau dieselbe, wie die 
1756 von Musschenbroek, und man sieht, wie wenig Kenntniss die 


' A. Sichel, La sereuse intra-oculaire et la nature du glaucome. Annales 
d’oculistique. 1871. T.LXVI. p. 19—36. Mir im Original nicht zugänglich. Refer. 
Nagel’s Jahresbericht. Bd. II. S. 276. 


224 H. SALOMONSOHN: 


Ophthalmologen von den zahlreichen Arbeiten der Physiker genommen 
haben, wenn noch 1880 Laqueur schreibt, er könne „die von Graefe 
gefundene (!) Thatsache, dass man Farbenkreise um Lichtflammen wahr- 
nimmt, wenn man durch eine beschlagene Glasplatte hindurchsieht, be- 
stätigen.“ 

Nur der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass in neuester 
Zeit Richey! (Washington) versucht hat, das hegenbogensehen bei 
Glaucoma aus dem Reiz zu erklären, den Uratablagerungen in der Retina 
bewirken, oder aus Reflexion des Lichtes an Krystallen (?) in den Augen- 
flüssigkeiten. Wie schon Hirschberg? anmerkt, ist eine derartige Mei- 
nung durch die prompte, das Farbensehen beseitigende, Wirkung eines 
Tropfens Eserin genügend widerlegt. 

Die Ansicht, dass durch Reiz der retinalen Sehnervenfasern das 
Regenbogensehen bei Glaucom hervorgerufen werde, hat noch in Dobro- 
wolski? einen Anhänger gefunden. Er hat das Auftreten solcher Licht- 
kränze bei progressiver Myopie beobachtet, auch an sich selbst nach 
längerem Verweilen in Badezimmern und konnte sie durch Druck auf das 
Auge willkürlich erzeugen. Diese letzteren Angaben wenigstens lassen 
vermuthen, dass es sich um die Meyer’schen oder conjunctivitischen 
Ringe gehandelt haben dürfte. Nur für eine einzige Beobachtung kam 
auch Mauthner* zu der Ansicht, dass der von einem zwölfjährigen Knaben 
beobachtete Farbenkranz einer Lichtflamme als eine nervöse, wenn auch 
bei unserem heutigen Wissenschaftsstand kaum genauer erklärbare Erschei- 
nung aufzufassen sei, da optische Ursachen nicht zu erkennen waren, und 
hielt daher auch für Glaucoma simplex chron. solche nervösen Ursachen 
des Regenbogensehens nicht für unmöglich. Im Allgemeinen erklärt 
Mauthner die Farbenringe durch Diffraction in Analogie behauchter 
Platten. In der That kann uns auch die Theorie retinaler Nervenreizung 
wenig befriedigen. Der erhöhte Druck bei Glaucom mit seinen veränderten 
Circulationsverhältnissen kann ja wohl durch Reiz der Nervenfasern sub- 
jective Lichterscheinungen hervorrufen, wie solche ja auch vorkommen, 
aber es ist völlig unverständlich, wodurch die Farbenerscheinung eine 
spectrale Anordnung erlangen kann, weshalb sie nur auftritt, so lange die 


! Richey, The halo symptom in glaucoma. Annals of Ophthalm. and Otologie 
St. Louis. July 1894. Vol. III. — Transactions of the americain ophth. society. 1894. 
30the Meeting. (Mir nicht zugänglich.) Ref. Michel-Nagel, Jahresbericht. Bd. XXV. 
S. 406. — Centralblatt für Augenheilkunde. 1894. S. 548; 1895. S. 16. 

® Hirschberg, Centralblatt für Augenheilkunde. Bd. XVIII. 8.548 Anm. 

® Dobrowolski, Ueber die wahrscheinlichen Ursachen der farbigen Ringe bei 
Glaucom. Archiv für Augenheilkunde. Bd. XV. 8. 98. 

* Mauthner, Lehre vom Glaucom. 8.47 u. 67. 


ÜBER LiCHTBEUGUNG AN HORNHAUT UND LINSE. 225 


glaucomatöse Hernhauttrübung eine geringgradige ist, und inwiefern die 
erweiterte Pupille einen Einfluss ausüben kann, ganz abgesehen von den 
Differenzen der Form der Farbenringe einerseits und der farbigen Druck- 
phosphene andererseits, ganz abgesehen auch von dem Fehlen der Parallaxe 
und ähnlichen Einzelheiten des Phänomens. 


Während die Donders’sche Ansicht, dass dem Regenbogensehen 
Diffraction des Lichtes zu Grunde liegen müsse, durchaus Anerkennung 
gefunden hat, ist er mit seiner Auffassung, dass der Sitz der lichtbeugenden 
Gebilde in der Linse zu suchen sei, völlig isolirt geblieben. 


Allgemein wird in den Lehrbüchern und Abhandlungen, wie in denen 
von Schnabel,! Laqueur,? Arlt,? Snellen,* Hirschberg,? Cohn,® 
die Ansicht vertreten, dass die Farbenringe bei Glaucom verursacht werden 
analog denen der Lycopodiumplatte oder des angehauchten Glases durch 
feinkörnige Trübung der Hornhaut oder der Vorderkammer. So sagt 
Laqueur? in seiner eingehenden Arbeit: „Als unmittelbare Ursache des 
Nebel- und Farbensehens müssen wir ausschliesslich die Hornhauttrübung 
ansprechen. Nur ein gewisser leichter Grad der Hornhauttrübung, ver- 
muthlich beruhend auf einer gewissen Vertheilung der feinsten Tröpfchen, 
lässt es zur Erscheinung der Farbenkränze kommen; wird die Trübung 
dichter, wie es in dem späteren Stadien des Anfalls geschieht, so werden 
die Farben blasser.“ Laqueur maass bei Glaucomatösen am Perimeter 
(dessen kurzen Radius ich bei Messungen für ungünstig halte) eine Aus- 
dehnung des dunklen Hofes von 4 bis 5°, die der Farbenzone jederseits 
2 bis 2.5° und ausserhalb derselben noch einen farblosen Ring von 1-5 
bis 2°, im Ganzen für den Eichtkranz 10 bis 11°; er fand, dass die Er- 
scheinung durch ein stenopäisches Loch so wenig wie durch stark indirectes 
Sehen beeinträchtigt werde und schildert eine, aus unzähligen radienförmigen 
Linien zusammengesetzte Strahlenfigur, die das Ganze durchsetze und als 
entoptische Erscheinung der radiären Linsenstrahlung anzusprechen sei. 
Diese radiäre Strahlenfigur ist trotz eigens darauf gerichteter Aufmerksam- 


! Schnabel, Ueber Glaucom und Iridectomie. Archiv für Augen- und Ohren- 
heilkunde. 1876. Bd. V. 8.50. 

? Laqueur, Das Prodromalstadium des Glaucoms. Graefe’s Archiv für Oph- 
thalmologie. 1880. Bd. XXVI. 2. 

® Arlt, Zur Lehre vom Glaucom. Wien 1884. 

* Snellen, Glaucoma. Ein Beitrag zur Geschichte der neueren Augenheilkunde. 
Zehender’s Klinische Monatsblätter. 1891. Bd. XXIX. 

5 Hirschberg, Ueber Regenbogensehen bei Glaucom. Deutsche medieinische 
Wochenschrift. 1886. 

6 Cohn, Ueber die Behandlung des Glaucoms mit Eserin. Berliner klinische 
Wochenschrift. 1895. 

Archiv f. A. u. Ph. 1898. Physiol. Abthlg. 15 


226 H. SALOMONSORN: 


keit sowohl von Wagner,! wie von Hirschberg bei Glaucom durch- 
gehends vermisst worden. Wagner hält zwar Nebelsehen und das Auftreten 
der Lichtkränze bei Glaucom für mit einander auf das Engste verknüpft, 
beide Erscheinungen aber für „nicht immer durch ein und dieselbe Ursache 
bedingt;“ er glaubt für die Farbenerscheinung nicht die Hornhauttrübung, 
welcher die Obscurationen zur Last fallen, sondern die Trübung des Vorder- 
kammerwassers verantwortlich machen zu müssen, weil in vielen Fällen 
durch den Abfluss desselben das Phänomen sofort verschwinde Hirsch- 
berg dagegen, dessen physikalische Erörterungen wir bereits gewürdigt 
haben, reprodueirt die Beobachtungen von Donders, meint aber im 
Gegensatz zu ihm, dass — „wenigstens bei Glaucom“ — die lichtbeugen- 
den „trüben Partikelchen in der Hornhaut und nicht in der Linse sitzen“ 
und betrachtet eine leichte Trübung der Hornhaut als das Maassgebende 
der Erscheinung. Er hebt einzelne Differenzen zwischen dem Regenbogen- 
sehen bei Glaucom und dem bei Conjunctivitis hervor, ohne freilich den 
Ursachen derselben nachzugehen, und ist in der Lage eine Anzahl Skizzen 
des Phänomens von der Hand intelligenter Patienten zu publiciren. Von 
hohem Interesse ist seine Angabe, dass die Farbenerscheinung auch vor- 
kommt „bei ganz gesunden noch jugendlichen Individuen aus glaucoma- 
töser Familie“, und zwar nicht anfallsweise, sondern jedesmal, wenn eine 
unbedeckte Lichtflamme betrachtet wird. 


6. 

Meine Beobachtungen am eigenen Auge ergaben das Resultat, dass 
ausser jenen verwaschenen Farbenkreisen in spectraler Anordnung (den 
Meyer’schen Ringen), über deren physikalische Genese an der 
Hornhaut wir oben gesprochen haben, und die identisch sein dürften mit 
den Lichtkränzen bei Conjunctivitis, Farbenkreise mit gleicher Farben- 
folge bei erweiterter Pupille auftreten können, die weit mehr regen- 
bogenartig und den bei Glaucom beobachteten ausserordentlich ähnlich 
erscheinen, aber physikalisch durchaus anders entstehen als die Meyer’- 
schen Ringe und durch die Art des sie erzeugenden Gitters in Bestätigung 
der Donders’schen Meinung entschieden auf die Linse als Sitz der 
Diffraction deuten. 

Wenn ich meine Pupille durch ein Mydriaticum, so schon durch an- 
dauernde Cocainanwendung, so stark erweitere, dass sie bei schwacher 
Beleuchtung einen scheinbaren Durchmesser von etwa 7m erhält, so zeigen 


! Wagner, Einiges über Glaucom im Anschluss an einen Bericht über meine 
Erkrankung an Glaucom. Archiv für Ophthalmologie. 1883. Bd. XXIX. 2. 8. 280. 


ÜBER LicHTBEUGUNG AN HORNHAUT unD Linse. 227 


sich um jede offene Flamme, auch um elektrisches Bogenlicht mit Glas- 
glocke in grösserer Entfernung, sehr glänzende Farbenbänder. Die Er- 
scheinung ist so lebhaft, dass ich sie im Hintergrunde eines Zimmers auch 
bei Tage um die Flamme jedes Streichhölzchens bemerke. Die Farben- 
folge ist die prismatische, das Roth nach aussen. Jede Farbe ist nur 
einmal vertreten. Unmittelbar um die Lichtquelle ist ein dunkler 
Raum, an den sich nach aussen ein tiefblauer Kreis anschliesst, dem ein 
grüner, dann ein leuchtend gelber und endlich ein rother, nach aussen 
nicht sehr scharf begrenzter Ring folgt. Die Grenzen zwischen den ein- 
zelnen Farben sind recht ausgeprägt. Bei Entfernung der Lichtquelle von 
einigen Metern tritt hervor, dass der farbige Kreis zusammengesetzt ist 
aus einer grossen Zahl kleiner Sectoren, die sämmtlich gleiche Farbenfolge 
haben, aber von der Lichtquelle nicht absolut gleiche Distanz, so dass der 
Gesammtkreis deutlich geflammt erscheint. Die Verschiebung der einzelnen 
Sectoren zu einander tritt am deutlichsten am Gelb hervor, dessen helle 
Linie dadurch unregelmässig und gezackt verläuft. Maass ich den Durch- 
messer des rothen Ringes, so erhielt ich in allen Distanzen von der Flamme 
— wenigstens bis zu 10 Meter — ziemlich gleiche. Werthe, nämlich 6!/, 
bis 7° und für den dunklen Raum 4!/,°, so dass die Breite des Bandes 
etwa 1 bis 1!/,° betrug. Trotz der Helligkeit und Deutlichkeit des ganzen 
Phänomens ist die, in gleicher Weise wie bei den Meyer’schen Ringen 
ausgeführte Messung nicht ganz genau möglich wegen der verschiedenen 
Distanzen der einzelnen Sectoren von der Lichtquelle und der dadurch 
bedingten Unregelmässigkeit im Verlauf der einzustellenden Linien. 

Das Phänomen zeigt keine Parallaxe, verschwindet indessen ziemlich 
plötzlich, wenn irgend ein, um einige Winkelgrade ausserhalb des rothen 
Ringes gelegener Punkt fixirt wird. Die Flamme selbst kann ausserhalb 
der deutlichen Sehweite sein und in ziemlich grossem Zerstreuungskreis 
gesehen werden, ohne dass die Farbenerscheinung verändert wird. Sphä- 
rische Gläser haben keinen merklichen Einfluss. Je mehr man die Licht- 
quelle vom Auge entfernt, desto grösser scheint der Radius des Farbenkreises 
zu werden. 

Ein Polarisator konnte ohne Schaden vor das Auge gebracht und 
vor demselben rotirt werden, es trat weder ein Verschwinden der Farben, 
noch eine Verdunkelung auf. Ebenso konnte die Hornhaut durch das 
Czermak’sche Orthoscop ausgeschaltet werden und die Erscheinung war 
noch recht gut sichtbar, wenn ein corrigirendes Convexglas vor dem In- 
strument den zu grossen Zerstreuungskreis der Lichtquelle bereiste bezw. 
auf ein geringeres Maass reducirte. 

Eine Irisblende, möglichst dicht vor die Hornhaut gehalten, liess die 


ganze Erscheinung in dem Momente mit einem Schlage verschwinden, wo 
152 


228 H. SALOMONSOHN: 


die Apertur kleiner wurde, als sechs Millimeter. An die Stelle der scharf 
ausgeprägten Farbenringe traten dann die nunmehr wieder sichtbar werden- 
den Meyer’schen Ringe mit ihrer Aureole um die Flamme. Dieselbe ist 
manchmal, an trüben Tagen mit hohem absoluten Feuchtigkeitsgehalte 
der Luft oder bei gereizter Conjunctiva auch innerhalb des dunklen Raumes 
sichtbar trotz bestehender, ausreichend grosser Mydriasis, so dass zwischen 
dem Blau des Lichtkranzes und dem Bilde der Lichtquelle eine schwache 
Lichtmasse ausgebreitet erscheint. Diese Aureole, welche vom ersten 
(blauen) Farbenkreis immer noch durch einen dunklen Streifen getrennt 
ist, blieb aber unverändert bestehen, wenn durch ein zu enges Loch die 
glänzenden, die Meyer’schen Ringe gewöhnlich überstrahlenden und 
scheinbar auslöschenden Farbenkreise zum Verschwinden gebracht wurden, 
ein Beweis, dass es sich nur um eine Combination zweier differenter Phä- 
nomene handelte. (Umgekehrt wurden mir die in Rede stehenden Farben- 
ringe bei Beobachtung des Meyer’schen Phänomens störend, wenn hinter 
dem Blendschirm die Pupille sich in Folge der Beschattung spontan stark 
erweiterte; plötzlich erschienen an Stelle der matten Farben glänzende 
Sectoren, die bei Verengerung der Pupille ebenso schnell schwanden.) Es 
wird aber Jeder, der in der Lage ist, beide Erscheinungen studiren zu 
können, sehr bald zu unterscheiden wissen und das eine Phänomen (die 
Meyer’schen Ringe) stets rein erhalten, wenn er dauernd eine Blende mit 
geeigneter Oeffnung vor dem Auge verwendet. 

Geht aus dem Einfluss der Blendenapertur schon klar hervor, dass 
diese Farberringe durch einen „ausserhalb der Axe gelegenen Theil“ der 
Augenmedien verursacht sein müssen, so wird dies noch deutlicher durch 
Abblendung des Centrums. Hielt ich kleine Brodkügelchen von bekanntem 
Durchmesser, welche auf eine feine Nähnadel aufgespiesst waren, vor die 
erweiterte Pupille, so blieb der Lichtkranz, der den Schatten der Kugeln 
umgab, in unveränderter Pracht bestehen, selbst wenn dieser Durchmesser 
6'/,, ja Tmm betrug. Blickte ich durch ein kreisförmiges Loch von Y9mm 
Durchmesser, dessen Mitte durch eine Kugel von 7m ausgefüllt wurde, 
so blieb das Phänomen unverändert, obwohl nunmehr nur ein etwa ] wm 
schmaler, ringförmiger Theil der Augenmedien optisch wirksam sein konnte. 

Eigenthümliche und mir Anfangs unverständliche Veränderungen 
traten auf bei Verwendung geradlinig begrenzter Blendschirme: Wurde ein 
undurchsichtiges Blatt Papier seitlich vor die Pupille geschoben, so liefen 
auf dem Farbenbande Schatten theils gleichsinnig mit der Bewegung des 
Schirmes dem Rand um 90° voraus, theils ihm entgesenkommend in um- 
gekehrter Richtung und schwächten sichtlich den Glanz einzelner Segmente 
oder selbst Quadranten des Farbenkreises, ohne‘doch denselben auszulöschen. 
Erst wenn der Rand des Papieres die Mitte der Pupille überschritten 


ÜBER LICHTBEUGUNG AN HORNHAUT UND Linse. 229 


hatte, wurden vor und hinter ihm Abschnitte des Kreises völlig dunkel. 
Dies theilweise Verblassen, theilweise Verlöschen der Farbensectoren gab 
dem Phänomen eine gewisse Unruhe, die noch vermehrt wurde durch Be- 
wegungen des Auges oder der die Blende haltenden Hand, und liess es 
unmöglich erscheinen, ein Gesetz in der Beobachtung zu finden. Viel 
einfacher aber waren schon die Verhältnisse, als ein schmaler Papierstreifen, 
1 bis 2mm breit, vor die Pupille gehalten wurde: War der Streifen senk- 
recht vor der Mitte derselben, so fiel rechts und links der Farbensector 
auf dem horizontalen Diameter des Lichtkranzes aus; wurde der Streifen 
nun senkrecht nach rechts verschoben, so zerfiel jeder Defect in zwei 
Theile, die entgegengesetzte Bewegung hatten, indem je einer nach oben, 
je einer nach unten lief, während der Papierstreifen sich dem rechten 
Pupillenrande näherte; oder — dasselbe anders ausgedrückt — es ent- 
standen zwei Paare Schatten, von denen das eine im Sinne des Uhrzeigers, 
das andere in umgekehrtem Sinne rotirte, wobei die zusammengehörigen 
Schatten eine Distanz von 180° hatten. Wurde der Papierstreifen dagegen 
nach dem linken Pupillenrande zu verschoben, so kehrte sich die Bewe- 
sungsrichtung jedes Schattens um. Wurde der Papierstreifen in horizon- 
taler Haltung von unten her vor der Pupille vorüber nach oben geführt, 
so entwickelte sich genau dasselbe Bild vier, in entgegengesetztem Sinne 
kreisender, sectorförmiger Defecte auf dem Lichtkranz, nur dass, wenn der 
Papierstreifen sich horizontal vor der Mitte der Pupille befand, die in diesem 
Momente auf zwei verminderten Defecte auf der Senkrechten lagen. 

Des Räthsels Lösung aber war sofort gegeben, als ich nur durch ein 
kleines Loch von 1 bis 1.5"= Durchmesser nach der Lichtquelle blickend 
beobachtete. So lange dasselbe sich vor der Mitte der Pupille befand, erschien 
die Flamme rein und scharf begrenzt (denn auch die Meyer’schen Ringe 
sind dabei schon wegen der Enge des Loches und der dadurch bedingten 
Lichtschwäche nicht wahrnehmbar), sobald es aber sich dem Rande der 
Pupille näherte, entstanden plötzlich zwei leuchtende, die prismatische 
Farbenfolge zeigende Sectoren, von der Flamme durch einen dunklen Raum 
getrennt, die von einander 180° Abstand hatten, und deren Lage abhing 
von der Stelle, wo sich am Pupillenrande gerade das Loch befand. War 
dies in der Horizontalen rechts oder links, so waren die Sectoren oben und 
unten, befand es sich in der Senkrechten, so lagen jene rechts und links; 
hielt ich das Loch an das Ende irgend eines anderen Pupillendurchmessers, 
so erschienen die kleinen Spectren auf einer Linie, die lothrecht zu dem- 
selben stand, mit dem rothen Ende natürlich immer von der Flamme ent- 
fernt. Es gelang sehr leicht, das kleine Loch vor der Pupille an ihrem 
Rande kreisen zu lassen; alsdann kreisten auch die beiden Speetren im 
gleichen Sinne. 


230 H. SALOMONSOHN: 


Damit war das Wesen des ganzen Phänomens unzweifelhaft klarge- 
stellt. Es liegt eine Diffraction an einem Spaltgitter vor und zwar 
an einem regelmässigen (äquidistanten) Spaltgitter, wie der dunkle Raum 
nur die Flamme anzeigt, das sich zusammensetzt aus einer grossen 
Zahl kleiner, radiär angeordneter Gitterchen. Jedes dieser kleinen 
Gitter besteht aus einer grossen Zahl — (darauf lässt die Reinheit und 
Intensität der Spectren schliessen) — feiner, paralleller Fibrillen gleicher 
Dieke und gleichen Abstandes von einander. Da die einzelnen sector- 
förmigen Spectren nicht genau gleichen Abstand von der Lichtquelle haben, 
ist zu folgern, dass die kleinen Gitter nicht genau den gleichen Bau be- 
sitzen, sondern bei dem einen die Fibrillen eine minimale Spur weiter aus- 
einander stehen oder feiner sind, als bei dem anderen. Auf den Abstand 
der kleinen Gitter von der Augenaxe kommt es für das Zustandekommen 
der Kreisform des gesammten Phänomens an und für sich gar nicht 
an; sie könnten wirr durch einander angeordnet sein, wenn nur jede 
Riehtung vertreten wäre; thatsächlich aber ergiebt die Untersuchung mit 
dem kleinen Loch, die ja jeden Punkt für sich zu beobachten gestattet, 
dass all’ die kleinen Gitter radiär um einen für die Diffraction un- 
wirksamen Kern gelagert sind. Auf die Grösse dieses Kernes warfen 
schon die Versuche mit der Irisblende und den central vorgehaltenen 
Kugeln Licht, doch konnte ich einen weiteren Anhaltspunkt daraus ge- 
winnen, dass ich durch schmale Spalten verschiedener Länge nach der 
Flamme sah. Wurde eine solche, in Papier! geschnittene Spalte von zwei, 
vier, sechs Millimeter Länge so vor die Pupille gehalten, dass sie mit 
einem Durchmesser derselben zusammenfiel, so gelang es immer, die Flamme 
rein, d. h. ohne Auftreten von Spectren, zu sehen. War die Spalte aber 
Tom Jang, so glückte dies nicht mehr, indem unweigerlich das eine oder 
andere Ende derselben Licht zu der diffrangirend wirkenden, peripherischen 
Zone im Auge gelangen liess, wodurch zwei, senkrecht zur Spaltrichtung 
stehende, sectorförmige Spectren erzeugt wurden. War das Auge nicht für 
die Lichtflammenentfernung eingestellt, so waren hierbei Bedingungen nach 
Art des Scheiner’schen Versuches gegeben, und es erschienen bei einer 
im horizontalen Durchmesser der Pupille gehaltenen Spalte von über 7 wm 
oben und unten je zwei neben einander stehende Spectren, deren Distanz 
von der Grösse des Zerstreuungskreises abhängen muss. 

Fiel die Lage der Spalte nicht mit einem Diameter, sondern einer 
Sehne des Pupillarkreises zusammen, so erschienen auch bei corrigirtem 


i 


ı Es empfiehlt sich für die Anfertigung kleiner Löcher, Spalten u. s. w. Papier 
zu verwenden. Metall giebt einen zu scharfen, regelmässigen Rand, der leicht zu 
störenden Diffractionserscheinangen Veranlassung wird. 


ÜBER LICHTBEUGUNG AN HORNHAUT unD Linsr. 231 


Auge zwei Paare von Speetren, die sich genau verhielten wie die oben 
geschilderten Schatten bei Verwendung eines schmalen Papierstreifs, d. h. 
sie lagen immer 3!/, bis 3!/,° von der Flammenmitte entfernt, auf Kreis- 
durchmessern parallel den Tangenten, die man sich durch das 
Ende der Sehne an den Pupillarkreis gelegt denken konnte. Darnach war 
auch im Voraus zu sagen, wie bei Verschiebung des Spaltes die vier Spectren 
rotiren würden. Es gab natürlich auch immer eine Haltung, bei der zwei 
von den Spectren sich vereinigten, so dass nur drei sichtbar blieben. 

. Die Ableuchtung der Gitterzone mit dem kleinen Loch legte auch klar, 
dass die kleinen Gitter nieht überall gleiehmässig vollendet waren, denn 
an einer Stelle waren die Speetren, die dabei erhalten wurden, sehr inten- 
siv, an einer anderen aber nur sehr lichtschwach oder auch nicht vorhanden. 
Das Letztere war übrigens schwer zu eonstatiren, weil ich nicht wissen 
konnte, ob nicht etwa das Loch in den Bereich des unwirksamen Kernes 
gerathen war. Auf die Erscheinung bei unbedeckter Pupille haben diese 
Unvollkommenheiten aber keinen Einfluss, weil ja jeder Punkt des Licht- 
kranzes nicht durch ein, sondern durch zwei, um 180° auseinanderliegende, 
kleine Gitter erzeugt wird. Zum Theil aber erklärt es sich daraus, wenn 
bei Halbverdeckung der Pupille durch einen Blendschirm, wie es Donders 
beschreibt, die Beobachtung nicht genau das ergiebt, was zu verlangen 
wäre Nehmen wir an, dass unser Kranz von Spalteittern schematisch 
genau im Auge existirte und kreisförmig um den unwirksamen Kern ge- 
lagert wäre, so müsste nach der Theorie eine Verdeckung der Pupille bis 
zur Hälfte nur einen liehtschwächenden Effect haben. Verdeckte man mehr 
als die rechte oder mehr als die linke Pupillenhälfte, so müsste rechts und 
links je ein Segment oder Quadrant des Farbenkreises fehlen; bedeckte man 
mehr als die obere oder untere Hälfte, so müsste der Defect oben und 
unten auftreten. Damit stimmte aber die Beobachtung meistens nicht ganz 
überein, es waren fast immer Abweichungen vom Schema zu verzeichnen, 
die z. Th., wie gesagt, auf Unregelmässigkeit der Gitterausbildung zurück- 
zuführen wären. Dann aber. kommt wohl noch ein anderer Umstand in 
Betracht. Es scheint mir nämlich, dass die kleinen Gitter nicht in einem 
Kreise um den Kern liegen, sondern vielleicht mehr elliptisch, oder, wenn 
durch sie ein Kreis gebildet wird, dass dieser nicht mit der Pupille centrirt 
ist. An meinem linken Auge konnte ich zu Zeiten, wo die Pupillenmydri- 
asis nachzulassen begann, wiederholt sehr ausgeprägt beobachten, dass eine 
Verdeckung der rechten Pupillenhälfte den rechten oberen und linken 
unteren Quadranten des Farbenkreises verschwinden liess, eine Verdeckung 
der linken Hälfte dagegen den linken oberen und rechten unteren; eine 
Abblendung der unteren Hälfte liess den rechten und linken Quadranten 
fehlen, eine Verdeckung der oberen aber nur ein oberes Segment, so dass 


232 | H. SALOMONSOHN: 


der grösste Theil des Farbenkreises noch sichtbar blieb. Ich erkläre mir 
diese Erscheinung durch die Annahme, dass zur Beobachtungszeit ein oberes 
Stück des Gitterkranzes von der Iris abgeblendet war, so dass nur ein 
unterer, etwa halber Kreis von Gittern wirksam blieb. 

Diese letzte Beobachtung macht es mir ganz zweifellos, dass die Farben- 
ringe, welche in meinen Augen bei starker Mydriasis entstehen, identisch 
sind mit denen, welche Donders beschreibt, dessen Schilderung recht gut 
mit dem von mir Gesehenen harmonirt. Seine Winkelmessungen hatten 
ja fast genau dasselbe Ergebniss. Dass Donders das Phänomen schon bei 
geringerer Mydriasis erblickte, — er bedurfte nur einer Pupille von 4 wm 
scheinbarem Durchmesser, während bei mir 6 bis Tmm wenigstens noth- 
wendig war, — kann in einer Verschiedenheit der Ausdehnung der Gitter 
oder in einer mehr peripherischen Lage desselben bei mir begründet sein. 
Die Erscheinungen, die Donders bei Halbverdeckung der Pupille bemerkt, 
lassen sich nnter der Annahme erklären, dass bei der von ihm erzielten 
Pupillenweite nur die äussere Hälfte des Gitterkranzes dem Lichte zu- 
gänglich und für die Diffraetion wirksam war. Vielleicht wären bei ihm 
die diesbezüglichen Ergebnisse auch andere gewesen, wenn er seine Pupille 
durch ein Mydriaticam erweitert hätte. Seine Beobachtung wird durch 
diese Annahme einigermaassen verständlich. Eine andere Möglichkeit der 
Erklärung sehe ich nicht. Die Folgerung, die Donders selbst aus seiner 
Beobachtung zog, „dass der Farbenring durch einen ausserhalb der Axe 
gelegenen Theil der Medien“ verursacht werde, ist durch das Vorhanden- 
sein eines radiären Gitterkranzes als zutreffend erwiesen. 

Die Frage, ob diese bei erweiterterter Pupille — wie bei Donders 
und mir, in dessen Familie noch nie Glaucom vorgekommen — an gesunden 
Augen auftretenden Regenbogenfarben, die wir als „Donders’sche Farben- 
ringe“ kurz bezeichnen können, identisch sind mit denen bei Glaucom, 
kann definitiv nur entschieden werden, wenn es gelingt, auch bei diesem die 
gleichen Gittereigenschaften nachzuweisen. Donders bejahte diese Frage, 
Hirschberg lässt durchblicken, dass er sie verneinen würde. Es spricht aber 
Verschiedenes dafür. Erstens die Gleichheit der Erscheinungsform hier wie 
dort; dann der unverkennbare Einfluss der Pupillenerweiterung, endlich 
aber ihr Vorkommen bei den verschiedensten Zuständen. Donders hat 
sie bei Cataractösen und vielen gesunden Augen beobachtet; Hirschberg 
bei jugendlichen Individuen aus glaucomatöser Familie, deren Augen keine 
nachweisbaren Anomalien zeigten; Wagner, selbst Arzt und Glaucompatient, 
hatte sein Regenbogensehen, auch nachdem durch Iridectomie das Glaucom 
beseitigt war, so oft er eine Flamme nicht scharf in’s Auge fasste (also 
genau wie Donders). Ich wüsste auch nicht, was sich gegen die Ansicht 
von Donders sagen lässt, dass das Regenbogensehen bei Glaucom nur 


ÜBER LiCHTBEUGUNG AN HoRNHAUT UND Lissk, 233 


leichter entstehe und leichter bemerkt werde, — wenn man nur die Meinung 
aufgiebt, dass die Trübung der Hornhaut das Maassgebende für das Auf- 
treten der Farbenringe bei Glaucom sei. 

Damit kommen wir zur Erörterung über den vermuthlichen Sitz 
unseres Gitters im Auge. Völlig ausgeschlossen erscheint, die Identität 
beider Phänomene vorausgesetzt, die Annahme, für die Wagner eintritt, 
dass feinkörnige Partikelchen in den flüssigen Augenmedien, in erster 
Reihe dem Vorderkammerwasser, die Ursache der Diffraction seien. Ganz 
abgesehen davon, dass Nichts uns berechtigt, solche in gesunden Augen 
vorauszusetzen, bliebe es auch beim Glaucom unerklärlich, wie eine Trübung 
des Vorderkammerwassers, wenn anders eine solche überhaupt vorhanden, 
die Erscheinungen bewirken sollte. Die Partikelchen müssten nicht nur 
gleich gross sein, sondern auch dauernd in regelmässiger Vertheilung frei 
schwebend suspendirt bleiben. Dann käme zwar der Effect eines regel- 
mässigen Gitters, aber nur der eines „Siebgitters“ und nimmermehr der 
eines radiären Spaltgitters zu Stande. Auch würde eine Verengerung der 
Pupille zwar eine Intensitätsverminderung, aber nieht ein Verlöschen des 
Phänomens entstehen lassen. Der Einwand, dass in vielen Fällen mit dem 
Abfluss des Kammerwassers gleichzeitig das Regenbogensehen beseitigt sei, 
beweist natürlich gar nichts, denn hierbei kommt ja auch eine sofortige 
Verengerung der Pupille zur Wirkung. 

Auch die Anschauung, dass die Trübung der Hornhaut Anlass der 
Diffraction sei, kann meines Erachtens nicht befriedigen. Wenn die viel- 
leicht auf Hornhauttrübung zurückzuführenden Obscurationen bei Glaucom 
auch sehr häufig in Verbindung mit Regenbogensehen auftreten, so ist 
selbstverständlich daraus noch nicht der Schluss zu ziehen, dass Beides 
gleiche Ursache habe. Die Vorstellung Laqueurs, dass die Farbenkränze 
bei Glaucom dem Vorhandensein einer „in ihrem Lichtbrechungsvermögen 
von dem übrigen Gewebe differenten, fein vertheilten Flüssiekeit“ in der 
Hornhaut ihr Dasein verdanken, kann uns nicht genügen, weil bei ge- 
sunden oder nur cataractösen Augen eine solche doch nicht anzunehmen 
ist, und weil die Vorstellung physikalisch unzureichend erscheint. Wenn 
wir nämlich auch ein Hornhautödem bei Glaucom, besonders nach den 
Untersuchungen von Fuchs,! zugeben können, so sind doch die in den 
tieferen Epithelschichten befindlichen feinen Tröpfchen „bald rundlich, bald 
länglich oder selbst verzweigter Gestalt“ und können somit durch die Un- 
regelmässigkeit ihrer Form zu Diffractionsphänomenen überhaupt nicht 
führen. Aber auch aus Lichtbeugung an einer feinkörnigen Trübung der 


! E. Fuchs, Ueber die Trübung der Hornhaut bei Glaucom. Archiv für Oph- 
thalmologie. Bd. XXVM. 3. 8. 66. 


234 H. SALOMONSOHN: 


Cornea lassen sich die Erscheinungen nicht erklären. Wir haben schon 
oben (8. 212) die Ansicht Exner’s zurückgewiesen, dass der dunkle Raum 
um die Lichtlamme im Gegensatze zur Aureole der Meyer’schen Ringe 
auf grösserer hegelmässigkeit in der Lagerung der Epithelzellen beruhe. 
Dasselbe gilt auch für andere Hypothesen, die diese (Donders’schen) 
Farbenringe als vollendetere Form der Meyer’schen ansehen möchten. 
Nehmen wir den günstigsten Fall, dass rundliche Zellkerne der Hornhaut 
bei Glaucom eine feine Trübung hätten und das Licht beugten, und dass 
ihre Lagerung regelmässig wäre, so würden sie doch durch den Einfluss 
der Hornhautkrümmung nur das Phänomen eines unregelmässigen Gitters, 
also Aureolenbildung, erzeugen, weil ihre Projection auf die zum Gang der 
Lichtstrahlen senkrechte Ebene keine regelmässige Lagerung mehr auf- 
weisen könnte. Wenn die Cornealkrümmung kugelförmig wäre, würde 
allenfalls durch die Projieirung eine Art Soret’sches Gitter zu Stande 
kommen.! Wie die feinen Partikelchen die Erscheinungen eines radiären 
Spaltgitters erzeugen sollten, ist aber schon gar nicht zu erklären. 
Allerdings giebt es eine Möglichkeit, eventuell die radiäre Gitterbildung 
aus der Hornhauttrübung auch bei Glaucom zu verstehen! Wir müssen 
hierbei an die Untersuchungen v. Fleischl’s? über die Wirkung von Druck 
auf das corneale Gewebe erinnern: „Bringt man die ihres Epithels beraubte 
Hornhaut eines Frosches auf einen Objeetträger, betrachtet sie bei mässiger 
Vergrösserung und drückt sie an einem im Gesichtsfelde befindlichen 
Punkte mit einer abgerundeten Nadelspitze, so kann man beobachten, dass 
in dem Momente des Beginnens des Druckes eine radiär faserige Structur 
in dem bis dahin scheinbar homogenen Gewebe auftritt.“ „Da wir an- 
nehmen, dass jene Hornhautfasern sichtbar werden, welche doppeltbrechend 
werden, und dass jene Hornhautfasern doppeltbrechend werden, welche ge- 
dehnt werden, so ist es ganz klar, dass beim Druck auf einen Punkt der 
Hornhaut nur die mit ihrer Längsaxe radial gegen jenen Punkt gestellten 
Hornhautfasern sichtbar werden können, die anderen Fasern bleiben eben 
isotrop und unsichtbar.“ Diese beiden Sätze von Fleischl’s würden es 
recht gut begreifen lassen, wenn bei Glaucom durch die Dehnung der 
Cornea in Folge des erhöhten Druckes eine peripherische, radiär zur Augen- 
axe angeordnete Faserung optisch wirksam würde und damit die Gitterform 
erzengte, die auf Grund unserer Beobachtungen für das Diffractions- 
phänomen angenommen werden muss. Aber es bleibt die grosse Schwierig- 
keit, die Erscheinung bei nicht-glaucomatösen Augen als corneale Diffraction 


1 Vgl. S. 220 Anm. 


62) 


® v. Fleischl, Ueber eine optische Eigenschaft der Cornea. Sitzungsberichte der 
Wiener Akademie der Wissenschaften. Bd. UXXXI. 3. 8. 47. 


ÜBER LICHTBEUGUNG AN HORNHAUT UND Linse. 235 


zu erklären. Die Annahme, dass auch bei diesen Jie betreffende ring- 
förmige Zone der Hornhaut, die ja allerdings dem Orte des Arcus senilis 
ziemlich entspricht, eine radiäre fibrilläre Trübung besässe, würde doch, 
besonders für jugendliche Individuen, gezwungen erscheinen. 

Ganz ungezwungen aber ist dagegen die Annahme, dass die postulirten 
radialen Fasern oder Spalten ihren Sitz nicht in der Öornea, sondern 
in der Corticalis der Linse haben. Der strahlige Bau der Linse weist 
von selbst darauf hin. Ebenso das Auftreten der Diffraction bei Cataract 
der. Glasbläser, deren Form Hirschberg direct mit der Perinuclear- 
trübung der Linse bei Myopen vergleicht. Es bietet keine Schwierigkeit 
oder Unwahrscheinlichkeit anzunehmen, dass solche optisch-differente Fasern 
um einen homogenen Kern auch in manchen gesunden Augen vorhanden 
sind, und dass der glaucomatöse Process, wie Donders vermuthete, eine 
Veränderung der Linse setze, die dieses Gitter stärker ausbildet oder weiter 
in die Kernzone hineinreichen lässt, als sonst, so dass im Glaucomanfall 
schon eine geringere Pupillenerweiterung ausreicht, die Gitterzone optisch 
wirksam werden zu lassen. Die Trübung der Hornhaut wäre somit 
eine zwar gleichzeitig auftretende Veränderung, aber nicht 
die Ursache des Regenbogensehens, sondern im Gegentheil störend 
für dasselbe In der That verschwindet dieses ja bei stärkerer Hornhaut- 
trübung, und Wagner erblickte nach Heilung seines Glaucoms die Farben- 
erscheinung auch, wie er ausdrücklich hervorhebt, „viel frischer und reiner“ 
als vorher im Anfall. 

Ist dieses alles richtig, so ergiebt sich eine unabweisbare Folgerung: 
Ohne Linse kein Regenbogensehen! Das heisst keines, wie es eben für 
Glaucom charakteristisch ist, denn die Meyer’schen (Wöhler’schen, 
conjunctivitischen). Farbenringe stehen als corneale Diffraction ja hier 
nicht in Rede. Ich habe daher die Litteratur! über Glaucom im aphakischen 


! Coccius, Archiv für Ophthalmologie. 1863. Bd.IX. 8.1. — [Rydel, Be- 
richt über die Augenklinik der Wiener Universität. 1863—65.| — Heymann, Ueber 
Glaucom im aphakischen Auge. Zehender’s Klinische Monatsblätter für Augen- 
heilkunde. 1867. Bd. V. 8.147. — v. Graefe, Archiv für Ophthalmologie. 1869. 
Bd. XV. 8. 8.224. — Schweigger, Ebenda. Bd. XVII. 8. 177. — Landsberg, 
Ebenda. Bd. XXI. 2. 8. 67. — Stölting, Ebenda. Bd. XXXIM. 2. 8.177. — 
Lenne, Ueber die Iridectomie bei Glaucom. I/naug.- Dissert. Berlin 1875. — [Evers- 
busch, Bericht über 1420 in der Münchener Universitäts-Augenklinik ausgeführte Star- 
entbindungen. Schiess-Gemuseus, 24. Jahresbericht der Augenheilanstalt in Basel. 
1888.] — Schmidt-Rimpler, Graefe-Sämisch, Handbuch. Bd. V. 8.49. — 
[Brailey, Ophthalmie Hospital Reports. 1879.) — Mittermayer, Ueber das Vor- 
kommen von Glaucom in cataractösen Augen. JInaug.-Dissert. Heidelberg 1889. — 
[Natanson, Glaucom im aphakischen Auge. Inaug.- Dissertation. Dorpat.1889.] — 
Rheinsdorf sen., Zehender’s Klinische Monatsblätter für Augenheilk. Bd. XXIX. 


236 H. SALOMONSOHN: 


Auge, soweit sie mir zugänglich war, daraufhin durchforscht, aber zwar 
einigemale Nebelsehen unter den aufgeführten Symptomen in den Kranken- 
geschichten verzeichnet gefunden, die Erwähnung des Farbenphänomens 
dagegen mit einer Ausnahme vermisst. Diese Ausnahme würde natürlich 
genügen, unsere ganze Beweisführung zu nichte zu machen, wenn nicht 
der- Autor der betreffenden Publication, Heymann eingehend beschriebe, 
dass die in seinem Falle von rechtsseitiger Aphakie gesehenen Farbenringe 
einen durchaus anderen Charakter hatten, als sonst bei Glaucom: „Patientin 
unterschied ganz von selbst, wenn sie keine Brille trug, den einfarbigen 
Sonnenglanz um die Flamme, den sie mit dem linken Auge sah, von dem 
bunten Regenbogenkranz, der ihr beim rechten Auge erschien. Ueber die 
Anordnung der Farben im Regenbogenkreis aber befragt, gab sie an, sie 
unterscheide nicht einfarbige Ringe, sondern sogleich bei der Flamme be- 
sinne ein Schillern aus allen Farben, das sich in fast gleichem Gemenge 
weithin um die Flamme verbreite. Der Intelligenz der Kranken war ein 
genaues Verständniss der ihr vorgelegten Fragen und richtige Beurtheilung 
wohl zuzutrauen. Eben darum erschien es mir auffällie, dass durch das 
Tragen der Brille keine Veränderung der Erscheinung eintrat. Es muss 
daher wohl angenommen werden, dass die in das Auge gleichviel unter 
welcher Richtung eintretenden Lichtstrahlen durch Zerlegung in ein solches 
Gemenge gerathen sind, dass von einer Brechung der einzelnen Licht- 
strahlen nicht mehr die Rede sein kann. Denn da in normal brechenden 
Augen der Regenbogen in nahezu einfarbigen Ringen erscheint, so muss 
wenigstens ohne Zweifel eine regelmässigere Brechung stattfinden, als sie’ 
selbst durch optische Hülfsmittel hier zu erreichen war.“ Hieraus geht 
wohl klar hervor, dass in dem Falle Heymann’s ebenfalls von einem 
elaucomatösen Regenbogensehen keine Rede sein kann und wir können 
wohl vorläufig das bei Glaucom und bei nicht-glaucomatösen Augen auf- 
tretende Phänomen mit Donders als Linsendiffraction betrachten. 
Wie oft bei gesunden Augen unser radiärer Spaltgitterkranz vorhanden 
ist, und ob dabei, wie zu vermuthen nahe liegt, das Lebensalter einen 
Einfluss hat, sind Fragen, die sich erst: durch weitere Beobachtungsreihen 


8.33. — Rennecke, Glaucom bei Aphakie. Inaug.-Dissertation. Berlin 1893. — 
Fr. Hosch, Archiv für Augenheilkunde. Bd. XXVIlI. 8.305. — E. T. Collins, 
Brit. med. Journal. 1890. 8.297. — [Buller, Americ. Journal of Ophth. Bd. VII] — 
Pagenstecher, Klinische Monatsblätter für Augenheilk. Bd. XXXIU. 8.139. — 
Knapp, Archiv für Augenheilk. Bd. XXX. 8.1. — Elschnig, Klinische Monats- 
blätter für Augenheilk. Bd. XXXlli. 8.233. — Paffrath, Ein Fall von acutem 
Glaucom nach Cataractoperation. Inaug.-Dissert. Kiel 1893. — Rumschewitsch, 
Klinische Monatsblätter für Augenheilk. Bd. XXXIV. 8. 191. — [Frank N. Lewis, 
Manhattan Eye and Ear Hospital Reports. 1896. Vol. II.] 


ÜBER LiCHTBEUGUNG AN HORNHAUT UND Linse. Ba 


beantworten lassen. Wir können aber nicht darauf rechnen, das Gitter 
vorkommenden Falles objectiv etwa mit dem Augenspiegel nachweisen zu 
können. 

Eine genauere Berechnung der Feinheit der Gitterspalten lässt sich 
nämlich zwar nicht ausführen, weil wir ja nicht wissen, in welcher Schicht 
der Linsencorticalis die Diffraction vor sich geht und auch den Einfluss 
eines Linsenabschnittes auf die Grösse des Beugungswinkels gar nicht in 
Rechnung zu setzen wüssten, aber einen ungefähren Anhalt können wir 
gewinnen, wenn wir annehmen, dass das Gitter sich in der Ebene des 
hinteren Knotenpunktss befinde. Dann fällt der Einfluss der Linsenbrechung 
ziemlich fort und der Beugungswinkel ist gleich dem Gesichtswinkel, unter 
welchem der Radius des Farbenkranzes erscheint. Wir haben nur zu 
berücksichtigen, dass die Diffraction in der Glaskörperflüssigkeit erfolgt und 
deshalb die Wellenlänge in der Formel für das regelmässige Spaltgitter 
mit dem Brechungsindex desselben, gleich 1.3365, zu dividiren. Setzen wir 
den Beugungswinkel für rothes Licht von 680 uu Wellenlänge mit 3° 20° 
ein, so erhalten wir aus der Formel IV für den Abstand der Faser- oder 
Spaltmitten (d + s) 


d-+ s = 0:-000680:1-3365 x sin 3° 20’, 2 


d.h. den Werth 0-00875"". So feine Gebilde sind objectiv am Lebenden 
nicht wahrzunehmen. An meinem Auge ergab weder eine ophthalmo- 
skopische Untersuchung etwas Abnormes, noch die entoptische Betrachtung 
Anderes als Linsenbläschen, einige schwarze Punkte, die Sternfigur und 
daran anschliessend eine allgemeine radiäre Streifung, wie eben das entop- 
tische Linsenbild stets erscheint. 


Kaum nöthig dürfte es sein noch hervorzuheben, dass ein nach Atropin- 
einträufelungen eintretendes Regenbogenfarbensehen an sich, ohne andere 
Symptome, als glaucomatöse Prodromalerscheinung nicht zu betrachten ist, 
und dass neben den bereits von Hirschberg hervorgehobenen Differenzen 
zwischen conjunctivitischem und glaueomatösem Regenbogensehen, das Auf- 
treten eines dunklen Raumes um die Lichtquelle in suspecten Fällen für 
das letztere in die Waagschale fällt. 


Wir können die wesentlichsten Ergebnisse unserer Untersuchung in 
folgende Sätze zusammenfassen. 


1. Das Regenbogensehen bei Conjunctivitis ist nur eine Steigerung der 
physiologischen Farbenerscheinung um Lichtquellen, welche in der physi- 
kalischen Litteratur unter dem Namen der Meyer’schen Ringe beschrieben 
und erörtert ist, und als identisch anzusehen mit den Wöhler’schen, durch 
Osmiumsäuredampf zu erzeugenden Farbenringen. 


238 H. SALoMoNsSoHN: ÜBER LICHTBEUGUNG AN HORNHAUT UND LINSE. 


2. Das Phänomen entsteht durch Diffraction des Lichtes an zelligen 
Gebilden an der Hornhautoberfläche (absterbenden Epithelzellen, Schleim- 
körperchen, Zellkernen ete.). 


3. Die verschiedenen dabei wahrnehmbaren Farbenkreise mit spectraler 
Farbenordnung sind nicht als Beugungsspectra verschiedener Ordnung 
eines Gitters zu betrachten, sondern als erste Spectra differenter Gitter. 


4. Die vorläufig noch nicht exact durchzuführende Berechnung der 
Gitterconstanten muss berücksichtigen: Den Einfluss der Hornhautkrümmung 
auf die Form des Gitters; die Veränderung der Beugungswinkel durch 
die Brechung im Auge; den Brechungsindex der Augenflüssigkeit, in der 
die Diffraction vor sich geht, und den Einfluss der Projieirung des Netz- 
hautbildes nach aussen. 


5. Das Regenbogenfarbensehen bei Glaucom ist wahrscheinlich identisch 
mit dem auch bei cataractösen und gesunden Augen mit erweiterter Pupille 
vorkommenden, zuerst von Donders beschriebenen Farbenphänomen. 


6. Die Donders’schen Ringe beruhen auf Diffraction an einem regel- 
mässigen Spaltgitter in radiärer Anordnung um einen unwirksamen Kern. 


7. Dieses Gitter ist in der Corticalis der Linse anzunehmen. 
Es ist mir zum Schluss eine angenehme Pflicht, Herrn Professor 


Arthur König für das liebenswürdige Interesse zu danken, das er meiner 
Arbeit zugewendet hat. 


Ueber den Axialstrom des Nerven und seine 
Beziehung zum Neuron.' 


Von 
Dr. med. Ludwig Hellwig, 


Assistenten am physiologischen Institut in Kiel. 


(Aus dem physiologischen Institut zu Halle.) 


Dass nicht nur zwischen Längsschnitt und Querschnitt sowie un- 
symmetrischen Längsschnittspunkten, sondern auch zwischen den beiden 
Querschnitten eines frischen Nerven ein elektrischer Spannungsunterschied 
besteht, bemerkte zuerst du Bois-Reymond. Er fand am N. ischiadicus 
des Frosches einen absteigenden? und später an den elektrischen Nerven 
des Zitterrochens einen aufsteigenden Strom.’ 

Auf seine Anregung hin unternahm darauf Mendelssohn eingehende 
Versuche über den „axialen Nervenstrom“.t Er fand bei allen untersuchten rein 
centripetalleitenden Nerven (hinteren Rückenmarkswurzeln von Frosch 
und Kaninchen, N. opticus und N. olfactorius von Hecht und Karpfen) 
einen absteigenden Axialstrom. Von den untersuchten rein centrifugal- 
leitenden Nerven ergaben Muskeläste vom Oberschenkeltheil des N. ischia- 
dicus vom Kaninchen stets aufsteigenden Strom; bei den vorderen 
Rückenmarkswurzeln von Frosch und Kaninchen fand sich in der Mehr- 
zahl der Fälle ebenfalls aufsteigender Strom, in den übrigen Fällen ab- 
steigender Strom. Endlich an dem functionell gemischten N. ischiadicus von 


! Nach der gleichnamigen Dissertation. Halle 1896. 

” Gesammelte Abhandlungen zur Muskel- und Nervenphysik. Bd. II. 8. 196. 

® Sützungsberichte der Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 1884. Bd. 1. 
S. 230 ff. 

* Dies Archiv. 1885. Physiol. Abthlg. S. 381 ff. 


240 Lupwie HELLWIG: 


Frosch und Kaninchen war in °/, der Fälle ein absteigender, sonst auf- 
steigender Strom zu beobachten. Mendelssohn fasste seine Ergebnisse in 
der Regel zusammen, dass im Grossen und Ganzen die Nerven einen der 
Richtung ihrer physiologischen Wirksamkeit entgegengesetzten 
axialen Strom zeigen“, 


Auf Anregung von Hrn. Prof. Dr. Bernstein habe ich versucht, folgende 
weitere Fragen in Bezug auf den axialen Nervenstrom durch Versuche zu 
entscheiden: 


1. Welche Gründe hat das Schwanken der Ergebnisse an den: vorderen 
Rückenmarkswurzeln! und am N. ischiadicus? 


2. Welchen Einfluss hat die Länge des Nerven auf die Stärke des 
Axialstromes? 


3. Zeigt der Axialstrom auch die negative Schwankung bei Er- 
regung des Nerven? 

4. a) Wie lange nach Herausschneiden des Nerven ist der Axialstrom 
noch zu beobachten? b) Kann man den Axialstrom, wenn er nach einer 
gewissen Zeit schwächer geworden oder geschwunden ist, durch Anfrischen 
beider Querschnitte wieder verstärken bezw. neu hervorrufen, „manifest 
machen“, wie dies nach Engelmann’s Untersuchungen? beim Längsquer- 
schnittsstrom gelingt? c) Wie verhält sich der Axialstrom bei Anfrischung 
eines Querschnittes? 


5. Kann man nicht für die Richtung des Axialstromes eine Regel 
aufstellen, die die verschiedenen Fälle ebensogut zusammenfasst wie die 
Mendelssohn’sche, dabei aber gleichzeitig die Verschiedenheit der Richtung 
zu einer vermuthlichen Ursache des Axialstromes in Beziehung bringt 
und dadurch befriedigender ist? 


! Die Unbeständigkeit der Stromesrichtung in den vorderen Wurzeln sucht 
Mendelssohn durch den Hinweis auf die „rückläufige Empfindlichkeit“ der- 
selben zu erklären. Da nach seiner Regel in motorischen Fasern der Axialstrom auf- 
steigend, in sensiblen absteigend ist, so meint er, dass der absteigende Strom der 
beigemischten sensiblen Fasern den aufsteigenden Strom der vorderen Wurzeln schwäche 
oder bisweilen selbst umkehre; so erklärt es sich nach seiner Meinung, dass der auf- 
steigende Strom der vorderen Wurzeln eine geringere Stärke hat als der absteigende 
der gleich dieken hinteren Wurzeln, und dass in einigen Fällen sogar absteigender 
Strom in den vorderen Wurzeln auftritt. Dieser Erklärungsversuch erscheint mir schon 
aus dem einfachen Grunde verfehlt, weil die in den vorderen Wurzeln enthaltenen 
sensiblen Fasern doch eben „rückläufig“, mithin ebenso wie die anliegenden moto- 
rischen centrifugal leiten. Somit müssten gerade nach Mendelssohn’s Regel die 
Axialströme in beiden Faserantheilen gleiche Richtung haben, könnten also nicht in 
Wettstreit mit einander treten. 

° Pflüger’s Archiv für die gesammte Physiologie. Bd. XV. 8. 138—145. 


Pe RE 


ÜBER DEN AXIALSTROM DES NERVEN. 241 


Meine Versuchsanordnung war im Allgemeinen die Mendels- 
sohn’s; nur in folgenden Punkten bin ich von seinem Verfahren ab- 
gewichen: 


Anstatt der Zuleitungsgefässe wurden Thonstiefelelektroden angewendet. 


Auf die mittelbare Bestimmung des Axialstromes durch Subtraction 
der beiden Längsquerschnittsströme wurde verzichtet und der Axialstrom 
nur unmittelbar durch Ableitung der beiden Querschnitte gemessen. 


- Anstatt das centrale (proximale) Ende des Nerven durch ein Flöckchen 
rother Seide zu bezeichnen, wie Mendelssohn verfuhr, wurden alle Nerven 
so gelegt, dass das centrale Ende stets nach derselben Zimmerwand zu 
lag, so dass eine Verwechselung auch so vermieden wurde. 


Eine Umlesung des Nerven mit folgender nochmaliger Messung des 
Stromes wurde hauptsächlich nur bei den Gehirnnerven ausgeführt. An 
diesen war der Axialstrom, zum Theil wohl in Folge der Kürze der unter- 
suchten Stücke, oft so schwach, dass ein nicht compensirbarer Elektroden- 
strom gegen ihn nicht verschwand, sondern sogar bisweilen stärker war 
als er. Da dann der durch den Elektrodenstrom vorhandene Ausschlag 
bei Zwischenschaltung des Nerven nur um eine gewisse Grösse verstärkt 
oder vermindert wurde, so war es zur Sicherstellung des daraus auf die 
Richtung des Axialstromes zu machenden Schlusses erwünscht, festzustellen, 
dass die Beeinflussung des Ausschlages nach Umlegung des Nerven um 
die gleiche Grösse in entgegengesetztem Sinne erfolste. 


Die Querschnitte habe ich für gewöhnlich ebenfalls durch Schnitt 
angelegt, theils mit einer feinen Scheere, theils mit einem Rasirmesser auf 
einer Korkplatte, entweder gleichzeitig an beiden Enden des U-förmig 
gelegten Nerven oder unmittelbar nach einander; dieser geringer Zeit- 
unterschied hat, wie Mendelssohn festgestellt hat, keinen störenden Ein- 
flus. Nur bei den Versuchen über die negative Schwankung wurden 
die Querschnitte durch Baumwollknoten angelest, deren Fäden, mit 
physiologischer Kochsalzlösung getränkt, dann den Elektroden angelegt 
wurden. 


Bei der Ableitung von den geschnittenen Querschnitten hängt die 
Güte der Anlegung an die Elektroden natürlich sehr von der persönlichen 
Geschicklichkeit, darüber hinaus vom Zufall ab. Dies ist bei der Ableitung 
mit Baumwollknoten nicht der Fall. Dafür hat diese ihrerseits wieder den 
grossen Nachtheil, dass die Querschnittsanlegung, d. h. die Durchtrennung 
sämmtlicher Nervenfasern, bei Weitem nicht so gründlich ist wie beim 
Schnitt. Diese schon von vornherein einleuchtende Thatsache geht aus 


einigen Probeversuchen deutlich hervor. Wurde nämlich ein N. ischiadicus 
Archiv f. A. u. Ph. 1898. Physiol. Abthlg. 16 


242 LupwıgG HELLWIG: 


an seinen Enden von geschnittenen Querschnitten, in der Mitte von 
einem Knoten abgeleitet, so war der Knoten immer positiv zu jedem der 
beiden Schnitte, ob er nun früher oder später als diese angelegt war. Daher 
wurde die Querschnittsanlegung durch Knoten, wie gesagt, nur bei den Ver- 
suchen über die negative Schwankung angewendet, wo sie aus dem Grunde 
vorgezogen wurde, weil man dann den Nerven an seinen extrapolaren 
Enden ausspannen und die Reizelektroden zwischen den ableitenden besser 
anlegen kann. 


Zu den Versuchen am N. ischiadicus und an den Rückenmarkswurzeln 
wurden Frösche, zu denen an Gehirnnerven Kaninchen benutzt. 


Die Versuche wurden im Laufe des Sommers 1895 im physiologischen 
Institute zu Halle ausgeführt. 


Ergebnisse: 


Zu 1. Vordere Rückenmarkswurzeln vom Frosch habe ich, ebenso 
wie hintere, 13 untersucht, bin jedoch bisher noch nicht zu einer solchen 
technischen Fertigkeit gelangt, dass ich die Versuche für einwandsfrei 
halten könnte. 

Bei Untersuchung der Richtung des Axialstromes im N, ischiadieus 
fand ich Folgendes: 


Tabelle I. 

| Anzahl der Richtung des Stromes 

Theil des N. ischiadius | ae | 

Untersuchungen 

| z | absteigend | aufsteigend 

1 
OÜberschenkelthelesr sr 43 43 — 
Dessen mittleres Drittel . . . 14 | 9 5 
„  proximale Hälfte . . . | 37 26 11 
= “Zdistale, Hälfte nme 36 | 36 a 
Stücke aus dem Plexus sacralis . | 5 | 5 — 
Zusammen: | 135 | 119 16 


Entgegen Mendelssohn’s Ergebnissen zeigte sich also am Oberschenkel- 
theil sowie in dessen distaler Hälfte nie aufsteigender Strom. 


Bemerkenswerth ist auch noch, dass die proximale Hälfte des Ober- 
schenkeltheiles dann, wenn sie absteigenden Strom gab, eine wesentlich 
geringere Stärke desselben zeigte als die distale.. Dies sieht man aus 
folgender Zusammenstellung: 


ÜBER DEN AXIALSTROM DES NERVEN. 243 


Tabelle I1.! 


Derselbe durchschnitten ER 


a a eozünate Hälfte. 3] distale Hälfte 

Ablzay Comp. Abl. Comp. | Abl. | Comp. 

5 9 5 4 | 11 | 9 

11 | 105 5 39 | 17 75 

50 | 523 | 15 94 | 72 | 270 

20 40 | 31 97 

28 140 7 5 84 230 

38 235 10 0 31 232 

17 55 2 0 30 70 

49 330 26 45 65 190 

40 0 40 

45 0 50 | 

51 260 38 85 61 | 135 

15 160 5 0 30 110 

20 200 2 0 26 90 

26 260 6 7 40 155 

28 45 31 | 100 

5 150 28 500 

- 12 7 19 2139 

383 45 56 95 

7 0 42 85 


Doch muss ich darauf hinweisen, dass ich bei meinen ersten Versuchen 
den Fehler machte, dass ich nach Messung des Stromes im ganzen Ober- 
schenkeltheil diesen einfach durchschnitt und dann die Ströme in den beiden 
Hälften prüfte Dabei hatte dann das centrale Stück am peripheren, das 
periphere Stück am centralen Ende einen frischen Querschnitt. Dies Ver- 
hältniss könnte aber, wie wir unten sehen werden, die ganze Verschieden- 
heit der beiden Hälften, und zwar gerade so wie sie ist, erklären. 


Da jedoch am mittleren Drittel, wo dieser Versuchsfehler nicht in 
Frage kommt, ebenfalls in !/, der Fälle aufsteigender Strom anstatt des 
für gewöhnlich beobachteten absteigenden Stromes vorhanden war, so muss 
ich Mendelssohn’s dahingehende Beobachtung (am N. ischiadieus in °/, 
der Fälle absteigender, in ?/, aufsteigender Strom) bestätigen, kann jedoch 
hinzufügen, dass man dies nur bei Untersuchung des mittleren Drittels 
oder der proximalen Hälfte des Oberschenkeltheiles findet. Damit kann 


! Abl. = Ablenkung in Scalentheilen; Comp. = Compensatorgrade des Rheochords, 


Alles absteigender Strom. 
16, 


244 LupwiG HELLWIG: 


ich gleichzeitig Mendelssohn’s Bemerkung, dass „verschiedene Abschnitte 
des N. ischiadicus verschiedene Richtungen des Axialstromes darzubieten 
scheinen“, bis zu einem gewissen Grade bestätigen. 


Worauf dies merkwürdige Verhalten beruht, wer weiss es! Eine Ver- 
schiedenheit des Zahlenverhältnisses der motorischen und sensiblen Fasern 
in den verschiedenen Abschnitten des N. ischiadicus, von der Mendelssohn 
spricht, ist in meinen Versuchen mit den beiden Hälften und dem mitt- 
leren Drittel des Oberschenkeltheiles vollkommen ausgeschlossen, da letzterer 
stets völlig astfrei war, mithin in seiner distalen Hälfte die verschiedenen 
Arten von Fasern in genau derselben Anzahl enthalten musste wie in der 
proximalen. Ich habe den N. ischiadicus stets erst unterhalb des Abganges 
der Oberschenkeläste abgeschnitten, nachdem ich jedoch vorher die untersten 
eine Strecke weit von dem Nervenstamme losgelöst hatte, was sehr leicht 
seht. Es sind dies die beiden kleinen Aeste für den M. biceps und den 
M. extensor cruris communis. 


Ich habe einige Male auch den Tibialis und den Peroneus einzeln unter- 
sucht; stets habe ich in beiden absteigenden Strom gefunden. 


In Tab. II habe ich ebenso wie unten in Tab. IV und VI die gemessene 
Anzahl von Compensatorgraden mitgetheilt und nicht die absoluten Werthe 
für die elektromotorische Kraft, da es hier und später ja nur auf die Ver- 
gleichung von solchen zwei Werthen ankommt, die an einem und dem- 
selben Nerven gewonnen sind, und das Verhältniss der beiden Werthe zu 
einander durch die Multiplication mit der gleichen Graduationsconstante 
ja nicht geändert wird. Da ich aber die Graduationsconstante bei jeder 
Versuchsreihe bestimmt und die absoluten Werthe berechnet habe, so stelle 
ich, um wenigstens einen Ueberblick zu geben, hier einige Durchschnitts- 
werthe zusammen: 


Tabelle III. 


Durchschnittlich 

Graduationsconstante . . . ». x... 0:000038 Raoult 
N.isehiadieus, Oberschenkel . . .. . 00060 5 
; centrale Hiälttegge wer 0-0013 55 
rn periphere Hälfte . . . . 00046 > 
a mittleres Drittel . - - - 00032 ss 
Rückenmarkswurzeln. . 2. „2. m. 0.0021 ne 


Zu 2. Um die Frage nach dem Einflusse der Länge des Nerven 
auf die Stärke des Axialstromes zu entscheiden, verkürzte ich den Nerven 


ÜBER DEN AXTALSTROM DES NERVEN. 245 


nach Messung: seines Stromes durch Abtragung von beiden Enden auf etwa 
die Hälfte’ seiner Länge und maass den verbleibenden Strom. Die Er- 
gebnisse waren folgende: 


Tabelle IV. 
Länge Länge ' 
Nr. des Nerven | Ablenkung Compen; Nr. |des Nerven | Ablenkung Compen- 
in Millim. sator in Millim. sator 
1 17 15 25 6 10 61 100 
8 12 5 6 10 0 
2 18° 30 60 7 16 15 30 
10 4 0 9 4 5 
3 18 25 80 8 20 27 90 
9 19 12 10 5 0 
4 16 9 15 9 18 15 60 
| 8 3 0 9 10 10 
5 20 39 160 10 18 28 70 
10 13 6 10 15 20 


In allen Fällen hat also die elektromotorische Kraft beträchtlich ab- 
genommen und zwar stets beträchtlich mehr als die Länge, oft bis 
zu 0, d. h. bis auf eine so geringe Grösse, dass schon 1 Compensatorgrad 
die Ablenkung umkehrte Worauf diese ausserordentlich starke Abnahme 
beruht, weiss ich nicht.! 


Zu 3. Um die Frage nach dem Auftreten einer negativen 
Schwankung des Axialstromes bei Erregung des Nerven zu entscheiden, 
wurden dem Nerven Inductionsströme zugeleitet durch zwei unpolarisirbare 
Elektroden, die ihm in der Mitte seiner Länge möglichst nahe bei einander 
anlagen, während die durch Baumwollknoten hergestellten Querschnitte des 
ausgespannten Nerven mit den ableitenden Elektroden durch feuchte Fäden 
verbunden waren. Die Anordnung der Reizelektroden ganz in der Mitte 
möglichst nahe bei einander sollte verhindern, dass die Inductionsströme 
sich in merklichem Grade in das Galvanometer verzweigten. Man konnte 
ja freilich annehmen, dass die beiden einander entgegengesetzt gerichteten 
Induetionsschläge sich in ihrer Wirkung auf das Galvanometer aufheben 
würden, um so mehr, als der Wag.ner’sche Hammer in der Helmholtz’schen 
Abänderung angewendet wurde, wo beide Inductionsschläge annähernd gleich 
stark sind. In der That war die Wirkung der Inductionsströme auf das 


! Dieselbe deutet wohl auf eine beim Wachsthum des Nerven mit der Länge 
desselben zunehmende Differenzirung seiner Substanz. Bernstein. 


246 LupwieG HELLWIG: 


Galvanometer nicht merklich, wie sich aus Controlversuchen ergab. Hierzu 
wurde ein mit physiologischer Kochsalzlösung getränkter Baumwollfaden 
den vier Elektroden in gleicher Weise wie der Nerv angelest. Nur im 
Augenblick der Oeffnung und Schliessung des Kurzschlusses zur secundären 
Spirale zeigte der Faden des Fernrohres auf der Scala einen kleinen Ruck. 

Es ergab sich, dass auch der Axialstrom eine negative 
Schwankung erfährt bei Reizung des Nerven. Bei der geringen 
Grösse der Ablenkung, die der Axialstrom im Vergleich zum Längsquer- 
schnittsstrom bewirkt, betrug die negative Schwankung freilich nur wenige 
Scalentheile, so dass es oft nur mit grosser Aufmerksamkeit möglich war, 
sie als solche zu erkennen. 

Bei jedem Versuch wurde mittels einer Wippe ein Polwechsel der 
secundären Spirale vorgenommen. Die negative Schwankung war bei Ver- 
gleichung der beiden so gewonnenen Werthe entweder beide Male gleich 
oder dann stärker, wenn der Oeflnungsinductionsschlag im Nerven die gleiche 
Richtung hatte wie der. Axialstrom. 


Zu 4. a) Ueber die Zeit, nach der der Axialstrom verschwunden ist, 
habe ich nur zufällige Beobachtungen gemacht, die dahin gehen, dass der 
Strom.im Allgemeinen nach 1 Stunde auf 0 abgesunken war. Nur einmal 
war er noch nach 2 Stunden vorhanden. 

b) In folgenden Fällen wurde an Nerven, die keinen Strom mehr, oder 
nur schwachen Strom zeigten, durch beiderseitige Querschnittsanfrischung 
ein solcher wieder zur Erscheinung gebracht oder verstärkt. 


Tabelle V. 


Vor der Anfrischung .. , 0 
Nach der Anfrischung . || 65 


in Compensatorgraden 


c) Endlich habe ich die Wirkung der Anlegung nur eines frischen 
Querschnittes untersucht und die Ergebnisse in der folgenden Tabelle 
"zusammengestellt. In dieser bedeutet c. H. centrale Hälfte des Ober- 
schenkeltheiles des N. ischiadicus, p. H. periphere Hälfte desselben; in 
der Spalte „frische Querschnitte“ bedeutet „2“ zwei frische Querschnitte, 
„6“ ein frischer Querschnitt am centralen, „p“ ein frischer Querschnitt 
am peripheren Ende; in der Spalte „Richtung“ bedeutet „ab“ absteigend, 
„auf“ aufsteigend. 


ÜBER DEN AXIALSTROM DES NERVEN. 247 
Tabelle VI. 

Frische | Länge Richtung, Ablenk. Compen- 
Versuch u: Zeit Nerv Quer- des des An ator- 
Nr 7 en : Nerven _, Sealen- | Or 
i schnitte |ijnMillim.) Stromes | theilen , grade 

| 
IE 1 c.H. 2 ab 38 85 
2 In.) St En p auf 30 60 
1er. 1 p.H. 2 ab 61 135 
2 EL] 3 p Er) 41 65 
Ei c. H. 2 $ 5 0 
2 ER) EL) pP auf 5 6 
IV. 1 p. H. 2 ab 30 110 
2 2} Er) pP >’ 17 55 
V. 1 = 2 14 53 40 155 
2 n.1 St. = p 12 ” 24 56 
VI. ie c.H. 2 12 DE 6 7 
2 2 N p 10 auf 33 125 
3 Ä Y p 8 E 31- 196 
4 H 2 6 ab 6 0 
v1. 1 ” 2 15 ” 21 30 
2 = — 15 auf 3 0 
3 » p 12 » 7 25 
4 = p 9 8 29 50 
5) 39 pP 7 £E) 35 35 
VII. 1 ch 2 » u B) 
2 u 6 5 1 0 
3 Pe c 17 ab 26 50 
4 => C 13 3 31 55 
5 “ p 11 auf 15 20 
6 » c 9 n 9 8 
IX. 1 mittl. Drittel 2 17 R 17 18 
2 6 e 13 » 6 2 
3 “ € 10 ab 6 0 
x 1 5 2 16 55 44 115 
2 2 a 16 — 0 0 
3 R p auf 29 65 
XI. j p. H. 2 12 ab 31 100 
=. > pP 9 24 

3 Er p — 0 0 
4 > P auf 22 23 
5 R c ab 19 1 


248 Lupwiıg HELLwie: 


Tabelle VI. (Fortsetzung.) 


Frische | Länge Richtung, Ablenk. | Gompen- 
N I ze Ner des q n tor- 
ersue Nr ei erv Quer- Növen es Sealen. | sator 
i schnitte in Millim.| Stromes | theilen | grade 
XI. 1 11% 15’ | mittl. Drittel 2 ab 33 80 
2 117245 En = 55 14 29 
3 12 16) 5 — & 9 4 
4 12 20 r p auf 30 96 
5 12 85 > — > 42 125 
6 12 45 RS C ab 31 48 
7 1 10) Fr, p 14 auf 30 
XII. 1 1% DD 2 19 ab 24 30 
2 4 10 5 —_ 19 auf 5 0 
3 » pP 17 > 91 205 
4 > p 16 r 108 245 
5 “ p 15 R 34 165 
6 > p 14 » 39 22260 
7 > 6 13 57 110 
8 5 22 £B C 12 > 22 20 
9 HN) 8 » G 12 Do ya 0) 
10 5 13 s» _ 12 ab 3 
hl 5 18 » — 12 > 3 
12 H22 5 GC al > 29 40 
13 5 30 in [0 10 ” 40 65 
nl 538 5 G 9 Ei 25 95 
15 8 65 — 9 ” 42 145 
16 612 e [0 55 78 150 
XIV. 1 ııl 0) = 2 En 5 
| 65 = auf allmähl. steigend 
3 5 35 — a 24 85 
4 11 14 | 55 — 55 34 8 
5 12826 > = ab 7 0 
8 » © 13 Be 65 145 
7 12 40 ED G 12 » 90 2.05 
8 12 50 9 [0 10 65 7 185 
9 | 1 0 & p 8 auf 28 55 
10 N p 7 & 53 100 
11 |n.3.St 2 = 7 ab 10 
12 = p auf 3 
XV. 1 1 .ılÖ) 5 2 14 6 32 85 
2 4 20 ss — 14 ab 5 
3 > p = 0 0 
4 >> 6 ab 37 
5 » 6 3 39 70 
6 Br _ > 18 
XV1.! 1 5 92 A AA 
2 > p auf 
XVII. 1 & 2 ab 35 0 
2 C$) 1% 3 ; 1 
3 Er) pP auf 21 
4 & e ab 31 


! Von einem curarisirten Frosch. 


ÜBER DEN AXIALSTROM DES NERVEN. 249 
Tabelle VI. (Fortsetzung.) 
Frische , Länge Richtung) Ablenk. | Gompen- 
Versuch] | Zeit Ner a t 
ersuc Nr ei erv Quer- Nerven es Sealen- | Sator- 
i schnitte {n Millim.| Stromes | theilen , grade 
XV. 1 12% 30° | mittl. Drittel 2 14 ab 36 90 
2 1.18 R a 14 A 24 50 
3 6 22 35 — 14 co 3 0 
4 En p auf 13 330 
5 “ p E 85 275 
6 Er) 6 > 1 0 
7 R [v ab 22 50 
Be 7325 ei e H 24 70 
SIDR, | m, ut 3 H 2 R 35 100 
2 || 12 28 H = 5 45 125 
3 20 x u = ) ) 
4 7004 & p — 0 0 
5 7 10 > p auf 3 
6 712 r © ab 19 35 
XX. 1 12 50 Fr 2 17 53 41 100 
2 || 12 58 % er 17 “ 9 40 
3 3 28 3 A 17 fi 40 105 
4 3 36 Ri p auf 35 95 
5 3 48 R = a 160 
6 4 25 EN _ 3 130 
XXL 1 1212 % 2 19 ab 18 30 
2.1.12 30 I 23 19 5 6 5 
3 |12 40 5 2 17 E 16 25 
4 4 43 8 ar 17 & 5 ) 
5 4 48 & p auf 33 80 
6 4 52 5 e R 11 20 
7 5 13 r c ab 28 55 
XXI. 1 11 0 3 2 auf 5 _ 
2 | 12 48 R € ab 27 23 
3 |12 58 “ p ;, 15 10 
REXLTE | Nat 1092 u 2 5 35 125 
2 1 16 y 2 a 25 45 
3 1 20 5 p auf 7 3 
4 1 24 5 ß ab 10 0 
On > (ı Y 2 15 ah 15 25 
2 | 12 30 E ER 15 5 9 10 
3 |12 5 2 p 14 auf 11 20 
4: || 12 45 % 2 10 7 9 1! 
5 1220 = 2 10 ab 11 5 
6 101 x p 9 auf 11 3 
FR 1 10 3 € 8 ab 21 8 
XXV. 1 11 0 & 2 auf 12 140 
2 5 en 8 25 180 
3 al 5 2 i 8 15 
4 ® c ab 11 7 
5 1 30 u 2 Be 11 0 


! Vielleicht nur Elektrodenstrom. 


250 LupwıgG HELLWIG: 


Nach den verschiedenen Richtungen zusammengestellt: 


Tabelle VII. 


Vorher Fälle von 
Frischer Querschnitt am bestehender Ver- Ver- 
Strom stärkung | minderung Diekehnung 
len ind | ab | 10 1 = 
centxaleniinden ur mr. Bf | 2 8 > 
ab — 8 19 
periphereneIndegs sr: | am 10 2 a 


Aus dieser Zusammenstellung erkennt man Folgendes: 

Die Anlegung eines frischen (Querschnittes am centralen Ende 
des Nerven bewirkt bei bestehendem, absteigendem Strom Verstärkung 
desselben, bei aufsteigendem Verminderung desselben oder häufiger Um- 
kehrung der Stromesrichtung in die absteigende, d. h. sie schafft offen- 
bar eine Verstärkung der negativen Spannung am angefrischten centralen 
Ende. — Nur in einem Falle wurde ein absteigender Strom um ein Ge- 
ringes vermindert, indem der Einfluss der durch die Anfrischung erfolgenden 
Verkürzung überwog. Da nach den obigen Versuchen über die Wirkung 
der Verkürzung des Nerven auf den Axialstrom die Abnahme des Axial- 
stromes durch dieselbe stets im Verhältniss zum früheren Zustande beträcht- 
lich grösser ist als die Verkürzung, in dem vorliegenden Falle aber die 
Abnahme nur proportional der Verkürzung ist, so sieht man auch hier einen 
Einfluss in der angegebenen Richtung. 

Die Anlegung eines frischen Querschnittes am peripheren Ende be- 
wirkt bei bestehendem, absteigendem Strom eine Verminderung desselben 
oder häufiger eine Umkehrung der Stromesrichtung in die aufsteigende, 
bei bestehendem, aufsteigendem Strome eine Verstärkung desselben. Alle 
diese Veränderungen lassen sich wieder wie oben zurückführen auf eine 
Verstärkung oder Neuschaffung negativer Spannung am angefrischten 
peripheren Ende. — Für die zwei Fälle von geringer Verminderung eines 
bestehenden aufsteigenden Stromes gilt genau dasselbe was oben über den 
einen Fall von Verminderung eines absteigenden Stromes gesagt wurde. 

Es zeigt sich das deutliche Gesetz, dass die Anfrischung eines 
Querschnittes in ihm negative Spannung erzeugt oder verstärkt, 
dass ein frischerer Querschnitt stärker negativ sich verhält als 
ein älterer. Genau dies hatte ja auch Engelmann gefunden, nur dass 
dort der ältere und der frischere Querschnitt nach einander mit dem un- 
verletzten Gewebe, dem Längsschnitte, verglichen wurden, hier die beiden 
verschieden alten Querschnitte unmittelbar mit einander. — Je grösser der 


ÜBER DEN AXIALSTROM DES NERVEN. 251 


Zeitunterschied zwischen dem Anlegen des einen und des anderen Quer- 
schnittes ist, um so grösser ist die elektromotorische Kraft; ist durch ein- 
seitige Querschnittsanfrischung ein Strom zur Erscheinung gekommen, so 
wird er noch stärker durch nochmalige Anfrischung desselben Endes, offen- 
bar, weil der alte Querschnitt am anderen Ende jetzt im Verhältniss 
zum frischen noch älter ist als vorher. 

Vielleicht hat auch das Abschneiden von !/, bis 1 "= noch nicht die 
volle Wirkung und tritt diese erst bei 1 bis 1!/,"" ein. Auf diesem Um- 
stande beruht wahrscheinlich auch die Thatsache, dass nicht in allen Fällen 
gleich nach der ersten Anfrischung der Strom im Nerven vom frischeren 
Querschnitt zum älteren gerichtet ist, sondern dass in !/, bis !/, der Fälle 
der bestehende Strom zunächst nur ganz beträchtlich, oft bis zu 0, ver- 
mindert wird, und erst bei nochmaliger Anfrischung ein starker Strom in 
umgekehrter Richtung auftritt (vgl. als typische Beispiele XVII, 6 und 
XVII, 2). Ob es dabei auch einer gewissen Zeit dazu bedarf, dass der bis 
dahin negative Querschnitt seinen Vorsprung in der Negativität dem 
anderen abtritt, wie es nach einigen Versuchen fast scheinen will (vgl. XIII, 
7 bis 10), das will ich durchaus dahin gestellt sein lassen. Dass nach der 
Anfrischung thatsächlich noch ein Wettstreit beider Querschnitte fort- 
dauert, geht daraus hervor, dass auch noch nachträglich ohne jedes Zuthun 
der Spannungsunterschied bisweilen beträchtlich stärker wird (vgl. XII,5; 
XIH, 15; XIV, 2; XX, 5), und dass bisweilen die Stromesrichtung sich 
sogar spontan umkehrt! (vgl. VII, 2; XII, 2; XIV, 2 und 5; XV, 2). 

Jedenfalls aber lässt sich stets schliesslich ganz nach Belieben, je 
nach Anlegung des Querschnittes, aufsteigender oder absteigender Strom 
herstellen, ganz gleich ob anfänglich absteigender oder aufsteigender Strom 
vorhanden war. Und zwar haben diese „künstlichen“ Axialströme, wenn 
wir sie so nennen wollen, in den meisten Fällen eine beträchtlich grössere 
absolute Kraft als der ursprüngliche „natürliche“ Axialstrom des betreffen- 
den Nerven. 

Zu 5. Welche Vorstellung sollen wir uns nun über die Ursache 
des Axialstromes machen? Auf Grund der oben bezeichneten Engel- 
mann’schen Untersuchungen haben wir die Ueberzeugung gewonnen, dass 
der Längsquerschnittsstrom, also die Negativität des verletzten Nervenendes 
im Vergleich zum Längsschnitt, auf dem Absterben der durch die Ver- 
letzung geschädigten Ranvier’schen Theilstücke beruht. Die mit dem 
Zerfall der lebenden Substanz verknüpften lebhaften chemischen Vorgänge 
machen den Querschnitt negativ gegen den unverletzten Längsschnitt so 
lange, wie das Absterben dauert. Hat dieses am nächsten Schnürringe Halt 
gemacht, so herrscht wieder Ruhe, der elektrische Spannungsunterschied ist 
verschwunden. 


252 Lupwie HELLWIG: 


In ganz entsprechender Weise erklärt sich nun in obigen Versuchen 
mit einseitiger Querschnittsanfrischung die Negativität des frischen Quer- 
schnittes gegenüber dem älteren. Hier tritt an die Stelle des Längsschnittes 
der ältere Querschnitt. Während an dem frisch angelesten Querschnitte 
das Absterben mit voller Wucht einsetzt, ist es an dem älteren schon zum 
grossen Theile abgelaufen. 

Woher kommt aber die Negativität des einen Querschnittes gegen den 
anderen, wenn heide gleichzeitig angelegt sind? Worauf beruht das merk- 
würdige Phänomen des eigentlichen, des „natürlichen“ Axialstromes? Nun, 
am wahrscheinlichsten ist von Hypothesen immer die einfachste: Könnte 
der Axialstrom nicht auf derselben Ursache beruhen wie die in obigen 
Versuchen erzeugten „künstlichen“ Axialströme, auf einer Verschiedenheit 
des Absterbens der beiden Querschnitte? Dort ist der frische Querschnitt 
stark negativ gegen den älteren, weil er lebhaft abstirbt, der andere nur 
noch wenig; könnte nicht hier der eine Querschnitt schwach negativ sein 
gegen den anderen, weil er ein wenig lebhafter, in etwas schnellerem Tempo, 
abstirbt? Nehmen wir an, es wäre so. Aber weshalb stirbt der eine 
Querschnitt schneller ab, und weshalb thut dies gesetzmässig immer ein 
sanz bestimmter der beiden Querschnitte? Das ist die Frage. Prüfen wir 
einmal an einem Beispiele, welches Ende denn das negative, das lebhafter 
absterbende ist! Bei rein motorischen Nerven, wie sie Mendelssohn in 
den Muskelästen des Ischiadicus vom Kaninchen untersucht hat, liegen die 
Verhältnisse am einfachsten. Hier beobachtete Mendelssohn stets auf- 
steigenden Strom. Also war das distale Ende das negative, das lebhafter 
absterbende. Wie kommt das? Mendelssohn richtete bei Aufstellung 
seiner Regel sein Augenmerk auf das Nächstliegende, die Richtung der 
physiologischen Wirksamkeit, und sagte, die Richtung des Axialstromes sei 
dieser entgegengesetzt. Damit konnte er seine Versuchsergebnisse sehr gut 
zusammenfassen, und weiter hatte er auch nichts gewollt. Wir aber fragen, 
in Fortsetzung obiger Hypothese, natürlich: In welcher Weise könnte denn 
die Verschiedenheit des Absterbens der beiden Enden mit der Verschieden- 
heit der Richtung der physiologischen Wirksamkeit zusammenhängen? 
Und weil der gegenwärtige Stand unserer Kenntnisse uns nicht ermöglicht, 
dazwischen einen ursächlichen Zusammenhang aufzubauen, so befriedigt uns 
diese Regel auf die Dauer nicht. Wieso sollte das proximale Ende des 
motorischen Nerven deshalb langsamer absterben, weil es nach derjenigen 
Richtung lag, woher im Leben immer die functionellen Erregungen kamen? 
Daraus können wir uns keinen Vers machen. Aber etwas Anderes kommt 
auch noch aus derselben Richtung, das ist der trophische Einfluss von 
der Zelle des Neurons her, vom Vorderhorn des Rückenmarkes. Und 
dies giebt uns in der That einen Fingerzeig. Denn die grössere oder 


ÜBER DEN AXIALSTROM DES NERVEN. 253 


geringere Neigung zum Absterben hängt, wie beim ganzen Menschen, so doch 
wohl auch ' beim einzelnen zelligen Element in erster Linie von dem Er- 
nährungszustande ab. Wäre es nicht denkbar, dass das dem trophischen 
Centrum, der Zelle, nähere Ende der Faser deshalb weniger hinfällig ist 
als das andere, weil es in Folge dieser Nähe mit einem oder mehreren 
Ernährungsstoffen besser ausgestattet ist? Dies wären vielleicht nicht gerade 
„Nahrungsstoffe“ im gewöhnlichen Sinne, denn das tägliche Brot so zu 
sagen bekommen die Nervenfasern natürlich von den Blutgefässen des be- 
treffenden Nerven und nicht von der Zelle des Neurons her; es könnten 
vielmehr jene belebenden Stoffe sein, die eben den trophischen Einfluss 
unterhalten (falls wir diesen nicht bloss als einen „Tonus‘! ansehen sollen), 
jene Träger der Lebensenergie, die, dem Kern eigenthümlich und nur von 
ihm erzeugbar, dem Axencylinder, als einem Ausläufer der Neuronzelle, 
von dieser her kommen müssen und in ihm deshalb vielleicht, je näher 
der Zelle, je reichlicher vorhanden sind. Denn den Axeneylinder müssen 
wir von den Bestandtheilen der Nervenfaser doch offenbar als dasjenige an- 
sehen, was nach der Verletzung durch sein Absterben den Querschnitt 
negativ macht. Denn er ist auf dem Querschnitt einer Nervenfaser das 
einzige Protoplasma, das Uebrige’ ist Horn, Myelinfett u. s. w.; er ist 
das vornehmlich „Lebende“, also auch dem Sterben in erster Linie unter- 
worfen. 

Dass die Neuronzelle einen trophischen Einfluss auf den Nerven hat, 
dass dieser degenerirt, sobald er von ihr getrennt wird, ist ja bekannt. Es 
würde unsere obige Hypothese sehr stützen, wenn es sicher wäre, dass die 
Degeneration in den von der Neuronzelle entferntesten Strecken der ab- 
getrennten Faser beginnt und zu der Durchtrennungsstelle hin fortschreitet. 
Leider ist dies nichts weniger als sichergestellt. Die einen Beobachter 
haben eine distalwärts fortschreitende Degeneration gesehen, die anderen 
eine proximalwärts fortschreitende, die dritten und meisten haben eine 
gleichzeitig an distal und proximal gelegenen Nervenstrecken auftretende 
Degeneration beobachtet. Es ist nicht unmöglich, dass die ersten gerade 
Fasern mit distalwärts gelegenem trophischen Centrum (vgl. unten), die 
anderen solche mit proximalem trophischen Centrum, die letzten endlich 
Nerven mit beiden Faserarten untersucht haben. 

Gleichwohl brauchte es unserer Hypothese auch nicht gerade zu wider- 
sprechen, wenn die Degeneration wirklich in der ganzen Länge einer und 
derselben Nervenfaser gleichzeitig auftritt. Denn einmal spielt als Ur- 
sache der Degeneration ausser dem Wegfall des trophischen Einflusses auch 
wohl noch der Wegfall der normalen Function eine Rolle, der ja alle Strecken 
einer Nervenfaser gleichmässig betrifft. Ferner könnte sich bis zum Ein- 
tritt der Degeneration, die ja erst nach Tagen oder Wochen erfolgt, der 


254 Lupwiıe HELLWIG: 


Unterschied in dem trophischen Zustande der Nervenfaserstrecken aus- 
geglichen haben.! 

Mag also die trophische Verschiedenheit der verschieden weit vom 
trophischen Centrum entfernten Nervenstrecken auch nach der Trennung 
von diesem eine dauernde sein und in einem von Strecke zu Strecke 
fortschreitenden Auftreten der Degeneration ihren anatomischen Ausdruck 
finden, oder mag die trophische Verschiedenheit nur unmittelbar nach der 
Trennung vom Centrum noch bestehen, in beiden Fällen wird sie zu dieser 
letzteren Zeit, um die es sich für uns handelt, vorhanden sein. Und ist 
sie vorhanden, so ist es doch möglich, dass die „Demarcation“, das Ab- 
sterben des verletzten Ranvier’schen Theilstückes, das der Verletzung sich 
unmittelbar anschliesst und seine Ursache nicht in der Trennung von der 
Neuronzelle, sondern in der Verletzung als solcher hat, dass dies an den 
beiden Enden eines herausgeschnittenen Nervenstückes in Folge dieser 
trophischen Verschiedenheit der beiden Enden verschieden schnell vor 
sich geht. 

Wenn wir im Lichte der vorstehend entwickelten Hypothese nun noch 
einmal die Thatsache betrachten, dass die „künstlichen“ Axialströme oft viel 
stärker sind als die „natürlichen“ an denselben Nerven, und dass diese 
durch jene ganz verdeckt werden, so scheint sie uns jetzt ganz erklärlich. 
Denn wenn der eigentliche Axialstrom ebenfalls nur auf Verschiedenheit 
der Absterbeintensität beider Querschnitte beruht, so wird der: feine Unter- 
schied, den darin zwei gleich frische Querschnitte eines Nerven darbieten, 
natürlich gänzlich verwischt, wenn man die beiden Querschnitte zunächst 
so und so weit absterben lässt und dann den einen noch einmal anfrischt. 
Dann ist der Unterschied natürlich sehr gross, und das verschiedene Tempo 
des Absterbens kann nicht mehr zum Ausdruck kommen, da es sich bereits 
um ganz verschiedene Stadien dieses Vorganges handelt, deren Verschieden- 
heit von beherrschendem Einfluss ist. 

Auch die Abnahme der Stärke des Axialstromes bei Verkürzung des 
Nerven (vgl. Tab. IV) würde zu obiger Hypothese sehr gut stimmen. Denn, 


! Ich will einen Vergleich machen. In der Mitte einer grossen kreisförmigen ° 
Glasplatte, die in einem Raume mit getrockneter Luft genau wagerecht aufgestellt 
ist, sprudele aus einem Loche derselben absoluter Alkohol hervor, und zwar in der 
Zeiteinheit eine gewisse Menge, die gerade der Verdunstung auf der ganzen Platte in 
derselben Zeit entspricht, so dass die ganze Platte dauernd feucht bleibt, aber auch 
nichts mehr herunterläuft. Dann ist natürlich an einer Stelle je mehr Alkohol vor- 
handen, je näher sie der Mitte liegt. Drelie ich nun plötzlich den Hahn in dem den 
Alkohol von unten zuführenden Rohre zu, so wird in einer'sehr kleinen Anfangszeit 
immer noch an einer der Mitte näheren Stelle mehr Alkohol sein als an einer ferneren. 
Später wird sich der Alkohol gleichmässig vertheilt haben, und die ganze Platte wird 
nach Ablauf einer gewissen Zeit gleichzeitig trocken sein. 


ÜBER DEN AXIALSTROM DES NERVEN. 255 


wenn die Ursache des Axialstromes darin liegt, dass das eine Ende des 
Nerven dem trophischen Centrum näher lag, das andere weiter, so muss 
natürlich der Spannungsunterschied der beiden Querschnitte um so grösser 
sein, je weiter von einander sie liegen, selbstverständlich unter der Vor- 
aussetzung, dass sie jedesmal beide gleichzeitig angelegt sind. 


Kehren wir jetzt zu unserem Beispiel zurück, von dem wir ausgingen, 
zu den Muskelästen. Wenn hier ein aufsteigender Axialstrom besteht, so 
geht derselbe, da die Neuronzelle im Vorderhorn des Rückenmarkes liest, 
in der Richtung zur Zelle hin, er ist also „cellulipetal“ Sehen wir zu, 
ob dies für die übrigen Fälle auch zutrifft. 


Für hintere Wurzeln, N. opticus und olfactorius liegen die trophischen 
Centren peripher (für letztere beiden in den Ganglienzellen der Retina und 
in den Zellen der Riechschleimhaut), es wäre also absteigender Strom 
zu erwarten und ist von Mendelssohn in der That stets beobachtet 
worden. 


Die vorderen Wurzeln haben, ebenso wie die Muskeläste, das trophische 
Centrum proximalwärts, sie müssten also aufsteigenden Strom geben; ein 
solcher fand sich auch thatsächlich in Mendelssohn’s Versuchen in der 
Mehrzahl der Fälle. 


Bei den peripheren, gemischten Nervenstämmen treten motorische und 
sensible Fasern zusammen; für erstere liest das trophische Centrum im 
Vorderhorn des Rückenmarkes, also proximalwärts; für letztere liegt es 
zum Theil im Spinalganglion, zum Theil auch im Rückenmark,! also in, 
beiden Fällen ebenfalls proximalwärts. Danach müssten gemischte Nerven 
und auch rein sensible aufsteigenden Strom geben, ebenso wie es die 
Muskeläste thun. Wenn wir also bei dem N. ischiadieus im Gegentheil 
ausnahmslos absteigenden Strom beobachten, so scheint es, als ob diese 
Thatsache der „trophischen Regel“ unrecht giebt. Doch vielleicht lässt sich 
der absteigende Strom mit dieser Regel nur deshalb nicht in Einklang 
bringen, weil unsere Voraussetzungen über die Lage der trophischen Oentren 
falsch sind? Auch von den sog. „sensorischen“ Nerven, d. h. den Nerven 
des Gesichts, Gehörs, Geruchs und Geschmacks, glaubte man früher, dass 
sie ihr trophisches Centrum centralwärts hätten; und dann wurde nach 
und nach, wenigstens für die drei ersten, nachgewiesen, dass die Fasern 
dieser Nerven vielmehr zu Neuronen gehören, deren Zellen in der Peripherie 
liegen, in den Organen, in denen die Erregung der Faser entsteht. An- 
gesichts dessen wäre es eigentlich schon von vornherein wunderbar, wenn 


! Vgl. Joseph, Zur Physiologie der Spinalganglien. Dies Archiv. 1887. Physiol. 
Abthlg. S. 296 ff, insbes. S. 306 u. 307. 


256 Lupwıs HELLWIG: 


der fünfte Sinn, der Hautsinn, von dieser Anordnung eine Ausnahme 
machen sollte, um so mehr, als wir phylogenetisch doch eine Entstehung 
des Gesichts- und Gehörssinnes aus dem Hautsinn annehmen, durch ört- 
liche Verfeinerung der Empfindung der Haut für Wärme im ersteren 
Falle, der Empfindung der Haut für Druck im anderen Falle. Der 
erste, der die Behauptung aufstellte, dass für diejenigen Nervenfasern, 
die den Hautsinn in seinen verschiedenen Formen vermitteln, ebenfalls die 
Neuronzellen in der Peripherie, also in der Haut, liegen, war F. Krause.! 
Er bezeichnete die Wagner-Meissner’schen Tastkörperchen als solche 
trophischen Centren, jene Endorgane, von denen die einen? in der Wärme, 
die anderen im Druck ebensogut ihren homologen Reiz haben wie die 
Stäbchen- und Zapfenzellen der Netzhaut im Licht, die Haarzellen des 
Corti’schen Organs im Schall, indem sie bewirken, dass die druckempfin- 
denden Fasern nur durch Druck, nicht durch Wärıne, die wärmeempfindenden 
nur durch Wärme, nicht durch Druck erregt werden. Krause kam zu 
seiner Behauptung zunächst auf Grund einer zufälligen Beobachtung an 
einem amputirten Nerven. Als er an einem schon früher einmal ampu- 
tirten Beine von neuem amputiren musste, und nun das dabei entfernte 
Stück des N. ischiadicus untersuchte, fand er darin einen sehr grossen Theil 
der Fasern degenerirt, obwohl dafür nach den bisherigen Kenntnissen gar 
keine Veranlassung vorlag. Es stellte darauf “entsprechende Durch- 
schneidungsversuche an Kaninchen an und fand hier stets denselben Befund. 
Danach würden also wahrscheinlich in einem gemischten Nerven alle 
Fasern, die dem Hautsinn dienen, d. h. alle „sensorischen“ Fasern, ihr 
‚Centrum distalwärts haben, während es proximalwärts bei den motorischen 
und den schmerzempfindenden, den „sensitiven“ Fasern läge Nun er- 
scheint es doch keineswegs ausgeschlossen, dass die Fasern des Haut- 
sinnes im Ischiadicus an Zahl die Mehrheit hätten. In diesem Falle wäre 
aber der absteigende Strom in demselben auch nach der trophischen Regel 
erklärlic. Krause hat geschätzt, dass die im centralen Stumpf degene- 
rirten Fasern ungefähr die Hälfte aller Fasern seien; wenn unsere Regel 
vom cellulipetalen Strom stimmen sollte, so müssten es etwas mehr als die 
Hälfte sein. 

Somit wäre es sehr wohl möglich, wenn auch noch unentschieden, dass 
die trophische Regel den Thatsachen vollständig entspricht. Dies wäre nun 


! Vgl. F. Krause, Ueber aufsteigende und absteigende Nervendegeneration. Dies 
Archiv. 1887. Physiol. Abthlg. S. 370 ff., insbes. S. 375. 

? Ich sage so, obgleich ja wohl verschiedene Arten von Nervenendigungen 
Wärme und Druck empfinden, weil ich die von Anderen schon oft behandelte Frage 
als zu weit führend hier nicht erörtern will, welche der bisher beschriebenen Arten 
von Endigurgen dem einen und welche dem anderen Zwecke dienen. 


ÜBER DEN AXIALSTROM DES NERVEN. 257 


noch kein Vorzug vor der Mendelssohn’schen Regel, da diese zu den 
bisher beobachteten Thatsachen ebenso gut passt. Die functionelle Erregung 
der Faser kommt eben fast in allen Fällen aus derselben Richtung wie 
der trophische Einfluss. Der Vorzug der trophischen Regel liegt vielmehr, 
falls sie stimmt, in der Befriedigung des Causalitätsbedürfnisses. 
Eine experimentelle Entscheidung zwischen beiden Regeln könnte nur 
an schmerzempfindenden Nerven erfolgen. Hier würde die Richtung 
des Axialstromes nach beiden Regeln verschieden sein: Der cellulipetale 
Strom würde aufsteigend, der der physiologischen Wirksamkeit entgegen- 
gesetzte absteigend sein. Doch giebt es wohl solche schmerzempfindenden 
Fasern, aber nicht ganze Nerven, die nur aus solchen zusammengesetzt 
sind.. Am ehesten erscheint noch der Trigeminus zu einer solchen ent- 
scheidenden Untersuchung geeignet; wenn in irgend einem Nerven, so 
müssen in ihm reichlich schmerzempfindende Fasern vorhanden sein, da ja 
in seinem Verbreitungsbezirk die heftigsten Schmerzen auftreten, die über- 
haupt vorkommen. Gleichzeitig sind die beiden ersten Aeste des Trigeminus 
frei von motorischen Fasern, so dass ein etwaiger aufsteigender Strom nicht 
von solchen herrühren könnte. Endlich haben wir am Trigeminus die 
Möglichkeit, ihn auch central von seinem Ganglion zu untersuchen. Dort 
ist nach beiden Regeln absteigender Strom zu erwarten. Findet sich dieser, 
gleichzeitig aber peripher vom Ganglion ein aufsteigender Strom, so ist der 
Einfluss des Ganglions, als trophischen Centrums der „sensitiven‘“ Fasern, 
auf die Richtung des Axialstromes deutlich und die functionelle Regel 
widerlegt. Ergiebt sich dagegen absteigender Strom auch peripher vom 
Ganglion, so bleiben natürlich vorläufig beide Regeln im Recht, ebenso wie 
am N. ischiadicus. 

Als Versuchsthier bietet sich das Kaninchen, bei dem der Stamm des 
N. trigeminus nach Abgang des dritten Astes, sowie der zweite Ast des 
Trigeminus (R. maxillaris sup.) durch ihre Dicke zur Untersuchung ge- 
eignet und auch zweifellos so gut wie ausschliesslich centripetalleitend sind. 
Beim Kaninchen bildet der N. trigeminus von der Abgangsstelle des dritten 
Astes (R. maxillaris inf.) dicht hinter dem Ganglion Gasseri bis zur Stelle 
der Theilung in R. ophthalmicus und R. maxillaris sup. einen dicken, etwa 
1°” langen Nervenstamm, der von Dura eingeschlossen und zum Theil von 
Knochen bedeckt, an der Schädelbasis liegt.! . 

Ich stelle nunmehr die Ergebnisse meiner Untersuchungen an diesen 
Nerven von 10 Kaninchen zusammen. Ausser den oben genannten Theilen 
des Trigeminus untersuchte ich meist noch den Opticus und Oculomotorius, 
sowie gelegentlich den Ischiadicus. | 


ı Vgl. W. Krause, Anatomie des Kaninchens. S. 310. Fig. 132. 
Archiv f. A. u. Ph. 1898. Physiol. Abthlg. 17 


258 LupwıG HELLWIG: 


Tabelle VIIL! 


Unter- Kaninchen I ner 
suchter Ale | g 4 | Sa er re rs 9 | 10  |sammen 
EIEA EIEF EIEN EIEI ESER EZB ES EEE Ze 
Ne] | | | ae 
Tielıı) | Iris | 
central v. 0 ES | | | | | | 
Ganglion | auf, IeB ‚ab ab ab/ab | O ab ab jab ab | 0 Sal ii 
Trig.I+IL | Ba IE | 
peripher I | rda USaR | 1 REINE Ua LE N | 
v. Gangl. auf | IDEE au zul aan „| 0 lauf 0 | 0  0O|| „ab jauflaufl| 3 | 8 
| | | | | || | | | | | 
Trigem. II ab lauf, lab lab | „| „ lab] | „ jauflab | 0 Jauflab|| „ jaufl| „| „|| 8 | 8 
Optieus. . ‚ab ab aufaauf „ „ auf ab ISO ab | US, WO 
Oeulomot. jauf| auf abo ES \ab | lauf | lab | | 315 
| ea al | Ha 
Ischiadieus ab ‚ab | | | 4ı — 


Wie man sieht, waren die Ergebnisse sehr schwankend. Immerhin 
zeigt sich im Trigeminus peripher vom Ganglion ein deutliches Ueberwiegen 
der Fälle von aufsteigendem Strom zu Gunsten der trophischen Regel und 
zu Ungunsten der Mendelssohn’schen. Im zweiten Ast ist aufsteigender 
Strom nur in der Hälfte der Fälle vorhanden. Ob dieser Unterschied 
darauf beruht, dass der zweite Ast nicht mehr die secretorischen Fasern 
für die Thränendrüse enthält, die aus dem Stamm in den ersten Ast über- 
gehen, bleibe dahingestellt. 

Der Trigeminusstamm central vom Ganglion, von dem die motorische 
Wurzel stets abgelöst wurde, zeigt bis auf eine Ausnahme stets absteigenden 
Strom, auch in denjenigen Fällen stets, wo in obigen beiden Nervenstücken 
aufsteigender Strom beobachtet wurde. Dies ist immerhin sehr bemerkens- 
werth und spricht zu Gunsten der trophischen Regel. Denn da die Nerven- 
fasern des Trigeminusstammes vor und hinter dem Ganglion offenbar an 
Zahl und Functionsrichtung gleich sind, so kann eine Verschiedenheit der 
Stromesrichtung vor und hinter dem Ganglion seine Ursache nur darin 
haben, dass dasselbe für den central von ihm gelegenen Abschnitt abwärts, 
für den peripher von ihm gelegenen aufwärts liegt. 

Doch das schwankende Ergebniss am Opticus und Oculomotorius, also 
an Nerven, an denen Mendelssohn stets constante Ergebnisse hatte, lässt 
den Verdacht aufkommen, dass Versuchsfehler vorliegen. 


! ab = absteigender Strom, auf = aufsteigender Strom. 


ÜBER DEN AXIALSTROM DES NERVEN. 259 


Solche Versuchsfehler könnten darin bestehen, dass ein oder der andere 
Nerv gequetscht zur Untersuchung gekommen ist. Dies erscheint schon 
wahrscheinlich, wenn man die Art und Weise bedenkt, in der die Nerven 
zur Untersuchung gewonnen werden mussten. 

Der Stamm des N. trigeminus musste nach Wegbrechung einer Knochen- 
decke aus der Dura herausgeschält werden, der R. maxillaris sup. musste 
aus seiner Einkeilung am vorderen Ende hervorgezogen, der N. opticus aus 
seiner Scheide und dem Augenhöhlenfett herausgeschnitten, der Oculomotorius 
ebenfalls gefasst und scharf präparirt werden. Dazu kommt, dass Alles 
schnell gemacht werden muss, um die Nerven möglichst frisch zur Unter- 
suchung zu erhalten. 

Wenn also unter diesen Umständen trotz der grössten Sorgfalt eine 
Zerrung oder Quetschung der Nerven schon von vornherein beinahe un- 
vermeidlich schien, so musste das Schwanken des Versuchsergebnisses am 
Opticus und Oculomotorius einen solchen störenden Einfluss so gut wie 
sicher machen. 

Denn eine Quetschung des Nerven konnte sehr wohl, wenn sie nur 
eine Seite betraf, nach obigen Versuchen mit einseitiger Querschnitts- 
anfrischung, die Richtung des ursprünglichen Axialstromes in die entgegen- 
gesetzte verkehren. Dies war um so eher möglich, als, wie schon oben 
bemerkt wurde, die elektromotorische Kraft des Axialstromes an den Gehirn- 
nerven meist sehr gering war. 

In Folge dieser Erwägungen habe ich die Versuche an Hirnnerven 
vorläufig abgeschlossen. Andere geeignete, d. h. rein centripetalleitende 
Nerven peripher vom Ganglion bieten sich zunächst nicht. Deshalb bleibt 
es übrig zu versuchen, ob sich die oben über die Beziehung der Richtung 
des Axialstromes zum Neuron aufgestellte Hypothese auf einem anderen 
Wege bestätigen lässt. 


Zum Schlusse meiner Arbeit spreche ich meinem verehrten Lehrer, 
Hrn. Prof. Dr. Bernstein, meinen wärmsten Dank aus für die vielen 
Anregungen und Rathschläge, durch die er meine Arbeit jeder Zeit in 
liebenswürdigster Weise zu fördern suchte. Imsbesondere hinsichtlich der 
Frage, ob und wie die Verschiedenheit der Richtung des Axialstromes sich 
mit unseren Kenntnissen vom Neuron in Verbindung bringen lässt, ver- 
danke ich ihm die vielfachsten Anregungen. 


Verhandlungen der physiologischen Gesellschaft 
zu: Berlin. 
Jahrgang 1897—1898. 


V. Sitzung am 14. Januar 1898. 


1. Hr. A. Loewy demonstrirt einen zur Analyse der Blutgase be- 
stimmten Apparat. Er besteht (s. Figur) aus einem mit gläserner Vorder- 
und Rückwand versehenen Wasserkasten aus lackirtem Eisenblech, innerhalb 
dessen sich zwei 5"" von einander entfernte, diekwandige, calibrirte Glas- 
röhren ‘befinden. Sie sind oben durch Glashähne zu schliessen, durchsetzen 
unten den Boden der Wanne und communieiren unter Einschaltung eines 
Y-Rohres und eines starken Gummischlauches mit einer Füllkugel, durch 
deren Hebung bezw. Senkung sie mit Quecksilber gefüllt oder entleert werden 
könne. — In der Wanne befindet sich ausserdem ein in !/,,° €. getheiltes 
Thermometer und ein bis auf den Boden reichendes Glasrohr, das mit einem 
Gebläse in Verbindung steht und ein Durchlüften des Wassers zum Zweck 
des Temperaturausgleichs ermöglicht. 

Das in der Figur rechts stehende Rohr dient der Aufnahme des zu 
analysirenden Gases. Es ist ursprünglich mit Hg gefüllt. Sein ‘oberes, 
capillares, gleichfalls mit Hg gefülltes Ansatzstück wird durch ein capillares 
Gummischlauchstück mit dem kurzen Rohr in Verbindung gesetzt, das in der 
kleinen Quecksilberwanne steht, die sich auf dem verschiebbaren Tischehen 
rechts an der Wanne befindet. Die Verbindung beider Röhren wird durch 
eine (in der Figur nicht gezeichnete) mit Flüssigkeit gefüllte Manschette 
gesichert, die sich über die Verbindungsstelle schieben lässt. 

Das kurze Rohr enthält das durch Auspumpen gewonnene Gas. Dieses 
wird nach Oeffnung der Glashähne durch Senkung der Füllkugel in das 
„Analysenrohr‘“ rechts in der Wanne hineingesogen und durch Fernrohr- 
ablesung sein Volum gemessen. Zugleich wird die Wassertemperatur mit 
Hülfe des eingesenkten Thermometers notirt. — Dem Zwecke der Reduction 
des gefundenen Volums auf seinen Normalzustand dient das zweite Rohr 
links in der Wanne. Es enthält ein Quantum atmosphärischer Luft ein für 


! Ausgegeben am 26. März 1898. 


VERHANDLUNGEN D. BERLINER PHYS. Ges. — A. Loerwy. — N. Zuntz. 261 


alle Mal abgesperrt, dessen Volum bei 0°, 760"® Bar. und Trockenheit 
bekannt ist. Dieses Luftquantum steht unter denselben Bedingungen der 
Temperatur und des Barometerdruckes wie das zu analysirende, nur der 
absolute Druck, unter dem es steht, weicht von dem im Analysenrohre ab 
und zwar um die Höhendifferenz der beiden Menisken. 

Mit Hülfe dieser Höhendifferenz lässt sich nun eine relativ einfache 
Formel entwickeln, durch die die Reduction auf den Normalzustand mög- 
lieh ist. 

Die Gasmenge wird dann durch Heben der Füllkugel in das kurze 
Rohr zurückgetrieben, in dieses 
von unten her mittels ge- 
krümmten Capillarrohres etwas 
Kalilauge gebracht und eine 
schnelle Absorption der Koh- 
lensäure durch mehrmaliges 
Hin- und Hertreiben des Gases 
in’s „Analysenrohr“ und zu- 
rück bewirkt. Es folgt eine 
erneute Ablesung der Menisken 
in den beiden Röhren in der 
Wanne und des Thermometers 
und die Reduction wie vorher. 
Das Gas wird wiederum in das 
kurze Rohr zurückgetrieben 
und nun mittels des: kleinen, 
links neben der Wanne De 
findlichen Apparates, dessen 
Anordnung ich “Hrn. Prof. 
Zuntz verdanke, :pyrogallus- 
saures Alkali in das Rohr :ge- 
bracht, und durch wiederholtes 
Hin- und Hertreiben des Gases 
die Sauerstoffabsorption aus- 
geführt. Neue Ablesung der 
Menisken nach Uebertreibung 
des Gasrestes in das Analysen- 
rohr und Reduction. a: 

Auf Grund einer grossen Reihe von Analysen glaube ich sagen zu 
können, dass die Handhabung des Apparates eine beqtieme und einfache ist, 
die Analysen genügend exacte Resultate geben und schnell auszuführen sind: 

Wegen einer. Reihe von Einzelheiten in der Handhabung, der theo- 
retischen Begründung der Reductionsformel, der Zuverlässigkeit des Apparates 
sei auf die ausführliche Mittheilung verwiesen. 


2. Hr. N. Zuntz hält den angekündigten Vortrag: Ueber die Fett- 
bildung aus Eiweiss nach den auf seine Anregung ausgeführten Ver- 
suchen von Dr. Oswaldo Polimanti. 

Bei Fröschen, welchen die Fettkörper und die Geschlechtsdrüsen und 
damit die Hauptvorrathsstätten des Fettes im Körper ausgeschnitten waren, 


262 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


trat nach Vergiftung mit Phosphor regelmässig eine Vermehrung des Fettes 
auf, so dass angesichts des geringen Glykogenvorrathes solcher ausgehungerter 
Thiere eine Fettbildung aus Eiweiss kaum von der Hand zu weisen ist. 
Vortragender bespricht eine Anzahl bereits in seinem Laboratorium vor- 
bereitete Controlversuche, welche er zur Sicherung des von Polimanti 
sefundenen Resultats für wünschenswerth hält. 


VI Sitzung am 28. Januar 1898. 


Hr. D. HaysemAann hält den angekündigten Vortrag: Ueber den 
Einfluss des Winterschlafes auf die Zelltheilung. 


Es ist Ihnen bekannt, dass in früherer Zeit allgemein die Anschauung 
verbreitet war, dass die Zellen durch das Leben der Individuen verbraucht 
würden und einer permanenten Regeneration unterworfen seien. Reste 
dieser Vorstellung haben sich bis in die neueste Zeit hinein erhalten. Es 
ist jedoch seit der Entdeckung der Karyokinese durch zahlreiche Forscher 
festgestellt worden, dass nur ein Theil der Zellarten eine sogenannte physio- 
logische Regeneration besitzt, während die übrigen als Dauerzellen zu 
betrachten sind, soweit sie nicht pathologischen Processen unterliegen. Ich. 
selbst habe mich insofern an diesen Studien betheiligt, als ich diese Ver- 
hältnisse vorzugsweise beim Menschen studiren konnte. Dabei habe ich die 
Vermuthung ausgesprochen, dass diejenigen Zellarten eine physiologische 
Regeneration besitzen, die direct durch äussere mechanische, thermische oder 
chemische Reize getroffen werden, während die übrigen, speciell auch die 
rein secretorischen Abschnitte der echten Drüsen, eine solche Regeneration 
nicht aufweisen. War diese Vermuthung richtig, so musste die physiologische 
‚Regeneration vollständig aufhören, wenn man alle solche äusseren Reize 
auszuschliessen im Stande ist. Das ist nun experimentell bei den meisten 
Thieren nicht möglich. Dagegen hat die Natur durch den Winterschlaf bei 
manchen Thieren einen solchen Zustand geschaffen. Die Nahrungsaufnahme 
hört dabei ganz auf. Die Athmung ist auf’s Aeusserste reducirt und sehr 
abgeflacht, so dass auch die Bewegung auf ein Minimum beschränkt ist. 
Der Darm wird ganz leer und eine Defäkation findet nicht mehr statt. 

Zunächst habe ich mit Murmelthieren gearbeitet. Ich bekam zwei 
männliche, gut genährte Individuen direet aus Zermatt geliefert, die Ende 
October bereits in einem somnolenten Zustande hier ankamen. Sie bauten 
sich aus Wolle und Heu in einer Kiste ein muffartiges Nest, kamen noch 
einige Male zum Vorschein, um Nahrung aufzunehmen, waren aber vor 
Mitte November vollständig eingeschlafen, und zwar so fest, dass man sie 
herausnehmen, die Athmung zählen und Temperaturmessungen im After 
vornehmen konnte. So blieben sie möglichst ungestört bis Ende Februar 
in einem kalten Kellerraume. Um diese Zeit wurde das eine Thier durch 
einen Schlag auf den Kopf getödtet. Die zuerst ‘versuchte Chloroform- 
narkose schlug fehl, da dieselbe bei den zwei bis drei Athemzügen in der 
Minute nicht zu Stande kam. Von sämmtlichen Organen wurden sofort 
Theile in Sublimat und Flemming’scher Lösung fixirt und besondere Auf- 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — D. HANSEMANN. 263 


merksamkeit auf diejenigen Organe verwendet, die physiologische Mitosen 
erwarten liessen, also in erster Linie die Epidermis, die Schleimhäute, Darm 
und Oesophagus, Hoden (über die Befunde am Hoden habe ich schon früher 
in dieser Gesellschaft berichtet) u. s.w. Das Resultat war, dass nirgends 
eine Zelltheilungsfigur aufgefunden wurde, und so schien meine Vermuthung 
durch diese Untersuchung eine Bestätigung zu finden. 

Aber es war noch ein Bedenken dabei. Die Temperatur der Thiere, 
im After gemessen, zeigte dieselben Grade wie die umgebende Luft. Bei 
zwei Messungen betrug dieselbe ein Mal 3°, ein Mal 5°C. Es konnte also 
die niedrige Temperatur die Ursache des Mitosenmangels sein. Das zweite 
überlebende Thier, das später im Frühjahr, nachdem es Wochen lang wieder 
munter war, getödtet wurde, zeigte alle die Mitosenbefunde, wie man sie 
bei anderen Thieren gewöhnt ist zu sehen. 

Um diesem Einwand zu begegnen, machte ich in den beiden folgenden 
Wintern Versuche an 14 Igeln. Dieselben halten sich viel schlechter in 
der Gefangenschaft und deshalb starben 5 während des Winterschlafes. Von 
den übrigen 9 wurde einer während des Schlafes getödtet und seine Organe 
zeigten denselben Mitosenmangel, wie das Murmelthier. Ein Igel wurde zur 
Controle nach Ueberstehen des Winterschlafes im April getödtet und zeigte 
die gewöhnliche Verbreitung der Zelltheilungsfiguren. Die übrigen erhielten 
oberflächliche Einritzungen in die Nasenspitze, was sie in ihrem Winter- 
schlaf durchaus nicht störte, und wurden dann nach 1 bis 14 Tagen eben- 
falls getödtet. Dabei stellte sich nun heraus, dass an den verletzten Stellen, 
trotz der niedrigen Temperatur, ein Mal eine starke Ansammlung von Leuko- 
eyten auftrat, weiter aber auch sich Mitosen entwickelten sowohl in der 
Epidermis, wie in dem mitverletzten Bindegewebe. Die Form der Mitose 
entsprach durchaus der normalen, dagegen war die Zeit ihres Auftretens 
bedeutend verzögert. Während man sonst schon nach 24, spätestens nach 
48 Stunden bei Verletzungen reichliche Mitosen findet, so traten sie hier 
erst nach 4 bis 6 Tagen auf. 

Danach halte ich den Satz für bewiesen, dass die „physiologische Zell- 
theilung“ die Folge einer directen mechanischen Abnutzung der Gewebe ist. 
Es wäre nur noch ein Einwand möglich, nämlich dass durch die Verletzung 
eine locale Temperatursteigerung hervorgebracht würde. Solche Messungen 
habe ich leider nicht vorgenommen, halte aber eine solehe Temperatur- 
steigerung im Wesentlichen für unwahrscheinlich. Ganz minimale Tempe- 
ratursteigerungen (Bruchtheile eines Grades) kommen, wie Pfeffer nach- 
gewiesen hat, schon bei Pflanzen nach localen Verletzungen vor. Solche 
haben hier sicher nicht gefehlt. Es würde aber hier nur von Bedeutung 
sein, wenn die Temperatur um mehrere Grade stiege. Das wäre aber nur 
möglich, wenn die gesammte Temperatur in die Höhe getrieben worden 
wäre oder eine bedeutende locale Hyperämie entstanden wäre. Beides war 
nicht der Fall. Besonders aber ist durch die äussere Lage der Verletzungen 
und die dadurch bedingte Abkühlung bis zum 4. bis 6. Tage, als erst die 
Mitosen auftraten, eine wesentliche locale Temperatursteigerung mit Sicher- 
heit auszuschliessen. 


264 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


VI. Sitzung am 11. Februar 1898. 


Hr. R. pu Boıs-Reymono hält den angekündigten Vortrag: Ueber die 
sogenannten Wechselgelenke beim Diener 


Die Anregung zu den folgenden Betrachtungen verdanke ich Hrn. Geh.-R. 
Stieda, der in seinen anatomischen Vorlesungen das Sprunggelenk und 
Atlantoepistrophealgelenk des Pferdes als typische Schraubengelenke vorzu- 
zeigen pflegt. Die Pferdeknochen entsprechen durch ihre Grösse und aus- 
geprägte Gestalt dem Zweck einer solchen Demonstration so gut wie eigens 
gefertigte Modelle. 


Die beiden genannten Gelenke, zu denen noch das Ellenbogengelenk 
hinzutritt, sind aber auch in anderer Beziehung interessant. Es sind soge- 
nannte Wechselgelenke, ein Gelenktypus, der im menschlichen Körper nicht 
vorkommt. Ein solches Gelenk gleicht einem Walzengelenk oder Drehgelenk, 
ist aber innerhalb seines Bewegungsumfanges nicht frei beweglich, sondern 
in der Mittelstellung spannen sich seine Bänder, so dass nur die Grenzstel- 
lungen Ruhelagen des Gelenks sein können. Diese mechanische Wirkung 
kann auf zweierlei Art hervorgebracht sein; erstens durch die Gestalt der 
Gelenkflächen, zweitens durch die Lage der Gelenkbänder. Zwischen den 
vorliegenden drei Wechselgelenken des Pferdes, dem Ellenbogen- und Dprung- 
gelenk einerseits, und dem Atlantoepistrophealgelenk andrerseits, besteht in 
dieser Beziehung ein Unterschied. 


Das Sprunggelenk hat als ein sehr vollkommen ausgebildetes Schrauben- 
gelenk drehrunde Form. Soweit also die Gelenkfläche in Betracht kommt, 
würde die Bewegung des Fusses gegen den Unterschenkel (und umgekehrt) 
eine ganz gleichmässige Kreisbewegung sein. Von der geringen seitlichen 
Verschiebung durch die Schraubenwirkung kann hier abgesehen werden. 
Ebenso ist die Fläche des Ellenbogengelenks eine ganz regelrechte Walzen- 
fläche mit flacher Leitfurche. Die Bewegung der Knochen in diesem Ge- 
lenk muss also auch, soweit die Gelenkform in Betracht kommt, eine gleich- 
mässige Kreisbewegung sein. Man kann dies leicht beweisen, indem man 
den einen Knochen eines solchen Gelenks unbeweglich einspannt, und den 
anderen, indem man ihn durch den ganzen Bewegungsumfang bewegt, mittelst 
eines an ihm befestigten Stiftes die Curve seiner Bewegung auf eine Tafel 
verzeichnen lässt. Die Curve erweist sich beim Nachreissen mit dem Cirkel 
als vollkommene Kreislinie. Da nun aber die Seitenbänder in der Mittel- 
stellung des Gelenks stark angespannt, in Beuge- und Streckstellung da- 
gegen relativ erschlafft sind, kann man darauf schliessen, dass sie nicht 
vom Mittelpunkte des von der Gelenkfläche gebildeten Kreisbogens, sondern 
etwas weiter oberhalb befestigt sind. Die Ursprungsweise der Seitenbänder 
des Sprunggelenks ist von Hrn. Pütz! daraufhin genau untersucht und 
ausführlich beschrieben worden. 


h) 


ı H. Pütz, Beiträge zur Anatomie und Physiologie des Sprunggelenks. Inaug.- 
Dissert. Bern 1876. — Zeitschrift für praktische Veterinär- Wissenschaft. 1876. 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — R. pu Boıs-REeymond. 265 


Anders ist es beim Atlantoepistrophealgelenk. Die Flächen des Epi- 
stropheus und Atlas passen in keiner Stellung auf einander, sondern be- 
rühren sich nur in sehr geringer Ausdehnung. Die Fläche des Epistropheus 
zerfällt in zwei seitliche und ein mittleres Feld. Das mittlere hat eylin- 
drische Krümmung und nimmt die Vorderseite des Zahns ein. Die beiden 
seitlichen Felder stellen je einen rechts und einen links gewundenen, etwas 
unregelmässigen Schraubengang dar. Beide steigen von lateral hinten nach 
medial vorn auf. Die Steigung bewirkt, dass der Atlas in der Mittelstellung 
vom Körper des Epistropheus weiter entfernt ist, als in seitlich gedrehter 
Stellung. Das Präparat lässt sich daher überhaupt nur mit Gewalt in der 
Mittelstellung festhalten. Demnach hat der Atlas ebenso wie Fuss und 
Unterarm zwei Ruhelagen und dazwischen eine Stellung labilen Gleichgewichts 
bei gespannten Bändern. 


Man könnte glauben, hier eine zweckmässige Vorrichtung zu erkennen: 
Die Schwere des herabhängenden Kopfes hält den Atlas dauernd in Mittel- 
stellung, und spannt folglich die Bänder und Muskelverbindungen an. Soll 
der Kopf seitlich gedreht werden, so unterstützt die elastische Wirkung der 
gespannten Theile die Hebung. Aber eine ganz ähnliche Einrichtung be- 
steht beim Menschen, ohne dass hier in der Gestalt des Kopfes eine ent- 
sprechende Ursache zu finden wäre. Dagegen bemerkt Henke! darüber 
Folgendes: „Wäre diese Bewegung (des Atlas auf dem Epistropheus) nur 
eine reine Drehung um die senkrechte Axe des Zahnfortsatzes in horizon- 
talen Ebenen, so müsste das obere Ende des Rückenmarks hinter dem Zahn- 
fortsatze bei jeder Bewegung nach der Seite gedehnt werden, weil das obere, 
im Schädel fixirte Ende, über dem unteren im Wirbelcanale nach der Seite 
abginge. Dies wird ausgeglichen, wenn es zugleich etwas herabgesenkt 
wird.“ Bemerkenswerth ist, dass die seitlichen Flächen des menschlichen 
Epistropheus nach Henke in je zwei Theile zerfallen, von denen je ein 
worderer und ein hinterer den gleichgewundenen Gängen einer zweigängigen 
Schraube entsprechen. Beim thierischen Gelenk sind die beiden. hinteren 
Schraubenflächen allein ausgebildet. 


Deutlicher scheint der Zweck des Wechselgelenks an den beiden anderen 
Stellen hervorzutreten.” Da die Beine bei jedem Schritte in gebeugter 
Stellung nach vorn schwingen müssen, wäre es offenbar zweckmässig, wenn 
sie diese Beugestellung während der Schwingung selbstthätig innehielten. 
Allein diese scheinbare Ersparniss schwindet auf ein Minimum zusammen, 
wenn man bedenkt, dass die Muskulatur dafür bei jeder Bewegung einen 
Widerstand zu überwinden hat. Ist der Widerstand, den die Spannung der 
Gelenkbänder der Bewegung des Gelenks entgegensetzt, gross genug, um 
das Bein selbstthätig in gebeugter Stellung zu halten, so muss er mindestens 
dem drehenden Moment der Schwere des Beins gleich sein. Um das Bein 
aus der gestreckten Stellung in die gebeugte Abspielen. müssen also die 
Beugemuskeln erstens das Gewicht des Beins haben, zweitens aber den 


ı Ph. J. W. Henke, Hundbuch der Anatomie und Mechanik der Gelenke. 
Leipzig und Heidelberg 1863. S. 96. 
Vgl. J. Munk, Physiologie des Menschen und der Säugethiere. 4. Auflage. 
Berlin. 1897. S. 378. . i 


266 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


gleichen oder sogar etwas grösseren Widerstand der Bänderspannung über- 
winden. Dafür können sie dann, wenn das Wechselgelenk in die gebeugte 
Stellung übergesprungen ist, erschlaffen, ohne dass das Bein in die Streck- 
stellung zurückfällt. Eine wirkliche Ersparniss tritt erst ein, wenn die vor- 
hergehende Verdoppelung der Arbeit durch die Dauer der Ruhestellung 
ausgeglichen ist. Da die Beugestellung aber nur sehr kurze Zeit andauert, 
so ist es fraglich, ob überhaupt auf diese Weise Muskelarbeit gespart wird. 
Obenein bemerkt Pütz: „Unter normalen Verhältnissen wird von der Streck- 
lage aus die Mittellage nicht überschritten und der Nutzeffect der Federung 
beschränkt sich darauf, dem Gelenke eine Neigung zum Verharren in der 
Strecklage oder — zur Rückkehr in dieselbe zu ertheilen.“ 


Dass dies Verharren in der Strecklage für das Stehen des Pferdes von 
Bedeutung sei, ist deswegen nicht anzunehmen, weil der Widerstand, den 
die Wechselgelenke der Beugung entgegensetzen zu gering, ist, als dass er 
einen wesentlichen Theil der Körperlast auszuhalten vermöchte. Es scheint 
demnach, dass der durch den besonderen Mechanismus erreichte Vortheil 
allein darin zu suchen ist, dass an Stelle einer intendirten, durch coordinirte 
Bewegung der Beuger und Strecker geregelten Bewegung ein rein mecha- 
nischer Vorgang tritt. Ein einziger Ruck der Muskeln genügt, um die er- 
forderliche Bewegung auszulösen und ihr zugleich das richtige Maass zu 
ertheilen. 


