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Full text of "Archiv für Physiologie"

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HARVARD UNIVERSITY. 


LIBRARY 


OF THE 


MUSEUM OF COMPARATIVE ZOÖLOGY. 


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ARCHIV 


FÜR 


ANATOMIE UND PHYSIOLOGIE. 


FORTSETZUNG DES von REIL, REIL v. AUTENRIETH, J. F. MECKEL, JOH. MÜLLER, 
REICHERT vw. DU BOIS-REYMOND HERAUSGEGEBENEN ARCHIVES. 


HERAUSGEGEBEN 


VON 


Dr. WILHELM HIS, 


PROFESSOR DER ANATOMIE AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG, 


UND 


Dr. TH. W. ENGELMANN, 


PROFESSOR DER PHYSIOLOGIE AN DER UNIVERSITÄT BERLIN. 


JAHRGANG 1908. 


PHYSIOLOGISCHE ABTHEILUNG. 


LEIPZIG, 
VERLAG VON VEIT & COMP. 
1903. 


ARCHIV 


FÜR 


PHYSIOLOGIE. 


PHYSIOLOGISCHE ABTHEILUNG DES 
ARCHIVES FÜR ANATOMIE UND PHYSIOLOGIE. 


UNTER MITWIRKUNG MEHRERER GELEHRTEN 


HERAUSGEGEBEN 


VoN 


Dr. TH. W. ENGELMANN, 


PROFESSOR DER PHYSIOLOGIE AN DER UNIVERSITÄT BERLIN. 


JAHRGANG 1908. 


MIT ABBILDUNGEN IM TEXT UND SECHS TAFELN. 


“ LEIPZIG, 
VERLAG VON VEIT & COMP, 
1903. 


Druck von Metzger & Wittig in Leipzig. 


Inhalt. 


L.Jacosson und W.Cowı, Ueber die Darstellung und Messung der Schwingungs- 
amplituden ausklingender a mit Hülfe der „Linearkinemato- 
graphie“ 

H. ZWAARDEMARER, onen von en echen Lösungen nd von Sy en 
im heterogenen Gleichgewicht. : 


K. F. WENncKEBAcCH, Ueber die Dauer der compensatorischen ha ech Boa 
der Vorkammer des Säugethierherzens 


Max VERworn, Zur Analyse der dyspnoischen nern arena Tat. 1) 


P. MorAwırz, Zur ee Se Blutdrucksehwankungen. (Hierzu 
Batsla)r. EI : 


J. DewItz, Was eran lasst er Hameln, : in be Bi z zu an 
BERNHARD Rawırz, Ueber den Bogengangsapparat der Purzeltauben 


Ta. W. EnGeLmann, Ueber die physiologischen Grundvermögen der en 
substanz und die Existenz nen Herznerven. Eine Snlesennng an 
Hrn. H. E. Hering are ; 


WILHELM STERNBERG, Ueber däs Enesende Dein 
H. ZWAARDEMAKER, Riechend schmecken : 
M. LEwAnpowskKY, Ueber die Verrichtungen des Bleche 


G. Hürser, Noch ein Mal die ulzse nach der ‚Sanersoffcapacität de Blut- 
farbstoffes“ . 


N. H. Atcock und Hans ianaan, Weber die Wirkung is Carpains auf he 1a 
thätigkeit. (Hierzu Taf. III.) t 


RıcuAarp Hans Kann, Ein Beitrag zur Bohne von den Pilomofsren, (Hier zu Taf. IV. ) 
Karı BRAEUNIG, Ueber Chromatolyse in den Vorderhornzellen des Rückenmarkes 


WILHELM TRENDELENBURG, Untersuchungen über das Verhalten des Herzmuskels 
bei rhythmischer elektrischer Reizung. (Hierzu Taf. V u. VL). 


WILHELM TRENDELENBURG, Ueber den Wegfall der Mieaa Ruhe am 
spontan schlagenden Froschherzen : Een, 

PAuL Ostmann, Schwingungszahlen und SH ellenwerihe . 

L. PoPIELskı, Zur Eiyeinlieie des Plexus coeliacus. (Uxporimentell Der 
suchung.) : 


ALEXANDER AUERBACH and sn Trmweinchyärnte, Weber eie Beachron des Kiensh: 
lichen Harnes unter verschiedenen Ernährungsbedingungen und ihre quanti- 
tative Bestimmung . ee 


Ausustus D. WALLER, Ueber air hlazen Ströme don Key alles o 
S. Dontas, Ueber einige Einwirkungen auf die Dehnungscurve des Muskels . 
J. SEEGEN, Der Process der Zuckerbildung in der Leber 


GEORG LEVINSOHN, Ueber das Verhalten des Ganglion cervicale Sup en 
Durchschneidung seiner prae- bezw. postcellulären Fasern . 

JOHANNES FRENTZEL und MAx SCHREUER, Verbrennungswärme und Piseelosrcher 
Nutzwerth der Nährstoffe. IV. ER Die ee und der 
Energiewerth des Fleischkothes 5 

KARL BRAEUNIG, Ueber Denon im tonischen Melonen. Hach 
Durchschneidung der hinteren Rückenmarkswurzeln . ». . 2 2 2 2.2. 


Seite 


460 


480 


VI INHALT. 


W. Steruing, Hirnrinde und Augenbewcegungen 


Hans Sachs, Ueber die are im Organismus bei der Teanekneton erde 
artigen Blutes . 6 


Tr. W. EngELMANN, Der ah von kanns seine Allan all deren. Denme 
Rıcnarp Hans Kaun, Beobachtungen über die Wirkung des Nebennierenextractes 


Verhandlungen der physiologischen Gesellschaft zu Berlin 1902—1903. 


WALTHER THORNER, Zur Photographie des Augenhintergrundes 


W. STERNBERG, Ueber das wirksame Princip in den süssschmeckenden Were 
dungen, das dem süssen Geschmack zu Grunde liegt, das sogenannte 
duleigene Prineip 


J. Kron, Ueber die ea dr nettes “ch. halbsetieer Diröhschneidene 
des Rückenmarkes 


CARL ÖPPENHEIMER, Ueber Thschiontrune. der Seumalbeniee 


N. Zuntz, Eine Methode zur Ran des Eiweiss- und Fettgehaltes im Ten 
den T'hierkörper . I: 


FrRiEDRICH ReıcH, Ueber eine neue ken in BEN N AT 


Ta. W. ENGELMANN, ee künstlich erzeugter BOrDEDENSERINERR von Os- 
cillatorien a ee 


W. Connstem, Ueber ae Beier. 
Hans VırcHow, Gefrierskelet-Präparat der Hand und Henke’ ee san 
ABELSDORFF, Ueber entoptische Sichtbarkeit der Netzhauteirculation 


AUERBACH und FRIEDENTHAL, Ueber die Reaction des Harnes bei verßchtedenen 
Ernährungsverhältnissen . 


M. LEwAnpowsky, Ueber das Neshalten der slatien Augenmuskeln Da Sy m- 
pathicusdurchschneidung . 


E. Rost, Zur pharmakologischen Bornäheikre Ge ee ee en 
Berücksichtigung ihrer Ausscheidung 


A. Lorwy, Bemerkungen zur Wirkung der Be ne den Sroteecheel 


Saun, Beiträge zur Morphologie der patlogenen Bakterien: Cholerabaeillus 
und Vibrio Metschnikoff . 5 


N. Zuntz, Ueber Beziehung zwischen er ma Soltau Dt Cohen 


F. HırscureLp, Die Ernährung der Soldaten vom BREI ORT chen und volks- 
wirthschaftlichen Standpunkt . : 


Leo Langstein, Zur Kenntniss der A : 
KARL GLAESSNER, Ueber die antitryptische Wirkung des ass ; 
H. KroNEcKER, Ueber die Erregbarkeit von Nerv und Muskel perfundirter Fr ee 


A. Loewxy und FrAnZz MÜLLER, Zur Kenntniss der anästhesirenden Wirkung des 
Yohimbin -Spiegel 


A. Loewy und H. v. SCHRÖTTER, Ein Veriehren zur Bas = ee 
spannungen, der Kreislaufgeschwindigkeit und des Herzschlag volumens am 
Menschen Be 


WILHELM STERNBERG, Baba zur ee de süssen eshunces 
Mosse, Zur Histogenese der lymphatischen Leukämie 
G. Werzer, Die colloidalen Hohlkörper der Eiweisssubstanzen des Zellkennes 


X. Wesseuy, Ueber die Fluoresceinerscheinungen am Auge und die Ausscheidung 
des Fluoresceins aus dem Körper . 


HEINnRıicH PoLL und ALFRED SOMMER, Ueber phncochrome "Teilen im anal 
nervensystem des Blutegels . 5 


Hans FRIEDENTHAL, Ueber Ba oneberiumungent im natürlichen So ml über 
Herstellung einer zum Ersatz des natürlichen Serums geeigneten Salzlösung 


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APR 8 1u,9- 


Physiologische Abtheilung. 1903. I. u. II. Heft. 


U M883 
ARCHIV 


FÜR 


ANATOMIE UND PHYSIOLOGIE 


_ Forzserzung Des von REIL, REIL v. AUTENRIETH, J. F. MECKEL, JOH. MÜLLER, 
REICHERT vw. DU BOIS-REYMOND HERAUSGEGEBENEN ÄRCHIVES. 


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‚De. WILHELM HIS, 


PROFESSOR DER ANATOMIE AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG, 


UND 


Dr. TH. W. ENGELMANN, 


PROFESSOR DER. PHYSIOLOGIE AN DER UNIVERSITÄT BERLIN. 


JAHRGANG 1903. | 
 — PHYSIOLOGISCHE ABTHEILUNG. — 
_ ERSTES UND ZWEITES HEFT. 


MIT ZWANZIG ABBILDUNGEN IM TEXT UND ZWEI TAFELN. 


eE LEIPZIG, 
VERLAG VON VEIT & COMP. 
- 1908. 


Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandes. 
(Ausgegeben am 13. März 1903.) 


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Tıhalt 


z 7 Seite 

L.Jacogson und W.Cowr, Ueber die Darstellung und Messung der Schwingungs- 

amplituden ausklingender a mit Hülfe der „Linearkinemato- 
sraphie”., ...n. 1 

H. ZWAARDEMAKER, A von nen un and! von er ren 
im heterogenen Gleichgewicht. ... . . 42 

K. F. WENCKEBACH, Ueber die Dauer der eomnensatorischen Ba ach Herne 
der Vorkammer des Säugethierherzens . . . 57 


Max Verworn, Zur Analyse der dyspnoischen Yasukteiun. ren Taf. 1) 65 
P. MorAwITz, Zur Differenzirung rhythmischer Pen nee (Hierzu 


Tara). ge. EN 82 
J, Dewırz, Was veranlasst Me Sneak r00n. in hs Ei zu drinsenz re a OO 
BERNHARD Rawırz, Ueber den Bogengangsapparat der Purzeltauben . . . 105 


Ta. W. EnGeLmann, Ueber die physiologischen Grundvermögen der Herma sie: 
substanz und die Existenz bathmotroper Herznerven. Eine Entgegnung’an 


Hrn. E. Hering .. Se RE NN an IERTENELNN 
WILHELM STERNBERG, Ueber din enesendo an EL Se Dune er 
H. ZWAARDEMAKER, Riechend schmecken . ...... RN ER N) 
M. Lewanpowsky, Ueber die Verrichtungen des klenkiars DR 
Verhandlungen der physiologischen Gesellschaft zu Berlin 1902—19038 ... .. 192 

WALTHER THORNER, Zur Photographie des Augenhintergrundes. — Dr. 


W. STERNBERG, Ueber das wirksame Princip in den süssschmeckenden Ver- 
bindungen, das dem süssen Geschmack zu Grunde liegt, das sogenannte 
duleigene Princip. — J. Kron, Ueber die Hemmung der Reflexe nach halb- 
seitiger Durchschneidung, des Rückenmarkes. — CARL OPPENHEIMER, Ueber 
Fraetionirung der Serumalbumine. — N. Zuntz, Eine Methode zur Schätzung 
des Eiweiss- und Fettgehältes im lebenden Thierkörper. — FRIEDRICH Reich, 
Ueber eine-neue Granulation in den Nervenzellen. — Ta. W. ENGELMANN, 
Vererbung künstlich erzeugter Farbenänderungen von Oscillatorien. 


Die Herren Mitarbeiter erhalten - vierzig Separat-Abzüge. ihrer Bei- 
träge gratis und 30 cW# Honorar für den Druckbogen. 


Beiträge für die anatomische Abtheilung sind an 
Professor Dr. Wilhelm His in Leipzig, 
während der Monate März, April, August und September jedoeh an die 
Verlagsbuchhandlung Veit & Comp. in Leipzig, 
Beiträge für die physiologische Abtheilung an 
Professor Dr. Th. W. Engelmann in Berlin N.W., Dorotheenstr. 35 


portofrei einzusenden. — Zeichnungen zu Tafeln oder zu Holzschnitten sind 
auf vom Manuscript getrennten Blättern beizulegen. Bestehen die Zeich- 
nungen zu Tafeln aus einzelnen Abschnitten, so ist, unter Berücksichtigung 
der Formatverhältnisse des Archives, eine Zusammenstellung, die dem 
_ Lithographen als. Vorlage für die Anordnung dienen kann, beizufügen. 


 Litterarischer Anzeiger. 
| Beilage zu 
Archiv für Anatomie u. Physiologie 
Zeitschrift für Hygiene und Infectionskrankheiten 
Skandinavisches Archiv für Physiologie. 


vs 1903. Verlag von Veit & Comp. in Leipzig. Nr. 1. 

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N = Verlag von VEIT & COMP. in Leipzig. 5 
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F e  ochen oki, BD 
a GRUNDRISS DER HYGIENE | 
=: 3 
» A - für Studierende und praktische Ärzte, 5 
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© Medizinal- und Verwaltungsbeamte 5 
..& ; >) 
y 2 von 2 
= = Dr. Carl Flügge, IB 
“ It! o. ö. Professor der Hygiene und Direktor der hygienischen Institute an der 2 
Nie (ei ; Universität Breslau. ke) 
= 9] Fünfte, vermehrte und verbesserte Auflage. la 
s go Mit 173 Figuren im Text. > 


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gr. 8. geh 14 %#, geb. in Ganzieinen 15 M. 


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Flügge’s „Grundriss der Hygiene“ ist nicht nur zahlreichen 
Medizinern bei ihrer Vorbereitung für das Staatsexamen unentbehr- 
lich gewesen, sondern hat sich auch dem in der Praxis stehenden 
Arzte als ein zuverlässiger Berater bewährt. 


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et Die fünfte Auflage entspricht dem neuesten Stande der For- j 
4 schung, die Kapitel Mikroorganismen, Wohnung, Immuni. BR 
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tät etc. sind völlig umgearbeitet, die Zahl der Abbildungen ist 
wesentlich vermehrt. Äusserlich macht sich das in der Erweiterung 
des Umfanges gegenüber der vierten Auflage kenntlich. Flügge’s 
„Grundriss der Hygiene“ wird in der neuen Auflage unter den 


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& zahlreichen kürzeren Lehrbüchern der Hygiene führend bleiben. 
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Verlag von VEIT & COMP. in Leipzig. 
Soeben erschien: ARCHIV 


PHYSIOLOGIE. 


HERAUSGEGEBEN 
Von 


Dr. TH. W. ENGELMANN, 
PROFESSOR DER PHYSIOLOGIE AN DER UNIVERSITÄT BERLIN. 
JAHRGANG 1902. 


—— SUPPLEMENT-BAND. — 


MIT ABBILDUNGEN IM TEXT UND SIEBEN TAFELN. 
Lex. 8.. geh. 20 M. 


(Der Supplement-Band' gelangte gleichzeitig als Supplement zu an 1902 des. 
Archives für Anatomie und Physiologie zur Ausgabe.) 


Inhalt. 


Ta. W. EnGELMAnN, Ueber die bathmotropen Wirkungen der Herznerven. — 
R. pu Bois-ReymonD, Ueber das angebliche Gesetz der reeiproken Innervation anta- 
gonistischer. Muskeln. — Camızz LuorAk von LHoTa, Untersuchungen über die Ver- 
änderungen der Muskelfunction in einer Kohlendioxydatmosphäre. (Hierzu Taf. I-IV.) 
— KoNnRAD GREGOR, Untersuchungen über die Athmungsgrösse des Kindes. — H. J. 
HAMBURGER und H. J. VAN DER SCHROEFF, Die Permeabilität von Leukocyten und 
Lymphdrüsenzellen für die Anionen von Natriumsalzen. — Aurkep Nor, Das Ver- 
halten der Drüsengranula bei der Secretion der Schleimzelle und die Bedeutung der 
Gianuzzi’schen Halbmonde. (Hierzu Taf. V.) — Hermann Beyer, Narkotische 
Wirkungen von Riechstoffen und ihr Einfluss auf die motorischen Nerven des Frosches. 
(Hierzu Taf. VL.) — Z. OPPENHEIMER, Die Hautsinnesempfindungen. — Mary War- 
TON CALKINs, Theorien über die Empfindung farbiger und farbloser Liehter. — 
W. CroNHEIM, Conservirung des Harns für analytische und calorimetrische Zwecke. 
— W. A. Nagen und E. Roos, Versuche über experimentelle Beeinflussbarkeit des 
Jodgehaltes der Schilddrüse. — J. ROSENTHAL, Untersuchungen über den respirato- 
rischen Stoffwechsel: —. WILHELM TRENDELENBURG, Ueber die Summationserschei- 
nungen bei chronotroper und inotroper Hemmungswirkung des Herzvagus. — ELLEN- 
BERGER, Die Zusammensetzung und die Eigenschaften der Eselinmilch. — P. Scauuzz, 
Ueber einen Fall von willkürlichem laryngealen Pfeifen beim Menschen. — Tr. W. 
ENGELMARNn, Ueber experimentelle Erzeugung zweckmässiger Aenderüngen der Färbung 
pflanzlicher Chromophylle durch farbiges Licht. Bericht über Versuche von Herrn 


N. Gaidukow. — L. MiıcHArLıs und CARL OPPENHEIMER, Ueber Immunität gegen 
Eiweisskörper. — H. ZwWAARDEMAKER und F. H.. Quıx, Schwellenwerth und Tonhöhe. 
(Hierzu Taf. VII.) — H. ZwAARDEMAKER, Die Luftbrücke. — H. ZWAARDEMARER, Die 


Empfindung der Geruchlosigkeit. 
Verhandlungen der physiologischen Gesellschaft zu, Berlin 1901—1902. 


J. RosentHAL, Zweite Mittheilung betreffend den respiratorischen Stoffwechsel 
der Säugethiere. — W. Cowı, Ueber Luft- und Sauerstoffathmung bei Eupnoe und 


Dyspnoe. —. Franz MÜLLER, Demonstration von Blutpräparaten. — R. ou Boıs- 
Reymonv und J. Karzenstein, Weitere Beobachtungen über die Coordination der 
Athembewegungen. _ R. ou Bois-Reymonp und J. KATZENSTEIN, Experimentelle 


Medianstellung der Stimmlippe. — N. Zuntz, Bericht über zwei Ballonfahrten, ‚bei 
welchen die Hauptaufmerksamkeit dem Studium der Athmung gewidmet war. — 
CARL ÖPPENHEIMER und L. MicHAELıs, Mittheilungen über Eiweiss- -Präcipitine. — 
Max RortHmaAnn, Ueber. hohe Durchschneidune des Seitenstranges und Vorderstranges 
beim Affen. — NıAcer, Sehen durch Schleier. — G. Werzern, Das Vorkommen von 
Kernen der Granulosazellen in den Ovarialeiern von Pelias berus. — PıPpEr, Zeit 
licher Verlauf der Dunkeladaptation, bezw. der bei Dunkelaufenthalt sich vollziehen- 
den Empfindlichkeitssteigerung der Netzhaut. — H. FRIEDENTHAL, Demonstration von 
Präparaten, welche die Nichtdiffusibilität von Seifen aus wässeriger Lösung zeigten 
bei :Abwesenheit jeder trennenden Substanz. ei 


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Verlag‘ von VEIT & AL: in Leipzig. 


$ e eben erschien: 
| ARCHIV 


FÜR 


ANATOMIE 


ENTWIOKRLUNGSGRSCHICHTE 


HERAUSGEGEBEN 
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De. WILHELM HIS, 


3 PROFEBSOR DER ANATOMIE AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG. 
JAHRGANG 1902. 
— SUPPLEMENT-BAND. 
MIT SECHSUNDFÜNFZIG ABBILDUNGEN IM TEXT UND ELF TAFELN. 
Lex. 8.. geh. 20 #, 


lee Fur meut-Band gelangte gleichzeitig als Supplement zu Jahrgang 1902 des 
Archives für Anatomie und Physiologie zur Ausgabe.) 


Inhalt. 


ß H. Pıpeg, Die Entwickelung von Magen, Duodenum, Schwimmblase, Leber, - 
Rnkrens und Milz bei Amia calva. {Hierzu Taf. I-IV.) — OrTro BURKARD, Ueber 
3 - die Periorbita der Wirbelthiere und ihre musculösen Elemente. (Hierzu Tat. V.) — 
 Jouannes Zürn, Vergleichend histologische Untersuchungen über die Retina und die 
‚Area eentralis retinae der Haussäugethiere. (Hierzu Taf. VI.) — M. Prost, Experi- 
mentelle Untersuchungen über die Anatomie und Physiologie der Leitungsbahnen des 
Gehirnstammes. (Hierzu Taf. VII-IX.) — Gore Köster und ARMIN TscHERMAR, 
Ueber den Ursprung und Endisung des N. depressor und N. laryngeus superior beim 
Kaninchen. a Taf. X u. XL) 


TS, 


ae von August Hirschwald in Berlin. 


.1903 aha der: 13. Jahrgang: 


Hygienische Rundschau. 


Herausgegeben“ 
’ ; von 5 
Dr. C.Fraenkel,  __ Dr. M. Rubner, 
z Prof. der Hygiene in Halle. ‘Prof. der Hygiene in Berlin. 


Dr. C. Günther, 


Prof, in Berlin. 
Monatlich zwei Nummern. 
Abonnementspreis halbjährlich 14 Mark, 


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BT. \ e u ur —- ® Ze Er en ee 
ee f 


Verlag von August Hirschwald in’ Berlin. 


Ss oeb en erschien: 


Felix Hoppe-Seyler’s Kandbnch 


der physiologisch- und pathologisch- 
chemischen Analyse 


für Aerzte und Studierende bearbeitet 
von 
Prof. Dr. H. Thierfelder. 


.  Siebente Auflage. 
1903. gr. 8. ui 18 Textfiguren und ı Spectraltafel. 16 A. 


Verlag von Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig. 


Soeben erschien: 


Hermann von Helmhoh 


von 


Leo Koenigsberger. 
Erster Band, 


XII und 375 Seiten. gr. 8° in vornehmer Ausstattung. Mit 3 Bildnissen. 
Preis geh. # 8.—, geb. in Lnwd. .%4 10.—, in Halbfırz. # 12.— 


Der das Werk abschliessende IL. Band wird Anfang 1903 erscheinen. 
I True 


Verlag von August Hirschwald in Berlin. 


Soeben erschien: 


Handbuch 


der 


vergleichenden Anatomie der Hansthlere, 


Bearbeitet von 


Prof. W. Ellenberger und Prof. H. Baum. 
. Zehnte Auflage. 1902. gr. 8. Mit 565 Textfiguren. 25 4. 


Druck von Metzger & Wittig in Leipzig. 


APR 8 1903 


Ueber die Darstellung und Messung 
der Schwingungsamplituden ausklingender Stimmgabeln 
mit Hülfe der „Linearkinematographie“.' 


Von 
Prof. L. Jacobson und Dr. W. Cowl 


in Berlin. 


Die Untersuchungen, über welche in den folgenden Blättern berichtet 
werden soll, wurden im physiologischen Institut der Berliner Universität 
und zwar in seiner damals von dem leider zu früh dahingeschiedenen 
Professor Arthur König geleiteten Abtheilung für Sinnesphysiologie an- 
gestellt. Die Anschaffung der erforderlichen kostspieligen Apparate wurde 
uns durch zweimalige Gewährung eines Stipendiums aus der Gräfin Bose- 
Stiftung erleichtert. Herrn Geheimrath Engelmann sprechen wir für die 
gütige Erlaubniss, in seinem Institut arbeiten und die Mittel desselben 
benutzen zu dürfen, dem Curatorium der Gräfin Bose-Stiftung für die 
gewährten Stipendien hiermit unseren ergebensten Dank aus. 


I. Zweck der Untersuchungen. 


Die Gründe, welche die beiden Verfasser zu der vorliegenden Arbeit 
bestimmten, waren an Art verschieden. Den Einen, Dr. Cowl, welcher 
sich an den Versuchen erst nach Beginn derselben betheiligte, interessirte 
hierbei vornehmlich die Ausbildung der von ihm so genannten „linearkino- 
matographischen“ Aufnahmeverfahren. Er ist es auch, dem die specielle 


! In Anbetracht einer bisher fehlenden einheitlichen Bezeichnung für die „Photo- 
graphie von Bewegungen hinter einem Spalt“ scheint mir der Ausdruck „Linear- 
kinematographie“ das Wesentliche treffend wiederzugeben. Kürzer und unter Umständen 
wohl genügend präcis wäre der einfachere Ausdruck „Linearphotographie“, da im 
Gegensatz zu der üblichen Photographie flächenhaft projieirter Gegenstände die Linear- 
kinematographie sich im Wesentlichen nur mit der Darstellung von Linien bezw. Curven 
befasst. Cowl. 

Archiv f. A. u. Ph. 1903. Physiol. Abthlg. 1 


2 L. JACOBSON UND W. Cowı: 


Beschreibung unserer Versuchsanordnungen und Apparate, sowie die Dar- 
legung der optischen und photographischen Gesichtspunkte und Einzelheiten, 
kurzum die Redaction des Abschnittes III und IV dieser Abhandlung 
obgelegen hat. 

Dem Anderen, Dr. Jacobson, dagegen war es lediglich um die Lösung 
zweier acustischer Fragen zu thun, die auch für den Ohrenarzt von Wichtig- 
keit sind. Diese Fragen lauten: 


1. Findet die Abnahme der Schwingungsamplituden „maximal“ an- 
geschlagener bezw. in Schwingung gesetzter Stimmgabeln beim Ausklingen 
derselben in geometrischer Reihe statt? 


2. Wenn man die für verschiedene Stimmgabeln verschiedene Zeit 
vom Moment „maximaler“ Erregung bis zum Verklingen für ein normales 
Ohr als constante Länge auf der Abscissenaxe verzeichnet, sie in 100 gleiche 
Theile theilt und die jedem dieser Theilpunkte (Zeitpunkte) entsprechenden 
Amplituden der ausschwingenden Stimmgabel als zugehörige Ordinaten auf- 
trägt, fallen die so von den einzelnen Stimmgabeln erzielten Curven alle 
n eine zusammen? 


Die Bedeutung dieser Fragen für die praktische Otiatrie erhellt aus 
nachstehenden Ausführungen. 

Nach dem Vorgange von v. Conta!und A. Magnus? messen manche 
Öhrenärzte in den letzten beiden Jahrzehnten die Hörschärfe ihrer Kranken 
für Töne verschiedener Höhe durch die sogenannte „Hörzeit“ oder „Per- 
ceptionsdauer“ ausklingender Stimmgabeln. Sie verfahren hierbei in 
folgender Weise: 

Die betreffende Gabel, für deren Ton die Hörschärfe bestimmt werden 
soll, wird mit möglichst gleichmässiger Kraft angeschlagen und dann, ohne 
ihre Schwingungen durch Anstossen an irgend einen Gegenstand zu dämpfen, 
dem Patienten vor seinen Ohreingang gehalten, natürlich in möglichst 
gleicher Entfernung von bezw. in möglichst gleicher Richtung zu dem- 
selben. Vorher bereits war der Kranke angewiesen worden, durch das Wort 
„jetzt“ denjenigen Moment sofort zu bezeichnen, in welchem ihm der all- 
mählich immer schwächer werdende Ton der ausklingenden Gabel soeben 
verschwunden zu sein scheint. Die Zeit vom Anschlagen der Gabel bis zu 
diesem Augenblick wird von dem Arzt an einer Secundenuhr oder einem 
anderen Chronoskop abgelesen und als „Hörzeit“ des Kranken für den 
betreffenden Stimmgabelton notirt. In gleicher Weise wird die „Hörzeit‘ 


! v. Conta, Ein neuer Hörmesser. Archiv für Ohrenheilkunde. 1864. Bd. I. 
S. 107. 

® A. Magnus, Ein Fall von natürlicher Eröffnung des Antrum mastoideum. 
Ebenda. 1870. Bd. V. S. 118. 


DARSTELLUNG UND MESSUNG DER SCHWINGUNGSAMPLITUDEN U.$S.W. 3 


eines normal hörenden Ohres für dieselbe Stimmgabel bestimmt, und nun 
das Verhältniss der pathologischen Hörschärfe für den betreffenden Ton 
zu der normalen dem Verhältniss der entsprechenden Hörzeiten gleich- 
gesetzt. Ist also z. B. für irgend eine Gabel die Hörzeit des kranken Ohres 
halb so gross gefunden worden, wie diejenige des normalen, so wird auch 
die Hörschärfe des kranken für diesen Ton = !/, oder 50 Procent der 
normalen gesetzt. 


Die Richtigkeit dieser Berechnung hat der Eine von uns! bereits im 
„Jahre 1886 bestritten und bestreitet sie heute noch mit gleicher Ent- 
schiedenheit. Die Gründe, die ihn hierzu bestimmten, waren und sind in 
.der Hauptsache folgende: 

Die Hörschärfe verschiedener Ohren für einen und denselben Ton kann 
aur durch diejenige kleinste Intensität desselben gemessen werden, welche 
von den betreffenden Ohren ceteris paribus, d. h. bei gleicher Entfernung 
und Richtung der Tonquelle zu denselben, sowie bei gleicher Ruhe der 
Umgebung und gleicher Aufmerksamkeit der Beobachter, soeben noch wahr- 
genommen wird. Sie ist dieser Tonintensität umgekehrt proportional. Ver- 
mag der Kranke nur einen doppelt so starken Ton zu vernehmen, wie der 
Gesunde, so ist seine Hörschärfe für diesen Ton = !/,, vermag er nur einen 
dreimal so starken zu vernehmen, = !/, der normalen. Die Intensität eines 
Tons ist abhängig von der Schwingungsamplitude der Tonquelle Die Art 
dieser Abhängigkeit ist aber auch heute noch controvers. Kayser? sagt 
hierüber: 

„Der Schall wirkt auf unser Ohr durch seine lebendige Kraft; die 
Schallstärke setzen wir proportional zu derselben oder zu dem Quadrat der 
Schwingungsgeschwindigkeit. Letztere hängt aber ab von der Amplitude, 
und so können wir auch sagen, die Intensität ist proportional dem 
Quadrat der Amplitude.“ 


Riecke® sagt: „Es wächst die Intensität eines Tons proportional mit 
dem Quadrat der Schwingungsamplitude des tönenden Körpers.“ 


In Müller-Pouillet’s Lehrbuch der Physik * heisst es: „Die Stärke 
oder Intensität des Tons hängt von der Amplitude der Schwingungen ab, 
welche der tönende Körper macht; und zwar ist die Stärke des Tons dem 
Quadrat der Amplitude proportional.“ 


! L. Jacobson, Ueber die Abhängigkeit der Hörschärfe von der Hörzeit. Archiv 
für Ohrenheilkunde. 1886. Bd. XXIV. S. 39. 
” Kayser, Lehrbuch der Physik. 2. Aufl. 1894. $ 186. $. 236. 
® Riecke, Jehrbuch der Physik. 2. Aufl. 1902. Bd.I. 8. 321. 
* Müller-Pouillet’s Zehrbuch der Physik. 9. Aufl. Herausgegeben von Leop. 
Pfaundler. 1902. Bd.I. 8.639. 
1 * 


4 L. JAcoBSOoNn und W. (own: 


Dagegen behauptete v. Vierordt!, dass die Intensität nicht dem. 


Quadrat, sondern eher der ersten Potenz der Amplitude proportional sei. 

Ebenso spricht sich nach einem Referat in Wiedemann’s Beiblättern 
A. Steffanini? aus. Es heisst hier: „Es bleibt also nur übrig, die Pro- 
portionalität der Schallstärke mit dem Quadrat der Amplitude fallen zu 
lassen und erstere letzterer einfach proportional zu setzen.“ Zu ent- 
gegengesetzten Resultaten wiederum gelangten Fischer? und Starke.* 

Wie ersichtlich, ist also die Frage, in welcher Weise die Intensität 
eines Tons aus der Schwingungsamplitude der Tonquelle zu berechnen ist, 
noch nicht spruchreif, und ist daher schon .aus diesem Grunde eine zahlen- 
mässige Bestimmung der Hörschärfe kranker Ohren aus der Hörzeit aus- 
klingender Stimmgabeln bisher noch unmöglich. Nimmt man an, dass die 
Intensität eines Stimmgabeltons dem Quadrat der Schwingungsamplitude 
der Stimmgabelzinken proportional ist, so verhält sich die Hörschärfe des 
kranken Ohres zu der normalen natürlich umgekehrt wie die Quadrate der 
Schwingungsamplituden der Gabelzinken in denjenigen Momenten, wo der 
Ton dem kranken bezw. normalen Ohre soeben verschwindet. Ist die Ampli- 
tude in diesem Moment für ein krankes Ohr doppelt, für ein anderes 
drei Mal so gross wie für das normale, so wäre also die Hörschärfe des 
kranken Ohrs für diesen Ton im ersten Fall =!/,, im zweiten = !/, der 
normalen. 

Näher soll auf die eben berührte Frage bezw. Schwierigkeit an dieser 
Stelle nicht eingegangen werden. Unsere Untersuchungen beziehen sich 
vielmehr auf eine andere Frage, welche gleichfalls erst gelöst sein muss, 
bevor man daran denken kann, die Hörschärfe Ohrenkranker für Töne ver- 
schiedener Höhe durch die Hörzeit ausklingender Stimmgabeln zahlenmässig 
als Bruchtheil der normalen auszudrücken. Die letztere Frage lautet: In 
welcher Weise nehmen die Schwingungsamplituden ausklingender Stimm- 
gabeln mit der Zeit an Grösse ab? 

Diejenigen Ohrenärzte, welche das Verhältniss der Schwingungsampli- 
tuden der Gabelzinken in denjenigen Momenten, wo der Ton derselben zwei 
verschiedenen Ohren soeben verklungen zu sein scheint, ohne Weiteres aus 
dem Verhältniss der entsprechenden Hörzeiten berechnen zu können ver- 
meinten, sind wohl von der Annahme ausgegangen, dass die Schwingungs- 


i Carl v. Vierordt, Die Schall- und Tonstärke und das Schallleitungsvermögen 
der Körper. Tübingen 1885. 8.26 u. 54. 

® A. Steffanini, Einige Experimente zur Messung der Schallstärke. Wiede- 
mann’s Beiblätter. 1888. Bd. XII. S. 320. 

® Fischer, Ueber die Unterscheidung von Schallstärken. Wundt’s Phvlo- 
sophische Studien. Bd.I. S. 489. 

* Starke, Die Messung von Schallstärken. Zbenda. Bd. III. S. 264. 


DARSTELLUNG UND MESSUNG DER SCHWINGUNGSAMPLITUDEN U.S.w. 5 


amplituden beim Ausklingen in arithmetischer Reihe abnehmen. Bei 
einer solchen nämlich ist die Differenz je zweier auf einander folgender 
Glieder eine Constante (2). Setzen wir die Hörzeit für ein normales Ohr 
—= 100 und die Amplitude im Beginn derselben (also unmittelbar nach 
dem Anschlag der Gabel) = 4, so würde die Amplitude nach „4, Hör- 
zeit= 4—D, nach 72, derselben = A—2D, nach a5 = A—-3D, nach 
1 = 4—100D sein. Nehmen wir an, dass die Amplitude nach Ablauf 
der Hörzeit, also im Moment des Verklingens für ein normales Ohr = 0 
ist, so wäre A— 100D=0,d.h. 4=100D, und es würde sich die Ampli- 


tude nach me der normalen Hörzeit zu derjenigen nach nn 
verhalten, we A-mD:A— nD= 100 D—-mD:100D—-nD= 10 — 
m:100 —n. Dieses Verhältniss lässt sich berechnen, sobald m und n 
bekannt ist. Ist z. B. die Hörzeit eines Patienten m = 50 Procent, die- 
jenige eines anderen » = 25 Procent der normalen Hörzeit, welche wir 
= 100 gesetzt haben, so verhielte sich hiernach die Amplitude der 
(Gabel beim Ausklingen für den ersten zu derjenigen für den zweiten 
wie 100 — 50:100 — 25 =50:75, also die betreffenden Hörschärfen um- 
gekehrt, d.h. wie 75:50 oder wie 3:2. 

Die Rechnung würde also thatsächlich stimmen, wenn die Amplituden 
wirklich in arithmetischer Reihe abnehmen würden.! Ob dieses der Fall 
ist, musste zuerst untersucht werden, und dieser Aufgabe hat sich . der 
Eine von uns bereits in den Jahren 1886? und 1887° unterzogen. 

Er suchte sich über die einschlägigen Verhältnisse zunächst theoretisch 
zu informiren und fand hierbei, dass eine Abnahme in arithmetischer Reihe 
äusserst unwahrscheinlich sei. Die Lehrbücher der Physik * besagen näm- 
lieh, dass unter gewissen Voraussetzungen, auf welche wir später noch 
zurückkommen werden, bei einem jeden in einem widerstehenden Medium, 
ausschwingenden elastischen Körper die Abnahme der Amplitude nach 
einem theoretisch allgemein gültigen Gesetz in geometrischer Progression 
erfolgen müsse. Bei einer solchen ist nicht, wie bei einer arithmetischen 


der normalen 


! Eine Schwieriskeit entsteht allerdings auch hier, wenn man die Hörschärfe 
des kranken zu derjenigen des normalen ÖOhres in exacte Beziehung setzen will, 
Denn in diesem Falle wäre 2 = 100 Procent der normalen Hörzeit, also 100 — n = (0, 
weiche Zahl wir nicht in Verhältniss zu 100 — m setzen können. 

® Jacobson, Ueber die Abhängigkeit der Hörschärfe von der Hörzeit. Archiv 
für Ohrenheilkunde. 1886. Bd. XXIV. 8.39. ‘ 

‚® Derselbe, Ueber die Abnahme der Schwingungsamplituden bei ausklingenden 
Stimmgabeln. Dies Archiv. 1887. Physiol. Abthlg. S. 476. 

* Vgl. Wüllner, Zehrbuch der Experimentalphysik. 3. Aufl. Leipzig 1374. 
Bd.I. S 115. — Mousson, Die Physik auf Grundlage der Erfahrung. 3. Aufl. 
Zürich 1879. Bd. I. S. 407. 


6 L. JAcoBson unD W. Cowr: 


Reihe die Differenz je zweier auf einander folgender Glieder, sondern 
vielmehr das Verhältniss derselben constant. Ist also die Hörzeit für- 
ein normales Ohr = 100 und die Amplitude im Beginn derselben (un-- 
mittelbar nach dem Anschlag der Gabel) = A, so würde, falls die Abnahme- 
in geometrischer Reihe erfolgt, die Amplitude nach 74, der Hörzeit = A.e, 


m 
nach 730 derselben = 4.e?, nach „9=4.e’, nach , = 4.e"”, nach: 


% > & 6 R & 2 m 
mr A.e" sein. Es verhielten sich dann die Amplitude nach 400 


der Hörzeit zu derjenigen nach 10 = 4. e": 4. e!0 = e” 100, diejenige nach, 
0 der Hörzeit zu derjenigen nach 199 = A.e":4.e!00 = er 10, 

Wie hieraus einleuchtet, ist, wenn die Abnahme der Amplituden in 
geometrischer Reihe stattfindet, die alleinige Kenntniss der Hörzeiten 
zweier Kranker bezw. des Normalen für den Ton einer Gabel nicht aus- 
reichend, um die beim Verklingen des Tons für die verschiedenen Ohren 
vorhandenen Schwingungsamplituden zu einander in ein Verhältniss setzen 
zu können. Vielmehr ist hierzu noch die Kenntniss der Grösse e, des. 
Verhältnisses je zweier auf einander folgender Glieder der Reihe, des. 
„Exponenten“ derselben, nothwendig, der bei verschiedenen geometrischen 
Reihen verschieden sein kann und daher bei jeder einzelnen Gabel erst. 
empirisch bestimmt werden müsste. Eine solche empirische Bestimmung 
kann in der Weise geschehen, dass man die ausklingende Gabel ihre 
Schwingungen aufschreiben lässt, die Amplituden, welche natürlich all- 
mählich immer kleiner werden, in gewissen gleichen Zeitintervallen misst 
und je 2 auf einander folgende gemessene Grössen in einander dividirt, 
wobei sich, wenn die Abnahme wirklich in geometrischer Reihe erfolgt, er- 
geben muss, dass das Verhältniss zweier in gleichen Zeitintervallen auf 
einander folgender Amplituden bezw., was dasselbe bedeutet, die Differenz 
ihrer Logarithmen, das sogenannte „logarithmische Deerement“, stets 
gleich gross oder constant ist. 

Derartige oder ähnliche Bestimmungen sind nun schon im Jahre 1880 
von Hensen'! veröffentlicht worden. Hensen sagt hierüber Folgendes: 
„Leider ergeben mir genaue Messungen an 3 Stimmgabeln von 256 v.d., 
dass das logarithmische Decrement hier keine Constante ist, sondern bis 
zu einer Elongation von 0-07 "m an und bei einer schweren Stimmgabel von 
0.8"m an abnimmt (Log. des Deerements: 0.000028 bezw. 0.000285), 
um dann wieder recht merklich und zwar mindestens auf Log. des De- 
crements: 0000047 bezw. 0:00069 zu wachsen.“ Ein Widerspruch zu 
der Theorie ist in diesen Messungsresultaten Hensen’s nicht enthalten. 


‘ Hensen, Physiologie des Gehörs, im Handbuch der Physiologie, herausgegeben 
von Hermann. Bd.Ill. S. 120. 


DARSTELLUNG UND MESSUNG DER SCHWINGUNGSAMPLITUDEN U. S. W. 7 


Denn das Gesetz, wonach die Schwingungsweiten eines in einem wider- 
stehenden Medium ausschwingenden elastischen Körpers sich wie die Glieder 
einer abnehmenden geometrischen Reihe an Grösse vermindern sollen, gilt 
auch der Theorie nach, wie oben bereits erwähnt wurde, nur unter ge- 
wissen Voraussetzungen bezw. Einschränkungen. Diese besagen, dass die 
Amplituden hinreichend klein und die Widerstände, welche sich der Be- 
wegung entgegenstellen, der augenblicklichen Geschwindigkeit derselben 
proportional sein müssen. Hensen’s Ergebnisse dürften also zunächst nur 
dahin gedeutet werden, dass die eben genannten Bedingungen bei den von 
ihm untersuchten ausklingenden Stimmgabeln nicht erfüllt waren. Immer- 
hin war es wohl wünschenswerth, Hensen’s Messungen zu wiederholen. 

Dieses hat der Eine von uns! bereits vor mehr als 15 Jahren gethan 
und über seine diesbezüglichen Versuche im Wesentlichen, wie folgt, be- 
richtet: „Ich befestigte an eine Zinke der zu untersuchenden Gabel un- 
mittelbar an ihrem Ende eine feine Schreibspitze von solcher Art, dass 
Eigenschwingungen derselben in der Richtung der Stimmgabelvibrationen 
möglichst vermieden waren. Sodann wurde die Gabel, deren Stiel in einem 
soliden Stativ fest eingeklemmt war, in zweckmässiger Weise, d. h. so, dass 
das Stativ hierbei möglichst wenig erschüttert wurde, in Schwingungen ver- 
setzt und verzeichnete dieselben auf einem mit schwach berusstem Papier 
bespannten in Schraubenbewegung rotirenden Cylinder. Auf diese Weise 
erhielt ich eine wellenföürmige Curve mit stetig abnehmender Amplitude. 
Nun betrachtete ich eine Anzahl von Wellenbergen, deren Abstände von 
einander ich vorher gemessen hatte, mit Eülfe des Mikroskops und be- 
stimmte ihre Höhe mit dem Ocularmikrometer. . . . 

Im Beginn meiner Untersuchungen gelangte ich hierbei stets zu dem 
Resultat, dass das logarithmische Decrement beim Ausklingen allmählich 
immer grösser werde, oder mit anderen Worten, dass die Schwingungen der 
Gabel sich rascher vermindern, als es den Gliedern einer geometrischen 
Reihe zukommt. Dieses Ergebniss erweckte in mir den Verdacht, dass bei 
der von mir gewählten Versuchsanordnung so erhebliche Reibungswider- 
stände sich geltend machen, dass die vorher angeführte Voraussetzung von 
der Proportionalität derselben mit der augenblicklichen Geschwindigkeit 
nicht als streng gültig betrachtet werden kann. Da ich die Schreibspitze 
immer so fein, wie irgend möglich, eingestellt hatte, so konnte eine in 
solchem Maasse vorhandene Reibung nur in einer etwaigen ungeeigneten 
Beschaffenheit der Cylinderoberfläche ihren Grund haben. Diese Annahme 
erscheint mir um so berechtigter, als sich, wenn man einen Cylinder mit 
Papier bespannt, eine Ungleichmässigkeit der Mantelfläche an derjenigen 


! Jacobson, Ueber die Abnahme der Schwingungsamplituden bei ausklingenden 
Stimmgabeln. Dies Archiv. 1887. Physiol. Abthlg. 3. 476. 


8 L. JAcoBSON und W. Cown: 


Stelle, wo die Ränder des Papiers an einander stossen, kaum vermeiden lässt 
und bei jedesmaligem Hinübergleiten der Schreibspitze über den hierdurch 
entstehenden Wulst ein ansehnlicher Reibungszuwachs plötzlich entsteht. 

Auf Anrathen von Herrn Dr. Gad liess ich mir daher für meine 
ferneren Versuche einen gleichmässig glatt polirten Metalleylinder anfertigen, 
auf dessen schwach berusstem Mantel die Gabel ihre Schwingungen auf- 
schrieb, so dass ich jetzt das Mikroskop direct auf den Cylindermantel 
richten musste. Nunmehr gelangte ich zu viel besseren, der Theorie mit 
hinreichender Genauigkeit entsprechenden Werthen. 

. Die vorstehend mitgetheilte Tabelle ergiebt, dass die von der 
ausklingenden Gabel aufgeschriebenen Schwingungsamplituden von den 
Gliedern einer geometrischen Reihe höchstens um 2-6 Procent abweichen, 
vorausgesetzt, dass wir nur diejenigen Wellenberge in Betracht ziehen, deren 
Höhe 44.4 Theilstrichintervalle = 1.32 =" nicht überschreitet. Die Theorie 
sagt nun, dass das Gesetz der geometrischen Reihe um so genauer erfüllt 
ist, je kleiner die Amplituden sind. In Uebereinstimmung hiermit zeigt 
die Reihe der 6. kleinsten beobachteten Messungswerthe, die eine Elongation 
von höchstens 28-3 Theilstrichintervallen = 0.84” darstellen, von der in 
Colonne IV (Tabelle D) aufgestellten geometrischen Reihe eine maximale 
Abweichung von nur 0-8 Procent. 

Die Abweichungen meiner Versuchsresultate von Gier Theorie sind also, 
wie aus Tabelle D ersichtlich, relativ klein und lassen sich vielleicht durch 
unvermeidliche Beobachtungsfehler zur Genüge erklären. Denn erstlich sind 
wir bei der Messung mit dem Ocularmikrometer auf blosse Schätzung der 
Bruchtheile eines Scalenintervalls angewiesen. Ferner aber hat die durch 
eine, wenn auch noch so feine, Schreibspitze auf dem berussten Cylinder 
gezeichnete Linie, unter dem Mikroskop betrachtet, eine nicht ganz unbe- 
trächtliche Breite, und es ist nicht mit Sicherheit vorauszusetzen, dass die 
wirkliche Bahn der Schreibspitze genau in die Mitte dieser Breite verlegt 
werden darf. 

Wenn die vorstehend mitgetheilten experimentellen Untersuchungen eine 
in geometrischer Reihe stattfindende Abnahme der Stimmgabelschwingungen 
mit mathematischer Genauigkeit auch nicht ergeben haben, so ist: die Ab- 
weichung meiner Resultate von den der Theorie nach zu erwartenden 
doch eine so geringe, dass sie für den praktischen Zweck, den ich im Auge 
habe, für die Bestimmung der Hörschärfe Ohrenkranker, nicht in Betracht 
kommt. Ist doch der Moment, in welchem der Ton einer ausklingenden 
Stimmgabel soeben verschwindet, so ausserordentlich schwer zu bestimmen, 
dass, wenn auch der Kranke seine Aufmerksamkeit noch so sehr anspannt, 
wenn auch ferner alle Cautelen beobachtet werden, um Ermüdung oder 
Uebertäubung des zu untersuchenden Ohres zu vermeiden, dennoch die für 


DARSTELLUNG UND MESSUNG DER SCHWINGUNGSAMPLITUDEN U.S.w. 9 


die Perceptionsdauer mit ein und derselben Gabel gewonnenen Werthe bei 
öfterer Wiederholung der Messung so sehr von einander differiren, dass die 
geringen Unterschiede, welche zwischen den von mir gefundenen Schwin- 
gungsamplituden und den Gliedern einer geometrischen Reihe bestehen, 
bei dieser Art der Hörprüfung vernachlässigt werden können.“ 

Er fand dann weiter durch eine Rechnung, bezüglich deren auf das 
Original verwiesen werden muss, „dass die gefundene, in maximo 2.6 Proc. 
betragende, Abweichung der Schwingungsamplituden von den entsprechenden 
Gliedern einer geometrischen Reihe für. die Berechnung der Hörschärfe aus 
der Perceptionsdauer in unserem Falle ausser Acht gelassen werden kann, 
wenn bei Bestimmung der letzteren ein Plus oder Minus von etwa !/, Se- 
cunde nicht in Betracht kommt. Da aber die Feststellung der Hörzeit 
Öhrenkranker durch sehr zahlreiche, hier nicht näher zu erörternde, störende 
Einflüsse beeinträchtigt wird, so dürfte eine Zunahme der Ungenauigkeit 
um 1/. Secunde ohne Belang sein. Für die Praxis können sogar aus dem 
eben angeführten Grunde auch die 3 grössten der gemessenen 12 Ampli- 
tuden, welche ich vorher ausgeschlossen habe, zur Berechnung der Hör- 
schärfe aus der Hörzeit vielleicht noch verwendet werden. Suchen wir 
nämlich diejenige geometrische Reihe auf, welche der: Reihe sämmtlicher 
12 Messungswerthe am nächsten kommt, so finden wir das logarithmische 
Decrement derselben = 0-0006306 und die maximale Abweichung beider 
Reihen = 8.6 Procent.“ 

Wie die Rechnung ergab, ist auch diese Abweichung zu vernach- 
lässigen, wenn bei Bestimmung der Hörzeit ein Plus oder Minus von 
*/, Secunde nicht in Betracht kommt. 

Jacobson’s Versuchsresultate fielen also für die Berechnung der Hör- 
schärfe aus der Zeit insofern günstiger aus, als diejenigen Hensen’s, als 
sie ergaben, dass die Schwingungsamplituden der von ihm untersuchten 
Gabel in der That mit einer für diese Bestimmung ausreichenden‘ An- 
näherung wie die Glieder einer geometrischen Reihe an Grösse abnehmen. 
Ihre Richtigkeit ist durch spätere in dem damals unter Leitung von Professor 
Warburg stehenden physikalischen Institut zu Freiburg von Thiry und 
Koch angestellte Controlversuche ! für eine schwere C-, für eine c- und 
eine c!-Gabel bestätigt worden, während eine c?-Gabel so kleine Schwingungs- 
weiten und so rasches Abschwingen zeigte, dass mit ihr „sichere Resultate 
nicht zu erreichen waren.“ Jacobson selber hat damals die von ihm an 
einer c-Gabel ausgeführten Messungen auf andere Gabeln nicht weiter aus- 
gedehnt und zwar aus folgendem Grunde: Nachdem er experimentell nach- 
gewiesen hatte, dass die Amplituden ausklingender Stimmgabeln in Ueber- 


! Thiry und Koch, Ueber das Decrement abklingender Stimmgabeln. Zeitschrift 
für Ohrenheilkunde. 1889. Bd. XX. 8.72. 


10 L. JACOBSON unD W. Cowı: 


einstimmung mit der Theorie thatsächlich eine Reihe bilden, welche viel 
mehr einer geometrischen, als einer arithmetrischen gleicht, hielt er die 
Frage, ob sich die Hörschärfe kranker Ohren für Töne verschiedener Höhe 
im Verhältniss zur normalen aus der Hörzeit ausklingender Stimmgabeln 
zahlenmässig bestimmen lasse, für in negativem Sinne entschieden. Für 
die tiefen Gabeln nämlich, bei welchen die Elongation der Schwingungen 
ja eine recht grosse ist, würde sich — so nahm er an — der für die 
Rechnung unbedingt nothwendige Exponent der für jede einzelne Gabel 
gültigen geometrischen Reihe — sei es auf graphischem Wege, wie er selbst 
es für seine c-Gabel ausgeführt hatte, sei es auf andere Weise, so z. B. nach 
der von Thiry und Koch gewählten Methode mittels Spiegelablesung, — 
empirisch wohl bestimmen lassen, immerhin eine zeitraubende und ziemlich 
schwierige Aufgabe, die einen geübten Experimentator verlangt, niemals 
aber für die hohen Gabeln, die wir zur Hörprüfung benutzen, z. B. die- 
jenigen aus der viergestrichenen Octave, deren Schwingungen so ausser- 
ordentlich klein sind. . 

In eine andere Phase trat diese von Jacobson bereits in den Jahren 
1386 und 1887 ventilirte und experimentell untersuchte Frage durch Ver- 
öffentlichungen von Bezold und Edelmann!“?, die in den Jahren 1897 
und 1898 erschienen. Die genannten Autoren geben zwar zu, „dass die 
Stimmgabel, wie jeder in einem elastischen Medium tönende Körper, nicht 
in arithmetischer, sondern in geometrischer Progression abschwingt“ (1 S. 7), 
dass „die Zeitdauer, innerhalb welcher eine Stimmgabel nach maximalem 
Anschlag gehört wird, ... uns also einen ganz unrichtigen Begriff von 
der wirklichen Hörempfindlichkeit des untersuchten Ohres im Verhältniss 
zum normalen“ giebt (2 8. 181), dass, „wenn wir die successive Abnahme 
der Amplitude in gleichen Zeiteinheiten graphisch darstellen, ... . nicht 
eine gerade Linie, wie für den successiven Ablauf der Hörzeit, deren 
Dauer wir messen, sondern eine Curve“ erhalten wird (1 8. 7), dass „die 
Gestalt dieser Curve und ihr allenfalls verschiedenes Verhalten in ver- 
schiedenen Stimmgabeln zu kennen... für eine richtige Beurtheilung 
unserer Messungen der Hördauer von Stimmgabeln eine unabweisbare 
Forderung“ ist (ebenda), sie stellten indessen die Behauptung auf, dass „das 
Gesetz, nach welchem eine maximal erregte Stimmgabel bis zu ihrem Ver- 
klingen an Schwingungsweite nach und nach verliert, für alle Gabeln 
ausserordentlich nahe das Gleiche ist“ (2 S. 176). 


! Bezold, Die Abschwingungscurve der Stimmgabeln. (Vorläufige Mittheilung.) 
Verhandlungen der deutschen otologischen Gesellschaft. 1897. 8. 6. 
®? Bezold und Edelmann, Ein Apparat zum Aufschreiben der Stimmgabel- 
schwingungen und Bestimmung der Hörschärfe nach richtigen Proportionen mit Hülfe 
desselben. Zeitschrift für Ohrenheilkunde. 1898. Bd. XXXIII. S. 174. 


DARSTELLUNG UND MESSUNG DER SCHWINGUNGSAMPLITUDEN U.S.w. 11 


Zu diesem Resultat gelangten sie durch Versuche, die mittels eines 
von Edelmann sehr ingeniös construirten Apparates angestellt wurden. 
Letzterer bestand im Wesentlichen aus einem eine berusste Glasplatte 
tragenden horizontal gestellten Schlitten, welcher (entlang prismatischer 
Führung) parallel zu seiner Längsrichtung verschoben werden kann. Es 
geschieht dieses — und zwar um eine ganz kleine Strecke — mit Hülfe 
mechanischer Vorrichtungen, bezüglich deren wir auf die Originalarbeit 
verweisen, durch Niederdrücken einer Taste; eben dadurch und gleichzeitig 
wird der Schlitten aber auch um eine Drehungsaxe für einen Augenblick 
in die Höhe gehoben, so dass die berusste Glasplatte zur leisen Berührung 
mit einer feinen Schreibspitze aus dünnem Messingblech gelangt, welche 
an einer der Zinken der über der Glasplatte befindlichen, gleichfalls hori- 
zontal liegenden, mit ihrem Stiel in einem kräftigen Stativ befestigten 
Stimmgabel mit Klebwachs angeklebt ist. „Die Berührung dauert nur so 
lange, dass eine oder zwei Schwingungen geschrieben werden können, ein 
Vorgang, welcher die Schwingungsverhältnisse der Gabel nicht merklich 
stört; denn die Gabel schweigt mit oder ohne Anwendung des Schreib- 
mechanismus gleich lang“ (2 S. 176). In Vibration wird sie dadurch 
gesetzt, „dass man die Zinken der Gabel zwischen Daumen und Zeigefinger 
sehr stark zusammenpresst, über die engstehenden Zinken eine Holzklammer 
steckt und diese wegreisst, wenn die Gabel zu schwingen anfangen soll; 
unmittelbar darauf hat das erste Niederdrücken der Taste zu erfolgen“. ... 
„Man drückt nun in gleichen Zeitabständen auf die Taste, z. B. alle 2 Se- 
eunden,“ erhält dann auf der berussten Glasplatte die in diesen Zeitpunkten 
vorhandenen Schwingungsamplituden der ausklingenden Stimmgabel und 
kann ihre Grösse „mit Hülfe eines Mikrometer-Mikroskops... sehr genau 
ausmessen.“ Mit Hülfe dieses Apparats wird für jede Stimmgabel eine 
Curve gezeichnet, deren Abseissen „Zeitstrecken“ sind, „begrenzt durch 0 
und 100. „Null“ ist der Beginn des stärksten Ertönens, „Hundert“ das 
Aufhören der Wahrnehmbarkeit des Tönens der Stimmgabel. Die ganze 
Zeitstrecke — gleichgültig, wie lange sie im einzelnen Falle dauern 
mochte — wird in 100 gleiche Theile getheilt; diese Theile dienen als 
Fusspunkte der Ordinaten. Die Ordinaten hierzu sind die zu jedem Zeit- 
punkt gehörigen Schwingungsweiten“ (2 S. 176 und 177). Auf diesem 
Wege fanden Bezold und Edelmann (ebenda), „dass alle Curven der 
gemessenen, belasteten sowonl wie unbelasteten Stimmgabeln verschiedener 
Tonhöhe und verschiedener Schwingungsdauer nur ganz unbedeutende 
Abweichungen unter einander zeigen, welche die hier möglichen Unter- 
suchungsfehler nicht überschreiten. Nimmt man nun von allen den nur 
sehr wenig von einander abweichenden Ordinaten dieser Curven, die zu 
jedem einzelnen Zeitabschnitt gehören, den Mittelwerth, so kann man 


12 L. JACoBSON UND W. Cowt: 


hieraus eine Curve construiren, welche das allen Stimmgabeln gemeinsame 
Gesetz für die jedem einzelnen Zeitabschnitt zukommende verhältnissmässige 
Elongationsgrösse der Zinken zur Anschauung bringt.“ Durch genaue Aus- 
messung dieser in Fig. 1 abgebildeten Curve! acd fanden Bezold und 
Edelmann eine Tabelle, aus welcher für jedes Hundertstel der in 
100 Theile getheilten Hörzeit der betreffenden Gabel die entsprechende 
Amplitude ihrer Schwingungen direct abgelesen werden kann. Die Ampli- 
tude unmittelbar nach „maximaler“ Erregung der Gabel, also nach „2, der 
normalen Hörzeit ist in dieser Tabelle = 100, diejenige im Moment des 
Verklingens der Gabel, also nach 49% der normalen Hörzeit = 0.32 gesetzt. 


A 
100 — 5 —— —— 
| | | 
| 


N | I | 


so ! N [i 


Oo: 


30 


oO io 20 30 40 50 59 ZON80) 90 709 


Fig. 1. 


Ist die von Bezold und Edelmann aufgestellte Tabelle wirklich 
richtig, so wäre für die zahlenmässige Bestimmung der Hörschärfe Ohren- 
kranker für Töne verschiedener Höhe aus der „Hörzeit“ ausklingender 
Stimmgabeln in der That ungemein viel gewonnen. Denn dann könnte 
man, nachdem man die „Hörzeit“ der Gabel für das normale und für das 
kranke Ohr gemessen hat, aus der Tabelle einfach ablesen, um wie viel 
grösser die Amplitude der Gabelschwingungen ist, bei welcher ihr Ton 


! Fig. 1 ist nieht ganz richtig gezeichnet; der Punkt d der Curve soll nicht in 
die Absceissenaxe fallen, sondern sich, wie aus dem Text hervorgeht, wenige Zehntel 
eines Millimeters über derselben befinden. 


DARSTELLUNG UND MESSUNG DER SCHWINGUNGSAMPLITUDEN U.S.w. 13 


dem kranken Ohre verschwindet, als diejenige, bei welcher dieses für das 
normale Ohr geschieht.! 

Bezold und Edelmann haben selber den Wunsch ausgesprochen, 
dass ihre Versuchsergebnisse controlirt würden. ” Auch uns schien dieses 
durchaus nothwendig und zwar insbesondere aus folgenden Gründen: 

Die von Bezold und Edelmann’ aufgestellte Tabelle basirt „aus- 
schliesslich auf den Aufschreibungen der Stimmgabeln für die untersten 
21/, Octaven der Tonreihe“ (3 8. 179). Die tiefste Gabel, die sie unter- 
suchten, gab das C, (Subcontra-C), die höchste das is (mit 91.5 v.d.). 
Höhere Gabeln schreiben zu lassen, nahmen sie Abstand, weil bei diesen 
das für das normale Ohr hörbare „Schwingungsminimum“ — wir möchten 
dieses lieber als die „Extinctionsamplitude“ bezeichnen — mit dem Mikro- 
meter-Mikroskop nicht mehr sicher messbar ist. Zu ihren Hörprüfungen 
benutzen die Ohrenärzte nun aber stets auch viel höhere Gabeln, solche 
aus der kleinen, der ein-, zwei-, drei- und viergestrichenen Octave bis 
mindestens zum c* oder g* mit 2048 bezw. 3072 v. d. herauf. Ob eine Curve, 
wie sie aus den Aufschreibungen ganz tiefer Gabeln gewonnen wurde, 
„auch für die gesammte Tonscala ihre Gültigkeit hat“, wie Bezold und 
Edelmann (3 S. 180) bis auf Weiteres annehmen zu dürfen glauben, 
erscheint uns zweifelhaft. 

Dazu kommt, dass die genannten Autoren bei der Construction ihrer 
Standardeurve (s. Fig. 1) ein Verfahren einschlugen, das sie selber als „will- 
kürlich“ bezeichnen, trotzdem aber nicht fallen liessen. Sie gingen aus 
von der auf Contra-D „(ihrem höchsten Ton) eingestellten belasteten Stimm- 
gabel Nr. 2 der Bezold’schen Tonreihe. Im Moment nach dem stärksten 
Anschlag schreibt diese Gabel eine Elongation von 10“, im Moment des 
Verklingens eine solche von 0.032”. Das Elongationsmaximum ist also 
hier 812.5 Mal so gross, wie das eben noch zur Perception gelangende 
Elongationsminimum.... Multiplieirt man alle für die obige Stimmgabel 
erhaltenen Elongationen mit 10,.so erhält man als Maximum 100, als 
Minimum 0-32“ (3 8.177). Die Curve für diese Gabel wurde nun 
in der Weise construirt, dass}im Anfangspunkt der = 100" gesetzten 
Abseissenaxe als Ordinate 10 x 10 = 100””, im Endpunkt derselben als 


! Ob die Hörschärfe der gefundenen Amplitude umgekehrt proportional zu setzen 
ist, oder ihrem Quadrat, ist ja auch dann immer noch eine Frage, die der Lösung 
bedarf (s. 8.3 u. 4). 

* Eine neue Methode, die Quantität des Hörvermögens vermittelst Stimmgabeln 
zu bestimmen, von E. Schmiegelow. Entgegnung von Prof. Bezold und Prof. 
Edelmann. Archiv für Ohrenheilkunde. 1900. Bd. IL. 8.8. 

® Bezold und Edelmann, Ein Apparat zum Aufschreiben der Stimmgabel- 
schwingungen und Bestimmung der Hörschärfe u. s. w. Zeitschrift für Ohrenheilkunde. 
1898. Bd. XXXII. S. 174. 


14 L. JACoBSON und W. Cowr: 


Ordinate 0.032 x 10 = 0:32 "m aufgetragen wurden, dazwischen diejenigen 
(stets mit 10 multiplieirten) Ordinaten, welche die Gabel in den betreffenden 
Theilpunkten der ihre normale „Hörzeit“ darstellenden Abscissenaxe auf- 
geschrieben hatte. 

Bei den übrigen Gabeln dagegen verfuhren Bezold und Edelmann 
anders: auch hier multiplieirten sie die gefundenen Ordinaten alle mit der- 
jenigen Zahl, „‚welche das jedesmalige durch Messung gefundene Elongations- 
minimum auf 0-32 bringt“ (ebenda); anstatt aber nun, wie bei der Contra- 
D-Gabel, alle aufgeschriebenen Schwingungen, mit der eben erwähnten 
Zahl multiplieirt, als Ordinaten in den entsprechenden Theilpunkten der 
Abseissenaxe aufzutragen und durch Verbindung ihrer Endpunkte die den 
aufgeschriebenen Schwingungen wirklich entsprechende Curve zu zeichnen, 
trugen sie bei den anderen Gabeln nur das „Elongationsminimum“, durch 
Multiplication mit der erwähnten Zahl auf 0-32 gebracht, in dem End- 
punkt der = 100 gesetzten Abseissenaxe auf, setzten aber (3 S. 178) „bei 
keiner Gabel über das 312-5fache des gefundenen Schwingungsminimums 
hinaus die Curve weiter“ fort. Nach ihrer Ansicht können nämlich „die 
hierbei hie und da fortfallenden ersten paar Schwingungen der Stimm- 
gabel nach stärkstem Anschlag... ruhig von uns vernachlässigt werden. 
Diese-ersten allergrössten Elongationen dauern nur sehr kurze Zeit: so kurz, 
dass sie für die ganze lange Schwingungsdauer der Gabeln nicht in Be- 
tracht zu kommen brauchen“. 

Wir müssen gestehen, dass wir einen Grund für diese „Willkür“ bei 
Construction der Standardeurve absolut nicht einsehen können. Soll letztere 
thatsächlich die Art und Weise darstellen, in welcher die Schwingungs- 
amplituden ausklingender Stimmgabeln vom Moment „maximaler“ Erregung 
bis zum Verklingen für ein normales Ohr an Grösse abnehmen, so muss 
sie unserer Meinung nach auch für alle untersuchten Gabeln in gleicher 
Weise construirt sein. Die grössten Amplituden bei einigen Gabeln weg- 
zulassen, die kleinsten dagegen stets aufzunehmen, ist unseres Erachtens 
gar kein Grund vorhanden. Denn gerade bei den kleinsten Amplituden 
können leicht Messungsfehler auftreten, die bei den grössten unschwer zu 
vermeiden sind; wir können viel weniger sicher behaupten, dass eine 
selbst von der feinsten Schreibspitze auf einer berussten Glasplatte aufge- 
schriebene Schwingungsamplidute von nur 0.032== — und manche der 
von Bezold und Edelmann untersuchten Gabeln gaben noch viel 
kleinere Amplituden (vgl. 3 8. 11) — wirklich dieser Grösse entspricht, als 
wir dieses bei einer Amplitude von 10" thun können. Dazu kommt, 
dass die allerkleinsten Schwingungen, welche ein normales Ohr eben noch 
wahrnimmt, von Schwerhörigen meist nicht mehr gehört werden, wohl aber 
die grösseren bezw. grössten. 


DARSTELLUNG UND MESSUNG DER SCHWINGUNGSAMPLITUDEN U.S$S.w. 15 


Wenn wir also einerseits gar keinen Grund auffinden können, warum 
Bezold und Edelmann gerade die grössten Schwingungsamplituden bei 
manchen Gabeln fortliessen, bei anderen nicht, so scheint uns andererseits 
dieses Verfahren auch vollständig unzulässig zu sein, wenn man aus den 
aufgeschriebenen Amplituden eine Standardeurve richtig construiren will. 
Was bedeutet es denn überhaupt, „dass bei keiner Gabel über das 312.5- 
fache des gefundenen Schwingungsminimums hinaus die Curve weiter fort- 
gesetzt wurde“? Nähere Auskunft geben Bezold und Edelmann hierüber 
nicht. Man muss wohl annehmen, dass sie im Punkt 100 der Abscisse, 
also im Endpunkt derselben (s. Fig. 1), stets das durch Multiplication mit 
einer entsprechenden Zahl auf 0-32 "m gebrachte Elongationsminimum der 
betreffenden Gabel als Ordinate auftrugen und die 312.5fach grössere 
Amplitude, mit eben derselben Zahl multiplieirt und dadurch also auf 
100 ”” gebracht, im Punkt O der Abscisse, also im Anfangspunkt derselben. 
Dadurch wird aber die Gestalt der construirten Curve eine ganz andere, 
als die der von den einzelnen Gabeln aufgeschriebenen. Denn eine 
Ordinate von 100”® fand sich bei der einen Gabel vielleicht im Theil- 
punkt 5, bei einer anderen im Theilpunkt 8 oder 20 der Abscissenaxe — 
auch hierüber machen Bezold und Edelmann keine näheren Angaben. 

Kurz, eine Nachprüfung der Bezold-Edelmann’schen Untersuchungen 
schien aus verschiedenen Gründen nicht nur berechtigt, sondern auch ge- 
boten zu sein. Die Methode, die wir zu diesen Öontrolversuchen benutzten, 
soll in Folgendem beschrieben werden. 

Zuvor indessen noch einige Worte über den Grund, warum Bezold 
und Edelmann (vgl. 1 S. 6 u. 9, ferner Ztschr. f. Ohrenheilk. Bd. XXXII. 
S. 176, 180 u. 184) stets von „stärkstmöglichem Anschlag“ der Gabeln oder 
von „maximaler Erregung‘ derselben sprechen. 

Wenn die Zeit vom Moment des Anschlages oder einer andersartigen 
„Erregung“ der Stimmgabel bis zum Verklingen derselben, die „Hörzeit“, 
als Maass der Hörschärfe benutzt werden soll, so ist es natürlich noth- 
wendig, dass die Gabel, wenn man sie vor normalen oder kranken Ohren 
ausklingen lassen will, stets mit der gleichen Kraft in Schwingung gesetzt 
wird. Zu diesem Behufe hat Lucae! seine „Hammergabeln“ coustruirt, 
an deren Griff ein „Schlagwerk“ angebracht ist. Das letztere „besteht in 
einem Stahlhammer, welcher durch eine starke Spiralfeder in Bewegung 
gesetzt wird. Diese Feder wird wie an einer Schusswaffe aufgezogen und 
durch eine Abzugsfeder ausgelöst. Durch &@ine dritte, oberhalb des anzu- 
schlagenden Gabelzinkens angebrachte flache Feder wird vermieden, dass 


! Lucae, Kritisches und Neues über Stimmgabeluntersuchungen. Archiv für 
Ohrenheilkunde. 1886. Bd. XXIII. 8.131. — Zur Tonprüfung bei Schwerhörigen. 
Verhandlungen der deutschen otologischen Gesellschaft. 1899. 8.41. 


16 L. JacoBson und W. Cowtr: 


der Hammer nach seinem Auffallen auf dem Zinken liegen bleibt“. Aehn- 
liche Gabeln sind von Eitelberg! und Blake angegeben. Anderen Ohren- 
ärzten aber scheinen diese mechanischen Vorrichtungen zum gleichmässigen 
Anschlag nicht zu conveniren. Um nun auch ohne dieselben stets eine ceteris 
paribus gleiche „Hörzeit“ zu erhalten, schreiben sie (vgl. hierzu Schwendt 
und Wagner?) vor, dass man die Gabel stets mit „maximaler‘“ Kraft an- 
schlagen bezw. in Schwingung setzen soll. Sie gehen hierbei offenbar von 
der Annahme aus, dass bei „maximaler“ Erregung die Hörzeit der Gabel 
stets gleich gross sein müsse. Dieses trifft auch bis zu einem gewissen 
Grade der Annäherung thatsächlich zu, weil, wie alle von ausklingenden 
Stimmgabeln aufgeschriebenen Curven zeigen, die absolute Abnahme der 
Schwingungsamplituden im Beginn der Öurven am grössten ist. Wird eine 
Gabel also überhaupt sehr stark angeschlagen, so wird ihre „Hörzeit“ 
für ein nermales Ohr nicht mehr wesentlich gesteigert werden können, 
wenn der Anschlag auch noch etwas kräftiger erfolgt. Wohl aber können 
hierdurch viel grössere initiale Schwingungsamplituden erzeugt werden, und 
auf diese kommt es, wenn wir sehr schwerhörige Patienten untersuchen, 
die den Ton der Gabel nur noch ganz kurze Zeit nach dem Anschlage 
hören, doch an. 

Aus diesem Grunde scheint es uns, wenn zur zahlenmässigen Be- 
stimmung der Hörschärfe die Hörzeit ausklingender Stimmgabeln über- 
haupt benutzt werden soll, immerhin empfehlenswerther zu sein, sich zum 
Anschlag der Gabeln oder zu andersartiger Erregung derselben mechanischer 
Vorrichtungen zu bedienen, die natürlich so construirt sein müssen, dass sie 
möglichst lange Zeit hindurch censtant wirken. Der Ausdruck „maximale“ 
Erregung der Gabelschwingungen ist ja auch ein ganz unbestimmter. Denn 
gleichviel, ob man die Gabel durch Anschlag einer Zinke gegen einen harten 
oder weicheren Gegenstand, ob man sie durch Zusammenpressen beider 
Zinken mit den Fingern und darauf folgendes Hinüberschieben einer 
Klammer, die dann weggerissen wird, oder ob man sie durch Zwischen- 
schieben eines ebenfalls später wegzureissenden Keiles nach vorherigem 
Auseinanderspreizen der Zinken in Schwingungen setzt, letztere werden 
stets ausgiebiger ausfallen müssen, wenn die „maximale“ Erregung der 
Gabel durch einen über grosse Muskelkraft verfügenden Untersucher erfolgt, 
als wenn dieses durch einen schwächeren geschieht. 


! Eitelberg, Vergleichende Gehörsprüfungen an 100 Individuen mittels Stimm- 
gabeln, Uhr und Flüstersprache. Zeitschrift für Ohrenheilkunde. 1886. Bd. XV. 
Ss. 101. 

* Schwendt und Wagner, Untersuchungen von Taubstummen. Basel 1899. 
S. 167 u. 168. 


DARSTELLUNG UND MESSUNG DER SCHWINGUNGSAMPLITUDEN U. $S.w. 17 


ll. Beschreibung unserer Versuchsanordnung im Allgemeinen. 


Zur Controle der von Bezold und Edelmann gewonnenen Versuchs- 
ergebnisse (s. 5. 11 u. 12) wählten wir an Stelle der von diesen Autoren 
angewandten graphischen Methode die photographische, weil letztere die 
Möglichkeit giebt, die Schwingunsgamplituden ausklingender Stimmgabeln 
vergrössert aufzunehmen. Wir verfuhren hierbei in folgender Weise: 

An der einen Zinke der zu untersuchenden Gabel wurde an ihrem 
freien Ende ein kleines viereckiges Plättchen aus sehr dünnem und dem- 
entsprechend leichten Aluminiumblech derart angekittet, dass es den oberen 
Rand der Zinke ziemlich weit überragte In der Mitte dieses Plättchens 
hatten wir einen in Abschnitt III genauer beschriebenen sehr schmalen 
Spalt angebracht, dessen Längsaxe derjenigen der Stimmgabelzinke parallel 
verlief. Der Stiel der so armirten Gabel wurde in einem passenden Stativ 
fest eingeklemmt. Auf den in dem Aluminiumplättchen befindlichen Spalt, 
den wir in der Folge der Kürze halber stets „Stimmgabelspalt“ nennen 
wollen, fiel das durch einen zweilinsigen grossen Condensor convergent ge- 
machte Licht einer elektrischen Bogenlampe mit automatischer Regulirung. 
Ein vergrössertes Bild des so durch das elektrische Licht von hinten 
erleuchteten „Stimmgabelspaltes“ konnte durch ein mikrophotographisches 
Objeetiv auf eine lichtempfindliche Platte geworfen werden, welche auf 
geignete Weise sicher und fest an einem Schlitten angebracht war. Befand 
sich die Gabel in Ruhe, so stellte dieses Bild eine schmale helle Linie dar, 
wurde die Gabel in Schwingung gesetzt, ein helles leuchtendes Band, dessen 
Breite der jeweiligen Schwingungsamplitude entsprach, welches also beim 
Ausklingen der Gabel immer schmäler und schmäler wurde. Die Betrach- 
tung. dieses leuchtenden Bandes auf einer Einstellscheibe zeigt, dass seine der 
grössten Elonsation des schwingenden „Stimmgabelspaltes“ entsprechenden 
äussersten Ränder eine besonders grosse Helligkeit aufweisen. Die Erklärung 
für diese Erscheinung, welche sich auf den Photographien nachweisen lässt, 
ist leicht zu finden. Sie beruht auf folgendem Umstand: Die Geschwin- 
digkeit, mit welcher sich die Zinken einer schwingenden Stimmgabel be- 
wegen, ist ebenso wie beim Pendel am grössten beim Durchgang durch 
die Gleichgewichtslage, am kleinsten da, wo die Bewegung umkehrt, d. h. 
in den Punkten grösster Elongation. In Folge dessen wird die Belichtung 
der Platte durch den sich auf ihr abbildenden Stimmgabelspalt beim 
Schwingen der Gabel am längsten in den Momenten der grössten Elongation 
dauern, es muss also an den diesen entsprechenden Stellen des Lichtbildes, 
d.h. an den betreffenden Rändern des leuchtenden Bandes, die Helligkeit 


des Bildes am grössten sein. 
Archiv f. A. u. Ph. 1903. Physiol. Abthlg. 2 


18 L. Jacogson unp W. Cowtr: 


Ueber den im Abschnitt III noch näher zu beschreibenden Schlitten, 
welcher die photographische Platte aufnahm, wurde, nachdem letztere in 
der Dunkelheit bezw. bei dem rothen Licht einer Dunkelkammerlampe ein- 
gefügt und fest eingeklemmt war, ein aussen und innen matt geschwärztes 
Blechgehäuse gestülpt, welches in der Mitte seiner vorderen Fläche einen 
etwa 4°® langen schmalen Lichtspalt trug, der mit dem „Stimmgabelspalt“ 
bezw. der Längsaxe der ruhenden Stimmgabelzinken einen rechten Winkel 
bildete. Durch diesen Spalt, welchen wir in der Folge ‚„Cameraspalt“ 
nennen wollen, wurde von dem Bilde des „Stimmgabelspaltes“, welches 
das Objectiv ohne Camera auf der photographischen Platte entworfen hätte, 
ein kleines Viereck ausgeschnitten. Letzteres bewegt sich, wenn die Stimm- 
gabel in Schwingung gesetzt ist, von der Mitte des „Cameraspaltes“ gegen 
das eine Ende desselben, um dann, wenn die Gabelzinke ihre grösste 
Elongationstellung erreicht hat, umzukehren und nun wiederum rückwärts 
über die Gleichgewichtslage hinaus nach der anderen Seite zu wandern. 
Wird hierbei die dicht hinter dem „Cameraspalt“ befindliche photographische 
Platte in einer zu diesem senkrechten Richtung vorüberbewegt, so kann 
das kleine durch den „Cameraspalt“ von dem Bilde des „Stimmgabelspaltes“ 
ausgeschnittene leuchtende Viereck auf der Platte eine Wellenlinie ver- 
zeichnen, deren Amplituden beim Ausklingen der Gabel allmählich immer 
kleiner werden. Natürlich wird eine Wellenlinie nur dann entstehen, 
wenn die Bewegung der Platte so schnell geschicht, dass die Kuppen der 
einzelnen Wellenberge und -thäler, welche sich auf der Photographie als 
schwarze Linien darstellen, von einander durch helle Zwischenräume ge- 
trennt sind. War die Bewegung der Platte hierzu zu langsam, so decken 
sich die einzelnen Schwingungen und man erhält dann eine schwarze 
Randeurve. Solche Randeurven aufzunehmen und auszumessen, hätte für 
unsere im Abschnitt I S. 2 angegebene Aufgabe nicht genügt. Denn 
selbst, wenn wir mit völliger Sicherheit hätten annehmen können, dass die 
photographische Platte hinter dem „Cameraspalt“ mit einer absolut con- 
stanten Geschwindigkeit vorübergeführt sei, so wäre es von vornherein doch 
zweifelhaft geblieben, ob die Ordinaten der Randcurve an bestimmten 
Punkten der Abseissenaxe thatsächlich den an diesen vorhandenen Ampli- 
tuden der Stimmgabelschwingungen vollkommen entsprechen. Wir konnten 
ja im Voraus nicht wissen, ob bei der grossen Geschwindigkeit der Stimm- 
gabelschwingungen die Belichtung der Platte durch den „Stimmgabelspalt“ 
lange genug dauert, um ein photographisches Bild hervorzurufen, wenngleich, 
wie schon erwähnt, die Belichtung an den äussersten Enden der Schwingungen 
bei Weitem am längsten dauert. Erhalten wir eine wellenförmige Curve, wie 
z.B. in Figg. 3 und 4, so wird dieses Bedenken gegenstandslos: wo die Kuppe 
eines Wellenberges oder -thales abgebildet ist, da fand — das leuchtet ohne 


DARSTELLUNG UND MESSUNG DER SCHWINGUNGSAMPLITUDEN UV. S,w. 19 


Weiteres ein — eine einmalige oder (s. hierüber 8. 37) höchstens zwei- 
malige Belichtung der Platte durch das Bild des in seiner jeweiligen 
aussersten Elongationsstellung befindlichen Stimmgabelspaltes statt. Wo das 
Licht zu schwach, die Geschwindigkeit der Bewegung zu gross bezw., was 
dasselbe bedeutet, die Expositionsdauer zu kurz war, da erhalten wir über- 
haupt kein photograpisches Bild; demgemäss ist es uns mitunter auch be- 
gegnet, dass bei den hohen Gabeln, die wir untersuchten, die grössten 
Amplituden, also diejenigen bald nach dem Anschlag der Gabel, insbesondere 
in ihrem mittleren Theil auf der Platte gar nicht oder doch nur ganz 
schwach abgebildet wurden. Bei einer Randcurve fallen nun aber auf 
dieselbe Stelle der Platte eine grosse Anzahl von Bildern auf einander 
folgender Stimmgabelschwingungen, welche, da sie allmählich immer kleiner 
werden, sich wohl in ihrem mittleren Abschnitt, nicht aber an den äussersten 
Enden decken. Dass in dem mittleren Theil, der vielleicht 30 oder 40 Mal 
hinter einander schwach belichtet wird, ein Bild entsteht, ist natürlich; 
ebenso natürlich ist es aber auch, dass an den äussersten Enden, wo die 
Belichtung nur ein Mal stattfindet, das Bild ausbleiben kann. Es folgt 
hieraus, dass die Ordinaten einer auf der Platte abgebildeten Randeurve 
von vornherein nicht mit Sicherheit dem photographischen Bilde der an 
den betreffenden Punkten der Abseissenaxe vorhandenen Schwingungs- 
amplituden des „Stimmgabelspaltes“ gleichgesetzt werden können. 

Wollen wir also die Art und Weise, in welcher die Sehwingungs- 
amplituden ausklingender Stimmgabeln mit der Zeit an Grösse abnehmen, 
auf photograpischem Wege ermitteln, so müssen wir dafür Sorge tragen, 
eine aus einzelnen Wellenbergen und -thälern bestehende Curve zu erhalten, 
wie sie z. B. Fig. 4 darstellt; und dieses ist, wenn der abzubildende 
„Stimmgabelspalt“ recht eng genommen und die Platte rasch vorüberge- 
zogen wird, leicht möglich. Natürlich können wir nicht sämmtliche 
Schwingungen vom Ertönen der Gabel bis zum Verklingen derselben für 
ein normales Ohr auf der Platte auffangen. Denn, wenn der Zwischenraum 
zwischen den Kuppen je zweier auf einander folgender Wellenberge auch 
nur 0.2 "m beträgt, so müsste die Platte hierzu bei einer Hördauer der 
Gabel von z. B. 100 Secunden und einer Schwingungszahl von 512 v. d. 
-in der Secunde 51200 x 0.2 = 10240 "= oder 10.24” lang sein, die 
Schlittenbahn also eine Länge von über 20” haben. Da dieses nicht 
angängig ist, müssen wir uns darauf beschränken, ebenso wie es Bezold 
und Edelmann gethan haben, die Platte in durch genau gleiche Pausen 
getrennten Zeitpunkten um ein kleines Stück ruckweise hinter dem „Camera- 
spalt“ vorüber zu bewegen, wobei wir ein Bild erhalten, wie das in Figg. 4—7 
dargestellte. Auf diesem sind die, wie ersichtlich, allmählich immer kleiner 


werdenden einzelnen Schwingungen der Stimmgabel in genau gleichen Zeit- 
9% 


20 L. JACoBSON unDp W. Cowt: 


intervallen abgebildet; die zwischen ihnen befindlichen dickeren Striche 
stellen Bilder der während der Pausen der Plattenbewegung superponirten 
Schwingungen dar. | 

Zur ruckweisen Bewegung der Platte dienten drei verschiedene Ver- 
fahren, welche in Abschnitt III genau beschrieben werden. Das erste der- 
selben wurde aus dort näher erörterten Gründen nicht zur Aufnahme von 
Photogrammen von uns benutzt. Die Haupttheile des für dasselbe gebauten 
Apparates indessen konnten auch bei dem zweiten und dritten Verfahren 
verwerthet werden, von denen sich das letztere am meisten bewährt hat. 

Die bei den einzelnen Verfahren benutzten Apparate sind in der 
folgenden Uebersicht aufgezählt. Sie dienten 

a) zur Beleuchtung, 

b) zur photographischen Aufnahme, 

c) zur Plattenbewegung, 

d) zur Hemmung der letzteren bezw. Pausenbildung. 


(emeinsam war allen Verfahren eine elektrische Bogenlampe, ein Licht- 
condensor, ein enger an der Stimmgabel befestigter Lichtspalt, ein schwaches 
mikrophotographisches Objectiv, eine Schlittenbahn mit Schlitten zum 
Tragen länglicher Glasplatten, eine Camera mit Spalt. 


1. Aufnahmeverfahren mit elektromagnetischer Bewegung 
der Platte: 


a) Bogenlichtlampe für 12 Ampere Stromstärke, doppellinsiger Con- 
densor, elektromagnetischer Lichtabblender, 

b) Lichtspalt an einer wagerechten Stimmgabelzinke, Objectiv mit 
weiter Pupille, senkrechter Lichtspalt in der Camerawand, Bromsilbergelatine- 
glasplatte an einem Schlitten, 

c) wagerechte Schlittenbahn nebst Camera und Elektromagneten mit 
drehbarem Anker und Sperrklinke, plattentragender Schlitten mit Zahn- 
stange, i 

d) Laufwerk mit Triebgewichten, Rad mit zehn Contactzähnen und 
Schleiffeder. 


2. Aufnahmeverfahren mit mechanischem Zug der Platte: 


a) Bogenlichtlampe für 2-2 Ampere und 27 Volt, sonst wie bei 1. 

b) wie bei 1, 

c) Schlittenbahn ohne Elektromagnet, Schlitten mit Zugfaden und 
Reibungshemmung, Laufwerk mit Frictionsrolle, 

d) schwingender Zeitstab mit federndem Stromcontact nach dem Prineip 
des Engelmann’schen Chronoskops, Elektromagnet zum Aufheben der 
Frietion (s. bei c). 


DARSTELLUNG UND MESSUNG DER SCHWINGUNGSAMPLITUDEN U.S.w. 21 


3. Aufnahmeverfahren mit gehemmtem Fall der Platte: 

a) wie bei 1, nebst einer axial verschiebbaren Blende im convergirenden 
Lichtkegel, 

b) Lichtspalt an einer senkrechten Stimmeabelzinke, wagerechter 
„Cameraspalt“, ruckweise fallende Platte, sonst wie bei 1, 

c) senkrechte Schlittenbahn, Schlitten, an einem Draht aufgehängt, 
mit Flüssigkeitsdämpfer versehen und durch sein eigenes Gewicht bewegt, 

d) schwingender Zeitstab mit federndem Stromeontaet (wie bei 2), 
Hemmunssvorrichtune mit elektromagnetisch bewegter Sperrklinke. 


III. Ueber die verwendeten linearkinematographischen 
Verfahren. 


Die Photographie einer veränderlichen Ordinate in der Richtung der 
Bewegung eines Gegenstandes auf einer senkrecht dazu bewegten Platte 
muss in dem Falle von Stimmgabelschwingungen im Voraus damit rechnen, 
bei höheren Gabeln bald die Grenze der photographischen Darstellunes- 
möglichkeit zu erreichen: denn die kürzeste ausreichende Expositionszeit für 
Aufnahmen von körperlichen Gegenständen im Sonnenlicht unter Benutzung 
der gebräuchlichen Mittel zur Herstellung des Bildes ist nicht kleiner als 
etwa 0-001 Secunde. 


In fast allen anderen Beziehungen dagegen findet die Linearkine- 
matographie in tönenden Stimmgabeln ein günstiges Object: Die Schwin- 
gungen lassen sich in jedem beliebigen Moment auslösen; ebenso lässt 
sich eine einigermaassen constante Anfangsamplitude der Schwingungen 
mechanisch leicht erzeugen; die Schwingungen schreiben selbst die Zeit auf 
und zwar mit einer bekannten bezw. leicht festzustellenden Einheit; die 
Zinken halten bei ihrer grössten Elongation einen Augenblick an, begün- 
stigen also selbst in diesem maassgebenden Moment die photographische 
Abbildung; gut gebaute Stimmgabeln schwingen in einer durch ihre Zinken 
gegebenen planen Ebene, welche sich leieht projieiren lässt; die Form, 
Grösse und Beschaffenheit der Zinken eignen sich im Gegensatz zu manchen 
anderen Gegenständen der Linearkinematographie, z. B. die Haut am Puls, 
das Capillarelektrometer u. A. m., sehr gut zur Anbringung und ÖOrientirung 
eines Lichtspaltes in der projieirten Ebene, sowie auch zur vortheilhaften 
Benutzung von condensirtem Licht und von vergrössernden Objectiven. 

Stimmgabelschwingungen bieten somit ein vortreffliches Object sowohl 
zur Bestimmung ihres Abklingungs- bezw. Ausschwingungsverlaufes unter 
verschiedenen Umständen, als auch zur weiteren Ausgestaltung der „Be- 


22 L. JACOBSON -unp W. (own: 


wegungsphotographie hinter einem Spalt“, die für die Lösung von ganz 
verschiedenen Aufgaben seit vielen Jahren verwendet worden ist. 

Bei den einzelnen von uns angewandten, in der Uebersicht (s. S. 20 u. 
21) aufgeführten Verfahren, welche dazu dienen sollten, die photographische 
Aufnahme in regelmässigen Zeitintervallen zu bewirken, erfoigte bei dem 
ersten die Auslösung der ruckweisen Bewegung der Platte durch ein grosses 
Laufwerk, das durch Gewichte von 1 bis 108 in verschieden raschen Gang 
gesetzt werden konnte und an einer Axe mit einem elektrischen Strom- 
contact versehen war, der aus einem Rad mit 10 Contactzähnen und einer 
anliegenden Schleiffeder bestand. Die ruckweise erfolgenden Bewegungen 
selber bewirkte ein Elektromagnet. 

Bei dem zweiten Verfahren dagegen wurde das Laufwerk zur Erzeugung 
der Bewegung, ein Elektromagnet zur Unterbrechung derselben verwandt. 
Bei dem dritten Verfahren erfolgte die Bewegung durch Fall, die Hemmung 
derselben in regelmässigen Pausen durch eine die Fallbewegung elektro- 
magnetisch auslösende Sperrvorrichtung. Bei den beiden letzteren Verfahren 
wurde die Auslösung der Bewegung in regelmässigen Pausen durch einen 
verticalstehenden schwingenden Stab vermittelt, welcher in einem bestimmten 
Punkte seiner Bahn stets auf kurze Zeit einen elektrischen Strom schloss. 
Dieser Zeitstab war nach dem Princip der in dem Engelmann’schen 
Chronoskop verwendeten elastischen Stäbe construirt. Er unterschied sich 
von letzteren durch seine grosse Länge von über 2%. Auf demselben 
liessen sich Laufgewichte bis über 108 anbringen, verschieben und fest- 
stellen. Die Periode seiner Schwingungen konnte auf diese Weise zwischen 
?/, und 4 Secunden beliebig variirt werden. Betrieben wurde der Stab 
durch drei Accumulatoren, einen Elektromagneten und einen eigenen 
federnden Stromeontact. An seinem oberen Theil trug er einen federnden 
Stift, welcher an einer neben dem Stab angebrachten, abstufbar ein- 
gerichteten Contactfläche streifte, um einen äusseren Stromkreis zu schliessen. 

Nach der Anwendung dieses einzelnen statt eines 1Ofachen Contacts 
konnten etwa auftretende zeitliche Unregelmässigkeiten in den Pausen der 
Plattenbewegung bezw. in dieser selbst nicht mehr auf den Bau des Contact- 
rades oder auf einen unregelmässigen Gang des Laufwerkes bezogen werden. 
Traten indessen solche auf, so war zunächst an einen unregelmässigen Gang 
des Zeitstabes zu denken. Dieser war jedoch im Allgemeinen vollauf con- 
stant: nur merkliche Erschütterungen des Fussbodens konnten ihn vorüber- 
gehend verändern, da die Schwingungen des Stabes durch schwere Lauf- 
gewichte nebst der Elastieität des sich durchbiegenden 2" breiten, Smm 
dicken Stabes bedingt wurden. 

Die rasche ruckweise Bewegung der photographischen Platte erfolgte 
immer auf einer besonders gebauten Bahn mit aufrechtstehendem Schlitten 


DARSTELLUNG UND MESSUNG DER SCHWINGUNGSAMPLITUDEN U. S.w. 23 


von 30°® Länge und 9°“ Breite, an dem die Platte zwischen Längsleisten 
eingeklemmt wurde. Der Schlitten bewegte sich mit geringer Reibung auf 
zwei parallelen, eylindrischen Stahlgeleisen vermittelst dreier Rollen, die 
zur Führung dienten. Die Geleise fanden ihren Halt an beiden Enden in 
Pfeilern, die mit der 3°“ dicken Fussplatte aus einem Stück Gusseisen 
bestanden. Gegenseitig unterstützten sie sich durch Querstreben. 

Die Triebkraft für die Schlittenplatte sowohl wie auch der Mechanismus, 
der die Pausen bewirkte, waren in allen drei Verfahren verschieden. Im 
ersten Verfahren wurde die ruckweise Bewegung durch eine Vorrichtung 
bewirkt, die der Mechaniker des physiologischen Instituts der hiesigen 
Universität, Hr. Oehmcke, construirt hatte. Sie bestand aus einer an der 
hinteren Fläche der Schlittenplatte und zwar am oberen Rande derselben 
befestigten Zahnstange, einer Sperrklinke, welche in die je 4 ““ aus einander 
stehenden Sperrzähne dieser Stange eingriff, und einem an der gusseisernen 
Fussplatte angebrachten starken Elektromagneten, dessen Anker mit der 
erwähnten Sperrklinke gelenkig verbunden war. 

Letztere schob bei jedesmaligem Anziehen des Ankers die Zahn- 
stange bezw. den mit ihr verbundenen Schlitten um einen Zahn, d.h. um 
4 mm, vor. 

Die Bewegung war hierbei eine stark beschleunigte in Folge der im 
umgekehrten Verhältniss zum Quadrat der Entfernung des Ankers zu- 
nehmenden elektromagnetischen Kraft; sie liess sich in ihrer Geschwindig- 
keit nicht ohne Weiteres verändern und endete jedes Mal mit einem 
plötzlichen starken Anschlag der 6108”m schweren Masse des Schlittens 
sammt Glasplatte, wodurch dem ganzen Apparat eine bedeutende Er- 
schütterung ertheilt wurde. | 

Eine Geschwindigkeitsverschiedenheit in der Bewegung des Schlittens 
von Fall zu Fall hätte sich allerdings in der Weise bewirken lassen, dass 
bei jedesmaligem Anziehen des elektromagnetischen Ankers Spiralfedern 
verschiedener Stärke zusammengedrückt werden, welche ihrerseits erst bei 
der darauffolgenden Ausdehnung die Fortbewegung des Schlittens mittels 
einer Sperrklinke bewerkstelligen. Bei einem solchen Verfahren würden 
zwei Stösse hinter einander stattfinden. Es waren aber hauptsächlich die 
Erschütterungen durch den Anschlag des Ankers an den Elektromagneten 
bei der Fortbewegung des Schlittens um kleine Strecken, welche die Aus- 
arbeitung des zweiten Verfahrens zum Theil mit den vorhandenen Vor- 
richtungen bedingten. : | 

Durch letzteres wurde einmal eine völlig ausreichende Verminderung 
der mit jeder ruckweisen Bewegung verknüpften Erschütterung, sodann 
die Ausnutzung der Kraft und der verschiedenen Geschwindigkeiten des 
vorhandenen Laufwerkes ermöglicht, dessen Gang ein ausreichend gleich- 


24 L. JAacoBSoN :unp W. Cowr: 


mässiger war, una endlich gestattete dasselbe eine beliebige Dauer der 
einzelnen Schlittenbewegungen, sowie der diese trennenden Pausen, aller- 
dings scheinbar auf Kosten der Zuverlässigkeit, jedoch nur scheinbar, da 
sich alle Lichteinwirkungen nach Ort, Zeit und Dauer auf der Platte wieder- 
spiegeln mussten, der Beobachtung und Messung also nicht entgehen konnten. 

Die besonderen Vorrichtungen des zweiten Verfahrens bestanden aus 
einer in Verbindung mit dem sich stetig bewegenden Laufwerk stehenden 
frei endigenden wagerechten Axe und einer darauf festsitzenden, fortwährend 
mitgedrehten Holzrolle, deren äussere 5 “@ breite Endfläche mit einer weichen 
Gummiplatte beklebt war. Weiter aussen an der Axe drehbar war eine 
zweite solche Rolle, deren inneres Ende auch mit Gummiplatte belegt war. 
Diese Rolle trug an ihrer Aussenflläche eine Eisenplatte als elektro- 
magnetischen Anker und wurde während der die Bewegungszeiten 10- bis 
40fach überwiegenden Pausen durch einen symmetrisch zur Axe gestellten 
Elektromagneten fest- und von der erstgenannten Rolle in kurzem Abstand 
gehalten. Floss nun der den Elektromagneten bedienende Strom statt 
durch diesen durch den Nebenschluss am Zeitstab, so drückte beim Nach- 
lassen des Magnetzuges eine zwischen den beiden Solenoiden des Elektro- 
magneten auf einer Führung sitzende Spiralfeder centrisch gegen die Eisen- 
platte an der auf der Axe verschiebbaren zweiten Rolle und diese damit 
gegen die erste Rolle, welcher vorher durch das Laufwerk eine beliebige 
Geschwindigkeit gegeben worden war. Ks drehte sich nunmehr die zweite 
Rolle mit derselben Geschwindigkeit ein wenig und zog durch eine kleine 
Oeffnung in der Camerawand mittels eines Fadens mit geraden Fasern den 
Schlitten vorwärts. Durch die Reibung an seinem oberen und unteren 
Geleise wurde eine Fortsetzung der Bewegung des schweren Sehlittens 
nach Beendigung des 2 bis 4" betragenden Zugs vermieden. 

Geringe Ungleichheiten in dieser Reibung sowohl wie in derjenigen 
zwischen den beiden Rollen liessen jedoch den Umfang der Schlittenbewegung 
nicht immer gleich dem der ersten Rolle ausfallen. Indessen markirte 
sich dieses nothwendig getreu in dem photographischen Bilde der aufge- 
nommenen Schwingungen, deren zu messende Amplituden hierdurch natür- 
lich nicht beeinflusst werden konnten. 

Hin und wieder bei einer Aufnahme machte die zweite Rolle nur eine 
minimale Bewegung mit, die sich aber in unzweideutiger Weise auf der 
Platte zeigte (s. Fig. 6). In allen Fällen, wo die Beleuchtung bezw. die 
optischen Vorkehrungen ausreichten, waren die gewonnenen Curven in allen 
Theilen gleich gut messbar. Bei dem nicht ganz gleichmässigen räumlichen 
Abstand der durch einen intensiv schwarzen Strich markierten Pausen auf 
der Platte waren die Uurven indessen, insoweit sie für unmittelbare Ver- 
gleiche mittels Durchsicht bezw. Projection zweier über einander gelagerter 


DARSTELLUNG UND MESSUNG DER SCHWINGUNGSAMPLITUDEN U.S.w. 25 


Curven dienen sollten, für diese rasch vergleichende Uebersicht immerhin 
erheblich beinträchtigt. 

Zum Theil aus diesem Grunde, zum Theil aber auch, um die Ver- 
suche im Ganzen zu vereinfachen, insbesondere durch Trennung doppelter 
Aufgaben einzelner Vorrichtungen, wurde das dritte Aufnahmeverfahren 
geplant und ausgearbeitet. 

Einzelne Vorzüge dieses letzteren Verfahrens waren: eine senkrechte 
Stellung der schwingenden Stimmgabel symmetrisch zur Gravitation, eine 
vollkommen gleichmässige Triebkraft für die Schlittenbewegung (die Schwer- 
krait), eine abstufbare Dämpfung, eine Gleichmässigkeit der Plattenbewegung 
sowohl räumlich als zeitlich; sodann wirkte bei dem dritten Verfahren die 
bis dahin hinderliche Schwere des Schlittens begünstigend für die Bewegung, 
und endlich war bei demselben die Dauer der Pausen zwischen den Platten- 
bewegungen unabhängig von der durch den Zeitstab vermittelten Contact- 
dauer. 

Das dritte Aufnahmeverfahren bestand der Hauptsache nach darin, der 
Schlittenbahn eine senkrechte Lage zu geben, wobei die Gleitrollen von 
der Last des Schlittens befreit waren und er selber vermittelst eines feinen 
biegsamen Drahtes an der abgestuften Rolle der unten erwähnten Hem- 
mungsvorrichtung aufgehängt war. Ein periodischer Stromnebenschluss an 
dem vorhin erwähnten Zeitstabe löste dann einen kurzen Fall des Schlittens 
um den Betrag eines Zahns der Hemmungsvorrichtung aus. Es fielen somit 
alle Unregelmässigkeiten fort, die bei den anderen Verfahren durch die 
Belastung der kleinen Gleitrollen Seitens des Schlittengewichtes entstehen 
konnten, und trug letzteres nunmehr im Gegentheil dazu bei, die Bewegung 
regelmässiger zu gestalten. Da ferner die Grösse der Bewegungsstrecken 
jetzt durch den Zahnabstand am Sperrrad der Hemmungsvorrichtung bedingt 
wurde, mussten sie schon deswegen viel gleichmässiger ausfallen, als früher. 

Die Hemmungsvorrichtung hatte als wesentliches Princip das des Sperr- 
rades in Uhren, bediente sich aber wegen der weit grösseren Last ausser 
eines einfachen Sperrrades noch einer besonderen Stahlaxe mit wenigen, 
kräftigen, schrägen Zähnen. 

Für die gestellte Aufgabe von dem Universitätsmechaniker Ochmeke 
hergestellt, functionirte dieselbe tadellos. Der Umfang der jedes Mal zu- 
gelassenen Bewegung des Schlittens konnte durch eine Abstufung an der 
Rolle, an welcher der Aufhängungsdraht befestigt wurde, dem Zweck ent- 
sprechend abgeändert werden. 

Verschiedene Geschwindigkeiten des Schlittens unterhalb der Grenze 
des freien Falles liessen sich durch einen Flüssigkeitsdämpfer erzielen. 
Derselbe bestand aus einem mit eng oder weiter zu stellenden Oelinungen 
versehenen Stempel, der in Verbindung mit dem Schlitten stand und sich 


26 L. JacoBson unp W. Cowr: 


durch einen mit Petroleum, Wasser oder verdünntem Glycerin gefüllten 
Cylinder schob. 

Die Geschwindigkeit der photographischen Platte ist nun maassgebend 
für die Gestaltung der aufgenommenen Schwingungen. Bewegt sich der 
Lichtfleck, der sich aus der Kreuzung des Stimmgabel- und des Camera- 
spaltes ergiebt, von der Abscisse rechtwinklig ab, zunächst mit derselben 
Geschwindigkeit, wie die Platte sie hat, so entsteht eine leicht kenntliche 
Sinuscurve, welche die Abseisse im Winkel von 45° schneidet und in an- 
schaulicher Weise die von hier aus abnehmende Geschwindigkeit der Stimm- 
gabelzinken bis zur Umkehr bei der grössten Elongation der Schwingung 
zeigt. Der stumpfe Gipfel der Curve zeigt einen Moment des Verharrens 
in absoluter Ruhe, neben demselben eine allmähliche Zunahme der Be- 
wegung. Bewegt sich die Platte langsamer, so werden die Schwingungen 
steiler (s. Fig. 3) mit mehr oder weniger spitzen Enden, die, photographisch 
stärker ausgeprägt, als Ruhepunkte kenntlich sind. 

Beträgt dagegen die Fortbewegung der Platte während einer Hin- und 
Herschwingung (v. d. = vibration double) nicht mehr als die Breite des 
Cameraspaltes, so werden die abgebildeten Schwingungen nicht von ein- 
ander getrennt abgebildet. Es entsteht vielmehr bei der Fortsetzung der 
Plattenbewegung während des Abklingens der Stimmgabel eine geschlossene 
Figur, deren Ränder eine Öurve dieses Abklingens darbietet, die jedoch aus 
weiter unten zu besprechenden photographischen Gründen nicht ohne 
Weiteres eine Gewähr für vollkommene Treue geben kann. Bedient man 
sich aber einer Geschwindigkeit der Platte, bei der die abgebildeten 
Schwingungen zur Zeit der grössten Elongation ein wenig von einander ge- 
trennt werden, so zeigen sie sich als eng an einander liegende Zickzacklinien, 
die im Verhältniss zum gegenseitigen Abstand meist breit mit stumpfen 
Spitzen enden. Das ganze Bild erscheint sodann als zwei in einander 
greifende Reihen von schmalen Dreiecken mit offener Basis, die nichts von 
ihrer innewohnenden Sinusform verrathen (s. Fig. 4). Sie eignen sich 
indessen zur Messung von Amplituden wie zur Bestimmung der Ausschwin- 
gungscurven von Stimmgabeln, da sich schon auf Abscissenstrecken von 
weniger als 2m ganze Reihen von dicht neben einander liegenden 
Schwingungen photographiren lassen. 

Mit der Aufgabe, einzelne Schwingungen nicht nur von tiefen, sondern 
auch von höheren Stimmgabeln zu photographiren und zu messen, treten 
drei Anforderungen an die linearkinematographische Technik heran: erstens, 
eine Vergrösserung durch mikrophotographische Objective, 
zweitens Herstellung eines condensirten Weisslichtes, drittens die 
Benutzung der lichtempfindlichsten Bromsilbergelatineglas- 
platten. 


DARSTELLUNG UND MESSUNG DER SCHWINGUNGSAMPLITUDEN U. S.w. 27 


Als Lichtquelle kam für uns allein eine elektrische Bogenlampe 
in Frage, welche mit einem Lichtcondensor von weiter Oefinung und 
einem Objectiv verwandt wurde, das einen genügenden Oeffnungswinkel 
besass, um den ganzen Lichtkegel vom Stimmgabelspalt aus ohne schäd- 
liche Lichtzerstreuung aufzunehmen, und ausserdem eine genügend grosse 
Brennweite hatte, um die grössten untersuchten Amplituden abzubilden. 

Wie es sich in unseren Vorversuchen unter Benutzung des ersten der 
drei oben angegebenen Aufnahmeverfahren herausstellte, ist ein Bogenlicht 
mit erosser Flamme bezw. starkem Strom und dieken Kohlen für die 
Mikrophotographie ! deshalb nicht zu gebrauchen, weil der weisse Flammen- 
kern im Krater der positiven Kohle seinen Ort um bedeutende Strecken 
wechselt. Bei einem grossen Gleichstrombogenlicht, bei welchem die obere 
positive Kohle wie üblich 1-5 Mal so dick ist, als die negative, findet häufig 
innerhalb einer Secunde ein Wandern des Flammenkernes um einen grossen 
Bruchtheil eines Centimeters statt. Es wurde in Folge dessen bei dem 
zweiten und dritten Aufnahmeverfahren eine automatische Bogenlampe mit 
dünnen Kohlen verwandt. Zwischen den Enden der dünnen Kohlen ver- 
mindert sich die Flammenkernwanderung auf einige Millimeter. Durch 
ein dunkelblaues oder andersfarbiges Glas als Lichtschirm für das Auge 
ist das Wandern des Flammenkerns auch hier leicht zu sehen. 

Noch einfacher und deutlicher ist die Beobachtung bei einer Projection 
der Flamme und ihres weissen Kerns auf einer hellfarbigen Fläche. 

Der automatischen Lampe diente ein Gleichstrom von 2-2 Ampere, 
der etwa ein Viertel der 110 Volt betragenden Spannung der Centralleitung 
in Anspruch nahm. Das Licht dieser Lampe unter Benutzung von 6 bezw. 
gum dieken Kohlen schien ebenso weiss wie das der grösseren manuell 
regulirbaren Lampe mit 12 Ampere Stromstärke und 13 bezw. 19 “= dieken 
Kohlen; dagegen ergaben 4“ dicke Kohlen ein sehr schwaches Licht und 
ein erschwertes Einstellen des Bildes des kleinen Flammenkerns auf dem 
Stimmgabelspalt. 

Die Condensoren zur Erzielung einer möglichst starken Beleuchtung 
eines weiterhin durch ein Objectiv scharf projieirten Objectes bestehen im 
Allgemeinen aus zwei bezw. drei grossen einfachen Sammellinsen. Bei 
unseren Versuchen wurde ein zweilinsiger Condensor von 17% Brennweite 
und 16% Oefinung verwandt, der sich mit der benutzten Bogenlampe und 
Versuchsanordnung als völlig ausreichend erwies. 

Wo nun grössere Amplituden tiefer Stimmgabeln aufgenommen werden 
sollen, wie das nur mit schwachen Öbjectiven möglich ist, darf man den 


! Vgl. auch Neuhauss, Lehrbuch der Mikrophotographie. 1898. 8.89 und 
C. Kaiserling, Prakticum der wissenschaftlichen Photographie. 1898. 8. 299. 


28 L. Jacogson und W. Cowr: 


Condensor nicht im der für sonstige Projectionszwecke üblichen Entfernung 
von der Lichtquelle aufstellen, "bei welch’ letzterer das austretende Licht 
stark convergirt. Der Condensor muss hier vielmehr entweder näher an 
die Flamme herangerückt, oder soviel abgeblendet werden, dass der aus- 
tretende Lichtkegel kleiner bleibt, als der Oefinungswinkel des benutzten 
Objectives. 

Die von uns benutzten dünnen Kohlen erlaubten die erforderliche 
grössere Annäherung der Flamme an den Condensor, ohne dass dabei ein 
Zerspringen seiner von der Hitze direct getroffenen vorderen Linse zu be- 
fürchten war. Ein weiterer Vortheii entstand hierbei durch die grössere 
Ausnutzung des Bogenlichtes, von welchem ein nicht so geringer Theil wie 
sonst durch den Condensor ging, um sich dann, dem Gesetz der conjugirten 
Foci zu Folge, unter kleinerem Winkel erst in einer grösseren Entfernung 
zu kreuzen. 

Die Länge dieser Strecke im Verhältniss zu der ihr conjugirten be- 
dingte aber erstens eine Vergrösserung des Flammenbildes, zweitens ein 
grösseres Wandern des weissen Flammenrkerns im Bilde und drittens eine 
Verlängerung der von den uncorrieirten Condensorlinsen herrührenden 
Brennstrecke, ferner aber innerhalb dieser ein Auseinanderrücken der in 
einander greifenden Brennstrecken verschiedenfarbiger Lichtstrahlen. 

Ein Mittel, um das Wandern des Flammenkernbildes zu beseitigen 
und in Folge dessen das Licht des Beleuchtungskegels weit besser aus- 
nutzer zu können, das von Einem von uns gleichzeitig zur Pulsphotographie ! 
bei 50facher Linear- bezw. 2500 facher Flächenvergrösserung verwendet 
wurde, kam bei der von uns benutzten grössten etwa 15- bezw. 225 fachen 
Vergrösserung nicht in Betracht. (Dasselbe bestand in einem spitzkelch- 
förmigen Spiegel, dem für die betreffenden Versuche eine zweckentsprechende 
„satenary“-förmige Flächenkrümmung gegeben wurde. — C.) 

Die oben erwähnte Verlängerung der ganzen Brennstrecke ermöglichte 
es ohne besonders darauf hingerichtete Versuche den Punkt grösster 
Dichtigkeit der blauen, photographisch wirksamsten Strahlen im die Nähe 
des Stimmgabelspaltes zu bringen, da sich dieser Punkt zwischen den beiden 
Punkten, wo am Rande des Strahlenbüschels Roth (im convergirenden) bezw. 
Blau (im wiederdivergirenden Lichtkegel) aufleuchtete, befinden musste. 

Die Vergrösserung des Flammenbildes in Folge erösserer Annäherung 
der Lampe an den Condensor wurde bei denjenigen Curvenaufnahmen, wo 
es auf grössere Lichtstärke ankam, wiederum durch eine Zwischenlinse 
von etwa 7°" Brennweite aufgehoben. Eine Erhöhung der Leuchtkraft des 
Bogenlichtes durch vorheriges Erwärmen der negativen Kohle vermittelst 


ı W. Cowl, Dies Archiv. 1900. Physiol. Abthlg. Suppl. S. 331. 


DARSTELLUNG UND MESSUNG DER SCHWINGUNGSAMPLITUDEN UT. S.w. 29 


umgekehrter Stromrichtung zeigte sich als nachtheilig durch die Krater- 
bildung an der nesätiven Kohle und die dadurch bedingte Vermehrung 
der Flammenkernwanderung. Um diese auf das Mindestmaass zu bringen, 
wurde eine häufige Zuspitzung der Kohlen vermittelst besonders dazu her- 
gestellter Schaber vorgenommen. Dieselben bestanden aus je einem Stück 
passender Messingröhre, in welcher vier Stahlbiechstücke rechtwinklig zu 
einander und schräg zur Axe befestigt waren. 

Vermittelst dieser Schaber konnten die Kohlen leicht zugespitzt, ins- 
besondere der sich immer bald wieder bildende Krater an der positiven 
Kohle genügend entfernt werden. Durch die Zuspitzung wurde nicht nur 
der Wanderung des Flammenkernes, sondern auch dem Verschwinden des- 
selben hinter einen dicken Kohlentheil vorgebeugt. Indessen war die 
Zuspitzung bei Aufnahme der Schwingungscurve rasch ausschwingender 
Stimmgabeln nicht nöthig. 

Eine weitere Sicherung gleichmässig einwirkenden Lichtes auf die 
Platte wurde durch eine zwischen Lichteondensor und Stimmgabel conaxial 
verschiebbare Blende erzielt. Dieselbe kam bei dem dritten Aufnahme- 
verfahren in der Weise zur Verwendung, dass mit der Abnahme der Ampli- 
tuden der schwingenden Stimmgabel — die eine entsprechende Verlängerung 
der Expositionszeit jeden Punktes der Schwingungsbahn bedeutete — durch 
Verschiebung der Blende gegen den Condensor ein gewisses Gleichgewicht 
hergestellt wurde. Die Blendenverschiebung fing an, nachdem die grösseren 
Schwingungen aufgezeichnet waren. 

Das mikrophotographische Objectiv musste in einem Theil 
unserer Versuche Schwingungsamplituden von fast 6" Grösse aufnehmen 
und besass demgemäss eine Brennweite von 18" und einen bei dieser 
Brennweite üblichen Oeffnungswinkel von etwa 20 Bogengrad. Um die 
weite Pupille des Objectivs auszunutzen, wurde es an ein einfaches Mikroskop- 
stativ angebracht, das mit langem, weitem Tubus, sowie mit einem Schnecken- 
gange zum Einstellen versehen war. Das Linsensystem war eine besonders 
auf unsere Veranlassung hergestellte Construction der Gebr. Seibert in 
Wetzlar, die mit Rücksicht auf das Ueberwiegen der kurzwelligen „photo- 
graphischen“ Strahlen im elektrischen Bogenlichte ausgeführt und mit zu- 
friedenstellendem Resultate benutzt wurde. 

In den letzten Jahren, zum Theil nach Anfang unserer Versuche, ist 
eine ganze Reihe schwächster mikrophotographischer Objective mit weitem 
Oeffnungswinkel construirt worden, die in ihrem Bau an die Objeetive für 
die Makrophotographie erinnern. Ob dieselben Vortheile für unsere Zwecke 
aufweisen würden, ist von uns nicht zu entscheiden gesucht, da die be- 
nutzte Bogenlampe bei ihrer Aufstellung einen convergirenden Lichtkegel 
lieferte, der innerhalb des Oeffnungswinkels unseres Objectivs lag. Dieser 


30 L. JACcoBSon und W. Cowt: 


Oeffnungswinkel nahm also den zwischen den Spalträndern hindurehtretenden 
Lichtkegel, mithin das geometrische „Lichtbild“ des Spaltes vollständig auf. 

Die Centrirung des Objectivs und beider Lichtspalte in einer optischen 
Axe oeschah mittels des durchgehenden Lichtes der Bogenlampe unter 
Anwendung von zwei punktförmigen Blenden, von denen eine vorn am 
Objective, die andere am hinteren Ende des Mikroskoptubus aufgesetzt 
werden konnte. 

Wie es sich bei den Curvenaufnahmen herausstellte, musste das Bogen- 
licht, die Axen der Condensorlinsen und die Mitte des Flammenkernbildes 
mit möglichster Annäherung in der gemeinsamen optischen Axe liegen, um 
Bilder der Schwingungsbahn mit vollkommen gleicher Schärfe der beiden 
Ränder zu erhalten. Ein Hauptgrund etwa auftretender Unschärfe der 
Schattenränder des Stimmgabelspaltes bezw. der abgebildeten Schwingungs- 
enden lag unzweifelhaft in der mit der Flammenkernwanderung verknüpften 
hin und wieder vorkommenden Ungleichheit des den Spalt durchsetzenden 
Lichtes, sowohl betreffs Farbe als Richtung, und zwar dadurch bedingt, 
dass durch das Wandern des Flammenkerns dessen Bild unsymmetrisch 
auf den Stimmgabelspalt fiel. 

Schon oben (S. 28) ist darauf hingewiesen worden, dass Licht aus 
einer punktförmigen Quelle, durch gebräuchliche Condensorlinsen wieder- 
vereinigt, nicht einen Brennpunkt, sondern eine Brennstrecke aufweist, 
innerhalb deren ganzem Umfange kleinere Brennstrecken verschiedenfarbigen 
Lichtes, in Spectralreihe auf einander folgend, in einander übergreifen. Ein 
jeder Querschnitt in der ganzen Brennstreeke muss in Folge dessen aus 
theils convergirendem, theils divergirendem Lichte von in einander 
übergehenden verschiedenfarbigen Ringen bestehen, welche ausser an der 
Peripherie mehr oder weniger vermischt auf matten Flächen weiss aussehen: 
Trifft nun das Flammenkernbild sehr seitlich auf den Spalt, so muss das 
in ihm von beiden Seiten her sich kreuzende schiefe Licht in den beiden 
Richtungen eine verschiedene Farbe bezw. photographische Intensität be- 
sitzen. Es liegt dann offenbar derselbe Fall vor, wie bei der überaus 
empfindlichen Prüfung mikroskopischer Objective mit einseitig schiefem 
Liehte vermittelst der Abbe’schen Testplatte, die auch im Wesentlichen 
einen Spalt zwischen zwei Rändern äusserst dünnen Metalls darbietet. Bei 
seitlicher Stellung des Flammenkernbildes eines Bogenlichtes liegt allerdings 
die Einseitigkeit nicht so einfach wie hier vor, da eine Farbenverschieden- 
heit im Liehte selbst hinzutritt. Indessen hat eine etwa auftretende Un- 
schärfe an den Spitzen von vergrössert photographirten Stimmgabelschwin- 
gungen auch mechanische und photographische Ursachen. 

Mechanische Momente, die eine Unschärfe des Schwingungsbildes ver- 
schulden können, bestehen für die anfänglichen Schwingungen in der mehr 


DARSTELLUNG UND MESSUNG DER SCHWINGUNGSAMPLITUDEN UT. S.w. 31 


oder weniger einseitigen Wirkung der Tonauslösungsgewalt — die Schwin- 
sungen werden elliptisch — und für die ganze Ausschwingung dann, wenn 
die Schwingungsebene zu der gemeinsamen Ebene der beiden Zinken nicht 
parallel ist. Die physikalisch-photographischen Ursachen einer Unschärfe 
im Schwingungsbilde werden weiter unten an geeigneter Stelle besprochen. 
Es genügt, hier auf einen zu wenig beachteten Umstand betrefis rein 
optischer Unschärfe bei allen Arten von projicirten Bildern hinzuweisen, 
der seine Entstehung mehreren ursächlichen Momenten verdankt. 

Derselbe besteht in der Verschleierung und Verwischung der Umrisse 
in Folge der Zulassung eines Beleuchtungskegels mit grösserem Oeffnungs- 
winkel als demjenigen des benutzten Objectivs. Für die Makroprojeetion 
führte van Monckhoven! denselben auf Lichtzerstreuung in Folge von 
Beugung an Metallrändern zurück, worauf das Auftreten von Doppelrändern 
im Bilde hinweist. Bei der Mikroskopie unter Benutzung von weitwinke- 
ligen Lichtcondensoren ohne gehörige Benutzung der üblichen Irisblenden 
tritt, wie schon Moitessier? hervorhob, der gerügte Bildfehler besonders 
stark auf. 

Die empfindlichste photographische Platte ist diejenige, deren 
Bromsilber quantitativ in reichlichstem Maasse vorhanden ist und qualitativ 
am leichtesten durch Licht verändert wird. Da die Empfindlichkeit für 
Licht bei Platten von derselben Provenienz mit Glasunterlage durchweg 
grösser ist, als bei „Celluloidfilms“ oder „Bromsilberpapier“, so kamen 
für unsere Versuche nur Bromsilberglasplatten in Betracht, die zudem bei 
allen photographischen Processen handlicher und dabei haltbarer sind, als 
die anderen genannten Erzeugnisse. Im Uebrigen eignen sich Original- 
glasbilder von Stimmgabelschwingungen wie von anderen linear kinemato- 
graphirten Gegenständen — die offenbar als Diapositive nicht als 
„Negative“ zu betrachten sind — unmittelbar zu vergrössernder Projection. 

Zum Kriterium des für unsere Versuche geeignetsten Plattenfahrikates, 
von dem die erreichbare photographische Stimmgabeltongrenze schliesslich 
abhängen konnte, wurden verschiedene Erfahrungen des einen von uns 
(Cowl) in Anspruch genommen. Zunächst kamen Vergleiche der Licht- 
empfindlichkeit einer grösseren Reihe verschiedener Plattensorten in Betracht, 
die vor mehreren Jahren einmal zu anderen Zwecken mit Hrn. Dr. Levy- 
Dorn zusammen angestellt wurden. Das Resultat, das nicht als Material 
zu einer selbständigen Veröffentlichung dienen sollte, bestand zum Theil 
darin, dass unter den untersuchten Platten, wie sie damals gerade im 
Handel vorkamen, diejenigen von Schleussner und von noch einer anderen 


! Vgl. D. van Monckhoven, Photographie opties. Aus dem Französischen. 
London 1867. p. 178. 
? Vgl. Neuhauss, a. 2.0. 8. 122. 


3 L. JacoBSOoN unpdp W. Cowe: 


wohl bekannten Quelle die grösste Lichtempfindlichkeit besassen. ° Beide 
Plattensorten zeigten, namentlich im gequollenen feuchten Zustande, eine 
ungewöhnlich dicke, lichtempfindliche Schicht. Die Schleussnerplatte hatte 
ausserdem eine dünne, leicht zu schneidende, allerdines auch leicht zer- 
brechliche Glasunterlage. Eine weitere grössere Erfahrung mit derselben 
bezüglich ihrer Gleichmässigkeit, Haltbarkeit und fehlerfreien Beschaffenheit 
in dem zum vorliegenden Zweck bezogenen Grössenformat von 18 x 24 m 
entschied für die Verwendung der Schleussnerplattee Für die Curvenauf- 
nahmen wurden die Platten in der Grösse von 6 x 24°= benutzt. 

Den oben angeführten Vorzügen von photographischen Glasplatten 
steht ein bekannter Nachtheil gegenüber, welcher, in gewöhnlichen Licht- 
bildern im Allgemeinen unmerklich, zuweilen jedoch die Wiedergabe von 
Schattengrenzen mehr oder weniger beeinträchtigt, insbesondere an Stellen, 
wo Licht und Schatten mit grossem Contrast an einander stossen. That- 
sächlich findet an solchen Rändern bei genügend langer bezw. intensiver 
Exposition ein Uebergreifen der Lichteinwirkung in den Schatten hinein 
statt, und zwar, wie das Bild nach der Entwickelung zeigt, mit ver- 
waschenem Umrisse. Dieser Uebelstand beruht darauf, dass Licht, welches 
die weissliich durchscheinende Bromsilbergelatine durchsetzt hat, von den 
Bromsilbertheilchen in den verschiedensten Richtungen zerstreut, die Rück- 
seite der Platte trifft und hier auf die lichtempfindliche Schicht zurück- 
reflectirt wird. Ist die Glasunterlage dick, so wird der hierdurch verursachte 
Saum an hellen scharfen Grenzen breit und stark, ist sie dünn, dann 
schmal, um bei Aufnahmen auf dünnen „Celluloidfilms“ mit unbewaffnetem 
Auge, und bei solchen auf „Bromsilberpapier“ vollends unsichtbar zu werden. 

Bei der Aufnahme von einzelnen Stimmgabelschwingungen kommt ein 
solches Uebergreiten in Folge der überaus kurzen Exposition der Schwingungs- 
bahn überhaupt nicht in Betracht, zumal da das Licht in der Mikrophoto- 
graphie durch die Projection abgeschwächt wird, statt, wie bei der Makro- 
photographie!, condensirt zu werden. Gleichwohl ist der genannte Bildfehler 
allen linearkinematographischen Aufnahmen principiell schädlich, wo die 
Bewegung der Platte durch Pausen unterbrochen wird und das Licht auch 
während dieser einwirkt. In beträchtlichem Maasse muss das der Fall sein, 
wo das Licht stark ist und die entstehenden Pausenstriche dicht anein- 
anderfallen; denn hierbei kann der Bildfehler bei einer unverkürzten Licht- 
einwirkung während der Pausen, wie auch ein Probeversuch zeigte, dazu 
beitragen, das ganze Bewegungsbild zu verwischen. 


‘ Spricht man von Makrophotographie im Gegensatz zu Mikrophotographie, so 
erscheint als Grenze zwischen beiden die Projeetion in natürlicher Grösse. Ebenso wie 
bei der Mikrophotographie eine Vergrösserung, findet bei der Makrophotographie eine 
Verkleinerung im Bilde statt. 


DARSTELLUNG UND MESSUNG DER SCHWINGUNGSAMPLITUDEN U. Ss. w. 33 


Ein zweiter principieller Bildfehler, der das Gleiche zur Folge haben 
kann, besteht in der bei intensiver Beleuchtung stark auftretenden Licht- 
beugung an den Rändern eines Spaltes, hier des Stimmgabelspaltes. Hier- 
durch entstand ein Beugungsbild des Spaltes als ein breites Band mit 
hellem, scharfem Rand um das noch weit hellere, schmale dioptrische Spalt- 
bild. Durch weiter unten beschriebene Vorkehrungen wurde dieser Fehler 
unschädlich gemacht und sogar nützlich. 

Die verschiedenen Erscheinungen, welche die beiden besprochenen Arten 
von Bildfehlern ausmachen, werden zusammen als „Lichthöfe“ bezeichnet. 
Die hellen Einzelringe, die um kleine Flammen photographisch abgebildet 
werden, scheinen aber noch nicht auf Lichtbeugung zurückgeführt worden 
zu sein, obgleich sie offenbar daher rühren. 

Das Mittel, eine Rückwirkung des Lichtes in der Platte zu verhindern, 
besteht bekanntlich in einer Schicht nichtreflectirender Substanz hinter dem 
hochempfindlichen Bromsilber, die das Licht absorbirt. Einfacher ist die 
Bestreichung der Hinterfläche mit einem rothgefärbten alkoholischen Seifen- 
brei oder das dichte Auflegen von nassem, schwarzem Papier. Bei unseren 
Versuchen, in denen ein Ueberfluss von Licht nur während der Pausen in 
der Schlittenbewegung die Platte treffen konnte, wurde durch einen elektro- 
magnetisch bewegten Lichtschirm das Licht fast die ganze Pause hindurch 
abgeblendet. Da bei einigen darauf bezüglichen Versuchen die Anwendung 
eines der oben angegebenen Mittel keinerlei Verbesserung der Aufnahmen 
zur Folge hatte, blieb es ‚ba der elektromagnetisch-mechanischen Vor- 
riehtung. 

Diese bestand in dem dem Telephon nachgebildeten, mit elektro- 
magnetisch bewegter, hier, streifenförmig gestalteter Membran versehenen 
Kronecker’schen Signal!, an dessen Schreibhebel eine schwarze Papier- 
scheibe angebracht war, welche, solange ein Strom durch den Elektro- 
magneten des Signals hindurchging, den Stimmgabelspalt aufdeckte. Dieser 
ebenso wie der Contact am Zeitstabe in Nebenschluss zum Hauptstromkreise 
geschaltete Lichtverschluss wurde in der Nähe des Stimmgabelspaltes auf- 
gestellt. 

Es markirten sich sodann zweckmässiger Weise sowohl die Pausen 
wie die Bewegungszeiten auf der Platte. Bei dem zweiten Aufnahme- 
verfahren (s. 8.20 u. 22) deckte der lichtabblendende Schirm am Ver- 
schlussapparat bei Stromschluss bezw. -Oeffnung den Stimmgabelspalt weit 
rascher auf bezw. zu, als sich der Schlitten sammt Platte in Folge ihrer 
weit grösseren Reibung und Trägheit von der Stelle bewegen konnten. Im 


ı Vgl. H. Kronecker, Ueber einige Apparate u.s. w. Zeitschrift für Instru- 


mentenkunde. 1889. 
Archiv f. A. u. Ph. 1903. Physiol. Abthlg. 3 


34 L. Jacogson und W. Cowr: 


dritten Verfahren war die Dauer der Aufdeckung des Stimmgabelspaltes 
durch den Schirm zwar ebenso wie im zweiten von der Dauer des Neben- 
schlusses am Zeitstabe abhängig, doch wurde diese Dauer zur Sicherung 
des Betriebes der Hemmungsvorrichtung verlängert. Die jedesmalige Fall- 


B 
| 
? 
8 
F 
; 
: 
- 


Fig. 2. 


DARSTELLUNG UND MESSUNG DER SCHWINGUNGSAMPLITUDEN U,S.w. 35 


dauer der Platte war hier ausserdem, absolut wie relativ genommen, unab- 
hängig von der Dauer des Nebenschlusses. Bei beiden Aufnahmeverfahren 
schrieben sich also zahlreiche Stimmgabelschwingungen auf derselben Ordinate 
während eines kleinen Bruchtheiles einer Secunde am Anfange und Ende 
jeder Pause auf. Dementsprechend erschienen im entwickelten Bilde (siehe 
Figg. 4 bis 7) abwechselnd schwarze Striche und in den dazwischen liegenden 
Abseissenstrecken weniger schwarz oder nur grau durchscheinende einzelne 
Schwingungen. Bei den Curvenaufnahmen der Schwingungen der Stimm- 


| 


a | 


| 


* 
+ 
re 
= 
# 
= 
we 
er 
= 
—a 
2 
= 
= 
u. 2 
> 
Zn 
oo 
=T- 


lim 


Fig. 6. Fig. 7. 


gabeln mit 256 bezw. 512 v. d. pro Secunde (s. Figg. 6 u. 7) vermittelst 
weit stärkerer Vergrösserung bezw. abgeschwächten Lichtes konnte dieses 
während der ganzen Pause auf die Platte fallen, ohne eine Verschleierung 
des Bildes der Einzelschwingungen zu verursachen. 

Die erwähnten schwarzen Striche, die in der Folge „Pausenstriche“ 
genannt werden, bestanden je aus einem breiteren und schwärzeren Strich, 
an welchen sich zu beiden Seiten zwei schmälere, mehr oder minder zarte 
Fortsätze anschlossen. 

Der mittlere Theil entstand durch Superposition einzelner Schwingungen 
während der Zeit, wo der Lichtverschluss schon vor dem Stimmgabelspalt 


2% 
oO 


36 L. JACOoBSOoN unp W. Cowr: 


fortgeräumt, die photographische Platte aber noch in Ruhe war. Die seit- 
lichen Fortsätze entstanden durch das Beugungsbild (s. S. 33) und durch 
diffuses Licht, zum Theil wohl ganz kurzwellige Strahlen von der Bogen- 
lampe. 

Waren die Fortsätze der Pausenstriche sehr zart angedeutet, so zeigten 
sich die redueirten Silbertheilchen, aus denen sie bestanden, bei schräg 
durchgehendem Licht oft weiss bezw. metallisch glänzend. Ein hell- 
weisses Aussehen hatte das ganze Silberbild bei intensivem, 
ganz schräg auffallendem Lichte. Bei genügend starker Lupenver- 
grösserung sah man im abgebildeten Schatten des Schwingungsbildes Licht 
zwischen den einzelnen Silberkügelchen hindurchtreten. 

Bei constanter Dauer der Pausen und der Bewegungszeiten gaben die 
Anzahl der Pausenstriche auf einer Platte von den grössten bis zu den 
kleinsten mikroskopisch wahrnehmbaren Schwingungen die optische Aus- 
schwingungszeit unter den betreffenden Bedingungen der Tonauslösung und 
der Befestigung der Gabel an. 

Es dienten ferner die Pausenstriche als Maass der photographischen 
Beschaffenheit des Bildes, indem ihre Längen im Vergleiche mit den Am- 
plituden der nebenverzeichneten Schwingungen die Grösse der bei super- 
ponirten Schwingungen verursachten, vorhin erläuterten photographischen 
Fehler gut wahrnehmbar und messbar machten. 

Die Anforderung, eine grössere Anzahl Schwingungen, von einander 
getrennt, auf jedem Abschnitt der Abscisse abzubilden, bedingte einen mög- 
lichst schmalen Stimmgabelspalt. Damit derselbe in seiner ganzen 
Längenausdehnung gleichmässig breit sei, musste er auch ganz gerade, gerade 
bleibende und nicht oxydirende, bezw. staubfrei bleibende Ränder haben. 
Allen diesen Erfordernissen genügten am besten zwei im Abstande von 
0.014 bezw. 0.0177 == neben einander gespannte, auf den Rändern eines 
breiteren Spaltes in einem kleinen quadratischen Stück dünnsten Aluminium- 
bleches aufgeklebte Stücke von feinster, nichtaufgerollter Silberlitze. Die 
dünnen Ränder der Litze verminderten auch die Lichtbeugung. 

Das Curvenbild der Ausschwingung von Stimmgabeln, das durch 
die Spitzen von einzelnen, dicht neben einander photographirten Schwingungen 
geboten wird, verdankt im Wesentlichen seine Treue dem günstigen Um- 
stande, dass bei der grössten Elongation im Moment der Umkehr die Zinken- 
enden einen Augenblick in Ruhe verharren. Sie bewegen sich auch mit 
grosser Verlangsamung bezw. langsamem Anstiege ihrer Geschwindigkeit in 
der Nähe dieser labilen Gleichgewichtslage, und zwar etwa 66 Mal langsamer 
als beim Durchgange der Ruhestellung des stabilen Gleichgewichtes. 

Da nun ein Moment der Ruhe gegenüber der Bewegung eine Ver- 
längerung der Lichteinwirkung bedeutet, so muss in allen Fällen, wo das 


DARSTELLUNG UND MESSUNG DER SCHWINGUNGSAMPLITUDEN U. S. W. 87 


Licht überhaupt ausreicht, um ein Bild der Schwingungen zu geben, der 
photographische Eindruck am stärksten in den Punkten der grössten Elon- 
gation sein, wie sich das in allen unseren Aufnahmen bei den grössten 
Amplituden zeigte. 

Ein weiterer Umstand, der die photographische Einwirkung an den 
Schwingungsenden erhöhte bezw. verdoppelte, war gleichfalls in allen Curven, 
mit Ausnahme derjenigen wenigen, zu besonderen Zwecken in die Länge 
gezogenen, eine Sinusform deutlich aufweisenden, vorhanden, nämlich die 
bei Schwingungen, welche mit ganz geringfügigem Umkehrwinkel auf- 
genommen wurden, in Folge der hier in Betracht kommenden Breite des 
Stimmgabelspaltes bedingte Uebereinanderlagerung der Schwingungs- 
bahn an den Umkehrenden (s. Figg. 2 und 4 bis 6). 

Es müssten also im Ganzen die Umkehrenden der abgebildeten 
Schwingungen photographisch weit stärker ausgeprägt sein, als die zwischen 
ihnen liegende Schwingungsbahn, und das war auch thatsächlich in den 
Curven der Fall (s. Figg. 3 bis 7), da, wie schon oben erwähnt, die Ex- 
positionsdauer der Einzelschwingungen durchweg eine sehr kurze war, die 
im Bilde viele Abstufungen des Grau, nicht aber ein lichtundurchlässiges 
Schwarz bedingten. 

Die Exposition an der äussersten Spitze der Schwingung (55, in 
Fig. 2) dauert offenbar nur so lange, wie die Ruhe bei der grössten Elon- 
gation der schwingenden Zinke. 

Von der Linie 55, einwärts kommt die Expositionsdauer während der 
Bewegung der Zinke hinzu und zwar tritt in dem Viereck dd, aa, zu 
der Exposition während der Ruhe noch diejenige während der Bewegung 
von aa, bis 55, und umgekehrt hinzu in einem von 5d, bis aa, zu- 
nehmenden Maasse. 

Tritt nun an dem Schwingungsbilde eine Unschärfe an den Enden 
auf, die nach Ausschluss von mechanischen bezw. optischen Momenten als 
eine ursächlich photographische betrachtet werden muss, so kann dieselbe 
an der sich abstufenden Exposition liegen. Diese Exposition ist etwa 
2x 66 Mal grösser in Punkt a als in der Mitte der Schwingungsbahn, 
da eine Ueberlagerung bezw. Doppelexposition im ganzen Bereich des Vier- 
ecks aa, bb, stattfindet (s. Fig. 2). In Folge dessen kann eine fehlende 
Abbildung an den Schwingungsenden, also bei 5d,, nur !/,;, der ganzen 
Spaltbildbreite «5 betragen, wenn in der Mitte der Schwingungsbahn ein 
ebenso grosses Stück nicht zur Abbildung gelangt ist. Da die Breite des 
Stimmgabelspaltbildes 0-1 bis 0-3 "m betrug, so handelte es sich höchstens 
um den hier unmessbaren Werth von 0.0023", Eine merkliche Un- 
schärfe in den Curvenaufnahmen kann hierauf nicht beruhen und, wo 
solche in unseren Aufnahmen vorkam, war diese Möglichkeit dadurch aus- 


38 L. JaAcoBsSoNn unp W. Cowr: 


geschlossen, dass die Amplituden der einzeln und der superponirt abgebildeten 
Schwingungen bei richtiger Exposition gleich lang ausfielen. 

Die superponirt abgebildeten Schwingungen gaben auch ein Vergleichs- 
maass ab, sowohl während der Pausen als auch, in geringer Zahl super- 
ponirt, dann, wenn der am Draht aufgehängte Schlitten bei der jedesmaligen 
Hemmung der Fallbewegung eine kleine hüpfende Bewegung machte, wie 
das oft geschah. Zeigten sich Ungleichheiten zwischen den abgebildeten 
Amplituden einzelner und denen superponirter Schwingungen, so waren sie, 
absolut wie relativ, stets viel beträchtlicher bei den ganz kleinen Amplituden 
an dem asympiotischen Curvenende, wie bei den grösseren Amplituden. 
Solehe Unterschiede, wenn vorhanden, wuchsen in der That allmählich mit 
dem Kleinerwerden der Amplituden, d. h. mit der Verlängerung der Ex- 
positionszeitdauer an (s. Fig. 7). 

Es stellten sich diese Unterschiede zwischen der Länge der einzelnen 
und der superponirten Schwingungen fast ausschliesslich bei dem dritten 
Aufnahmeverfahren (s. S. 21 u. 25) heraus, bei welchem die Abblendung des 
Lichtes während der Pausen dort fortfallen konnte, wo für höhere Stimm- 
gabeln eine 15fache Linearvergrösserung, gleich einer 225 fachen Flächen- 
vergrösserung bezw. Lichtabschwächung, statt der für tiefere Gabeln be- 
nutzten Öfachen Linearvergrösserung bezw. 25fach abgeschwächten Belich- 
tung zur Verwendung kam. Im Anfangstheil der Curven waren solche 
Unterschiede nie vorhanden. Hier bildeten sich oft nur die Schwingungs- 
enden ab!, sowohl von der tiefsten untersuchten Stimmgabel von 120 v. s. 
bei bis 30 "m abgebildeten Anfangsamplituden, als auch von derjenigen mit 
1024 v. s. bei bis 17m abgebildeten Amplituden. 

Da nun bei einer Gabel von 512 v.d. oder 1024 v. s., bei einer Pause 
zwischen den einzelnen Plattenbewegungen von rund einer Secunde und 
bei Aufnahme von 24 einfachen Schwingungen zwischen den Pausen 1000 
‘einfache Schwirgungen in dem Pausenstrich superponirt sein müssen, so 
beweist die gleiche Länge der einzeln und der superponirt abgebildeten 
Schwingungen, dass eine 1000 fache Expositionsdauer keine Vergrösserung 
des photographirten Bildes bedingte. Da nun ferner ein Unterschied in 
der Länge der einzelnen und der superponirten Schwingungen, wenn nicht 
weiterhin, so doch immer noch bei solchen ausblieb, welche 5 Mal kleiner 
waren als die vorhin erwähnten initialen Schwingungen, so ergiebt sich 
daraus, dass auch das 5000fache der möglichst kürzesten Exposi- 


" Die Entwickelung der Bilder geschah langsam mit frischer Pyrogallollösung 
und wenig Alkali bei einem Zusatz von 0-005 &'® Bromkalium pro 100 °® Lösung und 
wurde bei allen Aufnahmen, wo das Licht weniger stark eingewirkt hatte, fortgesetzt, 
bis ein eben sichtbarer „Schleier“ an der Platte erschien. 


DARSTELLUNG UND MESSUNG DER SCHWINGUNGSAMPLITUDEN U. S. W. 39 


tionsdauer noch keinen photographischen Bild- bezw. Mess- 
fehler bedingt. 

Diese Thatsache steht im Uebrigen in gutem Einklang zu dem unter 
ganz anderen Bedingungen erzielten Ergebniss eines von v. Hübl angeführten 
Versuches !, wonach ein Unterschied von 1 zu 100 in der Expositionsdauer 
bei der in photographisch üblicher Weise erfolgten Aufnahme eines land- 
schaftlichen Gegenstandes die Beschaffenheit des sachgemäss entwickelten 
Bildes nicht verschieden zu gestalten vermag. In demselben Sinne spricht 
auch der von A. Meydenbauer? geführte Nachweis, dass das lichtempfind- 
liche Bromsilber der photographischen Platte während der üblichen Auf- 
nahme bei reichlicher Belichtung nicht, wie bis dahin angenommen wurde, 
proportional der Zeit (bezw. der auf dasselbe einwirkenden Lichtmenge) photo- 
graphisch verändert wird, da, auf „ausexponirten“ Bildern, wo namentlich 
in Folge „weitwinkliger‘“ Objectivconstruction ein überaus grosser Unter- 
schied (z. B. rechnerisch wie 1-00:0-11 bei einem Oefinungswinkel von 
110°) in der auf die Flächeneinheit der Platte auffallenden Lichtmenge 
zwischen Mitte und Peripherie vorhanden ist, oft ein völliger Ausgleich in 
der Lichteinwirkung bezw. in der richtigen Wiedergabe von Licht und 
Schatten im Bilde stattfindet. 


Die oben festgestellte minimale Ausbreitung an contrastreichen Rändern 
in Bildern, welche weniger überexponirt werden als nöthig, um eine merk- 
liche Rückwirkung des durch die Glasunterlage reflectirten Lichtes hervor- 
zurufen, zeigen nicht verwaschene, sondern scharf abgebildete Grenzen. Eine 
Liehthofbildung im gewöhnlichen Sinne ist also hierfür nicht verantwortlich. 
Ungezwungen dagegen ist ein ausreichender Grund für diese Erscheinung 
darin zu finden, dass ebenso wie die weisslichen Kügelchen des Bromsilbers 
Licht durch die ganze Dicke der äusserst dicht besäten Gelatineschicht 
im Ziekzack hindurch reflectiren, sie dasselbe auch seitlich in die Nachbar- 
schaft hinein werfen. Hierfür spricht auch das schwarze Aussehen des 
reducirten Silbers, aus dem das Bild besteht; denn in Anbetracht des oben 
angeführten weissen Aussehens bei sehr schiefem Licht dürfte das übliche 
Schwarz darauf beruhen, dass jede mikroskopische Silberkugel ebenso wie 
eine polirte makroskopische in einseitig auffallendem Licht aufgestellt, ausser 
an den verkleinerten Reflexen von Lichtquellen dunkel erscheint. Dass 
solche Reflexe auch in der Gelatinematrix am Negativbilde zur Geltung 
kommen, wird durch die eben erwähnte Beobachtung gezeigt und findet 


" A.v. Hubl, Ueber die Entwickelung der photographischen Bromsilber-Gelatine- 
platte bei zweifelhaft richtiger Exposition. Halle 1900. 

” A. Meydenbauer, Sitzungsbericht der freien photographischen Vereinigung 
zu Berlin. Photographische Rundschau. April 1901. 


40 L. JacoBson unp W. Cowt: 


eine weitere Bestätigung in der mehr oder weniger bekannten Thatsache, 
dass bei schräg auffallendem Licht ein Negativbild auf Glas, über eine 
schwarze Unterlage gehalten, als ein schwaches Positivbild erscheint. 


IV. Zur Messung photographisch aufgenommener Linearwerthe. 


' Die Messung eines photographischen Bildes geschieht, wenn es sich 
um grosse Genauigkeit handelt, am besten an den ursprünglichen Auf- 
nahmen selbst, da jede Copirung kleine Fehler verursachen kann. Auf 
Glasplatten hergestellte Bilder eignen sich für Messzwecke ganz besonders, 
da sie sich nicht wie die auf „Films“ oder Papier aufgenommenen, in un- 
bekannter Weise durch Verziehen verändern können, und ferner deshalb, 
weil sie durchsichtig sind und sich daher für die Diapositivprojection, wie 
auch für die mikroskopische Beobachtung gut verwenden lassen. Bei ersterer 
können die Bilder je nach der Stärke des benutzten Lichtes mehr oder 
minder stark vergrössert werden, bei letzterer lassen sie sich, wenn man 
das einfache Mikroskop oder eine starke Uhrmacherlupe verwendet, rasch 
und leicht übersehen und bei Benutzung besonders fein getheilter Maass- 
stäbe auch messen. Zur Projection genügt bei einer Linearvergrösserung 
bis zum 20fachen eine Lichtquelle von mässiger Intensität. Bei unseren 
Messungen bedienten wir uns des im Abschnitt III näher beschriebenen 
Bogenlichtes mit dünnen Kohlen und schwachem Strom nebst einer Camera. 

Der Lichteondensor darf nicht klein genommen werden, da von seiner 
Oeffnung die verwendete Lichtmenge direct abhängig ist; dagegen kann das 
Projectionsobjectiv ein einfaches, achromatisches sein, imdem das Licht bei 
der Diapositivprojeetion fast nur mit der Winkelbreite der Lichtquelle und 
der sphärischen Aberration des Lichteondensors, also doch wenig, von der 
einmal gegebenen Homocentricität abweicht. Das Objectiv soll innerhalb des 
convergirenden Beleuchtungskegels des Condensors aufgestellt werden und 
zur Einstellung eine Triebwelle oder einen Schiebtubus besitzen. Für Mess- 
zwecke genügt eine Brennweite von 15 bis 20°® und eine Oeffnung von 
4 bis 6%. Es lassen sich die erzielbaren Vergrösserungen und die wech- 
selnden Abstände zwischen Bildplatte, Objectiv und. Projeetionsschirm wie 
die Verhältnisse der eigentlichen Hauptprojection, welche — allerdings in 
grober Weise — schon durch das vorzugsweise punktförmige Licht und die 
„Beleuchtungslinsen“ geschieht, nach dem Gesetz der conjugirten Brenn- 
weiten leicht im Voraus ermitteln. 

Genau verfährt man dabei, wenn zunächst die „Linsendicke“ der 
Systeme ausser Acht bleibt, die nachher bestimmt und hinzugenommen 


nn nn nn 1 en 


DARSTELLUNG UND MESSUNG DER SCHWINGUNGSAMPLITUDEN U.S.w. 41 


werden kann, kurz gesagt, folgendermaassen: Zuerst bestimmt man die 
Hauptbrennweite des Condensors wie des Objectivs durch Abmessung der 
Strecke vom Hauptbrennpunkt bis zur „Doppelbrennweite“, und berechnet 
dann die Lage des je zu bestimmenden conjugirten Brennpunktes nach dem 
auch für negative Werthe, d. h. für virtuelle Brennpunkte, ganz allgemein 
gültigen Ausdruck 0:#= F:b, wo die Strecke zu einer Seite des Systems 
vom Hauptbrennpunkt bis zum Object oder der Flamme o, ebenso zur 
anderen Seite vom Hauptbrennpunkt bis zum projieirten Bild der Flamme 
bezw. des Objectes 5 und # die Brennweite des Systems bedeuten. 

Ein besonderer Vortheil der Messung mittels der Projection auf einem 
Schirm besteht darin, dass man hierbei mit grosser Genauigkeit die käuf- 
lichen Maassstäbe (z. B. „Papiermaassstäbe“) verwenden kann. Ist man aus 
irgend einem Grunde in der Vergrösserung beschränkt, so lassen sich mit 
fast ebenso grosser Genauigkeit in halbe Millimeter getheilte Maassstäbe 
auf weissem Celluloid benutzen. Dass alle Messungen bei möglichstem Aus- 
schluss von unnöthigem Seitenlicht am genauesten ausfallen, braucht nicht 
besonders hervorgehoben zu werden. Bei der mikroskopischen Messung dürfen 
Vergrösserungen über das 16fache hinaus nicht angewandt werden, weil das 
Korn „hochempfindlicher‘‘ Platten sonst die Messung beeinträchtigt. Besser 


ist es noch, nicht über eine 8- bis 1Ofache Vergrösserung hinauszugehen. 


Bei dieser kann man für gröbere Messungen die oben erwähnten Celluloid- 
maassstäbe benutzen, welche bei reflectirtem Licht angesehen werden, während 
die untergelegte Platte bei durchfallendem Licht beobachtet wird. Ist eine 
grössere Genauigkeit erforderlich, so fehlt es an dazu geeigneten Maass- 
stäben, da die käuflichen Objectivmikrometer für stärkere Vergrösserungen 
bestimmt sind. 

Das zusammengesetzte Mikroskop ist für eine 8- bis 1Ofache Ver- 
grösserung selten ausgerüstet und weist fast stets ein für die Messung wie 
für die Uebersicht des Bildes viel zu kleines Gesichtsfeld auf. Dieses wird 
hauptsächlich durch die kleinen Durchmesser der Oculare bezw. des Mikro- 
skoptubus bedinst und fällt beim einfachen Mikroskop fort. 

Bei 12- bis 16facher, unter Umständen auch bei 8- bis 10facher Ver- 
grösserung lassen sich die Seibert’schen Mikroskopstative mit weitem 
Tubus nebst periskopischem bezw. Irisocular und noch vortheilhafter Stative 
verwenden, welche für die Mikrophotographie mit ungewöhnlich kurzem 
Tubus gebaut worden sind. 


” 


Odorimetrie von procentischen Lösungen 
und von Systemen im heterogenen Gleichgewicht. 


Von 


H. Zwaärdemaker 
in Utrecht. 


Bei der weiteren Verfolgung der interessanten 'T'hatsache der relativ 
verschiedenen Riechkraft eines Körpers in Lösungen differenter Concen- 
tration! habe ich in erster Linie nach Vereinfachung der Technik gestrebt, 
damit schnell und doch sicher verschieden starke Lösungen charakteristischer 
chemischer Körper in ihrer Riechstärke bestimmt werden konnten. Die 
Cylinder aus porösem Porzellan, womit die Riechmesser bis jetzt armirt 
waren und die zwar sehr haltbar sind, jedoch ziemlich viel Zeit zu ihrer 
Imbibirung mit Riechstofflösung erfordern?, wurden mit Cylindern aus ge- 
wöhnlichem Filtrirpapier vertauscht. Ihre Herstellung findet in folgender 
Weise statt. 

Es wird ein kleines Cylinderchen aus Nickel- oder Kupfergaze von 
genau 10° Länge und 0-.8°m Weite angefertigt. Die Nickelgaze hat eine 
Dicke von 0-5", die Kupfergaze von 0-2 wm. (Der Draht, aus welchem 
sie gewebt, ist dann 0-25 bezw. 0.1 mm dick.) Nach Oberfläche gerechnet 
besitzen beide Sorten ungefähr ebenso viel Maschenweite als Gitterbreite. 
(Mit dem Ocularmikrometer ausgemessen fand ich das Verhältniss der 
offenen und geschlossenen Raumtheile für die Nickelgaze als 10:9, für die 
Kupfergaze als 4:5.) Um dieses Cylinderchen wird dann auf der Dreh- 
bank gewöhnliches Filtrirpapier gewickelt. Der Arbeiter soll dabei saubere 
Hände haben und überdies noch Sorge tragen, das Papier selber nicht zu 
berühren, sondern nur mittels eines anderen reinen Papieres festzuhalten. 
Die Umwickelung finde mehrschichtig statt, bis man ein massives Papier- 


! Dies Archiv. 1900. Physiol. Abthlg. 8. 416. 
” Physiologie des Geruches. Leipzig 1895. S. 104. 


H. ZWAARDEMAKER: ÜDORIMETRIE VON PROCENTISCHEN LÖSUNGEN. 43 


cylinderchen von 2!/, m Wanddicke erhalten hat. Das soweit fertige 
Papiercylinderchen mit seiner Gazestütze nehme dann im Olfactometer die 
Stelle des früheren porösen Porzellanrohres ein. Es umschliesse das mit 
dem Geruchsorgan in Verbindung zu setzende Innenröhrchen, und sei selbes 
von einem Flüssigkeitsmantel umgeben. 

Das Ganze kann, über das Innenröhrchen gleitend, vor- und zurück- 
geschoben werden. Am Laboratorium-Riechmesser dient ein Schirm zur 
Abhaltung eines möglicherweise störenden Geruches und ein Geleise zur 
bequemeren Verschiebung. 

Die Vortheile der Neuerung sind: 

1. die absolute Geruchlosigkeit des Papieres, 

2. die unmittelbare Verwendbarkeit ohne irgend welche Vorbereitung, 

3. die rasche Imbibitionsfähigkeit des Filtrirpapieres. 

Gegenüber diesen Vortheilen stehen natürlich auch Nachtheile, wie 
z.B. die geringe Haltbarkeit des Papiercylinders mit Porzellan verglichen. 
Jedoch einige Wochen halten sie es leicht aus und zu odorimetrischen 
Zwecken genügt dies vollkommen.! 

In Fig. 1 sind die drei Stadien der Anfertigung eines odorimetrischen 
Cylinders neben einander gestellt. Bei a das Cylinderchen aus Metall- 
gaze, bei d der Papiercylinder und bei c der vollständige Magazincylinder. 
Letzterer bleibe immer genau horizontal aufgestellt. Zu diesem Zwecke ist 
der Fuss des Laboratorium-Riechmessers mit Stellschraube versehen; in der 
Zwischenzeit bei Nichtbenutzung kann der Cylinder von ihm getrennt und 
auf eine kleine, ebenfalls mit Stellschrauben versehene Affute bei Seite ge- 
stellt werden. Die immer zurückbleibende Luftblase dient als Libelle In 
Fig. 1 ist noch ein kleines communicirendes Rohr dargestellt worden, das, 
gewöhnlich fortgenommen, dem Leser hier zeigt, welchem geringen Filtra- 
tionsdruck die ganz allmählich durchsickernde Flüssigkeit ausgesetzt ist. 
Derselbe ist nahezu Null, denn das Niveau im äusseren communieirenden 
Rohr ist jenem des unteren Lumenrandes gleich. In den im Flüssigkeits- 
mantel sich bildenden Luftblasen muss also ein geringerer Druck herrschen 
als eine Atmosphäre, und zwar ein so viel geringerer Druck, als die Höhe 
der sich zwischen unterem Lumenrand und Luftblase befindenden Flüssig- 
keitssäule angiebt. 

Um einen solchen Magazineylinder mit riechender Flüssigkeit zu füllen, 
wird er vertical gestellt und die Schraube der oberen Eingiessöffnung fort- 


! Für klinische Riechmesser gebe ich den Cylindern aus porösem Porzellan 
(t’Hooft und Labouchere, Delft) entschieden den Vorzug. Mit geeigneter glyce- 
rinöser oder paraffinöser, möglichst concentrirter Riechstofflösung imbibirt, halten sie 
sich sozusagen unbeschränkte Zeit, jedenfalls Monate lang, in unveränderlicher Reiz- 
stärke. (Vgl. dies Archiv. 1900. Physiol. Abthlg. S. 419.) 


44 H. ZWAARDEMAKER: 


genommen, dann giesst man die Flüssigkeit aus einer Pipette schnell hinein. 
Während man damit beschäftigt ist, filtrirt die Flüssigkeit reichlich ab. 
Sobald die Eingussöffnung aber verschlossen wird, beschränkt sich der 
weitere Verlust auf ein ganz unbedeutendes Quantum, das gerade hinreicht, 
um die Maschenräume der Gazestütze und die Aussenwand des hinein- 
gesteckten Innenröhrchens zu befeuchten. Offenbar filtrirt die Flüssigkeit 
nur so lange ab, bis die über der Flüssigkeit zurückgebliebene Luft den 
soeben genannten Druckwerth angenommen hat. Es ist also vortheilhaft, 


Fig. 1. 


den Mantel nahezu vollständig zu füllen, denn dann wird das Gleichgewicht 
zwischen dem atmosphärischen Druck aussen und dem hydrostatischen 
Druck innen sich rasch hergestellt haben. Eine grössere Luftblase lässt weit 
mehr Flüssigkeit abfliessen, bis sie sich so weit vergrössert hat, dass die 
erforderliche Druckerniedrigung erreicht ist. 

Auf die Dauer wird sich etwas mehr Luft ansammeln, und zwar in 
Folge eines sehr geringen Flüssigkeitsverlustes, der in folgender Weise zu 
Stande kommt. Die Fig. 1 giebt den Manometerstand bei vollständig vor- 
geschobenem Cylinder an. Schiebt man den Cylinder jedoch so weit zurück, 
dass zwischen Nickelgaze und Innenröhrchen sich eine capillare Flüssigkeits- 
schicht bilden kann, so unterhält die capillare Wirkung eine Saugung von 


ÜDORIMETRIE VON PROCENTISCHEN LÖSUNGEN. 45 


ungefähr 1°“, und tritt dadurch ein klein wenig Flüssigkeit, die beim 
späteren Vorschieben des Uylinders theilweise der Verdampfung anheim- 
fällt, aus. 

In den ersten Augenblicken der Füllung kommt es vor, wenigstens 
bei einzelnen Riechmessern, dass das Papiercylinderchen und seine Gaze- 
stütze innerlich zwar feucht, aber nicht riechend sind.” Wenn man aber 
einige Stunden wartet, bis die vollständige Imbibirung erfolgt ist, erscheint 
der Duft in voller und später auch nicht mehr zunehmender Intensität. 
Dies ist übrigens auch in Uebereinstimmung mit der alltäglichen Erfahrung 
der Chemiker, dass die meisten der hier in Betracht kommenden Lösungen 
durch Filtrirpapier unverändert filtriren. 


$1. Orientirende Methode. 


Nach vollständiger Imbibirung des Filtrirpapieres kann ohne Weiteres 
eine Messung der Riechkraft stattfinden. Man schiebe den Magazincylinder 
ein wenig über das Riechrohr vor, so dass ein Theil der Innenfläche un- 
bedeckt bleibt, dann aspirire man rasch und merke sich, ob man eine 
Geruchsempfindung bekommt oder nicht. Im positiven Falie frage man 
sich, ob es möglich sei, die Qualität des Riechstoffes anzugeben; wenn 
nicht, so schiebe man weiter aus, bis man eine Empfindung wahrnimmt. 
In dieser Weise findet der Beobachter seine Erkennungsschwelle für die 
betreffende Lösung. Umgekehrt kann er aus der für diese Erkennungs- 
schwelle benöthigten Cylinderlänge die relative Riechstärke der Lösung ab- 
leiten, wie wir unten noch näher ausführen wollen. 

Diese Aspirationen sollen durch die vordere Hälfte des Nasenloches 
stattfinden, weil die aus der Innenröhre kommende Luft bekanntlich sonst 
nieht in die Riechbahn gelangt. Der hintere Theil des Nasenloches wird 
jedoch nicht verschlossen, damit das Riechen unter natürlichen Verhält- 
nissen geschehe. 

Wenn man bei einer gewissen Stellung des Apparates eine deutliche 
Empfindung erhalten hat, muss der Versuch wiederholt werden, denn es 
wäre möglich, dass man nur deswegen einen Geruchseindruck bekommen 
hat, weil etwas vom am Glase des Riechrohres adsorbirten Riechstoff sich 
dem gemessenen zugesellt hatte. Dazu soll das Riechrohr gereinigt werden. 
Am bequemsten geschieht dies durch Durchleiten von Luft, was mit Hülfe 
einer kleinen Bunsen’schen Aspirationspumpe geschehe Für gewöhnlich 
genügen einige wenige Minuten, welche Zwischenzeit übrigens doch auch 


! Vgl. über analoge Erscheinungen Ostwald, Zehrbuch der allgemeinen Chemie. 
Ba.I. S. 1085. 


46 H. ZWAARDEMAKER: 


zur gänzlichen Ausruhung des ‚Sinnes erwünscht ist. Man überzeuge sich 
von der vollständigen Geruchlosiekeit des Riechrohres, schiebe bis zur 
früheren Stellung vor und merke sich, ob wieder eine zur Empfindung 
hinreichende Duftmenge da ist. Wenn dies der Fall, kennt man die Riech- 
kraft der Lösung. 


Bei solchen Versuchen ist es angezeigt, den Cylinder in nicht zu 
kleinen Stufen vorzuschieben, um möglichst rasch zur Schwelle zu gelangen. 
Wenn schon bei 1m etwas des Duftes gespürt wird, empfiehlt es sich, 
den Versuch abzubrechen und zur weiteren Verdünnung zu schreiten. 
Hierzu stehen zwei Wege offen: 


1. durch Verdünnung der Riechstofflösung, mit welcher der Fliess- 
papiereylinder imbibirt wird, 

2. durch Verdünnung der Luft, welche man durch das Riechrohr 
aspirirt. 

Beide Wege führen zum Ziele.! 

Die erstere Methode erscheint als die einfachste. Sie lässt sich auch 
ganz gut durchführen, vorausgesetzt, dass man über ein vollkommen geruch- 
loses Lösungsmittel verfügt, z. B. Wasser oder Glycerin, weniger gut Paraffin. 
Zu odorimetrischen Zwecken eignet sich das Wasser am besten. Die Halt- 
barkeit der Lösung lässt sich einigermaassen erhöhen durch Hinzufügung 
von Antifebrin, das bei Zimmertemperatur ungefähr bis zu einem !/, procen- 
tigen Gehalt aufgenommen werden kann. Als Beispiel dieser Art wollen 
wir untenstehende Bestimmungen aufführen. 


I. Campher in wässeriger Lösung, Papiereylinderchen mit Kupfergaze 
als Stütze: 


1:10° Erkennungsschwelle bei 6-0 °% (Reizschwelle.bei 1 =), 
17105 hr Vo 


II. Cumarin in wässeriger Lösung, Papiereylinder mit Kupfergaze als 
Stütze: 
1:107 vollständig ausgeschoben kein Duft, 
1:10 Erkennungsschwelle bei 1-0", 
12.210, 20) 2) 0-5 , 
1810- ” » 0-2 „ 


(bei weiterem Ausschieben des Cylinders verschwindet der Duft gänzlich oder 
macht einer unbestimmten Empfindung Platz). 


! Die Resultate sind selbstverständlich nicht unmittelbar vergleichbar, denn aus 
der nfach verdünnten Lösung verdampft keineswegs eine nfach geringere Zahl Moleeüle. 
Alles hängt hier von der Eigenart des Lösungsmittels und des sich in Lösung be- 
findenden Körpers ab. 


ÜDORIMETRIE VON PROGENTISCHEN LÖSUNGEN. 47 


III. 5-Jonon, wässerige Lösung unter Hinzufügung von !/, procent. 
Antifebrin, Porzellancylinder: 


13108 Erkennungsschwelle bei 0-5 bis 1-0, 


1 . 250 000 h „ ” 0- 1 nr 
1:107 „ „ 0-1, 
lea) 55 alone 


(bei weiterem Ausschieben nimmt die Intensität des Duftes der Lösung 1:10* 
etwas zu, bis 3% erreicht worden sind. Von 6°5°% ab nimmt der Duft 
einen krautartigen Charakter an). 


IV. 1. Jonone in wässeriger Lösung unter Hinzufügung von !/, proc. 
Antifebrin, Porzellaneylinder, Verdünnung 1: 250000: 


«-Jonon Erkennungsschwelle bei 0-05 
3-Jonon R OT 
Iron r LEER 
Isoiron z RC 
Jonon technisch a 2 a, 

„ „ b „ „ 0.1 sr 


NB. Von diesen Cylindern haben der 5-Jononeylinder und der Isoiron- 
eylinder einen angenehmen Geruch, welcher dem des Waldveilchens ähnlich 
ist, jedoch nur in der Nähe der Schwelle, höchstens in einer Intensität von 
5 Olfactien. Bei höheren Reizstärken wird der Veilchencharakter undeutlich. 
Alle übrigen Cylinder riechen krautartig. 


2. Jonone in wässeriger Lösung 1:10° unter Hinzufügung von !/, proc. 
Antifebrin, Porzellan- oder Papiereylinder (von beiden lag eine vollständige 
Reihe vor): 


«-Jonon Erkennungsschwelle bei 1". 
3-Jonon ” „ 1 „ 
Iron „ 2) 1 ” 
Isoiron „ „1, 
Jonon technisch a ” BOHRER 

b „ „ 1 „ 


” ” 
NB. In dieser ansehnlichen Verdünnung 1:10 erscheinen alle Jonone 
ungefähr gleicher Riechkraft und tritt auch der Veilchen- bezw. Reseda- 
charakter des Duftes deutlich hervor. Einen so schönen Geruch, wie er in den 
arteficiellen Parfüms unter Herbeiziehung eines Fixants erreicht werden kann, 
geben die reinen Stoffe niemals her. Namentlich die Intensität des Duftes 
steht weit zurück und kann in den Riechmessern weder durch grössere 
Verdünnung, noch durch grössere Concentration erreicht werden. 


Es kann seinen Nutzen haben, in obenstehenden Werthen zwei Üorrec- 
tionen anzubringen: eine erstere mit Rücksicht auf die Absorption des 
Riechgases an die Wände des Innenröhrchens, eine zweite mit Rücksicht 
auf die vom Riechgase gesättigte Luft in den Maschenräumen der Metall- 
gaze. Die erste Complication macht das Resultat der Messung kleiner, die 


48 H. ZWAARDEMAKER: 


„weite Complication macht es grösser. In manchen Fällen wird der Ein- 
fluss auf das Endresultat unwesentlich sein, bei sehr kräftiger Adsorption 
oder bei bedeutender Anhäufung von riechenden Molecülen in der zwischen 
den Drahtbalken der Metallgaze stagnirenden Luft dürfen sie jedoch nicht 
vernachlässigt werden. Es ist dann angezeigt, die Adsorption zu berechnen 
aus parallel gehenden Versuchen an Innenröhrchen von 20 und von 25 m 
Länge und die Anhäufung in der Metallgaze durch Mischung einer abge- 
messenen Menge von mit Riechstoff gesättigter Luft mit einem Vielfachen 
reiner Luft. 


Der zweite Weg, von welchem oben die Rede war, lässt sich auch 
ganz gut benutzen, jedoch besser in Verbindung mit unserer definitiven 
Methode, weshalb wir die Beschreibung auf später verschieben. 


$ 2. Definitive Methode. 


Beim orientirenden Verfahren haben wir den Riechmesser in gewöhn- 
licher Weise verwendet, indem wir uns des natürlichen Schnüffelns oder 
auch umsichtiger Riechbewegungen zur Aspiration bedienten. Hiergegen 
war auch nichts einzuwenden, weil es sich in unserem Falle um Schwellen- 
bestimmungen handelt und man dabei unbewusst die günstigsten Mess- 
bedingungen aufsucht. Es erscheint aber erwünscht, uns von diesem 
der Willkür unterworfenen Factor unabhängig zu machen. An Stelle des 
Athmens wurde die Aspiration einer Bunsen’schen Wasserstrahlluftpumpe 
herangezogen, deren Aspiration durch besondere Maassnahmen so viel wie 
möglich constant gehalten wurde. Zu letzterem Zwecke war eine einfache 
Vorrichtung zur Regulirung des Hahnes der Wasserleitung getroffen, während 
in der den Riechmesser mit der IJuftpumpe verbindenden Bahn ein ge- 
wöhnlicher Spirometer ((hne Panum-Heynsius’sche Schnecke) eingeschaltet 
war. Wenn wir nun den Gegengewichten ein kleines Uebergewicht gaben, 
stieg der Cylinder so lange empor, bis er von der Aspiration in einer be- 
stimmten Stellung festgehalten wurde. Diese Stellung war hoch, wenn 
die Aspiration schwach, niedrig, wenn die Aspiration kräftig war. Durch 
Regulirung des Hahnes suchte ich einen mittleren Stand (z. B. bei 3500 
des Spirometers) und behielt diesen so viel wie möglich während des Ver- 
suches bei. Weil die Verbindungsröhre zwischen Spirometer und Riech- 
messer nirgends verengte Stellen hatte, war ich nun sicher, fortwährend 
mit demselben Aspirationsdrucke zu arbeiten. Dieser letztere liess sich 
übrigens auch an dem mit dem Spirometer verbundenen Manometer ablesen. 
Da es jedoch nicht auf den Aspirationsdruck selbst, sondern auf die von 
diesem herrührende Geschwindigkeit des Luftstromes im Riechmesser ankam, 


ÜÖDORIMETRIE VON PROCENTISCHEN LÖSUNGEN. 49 


bestimmte ich lieber letztere. Es geschah mit Hülfe eines Gad’schen 
Athemvolumschreibers, der mit dem vom Beobachter abgewendeten Ende 
des Innenröhrchens bezw. des ausgeschobenen odorimetrischen Oylinders in 
Verbindung gesetzt wurde. Die Geschwindigkeit des sich durch den Riech- 
messer bewegenden Luftstromes stellte sich auf 0.5” heraus.! Dieser 
Luftstrom hat nun statt des Athemstromes die sich von der Innenfläche 
des odorimetrischen Cylinders lösenden Riechstoffmolecüle mitzuführen. 


Wenn der Strom nicht zu lange anhält, wird derselbe, weil er continuirlich 
ist, pro Zeiteinheit eine gleiche Menge Molecüle mitführen, und diese Menge 
wird ferner der Oberfläche, d. i. der vorgeschobenen Cylinderlänge, propor- 
tional sein. Um nun die Verflüchtigung immer die nämliche Zeit anhalten 
zu lassen, wurde im selben Momente, in welchem die Aspiration in Gang 
gesetzt und der Cylinder vorgeschoben wurde, eine Sanduhr von !/, Minute 
umgedreht. Nach Ablauf dieser Zeit wurde dann die Aspiration durch 
Verschliessung des Verbindungsrohres rasch abgebrochen und zu gleicher 


1 Es passirten pro Secunde im Mittel 25 ° = Luft. 
Archiv f. A. u. Ph. 1903. Physiol. Abthleg. 4 


50 H. ZWAARDEMAKER: 


Zeit der Cylinder eingeschoben. In dieser Weise war ich sicher, die ge- 
messene riechende Fläche immer einem gleich schnellen Ta für 
nicht zu lange Zeit ausgesetzt zu haben. Die der Volumeinheit Luft bei- 
gemischte Riechstoffmenge war also bei Constantbleiben der übrigen Be- 
dingungen der Cylinderlänge proportional. 

Es kommt nun darauf an, diese mit Riechstoff beschwerte Luft dem 
Geruchsorgan zuzuführen. 

Hierzu wird in der vom Riechmesser zum Spirometer führenden Bahn 
ein eylinderförmiger Luftbehälter aufgenommen, den wir „Riechfläschehen“ 
nennen wollen. Dieses habe einen Inhalt von 50°“ und muss leicht fort- 
senommen werden können, was am besten durch auf einander geschliffene 
kupferne Ansätze erreicht wird. Wie überall in der von dem continuir- 
lichen Luftstrome durchströmt gewesenen Bahn befinden sich auch in diesem 
kleinen Behälter Riechgase in der gemessenen Verdünnung. Man braucht 
also nur an ihm zu riechen, um ohne Weiteres feststellen zu können, ob 
die Erkennungsschwelle erreicht worden ist oder nicht. Falls man keine 
Empfindung bekommt, hat man den Versuch für eine etwas grössere 
Cylinderlänge zu wiederholen, also auf’s Neue !/, Minute Luft durch Riech- 
messer und Fläschchen zu führen, abzubrechen, zu riechen und so fort, bis 
man die Empfindungsschwelle erreicht hat. 

Ich habe es für erwünscht gehalten, mit dieser neuen Methode des Aspi- 
rirens eine etwas andere Art der Feststellung von Riechstofflösungen zu 
verbinden. Bis jetzt geschah dies nach Gewichtsprocenten, aber wenn man, 
wie hier beschrieben, eine ziemlich genaue physikalische Methode der Messung 
erreicht hat, ist es angebracht, von einem physikalisch scharf definirten 
Zustande auszugehen, der theoretisch eine bestimmtere Bedeutung hat, als 
irgend ein willkürlicher Verbindungsgrad.! Die odorimetrischen Cylinder 
aus Fliesspapier mit Flüssigkeitsmantel lassen, wenn sie eingeschoben auf 
einem Riechmesser montirt sind, ein heterogenes Gleichgewicht herzustellen 
zu. Man denke sich z. B. in einem solchen Flüssigkeitsmantel Wasser und 
Kampfer im Uebermaass. Wenn man das Ganze während einiger Tage ruhig 
hingestellt hat, wird sich im Wasser so viel Kampfer gelöst haben als möglich. 
Die Luftblase wird sich vollkommen gesättigt haben, sowohl mit Wasser- 
dampf als mit Kampfer, die übrig gebliebenen Stückchen des letzteren 
nehmen etwas Wasser auf und bleiben auf der Flüssigkeit schwimmen. 
Das Filtrirpapier wird sich vollständig mit Kampferwasser imbibirt haben 
und die Maschenräume der Metallgaze werden den gleichen gesättigten 


! Mit Lösungen mit einer gleichen Zahl Grammmoleeüle konnte ich mir nicht 
helfen, da es nicht auf den osmotischen Druck des Riechstoffes in der Flüssigkeit, 
sondern auf seinen Partialdruck in der Luft ankommt, 


ÖDORIMETRIE VON PROGENTISCHEN LÖSUNGEN. 51 


Dampf erhalten als die Luftblase.2 Man denke sich nun die Temperatur 
und den Barometerstand nicht zu sehr wechselnd, so dass ein Gleichgewicht 
angenommen werden darf, so hat man hier ein System aus zwei Compo- 
nenten: Wasser und Kampfer, und drei Phasen: fest, flüssig und gasfürmig. 
Von der Luft sehen wir ab, wie allgemein üblich. Bringt man sie in 
Rechnung, so hat man einen Componenten mehr. In einem solchen System 
wird vollkommene Ruhe herrschen, die sich nicht zu ändern braucht, wenn 
plötzlich ein Theil einer Phase fortgenommen wird, denn das Gleichgewicht ist 
nicht von der Menge der Phasen abhängig.” Sobald der Cylinder vorge- 
schoben wird und der continuirliche Luftstrom über seine Innenfläche hin- 
wegzieht, wird nun wirklich der in den Maschenräumen sich findende Theil 
der gasförmigen Phase fortgeschafft. Die flüssige Phase behält überall in 
tieferen Schichten ihre Zusammensetzung bei. Nur in der oberflächlichen 
Schicht an der Innenfläche des Papiercylinders, wo die flüssige Phase jetzt 
mit reiner Luft (statt wie zuvor mit gesättigtem Dampf) in Berührung ist, 
wird das Gleichgewicht während einer !/, Minute gestört sein. Sowohl die 
Kampfer- als die Wassermolecüle fangen an, sich zu verflüchtigen, und 
zwar nach der gewöhnlichen Betrachtungsweise in derselben Weise, als 
wenn ein Vacuum über der gesättigten Kampferlösung angebracht wäre. 
Die Luft stört die Verdampfung nicht, nur die:Tension der sich in der 
flüssigen Phase befindenden Bestandtheile ist bestimmend. In Folge dessen 
verdampfen die letzteren auch in genau demselben quantitativen Verhältniss, 
als sie in der gasförmigen Phase zugegen waren, mit dem Unterschiede 
allein, dass nicht wie im Zustande des Gleichgewichtes eine gleiche Anzahl 
Molecüle aus der gasförmigen Phase in die flüssige zurückkehren. Wenn 
man also zuvor die Zusammensetzung der gasförmigen Phase festgestellt 
hat, ist es erlaubt, aus ihr auf die Zusammensetzung des im Riechmesser 
frei werdenden Dampfes zu schliessen. Nur seine Concentration muss dann 
noch aus der totalen Verdampfungsgeschwindigkeit der Flüssigkeit herge- 
leitet werden. ® 

Solche Systeme coöxistirender Phasen lassen sich im Allgemeinen 
ebenso wie im Beispiele des Kampferwassersystems herstellen. Man braucht 


“1 Den kleinen Druckunterschied, der sich übrigens beim geschlossenen Auf- 
bewahren bald verliert, vernachlässigend. 

®2 H. W. Bakhuis Roozeboom, Die heterogenen Gleichgewichte vom Stand- 
punkte der Phasenlehre. Braunschweig 1901. Bd.1I. 8.13. 

® Die durch den Riechmesser ziehende Luft kann, mit Rücksicht auf die Ver- 
dampfung, als vollkommen rein betrachtet werden, so dass die Verflüchtigung aus den 
proximalen und aus den distalen Theilen der verdampfenden Oberfläche gleichmässig 
schnell angenommen werden darf. Die Theile sind odorimetrisch gleichwerthig. (Vgl. 
Nederl. Tijdschr. van Geneesk. 1901. Deel Il. p. 1233.) 

4* 


52 H. ZWAARDEMAKER: 


nur beim Füllen des odorimetrischen Cylinders Wasser oder Paraffin und 
Riechstoff auf einander zu schichten und den Cylinder dann wohlverschlossen 
einige Stunden horizontal ruhig stehen zu lassen. Er ist den nächsten Tag 
unmittelbar zur Messung bereit. Seine Eigenschaften sind dann durch das 
vorhandene Gleichgewicht gegeben. 

Die hier beschriebenen Systeme von zwei Componenten und zwei oder 
drei Phasen im heterogenen Gleichgewicht verursachen ausgeschoben ge- 
wöhnlich einen ziemlich starken Geruch, so dass weitere Verdünnung der 
im Riechfläschehen vorhandenen Luft- und Riechgasemischung nothwendig 
ist. Dieselbe kann durch einfache Beimischung reiner Luft in ungefährer 
Weise, durch theilweises Evacuiren mittels einer Luftpumpe und wieder 
Zulassen von reiner Luft in exacter Weise geschehen. Wir wollen zuerst 
die angeführten Methoden beschreiben. 

Wenn man ohne weitere Vorrichtung an dem Riechfläschchen riecht, 
führt man, wie bemerkt, in die Nase ein zwar in seiner Zusammenstellung 
bekanntes, aber ziemlich concentrirtes Riechstoffsemisch ein. Es gelingt, 
dieses concentrirte Riechstoff-Wasser-Luftgemisch zu verdünnen, wenn man 
nicht unmittelbar am Fläschchen, sondern durch einen kleinen Ansatz riecht, 
der im selben Momente, als er den Zutritt einer ganz kleinen Menge aus 
dem Riechfläschchen erlaubt, gleichzeitig eine grössere Quantität Luft aus 
der Umgebung zuströmen lässt. Ein solcher Ansatz bestehe am einfachsten 
aus einem kurzen, das Nasenloch abschliessenden Cylinderchen, dessen 
Seitenwände über eine gewisse Höhe aus Metallgaze, dessen Boden aus 
einem Diaphragma mit kleiner runder oder dreispaltiger Oeffnung besteht. 
Je von der Höhe der Metallgaze und je von der Grösse der Oeffnung wird 
es abhängen, um wie viel die Luft aus dem Riechfläschehen verdünnt wird. 
Die Abmessungen sollen so gewählt sein, dass unmittelbar eine möglichst 
vollständige Mischung der Luft aus dem Fläschchen und der Luft aus der 
Umgebung stattfindet, während ein schädlicher Raum unter dem Diaphragma 
nicht oder so klein wie möglich vorgefunden werden darf. Der Grad der 
Verdünnung lässt sich leicht mit Hülfe der Luftbrücke bestimmen, wenn 
man einerseits die Diaphragmaöffnung, andererseits die Wandgaze des An- 
satzes aufstellt und in bekannter Weise das Wheatstone’sche Strömungs- 
gleichgewicht aufsucht. Ich besitze Ansätze für 20-, 30- und 100fache 
Verdünnungen, während ein besonderer Apparat, der eine Aenderung der 
Oeffnungen in den seitlichen Wänden des Ansatzes zulässt, eine Graduirung 
der Verdünnung von dem 2- bis zum 17 fachen zulässt. 


Der Ansatz mit verstellbarer Weite der Wandöffnungen besteht aus 
zwei in einander geschliffenen Metalleylindern, beide mit 30 Oeffnungen 
(in sechs Reihen) von 1-7 %® Durchmesser. Je nach dem gegenseitigen Stand 
der in einander geschobenen Cylinder bilden die Oeffnungen eben so viel 


ÜDORIMETRIE VON PROCENTISCHEN LÖSUNGEN. 5 


offene Canäle oder sind vollkommen verschlossen. Ein Gradbogen erlaubt 
dem System alle gewünschten Stellungen zu geben. Das den Boden bildende 
Diaphragma hat ebenfalls eine centrale Oeffnung von 1-7"®, Der erreichte 
Verdünnungsgrad zeigte sich auf der Luftbrücke folgender Weise: 


Offener Theil der Bohrungen Erreichte Verdünnung 
nz 2 fache 
= 4 3 
"5 6 2) 
Sn 8 Hr 
hs 10 „ 
"15 12 ” 
E 1 
hs 16 ” 


Es sei gestattet, einige Beispiele anzuführen. 


I. Kampherwasser. System von zwei Componenten und drei Phasen 
(ungefähre Zusammensetzung der gesättigten wässerigen Kampherlösung 
= 

Erkennungsschwelle bei 0-7 m/10 = 0-07 ®, 
3204 ,11:6,—20-1197,, 
„ „ 6.0 „/20= 0-30, 

NB. Die Kamphergase riechen in grösserer Concentrirung relativ stärker 

als verdünnt. 


” ” 


U. 33 procent. Trimethyllösung in ein System heterogenen Gleichge- 
wichtes auf Paraffin gebracht (drei Componenten und zwei Phasen). 


Erkennungsschwelle bei 1 °%/10 = 0°1°" (weiter ausgeschoben verliert sich 
der Fischgeruch und spürt man nur einen Ammoniakreiz), 

Erkennungsschwelle bei 2 ®/16 = 0-1" 

„ 2,„/20= 0-1 „ (keine Empfindung 2/30). 


„ 


III. Krystallisirtes Vanillin mit Glycerin in ein System gebracht (zwei 
Componenten, drei Phasen). Giebt in keinem einzigen Stande des Olfacto- 
meters bei 20facher Verdünnung der Riechgase einen Geruchseindruck. 
Offenbar ist die Verdünnung zu gering und illustrirt dieser Befund die 
Mittheilung Passy’s, dass Vanillin in concentrirtem Zustande keinen wahr- 
nehmbaren Duft abgiebt. 