VIII. Sitzung am 25. Februar 1898. 


1. Hr. E. WoERNER hält den angekündigten Vortrag: Ueber Kreatin 
und Kreatinin im Muskel und Harn. 


Vor einigen Jahren hatte G. St. Johnson die Mittheilung gemacht,! 
dass das Kreatinin des Muskels und Harns von einander verschieden sei. 
Er stützte seine Annahme durch Unterschiede in der Krystallform und 
Krystallwassergehalt der verschiedenen Kreatinine und ihrer salzsauren Salze, 
insbesondere durch das verschiedene Verhalten der Kreatiningoldsalze gegen 
Aether. Während das eine in Aether löslich war, wurde ein anderes durch 
Aether zersetzt, ein drittes war gegen Aether völlig indifferent. 


Verf. hat es nun in Gemeinschaft mit Hrn. Dr. M. Thelen unternommen, 
diese Angaben einer Nachprüfung zu unterziehen. 


Es wurde zu diesem Zwecke aus Harn, Pferdefleisch und Fleischextraet 
Kreatin dargestellt und diese völlig reinen Substanzen dann in Kreatinin 
übergeführt. Die Goldsalze, Platinsalze und Pikrate dieser Kreatinine ver- 
schiedenen Ursprungs waren völlig identisch. — Lässt man kalt gesättigte 
Lösungen von Kreatinin an der Luft langsam verdünsten, so erhält man 


1 Proceed. of the Royal Soc. Vol. XLIII. p. 493—534. Vol. L. p. 237—302. 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — E. WOERNER. — N. Zuntz. 267 


neben wasserfreien Blättehen auch grosse Prismen, welche 2 Molecüle Krystall- 
wasser enthalten. Das salzsaure Kreatinin kann unter diesen Bedingungen 
mit 1 Moleeül Krystallwasser erhalten werden. Auch hierbei verhalten sich 
alle Kreatinine gleich. Die Kreatinine verschiedenen Ursprungs sind also 
völlig identisch. 


Weiterhin hatte Johnson die Angabe gemacht, dass im Muskel kein 
Kreatin, sondern Kreatinin vorhanden sei; das Kreatin entstehe erst durch 
Einwirkung von Bakterien. 


Um diese Frage zu entscheiden, wurden Hunde- und Kaninchenmuskeln 
von frisch getödteten Thieren zerkleinert und mit verdünnter Quecksilber- 
chloridlösung ausgezogen, um jede Bakterienwirkung auszuschliessen. Mit 
diesen Auszügen wurde dann die Weyl’sche Kreatininprobe versucht: der 
Hundemuskelauszug gab nur eine sehr schwache, der Kaninchenmuskel- 
auszug gar keine Rothfärbung. 


Beide Auszüge wurden dann mit Phosphorwolframsäure gefällt und 
nach Entfernen der überschüssigen Phosphorwolframsäure verdunstet. Es 
hinterblieben ziemlich reine Kreatinkrystalle, welche durch Ueberführen in 
Kreatinin weiter identificirt wurden. Den Phosphorwolframsäurefällungen 
wurde das phosphorwolframsaure Kreatinin durch Auskochen mit heissem 
Wasser entzogen, die Lösungen mit Aetzbaryt zersetzt und verdunstet. Der 
hierbei vom Hundemuskel verbleibende Rückstand gab eine deutliche, der 
Kaninchenmuskel nur eine sehr schwache Rothfärbung bei der Weyl’schen 
Probe, was im besten Einklange mit den obenerwähnten Beobachtungen 
beim Anstellen dieser Reaction mit den Muskelauszügen selbst steht. Im 
Muskel ist also normaler Weise in der Hauptsache Kreatin neben wenig 
Kreatinin vorhanden, wie man das ja bisher auch allgemein angenommen 
hat. Die gegentheiligen Beobachtungen Johnson’s sind irrig. 


2. Hr. N. Zuxtz hält den angekündigten Vortrag: Ueber die Be- 
ziehung zwischen Wärmewerth und Nährwerth der Kohlehydrate 
und Fette. 


In Comptes rendus de l’Ac. des Se., T. CXXV, Nr. 25 (20. December 
1897) berichtet Chauveau über neue Versuche, in welchen er die Ver- 
brennungswärme der Fette und Kohlehydrate mit ihrer Nährkraft für 
arbeitende Thiere vergleicht. Er kommt zu dem Schluss, dass solche 
Quantitäten, welche im Thierkörper gleiche Mengen Glykogen erzeugen 
können, auch gleiche Nährkraft haben. Mit anderen Worten, es sind sich 
in der Nährwirkung nicht 1 8% Fett und 2-373 8% Rohrzucker gleichwerthig, 
sondern 18”® Fett und 1.5229 Rohrzucker. 


Der Beweis wird diesmal nicht durch Respirationsversuche, sondern auf 
dem von vornherein bedenklichen Wege der blossen Körpergewichtsbestim- 
mung versucht. Der Hund von 17 bis 18%3 Gewicht wurde jeden Morgen 
nüchtern gewogen, erhielt dann sein Futter (400 bis 500 8” mageres Pferde- 
fleisch und dazu immer 3 bis 6 Tage lang eine Portion Schmalz und dann 
ebenso lange die damit zu vergleichende Portion Zucker. Das Ergebniss 
war, dass bei Anwendung isocalorischer Mengen das Körpergewicht bei Fett- 
nahrung constant blieb und bei Zuckerkost zunahm, bezw. bei ersterer 


268 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


abnahm, bei letzterer constant blieb. Gleichwerthig in Bezug auf das Thier- 
gewicht erwiesen sich 1688"% Rohrzucker und 1108’” Fett. 


Zur Kritik dieses Resultates ist nun zunächst die Angabe Chauveau’s 
wichtig, dass die Fäces bei der Rohrzuckerfütterung immer weicher und 
reichlicher waren als bei Fettfütterung; wurde Glykose gegeben, so trat 
direet Durchfall ein. Chauveau meint nun, dass die reichlicheren und 
weicheren Fäces bei Zuckerfütterung das Resultat der Wägungen zu Gunsten 
des Fettes hätten alteriren müssen, dass also in Folge dieses Umstandes 
seine Wägungen um so beweiskräftiger seien, a fortiori den höheren Nähr- 
werth der Kohlehydrate beweisen. Das Gegentheil ist richtig! Das Mehr 
an Wasser, welches die weicheren Fäces dem Körper entziehen, wird, da 
das Thier nach Belieben trinken darf, durch Wasserzufuhr ersetzt; der 
Wasserstand der Gewebe leidet also nicht. Dagegen macht sich die wasser- 
anziehende Kraft des Zuckers wie in der Beschaffenheit der Fäces auch in 
der des noch nicht entleerten Darminhaltes geltend. Derselbe ist wasser- 
reicher, wiegt mehr als bei den Fettthieren und ist darum eine der Ursachen 
des Zuwachses an Körpergewicht. In einigen von Chauveau’s Curven 
erkennt man, dass die Hauptschwankung des Gewichtes am ersten Tage der 
Futteränderung auftritt. Hier spielt sicher die Aenderung des Darminhaltes 
die Hauptrolle. 

Als Beleg für die Bedeutung des erwähnten Factors möchte ich einige 
Versuche, welche v. Werther! vor Jahren in meinem Laboratorium an 
Kaninchen ausführte, heranziehen: 


14 Kaninchen wurden gleichmässig längere Zeit mit Heu gefüttert. 
5 derselben wurden vom Futter weg getödtet. Ihr Darminhalt wog 7-1 bis 
10.7, im Mittel 9.04 Procent des Körpergewichtes. Die 9 anderen Thiere 
erhielten je 408"% Zucker in 608% Wasser gelöst, diese Extrazufuhr wog 
5-5 Procent des Körpergewichtes. Als sie nach 1 bis 6 Stunden getödtet 
wurden, war natürlich schon ein Theil des Zuckers resorbirt; trotzdem war 
durch die wasseranziehende Kraft des im Darmcanal verbliebenen Zuckers 
das Gewicht des Darminhaltes auf 14-75 bis 26-14, im Mittel auf 21-15 Proe. 
des Körpergewichtes gestiegen. Dies Gewicht überstieg um 6-6 Procent die 
Summe der Einfuhr und des normalen Darminhaltes. 


Ich habe mich aber noch durch eine besondere Versuchsreihe, welche 
Hr. Dr. Caspary für mich auszuführen die Güte hatte, überzeugt, dass 
Zufuhr einer Substanz von stark wasseranziehender Kraft, wie sie der Zucker 
darstellt, ganz unabhängig von jeder Nährwirkung vorübergehend das Körper- 
gewicht erhöht, selbst wenn sie Entleerung von breiigem Kothe zur Folge 
hat. Ein kleiner Hund wurde täglich Morgens 9!/, Uhr gewogen und erhielt 
gleich darauf sein Futter: 100 8% Pferdefleisch, 30 8""% Fett; an einigen 
Tagen wurden diesem Futter 3 3”® Chlornatrium zugesetzt, manchmal wurden 
weitere 38’® Chlornatrium mit 50° Wasser gegen 1 Uhr Mittags durch 
die Schlundsonde gegeben. Bis Abends durfte der Hund nach Belieben 
trinken, daun wurde ihm das Wasser entzogen. Die Ergebnisse zeigt folgende 
Tabelle. Die Angaben über die Salzbeigabe beziehen sich auf den der 
Wägung vorangehenden Tag. 


! Arthur v. Werther, Ueber Zuckerfütterung. JInaug.-Dissert. Halle. 1886. 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — N. ZUNTZ. 269 


Chlornatrium- ka Gewieht En | 
: | 5 
WerRuchelae sale Chlornatrium | Chlornatrium Eherkungen 
grm grm grm | 
4 0 3050 | Vorher Kothentleerung. 
5 0 3070 
6 3 3590 
7 6 3470 ı Vorher viel breiiger Koth. 
8 0 3420 
9 0 3210 
10 0 3270 
11 0 3270 
12 3 3350 | Koth zum Theil breiig. 
13 0 | 3280 
a 3 3300 
15 0 | 3250 
16 0 | So 
17 3 | 3250 
18 3 3200 
19 6 3180 
20 ) 3100 | 


Die Tabelle ergiebt regelmässig nach Kochsalzverabreichung eine Ge- 
wichtszunahme von ähnlicher Höhe, wie sie Chauveau am ersten und 
zweiten Tage der Zuckerfütterung findet. 

Wichtiger aber noch als dies Moment ist der längst bekannte eiweiss- 
sparende Effect der Kohlehydrate, welcher viel stärker ist als der einer 
isodynamen Fettmenge. Wenn aber Eiweiss gespart wird und dafür eine 
gleichwerthige Fettmenge verbrennt, muss das Körpergewicht erheblich zu- 
nehmen. Denn 100 Cal. entsprechen der Verbrennung von 116% Fleisch, 
aber von nur 10.538" Fett, so dass das Körpergewicht um mehr als 100 8"” 
wachsen muss, wenn 100 Cal. statt durch Eiweiss durch Fett erzeugt werden, 
ohne dass die Grösse des gesammten Energieumsatzes sich ändert. 

Es giebt genug sorgfältige Versuche, welche die Eiweissersparniss durch 
Kohlehydrate darthun. 

Schon sehr geringe Mengen haben merkliche Wirkung. Aus einer von 
Hrn. Potthast! unter meiner Leitung ausgeführten Versuchsreihe kann ich 
hierher gehörig folgendes Beispiel anführen. Eine mit 42.5 8% Fleischmehl 
und 452” Stärke gefütterte Hündin verlor hierbei täglich 17-58" Fleisch 
vom Körper. Durch Zugabe von 58" Fett sank der Verlust auf 11'728; 
als das Fett durch 14.85 Stärke, wovon 12-58"% verdaut wurden, ersetzt 
wurde, betrug der Verlust nur noch täglich 0-12" Fleisch. 

Sehr instructiv ist folgende Versuchsreihe von Voit. Die tägliche 
Fleischzersetzung, aus der Harnstoffausscheidung bestimmt, beträgt: 

5588" bei Verfütterung von 5008” Fleisch + 2508" Fett, 
DDR, n 900, 5 -+ 200 „ Kohlehydrate, 
466 2) „ ” „ 500 ” eh) + 300 ” 2) 


Es werden also bei Ersatz einer den Bedarf weit überschreitenden 
Fettmenge durch Kohlehydrat von weniger als dem halben Energie- 


' Potthast, Beiträge zur Kenntniss des Eiweissumsatzes. 


270 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


inhalt täglich 92 8” Fleisch erspart, so dass der Einfluss des vorher ver- 
abreichten grossen Ueberschusses an Fett auf das Körpergewicht durch den 
Fleischumsatz beinahe compensirt wird. 

Noch direceter verwerthbar zur Beurtheilung des wahren Sinnes der 
durch Kohlehydrate bewirkten Zunahme des Körpergewichtes sind eine An- 
zahl Versuchsergebnisse, welche ich der classischen Arbeit von Rubner! 
entnehme. 

Ich führe folgendes Beispiel an, in welchem die Verhältnisse fast genau 
mit Chauveau’s Versuch übereinstimmen.” Ein Hund von 18*® Gewicht 
befand sich mit einer Nahrung von 3002"® Fleisch + 42 8% Fett gerade 
im Gleichgewicht. An einzelnen Tagen wurde statt des Fettes Glykose 
und zwar 63-7, 79-7 und 115-5®”% gegeben. Jedem Zuckertage folgten 
wieder mehrere Tage mit der früheren Kost. In Folge dessen erreichte die 
Eiweissersparniss nicht so hohe Werthe, wie sie in Chauveau’s 3- bis 
5tägigen Perioden anzunehmen sind und wie sie auch in anderen Versuchen 
Rubner’s angedeutet sind. So fand Rubner in einem 3tägigen Rohr- 
zuckerversuch? folgende abnehmende Zahlen für den Eiweissumsatz: 51-5, 
37.8, 32-3 Calorien. — In dem obigen Falle beträgt die aus Eiweiss frei 
werdende Energie im Mittel je dreier Versuche: 


bei Fettkost . . . 259.5 Cal. 
„uZuckeri.mes SER 2 lH 
ELSparba 2 a aa 
Diese Ersparniss an Eiweiss trat ein, trotzdem der Gesammtumsatz wegen 
der stärkeren Verdauungsarbeit bei Zucker grösser war: 673 Cal. gegen 
652 Cal. bei Fett. Dem weniger zersetzten Eiweiss im Werthe von 40 Cal. 
— 9.88'm Eiweiss entsprechen 99 2”” Fleisch, welehe dem Körper zu Gute 
kommen; dagegen musste er die an Eiweiss ersparten 40 Cal. und ausserdem 
die in Folge der stärkeren Verdauungsarbeit mehr gebrauchten 21°6, im 
Ganzen also 61-6 Cal., durch Steigerung des Fettumsatzes decken; sie ent- 
sprechen 6.58” Fett oder 78m Fettgewebe. Wir haben also hier einen 
um 21.6 Cal. gesteigerten Stoffwechsel und doch eine Zunahme des 
Körpergewichtes um 39 — 7 = 328m, 
Ich hoffe, die angeführten Thatsachen werden ausreichen, um Chau- 
veau’s neue Einwände gegen die Vertretbarkeit von Kohlehydrat und Fett 
im Verhältniss ihrer Verbrennungswärmen zu entkräften. 


IX. Sitzung am 11. März 1898. 


Hr. Prof. GrEEFF (a. G.) hält den angekündigten Vortrag: Ueber 
Längsverbindungen (Associationen?) inder menschlichen Retina. 


Aus den celassischen Untersuchungen von R. y Cajal kennen wir heute 
den Weg genau, welchen ein Lichtreiz quer durch die Retina nimmt, um 


! Rubner, Ueber die Vertretungswerthe der organischen Nahrungsstoffe. Zeit- 
schrift für Biologie. Bd. XIX. S. 313. 
ZEN. 200282370 ANAL ON SICH 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — GREEFF. — J. ROSENTHAL. 271 


von den Stäbchen und Zapfen bis zu den Ganglienzellen und Nervenfasern 
zu gelangen. Der Reiz wird aufgenommen von den äussersten Gebilden 
der Sehzellen, den Stäbchen und Zapfen, überträgt sich dann durch Contact 
auf die bipolaren Zellen (inneren Körner) und von diesen auf die Ganglien- 
zellen. 

Wir wissen ferner, dass sich ein Lichtreiz um so mehr concentrirt, je 
weiter er. die Retina durchdringt. Die Eindrücke werden punktförmig von 
den Stäbchen und Zapfen aufgenommen, die Eindrücke einer ganzen Gruppe 
von Stäbchen und Zapfen concentriren sich in einer bipolaren Zelle und 
wieder mehrere bipolare Zellen concentriren sich in einer Ganglienzelle. 

In neuerer Zeit machen wir mehr und mehr Entdeckungen, welche uns 
lehren, dass die Leitungen quer durch die Retina nicht ganz isolirt statt- 
finden, sondern dass zwischen entfernten Wahrnehmungen Verbindungsfasern 
(Associationen ?) existiren und zwar in den verschiedensten Höhen. 

Die ersten Längsverbindungen liegen am Fusse der Sehzellen, die sog. 
horizontalen Zellen. Sie liegen in zwei Schichten im obersten Abschnitt 
der inneren Körner. Die oberste Schicht besteht aus kleineren Zellen mit 
kurzem, horizontal verlaufendem Nervenfortsatz, sie verbinden nahe bei 
einander stehende Gruppen von Sehzellen. Die untere Schicht besteht aus 
grossen Zellen mit langem Nervenfortsatz, welcher Gruppen von weit aus 
einander liegenden Sehzellen verbindet. 

Weitere horizontale Verbindungen existiren unter den Spongioblasten 
oder Amacrinen. Diese Zellen besitzen nur einen nach innen gehenden 
Fortsatz, der bei einigen Zellen direct horizontal umbiegt und zu anderen 
entfernt liegenden Amacrinen-Zellen hinzieht. Mit diesen Amacrinen stehen 
auch die centrifugalen Fasern in Verbindung. 

Die dritten horizontalen Verbindungen kommen in geringer Anzahl 
unter den Ganglienzellen vor, in Form von dicken, direceten Protoplasma- 
strängen zwischen zwei Ganglienzellen. Die letzteren sieht man am besten 
bei Anwendung der Ehrlich-Dogiel’schen Methylenblaufärbung. 


X. Sitzung am 25. März 1898. 


1. Der Schriftführer berichtet über folgenden von Hrn. J. RosSENTHAL- 
Erlangen eingegangenen Artikel: Ueber die Sauerstoffaufnahme und 
den Sauerstoffverbrauch der Säugethiere. 


Die eingehenden, mit den scharfsinnigsten Methoden wiederholt durch- 
geführten Untersuchungen über den respiratorischen Gasaustausch haben 
sich in der Mehrzahl damit begnügt, die Abgabe von CO, und H,O, sei es 
von der Lunge allein oder von der Gesammtathmung, zu bestimmen und den 
Sauerstoffverbrauch aus der Zusammensetzung der durch den Athmungs- 
process veränderten Luft zu berechnen. Nur die von Regnault und Reiset! 
ausgearbeitete schöne Methode gestattet auch die O-Aufnahme direet zu 
messen. Sie ist aber verhältnissmässig selten angewendet worden. Dies 


! Annales de chimie et de physique. (3) T. XXVI. p. 299 und T. LXIX. p. 129. 


212 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


hat seinen Grund hauptsächlich in der Complieirtheit und Kostbarkeit des 
Apparats; auch haftet ihm in der Form, welche ihm seine Erfinder gegeben 
haben, der Mangel an, dass die Ventilation des Raumes, in welchem sich 
das Thier befindet, eine unvollkommene ist, wie aus den Versuchsprotocollen 
jener Forscher hervorgeht. Derselbe Mangel macht sich bei dem Apparat 
bemerkbar, welchen Hoppe-Seyler! nach dem gleichen Prineip im Strass- 
burger Institut für physiologische Chemie hat bauen lassen. Nur in der 
Anwendung auf kleine Thiere und bei künstlicher Athmung, wie es bei 
dem von Pflüger und seinen Schülern? benutzten Apparat der Fall war, 
ist dieser Uebelstand nicht vorhanden. 

Die grossen Vorzüge, welche das Verfahren von Regnault und Reiset 
vor anderen Methoden zur Untersuchung des respiratorischen Gaswechsels 
bietet, liessen es mir wünschenswerth erscheinen, dasselbe bei meinen calo- 
rimetrischen Untersuchungen bei der Vergleichung des Stoffwechsels mit der 
Wärmeproduction zu verwenden. Ich habe mich daher bemüht, das Ver- 
fahren, unter strenger Festhaltung seines vortrefflichen Grundgedankens, so 
zu vereinfachen und zu verbessern, dass es ein sicheres und leichtes Arbeiten 
gestattet. Einige Angaben über die Einrichtung meines Apparates habe 
ich schon in meinen „Calorimetrischen Untersuchungen“? gemacht. Hier 
will ich nur, zum Verständniss des Folgenden, nochmals kurz die Einrichtung 
des Apparats beschreiben und, unter Fortlassung derjenigen Theile, welche 
zur Calorimetrie gehören, das Verfahren zur Bestimmung der respiratorischen 
Faetoren (produeirte CO, und verbrauchter OÖ) sowie die Grenzen der Zu- 
verlässigkeit der einzelnen Bestimmungen angeben. _ 

Das Versuchsthier befindet sich in einem vollkommen geschlossenen 
Raum, durch welchen ein stetiger Luftstrom in einer Richtung geleitet 
wird. Dieser Luftstrom tritt von hinten in den Thierraum ein, streicht an 
dem Thier vorbei und wird durch einen das Thier umgebenden ringförmigen 
Raum wieder nach hinten abgesogen. Die austretende Luft geht zunächst 
durch eine grosse, mit Bimsstein und Schwefelsäure beschickte Flasche, um 
ihren Wasserdampf abzugeben, dann durch mehrere Kaliflaschen, in denen 
sie von CO, befreit wird, und dann nochmals durch Bimsstein-Schwefelsäure- 
flaschen, in welchen das aus den Kaliflaschen fortgeführte Wasser zurück- 
gehalten wird. So von Wasser und Kohlensäure befreit, kehrt sie wieder 
in den Thierraum zurück. Die durch Absorption der CO, bewirkte Druck- 
verminderung wird durch Zutritt von vollkommen trocknem O, welcher unter 
constantem Druck steht, ausgeglichen. 

Die Circulation der Luft wird durch zwei Quecksilberpumpen unter- 
halten, von denen abwechselnd die eine saugt, während die andere drückt. 
Leicht spielende Kautschukventile sorgen dafür, dass die Luft sich immer in 
der gleichen, oben angegebenen Richtung bewegt. Das Spiel der Pumpen 
wird durch den von mir früher beschriebenen, ursprünglich für die künstliche 
Athmung construirten Apparat bewirkt.* Die Pumpen sind im Stande, 90 bis 
300 Liter Luft in der Stunde in Bewegung zu setzen. Bei genügender 
Ventilation und passender Einstellung des O-Druckes steigt der CO,-Gehalt 


! Zeitschrift für physiologische Chemie. Bd. XIX. S.574 und 590. 

2 Pflüger’s Archiv. Bd. XII. S. 192, 282, 522; Bil. XIV. S.38; Bd. XVII. S. 247. 
® Fünfter Artikel. Dies Archiv. 1894. Physiol. Abthlg. S. 236 ff. 

* Vgl. die Beschreibung ebenda. 1894. Physiol. Abthlg. S. 248. 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — J. ROSENTHAL. 275 


der Luft im Thierraum nicht über 0-5 bis höchstens 1 Procent, während 
der Sauerstoffgehalt sich etwa um ebenso viel erniedrigen kann. 

Die Bestimmung des aus dem Thierraum fortgeführten Wassers ge- 
schieht durch Wägung der ersten Schwefelsäureflasche, die der 00, durch 
Wägung des ganzen Satzes von Kali- und Schwefelsäureflaschen. Wendet 
man eine Waage an, welche bei grösserer Belastung noch hinreichend 
empfindlich ist, so hat man nur zwei Wägungen vor Beginn und zwei nach 
Beendigung des Versuchs zu machen und begeht keinen irgend merklichen 
Fehler in der CO,-Bestimmung. Der Vorzug dieser Methode, dass die 
ganze zu bestimmende Grösse durch Wägung direct gefunden wird, vor 
dem sonst so schönen Verfahren von Pettenkofer leuchtet ein. Die an 
sich nicht grossen Versuchsfehler werden bei letzterem Verfahren mit einem 
zuweilen sehr grossen Faetor multiplieirt, und dieser Fehler macht sich ganz 
besonders bei der Berechnung des O geltend. 

Die Gewichtszunahme der ersten Schwefelsäureflasche ist jedoch nicht 
ohne Weiteres der Wasserabgabe des Thieres gleich zu setzen, da etwas 
Wasser in dem Apparat selbst condensirt wird. Nur wenn man bei nicht 
zu niedriger Temperatur und mit sehr starker Ventilation arbeitet, ist dieser 
Fehler klein. Ausserdem kann man die Wasserabgabe noch durch den 
Gewichtsverlust des Thieres controliren. 

Die Bestimmung der CO, durch die Gewichtszunahme der Kaliflaschen 
bedarf noch einer Correctur in Folge der allerdings nicht bedeutenden 
Aenderung des CO,-Gehalts der Luft im Thierraum. Da eine gleiche Cor- 
rection auch für den O-Verbrauch nöthig ist, so will ich zunächst die Be- 
stimmung des letzteren besprechen. 

Der für den Versuch erforderliche O ist in 3 grossen gläsernen Cylindern 
enthalten, welche zusammen etwa 50 Liter fassen. Die Cylinder sind oben 
und unten durch Röhren mit Hähnen so verbunden, dass man sie einzeln 
oder auch alle zusammen benutzen kann. Auch ist es möglich, sie bei 
länger dauernden Versuchen neu zu füllen, ohne dass dadurch der Versuch 
selbst gestört wird. Dadurch ist die Dauer der Versuche unbegrenzt und 
kann, wenn es wünschenswerth erscheint, auf mehrere Tage ausgedehnt 
werden. Der O wird aus den Cylindern durch Wasser verdrängt, welches 
von oben eintritt, so dass der Druck, unter welchen das es ein, 
von dem Stand der Flüssigkeit in den Gasbehältern unabhängig. ist. Dieser 
Druck hängt nur von dem Niveau des Wassers in einem höher stehenden 
Druckgefäss ab, und dieses Niveau kann innerhalb weiter Grenzen geändert 
und auf der gewählten Höhe constant erhalten werden. 

Der aus den Cylindern austretende OÖ geht zunächst durch einen 
Elster’schen Gaszähler, welcher das durchgegangene Gasvolum bis auf 
2 ccm direet abzulesen gestattet. Um die abgelesenen Volume auf 0° und 
760% Hg zu redueiren, wird bei jeder Ablesung zugleich die Temperatur 
und der Gasdruck aufgezeichnet. Das so gemessene Gas wird dann durch 
Schwefelsäure getrocknet und durch ein Seitenrohr in den zum Thierraum 
zurückkehrenden Luftstrom geleitet.! 


! Selbstverständlich kommt Alles darauf an, dass der Apparat und alle zu ihm 
gehörigen Gasleitungen absolut luftdicht sind. Ich habe mich davon natürlich 
vorher überzeugt. Die Röhrenleitungen und Verbindungen können aus Kautschuk 

Archiv f. A. u. Ph. 1898. Physiol. Abthlg. 18 


274 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


Zur fortdauernden Controle der Luftzusammensetzung im Thierraum 
führt ein besonderes Rohr zu einem eudiometrischen Apparat, welcher ge- 
stattet, den CO,- und O-Gehalt der Luft schnell und mit genügender Ge- 
nauigkeit zu bestimmen. Ohne auf die Einzelnheiten dieses Apparates 
einzugehen, welcher im Wesentlichen nach den Prineipien der Gasanalyse, 
wie sie Lunge und Hempel ausgebildet haben, arbeitet, will ich nur sagen, 
dass die CO,-Bestimmung durch Absorption mit Kalilauge, die O-Bestimmung 
durch Explosion mit Wasserstoff bestimmt wird." Macht man eine Analyse 
zu Anfang und eine zum Schluss jedes Versuches, so erhält man die Cor- 
reetionswerthe, welche zu der durch die Wägung gefundenen CO, und zu 
dem an der Gasuhr abgelesenen O algebraisch addirt werden müssen, um 
die wirklich produeirte CO, und den wirklich vom Thier aufgenommenen 
OÖ zu finden. Da aber der in den Cylindern enthaltene O nicht ganz rein 
ist,” so muss auch von diesem da, wo er in die Gasuhr eintritt, von Zeit 
zu Zeit eine Probe entnommen, sein wirklicher O-Gehalt bestimmt und nur 
dieser in Rechnung gesetzt werden. 

Dem Beginn eines jeden Versuchs muss stets eine Periode der Vorbe- 
reitung vorausgehen, in welcher sich durch die eine Zeit lang unterhaltene 
Ventilation die gleichförmige Mischung der Luft herstellt und durch die 
CO,-Ausscheidung und Absorption einerseits, den O-Verbrauch und O-Zutritt 
andrerseits ein Beharrungszustand ausbildet. Von da ab kann der Versuch 
beliebig lange ausgedehnt und je nach den Zeiten, in denen man die nöthigen 
Ablesungen und Analysen macht, in beliebige Intervalle abgetheilt werden. 
Da diese Ablesungen und Analysen ungefähr 10 bis 12 Minuten in An- 
spruch nehmen, so habe ich als kürzeste Dauer jedes Intervalls 20 Minuten 
gewählt, meistens aber 30 Minuten oder eine ganze Stunde. Bei Versuchen, 
welche nur bezwecken, die gesammte CO,-Production und den gesammten 
O-Verbrauch während einer längeren Periode zu bestimmen (etwa zum 
Vergleich mit der in der gleichen Zeit producirten Wärme), kann man 
natürlich die zwischenliegenden Ablesungen und Analysen fortlassen. 

Als Beispiel führe ich einen kurzen Versuch von 2 Stunden an, bei 
welchem die Ablesungen und Analysen halbstündlich erfolgten. 

Hund von 43008 Gewicht. O-Gehalt der Luft im Apparat anfangs 
20-78 Procent, zum Schluss 20-02 Procent. CO,-Gehalt anfangs 0-4 Pro- 
cent, zum Schluss 0°6 Procent. Der Hund verbrauchte: 


In der ersten halben Stunde 1-366 Liter 


„u... zweiten, „, en 1.403 „ 
ah dritten in 5 1.304 „ 
Muss vierten. > 1-992 7, 


Mittelwerth für. 1 Stunde = 2:-833 Liter. 


In ähnlicher Weise verlaufen alle Versuche, bei denen dafür gesorgt 
wird, dass der O-Gehalt der Luft, in welcher das Thier athmet, nicht 


allerdings vollkommen dicht hergestellt werden; besser aber ist es, alle Leitungen aus 
Metallröhren herzustellen, welche unter sich und mit den Absorptionsgefässen sowie 
dem Thierraum durch Verschraubungen verbunden sind. 

1 Wo es angezeigt erscheint, kann natürlich auch die Analyse auf H, CH, oder 
andere Gase ausgedehnt werden. 

® Käuflicher O aus der Fabrik von Dr. Elkan in Berlin. 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — J. ROSENTHAL, 275 


merklich von dem normalen Gehalt der atmosphärischen Luft abweicht. Der 
höchste Werth, welchen ich an diesem Thier in vielen Versuchen fand, 
war 2-915, der niederste 2-353. Die Versuche vertheilen sich auf einen 
Zeitraum von über 6 Monaten, während welcher das Thier fast vollkommen 
im Stoffwechselgleichgewicht erhalten wurde. Das Mittel aus allen Ver- 
suchen ist 2:-577. Nach der Nahrung berechnet sich der durchschnittliche 
Verbrauch für 1 Stunde auf 2-266 Liter OÖ. Bedenkt man aber, dass ein 
Theil der Versuche in die Verdaungsperiode fiel, in welcher der O-Verbrauch 
höher ist als der Durchschnitt des 24 stündigen Tages, so seheint die Ab- 
weichung nicht auffallend. 

Anders aber fallen die Ergebnisse aus, wenn jene Beditauns eines 
normalen O-Gehaltes der Luft nicht erfüllt sind. Bei meinen Einrichtungen 
hatte ich es in der Hand, entweder von Anfang an oder während des Ver- 
suchs den O-Gehalt der Luft, in welcher das Thier athmete, über oder 
unter den normalen der atmosphärischen Luft zu bringen. Ummittelbar 
nach dem Einbringen des Thieres und dem Verschluss des Apparates ist 
natürlich der Druck der Luft innerhalb des Apparates gleich dem gerade 
herrschenden atmosphärischen Druck. Stellt man jetzt die Verbindung mit 
den Sauerstoffbehältern her, so hängt es von dem in diesen herrschenden 
Druck ab, wieviel O sich der eingeschlossenen Luft beimischt. In dem eben 
mitgetheilten Versuchsbeispiel war dieser Druck 140 "® Wasser über Atmo- 
sphärendruck. Bei Herstellung der Verbindung trat so viel OÖ in den ab- 
geschlossenen Luftraum des Apparates, dass in diesem der Druck um 100 um 
Wässer über den Atmosphärendruck stieg.! Beide Drucke blieben nun 
während der Dauer des Versuchs constant, d. h. sie schwankten nicht um 
mehr als höchstens 5mm Wasser. Es strömte also gerade so viel O zu, als 
das Thier verbrauchte. Dementsprechend ergaben auch die halbstündlich 
vorgenommenen Analysen nur den schon angegebenen höchsten Unterschied 
von 20.78 Procent als Maximum und 20-02 als Minimum. Die grösste 
Abnahme trat erst in der letzten halben Stunde ein, offenbar verursacht 
durch den etwas stärkeren O-Verbrauch in dieser Zeit. In Folge dessen 
sank auch der Druck im Thierraum in dieser Zeit um 3" Wasser.? 

Der O-Zutritt wird etwas vermehrt durch die Entnahme von Proben 
zur Luftanalyse.. Denn jede solche Entnahme bewirkt natürlich eine, wenn 
auch geringe Druckabnahme und in Folge dessen ein etwas vermehrtes 
Nachrücken von O aus den Behältern. Aber dieser Ueberschuss bleibt, falls 
der Verbrauch sich nicht steigert, im Thierraum und wird bei der nächsten 
Analyse festgestellt und in Rechnung gezogen. So ergab z. B. der Vergleich 
der vorletzten und der letzten Analyse in unserem Versuch, dass der O-Vor- 


! Der Unterschied rührt von den Widerständen her, welchen das O-Gas bei seinem 
Durchgang durch die Trockenapparate u. s. w. zu überwinden hat. 
®? Da immer etwas CO, im Luftraum sich ansammelt, allerdings wegen der 
vollständigen Absorption sehr wenig, so muss die Druckausgleichung schon ein- 
treten, wenn etwas weniger OÖ nachgerückt ist, als verbraucht wurde. Die CO,-An- 
häufung vollzieht sich aber schon in den ersten Zeiten nach dem Einbringen des 
Thieres in den Apparat. Ist erst der Beharrungszustand eingetreten, dann kommen 
nur noch kleine Schwankungen im CO,-Gehalt vor, welche 0-1 bis 0-2 Procent nicht 
zu überschreiten pflegen. Dann ist der O-Zutritt nur von dem Verbrauch abhängig. 
Die eigentlichen Beobachtungen beginnen immer nach Herstellung dieses Beharrungs- 
zustandes. 
18* 


276 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


rath im Versuchsraum während der letzten halben Stunde um 0.161 Liter 
abgenommen hatte. Und dieser Werth musste zu dem vom Gaszähler ange- 
zeigten Werth von 1-431 Liter addirt werden, um den wahren O-Verbrauch 
(1-592 Liter) zu ergeben. 

Will man mit Luft von geringerem O-Gehalt arbeiten, so hat man 
nur nöthig, den O-Zutritt zeitweilig abzustellen. Die Abnahme erfolgt dann 
in dem Maasse, als es dem O-Verbrauch durch das Thier entspricht. Dabei 
sinkt natürlich der Druck im Thierraum und wird bald negativ und immer 
negativer, je länger diese Verhältnisse andauern. Soll aber der O-Gehalt 
schneller auf ein bestimmtes Maass herabgesetzt werden, so verfahre ich 
folgendermaassen. Von dem Rohr, durch welches die Ventilationsluft den 
Apparat verlässt, zweigt ein engeres Rohr ab, welches für gewöhnlich durch 
einen Hahn verschlossen ist. Von diesem Rohr führt ein Gummischlauch 
zu einem Glasrohr, das in Quecksilber taucht. Leitet man statt des O ein 
indifferentes Gas in den Apparat ein (N oder H) und öffnet jenen Hahn, 
so entweicht ein Theil der vorräthigen Luft und wird durch das indifferente 
Gas ersetzt. Der Druck im Apparat bleibt dabei immer auf der durch die 
Tiefe des Eintauchens jenes Glasrohrs bedingten Höhe. Ist auf diese Weise 
der gewünschte Grad der Verminderung des O erreicht, so wird der Hahn 
geschlossen und die Zufuhr des indifferenten Gases abgestellt. Nach Ver- 
bindung mit den O-Behältern regelt sich dann wieder der Ersatz für den 
verbrauchten O nach Maassgabe seines Verbrauchs. 

Wird aber statt des indifferenten Gases O zugeführt, während der er- 
wähnte Hahn offen ist, dann wird die Luft im Apparat schnell O-reicher, 
um so schneller, je höher der Druck in den O-Behältern ist. Schliesst man 
dann den Hahn, so tritt noch so lange reichlich O ein, bis der Druck im 
Thierraum so hoch geworden ist, als dem Druck in den O-Behältern ent- 
spricht. Von da an regelt sich wieder der O-Zutritt nach dem Verbrauch. 

Ich habe auf solche Weise eine grosse Zahl von Versuchen sowohl mit 
geringem als auch mit grossem Ö-Gehalt gemacht. Ich bin dabei nicht 
unter 14 Procent OÖ hinuntergegangen, da ich Dyspnoö vermeiden wollte; 
die höchsten O-Werthe, die ich untersucht habe, waren 33 bis 35 Procent, 
meistens aber blieb ich innerhalb der Grenzen von 15 Procent und 25 Pro- 
cent. Als Versuchsthiere dienten ausser dem schon erwähnten Hunde noch 
ein anderer Hund von 3050 8'% Gewicht und eine Katze von 25008”, Mit 
jedem Thiere wurde eine Versuchsreihe von 8 bis 14 Tagen Dauer angestellt, 
während welcher Zeit es bei gleichbleibender Kost im Stoffwechselgleich- 
gewicht erhalten wurde; dann ‚wurde ein anderes Thier benutzt und so 
fortwährend gewechselt. 

Das Ergebniss dieser Versuche ist, dass der O-Verbrauch bei abneh- 
mendem O-Gehalt sinkt, bei zunehmendem Gehalt steigt. Die Aenderung ist 
bei schnellem Uebergang von einem bestimmten O-Gehalt zu einem anderen 
anfangs sehr bedeutend; bleibt aber der verminderte oder der vermehrte 
O-Gehalt bestehen, so gleichen sich die Unterschiede wieder aus, ja sie könner 
sich sogar umkehren. Das heisst also, wenn das Thier schnell aus einer 
Luft von niederem in Luft von hohem O-Gehalt versetzt wird, so nimmt es 
anfangs auffallend viel O auf; dann geht die Aufnahme herunter und 


! Alle Werthe sind natürlich auf 0°, 760== Hg und Trockenheit redueirt. 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — J. ROSENTHAL. DAN 


sinkt unter den Werth, welcher der normalen Zusammensetzung der Atmo- 
sphäre entspricht, und steigt dann wieder an. Umgekehrt, wenn das Thier 
schnell in eine Atmosphäre von geringem O-Gehalt versetzt wird, so nimmt 
es anfangs auffallend wenig O auf, dann steigt die Aufnahme wieder, 
sinkt aber von Neuem, um dauernd unter der normalen zu bleiben. 

Um von diesem Verhalten ein Beispiel zu geben, wähle ich einen 
Versuch, bei welchem mit fast normalem Ö-Gehalt begonnen, dann die 
Ö-Zufuhr eine Stunde lang abgeschnitten wurde (während welcher Zeit der 
ÖO-Gehalt auf 15-06 Procent fiel) und dann wieder O zugeführt wurde. 
Die Ablesungen und Analysen wurden alle 20 Minuten gemacht. 

Das Thier verbrauchte in 20 Minuten: 


0.364 1-239 0-757 zusammen in 1 Stunde: 2.360 Liter 
(Gehalt der Luft: 19-3 Procent) 

0-19 ° 0-914 0-424 zusammen in 1 Stunde: 1-457 Liter 
(Abnahme auf 15-06 Procent) 

2.755 0.552 1-100 zusammen in 1 Stunde: 4-407 Liter 
(Zunahme bis 19-63 Procent). 


Wie man sieht, kamen schon in der ersten Stunde, in welcher die O-Zu- 
fuhr constant und die Zusammensetzung der Luft nahezu gleich der normalen 
war, grosse Schwankungen vor. Namentlich ist der ausserordentlich kleine 
Anfangswerth (0-364) auffallend. Trotzdem liegt der Gesammtwerth für die 
erste Stunde noch innerhalb der auch sonst für diesen Hund, auch bei 
länger dauernden Versuchen, gefundenen Werthe, wenngleich dem Minimum 
(2-353) sehr nahe. Immerhin lehrt der Versuch, wie trügerisch solche 
kurz dauernden Versuche sein können, wenn man aus ihnen den wirklichen 
Verbrauch für längere Perioden berechnen wollte. Als dann die O-Zufuhr 
abgeschnitten wurde, sank der Verbrauch sofort erheblich und blieb trotz 
der folgenden Steigerung während dieser Stunde um rund 40 Procent unter 
dem Verbrauch der vorhergehenden Stunde. Als wieder O zugeführt wurde, 
stieg der O-Verbrauch Anfangs sehr beträchtlich, nahm dann ab und wieder 
zu, so dass im Ganzen in dieser Stunde (in welcher der O-Gehalt fast genau 
der gleiche war wie in der ersten Stunde) um mehr als 86 Procent mehr OÖ 
verbraucht wurde als in der ersten. 

Werden die Versuche über längere Perioden fortgesetzt, so sind die 
Unterschiede weniger auffallend, da schon im Laufe einer Stunde eine 
theilweise Ausgleichung stattfindet. Immerhin bleibt die Thatsache be- 
stehen, dass bei geringem Sauerstoffgehalt der Athmungsluft weniger OÖ 
verbraucht wird als bei grossem. Dabei zeigt aber die 0O,-Ausgabe nur 
geringe Schwankungen und diese gehen nieht dem O-Verbrauch parallel. 
So kommt es, dass der respiratorische Quotient, welcher nach der Kost sich 
auf 0-864 hätte stellen sollen und im Durchschnitt aller Versuche mit 
normalem O-Gehalt 0-823 war,! sehr grosse Schwankungen aufweisen kann. 
Er war im Minimum (bei grossem O-Gehalt) = 0-576 und im Maximum 
(bei geringem Ö-Gehalt) = 1-247. Hieraus folgt, dass man sich hüten 
soll aus denı O-Verbrauch und dem aus ihm berechneten respiratorischen 


ı Für diese Berechnung wurden nur die Versuche von längerer Dauer (5 Stunden 
und darüber) benutzt. 


278 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


Quotienten weittragende Schlüsse zu ziehen, wenn es sich nieht um längere 
Versuchszeiten handelt und keine Sicherheit für ganz normale Zusammen- 
setzung der Athmungsluft gegeben ist. 

Das gewonnene Ergebniss steht im Widerspruch zu den. Angaben von 
Regnault und Reiset, welche ausdrücklich betonen, dass der Sauerstoff- 
gehalt der Athmungsluft keinen Einfluss auf die O-Aufnahme habe. Es 
ist jedoch zu bedenken, dass die Versuche dieser Forscher immer nur sehr 
lange Perioden (24 bis 75 Stunden) umfassen und dass sie nur Durchschnitts- _ 
werthe für diese langen Zeiträume angeben, etwaige Schwankungen inner- 
halb derselben dagegen gar nicht untersucht haben. Der von mir hervor- 
gehobene Einfluss des O-Gehalts muss aber offenbar mit der Länge der 
Perioden immer unmerklicher werden, zumal wenn er nicht durch absicht- 
lich herbeigeführte, schnell erfolgende Abänderungen des O-Gehalts im Ver- 
lauf eines Versuchs, sondern nur durch Vergleichung verschiedener Versuche 
studirt wird. Denn gerade die plötzlichen Veränderungen geben, wie ich 
gezeigt habe, die grössten Schwankungen in der O-Aufnahme durch das 
Thier. Diese Schwankungen sind aber, wie ich glaube, von Werth für das 
Verständniss des Mechanismus der O-Aufnahme und des O-Verbrauchs im 
Organismus. 

Die Abhängigkeit der O-Aufnahme von dem O-Gehalt der Athmungsluft 
oder, wie wir auch sagen können, von dem Partialdruck des O, scheint 
nicht im Einklang zu stehen mit der Thatsache, dass die O-Aufnahme durch 
das Blut die Folge einer chemischen Bindung seitens des Hämoglobins ist 
und demgemäss von dem Druck des Gases sehr wenig abhängig sein sollte. 
Eine genauere Erwägung zeigt aber, dass gerade das, was wir gefunden 
haben, sich als nothwendige Folgerung aus den Verhältnissen in der Lunge 
ergeben muss. Von der Hautathmung können wir bei den folgenden Er- 
wägungen ganz absehen, erstens wegen ihres geringen Betrages und zweitens, 
weil für sie dieselben Umstände in Betracht kommen wie für die Lungen- 
athmung. 

Wenn wir Blut im Absorptiometer mit O schütteln, so ist die O-Auf- 
nahme nur in sehr geringem Grade. abhängig vom O-Druck und fast 
allein von dem Hämoglobingehalt bedingt. Bleibt der Partialdruck des O 
oberhalb eines sehr geringen Werthes (der Dissociationsconstante der Ver- 
bindung HbO,), so wird O aufgenommen, bis alles Hämoglobin in Oxyhämo- 
globin verwandelt ist. Die Diffusion spielt dabei eine untergeordnete Rolle. 
Anders in den Lungen. Um zu den Blutkörperchen zu gelangen, muss der 
in der Alveolarluft enthaltene OÖ durch die Wand der Alveolen und der 
Capillaren hindurchdiffundiren. Die Spannung des O an der Oberfläche der 
Blutkörperchen dürfen wir gleich Null setzen, weil hier chemische Bindung 
eintritt. Die Geschwindigkeit, mit welcher O aus der Alveolarluft in das 
Blut übertritt, kann daher dem Partialdruck des O in der Alveolarluft direet 
proportional gesetzt werden. Bei der Kürze der Zeit, während welcher das 
Blut in den Lungencapillaren mit der Alveolarluft in Wechselwirkung tritt, 
ist aber diese Geschwindigkeit von grösstem Einfluss auf die Gesammtmenge 
der Aufnahme. Nimmt der O-Gehalt der Luft, in welcher das Thier athmet, 
ab oder zu, was natürlich auch auf die Alveolarluft in gleichem Sinne ein- 
wirkt, so wird demnach das Blut entsprechend weniger oder mehr O auf- 
nehmen müssen. 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — J. ROSENTHAL. 279 


Ich habe schon gesagt, dass die 00,-Abgabe seitens des Thieres keine 
wesentliche Aenderung zeigt, mag viel oder wenig O innerhalb der von mir 
eingehaltenen Grenzen der Luftzusammensetzung aufgenommen werden. Es 
folgt daraus, dass auch bei der niedersten Grenze, entsprechend einem 
O-Gehalt von 15 Procent, immer noch genug O aufgenommen wird, um die 
Lebensprocesse in normalem Gang zu erhalten und auch den Eintritt von 
Dyspnoe zu verhindern. Es wird also fortwährend ungefähr gleich viel O 
zu den Lebensvorgängen verbraucht. Wenn also trotzdem bei piötzlicher 
Steigerung des O-Gehaltes der Luft die Aufnahme grösser wird, so muss 
irgendwo im Organismus eine Aufspeicherung von OÖ stattfinden. Aus diesem 
Vorrath kann dann das Thier, falls ihm wieder zu wenig O zugeführt wird, 
eine Zeit lang seinen für den normalen Ablauf der Lebensvorgänge nöthigen 
O-Bedarf decken. 

In dem oben mitgetheilten Versuch hat das Thier in der Stunde rund 
etwas mehr als 2 Liter CO, ausgegeben. Zu ihrer Bildung und zu den 
anderen im Körper stattfindenden Oxydationen (Bildung von Wasser, Harn- 
stoff u. s. w.) waren die 2-360 Liter O, welche es in der ersten Stunde 
aufnahm, ungefähr gerade ausreichend. In der zweiten Stunde aber nahm 
es im Ganzen nur 1-457 Liter O auf, und wenn seine Lebensprocesse in 
derselben Weise fortgingen, so musste es fast einen Liter O aus einem in 
ihm vorhandenen Vorrath hinzufügen. In der dritten Stunde dagegen nahm 
es 4-407 Liter O auf, konnte also nicht bloss den Mehrverbrauch der 
zweiten Stunde wieder voll decken, sondern konnte noch einen Vorrath 
von mehr als einem Liter aufspeichern. - 

Bei länger dauernden Versuchen werden zwar die Differenzen in der 
O-Aufnahme kleiner, aber der Ueberschuss der Aufnahme über den Verbrauch 
oder umgekehrt bleibt längere Zeit bestehen. Das geht ja schon unzweifel- 
haft aus der angeführten Thatsache hervor, dass der respiratorische Quotient 
bei - solehen längeren Versuchen zwischen den Grenzen 0-576 und 1-247 
geschwankt hat. 

Es fragt sich, wo diese Aufspeicherung von OÖ stattfinden kann. Im 
Blute können so grosse O-Mengen nicht enthalten sein, und ebenso wenig 
kann der Ueberschuss der O-Ausgabe über die O-Aufnahme bei längerer 
Athmung O-armer Luft vom Blute gedeckt werden, selbst wenn man die 
grössten Schwankungen im ÖO-Gehalt des Blutes voraussetzt, welche ohne 
merkliche Störung der Lebensvorgänge angenommen werden können. 

Bekanntlich hat Hr. Pflüger? an den Nachweis, dass Frösche in voll- 
ständig O-freier Luft noch lange leben und fortfahren CO, zu bilden, eine 
Theorie angeknüpft, nach welcher die CO,-Bildung des lebenden Protoplasmas 
auf Kosten des „intermolecularen‘“ Sauerstoffs vor sich geht. Die Thatsche, 
welche Herr Pflüger an Fröschen fand, und welche später auch an pflanz- 
lichen Geweben nachgewiesen wurde, ist von hervorragender Bedeutung. 
Es handelt sich dabei offenbar um eine Eigenschaft des Protoplasmas, welche 
nicht dem Protoplasma der Pflanzen und Kaltblüter allein zukommen kann, 
sondern dem Protoplasma aller Lebewesen zugeschrieben werden muss. 


! Sank der O-Gehalt auf 13 Procent oder darunter, so trat Dyspnoe ein. Dies 
wurde aber möglichst vermieden, um die Verhältnisse nicht zu compliciren, 
* Pflüger’s Archiv. Bd. X. S. 251 ft. 


280 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


Wir können freilich nicht ein Säugethier oder einen Vogel in voll- 
kommen O-freier Luft am Leben erhalten, aber das beweist doch nur, dass 
die Lebenserscheinungen dieser Thiere mit einer so reichlichen O-Zehrung 
verbunden sind, dass es einer steten O-Zufuhr von aussen bedarf, wenn das 
Leben fortdauern soll. Erstickt man ein Säugethier durch Verschluss der 
Trachea, so wird bekanntlich der in den Lungen enthaltene O bis auf einen 
kleinen Rest vom Blute aufgenommen; das Leben dauert, wenn auch in 
etwas veränderter Weise, fort, so lange diese O-Quelle fliesst, und sogar 
noch kurze Zeit darüber hinaus. Es besteht also nur ein gradueller, kein 
prineipieller Unterschied zwischen den höheren Lebewesen (den Homoio- 
thermen) und den niederen (Poikilothermen und Pflanzen). 

Aus meinen Versuchen geht hervor, dass ein Säugethier bei reichlich vor- 
handenem Sauerstoff mehr von diesem Gase aufnimmt, als es in der gleichen 
Zeit verbraucht, und dass es bei abnorm niederem Sauerstoffgehalt aus einem 
im Körper vorhandenen O-Vorrath eine Zeit lang seinen Verbrauch zu unter- 
halten im Stande ist. Dies wird verständlich, wenn man annimmt, dass 
irgendwo im Körper eine Substanz vorhanden sei, welche O bis zu einem 
gewissen Betrage im Vorrath aufzunehmen und ihn im Bedarfsfalle abzu- 
geben vermag. 

Eine solche Substanz muss sich dem O gegenüber ähnlich verhalten, 
wie Hämoglobin. Sie bindet Sauerstoff chemisch, d. h. sie entzieht ihn der 
Diffusion; aber diese Bindung muss locker genug sein, um den Sauerstoff 
wieder zur Bildung von CO, und anderen Oxydationsproducten abzugeben. 
Stellen wir uns vor, dass die O-Bindung durch diese Substanz eine etwas 
festere sei als die des Hämoglobins, so würde der Vorgang der O-Athmung 
sich folgendermaassen vollziehen. In den Lungen wird OÖ an Hämoglobin 
gebunden und gelangt mit diesem in die Gewebscapillaren; hier wird der 
OÖ von Hämoglobin getrennt und tritt an jene hypothetische Substanz über, 
welche ihn dann zur Unterhaltung der Oxydationsprocesse wieder abgiebt. 

Diese hypothetische Substanz denke ich mir als einen integrirenden 
Bestandtheil jedes lebenden Protoplasmas. Mit anderen Worten, ich schreibe 
allem Protoplasma ähnliche Eigenschaften zu, wie wir sie am Hämoglobin 
kennen. Wo letzteres vorhanden ist, was ja nur für einen Theil der Lebe- 
wesen zutrifft, da spielt es wegen seiner noch viel grösseren Befähigung 
zur Aufnahme und Abgabe des O die Rolle des Vermittlers zwischen der 
Atmosphäre und dem Protoplasma. Es ist aber für die Lebensprocesse nicht 
unbedingt nothwendig, da dem Protoplasma selbst die gleichen Eigenschaften 
zukommen.! 

Diese dem Protoplasma zugeschriebene Eigenschaft und die Rolle, welche 
dasselbe bei der eigentlich charakteristischen Thätigkeit aller lebenden Sub- 
stanz, der Athmung, spielt, ist im Grunde nichts als eine andere Formu- 
lirung dessen, was Hr. Pflüger mit seinem „intermoleceularen“ Sauerstoff 
hat ausdrücken wollen. Indessen wissen wir von den molecularen Strueturen 
der das Protoplasma zusammensetzenden Verbindungen doch zu wenig, um 


! Deswegen kann z.B. ein Frosch weiter leben, wenn man sein ganzes Blut 
durch eine indifferente Flüssigkeit ersetzt hat. Bei Thieren mit grösserem O-Verbrauch 
dagegen kann die Aufnahme des O ohne die Mithülfe des Hämoglobins nicht schnell 
genug erfolgen. Solche Thiere können deshalb einen grossen Theil ihres Blutes ohne 
Lebensgefahr verlieren, aber nicht alles. 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — J. ROSENTHAL. — Imm. Munk. 281 


von den Molekeln und den in ihnen sich abspielenden Vorgängen anders 
als in ganz allgemein gehaltenen Ausdrücken sprechen zu können. Ich 
ziehe es daher für meine Person vor, mich aller solcher Speculationen zu 
enthalten und möchte deshalb den Sauerstoff, welcher das Blut verlassen 
hat, um im Protoplasma die eigentlichen, die Lebensvorgänge begleitenden 
chemischen Processe zu ermöglichen, vorerst als „intracellularen“ Sauerstoff 
bezeichnen, was späteren Speculationen in keiner Weise vorgreift. Ich 
könnte also das Ergebniss meiner Untersuchungen auch in den Satz fassen: 
Die Menge des intracellularen Sauerstoffs ist innerhalb ge- 
wisser Grenzen veränderlich. Bei reichlicher O-Zufuhr kann er 
vermehrt werden; bei ungenügender O-Zufuhr dagegen können 
die Lebensvorgänge in den Geweben auf Kosten des intracellu- 
laren Sauerstoffs fortgehen, vielleicht bis zur vollkommenen 
Aufzehrung desselben. 


2. Hr. Inmanusıu Munk hält den angekündigten Vortrag: Zeigt der 
unversehrte Nerv eine verschiedene locale Erregbarkeit? (nach 
Untersuchungen von Hrn.P. Schultz und dem Vortragenden). 


Die von zahlreichen Autoren, zuerst von Budge und Pflüger beob- 
achtete Abnahme der Erregbarkeit des Nerven peripheriewärts rührt, wie 
weitere Untersuchungen gelehrt haben, daher, dass die geprüften Nerven- 
präparate in Folge ihrer Trennung vom zugehörigen Neuron sich stets in 
in einem gewissen Stadium des Absterbens befanden. 

Für den unversehrten (motorischen) Nerven liegen nur Versuche von 
A. Beck vor, die, zuerst vor 10 Jahren kurz mitgetheilt, neuerdings wieder- 
aufgenommen worden sind. Laut dem jüngst erstatteten Berichte haben 
Beck’s Untersuchungen! zu dem bemerkenswerthen Resultat geführt, dass 
längs des unversehrten Nerven eine Verschiedenheit der Erregbarkeit be- 
steht, und zwar derart, dass die Erregbarkeit peripheriewärts wächst, es 
somit näher dem Muskel einer geringeren Reizgrösse für den Nerven bedarf, 
um eine Minimalzuckung auszulösen, als ferner vom Muskel. An Säuge- 
thieren (Kaninchen, Katze) suchte Beck den für die vorliegende Frage 
unerlässlichen Forderungen, am undurchschnittenen motorischen 
Nerven, der ungetheilt und unverästelt auf eine längere Strecke 
verläuft, somit überall von gleicher Dicke ist, dadurch zu ent- 
sprechen, dass er die Prüfung ein Mal am Halssympathicus und zweitens 
am Phrenieus vornahm. 

Der Halssympathicus ist indess als für die vorliegende Frage geeignet 
nieht anzuerkennen, weil seine Fasern, bevor sie das Erfolgsorgan (M. dila- 
tator pupillae) erreichen, das obere Halsganglion durchsetzen, in dem ein 
neues Neuron beginnt. Dagegen erfüllen die Nn. phreniei thatsächlich, alle 
die oben gestellten Forderungen. Die von uns an diesen bei Warmblütern 
(Kaninchen, Katze, Hund) zur Controle durchgeführten Versuche, in denen 
nach Eröffnung des Brustkorbes bei sorgfältig unterhaltener künstlicher 
Respiration die Phreniei an drei Stellen in ziemlicher Ausdehnung freigelegt 
wurden, ein Mal am Halse nach dem Zusammenfluss der zwei bis drei Wurzeln 
zum gemeinschaftlichen Nervenstamm, dann im oberen Theil der Brusthöhle 


\ Dies Archiv. 1897. Physiol. Abthlg. S. 415. 


282 VERHANDLUNGEN D. BERLINER PHYSIOL. GESELLSCH. — Imm. MUnk. 


oberhalb der Lungengefässe, endlich unten nahe dem Zwerchfell, haben bei 
Erregung dieser drei Nervenstrecken mit Oeffnungsinductionsschlägen nach 
der Methode der minimalen Reizung keinen nennenswerthen Unterschied in 
Bezug auf die Erregbarkeit der oberen, mittleren und unteren Nervenstrecke 
ergeben, und zwar ist das Resultat dann am sichersten und, wie wir nach- 
weisen können, kaum anfechtbar, wenn man durch reichliche Ventilation 
eine Art apnoischen Zustandes erzeugt, so dass das Zwerchfell vollständig 
stillsteht und man so an ihm den Erfolg der künstlichen Phrenicusreizung 
scharf feststellen kann. 

Zerstört man das Athemcentrum oder durchtrennt man das Rücken- 
mark dicht unterhalb der Medulla oblongata, um das Zwerchfell ruhig zu 
stellen, wie dies Beck gethan, so wird dadurch schon eine nachweisbar 
starke Aenderung in der Erregbarkeit der Phrenici gesetzt, die das Resultat 
wesentlich beeinflusst. In diesem Falle erhält man Ergebnisse, die allen- 
falls im Sinne Beck’s für eine sehr geringe Zunahme der Erregbarkeit der 
Phreniei in der Richtung vom Rückenmark nach dem Zwerchfell zu sprechen 
scheinen. Indem wir uns die kritische Beleuchtung der Beck’schen Ver- 
suche für unsere ausführliche Mittheilung vorbehalten, wollen wir hier nur 
als Ergebniss unserer Versuche festlegen, dass, wofern kein Eingriff am 
Centralnervensystem geschieht, an den unversehrten Phrenici 
die Erregbarkeit oben, in der Mitte und unten keine nennens- 
werthen Unterschiede zeigt. 

Es steht diese von uns gemachte Erfahrung der überall gleichen spe- 
eifischen Erregbarkeit des Phrenicusstammes auch im vollen Einklang mit 
den gesicherten Feststellungen, dass beim Actionszustande des Nerven weder 
Wärmebildung noch chemische Umsetzung (Säurebildung) statthat, die mittels 
unserer Methoden erkennbar wäre, also kein nachweisbarer Energie- 
verbrauch im erregten Nerven erfolgt, daher der Nerv sich auch als fast 
unermüdbar darstellt. 

Bei unseren Versuchen (Beck macht hierüber keine Angabe) wurden 
wir anfangs durch die mit der Herzthätigkeit synchron erfolgenden Zwerch- 
fellzuckungen, die links stärker und regelmässiger als rechts auftraten 
(Erregung der unversehrten Phreniei durch den Actionsstrom des Herzens), 
gestört. Sie lassen sich durch Isolirung der Phrenici gegen das Herz leicht 
ausschalten. 


DEQ 10 1802 


Beitrag zur Kenntniss der acuten Vergiftung mit 
verschiedenen Alkoholen. 


Von 
Dr. Georg Baer 
in Berlin, 


(Aus dem physiologischen Institut der Universität in Berlin.) 


Ueber die Ursachen der körperlichen und geistigen Schädigungen durch 
übermässigen Genuss alkoholischer Getränke sind die Anschauungen der 
Autoren getheilt. Die Einen geben zwar zu, dass auch der am wenigsten 
toxisch wirkende Alkohol, der Aethylalkohol, ein Gift sei, suchen aber die 
Ursachen der üblen Folgeerscheinungen zum grössten Theil in den Bei- 
mischungen des Aethylalkohols (sog. Fuselöl. Die Gegner hinwiederum 
präcisiren ihre Anschauung dahin, dass zwar die höher siedenden Alkohole 
(Propyl-, Butyl-, Amylalkohol) eine entsprechend stärkere Wirkung als der 
Aethylalkohol ausüben, dass dieselben aber in den gebräuchlichen Getränken, 
Wein, Bier und selbst in den Branntweinen nur in einem so geringen 
Procentsatz enthalten seien, dass ihnen eine specifische Wirkung nicht 
zukäme, sondern dass das hauptsächlich schädlich Wirkende die grossen 
Quantitäten des Aethylalkohols seien. 

Ein Beitrag zur Lösung dieser noch strittigen Frage schien durch 
methodische Verfolgung der durch die einzelnen Glieder dieser Alkohole 
und deren Vermischung mit einander bewirkten acuten Vergiftungen in 
Thierexperimenten geliefert werden zu können. 

Man unterscheidet zumeist bei der acuten Aesne zwei 
Stadien, das der Exeitation, das nur von kurzer Dauer ist, und das viel 
längere, in seiner Dauer von der genossenen Menge Ara abhängige 
Stadium der Depression. Nach Schmiedeberg ist das Stadium der 
Excitation überhaupt nicht als ein wirkliches Erregungsstadium anzusehen; 
im Gegentheil fasst er die so gedeuteten Symptome nur als die Folgen 


1! Auszug aus des Verf. Inaugural-Dissertation. Berlin 1898 (22. April). 


284 GEORG BAER: 


einer beginnenden Hirnlähmung auf. Auf das Exeitationsstadium folgt 
das Stadium depressionis, das mit Motilitätsstörungen aller Art, wie tau- 
melnden Gang, uncoordinirten Bewegungen u. s. w. einhergeht. Dann 
treten Schläfrigkeit und Bewusstlosiekeit ein; die Reaction der Pupillen 
auf Lichtreiz hört auf. Die Bewusstlosigkeit schwindet nach längerer Zeit 
und es bleiben Kopfschmerz, Uebelkeit, Brechneigung und Appetitlosigkeit 
zurück. 

Wo auf einmal grössere Mengen Alkohols genossen werden, fehlt das 
Excitationsstadium ganz, und es tritt alsbald die allgemeine Depression der 
Nervencentren ein. 

Von dieser Art der acuten Vergiftung lässt sich nach Percy eine 
besondere Form trennen, die von ihm so benannte „Ivresse ‚convulsive“, 
die sich durch heftige, allgemeine Convulsionen und durch maniakalische 
Delirien von dem gewöhnlichen Alkoholrausch unterscheidet. 

Nach Ziehen steigt nach Alkoholgenuss die Muskelleistungsfähigkeit 
ein wenig, um aber schon nach !/, Stunde wesentlich herabzugehen. Das 
anfängliche Gefühl erhöhter Leistungsfähigkeit deutet Gaule nur als ein 
vorübergehendes Aufflackern, dem eine um so schnellere Erschöpfung folgt. 
Das gleiche Resultat haben Fürer’s Dynamometerversuche ergeben. 

Ebenso wie die Muskelthätigkeit werden nach Ziehen und Fürer 
auch die psychischen Vorgänge durch die acute Alkoholintoxication stark 
beeinträchtigt. 

Demnach führt der Alkohol für alle Fumetionen des menschlichen 
Organismus nach kurzer Dauer der Erregung zu einer erheblichen und 
längere Zeit andauernden Herabsetzung der Thätigkeit und Leistungsfähigkeit. 

Was nun die Stärke der Wirkung der einzelnen Alkohole anlangt, so 
ist von Rabuteau der von Cros u. A. bestätigte Satz aufgestellt worden, 
dass die Toxicität der einzelnen Alkohole steigt einmal mit ihrem Gehalt 
an Kohlenstoff und ferner mit der Höhe ihres Siedepunktes. Es wirkt 
danach der Methylalkohol, CH,OH, der bei 65° siedet, wenig; der Aethyl- 
alkohol, C,H,OH, mit dem Siedepunkt 78-5° ist stärker toxisch; der 
bei 98° siedende Propylalkohol, C,H,OH, und der erst bei 107° siedende 
Butylalkohol, C,H,OH, sind bedeutend giftiger als die vorhergehenden, 
während der rapie, C,H,,OH, der den höchsten Su u mit 131° 
hat, der giftigste der Alkohole ist. 

Betrefis der Art der Wirkung der verschiedenen Alkohole ist zu er- 
wähnen, dass Richardson u. A. bei den höher siedenden Alkoholen die- 
selben Intoxicationsstadien beobachtet haben wie beim Aethylalkohol, nur 
war das Stadium der Exeitation sehr kurz, das der Depression mehr aus- 
gedehnt; die stark toxische Wirkung tritt schon nach sehr viel kleineren 
"Dosen als beim Aethylalkohol ein. 


ACUTE VERGIFTUNG MIT VERSCHIEDENEN ALKOHOLEN. 285 


Der im grössten Procentsatz in allen spirituösen Getränken enthaltene 
Alkohol ist der Aethylalkohol, dessen Wirkung am meisten erforscht und 
daher auch am besten bekannt ist. Seine letale Dosis beträgt nach Du- 
jardin-Beaumetz und Audige in reinem Zustande 8-0, in verdünntem 
7.7580 pro Kilo Körpergewicht. Joffroy und Serveaux haben dieselbe 
auf 11-7 festgesetzt. 

Dem Aethyl- in seiner Wirkung am ähnlichsten ist der Methylalkohol, 
der von allen Alkoholen in den geistigen Getränken am spärlichsten vor- 
kommt. Nach Joffroy und Serveaux kommt er nur in England und 
Irland bei der Bereitung von Getränken zur Verwendung. Vergiftungen von 
Menschen mit reinem Methylalkohol sind nicht bekannt. Nach v. Jaksch 
ist die Art der Giftwirkung des Methyls im Wesentlichen dieselbe wie beim 
Aethyl, nur wirkt nach ihm der Methyl wesentlich giftige. Nach Dujardin 
wirkt der Methyl ebenfalls giftiger als der Aethyl, aber nur in ganz geringem 
Grade; die tödtliche Dosis des Methyl beträgt nach ihm 7.08% oegen 
7.75 8m Aethyl. Joffroy dagegen hat die Toxieität des Methyl auf 
25.2520 festgesetzt gegen 11.7 :"” Aethyl, so dass nach ihm dem Methyl- 
noch weniger als die Hälfte der Giftigkeit des Aethylalkohols zukommt. 

Der Propyl- und Butylalkohol wirken bedeutend giftiger als der Aethyl- 
alkohol. Die letale Dosis des Propyls ist nach Dujardin 3.758”%, nach 
Joffroy 3.4. Der Butylalkohol wirkt nach Dujardin bei 1-85® pro 
Kilo Körpergewicht tödtlich, nach Joffroy bei 1.45°”%. Von ihrer Gift- 
wirkung ist in der Litteratur nicht viel zu finden; um so bekannter da- 
gegen ist der am höchsten siedende Amylalkohol. 

Nach Rabuteau ist die Wirkung des Amyls mindestens 15 Mal so 
stark als die des Aethyl und 3 bis 4 Mal so stark als die des Butyl, und 
ist selbst in den ‚kleinsten Dosen von verderblicher Wirkung. Noch stärker 
ist die verderbliche Wirkung des Amyls nach Joffroy, der seine Toxicität 
gleich 0-63 8m setzt gegen 11.7®8"® Aethyl; nach ihm wirkt der Amyl 
also 18-5 Mal so stark als der Aethyl, während er nach Dujardin eine 
Toxieität von 1-5 bis 1-68"” hat, also nur etwa 4!/, bis 5 Mal so giftig 
wirkt als der Aethyl. 

Von grösserem Interesse ist es zu betrachten, wie die Alkohole sich 
in den Getränken verhalten, wo sie doch nicht einzeln, sondern mit 
einander vermischt vorkommen. Weit überwiegend ist in allen alkohol- 
haltigen Getränken der Aethyl vorhanden, und es haben sich daher auch 
Autoren gefunden, nach denen ihm allein die schädlichen Folgen des 
Alkoholmissbrauchs zuzuschreiben seien. So sagt Magnus Huss, dem 
sich Dahlström anschloss, dass bei den schädlichen Wirkungen der 
Branntweine der Gehalt an Aethyl die Hauptsache, das Fuselöl nur von 
nebensächlicher Wirkung und höchstens im Stande sei, die schädlichen 


236 GEORG BAER: 


Wirkungen des Aethyls zu erhöhen oder zu beschleunigen. Nach A. Baer 
ist diese Ansicht nicht stichhaltig, weil der angeblich fuselfreie Branntwein 
von Dahlström sicher nicht fuselfrei gewesen ist, da in Schweden damals 
eine vollständige Reinigung unmöglich war. Jedoch finden sich in neuerer 
Zeit Anhänger von Huss und IJahlström. Stenberg sah bei seinen 
Versuchen mit Kaninchen keine besonderen Unterschiede zwischen reinem 
Alkohol und mit Thierkohle gereinigtem Kartoffelbranntwein. Nach ihm be- 
dingt eine bis 4proc. Verunreinigung des Aethyls mit Fuselöl eine Veränderung 
in den Intoxicationserscheinungen und deren Folgen nicht. Ferner fand 
Hamberg bei Selbstversuchen, dass der Aethylalkohol die in den Brannt- 
weinen und malzhaltigen Getränken eigentlich berauschende und bei Miss- 
brauch die die Gesundheit schädigende Substanz sei und dass die Schäd- 
lichkeit der berauschenden Getränke nach der Menge des in denselben 
vorfindlichen Aethylalkohols zu bemessen sei. 

Dem gegenüber vertreten Dujardin-Beaumetz und Audige, 
Magnan u. A. die Ansicht, dass die schädliche Wirkung der alkohol- 
haltigen Getränke abhängig sei von dem Grade ihrer Reinheit. Nach 
Brockhaus üben die Verunreinigungen des Kartoffelbranntweins eine ganz 
unvergleichlich viel stärkere Wirkung aus als reiner Aethylalkohol. Auch 
Laborde hat durch Experimente festgestellt, dass die Schädlichkeit der 
Branntweine nach dem Grade ihrer Verunreinigung abzuschätzen sei, und 
ist zu dem Schlusse gekommen, dass die unreinsten und daher giftigsten 
Branntweine durch eine angemessene Rectification fast auf den Typus des 
reinen Aethylalkohols zurückgeführt werden können. Er folgert daraus, 
dass die nicht zu vermeidende Gefahr des Alkoholgenusses durch eine 
solche Rectification auf das möglichste Minimum beschränkt werden könne. 
Auch Strassmann kommt durch seine Untersuchungen an Hunden zu 
dem Schluss, dass ein Zusatz von 3 Proc. Amyl- zum Aethylalkohol die 
Intoxicationserscheinungen bedeutend steigert und den tödtlichen Verlauf 
erheblich beschleunigt. — 

Nachdem so über die Wirkung der Alkohole einzeln und in Mischungen 
mit einander das Hauptsächlichste aus der Litteratur zusammengestellt ist, 
soll es im Folgenden die Aufgabe dieser Arbeit sein, auf Grund experi- 
menteller Untersuchungen die Erfahrungen der oben citirten Autoren, sei es 
zu bestätigen, sei es zu widerlegen und zu berichtigen. Es wurde zu diesem 
Zwecke eine Reihe von Versuchen unternommen, die sich jedoch nur auf 
Kaninchen erstreckten. Die zu den Versuchen verwendeten Alkohole waren 
chemisch rein (von Kahlbaum, Berlin, bezogen), und wurden stets durch 
die Schlundsonde in den Magen eingeführt, und zwar in mit Wasser ver- 
dünntem Zustande. Es wurden dabei die Beobachtungen gemacht, die im 
Folgenden geschildert werden. 


ACUTE VERGIFTUNG MIT VERSCHIEDENEN ALKOHOLEN. 287 


Die beobachteten Intoxicationen können wir, um eine bessere Uebersicht 
zu erhalten, in drei Gruppen eintheilen, je nach der Schwere der dabei 
auftretenden Symptome. Von den drei Gruppen ist die erste diejenige, 
bei der die Erscheinungen nur verhältnissmässig gering waren und bei der 
das Ueberstehen der Vergiftungserscheinungen schon nach kurzer Zeit, in 
1 bis 2 Stunden, erfolgte. Bei der zweiten Gruppe sahen wir qualitativ 
dieselben Erscheinungen, die Unterschiede zeigten sich nur in der Quantität 
der Wirkungen, die beträchtlich stärker waren und auch längere Zeit, 
6 bis 10 Stunden, anhielten. Die Formen der schwersten Erscheinungen 
endlich, die zu Tage langer Narkose und sehr häufig zum Exitus letalis 
führten, sind in der dritten Gruppe vereinigt worden. 

Die erste Gruppe besteht also aus den Vergiftungen leichtester Form. 
Dieselben äusserten sich in geringen Lähmungserscheinungen und mässiger 
Herabsetzung der Sensibilität. Die Motilitätsstörungen traten nach einem 
kurzen Exeitationsstadium erst etwa. 20 bis 30 Minuten nach der Alkohol- 
gabe auf und befielen vorzugsweise zuerst die vorderen und dann die 
hinteren Extremitäten, aber nur in so geringem Grade, dass die Locomotion 
wohl erschwert, aber keineswegs unmöglich wurde. Auch die Sensibilität 
wurde bei dieser Form nur wenig herabgesetzt; alle etwas stärkeren Reize 
wurden empfunden, was sich in Abwehrbewegungen und Fluchtversuchen 
äusserte. Der Cornea- und Ciliarreflex blieben meist gut erhalten oder erfuhren 
nur eine ganz unbedeutende Abschwächung. Die Pupillen reagirten prompt 
auf Lichteinfall. Die Respirations- und Pulsfrequenz zeigten keine wesentliche 
Aenderung, ebenso wenig die Temperatur. Nach kurzer Zeit trat Erholung ein. 

Weit stärkere Veränderungen zeigten die Thiere mit den Vergiftungs- 
erscheinungen, die wir zu der zweiten Gruppe vereinigt haben. Nach einem 
hier nur sehr kurzen Exeitationsstadium zeigten sich die ersten Symptome, 
Unsicherheit und dann bald folgende Lähmung der Extremitäten, schon 
nach 5 bis höchstens 10 Minuten. Nach etwa 15 Minuten schon liessen 
sich die Thiere in jede Stellung, besonders auf die Seite legen, ohne sich 
dagegen zu sträuben und ohne Versuche zu machen, sich aufzurichten. 
Die Sensibilität war derart abgeschwächt, dass nur sehr starke Reize noch 
gespürt wurden und unsichere, ungeschickte Abwehrbewegungen auslösten. 
Aufrichtungs- und Fluchtversuche blieben erfolglos, die Thiere fielen sofort 
wieder hin. Die Augenreflexe waren stark herabgesetzt; die Pupillen waren 
eng, reagirten nur noch träge oder überhaupt nicht mehr. Athmungs- 
frequenz und Temperatur gingen herunter. Erholung trat erst nach längerer 
Zeit, bis zu 10 Stunden, ein. 

Die schwersten Symptome endlich zeigten die ereinen der dritten 
Form. Das Stadium der Exeitation. fehlte hier ganz. Schon wenige Minuten 
nach der Einführung des Alkohols zeigte sich eine beginnende Parese der 


288 GEORG BAER: 


Extremitäten, die sich in wenigen weiteren Minuten zur vollständigen Läh- 
mung steigerte. Sensibilität und Reflexe wurden ebenfalls immer schwächer 
und erloschen nach kurzer Zeit ganz; ebenso die Pupillenreaction. Die 
Pupillen waren ganz eng. Häufig fand sich Nystagmus, vorzugsweise in 
verticaler, aber auch in horizontaler Richtung; Speichelabsonderung bis zum 
Speichelfluss vermehrt. Zuweilen trat Sphincterenlähmung und in Folge 
dessen Abgang von Koth und Urin ein. Hin und wieder fanden sich auch 
klonische und tonische Krämpfe. Die Herabsetzung der Respirationsfrequenz 
und der Temperatur war beträchtlich. Der Ausgang war bei dieser Form 
in der Regel letal in Folge von Lähmung des Respirationscentrums; im 
günstigsten Falle blieben die Thiere in tiefster Narkose liegen, aus der 
sie erst nach sehr langer Zeit, bis zu 36 Stunden, erwachten, um sich 
allmählich zu erholen. 

Um die erste leichte Form der Intoxication zu erzielen, mussten von 
Methylalkohol Dosen von 3-2 bis 5.28 pro Kilo Körpergewicht dar- 
gereicht werden. Gaben von weniger als 3-2s"m pro Kilo riefen gar keine 
oder so unbedeutende Erscheinungen hervor, dass sie nicht beachtet zu 
werden brauchen. Bei Gaben von Aethylalkohol wurde dieselbe Wirkung 
schon bei Dosen von 2.5 bis 4-1” pro Kilo erreicht. Propylalkohol rief 
dieselben Erscheinungen schon bei Gaben von 1-6 bis 2-4 8m hervor, von 
Butylalkohol genügten schon 1 bis 1.58”® und vom Amylalkohol sogar 
nur 0-83 bis 1.088" pro Kilo, um die Erscheinungen der ersten Form 
hervorzubringen. 

Um die schon bei Weitem schwereren Erscheinungen der zweiten Form 
zu erreichen, waren natürlich grössere Dosen Alkohols erforderlich. Von 
Methylalkohol mussten 5-6 bis 6.98”m pro Kilo gegeben werden, um die 
Symptome der zweiten Gruppe zu erzielen; von Aethylalkohol genügten 
4.45 bis 6-15 8%. Propyl erreichte die schwereren Erscheinungen schon 
mit 2-58 bis 2-96 8% pro Kilo; Butyl mit 1-5 bis 2.08”, und von dem 
giftigsten, dem Amylalkohol, waren schon 1-25 bis 1.668 pro Kilo hin- 
reichend, um die Vergiftungssymptome zu den in der zweiten Gruppe 
geschilderten schwereren zu machen. 

Um die schwersten Erscheinungen der dritten Gruppe zu erreichen, 
brauchten die Gaben, die die zweite Form hervorriefen, nur ein wenig 
überschritten zu werden. Wir erzielten die dritte Form bei Gaben von 
über 7.2 em pro Kilo Methylalkohol, während eine Dosis von 9-02 sm 
pro Kilo so schwere Wirkungen hervorrief, dass das Thier nach kurzer Zeit 
zum Exitus kam. Dasselbe Resultat wurde bei einer Gabe von 7.44 8m pro 
Kilo Aethylalkohol erreicht. Die tödtliche Dosis des Propyls ist gleich 3-46 2”, 
die des Butyls gleich 2-44 ®” pro Kilo. Der giftigste aller Alkohole, der 
Amyl, führt schon bei einer Gabe von 1-95 == pro Kilo den Tod herbei. 


ACUTE VERGIFTUNG MIT VERSCHIEDENEN ALKOHOLEN. 289 


Wenn ich zur besseren Uebersicht alle diese Werthe neben einander 
setze, so erhalte ich folgende Tabelle: 


Leichte Form Mittlere Form Schwere Form 


grm pro Kilo Thier grm pro Kilo Thier | grm pro Kilo Thier 


Methylalkohol . 3-2 bis 5-2 5-6 bis 6-9 7-2 bis 9-02 
Aethylalkohol . Do ao 4-45 „ 6-15 6:25 „ 7-44 
Propylalkonoleg 02 | 21:6. 2 9.4 2.58 „ 2-96 32.00 95 3-46 
Butylalkohol In ai1loOn 2 10h) 1-05 „ 2-0 2-1 „ 2-44 
Amylalkohol \ 0-83 „ 1-08 1:25 „ 1.66 1-7 „1-9 


Die letztgenannten Werthe der „schweren Form“ sind die tödtlichen 
Dosen der Alkohole pro Kilo Körpergewicht, entsprechen also dem, was 
Joffroy und Serveaux als toxisches Aequivalent bezeichnet haben. 
Diese erhielten als Werthe für das toxische Aequivalent beim Methylalkohol 
25.25sm pro Kilo, beim Aethyl- 11-7, beim Propyl- 3-4, beim Butyl- 
1.45, beim Amylalkohol sogar nur 0.63 s”% pro Kilo Körpergewicht. Diese 
Zahlen können ‚wir nicht als richtig bezeichnen, besonders was die Werthe 
für den Methyl- und Amylalkohol anlangt. Es ist dabei allerdines zu 
bemerken, dass diese Autoren die Alkoholgaben auf dem Wege der intra- 
venösen Injeetion eingeführt haben, und es lassen sich vielleicht dadurch 
die Unterschiede in den einzelnen Dosen bei den Untersuchungen jener 
Autoren und den unsrigen erklären, da sich die intravenöse Injection, wie 
ohne Weiteres ersichtlich, keineswegs mit der Resorption vom Magendarm- 
canal aus deckt. 

Der Methylalkohol, der zwar nicht so giftig wirkt, wie der Aethyl- 
alkohol, aber doch von dessen Wirkung nur eine unbeträchtliche Abweichung 
zeigt, soll nach Joffroy eine Toxieität besitzen, die nur der Hälfte der 
Giftigkeit des Aethyls gleichkommt. Nach unseren eigenen Versuchen, bei 
denen wir das toxische Aequivalent des Methyls gleich 9.028”, das des 
Aethyls gleich 7.44" pro Kilo festgesetzt haben, muss diese Ansicht von 
Joffroy als übertrieben bezeichnet werden. In noch höherem Grade aber 
zeiet sich diese Ueberschätzung in der Bewerthung des Amylalkohols. 
Dessen toxisches Aequivalent ist nach Joffroy gleich 0-63 8m gegen 11-7 
pro Kilo des Aethyls; d.h. es wirkt nach ihm der Amyl- 18:5 Mal so 
giftig als der Aethylalkohol. Nach unseren eigenen Versuchen ist das 
toxische Aequivalent des Amylalkohols gleich 1.95 8% gegen 7.44 sm des 
Aethylalkohols; es wirkt also der Amyl etwa nur 4 Mal so stark als der 
Aethyl. Diese Zahl stimmt auch annähernd mit der von Dujardin- 
Beaumetz und Audige überein, die die Giftigkeit des Amylalkohols 4!/, 


bis 5 Mal so stark als die des Aethylalkohols bezeichnen. Die Toxicität 
Archiv f. A. u. Ph. 1898. Physiol. Abthlg. 19 


290 GEORG BAER: 


des Methyls beträgt nach ihnen 7.08%, die des Aethyls 7.758 pro Kilo. 
Es ist also nach diesen Zahlen die Wirkung des Methyls der des Aethyls 
fast gleich, nur in geringem Grade stärker, während nach unseren Ver- 
suchen es sich umgekehrt verhält, dass der Aethyl- giftiger wirkt als der 
Methylalkohol. Zur besseren Uebersicht wollen wir auch die Werthe für 
die toxischen Aequivalente in Form einer Tabelle zusammenfassen : 


Joffroy | Dujardin G. Baer 
Methylalkohol . . . 25-25 | 7-0 9.09 
Aethylalkohol . . . 11-70 7-75 7-44 
Propylalkohol . . . 3-40 3-75 3-46 
Butylalkohol . . . 1-45 1-85 2-44 
Amylalkohol . . . 0-63 1-5 bis 1-6 1-95 


Wenn wir die Toxieität des Aethylalkohols als Einheit nehmen und mit 
1 bewerthen, bekommen wir bei Joffroy die relative Toxicität, nach der des 
Aethyls gemessen, beim Methyl- gleich 0-46, beim Propyl- gleich 3-5, beim 
Butyl- gleich 8-0 und beim Amylalkohol gleich 18-5. Picaud hat, eben- 
falls die Toxieität des Aethylalkohols als Einheit setzend, folgende Werthe 
für die relative Toxicität erhalten: Methyl gleich 0.66, Propyl gleich 1-0, 
Butyl gleich 3-0 und Amyl endlich gleich 16-0. Er hat also, wenigstens 
was den Amylalkohol anbelangt, fast dasselbe Resultat erhalten, wie Joffroy. 
Ausserdem ist bei Picaud noch bemerkenswerth, dass er die Toxieität des 
Propylalkohols der des Aethyls gleichsetzt, eine Ansicht, mit der er in der 
ganzen Litteratur vereinzelt dasteht und die auch wir nicht bestätigen 
können. Nach Dujardin ist die relative Toxieität beim Methyl, den er 
für giftiger hält als den Aethyl, gleich 1-17; beim Propyl gleich 2-0; 
beim Butyl gleich 4-2 und beim Amyl gleich 5-0. Mit diesen Zahlen 
decken sich, annähernd wenigstens, die von uns selbst berechneten: es ist 
nach unseren Ermittelungen die relative Toxicität, die des Aethyls 
gleich 1 gesetzt, des Methyls gleich 0-8; die des Propyls gleich 2-0; die 
des Butyls gleich 3-0 und die des Amyls gleich 4-0. Auch diese Zahlen 
mögen noch einmal neben einander gestellt werden: 


| Joffroy Picaud Dujardin G. Baer 
Methylalkohol | 0-46 0-66 1.17 0-8 
Aethylalkohol | 1-0 1-0 1.0 1-0 
Propylalkohol | 3-5 1-0 2-0 N) 
Butylalkohol | 8-0 3-0 4-2 3.0 
Amylalkohol | 18-5 16-0 5-0 4-0 


ACUTE VERGIFTUNG MIT VERSCHIEDENEN ALKOHOLEN. 291 


Nachdem wir so die Wirkungen der Alkohole im reinen Zustande 
geschildert haben, kommen wir nunmehr zu dem zweiten Theil unserer 
Aufgabe, in wie weit durch Beimischung höherer Alkohole die 
Wirkung des Aethylalkohols gesteigert und verändert wird und 
zu mehr oder weniger erhöhten Intoxicationserscheinungen führt. 

Wenn wir zu reinem Aethylalkohol so viel Propyl hinzufügen, dass 
eine 4procent. Lösung entsteht, so musste von dieser Mischung, um die 
erste leichte Vergiftungsform zu bekommen, bis zu 3-538m pro Kilo ge- 
geben werden gegen 4-1 reinen Aethyl. Die zweite Form trat ein bei 
Gaben bis zu 5-09” pro Kilo gegen 6-15 ®® Aethyl, und die dritte Form 
der Vergiftung sahen wir bei einer Dosis von 6.06 8” gegen 7.44 8m reinen 
Aethyl. Wir sehen also, dass durch den Zusatz von 4 Proc. Propyl die 
Symptome der Vergiftung in ihren verschiedenen Graden durch geringere, 
und zwar ziemlich beträchtlich geringere Dosen erreicht werden. 

Nahmen wir, statt des Propyl-, Butylalkohol, so bekamen wir bei Zu- 
satz von 4 Proc. Butyl- zu reinem Aethylalkohol die erste Form bei 
3.168, die zweite bei 4.628" und die dritte bei 5-5em, 

In demselben Verhältniss gestaltete sich auch die Wirkung, wenn wir 
den reinen Aethylalkohol mit 4 Proc. Amyl versetzten. Wir erreichten mit 
dieser Lösung die Erscheinungen der leichten Form schon mit 2.84%, 
die mittlere Form trat ein bei 3-89 sm und die schwersten Formen fanden 
wir bei der Dosis von 4-66" pro Kilo, bei der schon nach kurzer Zeit 
der Tod eintrat. 

Stellen wir diese Zahlen neben einander, so erhalten wir folgende Tabelle: 


Leichte Form | Mittlere Form | Schwere Form 


grm pro Kilo Thier| grm pro Kilo Thier| grm pro Kilo Thier 


Reiner Aethylalkohol . . 4-1 6-15 7-44 


desgl. + 4 Proc. Propylalkohol 3-5 5-09 6-06 
desgl. + 4 ,„„ Butylalkohol. 3-16 4-62 5-50 


desgl. + 4 „ Amylalkohol . 2-84 3:89 4:66 


Wir sehen somit, dass durch einen Zusatz von 4 Proc. eines höher 
siedenden Alkohols zu reinem Aethylalkohol seine Toxicität ziemlich erheb- 
lich erhöht wird, so dass beträchtlich kleinere Dosen erforderlich sind, um 
die schwereren und schwersten Erscheinungen hervor zu rufen. Entsprechend 
den Wirkungen der höheren Alkohole selbst ist die Verstärkung der Sym- 
ptome auf Zusatz von Propylalkohol am geringsten, steigert sich bei Zusatz 
von Butylalkohol und ist bei der Mischung mit Amylalkohol eine so be- 


trächtliche, dass von der 4 procent., also doch immerhin nicht sehr starken 
19* 


292 GEORG BAER: 


Mischung, 4-.66®°”m genügen, um dieselben sehr schweren Erscheinungen 
herbei zu führen, wie 7-44 2% reinen Aethylalkohols. 

Nehmen wir zu dem reinen Aethyl nur einen Zusatz von 2 Proc. 
Propyl, so mussten zur Erzeugung der ersten Form 4-04®m gegeben, 
während die zweite Form durch eine Gabe von 5-82 &m pro Kilo, die dritte 
Form erst durch 7-12®% erreicht wurde. 

Setzten wir statt 2 Proc. Propyl eben so viel Butyl zu, so erhielten wir 
mit dieser Mischung die erste Form bei 3-8", die zweite bei 5.59 sm 
und die dritte bei 6.11 sm, 

Stellten wir endlich eine Mischung von reinem Aethylalkohol mit 2 Proc. 
Amyl her, so mussten von dieser Mischung 3.64 ®”% gegeben werden, um 
die erste Form zu erreichen, für die zweite 5.02 em und für die dritte 
schwerste endlich 5-85 sm, 


Leichte Form | Mittlere Form | Schwere Form 


grm pro Kilo Thier| grm pro Kilo Thier| grm pro Kilo Thier 


Reiner Aethylalkohol . . . . 4-1 6-15 7-44 


desgl. + 2 Proc. Propylalkohol 4-04 5-82 7:02 
desgl. + 2 „ Butylalkohol. 3-80 5.59 6-11 
desgl. + 2 „ Amylalkohol . 3-64 5-02 5-85 


Die Verstärkung der Vergiftungserscheinungen ist hier schon eine be- 
deutend geringere, als bei dem Zusatz von 4 Proc.; während von Aethyl 
+ 4 Proc. Amyl 3.89 sm pro Kilo die mittlere Form der Vergiftung herbei- 
führt, sind von Aethyl + 2 Proc. Amyl 5.02®'= dazu erforderlich; Aethyl 
4-66 8m + 4 Proc. Amyl sind tödtlich, während von Aethyl + 2 Proc. Amyl 
5-85 5m gegeben werden mussten, um dies Resultat zu erreichen. 

Schliesslich ist noch zu betrachten, in wie weit sich die Wirkung 
des Aethyl- bei einem Zusatz von nur 1 Proc. der höheren Alkohole 
verändert: 


Leichte Form | Mittlere Form | Schwere Form 


grm proKilo Thier| grm pro Kilo Thier| grm pro Kilo Thier 


Reiner Aethylalkoho)l . . . . 4.1 6-15 7.44 
desgl. + 1 Proc. Propylalkohol 4-04 5-99 7.28 
desgl. # 1 „  DButylalkohol. 3.92 5.83 7:04 
desgl. + 1 „ Amylalkohol. 3-80 5-67 6-82 


Bei einem Zusatz von 1 Proc. eines höher siedenden Alkohols ist also 
die Verstärkung der Wirkung des reinen Aethylalkohols eine fast ver- 


ACUTE VERGIFTUNG MIT VERSCHIEDENEN ALKOHOLEN. 293 


schwindend geringe; der Zusatz von 1 Proc. selbst von dem giftigsten, dem 
Amylalkohol, ist nicht im Stande, mehr als 0-64, also noch nicht einmal 
>/,s® reinen Aethylalkohol zu ersetzen. 

Nach diesen Ergebnissen können wir die Ansicht von Laborde, Magnan 
u. A. nicht theilen, die dahin geht, dass zum weitaus grössten Theil die 
Beimischungen der höheren Alkohole in den Getränken es sind, die zu den 
so überaus schädlichen Folgen des Alcoholismus führen, und die deshalb, 
um diese üblen Nachwirkungen des Alkoholmissbrauchs zu bekämpfen, die 
Forderung stellen, dass nur chemisch ‚reine Alkohole zu verkaufen seien. 
Unsere Ansicht deckt sich mit der von Huss, Hamberg u. A. und geht 
im Gegensatz zu der von Laborde dahin, dass der Aethylalkohol in den 
alkoholischen Getränken die eigentlich berauschende und schädliche Substanz 
ist, während die Beimischungen höherer Alkohole wohl im Stande sind, 
-einzelne Symptome schwerer zu gestalten, aber bei dem geringen Procent- 
satz, mit dem sie in den rectificirten alkoholischen Getränken enthalten sind, 
die gesammte acute Intoxication nicht in erheblichem Grade beeinflussen 
‘können. Es ist natürlich trotz dieser Resultate noch fraglich, ob nicht 
beim Menschen, bei dem die Resorption sich vielleicht etwas anders ge- 
staltet, und bei chronischem Alkoholgenuss die Beimischungen (doch eine 
grössere Rolle spielen als bei der acuten Intoxication. Mr 

Ausser den verschiedenen Alkoholen findet sich in allen, aus Ge- 
treide bereiteten, alkoholischen Getränken das Furfurol (Brenzschleimsäure- 
aldehyd), dessen Wirkung aber auch bedeutend überschätzt worden ist; 
Laborde brachte Hunden von 6 bis 3*® Körpergewicht durch intravenöse 
Injection Dosen bis höchstens 2 = Furfurol bei und beobachtete bei ihnen 
folgende Symptome: Zunächst trat ein Zustand allgemeiner Exeitation ein, 
begleitet von starkem Heulen, Erhöhung der Diurese und Herabsetzung 
der Respiration und Herzaktion. Dann traten stossweise Kopfbewegungen 
und spasmodische Muskelzuckungen im Gesicht auf; nach kurzer Zeit 
stellte sich eine epileptische Attacke ein mit Trismus und Opisthotonus. 
Weiterhin, nach etwa 5 bis 10 Secunden, zeigten sich klonische Krämpfe, 
dann Stertor und Coma, fortschreitende Schwäche, Abnahme der Respiration 
und Herzaktion, bis nach kurzer Zeit der Exitus eintrat. Dieselbe Wirkung 
sah er, wenn er Meerschweinchen 0-25 °w subcutan injieirte. Auch 
Joffroy und Serveaux sahen auf dem Wege der intravenösen Injection 
bei gleichen Dosen dieselben Erscheinungen. In Folge dieser allerdings 
sehr starken Wirkung haben Laborde und Magnan dem Furfurol eine 
sehr grosse Rolle in der Wirkung der Branntweine zugesprochen. Dagegen 
sagt Sell in seiner Arbeit über die Verunreinigungen der Branntweine, 
das Furfurol finde sich im Branntwein nur in so minimalen Mengen, 


294 GEORG BAER: 


dass die Angaben von Laborde und Magnan über seine Bedeutung wohl 
übertrieben sind. Auch ich habe einige Versuche mit Mischungen von 
Furfurol und Aethylalkohol angestellt und dabei nichts gesehen, was für 
die Ansicht Laborde’s spricht, obschon ich 1- und 2 procent. Lösungen 
benutzte, also das Furfurol dem Alkohol in einer Menge zufügte, wie sie 
sich in Wirklichkeit in keinem Branntwein findet. Besondere, einer Wirkung 
des Furfurol eigenthümliche Symptome konnten dabei ebenfalls nicht ge- 
funden werden, sondern die Erscheinungen entspraehen den bei den Alko- 
holen gesehenen so, dass sie ebenso wie jene nach der Stärke ihres Auf- 
tretens in die drei Formen eingetheilt werden konnten. Wir erhielten die 
erste Form bei einer Dosis bis zu 3-33 3% Aethyl + 1 Proc. Furfurol oder 
2.86% Aethyl + 2 Proc. Furfurol. Die zweite Form trat ein bei 4.14 sm 
+ 1 Proc. oder 3-41 5% Aethyl + 2 Proc. Furfurol, und bei einer Gabe 
von 5-31 8% Aethyl + 1 Proc. Furfurol oder 4-93 8% Aethyl + 2 Proc. 
Furfurol erhielten wir die dritte Form, die mit Exitus letalis endete. So 
ergiebt sich, dass das Furfurol ein Gift ist, das zu 1 Proc. bis 2 Proc. dem 
Aethylalkohol zugefügt, viel schwerer und schädlicher wirkt als selbst der 
Amylalkohol, wie aus folgender Nebeneinanderstellung erhellt: 


| Leichte Form Mittlere Form | Schwere Form 


| gım pro Kilo Thier| grm pro Kilo Thier| grm pro Kilo Thier 


Reiner Aethylalkoho)l . . . . 


4-1 6-15 7-44 
desgl. + 1 Proc. Amylalkohol . 3-8 5-67 6-80 
desgl. + 1 „ Furfurol . 3-33 4-14 5-31 
desgl. + 2 „ Amylalkohol. 3:64 | 5-02 5-85 
desgl. + 2 „ Furfurol . 2-86 | 3-41 4-93 


Aber trotzdem müssen wir Sell beistimmen, dass die im Branntwein 
enthaltenen Mengen Furfurol viel zu gering sind, um die von Laborde 
behauptete, starke specifische Wirkung auszulösen. 

Ziehen wir nun aus unseren Beobachtungen die Schlussfolgerung, so 
können wir dieselbe mit den Worten ausdrücken, die Magnus Huss in 
seinem bekannten Werke „Alcoholismus, chronieus“ (S. 182) äussert: „Auf 
Grund des vorhin Gesagten glaube ich mich zu der Annahme berechtigt, 
dass, mit Rücksicht auf die Eigenschaft des Branntweins, Symptome des 
(chronischen) Alcoholismus hervorzurufen, der Alkoholgehalt des Brannt- 
weins die Hauptsache, der Gehalt an Fuselöl nur eine Nebensache sei, die 
jedoch vielleicht die schädlichen Wirkungen desselben zu erhöhen oder zu 
beschleunigen vermag, besonders etwa dadurch, dass das Fuselöl, wie die 
Versuche an Gesunden dargethan, eine stark irritirende Einwirkung auf die 


ACUTE VERGIFTUNG MIT VERSCHIEDENEN ALKOHOLEN. 295 


Schleimhaut des Magens und Darmkanals ausübt.“ Dieselbe Stellung 
nehmen zahlreiche andere Autoren ein. Auch wir können diese Auffassung 
nur bestätigen und betrachten ebenfalls den Aethylalkohol in den 
Branntweinen nach Menge und Concentration als das vorzugs- 
weise schädliche Moment, während die übrigen, mehr minder zu- 
fälligen, bei den rectifieirten Getränken in der Regel nur zu 0-3 Proc. bis 
0.5 Proc. vorkommenden sogenannten Fuselbestandtheile nicht als Ur- 
sachen der acuten Alkoholvergiftung anzusehen sind, sondern nur in ge- 
wissen Fällen dazu beitragen, die Wirkungen des Aethylalkohols 
nach Intensität und Schnelligkeit des Eintritts zu steigern. 
Aus diesem Grunde können wir auch der Ansicht von Laborde und 
Magnan nicht beistimmen, die glauben, durch eine gesetzliche Regelung 
des Verkaufs von nur rectifieirten Alkoholen den schädlichen Folgen des 
Alkoholmissbrauchs steuern zu können, sondern wir glauben, dass eine 
wirksame Bekämpfung des Alkoholismus nur durch Enthaltsamkeit oder 
doch wenigstens durch streng durchgeführte Mässigkeit im Alkoholgenuss 
erzielt werden kann. 
Fassen wir die Resultate kurz zusammen, so sehen wir: 


1. Die Toxieität der Alkohole steigt mit ihren Siedepunkten. 

2. Der Methylalkohol wirkt weniger toxisch als der Aethyl-, der Propyl- 
2 Mai, der Butyl- 3 Mal und der Amyl- nur 4 Mal so giftig als der 
Aethylalkohol. 

3. Der Zusatz von 4 Proc. eines der höher siedenden Alkohole zum 
Aethylalkohol steigert dessen Giftigkeit beträchtlich. 

4. Bei Zusatz von 2 Proc. eines höher siedenden Alkohols ist die Toxi- 
cität eine weit geringere. 

5. Bei Zusatz von nur 1 Proc. eines höher siedenden Alkohols findet 
gar keine oder nur eine ganz unbedeutende Erhöhung der Toxicität statt. 

6. Bei Zusatz von 1 bis 2 Proc. Furfurol tritt eine sehr starke Er- 
höhung der Giftigkeit ein. 

7. Das Furfurol wirkt bedeutend toxischer als der Amylalkohol, ist 
aber in seiner Wirkung bei Weitem überschätzt worden. 


Die den vorstehenden Ausführungen zu Grunde liegenden Thierversuche 
habe ich in der speciell-physiologischen Abtheilung des physiologischen In- 
stituts ausgeführt. Es ist mir eine angenehme Pflicht, Herrn Professor 
Dr. I. Munk für die freundliche Unterstützung, die er mir bei Anfertigung 
dieser Arbeit hat zu Theil werden lassen, meinen besten Dank auszu- 
sprechen. 


296 GEORG BAER: ACUTE VERGIFTUNG MIT VERSCHIEDENEN ALKOHOLEN. 


Litteraturverzeichniss. 


Antheaume, De la toxicite des alcools. Paris 1897. 

A.Baer, Der Alkoholismus u. s. w. Berlin 1878. 

Binz, Der Weingeist als Heilmittel. Congress f. innere Med. Wiesbaden 1888. 

Bodländer, Die Ausscheidung aufgenommenen Weingeistes aus dem Körper. 
Pflüger’s Archiv. 1883. Bd. XXXIl. 

Bunge, Die Alkoholfrage. Leipzig 1887. 

Dujardin-Beaumetz et Audige, Recherches experimentales sur la puissance 
toxique des alcools. Paris 1879. 

Eulenberg, Handbuch des öffentlichen Gesundheitswesens. 1881. 

Frey, Ueber den Einfluss des Alkohols auf die Muskelermüdung. Mittheilungen 
aus den klinischen und medieinischen Instituten der Schweiz. 4. Reihe. 1. Heft. 

Fürer, Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch die acute Alkohol- 
intoxication. V. internationaler Congress zur Bekämpfung des Missbrauchs geistiger 
Getränke. Zürich 1895. 

Gaule, Ueber den Alkoholgenuss vom Standpunkt der Physiologie aus. Zbenda. 

Gioffredi, Die Wirkung des Alkohols auf die motorischen Nerven. Za Riforma 
medica. 1897. 

Hamberg, Physiologische Versuche mit den flüchtigen Substanzen, die sich im 
Alkohol vorfinden. Hygiea. Stockholm 1883. 

Huss, Alcoholismus chronicus. Stockholm 1849. 

v. Jaksch, Der Weingeist als Heilmittel. Congress f. innere Med. Wiesbaden 1888. 

Joffroy et Serveaux, Nouveau procede de mensuration de la toxieite des 
liquides par la methode des injections intra-veineuses. Application a la determination 
de la toxieite des aleools. Archives de medecine experimentale et d’anatomie patho- 
logique. 1895. T. VII. 

Laborde, L’aleoolisme et la solution rationnelle du probleme hygienique ete. 
Revue d’hygiene et de la police sanitaire. 1896. 

L. Lewin, Lehrbuch der Toxikologie. 2. Aufl. Berlin 1897. 

Liebreich, Eneyklopädie der T’herapie. 1895. Bd. 1. 

Magnan, De P’alcoolisme. Paris 1874. 

Nothnagel, Specielle Pathologie und Therapie. Bd. I. v. Jaksch: Ver- 
giftungen. 1897. 

Schmiedeberg, Zehrbuch der Arzneimittellehre. 

Sell, Der Branntwein und seine hauptsächlichsten Verunreinigungen. Arbeiten 
aus dem K. Gesundheitsamt. Bd. IV, VI, VII, VIM. 

Stenberg, Einige Experimentalversuche zur Beleuchtung der Frage von dem 
Einfluss, den die Verunreinigungen des Branntweins auf dessen physiologische Wirkungen 
ausüben. Nordiskt medieinsk Arkiv. 1818; Archiv für experim. Pathologie. Bd. X. 

F. Strassmann, Untersuchungen über den Nährwerth und die Ausscheidung 
des Alkohols. Archiv für die gesammte Physiologie. Bd. IL. 

Derselbe, Eulenberg’s Vierteljahrschrift. Bd. IL. 

Ziehen, Ueber den Einfluss des Alkohols auf das Nervensystem. Hildesheim 1896. 


Die Reizbarkeit des Nerven an verschiedenen Stellen 


seines Verlaufes. 


Von 


Immanuel Munk und Paul Schultz. 


(Aus dem physiologischen Institut der Universität in Berlin.) 


Für die Bildung einer Vorstellung von der Natur des Nervenprineips 
ist die Frage nach der Reizbarkeit des Nerven an verschiedenen Stellen 
seines Verlaufes von wesentlicher Bedeutung. 

Unter Reizbarkeit versteht man im Allgemeinen die jeder lebendigen 
Substanz zukommende Eigenschaft, potentielle Energie auf dem Wege der 
Auslösung in kinetische zu verwandeln; die auslösende Kraft nennen wir 
Reiz. Auf den Nerven übertragen bedeutet seine Reizbarkeit die Fähig- 
keit, auf einen Reiz das Nervenprincip auszulösen, so dass es — ein 
Vorgang, den wir Erregung nennen — den Nerven entlang läuft. Die 
Erregung, die Reaction der Nerven auf den Reiz, erkennen wir an moto- 
rischen Nerven mittelbar, aber ohne Weiteres, an der Wirkung auf das 
Erfolgsorgan, an der Muskelzuckung; unmittelbar, aber mit Anwendung 
besonderer Hülfsmittel, an der negativen Schwankung (Actionsstrom). Intra 
vitam wirkt ein Reiz von Neuron auf Neuron. Man könnte geneigt sein 
anzunehmen, dass dabei innerhalb des Neurons die Nervenzelle der eigent- 
lich auslösende Theil ist. Wie wir wissen, dass sie durch Reize erregt 
wird, welche die Nervenfaser zu erregen nicht im Stande sind, dass sie 
der Sitz automatischer Erregung ist, wie wir ihr einen modificirenden Einfluss 
auf die Richtung, auf die Intensität, auf die Geschwindigkeit bei der Fort- 
pflanzung der Erregung zuschreiben, so könnten wir in sie allein auch den 
Ursprung und den Sitz der Erregung verlegen. Dann wären Dendriten 
und Neuraxon lediglich Leitungsorgane Dem gegenüber hat neuerdings 


298 IMMANUEL MUNK UND PAuL SCHULTZ: 


Engelmann! die automatische Erregbarkeit als eine normale Eigenschaft 
gewisser peripherischer Nervenfasern vermuthet. Wie dem auch sei, im 
Experiment gelingt es nun jedenfalls — und das ist ein glücklicher Umstand 
für dıe Untersuchung und ein wichtiger Fingerzeig für die Richtung theore- 
tischer Erwägungen über das Nervenprincip — den Erregungsprocess von 
jeder Stelle des Nerven auszulösen. Man nannte dies die Reizbarkeit der 
Nervenfaser. Dabei hat sich herausgestellt, dass mit der Stärke des 
heizes innerhalb gewisser Grenzen die Stärke des Erfolges, also die der 
Erregung wächst. Als man mit fortschreitender Erfahrung erkannte, dass 
sehr häufig der gleiche Reiz an demselben Nerven einen sehr verschiedenen 
Erfolg hatte, dass er z. B. das eine Mal eine maximale Zuckung, das andere 
Mal eine minimale, ein drittes Mal gar keine Zuckung hervorbrachte, so 
führte man für ein solches Verhalten des Nerven einen neuen Begriff ein, 
den der Erregbarkeit. 

In der Folge wurden nun freilich beide Begriffe vielfach promiscue 
gebraucht, und es ist daher zu einer völligen Verwirrung derselben ge- 
kommen. Und doch sollte schon die Thatsache, dass zwei verschiedene 
Worte vorhanden sind, veranlassen, auch mit jedem den angemessenen 
Begriff zu verbinden und sie in der Anwendung reinlich zu sondern. 

Wir verstehen im Folgenden unter Reizbarkeit die Fähigkeit des Nerven, 
auf einen Reiz das Nervenprineip auszulösen. Unter völlig normalen Ver- 
hältnissen, müssen wir annehmen, ist sie für dieselbe Stelle des Nerven 
immer die nämliche, ist sie eine constante Grösse. Man prüft sie am 
motorischen Nerven am einfachsten, indem man den Schwellenwerth für 
die Muskelzuckung ermittelt. Von der Reizbarkeit unterscheiden wir die 
Erregbarkeit als die Veränderung, welche die Reizbarkeit unter gewissen 
Einflüssen (Kälte, Wärme, Verletzung, Absterben u. A.) erfährt. Je nach 
der Einwirkung dieser Einflüsse kann die Erregbarkeit zur selben Zeit an 
verschiedenen Stellen des Nerven und zu verschiedenen Zeiten 
an derselben Stelle des Nerven eine sehr ungleiche sein. Die 
Kenntniss der Erregbarkeit hat streng genommen für uns nur secundäres 
Interesse; sie belehrt uns über die Veränderungen, welche jene constante 
Grösse der Reizbarkeit unter abnormalen Bedingungen, wie sie unter Anderem 
das Experiment setzt, erleidet, und ermöglicht uns diese Veränderung als 
Fehlerquelle in Rechnung zu bringen. Primäres, wesentliches Interesse, 
weil allein Einsicht eröffnend in die Natur des Nervenprincips, hat dagegen 
die Frage, wie sich die Reizbarkeit des Nerven an verschiedenen Stellen 
seines Verlaufes verhält. 


' Th. W. Engelmann, Ueber den myogenen Ursprung der Herzthätigkeit und 
über automatische Erregbarkeit als normale Eigenschaft peripherischer Nervenfasern. 
Pflüger’s Archiv. 1897. Bd. LXV. S. 535. 


REIZBARKEIT DES NERVEN. 299 


Durch Helmholtzens Versuche über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit 
des Nervenprineips war die Einsicht gewonnen, dass dies Princip analog allen 
uns bekannten physikalischen Kräften (mit Ausnahme der Gravitation ?) zu 
seiner Ausbreitung in die Entfernung einer gewissen Zeit bedarf, und es 
warf sich danach sofort die Frage auf, wie es sich dabei in Bezug auf 
seine Stärke verhalte, ob diese etwa, wie bei allen physikalischen Kräften 
(einschliesslich der Gravitation), mit der Entfernung abnehme und in welchem 
Verhältniss. Im Besonderen gesprochen, es wurde Antwort verlangt darauf, 
ob derselbe minimale Reiz, der von einer peripherischen Stelle des Nerven 
noch zum Muskel gelangt und eine Zuckung hervorbringt, an einer ent- 
fernteren centralen Stelle applieirt sich nicht mehr bis zum Muskel fort- 
pflanzt und daher ohne Wirkung bleibt. | 

Die ersten Versuche, die hierüber angestellt wurden, hatten ein völlig 
unerwartetes Ergebnis. Harless und Budge zuerst, dann Pflüger 
fanden, dass derselbe Reiz, der central noch eben eine Zuckung auslöst, 
peripherisch wirkungslos ist. Hieraus liess sich zweierlei folgern, erstlich 
dass die Erregbarkeit an beiden Stellen eine verschiedene sei — und es blieb 
weiterer Untersuchung vorbehalten, zu zeigen, aus welchem Grunde —, zweitens 
dass bei gleicher Erregbarkeit die Erregung anstatt, wie man erwarten 
sollte, im Maasse der Entfernung abzunehmen, gerade zunähme. Das letztere 
schloss Pflüger, und er musste so schliessen, da man zur Zeit über die 
Erregbarkeit des Nerven nichts wusste. Er bezeichnete dies Verhalten des 
Nerven, um es der Anschaulichkeit näher zu bringen, als das „lawinen- 
artige Anschwellen des Reizes“. Für ein solches Verhalten einer in die 
Ferne sich ausbreitenden Kraft bietet nun freilich die anorganische Physik 
kein Analogon. Denn die Molekularkräfte, welche wir zur Erklärung der 
Elastieität, Cohäsion und ähnlicher Erscheinungen hypostasiren und die 
allerdings dem Quadrat der Entfernung proportional zunehmen, gelten nur 
für unmittelbar benachbarte Moleküle, sie pflanzen sich nicht darüber hinaus 
fort. Wollte man daher nicht in dem Nervenprineip eine organische Kraft 
sui generis erblicken und damit auf jeden Versuch einer Erklärung ver- 
 zichten, so stand nur noch der Ausweg offen, jede kinetische Theorie bei 
der Erklärung aufzugeben und eine molekulare dafür aufzustellen. Eine 
solche hat denn auch Pflüger in Uebereinstimmung mit dem von ihm 
entdeckten elektrotonischen Verhalten des Nerven in geistvoller Weise ge- 
geben. Das Wesentliche derselben besteht darin, dass jedes Nervenelement 
im benachbarten Elemente selbständige Spannkräfte auslöst, die durch den 
Stoffwechsel beständig regenerirt werden, und da bei jedem Reiz nur immer 
ein Theil der vorhandenen Spannkräfte ausgelöst wird, so muss jedem 
Molekül noch eine eigene elastische Hemmung zugeschrieben werden. 
Diese Spannkräfte können nun kaum andere als chemische sein. Nachdem 


300 IMMAnuUEL MUNKk unD PAUL SCHULTZ: 


Hermann für Muskel und Nerv es wahrscheinlich gemacht hatte, dass 
„die eigentlich functionelle Umsetzung nicht, wie man bis dahin ange- 
nommen, eine einfache Oxydation, sondern eine Spaltung sei,“ liess sich 
die Theorie des Nervenprincips dahin aussprechen, dass „in jedem erresten 
Nerventheilchen eine spannkraftführende, gleichsam explosive Substanz sich 
spaltet und die Folge dieser Spaltung die Auslösung des gleichen Vor- 
sanges im Nachbarelement ist. Der Vorgang der Nervenleitung wäre also 
vergleichbar dem Abbrennen einer Pulverlinie.“! Das Omne simile claudicat 
trifft freilich auch dieses Gleichniss, wie dies übrigens Hermann schon 
selbst bemerkt. 

Während nun diese Beobachtungen Budge’s und Pflüger’s von 
vielen Untersuchern bestätigt wurden, führte Heidenhain? in einwands- 
freier Weise den Nachweis, dass aus der richtig erkannten Thatsache von 
den beiden oben angedeuteten Folgerungen nicht die zweite zuträfe, son- 
dern gerade die erste, dass nicht die Erregung sich bei ihrer Ausbreitung 
geändert habe, sondern dass die Erregbarkeit an den verschiedenen Stellen 
der Nerven in den angestellten Experimenten eine verschiedene sei. Das 
Durehschneiden des Nervenstammes ruft ebenso wie das Durchschneiden seiner 
Aeste eine verschiedene Erregbarkeit hervor. Heidenhain wies ferner für 
die Erklärung dieser veränderten Erregbarkeit die Unrichtigkeit der An- 
nahme Rosenthal’s nach, dass der Schnitt ein locales Absterben des 
Nerven bewirke, und dass in Folge dessen, gerade wie beim Absterben eines 
unversehrten Nerven, eine Erhöhung der Erregbarkeit dem Erlöschen der- 
selben vorangehe. Vielmehr muss man mit Heidenhain annehmen, dass 
‚dies eine selbständige Wirkung der mechanischen Verletzung sei, die dann 
auch weiterhin eine verschiedene Deutung gefunden hat. 

Auch eine andere Beobachtung schien der Pflüger’schen Deutung direet 
zu widersprechen. H. Munk® hatte aus den Latenzen die Zeit bestimmt, 
während deren sich die Erregung in einer gegebenen Nervenstrecke fort- 
pfanzt. Er fand sie für die ganze Strecke beträchtlich mehr denn doppelt 
so gross als für die obere, d. h. dem Centrum nähere Hälfte,* woraus man 
schliessen musste, dass die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Erregung mit 
ihrem Fortschreiten nach der Peripherie abnimmt. Und dies schien wiederum 
nur die Erklärung zuzulassen, dass die Erregung bei der Fortleitung Wider- 
stände findet, die ihre lebendige Kraft verringern. Freilich trafen Heiden- 


!1.Hermann, Handbuch der Physiologie. 18719. Bd.II. 1. S. 192. 

° Vgl. die Litteratur bei Hermann, a.a. 0. 8.193. 

3 Dies Archiv. 1860. 8. 798. 

* Hermann hat seltsamer Weise in seinem Berichte über diese Arbeit den Sach- 


verhalt gerade auf den Kopf gestellt, aber auch dann noch eine Deutung gefunden! 
a0: 182202) 


REIZBARKEIT DES NERVEN. 301 


hain’s obige Einwände auch dieses interessante Ergebniss Munk’s und 
hoben seine Bedeutung zur Entscheidung der vorliegenden Frage auf. Denn 
auch Munk hatte am ausgeschnittenen, mit den Stümpfen der abgeschnittenen 
Aeste behafteten Nerven experimentirt. 

Mit Recht resumirt sich daher Hermann (1879) bei der Kritik der 
vorliegenden Frage dahin: ‚So viele Autoren aber auch die Abnahme der 
Erregbarkeit! nach der Peripherie hin beobachtet haben, so wenig ist die- 
selbe für den absolut normalen Nerven bewiesen. Stets waren die Prä- 
parate in einem gewissen Stadium des Absterbens, der Nerv aus seiner 
natürlichen Lage und Umgebung herausgehoben, und namentlich das mit 
ihm verbundene Rückenmarksstück verletzt, blutlos und im Absterben be- 
griffen, es bedarf daher zur Annahme jenes Lehrsatzes für den ganz nor- 
malen Nerven durchaus anderer Grundlagen.“ 

„Ueberblickt man alle vorliegenden Thatsachen, so stellt sich als höchst 
wahrscheinlich heraus, dass alle wirklichen Ungleichartigkeiten der Erreg- 
barkeit! längs des Nerven theils vom allgemeinen Absterben, theils von dem 
Umstande herrühren, dass der Nerv in Folge der unentbehrlichen Präpa- 
ration mit den Stümpfen abgeschnittener Aeste behaftet ist. Gelänge es, 
eine Methode zu finden, den Nerven zu prüfen, ohne seine 
Aeste abzuschneiden, so würde sich höchst wahrscheinlich 
überall dieselbe speeifische Erregbarkeit! herausstellen“. 

Neuerdings hat nun wieder A. Beck? über Versuche, die die vor- 
liegende Frage betreffen, berichtet, nachdem er schon vor 10 Jahren eine 
Mittheilung an einer schwer zugänglichen und daher wenig beachteten 
Stelle gegeben hatte. Er wählte motorische Nerven und beobachtete als 
Reaction der Reizung die Contraction der von ihnen versorgten Muskeln. 
Um allen bisherigen Einwänden zu entgehen, um also, wie wir es oben 
ausgeführt haben, nur die Reizbarkeit zu prüfen, ohne von der verschie- 
denen Erregbarkeit gestört zu werden, stellte er folgende unerlässlich zu 
erfüllende Bedingungen auf: 


1. der Nerv muss undurchschnitten sein; 

2. er muss auf eine längere Strecke ungetheilt und unverästelt ver- 
laufen, somit also in dieser Strecke überall von gleicher Dicke sein; 

3. er muss entweder gar keine centripetalen Fasern enthalten, oder 
jedenfalls keine solchen, deren Reizung auf dem Wege des Reflexes die- 
selben Endorgane in Thätigkeit setzen würde. „Mit anderen Worten, es 


1 „Reizbarkeit“ in unserem Sinne! 

? Hermann, a.a. ©. 8.116. — Der eitirte letzte Passus ist im Original nicht 
gesperrt gedruckt. 

3 Dies Archiv. 1897. Physiol. Abthlg. S. 415 ff. 


302 IMMAnUEL MUNnKk UND PAUL SCHULTZ: 


sollte kein Hinderniss im Wege stehen, an diesen Nerven die Versuche zu 
unternehmen, ohne dieselben vom centralen Nervensystem lostrennen zu 
müssen.“ 

Als Nerven, die diesen Bedingungen entsprechen, erschienen ihm der 
Hals-Sympathicus und der Phrenieus; dort wurde die Erweiterung der 
Pupille, hier die Zuckung des Zwerchfells beobachtet. 

Die angestellten Versuche führten nun zu dem bemerkenswerthen 
Ergebniss, dass, je näher dem Muskel der Nerv gereizt wurde, um so 
schwächere Reize genüsten, eine minimale Muskelcontraction hervorzurufen. 
Daraus zog Beck den Schluss, dass nicht, wie Pflüger behauptete, der 
Actionszustand in der Nervenfaser an Energie gewinnt, sondern im Gegen- 
theil der durch den Reiz in der Nervenfaser hervorgerufene Zustand bei 
der Uebertragung an benachbarte Nerventheilchen in der Richtung zum 
Endorgan geschwächt wird. 

Wie man sieht, ist hiermit wieder einer kinetischen Theorie des Nerven- 
prineips das Wort geredet. Man könnte danach das Nervenprineip sich 
kaum anders vorstellen, als einen wellenförmige den Nerven entlang: laufen- 
den Bewegungsvorgang kleinster Theilchen, der, proportional der Entfernung 
vom Ausgangspunkt der Reizungsstelle, durch den Widerstand der Strecke 
geschwächt wird. 

Bei der schon eingangs erwähnten fundamentalen Wichtigkeit solcher 
Beobachtungen schien uns daher eine Nachprüfung derselben erwünscht. 
Dieser müssen wir hier eine Kritik der von Beck mitgetheilten Versuche 
vorausschicken. 

Zunächst ist zu bemerken, dass der Hals-Sympathicus für die vor- 
liegende Frage als geeignet nicht anzuerkennen ist, weil die in ihm ent- 
haltenen Fasern für den M. dilatator pupillae in dem Ganglion cervie. supr. 
mit freien Endbäumchen endigen und dort mit den Dendriten eines neuen 
und ganz andersartigen Neurons in Contact treten. Hierzu kommt, dass 
es durch neuere Versuche! im höchsten Grad wahrscheinlich gemacht 
ist, dass das Ganglion cervic. supr., wie vielleicht alle sympathischen 
Ganglien, die Bedeutung eines Relais hat, dass sich in ihm erst eine An- 
zahl minimaler Reize der präcellulären Neurone sammeln muss, ehe eine 
Erresung der postcellulären Neurone erfolgt. Jedenfalls werden hierdurch 
Complicationen geschaffen, die nicht ohne Weiteres zu übersehen sind und 
eine Eindeutigkeit der gewonnenen Ergebnisse ausschliessen. Es muss 
vielmehr im Sinne der Neuronenlehre für den vorliegenden Zweck die 
Forderung aufgestellt werden — und das ist die erste, welche wir den von 
Beck aufgestellten hinzufügen —, dass die Versuche nur an demselben 


! P. Schultz, dies Archiv. 1898. Physiol. Abthlg. S. 124 ff. 


REIZBARKEIT DES NERVEN. 303 


Neuron vorgenommen werden. Diese Forderung neben den anderen erfüllt 
nun in der That der Phrenieus, und es bleibt Beck’s Verdienst, auf ihn 
als auf ein geeignetes Versuchsobjeet hingewiesen zu haben. 

Indem wir also alle Versuche Beck’s am Hals-Sympathicus (es sind 
dies allerdings die Mehrzahl der mitgetheilten) ausschalten und nur die 
am Phrenicus als ernstlich in Betracht kommend anerkennen, müssen wir 
doch auch hiergegen einige Einwände erheben. 


Im Versuch Nr. V betrug am rechten Phrenicus einer Katze für eine 
minimale Zwerchfellzuckung 


bei centraler Reizung der Rollenabstand 575 =” (seines Schlitten-Inductoriums), 
bei peripherischer „ , 5 Beldn 5 


” ” 
bei nochmaliger Prüfung 


am centralen Ende 617, 
am peripherischen Ende 686 =. 


Am linken N. phrenicus derselben Katze ergab sich in gleicher Weise 


bei centraler Reizung 550 "" Rollenabstand 
bei peripherischer ‚, Ban h, 


Betrachtet man nur diese Zahlen, so scheint im der That ein beträcht- 
licher Unterschied der Reizstärken vorhanden zu sein. Denn die Differenzen 
der Rollenabstände betragen der Reihe nach 111, 69, 120”, Es ist aber 
ein gründlicher Irrthum, dass man aus diesen Zahlen der Rollenabstände 
auf eine in gleichem einfachen Verhältniss abnehmende Reizstärke schliessen 
dürfe. Dessen wird man freilich erst inne, wenn man, wie dies zuerst 
nach Fick’s Vorschlag Bowditch gethan hat und nach ihm Cowl, 
die Stromstärken bei den verschiedenen Rollenabständen galvanometrisch 
auswerthet. Bei solchen Bestimmungen zeigt sich für die gewöhnlich in 
den physiologischen Laboratorien gebräuchlichen Schlitteninduetorien im 
gleicher Weise, dass von einem gewissen Rollenabstand an die Enden der 
secundären Rolle als punktförmige Elektroden angesehen werden können, 
deren Stromstärke etwa proportional dem Quadrat der Entfernung ab- 
nimmt. Nehmen wir die Stromstärke bei übereinander geschobenen Rollen, 
also bei Rollenabstand O als Einheit = 1 an, so ist nach galvanometrischen 
Messungen Cowl’s z. B. bei 560”"= Rollenabstand die Stromstärke T/,o96 
bei 750m Rollenabstand !/,,., und bei 1000 "= Rolienabstand !/jess4; also 
die Stromstärke von 560 “" ist doppelt so stark als die bei 750m (Diffe- 
renz 190 =), und diese doppelt so stark als bei 1000 "= (Differenz 250 ""), 
Man sieht hiernach, dass in den oben angegebenen Versuchen von Beck 
günstigen Falls die Stromstärke am centralen Ende um die Hälfte grösser 
war, als die Stromstärke am peripherischen Ende des Nerven. Bei dem 


304 IMMAnUEL MUNKk UND PAUL ScHhuntz: 


ausserordentlichen Widerstand aber, den thierische Theile dem elektrischen 
Strom darbieten, sind das Differenzen, die noch völlig in den Bereich der 
Fehlerquellen (ungleiches Anlegen der Elektroden u. s. w.) fallen. Darauf 
lässt sich noch kaum ein Schluss gründen, am wenigsten jedenfalls der, 
den Beck darauf baute. 