IV. 5-Jonon, 1 pro Mille alkohol. Lösung mit Wasser zu einem ver- 
muthlichen Gleichgewichtssystem gebracht (drei Componenten und zwei 
Phasen). 

Erkennungsschwelle bei 2 °@/100 = 0-02°% (schwacher Veilchenduft). 

NB. Bei 2°%/20 = 0°1°” schwacher Krautgeruch. 


V. Aethylpropionatwasser (zwei Componenten, zwei Phasen) 13° C. 
Erkennungsschwelle bei 0-35 W/20 = 0.02, 
5 a arbıs 429017007 0-03: 
NB. Aethylpropionat riecht concentrirt also relativ stärker als verdünnt. 


54 H. ZWAARDEMAKER: 


Eine weit exactere Methode der Verdünnung des Inhaltes des Riech- 
fläschehens bekommt man, wenn man ihn mit Hülfe einer Luftpumpe 
theilweise evacuirt, z. B. bis auf !/,,, und dann geruchlose Luft aus der 
Umgebung an die Stelle der fortgenommenen °/,, eintreten lässt. Hierzu 
ist es natürlich nothwendig, besagten Behälter mit gläsernen Hähnen ab- 
schliessen zu können. 

Es empfiehlt sich, mit der Evacuirung nicht zu weit zu gehen, da die 
Hähne, um ganz luftdicht zu schliessen, zu sehr eingefettet werden müssen 
und letzteres gewöhnlich die Geruchlosigkeit beeinträchtigt. Es ist auch 
gar nicht nothwendig, denn wenn erwünscht kann man auch wiederholt 
evacuiren und also successive verdünnen. Wenn man z. B. das erste Mal 
bis auf 76 "m Hg evacuirt hat, und nachher dasselbe noch einmal macht, 
ist eine 100 fache Verdünnung erreicht und nichts steht im Wege, durch 
nochmalige Wiederholung der Prozedur bis auf das 1000 fache zu steigen. 
Nur die Adsorption ap den Glaswänden kann das Resultat etwas weniger 
exact machen. Ich bin gerade beschäftigt, ihren Einfluss auf verschiedene 
Stoffe und in verschiedenen Richtungen zu studiren. Eine ausführliche 
Beschreibung der Methode möchte ich mit Rücksicht hierauf noch nicht 
geben, nur einige theoretische Bemerkungen, welche auch für die Bestim- 
mungen mit ungefährer Verdünnung Bedeutung haben, seien hier am 
Platze. 

In der Herstellung von Riechmessern eines heterogenen Gleichgewichtes 
scheint mir den procentischen Zusammensetzungen gegenüber ein Fortschritt 
gelegen zu sein, weil man von einer Lösung ausgeht, deren Dampftension 
bei Zimmertemperatur man genau kennt. Man braucht nämlich, wie ge- 
zeigt, dazu nur den Dampfdruck der Riechgase in der Luftblase des Cylinders 
zu bestimmen. Die partiellen Dampftensionen der Gase sind jenen der 
Lösung nothwendig gleich. Für wahre Riechgase ist ein solches Problem 
zwar nicht gerade leicht lösbar, weil auch im gesättigten Dampf keine sehr 
grosse Menge derselben vorhanden ist, aber für eine Anzahl Fälle lässt sich 
die Messung doch durchführen. Für die Odorimetrie haben wir nun den 
günstigen Umstand, dass während der !/, Minute, in welcher der Luftstrom 
an der Innenfläche des Papiercylinderchens vorübergeführt wird, zwei scharf 
definirte Flächen einander berühren. Einerseits die strömende Luft, die 
nichts vom Riechstoff enthält, andererseits die flüssige Phase von aus den 
gasförmigen Phasen bekannter Dampftension. Der Uebergang des Riech- 
stoffes ist also: 

1. der Grösse der Berührungsfläche, d. h. der vorgeschobenen Cylinder- 
länge proportional (die Randlänge ist constant); 


! Die physikalisch chemische Litteratur verzeichnet einige solcher Bestimmungen. 


sb | 
a 


ÜDORIMETRIE VON PROCENTISCHEN LÖSUNGEN. 


2. aus der Zusammensetzung der gasförmigen und der Verdampfungs- 
geschwindigkeit der flüssigen Phase bestimmbar. 

In dieser Weise entwickelt sich die Riechmessung, die ursprünglich 
als eine indirecte Methode geplant war, zu einer directen, welche unmittel- 
bar der Valentin-Passy’schen an die Seite gestellt werden kann. Sie 
ergiebt uns ohne Weiteres das Riechstoffiguantum, das zur Hervorrufung 
einer Geruchsempfindung der Volumeneinheit Athemluft beigemischt werden 
muss. 

Aber auch, bevor dieses Endziel erreicht ist, kann man, sei es aus 
den Messungen an Füllungen procentischer Zusammensetzung oder aus 
jenen an Systemen heterogener Gleichgewichte veranstaltet, zu einer Ver- 
gleichung der Riechkraft gelangen. Man braucht nur aus dem Schwellen- 
werth des normalen Geruchorganes den odorimetrischen Coöfficient herzu- 
leiten. Den „odorimetrischen Coöfficient“ definirte ich früher als das Ver- 
hältniss, welches zwischen dem Olfactienwerth in Centimetern und 1 
Cylinderlänge besteht. Unsere Beispiele von S. 53 ergeben in dieser Hin- 
sicht Folgendes: 


Schwellenwerth Coöfficient 
&amphora. LAN. 0.07 14 
Trimethyjlamin . . . 0-1 10 
8 Jonome irn. 0-02 50 
Aethylpropionat . . . 0.02 50 


Die Riechkraft der Lösungen ist offenbar dem Coöfficienten proportional. 
Dieses Ergebniss genügt zu einer Vergleichung der Riechstoffe unter sich, 
sowohl praktisch als theoretisch, denn die absoluten Werthe, welche sich in 
der oben skizzirten Weise nach der exacten Methode erstreben lassen, würden 
für die Odorimetrie an sich nur dann eine höhere Bedeutung haben, wenn 
sich das Maass der olfactiven Energie berechnen liesse, die zur Reizung des 
Sinnesorgans gerade ausreicht. Leider sind wir von diesem Standpunkte 
noch weit entfernt und müssen uns mit der physiologischen Intensität be- 
gnügen, die sich ebensogut aus den relativen als aus den absoluten Zahlen 
ableiten lässt, wie sie eben selbst im hohen Grade relativ ist. 

Dennoch lohnt, es sich, als Vorarbeit zu einer späteren Physik der 
Gerüche auch der absoluten Olfactometrie unsere Aufmerksamkeit zuzu- 
wenden. In dieser Perspective liegt meines Erachtens die Bedeutung der 
zuletzt angedeuteten exacteren Methode. 


Ich will schliessen mit der Angabe der Regeln, welche ich für die ge- 
wöhnliche ungefähre Verdünnungsmethode benutze, weil letztere bereits in 
der Parfümtechnik Verwendung findet und scharfe Umschreibung ihrer Hand- 
habung den Chemikern der Fabriken wahrscheinlich willkommen sein wird. 


56 H. ZWAARDEMAKER: ÜDORIMETRIE VON PROCENTISCHEN LÖSUNGEN. 


Regeln für die Ausführung der Messungen. 


1. Die nach Gewichtsprocenten bestimmte Lösung oder das System im 
heterogenen Gleichgewicht bleibe einige Stunden genau horizontal bei nicht 
zu wechselnder Temperatur ruhig stehen. 

2. Temperatur und Barometerdruck werden abgelesen und notirt. 

3. Die Wasserstrahlpumpe werde in Gang gesetzt und bei eingeschobenem 
Riechmesser der Spirometerstand als Maass des Aspirationsdruckes bestimmt, 
und hieraus die Geschwindigkeit des durch den Riechmesser ziehenden 
Luftstromes hergeleitet. 

4. Der odorimetrische CyKHnder werde plötzlich vorgeschoben und im 
selben Momente die Sanduhr in Gang gesetzt. 

5. Nach !/, Minute gleichzeitig sowohl die Aspiration sistirt als auch 
der Cylinder eingeschoben. 

6. Aufmerksam am Riechfläschehen gerochen. Das Riechfläschehen 
bleibt hierbei an Ort und Stelle. Ein continuirlicher Luftstrom zur Reini- 
gung bis zur Geruchlosigkeit durch Innenröhrchen und Riechfläschehen 
geleitet. 

7. Wiederholung der Experimente. 


Die odorimetrischen Messungen in denselben Räumlichkeiten vorzu- 
nehmen, wo die Abwägung, Mischung und Verdünnung der riechenden 
chemischen Körper stattfindet, ist nicht erlaubt. Besonders das chemische 
Laboratorium einer Parfümfabrik ist ein ungeeigneter Ort und auch im 
physiologischen Laboratorium soll man auf eine vollständige Trennung der 
olfactometrischen von den vorbereitenden Manipulationen achten, denn ein 
Gemach, wo letztere ausgeführt worden sind, ist für Tage und Wochen für 
jede genaue olfactologische Beobachtung unbrauchbar. 

Jonon z. B. heftet sich so ungemein kräftig an alle Gegenstände in 
dem Raum, wo man mit diesem Stoff manipulirt, dass man den Veilchen- 
geruch, obgleich fleissig ventilirt wird, immer auf's Neue spürt. Man muss 
sich vorstellen, dass die Jononmolecüle in verhältnissmässig grosser Menge 
sich lösen in der äusserst dünnen, aus den Bestandtheilen der Luft (H,O, 
OÖ, N, CO,) bestehenden Schicht, welche alle Oberflächen als adsorbirte Luft 
überzieht. Nach H. Erdmann löst sich Jonon sehr stark in flüssiger Luft. 
Dies erklärt auch die auffallend starke Adsorption an alle Gegenstände 
ohne Unterschied, sei es, dass sie aus Glas, Metall, Holz oder Tuch gebaut 
sind. Aehnliches habe ich für manche andere Riechstoffe beobachtet. 


Ueber die Dauer der compensatorischen Pause 
nach Reizung der Vorkammer des Säugethierherzens. 


Von 


K. F. Wenckebach 


in Groningen, 


Wenn man durch künstliche Reizung die spontan pulsirende Kammer 
oder Vorkammer des Froschherzens zur Contraction bringt, wird die ein- 
tretende „Extrasystole‘“ gefolgt von einer längeren Pause, und die nächst- 
folgende spontane Systole (die „postcompensatorische“) tritt genau in dem 
Augenblick ein, in welchem sie doch eingetreten wäre, wenn nicht eine Extra- 
systole, aber eine physiologische Systole vorhergegangen wäre. Diese Pause, 
welche von Marey, Dastre u. A. studirt wurde, hat man eine compen- 
satorische genannt, weil man in der langen Dauer dieser Pause eine Art 
Compensirung für die Extrathätigkeit des Herzens sah. Engelmann (6) hat 
in einfacher Weise die Pause erklärt: der normale, physiologische Contractions- 
reiz, welcher von der Vena cava her das Herz zur Arbeit zwingt, findet, 
nachdem eine Extrasystole aufgeweckt worden, Vorkammer und Kammer in 
der nach der Systole andauernden refractären Phase, und kann beide deshalb 
nieht zur Contraction bringen. Erst der nächstfolgende physiologische Reiz 
trifft das Herz wieder in anspruchs- und reactionsfähigem Zustand: es kommt 
also die „posteompensatorische“ Systole genau in dem Momente, in welchem 
sie bei ununterbrochener Herzthätigkeit gekommen wäre; der physiologische 
Rhythmus des Herzens ist also nicht gestört. In Fig. 1 ist der Vorgang 
schematisch vorgestellt. Ein künstlicher Reiz A trifft V. Wenn nun der 
zweite spontane Reiz von der Vena cava ankommt, findet er die Kammer 
refractär, es fällt eine Kammersystole aus; aber der folgende, dritte Reiz 
findet die Kammer wieder in erregbarem Zustande, die entsprechende Systole 
kommt daher in dem dem Venenrhythmus entsprechenden Augenblick zu 
Stande Die Pause, welche der Extrasystole folgt, ist also, was ihre Dauer 
betrifft, genau compensirend; die Zeitdauer einer spontanen Systole + nach- 


55 K. F. WENCKEBACH: 


folgender Extrasystole und Pause ist genau so lange wie die zweier normalen 
Systolen. 

Reizt man aber das Froschherz an der Vena cava, dort wo die Con- 
traction immer anfängt, dann fehlt nach eingetretener Extrasystole die com- 
pensatorische Pause, die nächstfolgende spontane Systole kommt nach einem 
Zeitverlauf, welcher der eben vorhandenen spontanen Contractionsperiode 
gleich ist. In Fig. 1 trifft ein zweiter künstlicher Reiz y die Vena cava; 
der nächstfolgende spontane Reiz wird nach dem normalen Intervall 20 
efleetiv, eine compensatorische Pause fehlt. Wo das Intervall zwischen der 
der Extrasystole vorhergehenden und der Extrasystole folgenden spontanen 
Systole bei Kammer-(oder Vorkammer)reizung das Doppelte der normalen 
Periode = 40 war, ist hier das nämliche Intervall nur 12 + 20 = 32. 


ve! 20 Y 20 Y 20 IB 8% 20 L 


Pigza1sl 


Es folgt hieraus, dass der Contractionsreiz nicht von aussen her, 
rhythmisch der Vena cava zugeführt wird, sondern dass der Reiz an dieser 
Stelle selbst rhythmisch in bestimmter Periode erzeugt wird. Es liegt 
am meisten vor der Hand und erklärt am besten die Thatsachen, anzu- 
nehmen, dass in den Muskelzellen der Vena cava (bekanntlich in den 
anderen Herzabtheilungen in geringerem Maasse) fortwährend Reizmaterial 
gebildet wird, bis dieses eine solche Wirksamkeit erlangt hat, dass eine 
Contraction ausgelöst wird. Wenn nun aber die Muskelzellen sich con- 
trahiren, scheint das Reizmaterial dabei verbraucht oder jedenfalls vernichtet 
zu werden, so dass jedes Mal nach einer Systole die nämliche Zeit ge- 


! In diesen Schemen, welche den früher von Engelmann und von mir an- 
gewendeten entsprechen, ist auf den drei Abseissen die Zeit angegeben und zwar für 
Periodendauer und Reizung von der Vena cava (Ve), der Vorkammer (A) und der 
Kammer (7). Y = spontaner Reiz. “ = künstlicher Reiz. Die senkrechten Striche 
stellen die Systolen vor. Die die Fusspunkte der Systolenstriche verbindenden schrägen 
Linien geben die Richtung an, in der der Reiz weitergeleitet wird. Sind diese Linien 
punktirt, so findet die Leitung nicht wirklich statt. Die spontane Periodendauer ist 
auf 20 Abseisseinheiten (1m) gestellt, das Intervall von dem spontanen Reizmoment 
bis zur entsprechenden Ventrikelsystole (Ve—V,) = 5 Einheiten. 


ÜBER DIE DAUER DER COMPENSATORISCHEN PAUSE. 59 


fordert wird zur Production neuen Reizmateriales in solcher Stärke, dass 
es wieder eine Systole auszulösen im Stande ist. Diese Vernichtung der 
Reizsubstanz (Aufhebung einer Dissociation in Ionen, chemische Umbildung 
oder was sonst der Vorgang sein mag) tritt immer bei der Contraction ein, 
ob nun die Contraction durch das Reizmaterial selbst ausgelöst wurde, oder 
ob sie durch einen von anderem Orte hergeleiteten Reize hervorgerufen 
wurde. Denn es ist bekannt, dass man durch künstliche Reizung an anderer 
Stelle, z. B. an der Kammer, und frequenter als der normale Rhythmus, 
diesen letzten ganz überstimmen kann. 

Eine andere Erklärung geht dahin, dass an der Vena cava eine fort- 
währende, constante Reizung stattfindet, welche nur deshalb sich periodisch 
in Systolen äussert, weil jede Systole der Herzwand zeitlich ihre Erregbar- 
keit und ihre Contractilität raubt: hat also eine Systole stattgefunden, so 
dauert es immer wieder eine gewisse Zeit, bevor das Herz soweit herge- 
stellt ist, dass wieder eine Systole ausgelöst werden kann. Engelmann 
hat gegen diese Ansicht angeführt, dass die Explosion, welche durch die 
Contraction in dem moleculären Verband der Muskelzelle hervorgerufen 
wird, mit den anderen Eigenschaften dieser Muskelzelle, Erregbarkeit, Con- 
traetilität, Leitungsvermögen, auch das vorhandene Reizmaterial wohl ver- 
nichten wird; ausserdem ist von Engelmann nachgewiesen worden, dass 
die Periode der Reizerzeugung durch chronotrope Einflüsse unabhängig von 
der in der Venenwand vorhandenen Erregbarkeit und Contractilität geändert 
werden kann. Man muss also wohl annehmen, dass nach jeder Contraction 
das Reizmaterial sich neu zu wirksamer Höhe bilden muss. 

Die Gesetzmässigkeit der compensatorischen Pause und die vielen That- 
sachen, welche durch die „Methode der Extrasystolen“ ans Licht gekommen 
waren, sind durch Cushny und Matthews (1) auch für das Herz der 
Säugethiere festgestellt worden. Diese Forscher zeigten, dass das Säuge- 
thierherz in seiner Thätigkeit von denselben Gesetzen, von denselben funda- 
mentalen Eigenschaften der Herzmuskelfaser beherrscht wird als das 
Froschherz, dass die nämlichen Theorien für beide gelten müssen. 

Nur fanden sie in einem Punkte ein anderes Verhalten des Säugethier- 
herzens: bei künstlicher Reizung der Vorkammer war die Pause, welche 
der Vorkammerextrasystole folgte, nicht, wie am Froschherzen, genau com- 
pensirend, meistens war sie zu kurz. Dann und wann war sie von gesetz- 
mässiger Länge, öfter aber war sie bedeutend kürzer als erwartet werden 
konnte, zuweilen fehlte die compensirende Verlängerung fast ganz. Sie 
sagen (S. 224): „So lange das Intervall 4, — A, von bedeutender Länge 
ist, ist auch die compensatorische Pause der Vorkammer wirklich compen- 
sirend, d.h. das Intervall zwischen der letzten spontanen Systole und der 
posteompensatorischen ist gleich zwei Vorkammerperioden. Wenn aber der 


60 K. F. WENCKEBACH: 


Reiz früher in der erregbaren Phase fällt, so tritt keine wahre Compensation 
ein, die postcompensatorische Systole kommt zu früh.... Wenn 4,—A4, 
kurz ist, ist die compensatorische Pause vor der erstfolgenden natürlichen 
Contraction immer unvollständig.“ 

Zur Erklärung dieses abweichenden Verhaltens sagen sie, dass: „ent- 
weder die Contractionswelle von der Vorkammer zu den grossen Venen 
fortschreitet und dort eine foreirte Contraction erweckt, welche, zur Vor- 
kammer zurückkehrend, die vorzeitige (postcompensatorische) Systole ver- 
ursacht, oder dass die Erregbarkeit der Vorkammer stetig wächst, bis sie 
in einer Contraction gipfelt, welche unabhängig ist von den grossen Venen 
und in der Vorkammerwand selbst ihren Ursprung hat. Welche dieser 
beiden Erklärungen die richtige sei, können wir nicht sagen und wir 
glauben, dass es nutzlos wäre, die beide einander gegenüber zu wägen, 
so lange nicht die Bewegungen der grossen Venen näher studirt sind.“ 

Ich habe vorhin (4) mich dahin ausgesprochen, dass eine grössere 
Fähigkeit automatischer Reizerzeugung der Vorkammer des Säugethierherzens 
vielleicht daher hinzukommen könnte, weil in der phylogenetischen Ent- 
wickelung ein Theil des Sinus venosus in die Vorkammer aufgenommen wird. 

H. E. Hering (2) hat das von Cushny und Matthews beschriebene 
abweichende Verhalten der Säugethiervorkammer ebenfalls feststellen können 
und sagt (S. 16): „Je früher der Reizmoment in die erregbare Phase des 
Vorhofes fällt, desto kürzer ist der künstliche Bigeminus (vorhergehende 
Systole + Extrasystole), je später, desto mehr nähert sich der Zeitwerth des 
künstlichen Bigeminus dem zweier normaler Herzperioden.‘“ 

Und weiter fand er, „dass die Pause um so länger ist, je früher der 
Reizmoment in die erregbare Phase fällt. Nach diesen Resultaten stimmt 
das Gesetz von der Erhaltung der physiologischen Reizperiode für den Vor- 
hof der Säugethiere zwar auch, aber die Beziehung ist keine so einfache 
wie am Ventrikel“. 

Später hat Hering noch besonders Nachdruck darauf gelegt, dass 
nach Vorhofreizung die compensatorische Pause durchaus nicht immer un- 
vollständig ist. 

Merkwürdiger Weise stimmt mit diesen physiologischen Daten ganz 
genau, was Mackenzie (3) schon in 1894 bei sorgfältiger Analyse der 
Venen- und Leberpulse gefunden hatte, dass beim Menschen eine „pre- 
mature“ Systole, wenn sie von der Vorkammer ausgeht, öfter von einer un- 
vollständig compensirenden Pause gefolgt wird: er constatirte in dieser Hin- 
sicht auch den Unterschied zwischen Ventrikel- und Aurikel-Extrasystolen. 

Bei der Ueberlesung, welche Folgen diese Vorkammer-Extrasystolen 
für die Herzbewegung und die Bluteireulation haben können, fand ich 
folgende einfache Erklärung des genannten Phänomens, durch welche nach- 


ÜBER DIE DAUER DER COMPENSATORISCHEN PAUSE. 61 


gewiesen wird, dass es sich hier nicht um einen principiellen Unterschied 
zwischen Froschherz und Säugethierherz handelt, und dass eine anatomische 
Ursache für das verschiedene Verhalten beider vorhanden ist. 

Engelmann (5) hat gezeigt, dass der Contractionsreiz sich nach allen 
Seiten hin gleichmässig, völlig reciprok ausbreiten kann, wenn das Herz- 
muskelgewebe sich in völlig gleichmässigem Zustand befindet. 

Wenn also an der Vorkammer ein künstlicher Reiz angebracht wird, 
so wird sich vom gereizten Punkte aus ein Contractionsreiz und dadurch 
eine Contractionswelle fortpflanzen und zwar nicht nur nach tiefer gelegenen 
Theilen der Vorkammer und zur Kammer, sondern auch nach höher ge- 
legenen Theile der Vorkammer und nach den Venae cavae, also bis in die 
Stellen, wo der spontane Reiz und die physiologische Contraction ihren Aus- 
sangspunkt haben. Auf die Bedeutung, welche diese „Antiperistaltik“ für die 
Herzbewegung haben kann, hat Engelmann (6) früher schon hingewiesen. 

Reizt man nun spät in der erregbaren Phase der Vorkammer, also 
kurz vor dem Augenblicke, in welchem der nächste spontane Reiz von der 
Vena cava kommen würde, dann wird die Contraction die Vena cava nicht 
erreichen, bevor an diesem Orte der physiologische Reiz wirksam geworden 
ist: Vorkammer und Ventrikel werden dem Extrareize gehorchen; die schon 
angefangene spontane Contraction kann nicht weiter fortschreiten; der Rhyth- 
mus an den Venen aber ist nicht gestört worden. 

Wird die Extrasystole der Vorkammer etwas früher aufgeweckt, so 
wird es vorkommen können, dass dieselbe in den Venae cavae ankommt 
gerade in dem Momente, wo der physiologische Reiz zu wirksamer Höhe 
angewachsen war: auch dann gehorchen Vorkammer und Kammer dem 
Extrareize, der spontane Reiz in der Vena cava wird aufgehoben oder findet 
das ganze Herz refractär und wird nicht weiter geleitet: auch hier wird 
aber die periodische Reizerzeugung nicht gestört und wird also die Pause 
für beide, Vorkammer und Kammer, vollständig compensirend sein. 

Wenn nun aber die Vorkammer noch früher gereizt wird, kann die 
Extracontraction die Vena cava erreichen vor dem Augenblicke, in dem der 
sich bildende Reiz zu wirksamer Intensität angewachsen ist. Das dort 
gerade vorhandene Reizmaterial wird durch die Extracontraction vernichtet. 
Von diesem Augenblicke an braucht es also wieder einer Periodendauer, 
bevor sich wieder neues Reizmaterial bis zur Wirksamkeit gebildet hat, 
es tritt also der Fall ein wie bei directer Reizung der Vena cava. Es 
wird also die nächstfolgende spontane Systole verfrüht auftreten und zwar 
gerade um so viel früher, als die Extracontraction die Vena cava vor dem 
Ende der Venenperiode erreichte. 

Ich habe versucht, in den Schemen Fig. 2 und 3 diesen Vorgang an 
einem willkürlich gewählten Fall zu illustriren. In Fig. 2 wird die Vor- 


Ve: 


62 K. F. WENCKEBACH: 


kammer künstlich gereizt, bezw. 18, 15 und 12 Zeiteinheiten nach der 
vorhergehenden spontanen Systole. In diesen drei Fällen contrahiren sich 
Vorkammer und Kammer in einer Extrasystole; in den beiden ersten Fällen 
begegnet die Extracontraction der Vorkammer der schon angefangenen spon- 
tanen, von den Venen ausgehenden Contraction. Im dritten Falle trifft 
sie die Vena cava gerade im spontanen Reizmoment. In allen drei Fällen 


bleibt der Venenrhythmus ungestört, für Vorkammer und Kammer ist die 
auf die Extrasystole folgende Pause vollständig compensirend, das Intervall 
zwischen der an der Extrasystole vorhergehenden und der darauf folgenden 
spontanen Systole ist gleich zwei Herzperioden, in casu = 40. 

In Fig. 3 ist eine frühere Reizung der Vorkammer illustrirt. Es wird 
10, bezw. 8 und 5 Einheiten nach der vorhergehenden spontanen Systole 


Y 16 20 J 15 20 I 14 20 J 


gereizt. Es kommt die bei 10 aufgeweckte Extracontraction der Vorkammer 
16 Einheiten nach der vorhergehenden, also 4 vor dem nächsifolgenden 
spontanen Reiz in der Vena cava an. Das dort vorhandene Reizmaterial 
wird vernichtet, es dauert jetzt wieder 20 Einheiten, bevor wieder ein neuer 
spontaner Reiz wirksam wird. Das Intervall der spontanen Reize und also 
der spontanen Contractionen ist nicht 20 -+ 20, sondern 16 + 20 = 36. Je 
früher die Vorkammerextrasystole fällt, desto kürzer muss dieses Intervall 
werden, in casu bezw. 35 und 34. 


ÜBER DIE DAUER DER COMPENSATORISCHEN PAUSE. 63 


Hieraus geht hervor, dass, wenn man spät in der erregbaren 
Phase der Vorkammer reizt, die compensatorische Pause voll- 
ständig ist, zweitens, dass je früher man reizt, desto kürzer das 
Intervall zwischen vorhergehender und nachfolgender spon- 
taner Systole wird. 

Es kommt hier noch ein zweites Moment in’s Spiel, welches die Länge 
der Pause beherrscht. Je früher man in der erregbaren Phase der Vor- 
kammer reizt, desto träger wird der Reiz durch die Muskelsubstanz weiter 
geleitet werden, desto langsamer wird die Contractionswelle fortschreiten; 
denn das Leitungsvermögen der Herzmuskel kehrt nach der vorhergehenden 
Systole erst allmählich zurück. Es wird also, wie auch aus Fig. 3, wo mit 
dieser Verlangsamung der Leitung gerechnet ist, hervorgeht, das Intervall 
A,—Ve, um so länger sein, je früher man reizt. Und weil dies Intervall 
mit den Augenblick bestimmt, in dem in der Vena cava das vorhandene 
Reizmaterial durch die hinzugeleitete Contraction vernichtet wird, beherrscht 
es auch die Dauer der Vorkammerpause. Und dies erklärt, wie auch aus 
Fig. 3 hervorgeht, „dass die Pause nach der Vorkammerextra- 
systole länger ist, je nachdem der Reizmoment früher in der 
erregbaren Phase der Vorkammer fällt und schneller auf die 
vorhergehende Systole folgt“. 

Die gefundenen Thatsachen werden also in dieser Weise ungezwungen 
erklärt, und es folgt hieraus, dass für das Säugethierherz die nämlichen 
Gesetze Geltung haben, welche für das Froschherz festgestellt wurden, nur 
dass, wie Hering sagt, „die Beziehung keine so einfache ist“. 

Die eigenthümliche Aenderung in dem Contractionsablauf der Vor- 
kammer bei Reizung derselben, welche von Mackenzie und von Cushny 
und Matthews beobachtet wurden, werden wahrscheinlich ihre Erklärung 
finden in der Art, in welcher, wie aus Fig. 2 hervorgeht, die Contractionswellen 
einander hier in der Vorkammerwand begegnen; die Verschiedenheiten wohl 
von dem Prävaliren der spontanen oder der Extracontraction abhängig sein. 

Es muss nun aber die Frage gestellt werden, weshalb folgt denn im 
Froschherzen immer (oder fast immer, vgl. Engelmann [6]) eine voll- 
ständig compensirende Pause nach Vorhofreizung? 

Die Antwort kann folgende sen: Für Theile der Herzwand von 
gleichmässiger Zusammensetzung gilt die Regel, dass sich der Reiz 
vollkommen reciprok in alle Richtungen verbreitet. Sobald aber die Gleich- 
mässigkeit aufhört, können der reeiproken Leitung bedeutende Hindernisse 
entgegengestellt sein. Es mag auch daran liegen, dass normaliter der Reiz 
von Vorkammer auf Kammer, im Allgemeinen von der einen Herzabtheilung 
auf die andere bedeutend langsamer übergeht, als innerhalb der Vorhofs- 
oder der Ventrikelwand. Bei einer der normalen entgegengesetzten Leitungs- 


64 K. F. WENCKEBACH: ÜBER DIE DAUER DER COMPENSATOR. PADSE. 


richtung wird diese langsamere Leitung in den Uebergangsstellen nicht 
weniger gelten. Und wie diese langsamere Leitung der Grund sein mag, 
dass Kammerextrasystolen nie schnell genug zurückschreiten, um noch einen 
störenden Einfluss auf den Venenrhythmus ausüben zu können, so wird 
das Vorhandensein deutlicher Differenzirung zwischen Venen, Sinus und 
Vorhof im Froschherzen wohl die Ursache sein, dass hier ein Vorhofreiz 
nicht schnell genug durch die Uebergangsstellen geleitet wird, um den 
Venenrhythmus stören zu können. Ausserdem scheint diese Möglichkeit 
noch geringer, weil im Froschherzen die mit starker automatischer Reiz- 
erzeugung begabte Muskelfasern bis hoch in die Vena cava, weit vom Herzen 
entfernt, vorkommen. 

Weil dies im Säugethierherzen nicht so sehr der Fall ist und hier 
eine ausgesprochene Scheidung von Venen, Vorhof und Sinus venosus fehlt, 
wird der Unterschied im Verhalten des Froschherzens und des Säugethier- 
herzens lediglich diesen verschiedenen anatomischen Verhältnissen zuge- 
schrieben werden müssen. 

Wenn schliesslich diese Erklärung richtig ist, muss die Stelle, wo der 
Vorhof gereizt wird, ganz nahe an der Vena oder nahe an der Atrio- 
ventriculärgrenze einen Einfluss erkennen lassen. Vielleicht wird es mög- 
lich sein, an nicht zu kleinen Herzen, besonders da, wo die Leitung schon 
etwas verlangsamt ist, nachzuweisen, dass in genau derselben Phase der 
Herzperiode reizend, die Reizung in der Nähe der Vena cava von einer 
kürzeren, die Reizung weit von der Vena cava von einer längeren Pause 
gefolgt wird. Der Unterschied würde dann auf dem kürzeren oder längeren 
Weg beruhen, welchen der Reiz zu durchschreiten hat, bevor er die Vena 
cava erreicht. 


Litteraturverzeichniss. 


1. Cushny and Matthews, Journal of Physiology. Vol. XXI. 

2. H. E. Hering, Zur experimentellen Analyse der Unregelmässigkeiten des 
Herzschlages. Pflüger’s Archiv. Bd. LXXXI. 

3. J. Mackenzie, The venous and liver pulses, and the arhythmie contraction 
of the cardiac cavities. Journal of Pathology and Bacteriology. Vol. I. 

4. Wenckebach, Zur Analyse des unregelmässigen Pulses. Zeitschrift für 
klinische Medicin. Bd. XXXVI. 

5. Th. W. Engelmann, Sur la transmission reeiproque et irreeiproque des 
excitations, dans le coeur en particulier. Archives Neerlandaises. T. XXX. 

6. Derselbe, Beobachtungen und Versuche u.s. w. III. Refractäre Phase und 
compensatorische Ruhe. Onderz. Phys. Lab. Utrecht. 1895. IV. Reeks. Ill. Deel. 


Zur Analyse der dyspnoischen Vagusreizung. 


Von 


Max Verworn 
in Göttingen. 


(Hierzu Taf. I.) 


Die nervösen Centra der Medulla oblongata sind bekanntlich in ganz 
hervorragendem Maasse erregbar durch Erstickung. Wird auf irgend 
einem Wege ein Warmblüter erstickt, so zeigen die Veränderungen im 
Athemrhythmus eine Erregung des Athemcentrums, die Störungen der 
Herzthätigkeit eine Erregung des Vaguscentrums, die Steigerung des Blut- 
druckes bei durchschnittenen Vagis eine Erregung des Vasomotorencentrums 
und schliesslich die Tenner-Kussmaul’schen Krämpfe eine Ausbreitung 
der Erregung auf das ganze motorische Sammelcentrum der Medulla 
oblongata an. Diese charakteristischen Erstickungssymptome erscheinen auf 
den ersten Blick als verhältnissmässig einfache und unmittelbare Folgen der 
gestörten Athmung. In Wirklichkeit ist ihre Genese durchaus nicht so ein- 
fach und klar, wie es den Anschein hat, vielmehr schafft die Dyspnoe 
mancherlei Verhältnisse im Körper, die secundär wieder an der Genese 
der genannten Erstickungserscheinungen betheiligt sind. Es müssen daher 
zunächst einmal alle die Beziehungen studirt werden, die sich zwischen 
den Centren und den primär im Körper bei der Erstickung entstehenden 
Veränderungen entwickeln. Ehe diese Beziehungen nicht vollständig er- 
mittelt sind, wird an eine Aufklärung der eigenthümlichen Erstickungs- 
erscheinungen nicht zu denken sein. Diese Beziehungen sind aber für 
manche Centra recht verwickelte. Das gilt speciell für das Centrum des 
Herzvagus. Es treten bei der Dyspnoe eine Reihe von Factoren auf, die 
nicht nur direct, sondern auch durch Vermittelung anderer Momente auf 


das Vaeuscentrum einwirken und seinen Erregungszustand beherrschen. 
Archiv f. A. u. Ph. 1903. Physiol. Abthlg. 5 


66 Max VERWORN: 


So erscheint eine Analyse und Differenzirung dieser Factoren und ihrer 
Wirkungen recht wünschenswerth. 

Die folgenden Versuche, welche zu dieser Analyse einige Beiträge 
liefern sollen, wurden ausschliesslich an Kaninchen gemacht, Zur Ver- 
meidung von Fehlerquellen wurden die Thiere nicht narkotisirt. Die Ver- 
suchsanordnung war folgende Nachdem das Thier operativ vorbereitet 
war durch Einführung einer Trachealcanüle für künstliche Athmung, durch 
Freilegung der Vagi, Sympathici und Depressoren, durch Einbindung einer 
Canüle in die Vena jugularis, wurde die eine Carotis durch eine Canüle 
mit dem Quecksilbermanometer eines grossen Hering’schen Kymographions 
in Verbindung gesetzt und der Blutdruck verzeichnet. In manchen Ver- 
suchen wurde ausserdem gleichzeitig noch der Athemrhythmus mit einer 
Marey’schen Kapsel und die Zeit mit einem Secundenschreiber registrirt. 
Die Thiere athmeten dabei theils spontan, theils wurden sie nach Curare- 
vergiftung künstlich ventilirt. 

Wenn man bei dieser Versuchsanordnung Dyspnoe erzeugt, etwa durch 
Verschliessung der Trachealcanüle oder besser am curarisirten Thier durch 
Sistirung der künstlichen Athmung, so entwickelt sich eine eigenthümliche 
rhythmische Erregung des Vaguscentrums, die bereits von Traube! beob- 
achtet und seitdem mehrfach in der Litteratur berührt worden ist. Unter 
allmählichem Ansteigen des absoluten Blutdruckes beginnen rhythmisch 
plötzliche steile Abfälle und allmähliche Anstiege des Blutdruckes mit ein- 
ander zu wechseln. Dabei kann der Rhythmus in mannigfacher Weise 
varliren, doch meistens so, dass ein bestimmtes Individuum fast immer einen 
und denselben Typus des Rhythmus zeigt, so oft man Dyspnoe bei ihm 
erzeugt. In der Regel folgen einem plötzlich und steil abfallenden langge- 


zogenen Vaguspuls zwei bis drei, bisweilen auch mehr niedrigere und kürzere: 


Pulse, während welcher der Blutdruck wieder ansteigt, um dann plötzlich 
wieder steil abzusinken und so fort. Bisweilen folgt jedem steilen und 
langen Vaguspuls nur ein einziger niedrigerer, aber immerhin noch ziemlich 
ergiebiger Pulsschlag, so dass immer eine tiefabfallende mit einer weniger 
tief abfallenden und wieder höher aufsteigenden Pulscurve wechselt. Die 
Tiefe des Abfalles kann dabei ebenfalls sehr variiren. Auch will ich nicht 
unerwähnt lassen, dass mir unter etwa 50 Versuchsthieren in Göttingen 
drei bis vier Mal Individuen vorkamen, die in keiner Weise diese dyspnoische 
Vagusrhythmik erkennen liessen, was ich in Jena unter der gleichen Zahl 
von Thieren niemals beobachtet habe. Diese abweichenden Individuen 
zeigten stets überhaupt eine sehr geringe Erregbarkeit des Vagus. Die 
Ursachen dieser Erscheinung habe ich indessen nicht ermitteln können. 


! Centralblatt für die medicinischen Wissenschaften. 1865. 


ZUR ANALYSE DER DYSPNOISCHEN VAGUSREIZUNG. 67 


Dass die beschriebene Erscheinung, die ich im Folgenden kurz als 
„Vagusrhythmik“ bezeichnen will, thatsächlich auf einer rhythmischen 
Erregung des Vaguscentrums beruht, geht ohne Weiteres daraus hervor, 
dass sie nach Durchschneidung beider Vagi sofort aufhört. Dass sie nicht 
rein passiv oder reflectorisch durch die angestrengten Athembewegungen 
hervorgerufen wird, zeigt ihr Auftreten bei eurarisirten Thieren, wenn man die 
künstliche Athmung unterbricht. Es fragt sich also, welches ist ihre Genese? 

Wenn man bei einem curarisirten Thier die künstliche Athmung unter- 
bricht, so gestalten sich die Factoren, welche unter diesen Bedingungen 
etwa das Vaguscentrum beeinflussen könnten, verhältnissmässig einfach. 
Es werden, soweit sich das bis jetzt beurtheilen lässt, nur folgende Momente 
in Betracht kommen: 1. Veränderungen im Gasgehalt des Blutes 
(Sauerstoffmangel und Kohlensäureanhäufung), 2. forcirte, aber frust- 
rane Impulse des Athemcentrums, 3. Steigerung des Blut- 
druckes durch dyspnoische Erregung des Vasoconstrictorencentrums. Die 
Wirkungen dieser verschiedenen Momente auf das Vaguscentrum sind zu 
differenziren. 


1. Der Blutdruck. 


. Bekanntlich ist schon Bernstein ! auf Grund einer Reihe von Experi- 
menten, die auf eine künstliche Veränderung des Blutdruckes hinausgingen, 
zu dem Ergebniss gekommen, dass das Herzvaguscentrum hinsichtlich seines 
Erregungszustandes von der Höhe des Blutdruckes abhängig ist und in 
gewissen Grenzen als compensatorischer Apparat für die Regulirung der 
Blutdruckhöhe fungirt. Erhöhte Bernstein den Blutdruck vorübergehend 
durch Einspritzung von Blut in das Arteriensystem, so erhielt er eine Ver- 
langsamung, erniedrigte er ihn durch ausgiebige Blutentziehung, so bekam 
er eine Beschleunigung der Herzthätigkeit bei intacten Vagi, während beides 
ausblieb, wenn die Vagi vorher durchschnitten waren. 

In neuerer Zeit haben Biedl und Reiner? den Nachweis zu führen 
gesucht, dass die Ursache für die Entstehung der charakteristischen hohen 
„Vaguspulse“ in einer Steigerung des Blutdruckes gelegen ist und dass 
jede Steigerung des Blutdruckes durch directe Reizung des Herzvagus- 
centrums diese Vaguspulse hervorruft. Sie haben diese Pulse nach Aus- 
schaltung aller für eine etwaige reflectorische Erregung des Vaguscentrums. 


! Bernstein, COentralblatt für die medie. Wissenschaften. 1867. — Derselbe, 
Lehrbuch der Physiologie. 1894. 

2 Biedl und Reiner, Studien über Hirneireulation und Hirnödem. I. Mit- 
theilung:: Ueber das Vagusphänomen bei hohem Blutdrucke. Pflüger’s Archiv. 1898, 
Bd. LXXIIL 

5 


68 . Mıx VERWORN: 


in Betracht kommenden centripetalen Nerven sowohl bei Blutdrucksteigerung 
in Folge einer Ligatur der Aorta descendens als auch bei Blutdrucksteigerung 
durch Injection von Nebennierenextract beobachtet. Im letzteren Falle trat 
besonders deutlich die directe Wirkung der plötzlichen Blutdrucksteigerung 
auf das Vaguscentrum hervor, wenn die Injection in das nach dem Gehirn 
führende Ende der Carotis gemacht wurde. Es stellten sich alsdann sofort 
und im unmittelbaren Anschluss an die Injection Vaguspulse ein, die 
schnell wieder verschwanden, um erst von Neuem zurückzukehren, nachdem 
das Nebennierenextract sich im ganzen Gefässsystem verbreitet und seine 
Wirkung auf die gesammte Gefässmusculatur entfaltet hatte. 

Da das Nebennierenextract das bequemste und bei weitem das wirk- 
samste Mittel ist, um schnelle Blutdrucksteigerungen zu erzeugen, die in 
verhältnissmässig kurzer Zeit vorübergehen, so verwendete ich für meine 
Versuche über den Einfluss des Blutdruckes auf das Vaguscentrum ebenfalls 
dieses Mittel. Ich benutzte dazu die von der Londoner Firma Borroughs 
& Wellcome in den Handel gebrachten Tabletten (Gehalt von 0-3 8m 
Nebennierenextract) in frischen, wässerigen, durchfiltrirten Lösungen von 
1:20 bis 40. Von diesen Lösungen wurden Dosen von 1 bis 5°” in die 
Vena jugularis eingespritzt. 

Wenn ich einem curarisirten Kaninchen, das künstlich ventilirt wurde, 
eine nicht zu geringe Dosis Nebennierenextract injieirte, fand ich in ‘der 
That häufig, dass unmittelbar nach dem steilen Anstiege des Blutdruckes, 
zuweilen noch während desselben, meist aber erst auf der Höhe, jene tiefen 
und steil abfallenden Pulse, manchmal einzeln, manchmal in längeren 
Reihen, bisweilen in unregelmässigem Rhythmus folgend erschienen, die 
ganz den Charakter von Vaguspulsen hatten. Ich zweifelte daher Anfangs 


gar nicht daran, dass ich hier eine Erregung des Vaguscentrums vor mir 


hatte und es schien mir nur unentschieden, ob es sich dabei um eine reine 
Wirkung des hohen Blutdruckes oder etwa um eine directe erregende 
Wirkung des Nebennierenextractes auf das Vaguscentrum handelte. Als 
ich indessen, um doch ganz sicher zu sein, einen Controlversuch unter 
gleichen Bedingungen machte nach Durchschneidung beider Vagi, erhielt 
ich zu meiner Verwunderung auf der Höhe des Anstieges genau dieselben 
scheinbaren „Vaguspulse“ wie bei erhaltenen Vagis. Zunächst vermuthete 
ich, dass versehentlich ein Vagus nicht durchschnitten wäre. Es zeigte 
sich aber bei genauer Prüfung, dass beide Vagi eine vollkommene Conti- 
nuitätstrennung erfahren hatten. Ich wiederholte den Versuch an anderen 
Thieren, deren Vagi vorher durchschnitten wurden und fand nach stärkeren 
Dosen von Nebennierenextract nicht seltener wie bei Thieren mit erhaltenen 
Vagis dieselbe Erscheinung. ‘Es konnte sich demnach bei diesen tiefen und 
steil abfallenden Pulsen nicht um den Ausdruck einer Erregung des Vagus- 


ZUR ANALYSE DER DYSPNOISCHEN VAGUSREIZUNG. 69 


centrums handeln. Dieselben können vielmehr nur vom Herzen selbst her- 
rühren. In der That sind ja neuerdings von Gottlieb! und Langley? bei 
gewissen Gaben von Nebennierenextract auch andere Herzwirkungen be- 
schrieben worden. Wenn aber das Nebennierenextract auch nach Durchschnei- 
dung der Vagi durch periphere Wirkung auf das Herz Pulse erzeugen kann, 
die den Vaguspulsen täuschend ähnlich sehen, dann muss es höchst zweifel- 
baft erscheinen, ob die anscheinenden Vaguspulse, die nach Nebennieren- 
extract-Injection bei intacten Vagis auftreten, überhaupt in irgend einem Fall 
als wirkliche Wirkungen vom Vaguscentrum her angesprochen werden dürfen. 

Um über den Zustand des Vaguscentrums während der Wirkung des 
Nebennierenextractes etwas zu ermitteln, benutzte ich als Indicator für 
die Erregbarkeit des Centrums den Depressorreflex. Es wurde vor der 
Injection am Schlitteninductorium der Rollenabstand ermittelt, bei dem die 
Verlangsamung der Pulse und die Senkung des Blutdruckes deutlich zu 
sehen war. Dann wurde Nebennierenextract in die Jugularis injieirt und 
auf der Höhe des Blutdruckanstieges von Zeit zu Zeit wiederum der 
Depressorreflex geprüft. Dabei stellte sich heraus, dass die Reizung des 
Depressor jetzt schlechterdings unwirksam war. Auch wenn die Rollen des 
Schlitteninductoriums immer näher an einander gerückt wurden, erhielt ich 
keine Andeutung einer Vaguswirkung mehr. Diese vollkommene Unwirk- 
samkeit der Depressorreizung trat natürlich noch deutlicher hervor, wenn 
die Pulse auch auf der Höhe der Nebennierenextract-Wirkung ganz gleich- 
mässig und ohne von steilen Abfällen unterbrochen zu sein verliefen. Erst 
wenn die Blutdruckeurve beim Abklingen der Nebennierenextract-Wirkung 
allmählich wieder abzusinken begann, kehrte die Reflexerregbarkeit des 
Vaguscentrums für die Depressorreizung wieder zurück, um dann nach 
vollständiger Beendigung der Nebennierenextract-Wirkung wieder ihren alten 
Grad zu erreichen. Man kann diesen Versuch an demselben Individuum 
immer mit demselben Erfolg wiederholen. Ich habe ihn aber auch an 
einer ganzen Anzahl verschiedener Individuen stets im gleichen Sinne aus- 
fallen sehen. Nebenbei sei bemerkt, dass ich auch durch das Vasoconstric- 
torencentrum selbst bei stärkster Reizung des Depressor während der Dauer 
der Nebennierenextract-Wirkung keine Blutdrucksenkung erzielen konnte, 
bis die Curve allmählich wieder absank. Hier konnte man allenfalls die 
Ursache darin suchen, dass die periphere Erregung der Gefässmusculatur 
unter dem Einfluss des Nebennierenextractes zu stark sei, als dass das 
Nachlassen des centralen Gefässtonus unter dem Einfluss der Depressor- 
reizung zum Ausdruck kommen könnte. Für das Verhalten des Vagus- 


! Gottlieb, Ueber die Wirkung des Nebennierenextractes auf Herz und Gefässe. 
Archiv für erperim. Pathol. und Pharmak. Bd. XLIll. 
” Langley, siehe unten. 


70 MıAx VERWORN: 


reflexes bei Depressorreizung gilt indessen der analoge Einwand, dass das 
Nebennierenextract das Herz selbst für Impulse vom Vagus her unerregbar 
mache, bei den von mir benutzten Dosen nicht, da ich bei Reizung des 
Vagusstammes auch auf der Höhe der Nebennierenextract- Wirkung stets 
deutliche Vaguswirkungen erhalten konnte. Eine periphere Vaguswirkung 
des Nebennierenextractes ist zwar durch die Untersuchungen von Cybulski! 
und Langley ? bekannt geworden, doch tritt die Lähmung der peripheren 
Theile erst bei sehr grossen Dosen ein, während in meinen Versuchen schon 
der Depressorreflex längst ausblieb, wenn die directe Vagusreizung noch 
sehr starke Herzwirkungen gab. Das Nebennierenextract muss also den 
Depressorreflex auf den Herzvagus im Centrum unterdrücken. Wenn daher 
nicht etwa andere in den Reflexbogen eingeschaltete Stationen unwegsam 
werden, so bleibt nichts übrig, als die Annahme einer Lähmung des 
Herzvaguscentrums durch das Nebennierenextract. 

Ich möchte nach den im Vorstehenden mitgetheilten Versuchen nicht 
gerade behaupten, dass eine Erregung des Vaguscentrums durch eine mit 
Nebennierenextract erzeugte Blutdrucksteigerung, wie sie Biedl und Reiner 
annehmen, überhaupt nicht vorkäme. Es ist immerhin möglich, dass mit 
anderen Thierarten, mit anderen Nebennierenextract-Präparaten, mit anderen 
Dosirungen eine solche zu erzielen wäre. Auf jeden Fall aber ist soviel 
sicher, dass nach den obigen Erfahrungen das Nebennierenextract kein ge- 
eignetes Mittel ist, um den Einfluss einer Blutdrucksteigerung auf das 
Vaguscentrum zu studiren. 

Ein besseres Mittel für diesen Zweck ist die Aortenabklemmung. Ich 
habe mich überzeugt, dass die dadurch erzeugte Erhöhung des Blutdruckes 
in der That eine bemerkenswerthe Erregbarkeitssteigerung des Vaguscentrums 
hervorruft. Als Indicator für den Erregbarkeitszustand wurde wieder der 
Depressorreflex benutzt. Die Depressoren waren beide durchschnitten und 
es wurde vor Beginn des Versuches der Rollenabstand des Schlitteninduc- 
toriums ermitielt, bei dem der Reflex deutlich ausgelöst werden konnte, 
Dann wurde an die Aorta descendens eine Klemme angelest. Allmählich 
stieg der Blutdruck mehr und mehr an. Wenn er ein constantes Niveau 
erreicht hatte, wurde wieder der Depressorreflex geprüft. Es stellte sich 
jetzt heraus, dass die Wirkung eine ganz bedeutend stärkere war bei dem 
gleichen Rollenabstand. Die Verlangsamung und Vertiefung der Pulse war 
stets viel stärker als vorher und es konnte der Rollenabstand ganz wesent- 
lich vergrössert werden, ohne dass der Reflex verschwand. Dennoch traten 


! Vgl. Szymonowicz, Die Function der Nebenniere. Pflüger’s Archiv. 1896. 
Bd. LXIV. 

2 Langley, Observations on the physiological action of the extracts of the supra- 
renal bodies. Journal of Physiology. 1901. Vol. XXVII. 


ZUR ANALYSE DER DYSPNOISCHEN VAGUSREIZUNG. 71 


niemals spontan die charakteristischen, rhythmischen Vaguspulse auf trotz 
des ausserordentlich hohen Blutdruckes. Die Pulse sind zwar, wie das seit 
Marey’s und Bernstein’s Arbeiten schon bekannt ist, bei hohem Blut- 
druck höher und etwas langsamer als bei niedrigerem, aber sie sind durch- 
aus gleichmässig und es zeigt sich keine Spur von Vagusrhythmik. 
Dagegen zeigte sich das Vaguscentrum bei so hohem Blutdruck auch für 
Dyspnoe viel erregbarer als vorher. Jede Unterbrechung der Athmung 
rief die Vagusrhythmik nicht nur viel schneller hervor, sondern erzeugte 
auch viel tiefer abfallende und länger gezogene Vaguspulse. Wurde die 
Aortenklemme wieder abgenommen, so sank mit abnehmendem Blutdruck 
auch die Erregbarkeit des Vaguscentrums sowohl für Depressorreizung als 
auch für Dyspnoe. Der Rollenabstand bei Depressorreizung musste wieder 
bedeutend verringert werden, bis eine deutliche Wirkung zu erzielen war 
und die Wirkung der Athemunterbrechung trat wieder viel später und 
schwächer ein als noch kurz vorher bei hohem Blutdruck. 

Nach diesen Erfahrungen war zu erwarten, dass eine sehr starke 

Herabsetzung des Blutdruckes möglicher Weise das Vaguscentrum ganz 
unerregbar machen würde. Ich habe in dieser Richtung Versuche mit ver- 
schiedenen Mitteln ausgeführt. 
Zunächst erzeugte ich eine starke Blutdruckerniedrigung durch Ein- 
athmenlassen von Amylnitrit. In der That war selbst bei viel stärkerer 
Reizung als vorher jetzt kaum noch eine merkliche Depressorwirkung zu 
erzielen. Dagegen wirkte die Dyspnoe dadurch, dass sie zunächst den Blut- 
druck ziemlich schnell und hoch ansteigen liess und dann bei hohem Blut- 
druck wieder Vagusrhythmik hervorrief. Das Amylnitrit vermag also trotz 
seiner starken Herabsetzung des Blutdruckes nicht .die starke dyspnoische 
Blutdrucksteigerung durch Erregung des Vasoconstrietorencentrums zu ver- 
hindern. Das spricht für die Auffassung, welche die lähmende Wirkung 
des Amylnitrits an die peripheren Theile verlegt. Ich muss allerdings be- 
merken, dass ich das Amylnitrit nie lange einathmen liess, sondern immer 
nur so lange, bis der Blutdruck auf einem constanten niedrigen Niveau 
angelangt war. Vielleicht gelingt es durch andauernde Amylnitritwirkung 
oder durch intravasculäre Application die Gefässmusculatur so stark zu 
lähmen, dass auch das Gefässcentrum bei heftigster Erregung keine Con- 
traction mehr hervorbringen kann. 

Sodann wandte ich die von Bernstein benutzte Methode der Blut- 
entziehung an, um den Blutdruck zu erniedrigen. Es wurden durch eine 
in die andere Carotis eingebundene Canüle nach und nach in Zwischen- 
räumen immer grössere Quantitäten Blut entzogen und nach jeder Blut- 
entziehung und Blutdruckerniedrigung wurde die Erregbarkeit des Vagus- 
centrums durch Depressorreizung und Dyspnoe geprüft. Dabei zeigte sich 


72 MıAx VERWORN: 


wiederum, dass die Erregbarkeit für die Depressorreizung immer mehr 
abnahm je mehr der Blutdruck gesunken war und dass schliesslich bei einem 
Blutdruck von etwa 20m der Depressorreflex auch für stärkste Reizung 
erloschen war. Das gleiche Verhalten des Vaguscentrums ergab sich 
schliesslich bei Dyspnoe. Je niedriger der Blutdruck war, um so schwächer 
war auch die dyspnoische Vagusrhythmik entwickelt, obwohl nach jeder 
Unterbrechung der Athmung der Blutdruck allmählich noch immer ein 
wenig anstieg. Zuletzt war auch bei langdauernder Dyspnoe keine Vagus- 
rhythmik mehr zu erzielen. Dennoch ergab eine Reizung des Vagusstammes 
auch bis zuletzt deutliche Herzwirkungen. 

Aus alledem geht also hervor, dass einerseits die Erregbar- 
keit und dementsprechend der gleichmässige Erregungszustand 
des Herzvaguscentrums, wie Bernstein bereits fand, abhängig 
ist von der Höhe des Blutdruckes, indem beide mit abnehmen- 
dem Blutdruck sinken, mit zunehmendem Blutdruck steigen, 
dass aber andererseits auch durch den höchsten Blutdruck 
allein keine rhythmische Erregung des Vaguscentrums erzeugt 
wird, sondern dass zu ihrem Zustandekommen noch Dyspnoe 
erforderlich ist. 


2. Der Gasgehalt des Blutes. 


Die Frage, ob die dyspnoischen Erregungserscheinungen durch Sauer- 
stoffmangel oder durch Kohlensäureanhäufung hervorgerufen werden, ist 
besonders hinsichtlich des Athemcentrums seit Traube oft genug Gegen- 
stand der Untersuchung gewesen. Durch die Arbeiten von Pflüger, 
Dohmen, Rosenthal und Anderen kann man heute wohl als festgestellt 
betrachten, dass wenigstens in erster Linie der Sauerstoffmangel die Er- 
regung des Athemcentrums erzeugt, dass dagegen die Kohlensäureanhäufung 
erst in zweiter Linie als erregendes Moment in Betracht kommen kann; 
ja es ist sogar, wie jüngst noch Winterstein! auf Grund von Studien 
über die Wirkung der Kohlensäure auf nervöse Centra bei Kalt- und 
Warmblütern betont, in hohem Grade unwahrscheinlich, dass die Kohlen- 
säure überhaupt auf das centrale Nervensystem direct erregend wirken 
kann. Mit Sicherheit nachweisen lassen sich nur lähmende Wirkungen 
der Kohlensäure auf die Centra. Dagegen vermag die Kohlensäure, wie 
es scheint, periphere Theile zu erregen und so auf reflectorischem Wege 
auch eine Erregung der Centra herbeizuführen. 


ı H. Winterstein, Ueber die Wirkung der Kohlensäure auf das Centralnerven- 
system. Dies Archiv. 1900. Physiol. Abthlg. Suppl. 


ZUR ANALYSE DER DYSPNOISCHEN VAGUSREIZUNG. N 


Für das Vaguscentrum speciell habe ich ebenfalls einige orientirende 
Versuche angestellt, speciell hinsichtlich der Frage, ob Sauerstoffmangel als 
erregendes Moment in Betracht kommt bei der Entstehung der charakte- 
ristischen Vaguspulse. Ich liess Kaninchen, deren Blutdruck in der oben 
angegebenen Weise verzeichnet wurde, durch eine Trachealcanüle athmen, 
an die momentan durch Umlegen einer Klemme eine grosse, 12 Liter 
fassende Athemflasche angeschlossen werden konnte. Diese Athemflasche 
war mit einem von zwei Glasröhren durchbohrten Gummistopfen verschlossen 
derart, dass die eine kürzere Glasröhre durch -ein sehr kurzes Stück geölten 
Kautschukschlauches unmittelbar mit der Trachealcanüle communicirte, 
während die andere längere und knieförmig gebogene ein Schlauchstück 
trug, das mit einem Ende in ein Wassergefäss tauchte, so dass jede Druck- 
veränderung in der Flasche durch Steigen resp. Sinken des Wassers in der 
Röhre angezeigt wurde. Die Athemflasche selbst war im einen Falle mit 
atmosphärischer Luft, im anderen mit reinem Wasserstoff gefüllt. Wurde 
das Thier an die mit atmosphärischer Luft gefüllte Athemflasche an- 
geschlossen, so dauerte es beinahe 10 Minuten, bis sich Vaguspulse merk- 
lich zu entwickeln begannen. Wurde dagegen das Thier mit der Wasser- 
stoffflasche verbunden, so traten nach wenigen Secunden bereits sehr starke 
Vaguspulse auf und es entstand die charakteristische Erscheinung der 
Vagusrhythmik, die alsbald wieder verschwand, wenn das Thier wieder mit 
der luftgefüllten Athemflasche in Verbindung gesetzt wurde. Diese einfachen 
Versuche zeigen deutlich, dass auch hinsichtlich des Vaguscentrums speeiell 
dasselbe gilt, wie hinsichtlich des Athemcentrums: Sauerstoffmangel wirkt 
in kürzester Zeit als heftig erregendes Moment. Die Kohlensäureanhäufung 
kommt im Verhältniss zum Sauerstoffmangel, wenn überhaupt, so erst viel 
später in Betracht. Auf jeden Fall ist die erste Ursache der 
dyspnoischen Vaguspulse also im Sauerstoffmangel zu suchen. 
Es soll hier die vom Standpunkt allgemein-physiologischer Erfahrungen aus 
zunächst als sehr paradox erscheinende Thatsache, dass Sauerstoffent- 
ziehung als erregender Reiz wirken kann, nicht weiter erörtert werden. 
Da alle unsere Erfahrungen über die Wirkungen des Sauerstoffmangels an 
den verschiedensten Objecten, wie einzelligen Organismen, Pflanzenzellen, 
Muskeln, Rückenmarkscentren, Nerven u. s. w. ganz übereinstimmend ge- 
zeigt haben, dass die Erregbarkeit durch Sauerstoffmangel immer nur 
gelähmt, durch Sauerstoffzufuhr wieder hergestellt wird, so ist zu erwarten, 
dass es sich bei der erregenden Wirkung des Sauerstoffmangels auf die 
Centra der Medulla oblongata nicht um eine unmittelbare Wirkung auf die 
lebendigen Elemente der Ganglienzellen, sondern vielmehr um eine secundäre 
Wirkung handelt. Die interessante Frage, wie der Mechanismus dieser er- 
regenden Wirkungen des Sauerstoffmangels zu denken ist, ob hier reflec- 


74 Max VERWORN: 


torische Momente im Spiele sind, oder ob, wie Pflüger! meint, in Folge 
des Sauerstuffmangels im Blute Substanzen sich anhäufen, die ihrerseits er- 
regend auf die Centra wirken, wenn sie nicht mehr durch Oxydation im Blute 
beseitigt werden, ist ein Problem, das späteren Untersuchungen vorbehalten 
bleiben muss. Jedenfalls wird aus allgemein-physiologischen 
Gründen die erregende Wirkung des Sauerstoffmangels auf die 
CGentra der Medulla oblongata als eine indirecte, secundäre zu 
betrachten sein. 


3. Impulse vom Athemcentrum. 


Wenn bei behinderter oder vollkommen unterdrückter Athmung die 
erste Ursache der Erregungserscheinungen, welche die Centra der Medulla 
oblongata zeigen, im Sauerstoffmangel zu suchen ist, und wenn, wie oben 
gezeigt, die dyspnoische Steigerung des Blutdruckes zwar eine gleichmässige 
Steigerung des Erregbarkeitszustandes des Vaguscentrums, aber keine 
rhythmischen Erregungsschwankungen erzeugt, so entsteht die Frage, worin 
liegt die Ursache dieser eigenthümlichen dyspnoischen Vagusrhythmik? 

Unter den rhythmischen Erscheinungen, die wir in der gesammten 
Organismenwelt weit verbreitet finden, können wir hinsichtlich ihrer Genese 
bei genauerer Prüfung zwei verschiedene Typen unterscheiden. Im einen 
Falle liegt die Ursache der Rhythmik in rhythmischen Intensitätsschwan- 
kungen des Reizes, welcher die Erscheinung auslöst, während die Erreg- 
barkeit des lebendigen Objectes an sich keine Schwankungen zeigt. Die 
Genese dieses Typus von rhythmischen Erscheinungen ist ohne Weiteres 
klar. Jede auf nervösem Wege hervorgerufene rhythmische Bewegung eines 
Skeletmuskels liefert ein Beispiel für diesen Fall. Im anderen Falle da- 
gegen kommt die rhythmische Erregung zu Stande bei continuirlich gleich- 
bleibender Intensität des erregenden Reizes durch rhythmische Schwankungen 
der Erregbarkeit des lebendigen Objectes. Hier beruht die Genese des Rhyth- 
mus auf der Entwickelung eines merklichen Refraetärstadiums nach jeder 
Entladung. Nach jeder Reaction ist die Erregbarkeit für die bestehende 
Reizintensität erloschen und erst allmählich steigt sie wieder an, bis der 
bestehende Reiz wieder wirksam wird. Ein Beispiel für diesen Typus der 
Rhythmik liefert ebenfalls der Skeletmuskel in dem von Biedermann? 
beschriebenen Falle der Rhythmik des Froschsartorius bei chemischer 


! Pflüger, Ueber die Ursache ‘der Athembewegungen sowie der Dyspnoe und 
Apnoe. Pflüger’s Archiv. 1868. Bd.|. 

® W. Biedermann, Beiträge zur allgemeinen Nerven- und Muskelphysiologie. 
VI. Mittheilung. Sitzungsber. der kais. Akad. der Wissenschaften in Wien. 1880. 
Bd. LXXXII. 


ZUR ANALYSE DER DYSPNOISCHEN VAGUSREIZUNG. 16) 


Reizung. Der ausgeschnittene Sartorius eines curarisirten Frosches wird 
rhythmisch thätig, wenn man ihn in eine Lösung von 5 sm Kochsalz, 2 sm 
alkalischem, phosphorsaurem Natron und 0.5:m kohlensaurem Natron auf 
1 Liter Wasser hängt und bei einer Temperatur von 3 bis 10° C. hält. 
Es fragt sich, welchem von beiden Typen gehört die Vagusrhythmik an? 

Ich möchte zunächst den letzteren Fall betrachten. Die Bedingungen 
für die Entwickelung eines deutlichen und längeren Refractärstadiums nach 
jeder Entladung des Vaguscentrums wären wohl gegeben in dem Sauer- 
stoffmangel bei der Dyspnoe. Sauerstoffmangel zieht ja, wie ich bei meinen 
Durchspülungsversuchen an Strychninfröschen für die Rückenmarkscentren 
gezeigt habe!, das refractäre Stadium bedeutend in die Länge. Man 
braucht also nur noch den erregenden Reiz, der dauernd einwirkt. Für 
diesen wären zwei Quellen möglich. Einerseits wieder die indirecten, 
die Medulla oblongata erregenden Wirkungen des Sauerstofimangels. Es 
mag uns ziemlich paradox erscheinen, dass ein und derselbe Factor, der 
Sauerstoffmangel sowohl lähmend (Refractärstadium) als erregend gleichzeitig 
wirken sollte, indessen wäre eine solche doppelte Wirkung doch denkbar, 
wenn man, wie das oben angenommen wurde, die erregende Wirkung nicht 
als directe Wirkung auf die Centra selbst, sondern als secundäre Folge 
einer anderen primären Wirkung des Sauerstoffmangels auffasst. Anderer- 
seits könnte aber auch die Blutdrucksteigerung als erregender Reiz an- 
gesprochen werden, denn man findet in der That, dass die Vagusrhythmik 
gewöhnlich erst beginnt, wenn der Blutdruck eine gewisse Höhe erreicht 
hat. Biedl und Reiner sind daher geneigt, die Steigerung des Blut- 
drucks und ihre Folgen wirklich als die Ursache der Vaguspulse zu be- 
trachten. Die Bedingungen für das Zustandekommen einer Rhythmik vom 
letzteren Typus würden sich also zur Noth auffinden lassen. 

Allein auch für den ersteren Typus der Rhythmik wären die Be- 
dingungen vorhanden. Wern man annimmt, dass die Athmungsrhythmik 
in irgend einer Weise auf das Vaguscentrum als erregender Reiz wirkt, so 
wäre in der Erresbarkeitssteigerung des Vaguscentrums bei der Dyspnoe 
die Voraussetzung gegeben, dass diese rhythmisch wiederkehrenden Reize, 
die im normalen Zustande des Thieres nicht das Vaguscentrum zu erregen 
vermögen, jetzt rhythmische Erregungen desselben hervorrufen. Auch könnte 
man annehmen, dass die durch die Athemrhythmik entstehenden Reize in 
der Dyspnoe, also bei foreirter Athmung, intensiver sind als bei normaler 
Athmung und daher jetzt‘ erst wirksam werden. 


! Max Verworn, Ermüdung, Erschöpfung und Erholung der nervösen Centra 
des Rückenmarkes. Ein Beitrag zur Kenntniss der Lebensvorgänge in den Neuronen. 
Dies Archiv. 1900. Physiol. Abthlg. Suppl. — Derselbe, Die Biogenhypothese. 
Jena 1903, 


76 MAx VERWORN: 


Es scheint daher auf den ersten Blick schwierig zu entscheiden, welchem 
von beiden Typen die Vagusrhythmik in Wirklichkeit angehört. Dennoch 
lässt sich diese Entscheidung mit aller Sicherheit treffen. 

Wenn die Athemrhythmik die erregende Ursache für das Vagus- 
centrum abgiebt, dann muss zunächst der Rhythmus der Athmung und des 
Vaguscentrums der gleiche sein. Verzeichnet man bei einem nicht curari- 
sirten T'hier, dessen Trachealcanüle man durch einen Schlauch mit einer 
Marey’schen Kapsel verbunden hat, gleichzeitig die dyspnoischen Athem- 
bewegungen und die Blutdruckschwankungen, so sieht man in der That, 
dass zwischen der Athemrhythmik und der Vagusrhythmik in der Dyspnoe 
ein Parallelismus besteht. Es ist also zweifellos eine Beziehung zwischen 
beiden vorhanden. Es fragt sich nur, welcher Art diese ist. 

Die nächstliegende Annahme, dass die Athembewegungen, nament- 
lich wenn sie wie in der Dyspnoe stark foreirt sind, refleetorisch das Vagus- 
centrum erregen oder gar, dass sie einfach auf passivem Wege gar nicht 
durch Vermittelung des Vaguscentrums, die rhythmischen Blutdruck- 
schwankungen hervorrufen, fällt ohne Weiteres fort Angesichts der That- 
sache, dass auch bei vollkommen durch Curare gelähmten Thieren, bei 
denen die künstliche Athmung unterbrochen wird, die Vagusrhythmik sehr 
schön und deutlich zu sehen ist. 

Zu einer anderen Annahme führt folgende bekannte Thatsache. Wie 
bereits Ludwig und später Hering, Zuntz, Mosso u. A. fanden, übt die 
Athmung schon unter normalen Verhältnissen, besonders aber wenn sie ein 
wenig erschwert ist, beim Menschen und beim Hunde einen Einfluss auf 
das Vaguscentrum aus, der darin besteht, dass bei der Exspiration eine 
Erregung des Vaguscentrums und dementsprechend eine Pulsverlangsamung, 
bei der Inspiration dagegen eine Zunahme der Pulsfrequenz stattfindet. 
Wie Donders unter Berücksichtigung des Latenzstadiums der Vagusreizung 
berechnete, beginnt die Erregung des Vaguscentrums bereits während der 
Inspiration. Fredericq! hat nun bekanntlich die Frage, ob diese Er- 
regung des Vaguscentrums etwa durch den Dehnungszustand der Lungen 
reflectorisch ausgelöst würde, verneint, da er auch bei geöffnetem Brustkorb, 
also wenn die Lungen keine Formveränderungen mehr durch die Athmung 
erfahren, noch dieselbe rhythmische Zu- und Abnahme der Pulsfrequenz 
constatiren konnte. Wenn also nicht etwa auf anderen centripetalen Bahnen 
dem Vaguscentrum durch die frustranen Athembewegungen des Zwerch- 
fells und der übrigen Athemmuskeln Impulse zugeführt werden — und das 


! Leon Fredericg, De influence de la respiration sur la eireulation. (1° partie.) 
Les oscillations respiratoires de la pression arterielle chez le chien. Arch. de Biologie. 
1882. T. II, 


ZUR ANALYSE DER DYSPNOISCHEN VAGUSREIZUNG. 7X 


könnte ja bei eurarisirten Thieren ausgeschlossen werden — so liegt die 
Annahme sehr nahe, dass ähnlich wie nach Hering zwischen Athem- 
centrum und Vasomotorencentrum intracentral auch eine nervöse Ver- 
knüpfung zwischen Athemeentrum und Vaguscentrum besteht. Macht man 
diese Annahme, so wären auch die Erscheinungen der Vagusrhythmik in 
der Dyspnoe sehr einfach verständlich. Indessen scheint mir diese An- 
nahme durch die Versuche von Fredericq doch noch nicht vollkommen 
als zutreffend erwiesen zu sein. Es wäre nämlich, abgesehen davon, dass 
doch noch irgend welche centripetalen Bahnen durch frustrane Athem- 
bewegungen erregt würden, immer noch möglich, dass dieselbe Ursache bei 
der Dyspnoe, welche das Athemcentrum erregt, auch gleichzeitig das Vagus- 
centrum in Thätigkeit versetzt. Dann brauchte eine intracentrale Verbin- 
dung zwischen beiden nicht angenommen zu werden. 

Mir lag daher daran, auch diese letzten Einwände noch auszuschliessen. 
Das war in radiealer Weise nur möglich, wenn es gelang, auf irgend einem 
Wege die Thätigkeit des Athemcentrums und des Vaguscentrums bei der 
Dyspnoe zu differenziren. Der einfachste Weg zu diesem Ziele musste 
jedenfalls darin bestehen, während der Dyspnoe das Athemcentrum un- 
erregbar zu machen und das Vaguscentrum intact zu lassen. Indessen 
dieser Weg schien mir Anfangs kaum gangbar, denn während der Dyspnoe 
wird das Athemcentrum eben selbst immer im höchsten Grade errest, oder 
wendet man Mittel an, die das Athemcentrum lähmen, so wirken diese 
gleichzeitig auch auf das Vaguscentrum im selben Sinne. Schliesslich schlug 
ich einen auf den ersten Blick etwas paradoxen, aber dafür sehr bequemen 
und, wie sich bald herausstellte, direct zum Ziele führenden Weg ein. Ich 
lähmte das Athemcentrum durch Apnoe. 

Um dieses Mittel als brauchbar zu erproben, musste natürlich zunächst 
der Controlversuch gemacht werden, ob das Vaguscentrum während der 
Apnoe nicht etwa ebenfalls unerregbar wird. Das ist nicht der Fall. Als 
Indicator für die Erregbarkeit des Vaguscentrums wurde wieder der Depressor- 
_ reflex benutzt. Nachdem der Rollenabstand ermittelt war, bei dem noch 
deutliche Pulsverlangsamung auf Depressorreizung hin eintrat, wurde das 
selbstverständlich nicht curarisirte Thier durch ziemlich schnelle künst- 
liche Athmung apnoisch gemacht. Durch Unterbrechung der künstlichen 
Athmung -überzeugte ich mich zwischendurch, ob das Thier während der 
Athmung auch wirklich vollkommene Apnoe hatte. Die Trachealcanüle 
war zu diesem Zwecke mit einer sehr empfindlichen Marey’schen Kapsel 
verbunden, die jede Spur einer etwa noch bestehenden Athembewegung 
notirte. Leider erwiesen sich unter den zahlreichen Kaninchen, die ich 
für diese Versuche opferte, manche als sehr wenig brauchbar für die Er- 
zeugung einer länger dauernden Apnoe. Bei einzelnen gelang es sogar 


18 Mıx VERWORN: 


kaum während der künstlichen Athmung Apnoe zu unterhalten, bei einzelnen 
dauerte die Apnoe nach der Unterbrechung der künstlichen Athmung nur 
ganz kurze Zeit an. Dagegen war eine durchaus nicht geringe Anzahl von 
Individuen ganz ausgezeichnet geeignet für meinen Zweck. 

Nachdem sich gezeigt hatte, dass die Erregbarkeit des Vaguscentrums 
auch bei langdauernder Apnoe keine Veränderung erfährt, versuchte ich 
während der Apnoe Erstickung zu erzeugen. Nach der alten Rosenthal’- 
schen Deutung der Apnoe muss das als ein Widerspruch erscheinen. Die 
Thatsachen zeigen aber, dass beide Zustände an demselben Thier gleich- 
zeitig vorhanden sein können. Es ist mir bei einer ganzen Anzahl von 
Individuen gelungen, einen Zustand der Apnoe zu erzeugen, der nach 
Unterbrechung der künstlichen Athmung so lange dauerte, dass das Thier, 
ohne eine Athembewegung zu machen, ganz allmählich erstickte. Selbst- 
verständlich liess ich es immer nur so weit kommen, wenn der eigentliche 
Versuch an dem betreffenden Thier bereits beendigt war. Sonst wurde 
stets der Eintritt des Todes durch erneute künstliche Athmung verhindert, 
was immer sehr leicht gelang. Selbst wenn die Erstickungserscheinungen, 
wie das Verhalten des Blutdruckes zeigte, bereits einen sehr hohen Grad 
erreicht hatten, gelang es doch fast immer wieder, das Thier zu retten 
und bis auf die dauernde Lähmung des Athemcentrums wieder vollständig 
zu seinem normalen Zustande zurückzuführen. Diese Thatsachen liefern 
wiederum den Beweis, dass der durch künstliche Athmung ex- 
perimentell hervorgerufene Zustand der Apnoe sicher nicht auf: 
übermässiger Sauerstoffzufuhr zum Athemcentrum beruht. 

Verfolgt man nun nach Unterbrechung der künstlichen Athmung 
während einer andauernden Apnoe die Wirkungen der Erstickung am Blut- 
druck, so sieht man, dass bis zuletzt, bis das Herz beginnt abzusterben, 
keine Spur einer Vagusrhythmik sich entwickelt. Die dyspnoische 
Blutdrucksteigerung bildet sich allmählich aus, der Blutdruck steigt aber 
ganz gleichmässig an. Dann werden die Pulse auch gleichmässig tiefer 
und langsamer und der Blutdruck sinkt wieder allmählich ab. Schliesslich 
bei ganz niedrigem Blutdruck beginnt das Herz abzusterben, und hierbei 
zeigen sich dann bisweilen die charakteristischen Rhythmen der Herz- 
erstickung, die auch nach Durchschneidung beider Vagi noch bis zum Ende 
bestehen. Wie aus der Vertiefung und Verlangsamung der Pulse, die nach 
Durchsehneidung der Vagi sofort beträchtlich zurückgeht, zu ersehen ist, 
entwickelt sich während der Erstickung in der Apnoe eine langsam und 
gleichmässig zunehmende Erregung des Vaguscentrums. Die Prüfung der 
Eirregbarkeit des Vaguscentrums durch den Depressor ergiebt zugleich eine 
enorme Steigerung der Erregbarkeit. Bei Depressorreizung werden die Pulse 
sofort sehr langsam und tief. Da diese Erregbarkeitssteigerung bedeutend 


ZUR ANALYSE DER DYSPNOISCHEN VAGUSREIZUNG. 19 


grösser ist, als ich sie bei nicht dyspnoischer Erhöhung des Blutdruckes 
beobachtet habe, und da sie erst bei bereits wieder sinkendem Blutdruck 
ihr Maximum erreicht, so kann sie hier nicht allein durch den gesteigerten 
Blutdruck verursacht sein, sondern muss direct als eine Wirkung des 
Sauerstoffmangels während der Apnoe betrachtet werden. Der Sauerstoff- 
mangel bezw. seine erregenden Folgen machen sich also auch am Vagus- 
centrum selbst bemerkbar. Sie führen aber ebenso wenig wie der gesteigerte 
Blutdruck zu einer rhythmischen Erregung des Centrums. Die unmittel- 
bare Ursache der Rhythmik des Vaguscentrums bei der Dyspnoe liegt 
vielmehr in den Impulsen, die ihm intracentral vom Athemcentrum her 
übermittelt werden. Wird die Thätigkeit des Athemcentrums sistirt, so 
fällt auch die Rhythmik des Athemcentrums fort. 

Sehr bezeichnend für die kKolle des Athemecentrums erscheinen die- 
jenigen Fälle, in denen nach Unterbrechung der künstlichen Athmung 
zunächst noch längere Zeit Apnoe besteht, so dass sich die Erscheinungen 
der Erstickung bereits anfangen zu entwickeln, bis schliesslich, noch ehe 
der Herztod eintritt, die Athmung erst ganz schwach, dann allmählich 
immer stärker werdend wieder zurückkehrt. In diesen Fällen fehlt jede 
Spur einer Vagusrhythmik so lange, bis die ersten schwachen Andeutungen 
der wiederkehrenden Athembewegungen sichtbar werden und sich registriren. 
Der Blutdruck ist gestiegen, hat seine Höhe erreicht, beginnt bereits wieder 
zu sinken und keine Vagusrhythmik ist vorhanden. Da beginnt plötzlich 
die Athmung wieder, und sofort ist auch die Vagusrhythmik zu sehen. 
Diese Fälle zeigen recht deutlich, dass weder der hohe Blutdruck allein, 
noch der Sauerstoffmangel allein rhythmische Erregungen des Vaguscentrums 
erzeugt, sondern nur die rhythmischen Impulse vom Athemcentrum her. 


Schluss. 


Im Gegensatz zum Menschen und Hund ist am Kaninchen bei nor- 
maler ruhiger Athmung keine stärkere Beeinflussung des Vaguscentrums 
durch die Athemphasen zu sehen. Während am Menschen und Hund schon 
bei eupnoischer Athmung jeder Inspiration eine deutliche Verlangsamung 
und Vertiefung der Pulse gegenüber der Exspiration entspricht, bleibt beim 
Kaninchen die Herzthätigkeit in beiden Athemphasen im Wesentlichen 
dieselbe. Dagegen ist bei erschwerter oder ganz verhinderter Athmung 
auch am Kaninchen eine intracentrale Miterregung des Vaguscentrums 
vom Athemeentrum her in deutlichster Weise vorhanden. Es fragt sich 
daher, welches ist die Ursache dafür, dass bei ruhiger Athmung keine be- 
merkenswerthe Miterregung stattfindet, während sie bei behinderter Athmung 
sehr stark ist? Hier sind offenbar verschiedene Möglichkeiten denkbar, 


80 Mıx VERWORN: 


Entweder werden die Impulse des Athemcentrums erst in der Dyspnoe so 
stark, dass sie das Vaguscentrum miterregen, oder die Erregbarkeit des 
Vaguscentrums ist in der Dyspnoe so gesteigert, dass es für die Impulse 
des Athemcentrums erregbar wird, oder schliesslich es wirken beide Momente 
zusammen. 

Nach der vorstehenden Analyse des Zustandes, in dem sich das Vagus- 
centrum während der Dyspnoe befindet, ist es sicher, dass hier sowohl in 
Folge des hohen Blutdruckes, als besonders in Folge der Wirkungen des 
Sauerstoffmangels eine ganz bedeutend gesteigerte Erregbarkeit besteht. 
Diese Erregbarkeitssteigerung ist so gross, dass selbst die schwächsten Athem- 
impulse das Vaguscentrum in diesem Zustande miterregen. Das zeigt sich 
deutlich in den zuletzt beschriebenen Fällen, in denen das Thier bei unter- 
brochener künstlicher Athmung nach länger dauernder Apnoe allmählich 
wieder beginnt zu athmen. Die Athmung ist beim Wiederbeginn meist 
zunächst noch so schwach, dass sie nur bei sehr scharfem Zusehen eben 
bemerkt werden kann. Trotzdem beginnen bereits rhythmische Vaguspulse 
am Blutdruck aufzutreten, weil durch die lange Unterbrechung der Athmung 
die Erregbarkeit des Vaguscentrums enorm gesteigert ist. Dieser Factor 
lässt sich also sicher nachweisen. Andererseits sind wohl zweifellos bei 
starker Dyspnoe die Athemimpulse intensiver als bei ruhiger Athmung, 
wenn anders man aus der stärkeren Innervation der Athemmuskeln einen 
Rückschluss auf die Stärke der Impulse machen darf. Es werden also 
bei der durch hohen Blutdruck und Sauerstoffmangel ausserordentlich ge- 
steigerten Erregbarkeit des Vaguscentrums die stärkeren Impulse auch eine 
bedeutend stärkere Miterregung des Vaguscentrums hervorrufen müssen, 
als die schwächeren Impulse der gewöhnlichen Athmung. In der That 
sieht man auch beim Wiederbeginn der Athmung nach Apnoe unter den 
erwähnten Bedingungen, dass die Tiefe der Vaguspulse mit wachsender 
Stärke der Athembewegungen bis zu einer gewissen Grenze mehr und mehr 
zunimmt. Demnach wirken also beide Momente mit bei der 
Erzeugung der dyspnoischen Vagusrhythmik, die gesteigerte 
Erregbarkeit des Vaguscentrums und die Verstärkung der 
Athemimpulse. 


Fasse ich schliesslich das Ergebniss der vorstehenden Studie zusammen, 
so ist es folgendes: 


1. Bei behinderter Athmung wirken auf das Vaguscentrum 
drei verschiedene Momente ein, die Steigerung des Blutdruckes, 
der Sauerstoffmangel und die Impulse vom Athemcentrum. 


2. Die Steigerung des Blutdruckes erhöht die Erregebarkeit 
des Vaguscentrums. 


7ZuR ANALYSE DER DYSPNOISCHEN VAGUSREIZUNG. 81 


3. Der Sauerstoffmangel "steigert (vermuthlich auf indi- 
rectem Wege) ebenfalls die Erregbarkeit des Vaguscentrums 
in hohem Grade. 


4. Die Impulse vom Athemcentrum erzeugen eine rhyth- 
mische Miterregung des Vaguscentrums. 


5. Das Extract der Nebenniere vermag in gewissen Do- 
sirungen das Vaguscentrum vorübergehend unerregbar zu 
machen. 


Erklärung der Abbildungen. 
- (Taf. 1.)' 


Fig. 1. Typische dyspnoische „Vagusrhythmik“. Kaninchen ohne Curare. Dyspnoe 
durch Zuklemmen der Trachealeanüle (Pfeil). 


Fig. 2. Kaninchen, künstliche Athmung, Curare, Nebennierenextract-Injeetion. 
Auf der Höhe des Blutdruckes entstehen Pulse, die den „Vaguspulsen“ täuschend 
ähnlich sind, die aber auch nach Durchschneidung der Vagi (Pfeile) noch bestehen 
bleiben und an demselben Thier noch mehrmals durch erneute In) euinen von Neben- 
nierenextract in derselben Form hervorgerufen werden können. 


Fig. 3. Kaninchen ohne Curare. Künstliche Athmung. Erzeugung von Apnoe. 
Nach einiger Zeit wird die künstliche Athmung unterbrochen (K. A: aus)... Es\besteht_ 
andauernd vollkommene Apnoe und es entwickelt sich Erstickung. Das Vaguscentrum 
wird durch Depressorreizung auf seine Erregbarkeit geprüft bei einem Rollenabstand 
von 220 "= (Dep. 220). Das Vaguscentrum ist deutlich erregbar; ‚trotzdem an 
keine „Vagusrhythmik“, auch nicht im weiteren Verlauf der Curve. ri 5 


Archiv f. A. u. Ph. 1903. Physiol. Abthlg. 6 


. Zur 
Differenzirung rhythmischer Blutdruckschwankungen. 


Von 


Dr. P. Morawitz. 


(Aus dem physiologischen Institut der Universität Göttingen.) 


(Hierzu Taf. 11.) 


Als durch Ludwig die Schwankungen des arteriellen Blutdruckes 
einer genauen Analyse zugänglich gemacht worden waren, zeigte sich be- 
kanntlich, dass ausser den Pulszacken und respiratorischen Schwankungen 
unter gewissen Bedingungen auch noch andere, periodisch erfolgende wellen- 
. förmige Variationen des Blutdruckes zu beobachten sind. Seitdem Traube (1) 
zuerst diese Wellen beschrieben, und Hering (2) versucht hat, deren Ur- 
sachen festzustellen, haben diese rhythmischen Schwankungen den Namen 
der Traube-Hering’schen Wellen oder Perioden erhalten. 

Obwohl seitdem eine grosse Anzahl von Autoren diesen Traube- 
Hering’schen Wellen ihre Aufmerksamkeit zugewandt hat, herrscht über 
das Wesen und die Bedeutung derselben doch noch immer eine grosse 
Unklarheit. 

Es liegt das gewiss einmal in den ausserordentlich grossen Verschieden- 
heiten begründet, die Wellen ein und desselben Ursprunges zeigen können, 
Variationen, die natürlich einer genauen und scharf abgegrenzten Charakteri- 
sirung der Wellen im Wege sind. Andererseits aber, und nicht zum ge- 
ringsten Theile ist die Ursache dafür wohl darin zu suchen, dass rhythmisch 
auftretende Wellen der verschiedensten Art, die nur eine entfernte äussere 
Aehnlichkeit mit einander haben, vielfach ohne genügende Kritik unter dem 
Namen der Traube-Hering’schen Wellen zusammengefasst worden sind. 


P. MorAawItz: Zur DIFFERENZIRUNG U. S. W. 83 


Trotzdem bereits die Arbeiten Sigmund Mayer’s (8), Knoll’s (4), 
Biedl’s und Reiner’s (5) zur Klärung der Frage und zur Differenzirung 
der Wellen verschiedenen Ursprungs viel beigetragen haben, scheint mir 
doch der Ursprung einiger Arten periodischer Blutdruckschwankungen auch 
heute noch nicht mit genügender Schärfe erkannt zu sein. 

Bei Gelegenheit kymographischer Versuche sah Hr. Prof. Verworn 
sehr häufig periodische Blutdruckschwankungen auftreten, wenn durch sehr 
frequente Athmung die Herstellung einer Apnoe erreicht werden sollte. 
Diese Wellen sind zwar schon von S. Mayer (a. a. 0.) beschrieben und 
nach Hering’s Ermittelungen von Ersterem auf rein periphere, mechanische 
Momente zurückgeführt worden. Da sich aber manche Anhaltspunkte für 
den centralen Ursprung der Wellen ergaben, unternahm ich es, dieselben 
genauer zu untersuchen. | 

Sigmund Mayer (a. a. O.) beobachtete häufig bei verlangsamter Herz- 
action und sehr frequenter künstlicher Athmung das Auftreten von Blut- 
druckwellen, die früher, wie es scheint, oft mit den Traube-Hering’schen 
Wellen verwechselt worden sind. Jedoch schon das Aussehen der Wellen 
spricht gegen eine solche Identification: erstens sind nach Mayer die von 
uns zu betrachtenden \Vellen stets viel niedriger und kürzer, als die 
Traube-Hering’schen, sie erscheinen ferner mit Vorliebe, im Gegensatz 
zu den letzteren, bei niedrigem Blutdruck und verlangsamter, aber regel- 
mässiger Schlagfolge des Herzens. Während weiterhin die den Puls- 
schwankungen entsprechenden Zacken im aufsteigenden sowohl, als auch 
im absteigenden Schenkel der Traube-Hering’schen Wellen gleiche Höhe 
zeigen, bemerkte Mayer, dass die Pulse unserer Wellen im \Wellenthale 
kleiner sind, als auf dem Gipfel. Besonders leicht sind die beiden Wellen- 
arten durch ihr verschiedenes Verhalten bei Aenderung der künstlichen 
Respiration zu unterscheiden: bei Sistirung derselben bleiben die Traube’- 
schen Wellen bestehen, können sogar rascher und tiefer werden, während 
natürlich die den Traube’schen Wellen aufsitzenden respiratorischen 
Schwankungen verschwinden. Im Gegensatz dazu sind unsere Wellen von 
der künstlichen Athmung abhängig: jeder Aenderung der Athmung ent- 
spricht eine Aenderung in Bezug auf Höhe und Länge der Welle. Beim 
Verlangsamen oder vollständigen Sistiren der Athmung verschwinden auch 
die Wellen sofort. Diese so auffälligen Unterschiede haben ihren Grund 
in der ganz verschiedenen Entstehungsursache der beiden \Vellenarten. 

„Die in Frage stehenden periodischen Druckschwankungen “ schreibt 
Mayer (a.a.O.), „sind bedingt durch Interferenz der durch jeden Herz- 
schlag hervorgerufenen Druckschwelle mit den. durch den mechanischen 
Einfluss der künstlichen Lufteinblasungen bedingten Wellen des Blutdruckes 
Die Schwankungen können nur dann hervortreten, wenn die Zahl der Herz- 

6* 


34 P. MorAwıTz: 


schläge nahezu mit der in derselben Zeiteinheit vorgenommenen Zahl von 
Lufteinblasungen zusammenfällt.“ 

„Aus dem Gesagten ergiebt sich, dass zwei Bedingungen erfüllt sein 
müssen, um die genannten Schwankungen, die wir kurz ‚Schwankungen 
durch Interferenz‘ nennen wollen, in die Erscheinung treten zu lassen, und 
zwar: 1. bedeutende Verlangsamung der Herzcontractionen und 2. eine im 
Verhältniss zur bestehenden Pulszahl sehr hohe Frequenz der Einblasungen, 
so dass Puls- und Respirationszahl nahezu zusammenfallen und keineswegs 
mehr wie in der Norm mehrere Herzschläge während einer Respirations- 
schwankung ablaufen. Da man bei Einleitung der künstlichen Respiration 
gewöhnlich beflissen ist, den natürlichen Rhythmus der Athembewegungen 
einzuhalten, so wird dieses Verhältniss sich leicht herstellen, wenn aus 
irgend einer Ursache, bei gleich bleibender Frequenz der Einblasungen, 
eine starke Verlangsamung der Herzschläge eingetreten ist. 

Nach vielen vorliegenden Erfahrungen tritt eine solche sehr verlang- 
samte (aber dabei doch sehr regelmässige) Schlagfolge des Herzens ein in 
allen Fällen, in denen der arterielle Blutdruck sehr gesunken ist, sei es, 
dass der niedrige Druck in einer bedeutenden Abnahme des Inhaltes des 
Gefässsystems oder in dem vollständigen Schwinden des Gefässtonus be- 
gründet ist. 

Demgemäss wird man, sofern nur die Lufteinblasungen den oben ge- 
forderten Charakter besitzen, auf das Hervortreten der Schwankungen durch 
Interferenz rechnen können nach sehr starken Blutverlusten, nach Durch- 
schneidung des Halsrückenmarkes und der wichtigsten peripheren vaso- 
motorischen Nervenstämme, nach Ausschaltung des cerebralen Centrums 
für die Gefässinnervation, if was immer für einem Wege dieselbe auch 
hervorgerufen sein mag, u. s. w.“ 

Zweifellos sind diese Beobachtungen zum grössten Theil richtig, es 
giebt echte Wellen durch Interferenz. So wie zwei nicht genau auf den- 
selben Ton abgestimmte Stimmgabeln ein periodisches An- und Abschwellen 
des Klanges zeigen, so wird auch, natürlich so weit es die im Gefäss- 
system bestehenden Verhältnisse zulassen, die gemeinsame Wirkung der 
sehr frequenten, fast die Pulszahl erreichenden Einblasungen sowie der 
Herzeontractionen ihren Ausdruck in periodischen Hebungen und Senkungen 
des Blutdruckes finden. A priori ist gegen diese Theorie nichts einzuwenden. 

Jedoch haben mich meine Versuche zu der Ueberzeugung geführt, 
dass zwei differente Arten von Blutdruckschwankungen unter dem Namen 
der Interferenzwellen in der Litteratur zusammengefasst sind. 

Die Versuche wurden sämmtlich an der Carotis des Kaninchens mit 
Hülfe des Hering’schen Kymographions angestellt. Stets wurde künstliche 
Athmung eingeleitet und die Vagi, Sympathici und Depressoren durch- 


ZUR DIFFERENZIRUNG RHYTHMISCHER BLUTDRUCKSCHWANKUNGEN. 85 


schnitten, nachdem ich mich überzeugt hatte, dass dieselben für das Zu- 
standekommen der Wellen bedeutungslos sind. 

Man erhält die zu untersuchenden Blutdruckschwankungen sehr leicht, 
wenn man, wie Mayer angiebt, die Frequenz der Einblasungen so weit 
vermehrt, dass sie nicht weit hinter der Pulsfrequenz zurücksteht. Behält 
man diesen Rhythmus der Athmung bei, so kann man eine lange Reihe 
absolut regelmässiger Wellen erhalten, deren Länge sich nach der Zahl der 
Respirationen richtet, jedoch im Allgemeinen nicht über 2 bis 5 Secunden 
beträgt. Auch die Höhe der Wellen variürt, ist aber nie so bedeutend wie 
die der Traube-Hering’schen. Die grösste von mir beobachtete Differenz 
zwischen Wellenberg und Wellenthal betrug etwa 9=®. Durch Suspension 
oder starke Verlangsamung der Athmung kann man die Wellen sofort zum 
Verschwinden bringen, wobei man zuweilen, wenn die künstliche Athmung 
nur oberflächlich gewesen war, Traube-Hering’sche Wellen auftreten 
sieht. Auch kann man die Wellen durch Beschleunigung oder Verlang- 
samung des Athemrhythmus in der mannigfaltigsten Weise variiren, 
indem sie bei sehr grosser Frequenz, etwa bei 20 Respirationen in 5 Se- 
cunden, langgestreckt werden. Dabei ist hervorzuheben, dass bei gleich- 
bleibender Pulsfregquenz die Wellen bei sehr verschiedener Respirations- 
frequenz zu beobachten sind, weswegen man sie bei einiger Uebung sehr 
leicht hervorrufen kann. Natürlich besitzen die bei 10 Respirationen in 
5 Secunden beobachteten Wellen eine andere Gestalt, als die, welche bei 
20 Einblasungen auftreten. Gewiss muss zwischen der Anzahl der Pulse 
und der Respirationen ein gewisses Verhältniss bestehen, damit Wellen auf- 
treten; doch ist dasselbe keineswegs eine mathematische Proportion. Es ist 
dieses ein wichtiger Punkt, auf den ich noch zurückkommen werde. Die 
Oeffnung des Thorax sowie die Durchschneidung der Phrenici übt auf die 
Wellen keinen Einfluss aus. 

Bis hierher stimmen also meine Beobachtungen genau mit den Angaben 
Mayer’s überein; wenn er aber weiter angiebt, dass die Wellen hauptsäch- 
lich bei niedrigem Blutdruck auftreten, so kann ich mich dieser Bemerkung 
nur insoweit anschliessen, als man bei verlangsamter Herzaction leichter den 
Athemrhythmus trifft, der der Pulszahl ungefähr entspricht. Im Uebrigen 
ist das Auftreten der Wellen von der Höhe des Blutdruckes absolut un- 
abhängig. Ich habe sie bei sehr hohem, als auch bei einem Blutdruck 
von wenigen Millimetern Quecksilber beobachtet. Steigerte ich aber den 
Blutdruck, indem ich durch eine in die Vena jugularis eingebundene Canüle 
Nebennierenextract injieirte, so sah ich mit dem steilen Blutdruckanstieg 
die Wellen verschwinden. Erst nach geraumer Zeit, wenn die Wirkung 
des Nebennierenextractes abzuklingen begann, traten die Wellen wieder auf. 
Die Ursache dieser Erscheinung scheint mir aber nicht in der Erhöhung 


86 P. MorAwızz: 


des Blutdruckes, sondern in anderen Momenten zu liegen, auf die ich noch 
kurz zurückkommen werde 

Auch die Bemerkung Mayer’s, dass die Höhe der Pulszacken deutlich 
wahrnehmbare Differenzen in den verschiedenen Theilen der Welle zeigt, 
kann ich nicht bestätigen. Vielmehr konnte ich fast immer constatiren, 
dass die Höhe der Pulse im Wellenthal und auf dem Wellenberge absolut 
gleich ist. Wenn die Wellen allein auf Interferenz zurückzuführen wären, 
so müsste nach physikalischen Gesetzen, wie Mayer ja auch selbst hervor- 
hebt, ein derartiger Unterschied deutlich ausgeprägt sein. Schon dadurch 
wird die alleinige Wirkung der von Mayer angegebenen Factoren etwas 
zweifelhaft. 

Es lassen sich aber noch gewichtigere Argumente gegen einen rein 
- peripheren Urspung und für eine Betheiligung des Gefässcentrums in’s Feld 
führen: Während Reizung des centralen Vagusendes ohne irgend einen 
Einfluss auf die Wellen ist, beobachtet man, dass bei Reizung des Depressor 
mit dem Absinken des Blutdruckes die Wellen sich abflachen, um dann 
vollständig zu verschwinden. Die erste \Velle taucht erst wieder geraume 
Zeit nach Unterbrechung der Depressorreizung auf, und zwar immer in 
Form einer vollständigen Schwankung, also der aufsteigende Schenkel zuerst. 
Da Reizung des Depressor bekanntlich den Tonus des (Gefässcentrums 
herabsetzt, so lag die Vermuthung nahe, dass dieses Centrum auch beim 
Zustandekommen unserer Wellen eine Rolie spielt, um so mehr, als die 
Traube-Hering’schen Wellen ebenfalls meist bei Depressorreizung ver- 
schwinden. Nun lässt allerdings dieser Versuch einen Einwand zu: denn 
wenn gewöhnlich auch angegeben wird, dass nach Vagotomie bei Depressor- 
reizung keine Pulsverlangsamung mehr eintritt, so bemerkte ich doch bei 
Reizung des Depressor mit dem Absinken des Blutdruckes nicht selten auch 
eine geringe Abnahme der Pulsfrequenz. Die Ursache dieser Erscheinung 
ist für die vorliegenden Versuche ohne Interesse und soll daher nicht näher 
discutirt werden. Wenn aber diese Thatsache besteht, dann könnte man 
das Verschwinden und Ausbleiben der Wellen bei Depressorreizung in 
diesem Falle auch auf den Umstand zurückführen, dass nun keine Inter- 
ferenz mehr zwischen dem gleichgebliebenen Respirationsrhythmus und den 
verlangsamten Herzpulsationen zu Stande kommt. Zwar ist von vornherein, 
in Erwägung der Thatsache, dass bei verhältnissmässig grossen Variationen 
der Respirationsfrequenz die Wellen bestehen bleiben, diesem Einwande 
keine grosse Bedeutung beizumessen; um ihn jedoch ganz. zu entkräften, 
habe ich während der Dauer der Depressorreizung den Athemrhythmus der 
verlangsamten Pulsfrequenz angepasst ohne Wellen hervorrufen zu können. 
Dieser Umstand scheint mir beweisend, wenn man bedenkt, dass man bei 
einiger Uebung sonst sehr wohl im Stande ist, in der kürzesten Zeit den 


ZUR DIFFERENZIRUNG RHYTHMISCHER BLUTDRUCKSCHWANKUNGEN. 87 


Athemrhythmus zu treffen, der zum Zustandekommen der Wellen erforder- 
lich ist. 

Eine rein mechanische Ursache der Wellen könnte ferner ihr Ver- 
schwinden auf der Höhe der Nebennierenextractwirkung nicht erklären. 
Wahrscheinlich haben wir auch hier eine Herabsetzung der Erregbarkeit 
des Gefässcentrums durch die Wirkung des Nebennierentractes anzunehmen. 
Zwar lässt sich dieselbe wegen der heftigen Wirkung des Nebennieren- 
extractes auf die Gefässmusculatur nicht sicher nachweisen; da aber 
Hr. Prof. Verworn (6) gezeigt hat, dass das Vaguscentrum durch Neben- 
nierenextract gelähmt wird, erscheint bei dem innigen Zusammenhang der 
ınedullären Centren eine. ähnliche Wirkung auf das Gefässcentrum recht 
wahrscheinlich. 

Da Amylnitrit die centralen Gefässnervenursprünge lähmt (Filehne[7], 
v. Tappeiner [8]), so können wir auch bei Inhalation dieses Mittels ein 
Verschwinden der Wellen erwarten. In der 'That flachen sie sich sehr 
wesentlich ab; ob sie aber durch Amylnitrit vollständig zum Verschwinden 
gebracht werden können, vermag ich bei der geringen Anzahl meiner dahin 
gerichteten Versuche nicht zu sagen. 

Gewiss sind die hier angeführten Thatsachen schwerwiegende Kriterien 
gegen die rein periphere Natur unserer Wellen; ein sicherer Beweis für die 
Betheiligung des vasomotorischen Centrums kann indessen erst durch völliges 
Ausschalten desselben gegeben werden. Wir dürfen unter diesen Umständen 
keine Wellen mehr erhalten, welche die oben angeführten typischen Merk- 
male zeigen. 

Man kann das Gefässcentrum durch Abklemmen der Carotiden und 
Vertebrales ausser Function setzen. Da ich jedoch bemerkte, dass die Ver- 
suchsthiere noch einige Zeit nach Unterbindung der zum Kopfe führenden 
Gefässe Athembewegungen ausführten, habe ich, um sicher jeden centralen 
Einfluss auszuschliessen, die Kaninchen decapitirt. Nach Unterbindung 
beider Subelavien und der Carotis einer Seite (die andere wurde zum 
Schreiben benutzt) gelingt die Operation ohne wesentlichen Blutverlust. 
Da die geringe Blutung aus den Venae vertebrales ohne Mühe zum Stehen 
gebracht werden kann, lässt sich der Rumpf des Thieres bei ausgiebiger 
künstlicher Athmung leicht längere Zeit am Leben erhalten. Sofort nach 
Durchschneidung des Rückenmarkes sinkt natürlich der Blutdruck, die 
Pulse werden langsamer, höher und sehr regelmässig, so dass damit alle 
Bedingungen erfüllt sind, die nach Mayer das Zustandekommen der 
Wellen besonders begünstigen. Trotzdem konnte ich, obgleich ich mehrere 
bis ®/, Stunden dauernde Versuche dieser Art angestellt und dabei die 
Respirationsfrequenz in der verchiedensten Weise verändert habe, doch 
niemals das Auftreten der oben beschriebenen Wellen beobachten, die vorher 


8 . P. MorAwıtz: 


beim“ normalen. Thiere- ‚erhalten: worden waren. Mit Berücksichtigung des 
oben über das Verhältniss zwischen Puls- und Respirationsfrequenz Gesagten 
‚wird man nicht einwenden können, dass es bei der langen Dauer der Ver- 
suche nicht gelungen sein sollte, den passenden Athemrhythmus zu treffen, 
Davon kann um so weniger die Rede sein, als ich bei diesen Versuchen 
zuweilen periodische Wellen bekam, die allem Anscheine nach in der That 
rein physikalisch durch Interferenz zu Stande kommen. Diese Wellen sind 
aber von den oben beschriebenen durch folgende Momente wesentlich unter- 
schieden: sie sind bedeutend länger und ganz flach, die den Herzcontraetionen 
entsprechenden Zacken verschwinden im Wellenthale oft fast ganz, während 
sie auf dem Gipfel sehr gross und deutlich sind. Ausserdem scheint zum 
Zustandekommen dieser Wellen ein ganz bestimmtes Verhältniss zwischen 
‚Puls-' und Respirationszahl erforderlich zu sein; daher sind sie erst nach 
mannigfachen Variationen der Einblasungsfreguenz zu erhalten und ver- 
schwinden. bei der geringsten Aenderung des Rhythmus derselben, eine 
Beobachtung, die durchaus im Gegensatz zu dem charakterisirten Verhalten 
der anderen Wellenart steht. Dadurch wird es auch leicht verständlich, 
weshalb man diese reinen Interferenzwellen nur bei langsamer Herzaction 
erhält. . 

Mithin besitzen diese zuletzt beschriebenen Wellen alle die Merkmale, 
welche 8. Mayer den Wellen durch Interferenz zuschreibt: 1. verschiedene 
Höhe der Pulszacken, 2. besonders häufiges Auftreten bei Ausschal- 
tung des. Centrums, geringem Blutdruck und verlangsamter 
Herzthätigkeit, 3. geringe Excursionen der Wellen und 4. strenge 
Abhängigkeit vom Rhythmus der künstlichen Athmung. Diese 
Schwankungen’ sind daher als reine Interferenzwellen aufzufassen. Aus den 
Curven, die Mayer abbildet, geht jedoch hervor, dass er auch die zuerst 
beschriebenen Wellen als Interferenzwellen ansah. 

Für diese möchte ich hingegen den Namen pulmonale Reflexwellen 
vorschlagen und will versuchen, diese Bezeichnung zu rechtfertigen: Die oben 
angeführten Versuche haben gezeigt, dass an dem Zustandekommen der 
Wellen das vasomotorische Centrum betheiligt ist. Die Reize, die dem 
Centrum zugeführt werden, müssen durch die Bewegungen der Lunge aus- 
gelöst sein, da Sistiren der Athmung die Wellen sofort zum Verschwinden 
bringt. Es wäre nun sehr interessant, die centripetale Bahn zu kennen, 
auf welcher die Erregung das vasomotorische Centrum erreicht. Leider 
konnte dieselbe aus technischen Gründen nicht mit Sicherheit gefunden 
werden. Sie führt wahrscheinlich durch die oberen Brust- oder das untere 
Halsganglion des Sympathicus in’s Rückenmark, da weder Vagotomie und 
Reizung der centralen Stümpfe, noch auch Durchschneidung und Reizung 
des Phrenicus die Wellen beeinflusst. Diese Annahme ist nicht so unwahr- 


ZUR DIFFERENZIRUNG RHYTHMISCHER BLUTDRUCKSCHWANKUNGEN, 89 


scheinlich, wenn man daran denkt, dass ein von den Lungen den medullären 
Centren auf diesem Wege vermittelter Reflex nicht ohne Analogon dasteht: 
ich erinnere an die Theorie der refleetorischen Apnoe, der Lähmung des 
Athemeentrums durch frequente Einblasungen in die Lunge. 

Das Zustandekommen der pulmonalen Reflexwellen erfolgt ohne Ver- 
mittelung des Athemcentrums allein durch Erregung des vasomotorischen 
Centrums selbst, da bei der ausgiebigen und frequenten Athmung erstens 
das Blut nicht dyspnoisch ist, und zweitens das Athemcentrum sehr häufig 
im Verlauf des Versuches vollkommen unerregbar wird, so dass Apnoe 
eintritt, wovon man sich bei Suspension der Athmung gelegentlich über- 
zeugen kann, 

Die Thatsache, dass der continuirliche Reiz der Einblasungen eine 
rhythmische Thätigkeit des Gefässcentrums auslöst, ist nicht unwahrschein- 
lich und bietet zahlreiche Analoga. 

Daher glaube ich im Vorstehenden den Beweis für die centrale Natur 
dieser Schwankungen erbracht sowie die Berechtigung der Bezeichnung 
„pulmonale Reflexwellen“ begründet zu haben. Die pulmonalen Reflex- 
wellen erscheinen als eine scharf charakterisirte Art rhythmischer Blutdruck- 
schwankungen, die leicht von allen Wellen ähnlicher Art zu trennen sind, 
wenn man deren differenzirende Merkmale berücksichtigt. 

Im Anschluss an die im Vorstehenden mitgetheilten Untersuchungen 
möchte ich die verschiedenen, bisher gut charakterisirten Arten von rhyth- 
mischen Schwankungen des Blutdruckes nach ihrer Genese und nach ihren 
specifischen Eigenthümlichkeiten in einem kurzen Schema übersichtlich 
zusammenstellen. Bei der grossen Verwirrung, die in der Benennungsweise 
der verschiedenen Arten von Blutdruckschwankungen besteht und bei der 
fortwährenden Verwechselung genetisch ganz verschiedener Arten, die daraus 
entspringt, scheint mir eine kurze Skizzirung der einzelnen gut bestimmten 
Arten nach ihren wesentlichen Unterscheidungsmerkmalen nicht überflüssig 
zu sein. 


I. Die Traube-Hering’schen Wellen. 


Traube (a. a. O.) beobachtete die nach ihm genannten Wellen bei 
curarisirten Hunden, denen die Vagi durchschnitten waren, wenn nach 
Aussetzen der künstlichen Respiration der Blutdruck zu steigen begann. 
Es traten dann zuweilen regelmässige, grosse, wellenföürmige Schwankungen 
auf, deren Höhe sich bis auf 40" und deren Zahl sich bis auf sieben in 
der Minute belaufen konnte. Die auf- und absteigenden Schenkel der 
Wellen waren meist gleich lang und steil, die Pulsfrequenz, sowie auch die 
Grösse der Pulszacken waren in allen Theilen der Welle dieselben. 


90 P. MoRAwITZ: 


Später zeigte Hering (a. a. O.), dass man durch sehr frequente, ober- 
flächliche Einblasungen auch bei gleichbleibendem Druck eine lange Reihe 
regelmässiger Wellen dieser Art erhalten kann. 

Was die Genese dieser Wellen betrifft, so erkannte schon Traube den 
centralen Ursprung derselben, da die Schwankungen nach Durchschneidung 
des Rückenmarkes zwischen erstem und zweitem Halswirbel verschwinden. 
Hering stellte dann absolut einwandsfrei fest, dass die Wellen nicht durch 
Veränderungen der Herzthätigkeit entstehen können, dass sie auch noch zu 
erhalten sind, wenn das Herz durch ein Pumpwerk ersetzt ist. Die Beob- 
achtung Thiry’s (9), dass in der Medulla oblongata ein Centrum vorhanden 
sei, das durch den Reiz dyspnoischen Blutes in Erregung versetzt eine all- 
gemeine Gefässcontraction veranlassen könne, verwendete alsdann Traube 
zur Erklärung dieser periodischen Schwankungen. Er nahm an, dass der 
erhöhte Kohlensäuregehalt des’ Blutes eine abwechselnde Erregung und 
Ermüdung des Gefässcentrums und damit das Zustandekommen der Wellen 
veranlasse. 

Ganz befriedigend schien jedoch diese Erklärung nicht, da man nicht 
recht einsieht, wie durch den constant sich steigernden Reiz der sich an- 
sammelnden Kohlensäure eine rhythmische Thätigkeit des Gefässcentrums 
von solcher Regelmässigkeit und Dauer angeregt werden sollte. Es lag 
daher der Gedanke nahe, dass ein benachbartes Centrum, das schon unter 
normalen Verhältnissen rhythmisch thätig ist, nämlich das Athemcentrum, 
eine Rolle beim Zustandekommen dieser Wellen spiele. Diesen Gedanken 
hat Hering (a. a. O.) in geistvoller Weise ausgeführt, indem er eine Ueber- 
tragung der Erregung vom Athem- auf das Gefässcentrum annahm. 

Eine starke Stütze fand Hering’s Annahme darin, dass bei geringen 
Graden der Curarevergiftung, wenn die Muskeln noch nicht vollkommen 
gelähmt waren, jede Welle mit einer rudimentären Athembewegung oder 
einem Zucken der Beine einherging. Hering schloss daraus, dass jede 
Traube’sche Welle nur einem dem Gefässcentrum zugeleiteten Athem- 
impuls entspricht, und bezeichnete die Wellen daher auch als Athem- 
bewegungen des Gefässsystems. Demnach wären also die Traube- 
Hering’schen Wellen mit den respiratorischen Schwankungen in Parallele 
zu setzen: auch hier entspricht jeder Schwankung ein Athemimpuls. Am 
schärfsten hat Fredericq (10) dieser Anschauung. Ausdruck gegeben und 
ist dafür eingetreten, die Traube-Hering’schen Wellen mit den respira- 
torischen Schwankungen zu identificiren und beide als Wellen zweiter 
Ordnung zu bezeichnen. (Wellen erster Ordnung sind die Pulsschwankungen.) 
Fredericg’s Schüler Rulot (11) findet demgemäss auch den Hauptunter- 
schied zwischen den Traube’schen und den noch zu erwähnenden Wellen 
Mayer’s (a. a. O.) darin, dass letzteren stets eine grössere Anzahl von 


ZUR DIFFERENZIRUNG RHYTHMISCHER BLUTDRUCKSCHWANKUNGEN. 91 


Athemzügen entsprechen. Nur letztere wären demeemäss als Wellen dritter 
Ordnung anzusehen. 

Wenig Anklang hat die von Latschenberger und Deahna (12) 
zur Erklärung der Traube’schen Wellen aufgestellte Theorie gefunden: 
diese Autoren sehen in den Wellen den Widerstreit pressorischer und 
depressorischer Einflüsse, die refleetorisch dem Gefässsystem zugeleitet 
werden. Auch v.Cyon (13) hat sich neuerdings in der Hauptsache dieser 
Erklärung angeschlossen, indem er annimmt, dass die Wellen gewisser- 
maassen der Ausdruck einer Interferenz zwischen den Erregungen des 
Centrums der Vasoconstrietoren und der Wirkung des Depressors sind. 

Ueberblickt man die Reihe der Erklärungsversuche, so kann es keinem 
Zweifel unterliegen, dass die Auffassung Hering’s am besten begründet 
erscheint, zumal da ein enger Zusammenhang zwischen den medullären 
Centren auch durch andere Untersuchungen, die später erwähnt werden 
sollen, sichergestellt ist. Immerhin stellen sich auch der Hering’schen 
Hypothese gewisse Schwierigkeiten in den Weg: Während Hering annimmt, 
dass die Wellen dem Athemrhythmus eines doppelseitig vagotomirten Thieres 
entsprechen, beobachtet man Traube-Hering’sche Wellen von nicht 
grösserer Frequenz zuweilen auch bei Thieren, deren Vagi erhalten sind. 
Ausserdem ist die Anzahl der Wellen selbst für ein vagotomirtes Thier sehr 
gering. Will man die Hering’sche Theorie trotzdem festhalten, so muss 
man entweder annehmen, dass mehrere Athemimpulse erst das Zustande- 
kommen einer Welle herbeiführen, oder dass die durchaus abnormen Ver- 
hältnisse, wie sie die Curarisirung, die lange Dauer des Versuches und die 
mehrmalige Dyspnoe mit sich bringen, zu selteneren Erregungen des 
Athemcentrums führen. Warum treten die Wellen erst bei längerer Dauer 
des Versuches und nach wiederholter Dyspnoe duf, wenn der Blutdruck- 
anstieg nicht mehr steil, sondern langsamer vor sich geht? Es könnte 
wohl sein, dass sich das Athemeentrum entweder einer erhöhten Venosität 
des Blutes gewissermaassen anpasst, oder, was viel wahrscheinlicher ist, 
dass es durch die lange fortgesetzte Speisung mit sauerstoffarmem Blute 
ermüdet wird, so dass es auf constante Reize seltener reagirt. Auch der 
Umstand, dass Bewegungen des Thorax und der Lungen fehlen, wäre wohl 
geeignet, die Zahl der Athemimpulse herabzusetzen. Dass in der That jeder 
Welle nur ein Athemimpuls entspricht, sucht Fredericgq (a. a 0.) folgender- 
maassen experimentell zu beweisen: ein morphinisirter Hund, dem der 
Vago-Sympathicus durchschnitten und Brust- und Bauchhöhle eröffnet war, 
machte beim Aussetzen der Athmung frustrane Athembewegungen. Zugleich 
traten in der Blutdruckeurve Traube-Hering’sche Wellen auf, deren auf- 
steigender Schenkel der Exspiration entsprach. Der Gipfel der Welle fiel 
zeitlich genau in den Uebergang zur Inspiration, Wenn es also demnach 


92 P. MorAwızz: 


auch durchaus wahrscheinlich ist, dass die Traube-Hering’schen Wellen 
einem Athemimpuls entsprechen, so geht doch Fredericq wohl zu weit, 
indem er die respiratorischen Schwankungen mit unseren Wellen identi- 
ficiren will; denn einmal sind die Ursachen der Entstehung ganz different, 
da die respiratorischen Schwankungen fast ausschliesslich auf passive mecha- 
nische Momente zu beziehen sind, sodann aber widerspricht einem weiter- 
gehenden Vergleich auch der Umstand, dass man einer Traube’schen 
Welle oft mehrere respiratorische Schwankungen der künstlichen Ath- 
mung aufgesetzt findet; und doch können in diesem Falle die Wellen einem 
einzigen Athemimpuls entsprechen. Da ferner die Traube-Hering’schen 
Wellen auch weiterhin sicher nicht normalen Athemimpulsen entsprechen, 
nennt man sie zweckmässiger, indem man sie streng von den respiratorischen 
Schwankungen trennt, Wellen dritter Ordnung, wie es ja auch die 
meisten Autoren thun. 

Dass die Grundidee der Hering’schen Hypothese, die Betheiligung des 
Athemecentrums, richtig ist, hat zwar Hering selbst schon sehr wahrschein- 
lich gemacht. Sicher bewiesen kann es nur dadurch werden, dass man 
den Blutdruck eines Thieres beobachtet, dessen Athemeentrum bei erhaltener 
Function des Gefässcentrums gelähmt ist. Man erreicht das auf folgende 
Weise: macht man ein Thier durch sehr frequente Einblasung apnoisch, so 
ist das Athemcentrum gelähmt. Apnoe und Dyspnoe sind bekanntlich 
keine entgegengesetzten Begriffe, ein Thier kann a- und dyspnoisch zu 
gleicher Zeit sein, ja kann sogar im Zustande der Apnoe ersticken. 
Suspendirt man bei einem apnoischen Thiere (die Herstellung der Apnoe 
gelingt, beiläufig bemerkt, durchaus nicht immer, am schwersten gelang 
sie uns bei den französischen Kaninchen) die künstliche Athmung, so steigt: 
der Blutdruck kräftig an, ohne dass das Thier athmet. Das Athemeentrum 
ist also ausser Function, das Gefässcentrum dagegen noch erregbar. So oft 
ich diesen Versuch wiederholt habe, habe ich doch nie das Auftreten 
Traube-Hering’scher Wellen bemerkt. Dabei muss man allerdings sehr 
vorsichtig sein, da die Hemmung des Athemcentrums im Verlauf dys- 
pnoischer Reizung verschwindet, und das Thier wieder anfängt zu athmen. 
Man wird zugeben, dass dieser Versuch einen geradezu mathematischen 
Beweis für die Betheiligung des Athemcentrums abgiebt. 

Sucht man nun aus der Fülle der beschriebenen Beobachtungen die- 
jenigen Momente heraus, durch die man die Traube-Hering’schen Wellen 
charakterisiren und von Blutdruckschwankungen anderen Ursprunges unter- 
scheiden kann, so sind demnach als die ersten und wichtigsten Punkte 
1. der spontane Eintritt der Wellen sowie 2. die Abhängigkeit 
derselben von der intacten Function des Athem- und Gefäss- 
centrums hervorzuheben. Deswegen bringt auch Depressorreizung durch 


ZUR DIFFERENZIRUNG RHYTHMISCHER BLUTDRUCKSCHWANKUNGEN. 95 


Herabsetzung der Erregbarkeit des Gefässcentrums die Wellen zum Ver- 
schwinden (v. Cyon). Ferner stimmen alle Autoren darin überein, dass 
zum Zustandekommen der Wellen 3. eine gewisse dyspnoische Be- 
schaffenheit des Blutes erforderlich ist, mag dieselbe nun durch Sus- 
pension der künstlichen Athmung oder durch frequente Einblasungen von 
geringem Umfange hervorgerufen sein. Nur v. Cyon (a. a. O.) glaubt als 
alleinige Ursache der Traube-Hering’schen Wellen eine plötzliche Blut- 
drucksteigerung ansehen zu müssen und bestreitet die Abhängigkeit vom 
Gasgehalt des Blutes. Diese Bemerkung widerspricht aber der vielfach 
bestätigten Beobachtung Hering’s, dass man auch ohne Blutdrucksteigerung 
Wellen hervorbringen kann; daher ist wohl anzunehmen, dass v. Cyon 
Blutdruckschwankungen ganz verschiedener Art als Traube’sche Wellen 
bezeichnet. — Neben diesen, die Traube’schen Wellen am schärfsten diffe- 
renzirenden Momenten treten alle anderen zurück, wenngleich auch sie mit 
Vortheil zur Erkennung derselben herangezogen werden können: bis zu einem 
gewissen Grade ist 4. die äussere Gestalt, die hohen (beim Hunde bis 50 m 
Quecksilber) betragenden Differenzen zwischen Wellenberg und Wellenthal, die 
gleiche Länge des auf- und absteigenden Schenkels und die überall gleiche 
Gestalt der Pulszacken charakteristisch. Hier wäre auch noch der Umstand 
anzuführen, dass die Wellen erst dann auftreten, wenn eine längere Ver- 
suchsdauer vder sonstige Eingriffe 5. zu einer Ermüdung der medullären 
Centren geführt haben. Andere Punkte, wie die Curarisirung des Thieres 
und die Vagotomie sind zum Zustandekommen der Wellen nicht erforderlich, 
wenngleich sie das Eintreten derselben unter Umständen begünstigen können. 

Berücksichtigt man diese Charakteristika, so wird man zugeben, dass 
die Traube-Hering’schen Wellen eine recht scharf abgrenzbare Erschei- 
nung sind, wobei nur zu berücksichtigen ist, dass auch noch andere Arten 
von Wellen spontan eintreten und von der Thätigkeit des Gefässcentrums 
abhängen. Immerhin wird man bei Erwägung aller genannten Merkmale 
wohl kaum jemals darüber im Zweifel sein, ob man beobachtete periodische 
Schwankungen als Traube-Hering’sche Wellen anzusprechen hat. 

Als Ursache derselben ist die Hering’sche Theorie in ihrem ganzen 
Umfange aufrecht zu erhalten, die um so weniger Schwierigkeiten macht, 
als man auch eine rhythmische Uebertragung von Impulsen vom Athem- 
auf das Vaguscentrum kennt in den 


II. Vaguswellen von Fredericg. 


Es war schon früheren Untersuchern bekannt, dass die Pulsfrequenz 
während der Inspiration steigt, während der Exspiration abnimmt, und dass 
diese Erscheinung durch den Vagus vermittelt wird. Fredericgq (a. a. 0.) 


54 P. MorAwITZz: 


wies nun unzweideutig nach, dass man es hier mit der Uebertragung der 
Erregung vom Athem- auf das Vaguscentrum zu thun hat, dass nicht 
etwa durch Volumveränderungen der Lunge ein Reflex auf das Vaguscentrum 
ausgelöst werde. Er bewies das dadurch, dass er bei einem Hunde, dessen 
Vagi erhalten waren, Brust- und Bauchhöhle öffnete. Bei stärkerer Dyspnoe 
erhält man dann ebenfalls noch Blutdruckwellen, die während der frust- 
ranen Inspiration ein Ansteigen des Blutdruckes unter vermehrter Puls- 
frequenz zeigen, während das Absinken des Blutdruckes im Verlaufe der 
Exspiration durch eine oder mehrere steil abfallende, grosse Pulszacken 
erfolgt. Diese Wellen verschwinden nach Durchschneidung der Vagi oder 
Lähmung der Vagusendigungen durch Atropin. 

Da hier das Ansteigen des Blutdruckes während der Inspiration statt- 
findet, der aufsteigende Schenkel der Traube-Hering’schen Wellen dagegen 
nach Fredericq in die Exspirationsphase fällt, so sucht Fredericq wohl 
mit Recht den Grund für das häufige Ausbleiben der Traube-Hering’- 
schen Wellen bei erhaltenen Vagis in einem Widerspiel dieser beiden 
antagonistisch wirkenden Kräfte. 

Die Vaguswellen von Fredericg sind natürlich nur in ihrem Ent- 
stehungsmodus mit den Traube-Hering’schen Wellen zu vergleichen, 
während die unmittelbare Ursache hier in einer Erregung der Vasomotoren, 
dort in einer Einwirkung auf den Herzvagus besteht. 

Im Uebrigen sind die Fredericg’schen Wellen 1. durch die Un- 
sleichheit der Pulse in dem auf- und absteigenden Schenkel der Welle 
und 2. durch die Nothwendigkeit intacter Vagi genügend scharf von 
den Traube-Hering’schen Wellen differenzirt, dass eine Verwechselung 
ausgeschlossen ist, trotzdem beiden die Abhängigkeit von der Integrität 
des respiratorischen und Gefässcentrums, sowie das Vorhanden- 
sein einer gewissen Dyspnoe gemeinsam ist. Demgemäss fehlen 
im apnoischen Zustande auch die Vaguswellen (Verworn). 


Ill. Die Sigmund Mayer’schen Wellen. 


Während die bisher beschriebenen Erscheinungen in ihrem Wesen 
ziemlich genau erkannt worden sind, lässt sich das von den sogen. Sig- 
mund Mayer’schen Wellen oder den Wellen vierter Ordnung nicht 
mit derselben Berechtigung sagen. 

Schon v. Cyon sowie Latschenberger und Deahna beobachteten 
spontane rhythmische Blutdruckschwankungen bei unvergifteten und selbst- 
ständig athmenden Kaninchen und bezeichneten dieselben schlechthin als 
Traube’sche Wellen, ohne Berücksichtigung der von Hering gegebenen 
charakteristischen Merkmale der letzteren. 


Zur DIFFERENZIRUNG RHYTHMISCHER BLUTDRUCKSCHWANKUNGEN. 95 


Erst Sigmund Mayer erkannte die Verschiedenartigkeit beider Er- 
scheinungen; daher wird die folgende Art von Blutdruckschwankungen 
kurzweg wohl am besten als Sigmund Mayer’sche Wellen bezeichnet. 

Die spontan beim ruhig athmenden Kaninchen rhythmisch auftretenden 
Schwankungen zeigen grosse Verschiedenheiten in ilrem Aussehen. Bald 
sind sie hoch, bald niedrig (von 3 bis 20” Quecksilber). Sie verschwinden 
oft ohne erkennbare Ursache, um nach einiger Zeit ebenso spontan wieder 
aufzutreten. Einmal sind sie langgestieckt, dann wieder nur kurze Zeit 
dauernd (6 bis 14 in der Minute); meist ist dabei ein gewisser Rhythmus 
zu erkennen, indem auf eine langgestreckte, hohe Welle eine kurze niedrige 
folgt. Die respiratorischen Schwankungen finden sich an den Wellen bald 
deutlicher, bald weniger deutlich markirt. Im Uebrigen ähneln die Wellen, 
wenn sie hoch sind, sehr den Traube-Hering’schen Wellen, treten jedoch 
bei niedrigem Blutdruck ebenso häufig auf wie bei hohem. Dagegen ist 
Grösse und Frequenz der Pulszacken im auf- und absteigenden Schenkel 
der Welle auch hier gleich. Erschwert wird die Trennung von den Traube- 
Hering’schen Wellen weiterhin noch dadurch, dass die Mayer’schen 
Perioden auch beim curarisirten Kaninchen auftreten sollen. Wenn man 
sich jedoch erinnert, wie leicht curarisirte Thiere auf geringfügige äussere 
Reize durch Veränderung des Blutdruckes reagiren — und bei künstlicher 
Athmung lassen sich äussere Reize wohl nie fernhalten —, wird man über 
den Charakter dieser Wellen als spontaner Schwankungen doch im Zweifel 
sein; man wird um so weniger diese bei künstlicher Athmung beobachteten 
Wellen als Mayer’sche bezeichnen können, als zwei spätere Beobachter, 
Knoll und Rulot (a. a. O.) übereinstimmend und unabhängig von einander 
gefunden haben, dass den Mayer’schen Wellen periodische, scheinbar 
spontan auftretende Schwankungen in der Frequenz und der Tiefe der 
Athembewegungen entsprechen; natürlich treten bei künstlicher Athmung 
solehe Rhythmen nicht auf. Die Art dieser respiratorischen Schwankungen 
kann verschieden sein: nach einer gewissen Anzahl gleichmässiger Athem- 
züge tritt bald eine Vertiefung, bald eine Beschleunigung der Respiration 
ein. Häufig bemerkt man das gleichzeitige, spontane Verschwinden beider 
Arten von Schwankungen, während allerdings in gewissen Fällen die Blut- 
druckwellen bei fehlenden Athemschwankungen vorhanden sind. Knoll 
erwähnt, dass der Eintritt der Respirationsbeschleunigung häufig mit einem 
schauerartigen Erzittern der Muskeln des Versuchsthieres verbunden ist. 

Trotzdem Sigmund Mayer diese so häufige Coincidenz der Athem- 
und Blutdruckschwankungen noch nicht kannte, führte er doch schon die 
Wellen auf eine Erregung des Gefässcentrums vom Athemcentrum her 
zurück. Da jedoch in diesem Falle im Gegensatz zu den Traube-Hering’- 
schen Wellen zahlreiche Respirationen einer Blutdruckwelle entsprechen, 


96 P. MorAwızz: 


nahm Mayer an, dass zwischen Athem- und Gefässcentrum ein Centrum 
eingeschaltet sei, das die vom Athemcentrum übermittelten Impulse summire, 
bis nach einer gewissen Anzahl von Respirationen eine Entladung dieses 
Öentrums erfolgt und so zu einer Erregung des vasomotorischen Centrums 
führt. Eine Betheiligung des Athemcentrums schien Mayer deswegen 
wahrscheinlich, weil durch eine ganz geringe Behinderung der Respiration 
die Wellen, falls sie nicht zu beobachten sind, hervorgerufen werden können. 

Diese Erklärung Mayer’s war nicht sehr ansprechend; deswegen haben 
spätere Untersucher die Ursache für das Zustandekommen der Wellen in 
anderen Momenten gesucht. Knoll (a. a. O.), dem wir eine sehr sorgfältige 
Untersuchung über diese Form periodischer Blutdruckschwankungen ver- 
danken, versucht die Wellen nicht durch eine secundäre Erregung des 
Gefässcentrums, sondern durch gleichzeitig beiden medullären Centren durch 
gemeinsame Ursache zugeführte Impulse zu erklären. Er glaubt überhaupt 
diese Wellen nicht zu den spontanen rechnen zu dürfen, sondern betrachtet 
sie als refleetorisch ausgelöst, indem er annimmt, dass durch Fesselung des 
Kaninchens auf dem Czermak’schen Thierhalter abnorme Verhältnisse ge- 
schaffen und dadurch dem Centralorgan von der Haut her fortwährend 
Reize zugeführt werden. Die medullären Centren besitzen nun bis zu 
einem gewissen Grade die Fähigkeit, auf continuirliche Reize rhythmisch 
zu reagiren; dabei braucht eine Intervention des Athemcentrums nicht 
immer stattzufinden. 

Nach dieser Auffassung sind also die Mayer’schen Wellen in Parallele 
zu setzen mit den rhythmischen Bludruckschwankungen, die von Latschen- 
berger und Deahna und Knoll durch kurzdauernde Reizung sensibler 
Nerven, namentlich am curarisirten Thiere erhalten werden konnten. 

Wichtige Einwände gegen Knoll’s Theorie sind in neuerer Zeit von 
Rulot (a. a. O.) erhoben worden, indem letzterer angiebt, dass die Mayer’- 
schen Wellen auch beim nicht gefesselten Kaninchen zu beobachten sind. 
Ferner verschwinden in tiefer Chloralnarkose, in der nur starke sensible 
Reize zu einer Blutdruckerhöhung führen, zwar die periodischen Athem- 
schwankungen, die Wellen sind aber oft noch deutlich erkennbar. Doch 
auch Rulot kann für das Zustandekommen der Wellen keine wesentlich 
neuen Momente anführen. 

Obwohl also über den Ursprung der Mayer’schen Wellen keine voll- 
ständige Klarheit herrscht und nur ihre Abhängigkeit vom vasomotorischen 
Centrum, sowie die häufige Coincidenz mit Aenderungen der Respiration 
feststeht, sind sie doch so weit genügend charakterisirt, dass eine Unter- 
scheidung von den Traube-Hering’schen Wellen unter allen Umständen 
möglich ist. Weniger scharf sind sie von den reflectorisch auftretenden 
Wellen zu scheiden, was nicht zu verwundern ist, wenn man bedenkt, dass 


ZUR DIFFERENZIRUNG RHYTHMISCHER BLUTDRUCKSCHWANKUNGEN. 97 


z. B. Knoll den spontanen Ursprung auch der Mayer’schen Wellen in 
Abrede stellt. 

In erster Linie sei daran erinnert, dass den Mayer’schen Wellen im 
Gegensatz zu den Traube-Hering’schen stets 1. mehrere Respirationen 
entsprechen. Weiterhin treten die Traube’schen Wellen nur unter 
gewissen Bedingungen, namentlich bei dyspnoischer Blutbeschaffenheit auf, 
während die Mayer’schen Perioden auch 2. im eupnoischen Zustande 
oft sehr deutlich sind, obwohl auch angegeben wird, dass sie durch eine 
sanz leichte Behinderung der Athmung zuweilen an Deutlichkeit gewinnen. 
Auch 3. die geringere Höhe und Frequenz der Mayer’schen Wellen 
ist gegenüber den Traube’schen hervorzuheben; doch wird auf diesen Punkt 
kein allzu grosses Gewicht zu legen sein. Schliesslich treten die Traube’- 
schen Wellen nur unter den oben genau charakterisirten speciellen Be- 
dingungen auf, während zum Zustandekommen der Mayer’schen Wellen als 
unbedingt nur 4. spontane Athmung erforderlich ist, wenn wir die an 
eurarisirten Thieren beobachteten Wellen nicht mit den Mayer’schen 
identificiren wollen. 

Viel ungünstiger steht es mit der Unterscheidung der Mayer’schen 
Wellen von den refleetorisch ausgelösten periodischen Schwankungen, da 
diese natürlich je nach Art und Dauer der einwirkenden Reize die ver- 
schiedenste Gestalt haben können. Wenn man jedoch jeden Reiz fern- 
zuhalten bestrebt ist, genau auf das Verhalten des Thieres achtet — 
besonders scheinen einzelne Muskelzuckungen für den reflectorischen Cha- 
rakter einer Welle zu sprechen —, und vor allen Dingen die Wellen selbst 
längere Zeit hindurch beobachtet, wird man wohl in der grossen Mehrzalıl 
der Fälle eine sichere Entscheidung treffen können. Im Nothfalle haben 
wir in der Betäubung des Thieres durch Chloral ein Mittel, geringfügige 
äussere Reize auszuschliessen; ganz sicher ist freilich auch dieses Ultimum 
refugium nicht, da nach Rulot nur in der Mehrzahl der Versuche die 
Mayer’schen Wellen in der Narkose noch zu sehen sind. 

Muss man also auch zugeben, dass die Mayer’schen Wellen weder 
eine so scharf umgrenzte Erscheinung darstellen, wie die Traube-Hering’- 
schen, noch auch die Bedingungen und Ursachen ihrer Entstehung voll- 
ständig erkannt sind, so glaube ich doch, dass nach den oben angeführten 
differenzirenden Merkmalen über die specifische Natur derselben kein 
Zweifel bestehen kann. - 


IV. Die pulmonalen Reflexwellen. 


Diese oben scharf differenzirte Art von Blutdruckschwankungen würde 


ich zu den vorigen als vierte Art von centralem Ursprung hinzugesellen. 
Archiv f. A. u. Ph. 1903. Physiol. Abthlg. 7 


98 P. MorAwıTz: 


Demnach gewinnen wir folgenden Ueberblick: 


A. Periphere Wellen, erfordern nicht die Thätigkeit des vaso- 
motorischen Centrums. 
I. Die Pulssch wankungen oder Wellen erster Ordnung. 
I. Die Respirationsschwankungen oder Wellen zweiter Ord- 
nung, nicht rein peripher. 
III. Die Wellen durch Interferenz zwischen I und II. 


B. Centrale Wellen, erfordern die Thätigkeit des vasomotorischen 
Centrums. 


I. Die Traube-Hering’schen Wellen oder Wellen dritter 
Ordnung. 
Entstehung: Uebertragung eines Impulses vom Athem- auf das Gefäss- 
centrum. Jeder Welle entspricht ein Athemimpuls. Durch Depressor- 
reizung zu unterdrücken. 


II. Die Frederieg’schen Wellen. 
Entstehung: Uebertragung eines Impulses vom Athem- auf das Vagus- 
centrum. Jeder Welle entspricht ein Athemimpuls. 


II. Die Sigmund Mayer’schen Wellen oder Wellen vierter 
Ordnung. 

Entstehung: Wahrscheinlich ohne Vermittelung, doch meist mit Be- 
theiligung des Athemcentrums. Jeder Welle entsprechen zahlreiche Athem- 
impulse. 

IV. Die pulmonalen Reflexwellen. 

Entstehung: Reflex durch die Athembewegungen von den Lungen her. 
Jeder Welle entsprechen mehrere Athembewegungen, und die Länge der 
Wellen wechselt mit der Zahl der Athembewegungen. Durch Depressor- 
reizung zu unterdrücken. 


Am Ende dieser Arbeit erfülle ich die angenehme Pflicht, meinem 
hochverehrten Lehrer, Hrn. Prof. Verworn, für die Anregung zu diesen 
Untersuchungen sowie für die liebenswürdige Unterstützung bei Anstellung 
der Versuche meinen herzlichsten Dank auszusprechen. 


ZUR DIFFERENZIRUNG RHYTHMISCHER BLUTDRUCKSCHWANKUNGEN. 99 


Litteraturverzeichniss. 


Traube, Gesammelte Beiträge zur Pathologie und Physiologie. 1871. Bd. 1. 


Hering, Berichte der kais. Akademie zu Wien. 1869. Bd. LX. II. 8. 829. 
Sigmund Mayer, Zbenda. 1876. Bd. LXXIV. II. S. 281. 

Knoll, Zbenda. 1885. Bd. XCII IH. S. 439. 

Biedl und Reiner, Pflüger’s Archiv. 1900. Bd. LXXIX. S. 158. 
Verworn, Dies Archiv. 1903. Physiol. Abthlg. S. 65. 

Filehne, Pflüger’s Archiv. 1874. Bd. IX. S. 470. 

v. Tappeiner, Lehrbuch der Arzneimittellehre. 1899. S. 185. 

Thiry, Medicinisches Centralblatt. 1864. Nr. 46. 8. 722, 

Fredericq, Archives de Biologie. 1882. T. Ill. p. 55. 


. Rulot, Travaux du laboratoire de L. Frederieg. 1901. T. VI. p. 67. 


Latschenberger und Deahna, Pflüger’s Archiv. 1876. Bd. XII. 8. 157. 
v. Cyon, Ebenda. 1898. Bd. LXX. S8. 126. 


Erklärung der Abbildungen. 
(Taf. IL) 


Fig. 1. Das Verschwinden der pulmonalen Reflexwellen bei Reizung des De- 


pressors. 


(Vagotomirtes Thier.) 


Fig. 2. Das Verschwinden der pulmonalen Reflexwellen nach Injection von 
Nebennierenextract. Während der Dauer der Nebennierenextract-Wirkung ist Reizung 
des Depressors ohne Einfluss auf den Blutdruck. Sobald mit Abklingen der Wirkung 
die pulmonalen Reflexwellen wieder auftreten, vermag Depressorreizung den Blutdruck 
wieder herabzusetzen. 

Fig. 5. Reine Interferenzwellen beim decapitirten Thiere. Die Wellen sind flach 
und langgezogen, der Grössenunterschied der Pulszacken im Wellenthale und auf dem 
Wellenberge deutlich ausgeprägt. 


Was veranlasst die Spermatozo6n, in das Ei zu dringen ? 


Von 
J. Dewitz. 


Vor längeren Jahren habe ich auf gewisse, den thierischen Sperma- 
tozoön eigene Bewegungsarten aufmerksam gemacht.! Die erstere dieser 
Eigenthümlichkeiten besteht darin, dass die sich bewegenden Samenfäden 
diejenigen Flächen, auf welchen sie sich fortbewegen, nicht verlassen, gleich- 
sam als ob sie von ihnen festgehalten würden. Sind diese Flächen ge- 
krümmt, so folgen sie genau der Oberfläche der Krümmung. Wie die 
Oberflächen fester Körper wirken auch solche von flüssigen Massen, z. B. 
die Oberfläche von hängenden oder auf dem Objectträger stehenden Tropfen. 
Die zweite Eigenthümlichkeit besteht darin, dass die auf Flächen sich be- 
wegenden Spermatozoön nicht in unregelmässiger Weise fortschreiten, sondern 
weite Kreise beschreiben. Diese letztere Erscheinung liesse sich vielleicht 
von einer spiralförmigen Bewegung der Spermatozoön herleiten, wie dieses 
Ballowitz? will. Die erstere Erscheinung, d.h. die Anziehung durch 
Flächen, habe ich durch Contactreiz erklärt. J. Massart? hat sodann 
meine, an den Spermatozoen von Periplaneta orientalis angestellten Beob- 
achtungen aufgenommen und die gleichen Erscheinungen für die Sperma- 
tozoen von Rana fusca constatirt. Er zeigte ferner, dass die Samenfäden 
dieses Frosches auch in die Schleimhülle, welche den Samen des Leines 
und der Quitte umgeben, sowie in Stücke der Gallerthülle des Froscheies 
eindringen. Was sodann den Mechanismus des Eindringens der Sperma- 
tozoön in die Gallerthülle des Eies angeht, so giebt er dafür folgende 


ı Arch. f. d. ges. Physiol. 1885. Bd. XXXVIl. 8. 219—223; 1886. Bd. XXXVIl. 
S. 358—386. 1 Taf. 

® E. Ballowitz, Zeitschrift f. wissenschaftliche Zoologie. 1890. Bd. L. 8. 317. 

® J. Massart, Bull. de l’Acad. Sc. Belgique. 1888. Ann. LVII. 8.3. T.XV. 
p- 750—754; 1889. Ann. LIX. S.3. T. XVII. p. 165—167. 


J. Dewitz: WAS VERANLASST DIE SPERMATOZOEN U. 8. W. 101 


Erklärung: „Apres la ponte, Ja glaire dont l’oeuf est entour6 se gonflant au 
contact de l’eau, presente, pendant la duree du gonflement, des couches 
de plus en plus denses & mesure qu’on s’eloigne de sa surface. Le sper- 
matozoide, une fois accole a la glaire, tend a penetrer en entier pour 
eprouver le contact par toute la surface de son corps, et cela aussi long- 
temps qu’il rencontre des couches de densit& toujours croissante. Quand 
l’absorption d’eau par la glaire est complete, l’attraction que les regions 
successivement plus denses exergaient sur les Elements mäles n’existe plus, 
il n’y a plus de raison pour que ceux-ci s’introduisent.“ Dieser Ansicht 
Massart’s vermag ich nur insoweit beizustimmen, als das Spermatozoon 
das Bestreben hat, sich mit einem festen Körper allseits in Contact zu 
bringen. Im Uebrigen aber, glaube ich, ist: die Erklärungsweise des Autors 
nicht zutreflend. 

Ich möchte nun einige vor etwa 12 Jahren an den Spermatozoön von 
Rana fusca gemachte Beobachtungen hier mittheilen. Dieselben dürften 
von Interesse sein, da die Untersuchung dieses Gegenstandes von anderer 
Seite wieder in Angriff genommen ist. 

Nach meinem Dafürhalten bohren die Spermatozoön in einen festen 
oder halbfesten Körper nur. dann, wenn derselbe präformirte capillare 
Spalten, Zwischenräume, Canäle oder dergl. von grosser Feinheit besitzt, 
und sie dringen in die Körper nur durch diese Wege ein. Fehlen diese 
letzteren den Körpern, so bohren sie sich auch nicht hinein. In vollkommen 
homogene Körper vermag kein Spermatozoon zu dringen. Indem der vor- 
überschwimmende Samenfaden mit der Kopfspitze in eine solche Oeffnnng 
geräth, wird er in der Weise gereizt, dass er das Bestreben erhält, sich 
gänzlich mit dem festen Körper in Contact zu bringen. 

Um die Richtigkeit dieser Behauptungen darzuthun, kann man sich 
folgender Experimente bedienen. Man fährt über eine glatte Glimmerplatte 
mit einem spitzen Instrument, etwa einer feinen Nadel, und verursacht 
dadurch Risse auf der Platte Bringt man sodann auf die so präparirte 
Platte samenhaltige Flüssigkeit, so werden sich die Spermatozoön, mag 
man sich einer noch so feinen Nadel bedient haben, nicht etwa in den 
Rissen ansammeln. Diese sind im Verhältniss zu ihrer Kopfspitze wahre 
Scheunenthore und üben daher keinen Reiz aus. Um dieses zu thun, 
müssten die Ränder der Vertiefungen (Risse auf der Platte) die Kopfspitze 
fest umschliessen. Solches findet nun aber statt bei den in Folge des 
Ritzens der Glimmerplatte gebildeten Glimmertrümmer und losgerissenen 
Plättehen. Da, wo diese der grossen Platte dicht anliegen, sind äusserst 
feine Spalten gebildet. In diese fahren die vorüberschwimmenden Sper- 
matozoön mit der Kopfspitze hinein, bohren hinein und sammeln sich in 
dieser Weise an. 


102 J. DEwITZ: 


Denselben Vorgang kann man beobachten, wenn man ein Stückchen 
eines dünnen Deckglases zerstösst und die kleinen Bruchstückchen in die 
auf dem Objeetträger befindliche samenhaltige Flüssigkeit schüttet. Ver- 
möge ihrer Kleinheit legen sich die kleinen Deckglasstückchen der Fläche 
des Objeetträgers dieht an und erzeugen so sehr enge capillare Zwischen- 
räume. Nach kurzer Zeit sieht man dann auch, wie unter solchen Glas- 
stückehen sehr viele Spermatozoen hinuntergefahren sind. Einzelne sind 
unter das Glasstück gedrungen (Fig. 1) und sammeln sich an den dicht 
anliegenden Stellen an (Figg. 1 u. 2), von anderen ragen die schwingenden 
Schwänze hervor (Fig. 1). 

Eine der vorzüglichsten Methoden, den Contactreiz auf die Spermatozoen 
wirken zu lassen, besteht in folgendem Verfahren. Man legt in die auf 
dem Objectträger befindliche Spermaflüssigkeit ein winziges Häufchen einer 
gepulverten Substanz, so dass das Häufchen von der Flüssigkeit gänzlich 
bedeckt ist. Man wählt eine Substanz, die so schwer ist, dass das Wasser 


Fig. 1. 


die einzelnen Partikel nicht aus einander zu tragen vermag, sondern jene 
zu einem Häufchen geformt beisammen bleiben. Eine solche Substanz ist 
z.B. Mennige oder Zinnober. Die sehr feinen Zwischenräume zwischen 
den einzelnen Mennigepartikeln üben auf die Spermatozoön, deren Kopfspitze 
mit dem Häufchen in Berührung kommt, einen starken Reiz aus. Bei 
reichlicher Anwesenheit von Spermatozoön starrt das Häufchen bald von 
bohrenden Samenfäden. Dasselbe dient gewissermaassen dazu, dieselben 
einzufangen (Fig. 3). 

Massart hat bereits ein ähnliches Experiment mitgetheilt. „A la face 
inferieure d’une lamelle,“ sagt dieser Autor, „je depose une goutte peu 
epaisse d’eau contenant les spermatozoides et j’y place un cylindre tres fin 
en verre. Ce cylindre s’appligue contre la lamelle; de chaque cöte de la 
lisne de contact existe un angle dans lequel vient se rassembler un grand 
nombre de spermatozoides....“ Er erwähnt auch, dass an einem Tropfen 
sich die Spermatozoön in dem von der Flüssigkeit und der Oberfläche des 
Objecetträgers gebildeten Winkel ansammeln. 

Was diese letztere Erscheinung angeht, so kann man sie stets wahr- 


WAS VERANLASST DIE SPERMATOZORN, IN DAS Er ZU DRINGEN? 103 


nehmen, wenn man Spermatozoön unter dem Deckglase hat oder wenn 
man samenhaltige Flüssigkeit auf dem Objectträger ausbreitet. Rings herum 
um die Flüssigkeit, den Contouren derselben folgend, steht ein Kranz von 
Spermatozoön mit dem Kopf gegen die äusserste Flüssigkeitslinie gerichtet. 

Sind nun aber, wie ich oben gesagt habe, in einem Körper keine 
capillaren Spalten, Canäle u. dergl. von grosser Feinheit vorhanden, so suchen 
die Spermatozoön nicht in ihn hineinzudringen, selbst wenn der Körper 
weich ist und den eindringenden Spermatozoön nur einen geringen Wider- 
stand entgegensetzen würde. Folgendes Experiment kann zur Bestätigung 
des Gesagten dienen. 

Ausgewaschene Butter wurde in kleinen Stückchen auf den Objectträger 
gebracht und dann mit besamter Flüssigkeit umgeben. Oder es wurde 
mit der Spitze einer Nadel etwas von der Butter aufgenommen und damit 
über den Objectträger gefahren. Hier und da blieben kleine Stückchen 
hängen. Erwärmte man den Öbjectträger über einer Flamme, so ver- 
wandelten sich diese Partikel in Tröpfehen. Die Spermatozoön drangen 
nun niemals in die Butter ein. Da aber, wo zwischen der Glasoberfläche 
und dem Rande der Butter ein enger Raum vorhanden war, waren sie 
zahlreich, sie drangen aber nicht in den Körper vor. Man sah sie hier 
auch den Contouren der Butter entlang gleiten. 

Massart hat den Spermatozoön von Rana fusca verschiedene Körper 
geboten: Gelose, Gelatine, Gummitragant, Leinsamen, Quittenkerne! und 
die Gallerthülle des Froscheies selbst. Von diesen Gegenständen gaben 
nur der Leinsamen und die Kerne der Quitte, sowie die Gallerthülle des 
Froscheies ein positives Resultat, indem die Spermatozoön in sie hinein- 
drangen. Sehen wir vor der Hand von dem Eindringen in die Gallerthülle 
des Eies ab, so ist nach den obigen Ausführungen die Erklärung für das 
verschiedene Verhalten der Samenfäden diesen Objecten gegenüber unschwer 
zu geben. Während Gelatine, Gelose und Gummitragant homogene Körper 
ohne capillare Canäle, Spalten u. dergl. sind, ist die in Wasser quellende 
Hülle von Samen aus Zellen zusammengesetzt.” Wie man an einem Quer- 
schnitt eines Leinsamens, den man in starkem Alkohol betrachtet, sehen 
kann, folgt auf die gelbe Zellschicht der Schale ein homogen erscheinender 
hyaliner Streifen. Dieser ist aus Zellen zusammengesetzt, deren Lumen in 
Folge der Verdickung der Zellwände geschwunden ist, deren Zellgrenzen 
aber auf einem Flachschnitt durch eine regelmässige Täfelung angezeigt 
werden. Setzt man zu dem in Alkohol liegenden Querschnitt Wasser zu, 


! Aus dem Text geht nicht klar hervor, ob er die intacten Samen des Leines 
und der Quitte angewandt hat oder den von diesen gewonnenen Schleim. Ich nehme 
das Erstere an. 

? Vgl. E. Strasburger, Das botanische Prakticum. 3. Aufl. Jena 1897. S. 564. 


104 J. Dewirz: WAS VERANLASST DIE SPERMATOZOEN U. S. W. 


so schwillt die quellbare hyaline Schicht an und auf dem Querschnitt 
werden ebenfalls die Zellerenzen sichtbar. Beim Quellen wölbt sich nun 
die Aussenseite einer Zelle hervor und bildet mit benachbarten Zellen 
Winkel und enge Räume. Diese Aussenseite der Zellen erhält ferner 
Sprünge und Risse. Sodann trennen sich die Zellen mehr oder minder 
von einander, so dass auf der Flächenansicht die die Zellbegrenzung dar- 
stellende Täfelung zerreisst. Man sieht also hieraus, dass den Spermatozoen 
eine Menge feiner und feinster Spalten zu Gebote steht, in welche sie ein- 
zudringen suchen. 

Was die Gallerthülle des Froscheies angeht, so werde ich bei anderer 
Gelegenheit auf dieselbe zurückkommen. Ich kann aber jetzt schon sagen, 
dass sie durchaus nicht so homogen .ist, als man im Allgemeinen anzu- 
nehmen scheint. Gleichzeitig werde ich dann den mikroskopischen Bau der 
Eihüllen anderer Thierarten in Betracht ziehen. Es ist von verschiedenen 
Eiern ja bekannt, dass sie von einer gestreiften, von senkrechten Canälen 
durchzogenen Hülle umgeben sind. 


Ueber den Bogengangsapparat der Purzeltauben. 


Von 


Bernhard Rawitz. 


Durch die Liebenswürdigkeit des Hrn. v. Cyon erhielt ich im 
October 1901 drei Tauben zugesandt, welche Purzeltauben sein sollten. 
So hatte ich die Hoffnung, mich nicht nur von der Thatsache der diesen 
Thieren eigenthümlichen Bewegung, dem sogen. „Purzeln“ oder Rollen, 
überzeugen zu können, sondern es erwuchs mir auch die Aussicht, durch 
die anatomische Untersuchung die Ursache der Bewegung eventuell fest- 
zustellen im Stande zu sein. Schon damals die Tauben im Freien steigen 
zu lassen, um ihr Sichüberschlagen beim Niederstürzen zu sehen, ging 
nicht an, da die Thiere in dem ihnen eingeräumten Schlage noch nicht 
heimisch geworden waren. Ueber einen genügend hohen Raum, in welchem 
ein entsprechender Versuch mit den Thieren hätte vorgenommen werden 
können, verfügte ich leider nicht. So musste ich denn die Ergebnisse der 
Paarung — alle drei von Hrn. v. Cyon gesandten Tauben waren Männchen 
— im Frühjahr abwarten, in der Hoffnung, dass die Sorge um die Brut 
eine etwaige Neigung zur Flucht in den Thieren unterdrücken würde. 
Leider sah ich mich hierin getäuscht. Die von Brehm hervorgehobene 
Treulosigkeit aller Tauben bewährte sich auch in diesem Falle; zwei der 
Männchen entflohen mit ihren Weibchen auf Nimmerwiedersehen und 
liessen ihre kaum geborenen Jungen im Stich. Das dritte zurückgebliebene 
Männchen entfernte sich immer nur auf kurze Strecken aus dem Schlage, 
so dass seine Fähigkeit zu „Purzeln“ nicht festzustellen ist. 

Zwei andere Purzeltauben erhielt ich durch Kauf von dem Tauben- 
züchter Hrn. Fr. E. Frieke in Elmen-Gr. Salze bei Magdeburg. Wenn die 
v. Cyon’schen Tauben wirklich Purzler waren (Hr. v. Cyon hatte ebenfalls 
keine Gelegenheit, das Purzeln dieser Thiere zu sehen; sie waren ihm nur als 
Purzler verkauft worden), so zeigten sie ein ganz anderes Verhalten wie die 
Fricke’schen Tauben. Die Eigenthümlichkeit der Purzeltauben soll darin 


106 BERNHARD RAwITz: 


bestehen, dass die Thiere in ganz normaler Weise sehr hoch in die Luft 
sich erheben, beim Herunterfliegen aber sich entweder nach vorn über den 
Kopf oder nach hinten über den Nacken wiederholt überschlagen, ehe sie 
den Boden erreichen. Ich will diese Art Purzler als Luftpurzler be- 
zeichnen. Von ihnen unterschieden sich meine Tauben dadurch, dass sie 
Bodenpurzler waren. Die Mittheilung nämlich, die mir bei Uebersendung 
der Thiere Hr. Fricke zukommen liess, dass sie bereits purzeln, wenn sie 
auf der Erde sitzen und man nach ihnen mit’ dem Taschentuch schlägt, 
bestätigte sich vollinhaltlich. So hatte ich denn Tauben, an welchen das 
merkwürdige Phänomen des Purzelns bereits im Zimmer zu beobachten 
war, und an beiden, einem rothbraunen Männchen und einem blauen 
Weibchen, konnte ich Folgendes feststellen: 

Schlägt man nach den auf dem Boden oder auf dem Tische stehenden 
Thieren mit einem Tuche, wobei man natürlich vermeiden muss, die Thiere 
direct zu treffen, so versuchen sie, durch die Bewegung offenbar erschreckt, 
aufzufliegen. Sie können sich aber nur wenige Centimeter über den Erd- 
boden erheben, denn sie überschlagen sich bei dem Versuche zu fliegen 
nach hinten über den Nacken und kommen mit gespreizten Flügeln und 
gespreizten Beinen zu Boden. Auf jedes Erheben erfolgt immer nur ein 
einmaliges Ueberschlagen. Wird das Aufscheuchen mit dem Tuche mehrere 
Male hinter einander wiederholt, dann werden die Thiere unsicher, versuchen 
nicht mehr den Aufflug, sondern sinken nach hinten auf die Fersen zurück 
und stützen sich auf den Schwanz, indem sie zugleich den Kopf im Nacken 
stark nach hinten beugen. Bei nur selten ausgeführtem Aufscheuchen 
stehen die Thiere wie normale Tauben und bewegen sich auch beim Gehen 
auf dem Tische oder auf dem Erdboden wie solche. 

Nimmt man die Tauben in die Hand und lässt sie aus Manneshöhe 
zu Boden fallen, so überschlagen sie sich, manchmal nur einmal, manchmal 
öfters, in derselben Weise, wie vorhin angegeben, in der Luft und kommen 
entweder mit gespreizten Flügeln und gespreizten Beinen nieder oder, was 
ebenso oft zu beobachten war, schlagen hart auf den Boden auf. Sie sind, 
wie aus letzterer Thatsache hervorgeht, also nicht im Stande, durch Flügel- 
spreizen den Fall aus grösserer Höhe aufzuhalten oder zu mildern. 

Diese Bodenpurzler, die ich mehrere Monate mit immer gleichem 
Resultate beobachtet habe, zeigen also genau die gleichen Symptome, wie 
diejenigen Tauben, an denen man experimentell die sogen. hinteren Bogen- 
gänge zerstört hat. Hier war gewissermaassen von der Natur ein Experiment 
angestellt, welches eindeutige Resultate über die Function der Bogengänge 
zu liefern versprach. 

Die anatomische Untersuchung , welche ich nach Tödtung der Thiere 
anstellte, wurde in der Weise ausgeführt, dass von dem einen der Schädel 


ÜBER DEN BOGENGANGSAPPARAT DER PURZELTAUBEN. 107 


mazerirt und dann der Bogengangsapparat präparirt wurde Von dem 
anderen wurde die Schädelbasis in der Mitte in sagittaler Richtung ge- 
spalten und beide Partien, welche je ein Gehörorgan enthielten, noch 
lebenswarm in Flemming’s Chromosmiumsäure-Eisessig-Gemisch fixirt und 
nach entsprechender Weiterbehandlung in Paraffin eingeschmolzen. Das 
eine der Gehörorgane wurde dann in eine lückenlose Schnittserie (15 u 
Schnittdieke) zerlegt und mikroskopisch untersucht. 

Das Mazerationspräparat zeigt, dass auf beiden Seiten, rechts wie 
links, die Bogengänge vollkommen normal sind, wie aus dem Ver- 
gleiche mit dem mazerirten Gehörorgane gewöhnlicher Tauben unzweifelhaft 
erhellt. Und die mikroskopische Untersuchung bestätigt den 
makroskopischen Befund; das Gehörorgan der Purzeltaube weicht in 
keiner Weise von dem einer gewöhnlichen Taube ab, das ich des Vergleiches 
wegen ebenfalls nach gleicher Vorbehandlung in eine lückenlose Schnitt- 
serie zerlegt habe. 

Hinzugefügt sei der Vollständigkeit halber noch, dass auch das Gehirn 
_ der Purzeltaube in seinem äusseren Verhalten keine Abweichung von der 
Norm erkennen liess. | 

Dieser negative Befund erscheint mir von erheblicher Wichtigkeit. 

In den bekannten Flourens’schen Versuchen treten nach Durch- 
schneidung der hinteren Bogengänge regelmässig Purzelbewegungen auf. 
Die Thiere können das Gleichgewicht nicht mehr halten, sondern über- 
schlagen sich nach hinten. Und da diese Erscheinungen nach Bogengangs- 
durchschneidung sich einstellen, so hat man nach dem Grundsatze: „post 
hoc, ergo propter hoc“ in der Durchschneidung die Ursache des Purzelns 
erblicken wollen, den Verlust des Gleichgewichtsvermögens in Beziehung 
gebracht zu den hinteren Bogengängen. Es sollten, da die Durchschneidung 
der anderen Bogengänge andere Gleichgewichtsstörungen im Gefolge hatte, 
diese Organe der Sitz des Gleichgewichtvermögens überhaupt, wenigstens 
bei den höheren Vertebraten, sein. 

Den Purzeltauben fehlt die Fähigkeit, das Gleichgewicht in einer be- 
stimmten Lage des Körpers zu bewahren, denn dass die Thiere bei jedem 
Flugversuche sich nach hinten überschlagen, heisst doch nichts anderes wie: 
die Purzeltauben (Bodenpurzler) können im Fliegen das Gleichgewicht nicht 
bewahren. Trotzdem aber zeigen die Bogengänge auch nicht einmal eine 
mikroskopisch wahrnehmhare Abweichung von der Norm. Da ergiebt sich 
denn von selber die Frage, ob die Schlussfolgerung aus den Flourens’schen 
Experimenten berechtigt is. Wenn in einem stets eindeutigen Natur- 
experimente (sit venia verbo) bei erheblicher Störung des Gleichgewichts- 
vermögens keinerlei Veränderungen im Bogengangsapparate zu constatiren 
sind, so können die im stets vieldeutigen Kunstexperimente nach Verletzung 


1038 B. Rawımz: ÜBER DEN BOGENGANGSAPPARAT DER PURZELTAUEEN. 


der Bogengänge auftretenden Störungen unmöglich direete Folgen dieser 
Verletzungen sein. Es müssen hier beim Experimente Bedingungen gesetzt, 
besondere Verletzungen hervorgerufen werden, die, nicht so ohne Weiteres 
erkennbar, einen Zusammenhang zwischen Bogengang und Gleichgewichts- 
lage vortäuschen. Die Bogengänge, so glaube ich aus den Beob- 
achtungen an Purzeltauben schliessen zu dürfen, haben mit der Gleich- 
gewichtsfunction nichts zu thun. 


Es könnte sein, dass von gewisser Seite der Versuch gemacht wird, 
meinen negativen Befund an Purzeltauben gegen meinen positiven an Tanz- 
mäusen ! auszuspielen. Man würde mir vielleicht entgegenhalten, dass durch 
das negative Ergebniss der Untersuchungen an Purzeltauben die von mir 
behaupteten und, wie ich meine, auch bewiesenen hochgradigen Ver- 
änderungen im Bogengangsapparate der Tanzmäuse zweifelhaft erscheinen 
müssten. Man würde sich bei diesem Einwande wahrscheinlich auf die 
allerdings ganz unzureichenden Untersuchungen meiner Gegner berufen. - 
Um einen solchen Einwand, der auf einem Denkfehler beruhen würde, von 
vornherein nach Möglichkeit zu verhüten, seien hier noch einige Worte 
gewissermaassen prophylactisch angefügt. 

Bei den Erscheinungen, welche die japanischen Tanzmäuse darbieten, 
handelt es sich um Störungen des Orientirungsvermögens, bei den Purzel- 
tauben dagegen um Störungen des Gleichgewichts. Gleichgewicht aber 
und Orientirungsfähigkeit sind zwei ganz verschiedene Dinge, die nichts 
mit einander zu thun haben. Es kann Jemand wohl im Stande sein, das 
Gleichgewicht in allen Körperlagen zu behalten, und dennoch bei dem 
Versuche, geradeaus zu gehen, weil er sich nicht zu orientieren vermag, eine 
Ziekzackbewegung ausführen. Und andererseits kann Jemand die unver- 
minderte Fähigkeit besitzen, sich im Raume richtig zu orientiren, und 
dennoch bei dem kleinsten Versuche der Ortsveränderung das Gleichgewicht 
verlieren. Wie Gleichgewicht und Orientirung nichts mit einander gemein 
haben, so können auch meine Ergebnisse an Purzeltauben zu denen an 
Tanzmäusen weder in Beziehung noch in Gegensatz gebracht werden. In 
beiden Arbeiten werden verschiedene Probleme behandelt. 

Die Beobachtungen und Untersuchungen zu vorstehender Mittheilung 
wurden im physiologischen Institute der thierärztlichen Hochschule angestellt, 
dessen Chef, Geheimer Regierungsrath Prof. H. Munk, mir in liberalster 
\Veise einen Arbeitsplatz überlassen hat. 


! Vgl. Dies Archiv. 1899 und 1901. Physiol. Abthlg. Suppl. 


Ueber die physiologischen Grundvermögen 
der Herzmuskelsubstanz und die Existenz bathmotroper 
Herznerven. 


Eine Entgegnung an Hrn. E. Hering. 


Von 


Th. W. Engelmann. 


H. E. Hering hat unlängst Einwendungen erhoben ! gegen die von 
mir vertretene Auffassung der Beziehungen zwischen Anspruchsfähigkeit, 
Contractilität, Leitungsvermögen und Automatie der Herzmuskelsubstanz 
sowie im Besonderen gegen die Existenz eigener bathmotroper Herznerven. 
Er sucht zunächst die Ueberflüssigkeit der Annahme bathmotroper Nerven 
a priori darzuthun, indem er behauptet, dass der Nachweis der Existenz von 
Nerven, deren Function es sei, nur die Anspruchsfähigkeit der Herzmuseu- 
latur für Reize unmittelbar, direct, zu ändern, überhaupt nicht erbracht 
werden könne. Nach kurzer Erörterung und Definition der von ihm zweck- 
mässig als „Leitungsreiz“- und „Ursprungsreiz“ unterschiedenen Begriffe, 
meint er, die Wirkung bathmotroper Nerven könne sich in Bezug auf den 
„Leitungsreiz“ normaler Weise nur als eine inotrope oder dromotrope 
äussern (S. 394), während bei jenen „Muskeltheilchen, auf welche der 
Ursprungsreiz unmittelbar einwirkt, sie sich als eine chronotrope, d. h. die 
Frequenz verändernde äussern würde“ (8. 395). 

Diese Behauptungen enthalten sämmtlich eine. petitio principil. Die 
Aenderung der Anspruchsfähigkeit braucht sich a priori weder in einer 
Aenderung der Contractilität, noch in einer Aenderung des Leitungsver- 
mögens, noch auch in einer Aenderung der Frequenz zu äussern. 

Stellt man sich mit mir vor, dass die „reizbaren“, d.h. die durch den 
Reiz direct angesprochenen und ihrerseits erst secundär die Contraction 


ı H. E. Hering, Ueber die vermeintliche Existenz „bathmotroper“ Herznerven, 
Pflüger’s Archiv f. d. ges. Physiologie. 1902. Bd. XCIH. 8.391 bis 397. 


110 Tu. W. ENGELMANN: 


auslösenden Theilchen andere seien, als die contractilen, so ist eine gewisse 
Unabhängigkeit der beiden Functionen Anspruchsfähigkeit und Contraetilität 
von einander eine logische Nothwendigkeit. Es könnte ja beispielsweise 
die Thätigkeit der „reizbaren“ Theilchen in elektrischen und nicht in mecha- 
nischen Wirkungen wie die der „contractilen“ bestehen. So gut ich mir 
denken kann, dass in einem gewöhnlichen Muskel die zwischen seinen 
Fasern sich verbreitenden Nerven eine erhöhte Anspruchsfähigkeit, die 
Muskelfasern aber gleichzeitig eine — etwa durch ein specifisches Muskel- 
gift — herabgesetzte Contractilität besitzen, ebenso gut kann ich mir vor- 
stellen, dass eine solche entgegengesetzte Aenderung im Inneren der Muskel- 
zellen bei den „reizbaren“ und den „contractilen“ Theilchen gleichzeitig vor 
sich gehe. Diese Möglichkeit a priori leugnen, heisst behaupten was erst 
bewiesen werden soll, nämlich eine Identität der „reizbaren“ und der „con- 
tractilen“ Theilchen, wie sie Hering’s Standpunkt involvirt. 

Ebenso wenig wie von einer inotropen braucht eine Aenderung der 
Anspruchsfähigkeit der Muskelsubstanz nothwendig von einer gleichsinnigen 
Aenderung des Leitungsvermögens begleitet zu sein. Es ist denkbar, ja 
thatsächlich unbestreitbar, dass das Leitungsvermögen zum Theil an andere 
Bedingungen gebunden ist, wie die Anspruchsfähigkeit der einzelnen reiz- 
baren Theilchen. Während die letzere Fähigkeit wesentlich nur vom Zustand 
der erregbaren Theilchen abhängen wird, muss die erstere u. a. sehr wesent- 
lich auch durch den gegenseitigen Abstand dieser Theilchen bedingt sein. 
Wiederum kann man sich sehr wohl vorstellen, dass jedes einzelne (oder, 
beim Herzen, auch jede einzelne Zelle) erhöhte Anspruchsfähigkeit besitze, 
aber vom nächsten reizbaren Element (bezw. der nächsten Zelle) zu weit 
entfernt sei, als dass eine Mittheilung der Erregung, eine Leitung, stattfinden 
könne. Statt der Entfernung könnten übrigens auch andere Momente, 
z. B. die chemische oder physikalische Beschaffenheit zwischenliegender, 
nicht reizbarer Theilchen (bezw. der Kittsubstanzen zwischen den Zellen) 
in gleicher Weise wirken. Gleichsinnige Aenderungen von Anspruchsfähig- 
keit und Leitungsvermögen a priori als nothwendig behaupten, heisst also 
wiederum sich einer petitio principii schuldig machen. 

Dasselbe gilt betreffs H. E. Hering’s Behauptung, dass an dem Orte 
der Ursprungsreize ein bathmotroper Einfluss sich nur als Frequenzänderung 
äussern könne. Er übersieht die Möglichkeit, dass entweder die reiz- 
erzeugenden Theilchen in den Muskelzellen hier andere sind als die 
„reizbaren“, oder dass es besonders bevorzugte, reizerzeugende Muskelzellen 
zwischen anderen, wesentlich nur reizbaren und reizleitenden giebt. Da 
diese Möglichkeiten a priori zugegeben werden müssen, kann auch die Mög- 
lichkeit von Aenderungen der Anspruchsfähigkeit ohne Aenderungen der Reiz- 
erzeugung, also auch der Frequenz, nicht von vornherein geleugnet werden. 


PHYSIOLOGISCHE GRUNDVERMÖGEN DER HERZMUSKELSUBSTANZ. 111 


Inzwischen solche aprioristische Betrachtungen können nichts über 
die wirklichen Verhältnisse entscheiden. Das vermögen nur Thatsachen. 
Und hier nun muss ich meiner Verwunderung darüber Ausdruck geben, 
dass Hering anhaltend die Thatsachen nicht würdigt, welche die weit- 
gehende Unabhängkeit der vier Grundvermögen: Reizerzeugung, Anspruchs- 
fähigkeit, Leitungsvermögen, Contractilität handgreiflich beweisen. In meinen 
früheren Arbeiten habe ich diese Thatsachen wiederholt besprochen und 
ihre Bedeutung für die vorliegende Frage betont, und erinnere deshalb nur 
nochmals an das allbekannte Fortbestehen localer Contractilität bei auf- 
sehobenem Leitungsvermögen der Muskelsubstanz, an die Steigerung der 
Anspruchsfähigkeit der reizerzeugenden Partien des Herzens (Sinusgebiet) 
bei gleichzeitiger Unterdrückung der spontanen Reizerzeugung durch den 
Vagus, an die Erhaltung des Reizleitungsvermögens der Vorkammern bei 
Aufhebung ihrer Contractilität durch Vaguswirkung oder Wasser, an die 
Unterdrückung endlich der Contractilität der Atrien durch Nerveneinfluss 
bei Erhaltung, ja Steigerung ihrer Anspruchsfähigkeit für künstliche Reize. 

In Bezug auf die letztere Thatsache, bemerkt Hering, „genügt es, 
darauf hinzuweisen, dass Engelmann selbst aus einander gesetzt hat, 
warum sie für die Annahme einer gegenseitigen Unabhängigkeit der Contrac- 
tilität und Anspruchsfähigkeit keine zwingende Beweiskraft besitzen. Er 
erörtert S. 17 die Möglichkeit, dass es sich in diesen Fällen um secundäre 
Wirkungen myogenen Ursprungs handeln dürfte, was auch meine Meinung 
ist“ (a. a. O., S. 396). Hier befindet sich nun Hering in einem doppelten 
Irrthum, insofern er mir einen Denkfehler zuschreibt, den er selbst im 
gleichen Augenblicke begeht! Er übersieht, dass die von mir gefundene 
zeitliche und räumliche Coincidenz von Herabsetzung der Contractilität und 
Steigerung der Anspruchsfähigkeit der Atrien eine Thatsache ist und als 
solche sehon, ohne Weiteres, den Beweis für die von mir behauptete Unab- 
hängigkeit der beiden Functionen bildet! Die Deutung der Thatsache 
hat mit der Frage nach der gegenseitigen Unabhängigkeit der beiden Grund- 
vermögen nicht das Mindeste zu schaffen. Auf Hering’s Standpunkt ist 
eben eine solche Thatsache überhaupt nicht möglich. Es konnte mir 
deshalb auch gar nicht beikommen, ihre Beweiskraft für diese Frage, wie 
Hering mir zuschreibt und wie er selbst thut, anzuzweifeln. Das Einzige, 
was mir zweifelhaft sein konnte, war, ob es sich hierbei um eine primäre, 
direete, oder um eine secundäre, myogene, d. h. erst durch die Contraction 
vermittelte Wirkung des Vagus auf die Anspruchsfähigkeit handele. Und 
dies wurde auch von mir mit klaren Worten ausgesprochen und discutirt. 
Wenn ich in der Schwächung der Contraction, also in der negativ-inotropen 
Wirkung der Vagusreizung ein mit Nothwendigkeit die Anspruchsfähigkeit 
der Museulatur des Herzens beförderndes Moment erblicke und trotzdem 


112 Ta. W. ENGELMANN: PHYsioLoOGILCHE GRUNDVERMÖGEN UT. S. W. 


das Bestehen primärer, directer, bathmotroper Nervenwirkungen daselbst 
annehme, so zwingen mich dazu diejenigen Thatsachen, bei welchen eine Er- 
klärung der beobachteten Veränderungen der Anspruchsfähigkeit aus gleich- 
zeitig vorhandenen myogenen (inotropen bezw. chronotropen) Wirkungen 
nieht möglich ‚erscheint, im Besonderen diejenigen, bei denen eine Ueber- 
compensation der gleichzeitig vorhandenen myogenen Wirkungen ange- 
nommen werden muss, wie beim gleichzeitigen Vorkommen positiv-bathmo- 
troper und positiv-inotroper, bezüglich negativ-bathmotroper und negativ- 
inotroper Effecte der Vagusreizung. Wenn Hering diese Versuche als 
Beweise für meine Annahme bathmotroper Nerven nicht gelten lassen will, 
so möge er erst erklären, wie es möglich ist, dass bathmotrope Wirkungen 
einmal mit gleichsinnigen, andere Male mit ungleichsinnigen myogenen 
Effecten (inotropen bezw. chronotropen Ursprunges) combinirt vorkommen. 

So wenig wie ohne die Annahme primärer bathmotroper Nerven- 
wirkungen hier vorläufig auszukommen ist, so wenig ist dies auch, soweit 
ich sehe, ohne die Annahme eigener bathmotroper Nervenfasern möglich, 
wenigstens nicht, so lange man nicht bessere Gründe als jetzt für die 
Annahme haben wird, dass dieselbe elementare Nervenfaser unter ver- 
schiedenen Bedingungen entgegengesetzten oder qualitativ verschiedenen 
Reizerfolg im Endorgane haben könne. Diese letztere Möglichkeit ist 
a priori zuzugeben. Die einzige mir bekannte Thatsache, welche allen- 
falls wenigstens einen Analogiegrund zu ihrer Stütze abgeben könnte und 
welche ich auch früher schon einmal mit Rücksicht auf die Theorie der 
Hemmungswirkungen erwähnt habe, ist die 1868! von mir beschriebene 
Beobachtung, dass derselbe elektrische Reiz, der bei wasserarmen Flimmer- 
zellen und Samenfäden Beschleunigung der Bewegungen zur Folge hat, 
die Flimmerung hemmt, wenn die Zellen in hypotonischen indifferenten 
oder alkalischen Lösungen stark gequollen sind. Es dürfte aber nicht 
rathsam sein, hieran für unsere Frage schon jetzt weitere Speculationen 
anzuknüpfen. 


ı Ueber die Flimmerbewegung. Leipzig. 1868. 8. 74, 112 u. flg., 135, 158. 


Ueber das süssende Prineip. 


Von 


Dr. Wilhelm Sternberg, 
prakt, Arzt in Berlin. 


Wenn der Geruch und der Geschmack das chemische Sinnesorgan 
zusammensetzen, so dürfte das Problem des riechenden Prinecipes, d.h. 
desjenigen Princeipes, das den Riechstoffen den Geruch verleiht, sowie 
das des schmeckenden Prineipes, d.h. desjenigen Principes, das in den 
Schmeckstoffen den Geschmack bedingt, vom chemischen Gesichts- 
punkt aus zu lösen sein. Ungleich einfacher nun, in mehr als einer Be- 
ziehung, sind die Untersuchungen des schmeckenden Prineipes. Sind 
„süss“ und „bitter“ die reinsten und echtesten Geschmacksempfindungen, 
so wird sich die Frage des schmeckenden Principes zunächst auf das in 
den süss und bitter schmeckenden Verbindungen wirksame, also auf das 
süssende und verbitternde Princip zu richten haben. Nun ist aber 
die Zahl der süss schmeckenden Verbindungen, wenn nicht eine begrenzte, 
eine endliche, so doch sicher eine geringere, und zwar ganz erheblich ge- 
ringere, als die der bitter schmeckenden Substanzen, eine höchst seltsame 
Thatsache, seltsamer noch, dass sie bisher noch kaum hervorgehoben ist. 
Denn so viele neue Verbindungen auch die moderne Ohemie täglich auf 
den Markt bringt, sie haben zu allermeist, wenn sie überhaupt einen Ge- 
schmack besitzen, den bitteren, aber ausserordentlich selten nur den süssen. 
Somit wird man am einfachsten die Untersuchung mit der des süssenden 
Prineipes zu beginnen haben, um dann mit Hülfe der hier gewonnenen 
Ergebnisse das gegensätzliche Princip, das verbitternde Prineip zu prüfen. 
Kommt nun vollends noch dazu, dass die anorganischen Verbindungen 
überhaupt an Zahl hinter den organischen Verbindungen, wenigstens bis 
auf den heutigen Tag, zurückstehen, so dürfte diese Frage des süssenden 
Principes am allereinfachsten zunächst durch Betrachtung der anorganischen 


süssen Verbindungen zu lösen sein, wobei die Intensität der Süsskraft 
Archiv f. A. u. Ph. 1903. Physiol. Abthlg. 8 


114 WILHELM STERNBERG: 


geflissentlich ausser Acht zu lassen ist, da die Intensität sich überaus leicht 
durch physikalische Grössen, nicht chemischer Art, verändern lässt. 

Damit ist dann der Weg der Untersuchung vorgezeichnet, indem der- 
selbe zur Betrachtung des periodischen Systems führt. 

Die Elemente als solche, als Molecüle, besitzen sämmtlich nicht die 
Fähigkeit, eine Geschmacksempfindung hervorzurufen. Von den löslichen 
Verbindungen schmecken die Salze der Elemente aus der I. und II. Gruppe 
sämmtlich bitter, weshalb diese Zone die anorganische genannt wird. Dieser 
Eigenschaft haben die Salze des Magnesiums ihren Namen „Bittersalze“ zu 
verdanken. £s giebt nicht eine einzige Combination, in der diese Elemente 
den süssen Geschmack zu erzeugen vermöchten. 

Nur Beryll, als das erste und leichteste Element der II. Gruppe, giebt 
den Salzen den süssen Geschmack, deswegen wird es auch Glycium genannt 
und in Frankreich noch heute durch das Symbol G bezeichnet. 

Nach seinen Eigenschaften ist aber das Beryll der II. Gruppe zu- 
zurechnen. Die Elemente dieser Gruppe sind sämmtlich duleigen. Bor, 
Aluminium, dessen süsser Geschmack schon in der Nomenclatur der älteren 
Pharmakologie zu Tage trat, da sie von Tannica aluminosa s. duleia sprach, 
Scandium, Yttrium, Lanthan und Ytterbium. 

Diese III. Gruppe ist also, soweit sie sich auf die Hauptgruppe be- 
schränkt und die Untergruppe Indium, Gallium, Thallium ausschliesst, 
ohne Ausnahme duleigen. 

In der IV. Gruppe, der zweiten der dulcigenen Zone, schmeckt süss 
die höchste Oxydationsstufe des Kohlenstoffis, CO,, die Salze des Cers und 
die Salze des Bleis, dessen essigsaures Salz daher „Bleizucker‘‘ heisst. 

In der V. Gruppe, der dritten der duleigenen Zone, schmeckt süss die 
niedrigste Oxydationsstufe des Stiekstoffs, N,O. Ebenfalls süss schmeckt 
die niedere Oxydationsstufe des Arsens, As,O,, so schwierig es sich auch 
im Wasser löst. Es ist das eine höchst seltene Ausnahme, dass ein Gift 
nicht bitter schmeckt und den Eigengeschmack des Süssen besitzt. Schliess- 
lich ist auch das Antimon ein duleigenes Element. Die Antimonsalze sind 
zwar schwer löslich, doch gelingt es mit Hülfe der Weinsäure, das Antimon 
in Lösung zu bringen. Brechweinstein schmeckt deutlich süss, wiewohl es 
noch Kalium enthält. 

In der VI. Gruppe schmeckt H,O süss. Ebenso schmeckt auch H, S; süss. 

Dies sind nun die duleigenen Elemente; ausser diesen erwähnten Ver- 
bindungen giebt es nicht eine einzige süss schmeckende anorganische Com- 
bination. Diesen duleigenen Elementen ist nun ein Moment eigenthümlich. 
In der Mitte des periodischen Systems, zwischen + und — gelegen, be- 
sitzen sie jene Doppelnatur, vermöge deren sie sowohl als Säure, wie auch 
als Basen fungiren können. 


115 


ÜBER DAS SÜSSENDE PRINCIP. 


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5* 


116 WILHELM STERNBERG: 


Nun theilen sie aber gerade diese Eigenthümlichkeit der Doppelnatur mit 
allen anderen süss schmeekenden Verbindungen, auch mit den organischen 
Verbindungen. Daher glaubte ich in meinem ersten Versuche, die Hypo- 
these aufstellen,zu können, dass diese, allen süss schmeckenden Verbindungen 
gemeinsame Doppelnatur das süsse Princip bedinge. 

Allein sollte diese Hypothese zutreffen, so müssten doch auch sämmt- 
liche anderen Elemente in der mittleren, duleigenen Zone die Eigenschaft 
besitzen, ihren Verbindungen den süssen Geschmack zu verleihen. Nun ist 
aber doch kein einziges Element der duleigenen Zone ausser den erwähnten 
befähigt, auch nicht eine einzige süss schmeckende Verbindung zu liefern. 
Somit würde es gar nicht erklärlich sein, warum z. B. die Zinnsalze nicht 
süssen, da das Element doch auch die nämliche Doppelnatur zeigt wie z. B. 
Blei. Entweder ist also die Hypothese, dass in der chemischen Doppel- 
natur das süssende Prineip zu suchen ist, hinfällig, weil willkürlich und 
müssig, überflüssig, weil gezwungen, oder aber zwingende Gründe müssen 
sich anführen lassen, diesen auffallenden Widerspruch zu erklären. Eine 
solche Erklärung ergiebt sich aber in der ungezwungensten Weise und 
sogar noch zu weiteren Consequenzen in willkommener Weise führend, 
wenn man nunmehr die duleigenen Elemente in der duleigenen Zone nicht 
mehr nach ihren Gruppen, also nicht mehr allein in verticaler Richtung, 
sondern nun auch einmal nach ihren Perioden betrachtet, also in hori- 
zontaler Richtung. Alsdann ergiebt sich nämlich Folgendes: 

Duleigen sind in der ersten Periode die Elemente: Be—; die Bor-Salze 
und CO, schmecken nicht deutlich süss; unverkennbar aber süss schmeckt 
N,0; H,O schmeckt auch süss; also sicher das Anfangsglied und die Enden 
der Reihe. 