Etwas günstiger liegen die Dinge im Versuch IV. Dort ergab sich 
am linken Phrenicus für eine minimale Zwerchfellzuckung am centralen 
Ende ein Rollenabstand von 380”, am peripherischen von 495 wm, das 
wäre etwa eine doppelt so grosse Stromstärke für das centrale Ende. Am 
rechten Phrenieus desselben Thieres wurden 3 Stellen geprüft, am centralen 
Ende Rollenabstand 455 "", in der Mitte 505 "m, das ergiebt fast keinen 
Unterschied, am peripherischen Ende 628 "m, das wäre etwa ebenfalls für 
das centrale Ende die doppelte Stromstärke als für das peripherische Ende. 

Des Weiteren hat dann Beck neue Versuche mitgetheilt, in welchen 
er statt der Inductionsströme Condensatorentladungen nach der von 
Cybulski und Zanietowski! angegebenen Methode angewendet hat. 
„Diese exacte Methode, welche den elektrischen Reiz genau zu messen und 
in Zahlen (Energiewerthe in Ergs) auszudrücken gestattet, schien besonders 
für Untersuchungen der Erregbarkeit verschiedener Nervenstellen geeignet, 
da sie einzig und allein es ermöglichen könnte, eventuell den Verlauf dieser 
Erregbarkeit im ganzen Nerven etwa in Form einer graphischen Curve 
darzustellen.“ Diese Methode wird indessen, soweit wir wenigstens in der 
Litteratur unterrichtet sind, ausser von ihren Entdeckern noch von Nie- 
mandem in der Physiologie gebraucht; zudem ist sie, soweit dabei Paraffin- 
‚Condensatoren in Anwendung kommen, von Hoorweg? als nicht einwands- 
frei hingestellt worden. Wir können daher auch über die damit angestellten 
Versuche Beck’s nichts aussagen, nichts einwenden und nichts bestätigen. 
Wir glauben aber einerseits, dass die bisherigen Versuchsanordnungen und 
Versuchsmittel völlig ausreichen zu einer exacten Entscheidung der in Rede 
stehenden Frage, und andrerseits, dass es gerade von Wichtigkeit ist, sie mit 
diesen Mitteln und mit diesen Anordnungen zu untersuchen, damit Jeder 
in der Lage ist, die Ergebnisse nachzuprüfen, und damit endlich eine all- 
gemein anerkannte und eindeutige Lösung in einer so wichtigen Frage 
gegeben werden kann.° 

ı Pflüger’s Archiv. Bd. LVI. 8.45; Bd. LIX. S. 421. 

?2 Ebenda. Bd. LVIl. 8. 427. 

® Wir sehen hier davon ab, in eine kritische Betrachtung der sonst noch über 
die vorliegende Frage ausgeführten Versuche an motorischen Nerven mit mechanischer 
und chemischer Reizung, sowie an sensiblen Nerven einzutreten, da über dieselben sich 
Hermann (a. a. O0. 8. 117) und neuestens Beck (a. a. O.) sowie Weiss (Pflüger’s 


Archiv. Bd. LXXU. 8.15) ausführlich geäussert haben. Dort finden sich auch die 
bezüglichen Litteraturhinweise. 


REIZBARKEIT DES NERVEN. 305 


Wir gehen nunmehr zu unseren eigenen Versuchen über. Dieselben 
wurden vorwiegend an Katzen, einige an Kaninchen und einer am Hunde 
angestellt. Beim Hunde ist die Eröffnung des Thorax eine sehr blutige 
Operation, die Blutstillung, da sie sorgfältig vorgenommen werden 
muss, ein sehr mühsames Geschäft; wir gaben deswegen bei diesen Thieren 
die Untersuchung auf. Doch sei gleich hier bemerkt, dass in allen drei 
Thierklassen die Ergebnisse die nämlichen waren. Die nachfolgende Be- 
schreibung bezieht sich, wo nicht ausdrücklich das Gegentheil bemerkt ist, 
auf die Katze. 

Die Thiere wurden mit einem Gemisch von Aether-Chloroform && nar- 
kotisirt und erhielten, nachdem sie auf das Brett gebunden waren, in der 
orösseren Anzahl der Versuche Morphium subeutan. Zuerst wurde die 
Tracheotomie vorgenommen und Alles zur künstlichen Athmung vorbereitet. 
Dann wurde der Phrenicus am Halse aufgesucht, und ein 1 bis 2m Janges 
Stück unterhalb der Gabel, in welcher die Vereinigung der beiden Ursprungs- 
äste stattfindet, sorgfältig frei gelegt. Da wir im Laufe der Zeit eine grosse 
Anzahl von Versuchen angestellt haben, so bekamen wir auch einige Ano- 
malien von dem gewöhnlichen Verlauf des Phrenicus zu Gesicht. Am 
unregelmässigsten verhält er sich beim Kaninchen; in unseren Versuchen 
hatte es den Anschein, als ob fast jedes Thier eine Besonderheit darin 
aufweist. Von der Katze sei als bemerkenswerth hervorgehoben, dass in 
einem Fall (Katze, grau, 32308” schwer) auf der linken Seite die beiden 
Ursprungsäste nicht wie gewöhnlich am Halse, sondern erst in der Brust- 
höhle zusammentraten, so dass die Gabel in der Höhe der ersten Rippe 
sich befand; die rechte Seite zeigte keine Abweichung. Von geringerer Be- 
deutung war, dass der höhere Ursprungsast (gewöhnlich auch der stärkere) 
sich wieder aus zwei Aesten zusammensetzt, was besonders oft beim 
Kaninchen vorzukommen scheint. Unter den frei gelegten Phrenicus 
wurde ein Faden geführt, um den Nerven später bequem auf die Elek- 
troden betten zu können. Dann wurden die Aa. mammariae von der 
oberen Brustapertur aus unterbunden. Meist muss zu diesem Zweck schon 
Pneumothorax hergestellt und damit die künstliche Athmung_ eingeleitet 
werden. Nach Eröffnung der Thorax und nach sorgfältiger Blutstillung 
theils mit Ligatur, theils mit Ferrum candens wurden die Phreniei in der 
Brusthöhle hinter dem Herzen links von der Aorta, rechts von der V. cava 
inferior auf eine grössere Strecke von etwa 3°%® abpräparirt. Beck giebt 
an, dass er ihn von dem ihn lose umgebenden Gewebe abgelöst habe. 
Wir fanden beim Kaninchen, bei der Katze und beim Hunde, dass er in 
der Brusthöhle während seines ganzen Verlaufes von einer zwar dünnen, 
aber ziemlich festen Scheide umgeben ist, welche ohne jede Verletzung des 


Nerven zu trennen etwas Mühe macht und einige Uebung erfordert. 
Archiv f. A. u. Ph. 1898. Physiol. Abthlg. 59 


306 IMMANUEL MUNKk UND PAUL SCHULTZ: 


Gerade dies ist der Punkt, auf den wir ganz besonderes Gewicht legen 
müssen, und es ist die zweite von uns aufzustellende Forderung, dass die 
Ablösung des Phrenieus auf das sorgfältigste geschehen muss. In den 
Vorversuchen, in denen wir uns erst auf die Operation einübten, haben 
wir in den Fällen, wo uns die Freilesung des Phrenieus nicht ganz 
schonend gelungen war, die widersprechendsten Ergebnisse bei der Reizung 
erhalten, und zwar bald im Sinne der Beck’schen Angaben, bald in aus- 
gesprochenster Weise das Pflüger’sche Phänomen. In einem Falle er- 
hielten wir die interessante, von Schiff zuerst beschriebene Erscheinung, 
dass der Nerv an einer bei der Präparation verletzten Stelle unerregbar, 
aber leitungsfähig blieb. Einige Versuche haben wir dann noch angestellt, 
in denen wir absichtlich eine Verletzung anbrachten und die Wirkung 
beobachteten; ein Speeimen davon findet sich unten (S. 312) angeführt. 
Nach allen diesen Erfahrungen. stehen wir nicht an zu behaupten, dass 
überall, wo ein von dem unsrigen abweichendes Ergebniss bei diesen Ver- 
suchen erzielt worden ist oder bei der Nachprüfung erhalten wird, nach 
Ausschliessung anderer Fehlerquellen die Verletzung des Phrenicus bei der 
Präparation die Ursache für die Abweichung ist. 

Die Reizstelle in der Brusthöhle wurde möglichst weit unten gewählt, 
doch noch immer 3 bis 4°% vom Zwerchfell entfernt. Dadurch und durch 
die Vorsichtsmaassregel, den Nerven auf eine grössere Strecke frei zu legen, 
suchten wir einem nahe liegenden Einwande zu begegnen. Man könnte 
sagen, dass es möglich wäre, dass die Nervenendigungen im Muskel durch 
weit schwächere Reize bereits erregt werden und damit der Muskel zum 
 Zucken gebracht wird, als der Nerv selbst. Beim Anlegen der Elektroden 
an den Nerven könnten nun von einem Strom, der zu schwach ist, den 
Nerven selbst zu reizen, doch Stromschleifen zu den Nervenendigungen im 
Muskel gelangen, die hinreichend wären eine Zuckung auszulösen. Solcher 
Täuschung glauben wir, wie gesagt, durch die oben erwähnten Maassnahmen 
entgangen zu sein. Eine zweite höhere Stelle des Phrenicus in der Brust- 
höhle frei zu legen unterliessen wir meist. Denn wir gingen von der Er- 
wägung aus, sind die Beck’schen Beobachtungen richtig und überhaupt 
eine kinetische Theorie des Nervenprincips zulässig, so müssen die Unter- 
schiede in der Reizbarkeit der Nerven um so stärker hervortreten, je weiter 
von einander entfernt die gereizten Stellen sind. Wer zu viel beweisen 
will, beweist leicht gar nichts; die Reizung an drei Stellen des Nerven ist, 
sofern es sich nur um die Prüfung der Beck’schen Auffassung handelt, 
vollständig überflüssig. In unseren Versuchen betrug die Entfernung der 
beiden gereizten Stellen 10 bis 12°“. Nur in einigen Fällen wurde noch 
eine dazwischen liegende Stelle des Phrenicus in der Brusthöhle dicht über 
den Lungengefässen losgelöst und gereizt. 


REIZBARKEIT DES NERVEN. 307 


Um die bei der Athmung eintretenden Zwerchfellcontractionen aus- 
zuschalten und nur die auf Phrenicus-Reizung eintretende Zuckung sicher 
beobachten zu können, hat Beck vorgeschlagen, das Athemcentrum durch 
einen Stich in die Medulla oblongata zu zerstören oder das Kückenmark 
dicht unter der Medulla zu durchschneiden. Wir haben uns indessen 
überzeugt, dass diese Maassnahmen nur die Sicherheit des Erfolges trüben 
können. Wir haben darnach meist eine veränderte Erregbarkeit theils des 
sanzen Phrenicusstammes, theils an einem centralen Ende gefunden. In 
welchem Zusammenhang diese Erscheinung mit jenem Eingriff steht, lassen 
wir unerörtert; die Erklärung ist deswegen keine einfache, weil von dieser 
Verletzung nicht der eigentliche Phrenicus-Neuron, sondern ein anderer 
übergeordneter Neuron getroffen wird. Es müsste also die mechanische 
Verletzung in ihrer Wirkung auf die Reizbarkeit sich über den zunächst 
betroffenen Neuron fortgesetzt haben, was, wenn es erwiesen würde, ein 
bedeutsames Licht auf die Physiologie der Neuronlehre werfen würde Zu 
denken wäre übrigens auch daran, dass in Folge der Herabsetzung der 
Herzthätigkeit, die nach der mit jenem Eingriff verbundenen centralen 
Vagusreizung auftritt, und der dadurch bedingten Störung der Circulation 
der Nerv eine Schädigung erfährt, von der es freilich räthselhaft bliebe, 
warum sie sich in .einigen Fällen nur auf das centrale Ende des Nerven 
erstrecken sollte. In anderen, freilich seltenen Fällen wiederum haben wir 
kürzere oder längere Zeit nach der Zerstörung des Athemcentrums keine 
Veränderung am centralen Ende des Phrenicus beobachten können. Es 
giebt nun aber ein sehr einfaches Verfahren, das diese ganze Operation 
überflüssig macht, und sich desselben zu bedienen und dadurch jeden Ein- 
sriff in die Gentralorgane zu vermeiden, müssen wir, um alle möglichen 
Fehlerquellen auszuschliessen, als unsere dritte und letzte Forderung neben 
den von Beck schon genannten aufstellen. Nimmt man nämlich die künst- 
liche Athmung in genügender Ausgiebigkeit und Frequenz vor, 
so wird das Thier in Apnoö! versetzt, das Zwerchfell steht in Erschlaffung 
absolut still, und die Beobachtung etwaiger Zuckungen des Zwerchfells bei 
elektrischer Reizung des Phrenicus kann mit völliger Sicherheit und Ge- 
nauigkeit vorgenommen werden.? 

Schliesslich müssen wir noch auf eine Erscheinung eingehen, deren 
Beck merkwürdiger Weise gar nicht Erwähnung thut, die aber doch fast 
regelmässig auftritt und, wofern man nicht geeignete Vorkehrungen trifft, 


! Vgl. Rosenthal in Hermann’s Handbuch. Bd. IV. 2. S. 264. 

?® Dies gilt nur für die Katze. Am Kaninchen ist es uns merkwürdiger Weise nicht 
selungen, den Stillstand des Zwerchfells durch Apno& zu erzielen. Das war der Grund, 
weswegen wir an diesen Thieren den Versuch bald aufgaben. Bei der Katze erhält 
mar dagegen den Stillstand in Erschlaffung leicht und sicher. 

20* 


308 IMMANUEL MUNK UND PAUL SCHULTZ: 


den Versuch in sehr unangenehmer Weise stören kann. Wir meinen 
die mit der Herzthätigkeit synchron auftretenden Zwerchfell- 
zuckungen. Sie kommen zu Stande dadurch, dass der Phrenieus durch 
den Actionsstrom des Herzens erregt wird. Solche secundären Zwerchfell- 
zuckungen haben zuerst Budge und Schiff! beschrieben; nach Schiff’s 
Angaben treten sie auf, wenn die Erregbarkeit des Nerven sei es durch 
den Schnitt oder in Folge Absterbens gesteigert ist.” Später finden sie 
sich bei Hering noch einmal erwähnt. Doch beziehen sich alle diese 
Mittheilungen nur auf den durchschnittenen Nerven. Hering ins- 
besondere weist darauf hin, dass, wenn man bei der Katze den hoch oben 
in der Brusthöhle durchschnittenen Phrenicus über Vorkammer und Ven- 
trikel des Herzens bettet, man entsprechend der Zusammensetzung des 
Herzschlages aus der auf einander folgenden Atrien- und Ventrikelcontraetion 
eine secundäre Doppelzuckung des Zwerchfells erhält. Katzen eigneten 
sich zu dem Versuch wegen der grösseren Länge des Phrenicus besser als 
Kaninchen.? Seltsamer Weise haben wir aber nirgends in der Litteratur 
die höchst interessante Thatsache verzeichnet gefunden, dass solche secun- 
dären Zwerchfellzuckungen auch vom völlig unversehrten Phrenicus 
ausgelöst werden. Sie zeigen sich aber erst dann, wenn der Phrenieus von 
der ihn umgebenden Scheide frei präparirt ist und wenn das Herz in Folge 
der Ablösung der vorderen Thoraxwand und der Durchschneidung der 
vom Pericard nach vorn ziehenden Mediastinalblätter der Pleura nach hinten 
sinkt, also eine directe Berührung des Herzens und des isolirten Nerven 
stattfindet. Dass diese Bedingungen für den Eintritt der secundären Zwerch- 
fellzuckungen erforderlich sind, giebt, wie wir meinen, zugleich die Auf- 
klärung, warum sie nicht intra vitam zu Stande kommen. Die Einhüllung 
des Phrenicus in die bindegewebige Scheide einerseits und die Fixirung 
des Herzens nach vorn andererseits verhindern, dass der Actionsstrom des 
Herzens in hinreichender Dichte den Phrenieus trifft. Ein einziger Fall 
ist uns aber vorgekommen, auf den diese Erklärung keine Anwendung zu 
finden scheint. Bei einer Katze (grau, 2900 =”) verlief der rechte Phrenicus 


1 Archives des sciences physiques et naturelles. 1877. T. LIX. p. 375. 

® Bei Schiff heisst es (a. a. ©. p. 379): Les contractions du coeur doivent irriter 
egalement pendant la vie et avant sa section le nerf phrenique, comme elles le font 
apres la mort ou quand le nerf a ete coupe; cependant on n’observe pas chez l’animal 
vivant et non lese ces contractions du diaphragme qui manquent m&me pendant Papnee 
complete. C’est une nouvelle preuve & /’appui de l’assertion que l’exeitabilite des nerfs 
augmente un peu dans les premiers temps apres la mort ou apres leur section. 

® Friedrich, Untersuchung des physiologischen Tetanus mit Hülfe des strom- 
prüfenden Nervmuskelpräparates. Mitgetheilt von E. Hering. Wiener akad. Sitzungs- 
berichte. 1875. Bd. LXXII. 3. Abth. S. 424. — Uebrigens haben wir zwischen Katze 
und Kaninchen in dieser Hinsicht keinen Unterschied gesehen. 


REIZBARKEIT DES NERVEN. 309 


direct auf dem Pericard der Vorderfläche des rechten Herzens, von mässigem 
Bindegewebe eingehüllt. Sofort nachdem wir die vordere Thoraxwand 
entfernt hatten, also ohne dass wir irgendwie den Nerven berührt hatten, 
traten die secundären Zuckungen auf. Wir hatten vorher keine Wahr- 
nehmungen gemacht, welche darauf schliessen liessen, dass diese schon 
am unverletzten Thiere vorhanden waren. Man kann nämlich sehr leicht 
von aussen her, ohne das Zwerchfell selbst zu Gesicht zu bekommen, diese 
Zuckungen desselben als kurze Erschütterungsstösse an den Ansatzstellen 
desselben am unteren Rippenbogen beobachten. Sind sie wirklich auch in 
diesem Fall am unverletzten Thier nicht zu Stande gekommen, wie man 
doch wohl annehmen darf, so müssen wir eine Erklärung für diesen einen 
Fall schuldig bleiben. Wir müssten denn mit Kühne! „kaum umhin 
können, den Schutz in situ befindlicher Nerven vor der anscheinend ge- 
fährlichen Nachbarschaft der Muskeln, zwischen welchen sie verlaufen, in 
Eigenthümlichkeiten dieser zu suchen, welche denselben nicht erlauben, 
anders neben einander thätig zu werden, als in einer die Abgleichung der 
myoelektrischen Spannungen durch die Gegend des Nervenverlaufes ver- 
hindernden Weise“; doch liegt auf der Hand, dass dies keine Erklärung, 
sondern nur eine Umschreibung des Thatbestandes ist. 


Um nun in unseren Untersuchungen durch die secundären Zuckungen 
nicht gestört zu. werden, halfen wir uns damit, dass wir den Nerven durch 
ein untergelegtes, mit physiologischer Kochsalzlösung befeuchtetes Stück 
Guttaperchapapier? vom Herzen isolirten. In dem zuletzt erwähnten Fall 
mussten wir eigens zu diesem Behuf den Phrenicus, soweit er dem Herzen 
auflag, abpräpariren. 


Zur Reizung verwandten wir die Ludwig’schen Versenkelektroden. 
Wurde eine Nervenstelle geprüft, so wurden die Elektroden vorsichtig an- 
gehoben und etwa in der Nähe befindliches Blut oder angesammelte Ge- 
websflüssigkeit sorgfältig durch Wattebäuschehen zur Aufsaugung gebracht. 
Als Reizquelle diente ein du Bois-Reymond’sches Schlitteninduetorium, 
mit 1 Daniell armirt. Von der secundären Rolle gingen die Drähte zu 
einer Pohl’schen Wippe, von dieser ein Paar Drähte zur oberen, ein anderes 
Paar zur unteren Reizstelle. Um etwaige Ungleichartigkeiten der Elektroden 
als Fehlerquelle auszuschliessen, wurden an demselben Nerven die Elektroden 
in mehreren Versuchen vertauscht. Im primären Kreis befand sich ein 


* Citirt nach Biedermann, Zlektrophysiologie. Jena 1895. Bd.I. S. 363. 

° Diese Thatsache ist auch ein Beweis dafür, dass die secundären Zuckungen am 
unversehrten Phrenicus, wenn das Herz dem Nerven aufliegt, nicht etwa durch mecha- 
nischen Reiz, durch die Erschütterung oder durch den Druck des in der Contraction 
rigider werdenden Herzens zu Stande kommen. 


310 IMMANUEL MUNk unD PAUL SCHULTZ: 


Quecksilberschlüssel, der mit der Hand möglichst gleich stark und schnell 
geöffnet wurde. Die Reizschwelle wurde in der Weise ermittelt, dass, 
nachdem eine Zuckung erhalten war, die secundäre Rolle allmählich so weit 
von der primären entfernt wurde, bis jede Reaction des Zwerchfells aus- 
blieb. Dann wurde sie wieder genähert, bis erst minimale, dann stärkere 
Zuckung auftrat, und wieder wurde sie entfernt, bis jede Zuckung aus- 
blieb. Dies wurde in jedem Falle mehrmals wiederholt und die erhaltenen 
Zahlen notirt. 


Dies Vor- und Zurückschieben der secundären holle — wir müssen 
dies hervorheben — ist nothwendig, weil man in diesen Versuchen sehr 
häufig dem Phänomen der „Bahnung“ in ausgesprochener Weise begegnet. 
Ausserdem müssen wir darauf hinweisen, dass die Abnahme in der Stärke 
der Zwerchfellzuckungen eine ganz allmähliche ist; ja, es liegt eine gewisse 
Schwierigkeit darin — wir verkennen das nicht — die letzte noch merk- 
liche Zuekung festzustellen. Da in unseren Versuchen immer vier Augen 
beobachteten, so war eine gewisse Kritik von vornherein gesichert. In allen 
den Fällen, wo beim allmählichen Entfernen der secundären Rolle auf eine 
kräftige Contraction unvermittelt gar keine Reaction mehr erfolgte, waren 
zugleich Anzeichen vorhanden, die auf eine Alteration des Nerven (Erreg- 
barkeitsänderungen durch Absterben, Verletzung) hinwiesen. In einigen 
Versuchen wurde zum Ueberfluss noch die Richtung des Oeffnungs-Induc- 
tionsschlages durch Umlegen einer in den secundären Kreis eingeschalteten 
Wippe umgekehrt und die Prüfung der Reizbarkeit wiederholt. 


Das Ergebniss aller unserer Versuche geht nun dahin, dass am un- 
versehrten N. phrenicus, wofern er mit genügender Sorgfalt präparirt 
ist und wofern kein Eingriff in das Centralnervensystem erfolgt ist, die 
Reizbarkeit central und peripherisch, bezw. in der Mitte keine 
nennenswerthen Unterschiede zeigt. 


Es steht diese von uns gemachte Erfahrung der überall gleichen 
specifischen Reizbarkeit des Phrenicusstammes auch in vollem Einklang 
mit den gesicherten Feststellungen, dass beim Actionszustand des Nerven 
weder Wärmebildung noch chemische Umsetzung (Säurebildung) statthat, 
die mittels unserer Methoden erkennbar wäre, also kein nachweisbarer 
Energieverbrauch im erregten Nerven erfolgt, daher der Nerv sich auch 
als fast unermüdbar darstellt. 


Hiernach muss wohl auch der Versuch, die kinetische Theorie des 
Nervenprineips zu erneuern, zurückgewiesen werden, und es bleibt die 
schon längst eingebürgerte molekulare Theorie bestehen, die man, wie 
oben angeführt, nach Hermann’s Vorgang sich unter dem Bilde der 
Zündschnur anschaulich machen kann. 


REIZBARKEIT DES NERVEN. Bl 


Versuchsprotocolle. 


Im Folgenden seien einige Specimina angeführt; die Operationsweise 
ist nicht besonders angegeben, da sie schon oben im Allgemeinen skizzirt ist. 
Die Zahlen bedeuten die Rollenabstände in Millimetern. Die beigegebenen 
Pfeile bedeuten die Umkehrung der Richtung des Oeffnungs-Inductions- 
schlages. C = central am Halse, M = in der Mitte, oben in der Brusthöhle, 
P = peripherisch, unten in der Brusthöhle über dem Zwerchfell. R. = rechts, 
ES alinkst 


I. Katze, grau, 32008" schwer, Blutverlust ziemlich gross.! 


10 Uhr 15 Min. R. (©: 330 L. C: 310 
P: 340 P: 340 
10 Uhr 35 Min. R. ©: 310 120320 
P: 310 P: 330 
11 Uhr 15 Min. R. C: 4350 L. ©: 430 
P: 440 P: 450 
12 Uhr. R. ©: 410 L. ©: 290 
P: 370 P: 300 

12 Uhr 20 Min. R. C: 310 L. 0: 300 r 
3 P: 300 P: 330 


II. Katze, grau, 3500 &% schwer. 


10 Uhr 45 Min. R. C': 280 1.20.2320 
22300 P: 340 
11 Uhr. R. 0: 400 410 LE. 027350 
P: 360 370 P: 350 
11 Uhr 25 Min. R. C©: 250 250 260 L. ©: 300 
P: 300 320 300 P: 300 
Rechts wird der Phrenieus in der Brusthöhle an der ersten Rippe prä- 


parirt = M. 


11 Uhr 50 Min. R. M: 280 310 300 
P: 290 300 300 


Die gereizten Stellen waren von einander entfernt: 
I (= Ve Ta ara 1.012.2: 


! In allen Versuchen, wo keine besonderen Angaben über den Abstand der 
gereizten Stellen (C’ und P) gemacht sind, betrug derselbe, an dem herauspräparirten 
Nerven gemessen, zwischen 10 und 12 =. 


312 IMMANUEL MUuNnk uNnD PAUL SCHULTZ: 


II. Katze, grau, 2950 8% schwer. 


10 Uhr 50 Min. R. C: 450 y470 L. C: 460 y410 
P: 410 440 P: 480 y420 
Die gereizten Stellen waren von einander entfernt: 
Real: ner 
IV. Kleine Katze, weiss, 2300 2% schwer. 
10 Uhr 23 Min. R. C©: 450 L. ©: 480 
px: 380 P: 450 
10 Uhr 50 Min. R. ©: 410 L. ©: 460 
P: 380 P: 410 
12 Uhr 30 Min. R. CO: 330! 
P: 200! 


Seit der Freilegung der Nerven sind mehr als 2 Stunden vergangen! 
Die gereizten Stellen waren von einander entfernt: 
li A) 1b aa 


V. Kleines Kaninchen. 
10 Uhr 45 Min. R. C: 510 510 
P: 540 520 
VI. Hund, mittelgross, langhaarig, 645 schwer. 


12 Uhr 4Min ERTZ0:73107 1.0:731071340 
: 850 M : nichts, Schiff’sches Phänomen, s.o. 
310 2.7290, 290 


12 Uhr 43 Min. R. 


1 Uhr. iR: 


Versuche mit Zerstörung des Noeud vital und mit absichtlicher 
Verletzung des Phrenicus. 


VI. Katze, grau, 3230 8% schwer. 


10 Uhr 50 Min. R. ©: 400 L. ©: 490 470 
P: 430 P: 530 450 
11 Uhr 20 Min. R. ©: 380 L. ©: 500 500 
M: 420 i 
P: 410 P: 480 500 


11 Uhr 33 Min. Noeud vital durchbohrt. 


REIZBARKEIT DES NERVEN. 
11 Uhr 45 Min. R. €: 400 Bor 550 
M: 450 
/22 Ale) P: 470 
12 Uhr 4Min. R. C: 460 L. ©: 520 
M: 440 
P: 420 P: 450 
12 Uhr 55 Min. R. ©: 520 L. ©: 550 580 
P: 460 P: 440 
Die gereizten Stellen waren von einander entfernt: 
del Nele Bear ee 


VII. Katze, weiss, 3000 8% schwer. 


11 Uhr 35 Min. R. C: 320 380 
..M: 310 370 
P: 310 370 


11 Uhr 48 Min. Noeud vital zerstört. 
12 Uhr 13 Min. R. ©: 400 


M: 400 
P: 350 
12 Uhr 56 Min. R. ©: 600 (vgl. 8. 307) R 
Ver‘ 
P: 510 
2 Uhr. R. 0: 460 490 470 410 
M: 610 610 560 
P: 560 690 570 


IX. Katze, schwarz, 3400 8% schwer. 
10 Uhr 50 Min. Noeud vital zerstört. 


10 Uhr 55 Min. R. C: 630 580 L. C: 620 690 
P: 440 400 P: 430 490 
11 Uhr 50 Min. R. O©: 660 L. C: 520 
P: 690 P: 440 
1 Uhr 18Min. R. C: 450 L. C: 300 
P: 510 540 P: 580 
1 Uhr 50 Min. R. ©: 470 1.0.7280 
P: 540 P: 470 
Künstliche Athmung unterbrochen. 
2 Uhr 3 Min. R. ©: 310 L. C: 260 
P: 610! P: 640! 


2 Uhr 12 Min. Nur rechter Vorhof schlägt noch. L. C: 250 
P: 520! 


313 


314 IMMANUEL MUNK UND PAUL SCHULTZ: 


X. Grosse Katze, rostfarben, 3900 8% schwer. 


Noeud vital zerstört. 


R20:225077260 233075360 I. E: 1607150 
P: 460 450 450 P: 830 300 


XI. Katze, rothbraun, 2200 E8'% schwer. 


(1 Uhr 15 Min. R. ©: 460 L. C©: gequetscht 80 

M: 510 

P: 470 P: 540, nach 5 Min. 330 
11 Uhr 47 Min. R. C: 310 L. ©: unerregbar 

M: 300 

P: 320 P: 310 450 


12 Uhr. Noeud vital zerstört. 


12 Uhr 5 Min. R. ©: 460 
: 470 


‘2 

ae Be 
M.: 330 
12330 
(0 
M 
72) 


12 Uhr 56 Min. R. C: 290 300 
: 360 320 


: 380 350 


XII. Katze, schwarz, 2700 &% schwer. 


R. C: 470 500 L. ©: 480 
P: 510 470 P: 470 


R. in der Mitte geschädigt durch Druck 370 390, dann an derselben 
Stelle Faden umgelegt und mässig stark zugeschnürt, unmittelbar darnach 
unterhalb der Stelle geprüft 600 550. Eine halbe Stunde später: 


11 Uhr 45 Min. R. (©: 470 
M: 490 x480 
723 SU) 


12 Uhr 15 Min. R. ©: 420 
P: 460 


Darauf in der Mitte gequetscht: 


: unerregbar 

: unmittelbar unterhalb der Verletzung 
510 y470 

: 480 


ge) 


P 

12 Uhr 45 Min. R. 0: — 
M: 460 400 
P: 370 


REIZBARKEIT DES NERVEN, 315 


Nachtrag. 


Ueber die vorstehende Untersuchung haben wir in der Physiologischen 
Gesellschaft in Berlin (Sitzung vom 25. März 1898) Mittheilung gemacht; 
ein kurzer Bericht darüber ist in den Verhandlungen dieser Gesellschaft 
(Jahrgang 1897—98, Nr. 5—10, 8. 40) zum Abdruck gelangt! (ausgegeben 
am 9. April 1898). 

Soeben (am 1. Juni) erscheint eine Untersuchung aus dem physio- 
logischen Institut in Göttingen von O. Weiss,” der sich überwiegend mit 
dem Verhalten am motorischen Froschnerven beschäftigt und auch für 
diesen, wofern derselbe unversehrt ist, an allen Punkten seines Verlaufes 
die „Erregbarkeit“ gleich gefunden hat. Wo sich eine ungleiche „Erreg- 
barkeit“ darbot, liess sich, in Uebereinstimmung mit Hermann’s und 
Grützner’s Beobachtungen, nachweisen, dass in Folge von Verletzung 
oder von Zerrungen und Dehnungen bei der Präparation des Nerven Eigen- 
ströme vorhanden waren, die sich zu dem Reizstrom mit gleichem oder 
entgegengesetztem Vorzeichen addiren: daher auch unter diesen Umständen 
der verschiedene Effect aufsteigender und absteigender Inductionsschläge. 
Nervenstellen, die für beide Stromrichtungen gleich empfindlich waren, 
erwiesen sich auch als „stromlos“ (frei von Eigenströmen). E 

Ausserdem. hat Weiss noch einige Versuche am N. vagus von jungen 
Kaninchen und Katzen ausgeführt, und zwar wurde diejenige Reizstärke 
ermittelt, bei der die erste Pulsverlangsamung, an der von der Carotis oder 
Femoralis mittels eines Gummimanometers aufgenommenen Druckkurve er- 
kennbar, eintrat. Auch hier ergab sich der nämliche Erfolg: gleiche 
„Erregbarkeit“ an verschiedenen Stellen des Halsvagus. Nur könnte sich 
gegen die volle Beweiskraft dieser Versuche das Bedenken erheben, dass 
die Entfernung der geprüften Nervenstrecken von einander sehr gering war, 
nur 2 bis 4% betrug. Es liegt auf der Hand, dass, wofern die Erregungs- 
welle bei der Fortpflanzung längs des Nerven einen Widerstand findet, 
die Reizschwelle für die dem Muskel näheren Nervenstrecken um so niedriger 
gelegen sein muss, je weiter die geprüften Nervenstrecken von einander 
entfernt sind. Deshalb glauben wir besonderen Werth darauf legen zu 
sollen, dass in unseren oben berichteten Versuchen am N. phrenicus 
der Abstand der geprüften Nervenstrecken von einander min- 
destens 10 bis 12m, also das Drei- bis Fünffache der von Weiss 


! Abgedruckt in diesem Archiv. 1898. Physiol. Abthlg. S. 281. 
® O0. Weiss, Ueber die Erregbarkeit eines Nerven an verschiedenen suellan seines 
Verlaufes.. Pflüger’s Archw. Bd. LXX. 1—2. S. 15. 
3 „Reizbarkeit“ in unserem Sinne! 


316 ImmAnUEL MUNK UND PAUL SCHULTZ: REIZBARKEIT DES NERVEN. 


gewählten betragen hat. Auch am Vagus konnte Weiss zeigen, dass 
jede Zerrung des Nerven die „Erregbarkeit‘‘ diesseits und jenseits der ge- 
schädigten Strecke ändert und zwar für auf- und absteigende Induetions- 
ströme im entgegengesetzten Maasse und dass dann sofort Eigenströme im 
Nerven auftreten. Wir heben hervor, dass sich ähnliche Versuche mit 
Schädigung des N. phrenicus und danach beobachteter Erregbarkeitsänderung 
auch unter unseren Versuchsbeispielen finden, und dass, wo die Erregbar- 
keit verschiedener Strecken gleich befunden wurde, am Eiflect sich nichts 
änderte, mochten die Inductionsschläge im Nerven eine auf- oder absteigende 
Richtung haben. Demnach bekräftigen die Untersuchungen von Weiss 
den von uns verfochtenen Satz, dass am unversehrten Nerven des 
Säugethieres die Reizbarkeit an allen Punkten seines Ver- 
laufes die gleiche ist. 


Ueber den Einfluss von Salzlösungen auf das Volum 
thierischer Zellen. 


Von 


H. J. Hamburger 
in Utrecht. 


Erste Mittheilung. 


Weisse Blutkörperchen. — Rothe Blutkörperchen. — Spermatozoa. 


Einleitung. 3 

Die vorliegenden Untersuchungen schliessen sich einer im Jahre 1887 
von mir veröffentlichten Arbeit! an, in welcher u. A. nachgewiesen wurde, 
dass von verschiedenen Salzen je eine Lösung besteht, in welcher die rothen 
Blutkörperchen ihr ursprüngliches Volum unverändert lassen. Diese Lösungen 
sind isotonisch mit dem betreffenden Blutserum. In schwächeren Salz- 
lösungen findet eine Quellung, in stärkeren eine Schrumpfung der Blut- 
körperchen statt. 

Diese Beobachtungen und auch die, welche aus denselben hervorgingen, 
sind für mich und für Andere der Ausgangspunkt geworden für eine Reihe 
von Untersuchungen, welche bei Physiologen und Pathologen in steigendem 
Maasse Interesse erregt haben für die neue Lehre des osmotischen Drucks. 
Hierzu hat die Theorie der elektrolytischen Dissociation von van’t Hoff und 
Arrhenius in der letzten Zeit das Ihrige beigetragen, und in Vereinigung 
mit einander scheinen beide Theorien bereits im Begriff zu sein, manche 
dunkle Sache auf physiologischem Gebiet aufzuklären. Trotzdem sind bis 
jetzt auf analoge Weise wie die rothen Blutkörperchen noch keine anderen 
thierischen Zellen der Untersuchung unterzogen worden. Wohl hat man 
zu verschiedenen Zwecken die wasseranziehende Kraft von Flüssigkeiten, 


! Dies Archiv. 1887. Physiol. Abthlg. S. 31. 


318 H. J. HAMBURGER: 


wie Blutserum, Lymphe, Humor aquaeus, Milch, studirt, zwar hat man seröse 
Häute und Schleimhäute mit Flüssigkeiten von verschiedenem osmotischen 
Druck in Berührung gebracht, um aus der Aenderung dieses osmotischen 
Druckes Data für die Kenntniss des Resorptionsprocesses abzuleiten, man 
hat den Einfluss verschiedener Salzconcentrationen auf die Reizbarkeit von 
Nerven und Muskeln studirt, aber den Einfluss von Salzlösungen auf andere 
isolirte Zellen als die rothen Blutkörperchen hat man bis jetzt nicht unter- 
sucht. Und doch scheint das aus mehr als einem Grunde erwünscht. 
Erstens zur Controle der bei den rothen Blutkörperchen gemachten Schluss- 
folgerungen und zur Entscheidung von desbezüglichen Meinungsverschieden- 
heiten; aber auch mit Rücksicht auf Fragen, zu deren Lösung die rothen 
Blutkörperchen nicht geeignet sind, weil dieselben bekanntlich leicht ihren 
Farbstoff verlieren. 

Es war denn auch schon vor Jahren mein Wunsch, die Untersuchungen 
über das Volum der rothen Blutkörperchen auf andere Zellen auszudehnen, 
aber ich stiess bei diesem im Prineip zwar äusserst einfachen Plane auf 
die Schwierigkeit, eine so grosse Menge isolirte Zellen zu erhalten, dass 
mit den damals mir zur Verfügung stehenden Hülfsmitteln eine Volums- 
bestimmung möglich sein würde. Diese Schwierigkeit ist jetzt dadurch 
aufgehoben, dass ich Glasröhrehen anwenden kann, welche ich das vorige 
Jahr habe anfertigen lassen, um das Gesammtvolum der Bakterien in zwei 
Culturen zu vergleichen.! 

Diese Glasröhrchen erlauben mit geringen Quantitäten von Zellen zu 
experimentiren und doch bedeutende Flüssigkeitsmengen darauf einwirken 
‘zu lassen. 

Wie aus der Figur ersichtlich, bestehen dieselben aus einem Trichter, 
welcher sich in ein Capillarrohr fortsetzt. Letzteres wird verschlossen mittels 
eines Ebonitstopfens, welcher mittels einer am Glas angebrachten Schrauben- 
windung verschlossen werden kann. Behufs des genauen Verschlusses ist 
das Capillarrohr unten flach abgeschliffen und liest auf dem Boden des 
Ebonitstopfens eine runde Gummiplatte (mittels eines Korkbohrers aus einem 
Gummirohr ausgeschnitten). 

Viel kommt natürlich an auf die Genauigkeit der Theilung des 
Capillarrohres. Controlversuche mittels derselben Quantität Quecksilber, 
welche wir jedes Mal in ein anderes Röhrchen überbrachten, lehrten, dass 
der maschinellen Calibrirung nicht zu trauen ist, nicht nur, weil die schein- 
bar gleich weiten Capillarrohre verschiedener Apparate nicht immer dieselbe 
Weite besitzen, sondern auch weil das Capillarrohr eines und desselben 
Apparates nicht an allen Stellen genau die gleiche Weite hat. Wir haben 


! Sitzungsberichte der kgl. Akad. der Wissensch. Amsterdam. 1897. 8. 469. 


EINFLUSS VON SALZLÖSUNGEN AUF DAS VOLUM THIERISCHER ZELLEN. 319 


es daher vorgezogen selbst Scalen anzufertigen. Dieselben bestanden aus 
einem Streifen durchscheinenden Calquirpapiers, welcher, um bei Reinigung 
des Röhrchens die Eintheilung vor dem Einfluss von Flüssigkeit zu schützen, 
erst zwei Mal mit Gelatine und dann mit Firniss bedeckt wurde. 

Die Figur stellt einen Apparat etwas verkleinert vor. Der Trichter 
enthält 7 °®, die Länge des Capillarrohres beträgt 60 um, 
der Durchmesser des Lumens 1!/, m, 

Ich habe auch kleinere gebraucht in Fällen, wo dies 
mit Hinsicht auf die Quantität des Materials erwünscht 
war; der Trichterinhalt war dann ungefähr derselbe wie 
beim gezeichneten Apparat, die Länge des Capillarrohres 
betrug aber nur 45"" und der Durchmesser des Lumens 
im, Endlich wurde auch noch eine dritte Sorte ge- 
braucht und zwar mit weitem Lumen (Diameter 1.75"), 
Dies geschah, wenn die Zellen die Neigung besassen zu 
agglutiniren, so dass sie in einem sehr engen Capillar- 
rohr stecken blieben. 

Die Centrifuge (für Hand- und Wasserbetrieb) war 
vor 8 Jahren von Jung aus Heidelberg bezogen. In 
jedem metallenen Backe war ein hölzerner Cylinder an- 
gebracht, in welchem wieder ein Raum für das Glas- 
röhrchen ausgedreht war. Die Kraft wurde geliefert von 
einem Gasmotor. Um Unglücksfällen vorzubeugen, waren 
die Haken, an welchen die Bäcke hingen, verdickt, und 
weiter war ein schwerer eiserner Mantel um die Centri- 
fuge gelest. War ja doch die Jung’sche Centrifuge 
ursprünglich nur für Geschwindigkeiten von etwa 800 
bis 1000 Umdrehungen in der Minute eingerichtet, jetzt 
machte dieselbe etwa 2500 und wenn gewünscht noch viel mehr. 

In der vorliegenden Mittheilung wird die Rede sein von weissen und 
rothen Blutkörperchen und von Spermatozoen. 


I. Weisse Blutkörperchen. 


Um dieselben zu erhalten, wurde das in einer geschlossenen Flasche 
defibrinirte Pferdeblut sich selbst überlassen. Die rothen Blutkörperchen 
senken sich dann grösstentheils zu Boden, während die weissen noch alle 
in der oberen Flüssigkeit suspendirt bleiben. Deren Zahl ist aber gering. 
Um nun eine leukocytenreiche Flüssigkeit zu bekommen, wurde !/, Liter 
der trüben Flüssigkeit centrifugirt, 470 °® von dem klaren Serum entfernt 
und der Bodensatz in die übrig gebliebene Flüssigkeit vertheilt. Von dieser 


320 H. J. HAMBURGER: 


Flüssigkeit nun wurde in einer feinen Pipette etwa !/, “” abgemessen und 
übergebracht in Reagircylinder mit 15 °® verschiedener Salzlösungen. Nach 
wiederholter Mischung wurde dann nach einer halben Stunde oder länger 
5 ccm oder mehr in die soeben genannten trichterförmigen Röhrchen ge- 
bracht und centrifugirt. Stellte sich dann heraus, dass das Bodensatzvolum 
noch gering war, so wurde die klare Flüssigkeit abgesogen und wieder 
2 oder 5° der ursprünglichen Flüssigkeit hinzugefügt u. s.w. Endlich 
centrifugirten wir dann so lange, bis das Niveau bei unveränderter Um- 
drehungsgeschwindigkeit der Centrifuge während 15 Minuten constant blieb. 


Tabelle I. 
Flüssigkeiten Volum des Bodensatzes 
NaCl-Lösung 0-7 Proe. . . . 46-25 
Serum (isotonisch mit NaCl 0-9 Proc.) 41 
NaCL-Dösunzzt Proc. 2 Eee 39-25 
Na@E-Losungstl@5nProc. . rege 33-5 


Man beobachtete eine stetige Abnahme des Bodensatzvolums. 


Inzwischen waren zwischen den weissen Blutkörperchen auch viele rothe 
vorhanden. Im vorliegenden Falle wurden gezählt 569 rothe auf 109 weisse, 
und es war nun die Frage, ob und sonst inwieweit, die rothen für dieses 
Resultat verantwortlich gemacht werden mussten. 


Um eine Vorstellung von dem Antheil zu bekommen, welchen beide 
am Volum hatten, stelle man sich einen Augenblick vor, dass der mittlere 
Durchmesser der weissen Blutkörperchen doppelt so gross ist als der der 
rothen und ausserdem die letzteren keine Scheibchen, sondern Kugeln seien. 
In diesem Falle würden die rothen Blutkörperchen ein Volum von 569 
repräsentiren, die weissen ein Volum von 872. Unzweifelhaft ist diese 
Rechnung im Vortheil der rothen Blutkörperchen gelegen, weil der Durch- 
messer der weissen mehr als das Doppelte der rothen beträgt, während 
auch die Gestalt der letzteren ein biconcaves Scheibchen und keine Kugel ist. 


Um nun zu untersuchen, welcher Antheil in der Schrumpfung und 
Quellung den rothen Blutkörperchen zugeschrieben werden musste, wurde 
obiger Versuch auch angestellt ausschliesslich mit rothen. 


Bringen wir die erhaltenen Zahlen nebst den daraus abzuleitenden 
procentischen Volumveränderungen in eine Tabelle, welche zu gleicher Zeit 
die soeben gewonnenen Resultate enthält, so ergiebt sich eine treffende 
Uebereinstimmung. 


EINFLUSS VON SALZLÖSUNGEN AUF DAS VOLUM THIERISCHER ZELLEN. 321 


Tabelle I. 


Bodensatz- _ Procentische Volumzunahme 


Bodensatz- volum des berechnet gegenüber dem Volum 
Piisoteketten volum der | Gemisches in Serum 
rothen Blut- , weisser und | Gemisch von 
körperchen | ira: an | aus weissen u. roth. 
körperchen | Blutkörperchen Blutkörperchen 
Procent "Proeent 
NaCl-Lösung 0-7 Proc. 43-5 46-25 +13 + 12-8 
Serum “(isot. mit NaCl 
029EBroche 2 „0:0 200.88-5 41 —_ _ 
NaCl-Lösung 1 Proc. . | 36-75 39-25 454 — 4492 
NaCl-Lösung 1-5 Proe. 31-75 33+5 — 17-5 — 18-3 


Aus dieser Tabelle geht hervor, dass die Volumveränderungen der rothen 
Blutkörperchen in treffender Weise übereinstimmen mit denen, welche das 
(Gemisch von weissen und rothen zeigt. Bedenkt man nun, dass in diesem 
Gemisch die weissen an dem Volum einen bedeutenden Antheil hatten, so 
darf man schliessen, dass die rothen und weissen Blutzellen caeteris paribus 
in gleichem Maasse schrumpfen und quellen. 

Diese merkwürdige Uebereinstimmung, welche, wie sich bald heraus- 
stellen wird, durch viele andere Experimente bestätigt wurde, hat die 
Richtung angewiesen, in welcher sich die in diesem Aufsatz mitzutheilenden 
Versuche bewegt haben. 

Obgleich wir ja, wie sich aus der Einleitung entnehmen lässt, anfäng- 
lich beabsichtigten, den Einfluss verschiedener Salze auf das Volum von 
Zellen zu studiren, haben wir uns bis jetzt nur beschäftigt mit NaCl- 
Lösungen und mit Gemischen von Serum und Wasser, als vorläufig ge- 
nügend für die Beantwortung der Frage, welche uns sehr interessirte: Wo- 
durch entsteht die Gleichheit der Volumveränderungen bei den rothen und 
den weissen Blutkörperchen?, eine Frage, welche unmittelbar zu einer 
anderen führte, nämlich: Warum quellen die Zellen durch hypisotonische 
und schrumpfen dieselben durch hyperisotonische Lösungen ? 

Nun kann man mit Schwarz den Zelleninhalt (den Kern nicht mit- 
gerechnet) betrachten als eine chemisch homogene Masse, oder mit Remak, 
Kupffer, Flemming, Bütschli und vielen Anderen, als ein Protoplasma- 
gerüst, zwischen welchem sich eine mehr oder weniger flüssige Substanz 
befindet. Was wird dann im ersten Falle geschehen müssen, wenn man 
z. B. ein kernloses, rothes Blutkörperchen, dessen homogener Inhalt in 
wasseranziehender Kraft einer 0-9procentigen NaOl-Solution entspricht, in 
eine 1-Sprocentige Lösung bringt? Es wird die Masse bis zu der Hälfte 


schrumpfen. Wird dasselbe in eine NaCl-Lösung von 1!/, Proe. gebracht, 
Archiv f. A. u. Ph. 1898. Physiol. Abthlg. 21 


322 H. J. HAMBURGER: 


so wird die Schrumpfung betragen: BZ x 100 = 66 Proc. Bringt 
man es hingegen in eine 0-Tprocentige NaUl- bösung, so wird die Quellung 
sein: ._—— x 100 = 22 Proc. 


Was lehren aber die Versuche? Dass sowohl die Schrumpfung wie 
die Quellung viel weniger betragen, nämlich bezw. 17.5 und 13-5 Proc. 
(Vgl. die vorige Tabelle) Dieses führt zu der Schlussfolgerung, dass in 
der Zelle eine Substanz vorhanden sein muss, welche am wasseranziehenden 
Vermögen keinen oder einen geringeren Antheil hat als der andere Be- 
standtheil. Nun haben wir früher bei den rothen Blutkörperchen gefunden, 
dass der Gehalt des Zelleninhalts an wasseranziehenden Stoffen, trotz 
der Einwirkung von Salzlösungen verschiedener Concentration, unverändert 
bleibt.! Hieraus ergiebt sich, dass wir bei den Blutkörperchen eine in sich 
geschlossene äussere Begrenzung annehmen müssen, welche nur für Wasser, 
also nicht für Salze permeabel ist. Denkt man sich die Begrenzung wohl 
permeabel für Salze,. so muss eine Auswechslung zwischen Blutkörperchen 
und Umgebung stattfinden in isotonischen Verhältnissen; denn allein da- 
durch ist dann die Unveränderlichkeit der Wasseranziehungskraft garantirt. 
Für die nächstfolgenden Betrachtungen ist es aber gleichgültig, welche von 
beiden Vorstellungen die richtige ist. Die erstere ist gewiss die einfachste. 

Bezüglich der genannten Begrenzung kann man sich zwei Verhält- 
nisse denken: 1. Man kann sich vorstellen, dass dieselbe eine selbständige 
Membran ist, welche beauftragt ist, die intracelluläre Flüssigkeit innen zu 
‚halten; in dieser Flüssigkeit liegt dann weiter das Protoplasma auf irgend 
eine Weise verbreitet. 2. Man kann sich mit Bütschli denken, dass die 
Zelle aus einem Protoplasmagerüst besteht, in dessen geschlossenen 
Maschen sich Flüssigkeit befindet; in diesem Falle ist die Annahme einer 
speciellen Membran überflüssig, denn die Wände der äusseren Waben selbst 
bilden dann die Begrenzung zwischen Inhalt und Umgebung der Zelle. 


Wir werden in diesem Aufsatz auf eine Wahl zwischen beiden Vor- 
stellungen nicht eingehen. In jedem Falle muss man eine äussere Be- 
grenzung annehmen, welche entweder bloss für Wasser durchgängig ist 
oder auch für Salze, aber dann in isotonischen Verhältnissen. Die erste 
Annahme ist die einfachste. Weiter unterliegt es keinem Zweifel, dass der 
Zelleninhalt aus zwei oder mehr Theilen besteht, welche sich bezüglich des 
Vermögens, Wasser anzuziehen, verschieden verhalten. Auch bezüglich 
dieser Thatsache sind wieder zwei Annahmen möglich: 1. kann man 
sich denken, dass der ganze Zelleninhalt sich an der Wasseranziehung 


1 Zeitschrift für Biologie. 1889. 8. 414. 


EINFLUSS VON SALZLÖSUNGEN AUF DAS VOLUM THIERISCHER ZELLEN. 323 


betheiligt, dass aber die verschiedenen Theile des Zelleninhalts in dieser 
Beziehung nicht gleichwerthig sind; 2. kann man sich auch vorstellen, dass 
ein Theil des Zelleninhalts am wasseranziehenden Vermögen gar keinen 
Antheill nimmt und der Rest das ganze wasseranziehende Vermögen 
repräsentirt. 

Wie die Versuche zeigen werden, würde die erste Vorstellung noch 
die Annahme erfordern, dass zwischen der wasseranziehenden Kraft der 
diversen Zellenbestandtheile ein bestimmtes festes Verhältniss besteht. 

Wir stellen uns vor, dass die Zelle aus einem festen Gerüst 
(Protoplasma) besteht, zwischen welchem die intracelluläre 
Flüssigkeit vertheilt ist.! Das Protoplasma hat am Wasser- _ 
anziehungsvermögen keinen Antheil. Es ist also nur die intra- 
celluläre Flüssigkeit, welche Quellung der Zelle durch hyp- 
isotonische und Schrumpfung durch hyperisotonische Lösungen 
herbeiführt. 

Ist diese Vorstellung richtig, so muss auch im Betrag der Quellung 
und Schrumpfung der Zellen im Ganzen, ein Maass für das relative Volum 
der beiden Zellenbestandtheile gelegen sein und muss auch das Resultat 
in hohem Maasse unabhängig von der Concentration der gebrauchten Salz- 
lösungen sein. ö 


In diesem Gedankengang haben wir eine Anzahl Bestimmungen für 
das Volum des Protoplasmagerüstes der weissen Blutkörperchen ausgeführt.? 

Die hierzu gebrauchten weissen Blutkörperchen waren so gut wie ganz 
frei gemacht von rothen, indem die nach der beschriebenen Methode er- 
haltene leukocytenreiche Flüssigkeit sich selbst überlassen wurde. Die rothen 
hatten sich dann zu Boden gesenkt und in der oberen Flüssigkeit befanden 
sich nur weisse, 

Wir wollen die ersten Versuchsreihen etwas genauer besprechen. 

Gleiche Quantitäten weisse Blutkörperchen sind versetzt mit NaÜl- 
Lösungen von 0.7 Proc, 0-94 Proc. (isotonisch mit dem Serum) und 
1-5 Proc. Nach Centrifugirung gleicher Quantitäten dieser Lösungen ist 
das Volum der weissen Blutkörperchen bezw. 41, 35-5 und 29-5. 

Um aus den zwei letzteren Zahlen das Volum des protoplasmatischen 
Gerüstes zu berechnen, kann man die Sache folgender Weise betrachten: 
Nennen wir das Volum des Protoplasmagerüstes p, so beträgt das Volum 
der intracellulären Flüssigkeit bezw. (35-5 — p) und (29-5 — p). Weil wir 
annehmen müssen, dass der Gehalt an wasseranziehenden Stoffen in der 


! Die Frage, auf welche Weise wir uns das Gerüst angeordnet denken, in Waben 
(Bütsehli) oder nicht, werden wir in diesem Aufsatz nicht besprechen. 
° Zum Protoplasmagerüst rechnen wir hier auch das Kerngerüst. 
21 


324 H. J. HAMBURGER: 


intracellulären Flüssigkeit unverändert bleibt, muss die folgende Gleichung 
gelten: 
(35-5 — p) 0-94 = (29:5 — p)1-5 
DIA: 

Aus den mit den O-7procent. und 1-5procent. NaCl-Lösungen er- 
haltenen Zablen folgt die Gleichung: 

(41 — p) 0-7 = (29-5 — p)1-5 
p= 19-3. 

Hieraus eeht hervor, dass das Volum des Protoplasmagerüstes in beiden 
Fällen gleich gefunden wird. Das Mittel ist 19-45. 

Bedenkt man nun, dass das Totalvolum der weissen Blutkörperchen 
in der mit Serum isotonischen Lösung (0.94 Proc.) 35.5 betrug, so findet 
man einen Procentgehalt für das Protoplasmagerüst von: 

35-5 — 19-45 i 
ENERGIE x 100 = 54-5 Proc. 

Von denselben weissen Blutkörperchen wurde das Protoplasmavolum 
untersucht mit Hülfe von Gemischen von Serum und verschiedenen Quan- 
titäten Wasser: 

Volum der weissen 


Blutkörperchen 
(1) in unverdünntem Serum . . . 2.2... 35-75 
(2) in Serum versetzt mit 20 Proc. Wasser. . 39 
(8) ” „ „ „ 40 ” „ Ol LEO 41-75 
Mon » nm 0 elle 43.5 


Aus (1) und (2) folgt die Gleichung: 
120 (85:75 — p) = 100 (39 — p) 
p= 19-93. 
Aus (1) und (8) folgt die Gleichung: 
140 (35.75 — p) = 100 (41:75 — p) 
p= 20-6. 
Aus (1) und (4) folgt die Gleichung: 
150 (35-75 — p) = 100 (43-5 — p) 
— 20.3. 


Man sieht, dass für p Zahlen gefunden werden, welche gut mit ein- 
19-5 + 20-6 + 20-3 


ander übereinstimmen. Das Mittel ist: s —= 20-04, d.i. be- 
rechnet auf 35-75: —_ x 100 = 56 Proc., eine Zahl, welche mit der 


mittels NaCl-Lösungen erhaltenen gut übereinstimmt. 


EINFLUSS VON SALZLÖSUNGEN AUF DAS VOLUM THIERISCHER ZELLEN. 325 


Kritik der Methode. 

Man würde die Bemerkung machen können, dass die Zahlen 54-5 
oder 56 das richtige Volum des Protoplasmagerüstes nicht angeben können, 
weil man durch Centrifugiren nicht das eigentliche Volum der Blutkörper- 
chen, sondern nur den Bodensatz bestimmt. Es bleibt dabei immer Flüssig- 
keit zwischen den Zellen zurück, und wenn die Quantität dieser Flüssigkeit 
nun in den verschiedenen Versuchen mit dem Blutkörperchenvolum pro- 
portional war, so würde der Einwand aufgehoben sein. 

Es hat sich aber herausgestellt, dass, wenn man auch kein Recht hat, 
letzteres anzunehmen, der Procentgehalt der Gerüstsubstanz nur in sehr 
geringem Maasse von der kleinen intracellulären Flüssigkeitsmenge beein- 
flusst werden kann. Wenn man bei constanter Umdrehungsgeschwindigkeit 
centrifugirt, bis das Bodensatzvolum während einer Viertelstunde unver- 
ändert bleibt, und man presst dann mittels einer bedeutenden Zunahme 
der Umdrehungsgeschwindigkeit den Bodensatz noch etwas zusammen, so 
zeigt sich der Procentgehalt der Gerüstsubstanz dadurch nicht merkbar 
geändert. Einige Beispiele mögen das erläutern. 


Tabelle IL. 


Umdrehungsgeschwindigkeit | Umdrehungsgeschwindigkeit 
1800 in der Minute 3000 in der Minute 
I I 
Zellenart Flüssigkeiten Boden- en E 2 3 |Boden- malnz 5 2S 
satz- volum: p ses satz- volum p s=8 
volum |berechn. = 33 volum ‚berechn. = 33 
aus Sa aus Sa 
£ Procent Procent 
WeisseBlut-| a) NaCl 0-7 Proc. |46-25|a und b 22-3 46 a und d 22-1 
körperchen  b) NaCl 0-9 „ 41 b „ di22-2 | 54-3 |40-75|b „ al22 53:98 
des Pferdes | (isot.m. d.Serum) 
c) NaCl 1-2 Proc. || 36-25 |a ‚ c 22-24 36 En 0 
d) NaCl ı-5 „ (33-5 3325 
Rothe Blut- || a) NaCl 0-7 Proe. || 40 a „ d/18-9 39-5 |a ,„ di18-88 
körperchen |b) NaCl 0-94 „ |34-5 |b „ d/19-1 | 54-8 34-25 b „ d|18-86| 55-3 
des Pferdes | (sot. m.d. Serum) 
c) NaCl 1-2 Proe. || 31 a „ c|18-4 al al on 
d) NaCl 1-5 „||28-75 28+5 
Blut- a) NaCl 0-5 Proc. || 36-75 a „ d!14-62 35-75|a „ di14-37 
körperchen |b) NaCl 0-7 ,„ 131 b „ d!14-12] 57-32||30-25 „ d13-48 57:55 
des Huhnes | c) NaCl 1-1 ,„ |24-5 ja „ e14:29 24 a „ e|14-2 
(isot. m.d.Serum) 
d) NaCl 1-5 Proc. | 22 21°5 


326 H. J. HAMBURGER: 


Die vorstehende Tab. III enthält drei Versuchsreihen, mit weissen und 
rothen Blutkörperchen des Pferdes und mit Blutkörperchen des Huhnes. 
Aus dem bei 1800 und bei 3000 Umdrehungen erhaltenen Bodensatz ist 
auf die angegebene Weise erst das Volum und dann der Procentgehalt der 
Protoplasmasubstanz berechnet. 

Man sieht, dass trotz der durch starke Zunahme der Umdrehungs- 
geschwindigkeit herbeigeführten Verkleinerung des Bodensatzvolums, das 
Volum des Protoplasmagerüstes sich innerhalb der Grenzen der Versuchs- 
fehler unverändert zeigt. 

Eigentlich kann uns dieses Resultat nicht wundern, denn: 

1. werden alle vier zu demselben Versuch gehörenden Röhrchen zu- 
gleich zum constanten Volum centrifugirt. Der Einfluss der Senkungs- 
geschwindigkeit ist also eliminirt. 

2. Kann zwar bei einer grossen Umdrehungsgeschwindigkeit zwischen 
den Zellen etwas weniger Flüssigkeit zurückbleiben als bei einer kleineren, 
der Procentgehalt der Gerüstsubstanz aber wird jedes Mal mit Hülfe des 
derselben Umdrehungsgeschwindigkeit entsprechenden Boden- 
satzvolums im ursprünglichen, unverdünnten Serum berechnet. So findet 
man in der ersten Versuchsreihe bei 1800 Umdrehungen ein mittleres 

_ 22-38 + > + 224 _ 009.99, 
Nun beträgt bei derselben Umdrehungsgeschwindigkeit das Bodensatzvolum 
in der mit Serum isotonischen O-9procent. NaUl-Lösung 41. Der Procent- 
gehalt des Protoplasmagerüstes ist also bei einer 1800 maligen Umdrehungs- 
geschwindigkeit x 100 = 54-4 Proc, 

Berechnet man Alles auf dieselbe Weise bei einer 3000maligen Um- 
drehungsgeschwindigkeit, so zeigt sich der Procentgehalt der Protoplasma- 
substanz 53-98 Proc. 

3. Kann es nach den vielfachen Versuchen von Hedin, Eykman u. A. 
, als festgestellt betrachtet werden, dass die Centrifugirmethode für Bestim- 
mungen des relativen Volums der körperlichen Elemente im Blute vertrauens- 
werthe Resultate liefert. Ich verfüge über ein grosses Zahlenmaterial, aus 
welchem hervorgeht, dass man, um den Procentgehalt der Protoplasma- 
substanz berechnen zu können, nicht einmal das Centrifugiren bis zum Con- 
stantsein des Bodensatzvolums fortzusetzen braucht. In meinen Protocollen 
ist bei jeder Versuchsreihe natürlich jedes Mal das Volum des Bodensatzes 
notirt, bis der Stand unverändert blieb. Führt man nun die Berechnung 
des Protoplasmavolums aus mit den noch vor dem Constantsein und nach 
dem Constantsein des Bodensatzvolums erhaltenen Zahlen, so erhält man 
bei nicht grosser Entfernung von dem Endvolum in den meisten Fällen 
dasselbe Resultat. 


EINFUUSS VON SALZLÖSUNGEN AUF DAS VOLUM THIERISCHER ZELLEN. 3927 


Ein Beispiel: 


Tabelle IV. 
f Vor dem Constantsein des ] Nach dem Constantsein des 
Bodensatzvolums Bodensatzvolums 
Protoplasma- S& Protoplasma = 
Flüssigkeit | Boden- L 348 |Boden- z 5583 
kz. volum p 388 a volum p Ss28 
# ED: zEE 
volum | berechn. 355 | volum | berechn. =#83 
aus Sa aus |S& 
Procent Procent 
a) NaCl 0-7 Proc. | 44-5 |a undd | 21-06 43 a und d | 20-96 
b) NaCl 0-98 „ 38 b>57.d20=7 055=7 37 b „ d!20-4 56 
(isot. m.d. Serum) 
ce) NaCl 1-2 Proe. || 35 Bean 33:75 |a „ 6,20-8 
d) NaCl 1-5 „ || 32 31 


Aus dieser Tabelle erhellt, dass bei kürzerem Centrifugiren p zwar 
grösser gefunden wird als bei längerem Centrifugiren, der grössere p wird 
aber gegenüber 38 und der kleinere gegenüber 37 berechnet. Das Resultat 
ist, dass die beiden Versuche übereinstimmende Werthe für den Procent- 
gehalt der Protoplasmasubstanz liefern. 

Es kann noch eine zweite Bemerkung gemacht werden, nämlich dass 
bei der Berechnung der Einfluss des Volums der in der intracellulären 
Flüssigkeit gelösten festen Bestandtheile vernachlässigt worden ist. Hier- 
durch weicht vielleicht die für das Volum der Gerüstsubstanz zu erhaltende 
Zahl etwas von der wahren ab. 

Es scheint mir aber ‚schwierig, genau den Betrag dieser Abweichung 
festzustellen. Indessen ist die Uebereinstimmung zwischen den in unseren 
Versuchen mit verschiedenen Lösungen erhaltenen Zahlen so gross, dass 
es mich wundern würde, wenn sich später nicht herausstellte, dass die 
gefundenen Werthe des Gerüstvolums richtig wären und die genannte Ver- 
nachlässigung also erlaubt war. 


Wir lassen jetzt eine Tabelle (V) folgen, in welcher einige der noch 
nicht erwähnten Versuche zusammengefasst sind. In der ersten Spalte 
sind die gebrauchten Flüssigkeiten angedeutet. Es sind NaCl-Lösungen 
verschiedener Concentration; darunter von 0-5 Procent und 0-25 Procent, 
welche bekanntlich bei den rothen Blutkörperchen Farbstoffaustritt herbei- 
führen und also, weil sie dieselben zerstören, für verschiedene Fragen bei 
jenen Zellen nicht anwendbar sind. Weiter sind auch Gemische von Serum 
und Wasser gebraucht. Die Wassermenge bleibt aber zurück bei der 
Quantität, welche nach unseren früheren Versuchen die rothen Blutkörper- 
chen des Pferdes noch ertragen können, ohne Farbstoff zu verlieren. 


328 


H. J. HAMBURGER: 


Tabelle V. 


i a LI oe el! MN Me 
Bodensatz- Volum der Mittleres | Proc.-Gehalt 
, volum der  etanz Volum der Proto- 
Flüssigkeiten weissen P der Proto- plasmasubst. 
Blut- berechnet | plasma- | der weissen 
körperchen aus | substanz | Blutkörp. 
er 5 meta Te Ten eg Procent F 
a) NaCl-Lösung 0-7 Proc. || 49-25 a und d 23:9 || 94.7 56-3 
ber: 09 42.75 bessere 24-3 || 
(isotonisch mit dem Serum) 
ec) NaCl-Lösung 1-5 Proe.| 35-75 
a) NaCl-Lösung 0-5 Proc. || 40-25 a (A) (63-6) 
b) Er} „ 0-7 ER) 32 b Er d 16-7 16-55 54:3 
OEL 0-9 N 30*5 ee» d| 16-6 
d) ER) ” 1-5 PR 25 «25 
a) NaCl-Lösung 0-25Proe. || 30-5 a „ d | (20-46) (88) 
bye a SE HlEn.0250 LO HNa9-05L N Br. al |NasE8) (67-9) 
c) „ ER) 0-7 ER 26-50 „© 12-4 12»5 53 
O)anstk es yn0-9u 23225. des. re 111256 
Ol: ae 19 
a) NaCl-Lösung 0-25 Proc 37:75 en Aal ET) (78) 
DI 55 OS, 30-25 bar. da les): (63-2) 
c) 0-7 27-25 C e 13-2 
z & 2 2 13-35 59-6 
d) „ Er 0.9 ER) 24 d on. . 13-5 
e) „ > 1105) » 19-75 
a) NaCl-Lösung 0-25Proe. || 59-75 a d | (29-45) (79-6) 
AIR EOS 49-75 ee ao2aıe) (65-2) 
O)asn, > Vote 43 it 20-96 | 
d) Er) E£} 0:98 Fr) 37 d FR) f 20-4 f 20-72 56 
e) ER) ER) 132 er 33:75 CHoSMe 20-8 | 
DE ern. alsdbirg> 31 
a) Serum Rn 34-75 
b) „» +20Proe.Wasser|| 37-75 aus 19-75 
O)UN 8 AOEE U, 40-75 2, ,..c219:70 19-73 56-7 
Aa 1.00 Er un 42-25 ad. 19-74 
a) Serum SR. 33 
b) „ _+20Proe.Wasser | 36 al, 18 
c) £}) Ar 40 ” Er) 39 a C 18 1783 54 
Ve 40:75 a de es 
a) Serum N 32275 
b) ,„. +20Proc.Wasser | 35-75 alsnylb 17:75 : | 
Olln 1 ADS 38-5 | SR ee 54-3 
RER ee 40-5 ade ee | 


EINFLUSS VON SALZLÖSUNGEN AUF DAS VOLUM THIERISCHER ZELLEN. 329 


Die zweite Spalte enthält die Volumina des Bodensatzes nach Ein- 
wirkung von relativ grossen Quantitäten der in der ersten Spalte an- 
gegebenen Flüssigkeiten. 

In der dritten Spalte ist das Volum des Protoplasmagerüstes, berechnet 
aus den in Spalte II erhaltenen Zahlen. 

Spalte IV enthält das Mittlere der in Spalte III gewonnenen Resultate. 

Endlich findet man in der fünften Spalte den Procentgehalt der Zellen 
an Gerüst. Dieser Procentgehalt ist berechnet gegenüber dem Bodensatz- 
volum in den mit dem entsprechenden Serum isotonischen Salzlösungen. 


- Aus dieser Tabelle erhellt: 


1. dass, wie Spalte III zeigt, in jeder Versuchsreihe die aus den ver- 
schiedenen einzelnen Versuchen berechneten Volumina des Protoplasma- 
gerüstes sehr gut mit einander übereinstimmen, wenn Lösungen von 
0.7 Procent und höher angewandt wurden. 

Wo hingegen 0-25procentige und O-5procentige Solutionen gebraucht 
wurden, fallen die erhaltenen Resultate höher aus! Wir haben diese 
Resultate zwischen Klammern gesetzt. Letzterer Befund lässt sich folgender 
Weise erklären: Durch eine sehr schwache Salzlösung, wie eine 0-25 procent. 
und O-5procent., nimmt das Volum der intracellulären Flüssigkeit so be- 
deutend zu, dass durch die grosse Spannung das Protoplasma_permeabel 
wird und den Inhalt durchgehen lässt. Hierdurch kann die Quellung der 
Blutkörperchen nicht so bedeutend werden, wie die Berechnung es von 
einer O-25procent. oder O-5procent. NaÜl-Lösung erfordern würde, und 
musste also die Gleichung eine zu grosse p liefern. 

Bei dieser Auffassung besteht eine vollkommene Analogie mit dem bei 
den rothen Blutkörperchen beobachteten; da ist der Austritt des flüssigen 
Zelleninhalts sichtbar durch freies Hämoglobin. 

Wäre also nach dieser Vorstellung auch die intracelluläre Flüssigkeit 
der weissen Blutkörperchen gefärbt, so würden sehr wahrscheinlich auch 
diese den bei den rothen beobachteten Zusammenhang zwischen Salz- 
concentration und Farbstoffaustritt zeigen. Auch bei den weissen Blut- 
körperchen würde man dann ebenso wie bei den rothen die sogenannte 
Resistenzfähigkeit bestimmen können. 

2. Lehrt die Tabelle, dass, wenn man die Versuche mit 0.5 procent. 
und 0-25 procent. NaCl-Lösungen in casu ausser Betracht lässt, das Proto- 


! Hier sei noch bemerkt, dass für Versuchsreihen mit fünf oder sechs Versuchen 
zwei Mal centrifugirt werden musste. Da wir nicht mehr als vier Röhrchen zugleich 
in die Centrifuge setzen konnten, wurden erst a, b, e und d, und dann später c, d, e 
und f centrifugirt. Dabei wurde darauf geachtet, dass in den beiden Versuchen ce und d 
gleich waren. Der Kürze wegen haben wir diese beiden Theile einer Versuchsreihe 
in die nämliche Tabelle gebracht. 


330 H. J. HAMBURGER: 


plasmavolum p sich bewegt zwischen 56.7 Proc. und 53-3 Proc. des ganzen 
Zellenvolums. 

Aus den mit O-5procent. NaCl-Lösung angestellten Versuchen ergiebt 
sich p entschieden grösser: 67°9 Proc. bis 63-2 Proc, und aus den mit 
0-25procent. NaQl-Lösung ausgeführten Experimenten zeigt sich p noch 
grösser, namentlich 88 Proc. bis 78 Proc. Wie soeben unter 1. betont 
wurde, geben die an den mittels O-25procentiger und O-5procentiger 
Na0l-Lösung gewonnenen Zahlen keinen richtigen Werth für das Volum 
des Grerüstes, 

Versetzt man die weissen Blutkörperchen mit einer grossen Quantität 
destillirten Wassers, so entsteht eine gelatinöse Masse durch Zusammen- 
klebung der zerstörten Leukocyten. 


II. Rothe Blutkörperchen. 


Dieselben Versuche, welche für die weissen Blutkörperchen angestellt 
wurden, führten wir auch für die rothen aus. 

Die folgende Tab. VI, welche ohne weitere Erläuterung deutlich sein 
wird, enthält einige Experimente mit Pferdeblut. 


Auch hier stellt sich heraus: 

1. Dass das Volum des Protoplasmagerüstes in den verschiedenen Experi- 
menten der nämlichen Versuchsreihe wenig Abweichungen zeigt (Spalte III). 
Lösungen, welche Farbstoffaustritt herbeizuführen im Stande waren, wurden 
nicht gebraucht. | 5 

2. dass der Procentgehalt des Protoplasmagerüstes sich bewegt zwischen 
53-3 Proc. und 56 Proc., Zahlen, welche auf treffende Weise übereinstimmen 
mit den bei den weissen Blutkörperchen derselben Thiergattung erhaltenen 
Werthen. 


Diese Uebereinstimmung lässt zwei Deutungen zu: 1. kann man sich 
vorstellen, dass das Protoplasmagerüst des Zelleninhalts der rothen und 
weissen Blutkörperchen dasselbe räumliche Verhältniss repräsentirt: in diesem 
Fall muss auch dern Kern der weissen Blutkörperchen dieselbe Proportion 
zwischen dem Volum des Netzwerkes und der intranucleären Flüssigkeit 
besitzen, wie beim Zelleninhalt besteht zwischen Protoplasmagerüst und 
intracellulärer Flüssigkeit. 2. Kann man sich auch denken, dass die Ueber- 
einstimmung zwischen den bei den Zellenarten erhaltenen Werthen eine 
zufällige sei und dass also der Procentgehalt des Protoplasmagerüstes in 
den rothen Blutkörperchen verschieden ist von dem in den weissen, und 
dass der Kern in dieser Hinsicht wieder von den beiden abweicht. Wir 
kommen im vorliegenden Aufsatz noch auf diese Angelegenheit zurück. 


EINFLUSS VON SALZLÖSUNGEN AUF DAS VOLUM THIERISCHER ZELLEN. 331 


Tabelle V1. 


Pferdeblut. 
I BEE III IV V 
Boden Volum des Mittleres Mittl. Proe.- 
Protoplasmagerüstes Volum |Gehaltd.roth. 
Flüssigkeiten satz- 13 5 des Proto- | Blutkörp. an 
berechnet plasma- |Protoplasma- 
volunı aus gerüstes gerüst 
: N Procent 
a) NaCl-Lösung 0-7 Proc. | 41-75 | aund ec 19-7 19-8 55 
DR 0:90 36 Dec 1959 
c) £r 2} 2 1 °5 >) 
a) NaCl-Lösung 0-7 Proc. 43-5 ae 20:6 19-98 53-3 
DVS BZ 19-9 
c) „ ” 1-5 » al 
a) NaCl-Lösung 0-7 Proc. | 42 al °C 19-7 20+15 BARS 
bDiasts; 5 DO 37 9.5: © 20-6 
c) ” » 1-5 9 30:25 
a) NaCl-Lösung 0-7 Proc. | 43 a „ d| 20-96 2 
Dee REEL, 37 e 20-4 20-72 56 
€) „ > 1.2 ER) 33-75 ec 20-1 
Ü) » 15 „ 31 
a) Serum RE: 34+5 a 18-25 | 
b) „». +20Proc.Wasser | 37:5 | a „ce 18-8 18-51 93:6 
ol +40 ,, r . 40:75 Bl 18-5 | 
) a en. 42-50 | 
a) Serum SER. er 35-75 Be: 19-5 
b) „ +20Proc.Wasser || 39 a 20-1 19-93 55 
Os E40; 5 42 ad 20:24 
500% 5 43-5 
a) Serum Ma 36 a», 1b01.019-75 | 
b)D) „  +20Proe.Wasser | 39-25 | a „ce 19-75 19-83 55 
OF 2Agnen a 49-5 ad 20 | 
d) EI) AP 50 ” E} 44 
a) Serum ET: 29 Ares, 16-5 
b) »  +20Proc-Wasser | 31-5 ne 15-25 15-75 54:3 
c) ” En 40 „ ER 34-5 das, d 15.5 
BR. u} 50%, 805 35-75 


302 H. J. HAMBURGER: 


Es interessirte uns nun weiter zu wissen, welche Resultate die Blut- 
körperchen des Kaninchens geben würden. 

Es wurde Blut aus der Ohrvena genommen und defibrinirt. Nach 
sorgfältigem Abfiltriren des Fibrins wurde dasselbe auf gleiche Weise wie 
die Blutkörperchen des Pferdes mit Salzlösungen versetzt. 

In der folgenden Tabelle findet man einige der erhaltenen Resultate. 
Diese beziehen sich auf das Gesammtblut. Inzwischen ist die Zahl der 
weissen Blutkörperchen nach dem Defibriniren relativ so gering, dass man 
das Recht hat, ohne merkbaren Fehler, für das Ergebniss ausschliesslich 
die rothen verantwortlich zu machen. 


Tabelle VI. 


Kaninchenblut. 


I NN: I ey Vv 


Boden- Volum des | Mittleres | Mittl. Proe.- 


Protoplasmagerüstes ' _ Volum Gehalt der 


Flüssigkeite n satz- des Proto- | Blutkörp. an 
volum | berechnet | plasma- |Protoplasma- 
aus gerüstes gerüst 
x Bu Procent 
a) NaCl-Lösung 0-7 Proc. | 43 a und ec 20-2 _ 
bye: be os 39 a „ d| 196 h 
(isot. mit dem Blutserum) | Kur au 
ec) NaCl-Lösung 1-2 Proc. | 35-5 be erd 19-3 
d) ER) ” 1-5 FR) 30°5 
a) NaCl-Lösung 0-7 Proc. | 4-25 | a „ce 19-6 
DI EUORSITEE 40 a 6 der.19-9 ‘ Bi 
(isot. mit dem Blutserum) | 2930 48-7 
c) NaCl-Lösung 1-2 Proc. | 34 Des 19-1 
d) ER) » 1-5 ss 31-25 | 
a) NaCl-Lösung 0-7 Proc. || 40-5 a 5 /on1-d7-7 
) bs 0:86 „, 3625 A, ‚d 18 
(isot. mit dem Blutserum) | 17.93. | 49-4 
c) NaCl-Lösung 1-2 Proc. | 31 Dessrd 18-1 
De 2. A 28-5 
a) NaCl-Lösung 0-7 Proc. |: 86-25 | a „ ce | .15-26 
b) su. 5 0089 lead s| a 2 del=its-e 
(isot. mit dem Blutserum | 15-57 49.4 
c) NaCl-Lösung 1-2 Proc. | 27-5 |b „ d | 15-86 
En egal 25-25 
a) NaCl-Lösung 0-7 Proc. | 40-5 a 06 17-74 
bie, VOSU o 36 Dr 18:95 
(isot. mit dem Blutserum) | 155 0.8 
c) NaCl-Lösung 1-2 Proc. | 31 bemerd 18-7 
d) » ER) 15) „ 28:75 


EINFLUSS VON SALZLÖSUNGEN AUF DAS VOLUM THIERISCHER ZELLEN. 333 


Diese Versuche geben für das Protoplasmagerüst ein geringeres Volum, 
als beim Pferde gefunden wurde. Der Procentgehalt des Protoplasma- 
gerüstes bewegt sich hier zwischen 51 Proc. und 49-4 Proc. 


Wie verhalten sich nun die kernhaltigen rothen Froschblut- 
körperchen? 


Tabelle VIII 


Frosehblut. 
I 1 IM Iv Mhlein 
2 2 Volum des Proto- Mittleres Mittl. Proe.- 
ee Volum Gehalt der 
Flüssigkeiten satz- ! 5 k | des Proto- | Blutkörp. an 
volum | berechnet plasma- Protoplasma- 
aus gerüstes gerüst 
Proceent 
a) NaCl-Lösung 0-35Proc. | 44-5 aundd | 28-7 | 
Dia 12 000: 38 abe de 291225 28-718 75-7 
| ale 
Dinkest suis, aid B 34-5 
a) NaCl-Lösung 0-35 Proe. | 41-75 ne 27°9 
b) EL) Er) 0-6 55 36 b 3 d 27-8 | 27°5 2 76-4 
€) Er) > 0 7 >, 34-25 ”» C 26-8 
d) Er} 2} 1 EE} 32-75 
a) NaCl-Lösung 0-35Proe. || 455 ad or 
b) E£} EL} 0 6 E+) 37 5 b EL] d 27-5 | 27 22 
Ve 55 Vorl 36 DC 26-5 
d) Er) 9 1 Fr) 33-5 
a) NaCl-Lösung 0-35 Proc 40-5 ar. cd 25-14 
bar» ” 062 34°25 besse.rd 24.88 | 25°16 1304 
O)euer,. en VOR 33 ae 25-5 
d) Er) Er) 1 35 30-5 


Der Procentgehalt des Protoplasmagerüstes bewegt sich hier zwischen 
75-7 Proc. und 72 Proc., Zahlen, welche bedeutend grösser sind als die bei 
Pferd und Kaninchen gefundenen. 

Bei näherer Betrachtung scheint sich dieses Verhältniss an die im 
Jahre 1887 von mir beobachteten Thatsachen anzuschliessen. Es stellte 
sieh nämlich damals heraus, dass, während män Pferdeblutserum mit 
60 bis 70 Proc. verdünnen kann, bevor Farbstoff aus den Blutkörperchen 
tritt, Froschblutserum 200 und mehr Procent Wasser erträgt. Dies wäre 
kaum möglich, wenn so viel intracelluläre Flüssigkeit in den Froschblut- 
körperchen sich befände, wie in den Erythrocyten des Pferdes; in diesem 


334 H. J. HAMBURGER: 
Falle würde wahrscheinlich die Quellung viel zu bedeutend sein und die 
Blutkörperchen würden Farbstoff verlieren. 

In diesem Gedankengang liess sich a priori erwarten, dass beim Blut 
des Huhnes, wo das Serum mit etwa 120 bis 200 Proc. Wasser verdünnt 
werden muss, um das Vermögen zu bekommen, den entsprechenden Blut- 
körperchen Farbstoff zu entziehen, der Procentgehalt des Blutkörperchen- 
gerüstes des Huhnes zwischen dem des Pferdes und des Frosches, also 
zwischen 54 Proc. und 74 Proc. gelegen sein würde Wir haben darum 
das Vogelblut, welches beim Schlachten aufgefangen war, defibrinirt und 
auf die bekannte Weise mit Salzlösungen behandelt. 

Die folgende Tabelle enthält die Resultate. 


Tabelle IX. 
Hühnchenblut. 
I ne IM W 1277 
| 1 Protoplasma- Mittleres Procent- 
Boden en Volum gehalt 
Flüssigkeiten satz- pP des Proto- | des Proto- 
volum \ berechnet plasma- plasma- 
| aus gerüstes gerüstes 
Procent 
a) NaCl-Lösung 0-5 Proc. | 43 a und d 16-37 
b)aee;; e O7, 35.25 ı b „ d 16-5 | 16*55 54-1! 
” E}) 0:94 ER) 30-75 | a „ € 16-8 
(isot. mit dem Serum) | 
d) NaCl-Lösung 1-5 Proc. || 25-25 
a) NaCl-Lösung 0-5 Proe. | 46-25 | a „ d| 16-63 
Dies >> Ole 39.75 ee 16-2 | 16-52 523-8 
E2) Er) 1-1 Er) 31°25 b ’ d 16:75 
(isot. mit dem Serum) 
d) NaCl-Lösung 1-5 Proc. | 27-5 
a) NaCl-Lösung 0-5 Proc. | 35-75 av d 14-37 
DI » VOUS cn 3023 War c 14:26 | 14-16 57-7 
c) Er} Er) 1 Er) 25 b ss d 13:84 
(isot. mit dem Serum) 
d) NaCl-Lösung 1-5 Proe. | 21-5 
a) NaCl-Lösung 0-5 Proe. | 46:25 a „d| 14 
D)leeR: 5 Ost; 37.75 ale 14-96 | 14-67 52-4 
c) Er) Er) 1-2 Er 28 b > d 14:37 
(isot. mit dem Serum) 
d) NaCl-Lösung 1-5 Proe. | . 25-25 


! Das Blut dieser ersten Versuchsreihe konnte mit 200 Procent Wasser verdünnt 
werden, bevor Farbstoff austrat. 


EINFLUSS VON SALZLÖSUNGEN AUF DAS VOLUM THIERISCHER ZELLEN. 3535 


In diesen Versuchen bewegt sich also das Volum des Protoplasma- 
gerüstes in den Blutkörperchen des Huhnes zwischen 52.4 und 57-7. 
Was a priori erwartet wurde, nämlich dass das Volum des Protoplasma- 
gerüstes beim Huhn kleiner sein würde als beim Pferde, hat sich also 
nicht bestätigt. Bei eingehender Betrachtung kann der Grad der Wasser- 
aufnahmefähigkeit einer Zelle dann auch nicht allein von der relativen 
Menge der intracellulären wasseranziehenden Flüssigkeit abhängig sein. Man 
kann sich ja zwei Zellenarten vorstellen, welche eine gleiche Quantität intra- 
cellulärer Flüssigkeit enthalten, deren osmotischer Druck auch gleich ist, 
und doch wird die eine Zellenart mehr Wasser, also eine grössere Quellung 
ertragen können als die andere, wenn nur das Protoplasma der ersten 
Zellenart mehr dehnbar ist als das der zweiten Zellenart. Weiter wird 
auch, wenn man nicht mit Bütschli eine Wabenstructur anzunehmen 
wünscht, sondern nur eine semi-permeable äussere Begrenzung sich denkt, 
caeteris paribus die Form der Zelle nicht ohne Einfluss auf ihr Quellungs- 
vermögen sein. Leuchtet es doch ein, dass wenn z. B. eine Kugel, welche 
bekanntlich von allen Körpern bei einem bestimmien Inhalt die kleinste 
Oberfläche besitzt, sich mit !/,, ausdehnt, die äussere Begrenzung eine viel 
grössere Spannungsvermehrung erfahren wird, als dies der Fall sein wird 
mit der äusseren Begrenzung z. B. eines biconeaven Scheibchens, welches 
denselben Inhalt wie die Kugel besitzt und ebenfalls einer Ausdehnung 
von !/,, unterworfen wird. 

Wenn also, wie wir 1887 fanden, das ellipsoidische Blutkörperchen 
des Huhnes viel mehr Wasser ertragen kann als das biconcave Scheibchen 
des Pferdes, so kann auf Grund der soeben erwähnten Tabelle die Ursache 
nieht darin gelegen sein, dass die Quantität der intracellulären, wasser- 
anziehenden Flüssigkeit im Vogelblutkörperchen kleiner sei und die Aus- 
dehnung der Zelle durch Einwirkung einer verdünnten Salzlösung also 
geringer. Lehren ja die soeben erwähnten Versuche, dass der Procent- 
gehalt des Protoplasmagerüstes und folglich auch der Procentgehalt der 
intracellulären, wasseranziehenden Flüssigkeit in den beiden Zellen gleich ist. 

Nach der soeben gehaltenen Betrachtung muss also die grössere Auf- 
nahmefähigkeit der Hühnchenblutkörperchen für Wasser in anderen Um- 
ständen gesucht werden. 

1. Nimmt man mit Bütschli an, dass die Zellen aus einem Proto- 
plasmanetz von geschlossenen Maschen bestehen, in welchen sich die 
intracelluläre (rothe) Flüssigkeit befindet, so kann die Erklärung eine zwei- 
fache sein: 

a) Bei den Vogelblutkörperchen ist der Inhalt jeder Masche grösser 
als bei den Pferdeblutkörperchen. Da aber gleiche Volumina der beiden 
Blutkörperchenarten dieselbe Quantität intracelluläre Flüssigkeit und auch 


336 H. J. HAMBURGER: 


dieselbe Quantität Protoplasma enthalten, muss die Protoplasmawand bei 
den Vogelblutkörperchen dicker sein als bei den Pferdeblutkörperchen. 
Nun erlaubt eine dickere Protoplasmawand eine grössere Ausdehnung, bevor 
Farbstoff hindurchtreten kann, als eine dünnere. Hierdurch werden die 
Vogelblutkörperchen mehr Wasser ertragen können als. die Pferdeblut- 
körperchen. 


b) Die Wand der Waben hat bei den Vogel- und Pferdeblutkörperchen 
die gleiche Dicke; beim Huhn ist das Protoplasma aber bei gleicher Aus- 
dehnung resistenter gegenüber Farbstoffaustritt. 

(Wie wir früher schon hervorgehoben haben, denken wir uns beim 
Farbstoffaustritt kein Reissen oder Sprengen der Blutkörperchen, sondern 
nur ein Auseinanderweichen der Protoplasmatheilchen, zwischen welchen 
dann die rothe Flüssigkeit passiren kann.) 

2. Man nimmt die Bütschli’sche Hypothese nicht an; in diesem 
Falle ist man genöthigt, die Eigenschaft, welche die Wabenwände besitzen 
müssen, jedenfalls auf die äussere Begrenzung der Blutzelle zu verlegen. 

Hier handelt es sich um eine dreifache Erklärung: 

a) Die äussere Begrenzung ist bei den Hühnchenblutkörperchen dicker 
als bei den Pferdeblutkörperchen. 

b) Dieselbe ist bei gleicher Dicke von grösserer Resistenz. 

c) Die Gestalt der Vogelblutkörperchen lässt eine grössere procentische 
Volumzunahme zu als die der Pferdeblutkörperchen. 


Man kann sich noch eine dritte Hypothese über den Bau der Blut- 
körperchen denken, welche zwischen 1. und 2. gelegen ist, die Hypothese 
nämlich, dass das Blutkörperchen gebaut ist wie unter 2. angenommen 
wird, dass aber darin Vacuolen vorkommen mit protoplasmatischer, semi- 
permeabler Wand, einige grosse Waben also. Im Grund der Sache führt 
diese Hypothese keinen neuen Begrifl ein und erfordert dieselbe für die 
Erklärung der grösseren Wasseraufnahmefähigkeit bei den Vogelblutkörper- 
chen keine anderen Vorstellungen als die unter 2. genannten (a, b, ce). 

So haben denn die Resultate der Versuche mit Vogelblutkörperchen 
unwillkürlich Veranlassung gegeben, die Wasseraufnahmefähigkeit, oder wie 
man es nach von Limbeck zu nennen pflegt, die „Resistenzfähigkeit“ der 
rothen Blutkörperchen im Lichte der vorliegenden Untersuchungen einer 
Analyse zu unterziehen. 

Wie sich herausgestellt hat, ist die sogenannte Resistenzfähigkeit der 
rothen Blutkörperchen von verschiedenen Factoren ‚abhängig, und ist es 
nicht gestattet, aus der Concentration der Salzlösungen, in welchen die Blut- 
körperchen Farbstoff abzugeben anfangen, ohne Weiteres Schlussfolgerungen 
auf die Natur des Protoplasmas zu machen. 


EINFLUSS VON SALZLÖSUNGEN AUF DAS VOLUM THIERISCHER ZELLEN. 337 


III. Spermatozoa des Frosches. 


Schliesslich will ich in diesem Aufsatz noch einige Versuche erwähnen, 
welche den Zweck hatten, zu untersuchen, wie der Kern sich unter dem- 
Einfluss von Salzlösungen verhält. Die Zeit bot gerade ein geeignetes Object 
für dieses Experiment. Bekanntlich macht bei den Spermatozoön der Kern 
bei Weitem den Hauptbestandtheil aus. Die Spermatozoa des Frosches 
sind leicht zu bekommen; man hat nur die Testikel aus der Bauchhöhle 
zu nehmen, in einige Stücke zu zerschneiden und mit ein wenig 0.-6proc. 
Kochsalzlösung zu schütteln. Man bekommt dann eine weisse milchartige 
Flüssigkeit, welche nach Coliren durch nichtpräparirte Gaze unmittelbar 
zum Gebrauch geeignet ist. Von dieser Lösung werden gleiche Mengen 
versetzt mit grösseren Quantitäten verschiedener NaCl-Lösungen und von 
diesen Gemischen wieder gleiche Volumina centrifugirt. 

Die in der ersten Tabelle zusammengefassten Versuche beziehen sich 
auf unreife Spermatozoa. Es waren nur einige Geisselfäden sichtbar und 
Bewegung war dementsprechend kaum zu beobachten. 


Tabelle X. 
-Spermatozoa des Frosches. 5 
un u Dr. vi ae 
Boden. | Velum des Proto- | Mittleres | Mittl. Proc.- 
| plasmagerüstes ; Vallnım Gehalt, der 
Flüssigkeiten satz- P Seele P_ | des Proto- Spermatozoa 
volum , berechnet plasma- | an Proto- 
| aus | gerüstes plasmagerüst 
Rau Sz: E j 8 E Procent en 
a) NaCl-Lösung 0-35 Proc. 69 aundd | 48-2 
BD) 5, 0-03 61 Di, dl 47:25 |% 48-13 78-8 
Oak an Vor 59 a LG 49 
d) > ER) 1 > 555 21 
a) NaCl-Lösung 0-35 Proc. 70. ad 42-3 a 
N oe; 58-5. | b „ d| 42-2 42.83 73-2 
c) 5 OS 57 en 44 
d) 1 B 52 
a) NaCl-Lösung 0-35Proc. | 62 El 44-3 | 
Di 5 VB. 55D ed 43 44*1 79-4 
CE , Vor 53-5 NE 45 
d) „ 1 50-5 
a) NaCl-Lösung 0-35 Proe. 7) BEE 44-3 | 
ID) SL 60-5 »» 44-2 | 445 73-5 
O)ERA., = Or 58-5 ne 45 N 
Ole en 1 INTER: | ‚Are] 


| | 
Archiv f. A. u. Ph. 1898. Physiol. Abthlg. 22 


338 H. J. HAMBURGER: 
Die dritte Spalte der Tabelle zeigt, dass bei Anwendung verschiedener 
Salzlösungen für die p jeder Versuchsreihe übereinstimmende Zahlen ge- 
funden werden. 

Das Volum p der Gerüstsubstanz beträgt 73-2 bis 79-4 Proc. Diese 
Zahlen weichen von den bei den Froschblutkörperchen erhaltenen wenig ab. 


Weiter hatten wir noch Gelegenheit, ein Paar Versuchsreihen mit voll- 
kommen reifen Spermatozoa, an welchen sehr kräftige Bewegungen zu 
constatiren waren, auszuführen. Durch zufällige Umstände haben wir leider 
nicht mehr als zwei Versuche anstellen können. Von denselben zwei 
Fröschen führten wir auch Experimente mit Blut aus. Dieselben sind 
auch in die Tabelle aufgenommen. 


Tabelle X1. 


Reife Spermatozoa und Blutkörperchen. 


Boden- Protoplasma- | Mittleres | Procent- 
I A . volum p Volum [gehalt des 
Zellenart Flüssigkeiten satz- = Proto- a 
asma- | plasma- 
von ne Boriele: | Ternele, 
23 Ko ee Te Benz E Procent 
Spermatozon | a) NaCl-Lösung 0-35 Proe. || 34 aundd 2 
'b) RB > USD 730250 Ip, 05 72-8 
CET 3 s ORIGzEE, DS ACH 20 } 
d) | » || 25-5 
Blut- a) NaCl-Lösung 0-35Proe. | 41-75|a ,„ d|25-9 | 
körperchen |)b) ,, = Vo 3bErdlher: 26-24, 25-7 73-9 
Ö), 5 VOR. Sao a CH NDA 96 | 
On t » | 8108 
Spermatozoa a) NaCl-Lösung 0-35Proe.|| 39 are | 
De 20:52, 184,05 pL 23-40 | 23-29 | 71-6 
) >». | 23:26) 
Ans, = 1 cn 28-75 
Blut- |a) NaCl-Lösung 0-35Proe.|| 33-75 | a „ d|19-9 | 
körperchen |b) ., a OD 29 „» d:19-96|, 20-12 72 
KO) 1. 5 VB 28 12085 
MW ss 1 = 24-75 


Betrachtet man die beiden Tabellen, so bemerkt man: 


1. Dass die unreifen sowohl wie die reifen, beide fast ganz aus Kern 
bestehenden Spermatozoa, sich gegenüber Hier genau verhalten wie 


EINFLUSS VON SALZLÖSUNGEN AUF DAS VOLUM THIERISCHER ZELLEN. 339 


die kernlosen rothen Blutkörperchen der Säugethiere; dass also auch der 
Kern aus ‚zwei Substanzen zusammengesetzt gedacht werden muss, welche 
sich gegenüber der Wasseranziehung verschieden verhalten. 


2. Dass das Gerüstvolum der reifen und unreifen Spermatozoa, insoweit 
wir dieselben untersucht haben, mit einander übereinstimmen. 


3. Dass der Procentgehalt des Gerüstvolums bei den Spermatozoa des 
Frosches derseibe ist wie bei den entsprechenden rothen Blutkörperchen. 


- Unwillkürlich wird man in diesem und in dem bei den rothen und 
weissen Blutkörperchen des Pferdes gewonnenen Ergebniss Veranlassung 
finden, die Frage zu stellen, ob vielleicht nicht im Kern dasselbe volu- 
metrische Verhältniss zwischen Gerüst und intranucleärer Flüssigkeit besteht, 
wie im eigentlichen Zellkörper zwischen Gerüst und intracellulärer Flüssig- 
keit, und weiter wie dieses Verhältniss sich gestaltet bei verschiedenen 
Zellenarten desselben Thieres. 

Weitere Untersuchungen, welche ich mir vorbehalte, werden darüber 
belehren. 


: Schluss. - 


Die vorliegende Arbeit hat in der Hauptsache folgende Resultate 
gegeben: 

1. Nicht nur die rothen, sondern auch die weissen Blutkörperchen! und 
die Spermatozoa zeigen Schrumpfung durch hyperisotonische und Quellung 
durch hypisotonische Lösungen. 


2. Die Beobachtung, dass der Betrag jener Quellung und Schrumpfung 
viel kleiner ist, als derselbe sein würde, wenn die genannten Zellen aus 
einer homogenen Masse beständen, führt zu der Schlussfolgerung, dass diese 
Zellen aus zwei Substanzen bestehen müssen, welche sich bezüglich des 
wasseranziehenden Vermögens verschieden verhalten. 


3. In der quantitativen Bestimmung der Quellung und Schrumpfung 
der Zellen unter dem Einfluss von NaCl-Lösungen verschiedener Concen- 
tration oder von mit diversen Wassermengen verdünntem Serum hat man 
ein Mittel, um das procentische Verhältniss zwischen den beiden Zellen- 
bestandtheilen (Gerüst und intracelluläre Flüssigkeit) festzustellen. 


1! Schon früher fand ich durch direete mikroskopische Messung, dass die weissen 
Blutkörperchen unter dem Einfluss von mit Wasser verdünntem Serum anschwellen. 
Vgl. dies Archiv. 1898. Physiol. Abthlg. S. 36. 


99* 
22 


340 H. J. HAMBURGER: EINFLUSS VON SALZLÖSUNGEN U. S. W. 


Aus den bis jetzt ausgeführten Bestimmungen ergiebt sich, dass das 
Volum der Gerüstsubstanz beträgt: 


bis 56-7 Proc. 


bei den weissen Blutkörperchen des Pferdes DB) 
erolhen % en .s 3.8 7808 > 
N ch A „ Kaninchens 48-7 „ 51 4 
EN n a „»..Huhnes 52:4 „NOzadee 
Su n 5 „ Frosches 76.4 „ 12 ! 
»  » Spermatozoön (unreifen) „ ER 3: 


ES 
— 

[or ©) 
ER | 

180) 

(00) 


DE? ” (reifen) ” ” 


des ganzen Zellenvolums. 


4. Die Uebereinstimmung im procentischen Betrag der Gerüstsubstanz 
oder, was dasselbe bedeutet, im Volum der ausschliesslich die Wasser- 
anziehung der Zelle bedingenden intracellulären Flüssigkeit, bei den weissen 
und den rothen Blutkörperchen des Pferdes, macht es erklärlich, warum 
die beiden Blutkörperchenarten durch dieselben Salzlösungen auch dieselben 
Volumveränderungen zeigen. 


5. Die unter 4. hervorgehobene Uebereinstimmung zwischen den kern- 
losen rothen und den kernhaltigen weissen Blutkörperchen macht es wahr- 
scheinlich, dass auch der Kern an den durch Salzlösungen bewirkten 
Volumveränderungen betheiliet ist; eine Schlussfolgerung, welche an Wahr- 
scheimlichkeit dadurch gewinnt, dass die fast ausschliesslich aus Kern be- 
stehenden Spermatozoa auch genau den bei den kernlosen Zellen beobachteten 
‚Regeln folgen. Weiter zeigen die Froschspermatozoa unter dem Einfluss 
von Salzlösungen in demselben Maasse Quellung und Schrumpfung wie die 
rothen Froschblutkörperchen. 


6. Schwache Salzlösungen, welche bei den rothen Pferdeblutkörperchen 
eine so grosse Quellung herbeiführen, dass Farbstoffverlust eintritt, schädigen 
auch die entsprechenden weissen Blutkörperchen. 


Ueber die Entwickelung der Rindencentren. 


Von 


Dr. med. Adolph Bary. 


(Aus dem physiologischen Laboratorium der Prof. Bechterew’schen Klinik 
in St. Petersburg.) 


Die Thatsache, dass in der Rinde Centren für willkürliche Bewegungen 
vorhanden sind, dürfte wohl als feststehend angesehen werden; dagegen 
bleibt die Frage offen, ob die Centra schon angeboren sind oder sich erst 
intra vitam entwickeln. Die directe Reizung der Hirnrinde, die am lebenden 
erwachsenen Menschen schon von mehreren Forschern (Bartholow, Scia- 
manna, Horsley, Bechterew) mit positiven Resultaten unternommen 
worden ist, ist bis jetzt nur einmal von C. Westphal! am Neugeborenen 
versucht worden, und zwar mit negativem Erfolge. Jedoch kann irgend eine 
Bedeutung diesem Befunde nicht zugesprochen werden, da es sich um eine 
Missgeburt mit defectem Schädeldache, bei der ja auch andere Anomalien 
(speciell in Betreff des Baues der Hirnrinde) vorhanden sein konnten, 
handelte. 


Aber auch die nicht sehr geringe Zahl von Forschern, die auf Grund 
von Versuchen an neugeborenen Thieren obengenannte Frage zu lösen 
trachteten, sind bis jetzt zu keinem einheitlichen Kesultate gekommen. 
Soltmann,? der die erste Arbeit auf Grund von zahlreichen Experimenten 


! 0. Westphal, Die elektrische Erregbarkeit der Nerven und Muskeln der Neu- 
geborenen. MNeurologisches Centralblatt. 1886. Nr. 16. S. 361. 

? 0.Soltmann, Experimentelle Studien über die Functionen des Grosshirns der 
Neugeborenen. Jahrbuch für Kinderheilkunde und physische Erziehung. 1875. N.F, 
Bd. IX. 8. 106. 


342 ApoLpH Barry: 


verfasst hat, kommt zum Schlusse, dass bei Reizung der Hirnrinde neu- 
geborener Hunde und Kaninchen mittels galvanischen Stromes keinerlei 
Bewegungen ausgelöst werden; die Letzteren treten erst bei Versuchen an 
10 Tage alten Thieren auf, und zwar erst in der vorderen und noch später 
in der hinteren Extremität. Auch rief die Exstirpation der motorischen 
Region der Hirnrinde keine Lähmung der entgegengesetzten Körperhälfte 
hervor. Ferner glaubt Solt'mann annehmen zu dürfen, dass in der ersten 
Zeit der Entwickelung der motorischen Rindencentra (bei 10- bis 20 tägigen 
Hunden) dieselben einen verhältnissmässig bedeutend grösseren Umfang 
haben und erst allmählich mit der Zunahme ihrer Zahl sie dieselbe Lage 
wie bei den Erwachsenen einnehmen. Tarchanow! bestätigt im Grossen 
und Ganzen die an Hunden und Kaninchen von Soltmann erhaltenen 
Befunde. Dagegen konnte Tarchanow nachweisen, dass man bei Meer- 
schweinchen, die bekanntlich sehend und vollständig entwickelt zur Welt 
kommen, nicht nur bei der Geburt, sondern schon im Schoosse der Mutter 
Bewegungen. durch Reizung der Hirnrinde auszulösen im Stande ist. 

Im Gegensatz zu Soltmann und Tarchanow behaupten Lemoine,? 
Marcacci® und Paneth,* dass an nicht narkotisirten neugeborenen 
Hunden und Katzen (Marcacei) es mit grosser Leichtigkeit bei Reizung 
der Hirnrinde Bewegungen der Extremitäten auszulösen gelingt. Ich über- 
gehe die Arbeiten von Crosnier de Varigny? und Langlois,° die auf 
Grund einzelner Versuche an chloralisirten Welpen die Anschauungen 
Soltmann’s zu bestätigen glaubten und möchte nur die Aufmerksamkeit 
des Lesers auf einige Einzelheiten in der Arbeit von Bechterew’ lenken, 
die von den älteren Forschern nicht beachtet worden sind. Bechterew, 
der mit Soltmann die Unerregbarkeit der Hirnrinde neugeborener Hunde 
annimmt (bei Katzen fand er sie jedoch schon am zweiten Lebenstage er- 
regbar), behauptet, dass die Rindencentra schon vom ersten Tage ihrer 
Entwickelung (d. h. etwa vom 10. Lebenstage an) dieselbe Ausdehnung 
haben wie beim Erwachsenen; ferner, dass in der ersten Zeit des Bestehens 


! Revue mensuelle de med. et de chirurgie. 1878. p. 721. 

® A. Lemoine, Contribution & la determination et & l’etude experimentale des 
localisations fonctionelles encephaliques. These de Paris. 1880. 

® Marcacei, Etude critique experimentale sur les centres moteurs corticaux. 
Arch. italiennes de Biologie. 1882. .I. p. 264. 

* 8. Paneth, Ueber die Erregbarkeit der Hirnrinde neugeborener Hunde. Archiv 
für die gesammte Physiologie. 1885. Bd. XXXVI. S. 209. 

® Crosnier de Varigny, Recherches mean sur lexecitabilite des cir- 
convolutions cerebrales. Paris 1884. 

° Langlois, Note sur les centres psychomoteurs des nouveau nes. Comptes 
rend. de la Soc. de Biologie. 1889. p. 503. 

” Neurologisches Centralblatt. 1889. 8. 513. 


ÜBER DIE ENTWICKELUNG DER RINDENCENTREN. 343 


der Rindencentren die Reizung der letzteren eine Bewegung der betreffenden 
Extremität in toto hervorruft und nur allmählich Centren für die Be- 
wegung einzelner Muskelgruppen sich bilden. Bechterew lenkt auch die 
Aufmerksamkeit auf die besonders auffallende Ermüdung der Centren in 
der ersten Zeit ihrer Entwickelung. Auch konnte Bechterew selbst bei 
1 Monat alten Welpen keinen epileptischen Anfall bei Reizung der Hirn- 
rinde auslösen. 


In Anbetracht obengenannter sich widersprechender Befunde ging ich 
mit Freuden auf den Vorschlag meines hochverehrten Lehrers Hrn. Prof. 
W. Bechterew ein, die Frage über die Entwickelung der Centren der 
motorischen Region zu bearbeiten. 


Als Versuchsthiere gebrauchte ich Hunde, Katzen, Kaninchen und 
Meerschweinchen. Die Thiere wurden nicht narkotisirt, da bekanntlich alle 
betäubenden Mittel besonders eingreifend auf junge Individuen wirken. 


Die Eröffnung des Schädels gelang gewöhnlich ohne besondere Schwierig- 
keiten, doch trat bei einer Reihe von Versuchen ein oft störend auf das 
Resultat der letzteren einwirkender Hirnbruch auf. Die Reizung der Hirn- 
rinde geschah mittels schwacher faradischer Ströme (10 bis 17°” Rollen- 
abstand) eines du Bois-Reymond’schen Normalschlittenapparates. Als 
Electroden dienten feine, mit knopfartigen Enden versehene Piatinnadeln. 
Während der ganzen Zeitdauer eines Versuches wurde die Hirnoberfläche 
mit warmer physiologischer Lösung berieselt — da sogar kurzdauernde 
Trockenlegung der Rinde die letztere unerregbar macht. 


Um einen Beweis ad oculos zu haben und andererseits einige dem 
Auge nicht zugängliche Einzelheiten zu bestimmen, wurde bei einer Reihe 
von Versuchen die graphische Methode angewandt. Zu dem Behufe band 
ich die Pfote des Versuchsthieres an das mit einer Oese versehene Gummi- 
plättehen eines Marey’schen Tambour von 6° im Durchmesser. Der 
letztere war mittels eines 70 = langen Gummischlauches mit einem zweiten 
Tambour verbunden, an den ein auf einer rotirenden schwarzen Trommel 
schreibender Stift befestigt war. Jede Bewegung der Pfote wurde auf der 
rotirenden Trommel durch eine abfallende Curve bezeichnet.! Auf derselben 
Trommel zeichnete eine zweite Feder den Reizmoment und eine dritte die 
Zeitdauer (in Hunderstel-Secunden). 


Beifolgende Tabelle giebt in Kürze die gefundenen Ergebnisse wieder. 


1 Gewöhnlich bezeichnet man Muskelcontractionen durch aufsteigende Curven; 
ich wählte aber obengenannte Methode, um nicht den an und für sich schwachen 
Bewegungen der jungen Thiere durch Einschaltung von Spiralen u. s. w. einen Wider- 
stand einzuschalten. 


344 ADOLPH Bary: 
{«b} 
'8 ı S 
3 Alt 338 
SE N Versuchsthier | SZ & Resultate Bemerkungen 
- 5 |der Thiere 8 
zo air 
cm € 
17 [Weniger als Hund 14 | Contraction jeder Extremität 
24 Stunden in toto 
27 $ ER — | Beisehwachen Strömen bleibt 
die Rinde unerregbar 
64 s = 14 | Latenzperiode der Muskel- 
zuckung bei Reizung der 
Rinde=0-38”. Die Dauer der 
Muskeleontraction = 0-31” 
65 > >> 15 | Latenzperiode der Muskel- 
zuckung bei Reizung der 
Rinde=0-44’. Die Dauer der 
Muskeleontraction = 0-34” 
s1 = u 13 | Latenzperiode bei Reizung 
des N. ischiadicus = 0-15”, 
bei Reizung d. weissen Hirn- 
substanz=0.25”, bei Reizung 
der Rinde = 0-40" 
47 = Katze 16 Contraction in toto jeder 
Extremität 
73 > 5 15 | Latenzperiode bei Reizung | 
der weissen Hirnsubstanz 
= 0-24, bei Reizung der 
Rinde = 0-30" 
1 1 Tag Hund — , Beischwachen Strömen bleibt 
die Rinde unerregbar 
. 18 ar gi 10 | Contraetion in toto der linken | Rechts ein Hirn- 
hinteren Extremität bruch. Bedeuten- 
der Blutverlust 
28 11% 5 14 Contraction in toto jeder 
Extremität 
58 Iaaayss Katze 14 | Latenzdauer bei Reizung der 
Rinde = 0-32" 
69 ler = — | Latenzdauer bei Reizung des Exitus letalis 
N. ischiadieus = 0085’ während der Tre- 
panation 
66 IN DERl Kaninchen — | Beischwachen Strömen bleibt 
die Rinde unerregbar 
15 Je 9. Meer- 15 Vollkommen entwickelte | 
sehweinchen Hirncentra 
2 2 Tage Hund 13 Contraction in toto jeder 
vorderen Extremität 
8 Due 54 — | Beischwachen Strömenbleibt | Beiderseitiger 
die Rinde unerregbar Hirnbruch 


Extremität 


ÜBER DIE ENTWICKELUNG DER RINDENCENTREN. 345 
(Fortsetzung.) 
— - — = 
“ao u urg 
Fe Alter Se 
Ri 2 mar, Versuchsthier = 5 Resultate Bemerkungen 
| cm 
19 2 Tage Hund 14 Contraction in toto jeder 
Extremität 
20 DL det Er, 14 Contraction in toto jeder 
Extremität 
BSD 14 Contraetion in toto jeder 
Extremität 
42 DEE: 5 15 Contraction in toto jeder 
Extremität 
| A Katze — | Beischwachen Strömen bleibt 
die Rinde unerregbar 
43 DIR x 14 Contraction in toto jeder 
Extremität 
67 2 „|. Kaninchen | — | Beisehwachen Strömen bleibt 
die Rinde unerregbar 
3 Sulds Hund 13 Contraction in toto jeder 
vorderen Extremität 
9 30 F 11 | Contraetion in toto der vor- | Zeitweiliges Ver- 
deren linken Extremität sagen des Induc- 
tionsapparates 
38 Sa & 14 Contraction in toto jeder | Rechts bedeuten- 
rechten Extremität der Hirnbruch 
60 Brake! S 13 | Latenzdauer bei Reizung der | 
Rinde = 0:32”. Dauer der 
Muskelcontraction = 0:26” 
74 Ben N 14 | Latenzdauer bei Reizung der 
Rinde = 0-45”, der weissen 
Hirnsubstanz = 0-34’ 
82 BER Ar — | Beischwachen Strömen bleibt 
die Rinde unerregbar 
26 SE, Katze 16 Contraction in toto jeder 
Extremität 
4 4 20» Hund — | Beischwachen Strömen bleibt Bedeutender 
die Rinde unerregbar Blutverlust 
10 AN: is 15 Contraction in toto jeder 
Extremität 
au 1, n 14 Contraction in toto jeder |Dier. Hemisphäre 
rechten Extremität wurde nicht ge- 
reizt(wegen Hirn- 
bruchs) 
39 A er 15 Contraction in toto jeder i 


346 


AvoLpu Barry: 


(Fortsetzung. 
nn ea 
53 | Alter SE 
ne . Versuchsthier | Resultate Bemerkungen 
- 5 | der Thiere Sr 
zz Ms 
em 
75 4 Tage Hund 14 | Latenzdauer bei Reizun« der 
o© | . 
. Rinde = 0-40”, der weissen 
Hirnsubstanz = 0-25” 
44 el Katze 15 Contraction in toto jeder 
Extremität 
5 Dr: Hund 11 | Contraetion in toto der vor- | Hirnbruch links 
deren linken Extremität 
11 Des > ulm Contraction in toto jeder | Hirnbruch rechts 
rechten Extremität 
22 Du; » 14 Contraetion in toto jeder 
Extremität 
29 a Katze 15 Jontraction in toto jeder 
Extremität 
56 Br, 16 | Contraction in toto jeder Ex- 
tremität und ausserdem iso- 
lirtes Beugen der Zehen 
der Vorderpfoten 
6 6 Hund — | Beischwachen Strömen bleibt | Beiderseits Hirn- 
die Rinde unerregbar bruch 
12 De 99 13 Contraction in toto jeder 
Extremität 
23 ARE » — | Beischwachen Strömen bleibt 
die Rinde unerregbar 
40 Ge; 0 14 Contraction in toto jeder 
Extremität 
45 par Katze 16 Contraetion in toto jeder 
Extremität 
nl Tee Hund — | Beischwachen Strömen bleibt Bedeutender 
die Rinde unerregbar Blutverlust 
41 U. >» 15 | Contraction in toto jeder Ex- 
tremität und ausserdem 
isolirtes Beugen der 
Zehen der Vorderpfoten. 
32 Se> > 12 Contraction in toto jeder 
Extremität | 
61 SNK, » — | Beischwachen Strömen bleibt | 
die Rinde unerregbar | 
68 1108) So 15 | Auf der linken Hemisphäre 
Centren für isolirtes Erheben 
des Schulterblattes, Extension | 
der Zehen, der Facialis und 
Ohrbewegung | 
71 SE Katze 13 Contraetion in toto jeder 
Extremität 


& 


ÜBER DIE ENTWICKELUNG DER RINDENCENTREN. 347 
(Fortsetzung.) 
zus ] | u E £ ir 
TE Alter Is 
SR | Versuchsthier | S5& Resultate ' Bemerkungen 
= 5 der Thiere 2 
zZ > | ri =} 
em | 
13 9 Tage Hund 12 Contraction in toto jeder 
| Extremität 
| | 
33 Ir = 14 | Auf der linken Hemisphäre 
6 Centren für isolirte Be- | 
wegungen, auf der rechten 
7 Centren 
76 Gap Ja — | Beischwachen Strömen bleibt | 
| die Rinde unerregbar | 
| | 
17 er 5 13 | Auf der linken Hemisphäre | Die rechte Hemi- 
8 Centren für isolirte Be- | sphäre wurde 
| wegungen nicht gereizt 
51 ren Katze 15 Links 8 Centren, rechts 
10 Centren 
62 IM gr Hund 13 | Latenzperiode bei Reizung | 
| der Rinde = 0-14" f 
18 107, c£ 1.88 Rechts 9 Centren Hirnbruch links 
14 ie > 117 Contraetion in toto jeder - 
Extremität 
79 a | “ 14 Beiderseits je 5 Centren 
48 12 7 > 14 | Contraction in toto jeder Ex- 
tremität und zugleich Beuge- 
und Streekbewegungen der 
Zehen 
49 12,09% Katze 11 | Beugebewegung der Zehen 
16 1A 158 Hund 11 Contraction in toto jeder 
Extremität 
Sau Las), Katze 14 Rechts 12 Centren Hirnbruch links 
63 oe} Hund — , Weder mit starken, noch mit Starker Blut- 
schwachen Strömen sind Be- verlust 
| wegungen auszulösen 
80 16,5% 5 13 Rechts 10 Centren, links 
| 11 Centren 
84 I6% & 15 | Latenzperiode bei Reizung 
der Rinde = 0-11” 
52 185% Katze 15 Links 7 Centren 
85 EI Hund 13 Links 8 Centren 
54 19: Gr, Katze 13 | Einzelne isolirte Bewegungen | Tod während des 
der Zehen Versuches 
55 NG, 5 14 Links 7 Centren 


348 ADoLpH Bary: 


(Fortsetzung.) 


—— — 
| lee! 
og Alte Zu | 
I a 5 Versuchsthier | = 5 Resultate ı Bemerkungen 
2 e der Thiere = 
cm s 
35 | 3 Wochen Hund 14 Links 6 Centren, rechts 
4 Centren 
BB ; 10 Links 8 Centren, rechts 
4 Centren 
Sr WO % — | Weder mit schwachen, noch Bedeutender 
mit starken Strömen sind Blutverlust 
Bewegungen auszulösen 
BB ” 8 Rechts 12 Centren, links Morphium- 
5 Centren narkose 
87 | 1 Monat = 14 | Latenzperiode bei Reizung d. 
Rinde = 0:075”, der weissen 
Hirnsubstanz = 0-05" 
Sauer es 13 Beiderseits 6 Centren 
59 | 2 Monate ® 12 | Latenzperiode bei Reizung 
der Rinde = 0-085”. Es ge- 
lang, einen typischen epi- 
leptischen Anfall auszulösen 
46. 0200 5 r 8 | Es gelang, einen epileptischen 
| | Anfall auszulösen 
Drau, 5 | Bi | 12 | Latenzperiode bei Reizung 
| ı der Rinde = 0-10”. Es ge- 
lang, einen typischen epilep- 
tischen Anfall auszulösen 


Wie der Leser unschwer aus vorstehender Tabelle herausfinden wird, 
lassen sich die gewonnenen Befunde in zwei Abschnitte theilen. In einer 
Reihe der Versuche blieb die Rinde bei Anwendung schwacher Ströme 
vollkommen unerregbar, während bei anderen in demselben Alter stehenden 
Versuchsthieren bei Anwendung von schwachen Strömen (10 bis 17m 
Rollenabstand) deutliche Contractionen der Extremitäten auszulösen waren. 
Ich sehe hier von 2 Versuchen, Nr. 37 und 63, bei über 2 Wochen alten 
Welpen ab, da bei diesen die Unerregbarkeit der Rinde selbst bei An- 
wendung von Maximalströmen sich durch den wegen starken Blutverlustes 
eingetretenen Collapses unschwer erklären lässt. 

Vielleicht könnten auch die negativen Befunde bei Anwendung von 
schwachen Strömen sämmtlich bei unter 10 Tage alten Thieren theilweise 
ebenfalls durch verschiedene Complicationen (wie Hirnbruch, Blutver- 
lust u. s. w.) bedingt sein; doch in einer ganzen Reihe von Versuchen 
blieb die Rinde unerregbar selbst bei vollkommenster Befolgung aller 


ÜBER DIE ENTWICKELUNG DER RINDENCENTREN. 349 


Cautelen und scheinbaren Vermeidens jeglicher CGomplicationen. (Hierher 
gehören die Versuche Nr. 1, 8, 23, 24, 27, 61, 76 und 82.) Die letzteren 
stehen also in vollkommener Uebereinstimmung mit den von Soltmann, 
Tarchanow, Bechterew gefundenen Ergebnissen; natürlich kann man 
sich der Anschauung nicht verschliessen, dass auch hier irgend welche für 
unsere derzeitige Wahrnehmung unzugängliche Zustände bestanden, die die 
Unerregbarkeit der Rinde bei Anwendung von schwachen faradischen 
Strömen bedingt haben. Zu letzterer Annahme bewegt einen der Um- 
stand, dass bei der grossen Mehrzahl der im Alter von 1 bis 10 Tagen 
stehenden Versuchsthiere es mir mit der grössten Leichtiekeit gelang, 
Bewegungen der Extremitäten auszulösen, sogar bei Anwendung von 


Fig. 1. 
Gehirn eines neugeborenen Welpen. 


Strömen, die auf der menschlichen Zunge kaum fühlbar waren (17 
Rollenabstand); bei einigen Versuchsthieren musste der Strom verstärkt 
werden, doch jedenfalls nicht stärker als 10°® Rollenabstand. Dabei 
wurden die Bewegungen nur bei Reizung der psychomotorischen Region in 
der nächsten Umgebung des Suleus ceruciatus ausgelöst, während alle 
übrigen Partieen der Rinde vollkommen unerregbar blieben. Bei Reizung 
einer umschriebenen Stelle am unteren Ende des Suleus erueiatus (auf 
der Fig. 1 mit A bezeichnet) trat eine Contraction in toto der ganzen 
vorderen Extremität der entgegengesetzten Körperhälfte ein. Es waren 
keinerlei Contractionen isolirter Muskelgruppen zu erzielen, sondern es er- 
folgte eine verhältnissmässig träge Beugung fast gleichzeitig aller Gelenke, 
wodurch die ganze Extremität etwas vom Operationstisch gehoben wurde. 
Eine identische Bewegung der entgegengesetzten hinteren Extremität wurde 


350 AnpoupH Bary: 


bei Reizung einer hinter dem Suleus eruciatus und etwas höher als A ge- 
legenen Stelle ausgelöst (auf der Zeichnung als M bezeichnet). Bei Reizung 
eines Punktes r (siehe Zeichnung) konnte man bei einigen Versuchsthieren 
Bewegungen der Gesichtsmuseulatur beobachten, da man jedoch diese Con- 
tractionen nur schwer von willkürlichen Schmerzäusserungen der nicht- 
narkotisirten 'Thiere unterscheiden konnte, so übergehe ich die gefundenen 
Ergebnisse. Wie schon oben bemerkt, waren die Öontractionen der Ex- 
tremitäten von ausserordentlicher Trägheit. 

Sodann sah ich nie die beim erwachsenen Thiere durch faradische 
Reizung der Rinde auftretenden celonischen Zuckungen, sondern es traten 
immer nur einmalige Contractionen auf. Ferner möchte ich besonders die 
rasche Erschöpfung der Centra hervorheben, so dass bei der dritten, ja 
manchmal schon bei der zweiten Reizung der Rinde dieselbe unerregbar 
blieb. Dadurch wurde die Versuchsanordnung bedeutend erschwert und 
vielleicht lässt sich auch durch diese Thatsache die bei einigen Thieren 
gefundene Unerregbarkeit der Rinde erklären. 

Ferner ist es mir kein Mal gelungen, durch Reizung der Hirnrinde so 
junger Thiere einen epileptischen Anfall auszulösen. Bei Verstärkung des 
Stromes von 4 bis 8" Rollenabstand traten tonische Contractionen in allen 
Extremitäten gleichzeitig auf, unabhängig davon, ob das Centrum der vorderen 
oder der hinteren Extremität gereizt wurde; doch konnte man obengenannte 
Contractionen nicht im Mindesten mit einem epileptischen Anfall vergleichen: 
es folgten niemals elonische Zuckungen und die tonischen hörten auch so- 
fort auf, sobald die Eleetroden von der Hirnrinde gelüftet wurden. Das 
Zustandekommen dieser tonischen Contractionen liess sich am ehesten da- 
durch erklären, dass die immerhin starken Ströme nicht die Rinde, sondern 
tiefer gelegene Centren (etwa das im Pons gelegene sog. Nothnagel’sche 
Krampfeentrum oder das von Bechterew bezeichnete Locomotionscentrum) 
in Erregung setzten. 

Was die mit der graphischen Methode erzielten Befunde betrifft, so 
muss von vornherein erklärt werden, dass Dank den schwachen Muskel- 
contractionen der Neugeborenen sowie der äusserst ausgeprägten Ermüdung 
der Rinde die Curven im Vergleich zu den am erwachsenen Thiere ge- 
wonnenen Einiges zu wünschen übrig liessen, aber man konnte doch mit 
vollkommen einwandfreier Genauigkeit die Latenzperiode sowie die Dauer 
der Zuckung und auch die Foım der Curve selbst beobachten. Was die 
Latenzperiode bei Reizung der Rinde betrifft (beim erwachsenen Thiere 
= 0:05 bis 0-10 Secunden, Francois Franck et Pitres,! Bubnoff und 


! Travaux du laboratoire de Marey. 1878—79. T. IV. p. 413. — Progres med. 
1828... Nr. 2209: 


ÜBER DIE ENTWICKELUNG DER RINDENCENTREN. 351 


Heidenhain,! Novi e Grandis?), so beobachtete ich ausnahmslos eine 
bedeutende, Verlängerung derselben: im Mittel war die Latenzdauer bei 
unter 10 Tage alten Thieren = 0.40 Seeunden — und auch in den wenigen 
Versuchen, wo sie kürzer war (0-26 Secunden), war sie doch fast drei Mal 
so lang wie die längste Latenzperiode beim erwachsenen Thiere (s. Fig. 2). 


ee a 


Fig. 2. 
Muskelcurve bei Reizung der Rinde eines neugeborenen Weipen. 


Um nun die Frage zu lösen, wo denn diese bedeutende Verlangsamung: 
der Nervenleitung stattfindet — ob in der Rinde oder im peripherischen 
Nerven oder auch vielleicht im Muskel selbst, unternahm ich eine Reihe 
von Versuchen, in denen ich den N. ischiadieus reizte. Dabei fand ich, 


Fig. 3. 
Muskelcurve bei Reizung des weissen Marklagers desselben Welpen. 


dass in einigen Versuchen die Latenzdauer nicht wesentlich von derjenigen 
bei erwachsenen Thieren gefundenen abwich. Und selbst in für meinen 
Zweck am ungünstigsten gelegenen Fällen konnte man nachweisen, dass 
der Haupttheil der Verlängerung der Latenzdauer im Centralnervensystem 
stattfindet.? 


I Archiv für die gesammte Physiologie. 1881. Bd. XXVI. 8. 137. 

? Rivista sper. di freniatria. 1887. Vol. XII. 

? Der Unterschied zwischen der kürzesten Latenzdauer des Neugeborenen und 
der längsten des Erwachsenen bei Reizung der Rinde 0-26 — 0-10’ = 0-16”. Dieselben 


352 ApoupeH Bary: 


Um nun zu erforschen, ob die Erregung wirklich in der Rinde und 
nicht in den tiefer gelegenen Ganglien stattfindet, verglich ich die Latenz- 
dauer bei Reizung der Rinde, und nach Abtragung der letzteren die der 
weissen Marksubstanz, wobei mit vollständiger Genauigkeit die Latenzdauer 
bei Reizung der Rinde in jedem einzelnen Versuch länger befunden wurde 
(s. Fig. 5). 