Von der zweiten Periode sind dulcigen: Al—, ausserdem S, also 
wiederum das erste und letzte Glied. 

Von der dritten grösseren Periode sind duleigen nur Scandium und 
Arsen, also nur das Anfangsglied der duleigenen Zone und das End- 
glied derselben, oder: das Anfangsglied der Hauptgruppe in der dulci- 
genen Zone und das äusserste Endglied, nämlich das Endglied der Unter- 
gruppe As, während alle übrigen Elemente in der Mittelgruppe nicht 
duleigen sind. 

In der vierten Periode ist das Nämliche der Fall, duleigen sind nur 
Y und Sb, also wiederum nur das Anfangsglied der Hauptgruppe in der 
duleigenen Zone und das äusserste Endglied der Untergruppe. 

Aehnlich ist es in der fünften Periode, duleigen sind nur La, (Ce 
und Yb einerseits, Pb andererseits, also Anfangsglieder der Hauptgruppen 
in der duleigenen Zone und Endglied der Untergruppe. Sollte aber diese 


ÜBER DAS SÜSSENDE Princır, 117 


Regelmässigkeit durchgängig zutreffen, so müsste ganz gewiss auch Bi 
als Endglied xa&r' &£0x7v ebenfalls duleigen sein. Nun sind die Salze des 
Bi aber geschmacklos, sie sind aber auch unlöslich und zersetzen sich. 
Doch gelingt es, Bi in Lösung zu bringen und zwar wiederum mit Hülfe 
der Weinsäure. Alsdann tritt der süsse Geschmack deutlich und unver- 
kennbar hervor. 

So ist auch in dieser letzten Periode nun dieselbe Regelmässigkeit 
durchgeführt, andererseits aber die V. verticale Gruppe, die letzte der 
duleigenen Zone, auf’s Schönste completirt. 

Zum Zustandekommen des süssen Geschmackes gehört also nicht allein 
die Doppelnatur, sondern die diese Doppelnatur bedingenden Theile müssen 
in maximo, sei es bezüglich der Anzahl, sei es bezüglich der Stellung, ver- 
treten sein. Lediglich diejenigen Elemente der dulcigenen Zone sind 
duleigen, deren Stellung im System direct den Uebergang kennzeichnet, 
nämlich die ersten und die letzten Glieder. Anderenfalls schlägt die Süsse in 
das Geschmacklose auf der einen Seite, in’s Bittre auf der anderen Seite 
um. Ebenso schmecken ja auch nicht sämmtliche Aminosäuren süss, sondern 
nur diejenigen Aminosäuren, welche die die Doppelnatur bestimmenden 
Theile + NH, und — COOH in einer ganz bestimmten Stellung, in «- 
bezw. o-, also in der vieinalen Stellung besitzen. Ebenso schmecken ja 
auch nicht sämmtliche Alkohole süss, sondern erst diejenigen Alkohole, in 
welchen die die Doppelnatur bestimmenden Theile in maximo vertreten 
sind, die meistsäurigen Alkohole. 

Die Verbindungen nun, in welchen diese duleigenen Elemente der 
duleigenen Zone süss schmecken, sind: 

1. H-Verbindungen, und zwar schmecken lediglich die H-Verbindungen 
derjenigen Elemente süss, welche am weitesten nach rechts und oben im 
System stehen, also am meisten negativ sind: O und S. 

2. Oxyde, und zwar schmecken wiederum lediglich die Oxydverbin- 
dungen derjenigen Elemente süss, welche auch noch nach rechts und oben 
im System ihre Stellung haben, also auch noch nach der negativen Seite 
gelegen sind: N, As. 

3. Salze, und zwar schmecken lediglich die Salze derjenigen Elemente 
süss, die nach links und unten, also nach der positiven Seite gelegen sind. 

Zum allergrössten Theile sind die süss schmeckenden anorganischen 
Verbindungen Salze, und ist es für die süssende Eigenschaft ganz gleich- 
gültig, mit welcher Säure das duleigene Element combinirt ist. 

Nur der basische, also der positive Theil in diesen Salzen ist für das 
duleigene Prineip massgebend. Diese Thatsache deutet darauf hin, dass 
dem positiven Element Jon die duleigene Kraft zuzuschreiben ist. 


118 WILHELM STERNBERG: 


Diese eigenthümliche Erscheinung nun, dass der süsse Geschmack auf 
ganz vereinzelte Verbindungen mancher Elementgruppen beschränkt ist, auf H-, 
auf Oxyd-, auf salzartige Verbindungen, je nach der Stellung der Elemente 
im System, lässt sich nun auch in einer gewissen Regelmässigkeit in manchen 
organischen, süss schmeckenden Verbindungen verfolgen. Das zeist sich 
am besten, wenn man das mehr metallische + CH,— dem mehr negativen 
C,H,— gegenüberstellt. Beiden Atomgruppen ist zwar noch gemeinsam der 
süsse Geschmack in den Oxyden, den mehrwerthigen Alkoholen, aber scharf 
gegenüber stehen sie sich in den salzartigen Verbindungen, den Estern. 
Von den Verbindungen des mehr positiven Methyls schmecken süss die 
Salze, und zwar gleichgültig mit welcher Säure es verbunden ist. Es 
schmecken daher süss die chlorwasserstoffsauren, bromwasserstoffsauren, jod- 
wasserstoffsauren Methylsalze, also alle die sogen. Halogenderivate, die 
Salze der organischen Chemie (nicht organische Salze) oder andere anor- 
ganische Ester, Glycerintrinitrat, Aethylnitrat, Spiritus salis duleis, Spiritus 
aetheris duleis, Haller’sches Sauer; nicht aber die nämlichen Verbindungen 
des mehr negativen — C,H.—. Dafür schmecken wiederum von den Ver- 
bindungen des mehr negativen 0,H,— süss: Körper wie Nitrobenzol, Nitro- 
phenol, Nitrobenzoösäure, Salicylsäure. Während es also beim positiven 
Methyl auch noch Salze sind, die süss schmecken, sind es beim negativen 
C,H,— nicht mehr die entsprechenden Verbindungen, sondern Verbindungen, 
in denen negative Gruppen angehäuft sind. 

So führt dieser Weg nicht allein zur triftigen Erklärung, warum so 
viele Elemente in der duleigenen Zone nicht eine einzige süssende Combi- 
nation bilden, so dass die Theorie des süssenden Principes dadurch nicht 
erschüttert, sondern sogar ergänzt und bestätigt wird, sondern auch zur 
Prognostik der duleigenen Eigenschaft des Wismuths. Ja, die nämliche 
Betrachtung führt vollends den süssen Geschmack in vielen Verbindungen 
der aromatischen Reihe, der bisher nur sehr schwer erklärlich war, einer 
Erklärung entgegen und zwingt zur Beschränkung des süssenden Prinzips 
auf die Combination von zwei Bedingungen. 

Dem Zustandekommen des süssen Geschmackes sind also grössere 
Schwierigkeiten gesetzt als dem des bitteren Geschmackes. So erklärt sich 
die Thatsache, dass die Zahl der süss schmeckenden Verbindungen eine viel 
geringere ist als die der bitter schmeckenden Substanzen. 

Ist diese soeben versuchte Hypothese des schmeckenden Prinzips in der 
That zutreffend, so muss dieselbe aus den Eingangs erwähnten Gründen 
auch auf den Geruch auszudehnen sein. Denn soll eine Hypothese mehr 
als ein blosses Bild sein, dazu nicht allein berufen, eine plausible Erklärung 
für die Thatsachen zu geben, sondern zu einer wissenschaftlich anerkannten 
Theorie zu führen, so muss dieselbe befruchtend auf weitere Anschauungen 


ÜBER DAS SÜSSENDE Princıe. 119 


wirken und zu neuen Consequenzen führen. Eine weitere Gonsequenz wäre 
es aber, wenn die Hypothese des süssenden Prineipes auch zur Lösung des 
Problemes des riechenden Principes führte. Andererseits aber würde auch 
eine gleichartige Anwendung dieses chemischen Gesichtspunktes auf die 
riechenden Verbindungen eine willkommene Probe für die Richtigkeit der 
Hypothese des schmeckenden Principes sein. Die schönste Bestätigung für 
die Theorie des schmeckenden Principes würde die Lösung des riechenden 
Principes sein. Zum ersten Male würde alsdann das alte Problem des 
Geruches einer Erklärung zugänglich gemacht sein durch diese Unter- 
suchungen über den Geschmack. 


Riechend schmecken. 


Von 


H. Zwaardemaker 
in Utrecht, 


Im Jahre 1899 lenkten gleichzeitig A. Rollett! und ich? die Auf- 
merksamkeit auf den süssen Geschmack, den der Duft des Chloroforms 
hervorzurufen im Stande ist, wenn wir denselben in nicht zu geringer 
Concentration durch die Nase aspiriren. Rollett bezeichnete diese Art 
des Empfindens ganz treffend als „nasales Schmecken“. Mein Bestreben 
war damals, den Angrifisort des betreffenden Reizes im nasalen Sinnesorgane 
näher zu localisiren und zwar ausgehend vom Fick’schen Versuch: Die 
süsse Nebenempfindung macht sich, gleich wie ‚die olfactive Empfindung, 
nur dann geltend, wenn der Duft des Chloroforms durch die vordere Hälfte 
des Nasenloches in die Nasenhöhle hineinkommt. Wenn man sich nun 
vergegenwärtigt, dass diese Strombahn bis in die Choanen getrennt von 
der hinteren Strombahn verläuft und der von letzterer mitgeführte Chloro- 
formdampf keine Geschmacksempfindung hervorruft, liegt die Vermuthung 
vor der Hand, dass der Contact mit dem Sinnesorgan in die Nähe der 
vorderen oberen Strombahn zu verlegen sei. Die 1894 von Disse® in 
der Regio olfactoria der Säugethiere entdeckten Epithelknospen bilden 
möglicherweise das anatomische Substrat. Jedenfalls ist es erlaubt, diese 
gar nicht unwahrscheinliche Annahme vorläufig als Arbeitshypothese zu 
benützen. Später hat Gradenigo* noch gefunden, dass Anästisirung der 


! A. Rollett, Pflüger’s Archiv. Bd. LXXIV. S. 383. 

®? H. Zwaardemaker, Ned. Tijdschr. voor Geneeskunde. 1899. Deel I. p. 113. 

° J. Disse, Ueber Epithelknospen der Regio olfactoria der Säuger. Nachrichten 
der K. Gesellsch. d. Wissensch. Göttingen 1894. Bd. II. 8.66. (Kaninchen, Katze, 
Kalb.) Vielleicht sah E. Paulsen (Archiv für mikroskopische Anatomie. Bd. XXVI. 
S. 318) etwas dergleichen bei Pferd, Schwein, Cavia. 

* Gradenigo, Congress zu Rom 1899. Siehe Zeitschrift für Ohrenheilkunde. 
Bd. XXXVIL 8. 66. 


ZT 


H. ZWAARDEMAKER: RIECHEND SCHMECKEN. 121 


Geschmackselemente in der Mundhöhle und im Pharynx durch Gymnema- 
säure den nasalen Geschmack des Chloroforms nicht aufhebt und diese 
Empfindung also nicht auf der Zunge oder im Pharynx ihren Angriffs- 
punkt hat. 

Denken wir uns das nasale Schmecken in der Regio olfactoria zu 
Stande kommend, so haben wir uns vorzustellen, dass eine mit Chloro- 
formmolecülen geschwängerte Luft sich hier über eine Fläche verbreitet, 
die also mit drei besonderen Arten von Sinneszellen ausgestattet gedacht 
wird. Diese drei Arten Sinneselemente sind: 

1. Riechzellen, mit ihren Riechhärchen über die Oberfläche hervor- 
ragend (für die rein olfactorische Empfindung), 

2. freie Trigeminus-Endigungen (für die prickelnde Nebenempfindung), 

3. Epithelknospen (für die gustatorische Nebenempfindung). 

Einige der Chloroformmbolecüle lösen sich wahrscheinlich in der Substanz 
der Riechhärchen, andere in den Geschmackszellen auf, während endlich 
vielleicht eine dritte Gruppe mit den Trigeminus-Endigungen in einfache 
Berührung kommt. Die Mehrzahl übrigens wird durch Diffusion und 
Wirbelbewegung in alle Richtungen zerstreut. Erst wenn eine gewisse 
Menge der Chloroformmolecüle sich in den Riechzellen bezw. Geschmacks- 
zellen gelöst hat, wird die Möglichkeit einer Reizung gegeben sein. Ob 
dieselbe in unmittelbarer chemischer Einwirkung oder mittelbar in Erhöhung 
des osmotischen Druckes, in freikommender Lösungswärme oder in irgend 
einem anderen Process ihre Ursache findet, möge gänzlich dahingestellt 
bleiben, aber jedenfalls ist sicher, dass die Zahl der gelösten Molecüle für 
die Intensität des Reizes bestimmend sein muss. Daran ist für dieses 
sogen. chemische Sinnesorgan nicht zu zweifeln. Die Zahl der in sensorischen 
Zellen sich auflösenden Molecüle ist nun offenbar ceteris paribus von der 
Diehte des Chloroformdampfes in der Strombahn abhängig und es wäre 
deshalb interessant, die Beziehung zu kennen zwischen der Gasdichte, 
welche eine minimale nasale Geschmacksempfindung zu jener, welche eine 
minimale Geruchsempfindung hervorruft. Diese Frage hatte auch Rollett 
sich bereits gestellt, aber die Beantwortung scheiterte an der Unmöglich- 
keit, einen Olfactometer für Chloroform herzustellen. Wir wollen also in 
erster Linie diese technische Schwierigkeit zu überwinden und dann aus 
den olfactometrischen Bestimmungen die gewünschte relative Dampfdichte 
abzuleiten versuchen. 

Das Chloroform ist in Wasser sehr wenig löslich, so dass eine wässerige 
Chloroformlösung nur äusserst schwache Geruchs- uud gar keine nasale 
Geschmacksempfindung giebt. Mit flüssigem Paraffin lässt sich Chloroform 
jedoch in jedem Verhältniss vollkommen mischen und diese Eigenschaft 
haben wir benützt, um eine Reihe Riechmesser mit Chloroformlösungen von 


122 H. ZWAARDEMAKER: 


10, 20, 30 u. s. w. Volumprocenten zu construiren. Da die porösen Porzellan- 
cylinder ! ziemlich lange Zeit zu ihrer Imbibirung fordern, empfiehlt es sich 
für unseren Zweck statt dieses Materials gewöhnliches Filtrirpapier zu ver- 
wenden.” Es wird auf der Drehbank mehrschichtig um ein kleines Metall- 
gazecylinderchen, welches als Stütze zu dienen hat, gewickelt. Ein solcher 
Papiercylinder lässt sich ebenso gut wie der poröse Porzellaneylinder mit 
einem Flüssigkeitsmantel umgeben und ist, wenn vollständig von der 
Flüssigkeit imbibirt, ausgezeichnet zur Montirung auf den Riechmesser 
geeignet. 

Sobald man den ungefähr 50m fassenden Zwischenraum zwischen 
dem Papier und dem Glas des obenstehenden Magazincylinders mit dem 
Chloroform-Paraffingemisch vollständig gefüllt und zugeschraubt hat, wird 
in den ersten Minuten noch etwas Flüssigkeit aussickern, bis sich durch 
eine leichte Vergrösserung der zurückgebliebenen Luftblase ein hydrostatisches 
Gleichgewicht ausgebildet hat. Dann wird der Gasdruck in der Luftblase 
einige Centimeter Wasserdruck geringer als der atmosphärische Druck 
geworden sein und im Niveau des Lumens wird der hydrostatische Druck 
jenem der Atmosphäre vollkommen gleich sein. Von diesem Momente an 
hört jede Filtration, also auch jedes Aussickern auf. Man kann sich von 
diesem Verhältnisse überzeugen, indem man den Inhalt des Flüssigkeits- 
mantels mit einem kleinen Manometer in Verbindung setzt.” In diesem 
Falle wird sich auch die Wirkung der Capillarität zeigen, sobald ein Sm 
dickes Glasrohr hineingesteckt wird. Dann sinkt der Manometerstand 
ungefähr 1°. Bei jedem Einschieben des Olfactometers wird also ein 
wenig Flüssigkeit herausgesaugt. Falls man hiervon auf die Dauer Compli- 
cationen fürchtet, empfiehlt es sich, statt des Manometers eine ganz kleine 
Mariotte’sche Flasche anzuschrauben und letztere in der Weise einzu- 
stellen, dass ein ganz geringer Ueberdruck und in Folge dessen eine 
verschwindend kleine Filtration vorhanden ist. Bei horizontaler Auf- 
stellung des Cylinders ist die Genauigkeit der Riechmessung dann voll- 
kommen gesichert. 

Wenn es, wie für unsere Frage, auf Vergleichung der Riechkraft einer 
Reihe von Lösungen ankommt, empfiehlt es sich, sich nicht des eigenen 
Athemstromes, sondern der künstlichen Aspiration einer Bunsen’schen Luft- 
pumpe zu bedienen. Die gleichmässige Wirkung derselben soll gesichert 
und die dem Riechmesser entnommene Luft in ein kleines Riechfläschehen 
übergeführt werden, wie ich bei einer anderen Gelegenheit ausführlich 


ı H.Zwaardemaker, Physiologie des Geruches. 1895. S. 302 und Dies Archiv. 
1900. Physiol. Abthlg. S. 416. 

® Dies Archiv. 1903. Physiol. Abthlg. 8. 43. 

3 Ebenda. 8. 44. 


RIECHEND SCHMECKEN. 123 


beschrieben habe.! Am Riechfläschehen wird. dann ferner in vollkommen 
natürlicher Weise gerochen. 

Mit unserem von Chloroformmischung gefüllten Cylinder gehen wir 
jetzt in der Weise vor, dass wir, von Centimeter zu Centimeter prüfend, 
uns die am Riechfläschehen bekommenen Empfindungen merken. War der 
Riechmesser nur um ein ganz Geringes vorgeschoben, so fehlt vielleicht 
jeder Geruch. Bei etwas weiterem Vorschieben wird die Reizschwelle ge- 
funden, bei noch weiterem die Erkennungsschwelle u. s. w. Wir suchten 
nun für jede Lösung gesondert die nachfolgenden Werthe auf: 


1. die Reizschwelle der Geruchsempfindung ?, 
2. die Erkennungsschwelle der Geruchsempfindung ?, 
3. die Reizschwelle des nasalen Schmeckens, 
4. die Erkennungsschwelle des nasalen Schmeckens. 


Hierbei ist jedoch noch Einiges zu verzeichnen. Die Bestimmung der 
Reizschwelle hat keine Schwierigkeit, denn man hat bloss darauf zu achten, 
ob sich beim Aspiriren am Riechfläschchen irgend ein besonderer, übrigens 
undefinirbarer Geruch anbietet. * Beim Aufsuchen der Empfindungsschwelle 
aber hat man sich in erster Linie die Qualität des Geruchs im Allgemeinen 
zu vergegenwärtigen, in unserem Falle die Qualität eines ätherischen Ge- 
ruches. Zur Hervorbringung des Chloroformcharakters braucht man einen 
noch etwas stärkeren Reiz. Es will mir scheinen, dass in dem Hinzutreten 
einer leichten prickelnden Nebenempfindung zu dem ursprünglich ätherischen 
Geruch gerade das Charakteristische des Chloroformduftes gegenüber den 
ätherischen Düften im Allgemeinen gelegen ist. Man hat also zwei Er- 
kennungsschwellen zu unterscheiden. Zuerst die Erkennungsschwelle des 
ätherischen Geruches im Allgemeinen und dann die Erkennungsschwelle 
des Chloroforms im Besonderen. Weiter ausschiebend bringt die Luft des 
Riechfläschehens auch eine eigenthümliche Geschmackssensation zu Stande. 
Wenn sie in geringem Grade vorhanden ist, lässt sie sich der Qualität 
nach nicht deuten, obgleich wir geneigt sind, sie in der rechten oder 
linken Hälfte der Zungenwurzel je nachdem wir rechts oder links gerochen 
haben, zu localisiren. Wenn wir durch weiteres Vorschieben des Riech- 
messers den Reiz verstärken, entsteht zuletzt die vollkommen deutliche 


! Dies Archiv. 1903. Physiol. Abthig. 8. 49. 

® Entspricht unserem Begriff „Olfactie“. z 

3 Entspricht dem Minimum perceptibile von Toulouse und Vaschide. 

* Zur Vergleichung rieche man abwechselnd mit der vorderen und hinteren Hälfte 
des Nasenloches. Mit der vorderen Hälfte findet man dann die Reizschwelle, während 
wit der hinteren Hälfte aspirirend jede Geruchsempfindung, sei es auch eine noch so 
geringe,sfehlt. 


124 H. ZWAARDEMAKER: 


süssliche Geschmacksempfindung, von welcher oben die Rede war. Das 
allgemeine Resultat der Messung sei in untenstehender Tabelle übersichtlich 
zusammengestellt. Die angegebenen Zahlen sind Mittelwerthe aus einer 
kleinen Reihe von Bestimmungen. Es ist nicht leicht, sich dabei frei von 
Subjectivität zu machen, aber es ist durch wiederholte Bestimmungen an 
verschiedenen Tagen und durch Vexirversuche darnach möglichst gestrebt 
worden. Die Temperatur war +16-5°C., der Spirometerstand, die Aspira- 
tionskraft angebend, durch ein Uebergewicht auf 3950 gebracht. Er wurde 
durch einen Aspirationsregulator constant gehalten. 


Olfactorische Gustatorische 
Vol.-Proc. 

: j irkennungs- 0 nnungs- 
Chloroform | Meizsehpeile | Erkemunge | Reiunwaie | Erktaune 
10 Procent 8-0 —_ — — 

20 33 2-5 4-0 8:0 — 
soll, 1-0 2-0 4-0 | 9-50) 
Au 0-5 1-0 3-5 | 6-0 
50 5 0-5 1°0 2-5 4-0 
60 53 0-5 0:8 1-5 2-5 
80 33 0-4 0:7 2:0 | 2-5 
100, 01 0-2 — | 2 


Aus obenstehender Tabelle lässt sich die relative Riechkraft der ver- 
schiedenen Chloroform -Paraffingemische herleiten. Setzen wir sie dem 
reciproken Werthe der einer Olfactie entsprechenden Oylinderlänge gleich, 
so erhalten wir die folgenden Verhältnisszahlen: 


10 Procent 0.12 
20,00, 0-40 
EU) 1, 1-00 
40° ,„ 2.00 
50  , 2.00 
60 ,„ 2.00 
SOHR ER 2-50 


Gleiches lässt sich für die süsse Nebenempfindung machen, erhalten 
dann jedoch in Folge der schwierigeren Beobachtung weit unsicherere Zahlen 
(U-12; 0-25; 0-29; 0-40; 0-60; 0-50). 

Mit obenstehenden relativen Werthen der Riechkraft müssen selbst- 
verständlich die relativen Verdampfungsgeschwindigkeiten parallel gehen, 
denn letztere sind bei gegebener Constanz der Versuchsbedingungen die 
unmittelbaren Ursachen der ersteren. 


RIECHEND SCHMECKEN. 125 


Die Concentration des Chloroformdampfes ist bei allen Endbestimmungen 
die gleiche. Nur die Cylinderlänge, welche diese Concentration hervorbringt, 
differirt. Sie wechselt für die verschiedenen Mischungen in der Weise, 
dass in jedem besonderen Falle die gerade ausreichende Totalmenge der 
verdampfenden Molecüle geliefert wird. Die angegebenen Cylinderlängen 
führen also alle zu derselben Dichte des Riechgases in der aspirirten Luft und 
die Geschwindigkeit der Verdampfung muss ihnen nothwendig umgekehrt 
proportional sein. Wir wollen unsere Verhältnisszahlen der Riechkraft des- 
halb noch einmal graphisch zusammenstellen und darin den Ausdruck sehen 
einer odorimetrisch bestimmten Curve der Verdampfungsgeschwindigkeit 
des Chloroforms aus flüssigem Paraffın. Eine solche Curve wird offenbar 


0.5 


| ERDE REN N EAN EB 
10% 20% 30% 0% 50% 60% 70% 80% 90% Chloroform: 


Odorimetrische Coöfficienten bezw. Verdampfungsgeschwindigkeiten von Chloroform- 
Paraffin-Gemischen. 


nicht ausschliesslich von der Dampfspannung der Lösungen, sondern auch 
von der Geschwindigkeit der Verdampfung abhängig sein. Ich schreibe es 
der letzteren zu, dass die Curve in den höheren Concentrationen wieder 
ansteigt. | 

Wir können unsere Zahlen aber auch zur Feststellung der kleinsten, in 
einem bestimmten Luftvolumen noch riechbaren Chloroformmenge benützen. 

Wenn man einen ähnlichen Luftstrom als der, welcher die Riechstoff- 
molecüle von der riechenden Fläche in das Riechfläschehen herüberführte, 
continuirlich durch den vollständig ausgeschobenen olfactometrischen Cylinder 
ziehen lässt, so wird die dann verdampfende Menge ohne Weiteres durch 
die Waage messbar sein. Wir haben sie z. B. festgestellt für das Gemisch 
aus gleichen Volumina Chloroform und Paraffin und gefunden (Temp. 16-5°): 


126 H. ZWAARDEMAKER: 


Verdampfung während den ersten 5 Minuten — 0.498 grm 
Verdampfung während den nächstfolgenden 5 Minuten = 0.372 2m 
Verdampfung während einer Periode von 5 Minuten = 0.280 8m. 


Wie man sieht, nimmt die verdampfende Menge, welche hier nur aus 
Chloroform besteht, weil Paraffin nicht flüchtig ist, allmählich ab!, aber 
nicht rasch. Man darf also annehmen, dass die Verdampfung während 
der ersten !/, Minute nicht viel lebhafter gewesen ist, als in der ersten 
Periode von 5 Minuten durch einander genommen. Sie beziffert sich also 
auf nahezu 100 “® pro Minute oder 1.66”® pro Secunde. Diese Zahl 
bezieht sich auf die volle Oylinderlänge von 10 ®. Die Reizschwelle jedoch 
fanden wir oben für ein normales Sinnesorgan bei !/, ©” liegend, aus welcher 
Cylinderlänge offenbar nur eine 20 Mal geringere Verflüchtigung hat statt- 
finden können, also eine Verdampfung von 0°83”® pro Secunde. Der in 
allen unseren Versuchen angewandte und genau stationär gehaltene Luft- 
strom hatte eine derartige Geschwindigkeit ?, dass 32°” Luft pro Secunde 
durch den Riechmesser flossen und in diesem Volumen müssen sich die 
0.083 s Chloroform vertheilt haben. Hieraus lässt sich unmittelbar die 
der Reizschwelle entsprechende Gasdichte ableiten. Sie beträgt 2-6 "® 
pro Liter. 

Vor einigen Jahren hat J. Passy das Minimum perceptibile des 
Chloroforms auf 0°030 "8 pro Liter gefunden. Obwohl dieser Werth achtzig- 
fach geringer ist als der unserige, ergiebt sich doch eine für diese Art der 
Beobachtung vorläufig leidlich befriedigende Uebereinstimmung. ° 

Die Reizschwelle der süsslichen Nebenempfindung kam bei einer 5 Mal 
grösseren Cylinderlänge zu Stande. Die des Chloroforms wird dann 5 Mal 
grösser gewesen sein und einen Werth von 13"”® pro Liter erreicht haben. 

Aehnliche Messungen, aus welchen man die absoluten Werthe sowohl 
der Reizschwelle des Geruchssinnes (Olfactie) als jene des nasalen Schmeckens 
ableiten kann, lassen sich auch für Aether durchführen. Aether ruft be- 
kanntlich neben dem ihm eigenthümlichen Geruch eine bittere Geschmacks- 


! Bei weiter fortgesetzter Verdampfung wird natürlich endlich ein stationärer 
Zustand erreicht sein, in welchem ebenso viele Molecüle die Oberfläche verlassen, als 
aus den tieferen Schichten an die Oberfläche gelangen. 

®? Wurde bestimmt durch Registrirung des Zeitverlaufes zwischen der Oeffnung 
eines Gashahnes und der Explosion beim Vorbeistreichen an einer 1” weiter strom- 
abwärts aufgestellten glühenden Spirale. 

® Uebrigens lässt sich auch eine kleine Differenz erwarten wegen des nicht ganz 
geruchlos sein des flüssigen Paraffins. Unser Schwellenwerth fällt in Folge dessen 
etwas zu hoch aus. Ein Papiereylinder mit reinem Chloroform ergab z. B. 2-45 w® 
pro Liter. Andererseits liegt bei der Passy’schen Methodik die Möglichkeit einer 
Täuschung durch Alkoholgeruch vor. 


RIECHEND SCHMECKEN. 127 


empfindung hervor. Wir haben diesen Stoff deshalb mit Wasser zu einem 
sogen. System im heterogenen Gleichgewicht vereinigt, d. h. wir haben 
Wasser und Aether im Magazin des Olfactometers auf einander geschichtet, 
geschüttelt und während 24 Stunden sich selbst überlassen. Dann bildet 
sich ein System mit drei Phasen: 


1. Wasser, in welchem ein wenig Aether aufgelöst, 
2. Aether, mit ein wenig Wasser darin gelöst, 
3. ein Gemisch von Aether- und Wasserdampf. 


In der ersten Phase ist der olfactometrische Cylinder aus Fliesspapier 
(mit einer Stütze aus Kupfergaze) aufgenommen. Wenn man nun mit 
diesem Apparat die Reizschwelle der Geruchsempfindung und jene der 
nasalen Geschmacksempfindung aufsucht, so findet man dieselbe, für eine 
Zimmertemperatur von 20°, bei 0.5°®. Die Erkennungsschwelle liegt bei 
0.2m und eine ganz leichte Geschmacksempfindung oder jedenfalls eine 
daran erinnernde Empfindung, die in den Schlund verlegt wird, bei 9.0 m. 

Die der Reizschwelle entsprechende Gasdichte des Aethers sind wir im 
Stande, mit Hülfe von einigen früher von D. Konowalow! mitgetheilten 
Zahlen zu berechnen. Dort wird die Zusammensetzung unserer ersten 
flüssigen Phase auf 1 Wasser:!/, Aether, jene der zweiten Phase auf 
1 Wasser und 33 Aether angegebenen und die Tension der dritten Phase 
auf 17.2=m Ho Wasser und 429.8"m Hg Aether bestimmt. Im Gewicht 
verhalten sich die Menge Wasser und Aether im Dampf als 1:116. Die 
Verdampfung der Bestandttheile findet bei der angegebenen und auch von 
uns festgehaltenen Temperatur (19-8°) im gleichen Verhältniss statt und 
wir haben also jetzt nur noch die Totalverdampfung bei continuirlicher 
Durchströmung von 5 zu 5 Minuten festzustellen, um hieraus ohne Weiteres 
zu der im Momente der Schwelle verdampfenden Aethermenge zu gelangen. 
Denken wir uns diese wieder vertheilt in der Luftmasse, die sich pro Zeit- 
einheit durch den Riechmesser factisch bewegt, so ergiebt sich die Gasdichte 
des Aethers von selbst. 


Verdampfung während der ersten 5 Minuten 0.140 sm, 
 Verdampfung während der zweiten 5 Minuten 0-085 e”, 
Verdampfung während der dritten 5 Minuten 0.070 sm, 


Ohne einen grossen Fehler zu machen, darf man wieder die Geschwin- 
digkeit der Verdampfung während der ersten !/, Minute einer constanten 
Durchströmung des Aetherwasser-Cylinders jener während den ersten 
5 Minuten gleich setzen. Dann berechnet sich die totale Verdampfung 
der Flüssigkeit pro Secunde auf 0-47 s oder jene des Aethers auf 0.46 ms, 


ı D. Konowalow, Wiedemann’s Annalen. N.F. Bd. XIV. S. 223. 


128 H. ZWAARDEMAKER: RIECHEND SCHMECKEN. 


Dies bezieht sich auf die volle Cylinderlänge. Wir fanden aber die Reiz- 
schwelle der Geruchsempfindung (Olfactie) bei 0-5", Wenn aus der 
vollen Cylinderlänge 0-47 =8 Aether verdampfte, so verdampfte aus dem 
einer Olfactie entsprechenden Stück der !/soo Theil dieser Menge oder 
0.0023 "2. Während 1 Secunde passirten 32 °” Luft. In dieser ver- 
theilten sich die 0-0023%® Aether, so dass im Riechfläschehen eine Dichte 
von 0.07 ”& pro Liter vorhanden war. Passy ! fand früher 0°001 bis 
0-005”® Aether pro Liter, also ein Werth derselben Ordnung. 

Die Reizschwelle des olfactorischen Schmeckens ergiebt sich ohne 
Weiteres aus der Vergleichung der von uns für diesen Fall und für die 
Schwelle des Riechens gefundenen Cylinderlänge. Sie muss 180 Mal grösser 
sein, wird also ungefähr 12-6”® Aether pro Liter Luft erreichen. 


Zusammenfassung. 


Die Reizschwelle der Geruchsempfindung erfordert die Anwesenheit 
pro Liter Luft von: 


Passy Zwaardemaker 
Chloroform 0.030 ®8 2.60 m8 
Aether 0.001 bis 0.005 "8 0-07 88, 


Die Reizschwelle des nasalen Schmeckens erfordert pro Liter die An- 
wesenheit von: 


Chloroform 13-0 "8 
Aether 12.6", 


Letztere Bestimmungen sind der schwierigeren Deutung der Empfindung 
wegen nicht so scharf wie erstere. | 


ı J. Passy, Compt. rend. des seances de la Soc. de Biol. 30. Jan. 1892. 


Ueber die Verrichtungen des Kleinhirns.' 


Von 


Dr. M. Lewandowsky, 


Assistent des neurobiologischen Universitätslaboratoriums, Berlin. 


(Aus der speciell-physiologischen Abtheilung des physiologischen Institutes zu Berlin.) 


A. Historische Uebersicht. ? 


Die wissenschaftliche Erforschung der Kleinhirnfunction beginnt mit 
Rolando’s „Saggio sopra la vera struttura del cervello e sopra le funzioni 
del sistema nervoso“ (1809)?, in welchem zuerst über in grösserem Maass- 
stabe an diesem Hirntheile ausgeführte Experimente berichtet wird. Nur 
Pourfour du Petit (1663 bis 1741) hatte schon etwa 100 Jahre früher 
einige Experimente über Verletzung der Kleinhirnstiele angestellt. Mit 
dieser Ausnahme waren vor Rolando alle Theorien über die Verrichtungen 
des Kleinhirns abgeleitet aus gröbster anatomischer Betrachtung, so die 
Annahme Varol’s, das Kleinhirn sei das Organ des Gehörs und Ge- 
schmacks, weil die Gehörs- und (Geschmacksnerven in seiner Nähe ent- 
sprängen. Aber auck nach Rolando hat man sich dieser bequemen Art 
der Functionsbestimmung nicht ganz entschlagen. Noch 1823 erklärten 
Foville und Pinel-Grandchamp, damals zwei junge Schüler der Sal- 
petriere, „avec la belle assurance de la jeunesse“* das Kleinhirn zum 


ı Vorliegende Arbeit wurde der medicinischen Facultät der Universität Berlin 
im December 1901 als Habilitationsschrift eingereicht. Nur die Anmerkungen auf 
S. 174 und 185, sowie einige Nachträge zu den Protokollen sind später hinzugefügt. 
Vorläufige Mittheilung Centralblatt für Physiologie.. 1901. Juli. 

? Die physiologische Litteratur über das Kleinhirn ist zusammengestellt bei 
Thomas, Le cervelet, Paris 1897; eine kritische Uebersicht von seinem Standpunkte 
aus giebt Luciani, Das Kleinhirn, Deutsche Ausgabe, Leipzig 1893 (Florenz 1891). 

: Sassari 1809, zweite Ausgabe Turin 1828. 


* Soury, Systeme nerveux. Paris 1899. p. 523. 
Archiv f. A. u. Ph. 1903. Physiol. Abthlg. 9 


130 M. LEWANDOWSKY: 


„foyer de la sensibilite“, weil es mit den hinteren Theilen der Medulla 
oblongata im Zusammenhang se. Und Rolando hatte es auf Grund 
seiner Experimente als die Quelle aller Muskelkraft bezeichnet! 

Etwas vor diese Zeit fällt auch die Gall’sche Lehre vom Kleinhirn 
als dem Centrum des Geschlechtstriebes. Wer einerseits die theoretischen 
Argumente Gall’s würdigt und andererseits die vielfältige und vollständige 
Widerlesung seiner angeblich thatsächlichen Befunde durch eine grosse 
Reihe von Forschern von Bouillaud'! bis auf Luciani kennt, wird über 
die Gall’sche Lehre mit Schweigen hinweggehen und es nicht verstehen, 
dass neuere Autoren in ihrem gewiss nicht ganz unberechtigten Bestreben, 
eine Ehrenrettung Gall’s zu vollziehen, auch diesen Theil der Gall’schen 
Lehre wieder hervorsuchen wollen.” 

Rolando also lehrte, dass das Kleinhirn die Nervenkraft bereite und 
absondere, welche die Muskelbewegung auslöst, und er behauptete, dass 
Thiere nach vollständiger Kleinbirnexstirpation vollständig bewegungslos 
würden. Es war jedoch dieses Resultat kein Ergebniss unbefangener For- 
schung. Vielmehr war Rolando mit der fertigen Theorie schon an seine 
Versuche herangetreten. Diese Theorie beruhte auf der Ueberzeugung, 
dass die Lamellenstructur des Kleinhirns einer Volta’schen Säule ver- 
gleichbar und dass die Wirkung so gleich gebauter Dinge identisch sein 
müsste. Dass ihm diese Theorie die Hauptsache war, geht aus vielen Stellen 
seiner Schrift hervor. Die Resultate seiner Versuche über die Folgen 
totaler Zerstörung des Kleinhirns sind sicherlich irrthümlich und nur durch 
grobe Nebenverletzungen und Blutungen in Pons und Medulla zu erklären. 
Den Thatsachen aber entspricht es, wenn Rolando feststellt, dass leichte 
Verletzungen und partielle Zerstörungen die Muskelbewegung beeinträch- 
tigen. In diesem Satze ist die Grundlage aller späteren Erforschung des 
Kleinhirns gegeben. Es ist das Verdienst Rolando’s, experimentell ganz 
allgemein festgestellt zu haben, dass das Kleinhirn Beziehungen zum will- 
kürlichen Bewegungsapparat des Körpers hat, und noch ist zu erwähnen, 
dass er diesen Einfluss als auf der Seite der Verletzung sich geltend 
machend erkannte. 

Die Lehre von den Beziehungen des Kleinhirns zum Bewegungsapparat 
wurde nun von Flourens? in eine berühmt gewordene Fassung gebracht, in 
der er dem Kleinhirn die Coordination der Locomotionsbewegungen 
unterstellte. Flourens erkannte im Unterschied von Rolando, den er 
übrigens gar nicht kennt, dass die Zerstörung des Kleinhirns keine völlige 


! Bouillaud, Arch. gener. de medee. 1827. T. XV. 

° Vgl. Bunge, Lehrbuch der Physiologie. 1901. 

® Flourens, Recherches experimentales sur les proprietes et les fonetions du 
systeme nerveux. Paris 1824. 2. ed. 1842. 


ÜBER DIE VERRICHTUNGEN DES KLEINHIRNS. 131 


Paralyse verursache, aber geordnete Locomotionsbewegungen (Laufen, Fliegen, 
Springen u. s. w.) unmöglich mache, und schliesslich auch den Verlust der 
Fähigkeit, aufrecht zu stehen, nach sich ziehe. Diese Beobachtung Flourens’ 
war zweifellos richtig. Trotzdem wissen wir beute durch Luciani, dass 
Thiere längere Zeit auch nach vollständiger Kleinhirnvernichtung die Fähig- 
keit wieder gewinnen, aufrecht zu stehen und Locomotionsbewegungen zu 
vollziehen. Der Streit, der um die Lehre Flourens’ entbrannt ist, dreht 
sich aber je länger je weniger um die Thatsache, als vielmehr um die 
Theorie und das Schlagwort der Coordination. Es muss festgehalten 
werden, dass Flourens nichts weiter festgestellt zu haben olaubte, als 
dass bei kleinhirnverletzten Thieren die Bewegungen der Extremitäten er- 
halten, aber die Verknüpfung der Extremitätenbewegungen zu geordneter 
Locomotion aufgehoben sei. Der Schluss, den Flourens zieht, und der 
bald mit vollem Recht von Brown-Säquard! bekämpft wurde, dass 
nämlich im Kleinhirn ein Centrum für die Coordination der Locomotion 
bestehe, wie im verlängerten Mark eins für die Athmung, ist unserer Auf- 
fassung nach auch weniger eine Erklärung, als eine Umschreibung. Aber 
auch als solche ist er durch Luciani’s Versuche als unhaltbar erwiesen. 

Wenn trotzdem heute noch vielfach von der Flourens’schen Theorie 
der Coordination die Rede ist, so wird darunter, so weit ich sehen kann, 
gewöhnlich etwas ganz Anderes verstanden, als Flourens gemeint und 
gesagt hat, und das liegt daran, dass der Begriff der Coordination sich 
umgebildet hat, dass insbesondere die Klinik durch den Mangel an Coordi- 
nation eine Reihe von Krankheitsbildern zu erklären bestrebt ist, die sie 
unter dem Namen Ataxie zusammenfasst, und dass weiter auch die Er- 
krankungen des Kleinhirns unter dem Bilde einer Ataxie verlaufen. Mit 
der Flourens’schen Theorie hat das aber nichts zu thun. 

Die Lehre Rolando’s, dass nämlich das Kleinhirn ein im Wesent- 
lichen motorischer Apparat sei, wurde nun durch eine Reihe von Autoren 
weitergebildet und geändert, von Dalton?, Luys?, Weir-Mitchell® u. A., 
zuletzt von Luciani. Diese Autoren betrachten zwar das Kleinhirn nicht 
als das motorische Organ schlechthin, sondern als ein motorisches Ver- 
stärkungsorgan, dessen Ausfall daher im Wesentlichen zu eiuer Schwäche 
der Muskeln und der Bewegung führe. Wir werden auf einen Theil der 
hierher gehörigen Experimente noch später kritisch einzugehen haben, aber 
selbst in dieser Uebersicht dürfen die drei Symptome nicht fehlen, auf 
welehe Luciani alle Bewegungsstörungen nach Kleinhirnverletzung zurück- 


! Brown-Sequard, Leciures on the central nervous system. 1860. 

® Dalton, Americ. Journ. of med. scienc. 1861. p. 83. 

®> Luys, Arch. gener. de med. 1864. p. 385. 

* Weir-Mitchell, Americe. Journ. of med. science. 1869. p. 320. 
9* 


132. M. LEWANDOWwSKY: 


führt: die Asthenie, die Atonie und die Astasie. Darunter wird verstanden 
1. eine Schwächung der Energie des Nervmuskelapparates in der Thätig- 
keit, 2. eine Verminderung der Muskelspannung in der Ruhe, 3. ein Verlust 
der normalen Stetigkeit der Bewegung. Seitdem Luciani’s grosses Buch 
erschienen ist, das die Ergebnisse achtjähriger Arbeit wiedergiebt, ist diese 
Lehre die herrschende geworden. 

Aber es bestehen noch zwei andere Gruppen von Theorien, von welchen 
die eine das Kleinhirn als das Organ für die Aufrechterhaltung des Körper- 
gleichgewichtes betrachtet. Man bezeichnet als Begründer dieser Anschauung 
gewöhnlich Magendie!, welcher die Zwangsbewegungen als Folge der 
Kleinhirnverletzung nach Pourfour du Petit wiederentdeckte, und der 
darauf eine Lehre von vier sich die Waage haltenden Kräften im Organismus 
gründete. Wir werden jedoch sehen, dass der Begriff des Gleichgewichts- 
organes ein sehr schwankender, und von Ferrier?, Bechterew? und 
Thomas* durchaus verschieden gefasst wird. Um Wiederholungen zu ver- 
meiden, müssen wir hier auf den Haupttheil verweisen. 

Abseits endlich von allen diesen Theorien steht die von Lussana®, 
welcher das Kleinhirn zum Centrum des Muskelsinnes erklärt. Gerade 
weil wir im Begriff sind, diese Theorie wieder aufzunehmen, müssen wir 
hier erörtern, warum sie, die schon im Jahre 1850 ausgesprochen wurde, 
so gar nicht beachtet, ja mit einer gewissen Geringschätzigkeit fast überall 
behandelt wurde. Zunächst war man, bis vor sehr kurzer Zeit, überhaupt 
wenig geneigt, Störungen der Sensibilität als Ursache von solchen der 
Motilität anzuerkennen, und man erinnere sich, wie viel Zeit die von 
Leyden (1863) aufgestellte sensorische Theorie der Tabes gebraucht hat, 
um sich endlich fast allgemein durchzusetzen. Lussana’s Blick freilich 
war geschärft für diese Gruppe der Bewegungsstörung; denn er war ein 
Schüler Panizza’s, der im Jahre 1834 die Ataxie nach experimenteller 
Durehschneidung der hinteren Wurzeln entdeckte. Aber Lussana selbst 
hatte seine Theorie auch nicht genügend gestützt, insbesondere kein einziges 
objectives und eindeutiges Merkmal einer Störung des Muskelsinnes an- 
gegeben, vielmehr immer wieder nur das Postulat einer Muskelsinnstörung: 
erschlossen aus dem allgemeinen Eindruck, den er von den Bewegungen 
kleinhirnverletzter Thiere empfing: „Le sens musculaire sert aux animaux 


! Magendie, Precis elömentaire de physiologie. Paris 1823. T.I. 2. ed. 

® Ferrier, Fonetions of the brain. 1876. 

® Bechterew hat seine Anschauungen zusammengefasst in: Dies Archiv. 1896. 
Physiol. Abthlg. S. 105. 

= Ab ab 0% 


° Lussana, Lecons sur les fonctions du cervelet. Journ. de la physiologie. 1862. 
TV 2p.2418: 


ÜBER DIE VERRICHTUNGEN DES KLEINHIRNS. 133 


pour connaitre la resistance de la matiere et pour regler, dans leurs mouve- 
ments volontaires, la force de la contraction des muscles pour la vaincre.“ 
Der kleinhirnkranke Mensch hat demgemäss die Empfindung „que le terrain 
manquerait sous lui“, und es ist bezeichnend, dass Eckhard! diese sub- 
jeetive Empfindung als den am meisten beweisenden Punkt aus Lussana’s 
Angaben hervorhebt. Luciani dagegen erklärt diese Empfindung als ver- 
ursacht durch den bei Kleinhirnkranken so häufigen Schwindel, der mit 
dem Muskelgefühl nichts zu thun hat. Störungen des Lagesinnes hat 
Lussana nie festgestellt, ja später hat er das Lagegefühl vom Muskelsinn 
und dem Bewegungsgefühl getrennt und dem Hautsinn zugewiesen, und 
dadurch selbst einen guten Theil seiner Position vernichtet. 

Konnte also Lussana seine Behauptung nicht objeetiv begründen, 
so ist sie in jener exclusiven Form — das Kleinhirn Centrum des Muskel- 
sinnes — auch gar nicht haltbar; schon darum nicht, weil bald die Be- 
ziehungen der Grosshirnrinde zum Muskelsinn entdeckt wurden. 


Es liegt uns nichts ferner, als das Verdienst Lussana’s herabsetzen 
zu wollen. Er hat Richtiges geahnt und gesagt, aber bewiesen hat er 
seine Theorie niemals, auch in seiner letzten Arbeit vom Jahre 1886? 
nicht, trotzdem doch inzwischen die Lehre vom Muskelsinn soweit fort- 
geschritten war, dass es Lussana nicht schwer gewesen wäre, objective 
Zeichen für Störungen desselben anzuführen, wenn er sie beobachtet hätte. 
Es blieb bei der allgemeinen Behauptung, so dass Luciani immer erwidern 
konnte, er hätte die gleichen Motilitätsstörungen beobachtet wie Lussana 
und seine Thiere zeigten eben doch keine Muskelsinnstörungen. Es kommt 
hinzu, dass Lussana den Symptomencomplex der Zwangsbewegungen gar 
nicht berücksichtigt hat. 


Es wird in Folgendem der Versuch gemacht werden, die Folgen der 
Kleinhirnverletzungen mannigfacher Art objectiv zu schildern und die Wider- 
sprüche der Autoren aufzuklären. Die Grundursache der Unsicherheit, 
welche — das wird wohl allgemein zugegeben — in Bezug auf die Ver- 
richtungen des Kleinhirns besteht, ist meiner Meinung nach das Bestreben 
fast aller Autoren, aus einem Symptom das ganze Bild erklären zu wollen. 
Fast alle beschriebenen Symptome sind vorhanden und doch ist keine der 
Theorien richtig, weil keine erschöpfend ist. 


! Hermann’s Handbuch. Bd. II. 
2 Arch. italiennes. 1886. p. 145. 


134 M. LEWANDOWSKY: 


B. Uebersicht der Leitungsbahnen des Kleinhirns. 


Es ist nothwendig, hier die Leitungsbahnen des Kleinhirns kurz dar- 
zustellen, da sich immerhin einige anatomische Befunde mit den physio- 
logischen Feststellungen in Beziehung bringen lassen. Die Litteratur dar- 
über ist in sehr sorgsamer Weise zuletzt von Thomas zusammengestellt. 
Auf eigene Untersuchungen, welche ich hauptsächlich nach der Marchi’- 
schen Methode angestellt habe, werde ich an der Hand geeigneter Ab- 
bildungen an anderer Stelle zurückkommen. Wir sind leider noch ausser 
Stande, aus den feineren und feinsten Ermittelungen der anatomischen 
Forschung Nutzen für die physiologische Auffassung zu ziehen. Was hier 
in Betracht kommt, ist bereits in der Litteratur niedergelegt. 

Die Bahnen, welche das Kleinhirn zunächst mit dem Rückenmark 
verbinden, sind doppelter Natur; zum überwiegenden Theile allerdings 
führen sie vom Rückenmark aufsteigende Fasern. Ihre Hauptmasse verläuft 
bekanntlich in den Seitensträngen als zwei sich an einander anschliessende 
Bündel; das dorsale ist die Kleinhirnseitenstrangbahn von Flechsig, das 
ventrale das Gowers’sche Bündel. Die Kleinhirnseitenstrangbahn ent- 
springt mindestens zum grössten Theil aus Zellen der Clarke’schen Säulen 
derselben Seite, welche dementsprechend auch nach Verletzungen des 
Kleinhirns schwere Veränderungen aufweisen. Um die Zellen der Clarke’- 
schen Säulen splittern sich die Collateralen der hinteren Wurzeln zu einem 
dichten Netz auf!, so dass also hier eine indirecte Verbindung des 
Kleinhirns mit den hinteren Wurzeln besteht, und zwar ist zu be- 
merken, dass, wenn auch die Clarke’schen Säulen fast ausschliesslich im 
Dorsalmark zur Erscheinung kommen, sie doch mit den hinteren Wurzeln 
des Lumbal- und sogar des Sacralmarkes in Beziehung treten (Mott, 
Margulies). Auch sind von Stilling noch im Cervical- und Lumbaltheil 
des Rückenmarkes denen der Clarke’schen Säulen analoge Zellen be- 
schrieben worden. Das Kleinhirn erreicht die Flechsig’sche Bahn auf 
dem Wege des Corpus restiforme. 

Das Gowers’sche Bündel, das nach Thomas seinen Namen mit 
Unrecht trägt, weil Gowers ein Bündel beschrieben hat, das nicht zum 
Kleinhirn führt, sondern im Cervicalmark endet, nimmt seinen Ursprung 
vom oberen Lendenmark aufwärts in Zellen des Hinterhornes, sei es der 
Gegenseite, sei es beider Seiten (van Gehuchten). Es erreicht den Wurm 
(Löwenthal) auf einem grossen Umweg, indem es bis zur Höhe des Tri- 
geminusaustrittes im Pons aufsteigt und dann den oberen Kleinhirnschenkel 
im Bogen von aussen nach innen umsgreift. 


ı Vgl. Kölliker’s Handbuch der Gewebelehre. 6. Aufl. Bd. II. S. 100. 


ÜBER DIE VERRICHTUNGEN DES KLRINHIRNS. 135 


Ferner besteht durch Vermittelung des Corpus restiforme, wie jetzt 
durch Untersuchungen von Edinger, Obersteiner, auch vor Thomas 
sichergestellt scheint, eine directe Verbindung zwischen Hintersträngen und 
Kleinhirn. 

Umgekehrt führt auch vom Kleinhirn eine absteigende Bahn zum 
Vorderstrang und Vorderseitenstrang, welche zuerst von Marchi 
erwähnt, aber erst von Thomas in ihrem Verlauf erkannt worden ist. 
Ihre Fasern treten (wahrscheinlich vom Nucleus dentatus) durch die innere 
Abtheilung des unteren Kleinhirnstieles zwischen den Zellen des Bech- 
terew’schen und Deiters’schen Kernes hindurch nach vorn in die For- 
matio reticularis, sammeln sich lateral von der unteren Olive, gelangen 
dann an die Seite der Pyramidenkreuzung. Im Rückenmark liegen die 
Fasern in Form eines Winkels zum Theil an der Fissura anterior, dann 
an dem vorderen Rand des Vorderstranges bis in den Seitenstrang hinein, 
und sind allmählich an Zahl abnehmend bis in das Sacralmark nachzu- 
weisen. Der ganz überwiegende Theil der Bahn verläuft ungekreuzt. Der 
grösste Theil dieser Bahn stammt allerdings vom Deiters’schen Kern 
(v. Monakow) und stellt also eine indirecte motorische Kleinhirnbahn dar. 
Ein geringer Theil jedoch durchbricht auf dem Wege der Bündel des 
inneren Kleinhirnstieles den Deiters’schen Kern, um direct in’s Rücken- 
mark abzusteigen (Thomas). 

Was nun weiter die Beziehungen des Kleinhirns zum verlängerten 
Mark angeht, so ist hier am längsten bekannt die Atrophie der gekreuzten 
unteren Olive nach Verletzungen und Atrophie des Kleinhirns (Meynert). 
Die Thatsache dieser Atrophie beweist, dass diese Verbindung im Wesent- 
lichen von der Olive zum Kleinhirn geht (durch das Corpus restiforme). 
Es tritt jedoch auf demselben Wege auch nach Kleinhirnverletzung eine, 
wenn auch wenig umfangreiche, Degeneration vom Kleinhirn zur gekreuzten 
Olive auf, welche an Marchi-Präparaten zum Theil durch die Olive der 
verletzten Seite hindurch zu verfolgen ist. 

Aufsteigende Bahnen von den Kernen der Hinterstränge sind schon 
von Meynert, neuerdings von Ferrier und Turner, solche vom Kern 
des Seitenstranges von Bechterew beschrieben worden, die umgekehrte 
Verbindung vom Kleinhirn zum Kern des Seitenstranges hat Thomas 
nachgewiesen. 

Bemerkenswerth sind nun die Beziehungen des Kleinhirns zu den 
sog. Acusticuskernen, welche wieder in doppelter Richtung bestehen, einmal 
von diesen Kernen (Hauptkern, Deiters’scher, Bechterew’scher Kern) 
als ein Theil der Edinger’schen directen sensorischen Kleinhirnbahn (die 
nach Edinger noch zum Trigeminus, Vagus, Glossopharyngeus Beziehungen 
‚ haben soll). Sie endet im Dach- und Kugelkern, welchen sie durch den 


136 M. LEWANDOWSKY: 


inneren Abschnitt des unteren Kleinhirnstieles erreicht. Auf demselben 
Wege degeneriren nach Kleinhirnverletzungen Fasern zum Deiters’schen 
und Bechterew’schen Kern derselben Seite. Ausserdem besteht noch eine 
zweite und gekreuzte Bahn vom Kleinhirn zu den Acusticuskernen, welche 
von Russel zuerst nachgewiesen und als Hakenbündel bezeichnet wurde. 
Sie gelangt um den oberen Kleinhirnschenkel herum an die Innenseite des 
Corpus restiforme. 

Auch das ist noch zu erwähnen, dass der Deiters’sche Kern seiner- 
seits durch das dorsale Längsbündel in Beziehung tritt zu den Augen- 
muskelkernen beider Seiten. 

Alle bisher erwähnten Bahnen — mit Ausnahme des Gowers’schen 
Bündels und des Hakenbündels, die sich beide um den oberen Kleinhirn- 
stiel herumschlingen — setzen den unteren Kleinhirnstiel zusammen. 

Der mittlere Kleinhirnstiel enthält fast ausschliesslich zum Kleinhirn 
führende Fasern aus den Zellen der Brückenganglien wahrscheinlich beider 
Seiten. Dementsprechend degeneriren diese Fasern nur zum geringen Theil 
secundär nach Verletzungen des Kleinhirns, wohl aber geht das Neuron, wie 
zuerst v. Gudden festgestellt hat, auf dem Wege der retrograden Degene- 
ration allmählich zu Grunde. Diese Verbindung ist physiologisch wichtig 
insofern, als hiermit eine Beziehung zu den cerebro-pontinen Systemen 
gegeben ist. 

Im Gegensatz zum mittleren besteht der obere Kleinhirnstiel (Binde- 
arm) ausschliesslich aus ableitenden Fasern. Er degenerirt dementsprechend 
total nach halbseitiger Kleinhirnverletzung. Er kreuzt total und begiebt 
sich zum Nucleus reticularis tegmenti und zum rothen Kern der Haube, 
in welchen sich ein Theil seiner Fasern aufsplittert. Ein anderer Theil 
geht weiter durch die Lamina medullaris externa und interna zu den 
Kernen des Thalamus optieus. Besonders wichtig erscheint die Verbindung 
des Kleinhirns mit dem rothen Kern, denn dieser ist, wie Probst nach- 
gewiesen hat, der Ursprung für das Monakow’sche Bündel, welches eine 
motorische Rindenbahn darstellt, also mit der Grosshirnrinde, wenn auch 
indirect, in Verbindung steht. Wir haben also im rothen Kern einen Ver- 
einigungspunkt für Impulse, welche einerseits vom Grosshirn, andererseits 
vom Kleinhirn ausgehen. 

Von physiologischer Wichtigkeit ist noch das Vorhandensein von Com- 
missurenfasern zwischen den beiden Hälften des Kleinhirns, die sich nicht 
nur, wie Thomas angiebt, auf Wurm und Flocke beschränken, sondern 
sich nach einseitiger Exstirpation in allen Windungen auch der Hemisphären 
in grösserer oder geringerer Anzahl als degenerirt erweisen. 


ÜBER DIE VERRICHTUNGEN DES KLEINHIRNS. 187. 


C. Haupttheil. 


I. Untersuchungsmaterial. Technisches. 


Die Untersuchungen, über welche hier berichtet werden soll, wurden 
ausschliesslich an Säugethieren, hauptsächlich an Hunden angestellt. Eine 
nicht unbeträchtliche Anzahl wurden an Katzen und Kaninchen ausgeführt; 
endlich wurden 6 Affen (4 Makaken und 2 Paviane) Kleinhirnoperationen 
unterworfen. Im Ganzen beläuft sich die Zahl der von mir operirten 
Thiere auf weit über hundert. 

Die Operatiin am Hunde gestaltet sich folgendermaassen: das Thier 
wird auf dem Operationsbrett in Bauchlage so befestigt, dass die Nacken- 
musculatur gespannt ist. Durch einen Hautschnitt, der in der Mittellinie 
etwa 1% vor der Protuberantia oceipitalis beginnt und in der Höhe des 
zweiten Halswirbels endet, wird die Nackenfascie freigelegt. Auch diese 
wird in der Mittellinie durchtrennt und zwischen den Mm. recti eingegangen 
Die Nackenmuskeln werden durch sog. stumme Assistenten zu beiden Seiten 
aus einander gezogen, ihre Ansätze an der Linea semicircularis mit senk- 
recht gegen den Knochen geführten Schnitten jederseits etwa 3% weit los- 
gelöst und nun von der Mittellinie aus die Muskeln mit dem Rasparatorium 
zur Seite gehebelt. Es liegt dann ein beträchtlicher Theil der Schuppe 
des Hinterhauptbeines und die Hinterhauptmembran frei. Von einem 
kleinen Trepanloch aus wird dann mittels Knochenzange der Knochen in 
gewünschter Ausdehnung entfernt und die Dura gespalten. Es gelinst 
ohne Schwierigkeit die caudale Hälfte des Wurmes mit den angrenzenden 
Theilen der Hemisphären freizulegen. 

Für die Ausführung umfangreicher Resectionen, wie auch der totalen 
Exstirpation habe ich nach mehrfachen Versuchen eine Vereinigung der 
Auslöffelung mit der von C. Lehmann angegebenen Saugmethode am 
bequemsten, sichersten und schnellsten gefunden. Die Lehmann’sche 
Methode besteht darin, dass unter dem Saugdruck einer Wasserstrahlpumpe 
die Gehirnsubstanz durch ein fast capillares Glasrohr abgesaugt wird. Der 
nicht genug zu schätzende Vorzug der Methode ist der, dass sie nicht nur 
die Zerstörung und Entfernung der Gehirnsubstanz, sondern auch die Fort- 
schaffung des Blutes vom Operationsfelde besorgt. Dadurch wird das zeit- 
raubende Tupfen überflüssig. Für das weiche Kaninchengehirn reicht die 
Methode allein vollkommen aus, für das festere des Hundes und des Affen 
empfiehlt es sich, wie gesagt, zur Zerstörung und Entfernung der gröberen 
Theile den scharfen Löffel zu Hülfe zu nehmen. 

Nach Beendigung der Operation wird ein loser Wattetupfer eingelegt, 
bis die Blutung einigermaassen steht, dann die Wunde geschlossen, zuerst 


138 M. LEWANDOWwSKY: 


die Nackenmuskeln mit zwei bis vier Knopfnähten zusammengezogen, 
schliesslich die Hautränder mit fortlaufender Naht vereinigt. Die Operation 
wird am besten ohne jede Assistenz durchgeführt. Nur die Narkose (Mor- 
phium-Chloroformnarkose) muss von einem Gehülfen überwacht werden. 

Möglichste Asepsis wurde natürlich beobachtet. Es lässt sich jedoch 
eine nachträgliche Infeetion der Wunde, gelegentlich der nach grösseren 
Operationen immer eintretenden Rollbewegungen, nicht immer vermeiden. 

Grösser als diese ist jedoch immer die Gefahr der Nachblutung auf 
und um die Medulla oblongata, an welcher ein nicht unbeträchtlicher Theil 
der Thiere nach der Operation zu Grunde geht. 

Vor Allem bedarf es einer aufmerksamen Nachbehandlung und Pflege. 
Vom ersten, spätestens zweiten Tage nach der Operation muss für genügende 
Nahrungsaufnahme gesorgt werden. Künstlicher Ernährung durch die 
Schlundsonde, die andere Autoren angewandt haben, bedarf es niemals, 
wenn man sich die Mühe giebt, dem Thiere die Nahrung immer wieder 
und wieder anzubieten. Man muss dabei die Zwangsbewegungen des Thieres 
verhindern, darf aber nicht die Zwangshaltung des Kopfes durch Festhalten 
verbessern wollen, dann fressen die Thiere überhaupt nicht. Nach Total- 
exstirpation müssen die Thiere 2 bis 4 Wochen lang gefüttert werden, weil 
sie so lange nicht im Stande sind, feste Nahrung vom Boden aufzunehmen. 

Ein Anschnallen der Thiere zur Hintanhaltung der Zwangsbewegungen 
halte ich für unzweckmässig, ebenso Zwangskäfige; man thut vielmehr gut, 
wenn irgend möglich, die Thiere schon nach 24 Stunden in einen geräumigen 
Käfig zu bringen, wo sie sich dann in einer Ecke eine verhältnissmässig 
bequeme Lage suchen und sehr viel ruhiger sind, als im Zwangskäfig. 

Es kommt nun natürlich in erster Linie darauf an, absolut reine 
Versuche zu haben, d. h. Versuche, in denen der Eingriff auf das 
Kleinhirn beschränkt geblieben ist, und Nebenverletzungen durchaus ver- 
mieden sind. Insbesondere sind solchen Nebenverletzungen ausgesetzt der 
‚N. acusticus mit seinem Ganglion, der dicht an der Flocke liegt, und 
die Vierhügel, zwischen welche der Wurni des Kleinhirns sich hinein- 
legt; man thut daher gut, die Operation in diesen beiden Richtungen 
nicht zu foreiren. Gröbere Verletzungen der Medulla oblongata dürfen 
nicht vorkommen. Dagegen ist es Zufall, ob der Bechterew’sche Kern, 
den man seiner anatomischen Lage nach ebenso zum Kleinhirn wie zur 
Medulla oblongata rechnen kann, verschont bleibt oder nicht. Von physio- 
logischer Bedeutung ist seine Mitverletzung übrigens nicht. Es kommt 
ferner bei sehr ausgedehnter Exstirpation nicht zu selten zur Bildung von 
Narbenmassen, in welche dann nachträglich Theile der Vierhügel hinein- 
gezogen werden können. Eine Totalexstirpation ohne Nebenläsion ist fast 
ein Ding der Unmöglichkeit, auch der protokollarisch mitgetheilte Fall ist 


ÜBER DIE VERRICHTUNGEN DES KLEINHIRNS. 139 


nicht rein. Dagegen verfüge ich über eine grosse Anzahl reiner kleinerer, 
auch Halbseitenläsionen. Eine ideale Totalexstirpation ohne Rest ist mir 
einmal gelungen bei einer 14tägigen Katze, welche die Operation 3 Wochen 
überlebte. Jedenfalls ist es durchaus nothwendig, dass sich der 
Experimentator wenigstens in einigen Fällen durch Anlegung 
mikroskopischer Serienschnitte von der Ausdehnung der Ver- 
letzung überzeugt. 


II. Ergebnisse. 


Wir beginnen die Besprechung der Versuchsergebnisse am besten mit 
der zusammenhängenden Schilderung des Verhaltens eines 
Hundes nach Resection einer Kleinhirnhälfte.! 

Wir nehmen also an, wir hätten einem Hunde die linke Kleinhirn- 
hemisphäre und die linke Hälfte des Wurmes exstirpirt, und beginnen die 
Beobachtung 24 Stunden nach der Operation, wenn also der Hund fast völlig 
aus seinem Morphiumrausch erwacht ist. 

Wir finden den Hund in einer Ecke des Käfigs auf der linken Seite 
liegend, die Rumpfwirbelsäule ist nach links concav ausgebogen, die Hals- 
wirbelsäule spiralig nach links und hinten gekrümmt, so dass die rechte 
Halsseite den Boden des Käfigs berührt. Die Schnauze liegt auf dem 
Rücken, so dass der Hund also über sich selbst hinwegsieht. Die Glied- 
maassen sind gestreckt, die der linken Seite erscheinen vollständig steif, die 
Athmung des Thieres geht schwer, was offenbar durch die Verdrehung des 
Halses bedingt ist. 

Durch unsere Annäherung wird der Hund aufgeschreckt, er versucht 
seine Lage zu ändern, jede Bewegung aber wird zu einer Zwangsbewegung 
nach links. Ueber sich selbst hinweg wälzt sich das Thier halb, halb rollt 
es durch den Käfig, bis es irgendwo an der Wand wieder einen Halt 
findet, und hier wieder auf der linken Seite liegen bleibt. Dabei zeigen 
sich Bewegungen der Extremitäten, die also nicht starr gestreckt bleiben; 
die Bewegungen sind ausgiebiger auf der nicht operirten Seite, aber auch 
auf der anderen vorhanden. 

Wir heben das Thier in die Höhe, indem wir es im Nacken fassen; 
es sträubt sich, indem es strampelnde Bewegungen mit den Gliedmaassen, 
hauptsächlich der rechten, nur geringere mit denen der verletzten linken 


! In Bezug auf die Krankheitsbilder der Exstirpation des Wurmes, des ganzen 
Kleinhirns, wie die Versuche am Affen, verweisen wir theils auf die als Beispiele ge- 
gebenen Protokolle (s. S. 185), theils auf die weiteren Ausführungen in den folgenden 
Theilen der Arbeit. Mit der zusammenhängenden Darstellung eines Krankheitsbildes 
wollen wir hier die jedem einzelnen Protokoll anhaftende Einseitigkeit vermeiden. 


140 M. LEWANDOWSKY: 


Seite ausführt. Die Wirbelsäule bleibt nach links concav ausgebogen, mit 
dem Kopfe versucht das Thier Bewegungen zu machen, aber unwidersteh- 
lich wird er immer wieder in die Zwangsstellung zurückgerissen. Wir 
nehmen den Hund auf einen Tisch und suchen ihn durch Streicheln und 
Zuruf zu beruhigen. In der That mildert sich die Heftigkeit der Bewegung; 
bestehen bleibt allerdings die maximale Zwangshaltung nach links, aber die 
Zwangsbewegungen können wir doch hintanhalten, wenn wir der linken 
Seite des Thieres mit der Hand einen geringen Halt gewähren. 

Wir bemerken dabei eine Deviation conjugee der Augen nach rechts; 
das rechte Auge erscheint dabei unverhältnissmässig mehr nach aussen, 
als das linke nach innen abgelenkt; dabei steht das rechte etwas nach 
oben, das linke ein wenig nach unten; es besteht leichter horizontaler 
Nystagmus. 

Sobald der Hund erschreckt wird, oder sobald er den Versuch macht, 
sich fortzubewegen, treten die Zwangsbewegungen mit verstärkter Heftigkeit 
wieder ein. 

Am zweiten Tage nach der Operation haben sich die Zwangs- 
bewegungen ein wenig gebessert. 

Am dritten Tage finden wir das Thier noch immer auf der linken 
Seite liegend, in Zwangshaltung nach links; es vermag jedoch schon für 
kurze Zeit den Kopf willkürlich nach rechts zu bewegen. Es ist auffällig, 
dass immer, wenn das geschieht, auch das tonisch gestreckte linke Vorder- 
bein sich beugt, während im Moment, wenn die volle Zwangshaltung der 
Wirbelsäule wieder eintritt, auch das linke Vorderbein sich zwangsarüg 
streckt. In der gleichen Abhängigkeit von der Intensität der allgemeinen 
Zwangshaltung steht die Ablenkung der Augen nach der entgegengesetzten 
Seite. Die Extremitäten der rechten Seite sind fast vollständig frei. 

Am fünften Tage finden wir unseren Hund schon halb aufgerichtet 
auf den Vorderbeinen ruhend; die krampfhafte Streckung der Vorderbeine 
ist in der Ruhe anscheinend verschwunden. Der Hund liegt auf der linken 
Seite so, dass von der concaven Ausbiegung der Wirbelsäule nichts zu sehen 
ist. Die Hinterbeine sind nach rechts weggestreckt, der Kopf nach links 
gedreht, kann aber willkürlich geradeaus gerichtet werden; die Ablenkung 
der Augen ist nur noch gering; Nystagmus tritt noch in Erscheinung, 
wenn wir das Thier veranlassen, nach links zu blicken. Heben wir das 
Thier an der Rückenhaut empor, so tritt die Zwangshaltung der Rumpf- 
wirbelsäule stark hervor. Sobald das Thier versucht, sich fortzubewegen, 
geräth es in Zwangsbewegungen nach links, die jedoch nicht mehr Rollungen, 
sondern nur ab und zu durch eine Rollung unterbrochene Zeigerbewegungen 
darstellen. Dabei bewegt das Thier auch die Extremitäten der operirten 
Seite, ohne sich jedoch aufrecht halten zu können. 


—e m ——— 


ÜBER DIE VERRICHTUNGEN DES KLEINHIRNS. 141 


Trotzdem bemerken wir zu unserem Erstaunen, dass die linke Vorder- 
pfote einige Male mit weitausholender Bewegung bis über den Kopf ge- 
hoben wird, um dann laut aufklatschend, wie geschleudert, auf den Boden 
niederzufallen. Gewöhnlich aber schleift sie am Boden und bei einer leb- 
hafteren Bewegung des Rumpfes geräth sie nach hinten unter den Thorax, 
und es gelinet dem Thier nur mit Mühe, sie wieder hervorzuziehen. 

Versuchen wir das Thier auf seine vier Beine zu stellen, so bemerken 
wir eine krampfhafte Streckung der linken Gliedmaassen, insbesondere des 
Vorderbeines. Das Thier bricht jedoch zusammen, sobald wir es loslassen, 
die Glieder werden schlaff, und, wenn es versucht, sich fortzubewegen, be- 
einnen wieder die Zwangsbewegungen nach links. 

Am sechsten Tage hat sich das Bild etwas gemildert, wir bemerken 
jetzt Schwankungen des ganzen Körpers von rechts nach links, welche sich 
neben der Zwangshaltung des Rumpfes geltend machen. Wir erinnern uns 
jetzt, dass der Kopf schon seit einigen Tagen eine ähnliche Bewegung 
zeiste, wenn das Thier ihn hob, und wir können das am deutlichsten 
demonstriren, wenn wir dem Thier einen Napf Milch vorsetzen. Vorsichtig 
nähert der Hund, sich der Schwierigkeiten wohl bewusst, den Kopf der 
Flüssigkeit unter dauerndem und immer lebhafter werdendem Schwanken 
und Schaukeln, endlich schleckt er etwas auf, aber seine Nase ist tief in 
die Milch gefahren, prustend zieht er den Kopf zurück und das Spiel be- 
sinnt von Neuem. Ein Stück Fleisch vom Boden aufzunehmen, macht ihm 
die grössten Schwierigkeiten. Immer wieder fährt der Kopf nach allen 
Seiten vorbei und stösst heftig mit der Schnauze auf den Boden. Kleine 
und flache Stücke kann der Hund überhaupt nicht fassen, eine richtige 
Tantalusqual. 

Endlich prüfen wir die Reflexe, es macht das einige Schwierigkeiten, 
weil, wie bemerkt, die Beine die Neigung haben, in Streckstellung zu ge- 
rathen; wenn sie aber bei vollkommener Ruhe des Thieres erschlaffen, 
finden wir die Sehnenreflexe auf der operirten Seite wesentlich erhöht; die 
Berührungsreflexe dagegen erloschen. 

Bei dieser Prüfung machen wir zugleich die Beobachtung, dass sämmt- 
liche Gelenke der Extremitäten passiv abnorm weit gebeugt und gestreckt 
werden können. 

Acht Tage nach der Operation macht das Thier Versuche, sich auf- 
zurichten, zu stehen, aber immer wieder gleiten die Glieder der linken 
Seite aus und der Hund fällt zu Boden. Dabei kommen die Glieder in 
ganz abnorme Lagen und es zeigt sich deutlich, dass diese nur zögernd, 
manchmal gar nicht corrigirt werden. So liegt insbesondere, wenn der 
Hund in Ruhe ist, häufig das Dorsum der linken Vorderpfote dem Boden 
auf, und diese Stellung wird erst dann corrigirt, wenn der Hund einen 


142 M. LEWANDOwSKY: 


neuen Versuch macht, sich ‚aufzurichten. Nur wenn wir die linke Seite 
des Hundes unterstützen, etwa wenn wir ihn gegen einen Tischfuss stellen, 
kann er sich für einige Minuten unter stetem Schwanken aufrecht erhalten. 
Wir bemerken dabei wieder die tonische Streckung des linken Vorderbeins 
und eine erhebliche Zwangshaltung der Wirbelsäule nach links. 

Einige Tage später beginnt nun gewissermaassen eine neue Periode, 
da der Hund die Fähigkeit gewinnt, frei aufrecht zu stehen und zu laufen. 
Beides geschieht zunächst noch unter starkem Schwanken des Rumpfes 
und mit Zwangshaltung nach links. Die Zwangsbewegungen zeigen sich 
nur noch in der Neigung des Hundes, in Kreisen nach links zu laufen. 

Besonders interessant sind aber jetzt die Bewegungen der Gliedmaassen 
auf der verletzten Seite. Beim Stehen waren sie abnorm abducirt gehalten. 
Der Hund läuft nun so, dass er das Vorderbein der verletzten Seite zu- 
nächst ganz hoch wagrecht erhebt, so dass die Pfote in Schulterhöhe stehen 
kann. Wie zielend hält der Hund sie so einen Augenblick, dann setzt er 
oder schleudert er sie vielmehr mit weitausgreifender Bewegung auf den 
Boden. Ganz entsprechend wird das Hinterbein bewegt. Trotzdem knicken 
die Beine oft unvermuthet ein, und der Hund kommt nach links zu Fall. 
Das Bild wird noch complieirt durch die Schwankungen des Rumpfes. 

Von jetzt ab können wir nun prineipiell Neues nicht mehr beobachten, 
sondern wir sehen im Laufe der Wochen und Monate eine allmähliche und 
weitgehende Besserung sich einstellen, aber auch noch nach Monaten er- 
kennen wir bei aufmerksamer Betrachtung eine Ungeschicklichkeit des 
Hundes beim Laufen derart, dass die Füsse bald, besonders bei schneller 
Bewegung, zu hoch gehoben und ausfahrend aufgesetzt werden, bald 
insbesondere bei langsamer Bewegung zu wenig gehoben werden, so dass 
dann der Gang einen schleichenden Eindruck macht. Diese Ungeschick- 
lichkeit der Bewegung wird noch deutlicher, wenn der Hund bestimmte 
Dinge mit seiner Pfote fassen will. Werfen wir ihm einen Knochen vor, 
so greift er mit der linken Pfote oft vorbei. Springt er am Gitter empor, 
so kniekt das linke Hinterbein oft ein, die linke Vorderpfote gleitet an den 
Gitterstäben aus. 

Die Sehnenreflexe links sind immer noch etwas verstärkt, die Berührungs- 
reflexe haben sich wieder hergestellt. Noch können wir feststellen, dass 
die Glieder und Gelenke der operirten Seite passiven Bewegungen weniger 
Widerstand entgegensetzen als die der rechten. 


Wenn wir die Geschichte eines Hundes nach Exstirpation einer Klein- 
hirnhälfte überblicken, so unterscheiden wir leicht zwei Perioden: die eine 
der Zwangsbewegungen, die andere der Ataxie. Diese beiden Perioden 
lassen sich nicht streng von einander scheiden; aber wenn auch ausnahms- 


ÜBER DIE VERRICHTUNGEN DES KLEINHIRNS. 143 


los in den späteren Stadien der Zwangsbewegungen Erscheinungen der 
Ataxie recht deutlich hervortreten, so beherrschen doch in der ersten Zeit 
nach der Operation die Zwangsbewegungen das Bild vollständig. 


a) Die Zwangsbewegungen. 


Zwangsbewegungeu nach Verletzung des Kleinhirns sind Anfang des 
18. Jahrhunderts zuerst von Pourfour du Petit beschrieben worden. 
Ihre Erforschung ist dann später von Magendie!, Serres?, Longet?, 
Schiff* u. A. wieder aufgenommen worden. Indessen standen sich die 
Ansichten über die Richtung dieser Bewegungen schroff gegenüber; so be- 
hauptete insbesondere Magendie, die Thiere rotirten nach der verletzten, 
Longet, sie rotirten nach der gesunden Seite. Es ist heute kaum mehr 
von Interesse, den Ursachen dieser thatsächlichen Differenzen nachzugehen. 
Die Ansicht von Schiff, sie seien durch Verschiedenheiten des Operations- 
verfahrens, bezw. der jeweilig gesetzten Verletzung bedingt, ist sicherlich 
unzutreffend. Noch neuerdings ist diese erwähnte Differenz wieder zwischen 
Luciani° und Ferrier® hervorgetreten. Aber hier hat sich ergeben, dass 
sie nur scheinbar und durch einen Unterschied der Bezeichnung bedingt 
war. Ein Thier, das, vom Rücken aus gesehen, nach der verletzten Seite 
rotirt, rotirt nach der gesunden, wenn man es von vorne betrachtet. Das- 
‚selbe Thier, das sich nach seiner linken Seite auf den Rücken wirft, dreht 
sich nach seiner rechten Seite wieder nach vorne zurück. Weder die Be- 
zeichnung nach der gesunden oder verletzten Seite noch die nach rechts 
oder links ist also eindeutie. Es muss bei Angabe der Richtung immer 
die Phase der Rotation, bezw. der Standpunkt des Beobachters angegeben 
werden. Luciani hält es für correct, die Bewegung als von der Bauch- 
seite aus gesehen, zu beschreiben, weil damit die Analogie mit dem Menschen 
‚hergestellt wird, den wir von vorn zu betrachten gewohnt sind. Ich ziehe 
es trotzdem vor, die umgekehrte Bezeichnung zu wählen, weil man sonst 
die Benennung der Richtung umkehren muss, wenn das Thier aus der 
Rotationsbewegung zur Zeigerbewegung übergeht, obwohl diese beiden Formen 
der Zwangsbewegung doch nur dem Grade nach verschieden sind. Rotations- 
bewegung nach der operirten Seite bedeute also: Drehung aus der normalen 
aufrechten Stellung nach der operirten Seite in die Rückenlage vom Rücken 
des Thieres aus beobachtet. 


14.2.0. 2 Journ. de la physiologie. 1823. T. II. 

® Longet, Traite de physiologie. Paris 1873. T. II. 

* De vi motoria baseos encephali inquisitiones experimentales. Bockenheim 1845. 

® Luciani, Biologisches Centralblatt. Bd. XV. S. 355. 

° Ferrier. Brain. Vol. LXV. p. 1. — Ferrier und Turner, Philos. Transaet. 
Vol. CLXXXV. 8.719. 


144 M. LEWANDOWSKY: 


In diesem Sinne also rotirt das Thier nach einseitiger Zer- 
störung des Kleinhirns nach der operirten Seite. 

Intensität und Dauer der Rollbewegungen hängen ab von der Aus- 
dehnung der Verletzung. Am stärksten und anhaltendsten sind sie nach 
Entfernung einer ganzen Kleinhirnhälfte. Zahlenmässige Angaben über die 
Dauer der Rollbewegungen lassen sich schwer machen, weil dabei viel auch 
von Eigenthümlichkeiten des einzelnen Thieres abhängt, insofern die Zwangs- 
bewegungen um so heftiger sind, je grösser der Bewegungstrieb des Thieres 
ist. Der Affe kann die Zwangsbewegungen fast ganz hintanhalten, nicht 
nur dadurch, dass er sich mit der einen Hand festhält, sondern auch durch 
willkürliche Beobachtung grösster Ruhe. Am vehementesten sind dem 
gegenüber die Zwangsbewegungen des Kaninchens.. Beim Hunde dauert die 
Neigung zu Rollbewegungen nach halbseitiger Exstirpation ungefähr 1 Woche 
an. Nach blosser Exstirpation eines Seitenlappens sind die Rollbewegungen 
meist schon nach 1 bis 2 Tagen vorüber. Es gilt der Satz, dass Verletzungen 
des Wurmes zu verhältnissmässig schwereren Erscheinungen führen, als 
solche der. Hemisphären. Eine Verletzung der eigentlichen Kleinhirnstiele ist 
nicht erforderlich, um Zwangsbewegungen in Erscheinung treten zu lassen. 

Die Rollbewegungen gehen über in Zeigerbewegungen, diese in Kreis- 
laufen (Man&gebewegung) nach der operirten Seite; häufig ist zu bemerken, 
dass das Thier plötzlich, wie von einer unsichtbaren Gewalt gestossen, nach 
der operirten Seite hindrängt. Noch nach Monaten stösst der Hund häufig 
mit der operirten Seite an Gegenstände an, z. B., wenn er durch eine Thür 
läuft, an den Thürpfosten. 

Die Beobachtung der Zwangsbewegungen kann man auf jeder beliebigen 
Stufe beginnen, wenn man die Ausdehnung der Verletzung entsprechend 
bemisst. Der Hund und ebenso die niederen Säuger können ‘der Roll- 
bewegung nur in einer Zwangslage Widerstand leisten. Man mag solche 
Thiere hinlegen, wie man will, stets drehen sie sich so, dass sie auf die 
Seite der Operation zu liegen kommen, worauf besonders Hitzig aufmerksam 
gemacht hat. Im Unterschiede von Öurschmann! kann ich die Zwangs- 
lage in keiner Weise als von der Zwangsbewegung unterschieden ansehen; 
die Seitenzwangslage erklärt sich vielmehr dadurch, dass die Thiere, indem 
sie sich mit der operirten Seite gegen den Boden stützen, die einzige 
Möglichkeit gewinnen, der Zwangsbewegung Widerstand zu leisten und 
zugleich durch das Gewicht des Rumpfes die Krümmung der Wirbelsäule 
auszugleichen. | 

Denn es besteht neben den Zwangsbewegungen noch immer eine 
Zwangshaltung der Thiere nach der operirten Seite derart, dass die 


! Deutsches Archiv für klinische Mediein. Bd. Xll. 


ÜBER DIE VERRICHTUNGEN DES KLEINHIRNS. 145 


Wirbelsäule eoncav nach der Seite der Operation ausgebogen ist. Diese 
Zwangshaltung kann so weit gehen, dass der Kopf des Thieres um mehr 
als 180° gedreht wird und die Schnauze über den Rücken hinwegsieht. 
Auch die Zwangshaltung des Thieres nimmt zu, wenn es sich von der Stelle 
bewegen will. 

Hand in Hand wieder mit der Zwangshaltung des Körpers und ihrer 
Intensität geht die Zwangshaltung der Augen nach der entgegengesetzten 
Seite, verbunden mit leichtem horizontalem Nystagmus. Der Nystagmus 
ist eine flüchtige, die Ablenkung der Augen eine in wenigen Tagen wesent- 
lich abnehmende Erscheinung. 

Hierzu kommt endlich noch eine Zwangshaltung der Extremitäten auf 
der operirten Seite, die besonders von Luciani betont worden ist, eine 
tonische Streckung insbesondere der vorderen Gliedmaassen. Diese tonische 
Streckung der Extremitäten geht gleichfalls parallel mit der jeweiligen 
Intensität der Zwangshaltung des Rumpfes. Gelingt es dem Thier, aus der 
Zwangshaltung heraus den Kopf zu heben, so wird jedes Mal auch die 
Starre der Extremitäten vermindert. 

Die Zwangsbewegungen nach bilateraler symmetrischer Verletzung 
kann man als die Summe der auf beiden Seiten gesetzten Schädigungen 
betrachten. Die Verletzungen beider Seiten heben sich also keineswegs in 
ihrer Wirkung gegenseitig auf, wie Schiff behauptet hatte. Die Zwangs- 
haltung der Extremitäten ist auf beiden Seiten gleichmässig ausgesprochen; 
aus der Zwangshaltung der Wirbelsäule nach einer Seite und der Zwangs- 
bewegung nach derselben wird Zwangshaltung nach hinten (Opisthotonus) 
und Zwangsbewegung rückwärts, die zuerst von Magendie bei Verletzungen 
des Kleinhirns als ‚‚mouvement de recul“ beschrieben worden ist. Am 
stärksten scheinen die Zwangsbewegungen nach Exstirpation des Wurmes 
zu sein, weil die Thiere hier nur kurze Zeit die Fähigkeit verlieren, sich 
aufrecht zu erhalten, so dass sie sich also nach hinten überschlagen können, 
während Thiere nach totaler Exstirpation die Fähigkeit, sich überhaupt auf- 
zurichten, erst nach Monaten wieder gewinnen. Opisthotonus und Zwangs- 
haltung der Extremitäten sind jedoch auch bei solchen Thieren sehr deutlich. 


Was bedeuten nun diese Zwangsbewegungen für die Verrich- 
tungen des Kleinhirns? Die Einen antworten: nichts, die Anderen: alles. 

So hat Flourens sie gar nicht gewürdigt, offenbar weil er meist das 
Kleinhirn in seiner ganzen Breitenausdehnung verletzte, so dass er das 
systematische der Seitenzwangsbewegung nicht beobachten konnte. 

Magendie nun ist der Erste, der seine Theorie allein auf die Zwangs- 
bewegungen aufbaut, wie er auch der Erste war, der die vergessenen Ver- 


suche von Pourfour du Petit wieder aufnahm. Magendie nimmt vier 
Archiv f. A. u. Ph. 1903. Physiol. Abthlg. 10 


146 M. LEWANDOWSKY: 


Kräfte im Gehirne an, die sich paarweise die Waage halten; je zwei treiben 
den Organismus nach vorne und hinten, je zwei nach rechts und links. 
Welche von diesen ihren Sitz im Kleinhirn haben, ist mir aus den Worten 
Magendie’s nicht ganz klar geworden. Die Thatsachen, auf die er sich 
stützt, sind neben den Seitenzwangsbewegungen und dem mouvement de 
recul bei Verletzungen des Kleinhirns und des verlängerten Markes zwangs- 
weise Progressivbewegungen bei Verletzungen des Grosshirns hinter den 
Streifenhügeln.e Magendie selbst bezeichnet seine Theorie übrigens nur 
als ein Bild: „Je ne pretends pas ici avec la rigueur necessaire la nature 
des phönomenes qui viennent d’etre decrits“, gleichwohl sind die von 
Magendie gefundenen Thatsachen die Hauptquelle der sogenannten Gleich- 
gewichtstheorien. Im schärfsten Gegensatz nun zu diesen Theorien leugnet 
Luciani jede specifische Bedeutung der Zwangsbewegungen für die Physio- 
logie des Kleinbirn.. Luciani nämlich erklärt alle Zwangsbewegungen 
als Reizerscheinungen; eine Bedeutung käme ihnen also nur zu als Gegen- 
stück zu den Ausfallserscheinungen, auf die Luciani seine Theorie der 
Kleinhirnfunction gründet, und die er — wie schon in der Einleitung er- 
wähnt — im Wesentlichen als Verlust von motorischer Energie charakterisirt. 
Reizerscheinungen würden sich darnach doch nur äussern können als Zu- 
nahme der Energie und des Tonus der Muskeln.. Nun könnte man ja in 
der That die Zwangshaltung so erklären, wenngleich Luciani auch das in 
keiner Weise bewiesen hat. Dass die Folgen einer Operation wieder vorüber- 
gehen, ist doch kein Beweis dafür, dass sie durch einen Reizzustand bedingt 
waren. Aber wie soll überhaupt eine einseitige Erhöhung des Muskeltonus 
nicht nur zu einer Zwangshaltung, sondern zu einer Zwangsbewegung, einer 
Rollung um die Längsaxe führen? Wo kämen wir hin, wenn wir das 
annehmen wollten! Ein halbseitiger epileptischer Krampf ist doch keine 
Zwangsbewegung. Lueciani selbst giebt zu, dass eine Art von Schwindel- 
impuls die Rotation möglicherweise veranlasst. Aber wie kann ein Organ, 
dessen Ausfall einzig und allein Asthenie, Atonie und Astasie macht, 
Schwindelempfindung vermitteln? Hier ist die erste Lücke m Luciani’s 
Beweisführung: die zwangsmässigen Ortsbewegungen sind ein 
Symptom ganz eigener Ordnung und, selbst wenn Luciani sie 
als durch Reizung herbeigeführt ansah, mussten sie einen Theil 
seiner Theorie von den Verrichtungen des Kleinhirns ausfüllen.! 

Aber auch das geben wir Luciani nicht zu, dass die Zwangsbewegungen 
überhaupt Reizerscheinungen sind, aus zwei Gründen: erstens wegen ihrer 


' Es ist also der Streit, ob es sich bei diesen Zwangsbewegungen um Reizungs- 
oder Lähmungssymptome handelt, keineswegs gegenstandslos, wie Hitzig will (Der 
Schwindel in Nothnagel’s Handbuch, S. 45). 


ÜBER DIE VERRICHTUNGEN DES KLEINHIRNS,. 147 


Jangen Dauer, zweitens weil zweifellose Reizerscheinungen anders aussehen 
als die Zwangsbewegungen nach einseitiger Verletzung des Kleinhirns. Was 
den ersten Punkt betrifft, so erinnern wir uns, dass die schwerste Form 
der Zwangsbewegung, die Rollbewegung, etwa 1 Woche bestehen kann. 
Bei einem Hunde, dem ich das ganze Kleinhirn bis etwa auf die Hälfte 
der rechten Hemisphäre weggenommen hatte, habe ich die Neigung zu 
Rollbewegungen nach links über 2 Wochen bestehen sehen. Die Neigung 
zum Kreis- und Voltelaufen dauert nach halbseitiger Resection ganz ge- 
wöhnlich 3 bis 4 Wochen. Noch länger sehen wir die Thiere mit der 
verletzten Seite an Gegenstände anstossen. Am längsten bleibt ein Symptom 
bestehen, auf das ich die Aufmerksamkeit lenken möchte, nämlich, dass 
die Thiere eine gewisse Schwierigkeit behalten, sich schnell nach der ge- 
sunden Seite zu drehen. Zu Kreisdrehungen kann man einen Hund sehr 
leicht bringen, wenn man ihn mit einem Stück Fleisch lockt. Besonders 
einen Hund hatte ich, der es in dieser Fähigkeit, sich am Platze zu drehen, 
zu einer hervorragenden Fertigkeit gebracht hatte, so dass die. Spur der 
Vorderbeine wirklich einen regelrechten Kreis beschrieb. Dieser Hund 
wurde im November 1900 operirt, die Verletzung erstreckte sich auf die 
rechte Wurmseite und‘ die benachbarte Hemisphäre, und war nicht einmal 
so ausgedehnt, dass es zu Rollbewegungen gekommen wäre. Es hatten 
nur einige Tage Kreisbewegungen nach rechts bestanden. Dementsprechend 
hat der Hund auch die Fertigkeit sich nach rechts zu drehen nie ein- 
gebüsst; aber die umgekehrte hat er trotz des besten Willens, den er offen- 
bar entfaltete, noch nach über 7 Monaten (er wurde im Juli 1901 ge- 
tödtet) nicht wieder erlangt; sobald er sich nach links drehen wollte, verfiel 
er in ungeschickte Sprünge, bei denen er sich mit den Vorder- oder Hinter- 
beinen abstiess, oder er lief grosse Kreise in Manegebewegung. 

Mouvement de r&cul nach Exstirpation des Wurmes habe ich noch 
nach 2 Monaten gesehen. Die Zwangshaltung der Wirbelsäule ist ganz 
regelmässig nach ausgedehnten Operationen ebenso lange zu beobachten. 

Dass die lange Dauer der Zwangsbewesungen auf entzündliche Vor- 
gange zurückgeführt werden könnte, ist nach einer Reihe von mikroskopi- 
schen Untersuchungen ausgeschlossen. 

Selbst wenn wir die Dauer der Zwangsbewegung und der Zwangs- 
haltung nur zu 4 Wochen annehmen wollen, was hinter den Thatsachen 
zurückbleibt, so wäre eine vom Augenblick der Operation an bestehende 
und Wochen anhaltende Reizung durch ein Öperationstrauma ganz ohne 
Analogie bei Verletzungen des Nervensystems. Schon nach wenigen Tagen 
sind die verletzten Fasern leitungsunfähig, nach 3 Wochen ist ihr Mark 
in vollem Zerfall, nach 8 Wochen fast geschwunden und da sollten sie 
noch die Uebertragung von Reizen leisten können! Denn Luciani bezieht 

10* 


148 M. LEWANDOWSKY: 


die Zwangsbewegungen ausdrücklich auf Reizung von Fasern, nicht etwa 
von Zellen. Schon die Dauer der Zwangsbewegungen sichern ihre Auf- 
fassung als Ausfallserscheinung. _ 

Diese lange Dauer der Zwangsbewegung beobachten wir nun allerdings 
beim Affen nicht und hier könnte man in der That zweifelhaft sein, ob 
es sich um Reizerscheinungen handelt, wenn wir nicht durch die Versuche 
am Hunde eines Besseren belehrt wären. 

Es versteht sich von selbst, dass es nun auch höchst zweifelhaft wird, 
ob die Streckstellung der Extremitäten nicht auch eine Ausfallerscheinung ist. 
Darauf werden wir im anderen Zusammenhange zurückkommen (vgl. S. 172). 

Wenngleich das Gesagte durchaus genügt, um den Charakter der 
Zwangsbewegung als Ausfallserscheinung zu erhärten, so ist hier doch der 
Ort, um über am Kleinhirn ausgeführte Reizversuche zu berichten. 

Luciani giebt in seinem grossen Buche über das Kleinhirn keine 
solchen Versuche, er versucht nur eine sehr merkwürdige Auslegung der 
Experimente von Magendie über die Durchschneidung des einen Schenkel- 
bündels. Wie oben erwähnt, hatte Magendie angegeben, dass die Thiere 
nach dieser Operation nach der operirten Seite rotirten. Auf Grund der 
Beobachtung Schiff’s, dass dieser dauernden Rotation nach der operirten 
Seite einige Rotationen nach der gesunden Seite vorangehen können, deutet 
Luciani die letzteren als Reizsymptome, die ersten als Lähmungssymptome. 
Er geht dabei von seiner Bezeichnung der Rotationsrichtung aus. Er möge 
aber selbst den Versuch von Magendie machen, er wird sich überzeugen, 
dass die Richtung der dauernden Rotationen genau wie bei halbseitiger 
Exstirpation nach der gesunden Seite (seiner Bezeichnung, der operirten 
unserer Bezeichnung) geht. Wenn es nun in der That wahr ist, dass die 
Thiere vor diesen Rotationen nach der operirten Seite einige Male nach der 
anderen Seite rotiren, so würde Luciani mit dieser Erklärungsweise, die 
er eine glänzende Bestätigung seiner Anschauung nennt, eine zwingende 
Widerlegung dieser selben geliefert haben. Denn dann gingen eben die 
Reizerscheinungen nach der gesunden Seite (unserer Bezeichnung). Mit der 
Beschreibung Schiff’s stimmt übrigens eine von mir verschiedentlich ge- 
machte Beobachtung überein, dass Thiere, wenn sie nach halbseitiger Exstir- 
pation vom ÖOperationstisch genommen werden, wenn auch keine Zwangs- 
bewegungen, so doch eine erhebliche Verkrümmung der Wirbelsäule nach 
der gesunden Seite zeigen, und wir haben deswegen auch die Beobachtung 
des Musterhundes (S. 139) erst 24 Stunden nach der Operation aufgenommen. 

Es muss ebenfalls hervorgehoben werden, dass Luciani, wie sich hier 
zeigt, gezwungen ist, beim Kaninchen eine Rotation durch Lähmung an- 
zunehmen, die er ausdrücklich für Hunde und Affen leugnet. Hätte er sie 
selber beobachtet, so hätte er sich wohl vor diesem Zugeständniss gehütet, 


ÜBER DIE VERRICHTUNGEN DES KLEINHIRNS. 149 


In einem späteren Aufsatz macht dann Luciani! eine Bemerkung 
gegen einen Versuch Ferrier’s?, der bei einem Thier, dessen einer Klein- 
hirnlappen theilweise cauterisirt worden war, Rotation nach der gesunden 
Seite gesehen hatte. Wir stimmen Luciani durchaus bei, dass der Ge- 
brauch der Caustica hier durchaus unphysiologisch ist, schon darum, weil 
man nicht entscheiden kann, wann die Reizung aufhört und die Lähmung 
nach Zerstörung der Nervensubstanz anfängt. Nur hätte Luciani seine 
Kritik auch auf die Versuche von Leven und Ollivier? ausdehnen sollen, 
die auch Ausfallserscheinungen beschrieben haben, nicht Reizerscheinungen, 
wie Luciani anzunehmen scheint. 

Auch Versuche von Hitzig*, der in die entleerte knöcherne Flocken- 
kapsel des Kaninchens ein Stückchen Eis brachte und dabei Rotationen 
nach der gesunden Seite (anscheinend unserer Bezeichnungsweise) beobachtete, 
sind aus demselben Grunde wohl nicht von überzeugender Kraft, um so 
weniger, als Hitzig neuerdings? bemerkt, dass diese Zwangsbewegungen 
ebenso gut auf Reizung des benachbarten Vestibularapparates bezogen 
werden könnten. 

Nun giebt es aber eine Mittheilung von Nothnagel®, die für uns 
von besonderer Wichtigkeit ist. Gerade diese Mittheilung ist von Luciani 
übersehen worden.” Nothnagel bediente sich der mechanischen Reizung 
durch feine Nadelstiche und beobachtete am Kaninchen: „der Kopf dreht 
sich nach der entgegengesetzten Seite, d. h. war links operirt, nach rechts; 
die Wirbelsäule verkrümmt sich dergestalt, dass sie nach der entgegen- 
gesetzten Seite concav ist, bald nur in geringem Maasse, bald so stark, 
dass die Schnauze fast den Hintertheil des Rumpfes berührt“. Ausserdem 
beobachtete Nothnagel Extremitätenbewegungen zuerst der gereizten Seite. 
Diese Angaben sind so bestimmt wie möglich und, wenn auch Nothnagel 
das Wort Zwangshaltung nicht gebraucht, ist es doch wohl kaum zweifel- 
haft, dass es sich um eine solche gehandelt hat. Ich selbst kann nach Be- 
obachtungen an einer Anzahl von Kaninchen und einer jungen Katze die 
Angaben Nothnagel’s durchaus bestätigen; es ist jedoch nothwendig, dass 
auch die Versuchsmethode Nothnagel’s eingehalten wird, dass insbesondere 
nur feine Nadelstiche gemacht werden; grössere Verletzungen können zu 


! Luciani, Biolog. Centralblatt. Bd. XV. S. 355. 

® Ferrier, Brain. Vol.LXV. S.1. 

® Leven et Ollivier, Arch. gener. de med. 1862/63. 

* Hitzig, Untersuchungen über das Gehirn. Berlin 1874. S. 26. 

5 Der Schwindel in Nothnagel’s Handbuch. 1898. S. 34. 

6 Nothnagel, Virchow’s Archiv. Bd. LXVII. S. 33. 

” Luciani kennt nur die vorläufige Mittheilung im Centralblatt für die medie. 
Wissenschaften, 1876, die aber über die Rumpfbewegung noch nichts enthält. 


150 M. LEWANDOWSKY: 


allen möglichen Erscheinungen führen, deshalb, weil sich auch hier dann 
die Lähmungssymptome mit den Reizsymptomen vermischen. 

Ich selbst habe nun noch Versuche angestellt über die Wirkung der 
elektrischen Reizung des Kleinhirns beim Hunde. Da der Hund, 
wenn man Zwangsbewegungen beobachten will, möglichst nicht gefesselt 
und auch ausser Narkose sein soll, bediente ich mich der von Ewald für 
das Grosshirn angegebenen Reizungsmethodee Durch eine genau ent- 
sprechende Trepanöffnung schraubte ich einen Elfenbeinknopf, der von 
zwei etwa !/, °® von einander entfernten Elektroden durchbohrt war, in 
den Schädel. Diese Elektroden enden flach knopfförmie und das Gehirn 
legt sich ihnen unmittelbar an, ohne verletzt zu werden. Die Anwesenheit 
dieses Knopfes mit den Elektroden in dem Schädel verursacht durchaus 
keine Reizungserscheinung, ja nicht einmal Schmerzen. Man hat darauf 
zu achten, dass die Blutung aus der im Bereiche der Trepanöffnung exci- 
dirten Dura vollständig gestillt ist, ehe die Elektroden eingeschraubt werden. 
Einige Stunden nach der Einsetzung der Elektroden kann dann die Reizung 
am freistehenden ungefesselten Hunde vorgenommen werden. 

Ich habe diesen Versuch an fünf Hunden ausgeführt. Jedes Mal 
wurde der Knopf so befestigt, dass die Elektroden fast genau in die Furche 
zwischen linker Hemisphäre und Wurm zu liegen kamen. Gereizt wurde 
mit Inductionsströmen. 

Schwächste Ströme machen den Hund etwas unruhig, er wendet den 
Kopf bald nach rechts, bald nach links, oder er legt sich hin und nimmt 
den Kopf zwischen die Vorderpfoten. Er macht den Eindruck, als wenn 
er unbestimmte Schwindelempfindungen hätte. 

Stärkere Ströme bewirkten nun in allen Fällen Zwangs- 
haltung nach der der Reizung entgegengesetzten Seite, so dass 
also die Wirbelsäule, wenn links gereizt wurde, nach rechts concav ausge- 
bogen wurde, dabei wurde das linke Vorderbein gehoben. Einige Male traten 
auch Bewegungen im Facialisgebiete auf. Einige Male auch horizontaler 
Nystagmus.! Endlich fiel der Hund nach rechts (wenn er sich nicht schon 
vorher willkürlich hingelegt hatte) und gerieth in Kreisbewegungen nach der- 
selben Seite. Bei Oeffnung des Stromes erfolgt dann gewöhnlich eine sehr viel 
schwächere Bewegung nach der entgegengesetzten Seite. Die Ströme, die 
verwendet wurden, entsprachen 60 bis 100 =” Rollenabstand eines du Bois- 
Reymond’schen Schlitteninductoriums bei gewöhnlicher Armirung. Zu 
bemerken ist, dass stärkere Ströme mit nur geringer Latenz (etwa wie bei 

! Es ist mir durch diese und andere unter Freilegung des Kleinhirns beim Hund, 
der Katze und dem Kaninchen ausgeführte Versuche sehr zweifelhaft geworden, ob die 
Localisation, die Ferrier für mannigfache coordinirte Augenbewegungen auf der Klein- 
hirnrinde angegeben hat, zu Recht besteht. 


ÜBER DIE VERRICHTUNGEN DES KLEINHIRNS. 151 


Grosshirnreizung) wirkten, schwächere erst nach einer solchen von !/, bis 
!/, Minute. Ich habe keinen Anhalt dafür, dass trotz der nicht unerheblichen 
Stromstärke Stromschleifen etwa auf den N. acusticus wirksam gewesen wären. 
Die Bewegungen im Faecialisgebiete, der dann in Folge seiner anatomischen 
Lage hätte mitbetroffen sein müssen, waren erstens nicht constant und 
hatten auch nicht den Charakter der faradischen Reizung eines Nerven- 
stammes. Gegen Stromschleifen spricht auch, dass in zwei Eällen, in denen 
einige Tage nach dem Einsetzen der Elektroden sich ein Eiterherd unter 
ihnen gebildet hatte, die charakteristischen Erscheinungen sich selbst mit 
stärkeren Strömen nicht mehr erzielen liessen. Trotzdem will :ich nicht 
bestreiten, dass es sich möglicherweise um eine Reizung der Kerne des 
Acusticus gehandelt haben könnte, und diesen Reizversuchen daher keinen 
übertriebenen Werth beilegen. Immerhin ist es beachtenswerth, dass, was 
ich als Folge der Reizungen beobachten konnte, durchaus entgegengesetzt 
war dem, was Luciani als Reizungserscheinungen nach Operationen am 
Kleinhirn auffasst. 

Wir stellen also fest: der Ausfall einer Kleinhirnhälfte führt 
zu Awangsbewegungen nach der operirten Seite Symmetrische 
Verletzungen wie der Ausfall des Wurmes führen zu Zwangs- 
bewegungen rückwärts. 

Dass Verletzungen des vorderen Theiles des Kleinhirns, wie Ferrier 
behauptet, auch Zwangsbewegungen nach vorne bewirken, muss ich in 
Uebereinstimmung mit Luciani entschieden bestreiten. 

Diesen Symptomencomplex der Zwangsbewegungen trennen wir also 
ab von den übrigen Erscheinungen nach Kleinhirnverletzungen, und er- 
kennen ihn zugleich als durch den Ausfall des Kleinhirns bedingt an. 
Diesen Standpunkt, der mir die Vorbedingung scheint für ein weiteres 
Studium der durch Kleinhirnverletzung verursachten Bewegungsstörungen, 
hat keiner der früheren Autoren eingenommen; vielmehr sind durch die 
Vermischung aller Symptome unter einem allgemeinen äusseren Eindruck 
die Theorien vom Kleinhirn als Gleichgewichtsorgan entstanden (mit Aus- 
nahme der von Magendie, der wieder nur die Zwangsbewegungen be- 
rücksichtigte.. Die Aufrechterhaltung des Körpergleichgewichtes nur von 
einem besonderen Gleichgewichtsorgane abhängig zu machen, geht doch aber 
nicht an. Wenn ein Thier im populären und physikalischen Sinne „das 
Gleichgewicht verliert“, d. h. fällt, so braucht nicht immer ein Gleich- 
gewichtsorgan beschädigt zu sein. Es kann ja fallen, weil seine Beine zu 
schwach sind, und das ist ja eben die Behauptung Luciani’s für die Ver- 
letzungen des Kleinhirns. Es heisst, sich die Sache sehr leicht machen und 
sie gleichzeitig verdunkeln, wenn Thomas sehr lange und richtige Er- 
örterungen darüber anstellt, dass durch jede Bewegung die Lage des 


152 M. LEWANDOWSKY: 


Schwerpunktes geändert wird, dass diese Verlegung des Schwerpunktes com- 
pensirt werden muss durch eine andere Bewegung, weil sonst eben das Thier 
fallen würde, dann aber zu dem Endergebniss kommt: „le cervelet n’est 
pas le siege d’un sens particulier, mais le siege d’une reaction particuliere, 
mise en jeu par diverses excitations; cette r&action s’appligue au maintien de 
l’equilibre, dans les diverses formes d’attitudes ou de mouvements, reflexes, 
automatiques, volontaires; c’est un centre reflexe de l’Equilibration.“! Wie 
kommen erstens Zwangsbewegungen zu Stande, wenn das Thier das „Gleich- 
gewicht verliert“, und was soll man zweitens unter einer specifischen 
Reaction, die nur dazu bestimmt ist, das Gleichgewicht aufrecht zu erhalten, 
sich vorstellen. Thomas berücksichtigt die Zwangsbewegungen gar nicht 
und die Ataxie deutet er irrthümlich. Fast übereinstimmend mit der 
Theorie von Thomas ist die schon früher von Bechterew?” aufgestellte. 
Auch er bezeichnet das Kleinhirn als ein Centralorgan zur Aufrechterhaltung 
des Gleichgewichtes. Die Reiz aufnehmenden Sinnesorgane sind für ihn 
die Bogengänge, die Gegend des trichterfürmigen Theiles des dritten Ven- 
trikels und specifische Gleichgewichtsnerven der Haut, vielleicht auch der 
Muskeln. Specifische Nerven, welche gewissermaassen in Bausch und Bogen 
die Function haben, das Gleichgewicht aufrecht zu halten und weiter 
nichts im Körper zu thun haben, können wir uns nicht vorstellen, ebenso 
wenig, dass die Trichterregion durch den Druck der Cerebrospinalflüssig- 
keit erregt werden könnte. Bechterew berücksichtigt auch weder die 
Theorie von Lussana noch die von Luciani. Es ist uns eben mit 
dem dehnbaren und farblosen Begriff eines Gleichgewichts- 
organes gar nicht geholfen. 

Wenn wir einfach daran festhalten, dass Kleinhirnverletzungen zu 
Zwangsbewegungen führen, so würden wir nun die Beziehung des Klein- 
hirns zu denjenigen Organen und Hirntheilen zu erforschen haben, deren 
Verletzung denselben Symptomencomplex zur Folge hat. Es sind das in 
aller erster Linie die Bogengänge. Leider war ich noch nicht in der Lage 
eine Untersuchung über die Verbindung von Kleinhirnexstirpation und 
Labyrinthzerstörung bezw. Acusticusdurchschneidung aufnehmen zu können, 
welche eine solche Beziehung in’s Licht setzen würde, die aber voraussicht- 
lich sehr grosse Opfer an Thieren beanspruchen würde. Solche Unter- 


! Es ist für uns interessant, dass Thomas für die Lussana’sche Muskelsinn- 
theorie den Ausdruck fächeux braucht. 

28. a0. 

® Bechterew spricht davon, dass ihrer Extremitätenhaut beraubte Frösche „be- 
kanntlich“ das Aequilibrationsvermögen einbüssen. Der Versuch ist von Cl. Bernard 
angegeben und von Leyden bestätigt, aber das Resultat ist keineswegs das, was 
Bechterew angiebt. 


ÜBER DIE VERRICHTUNGEN DES KLEINHIRNS. 153 


suchungen sind zwar schon an Tauben von B. Lange!, einem Schüler 
Ewald’s, ausgeführt worden; aus dessen sehr kurzer Schilderung vermag 
ich jedoch die Berechtigung seines Standpunktes, dass sich Kleinhirn- 
symptome und Labyrinthsymptome scharf von einander trennen lassen, in 
keiner Weise zu ersehen, da er die Natur der ersteren vollständig verkennt. 

Die Zwangsbewegungen nach Durchschneidung eines Acusticus, wie sie 
Bechterew? beschrieben hat, zeigen eine so auffallende Uebereinstimmung 
mit denen nach halbseitiger Kleinhirnexstirpation, dass unter diesem Ein- 
druck hauptsächlich wohl auch Bechterew seine Theorie aufgestellt hat. 
Indem wir also den Theil der Bechterew’schen Theorie, welcher nun das 
Kleinhirn zum Organe des Gleichgewichtes verallgemeinert, bekämpfen, er- 
kennen wir die Wahrscheinlichkeit durchaus an, dass das Kleinhirn ein 
Centralorgan für das Labyrinth ist. Wenn ganz neuerdings Keller? die 
nach Durchschneidung der unteren Kleinhirnstiele auftretenden Zwangs- 
bewegungen auf Mitverletzung der Vestibulariskerne zurückführen will, so 
ist diese Behauptung, zu der Keller auf Grund seiner Versuche auch gar 
nicht berechtigt ist, durchaus irrthümlich. 

Es ist jedoch auch das Kleinhirn nicht, wie Bechterew will, das 
einzige Centralorgan für den Bogengangsapparat: es sind die Zwangs- 
bewegungen, welche nach Labyrinthentfernung eintreten, ebenso wie die 
nach Hirnverletzungen ohne Zweifel zum Theil identisch mit den Er- 
scheinungen des sogenannten galvanischen Schwindels (Purkinje, Hitzig). 
Während nun doppelseitige Entfernung der Labyrinthe nach Ewald‘ und 
Jensen° fast völliges Ausbleiben der Erscheinungen des galvanischen 
Schwindels bedingt, konnten wir feststellen, dass auch nach Totalexstirpation 
des Kleinhirns der Complex des galvanischen Schwindels noch auszulösen ist. 

Ganz allgemein ist aber auf das Schärfste festzuhalten, dass wir es 
bei den Zwangsbewegungen nicht mit Störungen der Muskelinnervation im 
Allgemeinen, sondern mit Störungen der Ortsbewegungen, der 
Richtung des Körpers im Raume zu thun haben. Es kann kein 
Zweifel sein, dass bei den Verletzungen des Kleinhirns des Affen und bei 
den Kleinhirnerkrankungen des Menschen diese objective Störung des Ver- 
haltens des Körpers im Raume zurücktritt — beim Affen sind die Zwangs- 
bewegungen von sehr kurzer Dauer, beim Menschen sind sie ausserordent- 
lich selten — und dass sich nun als Correlat derselben der Schwindel in 
den Vordergrund schiebt, die Störung der Vorstellung von der Richtung 


! Lange, Pflüger’s Archiv. Bd.L. 8. 615. 

? Bechterew, Ebenda. Bd. XXX. 8. 312. 

3 Keller, Dies Archiv. 1901. Anat. Abthlg. 8. 177. 
* R. Ewald, Nervus octavus. Wiesbaden 1892. 

5 Jensen, Pflüger’s Archiv. Bd. LXIV. 


154 M. LEWANDOWSKY: 


des Körpers im Raume. Es wird fast allgemein zugegeben, dass für den 
Kleinhirnkranken das Symptom des Schwindels charakteristisch ist, ja oft 
tritt er in der Form des sogenannten systematischen Schwindels auf, der 
darin besteht, dass der Kranke die Empfindung hat, er würde gedreht oder 
der Raum drehe sich in einer bestimmten Richtung um ihn: das Analogon 
der Seitenzwangsbewegungen. 

Es besteht also beim Thier in viel höherem Maasse eine factische 
Regulirung der Richtung der Ortsbewegungen, beim Menschen eine Störung 
der Vorstellung von dieser Richtung. 

Ja es erhebt sich die Frage, in wie weit Thiere überhaupt ihr Ver- 
halten im Raume auf Grund von Vorstellungen reguliren, d. h. ob sie über- 
haupt Schwindel in unserem Sinne kennen. Hitzig war früher der Meinung, 
dass in dem operirten Kaninchen, wenn es z. B. auf dem Bauche liegt, der 
Eindruck vorherrscht, dass es auf der unverletzten Seite liege, und dass die 
Zwangsbewegung nach der verletzten Seite nichts wäre als eine willkürliche 
Bewegung zur Aufrechterhaltung des scheinbar gestörten Gleichgewichtes.! 
Hitzig selbst hält jetzt den Vorgang nur zum Theil willkürlich, zum Theil 
als automatisch bedingt.? 

Soweit ich sehen kann, berücksichtigt Hitzig jedoch nicht den von 
uns erwähnten Unterschied zwischen Thier und Mensch. Wir haben gar 
keinen Anlass, beim Kaninchen eine andere als „automatische“ Regulirung 
der Körperrichtung im Raume anzunehmen, insofern als Hitzig hier das 
Wort automatisch sehr weit fasst und offenbar darunter „nicht im Gross- 
hirn vor sich gehend“ versteht. Beim Hunde scheint mir schon ein 
gewisser facultativer Einfluss des Gesammtbewusstseins deutlich zu sein. 
Auch sah ich beim Hunde ohne Kleinhirn die Exstirpation des Gyrus 
sigmoideus hochgradige Zwangshaltung und Zwangsbewegungen machen, 
was ein vicarjirendes Eintreten des Grosshirns vermuthen lässt. Beim 
Menschen ist wohl kein Zweifel, dass das Grosshirn für die subjective 
und objective Orientirung des Körpers im Raume durchaus nothwendig 
ist; über das Maass seines Antheiles zu discutiren, wäre unfruchtbar; 
wir sehen jedenfalls, dass hier eine bei den niederen Säugern noch ganz 
subcortical gelegene Function zum Theil im Begriff ist, auf die Hirnrinde 
überzugehen und dass sich demgemäss das objective Symptom der Zwangs- 
bewegungen in der Thierreihe aufwärts allmählich entwickelt zum sub- 
jectiven des Schwindels. | 

Vor Allem aber halten wir fest, dass Zwangsbewegungen 
und Schwindel einen Symptomencomplex für sich bilden. 


! Hitzig, Untersuchungen über das Gehirn. 1874. S. 269, 
? Schwindel. 8. 45. 


ÜBER DIE VERRICHTUNGEN DES KLEINHIRNS. 155 


b) Die Ataxie. 


In dem Maasse, als die Zwangsbewegungen nach Verletzungen des 
Kleinhirns abnehmen, tritt nun jener Symptomencomplex hervor, welcher 
als Ataxie bezeichnet wird. Eine Ataxie wird als Folge der Verletzung 
oder Erkrankung einer Reihe von Gehirntheilen beobachtet, insbesondere 
der hinteren Wurzeln (sensorische Ataxie, Panizza 1834, Tabes dorsalis, 
Leyden 1863) des Grosshirns und des Kleinhirns. Ataxie ist jedoch 
durchaus kein einheitlicher Begriff, sondern ein Sammelname für eine 
Gruppe von Bewegungsstörungen, die nicht den Eindruck von Lähmungen, 
sondern den einer gewissen Unordnung der Bewegungen machen bei mehr oder 
weniger erhaltener Motilität. Wäre mit dem Namen Ataxie ein bestimmter 
Begriff verbunden, so würde man sich nicht darüber streiten können, was 
nun die Kennzeichen der cerebellaren Ataxie seien. Damit erledigt sich 
auch die Bemerkung des Hrn. Bickel, dem ich hier im Laboratorium 
meine Versuche im Winter 1900/1901 gezeigt habe, der es auch für der 
Mühe werth gehalten hat, die in meiner vorläufigen Mittheilung! ent- 
haltenen Angaben in einer eigenen Arbeit? zu bestätigen, aber nun mit der 
Entdeckung hervortritt, Ataxie wäre Sensibilitätsstörung, also wäre Klein- 
hirnataxie auch Sensibilitätsstörung, sogar wenn man eine Sensibilitäts- 
störung objecetiv gar nicht würde nachweisen können. Es erklärt sich diese 
Anschauung des Hrn. Bickel nur durch eine weitgehende Nichtbeachtung 
der Litteratur. Als wenn nicht fast jeder der Autoren, welche über Ver- 
letzungen und Erkrankungen des Kleinhirns gearbeitet haben, sich auch mit 
der Möglichkeit von Sensibilitätsstörungen beschäftigt hätte, und trotz strieter 
Ableugnung von solchen den Namen Ataxie ruhig weiter gebraucht hätte 
(Luciani, H.S. Frenkel?°). „Coordinationsstörung und Mangel an Gleich- 
gewichtsgefühl sind natürlich nicht das Gleiche, und diese Worte definiren 
ebenso wenig wie der Ausdruck ‚cerebellare Ataxie‘ einen Krankheitszustand, 
sondern sie benennen ihn nur“ (E. Hitzig).* 

Es sind fast alle Autoren und sämmtliche Lehrbücher darüber einig, 
dass das Bild der cerebellaren Ataxie von dem der sensorischen Wurzel- 
ataxie wesentlich abweiche. In Bezug auf Lussana, der eine Ausnahme 
macht, können wir auf die Einleitung verweisen. Von Neurologen nenne 
ich Bruns, der eine Gruppe von Kleinhirnerkrankungen heraushebt, welche 
der Tabes ähnlich erscheinen. Bruns, der anscheinend die Theorie 


! Lewandowsky, Centralblatt für Physiologie. 1901. 20. Juli. 
? Bickel, Deutsche med. Wochenschrift. 1901. December. 

® Frenkel, Tabische Atawie. Leipzig 1900. S. 92. 

* Hitzig, Schwindel. 8. 37. 

® Bruns, Eulenburg’s Zncyclopäd. Jahrb. 1900. 


156 M. LEWANDOWSKY: 


Lussana’s nicht einmal kennt, kann übrigens ebenso wenig wie dieser 
sensible Störungen nachweisen. 

In den meisten Darstellungen wird entscheidender und fast ausschliess- 
licher Werth gelegt auf die Unsicherheit des Ganges, der als ein 
Taumeln, Schwanken, oder als Gang der Betrunkenen bezeichnet wird, und 
nun wieder als Gleichgewichtsstörung imporirt. 

In der That ist diese Anomalie des Ganges nicht nur beim Menschen, 
sondern auch bei Thieren recht auffällig, sie ist jedoch keine einheitliche 
Erscheinung, vielmehr in eine Reihe von Componenten zu zerlegen. 

Die erste ist die von Luciani nicht entdeckte, aber so bezeichnete 
Astasie, d. i. das Unvermögen kleinhirnverletzter Thiere, eine ruhige 
Haltung einzunehmen, eine Haltung, welche durch eine gleichmässige Con- 
traction der Extremitäten- und Rumpfmuskeln aufrecht erhalten wird. Man 
beobachtet das Schwanken der Innervation am besten und längsten (nach 
Ablauf der Zwangsbewegungen) an Thieren, denen eine ausgedehnte Ver- 
letzung des Kleinhirns beigebracht wurde, die sich auf beide Seiten des 
Organes erstreckte. Liegt ein solches Thier mit erhobenem Kopfe ruhig da, 
so zeigen sich die Schwankungen nur in den Muskeln der Halswirbelsäule, 
die es benöthigt, um den Kopf empor zu halten. Steht der Hund aber, so 
seräth der ganze Körper in grosse unregelmässige Schwankungen, die sich 
noch weiter steigern, wenn das Thier in aufrechter Haltung etwa einen 
Napf Milch aussäuft, oder eine andere Bewegung ausführen will. Wie 
wenig es die Bewegungen seines Kopfes beherrschen kann, haben wir be- 
reits geschildert (S. 141). Bei einseitigen Verletzungen richten sich die 
Schwankungen meist nach der Seite der Verletzung. Besonders aus- 
gesprochen sind sie beim Affen. Der Affe wird bei jedem Versuch, eine 
active Haltung einzunehmen, förmlich hin und her geschleudert, und er 
kann diese Bewegung so wenig beherrschen, dass sein Kopf immer wieder 
mit erheblicher Gewalt gegen die Wand des Käfigs anprallt. Bei dem Affen 
wird auch, wie schon Luciani bemerkt, eine analoge Innervationsstörung 
der Extremitätenbewegung leichter beobachtet als beim Hund. Immer werden 
die Schwankungen um so grösser, je energischer das Thier innervirt, und sie 
verschwinden, sobald das Thier seine Muskeln völlig entspannt. Lueiani 
schliesst aus diesen Erscheinungen auf eine „statische Function“ des Klein- 
hirns, durch welehe der Rhythmus der elementaren Impulse während der 
Funetion beschleunigt wird, und der normale Uebergang und die regel- 
mässige Stetigkeit der Handlungen sich ergiebt.! Es dürfte klar sein, dass 
dieses Wort doch mehr eine Umschreibung als eine Erklärung bedeutet. 

Ausser dieser Astasie erkennt nun Luciani nur noch zwei Symptome als 


ı Kleinhirn. 8. 282. 


ÜBER DIE VERRICHTUNGEN DES KLEINHIRNS. 157 


durch den Ausfall des Kleinhirns bedingt an, die Asthenie und die Atonie. 
Es sei hier zunächst unbedingt zugegeben, dass in der That eine erhebliche 
Verminderung des Tonus, eine abnorme Schlaffheit der Muskeln bei klein- 
hirnverletzten Thieren beobachtet werden kann, bei einseitig operirten Thieren, 
wie alle Erscheinungen, auf der Seite der Operation. Selbst wenn die moto- 
rischen Erscheinungen fast ganz verschwunden sind, kann man zu Zeiten 
nachweisen, dass bei einem solchen Thiere die Gliedmaassen der operirten 
Seite schlaffer sind als die der gesunden. Man kann nicht nur, wie Luciani 
bemerkt, die Glieder der operirten Seite leichter flectiren, als die der ge- 
sunden, sondern auch sehr viel weiter flectiren, und vor Allem die 
Gelenke ganz erheblich überstrecken, ohne dass selbst so "empfindliche 
Thiere, wie Katzen, darauf irgend reagiren. Es dürfte wahrscheinlich sein, 
dass sich diese Atonie auf alle willkürlichen Muskeln des Körpers erstreckt, 
wie ich sie zufällig auch an den Kiefermuskeln beobachtete. Es handelte 
sich um einen Hund, den ich Monate lang mit Schilddrüsentabletten ge- 
füttert hatte, so, dass ich ihm mit der rechten Hand die Kiefer aus einander 
sperrte, um ihm mit der linken die Tabletten tief in’s Maul hinein zu 
bringen, Immer hatte der Hund dieser Manipulation erheblichen Wider- 
stand entgegengesetzt und seinem Unbehagen lebhaften Ausdruck gegeben. 
Als ich 3 Wochen nach einer mässig ausgedehnten Wurmverletzung, von 
der der Hund sich schon fast völlig wieder erholt hatte, die Fütterung 
wieder aufnahm, war der Unterschied ein ganz frappanter. 

Ferrier hat gegen Luciani’s Behauptung von der Atonie Versuche 
. von Russel! verwerthet, welcher nach Kleinhirnverletzung die Sehnen- 
reflexe verstärkt gefunden hat: die Stärke der Sehnenreflexe bezeichne 
den Tonus der Muskeln und in Folge dessen könne eine Atonie nicht an- 
genommen werden. Die Beobachtung Russel’s ist zweifellos richtig, aber 
ich stimme mit Luciani? durchaus darin überein, dass die hergebrachte 
Lehre von den Sehnenreflexen als dem Indicator des Muskeltonus falsch 
ist, vielmehr kann gerade ein schlaffer, aber contractionsfähiger Muskel 
mit einer ausgiebigeren Contraction antworten, als ein schon gespannter. 
Es ist ein Zufall, dass in den meisten Zuständen, in denen der Tonus der 
Muskeln vermindert ist, auch die Reflexbahnen unterbrochen sind. 

Nun soll der Atonie, der Schlaffheit der Muskeln in der Ruhe, eine 
Asthenie, eine Verminderung der Muskelenergie in der Thätigkeit ent- 
sprechen. Luciani erschliesst eine solche aus dem Unvermögen kleinhirn- 
verletzter Thiere, aufrecht zu stehen, bezw. aus dem Fallen einseitig operirter 
Thiere nach der verletzten Seite. Luciani legt grossen Werth darauf, 
dass es sich um eine Schwäche, Asthenie, nicht um Paralyse und auch 


! Russel, Proc. of the Royal Soc. Vol. LV. p. 57. 
® Biolog. Centralblatt. Bd. XV. S. 372. 


158 M. LEWANDOWSKY: 


nicht um Parese handle. Eine Paralyse ist sicherlich nicht vorhanden, 
aber wir sehen durchaus keinen Anhaltspunkt für eine Unterscheidung 
zwischen Asthenie und Parese. Was Luciani zu der besonderen Be- 
tonung der Asthenie gegenüber der Parese geführt hat, ist wohl die Ein- 
sicht, dass die Erscheinungen nach Eingriffen in das Kleinhirn nicht 
die einer gewöhnlichen Parese sind, aber wenn wir nach der Art der 
Abweichung fragen, werden wir mit einem Wort abgespeist, mit dem 
wir wenigstens und wohl auch kein Kliniker einer. festen Begriff verbinden 
kann. \venn wir uns darüber klar sind, können wir, um in der Luciani’- 
schen Terminologie zu bleiben, das Wort Asthenie ruhig verwenden. 
Luciani prüft den Grad der motorischen Schwäche, indem er die 
Kraft, welche z. B. der Affe entwickelt, um sich an einen Gegenstand fest- 
zuhalten, dynamometrisch misst. Auch ohne Dynamometerversuche zu 
haben, können wir zugeben, dass bei einem einseitig operirten Affen die 
Energie, mit der er sich etwa an einer Gitterstange festzuhalten vermag, 
etwas vermindert ist. Die Frage aber muss doch so gestellt werden, ob 
die Verminderung der Energie in einem Verhältnisse steht zu der Intensität 
der Bewegungsstörungen. Wir schliessen aus dem Verhalten des Affen 
nicht wie Luciani, dass das Kleinhirn „das Krafitvermögen, über das die 
‚Nervmuskelapparate‘ verfügen, erhöht“. Denn damit ist oflenbar präjudicirt, 
dass diese „sthenische Function“ des Kleinhirns sich gleichmässig 'auf alle 
Muskeln erstreckt, aber hier haben wir eine sehr complicirte Bewegung, 
die zum Zweck hat, den Körper durch die Thätigkeit der Haut-, Arm- und 
Schultermuskeln an die Gitterstange heranzuziehen. Wenn wir ganz davon 
absehen, dass wir bei der Messung der Kraft einer solchen Bewegung von 
dem guten Willen des Affen abhängig sind, eine maximale Arbeit zu leisten, 
so brauchen wir nur anzunehmen, dass die grosse Zahl der Muskelgruppen, 
welche beansprucht werden, nicht in der richtigen Weise zusammenwirken, 
um die Verminderung der Energie zu erklären. Die Möglichkeit muss 
jedenfalls zugegeben werden. Aber sei es darum! Wir nehmen an, dass 
das Kleinhirn seine sthenische Function dem „Nervmuskelapparat“ eleich- 
mässig ertheile, dass also nach Ausfall des Kleinhirns alle Muskeln gleich- 
mässig schwach seien, und stellen uns ein solches Thier vor. Jedermann 
wird erwarten, ein Thier zu finden, das sich nur mühsam einherschleppt, 
das jede Bewegung langsam und zögernd ausführt, ein Thier, das wie in 
einer schweren Krankheit fast zusammenbricht unter der Last seines 
Körpers, und was sehen wir? „Dass der Hund mit halbem Kleinhirn die 
Beine der Fehlseite, besonders das Vorderbein, ungewöhnlich hochhebt und 
schärfer damit auf den Fussboden aufschlägt.“! Und wenn wir fragen, wie 


1 Kleinhirn. S. 184. 


ÜBER DIE VERRICHTUNGEN DES KLEINHIRNS. 159 


das möglich ist, giebt Luciani die Antwort, das sei „functionelle Compen- 
sation“ seitens des Grosshirns. Ausfall ist und bleibt nur die Astasie, 
Asthenie und Atonie, und wenn etwas dazu nicht passt, so ist es eben 
keine Ausfallserscheinung, sondern Öompensation. Für diese Hypothese 
sehen wir nicht nur keinen Beweis, sondern wir halten es auch schon für 
begrifflich schwierig, sich vorzustellen, dass eine Schwäche der Bewegung 
da als wesentlich nachgewiesen werden könne, wo sie so weit compensirt 
ist, dass wir sie gar nicht mehr zu sehen bekommen, an ihrer Stelle 
im Gegentheil eine Maasslosigkeit, eine „Dysmetrie“ der Bewegung er- 
scheint. Was sollen folgende Sätze bedeuten: „Thatsächlich hat das in 
Rede stehende Symptom (das ich Dysmetrie der Bewegungen zu nennen 
für gut hielt) zur Folge, dass das Thier einen Theil der Energie, über 
die es verfügt, unnützer Weise verschwendet; und ist es klar, dass die 
Form seiner Bewegungen keineswegs so beschaffen ist, wie sie sein müsste, 
um den compensatorischen Erfolg mit geringstem Kraftaufwand zu er- 
reichen.“! Also ein erhöhter Kraftaufwand bei Schwäche des Nervmuskel- 
apparates. 

An dieser Dysmetrie muss die Luciani’sche Theorie scheitern, und 
es ist nicht zu verkennen, dass dieses Symptom Luciani selbst störend 
gewesen ist: „Wenn man jedoch die Symptome der Bewegungsdysmetrie 
als die wichtigeren und wesentlicheren des Cerebellarausfalles betrachten, 
oder sie als Störung der Coordination(!) deuten wollte, so würde man sehr 
in Verlegenheit kommen, für diese (doctrinäre) Behauptung irgend welchen 
Beweis zu finden, man würde die grosse Wichtigkeit der asthenischen, 
atonischen, astatischen Erscheinungen ...... verkennen.“! Am liebsten 
möchte Luciani die Dysmetrie ganz aus dem physiologischen Bilde streichen 
und sie für pathologisch erklären: „Sie könnte indes auch von dem ab- 
normen Zustande des Grosshirns und namentlich demjenigen seiner Theile 
abhängen, auf dem die instinctiven und Willensacte beruhen, welche die 
Funetionscompensation veranlassen. Die letztere Hypothese stützt sich darauf, 
dass die ganze Hirnmasse bei der Section der Hündin F in sehr bedeutender 
Erweichung gefunden wurde, die sicherlich nicht erst in den letzten Lebens- 
tagen des Thieres nach der letzten Operation, der es unterworfen war, ein- 
getreten sein konnte.“ Gegen diesen Versuch muss nun auf das Ent- 
schiedenste protestirt werden, die Luciani’sche Dysmetrie ist ein physio- 
logisches Symptom, das unter geeigneten Bedingungen bei jedem am 
Kleinhirn operirten Thiere zu beobachten ist, ohne dass die Spur einer 
Veränderung im Grosshirn oder sonst im Centralnervensystem vorzuliegen 
brauchte. 


1 Kleinhirn. 8. 185. 


160 M. LEWANDOWSKY: 


Es zeigt sich hier, dass mit der motorischen Verstärkungs- 
theorie schlechterdings nicht auszukommen ist. 

Luciani kann thatsächlich das Symptomenbild der Kleinhirnataxie 
nicht deuten, weil er eine Folge der Kleinhirnverletzungen übersehen hat, 
die wir demnach in den Mittelpunkt der Darstellung rücken müssen, 
das sind: Störungen des Muskelsinnes. 

Wenn Luciani trotz tausendfältiger Untersuchung niemals Störungen 
des Muskelsinnes hat beöbachten können, behaupten wir, dass jede moto- 
rische Störung einer Kleinhirnverletzung begleitet ist von 
Störungen des Muskelsinnes. 

Mit dem Begriffe des Muskelsinnes verbinden wir nicht die einheitliche 
anatomische Vorstellung, dass nur die sensiblen Nerven der Muskeln als 
periphere Organe dieses Sinnes zu betrachten wären. Vielmehr verstehen 
wir unter Muskelsinn ganz allgemein das Vermögen, die Lage und die 
Bewegungen der Körpertheile wahrzunehmen, sei es durch die Sensibilität 
der Muskeln selbst, sei es durch die der Haut und der Gelenke. Unter- 
scheidungen insbesondere zwischen Gelenksinn und Muskelsinn im engeren 
Sinne, wie se Duchenne! und besonders Goldscheider? durch Unter- 
suchungen am Menschen zu begründen versucht hat, beim Thiere in einem 
praktisch gegebenen Falle durchzuführen, ist wohl unmöglich.’ 

Noch eine weitere und zwar principielle Einschränkung muss gemacht 
werden: wir sind selbstverständlich nicht in der Lage, mit Sicherheit 
zu entscheiden, ob einem Thiere die bewusste Sinnesempfindung fehlt 
oder nicht. Wir beobachten beim Thiere nur Reactionen, und es ist 
durchaus zweifelhaft gerade auf dem Gebiete des in der Reihe der Sinne 
bezw. Sinnesmodalitäten ja recht tief stehenden Muskelsinnes, in wie weit 
eine Reaction, die beim Menschen unter Betheiligung des Bewusstseins vor 
sich geht, auch beim Thiere eine solche erfordert. Je weiter wir im Thier- 
reich herunter gehen, um so mehr verschwindet die Grenze zwischen Reflex 
und bewusster Handlung. Hierauf werden wir noch zurückkommen, wenn 
wir auf die Symptomatologie der Kleinhirnerkrankungen des Menschen 
Bezug nehmen. 

Für die objeetive Feststellung einer Sinnesstörung folgt daraus, dass 
wir keine Möglichkeit haben, die Sinnesqualitäten beim Thiere zu prüfen, 
auf die wir keine distineten Reactionen besitzen. Wenn Goldscheider 
es durch Versuche am Menschen wahrscheinlich gemacht hat, dass vier 
verschiedene Qualitäten des Muskelgefühles zu unterscheiden sind, das 


' Duchenne, Physiologie der Bewegungen, übers. von Wernicke. 1885. S. 612. 

? Goldscheider, Gesammelte Abhandlungen. Leipzig 1898. Bd. Il. 

® Den Einfluss der Sensibilität einzelner Gelenke auf die Bewegung festzustellen, 
müsste allerdings mit Hülfe des Cocains möglich sein. 


ÜBER DIE VERRICHTUNGEN DES KLEINHIRNS. 161 


Lagegefühl, das Gefühl für passive, das für active Bewegungen und das 
Widerstandsgefühl, so können wir die so gewonnene Erkenntniss im Thier- 
experiment noch nicht ausnutzen. Wir können den Lagesinn prüfen, ihn 
aber schon nicht mehr scharf von dem Widerstandssinn trennen, die Mög- 
lichkeit, einen vom Lagesinn unabhängigen Sinn für passive Bewegungen zu 
unterscheiden, entfällt, und Störungen des Sinnes für active Bewegungen 
können wir nur aus der Art der willkürlichen Bewegungen selbst erschliessen. 

Wenn wir nun beim Thiere überhaupt Störungen des Lagesinnes 
feststellen, so müssen das schon recht grobe Störungen sein. Wir können 
ihm nicht wie dem Menschen den Befehl ertheilen, einem beliebigen Gliede 
eine complicirte Stellung zu geben, oder eine solche nachzuahmen; wir 
können nur prüfen, ob ungewöhnliche, unbequeme und zweckwidrige Lagen 
und Stellungen der Glieder wie von einem normalen Thiere corrigirt werden. 
Wenn etwa ein Tabeskranker nicht mehr wahrnimmt, dass wir ihm seinen 
Unterschenkel über den Seitenrand des Bettes heraushängen, so bedeutet 
das doch schon einen recht hohen Grad von Sensibilitätsstörung,, aber 
analog schwere Erscheinungen können wir in der That beim kleinhirn- 
verletzten Thiere nachweisen. Sie zeigen sich bei einseitig operirten Thieren 
deutlich nur auf der verletzten Seite, vertheilen sich bei doppelseitig operirten 
Thieren auf beide. 

Als Indieator kann jene Störung des Lagesinnes, die als Folge der 
Schädigung der Extremitätenzone des Grosshirns bekannt ist, gelten, die 
darin besteht, dass ein Hund die falsche Lage der Vorderpfote nicht cor- 
rigirt, vielmehr es duldet, dass das Dorsum der Pfote den Boden berührt. 
Geschieht dieses bei aufrechtem Stehen des Hundes, so ruht die Körperlast 
dann unmittelbar auf dem Unterschenkel. So hochgradig ist die Störung 
allerdings nur bei einigermaassen ausgedehnten Verletzungen, und auch 
dann nur während nicht langer Zeit zu beobachten. In dem Maasse als 
sich die Ataxie bessert, geht auch die Störung des Lagesinnes zurück. 
Wenn der Hund so weit ist, dass er sich einigermaassen geschickt fort- 
bewegen kann, corrigirt der stehende Hund die falsche Stellung der Pfote 
ziemlich prompt. Aber auch im Liegen hat der Hund normaler Weise 
das Bestreben, die Sohle auf den Boden aufzusetzen, und corrigirt augen- 
blieklich die falsche Lage." Das Ausbleiben dieser Form der Reaction ist 
an kleinhirnverletzten Thieren Wochen und Monate lang zu beobachten. 

Es wäre ermüdend, wenn wir andere Formen der Muskelsinnstörung 
mit gleicher Ausführlichkeit abhandeln wollten. Wer an solchen Thieren 
mit Aufmerksamkeit experimentirt, wird vielerlei Methoden finden, um 


!-Es giebt Hunde, die das nicht immer thun. Man muss den Hund also vorher 


beobachten. 
Archiv f. A. u. Ph. 1903. Physiol. Abthlg. 11 


162 M. LEWANDOWSKY: 


Störungen des Lagesinnes nachzuweisen. Analoge Defecte, wie an den 
vorderen, zeigen sich an den hinteren Gliedmaassen. Man kann ferner die 
Extremitäten des Hundes über den Tisch oder Mauerrand hinaushängen, 
ohne dass er sich bemüht, sie wieder auf den Tisch heraufzubringen. Hat 
man nur einseitig operirt, bietet das Verhalten der normalen Seite wieder 
den besten Vergleich. Am stärksten sind die Störungen aber bei totaler Ex- 
stirpation, wenn sie auch hier mit der Zeit nicht unbeträchtlich zurückgehen; 
aber noch 2 Monate nach der Operation kann man z. B. den ganzen Hinter- 
körper des Hundes so weit über den Tischrand hinaushängen, dass der 
Hund im Nacken gehalten werden muss, um nicht sogleich herunterzufallen, 
ohne dass das Thier den Versuch machte, mit der Hinterpfote den Tisch- 
rand wieder zu erreichen, ein Verhalten, das bei einem normalen Thiere 
vollständig ausgeschlossen wäre. 

Wenn diese Störungen des Lagesinnes bisher von Niemandem, auch 
von Lussana! nicht beobachtet worden sind, so liegt das zum Theil viel- 
leicht daran, dass sie am intensivsten sind zu einer Zeit, wo das Thier 
noch nicht oder nur mit Schwierigkeiten aufrecht stehen kann, wir also 
ein weniger eindrucksvolles Bild haben als z. B. nach Exstirpation des 
Gyrus sigmoideus. Die Eigenart des letzteren Bildes wird nicht zum 
wenigsten bedingt durch die Ruhe der Körperhaltung im Gegensatz zu der 
vollständigen Vernachlässigung der Extremitäten. Auf den inneren Grund 
dieser Differenz werden wir noch zurückkommen. 

Jedenfalls treten Störungen des Lagesinnes auch nach Kleinhirn- 
verletzungen in ausgesprochener Weise in die Erscheinung. Dass sie im 
Verlaufe der Wochen und Monate abnehmen, kann gewiss als kein Beweis 
gegen ihre Bedeutung gelten; denn ganz dasselbe finden wir auch nach 
Eingriffen in das Grosshirn und trotzdem zweifelt heute Niemand mehr an 
der Beziehung des Muskelsinnes zur Hirnrinde Dass man aber gar keinen 
Grund hat, wie das vielfach geschieht, das Grosshirn als das einzige Central- 
organ des Muskelsinnes zu betrachten, geht aus der Feststellung von Goltz 
hervor, dass selbst nach totaler Exstirpation der Grosshirnhemisphären die 
Störungen des Lagesinnes sich fast vollständig wieder ausgleichen. Damit 
war ja zugleich das Postulat gegeben, dass noch ein anderes Centralorgan 
für den Muskelsinn gefunden werden müsse. Dieses andere Oentral- 
organ ist das Kleinhirn. 

Wenngleich die mitgetheilte Thatsache, dass nämlich kleinhirnverletzte 
Thiere abnorme Lagen ihrer Glieder toleriren, als solche von den bisherigen 
Beobachtern übersehen ist, so könnte man jetzt vielleicht einwenden, dass 
dieses Symptom gar keine Störung der Sensibilität, sondern eine Folge 


i Vol. 8.133. 


ÜBER DIE VERRICHTUNGEN DES KLEINHIRNS. 163 


motorischer Schwäche, etwa der Luciani’schen Asthenie darstelle; denn 
in der That zeigen schwache und kranke Thiere ein ähnliches Verhalten. 
Aber gegen diesen Einwand sind eine Reihe von Thatsachen beweisend: 
die erste: dass die Thiere, während sie diese Störungen der Reaction auf 
Lageänderungen darbieten, sehr ausgiebige und sogar maasslose Bewegungen 
machen. 

Die zweite: dass die T'hiere selbst durch ihre Bewegungen solche ab- 
norme Lagen herbeiführen, wie ich das sehr häufig beobachtet und auch 
photograpbisch fixirt habe.! , 

Die dritte: dass unter diesen abnormen Lagen und Stellungen solche 
sind, die mit einer motorischen Schwäche gar nichts zu thun haben, wie 
2. B., dass der Affe ganz regelmässig den Gitterstab nicht zwischen Daumen 
und Zeigefinger, sondern zwischen zweitem und drittem oder drittom und 
viertem Finger festhält. 

Die vierte: dass auf die Correctur dieser abnormen Lage andere als 
durch den Muskelsinn vermittelte Wahrnehmungen von deutlichem Einfluss 
sind. Die abnorme Lage wird besser corrigirt, wenn wir dem Thiere die 
Möglichkeit geben, sich noch anders als durch den Muskelsinn von der 
Lage seiner Glieder zu unterrichten, und es treten hingesen abnorme 
Stellungen auf, wenn wir die Aufmerksamkeit des Thieres ablenken. Das 
letztere geschieht z. B., wenn wir dem Thiere — wir nehmen an, dass wir 
ihm das halbe Kleinhirn entfernt haben — einen Napf Milch vorsetzen. 
Es hat bis jetzt unter leichtem Schwanken bei geringer Abduction der 
Extremitäten der verletzten Seite dagestanden, jetzt schlürft es gierig die 
Milch und nun gerathen die Beine der verletzten Seite in die wunder- 
barsten Stellungen. Es kommt vor, dass das Thier dabei zu Falle kommt, 
gewöhnlich corrigirt es jedoch im letzten Augenblick die Stellung noch so 
weit, dass das Fallen vermieden wird. Abnorm bleibt sie darum doch. 
Wiederholt habe ich unter diesen Bedingungen gesehen, dass der Hund 
das eine Vorderbein, das ihm am meisten Schwierigkeiten machte, vom 
Boden hochhob und nun, auf drei Beinen stehend, unter den enormsten 
Schwankungen sich dem Geschäfte des Saufens weiter hingab. 

Als Hülfssinn für die Wahrnehmung der Lage fungirt in erster Linie 
das Auge. Sehr häufig lässt sich beobachten, dass der Hund z. B. sofort 
das Vorderbein über den Rand des Tisches zurückzieht, wenn er den Kopf 
nach der betreffenden Seite wendet und Aehnliches. Dass das Auge auf 
die Bewegungen von Thieren ohne Kleinhirn einen erheblichen Einfluss 


1 Auf die Wiedergabe der photographischen Aufnahmen, welche ich zugleich mit 
einigen Thieren in der physiologischen Gesellschaft demonstrirt habe (Cenzralblatt für 


Physiologie. 1901. 20. Juli), habe ich hier verzichtet. 
gl 


164 M. LEWANDOWSKY: 


übt, erwähnen Borgherini und Gallerani!. Sie beschreiben, dass ein 
kleinhirnloses Thier, wenn man ihm die Augen verbindet, in einen „schlaf- 
ähnlichen Zustand“ geräth, und dass es nicht gelingt, durch irgend welche 
Reizung ein solches Thier aus diesem schlafähnlichen Zustand zu erwecken, 
Richtig an dieser Beobachtung ist nur, dass ein solches Thier sehr vor- 
sichtig in seinen Bewegungen ist, von einem schlafähnlichen Zustande kann 
keine Rede sein. Diese Angabe erklärt sich wohl daraus, dass ein Theil 
der von den genannten Autoren operirten Hunde auch noch taub war. 

Wir glauben, jeder der angeführten Gründe beweist, dass der Ausfall 
der Reaction auf Lageveränderungen der Glieder nicht auf motorische 
Schwäche, sondern auf Störungen des Lagesinnes zurückzuführen ist. Wir 
würden diesen Theil der Arbeit, der sich mit dem objectiven Nachweis der 
Störungen des Muskelsinnes beschäftigt, unnöthig ausdehnen, wenn wir alle 
die kleinen Beobachtungen, so willkommen sie dem einzelnen Beobachter 
sind, hier aufzählen wollten. Die Störung des Muskelsinnes nach 
Kleinhirnverletzung ist erwiesen. 

Mit dieser Feststellung ist nun die Symptomatologie der Bewegungs- 
störungen, welche nach Kleinhirnverletzungen auftreten, zum guten Theil 
gegeben. Insofern die Bewegungsstörungen durch Defecte des Muskelsinnes 
bedingt sind, müssen sie jenen anderen atactischen Bewegungen gleichen, 
welche durch Eingriffe in das Grosshirn oder Verletzung der hinteren 
Wurzeln erzeugt werden können. Dass insbesondere dieser letzte Symptomen- 
complex durch die Vernichtung des Muskelsinnes bedingt ist, darüber ist 
wohl heute, insbesondere nach den Untersuchungen v. Leyden’s über das 
Krankheitsbild der Tabes dorsalis, kein Zweifel mehr. Mit dem Nach- 
weise, dass die Erscheinungsiorm der cerebellaren Ataxie bis zu einem 
hohen Grade mit der einer sensorischen Ataxie übereinstimmt, würde die 
ihr allgemein zugebilligte Sonderstellung aufgehoben sein. 

Welches sind nun die Symptome einer sensorischen Ataxie? 

Wenn wir ganz allgemein die Bedeutung des Muskelsinnes für die 
willkürlichen Bewegungen festlegen wollen, können wir sagen, dass durch 
ihn die Zweckmässigkeit der Bewegung gesichert wird. Das Moment der 
Unzweckmässigkeit ist denn auch fast von Allen, welche über Rinden- 
ataxie oder Wurzelataxie schrieben, mehr oder weniger betont worden. Sehr 
scharf ist das neuerdings von H.S. Frenkel?, dem Erfinder der Uebungs- 
therapie der Tabes dorsalis, hervorgehoben worden. Es ist in der That in dem 
Mangel an Zweckmässigkeit eine weite, aber die einzig erschöpfende Definition 
der atactischen Bewegung gegeben. Einzuschränken ist sie nur durch ihre 


‘ Borgherini und Gallerani, Neurologisches Centralblatt. 1891. 8. 649. 
” Frenkel, Die Behandlung der tabischen Ataxie. Leipzig 1900. 


ÜBER DIk VERRICHTUNGEN DES KLEINHIRNS. 165 


Beziehung auf die vorhandenen motorischen Apparate und deren Energie. 
Denn die Zweekmässigkeit ist ja kein absoluter, sondern nur ein relativer, 
ein Vergleichswerth, und wir können natürlich nicht die Bewegungen eines 
Armes, dessen Biceps gelähmt ist, auf ihre Zweckmässigkeit hin mit denen 
eines normalen Armes vergleichen. Als Vergleichsobject dient ganz all- 
semein die Bewegung des normalen Individuums, wir können noch hinzu- 
setzen: des Individuums von gleicher Uebung. Wenn man aber nicht be- 
sonders dressirte Thiere benutzt, so braucht man im Experiment sich darum 
natürlich nicht weiter zu kümmern, und auch beim erwachsenen Menschen 
kommt die Uebung für die Verrichtungen des täglichen Lebens nicht in 
Betracht, aber bei dem Versuch der Ausübung besonderer Kunstfertigkeiten 
ist, wie Frenkel richtig bemerkt, ein ungeübter von einem atactischen 
‘nicht zu unterscheiden. Ob Jemand ungeschickt Schlittschuh läuft, weil 
er atactisch, oder weil er ungeübt im Schlittschuhlaufen ist, lässt sich 
gar nicht beurtheilen, und mit vollem Recht bezeichnet Frenkel auch die 
Bewegungen des Kindes, das anfängt laufen oder greifen zu lernen, als 
atactisch. . 

Was die Schwäche der Anschauung von der Identität von Ataxie und 
Unzweckmässigkeit zu sein scheint, ihre Unbestimmtheit, ist in Wahrheit 
ihre Stärke. Denn die Art, wie sich die Abweichung von der Zweckmässig- 
keit ändert, ist unendlich mannigfaltig. Die Bewegung kann zu gross oder 
zu klein, zu langsam oder zu schnell sein, sie kann ihr Ziel in jeder 
- Richtung verfehlen. Welche von allen möglichen Abweichungen eintritt, 
das hängt wieder von einer unendlich grossen Reihe von Umständen ab. 
Der Tabiker, der eben noch auf seinen Stock gestützt im Bewusstsein der 
durch den Stock geschaffenen Sicherheit mit dem angeblich typischen 
Hahnentritt einherschreitet, kann sich nur mühsam schlürfend fortbewegen, 
wenn wir ihm den Stock entziehen. Er würde ja unfehlbar fallen, wenn 
er seinen unbekümmert schleudernden Schritt weiter einhalten würde. Dieser 
Wechsel der Erscheinungen von Augenblick zu Augenblick ist als ein 
sicherer Beweis für die v. Leyden’sche Lehre von dem sensibilen Ur- 
sprung der tabischen Ataxie durch Frenkel mit grossem Recht hervor- 
sehoben worden. Ein motorischer Ausfall müsste sich unter allen Be- 
dingungen in der gleichen Weise geltend machen. 

Gewiss lässt sich sagen, dass eine gewisse atactische Bewegung dadurch 
abnorm ist, dass die oder jene Muskeln zu stark oder zu schwach innervirt 
werden, und eine solche Feststellung mag für manche Frage von Bedeutung 
und nothwendig sein, aber das Wesen der Störung treffen wir eben mit 
einer solchen Bestimmung der Motilität nicht. Es wurde schon in der Ein- 
leitung erwähnt, dass mit Ataxie promiscue das Wort Coordinationsstörung 
gebraucht wird. Aber auch unter Coordinationsstörung darf eben nur ver- 


166 M. LEWANDOWSKY: 


standen werden: Zusammenordnung der Muskelcontraetionen zu einem be- 
stimmten Zweck. Ausdrücklich muss W iderspruch erhoben werden gegen 
die Ausführungen von H. E. Hering!, der bei seiner Theorie der Coordi- 
nationsstörung ohne den Zweckmässigkeitsbegriff auskommen will. Dabei 
ist die höchste Stufe der Coordination für Hering die, „bei der alle oder 
eine grössere Zahl von Muskelfasern mehrerer Muskeln gleichzeitig in Action 
treten. Diese Stufe entspricht erst dem, was ich oben als coordinirte Be- 
wegung bezeichnet habe“. Als Prototyp dieser höchsten Stufe der Coordi- 
nation, aus deren Störungen er ausdrücklich auch die „Ataxie, wie sie von 
den Klinikern aufgefasst wird“, erklären will, gilt Hering die Faustballung 
der Hand, welche bekanntlich aus einer Flexion der Finger und einer 
Dorsalflexion der Mittelhand besteht. Man kann gegen diese Hering’sche 
Behauptung eine grosse Anzahl von Gründen in’s Feld führen, für durch- 
schlagend halte ich schon den einen, dass nämlich Hering bei Aufstellung 
seines Begriffes der Coordination gar keine Rücksicht auf den zeitlichen 
Verlauf der Bewegung nimmt, als letzte Stufe vielmehr noch die gleich- 
zeitige Innervation mehrerer Muskeln betrachtet. Seine Coordination 
bleibt also auf der Stufe der Synergie, aber diese Synergien können bei 
der Ataxie, „wie sie von den Klinikern aufgefasst wird“, nur wenig gestört 
sein, die Muskeln, die der Gesunde gleichzeitig innerviren kann, kann auch 
der Tabiker noch gleichzeitig innerviren, aber die zeitliche Folge, in der 
die Muskelsynergien ablaufen, ist beim Tabiker gestört, weniger die Synergie 
als die Bewegung. Was Hering Coordinationsstörung nennt, erschöpft das 
Bild der Ataxie durchaus nicht. 

Das ist vielmehr das Wesentliche der Ataxie, dass die „Motilität“, die 
Fähigkeit, die Muskeln auch synergisch zur Contraction zu bringen, ver- 
hältnissmässig wenig gestört ist. Aber wir wollen ja auch keine Muskeln 
contrahiren, auch keine Muskelgruppen, sondern wir wollen eine Bewegung 
ausführen zu einem bestimmten Zwecke, und das geschieht durch eine 
unendlich grosse Fülle von Combinationen nicht nur der gewählten Muskeln, 
sondern auch der Abstufung in dem Verhältnisse ihrer Contractionsstärke, 
und ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge. An dieser unendlichen Mannigfaltiekeit 
muss jede Theorie der Bewegungen scheitern, welche, wie die Hering’sche, 
nur mit Coordinationscentren rechnet. Jede Bewegung wird den äusseren 
Umständen angepasst, jede Bewegung kann auf tausenderlei Art modifieirt 
werden und man darf geradezu behaupten, dass erst die Lehre von der 
sensorischen Ataxie uns ein Verständniss für die Möglichkeit der 
unendlichen Mannigfaltigkeit der Bewegungen erschlossen hat. 

Die fortlaufende Uebermittelung sensibler Impulse, welche über die 


ı Pflüger’s Archiv, Bd. LXX. S. 603. 


ÜBER DIE VERRICHTUNGEN DES KLEINHIRNS. 167 


jeweilige Stellung der Glieder Auskunft geben, sichert allein ihre zweck- 
mässige Verbindung zu einem einheitlichen Ganzen. So kann der Feldherr 
eine Schlacht nur leiten, wenn er zu jeder Zeit von der Stellung aller seiner 
Truppenkörper unterrichtet ist. Wenn der Nachrichtendienst stockt, hört 
darum nicht die Bewegungsfähigkeit der einzelnen Truppenkörper auf, ja 
nicht einmal die Möglichkeit der Direction nach den verschiedensten Rich- 
tungen von der obersten Stelle, welche durch ihre Boten die Truppentheile 
aufsuchen lassen kann, aber die Vereinigung aller dieser Einzelbewegungen 
zu einem zweckmässigen Ganzen ist gestört, und trifft der Oberfeldherr 
das Richtige, so ist das ein Zufall. Aus der Tactik ist eine Ataxie geworden. 

Wir sind jetzt auf die Beantwortung der Frage vorbereitet: inwieweit 
sind die Bewegungsstörungen nach Verletzung des Kleinhirns 
der Ausdruck einer sensorischen Ataxie. 

Es ist zunächst festzustellen, dass bei kleinhirnverstümmelten Thieren 
die Synergien der Muskeln intact sind, was Bianchi! und Luciani fest- 
gestellt haben. „Wir haben gesehen, dass die vollständige Zerstörung des 
Kleinhirns kein deutliches Lähmungssymptom in irgend einer Muskelgruppe 
in Folge von behinderter Uebertragung von Willensimpulsen hervorbringt. 
Ein Beweis dafür findet sich in dem Umstande, dass elektrische und 
mechanische Reizung der sensomotorischen Sphären der Grosshirnrinde bei 
Thieren mit verstümmeltem Kleinhirn dieselben Reactionen hervorruft wie 
bei gesunden Thieren.“ Damit ist die gleiche Basis gegeben wie für die 
Wurzelataxie. Es ist gewiss merkwürdig, dass Luciani selbst das aus- 
drücklich betont, und wenn wir uns diese Bemerkung erlauben dürfen, so 
erklärt sich die Irrlehre Luciani’s vom Kleinhirn physiologisch aus seiner 
Auffassung der Wurzelataxie, denn auch diese erklärt er im Anschluss an 
v.Cyon durch den Ausfall einer von den Intervertebralganglien besorgten 
Verstärkungsfunction, eine Anschauung, die wir nach den obigen Aus- 
führungen wohl nicht mehr zu discutiren haben. 

Es ist also nur weiter zu beweisen, dass trotz des Erhaltenseins der 
Motilität die Bewegungen des kleinhirnverletzten Thieres in wechselnder 
Weise unzweekmässig sind, und wir beginnen die Fortsetzung der Sympto- 
matologie der Kleinhirnverletzungen da, wo wir sie unterbrochen hatten, 
nämlich bei der von Luciani sogenannten Dysmetrie der Laufbewegung 
des Hundes, die darin besteht, dass der Hund mit halbem Kleinhirn die 
Beine der Fehlseite, besonders das Vorderbein ungewöhnlich hoch hebt und 
schärfer damit auf den Boden aufschlägt. Das ist nichts weiter, als der 
altbekannte Hahnentritt, der in den verschiedensten Abstufungen bei Hunden 
nach Kleinhirnverletzungen vorkommt, genau wie er nach Verletzung der 


1 Cit. bei Luciani, Kleinhirn. S. 159. 


168 M. LEWANDOWSKY: 


Rinde oder nach Durchschneidung hinterer Wurzeln zur Beobachtung ge- 
langt. Er kann schon nach sehr kleinen Verletzungen (des Kleinhirns) 
sehr deutlich sein und zeigt sich besonders bei schneller Trabbewegung 
des Thieres. 

Aber — und das ist wichtig — der Hahnentritt ist nicht die 
einzige zu beobachtende Abweichung von der normalen Laufbewegung. Es 
kommt vielmehr gerade das Entgegengesetzte vor, dass nämlich der Gang 
des Hundes schleichend wird, wie der einer Katze, indem die Pfoten 
abnorm wenig gehoben und sehr weit vorgesetzt werden, es zeigt sich diese 
Art des Ganges besonders bei langsamer Bewegung und auf glattem Boden. 
Bald kommt die eine, bald die andere Abnormität der Laufbewegung zur 
Erscheinung. Das beweist, dass eine motorische Störung im eigentlichen 
Sinne nicht vorliegen kann. 

Besonders deutlich habe ich diesen plötzlichen Wechsel der Lauf- 
bewegung des Oefteren bei Katzen beobachtet, denen nur eine so unerheb- 
liche Verletzung einer Hemisphäre beigebracht war, dass Zwangsbewegungen 
kaum zur Erscheinung gelangten. Wenn ein solches Thier einige Stunden 
nach der Operation aus seinem engen Kasten auf den Boden gesetzt wird 
und nun eiligst davon laufen will, so macht es zuerst 3 bis 4 Schritte mit 
sanz enormen Excursionen der Beine. Der Erfolg ist der, dass die Katze 
sehr bald das Gleichgewicht verliert und nach der operirten Seite fällt. 
Wenn sich das nun einige Male wiederholt hat, so ändert sich das Bild. 
Langsam sucht das Thier seinen Käfig oder eine Ecke des Zimmers zu 
erreichen, schleifend werden die Beine über den Boden hingezogen und von 
dysmetrischen Bewegungen sehen wir keine Spur mehr. 

Abweichend von der Norm und unzweckmässig ist die Bewegung in 
beiden Fällen; ob sie übermässig oder schwach erscheint, das hängt u. A. 
auch geradezu von dem Temperament des Thieres ab. Gerade unter den 
dem Laboratorium eingelieferten Katzen finden sich viele halbwilde Thiere, 
die durch eine Operation ganz rasend gemacht werden. Bei solchen sieht 
man die beschriebenen schleppenden Bewegungen überhaupt nicht. Diese 
Thiere laufen im Stalle umher ohne Rücksicht darauf, ob sie fallen oder 
nicht, und hier sieht man auch am deutlichsten, dass von einer motorischen 
Schwäche nicht die Rede sein kann. 

Einen weiteren Einblick verschafft uns das Studium der Greifbe- 
wegung des Affen. Wir verstehen darunter natürlich nicht, wie Hering, 
das Ballen der Faust, sondern das unter verschiedenartig abgestufter Mit- 
wirkung der Arm- und Schultermuskeln ausgeführte zweckbewusste Er- 
greifen eines Gegenstandes. Es ist diese Bewegung beim Affen, der sich 
ihrer in der Freiheit auch zur Fortbewegung hauptsächlich bedient, sehr 
vollkommen. Es ist ein Vergnügen, die absolute Sicherheit dieser Bewegung 


ÜBER DIE VERRICHTUNGEN DES KLEINHIENS. 169 


beim normalen Thiere zu beobachten, wenn es bei der schwierigsten Kletterei 
trotz grösster Schnelligkeit sich jedes Haltes bedient, oder mit ruhiger und 
zierlicher Bewegung ein Reiskorn von der Hand des Wärters nimmt. Nun 
hat Luciani schon bemerkt, dass nach einseitiger Kleinhirnexstirpation der 
Affe schwer zu bewegen ist, die entsprechende Hand zum Ergreifen der 
Nahrung zu benutzen. Er deutet diese Schonung der Hand als Symptom 
der Asthenie. Er bezeichnet die Hand der Öperationsseite als „weniger 
activ“, vergisst aber nicht zu erwähnen, dass etwaige Bewegungen „sicher“ 
ausgeführt werden. Auch hier wieder befinden sich meine Beobachtungen 
in einem absoluten thatsächlichen Gegensatze zu denen Luciani’s. 

Wir reichen dem Affen eine Mohrrübe und beobachten Folgendes: 
Der Affe greift zuerst immer mit der Hand der nicht operirten Seite; aber 
wenn wir die Mohrrübe ihm dann immer wieder entziehen und sie ihm 
ganz von der operirten Seite her anbieten, so bequemt er sich schliesslich 
dazu, auch die Hand der verletzten Seite zu benutzen, und da ist zunächst 
die Richtung der Greifbewegung eine abnorme. Der Affe hat offenbar 
das Bestreben, die ihm dargereichte Mohrrübe zu fassen, aber er berührt 
sie nicht einmal, sondern er greift daneben, in die Luft, auf unseren Arm, 
rechts oder links vorbei, zu kurz oder zu weit. Also sicher eine Reihe von 
höchst unsicheren unzweckmässigen Bewegungen. Sie erreichen ihren 
Zweck zunächst überhaupt nicht. Wir betonen, dass sich eine Abweichung 
der Bewegung nach einer bestimmten Richtung nicht feststellen lässt. 

Endlich berührt bei einem der vielen Versuche fast wie zufällig die 
Hand die Mohrrübe; aber noch gelingt es dem Thiere nicht, sie zu er- 
greifen. In diesem Bemühen wirft er sie vielmehr zu Boden. Endlich 
kann er sie nun fassen und aufheben. Das Thier kann also greifen; 
die Synergie ist nicht gestört, die Mohrrübe ist zu Boden gefallen, weil es 
die Synergie nicht zur rechten Zeit anwandte. Der Affe beherrscht also 
nieht nur nicht die Richtung, sondern auch nicht die zweckmässige zeit- 
liche Folge seiner Muskelcontractionen. 

Was nun die Form der Bewegung betrifft, so hatten wir zuerst, als 
wir dem Thiere etwa in der Höhe seiner Schulter die Mohrrübe vorhielten, 
den Eindruck des brüsken, explosiven, meist übermässigen erhalten; aber 
achten wir darauf, wie es nun versucht, sie vom Boden aufzuheben, so 
können wir beobachten, wie es die Hand, die zuerst wieder fehlgreifend 
auf den Boden gefahren ist, von der Seite her langsam und unbeholfen 
schleifend nähert. Wir sehen auch hier wieder, wie bei den Laufbewegungen 
des Hundes, einen Wechsel der Bewegungsform und auch hier können wir 
die eine oder die andere Form der Bewegungsstörung ganz vermissen. 
Sehr phlegmatische Thiere lassen sich auf die explosiven übermässigen 
Bewegungen gar nicht ein, sondern sie suchen die fehlende Sicherheit durch 


170 M. LEWANDOWSKY: 


eine noch grössere Bedächtigkeit zu ersetzen. In der That hat man dann 
den Eindruck, dass, wie Luciani sagt, die Bewegungen weniger activ 
sind, immer aber sind sie unsicher und ungeschickt. Das kann man 
noch Monate nach der Operation demonstriren, wenn man den Thieren 
besonders schwierige Aufgaben stellt, z. B. sie sehr kleine Gegenstände auf- 
nehmen lässt. Unsicher greifen dann die Finger herum, die Eleganz und 
Zierlichkeit der Bewegung ist verschwunden. Allerdings benutzt der Affe 
die Extremitäten der Operationsseite weniger als die der gesunden, aber 
nicht weil sie zu schwach, sondern weil sie ungeschickter sind als die der 
gesunden Seite. 

Es tritt die gestörte Zweckmässigkeit der Greifbewegung darum auch 
beim Klettern besonders deutlich hervor, weil der Affe hier nicht auf den 
Gebrauch einer Seite verzichten kann, sondern sie benutzen muss, so gut 
es geht. Und es geht sehr schlecht. Nichts mehr von sicherem, festem 
Zugreifen. Bis zum Ellenbogen fährt der Arm zwischen den Gitterstäben 
hindurch, er wird wieder zurückgezogen, jetzt: stösst der Handrücken gegen 
den Gitterstab, endlich wird der Stab umfasst, aber nicht von aussen, 
sondern — was beim normalen Affen nie vorkommt — von innen. Die 
Hand gleitet wieder ab, jetzt umfasst sie den Stab nicht zwischen Daumen 
und Zeigefinger, sondern zwischen drittem und viertem. Der Abweichungen 
sind unzählige, ihrem Wesen nach gleich in den Hinter- wie in den 
Vorderhänden. 

Auch beim Hund kann man die Störung der Zweckmässigkeit und 
Sicherheit der Bewegung besonders deutlich machen, wenn man ihm be- 
sondere Aufgaben stellt, ihm z. B. einen Knochen vorwirft, oder ihn anstatt 
auf ebenem Boden über eine Goltz’sche Lattenbrücke laufen lässt. 

Damit sei es genug. Es ist-kein Zweifel, dass die beschriebenen 
Störungen denen der bekannten sensorischen Ataxien gleichen wie ein Ei 
dem anderen, und, da wir motorische Störungen ausschliessen und sen- 
sible Störungen nachweisen konnten, werden wir die beschriebenen 
Störungen füglich als den Ausdruck einer sensorischen Ataxie 
bezeichnen müssen. 


Etwas anderes aber ist die Frage, ob nun alle nach Kleinhirn- 
verletzungen auftretenden Bewegungsstörungen (abgesehen natür- 
lich von den Zwangsbewegungen) als durch Störungen des Muskel- 
sinnes bedingt anzusehen sind, und wir müssen von diesem Stand- 
punkte aus nun noch einmal auf den Luciani’schen Symptomencomplex 
zurückkommen. 

Die Astasie zunächst, die mangelnde Continuität der Bewegung und 
das Schwankende der Haltung, ist ja eins der vornehmsten Symptome der 


ÜBER DIE VERRICHTUNGEN DES KLEINHIRNS. Ikral 


Wurzelataxie des Menschen, der Tabes dorsalis.. Man hat einen durch- 
greifenden Unterschied zwischen dem Romberg’schen Symptome bei der 
Tabes dorsalis und dem Schwanken und Taumeln des Kleinhirnkranken 
denn auch nicht aufrecht halten können.” Auch spricht neuerdings Jen- 
drassik ausdrücklich von dem cerebellaren Gange einer Gruppe von 
Tabikern.”? Nur eins darf man wohl sagen, dass das Schwanken des 
Rumpfes der Kleinhirnkranken im Verhältnisse zu den Störungen der 
Motilität der Extremitäten auffallend ausgesprochen ist, was beim Thiere 
nicht so hervortritt. Das ist ein Punkt, auf den wir noch zurückkommen 
müssen. Es ist das Schwanken als solches jedenfalls ein Symptom, das 
durchaus nicht aus dem Rahmen einer sensorischen Ataxie herausfällt und 
sehr wohl auf Störungen des Muskelsinnes von Ruınpf und Extremitäten 
bezogen werden kann. 

Die mangelnde Continuität, die Astasie der Extremitätenbewegungen 
ist gleichfalls bei der Tabes als saccadirte Bewegung wohl bekannt und 
analog dem Schwanken des Rumpfes zu erklären. 

Eine Asthenie im Sinne Luciani’s als eine über den motorischen 
Nervmuskelapparat gleichmässig vertheilte Schwäche erkennen wir, wie oben 
ausgeführt, als wesentliches Symptom der cerebellarischen Ataxie nicht an. 
Aber wir bezweifeln deswegen gar nicht, dass complieirte Bewegungen, wie 
das Festhalten an einem Stabe, wenn also das Thier sich bestrebt, mit 
Hülfe der gesammten Musculatur des Armes und der Schulter den Körper 
an diesen Stab heranzuziehen, nach ihrem Nutzeffeet gemessen schwächer 
ausfallen auf der Seite, auf der eine Kleinhirnverletzung gesetzt ist; es ist 
das eine fast selbstverständliche Folge des unzweckmässigen Zusammen- 
wirkens der Muskeln. Die motorische Kraft, über welche ein Thier zweck- 
mässig verfügen kann, ist ja auch, wie festgestellt, in hohem Maasse ab- 
hängig von der Sensibilität. Ich war in der Lage, im hiesigen Laboratorium 
die Hunde beobachten zu können, denen von den Herren Bickel und 
Jacob° doppelseitige Durchschneidungen der hinteren Wurzeln für die 
hinteren Extremitäten gemacht worden waren. Diese Thiere zeigen ein 
sogenanntes pseudo-paraplektisches Stadium, sie schleppen die Hinterextremi- 
täten fast wie todte Gegenstände hinter sich her, trotzdem ist die Be- 
wegungsfähigkeit intact. Schwerer als diese Bewegungsstörungen sind die 
nach Kleinhirnverletzung zu beobachtenden auch nicht. Das ganze Bild 
ist allerdings ein wesentlich anderes, weil wir nicht in der Lage sind, die 
Wirkungen der Kleinhirnverletzung auf die hinteren Extremitäten zu be- 
schränken. Vielleicht hat Luciani das im Auge, als er die Bezeichnung 

ı Vgl. Bruns, Geschwülste des Nervensystems. Berlin 1897. 


®2 Jendrassik, Deutsches Archiv f. klin. Mediein. 1901. Heft 1 u. 2. 8.125. 
3 Berichte der Berliner Akademie der Wissenschaften. 1900. 


1,704 M. LEWANDOWSKY: 


Parese für die Schwächezustände nach Kleinhirnverletzung verwarf und 
Asthenie dafür setzte. Das Wort musste aber ein Wort bleiben, weil 
Luciani sich auf die Analyse zweckmässiger Bewegungen überhaupt nicht 
einliess, vielmehr diese für ungestört erklärte und immer nur von einer 
„Abschwächung der potentiellen Energie des Nervmuskelapparates“ sprach, 
und weil er jede sensible Störung nach Kleinhirnexstirpation leugnete. 

Wir dürfen wohl behaupten, dass die Luciani’sche Asthenie, wenn 
wir diesen Namen beibehalten wollen, für die auffallende Inactivität der 
Muskeln bei erhaltener Motilität mit Wahrscheinlichkeit als die Folge einer 
sensiblen Störung aufgefasst werden kann und sich dem Bilde einer sen- 
sorischen Ataxie einfügt. | 

Und was nun die Atonie betrifft, so ist sie in der That gar nicht 
zu trennen von der wesentlichsten von uns gefundenen Störung, nämlich 
dem Defect des Lagesinnes.. Wir erkennen die Atonie an der abnormen 
Beweglichkeit der Glieder. Luciani zwar spricht nur davon, dass sich die 
Glieder leichter flectiren liessen. Wir bemerkten aber schon, dass sich 
die Glieder nicht nur leichter, sondern auch weiter flectiren lassen, und 
nicht nur flectiren, sondern strecken lassen. Führen wir das aber aus, so 
haben wir eben damit eine abnorme Lage hergestellt, die vom Thiere nicht 
corrigeirt wird. In der That betrachten wir die Atonie nur als eine Folge 
der Störung des Lagesinnes; sicher ist sie ein Bestandtheil aller uns be- 
kannten sensorischen Ataxien, sowohl der Wurzel-, als der Rindenataxie.! 

Astasie, Atonie und Asthenie sind Symptome der senso- 
rischen Ataxie. . 

Mit der Atonie steht nun ein Symptom anscheinend in Widerspruch, 
das wir noch behandeln müssen, ein Symptom, das schon von Rudolf 
Wagner? betont worden ist, eine Neigung der Extremitäten kleinhirn- 
verletzter Thiere (Wagner machte die Beobachtung an Tauben), in tonische 
Streckstellung zu gerathen. 

Wir erwähnten schon in dem Abschnitt über die Zwangsbewegungen, 
dass die Extremitäten der operirten Seite, insbesondere die vorderen, fast 
immer sich in Streckstellunge befinden, aber wir hielten es im Gegensatz 
zu Luciani nicht für erwiesen, dass es sich hier um eine Reizerscheinung 
handle. In der ersten Zeit macht jedenfalls die Streckstellung der Extremi- 
täten den Eindruck des Zwangsmässigen, und bei einseitiger Operation ver- 
schwindet sie auch ziemlich bald vollständig. Aber bei Totalexstirpation 
kann sie noch nach Monaten jederzeit hervorgerufen werden, und hier kann 


! Wir betonen nochmals, dass die Atonie an und für sich ein durchaus constantes 
Symptom ist, wenn sie auch von Bickel geleugnet wird (Deutsche med. Wochenschr. 
1901. Nr. 49/50). 

” R. Wagner, Göttinger gelehrte Anzeigen. 1858. Bd. Ill. 8. 321. 


ÜBER DIE VERRICHTUNGEN DES KLEINHIRNS. 173 


es sich dann nicht mehr um eine Reizung handeln. Man braucht nämlich 
den Hund, der anscheinend ganz „atonisch‘“ in seinem Käfig liegt, nur an 
der Haut des Rückens in die Höhe zu heben und versuchen, ihn auf die 
Erde zu stellen. Sofort werden die Extremitäten, insbesondere die vorderen, 
stocksteif, dabei ist der Fuss sohlenwärts gebeugt, so dass also der Hund 
mit den Zehen oder sogar mit dem Dorsum des Fusses den Boden be- 
rührt. Wer den Hund so sieht, kann keinen anderen Eindruck haben, 
als den einer ausgesprochenen Contraetur. Wir können den Hund so 
an die Wand lehnen, er bleibt wie auf Stelzen, unter starkem Schwanken 
einige Secunden stehen, plötzlich erschlaffen die Beine, der Hund fällt 
zusammen, die Contractur ist verschwunden, um mit der Sicherheit eines 
Reflexes wieder einzutreten, wenn wir versuchen, den Hund wieder auf- 
zurichten.” Andeutungen zu solcher Streckstellung finden sich nun häufig, 
so auch, wenn der Hund sich selbst auf den Vorderbeinen aufrichtet. Ganz 
allgemein glaube ich feststellen zu können, dass sie jedes Mal dann auf- 
treten, wenn der Hund versucht, Widerstand zu leisten. In das Schema 
von der Astasie, Atonie, Asthenie passen sie gar nicht. Dagegen glauben 
wir sie mit grösster Wahrscheinlichkeit gleichfalls als Störungen der Coordi- 
nation ansehen zu dürfen. | 
_ Der Hund soll die Aufgabe lösen, das Gewicht seines Körpers zweck- 
mässig auf seine Gliedmaassen zu vertheilen, so dass es sicher und ruhig 
unter Verwendung eines Minimums von Muskelspannung getragen wird. 
So lässt sich die Erhaltung des „Gleichgewichtes“ umschreiben. Da diese 
Aufgabe ein zweckmässiges Zusammenwirken fast aller Muskeln des Körpers 
erfordert, so ist sie sicherlich nicht zum Wenigsten eine Aufgabe des Muskel- 
Sinnes.. Nur die motorische Theorie der Ataxie (Friedreich) konnte aus 
dieser Aufrechterhaltung des Gleichgewichtes in der Ruhe eine besondere 
Form der „statischen Ataxie“ machen (gegenüber der dynamischen), eine 
Unterscheidung, die, wenn wir die Ataxie auf eine Störung in der zweck- 
mässigen Vertheilung der Muskelspannungen zurückführen, unhaltbar wird. 
Herbert Spencer’s Hypothese, der sich auch Ferrier angeschlossen hat, 
das Grosshirn sei das Organ der Coordination in der Zeit, das Kleinhirn 
das der Coordination im Raume, ist doch wohl nur ein geistreiches Spiel 
mit Worten. Nur das weiss Jeder aus Erfahrung, dass das Verharren in 
einer ruhigen Haltung sehr viel grössere Ansprüche an die zweckmässige 
Coordination der Muskelspannung stellt, als die Bewegungen des täglichen 
Lebens. 5 
Unser Hund hat nun zweifellos das Bestreben, sich aufrecht zu halten, 


1! Mit der Steigerung der Sehnenreflexe hat diese Streckstellung nachweislich nicht 
das Geringste zu thun 


174 M. LEwANDowsKY: 


und trifft auch die prineipiell richtige Stellung der Beine, indem er sie 
streckt, aber jene zweekmässige Öontraction der Muskeln, die das Stehen 
ermöglicht, kann er nicht finden. Entweder er überstreckt die Beine, oder 
er lässt sie vollständig erschlaffen und fällt zusammen. Die eigenthümliche 
Streckstellung auf der einen, die totale Erschlaffung auf der anderen Seite, 
sind die beiden Pole der Unzweckmässigkeit. Der Raum zwischen beiden 
wird ausgefüllt durch alle jene atactischen, speciell astatischen Erscheinungen, 
die wir bei weniger ausgedehnten Verletzungen oder bei fortschreitender 
Besserung der Symptome sehen.! 


Schliesslich sei noch hingewiesen auf ein besonderes interessantes Gebiet, 
auf dem sich Störungen der Bewegung bemerkbar machen, d. i. die Stimm- 
gebung. Andeutungen in dieser Richtung finden wir bei Thomas, der 
z. B. einmal im Protokolle bemerkt, „depuis l’operation la chienne n’aboie 
pas“ (Cervelet p. 257), offenbar nur eine zufällige Bemerkung, denn für ihn 
ist das Kleinhirn nun einmal das Organ des „Gleichgewichtes“. Wersiloff? 
behauptet, Bellen eines am Kleinhirn operirten Hundes konnte nicht ein 
einziges Mal gehört werden, und bezieht das auf eine psychische Störung, 
die auch nach anderen Richtungen merkwürdigerweise bei seinen Hunden 
hervortrat. 

Ohne von diesen Bemerkungen Kenntniss zu haben, bekam ich selbst 
bald auch den Eindruck, dass hier etwas nicht in Ordnung sei. Ich habe 
daher bei allen meinen Hunden vor und nach der Operation auf das Bellen 
geachtet und glaube Folgendes feststellen zu können: Es kann keine Rede 
davon sein, dass am Kleinhirn operirte Hunde nicht mehr bellen.” Schon 
am dritten Tage nach einer totalen Kleinhirnexstirpation habe ich einen 
Hund bellen hören, und nach kleineren Verletzungen ist überhaupt kein 
Unterschied zu bemerken. Aber nach grösseren Verstümmelungen oder 
Totalexstirpation bellen die Hunde zunächst seltener, und zwar auch dann, 
wenn die unmittelbaren Folgen der Exstirpation längst überwunden sind; 
es bedarf stärkerer psychischer Anlässe, um sie zum Bellen zu bewegen. 
Während aber früher der Hund über alle Modulationen von dem Gekläff 


! In einer Arbeit, welche nach der Niederschrift dieser Arbeit erschienen ist, habe 
ich diese Abnormitäten des Tones auch als Bestandtheil der cerebralen Ataxie des 
Hundes nachgewiesen, und als gemeinsame Bezeichnung für atonische und hypertonische 
Zustände die Bezeichnung Dystonie vorgeschlagen. Hier ist auch ausgeführt, dass 
ein von der Lehre von der Bewegung abzutrennendes Problem eines ‚„Tonus“ überhaupt 
keine Berechtigung hat (Journal für Psychologie und Neurologie. 1902. Nr. 1/2). 

2 Wersiloff, Autoreferat aus der Gesellschaft der Neurologen zu Moskau. 
27. November 1898. Deurologisches Centralblatt. Bd. XVIII. S. 328. 

3 Das Heulen der Hunde ist so ungestört, dass Luciani es als eine regel- 
mässige Reizerscheinung ansieht, worin ich ihm allerdings nicht beipflichten kann, 


ÜBER DIE VERRICHTUNGEN DES KLEINHIRNS. 175 


der freudigen Erwartung bis zum wüthenden Streitruf verfügte, klingt jetzt 
das Bellen eintönig, ist explosiv, meist höher als früher, gewöhnlich ein 
einmaliger Tonstoss, der nur selten wiederholt wird. Je kleiner die Ver- 
letzung, um so schneller gleicht sich die Störung wieder aus, ist aber doch 
noch nach Monaten zu bemerken. Die Motilität der Stimmbänder ist intact, 
ebenso das Gehör. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass wir es auch 
hier mit einer Störung in dem zweckmässig abgestuften Zusammenwirken 
der betreffenden Muskeln zu thun haben, die wohl durch Störungen des 
Muskelsinnes bedingt sein könnte. Es ist hervorzuheben, dass auch beim 
Menschen mit Kleinhirnerkrankungen oft eine scandirende Sprache beob- 
achtet wird, die von den Meisten als ein Nachbarschaftssymptom angesehen 
wird, während z. B. Oppenheim! doch die Möglichkeit in Betracht zieht, 
dass sie eine Folge von Incoordination sei. Man kann nicht verlangen, 
dass die Hunde scandirend bellen, aber analog zu erklären dürften doch 
die Störungen der Lautgebung sein. 