Letzterer Umstand würde (in vollkommener Uebereinstimmung mit 
früher beschriebenen Thatsachen, s. S. 349) dafür sprechen, dass die Rinde 
sogar bei neugeborenen Thieren vollkommen erregbar ist. 


Die Zuckungsdauer bei Reizung der Rinde 1 bis 10 Tage alter Thiere 
ist auch bedeutend länger als diejenige bei erwachsenen Individuen: während 
sie bei letzteren 0.04” beträgt (Francois Franck und Pitres), fand ich 
bei meinen Versuchen im Mittel 0-34”. Dabei weicht auch die Form der 
Zuckungscurve wesentlich von der bei erwachsenen Thieren gefundenen ab. 

Bekanntlich erhält man bei faradischer Hirnrindenreizung eine Reihe 
von elonischen Zuckungen; beim Neugeborenen dagegen traten die letzteren 
niemals auf, sondern ich konnte nur eine mässig abfallende und ebenso 
langsam ansteigende Curve erzielen (s. Fig. 2). 

Ich habe keine directen Versuche unternommen, um die Frage zu 
lösen, ob die längere Zuckungsdauer der Neugeborenen in Abhängigkeit von 
der Rinde gebracht werden kann, oder ob sie nicht mit der etwa abweichen- 
den Structur der Muskelsubstanz in Verbindung steht. 

Doch wenn man in Betracht zieht, dass eben solche lang dauernde 
‚und träge Zuckungen schon von Soltmann! und den beiden Westphal’s? 
bei Reizung der peripheren Nerven sowie des Muskels selbst erzielt worden 
sind, so kann man mit Recht annehmen, dass in dieser Hinsicht der Rinde 
keinerlei wesentliche Bedeutung zugeschrieben werden kann. 

Was die einzelnen Thierspecies anbetrifft, so konnte ich keinerlei wesent- 
lichen Unterschied zwischen Katzen und Hunden feststellen. Und über die 
Versuche an Kaninchen und Meerschweinchen kann ich nur kurz bemerken, 


Werthe bei Reizung des N. ischiadieus 0-10 — 0-03” = 0:07”. Also kommen in diesem 
ungünstigsten Falle 0-16 — 0-07 = 0-09’ auf Verlangsamung der Latenzdauer im 
Sentralnervensystem. 

1 0.Soltmann, Ueber einige physiologische Eigenthümlichkeiten der Muskeln 
und Nerven der Neugeborenen. Jahrbuch für Kinderheilkunde und phys. Erziehung. 
1878. N.F. Bd. XI. 8.1. y 

” C. Westphal, Die elektrische Erregbarkeit der Nerven und Muskeln des Neu- 
geborenen. Neurologisches Centralblatt. 1886. Nr. 16. 8.361. — A. Westphal, Die 
elektrischen Erregbarkeitsverhältnisse des peripherischen Nervensystems des Menschen 
im jugendlichen Zustande u. s. w. Archiv für Psychiatrie. Bd. XXV]. 8.1. 


ÜBER DIE ENTWICKELUNG DER RINDENCENTREN. 353 


dass die Befunde vollkommen mit denen von Soltmann, Tarchanow und 
Langlois übereinstimmen, d. bh. während die Rinde des Meerschweinchens 
schon von. der Geburt an leicht erregbar ist, gelingt es umgekehrt bei 
Kaninchen nicht, die geringsten Bewegungen bei Anwendung von schwachen 
Strömen auszulösen. 

Bevor ich die Befunde an mehr als 10 Tage alten Thieren erörtere, 
will ich gleich bemerken, dass es hier wie auch anderweitig in der Natur 
keine schroffen Uebergänge giebt, so dass ich deutlich an einigen Beispielen 
regelrechte Uebergangsstadien verzeichnen kann. Einerseits konnte ich bei 
Thieren, die älter als 10 Tage waren, öfters genau dieselben Befunde er- 
zielen, wie bei den Neugeborenen; doch muss gleich bemerkt werden, dass 
in diesen Fällen die Thiere in ihrer allgemeinen Entwickelung zurückgeblieben 
waren, sie waren noch blind, bewegten sich äusserst unbeholfen, ganz ähn- 
lieh den Neugeborenen. (Hierher gehören die Experimente Nr. 14, 48, 49 
und 16.) 

Andererseits traten schon bei sehr jungen Thieren Erscheinungen auf, 
die bei Neugeborenen vollständig fehlten. So erfolgte bei einem 5Stägigen 
Kätzchen (Nr. 56) bei Reizung eines Punktes, dicht hinter dem sehr deut- 
lich ausgeprägten Centrum der Contraction in toto der Vorderextremität (4), 
eine deutlich wahrnehmbare Beugung der Zehen, ohne von einer anderen 
Bewegung begleitet zu sein. Bei einem Ttägigen Welpen (Nr. 41) gelang 
es ebenfalls, ausser der allgemeinen Contraetion Einzelbewegungen des 
Schulterblattes, sowie Beugung der Zehen auszulösen. Noch ein dritter 
Versuch (Nr. 48) war mit den vorhergehenden identisch. Einiges Interesse 
bietet der Versuch Nr. 33 (einem 9tägigen Welpen). Auf der linken Hemi- 
sphäre konnte man deutlich ausgeprägte Centra für die einzelnen Be- 
wegungen der Pfoten (s. Fig. 4, f Extension der Zehen, g Beugung derselben, 
m Beugung im Hüftgeienk, A Extension der hinteren Extremität) wahrnehmen 
und zugleich konnte man noch bei Reizung des Punktes 4 eine Contraction in 
toto der ganzen vorderen Extremität auslösen. Auf der rechten Hemisphäre 
beobachtete ich dieselben Erscheinungen, nur mit der Ausnahme, dass man 
für die hintere Extremität statt der 2 Centren m und A nur ein Centrum M 
für eine Contraction in toto bestimmen konnte. 

Obengenannte Experimente beweisen zur Genüge, dass es Uebergangs- 
formen giebt, und aus dem Bestehen der letzteren kann man mit einiger 
Wahrscheinlichkeit folgern, dass die bei den Neugeborenen äusserst unvoll- 
kommen entwickelten Rindencentra sich allmählich in die vollständig ent- 
wickelten Gebilde der erwachsenen Thiere umwandeln. Im Allgemeinen 
kann man sagen, dass vom 10. Tage an in der Rinde der Hunde und 
Katzen ausschliesslich Centren für Einzelbewegungen vorhanden sind. Dieses 


Stadium der Entwickelung tritt aber auch bei einzelnen Thieren schon früher 
Archiv f. A. u. Ph. 1898. Physiol. Abthlg. 23 


354 ADoLpH Bary: 


ein (bei einem Stägigen Welpen Nr. 68 und bei 9tägigen Welpen und 
Kätzchen Nr. 77 und 51). Umgekehrt, wie wir schon oben bemerkt haben, 
kann man auch eine bedeutende Verzögerung in der Entwickelung beobachten. 


Es ist äusserst schwer, mit wünschenswerther Genauigkeit festzustellen, 
in welcher Reihenfolge sich die Hirncentra entwickeln. Man kann mit 
einiger Wahrscheinlichkeit annehmen, dass als erste die Centren für die 
Bewegungen des Schulterblattes sowie der Zehen auftreten. 


Nahezu gleichzeitig entwickeln sich die Centren für die Bewegungen 
im Eilbogengelenk, während die Adduction und Abduction des Vorderarms 


Fig. 4. 
Gehirn eines 9tägigen Welpen. 


Erklärung der Buchstaben siehe Text. 


gewöhnlich erst bedeutend später (im Alter von etwa 2 Wochen und um 
die gleiche Zeit auch die Bewegungen im Handgelenk) auftreten. 


Was die auch beim erwachsenen Thiere schwächer entwickelten Centren 
der Hinterextremitäten betrifft, so kann man nur schwer eine Reihenfolge 
der Entwickelung der einzelnen Centra feststellen. Am frühesten (im Alter 
von 9 bis 10 Tagen) konnte ich die Centra für die Bewegungen im Hüft: 
gelenk sowie das Centrum der Extension der Extremität feststellen, während 
Bewegungen im Sprunggelenk bedeutend später auszulösen waren (24 Tage). 
Einiges Interesse beansprucht die Thatsache, dass es mir kein Mal gelungen 


ÜBER DIE ENTWICKELUNG DER RINDENCENTREN. 355 


ist, Bewegungen der Zehen der Hinterpfote bei Hunden auszulösen, während 
dieselben schon bei 9tägigen Kätzchen leicht zu bestimmen waren (Nr. 51). 

Was die Centren der mimischen Bewegungen betrifft, so möchte ich 
nur kurz bemerken, dass ich dieselben bei Ttägigen Hunden auszulösen im 


Fig. 5. 
Gehirn eines Imonatlichen Welpen. 


= Centr. für Heben des Schulterblattes. % = Centr. für Streckung der hint. Extrem. 


a 

Deo es Beugung des Ellbogens. Be og ‚„ Abduction d. Oberschenkels. 
e = „  » Streckung der Vorderpfotee m= ,, ,. Beugung des Oberschenkels. 
d= .. , Adduction des Vorderarms.. n = ,„ ,, Beugung im Sprunggelenk. 
e= ,„  , Abduction des Vorderarms.. ? = .„  ., Wendung des Kopfes. 
ne „ Streekung der Vorderzeken. #* = .„ ,, Gesichtsmusculatur. 
Sl „ Beugung der Vorderzehken. s = „ „ Bewegung des Ohres. 

TE „ Bewegung des Rumpfes. TR „, Schliessung des Augenlides. 
er „ Bewegung des Schwanzes, ‘u = ,„ „ Bewegung des Augapfels. 


Stande war. Auf eine genauere Erörterung dieser Frage will ich schon 
darum nicht eingehen, da, wie oben bemerkt, die Deutung der Bewegungen 
der Schnauze bei nicht narcotisirten Thieren durchaus nicht einwandsfrei ist. 
Dasselbe gilt theilweise von den Bewegungen des Kopfes, die jedoch in einer 


ganzen Reihe von Versuchen auszulösen waren. 
23* 


356 ADOLPH Bary: 


Die Centren der coordinirten Augenbewegungen fand ich erst im Alter 
von 19 bis 24 Tagen entwickelt (s. Versuche Nr. 85, 36, 86). Versuche 
über das Sehcentrum im Occipitallappen habe ich nicht angestellt. 


Öhrenbewegungen bei Reizung des Punktes (s. Fig. 5) war ich im 
Stande, bei ziemlich jungen Thieren auszulösen (bei einem Ttägigen Welpen 
Nr. 68, sodann noch in Nr. 77, 79, 53, 80). 


Fig. 6. 
Muskelceurve bei Reizung der Rinde eines 10tägigen Welpen. 


Noch kurz einige Worte über die Centren der Rumpf- und Schwanz- 
bewegungen, die nach Soltmann ziemlich spät zur Entwickelung gelangen. 
Demzufolge konnte ich auch obengenannte Bewegungen erst bei älteren 
Thieren auslösen (Rumpfbewegung bei 19tägigen Katzen, Nr. 55, und 
25tägigen Welpen, Nr. 86). Bei letzterem (Nr. 86) auch Schwanzbewegung; 
bei Katzen ebenfalls früher (im Alter von 14 Tagen, Nr. 53). 


NETTE 


Fig. . 
Muskeleurve bei Reizung der Rinde eines Imonatlichen Welpen. 


Die graphische Methode hat auch bei mehr als 10 Tage alten Thieren . 
einige interessante Ergebnisse geliefert. Am auffallendsten‘ war die be- 
deutende Verkürzung der Latenzperiode. Während die letztere beim 4tägigen 
Welpen noch 0.40 Secunden betrug (Nr. 75), war sie beim 10tägigen nur 


ÜBER DIE ENTWICKELUNG DER RINDENCENTREN. 357 


0.14” (Nr. 62). Beim 16tägigen (Nr. 84 0.11”) erreichte sie beinahe die 
beim erwachsenen Hunde bestimmten Werthe. 

Aus Obenstehendem ist ersichtlich, dass die Verkürzung der Latenz- 
periode fast parallel der allmählichen Entwickelung der Centren läuft. Zu- 
gleich wird mit dem Alter der Thiere die Ermüdbarkeit der Centren be- 
deutend geringer. 

Auch die Form der graphisch dargestellten Muüskelzuckung unterscheidet 
sich wesentlich von der beim neugeborenen Welpen und Kätzchen gefundenen. 
Während bei letzteren, wie erinnerlich, dieselbe eine einfache Curve dar- 
stellt, findet man beirn 1Otägigen Thiere 2 bis 3 wellenartige Erhebungen 
und bei etwa 1 Monat alten Thieren einen vollständig ausgeprägten Clonus 
(s. Figg. 6 und 7). Auch die Dauer der Zuckung wird mit dem Alter be- 
deutend geringer, erreicht z. B. bei 10tägigen Welpen 0.09”, also unter- 
scheidet sich nicht viel von dem für erwachsene Hunde von Francois 
Franck und Pitres bestimmten Werthe (0-04”), die im Ater von 2 Monaten 
vollständig erreicht werden. 

Wie schon oben bemerkt, ist es mir nicht gelungen, bei een 
Thieren durch Faradisation der Hirnrinde einen typischen epileptischen An- 
fall auszulösen. Ein positives Resultat konnte ich erst bei 2 Monate alten 
Welpen erreichen. Ohne auf die näheren Gründe der späten Auslösbarkeit 
der Anfälle einzugehen, möchte ich nur kurz bemerken, dass, da der epi- 
leptische Anfall in gewisser Abhängigkeit von der Bluteirculation im Gehirn 
steht, die Annahme erlaubt ist, dass vielleicht die erst sehr späte Entwickelung 
des vasomotorischen Rindencentrums, wofür die Arbeit von Aducco! spricht, 
daran die Schuld trägt. 

Ausser diesen physiologischen Versuchen habe ich einige Untersuchungen 
über den Bau der Hirnrinde (der motorischen Region) bei Welpen und Kätz- 
chen im Alter von 1 bis 60 Tagen gemacht, und zwar nach den Methoden 
von Weigert, Golgi und Nissl. 

Was die letztere Behandlungsweise betrifft, so habe ich nach einer von 
Dr. Teljatnik im Bechterew’schen Laboratorium angewandten äusserst 
praktischen Modification gefärbt.” Die Schnitte der in Alkohol (oder noch 
besser Formalin) gehärteten, in Paraffin eingebetteten kleinen Stücke Gehirn- 
substanz werden nach Entfernung des Paraffin durch Xylol successive in 
Alcohol absolutus, Wasser und Methylenblaulösung (Methylenblau Pat. B. 3-75, 
‘“Sapo venet. marmor. 1-75, Aqua dest. 1000-0) gelegt. In letzterer bleiben 
die Präparate bei Zimmertemperatur (ohne zu erhitzen!) etwa 15 Minuten, 
sodann werden sie vorsichtig in destillirtem Wasser abgespült und in einer 


1 Arch. italiennes de Biologie. 1892. 
® Neurologisches Oentralblatt. 1396. S. 1129. 


358 ADOoLPH BARrY: 


Lösung von Anilinöl in Alcohol absolutus (1:10) entfärbt. Darauf kommen 
die Schnitte in Ol. origani (oder Xylol) und werden in Canadabalsam 1. a. 
unter Deckglas aufbewahrt. 

Wie man sieht, ist diese Modification bedeutend einfacher und erzielt 
man immer sehr schöne Präparate, die den strengsten Anforderungen genügen. 
Bei der Silberimprägnation habe ich das verkürzte Verfahren von Ramon 
y Cajal angewandt, dabei aber auch nach folgender Modification gearbeitet, 
die, wie mir scheint, seltener misslungene Präparate giebt, wobei letztere 
dank dem weissen Untergrunde (im Gegensatz zum gelben bei der Methode 
von Ramon y Cajal) ein besseres und deutlicheres Bild zeigen. Es werden 
nämlich nicht frische Gehirne verwandt, sondern dieselben werden auf be- 
liebig lange Zeit in eine Formalinlösung gelegt, dann komınen sie in eine 
2 procent. Lösung von Kali bichromicum (auf 1 bis 2 Tage) und dann auf 
ebenso lange in eine °/,procent. Silberlösung. 


An Weigert’s Präparaten sieht man nun Folgendes: Bei neugeborenen 
Welpen und Kätzchen erscheint das ganze Präparat gleichmässig hellbraun, 
wobei auf diesem Untergrund äusserst schmale und kaum wahrnehmbare 
dunkelblaue Streifen sich hinziehen. 

Mit dem zunehmenden Alter werden diese Streifen immer dicker und 
deutlicher; am 9 Tage alten Welpen sieht man schon ziemlich compacte 
mit Myelin belegte Bündel, aber erst im Alter von 20 bis 25 Tagen 
hört der hellbraune Untergrund auf durchzuschimmern; ein Präparat von 
einem 1 Monat alten Welpen sieht ganz so wie das von einem erwachsenen 
Hunde aus. 

Bei Nissl-Präparaten (Zeiss’ Oc. 12, Obj. 8.00 ==) von neugeborenen 
Welpen sieht man die Zellen aller Schichten der Rinde äusserst gedrängt 
stehend; die Mehrzahl der Zellen hat eine kugelrunde Gestalt. Der Zell- 
leib ist fast gleichmässig hellblau gefärbt, in der Mitte kann man 1 bis 2 
tiefschwarze Kernkörperchen erkennen, während von einem Kern jede Spur 
fehlt. Gleichzeitig sieht man oft im selben Gesichtsfelde schon mehr ent- 
wickelte Zellen; dieselben haben mehr das Aussehen eines Dreiecks, der 
Zellleib ist nicht gleichmässig gefärbt, sondern enthält mehrere dunklere 
Flecke und im Centrum befindet sich der sehr schwach blau gefärbte Kern 
mit 1 bis 2 schwarzen Kernkörperchen. Schon bei Thieren im Alter von 
2 bis 3 Tagen steigt die Zahl der zuletzt beschriebenen Zellen. Bei etwa- 
10 Tage alten Welpen haben sie schon die Gestalt der Pyramidenzellen, 
der Zellleib besteht aus einzeln blau gefärbten Schollen, der Kern ist sehr 
deutlich sichtbar. Schliesslich ist das Bild der von einem Il monatlichen 
Welpen nach Nissl behandelten Hirnrinde vollkommen identisch mit dem 
vom erwachsenen Hunde. 


ÜBER DIE ENTWICKELUNG DER RINDENCENTREN. 359 


Auf Silberpräparaten von neugeborenen Thieren sieht man ausser kleinen 
runden Zellen auch solche, die schon der Form nach den Pyramidenzellen 
gleichen und mit Fortsätzen versehen sind, wobei man bei vielen Zellen sehr 
deutlich einen Axencylinderfortsatz unterscheiden kann. 

Auf welche Weise lassen sich nun die Ergebnisse der anatomischen 
Untersuchungen mit den physiologischen Befunden in Einklang bringen? 

Oben habe ich nachgewiesen, dass man mit der grössten Wahrschein- 
lichkeit annehmen kann, dass der Strom nicht etwa auf subcorticale Gebilde 
einwirkte, sondern direct nur die Hirnrinde erregte. In der letzteren sind 
schon beim neugeborenen Welpen (nach Nissl- und Golgi-Präparaten) 
Zellen gelegen, die, wenn auch noch nicht vollkommen entwickelt, doch 
schon den auf sie einwirkenden Reiz aufnehmen können und ihn längs der 
Axencylinderfortsätze (an Golgi-Präparaten sichtbar) fortleiten können. In 
vollkommener Uebereinstimmung mit dem soeben Erwähnten, steht. die 
Thatsache, dass man schon beim neugeborenen Hunde im Stande ist, durch 
Hirnrindenreizung Bewegungen auszulösen. Es gelang aber nur, Bewegungen 
einer ganzen Extremität in toto hervorzurufen und niemals isolirte Be- 
wegungen einzelner Muskelgruppen. Dieser Befund ist nun leicht .erklär- 
lich durch den Mangel an Myelinbekleidung der Nervenfasern (auf den 
Weigert-Präparaten sichtbar): der Nervenstrom, von keiner Isolirhülle um- 
geben, greift auf die nächsten Fasern über, versetzt dieselben ebenfalls in 
Erregung und als Resultat erscheint eine Zuckung einer ganzen Extremität 
in toto. Ebenfalls erfährt der Nervenstrom durch den Mangel von Myelin 
(und dadurch eine schlechte Isolirung) einen bedeutenden Widerstand, was 
auch zur Genüge die lange Dauer der Latenzperiode und vielleicht auch 
die rasche Erschöpfung der Centren erklärt. Letztere Thatsache mag ja 
auch durch den noch mangelhaften Bau der Nervenzellen bedingt sein. 
Wie schon erwähnt, vergrössert sich um den 9. Lebenstag die Menge des 
Myelin und um dieselbe Zeit kann man auch isolirte Bewegungen be- 
obachten. Und schliesslich mit dem vollendeten 2. Lebensmonat der Welpen 
und Kätzchen werden die physiologischen Befunde gleichwerthig denen der 
erwachsenen Thiere. 

Wie der Leser sieht, besteht eine vollständige Uebereinstimmung der 
physiologischen und der anatomischen Befunde, was nach meiner Ansicht 
nicht zum Mindesten für die Wahrscheinlichkeit der von mir gefundenen 
Ergebnisse zeugt. 

Ich bin nun weit entfernt, aus oben gewonnenen Thatsachen irgend 
welche Rückschlüsse auf die Fragen der Erregbarkeit der Rinde des neu- 
geborenen Kindes zu ziehen. Der Bau der Rinde des neugeborenen Kindes 
erscheint an Weigert’s sowie an Nissl’s Präparaten bedeutend weniger 
vollkommen wie beim Welpen. 


360 AnoupH BARY: ÜBER DIE ENTWICKELUNG DER RINDENCENTREN. 


Bei letzteren ist es mir gelungen, durch faradische Reizung der Rinde 
Bewegungen auszulösen. Aber man kann doch nicht diesen äusserlichen 
Reiz mit dem bedeutend complicirteren Vorgang der physiologischen func- 
tionellen Erregungen vefgleichen, für dessen Zustandekommen höchst wahr- 
scheinlich der unvollkommene Bau der Rindenzellen beim neugeborenen 
Kinde nicht genügt. Deshalb glaube ich, noch jetzt dem Altmeister der 
Forscher über die Entwickelung der Rindencentra, O.Soltmann, beipflichten 
zu müssen, „dass die Hauptgruppe von Bewegungen, die von der Rinden- 
schicht der Grosshirnhemisphäre durch Willensimpulse ausgelöst wenn 
beim Neugeborenen nicht existire“.! 


17. a0. 28.117. 


Ueber den Nachweis des Gallenfarbstoffs im Harn. 


Von 


Immanuel Munk 
in Berlin. 


(Aus dem physiologischen Institut der Universität in Berlin.) 


Von Zeit zu Zeit werden immer wieder neue Proben oder Modificationen 
älterer, mehr oder weniger bewährter Proben zum Nachweis des Gallen- 
farbstoffs im Harn angegeben und von ihren Autoren als leicht ausführbar 
oder als besonders scharf gerühmt. Es deutet dies darauf hin, dass die 
bisher üblichen und zumeist in Anwendung gezogenen Proben entweder 
nicht leicht und sicher genug auszuführen sind oder nicht denjenigen Grad 
von Empfindlichkeit besitzen, der gerade für den Fall des Vorkommens 
von nur wenig Gallenfarbstoff im Harn ausreicht. Die Mehrzahl dieser 
Seitens ihrer Autoren überaus gerühmten Proben hält indess der sorgfältigen 
Nachprüfung nicht Stand; deshalb verschwinden sie so, wie sie gekommen, 
und das zumeist mit Recht. 

Seit Jahren habe ich, so oft sich mir dazu die Gelegenheit bot, dieser 
Frage meine Aufmerksamkeit geschenkt, und ich möchte nicht länger mit 
meinen Erfahrungen und Beobachtungen zurückhalten, da nach meinen 
vergleichend-quantitativen Bestimmungen gerade diejenige Probe, die die 
grösste Sicherheit und Schärfe bietet, nur ausnahmsweise benutzt wird und 
dafür immer wieder von Neuem minderwerthige, zweifelhafte oder wenig 
verlässliche Proben empfohlen werden. 

Den ersten Anlauf zu einer vergleichend-quantitativen Bewerthung der 
verschiedenen Proben hat A. Jolles! genommen. Er hat gallenfarbstoff- 


1 Zeitschrift für physiol. Chemie. 1894. Bd. XVII. 8.545; Bd. XX. S. 460; 
ausserdem sind die Resultate noch als Originalmittheilung in mindestens einem halben 
Dutzend anderer Zeit- oder Wochenschriften wiedergegeben. 


362 IMMANUEL Munk: 


freien Menschenharn der Reihe nach mit 10, 7.5, 5, 4, 8, 2, 1-5, 1, 
0-5 Proc. frischer Ochsengalle (d. h. 100° ® Harn mit 10, 7-5 u.s. w. «cm 
Galle) versetzt, jede dieser künstlichen Mischungen mit den verschiedenen 
Gallenfarbstoffproben geprüft und so deren Empfindlichkeitsgrenze zu er- 
mitteln gesucht. So fand er, dass die älteste und berühmteste, Gmelin’s 
Salpetersäureprobe, nur bis zu 5 Proc. Galle scharf ist, aber schärfer als - 
ihre Modificationen (Brücke, v. Fleischl, Vitali), dass Huppert’s Probe 
(Ausfällung des Gallenfarbstoffs als Kalkverbindung) noch bei 2 Proc. Galle 
scharf ist, ebenso scharf etwa die Rosin’sche Modification! der Mar£chal- 
Smith’schen Jodprobe (1 procent. alkoholische Jodlösung), dass aber auch 
diese nicht das von ihrem Autor ihr verliehene Prädicat „äusserst empfind- 
lich“ verdient. Alle übrigen Proben gelangen Jolles erst bei so starker 
Gallenbeimischung (7-5 bis 10 Proe.), dass sie kaum noch die Bezeichnung 
„Gallenfarbstoffproben“ verdienen. Dies unbefriedigende Ergebniss (leider 
findet sich darüber keine Angabe, wie viel Harn zu den einzelnen Proben 
verwendet ‚worden ist) veranlasste Jolles, eine Verbesserung der Gallen- 
farbstoffprobe anzustreben; er gelangte so durch Combination der Scherer- 
(Huppert-) Hilger’schen mit der Ultzmann’schen Chloroform- und 
der Gmelin’schen Salpetersäureprobe zu einer Methode, mittels deren es 
bei Benutzung von 50 °= Harn noch gelingt, 0-2 Proc., und bei Verwendung 
von 100m Harn sogar noch 0-1 Proc. Gallenbeimischung nachzuweisen. 
Diese Probe, auf die ich weiterhin noch eingehen werde, verlangt relativ 
grosse Mengen Harn, ist ausserdem ziemlich umständlich und erfordert 
einen eigens construirten Schütteleylinder, daher sie sich schwer einbürgern 
dürfte, vollends kaum für den klinischen Gebrauch. Thatsächlich ist dies 
in den seither verflossenen 4 Jahren auch nicht geschehen, obwohl der 
Autor durch Veröffentlichungen an zahlreichen und verschiedenen Orten 
es an Propaganda für seine Probe nicht hat fehlen lassen. Zudem werde 
ich noch weiterhin ausführen, dass es eine einfachere, weniger umständliche 
und bei geeigneter Ausführung viel empfindlichere Probe giebt. 

Auch die vergleichende Prüfung, wie sie Jolles vorgenommen hat, 
scheint zum Theil einseitig und nicht einwandsfrei. Er hat nur Mischungen 
von Menschenharn mit Ochsengalle geprüft, obwohl die Rindergalle doch in 
mancher Hinsicht (Gehalt an Biliverdin neben Bilirubin) von der Menschen- 
galle abweicht und, sei es, weil sie farbstoffärmer ist,” sei es, weil sie auch 
Biliverdin enthält, schon an sich bei gleicher Verdünnung nicht so prächtige 


! Rosin, Berliner klinische Wochenschrift. 1893. S. 106. — Wiener klinisehe 
Wochenschrift. 1898. Nr. 11. S. 260. 

® In einer, sehr in die Breite gezogenen und an Irrthümern reichen Abhandlung 
(Pflüger’s Archiv. 1894. Bd. LVII. 8.1) giebt Jolles an, dass Rindergalle nur 
0-024 bis 0-027, Menschengalle dagegen 0-154 bis 0-262 Proc. Bilirubin enthält. 


ÜBER DEN NACHWEIS DES GALLENFARBSTOFFS IM Harn. 363 


Farbenreactionen giebt als Menschen- oder Hunde- oder Katzengalle. Des- 
halb wäre ‚es wohl richtiger gewesen, eine der letzteren Gallen zur Bei- 
mischung zu wählen. Ferner ist es auch denkbar, dass die in der Galle 
neben den Farbstoffen vorhandenen Bestandtheile (Gallensäuren, Cholesterin, 
Muein u. A.), die selbst beim Icterus nicht in den Harn übergehen, schon 
an sich die Proben stören oder in ihrer Empfindlichkeit schwächen können, 
zumal in einem so complicirten und eigene Farbstoffe enthaltenden, bezw. 
bei gewisser Behandlung (z. B. mit Mineralsäuren) Chromogene liefernden 
(Indigroth und Indigblau aus Indican) Stoffgemenge wie dem Harn. Schärfer 
ist es eher noch, einen icterischen Harn mit stetig zunehmenden Mengen 
normalen Harns zu verdünnen und so zu ermitteln, welche Empfindlichkeit 
jeder einzelnen Probe zukommt. Den unzweifelhaft schärfsten Vergleich 
gewinnt man, wenn man in einem bestimmten Volumen Harn eine gewogene 
Menge reinen Bilirubins auflöst, diesen Harn dann durch Zusatz gallen- 
farbstofffreien Harns immer weiter verdünnt und so ausprobt, welches der 
geringste (procentische) Gallenfarbstoffgehalt ist, für den sich noch die ein- 
zelnen Proben empfindlich erweisen. Dieser allein einwandsfreie Weg zur 
Bestimmung der Empfindlichkeitsgrenze der einzelnen Gallenfarbstoffproben 
ist bisher noch nicht betreten worden. 

Gleich die ersten orientirenden Versuche mit icterischem Harn, der 
mehr und mehr mit normalem gallenfarbstofffreien verdünnt wurde, sowie 
mit Menschenharn, dem Hundegalle zu 1 Proc. (1 °® Blasengalle auf 100 
Harn) zugesetzt und dies Gemisch durch weiteres Zufügen von normalem 
Harn stetig verdünnt wurde, liessen die Angaben von Jolles, im,Grossen 
und Ganzen wenigstens, so weit zutreffend erscheinen, als thatsächlich von 
den zahlreichen vorgeschlagenen Gallenfarbstoffproben als mehr oder 
weniger empfindlich nur in Betracht kommen können: die Gmelin’- 
sche, die Rosin’sche und die Huppert’sche Probe. Nur bezüglich 
ihres Empfindlichkeitsgrades bin ich zu wesentlich anderen Resultaten 
als Jolles gelangt. Alle übrigen Proben ohne Ausnahme sind so wenig 
empfindlich, dass sie nur im stark ieterischen Harn bezw. erst auf Zusatz von 
mindestens 2 Proc. Hundegalle eben eine einigermaassen deutliche Reaction 
geben. Wir werden daher die übrigen empfohlenen Proben als zu wenig 
empfindlich ausser Betracht lassen dürfen.! 


! Krokiewiez und Batko haben vor Kurzem ( Wiener klinische Wochenschrift. 
1898. Nr. 8. 8.173) die Ehrlich’sche Sulfanilprobe (Centralblatt für klin. Mediein. 
1883. Bd. IV. 8.721) modifieirtt und geben für ihre verbesserte Probe als Empfind- 
lichkeitsgrenze an, dass sie noch 1 °® Kalbsgalle auf 500 “= Harn anzeige. Ich habe 
mich weder für den mit Galle versetzten Harn noch für bilirubinhaltige Harngemische 
überzeugen können, dass ihre Probe so empfindlich ist; ich finde sie noch nicht so 
empfindlich als die Gmelin’sche und Rosin’sche Trobe. 


364 {IMMANUEL Munk: 


Jede der genannten drei mehr oder weniger empfindlichen Proben 
bedarf für ihre Ausführung und die Beurtheilung ihres Erfolges gewisser 
Cautelen, die beobachtet werden müssen. Die Gmelin’sche (eigentlich 
Tiedemann-Gmelin’sche!) Probe wird mit einer concentrirten Salpeter- 
säure, die etwas salpetrige Säure enthält, angestellt, und zwar nimmt man 
dazu zweckmässig eine Säure von mindestens 1-4 spec. Gewicht, die durch 
Stehen im diffusen Tageslicht etwas salpetrige Säure entwickelt hat (leicht 
gelbe Färbung der Säure selbst oder des Luftraumes in der Flasche über 
der Säure). Man giebt davon einige Cubikcentimeter in ein Reagensglas 
und lässt auf die Oberfläche der Säure aus einer Pipette einige Cubik- 
centimeter Harn so langsam ausfliessen, dass eine Mischung vermieden 
wird. Bei einiger Uebung erreicht man dasselbe, wenn man an der 
Innenwand des mit Säure beschickten, möglichst schief, fast wagerecht ge- 
haltenen Reagensglases den Harn langsam herunterfliessen lässt. Von den 
verschiedenen farbigen Ringen, die bei Gegenwart von Gallenfarbstoff ent- 
stehen: Grün, Roth, Violett, Blau, ist für den Harn einzig und allein das 
Grün an der Berührungsschicht, von der aus bei weiter gehender Oxydation 
d.e Grünfärbung im Harn nach oben‘ fortschreitet, beweisend; Roth- und 
Blaufärbung kann in einem indicanreichen Harn auch in Folge Zersetzung 
des Indicans durch die Säure und Abspaltung von Indigroth bezw. Indig- 
blau zu Stande kommen. So scharf daher auch die Probe bei einem hellen 
und indicanarmen Harn ist, so kann sie in einem dunklen Harn ganz 
fehlschlagen bezw. ein unsicheres oder sogar ganz zweifelhaftes Ergebniss 
liefern. Und diese Unsicherheit wird durch keine der angegebenen Modi- 
ficationen beseitigt, weder durch die Brücke’sche (Zusatz von reiner con- 
centrirter Schwefelsäure zur reinen Salpetersäure bezw. Unterschichten der 
Mischung von Harn und Salpetersäure mittels reiner Schwefelsäure, die 
aus der Salpetersäure erst allmählich salpetrige Säure entwickelt), noch 
durch die Fleischl’sche (Zusatz von concentrirter reiner Schwefelsäure 
zu einer Concentrirten Salpeterlösung; auch hier wird langsam salpetrige 
Säure entwickelt), noch endlich durch die Vitali’sche (Entbindung von 
salpetriger Säure durch Zusatz von Schwefelsäure zu einer Lösung von 
salpetrigsaurem Kali); ja an Empfindlichkeit stehen diese Modificationen 
der ursprünglichen Gmelin’schen sogar nach, vermuthlich weil entweder 
zu viel salpetrige Säure oder doch zu schnell entwickelt wird. Vitali’s 
Angabe, dass seine Modification eine Verwechselung mit Indican ausschliesst, 
kann ich durchaus nicht bestätigen; ja es kommt ihr nicht einmal ein Vor- 
zug vor den anderen genannten Abänderungen der Gmelin’schen Probe 


! Tiedemann und Gmelin, Die Verdauung nach Versuchen. 2. Aufl. Heidel- 
berg und Leipzig 1831. Bd.I. 8.80. 


ÜBER DEN NACHWEIS DES GALLENFARBSTOFFS IM Harn. 365 


zu. Auch von der Rosenbach’schen Modificatiin' habe ich keinen 
wesentlichen Vortheil gesehen; bei dieser wird der Harn filtrirt und dann 
die Innenfläche des Filters, noch feucht, mit concentrirter Salpetersäure 
übergossen, es entstehen dann die Farbenringe: Grün, Blau, Violett, Roth. 
Doch kommen, wie dies auch Salkowski? beobachtet hat, unzweifelhaft 
gallenfarbstoffhaltige Harne vor, die diese „Filterreaction“ nicht geben. 

Findet sich im gallenfarbstoffhaltigen Harne auch Eiweiss, so führt die 
Gmelin’sche Reaction gleichfalls zum Ziele, wofern nur nicht zu wenig 
Gallenfarbstoff vorhanden ist; dann färbt sich der an der Grenze von Sal- 
petersäure und Harn entstehende Eiweissring gleichfalls deutlich grün und 
blau. Schon Tiedemann und Gmelin? heben hervor, dass sich so auch 
im icterischen Blutserum und Chylusserum der Gallenfarbstoff nachweisen 
lasse, nämlich aus der grünen Färbung des Eiweissniederschlages. Ist aber 
nur wenig Gallenfarbstoff vorhanden, so kann er sich auch bei der Ueber- 
schichtungsprobe dem Nachweis entziehen, weil da, wo der grüne Ring 
liegen müsste, ein grauer Eiweissring entsteht, der einen schwach grünen 
Ring verdeckt.* Wird aber das Eiweiss durch Hitzecoagulation oder durch 
Fällung entfernt, so kann mit ihm auch Gallenfarbstoff mitgerissen werden 
und man müsste dann aus dem getrockneten Niederschlage den Farbstoff 
erst wieder ausziehen, z. B. durch warmes Chloroform, um den Nachweis 
führen zu können. Allen diesen Unzuträglichkeiten beugt, wie wir sehen 
werden, die Huppert’sche Probe vor. 

Nicht auf Oxydations-, sondern auf Substitutionswirkung°? beruht die 
Jodprobe. Von Trousseau und Dumontpallier schon 1863 vorge- 
schlagen, aber in Vergessenheit gerathen, wurde diese Probe besonders von 
Marechal 1868 empfohlen und dann wiederum, offenbar ohne Kenntniss 
seiner Vorgänger, von W. G. Smith‘ 1876; auf Zusatz von Jodtinctur färbt 
sich ieterischer Harn schön smaragdgrün, beim Ueberschichten von Harn 
mit Jodtinetur entsteht an der Grenze von Harn und Reagens ein schön 
srüner Ring. Rosin’ gebührt das Verdienst, auf diese Probe wieder die 
Aufmerksamkeit gelenkt und durch seine Versuche festgestellt zu haben, 
dass noch schärfer als die (offieineile) Jodtinctur, die eine 10 procentige 
alkoholische Jodlösung ist, sich eine auf das 1Ofache verdünnte Tinetur 
erweist, also eine nur Iprocent. alkoholische Jodlösung. Kann man Rosin 


1 Centralblatt für die medicinischen Wissenschaften. 1876. S.5. 

? Salkowski (und Leube), Die Lehre vom Harn. Berlin 1882. S. 244. 

EN.2. 07 9.8E 

* J. Steiner, Dies Archiv. 1873. 8.178; vgl. auch Huppert (und Thomas), 
Anleitung zur Analyse des Harns. 9. Aufl. Wiesbaden 1890. 8. 322. 

5 R.Maly, Wiener akad. Sitzungsberichte. Bd. LXXII. 3. Abth. 3. Oct. 1875. 

6 Dublin med. Journ. 1876. p. 449. aA. 0: 


366 IMMANUEL MUnNK: 


darin beipflichten, dass seine verdünnte Jodtinetur mehr leistet als die 
stärkere, so kann ich ihm, auf Grund der gleich anzuführenden Versuche 
und Beobachtungen, nicht beistimmen, dass seine Probe ebenso empfindlich 
ist als die Huppert’sche; ich finde letztere günstigsten Falls 7 bis 15 Mal 
empfindlicher. 

Allen den erwähnten Unsicherheiten, die theils durch die dunkle Eigen- 
farbe, theils durch den Indicangehalt, endlich durch die wenig ausgesprochene 
Reaction bei geringem Gallenfarbstoffgehalt bedingt werden, wird dadurch 
abgeholfen, dass man den Gallenfarbstoff aus dem Harn zur Abscheidung 
bringt. Scherer! hat zuerst 1345 zu diesem Zweck die Fällung des Harns 
mit einem Barytsalz empfohlen; bei Gegenwart von Gallenfarbstoff wird 
dieser als Bilirubin- bezw. Biliverdinbaryum niedergeschlagen. Dieser Vor- 
schlag, gleichfalls, wie es scheint, in Vergessenheit gerathen, ist erst von 
Huppert? wieder aufgenommen worden. Huppert empfahl, den Harn 
mit Kalkmilch? zu fällen, den Niederschlag, der, wofern er Gallenfarbstoff 
einschliesst, gelb ist (während normaler Harn eine weisse Kalkfällung liefert), 
abzufiltriren und auszuwaschen. Kocht man den noch feuchten Nieder- 
schlag mit Alkohol, dem einige Tropfen verdünnte Schwefelsäure zugesetzt 
werden, so entfärbt er sich und man erhält eine schön grüne Lösung (aus 
gallenfarbstofffreiem Harn eine farblose. Auch kann man den Niederschlag 
mit Sodalösung erwärmen und mit der grünen oder braungrünen Lösung 
die Gmelin’sche Probe ausführen. Die Probe gelingt, wie Huppert schon 
bemerkt, noch mit Harnen, die trotz stark grünlich-gelber Färbung und, 
was noch wichtiger erscheint, trotz eines grünlich-gelben Schüttelschaums 
nur eine zweifelhafte Gmelin’sche Reaction geben. Der Huppert’schen 
Methode hat dann Salkowski* eine sicherere und bequemere Form ge- 
geben: man macht den Harn mit einigen Tropfen Sodalösung alkalisch 
und versetzt tropfenweise mit Chlorcaleiumlösung, so lange als diese noch 
Niederschlag erzeugt, filtrirt den gelatinösen Niederschlag ab, wäscht gut 
aus, bringt ihn in ein Reagensglas, übergiesst mit Alkohol und löst den 
Niederschlag durch Zusatz von Salzsäure unter Umschütteln. Kocht man 
die klare Lösung, so färbt sie sich bei Gegenwart von Gallenfarbstoff grün 
bis blau, bei dessen Abwesenheit bleibt sie ungefärbt. Man lässt völlig 
erkalten und setzt dann concentrirte Salpetersäure hinzu: die grüne Lösung 
wird blau, violett, roth. 


' Vgl. die Litteratur bei Huppert (und Thomas), a. a. O. 

® Archiv d. Heilkunde. Bd. VII. 8. 351 u. 476. 

® Analog ist der Vorschlag von Hilger, der auf Scherer’s Empfehlung zurück- 
greift, den Harn mit Barythydrat zu fällen. 

*A.a.0. 8.245. — Practicum der physiologischen und pathologischen Chemie. 
Berlin 1893. S. 226. 


ÜBER DEN NACHWEIS DES GALLENFARBSTOFFS IM Harn. 367 


Die Isolirung des Gallenfarbstoffs als Kalkverbindung hat 
den ferner nicht zu unterschätzenden Vortheil, dass dadurch weder Indican 
noch Urobilin noch Hämoglobin (Methämoglobin) gefällt werden, die sonst 
die Reaction unsicher machen können. Ebenso sicher ist sie für den eiweiss- 
haltigen Harn, weil Eiweiss in dem durch Soda alkalisch gemachten Gemisch 
auch bei Kalkzusatz gelöst bleibt. 

Ich gehe jetzt zur Beschreibung der Versuche mit den als mehr oder 
weniger empfindlich ermittelten Gallenfarbstoffproben über, von denen ich 
nur einige Beispiele herausgreife. Bei der Gmelin’schen Probe wurde der 
Harn über die concentrirte Salpetersäure, bei der Rosin’schen die Jod- 
tinetur über den Harn vorsichtig geschichte. Zu Huppert’s Probe wurden 
stets 10 °® Harn genommen und der Kalkniederschlag in 10 °® salzsäure- 
haltigem Alkohol (5 °® Acid. hydrochlor. conc. auf 100m Alkohol) gelöst. 


I. Versuche mit ieterischem Harn. 


Gmelin Rosin Huppert 
a) Icterischer Harn mitgelb- deutlich | deutlich — 
grünem Schüttelschaum | | 
mit dem gleichen Vol.hell- | noch eben schmaler, eben _— 
gelben Vormittagharns deutlich | noch erkenn- ; 
verdünnt - 'barergrün.Ring 
mit 2 Vol. Harn verdünnt 0, 0 tief blaugrün 
OR „ — —_ blaugrün 
RE REN De | -- — deutlich grün 
2 OR, n — — gegen weissen Hin- 
tergrund blassgrün, 
ebenso beim Betrach- 
ten von oben 
b) stark ieterischer Harn mit gut gut — 
srünen Schaumblasen 
auf’s 3fache verdünnt eben noch | noch — 
| "grün erkennbar 
Se . 0 0 tief blau 
ee DIE Bu, — — noch als blau zu 
erkennen 


c) Harn von demselben Patienten, 9 Tage später, als der Ieterus schon 
stark im Schwinden war, keinen grünen Schaum mehr zeigend, Gmelin 
unscharf, Rosin vielleicht noch erkennbar, Huppert tiefblau. Die 
Blaufärbung bei Huppert’s Probe ist noch bis zu Sfacher 
Verdünnung deutlich erkennbar! 


10 bedeutet: Ausbleiben der Reaction. 


368 IMMANUEL MUunk: 


II. Versuche mit Zusatz von Hundegalle zum Menschenharn. 


1. Stark concentrirte dunkelbraune, zähe Galle eines Hundes, der seit 
mehr als 24 Stunden gehungert hatte. 


Gmelin Rosin Huppert 
1 Proc. Gallenharn! deutlich deutlich intensiv blau 
le a ;; , schwach noch deutlich intensiv blau 
ae; n | 0 schwach intensiv blau 
Zinn ei 0 0 deutlich grün 
en, n | 0 0 noch deutlich grün 
liso, h; 0 0 eben noch grünlich 


2. Dünne gelbbraune Galle eines vor wenigen Stunden gefütterten, zu 
Versuchszwecken getödteten Hundes. 


Gmelin Rosin Huppert 
1 Proc. Gallenharn nicht scharf | blassgrüner Ring tief blau 
ah „ - „ | 0 | 0 blau 
jo, r N 0 | 0 eben noch grünlich 


| (geg.weiss.Hintergr.) 


Ill. Versuche am Menschenharn mit Bilirubinzusatz. 


Da Bilirubin in Wasser und in Säuren unlöslich und nur in Aetz- und 
kohlensauren Alkalien löslich ist, wurde in der \Veise verfahren, dass genau 
abgewogene Mengen, 5 bis 108, von Bilirubin (aus Gallensteinen dar- 
gestelltes reines Präparat) in 5 bis 10° warmer Sodasolution gelöst und 
diese Mischung mit normalem Menschenharn versetzt wurde, der vorher 
alkalisch gemacht und von dem dabei entstehenden Niederschlage der Erd- 
phosphate abfltrirt worden war. Durch weiteren Zusatz von alkalischem 
Harn konnte so jede gewünschte Verdünnung bis zu 0-.05”® Bilirubin in 
100° Harn hergestellt werden. Da ein solcher alkalischer Harn bei Zusatz 
von concentrirter Salpetersäure (Gmelin) CO,-Entbindung und in Folge 
dessen Durchmischung mit dem Reagens eiebt, ferner der Rosin’schen 
Probe ohne Weiteres nicht zugänglich ist, weil an der Grenzschickt sich 
aus dem braunrothen Jod farbloses Jodalkali bildet, das einer Substitutions- 
wirkung unfähig ist, so wurden die bezw. Gemische mit Essigsäure an- 
gesäuert und erst nach dem Aufhören der CO,-Entwickelung die bezüg- 
liehen Proben angestellt. Auch hier wurden zu Huppert’s Probe je 10°" _ 
genommen und der Kalkniederschlag in 10° salzsaurem Alkohol gelöst. 


! Bedeutet: 1 °m Galle auf 100 m Harn. 


ÜBER DEN NACHWEIS DES GALLENFARBSTOFFS IM Hann. 


a) Harn mit: 


14 ®8 Proc. Bilirubin 


10 „ 


0 
0.25 
0-1 


„ 


Gmelin 


deutlich 
deutlich 
eben noch er- 
kennbar 
0 


Rosin 


deutlich 
deutlich 
undeutlich 


369 
Huppert 
intensiv 


intensiv 
intensiv 


grün 
grün 
grün 


tief grün 
tief grün 
deutlich grün 
schwach, aber deut- 
lich blau 
schwach blau 
blass blaugrün 
ganz schwach blau 


NB. Bei Verwendung von 25°” des letzteren Harns giebt Huppert 
deutlich blaugrüne Färbung. 


b) Harn mit: 

15 ®8 Proc. Bilirubin deutlich deutlich intensiv grün 
LOB 3 deutlich deutlich intensiv grün 
DR e RR kein Farben- 0 tief grün 

“ spiel, Harngrün | 
3 „ „ „ 0 tief grün 
wos „ Sau Fr stark blaugrün 
0-5 Den „ ae EISE grün 
0.2 „ „ 7 ms noch deutlich grün 
0.1 „ „ = = blass grünlich-blau 

e) Harn mit: 

25 "8 Proc. Bilirubin deutlich deutlich = 
207 „ 2 % deutlich deutlich — 
0 R 5 noch deutlich schwach _- 
75 5 5 kaum 0 — 
Ö „ 0 0 tief grün 
3 P2) „ „ rm ie deutlich grün 
2 „ ” „ ER Fe: blaugrün 
ler » 2) Y ern —— hellgrün ! 
0.5 „ „ SE a blassblau ? 
0.1 „ „ = — eben noch bläulich® 


NB. Bei Aufnahme des letzteren Kalkniederschlages in nur 5" HCI- 
Alkohol deutlicher blau. 


Nachdem so die Versuche gelehrt, dass die Huppert-Salkowski’sche 
Probe in geeigneter Ausführung bei Verwendung von nur 10°m Harn 
0 bis !/;, Proc. Gallenbeimengung bezw. !/, bis 1/,„”8 Proc. Bilirubin 


! Kalkniederschlag noch deutlich gelb. 
® Kalkniederschlag noch gelblich. 
® Kalkniederschlag kaum noch als gelblich zu erkennen. 
Archiv f. A. u. Ph. 1898. Physiol. Abthlg. 24 


370 IMMANUEL MUnk: 


im Harn zu erkennen gestattet, liegt durchaus kein Anlass vor, anstatt 
derselben zu der viel umständlicheren Jolles’schen Modification zu greifen, 
die einen besonderen Schütteleylinder und Abdampfen des Chloroformauszuges 
benöthigt, zumal sie nach ihres Autors eigener Angabe erst bei Verwendung 
von 50° m Harn 0-2 Proc. Gallenbeimengung erkennen lässt, also kaum 
diejenige Empfindlichkeit besitzt, die der Huppert’schen Probe schon bei 
einem 5 Mal kleineren Ausgangsmaterial zukommt. Jolles’ Vorschlag, der 
die Scherer-Hilger’sche Barytfällung mit der Ultzmann’schen Chloro- 
formausschüttelung und der Gmelin’schen Salpetersäureprobe combinirt, 
ist folgender: Man schüttelt 50°w Harn mit 5° (10 procent.) Chlor- 
baryumlösung und 5“ Chloroform in einem nach Art einer Bürette ge- 
bauten Schütteleylinder von 15 =m Jichter Weite und 300"m Höhe, an 
dessen untere conische Verjüngung sich eine etwa 10° fassende Aus- 
bauchung anschliesst, die in ein mit seitlich eingeschliffenem Glasstöpsel 
versehenes enges Rohr endigt. Chloroform und Niederschlag setzen sich 
im unteren Theile und in der birnförmigen Erweiterung ab und können 
durch den Hahn leicht von der darüber stehenden Harrflüssigkeit getrennt 
werden. Aus dem abgeschiedenen Chloroform + Niederschlag wird auf 
kochendem Wasserbade das Chloroform verdunstet, nach dem Erkalten der 
Abdampfschale der Rückstand mit 1 bis 2 Tropfen concentrirter Salpeter- 
säure befeuchtet: Gmelin’scher Farbenwechsel. 

Auch die Ausführung der Huppert’schen Probe nimmt, wofern man 
ein kleines Faltenfilter verwendet, den Niederschlag 1 bis 2 Mal mit Wasser 
wäscht, Filter + Niederschlag in einer kleinen Porzellanschale mit 10 « 
salzsaurem Alkohol extrahirt, die mehr oder weniger gelb gefärbte alkoholische 
Lösung im Reagensglase erwärmt, bei einiger Uebung nur 10 bis 15 Mi- 
nuten in Anspruch. Blickt man durch das Reagensglas gegen einen weissen 
Hintergrund oder sieht man von oben in das Reagensglas hinein, so ist 
das zarteste Blau oder Grün der erwärmten salzsauren — alkoholischen 
Lösung selbst noch bei !/,, ”® Proc. Bilirubin im Harn zu erkennen, d.h. 
auf absolute Zahlen umgerechnet, giebt noch ?/,.. ”® Bilirubin in 10 «= Harn 
eine Reaction, während die Empfindlichkeitsgrenze für die Gmelin’sche 
und die Rosin’sche Probe ungefähr bei 6 ”® Proc. Bilirubin im Harn ge- 
legen ist, so dass, auf gleiches Ausgangsmaterial (10 «m Harn) berechnet, 
die Huppert’sche Probe bis zu 15 Mal empfindlicher ist. Und diese 
Empfindlichkeit lässt sich noch entsprechend steigern, wenn man, anstatt 
mit 10°, mit 20, 25, 50°" die Probe ausführt. Als ein weiterer Vorzug_ 
dieser Probe ist zu erachten, dass man schon am Kalkniederschlag erkennt, 
ob der Harn gallenfarbstuffhaltig ist, denn noch bei einem Gehalt von 
!/,»& Proc. Bilirubin besitzt der Niederschlag eine gelbliche Farbe, während 
er bei Abwesenheit von Gallenfarbstoff rein weiss ist. 


ÜBER DEN NACHWEIS DES GALLENFARBSTOFFS IM Harn. 371 


Mit einigen Worten ist noch auf diejenigen Harne einzugehen, die 
eine gewisse äusserliche Aehnlichkeit mit gallenfarbstoffhaltigen darbieten, 
so dass sie auf den ersten Blick mit icterischem Harn verwechselt werden 
könnten, ich meine die Harne, wie sie nach Einverleibung von Chrysophan- 
säure (aus Rheum und Senna) oder von Santonin entleert werden. Diese 
Harne zeigen häufig auch eine dunkle Farbe und einen intensiv grünlich- 
gelben Schüttelschaum, allein auf Zusatz von Salpetersäure werden sie, 
gerade im Gegensatz zu den gallenfarbstoffhaltigen, lichtgelb, ohne eine 
Spur des charakteristischen Gmelin’schen Farbenwechsels zu zeigen, färben 
sich dagegen auf Zusatz von Aetz- oder kohlensaurem Alkali rosa-, purpur-, 
bezw. mehr violettroth. Auch vor dieser Verwechselung schützt sofort die 
Huppert’sche Probe, da sowohl gallenfarbstoffhaltiger wie gallenfarbstofl- 
freier Harn auf Zusatz von Sodalösung seine gelbe Farbe behält, nur ent- 
sprechend der Verdünnung heller wird und somit schon hier, falls der 
Harn rosa bis roth wird, die Aufmerksamkeit auf einen Chrysophansäure- 
oder Santoninharn gelenkt wird. Setzt man dann Chlorcaleium zu, so ent- 
steht im normalen Harn ein weisser, im gallenfarbstoffhaltigen ein gelber, 
im chrysophansäurehaltigen ein rosa- bis rothfarbener Niederschlag, während 
im Santoninharn die rothe Farbe in der Flüssigkeit bleibt und a Baryt- 
fällung farblos, d. h. weiss ist.! 

Zu den. zuverlässigen Proben wird von Manchen die Stokvis’sche 
Bilicyanin- (Cholecyanin-) Probe? gezählt. 20 bis 30 “= Harn versetzt man 
mit 5m einer 20 procent. Lösung von essigsaurem Zink, wäscht den 
Niederschlag (Bilirubinzink) auf kleinem Filter mit Wasser aus und löst 
ihn dann auf dem Filter in wenig Ammoniak. Das neue Filtrat zeigt 
direct oder nachdem es einige Zeit, bis es (in Folge Oxydation durch den 
Luftsauerstoff) eigenthümlich braun geworden ist, an der Luft gestanden 
hat, die Absorptionsstreifen des Cholecyanins: die alkalische Lösung zeigt 
3 Streifen, einen scharfen im Roth zwischen C und D näher an C, einen 
weniger scharfen, D deckend, und einen schwachen Schatten im Grün 
zwischen D und Z. Steht auch die Zuverlässigkeit dieser Probe, wenn sie 
positiv ausfällt, über jedem Zweifel, so ist doch ihre Empfindlichkeit nur 
sehr mässig. Ich fand sie schon bei 14”8 Proc. Bilirubin im Harn und 
Verwendung von 10° unsicher, so dass sie demnach etwa kaum halb so 
scharf ist als die Gmelin’sche und die Rosin’sche. Da sie auch viel 
zeitraubender ist und ein Spectroskop benötbigt, hat sie mit Recht keine 
Verbreitung gefunden. 

Somit haben sich von allen empfohlenen Gallenfarbstoffproben nur die 


11.Munk, Virchow’s Archiv. 1878. Bd. LXXI. S. 136. 
® Nach Maly’s Jahresbericht für Thierchemie. 1882. S. 226. 
24* 


372 IMMANURL MUNK: ÜBER DEN NACHWEIS UT. S. w. 


Gmelin’sche und die Rosin’sche zuverlässig, brauchbar und bis zu einem 
gewissen Grade empfindlich erwiesen. Ist auch Gmelin’s Probe an sich 
etwa so scharf wie die Rosin’s, so kann sie doch bei dunklen und indican- 
reichen Harnen, zumal den weniger Geübten, zu Unsicherheiten führen, 
weshalb für die klinische Prüfung auf Gallenfarbstoff im Harn die 
Rosin’sche der Gmelin’schen vorzuziehen sein dürfte Ob indess die 
nicht sehr grosse Empfindlichkeit der Rosin’schen Probe für alle klinischen 
Zwecke genügt, möchte ich von meinem rein physiologischen Standpunkte 
aus nicht entscheiden. Sicher übersteigt ihre Empfindlichkeit nicht 0.7 8 
Bilirubin in 10°=m Harn, während mittels Huppert’s Probe noch mit 
Sicherheit 0-02, in geübter Hand sogar noch 0-01” Bilirubin in 10 «m 
Harn zu erkennen sind, somit principiell Huppert’s Probe, zumal sie 
einfach und leicht auszuführen, sicher und absolut zuverlässig ist, unter 
allen Umständen den Vorzug verdient. Am besten verfährt man bei 
dieser Probe so, dass man 10 °® Harn mit Sodalösung alkalisch macht, Chlor- 
calciumlösung (10 procent. wässerige) so lange hinzusetzt, als noch Nieder- 
schlag entsteht, diesen durch ein kleines glattes oder Faltenfilter abscheidet, 
1 bis 2 Mal mit Wasser auswäscht, Filter nebst Niederschlag (der je nach 
dem Gallenfarbstoffgehalt tiefgelb bis blassgelb aussieht) in kleiner Por- 
zellanschale mit 10° salzsäurehaltigem Alkohol (5°® Acid. hydrochlor. 
conc. auf 100 «m Alkohol) übergiesst und die gelbe bis gelbliche Lösung 
im Reagensglase erhitzt: grüne bis blaue Färbung, deren Intensität der 
Menge des Gallenfarbstofis proportional geht. Kann man bei auffallendem 
Licht eine Färbung nicht mehr erkennen, so blickt man durch das Reagens- 
glas gegen einen weissen Hintergrund (weisse Papierfläche) oder sieht von 
oben in das Reagensglas hinein. So machen sich noch die zartesten Blau- 
bezw. Grünfärbungen deutlich bemerkbar. 


Ueber Kreatinine verschiedenen Ursprungs. 


Von 
Ernst Schmidt. 


In der Sitzung der physiologischen Gesellschaft vom 25. Februar 18981 
hat Hr. E. Woerner einen Vortrag über Kreatin und Kreatinin im Muskel 
und im Harn gehalten, in welchem auf Grund von gemeinsam mit M. Thelen 
ausgeführter Untersuchungen dargelegt wird, dass das aus Harn gewonnene 
Kreatinin, entgegen den Angaben von G. St. Johnson, identisch ist mit 
dem aus Pferdefleisch- und Fleischextract-Kreatin dargestellten Kreatinin. 
Zum Nachweis der Identität dienten die bezüglichen Hydrochloride, freien 
Basen, Platin- und Golddoppelsalze und Pikrate. 

Es mag gestattet sein, auch an dieser Stelle darauf aufmerksam zu 
machen, dass das Terthamniehe der Johnson’schen Angaben bereits im 
Jahre 1895/96? auf meine Veranlassung durch die HHrn. H. Pommerehne 
und M. Toppelius experimentell nachgewiesen ist. Die Identität der Krea- 
tinine verschiedenen Ursprungs: Harnkreatinin und synthetisches Kreatinin, 
sowie Kreatinin aus Harnkreatin (durch Umwandlung von Harnkreatinin 
erhalten) und Kreatinin aus Fleischextract-Kreatin dargestellt, wurde damals 
bereits durch den Vergleich der freien Basen, die Bestimmung der Lös- 
lichkeit derselben in absolutem Alkohol, die Ermittelung des Reductions- 
äquivalents gegen Fehling’sche Kupferlösung, die Analyse der Hydro- 
chloride, der Gold- und Platindoppelsalze, sowie endlich durch den Vergleich 
der Schmelzpunkte der Pikrate festgestellt. 

Pharmae.-chem. Institut Marburg, August 1898. 


1 Dies Archiv. 1898. Physiol. Abthlg. S. 266. — COhemisches Centralblatt. 
1898. II. S. 368. 

® Proc. of ihe Royal Soc. Vol. XLIIl. p. 493—534; Vol. L. p. 287 — 302. 

3 Archiv d. Pharmacie. 1896. 8. 330—397. 


Verhandlungen der physiologischen Gesellschaft 
zu Berlin. 
Jahrgang 1897—1898. 


XI. Sitzung am 29. April 1898. 


Hr. A. Neumann hält den angekündigten Vortrag: Zur Kenntniss 
der Nucleinsubstanzen. 


Als Proteide bezeichnet man im Allgemeinen Verbindungen, welche 
zusammengesetzt sind aus Eiweissstoffen und einem anderen Atomeomplex, 
der sogenannten prosthetischen Gruppe. Solche Körper sind ausser den Blut- 
farbstoften besonders die Nucleinkörper, die Paranucleinsubstanzen, zu denen 
auch das Ichthulin zu rechnen ist, die Mucine u. a.m. Je nach der Natur 
der prosthetischen Gruppe würde man z.B. die Mucine als Glycoproteide, das 
Ichthulin als Phosphoglycoproteid und die eiweisshaltigen Nucleinsubstanzen 
als Nucleoproteide zu bezeichnen haben. Mit dem Namen Nucleoproteid soll 
gesagt sein, dass diese Körper die für alle eigentlichen Nucleinstoffe charak- 
teristische Nucleinsäure enthalten. Letztere würde als eine Phosphoglyco- 
Verbindung aufzufassen sein, die noch andere interessante Atomcomplexe, be- 
sonders aber die wichtigen Alloxurkörper in ihrem Molekül vereinigt. Unter 
Nucleinsubstanzen sollen daher nur solehe verstanden werden, 
welche sich als Nucleoproteide charakterisiren oder, aus diesen 
sewonnen, noch durch Salzsäure aus ihren Lösungen gefällt 
werden. Denn dann enthalten sie noch die für sie charakteristischen 
Gruppen, nämlich Phosphorsäure, Kohlehydrate und Alloxurkörper. Fehlen 
dagegen die letzteren in dem Molekül, so hört die Fällbarkeit durch Salz- 
säure auf, wie dies bei der Thyminsäure der Fall ist.” Die Nucleinsubstanzen 
sind wohl zu unterscheiden von den sogenannten Paranucleinstoffen, welche 
den ersteren dadurch ähnlich sind, dass sie bei der Pepsinverdauung unlös- 
liche Rückstände hinterlassen und Phosphorsäure enthalten, sonst aber den 
eigentlichen Nucleinen ziemlich fern stehen. 

In den Zellkernen vorgebildet finden sich sehr complieirte Nucleo- 
proteide, welche nach einer Zusammenstellung Hammarsten’s? als Gewebe- 


! Ausgegeben am 12. Juni 1898. 

®” A. Kossel und A. Neumann, Ueber Nueleinsäure und Thyminsäure. Hoppe- 
Seyler’s Zeitschrift für physiologische Chemie. Bd. XXD. 8,74. 

® Olof Hammarsten, Zur Kenntniss der Nucleoproteide. Zbenda. Bd. XIX. 8.32. 


VERHANDLUNGEN D. BERLINER PHYSIOL. GESELLSCH. — A. NEUMANN. 375 


fibrinogen (Wooldridge), Cellfibrinogen (Wright), Cytoglobin und Prae- 
globulin (Alex. Schmidt), Nucleohiston (Kossel und Lilienfeld), 
Cellglobulin (Halliburton), Nucleoalbumin (Pekelharing) und Pancreas- 
Nucleoproteid « (Hammarsten) beschrieben sind. Es scheint, als ob 
diese Nuleoproteide I, wenn auch vielleicht nicht identisch, so doch sehr 
ähnlich sind. Diese Körper werden zum Theil durch siedendes Wasser in 
Albumin und ein neues Nucleoproteid II gespalten, wie Hammarsten an 
seinem Pancreas-Nucleoproteid P gezeigt hat. Beide Nucleoproteide lassen 
sich durch Pepsinsalzsäure in Eiweiss-- und das eigentliche Nuclein zer- 
legen, welch letzteres als durch die Pepsinverdauung unangreifbarer Rück- 
stand erhalten wird und durch Alkalien Nucleinsäure neben Eiweissstoffen 
abspaltet. Diese drei Arten Composita von Eiweissstoffen mit Nucleinsäure 
unterscheiden sich schon äusserlich dadurch ganz besonders, dass je mehr 
Eiweiss mit der Nucleinsäure sich verbindet der stark saure Charakter der 
Letzteren immer mehr schwindet. So hat das Nuclein noch entschieden saure, 
das Nucleoproteid II dagegen nur schwach saure Eigenschaften, während 
das Nueleoproteid I (wie z. B. Nueleohiston) neutralen Charakter zeigt. 

Ich komme nunmehr zu den eiweissfreien Nucleinsubstanzen, welche ich 
bezeichnen will als Nucleinsäure aund b und Nucleothyminsäure. Ich 
habe nämlich gefunden, dass die nach den bisherigen Verfahren gewonnene 
Nucleinsäure ein Gemenge der drei eben bezeichneten Säuren ist. Schon 
der Umstand, dass es-nicht möglich war, übereinstimmende Analysenzahlen 
für zwei nach derselben Methode gewonnene Präparate zu erhalten, liess 
' vermuten, dass kein einheitlicher Körper zu Grunde liege. Nach einem 
neuen, von mir ausgearbeiteten Verfahren gelingt es, willkürlich die drei 
genannten Säuren zu erhalten. Die Methode, über welche ich später genauer 
berichten werde, hat den Vortheil, dass man bereits innerhalb 11/, bis 
2 Tagen beliebige Mengen der einzelnen Verbindungen und zwar in vor- 
züglicher Ausbeute gewinnen kann (etwa 200 E% aus 6 FE Rein-Thymus). 
Gerade die kurze Darstellungszeit ermöglicht eine grössere Reinheit der 
Producte; denn anscheinend wird bei den früher länger dauernden Ope- 
rationen zur Gewinnung der Nucleinsäure die zuerst entstehende einheitliche 
Verbindung in die. nächsten beiden Abbauproducte gespalten und so ein 
Gemenge von den drei genannten Säuren erhalten. 

Ich will zunächst diese drei Substanzen kurz beschreiben und dann 
nachweisen, dass sie in der früheren Nucleinsäure enthalten sind. Durch 
einen und denselben Ansatz werden je nach kürzerer oder längerer Ein- 
wirkung die Nucleinsäuren a und b erhalten. Sie unterscheiden sich im 
Wesentlichen dadurch, dass die 5 proc. Salzlösungen von a gelatiniren, 
während das bei b nicht der Fall ist. Im Uebrigen sind die Eigenschaften 
von a und b ziemlich identisch und stimmen im Wesentlichen mit denen 
der früheren Nucleinsäure überein. Daraus, dass dieselben keine Biuretprobe 
geben, geht hervor, dass sie frei sind von Eiweiss und Leim. Die Gelatinir- 
barkeit des Körpers a kann leicht durch Polymerisation erklärt werden. 
Es scheinen hier ähnliche Verhältnisse vorzuliegen, wie bei Stärke, Leim 
und in gewisser Beziehung bei den Eiweissstoffen. Aus beiden Körpern 
wird durch hydrolytische Spaltung unter ganz bestimmten Bedingungen eine 
neue bisher nicht bekannte Säure erhalten, welche nach der obigen 
Definition als Nucleinsubstanz aufzufassen ist; denn sie enthält noch Phosphor- 


376 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


säure, Kohlehydrate und Alloxurbasen und ist durch Salzsäure fällbar. 
Durch diese Fällbarkeit mittels Salzsäure und die Anwesenheit vor Alloxur- 
körpern unterscheidet sie sich von ihrem nächsten Abbauproduct, der schon 
früher von A. Kossel und mir beschriebenen Thyminsäure. Der ihr bei- 
gelegte Name Nucleothyminsäure charakterisirt somit ihre Stellung zwischen 
der letzteren und den eigentlichen Nucleinsäuren. Von diesen unterscheidet 
sie sich wesentlich dadurch, dass sie in kaltem Wasser ziemlich leicht lös- 
lich ist; ausserdem scheint sie nicht mehr dieselben Alloxurkörper zu besitzen, 
wie die Nucleinsäuren. Bezeichnet man die Substanzen Xanthin und Guanin 
als Xanthingruppe; Hypoxanthin und Adenin dagegen als Hypoxanthingruppe, 
so lassen sich in den Nucleinsäuren a und b Körper beider Gruppen, in der 
Nucleothyminsäure dagegen hauptsächlich nur Substanzen der Hypoxanthin- 
gruppe nachweisen. Für die Xanthingruppe ist bekanntlich folgende Reaction 
charakteristisch Man dampft mit Salpetersäure vorsichtig ab und erhält 
einen gelben Rückstand, der sich durch Natronlauge rothbraun färbt und 
dann erhitzt vorübergehend violett wird. Kocht man nun die drei genannten 
Säuren zunächst mit Wasser bis zur klaren Lösung, versetzt dann mit 
Salzsäure und kocht bis ein entstandener Niederschlag sich völlig gelöst 
hat, so erhält man nach dem Uebersättigen mit Ammoniak durch Silbernitrat 
beim Erhitzen im Wasserbade Fällung der Alloxurkörper in Form ihrer 
Silberverbindungen. Stellt man aus diesen die Basen in der üblichen Weise 
dar, so beobachtet man, dass nur die aus den Nucleinsäuren a und b ge- 
wonnenen Alloxurkörper die oben genannte für die Substanzen der Xanthin- 
gruppe charakteristische Reaction geben, die aus der Nucleothyminsäure 
dargestellten Körper aber nicht." Auch die Fällbarkeit durch Salzsäure ist 
nicht mehr so absolut wie bei den Nucleinsäuren. Die neue Säure steht 
somit in jeder Beziehung genau in der Mitte zwischen den Nucleinsäuren 
und der Thyminsäure, ist jedoch durch ihre Reactionen scharf von beiden 
unterschieden. Verschiedene Präparate der Säure b und der Nucleothymin- 
säure ergaben gut stimmende Analysenzahlen; letztere enthält mehr Phosphor 
als die andere und weniger als die Thyminsäure.. Die ausführlichen analy- 
tischen Ergebnisse sollen demnächst mitgetheilt werden. 

Es bleibt noch übrig nachzuweisen, dass die bisherige Nucleinsäure 
ein Gemenge der drei genannten Säuren ist. Um die frühere Nucleinsäure 
zu reinigen, wurde sie in Ammoniak gelöst und dann nochmals durch Salz- 
säure gefällt. Es gelang nicht die ammoniakalische Lösung zu filtriren, da 
in Folge der gelatinirenden Beschaffenheit die Filtration bald aufhört. Diese 
Eigenschaft theilt sie mit der Säure a. Die Anwesenheit von Nucleothymin- 
säure konnte auf folgende Weise ermittelt werden. Extrahirt man die 
frühere Nucleinsäure mit kaltem Wasser und fällt durch Salzsäure, so ist 
ein grosser Theil des erhaltenen Niederschlages in kaltem Wasser löslich. 
Fällt man dann nochmals mit Salzsäure, so bekommt man einen in Wasser 
völlig löslichen Rückstand, welcher in seinem ganzen Verhalten mit der 


! Es muss allerdings erwähnt werden, dass auch Präparate von Nucleothymin- 
säure erhalten wurden, welche die obige Reaction gaben, wenn auch viel schwächer 
wie die Nucleinsäuren. Ob hier nur eine Verunreinigung vorlag, konnte noch nicht 
entschieden werden. Es sollen demnächst genaue Bestimmungen der Alloxurkörper, 
sowohl in den Nucleinsäuren wie in der Nucleothyminsäure angestellt werden, welche 
dann sichere Auskunft über diesen Punkt geben müssen. 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — A. NEUMANN. 377 


Nucleothyminsäure identisch ist. Da nun anscheinend die Letztere aus der 
Säure a nur über die Säure b sich bildet, so müssen in der früheren Nuclein- 
säure die drei genannten Säuren neben einander vorhanden sein. 

Als Spaltungsproducte der drei Säuren konnten dieselben wie bei der 
früheren Nucleinsäure! nachgewiesen werden: 

Basische Substanzen: Alloxurkörper, Cytosin und Ammoniak 

Saure Substanzen: Lävulinsäure und Ameisensäure (Kohlehydrat) und 

Phosphorsäure 
ferner das ziemlich neutrale Thymin. Ausserdem geben alle drei Verbindungen 
die Tollens’sche Pentose-Reaction mit Phlorogluein-Salzsäure. 

In Folgendem soll noch ein kurzer Gang mitgetheilt. werden, durch 
den Nucleinsubstanzen schnell und leicht erkannt werden. Man löst die 
Substanz in Natronlauge (eine Probe färbt sich beim Erhitzen gelb bis braun) 
und versetzt mit Essigsäure; die eiweisshaltigen Nucleinkörper geben Fällung, 
die eiweissfreien nicht. In beiden Fällen wird Salzsäure hinzugefügt, wo- 
durch auch die letzteren gefällt werden, und gekocht bis zur klaren Lösung. 
Diese salzsaure Lösung wird in zwei Theile getheilt. Der eine giebt auf 
Zusatz von Phlorogluein beim Erhitzen mit concentrirter Salzsäure eine kirsch- 
rothe Färbung, der andere nach dem Uebersättigen mit Ammoniak durch 
Silbernitrat beim Erhitzen im Wasserbade flockige Fällung der Alloxur- 
Silberverbindungen. Die Phosphorsäure wird nach dem Veraschen mit Soda 
und Salpeter durch miolybdänsaures Ammoniak leicht nachgewiesen. 

Zum Schluss möchte ich noch einige Wirkungen der Substanzen auf 
den thierischen Organismus kurz berühren. Wie alle Nucleinsubstanzen, 
werden auch die genannten drei Säuren bei der Verdauung mittels Pepsin- 
salzsäure nicht angegriffen; es ist dies wohl hauptsächlich darauf zurück- 
zuführen, dass schon Salzsäure allein die Substanzen völlig unlöslich macht 
und dadurch ein Eingreifen des Ferments wesentlich erschwert wird. Die 
alkalischen Darmsäfte lösen die Säuren dagegen leicht auf und sie scheinen 
in diesem Zustande dann resorbirt zu ‘werden. Ein Versuch an einem 
Hunde von 9 Y& Gewicht, welehem 9 3” Nucleinsäure gegeben wurde, zeigte, 
dass die Phosphorsäuremenge, welche mit der Nucleinsäure aufgenommen 
worden, fast völlig wieder ausgeschieden wurde und zwar etwa */, durch 
den Harn und !/, durch die Fäces. Weitere Untersuchungen sollen die 
Wirkung der Nucleinsäuren darthun bei solchen Patienten, bei denen Spal- 
tungsproducte der Nucleinsubstanzen pathologisch oder vermehrt aus- 
geschieden werden. Ueber diese Versuche, die ich gemeinsam mit Herrn 
Dr. Zinn in der Charite ausführe, wird später berichtet werden. Zur Be- 
stimmung der Phosphorsäure verwende ich die einfache Methode,? die ich 
im vorigen Jahre an dieser Stelle mitgetheilt habe; dieselbe hat sich als 
völlig brauchbar erwiesen. 

Für Versuche, bei welchen subeutan injieirt werden soll, eignet sich 
besonders die Nucleothyminsäure. Interessant ist noch die Beobachtung, 
dass Nucleinsäure b per os gegeben oder Nucleothyminsäure subeutan 
injieirt innerhalb weniger Stunden eine starke Hyperleucocytose (von etwa 


! A. Kossel und A. Neumann, Darstellung und Spaltungsproducte der Nuclein- 
säure (Adenylsäure). Berichte der deutschen chem. Gesellschaft. Bd. XXV1I. S. 2215. 

®A.Neumann, Eine einfache Methode zur Bestimmung der Phosphorsäure bei 
Stoffwechselversuchen. Dies Archiv. 1897. Physiol. Abthlg. S. 552. 


378 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


7000 auf etwa 21000 Leucocyten) hervorruft, welcher eine Hypoleucocytose 
nicht vorangeht. Allerdings wurde dieselbe bei einem Kaninchen von 2:5 %& 
erst durch eine Dosis von 2-5 2% Nucleinsäure erzielt. Gleich starke Dosen 
der Natronsalze beider Säuren haben dagegen ebensowenig wie Essigsäure 
von derselben Acidität irgend welche Wirkung zur Folge gehabt. Ob diese 
Thatsachen einen praktischen Werth haben zur Erzeugung einer unschädlichen 
Hyperleucocytose z. B. bei Infectionskrankheiten, hat bisher noch nicht 
geprüft werden können. Jedenfalls habe ich durch Selbstversuch und auch 
bei Anderen festgestellt, dass die Nucleinsubstanzen, selbst in grösseren 
Mengen (z. B. 10 8'%) ohne Weiteres gut vertragen werden. — 


XII. Sitzung am 27. Mai 1898. 


Hr. R. Du Boıs-Reymonp hält den angekündigten Vortrag: Ueber die 
Athmung von Dytiscus marginalis. 


Eine besondere Stellung im Thierreiche nimmt hinsichtlich der Athmung 
die nach Taschenberg nur etwa sechshundert Arten umfassende Gruppe 
der Wasserkäfer ein. Ihre Respirationsorgane unterscheiden sich im All- 
gemeinen nicht von denen der in der Luft lebenden Insecten, trotzdem das 
Wasser ihr ständiger Aufenthalt ist. Mit Recht schickt daher Taschenberg 
seiner Schilderung der Dytisciden in Brehm’s Thierleben den Satz voraus: 
„Die Schwimmkäfer sind für das Wasser umgeschaffene Laufkäfer.“ Die 
Beschreibung, die er von der Athmung macht, trifft aber nicht für alle 
Arten zu, und wirft gerade auf die Umstände wenig Licht, durch welche es 
diesen luftathmenden Käfern möglich ist, sich unter Wasser nach Willkür 
aufzuhalten. Ihr Athmungsbedürfniss ist jedenfalls sehr gross, da nach 
Regnault und Reiset’s Tafeln die Intensität der Athmung beim Maikäfer 
annähernd dieselbe ist, wie beim Säugethier, beim Hunde. Die fleisch- 
fressenden Schwimmkäfer haben nach W. Müller! ein noch stärkeres 
Athmungsbedürfniss. Ein einziger Käfer zehrt in 72 Stunden den Sauerstoff- 
gehalt von über 50 °“ Luft vollständig auf. Es würde ihnen daher nicht 
genügen „mit ihrer Hinterleibsspitze, wo das letzte Luftröhrenpaar mündet 
— frische Luft auf- und am filzig behaarten Bauche mit hinabzunehmen“. 
Dytiscus marginalis entbehrt überhaupt der Behaarung am Bauche. Sondern 
es wird, wie Graber? sagt, „eine Portion Luft unter die gewölbten Deck- 
Nügel aufgenommen, die, ringsum fest an den Rumpf schliessend eine ge- 
räumige, als Gaskammer sehr geeignete Rückentasche bilden“. Dies kann 
man sehr genau beobachten, wenn man ein Gefäss, in welchem sich Schwimm- 
käfer befinden, so voll giesst, dass das Wasser über dem Rande steht, und es 
dann mit einer Glasscheibe so bedeckt, dass einige Luftblasen mit ein- 
geschlossen werden. Man sieht meist schon im Laufe einer Minute die 
Käfer in die Höhe steigen und mit der Hinterleibsspitze nach der Ober- 


ı W.Müller, Ein Käfer-Endiometer. ” Vorschlag zu einem Vorlesungsversuch. 
Poggendorff’s Annalen der Physik und Chemie. 1812. V.25 (145). S. 455. 
® Vitus Graber, Die Insecten. München 1877. Bd.]I. S. 353. 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — R. pu Bois-RErmonn. 379 


fläche tasten. Oft scheint es, als wenn sie die einzelnen Luftblasen mit 
den Augen oder Fühlern wahrnähmen: sie drehen sich dann schnell herum 
und fahren mit dem Hinterleib hinein. Da sie unausgesetzt nach allen 
Richtungen umhertasten, mag dies auch nur zufällig sein, jedenfalls aber 
empfinden sie es genau, wenn sie auf eine Luftblase stossen. Dann sieht man 
einen Spalt zwischen Flügeldecken und Abdomen sich öffnen, in dessen Tiefe 
silbern glänzend die rückständige Luft des Behälters erscheint, und die 
äussere Luft tritt hinein.! Mitunter wird eine ganze Blase von 12 bis 15 m 
Durchmesser förmlich eingeschluckt. Dann fährt der Käfer hinab und kann 
wieder längere Zeit aushalten, während der er die verbrauchte Luft wieder 
von sich giebt. Da jedoch der Rückenraum niemals ganz entleert wird, so 
mischt sich die frische Luft darin mit der verbrauchten, ebenso wie bei 
der Lungenathmung die Athmungsluft mit der rückständigen und vorräthigen 
Luft. Da also.den Tracheen nur eine Mischung von frischer und verbrauchter 
Luft zugeführt wird, muss die Athmung der Wasserkäfer auch im Bezug 
auf den Gaswechsel von der der Luftinsecten verschieden sein. Dass eine 
wirkliche Inspirationsbewegung, ein Einsaugen der Luft stattfindet, wobei 
die bewegliche obere Wand des Abdomens zwerchfellähnlich wirkt, wird 
dadurch klar, dass, wenn man in die Flügeldecken oberhalb eine Oeffnung 
schneidet, jedesmal wenn die Hinterleibsspalte geöffnet wird das Wasser in 
die obere Oeffnung eindringt. Aber es tritt dann nicht der Fall ein, dass 
der Käfer genöthigt ist, fortwährend an der Oberfläche zu verweilen, sondern 
entweder, wenn das Loch nur klein ist, bleibt ein hinreichender Theil des engen 
schwerbenetzbaren Hohlraumes wasserfrei, oder, wenn man die Flügeidecken 
gänzlich entfernt, geht der Käfer in kurzer Zeit zu Grunde. Der Tod wird 
offenbar nur dadurch veranlasst, dass die Athmung verhindert ist, denn ein 
in feuchter Luft gehaltener Käfer, dem ebenfalls beide Flügeldecken und 
Flügel entfernt waren, lebte wochenlang, während im Wasser befindliche 
innerhalb zwölf Stunden ertranken. Das könnte zwar daran liegen, dass 
sie ohne ihren Luftbehälter schwerer sind als das umgebende Wasser, und 
der Anstrengung erliegen, den Hinterleib immerfort an die Oberfläche zu 
bringen, während sie im ‚gesunden Zustande so leicht sind, dass sie sich 
nur durch Ruderbewegungen oder Anklammern unter Wasser halten können. 
Indessen sind sie so kräftig und schwimmen so vortrefflich, dass diese 
Annahme durch die Kürze der Zeit ausgeschlossen scheint. Es ist also dem 
Käfer unmöglich, an der Oberfläche mit den Tracheen zu athmen, sondern 
er ist auf die Luft unter seinen Flügeldecken angewiesen. Die Bewegungen, 
welehe die Aufnahme dieser Luft bezwecken, verdienen demnach als zur 
Athmung unentbehrlich eine eingehendere Untersuchung. 

Der Raum unter den Flügeldecken ist für gewöhnlich vollständig ge- 
schlossen, und zwar sind besondere Vorkehrungen vorhanden, den Schluss 
völlig dicht zu machen. Die Flügeldecken schnappen mit ihrem feinen, 
dichtanliegenden Rand, wie der Deckel einer Taschenuhr in eine Art Falz am 
Rande der Bauchwölbung. Etwas weiter innen wird der Schluss dieser Fassung 


! Der Mechanismus der Luftaufnahme ist bei den verschiedenen Arten der Wasser- 
käfer wesentlich verschieden. Bei Hydrophilus tritt die Luft vorn am Thorax auf die 
Brustfläche und von da unter die Flügeldecken, so dass der Käfer auch durch Empor- 
strecken der vorderen Gliedmaassen einen Luftweg zur’ Oberfläche zu bilden vermag. 
Reil und Authenrieth. 1811.) 


380 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


durch einen weichen, schlaffen Hautwulst gesichert. Ueber dem ersten Ab- 
dominalring ist dieser Wulst fester und zeigt eine quergerippte Oberfläche. 
Mitunter sieht man am lebenden Thiere den Wulst sich in eigenthümlicher 
Weise blähen und wieder einfallen. An dem gerippten Abschnitt des Seiten- 
wulstes kann man ebenfalls eigenthümliche peristaltische Bewegungen wahr- 
nehmen. Dem hintersten Rückenschild entspricht auf der Unterseite der Flügel- 
decken ein goldpunktirtes Feld, dem Seitenwulst eine ebensolche Rinne. Der 
Spalt zwischen beiden Flügeldecken ist an dem vorderen Ende nach beiden 
Seiten durch kleine Hautlappen verschlossen, welche die Kante der Flügel- 
decke lose mit dem Rücken verbinden, so dass sie sich spannen, wenn die 
Flügeldecken aufgerichtet werden. Weiter hinten legt sich die Flügeldecke in 
einen Falz der rechten. Nur hinten liegt der glatte, dünne Rand der Flügel- 
decken ohne besonderen Schluss dem behaarten letzten Rückenschilde auf. 
Die Bewegungen, mittels deren an dieser Stelle Luft aufgenommen werden 
kann, sind, wie aus den oben mitgetheilten Beobachtungen hervorgeht, von 
zweierlei Art. Erstens wird der Rücken eingezogen, so dass sich der Hohlraum 
unter den Flügeldecken vergrössert. Durch die Zusammenziehung der Muskel- 
streifen, welche die Querstücken der Rückenhaut verbinden, kann der Inhalt 
der Leibeshöhle an einzelnen Stellen weggedrückt werden. Zweitens wird die 
Spitze des Abdomens. unter den Flügeldecken hervorgeschoben und so gestellt, 
dass ein spaltförmiger Eingang zum Rückenraum sich bildet. Diese 
Bewegung scheint alle Momente, die für den „Schluck“ nothwendig sind, 
in sich zu schliessen, und auf einem ganz eigenthümlichen Mechanismus zu 
beruhen. Der hintere Abschnitt des Abdomens enthält die Zeugungsorgane, 
die bei beiden Geschlechtern aus vorstülpbaren röhrenförmigen Gebilden 
bestehen. Diese liegen in einem membranösen, durch Chitinleisten verstärkten 
Kapsel, in welcher sie durch Muskeln verschiebbar sind. Die Kapsel ihrer- 
seits ist nicht an den Körperwänden unmittelbar, sondern an eine Art 
Verdoppelung des letzten Abdominalschildes, die innerhalb der Bauchhöhle 
auf diesem liest, angeheftet. Nicht das Abdominalschild selbst wird bei 
der Athmung für gewöhnlich unter den Flügeldecken sichtbar, sondern dieser 
darüber gelegene Theil. Es ist eine in ihrer Gestalt dem Bauchschilde 
angepasste Chitinplatte, die in der Mitte durch einen Längsspalt getheilt ist. 
Kopfwärts sind die Hälften durch einen starken, über der Grenze des letzten 
und vorletzten Bauchringes transversal gelegenen Bügel zusammengehalten. 
Die Verbindung der Platte mit der Leibeswand wird, abgesehen von membra- 
nöser Anheftung an den Seiten, nur durch diesen Bügel vermittelt, von 
welchem Muskeln nach bauchwärts und hinten, bis an die Mitte des letzten 
Abdominalringes verlaufen. Ihre Thätigkeit muss also den Bügel mit sammt 
der Platte nach hinten ziehen und unter den Flügeldecken hervortreiben. 
Diese Bewegung wird jedoch vervollkommnet durch die Muskeln der 
Genitalkapsel, welche die Rolle accessorischer Athemmuskeln übernehmen. 
Die Genitalkapsel liegt auf der Platte, über ihr und zwischen den Hälften 
verschiebbar. Ihr hinteres Ende ist an dem vorderen Rand der Platte, an 
den Bügel, mittels medianer, das vordere an den hinteren Rand der Platte 
mittels lateraler Muskelbündel befestigt. Ausserdem ist die Kapsel durch 
Muskeln nach kopfwärts und oben an die Rückenhaut geheftet. Vermittelst 
dieser Anordnung kann bei Erschlaffung der übrigen Muskeln diejenige 
Gruppe, welche das hintere Ende der Platte mit dem vorderen der Kapsel 


PHYSIOLOG. GESELLSCH. — R. DU Boıs-Reymond. — M.G. Schaper. 381 


verbindet, letztere nach hinten ziehen. Obgleich das hintere Ende der 
Platte lose ist, wird es doch nicht nachgeben, weil der Zug fast in der 
Ebene der Platte selbst erfolgt. Ist jedoch die Kapsel durch ihre Ver- 
bindung mit dem Bügel und den Rückenschildern fixirt, so wird der hintere 
lose Rand der Platte an die Kapsel herangezogen, wodurch die Platten auf- 
gerichtet und zugleich die Kapsel in die Tiefe des Abdomens hinabgedrückt 
werden muss. Diese Bewegung kann man auch nach Entfernung der 
Rückendecken am lebenden Thiere beobachten. Indem zugleich der Bügel 
von seinen Muskeln nach hinten an das Bauchschild gezogen wird, entsteht 
die Bewegung, die man beim „Schlucken“ der Luft beobachtet, dass nämlich 
die Platte zugleich vorgeschoben und nach oben gestülpt wird, so dass ein 
Spalt unter den Flügeldecken sich öffnet, während der Zug an der Kapsel 
und die Musculatur der Rückenhaut den Rückenraum erweitern. 


XIV. Sitzung am 17. Juni 1898. 


Hr. Dr. M. G. Schuarr (a. G.) hält den angekündigten Vortrag: Ueber 
Differenzen im Bau der Hirnrinde. Mit Projectionsbildern. 


Nach einem kurzen historischen Ueberblick über die bisherigen An- 
sichten vom Bau der Grosshirnrinde berichtete der Vortragende über seine 
Untersuchungen an Mensch, Affe, Hund, Katze, Pferd und Pteropus und 
demonstrirte mit dem Projectionsapparat seine nach Nissl gefärbten Prä- 
parate. Er zeigte, dass die Rinde in ihren einzelnen Abschnitten von den 
verschiedenen Thieren sich nicht gleich verhalte, und dass die anatomische 
Ausbildung der verschiedenen Rindenregionen dem Grade der funetionellen 
Leistungsfähigkeit der in ihnen localisirten Sinnesorgane bis zu einem ge- 
wissen Grade parallel geht. So kann man in der phylogenetischen Thier- 
reihe von unten nach oben aufsteigend unterscheiden: 

Beim Pteropus eine wohl entwickelte Region, und zwar die des Riech- 
hirns. Beim Pferde ausser dieser eine höhere Entwickelung der ganzen 
Rinde, ohne dass man jedoch im Stande wäre, einzelne Gebiete scharf von 
einander abzugrenzen. Bei Hund und Katze kommt noch hinzu, dass die 
motorische Gegend deutlich hervortritt, und dass man hier schon deutlich 
den 7schichtigen Typus in der Parietalgegend vorfindet. 

Beim Affen und Menschen glaubt Vortragender von einander abgrenzen 
zu können: die Riechregion, die motorische Region, welche einen öschichtigen 
Typus zeigt, den 7schichtigen Typus, welcher wahrscheinlich nicht nur der 
Funetion eines Sinnesorganes dient, wie hauptsächlich beim Menschen schon 
aus seiner grossen Verbreitung über die Rinde hervorgeht, sondern nament- 
lich die von Flechsig als Assoeiationscentra bezeichneten Theile; ferner 
den Temporaltypus, der allerdings auch 7schichtig ist, sich aber durch be- 
sondere Entwickelung der 5. und 7. Schicht auszeichnet. Schliesslich die 
sehr scharf und deutlich abgrenzbare Sehregion. Diese zeigt sich nicht in 
dieser Weise so entwickelt bei niederen Thieren, und daraus zieht Vor- 


1 Ausgegeben am 11. August 1898. 


382 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


tragender den Schluss, dass bei ihnen das Rindensehen weniger ausgebildet 
ist, und bringt hiermit in Zusammenhang die weit höhere Differenzirung 
des Corpus geniculatum laterale bei denjenigen Thieren, die eine scharf 
ausgeprägte Sehregion besitzen, wie beim Affen und Menschen. 


XV. Sitzung am 1. Juli 1898. 


1. Hr. Dr. CArL HAMBURGER (a. G.) hält den angekündigten Vortrag: 
Besteht freie Communication zwischen vorderer und hinterer 
Augenkammer?! 


Die moderne Ophthalmologie nimmt an, dass die Seeretion des Kammer- 
wassers eine Function der Ciliarfortsätze sei, und dass die hinter der Iris 
abgesonderte Flüssigkeit in beständiger Strömung durch die Pupille in die 
vordere Augenkammer riesele, wo (im Fontana’schen Raum) ein absolut 
constantes Abfliessen statthabe.” Diese Auffassung, nach welcher die Iris- 
vorderwand secretorisch völlig inactiv ist, stützt sich besonders auf die 
Autorität Leber’s. ‘Offenbar steht und fällt diese Anschauung mit der 
constanten Durchgängigkeit der Pupille. 

(Die vorliegenden Versuche geschahen auf Anregung von Hrn. Geheim- 
rath Ehrlich im Laboratorium und unter dankenswerthester Förderung von 
Hrn. Prof. Zuntz.) 

Dass Iris und Linse einander dicht anliegen, ist sicher. Es geht dies 
vor allem daraus hervor, dass am aphakischen Auge die vordere Kammer 
so sehr viel tiefer ist als in der Norm. Hierdurch ist ferner klar, dass am 
normalen Auge die Linse gleichsam in die vordere Kammer hineinragt und 
die Iris nach vorn gedrängt wird. Dies ist deshalb wichtig, weil im Pupillar- 
theil der Iris sich ihr ringförmiger Schliessmuskel befindet, der wie jeder 
Sphincter einen Tonus besitzt und an der frei vorragenden Linsenconvexität 
für seinen Druck gewissermaassen ein Widerlager findet. Lässt man ferner 
ein frisch enucleirtes, vorher eserinisirtes Kaninchenauge in Kältemischung 
frieren und zerschneidet es dann mit der Laubsäge, so zeigt sich, dass Iris 
und Linse sich nicht etwa bloss am Pupillarsaum berühren, sondern dass 
sie flächenhaft an einander liegen, mehrere Millimeter breit. Daraus folgt, 
dass die Augenkammern um so schwerer werden communieiren können, je 
enger die Pupille ist, denn um so breiter ist dann der Sphincter entfaltet, 
um so breiter der abschliessende, gleichsam dichtende Ring. 

Trotzdem wäre es sehr wohl denkbar, dass Communication bestünde: 
es könnte ja die Irisrückseite kleine Unregelmässigkeiten und Riefen be- 
sitzen, wie Leber annimmt, welche vielleicht zwischen Iris und Linse feinste 
radiäre Spalträume zu Stande kommen lassen. 


! Erschienen im Augustheft des Centralblattes für Augenheilkunde. 1898. 

® Nach Untersuchungen Niesmanoff’s (Arch. f. Ophthalm. Bd. XLIII.) beträgt 
die Zeit, in welcher die vordere Kammer ihren Inhalt einmal erneut, 30 Minuten. 
Wahrscheinlich aber ist diese Zeit noch zu hoch gegriffen; denn Niesmanoff berück- 
sichtigt bei seinen Versuchen nur die rein physikalische Filtration im Fontana’schen 
Raum und vernachlässigt ganz die Resorption an der Irisvorderwand. 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — CARL HAMBURGER. 383 


Um diese Frage zu beantworten, wurde ins lebende Thierauge Berliner 
Blau eingespritzt, und zwar direct in die hintere Kammer hinein (nach dem 
Vorgange Koster’s): Dabei ergab sich die überraschende Thatsache, dass 
der Farbstoff, selbst wenn er ganz oben injieirt wurde, keineswegs die 
Pupille passirt, sondern sich hinter der Iris ringförmig ausbreitet, während 
das Pupillargebiet völlig frei bleibt — man sieht das am albinotischen Auge 
schon in vivo; das Mikroskop erhärtet den Befund. Dies spricht bereits 
sehr stark gegen eine freie Communication, und nur der Einwand bleibt 
noch, es könnten diese feinen Spalten vielleicht so eng sein, dass nur Flüssig- 
keit hindurchsickert, aber nicht eine (wenn auch sehr feinkörnige) geformte 
Substanz, wie Berliner Blau. 

Um auch diesem Einwand zu begegnen, wurde Fluorescein benützt 
(von Ehrlich 1882 in die Physiologie des Auges eingeführt). Dieser Farb- 
stoff ist in Wasser absolut löslich und durch seine Fluorescenz noch in einer 
Verdünnung von 1 auf 2000000 auf dunklem Grunde kenntlich. Bei 
‚dieser enormen Färbkraft war zu erwarten, dass sie, in concentrirter Lösung 
der hinteren Kammer einverleibt, sofort auch die vordere Kammer fluorescent 
machen würde, sofern die Annahme richtig ist, dass freie Communication 
besteht; und nach längstens einer Minute muss jetzt die vorher tiefschwarze 
Pupille deutlich grün geworden sein. 

Dies aber ist ganz und gar nicht der Fall: die Pupille bleibt durch- 
aus schwarz, 5, 10, 15 Minuten lang. Punktirt man aber jetzt die vordere 
Kammer, um durch Aufheben des auf der Iris lastenden Druckes den .In- 
halt der hinteren Kammer herbeizulocken, so stürzen sofort die hellgrünen 
Farbstoffwolken nach vorn — ein höchst überraschender Anblick. 

Diese Verhältnisse sind die gleichen, ob das Auge vorher eserinisirt 
war oder nicht. Von prineipieller Bedeutung erscheint es, dass der Farb- 
stoff allseitig überströmen kann, wenn ein Thier, dessen hintere Kammer 
bei normaler Pupillenweite gefärbt wurde, für einige Zeit ins Dunkle gesetzt 
wird: also bei maximalster Mydriasis scheinen die Kammern zu communi- 
eiren. Sicher aber ist, dass von einem ständigen Ueberströmen 
in allen den Fällen keine Rede sein kann, wo durch Aufenthalt 
in hellen Räumen oder durch anhaltende accommodative Nah- 
arbeit oder gar durch Eseringebrauch (chronisches Glaucom!) 
eine mittlere oder gar starke Miosis garantirt ist. In allen diesen 
Fällen bleibt zur Ergänzung des Kammerwassers nichts anderes 
übrig, als die Irisvorderwand, eine Gefässprovinz, die schon durch 
ihren enormen Blutreichthum zur Seeretion wie geschaffen ist (zumal das 
Netz der Capillarschlingen unter dem vorderen Endothelbelag 
sehr viel dichter ist als hinten), von der aber die Heidelberger Schule 
entschieden bestreitet, dass sie an der Absonderung des Humor aqueus unter 
physiologischen Bedingungen irgendwie betheiligt sei. 

Wie aber stimmt die Thatsache, dass die beiden Organe Iris und Linse 
für gewöhnlich wasserdicht adaptirt sind und nur nach anhaltender Ver- 
dunkelung Flüssigkeit durchtreten lassen, mit den klinischen Beobachtungen, 
welche lehren, dass bei ringförmiger Synechie zwischen Iris und Linse Druck- 
steigerung eintritt? Weist dies nicht darauf hin, dass für die normale Er- 
nährung des Auges die freie Communication unerlässlich sei? 

Die Antwort giebt folgender Versuch: man luxire ein Kaninchenauge 


384 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


und halte es in dieser Stellung etwa 8 Minuten; dann wird es wieder re- 
ponirt. Jetzt wird in eine Vene — ganz gleichgültig, an welcher Stelle 
des Körpers — 1°" der 20procent. Fluoresceinlösung injieirt. Nach einer 
halben Minute ist das Thier von oben bis unten gelbgrün, gleichsam ikte- 
risch; nach weiteren 5 Minuten sieht man, dass an dem — völlig unver- 
sehrten! — Versuchsauge der Sphincter gelüftet wird, indem aus der 
hinteren Kammer ein kleiner grüner Farbstoffklumpen hervorquillt, der 
seiner Schwere folgend durch das Pupillargebiet nach unten sinkt. All- 
mählich erfolgt der Uebertritt auch noch an anderen Stellen, und nach etwa 
15 Minuten hat sich am Boden der vorderen Kammer ein „grün leuehtendes 
Hypopyon“ gebildet (wie es Ehrlich zuerst beschrieben hat nach Punktion 
der Hornhaut). — Offenbar ist es die übermässige Blutstauung, welche, pro- 
voeirt durch die abnorme Stellung, in dem blutreichsten Organ des Auges: 
dem Ciliarkörper eine so massige Absonderung hervorrief, dass ihrem Druck 
der Sphineter nachgeben musste. — Das andere Auge zeigt während des 
ganzen Versuches nichts Bemerkenswerthes. 

Die Consequenzen für die Pathologie liegen auf der Hand: Synechie 
zwischen Iris und Linse ist undenkbar ohne Entzündung, Entzündung un- 
denkbar ohne Circulationsstörung. Zeigt aber dieser Versuch, dass schon 
eine vorübergehende. Stase die hintere Kammer zum Ueberlaufen bringt, — 
um wie viel mehr muss dies der Fall sein bei Entzündungen im Augen- 
innern, zumal nur langdauernde oder reeidivirende zu ringförmiger Synechie 
zu führen pflegen. Es muss also ganz natürlich zu Drucksteigerung kommen, 
wenn in solchen Fällen die überfüllte hintere Kammer sich nicht mehr ent- 
leeren kann. Die Versuche sind somit mit den klinischen Beobachtungen 
durchaus in Harmonie. 

Erwähnt sei noch, dass durch die Annahme eines physiologischen Pu- 
pillarabschlusses anstatt der bisher acceptirten freien Communication ein 
Widerspruch gelöst wird, der bisher unerklärt blieb: Kammerwasser und 
Glaskörperflüssigkeit, beide sollen von den Ciliarfortsätzen stammen; ersteres 
aber ist von Eiweiss frei, letztere daran sehr reich. Der Widerspruch löst 
sich jetzt sehr einfach: das Kammerwasser stammt eben unter normalen 
Verhältnissen und seiner Hauptmenge nach nicht von den Ciliarfortsätzen, 
sondern aus der Vorderwand der Iris. 

Die Frage also: besteht ständige freie Communication oder nicht, muss. 
mit Nein beantwortet werden. 


2. Hr. Dr. Max DaAvıp (a. G.) hält den angekündigten Vortrag: Die 
histologischen Befunde bei Einheilung von lebendem und todtem 
Knochenmaterial in Knochendefecten.! 


Die von Ollier, Wolff u. A. vertretene Lehre, dass Knochenstücke, 
die aus ihrer Verbindung mit dem Mutterboden völlig losgelöst, dann aber 
wieder replantirt werden, bei ungestörtem Wundverlauf ihre volle Lebens- 
fähigkeit bewahren, war von Arthur Barth angegriffen worden. Barth 
behauptete, dass ausnahmslos einmal losgelöste Knochenfragmente der Nekrose 
verfallen, und dass dann das nekrotisirte Stück zum Aufbau eines neuen 
Knochens verwendet werde, der sich durch einen Substitutionsprocess aus. 


! Die Arbeit erscheint ausführlich im Langenbeck’schen Archiv. 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — MAx Davip. -——- C. BEnDA. 385 


dem todten bilde. Es sei principiell nicht verschieden, ob der betr. Knochen- 
defeet durch ein noch lebendes oder bereits todtes (macerirtes) Knochenstück 
oder auch. durch Elfenbein u. s. w. gedeckt werde, die histologischen Vor- 
gänge seien stets dieselben. 

Gegen diese Thesen hat David in einer nach streng durchgeführter 
Anordnung ausgeführten Arbeit Widerspruch erhoben. David hat die Ver- 
suchsthiere in Zwischenstadien von je 1 Woche das erste 1 Woche, das 
letzte 26 Wochen p. op. getödtet und zur Untersuchung gebracht, und zwar 
wurde bei der einen Versuchsreihe der Defect mit überlebendem, bei der 
anderen mit todtem (ausgekochtem) Knochen gedeckt. Ein anderer Versuch 
ging dahin, den Defect mit Elfenbeinplättchen zu decken. Die betr. Thiere 
wurden 4, 8, 26 und 52 Wochen p. op. zur histologischen Untersuchung 
gebracht. 

Auf Grund dieser Versuche kommt David nun zu folgenden, Barth 
direet entgegengesetzten, den Ansichten der genannten älteren Autoren aber 
entsprechenden Resultaten: 

1. Der in seine Ursprungsstelle replantirte überlebende Knochen bewahrt 
seine Integrität; er wird zwar vorübergehend — bis zur Wiedereinschaltung 
in den Kreislauf — in seiner Vitalität herabgesetzt, erringt dieselbe aber 
nach einiger Zeit vollkommen wieder. 

2. Implantirtes todtes Material (todter Knochen, Elfenbein) wird resor- 
birt und secundär durch neuen Knochen ersetzt. 


XVL Sitzung am 15. Juli 1898. 


1. Hr. ©. BenpA hält den angekündigten Vortrag: Ueber die Sper- 
matogenese der Vertebraten und höherer Evertebraten. I. Theil. 
Ueber die vegetativen Geschlechtszellen. 


Die Anschauungen über das Vorhandensein und die Bedeutung einer 
zweiten Zellart neben den eigentlich samenbildenden Elementen sind inner- 
halb der letzten zwölf Jahre — seit v. Ebner’s letzter Arbeit — kaum 
erheblich weiter gediehen oder gar geeinigt worden. Man kann behaupten, 
dass genau die gleichen Streitpunkte wie vor einem Decennium zur Er- 
örterung stehen. Noch jetzt werden die Sertoli’schen oder, wie ich sie zu 
nennen vorschlug, die vegetativen Geschlechtszellen geleugnet und für inter- 
stitielle „albuminöse‘“ Massen angesehen, in denen die „Sertoli’schen Kerne“ 
umherliegen. Der erfahrenste Autor dieses Gebietes, Hr. von la Valette- 
St. George, hält an der Anschauung fest, dass in den Anhäufungen von 
Spermatiden, die aus den Theilungen der Spermatogonien hervorgehen und 
die er als Spermatogemmen oder Spermatocysten bezeichnet, einzelne der 
gleichartig entstandenen Kerne als Fusskerne übrig bleiben und sich nicht 
an der Metamorphose der Spermatiden betheiligen und so besondere Zellen vor- 
täuschen. Erst in seiner neuesten Publication (Bonn 1898), die ich soeben durch 
seine Güte erhalte, finde ich ein Zugeständniss darin, dass er auch für die 
Säugethiere die Theilnahme der von ihm längst als „Follikelzellen“ be- 
schriebenen zweiten Zellart als noch nicht abgeschlossene Frage betrachtet. 

Archiv f. A. u. Ph. 1898. Physiol. Abthlg. 35 


386 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


Unter den Autoren, die die Sondernatur der zweiten Zellart anerkennen, 
tritt Tellyesniezky nach Beobachtungen bei Lacerta und K. W. Zimmer- 
mann bezüglich der Pulmonaten für einen primären Zusammenhang zwischen 
vegetativen Zellen und Spermatiden ein. Die ursprüngliche Anschauung 
Sertoli’s und Merkel’s, die vor 13 Jahren in Brown ihren letzten Ver- 
treter gefunden hatte, ist jetzt von v. Lenhossek adoptirt worden, der 
lediglich eine Anlagerung der Spermatiden an die Sertoli’schen Zellen zu- 
gesteht. Ich selbst habe in mehreren Publicationen (zuletzt 1894) die An- 
schauung vertreten, dass sich eine frühe entwiekelungsgeschichtliche Trennung 
zwischen den zwei Zellarten, die ich als vegetative und germinative, 
Geschlechtszellen bezeichne, feststellen lässt. Die vegetativen Zellen er- 
scheinen im unreifen Samencanälchen als epitheliale Zellen, bilden sich 
bei der Geschlechtsreife in Fusszellen um, treten bei der Umwandlung 
der aus den germinativen Zellen hervorgegangenen Spermatiden mit diesen 
in eine substantielle Verschmelzung, für die ich den, wie ich gern ge- 
stehen will, nicht ganz einwandfreien Namen Copulation eingeführt habe. 
In den wesentlichen sachlichen Fragen hat sich v. Ebner auf meine Seite 
gestellt, der durch den Nachweis der Fettkörncehenwanderung innerhalb der 
funetionirenden Fusszellen die Kenntniss ihrer Organisation erheblich ge- 
fördert hat. 

Ich habe mich, abgesehen von meinen ersten kurzen Mittheilungen in 
dieser Gesellschaft und von meiner (nicht gedruckten) Habilitationsrede, in der 
ich die gesammte Wirbelthierreihe besprochen habe, in meinen Publicationen 
betreffs der Copulation ausschliesslich auf die Säugethiere beschränkt. Ich 
möchte nun einmal Gelegenheit nehmen, das, was ich über diese Zellen 
aus alten und neuen Präparaten entnehme, in dem Sinne zusammenzustellen, 
wie weit Vergleichspunkte über diese Frage in den verschiedenen Wirbel- 
thierelassen mit Berücksichtigung einiger Evertebraten, Gastropoden und 
Arthropoden, zu gewinnen sind. 

In allen Classen der Wirbelthiere finde ich beim Aufbau der Drüsen- 
räume des Hodens in den verschiedensten Entwickelungsphasen zwei wohl 
charakterisirte Zellarten betheiligt. Die erste Anlage habe ich allerdings. 
nur bei den Säugethieren (1889 Verh. der anat. Gesellsch.) studirt. Ich 
konnte die Existenz beider Zellarten bis in das Keimepithel verfolgen, wo 
sie bei männlichen und weiblichen Föten gleichmässig in Erscheinung traten. 
Ob sie hier auseinander hervorgehen oder bereits aus verschiedenen Anlagen 
(Nussbaum) stammen, konnte ich zwar nicht durch Beobachtungen ent- 
scheiden, halte aber ihre unregelmässige Durcheinanderwürfelung vom ersten 
Auftreten an für ein Kriterium ihrer gemeinsamen Abkunft vom Coelom- 
epithel. Auch konnte ich bei Kaninchenföten von 10 Tagen Alter noch 
keine germinativen Zellen differenzirt finden. Diese Frage ist für unsere 
hiesigen Betrachtungen weniger von Bedeutung. Hier ist von Gewicht, 
dass, sobald die Anlage der Hodencanälchen eingetreten ist, auch die Dif- 
ferenzirung beider Zellarten abgeschlossen ist, und dass sie nunmehr bei 
allen untersuchten Abtheilungen (Vögel, Amphibien, Selachier) schon im 
fötalen und unreifen Hoden in ihren zwei auffallend gleichförmig überall 
wiederkehrenden Typen erscheinen: die germinativen Zellen (Ursamenzellen, 
grosse Spermatogonien) als grosse, völlig kugelige Zellen mit deutlicher, 
feiner Membran, lockerfädigem Zellleib, grossem Nebenkern und grossem 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — (. BENDA. "887 


rundlichen oder gelappten Kern; letzterer zeigt meist ein starkes Linin- 
gerüst und das Chromatin in einzelnen Nucleolen ähnlichen Brocken. Die 
vegetativen Zellen bilden im Allgemeinen ein Cylinderepithel; sie sind aber 
in Form und Anordnung variabler als die germinativen Zellen. Constante 
Eigenschaften im unreifen Hoden sind: Sie überwiegen die germinativen 
Zellen bedeutend an Zahl, haben sehr unregelmässige, nicht membranös be- 
grenzte Zellleiber mit diehtem Protoplasma, aber nur spärlichen, nach meiner 
Methode färbbaren Körnern, sehr chromatinreiche ellipsoide Kerne; die 
Centralkörperchen habe ich bisher nur während der Theilung erkennen 
können. 

Entsprechend den Verschiedenheiten der ruhenden Zellen verhalten sich 
auch die Theilungen, die ein schönes, bisher nur wenig berücksichtigtes 
Beispiel der „Speeifieität der Kerntheilungen“ (Hansemann’s) geben. Nur 
Drüner hat meines Wissens auf die Besonderheiten der Mitosen der vege- 
tativen Zellen im Salamanderhoden hingewiesen, Besonderheiten, die sich 
wahrscheinlich überall wiederfinden, wo man diese Theilungen zu beobachten 
Gelegenheit hat. Ich habe sie besonders auch beim Säugethier studirt. 
Die Haupteigenschaft der Theilungen ist die starke Gedrungenheit der 
Figur, Mangel des „Theilungsraumes“, häufige asymmetrische Stellungen der 
Spindel, alles Eigenschaften, die durch die bedrängten Raumverhältnisse, unter 
denen die Theilungen vor sich gehen, sowie den Membranmangel der Zellen 
bedinst sind. Das Inferessanteste ist aber, dass diese Theilungen der vege- 
tativen Zellen ausschliesslich während des unreifen Zustandes der Hoden- 
canälchen stattfinden, nämlich bei Amnioten bis zur Geschlechtsreife, bei 
Anamniern in den Canälchen, die nach O. Hertwig und Mewes der Ver- 
mehrungsperiode der Spermatogonien angehören. Schon in den Abschnitten 
der Wachsthumsperiode findet man bei Anamniern keine einzige vegetative 
Mitose; ebenso nach Beginn der Pubertät bei Amnioten; soweit ich mich 
erinnere, habe ich hier auch nie während der Functionspausen oder beim 
Uebergang zur Brunst, vor Allem aber nie in funetionirenden Hoden Mitosen 
der vegetativen Zellen gefunden. Hieraus ergiebt sich, dass die vegetativen 
Zellen in der Menge, in der sie bei der Geschlechtsreife des amnioten 
Thieres bezw. des amnieten Hodencanälchens vorhanden sind, bestehen 
bleiben. 

Dagegen treten bei den Amnioten bei Beginn der Geschlechtsreife, bei 
Anamniern während der Reifungstheilungen der germinativen Zellen funda- 
mentale Formveränderungen der vegetativen Zellen auf: sie verlieren ihren 
epithelialen Charakter und erhalten denjenigen der Fusszellen des functio- 
nirenden Canälchens. Am leichtesten lässt sich dieser Uebergang bei den 
Anamniern verfolgen, wo meist alle Stadien im selben Hoden vereinigt sind. 
Bei den Amnioten muss man verschiedene Altersstufen, besonders auch den 
Uebergang in den Pubertätszustand vom infantilen, in den Brunstzustand 
vom Ruhestadium verfolgen, um diese Beziehungen zu erkennen. 

Bei den Selachiern ist diese Veränderung auch von den Voruntersuchern 
erkannt worden. Bei den Säugethieren liegen meines Wissens nur von 
Hermann und mir Angaben vor. In allen Fällen lässt sich der Umwand- 
lungsvorgang in allen Phasen verfolgen, sodass nach meiner Ansicht die 
von v. la Valette-St. George noch bezweifelte Identität seiner „Follikel- 
zellen“, d. h. der jugendlichen epithelialen Formen mit meinen Fusszellen, 

25* 


388 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


also die Einheit der vegetativen Zellen über jedem Zweifel erhaben dasteht. 
Ich möchte aus meiner, in Zuelzer’s Klin. Handbuch 1894 gegebenen Dar- 
stellung nur noch das hervorheben, dass ich die Metamorphose der vegetativen 
Zellen bei Säugern als das augenscheinlichste und constanteste Symptom der 
Geschlechtsreife ansehe. Die germinativen Zellen können in Functionspausen, 
z. B. bei winterschlafenden Thieren und in allen möglichen pathologischen 
Zuständen wieder vollkommen den Jugendzustand der grossen Spermatogonien 
annehmen. Eine „Anaplasie‘“ der vegetativen Zellen, wie sie neuerdings 
Bouin (ohne Kenntniss meiner einschlägigen Mittheilungen) behauptet, muss 
ich nach den zahlreichen experimentell und spontan pathologischen Hoden, 
die ich schon untersucht habe, als sicher ausgeschlossen erklären. Ich habe 
nur ein einziges Mal bei einem „ausgewachsenen“ Menschen die epitheliale 
Form der vegetativen Zellen, also völlig infantile Hoden gefunden, das war 
bei einem 38jährigen Zwerg. Sonst wird dieser Zustand wahrscheinlich 
noch bei Kryptorchismus vorkommen, über den ich mich keiner Beobachtung 
erinnere. 

Im reifen, funetionsfähigen Hoden zeigen also dann die vegetativen Zellen, 
die ich jetzt als Fusszellen bezeichne, jene Reihe höchst merkwürdiger 
Eigenschaften, die grösstentheils bekannt sind und von denen einige mit 
srosser Gleichförmigkeit bei allen Wirbelthierelassen und den Gastropoden 
(den einzigen Evertebraten, die ich bisher im funetionirenden Zustand prüfen 
konnte) wiederkehren. Einige dieser Eigenschaften unterscheiden die Fuss- 
zellen allerdings von allen anderen Körperzellen und sind wohl auch die 
Ursache, dass sich manche Autoren, selbst ein so verdienter Forscher wie 
Prenant, noch immer gegen ihren Zellcharakter sträuben. Die Haupt- 
sonderheit ist das Fehlen jeglicher Andeutung einer Zellmembran, jeder 
festeren Aussenschicht, ja selbst oft jeder Abgrenzung gegen die gleich- 
artigen Nachbarelemente, sodass gegen sie die scharf begrenzten germinativen 
Zellen wie in einer amorphen Masse zu schwimmen scheinen. Man könnte 
verführt werden, sie für ein Syneytium anzusprechen, zumal bisweilen, z. B. 
bei Lacerta, auch zweikernige Zellen vorkommen, wenn nicht die Abgrenzung 
der Einzelzellen in besonderen Functionsstadien zum Ausdruck käme und 
wenn nicht andere Hülfsmittel die Sonderorganisation jeder zu einem Kern 
zugehörigen Masse enthüllten. In ersterer Beziehung-erwähne ich, dass bei 
Säugern in physiologischen und pathologischen Functionspausen, wenn unter 
starker Reduction der Zahl germinativer Zellen die Canälchen wieder zahl- 
reiche neben einander liegende Fusszellen enthalten, jede einzelne Masse 
eine etwas schärfere seitliche Abgrenzung erhält und nur gegen das Canälchen- 
lumen das diffuse Verlaufen des Zellleibes bestehen bleibt. Besonders spricht 
aber in dem Sinne von Einzelelementen die bekannte Thatsache, dass bei 
allen Classen, besonders schön bei den Selachiern während der Reifung der 
mit einer Fusszelle copulirten Spermien eine zunehmende Isolirung und Con- 
solidirung jeder Fusszelle mit ihren Anhängseln erfolgt, durch die eine 
solche Gruppe zu einem Spermatophoren ähnlichen Complex zusammen- 
geschweisst wird. Dieser Pseudospermatophor löst sich allerdings bei der 
Austreibung in Spermien wieder auf, indem der kernhaltige Rest der Fuss- 
zelle zurückbleibt. Ich vermuthe aber, dass auch die echten Spermatophoren 
in der gleichen Weise entstehen, was ich baldigst weiter zu untersuchen 
gedenke. 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — (. BENDA. 389 


Die Organisation des Zellleibes der vegetativen Zellen, zu deren Erkenntniss 
allerdings besonders gute Conservirungen mit Osmiumgemischen nothwendig 
sind, wird in erster Linie durch die von v. Ebner entdeckte Fettlagerung und 
Fettwanderung enthüllt. Der Fettgehalt der Hodencanälchen ist gerade neuer- 
dings auch von pathologischen Anatomen berücksichtigt worden und von 
diesen (Lubarsch und Hansemann) richtig beobachtet worden, dass der- 
selbe intracellulär gelegen ist, und nicht wie Hr. Platho meint, sich in 
beliebigen intercellulären Lücken umhertreibt. Ich möchte nun auch aus 
meinen Beobachtungen in den verschiedensten Wirbelthierabtheilungen fest- 
stellen, dass, abgesehen von ganz spärlichen Fetttröpfehen in den germi- 
nativen Zellen, alles intracaniculäre Fett der Hoden in verzweigten Figuren 
gelegen ist, deren Hauptmasse sich in der Umgebung der Fusszellenkerne 
ansammelt. Während der Umwandlung der Spermatiden zu Spermien und 
ihrer Formation zu Samenbündeln verschwindet alles scheinbar intercellu- 
läre Fett und findet sich im Fusszellenkörper wieder. Für diese Beobach- 
tung empfehle ich ganz besonders den Tritonhoden. Derselbe enthält ausser- 
ordentliche Mengen von Fett, dessen Zurückwanderung in den Fusszellen- 
körper ganz im Sinne Ebner’s sehr deutlich ist. Die Vertheilung der 
Fettkörner giebt also in erster Linie einen sehr schönen Anhalt für die 
Erkenntniss des Bereichs der Fusszellenausläufer, die mit den gewöhnlichen 
Methoden sonst gar nicht sichtbar zu machen sind. Die Fusszellen der ver- 
schiedenen Species zeigen ausserordentliche Unterschiede im Fettgehalt. 
Unter den Säugern ist der Mensch durch seine fettreichen Fusszellen aus- 
gezeichnet, ebenso die Ratte. Ganz nahe verwandte Species können aber 
sehr abweichende Verhältnisse zeigen: Maus, Meerschweinchen sind im Ver- 
gleich mit der Ratte sehr fettarm. Unter den Amphibien ist Triton dem 
Salamander an Fettreichthum ausserordentlich überlegen. Aus diesem, bei 
ganzen Arten und völlig normalen Individuen typischen Verhalten folgt 
schon, dass das Fett nicht, wie Lubarsch meinte, beim Menschen auf De- 
generationsprocesse schliessen lässt; es handelt sich, wie ich Hansemann 
beistimme, um Infiltrationen. Wie weit das Fett der Fusszellen nun aber 
direet zur Ernährung verwendet wird, möchte ich hingestellt sein lassen; ich 
vermuthe, dass Triton keine besser genährten Spermatozoden producirt als 
Salamandra. Reichlichen Fettgehalt zeigen die Fusszellen der Gastropoden. 
Die von Lubarsch entdeckten Krystalle der Hodencanälchen liegen beim 
Menschen ebenfalls ausschliesslich in den Fusszellen. 

Ein weiteres Merkmal für die celluläre Natur der Fusszellen und ihrer oft 
weit verzweigten Ausläufer ist aber in dem Nachweis von Protoplasmastructuren 
zu finden. Schon mit den gewöhnlichen Methoden ist, namentlich bei einigen 
Säugethierspecies, besonders den Raubthieren (untersucht wurden Hund, 
Katze) und dem Igel die fädige Structur des Fusszellenleibes sehr deutlich. 
Mit meiner neuen Protoplasmafärbung, auf die ich bei der Metamorphose 
der Spermatiden zurückkomme, habe ich bei Amnioten diese Fäden mit 
grosser Deutlichkeit dargestellt und in ihnen sehr reichlich jene besonders 
färbbaren Mikrosomen gefunden, die bald zu Ketten, bald zu stäbchenartigen 
Gebilden zusammengelagert sind. Vor Allem die Fussplatte ist bisweilen 
ähnlich den Pallisadenzellen der Nierencanälchen oder Speichelröhren ganz 
aus parallelen Fäden zusammengesetzt. In den Ausläufern sind die, Fäden 
ebenfalls deutlich; die weiter zu besprechenden Copulationsfäden enthalten 


390 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


eine fast gleichmässige Reihe jener Körnchen. Bisweilen findet man aber 
auch in den verzweigten Ausläufern Fäden, so besonders bei Lacerta. Bei 
den bisher untersuchten Anamniern und Gastropoden sind die Fäden er- 
heblich feiner und enthalten die färbbaren Körnchen nur vereinzelter, sodass 
ich die Ausläufer zwischen den Spermatiden während der ersten Stadien der 
Metamorphose nicht erkennen kann. Sobald aber bei der Spermienreifung 
sich das Samenfädenbündel verdichtet und der Fusszelle anlagert, sind auch 
die Fibrillen im Fusszellenleib deutlich. Besonders bei Triton kann ich sie 
sehr schön demonstriren. 

Die Fusszellenkerne sind in den verschiedenen Olassen etwas variabel, 
aber stets deutlich von den Kernen der germinativen Zellen verschieden. 
Bei Gastropoden und Anamniern sind sie sehr ähnlich: von erheblicher 
Grösse, sehr reichlichem Chromatin, welches in Einzelkörnern innerhalb eines 
derbfädigen Liniengerüstes angeordnet ist. Die Kerncontour ist häufig ein- 
gebuchtet, von einer eigenartig weichen Grenzlinie, die jedenfalls zeigt, dass 
keine eigentliche Kernmembran besteht. Bei den Fusszellenkernen der 
Amnioten ist aber gerade die Kernmembran typisch. Sie zeigt aber häufig 
eine Erscheinung, die von den Autoren schon viel Missdeutungen erfahren 
hat: nämlich. deutliche Faltungen, wie bei einem schlaffen Sack, ein Phä- 
nomen, aus dem schon mehrfach, zuletzt von v. la Valette-St. George 
geschlossen wurde, dass es sich um zerfallende Elemente handeln müsse. In 
diesen Kernen ist das gesammte Chromatin manchmal auf ein nucleolen- 
artiges Gebilde beschränkt, auch nur ein spärliches Liningerüst vorhanden. 
Letzteres ist indess bei manchen Species — besonders finde ich das beim 
Menschen und beim Beutelfuchs — ziemlich reichlich. Die complieirte 
Structur des Nucleolus, die zuerst Sanfelice gesehen, aber missdeutet, 
Hermann dann bestätigt und richtig verstanden hat, kann ich nicht als 
irgendwie typisch anerkennen. Sie wird jedenfalls bei vielen Säugethier- 
species vermisst. Die gesammte Structur der Fusszellenkerne, besonders 
auch die sackartige Gestalt bei den Amnioten deutet darauf hin, dass sie 
morphologisch der Function angepasst sind, in engen räumlichen Verhält- 
nissen Bewegungen (wahrscheinlich nur passive, durch die Formveränderungen 
des Zellleibes bedingte) ausführen zu müssen. Ich erinnere, dass auch bei 
den Leukocytenkernen durch Deckhuyzen die sackartige Membran als An- 
passung an die Bewegungsfunction des Zellleibes aufgefasst wurde. In 
gleichem Sinne sind die Formeigenschaften des Zellleibes aufzufassen: die 
Fusszellen kennzeichnen sich als ausserordentlich formveränderliche Gebilde, 
die mit polynucleären Leukocyten manche Analogien zeigen; wie letztere 
mit freien Amöben, sind die Fusszellen mit einseitig angehefteten (Acineten) 
vergleichbar. 

Ueber die Thätigkeit der Fusszellen habe ich für die Säugefhiere dem. 
was ich schon vor Langem (1887) publieirt habe, nicht viel hinzuzufügen, 
Nur das habe ich noch nachzutragen, dass ich die gleichen Beobachtungen 
auch bei dem höchsten Säugethier, dem Menschen, und bei einem niedrigen, 
dem Beutelfuchs, bestätigen konnte Auch die Präparate K. v. Barde- 
leben’s von Echidna zeigen, dass dort die gleichen Vorgänge herrschen: 
eine substantielle Verschmelzung von Fusszellen und Spermatiden, eine Co- 
pulation der Zellleiber, wie ich, um Zweideutigkeit zu vermeiden, ausdrück- 
lich hervorheben will. Bei manchen Species, besonders Hund und Igel, 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — U. BENDA. 391 


etwas schwerer beim Stier, Eber, Menschen (an Material, welches ich Herrn 
Collegen Mewes verdanke), lässt sich der Copulationsfaden häufig bis zur 
Spermatide verfolgen. Mit meinen neuen Körnerfärbungen habe ich aller- 
dings die Körnerreihe nie ganz bis zum proximalen Pol der Spermatide 
reichen sehen, ich konnte aber aus den genannten, günstigsten Species bisher 
noch kein Material geeignet behandeln. Ich bemerke aber v. Lenhossek’s 
Einwänden gegenüber, dass auch ich nie behauptet habe, bei der Ratte die 
Copulationsfäden zu sehen. Dagegen sehe ich mit meiner Körnchenfärbung 
auch hier parallele Körnerreihen wenigstens in der Richtung gegen die 
proximalen Spermatidenzipfel. Ich habe aber das Hauptgewicht in meiner 
Beweisführung nicht auf die sichtbare Verbindung der Zellen gelegt, sondern 
auf die mikroskopische Sichtbarkeit von Lageveränderungen der Spermatiden, 
die ohne die erfolgte substantielle Vereinigung schlechthin unerklärlich 
wären. Auf dieses Beweismittel sind wir bei den anderen Wirbelthierclassen 
und den Gasteropoden, bei denen allen die Copulationsfäden noch schwerer 
sichtbar zu machen, in hoch höherem Grade angewiesen als bei den Säuge- 
thieren. Wer die complieirten Verschiebungen beobachtet, die die einzelnen 
Spermatiden der riesigen Zellhaufen bei Vögeln, Amphibien und Selachiern 
erleiden, um schliesslich in genau paralleler Stellung, in genau gleichem 
Abstand vom Fusszellenkern ein Bündel zu bilden, wird kaum auf die Vor- 
stellung kommen, dass sie diese Formationen wie eine gut disciplinirte 
Truppe durch Eigenbewegung der Einzelindividuen ausführen könnten. 
Schwieriger ist dieser Nachweis, wo die Bündel lockerer formirt sind, wie 
bei den Reptilien, bei denen gerade Hr. Tellyesnitzki zu seinen Zweifeln 
gelangt ist. Wo wie bei Bombinator und den Teleostiern gar keine Spermien- 
bündel gebildet werden, kann ich auch keine Copulation beweisen, obgleich 
ich die persönliche Ueberzeugung habe, dass sie auch dort stattfindet, da 
auch hier überall (bei den Teleostiern hatte ich sie früher übersehen) Fuss- 
zellen vorhanden sind und diese ähnliche Lageveränderungen ausführen wie 
bei copulirten Spermien. Man wird annehmen dürfen, dass bei den Rep- 
tilien, Bombinator und Teleostiern die Copulationsfäden länger sind als bei- 
den anderen Abtheilungen und ihre Retraction an den Zellleib geringfügiger 
ist, oder ganz ausbleibt. Nur einem Einwand möchte ich noch entgegen- 
treten. Tellyesnitzki bei Reptilien, K. W. Zimmermann bei Gastero- 
poden haben eine primäre Verbindung zwischen Fusszellen und Spermatiden 
angenommen, und wenigstens der erstere Autor hat seine Beobachtungen 
als Widerlegungen meiner Copulationstheorie betrachtet. Ich erkenne seine 
Beobachtungen in gewissem Umfange an, bekämpfe aber seine Schlüsse. 
Ich kann bestätigen, dass sich die Spermatiden von Lacerta wie eingebettet 
in die weiterverzweigten Ausläufer der Fusszelle finden, obgleich ich hier 
Anfangs nichts sehe, was auf eine substantielle Verbindung derselben 
schliessen lässt. Ich habe mich aber allerdings überzeugt, dass bei Gastero- 
poden schon das Wachsthum der Spermatogonien und die Reifungstheilungen 
in substantieller Verbindung mit den Fusszellen, Ammen, wie sie Zimmer- 
mann bezeichnet, stattfinden. Das sind aber keine Gegensätze, sondern 
nur Modificationen des Copulationsvorganges. Auch bei diesen Classen haben 
Spermatogonien und vegetative Zellen ihre unabhängigen Vermehrungsvorgänge 
und kennzeichnen sich dadurch als gesonderte Zellarten. Bei den Gastero- 
poden kann man daher wohl von einer vorzeitigen Copulation im Stadium 


392 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


der Spermatogonien sprechen. Bei den Reptilien würde ich keine Bedenken 
tragen, ebenfalls die Möglichkeit einer solchen Modifieation zuzugeben, wenn 
nicht hier die grössere Wahrscheinlichkeit bestände, dass die Beziehung der 
beiden Zellarten hier Anfangs nur eine äusserliche, nachbarliche ist, und 
erst bei Beginn der Spermatidenmetamorphose, wo man auch hier die be- 
sonderen Wirkungen des Vorganges erkennt, den intimeren Charakter der 
Copulation annimmt. 

Ueber die Bedeutung der Copulation weiss ich noch immer nichts Posi- 
tives zu sagen. Ich bestreite, dass irgendwie ein Uebergang von Form- 
bestandtheilen aus den Fusszellen in die Spermatiden oder Spermien mikro- 
skopisch nachweisbar ist. Ich halte an meiner öfters gegebenen Erklärung 
fest, dass mir, ebenso wie v. Ebner, eine ernährende Function der Fusszellen 
das Wahrscheinlichste ist. Bei den Säugethieren lässt sich mit Sicherheit 
nachweisen, dass die polare Anordnung der Spermatidenabschnitte, also der 
Beginn der Metamorphose, erst mit dem Moment der Copulation beginnt. 
Bei den anderen Wirbelthieren lässt sich dieses Verhältniss nicht sicher 
beobachten, aber wohl vermuthen. Bei den Gastropoden kann es nicht 
gelten, da eben die Copulation schon bei den Theilungen besteht. Auf jeden 
Fall kann man vorläufig die Erwägung machen, dass die grosse Ausbreitung 
des Vorganges im Thierreich auch der beste Beweis für seine tiefgehende 
Bedeutung ist. 


2. Hr. Dr. E. Horau (a. G.) hält den angekündigten Vortrag: Ueber 
das Verhältniss des Bindegewebes zur Musculatur. 


Die Untersuchungen der letzten Jahre, die sich mit dem histologischen 
Bau der glatten Musculatur beschäftigten, haben fast durchweg das Vor- 
handensein organischer Verbindungen der einzelnen Muskeizellen, sog. Muskel- 
brücken, festgestellt. Die dabei verwandten Methoden waren insofern nicht 
ganz einwandsfrei, als sie entweder keine oder eine nur ungenügende Tren- 
nung zwischen Muskel- und Bindegewebe zuliessen. Es kam daher bei einer 
neuen Untersuchung darauf an, beide Gewebsarten. von einander zu trennen, 
und dazu gab es zwei Wege: den der Isolation des Bindegewebes durch 
die Pankreatinverdauung und den der differenzirenden Färbung. Für den 
zweiten wurde ausser der von van Gieson angegebenen Pikrofuchsinmethode 
allein oder nach vorangegangener Eisenhämatoxylinfärbung auch eine später 
zu veröffentlichende Färbemethode angewandt, die es ermöglicht, die Mus- 
culatur grün und das Bindegewebe leuchtend roth zu färben. Nebenher 
diente für vergleichende Versuche auch das schon durch v. Ebner empfohlene 
Macerationsverfahren mit Salpetersäure und chlorsaurem Kali. Die Ergebnisse 
waren folgende: das Gewebe der glatten Musculatur wird gebildet durch 
sröber und feiner verästelte und mit den Aestchen anastomosirende Zellen, 
von denen jede einzelne in einem äusserst dichten, feinmaschigen Binde- 
gewebsnetze eingebettet liegt. Die Maschen dieser Netze sind vorwiegend 
senkrecht zur Längsaxe der Muskelzelle gestellt und bieten in ihrer An- 
ordnung und Grösse eine solche Regelmässiskeit dar, dass aus ihrer An- 
wesenheit stets auf das Vorhandensein glatter Muskelzellen geschlossen 
werden darf. Mit dieser Bindegewebshülle befindet sich das Muskelplasma 
stets in Berührung. Während nun für die spärlichen, gröberen musculären 
Verbindungen der Charakter der Muskelbrücken — wie schon v. Ebner 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — E. Horuıu. — (. BEnnDA. 393 


gezeigt hat — unzweifelhaft ist, hält es für die feineren Aestehen schwer, 


überall — selbst mit dem stereoskopischen Ocular — eine Continuität zu 


beweisen. Aber gerade diese letzteren sind von den Autoren (Barfurth, 
de Bruyne, Triepel u. s. w.) als Muskelbrücken gedeutet worden. Es 
lässt sich aus den aufgestellten, sowohl den Verdauungs-, wie den zweifarbigen 
Präparaten wohl leicht ersehen, dass vielfach die feinen Fasern der Binde- 
sewebshülle- fälschlich, aber erklärlich, als Ausläufer der Muskelzellen be- 
trachtet wurden und dass es nur verschiedener Färbung, z. B. der Bohe- 
mann’schen Abbildungen bedarf, um seine an der Darmmuseularis der Katze 
gemachten Befunde mit den hier am selben Material vom Hunde gewonnenen 
in Einklang zu bringen. 

Der eigenartige Bau der Bindegewebshülle der glatten Musculatur rest 
unmittelbar die Frage an nach dem Verhalten des Bindegewebes zur übrigen 
Körpermusculatur und zu der des Herzens. Die Antwort darauf ist sehr 
leicht zu geben. Die aufgestellten, nach den gleichen Methoden am selben 
Thier gewonnenen Präparate zeigen deutlich, dass sowohl an der quer- 
gestreiften Körper-, wie an der Herzmusculatur die nämlichen Bindegewebs- 
netze, nur erheblich dichter, vorhanden sind. Da auch hier eine unmittel- 
bare Berührung des Muskelgewebes mit dem Muskelplasma besteht, anderweit 
eine membranartige Bildung aber fehlt, so kann mit grösster Wahrschein- 
lichkeit geschlossen werden, dass die pericelluläre Bindegewebshülle mit dem 
Sarecolemm identisch ist und dass das Herz sowohl, wie die glatte Musculatur 
ein Sarcolemm besitzen, das nur unwesentlich von dem der quergestreiften 
Museulatur abweicht. — Die frühere „Structurlosigkeit* des Sarcolemms 
findet in der bisher bestehenden Unmöglichkeit, dasselbe intensiv zu färben, 
ihre natürliche, ungezwungene Erklärung. 


XVII. Sitzung am 29. Juli 1898. 


Hr. C. BexoA. hält den angekündigten Vortrag: Ueber die Sper- 
matogenese der Vertebraten und höherer Evertebraten. II. Theil: 
Die Histiogenese der Spermien. 


Seit meinen vorjährigen Mittheilungen habe ich mich bemüht, die da- 
mals betreffs der Säugethiere gegebenen Resultate in weiteren Kreisen des 
Thierreichs zu verfolgen, und einiges von meinen und fremden Mittheilungen 
einer Nachprüfung zu unterziehen. 

Die Histiogenese des Spermienkopfes ist wie bei den Säugethieren auch 
in den anderen Classen der bekannteste und sicherst erkennbare Vorgang. 
Ich bemerke hier nur, dass meine für die Säuger gegebene Beschreibung, 
'nach der das Chromatin des Spermatidenkerns sich anfänglich. zu einer 
Kapsel verdichtet, nur noch für die Sauropsiden Gültigkeit hat. In den 
niederen Vertebratenabtheilungen und bei den Gastropoden erfolgt eine un- 
mittelbare Zusammensinterung des Chromatins unter allmählicher Ausgestal- 
tung der definitiven Kopfform. 

Die Herkunft der von Waldeyer als Perforationsorgane zusammen- 
gefassten Anhangsgebilde des vorderen Kopfpols ist seiner Zeit für Säuger 


394 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


und Sauropsiden von mir zuerst auf das Archiplasma bezogen worden. Meine 
Beschreibungen sind in allen wesentlichen Punkten neuerdings von Mewes 
für Säugethiere und Salamandra, von von Lenhossek für Säuger bestätigt 
worden. 

Dagegen ist F. Hermann für Selachier zu einer von meiner und 
Moore’s Anschauung abweichenden Auffassung gelangt. Ich besitze noch 
nicht völlig ausreichendes Material von Selachiern, welches mit der einzig 
für diese Frage geeigneten Methode, dem Platinosmiumgemisch F. Hermann’s 
behandelt ist. Ich kann aber wenigstens an einem Acanthiashoden, den 
ich 1889 auf einem Bremerhafener Fischerdampfer in Flemming’scher 
Lösung conservirte, feststellen, dass auch bei Selachiern ebenso wie bei den 
höheren Vertebraten innerhalb des Archiplasma eine Vacuole entsteht, be- 
vor dasselbe dem Kern angelagert ist. Daher glaube ich, dass auch in 
dieser Olasse die von Hermann bestätigte Vacuole, die die Anlage des 
Spiesses einleitet, vom Archiplasma und nicht, wie Hermann annimmt, vom 
Kern abstammt. Immerhin muss ich Hermann darin Recht geben, dass 
eine gewisse Betheiligung des Kerns bei der Spiessbildung in dieser Thier- 
classe nicht ganz in Abrede zu stellen ist. Die Archiplasmavacuole senkt 
sich in den vorderen Kernpol ein, und wird zuerst von einer Platte, dann 
von einer Krause verdichteter Kernsubstanz bedeckt. Eine ähnliche Er- 
scheinung findet sich auch bei Lacerta, allerdings in erheblich geringerem 
Grade. Indess ist in beiden Fällen daraus noch nicht zu schliessen, dass 
wirklich Kernsubstanz selbst in den Spiess eintritt. Es handelt sich viel- 
mehr nur um eine besondere Ausbildung des Spiessansatzes. Bei den Gastro- 
poden habe ich die Anlage der Perforationsorgane noch nicht mit Sicherheit 
verfolgen können. In den späteren Stadien zeigt der vordere Kernpol hier 
eine grosse Aehnlichkeit mit dem der Selachier. Indess habe ich noch nicht 
sehen können, dass sich von dem bei dieser Abtheilung hervorragend schön 
ausgebildeten Nebenkern Abschnitte loslösen, um an den Vorderpol zu ge- 
langen. Der gesammte Nebenkern findet sich vielmehr, scheinbar gänzlich 
unbetheiligt an dem Aufbau der Spermie, im distalen Zelllappen, wie dies 
Platner und Prenant beschrieben. Ich betrachte diese Untersuchung in- 
dess noch nicht als abgeschlossen. 

Das Hauptinteresse richtet sich auf die Gebilde in der Gegend des 
Mittel- oder Verbindungsstückes. Die für das Verständniss dieser Bildungen 
Grund legende Arbeit F. Hermann’s zeigte, dass bei Salamandra ein in 
späteren Stadien schon von Flemming gesehener Körper, bestehend aus 
einem Ring und einem Korn, mit der dem Korn angehefteten Anlage 
des Axenfadens sich secundär dem hinteren Kernpol anlagert. Das Korn 
vergrössert sich zum Mittelstück und verschmilzt mit dem Kopfhauptstück, 
während der Ring nach Hermann den Flossensaum bilden sollte. Auch 
bei den Säugethieren sah Hermann einen kornartigen analogen Körper; 
ich selbst habe beim Meerschweinchen und Menschen auch den analogen 
Ring gefunden, ferner bei Sauropsiden ähnliche Verhältnisse gesehen; aller- 
dings den Ring damals hier nicht gefunden. Durch R. Fick’s Beobachtungen 
am befruchteten Axolotlei wurde die centrosomale Bedeutung des Mittelstücks 
festgestellt, die Entstehung aus den Centrosomen von F. Mewes aufs ein- 
gehendste verfolgt; und die Metamorphose in ihren Einzelheiten richtig ge- 


$) 
stell. Danach wird bei Salamandra das Mittelstück von dem vorderen 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — (Ü. BENDA. 395 


Centralkörperchen und einer queren Hälfte des Ringes gebildet, während 
- die andere, Hälfte am Axenfaden entlang gleitet, der Flossensaum aber un- 
abhängig davon entsteht. Bei den Säugethieren verschmilzt nach Mewes 
das vordere Centralkörperchen in Form einer Platte mit dem Kopf und 
bleibt mit einem Theil des Ringes vereinigt, während ein anderer Theil 
ebenfalls abrückt. Diese Mittheilungen wurden durch meine Beobachtungen 
insofern ergänzt, als ich bei den Säugethieren durch meine Färbungen die ' 
spiralige Hülle des sogenannten Verbindungsstücks als eine ganz heterogene 
Bildung nachweisen konnte, die, wie auch v. Brunn schon früher gesehen 
hatte, von Körnern des Zellleibs abstammt. 

-Aus dieser kurzen Uebersicht der Entwickelung der Frage folgt schon, 
dass ganz ungleichartige Dinge in den Abschnitten vorliegen, die gemeinhin 
als Verbindungsstück bezeichnet werden: Bei Salamandra ein im Wesent- 
lichen centrosomales Gebilde, bei den Säugethieren ein analoges centro- 
somales Gebilde, vereinigt mit einem aus Protoplasmakörnern hervorgehenden 
(ehondriogenen von yo»ögıov Körnchen) Mantel. Ich stellte mir nunmehr 
die Aufgabe, das gegenseitige Verhalten dieser beiden Bestandtheile in ver- 
schiedenen Classen zu verfolgen und erhielt bisher folgende erwähnens- 
werthen Resultate. Ich bespreche zuerst den centrosomalen Theil. Auf die 
Säugethiere habe ich nicht näher einzugehen. Dieselben haben durch Mewes 
und von Lenhossek eine nahezu erschöpfende Behandlung gefunden, die 
bis auf einige für unsere Erörterung unwesentliche Punkte das gleiche 
Faeit ergiebt. Ich bemerke hier noch besonders, dass ich meinen früheren, 
von der von Mewes vertretenen Anschauung abweichenden Standpunkt 
hinsichtlich der Herkunft und Lageveränderungen des Ringkorns aufgegeben 
habe, seitdem ich mich besonders bei Cavia und Sciurus von dem Heran- 
rücken der beiden Körper, an die bereits der Axenfaden geheftet ist, über- 
zeugt habe. Auch für die von Mewes beim Menschen demonstrirte Ein- 
stülpung der Zellenmembran habe ich bei jenen Thieren Andeutungen ge- 
sehen. Beim Beutelfuchs habe ich das Ringkorn gefunden, seine Schicksale 
schliessen sich den Verhältnissen bei Cavia an. 

Von den Sauropsiden liegen bei Lacerta die Verhältnisse am einfachsten, 
wo das Ringkorn zwischen Zellperipherie und dem nahe derselben gelegenen 
Kern sich einstellt und hier bis zum Schluss der Spermienmetamorphose nur 
geringfügige Umwandlung erleidet; das Korn verschmilzt mit dem hinteren 
Kernpol. Bei Fringilla habe ich die Centrosomen mit dem Axenfaden, 
aber keinen deutlichen Ring aus dem hinteren Körperchen hervorgehen sehen. 
Dasselbe erscheint eher trichterartig. Das Korn bildet einen zuerst kegel- 
förmigen, nachher geschlängelten, zwischen Kopfhauptstück und Geissel ge- 
legenen Abschnitt, von dem die Geissel anfänglich seitlich entspringt. Dieser 
ist demnach als centrosomales Mittelstück aufzufassen. 

Von den Amphibien zeigen Anuren (Rana, Bombinator) nur gering- 
fügige Verwendung der Centrosomen, die fast in ihrer ursprünglichen Lage 
und Form verbleiben, so dass das centrosomale Mittelstück nur kornartig 
bleibt. Bei Bombinator entspringt ihm die Geissel in äusserst spitzem 
Winkel, verläuft also zurückgebogen parallel dem Kopf. Bei den Urodelen 
wächst, wie durch die Voruntersucher bereits festgestellt ist, das vordere 
Centrosoma zu dem grossen Ellipsoid des Mittelstücks heran. Ich möchte 
noch erwähnen, dass von Mewes bei Salamandra eine Einstülpung der Zell- 


396 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


membran beim in die Tiefe Rücken der Centrosomen von der Zelloberfläche 
gegen den Kern festgestellt ist; diese Erscheinung ist besonders ausge- 
sprochen bei Triton, wo man schon an frischen Zupfpräparaten an den Sper- 
matiden in allen Umwandlungsstadien die trichterförmige Einstülpung der 
Zelloberfläche wahrnimmt. Dieses Phänomen in Zusammenhang mit den 
Feststellungen Mewes’ und von Lenhossek’s bei Säugethieren und den 
von mir bei Lacerta und Anuren erwähnten Thatsachen beweist, dass auch 
in diese Classen, bei denen im Allgemeinen das centrosomale Mittelstück in 
die Tiefe des Spermatidenleibs einsinkt, der Ring ursprünglich mit der Zell- 
membran verwachsen ist, und hier wahrscheinlich das Loch umgiebt, durch 
welches der vom vorderen Centralkörperchen ausgehende Axenfaden die 
Zellmembran durchbohrt. 

Viel wichtiger und augenfälliger wird die Beziehung des Ringes zur 
Zellmembran bei den Selachiern, bei denen von F. Hermann das Ringkorn 
in seiner letzten Arbeit festgestellt worden ist. Ohne auf die Ansicht dieses 
geschätzten Autors betreffs der Genese des Ringes hier weiter einzugehen 
(derselbe hat die von mir inzwischen aufgegebene Ansicht aufgenommen, 
dass der Ring vom Zwischenkörperchen abstammt), bespreche ich die weiteren 
Schicksale dieses Gebildes, über die ich zu einer wesentlich abweichenden 
Ansicht gekommen bin. Hermann beschreibt, dass das Centralkörperchen 
— in unserem Sinne das vordere Centralkörperchen —, d. h. das Korn von 
dem an der Zelloberfläche verbleibenden Ring sich entfernt, als Endknopf 
mit dem Axenfaden gegen den Kern wandert, und sich hierbei der Axen- 
faden durch Umlagerung eines Mantels zum Mittelstück verdickt. Hiergegen 
spricht erstens, dass in diesen ersten Stadien der Spermatidenmetamorphose 
in keiner Wirbelthierelasse Mantelbildungen auftreten, dass zweitens in keiner 
Wirbelthierelasse Korn und Ring so zeitig von einander entfernt werden und 
dass drittens mit allen entsprechenden Färbungen das Mittelstück durchaus 
homogen in der Farbe des angeblichen centralen Axenfadens (Hermann’s) 
sowie in der des angeblichen centrosomalen Endknopfes erscheint und sich 
an Dicke und Färbbarkeit von dem aus dem Ring hervorragenden Axen- 
faden völlig unterscheidet. Ich behaupte aus diesen Gründen auf das Ent- 
schiedenste, dass das gesammte stabförmige Mittelstück der Se- 
lachier dem mächtig ausgewachsenen vorderen Centralkörper- 
chen entspricht. 

Hierdurch ergiebt sich auch als selbstverständlich, dass auch der von 
Ballowitz herausmacerirte „Axenfaden“ centrosomales Mittelstück war, und 
dass er, wie Ballowitz fand, in der That kein Endknöpfehen am Kern- 
ansatz trägt, da er selbst dem Endknöpfchen in toto entspricht. 

Ganz die gleichen Verhältnisse liegen bei den Gastropoden vor. Hier 
bin ich meines Wissens der Erste, der die Centralkörperchen und das Ring- 
korn gesehen hat. Dieselben liegen ebenfalls an der Zellperipherie, weit 
vom Kern getrennt, und tragen den Axenfaden, der durch den Ring aus der 
Zelle hervorragt. Das Korn verlängert sich äusserst schnell zu einem langen, 
meist leicht geschweiften Stab, der sich an den Kern anlegt, diesen darauf 
nierenförmig vom hinteren Pol her einstülpt und mit ihm verwächst. Das 
centrosomale Mittelstück verlängert sich hier ganz ausserordentlich bis zu 
einem Vielfachen des Kerns, so dass es eigentlich die Hauptmasse der langen 
Spermien bildet. Der Ring, den Prenant offenbar gesehen, aber als Kügelchen 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — (. BENDA. 397 


abgebildet hat, nimmt die Form eines Turbans oder eines halbkugeligen 
Näpfehens, an. Bei Selachiern und Gastropoden zeigt des centrosomale 
Mittelstück schliesslich oft eine ziemlich weitgewundene Spirale. 

Ich komme nun zur Besprechung der Mantelbildung. Ich hatte die- 
selbe bisher bei der Maus und bei Phalangista verfolgt und dargethan, dass 
sich in den letzten Stadien der Reifung aus besonders färbbaren Körnern 
oder richtiger: Körnerfäden des Spermatidenleibes die zierliche, zuerst von 
Jensen gesehene Mittelstückspirale ausbildet. Die ausführliche Beschreibung 
der hier in Betracht kommenden Körner, die ich bereits in vielen Zellarten aller 
möglichen Thierelassen gefunden habe, muss ich besonderen Arbeiten vorbe- 
halten. Ich bemerke hier nur, dass mir ihre isolirte Färbung jetzt mit Sicher- 
heit am geeignet conservirten Material glückt, und ich bereits das Material be- 
sitze, um denselben eine eigene Stellung in der Organisation des Protoplasmas 
beimessen zu können. Sie liegen innerhalb eines Theiles der Protoplasma- 
fäden, bisweilen zu besonderen Körpern gehäuft, und sind wenigstens mit 
einem Theil der bereits bekannten Zellmikrosomen identisch, aber unter- 
schieden von den Altmann’schen und Ehrlich’schen Granulationen. 
Ich möchte vorläufig vorschlagen, ihnen als Mitochondria eine besondere 
Stellung vorzubehalten, die ich in weiteren Arbeiten begründen werde. Ich 
habe die Betheiligung dieser Körner bei der Mantelbildung vor allem bei 
einigen weiteren Säugethierspecies festgestellt und besitze nunmehr Prä- 
parate von Phalangista, Maus, Meerschweinchen, Eber und besonders durch 
die Liebenswürdigkeit des Hrn. Collegen Mewes, der mir trefflich conser- 
virtes Material zur Verfügung gestellt hat, auch vom Menschen. Ueberall 
resultirt hier aus dem Chondriomitom eine dieht gewundene Spirale, die sich 
ausserhalb um die als Schwanzkoppe bezeichnete Röhre legt. Die Spirale 
zeigt in Bezug auf Länge, Feinheit des Fadens, Breite eine grosse Mannig- 
faltigkeit, aber Typieität für die einzelnen Species. Die Spiralenbildung ist 
an Länge von der Grösse des übrigbleibenden Zellleibs der Spermatide, an 
Breite von der Weite der Schwanzblase abhängig. Sie bildet schliesslich 
einen vom Axenfaden durchsetzten cylindrischen Körper, der nur noch sehr 
schwer die Spiraltouren erkennen lässt. Der chondriogene Mantel, bisher 
als Verbindungsstück aufgefasst, ist also bei den Säugern hinter dem 
eigentlichen centrosomalen Mittelstück gelegen. Nur ein Theil des Ringes 
wandert nach Mewes Beobachtung nach dem hinteren Zellpol, um hier die 
Schlussscheibe der Spirale zu bilden. Bei Sauropsiden habe ich noch keine 
ganz abschliessenden Beobachtungen über die Mantelbildung. Beim Sperling 
scheint sie sich in einem ähnlichen Abschnitt wie bei den Säugern abzu- 
spielen, doch kommt es hier nicht zu einem Mantelkörper, wie bei den 
Säugern, sondern nur zu einer lockeren Fadenbildung. Bei der Taube da- 
gegen und ebenso bei Lacerta umgiebt der chondriogene Mantel als eine 
sehr lockere, äusserst feinfädige Spirale den Kopf und das centrosomale 
Mittelstück. Bei Anuren umkreist eine lockere, sehr zarte Spirale das centro- 
somale Mittelstück und einen Theil des Geisselfadens. Bei Bombinator liegen 
chondriogene Bildungen am Kopf und an der Geissel, doch habe ich bisher 
keine deutliche Spirale gesehen. Am merkwürdigsten ist das Ergebniss bei 
den Urodelen, wo ich bei Triton eine vollständige Beobachtungsreihe über 
die Entstehung des chondriogenen Mantels besitze, die sich mit den Beob- 
achtungen Mewes’ über Mittelstück und Flossensaumbildung bei Salamandra 


398 VERHANDLUNGEN DER BERLINER PHYSIOL. GESELLSCH. — (. BENDA. 


ergänzt. Die Mantelbildung hat nichts mit der Entstehung des Flossensaums 
zu thun, der aus einem eigenen Geisselfaden entsteht. Dagegen schiebt 
sich auf dem Rücken des Axenfadens nach dem hinteren Geisselende ein 
Zipfel des Zellleibs vor, der dieht mit Körnern gefüllt ist. Aus diesen ent- 
wickelt sich eine bisher noch nicht gesehene äusserst dieht gewundene, sehr 
feinfädige Spirale, die fast die gange Länge des Axenfadens umgiebt. 

Für die Selachier reicht mein Material noch nicht aus. Ich besitze 
nur einen Raiahoden, mit einer ganz kleinen, gut conservirten Stelle, an 
der ich feststellen kann, dass der Mantel auch hier einen diehten spiraligen 
Bau zeigt, den schon Ballowitz durch Maceration dargestellt hat, nur dass 
er nicht einen Axenfaden, sondern das centrosomale Mittelstück umgiebt. 

Bei den Pulmonaten erfolgt ebenfalls die chondriogene Mantelbildung 
um das centrosomale Mittelstück. Die Spermatiden enthalten während 
ihrer Umbildung eine kolossale Körnermenge und aus diesen entsteht in der 
ganzen Länge des centrosomalen Mittelstücks bei einigen Species (Helix) ein 
dichter Mantel, der anfänglich eine Art Streifung, aber nie eine Spirale er- 
kennen lässt. Bei anderen (Planorbis) entsteht ein feiner, sehr locker ge- 
wundener Spiralfaden, der sich mit dem spiralig gewundenen centrosomalen 
Mittelstück durchflechtet. 

Wir sehen also ‚vorläufig, dass der chondriogene Mantel sehr verschie- 
dene Ausdehnung, Gestalt und Lagerung in den verschiedenen Classen zeigt. 
Er kann kolossale Länge erreichen oder sehr kurz sein, er kann eine 
homogene Röhre, einen dicht gewundenen oder einen lockeren Spiralfaden 
bilden; er kann wesentlich das basale Ende der Geissel oder das centro- 
somale Mittelstück oder selbst den Kopf umgeben. Aber bei allen unter- 
suchten Species war er bisher zu finden und darf wohl als ein integrirender 
Bestandtheil der Spermie aufgefasst werden. 

Die auffälligste bisher festgestellte Thatsache ist die scheinbare Willkür- 
lichkeit der Mantellagerung gegenüber der typischen Anordnung der übrigen 
Spermienabschnitte. Ich vermuthe indess eine Erklärung in den Beziehungen 
der jedesmaligen Mantellagerung zu dem specifischen Bewegungstypus der ein- 
zelnen Spermien und hoffe auf diesem Wege den Beweis erbringen zu können, 
dass der chondriogene Mantel das motorische Organ der Spermie darstellt. 


FEB 2 1899 


Ueber 
die Folgen der Durchschneidung des N. splanchnieus. 


Von 


Hans Vogt. 


(Aus dem pharmakologischen Institut zu Marburg.) 


(Hierzu Taf, V.) 


1% 


In der Litteratur finden sich eine Reihe von Angaben über funetionelle 
Störungen, die durch Ausrottung des Plexus coeliacus oder Durchschneidung 
der Nn. splanchniei bewirkt werden sollen. 

So fand Moreau,! dass sich eine Darmschlinge nach Durchschneidung 
der zugehörigen Mesenterialnerven reichlich mit alkalischer Flüssigkeit an- 
füllte, die schleimartige Flocken enthielt. 

Auch Hanau? sah nach Durchschneidung sämmtlicher Mesenterial- 
nerven grosse Massen reiswasserähnlicher Flüssigkeit im Darme sich an- 
sammeln. 

Ebenso findet sich eine Angabe von Lüderitz,? dass sich nach 
Splanchnicusdurchschneidung die stark hyperämischen Därme in kurzer Zeit 
mit Flüssigkeit füllen. 

Budge* exstirpirte Kaninchen den Plexus coeliacus et mesentericus 
und erzielte dadurch weichen Koth, wie er- annimmt, in Folge Transsudation 
aus den Gefässen; dem Koth der Versuchsthiere war oft Blut und Schleim 
beigemengt. Doch starben alle seine Versuchsthiere bald nach der Operation, 


! Oentralblatt für die medieinischen Wissenschaften. 1868. 8. 209. 

? Zeitschrift für Biologie. 1886. N.F. Bd.IV. S. 195. 

3 Reallexikon der medie. Propädeutik. Herausgeg. von J. Gad. Bd.I. 8.1580. 

* Anatomische und physiologische Untersuchungen über die Funetionen des Plexus 
coeliacus et mesentericus. Schriften der k. Carolinischen Akademie d. Naturforscher. 
1860. Bd. XIX. 


400 Hans Vogt: 


wie es scheint an Peritonitis, so dass seine Resultate nur mit Vorsicht ver- 
werthet werden dürfen. 

Adrian! experimentirte an Hunden und konnte dabei weder Diarrhöen 
noch Glycosurie beobachten. 

Dagegen berichtet Lamansky,? dass als Folge der Exstirpation des 
Plexus coeliacus et mesentericus bei Hunden und bei Kaninchen, freilich 
neben Peritonitis, im Diekdarme sich stets flüssiger Koth fand, während 
von neun Katzen nur bei zweien der Koth bald nach der Operation diar- 
rhoisch wurde. 

Auch Lewin und Boer,? die bei Kaninchen das Ganglion coeliacum 
quetschten oder entfernten, verzeichnen Diarrhöe und Meteorismus als Folge- 
erscheinung dieses Eingriffs. 

Lustig‘ und Peiper° konnten, ebenso wie Adrian, auf dieselben 
Eingriffe hin keine Diarrhöe beobachten; nach Lustig tritt in Folge der 
Operation Acetonurie auf; Peiper sah solche nur bei zweien seiner Versuchs- 
thiere in sehr geringem Grade. 

In einer Arbeit bemerkt Pal,‘ dass bei Hunden nach Durchschneidunge 
der Splanchniei die Darmentleerungen höchstens in den ersten 24 bis 
48 Stunden dünner sind. 

Nach Versuchen mit arseniger Säure halten Boehm und Unterberger’ 
es für wahrscheinlich, dass die bei den vergifteten Thieren auftretenden 
gastro-intestinalen Erscheinungen zum Theil eine Folge der Lähmung der 
Splanchnici seien, da deren Reizung den Blutdruck nicht mehr beeinflusste. 

Von den bis jetzt aufgeführten Angaben muss ein Theil ohne Weiteres 
zurückgewiesen werden, da die Versuche mit Peritonitis complicirt waren. 
Ausserdem ist zu berücksichtigen, dass die Exstirpation des Plexus coeliacus 
et mesentericus eine sehr schwierige Operation ist, bei der leicht Neben- 
verletzungen entstehen können, ganz abgesehen davon, dass schon die durch 
längeres Blossliegen an der Luft bewirkte Abkühlung der Därme schwere 
funetionelle Störungen hervorrufen kann. Darnach kann es noch nicht als 
sicher feststehend angesehen werden, dass der Wegfall der Function des 
Splanehnicus regelmässig Diarrhöe hervorruft.® 


1 C. Eckhard, Beiträge zur Anatomie und Physiologie. Giessen 1863. Bd. II. 

? Zeitschrift für rationelle Mediein. 1866. Bd. XXVIIl. 3. Reihe. 

> Deutsche medicinische Wochenschrift. 1894. XX. Jahrgang. Nr. 10. 

* Archives ital. de biologie. 1889. Vol. XII. p. 43—81. 

° Zeitschrift für klinische Medicin. 1890. Bd. XVII. S. 498. 

° Ueber Darminnervation. Wiener klinische Wochenschrift. 1895. 8. 521. 

” Archiv für experimentelle Pathologie und Pharmak. 1874. Bd. II. S. 89. 

® Vgl. auch die neueren physiologischen Arbeiten von Courtade et Guyon, 
Archives de physiol. norm. et pathol. Paris 1897. p. 422—433, und Bunch, Journal 
of Physiology. Vol. XXII. Nr. 5. p. 357. 


ÜBER vızs FOLGEN DER DURCHSCHNEIDUNG DES N. SPLAncHNIcCUs. 401 


Eine andere Behauptung, dass nämlich Durchschneidung der Splanch- 
niei Glycosurie bewirke, ist zwar schon experimentell widerlegt worden durch 
Eckhard,! aber noch nicht aus der Litteratur verschwunden.? Seit Eck- 
hard’s Versuchen scheinen eigens auf diesen Punkt gerichtete, Unter- 
suchungen nicht angestellt worden zu sein, so dass eine Nachprüfung der 
Frage nicht überflüssig erscheint. 

An experimentellen Stützen für die behauptete Glycosurie liegt Fol- 
gendes vor. Hensen? macht die beiläufige Angabe, dass er eine ent- 
sprechende Beobachtung zu verzeichnen habe. 

Die hierher gehörigen Versuche von Ploch‘* können nach der Kritik, 
die Eckhard’ daran ausgeübt hat, nicht mehr als beweisend angesehen 
werden. 

Munk und Klebs® haben bei Versuchen am Hunde beobachtet, dass 
nicht die Durchschneidung des Splanchnieus, wohl aber die Exstirpation 
des Ganglion solare Glycosurie erzeuge. Aber abgesehen davon, dass dabei 
die Ausschaltung der Bahn des Splanchnicus nach dem, was sie selbst ge- 
funden, nicht in Betracht kommen kann als Ursache der Glycosurie, ist 
die Operation wohl kaum ganz ohne Nebenverletzungen ausführbar. 

Lustig” sah bei einer Reihe Kaninchen, denen er das Ganglion coe- 
liacum herausgeschnitten hatte, nach 24 Stunden Glycosurie auftreten, die 
höchstens bis zum 3. Tage anhielt, als regelmässige und bleibende Folge 
aber Acetonurie. Durchschneidung der Splanchniei® allein bewirke vor- 
übergehende Acetonurie. 

Peiper° will einmal bei gleichzeitiger Wegnahme von Ganglion coe- 
liacum nebst 2!/,°® vom Splanchnicus ma. beim Kaninchen Glycosurie 
bis zu 4 Proc. gesehen haben. 

Meine eigenen Versuche, denen der Plan zu Grunde lag, durch Beob- 
achtung der Folgen der Splanchnieusdurchschneidung die functionelle Be- 
deutung des Nerven kennen zu lernen, wurden in folgender Weise angestellt. 
Die gewogenen Thiere wurden nach Messung ihrer Temperatur in Rücken- 
lage aufgebunden. Nach Entfernung der Haare am Bauche und Reinigung 
der Bauchdecken mit Wasser, Seife und Alkohol wurde die Bauchwand, 


! Beiträge zur Anatomie und Physiologie. 1867. Bd.IV. 

® Vgl. Laudois in Zealencyklopädie der gesammten Heilkunde. 2. Auflage. 
Bd. VII. 8. 560. 

® Virchow’s Archiv. 1857. Bd.XI. N.F. Bd.]. S. 398. 

* Ueber den Diabetes nach Durchschneidung des N. splanchnicus. Inaug.-Diss. 
Giessen 1863. 

IN. a0: 

° Tageblatt der 43. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Inns- 
bruck 1869. 


TEN a.O, ® €. R. d’anatomie ete. p. XLVI. »A.2.0. 
Archiv f. A. u. Ph. 1898. Physiol. Abthlg. 26 


402 Hans Vocrt: 


zuweilen unter Infiltrationsanästhesie, durch einen langen Schnitt in der 
Linea alba durchtrennt; die hervortretenden Därme wurden, in heisse Mull- 
compressen eingepackt, zur Seite gelegt. Dann wurde, während ein Assistent 
die Leber vorsichtig zurückhielt, der Splanchnicus mit Finder und Pincette 
freigelegt und ein Stück resecirt, was bei nicht tief narkotisirten Thieren 
jedes Mal heftige Bewegungen als Reflexäusserung verursachte. Zur Auf- 
suchung des Splanchnieus leistete ein elektrisches Glühlämpchen in der - 
Hand eines Assistenten gute Dienste. Da wir beobachtet hatten, dass die 
Temperatur der Versuchsthiere während der Operation stark herunterging, 
suchten wir mit Erfolg durch Wärmekrüge, die. an beide Seiten des Thieres 
gelegt wurden, der Abkühlung vorzubeugen. 

Zur Controle der Operation wurde das resecirte Gewebe auf seine 
nervöse Natur mikroskopisch untersucht. Bei den Thieren, die später 
starben, wurde die Section vorgenommen, bei der man freilich wegen des 
Narbengewebes nicht leicht zu einem sicheren Ergebniss gelangt. 

Von neun in der beschriebenen Weise operirten Kaninchen starben 
vier während oder sehr bald nach der Operation, wofür anscheinend in 
erster Linie die starke Abkühlung der Thiere, daneben vielleicht die An- 
sammlung des Blutes in den stets stärker gefüllten Darmgefässen verant- 
wortlich zu machen war. Von zwei einseitig operirten Thieren ging das 
eine in Folge Lösung der Bauchnaht am 7. Tage an Peritonitis zu Grunde, 
das andere am 11. Tage, als die Operation auf der anderen Seite gemacht 
werden solltee Drei Kaninchen wurden doppelseitig operirt; von diesen 
starb eins nach 7 Tagen an Darmverschlingung, die beiden anderen blieben 
Wochen und Monate lang am Leben. 

Eine einseitig und zwei doppelseitig operirte Katzen überstanden et 
falls die Operation gut. 

Als Folge der Operation wurde Nachstehendes beobachtet. Die Thiere, 
die nicht unmittelbar der Operation erlagen, erholten sich gewöhnlich schnell 
und fingen meist schon innerhalb der ersten 24 Stunden zu fressen an. 
Die in der ersten Zeit natürlich etwas zurückgegangene Nahrungsauf- 
nahme erreichte nach einigen Tagen wieder die alte Höhe. Das Körper- 
gewicht und die täglich ausgeschiedene Harnmenge verhielten sich 
dem entsprechend. Der Koth der Kaninchen war zwar oft etwas kleiner 
und feuchter als vor der Operation, aber niemals flüssig oder nur weich- 
breiig. Von den beiden Katzen hatte eine in den ersten Tagen diarrhöische 
Entleerungen. 

Der Harn aller operirten Thiere wurde regelmässig auf Zucker und 
Aceton untersucht, aber mit einer Ausnahme (vgl. Protocoll 2) in allen 
Fällen mit negativem Ergebniss. 

Als Beleg dienen folgende Versuchsprotoeolle: 


ÜBER DIE FOLGEN DER DURCHSCHNEIDUNG DES N. SPLANCHNICUS. 


4083 


1. Kaninchen, Gewicht 2200 2"”, Operation linksseitig. 


Datum . | Temperatur | 


Harn 


Fäces 


Montag 
Dienstag 


Mittwoch 


Donnerstag 


Freitag 


Sonnabend 
Sonntag 
Montag 


Dienstag 


39.6 
0.391350 


39.2° 


aan 


39-1? 


IB 


Tägliche Harnmenge etwa 250 2" 


5m, alk, 
| kein Alb., Sacch., Aceton 


180 ®, alk. 


Alb. 

Sacch. [) 

Aceton 

270°", alk. 

ohne pathol. Bestandtheile 
32H. cna]lk? 


Alb. 

Sacch. l 1) 

Aceton 

480 sm, alk. 

kein Alb., Sacch., Aceton 


32sıcu ale 
ohne pathol. Bestandtheile 


290,0, alk. 
' ohne pathol. Bestandtheile 


220 ° m, bräunlich, alk. 
| Alb. 
B 


Sacch. 
Aceton 


1 


klein, normale Consistenz 


ebenso 


ebenso 


etwas klein und weich 


ebenso 


klein, normale Consistenz 


wie gestern 


Auch in den folgenden Tagen derselbe Befund. Das Thier stirbt, als 
es auf der rechten Seite operirt werden soll, an Blutung aus einem Leberriss. 


2. Junge Katze, Gewicht 1532 em, Ope 


ration doppelseitig. 


Datum 


Temperatur 


Harn 


| Fäces 


| 


23./V1l. 


24.VIL. 
25./VII. 


26./V11. 


Gleich nach 
Oper.37.2° 


Sana 


37.80 


16 =, dunkelgelb, alk. 

Alb.: geringer Niederschlag 
Nylander | 
Legal j 
Inazccm Fa 
Alb.: Trübung 


Aceton | 0 
 Sacch. | 


40° m, braungelb, alk. 
Alb. 
\ Aceton 


negativ 


Nylander: pos. \zu Polar. u. Gähr 


Trommer: neg. | zu wenig Harn 


Tägliche Urinmenge etwa 20 cm 


nicht entleert 


kein Durehfall 


fest 


26* 


404 Hans Vogt: 


(Fortsetzung.) 


Datum Temperatur Harn Fäces 


27./VIL 37-69 36 m, alk. keine Diarrhöe 

(Gewicht: | Alb. | 

1178®=) | Nylander  ® 
Legal J 


28./VII. 60 ° m, alk. 

Alb.: geringer Niederschlag 
Aceton: ® 

Nylander: positiv 

Polarisation: Spur Linksdrehung 


In den folgenden Tagen weder Aceton noch redueirende Substanz im 
Harn; keine Diarrhöe. Das Auftreten einer geringen Menge redueirender 
Substanz im Harn, am 3. und 5. Tage nach der Operation, kann man wohl 
kaum auf die Splanchnieusdurchschneidung, viel eher auf eine Verunreinigung 
des Harns beziehen. 


Wenn es zulässig ist, aus meinen leider wenig zahlreichen Versuchen 
Schlüsse zu ziehen, so muss man jedenfalls annehmen, dass nach der 
Splanchnieusdurchschneidung noch Hemmungsvorrichtungen für die Darm- 
bewegungen wirksam sind, die einen Ausfall der Splanchnicusfunction zu 
decken vermögen. Diese Annahme wird ja auch durch andere Beobach- 
tungen wahrscheinlich gemacht, wie z. B. am Hunde mit Exstirpation des 
Rückenmarks vom 5. Halswirbel bis zur Cauda equina. Von nervösen 
Apparaten, denen ınan diese Rolle zuschreiben könnte, bleiben nur die 
peripheren, in der Darmwand gelegenen Ganglien. Darnach wären die schon 
erwähnte Auffassung von Böhm und Unterberger, sowie die Hypothese 
von Ide,! der die Erscheinungen bei der Cholera als Folge der Splanch- 
nicuslähmung auffasste, dahin zu präcisiren, wenn man überhaupt daran 
festhalten will, dass es sich um eine Lähmung dieser Ganglien handeln 
müsste, die man wohl als Endapparate des Splanchnicus auffassen darf. 


Die von Anderen beobachtete Glycosurie nach Splanchnicusdurch- 
schneidung hat man vermuthungsweise auf eine Aenderung des. Blutstromes 
in der Leber bezogen. Will man nicht einen dahin gehenden Einfluss des 
Splanchnicus als ganz inconstant ansehen, so wird man diese Vermuthung 
fallen lassen müssen... Viel wahrscheinlicher ist wohl, dass bei den be- 
treffenden Versuchen” ungewollte Nebenverletzungen und Anderes eine stö- 
rende Rolle gespielt haben. 


1 Verhandlungen des Congresses für innere Mediein. Wiesbaden 1893. 


ÜBER DIE FOLGEN DER DURCHSCHNEIDUNG DES N. SPLANCHNIcUSs. 405 


ls 


Als wir uns vor Ausführung der Versuche über die anatomischen Ver- 
hältnisse des Operationsfeldes unterrichten wollten, zeigte es sich, dass die 
vorhandenen Angaben in der umfangreichen Litteratur über die Physiologie 
des Splanchnicus zerstreut und ausserdem unvollständig waren. Darum 
will ich hier kurz die betreffenden Fundorte, soweit sie mir bekannt ge- 
worden sind, zusammenstellen und eine kurze Darstellung des betreffenden 
Gebietes der Katze, wovon ich keine genauere Darstellung gefunden habe, 
anfügen. 

Eine eingehendere Beschreibung der Anatomie des Splanchnicus beim 
Kaninchen mit guten Abbildungen giebt Ploch.” Dazu vergleiche man 
die „Anatomie des Kaninchens“ von Krause,? sowie die schon erwähnten 
Arbeiten von Lustig und Peiper.“ Bei Lamansky° findet sich eine 
Beschreibung des Plexus coeliacus et mesentericus der Katze, des Kaninchens 
und Hundes nebst Abbildungen. 

Für den Hund haben wir eine ausführliche, mit guten Abbildungen 
versehene Arbeit von Noellner.° Rein systematisch-anatomisch ist die 
Darstellung in Ellenberger und Baum’s „Anatomie des Hundes“. Einige 
Angaben findet man ausserdem bei Adrian,” bei Bidder,° bei Courtade 
et Guyon,? sowie bei Asp,!® der eine Methode zur extraperitonealen Durch- 
schneidung des Splanchnicus angegeben hat. 

Etwas auffallende Angaben macht Biedl,!! der den Splanchnicus minor 
aus dem major hervorgehen lässt. 

Ich möchte hier noch anfügen, dass in der angeführten Arbeit von 
Budge Tafeln zur Anatomie des betreffenden Nervengebietes von. Phalan- 
sista orientalis, Corvus cornix, Lophura amboinensis, Rana esculenta ge- 
geben sind.!? 

! Für liebenswürdige Unterstützung bei Bearbeitung dieses Theiles fühle ich mich 


Hrn. Geh. Rath Gasser zu grossem Dank verpflichtet. Auch Hr. Prof. Zumstein 
und mein Freund, Hr. Assistent J. Seemann, haben mich freundlich unterstützt. 


2R8a. ©: 

3 Krause, Anatomie des: Kaninchens. Leipzig 1868. S. 265—266. 

ZA a0. SOAY220. 

6 C. Eckhard, Beiträge zur Anatomie und Physiologie. Giessen 1869. Bd. IV. 
7 Ax2.:05 8466. 

® Reichert und Dubois’ Archiv. 1869. 8.472 ff. 

DEN 220: 


10 Berichte über die Verhandlungen der königl. sächs. Gesellschaft der Wissen- 
schaften zu Leipzig. 1867. Bd. XIX. 

ıı Pflüger’s Archiv. 1897. Bd. LXVII. S. 453 Anm. 

12 Vgl. auch R. Marage, Contribution & l’anatomie descript. dw sympath. tho- 
racique et abdominal chez les oiseaux. Paris 1887. 


406 Hass Voecr: 


Für die Katze habe ich nur bei Bidder! und bei Haffter? einige 
Angaben gefunden, auf die es genüge hier zu verweisen. 

Die topographischen Verhältnisse sind bei der Katze im Wesentlichen 
die gleichen wie beim Kaninchen und Hunde Wenn nach Oefinung der 
Bauchhöhle die Därme nach rechts gelegt und der Magen und die Leber 
zurückgehalten werden, so sieht man auf der linken Seite meist ohne 
Weiteres die auch bei mageren Thieren in ein Fettlager eingebettete Niere, 
die medial vom oralen Rande der Niere gelegene Nebenniere mit der über 
sie hinwegziehenden Vene, die Artt. coeliac. und mes. sup. Bei mageren 
Thieren sieht man ausserdem oft schon ohne Präparation den zwischen 
Zwerchfellpfeiler und Ileopsoas heraustretenden Splanchnicus major durch 
das Peritoneum durchschimmern und schräg median- und caudalwärts 
verlaufen. 


Auf der rechten Seite sieht man ohne Präparation in der Regel nur 
die Niere, deren obere Hälfte durch einen lose an sie angehefteten Leber- 
lappen zum Theil verdeckt wird, die Vena cava inferior und an deren 
äusserer Wand die Nebenniere, diese meist mehr oralwärts als auf der 
linken Seite. Erst wenn man die Nebenniere abhebt, kommt der Splanch- 
nicus major zu Gesicht, der mehr dorsoventral- und etwas medianwärts 
verläuft. 

Die feinere Nervenvertheilung war in einem mit Hülfe der binocularen 
Lupe untersuchten Falle folgende (vgl. Fig. 1, Taf. V). Links findet sich 
ein Ganglion sympathiei in der Höhe des Ansatzes der letzten Rippe an 
die Wirbelsäule. Am nächsten caudalwärts folgenden Ganglion symp., aber 
‘noch in der Brusthöhle, d. h. oberhalb des Zwerchfellursprungs, zweigen 
sich vom Grenzstrang zwei Nervenfäden ab, ein dickerer, der den Rest des 
Grenzstranges an Stärke bedeutend übertrifft, und ein schwächerer. Beide 
sind durch eine feine Anastomose verbunden und senken sich nach ihrem 
Durchtritt durch das Zwerchfell in eine zwischen den Artt. coeliac. und 
mes. sup. gelegene Ganglienmasse ein. Aus dem ersten Gangl. lumbale symp. 
kommen zwei Aestchen, von denen sich das eine an den schwächeren der 
beiden vorher beschriebenen Nerven, das andere an einen aus dem zweiten 
Gangl. symp. der Bauchhöhle kommenden Nervenast anlegt, der auch in 
die an den Arterien gelegene Ganglienmasse sich einsenkt, und zwar in 
deren caudales Ende. Dagegen nähert sich ein vom dritten Gangl. symp. 
lumb. kommender Nervenfaden den Nierengefässen und verläuft mit ihnen 
zum Hilus der Niere. 

IPA 73.10: 
” Henle und Pfeuffer, Zeitschrift für rationelle Medicin. 1854. Neue Folge. 
Bd. IV. S. 322. 


ÜBER Dis FOLGEN DER DURCHSCHNEIDUNG DES N. SPLANCHNICUS. 407 


Die mehrfach erwähnte, an der coel. und mes. sup. gelegene Ganglien- 
masse besteht aus einem grösseren, zwischen den beiden Arterien sitzenden, 
und einem kleineren, caudal von der mes. sup. gelegenen Knötchen; diese 
Knötchen stehen durch eine breite Nervenmasse in Verbindung. Von dem 
grösseren gehen hauptsächlich Fäden ab zur Art. coeliac., vom anderen zur 
mes. sup., sowie eine Reihe feiner Fäden, die unter der Nebenniere sich 
verzweigen und auch mit dem zu den Nierengefässen ziehenden Nerven in 
Verbindung treten. 

Auf der rechten Seite entsprachen die Verhältnisse im Ganzen voll- 
kommen den linksseitigen; nur lag hier das Gang]. sympath., von dem der 
unterste in’s Ganglion des Splanchnicus eintretende Ast kam, noch ober- 
halb des Zwerchfellursprunges. 

Ob von dem Ganglion splanchnici (coeliac.) auch makroskopisch sicht- 
bare Fäden in die Nebenniere gehen, konnte ich nicht mit absoluter Sicher- 
heit entscheiden. Doch habe ich die Ueberzeugung gewonnen, dass bei 
der Katze keine mit Sicherheit zu isolirenden und (bei Operation am lebenden 
Thiere!) isolirt zu reizenden Fäden dieser Art vorhanden sind.! Auch habe 
ich in keinem Falle einen vom Splanchnieus major direct zur Nebenniere 
verlaufenden Ast finden können, der mir, wenn vorhanden, kaum ent- 
gangen wäre. 


Hrn. Prof. H. Meyer möchte ich für die Anregung zu dieser Arbeit, 
ihm und seinem Assistenten, Hrn. Dr. Rost, für stets bereite liebenswürdige 
Unterstützung bei ihrer Ausführung meinen herzlichsten Dank sagen! 


Marburg, im August 1898. 


ı Vgl. die Arbeit von Jacobj, Archiv für ewperim. Pathologie und Pharmakol. 
1892. Bd. XXIX. 


408 Hans VogT: ÜBER D. FOLGEN D. DURCHSCHNEIDUNG D. N. SPLANCHN. 


Erklärung der Abbildungen. 
(Taf. V,) 


Fig. 1. Vertheilung der Nerven des Splanchnicusgebietes auf der linken Seite 
einer Katze. 


Fig. 2. Topographische Uebersicht der rechten Seite. 
Fig. 3. Topographische Uebersicht der linken Seite. 


Die Abkürzungen bedeuten: 


Aue NorLar Nn. = Nebenniere. 

A.c. = Arteria coeliaca. 1.N. = Linke Niere. 

A.m. = Arteria mesenterica. r.N. = Rechte Niere. 

C. = Cava. (0) = Oesophagus. 

D. = Diaphragma. R. = Letzte Rippe. 

L. = Lymphdrüse. S. = Sympathicus, Grenzstrang. 
Per  — Leber. Spl. = Splanchnicus. 

M. .= Magen. 


Ueber die Beziehung der Akapnie zur Bergkrankheit. 
Von 
Privatdoc. Dr. A. Loewy 


in Berlin, 


(Aus dem thierphysiolog. Laboratorium der landwirthschaftl. Hochschule in Berlin.) 


Wie alle früheren, so zeichnet sich auch das neueste Werk Mosso’s! 
durch eine Fülle interessanter Beobachtungen und Versuche, geistreicher 
Betrachtungen und Vergleiche aus, die sich nicht nur auf das physio- 
logische Verhalten beim Aufenthalt in der Höhe beziehen, sondern ein- 
gehend auch den pathologischen Zustand, der nicht selten beim Ueber- 
schreiten einer gewissen, individuell verschiedenen, Höhenlage auftritt, die 
sog. Bergkrankheit, behandeln. 

Für ihre Entstehung nun, die man seit P. Bert’s Arbeiten, man kann 
sagen unwidersprochen, auf eine zu gering werdende Sauerstoffzufuhr bezieht, 
stellt Mosso eine neue Theorie auf, nach der nicht Sauerstoffmangel, sondern 
eine zu geringe Kohlensäuremenge im Blute die wesentliche Ursache dar- 
stelle. Diesen Zustand der verminderten CO,-Menge im Blute bezeichnet 
Mosso als Akapnie. Da nun die Blutkohlensäure den wichtigsten physio- 
logischen Reiz für die lebenswichtigen Centren des Centralnervensystems, 
speciell für das die Athmung und die Herzthätigkeit beherrschende Vagus- 
centrum, darstellt, ist im Zustande der sog. Akapnie die Summe der er- 
regenden Momente für diese nervösen Centren verringert, deren Thätigkeit 
beeinträchtigt, und so Respiration und Circulation geschädigt. 

Da ich selbst mich früher auf Grund zahlreicher eigener Versuche für 
den Sauerstoffmangel als die. wesentliche Ursache der unter dem Namen 
der Bergkrankheit zusammengefassten Erscheinungen ausgesprochen habe,? 
auch eine Akapnie überhaupt nicht bei meinen Untersuchungen im pneu- 
matischen Cabinet, wenigstens nicht im Sinne Mosso’s bei den später mit 


! Mosso, Der Mensch auf den Hochalpen. Leipzig 1898. 
? Loewy, Untersuchungen über die Bespiration und Circulation u.s.w. Berlin 1895 


410 A. LorwY: 


meinem Bruder und Leo Zuntz im Hechgebirge ausgeführten Versuchen 
feststellen konnte, da andererseits Mosso directe Beweise für seine An- 
schauung nicht beibringt, sondern den Kohlensäuremangel im Blute nur aus 
theoretischen Erwägungen und per analogiam ableitet, sei es mir gestattet, 
im Folgenden kurz die Gründe, die Mosso zu seiner Annahme führten und 
die Berechtigung, eine Akapnie als ursächliches Moment der Bergkrankheit 
aufzufassen, einer kritischen Betrachtung unterziehen. Dies scheint mir um 
so mehr angezeigt, als die Lehre von der Akapnie — Dank der wohl- 
begründeten Autorität Mosso’s — über den Kreis der wissenschaftlichen 
Forschung hinaus bereits Eingang in die alpinistische Litteratur ge- 
funden hat. 


„Wenn der Luftdruck sich vermindert, verliert das arterielle Blut einen 
beträchtlichen Theil seines Kohlensäuregehaltes und die durch diesen Ver- 
lust hervorgerufenen Erscheinungen treten früher auf als die Wirkungen, 
welche dem Mangel an Sauerstoff zugeschrieben werden müssen.“ — 

Dass das arterielle Blut, solange es im Körper kreist, bei vermindertem 
Luftdruck an Kohlensäure in erheblichem Maasse ärmer ist als bei Atmo- 
sphärendruck, hat Mosso, wie erwähnt, nicht durch dahin zielende Versuche 
erwiesen. Er schliesst es aus Folgendem: 

1. NaHCO, in Substanz in einer NaHCO,-Lösung unter die Luftpumpe 
gebracht, lässt CO, frei werden. — Da Blut nicht wie eine Lösung von 
NaHCO, sich verhält, ist die Analogie keine ganz treffende. 

Sie ist auch darum nicht ganz zutreffend, weil die physikalischen Be- 
dingungen, unter denen sich einerseits das Blut, andererseits die kohlen- 
saure Natronlösung befinden, sehr verschieden sind. Denn das Blut kommt 
in mikroskopisch dünner Schicht mit der Luft in Berührung, so dass ein 
momentaner Austausch der Gasspannungen stattfinden kann; in Mosso’s 
Versuch mit dem NaHCO, handelt es sich um eine sehr dicke Schicht mit 
relativ kleiner Oberfläche. Hier kann ein grosser Ueberschuss absorbirter 
Kohlensäure sich anhäufen, der bei Luftverdünnung zur Entwickelung von 
Gasblasen Anlass giebt. Ich konnte mich hiervon an einem auf den Rath 
des Hrn. Prof. Zuntz angestellten Experiment überzeugen. Wasser wurde 
in einer Flasche mit 10procent. Kohlensäure geschüttelt. Die über dem 
Wasser stehende Luftsäule wurde mittels eines Gebläses durch frische, 
kohlensäurefreie Luft ersetzt. Es trat keine sichtbare Gasentwickelung ein. 
Diese erfolgte jedoch sofort, als die Luft in der Flasche verdünnt wurde. 

Jedoch es wird sich zeigen, dass die ebengenannten Di nz für die 
vorliegende Frage gleichgültig sind. 

2. Die Symptome der Bergkrankheit treten häufig und besonders qual- 
voll im Schlafe auf. „Nur durch Kohlensäuremangel“ soll diese Thatsache 


ÜBER DIE BEZIEHUNG DER AKAPNIE ZUR BERGKRANKHEIT. 411 


erklärt werden können. Sie wird darauf zurückgeführt, dass im Schlafe 
die Kohlensäurebildung abnimmt. — Dass letzteres nicht der Fall ist, 
wenn man mit den im Schlafe gefundenen Werthen die im wachen Zu- 
stande bei voller körperlicher Ruhe sich ergebenden vergleicht, konnte ich 
vor einer Reihe von Jahren zeigen. Meine Resultate sind später von 
Johannson! mittels anderer Methode vollkommen bestätigt worden. — 
Nun ist aber das Wesentliche für den Grad der Kohlensäurewirkung nicht 
ihre Menge, sondern ihre Spannung, und diese nimmt im Schlafe nicht 
ab, sondern bleibt entweder — in selteneren Fällen — ungeändert oder 
steigt mehr oder weniger erheblich an, wie ich aus einer Anzahl an 
Schlafenden angesteilter Respirationsversuche weiss. ? 

3. Einen ähnlichen Symptomencomplex wie die in sehr verdünnter 
Luft gehaltenen Thiere bieten mit Pepton vergiftete dar: ihr Puls ist be- 
schleunigt, ihre Respiration ist verlangsamt, sie haben die Gewalt über ihre 
Gliedmaassen verloren, sind bei höheren Graden unbesinnlich. Lahousse’° 
fand nun, dass bei der Peptonvergiftung die CO,-Menge des Blutes stark 
vermindert ist. Mosso fand weiter, dass CO,-Einathmung den Zustand 
bessert, den Puls verlangsamt, die Athmung befördert.* Er schliesst: die 
Peptonvergiftung beruht auf Akapniee — Aber nach Lahousse hatte 
Grandis? festgestellt, dass, wenn auch die Menge der CO, im Blute 
herabgesetzt, doch ihre Spannung erhöht sei. Damit muss — da die 
Spannung das Maassgebende für den Grad der Reizwirkung ist — während 
der Peptonvergiftung die Erregung des Vaguscentrums durch die Blut- 
kohlensäure gewachsen sein. Im Sinne Mosso’s, der in seinem Buche 
den Gegensatz von Menge und Spannung leider nicht erörtert, kann daher 
hier keine Akapnie, d.h. keine gegen die Norm, oder sagen wir absolut 
verminderte Reizwirkung durch die Blutkohlensäure vorliegen. Dagegen 
könnte sehr wohl ein Zustand vorliegen, den man als relative Akapnie 
bezeichnen könnte, d. h. ein Kohlensäurereiz, der mit Bezug auf die be- 
stehende Erresbarkeit der Centren nicht genügend ist. Wollte man dies 
für die Peptonvergiftung annehmen, so müsste man die Voraussetzung 
machen, dass die nervösen Centren durch das Pepton geschädigt sind und 
an Erregbarkeit eingebüsst haben. Damit hörte aber die Analogie mit der 
bei Körperruhe oder im Schlafe auftretenden Bergkrankheit auf. 


! Johannson, Nord. Med. Arkiv. Festband. (N.F. VII. Nr. 22.) 

® Dieses Resultat ergiebt sich durch diesbezügliche Berechnung der in meiner 
früheren Arbeit: Zur Kenntniss der Erregbarkeit des Athemcentrums. Pflüger’s Archiv. 
Bd. XLVII und der in Berliner klin. Wochensch. 1891. Nr. 18 mitgetheilten Versuche, 

® Lahousse, Dies Archiv. 1889. Physiol. Abthle. 

* Mosso, a.2.0. 8.415 ff. 

° Grandis, Dies Archiv. 1891. Physiol. Abthlg. 


412 A. Lokwy: 


Analog würde diese relative Akapnie den — später zu besprechenden — 
Bergkrankheitserscheinungen sein, die bei körperlicher Ermüdung auftreten. 
Wie bei der supponirten absoluten Akapnie, wird CO,-Einathmung natür- 
lich auch bei der relativen sich von Nutzen erweisen. Sie fügt den vor- 
handenen, zu wirksamer Erregung der vergifteten Centren unzureichenden 
Reizen einen weiteren hinzu; sie erhöht die Summe der wirkenden Reize. 

4. Mosso stellte folgenden Versuch an: in der pneumatischen Kammer 
liess er ein Versuchsindividumm je eine 800° fassende, mit Salzwasser 
gefüllte Flasche bei Atmosphärendruck, bei 580 "m Bar., bei 420 W®@, wieder 
bei 580” und endlich wieder bei Atmosphärendruck mit seiner Exspirations- 
luft füllen. — Genauere Einzelheiten üher die Ausführung der vier tabel- 
larisch mitgetheilten, an derselben Person angestellten Versuche sind nicht 
angegeben. Auffallend und nicht im Sinne einer ruhigen, gleichmässigen 
Athmung, die doch zur Erlangung eindeutiger Resultate hier besonders 
wichtig wäre, sind die starken Schwankungen im Procentgehalt der Exspi- 
rationsluft an CO,. Sie enthält schon bei Atmosphärendruck zwischen 
6-1 Proc. und 3-1 Proc. CO,! — Mosso findet nun bei 580 "m Druck 
stets eine Zunahme des Procentgehaltes, bei 420 %m und bei Wiederanstieg 
auf 5850"m und auf Atmosphärendruck eine Wiederabnahme desselben. Er 
schliesst nun, dass auf die Kohlensäureausscheidung nicht so sehr der Grad 
der Luftdruckverminderung, als die Zeit von Einfluss sei; „ein Anfangs 
geringerer Druckunterschied entzieht! dem Körper eine grössere Menge 
von CO, als bei der nachfolgenden doppelten Druckverminderung“. 

Dass die procentische Zunahme in der Exspirationsluft kein „Entziehen‘“ 
von CO, bedeutet, d. h. doch eine Abnahme der Blutkohlensäure setzt, hoffe 
ich im Folgenden zeigen zu können. Dass bei stärkerer Druckverminderung 
der CO,-Procentgehalt der Ausathmungsluft geringer ist als bei mässiger, 
steht mit meinen eigenen Erfahrungen im Widerspruch und hängt wohl 
mit der durch die Raumverhältnisse in der Kammer bedingten, etwas 
primitiven Methode, die Mosso anwenden musste, zusammen.” Ich komme 
auch auf diesen Punkt noch an einer späteren Stelle zurück. 

! Im Original nicht gesperrt gedruckt. 

?® Ich gebe hier als Beleg für den mit der Luftverdünnung zunehmenden Kohlen- 


säuregehalt der Exspirationsluft die betreffenden Zahlen der Tab. VII und VIII meiner 
oben eitirten Monographie wieder: 


1. Versuche an Loewy: 


ca. 750 580 435 360 mm Bar, 
CO,-Ausscheidung: 3-81 5-22 6-43 6-84 Proc. 
2. Versuche an W.: 
ca. 740 950 440 wm Bar. 
CO,-Ausscheidung: 3-48 4.37 5-71 Proc. ‚ 


Fast alle diese Werthe sind Mittelwerthe mehrerer gut übereinstimmender Einzelversuche. 


ÜBER DIE BEZIEHUNG DER AKAPNIE ZUR BERGKRANKHEIT. 413 


5. Wie ich selbst schon, so fand auch Mosso, dass CO,-Einathmung 
bei vermindertem Luftdruck das auftretende Uebelbefinden zu beheben im 
Stande ist. Er erklärt dies jedoch nicht durch die damit eintretende bessere 
Sauerstoffversorgung der nervösen Centren, sondern durch die Behebung 
der Akapnie. 

Dies die wesentlichen Gründe für die Annahme einer Akapnie als 
Ursache der Bergkrankheit. — Mosso’s vielfache Einwände gegen die 
ursächliche Bedeutung des Sauerstoffmangels bespreche ich später. 


Sind wir wirklich zur Annahme einer, beim Aufenthalte in verdünnter 
Luft vorhandenen, geringeren Erregung der nervösen Centren durch die 
Blutkohlensäure berechtigt und wodurch soll sie bedingt sein? 


Es ist vortheilhaft, für die Betrachtung zwei Fälle scharf aus einander 
zu halten, nämlich den Zustand körperlicher Ruhe beim Verweilen im 
luftverdünnten Raume und den Zustand der Thätigkeit, der Leistung 
von Muskelarbeit. In ersterem liegen die in Betracht kommenden Verhält- 
. nisse relativ einfach, in letzterem wesentlich complicirter. 


Ich will mich zunächst auf den ersten Fall beschränken, io die 
Wirkung der Luftverdünnung auf den ruhenden Organismus. _Mosso’s 
oben wiedergegebene Worte, dass, wenn der Luftdruck sinkt, das arterielle 
Blut einen Theil seiner CO, verliert, wäre richtig, wenn das Blut frei mit 
der Atmosphäre communicirte. Es steht ja aber nur mit einem durch die 
Summe der Alveolen gebildeten abgeschlossenen Luftraum in Beziehung. — 
Schematisch haben wir es mit einer Flüssigkeit zu thun, die mit einer 
Luftmasse bestimmter Grösse in Austausch steht. Die Flüssigkeit erhält 
in der Zeiteinheit eine bestimmte, stets gleiche Menge CO, zugeführt, giebt 
davon an die Luftmasse ab, aus der in der Zeiteinheit periodisch durch 
eine gleichmässige Ventilation soviel entfernt wird, dass zwischen der Menge 
der in die Flüssigkeit eintretenden, in die Gasmasse übergehenden und aus 
ihr entweichenden CO, Gleichgewicht besteht. 


So ist es wenigstens — wenn ich vorläufig den einfachsten Fall nehme — 
bei körperlicher Ruhe und gleichmässiger Athmung, wobei der Procentgehalt 
der Exspirationsluft an CO, und die ausgeschiedene CO,-Menge. pro Minute 
constant sind. — Tritt nun eine Luftverdünnung bestimmten Grades ein, 
so findet eine Abnahme der Gesammtspannung in der Gasmasse statt 
und natürlich zunächst auch der Partiarspannung der 0O,. Da nun der 
CO,-Zufluss zur Flüssigkeit ungeändert bleibt — und das kann ich wohl 
nach den Versuchsergebnissen Mosso’s, Zuntz-Schumburg’s und meinen 
eigenen vorläufig noch als auch für das Blut zutreffend annehmen, trotz 
der gegentheiligen, erst in kurzer Mittheilung vorliegenden Resultate 


414 A. LoewY: 


Rosenthal’s! — so tritt zunächst eine grössere CO,-Menge als zuvor aus 
der Flüssigkeit in die Gasmasse über, bis wieder Ausgleich zwischen COQ,- 
Spannung in der Flüssigkeit und in der Gasmasse zu Stande gekommen ist. 
Dieser Ausgleich erfolgt zwar zunächst bei niedrigerer Spannung als in 
der Norm, aber sehr bald muss sich, wie eine einfache Ueberlegung zeigt, 
die normale Kohlensäurespannung, wie sie unter Atmosphärendruck ge- 
wesen war, wiederherstellen und muss beim Beharren auf jedem beliebigen 
Verdünnungsgrade auf ihrer normalen Höhe bleiben. 

Dass die Gesammtgasspannung über der Flüssigkeit bei Druckherab- 
setzung vermindert ist und wie weit sie es ist, kommt für das Ver- 
halten der Partiarspannung der CO, unter den gegebenen Be- 
dingungen nicht in Betracht. Wohl aber kommt die verminderte 
Gesammtspannung für den Procentgehalt der Gasmasse an CO, in 
Betracht. Ist die CO, im stets gleicher Quantität vorhanden, die Menge 
sonstiger den Raum erfüllender Molekeln in Folge der Druckherabsetzung 
aber vermindert, so muss der Procentgehalt an CO, mit steigender Druck- 
verminderung zunehmen. Diese Zunahme ist aber keine „Entziehung“ der 
CO, aus der Flüssigkeit. 

Die Luftdruckverminderung kann sich nun so und so oft wiederholen, 
immer wieder wird allmählich sich eine der Norm gleiche CO,-Spannung 
herstellen müssen. Dabei ist, wie erwähnt, die Annahme gemacht, dass 
der über der Flüssigkeit befindliche Raum sich nicht geändert hat. Ver- 
kleinert er sich etwa — ich denke dabei an die mehr exspiratorische Stellung 
der Lunge im luftverdünnten Raum oder an die von Mosso? betonte 
stärkere Füllung der Lungengefässe —, so wird die CO,-Spannung sogar 
höher als in der Norm werden. — 

Was ich an einem Schema aus einander zu setzen suchte, lässt sich, 
meine ich, direct auf die Lunge übertragen: das continuirlich mit gleicher 
CO,-Menge zuströmende Blut setzt sich mit der Gasmasse der Alveolen in 
Austausch, aus der periodisch soviel CO, durch die Athmung entfernt wird, 
wie aus dem Blute zuströmt. Bei eintretender Luftverdünnung bleibt die 
CO,-Zufuhr in der Zeiteinheit — wie auch die Circulation sich gestalten 
mag — die gleiche, die Fortführung aus den Alveolen durch die Athmung 
ist in der Mehrzahl der Fälle gleichfalls ungeändert. Denn wenn auch die 
Athemfrequenz wächst, nimmt doch die Tiefe des einzelnen Athemzuges 
ab, so dass die Ventilationsgrösse im Wesentlichen die gleiche bleibt. Auch 
Mosso° giebt an, dass „in verdünnter Luft weder in der Elimination der 
CO,, noch im Volum der respirirten Luft eine Modification, die von Wichtig- 
keit wäre, stattfindet“. 


! Rosenthal, Dies Archiv. 1898. Physiol. Abthlg. 
® Mosso, a.a. ©. S. 425. 3 A.a.0. 8. 274. 


ÜBER DIE BEZIEHUNG DER AKAPNIE ZUR BERGKRANKHEIT. 415 


Unter solehen Umständen kann aber die Kohlensäurespannung keine 
Aenderung erfahren, sie muss die gleiche sein unter Atmosphären-, wie 
unter vermindertem Luftdruck. 

Eine Abnahme der Menge der Blutkohlensäure und ihrer Spannung 
tritt ein bei einer Verstärkung der Athmung, wie es z. B. bei Muskel- 
thätigkeit zuweilen beobachtet wird. Aber auch hier verhält es sich insofern 
wie bei Körperruhe, als bei gleicher Kohlensäureproduction und gleicher 
Ventilationsgrösse die Kohlensäurespannung bei Atmosphärendruck und Luft- 
verdünnung gleich sein muss. 


Fragen wir uns nach diesen theoretischen Erwägungen, die ergeben 
haben, dass der verminderte Luftdruck an sieh nieht mit verminderter 
Kohlensäurespannung im Blute einhergeht, welche Antwort uns das Ex- 
periment ergiebt. 

Die Spannung der Kohlensäure im Blute messen wir an der Kohlen- 
säurespannung in den Lungenalveolen. Es handelt sich also darum, die 
Spannung der Kohlensäure in der Alveolarluft der Lungen beim Aufenthalt 
unter Atmosphärendruek und bei verschiedenen Graden der Luftverdünnung 
festzustellen. An Material zur Entscheidung dieser Frage stehen mir zur 
Verfügung, abgesehen von meinen älteren, im pneumatischen Cabinet an- 
gestellten, schon publieirten Versuchen, die von Zuntz-Schumburg! am 
Nordabhang des Monte Rosa unternommenen, sowie die von mir mit meinem 
Bruder und Leo Zuntz am Südabhang derselben Berggruppe ausgeführten.? 
Beide Arbeiten sind mit Rücksicht auf die uns hier beschäftigende Frage 
noch nicht verwerthet. Dazu kommen endlich die Untersuchungen von 
Ugolino Mosso° aus dem Jahre 1894. 

Die CO,-Spannung in den Alveolen kann ich freilich nur aus den 
ersten beiden Arbeiten berechnen, da in der Mosso’schen Mangels Angabe 
der Athemfrequenzen die Tiefe des einzelnen Athemzuges und damit die 
alveolare ÜO,-Spannung nicht festzustellen ist. Es lässt sich nur die 
Kohlensäurespannung der exspirirten Luft berechnen, deren Ergebnisse aber 
einen ausreichend sicheren Schluss zulassen, einmal auf Grund Mosso’s 
eigener Angabe, dass die Athemmechanik an den verschiedenen Stationen 
nicht wesentlich verschieden war, sodann mit Rücksicht auf die gefundenen 
Werthe selbst. 

Ich gebe in Tab. I zunächst die umgerechneten Mosso’schen Resultate. 


! Schumburg und N. Zuntz, Pflüger’s Archiv für die gesammte Physiologie. 
Bd. LXIL. 

® A.Loewy, J.Loewy und L. Zuntz, Zbenda. Bd. LXVI. 

3 Rendiconti della R. Accademia dei Lincei. 1896. Abgedruckt in Mosso, 
4.2.0. 8. 2701. 


416 A. LoEwY: 


Tabelle I. 


CO,-Spannung der Exspirationsluft in Ugolino Mosso’s Versuchen 
am Monte Rosa. 


Barometer- CO,-Spannung in 
Versuchsperson Versuchsort . druck der Exspirationsluft 
mm Hg mm Hg! 
Jachini Gressoney 650 20-82 
55 650 20-82 
Alpe Indra 620 21-44 
Br D 620 21-79 
Cap. Linty 510 18-42 
Cap. Gmifetti 480 21-26 
Cap. Reg. Marg. 430 18-63 
SM nn Pie 430 18-29 
Solferini Gressoney 650 18-71 
N 650 22-23 
Alpe Indra 620 20.73 
> » | 620 D 13-71 
Cap. Linty | 510 18-76 
Cap. Gnifetti 480 24-35 
Cap. Reg. Marg. 430 20-51 
de ae 430 19-00 
Sarteur Gressoney 650 21-88 
s | 650 18-35 
Alpe Indra | 620 20-03 
Cap. Linty 510 19-81 
Cap. Gnifetti 480 17-49 
Cap. Reg. Marg. 430 19.64 
> 3 ı 430 19.30 


Aus Mosso’s Versuchen ergiebt sich ein geradezu auffallendes 
Constantbleiben der Werthe der Kohlensäurespannung in der 
exspirirten Luft, eine Constanz, die um so frappirender ist, als ja schon 
bei gleichem DBarometerdruck Aenderungen der Respirationsmechanik 
erhebliche Aenderungen der Kohlensäurespannung der Exspirationsluft 
herbeizuführen vermögen. Bei Jachini liegt die C0,-Spannüng zwischen 
20:32 und 18-29 m Hg bei einer Barometerdifferenz von 220 mm (650 — 
480"); bei Solferini zwischen 22-23 und 18-71” (der Werth 13-71 
ist wohl durch Zufälligkeiten bedinst; er fällt ganz aus der Reihe). Dabei 
ist beachtenswerth, dass beide Grenzwerthe in derselben Station (Gressoney) 
gewonnen sind! — Bei Sarteur ist die höchste CO,-Spannung: 21.88 m, 


! Bei der Berechnung ist die Wasserdampftension in Abzug gebracht! 


ÜBER DIE BEZIEHUNG DER AKAPNIE ZUR BERGKRANKHEIT, 417 


die tiefste: 17.49 wm, Ein Blick auf die Tabelle zeigt, dass auch bei ihm 
diese Schwankungen nicht von dem geänderten Barometerdruck abhängen. 

Das Experiment hat in diesen Versuchen vollkommen den 
theoretischen Ableitungen entsprochen, es kam nicht einfach durch 
geänderten Barometerdruck zu einer Akapnie. 

Die Tab. II giebt eine Zusammenstellung der in meiner Monographie 
schon mitgetheilten, im pneumatischen Cabinet gewonnenen Werthe für die 
intraalveoläre Kohlensäurespannung bei verschiedener Luftverdünnung, 
mit der Aenderung, dass die Werthe für die Wasserdampftension in Abzug 
gebracht sind. Die Zahlen liegen daher niedriger als die dort angeführten. 
Hinzugefügt sind die später an L. Zuntz gewonnenen Resultate. 


Tabelle II. 
| Ventilati 
Barometer- Athem- : an O-Verbrauch| Intraalveolare 
Versuchs- Athemtiefe grösse : 
person druck | nn pro Min. pro Min. ‚CO,-Spannung 
mm Hg | ccm ccm ccm mm Hg 
Loewy | 732 Ei ser 4004 182 39-14 
584 13 I Bl 4435 176 39.54 
| 485 13 37 4850 214 kl, 
| 485 13-5 ı 336 4544 209 | —- 
L. Zuntz 758 7 695 4862 240 40-07 
758 8 695 5000 2223 38-39 
448 Bes 953 5244 249 39.29 
| 448 525,1 2.900 4950 228 36-38 
W. 767 ide 0399 5483 229 41-37 
oa lu 12307 5225 220 39-10 
760 15 | 328 4915 205 36-02 
(596 22 | 242 5325 215 48-77 
ı 597 15 |. .282 5075 207 44-30 
' 1586 21 18 2a 5607 215 39.30 
580 21 2998 4959 205 48-37 
j441 21 | 293 6143 233 37-77 
| 438 20 | 274 5490 202 38-95 


Wir haben hier dasselbe Ergebniss: Ein Einfluss des Luftdruckes 
auf die Kohlensäurespannung in den Alveolen ist nicht vor- 
handen. — Die nicht unbedeutenden Differenzen, die sich bei gleichem 
Barometerdruck in den einzelnen Versuchen an W. finden, hängen — wie 
die betreffenden Columnen der Tabelle zeigen — mit Schwankungen der 


Athmungsmechanik zusammen (in Verbindung mit Aenderungen in der 
Archiv f. A. u. Ph. 1898. Physiol. Abthlg. 27 


418 A. Loswy: 


Intensität des Stoffwechsels, als deren Ausdruck die zugleich beigefügten 
Zahlen für den Sauerstoffverbrauch gelten können), und sie zeigen, in 
welcher Breite bei vollkommen unbeeinflusster Athmung die ÖO,-Spannung 
durch Schwankungen der Ventilationsgrösse und der Athemtiefe wechseln 
kann. — 

Noch stärker ausgeprägt sind diese Schwankungen in den auf Tab. III 
zusammengefassten Versuchen, die von Zuntz, Schumburg, Loewy am 
Monte Rosa unternommen wurden, aber ebenso prägt sich auch stärker 
die Beziehung zum Athmungsmodus aus. 


Tabelle III. 


| | Baro- | | | Ventil.-| O-Ver- |Intraalveo- 
Versuchs- | Versuchsort | meter- ST: a ID Grösse | brauch | lare CO,- 
person | druck Bro Min! pro Min. pro Min. , Spannung 
| mm Hg | ') ccm | com ccm mm Hg 
N. Zuntz | Berlin | 758 | 7-38 | 672 | A988 | 242-0 33-80 
| Zermatt | 625 | 5-46 | 1009 | 5452 | 219-2 30-90 
Betemps | 533 5-87 | 1137 | 6632 | 246-0 25-13 
Schumburg, Berlin | 761 | 8-8 657 5653 | 275-3 37-54 
| Zermatt | 625 | 9-14 | 677 | 68364 | 278-1 34-15 
Betemps | 538 | 9-4 755 | 7060 | 289-9 31-04 
| | 
Leo Zuntz Bein | 758 | &0 625 | 5000 | 222-3 38-39 
Col d’Olen | 528 | 6-45 | 879 | 5490 | 291-24 | 33-89 
| Cap. Gnifetti | 482 | 9-0 750 | 6710 | 240-531 | 30-69 
A.Loewy: | Berlin | 752 |11-0 | 864 | 4004 | 185-838 | 39-14 
Col d’Olen | 585 | 10-5 | 546 | 5700 | 197-76 | 31-01 
Cap. Gnifetti | 482 | 14-75 | 412 | 6260 | 224-0 38-08 
I i 


In allen Versuchen ist — abgesehen von den an mir auf der Gnifetti- 
hütte angestellten — wirklich ein Sinken der CO,-Spannung mit dem Sinken 
des Barometerdruckes zu constatiren; aber zugleich sehen wir die Venti- 
lationsgrösse (pro Minute) mit dem sich vermindernden Luftdruck mehr 
und- mehr ansteigen und zugleich auch die Athemtiefe zum Theil sehr 
beträchtlich zunehmen. Ich glaube, es kann kein Zweifel sein, dass hier 
die Abnahme der Kohlensäurespannung in den Alveolen etwas Secundäres 
ist, bedingt durch die primär, in Folge Hinzutretens irgend welcher neuer 
Athemreize, verstärkte Respiration. Die Athmungsform widerspricht voll- 
kommen der durch einfachen Kohlensäuremangel erzeugten. 


A a 


BE EU T | 


ÜBER DIE BEZIEHUNG DER AKAPNIE ZUR BERGKRANKHEIT. 419 


Ich habe bisher ganz allgemein das Verhalten der Kohlensäurespannung 
unter verringertem Luftdruck betrachtet und glaube gezeigt zu haben, dass 
eine directe Beziehung zwischen beiden nicht existirt. — Nun stellen 
sich jedoch, sobald die Druckverringerung eine gewisse Grenze erreicht, 
Beschwerden und pathologische Symptome ein, die ihrer Natur nach im 
Centralnervensystem ihren Ausgangspunkt haben müssen. Mosso hat in 
seinem neuesten Werke gerade das Verhalten des Oentralnervensystems und 
seiner Centren durch viele interessante Versuche und Beobachtungen klar- 
gelegt. Er kommt zu dem Ergebniss, dass die Erscheinungen der Berg- 
krankheit zu beziehen sind auf eine „functionelle Herabsetzung der Nerven- 
centren‘ (S. 359), ihrerseits veranlasst durch eine Ernährungsstörung (S. 312), 
und er hat uns Symptome, ich erwähne nur die bei manchen Personen 
sehr ausgebildete „periodische Athmung“, kennen gelehrt, die auf die Existenz 
functioneller Störungen der nervösen Oentren schon vor dem Auftreten 
der eigentlichen Bergkrankheitsbeschwerden hinweisen. 

Mosso nimmt nun an, dass die mangelhafte Function der Centren 
durch mangelhafte Erregung derselben zu Stande komme und die mangel- 
hafte Erregung bedingt sei durch den verminderten Kohlensäurereiz, der 
in der Akapnie, der Kohlensäurearmuth des Blutes, seinen Grund habe. 

Wir sehen nun aber, dass in den Cabinetversuchen, die die Wirkung 
der Luftverdünnung am reinsten hervortreten lassen, überhaupt keine Ver- 
minderung der Kohlensäurespannung eingetreten ist, ebensowenig in Mosso’s 
Versuchen am Monte Rosa bei den den Aufenthalt in der Höhe gewohnten 
Soldaten. In den an uns aus dem Flachlande Stammenden ausgeführten 
Untersuchungen war zwar die Kohlensäurespannung am Monte Rosa ver- 
mindert, aber dafür müssen vicariirend andere, die CO, — wenigstens in 
Bezug auf die Athmung — an Wirksamkeit übertreffende, Reize Geltung 
erlangt haben, denn die Respiration erwies sich als gesteigert. 

In beiden Fällen war also die die Centren treffende Reizsumme zum 
Mindesten nicht herabgesetzt, Stellen sich nun bei genügend weiter Luft- 
verdünnung pathologische Erscheinungen ein, oder gar — wie oben er- 
wähnt — Zeichen functioneller Beeinträchtigung der nervösen Centren noch 
vor den Bergkrankheitssymptomen, so kann nicht unzureichende Erregung 
die Centren geschädigt haben, sondern es müssen andere Ursachen gewirkt 
haben, die eine Schädigung der Centren und damit eine Parese, wenn 
ich mich so ausdrücken darf, d. h. eine geringere Erregbarkeit derselben 
herbeigeführt haben. 

Was sich nun von den Factoren, die den normalen Zustand der Centren 
erhalten, mit der Luftverdünnung progredient vermindert, ist die Sauer- 
stoffzufuhr zu ihnen, und bei der biologischen Bedeutung einer hin- 
reichenden Sauerstoffversorgung ist es a priori anzunehmen, dass Sauerstoff- 

21 


420 A. LoEwYy: 


mangel beeinträchtigend auf die Lebensfähigkeit und Lebensthätigkeit 
wirken muss. 

Mosso hat nun eine Reihe von Bedenken geltend gemacht und mannig- 
fach variirte Versuche mitgetheilt, um die ursächliche Bedeutung des Sauer- 
stoffmangels für das Zustandekommen der Bergkrankheit als unrichtig zu 
erweisen. Ich will im Folgenden auf die hauptsächlichsten dieser Einwände 
eingehen. 


1. Mosso betont wiederholt, dass die Bergkrankheit (S. 310, 400, 407, 
414) in geringerer Höhenlage auftritt, als nach Fränkel-Geppert’s! 
Untersuchungen der Blutsauerstoff abzunehmen beginnt, und dass die Auf- 
fassung, der Sauerstoffmangel sei ihre Ursache, insbesondere mit Hüfner’s? 
Ergebnissen, betreffend die Dissociationsspannung des Hämoglobins, nicht 
in Einklang zu bringen sei. — Ich will auf diese letzteren Resultate an 
dieser Stelle nicht näher eingehen; Versuche, die Hr. Prof. Zuntz seit 
längerer Zeit mit mir ausführt, und die später publieirt werden sollen, 
werden hoffentlich zu einer Klärung der Frage beitragen. Was jedoch 
Fränkel-Geppert’s Angaben betrifft, so habe ich schon früher darauf 
hingewiesen,? dass ihre Ergebnisse, denen zufolge erst bei einem Barometer- 
druck von 410” Hg an (etwa 4900” Höhe) der Sauerstoffgehalt des 
Blutes sich zu vermindern beginnt, von ihrer Versuchsmethodik abhängig 
sind, insofern sie ihre Versuchsthiere tracheotomirten und so die Sauerstoff- 
aufnahme in die Lungen begünstigten, den Sauerstoffdruck in den Lungen 
erhöhten. P. Bert‘ hatte an seinen Thieren ein Manco an Blutsauerstoff 
schon bei 500" Hg gefunden, d.h. bei etwa 3300” Höhe, derjenigen 
Höhe, bei der zuerst Bergkrankheitsbeschwerden aufzutreten pflegen. Seine 
Resultate sind durch die vorstehend genannten nicht als unrichtig erwiesen. 
Er tracheotomirte nicht seine gefesselten und mit zugebundener Schnauze 
athmenden Hunde, und es ist natürlich, dass die Sauerstofispannung in 
den Lungen früher absinken musste, das Blut bei einem geringeren Grade 
der Luftverdünnung sich nicht mehr voll sättigen konnte. 

Setzt man die Sättigungsmöglichkeit des Hämoglobins in Beziehung 
zum äusseren Luftdruck, so müssen sich Unsicherheiten und Differenzen 
ergeben je nach der Art und Grösse der Lungenventilation und der Inten- 
sität des Stoffwechsels, Unsicherheiten, denen man entgeht, wenn man die 
Sauerstoffspannung in den Alveolen als Grundlage nimmt. 


" A. Fränkel und J. Geppert, Ueber die Wirkungen der verdünnten Luft auf 
den Organismus. Berlin 1883. 

® Hüfner, Dies Archiv. 1890. Physiol. Abthlg. 

® Loewy, a.2.0. 8.99 ff. 

* P. Bert, Za pression barometrique. Paris 1878. p. 677 ff. 


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ÜBER DIE BEZIEHUNG DER AKAPNIE ZUR BERGKRANKHEIT. 421 


Ich hatte diesen Gesichtspunkt meinen früheren Untersuchungen und 
deren Darstellung zu Grunde gelegt und hatte die alveolare Sauer- 
stoffspannung unter der Annahme berechnet, dass die im Thorax ein- 
geschlossene Luft sich in zwei Portionen zerlegen lasse, deren eine den 
sog. „schädlichen Raum“ erfülle, d. h. denjenigen Abschnitt der Luftwege, 
der von der Mund- bezw. Nasenöffnung bis zu den Alveolen reicht, während 
die zweite in den Alveolen selbst enthalten sei. Nur diese letztere be- 
theiligt sich direct am Gasaustausch. — Die erstere Portion hatte ich auf 
Grund physiologischer und anatomischer Gründe zu 140° angenommen.! 

Nun muss man die alveolaren Gasspannungen berechnen aus der 
Zusammensetzung der Exspirationsluft, d. h. einer Mischluft aus beiden 
Portionen, und die Rechnung kann natürlich nur richtig ausfallen, wenn 
die zu untersuchende Luft eine gleichmässige, ausgeglichene Mischung 
zwischen beiden Portionen darstellt. Dass das aber der Fall ist, konnte 
ich wohl annehmen auf Grund vieler Erfahrungen,? die zeigten, dass die 
Alveolenluft und die der Bronchien und der Trachea sich sehr schnell und 
innig mischen. | 

Mosso stellt nun aber meiner Annahme folgenden Versuch gegenüber: 
Er verfertigte sich aus Glasscheiben, die durch zwischengeschobene Holz- 
stücke 4 aus einander standen, einen Behälter, in den auf zwei einander 
gegenüberliegenden Schmalseiten je ein Rohr mündete. Das eine stand mit 
einem Blasebalg in Verbindung. Letzterer markirte die Lunge, das mit 
ihm in Zusammenhang stehende Rohr die Trachea, der Glaskasten die 
Mundrachenhöhle. — Der Kasten wurde nun mit Cigarrenrauch gefüllt 
und mittels des Blasebalges ein Luftstrom durch den Kasten getrieben. 
Dieser bahnte sich durch den Rauch einen Weg und drang zu dem zweiten 
Rohre hinaus, während ein Theil des Rauches zurückblieb. 

Aus diesem Resultate zieht Mosso den Schluss, dass man nicht be- 
rechtigt ist, den von mir unter der Annahme vollzogener Ausgleichung 
zwischen alveolarer und extraalveolarer Luft gewonnenen Werth von 140 cm 
für den schädlichen Luftraum anzunehmen und drückt sich nicht günstig 
über die Heranziehung des Begriffes der alveolaren Sauerstofispannnng aus. 

Ich habe a. a. O. die Schwierigkeiten der Ausmittelung dieses Werthes 
aus einander gesetzt. Aber zunächst kann man, trotz der praktischen 
Schwierigkeiten, principiell ein Anhänger der von mir eingehaltenen 
Betrachtungsweise sein, und man muss es, meine ich, wenn man sieht, 
wie durch geänderte Bedingungen der Lungenventilation ganz erhebliche 


! Das Nähere siehe: Loewy, Ueber die Bestimmung der Grösse des schädlichen 
Luftraumes im Thorax u. s.w. Pflüger’s Archiw. Bd. LVII. S. 416. 
? Ebenda. 


422 A. LoEwY: 


Differenzen des Sauerstoffgehaltes der Atmosphäre in den Alveolen aus- 
seglichen sein können, das Blut also trotz ganz verschiedenen Sauerstoff- 
sehaltes der Aussenluft unter den gleichen Sättigungsbedingungen steht. — 
Sodann aber zeigte ich durch Rechnung, dass an den Werthen, auf die 
es wesentlich ankommt, nämlich an den Grenzwerthen der alveolaren 
Sauerstoffspannung, bei denen sich das Hämoglobin eben noch genügend 
mit Sauerstoff zu sättigen vermag, eine Zugrundelegung von nur 100 cm 
oder gar nur 70° als schädlicher Raum so gut wie nichts ändert. Und 
Mosso’s Resultat bedeutet doch, dass man den schädlichen Raum kleiner 
annehmen müsste, als wenn vollkommene Durchmischung stattfände. 

Nun scheint mir aber weiter, dass Mosso’s Modell nicht getreu die 
Verhältnisse des menschlichen Körpers wiedergiebt. Bei ihm mündet das 
kleine Trachealrohr in einen relativ grossen (4 °“ hohen) Kasten, die geringe 
in den Kasten eintretende Luftmenge findet hier ein erhebliches Luftquantum, 
mit dem sie sich mischen soll. Die Luftwege des Menschen differiren aber 
von der Trachealbifurcation nach aufwärts nicht erheblich in ihrem Quer- 
schnitt. Das ist sicher für den Nasopharynx und die Nasenhöhle — den 
gewöhnlichen Athemweg. Aber auch für die Mundhöhle (meine Versuche 
geschahen bei Mundathmung) ist es kaum wesentlich anders: wenn auch 
die Breite des Querschnittes zunimmt, so nimmt doch seine Tiefe, da die 
: Zunge sich nahe am Gaumen befindet und die Mundhöhle gewissermaassen 
nur einen Spalt bildet, erheblich ab. — Die aus der Trachea dringende 
Luft hat also nicht mit einer sie vielfach übertreffenden Masse sich zu 
mischen. 

Zieht man ausserdem die mehr allmähliche Formänderung des Quer- 
schnittes in Betracht, sowie die Wirbelbewegung, unter der die Luft in Folge 
der Configuration des Larynx und Pharynx in die Mundhöhle eindringen 
muss, so kann man Mosso’s Resultat nicht ohne Weiteres als auf den 
Menschen übertragbar ansehen. 

2. Mosso hat in sehr einfacher und geistreicher Weise die Disposition 
zur Bergkrankheit durch die Zeit zu bestimmen gesucht, während der man 
eine Athmungsunterbrechung erträgt: je länger diese, um so geringer 
muss jene sein. 

Er kommt nun auf Grund von an 15 Studenten angestellten Versuchen 
zu dem Ergebniss, dass der Vorrath an Sauerstoff in den Luftwegen nichts 
mit der Dauer der Athmungssuspension zu tlıun habe, diese vielmehr 
von einer verschiedenen Widerstandsfähigkeit des Nervensystems abhängen 
müsse. 

Mosso zieht also aus seinen Versuchen zwei Schlüsse, einen negativen 
und einen positiven, und es entsteht nun die Frage, inwieweit die von ihm 
eingehaltene Versuchsmethodik zu diesen Schlüssen berechtigt. — Mosso 


ÜBER DIE BEZIEHUNG DER AKAPNIE ZUR BERGKRANKHEIT. 423 


ging so vor, dass er die Dauer der möglichen Athmungssuspension mit der 
Vitalcapacität verglich. Er fand keine enge Beziehung zwischen beiden. 

Beiläufig sei erwähnt, dass Mosso nicht angiebt, in welcher Respi- 
rationsphase er den Athem anhalten liess. Nach der einzigen mitgetheilten 
Curve scheint dies am Ende einer normalen Exspiration geschehen zu sein, 
wo sich also nur die Residual- und die Reserveluft im Thorax befanden. 
Ich glaube nun, dass es zum Zweck eines Vergleiches mit der Vitaleapaeität 
richtiger gewesen wäre, die Athmung auf der Höhe einer maximalen In- 
spiration zu unterbrechen. 

- Aber, ganz abgesehen hiervon, kann man denn überhaupt aus der 
Dauer der Athmungssuspension einen eindeutigen Schluss auf die Wirkung 
des Sauerstoffmangels ziehen? Man kann es jedenfalls nicht; denn mit der 
progredienten Verminderung des Sauerstoffes geht eine progrediente Ver- 
mehrung der Kohlensäure einher, so dass man nur einen Schluss auf die 
Reizsumme ziehen kann, die von beiden Gasen ausgeht. Und dabei dürfte, 
bei der bekannten energischen Wirkung der Kohlensäure auf das Athem- 
ventrum, der Antheil dieser an dem Wiedereinsetzen der Respiration grösser 
sein als der des Sauerstoffmangels. 

Wie verhält es sich nun mit der zweiten positiven Schlussfolgerung 
Mosso’s, dass eine verschiedene Erregbarkeit der Athemcentren der ver- 
schiedenen Dauer der Athmungssuspension zu Grunde liege? Ich möchte 
auch diesen Schluss nicht für ganz zwingend halten. 

Zunächst ist wiederum festzuhalten, dass die durch Mosso’s Versuchs- 
anordnung gemessene Erregbarkeit der Centren zugleich die Erregbarkeit 
gegen Sauerstoffmangel und die gegen Kohlensäureaufhäufung betrifft. In 
Betracht kommt dabei allein die Menge beider Gase in dem an den Üentren 
vorbeiströmenden Blute. - Diese Menge ist nun aber nicht allein abhängig 
von der Menge des Sauerstoffvorrathes in den Lungen, sondern sehr wesent- 
lich von der Intensität des Stoffwechsels. Je energischer der Stoffwechsel, 
um so schneller wird der Sauerstoff der Lungen verbraucht sein, um so 
„ mehr Kohlensäure wird gebildet werden und um so stärker werden die 
nervösen Centren durch den doppelten Reiz des eintretenden Sauerstoff- 
mangels und der Kohlensäureanhäufung erregt werden müssen. 

Da nun zwischen der Intensität des Gaswechsels und der Vitalcapacität 
keine directe Beziehung besteht, so können wir allein unter Berücksichtigung 
der Vitalcapacität nicht auf eine verschiedene, grössere oder geringere, Er- 
regbarkeit der nervösen Centren schliessen, wenn in einem Falle die Ath- 
mungssuspension kürzere, im anderen längere Zeit dauert. Das die Centren 
durchströmende Blut kann, trotzdem in dem einen Falle die Vitalcapacität 
gross, die Athmungssuspension kurz ist, in einem zweiten es sich umgekehrt 
verhält, beim Wiederbeginn der Athmung die gleiche Zusammensetzung 


424 A. LoEwY: 


haben, eben auf Grund eines verschieden schnellen Verbrauches des Sauer- 
stoffes, einer verschieden umfänglichen Bildung der Kohlensäure durch den 
Stoffwechsel. 

Um mit einiger Sicherheit den Nachweis verschiedener Erregbarkeit 
der Centren zu führen, müsste man die Grösse des Gaswechsels bei ruhiger, 
normaler Athmung bestimmen und zugleich, in einem besonderen Versuche, 
die Menge der Athem- und Reserveluft (nicht zugleich der Complementärluft), 
und zeigen, dass die Athmungsunterbrechung bei verschiedenen Personen 
verschieden lange dauern kann trotz Gleichheit der gefundenen Werthe. 
Sollte dieser Fall eintreten, so könnte man zuvörderst immer noch ein- 
wenden, dass vielleicht die Menge der Residualluft und damit die in 
ihr enthaltene Sauerstoffmenge individuellen Schwankungen unterliegt, und 
dadurch eventuell die Resultate beeinflusst werden könnten. 

Wichtiger ist jedoch ein zweiter Einwurf, den man gegen das Princip 
der Methode erheben kann, und das ist der, dass man, um überhaupt 
vergleichbare Werthe zu erhalten, eine Voraussetzung machen muss, die 
nieht wahrscheinlich, jedenfalls aber nicht controlirbar ist, nämlich, dass 
die Willensenergie, die durch die Athmungssuspension verursachten 
Beschwerden ad maximum zu ertragen, bei allen Personen die gleiche ist. 

Erwähnen möchte ich schliesslich, dass ich auf Grund früherer Ver- 
suche,! wenigstens bezüglich des Athmungscentrums, nieht annehmen möchte, 
dass erhebliche individuelle Differenzen vorkommen. Bei den sechs von 
mir untersuchten Individuen wenigstens waren solche nicht nachweisbar. 


3. Gegen den Zusammenhang der Bergkrankheit mit dem Sauerstoff- 
mangel soll weiterhin die folgende Beobachtung sprechen. Mosso und 
sein Diener Mondo haben die gleiche Athmungsform: gleichen Rhythmus 
und gleiche Tiefe der Respirationsbewegungen, und dabei verschiedene 
Disposition für die Bergkrankheit, Mosso eine geringe, sein Diener eine 
erhebliche. Diese Thatsache widerspricht auch, wie Mosso ausführt, meinen 
Angaben von dem Einfluss der Athemmechanik auf die Disposition zur 
Bergkrankheit. Nun gab ich aber an, dass die Athemmechanik nur dadurch 
wirken könne, dass sie ein wesentliches Mittel sei, die Spannungen der in 
den Lungenalveolen vorhandenen Gase einzustellen, dass ein weiterer Factor 
hierfür aber die Grösse des Sauerstoffverbrauches sei, und ich hatte an 
einigen Beispielen die diesbezüglichen Verhältnisse zu erläutern versucht.? 

Die Athemmechanik allein kann uns daher keinen sicheren Aufschluss 
geben, sondern nur bei gleichzeitiger Bestimmung des Sauerstoffverbrauches. 


" Loewy, Zur Kenntniss der Erregbarkeit des Athemcentrums.. Pflüger’s 
Archiv für die gesammte Physiologie. Bd. XLVL. 
° Loewy, Untersuchungen über die Respiration u. s. w. 8. 83. 


ÜBER DIE BEZIEHUNG DER AKAPNIE ZUR BERGKRANKHEIT. 495 


Statt beider Grössen genügt es aber auch, die Resultante beider zu be- 
rechnen: die O- und Kohlensäurespannung in den Alveolen. 

Es liest nun nicht nur die Möglichkeit vor, sondern es ist mir sogar 
wahrscheinlich, dass der an körperliche Arbeit gewöhnte und wohl auch 
kräftigere Laboratoriumsdiener einen grösseren Sauerstoffverbrauch hat als 
Mosso, dadurch würde seine alveolare Sauerstoffspannung sich niedriger 
stellen als bei Mosso und die Verschiedenheit der Disposition eine Er- 
klärung finden können. Abzuweisen ist diese Erklärung jedenfalls vor- 
läufig nicht. 

4. Ein weiterer Einwand Mosso’s gegen die Beziehung der Berg- 
krankheit zum Sauerstoffmangel gründet sich auf die Thatsache, dass tiefe 
Inspirationen gegen die beginnenden Beschwerden „nicht immer“ helfen, 
ja dass Sauerstoffeinathmung gegen die Bergkrankheit machtlos ist. 

Was ersteres betrifft, so kann die Thatsache, dass eine durch Athmungs- 
vertiefung beförderte Sauerstoffzufuhr nicht in jedem Falle wirksam ist, 
nicht Wunder nehmen. Schon ein Gesunder kann nur mit Mühe und 
grossem Willensaufwand einige Zeit willkürlich tief athmen; um wieviel 
weniger wird dies ein Bergkranker fertig bringen, dessen Willensenergie 
bekanntlich auf’s Aeusserste beeinträchtigt ist und dessen Athemmuskelkraft 
wohl schon gelitten hat. Und längere Zeit wird er doch vertieft_athmen 
müssen, um die geschädigten Centren allmählich wieder zum normalen 
Zustand zurückzuführen. Es scheint mir erklärlich, dass die willkürlich 
gesteigerte Athemthätigkeit erlahmt, bevor das letztgenannte Ziel erreicht 
ist. Wie aber wollte man die Fälle erklären, in denen Athmungsvertiefung 
wirklich geholfen hat und deren einen Mosso selbst in seinem Buche 
erwähnt?! 

Dass Sauerstoffeinathmung nichts gegen die Berekrankheit nützt, davon 
ist Mosso so fest überzeugt, dass er sagt: Jedermann sei jetzt davon durch- 
drungen, „dass das Tragen von Sauerstoff in die Berge ebenso zwecklos ist 
als ihn dem Sterbenden reichen. Sicherlich ist auch noch Niemand durch 
Einnahme von Sauerstoff vom Tode gerettet worden.“ 

Mosso’s Ueberzeugung beruht auf Erkundigungen bei den am Aufbau 
des Mont Blanc-Observatorium beschäftigten Arbeitern, die an der Berg- 
krankheit gelitten und Sauerstoff geathmet hatten. Keiner wollte eine 
wohlthuende Wirkung davon bemerkt haben (S. 246). — Ferner auf der 
Aussage des Dr. Guglielminetti, der ebenfalls auf dem Mont Blanc berg- 
krank geworden war und keine Erleichterung von Sauerstoffinhalation spürte, 
weiter auf ihrer Unwirksamkeit bei dem ebenda an tödtlicher Pneumonie 
erkrankten Dr. Jacottet. Dieser letzte Fall kann wohl aus der Betrachtung 


1 Mosso, a.a. 0. S. 376. 


426 A. LoEwY: 


ausscheiden; denn auch im Tieflande vermag Sauerstoffeinathmung nicht 
in jedem Falle von Pneumonie den Tod abzuwenden. 

Den Beispielen Mosso’s und den Angaben seiner Gewährsmänner 
stehen nun aber andere gegenüber, die das Gegentheil besagen, und darunter 
solche, die jedenfalls als werthvoll betrachtet werden müssen. 

Ich habe bei Luftschiffern, die reiche persönliche Erfahrung haben, Um- 
frage halten lassen, ob sie überhaupt Sauerstoff mit auf ihre Fahrten nehmen, 
bezw. nach dem Nutzen, den sie etwa von der Sauerstoffathmung gefühlt 
haben. Sie theilten mit, dass sie stets, wenn die Auffahrten eine bestimmte 
Höhe überschreiten sollen, sich mit Sauerstoff versehen, und dass die Athmung 
des Sauerstoffes für sie von wesentlicher Bedeutung ist, insofern nicht nur 
die beginnenden Erscheinungen der Höhenkrankheit dadurch coupirt werden 
können, sondern sie auch befähigt werden, zu weit höheren Regionen ohne 
Beschwerden aufzusteigen als ohne ihn. 

So äusserte sich sowohl Hr. Berson, der unter den deutschen Luft- 
schiffern die meisten und höchsten Analoge gemacht hat, wie auler die 
Officiere der Militär-Luftschifferabtheilung. 

5. Mosso hat aber auch in seiner pneumatischen Kammer einige 
Versuche angestellt, die die Unwirksamkeit der Sauerstoffzufuhr direct 
erweisen sollen, ebenso wie die Bedeutsamkeit der Kohlensäureathmung. 
Dass sie letzteres thun, ist unzweifelhaft: bei gleichzeitiger Kohlensäure- 
zufuhr wächst die Toleranz gegen die Luftverdünnung, entsprechend dem 
Resultat des einen Versuches, den ich selbst darüber mitgetheilt habe.! 
Nur in der Deutung weicht Mosso von mir ab; die Kohlensäurezufuhr 

soll durch Aufhebung der Akapnie wirken, nicht indirect, wie ich meinte, 
dureh Steigerung der Ventilation und damit der Sauerstoflzufuhr; denn 
vermehrte Sauerstoffzufuhr kann, wie auch diese Versuche beweisen sollen, 
nicht die Bergkrankheitsbeschwerden beseitigen. 

Zuerst möchte ich hervorheben, dass in jedem der drei mitgetheilten 
Versuche — zwei an Mosso selbst, einer an seinem Diener — die Luft- 
verdünnung soweit getrieben wurde, dass auch Mosso eigentlich zugeben 
musste, hier könnten durch Sauerstoffmangel die nervösen Centren wohl 
geschädigt sein. Die Verdünnung ging nämlich bis zu 336, bezw. 320, 
bezw. 292 m Hg, also weit unter die Grenze, bei der selbst nach Fränkel- 
Geppert sich das Blut noch mit Sauerstoff sättigen kann. Aber ich will 
hiervon ganz absehen und die einzelnen Versuche näher betrachten. 

Mosso ging mit der Luftverdünnung zuvörderst bis zum Auftreten deut- 
licher pathologischer Erscheinungen: Schwere im Kopf, Schwindel, Schläfrig- 
keit. Dann wurde aus einem Gasometer ein grösseres Quantum Sauerstoff 


! Loewy, Untersuchungen über die Respiration u. s.w. 8.21. 


ÜBER DIE BEZIEHUNG DER AKAPNIE ZUR BERGKRANKHEIT. 427 


(100 bis 150 Liter) in die Kammer gelassen, dabei zugleich der Hahn, der 
bis dahin äussere Luft zum Zwecke der Ventilation eintreten liess, ge- 
schlossen, während die Pumpe, die die Verdünnung besorgte, weiterarbeitete. 
Die Abstellung der Luftzufuhr geschah jedenfalls, um eine zu starke Druck- 
steigerung durch den Sauerstofleintritt zu verhindern, bezw. die Weiter- 
verdünnung nicht zu sehr zu verzögern. 

Sobald’ der Sauerstoff in die Kammer gelassen war, trat Besserung 
der krankhaften Erscheinungen ein. Mosso’s Diener schreibt 2 Minuten 
nach der Sauerstoffzufuhr: „Ich fühle mich besser.“ Mosso selbst kann 
den Puls wieder zählen, was ihm vorher unmöglich war; ja in dem zweiten 
an Mosso angestellten Versuche steht protocollirt: „Ich befinde mich sofort 
besser, sobald ich den Sauerstoff einathme.“ 

In jedem Versuche wurde nun eine Probe der Kammerluft zur Analyse 
gesammelt, einmal vor dem Beginn der Sauerstoffzufuhr, also bei bestehenden 
krankhaften Erscheinungen, sodann eine zweite am Ende des Versuches, 
nachdem längere Zeit seit der Sauerstoffzufuhr verflossen und die Ver- 
dünnung weitergegangen war. 

In allen drei Versuchen fand sich nun, dass — bei besserem Be- 
finden — am Ende des Versuches der Sauerstoffgehalt der Kammerluft 
niedriger geworden war als er vor der Sauerstoffeinleitung gewesen, dass 
aber ihr Gehalt an Kohlensäure ein beträchtlicher war (2.2 Proc., bezw. 
1-9 Proc., bezw. 2.1 Proc). Daraus schliesst Mosso nicht nur auf 
die Wirksamkeit der Kohlensäure für die Ertragung der Luftverdünnung, 
sondern auch darauf, dass die Kohlensäure durch Beseitigung der Akapnie 
gewirkt habe. | 

Nun trat aber die Besserung, laut obigen Citaten, sogleich nach 
der Sauerstofizufuhr ein, zu einer Zeit, wo die Kammerluft gar 
nicht an Kohlensäure angereichert war. Denn die Kohlensäure- 
anhäufung war doch nur die Folge der aufgehobenen Ventilation und er- 
reichte erst nach 29 Minuten im ersten, nach 22 Minuten im zweiten, 
nach 30 Minuten im dritten Versuche die oben angegebenen Werthe! 

Ich halte gerade diese Versuche Mosso’s für den besten Beweis dafür, 
dass Sauerstoffmangel die Beschwerden erzeugte, die dann durch Sauerstoff- 
zufuhr gebessert wurden. — Dass in der kohlensäurereichen Kammer die 
Toleranz eine grössere war, möchte ich auch jetzt noch nicht anders als 
durch indireete Kohlensäurewirkung erklären: die Lungenventilation wurde 
durch sie gesteigert, die Sauerstoffspannung in den Alveolen dadurch erhöht. 
Ich zweifle nicht, dass letztere trotz der Abnahme des Sauerstoffes der 
Kammerluft am Ende der Versuche höher lag, als zur Zeit der Erscheinungen 
der Bergkrankheit. Leider gestattet die Mosso’sche Versuchsanordnung 
eine Berechnung derselben nicht. 


428 A. LoEwY: 


Schliesslich möchte ich darauf hinweisen, dass bei Athmung einer 
unter Atmosphärendruck stehenden, aber an Sauerstoff verarmten Luft bei 
einer gewissen Grenze ganz dieselben Beschwerden einsetzen, wie bei 
Athmung verdünnter Luft. 

Die physikalischen Bedingungen für den Gasaustausch zwischen Blut, 
Alveolarluft und Atmosphäre liegen hier durchsichtiger als beim Athmen - 
unter Luftverdünnung und lassen in einfacherer Weise ableiten, dass ein 
Zustand der Akapnie nicht zu Stande kommen kann, — so lange wenigstens, 
bis bei genügender Sauerstoffverarmung eine in einer Vertiefung der Athem- 
züge und Steigerung der Ventilationsgrösse bestehende Aenderung des Re- 
spirationsmodus eintritt. 

Zugleich mit dieser Aenderung machen sich auch die der Bergkrank- 
heit ähnlichen krankhaften Erscheinungen bemerkbar, die bei Zuleitung von 
Sauerstoff zur Athemluft wieder schwinden. Hier ist doch unzweifelhaft der 
Sauerstoffmangel die Ursache der pathologischen Symptome, und er sollte 
es nicht auch bei Luftverdünnung sein? Sind doch die Bedingungen, welche 
die alveolare O- sowohl wie ÖO,-Spannung bestimmen, in beiden Fällen die 
gleichen. 


Ich habe mich in den voraufgehenden Darlegungen mit derjenigen 
Form der Bergkrankheit befasst, die bei Körperruhe eintritt und habe zu 
zeigen versucht, dass sie nicht durch eine Akapnie verursacht sein kann, 
die sich in Folge der Luftverdünnung ausgebildet hat. Denn die Luftver- 
dünnung an sich macht keine Akapnie. 

Die bei Körperruhe auftretende Bergkrankheit stellt die, ich möchte 
sagen, reine Form derselben dar, diejenige, bei der die Erhebung über das 
Meeresniveau, also der Grad der Luftverdünnung allein, die krankhaften 
Erscheinungen bedingen. — Nun sehen wir aber häufiger, und schon in 
geringeren Höhen, bei Muskelarbeit, besonders bei ermüdender Arbeit ein 
ähnliches Symptomenbild sich einstellen. Hier liegen nun die Dinge viel 
complicirter, insofern zu den Wirkungen der Höhenluft die der Ermüdung 
sich addiren. Diese jedenfalls schwerer zu analysirende Form der Berg- 
krankheit nun ist es, die Mosso in seinem Werke in den Vordergrund der 
Betrachtung gerückt und in eingehendster Weise besprochen hat. Ich glaube, 
dass er sie unserem Verständniss wesentlich näher gebracht hat, indem er 
den Antheil der Ermüdung genauer präeisirte als es bisher geschehen, die 
Veränderungen aufdeckte, die die Ermüdung in den nervösen Centren her- 
vorruft und zeigte, wie diese geeignet sind, für das Auftreten der Berg- 
krankheit empfänglich zu machen. 

Ich will hier nicht auf die zahlreichen interessanten Einzelheiten ein- 
gehen, in die Mosso uns einführt: auf den Einfluss der Ermüdung auf 


ÜBER DIE BEZIEHUNG DER AKAPNIE ZUR BERGKRANKHEIT. 429 


den Bewegungsapparat, auf das Herz und die Bluteireulation, auf das vaso- 
motorische System; das Wesentliche ist neben der Ermüdung des Herzens 
eine herabgesetzte Function der Nervencentren. 

Wir wissen, dass bei der Muskelarbeit Stoffe entstehen, die auf das 
Athem- und Herzcentrum stark erregend wirken. Durch die Wirkung auf 
ersteres wird die Ventilationsgrösse gesteigert und damit ein Einfluss auf 
die Sauerstoff- und Kohlensäurespannung in den Alveolen ausgeübt. Der 
Grad der Ventilationssteigerung ist nun beim Menschen ein individuell und 
nach der Art der Arbeit verschiedener und kann, soweit ich mir bisher 
ein Urtheil bilden konnte, in einer Minderzahl der Fälle so erheblich 
sein, dass dadurch die durch Arbeit bedingte Mehrproduction an Kohlen- 
säure gewissermaassen übercompensirt, und eine gegen die Körperruhe ver- 
minderte Kohlensäurespannung in den Alveolen herbeigeführt wird. Das 
wäre eine wirkliche Akapnie im Sinne Mosso’s, eine Akapnie jedoch, 
die in prineipiell gleicher Weise im Hochgebirge und in der Tiefebene zu 
Stande kommt. Dabei ist aber zu bedenken, dass der verminderte Kohlen- 
säurereiz ersetzt ist durch noch unbekannte mächtigere Reize, so dass die 
Centren jedenfalls nicht durch Reizmangel eine Schädigung erfahren. 

Hat nun die Muskelthätigkeit zur Ermüdung geführt, was bemerkens- 
werther Weise in der Höhe schon bei geringerer Leistung eintritt als in 
der Tiefebene, so machen sich neben den sonstigen Ermüdungserscheinungen 
Symptome geltend, die für eine Schwächung der nervösen Centren sprechen. 
Diese tritt nun nach Mosso’s Befunden im Hochgebirge viel prägnanter 
hervor als in der Tiefe. Woher das rührt, ist noch nicht ganz aufgeklärt. 
Jedoch sehe ich auch hier keine Bedingung, aus der man schliessen könnte, 
dass ein Mangel an Reizen, speciell eine Verminderung des Kohlensäure- 
reizes, die Schädigung der nervösen Centren herbeiführte. Nimmt man gemäss 
Mosso’s Auseinandersetzungen eine durch Ermüdung des Herzens bewirkte 
Verlangsamung der Bluteireulation als gegeben an, dann müsste im Gegen- 
theil der Kohlensäurereiz gegen die Norm gesteigert sein. 

Viel näher liegt es, auf Grund des Verhaltens der alveolaren Sauer- 
stoffspannungen, die mit der Höhe sich steigernde Erschwerung einer ge- 
nüsenden Sauerstoffzufuhr zu den thätigen Centren und ihre damit unzu- 
reichend werdende Ernährung zur Erklärung heranzuziehen. Die Ermüdung 
der Athmungsmuskulatur und die durch die Ermüdung des Herzens be- 
dingten Aenderungen der Circulation würden bei dieser Auffassung dem 
Eintritt der Erscheinungen Vorschub leisten müssen. 

Wenn ich nun aber auch auf dem Standpunkte stehe, dass Akapnie 
nicht die Ursache dieser mit Ermüdung vergesellschafteten Form der Berg- 
krankheit ist, so muss ich andererseits doch anerkennen, dass mit dem 
Einsetzen der Bergkrankheit eine Art Akapnie zur Ausbildung kommt, 


430 A.LoEwY: ÜBER DIE BEZIEHUNG DER AKAPNIE ZUR BERGKRANKHEIT. 


nämlich diejenige Form der Akapnie, die ich oben als relative Akapnie 
bezeichnet habe. 

Ist es nämlich in Folge der Ermüdung zu einer Schwächung der 
Centren, zu einer Herabsetzung ihrer Erregbarkeit gekommen, dann genügt 
der vorhandene, wenn selbst — absolut genommen — normale Kohlen- 
säurereiz nicht mehr, die Centren zu ausreichender Thätigkeit anzuregen; 
er ist in Beziehung auf die gesunkene Erregbarkeit zu schwach. Lässt 
man nun Kohlensäure einathmen, so beseitigt man diese relative Akapnie 
und regt durch den verstärkten Reiz die nervösen Centren zu energischerer 
Thätigkeit an. — Zwei Functionen sind es, die dadurch vor allem be- 
troffen werden, die Respiration und die Circulation. Sowohl die Steigerung 
der ersteren, wie die Hebung der letzteren wirken in einer Richtung, sie 
führen zu einer verbesserten Sauerstoffversorgung, die einmal den Centren 
selbst, sodann den arbeitenden Muskeln direct zu Gute kommt und die 
restitutio in integrum befördert. 

Wenn ich meine Anschauung kurz zusammenfassen darf, so meine 
ich, dass Akapnie als ursächliches Moment für die Entstehung der Berg- 
krankheit nicht in Betracht kommen kann, dass aber mit dem Eintritt 
der Bergkrankheit eine Akapnie in dem Sinne sich ausbildet, dass mit der 
sinkenden Erregbarkeit der Centren die dasselbe treffenden Reize, speciell 
auch der Kohlensäurereiz, zu schwach werden, um sie in wirksamer Thätig- 
keit zu erhalten. Aufhebung der Akapnie, oder allgemeiner: Steigerung 
der die Centren treffenden Reizsumme erhöht ihre Thätigkeit und wirkt 
indirect gegen die Bergkrankheit, indem sie die Ernährung der Centren 


verbessert und dadurch ihre Rückkehr zu normaler Functionsfähigkeit be- 
fördert. 


A 


Zur Frage der Zuckerbildung aus Fett im Thierkörper. 


Ein Beitrag zum Phlorhizindiabetes im Hungerzustande. 


Von 
Dr. Muneo Kumagawa, und Dr. Rentaro Miura, 
Prof. der medieinischen Chemie Assistenzarzt an der Il. mediein. 
an der kaiserl. Univers. zu Tokio Klinik d. kaiserl. Univ. zu Tokio. 


Obwohl die meisten Forscher gegenwärtig wohl darin übereinstimmen, 
dass das Fett bei der Verbrennung im Thierkörper gerade so wie die Eiweiss- 
körper und Kohlenhydrate dem Organismus lebendige Kräfte (Wärme und 
mechanische Arbeit) liefert, ja sogar, dass das Fett in dieser Hinsicht mehr 
als doppelt so viel leistet, wie die oben erwähnten Stoffe, so ist indess 
unsere Kenntniss über die chemischen Vorgänge, denen das Fett im 
Organismus unterliegt, noch sehr dürftig; man weiss noch recht wenig, 
welche Schicksale die von dem Neutralfette abgespaltenen Fettsäuren bei 
ihrer weiteren Verbrennung erleiden, welche Spaltungsproducte zunächst aus 
ihnen entstehen oder welche neuen Stoffe aus ihnen wieder synthetisch ge- 
bildet: werden können. 

Speciell was die Frage nach der Zuckerbildung aus Fett betrifft, so 
sind bekanntlich die ersten experimentellen Versuche darüber vor langer 
Zeit von Seegen! gemacht worden, deren Resultate in bejahendem Sinne 
ausgefallen sind. Seitdem hat Seegen seine Ansicht festgehalten, dass die 
Leberzellen normaler Weise die Fähigkeit besitzen, sowohl aus dem Neutral- 
fette, wie aus den Fettsäuren Traubenzucker zu bilden. 

Diese Anschauung von Seegen, welche lange Zeit wenig Anhänger 
gefunden hat, steht jetzt: nicht mehr ganz so vereinzelt da, wie früher. So 
pimmt neuerdings Bunge ebenfalls die Zuckerbildung aus Fett im Thier- 
körper an. Bunge? sagt über diese Frage: „Tritt in Folge des Verbrauches 
bei der Arbeit und Wärmeproduction ein Sinken des Zuckergehaltes im 


! Pflüger’s Archiv. Bd. XXXIX. S8. 132. 
” Bunge, Lehrbuch der physiologischen und pathologischen Chemie. 1894. 3. 200. 


432 MUNEO KUMAGAWA UND RENTARO MIURA: 


Blute unter die Norm ein, so geben die Muskeln und die Leber sofort 
einen Theil des Glykogens als Zucker wieder dem Blute zurück. Reicht 
der Glykogenvorrath nicht aus, so wird Fett in Zucker umgewandelt und 
dem Blute zugeführt.“ 

Ferner auf S. 357: „Ich habe bereits früher auf die Thatsachen hin- 
gewiesen, welche eine Umwandlung von Fett in Zucker wahrscheinlich 
machen, insbesondere den constanten Zuckergehalt des Blutes bei hungern- 
den Thieren, welche ihren Glykogervorrath schon lange verbraucht haben 
und mit ihrem Eiweissvorrathe sehr sparsam umgehen, während der Fett- 
vorrath rasch schwindet.‘ 

Diese Hypothese hat in C. v. Noorden! einen weiteren Vertheidiger 
gefunden, welcher mit noch kühnerer Behauptung seine Meinung äussert: 
„Wenn wir bei Menschen und Thieren, welche trotz geringer Kohlenhydrat- 
zufuhr oder trotz einer im Ganzen kärglichen Kost stark arbeiten, den 
Stoff- und Kraftumsatz des Körpers berechnen, so kommen wir immer auf 
dasselbe Resultat zurück: es muss in ihren Muskeln eine gewisse Menge 
N-freier Substanz verbrennen, welche weder vom aufgespeicherten Reserve- 
glykogen noch aus den zerfallenen Eiweisskörpern herstammen kann, weil 
diese beiden Quellen den Kraftumsatz im Muskel nicht decken. Diese 
Substanz, welche das Deficit beseitigt, kann nur Fett sein. Nun wissen 
wir aber trotz zahlreicher daraufhin gerichteter Untersuchungen nichts 
davon, dass der Muskel selbst im Stande wäre, das Fettmolekül anzu- 
greifen; andererseits wissen wir, dass bei starker Muskelarbeit viel Fett im 
Körper verbrennt, welches theils aus der Nahrung, theils aus dem Fett- 
gewebe des Organismus stammt. Wir müssen daher schliessen, dass das 
Fett, ehe es an den Muskel herantritt, in eine für dessen Zwecke geeignete 
Form umgewandelt wird. Dass diese Form Zucker ist, beweist uns die 
Constanz des Blutzuckers, und wir können sogar mit einiger Sicherheit be- 
haupten, dass die Leber der Ort ist, wo im Falle des Bedarfs Fett in 
Traubenzucker umgewandelt wird — d.h. für den Fall, dass weder die 
Kohlenhydrate noch die Albuminate ausreichen, um den Zuckergehalt des 
ausfliessenden Blutes auf die normale Höhe zu heben. Ich halte die facul- 
tative Traubenzuckerbildung aus Fett für absolut sichergestellt; ich be- 
zeichne den Process als einen facultativen, weil er nur bei ungenügender 
Kohlenhydratzufuhr vollzogen zu werden scheint.“ 

In der allerneuesten Zeit hat J. Weiss? die oben erwähnten Experi- 
mente von Seegen über die Function der überlebenden Leber auf die 
Zuckerbildung aus Fett von Neuem nachgeprüft und ist zu dem Resultate 


"C.v.Noorden, Die Zuckerkrankheit und ihre Behandlung. Berlin 1895. 8.10. 
° Zeitschrift für physiologische Chemie. Bd. XXIV. S. 542. 