Wenn die Störungen, welche Verletzungen des Kleinhirns bewirken, 
zu beobachten sind bei allen willkürlichen Verrichtungen, welche einer 
zweckmässigen Abstufung fähig sind, so fehlen sie nicht nur bei den un- 
willkürlichen, sondern auch bei jenen willkürlichen Bewegungen, welche einer 
Abstufung nicht fähig sind, das ist z. B. der Schluckact, der ja durch 
eine willkürliche, aber nicht abstufbare Bewegung wenigstens eingeleitet 
wird. Im Gegensatz zu Luciani’s Thieren, die in den ersten Tagen nach 
der Operation immer künstlich ernährt werden mussten, schluckten meine 
Hunde anstandslos, sobald sie aus dem Morphiumrausch erwacht waren. 
Das 14tägige Kätzchen, welchem ich das ganze Kleinhirn weggenommen 
hatte, lag eine halbe Stunde nach der Operation wieder an den Zitzen der 
Mutter und starb erst nach 3 Wochen, nicht weil es sich nicht ernähren 
konnte, sondern weil die Mutter es nicht mehr ernähren wollte. 

Auffallend gering sind auch die Störungen der Augenbewegung, die 
ja auch in der That mehr Synergie, als zweckmässig abgestufte Bewegung 
im Sinne der Extremitätenbewegung ist. Auch nach Ablauf der Zwangs- 
bewegungen glaubte ich jedoch hier oft eine gewisse Unsicherheit des Blickes 
eststellen zu können, jedenfalls bestehen hier keine groben Abnormitäten. 

So vereinigen sich also auch diese Beobachtungen zu dem Nachweise, 
dass die Kleinhirnataxie eine sensorische Ataxie ist, sie beruht 
auf einer schweren Störung des Muskelsinnes, die zur Folge 
hat, den Verlust der Fähigkeit, die Bewegungen abzustufen, die 
verhältnissmässige Stärke und Schnelligkeit und die Reihen- 
folge der einzelnen oder synergisch verbundener Muskelcon- 


ı Oppenheim, Zehrbuch der Nervenkrankheiten. 1394. 8. 630, 


176 M. LEWANDOWSKY: 


tractionen zu regeln, daher die Bewegungen den ausgesprochenen 
& ‘2: - . 
Öharakter der Unzweckmässigkeit erhalten. 


Wenn also auch im Bilde der Kleinhirnataxie sich ein motorischer 
Ausfall nicht geltend macht, so können wir die Thatsache doch nicht 
übergehen, dass sich durch Reizung des Kleinhirns, auch abgesehen von 
den Zwangsbewegungen, Bewegungen der Extremitäten und der Gesichts- 
musculatur erzielen lassen, die Nothnagel! zuerst beschrieben hat und 
die wir ja auch nach eigenen Versuchen im Vorhergehenden geschildert 
haben (vgl. S. 150). Sie haben ungefähr den Charakter der durch Reizung 
der motorischen Sphäre ausgelösten Bewegungen, sind aber fast ausschliess- 
lich gleichseitig, sehr viel schwächer, und zeichnen sich durch eine auf- 
fallend lange Latenz aus. Hierin stimmen unsere Untersuchungen mit 
denen Nothnagel’s überein und widersprechen durchaus denen von 
Probst?, der sie ım Gegentheil als „blitzähnlicher und clonisch‘“ be- 
zeichnet. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass diese Bewegungen durch die 
Kleinhirnvorderstrang- und Kleinhirnvorderseitenbahn eventuell unter Ver- 
mittelung des Deiters’schen Kernes ausgelöst werden. Im Bilde der 
Kleinhirnataxie kommt ein Ausfall dieser: motorischen Bahnen nicht zur 
Geltung. Das erscheint begreiflich, wenn wir erwägen, dass, wie es fest- 
gestellt ist (Starlinger), selbst der Verlust der Pyramidenbahn vom Thiere 
sehr rasch ausgeglichen werden kann. In der That bleiben ja noch nach Klein- 
hirnexstirpationen die ganz überwiegende Masse der motorischen Projections- 
bahnen intact. Daran, dass auch die Kleinhirnrückenmarkshahn motorische 
Impulse führt, soll gar nicht gezweifelt werden. Ihr Ausfall wird jedoch von 
den übrigen motorischen Bahnen (der Grosshirnrinde, der Vierhügel, des 
rothen Kernes u. s. w.) sogleich ausgeglichen. Für durchaus irrthümlich und 
unerwiesen halten wir die Ansicht von Bruns?, der die „Gleichgewichts- 
störung“ aus dem Ausfall von centrifugalen Fasern, die zu den für die Er- 
haltung des Gleichgewichtes sorgenden Muskeln des Rumpfes gehen sollen, 
zum Theil erklären und sogar eine Gruppe von Kleinhirnerkrankungen ab- 
trennen will, welche auf dem Ausfalle dieser motorischen Bahnen beruhen. 

Die cerebellare Ataxie ist eine einheitliche sensorische Ataxie. 


Nachdem wir so glauben, den allgemeinen Charakter der nach Klein- 
hirnverletzungen auftretenden Bewegungen festgestellt zu haben, ist nun 
noch zu prüfen, inwieweit eine Localisation im Kleinhirn möglich ist. 
Es ist das Verdienst von Luciani, in aller Schärfe nachgewiesen zu 


ıA.2a.0. 
? Probst, Jahrbücher der Psychiatrie und Neurologie. 1901. 8. 181. 
®? Bruns, Zneyelopäd. Jahrb. 1900. 


ÜBER DIE VERRICHTUNGEN DES KLEINHIRNS. 07 


haben, dass der Einfluss der Kleinhirnverletzung ein wesentlich gleich- 
seitiger ist. Dass er sich aber auch auf die gekreuzte Seite erstreckt, 
geht schon daraus hervor, dass nach einseitiger Exstirpation die Störungen 
sich bis zu einem hohen Grade wieder ausgleichen, bis zu einem viel höheren 
und sehr viel schneller, als wenn das ganze Kleinhirn exstirpirt wird. Da- 
gegen muss ich im Gegensatze zu Luciani und in Uebereinstimmung mit 
Ferrier behaupten, dass normaler Weise die Verbindung der beiden 
Hälften nicht von wesentlicher Bedeutung ist, da ein Medianschnitt durch das 
Kleinhirn nur sehr schnell vorübergehende Folgen hat. Ich führte dieses 
Experiment so aus, dass ich nur den eaudalen Theil des Wurmes freilegte, ein 
sichelförmiges Messer in der Medianlinie zwischen verlängertem Marke und 
Kleinhirn vorschob und nach oben durchzog; dadurch vermeidet man einen 
wesentlichen Hirnprolaps, der immer eintritt, wenn man, wie Luciani, den 
Wurm vollständig freilegt und von oben nach unten durchschneidet. Dass 
Luciani nicht nur einen linearen Medianschnitt, der bei der Obduction kaum 
mehr nachzuweisen ist, gemacht, sondern schwere Zerstörungen des Wurmes 
angerichtet hat, geht aus seiner Fig. 5 auf’s Deutlichste hervor. 

Was die Bedeutung des Wurmes einerseits und der Hemisphären 
andererseits betrifft, so lässt sich eine verschiedene Function dieser beiden 
Theile nicht nachweisen. Es kann vielmehr der Ausfall des Wurmes durch 
die Hemisphären und der der Hemisphären durch den Wurm in sehr hohem 
Maasse compensirt werden. Hierin befinde ich mich wieder in Ueberein- 
stimmung mit Luciani. Es lässt sich jedoch das Eine sagen, dass im 
Allgemeinen gleich grosse Zerstörungen um so erheblichere 
Erscheinungen nach sich ziehen, je näher der Mittellinie sie 
angelegt sind, dass also auch Wurmverletzungen im Allgemeinen mehr 
in die Erscheinung treten als solche der Hemisphären. Es erklärt sich so 
die besonders von Nothnagel hervorgehobene Häufigkeit der Fälle, in 
denen Erkrankungen der Hemisphären beim Menschen ganz symptomlos 
verlaufen. Dagegen habe ich eine Localisation im Kleinhirn nach Extre- 
mitätenregionen nicht feststellen können. Von vornherein war ich geneigt, 
eine solche Localisation als eim Postulat anzusehen, und ich habe eine 
grosse Anzahl von Hunden dazu verwandt, um in ähnlicher Weise, wie 
Hermann Munk das an der Grosshirnrinde gethan hat, die Folgen 
kleiner umschriebener Verletzungen zu prüfen. Wohl schien einige Male 
das Vorder- oder Hinterbein an der Ataxie mehr betheiligt, aber ich habe 
nie einen Fall beobachet, wo die Störung wirklich nur auf eine 
Extremität beschränkt gewesen wäre. 

Luciani behauptet, dass das Kleinhirn als Ganzes auf die hinteren 
Extremitäten einen grösseren Einfluss hat als auf die vorderen. Die That- 


sache ist unbestreitbar, dass beim Hunde nach symmetrischen Läsionen 
Archiv f. A. u. Ph. 1903. Physiol. Abthlg. 12 


178 M. LEWANDOWSKY: 


oder nach Totalexstirpation die Bewegung der hinteren Extremitäten länger 
geschädigt bleibt als die der vorderen. Ich zweifle jedoch daran, dass dieses 
Verhalten die Luciani’sche Auslegung nöthig macht, glaube vielmehr, 
dass der Hund, der sich immer zuerst auf den vorderen Extremitäten auf- 
zurichten versucht, diese mehr übt als die hinteren, und dass so das Zurück- 
bleiben der Bewegungsfähigkeit der hinteren zu erklären ist. Ein durch- 
greifender Unterschied wäre ohnehin nicht gegeben. 


Es bleibt nunmehr übrig, die Stellung des Kleinhirns in der 
Gesammtheit des Centralnervensystemes zu erörtern. Hier stellen 
wir zunächst fest, dass sich Beziehungen des Kleinhirns zur Psyche, zum 
Gehör oder ein Einfluss auf die Körperernährung, „trophische Funetionen“, 
nicht nachweisen lassen." Auch die Glykosurie, welche vielfach bei Klein- 
hirnerkrankungen und Verletzungen beschrieben ist, ist keine nothwendige 
Folge selbst totaler Kleinhirnexstirpation. 

Es handelt sich also auch hier nur um die Bewegungsstörungen nach 
Kleinhirnverletzungen, und da wir die Zwangsbewegungen schon besprochen 
haben, um die Frage, wie verhält sich die cerebellare Ataxie zu den anderen 
bekannten Formen der Ataxie? In welchen Beziehungen steht also das 
Kleinhirn zu denjenigen Theilen des Nervensystemes, deren Verletzung oder 
Ausschaltung gleichfalls Ataxie hervorruft. 

Die Beziehungen zu der Wurzelataxie und zur Tabes dorsalis des 
Menschen sind gegeben. Wie wir in der anatomischen Einleitung aus- 
führten, bestehen mannigfache indirecte Verbindungen zwischen hinteren 
Wurzeln und Kleinhirn, vornehmlich durch die Flechsig’sche Kleinhirn. 
seitenstrangbahn und das Gowers’sche Bündel, und es würde sich schliessen 
lassen, dass diese beiden Bahnen, wenigstens zum Theil, der Leitung 
des Muskelsinnes dienen. 

Als ein weiteres peripheres Organ, das nach J. R. Ewald’s Entdeckung 
Beziehungen zum Muskeltonus und Muskelsinn hat, kommt das Labyrinth 
in Betracht. Ewald und sein Schüler B. Lange behaupten, wie schon 
erwähnt, dass die Kleinhirnsymptome mit den Labyrinthsymptomen nichts 
zu thun haben. Wir haben schon bemerkt, dass wir diesem Schlusse nicht 
folgen können, aber so viel ist jedenfalls sicher, dass die Ataxie nach Klein- 
hirnexstirpationen ganz ausserordentlich viel stärker und dauernder ist als 
selbst die nach doppelseitiger Labyrinthentfernung. Für die Kleinhirnataxie 
kann also das Labyrinth nur von ganz untergeordneter Bedeutung sein. 

Nun aber kann das Kleinhirn auch nicht das einzige Centralorgan 


! Die Muskelatrophie nach totaler Exstirpation ist ohne Zwang als Folge der 
Inactivität zu deuten, 


ÜBER DIE VERRICHTUNGEN DES KLEINHIRNS. 179 


für die ihm hauptsächlich durch die hinteren Wurzeln zugeleiteten Impulse 
des Muskelsinnes sein. Denn selbst nach totaler Kleinhirnexstirpation gehen 
die Muskelstörungen doch wieder bis zu einem gewissen Grade zurück. 
Inwieweit quantitativ eine Rückbildung überhaupt möglich ist, wird erst 
eine über Jahre fortgesetzte Beobachtung solcher Thiere erkennen lassen. 
Aber schon die Feststellung der Thatsache macht die Annahme nothwendig, 
dass neben dem Kleinhirn noch andere Theile des Centralnervensysiemes 
Sensationen des Muskelsinnes empfangen und im Dienste der Bewegung ver- 
werthen. Das wichtigste dieser Organe ist die Grosshirnrinde. Ob es 
das einzige ist, würde sich praktisch wohl nur durch die Vereinigung 
totaler Kleinhirnexstirpation mit totaler Grosshirnexstirpation entscheiden 
lassen, ein Experiment, das wenig Aussicht hat, verwirklicht, zu werden. 
Dagegen gelingt es wohl, partielle und totale Kleinhirnexstirpation mit 
Verletzungen der motorischen Zone zu combiniren, ein Versuch, den zuerst 
Luciani ausgeführt hat. Luciani hat bei einem Hunde die Rinde beider 
Gyri sigmoidei grossentheils zerstört und fast das ganze Kleinhirn ab- 
getragen. Der Hund war noch im Stande, sich gegen eine Wand gestützt 
unter grossen Schwierigkeiten aufrecht zu erhalten. Ich selbst habe zwei 
Hunden, 6 Wochen nach totaler Kleinhirnexstirpation, auch noch die Rinde 
des rechten Gyrus sigmoideus exstirpirt, und bei einer Reihe von Hunden 
und einem Affen (vgl. Protokoll 4) Kleinhirnzerstörungen von erheblicher 
Ausdehnung mit Rindenverletzungen verbunden. Es ergab sich in Ueber- 
einstimmung mit den Resultaten Luciani’s, dass die Störungen der Moti- 
lität deutlich stärker waren und langsamer zurückgingen, als wir das sonst 
bei entsprechenden Rindenverletzungen zu sehen gewohnt sind. Allerdings 
besserten auch sie sich wieder in recht erheblichem Maasse. 

Dass überhaupt die Folgen der Kleinhirnexstirpation noch durch Gross- 
hirnverletzungen gesteigert werden können, macht nun zunächst den Schluss 
nothwendig, dass das Kleinhirn nicht etwa ausschliesslich eine Zwischen- 
station zum Grosshirn auf der Bahn des Muskelsinnes ist, dass es vielmehr 
Bahnen des Muskelsinnes giebt, welche ohne Vermittelung des Kleinhirns 
zum Grosshirn ziehen. Es besteht jedoch durchaus die Wahrscheinlichkeit, 
dass das Grosshirn auch von Sensationen des Muskelsinnes erreicht werden 
kann, welche das Kleinhirn passirt haben. Dass umgekehrt nicht etwa ein 
beträchtlicher Theil der Sensationen des Muskelsinnes über das Grosshirn 
zum Kleinhirn geleitet wird, wird mit grosser Wahrscheinlichkeit durch die 
Beobachtungen von Goltz an seinem Hunde obne Grosshirn bewiesen, bei 
dem sich Störungen des Muskelsinnes nach einigen Monaten kaum noch con- 
statiren liessen. Welchen Sinn hat nun die Vertheilung des Muskel- 
sinnes auf zwei, bis zu einem gewissen Grade sicherlich von 
einander unabhängige Centralorgane? 

1 


180 M. LEWANDOWSKY: 


Zur Beantwortung dieser Frage führt uns eine kurze Vergleichung der 
Bewegungsstörungen nach totaler Kleinhirnexstirpation einerseits und totaler 
Grosshirnexstirpation andererseits, welch letztere von Goltz so eindrucks- 
voll beschrieben worden ist. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass 
die objective Störung der Bewegungsmechanik nach Kleinhirnexstirpation 
ungleich grösser ist, als nach Abtragung der gesammten Grosshirnrinde. 
Der Goltz’sche Hund ohne Grosshirn läuft schon 3 Tage nach Vervoll- 
ständigung der Operation im Zimmer umher, ohne zu fallen, rutscht nur 
auf glattem Boden noch aus, während der Hund ohne Kleinhirn dauernd 
die hochgradigste Ataxie zeigt, wenn er sich schliesslich auch mit Mühe 
fortbewegen kann. Das Maass von Arbeit, das der grosshirnlose Hund 
den Tag über durch Bewegung leistet, ist sehr gross, denn sein Ruhe- 
bedürfniss ist gering. Aber die ganze Arbeit kommt auf Rechnung des 
ewig eintönigen Umherwanderns im Käfig, das in seiner Intensität nur 
etwas noch durch den Hunger, oder besser das Nahrungsbedürfniss ver- 
stärkt wird. Nie versucht der Hund eine Zweckbewegung mit der Pfote 
zu machen. Es ist ganz im Gegensatze zum kleinhirnlosen Hunde viel 
weniger die Ausführung der Bewegung gestört, als ihre mannigfache Ver- 
werthung; denn der Hund ist „tiefblödsinnig“. Dem entspricht, dass, trotz- 
dem der Hund abnorme Lage seiner Glieder ziemlich prompt regulirt, ihm 
„Aeusserungen des Verständnisses für anomale Lagen vollständig fehlen“. 

Schon Hitzig! hat darauf aufmerksam gemacht, dass Hunde nach 
Rindenverletzungen nicht nur Störungen des Lagesinnes zeigen, sondern 
dass sie sich auch mit den anderen Sinnen, insbesondere mit dem Gesichts- 
sinn, keine Vorstellung von der Lage ihrer Glieder bilden können. Das 
Thier,.dem das Centrum für die Vorderpfote entfernt ist, verhält sich so, 
„als ob für dieses Glied das Sehvermögen nicht existire“, so dass es blind- 
lings den Fuss über den Tischrand in’s Leere setzt. Dieses Symptom zeigt 
der Hund ohne Kleinhirn nicht. Er geht nicht sehenden Auges in sein 
Verderben. Wir haben dem entgegen schon oben bemerkt, dass der Hund 
sehr häufig versucht, abnorme Stellungen zu corrigiren, wenn er durch den 
Gesichtssinn auf sie aufmerksam gemacht wird, und daran liegt es denn 
auch, dass die Störungen des Muskelsinnes nach Verletzungen des Gross- 
hirns so sehr viel auffallender und leichter zu demonstriren sind, als nach 
Kleinhirnverletzungen (vgl. S. 162). Es werden gestört durch Grosshirn- 
verletzung alle auf die Lage der Glieder bezüglichen Vorstellungen, durch 
Kleinhirnverletzung fast ausschliesslich die durch den Muskelsinn, jedenfalls 
nicht die durch den Gesichtssinn vermittelten. 


! Hitzig, Dies Archiv. 1874. Physiol. Abthlg. S. 440; siehe auch: Hughlings 
Jackson und die motorischen Rindencentren. Berlin 1901. S. 31. 


Er 


ÜBER DIE VERRICHTUNGEN DES KLEINHIRNS. 181 


Wie kommt es nun, dass trotz alledem die Ataxie der Lauf bewegung 
nach Grosshirnexstirpation so sehr viel schwächer ist als nach totaler Klein- 
hirnexstirpation? Der Goltz’sche Hund beweist, dass zur Ausführung einer 
an und für sich zweekmässigen Laufbewegung die Bildung von bewussten 
Bewegungsvorstellungen nicht nothwendig ist, und dass zweitens der 
Muskelsinn die Bewegung noch andersals durch die Verarbeitung 
zur bewussten Vorstellung beeinflusst. Sonst dürfte eben die sen- 
sorische Ataxie der Laufbewegung nach Kleinhirnexstirpation nicht grösser 
sein, als nach Entfernung der Grosshirnrinde. 

Es vertritt das Grosshirn die höchste Bewusstseinsstufe, welche der 
Organismus erreicht, sowohl in der Auslösung der Bewegung, wie in der 
Vermittelung der Empfindung. Auch wenn man sich der Anschauung von 
H. Munk anschliesst, dass die Extremitätenzonen für die Auslösung der 
„Einzelbewegungen“ bestimmt seien, kann doch eine solche Definition für die 
Function der gesammten Grosshirnrinde nicht genügen; die Feststellungen, 
welche wir über die Veränderung der Einzelbewegungen durch Kleinhirn- 
verletzung gemacht haben, können auch für die Munk’sche Lehre nicht 
gleichgültig sein, und es ist noch besonders zu bemerken, dass nach aus- 
gedehnten Kleinhirnverletzungen genau wie nach Rindenverletzung die 
Einzelbewegungen der Extremitäten zuerst von Mitbewegungen anderer 
Glieder begleitet sind. Es ist also die Ausführung einer Einzelhandlung 
nicht nur vom Grosshirn, sondern auch von anderen Theilen des Nerven- 
systemes abhängig. 

Das nach Abtragung der gesammten Grosshirnrinde die Intention 
von Einzelbewegungen unterbleibt, ist, wie Goltz bemerkt, selbstverständ- 
lieh, denn es fehlen ja dann sämmtliche bewusste Bewegungsvorstellungen, 
die sicherlich die Vorbedingung jeder zweckmässigen Einzelhandlung sind. 
Es ist in der That für eine Definition der Gesammtverrichtungen des 


, Grosshirns die Hereinziehung des Bewusstseins nicht zu vermeiden. Wir 
, ziehen den Schluss nicht, dass diejenigen Bewegungsformen, welche nach 


Grosshirnexstirpation übrig bleiben, ohne Bewusstsein zu Stande kommen, 
jedenfalls ist ihre Bewusstseinsstufe eine sehr viel niedrigere, und aus dem 
Missverhältnisse in der Intensität der cerebralen und der cerebellaren Ataxie 


' folst nun unmittelbar, dass die im Kleinhirn zu verarbeitenden 


Sensationen des Muskelsinnes zur Regulirung dieser auf einer 


‚ tiefen Stufe des Bewusstseins vor sich gehenden Bewegungen 
. ausreichen. 


Wenn sich diese Erklärung auf Thatsachen stützen kann, auf eine 
objective Vergleichung der nach Grosshirn- und Kleinhirnexstirpation zu 
beobachtenden Störung, so ist das daher möglich, dass wir im Experiment 


in der glücklichen Lage sind, einerseits die höheren Bewusstseinsvorgänge 


\ 
182 M. LEWANDOWSKY: 


ausscheiden zu können und andererseits jene andere, auf einer sehr tiefen 
Stufe des Bewusstseins (oder, wie wir kurz sagen können, unter der Schwelle 
des Bewusstseins) bleibende Componente der Bewegung demonstriren zu 
können. Es dürfte aber wohl kein Widerspruch gegen die Annahme sich 
erheben, dass praktisch fast jede Bewegung beide Componenten enthält. So 
sicher eine Bewegungsvorstellung zur Auslösung einer Zweckbewegung er- 
forderlich ist, so sicher ist es unmöglich, dass eine jede Bewegung bis zu 
ihrem Ende vom Bewusstsein verfolgt wird. Sehen wir doch auch beim 
Thiere als Folge der Kleinhirnverletzung eine Ataxie jeder willkürlichen 
Bewegung. Nehmen wir die obige Definition der Aufgabe, welche dem 
Kleinhirn bei der Bewegungsregulirung zufällt, an, so würden wir also in 
der Kleinhirnataxie eine Störung der Bewegung erblicken in dem Theile, 
in welchem die Bewegung nicht mehr von der Grosshirnstufe 
des Bewusstseins controlirt wird oder controlirt werden kann. 
Ich glaube, dass es auch abgesehen von der Regulirung der Bewegung 
durch das Kleinhirn, die Aufgabe der Klinik sein wird, eine Aufgabe, 
welche von ihr bisher fast ausschliesslich für die Lehre von der Sprache 
gelöst worden ist, die corticale und die subcorticale Componente der Be- 
wegung von einander zu trennen und noch weiter zu differenziren. 


An dieser Stelle möge nun noch eine Beobachtung Platz finden, die 
mit dem Muskelsinn und der Ataxie wenig zu thun hat, die es aber wahr- 
scheinlich macht, dass das Kleinhirn wenigstens beim Thiere auch noch für 
andere Sensationen als solche des Muskelsinnes ein subcorticales Central- 
organ ist, nämlich für Sensationen des Hautsinnes. Es fällt auf, dass 
die Schmerzempfindlichkeit der Haut beim Hunde nicht unerhebliche Zeit 
nach halbseitiger Kleinhirnexstirpation sich abgeschwächt erweist, und beim 
Thiere mit totaler Kleinhirnexstirpation ist noch sehr lange Zeit (Monate) 
nach der Operation eine gewisse Stumpfheit der Hautempfindlichkeit 
nachzuweisen. Ich würde kaum auf diese, denen anderer Autoren wider- 
sprechenden Beobachtungen Werth gelegt haben, wenn nicht ein objectives 
Symptom der gestörten Hautsensibilität constant nach Kleinhirnverletzung 
zu beobachten wäre, d. i. die Störung der Berührungsreflexe. 

Die Berührungsreflexe sind von H. Munk in seinen Versuchen über 
die Grosshirnrinde einer eingehenden Prüfung unterzogen worden, und 
H. Munk kam zu dem Schlusse, dass ihr Zustandekommen an die Inte- 
grität der Extremitätenzone gebunden wäre.! 

Unter Berührungsreflexen versteht H. Munk kurze und schwache 
Bewegungen, welche auf leichtes Berühren der Haut eintreten, wenn man 


'H. Munk, Sitzungsber. d. Berliner Akad. d. Wissensch. 1892. Nr. XXXVI. 


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ÜBER DIE VERRICHTUNGEN DES KLEINHIRNS. 183 


die Haut des Fusses berührt, sich zunächst auf die Zehen oder den Fuss 
beschränken und mit wachsendem Reiz erst zu den oberen Gliedern der 
Extremitäten fortschreiten. Diese Berührungsreflexe sind nun regelmässig 
nach halbseitiger Exstirpation des Kleinhirns auf der verletzten Seite zu- 
nächst aufgehoben, stellen sich zwar allmählich wieder her, bleiben aber 
noch lange Zeit schwächer als auf der gesunden Seite. Noch länger fehlen 
sie nach totaler Kleinhirnexstirpation, wenn sie auch schliesslich wieder 
zurückkehren, aber immer recht schwach bleiben. Erhalten sind hier nur, 
wie bei Grosshirnverletzungen, die Gemeinreflexe H. Munk’s, lange und 
starke Bewegungen der Glieder in ihrer Totalität. 

Wir sehen in dem Ausbleiben der Berührungsreflexe einer- 
seits ein objectives Zeichen einer Störung der Hautsensibilität; 
andererseits ist es von dem so eben entwickelten Standpunkte aus inter- 
essant, dass bei einer verhältnissmässig so einfachen Bewegung wie dem 
Berührungsreflex, schon eine corticale und eine subcorticale Componente 
betheiligt sind. 


Von diesem Standpunkte aus werfen wir nun schliesslich noch einen 
Blick auf das Krankheitsbild der cerebellaren Ataxie des Menschen. 
Allgemein lesen wir in den klinischen Lehrbüchern die Klage, dass das 
Krankheitsbild der Experimente mit dem der Klinik nicht in Ueberein- 
stimmung zu bringen ist. Es ist mir nicht zweifelhaft, dass im Princip 
die Verrichtungen des Kleinhirns beim Menschen und Thier gleich sind; 
es muss jedoch zugegeben werden, dass in den Einzelheiten weitgehende 
Differenzen bestehen. Insbesondere unterliegt es keinem Zweifel, dass die 
Störungen der aufrechten Haltung, das Schwanken und Taumeln beim 
Menschen gegenüber den atactischen Störungen der Extremitäten so sehr 
hervortreten, dass ja darauf gerade die Besonderheit der cerebellaren 
Ataxie begründet worden ist. Es liegen aber eine grosse Anzahl von Fällen 
vor, in denen auch von Ataxie, Incoordination, Ungeschicklichkeit der Ex- 
tremitäten die Rede ist, und es ist mir im höchsten Grade wahrscheinlich, 
dass bei peinlicher Untersuchung in jedem Falle auch eine gewisse Ataxie 
der Extremitäten nachzuweisen sein wird. Wir unterstellen es jedoch ohne 
Weiteres als richtig, dass die Störungen des Ganges, insbesondere also die 
Ataxie des Rumpfes im Verhältniss zu der Störung der reinen Extremitäten- 
bewegung beim Menschen stärker hervortritt als beim Thiere. Die auf- 
rechte Haltung des Menschen kann dafür ein Grund nicht sein, weil ein 
solches Missverhältniss bei der Tabes dorsalis nicht besteht. Wir suchen 
die Erklärung vielmehr in der Verschiebung der Arbeitstheilung zwischen 
Grosshirn und Kleinhirn, welche sich ja auch morphologisch in der Aenderung 
des Grössenverhältnisses dieser beiden Hirntheile in der Thierreihe hinauf 


\ 


184 M. LEWANDOWSKY: 


bis zum Menschen kundgiebt. Wie sehr gerade die Bewegungen der oberen 
Extremitäten des Menschen einem anderen Einflusse, als dem des Bewusst- 
seins, entrückt sind, zeigt die Intensität der Lähmungserscheinungen nach 
Grosshirnverletzung, welche ja sogar beim Affen nicht annähernd erreicht 
wird. Auch die alltägliche Erfahrung beweist, dass die Einzelbewegungen 
der Extremitäten, insbesondere der oberen beim Menschen in viel höherem 
Maasse von einem auch höher entwickelten Bewusstsein geleitet und con- 
trolirt werden können, andererseits ist es wohl unbestreitbar, dass für die 
Einzelheiten der aufrechten Haltung und die primitiven Fortbewegungen 
das Bewusstsein auch beim Menschen noch wenig in Betracht kommt, 
wenn es selbstverständlich auch als allgemeine Vorstellung thätig ist. Wenn 
wir für die Einzelheiten der aufrechten Haltung ebenso viel Bewusstsein 
aufwenden wollten, wie für die Ausführung etwa eines schwierigen Klavier- 
stückes, würde wohl nicht viel Zeit für solche complieirten Bewegungen 
der oberen Extremitäten bleiben.! 


Aber ein prineipieller Unterschied — es muss das immer wieder be- 


tont werden — liest in dieser, nur dem Grade nach verschiedenen Be- 
deutung des Kleinhirns für verschiedene Bewegungsarten nicht. Diese 
Verschiedenheit erklärt sich vielmehr aus der durch Thatsachen 
sestützten Annahme, dass die Regulirung durch das Klein- 
hirn eben in denjenigen Theil einer jeden Bewegung eingreift, 
welche unterhalb der Grosshirnstufe des Bewusstseins verläuft. 

Insbesondere ist deswegen das Kleinhirn noch kein geheimnissvolles 
Gleichgewichtsorgan. Nichts hat der klaren Erkenntniss der Verrichtungen 
des Kleinhirns mehr geschadet, als das Wort Gleichgewichtsorgan. Wenn 
die Vertreter einer solchen Anschauung (Thomas, Bruns) auf Grund ihrer 
vorwiegend anatomischen und klinischen Beobachtungen der Physiologie den 
Vorwurf machen, sie hätte die Ergebnisse der Anatomie zu wenig berück- 
sichtigt, so kann ihnen der umgekehrte Vorwurf zurückgegeben werden. Wie 
ist es denn nur möglich, dass das Kleinhirn ein „Reflexcentrum das Gleich- 
gewichtes“ ist, ohne dass dabei eine decidirte Störung des Muskelsinnes in 
Frage kommt. Aber dieser Ausdruck wird mit grosser Sorgfalt vermieden 
und ausdrücklich die Anschauung von Lussana geringschätzig verworfen.? 

Trotzdem war es Lussana, ein Physiologe, der die Abhängigkeit der 


! Trotzdem kann natürlich das Grosshirn auch in der Durchführung der auf- 
rechten Haltung für das Kleinhirn bis zu einem gewissen Grade eintreten. Es ist hier 
bemerkenswerth, dass gerade in Fällen von angeborenem Defeet des Kleinhirns be- 
sonders geringe Bewegungsstörungen zu erkennen waren, und dementsprechend habe 
ich auch im Experiment beobachtet, dass bei sehr jungen Thieren die Folgen von Klein- 
hirnverletzungen in jeder Beziehung geringer waren als bei erwachsenen. 

2 Vgl. S. 152. 


ÜBER DIE VERRICHTUNGEN DES KLEINHIRNS. 185 


motorischen Erscheinungen von Störungen des Muskelsinnes zuerst auf- 
gefasst hat, ohne sie allerdings bewiesen zu haben. „L’equilibre des 
mouvements c’est & dire le sens musculaire.“ Die beiden Dinge 
sind eben für Lussana ohne Weiteres gleichbedeutend. Es war die Haupt- 
aufgabe der vorliegenden Arbeit, die Abhängigkeit der durch den Ausfall 
des Kleinhirns ausgelösten Bewegungsstörungen vom Muskelsinn zuerst zu 
beweisen und dann zu begrenzen.! 


Dem Curatorium der Gräfin Bose-Stiftung danke ich für die Bewilligung 
von Mitteln, durch welche die vorliegenden Untersuchungen ermöglicht 
wurden. 


Anhang: Vier Protokolle. 


1. Hund. Entfernung der linken Hemisphäre und eines erheblichen 
Theiles der linken Hälfte des Wurmes. 

25.IV. Operation. 

26.IV. Heftige Rollbewegungen nach links, Wirbelsäule nach links 
concav ausgebogen, tonische Contraction der linken Gliedmaassen, angedeutete 
der rechten. Ablenkung der Augen nach rechts, horizontaler Nystagmus. 

27.IV. Rollbewegungen dauern fort, linke Extremitäten meist tonisch 
gestreckt, auf schmerzhaften Reiz Abwehrbewegungen aller Extremitäten, 
der linken jedoch erheblich schwächer als der rechten. Bellen noch nicht 
beobachtet. 


! Seit der Niederschrift dieser Arbeit, bezw. dem Erscheinen der vorläufigen Mit- 
theilung 1901 sind noch einige Arbeiten über das Kleinhirn erschienen, von denen die 
von Kohnstamm (Pflüger’s Archiv. 1902) sich mit einer Ableitung der Verrichtungen 
des Kleinhirns aus der Anatomie der Leitungsbahnen beschäftigt, ohne eigene experi- 
mentelle Ermittelungen zu bringen. Die Arbeit von Probst (Archiv für Psychiatrie. 
1902. Bd. XXXV) bringt physiologisch kaum Neues und berücksichtigt die Litteratur 
lediglich mit der kurzen Angabe, dass sie „die Befunde von Luciani, Russel, 
Thomas bestätige und Neues hinzufüge“. Als wenn diese Autoren nicht oft ganz 
Gegensätzliches behauptet hätten. Auf Probst’s anatomische Angaben werde ich 
anderwärts zurückkommen. - 

Ganz neuerdings (Monatsschr. f. Psych. u. Neur. 1902. Bd. XII. Ergänzungsheft) 
hat Mann, ohne meine Mittheilung zu eitiren, einen klinischen Fall beschrieben, der 
zuerst eine gleichseitige Parese, dann Ataxie zeigte, und den er auf einen Kleinhirn- 
herd zurückführt. Als Basis der Ataxie nimmt er unbewusste sensible Störungen an. 
Störungen der Sensibilität waren objectiv nicht nachzuweisen. Ich glaube, dass dieser 
Fall, der nicht zur Section gekommen ist, durchaus ungeeignet ist zur Entscheidung 
irgend welcher Fragen. Nach meiner Meinung waren hier höchst wahrscheinlich 
motorische Bahnen (im Pons) ergriffen, und ich glaube weiter, dass sich auch beim 
Menschen in Fällen von Kleinhirnerkrankung bei genauerer Prüfung sensible Störungen 
werden nachweisen lassen. 


186 M. LEWANDOWSKY: 


29.1V. Auf den Boden gesetzt kann der Hund sich einige Augenblicke 
mit ausgespreizten Vorderbeinen in Zwangshaltung nach links ruhig halten, 
wobei auch das linke Vorderbein sichtlich etwas innervirt wird; bei jeder 
Bewegung aber fällt der Hund auf die linke Seite und die Rollbewegungen 
setzen wieder ein. Ablenkung der Augen nur noch wenig ausgesprochen, 
parallel der jeweiligen Intensität der Zwangshaltung. 

1.V. Noch immer Neigung zu Drehbewegungen. Wird der Hund an der 
Rückenhaut in die Höhe gehoben, so sind die linken Gliedmaassen gestreckt, 
während die rechten halb gebeugt sind, dabei Zwangshaltung nach links. 

3.V. Die linken Gliedmaassen machen gewöhnlich einen paretischen 
Eindruck, trotzdem ab und zu grosse ungeschickte Bewegungen mit dem 
linken Vorderbein, das einige Male bis über den Kopf gehoben wird. Kreis- 
bewegungen nach links. 

5.V. Macht Versuche sich aufzurichten und einige Schritte zu laufen, 


in deutlicher Zwangshaltung nach links. Nach einigen Schritten Fallen auf 


die linke Seite. Augenstörungen verschwunden. 
6.V. Weitere Besserung. Die linken Extremitäten beim Gehen abnorm 
hoch gehoben und fast auf den Boden geschleudert. 
Enorme Störungen des Lagesinnes der Extremitäten links. 
Im Stehen sehr starke Schwankungen des Rumpfes und des Kopfes. 
Sehnenreflexe links gesteigert, Berührungsreflexe links erloschen. 
12.V. Auffallende Besserung. Hund läuft Trab, fällt noch häufig nach 


links; typische übermässige Bewegung der linksseitigen Extremitäten. Enorme_ 


Störung des Muskelsinnes. Abnorme Lagen höheren Grades werden nur 
dann corrigirt, wenn der Hund hinsieht. 

25.V. Andeutung von Berührungsreflexen links, Sehnenreflexe links 
gesteigert. Bei langsamer Bewegung schleifen die linken Gliedmaassen, bei 
schneller Hahnentritt. 

20.VI. Beim Laufen ziemlich geschickt, leichter Hahnentritt in der 
Trabbewegung, Vorbeigreifen beim Knochenversuch. 

1. VII. Zustand unverändert. Ataxie links beim Laufen noch angedeutet. 
Beim Stehen werden die linken Extremitäten mehr abdueirt und aussen rotirt 
gehalten. Lagesinnstörungen im Stehen nicht mehr nachzuweisen. Abnorme 
Beweglichkeit der Glieder nach allen Richtungen (Atonie) sehr ausgesprochen. 

Wird getödtet. 

Lückenlose Serie ergiebt das Fehlen jeder Nebenverletzung. 


2. Hund. Exstirpation des Wurmes. 

Operation 15. VI. Im Moment, da der Kopfhalter entfernt wird, 
schnellt der Kopf kerzengerade nach hinten, so dass in höchstem Opistho- 
tonus die Schnauze. sich fast auf den Rücken legt. Vorderbeine krampfhaft 
gestreckt, Hinterbeine desgleichen, nur weniger intensiv. Augen nach unten 
und innen abgelenkt. 

16.VII. Zwangshaltung nach hinten, erweist sich nicht als rein, viel- 
mehr besteht gleichzeitig eine geringere Neigung nach rechts. Tritt am 
deutlichsten hervor, wenn der Hund an der Rückenhaut in die Höhe ge- 
hoben wird. Tonische Starre aller Extremitäten, die nur zuweilen durch 
Strampelbewegung unterbrochen wird. Hund liegt auf der rechten Seite, 
beim Versuch, sich aufzurichten, überschlägt er sich nach rechts hinten. 


ÜBER DIE VERRICHTUNGEN DES KLEINHIRNS. 187 


18. VII. Zwangshaltung lässt nach, ist dann besonders schwach, wenn 
man sich längere Zeit mit dem Thiere beschäftigt und es durch Streicheln 
beruhigt. Es lässt dann immer zu gleicher Zeit Opisthotonus und Streckung 
der Extremitäten nach. Wird der Hund erschreckt, ist immer zu gleicher 
Zeit der ganze Complex wieder da. Ablenkung der Augen nur noch auf 
der Höhe der Zwangshaltunsg. 

19. VO. Hund ist im Stande, wenn man ihn rechts unterstützt, sich 
kurze Zeit aufrecht zu erhalten. Stellt man ihn so auf, so beobachtet man 
im Anfang eine übermässige Streckung der Extremitäten, insbesondere der 
rechten. Unter starkem Schwanken fällt dann das Thier hin und es zeigt 
sich dann im Gegentheil eine auffällige Schlaffheit der Extremitäten und 
abnorme Beweglichkeit der Glieder. Hochgradige Lagesinnstörungen (Her- 
überhängen der Beine über den Tischrand, Umknicken der Pfote). 

Sobald der Hund wieder den Versuch macht, sich von der Stelle zu 
bewegen, Zwangshaltung nach hinten u. s. w. 

20.VII. Das Thier sitzt in seinem Käfig aufrecht in leicht opisto- 
tonischer Haltung mit dem Rücken gegen eine Wand. Zieht man es hervor, 
weicht es wieder zurück. Nur langsam kriechend kann es bis zu seinem 
Futternapf gelangen, weil häufig mouvement de recul. Starke Schwankungen 
des Rumpfes und Kopfes, Ungeschicklichkeit der Extremitäten beim Ergreifen 
der Nahrung. 

23. VO. Abnorme Haltung gebessert, aber noch deutlich vorhanden. 
Unlust, aus der Ecke des Käfigs hervorzukommen wegen mouvement de r£&cul. 
Wechsel zwischen tonischer Extension und Atonie. Muskelsinnstörungen 
rechts stärker als links, durch den Gesichtssinn werden abnorme Lagen häufig 
corrigirt. Keine Störungen der Augenbewegungen mehr. 

27.VII. Die Bewegungsstörungen haben sich nur sehr langsam ge- 
bessert. Erst seit 8 Tagen ist der Drang rückwärts so weit geschwunden, 
dass der Hund freiwillig den Käfig verlässt. Auch jetzt noch tritt mouvement 
de r&cul hervor, wenn der Hund anfängt sich in Bewegung zu setzen. 
Er wird dann wie nach hinten zurückgerissen. Auch deutliche Zwangs- 
haltung der Wirbelsäule nach rechts.. Muskelsinnstörungen links angedeutet, 
rechts deutlich. Atonie rechts stärker als links, keine tonische Streckung 
der Gliedmaassen mehr, Sehnenreflexe rechts stärker als links. 

Beim Stehen und bei langsamer Bewegung Schwanken, bei schnellerer 
Bewegung Schwanken weniger deutlich. Im Stehen Abduction der Glied- 
maassen, beim schnellen Laufen Hahnentritt, bei langsamem mehr Schleichen. 

15.IX. Bei gewöhnlicher Laufbewegung nur noch geringe Ataxie, da- 
gegen geräth der Hund auf der Goltz’schen Lattenbrücke fast bei jedem 
Schritt zwischen die Stufen. Galvanische Durchströmung des Kopfes mit 
gewöhnlichem Erfolg. 

Wird getödtet. Section: Entfernung des ganzen Oberwurmes mit Ver- 
letzung der rechten Hemisphäre. Die Ränder der Hemisphären divergiren 
noch um !/, bis !/,‘®. Vom Unterwurm ist die vordere Hälfte erhalten 
geblieben. Keine Nebenverletzung. 


3. Hund. Totalexstirpation. 
30.IX. Exstirpation des ganzen Kleinhirns mittels scharfen Löffels und 
Saugers. 


188 M. LEWANDOWSKY: 


1.X. Mässige Rollbewegungen nach rechts, das linke Auge nur wenig 
nach links abweichend. Mässiger Nystagmus von sehr langsamem Tempo 
in allen Richtungen. Fast immer tonische Streckung aller Extremitäten. 

2.X. Schwächere Zwangsbewegungen meist nach rechts, mitunter auch 
nach links, Opisthotonus. Krampfhafte Streckung sowohl der vorderen als 
der hinteren Extremitäten. Der Hund vermag jedoch schon willkürlich aus 
der opisthotonischen Zwangslage den Kopf nach links und rechts zu wenden. 
Dann lässt auch sofort die Streckung der Beine nach, um mit dem Moment 
deutlich zu werden, wenn das Thier beim Versuch einer lebhaften Bewegung 
wieder in die Zwangslage zurücksinkt. 

Keine Abweichung der Augen mehr, Andeutung von Nystagmus. 

Nimmt Milch und Fleisch. 

4.X. Liegt halb aufrecht auf der rechten Seite in seinem Käfig mit 
meist nach rechts gewendetem Kopfe, die Hinterbeine nach links ausgestreckt, 
die Vorderbeine meist mit dem Dorsum der Pfote den Boden berührend. 
Auch liegen die Extremitäten häufig über einander und nach hinten unter 
dem Körper des Thieres. Starke Schwankungen des Kopfes, insbesondere 
beim Saufen, dabei der Schluckaet anscheinend „normal. 

6.X. Hund in seinem Käfig in liegender und halbliegender Haltung. 
Wenn er ruhig im Käfig sitzt, eigentliche Zwangsbewegungen oder Zwangs- 
haltungen nicht mehr zu beobachten, wohl aber treten solche noch auf, 
wenn er beruhigt wird, insbesondere ausserhalb des Käfigs. Eben dann tritt 
auch die tonische Streckung der Beine wieder auf, während das Thier, wenn 
man es beruhigt und streichelt, anfängt Bewegungen mit den vorderen 
Extremitäten auszuführen, die eher Schlaffheit als eine krampfhafte Spannung 
erkennen lassen. Dann ist auch eine ganz enorme Beweglichkeit aller 
Glieder und eine fast völlige Aufhebung des Lagesinnes festzustellen. 

8.X. Der Hund bewegt sich etwas in seinem Käfig. Die Hinterbeine 
sind stark paretisch, ihre Bewegungen machen den Eindruck zweckloser 
Mitbewegung. Die Vorderbeine kommen in die verschiedensten abnormen 
Lagen. Versucht der Hund sich aufzurichten, rollt er dann manchmal nach 
links, manchmal nach rechts, immerhin gelingt es ihm doch, ein bestimmtes 
Ziel zu erreichen. 

Einmal explosives Bellen. 

10.X. In der Art der Fortbewegung keine wesentliche Besserung, da- 
gegen werden Einzelbewegungen beobachtet, derart, dass Nahrung, z. B. ein 
Stück Fleisch, mit dem Vorderfusse. festgehalten wird, was allerdings erst 
nach mehrfachen Greifversuchen gelingt. Bei jeder Bewegung enormes 
Schwanken und Unruhe des ganzen Körpers, zum Theil bedingt durch offen- 
bare Mitbewegung. So führt das linke Hinterbein, wenn der Hund frisst, 
häufig Kratzbewegungen nach der Gegend des linken Ohres hin aus. _ 

18.X. Kann sich auf den Vorderbeinen etwas aufrichten, dabei sind 
die Vorderbeine dann gestreckt und in Abduction. Allmählich rutschen sie 
dann seitlich aus und es kommt dazu, dass sie in einem rechten Winkel 
vom Körper abstehen, in ihrer ganzen Länge dem Boden anliegen, einen 
Winkel von 180° mit einander bilden. 

Passiv kann man den Extremitäten fast beliebige Stellungen geben. 
Ein Einfluss des Gesichtssinnes auf die Correetur dieser Stellungen ist vor- 
handen, aber gering. Während bei spontanen Bewegungen des Hundes ein 


ÜBER DIE VERRICHTUNGEN DES KLEINHIENS. 189 


Wechsel von Atonie und Neigung zur Streckung hervortritt, macht sich, 
wenn man versucht, den Hund auf seine Beine zu stellen, indem man ihn 
an der Rückenhaut festhält, sogleich und regelmässig eine eontraeturähnliche 
Streekstellung der Extremitäten, besonders der vorderen, aber auch der 
hinteren bemerkbar, dabei ist der Vorderfuss plantarwärts gebeugt, so dass 
dann das Dorsum der Pfote den Boden berührt. In dieser Stellung sind 
selbstverständlich keine Sehnenreflexe auszulösen. Dagegen sind die Sehnen- 
reflexe, wenn das Thier ruhig daliegt, wesentlich verstärkt, die Berührungs- 
reflexe sind erloschen. 

25.X. In seinem Käfig und auf nicht zu glattem Boden kann der 
Hund sich für Augenblicke, wenn er sich mit einer Seite (gleichgültig 
welcher) an die Wand lehnt, aufstellen, dabei enormes Schwanken, baldiges 
Umfallen. Die Neigung zur Streckstellung beim Aufstellen noch unverändert. 

1.XIl. Der Hund ist in ausgezeichnetem Ernährungszustande und, so 
weit das die Beschränkung seiner Bewegungsfähigkeit erlaubt, von grosser 
Lebhaftigkeit. Er ist im Stande, einige Schritte zu gehen oder, besser aus- 
gedrückt, sich zwei bis drei Schritt fortzubewegen, um dann 'allerdings 
unfehlbar nach der einen oder der anderen Seite zu fallen. Dabei sind die 
Bewegungen der Hinterbeine ungeschickter als die der vorderen. Die Be- 
wegungen der Vorderbeine zeigen den ausgesprochensten Hahnentritt. Stehen 
kann der Hund nicht, versucht man ihn hinzustellen, noch immer die 
tonische Starre der Extremitäten. Schwanken des Rumpfes und Kopfes. 

In der Ruhe hochgradige Atonie, hochgradige Störungen des Lagesinnes 
der Extremitäten. Vorbeigreifen an Fleischstücken. Schmerzempfindlichkeit 
der Haut vermindert, Berührungsreflexe angedeutet, Sehnenreflexe stark. 

Der Hund lebte noch 3 Monate ohne weitere Veränderung. Eine dann 
vorgenommene Exstirpation des rechten Gyrus sigmoidevs führte zu heftigen 
Zwangsbewegungen nach links. 14 Tage nach dieser Operation ging der 
Hund zu Grunde. Section ergab totales Fehlen des Kleinhirns, Neben- 
verletzung des rechten Acusticus. 


4. Affe (Macacus Rhesus). a) Verletzung der linken Hemisphäre, 
b) schwere Verletzung des Wurmes, insbesondere links, und Entfernung der 
linken Hemisphäre bis auf einen kleinen Rest, ec) Exstirpation der Extremi- 
tätenzonen der Rinde rechts. 

Intelligentes Thier. Nimmt ihm gebotene Nahrung aus der Hand. An 
einer 1!/,” langen Kette bewegt er sich in der Umgebung des Käfigs. 
Absoluteste Sicherheit der Bewegungen. Kein Unterschied zwischen rechts 
und links. 

15. V. Entfernung eines Theiles der linken Hemisphäre. 

16.V. Haltung des Affen gebückt, will er sich aufrichten, fällt er nach 
links hinten. Kleine Schwankungen des Rumpfes nach links. Er greift 
ziemlich wahllos mit der rechten und linken Hand, es kommt aber vor, dass 
er mit der linken die ihm gereichte Nahrung herunter wirft, anstatt sie zu 
fassen. 

17.V. Abnahme der Störungen. Rutscht zuweilen mit den linken 
Gliedern beim Klettern aus. 

20.V. Ausser einer leicht gebückten Haltung keine Abnormität mehr. 

22.V. Zweite Operation. 


190 M. LEwWANDOwSKY: 


23.V. Haltung ganz gebückt. Kopf zwischen den Knien. Beine stark 
abdueirt. Das linke mehr als das rechte. Beide Arme zur Seite auf den 
Boden gestützt. Grosse Unlust, sich zu bewegen. Beim geringsten Versuch 
dazu starke Sechwankung, gewöhnlich so, dass das Thier mit der linken Seite 
des Kopfes nach links anstösst, nach links fällt und dann auch Zwangs- 
bewegungen nach links eintreten. Ohne Unterstützung eines Armes kann 
sich der Affe überhaupt nicht aufrecht erhalten. Auch wenn der Affe sich 
an den Gitterstäben festhält, enorme Schwankungen des Rumpfes, so dass 
sich der Affe Hautabschürfungen am Kinn und an der Nase zuzieht, das 
Tempo der Schwankungen 80 bis 120 in der Minute. Beim Erfassen der 
Gitterstäbe ist die Haltung und Bewegung der rechten Hand wenig, wenn 
auch merkbar, gestört, die der linken dagegen im höchsten Grade atactisch. 
Es gelingt dem Thiere nie, mit dem ersten Griff überhaupt einen Stab zu 
fassen, sondern er greift zuerst immer einige Male zwischen den Stäben 
hindurch oder geräth mit dem Dorsum gegen das Gitter. Dann kommt der 
Stab oft zwischen zweiten und dritten, oder dritten und vierten Finger. 

Ihm ‘dargebotene Nahrung greift der Affe mit der rechten Hand, auch 
mit dieser ungeschickt. Das Fressen schwierig wegen der Schwankungen 
des Kopfes. Versucht der Affe mit der linken Hand zu greifen, Störungen 
ganz enorm, selbst an grossen Haufen Reis und ganzen Mohrrüben greift 
er vorbei, gewöhnlich mehrere Male und zu weit, aber auch nach rechts 
und links, selten zu kurz. Dabei sind die Schwankungen des Rumpfes 
geringer, wenn sich der Affe auf die rechte Hand stützen kann, also daran 
liegt die Ungeschicklichkeit nicht. Erfasst die linke Hand schliesslich die. 
Nahrung, etwa eine Mohrrübe, so ist die Haltung der Finger dabei ähnlich 
ungeschickt wie beim Erfassen der Gitterstäbe. Führt der Affe die linke 
Hand zum Munde, Schwankungen des Armes unabhängig von denen des 
Rumpfes. Es wird vermieden, den Affen zum Klettern zu veranlassen. 

25.V. Leichte Besserung. Schwankungen noch vorhanden. Ergreifen 
der Nahrung wie gestern. Beim Klettern ausserordentlich ungeschickt. Be- 
wegung der linken Extremitäten unzweckmässig, auf’s Gerathewohl zufahrend. 
Es kommen dabei eine grosse Reihe von ganz ungewöhnlichen Stellungen 
und Griffen zur Beobachtung (photographische Aufnahmen), z. B. dass der 
Affe den Gitterstab von innen mit der Vola nach aussen umfasst, dass er 
zwischen zwei Stäben hindurchgreift, dann den Arm beugt, und so ganz 
 unzweckmässig einen entfernteren Stab fasst. Häufig rutscht er aus, vor 
dem Fallen retten ihn aber immer seine rechten Gliedmaassen. 

27.V. Besserung insbesondere der Rumpfschwankungen. Trotz der Be- 
wegungsstörung die motorische Kraft links anscheinend nicht unerheblich, 
jedenfalls in keinem Verhältniss zur ersteren. Sehr schwer zu bewegen, 
mit der linken Hand zu greifen, besonders etwas aus der Hand zu nehmen, 
thut er es doch, so greift er ebenso fehl wie früher. Dagegen hebt er 
Mohrrüben vom Boden so auf, dass er die Hand langsam von der Seite 
heranschiebt. Auf zwei Beinen mit einer oder beiden Händen als Stütze 
an der Kette, kann der Affe nicht mehr gehen, sondern er rutscht auf den 
Tubera ischii, indem er mit den Beinen, besonders dem linken, ungeschickt 
watschelt. 

5.VI. Haltung in der Ruhe noch immer gebückter als normal, aber 
erheblich aufrechter als Anfangs. Ataxie der linken Extremitäten noch sehr 


ÜBER DIE VERRICHTUNGEN DES KLEINHIRNS. 191 


ausgesprochen. Dass der Affe einen Stab nicht zwischen Daumen und zweiten 
Finger fasst, kommt nicht vor. Sehr häufig jedoch, dass er die Hand zurück- 
ziehen muss, weil sie zu weit durch das Gitter gefahren ist. Zum Erfassen 
der Nahrung benutzt der Affe fast ausschliesslich die rechte Hand, nimmt 
jedoch die linke ohne Weiteres zur Hülfe, wenn z. B. die Mohrrübe so 
gross ist, dass er sie mit der rechten Hand allein nicht fassen kann, dabei 
greift er dann gewöhnlich mit saccadirter Bewegung vorbei. Es wird 
noch beobachtet, dass der Affe kleine Stücke, die er mit der linken Hand 
ergriffen hat und zum Munde führen will, wieder fallen lässt, wenn er 
nicht hinsieht. 

Patellarreflexe links stärker als rechts. 

15. VI. Haltung noch immer etwas gebückt. Beim Klettern immer noch 
Ungeschicklichkeit in mannigfacher Weise, leichtes Ausrutschen u. s. w. Viel 
erheblichere Ataxie noch bei Einzelhandlungen. 

17.VI. Ein ‘gesunder Affe wird zu dem operirten in den Käfig ge- 
setzt, was zur Folge hat, dass der letztere jetzt ausgiebigeren Gebrauch von 
seiner linken Vorderhand macht, damit ihm der andere die Nahrung nicht 
fortnimmt. Dabei sind die beschriebenen Störungen besonders deutlich. 
Schwankungen des Rumpfes nur noch wenig ausgesprochen. 

28. VI. Gebraucht die linke Hand einzeln immer noch sehr ungern, 
dagegen beim Klettern nur noch geringe Abnormitäten nachweisbar. 

4.VII. Dritte Operation. Exstirpation der sensomotorischen Sphäre 
für die linken Extremitäten in der von H. Munk angegebenen Ausdehnung. 

5. VII. Keine Veränderung in der Stellung des Rumpfes, rutscht, indem 
er die linken Glieder wie leblose Gegenstände nachschleift oder vor sich 
herschiebt. 

9. VII. Linke Gliedmaassen werden. bei Bewegungen der rechten ab 
und zu etwas mitbewegt. 

14. VII. Linke Gliedmaassen noch immer nur in Mitbewegung gebraucht. 

20. VII. Versucht beim Klettern isolirt mit den linken Extremitäten zu 
greifen. | 

22.VII. Fortschreitende Besserung. Es wird die Beobachtung gemacht, 
dass, wenn man dem Affen eine Mohrrübe giebt, die er mit der einen Hand 
nieht fassen kann, er auch die linke zur Hülfe zu nehmen versucht. 

29. VIH. Klettert nur sicher an Gittern. Veranlasst man ihn, an ein- 
zelnen Stäben zu klettern, enorme Unsicherheit der Bewegung des Greifens 
u.s. w. Atrophie der linksseitigen Extremitäten. Keine Contracturen. 

2.IX. Affe wird bei voller Gesundheit getödtet. 

Mikroskopische Untersuchung der Medulla oblongata, des Kleinhirns und 
der Vierhügelgegend ergiebt fast völlige Zerstörung der rechten Hemisphäre, 
weitgehende Zerstörung des Wurmes, keine Nebenverletzung. 


Verhandlungen der physiologischen Gesellschaft 
zu Berlin. 
Jahrgang 1902—1903. 


I. Sitzung am 24. October 1902. 


1. Hr. Dr. WALTHER THOoRNER (a. G.): „Zur Photographie des 
Augenhintergrundes.“ 


Die Ophthalmoskopie ist eines der wenigen Gebiete der Naturwissen- 
schaft, auf dem man bis jetzt zur Festlegung eines Befundes allein auf 
die Zeichnung angewiesen war. Und doch ist gerade hier ein grosses 
Bedürfniss nach einer objeetiven, photographischen Methode vorhanden. In 
anderen Wissenschaften, z. B. der Mikroskopie, hat man genügend Zeit zur 
Anfertigung einer Zeichnung, die Beobachtung des Präparates ist auch mit 
keinen besonderen Schwierigkeiten verbunden, hier erleichtert zwar die 
Photographie die Abbildung, ist aber nicht unbedingt erforderlich. Beim 
Ophthalmoskopiren aber ist die Beobachtung eine sehr schwierige, man 
muss sich alle einzelnen Theile des Bildes nach einander und immer wieder 
von Neuem aufsuchen, und eine Darstellung aller Grössen in den richtigen 
Proportionen ist absolut unmöglich. Man hat nun auch auf diesem Gebiete 
schon bald nach Erfindung des Augenspiegels versucht, das Bild photo- 
graphisch zu fixiren, aber, wie allgemein bekannt, noch ohne Resultat. Es 
sind zwar in seltenen Fällen Bilder erzielt worden, diese zeigten aber einer- 
seits ein so kleines Gesichtsfeld des Augenhintergrundes und waren anderer- 
seits unscharf, so dass dieselben nicht im Entferntesten mit einer Zeichnung 
wetteifern konnten. Ausserdem waren sie so schwierig herzustellen, dass 
es meist demselben Untersucher nicht gelang, ein Bild zum zweiten Male 
herzustellen. Der Grund hierfür lag in den ungünstigen optischen Be- 
dingungen, die die Beobachtung im aufrechten oder umgekehrten Bilde 
darbietet. Das Gesichtsfeld ist vom Beobachter aus niemals grösser als 6°, 
und wenn man auch fortwährend die einzelnen Bilder geistig zu einem 
Gesammtbild des Augenhintergrundes an einander reiht, so ist dies doch 
für die photographische Platte richt möglich. Hier muss das Bild auf ein 
Mal in allen seinen Theilen erscheinen. Noch mehr störten aber die Reflexe. 
Der Beobachter kann von denselben mehr abstrahiren und seine Aufmerk- 
samkeit auf das eigentliche Bild lenken. Für die photographische Platte 
aber ist der Reflex das bei weitem lichtstärkere Object und überstrahlt 
vollständig das eigentliche Bild. 

Um diese optischen Mängel zu beseitigen, hatte ich vor einigen Jahren 
einen stabilen Apparat eonstruirt, welcher ein Bild des Augenhintergrundes 
von 37° Ausdehnung ergab und frei von Reflexen war. Es war somit die 
nothwendigste Vorbedingung zur Photographie gegeben, und ich glaubte 
auch, dass dieselbe gar keine Schwierigkeiten mehr bereiten würde. Dies 


VERHANDL. DER BERLINER PHYSIOL. GES. — WALTHER THoRNER. 193 


war jedoch nicht der Fall, auch so stellten sich noch der Photographie be- 
sondere Hindernisse entgegen. Und zwar sind es hauptsächlich zwei Punkte, 
die in Betracht kommen. Erstens muss die Lichtquelle so intensiv sein, 
dass sie bei einer sehr kurzen Dauer ein genügend exponirtes Bild ergiebt, 
und zweitens ist es nothwendig, mit einer schwächeren Lichtquelle bis zum 
Moment der eigentlichen Photographie den Augenhintergrund zu beleuchten, 
da die zur Aufnahme dienende Lichtquelle für eine längere Beleuchtung 
anzuwenden nicht möglich ist. Da die zur Einstellung dienende Lichtquelle 
aber nicht vorher entfernt werden darf, da dann das Auge sich in der 
kurzen Zwischenzeit wieder verschieben könnte, andererseits diese aber nicht 
für andere Lichtstrahlen durchgängig ist, so erfordert dies besondere tech- 
nische Anordnungen, auf die ich nachher noch zurückkommen werde. 

Was die Intensität des Bildes betrifft, so finden sich hier grosse Ver- 
schiedenheiten bei den einzelnen Thierclassen. Das Licht, das zurück- 
gestrahlt wird, ist im Allgemeinen ein sehr schwaches, bei denjenigen Augen, 
welche mit einem Tapetum ausgerüstet sind, refleetirt der Hintergrund aber 
immerhin noch bedeutend mehr Licht als bei solchen, wo das Tapetum fehlt. 
So konnte ich durch vergleichende Aufnahmen mit einem Modell feststellen, 
dass der Augenhintergrund der Katze 50 Mal so viel Licht reflectirt als 
der des Menschen. Ich habe daher zunächst nur die Versuche auf solche 
Thieraugen, die ein Tapetum besitzen, beschränkt, und auch nur für solche 
den folgenden Apparat construirt.! Für den Menschen reicht die Anordnung 
noch bei weitem an Helligkeit nicht aus, und hierüber stelle ich noch 
weitere Versuche an. 

Als geeignetste Lichtquelle für das Auge der Katze z. B. empfiehlt sich 
das Magnesiumblitzlicht, das durch Abbrennen einer explosiblen Mischung 
von 0.68% Magnesium, 1.28’ chlorsaurem Kali und 0.28% Schwefel- 
antimon entsteht. Die Verbrennungsdauer ist eine sehr kurze, etwa !/,, Se- 
eunde. Die angewandte Menge 2®”"" ist schon ziemlich gross, es stellte 
sich aber heraus, dass auch die Flächenintensität bei Anwendung einer 
grösseren Pulvermenge zunimmt. Die Helligkeit dieses Blitzes ist eine sehr 
grosse, sie beträgt etwa 36000 Kerzen. Da nur eine Fläche von etwa 6“ 
Durchmesser ausgenutzt wird, so wurde der Blitz in einer vertieften Schale 
abgegeben, aus der das Pulver nicht nach allen Seiten auseinander, sondern 
mehr senkrecht in die Höhe ging. Die genauere Versuchsanordnung werde 
ich an einem projieirten Durchschnitt auseinandersetzen (Fig. 1). 

RQP ist das Beobachtungsrohr des Augenspiegels, welches aus drei 
ÖOonvexlinsen und einer vor $ angebrachten halbmondförmigen Blende be- 
steht. /KM ist das Beleuchtungsrohr, in 4 befindet sich die zweite halb- 
mondförmige Blende, in N das total reflectirende Prisma, welches die Be- 
leuchtungsstrahlen in das zu photographirende Auge O wirft. $ ist der 
Sucher des Augenspiegels, der zur richtigen Einstellung dient. Die Petroleum- 
lampe, welche sich zur gewöhnlichen Ophthalmoskopie vor 4 befindet, ist 
hier entfernt, und statt dessen ein Prisma E vor’der Oeffnung H angebracht. 
Dasselbe steht im Brennpunkte einer Convexlinse von 75”M Brennweite. 
Diese Linse D grenzt nun an ein festes Gehäuse aus Eisenblech an, dessen 
drei Seiten # FF im Durchschnitt gezeichnet sind. Die vierte Seite ist offen, 


! Die Anfertigung dieses Apparates hat die Firma Franz Schmidt & Haensch 
zu Berlin übernommen. 
_ Archiv f. A. u. Ph. 1903. Physiol. Abthlg. 13 


194 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


ebenso die obere Decke fortgelassen, um den sich ausdehnenden Gasen des 
Magnesiumblitzes einen Ausweg zu schaffen. GGGG ist ein weit über- 
stehendes Dach oben am Gehäuse, welches die Personen und den Augen- 
spiegel selbst, sowie die Camera vor Nebenlicht schützt. An der Rückwand 
des Eisenblechgehäuses befindet sich eine gewöhnliche Petroleumlampe Z, 
deren Strahlen durch eine Linse A parallel gemacht werden und auf eine 
lange Strecke hin den Innen- 

@L raum des Gehäuses durch- 
AR ziehen. Dasselbe ist durch die 
Ei Glasplatten B und C gegen die 
Petroleumlampe sowie gegen 
den Augenspiegel abgeschlos- 
sen, welche jedes Mal nach 
dem Abbrennen des Pulvers ge- 
reinigt werden können. Diese 
Petroleumlampe Z dient dazu, 
den Augenhintergrund noch 
bis zum Moment der Aufnahme 
einstellen zu können, und man 
kann, sowie die richtige Stel- 
lung da ist, das Magnesium- 
pulver elektrisch oder durch 
Schlag in dem Behälter F 
entzünden. Dasselbe explodirt 
dann in dem Raum zwischen 
B und C nach oben, und die 
von ihm ausgehenden Strahlen 
nehmen im Momente der Pho- 
tographie genau den gleichen 
Weg wie die der Lichtquelle 
L. Das reelle Bild der Licht- 
quelle Z, welches mit Hülfe 
der Linsen A und D und des 
Prismas E vor H entworfen 
Fig. 1. wird, vertritt die sonst vor Z 

angebrachte Petroleumlampe 

vollständig, nur mit dem Unterschiede, dass dieses reelle Bild für die 
Strahlen des Magnesiumblitzes durchgängig ist, was mit der wirklichen 
Petroleumlampe nicht der Fall wäre. Die Strahlen des Magnesiumblitzes 
werden also auch von der Linse D zunächst auf dem Prisma E con- 
centrirt. Dieses dient dazu, die Strahlen um 45° abzulenken. In ihm 
findet eine zweimalige Reflexion statt. Von hier gehen die Strahlen durch 
die halbmondförmige Blende 4, divergiren bis zur Linse /, von hier gehen 
sie unter einander parallel bis X, werden wieder convergent gemacht und 
treten dann durch die Linse M und das total refleetirende Prisma N in 
das zu photographirende Auge O ein. Die nun von dem so beleuchteten 
Hintergrunde ausgehenden Strahlen gehen neben dem Prisma N vorbei 
divergent zur Linse P, unter sich parallel zur Linse @& und treten wieder 
convergent bei der halbmondförmigen Blende Z%, deren bedeckte Seite den 
Reflex auffängt und unschädlich macht, aus. Die in der Fig. 1 punktirten 


7.0%n 
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ER ae LE 


RER 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — WALTHER THORNER. 195 


und in ihrem Verlauf soeben besprochenen Strahlen stellen nun nur Haupt- 
strahlen dar, und es ist an Stelle eines jeden ein Strahlenbündel zu denken. 
Diese einzelnen Strahlenbündel bestehen beim Austritt aus % aus lauter 
Parallelstrahlen, wie dies zur subjectiven Beobachtung erforderlich ist, und 
bedürfen zur Vereinigung noch einer Linse, sei es der des beobachtenden 
Auges oder des photographischen Öbjectivs. So ist also hier vor % noch- 
mals ein photographisches Objectiv 7 von 75" Brennweite angebracht, 
welches auf UU ein scharfes Bild entwirft. Die Camera ist mit dem Augen- 
spiegel fest verbunden, und das Bild wird durch Verschieben des Auszuges 
des Beobachtungsrohres scharf eingestellt. Da dasselbe sehr lichtschwach 
ist, so dient dazu eine Einstellluope Z, mit der man es auf einer durch 
sichtigen Glasplatte statt der Mattscheibe einstellt, wie dies auch für Zwecke 
der mikroskopischen Photographie üblich ist. Schräg durch die Camera geht 
eine Glasplatte V, welche noch ein zweites, viel lichtschwächeres gespiegelter 
Bild nach W zu entwirft. Dieses dient dazu, dass bis zum Moment des 
Aufnahme ein Beobachter im Stande ist, zu controliren, welcher Theil des 
Augenhintergrundes sich gerade im Bilde befindet. Ich will noch bemerken, 
dass die Aufnahmen mit dieser Vorrichtung verhältnissmässig leicht gelingen. 


Fig. 2. Fig. 3. 


Ich kann Ihnen nun erst zwei Bilder vorführen, welche so angefertigt 
sind, weil ich die Vorrichtung erst seit kurzer Zeit fertiggestellt habe. Sie 
betreffen beide das Auge der Katze und zwar das linke. Die Katze war 
nicht narkotisirt, sondern wurde einfach mit der Hand vor dem Apparat 
festgehalten. Dieses Bild (Fig. 2) zeigt in der Mitte die Papille des Seh- 
nerven. Ganz genau lässt sich die Vergrösserung gegenüber der Natur 
nicht feststellen, mit ziemlicher Annäherung gewinnt man aber ein Urtheil 
darüber, wenn man einen Sehnervenaustritt im Präparat genau misst. Dieser 
ergab sich zu 0-8" Durchmesser. Es würden darnach die Originalnegative 
eine 7.5fache Linearvergrösserung zeigen, was einer Brennweite des redu- 
eirten Auges der Katze von 10” entspricht. Sie sehen hier drei Haupt- 
stämme von Gefässen austreten, nach oben, nasalwärts und nach unten. 
In jedem kann man die dünnere Arterie deutlich von der diekeren Vene 

187 


196 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


unterscheiden. Die dunkle Grenze in der unteren Hälfte des Bildes ist die 
Grenze des Tapetum gegen den übrigen Augenhintergrund. Legt man die 
Grösse der Papille zu 0-8" zu Grunde, so kann man die einzelnen Gefässe 
sehr genau messen. Man projieirt am besten dazu das Bild in solcher Ver- 
grösserung, dass es genau 100 Mal gegen den natürlichen Augenhintergrund 
vergrössert erscheint. Nach dieser Methode ergab sich die Dicke der drei 
Arterien gleichmässig zu 554, die der oberen Vene zu 100, der nasalen 
zu 95u und der unteren zu 105u. Der Winkel, den die obere und untere 
Arterie mit einander bilden, ist 140°, derjenige, den die nasale Arterie mit 
den beiden anderen bildet, je 110°. Das feine Gefäss, welches senkrecht 
nach unten geht, ist 30 «4 diek und ebenso das links darauf folgende. Die 
meisten übrigen Gefässe, welche Sie noch auf dem Bilde sehen, schwanken 
zwischen 25 und 30u. Das zweite Bild (Fig. 3) ist eine Aufnahme von 
demselben Auge, aber weiter nach der temporalen Seite zu. Hier ist die 
Papille nach links gerückt, und man sieht in der Mitte die Area centralis 
und die grosse Menge der feinen Gefässe, welche auf dieselbe hinziehen. 
In der Dieke schwanken sie ebenfalls zwischen 20 und 304. Die dünnsten 
Aeste, die man noch erkennt, sind 20 # dick. Ich möchte bei diesem Bilde 
noch auf einen Punkt aufmerksam machen, nämlich auf die verschiedenen 
Ueberkreuzungen. Es sind. im Ganzen fünf Ueberkreuzungen von Gefässen 
auf dem Bilde zu sehen. Bei allen geht das eine Gefäss über das andere 
fast senkrecht, aber nicht vollkommen senkrecht. Wenn man die Winkel 
misst, so ergeben sich immer zwei Scheitelwinkel zu 80° und die beiden 
anderen zu 100° Ich weiss nicht, ob dieser Befund hier rein zufällig ist, 
oder ob auch sonst eine gewisse Regelmässigkeit in den Ueberkreuzungen 
vorkommt; darüber wären noch weitere Beobachtungen anzustellen. 

Abgesehen von dem Nutzen, den die Photographie des Augenhinter- 
grundes zur Feststellung der topographischen Anordnung hat, bietet sie aber 
auch die einzige Möglichkeit, das Volumen der unversehrten Gefässe im 
Leben zu messen. Bei vielen Experimenten handelt es sich darum, die 
Veränderungen der Gehirngefässe feststellen zu können. Da die Netzhaut 
als ein vorgestülpter Theil des Gehirns aufzufassen ist, so nehmen auch die 
Netzhautgefässe vermuthlich an vielen Veränderungen der Hirngefässe Theil. 
Man hat nun somit die Möglichkeit, die Einwirkung von verschiedenen 
Arzneimitteln, von Nervendurchschneidungen oder -reizungen, von physi- 
kalischen Einflüssen aller Art auf die Weise festzustellen, dass man in 
kurzen Zwischenräumen Aufnahmen des Augenhintergrundes macht, und 
auf dem Bilde genaue Messungen der Gefässe vorgenommen werden. 


2. Hr. Dr. W. STERNBERG (a. G.): „Ueber das wirksame Princip 
in den süssschmeckenden Verbindungen, das dem süssen Ge- 
schmack zu Grunde liegt, das sogenannte dulcigene Prineip.“ 


Die Frage des süssenden Princeipes ist am allereinfachsten durch Be- 
trachtung der anorganischen süssen Verbindungen zu lösen, wobei die 
Intensität der Süsskraft geflissentlich ausser Acht zu lassen ist, da die In- 
tensität sich überaus leicht durch physikalische Grössen verändern lässt. 

Damit ist dann der Weg der Untersuchung vorgezeichnet, indem der- : 
selbe zur Betrachtung des periodischen Systems führt. 

Von allen Elementen sind nur diejenigen Elemente durch den süssen 
Geschmack in ihren Verbindungen ausgezeichnet, also duleigen, welche in 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — W. STERNBERG. 197 


der Mitte des Systems gelegen, daher eine gewisse chemische Doppelnatur 
zeigen. Als Basen und Säuren zugleich fungirend, werden sie daher scherz- 
haft von den Chemikern die „Schnabelthiere‘“ unter den Elementen geheissen: 

U. Be-, 

III. B-, Al-, Sc-, Y-, La-, Yb- in ihren Salzen. 

IV. CO, und Pb-Salze. 

V. N,0, As,O,, Sb- in ihren Salzen. 

WISE ONTHES. 

Das sind die duleigenen Elemente, ausser diesen Verbindungen giebt 
es nicht eine einzige süss schmeckende anorganische Combination. , 

Diesen duleigenen Elementen ist nun eines eigenthümlich. In der Mitte 
des periodischen Systems zwischen + und — gelegen, besitzen sie jene 
Doppelnatur, vermöge deren ihre Hydroxyde sowohl als Säuren wie auch 
als Basen fungiren können. Nun theilen sie aber diese Eigenthümlichkeit 
der Doppelnatur mit allen anderen süss schmeckenden Verbindungen, auch 
mit den organischen Verbindungen. Daher glaubte ich in meinem ersten Ver- 
suche die Hypothese aufstellen zu können, dass diese, allen süss schmecken- 
den Verbindungen gemeinsame Doppelnatur das süssende Princip bedinge. 
Allein, sollte diese Hypothese zutreffen, so müssten auch sämmtliche anderen 
Elemente in der mittleren, duleigenen Zone die Eigenschaft besitzen, ihren 
Verbindungen den süssen Geschmack zu verleihen. Nun ist doch aber kein 
Element der duleigenen Zone ausser den erwähnten befähigt, auch nicht 
eine einzige süss schmeckende Verbindung zu liefern. Somit würde es gar 
nicht erklärlich sein, warum z. B. die Zinnsalze nicht süssen, da das Element 
doch auch die nämliche Doppelnatur zeigt wie z. B. Blei. Entweder ist 
also die Hypothese, dass in der chemischen Doppelnatur das süssende Princip 
zu suchen ist, hinfällig, weil willkürlich und müssig, überflüssig, weil ge- 
zwungen, oder aber zwingende Gründe müssen sich anführen lassen, diese 
auffallende Beobachtung zu erklären. Eine solche Erklärung ergiebt sich 
aber in der ungezwungensten Weise und zu weiteren Oonsequenzen in will- 
kommener Weise führend, wenn man nunmehr die duleigenen Elemente in 
der duleigenen Zone nicht mehr nach ihren Gruppen, also nicht mehr 
allein in verticaler Richtung, sondern nun auch einmal nach ihren 
Perioden, also in horizontaler Richtung, betrachtet. Alsdann ergiebt sich 
nämlich Folgendes: Duleigen sind in der ersten Periode die Elemente: Be-. 
Die Borsalze und 00, schmecken nicht deutlich süss, unverkennbar süss 
schmeckt aber N,O, H,O schmeckt auch süss, also süssen das Anfangsglied 
und die Enden der Reihe. 

Von der zweiten Periode sind duleigen: Al-, ausserdem S, also wiederum 
das erste und das letzte Glied. 

Ebenso sind auch in der dritten grösseren Periode nur Sc- und As-, 
also Anfangs- und Endglied duleigen. 

In der vierten Periode nur Y- und Sb-, wiederum Anfangs- und Endglied. 

Aehnlich ist in der fünften Periode nur duleigen: La-, Ce-, Yb- einer- 
seits und Pb- andererseits, Anfangsglieder also der Hauptgruppen und End- 
glied der Untergruppe. Sollte freilich diese Regelmässigkeit durchgängig 
zutreffen, so müsste aber auch Bi als Endglied jedenfalls duleigen sein. 
In der That hat es sich bestätigt, dass auch Bi- duleigen ist. 

So ist also auch in der letzten Periode diese Regelmässigkeit durchgeführt. 

Zum Zustandekommen des süssen Geschmackes gehört also nicht allein 


198 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


die chemische Indifferenz, die Doppelnatur. Es ist vielmehr noch eine Be- 
dingung an das Zustandekommen des süssen Geschmackes geknüpft: die die 
Doppelnatur bedingenden Theile müssen noch besonders ausgezeichnet sein. 

Die Verbindungen nun, in welchen diese duleigenen Elemente der 
duleigenen Zone süss schmecken, sind: 

1) H-Verbindungen, und zwar schmecken lediglich die H-Verbin- 
dungen derjenigen Elemente süss, welche am weitesten nach rechts und oben 
im System stehen, also am meisten negativ sind: O und S8. 

2) Oxyde, und zwar schmecken lediglich die Oxydverbindungen der- 
jenigen Elemente süss, welche auch noch nach rechts und oben im System ihre 
Stellung haben, also auch noch nach der negativen Seite gelegen sind: N, As. 

3) Salze, und zwar schmecken lediglich die Salze derjenigen Elemente 
süss, die nach links und unten, also nach der positiven Seite gelegen sind. 
Zum allergrössten Theile sind die süss schmeckenden anorganischen Ver- 
bindungen Salze; und ist es für die süssende Eigenschaft ganz gleichgültig, 
mit welcher Säure das duleigene Element combinirt ist. Nur der basische, 
der positive Theil in diesen Salzen ist für das duleigene Princip maass- 
gebend. Diese Thatsache deutet darauf hin, dass dem positiven Element 
Jon die duleigene Kraft zuzuschreiben ist. 

Diese eigenthümliche Erscheinung nun, dass sich der süsse Geschmack 
auf ganz vereinzelte Verbindungen mancher Elementgruppen beschränkt, 
auf H-, auf Oxyd-, auf salzartige Verbindungen, je nach der Stellung der 
Elemente, lässt sich nun auch in einer gewissen Regelmässigkeit in manchen 
organischen Verbindungen verfolgen, welche durch den süssen Geschmack 
ausgezeichnet sind. Am eclatantesten zeigt sich dies, wenn man das mehr 
metallische, also mehr nach links unten zu setzende, organische Element 
Methyl- dem mehr negativen, also mehr mit den nach rechts und oben 
stehenden Elementen correspondirenden, organischen Element Phenyl- C,H, 
gegenüberstellt. 

Süss schmecken von Methyl- und homologen Verbindungen die Oxyde, 
1) die Zucker, aber zugleich auch 2) die Salze, die Ester. 

Von Phenyl-Verbindungen schmecken hingegen süss: 1) ebenfalls auch 
noch die Oxyde, 2) aber ausserdem nicht die entsprechenden Verbindungen. 
Hinwiederum schmecken von Phenyl-Verbindungen diejenigen wieder süss, 
deren entsprechende Methyl-Verbindungen nicht süssen. 

Methyl- correspondirt also mit den positiven Elementen, da auch seine 
Salze süssen; Phenyl- mit den mehr negativen Elementen, da diejenigen 
Verbindungen hier süssen, in denen negative Gruppen angehäuft sind, z. B. 
Salieylsäure. 

So führt dieser Weg nicht allein zur triftigen Erklärung, warum so 
viele Elemente in der duleigenen Zone nicht eine einzige süssende Com- 
bination bilden, so dass die Theorie des süssenden Prineipes dadurch nicht 
erschüttert, sondern sogar bestätigt und ergänzt wird, sondern auch zur 
Prognostik der duleigenen Eigenschaft des Wismuths. Ja, die nämliche 
Betrachtung führt vollends den süssen Geschmack in vielen Verbindungen 
der aromatischen Reihe, der bisher nur sehr schwer erklärlich war, einer 
Erklärung entgegen und zwingt zur Beschränkung des süssenden Prineipes 
auf die Combination von zwei Bedingungen. 

Dem Zustandekommen des süssen Geschmackes sind also grössere 
Schwierigkeiten gesetzt als dem des bitteren Geschmackes. So erklärt sich 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — J. KRon. 199 


die Thatsache, dass die Zahl der süss schmeckenden Verbindungen eine viel 
geringere ist als die der bitter schmeckenden Substanzen. 

Ist diese soeben versuchte Hypothese des schmeckenden Prineipes in 
der That zutreffend, so muss dieselbe auch auf den Geruch auszudehnen sein. 
Denn soll eine Hypothese mehr als ein blosses Bild sein, nicht allein dazu 
berufen, eine plausible Erklärung für die Thatsachen zu geben, sondern auch 
zu einer wissenschaftlich anerkannten Theorie zu führen, so muss dieselbe 
befruchtend auf weitere Anschauungen wirken und zu neuen ÜConsequenzen 
führen. Eine weitere Consequenz wäre es aber, wenn die Hypothese des 
süssenden Princeipes auch zur Lösung des Problems des riechenden Prineipes 
führte. Andererseits aber würde auch eine gleichartige Anwendung dieser 
chemischen Gesichtspunkte auf die riechenden Verbindungen eine will- 
kommene Probe für die Richtigkeit der Hypothese des schmeckenden Prin- 
cipes sein. Die schönste Bestätigung für die Theorie des schmeckenden 
Prineipes würde die Lösung des riechenden Principes sein. Zum ersten Male 
würde alsdann das alte Problem des Geruches einer Erklärung zugänglich 
gemacht sein durch diese Untersuchungen über den Geschmack. 

3. Hr. Dr. J. Kron (a. G.): „Ueber die Hemmung der Reflexe 
nach halbseitiger Durchschneidung des Rückenmarkes.“ 

Nach der Durchschneidung des Rückenmarkes bei Hunden findet in 
den ersten Tagen eine Herabsetzung der Erregbarkeit des Rückenmarkes 
statt. Unter den mannigfaltigen Gründen für diese Erscheinung ist der 
wesentlichste das mechanische Moment bei der Operation. Goltz nahm 
eine hemmende Fernwirkung an, indem während des ganzen Vernarbungs- 
processes die Schnittenden des Rückenmarkes eine Reizung erfahren, welche 
sich nach unten durch die Masse des Rückenmarkes fortpflanz. Munk 
giebt diesen Einfluss für die ersten Tage nach der Operation zu, sieht aber 
in dem Ansteigen der Reflexe zu einer Zeit, wo der Heilungsprocess der 
Wunde bereits abgelaufen ist (4 bis 8 Wochen), eine erhöhte Thätigkeit 
der Reflexcentren, welche in keinem Zusammenhange mit der Reizung von 
der Schnittstelle steht, und nennt dieselbe Isolirungsveränderungen. Gegen 
die Ansicht einer protrahirten Lähmung sprechen auch Experimente von 
Porter und Mühlberg. Trotz einer halbseitigen Durchschneidung des 
Rückenmarkes in der Höhe der Phrenicuszellen stellte sich die Athmung 
auf dieser Seite sofort wieder ein, wenn der Phrenicus der entgegengesetzten 
Seite durchtrennt wurde. Vortr. wies an Kaninchen und Hunden nach, 
dass die Durchtrernung des Phreniecus noch dann denselben Erfolg erzielte, 
wenn diese Operation einige Tage bis über 2 Wochen nach der Durch- 
schneidung des Rückenmarkes erfolgte. In dem Umstande, dass die Athmung 
nur dann zu Stande kam, wenn der Phrenicus der entgegengesetzten Seite 
völlig durchtrennt war, sieht Vortr. eine geringe Hemmung der Athemcentren 
und findet eine Bestätigung seiner Ansicht in dem Versuche, wo nach 
14 Tagen die Durchschneidung eines Phrenicusastes ausreichend war, um 
auf der entgegengesetzten Seite Athmungsbewegungen auszulösen. 

In Uebereinstimmung mit neueren Autoren beobachtete Vortr. regel- 
mässig das Sistiren der Athmung auf der Seite, wo das Rückenmark durch- 
schnitten war. Die gegentheiligen Beobachtungen von Knoll, Langen- 
dorff u. A. finden zum Theil dadurch ihre Erklärung, dass dort die Durch- 
schneidung dicht unter dem Calamus scriptorius gemacht wurde, zum Theil 
sind die beobachteten Athembewegungen als reflectorische zu deuten. 


200 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


Da zwischen spinalen Athemmuskelcentren und den Vorderhornzellen 
im unteren Rückenmark ein Päarallelismus besteht, studirte Vortr. die Ver- 
hältnisse, wie sie am Rückenmark nach halbseitiger Durchschneidung auf- 
traten, — den centrifugalen Reiz, welchen die bulbären Centren auf die 
Athemmuskelcentren ausübten, durch einen centripetalen Reiz ersetzend, in 
Form von Kneifen der Pfote. Schon nach !/, bis zu 2 Stunden nach der 
Operation an Hunden waren deutliche Reflexerscheinungen vorhanden. Die 
Reflexe stiegen constant an und erreichten mit etwa 8 Wochen die grösste 
Reflexerregbarkeit. Die Reizungen der Schnittenden des Rückenmarkes 
nehmen doch schwerlich in gleichmässiger Weise ab! 

Das progressive Wachsen der Reflexthätigkeit ist die Folge der sofort 
nach der Durchschneidung auftretenden Isolirungsveränderungen, welchen 
etwa 2 bis 3 Wochen nach der Operation ausschliesslich die Reflexerhöhung 
zuzuschreiben ist. Wäre die Steigerung der Reflexe in einem Fortfall der sog. 
Hemmungsfasern zu suchen, so müsste der Höhepunkt mit einem Mal eintreten, 
jedenfalls aber 2 bis 3 Wochen nach der Operation zu constatiren sein. 

Gegen die Erklärung von Goltz spricht auch die Thatsache, dass 
die Reflexe nach der Durchschneidung des Cervicalmarkes sich später und 
weniger intensiv ausbilden, als nach der des Rückenmarkes. Diese Versuche 
bilden eine Ergänzung zu jenen, welche Goltz, Munk u. A. nach totaler 
Querdurchschneidung des Rückenmarkes fanden, hier fällt die Circulations- 
störung fort, welche in der ersten Zeit Antheil an der Hemmung haben 
kann. Die Annahme von Pflüger, dass gekreuzte Reflexe symmetrisch- 
mit den ungekreuzten sind und dass der gekreuzte Reflex der schwächere 
ist, traf meist nicht zu. 

Die Shockwirkung des Schnittes ist um so geringer, je jünger das Thier ist, 
bei jungen Kätzchen fehlt sie überhaupt; hier hat die Erregbarkeit des Rücken- 
markes bereits die Höhe, welche sonst erst dank der Isolirung möglich ist. 

Im Widerspruch zu diesen Befunden stehen die Beobachtungen an rücken- 
markverletzten Menschen. Bastian stellte die Behauptung auf, dass bei 
totaler Durchtrennung des Rückenmarkes alle Haut- und Sehnenreflexe fehlen, 
deren Reflexbogen unterhalb der Trennung liegt. Diese Theorie erfuhr eine 
wesentliche Einschränkung, da verschiedene Fälle (letzthin von Jolly) bekannt 
wurden, wo die vollständige Querläsion nur langsam sich entwickelte und die 
Reflexe erhalten blieben. Nach kritischer Sichtung des einschlägigen Materiales 
kommt Vortr. zu der Ansicht, dass den Fällen, auf die Bastian sich stützt, 
die Beweiskraft abgeht; letztere wird hinfällig durch die Beobachtung von 
Kausch: Bei einem Pat. kam es während der Laminektomie zu einer totalen 
Querschnittsunterbrechung. Die Reflexe kehrten 22 Stunden nach der Ope- 
ration zurück und blieben bis zum Tode erhalten und erhöht. Vortr. wendet 
sich gegen die bestehenden Erklärungen der Reflexsteigerung im Sinne von 
Bonchard, Charcot u. A. einerseits und Westphal andererseits: Die 
absteigende Degeneration — ein Absterben eines abgetrennten Neuron- 
theiles — kann doch nicht irritativ sein; die Reflexsteigerung tritt manchmal 
wenige Stunden nach dem Insult auf, während die secundäre Degeneration 
erst am zweiten oder dritten Tage beginnt, ferner bleiben Contraction und 
erhöhte Reflexe dauernd bestehen, während der Degenerationsprocess nach 
etwa 3 Monaten abgelaufen ist. Gegen die Annahme, dass durch die Unter- 
brechung der Pyramidenbahnen die in diesen verlaufenden hemmenden Ein- 
üsse verloren sind, spricht, dass die Verstärkung der Sehnenreflexe sich 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — ÜARL ÜPPENHEIMER. 201 


allmählich entwickelt. Die Reflexsteigerung erfolgt dadurch, dass in dem 
durch die Degeneration abgetrennten Theile des Rückenmarkes Isolirungs- 
veränderungen vorgehen; je nach dem Umfange desselben, unabhängig davon, 
welche Partie des Rückenmarkquerschnittes erkrankt, erfahren die Reflexe 
eine Steigerung. In diesem Vorgange liegt eine einheitliche Erklärung für 
die Steigerung der Reflexe bei den Hemiplegischen und Spinalkranken. Die 
Reflexsteigerung nach der Rückenmarksläsion gilt nicht bloss für die Patellar- 
reflexe, sondern auch für die spinalen Hautreflexe. 


II. Sitzung am 7. November 1902. 


1. Hr. CArL OPpENHEIMER: „Ueber Fractionirung der Serum- 
albumine.“ (Vorläufige Mittheilung.) 

Ich möchte Ihnen nur in aller Kürze über einige Versuche berichten, 
die durchaus noch nicht abgeschlossen sind. Ich mache diese vorläufige 
Bemerkung nur aus dem Grunde, weil ich in Erfahrung gebracht habe, dass 
anderweitig über dieselbe Frage gearbeitet wird, und weil eine genauere 
Durchführung der Versuche, die mich schon seit längerer Zeit beschäftigen, 
viel Zeit erfordert. 