Sue Me 


Bl A > SB Ed. 


ZUR FRAGE DER ZUCKERBILDUNG AUS FETT IM THIERKÖRPER. 433 


gelangt, dass die Traubenzuckerbildung sowohl aus dem Neutralfette wie 
aus den Fettsäuren thatsächlich in der Leberzelle stattfindet. Weiss will 
also durch seine eigenen Versuche Seegen’s Angabe in vollem Umfange be- 
stätigt haben. 

Inzwischen hat von Mering durch seine schöne Entdeckung vom 
Phlorhizindiabetes uns ein Mittel geliefert, vermöge dessen man im Stande 
ist, dem hier abgehandelten Thema auf Umwegen etwas näher zu treten. 

Seitdem hat man das Glykosid Phlorhizin vielfach zur Feststellung der 
Zuckerquellen bei Diabetes verwerthet. Die Ergebnisse der Untersuchungen 
fallen indess meist zu Ungunsten der obigen Angabe der Zuckerbildung 
aus Fett aus. 

von Mering! selbst hat bereits bei seiner ersten Publication über 
Phlorhizindiabetes diese Frage eingehend berücksichtigt. von Mering hat 
dabei festgestellt, dass die Darreichung des Phlorhizins bei den in Folge 
der Carenz kohlenhydratfrei gewordenen Thieren ebenfalls hochgradige 
Glykosurie hervorruft, und dass dabei stets eine bedeutende Zunahme des 
Eiweisszerfalles stattfindet. 

Was die Zuckerquelle betrifft, so schreibt sie von Mering im Wesent- 
lichen dem zersetzten Eiweiss zu. von Mering’s Schlussfolgerung über 
diesen Punkt erscheint uns indess nicht ganz klar. Wir lassen hier seine 
Angabe wörtlich folgen: , 

„Da diese vier Versuche, sowie mehrere andere, die zu schildern ich 
unterlasse, übereinstimmend zeigen, dass ein Thier, dessen Körper frei von 
Kohlenhydraten ist und nur aus Eiweiss und Fett besteht, unter dem Ein- 
flusse von Phlorhizin im Hungerzustande ganz erhebliche Mengen von Zucker 
ausscheidet, so kann der während des Hungerns ausgeschiedene Harnzucker 
nur aus zersetztem Fleisch oder Fett stammen. Nach meiner Ansicht rührt 
der Zucker im Wesentlichen nicht aus zerfallenem Fett, sondern aus zer- 
fallenem Eiweiss her. 

Hierfür sprechen unter anderem folgende Ueberlegungen: 

Fettzufuhr steigert weder beim Phlorhizindiabetes noch in schweren 
Fällen von Diabetes mellitus die Zuckerausscheidung, wohl aber hat hier 
vermehrte Eiweisszufuhr vermehrte Zuckerausscheidung zur Folge. Dann 
ist es festgestellt, dass reines Eiweiss, nicht aber Fett bei glykogenfreien 
Hungerthieren Anhäufung von Glykogen im Organismus bewirkt u. s. w. 

Wollten wir aber trotzdem annehmen, dass aus zersetztem Fett der 
Harnzucker herrühre, so müssten wir eine unmöglich grosse Fettzersetzung 
annehmen. Für die Zuckerbildung kann nur der Glyceringehalt des Fettes, 
welcher 9 Proc. beträgt, nicht aber der Gehalt an Fettsäuren in Betracht 


1 Zeitschrift für klinische Medicin. Bd. XIV. 8.405 und Bd. XVI. S. 431. 
Archiv f. A. u. Ph. 1898. Physiol. Abthlg. 28 


434 Muneo KUMAGAWA UND RENTARO MiIURA: 


kommen. Glycerin kann durch Vereinigung zweier Moleküle in Zucker 
umgewandelt werden, mithin könnten aus 100 8” Fett beinahe 98m Zucker 
gebildet werden. Unter dem Einflusse des Phlorhizins wurden am 13. Hunger- 
tage im Versuch LX 51 == Zucker gebildet. Wollten wir annehmen, dass 
diese Zuckermenge aus zerfallenem Fett hervorgegangen sei, so hätte das 
Thier, abgesehen von dem massenhaften Eiweissverbrauch, an dem einen 
Tage mindestens 570 8” Fett zersetzen müssen. Wenn wir dies annehmen 
wollten, kämen wir zu dem Schlusse, dass die Wärmeproduction des Thieres 
aus den in 570sm Fett enthaltenen Fettsäuren etwa die dreifache der 
normalen wäre, d. h. es hätte eine Steigerung der Wärmeproduetion im 
Organismus stattgefunden, welche die maximale, im Fieber beobachtete um 
das Dreifache übertreffen würde. Da die Temperatur des Thieres während 
des Phlorhizindiabetes nicht gesteigert war, und ebensowenig eine sichtbare 
Zunahme der Athmung bestand, ist ein derartiger abnormer Fettzerfall mit 
Sicherheit auszuschliessen u. s. w. 

Aus diesen Ueberlegungen ergiebt sich, dass der Zucker im Wesent- 
lichen nicht aus zersetztem Fett, sondern aus zersetztem Körpereiweiss 
stammen muss.“ 

Wie es uns scheint, behauptet von Mering, ohne bestimmte Gründe 
dafür anzugeben, einfach, dass die Fettsäuren überhaupt für die Quelle der 
Zuckerbildung nicht in Betracht kommen können, was gerade festgestellt 
werden soll. 

Demnach ist durch von Mering’s Versuche der striete Nachweis 
nicht erbracht worden, dass das Fett keine Fähigkeit besitzt, sich in Zucker 


umzuwandeln. 


Noch eingehender haben F. Moritz und W. Prausnitz! in ihrer 
Abhandlung „Studien über den Phlorhizindiabetes“ die Frage der Zucker- 
abstammung bei Phlorhizindiabetes berücksichtigt. Diese beiden Forscher 
sind gleichfalls wie von Mering der Ansicht, dass die Zuckerquelle bei 
Phlorhizindiabetes nicht zersetztes Fett, sondern ausschliesslich zersetztes 
Eiweiss ist. Sieht man indess die einzelnen Daten der Versuche, und zwar 
diejenigen, bei denen die Thiere im Hungerzustande durch Phlorhizingabe 
diabetisch gemacht worden sind, etwas genauer durch, so kommen Fälle 
genug vor, bei denen die zersetzte Eiweissmenge allein nicht ausreicht, die 
im Harn ausgeschiedene Zuckermenge zu erklären. Moritz und Praus- 
nitz berechnen die theoretisch mögliche maximale Zuckermenge, welche 
aus Eiweiss entstehen soll, unter der Annahme, dass das Eiweiss abzüglich 
der Elemente des Harnstoffs im Organismus in Traubenzucker übergeht. 
1008" Eiweiss sollen dann unter Aufnahme von Wasser und Sauerstoff 


\ Zeitschrift für Biologie. Bd. XXVII, 8.81. 


ZUR FRAGE DER ZUCKERBILDUNG AUS FETT IM THIERKÖRPER. 435 


113-6 ® Traubenzucker bilden. Demnach sollen aus 100 em frischen 
Fleisches, enthaltend 22.5 sm Eiweiss, 25.56 =” Traubenzucker entstehen.! 
Trotz dieser Annahme reichte in einigen Hungerversuchen von Moritz 
und Prausnitz die zersetzte Eiweissmenge nicht aus, die ausgeschiedene 
Zuckermenge zu decken. 

Wir lassen hier die einzelnen Daten der Hungerversuchsreihen von 
Moritz und Prausnitz folgen: 


Hungerversuchsreihen aus der Tabelle D. 


Traubenzucker | Traubenzucker | Ausgeschiedener 06 
d = ne | theoretisch ausgeschieden Zeh in Proc. ee 
in grm in grm vom theoret. 
I 37:6 20-8 55.3 6 
II | 30.9 15-9 51-5 10 
lIIa 32-1 36-1 112-5 10 
IIIb 35-4 23-3 65-7 10 
va 53-0 33.1 62-4 10 
Vb 37:3 22»8 61-2 10 
IV 53-4 63:5 119-0 20 - 
XV | 58.7 55-1 93-8 20 
XXa |) 113-6 67:2 59:2 20 
XXb | 81-2 56-6 69-7 2120 
| 


Bemerkung: Die Zuckermengen beziehen sich nur auf den ersten Tag der Aus- 
scheidung. 


In der Tabelle fallen besonders die Versuche IIIa und IV dadurch 
auf, dass die thatsächlich ausgeschiedenen Zuckermengen grösser sind als 
die theoretisch berechneten, im Maximum aus Eiweiss zu bildenden Zucker- 
mengen, nämlich 36.1 8m gegen 32.1 m bezw. 63.58" gegen 53.4 8m, 
Die thatsächlich ausgeschiedene Zuckermenge beträgt demnach 113 Proc. 
bezw. 119 Proc. von der theoretisch berechneten. Allerdings wurden die 
Versuche vermuthlich am 2. bezw. 4. Hungertage angestellt, wo der Gly- 
kogenvorrath noch nicht verschwunden war. Moritz und Prausnitz er- 
klären daher, dass diese Mehrausscheidung des Zuckers lediglich dem noch 
im Körper abgelagerten Glykogen entstamme. Indessen ist schon Moritz 
und Prausnitz der Befund aufgefallen, dass die relative Grösse der Zucker- 
ausscheidung im Hunger und bei Fettkost sich weit grösser herausstellte, 
als bei Zufuhr von Fleisch und Kohlenhydraten. Sie sagen nämlich darüber: 


! v.Mering berechnet die theoretisch mögliche Zuckermenge aus Eiweiss unter 
der gleichen Voraussetzung. Jedoch soll nach v. Mering Zucker aus Eiweiss in dem 
Verhältnisse entstehen, dass auf 1m Eiweissstickstoff 8E"® Zucker kommen. 

28 


436 MUNEO KUMAGAWA UND RENTARO MiuRA: 


„Während bei Fleisch- und Kohlenhydratnahrung nur 43-5 bezw. 
29.1 Proc. der theoretisch möglichen Zuckermenge im Maximum aus- 
geschieden wurden, sind es hier fast durchweg weit über 50 Proc., ja in 
zwei Hungerversuchen sogar über 100 Proc.“ ... „Auch da, wo durch 
eine vorangegangene Phlorhizingabe das Glykogen wahrscheinlich zerstört 
war, in IlIb, Vb und XXb, erreichte der Zuckerverlust die beträchtliche 
Höhe von über 60 Proc.“ 

Moritz und Prausnitz rechnen dabei so, dass das zersetzte Eiweiss 
beim Phlorhizindiabetes in toto lediglich zur Zuckerbildung und gar nicht 
zur Verrichtung der physiologischen Function verwerthet wird. Diese Auf- 
fassung ist kaum möglich. Denn selbst in der vorgerückten Hunger- 
periode, wo der Glykogenvorrath ganz verschwunden ist, lebt der Organis- 
mus von seinem eigenen Eiweiss und Fett. Eine gewisse Menge Eiweiss 
wird dabei stets zersetzt; daher wird eine gewisse Menge Harnstoff bis zum 
Hungertode im Harn ausgeschieden. Demnach steht es fest, dass der 
Organismus. nicht im Stande ist, ohne jede Eiweisszersetzung von Fettzer- 
setzung allein zu leben. Diese Eiweisszersetzung muss also zur Verrichtung 
der normalen physiologischen Functionen, sei es zur Production von Wärme, 
sei es zur Leistung der mechanischen Arbeit, als unumgänglich nothwendig 
für das Leben gelten. Auch beim Phlorhizindiabetes darf dieses Verhalten 
nicht anders gestaltet sein. Deshalb ist es unserer Ansicht nach prineipiell 
nicht richtig, wenn man beim Phlorhizindiabetes das zersetzte Eiweiss in 
toto als Zuckerbildner in Rechnung bringst, wie dies die meisten Forscher 
thun. Vielmehr muss man eine bestimmte Menge Eiweiss, dessen Zer- 
setzung zur Erhaltung der Lebensfunetionen unbedingt nothwendig ist, 
vorher von der Gesammteiweisszersetzung abziehen, ehe man aus dem zer- 
setzten Eiweiss die theoretisch mögliche Zuckermenge berechnet. 

Nach dieser Ueberlegung erschien uns der obige Befund von Moritz 
und Prausnitz um so mehr auffällig, weil die thatsächlich im Harn aus- 
geschiedenen Zuckermengen diejenigen, welche aus dem zersetzten Eiweiss 
ohne jeden Abzug theoretisch im Maximum berechnet worden waren, bei 
weitem übertreffen. 

Diese Ueberlegung, vor Allem die Ergebnisse der Hungerversuchsreihen 
von Moritz und Prausnitz veranlassten uns, einige Versuche über Phlorhi- 
zindiabetes im Hungerzustande von Neuem anzustellen. 

Unser Versuchsplan richtete sich dabei nach den folgenden Gesichts- 
punkten: 

Möglichst fettreiche erwachsene Hündinnen werden etwa 30 Tage lang 
dem Fasten ausgesetzt, um den Glykogenvorrath zum vollständigen Schwund 
zu bringen und gleichzeitig die Eiweisszersetzung in den Zustand des sog. 
typischen Hungerminimums zu versetzen. Diese Eiweisszersetzung halten 


Zur FRAGE DER ZUCKERBILDUNG AUS FETT IM THIERKÖRPER. 437 


wir dann für das Maass derjenigen Eiweissmenge, welche zur Erhaltung der 
lebenswichtigen Functionen für den gegebenen Fall unbedingt nothwendig ist. 
Werden die Thiere nunmehr durch die Phlorhizingabe diabetisch gemacht, 
so steigt die Eiweisszersetzung über das Maass des festgestellten Hunger- 
minimums hinauf neben gleichzeitiger Ausscheidung von Traubenzucker im 
Harn. Bleibt dabei die Menge des thatsächlich ausgeschiedenen Trauben- 
zuckers innerhalb derjenigen Menge, welche sich aus der Mehrzersetzung 
des Eiweisses, d. h. aus der Gesammteiweisszersetzung abzüglich des Hunger- 
minimums theoretisch berechnen lässt, so müsste man wohl annehmen, dass 
der Zucker nur aus Eiweiss entsteht. Ist dagegen die ausgeschiedene Zucker- 
menge weit grösser als die theoretisch aus der Mehrzersetzung des Eiweisses 
“ berechnete Zuckermenge, so ist wohl kaum eine andere Deutung möglich, 
-als anzunehmen, dass das Fett im Organismus sich ebenfalls an der Zucker- 
bildung betheiligt, weil das Glykogen, eine der sichersten Zuckerquellen, in 
Folge der langen Inanition nicht mehr im Körper ist. 

Ehe wir indess zu unseren eigenen Versuchen übergehen, müssen wir 
noch einige Arbeiten über den Phlorhizindiabetes im Hungerzustande kurz 
erwähnen, welche gleichfalls bezweckten, die Abstammung des Zuckers bei 
Phlorhizindiabetes festzustellen. 

Cremer und Ritter! haben zwei Carenzkaninchen Phlorhizin in einer 
Dosis von je 1” bezw. je 3” täglich subcutan injicirt. Dabei trat eine 
der Menge des ausgeschiedenen Zuckers fast parallel laufende Steigerung 
der Eiweisszersetzung auf. Die beiden Forscher haben daraus den Schluss 
gezogen, dass der Zucker aus Eiweiss entsteht. Da jedoch diejenige Stick- 
stoffmenge, welche unserer Ansicht nach bei der Berechnung des Zuckers 
von der Gesammtstickstoffausscheidung abgezogen werden muss, uns nicht 
bekannt ist, so ist leider ein genauer Vergleich der ausgeschiedenen Zucker- 
menge mit dem zersetzten Eiweiss nicht möglich. 

Ferner hat Prausnitz? an zwei Controlthieren den Gesammtglykogen- 
gehalt bestimmt und ebenso an zwei gleich ernährten Versuchsthieren, 
nachdem dieselben in der Hungerperiode durch Phlorhizindarreichung dia- 
betisch gemacht worden waren. Da die ausgeschiedene Zuckermenge dabei 
relativ gross war und sich von dem Glykogenvorrath allein nicht ableiten 
liess, hat Prausnitz das Eiweiss als Zuckerquelle erklärt. Da jedoch 
Prausnitz die Stickstoffausscheidung im Harn nicht berücksichtigt hat, 
sind seine Versuche für unseren Zweck leider auch nicht verwerthbar. 


! Max Cremer und Adolf Ritter, Phlorhizinversuche am Carenzkaninchen. 
Ein Beitrag zur Lehre von der Entstehung von Traubenzucker aus zerfallendem Eiweiss. 
Zeitschrift für Biologie. Bd. XXIX. S. 258. 

® W. Prausnitz, Die Abstammung des beim Phlorhizindiabetes ausgeschiedenen 
Zuckers. Ebenda. Bd. XXIX. S. 168. 


438 MUNnEo KUMAGAWA UND RENTARO MiıuRA: 


Nunmehr gehen wir zu unseren eigenen Versuchen über. 

Einer von uns (Kumagawa) hat mit seinen beiden Assistenten, Herren 
Dr. M. Gotö und K. Sutö, seit Sommer 1895 ausgedehnte Hungerversuche 
an Hunden angestellt, welche bezweckten, die bisher in der Litteratur viel- 
fach erwähnte sog. „prämortale Stickstoffsteigerung“ in der vorgerückten 
Hungerperiode etwas genauer zu studiren. Hierzu wurde der Gang der 
Stickstoffausscheidung bis zum Hungertode genau verfolgt, und hiernach 
wurden die Thiere der totalen Analyse unterworfen. Vor allem wurde da- 
bei der Fett- und Stickstoffgehalt der ausgehungerten Thiere genau fest- 
gestellt, um so die Beziehung der prämortalen Stickstofisteigerung zu dem 
Fettgehalt des Thieres zu erkennen. Diese Versuche sind indess wegen der 
unerwarteten Ausdehnung, die sie genommen, noch nicht zu Ende geführt. 

Die hier zu beschreibenden Hungerversuche mit Phlorhizindarreichung 
sind ebenfalls Theile aus unseren grösseren Hungerversuchsreihen, deren 
Resultate hoffentlich bald zur Publication gelangen werden. 

Alle Thiere wurden vorher nach Falck operirt, um das Katheterisiren 
zu erleichtern. Erst nach der vollständigen Heilung der Wunde wurden 
die Thiere zum Versuche benutzt. Kurz vor dem Beginn der eigentlichen 
Inanition wurde der Darm durch ein Klystir lauwarmen Wassers möglichst 
gereinigt. Die Blase wurde täglich um dieselbe Zeit durch den Katheter 
entleert, darauf, indem man den Katheter mit Trichter und Gummischlauch 
in Verbindung setzte, eine abgemessene Menge lauwarmer Borsäurelösung 
(1 proc.) in die Blase eingeführt, und dann genau ebenso viel wieder entleert, 
also die Blase täglich vollständig ausgespült. Das Körpergewicht, die Körper- 
temperatur, die Puls- und Respirationszahl wurden täglich gleich nach der 
Ausspülung der Blase festgestellt. Die für den Zweck besonders eingerichteten 
Stoffwechselkäfige, in denen die Versuchsthiere sich aufhalten, liegen in einem 
verschlossenen Zimmer. Eiserne Gitter, auf welchen die Thiere ruhen, sowie 
die Schiebkästen aus Zinkblech wurden täglich gründlich gebürstet, gewaschen, 
getrocknet und dann mit Borsäurelösung (1proc.) benetzt, damit die Zer- 
setzung des Harns sicher verhütet wird. Falls die Thiere ausnahmsweise 
im Käfige Harn entleerten, fliesst derselbe durch das in der Mitte der ge- 
neigten Zinkblechunterlage befindliche Loch ohne jeden Verlust in das unter- 
gestellte Becherglas hinein. Die Stellen der Gitter und Zinkunterlage, welche 
mit dem Harn in Berührung kommen, werden sorgfältig mit destillirtem 
Wasser ausgespült. Der mittels des Katheters entleerte genuine Harn wird 
für sich gemessen, dann mit der Spülflüssigkeit vereinigt und auf ein 
rundes Volumen aufgefüllt. Nach der gründlichen Durchmischung des also 
verdünnten Harns wurden aliquote Theile zur Analyse verwendet. Stick- 
stoff wurde nach Kjeldahl, Traubenzucker nach Fehling stets in drei 
Controlproben bestimmt. Bei der Stickstoffbestimmung wurden je 5 bis 


ZUR FRAGE DER ZUCKERBILDUNG AUS FETT IM THIERKÖRPER. 439 


10 em verdünnten Harns zur Analyse entnommen. Zum Auffangen des 
überdestillirenden Ammoniaks wurde !/,-Normalschwefelsäure, zum Zurück- 
titriren ?/,,-Normalnatronlauge, als Indicator Congorothlösung (1 pro mille) 
benutzt. 

Da die Versuche in den Hochsommer fielen, wurde den hungernden 
Thieren Trinkwasser gereicht. Eine abgemessene Menge Wasser wurde in 
den Käfig gestellt und am Ende des Versuchstages zurückgemessen. 

Die Wirksamkeit des von uns benutzten reinen Phlorhizins! wurde in 
einer besonderen Probe ebenfalls vorher an Hunden geprüft. Dasselbe 
wurde bei den eigentlichen Versuchen den Thieren stets subeutan injicirt, 
indem es in der Wärme durch Zusatz einer geringen Menge von Natrium- 
carbonat gelöst wurde. 


Versuch I. 


Das hierzu benutzte Versuchsthier war eine 14-6 schwere Hündin 
von gutem Ernährungszustande und mit ausgeprägtem Fettpolster. 

Das Thier wurde vorher gut abgewaschen. Die zwei ersten Tage 
(vom 4. bis 5. Juli) wurde das Thier bei Fütterung mit der bisher ge- 
wohnten gemischten Kost untersucht, um von dem Normalzustande des Thieres 
einigermaassen Kenntniss zu gewinnen. Am Ende des zweiten Fütterungs- 
tages wurde der Darm durch ein Klystier möglichst gereinigt. Es begann 
nun der eigentliche Hungerversuch. g 

Die näheren Daten dieses Versuches liefert die Tabelle A. 

Wie aus der Tabelle ersichtlich, sank die Stickstoffausscheidung von 
8.3 bezw. 8-.58”% an den Fütterungstagen sofort auf etwa 4.22% in den 
ersten Hungertagen herab, und erreichte schon am 12. Hungertage beinahe 
das von uns gewünschte Hungerminimum. Trotzdem haben wir, ehe wir 
zur Phlorhizininjection schritten, die Inanition bis zum 30. Tage fortgesetzt, 
damit der Glykogenvorrath zum vollständigen Schwund gebracht würde. Die 
Stickstoffausscheidung sank allmählich herab. Dieselbe betrug im Mittel von 
9 Tagen vor der ersten Injection nur noch 3-0033 8% (vom 22. bis zum 
30. Hungertag). Diese Stickstoffmenge gilt also für das nothwendige Minimum 
der Eiweisszersetzung. 

Am Anfang des 31. Hungertages wurde dem Thiere Phlorhizin zum 
ersten Male subeutan injieirt, und zwar in einer Dosis von 1-4®=, Im 
Laufe dieses Tages wurden 14.793 8% Traubenzucker mit 5-48 8% Stick- 
stoff und am 32. Hungertage 8-00S"" Zucker mit 4.883 8" Stickstoff im 
Harn ausgeschieden. Im Harn der darauf folgenden zwei Tage war die 
Reaction des Zuckers noch erkennbar, aber die Menge desselben quantitativ 
kaum noch bestimmbar. 

Die Gesammtzuckermenge im Harn betrug demnach an jenen zwei 
Hungertagen, welche unter dem Einfluss der Phlorhizininjection stehen, 
22.793830 mit der gleichzeitigen Ausscheidung von 10.364 8" Stickstoff. 
Ziehen wir hiervon 6.006683“ (die für das Hungerminimum in 2 Tagen 


! Von Merck (Darmstadt) bezogen. 


. 
. 


Muneo KUMAGAWA UND RENTARO MIURA 


440 


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ZUR FRAGE DER ZUCKERBILDUNG AUS FETT IM THIERKÖRPER. 


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442 MUNEO KUMAGAWA UND RENTARO MIURA: 


erforderliche Menge) ab, so bleiben 435768" N übrig, was 27.245 8m 
Eiweiss (N X 6-25) entsprechen würde. Demnach sind in Folge der Phlorhizin- 
injection 27.245 8”% Eiweiss in 2 Tagen mehr zerstört worden, als an den 
vorher gehenden Hungertagen ohne Phlorhizinwirkung, Nimmt man das 
mehr zersetzte Eiweiss als die Quelle des ausgeschiedenen Zuckers an, so 
wären aus 27-2452" Eiweiss in maximo 22-793 2”% Traubenzucker ge- 
bildet worden. Nach der Berechnung von Moritz und Prausnitz sollen 
aus 27-2458M Eiweiss theoretisch 30-958”, nach v. Mering sogar 
34.86 5m Traubenzucker gebildet werden. Hält man die Voraussetzung von 
v. Mering bezw. von Moritz und Prausnitz für berechtigt, so reicht in 
diesem Falle die Mehrzersetzung! des Eiweisses völlig aus, die ausgeschiedene 
Zuckermenge zu erklären. Es ist also hier nieht nöthig, das Fett als Zucker- 
quelle heran zu ziehen. 

Eine zweite Injection wurde am Anfang des 39. Hungertages in einer 
Dosis von 1.8°’% wiederholt, nachdem der Effect der ersten Injeetion völlig 
ausgeglichen war. Die Wirkung dauerte ebenfalls 2 Tage. Die Zucker- 
menge betrug am 39. Tage 11-8343 2" mit der Ausscheidung von 4-11 8 N 
und am 40. Hungertage 8-02”% mit der Ausscheidung von 5.8412m N, 
also im Ganzen 19-8343 2" Zucker mit gleichzeitiger Ausscheidung von 
9.94988m N. Als Normaltage nehmen wir jetzt die mittlere Stickstoff- 
ausscheidung der vier vorhergehenden Hungertage? vor der Injection (vom 
35. bis zum 38.) au. Dieselbe betrug 3-099 8%. Ziehen wir diesen Werth 
als Hungerminimum für den Tag von der Stickstoffausscheidung in den 
Phlorhizintagen ab, so bleiben 3752 2% N zurück, welche durch die in 
Folge der Phlorhizininjection vermehrte Eiweisszersetzung ausgeschieden 
worden sind. Diese Stickstoffmenge entspricht 23-4488 2% Eiweiss. Nun 
könnten nach Moritz und Prausnitz aus 23-4488 2% Eiweiss 26.637823" 
Zucker, nach v. Mering sogar 30.08“ Zucker gebildet werden. Die that- 
sächlich hier ausgeschiedene Zuckermenge betrug nur 19.8343 &”%, Dieselbe 
bleibt also auch hier innerhalb derjenigen Menge, welche theoretisch aus der 
Mehrzersetzung des Eiweisses geliefert werden könnte, so dass man hier 
ebenfalls nieht nöthig hat, das Fett als Zuckerquelle heranzuziehen. 


Die Inanition wurde am 44. Tage unterbrochen und das Thier nun- 
mehr mit Fleisch gefüttert. 


Von der zweiten Injection ab war die N-Ausscheidung dauernd erhöht. 
Das tief in das Rectum eingeführte Normalthermometer stieg nicht mehr 
über 34° C. Diese Erscheinung deutete darauf hin, dass das Thier dem 
Hungertode sehr nahe war. Die beginnende Steigerung der Eiweisszersetzung 
weist auf den Schwund des Körperfettes hin. 


! Mit dem Ausdrucke „die Mehrzersetzung des Eiweisses“, welcher vielfach unten 
gebraucht wird, meinen wir die vermehrte Eiweisszersetzung in Folge der Phlorhizin- 
wirkung, d.h. die Differenz zwischen der Gesammteiweisszersetzung bei der Phlorhizin- 
injection und der normalen Eiweisszersetzung im Hungerzustande ohne Phlorhizin- 
wirkung. 

° Am 33. und 34. Hungertage war die N-Ausscheidung noch unter dem Einfluss 


der ersten Injection etwas gesteigert; daher haben wir diese beiden Tage ausser Rechnung 
gelassen. 


ZUR FRAGE DER ZUCKERBILDUNG AUS FETT IM THIERKÖRPER. 443 


Dass wir zu unserem Versuche ein möglichst fettreiches Thier auswählten, 
hatte den Zweck, das Thier durch die langdauernde Inanition in einen Zu- 
stand zu versetzen, in welchem der Körper frei von Glykogen ist und doch 
noch viel Fett enthält. Würde das Thier bei einem solchen Zustande durch 
Phlorhizininjeetion diabetisch gemacht, so könnte wohl der Fall eintreten, dass 
die Zuckerausscheidung im Harn ohne besondere Steigerung der Eiweiss- 
zersetzung erfolgte, falls die Zuckerbildung aus Fett im Thierkörper leicht 
möglich wäre. 

Unser Versuch hat jedoch den von uns beabsichtigten Zweck nicht er- 
füllt, weil das Thier in Folge der langen Inanition nicht nur vom Glykogen 
befreit, sondern auch sehr fettarm geworden war. 

Da jedoch bei einem glykogen- und fast fettfreien Thierkörper durch 
Phlorhizininjection reichliche Zuckerbildung mit gleichzeitiger Steigerung der 
Eiweisszersetzung erfolgte, so beweist dieser Versuch von Neuem die Zucker- 
Lildung aus Eiweiss im Thierkörper, schliesst indess die Zuckerbildung aus 
Fett nicht aus, weil eben das Fett nicht mehr da ist. 

Nehmen wir an, dass der Zucker bei diesem Versuche ausschliesslich 
aus (dem mehr zersetzten) Eiweiss entstanden sei, so sind 80:366 Procent 
bezw. 84.585 Procent Zucker aus Eiweiss gebildet worden. 


? Versuch 1. 


Zu diesem Versuche wählten wir eine ganz besonders fettreiche Hündin, 
ein Jahr alt und 17®® schwer. Dieselbe eignete sich in jeder Hinsicht für 
unseren Zweck. Als Beweis dafür, dass das Thier auch nach der letzten 
Phlorhizininjection am 39. Hungertage noch reichlich Fett im Körper besass, 
könnte wohl der Umstand gelten, dass die tägliche Stickstoffausscheidung 
nach dem Verschwinden der Phlorhizinwirkung eine Zeit lang immer noch 
mehr abnahm. 

Nachdem der eigentliche Versuch über den Phlorhizindiabetes bei dem 
Thiere abgeschlossen war, hat einer von uns (Kumagawa) in Gemeinschaft 
mit Hrrn. Dr. M. Gotö und K. Sutö bei demselben den Hungerversuch 
unter ebenso strenger Aufsicht bis zum Tode weiter verfolgt. Es war in der 
That nicht zu erwarten, dass das Thier nach der letzten Phlorhizininjection 
am 39. Hungertage noch 59 Tage lang leben könnte. Demnach ist 
die Hündin im Ganzen 98 Tage lang unter alleiniger Wasser- 
aufnahme am Leben geblieben, trotzdem dieselbe inzwischen durch 
Phlorhizininjeetion öfters diabetisch gemacht worden war, und starb erst am 
99. Hungertage. 

Die näheren Daten dieses Versuches sind auf die Generaltabelle B auf- 
getragen. 

In zwei Fütterungstagen, kurz vor der Inanition, schied das Thier 
durchschnittlich 6-9482’% N im Harn aus. In den ersten 7 Hungertagen 
sank dann die Stickstoffausscheidung auf 4-3288”% pro Tag herab. In den 
darauf folgenden 7 Hungertagen (vom 8. bis zum 14.) reducirte sich die 
Stickstoffausscheidung auf 3.0 ®”% im Mittel. Zum Beginn des 15. Hunger- 
tages wurde dem Thiere probeweise 0-38” Phlorhizin subeutan injieirt. Es 
wurden im Laufe dieses Tages 9.128”% Zucker im Harn ausgeschieden. 
Die Stickstoffausscheidung betrug 3-514 2% bezw. 3-152'% am 15. und 


MUNEO KUMAGAWA UND RENTARO MIURA 


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008 
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008 
008 
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008 
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008 
008 
008 
008 
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008 


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008 
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NS HS sr nos 


. 


448 MUNEO KUMAGAWA UND RENTARO MIURA: 


16. Hungertage. Die Mehrausscheidung des Stickstoffs an diesen beiden 
Hungertagen, welche unter dem Einfluss des Phlorhizins stehen, betrug 
0.643 8m,1 Diese Stickstoffmenge entspricht nach Moritz und Prausnitz 
4.567 8%, nach v. Mering 5-146®”% Zucker gegenüber der thatsächlich 
ausgeschiedenen Zuckermenge von 9°128”%. Dass hier die aus der Mehr- 
zersetzung des Eiweisses berechnete Zuckermenge die wirklich ausge- 
schiedene Menge nicht deckte, könnte wohl daher rühren, dass der Gly- 
kogenvorrath noch nicht ganz geschwunden war und sich an der Zucker- 
bildung betheiligt hat. 

‘Am 23. Hungertage wurde das Phlorhizin in einer Dosis von 0.5 8m 
zum zweiten Male injieirt. In Folge davon wurden 10-1 "” Zucker im Laufe 
dieses Tages im Harn ausgeschieden. Die Mehrausscheidung des Stickstoffs 
betrug in 2 Tagen (23. und 24.) unter der Phlorhizinwirkung 1.6086 em, 
Dieselbe entspricht nach Moritz und Prausnitz 11-.42®2”% und nach 
v. Mering 12-869 &% Traubenzucker. Die wirklich ausgeschiedene Zucker- 
menge (10-1 2") blieb also hier innerhalb der aus der gesteigerten Eiweiss- 
zersetzung berechneten Menge. 

Nach dieser mehr probeweisen Injection von Phlorhizin in geringer 
Dosis wurde die Inanition bis zum 31. Tage weiter fortgesetzt. Die Stick- 
stoffausscheidung in den letzten 7 Tagen (vom 25. bis zum 31. Tag) betrug 
im Mittel nur 2.2478%, Zum Beginn des 32. Hungertages wurde das 
Phlorhizin zum dritten Male dem Thiere einverleibt, und zwar in einer Dosis 
von 1-08”, Die in Folge hiervon ausgeschiedene Zuckermenge war an 
diesem Tage auffallend gering und betrug nur 6.848 &”%"neben 3.206" N. 
Am darauf folgenden Hungertage war die Stickstoffausscheidung noch etwas 
erhöht. Dieselbe betrug 2.7244 2”%. Die Mehrausscheidung des Stickstofis 
an diesen beiden Tagen betrug 1-4368®’". Diese Stickstoffmenge entspricht 
nach Moritz und Prausnitz 10-2012&”, nach v. Mering 11-4944 sm 
Traubenzucker. Die thatsächlich ausgeschiedene Zuckermenge (6-848 8%) 
war also hier weit geringer, als die aus der Mehrzersetzung des Eiweisses 
berechnete Menge. Die gebildete Zuckermenge beträgt hier 76-25 Procent 
von dem Gewichte des mehr zersetzten Eiweisses. 

Nachdem die Wirkung der dritten Injection völlig ausgeglichen war 
und die mittlere Stickstoffausscheidung von 5 weiteren Hungertagen auf 
2.1706” gesunken war, wurde die Injection des Phlorhizins am 39. Hunger- 
tage zum letzten Male vorgenommen, und zwar in einer Dosis von 2.5 8m, 
Die Zuckerausscheidung dauerte jetzt 5 Tage lang, während welcher Zeit 
im Ganzen 62.0 8”% Zucker ausgeschieden wurden, wie aus der Tabelle 
ersichtlich ist. Die Mehrausscheidung des Stickstoffs dauerte 7 Tage lang 
und betrug in toto 11-7205 =. Diese Mehrzersetzung des Eiweisses ent- 
spricht nach Moritz und Prausnitz 83.222% und nach v. Mering 
93.764 8% Traubenzucker gegenüber der thatsächlich ausgeschiedenen’Zucker- 


ı Die Berechnung wurde in der Weise ausgeführt, dass die mittlere Stickstoff- 
ausscheidung der direct vorhergehenden Tage als das nothwendige Minimum der 
Eiweisszersetzung angenommen und dieselbe von der Stickstoffmenge der unter der 
Phlorhizinwirkung stehenden Tage abgezogen wurde. Die Differenz davon gilt nun 
für die vermehrte Eiweisszersetzung in Folge von Phlorhizininjection. Diese Berechnung 
wurde auch bei den folgenden Injectionen zu Grunde gelegt. 


Zuß FRAGE DER ZUCKERBILDUNG AUS FETT ım THIERKÖRPER. 449 


menge 62-08. Dieselbe macht 84-65 Procent von dem Gewichte des 
mehrzersetzten Eiweisses aus. 

Dass das Thier auch bei der letzten Phlorhizininjeetion noch reichlich 
Fett im Körper besass, beweist der Gang der Stickstoffausscheidung in der 
weiter fortgesetzten Inanitionszeit. Die Biweisszersetzung sank immer mehr 
herab. Bis zum 88. Hungertage schwankte die mittlere Stickstoffausscheidung 
zwischen 1-46 8% und 1.552". Erst in den letzten 10 Hungertagen war 
die Stickstoffausscheidung allmählich gesteigert und betrug im Mittel 2.057 &., 
Die höchste Stiekstoffausscheidung fiel auf den 98. Hungertag, also den Tag 
unmittelbar vor dem Hungertode. Dieselbe betrug 3-2235 8". 

Dieser Versuch hat uns gezeigt, dass die Injection von Phlorhizin bei 
einem kohlenhydratfreien, jedoch noch viel Fett besitzenden Thiere im vor- 
gerückten Hungerzustande ebenfalls Glykosurie hervorruft, dass dabei stets 
eine vermehrte Eiweisszersetzung stattfindet, und ferner, dass die ausge- 
schiedene Zuckermenge stets hinter derjenigen Menge zurückbleibt, welche 
sich aus der in Folge der Phlorhizininjection gesteigerten Zersetzung des 
Eiweisses theoretisch berechnen lässt. Demnach haben wir in diesem Ver- 
suche ebenfalls keinen Anhaltspunkt dafür gefunden, dass das Körperfett 
sich an der Zuckerbildung betheilige. 

Die Ergebnisse unserer beiden Versuchsreihen lassen sich kurz fol- 
gendermaassen resumiren: 

Aus dem Versuch I geht hervor, dass der in Folge der Phlorhizin- 
injection ausgeschiedene Traubenzucker im Harn fast ausschliesslich aus 
dem zersetzten Körpereiweiss stammte, weil das Versuchsthier zur Zeit der 
Injection kein Glykogen und nur wenig Fett im Körper besass. 

Aus dem Versuch II ist der Schluss wohl gestattet, dass das Körper- 
fett beim Phlorhizindiabetes sich gar nicht an der Zuckerbildung betheiligt, 
denn bei einem glykogenfreien, jedoch viel Fett enthaltenden Thiere er- 
folgte die Zuckerausscheidung in Folge der Phlorhizininjection ganz analog, 
wie bei einem glykogen- und fast fettfreien Thiere. In beiden Fällen tritt 
eine bedeutende Steigerung der Eiweisszersetzung mit gleichzeitiger Zucker- 
ausscheidung auf. Die ausgeschiedene Zuckermenge bleibt in beiden Fällen 
hinter derjenigen Menge zurück, welche sich theoretisch aus der in Folge 
der Phlorhizininjection vermehrten Eiweisszersetzung berechnen lässt. In 
beiden Fällen stimmt das Verhältniss der ausgeschiedenen Zuckermenge 
zu der mehr zersetzten Eiweissmenge fast überein. Im Versuch I betrug die 
Zuckermenge 80-4 Proc. bezw. 84-6 Proc., im Versuch II 76-25 Proc. 
bezw. 84-65 Proc. von dem Gewichte des mehr zersetzten Eiweisses. 

Die Resultate unserer Versuche stimmen somit mit den Schluss- 
folgerungen von v. Mering, Moritz und Prausnitz, Cremer und 
Ritter und Anderen überein. 

Demnach kommt die Zuckerbildung aus Fett im Organismus, wenigstens 
bei Phlorhizindiabetes, nicht vor. 


Archiv f. A. u. Ph. 1898. Physiol. Abthlg. 29 


450 M.KumaAGAawA UnDR. MıURA: ZuR FRAGE DER ZUCKERBILD. U.S.W. 


Es ist überhaupt zum ersten Male von uns (M. Kumagawa, 
M. Gotö und K. Sutö) beobachtet worden, dass eine Hündin bei 
alleiniger Wasseraufnahme 98 Tage lang am Leben blieb. Wären 
dem Thiere nicht noch wiederholte Phlorhizininjectionen gemacht worden, 
so würde dasselbe gewiss noch länger gelebt haben. Wegen der ausser- 
ordentlich merkwürdigen Beobachtung wurde das Thier nach dem am 
99. Hungertage erfolgten Tode einer eingehenden Analyse unterworfen, 
deren Resultate zusammen mit denen unserer grösseren Hungerversuchs- 
reihen bald veröffentlicht werden sollen. Dort hoffen wir auch die Gründe 
dafür, dass das betrefiende Thier eine so lange Inanitionsdauer von beinahe 
100 Tagen auszuhalten im Stande war, ausführlich angeben zu können. 


Beziehungen zwischen dem chemischen Bau 
der süss und bitter schmeckenden Substanzen und 
ihrer Eigenschaft zu schmecken. 


Von 


Dr. Wilhelm Sternberg, 


pract, Arzt in Berlin. 


Wenn das Epitheton „süss“! zu den ältesten Compositis gehört, die 
sich in den arischen Sprachen erhalten haben, und die Bezeichnung „Zucker“, 
ebenso wie „Sacharum“ aus dem indischen „Sakkara“ kommend, auf Indien 
hinweist,. wo schon lange vor Beginn unserer Zeitrechnung der Rohrzucker 
fast chemisch rein dargestellt wurde, so muss die Kenntniss der schmecken- 
den Substanzen, wenigstens der süss schmeckenden wie der Zucker, uralt 
sein. Um so auffallender muss es daher erscheinen, wenn trotzdem, so alt 
diese Kenntniss ist, so neu die Forschung nach dem Grunde dieser Eigen- 
schaft geblieben ist. Weder die theoretische, physikalische Chemie, der es 
obliegt, die physikalischen Eigenschaften der Körper in ihrer chemischen 
Constitution zu ergründen, noch die Physiologie, deren Aufgabe es ist, die 
Körper zu studiren, die mit der Fähigkeit begabt sind, einen specifischen, 
adäquaten Sinnesreiz auf das in der Zunge liegende Sinnesorgan auszuüben, 
ist dieser Frage bisher näher getreten, wiewohl sich in dem Interesse an diesem 
Studium beide Wissenschaften vereinen müssten. Ist dies bisher dennoch 
unterblieben, so dürfte diese Thatsache einer genauen Zusammenfassung 
aller schmeckenden Substanzen und einer sich daraus ableitenden theo- 


! „Süss“ soll aus „su“ = „gut“ und der Wurzel „ad“ = „schmecken“, „riechen“ 
stammen, welche wieder zusammenhängen soll mit „ad“ = „essen“. Im Sanskrit findet 
sich „‚svadü“, für „Zucker“ „sarkura“, das arabische „sukhar“, im Griechischen „„övc“, 
im Lateinischen „sua(d)vis“, im Englischen „sweet“. Max Müller zählt zu den 
120 Urbegriffen des arischen Denkens, wie sie aus den etwa 1000 zählenden Wurzeln 
der arischen Sprache hervorgehen, auch den Begriff „süss“, „süd“ = „versüssen“. 
(F. Max Müller, Das Denken im Lichte der Sprache. Leipzig 1888. S. 371, 472, 591.) 

2 


452 WILHELM STERNBERG: 


retischen Entwickelung nicht ungünstig sein; umsomehr, als ein auffallendes 
Missverhältniss besteht zwischen der unendlich grossen Zahl der schmecken- 
den Substanzen, mit denen uns die Chemie in den letzten Jahren so reich 
beschenkt hat, und der minimalen Anzahl von zwei, in der die reinen 
Qualitäten des Geschmackssinnes, oder besser gesagt, die Modalitäten im 
Helmholtz’schen! Sinne auftreten, nämlich die Geschmäcke „süss“ und 
„bitter“. Denn mag man nun mit Valentin,’ Zenneck® und Vintsch- 
gau* annehmen, dass es nur das „Bittere“ und „Süsse“ ist, was aus- 
schliesslich zur Geschmacksempfindung zu rechnen ist oder nicht; das ist 
jedenfalls unbestritten, dass sie die beiden reinsten und echtesten Geschmäcke 
sind. Alle anderen Geschmäcke sind zum mindesten Combinationen von 
heterogenen Geschmacks- und Tasteindrücken, welche ja selbst nicht eine 
einfache Sinnesqualität darstellen, sondern sich wiederum aus äusserst com- 
plieirten Eindrücken zusammensetzen. Wollen wir daher die physikalischen 
Eigenschaften derjenigen chemischen Individuen jetzt näher untersuchen, 
welche mit dem Vermögen ausgestattet sind, Sinnesreiz für das Geschmacks- 
organ zu sein, und den Geschmack der Körper aus ihrer chemischen 
Zusammensetzung ableiten, wie solches bereits für den zweiten chemischen 
Schwestersinn, den wir besitzen, den Geruch, „den Geschmack in die Ferne“, 
wie Kant? sagt, mit Erfolg versucht ist, so werden wir gut thun, wenn 
wir zunächst nur diejenigen schmeekbaren Substanzen wählen und sammeln, 
welche süss, und diejenigen, welche bitter schmecken. Die übrigen Ge- 
schmäcke zu untersuchen, sei einer späteren Arbeit vorbehalten. 

Was zunächst die Elemente betrifft, so geht ihnen sämmtlich das 
Vermögen ab, einen Sinnesreiz auszuüben, auf das specifische Sinnesorgan 
der Nase® und des Auges und so auch auf das der Zunge. Denn ebenso 
wenig, wie sie im Stande sind, zu färben, ebenso wenig, wie sie zu riechen 
vermögen, ebenso wenig sind sie im Stande, zu schmecken. 


" Helmholtz, Die Thatsachen in der Wahrnehmung. Berlin 1879. 8.8 u. 9. 

” Valentin, De functionibus nervorum cereb. et nervi symp. 1839. S. 117. 

° Zenneck, Die Geschmackserscheinungen. Nürnberg 1839. — Repertor. für 
die Pharmacie von Dr. Buchner. Bd. LXV oder 2. Reihe Bd. XV. S. 224. 

* Vintschgau, Geschmackssinn. Hermann’s Handbuch der Physiologie der 
Sinnesorgane. S. 193. 2 

° Kant, Anthropolog. Didact. 8 20. 

° Schon Lorry hat dies 1785 für den Geruch nachgewiesen. M.Lorry, Obser- 
vations sur les parties volatiles et odorantes u.s.w. Hist. et Memoires de .la Sceiete 
royale de Medecine. 1785. p. 306. Zwar entnehmen manche Elemente, wie Brom 
(Bomuos) und Ozon (oLeıv), gerade der Eigenschaft zu riechen ihre Bezeichnung, 
jedoch reizen sie nicht den Olfactorius, sondern den Tastsinn im Geruchsorgan 
Phosphordampf soll geruchlos sein. Schönbein, Poggendorff’s Annalen. 1847. 
Bd. LXXV. S. 377; J.-Bd. 1847 u. 1848. 8. 337. 


ÜHEMISCHER BAU SÜSS U. BITTER SCHMECKENDER SUBSTANZEN U.S.w. 453 


Um so zahlreicher sind jedoch ihre schmeckbaren Combinationen und 
ihr Vorkommen in den Naturreichen. Wie man in allen Naturreichen 
gleichartige Gerüche findet, so auch gleichartige Geschmäcke, süss und 
bitter: in den organischen Verbindungen — in der Thier- und Pflanzen- 
welt, in den durch Aufbau und Abbau, natürlich vorkommenden und syn- 
thetisch hergestellten Verbindungen — aber auch im Mineralreich. 

Was zunächst die organischen Substanzen anlangt, so ist freilich 
die Mehrzahl derselben geschmacklos, ebenso wie die Mehrzahl auch farblos 
und geruchlos ist. 

Die Kohlenwasserstoffe sind alle, gleichgültig ob die Kohlenstoff- 
kette offen oder ringförmig geschlossen ist, farblos! und geschmacklos. Wie 
die beiden Elemente selbst, schmecken auch ihre unendlich zahlreichen 
Verbindungen nicht. Mit diesem, ihrem Unvermögen, irgend welchen spe- 
cifischen Sinnesreiz auf ein Sinnesorgan auszuüben, verbinden sie, wie ein 
solcher Zusammenhang häufig zu beobachten ist, zugleich jegliches andere 
Unvermögen, auf unseren Körper zu wirken; so werthvolles Brennmaterial 
sie für uns darstellen, für unseren Stoffwechsel sind sie werthlos, da sie zu 
indifferent (parum .affines)? sind. Beide Momente schwinden jedoch zugleich 
unter dem Einflusse zweier Elemente vollständig, indem die Kohlenwasser- 
stoffe durch den Eintritt dieser beiden Elemente für unseren Körper hoch- 
werthige Substanzen und zu gleicher Zeit auch unsere Sinnesorgane zu reizen 
befähigt werden. Sie erhalten ästhesiophore und zugleich somatodyname 
Functionen. 

1. Der Stickstoff 
und 2. der Sauerstoff 


sind die zwei im Mendelejeff’schen System auf den Kohlenstoff und zwar 
in regelmässigen, gleichen Distanzen folgenden Elemente, deren Atome, für 


IV V VI 
[6 on N 11, 0 16) 


sich oder bis zu einem gewissen Grade mit H beladen, als die einwerthigen 
Radicale, die beiden entgegengesetzten salzbildenden Gruppen 


I 
die negative 1.OH = 0—H Hydroxyl- 
I 
und die positive N NH Amid-Gruppe 


! Freilich weiss man seit 6 Jahren durch ©. Graebe’s Untersuchungen des 
rothen Dibiphenylenäthens, dass der doppelten Kohlenstoffbindung, von der man weiss, 
dass sie den Geschmack ausschliesst, wie man bis 1892 solches auch von der Farbe 
annahm, doch auch chromophore Functionen nicht abzusprechen sind. 

” Daher ja ihr Name Paraffine. 


454 WILHELM STERNBERG: 


in die Kohlenwasserstoffe eintreten müssen, um den Geschmack hervor- 
zubringen. Ja, giebt es doch eine süss schmeckende Verbindung sogar, die 
nur aus diesen beiden Elementen besteht, nämlich N,O, das Lustgas; eine 


I 
andere Combination beider Elemente, NO,, die ausserordentlich negative 
Nitrogruppe, wird oftmals auch zur sapiphoren. 
So entstehen denn in reichlicher Zahl die schmeckenden Abkömmlinge 
der Kohlenwasserstoffe, Körper von verschiedener Zusammensetzung, welche 
neben C und H 


1202 Zoder ZN oder 232. 02undeN 


und selten selbst noch einige andere Elemente enthalten. 

Wie sich nun durch den Eintritt dieser beiden Elemente die anderen 
physikalischen Eigenschaften der Kohlenwasserstoffe nach, wie es scheint, 
einfachen Gesetzen ändern, so dürfte dies auch bezüglich des Geschmacks 
möglich sein. 

Die beiden salzbildenden Gruppen: OH und NH, sind es also, die, 
wie sie den normalen : Kohlenwasserstoffen mit offener C-Kette die physi- 
kalische oder physiologische Eigenschaft des Geruchs und der Färbung 
geben, ihnen auch den Geschmack verleihen. Sie sind, wie man weiss, 
die chromophoren oder doch auxochromen und odoriphoren; und nun auch 
die geschmackerzeugenden, die sapiphoren Gruppen, wie ich sie nennen 
möchte, mithin die ästhesiophoren. Während es jedoch noch mehrere andere 
chromophoren und odoriphoren Gruppen neben ihnen giebt, sind diese beiden 
sapiphoren die einzigen; während ein und dieselbe Geruchsempfindung durch 
Stoffe von verschiedenster Constitution hervorgerufen werden kann, ist dies 
nicht der Fall beim Geschmackseindruck, so dass wir alle Berechtigung haben, 
die beiden einzigen geschmackgebenden Atomgruppen als unmittelbare Ur- 
sache der Geschmacksempfindung anzusehen, und wir somit eine directe 
Beziehung zwischen dem chemischen Bau und dem Geschmack wohl an- 
nehmen dürfen. Diese beiden Gruppen müssen nun mit der entgegen- 
gesetzten combinirt sein, die negative OH-Gruppe mit der positiven Alcyl-, 
die positive NH,-Gruppe mit der negativen Carboxyl-Gruppe. Das ist: das 
erundsätzlich Verschiedene von dem Verhalten der färbenden Verbindungen. 
Die färbenden Körper verlieren nämlich sofort die färbende Eigenschaft, wenn 
man dem Amid seine Basieität,! dem Hydroxyl seine Säurigkeit nimmt. 

Der einmalige Eintritt der OH-Gruppe bringt den Kohlenwasserstoffen 
den Geruch. 

Auch der zweimalige Eintritt der OH-Gruppe lässt den Kohlenwasser- 
stoffen den Geruch und giebt ihnen noch nicht den Geschmack, wenn 


" Otto N. Witt, Zur Kenntniss des Baues und der Bildung färbender Kohlen- 
stoffverbindungen. Ber. der deutschen chem. Ges. 1876. IX. Jahrg. S. 522. 


CHEMISCHER BAU SÜSS U. BITTER SCHMECKENDER SUBSTANZEN U.S.w. 455 


anders ein und dasselbe C-Atom zwei Mal mit OH beladen wird und die 
übrige Aleylgruppe unberührt bleibt. . ist daher diejenige geruch- 


gebende Atomgruppe, welche am verbreitetsten ist und die wichtigste im 
ganzen Gebiete der Gerüche. Die meisten und die wichtigsten Parfüms gehören 
diesem Odoriphor an. Der Grund dafür, dass der Geschmack noch nicht 
eintritt, dürfte darin zu suchen sein, dass 20H an 10 nicht bestehen 
können, mithin unter H,Ö-Austritt nur ein einziges O-Atom bestehen bleibt. 
Daher ist der Geruch, aber noch nicht der Geschmack den Aldehyden und 
den Ketonen eigen. 

Der Geschmack braucht eben mehr als 1 O-Atom, wenigstens 2 O-Atome. 
Daher weicht der Geruch dem Geschmack, wenn die OH-Gruppe weiter 
ins Molecül eintritt, und zwar dem süssen Geschmack, wenn die übrigen 
Aleyle der primären Alkohole oder aber der Aldehyde und Ketone mit 
OH beladen werden; der saure Geschmack endlich tritt ein bei der letzten 
Möglichkeit, wenn das dritte OH an dasselbe C-Atom herantritt; möge die 
andere Kette noch so sehr mit OH beladen sein, den süssen Geschmack 
hat alsdann der saure verdrängt. 


Substitution von OH in der Alcyl-Reihe 
und ausserdem zugleich an jedem anderen 


'an 1 C-Atom nur: 


C-Atom noch: 


1 OH Primäre Alkohole | Mehrwerthige Alkohole 
3 Süsser 
Geruch Aldehyde Aldosen Geschmack 
2 OH Zucker 
Ketone Ketosen 
3 OH Säuren Säuren 


Saurer Geschmack. 


Soll also die Süssigkeit hervortreten, so muss das Molecül mindestens 
2 O-Atome enthalten. Es giebt eben keinen einzigen süss schmeckenden 
‚Körper mit einem einzigen O-Atom im Molecül. Das ist auch der Grund, 
warum auch die erste Reihe mit 1 C-Atom nicht einen einzigen süss oder 
bitter schmeckenden Körper enthält, es sei denn, dass das elektronegativste 
Element Cl mit dem positiven Alcyl im richtigen Verhältniss zusammen- 
tritt, wie im süss schmeckenden Chloroform, CH(C],, Aethylenchlorid, 
CH,C1—CH,Cl, Liquor hollandicus, Aethylchlorid, C,H,Cl, Spiritus salis 
duleis oder im bitter schmeckenden Chloralhydrat CCL:CHK OR Deshalb 
ist es noch der Geruch, aber noch nicht der süsse Geschmack, der 


456 WILHELM STERNBERG: 


den einfachsten, so zu sagen, den nullten Zucker auszeichnet, das Formal- 
dehyd, wenngleich der duleigene Charakter in ihm schon schlummert. 
Denn der bittere Geschmack der Alo&, des intensivsten Bitterstoffes, schwindet, 
wenn man ins Molecül den Formaldehydrest hineinträgt. Das jetzt zu 
therapeutischen Zwecken verwandte Formalaloin! ist völlig geschmacklos. 

Mit der Länge der OH-Ketten wächst die Süssigkeit, zwar nicht regel- 
mässig, aber sie steigt doch an, um den Höhepunkt bei den Aldosen und 
Ketosen zu erreichen, wie dies auch der Fall ist bei der physikalischen 
Eigenschaft der Absorption der Lichtstrahlen. Erhöht man nämlich die 
salzbildende Kraft des Alizarins durch Einführung weiterer OH- oder NH,- 
Gruppen, so erhöht man dabei die färbenden Eigenschatten; die färbende 
Kraft wächst mit der Säurigkeit eben in dem Maasse, als neue saure 
Gruppen eintreten. Die Intensität der Färbung der Azobenzole wächst mit 
der Anzahl der färbenden Gruppen. 


(NH,),C,sH,N,, Mono-amido-azobenzol, ist gelb, 
(NH,),C,,H;N,, Di- 2) „ „ 0Tange, 
(NH,),C, >H,N,, Tri- ” „ „ braun. 


Jedoch ist nicht etwa regelmässig der Grad der farbenentwickelnden Wirkung 
aufs Chromogen proportional der Energie der salzbildenden Kraft. Ebenso 
ist's auch hier. Ganz so regelmässig wächst auch hier nicht die Intensität 
der Süssigkeit. Die Octite und Nonite und Glucononose und Mannonose 
schmecken jedenfalls nicht mehr sämmtlich so süss. Während «-Glucooctose ? 
noch rein süss und d-Mannooctose? süss schmeckt, ist vom Geschmack des 
Glucooetit und des schwer löslichen d-Mannooctit nichts angegeben. In der 
neunten Reihe vollends fehlt jegliche Angabe bezüglich des Geschmackes; 
Glucononit ist* leicht löslich in heissem Wasser, Glucononose gährt nicht, 
Mannonose° ist „dem Traubenzucker zwar zum Verwechseln ähnlich“, sowohl 
bezüglich seines Schmelzpunktes, der Gährfähigkeit, der procentischen Zu- 
sammensetzung und der Aehnlichkeit des Drehungsvermögens. Ob schliess- 
lich die ungemein zahlreichen, sich schnell nach Potenzen von 2 ver- 
mehrenden C-reichen, die hochmolecularen mehrsäurigen Alkohole und 
Zucker noch süss schmecken, ist fraglich. Die physikalischen Eigen- 
schaften, auch der durch OH gewonnene Geruch der Alkohole, Aldehyde 
und Ketone schwindet in den höchsten Gliedern, so dass es sogar als wahr- 
scheinlich anzusehen ist, dass die Süssigkeit ebenfalls in den höchsten uns 


 „Aloinformol“ von E. Merck (Darmstadt). 

2 Annalen. Bd. CCLXX. 8. 95. 

® Ber. der deutschen chem. Ges. Bd. XXIII. S. 2234. 
* Annalen. Bd. CCLXX. 8. 107. 

? Ber. der deutschen chem. Ges. Bd. XXII. S. 2235. 


ÜHEMISCHER BAU SÜSS U. BITTER SCHMECKENDER SUBSTANZEN U.8.w. 457 


noch unbekannten Gliedern wieder abnimmt. Allein der Umstand, dass 
die Gruppen noch so unvollständig dargestellt sind, ist die Ursache dafür, 
warum wir diese Frage noch nicht beantworten können; aus demselben 
Grunde wissen wir auch noch nicht, ob die Riechkraft in den allerhöchsten 
Termen mancher Gruppen wieder allmählich sinkt, wenn auch dies als 
wahrscheinlich angenommen wird. 

Die stereogeometrische Configuration des Molecüls kommt, so 
weit Untersuchungen hierüber vorliegen, in dieser Frage nicht in Betracht; 
und das ist sehr beachtenswerth, dass die moleculare Geometrie keine Unter- 
schiede in dem Geschmack schafft, umsomehr, als sie alle sonstigen Eigen- 
schaften verändert. Nicht allein, dass die Spiegelbilder unter sich den 
süssen Geschmack beibehalten, sämmtliche stereoisomere Gruppen sogar con- 
serviren sich, die Eigenschaft zu süssen, so dass die Zunge, so vortrefflich 
sie arithmetisch orientirt sein muss, seltsamerweise geometrisch nicht zu 
sondern die Befähigung hat, gerade entgegengesetzt der Fähigkeit der Hefe. 
Daher unterscheiden sich auch die 4 bekannten der 8 theoretisch möglichen 
Pentosen, ebenso die 10 heutzutage darstellbaren Hexosen von den 16 vor- 
ausgesagten nicht wesentlich bezüglich ihrer Süssigkeit; und ebenso wenig 
an der Existenz der noch fehlenden Stereoisomeren zu zweifeln ist, ebenso 
wenig ist eine Veränderung der Geschmacksmodalität anzunehmen. Wir 
können das als sicher vermuthen, dass von den 32 stereoisomeren Heptosen 
auch die noch nicht dargestellten 26 und von den 128 Nonosen auch die 
noch nicht bekannten 126 süss schmecken. 

Freilich Pintti! und Pasteur,? E. Fischer? und Landolt* stehen 
auf dem Standpunkte, dass die Drehrichtung und die stereogeometrische 
Configuration ein und derselben Verbindung wie in der Gährung und in 
dem ihr so ähnlichen Processe, dem Stoffwechsel, so auch im Bereich des 
Geschmackes Unterschiede schaffen kann. Gestützt auf die Verschiedenheit 
im Geschmack des Asparagins, dessen dextrogyre Modification süss schmeckt, 
während der optische Antipode geschmacklos ist, nimmt die Chemie an, 
dass dem physiologischen Vorgange des Geschmackes eine Bevorzugung der 
einen activen Modification durch Fermente zu Grunde liege. Allein ab- 
gesehen davon, dass die Physiologie chemische, durch Fermente oder sonstige 


ı Pintti, Compt. rend. 1836. T. CIII. p. 134; T. XVII. p. 477. 

®? Pasteur, Zbenda. 1886. T. CIII. p. 138. 

® Fischer, Zeitschrift für physiologische Chemie. 1898. Bd. XXV1. 8. 84. 

* Landolt, Lehrbuch der physikalischen und theoretischen Chemie von Horst- 
mann, Landolt, Winkelmann. 3. Aufl. 1898. 3. Abthlg. — Die Beziehungen 
zwischen optischem Drehungsvermögen organischer Substanzen und deren chemischen 
Zusammensetzungen. 8. 7159. 

5 Brion, Zeitschrift für physiologische Chemie. Bd. XXV. 8.283; vor ihm: 
Chabrie. 


458 WILHELM STERNBERG: 


active Körper hervorgerufene Verbindungen gar nicht als Sinnesreiz für 
den Geschmack voraussetzt, und abgesehen davon, dass diese Ansicht sich 
nur auf die einzig dastehende Beobachtung des Asparagins stützt, spricht 
auch die Erfahrung dagegen. Ausser Asparagin schmecken von den bisher 
dargestellten! Verbindungen die enantiomorphen Modificationen, wenigstens 
was die Qualität anlangt, gleich; was die Intensität betrifft, so liegen keine 
Untersuchungen vor. So schmeckt auch der l- und i-Traubenzucker? auch 
rein süss. Sodann aber — und das erscheint mir wesentlich — hat es sich 
noch niemals ereignet, dass, so regelmässig auch die Spiegelbilder in jedem 
Falle bei Gährungen von einander differiren, sich je eine Variation der 
Geschmacksqualität an die eine oder an die andere Modification ange- 
schlossen hätte. 

Auch die chemische Structur des Molecüls, wie sie z. B. in den 
Aldosen und Ketosen zum Ausdruck kommt, bedingt keinen Unterschied. 
Enthält doch auch der Süssstoff z&r &£oyjv, der Rohrzucker, nicht einmal 
die —CO— -Carbonylgruppe. Freilich ist dabei doch eins zu bedenken. 
Die Ketongruppe in den Ketosen, in der ja der Aldehydgruppe gegenüber 
in den Aldosen der Gesammtcharakter des Molecüls kaum verändert ist, 
bringt doch eine kleine Steigerung der Verbrennlichkeit? und — damit 
vielleicht wiederum im Zusammenhang stehend — zugleich auch der Süssig- 
keit zu Stande; denn die beiden bestgekannten Ketosen, die Laevulose und 
die Sorbinose, schmecken so süss wie Rohrzucker. 

Wie mit jedem Aufnehmen von Sinneseindrücken „dem Empfinden“ 
ein seelischer Zustand von Lust oder Unlust verbunden ist, „ein Fühlen“, 
so. erzeugen die süss schmeckenden Verbindungen das Allgemeingefühl des 
Behagens, die bitteren das des Unbehagens. Zum Zustandekommen des 
süssen angenehmen Geschmackes ist ein gewisses harmonisches Wohlver- 
hältniss der negativen OH- zu den positiven Aleylgruppen nothwendig. 


‘ 7. B. Mannose, Glycose und Galactose, ebenso Mannit und Idit. 

2 E. Fischer, Ber. der deutschen chem. Ges. 1890. Bd. XXIII. S. 2619. 

® Laevulose wird viel rascher oxydirt (Habermann, Hönig, Monatshefte für 
Chemie. Bd. 11l. 8.665), daher wurde es dem Diabetiker früher zum Versüssen ge-, 
geben. Wird nämlich selbst vom leichtesten Diabetiker unter allen Zuckern der Trau- 
benzucker am schlechtesten vertragen, so ist andererseits die Laevulose derjenige Zucker, 
der selbst vom schwersten Diabetiker noch am besten vertragen wird. Damit kann man 
wohl die Thatsache in Einklang bringen, dass es schon eine sehr schwere diabetische 
Stoffwechselstörung bedeutet, wenn Aceton ausgeschieden wird oder gar ß-Ketobutter- 
säure. Mithin scheint der Ketongruppe eine leichtere Verbrennlichkeit auch im Stoff- 
wechsel eigen zu sein. Aus diesem Grunde muss es interessant sein zu erfahren, 
wie ein schwerer Diabetiker mit Ausscheidung von Aceton und $-Ketobuttersäure sich 
der Laevulose und der Sorbinose gegenüber verhält, eine Arbeit, mit der ich noch be- 
schäftigt bin. 


ÜHEMISCHER BAU SÜSS U. BITTER SCHMECKENDER SUBSTANZEN U.$S.w. 459 


Zunächst muss einer jeden positiven Alcylgruppe in der normalen 
C-Kette eine negative OH-Gruppe gegenüberstehen, eine jede positive Gruppe 
muss mit einer entgegengesetzten negativen beschäftigt sein. Daher 
schmecken, wie dies bereits bekannt ist, alle meistsäurigen Alkohole, wozu 
auch die Inosite gehören, ohne Ausnahme süss, was ihre Namen schon zum 
Theil anzeigen: Glycerin s. Oelsüss s. Scheel’sches Süss, Glycose, Duleit. 

Ein einziges Mal kann freilich die Alcylgruppe der negativen OH- 
Gruppe gegenüber vermehrt sein, so dass das Molecül 1 O-Atom weniger 
als C-Atome besitzt, ohne dass der süsse Geschmack schwindet. Das dürfte 
der Grund sein, warum sämmtliche Disaccharide süss schmecken, warum 
aber schon alle Tri- und gar Polysaccharide geschmacklos sind. Von 
den Trisacchariden schmeckt freilich Stachyose noch süss, wenn auch 
sehr minimal, es steht aber noch nicht fest, ob es wirklich ein Tri- 
saccharid! ist. Wenn die Polysaccharide ausnahmslos nicht mehr süss 
schmecken, so liegt die Ursache nicht etwa an der geringen Löslichkeit, 
ebenso wenig wie die Abnahme der Flüchtigkeit in den höheren Gliedern 
der Grund für die Abnahme der Riechkraft ist. Denn Dextrin ist sehr 
leicht löslich, y-Galactan, Achrooglycogen, Laevosin, Inulin ist sogar hygro- 
skopisch, Laevulin s-Synarthrose und Tritiein sind ebenfalls sehr hygro- 
skopisch. 

Derselbe Grund erklärt uns auch den süssen Geschmack der Methyl- 
glycoside, «- und /-Methyl-d-Glucosid. 

CH-CH,0 


Methylelycosid,? C,H,,0,-CH, = 
0 


H- 
H- 
H- 
H- 


Methylarabinosid, C,H,O,-CH,, 

o-Methylxylosid, C,H,0,-CH,, 

P-Methylxylosid, C,H,0,-CH,, 

Methylglueoheptosid, C,H, ,0,-CH,. 
Glycolglycosid = Glycosid des Aethylenglycols schmecken aile süss. 
Methyl-d-Inosit, C,H,(OH),-O-CH,, s-Pinit, s-Matezit schmeckt so süss 
“wie Rohrzucker. 
! Ber. der deutschen chem. Ges. Bd. XXI. S. 1692 und Bd. XXIV. 8. 2705. 


2 E. Fischer, Ueber die Verbindungen der Zucker mit den Alkoholen und Ketonen. 
Ebenda. 1893. S. 1145. 


460 WILHELM STERNBERG: 


Rhamnose s-Isoduleit, C,H, ,0, = CH,[CH(OH)],-COH, schmeckt süss 
und ebenso ihre Stereoisomeren: Isorhamose, Fucose und Chinovose. 
CH,—CH(OH)—CH, (OH) 1,2-Dihydropropan schmeckt süsslich und ebenso 
CH,(OH)—CH,—CH,(OH) 1,3- , 

s-normaler Propylenglycol, 
s-Trimethylenglyeol. 

CH,— CH(OH)—CH(OH)—CH,(OH) ist eine süss schmeckende Flüssig- 
keit, Butenylglycerin s-1,2,3-Trihydroxybutan, sogar 

CH,—CH(OH)—CH(OH)—CH,Cl = (,H,C10, 
schmeckt noch süsslich. Dagegen C,H,C1,0, schmeckt nicht mehr. 

Wie die Symmetrie und Harmonie des molecularen Aufbaues — ich 
nenne, da der Begriff der Symmetrie schon zwiefach in der Chemie festgelegt 
ist, in der Stereochemie und in den cyclischen Verbindungen, Harmonie 
das richtige Wohlverhältniss der Anzahl der entgegengesetzten Gruppen — 
und damit die Harmonie der intramolecularen Schwingungen durch das 
Ueberwiegen einer einzigen Alcylgruppe nicht gestört wird, so dass die 
Harmonie der Geschmacksempfindung, das angenehme Süsse noch erhalten 
bleibt, so wird auch nichts durch das Ueberwiegen einer einzigen OH- 
Gruppe geändert. Daher sind die Aldosen und Ketosen die Süssstoffe par 
excellence, die Zucker. 

Freilich eine grössere Anhäufung der positiven a stört ebenso 
wie das Abstumpfen der sauren Gruppe durch Basen oder eine Anhäufung 
von Acidität die Harmonie des Molecüls und damit seinen harmonischen, 
angenehmen süssen Geschmack. Daher kommt es, dass, wenn man das 
Gleichgewicht zu arg erschüttert und eine disharmonische Atomgruppen- 
Anordnung herbeiführt, der angenehme süsse Geschmack sich in den bittern 
verwandelt. « 

Aethylglucose,! die frühere Diglucose, schmeckt schon schwach süss. 
Auch schmeckt ja Aethylarabinosid, C,H,0,-C,H,, noch süss. Setzt man 
jedoch noch ein Methyl in Rhamnose ein, so verwandelt sich der süsse 
Geschmack schon in den bittern. 

Methylrhamnosid, C,H, ,‚0,-CH,, schmeckt bitter, ebenso die Verbindung 
des Aethylalkohols mit Rhamnose. 

Aethylrhamnosid schmeckt stark und anhaltend bitter. 

Octylglycerin schmeckt bitter = 1,2,4-Trihydroxy-4-Aethylhexan, 

(C,H,),—C(OH)—CH,—CH(OH)— CH, (OH). 
Sogar Octylerythrit schmeckt bitter 
—= 1,2,5,6-Tetrohydro-2,5-Dimethylhexan, 
OH - CH, —C(OH)— CH, — CH, —CH,— C(OH)—CH,— CH, (OH). 


ı E. Fischer, Ber. der deutschen chem. Ges. 1893. Bd. XXVI. 3. 2400. 


CHEMISCHER BAU SÜSS U. BITTER SCHMECKENDER SUBSTANZEN U.S.w. 461 


Acusserst bitter! schmeckt 1,2,4-Trihydroxy-6-Heptadiön, C,H, ‚0, 

= OH. CH,— CH(OH)-CH,—CH(OH)— CH, -CH = CH,. 

Bitter schmeckt ferner Sacharin = Glycosaccharinsäure-Anhydrid, An- 
hydrid der 2-Methyl-2,3,4,5-Pentantetrolsäure, 
laner | 

= CH-CH(OH)-C-(CO-0)(OH)-CH, = C,H ‚0,;. 

Freilich ist hiergegen noch das Eine zu bedenken, dass in den höheren 
Gliedern ausnahmsweise einmal eine süss schineckende Verbindung vor- 
kommt, in der doch mehr als 1 Alcyl der negativen Gruppe gegenüber 
vermehrt ist. Eine Harmonie im molecularen Aufbau ist aber alsdann auch 
noch unverkennbar; wie z. B. in dem rein süss schmeckenden 1,4, 6,7-Penta- 
hydroxyheptan, C,H, ,O;, 

CH,(OH)—CH(OH)— CH, —CH(OH)—CH,—CH(OH)— CH, (OH). 


So wenig sich auch die Gruppe der Bitterstoffe, welche ja gar keine 
einheitliche chemische Gruppe darstellt, in ein bestimmtes System bringen 
lässt, so muss es doch auffallen, dass die ganze Gruppe, die wiederum nur aus 
den 3 Elementen: C,H,O aufgebaut ist, sehr wenig O-Atome im Verhältniss 
zu C-Atomen im Moleeül enthält. Der Körper, der unter den Bitterstoffen 
als der mit den meisten O-Atomen beladene aufgeführt wird, ist Panaquilon, 
C,H,,0,,, und dieser schmeckt schon nicht mehr rein bitter, sondern schon 
bittersüss. Einen einzigen Bitterstoff giebt’s freilich noch, der sogar mehr 
O-Atome als C-Atome enthält, Pachymose,? C,,H,,0,,, es ist aber höchst- 
wahrscheinlich ein Glycosid. 


Wir haben also gesehen, dass eine einmalige Prävalenz der positiven 
Methylgruppe, gleichgültig, ob sie in einen süssen Alkohol oder in einen 
Zacker eingesetzt wird, gleichgültig, an welcher Stelle die Substitution 
statthat, den süssen Geschmack der Verbindung belässt, so dass die Rhamnite 
und Rhamnosen ebenso wie die Methyleglucoside süss schmecken. Setzt man 
jedoch statt des positiven Alcylradicals den negativen Phenolrest ein, so 
hat die Verbindung auch noch die Eigenschaft zu schmecken, schmeckt 
aber intensiv bitter. 


jC,H,,0,-CH,, Methylglycosid, schmeckt süss, aber 
LEE (Oel Et, Phenolelycosid, schmeckt bitter.’ 


ı Dubiniewicz, Journal der russischen chem. Ges. Bd. XXI. S. 467. 

? Champion, Jahresber. über die Fortschritte der Chemie. 1812. 8.789. — 
Winterstein, Ber. der deutschen chem. Ges. Bd. XXVIII. S. 776. 

3 In der Litteratur findet sich keine Angabe. Hr. Geheimrath E. Fischer hatte 
die Liebenswürdigkeit, den Geschmack zu prüfen und mir den Befund mitzutheilen, 
wofür ich Hrn. Geheimrath Fischer auch an dieser Stelle meinen Dank sage. 


462 WILHELM STERNBERG: 


N 1,2-Dihydropropan, schmeckt süss. 
C,H,—CH(OH)—CH;(OH), Phenyläthylenglycol,! schmeckt bitter. 


(CH,—CH(ÖH)—CH(OH)—CH,(OH), Butenylglycerin, schmeckt süss. 
lc,H,—CH(OH)—CH(OH)—CH,(OH), Phenylglycerin? s. Phenpropylalkohol 
s. Stycerin, schmeckt bitter. 


Ob freilich die aromatischen Zucker, wie die leicht lösliche Phenyl- 
tetrose,? schmecken, ist in der Litteratur nicht angegeben; jedenfalls 
scheinen sie nicht süss zu schmecken. 


Nun sind aber die natürlichen Glycoside zum grossen Theil Phenol- 
derivate, daher kommt es, dass die Mehrzahl der Glycoside bitter schmecken. 
So sehr also die aliphatische Reihe, die Verknüpfung der C-Atome zu offenen 
Ketten, dem süssen Geschmack günstig ist, so wenig ist es die ringförmige 
Gruppirung, die dichtere Verkettung der Atome; es ist wiederum umgekehrt 
wie bei den Farbstoffen, die sich fast ausschliesslich in der aromatischen 
Reihe vorfinden, während die aliphatische Reihe der selectiven Lichtabsorp- 
tion sich nicht günstig erweist; die Fettreihe enthält auch nicht einen 
einzigen Farbstoff. 


Es ist daher natürlich, dass die Substitution eines H durch C,H, im 
süss schmeckenden Methylelycosid ebenfalls die Veränderung des süssen in 
den bitteren Geschmack im Gefolge hat. (C,H,'CH,—C,H,,0,, Benzyl- 
glycose, schmeckt intensiv bitter und zugleich beissend. Deshalb meint 
Fischer* auch, dass mancher der natürlichen, noch nicht näher erforschten 
Bitterstoffe in diese Kategorie von Verbindungen hineingehört. Der bittere 
Geschmack. erhält sich auch noch, wenn man in das Benzylradical OH 
einsetzt, denn das Glycosid Salicin schmeckt intensiv bitter. 


| | 
C,H,:CH,(OH)—-C,H,,0, = er | 
0—C,H.,0, 

Th. Zincke, Ann. 1883. Bd. CCXVI S.293. An dieser Stelle findet sich 
keine Angabe über den Geschmack der Verbindung. Ich wandte mich dieserhalb an 
Hrn. Prof. Zineke in Marburg, und war Hr. Prof. Zincke so ausserordentlich liebens- 
würdig, mir eine Probe gütigst zur Untersuchung zu überlassen. Hr. Prof. Munk 
war so freundlich, den Geschmack dieser Verbindung mit mir zu prüfen, er ist intensiv 
bitter. — Ich nehme daher auch hier gern Veranlassung, Hrn. Prof. Zineke für sein 
überaus liebenswürdiges Entgegenkommen meinen Dank zu sagen. 

?® Grimaux, Journ. 1863. 8. 404. 

® Ber. der deutschen chem. Ges. Bd. XXV. S. 2559. 

* E. Fischer, Ueber die Glycoside der Alkohole. Zbenda. 1893. Bd. XXVI, 
S. 2400, 


CHEMISCHER BAU SÜSS U. BITTER SCHMECKENDER SUBSTANZEN U.8.w. 463 


Die Bitterkeit erhält sich noch, wenn ich 1 Atom Br oder 1 Atom Cl 
einsetze; denn Monochlorsalicin, C,,H,,ClO,, und Bromsaliein, €, ,H,-BrO,, 
schmecken noch bitter; häuft man jedoch die Säurigkeit, so entsteht z. B. 
das geschmacklose Tetraacetylchlorsaliein, C,;H,,CI(CH, -CO),O,. 

Ebenso tritt Geschmacklosigkeit ein durch Abstumpfen der Säurigkeit 
der OH-Gruppe durch eine Base. Daher ist Salicinnatrium geschmacklos, 
C,;H,,0;,-Na. 

Bitter also schmeckt wie das Benzylproduct der Glucose, auch das 
hydroxylirte Benzylproduct, Saliecin, während Geschmacklosigkeit wiederum 
eintritt bei weiterer Hydroxylirung. Denn Heliein ist: geschmacklos. 


| 


| 
—COE | 


Setzt man jedoch im Saliein die saure Gruppe Benzoyl ein, so geht 
der bittere Geschmack in den süssen über. 
Benzoylsalicin = Populin, C,,H,,(C,H,—CO)O,, schmeckt süsslich, 
lakritzenähnlich. 
Durch dieselbe- saure Benzoylgruppe wird ja auch der süsse Glycocoll- 
CH,(NH)- COOH 


geschmack in den sauren des Benzoylelycocolls, Hippursäure, - | ß 
C,H--CO 


verwandelt, wie in den bitteren durch die bitter schmeckende Cholalsäure, 
G,,H,.0; = C,H;;s(OH)(COOH)(CH,OH),, denn die Glycocholsäure schmeckt 
ja sehr bitter. 

Verwandelt die einmalige Einführung der Benzoylsäuregruppe die 
Bitterkeit des Salicins in den süssen Geschmack des Populins, so führt 
eine zweimalige Einführung derselben Säurigkeit endlich die Geschmack- 
losigkeit herbei. 

Dibenzoylsaliein, C,H, ,(C.H, -CO),0,, ist schon geschmacklos. 

Wie weit aus einander liegend also der süsse und der bittere Geschmack 
auch für gewöhnlich erscheint, der moleculare Aufbau der süss und bitter 
schmeckenden Verbindungen ist, wie wir schon oft gesehen haben, ein nicht 
prineipiell entgegengesetzter, ja sogar oftmals annähernd der nämliche. 
Somit orientiren uns die ganz grundverschiedenen Empfindungen von „Süss“ 
und „Bitter“, die selbst das neugeborene Kind ! bereits prompt und sogar 
der Intensität nach zu unterscheiden vermag und zwar viel früher als die 


! Kussmaul, Untersuchungen über das Seelenleben des neugeborenen Menschen. 
1859 und 1890. — Genzmer, Untersuchungen über die Sinneswahrnehmungen des 
neugeborenen Menschen. Inaugural-Dissertation. Halle 1892. — W. Preyer, Die 
Seele des Kindes. 1895. S. 120. — F. Ahlfeld, Zehrbuch der Geburtshülfe. 1398. 
S. 180, 


464 WILHELM STERNBERG: 


verschiedenen Modalitäten all der anderen Sinnesorgane, auf das Aller- 
genaueste über den molecularen Aufbau und zeugen somit von der hohen 
Feinheit gerade dieses Sinnesorgans. Der süsse Geschmack der Glucose 
geht in den bitteren über, wenn man in’s Molecül der Glucose die ver- 
schiedensten Radicale einfügt. Die weitaus grösste Zahl der Glycoside, 
selbst diejenigen, die Berthelot! ‚„Saeccharide“ nennt, schmeckt bitter. 
Und bei der Betrachtung der bitter schmeckenden Glycoside fällt wieder 
das schon so oft beobachtete Gesetz auf, dass die bitter schmeckenden 
Molecüle im Verhältniss zu den Ö-Atomen nur wenig O-Atome enthalten. 
Von ihnen enthält viel O-Atome Dulcamarin, 0,,H,,O,,, es schmeckt aber 
auch schon nicht mehr rein bitter, sondern, wie sein Name sagt, bittersüss; 
d.h. bitter und nachhaltige süss hinterher. Ebenso schmeckt Rhinantin 
schwach bitterlich süss. 

Somit hängt der süsse und bittere Geschmack von dem Verhältniss 
und Missverhältniss der positiven zu den negativen Gruppen ab. Durch 
einen kleinen Eingriff in’s Molecül verwandelt sich der süsse angenehme 
Geschmack in den unangenehmen bitteren. Das Molecül bewahrt sich eine 
Weile noch die Eigenschaft zu schmecken, es wird aber bitter schmeckend. 
So geht auch der süsse Geschmack der mehrwerthigen Alkohole und Glu- 
cosen in den bitteren über, wenn man sie mit Ketonen? verbindet. 

Acetonrhamnosid, Fructosediaceton, Glucosediaceton schmecken bitter. 

Triaceton-Mannit, C,,H,,O,, schmeckt sehr bitter, ebenso Acetonglycerin, 
0.450700 20CH) 

Gleichfalls weicht der süsse Geschmack, wenn man die Säurigkeit ver- 
grössert, und zwar dem bitteren oder dem sauren, um schliesslich gänzlich 
zu schwinden. | 

Glucose-Triacetat, C,H,(CH,—CO),O,, schmeckt? bitter. 

Glucose-Dibutyrat,' C,H,(CH,—CH,— CH, — C0),0,,schmecktsehrbitter. 

Acetochlorhydrose, C,H, -(CH,-CO),O,-Cl, schmeckt bitter. 

Octacetylsaccharose, 0, ,H,,(CH,-CO),, schmeckt bitter. 

Ebenso schliesslich verwandelt sich der süsse Geschmack in den bitteren, 
wenn man die Säurigkeit auch nur einer einzigen OH-Gruppe durch eine 
Base abstumpft. Denn die Verbindungen der Zucker mit den Basen, mit 
Aetzalk, Baryt, Magnesia, Bleioxyd, Strontium, die sog. Saccharate, 
wie solche zur Reinigung des Zuckers bei der Fabrikation benutzt werden, 


! Berthelot, Compt. rend. T. XLI. p. 452. 

® E. Fischer, Verbindungen der mehrwerthigen Alkohole mit den Ketonen. 
Ber. der deutschen chem. Ges. 1895. S. 1167. 

3 Schützenberger, Naudin, Bulletin de la Societe chimique de Paris. T. XI. 
p- 204. 

* Berthelot. Annales de chimie et de physique. |3.] T.LX. p. 96. 


CHEMISCHER BAU SÜSS U. BITTER SCHMECKENDER SUBSTANZEN U.8S.w. 465 


schmeeken sämmtlich bitter. Chemisch reiner Zuckerkalk schmeckt bitter, 
und wenn man dennoch 

C, ,H,,0,,-CaO 

0522022020 

CH550,, 3 Ca0 


den Zuckerkalk, in der Kinderpraxis zumal, so gern verordnet, so liegt das 
daran, dass das offieinelle Präparat Calcaria saccharata zwar süss schmeckt, 
aber seine Süssigkeit seinem hohen überschüssigen Zuckergehalte zu ver- 
danken hat; und ebenso ist es mit: dem Eisensaccharat. 


Dass die Regelmässigkeit und die Symmetrie der Atomgruppen, also 
die Harmonie in der Architektur des moleculären Gebäudes als Ursache 
für die Süssigkeit anzusehen ist, geht auch daraus hervor, dass in den 
_ rinsförmig geschlossenen Kohlenwasserstoffen nur die symmetrische Stellung 
es stets ist, der der süsse Geschmack zu eigen ist. So schmeckt das 
symmetrische Trioxyhexamethylen s. Phloroglueit s. 1,3,5-Cyclohexantriol, 
süss, C,H,(OH), 

- (OM)-CH 72, CH 0 N, \ 
042 CH(OH) 7 0: 


Von den zwei- und dreiatomigen Phenolen sind es wiederum die mit 
OH-Gruppen in der symmetrischen m-Stellung, die süss schmecken, also 
Resorein, Phlorogluein, Orein; auch in ihren chemischen! Eigenschaften ver- 
halten diese sich anders. 


Resorein = m -Dihydroxylbenzol = 1,3 schmeckt intensiv süss. 

Hydrochinon = p- 5 — 1,4 schmeckt schwach süss, hingegen 

Brenzeatechin—= 0- Mi — 1,2 ist bitter. 

Phlorogluein = m-Trihydroxybenzol = 1,3,5 schmeckt, wie der Name an- 
deutet, süsslich, hingegen 

Byrogalol "ZN ” —=1,2,3 bitter. 


Von den sechs möglichen Dioxytoluolen ist wiederum das einzig süss- 
schmeekende das symmetrische Methylphendiol (3,5), das Orcin, Orein- 
zucker 1,8,5. C,H,(CH,)(OH), = CH,-(,H,(OR),. 

ß-Orein = 1,4 Dimethylphendiol (3,5), (CH,), - C,H,(OH),, schmeckt 
schon nicht mehr. 

Im Benzolring müssen auch mindestens zwei saure Gruppen eingefügt 
zu sein zum Zustandekommen der Süssigkeit. Süss schmeckt sogar der 
Ring auch, wenn einmal die saure Gruppe OH und ein zweites Mal die 


ı Herzig, Zeisel, Monatshefte für Chemie. Bd.X. 8.144 u. Bd. XI. 5. 297, 
Archiv f. A. u. Ph. 1898. Physiol. Abthlg. 30 


466 WILHELM STERNBERG: 


saure Gruppe COOH eingesetzt wird, und zwar muss auch hier die m-Stellung 
wieder gewahrt bleiben. 

m-Oxybenzoösäure schmeckt süss, 

p- „ Y gar nicht. 


Stumpft man aber die saure Gruppe durch NH, ab, so dass der stark 
negative Charakter des Säureradicals durch den stark positiven der Ammo- 
niakwasserstoff-Atome aufgehoben wird, so geht der süsse Geschmack in den 
bitteren des m-Oxybenzoösäure-Amid, OH -C,H,-CO-NH,, über, m-Oxyben- 
zoenitril, OH-C,H,-C==N, schmeckt wieder intensiv süss und zugleich stark 
beissend. 

Erhöht man jedoch die Säurigkeit durch Einführung der negativen 
NO,-Gruppe, so entsteht der intensiv süsse Geschmack der 2-Nitro-m-oxy- 
benzoösäure, OH-C,H,(NO,)COOH. 

OH 


ee alle anderen Nitro-m-oxybenzoösäuren sind geschmacklos. 


Eine grössere Anhäufung der negativen Gruppe führt jedoch zur Ge- 
schmacklosigkeit, um bei weiterer Anhäufung zum bitteren Geschmack zu 
führen. 

Dinitro-m-oxybenzoösäure ist geschmacklos, 

Trinitro-m-oxybenzoösäure, OH-C,H(NO,),-COOH, schmeckt intensiv 

bitter. 
Doch auch die o-Stellung ist es wiederum, in der der mit den. nega- 
tiven Gruppen OH und COOH beladene Benzolring einen süsslichen Ge- 
schmack hat. o-Oxybenzoösäure = Salicylsäure verbindet mit dem sauren 
Geschmack einen süsslichen. Dieser süssliche Geschmack tritt besonders 
hervor, wenn man die Säure durch eine Base abstumpft, da alsdann nicht 
allein der den süssen Geschmack etwas verdeckende saure wegfällt, sondern 
auch die Löslichkeit eine viel höhere wird. Daher kommt es, dass salieyl- 
saures Natrium noch beträchtlich süsser schmeckt. Der süssliche Geschmack 
bleibt selbst in 


CH, N 


Salipyrin, N AntipyrinsalieylatC,H,(OH)COO—C ‚H,,N50, 
| Ya 


oH H | 
H,CN=( 


während Antipyrin bitter schmeckt. 


CHEMISCHER BAU SÜSS U. BITTER SCHMECKENDER SUBSTANZEN U.S.w. 467 


CH, 
N OH 
Salithymol, C,H,(CH,)(C,H,)O-COC,H,(OH), er 00 — 
9 


OC,H, 


7 5] 


Salocoll = Phenocollsalieylat 


Da 
| OH 
und Dijodsalicylsäure, C,H,J,(OH)COOH. 
Während jedoch das Amid der m-Oxybenzo&säure bitter schmeckt, 
schmeckt das der o-Oxybenzo&säure gar nicht mehr. 
OH 


bitter, noH geschmacklos. 
CO-NH, CO-NH, 


Von den sechs Dioxybenzoesäuren schmeckt nicht eine einzige. 


Die zweite salzbildende Gruppe NH, giebt den Kohlenwasserstoffen 
ebenfalls den süssen Geschmack; und zwar dann, wenn wiederum die ent- 
gegengesetzte Gruppe mit der positiven NH,-Gruppe beschäftigt wird. Die 
kräftige Basicität der NH,-Gruppe muss durch die kräftige Säurigkeit der 
COOH-Gruppe benommen werden, so zwar, dass die beiden entgegen- 
gesetzten Gruppen nicht nur möglichst nahe gebracht, sondern möglichst 
innig verknüpft werden. Daher kommt es, dass alle Aminosäuren, selbst 
die »-Aminosäuren geschmacklos sind, während die &-Aminosäuren süss 
schmecken. Freilich soll auch £-Alanin süss schmecken. NH,-CH,-CH,. 
COOH. Daher kommt es ferner, dass o-Sulfaminbenzoösäureanhydrid, das 
Saccharin, süss schmeckt, während dieselbe p-Verbindung gar nicht süss 
schmeckt. 

Von den Aminosäuren mit offener C-Kette schmecken von der zweiten 
Reihe an bis zur sechsten Reihe die &-Aminosäuren süss, das zweite Glied 
verdankt dieser Eigenschaft seinen Namen Glycocoll s. Leimsüss, Leimzucker. 
Auch «-Aminoisobuttersäure, (CH,),-C(NH,)-COOH, ebenfalls Aminooxy- 
buttersäure, CH,-CH(NH,)CH(OH).-COOH, schmecken süss, während Amino- 
oxyisobuttersäure, CH, .C(OH)-(CH,.NH,)-COOH, nicht mehr süss schmeckt. 

In der IV. Reihe giebt es noch einen süss schmeckenden Körper, 


der hierher gehört, es ist das d-Asparagin © ,‚ während! 1- Asparagin n 


! Piutti, Gazetta chimica italiana. Vol. XVII. p. 126, 182 u. 187. Vol. XVIM. 
p. 463 u. 477. — Ein neues Asparagin. Ber. der deutschen chem. Ges. 1886. Bd. XIX. 
8.1691. — Compt. rend. 1886. T. CIIIL p. 134. — Brugnatelli, Gazeita chimica 


italiana. Vol. XVIIIL. p. 465. 
30 * 


468 WILHELM STERNBERG: 


geschmacklos ist, ein in der ganzen Stereochemie einzig und allein da- 
stehender Fall 


Von der Dicarbonsäuregruppe kann natürlich die &-Aminosäure der 

IV. Reihe nicht mehr süss schmecken; thatsächlich schmeckt auch die Aspa- 

raginsäure nicht mehr süss, sondern sauer, ebenso.wie bei Umwandlung 
CO0OH—CH,— CH(NH,)—COOH ! 


des Traubenzuckers in Glycuronsäure der süsse Geschmack in den sauren 
übergeht. Soll aber aus der Asparaginsäure ein Süssstoff entstehen, so 
muss die zweite Säuriekeit der zweiten COOH-Gruppe abgestumpft werden, 
durch den zweiten Eintritt der positiven NH,-Gruppe, daher schmeckt 
Asparagin süss. 
CH(NH, CH, 


| | 
CO NH, COOH 


Von den beiden Stereoisomeren, der 


Fumarsäure und der Maleinsäure 
CO0OH-C-H H—C0—C00H 
| | 

H-C-C00H H--C—-C00H 


schmeckt stärker sauer die Maleinsäure, sie ist auch erwiesenermaassen 
unbedingt die stärkere Säure; sie ist stärker sauer und schmeckt demge- 
mäss saurer als ihre Stereoisomere, weil in ihrem stereogeometrischen 
Molecül die eine COOH-Gruppe direet unter der anderen steht. Dadurch 
wird ihr Säurecharakter und ihr saurer Geschmack stärker, dass die ein- 
zelnen sauren Theile mehr unter dem Einflusse von OÖ im Molecüle stehen. 
Nach Analogieen daher zu schliessen, möchte ich von den zwei möglichen 
stereochemischen Formeln des süss schmeckenden d-Asparagins auch die 
erstere Formel der dextrogyren Modification zuerkennen, bei der COOH, NH,, 
NH, auf der einen Seite sich befinden, so dass für das geschmacklose 
l-Asparagin die andere Form übrig bleibt. 


CH, - COOH CH, - COOH 
Te | 
H-C NAH, NH,-C-H 
| | | 
CO-NH, CO-NH, 
A i IS 
( M ) 
süsses d-Asparagin geschmackl. 1-Asparagin 


viel. Note S. 467. 


CHEMISCHER BAU SÜSS U. BITTER SCHMECKENDER SUBSTANZEN U.8S.w. 469 


Die Verschiedenheit des Geschmackes zwingt uns so, eine räumliche Ent- 
fernung der sapiphoren Gruppen anzunehmen. Dem widersprechen aber 
alle Erfahrungen in der Chemie, da solche stereogeometrische Isomerieen 
nur bei doppelten C-Bindungen angenommen werden. Andererseits könnte 
noch eine chemische Structurisomerie! das Phänomen erklären: 


COOH COOH 
ÖHINH, CH, 
CH, CHNH, 
CONH, CONH, 


wie es Kolbe, Grimaux, Guarlschi angenommen haben. Nach Piutti’s 
Untersuchungen ist dies aber auch nicht wahrscheinlich. 

Diamidobernsteinsäure? ist zwar löslich, doch geschmacklos, wie auch 
immer die Stellung der einzelnen sapiphoren Gruppen sein möge, gleich- 
gültig, ob sie configurationsinactiv ist, also der Mesoweinsäure entspricht, 
oder das Racemat darstellt: 


COOH 
HCNH, | H_CNH, | Nu 
u-lNi, | N ou | H-C-NH, 
| COOH | | 
% > 


Selbst wenn man den beiden Carboxylgruppen durch Amidirung oder 
Esterificirung die Säurigkeit benimmt, tritt der Geschmack nicht hervor, 
freilich werden sie auch schwer löslich. 

Diamidobernsteinsäurediäthylester® schmeckt nicht, 

CO0C,H, 
| 
CHNH, 
E 
CHNH, 

| 
CO00C,H, 

! Piutti, Ein neues Asparagin. Ber. der deutschen chem. Ges. 1886. Bd. XIX. 
8. 1691. 

? Claus und Helpenstein, Zbenda. Bd. XIV. 8. 625. — Julius Tafel, 
Fbenda. Bd. XX. 8.244; Bd. XXIV. S. 1817. — J.M. Farchy und Julius Tafel, 
Ueber isomere Diamidobernsteinräure (Butandiaminodisäuren). Zbend«. Bd. XXV1.8.1980. 


3 Ad. Claus und J. Helpenstein, Einwirkung von Ammoniak auf Dibrom- 
bernsteinsäureester. Zbenda. Bl. XIV. 8.627 u. 1821. 


470 WILHELM STERNBERG: 


ebenso Diamidobernsteinsäurediamid nicht. 
CONH, 


| 

CHNH, 
| 

CHNH, 


| 
CONH, 
Erst Imidobernsteinsäureester ! schmeckt, und zwar bitter. 
COOH 


| 
CH 


a 


| 
C00-C,H, 


Den bittern Geschmack dieser Verbindung in den süssen zu verwandeln, 
muss der Carboxylgruppe die Negativität durch die positive NH,-Gruppe 
benommen werden. Iminosuceinaminsäureäthylester schmeckt süss. 

CO.NH, 


| 
CH 
Be 
CH 


| 
000.C,H, 


Auch in dieser Gruppe bringst die einmalige Methylisirung den süssen 
Geschmack nicht zum Verschwinden, während Dimethylisirung, Aethyli- 
sirung, Di-, Triaethylisirung die Geschmacklosigkeit herbeiführt. Süss hin- 
gegen schmecken Methylaminobuttersäure, Methylaminopropionsäure und 
Narcosin. Entzieht man jedoch diesem süssen Molecül nur die Elemente 
des H,O, so weicht durch diesen kleinen Eingriff die Geschmacksmodalität des 
Nüssen der des Bitteren. 

CON(CH,)CH, 
CH0N50, — | : 
CH, - N(CH,)CO 

Sarcosinanhydrid schmeckt bitter. 

Ebenso verwandelt derselbe kleine Eingriff die Geschmacklosigkeit der 
Trimethylaminobuttersäure in das Bittere. 


! Lehrfeld, Ber. der deutschen chem. Ges. Bd. XIV. S. 1823. 

2 C. Hell und R. Poliaroff, Ueber Amido- und Anilidoderivate der Bernstein- 
säure. Ebenda. 1892. Bd. XXV. 8.646. — Th. Lehrfeld, Ueber die Einwirkung 
von Ammoniak auf Dibrombernsteinsäure und auf Dibrombernsteinsäureäthylester. 
Ebenda. Bd. XIV. S. 1821. 


ÜHEMISCHER BAU SÜSS U. BITTER SCHMECKENDER SUBSTANZEN U.S.w. 471 


Aber auch aus der Aminosäure der ersten Reihe kann ein Süssstoff, 
sogar von hervorragender Intensität werden. Verbindet man nämlich ihr 
Amid, den Harnstoff, mit Phenetol, C,H,-O-C,H,, so erhält man p-Phene- 
tolcarbamid = Dulein, 


0-C;H, 


NH.C,H,-0-C,H, 


N od "NH, (0 ) 
e NH.H 

wie es von der hiesigen Firma J. D. Riedel hergestellt wird. Nach 

Zuntz und Hager! soll es sogar 250 Mal so süss wie Rohrzucker und 

das Süss des Duleins angenehmer als das Saccharinsüss sein, es schmeckt 

nach Ewald „weniger künstlich süss“. 


Freilich von der sechsten Reihe an verschwindet bereits der Geschmack. 
Leuein, «&-Aminocapronsäure ist bekanntlich geschmacklos.” Allein die 
Methylisirung weckt auch hier noch den sapigenen Charakter des Molecüls, 
indem sie den Gesehmack hervorbringt, hier jedoch bereits den bitteren. 


CH, — CH, CH, — CH, —CH(NH-CH,)— COOH. . 


Die unbedingte Nähe der beiden entgegengesetzten Gruppen, der posi- 
tiven Basieität der NH,-Gruppe, und der negativen Säurigkeit der COOH- 
Gruppe ist zum Zustandekommen der Süssigkeit nothwendig, daher der 
süsse Geschmack ausschliesslich in der «-Stellung bei offener C-Kette, da- 
her der süsse Geschmack ausschliesslich in der o-Stellung bei geschlossener 

NH, 


y 


C-Kette. Daher kommt es, dass UOOH, o, 2-Aminobenzoösäure, s-An- 


thranilsäure süss schmeckt, während p:2Aminobenzoösäure geschmacklos ist. 
Freilich soll m, 2-Aminobenzo@säure s-Benzaminsäure noch süss schmecken. 


! Hager, Pharmaceut. Post. 1893. Nr. 19. — Ewald, Verhandlungen der 
physiol. Ges. zu Berlin. 1893. Nr. 11. — Stahl, Der. der pharm. Ges. 1893. — 
Paschkis, Therapeut. Blätter. Wien 1893. Nr. 3. 

? Zwar soll nach Pintti’s Angaben (Ber. der deutschen chem. Ges. Bd. XIX. 
S. 1693) aus &-Bromcapronsäure ein süssschmeckendes Leucin erhalten sein, Glyco- 
leuein (Thudichum, Grundg. d. anat. u. klin. Chemie. Berlin 1886. 8. 73 u. 230— 240). 
Doch ist dies später nie erwähnt worden. — E. Schulze und A. Likiernik, Ueber 
die Constitution des Leueins. Hoppe Seyler’s Zeitschrift für physiol. Chemie. 
Bd. XVII. S. 528. — Hüfner, Zeitschrift für Chemie von Beilstein, Fittig 
und Hübner. 1868. S. 616. 


4712 WILHELM STERNBERG: 


Deshalb schmeckt Be ,‚ o-Amidosalieylsäure,! noch schwach süsslich, 
NH, 

während p- und m-Amidosalieylsäure beide geschmacklos sind.” Daher 

schmeckt o-Benzoösäure-Sulfinid sehr süss, während p-Benzoösäure-Sulfinid 
gar nicht süss schmeckt. 

o-Amidobenzoösäure muss natürlich die Süssigkeit verlieren, wenn man 

noch eine zweite saure Gruppe einführt. Daher schmeckt o-Sulfamidbenzoösäure 

SO,-NH, 


mau wie ihre Salze gar nicht, und erlangt erst im Saccharin 
4 


nach Entfernung einer überschüssigen OH-Gruppe durch Anhydrisirung 
jenen so hochgeradigen süssen Geschmack von der unübertroffenen höch- 
sten Intensität wieder, so dass es. in concentrirtem Zustande auf die Zunge 
gebracht, eine die Süsse weit übertönende Geschmacksempfindung und 
Nervenreizung' hervorruft, wie denn eben sehr helles Licht, sehr lauter 
Schall gar nicht mehr als Farben- oder Tonempfindungen wahrgenommen 
werden können. 
SO, 


2 >NH 
ur,S0: co 
IS Er T; 
GHX on SEE = ( 


Sehr süss bleibt das Molecül, wenn man noch in p-Stellung eine po- 
sitive NH,-Gruppe einfügt. 


p-Aminobenzoösulfinid = 4-Amino-2-Sulfamidbenzoösäure - Anhydrid 
schmeckt sehr süss. 


IR. Neisser, Ueber die therapeutische Wirkung der Orthoamidosalieylsäure. 
Bern 1892. 


OH OH OH OH 
i COOH NO, - 
COOH COOH CONH, 
süss, süss, intensiv süss, bitter, 


OH NH, NH, 
CONH, COOH | 
COOH 


geschmacklos, süss, süss. 


ÜHEMISCHER BAU SÜSS U. BITTER SCHMECKENDER SUBSTANZEN U.8.W. 475 


Setzt man jedoch an derselben Stelle, in p-Stellung also, die ent- 
gegengesetzte negative NO,-Gruppe ein, so entsteht der sehr bittere Ge- 
schmack des p-Nitrobenzoösulfinid = 4-Nitro-2-Sulfamidbenzoösäure-Anhydrid 


on 


co 
C,H HNO, el) 


SO. 

NO, 

Zen eh 
Während! Parabrombenzoylsulfinid, C,H,Br« \sO, NH, vorn an der Zunge 
süss, hinten bitter und anfangs sehr süss, dann sehr bitter schmeckt, ver- 
liert das Saccharin seine intensive Süssiekeit, wenn man weiter nichts 
macht, wie den Imidwasserstoff äthylisirt. Geschmacklosigkeit tritt als- 
dann, wie wir dies schon so häufig gesehen haben, durch Anhäufung von 
Aleylgruppen ein. 


CO 
GE, nn -C,H, 


Hingegen kann der Wasserstoff durch Basen ersetzt werden, denn das 
Natriumsalz schmeckt gerade noch so sehr süss, es soll 440 Mal so süss 
schmecken wie Rohrzucker, 


BEN 
6 INT) 2% ‚Na 

und wird als Crystallose (Crystallzuckerin)? von der chemischen Fabrik 

von Heyden (in Radebeul bei Dresden) im Grossen dargestellt. 

Das schwach nach Bittermandelöl riechende, sauer reagirende Saccharın 
wird noch in einer Verdünnung von 1:70000 süss empfunden. Wenn 
es mit den bitter schmeckenden Alkaloiden verbunden wird, so schmecken 
diese Verbindungen weit weniger bitter. Das Chininum saccharinicum 
schmeckt etwas weniger bitter, aber immer noch sehr bitter. Die Saccharin- 
krystalle geben in Folge Verdunstung sehr leicht ihr Krystallwasser ab 
und verstärken, je nach dem Grade ihres Zerfalls, ihre Süsskraft noch 
um das 3- bis 1l5fache. 

Ein Süssstoff schliesslich wird jetzt in den Handel gebracht, der aus 
zwei Ringen zusammengesetzt ist, es ist das von der Actiengesellschaft für 
Anilinfabrikation seit 1893 dargestellte Glucin, wieder ist es eine Amido- 
säure, die Monosulfosäure eines Amidotriazins. 


ı W.H. Howell and J. H. Kastle, Note on the specific energy of the nerves 
of taste. Studies biolog. labor. John Hopkins Univ. 1887. Vol. IV. p.13. 

? Seifert, Pharmaceut. Centralhalle. 1895. "Nr. 23. — Hefelmann, Abenda. 
1895. Nr. 16. 


474 WILHELM STERNBERG: 


N 
er 


Ki 


GA NN, 
HN 

Die Amidotriazinsulfosäure und deren Salze schmecken intensiv süss, 
und soll die Süssigkeit nach Kossel und Ewald angenehmer sein als die 
widerliche Süsse des Saccharins. Interessant ist es jedenfalls, dass dieser 
Süssstoff beim Suchen nach färbenden Substanzen entdeckt wurde, beson- 
ders deshalb interessant, weil ja die beiden salzbildenden Gruppen OH und 
NH, es sind, die zugleich chromophor und sapiphor sind. 

Endlich muss noch eine süss schmeckende N-haltige Säure hierher 
gerechnet werden, die Glyeyrhizinsäure, C,,H,,NO,,. Sie schmeckt rein 
süss und reagirt deutlich sauer. Ihr saures NH,- und K-Salz schmecken 
intensiv süss. 

(NH,);C,;H,.NO,,, das neutrale Salz, schmeekt widerlich süss. 

K-C,,H,,NO,, schmeckt viel süsser als Rohrzucker, ebenso das saure 
glycyrhizinsaure Ammoniak. 

Das Bemerkenswerthe in der Süssigkeit dieser Gruppe liegt in zwei 
Punkten. Einmal ist die Süssigkeit eine sehr hohe, die grösste all der 
süss schmeckenden Körper; bedeutend grösser als die der natürlichen 
Süssstoffe, der Zucker, ist ihr Süssigkeitsgrad.. Sodann aber ist die Süsse 
nicht die reine Süsse der Kohlehydratreihee Daher kommt es, dass der 
Geschmack des Saccharins nur selten auf die Dauer angenehm empfunden 
bleibt; die Diabetiker und die Fettleibigen, denen man es am meisten reicht, 
klagen, dass ein lange anhaltender, süsser, belästigender Geschmack im 
Munde zurückbleibt. | 

Eine unverkennbare Verwandtschaft mit den süssschmeckenden ali- 
phatischen Amidoverbindungen weisen wenigstens einige! der jetzt folgenden 
bitter schmeckenden Gruppe auf. Den N-haltigen Süssstoffen stehen die 
N-haltigen Bitterstoffe, die Alkaloide gegenüber. Wie die Pflanze die süss 
schmeckenden Zucker, Abkömmlinge der Alkohole aufbaut, welche mehrfach 
an die anorganischen Basen erinnern, so baut sie auch die bitter schmecken- 
den organischen Basen auf. . 

Dasjenige Alkaloid, das am intensivsten bitter schmeckt, ist das 
Chinin mit seinen Salzen. Auch nicht die Verkuppelung mit Saccharin 
kann den bitteren Geschmack völlig nehmen, da das Chininum saccha- 
rinicum nicht allein sehr bitter, sondern dabei auch noch widerlich süss 


ı 7.B. die Alkaloide Piperidin und Oxypiperidin. — C. Schotten, Die Um- 
wandlung des Piperidins in ö’-Amidovaleriansäure und in Oxypiperidin. Ber. der 
deutschen chem. Ges. 1888. Bd. XXI. S. 2235. 


CHEMISCHER BAU SÜSS U. BITTER SCHMECKENDER SUBSTANZEN U.S.w. 475 


schmeckt. Die vereinigten Chininfabriken von Zimmer & Co. bringen 
Chinin-Chocoladetabletten in den Handel, welche nicht im Mindesten bitter 
schmecken. Interessant ist es, dass das Chininmolecül, 


(,,H,,N,0, = (,,H,3N,0-OH, 


seinen bitteren Geschmack gänzlich verliert, wenn man es mit Aethyl- 
kohlensäure verkuppelt, so dass der Aethylkohlensäureester des Chinins, 
das sogenannte Euchinin,! wie es die Frankfurter vereinigten Chinin- 
fabriken herstellen, ganz geschmacklos ist. 


0-C,H, 
co 
oz 2 NO 


Die Bitterkeit ist im Euchinin auf eine so minimale Spur reducirt, 
dass es höchstens als ein ganz mildes Amarum gelten könnte. Sie ist so 
gering, dass Kinder, denen man das Präparat gern reicht, es nicht mit 
Wasser oder in Oblatenform zu nehmen nöthig haben, sondern ruhig trocken 
in Substanz auf die Zunge nehmen. Dabei hat man aber wiederum den Ge- 
sammtcharakter des Molecüls durch Hineintragen des Aethylkohlensäure- 
Moleeüls nicht wesentlich geändert, wie dies ja die Analogie seiner Heil- 
wirkung beweist. 

Das salzsaure Salz des Euchinins schmeckt jedoch bitter, das gerbsaure 
ist geschmacklos, aber auch schwer löslich. 

Das Salicylat des Chinins schmeckt sehr schwach bitter, das Chikinum 
tannicum sehr schwach und lange nachher bitter, freilich ist es in Wasser 
nur wenig löslich. Auch dem nach Ph. G. Ed. I. dargestellten Präparat 
von Chinin. tannic. kann durch Auswaschen mit heissem Wasser der bittere 
Geschmack genommen werden. Im Handel kommen einige geschmacklose 
Präparate vor, Chininum tannicum neutrale Rozsnyay.? 

Fast durchgängig schmecken alle Alkaloide bitter, mit dieser inten- 
siven Reizung des Sinnesorgans der Zunge verbindet sie alle die Giftigkeit, 
wie denn überhaupt mit nur wenigen Ausnahmen alle heftigen Gifte durch 
einen intensiven Geschmack, und zwar einen bitteren, ausgezeichnet sind. 
Wie viele Substanzen, welche für unseren Körper werthvolles Brennmaterial 
darstellen und ihn erhalten, zu gleicher Zeit, wie wir gesehen haben, durch das 
Vermögen ausgezeichnet sind, einen specifischen Sinnesreiz auf das Sinnes- 


ı Noorden, Centralblatt f. innere Mediein. 1896. Bd. XVII. Nr. 48. S. 1225. — 
Overlach, Deutsche med. Zeitung. 1897. Nr. 15. — Goliner, Allgem. med. Central- 
Zeitung. 1897. Nr.19. — Fauser, Klin. therapeut. Wochenschr. 1898. Nr. 26. — 
Panegrotti, Gazette degli ospedali e delle cliniche. 1897. Nr. 118, — Conti, 
Ebenda. 1897. Nr. 136. — St. Klein, Medyeina. 1897. Nr. 48. — Muggia, 
Gazette Medica di Torino. 1897. Nr. 50. — Fridrich, Orvosi Hetilap. 1898. Nr. 1. 

? Liebreich-Langgaard, Comp. d. Arzneiverordnung. 2. Aufl. 1887. 8.170. 


476 WILHELM STERNBERG: 


organ der Zunge auszuüben, so auch die Substanzen, die ihn vernichten, die 
Gifte; erstere schmecken alsdann angenehm, süss, letztere unangenehm bitter. 


Die NO,-Gruppe finden wir in süssen und in bitter schmeckenden 
Verbindungen. 
C,H,NO,, Aethylnitrit, schmeckt süss, daher der Name Spiritus nitri 
duleis. 
Glycerintrinitrat s. Salpetersäureester schmeckt süss, zuekerig. 
CH, -O0-NO, 
| 
CH-O-NO, 
| 
CH,-0.NO, 


Nitrobenzol, C,H,-NO,, das nach bitteren Mandeln riechende Mirbanöl, 
schmeckt süss, selbst in einer ausserordentlich verdünnten Lösung, und 
ebenso o-Nitrophenol. 

NO, 


OH 
NO, NO, 


Sehr bitter schmeckt 1,3,5-b-Trinitrophenol s. Pikrinsäure, daher Wel- 
ters’sches Bitter, auch Indigbitter genannt, der älteste Farbstoff zugleich. 

Auch Chlordinitrophenol, 0,H,CI(NO,),OH, schmeckt sehr bitter, ebenso 
sehr bitter 6-Cl-2,4-Dinitrophenol und 4-C1-2,6-Dinitrophenol bitter. Sämmt- 
liche Dichlornitrophenole schmecken jedoch nicht mehr. 

Aber auch das Mineralreich betheiligt sich an der Fähigkeit, ge-, 
wisse Verbindungen mit der Gabe auszustatten, auf das Geschmacksorgan 
der Zunge angenehm und unangenehm zu wirken. 

Was den Geschmack der süssen, anorganischen Verbindungen betrifit, 
so ist der Geschmack nie ein rein süsser, sondern stets der sogenannte 
„süssliche“, der stets mit dem herben, zusammenziehenden- vereinigt ist, 
während der bittere oder „bitterliche“ stets mit dem salzigen verbunden 
ist. Möglich, dass das, was wir „süsslich“ nennen, weiter nichts ist wie 
eine Addition der süssen Geschmacksempfindung mit dem zusammenziehen- 
den Tasteindruck, da sämmtliche süssschmeckenden anorganischen Verbin- 
dungen zugleich Adstringentien sind, Adstringentia mineralica s. dulcia. 
Nimmt doch Zuntz! an, dass die Beurtheilung eines Sinneseindrucks durch 
gleichzeitig stattfindende Erregung anderer Nerven beeinflusst wird. 


! Zuntz, Dies Archiv. 1892. Physiol. Abthlg. S. 556. — Wie erklärt sich 
die Ansicht des Publicums, dass Raffinaden verschiedener Herkunft verschieden süssen ? 
Generalvers. des Vereins für d. Rübenzucker-Industrie des deutschen lteiches am 
25. Mai 1892. — Verhandlungen der physiol. Gesellschaft. 22. Juli 1892. 


ÜHEMISCHER BAU SÜSS U. BITTER SCHMECKENDER SUBSTANZEN U.S.W. 477 


Was die Verbindungen anlangt, so sind es fast ausnahmslos Salze, die 
süss schmecken. Es giebt kaum eine anorganische Säure, keine anorga- 
nische Base, die süss oder bitter schmeckt. 

Vor allem sind es zwei Elemente, deren lösliche Salze süss schmecken: 
die beiden im periodischen System zwar am weitesten aus einander ste- 
henden, aber chemisch einander sehr nahe stehenden: 

1) das leichteste der zweiten Gruppe, das typische, das Beryllium, daher 
auch Glucinium ! genannt, wie das Oxyd Süsserde heisst, und 
2) das Blei, dessen Acetat Bleizucker heisst. 

Die löslichen Berylisalze haben alle einen süsslichen, zusammen- 
ziehenden Geschmack. 

Die löslichen Bleisalze haben ebenfalls alle einen recht süsslichen und 
adstringirenden Geschmack. Bleisulfat ist fast ganz unlöslich, aber Blei- 
nitrat, P,(NO,),, schmeckt ausserordentlich süss, auch Bleinitrit schmeckt 
süsslich. Bleiacetat, auch das basisch-essigsaure Blei, der offieinelle Liquor 
plumbi subacetiei schmeckt sogar noch sehr süss, selbst das stark verdünnte 
Aqua plumbi hat ebenfalls noch einen recht intensiv süssen Geschmack. 

Die übrigen Elemente der zweiten Gruppe haben alle ebenfalls die 
Fähigkeit, den Säuren in ihren salzartigen Verbindungen den Geschmack 
zu verleihen, aber den bitteren Geschmack. Das erste Element,- das Magne- 
sium, dessen Oxyd deshalb Bittererde heisst, verleiht allen löslichen Ver- 
bindungen mit den Säuren einen stark bitteren Geschmack, so dass das 
Sulfat Bittersalz, und die Wässer wegen des Gehaltes daran Bitterwässer 
heissen. Mit Magnesium theilen diese Fähigkeit die anderen, dem Maene- 
sium einigermaassen nahe stehenden Elemente, die man zur „Magnesium- 
gruppe“ rechnet: Mg, Ca, Zn, Sr, Cd, Ba, wie dies Haycraft? für ihre lös- 
lichen Salze der Schwefelsäure und Salzsäure nachgewiesen hat. 

Auch in der ersten einwerthigen Gruppe giebt es ein Element, das den 
Säuren den Geschmack verleiht, theils den bitterlichen, theils den süss- 
lichen; wiederum ist es das erste Element, also dasjenige, das in der Gruppe 
das niedrigste Atomgewicht hat, das Lithium. Das Sulfat schmeckt salzig 
bitter, das Bromid bitterlich, der völlig geschmaeklosen Benzoösäure ver- 
leiht es den süsslichen Geschmack. Auch die übrigen Elemente der ersten 
Gruppe geben, wie dies Haycraft nachgewiesen hat, in ihren salzsauren 
und schwefelsauren Verbindungen einen je nach dem Atomgewicht sich 
steigernden bitterlich salzigen Geschmack. 

In der dritten dreiwerthigen Gruppe, welche in der Mitte zwischen den 
positiven und negativen Elementen steht, sind sämmtliche Elemente duleigen, 


! In Frankreich desbalb nicht als Be, sondern G symbolisirt. 
? John Berry Haycraft, 'Ihe nature of the objective cause of sensation taste. 
Brain. 1888. Vol.X. p. 145. 


478 WILHELM STERNBERG: 


all ihre Salze schmecken süss. Während es jedoch sonst die Elemente sind, 
die den Säuren den süssen Geschmack geben, ist es hier die so schwache 
Säure, die Borsäure mit ihren Anhydriden, welche die Elemente mit dem 
Geschmack ausstattet. Borsäure, H,BoO,, selbst schmeckt nicht sauer, son- 
dern schwach bitter, nach anderen isi sie von adstingirend süsslichen Ge- 
schmack. Da nur die Borate der Alkalimetalle löslich sind, so schmecken 
auch nur diese. Wässerige Lösung von Borax, Natrium biboraeicum 
Na,B,O,, ebenso das jetzt von den Ohrenärzten so beliebte Natrium tetra- 
boricum, Na,B,O,, schmecken süss. Selbst Magnesium borocitrieum schmeckt 
nach einer Weile süsslich. 

Aluminiumsalze schmecken ebenfalls süsslich und adstringirend. 
Theilt doch die Pharmakologie die Tannica ein in Adstringentia mineralica 
s. aluminosa s. dulcia, die hierher gehören, und Tannica amara, welche den 
organischen Verbindungen angehören. Alaun s. Alumen [Al,(SO,), + K,SO, ] 
schmeckt süss, hinterher herbe zusammenziehend, auch in seiner essigsauren 
Verbindung schmeckt es süsslich adstringirend, sogar der jetzt so vielfach 
angewandte Liquor aluminii acetici schmeckt noch sehr süsslich und hinter- 
lässt beim Ausspülen des Mundes einen sehr deutlich süssen Nachgeschmack, 
selbst Aluminium acetico-tartaricum schmeckt adstringirend, säuerlich, zu- 
gleich aber auch deutlich süss. 

Die Salze der Scandinerde (Scandiumoxyd, Sc,O,), schmecken, wenn 
sie neutral sind, in ihren Lösungen zuerst süss, gleich darauf indessen 
haben sie einen zusammenziehenden Geschmack. 

Die Lösungen der Yttriasalze (Yttererde s. Yttriumoxyd, Y,O,) be- 
sitzen einen süssen, adstringirenden Geschmack, welcher nicht der in der 
Yttria nachgewiesenen Glyeinerde! zukommt. 

Ebenso schmecken die Lanthansalze (La,0,) süss und adstringirend. 

Die Ytterbiumsalze haben einen sehr süssen und zugleich ebenfalls 
einen zusammenziehenden Geschmack, die Ceriumsalze und Bleisalze sind 
die süssen Salze der vierten Gruppe. 

Von der fünften Gruppe schmeckt Stickoxydul und Arsenoxyd, Ar- 
senik süss. 

Der Geschmack der gepulverten giftigen arsenigen Säure (As,0,) ist 
kaum wahrnehmbar, er ist schwach süss und lässt im Munde ein Gefühl 
von Schärfe zurück. Die Lösung des Arsenigsäureanhydrids in Wasser be- 
sitzt einen deutlich süsslichen, metallischen Geschmack und eine schwach- 
saure Reaction. Von Antimon sind die meisten Salze unlöslich. Brech- 
_ weinstein schmeckt widerlich süss. 


! Schon 4 Jahre nach ihrer Entdeckung zu Ytterby in Schweden fand man in 
der Yttria die Beryllerde. 


ÜHEMISCHER BAU SÜSS U. BITTER SCHMECKENDER SUBSTANZEN U.$S.w. 479 


Auch die Didymsalze (Di,O,) schmecken süss und zusammenziehend. 

Die, Salze der Erbinerde (Er,O,, Erbiumoxyd) reagiren sauer und 
schmecken auch süss zusammenziehend. 

Die Terbinerdesalze schmecken süss und zugleich herbe. 

Mithin schmecken die Salze der Ceritmetalle (La, Ce, Di) und die der 
Cermetalle (Y, Er, Yb, Sc, Tr) sämmtlich süss. 

In der siebenten Gruppe hat Haycraft nachgewiesen, dass Fluor-, 
Brom- und Jodsalze auch leicht bitterlich schmecken. 

Gewöhnlich sind es also die den niederen Gruppen angehörigen Ele- 
mente, deren Salze schmecken, ganz im Gegensatz zu den hauptsächlich in 
den höheren Gruppen angehäuften Elementen, welche gefärbte Verbindungen 
geben, wie das Chrom in der sechsten, das Mangan in der siebenten, Eisen, 
Kobalt, Nickel und die Platinmetalle in der achten Gruppe; freilich finden 
sich auch zwei ausserordentlich chromogene Metalle selbst in der ersten 
Gruppe: Kupfer und Gold. 

Alle anderen Elemente sind in ihren Verbindungen geschmacklos, 
ausgenommen in den organischen Verbindungen H, C, O, N. Hierzu 
kommt noch S,! der oft in bitter schmeckenden organischen Verbindungen 
getroffen wird, und das elektronegativste Element Cl, das der positiven 
Aleylgruppe den Geschmack verleiht, z. B. den süssen im Chloroform, CHOI,, 
‚0H 


den bitteren im Chloralhydrat, CCl,-CH Wir hätten somit folgende 


SO 
sapigene Elemente: 
A —nn— Duleigene Zone KERN 
| I V VI VI VII 
| Li N 0 F 
Na >) | 
K 
Y Cu As Br 
Rb Sb | J 
Ag Di 2 
Os Er 
NH 
! Sehr bitter schmecken: Thiobiuret, nn OS-NH, ’ «-Methylbiuret, 
NH-CH e NH-C,H N 
co cas ‚ Intensiv bitter &-Aethylbiuret, coX NH- CS-NH, ‚ und die Glu- 


cosealeylmercaptale, wie z. B. Glucoseäthylmercaptal, C;H,,0,(SC,H,),. Ber. der 
deutschen chem. Ges. Bd. XVII. S. 675, 677; Bd. XXXIX. 8. 548, 550. 


480 ; WILHELM STERNBERG: 


Das sind die Elemente, die in ihren löslichen salzartigen Verbindungen 
schmecken. Dabei bemerken wir etwas Aehnliches wie in den organischen 
Verbindungen. Wie wir da durch einen minimalen Eingriff in’s Molecül 
der Verbindung aus dem süssen Geschmack den diametral entgegen- 
gesetzten, den bitteren und umgekehrt erhielten, ‚so wechselt auch hier 
leicht der süsse Geschmack mit dem bitteren je nach dem verschiedenen 
Atomgewicht der Elemente. Die dulcigenen Elemente stehen in der Mitte, 
es sind daher diejenigen Elemente duleigen, die einen doppelten Charakter 
zeigen, indem sie sich mit Säuren als Basen und auch mit Basen als Säuren 
zu Salzen verbinden, das Beryll gehört als typisches Element in die dritte 
Gruppe. Die amaragenen Elemente stehen an den Aussenseiten des Systems, 
da ihr positiver oder negativer Charakter deutlich ausgeprägt ist. 

Im Gegensatz zu diesen wenigen Elementen und Gruppen kommt in 
keiner anderen Gruppe ein Element vor, welches in süssen oder bitter 
schmeckenden Verbindungen angetroffen wird, wenigstens nicht, ohne dass 
dabei zugleich auch die anderen vorhanden sind. Das Vermögen also, Ge- 
schmackseindruck zu erwecken, ist ebenso wie der Geruch eine Eigenschaft 
einiger, ganz bestimmter Elemente; und zwar sind es, wie dies für den 
Geruch bereits bekannt ist, ebenso auch hier vorzugsweise Elemente, welche 
in dem periodischen System auf regelmässigen Entfernungen sich befinden. 
Die Periodieität, der wir hier beim Geschmackssinn begegnen, dürfte dem- 
nach auf ein mit dem Wachsen der Atomgewichte zusammenhängendes 
Wachsen der Wellenlänge von Schwingungen hinweisen. Wie fast alle 
physikalischen und chemischen Eigenschaften ist also auch der Geschmack, 
ähnlich dem Geruch und der Farbe, eine Function und zwar eine perio- 
dische Function der Höhe der Atomgewichte. 

Die geringe Anzahl von Elementen darf uns nicht wundern, da ja 
auch der gerucherzeugenden Elemente nur verhältnissmässig wenige sind. 
Ebenso wenig kann uns die geringe Zahl der im Mineralreich vorkommen- 
den schmeckbaren Substanzen wundern; giebt es doch auch nur sehr 
wenige anorganische Verbindungen, die die physikalische Eigenschaft der 
Fluorescenz besitzen; ja existirt doch nicht eine einzige anorganische Ver- 
bindung, die im Stande wäre, den polarisirten Lichtstrahl abzulenken. 


Süss schmecken also 3 Gruppen und nur 3 Gruppen: : 
I. Von organischen Verbindungen: 


1. die N-losen Verbindungen, die zu den Alkoholen gehören, die 
Zucker; 


2. die N-haltigen, die «-Aminosäuren. 
II. Von anorganischen Verbindungen: 
o. die löslichen Salze der Elemente, die genau in der Mitte stehen. 


CHEMISCHER BAU SÜSS U. BITTER SCHMECKENDER SUBSTANZEN U.8.w. 481 


Ihnen ist sämmtlich eine Harmonie im chemischen Bau eigen, ent- 
sprechend dem angenehmen Geschmack des Süssen. Die Alkohole verbinden 
sich wie Basen unter H,O-Austritt mit Säuren, aber auch mit Basen zu 
Salzen, wiewohl sie gegen Pflanzenfarben vollkommen neutral reagiren. 

Die Aminosäuren verbinden sich mit Basen, Säuren, ja mit Salzen, 
und zwar. müssen die diese Doppelnatur bedingenden Gruppen (NH, und 
COOH) mit einander innig verknüpft sein, daher die «- oder o-Stellung 
erst die Süssigkeit bringt. 

Dieselbe Doppelnatur nun zeigen die duleigenen Elemente. 

Bitter schmecken ebenfalls 3 Gruppen und nur diese 3 Gruppen: 

I. Von organischen Verbindungen: 

1. die N-losen: die Saccharate, die Metallalkoholate, in denen 
die Harmonie der Zucker durch die überwiegende Positivität der Metalle 
gestört ist; die Glycoside, Phenolderivate der Zucker, ebenso wie die 
Bitterstoffe, zu Benzylglycosiden wohl gehörig, mit überwiegender Ne- 
gativität; 

2. die N-haltigen Alkaloide s. organische Basen, in denen also der 
positive Charakter ausgesprochen ist. 

II. Von anorganischen Verbindungen: 

3. die löslichen Salze der Elemente, in denen entweder ein positiver 
oder negativer Charakter ausgeprägt ist. 


Zum Schluss will ich eine Reihe von Stoffen erwähnen, die süss und 
bitter zugleich schmecken. Eine Analogie dürfte vielleicht theilweise in dem 
Dichroismus mancher Stoffe zu finden sein. 

1. Chinit, C,H, ,(OH),, Hexahydro-Hydrochinon s. trans-para-Dioxyhexa- 
methylen s. 1,4-Oyclohexandiol schmeckt erst süss, dann bitter. 

2. Dulcamarin schmeckt, wie sein Name Bittersüss andeutet, erst 
bitter, dann süss. 

3. Chinovinzucker Hlasiwetz,! Chinovose, eine Stereoisomere der 
Rhamnose, schmeckt süss, hinterher stark bitter. 

4. Chinovit = Chinovoseäthyläther, C,H,,0,-C,H,, schmeckt erst süss, 
hinterher stark bitter. 

5. Rhinantin ist ein Glycosid von schwach bitterlich-süssem Geschmack. 

6. Rhamnose schmeckt süss, zugleich schwach bitter. 

7. Panaquilon, 0,,H,,0,,, schmeckt bittersüss. 

8. Parabrombenzoylsulfinid,, OEBIÄS, INH ‚ schmeckt erst sehr 
süss, dann sehr bitter. ; 


1 Ber. der deutschen chem. Ges. Bd. XV. S. 935; Bd. XVII. S. 872; Bd. XXVI. 


S. 2415. 
Archiv f. A. u. Ph. 1898. Physiol. Abthlg. 31 


482 WILHELM STERNBERG: 


Interessant ist ferner, dass der süssliche Geschmack der Salicylsäure, 
wenn man sie in dem ebenfalls süsslich schmeckenden Borax löst, in den 
intensiv bitteren übergehen soll.! Hydrochinon, 0,H,(OH),, schmeckt 
schwach süsslich, verbindet es sich aber mit Traubenzucker, so entsteht, 
freilich unter H,O-Verlust, das bittere Arbutin. Ppyrogallol, C,H,(OH),, 
schmeckt bitter, verbindet sich mit Glucose zu geschmackloser Pyrogallol- 
glucose, freilich wieder unter H,O-Austritt. 

Ebenso ist Arabinosepyrogallol geschmacklos.? 

Fassen wir unsere Darlegungen also zusammen, so möchte ich Folgendes 
sagen: 

A. Das Molecül der süss schmeckenden Verbindungen ist nicht grund- 
verschieden von dem der bitter schmeckenden, so dass die bisherige An- 
sicht von diesen beiden Contrast-Geschmäcken wohl bezweifelt werden 
dürfte, zumal der nahe Zusammenhang der beiden Geschmäcke bereits 
durch die Wirkung der Gymnemasäure? erwiesen ist, welche bekanntlich, 
auf die Zunge gebracht, für eine Zeit den süssen sowohl wie den bitteren 
Geschmack, aber auch nur diese beiden, aufhebt. 

Der Geschmack ist eine hervorragend constitutive Eigenschaft der Ver- 
bindungen. 

B. «) Nur zwei Gruppen sind es, die den süssen Geschmack, 

ß) nur zwei Gruppen sind es, die den bitteren Geschmack bringen. 

y) Beide Gruppen sind dieselben, nämlich 1. OH, 2. NH,. 

ö) Es sind diese sapiphoren Gruppen zugleich auch die odoriphoren und 
chromophoren oder doch die auxochromen. Es entsteht daher die Frage 
zunächst, warum die süss und bitter schmeckenden Verbindungen gewöhn- 
lich farblos, weiss sind, warum sie nicht auch zugleich riechen und färben. 

Da all diesen Eigenschaften der Materie einerseits die Existenz der- 
selben Atomgruppe zu Grunde liegt, andererseits unsere Sinnesorgane nur 
durch Schwingungen erregt diese verschiedenen Variationen der Qualitäten 
empfinden, so müssen die Schwingungen durch die Verschiedenheit ihrer 
Wellenlängen, durch die Mannigfaltigkeit der einzelnen Schwingungsperioden 
von einander abweichen. 

Der Materie an sich wohnen ja nicht die verschiedenen Qualitäten bei, 
sondern die Verschiedenheit der Qualitäten liest in der Verschiedenheit 


! So wird es in vielen Büchern, auch in Liebreich-Langgaard, Comp. d. 
Arzneiverordnung. 2. Aufl. 1887. 8.37 angegeben. Ich habe es wiederholentlich 
nachgeprüft und konnte nur das Gegentheil stets constatiren. 

2 Fischer, Ber. der deutschen chem. Ges. Bd. XXVII. S. 1361. 

° Indian Pharmacopeia. 1868. Non official list. — W. Dymock, Vegetable 
materia media of Western India. — David Hooper, Pharmaceutical Journal and 
Transactions. 1887. p. 867. — Alois Quirini, Gyögysz Hetilap. 1891. p. 370. — 
Shore, Journal of Physiology. Vol. XI. 


CHEMISCHER BAU SÜSS U. BITTER SCHMECKENDER SUBSTANZEN U.S.w. 483 


unserer subjectiven Wahrnehmung, in der Verschiedenheit unserer, die 
Schwingungen verschiedenfach aufnehmenden Sinnesorgane. Die Natur hat 
sich eben einige bestimmte Arten dieser intramolecularen Schwingungen 
ausgewählt und durch natürliche Zuchtwahl zu Nutze gemacht, um unseren 
Organismus mit Sinnesorganen auszustatten, welche die verschiedenfachen 
Sehwingungen verschiedenartig auffassen und ihn so über die Materie 
orientiren. Daher kommt es eben, dass, wie wir so oft bemerken konnten, 
die Fähigkeit der Wirkung der Stoffe auf unseren Körper oftmals mit dem 
Vermögen vergesellschaftet ist, einen adäquaten Sinnesreiz auf ein Sinnes- 
organ auszuüben, d. h. die ästhesiophoren Gruppen sind entweder selber 
somatodynam oder sehr oft mit somatodynamen Gruppen vorkommend, 
daher dem Geschmack seine hohe Bedeutung für das Erkennen der nütz- 
lichen bezw. schädlichen Stoffe zukommt. 

Da gewisse Analogien des Geschmacks mit den Gesichts- und Gehörs- 
empfindungen mehrfach wiederkehren, die beiden letzteren aber sicher auf 
Schwingungen beruhen, so liegt die Möglichkeit nahe, dass auch der Ge- 
schmackseindruck auf Schwingungen beruht. Nun fällt aber die Fähigkeit, 
den süssen angenehmen Geschmack zu geben, mit der harmonischen ‚Ueber- 
einstimmung der entgegengesetzten Atomgruppen zusammen, das Vermögen, 
den bitteren, unangenehmen Geschmack zu verleihen, mit dem _unharmoni- 
schen Aufbau der Atomgruppen im Molecül. Es liegt mithin die Annahme 
näher, dass wie beim Gehörsorgan, so auch hier beim Geschmack die Har- 
monie der intramolecularen Schwingungen die Ursache ist, welche dem an- 
genehmen Sinneseindruck zu Grunde liegt, während die Disharmonie die 
Interferenzen der Schwingungen schafft, die als unangenehme, bittere em- 
pfunden werden. 

Somit kommt Democritos’! Ansicht wieder zu ihrem Rechte, der die 
verschiedenen Geschmäcke und Gerüche von der Verschiedenheit der letzten 
Bestandtherle der Körper herleitet: „Alle Eigenschaften beruhen auf der 
Gestalt, Grösse, Lage und Ordnung ihrer Atome.“ 

Zum Schluss ist es mir eine angenehme Pflicht, Hrn. Prof. Munk für 
die liebenswürdige Unterstützung meinen Dank zu sagen. 


" Fragm. phil. ed. Mullach. 1843. Berolini p. 220: x& avyzoiuora zeyxgoode: 


Öıarayı, Te xui GvAun zul ngoIgon], Dv 7 uev Eori rafıs, nm de oynua, m d& Aeaıs 
TROG TRVIR Y09 al pavradiaı. 


31* 


Ein vereinfachtes Verfahren der Blutgasanalyse. 


Von 


Privatdoc. Dr. A. Loewy 
in Berlin, 


(Aus dem thierphysiolog. Laboratorium der landwirthschaftl. Hochschule in Berlin.) 


Versuche, die Prof. Zuntz mit mir schon seit längerer Zeit ausführt, 
und in denen es sich darum handelt, den Gasgehalt grösserer Reihen von 
Blutproben zu bestimmen, veranlassten mich, zu versuchen, die bis dahin 
von uns benutzte Bunsen-Geppert’sche Bestimmungsmethode durch eine 
einfachere, schneller ausführbare, einen weniger complieirten Apparat er- 
fordernde und die mehrfachen Hülfstabellen für die Reduction der ge- 
wonnenen Werthe entbehrlich machende zu ersetzen. 

Das Prineip des Apparates, den ich zu diesem Zwecke construirt habe, 
ist — sowohl was die Bestimmung der einzelnen Componenten des aus dem 
Blute erhaltenen Gasquantums, der Kohlensäure und des Sauerstoffes, be- 
trifft, wie auch hinsichtlich der Umrechnung der gewonnenen Analysen- 
werthe auf 0°, 760m Bar. und Trockenheit — an sich nicht neu, doch 
bisher nicht für die Blutgasanalyse verwendet worden. 

Der Apparat, der natürlich nicht nur der Analyse der Blutgase, son- 
dern jedes anderen auf CO, und O zu bestimmenden, kohlenoxydfreien Gas- 
gemenges dienen kann, besteht — s. Figur — aus einem mit gläserner 
Vorder- und Rückwand versehenen Wasserkasten aus lackirtem Eisenblech. 
Er ist 60 ® hoch, 20” breit, 15°” tief. Er enthält in seiner Mitte zwei 
5m von einander entfernte starkwandige Glasröhren (4 und 2); die lichte 
Weite von 4 macht Sm aus, die von B ist in den oberen drei Vierteln 
seiner Länge dieselbe, beträgt jedoch im unteren Viertel 15"=, Der Inhalt 
von Rohr 4 ist 30°, der von B etwa 60°“; man kann so auch grössere 
Gasmengen, als gewöhnlich bei der Blutentgasung gewonnen werden, der 
Analyse unterwerfen. 


A. LoEwY: EIN VEREINFACHTES VERFAHREN DER BLUTGASANALYSE. 485 


Beide Röhren sind der Länge nach mit einer !/, "”-Theilung versehen. 
Beide können oben durch Gashähne geschlossen werden und setzen sich 
jenseits des Hahnes in capillare Ansatzstücke fort. Der Hahn am Rohre A 
hat einfache Bohrung, sein capillarer Fortsatz erweitert sich am Ende 
trichterförmig. Der Hahn an 2 trägt doppelte Schrägbohrung nach dem 
Miescher-Geissler’schen Prineip, deren jede in einen capillaren Ansatz 
sich fortsetzt. Unten £ e 
sind beide Röhren offen Dr Br / 
und communiciren mittels : 
eines Gabel-(Y)Rohres, 
nachdem sie den Wan- 

nenboden wasserdicht 
durchsetzt haben, unter 
Einsehaltungseines über any an ee 
sponnenen, sehr dick- 
wandigen, langen Gummi- ae 
schlauches mit einem 
Füllgefäss (Niveaugefäss), 

durch dessen Hebung sie 

mit Quecksilber gefüllt, S 
durch dessen Senkung sie un 
von Ihm entleert werden 

können. 

In das Wasser der 
Wanne wird ausserdem 
ein in !/,„° ©. getheiltes 
Thermometer eingesenkt 
und ein bis auf den =>] 
Boden reichendes Glas- 
rohr, das, mit einem — oe —h- > 
Doppelballongebläse ver- 2 
sehen, eine Durchlüftung 
des Wassers vorzunehmen 
und so Temperaturgleichheit in allen Schichten herbeizuführen gestattet. 

Die zu analysirende Gasprobe wird aus der Pumpe in ein durch das 
Rohr C der Figur veranschaulichtes, mit Quecksilber und einem Tropfen 
sauren Wassers zuvor gefülltes „Sammelrohr“ übergeführt. Derartiger 
Sammelröhren habe ich 10 vorräthig. Jedes ist 30° ® lang, hat 15m 
Liehtweite und trägt eine capillare Fortsetzung, die, mit einem Glashahn 
versehen, zunächst horizontal verläuft, um in ein nach unten gekrümmtes, 
verticales Stück zu enden. Der Inhalt der Capillaren vom Glashahne bis 


mm 


Inn 


\ 
\ 


A 


=U2B 


INANAIRURNINUNNINTDRERDUNAHUNRUTTURDRDINNBNARDUUKTRHRRDSTINUTNTN RRBNAONLKIDMANNERRUERIHRRATNDIDTNRZURLANENNDEIIUNDRIRUIUUNRRRNTUNIARTHN 


—Zzm5> 


486 A. Lorwy: 


zum Ende ist bei allen Röhren genau der gleiche und ist bekannt. Die 
Endfläche des verticalen Capillarstückes ist abgeschliffen. Natürlich ist 
auch das Capillarrohr bis zu seinem Ende mit Quecksilber gefüllt. 

Ist die Entgasung an der Pumpe beendet, so bringt man das das Gas 
enthaltende Sammelrohr in die mit Quecksilber gefüllte Wanne, die sich 
auf dem an der rechten Wand des Wasserkastens verschieblich angebrachten 
Tischehen (7) befindet. Der capillare Ansatz des Sammelrohres wird sodann 
durch ein Stückchen capillaren dickwandigen Kautschukschlauches mit dem 
in der Figur rechten capillaren Ansatze des Rohres B („Analysenrohr“), dessen 
‘ Endfläche gleichfalls abgeschliffen ist, verbunden. Eine mit Flüssigkeit 
gefüllte Kautschukmanschette (in der Figur nicht wiedergegeben) lässt sich 
über die Verbindungsstelle schieben und kann den luftdichten Abschluss 
sichern. 

Das Analysenrohr 3 ist vor der Verbindung mit C' natürlich voll- 
kommen, auch im capillaren Ansatze, mit Quecksilber gefüllt, nachdem die 
Wandungen. durch einen Tropfen sauren Wassers feucht gemacht sind, 
Ebenso muss das capillare Kautschukschlauchstückchen, das die Verbindung 
mit dem Sammelrohre herstellt, zum Theil mit Quecksilber gefüllt sein. 

Durch Oeffnen des Hahnes an 2 (5) und starkes Senken der Füllkugel 
überzeugt man sich zunächst davon, dass keine Luftreste in dem capillaren 
Theile zwischen Rohr 3 und C zurückgeblieben sind. Er lässt sich stets 
mit Leichtigkeit luftfrei machen, wenn zuvor ein genügender Theil des 
verbindenden Kautschukschlauches Quecksilber enthielt. Sollte aber einmal 
eine Spur von Luft eingeschlossen sein, so sieht man sie beim Senken der 
‚Füllkugel im capillaren Ansatze vom Rohre 5 erscheinen. Dann muss man 
natürlich die Verbindung von Rohr 3 und C wieder lösen, den oberen 
Capillarschlauch von 3 mit etwas mehr Quecksilber füllen, von Neuem die 
Verbindung herstellen und wieder prüfen. 

Ist das Capillarstück luftfrei, so öffnet man auch den Hahn c (des 
Sammelrohres C) und saugt durch Senken des Füligefässes die gesammte 
Gasmasse in das Analysenrohr über, und zwar so weit, dass das Queck- 
silber noch den Beginn des capillaren Theiles von C und die Bohrung des 
Hahnes c erfüllt. Das Niveaugefäss wird an irgend einen der links an der 
Wanne befindlichen Haken angehängt und der Stand des Meniscus an der 
Scala abgelesen. Zugleich wird die Temperatur des Wassers in der Wanne 
notirt. 

Es ist zweckmässig, das Niveaugefäss stets so tief zu hängen, dass die 
Gase unter niedrigem Drucke stehen. Dadurch schützt man sich zunächst 
vor dem Zurückbleiben von Gasresten zwischen den abgeschliffenen Capillar- 


enden von 3 und C und im Capillarschlauche und befördert weiterhin die 
Genauigkeit der Analyse. 


EIN VEREINFACHTES VERFAHREN DER BLUTGASANALYSE. 487 


Aus einer Calibrirtabelle, deren Einrichtung im Anhange beschrieben 
ist, entnimmt man das Volumen, das das Gas bei dem abgelesenen Meniscus- 
stande einnimmt. 

Was die Ablesung des Meniscus betrifft, so kann sie mittels Fernrohr 
geschehen; die Fernrohrablesung wird jedoch vollkommen überflüssig und 
so die Gebrauchsfähigkeit des Apparates wesentlich vereinfacht, wenn man 
sich eines passenden Spiegels bedient, wobei parallactische Fehler der 
Ablesung ganz vermieden werden können. Am zweckmässigsten erwies 
sich mir ein Spiegel beistehender Form ($). Er besteht aus einem 8 m 
breiten, 25 °® langen Mattglasstreifen, dessen beide Längsseiten mit je 
einem 2°” breiten Streifen belegten Spiegelglases bedeckt sind. Man lest 
den Spiegel an die hintere Fläche der Wanne, die man mittels Lothes 
gleich bei ihrer definitiven Aufstellung in senkrechte Stellung gebracht 
hat, so an, dass man die Kuppe des Quecksilbermeniscus, das entstehende 
Spiegelbild des Meniseus und das Bild der eigenen Pupille in einer Hori- 
zontalebene erblickt, verschiebt, ohne die Kopfhaltung zu ändern, den 
Spiegel so weit nach oben, dass die Mattscheibe hinter der Kuppe erscheint 
und erreicht so eine vollkommen scharfe Ablesung, die, wie mir viel- 
fache Controlversuche ergaben, mit der Fernrohrablesung absolut identisch 
ist. Eine scharfe und exacte Ablesung ist aber, wie ich noch zeigen werde, 
zur Gewinnung guter Resultate durchaus nothwendig. 

Das gefundene Gasvolumen gilt es nun auf den sogenannten Normal- 
zustand, d. h. auf 0°, 760=m Hg und Trockenheit, zu reduciren. Wir 
kennen seine Temperatur, wissen, dass es wasserdampfgesättigt ist, denn 
die geringe Menge Schwefelsäure, die dem Wasser hinzugefügt wurde, mit 
dem wir das Sammelrohr C und das Analysenrohr 2 befeuchteten, drückt 
die Dampftension nicht merkbar herab. Der Druck, unter dem es steht, 
ist uns unbekannt. 

Dem Zwecke der Reduction dient nun das Rohr A, das die Function 
eines Thermobarometers erfüllt. Es enthält ein Quantum atmosphärischer 
Luft, das bei 0°, 760m Hg und Trockenheit ein bekanntes Volumen ein- 
nimmt, der Einfachheit wegen 10 «m, abgesperrt. 

Die Einstellung des Thermobarometers ist einfach. Man liest die 
Temperatur des die Wanne füllenden Wassers ab, das, um die Temperatur 
des Gases im Thermobarometer anzugeben, sich natürlich schon einige Zeit 
in der Wanne befinden muss, ebenso den herrschenden Barometerdruck 
und die Temperatur am Barometer, und berechnet mit Hülfe bekannter, 
z. B. in Landolt-Börnstein’s Zusammenstellung enthaltener Tabellen, 
welches Volumen ein Gasquantum, das bei 0°, 760m Hg und Trockenheit 
10°” beträgt, unter den herrschenden Bedingungen des Barometerdruckes, 
der Temperatur und der Wasserdampfsättigung einnimmt, und stellt den 


488 A. LoEwy: 


Quecksilbermeniscus auf diejenige Scalenzahl am Rohre ein, die diesem 
Volumen entspricht. Dann wird der obere Hahn am Thermobarometer 
sogleich geschlossen und in den Trichter an seinem capillaren Fortsatze 
etwas Quecksilber gegossen. Die Scalenzahl, auf die der Meniscus ein- 
gestellt werden muss, ist durch vorherige Calibrirung des Rohres bekannt 
und wird aus einer diesbezüglich aufgestellten Calibrirtabelle entnommen. 
Das Nähere über die Calibrirung im Anhange. Hier will ich zur besseren 
Erläuterung der Thermobarometereinstellung folgendes Beispiel geben. 

Einstellung am 19. Januar 1898. — Bar. = 768-5" Hg, Temperatur 
am Bar. = 15-3°. Zur Reduction des mit dem Glase aufgeätzter Scala 
versehenen Barometers auf 0° sind nach Landolt-Börnstein, Tab. X, ab- 
zuziehen: 2.03 "m; demnach Bar. (0°) = 766.47 m, 

Temperatur des Wassers in der Wanne, d. h. auch des Gases im 
Thermobarometer = 15-.7°, Wasserdampfspannung — s. Landolt-Börn- 
stein, Tab. XVII — = 13-25 "=, die von 766.47 "m abzuziehen sind; 
bleibt Bar. = 753.22 m, 

Die Reductionsformel ist bekanntlich: 


@.760.(1 + 000367 2) 
Bar. 2 


also in unserem Falle: 
10..760.(1 + 000367 .15-7) 
7153-22 2 

das ergiebt [der Werth (1 + 0-00367.15-7) wird aus der Tab. VI Landolt- 
Börnstein’s entnommen]: 10.67 °®,. D.h. also aus 10 °= im Normal- 
zustande sind 10-67 «m geworden. — Nach der Calibrirtabelle (s. S. 502) 
entspricht diesem Volumen der Scalentheil: 19.35, auf den durch Heben 
bezw. Senken des Niveaurohres eingestellt wird. 

Ist das Thermobarometer eingestellt, so ist es ein für alle Mal fertig 
und höchstens alle paar Monate einmal auf Richtigkeit zu controliren. 

Die Bedingungen, unter denen die im Thermobarometer abgesperrten 
10 m Luft stehen, sind, was Temperatur und Barometer betrifft, die gleichen 
wie für das Analysenrohr. Der absolute Druck, dem sie ausgesetzt sind, 
weicht von dem im Analysenrohre ab um die Höhendifferenz der beiden 
Menisken. Diese würde sich aus der Differenz der Scalenwerthe am Thermo- 
barometer und Analysenrohre direct ergeben, wenn die Nullpunkte und 
demnach alle gleichnamigen Zahlen in gleichem Niveau ständen. Das wird 
jedoch nie vollkommen der Fall sein, und so wird man, bevor man noch 
das Thermobarometer einstellt, ermitteln, welchen Niveauunterschied gleich- 
namige Zahlenwerthe im Thermobarometer und im Analysenrohre bedeuten. 
Dazu braucht man nur bei offenen Röhren, d.h. also bei gleichem (Atmo- 
sphären-) Drucke, in ihnen eine Fernrohr- bezw. Spiegelablesung zu machen 


EIN VEREINFACHTES VERFAHREN DER BLUTGASANALYSE. 489 


und die Differenz der Scalenzahlen zu nehmen. Diese gilt dann für alle 
Fälle und wird bei jedem Versuche in Rechnung gestellt. 


Wäre der Druck, unter dem die Gase in beiden Röhren stehen, gleich, 
bestände also Niveaugleichheit, so wäre durch eine einfache Proportion nach 
Ablesung des Meniscus im Thermobarometer (A) und Feststellung des Gas- 
volumens aus der dazu gehörigen Calibrirtabelle das Volumen im Analysen- 
rohr (3) auf seinen Normalzustand zurückzuführen. Denn wie sich die 
im Thermobarometer abgelesenen v““ Gas zu 10°m verhalten, so die 
v, “= im Analysenrohre zu dem gesuchten reducirten Volumen x; so dass 


ms) a 
z = wäte. 


Diese einfache Proportion lässt sich nun in Felge der bestehenden 
Druckdifferenz nicht anwenden. Aber eine mathematische Ableitung zeigt, 
dass diese Druckdifferenz (d) sich in einer einfachen Formel unterbringen 
lässt, die immer noch eine bequeme Reduction ermöglicht. Es sei: 


a das im Thermobarometer abgesperrte Volumen bei 0° und 760 mm 
Bar (—a10) m) 

v das Volumen, das a unter den bestehenden Versuchsbedingungen 
einnimmt, 

p der unbekannte Druck, unter dem es steht, i 

t die abgelesene Temperatur, 


dann ist: 
a.(i + 000367 2) . 760 
p 


DE 


und 


a.(1 + 0:00367 2). 760 
= v ? 
Im Analysenrohre (3) herrscht der Druck p +. d, wo d die Höhen- 
differenz der Meniscuskuppen bedeutet, so dass der Meniscus in 3 um d 
tiefer als in A steht. 


Das abgelesene Volumen sei =v,; dann ist x, d. h. dies Volumen, auf 
Normalzustand reducirt: 


ws v, (pP +d) 
760..(1 + 0-00367 £) 


x 


und für p den obigen Werth eingesetzt: 


a.(1 + 0-00367 2). 760 


Y. +dv, 
® 
% 766.(1 + 000367 2) 
_ da N 1 : 
=, trade 750.00H0-008675) 


490 A. LoEWwY: 


Ist umgekehrt der Meniscusstand im Analysenrohre höher, als im 

Thermobarometer, so wird die Formel: 
v, a 1 
N TenrErD=0036 1 
ro voser „, für die in Betracht 
kommenden Temperaturgrade und Aufstellung einer Tabelle lässt sich die 
Rechnung einfach gestalten. 

Wegen des Näheren sei auf Tab. II des Anhanges und die dort ge- 
gebenen Erläuterungen verwiesen. 

Die Reduction besteht demgemäss in Folgendem: Man dividirt — nach 
Ablesung beider Menisken und der Wassertemperatur — das 10Ofache des 
im Analysenrohre (3) gefundenen Volumens (v,) durch das im Thermo- 
barometer erhaltene Volumen (v). Dazu addirt bezw. davon subtrahirt man 
das Product aus dem Volumen im Analysenrohre (v,) mit der Höhendifferenz (d) 
und dem aus der eben genannten Reductionstabelle entnommenen Factor. — 
Vielfache Controlbestimmungen, in denen ein Gasquantum nach vorstehender 
Formel und daneben mittels directer Bestimmung des herrschenden Baro- 
meterdruckes berechnet wurde, ergaben übereinstimmende Resultate. 


Durch Berechnung des Factors: 


Wir haben bis jetzt die Menge des ursprünglichen Gasquantums fest- 
gestellt und es auf den Normalzustand umgerechnet. Es handelt sich nun 
darum, seinen Kohlensäure- und Sauerstoffgehalt zu messen. Das gestaltet 
sich nun sehr einfach. 

Man bringt mittels einer Spritze, die mit einem am Ende hakenförmig 
aufwärts gekrümmten Capillarröhrchen versehen ist (ich benütze eine 
Pravazspritze mit Asbestkolben), etwas dickliche Kalilauge — 120 8% Aetz- 
kali auf 110m Wasser — von unten in das Sammelrohr C, ohne dass 
man seine Stellung verändert, höchstens, dass man, um Platz für das 
Hakenröhrchen zu gewinnen, das Tischchen mit der Quecksilberwanne etwas 
gesenkt hat. Dann treibt man die noch im Analysenrohr (2) befindliche 
Gasmasse durch Heben des Füllgefässes und Oefinung der betreffenden 
Hähne in das Sammelrohr C zurück und lässt die Kohlensäure absorbiren, 
was man durch mehrmaliges Hin- und Hertreiben des Gases zwischen 
Rohr 5 und C in weniger als einer Minute beenden kann. Man hat nur 
Acht zu geben, das dabei Nichts von der Kalilauge über den Anfangstheil 
des capillaren Theiles von Rohr C, jedenfalls nicht über den Hahn ce hinaus- 
tritt, weil sonst leicht Spuren der Lauge in’s Analysenrohr gerathen könnten 
und die Richtigkeit der Analyse durch Aenderung der Dampfspannungs- 
verhältnisse im Rohre 3, sowie auch die Exactheit der Sauerstoffbestimmung, 
wenn diese, wie im Folgenden beschrieben, mittels Kupferlösung geschieht, 
gefährden könnten. 


EIN VEREINFACHTES VERFAHREN DER BLUTGASANALYSE. 491 


Ist die Kohlensäure absorbirt, so saugt man durch Senken des Niveau- 
rohres die Gasmenge wieder in’s Rohr 3 zurück, indem man die Lauge 
gerade wieder die Hahnbohrung erfüllen lässt, und macht eine neue Ab- 
lesung beider Menisken und des Thermometer. Um die Vollständigkeit 
der Absorption zu controliren, kann man die Gasmenge nochmals in das 
laugenhaltige Sammelrohr treiben, eventuell unter Hinzufügung einer neuen 
Menge Kalilauge, und noch eine Ablesung machen. 

Es folgt nun die Sauerstoffabsorption. Dafür kommen zwei Methoden 
in Betracht, entweder die Absorption mittels pyrogallussauren Alkalis oder 
die durch ammoniakalische Kupferlösung. Die erstere hatte ich gelegenlich 
der Demonstration meines Apparates in der physiologischen Gesellschaft! 
empfohlen. Aus dem in der Figur sub D abgebildeten Apparate, in dem 
sich die Pyrogallusmischung (1 Theil Pyrogallussäure gelöst in 3 Theilen 
Wasser, 1 Theil dieser Lösung vermischt mit 4 Theilen der oben für die 
Kohlensäureabsorption angegebenen Lauge) zwischen zwei Quecksilbersäulen 
von der Luft abgesperrt befindet, drückt man nach Oefinung des Hahnes 
und Hebung der Füllkugel ein Quantum des Absorptionsmittels von unten 
in das Sammelrohr, jagt den Gasrest aus dem Analysenrohr in’s. Sammel- 
rohr über und lässt absorbiren. So leicht und schnell nun die Kohlensäure 
absorbirt wird, so langsam und schwierig geschieht bekanntlich eine voll- 
kommene Sauerstoffabsorption durch Pyrogallussäure. Ich habe Monate 
lang zahlreiche und umständliche Versuche angestellt, um die Bedingungen 
zu finden, unter denen am zweckmässigsten die Absorption vor sich geht 
und bin, wenn ich schliesslich auch zuverlässige und richtige Werthe erhielt 
und mein Apparat sich als brauchbar für diese Methode erwiesen hat, doch 
wieder von ihr abgekommen und habe der Kupfermethode den Vorzug 
gegeben. 

Um eine voilständige Absorption mit Pyrogallussäure zu erzielen, geht 
man am besten so vor, dass man bei grossen sauerstoffreicehen Gasmengen 
so, wie ich es für die Kohlensäure beschrieben habe, häufig hin- und hertreibt, 
dadurch also immer wieder die Wände des Sammelrohres mit der Pyro- 
galluslauge neu benetzt, und so immer eine grosse Absorptionsfläche schafft. 
Ist auf diese Weise so viel Gas absorbirt, dass nur noch ein kleines 
Quantum sich im Sammelrohr befindet, so ersetzt man besser das Hin- und 
Herjagen durch Schütten. Man lockert zu diesem Zwecke etwas das 
Sammelrohr in seinem Halter, ohne es sonst irgend wie aus seinen Verbin- 
dungen zu lösen, und schüttelt 2 bis 3 Minuten das Gas mit dem Pyro- 
gallat. — Ist die ursprüngliche Gasmenge nur klein gewesen, wie es bei 
Entziehung nicht zu grosser Blutmengen der Fall ist, so empfiehlt es sich 


1 Dies Archiv. 1898. Physiol. Abthlg. S. 216. 


492 A. LoEwY: 


überhaupt, nur auf Schütteln sich zu beschränken, liegt jedoch eine grössere 
Gasmenge mit wenig Sauerstoff vor, so muss man sich mit dem Hin- und 
Hertreiben begnügen. 

Was die Mengen des zu verwendenden Pyrogallats anlangt, so muss 
man, wie alle Autoren angeben, einen erheblichen Ueberschuss über das 
zur Absorption eigentlich nöthige Quantum nehmen, wenn die Absorption 
nicht allzu zögernd vor sich gehen soll. Bei den Dimensionen meines 
Apparates ist in jedem Falle eine Pyrogallatschicht von 2 bis 21/, °® Höhe 
im Sammelrohre zur sicheren Absorption des aus 20 °® Blut entbundenen 
Sauerstoffs ausreichend. 

Die Zeit, die zur Absorption erforderlich ist, schwankt je nach der 
Gasmenge und der Art des Vorgehens zwischen 5 und 10 Minuten. Sie 
ist am geringsten beim Schütteln, länger beim Hin- und Herjagen. Ohne 
mich eingehend auf diese Frage einzulassen, verweise ich auf die im Folgen- 
den zusammengestellten Versuche, die einen Anhalt über die Schnelligkeit 
der Absorption. geben. Bemerken will ich allerdings, dass ich nie, auch 
nach langem Schütteln nicht, mich mit einer Ablesung begnügte, sondern 
stets das Schütteln kurze Zeit wiederholte und nachsah, ob noch eine weitere 
Absorption vor sich gegangen war, um dann eventuell das Schütteln fort- 
zusetzen. Es war mir dabei auffallend, wie schwer de letzten Sauerstoff- 
spuren der Absorption zugänglich sind. 

Die Controle, ob noch etwas absorbirt wird, ist leicht. Man braucht 
nur den Menicus im Thermobarometer stets auf annähernd denselben 
Scalentheil einzustellen und zu sehen, ob der Meniscusstand im Analysen- 
rohr sich noch ändert, bezw. ob die Höhendifferenz zwischen den Menisken 
constant bleibt oder nicht. 

Zum Beweise der Leistungsfähigkeit des Verfahrens und der Vollkommen- 
heit der Absorption gebe ich die folgenden Resultate von Luftanalysen. 


I 


Nummer | Menge ı Menge des | Menge des Dauer der Wie oft 

des | ee absorbirten | absorbirten Absorphion hin- und 
| R Sauerstoffs Sauerstoffs ? > P hergetrieben 

Versuches | in cem in cem in Proc. in Minuten wurde 
1 | 23-479 4908 | 20-91 8 40 Mal 
2 22-373 4:696 | 21:00 8 Soma 
3 20:582 4.312 20:95 X UN) 0 
4 16-076 3337 | 20-94 d I) 2 
5 12-992 | 2-:123 | 20:96 6 605% 
6 4:999 1:073 | 20:74 4 DE 
7 4-971 1-048 | 21-09 5 Dom 


! Absolute Abweichung gegenüber dem als normal angenommenen Werth von. 
20-93 Proc. ist: — 0:0095 cm, 
® Absolute Differenz ist: + 0-008 m, 


EIN VEREINFACHTES VERFAHREN DER BLUTGASANALYSE. 493 


Wenn auch die hier mitgetheilten Werthe als hinreichend genau gelten 
konnten, so liessen doch verschiedene Umstände den Wunsch rege werden, 
die Pyrogallatmethode durch eine andere zu ersetzen. Das 5 bis 10 Minuten 
dauernde Uebertreiben ist keine sehr angenehme Procedur, und sie muss 
mit Aufmerksamkeit ausgeführt werden, damit nichts vom Absorptions- 
mittel in’s Analysenrohr übergerissen wird. Auch ohne dass dies geschieht, 
machten sich zuweilen die allmählich auftretenden Aenderungen der Dampf- 
spannungsverhältnisse geltend, wenn auch, wie ich mich überzeugte, hiervon 
selbst bei 80 bis 9Omaligem vorsichtigen Hin- und Hertreiben nicht viel 
zu fürchten ist. Am störendsten war aber die zögernde Absorption der 
letzten Sauerstoffspuren und die dadurch veranlassten häufigen Control- 
ablesungen, bis nach constatirter Unveränderlichkeit der Menisken die 
definitive Ablesung erfolgen konnte. 

Ich versuchte es darum auf den Rath des Hrn. Prof. Zuntz mit 
der von Hempel eingeführten Kupfermethode Die von mir sonst be- 
nutzte Phosphormethode war wegen des Reichthums der Blutgase an Sauer- 
stoff nicht anwendbar. 

Die Absorption erfolgt in der mit # (s. Figur) bezeichneten Pipette von 
bekannter Form, die mit dem linken Capillaransatz des Analysenrohres B 
verbunden ist. Das zum Capillaransatz führende Uebergangsstück der 
Pipette wird durch ein nur 0.5"" weites Capillarrohr gebildet. Die Pipette 
habe ich nur ein Viertel so gross fertigen lassen, wie die sonst gebräuch- 
lichen Hempel’schen Pipetten und beim Uebergang in die Capillare sich ver- 
jüngen lassen. Sie ist mit Röllchen aus blankem Kupferdrahtnetz angefüllt, 
wobei darauf geachtet ist, dass auch der oberste Theil der Pipette genügend 
ausgefüllt ist. Den verjüngten Theil füllt man mit kleinen, das Lumen 
gerade ausfüllenden Kupferringchen. Die Röllchen sind umspült von einer 
Mischung aus kohlensaurer Ammoniaklösung und Ammoniak. Die 
Hempel’sche Mischung erwies sich als zu reich an Ammoniak, es tritt 
Ammoniakdampf in’s Analysenrohr über, dessen Spannung die Resultate 
ungenau macht. Ich benutze eine — erst beim Zufüllen in die Pipette 
hergestellte — Mischung von 1 Theil Ammoniak mit 4 Theilen concen- 
trirter Lösung von käuflichem kohlensauren Ammoniak, deren Ammoniak- 
spannung minimal ist und vollends aufgehoben wird, wenn man das 
Analysenrohr, wie oben angegeben, mit schwach saurem Wasser befeuchtet. 

Es empfiehlt sich, bevor man die frisch zubereitete Mischung zu den 
Versuchen in Gebrauch nimmt, erst einige Male Absorption von Luftsauer- 
stoff vorzunehmen. 

Die Sauerstoffabsorption durch das Kupfer geht sehr prompt und voll- 
ständig vor sich und ist von der Temperatur unabhängig. Man braucht 
das Gas nur 3 bis 4 Minuten in der Pipette zu lassen. 


494 A. LoEwY: 


Bei Benutzung der Kupferpipette ist Folgendes zu berücksichtigen. 
Bevor man das Analysenrohr zum Versuch fertig macht, d. h. bevor man 
es vollständig mit Quecksilber füllt und mit dem Sammelrohr verbindet, 
treibt man etwas atmosphärische Luft in die Pipette # über, lässt den 
Sauerstoff absorbiren und saugt zurück, so dass der capillare Weg bis zum 
Hahn 5 mit reinem Stickstoff gefüllt ist. Die Kupferlösung wird auf eine 
im aufsteigenden Schenkel von e angebrachte Marke eingestellt. Ist von 
einem früheren Versuch her die Kupferlösung noch eingestellt und die Capillare 
noch mit Stickstoff gefüllt, so fällt die eben genannte Procedur natürlich fort. 

Ist man im Verlauf einer Analyse nun bis zur Sauerstoffabsorption 
gelangt, so treibt man das sauerstoffhaltige Gas durch Heben des Niveau- 
gefässes und entsprechende Drehung des Zweiweghahnes 5 in die Pipette 
über, und zwar so weit, dass das Quecksilber des Analysenrohres bis in die 
Hahnbohrung bei 5 tritt, und belässt es hier 3 bis 4 Minuten. Man saugt 
es nun vorsichtig und langsam zurück, wobei zu bedenken ist, dass eine 
Quecksilbersäule als Saugkraft wirkt, während das Gas jenseits von einer 
wässerigen Lösung "begrenzt wird. Die Gefahr des Uebertretens der 
ammoniakalischen Lösung in’s Analysenrohr wird durch die Enge der Capil- 
lare e vermindert und kann weiter durch nur geringes Oefinen des Hahnes 
beschränkt werden.! 

Das zurückgesaugte Gas ist nun vom Sauerstoff befreit. Aber die 
Absorption betraf nur das Gasquantum, das unterhalb des Hahnes 5 im 
Analysenrohr sich befand, nicht das kleine, in dem capillaren Raum zwischen 
den Hähnen 5 und c, und nicht das in dem Capillarrohr an der Pipette 
befindliche. Um auch dieses zu gewinnen, jagt man den sauerstofffreien 
Gasrest noch einmal in’s Sammelrohr C, saugt sogleich zurück und treibt 
wieder in die Kupferpipette über. Wenn man die Drehung des Hahnes 2, 
durch die die Absperrung des in der Capillare zwischen und c vorhandenen 
Gasquantums von dem im Analysenrohr bewirkt wird, erst vornimmt, nach- 
dem durch Senkung des Niveaugefässes die Gasmasse unter stark negativen 
Druck gebracht ist, ist die jetzt noch in dieser Capillare zurückgebliebene 
Sauerstoffmenge schon sehr gering. Wenn man nun die wieder in’s Ana- 
lysenrohr zurückgeholte Gasmasse noch einmal in’s Sammelrohr C treibt, 
nach Zurückholung wieder bei stark gesenktem Niveaugefäss den Hahn 5 
schliesst, und noch einmal in’s Kupfer treibt, so fallen die nun noch in 
den Capillaren befindlichen Sauerstoffmengen vollkommen in die Fehler- 
grenzen, indem sie im ungtinstigsten Falle einige Tausendstel Cubikcenti- 
meter betragen. 


! Will man noch sicherer gehen, so kann man in dem aufsteigenden Schenkel 
von EZ einen Hahn anbringen lassen, durch dessen Stellung sich die Schnelligkeit des 
Gasein- und -austrittes aus der Pipette genau reguliren lässt. 


EIN VEREINFACHTES VERFAHREN DER BLUTGASANALYSE. 495 


Das eben beschriebene Verfahren ist umständlicher darzustellen, als es 
in Wirklichkeit complicirt ist. 

Ich beschliesse die Sauerstoffabsorption immer damit, dass ich die 
sauerstofffreie Gasmasse noch einmal in’s Sammelrohr und zurücktreibe. 
Ich thue dies mehr aus theoretischen Erwägungen, als dass es sich bei 
diesbezüglichen Controlversuchen nothwendig erwiesen hätte. Es könnte 
sein, dass doch vielleicht eine unmerkbare Spur des kohlensauren Ammons 
an den Wänden der Capillare entlang in den Anfang des Analysen- 
rohres gedrungen wäre; es würde in Folge der sauren Reaction dann etwas 
Kohlensäure frei werden können, die durch die Lauge im Sammelrohr (die 
Ja hier von der Kohlensäureabsorption her noch vorhanden ist) absorbirt wird. 

Die ganze Sauerstoffabsorption nimmt, selbst wenn man das Gas 3 Mal 
in die Kupferpipette treibt, noch keine 10 Minuten in Anspruch. 

Die Resultate, die ich auf diese Weise erhielt, scheinen mir für alle 
physiologischen Zwecke vollkommen befriedigende zu sein. Ich will nur 
die einiger Luftanalysen hierher setzen. 


1 2 3 4 | 5 6 Rn 
Nummer | Angewandte | Gefundene Procent- |Procentische | Absolute | Zahl 
des Ver- | Luftmenge | N-Menge gehalt an | Abweichung | Abweichung | der Ab- 

suches in ccm in ccm Stickstoff gegen 79-07 in ccm lesungen 

1 -11:973 9-475 79-14 + 0:07 + 0:008 2 

2 7-417 5:869 ag13 + 0-06 -+ 0°0046 2 

3 7003 5-538 79-08 + 0:01 —_ 1 

4 6°109 4-821 18-92 —- 0:15 | - 0:009 2 

5 5358 4-241 79-15 + 0:08 + 0:0043 2 

6 4°976 3929 78-95 — 0:12 — 0:006 2 

« 4115 3254 79:08 + 0-01 — 2 

8 4:100 3:244 79-12 + 0:05 + 0:002 2 

9 3:642 2:864 78-63 — 0.44 — 0017 | 2 

10 | 2.428 1-918 18:99 — 0:08 — 0:002 2 

al I Bol 1.827 18-83 — 0:24 — 0003 | 2 
12 1.929 1-516 . 78-59 — 0:48 — 0.007..| 2 
13 | 1.865 1-469 78-67 — 0-40 — 0:0075 | 3 
14 1.760 1.391 79-04 — 0-03 tl 


Ein directes Bild von der Sicherheit der Methode ergiebt Stab 6 der 
vorstehenden Tabelle, in dem die absoluten Abweichungen von dem zu er- 
wartenden Werthe zusammengestellt sind, wenn man den Stickstofigehalt 
der Atmosphäre zu 79.07 °/, annimmt. Es zeigt sich, dass, wenn wir von 
dem einen Versuch 9 absehen, alle Abweichungen in der dritten Deci- 
male liegen, also Cubikmillimeter ausmachen. Die Grenzen der Leistungs- 
fähigkeit des Verfahrens sind damit gegeben, es kann bis auf Hundertstel 
Cubikcentimeter genau angesehen werden. 


496 A. LoEwY: 


Aber die Unsicherheiten der Werthe in der dritten Decimale sind nicht 
oder doch nur zum kleinsten Theile durch irgend einen Mangel im ana- 
lytischen Vorgehen bedingt, vielmehr vorzugsweise durch die nicht voll- 
kommen auszuschliessenden Ungenauigkeiten der Ablesung. Dafür spricht 
schon die Thatsache, dass die gefundenen Differenzen nicht stets in einer 
Richtung sich bewegen, sondern bald in einem Plus, bald in einem Minus 
an Stickstoff bestehen. Es handelt sich also nicht um einen constanten 
Fehler. Einen directen Beweis für den Einfluss einer mehr oder weniger 
exacten Ablesung auf die Zuverlässigkeit der Werthe ergeben die Resultate 
von Doppelablesungen derselben Gasprobe bei verschiedenem Drucke, der 
durch verschiedene Aufhängung des Niveaugefässes erzeugt ist. Solche 
Doppelablesungen weichen in der Mehrzahl der Fälle um 1 bis 3 mm 
(/ıooo PIS */ıo0on “”) von einander ab, aber es kommen dazwischen wieder 
Versuche vor, wo die Differenz 5 bis 7 mM beträgt. — Ja, im Beginn 
meines Arbeitens mit dem Apparate, als ich über die Bedingungen, die 
erforderlich sind, mit ihm die besten Resultate zu erzielen, noch nicht hin- 
reichend orientirt war, kamen vereinzelt Differenzen bis zu 0-015 = vor. 
Dies veranlasste mich, nicht nur der (Spiegel-)Ablesung besondere Aufmerk- 
samkeit zuzuwenden, sondern durch Rechnung festzustellen, wie bedeutend 
Ablesungsfehler in’s Gewicht fallen können. 

Ich will im Folgenden einige der betreffenden Berechnungen mittheilen. 
Für alle ist angenommen, dass der Ablesungsfehler + 0-2 == der Theilung 
beträgt, wohl der grösste, der bei nicht geradezu oberflächlichem Arbeiten 
gemacht werden dürfte. 


| . Meniseusstand | Meniseusstand 
'im Ana-| im as im Ana- im | . 
Nr.  Iysen- |'Thermo- Volum Differenz Nr. | lysen- | Thermo- Volum | Differenz 
| rohr | barom. rohr | barom. 
| mm mm cem | com mm | mm ccm ccm 
1° 05-.352152046 | araısıı — 5 | 1505 | a2. | 5a | — 
5-33 20:46 | 1867 I 0:008 | 15-03 | 22.77 | 5-483 | — 0-009 
5:35 20-48 | 1-871 | — 0:004 | 15:05 | 22-79 | 5.484 | — 0-008 
2 10:00 29:00 1-829 | — 6 | 20:00 | 29-00 | 5:049 — 
9:98 29:00 | 1-824 — 0:005 | 19-98 | 29-00 | 5-041 |-— 0-008 
10:00 29:02 | 1:826 | — 0:003 20:00 | 29-02  5-042 | — 0007 
3 10-00 20:00 ı 3-899 — 7 25:26 | 24-86 | 9-475 — 
9:98 20:00 | 3:892 | — 0-007 25:24 | 24:86 | 9.464 = 0:011 
10:00 20:02 | 3°893 | — 0:006 | 95:26 | 24-88 | 9-:463 | — 0-012 
4 13-71 27:69 3:260 — 8 29-00 29-00 9-115 _ 
| 13:69 | 27-69 | 3:254 | — 0006 | 28-98 | 29-00 | 9-104 | — 0-011 


13-71 | 27-71 | 83-256 | - 0-004 29-00 | 29-02 | 9-104 | — 0-011 


EIN VEREINFACHTES VERFAHREN DER BLUTGASANALYSE. 497 


Die vorstehende Tabelle erweist zunächst die Wichtigkeit einer 
genauen Meniscusablesung. Ablesungsfehler von 0.2 wu machen 
Volumdifferenzen, die je nach der Menge des zu analysirenden Gases von 
wenigen Cubikmillimetern bis zu mehr als !/,., °” reichen können. Wenn 
auch nur ausnahmsweise einmal der Stand in einem der beiden Rohre um 
0.2 m falsch abgelesen werden wird (wie es in den vorhergehenden Bei- 
spielen angenommen ist), so wird sich häufiger der Fall ereignen können, 
dass in jedem Rohre der Meniseus um 0.1" falsch bestimmt wird derart, 
dass beide Fehler sich addiren. Umgekehrt werden in anderen Versuchen 
beide Ablesungsfehler sich compensiren können, wenn sie in verschiedenen 
Richtungen liegen. 

Jedenfalls sind die Werthe der dritten Decimale als unsicher zu be- 
trachten, aber — und das ist für physiologische Zwecke, wo nur kleine 
Gasmengen zur Verfügung stehen, bedeutungsvoll — der absolute und 
damit der procentische Fehler wird um so kleiner, je kleiner das zur Ana- 
lyse kommende Gasquantum ist. 

Aus der Tabelle geht aber noch ein Zweites hervor, nämlich, dass der 
Druck, unter den man das Gas mittels des Niveaugefässes bringt, bezw. 
das Volum, das man ihm ertheilt, das Resultat zu beeinflussen vermögen. 
Trotz gleichen Ablesungsfehlers ist die Volumdifferenz bei derselben Gas- 
probe verschieden, je nach ihrer Einstellung. Ohne auf die theoretischen 
Einzelheiten näher eingehen zu wollen, bemerke ich nur, dass die Ab- 
weichung vom richtigen Werthe kleiner wird, wenn man das Gas (durch 
Anhängen des Niveaugefässes an einen der tieferen Haken) unter geringeren 
Druck bringt. 

_ Dies ist einer der Gründe, aus denen ich oben empfohlen habe, die 
Ablesungen bei vermindertem Gasdruck vorzunehmen. 

Um die Ablesungen möglichst genau zu gestalten, ist es nothwendig, 
den Apparat in die Nähe eines gut beleuchteten Fensters zu stellen, "die 
Wanne stets mit klarem, sauberem Wasser gefüllt zu halten. Auch ist 
es wünschenswerth, zur Controle der Ablesungen stets mindestens zwei 
Bestimmungen bei verschiedenen Menicusständen zu machen. 

Die Resultate, die ich mit meinem Apparat erhalte, sind nicht ganz 
so glänzende, wie die, die Geppert in seiner neuesten Arbeit! mittheilt. 
Wenn ich ihn trotzdem zu empfehlen wage, so geschieht es erstens mit 
Rücksicht darauf, dass seine Genauigkeit für physiologische Zwecke voll- 
kommen ausreichend ist und auch an sich seine Fehlergrenzen noch in 
die zulässige Breite fallen. Sodann aber sind für mich praktische Gesichts- 
punkte maassgebend. 


Ed 


! Geppert, Pflüger’s Archiv für die gesammte Physiologie. Bd. LXIX. S. 493. 
Archiv f. A. u. Ph. 1898, Physiol. Abthlg. 39 


498 A. Loewy: 


Die Analyse mit ihm ist sehr einfach und leicht ausführbar; Kohlen- 
säure- und Sauerstoffbestimmung zusammen dauern 15 bis 20 Minuten. 
Der Apparat ist einfach zusammen zu stellen, wenig gebrechlich und nimmt 
nur einen sehr kleinen Raum ein. Er ist nicht theuer.! 

Ist er einmal fertig montirt, so kann man Monate lang mit ihm 
arbeiten, ohne etwas an ihm ändern zu müssen. — All’ das sind Dinge, 
durch die er sich neben Geppert’s neuestem Apparat für manche Zwecke 
behaupten dürfte. 

Was complieirter als bei dem Geppert’schen Verfahren ist, ist die 
Berechnung der Analysen. Aber auch auf diese übt man sich bald ein, 
und sie kostet immer noch weniger Zeit, als die nach dem älteren Bunsen- 
Geppert’schen Verfahren. 

Wer dieses (Bunsen-Geppert’sche) Verfahren längere Zeit geübt 
und einige Erfahrung in ihm gewonnen hat, wird zwar gewiss seine Exact- 
heit nur rühmend anerkennen können, aber er wird auch die Schwierig- 
keiten und die zeitraubende Ausführung der Analysen kennen gelernt haben. 
Ohne im Einzelnen näher hierauf eingehen zu wollen, will ich nur auf die 
Umständlichkeit und nicht seltene Unsicherheit hinweisen, die die Bestim- 
mung des Sauerstoffes in sauerstoffarmen Gasgemischen darbietet. Zwecks 
Verpuffung muss hierbei nicht nur Wasserstoff, sondern zugleich Knallgas 
— beide in einem bestimmten Verhältniss — zugesetzt werden; und wie 
häufig erweist sich letzteres, trotz der gebotenen Vorsichtsmaassregeln, als 
unrein, und wie viel Aufmerksamkeit erfordert es, die nothwendige ruhige 
Verpuffung zu erzielen. Gerade für sauerstoffarme Gasgemische hat sich 
mein Apparat gut bewährt. 

Was endlich das Bohr’sche? Verfahren betrifft, das auf dem Petter- 
son’schen Prineip beruht, so muss ich gestehen, dass mir persönlich das 
Arbeiten mit Petterson’s Apparat schwer gefallen ist und ich deshalb 
vor seiner Benutzung für meine Zwecke abgesehen habe. 

Auf die Bedenken, die man theoretisch gegen die Einrichtung meines 
Apparates erheben könnte, bin ich zum Theil schon eingegangen. 

Da wäre an erster Stelle die Gefahr der Dampfspannungsänderung zu 
nennen, die beim mehrmaligen Uebertreiben des Gases in’s laugenhaltige 
Sammelrohr € und zurück zum Zwecke der Kohlensäureabsorption, sowie 
später, bei Gelegenheit der Sauerstoffbestimmung, eintreten könnte. Wenn 
man die oben angegebenen Cautelen beobachtet, tritt jedoch eine solche 
nicht ein. Man muss eben nur nicht die Lauge direct in’s Analysenrohr 


! Der Apparat wird von der Gaspräcisionsapparaten-Fabrik von C. Richter in 
Berlin N., Thurmstrasse 4, zum Preise von etwa 170 Mark mit allen Nebenapparateu 
geliefert. 

? Separatabdruck aus: Skandinavisches Archiv für Physiologie. 1895. 


EIN VEREINFACHTES VERFAHREN DER BLUTGASANALYSE. 499 


übertreten lassen. Ebenso wenig kommt, wie ausgeführt, eine Dampfdruck- 
veränderung durch Ammoniakbildung zu Stande. Die Angabe, die Geppert! 
bei Beschreibung seines neuesten Analysenapparates macht, man solle es 
vermeiden, das Analysenrohr in directe Verbindung mit dem Absorptions- 
sefäss zu bringen, ist theoretisch und vom Standpunkt höchster Exactheit 
der Analyse gewiss berechtigt, jedoch haben mich Controluntersuchungen, 
die ich Monate lang ausführte, belehrt, dass bei der Einrichtung meines 
Apparates und vorsichtigem Arbeiten die Fehler, die durch die vorhandene 
direecte Verbindung etwa entstehen, gegenüber den, die durch die unver- 
meidlichen Unsicherheiten der Ablesungen zu Stande kommen, nicht merk- 
bar sind. 

Gegenüber dem weiteren Nachweis von Geppert, dass das Schmier- 
fett der Hähne Gastheilchen festhalten könne, muss man sich bemühen, 
die Hahnbohrungen sorgfältig von Fett frei zu halten und jedes Zuviel an 
Schmiermaterial zu vermeiden. Da alle Hähne vollkommen freiliegen und 
ohne Weiteres zugänglich sind, kann man sich stets von ihrem Zustande 
überzeugen und überschüssiges Schmiermaterial mit Leichtigkeit beseitigen. 

Von Zeit zu Zeit empfiehlt es sich, das Analysenrohr mit starker 
Säure, Wasser, Alkohol, Aether zu säubern. 


Die Mittel zur Herstellung des Apparates sind mir vom Curatorium 
der Gräfin Bose-Stiftung bewilligt worden, dem ich dafür meinen besten 
Dank ausspreche. Ebenso fühle ich mich Herrn Prof. Zuntz zu Dank 
verpflichtet für die mannigfachen Rathschläge, mit denen er mich, nament- 
lich bezüglich der Reduction des Gasvolums, unterstützt hat. 


! Geppert, Zur Methodik der Gasanalyse und Blutauspumpung. Pflüger’s 
Archiv für die gesammte Physiologie. Bd. LXIX. S. 472 ff. 


32* 


500 A. LOEWY: 


Anhang. 


I. Calibrirung der Röhren und Anlegung der Calibrirtabellen. 


Die Calibrirung der beiden Röhren wird vor ihrer Einsenkung in die 
Wanne vorgenommen. An das untere Schlauchende des zu calibrirenden 
Rohres wird mittels eines ganz diekwandigen Capillarschlauches, der 
noch vielfach umwickelt wird, ein Glashahn angefügt, so dass dessen einer 
(Schlauch-)Ansatz das Schlauchende des Rohres berührt. Sein zweiter kurzer 
Ansatz geht in eine Auslaufspitze aus. Nun wird — am besten vor der 
Wasserstrahlpumpe mit zwischengeschalteter Flasche — das Rohr voll- 
kommen mit Quecksilber vollgesaugt und der untere Hahn geschlossen. 
Das Rohr wird in senkrechter Stellung eingespannt und in dieser — also 
in seiner richtigen Stellung (im Gegensatz zu den Eudiometern) — calibrirt. 
Das hat den Vortheil, dass man keine Correcturen für die Menisken anzu- 
bringen hat. 

Die Calibrirung geschieht in der gewöhnlichen Weise so, dass man 
unter Oeffnung des unteren Hahnes — der obere bleibt dauernd offen — 
kleinere, am ‘besten annähernd gleiche Mengen Quecksilber, 3 bis 4°“, in 
ein tarirtes Wägegläschen einfliessen lässt, die ausgeflossenen Mengen wägt 
und nach jedem Ausfliessen den Meniscusstand an der Scala des Rohres 
mittels Fernrohr oder Spiegel abliest. 

Ersteres ist in diesem Falle wegen der geringeren Gefahr von Tem- 
peraturänderungen des Quecksilbers vorzuziehen. 

Ist die Auswägung beendet, so wird zunächst das Quecksilbergewicht 
in Volumen umgerechnet. Für jeden abgelesenen Meniscusstand haben wir 
so ein bestimmtes Volumen ermittelt, das aber für das Analysenrohr noch 
zu corrigiren ist. Zu ihm muss nämlich das Volumen addirt werden, das 
in der Capillare der Sammelröhren von deren Hahn (c) bis zu dem mit 
dem Analysenrohr in Verbindung tretenden Ende enthalten ist. 

Nun können wir an die Aufstellung der Calibrirtabelle gehen. Ich bin 
dabei im Wesentlichen den äusserst praktischen Angaben gefolgt, die 
Geppert darüber gemacht hat! und verweise bezüglich des Näheren, be- 
sonders bezüglich der theoretischen Berechtigung des Verfahrens, auf dessen 
Arbeit. Danach kann man sich das Rohr in eine Anzahl Zonen getheilt 
denken, die der Menge des durch je einen Auslauf entleerten Quecksilbers 
entsprechen. Der Inhalt jeder Zone ist gleich dem Product aus ihrer Grund- 
fläche in ihre Höhe. Letztere ist durch die Differenz je zweier auf einander 
folgender Meniscusstände gegeben, die Grundfläche ist zu berechnen aus 
dem in jeder Zone gefundenen Quecksilbervolumen, dividirt durch deren 
Höhe. Sie wird für jede Zone als constant angenommen. - 

Die Tabelle enthält drei Columnen, deren erste die an der Scala des 
Rohres abgelesene Zahl, deren zweite den Logarithmus des Grundkreises 


(log —, s. Tab. I), deren dritte die Höhe in absoluten Werthen (a.c der Tab.) 


enthält, d. h. bei der ersten Calibrirzone die Höhe, welche diese Zone 
haben müsste, um das gesammte, auch in den Capillaren enthaltene Volumen 


\ 


! Geppert, Die Gasanalyse. Berlin 1885. 8.16 ff. 


EIN VEREINFACHTES VERFAHREN DER BLUTGASANALYSE. 501 


bei gleichem Grundkreise zu fassen, bei den folgenden die Höhe, welche 
das Rohr haben würde, wenn sein Querschnitt überall genau dem Grund- 
kreis der betreffenden Zone entspräche. 

Der Logarithmus des Höhenwerthes, addirt zu dem in Columne II stehen- 
den Logarithmus des Grundkreises, 'ergiebt direct den log des Volumens des 
Rohres an dem abgelesenen Scalentheil. Die Höhenwerthe für die Zwischen- 
werthe zwischen den einzelnen Calibrirungen findet man ohne Weiteres durch 
Addition der Längendifferenz, indem man zu dem nächst niederen, in der 
Tabelle verzeichneten Höhenwerth die Zahl der Millimeter bezw. Centimeter 
addirt, um welche die am Rohre abgelesene Zahl die aus der Tabelle ent- 
nommene übertrifft. — Zur Erleichterung der Rechnung ist es rathsam, nicht 
nur diejenigen Höhenwerthe in der Tabelle zu verzeichnen, die jedem ab- 
gelesenen Meniseusstande entsprechen, sondern auch noch die, die dem folgen- 
den ganzen Millimeter und dem folgenden Centimeter der Scala entsprechen. 

Ein Beispiel wird die Aufstellungsart der Tabelle am besten veran- 
schaulichen. 

Bei der Auswägung und Umrechnung der gefundenen Quecksilber- 
gewichte in Volumenwerthe hatte ich für das Analysenrohr gefunden: 


Scalentheil Quecksilbervolumen 
0-89 0.3656 m 
3-87 1-9647 „ 

8.74 4.5923 „ 
12.82 6-8077 „ 


Das heisst, die Höhen der einzelnen Zonen betragen: 
a) 3-87 — 0-89 = 2.98; b) 8-74 — 3-87 = 4.87; 
c) 12.82 — 8-74 = 4:08. 


Diesen Höhen entsprechen folgende Volumina: 
a) 1.9647 — 0-3656 = 1.5991; b) 2-6276; ce) 2.2154. 


Daraus berechnen sich die Logarithmen der Grundkreise: 


a) log 1-5991 = 0-20388 b) = 0.732038 — 1; 
— log 2-98 = 0-47422 
0.72966 — 1; 


o), Vor) a. 


Diese Logarithmen werden also in die zweite Columne eingetragen. 
Mit ihrer Hülfe wird die dritte Columne, wie folgt, berechnet. 

Zum Scalentheil 0-89 gehört das Volumen 0.3656 “". Dieses Volumen 
dividirt durch den zugehörigen Grundkreis (dessen log: 0.72966 — 1 ist), 
ergiebt die zugehörige Zahl der dritten Columne: 

log Vol. = log 0 3656 = 0-56314 — 1 
— 0:72966 — 1 
0.83348 — 1 = 0-68. 
Zum Sealentheil 3-87 gehört das Volumen 1.9647. 
log 1:9647 = 0.29329 
— log des Grundkreises = 0-73205 — 1 
0-56126 = 3-64. 


502 A. Loswy: 


Zum Scalentheil 8-74 gehört: Volum. = 4.5923. 


log Vol. = 0-66203 
— log des Grundkreises = — 0-73479 — 1 


0.92724 = 8°46. 


Aus diesen Werthen stellt sich die nachstehend mitgetheilte Tabelle für 
das Analysenrohr zusammen, in die, wie oben erwähnt, zur Erleichterung 
der mit ihr später vorzunehmenden Volumenberechnungen ausser den direct 
abgelesenen Scalenwerthen, die den nächst höheren ganzen Millimetern und 
Centimetern zukommenden mit aufgenommen sind. 


Wie das Analysenrohr ist auch das Thermobarometer calibrirt, dessen 
Werthe links auf der Tabelle stehen. 


Tabelle 1. 


Schema einer Calibrirtabelle für das: 


Thermobarometer (o) | Analysenrohr (,) 
| N | 

Scala log — @.c | Scala | log | a.c 
17-78 0°74244 — 1 17-3 | 0-80 |. 072966 — 1 0-68 
17-80 17-5 | 0-9 0-69 
18-00 18-05 | 1-00 u.79 
20.00 | 1 20-050 | 23-87 073203 — 1 3-64 
24-00 24.05 | 3.90 3-67 
24-97 0-73858 — 1 25>30,0 10.594..00 3.77 
25-00 \ 25-33 8-00 | 7-77 
28-00 | Bags | ae7a 0-73479 -ı | 8-46 
28-07 073626 -ı | 28-5 | 8-80 8-52 
28-10 28-58 || 9-00 8-72 
29-00 29.48 | 12-00 | 11:72 
31-00 31.48 | 12-82 0273712 — 12 
33.00 33-485 | 12-90 | 12-55 
33-09 0-736963— 1 33-51 | 13-00 12-65 
33-10 33-52 || 18-00 | 17-65 
34-00 34-42 | 18-856 | 0-73787 — 1 18-45 

| 18-90 | 18-49 

| 19-00 18-59 


Die Tabelle II enthält die Werthe für den Logarithmus des Factors 
1 


760. (1 + 0-00367 2)’ 
Es genügt, die Zehntelgraden entsprechenden Werthe zu verzeichnen. Die 
zwischenliegenden, d. h. auf Hundertstelgrade bezüglichen (Hundertstelgrade | 
lassen sich an meinem in !/,„-Grade getheilten Thermometer noch gut 
schätzen), sind leicht zu interpoliren. 


geordnet nach steigender Temperatur von 12 bis 28”. 


EIN VEREINFACHTES VERFAHREN DER BLUTGASANALYSE. 503 


Tabelle I. 
RS 1 
Werthe für log 7501 40.003675) ° 
1 || 

2°C. log en 0. log, En Ea) | e° C. |log 760 (140:003671) | 2 U zone 
12.0 | 0.10047 —3 | 16-0 00-0941 —3 es 0.| 0.088348 —3 |24-0 | 0-08253 _3 

1 32 10 26 le) 28 Wan 38 

2 17 2| 11 2 13 Iiiga 24 

3 02 I  3| 0.093896 — 3 3| 0-08798—3 | 3 09 

Au 2 0-099808 3 sı 4 83 EAN 7 0-081940 3 

5 71 8. 66 5 69 Is 80 

6 56 I, 6% 51 | 6 54 Mare 65 

7 4 I zen 36 zer 39 7 50 

8 25 | 8| 21 8 24 De: 36 

9 0 Iren 06 9 10 | 9 21 
13-0 | 0-09895 — 3 17-0 | 0-09291 — 3 21:0 0-08695 — 3 25-0 07 

1 80 1 716 1 so 1) 0:08092 — 3 

2 64 2| 61 IE 2 65 2 718 

3 49 3. 46 se 50 3 63 

4 34 4 31 I sa) 35 4 48 

5 19 5 | 16 I. 8 21 5 34 

6 04 6 01 13 06 6” 19 

7 | 0.097388 — 3 7 0o9186—83 | 7| 0-08591 —3 7 05 

8 13 8 11 8 76 8 | 0-07990 — 3 

9 58 9 56 1219 62 9 76 
14-0 43 18-0 41 22-0 47 26-0 61 

1 28 We 26 (el 32 1 46 

2 13 2 11 2 17 a. 32 

3 | 0.098698 —3 | 3| :0-09096 — 3 3 03 3. 17 

4 82 4 81 4| 0-08488—3 | 4 03 

5 67 5 66 N 13 ı 5 | 0.07888— 3 

6 | 52 nie 51 I6 58 6 14 

u 37 N 36 Id rel 44 7 59 

8 22 170,8 ol I 8 29 Il 8 44 

9 07 | 9 07 I ® 14 II a 30 

| || | | 

15-0, 0-09592—3 |19-0 | 0.098992 — 3 |23-0 00 127.0 | 16 

| 76 Ina 77 I 0208385 ai 01 

2 61 Bor 62 I 22 70 2 | 0.0787 — 3 

3 46 3 47 I 56 3| 712 

4 31 Ir 4 32 ie 4 A| 58 

5 16 N 17 5 26 I 43 

6 01 I 02 NG 12 I @. 29 

7 0-09486 — 3 7, 0.088897 —3 | 7| 0.082973 | 7 14 

8 | 11 8 13 | 8 82 Ina 00 

9 56 9| 58 I 9 68 | 9 0-07688 — 3 


504 A. LoEwy: EIN VEREINFACHTES VERFAHREN DER BLUTGASANALYSE. 


H. 


Schliesslich gebe ich noch in extenso die Berechnung und Reduction 
eines Volumenwerthes, wie sie sich mit Hülfe der beiden Tabellen gestalten. 


Beispiel für die Berechnung eines Versuches. 


Formel: 2.10 1 
—, Em .d. Too + 0-008675° 
Ablesung: 
Thermobar. = 29.02 7000 
Analysenrohr = 10-00 


v (Thermobar.) = 73626 + log 29.50 v, (Analys.) = 73479 + log 9-72 
= 0:73626 — 1 —= 0:73479 — 1 
+ 1-.46982 + 0:.98767 
1:20608 072246 
—_ TUR 
— 1:20608 


log 0-51638 — 3.284. 


Die correspondirenden Zahlen beider Röhren sind für den von mir 
benutzten Apparat um 3.13“ Höhe aus einander und zwar um so viel 
im 'Thermobarometer tiefer. Also wird die effective Niveaudifferenz der 
Menisken im Thermobarometer und Analysenrohr: 


d= 29.02 + 3-13 = 32:15 — 10.00 = 221-5"%%; demnach 


1 
760 (1 + 0.003672) 


vd. 0-.09592 — 3 (s. Tab. ID), 
+ 2.345537 ° =) 
+ 0.72246 (= v,) 
log 0-16375 = 1.458 °, 
Da der Meniscus im Analysenrohr höher steht, ist dieser Werth zu 
subtrahiren von 3.284 m; 


3.284 
— 1-458 
1.8262 


Einige Versuche über die Uebertragung von Schall- 
schwingungen auf das Mittelohr. 


Von 
Dr. W.A. Nagel und Dr. A. Samojloff 


in Freiburg i. Br. in Moskau. 


Im Sommersemester 1898 haben wir im physiologischen Institute zu 
Freiburg gemeinsam einige physiologisch-acustische Versuche ausgeführt, 
über die im Folgenden kurz berichtet werden soll, da sie, wenn auch wenig 
Neues an Thatsachen, so doch eine hübsche Demonstration für Vorlesungen 
ergaben, und ausserdem weiterer Verwerthung zu acustischen und phone- 
tischen Untersuchungen werth erscheinen. 

Unser Plan war der, die Paukenhöhle eines frischen Thierkopfes als Gas- 
kammer in Verbindung mit einer König’schen empfindlichen Flamme zu ver- 
wenden, das Trommelfell durch Schall in Schwingungen zu versetzen und die 
Reaction der Gasflamme während dessen im rotirenden Spiegel zu betrachten. 

Der Versuch gelang vollkommen und ist sehr leicht anzustellen. 

Am geeignetsten erschien uns die Verwendung eines Hammelkopfes, 
der möglichst frisch aus dem Schlachthause bezogen wurde. Beiläufig be- 
merkt, verändert sich übrigens die Empfindlichkeit des Trommelfelles bei 
einem auf Eis aufbewahrten Kopfe innerhalb S Tagen kaum in merkbarer 
Weise. Wünschenswerth ist es, dass das betreffende Thier nicht durch 
Schlag auf den Kopf getödtet ist, weil sonst Blutungen in die Paukenhöhle 
und Nasenhöhle unter Umständen den Versuch vereiteln können. 

Zur Gaszuführung verwendeten wir dünne Troicars, wie sie zu Probe- 
punctionen verwendet werden, von 1 bis 2=m Jichter Weite. Ein solcher 
wurde, mit einem am Ende abgerundeten Stachel versehen, in die Tuba 
Eustachü eingeführt, alsdann der Stachel herausgezogen. Hat man entweder 
den Schädel median durchsägt oder am undurchsägten Schädel den Unterkiefer 
exarticulirt, so gelingt die Einführung des Troicars leicht, namentlich, wenn 
man sich einmal die Richtung des knöchernen Theiles der Tuba gemerkt hat. 

Die Richtung der Tuba bringt es mit sich, dass das gerade Rohr, 
welches durch sie in die Paukenhöhle eingeführt wird, in dieser mit keinem 
Theile des schallleitenden Apparates in Berührung kommt, dessen Function 
also nicht stört. Das Rohr darf nicht bis zum Aufstossen auf die gegen- 


506 W. A. NAGEL UND A. SAMOJLOFF: 


überliegende Wand der Paukenhöhle eingeführt bleiben, um den Eintritt 
des Gases nicht zu hemmen. 

Zur Ableitung des Leuchtgases zum Brenner wird die Paukenhöhle von 
der Unterseite des Schädels her angebohrt, da ihre Wand, stark verdünnt, 
sich als Bulla ossea (auditiva) blasig vorwölbt. Die Knochenlamelle ist dort 
beim erwachsenen Schafe !/, bis 1!/, "" dick (bei einem Pferdeschädel fanden 
wir sie eher noch dünner, als durchschnittlich beim Schafe). 

Wir bohrten nach Entfernung der Weichtheile zunächst mit einem 
elektrisch betriebenen Bohrer ein kleines Loch, das dann mit einer birn- 
förmigen Fraise, wie sie die Zahnärzte benützen, auf 5 bis 6" erweitert 
und an seinen Rändern geglättet wurde. In dieses Loch wurde, nachdem 
die dasselbe noch verschliessende Schleimhaut der Paukenhöhle, soweit 
nöthig, abgetragen war, ein Gummischlauch eingesetzt, der sich eben noch 
einzwängen liess, dem Knochenrande also luftdicht anlag und nicht leicht 
herausfallen konnte. Dieser Schlauch führte zu einem Brenner aus Platin 
mit sehr feiner Oeffnune. Die Weite dieser Öeffnung war so bemessen, 
dass die Flamme bei vollem Druck der Leuchtgasleitung (etwa 3 ©” Wasser- 
säule) ungefähr 3°® hoch brannte. Diesen vollen Gasdruck verwendeten 
wir indessen bei unseren Versuchen nicht, sondern setzten durch theilweises 
Zudrehen des Hahnes an der Gasleitung den Druck in der Paukenhöhle 
auf etwa !/, ® Wasser herab. Die Flamme brannte dann etwa 1® hoch. 

Um die Flamme stärker leuchtend zu machen, leiteten wir bei einem 
Theile der Versuche das Gas über Benzin. 

Wird nach diesen Vorbereitungen das Trommelfell in Schwingungen 
versetzt, so reagirt die Flamme deutlich auf dieselben. 

Eine noch einfachere Herrichtung des Präparates, welche allerdings 
weniger ausgiebige Reaction der Flamme ergiebt, sich aber andererseits zur 
Ausführung des Versuches am lebenden Thiere und Menschen eignen würde, 
ist die folgende. Die Paukenhöhle wird überhaupt nicht angebohrt, sondern 
es wird nur, wie oben beschrieben, in die Tuba Eustachii eine Röhre ein- 
geführt, die für diesen Fall möglichst weit gewählt wird. Ihre äussere 
Mündung wird mit einem T-Rohre verbunden, dessen einer Schenkel mit 
der Gasleitung communieirt, während der andere zur empfindlichen Gas- 
flamme führt. Die Paukenhöhle ist bei dieser Anordnung gewissermaassen 
als ein seitlicher Divertikel an die Gasleitung angeschlossen und die 
Schwingungen des Trommelfelles ertheilen dem Leuchtgas Stösse, die immer 
noch stark genug sind, um die Flamme deutlich reagiren zu lassen. 

Um die Versuchsbedingungen nach Möglichkeit zu vereinfachen, speciell 
die modifieirende Wirkung verschiedener Stellungen des äusseren Ohres 
auszuschalten, schnitten wir dieses bei unseren Versuchen ganz ab und 
liessen nur den knorpeligen Gehörgang stehen. In diesen wurde ein kurzes, 


SCHALLSCHWINGUNGEN IM MITTELOHR. 507 


möglichst weites Glasrohr eingebunden, welches seinerseits durch einen 
weiten Gummischlauch mit einem passenden Mundstück verbunden werden 
konnte. Um den Schallwellen den Weg zum Trommelfell frei zu halten, 
zeicte es sich nothwendig, das in dem Gehörgang eingebundene Rohr stets 
etwas anzuziehen und dadurch den Gehörgang gerade zu strecken. 

Mit dem so hergerichteten Präparate lassen sich nun mancherlei Be- 
obachtungen anstellen. 


Bei einem gut gelungenen Präparate ist die Reaction des Trommel- 
felles und damit der Flamme recht empfindlich. Die Töne der einmal 
gestrichenen Octave, auf einer hölzernen Lippenpfeife hervorgebracht, er- 
zeugen. noch auf ?/, ” Abstand deutlich Schwingungen. Wird dicht vor 
dem in den Gehörgang eingeführten Rohre gesungen, gesprochen oder ge- 
pfffen, so antwortet die Flamme mit sehr starken Schwingungen. Selbst 
auf leises Flüstern reagirt sie. 

Wir richteten unser Augenmerk zunächst auf die Wiedergabe der 
Vocalschwingungen. In der That ist das Bild der einzelnen Vocale sehr 
charakteristisch ausgeprägt, so dass die Vocale, wenn man sie auf dem 
gleichen Ton singt, stets leicht wiederzuerkennen sind, wie die beifolgenden 
Figuren zeigen. Da das Photographiren dieser lichtschwachen Flamme bis 
jetzt nicht möglich ist, haben wir eine Anzahl solcher Vocalcurven aus 
freier Hand nachgezeichnet, um zu zeigen, wie deutlich die einzelnen Vocale 
charakterisirt sind (Figg. 1 und 2). 

Die Zeichnungen stellen gewissermaassen das Negativ des wirklich ge- 
sehenen Bildes dar, d. h. die leuchtenden Theile der Flamme sind dunkel, 
die blassblauen Theile hell gezeichnet. Aufschluss über das Wesen der 
Vocalklänge geben derartige Curven nicht, da sie nicht, wie die Hermann’- 
schen phonophotographischen Curven, bestimmte charakteristische „Formant- 
schwingungen“ erkennen lassen. Könnte man die Flammencurven auf eine 
mechanische Weise, etwa durch Photographie fixiren, so würden sie den 
Hermann’schen Curven nicht gleichen; sie müssten, gemäss ihrer Ent- 
stehungsweise, zu den Curven, die man durch directe Registrirung der 
Trommelfellschwingungen erhalten würde, sich so verhalten, wie die tacho- 
graphischen Curven zu den sphygmomanometrischen Curven, d. h. sie 
müssten die Differenciationscurven jener darstellen. 

Wenn sich nun, zu Folge der unvollkommenen Reproduction, die 
Flammencurven zu Zwecken der exacten Vocalanalyse nicht eignen, so 
können sie immerhin dazu dienen, die charakteristische Verschiedenheit der 
den einzelnen Vocalen entsprechenden Schwingungsformen zu demonstriren, 
und zwar hat die hier beschriebene Versuchsanordnung vor der sonst 
üblichen den Vorzug, dass an Stelle der in der König’schen Kapsel 


508 W.A. NAGEL UND A. SAMOJLOFF: 


verwendeten Gummimembran eine in der denkbar günstigsten Weise ge- 
dämpfte Membran, ein frisches thierisches Trommelfell, zur Aufnahme 
der Schwingungen dient. Thatsächlich zeigten auch unsere Flammencurven 
erheblich mehr Details, als der gewöhnliche König’sche Flammenapparat. 

Eine Vergleichung der Figg. 1 und 2 zeigt, dass bei verschiedener 
Tonhöhe gesungener Vocale sich nicht nur die Periodenlänge, sondern über- 
haupt die Form der Curven ändert und gewisse Eigenthümlichkeiten der ein- 
zelnen Vocaleurven mehr 
beim tieferen, andere 
mehr beim höheren Tone 
hervortreten. Von Inter- 
esse sind die J-Curven; 
auf den Ton f gesungen, 
gab uns dieser Vocal stets 
Bilder wie in Fig. 1J, 
d.h. eine Folge von brei- 
ten runden Zacken, die 
unter sich vollkommen 
gleich sind. Vergleichung 
mit der A-Curve bei 
gleicher Tonhöhe und glei- 
cher Drehungsgeschwin- 
digkeit des Spiegels zeigt, 
dass je 2 dieser Zacken 
zusammen die Periode 
des Grundtones bilden, 
die Periode des ersten 
Obertones also ganz auf- 


Fig. 1. NE 
Flammencurven der Vocale A, E, J, O, U, auf den Ton f fällig stark hervortritt, 
vor einem triehterförmigen Mundstück gesungen. Singt man um eine Quinte 


tiefer, auf c, so kommt 
die J-Periode deutlich zum Ausdruck, indem die beiden Zacken ungleich 
gross und breit werden (Fig. 2). Noch deutlicher ist die Periode aus- 
geprägt, wenn man, wie es bei den Curven der Fig. 3 geschah, statt 
vor einem trichterförmigen Mundstück zu singen, ein mit dem Gehörgang 
des Hammelkopfes verbundenes Glasrohr in die Mundhöhle bis hinter die 
Zahnreihen einführt. Die eine der beiden Zacken ist dann nochmals 
gespalten (Fig. 3). 
" In Hermann’s phonophotographischen J-Curven ist dieses Hervortreten der 


Periode des ersten Obertones zum Theil nicht ausgeprägt. Die Curven des langen J 
(Pflüger’s Archiv. Bd. LXI. Taf. V) zeigen die Erscheinung überhaupt nicht, sie 


SCHALLSCHWINGUNGEN IM MITTELOHR. 509 


Die letzterwähnte Methode, die Einführung eines Rohres in die Mund- 
höhle, dürfte vielleicht für Phonetiker noch weiterer Verwerthung fähig 
sein. Man bemerkt nämlich leicht, dass die Schwingungsform von Trommel- 
fell und Flamme sich sehr erheblich ändert, je nachdem man das Rohr 
mehr oder weniger tief in den Mund einführt. So kann man auf diese 
Weise feststellen, wie stark und wie beschaffen die Luftschwingungen sind, 
die wir beim Bilden der einzelnen Vocale und Consonanten in den ver- 


Flammencurven der Vocale A, E, J, O, U, auf den Ton e vor einem trichterförmigen 
Mundstück gesungen. 


verschiedenen Theilen des „Ansatzrohres‘“ erzeugen. So ist z.B. das Flammen- 
bild des Z sehr verschieden, je nachdem man das Rohr dicht hinter den 
Zahnreihen oder hinten am Zungengrunde endigen lässt. Die Schwingungen, 
die in dem hinter den Zähnen liegenden Resonanzraume entstehen, sind 
bei 5 und Sch charakteristisch verschieden u. s. w. 


bestehen aus einer einzigen grossen Welle mit aufgesetzten kleinen Wellen. Unter den 
Curven des kurzen J (a. a. O., Taf. VI) findet sich dagegen eine, deren Periode deut- 
lich zweigetheilt ist. Andere, bis jetzt nicht veröffentlichte Curven des kurzen J, die 
Hr. Geheimrath Hermann uns gütigst zur Verfügung stellte, zeigen diese Zweitheilung 
überall deutlich. 


510 W. A. NAGEL UND A. SAMOJLOFF: 


Sehr gut lässt sich auf diese Art auch das Mitschwingen der Nasen- 
luft bei Bildung der nasalirten Vocale und der „nasalen“ Resonanten 
demonstriren. An, den, On, M, N, Ng zeigen charakteristische Schwingungs- 
formen, wenn man das schallleitende Rohr mehr oder weniger tief in die 
Nasenhöhle einführt. 

Lässt man, wie wir es allerdings bei unseren Versuchen nicht thaten, 
die Ohrmuscheln an dem Hammelkonfe stehen, so wird man Versuche 


Fig. 3. 
Flammencurven der Vocale A, E, J, O, U, auf den Ton ce gesungen, während das 
schallleitende Rohr in die Mundhöhle bis hinter die Zahnreihen eingeführt war. 


über die Bedeutung der verschiedenen Stellungen des äusseren Ohres zur 
Richtungsperception anstellen können, indem man bei constanter Lage der 
Schallquelle und verschiedenen Öhrstellungen die jeweilige Intensität der 
Trommelfellschwingungen vergleicht. Auch über die Function des Tensor 
tympani liesse sich auf diesem Wege wohl Neues ermitteln. Döch lagen 
diese Beobachtungen ausserhalb unseres Versuchsplanes. 

Dagegen haben wir einige Versuche ausgeführt, die hinsichtlich der 
Frage der „craniotympanalen“ Schallleitung von Interesse sind. Wir wählten 
eine Stimmgabel, von der wir zuvor festgestellt hatten, dass sie, vor den 
Gehörgang gehalten, Trommelfell und Flamme zur Schwingung brachte. 


SCHALLSCHWINGUNGEN IM MITTELOHR. 511 


Diese setzten wir schwingend auf einen Schädelknochen des Hammelkopfes 
auf und beobachteten deutliche Reaction der Flamme. Diese wurde noch 
verstärkt, wenn die äussere Mündung des Gehörganges ver- 
schlossen wurde. Dies ist ein neuer Beweis für die Unrichtigkeit der 
alten Harless’schen Anschauung!, wonach der Versuch von Weber? und 
Wheatstone? (— eine zwischen den Zähnen gehaltene Stimmgabel hört 
man lauter, wenn man die Gehörgänge verschliesst —) auf Urtheils- 
täuschung zurückgeführt wird. Der Versuch zeigt vielmehr, dass die 
Schwingungen des Trommelfelles objectiv stärker werden, wenn der Gehör- 
gang nach aussen abgeschlossen wird, dass also offenbar die Schwingungen 
vom Knochen auf die Luft des Gehörganges und von dieser auf das 
Trommelfell übertragen werden können. 

Dass die eraniotympanale Leitung diesen Namen wirklich verdient, 
also das Trommelfell bei Erschütterung der Kopfknochen durch einen 
tönenden Körper wirklich ein wichtiges Mittelglied zur Uebertragung der 
Schwingungen auf das innere Ohr darstellt, zeigt auch ein anderer Ver- 
such. Nachdem wir die Stelle an dem Hammelschädel aufgesucht hatten, 
auf welche man die tönende Stimmgabel aufsetzen musste, um möglichst 
starke Flammenreaction zu erhalten, verhinderten wir das Trommelfell am 
Mitschwingen, indem wir geschmolzenes Paraffiin oder Quecksilber in den 
Gehörgang gossen.! 

Die craniotympanale Reaction fehlte jetzt, d. h. die Flamme zeigte 
nicht die geringste Reaction auf die aufgesetzte Stimmgabel. Nach Aus- 
siessen des Quecksilbers reagirte sie wie zuvor. 

Uebrigens konnten wir auch den Berthold’schen Versuch? bestätigen, 
bei welchem bekanntlich der äussere Gehörgang eines lebenden Menschen 
in eine Gaskammer verwandelt wird, und die damit verbundene empfind- 
liche Flamme schwingt, wenn die Versuchsperson ihre Stimme ertönen lässt 
oder eine Stimmgabel auf ihre Kopfknochen aufgesetzt wird. 

Natürlich beweisen alle diese Versuche nicht, dass es nicht ausser der 
„eraniotympanalen“ Leitung auch eine direete craniale durch den Knochen 
zum inneren Ohre gebe. Andere Versuche machen dies ja wahrscheinlich. 


! E.Harless, Artikel „Hören“ in R. Wagner’s Handwörterbuch der Phy- 
‚siologie. Bd. IV. 

® E.H. Weber, Annotat. anat. et physiol. 1827. p. 42. 

3 Wheatstone, Quart. Journ. of Science. 1827. Vol. 1. 

! Von dem in die Bulla ossea gebohrten Loche aus, das während der Versuche 
selbst natürlich geschlossen blieb, konnte man sich überzeugen, dass das Trommelfell 
von der eingegossenen Masse zwar innig berührt, aber nicht durchrissen wurde. 

® E. Berthold, Monatschrift für Ohrenheilkunde. 1872. Nr. 3. 


Ueber den 
untermaximalen Tetanus der quergestreiften Muskeln. 


Von 


Dr. Alexander Samojloff, 
Privatdocenten an der Universität Moskau, 


(Aus dem physiologischen Institut zu Freiburg i. Br.) 


Wenn man einen quergestreiften Muskel mit einer Reihe von Inductions- 
schlägen zur Thätigkeit anregt, so erhält man, abgesehen von etwaigen 
Erscheinungen der Summation oder Ermüdung, eine Reihe von Zuckungen, 
deren Höhen im Allgemeinen unter einander gleich sind. Dieser Satz muss 
aber insofern eine Einschränkung erfahren, als die Gleichheit der Zuekungs- 
höhen meist nur bei Anwendung maximaler Reize zu beobachten ist. Werden 
unter sonst gleichen Bedingungen die Reize untermaximal, so beantwortet 
der Muskel dieselben mit niedrigeren Zuckungen, die aber häufig von un- 
gleicher Höhe sind, ohne dass sich dabei irgend eine Gesetzmässigkeit ab- 
leiten liesse. An diese Erscheinung der unregelmässigen Muskelreaction 
auf eine Reihe untermaximaler Einzelreize knüpft sich eine andere, die 
vermuthlich mit: der besprochenen in Beziehung steht. Wird ein Muskel 
durch maximale Reize in tetanische Contraction versetzt, so erhält man 
eine Curve, die im Allgemeinen als glatt und regelmässig bezeichnet werden 
kann. Werden die Reize abgeschwächt, so äussert sich die nun veränderte 
Reaction des Muskels nicht nur darin, dass die Tetanuscurve der Abseissen- 
axe sich nähert, sondern dass sie zu gleicher Zeit auch vollständig unregel- 
mässig wird. Man sieht an der Curve Vertiefungen und Erhebungen, ohne 
dass man hierfür einen Grund anführen könnte; die Unregelmässigkeiten, 
die der Curve ein vollständig entstelltes Aussehen verleihen, erscheinen 
durchaus unmotivirt. 

Diese Erscheinung des unregelmässigen Verlaufes eines untermaximalen 
Tetanus ist schon seit lange bekannt und jeder Physiologe wird sie wohl 


ALEXANDER SAMOJLOFF: ÜBER DEN UNTERMAXIM. TETAnus v. s.w. 513 


gelegentlich gesehen haben; doch wurde sie bis jetzt wenig beachtet und 
nicht speciell untersucht. Wenn man aber bedenkt, mit welcher Beständig- 
keit das Phänomen auftritt, mit welcher Hartnäckigkeit, könnte man sagen, 
die Unregelmässigkeiten der Curve des untermaximalen Tetanus anhaften, 
so wird man zugeben müssen, dass eine nähere Prüfung der Frage geboten 
ist. Wir haben es hier nicht mit einer flüchtigen Erscheinung zu thun, 
die ein Mal auftritt, das andere Mal unter denselben Bedingungen ausbleibt. 
Im Gegentheil, der unregelmässige Verlauf einer untermaximalen tetanischen 
Curve ist ebenso leicht zu demonstriren, wie der regelmässige Verlauf einer 
maximalen Curve. Man ist im Stande, ohne Weiteres einen Muskel eine 
lange Reihe abwechselnder regelmässiger und unregelmässiger Curven 
schreiben zu lassen, je nachdem man maximale oder untermaximale In- 
duetionsströme anwendet (s. Fig. 1). 


Fig. 1. 
Glatte maximale und unregelmässige untermaximale Tetani. 


Auch aus einem anderen Gesichtspunkte bietet die zu behandelnde 
Frage ein Interesse. Es steht fest, dass unsere sämmtlichen willkürlichen 
Bewegungen in der Weise zu Stande kommen, dass die quergestreiften 
Muskeln sich tetanisch eontrahiren; und zwar, worauf es hier ganz be- 
sonders ankommt, erreicht die Contractionshöhe lange nicht das mögliche 
Maximum. Unsere Bewegungen setzen sich zusammen, könnte man sagen, 
ausschliesslich aus untermaximalen Tetanis, die aber in diesem Falle durch- 
aus regelmässig sind. Es kommt also jedenfalls dem Muskel die Eigen- 
schaft, einen glatten untermaximalen Tetanus zu liefern, zu. Das that- 
sächliche Auftreten oder Nichtauftreten desselben hängt demgemäss von 
einigen Bedingungen ab, die im Falle einer willkürlichen Contraetion realisirt 
sind und im Falle einer künstlichen directen oder indireeten Reizung des 
Muskels fehlen. 

Die erste Frage, auf die es bei der Untersuchung der Unregelmässig- 
keiten des untermaximalen Tetanus ankommt, ist selbstredend die Frage 
nach der Art der Reizung. Reizt man ein in der üblichen Weise her- 


gestelltes Nerven-Muskelpräparat mit Inductionsströmen eines gewöhnlichen 
Archiv f. A. u. Ph. 1898. Physiol. Abthlg. 33 


514 ALEXANDER SAMOJLOFF: 


Schlittenapparates mit Wagner’schem Hammer, und bekommt man bei 
grösserem Abstande der Roilen die geschilderten Unregelmässigkeiten, so 
wird wohl die nächste Annahme die sein, dass das ganze Phänomen auf 
der Ungenauigkeit der Reizmethode beruht. Die Art der Unterbrechung 
des primären Stromes, wie sie durch das Spiel des Wagner’schen Hammers 
bewirkt wird, giebt keine Garantie dafür, dass die auf einander rasch 
foleenden Reize einer dem anderen gleich sind. Im Gegentheil, man kann 
mit Bestimmtheit sagen, dass die in Folge der Selbstinduction zu Stande 
kommende Funkenbildung und die daran sich anschliessende Oxydation der 
Contactstelle eine gewisse Unregelmässigkeit der Reize bedingt. Man kann 
sich deshalb die Sache so aus einander legen, dass bei Anwendung maximaler 
Induetionsströme die Veränderungen der Stärke der einzelnen Schläge sich 
in denjenigen Grenzen bewegen, die noch oberhalb der zur maximalen 
Muskelcontraction nöthigen Stärke liegen. Der Muskel würde deshalb auf 
jeden einzelnen derartigen Reiz in jedem Falle maximal reagiren und bei 
rascher Folge der Reize eine glatte Tetanuscurve schreiben. Bei unter- 
maximalen Reizen dagegen ist der Muskel noch im Stande, auf etwaige 
Aenderungen der Reizstärke im positiven oder negativen Sinne mit einer 
stärkeren oder schwächeren Contraction zu reagiren, was im Falle einer teta- 
nischen Contraetion zu Unregelmässigkeiten im Ablaufe der Curve führen 
würde. Wenn man die Erscheinung von diesem Standpunkte beurtheilen 
dürfte, so würde die Curve des untermaximalen Tetanus nur die Mangel- 
haftigkeit der Reizmethode illustriren und man müsste dann dem ganzen 
Phänomen jede biologische Bedeutung absprechen. — Andererseits könnte 
man auch versucht sein, die Ursache der geschilderten Unregelmässig- 
keiten in einer anderen Versuchsbedingung zu vermuthen. Wenn man 
ein Nerven-Muskelpräparat zum Versuche verwendet, so hat man doch 
immer mit Organtheilen zu thun, die mehr oder weniger beschädigt sind, 
und man könnte von vornherein diese Beschädigung als bedingendes oder 
wenigstens als mitwirkendes Moment betrachten, was in Anbetracht der 
Thatsache, dass der unversehrte quergestreifte Muskel auf natürliche Reize 
mit glatten untermaximalen Tetanis reagirt, nicht unwahrscheinlich ist. 
Die eben entwickelte Meinung dürfte wohl der allgemeinen Anschauung 
entsprechen. Schon Tiegel! lehrte, dass man Reihen völlig gleichmässiger 
untermaximaler Zuckungen bei tadelloser Reizmethode und bei Anwendung 
gewisser Vorsichtsmaassregeln hinsichtlich des Präparates sicher erhalten 
könne. Man hat wohl meist angenommen, dass die gleichen Bedingungen 
auch genügen müssten, um von jeder Unregelmässigkeit freie, „glatte“, 
untermaximale Tetani zu erhalten. 


‘ Arbeiten aus der physiologischen Anstalt zu Leipzig. 1874. 


ÜBER DEN UNTERMAXIM. TETANUS DER QUERGESTREIFTEN MUSKELN. 515 


Will man demnach die Natur der untermaximalen Tetani näher prüfen, 
so muss man vor Allem die beiden angedeuteten Fehlerquellen möglichst 
auszuschliessen suchen. Es kommt also darauf an, tadellos hergestellte 
Präparate zu benutzen und eine Reizmethode zu wählen, die von den be- 
sprochenen Mängeln frei wäre. 

' Sämmtliche unten anzuführende Versuche wurden an indireet gereizten 
Froschgastroenemien ausgeführt. Die Präparation geschah in der Weise, 
dass an einem in gewöhnlicher Weise geköpften Frosche mit zerstörtem 
Rückenmarke die Haut vom Unterschenkel nach oben abgezogen, der Gastro- 
cnemius frei präparirt, die Tibia am oberen Drittel ihrer Länge abgeschnitten 
und oberhalb des Schnittes mit einem kräftigen Faden zugebunden wurde. 
Durch einen Schlitz in der Haut nahe dem Kniegelenke wird dann der 
Tibia-Rest vermittelst des Fadens emporgezogen und am Rande eines hori- 
zontalen Brettchens, auf welchem der Froschkörper gelagert ist, befestigt. 
Der Gastrocnemius hängt somit vertical, eingehüllt in einen Hautmantel, 
aus dessen unterem Rande die Achillessehne hervorragt. Letztere wird 
dann mit einem leichten Hebel von isotonischer Anordnung verbunden. 
Der Ischiadicus wird nur an einer kurzen Strecke seines Verlaufes ent- 
blösst und zwischen dem Nerven und den Weichtheilen ein dünnes be- 
feuchtetes Gummiblättchen hineingeschoben. Die unpolarisirbaren Thon- 
elektroden werden dann von oben dem Nerven angelegt und die Strecke 
zwischen den Elektroden mit einem Gummiblättchen zugedeckt. Es ist 
leicht zu ersehen, dass bei dieser Art der Präparation der Nerv und der 
Muskel am schonendsten behandelt werden können. 

Was die zweite Bedingung anbetrifit, so war es klar, dass, so lange 
es sich um Inductionsströme handelt, man von allen denjenigen Reizappa- 
raten, bei denen Contactunterbrechung und Funkenbildung in’s Spiel 
kommen, wird absehen müssen. Vor Allem wurde versucht, das Telephon 
als Reizinstrument anzuwenden. Zu diesem Zwecke wurde vor der Telephon- 
platte eine Labialpfeife, deren Ton ungefähr 300 Schwingungen in der 
Seeunde machte, befestigt. Von den Telephonpolen gingen die Drähte zu 
einem Du Bois-Reymond’schen Schlüssel und von hier zu einem Wider- 
standskasten (10000 Ohm), von welchem dann der Strom zum Nerven 
abgezweigt und durch Stöpselung in seiner Stärke regulirt werden konnte. 
Bei den ersten Versuchen wurde die Pfeife vermittelst des Blasebalges in 
der Weise angeblasen, dass man die Luft bis zum Oeffnen des Sicherheits- 
ventils in den Blasebalg hineintrieb und dann die der Pfeife entsprechende 
Taste andrückte. Man vernahm dabei einen für das Ohr vollständig regel- 
mässig erscheinenden Ton, dessen Stärke allmählich abnahm. Während 
des Anblasens der Pfeife wurde der Schlüssel auf kurze Zeiten geöffnet 


und der Muskel gereizt. 
335 


516 ALEXANDER SAMOJLOFF: 


Viele in dieser Weise angestellte Versuche ergaben ausnahmslos ein 
und dasselbe Resultat: bei Reizung mit schwachen Strömen erhält man 
unregelmässige Curven. Es sei hier bemerkt, dass die Unebenheiten der 
Curve besonders deutlich ausgepräst sind am Anfange des Versuches, wenn 
der Muskel noch vollständig leistungsfähig ist. Wird der Versuch iange 
fortgesetzt und treten Ermüdungserscheinungen ein, so werden zuweilen die 
Curven vollständig glatt, auch wenn man nicht maximale Reize anwendet. 
In diesem Falle sind aber schon die maximalen Tetani sehr niedrig im 
Vergleich zur anfänglichen Höhe, und die Höhe der untermaximalen Tetani 
unterscheidet sich nun nur wenig von den maximalen. Wird die Strom- 
stärke kleiner gemacht, so bekommt man keine Contraction mehr; der 
Muskel befindet sich also in einem Zustande, in welchem für ihn der 
Unterschied zwischen maximalen und minimalen Reizen gering ist. Wenn 
man andererseits am vollständig frischen Präparate den Versuch in der 
Weise ausführt, dass man die maximalen Reize successive abschwächt, so findet 

man gewöhnlich eine Reiz- 
stärke, bei der der Muskel 
eine unregelmässige Curve 
schreibt, ‘ohne dass der unter 
diesen Bedingungen zu Stande 
gekommene Tetanus auf den 
ersten Blick deutlich unter- 
maximal erschiene; denn that- 
sächlich nähert sich die Curve 


1 2% ; E 
Ä AR sehr wenig der Abscissenaxe. 
Glatte maximale und unregelmässige unter- 
maximale Tetani. (Telephon und Pfeife.) Und, was besonders merk- 


würdig ist, man beobachtet: 
nicht selten, dass der mit untermaximalen Reizen gereizte Muskel bei der 
angegebenen Versuchsanordnung etwas höhere, aber unregelmässige Curven 
liefert, wie vorher, als er stärker gereizt wurde und glatte Curven schrieb 
(Fig. 2). Man kann demnach sagen, dass der nächste Effeet der Ab- 
schwächung maximaler Reize sich darin äussert, dass die Contraetion un- 
regelmässig wird und nicht darin, dass sie kleiner wird. 

Was die in dieser Reihe von Versuchen angewandte Reizmethode an- 
betrifft, so könnten wohl Zweifel erhoben werden, ob das Anblasen der 
Pfeife mit dem Blasebalg nicht mit Unregelmässigkeiten verbunden ist. 
Denn es ist möglich, dass beim Zusammenfallen des Blasebalges unbedeu- 
tende Luftstösse erzeugt werden, die die Stromstärke beeinflussen. Es wurden 
deshalb einige Modificationen in der Versuchsanordnung vorgenommen. 
Erstens wurde die Pfeife in einer Reihe von Versuchen in anderer Weise 
angeblasen. Ein grosses Luftreservoir wurde mit dem Hahne der Wasser- 


‚ÜBER DEN UNTERMAXIM. TETANUS DER QUERGESTREIFTEN MUSKELN. 517 


leitung verbunden, und, nachdem der Luftdruck im Inneren des Reservoirs 
durch Einfliessen von Wasser auf 70 bis 80 "= Hg gestiegen war, der Hahn 
aufgedreht und die Pfeife angeblasen. In einer anderen Reihe von Ver- 
suchen wurde versucht, die Telephonströme nicht durch Ansprechen der 
Telephonplatte zu erzeugen. Das Gehäuse und die Platte wurden vom 
Telephon entfernt, der Magnetkern horizontal befestigt und vor den Polen 
des letzteren eine elektromagnetisch getriebene Stimmgabel von 120 ganzen 
Schwingungen horizontal aufgestellt. Diese Vorrichtung hatte allem An- 
scheine nach den Vorzug vor den früheren, dass man auf einen vollständig 
regelmässigen Gang der Stimmgabel in Anbetracht ihrer grossen Schwung- 
masse rechnen konnte. Die Inductionsströme wurden somit bei dieser 
Versuchsanordnung erzeugt durch schnellen Wechsel des Abstandes der 
einen Zinke der oscillirenden Stimmgabel vom Telephonkerne. 


Fig. 3. 


Schema der Versuchsanordnung mit der elektrischen Sirene. 


A = Axe. $= Scheibe der Sirene. Z= Elektromagnet. Sp. = Inductionsspirale, 
R = Stöpselrheostat. NV, und N, = Erster und zweiter Nerv. 8, und $, = Schlüssel. 


Auf demselben Principe der Inductionsstromerzeugung beruht bekannt- 
lich die von v. Kries construirte elektrische Sirene, deren Anwendung bei 
den in Rede stehenden Versuchen ebenfalls einen Dienst leisten konnte. 
Die Sirene besteht aus einer kreisrunden Messingplatte, deren Rand zahn- 
artig ausgeschnitten und in dem Raum zwischen den Zähnen durch Stücke 
weichen Eisens von entsprechender Grösse ausgefüllt ist (Fig. 38). Durch 
die Mitte der Scheibe geht eine Axe (A), um die die Scheibe rotirt werden 
kann. Unterhalb der Scheibe, entsprechend den Eiseneinsätzen, ist ein 
Elektromagnet (Z) angebracht, oberhalb der Scheibe befindet sich eine 
Spule (Sp), aus dünnem Draht gewickelt und mit einem Kern aus dünnen 
Drahtbündeln, in welcher sich Inductionsströme entwickeln, wenn die Scheibe 


518 ALEXANDER SAMOJLOFF: 


gedreht wird. Die Sirene ist frei von denjenigen Mängeln, die den In- 
ductionsapparaten mit Contactunterbrechung anhaften. Es kommt aber 
bei diesem Instrumente ganz besonders auf eine durchaus regelmässige 
Bewegung der Scheibe an; denn jede Ungenauigkeit in dieser Beziehung 
führt nicht nur zu Aenderungen der Zahl der Inductionsschläge pro Zeit- 
einheit, sondern auch, was noch wichtiger ist, zu Aenderungen in der 
Stromstärke, weil letztere eine Function der Geschwindigkeit ist, mit welcher 
die Scheibe gedreht wird. Bei den sogleich anzuführenden Versuchen wurde 
eine Scheibe mit 30 Zähnen gebraucht und die Sirene mit einem Wasser- 
bezw. Elektromotor in Bewegung gesetzt. Die Zahl der Stromstösse in der 
Secunde war zwischen 300 und 400. 

Das Resultat sämmtlicher in der angegebenen Weise angestellter Ver- 
suche (Telephon und Pfeife, Telephonkern und Stimmgabel, Sirene von 
v. Kries) war im Ganzen und Grossen dasselbe. Immer bekam man 
Unregelmässigkeiten der verschiedensten Art im Ablaufe der tetanischen 
Curve, sowie die Ströme untermaximal gemacht wurden. Es ist klar, 
dass, wenn man von der Fragestellung über die Natur der unregelmässigen 
untermaximalen Tetani ausgeht, d. h. ob die Unregelmässigkeiten eine 
Eigenschaft sui generis des Muskel-Nervenpräparates darstellen, oder ob 
dieselben von den Ungenauigkeiten der angewandten Reizmethode abhängen, 
das mitgetheilte Resultat nichts Entscheidendes in der Frage bringt. Denn 
auch bei der sorgfältigsten Anstellung der Versuche mit den beschriebenen 
Apparaten ist doch nicht jede Möglichkeit einer Fehlerquelle der Reizung 
auszuschliessen, so lange man unglatte Tetani erhält. Die einzige Controle 
der Exactheit der Reizmethode war in den angeführten Versuchen dem 
Muskel, dessen Eigenschaften vermittelst derselben Reizmethode geprüft 
werden sollten, überlassen; das erhaltene Resultat könnte somit einer 
Gleichung mit zwei Unbekannten verglichen werden. 

Um eine von den angegebenen Möglichkeiten ausschliessen zu können, 
blieb nichts Anderes übrig, als den reizenden Strom nicht einem, sondern 
zweien Nerven zu gleicher Zeit zuzuführen. Es wurden deshalb sämmtliche 
Versuche mit Reizung der Nn. ischiadici beider Extremitäten wiederholt. 
Die Anordnung des Versuches und die Stromabzweigung zu den Nerven 
ist aus der Fig. 3 zu ersehen. Bei den Versuchen mit der Sirene wurde 
zum Einleiten des Reizes zuerst der Schlüssel 5, geschlossen und dann &, 
geöffnet; beim Ausschalten des Reizes wurde 8, geschlossen und darauf 8, 
geöffnet. Bei den Telephonversuchen kamen die Telephondrähte in Ver- 
bindung mit dem Schlüssel $,. Durch Stöpselung am Rheostaten R lässt sich 
die für untermaximale Reize beider Nerven nöthige Stromstärke reguliren. 

Aus den in dieser Weise gewonnenen Myogrammen lässt sich mit 
Entschiedenheit der Schluss ziehen, dass jedenfalls die angewandten Reiz- 


ÜBER DEN UNTERMAXIM. TETANUS DER QUERGESTREIFTEN MUSKELN. 519 


methoden nicht tadellos sind. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle 
liess sich zwar niemals Congruenz, wohl aber ein unzweifelhafter Parallelis- 
mus der gleichzeitig geschriebenen Curven constatiren (Fig. 4); den Ver- 
tiefungen und Erhebungen der einen unglatten Curve entsprechen solche 
der anderen. Abgesehen davon, dass hiermit die Mangelhaftigkeit unserer 
besten Reizmethoden erwiesen ist, illustriren diese Versuche andererseits 
eine eminente Empfindlichkeit der Nerven und Muskeln gegenüber den 
geringsten Aenderungen der Reizstärken, wenn die Reize iiberhaupt nicht 
maximal sind. Besonders auffallend und merkwürdig war diese Empfind- 
lichkeit bei den Versuchen mit Telephon und Pfeife. Hier konnte man deutlich 
sehen, um wie viel der Muskel unser Ohr an Empfindlichkeit gegenüber 
den geringsten Reizänderungen über- 
trifft, sofern ein solcher Vergleich über- 
haupt gestattet ist. Es war seltsam 
anzusehen, wie während des Anblasens 
der Pfeife, deren Ton für das Ohr sich 
als vollständig gleichmässiger präsen- 
tirte, beide Myographionhebel zu gleicher 
Zeit nach oben oder nach unten sich be- 
wegten und somit die falsche Schätzung 
des Ohres und die Unregelmässigkeit 
des Tones verriethen. 

Wenn durch die obigen Versuche 
die Mangelhaftigkeit der Reizmethode 
somit vollständig dargethan ist, so liess 
sich dennoch nicht behaupten, dass Fig. 4. 
die Unregelmässigkeit der Reizung die Unregelmässige (untermaximale) Tetan 
alleinige Ursache des unglatten Aus- der beiden Präparate mit theilweise über- 
sehens der Curven sei. Die Curven einstimmendem Gang. 
wiesen im Allgemeinen einen Paralle- 
lismus auf; der Parallelismus war aber kein absoluter, und einen solchen 
konnte man auch unter keinen Umständen erwarten. Die Möglichkeit, 
dass es sich um eine combinirte Erscheinung handelt, deren Entstehungs- 
ursache sowohl in der Reizart, als auch in einer verborgenen Eigenschaft 
der gereizten Theile liegt, war noch nicht ausgeschlossen. Um demnach 
weiter kommen zu können, musste die Methode der Reizung nach Möglich- 
keit verbessert werden. Da unter allen Curven diejenigen, die bei An- 
wendung der Sirene gewonnen waren, den Parallelismus nicht so stark 
hervortreten liessen, so wurden die weiteren Versuche nur mit diesem 
Instrumente angestellt. Die einzige Fehlerquelle konnte hier in der Art 
des Antreibens der Sirene gesucht werden. Nach langem Probiren wurde, 


520 ALEXANDER SAMOJLOFF: 


nach Analogie mit anderen dergleichen Aufgaben, bei denen es sich um 
eine regelmässige Drehung um eine Axe handelt, auf die Anwendung der 
Motoren ganz verzichtet. Eine Schnur, an deren Ende ein passendes Ge- 
wicht angebracht war, wurde um die Axe der Sirene gewickelt und die 
Scheibe durch das Herabsinken des Gewichtes angetrieben. Ihre Bewegung 
während des allmählichen Auslaufens (nach Abfallen des Gewichtes) wurde 
für die Reizung benutzt. Hier, wo der Gang nur durch die Trägheit 
und die Widerstände bestimmt wird, aber durch keinerlei Antriebe, konnte 
man am ehesten hoffen, von Unregelmässigkeiten (Stössen u. dgl.) ganz 
frei zu bleiben. Natürlich nimmt bei der „frei laufenden“ Sirene, wie der 
Kürze halber gesagt werden mag, die Geschwindigkeit allmählich ab, wozu 
noch besonders die Wirkung des Elektromagneten beim geschlossenen Strome 
beiträgt. Die Reizfrequenz wurde annähernd in der Weise bestimmt, dass 
man die Enden der Inductionsspirale der Sirene mit einem Telephon ver- 
band und während der Umdrehung der Scheibe den Ton des Telephons mit 
demjenigen einer Pfeife verglich. Nach dieser Bestimmung war die Zahl 
der Reizanstösse der Sirene unmittelbar nach dem Herabfallen des Ge- 
wichtes 775 pro Secunde, nach einer halben Minute 580, nach einer 
Minute 435, nach 1!/, Minuten 258; nach ungefähr 2 Minuten waren die 
Ströme schon zu schwach wegen der erheblichen Verlangsamung der Be- 
wesunge. Im Uebrigen war die Versuchsanordnung wie bei den früheren 
Versuchen mit der Sirene (Fig. 3). Nach Allem, was ermittelt werden 
konnte, darf man sagen, dass die Reizung mit den Inductionsströmen 
der Sirene, die ohne Antriebe durch Trägheit läuft, einen durchaus tadel- 
losen Reiz darstellt. Die Curven der untermaximal gereizten Muskeln 
boten bei der verbesserten Reizmethode ein ganz anderes Aussehen, — es 
war in der That keine Spur von Parallelismus in den Unregelmässig- 
keiten der beiden zugleich gereizten Präparaten mehr zu beobachten. Im 
Gegentheil sah man gewöhnlich, dass sowohl die allgemeine Neigung der 
Curve, als auch die einzelnen Zacken durchaus unabhängig von einander 
verliefen, viele Male auch vollständig entgegengesetzte Richtungen ein- 
nahmen. Zur Illustration hierfür möge die Fig. 5 dienen, in welcher durch 
Anbringung einer grösseren Zahl von Marken, die bei stehender Trommel 
gemacht wurden, die Auffindung der gleichen Teiken entsprechen Punkte 
in beiden Öurven erleichtert ist. 

Konnte hiernach als zum Mindesten wahrscheinlich gelten, dass die 
ohne Motor laufende Sirene wirklich gleichmässige Reize liefert, so war 
nun auf dem Boden der bisherigen Anschauungen zu fragen, ob die Unregel- 
mässigkeiten auf irgend welche Mängel des Präparates (Verletzungen u. dgl.) 
zurückzuführen seien. Ich kann diese Frage mit Bestimmtheit verneinen. 
Die Kochsalzausspülung, die ich wiederholt geprüft habe, ändert an den 


ÜBER DEN UNTERMAXIM. TETANUS DER QUERGESTREIFTEN MUSKELN. 521 


Ergebnissen gar nichts. Um jede Verletzung des Nerven (auch die Zer- 
störung des Rückenmarks) zu vermeiden, verfuhr ich schliesslich, da die 
Narkotisirung mancherlei, hier nicht zu berührende Schwierigkeiten ergab, 
in der Art, dass an dem sonst ganz unversehrten Frosche mit grösster 
Schonung 1. wie in den früheren Versuchen eine kleine Stelle des Hüft- 
nerven am Oberschenkel zur Reizung aufgesucht und isolirt wurde, 2. eine 
Stelle am Beckenverlauf aufgesucht, herausgehoben und durch Abkühlung 
leitungsunfähig gemacht wurde. Ein solches Präparat entspricht, wie mir 
scheint, bei sorgsamer Ausführung den höchsten Anforderungen, die an die 
Intactheit der motorischen Gebilde selbst, der Circulation u. s. w. gestellt 


Fig. 5. =Ris.0. 
Unregelmässige Tetani beider Präparate ohne erkenn- Unregelmässiger Tetanus; 
baren Parallelismus. (Freilaufende Sirene; 30 zähnige freilaufende Sirene (30 zäh- 

Scheibe.) nige Scheibe). Völlig unver- 


sehrtes Präparat. 


werden können. Gleichwohl waren auch hier die untermaximalen Sirenen- 
tetani typisch unregelmässig, wie es Fig. 6 zeigt. 

Dass nun trotzdem der unglatte Verlauf kein nothwendiges Merkmal 
aller untermaximalen Tetani sein werde, liess sich wohl vermuthen. Die 
Einsicht, worauf es dabei ankommt, ergab sich aus einer Beobachtung, die 
ich schon zu Anfang angestellt hatte, als ich möglichst verschiedenartige 
Reizmittel anwendete. Ich hatte dabei auch gelegentlich die gewöhnlichen 
galvanischen Reize angewandt. Die Unterbrechung besorgte eine grosse 
König’sche Stimmgabel von 30 Schwingungen pro Secunde, die von einer 
zweiten ebensolchen elektromagnetisch angetrieben wurde. Die eine Zinke 


522 ALEXANDER SAMOJLOFF: 


derselben trug ein vergoldetes Knöpfchen, welches auf eine daneben 
fest aufgestellte Unterlage mit Platinplatte aufschlug und so den Strom, 
der im Uebrigen nach bekannten Methoden abgestuft wurde, 30 Mal pro 
Secunde unterbrach. 

Nicht ohne Ueberraschung nahm ich wahr, dass die sonst vergeblich 
erstrebten glatten untermaximalen Tetani auf diese Weise mit einfachen 
altbekannten Hülfsmitteln in grösster Vollendung zu erhalten waren! (Fig. 7). 


Fig. 7. 


Glatte untermaximale Tetani. 30 galvanische Reize pro Secunde. 


Da nun ein tieforeifender prineipieller Unterschied zwischen den gal- 
vanischen und den Sirenenreizen doch kaum wahrscheinlich war, so ergab 
sich die Vermuthung, dass der Grund der Unregelmässigkeiten für die 
Sirenentetani mit der einen Beson- 
derheit zusammenhängen möchte, 
in der sie sich von jenen noch 
unterscheiden: mit der hohen 
Frequenz der Reizanstösse. Und 
dies hat sich denn in der That 
bestätigt. Da man, um hin- 
reichende Stromstärken zu er- 
halten, die Sirene immer ziem- 
lich schnell laufen lassen muss, 
so wurde zu diesem Zwecke die 
30zähnige Scheibe durch eine 
solche mit nur einem Eisenzahne ersetzt. 

Die Reizfrequenz betrug nun im Laufe der ersten 1!/, Minuten 25 bis 
15 pro Secunde. Diese Zahl ist allerdings so klein, dass man nur unmittel- 


Fig. 8. 
Glatter (nahezu vollkommen) untermaximaler 
Tetanus (Sirene; einzähnige Scheibe). 


! Erforderlich ist natürlich, dass”der Kreis, in dem die Stromunterbrechung statt- 
findet, einen ziemlich grossen Widerstand hat, so dass die unvermeidlichen kleinen 
Schwankungen des Widerstandes an der Berührungsstelle des Goldknöpfehens mit dem 
Platin dagegen nicht in Betracht kommen. 


ÜBER DEN UNTERMAXIM. TETANUS DER QUERGESTREIFTEN MUSKELN. 523 


bar nach dem Herabfallen des Laufgewichtes nahezu vollkomene Tetani 
erhalten konnte (Fig. 8); später wurden dieselben unvollkommen und zeigten 
eine Zähnelung (Fig. 9), Wie aus den Figuren zu ersehen ist, bekommen 
bei dieser Versuchsanordnung in der That die untermaximalen Tetani ein 
glattes Aussehen. Sehr schön ist in der Fig. 9 zu sehen, wie der Muskel 
auf jeden einzelnen Reiz mit einer kleinen Zacke antwortet, ohne dass dabei 
irgend eine Unregelmässigkeit sich bemerkbar macht; verbindet man die 
Gipfel aller Zacken, so erhält man eine glatte Linie.! 

Was aber die Behandlung des Präparates anlangt, so erwiesen sich 
zur Sicherung dieses Resultates die umständlichen, vorher erwähnten Vor- 
sichtsmaassregeln nicht als un- 
erlässlich. Bei der einzähnigen 
Scheibe, wie beiden galvanischen 
Reizen werden die Tetani glatt, 
auch wenn das Rückenmark in 
gewöhnlicher Weise zerstört oder 
der Nerv hoch durchschnitten 
wird, und auch ohne Kochsalz- 
ausspülung. Nur daran habe 
ich festgehalten, ein nur kleines 


Stück des Nervenstammes am Fig. 9. 
Oberschenkelverlauf frei zu legen Glatter (unvollkommen) untermaximaler 
und ohne Verletzung für die Tetanus (Sirene; einzähnige Scheibe). 


Reizung zu isoliren. 

Die Bedingungen, die eingehalten werden müssen, wenn man glatte 
untermaximale Tetani erhalten will, sind also: schonende Herstellung des 
Präparates, tadelloser Reiz und geringe Reizfrequenz. 

Was den Reiz anbetrifft, so liegt die grosse Schwierigkeit, eine Reihe 
vollständig einander gleicher Ströme zu erhalten, ganz besonders dann vor, 
wenn man es mit Inductionsströmen zu thun hat. Verhältnissmässig leicht 
ist diese Aufgabe mit Anwendung des constanten Stromes zu lösen. Doch 
gelingt es auch, die Bewegung der elektrischen Sirene durch den Verzicht 
auf den Motor so zu gestalten, dass der Anforderung Genüge geschieht. 

Allerdings giebt es ein Mittel, auch bei hohen Reizfrequenzen glatte 
untermaximale Tetani zu bekommen, und dieses Mittel besteht in der Ab- 
kühlung des Muskels (Fig. 10). Die betreffenden Curven erhält man aber 
nur dann, wenn der Muskel so weit abgekühlt ist, dass die Contractionen 


! Hierin lag denn auch der weitere Nachweis, dass die Reizanstösse der frei 
laufenden Sirene wirklich gleichmässige sind, ein Nachweis, der allerdings durch das 
Fehlen eines erkennbaren Parallelismus in der Thätigkeit der beiden Präparate noch 
nicht mit derjenigen Sicherheit erbracht war, die man wünschen könnte. 


524 ALEXANDER SAMOJLOFF: 


sich sehr langsam vollziehen, und man gewinnt den Eindruck, als wären 
die Unregelmässigkeiten eher latent geworden, als wirklich beseitigt. 
Versuche ich eine Zusammenfassung meiner Ergebnisse, so möchte 
Folgendes zu sagen sein. Von den bisher hinsichtlich der untermaximalen 
Tetani meist gefürchteten Fehlerquellen sind erstlich die etwaigen Mängel 
des Präparates zwar auch zu beachten, aber doch von relativ geringem 
Belang. Sie sind ohne grosse Schwierigkeit zu vermeiden. Die einfache: 
Durchschneidung des Nervenstammes, das Verbleiben von Blutresten im 
Muskel können nicht jals Fehlerquellen gelten, denn es ändert sich durch 
das entgegengesetzteVerfahren nichts 
Wesentliches. Dagegen bestätigen 
meine Beobachtungen zweitens die 
enorme Empfindlichkeit des Präpa- 
rates gegen die kleinsten Schwan- 
kungen der Reizerzeugung bei allen 
auf Induction beruhenden Verfah- 
rungsweisen. Von Allem, was ich 
versucht habe, kann nur die ohne 
Motor laufende Sirene als tadel- 
loser Reizgeber bezeichnet werden. 
Dass diese wegen der schnell abnehmenden Geschwindigkeit zunächst noch 
sehr unvollkommen ist, versteht sich von selbst; die Gewinnung eines 
dauernd constanten und von Stössen freien Betriebes wird wohl zu er- 
reichen sein; ich habe in dieser Richtung noch keine ausgedehnteren 
Versuche gemacht. Als wichtigstes Ergebniss möchte ich aber drittens die 
Thatsache bezeichnen, dass die „Unregelmässigkeit“ der untermaximalen 
Tetani doch eine eigenartige Ursache im motorischen Nerven zu haben 
scheint, welche nur bei hohen Reizfrequenzen in’s Spiel kommt. Welches 
kann diese Ursache sein? Naturgemäss können hierüber nur Vermuthungen 
gegeben werden, doch kann man sich den Thatbestand etwa in der folgenden 
Weise analysiren. Die Vergleichung des Reizerfolges der ohne Motor 
laufenden Sirene bei einzähniger und bei 30zähniger Scheibe lehrt, dass 
gewisse Reizanstösse, in mässigen Intervallen sich folgend, ganz gleich- 
mässige Wirkungen hervorrufen, während bei sehr kurzem Intervall die 
Erfolge in einer unregelmässigen Weise schwanken. Im Grunde zeigt sich 
also hier, dass der Muskel so kurze Zeit nach einem erstmaligen Reiz- 
anstoss sich einem zweiten gegenüber modificirt verhält. Es liegt nicht zu 
fern, hier an gewisse Eigenthümlichkeiten zu denken, die hinsichtlich des 
Herzens bekannt sind. Ein Froschherzventrikel, der während einer Systole 
von einem Reiz getroffen wird, beantwortet diesen oft gar nicht, oft aber 
auch mit einer abgeschwächten abortiven Contraction. Lässt man einem 


Fig. 10. 
Glatter, untermaximaler Tetanus bei hoher 
Reizfrequenz (Sirene); abgekühlter Muskel. 


ÜBER DEN UNTERMAXIM. TETANUS DER QUERGESTREIFTEN MUSKELN. 525 


Ventrikel die Reizanstösse so häufig zukommen, dass er nicht jeden mit 
einer vollen Systole zu beantworten vermag, so sieht man zuweilen während 
längerer Perioden beständig wechselndes Verhalten, was daher rührt, dass 
fortdauernd mehr oder weniger abgeschwächte Contractionen stattfinden 
und somit auch jeder neue Anstoss immer wieder neue Zustände trifft. Die 
bekannte grosse Regelmässigkeit der Summationserscheinungen lehrt ja, 
dass für den Skeletmuskel ähnliche Modificationen nur für sehr kurze Zeiten 
bestehen können. Wenn aber auch die quergestreifte Muskelfaser bei sehr 
hohen Reizfreguenzen ein Analogon der sogenannten „refractären Periode“ 
darböte, so würde sich vermuthlich die Reizwirkung für jede Faser einiger- 
maassen schwankend gestalten, überdies würden aber jedenfalls die einzelnen 
Fasern unabhängig und unter einander ungleich sich verhalten. Der Nerv 
ist ja ein sehr viel beweglicheres Organ als der Muskel. Können wir das 
Verhalten des ivon seinem Nerven aus mit hohen Frequenzen gereizten 
Muskels mit demjenigen eines abgekühlten Ventrikels vergleichen, der von 
seinem erwärmten Vorhof aus sehr frequente Reizanstösse erhält? Erst 
weitere Untersuchungen werden uns hier klarer sehen lassen. Ein greif- 
bares Resultat der obigen Untersuchungen ist aber die Antwort auf die 
Frage, wie wir zu Werke gehen müssen, um einen von Unregelmässigkeiten 
freien (glatten) untermaximalen Tetanus zu erhalten. In Bezug auf die 
Behandlung des Präparates sind nur einige, nicht schwer zu realisirende 
Vorsichtsmaassregeln erforderlich. Die ohne Motor laufende elektrische Sirene 
und die galvanischen Reize (in beiden Fällen bei Einhaltung mässiger 
Frequenz) erfüllen die an das Reizmittel zu stellenden Anforderungen ohne 
grosse Schwierigkeit. Dass auch bei Anwendung von Inductionsströmen 
durch eine auf’s Höchste verfeinerte Technik sich das Gleiche erreichen 
lässt, können wir auf Grund der Versuche von Bohr! vermuthen; doch 
dürfte wohl die Gefahr, durch den kleinsten Mangel der Technik Störungen 
zu bekommen, einen ernstlichen Uebelstand bilden. 


Ich benütze mit Vergnügen diese Gelegenheit, Hrn. Prof. v. Kries 
für seine freundliche Unterstützung und Berathung bei Ausführung der 
vorliegenden Untersuchung meinen verbindlichsten Dank auszusprechen. 


1 Bohr, Dies Archiv. 1882. Physiol. Abthlg. S. 233. 


Verhandlungen der physiologischen Gesellschaft 
zu Berlin. 
Jahrgang 1898 —1899. 


I. Sitzung am 14. October 1898. 


1. Das auswärtige Mitglied Hr. H. KronEcker berichtet im Namen 
seiner Mitarbeiter über die Ergebnisse folgender Versuchsreihen: 


I. Ludmilla Schilina: Vergleich von Ludwig’s Kymograph 
mit Hürthle’s Tonographen. 
(Aus dem physiologischen Institute der Universität Bern.) 


Seitdem Vierordt (1855) Ludwig’s Kymographie als unbrauchbar 
erklärt und seine Sphygmographie, gestützt auf den Prof. der Maschinentechnik 
Redtenbacher, als allein geeignet dargestellt hat, um die Blutdruck- 
schwankungen aufzunotiren, hat Ludwig’s Methode Jahrzehnte lang die 
experimentelle Mediein mit einer Unzahl von werthvollen Kenntnissen be- 
reichert. Daneben sind aber immer wieder Versuche gemacht worden, die 
unzweifelhaften Mängel des Quecksilbermanometers zu beseitigen. A. Fick, 
Ludwig’s ältester Schüler, hat in seiner medieinischen Physik auf exacte 
Weise die Mängel von Vierordt’s Apparat gegen diejenigen des Kymographs 
abgewogen und kam zu dem Schlusse, dass „dieausdem Redtenbacher’schen 
Caleül abzuleitenden Vorwürfe den Sphygmographen in demselben, wo nicht 
in höherem Maasse als den Wellenzeichner treffen!“ 

Fiek construirte danach sein Federkymographion, in welchem die 
Blutwelle einer kleinen Masse nur geringe Geschwindigkeit ertheilt, indem 
man die Kräfte, welche die Masse in ihrer Gleichgewichtslage erhalten, 
recht gross macht. „Es gelingt daher mit diesem Instrumente, stets rapide 
Druckschwankungen mit grosser Treue graphisch darzustellen.“ „Dem 
schwankenden Drucke des Blutes wirkt (im Federkymographion) nicht die 
Schwere einer Flüssigkeitssäule entgegen, sondern die Elasticität eines Stahl- 
streifens, welcher (der Pelotte auf feiner Gummidecke einer sehr kleinen 
Luftkapsel anliegend) so stark federt, dass er bei den grössten vor- 
kommenden Druckschwankungen nur sehr wenig gebogen wird. Seine 
kleinen, kaum sichtbaren Bewegungen werden dann durch einen Fühlhebel 
von sehr geringer Masse vergrössert. Eine Hauptverbesserung besteht aber 
noch darin, dass auch die träge Masse der wässerigen Flüssigkeit vermieden 
ist, welche sonst bei den Wellenzeichnern die unerlässlichen Verbindungs- 
röhrchen zwischen der manometrischen Vorrichtung und der Arterie erfüllt. 
Diese Verbindungsröhre ist in dem neuen Apparate mit Luft gefüllt.“ 
Dieser Apparat ist nahe verwandt dem von Marey erfundenen „Sphymoskop“. 
E. von Cyon discutirt in seiner Methodik der physiologischen Experimente 
(1876) die Zulässigkeit des Quecksilbermanometers und betont, dass der 
Widerspruch in den Ansichten von Fick und Mach über die Bedeutung 


! Ausgegeben am 15. November 1898. 


VERHANDLUNGEN D. BERLINER PHYS. GESELLSCH. — H. KRONECKER. 527 


der Widerstände in den Blutwellenzeichnern kein prineipieller sei. „Fick 
versteht unter den Widerständen alle die Momente, welche die Geschwindigkeits- 
kräfte der bewegten Masse aufzehren, also auch die, welche -Mach als die 
Gleichgewichtskräfte bezeichnet; während Mach nur von dem Widerstande 
spricht, welcher der Geschwindigkeit proportional ist.“ „Es lässt sich eine 
Verstärkung dieser Kräfte erreichen, indem man die Widerstände vermehrt, 
welche sich den Gleichgewichtsveränderungen des Quecksilbers entgegen- 
stellen. Diese Widerstände kann man durch geeignete Construction der 
Manometer beliebig vermehren; dieselben sind aber ohnedies bei der Ver- 
bindung des Quecksilbermanometers mit dem Herzen sehr bedeutend“ (8. 113). 

v. Frey sagt in seinem Buche: Die Untersuchung des Pulses: „Die 
Manometer mit schwingenden Flüssigkeitssäulen haben gegenüber den 
elastischen Manometern eine bedeutende Trägheit, welche einerseits die 
Compensation. verzögert, andererseits die Instrumente zu selbständigen 
Öseillationen sehr geneigt macht. Man kann zwar durch Wahl enger 
Röhren die Masse der schwingenden Flüssigkeit verkleinern, doch kommt 
man wegen zunehmender Reibung und Schwierigkeit der Registrirung bald 
an eine Grenze. — Die Manometer sind daher zur Darstellung der Pulsform 
nur in den seltensten Fällen tauglich. Dagegen geben sie den Mittelwerth 
des Druckes unter den physiologischen Versuchsbedingungen mit genügender 
Genauigkeit, bei Einschaltung einer Verengerung zwischen Blutgefäss und 
Instrument — Marey’s gedämpftes oder compensirtes Manometer — sogar 
völlig richtig an. Zu diesem Zwecke angewandt ist das Manometer in 
Folge der Einfachheit seiner Handhabung und der Leichtigkeit, mit welcher 
der Druckwerth in absolutem Maasse sich bestimmen lässt, allen anderen 
Druckmessern überlegen“ (S. 44). 

Herr Prof. Kronecker hat, zumal in den Cursen physiologischer 
Methodik, oft die Erfahrung gemacht, dass die Federmanometer bei schnellen, 
hohen Blutdruckschwankungen abnorm hohe Werthe verzeichnen. — Deshalb 
verglich ich die Angaben einerseits eines guten Quecksilbermanometers 
(von 3”® Weite, enthaltend etwa 60°" Quecksilber = etwa 4,5”) mit 
Fuess’schem Schwimmer, andererseits die Daten eines Hürthle’schen 
Tonographen neuer Construction (mit Gummiplatte). 

1. Zunächst maass ich kathetometrisch die Stellung des Quecksilber- 
meniscus im freien Manometerschenkel unter dem Einflusse allmählich ver- 
mehrten und verminderten Druckes (aus Quecksilberreservoir auf genauem 
Schraubenstativ).. Der Meniscus zeigte bei Hin- und Rückgang auf 150 m 
bis 0 keinerlei veränderte Stellung, und der exact folgende Schwimmer 
zeichnete bei gleichem Drucke gleiche Linien auf die Kymographiontrommel. 

2. Hürthle’s Tonograph, in ähnlicher Weise graduirt, zeichnete bei 
Vermehrung des Druckes nicht proportionale Hebung des Hebels, sondern 
z. B. in 7 Messungsreihen um je 50%"% Hg zunehmenden und abnehmenden 
Druckes betrugen die entsprechenden Zeichnungen des Hebels Hebungen 
bezw. Senkungen zwischen: 

Reihe 1. Reihe I. 


Höhen (mm) der vom Hebel gezeichneten Stufen 


Obi, Som He 5050 cos: os 
50m 100 +6-5 | —5.75; | 6-25, 60 
100, 0, oo, 75 
150%, 5200, 2, yes non ade Aa 


Aufstieg Abstieg; Aufstieg Abstieg. 


528 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


Demnach blieb in Reihe I schliesslich das Hebelende 1-25 W“ neben der 
anfänglichen O-Linie, entsprechend 12" Hg; in Reihe II blieb schliesslich das 
Hebelende 0.25”"" neben der anfänglichen O-Linie, entsprechend 2.22 um Ho. 

Diese Abweichungen könnten bezogen werden auf Klemmungen in den 
Gelenken der Uebertragungsgabeln, jedenfalls nicht auf Verbiegungen der Feder 
in Folge unvollkommener Elastieität, denn wenn man den Hebel erschüttert, 
so fällt er auf die dem Drucke entsprechende Ausgangsstellung zurück. 

Nachträgliche Versuche belehrten uns, dass diese Ueberbleibsel der 
Hebungen durch capillare Widerstände der Flüssigkeiten in den engen 
Hahnbohrungen (bezw. Zuleitungsrohren) verursacht werden. 

3. Schnelle Druckveränderungen im Quecksilbermanometer erzeugte ich 
durch Compression eines sehr diekwandigen (3"" Wandstärke) 3 @® Lumen 
haltenden Kautschukschlauches. Die Compression geschah mit einer Flach- 
zange von 1°“ Breite. Das Gummirohr war entweder in einer Länge von 
30 ®® oder 2% vom Manometer comprimirt, nachdem es unter verschiedenem 
Drucke mit Wasser gefüllt worden war. — Durch die Compression des Schlauches 
wurden verschiedene Mengen Flüssigkeit in das Manometer verdrängt, je 
nachdem der Schlauch lang oder kurz, die Spannung der Flüssigkeit hoch 
oder niedrig war. So war in einem Falle vom kurzen Rohre, dessen Inhalt 
unter Spannung von. 100” Hg stand, durch Quetschung von 1°“ Länge 
des Kautschukschlauches die Manometerhöhe um 11-0"M gesteigert, 
während bei Spannung von 150"" Hg durch gleiches Verfahren die Queck- 
silbersäule um 13 "% bis 14% gehoben wurde. Vom 30 @ Jangen Schlauche 
bei Spannung 100”® Hg wurde durch Druckentleerung von 1°“ Schlauch 
die Manometerhöhe um 8" vermehrt, während bei Spannung von 150 W® Hs 
die Hebung nur 7” betrug. lu 

4. Druckveränderungen in Hürthle’s Tonographen, unter gleichen 
Umständen wie im Quecksilbermanometer erzeugte ich durch Compression 
eines 2"M Jangen Stückes vom Gummischlauche mittels einer Drahtzange. 
Wenn 30% Gummischlauch zwischen dem Tonographen und der Queisch- 
stelle lagen, so entsprach der Ausschlag des Hebels 20 "" Quecksilberdruck, 
sowohl bei Spannung des Rohres auf 100”"" Hg, wie auf 150"" Hg. —- 
Bei kurzem Schlauche war die Compression nicht ausführbar, weil die kleine 
Tonographenkapsel durch Eindrängung einer relativ grossen Wassermenge 
ohne Schlauchreserve gesprengt wird. 

5. Schnell vorübergehende Drucke auf 1°“ Schlauch, der mit dem 
Poiseuille’schen Manometer verbunden, auf 150"® Hg gespannt war, in 
2% Entfernung vom Manometer, beschleunigten die Quecksilbersäule derart, 
dass sie auf 20 mm Höhe geschleudert wurde und (während der Schlauch ge- 
klemmt blieb) 4 an Höhe abnehmende Nachschwingungen (z. B. 16", 15 um, 
14 wm, 3 mm) machte. Der auf 100"® Hg gespannte 2% lange Schlauch 
liess die durch Quetschung geschleuderte Quecksilbersäule 21 ®® hoch 
steigen. Der ersten Erhebung folgten 4 Nachschwingungen von bezw. 18, 
15, 14, 13m Höhe. Wenn der durch 150"" Hg gespannte Schlauch in 
30°” Entfernung vom Manometer gequetscht worden, so stieg die Queck- 
silbersäule nur auf 14% Höhe, worauf 2 Nachschwingungen von bezw. 
10 und mm Höhe folgten. Der lange, auf 100 "% gespannte Schlauch gab 
gequetscht eine Anfangserhebung von 12" und darauf 2 Nachschwingungen 
von 9 und 8m Höhe. Diese Schwingungen waren um so schneller, je 
kürzer das freie Schlauchstück (bei 30 “ Länge !/, bis !/, See. Vibrations- 
dauer; bei 2% !/,, bis !/; Sec. Vibrationsdauer); daher nach Abnahme der 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — H. KRONECKER. >29 


Klemme Thalwellen langsamer als nach Su uns die Bergwellen: etwa im 
en von 3:4 bei 30% Schlauchlänge; 4:5 bei 2°“ Schlauchlänge: 
. Hürthle’s Tonograph wurde durch schnelle Drucke des langen (30 em) 
ln bei niederer (100 W® Hg) und hoher (150 wm Hg) mn nicht in 
Schwingung versetzt, sondern der Hebel blieb auf der erreichten Höhe ruhend. 
Te Reihen von Drucken, die in so kleinen Intervallen geschahen, dass 
die Quecksilbersäule im Manometer nicht ausschwingen konnte (bei 30 
langem Schlauche 2 Drucke pro 1 Sec.), zeigen keine Nachschwingungen, 
sondern etwas deformirte einfache Wellen, die durch Interferenz periodisch 
höher und niedriger werden. 

Die Blutdruckschwankungen von Carotiden kräftiger Hunde mittels 
Quecksilbermanometer oder Tonometer oder von beiden zugleich aufnotirt, 
entweder, indem beide Apparate derselben Carotis abgegabelt waren, oder 
jeder Apparat von einer anderen Carotis ergaben: 

8. Der mittlere Blutdruck wird allermeist von Hürthle’s Apparate 
höher angegeben als vom Ludwig’schen. 

9. Die Pulsfrequenz wird bei normalem Herzschlage vom Kymographen 
ebenso angegeben wie vom Tonographen. 

10. Die Amplitude der Pulse (Druckschwankung) wird vom (un- 
gedämpften) Tonographen abnorm hoch verzeichnet, z. B. 100%" Queck- 
silber bei einem Mitteldrucke von 136”%®%. Ja es kam vor, dass der 
Tonograph einen Vaguspuls verzeichnete, als ob die Druckschwankung 
189 "m Hg betragen hätte, während der esse Druck vor der Vagus- 
reizung nur 184 mm Hg erreichte und der mittlere Druck auf 155%" ein- 
gestellt war. Gleichzeitig damit gab das Quecksilbermanometer eine Druck- 
schwankung von 73”% an, während es den maximalen Druck vor Vagus- 
reizung mit 161% Hg verzeichnete. 

11. Die Blutdruckschwankungen in Folge der Respirationsbewegungen 
werden vom Quecksilbermanometer deutlicher iedersegeben als vom Tonometer. 

12. Sehr hohe und seltene Vaguspulse veranlassen am Kymographion 
nach dem ersten Abfalle der Quecksilbersäule wohl 1 oder auch selbst 3 
Nachschwingungen, die aber als solche leicht kenntlich sind. Der Tonograph 
giebt keine solchen Trägheitsschwankungen, zeigt aber zuweilen Doppel- 
erhebungen, welche auf Bewegungen deuten, die am freiliegenden Herzen 
nur sub finem vitae (Traube’s pulsus bigemini) beobachtet werden. 

13. Wenn man das Quecksilbermanometer durch Schluss des Ver- 
bindungshahnes zeitweilig vom Aortensysteme absperrt und nachdem das 
Quecksilber zur Ruhe gelangt ist, die Verbindung in verschiedenen Phasen 
der Pulsationen wieder herstellt, so sieht man allerdings oft kleinere Pulse, 
als sie von der schon bewegten Quecksilbersäule geschrieben sein würden; 
aber oft sieht man auch Nasen, welche von Schwingungen im Gefässsysteme 
(abgesondert vom Manometer) herrühren müssen, da sie sogleich nach 
Oeffnung des Hahnes auftreten. 

14. Durch Dämpfung des Quecksilbermanometers (Hahnverengerung) 
wird der Mitteldruck nicht merklich verändert, während der gedämpfte 
Tonograph beträchtlich niedrigere (selbst um 26”) Werthe angiebt als der 
ungedämpfte (127 ®%) und dennoch 5"" höher als der Kymograph. 

15. Die Dämpfung des Tonographen verändert die Pulscurve nicht 
etwa darart, dass die Anfangsschleuderung wegfiele, sondern die ganze 
Form und Höhe wird modificirt. 

Der Tonograph in seiner vollkommensten Form zeigt möglichst wenig 

Archiv f. A. u. Ph. 1898. Physiol. Abtblg. 34 


530 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


Eigenschwingungen und besitzt ausserordentliche Empfindlichkeit. Aber 
diese immer mehr ausgebildete Eigenschaft ist auch eine Quelle von 
Täuschungen. Jede Erschütterung des Apparates, auch durch Vermittelung 
des Tisches bezw. des Fussbodens ergiebt kleine Wellen, deren Deutung 
nachträglich auf Eigenschaften des Gefässystems bezogen werden kann. 

Andererseits hemmen schon geringe Widerstände auf der Schreibfläche 
den langen Hebel in seiner Bewegung und können so selbst starke und 
wesentliche Schwingungsdetails unterdrücken oder verunstalten. 

Die grob und träge schwingende Quecksilbersäule im Manometer registrirt 
ungehindert durch schwache Erschütterungen die Bewegungen der Blut- 
masse auf den schreibenden Schwimmer. Dieser freilich muss den Be- 
wegungen des Quecksilbers genau folgen, wofür Vorbedingung gradlinige 
Form desselben, exact eylindrische Innenwandung des Manometerrohres und 
gut gearbeitete Führung (Fuess’scher Hals). Die Fehler werden sogleich 
kenntlich, indem entweder der Schwimmer über dem Quecksilber stehen 
bleibt oder Quecksilber über seine Schwimmfläche tritt. 

Durch diese Ausführungen soll keineswegs die Sphygmographie be- 
einträchtigt werden. Die Sphygmographen nach Marey’s Prineip sind un- 
schätzbare Mittel zur Pulsschreibung. 


H. Dr. Carter (Philadelphia): Ueber Plethysmographie des Herzens. 
(Aus dem physiologischen Institute der Universität Bern.) 


Wenn man einen Glaskolben ohne Boden mit gewulstetem Rande in 
den aufgeschlitzten Perikardsack eingeführt hat, die Vorhöfe durch eine steife 
ringförmige Gummiplatte, die auf das Glaskolbenende gebunden ist, von den 
Ventrikeln trennt, so hat man einen brauchbaren Plethysmographen für die 
Herzkammern. Eine mit dem Halse des Kolbens durch weiten Gummi- 
schlauch verbundene Bürette lässt die Schwankungen nach Cubikcentimetern 
ablesen. Faltung des Perikards und Druck auf die Kranzvenen kann man 
vermeiden.: Das Flüssigkeitsniveau stand meist 5°“ über dem ruhenden 
Herzen. Wir erhielten dann dieselben Werthe für das Schlagvolumen der 
2 Herzkammern, wie wenn wir die Bürette in das Herzniveau oder unter 
dasselbe (negativer Druck) brachten. 

Der Schlag des Herzens im Plethysmograph war stets abnorm. Das 
Schlagvolumen nahm sofort ab, indem die Systolen unvollkommen wurden. 
Nur bei starker Vagusreizung erhielt ich nicht selten Schlagvolumina, die 
dem Inhalte der Ventrikel entsprachen. Bei gewöhnlichem Pulsiren warfen 
die Ventrikel nur etwa !/, bis !/, ihres maximalen Inhaltes aus. Nach 
jeder Vagusreizung blieb das Herz für eine Reihe von Pulsen erweitert und 
kehrte erst allmählich zur normalen Diastole zurück. Zuweilen schwillt das 
Herz im Plethysmographen so an, dass es, in Diastole abgebunden, schwer 
herauszubringen ist, ohne dass natürlich der arterielle Abfluss gehindert 
gewesen wäre. Die Coronarvenen erscheinen in solchen Fällen geschwellt, 
die Systolen wurden schnell ineomplet. Solches Herz stirbt schnell ab. 

Ich untersuchte den Einfluss der Schnürung im Suleus atrio-ventrieularis 
und des intraperikardialen Druckes auf den Aortendruck und die Pulsgrösse. 
Ligatur durch 208% gespannt mindert den Blutdruck nur bei schwachen 
Kaninchen. Oft sind auch 300” Spannung nicht gefährlich. Um das 
Herz zu lähmen, muss man meist mit der Hand die Ligatur stark schnüren. 
Dann bleibt das Herz für die Zeit der Ligatur gelähmt und nach Lösung 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — H. KRONECKER. 531 


schlagen Vorhöfe und Ventrikel nicht mehr im gleichen Rhythmus, häufig die 
Vorhöfe doppelt so oft als die Kammern, zuweilen auch die Kammern öfter. 

Intraperikardialer Druck benachtheiligt den arteriellen Blutdruck. Auch 
beim Hunde senkten 7 “® Wasserdruck den Aortendruck auf 40 Procent seiner 
früheren Höhe; bei schwachen Kaninchen schon 10% auf 8 Procent des 
Aortendruckes. Meist sind die gleichen intraperikardialen Drucke dem 
frischen Herzen nicht so schädlich wie dem schon matt gewordenen. Zu- 
weilen aber bemerkte ich während des Versuchs zunehmende Widerstandskraft. 

Nicht selten stieg im Laufe einer Versuchsreihe mit wechselnden 
Füllungen des Perikardsackes der Blutdruck des freigewordenen Herzens 
beträchtlich, sogar bis auf 140 Procent des anfänglichen, ähnlich wie nach 
Massage des Herzens. 

30 °@ Wasserdruck im Perikard von Kaninchen macht das Herz blutleer, 
bei geringerem Drucke nur die Vorhöfe. Die blossen Herztheile können 
aber noch 1!/, Minuten lang pulsiren. Die Pulse in der Aortendruckeurve werden 
durch intraperikardialen Druck von 8 bis 13°“ Wasser unmerklich, kehren 
aber bei 2 bis 4% Druck wieder. 


Il. Pelagie Betschasnoff (St. Petersburg): Abhängigkeit der 
Pulsfrequenz des Froschherzens von seinem Inhalte. 
(Aus dem physiologischen Institute der Universität Bern.) 


‚ Nachdem H.Kronecker und W.Stirling (1874) auf die Bedeutung der 
Füllflüssigkeiten des Froschherzens für die Ernährung aufmerksam gemacht 
hatten, wandelte Rossbach, auf Kronecker’s Rath, Luciani’s Perioden in 
rhythmische Pulsation um, indem er Serum durch verdünntes Blut ersetzte. 

Ich habe untersucht, wie die Schlagfolge des Froschherzens von der 
Verdünnung des perfundirten Kalbsblutes durch Kochsalzlösung, bezw. von 
Zusätzen sehr geringer Mengen anderer unschädlicher Salze abhängt. 

Ich fand, dass im Allgemeinen sehr verdünnte Blut-Kochsalzlösungen, 
z. B. 1 Theil Blut mit 6 oder 8 Theilen physiologischer Kochsalzlösung 
(0-6 Procent) die seltensten Pulse geben: unter Umständen die Herzen für 
lange Zeit (bis 1 Stunde) still stehen lassen. Dabei ist die Erregbarkeit 
meist nicht aufgehoben; zuweilen jedoch, bei niederer Temperatur (einige 
Grad über 0), wird das Herz nicht nur schlaglos, sondern auch unerregbar. 
Physiologische Kochsalzlösung ruft sogleich wieder ziemliche häufige Schläge 
hervor; ebenso wirken concentrirtere Blutlösungen. 

Natürlich sind die Pulse nach Salzwasserperfusion klein, nach Blut- 
perfusion gross. Zusatz von geringen Mengen Calciumchlorid, wie es Ringer 
in seinen Salzlösungen nützlich fand, regt, mit Blut gemischt, mehr an als 
blosse Kochsalzlösung. Soda in Ringer’s Concentration (0-1 pro Mille) 
scheint ein wenig zu erregen. 

In vereinzelten Fällen (vielleicht bedingt durch abnormes Blut) ver- 
anlasste concentrirtes Blut seltenere Pulse als verdünntes; Kochsalzlösung 
aber wirkte stets reizend. 


IV. Nadine Lomakina (Moskau): Ueber die nervösen Verbindungen 
auf den Herzen der Hunde und Pferde. 
(Aus dem physiologischen Institute der Universität Bern.) 
Die makroskopischen, sehr reichen Nervengeflechte zeigen auf dem Pferde- 
und Hundeherzen drei grosse Züge: 1. auf der Vorderseite am absteigenden 
34* 


532 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


Stamme der Coronararterie, 2. an der Hinterseite, längs dem absteigenden 
Aste der Coronararterie, 3. auf dem äusseren Rande des linken Ventrikels 
gegen die Endverzweigung der Arteria circumflexa zu. Durch 6 nach der 
Natur gezeichnete Abbildungen wird der Verlauf der Nerven demonstrirt. 
Die Hauptverzweigung geschieht danach an der linken Kammer. 

Fast alle Nerven endigen — unter dem Perikard — an der Grenze 
zwischen oberem'und mittlerem Drittel der Kammern, wie dies Vignal am 
Menschenherzen gefunden hat. 

Die physiologische Bedeutung dieser Nerven haben wir erst zu studiren 
begonnen. Bei einem Kaninchen fand ich, nach Unterbindung eines Haupt- 
astes des hinteren Stammes, die Ventrikel in anderer Frequenz pulsiren als 
die Vorhöfe, wie Kronecker solches bei einem Hunde gesehen, dem er einen 
Zweig des vorderen Nerven unterbunden hatte. Bei einem Hunde beobachtete 
ich, nach Unterbindung eines hinteren Astes, aussetzende Pulse des rechten 
Vorhofes, sowie der rechten Kammer, während das linke Herz regelmässig 
pulsirte. Vagusreizung hemmte vorwiegend den rechten Vorhof; danach 
eontrahirte sich die rechte Kammer vor dem rechten Vorhofe. Bei einem 
anderen Hunde fand ich, nach Unterbindung des vorderen Stammes, die Pulse 
der linken Kammer etwas seltener als diejenigen des linken Vorhofes. Bei 
einem dritten Hunde’ bemerkten wir, dass, nach Unterbindung des vorderen 
absteigenden Astes nahe der Vorhofgrenze, der linke Vorhof für etwa fünf 
Minuten schlaglos blieb, während der Ventrikel unverändert weiter schlug. 

Wiederholt haben wir alle sichtbaren Nervenstämme in der Vorhof- 
Kammerfurche unterbunden, ohne die Schlagfolge zu verändern. Es müssen 
also tiefere, mikroskopische Nervengeflechte die groben, oberflächlichen er- 
setzen können. | 


V. Dr. R. Wybauw (Brüssel): Nichtwirkung des Vagus auf das 
ausgewaschene Herz. 
(Aus dem physiologischen Institute der Universität Bern.) 


Das „überlebende Herz‘, welches mittels künstlicher Durchspülung am 
Leben erhalten wird, unterscheidet sich fundamental vom normalen. 

Wir betrachten die Herrschaft des Vagus als wesentliches Kriterium 
für die normale Innervation des Herzens. 

Die Verbindungen dieses Nerven sind im Herzen der Schildkröte ein- 
facher als in denjenigen von Fröschen und Kröten. Darum wählten wir 
hauptsächlich das erstgenannte Thier als Versuchsobject. 

Durch die Aorta führte ich Kronecker’s „Perfusionscanüle“ in den 
Ventrikel und durchspülte denselben unter sehr niedrigem Druck (2 bis 4 ® 
Wasser) so lange mit 0-6procent. Kochsalzlösung, bis dieselbe, kaum mehr 
von Blut geröthet, ausfloss. Die Vorhöfe blieben dabei bluthaltig. 

Nach mehrstündiger Perfusion pulsirte der Ventrikel noch schwach; die 
Vorhöfe schlugen kräftig, oft in anderem Rhythmus als die Kammern. Wenn 
ich in diesem Stadium den auf das normale Herz wirksamen Vagus (meist 
den rechten, zuweilen den linken) stark tetanisirte, so schlug die Kammer 
in unveränderter oder wenig geminderter Frequenz weiter, während die Vor- 
kammern gehemmt wurden. Oft genügte es, die Perfusion für mehrere 
Minuten zu unterbrechen, um den Ventrikel, der nun von den Vorhöfen 
wieder mit Blut versorgt wurde, dem Vagusreize zugänglich zu machen. 
Wenn die Kochsalzlösung (reichlich) auch in die Vorhöfe drang, so konnten 
diese ebenfalls vom Vagus unabhängig schlagen. 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — H. KRONECKER. 533 


Aehnliches sahen wir auch an Herzen von Fröschen und Kaninchen. 
Hieraus ist zu schliessen, dass die von abnormen Flüssigkeiten gereizte 
Kammer unabhängig von den normalen Nervenverbindungen pulsirt. 


VI. Julia Divine (Moskau): Ueber die Athmung des Krötenherzens, 


(Aus dem physiologischen Institute der Universität Bern.) 


Seit den grundlegenden Untersuchungen von L. Hermann über die 
CO,-Ausscheidung des Muskels im luftleeren Raume ist Lavoisier’s An- 
schauung, dass die Athmung als ein Verbrennungsprocess aufzufassen sei, 
beseitigt worden. 

Eine Reihe von Forschern hat auf Vorschlag von H. Kronecker die 
Leistung isolirter und durchbluteter Herzen von Fröschen und Kröten unter- 
sucht, um die Bedeutung der Blutgase für die Arbeitsfähigkeit zu finden. 

Mae Guire und Saltet haben die Schädlichkeit der CO, nachgewiesen 
und gezeigt, dass auch entgastes Blut die Leistungsfähigkeit des Herzens voll 
zu erhalten vermag. 

Mae Guire hat kurz angegeben: „Der Sauerstoffgehalt der Speise- 
flüssigkeiten scheint für das Herz gleichgültig zu sein; entgastes Serum wie 
auch entgastes Blut unterhielten kräftige Pulsation; auch Kohlenoxyd beein- 
trächtigte merkwürdiger Weise die erholende Eigenschaft des Blutes nicht. 
Dagegen erwies sich asphyktisches Blut ungeeignet, das Herz schlagfähig 
zu erhalten. Sehr kleine Mengen CO, schwächen den Herzschlag merklich.! 

Klug hat die Beweiskraft von Mac Guire’s Versuchen über die volle 
Nährkraft von CO-Blut angezweifelt und kam zu dem Schlusse: „dass die 
Herzthätigkeit in der That durch das Oxygen des Blutes erhalten wird“? 
Klug fand am selbständig schlagenden Froschherzpräparate, „dass mit Kohlen- 
oxydgas genügend versorgtes Blut die Function des Herzens unterbrechen 
kann. Während aber das Herz unter dem Einfluss des Chlor erst nach 
mehreren immer matteren Schlägen stille steht, hörten die Herzpulsationen 
unter dem Einflusse des Kohlenoxydblutes selbst nach zwei von kräftigen 
Pulsschlägen gebildeten Gruppen schon auf.“ ? 

Kühne giebt an, dass das Protoplasma in Nitella flexilis ohne O und 
ohne Licht Tage oder Wochen lang bewegt bleibt. meint aber, dass das 
bewegte Protoplasma des O bedarf und ihn aufspeichert zum allmählichen 
Verbrauch. Seine exacten Versuche zeigten, „dass es bei Nitella wenig ist, 
zu wenig, um ohne feine O-Reactionen überhaupt deutlich zu werden“? 

Es war darnach 'nothwendig, mit vorwurfsfreien Methoden nochmals zu 
prüfen, ob das Froschherz ohne OÖ Arbeit zu leisten vermag. 

Ich untersuchte die Pulsationen des Krötenherzens in Kronecker’s 
Herzapparat mit Plethysmograph, wie ihn Martius gebraucht und beschrieben 
hat.“ Das verdünnte Blut (1 Theil Kalbsblut mit 2 Theilen Kochsalzlösung 
von 0-6 Proe.) wurde mit atmosphärischer Luft, oder CO, oder H, oder O, 
oder 00, gesättigt, durch die Herzkammer geleitet, welche durch hinreichend 
starke Oeffnungsinductionsschläge im regelmässigen Intervalle von 4 Sec. ge- 
reizt wurde. Selten schlug das Präparat spontan. 

Die Versuche ergaben, wie die Autogramme deutlich zeigen, dass der 


1 Dies Archiw. 1878. Physiol. Abthlg. 8. 321. 

® Ebenda. 1879. Physiol. Abthlg. S. 477 u. 478. 

® Zeitschrift für Biologie. 1398. Bd. XVII. S. 521. 
* Dies Archw. 13832. Physiol. Abthlg. S. 543. 


534 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


Herzmuskel nahezu gleich stark sich contrahirt, wenn er von CO-Blut, wie 
wenn er von O-Blut durchtränkt ist. Ebenso ist die Wirkung von H ge- 
sättigtem Blute gleich derjenigen von CO-Blut; endlich pulsirt das mit 
arteriellem Blute gesättigte Herz nicht beträchtlicher, als wenn es mit CO- 
Blut gespeist war. CO, gesättigtes Blut vernichtet schnell oder allmählich 
die Schlagfähigkeit des Herzens, welches auch durch CO-Blut bald wieder 
seine normale Leistungsfähigkeit erhielt. Im Allgemeinen leiden die temporär 
asphyktisch gemachten Herzen schnell. 

Auch CO in gasförmigem Zustande durch das Froschherz geleitet wirkt 
beinahe eben so gut wie atmosphärische Luft. Ein Strom von CO, machte 
die Pulse sogleich schwächer und lähmte das Herz bald. Hierauf vermochte 
reines CO das Herz wieder zum normalen Schlage zu bringen. 

Bemerkenswerth ist dabei, dass das frische Herz nicht nur ein grösseres 
Volumen von Blut auszuwerfen vermag, sondern auch gegen Widerstände 
eines Quecksilbermanometers fast gleich kräftig arbeitet, während im Laufe 
der Ermüdung viel schneller die Kraft abnimmt als das Schlagvolumen. 
Z. B. Höhendifferenzen bei einem Herzen, das von arteriellem Blute durch- 
strömt war: - 

Schlagvolumenhöhe minus Manometerhöhe d. frischen Herzens 0-5 0-75 
5 20 5 „ ermüdeten „, 7-0 9-0 
Bei demselben Herzen, als es von CO-Blut durchflossen war: 
Differenzen des frischen Herzens 0-5 0-5 0-75; 
2 „ ermüdeten „, 6-25 7.5 6-75. 


Die Versuche werden fortgesetzt. 


1-0; 
8-5. 


VII Dr. Emil Bürgi (Bern): Ueber Athmung auf Bergen. 


(Aus dem physiologischen Institute der Universität Bern.) 


Es handelte sich darum, einmal durch genaue Experimente festzustellen, 
wie sich die Kohlensäureausscheidung durch die Athmung während Ruhe 
und Arbeit in verschiedenen Höhen verhalte, und ob eine allfällige Differenz 
durch Trainirung auszugleichen sei. 

Der Sauerstoffverbrauch wurde nicht bestimmt, da das Verhältniss des- 
selben zur CO,-Absorption nach früheren Versuchen von Zuntz auch bei 
Arbeit sich nicht wesentlich ändert. 

Zuntz und Schumburg fanden bei Versuchen, die sie im Jahre 1896 
in Berlin, Zermatt, an der Betemps-Hütte und am Monte Rosa (3800 ” hoch) 
vorgenommen hatten, eine Vermehrung des Gasverbrauchs in der Höhe, und 
zwar sowohl während der Ruhe als während der Arbeit. Der Einfluss der 
Trainirung wurde in der Mittheilung über diese Versuche nicht erwähnt. 
A. Mosso fand auf dem Monte Rosa in der Ruhe eine Verminderung der 
Kohlensäureausscheidung gegenüber der Ruheathmung im Thale. 

Meine Versuche haben vor denjenigen von Zuntz und Schumburg 
jedenfalls den Vorzug grösserer Genauigkeit, da es mir gelungen war, die 
Bedingungen, unter denen unten und oben gearbeitet wurde, vollkommen 
gleich zu machen und jegliche zwischen zwei zu versiechenden Versuchen 
liegende Ermüdung zu vermeiden. 

Um zu verhüten, dass etwaige Ungleichheiten der Athmung während 
der Versuche die Resultate trübten, wurde die gesammte ausgeschiedene 
Kohlensäure bestimmt und nicht nur aus Stichproben berechnet. 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — H. KRONECKER. 535 


Ich habe den bis dahin im physiologischen Laboratorium in Bern ge- 
bräuchlichen, von Prof. Kronecker angegebenen Natronkalkapparat derart 
vervollkommnet, dass er leicht transportabel wurde und widerstandsfrei in 
zwei‘ abwechselnd sich öffnende Gummiballons athmen liess, deren Inhalt 

von emem Gehülfen in die Natronkalkflaschen ausgedrückt wurde. 

Um sicher zu sein, dass keine Luft daneben ausgeathmet wurde, führte 
ich die Versuche ausschliesslich an mir selbst aus. 

Es muss ausdrücklich hervorgehoben werden, dass ich, ganz wie früher 
Gruber und Schnyder, viel höhere Werthe für die pro Minute ausge- 
schiedene Kohlensäure fand, als die anderswo angegebenen und allgemein 
angenommenen, obwohl in allen gelungenen Versuchen mit Sicherheit verhütet 
war, dass Wasserdampf der Ausathmungsluft in die Natronkalkflaschen drang. 

Das Dorf Brienz liegt in einer Höhe von 570", die Station Rothorn- 
Kulm 2252” hoch. 

In dieser relativ geringen Höhe war für die Ruheathmung kein grosser 
Unterschied gegen unten zu erwarten. 

Jedoch fand ich auch bei völliger Ruhe oben stets ein wenig mehr 
CO, in den Absorptionsflaschen als unten. 

Nachfolgende Tabelle möge das Gesagte belegen. 


Ruheversuche: 
4 | Zar 
Nummer | Gewichtszunahme der 
a Den Bemerkungen Natronkalkflaschen in grm 
Versuches | unten oben 
1 und 2 1./IX. 98 untrainirt 8 Minuten lang 7-31 7-93 
Br WA 2./IX. 98 10 Minuten 9-45 9.86 
De 3./IX. 98 desgl. 9.68 9-80 
va SDR 15 Minuten — 15-42 
8 und 9 10./IX. 98 | etwas trainirt 10 Min. lang 8-07 8-13 


Für die Steigversuche bot die Brienzer Rothornbahn mehrere ausser- 
ordentliche Vorzüge vor anderen zur Wahl gestellten Versuchsorten: dar. 

Es befinden sich daselbst zwei Strecken von ausgiebiger Länge, die 
genau die gleiche procentualische Steigung (25 Proe.) in einer Höhendifferenz 
von 1450” aufweisen; die Schwellenweite ist überall dieselbe und der Raum 
zwischen den Schwellen überall gleichmässig mit Schotter bedeckt. Die 
untere Versuchsstelle liegt etwa 100” höher als Brienz, die obere dicht 
unter der Station Rothorn-Kulm. 

Unten und oben überschritt ich 300 Schwellen in 600 Secundenschritten; 
jeder Schritt — die Hälfte einer Schwellenweite — war 45 °%, die ganze 
Strecke somit 270” lang. 

Die Arbeit und Arbeitsvertheilung waren daher unten und oben genau 
die gleichen. 

Zwischen beiden Versuchsstationen wurde jeweilen der Zug benutzt, um 
jegliche störende Ermüdung auszuschliessen; die zu vergleichenden Versuche 
folgten im Zeitraum weniger Stunden auf einander. 

Die ersten Versuche gingen fast alle fehl; erst als ich alle Bedingungen 
beherrschte (von Versuch 7 an), wurden die Resultate ganz zuverlässig. 

Ich fand folgende Zahlenwerthe: 


536 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


Steigversuche: 
Nummer | | Gewichtszunahme 
des Datum Bemerkungen | der Flaschen in grm 
Versuches unten oben 
1 und 2 1.,IX. 98 | verfehlte Versuche, nanıent- 34-85 24-48 
lieh der obere, welcher der 
| erste war | 
en 2..IX. 98 | der obereVers.ging ganz fehl | 30-37 ? 
DE 3./IX. 98 | ebenso, d.unt. ging ganz fehl ca. 15-0 36-69 
U 8 4./IX. 98 | zuerst oben Versuch gemacht Sg ER 42-93 
GE) 7./IX. 98 ebenso, nach 3tägigem Auf- | 39-37 4625 
| enthalt in Bern | | 
Ile 9 8.1IX. 98 | zuerst Versuch unten 39-24 | 42-54 
DEREN! 9.IX. 98 zuerst Versuch oben, Trai- 35-31 40-51 
| nirung merklich | 
IHR 16 13./IX. 98 | nach Trainiren auf der Höhe, 33-95 34-03 


Von Versuch 7 an gelungene Versuche. 


Die Versuche ergaben also unzweideutig eine Vermehrung der Kohlen- 
säureausscheidung bei der Arbeit auf der Höhe. Der Unterschied ist in den 
vergleichenden Versuchen 9 und 10 der grösste, offenbar weil ich zwischen 
diesen und den vorhergehenden Versuchen 3 Tage lang zu Hause (in Bern) 
war; die Menge der ausgeschiedenen Kohlensäure nahm mit der zunehmenden 
Trainirung allmählich ab, und schliesslich wurde die Mehrausscheidung in der 
Höhe durch meine 3tägige Trainirung auf dem Brienzer Rothorn aufgehoben. 
Die Versuche sollen das nächste Jahr in grösseren Höhen vervollständigt werden. 


VIII. Dr. C. Wood (Philadelphia): Ueber die Bewegung des 
Schleiendarmes. 
(Aus dem physiologischen Institute der Universität Bern.) 


Meine Aufgabe war, zu untersuchen, in welcher Weise sich die Reiz- 
barkeit und Bewegungsart der quergestreiften Darmmuseulatur der Schleie 
von denjenigen der Rumpfmusculatur des gleichen Thieres unterscheiden. 
Es ergab sich gleich bei den ersten Versuchen, dass der Schleiendarm zwei 
Arten von Bewegungen zeigt: die schnell eintretende und schnell verlaufende 
Zusammenziehung der quergestreiften Rings- und Längsmuseulatur und da- 
nach die langsam erfolgende und träge abfallende Contraction der glatten 
Muskelschichten. 

Die glatten Muskeln des Magens (nach Yung’s Untersuchungen erster 
Darmabschnitt) frischer Schleien machten oft spontan Bewegungen in un- 
regelmässiger Folge. Jede solche Zusammenziehung dauerte etwa 30 Sec. 
in Zeiträumen von etwa 5 bis 6 Minuten. Reiz begünstigte den Eintritt 
einer Gruppe. Stärkere wiederholte Reize des Magens vermindern die Er- 
regbarkeit derart, dass die spontanen Contractionen aufhören. 

Die Zuckung eines Flossenmuskels dauert, je nach der Frische und 
Zuckungshöhe, 0-1 bis 0-2 Sec. Die kürzesten Zusammenziehungen der 
quergestreiften Darmmuskeln (Magen) währen etwa 1 Sec. 

Die quergestreiften Darmmuskeln sind fundamental verschieden von den 
Gliedermuskeln durch ihre Erregbarkeit. Sie sind durch einzelne Induetions- 
schläge mässiger Stärke gar nicht erregbar, während eine Reihe derselben 
Schläge, in kleinen Intervallen, eine starke Zusammenziehung auslöst. Diese 
ist dann tetanischer Natur, aber schnell absinkend. 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — H. KRONECKER. 5317 


Diese Summation der Wirkung beginnt bei etwa 0-2 Sec. Intervall, ist 
bei 0-1 Sec. Intervall noch nicht maximal, sondern erst bei etwa !/,, Sec. 
Intervall. Die Zusammenziehung überdauert kurze Reizungsperioden (5 bis 
10 See.), endigt aber vor Schluss längerer Reizung. 

Es verhält sich demnach die Contraction des quergestreiften Darm- 
muskels gleich einem refleetorischen Acte, wie ihn W. Stirling in Ludwig’s 
Institut zergliedert hat, und Barbera im Berner Institut am Froschmagen 
wiedergefunden hat. Constante Ströme geben Dauercontraction, die bei 
Oeffnung verschwindet: bei frischem Darme, oder bei starken Reizen nach 
vorhergehender Oeffnungscontraction. 

Kurze Schlüsse constanten Stromes summirten ihre Wirkungen bei 
längeren Intervallen als Inductionsströme. 

Der isolirte gestreckte Darm ist nach seiner Thätigkeit in 5 Abschnitte 
zu zerlegen: derart, dass, wenn man den obersten (Magen) Theil tetanisirt, 
nur dieser Theil sich zusammenzieht. Der Pylorustheil ist schwächer con- 
traetil als der Kardialtheil. Der Anfangstheil des Dünndarmes (hinter dem 
Pylorus) ist schwach erregbar, der darauf folgende (2te Schlinge) meist gar 
nicht. Der Diekdarm ist schwach contractil. Auf starke Reizung eines 
Darmstückes bezw. seiner Nerven contrahirt sich der ganze Darm. 

Die histologische Untersuchung der Darmmuseulatur hat mir auch einige 
Besonderheiten ergeben, welche von den früheren Angaben von R. du Bois- 
Reymond und Oppel etwas abweichen. Bis jetzt hat man vier Schichten 
von Musculatur am Darm der Schleie beschrieben, und zwar zwei (innere 
eireulär- und äussere längsverlaufende) von glatten und zwei (innere eirculär- 
und äussere längsverlaufende) von quergestreiften Muskelfasern. Nach 
meinen Untersuchungen enthält jedoch die äusserste (subserose) Längsfaser- 
schicht ausser den quergestreiften noch reichlich glatte Muskelfasern, welche 
zu den quergestreiften Fasernbündeln eigenartige Lagebeziehungen besitzen, 
die nicht in Kürze zu beschreiben sind. 

Meine Untersuchungen sind am 23. November 1897 begonnen worden 
und waren zur Mittheilung an die Berner Naturforscherversammlung, 1. August, 
und den Physiologencongress zu Cambridge fertig. Jetzt finde ich in dem 
am 25. Juli 1898 ausgegebenen Hefte von Pflüger’s Archiv eine Arbeit 
betreffend im physiologischen Institute zu Rostock ausgeführte Untersuchungen 
über das physiologische Verhalten des Schleiendarmes von R. Mahn, welcher 
eine Anzahl von Erscheinungen beschreibt, die auch ich gesehen habe. 
Meine Ziele waren aber ganz andere und demgemäss auch meine Versuchs- 
weisen und Resultate. In meiner ausführlichen Abhandlung werde ich dies 
näher begründen. 


IX. Dr. H. Ito (Japan): Ueber den Ort der Wärmebildung 
durch Hirnreiz. 


(Aus dem physiologischen Institute der Universität Bern.) 


Seitdem Benj. Brodie 1811 den Einfluss des Centralnervensystems 
auf die Körpertemperatur studirt hat, ist diese geheimnissvolle Function von 
vielen Forschern untersucht worden, aber noch sind die Ursachen der 
Temperaturerhöhung nicht erkannt. 

Ich habe nach dem Verfahren von Aronsohn und Sachs die Wirkung 
von Stichen in das Corpus striatum von Kaninchen untersucht und in 
32 Fällen (von 50 Stichen bei 31 Kaninchen) Steigerung der Temperatur 


538 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


verschiedener Körpertheile der Thiere gefunden. Ich beobachtete die grösste 
Erwärmung, wenn ich durch die Mitte des Kopfes vom Corpus striatum die 
Pigürenadel gestochen hatte. Das Thier verhielt sich nach dem (schmerz- 
losen) Einstiche meist ruhig und auch trotz der Hyperthermie dauernd 
wohl. Etwaige Zuckungen bei der Operation schienen keinen wesentlichen 
Einfluss auf die Körperwärme auszuüben. Auch habe ich bei häufigen 
Messungen der Rectaltemperatur von unversehrten Controlthieren erhebliche 
spontane Schwankungen der Körpertemperatur an ungefesselten Thieren 
nicht beobachtet, jedenfalls keine Steigerung über das normale Mittel. 

Nach dem Einstiche dauerte es mindestens 12 Minuten, höchstens 
1 Stunde, im Mittel 31 Minuten, bis die Temperatursteigerung begann. Die 
höchste beobachtete Temperatur war (im Duodenum gemessen) 42° nach 
der Anfangstemperatur von 40-.2°. Die Temperatursteigerungen in Folge 
der Stiche betrugen im Maximum 2-.78°, im Minimum (welche ich noch 
als Wirkung in Rechnung zog) 0-8°, im Mittel 1-64°. 

Um zu entscheiden, wodurch die Steigerung der Körperwärme verursacht 
werde, habe ich untersucht, an welcher Körperstelle die Steigerung beginnt. 

An verschiedenen Kaninchen mass ich neben der Rectaltemperatur in 
kurzen Intervallen von 3 bis 5 Minuten: die Temperatur der auf den 
Dünndarm herabgedrückten Unterhaut, des Mageninnern, des Duodenum- 
innern, der Leber, des Herzens (vom Oesophagus aus) und der Haut am 
Bauche. Als wärmster Ort (von den gemessenen) ergab sich das Duodenum, 
in welchem die Temperatur 0-7° höher sein konnte als im Reetum (bei 
hungerndem Thiere). In einigen Fällen war aber die Duodenaltemperatur 
nur sehr wenig höher als die rectale. 

Auch die Magentemperatur steht meist über der Rectaltemperatur (0-1 bis 
0-3°). Die Wärme der Leber (zwischen den Lappen gemessen) ist nicht wesent- 
lich verschieden von der Rectaltemperatur Die Herzwärme hielt sich wenig 
unter der Rectaltemperatur. Die Haut über dem Dünndarme war etwas höher 
temperirt als das Rectum, entsprechend dem Befunde von Dr. Lamb. 

In den meisten Versuchen stieg nach dem Stiche in das Corpus striatum 
die Temperatur des Dünndarms schneller als diejenige der anderen ge- 
messenen Körperstellen. 

Zwischen hungernden und wohlgenährten Thieren war kein Unterschied 
im Ansteigen der Temperatur durch den Gehirnstich zu constatiren. Mit 
Brod gefütterte Thiere glichen bald Hungerthieren. 

Aronsohn und Sachs haben langsame Temperatursteigerung gefunden, 
nachdem sie das Corpus striatum isolirt gestochen hatten, schnelle Er- 
wärmung, wenn sie auch das Marklager darunter getroffen hatten. Ich 
habe immer bis zur Basis gestochen und dennoch bald langsame, bald 
schnellere Temperatursteigerung gefunden. 

Auffällig war mir, wie bedeutend die Temperatur der nicht auf- 
gebundenen Thiere im Verlaufe vorbereitender Operation (bei Anlegung von 
Magen- oder Duodenalfistel) sank, z. B. 2-4° in 50 Minuten, während einfach 
aufgebundene Kaninchen sich nur ganz allmählich abkühlten. Den Schmerz 
oder das Sträuben bei der Operation kann man nicht verantwortlich machen, 
denn die Thiere gaben bei der Operation nur selten Zeichen von Schmerz. 

Uebrigens überstanden die Kaninchen sorgfältige antiseptische und 
aseptische Operationen eingreifender Art (Magen und Duodenalfistel) recht gut. 

Es scheint also entschieden, dass die Verletzung des Wärmecentrum im 
Corpus striatum die Temperatur nicht steigert durch Erregung der Muskeln, 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — N. ZUNTZ. 539 


auch nicht durch Schmerzempfindung, sondern hauptsächlich durch Erregung 
von Verdauungsdrüsen, zumal dem Pankreas. 

Bemerkenswerth ist noch, dass nach Ausschaltung des gesammten 
Gehirns durch Injection von Paraffin in die Carotiden die Körpertemperatur 
gesteigert werden kann um: 0-05, 0-1bis0-5°. Nach Ausschaltung des Gross- 
hirns und Mittelhirns stieg die Temperatur von noch selbständig athmenden 
Kaninchen um 1-4° und 2-.7° während etwa 1 bezw. 2 Stunden. Die 
Thiere machten dabei oft kurzdauernde Zuckungen, aber es bestand keine 
Abhängigkeit der Temperatursteigerung von den Bewegungen. Die Tem- 
peratur konnte bei gleichen Krämpfen einmal während einer Minute um 
0-.05° steigen, das andere Mal sogar erst während 4 Minuten. Es macht den 
Eindruck, als ob die Medulla oblongata thermische und Bewegungsantriebe un- 
abhängige von einander aussende Wenn durch Paraffininjection das ganze 
Gehirn oder bis zum Niveau des Athemcentrum anämisch gelähmt war, 
so stieg die Temperatur binnen wenigen Minuten um 0-05 bis 0-.5°; darauf 
kühlten sich die Thiere ab. Curarisirte Thiere wurden durch Paraffin- 
injectionen niemals wärmer. Dennoch darf dieses negative Resultat nicht 
auf Ausfall der Krämpfe geschoben werden, denn starke, oft wiederholte 
Tetanisirung des vom Gehirne blutig oder unblutig getrennten Rücken- 
marks erhöhte niemals um mehr als 0-85° die Körpertemperatur und dabei 
überdauerte jede kleine Temperatursteigerung nur kurze Zeit: 1 bis 2 
Minuten, den Krampf, welcher unter diesen Umständen tetanisch war, 
während die spontanen Zuckungen, welche die nachhirnhaltigen Thiere 
machten, den Charakter von klonischen Krämpfen hatten. ? 


2. Hr. N. Zuntz hält den angekündigten Vortrag: Ueber die Zucker- 
bildung in der Leber. (Im Auftrage von Prof. Dr.E.Cavazzani in Ferrara.) 


Seegen vertritt bekanntlich die Ansicht, dass in der Leber nicht nur 
aus Glycogen, sondern auch aus Eiweisskörpern (Pepton) und aus Fett 
Glycose gebildet werde. Nur wenn diese Ansicht zu Recht besteht, erscheint 
auch beim Hungerthier und beim Fleischfresser eine so gewaltige Zucker- 
bildung möglich, wie sie Seegen auf Grund seiner vergleichenden Analysen 
des Pfortader- und Lebervenenblutes als wirklich annimmt. Ich habe mich 
schon vor zwei Jahren auf Grund der Versuche, welche Hr. Mosse! unter 
meiner Beihülfe ausgeführt hat, denen angeschlossen, welche die Grösse 
der von Seegen gefundenen Differenzen den operativen Eingriffen zu- 
schreiben und es für wahrscheinlich halten, dass unter physiologischen Ver- 
hältnissen nur so geringe Zuckermengen ins Lebervenenblut übertreten, dass 
ihre Ableitung aus dem Leberglycogen keine Schwierigkeit bietet. 

Seegen hat aber die Betheiligung der Peptone und Fette an der 
Zuckerbildung nicht nur aus dem Umfange der Zuckerbildung in der Leber 
erschlossen, er hat vielmehr auch eine grosse Anzahl von Versuchen an- 
gestellt, welche directe Beweise für seine Auffassung zu liefern scheinen. 
In der einen Reihe von Versuchen wurde gut durchlüftetes Blut mit über- 
lebender Lebersubstanz digerirt, in weiteren Reihen geschah dasselbe unter 
Beigabe von Pepton (Albumosen) bezw. von Neutralfett, Seifen oder Glycerin, 
endlich wurde Lebersubstanz ohne Beigabe von Blut mit wässeriger Pepton- 
lösung oder mit der entsprechenden Menge destillirten Wassers behandelt. 
In fast allen diesen Versuchen war die Neubildung von Zucker grösser als 


I Vgl. Pflüger’s Archiv. Bd LXII. 8.613. — Centralhblatt für Physiologie 
1896. Bd. X. 8.497 u. 561. 


540 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


der Schwund des Glycogen, die Versuche sprechen also dafür, dass Kohlen- 
hydrat aus den anderen zugesetzten oder in der Leber präformirten Stoffen 
gebildet worden sei. Anscheinend finden Seegen’s Resultate eine Be- 
stätigung in den jüngst veröffentlichten Versuchen von J. Weiss! aus 
Bunge’s Laboratorium. In diesen Versuchen ist aber nur dargethan, dass 
der Zuckergehalt der mit Oel bezw. mit Glycerin behandelten Blut- 
Lebergemische erheblich höher ist, als in den Controlproben; es bleibt 
also unentschieden, ob das Mehr an Zucker aus dem Zusatze oder 
aus dem Glycogen der Leber entstanden ist, da letzteres nicht mit 
bestimmt wurde. — Angesichts der Wichtigkeit der Angaben Seegen’s 
für die Theorie des thierischen Stoffwechsels war es mir sehr erfreulich, 
dass Prof. Cavazzani, der wie wohl wenige die Technik dieser Unter- 
suchungen beherrscht, sich bereit fand, einen Aufenthalt in meinem Labo- 
ratorium zur Nachprüfung der Angaben Seegen’s zu benutzen. 

Die Versuche wurden in folgender Weise angestellt: Man liess den 
Hund verbluten, nahm die Leber heraus, zerschnitt dieselbe und warf eine 
abgewogene Menge (25 bis 40 28”) in siedendes Wasser. Gleiche Mengen 
Lebersubstanz wurden in mehreren Kolben mit einer gemessenen Menge 
Blut versetzt und bei Körpertemperatur Luft durch die Kolben geleitet. 
Nach 1 bis 4 Stunden wurden Zucker, Glycogen und Gesammtmenge der 
Kohlenhydrate in jeder einzelnen Probe bestimmt (s. Tab. 1). 


Tabelle I. 
Digestion der Lebersubstanz mit sauerstoffreichem Blute. 


{ ekeamne | nen IM 
Tr Zeit Kohle- Zucker Von | ausd. Leber 
des Versuches , hydrate | der Leber | als Zucker Bemerkungen 
such ‚in der Leber bestimmt 
"nach d. Tode : 
 Proe. in grm Proe.in grm ven a 
I. | Unmittelbar 4107 0.280 3-827 Ina ee mit Fleisch 
1 Stunde | 4-251 2-027 92-224 , und Reis gefüttert. 
4 Stunden 4-140 2-304 1-836 ° | 
ll. ı Unmittelbar 4-561 0-970 3.591 Hund. 20%8 schwer; mit 
1 Stunde 4-170 1:694 2-476 Fleisch und Reis gefüttert. 
3 Stunden 4100 2.840 1:260 
Ill. | Unmittelbar 6-200 0-525 5-675 Hund, 4*®schwer; mit Fleisch 
1 Stunde 6784 2-269 4.515 und Reis gefüttert, sehr 
3 Stunden 6:°188 2.409 3:779 fett. 
IV. | Unmittelbar 9.711 | - 0-635 9.076 Hund, 9#®sehwer; mit Fleisch 
1 Stunde 9.A&S |  2-251 7-217 gefütt.; am Vorabend hater 
3 Stunden 9.024 23-817 6-207 100°” Zucker bekommen. 
V. ı Unmittelbar 12-107 0-233 | 11-824 | Hund,4-5%ssehw.;m.Fleisch 
1 Stunde 12-150 2-283 9.867 »| u.Reisgefütt.;amVorabend 
3 Stunden | 11-973 229230 05592650 hat er 1008" Zucker bek. 
VI. | Unmittelbar | 18-571 0.546 | 18-025 | Hund,6#®schwer; mit Fleisch 
1 Stunde 13-730 2-928 15-802 u.Reis gefütt.;amVorabend 
3 Stunden | 18-252 3.428 - | 14-824 hat er 200:® Zucker bek. 


1! J. Weiss, Ueber die Bildung von Zucker aus Fett im Thierkörper. Zeitschrift 
für physiologische Chemie. Bd. XXIV. 8.542. 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — N. Zuntz. 541 


Weitere Proben erhielten einen Zusatz von Pepton oder Glycerin zum 
Blute. Sie wurden übrigens ganz in der gleichen Weise behandelt (s. Tab. II 
u. III). : 

Tabelle II. 


Peptonversuche. 


N | Gesammte Kohle- | Zucker in der Leber, 


|  hydrate Proc. Proc. | Zeit des | 

Ver- | | Versuches 

such || „ohne mit Ohne Bi nach dern Bemerkungen 
ı Pepton | Pepton | Pepton | Pepton | Tode 
| grm gm grm grm | 


2-027 | 2.104 | 1 Stunde | Die Leber wurde mit Blut u. 


I. | 4-251 | 4.042 | 
3.931 | 2-304 | 1.834 | 4 Stunden) 0-50 =” Pepton behandelt. 


4.140 


-694 1.540 1 Stunde | Wie oben. 


11. | 4.170 | 4-05 | ı 
4-420 | 2-840 | 1-983 || 3 Stunden 


ı 4-100 


JII. | 6.784 6-2 | -269 23-597 1 Stunde | Wie oben. 
1.6188 6-0 \ 2.409 2257 3 Stunden 


[e2) 
or 
DD 


Tabelle II. 
Fettversuche. 


| 


| Gesammte Kohle- | Zucker in der Leber ' Zeit des 


Ver-|| hydrate Proc. || Proc. Krärsuches’! ERBIEEN 
Ä emerkungen 
such ohne Fett mit Fett ohne Fett) mit Fett | nach dem = 
grm | grm | grm | grm | T ode 
IV. || 9.468 2.251 -233 | 1 Stunde | Die Leber wurde mit Blut u. 


DD 


9.756 | 
\ 9-024 | 9-0386 | 2-817 | 2-260 | 3 Stunden 5.“ Glycerin behandelt. 
V.'l 12-150 | 11.658 2.2833 | 1.640 || 1 Stunde | Die Leber wurde mit Blut u. 
| 11-973 | 11-355 2.323 | 1.794 | 3 Stunden] 3m Glycerin behandelt. 


VI. | 18-730 | 17-311 2.928 


| 2-087 1 Stunde | Die Leber wurde mit Blut u. 
| 18-252 | 17-250 | 3-428 | 


2 
2.715 || 3 Stunden) 5° Glycerin behandelt. 


Angesichts der vorstehenden Ergebnisse, welche in keinem einzigen 
Falle die Berechtigung geben, ausser dem Glycogen noch eine andere 
Substanz für die Zuckerbildung in Anspruch zu nehmen, haben wir uns 
zu fragen, wie die abweichenden Resultate Seegen’s zu erklären sind. 
Zum grossen Theile dürften sie sich daraus ‘erklären, dass, wie Cavazzani 
fand, ein Theil des Glycogen in der Leber so fest gebunden ist, dass es 
ohne Zerkochen der Substanz mit 2procent. Kalilauge nach Külz nicht ge- 
wonnen werden kann und dass beim Digeriren der Leber mit Blut die 
Menge dieses festgebundenen Glycogens erheblich abnimmt. Seegen hat 
nun die Leber nur mit Wasser bis zum Verschwinden der Glycogenreaction 
ausgekocht, hat also die bis zu 25 Procent des Ganzen betragende Menge, 
welche nun noch durch Kali freizumachen ist, vernachlässigt. Da er nun 
in den digerirten Proben fast alles Glycogen im wässerigen Auszuge 
erhielt, entstand, wenn noch keine erhebliche Glycolyse stattgefunden hatte, 
der Anschein einer Neubildung von Kohlenhydrat. 


542 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


Auf die Thatsache, dass ein Theil der wasserlöslichen redueirenden 
Substanz der Leber nicht Zucker, sondern Jecorin ist, wurde bei diesen 
Versuchen keine Rücksicht genommen. Auf die Hauptfrage, um deren 
Entscheidung es sich bei den Versuchen handelte, hat dies keinen Einfluss. 
— Selbstverständlich werden wir auch Angesichts der erlangten negativen 
Ergebnisse die Möglichkeit einer Bildung von Kohlenhydrat aus Eiweiss, 
für die ja manche bekannte Thatsachen sprechen, nicht leugnen. Für die 
Bildung von Kohlenhydrat aus Fett, für welche man ja Analogieen im 
Stoffwechsel der Pflanze mit Seegen geltend machen kann, kennen wir 
im thierischen Stoffwechsel bis jetzt keinen einwandfreien Beweis. 


Il. Sitzung am 28. October 1898. 


1. Hr. Dr. Wıraeım RörH aus Budapest (a. G.) hält den angekündigten 
Vortrag: Beiträge zu der Lehre von den osmotischen Ausgleichs- 
vorgängen im Organismus. 


Die Lehre von der Lymphbildung, welche seit Heidenhain’s grund- 
legendem Aufsatze wieder in den Vordergrund gerückt ist, kann nur auf der 
genauen physikalischen Analyse des Austausches zwischen Blut und 
Gewebsflüssigkeit basiren. Von den Momenten, welche diesen Austausch 
reguliren, wurde von der älteren Physiologie nur eines: nämlich der hydro- 
statische Druck in den Capillaren und die dadurch bedingte Filtration in 
die Gewebsflüssigkeit hinreichend gewürdigt; dagegen wurde erst neuerdings 
nachdrücklich hervorgehoben, dass auch chemische Differenzen zwischen 
Blut und Gewebsflüssigkeit solche Processe anregen, welche Substanzen aus 
dem Blute in die Gewebsflüssigkeit (und auch in umgekehrter Richtung aus 
den Geweben in das Blut) zu transportiren vermögen. Diese Processe sind 
1. die Diffusion der gelösten Substanz, 2. die osmotische Wasser- 
strömung; beide werden veranlasst durch einen höheren osmotischen 
Druck, d. h. eine grössere moleculäre Concentration einer Flüssig- 
keitsschichte, welche von einer anderen durch eine Membran (in unserem 
Falle die lebende Capillarwand) getrennt ist; und zwar entsteht Diffusion 
— in die minder concentrirte Flüssigkeit — in dem Falle, wenn diese 
Scheidewand für die gelöste Substanz vollkommen durchgängig ist, hingegen 
wird ein osmotischer Wasserstrom in die höher concentrirte Flüssigkeit Platz 
greifen, wenn die Scheidewand für die gelöste Substanz sich impermeabel 
zeigt. Endlich ist es möglich, dass die Scheidewand für die gelösten Mole- 
eüle nicht absolut nur relativ impermeabel ist, d. h. dieselben schwerer 
durchlässt als das lösende Wasser; in diesem Falle werden sich Diffusion 
und Osmose combiniren. Es sei noch erwähnt, dass, wenn eine Diffusion 
statthat, dieselbe nicht nur die Differenz der gesammten moleculären Con- 
centrationen, sondern auch die Differenzen der Concentration an einzelnen 
Lösungseomponenten auszugleichen bestrebt ist. 

Für den Modus des Ausgleiches ist jedenfalls die Permeabilität der 
Scheidewand entscheidend. In Bezug auf die Permeabilität der Capillar- 
wand ist dieselbe im Sinne der Ausführungen von Cohnstein und Star- 
ling für krystalloide Stoffe und Substanzen von niedrigem Moleculargewicht 
völlig permeabel — dagegen kaum permeabel für Eiweissstoffe —, d.h. der 
eventuelle Concentrationsunterschied an Vertretern der ersten Gruppe wird 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — WILHELM RöTH. 543 


durch Diffusion der gelösten Molecüle ausgeglichen, — hingegen regt Ueber- 
schuss an Eiweiss einen osmotischen Wasserstrom an. 

Diese Auffassung steht mit gewissen physikalischen und physiologischen 
Erfahrungen kaum in Einklang, darum sollte die Permeabilität der Capillar- 
wand einer eingehenderen Untersuchung unterzogen werden. 

Als Objeet dieser Untersuchung erwies sich die Bauchhöhle des Kanin- 
chens besonders geeignet, wenn die direete Communication mit der Blutbahn 
auf dem Wege der Dybkowsky’schen Lymphbahnen, welche aus der Bauch- 
höhle in den Ductus thoracieus führen, durch Unterbindung der letzteren 
ausgeschaltet wird. In diesem Faile ist die in die Bauchhöhle infundirte 
Lösung von der Blutbahn durch eine Endothelialwand getrennt, welche mit 
der Capillarwand identisch oder analog ist, und die Permeabilität dieser 
Scheidewand wird für den stattfindenden Ausgleich maassgebend sein. Wichtig 
ist die Constatirung der Volumsveränderung der infundirten Lösung, welche 
durch Auswaschung der wieder entleerten Bauchhöhle und durch die Be- 
rechnung des Rückstandes aus den Veränderungen des Waschwassers (das 
letztere ist eine indifferente isotonische Lösung) genau zu berechnen ist. 


Versuchsergebnisse: 


A. 1. Hypertonische Lösungen von Harnstoff, Traubenzucker und 
Kochsalz, ungefähr dreimal so hoch concentrirt wie das Blutserum des Ver- 
suchsthieres (Gefrierpunkterniedrigung 4 = 1-80, dieselbe im Blutserum ist 
= 0-75), erleiden im Verlaufe von 10 Minuten folgende Veränderungen: 
a) sie erfahren eine Wasserzunahme von 11 bis 17 Proc., b) eine Abnahme 
der Zahl der gelösten gesammten Grammmoleculargewichte um ungefähr 
10 Proc., ce) eine grössere Abnahme erfährt die Zahl der Grammmolecular- 
gewichte der ursprünglich gelösten Substanz (Harnstoff, Traubenzucker, NaCl), 
d) ein Theil des letzterwähnten Verlustes wird dadurch compensirt, dass die 
gelösten Componenten des Blutserums in die Bauchhöhle übertreten: daher 
die geringere Abnahme der Gesammtzahl der gelösten Moleeüle gegenüber 
dem grösseren Verluste an der ursprünglich gelösten Substanz. Diese Ver- 
änderungen werden durch folgende Einzelprocesse bedingt: ad a) durch eine 
osmotische Wasserströmung aus dem minder concentrirten Blute in die con- 
centrirtere Intraperitonealflüssigkeit, ad b) und c) die ursprünglich gelösten 
Moleeüle der Intraperitonealflüssigkeit diffundiren in Folge ihrer höheren 
Concentration in die Blutbahn, ad d) die gelösten Componenten des Blut- 
serums wandern in Folge ihrer höheren Partiärconcentration daselbst in die 
Bauchhöhle; der letzterwähnte Diffusionsstrom ist dem. kleineren Concen- 
trationsunterschiede entsprechend minder intensiv, als der vorerwähnte. 

Diese Art des Ausgleiches, welche die Öombination von einem osmotischen 
Wasserstrom und zwei gegen einander gerichteten Diffusionsströmen darstellt, 
beweist, dass die Capillarwand für die angewandten Krystalloide, 
für Harnstoff, Kochsalz und Traubenzucker, „relativ impermeabel“ (d.h. 
nur „beschränkt permeabel“) ist. 

Aus der detailirten Analyse des Verhaltens jeder der erwähnten Kry- 
stalloide ergiebt sich, dass bei Infusion einer Zuckerlösung die Diffusion der 
gelösten Substanz gegenüber dem entgegengesetzten osmotischen Wasserstrom 
weit weniger hervortritt, als bei der Harnstoffinfusion, wo wieder die Diffusion 
vorherrscht, und dass die Kochsalzinfusion in Bezug auf das gegenseitige Ver- 
halten von Osmose und Diffusion eine Mittelstellung zwischen den beiden 


544 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


vorerwähnten einnimmt. Da aber der osmotische Wasserstrom umsomehr 
in den Vordergrund tritt, die Diffusion hingegen in dem Maasse abnimmt, 
je weniger permeabel die Scheidewand für die gelösten Molecüle der con- 
centrirteren Flüssigkeitsschichte ist: so müssen wir folgern, dass die Ca- 
pillarwand für Zuekermolecüle schwerer durchgängig ist als für 
NaCl-molecüle (bezw. Ionen), hingegen sich leichter permeabel 
für Harnstoffmoleeüle zeigt. 

Wenn dieselben Krystalloide in concentrirter Lösung in die Blutbahn 
injieirt werden, so erregen sie einerseits einen osmotischen Wasserstrom in 
das Blut, welches einen Concentrationsanstieg erfuhr, andererseits diffundiren 
sie aus dem concentrirteren Blute in die Gewebsflüssigkeit. Dieselben Aus- 
gleichsvorgänge also, wie bei der intraperitonealen Infusion! Lazarus- 
Barlow,! welcher diese Versuche ausführte, fand, dass die auf die intra- 
venöse Infusion folgende Blutverdünnung, also die consecutive osmotische 
Wasserströmung am grössten ausfiel nach der Kochsalzinfusion, geringer 
nach der Traubenzucker- und am geringsten nach der Harnstoffinfusion. 
Wenn wir aber berücksichtigen, dass Lazarus-Barlow, der die erwähnten 
Lösungen in „äquinormaler“ Concentration infundirte, und die elektrolytische 
Dissociation .des Kochsalzes nicht in Rechnung zog — das Kochsalz eigent- 
lich in nahezu doppelt so starker Concentration infundirte, als die beiden 
anderen Substanzen, so ergiebt sich. aus einer einfachen Berechnung, dass 
unter gleichen Bedingungen, d. h. bei thatsächlich gleicher moleculärer Con- 
centration, der Traubenzucker einen wesentlicheren osmotischen Wasserstrom 
anregt als das Kochs:lz, dieses wieder einen grösseren als der Harnstoff, 
d. h. die Abstufung der Permeabilität der Capillarwand ist für diese Sub- 
stanzen bei der intravenösen Infusion dieselbe, wie bei der intraperitonealen 
Infusion, und zwar in wachsender Reihe: 1. Traubenzucker, 2. Kochsalz, 
3. Harnstoff. 

Die Capillarwand zeigt nach alldem eine beschränkte Per- 
‚meabilität (relative Impermeabilität) für krystalloide Substanzen im 
Allgemeinen und eine ausgesprochene Abstufung der Permea- 
bilität für einzelne Krystalloide. 


2. Wenn anstatt hypertonischen hypotonische Lösungen in die Bauch- 
höhle infundirt werden, so vollzieht sich a) eine osmotische Wasserströmung 
aus der minder concentrirten Intraperitonealflüssigkeit in das concentrirtere 
Blutserum, b) ein Diffusionsstrom der Zucker-, bezw. Harnstoffmolecüle in 
das Blut, als Folge der höheren Partiarspannung derselben in der infun- 
dirten Lösung, e) ein entgegengesetzter Diffusionsstrom aus dem Blute trans- 
portirt wieder solche Molecüle in die Bauchhöhle, welche diese ursprünglich 
nicht beherbergte. 

Dieselben Processe also, wie bei den hypertonischen Lösungen; nur hat 
die Richtung und die Intensität derselben den veränderten Umständen ent- 
sprechend eine Umwandlung erfahren. 


3. Isotonische Lösungen bleiben isotonisch, dabei büssen sie ihren 
Gehalt an dem ursprünglichen Lösungsbestandtheil ein, doch wird dieser 
Verlust durch das Uebertreten von den gelösten Bestandtheilen des Blut- 
serums so genau compensirt, dass die moleculäre Concentration der infun- 
dirten Flüssigkeit keine Aenderung erfahren hat. Es besteht demnach ein 


! Journal of Physivlogy. 1896. p. 418. 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — WILHELM RöTH. 545 


regelrechter „Molecularaustausch“ durch Diffusion ! zwischen Blut und Intra- 
peritonealflüssigkeit. Dabei findet eine langsame Resorption der isotonischen 
Lösung durch die Blutgefässe statt. Inwiefern diese Resorption dem os- 
motischen Drucke des gelösten Serumeiweisses zuzuschreiben ist (Cohn- 
stein, Starling), geht aus den folgenden Versuchen hervor. 

B. Wenn eine reine, salzfreie, dem Blutserum des Versuchsthieres gegen- 
über eiweissreichere Eiweisslösung, dessen Gefrierpunkterniedrigung 0-01 
bis 0-02 beträgt, in die Bauchhöhle infundirt wird, so geht sie folgende 
Veränderungen ein: 1. wird aus dieser an Eiweiss concentrirteren Lösung 
Wasser in das eiweissärmere Blut angezogen, 2. wandern die gelösten Be- 
standtheile des Blutserums in die Bauchhöhle, so dass die früher salzfreie 
Intraperitonealflüssigkeit jetzt einen bedeutenden, bald mit dem Blutserum 
gleichwerthigen Salzgehalt aufweist. 3. An Eiweiss ist kaum etwas verloren 
gegangen, dem entsprechend muss die Eiweissconcentration der Intraperitoneal- 
Hlüssigkeit in Folge der Wasserabgabe an das Blut eine Zunahme erfahren 
haben. Das prineipiell Wichtige dieses Verhaltens ist, dass das eiweiss- 
ärmere Blutserum durch seine (durch Salze bedingte) höhere 
moleculäre Concentration einer eiweissreicheren aber salzfreien 
Lösung Wasser zu entziehen vermag. Aus dem ist zu ersehen, dass 
es nicht das Eiweiss ist, welchem eine specifische wasseranziehende Action 
im Organismus zukommt, sondern in erster Reihe der Unterschied der ge- 
sammten moleculären Concentrationen das Maassgebende bleibt. Wenn aber 
dieser Unterschied —- in einem länger dauernden Versuche — in Folge des 
Uebertretens der Serumsalze in die Bauchhöhle schon verschwunden ist, so 
dass jetzt dem Blutserum eine „isotonische“, hingegen eiweissreichere Intra- 
peritonealflüssigkeit gegenübersteht, so kommt der höhere Eiweissgehalt der 
letzteren in der Weise zur Geltung, dass nun eine dem vorigen entgegen- 
gesetzte Wasserströmung Platz greift, welche eben in dem Momente ein- 
setzt, wo die Intraperitonealflüssigkeit die Salzeoncentration des Blutserums 
erreichte: also mit demselben isotonisch wurde. Von diesem Zeitpunkte an 
sinkt die früher angewachsene Eiweissconcentration der infundirten Lösung 
in Folge des Wasserzuwachses aus dem Blute stetig, bis sie der des Serums 
gleich geworden ist. Dieser letzterwähnte Vorgang zeigt eine vollständige 
Analogie mit der Resorption einer isotonischen Lösung in die Blutbahn. 
Bei der Resorption einer isotonischen Lösung zieht das an Albuminaten 
reiche Blutserum eine eiweissfreie Flüssigkeit an sich; in meinem Experimente 
die eiweissreichere Intraperitonealflüssigkeit das eiweissärmere Serum. Es 
besteht in beiden Fällen ein einfacher osmotischer Augleichsvorgang, an- 
geregt durch die überschüssigen Eiweissmoleeüle diesseits oder jenseits der 
endothelialen Scheidewand. Die Cohnstein-Starling’sche Erklärung der 
Resorption von isotonischen Lösungen besteht also zu Recht. 

Aus dem skizzirten Verhalten von kr'ystalloiden und colloiden Lösungen 
in der Bauchhöhle lassen sich folgende allgemeine Schlüsse ziehen. 

Es ergiebt sich: 

I. In Bezug auf die Permeabilität der lebenden Capillar- 
wand, dass dieselbe weder für krystalloide noch für eolloide 
Substanzen völlig permeabel oder völlig impermeabel ist, sie 
setzt dem Durchdringen beider Art gelöster Moleeüle erhebliche Hindernisse 


! Die Benennung ‚„Molecularaustausch“ stammt von A. v. Koränyi her, welcher 
auf die prineipielle physikalische Bedeutung derartiger Vorgänge hinwies. Zeitschrift 
für klinische Mediein. 1898. Bd. XXX. 

Archiv f. A. u. Ph. 1898. Physiol. Abthlg. 35 


546 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


entgegen, die aber in keinem Falle vollständige sind. Dagegen existiren 
sehr ausgesprochene Abstufungen der Permeabilität; vor allem sind eolloide, 
speciell Eiweiss viel schwerer durchgängig als krystalloide Stoffe; weiter 
besteht auch in Bezug auf die letztere Gruppe eine deutliche Abstufung 
von kleineren Distanzen. 

Il. Zweitens ergiebt sich bezüglich der Ausgleichsprocesse, welche durch 
eine solehe Membran stattfinden, dass sie bewirkt werden: 

1. durch einen osmotischen Wasserstrom, welcher a) in dem Falle, 
wenn ein Unterschied der gesammten moleculären Concentration der beider- 
seitigen Flüssigkeitsschichten besteht, immer von der minder concen- 
trirten zu der höher concentrirten Seite verläuft, unabhängig von 
der partiären Zusammensetzung der beiden Flüssigkeiten; b) in dem Falle, 
wenn die moleculäre Gesammtconcentration beiderseits gleich ist, nach der 
Seite sich richtet, wo ein Ueberschuss an solchen Molecülen vorhanden ist, 
für welche sich die Capillarwand im Vergleiche zu den anderen schwerer 
permeabel zeigt. Als solches ist im Organismus im Wesentlichen das Eiweiss 
zu nennen; andererseits 

2. vollzieht sich der Ausgleich durch eine gleichzeitig verlaufende 
Diffusion der gelösten Molecüle, welche stets bestrebt ist, sowohl die 
Unterschiede der (moleculären) Gesammtconcentration, wie solche der par- 
tiären Zusammensetzung auszugleichen. 

Aus der Anwendung dieser Thesen auf den Austausch zwischen Blut 
und Gewebsflüssigkeit ergiebt sich eine Erweiterung der Cohnstein- 
Starling’schen Lymphbildungstheorie. Wenn wir nämlich berücksichtigen 
einerseits, dass der Eiweissstoffwechsel mit stetiger Anhäufung von klein- 
moleculären Zerfallsproducten in der Gewebsflüssigkeit einhergeht, anderer- 
seits, dass die Capillarwand für diese kleinmoleculären Zerfallsproducte nur 
beschränkt permeabel bezw. relativ impermeabel ist, so müssen wir schliessen, 
dass 1. ein ständiger Diffusionsstrom der Zerfallsproducete aus 
der Gewebsflüssigkeit in die Blutbahn stattfindet, 2. dass diese 
Zerfallsproducte durch den Concentrationsüberschuss, welchen 
sie inder Gewebsflüssigkeit aufrecht halten, auch eine ständige 
osmotische Wasserströmung aus der Blutbahn in die Gewebs- 
flüssigkeit veranlassen. Auf diese wasseranziehende osmotische Action 
der Eiweisszerfallsproducte hat A. v. Koränyi hingewiesen und dieselbe 
als einen hervorragenden Factor des Transsudationsvorganges, also der 
Bildung der Gewebsflüssigkeit bezw. Lymphe dargestellt. Der Stoffwechsel der 
Gewebszellen ist — im Sinne der v. Koränyi’schen Ausführungen — 
sozusagen eine Kraftquelle für die Transsudation aus dem Blute in die 
Gewebe; und diese Transsudation muss in dem Maasse zunehmen, als der 
Stoffwechsel, also die organische Action der Gewebszellen an Intensität zu- 
nimmt. „Somit würde der Stoffwechsel mit der Transsudation 
auf rein physikalischem Wege zusammenhängen.“ Ein physio- 
logischer Zusammenhang zwischen Organarbeit und Transsudation ist that- 
sächlich vorhanden. Die physikalische Erklärung dieses physiologischen 
Zusammenhanges bieten nun die Koränyi’schen Ausführungen. Dass die- 
selben auch für das Verständniss der Pathologie des Austausches zwischen 
Blut und Gewebsflüssigkeit (z. B. Bildung der Oedeme!) hochwichtig er- 
scheinen, soll nur kurz erwähnt werden. 

Die hier vorliegenden Untersuchungen sind im Laboratorium der 
III. medicinischen Klinik des Hın. Geh.-Rath Senator’ angestellt worden. 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — LEVINSOHN. 547 


2. Hr. Dr. Levinsonn (a. G.) hält den angekündigten Vortrag: Ueber 
die freie Communication zwischen Hinter- und Vorderkammer 
des Auges. 

Vortr. beschäftigt sich mit der vor Kurzem aus dem thierphysiologischen 
Institute der Berliner Landwirthschaftlichen Hochschule erschienenen Arbeit 
Hamburger’s! über das gleiche Thema und versucht die Unrichtigkeit 
dieser Arbeit nachzuweisen. Er zeigt zunächst, dass kein Grund für die 
Annahme Hamburger’s vorhanden ist, dass Iris und Linse an einander 
gepresst gewissermaassen ein ständig continuirliches Septum bilden. Gegen 
diese Innigkeit des Zusammenliegens spricht die ausserordentliche Feinheit 
des physiologischen Pupillenspiels. Der Umstand, dass die Iris nach der 
Linsenextraction zurücksinkt, beweist noch nicht, dass die Linse die Iris 
im normalen Zustande ständig nach vorne drängt, weil die an Stelle der 
Linse entstandene Lücke natürlich ausgefüllt werden, und der wiederkehrende 
Druck in der Vorderkammer die Iris daher nach hinten treiben muss. Wenn 
Hamburger ferner annimmt, dass der Pupillentheil der Iris sich wegen 
der Existenz des Sphincter iridis besonders innig an die Linse anschmiegt, 
ein Umstand, auf den übrigens schon Ulrich hingewiesen hat, so irrt er 
wiederum, weil der Sphincter iridis ein Kreismuskel ist, dessen Fasern alle 
parallel dem Sehloche verlaufen, und die Wirkung dieses Muskels daher 
nur in frontaler Richtung und nicht in sagittaler erfolgen kann. Es bleibt 
demnach die Auffassung Leber’s, dass Iris und Linse sich lediglich be- 
rühren (durch den intraocularen Druck zusammengehalten) und durch die 
leiseste Bewegung von einander entfernt werden können, nach wie vor zu 
Recht bestehen. 

Hamburger bezweifelt aber auch die Existenz feinster Spalträume 
zwischen Pupillenrand der Iris und Linse, indem er eine 20 procent. 
Fluoresceinlösung in die Hinterkammer spritzt und feststellt, dass diese in 
den ersten 15 Minuten nicht in der Vorderkammer erscheint. Er verweist 
dabei auf Koster, der concentrirte Berlinerblaulösung in die Hinterkammer 
gebracht und selbst nach 24 Stunden keinen Farbstoff in der Vorderkammer 
gefunden hat. Gegen diese letzteren Versuche ist einzuwenden, dass Koster 
die Injectionen nicht in die Hinterkammer, sondern in den Glaskörper ge- 
macht hat. Koster führte die Spritze vom Aequator aus durch den Glas- 
körper bis hinter die Iris und zog die Spritze kurz vor dem Einspritzen 
etwas zurück. Wenn Koster aber annimmt, dass dadurch für den Farbstoff 
ein Weg durch den Glaskörper bis in die Hinterkammer bestand, so dürfte 
diese Auffassung nicht zutreffen, da der Glaskörper eine gelatinöse Masse 
ist und Nadelstiche in eine solche beim Zurückziehen derselben spurlos 
verschwinden. 

Da die Hinterkammer nur ein sehr feiner Canal ist (Henke spricht 
von einem capillaren Spalt), sind direete Injeetionen in denselben ausser- 
ordentlich ‚schwierig. Vortr. hat die Versuche Hamburger’s nachgemacht 
(an Stelle der Mikrospritze, die er nicht erhalten konnte, benutzte er eine 
gute Pravazspritze) und dabei gefunden, dass die Canüle trotz grosser 
Vorsicht sich öfters in der Linse, bezw. noch häufiger im Glaskörper befand. 
Ist aber die Spitze einmal erst im Glaskörper, so wird man nie sicher sein, 
sie in die Hinterkammer zu bringen, da sie ja bei dem sehr vorsichtigen 
Vorwärtsbewegen ganz gut die widerstandsfähige Hyaloidea mit vordrängen 


ı Dies Archiv. 1898. Physiol. Abthlg. 3. 382. 
35* 


548 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


kann. Da ferner nur ein sehr feines Tröpfehen injieirt wird und beim 
Einstechen, namentlich aber beim Ausstechen der Canüle etwas Flüssigkeit 
aus der Hinterkammer verloren geht, so braucht der Farbstoff, selbst wenn 
er richtig in die Hinterkammer gebracht ist, in dieser keinen Ueberdruck 
hervorzurufen, und es kann daher nicht Wunder nehmen, dass der Farbstoff, 
abgesehen von der Diffusion, in normaler, d. h. sehr langsamer, dem natür- 
lichen Filtrationsstrome entsprechender Weise in die Vorderkammer dringt 
Auch das frühe Auftreten von FExsudaten, das Vortr. wie Koster bei 
seinen Injeetionen oft schon nach 10 Minuten beobachtet hat, ist geeignet, 
dem Farbstoffe den Weg in die Vorderkammer zu erschweren, bezw. ganz 
zu verlegen. Es gelang aber dem Vortr. manchmal, die Fluoresceinlösung 
direet in die Hinterkammer zu bringen, ohne dass vorher Flüssigkeit ver- 
loren ging. Er schloss das Gelingen des Versuches daraus, dass sich die 
Vorderkammer unmittelbar nach der Einspritzung grün färbte. Die Erhöhung 
des Druckes in der Hinterkammer sprengte in diesem Falle sofort die Pupille. 
Wenn das Fluorescein bei den Versuchen Hamburger’s richtig in die 
Hinterkammer gebracht war, so musste sich ja auch die Pupille grün färben, 
sobald das Thier in’s Dunkle gebracht war. Hamburger selbst scheint 
das anzunehmen, er hat aber keinen derartigen Versuch beschrieben. 
Versuche, die Vortr. nach dieser Richtung hin anstellte, ergaben natürlich 
ein negatives Resultat. Dass der Farbstoff riehtig in die Hinterkammer 
gebracht war, glaubt Hamburger durch die Grünfärbung der Pupille nach 
Punction der Vorderkammer bewiesen zu haben. Indess ist diese Auffassung 
unrichtig, als auch der Farbstoff, der sich im Glaskörper befindet, nach der 
Punetion sofort in die Vorderkammer filtrirt. Vortr., der derartige Ver- 
suche angestellt hat, betont aber dabei, dass die Lösung in den vorderen 
Theil des Glaskörpers eingespritzt werden muss, wenn die grünen Farbstoff- 
wolken nach der Punction sofort massenhaft in der Vorderkammer zum Vor- 
schein kommen sollen. ’ 
Mit der Hamburger’schen Auffassung gar nicht zu vereinen ist das 
Auftreten von Secundärglaucom bei der ringförmigen Verwachsung zwischen 
Iris und Linse. Diese sehr grosse Schwierigkeit beseitigt Hamburger 
durch einen sehr einfachen Versuch und durch eine sehr willkürliche 
Hypothese über die Entstehung des Secundärglaucoms. Hiergegen ist ein- 
zuwenden, dass der Hamburger’sche Versuch mit dem Secundärglaucom 
nichts zu thun hat, dass selbst bei den schwersten Augenentzündungen ge- 
wöhnlich keine Drucksteigerung eintritt und dass letztere bei der ring- 
förmigen Verwachsung sich gewöhnlich erst dann einzustellen pflegt, wenn 
die Entzündungserscheinungen längst abgeklungen sind. Der Hamburger’sche 
Versuch stellt weiter nichts als eine Erhöhung des Druckes in den Blut- 
gefässen des Auges dar, der eine beschleunigte Filtration zur Folge hat, 
also ein ähnlicher Vorgang wie bei der Punction der Vorderkammer nach 
subeutaner Injection. Da aber die Differenz zwischen Blut- und intra- 
ocularem Drucke nach der Luxation des Auges nieht so hochgradig ist, wie 
nach der Punction der Vorderkammer, so sind auch die Erscheinungen dem- 
entsprechend weniger intensiv. 

Zum Schlusse mag noch auf die in Zehender’s Monatsheften dem- 
nächst erscheinende ausführlichere Behandlung dieses Themas hingewiesen 
werden. 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — (GRABOW. 549 


III. Sitzung am 11. November 1398. 


Hr. Schulrath Dr. Grarow (a. G.) hält den angekündigten Vortrag: 
Ueber die physiologischen Grundlagen des Schreibens. 


In pädagogischen und ärztlichen Kreisen habe man, so führte Vortr. 
aus, in den letzten Jahren bekanntlich vielfach gegen die bisher übliche, in 
den Schulen gelehrte Schrägschrift Bedenken geäussert und dafür die Steil- 
schrift empfohlen, die die Abstriche der Buchstaben senkrecht auf die Schreib- 
linie stellt. Cohn in seinem Lehrbuch der Hygiene des Auges, Dr. Schubert 
in Nürnberg u. A. haben die Nachtheile der Schrägschrift stark hervorgehoben 
und sich für die Steilschrift erklärt, ohne aber mit überall ausreichenden 
Gründen und wissenschaftlich die Frage entscheiden zu können. Die in den 
meisten Schulen gebrauchten Schönschreibehefte, welche mit Richtungslinien 
für den Abstrich versehen sind, damit die Kinder einen Anhalt für richtige 
Schriftlage haben, weisen einen zu scharf geneigten Winkel von 45° auf. 
Selbst den gewissenhaftesten und geschicktesten Schreiblehrern gelingt es 
nicht, alle Schüler an diesen Richtungswinkel zu gewöhnen: in allen Schulen 
ohne Ausnahme schreiben die meisten Kinder so, dass die Abstriche, deren 
Richtung man am bequemsten aus der Richtung des deutschen | und la- 
teinischen f erkennen kann, die unter 45° geneigten Richtungslinien kreuzen. 
Die Kinder schreiben viel steiler, wie ich mich durch Besichtigung Hunderter 
von Schulen und Tausender von Heften überzeugt habe. Damit stimmen 
auch die statistischen Angaben überein, die ich von einer grossen Menge 
von Lehrern über den Schriftwinkel, unter welchem ihre Schüler schreiben, 
erhalten habe. 

Die pädagogischen Schriftsteller geben über das Schreiben sehr ver- 
schiedene Vorschriften, natürlich, ohne sie wissenschaftlich zu begründen: 
Heckmann fordert einen halben Rechten; Kehr empfiehlt, „ohne sich auf 
eine tiefere Kritik der in dieser Beziehung herrschenden und sich wider- 
sprechenden Ansichten einzulassen“, einen Neigungswinkel von 55°, No- 
wack 55, Alleker 55 bis 57, Heinrichs 57, Diesterweg 54 bis 60, 
Zschille 59, Zumpe 60° Ebenso ist in den verbreitetsten Fibeln der 
Neigungswinkel der Schrift sehr verschieden: Marschall und Otto Schulz 
haben 45° Fechner und Neve 56, Krüwell 49 bis 50, Hirt 53 bis 55, 
Fix 54, Dietlein 55 bis 60° Die Henze’schen Schönschreibhefte mit 
der „Deutschen Preis-National-Handschrift“, die 1867 von 50 Preisrichtern 
unter 754 Handschriften als beste gewählt wurde, geben den Grundstrichen 
eine Neigung von 45° Umgekehrt variirt auch die Steilschrift von 90 
bis 75°. 

Welche Schriftlage ist nun die normale? 

Ich hatte, so fuhr Vortr. fort, eigene Aufzeichnungen über die Schrift- 
lage gemacht und die Ueberzeugung gewonnen, dass der so sehr empfohlene 
Schriftwinkel von 45° entschieden unrichtig sein müsse, weil die meisten 
Menschen steiler schreiben. Normal kann doch nicht dasjenige sein, was 
die meisten Menschen nicht thun, sondern nur das, worin sie übereinstimmen. 
Dafür konnten Anhaltspunkte nur durch genauere Statistik gewonnen werden, 
und so gelang es mir sehr bald, festzustellen, dass die meisten Menschen 
steiler als 55° und weniger steil als 60° schreiben. Wie geht das zu? Die 
Uebereinstimmung kann doch keine zufällige sein; sie muss einen in der 
Natur der Sache liegenden Grund haben, und der Grund muss ein physio- 


550 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


logischer sein. Mein Versuch, aus der Schrift des Prof. Maas „Die Physio- 
logie des Schreibens“ Belehrung zu gewinnen, schlug fehl; Maas empfiehlt 
einen Schriftwinkel von 45°, und schon daraus konnte ich ersehen, dass er 
von der Physiologie des Schreibens eine unrichtige Vorstellung hat. Es blieb 
mir also nichts weiter übrig, als selbst Versuche anzustellen. Ich setzte 
mich in ungezwungener Haltung zum Schreiben an den Tisch: beide Schultern 
parallel mit der Tischkante, die Unterarme zu zwei Dritteln auf die Tisch- 
platte gelegt so, dass die Ellenbogen nicht zu weit vom Rumpfe abstehen, 
und die Fingerspitzen beider Hände sich berühren. So bilden sie mit der 
Tischkante ein gleichschenkliges Dreieck, dessen Winkel an der Grundseite 
bei den meisten Menschen 68° betragen. Schreibt man in dieser Stellung 
mit geschlossenen Augen, so wird man leicht die Beobachtung machen, dass 
die Schreiblinie senkrecht zur Armrichtung steht. Lag das Papier mit dem 
unteren Rande parallel mit der Tischplatte, so hatte die Schreiblinie eine 
schräg aufwärts gehende Richtung. Will man also in möglichst bequemer 
Richtung wagerecht schreiben, so muss man die Seitenränder des Papiers 
parallel mit der Richtung des rechten Armes legen; das Papier wird also 
schräg auf die Tischplatte zu legen sein, so dass dessen untere Seite mit 
dem Rande der Tischplatte einen Winkel von 22° bildet, denn 90° — 68° 
= 22°. Bei dieser Lage des Papiers wird man mühelos in geraden 
Zeilen schreiben können, ja man wird sogar mit geschlossenen Augen noch 
ziemlich gut die gerade Linie beibehalten können. Nachdem so die Schreib- 
linie festgestellt ist. bleibt jetzt die Frage zu beantworten, unter welchem 
Winkel die Hand zur Armrichtung arbeitet. Ich habe über diese Sachen 
ausführlicher gehandelt in einer kleinen Schrift, die bei Fromm in Brom- 
berg unter dem Titel „Schrägschrift oder Steilschrift?“ erschienen ist. In 
dieser ist die Schräglage jeder naturgemässen Schreibschrift auf 58° fest- 
gesetzt und wissenschaftlich begründet, ausserdem enthält diese Abhandlung 
ausreichende Belehrung über die Gestaltung der Buchstaben und giebt dazu 
Schreibregeln und Alphabete, die für diesen Schriftwinkel von 58° ent- 
worfen sind. 

Ueber den Winkel, den Arm- und Handrichtung bilden, kann man sich 
leicht eine richtige Vorstellung machen, wenn man ein schmales Lineal in 
die zur Faust geschlossene rechte Hand nimmt, Arm und Faust auf den 
Tisch legt und die Richtung des Arms und Lineals durch Striche bez&ichnet. 
Bewegt man die zur Faust geballten Finger so, dass sie das Lineal nach 
oben verschieben, so wird man bemerken, dass das Lineal sich parallel 
verschiebt, und man hat dann in dem Loth, das diese Parallelen verbindet, 
die Richtung, unter welcher die Hand arbeitet. Die Richtung weicht von 
der des Armes um 32° ab. Zeichnen wir also ein rechtwinkliges Dreieck, 
dessen Hypotenuse mit den Katheten einen Winkel von 32° bezw. 58° 
bildet, so giebt die eine Kathete die Armrichtung an, die andere die 
Schreiblinie, und die Hypotenuse giebt nicht nur die Richtung an, unter 
welcher die Hand arbeitet, sondern zugleich auch die Richtung der von 
der Hand gebildeten Schriftzüge, d. h. die j-Linie. 

Die Richtigkeit des Winkels von 58°, der durch Experiment gefunden 
ist und in dem Folgenden noch durch weitere Experimente veranschaulicht 
werden soll, wird durch statistische Beobachtungen ausreichend begründet. 
(Der Vortr. riehtete an alle Anwesenden die Bitte, auf einen Zettel einige 
Worte zu schreiben, deren Schriftwinkel sofort bestimmt werden solle. Das 
Ergebniss war, dass von 25 Handschriften 15 eine Schriftneigung von 58° 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — GRABOW. 551 


aufwiesen, 7 geneister und 2 steiler waren). Die meisten Menschen haben 
schon seit Jahrhunderten mit 58° Schräglage geschrieben, so Luther, dessen 
herrliches Kirchenlied „Ein’ feste Burg“ in der Niederschrift des Componisten 
Walther zu Torgau die Handschrift dieses Meisters und eine Empfangs- 
bescheinigung Lutber’s aufweist. Beide haben die Schriftlage von 58°. 

In der Handschriftensammlung, welche unter dem Titel „Deutsche 
Dichter und Denker der Gegenwart“ 1884 herausgegeben ist, befinden sich 
187 Schriftproben. Von diesen sind 102 genau mit 58° geschrieben, 49 sind 
steiler, 36 schräger, und dies muss umsomehr auffallen, da alle Schriftproben, 
auch diejenigen, die nur einen halben Grad von 58° abweichen, den steileren 
oder schrägeren zugezählt sind. 

In dem Selbstschriften-Album des deutschen Reiches, das unter dem 
Titel „Aus Sturm und Noth“ herausgegeben ist, sind 294 Schriftproben. Von 
diesen sind 

158 genau mit 58° = 54 Proc. 
101 schräger = 34 Proc. 
35 steiler — 12 Broe. 


Da unter diesen viele sind, die nur den Namen aufweisen, so habe ich 
diejenigen besonders gemessen, von denen grössere Schriftproben geboten 
werden. Es sind 147, von diesen sind 


82 genau mit 58° = 56 Proc. 
50 schräger 25 Proc. 
15 steiler = 10 Proc. - 


In jedem Falle weisen also weit über die Hälfte aller Handschriften 
den Neigungswinkel von 58° auf, und diese Zahlen sprechen um so ver- 
nehmlicher, als die Handschriften von solchen Schreibenden herrühren, die 
in ihrer Jugend unrichtige Anleitung zum Schreiben erhalten haben, da sie 
in der Schule doch meist mit dem Winkel von 45° geplagt worden sind, 
der dem Bau der menschlichen Hand so gar nicht entspricht. 

Naturam expellas furca, tamen usque recurret. Vor 2 Jahren habe 
ich die grossen Ausstellungen in Berlin, Leipzig, Nürnberg und Genf be- 
sucht. Hierbei nahm ich die Gelegenheit wahr, die Arbeiten der Fort- 
bildungsschüler aufmerksam zu besichtigen. Die Hefte der untersten und 
obersten Abtheilung geben für Jeden, der Augen hat und sie gebrauchen 
wollte, Gelegenheit genug, um über den Schriftwinkel in’s Klare zu kommen. 
In Nürnberg und Genf wird in den unteren Abtheilungen beim Schreib- 
unterricht die Steilschrift gelehrt; man sollte also vermuthen, dass die Schüler 
der oberen Abtheilungen, die keinen Schreibunterricht mehr haben, bei 
ihren schriftlichen Arbeiten sich auch der Steilschrift bedienen müssten. 
Weit gefehlt. Höchst vereinzelt waren Hefte mit Steilschrift; die meisten 
Arbeiten, mindestens zwei Drittel derselben, waren in Schrägschrift mit 58° 
ausgeführt. In den Arbeiten der Berliner und Leipziger Schüler konnte ich 
dasselbe beobachten, obwohl hier in den unteren Classen nicht Steilschrift 
gelehrt wurde Aber gerade auf den Winkel von 58° hätte doch die 
Mehrzahl dieser Schüler nicht verfallen können, wenn er nicht durch den 
bau der menschlichen Hand bedingt wäre. 

Die Richtigkeit und Natursenabsheit dieses Winkels kann auch daraus 
bewiesen werden, dass es leicht üble Folgen haben kann, wenn man ihn 
unbeachtet lässt. In der „Physiologie des Schreibens“ von Maas sind 8. 78ff. 
im Ganzen 144 Schriftproben aufgeführt von Menschen, die am Schreibkrampf 


552 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


leiden. Unter diesen sind nur 15, die in einer Schriftlage von 58° schreiben; 129 
weichen ab, und zwar schreiben 115 zu schräg, 14 zu steil. Sollte die Krank- 
heit der meisten nicht durch die unnatürliche Haltung, die sie beim Schreiben 
einnahmen, veranlasst worden sein? Maas hat jedenfalls seine Schriftproben 
nicht ausgewählt in Rücksicht auf meine Beweisführung, da ich ja vorhin 
schon bewiesen habe, dass er von der Physiologie des Schreibens, über welche 
er ein umfangreiches Buch geschrieben hat, unrichtige Vorstellungen hat. 

Die Beobachtung, dass der Winkel von 58° ziemlich genau mit der 
Diagonale einer Postkarte zusammenfällt, brachte mich auf den Gedanken, 
dass ein so gestaltetes rechtwinkliges Dreieck nach dem mathematischen 
Verhältniss des goldenen Schnittes (1000:618 oder 8:5) gebildet sei. Da 
ich mich mit diesem eingehend beschäftigt und dabei gefunden hatte, dass 
alle darüber handelnde Schriften nur die lineare Grösse berücksichtigt, aber 
die Winkel, Flächen und Körper unberücksichtigt gelassen hatten, so konnte 
ich die Werkzeuge, die ich mir zu meinen Untersuchungen construirt hatte, 
jetzt gut benutzen. Es sind dies: 

1. ein rechtwinkliges Dreieck, dessen Katheten im Verhältniss des 
goldenen Schnittes stehen (233 bezw. 144 "); 

2. ein nach diesem Verhältniss construirter Doppelzirkel, der mit den 
unteren kürzeren Armen den Minor, mit den oberen längeren den Major des 
goldenen Schnittes angiebt; 

3. ein nach dem Watt’schen Parallelogramm construirter Zirkel mit 
3 Spitzen, deren mittlere sich stets so verschiebt, dass auf jeder beliebigen 
Linie sofort die Theilung nach dem goldenen Schnitte ausgeführt werden 
kann (Kathetenverhältniss); 

4. ein ähnlich construirter Zirkel, der nach einem Dreieck eonstruirt 
ist, in welchem sich die Hypotenuse zu einer Kathete wie 100:61-8 ver- 
hält. In solchem Dreieck verhalten sich die Katheten zu einander wie 
14:11 (Hypotenusenverhältniss). 

Ich lege diese Werkzeuge nebst zugehörigen Zeichnungen vor. Damit 
lassen sich folgende Experimente ausführen: 

1. Beweis, dass Daumen und Zeigefinger, an einer rechtwinkligen Tisch- 
kante ausgestreckt, mit ihren Fingerspitzen eine Linie bestimmen, die mit 
den Tischkanten Winkel von 58 bezw. 32° bildet. Die Finger verhalten 
sich demnach zu einander wie 8:5. 

2. Beweiss, dass die äussere Hand und die äusseren Krümmungen der 
Gelenke meist nach dem Kathetenverhältniss, die der inneren Hand nach dem 
Hypotenusenverhältniss getheilt sind. Misst man die äussere von der Hand- 
wurzel bis zu den Fingerspitzen mit dem Proportionszirkel des Katheten- 
verhältnisses, so ergiebt sich, dass die Mittelhand bis zum grössten Knöchel 
sich zur Länge jedes Fingers verhält wie 5:8. 

Fasst man die innere Hand von der Handwurzel bis zu den Finger- 
spitzen in den Proportionszirkel des Hypotenusenverhältnisses, so zeigt sich, 
dass die Mittelhand bis zur grossen Gelenkfurche sich zu jeder Fingerlänge 
verhält wie 14:11. 

Bemerkenswerth ist, dass an der äusseren Hand das I. und I. Finger- 
glied im Kathetenverhältniss, das II. und III. im Hypotenusenverhältniss 
stehen; so zeigt der kleine Finger meiner Hand die Maasse 

I 44.3 mm 
II Ort a 7 mm 
III »j.2 am 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — GRABOW. 553 


Hier verhält sich also, wie man leicht nachrechnen kann, I:II = 8:5 
und ITSIIE TA 1: 

Ebenso’ verhält sich beim Mittelfinger I (= 52-4): II = 32-8 wie 8:5, 
dagegen II (= 32-8): III (= 25) wie 14: ul, 

Die Glieder des Daumens stehen zu einander im Hypotenusenverhältniss 
(14:11). 

Ich habe mich aber nicht damit begnügt, den Abdruck breit gedrückter 
Hände zu nehmen, sondern habe ana « nzellng Fingerglieder in starker 
Krümmung gemessen. Dann werden die oben ange schenen Maasse länger, 
beim kleinen Finger I = 46?/,, IT = 29.2, III = 21!/,, Ebenso beim 
Mittelfinger I= 61-4, II= 38°4, II = 29-4. Hierbei ist von grosser 
Wichtigkeit die Thatsache, dass bei Verschiebung der Glieder die Proportionen 
dieselben bleiben: auch die gestreckten Glieder I und II stehen im Katheten- 
verhältniss, II und III im Hypotenusenverhältniss. 

Man kann hieraus ersehen, dass die menschliche Hand ein bewunderungs- 
würdiges Werkzeug ist, da alle ihre Glieder so wunderbar geordnet sind, dass 
sie selbst bei Krümmungen und Zusammenziehungen trotz anderer Maasse 
doch stets dieselben Proportionen zeigen. Macht man unter diesem Gesichts- 
punkte eine Probe auf das Schreiben, fasst z. B. den Griffel lang mit ge- 
streckter Hand und misst die Entfernungen der Griffelspitze vom Stützpunkte 
des kleinen Fingers und dem Handgelenk, so stehen diese Längen im Ver- 
hältniss von 8:5; fasst man den Griffel ganz kurz, so dass man die Mittel- 
hand etwas zusammenziehen muss, um mit der Griffelspitze das Papier er- 
reichen zu können, so sind zwar die Längenmaasse kleiner, die Proportionen 
derselben unter sich aber wieder dieselben, denn die Längen verhalten sich 
wiederum wie 5:8, wie sich aus der Zeichnung und aus Experimenten 
ergiebt. 

Damit stimmt überein, dass alles, was aus Menschenhand oder aus der 
Hand der Natur in diesen Proportionen hervorgeht, besonders handlich er- 
scheint und auf das menschliche Auge einen wohlthuenden Eindruck macht. 
Zum Beweise lege ich eine Tafel vor, auf welcher das Wort mein unter 
verschiedenen Winkeln (45 bis 60°) gezeichnet ist. Augenfällig ist, dass 
dasjenige Wort, welches mit 58° Albstnneih am] 320 Aufstrich Eoreichnet ist, 
sich am bequemsten lesen lässt und den angenehmsten Dee auf das 
Auge macht. Das so construirte n habe ich zur Grundlage des deutschen 
und lateinischen Alphabets genommen und kann wiederum “durch Zeichnung 
beweisen, dass das Normal das Maass für alle Buchstaben ist: stimmen 
sie Aka! überein, so sind sie schön; weichen sie davon ab, so verlieren 
sie an Ebenmaass "und Schönheit. 

Die für die gewöhnliche Schreibschrift gefundenen Gesetze, die mit den 
Proportionen der Hand und ihrer Glieder so wunderbar übereinstimmen, 
gelten auch für andere. Schriftarten, wie aus Louis Bühler’s Rundschrift 
(Verlag von Regenhardt, Berlin) hervorgeht. Der Verfasser ist schon 
vor vielen Jahren gestorben, er hatte also gewiss keine Ahnung von den 
Proportionen der Hand, wie ich sie gefunden und hier aus einander gesetzt 
habe. Es lässt sich sogar beweisen, dass er beim Entwurf seiner Schrift 
von der unrichtigen Voraussetzung ausgegangen ist, der halbe rechte Winkel 
sei das Maass seiner Buchstaben. Er sagt selbst S. VI der Einleitung, dass 
die Diagonale, welche ein gleichseitig liegendes Quadrat schräg durchschneidet, 
den 45gradigen Bindestrich (d. h. Aufstrich) der Buchstaben bilde, und es 
sind auch mehrere Seiten des Uebungsbuches mit diesem Winkel geschrieben; 


554 VERHANDLUNGEN DER BERLINER PHYSIOL. GESELLSCH. — GRABOW. 


die Aufschrift aber auf dem Titelblatt verwendet einen Winkel von 58° für 
den Aufstrich, und da der Abstrich senkrecht steht, so beträgt der Unter- 
schied zwischen beiden 32°, und wir ersehen daraus, dass der Verfasser 
dieser Rundschrift unbewusst dieselben Winkel von 32 bezw. 58° getroffen 
hat, deren Wichtigkeit ich für die gewöhnliche Schreibschrift, für das nach 
dem goldenen Schnitt gezeichnete Dreieck und für die Proportionen und 
Beugungen der Glieder der Hand nachgewiesen habe. Dass die Hand aber 
noch in anderen Stellungen unter diesen Winkeln arbeitet, ist, so sonder- 
bar es klingen mag, aus dem Codex argenteus der Bibelübersetzung des 
Ulfilas zu ersehen. Die gothischen Schriftzeichen des f\ (a), \(d), A 
und N (n) weisen eine nach links überhängende Linie auf, die mit der 
Schreiblinie einen Winkel von 58° bildet; die senkrechten Linien dieser 
Buchstaben : bilden also mit den ersteren wieder einen Winkel von 832°. 
Wir finden also diese Winkel von 32 und 58°, die für die schreibende Hand 
so besonders bequem liegen: 

1. bei der gewöhnlichen Schreibschrift, 

2. bei der senkrecht stehenden Rundschrift, 

3. bei den nach links überhängenden Strichen der gothischen Buch- 
staben des Codex argenteus. Das ist aber nicht etwa eine vereinzelte, auf 
gothische Schrift passende Erscheinung, sondern dieselbe Schriftlage findet 
sich auch in den Alphabeten aller Sprachen, in denen die Bibel gedruckt 
ist, vorausgesetzt, dass die Schriftzüge, die ihnen zu Grunde liegen, ur- 
sprünglich geschrieben, nicht etwa nur gemalt worden sind, ausser- 
dem auch noch oft in verstellten Handschriften, und ich bin selbst vor 
8 Wochen in einem Process, der wegen Urheberschaft anonymer Briefe ge-' 
führt wurde, als Schreibsachverständiger zugegen gewesen, in welöhem Briefe 
mit links überhängender Schrift von 58° Schräglage eine grosse Rolle 
spielten. Die Winkel von 32 und 58° stimmen eben mit den Proportionen 
der Glieder und den Verschiebungen der Gelenke wunderbar überein, darum 
kann ich nur auf ihre grosse Wichtigkeit beim Schreiben hinweisen und die 
Schriftlage von 58° Jedem, der viel schreiben muss und sich vor dem Schreib- 
krampf hüten will, nicht dringend genug empfehlen. Der Winkel ist von 
der Natur gegeben, und so schliesse ich mit Rousseau’s Mahnruf: 


Retournöns & la nature! 


Taf! 7. 


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Taf. 11. 


Fig. 16a. 


Fig. 20. 


Verlag von VEIT & COMP. in Leipzig. 


Taf. IH. 


Archiv f. Anat. u. Phys. 1895. Phys. Abthlg. 


Fig. 23. 


Verlag von VEIT & COMP. in Leipzig. 


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Physiologische Abtheilung. 1898. I. u. II. Heft. 


ARZTES BARCHIYV 
1388 


| 
ANATOMIE UND PHYSIOLOGIE, 


\ 


FORTSETZUNG DES von REIL, REIL v. AUTENRIETH, J. F. MECKEL, JOH. MÜLLER, 
REICHERT vw. DU BOIS-REYMOND HERAUSGEGEBENEN ARCHIVES. 


HERAUSGEGEBEN 
voN 


Dr. WILHELM HIS, 


PROFESSOR" DER ANATOMIE AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG, 
UND 


Dr. TH. W. ENGELMANN, 


PROFESSOR DER PHYSIOLOGIE AN DER, UNIVERSITÄT BERLIN. 


JAHRGANG 1898. 


—— PHYSIOLOGISCHE ABTHEILUNG. — 
ERSTES UND ZWEITES HEFT. 


MIT DREI ABBILDUNGEN IM TEXT UND DREI TAFELN. 


LEIPZIG, 
VERLAG VON VEIT & COMP. 
1898. 


Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandes. 
(Ausgegeben am 7. April 1898.) 


Inhalt. 


H. J. HAmsuRGer, Eine Methode zur Trennung und quantitativen Bestimmung 
des diffusiblen und nicht-diffusiblen Alkali in serösen Flüssigkeiten . . 

H. J. HAmBUrser, Ueber den Einfluss geringer Quantitäten Säure und Alkali 
auf das Volum der rothen und weissen Blutkörperchen 


Pıur SCHULTZ, Ueber die Wir kungsweise der Mydriaca und Miotica. (Hierzu Dat, I.) 


Ostmans, Ueber die Reflexerregbarkeit des Musculus tensor tympani durch Schall- 
wellen und ihre Bedeutung für den Höract , 

PAvr Schutz, Zur Physiologie der sympathischen Ganglien an: 

Verhandlungen der physiologischen Gesellschaft zu Berlin 1897—98 . . , 
L. Lewin, .Ueber die, Beziehungen zwischen Blase, Ureter und Nieren. — 
E. Dorn, Sichtbarkeit der Röntgenstrahlen. — ImmAnuer Munk, Ein mi- 
kroskopisches Präparat einer: vom Ureter aus injieirten Niere. — CowL, 
Ueber einen neuen Maulsperrer für Thiere. (Hierzu Taf. II u.-IIL) — 
D. Hınsemann, Ueber Veränderungen in den Nieren bei Unterbindung des 
Ureters. — A. GOLDSCHEIDER, Ueber die Neuronschwelle. — N. Zuntz, 
Ueber die Verdauung und den Stoffwechsel der Fische (nach Versuchen von 
Hrn. KarL KxAutHe). 


Die Herren Mitarbeiter erhalten vierzig. Separat - Abzüge ihrer Bei- 


träge gratis und 30 W Honorar für den Druckbogen. 


Beiträge für die anatomische Abtheilung sind an 


1 roe0, Dr. bein His in Lem, 


Beiträge für die hs slogishne Abtheilung an 


Seite 


124 
139 


Professor Dr. Th. W. Engelmann in Berlin N.W., Dorotheenstr. 35 


portofrei einzusenden. — Zeichnungen zu Tafeln oder zu Holzschnitten sind 
auf vom Manuscript getrennten Blättern beizulegen. Bestehen die Zeich- 


nungen zu Tafeln aus einzelnen Abschnitten, so ist, unter Berücksichtigung 


der Formatverhältnisse des Archives, denselben eine Zusammenstellung, die 


dem Lithograpken als Vorlage dienen kann, beizufügen. 


Pr® 


BEER ENT NE TEE DEE re vr BE ER 


Physiologische Abtheilung. 1898 IH. Heft. 


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SEP 23 1009 
ARUHIV 


FÜR 


1383 


HERAUSGEGEBEN 
VoN 


Dr. WILHELM HIS, 


PROFESSOR DER ANATOMIE AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG, 


UND 


Dr. TH. W. ENGELMANN, 


JAHRGANG 1898. | 
en PHYSIOLOGISCHE ABTHEILUNG. —— 
DRITTES HEFT. 


MIT VIER ABBILDUNGEN IM TEXT UND EINER TAFEL. 


LEIPZIG, 
VERLAG VON VEIT & COMP 
1898. 


ANATOMIE UND PHYSIOLOGIE. 


FORTSETZUNG DES von REIL, REIL v. AUTENRIETH, J. F. MECKEL, JOH. 
REICHERT vw. DU BOIS-REYMOND HERAUSGEGEBENEN ARCHIVES. 


Be 


TE 


MÜLLER, 


Ba a 


Zu beziehen durch ulle Buchhandlungen des In- und Auslandes. 


(Ausgegeben am 30. Juni 1898.) 


Inhalt. 


Seite 

G. ABELSDORFF, Physiologische Beobachtungen am Auge der Krokodile. (Hierzu 
Mar NS ae i 155° 

G. ©. J. VosMmAER und ©. A. en Ve ale Nahrindeenfnshe hei 
Schwämmen . . . ! OLE N ee Be ... 168 

H. SAromonsoHn, Ueber Tchibenee an Eorahaus und The (Ren 
tanbensehen) ar ‚ne, m ne Reit! 

Lupwiıe Herıwic, Ueber den Keiatehum ae Nele ind seine © Berichung zum 
Neuron! v.x ..S SEEN 
Verhandlungen der ca Gbeiilächett zu Berlin 1897— 98 N 5 1) 
A. Loewy, Apparat zur Analyse der Blutgase. — N. Zuxzz, Ueber die Fett- | 

bildung aus Eiweiss. — D. HansemAnn, Ueber den Einfluss des Winter- 

schlafes auf die Zelltheilung. — R. pu Boıs-Reymonxp, Ueber die sogenannten 

Wechselgelenke beim Pferde. — E. WOERNER, Ueber Kreatin und Kreatinin 


im Muskel und Harn. — N. Zuntz, Ueber die Beziehung zwischen Wärme- 
werth und Nährwerth der Kohlehydrate und Fette. — GREEFF, Ueber Längs- 
verbindungen (Associationen?) in. der menschlichen Retina. — J. ROSENTHAL, 
Ueber die Sauerstoffaufnahme und den Sauerstoffverbrauch der Säugethiere. — 
Inmanter Muxk, Zeigt der unversehrte Nerv eine verschiedene locale Er- 
regbarkeit? (nach Untersuchungen von Hrn. P. SchurLzz und dem Vor- 
tragenden), 


Die Herren Mitarbeiter erhalten werzig Separat- Abzüge ihrer Bei- 
träge gratis und 30 c# Honorar für den Druckbogen. 


Preisaufgabe. 


Die Physikalisch-ökonomische Gesellschaft in Königsberg i. Pr. hat fol- 
gende Preisaufgabe ausgeschrieben. Es wird verlangt 


eine Arbeit, welche auf dem Gebiete der pflanzlichen oder thierischen 
Electriceität entweder fundamental neue Erscheinungen zu Tage fördert, 
oder hinsichtlich der physikalischen Ursache der organischen Electricität, 
oder ihrer Bedeutung für das Leben überhaupt oder für bestimmte 
Functionen, wesentlich neue Aufschlüsse gewährt. 


Die Arbeiten sind gedruckt oder handschriftlich bis 31. December 1900 
an die Gesellschaft einzusenden. Der Preis beträgt” 4000 Mark; falls er 
keiner Arbeit zuerkannt werden kann, können zwei kleinere Preise zu je 
500 Mark verliehen werden. Das Preisgericht besteht aus den Professoren 
der Botanik, resp. Physiologie: PFEFFER, Leipzig; FRANK, Berlin; Kühns, 
Heidelberg; HErıne, Leipzig; HerMAnNn, Königsberg. Das re En 
6. Juni 1901 verkündet. 


Genaueres ist auf Anfrage bei der Gesellschaft zu erfahren. 


Physiologische Abtheilung. 1898. IV. Heft. 


 k ARCHIV 
DEO 10 1800 


FÜR 


ANATOMIE UND PHYSIOLOGIE. | 
| 


FORTSETZUNG DES von REIL, REIL v. AUTENRIETH, J. F. MECKEL, JOH. MÜLLER, 
REICHERT v. DU BOIS-REYMOND HERAUSGEGEBENEN ARCHIVES. 


HERAUSGEGEBEN 
VON 


Dr. WILHELM HIS, : 3 
- PROFESSOR DER ANATOMIE AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG, en 
UND © > 


Dr. TH. W. ENGELMANN, 


PROFESSOR DER PHYSIOLOGIE-AN DER UNIVERSITÄT BERLIN. 
JAHRGANG 1898. 


== PHYSIOLOGISCHE ABTHEILUNG. —= 
VIERTES HEFT. 


MIT ACHT ABBILDUNGEN IM TEXT. 


LEIPZIG, 


VERLAG VON VEIT & COMP. 
1898. n 
“ | se bi : = 


Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandes. 
(Ausgegeben am 20. October 1898.) 


Inhalt. 


GEORG BAER, Beitrag zur Kenntniss der acuten Vergiftung mit. verschiedenen 
Alkoholen : $ ? ? a ; 

ImMANUEL MunK und PaAuL Shan, Die Reizbarkeit a en an verschie- 
denen Stellen seines Verlaufes : ; ; 

H. J. HAMBURGER, Ueber den Einfluss von Salrlösıheen an. di Volnm tie. 
rischer Zellen. Erste Mittheilung . . . SEN er 

Aporpu BAary, Ueber die Entwickelung der indentenbien ; 

Inmanuen Munk, Ueber den Nachweis des Gallenfarbstoffs im Hay 

Ernst ScHamiDt, Ueber Kreatinine verschiedenen Ursprungs AN, 

Verhandlungen der physiologischen Gesellschaft zu Berlin 1897—98 . . .. 
A. Neumann, Zur Kenntniss der Nucleinsubstanzen. — R. pu Bois-REYmoxD, 
Ueber die Athmnng von Dytiscus marginalis. — M. G. Schrapr, Ueber 
Differenzen im Bau der Hirnrinde. — CARL HAMEURGER, Besteht freie Com- 
munication zwischen vorderer und hinterer Augenkammer? — Max Davıp, 
Die histologischen Befunde bei Einheilung von lebendem und todtem 
Knochenmaterial in Knochendefeeten. — C. BEnpA, Ueber die Spermato- 
gerese, der Vertebraten und höherer Evertebraten. I. Theil. Ueber die 
vegetativen Geschlechtszellen. — E. HorHı, Ueber das Verhältniss des 
Bindegewebes zur Musculatur. — C. Bexpa, Ueber die Spermatogenese der 
Vertebraten und höherer Evertebraten. II. Theil: Die Histiogenese der 
Spermien. 


Die Herren Mitarbeiter erhalten vierzig Separat- Abzüge ihrer Bei-. 


träge gratis und 30 A Honorar für den Druckbogen. 


Soeben erschien: 


Se 


_EMIL DU Bois -REYMOND 


Th. W. nam, 


Abgedruckt in den Abhandlungen der Königl. Preuss. Akademie 
der Wissenschaften zu Berlin vom Jahre 1898. 


Seite 


283 


297 
317 
341 
361 
378 
374 


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Physiologische Abtheilung. 1898. V. u. VI. Heft. 


P= ÜBER SF EZ : ll Re Fer a Ta Fee: AT SR CE Frehnege r m RN AT TER | 


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FEB 210 ARCHIV 
7383 FÜR 


ANATOMIE UND PHYSIOLOGIE 


FORTSETZUNG DES von REIL, REIL v. AUTENRIETH, J. F. MECKEL, JOH. MÜLLER, 
REICHERT vw. DU BOIS-REYMOND HERAUSGEGEBENEN ARCHIVES, 


Y 


HERAUSGEGEBEN 
VON 


De. WILHELM HIS, / i 


PROFESSOR DER ANATOMIE AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG, 


"UND, 


Dr. TH. W. ENGELMANN, 


PROFESSOR DER: PHYSIOLOGIE AN DER UNIVERSITÄT BERLIN. 
JAHRGANG 1898. 


—— PHYSIOLOGISCHE ABTHBILUNG. — 
FÜNFTES UND SECHSTES HEFT. 


MIT VIERZEHN ABBILDUNGEN IM TEXT UND EINER TAFEL. 


- LEIPZIG, 
VERLAG VON VEIT & COMP. 
1898. 


Wa 2 nn an 


Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandes. 
(Ausgegeben am 28. December 1898.) 


Inhalt. 


‚Seite 

Hans Vost, Ueber die Folgen der Durchschneidung des N. DIERC DONE 
(Efierzin NataVa)ee er RENTEN SER) 
A. Loewy, Ueber die N dd Ass zur Bcktankke RS KERN. 409 


Muneo KumAGawA und RENTARO MıvrRA, Zur Frage der Zuckerbildung aus Fett 

im. Thierkörper. Ein Beitrag zum Phlorhizindiabetes im Hungerzustande . 431 
WILHELM STERNBERG, Beziehungen zwischen dem chemischen Bau der süss 

und bitter schmeckenten Substanzen und ihrer Eigenschaft zu schmecken 451 


A. Loewy, Ein vereinfachtes Verfahren der Blutgasanalyse. . . . 484 

W. A. Nase und A. SAMoJLoFF,: Einige Versuche über die Weber von \ 
Schallschwiugungen auf das Mittelohr ... . . . 505 

ALEXANDER SAMOJLOFF, Ueber den untermaximalen etanne der anengestreien 
Muskeln 2... '. ; } i a 


Verhandlungen der Tyenloscken Öbselkchaft. zu Berlin 1898—1899 °. . . 526 
H. Kronecker. Bericht über: Lupmirra Scnizıma, Vergleich von Ludwig’s 
Kymograph mit Hürtble’s Tonographen; CARTER, Ueber Plethy smographie 
des Herzens; PeELAGIE BETSCHAsnorr, Abhängigkeit der Pulsfrequenz des 
Froschherzens von seinem Inhalte; NAnDınE LoMAKINA, Ueber die nervösen 
Verbindungen auf den Herzen der Hunde und Pferde; R. Wysauw, Nicht- 
wirkung des Vagus auf das ausgewaschene Herz; JurLıa Divine, Ueber die 
Athmung des Krötenherzens; Emın'Bürcı, Ueber Athmung auf Bergen; 
C. Woop, Ueber die Bewegung des Schleiendarmes; H. Iro, Ueber den . 
Ort der Wärmebildung durch Hirnreiz. — N. Zuntz, Ueber die Zucker- 
bildung in der Leber. — WırHernm Rortu, Beiträge zu der Lehre von den 
osmötischen Ausgleichsvorgängen im Organismus. — LEVINsoHn, Ueber die 
freie Communication zwischen Hinter- und Vorderkammer des Auges. — 
(GRABoWw, Ueber die physiologischen Grundlagen des Schreibens. 


Die Herren -Mitarbeiter erhalten vwerzig Separat- Abzüge ihrer Bei- 
träge gratis und 30 4 Honorar für den Druckbogen. 


Beiträge für die anatomische Abtheilung sind an 


Professor Dr. Wilhelm His in Leipzig, 
während der Monate März, April, August und September jedoch an die 
Verlagsbuchhandlung Veit & Comp. in Leipzig, 


Beiträge für die physiologische Abtheilung an 
Professor Dr. Th. W. Engelmann in Berlin N.W., Dorotheenstr. 85 


portofrei einzusenden. — Zeichnungen zu Tafeln oder zu Holzschnitten’ sind 
auf vom Manuscript getrennten Blättern beizulegen. Bestehen die Zeich- 
nungen zu Tafeln aus einzelnen Abschnitten, so ist, unter Berücksichtigung 
der Formatverhältnisse des Archives, denselben eine Zusammenstollung, die 
dem inesfapnen als Vorlage dienen kann, beizufügen. 


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