Die Eiweisskörper des Blutserums theilt man bekanntlich in zwei grosse 
Hauptgruppen: das Serumglobulin und das Serumalbumin. 

Die dem Globulin zugerechnete Fraction ist nur theilweise löslich in 
reinem Wasser; löst sich nur in Salzlösungen, so dass ein Theil bei der 
Dialyse ausfällt. Aus den Salzlösungen ist sie durch schwache Säuren fällbar, 
auch durch Kohlendioxyd. Die Globuline zeichnen sich ferner dadurch aus, 
dass sie durch Sättigen der Lösung mit Magnesiumsulfat und durch Halb- 
sättigung mit Ammonsulfat ausfallen. 

Es erwies sich nun, dass die auf die verschiedenen Weisen dargestellten 
Globulinpräparate nicht in allen Punkten identisch waren. Insbesondere 
waren es die Beziehungen des Serumglobulins zu den speeifischen Anti- 
körpern, bei denen sich Differenzen ergaben. Bald fand man die Anti- 
körper, z. B. das Diphtherieantitoxin, an den Globulinen haften, bald ver- 
misste man es in dieser Fraction. 

Diese Differenzen klärten sich dahin auf, dass es scheinbar zwei ver- 
schiedene Serumglobuline giebt. Nachdem zuerst Marcus! den bei der 
Dialyse wasserlöslichen Theil des Globulins als eigenen Stoff angesehen, 
und Seng? gefunden hatte, dass das Diphtherieantitoxin gerade an diesem 
Globulin haftet, das durch Dialyse unlöslich gewordene Globulin aber frei 
davon ist, gelang es Fuld und Spiro°? durch fractionirte Ammonsulfatfällung 
drei Globuline zu erhalten. 

Bei Sättigung bis 25 Procent fällt zunächst das Fibrinoglobulin, die 
Muitersubstanz des Blutfaserstoffes; bei etwa 33 Procent fällt das wasser- 
unlösliche Euglobulin und bei 38 bis 46_Procent das wasserlösliche 
Pseudoglobulin. 

Die wichtigste Frage ist nun die, ob diese beiden letzten Globkulin- 


1 Marcus, Zeitschr. phys. Chemie. 1899. Bd. XXVIII. 8. 559. 

®? Seng, Ueber die qualitativen und quantitativen Verhältnisse der Eiweisskörper 
u.s.w. Zeitschrift für Hygiene. Bd. XXX1L 8. 513. 

® Fuld und Spiro, Ueber die labende und labheinmende Function des Blutes. 
Zeitschr. phys. Chemie. 1900. Bd. XXXI. S. 139. 


202 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


antheile wirklich zwei chemisch verschiedenen Eiweissstoffen des genuinen 
Serums entsprechen. Damit hängt die prineipielle Entscheidung zusammen, 
ob man in der fractionirten Fällung mit Ammonsulfat ein souveränes Mittel 
hat, um Eiweisskörper zu trennen. Dieses Mittel und das ähnliche der 
Trennung mit Zinksulfat ist bekanntlich auch zur Trennung von Albumosen 
im grössten Massstabe benutzt worden, und das Resultat ist eine verwirrend 
grosse Anzahl von neuen Albumosen, die besonders Piek! und Zunz? be- 
schrieben haben. Es unterliegt nun gar keinem Zweifel, dass ein grosser 
Theil dieser Ammonsulfatfractionen thatsächlich verschiedenen Stoffen ent- 
spricht; sie zeigen auch rein chemisch deutliche Divergenzen. Es fragt sich 
nur, ob wir berechtigt sind, die Fractionirung mit Ammonsulfat an sich als 
ausreichend anzunehmen, und ohne Weiteres daraus, dass die Stoffe ver- 
schiedene Fällungsgrenzen haben, sie als chemische Individuen anzusprechen. 

Diese Frage ist durchaus nicht einhellig beantwortet. Vielfach begegnet 
man der Meinung, dass diese Fällungsreaction durchaus nicht alle Forde- 
rungen erfüllt, die man an eine chemische Differenzirung der Eiweissstoffe 
stellen muss. Man kann in diesem Sinne annehmen, dass die Fällung mit 
Ammonsulfat in bestimmter Concentration Veränderungen im feineren Bau 
des Molecüls schafft, die es bewirken, dass ein bestimmter Antheil immer 
wieder innerhalb derselben Grenzen fällt, dass also diese Scheidung in 
manchen Fällen eine willkürliche, künstliche ist. 

Es handelt sich hauptsächlich um die Frage, ob die betr. verschiedenen 


Eiweisssubstanzen präformirt im Serum vorhanden sind, so dass man 


sogar noch die chemische Selbstständigkeit der isolirten Fractionen zu- 
geben könnte, ohne das prineipielle Urtheil über den Werth der Ammon- 
sulfatmethode zu ändern. 

Dass die Sulfate durchaus nicht so gleichgültig für die Integrität des 
Eiweissmolecüles sind, dass man auf eine völlig unveränderte Fällung des 
genuinen Eiweisses rechnen könnte, zeigte Mörner.? Er fand, dass coagulirtes 
krystallisirtes Serumalbumin dann Schwefelsäure locker gebunden enthält, 
wenn es mittels Sulfaten dargestellt wird, dass es dagegen frei von dieser 
Schwefelsäure ist, wenn man es mittels schwefelsäurefreiem Kochsalz ab- 
scheidet. Freies Ammonsulfat konnte er dabei ausschliessen. 

Wir finden hier also direct eine specifische Beeinflussung des Eiweisses 
durch das Fällungsmittel. Das Serumalbumin macht aus dem Ammonsulfat 
geradezu Schwefelsäure frei und bindet sich an diese. Dabei tritt Ammoniak 
auf (G. Meyer‘). Dass auf diesen Vorgang die Concentration des Ammon- 
sulfates von grossem Einfluss sein kann, ist leicht vorstellbar. Mörner 
stellt es auch als wahrscheinlich hin, dass die Krystalle selbst Schwefelsäure 
enthalten: Sulfate sind. Durch Wasser werden sie, anscheinend denaturirt. 

Mörner kann sich aber auch in Bezug auf die oben erwähnten Glo- 


" Pick, Ein neues Verfahren zur Trennung von Albumosen. Zeitschr. phys. 
Chemie. Bd. XXIV. 8.246. — Zur Kenntniss der peptischen Verdauungsproducte. 
Ebenda. 1899. Bd. XXVIlIl. S. 219. — Die sogen. Deuteroalbumosen. Hofmeister’s 
Beiträge. 1902. Bd. II. S. 481. 

? Zunz, Die fractionirte Abscheidung der peptischen Verdauungsproducte. Zeitschr. 
phys. Chemie. Bd. XXVII. 8.219; Bd. XXVIIl. 8. 132. 

3 Mörner, Zur Kenntniss der Bindung des Schwefels in den Proteinstoffen. 
Zeitschr. phys. Chemie. 1902. Bd. XXXIV. 8. 247. 

* G. Meyer, Weitere Beiträge zur Kenntniss der Krystallisation des Serum- 
eiweisses. Inaug.-Diss. Strassburg 1896. 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — ÜARL ÜPPENHEIMER. 205 


bulinfraetionen nicht der Ansicht anschliessen, dass hier wirklich chemisch 
verschiedene Stoffe vorhanden sind. Weder die Analysenzahlen der durch 
fraetionirte Kochsalzfällung erhaltenen Präparate, von denen eines mit 
Wasser nicht ausfiel, noch das Drehungsvermögen und die Gerinnungs- 
temperatur zeigten irgendwie erhebliche Unterschiede. Er führt die ver- 
schiedene Fällbarkeit auf Beimengungen zurück. Die Bedeutung der An- 
wesenheit von Seifen für die Fällbarkeit hat er durch Versuche bewiesen. 

In ihrer vor wenigen Tagen erschienenen Arbeit berichten Freund 
und Joachim! über eine ganze Anzahl neuer Serumglobulinfraetionen, die 
sie nach den verschiedensten Methoden erhalten haben. Auch sie sprechen sich 
skeptisch gegenüber der chemischen Individualität aus, betonen aber die grosse 
Wichtigkeit dieser Fractionirungen in Bezug auf die Antikörperwirkungen. 

Indessen ist auch dies sehr begrenzt. Gerade die letzten Arbeiten über 
die Präcipitine haben die specifische Verknüpfung mit bestimmten Fractionen 
sehr eingeschränkt; so fand Rostoski?, dass man fast beliebig viele Frac- 
tionen aus Serumglobulin abscheiden kann, die aufeinander mit Nieder- 
schlagsbildung reagiren. Pick? hält allerdings an der Individualität der 
Fractionen fest und erklärt die Nichtspecificität dadurch, dass er die Anti- 
körper als fremde Beimengungen ansieht. 

In Gemeinschaft mit L. Michaelis konnte ich selbst? ferner zeigen, 
dass auch in Bezug auf die Präcipitinbildung die beiden Globulin- 
fracetionen (das Fibrinoglobulin bleibt dabei ausser Betracht) nur ganz un- 
wesentliche quantitative Unterschiede zeigen. 

Es geht aus diesen Ausführungen hervor, dass aus der Ammonsulfat- 
fällung allein nicht ohne Weiteres auf die Individualität des Euglobulins 
und Pseudoglobulins geschlossen werden darf. Andere Beweise dafür 
sind aber bisher nicht erbracht. 

Ich habe nun im Hinblick auf diese wichtige Frage einige orientirende Ver- 
suche angestellt, ob man nicht auf analoge Weise zwei Fractionen des bisher in 
dieser Beziehung als einheitlich angesehenen Serumalbumins gewinnen kann. 

Pferdeserum, frisch vom Schlachthof bezogen, wurde mit der gleichen 
Menge neutraler gesättigter Ammonsulfatlösung versetzt. Es fällt ein dieker 
Niederschlag von Globulinen, der abfiltrirt wird. 

Das Filtrat wird mit der halben Menge der gleichen Ammonsulfatlösung 
versetzt. Auf diese Weise erhält man eine Sättigung von 66?/, Procent. 
Ich habe ganz willkürlich diese Zahl herausgegriffen, um zu sehen, ob man 
auf diese Weise zwei Fractionen erhält. 

Es fällt ein reichlicher Niederschlag, der abfiltrirt und wieder in Wasser 
gelöst wird. In dieser Lösung giebt Ammonsulfat bis 50 Procent keine 
Trübung, bei weiterem Zusatz beginnt eine Ausscheidung des Albumins, die 
bei zahlreichen Versuchen zwischen 53 und 56 Procent einsetzt. In Wirklich- 
keit sind die Concentrationen um ein Geringes höher, da der Niederschlag 
naturgemäss geringe Mengen von Ammonsulfat zurückhält. Da er aber stets in 
reichlich Wasser gelöst war, so kann diese Verschiebung nach oben nur sehr 


! Freund und Joachim, Zur Kenntniss der Serumglobuline. Zeiischr. phys. 
Chemie. 1902. Bd. XXXVI. 8. 407. 

2 Rostoski, Zur Kenntniss der Präcipitine. Habslitationsschr. Würzburg 1902. 

® Pick, Ueber Immunkörper. Hofmeister’s Beiträge. 1901. Bd.1. 

* Michaelis und Oppenheimer, Ueber Immunität gegen Eiweisskörper. Dies 
Archiv. 1902. Physiol. Abthlg. Suppl. 8. 336. 


204 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


geringfügig sein. Wurde auf diese Weise die Concentration wieder auf 66°), 
gebracht, so entstand wieder der starke Niederschlag, der abfiltrirt wurde. 

In dem Filtrat liess sich auf keine Weise mehr Eiweiss 
nachweisen.! Es ist also ein Theil des Albumins- durch diese Methode 
bei einem völlig willkürlich gewählten Punkte so ausgeschieden, dass es 
stets wieder innerhalb derselben Fällungsgrenzen ausfällt. 

Diese Constanz der Fällungsgrenzen liess sich auch bei 5- bis 6maliger 
Fällung immer wieder constatiren. Indessen trat doch bei einem 5 Mal 
umgefüllten Präparat in dem Filtrat der 66?/, Procent-Fällung eine schwache 
Trübung auf, sowohl beim Aufkochen mit einer Spur Essigsäure, wie bei 
Vollsättigung mit festem Ammonsulfat. Es scheint sich demnach eine lang- 
same Veränderung des Eiweisses anzubahnen. 

Das Filtrat von der ersten Fällung wird mit festem Ammonsulfat ge- 
sättigt (bei schwach essigsaurer Reaction). Es fällt ein zweiter, an Volumen 
beträchtlich geringerer Antheil des Albumins aus, der ebenfalls filtrirt und 
wieder gelöst wird. Das Filtrat ist eiweissfrei. 

In dieser Lösung giebt Sättigung bis gegen 70 Procent keine Spur 
von Trübung. Hier ist die Concentrationsvermehrung durch anhaftendes 
Ammonsulfat natürlich beträchtlich grösser, da dem Niederschlag auf dem 
Filter etwas festes Ammonsulfat beigemengt war, von dem trotz der Ver- 
suche, es zu entfernen, eine Quantität wieder mit in Lösung ging. Hier 
verstärkt aber der zu erwartende Fehler die Gültigkeit der Resultate, 
denn wenn nach der Messung des Zusatzes die Concentration etwa 70 Procent 
betragen soll, so ist sie in Wirklichkeit noch höher. Ich habe dann Ver- 
suche gemacht, an dem salzfrei dialysirten Präparat den Beginn der Fällung 
durch Zusatz von gesättigter Lösung festzustellen; doch werden diese Resul- 
tate in Folge der dabei auftretenden grossen Flüssigkeitsmengen sehr un- 
scharf. Braucht man doch, um 75 Procent-Sättigung zu erzielen, auf 10 m 
Eiweisslösung 30°” ges. Ammonsulfat. Ich fand so verschiedene Anfangs- 
schwellen der Ausscheidung zwischen 70 und 80 Procent, auf die ich keinen 
besonderen Werth legen möchte. 

Die gefundene, in mehreren Versuchsreihen bestätigte Thatsache ist 
jedoch die, dass es gelingt, durch Sättigung mit Ammonsulfat bei 
einem ganz beliebigen Grenzwerth zwei Fractionen des Serum- 
albumins zu erhalten, von denen die eine nach der Wieder- 
auflösung keinen Antheil enthält, der höher fällt als 66?/,; die 
andere keinen Antheil, der unterhalb 66°/, fällt. Ferner lässt sich 
nachweisen, dass zwischen beiden Fraetionen eine Zone sich ausbildet, wo 
nichts ausfällt; ein Umstand, der auch für die Einheitlichkeit des Euglobulins 
und des Pseudoglobulins verwerthet worden ist, da zwischen 33 und 38 Proc. 
sich ebenfalls eine solche indifferente Zone findet. Dasselbe wiederholt sich 
bei der Trennung der Globuline von den Albuminen, da das Pseudoglobulin 
bei 46 Procent ausfällt, während das Albumin erst bei einem 50 Procent 
um einige Procente übersteigenden Sättigungsgehalt auszufallen beginnt. 

Es stellt sich uns nun auch hier die Frage, ob wir berechtigt sind, aus 
dieser Fällungsverschiedenheit Rückschlüsse darauf zu ziehen, dass wirklich 
mindestens zwei Serumalbumine existiren. A priori ist es unwahrscheinlich, 
dass ich zufällig bei 66?/, gerade den Trennungspunkt der beiden suppo- 


‘ Nur beim Aufkochen entstand ein Hauch von Trübung. 


PHYSIOLOG. GESELLSCHAFT. — CARL ÖPPENHEIMER. — N. Zuntz. 205 


nirten Albumine getroffen hätte. Indess muss diese Frage experimentell weiter 
geprüft werden. Es ist dazu nöthig, von beiden Fractionen zur näheren 
Charakterisirung ausreichende Mengen mit scharfen Fällungsgrenzen zu iso- 
liren, was bei der zweiten Fraction grössere Mengen Ausgangsmaterial verlangt. 

Die durch Dialyse gewonnene salzfreie Lösung des bei Vollsättigung 
fallenden Antheiles stellte sich mir als eine leicht opalescirende Flüssigkeit 
dar, die üblichen Eiweissfraetionen (Coagulation beim Kochen, Millon, 
Adamkiewiecz, Unterschichtung mit HNO,, Phosphorwolframsäure) zeigte, 
und ‘wenig Eiweiss enthielt (etwa 1-58” im Liter). Beim Sättigen mit 
Ammonsulfat gab sie wieder Fällung. Bei 60° fing sie an, sich zu trüben, 
bei 79 bis 81° trat dann stärkere Trübung ein. Durch Essigsäure wird 
die Coagulation verhindert, auch das ganz frische Coagulum löst sich darin, 
nieht aber in Salpetersäure. 

Beim Stehen wird die Trübung immer stärker; die Denaturirung scheint 
zuzunehmen. 

‘Auch die erste Fraetion wurde salzfrei dialysirt. Sie war ebenfalls 
ziemlich trübe; die Albumine scheinen durch Wasser denaturirt zu werden. Sie 
gab die üblichen Eiweissfraetionen stark und eoagulirte ziemlich scharf bei 76°. 
Eine weitere Untersuchung auch dieses Antheiles muss ich mir vorbehalten. 

Ferner müsste man versuchen, ob bei einem anderen willkürlich ge- 
wählten Schwellenwerth wieder zwei constant fallende Fraetionen erhalten 
werden, ob man etwa die jetzt erhaltenen Fractionen weiter zerlegen kann 
u.s.w. Diese viel Zeit kostenden Versuche hoffe ich noch anstellen zu 
können, um die Frage, ob es wirklich zwei Serumalbumine giebt, der Ent- 
scheidung näher zu bringen. Bisher glaube ich viel eher an die Möglichkeit, 
derartige constant fallende Fractionen künstlich aus einem chemisch ein- 
heitlichen Eiweisskörper zu gewinnen; es ist mir wahrscheinlicher, dass 
entweder geringe Veränderungen im Molecül des Albumins oder aber die 
Anwesenheit von störenden Beimengungen die Fällbarkeit derartig beein- 
Aussen. Man könnte z.B. an verschiedenartige Salzbildungen, Dehydrati- 
sirungen u. s. w. denken. 

Indessen darf andererseits nicht verschwiegen werden, dass auch andere 
Gründe für die Existenz von mehreren Serumalbuminen geltend gemacht 
worden sind. So fand Gürber' im Pferdeserum drei Krystallfractionen, 
die sich in der Krystallform und der specifischen Drehung etwas unter- 
scheiden. Indessen hält Cohnheim? trotzdem das Serumalbumin des Pferdes 
für einheitlich. Wenn diese Ansicht, der auch ich vorläufig mich anschliesse, 
richtig ist, so darf man in der Ammonsulfatfällung an sich nicht eine Methode 
annehmen, die unbedingt zur Abscheidung chemischer Individuen führt, und 
darf sie nur. als ein vorläufiges Hülfsmittel betrachten, um entweder schon 
differenzirte Stoffe zu trennen, oder aber nur die Vorbereitung zu schaffen 
für die nachherige chemische Individualisirung der gefällten Stoffe. 


2. Hr. N. Zuntz: „Eine Methode zur Schätzung des Eiweiss- 
und Fettgehaltes im lebenden Thierkörper.“ 

Ich habe vor längerer Zeit Gelegenheit gehabt, Ihnen über Stoffwechsel- 
versuche an Fischen zu berichten, die von meinem damaligen Assistenten 
Hrn. Knauthe ausgeführt wurden und bei denen unter Benutzung eines 


!. Gürber, Sitzungsber. phys. med. Ges. zu Würzburg. 1895. Bd. XXIX. S. 139. 
* Cohnheim, Die Eiweisskörper. Braunschweig 1900. 


206 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


Respirationsapparates und eigenthümlicher Methoden zur Bestimmung des 
in das Wasser entleerten Stickstoffes eine direete Bilanz des N- und C- 
Umsatzes und eine Bestimmung der O-Aufnahme ermöglicht wurden. Bei 
jenen Versuchen gewannen wir bestimmte Anschauungen über die Abhängig- 
keit des Stoffwechsels des Kaltblüters von der Aussentemperatur und von 
der Körpergrösse, zunächst im nüchternen Zustande. Weiter konnten wir 
auch Versuche mit Nahrungszufuhr anstellen und die Steigerung des Um- 
satzes durch die Verdauungsarbeit messen, in ähnlicher Weise wie beim 
Warmblüter. Dagegen konnten wir die Thiere in der Gefangenschaft nicht 
zu der reichlichen Nahrungsaufnahme veranlassen, wie sie die Karpfen im 
Sommer im Teich aufweisen. Der Karpfen verdreifacht im dritten Lebens- 
sommer sein Anfangsgewicht von etwa 4008" in nicht ganz 100 Tagen, 
so dass das Thier pro Tag etwa 103“ Leibessubstanz ansetzt und zwar 
nicht nur Muskelfleisch, sondern auch einen reichlichen Vorrat an Fett, das 
er nur theilweise während des Winterhungers wieder aufbraucht. 

Es lag uns nun daran, neben den bisherigen Versuchen im Aquarium 
auch solche im Teich vorzunehmen und unter den hier vorliegenden absolut 
normalen Verhältnissen den im Laufe des Sommers stattfindenden Fleisch- 
und Fettansatz zu verfolgen. Dabei kommen zwei Arten von Ernährung 
in Betracht. Entweder sind im Teich nur so viele Fische, dass ihnen die 
daselbst vorhandene Nahrungsmenge, die „Naturnahrung“, genügt. Sie leben 
dann vorwiegend von thierischem, zum Theil auch von pflanzlichem Plankton. 
Man kann aber sehr gut, wenn man den Besatz an Fischen bis auf das 
Vier- und Fünffache erhöht, das Defieit an Nahrung durch künstliche 
Nahrungszufuhr, durch regelmässiges Einstreuen von Futter in den Teich, 
decken und so dieselbe individuelle Gewichtszunahme erreichen. Hierbei 
kann man auch den Einfluss verschiedener Nahrungsmittel auf Fett- und 
Fleischbildung studiren. Wir haben beim Karpfen durch derartige Versuche 
festgestellt, dass das sog. „Nährstoffverhältniss“, das Verhältniss der Eiweiss- 
körper zu den stickstofffreien Nährstoffen innerhalb sehr weiter Grenzen 
variirt werden kann, ohne dass dadurch die Zusammensetzung des Körper- 
zuwachses sehr beeinflusst wird. Wir haben das Nährstoffverhältniss von 
1:1 bis 1:5 variirt, und sind in diesem Jahre in der Beschränkung der 
Eiweissmenge noch weiter gegangen. 

Im ersteren Falle bei eiweissreicher Kost bestreiten die Thiere ihre 
Lebensarbeit zum grossen Theile aus Eiweiss, während sie im anderen Fall 
diese Arbeit auf Kosten der stickstofffreien Nährstoffe leisten und einen viel 
grösseren Procentsatz des verfütterten Eiweisses zum Wachsthum benutzen. 

Nun hat sich bei diesen ersten Versuchen ! weiter ergeben, dass der 
Ansatz der Körpersubstanz nicht gleichmässig erfolgt, sondern dass in den 
ersten 50 Tagen vorwiegend Fleischansatz stattfindet und in Folge dessen 
eine sehr erhebliche Gewichtszunahme, in der zweiten Hälfte mehr Fett 
und weniger Fleisch angesetzt wird, so jedoch, dass, wenn man die ange- 
setzte Substanz in ihren Brennwerth umrechnet, dieser annähernd der gleiche 
ist. Es stimmt dieses Verhältniss mit dem auch beim Warmblüter beob- 
achteten überein. Mit dem Alter nimmt die Neigung zum Fleischansatz 
immer mehr ab und die überschüssige Nahrung führt mehr und mehr nur 


1 E. Giesecke und K. Knauthe, Bericht über Karpfen-Fütterungsversuche in 
Hellendorf 1901. Allgem.. Fischerei-Zeitung. 1902. Nr.5u.ff. 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — N. ZunTz. 207 


zur Anhäufung von Fett im Körper. In unserem Falle kann man diese 
Aenderung des Stoffwechsels auch teleologisch so deuten, dass das Thier in 
der zweiten Periode des Sommers Vorrathsstoff sammelt. 

Um nun einigermaassen einen Ersatz dafür zu haben, dass wir in den 
Teichen in der üblichen Weise Stoffwechselmessungen nicht anstellen können, 
war es wünschenswerth, eine Methode zu haben, um während der Fütterungs- 
periode mehrmals am selben Thiere feststellen zu können, wieviel Fleisch 
und Fett angesetzt worden ist. Es erschien möglich, das so zu erreichen, 
dass man das specifische Gewicht bestimmte. Wenn wir das Gewicht des 
gasfreien Karpfens und sein Volumen kennen, so werden wir das Verhält- 
niss Fleich zu Fett berechnen können. 

Das Skelet mit seinem relativ hohen specifischen Gewicht fällt ja auch 
stark in die Wagschale, aber dasselbe hat ja ein im Verhältniss zur Körper- 
srösse ziemlich constantes Gewicht, und das Verhältniss Fleisch zu Fett 
muss sich im specifischen Gewicht ausdrücken, nachdem man für das Ge- 
wicht des Skeletes einen entsprechenden Abzug gemacht hat. Schon vor 
Jahren besprach auf Virchow’s Anregung ein Anthropologe mit mir die 
Möglichkeit, beim Menschen derartige Bestimmungen zu machen. Ich 
glaubte aber davon abraten zu müssen, weil es allzu schwierig ist, die Gas- 
menge in Lunge und Darm zu bestimmen. 

Beim Fisch sind diese Bestimmungen dadurch 
erleichtert, dass der Fisch durch das Gas in seiner 
Schwimmblase im Wasser äquilibrirt wird, also mit 
diesem Gase zusammen das specifische Gewicht 
des Wassers hat, in dem er lebt. Da das Volum 
des Schwimmblasengases durch den Druck der 
überstehenden Wassersäule verkleinert wird, kann 
dies genau nur stimmen, wenn diese drückende 
Wassersäule immer dieselbe Höhe hat. Dies 
trifft nun zu für in flachem Wasser lebende Fische, 
also speciell für den Karpfen in unseren nur 
etwa 0-5 Meter tiefen Teichen. Wir können 
also hier das specifische Gewicht des Körpers mit 
dem darin enthaltenen Gase =1 setzen. Es kommt 
jetzt nur darauf an, wenn wir einen Fisch ge- 
wogen haben, das Volum der Gase in seinem 
Körper festzustellen, um daraus das specifische 
Gewicht des übrigen Körpers und weiter das Ver- 
hältniss Fleisch zu Fett zu bestimmen. Der ge- 
wogene Fisch wird in den hier abgebildeten 
Apparat gebracht, dieser wird vollkommen mit 
Wasser gefüllt und der Deckel absolut fest auf- 
geschraubt. Dann wird das Quecksilbermanometer 
M und die genau graduirte, mit einer Theilung 
an der Kolbenstange versehene Spritze 8 wassergefüllt angeschraubt und der 
Stand des Hg abgelesen. Jetzt stehen die Gase im Fischkörper unter dem 
Druck p (Barometer, + Wassersäule vom Fischkörper bis zum Deckel des 
Gefässes + Manometerdruck). Mit Hülfe der aufgeschraubten Spritze können 
wir nun ein genau abgemessenes Quantum Wasser einspritzen. Dadurch 
steigt das Manometer um den Werth m"®, Ein Theil des eingepressten 


208 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


Wassers hat aber im Manometer den Platz des durch die Druckerhöhung 
aus dem angrenzenden Schenkel verdrängten Wassers eingenommen. Seine 
Menge ergiebt sich aus der Volumcalibrirung des proximalen Manometer- 
schenkels. Der Rest des aus der Spritze eingepressten Wassers hat durch 
Compression der im Fischkörper enthaltenen Gase Raum gefunden. Das 
beim Anfangsdruck » vorhandene Gasvolumen x ist also durch Einpressen 
der bekannten Wassermenge a auf (= — a) verkleinert worden, während 
der zugehörige Druck von p auf (p + m) gestiegen ist. 

Aus der Gleichung p.e=(p-+ m) (x —a) berechnet sich das Volum 
der im Fischkörper vorhandenen Gase. 

Hr. Dr. Cronheim, welcher im Laufe dieses Sommers zahlreiche der- 
artige Bestimmungen mit dem Apparat ausführte, hat gewöhnlich 4 bis 6 
Ablesungen bei verschiedenen Drucken gemacht. Die Einzelversuche wichen 
um 4 bis 6 Procent von einander ab. Dies erklärt sich zum Theil dadurch, 
dass der Fisch seinen Standpunkt im Glase ändert. 

Zur weiteren Berechnung dienen folgende von Hrn. Dr. Cronheim 
ermittelte Zahlen. 


Bei 1000 bis 1200 8% Gewicht wiegt das Skelet 8-6 Procent 


des Körpergewichtes, sein specifisches Gewicht . . . . . = 1.274. 
Das speeifische Gewicht des Bettes . 2 ne 
Das spec. Gewicht des fettfrei gedachten Fleisches bei mageren 

ausgehungerten Thieren mit 17.7 Procent Trockensubstanz . = 1:058. 


Da der Kalkgehalt der übrigen Gewebe sehr gering ist, wurde die 
Masse des Skeletes in der Weise berechnet, dass der Kalkgehalt der Knochen 
bestimmt wurde und dann der Gesammigehalt des Fisches an Kalk. 

Hr. Dr. Cronheim wird in einiger Zeit die von ihm ausgeführten Be- 
stimmungen veröffentlichen und dabei auch zur Prüfung der Genauigkeit 
der Methode die Ergebnisse einer Anzahl von -Versuchen geben, in welchen 
die Fische unmittelbar nach der Bestimmung ihres specifischen Gewichtes 
getödtet und der Fett- und Fleischgehalt ihres Körpers zur Prüfung der 
Methode analytisch bestimmt wurde. 


3. Hr. Dr. Friepeich ReıcH, Herzberge (a. G.): „Ueber eine neue 
Granulation in den Nervenzellen.“ 


Vortr. hat im Laboratorium der Irrenanstalt Herzberge Untersuchungen 
mikrochemiseher Art an den Nerven ausgeführt, die zur Entdeckung einer 
neuen Zellgranulation führten, welche sich in den Zellen der Nerven (Zellen 
der Neurilemmscheide) finden. Ehrlich theilt je nach der Färbung mit sauren 
bezw. basischen Farben oder neutralen Farbgemischen die Zellgranulationen 
ein in acidophile, basophile und neutrophile Granula. Er kennt zwei Arten 
von acidophilen (« und $), zwei Arten von basophilen ( und d) und eine 
Art neutrophiler (e) Granulationen, im Ganzen also fünf verschiedene - 
Granulationen. Die von dem Vortr. festgestellte würde sonach als sechste 
hinzukommen. l 

Dieselbe hat in ihren färberischen Eigenschaften eine grosse Aehnlich- 
keit mit der Mastzellen- oder y-Granulation. Ihr Auftreten steht in Be- 
ziehung zu den sogen. Nervenkörperchen von Adamkiewiez. Adam- 
kiewiez hat diese Körperchen dargestellt durch Färbung des Nerven mit 
Saffranin. Dieselben stellen nach Adamkiewicz spindelförmige, an den 
Enden zugespitzte Zellen von halbmondförmigem Querschnitt mit ovalem 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — FRIEDRICH ReiIcH. 209 


Kern und reichem (nach den Abbildungen homogenem) Protoplasma an 
beiden Enden dar. Saffranin färbt nach Adamkiewiez den Kern violett, 
das Protoplasma orange. Sie sollen zwischen Mark und Schwann’scher 
Scheide und in allen doppelt econturirten und markhaltigen Nervenfasern des 
erwachsenen Menschen ungefähr vom 10. Lebensjahre bis an das Lebensende 
immer in derselben Menge vorkommen. Im centralen Nervensystem hat 
Adamkiewicz sie nicht festgestellt. Adamkiewicez behauptet, dass diese 
Dinge absolut nichts mit den Ranvier’schen oder Remak’schen Kernen 
zu thun haben, sondern, dass sie Gebilde sui generis sind. Sie sollen in 
den Nerven der Thiere durchweg und in den Nerven des Menschen in den 
ersten Lebensjahren fehlen. Adamkiewiez fasst seine Untersuchungen 
dahin zusammen, „dass die Nervenkörperchen ein physiologischer Bestand- 
theil der doppelt conturirten markhaltigen zumal motorischen Nervenfasern 
und zugleich die einzigen morphologischen Elemente sind, welche, wie es 
wenigstens bis jetzt scheint, dem erwachsenen Menschen ausschliesslich zu- 
kommen“. Rosenheim und mit ihm Benda, dessen Veröffentlichung über 
diese Frage ich leider nicht habe erhalten können, nahmen diesen Gebilden 
gegenüber einen völlig anderen Standpunkt ein. Diese Autoren sprachen 
den betreffenden Zellen jede für den Nerven specifische Bedeutung ab. Sie 
wiesen nach, dass diese Dinge nicht durchweg Spindelgestalt besitzen, sondern 
dass es sich um platte Zellen handelt, dass das Protoplasma derselben nicht 
homogen ist, sondern aus zahlreichen Körnchen besteht, die sich mit basischen 
Anilinfarben intensiv färben und rechneten sie zu den Mastzellen. Sie 
meinten, es handele sich um eine Umwandlung der Bindegewebskörper der 
Schwann’schen und Henle’schen Scheide in Mastzellen. Rosenheim 
glaubte, an Längs- und Querschnitten gefärbter Präparate die Zugehörigkeit 
der Mastzellen nicht nur zu der Schwann’schen, sondern auch der Henle’- 
schen Nervenscheide deutlich erkennen zu können. Seine Untersuchungen 
ergaben ferner im Gegensatz zu Adamkiewicz, dass die betreffenden Bil- 
dungen mit zunehmendem Alter reichlicher werden, und erst jenseits des 
45. Lebensjahres sehr zahlreich auftreten. Er glaubt auf Grund der Unter- 
suchung eines Falles von multipler Neuritis annehmen zu dürfen, dass ihr 
Auftreten mit entzündlichen Zuständen des Nerven in Zusammenhang steht. 
Rosenheim hat zweifellos die Darstellung von Adamkiewiez wesentlich 
corrigirt durch den Nachweis der körnigen Natur jener Zellen. Anderersets 
hat er sich aber in der Annahme, dass es Mastzellen seien, geirrt. 

Schon in dem mikroskopischen Bilde dieser Dinge spricht manches 
dagegen, dass es sich hier um Mastzellen handelt. Ehrlich schreibt den 
Mastzellen einen Kern zu, der sich mit basischen Anilinfarben entweder 
gar nicht oder in seltenen Fällen diffuse, d. h. wohl ohne Hervortreten 
einzelner Structurelemente, färbt. Im Gegensatz dazu zeigen die Kerne der 
fraglichen Gebilde eine sehr deutliche Kernmembran, an die sich ein feines 
Kernnetz anschliesst und ein rundes, ziemlich grosses Kernkörperchen, indem 
man bisweilen noch einen hellen Punkt nachweisen kann. Der Kern ist 
entweder — bei den kleineren Gebilden, die nur wenig Körnchen zeigen — 
längsoval, oder bei den grossen wohlausgebildeten Zellen rundoval bis kreis- 
rund und dann meist auffallend gross. Gerade in den grossen kreisrunden 
Kernen ist das Kernkörperchen meist am deutlichsten wahrnehmbar. Sodann 
ist auch auffällig die regelmässige Form dieser Gebilde, die bei den kleineren 
Zellen mit dem längsovalen Kern und wenigen Körnchen an eine Spindel 

Archiv f. A. u. Ph. 1903. Physiol. Abthlg. 14 


210 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


erinnert, während die grossen Gebilde schalenförmig der Nervenfaser an- 
liegende Platten darstellen. Bemerkenswerth ist ferner die auffallende 
Grösse dieser Gebilde, die die übliche Grösse der Mastzellen überschreitet. 
Auch die Art der Granulation selbst bietet auffallende Besonderheiten. Die 
Körnchen sind im Allgemeinen viel grösser, als die der Mastzellen. Sie 
haben eine regelmässige, meist rundliche, oder münzenförmige Gestalt. 
Man sieht häufig, wie diese Körnchen in eigenthümlicher Weise sich in 
ihrer Form gegenseitig beeinflussen, so dass zwiebelschalenartige Bildungen 
entstehen. Bisweilen treten rundliche Klumpen auf, die so gross sind, dass 
sie selbst den an sich sehr grossen blasigen Kern noch erheblich an Grösse 
übertreffen. So auffallend diese Formverschiedenheiten sind, die übrigens 
zum Theil bereits von Monidlewsky, der bei Adamkiewicz arbeitete, 
urgirt sind, so glaube ich doch, dass sie für sich allein nicht genügen, um 
diese Gebilde von den Mastzellen zu trennen. Ich habe daher’ versucht, weitere 
unterscheidende Merkmale aufzufinden. Zuerst handelte es sich darum, die 
Färbungsverhältnisse dieser Körnchen einer genauen Prüfung zu unterziehen. 

Es zeigte sich dabei, dass die fraglichen Granulationen im Allgemeinen 
eine grosse Verwandtschaft zu den basischen Anilinfarben besitzen und dass 
sie sich mit denselben meist in einem deutlich metachromatischen Farben- 
tone färben. Mit Methylenblau färben sie sich violett, mit Thionin carmoi- 
sinroth, mit Fuchsin rosaroth, mit Neutralroth und Saffranin orange. Die 
Angabe von Adamkiewiez, die er zur Unterscheidung seiner Nerven- 
körperchen von Mastzellen gegen Rosenheim anführt, dass die Mastzellen- 
körner sich mit Saffranin nicht färben, erwies sich nicht als stichhaltig. 
Controlpräparate an Mastzellen der Froschzunge ergaben eine deutliche roth- 
gelbe Färbung der Körnchen dieser Zellen. Bemerkt muss noch werden, 
dass in manchen Fällen, besonders bei Thioninfärbung, der von den einzelnen 
Körnchen derselben Zelle angenommene Farbenton variiren kann, indem 
einzelne Körnchen roth, andere bläulich gefärbt sind. Das letztere Verhalten 
ist aber viel seltener. 

Auffallend blass färben sich die Elemente des Nerven mit der von 
Ehrlich als specifisch für Mastzellen angegebenen essigsauren Daklia. 
Während Mastzellenkörner bei dieser Färbung regelmässig überaus intensiv 
in violettem Farbenton tingirt erscheinen, schlägt die Färbung der fraglichen 
Granula mit diesem Mittel entweder völlig fehl oder sie ist überaus schwach. 
Auch das Bismarckbraun erweist sich von schwacher und unsicherer Wirkung. 
Mit sauren Farbstoffen färben sich die Granula nicht. 

Mit dem neutralen Farbgemisch von Biondi-Heidenhain erhält man 
eine diffuse, blassviolette Färbung des ganzen Zellkörpers, innerhalb deren 
eine körnig netzige Structur angedeutet ist. 

Unterschiede in der Färbbarkeit der fraglichen Granula gegenüber den 
Mastzellen sind daher wohl vorhanden, aber immerhin sind dieselben doch 
so relativer Art, dass auch daraufhin es noch nicht möglich sein dürfte, 
sie von den Mastzellengranulis zu trennen. 

Gelegentlich von Versuchen der Darstellung der verschiedenen Bestand- 
theile des Nervenmarkes, die in der Weise angestellt wurden, dass die 
Nerven zuerst abwechselnd mit kaltem Alkohol und kaltem Aether, sodann 
mit auf 45° erwärmtem Alkohol ausgezogen und die Wirkung der ein- 
zelnen Extractionsmittel auf den Nerven an mikroskopischen Präparaten 
verfolgt wurde, fiel mir auf, dass, solange zur Lösung des Lecithins und 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — FRIEDRICH Reich. 211 


Cholesterins die kalten Extractionsmittel angewendet wurden, die fraglichen 
Granula, die man übrigens auch am ungefärbten Präparat sehr leicht als 
ziemlich stark lichtbrechende, etwas gelblichgrünliche Körner wahrnehmen 
kann, erhalten blieben, dass sie aber verschwanden, sobald zur Extraetion des 
Protagsons der Nerv einen oder mehrere Tage mit erwärmtem Alkohol 
ausgezogen wurde. Ich habe diesen Versuch an einer ganzen Anzahl 
Nerven und Nervenwurzeln verschiedener Herkunft wiederholt und immer 
das gleiche Resultat erhalten. Controlversuche, die ich an Mastzellen des 
Bindegewebes anstellte — ich benutzte dazu Präparate aus der Froschzunge, 
aus der menschlichen Haut, aus der Pia mater des menschlichen Rücken- 
markes — ergaben, dass die Granula der Mastzellen gegen die Einwirkung 
heissen Alkohols unempfindlich sind. Auch die in dem Bindegewebe des 
Nerven selbst vorgefundenen echten Mastzellen, die im Verhältniss zu der Zahl 
der Zellen mit den in warmem Alkohol löslichen Granulis sehr spärlich waren, 
zeigten Granula, die der Einwirkung des warmen Alkohols widerstanden. 

Es liefert also das Verhalten der fraglichen Granula gegen erwärmten 
Alkohol den deutlichsten Beweis dafür, dass dieselben von den Körnchen 
der Mastzellen scharf zu scheiden sind; dass wir es also hier mit einer 
neuen bisher nicht bekannten Granulation zu thun haben. Es erschien 
nun weiterhin von Interesse, das sonstige chemische Verhalten dieses neuen 
Granula zu verfolgen. Es liess sich feststellen, dass dieselben äusserst 
resistent sind, sowohl gegen starke Säuren, als auch gegen starke Alkalien. 
Stücke in Müller gehärteter Nerven, die 24 Stunden in concentrirter 
Schwefelsäure und danach mehrere Tage in Kalilauge von 30 Procent ge- 
legen hatten, zeigten die Körner noch völlig unversehrt. 

Concentrirte Essigsäure, die nach Ehrlich ein Lösungsmittel für Mast- 
zellengranula ist, erwies sich ebenfalls von negativer Wirkung. Verdauung 
mit Pepsin in salzsaurer Lösung brachte sie selbst nach mehrtägiger Ein- 
wirkung nicht zur Lösung. Bei wochenlanger Einwirkung trat allmählich 
eine Auflösung ein, die wohl auf die anhaltende Einwirkung der erwärmten 
verdünnten Salzsäure zurückzuführen ist. Die angeführten Reactionen: 
Unlöslichkeit in kaltem Alkohol und Aether, Löslichkeit in auf 45° er- 
wärmtem Alkohol, Unlöslichkeit in starken Säuren und Alkalien, Unverdaulich- 
keit dürften wohl uns gestatten, wenigstens Vermuthungen über die Natur 
der neuen Granula aufzustellen. Aus Eiweiss oder albuminoider Substanz 
können sie nach den vorstehend angeführten Reactionen nicht bestehen. 

Die Unlöslichkeit in kaltem Aether und Alkohol, die grosse Verwandt- 
schaft zu basischen Anilinfarbstoffen thut dar, dass es sich nicht um Fett 
handelt. Dazu kommt, dass, was bisher nicht erwähnt ist, die Körnchen 
mit Osmiumsäure sich nicht schwärzen. Dagegen weist Vieles in dem Ver- 
halten der Körnchen darauf hin, dass dieselben eine Verwandtschaft zu 
einem Stoffe besitzen, den man auf chemischem Wege aus der Markscheide 
gewonnen hat, nämlich demjenigen Stoffe, bei dessen Gewinnung die diesen 
Körnchen eigenthümliche Löslichkeit in 45° warmem Alkohol entdeckt 
wurde. Es ist das das von Liebreich dargestellte Protogon, das ebenso 
wie die neu entdeckten Körnchen, die Eigenschaft besitzt, sich in auf 45° 
erwärmten Alkohol zu lösen, dagegen in kaltem Alkohol unlöslich ist. Es 
scheint diese Annahme noch weiterhin der Umstand zu bestätigen, dass 
sowohl der von mir selbst aus dem mit kaltem Alkohol und Aether 
erschöpften Nerven durch Extraction mit warmem Alkohol gewonnene und 

14* 


22 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


nach Liebreich’s Vorschrift gereinigte Stoff als auch eine mir durch die 
Güte des Hrn. Prof. Thierfelder überlassene Probe des Liebreich’schen 
Originalpräparates eine deutlich metachromatische Färbung mit Thionin in 
ähnlichem Farbenton wie bei den neuen Granula ergab. 

In gleichem Sinne dürfte auch der Umstand sprechen, dass man nach 
Behandlung des Nerven mit kaltem Alkohol auch innerhalb der Nerven- 
scheide selbst nicht selten Körnchen findet, die mit Thionin die unseren 
Granulis eigenthümliche metachromatische Färbung geben. In solchen 
Präparaten, in denen das Mark durch Chromirung oder Osmirung conservirt 
ist, finden sich dagegen derartige Substanzen im normalen Nerven nicht. 

So sehr nun auch das Verhalten der Granala gegen Alkohol einerseits, 
sein Verhalten gegen Thionin andererseits dem des Protagons entspricht, 
so glaube ich genügen doch diese Momente nicht, um uns zu berechtigen, 
die Granula ohne Weiteres als aus Protagon bestehend anzusprechen. Es 
ist das einmal deshalb bedenklich, weil die Natur des Protagons doch „wohl 
noch nicht hinreichend geklärt ist. Es erscheint wohl noch immer zweifel- 
haft, ob man es dabei mit einem chemischen Individuum oder mit einem 
Gemisch verschiedener Stoffe zu thun hat. Sodann! ist natürlich die Mög- 
lichkeit nicht ausgeschlossen, dass andere, vielleicht noch nicht bekannte 
Bestandtheile des Nervenmarkes bezw. Zersetzungsproducte desselben ein 
gleiches Verhalten gegen Alkohol und Thionin zeigen. Ich glaube, dass 
man nur soviel mit Wahrscheinlichkeit annehmen kann, dass die Granula 
zu den Stoffen der Markscheide eine Verwandtschaft besitzen dürften. Die 


Annahme einer solehen Verwandtschaft gewinnt noch eine weitere Stütze 


dadurch, dass die Granula mit dem als Fettfarbstoff bezeichneten Scharlach- 
roth sich in einer ähnlichen, wenn auch kräftigeren Nüance färben wie das 
Mark des Nerven. 

Nachdem so der Nachweis einer neuen Granulation im Nerven erbracht 
ist, erscheint es weiterhin erforderlich, festzustellen, welcher Art die Zellen 
sind, in denen die neuen Granula sich finden. Wie bereits vorher erwähnt, 


stehen die Zellen in enger Beziehung zu den Nervenfasern. Die Zellen 


liegen stets so, dass ihr längster Durchmesser der Längsrichtung des Nerven 
folgt. Man sieht auf Längsschnitten deutlich, dass die Gebilde den Nerven 
sich regelmässig eng anschmiegen. Besonders charakteristisch erscheint die 
Beziehung der grossen platten Zellen zur :Nervenfaser. Man sieht an 
Präparaten, an denen nicht nur die Granula gefärbt sind, sondern auch das 
Mark der Faser irgend wie sichtbar. gemacht ist, dass diese Zellplatten eine 
hohle Schale bilden, die den Nerven in einem mehr oder weniger grossen 
Theile seiner Peripherie oder sogar im ganzen Umfange umgiebt. Besonders 
deutlich sieht man dieses Umfasstwerden von den Zellen an Querschnitts- 
präparaten. Während im Allgemeinen der Querschnitt der Zellen in Form 
eines Halbmondes oder in Form einer Bischofsmütze erscheint, bekommt 
man gelegentlich auch Bilder, in denen sich die Zelle als geschlossener 
Ring darstellt, in dessen Mitte der Nerv mit dem Mark und dem Axen- 
eylinder gelegen ist. 

An Zupfpräparaten (Vort. hat solche von frischen, von in Alkohol, 
Müller, Formol Müller, oder Osmiumsäure gehärteten Präparaten unter- 
sucht) zeigt sich ebenfalls, dass die Zellen stets dem Nerven unmittelbar 
anliegen und nicht sich im Bindegewebe vorfinden. Vielfach sieht man 
deutlich, dass an der Stelle, wo die Zellen gelegen sind, das Nervenmark 


N nn he 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — FRIEDRICH REICH. 213 


eine Ausbuchtung zeigt, in die sie hineinragen. Wendet man Mittel an, 
die den Zellleib als Ganzes färben, so bemerkt man, dass derselbe auf 
Längsschnitten sich allmählich mehr und mehr verjüngend schliesslich in 
die Neurilemmscheide übergeht. Vortr. ist es ferner gelungen, in den Zellen 
mit Hülfe besonderer Färbungsmethoden ein feines wabiges Netzwerk nach- 
zuweisen, in dessen Maschen offenbar die Granulationen und der Kern 
selegen sind. Dieses Netzwerk gleicht in seinem färberischen Verhalten 
dem Verhalten der Neurilemmscheide. Verf. glaubt an seinen Präparaten 
deutlich sehen zu können, dass an der Stelle der Zellen die Neurilemmscheide 
sich in zwei Lamellen spaltet, die durch das feine Netzwerk mit einander 
verbunden den Leib der Zelle bilden, in welchen die Körnchen eingelagert 
sind. Die Zelle würde demnach also weder ausserhalb, noch innerhalb der 
Neurilemmscheide liegen, sondern einen Bestandtheil derselben darstellen. 

Es sind demnach die Träger der Granulation die Zellen der Neurilemm- 
scheide, oder, wie ich sie mit Rücksicht aufi hre Zugehörigkeit zum Nerven- 
im Gegensatz zu den Ganglienzellen bezeichnen möchte, die Nervenzellen. 
Dass es sich thatsächlich um diese Zellen handelt, lässt sich sehr deutlich 
weiterhin noch beweisen dadurch, dass man zeigen kann, dass in Fällen, 
wo die Granulationen reichlich vorhanden sind, diese Zellen ihrer Zahl 
nach so vertheilt sind, dass immer zu je einem interannulären Segmente 
je eine derartige Zelle gehört. Vortr. ist es mit Hülfe eines eigenartigen 
Verfahrens gelungen, diesen Nachweis mit Sicherheit zu führen. Er hat 
zu diesem Zwecke Stücke in Müller’scher Flüssigkeit gehärteter Nerven 
mit 30 Procent Kalilauge mehrere Stunden behandelt. Es tritt dabei eine 
Zerstörung der Kerne, der Eiweiss- und Bindegewebssubstanzen des Nerven 
ein. Der Nerv zerfällt dabei vollständig in die einzelnen interannulären 
Segmente. Vortr. bringt nunmehr die zerfallenen Nervenstückchen mit der 
Kalilauge in die Centrifuge. Hier werden sie herauscentrifugirt und wieder- 
holt mit 10° Formollösung gewaschen, bis das Waschwasser neutral reagirt. 
Wenn man dann eine Spur des Bodensatzes mit der Pipette in einem 
Tröpfehen Flüssigkeit unter das Mikroskop bringt, so erkennt man, dass 
der Nerv in die einzelnen interannulären Segmente zerfallen ist. Jedes 
Segment stellt eine an den Enden spitz zulaufende Faser dar. Zerbrochene 
Segmente erkennt man deutlich an dem queren Bruch. Hat man zu der- 
artigen Versuchen einen mit zahlreichen granulirten Zellen versehenen 
Nerven gewählt, so ergiebt sich als ganz regelmässiger Befund, dass dem 
interannulären Segment regelmässig etwa in seiner Mitte ein Körnerhaufen, 
der eine helle Lücke umschliesst, die dem zerstörten Kern entspricht, nach- 
weisen lässt. Der Vergleich ergiebt, dass diese Bildungen in ihrem Aus- 
sehen, abgesehen natürlich von der Zerstörung des Kernes, den die neuen 
Granula enthaltenden grobgranulirten Zellen entsprechen. Es ist Vortr. 
mehrfach gelungen, auch die der Mitte des interannulären Segmente anhaf- 
tenden Körnerhaufen in wässeriger Einbettung mit Thionin bezw. Methylenblau 
zu färben. Diese Färbung ist aber sehr unbeständig. Ausserdem gelingt 
es auch mit Hülfe der Centrifuge, aus den durch die Kalilauge isolirten 
interannulären Segmenten Lackpräparate zu gewinnen, in denen die der 
Nervenfaser anliegenden granulirten Zellen mit Thionin sich darstellen lassen, 
freilich wohl nicht mit derselben Schönheit und Klarheit, wie in den ge- 
wöhnlichen Schnittpräparaten. 

Ist es so ganz sicher, dass unsere Grunula ihren Sitz in den Nerven- 


214 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


zellen haben, so lässt es sich andererseits auch nicht mit völliger Sicherheit 
zurückweisen, dass nicht auch vereinzelte Granula gelegentlich auch in den 
Zellen des Bindegewebes der Nerven auftreten. Es wäre ja durchaus möglich, 
dass diese Körnchen auch irgendwie in die Circulation hineingerathen 
könnten. Trotzdem ich sehr zahlreiche Schnitte und Zupfpräparate daraufhin 
untersucht habe, habe ich aber doch niemals mit Sicherheit ein- solches 
Verhalten gefunden. Wenn die fraglichen granulirten Zellen auch im 
Bindegewebe des Nerven vorkämen, dann müsste man sie auch wenigstens 
das eine oder das andere Mal bei der Maceration des Nerven mit Kalilauge 
von der Nervenfaser gelöst frei schwimmend antreffen. Dies ist aber ent- 
schieden nicht der Fall. 

Vortr. fasst seine Ansicht dahin zusammen, dass wir es hier mit einer 
specifischen Granulation der Nervenzellen zu thun haben, die dem Nerven- 
mark nahe steht. 

Ueber die Bedeutung derselben vermag er vorläufig noch keine nähere 
Auskunft zu geben. Nach den Angaben von Adamkiewiez bezüglich 
seiner Nervenkörperchen einerseits, Rosenheim bezüglich seiner Mastzellen 
andererseits scheint es, als ob die Granula in den ersten Lebensjahren 
sich nieht vorfinden. Ueber ihr Verhalten im späteren Lebensalter geht das 
Urtheil der beiden Autoren aus einander. 

Vortr. hat eine ganze Anzahl von Nerven verschieden alter aber doch 
meist älterer Individuen untersucht. Es handelte sich entsprechend dem 
Material der Irrenanstalt Herzberge durchweg um Geisteskranke. Die unter- 
suchten Nerven gehörten im Allgemeinen Fällen an, in denen klinisch eine 
Nervenerkrankung nicht nachweisbar war und in denen auch der mikro- 
skopische Befund keinen Beweis für Erkrankung der betreffenden Nerven 
lieferte. Er fand diese Körnchen in den von ihm untersuchten Fällen 
regelmässig. Zu Untersuchungen an kindlichen Nerven hatte er keine Ge- 
legenheit. Die Untersuchung des Ischiadieus eines älteren Esels ergab, 
entgegen der Annahme von Adamkiewiez, ungemein reichliches Vor- 
handensein der Granulationen in den Nervenzellen, die also auch der 
Thierwelt nicht fremd sind. Wenn auch der letztere Befund vielleicht für 
die Annahme einer physiologischen Bedeutung sprechen könnte, so möchte 
doch Vortragender erst nach weiteren Untersuchungen sich über die Frage 
der Bedeutung der Granula ein Urtheil bilden. Zum Schlusse sei noch 
erwähnt, dass Zellen, die die gleiche Körnelung, wenn auch im Allgemeinen 
in feinerer Form, zeigen, auch in dem centralen Nervensystem vorkommen. 


4. Hr. Tu. W. EnGEeLMAnN spricht über die „Vererbung künstlich 
erzeugter Farbenänderungen von Oscillatorien“ nach Versuchen von 
Hrn. N. Gaidukov. 

Die von Hrn. Gaidukov im physiologischen Institut ausgeführten 
Untersuchungen, über welche Vortr. im Juli 1902 der kgl. preuss. Akademie 
der Wissenschaften berichtet hat!, hatten ergeben, dass durch Einwirkung 
farbigen Lichtes die ursprüngliche violette Farbe von Ösc. sancta, und 


! Siehe auch Th. W. Engelmann, Ueber experimentelle Erzeugung zweck- 
mässiger Aenderungen der Färbung pflanzlicher Chromophylle durch farbiges Licht. 
Bericht über Versuche von Dr. Gaidukov. Dies Archiv. 1902. Physiol. Abthlg. 
Suppl. 8. 333—335, und die ausführliche, von Spectral- und Curventafeln begleitete 
Schrift von N. Gaidukov, Ueber den Einfluss farbigen Lichtes auf die Färbung von 
Oscillarineen. Abhandl. d. kgl. preuss. Akad. d. Wiss. zu Berlin. 1902. 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — TH. W. ENGELMANN. 215 


ähnlich auch die grüne Farbe von Osc. caldariorum, sich allmählich verändert 
und zwar in dem Sinne, dass das Absorptionsvermögen des Chromophylis 
für die Strahlen derjenigen Wellenlängengebiete wächst, deren relative In- 
tensität im farbigen einwirkenden Licht grösser als im ursprünglichen Tages- 
licht ist. Vortr. hat deshalb diese, für die Kohlenstoffassimilation vor- 
theilhafte Aenderung als complementäre chromatische Adaptation 
bezeichnet. Bei den bisher bekannten Fällen von durch farbiges Licht 
erzeugten Aenderungen körperlicher Farben wird im Gegentheil die ursprüng- 
liehe Farbe der des einwirkenden Lichtes immer ähnlicher, ein Vorgang, 
den man passend chromatische Assimilation benennen könnte. Die 
Ergebnisse der Versuche von Hrn. Gaidukov durften einmal als eine Be- 
stätigung der vom Vortr. aufgestellten gesetzmässigen Beziehungen zwischen 
Wellenlänge, Absorption und Kohlenstoffassimilation der Pflanzen, dann aber 
auch im Besonderen als ein Experimentalbeweis für die 1883 vom Vortr. 
auf deductivem Wege gegebene Erklärung der Tiefenvertheilung verschieden- 
farbiger Meeresalgen aus der selectiven Absorption des Meerwassers be- 
trachtet werden. Sie waren denn auch eigens zur Prüfung dieser Erklärung 
unternommen worden. 

Im weiteren Verlaufe der Beobachtungen von Hrn. Gaidukov hat 
sieh nun gezeigt, dass durch Wochen bis Monate lang dauernde Einwirkung 
von farbigem Licht erzeugte complementäre Farbenänderungen sich erhielten, 
auch wenn die Pflanzen nachträglich in weissem Tageslicht 
weiter eultivirt wurden. Die Versuche sind noch nicht zahlreich genug, 
um zu entscheiden, ob es sich hier um eine regelmässige, allgemeiner 
verbreitete Erscheinung handelt, doch genügen sie anscheinend bereits, um 
zu beweisen, dass künstlich erworbene Eigenschaften und Fähig- 
keiten sich vererben können. Es pflanzten sich beispielsweise in 
grünem Licht (hinter CuCl,-Lösung) braungelb gewordene, ursprünglich reif 
violette Fäden von Öse. saneta im diffusen Tageslicht kräftig unter Erhaltung 
der braungelben Färbung fort. Trotzdem sich im Laufe einiger Wochen die 
Zahl der farbigen Zellen der Schätzung nach um ein Vielfaches vermehrt 
hatte, war die Färbung noch nach 2 Monaten so gesättigt, dass man nicht 
annehmen durfte, es habe sich der früher während der Einwirkung des grünen 
Lichtes gebildete Farbstoff nur erhalten und über eine grössere Zahl von 
Zellen vertheilt. Vielmehr war zu schliessen, dass eine dauernde Neubildung 
braungelben Chromophylis auch in den später gebildeten jüngeren Zell- 
senerationen stattgefunden hatte, in Zellen also, welche der directen Ein- 
wirkung des farbigen Lichtes überhaupt nicht ausgesetzt worden waren. 
Es musste sich, mit anderen Worten, die im grünen Licht erworbene 
Fähigkeit, braungelben Farbstoff zu bilden, vererbt und trotz der ver- 
änderten Beleuchtungsverhältnisse erhalten haben. 

Es liefern diese Ergebnisse eine wichtige experimentelle Stütze für die 
Vermuthung, dass die jetzt an der Oberfläche des Meeres lebenden rothen 
und gelben Algen die Nachkommen von Formen sind, welche diese Färbung 
in früherer Zeit in grösseren Tiefen des Meeres unter dem Einfluss des 
dort herrschenden grünen bezw. blaugrünen Lichtes erwarben. Vortr. hat 
bereits früher betont, dass das häufige Vorkommen rother und gelber Algen 
in den oberflächlichsten Schichten des Meeres keinen Einwand gegen seine 
Erklärung der ungleichen Tiefenvertheilung der verschiedenfarbigen Algen 
aus der selectiven Absorption des Meerwassers bilde. Im weissen Lichte, 


216 VERHANDL. DER BERLINER PHYSIOL. GEs. — Ta. W. ENGELMANN. 


wie es an der Oberfläche vorherrscht, sind ja gleichfalls die für Bildung 
des rothen bezw. gelben Chromophylis und damit die für die Kohlenstoff- 
assimilation der so gefärbten Zellen wichtigsten Strahlen sehr reichlich 
vertreten und sogar von absolut grösserer Energie als in der Tiefe. Es liegt 
also zunächst gar kein Grund vor, weshalb die Zellen, wenn sie aus der 
Tiefe an die Oberfläche gelangen, aufhören sollten, denselben Farbstoff wie 
in der Tiefe weiter zu bilden. Auch der Mangel verschiedenfarbiger Chromo- 
phylle bei den in Luft lebenden Pflanzen ist hiermit in guter Ueberein- 
stimmung. Bei der relativ sehr gleichmässigen (weissen) Färbung des Tages- 
lichtes genügen Aenderungen in der Menge des einen, grünen, Farbstoffes, 
des Chlorophylls, um den verschiedenen Beleuchtungsbedingungen zu ge- 
nügen. Der Einfluss der Intensität der Strahlung wird hier weit mehr 
zur Geltung kommen müssen, als der der Farbe, d.h. der Wellenlängen 
des einwirkenden Lichtes. Keineswegs soll damit geleugnet werden, dass 
auch bei der Tiefenvertheilung der verschiedenfarbigen Algen im Meere 
die Intensität der Beleuchtung eine Rolle spielt, aber sie genügt nicht zur 
Erklärung der Thatsachen. Theoretisch glaubt Vortr. selbst die Möglich- 
keit aussprechen zu dürfen, dass bei genügender Energie: der Strahlung 
auch monochromatisches Licht vom äusseren Roth bis zum Blau zur 
Erzeugung aller beliebiger verschiedenfarbiger Chromophylle befähigt sei. 
Durch Versuche soll diese Vermuthung geprüft werden, wie auch die zahl- 
reichen anderen, an die hier mitgetheilten Resultate sich anknüpfenden 
wichtigen biologischen Fragen experimentell weiter untersucht werden sollen, 
insbesondere diejenigen, welche sich auf die Vererbung der im Licht er- 
worbenen Eigenschaften und auf den Kampf um’s Dasein der verschieden- 
farbigen Formen beziehen. 

Nachträglicher Zusatz. Dass nicht bloss Oseillarineen‘,*"sondern 
Auch andere Algen die Erscheinungen complementärer chromatischer Adap- 
tation zeigen können, scheint Vortr. aus einer ihm soeben (7. November) 
zugehenden Mittheilung von Dr. OÖ. Zacharias, Director der biologischen 
Station zu Plön (Holstein), hervorzugehen. Derselbe schreibt, dass sich bei 
Algen der dortigen Moorsümpfe „eine merkwürdige Verfärbung in der 
Richtung zeigt, dass freudig grüne (saftgrüne) Species, wie z. B. die ver- 
schiedenen Arten von Pediastrum, in den Mooren die Tendenz bekunden, 
ihre Farbe in ein helles Spangrün umzuwandeln“. Dasselbe bemerkte 
Dr. Zacharias bei Arten der Gattung Rhaphidium und bei manchen Clo- 
sterien. „Das Wasser in manchen dieser Moore sieht hellbraun aus und 
kommt somit einem farbigen Lichtfilter gleich.“ Die spectrophotometrische 
Untersuchung solchen Meerwassers ergab eine von Roth gegen Violett 
ziemlich gleichmässig wachsende Absorption. Aeltere Beobachtungen von 
F. Oltmanns! an den rothen Meersalzen Rhodomela subfusca und Poly- 
siphonia nigrescens lassen Vortr. das Vorkommen complementärer chroma- 
tischer Adaptation auch bei höheren marinen Pflanzenformen vermuthen, 
obschon Oltmanns selbst die von ihm beobachteten Farbenänderungen, im 
Anschluss an G. Berthold, nur auf Unterschiede der Intensität, nicht der 
Farbe des einwirkenden Lichtes zurückführen zu müssen meint. 


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Fortsetzung des von Reil, Reil und Autenrieth, J. F. Meckel, Joh. Müller, 
Reichert und du Shen herausgegebenen Archives, 


erscheint jährlich in. 12 Heften (bezw. i in Doppeheften) mit Abbildungen im 
Text und zahlreichen Tafeln. 

6 Hefte entfallen auf den anatomischen Theil und 6 auf den physiolo- 
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Der Preis des Jahrganges beträgt 54 MW. 

Auf die anatomische Abtheilung (Archiv für Anatomie und Entwickelungs- 
geschichte, herausgegeben von W.His), sowie auf die physiologische Abtheilung 
(Archiv für Physiologie, herausgegeben von Th. W. Engelmann) kann separat 


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Abtheilung 40 M, der Preis der physiologischen Abtheilung 26 M ; 


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theilungen nehmen alle Buchhandlungen des In- und Auslandes entgegen. 


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Druck von Metzger & Wittig in Leipzig. 


i KENT. I 
h Physiologische Abtheilungs. 1903. 111. u. IV. Heft. 

’ | 1883 

; | 

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FORTSETZUNG DRS VON REIL, REIL v. AUTENRIETH, J. F. MECKEL, JOH. MÜLLER, 
n REICHERT vu. DU BOIS-REYMOND HERAUSGEGEBRNEN ARCHIVES. 
HERAUSGEGEBEN 
Br N | VON 
EB ..\: Ds. WILHELM HIS, 
2 ED PROFESSOR DER ANATOMIE AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG, 


UND 


Dr. TH. W. ENGELMANN, 


PROFESSOR DER PHYSIOLOGIE AN DER UNIVERSITÄT BERLIN. 


JAHRGANG 1908, 


—— PHYSIOLOGISCHE ABTHEILUNG. — 
DRITTES UND VIERTES HEFT. 


MIT FÜNFUNDZWANZIG ABBILDUNGEN IM TEXT UND VIER TAFELN. 


or “ LEIPZIG, 
VERLAG VON VEIT & COMP, 
1903. 


Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandes. 
(Ausgegeben am 11. Juni 1903.) 


Inhalt. 


\ Seite 
G. Hürser, Noch ein Mal die Frage nach der „Sauerstoffeapacität des Blut- 


farbstoftest.. . 0. 217 
N. H. Aucock und Hans MER Ueber . Wirkung de Carpeins a a Haz 
thätiekeit. ‚(Hierzu Taf. III) . . . . 225 


RıcHarp Hıns Kann, Ein Beitrag zur Lehre von den Bilenokoren (Herz Taf. IV. ) 239 
KarL BRAEUNIG, Ueber Chromatolyse in den Vorderhornzellen des Rüeckenmarkes 251 
WILHELM 'TRENDELENBURG, Untersuchungen über das Verhalten des Herzmuskels 


bei rhythmischer elektrischer Reizung. (Hierzu Taf. V u. VL). ... 271 
WILHELM 'TRENDELENBURG, Ueber den Wegfall der compensatorischen Ruhe am 
spontan sehlagenden Froschherzen . . . ET IE RN 
PAuL OsTmann, Schwingungszahlen und sche selenwesihe EHE EH 321 
L. Porıerskı, Zur Physiologie des Plexus coeliacus. (Esperimentelie bar 
suchung.) 7, =. Reh.) 
Verhandlungen der vhrstoloeischen. Gezellschuit zu Berlin 1902— 1908. er Bl 
W. Consstein, Ueber fermentative Fettspaltung. — Hans VIRcHow, Gefrier- 
skelet-Präparat der Hand und Henke’sche Axen. — ABELSDORFF, Ueber 


entoptische Sichtbarkeit der Netzhauteireulation. — AUERBACH und FRIEDEN- 
ıHAL, Ueber die Reaction des Harnes bei verschiedenen Ernährungsverhält- 
nissen. — M. LewAnpowsky, Ueber das Verhalten der glatten Augen- 
muskeln nach Sympathieusdurchschneidung. — E. Rost, Zur pharmako- 
logischen Beurtheilung der: Borsäure unter besonderer Berücksichtigung 
ihrer Ausscheidung. — A. Lorwy, Bemerkungen zur Wirkung der Bor- 
präparate auf den Stoffwechsel. — Saun, Beiträge zur Morphologie der 
pathogenen Bakterien: Cholerabacillus und Vibrio Metschnikoff. — N. Zuntz, 
Ueber Beziehung zwischen Körpergrösse und Stoffverbrauch beim Gehen. — 
F. Hırscarenp, Die Ernährung der Soldaten vom physiologischen und 
volkswirthschaftlichen Standpunkt. — Leo Langstein, Zur Kenntniss der 
Alkaptonurie. — KARL GLAESSNER, Ueber die antitryptische Wirkung des 
Blutes, — H. KroNEckER, Ueber die Erregbarkeit von Nerv und Muskel 
perfundirter Frösche. — A. Loewy und Franz MÜLLER, Zur Kenntniss der 
anästhesirenden Wirkung des Yohimbin-Spiegel. — A. Lorwy und H. 
V. SCHRÖTTER, Ein Verfahren zur Bestimmung der Blutgasspannungen, der 
Kreislaufgeschwindigkeit und des Herzschlagvolumens am. Menschen. 


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portofrei einzusenden. — Zeichnungen zu Tafeln oder zu Holzschnitten sind 
auf vom Manuscript getrennten Blättern beizulegen. Bestehen die Zeich- 
nungen zu Tafeln aus einzelnen Abschnitten, so ist, unter Berücksichtigung 
der Formatverhältnisse des Archives, eine Zusammenstellung, die dem 
Lithographen als Vorlage für die Anordnung dienen kann, beizufügen. 


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Zeitschrift für Hygiene und Infectionskrankheiten 


Skandinavisches Archiv für Physiologie. 
1903. Verlag von Veit & Comp. in Leipzig. Nr. 2. 


Verlag von VEIT & OOMP. in Leipzig. 


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DER 


ANATOMIE DES MENSCHEN. 


FÜR STUDIUM UND PRAXIS 


VON 
Dr. JOHANNES MÖLLER, UND DR. PAUL MÜLLER, 

EHEM. PROSEKTOR HEM. ASSISTEN 
AM VESALIANUM ZU BASEL AM ANATOMISCHEN INSTITUT ZU LEIPZIG. 


MIT ZAHLREICHEN FIGUREN IM TEXT 
UND ZWEI REGIONENTAFELN. 


8. 1903. gebunden in Ganzl. 7 # 50 2. 


DIE SEHNENÜBERPFLANZUNG 


und ihre Verwertung in der Behandlung der Lähmungen 


von & 
Dr. med. Oscar Vulpius, 
Professor an der Universität Heidelberg. 
Mit zahlreichen Figuren und Abbildungen im Text. 
gr. 8. 1902. geh. 6 M. 


Über 


gaben und Grundsätze des Arztes 


bei der Begutachtung von Unfall-Nervenkranken. 
Akademische Antrittsvorlesung. 
Von 3 
Franz Windscheid, 
Professor an der Universität Leipzig. 
8. 1903. geh. 80 2. 


In einer Frage, deren Entscheidung den gewissenhaften Arzt, der bei 
nervösen Unfallerkrankungen denjenigen, die Anspruch auf Hilfe haben, auch 
wirklich helfen will, häufig in eine schwierige Lage bringt, werden hier 

leitende Grundsätze für das Handeln aufgestellt. 


1 


Pr 2 Eee en Br a N 
Verlag von Richard Schoetz, Berlin NW., Luisenstrasse Nr. 36. 


Soeben erschien: 


Leitfaden für Fleischbeschauer. 


Eine Anweisung 
für die Ausbildung als Fleischbeschauer und für die amtlichen Prüfungen. 


Von 
Dr. R. Ostertag, 


Professor an der Tierärztlichen Hochschule zu Berlin. 


Mit 150 Abbildungen. 
Preis: geb. # 6.50. 


Ostertag., 


Wandtafeln zur Fleischbeschau. 


\ 
Tafel I Fleischeinteilung beim Rind, Kalb, T afel IV Lage der Lymphdrüsen am Run pf 


Schaf und Schwein. | und an den Gliedmassen beim Rind. 


PER V Lage der Lymphdrüsen am Kopf 


= II Altersbestimmung bei denSchlacht- Bu an En Eau 


tieren nach den Zähnen. — VI a) Lage der Lymphdrüsen am 
R Rumpf und an den Gliedmassen 
III beim Schwein. 
30532 Unterscheidung des Geschlechts b) Lieblingssitze der Schweine- 
an ausgeschlachteten Tieren, finne, 
Preis: # 20.—. 


Verlag von August Hirschwald in Berlin. 


Soeben erschien: 


Specielle Muskelphysiologie 
oder Bewegunsgslehre 


von 
Pr.-Docent Dr. R. du Bois-Reymond. 
1903. gr. 8. Mit 52 Abbildungen. 8 M. 


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2 


Verlag von August Hirschwald in Berlin. 


Soeben erschien: 


Die Kriegsepidemieen des 19. Jahrhunderts 


und ihre Bekämpfung 
von 
Stabsarzt Dr. Otto Niedner. 


1902. 8. Gebunden. 5 M. 
‘(Bibliothek von Coler-Schjerning. XVII. Bd.) 


2 a EEE ER REN 
Verlag von FERDINAND ENKE in Stuttgart. 


Soeben erschienen: 
Bickel, Doc. Dr. A., Untersuchungen 
über den Mechanismus der nervösen 
Orschansky, Prof. Dr. J., Die Vererbung 


im gesunden und im krankhaften 


und die Entstehung des Geschlechts beim Menschen. 
Zustande Mit 41 in den Text gedruckten Abbildungen. gr. 8°. 
1903. geb. M. 9.— 


Verlage von August Hirschwald in Berlin. 


Soeben erschien: 


Erste ärztliche Hülfe 


bei plötzlichen Erkrankungen und Unfällen. 
In Verbindung mit 


Wirkl. Geh. Rath v. Bergmann, weil. Geh. Med.-Rath Dr. Gerhardt, 
Geh. Med.-Rath Dr. Liebreich, Prof. Dr. A. Martin 


bearbeitet und herausgegeben von 


Professor Dr. George Meyer. 
1903. 8. Mit 5 Textfiguren. Gebunden. 8 #. 


3 


EETTRERTTETFDe 


Verlag von VEIT & COMP. in Leipzig. 


Soeben erschien: 


DIE MUTATIONSTHEORIE. 


VERSUCHE UND BEOBACHTUNGEN 
ÜBER DIE 


ENTSTEHUNG VON ARTEN IM PFLANZENREICH 
VON 
HUGO pe VRIES, 


PROFESSOR DER BOTANIK IN AMSTERDAM. 


Zwei Bände. 


Roy. 8. geh. 43 .%#, geb. in Halbfranz 49 #. 


Erster Band. Die Entstehung der Arten durch Mutation. Mit zahlreichen Abbil- 
dungen im Text und acht farbigen Tafeln. 1901. geh. 20 #, geb. in Halb- 
franz 23 #. 


Zweiter Band. Elementare Bastardlehre. Mit zahlreichen Abbildungen im Text und 
vier farbigen Tafeln. 1903. geh. 23 .%#, geb. in Halbfranz 26 #*. 


Gestützt auf eine lange Reihe ausgezeichneter Untersuchungen und 
auf ausgedehnte Litteraturstudien liefert der Verfasser in diesem epoche- 
machenden Werke ein ungemein reiches Material zur Entscheidung der 
Frage, wie neue Arten entstehen. Der Darwinismus beantwortet diese Frage 
bekanntlich dahin, daß Arten ganz allmählich aus anderen hervorgehen, 
de Vries weist dagegen nach, daß die ‚‚fluktuierende Variation‘, auf welche 
sich der Darwinismus fast ausschließlich stützt, zur Bildung neuer Arten 
nicht führen kann. Neue Arten entstehen stoßweise Diese Stöße nennt 
de Vries „Mutationen“. Er zeigt, daß diese Entstehung sich ebenso gut 
beobachten läßt, wie jeder andere physiologische Vorgang. 


Preeerer ce rerpreer er er eeeeon 


Druck von Metzger & Wittig in Leipzig, 


Noch ein Mal die Frage nach der „Sauerstoffcapaeität 
des Blutfarbstoffes“. 


Zum letzten Male vor 8 Jahren habe ich in diesem Archive! eine 
Untersuchung veröffentlicht, die die in der Ueberschrift genannte Frage 
zum Gegenstand hatte. Als Resultat der äusserst langwierigen und schwie- 
rigen Versuche konnte ich damals mittheilen, dass, wenn man eine sauer- 
stofffreie Lösung von Blutkörperchen — sauerstofffrei gemacht durch den 
Zusatz einer berechneten Menge Hydrazinhydrates zu einem bestimmten 
Volumen der Lösung und nachheriges mehrstündiges Auspumpen der letz- 
teren mit Hülfe der Wasserstrahlpumpe — bei einer Temperatur von 20:5° 
unter verschiedenen Drucken mit Kohleroxydgas schüttelt, von je 1s"” des 
Farbstoffes eine Kohlenoxydmenge, ausgedrückt in Cubikcentimetern und 
redueirt auf 0° und 760 == Druck, aufgenommen wird, die niemals unter 
1.2 sinkt und niemals über 1-34 steigt. Eine einfache Umrechnung der 
einzelnen Zahlen, die mit Rücksicht auf die Schwankungen im Werthe des 
als physikalisch absorbirt angesehenen Gasantheiles vorgenommen wurde, 
führte zu dem Schlusse, dass die in den einzelnen Versuchen von 15m 
Hämoglobin gebundene Kohlenoxydmenge in Wirklichkeit 1.34 «m betragen 
habe, — eine Zahl, die mit der aus dem Eisengehalte des Hämoglobins, 
0-336 Procent, berechneten in der That scharf übereinstimmt. 

Die in den letzten Jahren über das fragliche Verhältniss mehrfach von 
anderer Seite gemachten Angaben weichen zwar häufig nicht unerheblich 
von der oben genannten Zahl ab; allein diese abweichenden Werthe liegen, 
was sehr wichtig ist (vel. unten S. 221), wenigstens in den neueren ‚und 
offenbar gelungeneren Versuchsreihen sämmtlich unter der von mir fest- 


1 Dies Archiv. 1894. Physiol. Abthig. S. 130 ff. 


218 G. HüÜrner: 


gestellten Grösse: ich erinnere hier nur an L. G. de Saint-Martin’s vor 
wenigen Jahren in den Comptes rendus! veröffentlichte Zahlen, ferner au 
diejenigen Haldane’s, der den Sauerstoff mit Ferricyankalium austrieb.? 
Schwankungen im Werthe der gesuchten Zahl, die sich zwischen 0.91 und 
1-97 oder zwischen 1-10 und 1°70 bewegen?, lassen sich nur so erklären, 
dass bei der Ausführung der bezüglichen Versuche sehr grobe Fehler unter- 
gelaufen sind. 

Die interessante und wichtige Beobachtung des Hrn. Haldane*, dass 
das Ferricyankalium auch das Kohlenoxyd, nicht bloss den Sauerstoff, aus 
seiner Verbindung mit dem Hämoglobin — und zwar ebenfalls unter Met- 
hämoglobinbildung — auszutreiben vermag, hat mich veranlasst, selbst noch 
einige Versuche mit Hülfe dieser Reaction auszuführen. Ich hoffte damit 
die Richtigkeit der von mir früher gefundenen Zahl noch sicherer erweisen 
zu können; denn ich durfte ja annehmen, dass das Kohlenoxyd als ein im 
Allgemeinen indifferenter, von anderen organischen Stoffen wenig oder gar 
nicht angezogener Körper, wenn einmal aus seiner Verbindung ausgetrieben, 
sich auch vollständig aus der Lösung werde auffangen und genau genug 
messen lassen. Vom Sauerstofi ist, wenn eine Lösung von Blutkörperchen 
damit geschüttelt wird, wie ja schon öfter hervorgehoben wurde, aber immer 
wieder von Neuem betont werden muss, das Gleiche nicht zu erhoffen; 
weswegen man auch, wie schon lange bekannt, durch Auspumpen des Blutes 
unter Erwärmen seine ganze darin lose gebundene Menge niemals gewinnen 
kann. Heisst es doch schon in Bunsen’s Gasometrischen Methoden’, da, 
wo von der Bestimmung des Absorptionscoöfficienten des Sauerstoffs für 
Wasser die Rede ist: „Auf die Reinigung des Wassers muss die grösste 
Sorgfalt verwendet werden. Es darf namentlich nicht aus einer Blase 
destillirt sein, in der jemals zuvor organische Substanzen behandelt worden 
sind. Die Spuren flüchtiger organischer Körper, welche es in einem solchen 
Falle aufnimmt, reichen hin, einen Theil des absorbirten Sauerstoffs in 
Kohlensäure zu verwandeln.“ Um wie viel mehr ist ein solcher Verbrauch 
absorbirten Sauerstofis in einer Flüssigkeit zu erwarten, die so reich an 
organischen Stoffen ist, wie eine wässrige Lösung von Blutkörperchen! 


Ich bediente mich für meinen Zweck desselben Kugelapparates und 
auch im Allgemeinen des gleichen Verfahrens, die beide Hr. Dr. v. Zeynek 


! Nouvelles recherches sur le pouvoir absorbant de l’hemoglobine pour ’oxygene 
et l’oxyde de carbone. Comptes rendus. T. CXXXI. p. 506—509. 

® Journ. of Physiol. Vol. XXV. p. 295—302. 

? Jahresber. für Thierchemie. Bd. XXX. 8.173 (Anmerkung). 

* Journ. of Physiol. Vol. XXI. p. 298—306. 

° Il. Auflage. Braunschweig 1877. S. 222. 


Dir FRAGE NACH D. „SAUERSTOFFCAPACITÄT D. BLUTFARBSTOFFES“". 219 


bei seinen Versuchen über Methämoglobinbildung in meinem Institute be- 
nutzt und seiner Zeit in diesem Archive! beschrieben hat. Es sei hier nur 
daran erinnert, dass das Wesentliche des Apparates darin besteht, dass er 
aus drei durch Hähne von einander getrennten Glaskugeln zusammengesetzt 
ist, deren äusserste und kleinste nur ungefähr 29°» Rauminhalt besitzt, 
während die beiden anderen jede etwas mehr als 100 «mw? Die mittlere 
Kugel sammt den Bohrungen der beiden sie begrenzenden Hähne ist zur 
Aufnahme der Blutkörperchenlösung bestimmt, die kleine zur Aufnahme 
der Ferrieyankaliumlösung; die dritte wurde in meinen Versuchen mit 
reinem Kohlenoxydgas angefüllt. 

Der Gehalt der Ferrisalzlösung betrug in allen Fällen 36 Procent; 
das Liter enthielt also nur wenig mehr als 1 Grammmbolecül. Der Gehalt 
der Körperchenlösung an Hämoglobin wurde absichtlich zwischen 7 und 
14 Procent varlirt, d. h. also zwischen 0.004 und 0.008 Grammmbolecülen 
im Liter. Als Lösungsmittel für die Blutkörperchen — diese waren in 
allen Fällen aus frischem Rinderblute ausgeschleudert — diente in Glas- 
kolben ausgekochtes destillirtes Wasser. 

Ich beschreibe nicht mehr alle einzelnen Operationen, die zur getrennten 
Beschiekung des Apparates mit seinem verschiedenartigen Inhalte der Reihe 
nach vorgenommen werden mussten, da dies bei früheren Gelegenheiten 
schon mehrfach geschehen ist, sondern bemerke hier nur, dass sowohl die 
Ferrisalzlösung, wie die Lösung der Blutkörperchen jede für sich bei der 
nämlichen Temperatur (27-0°% und unter dem gleichen Partiardrucke (in 
der Regel 670 == Quecksilber) mit Kohlenoxydgas gesättigt worden waren, 
ehe durch die Vermischung beider Lösungen die Austreibung des Kohlen- 
oxyds aus seiner Verbindung bewirkt wurde Die Messung von Druck 
und Volumen des über den Lösungen befindlichen Gases geschah wieder, 
wie früher, nach Verbindung des Kugelapparates mit einem in dem be- 
kannten Wasserständer befestigten Manometer, und es wurde durch Ab- 
lassen von Quecksilber aus dem letzteren dafür gesorgt, dass auch, nachdem 
die Menge des ursprünglich vorhandenen Gases durch den aus der Hämo- 
slobinverbindung frei gewordenen Antheil vergrössert war, der Druck im 
Gasraume möglichst der gleiche blieb, wie vor der Vermischung und dem 
Durcheinanderschütteln der Lösungen. Auf solche Weise wurde jedes Defieit 


1 Dies Archiv. 1899. Physiol. Abthlg. S. 460 ff. 

: Vgl. Fig. 2 auf S. 469 der eitirten Abhandlung. 

® Es ist allerdings fraglich, ob das Gemisch beider Lösungen noch ebenso 
viel Gas absorbiren kann, wie vorher die getrennten Lösungen zusammengenommen. 
Jedenfalls ist aber die Wirkung der durch die Mischung bedingten Aenderung im 
Absorptionsvermögen ohne grossen Belang, da dieses selber von vornherein nicht 
gross ist. 


220 G. Hürner: 


an dem ausgetriebenen Antheil vermieden, das durch eine etwaige Absorption 
unter höherem Drucke hätte bedingt werden können. 

Die photometrische Bestimmung des Hämoglobingehaltes der ange- 
wandten Lösung geschah stets vor ihrer Sättigung mit Kohlenoxyd als 
Oxyhämoglobin, und zwar so, dass von einer Probe derselben zwei oder auch 
drei verschiedene Verdünnungen bereitet und deren Extinctionscoöfficienten 
in den bekannten zwei Spectralregionen festgestellt wurden. Letzteres ist 
immer nöthig, damit man zugleich einen Prüfstein habe auf die Reinheit 
‘und Integrität des zu verwendenden Materials. 

Ich gebe im Folgenden die Resultate dreier Versuche, die an ver- 
schiedenen Wintertagen, jedes Mal mit einer Lösung frisch ausgeschleuderter 
Blutkörperchen, ausgeführt wurden. 


Versuch I (am 28. November 1902). N 
Das Volumen der Blutlösung betrug 109.74 °®; die darin enthaltene 
Hämoglobinmenge A, im Mittel aus vier Bestimmungen: 


13-40 + 13-44 + 13-66 + 13-72 
4 


Die über der Blutlösung befindliche Kohlenoxydmenge! war 


— 13.56 8m, 


vor der Wirkung des Ferrisalzes = 92.73 cm, 
nach „, ) ” ” =110.% „. 
Die aus dem Kohlenoxydhämoglobin frei gemachte Kohlenoxydmenge v 
war demnach 110-90 — 92.73 = 18.17 “m und der Werth 
v» 1817 


= 8 cem 
h 13-56 Se 


Versuch II (am 10. December 1902). 
Menge der Blutlösung wiederum = 109.74 em, 
Darin waren enthalten 
13-28 + 13-21 + 13-28 + 13-31 


— 13.27 sm Hämoglobin. 


4 

Menge des Kohlenoxydgases 
vor. dem Schütteln mit Ferrisalz = 96-53, 
nach „ » h 4.30 


Aus der Kohlenoxydverbindung frei gemacht 114.30 — 96-53 = 17.77 em, 


Hiernach ist 
ON 17:77 en 
RSS TE 1:34 0m, 


! Die angeführten Gasmengen sind hier und in der Folge immer auf 0° und 
1760 == Druck redueirt. 


| 


Die FRAGE NACH D. „„SAUERSTOFFCAPACITÄT D. BLUTFARBSTOFFES“. 221 


Versuch III (am 12. December 1902). 


Volumen der Farbstofflösung = 108.86 *"., 
Vorhandene Hämoglobinmenge 


7 14:90 + 14-98 + 14-86 2 VAR LAS SAN HL ASEREE A ae 
Kohlenoxydmenge 
vor dem Schütteln mit Ferrisalz = 99-568", 
nach „ 5 R 5 — Hg PA0N 
Aus der Kohlenoxydverbindung frei gemacht 19.672". 
v _ 19-672 BEN 
DT 


Wie man sieht, stimmen die Resultate dieser drei Versuche, die beiden 
ersten vortrefflich, das dritte genügend mit dem Ergebniss meiner früheren 
Versuchsreihen und mit der aus dem Eisengehalte berechneten Zahl, 1-34, 
überein. — 


Bei weiterer Verfolgung des Gegenstandes habe ich aber noch einige 
Beobachtungen gemacht, die auf die Veranlassung, weshalb die gesuchte 
Zahl in vielen Fällen von der berechneten nach unten abweicht, einiges 
Licht zu werfen geeignet sind. 

Als ieh nämlich zuerst eine Portion der gleichen Blutkörperchenlösung, 
wovon ein Theil am Vormittage des 12. December zu dem dritten der obigen 
Versuche gedient hatte, am Nachmittage desselben Tages zu einem vierten 
Versuche benutzte, erhielt ich, trotzdem die Lösung unterdess kühl (bei 8°) 
und unter einer Kohlenoxydatmosphäre erhalten worden war, dennoch einen 
kleineren Werth für »/, und zwar die Zahl 1.264. Der Bruch selbst 
13-85 
14-91" 
in den Vormittags-, der andere in den Nachmittagsstunden des gleichen 
Tages (18. December 1902) mit je einer Portion derselben Lösung und auch 
sonst ganz in der nämlichen Weise ausgeführt wurde, lieferte früh die Zahl 
1-31, am Nachmittage die Zahl 1-28. Hier wiederholte sich also die 
gleiche auffallende Erscheinung, dass sich eine mit Kohlenoxyd gesättigte 
Lösung von Blutkörperchen in ausgekochtem Wasser, trotzdem sie sich fort- 


war = Ein zweites solches Versuchspaar, von dem der eine wiederum 


‚ während unter einer Kohlenoxydatmosphäre befand, doch innerhalb 4 bis 


5 Stunden bereits merklich in dem Sinne verändert hatte, dass aus ihr 
nicht mehr eine ebenso grosse Kohlenoxydmenge zu gewinnen war, wie am 
Vormittage. Da in diesem Falle die Blutkörperchen schon am Vorabende 


des Versuchstages aus frischem Ochsenblute ausgeschleudert, während der 


Nacht aber im Eisschranke bei einer Temperatur von 3 bis 4° aufbewahrt 


222 G. Hürner: 


worden waren, so ist es nicht unwahrscheinlich, dass, wenngleich bei der 
ersten photometrischen Untersuchung noch keine Störung zu bemerken 
war, dennoch schon das Deficit des Vormittagsversuches im Betrage von 
2-24 Procent (1-31 statt 1°34) auf eine chemische Veränderung zurück- 
zuführen ist, die am Hämoglobinmolecül unterdess vor sich gegangen; ja 
es liegt die Annahme nahe, dass überhaupt stets, wenn bei ähnlichen Ver- 
suchen kleinere Zahlen, als die verlangte, gefunden wurden, eine chemische 
Veränderung, die das normale Hämoglobin in der Lösung erlitten hatte, 
davon die Ursache gewesen ist. 

Jedoch hat man diese Annahme durchaus nicht etwa so zu verstehen, 
als ob jedes der vorhandenen Hämoglobinmolecüle eine veränderte, und 
zwar in unserem Falle eine geringere Sauerstoff-, bezw. Kohlenoxydcapacität 
erlangt hätte, sondern vielmehr so, dass nur ein mehr oder weniger grosser 
Procentsatz aller Molecüle das Verhalten gegen die genannten Gase ge- 
ändert, dass er im Besonderen die Fähigkeit, mit denselben noch ferner 
lose Verbindungen zu geben, verloren habe. 

Wenn also in dem oben angeführten Falle vom 12. December der 
Quotient v/h am Nachmittage nur noch = 1.264 gefunden wurde, während 
am Vormittage = 1-32, so sagt dies keineswegs aus, dass am Nachmittage 
jedes einzelne Molecül weniger austreibbares Gas mehr besessen habe, als 
am Vormittage, sondern es sagt vielmehr aus, dass von der Gesammtmenge 
der vorhandenen Hämoglobinmolecüle damals nur noch 94-3 Procent normal 
functionirten, während die übrigen 5-7 Procent überhaupt gar kein aus- 
treibbares Gas mehr besassen. Die Zahlen ergeben sich aus der Proportion: 


1-34:100 = 1.264: x, 
wonach x = 94-3. 


Worauf nun aber die ganze Veränderung beruhen, wodurch sie bedingt 
sein mag, das können wir freilich vor der Hand noch nicht sagen. Nicht 
unwahrscheinlich ist ein ursprünglich vorhandenes ziemlich labiles Gleich- 
gewicht in ein stabiles übergegangen, das entweder die Anlagerung einer 
freien oder die Abgabe einer bereits angelagerten CO-Gruppe nicht mehr 
gestattet. Es ist Hoffnung vorhanden, dass die Bildung und das ganze | 
Verhalten des Methämoglobins uns über diese Fragen bald Aufklärung | 
verschaffen wird. Vielleicht knüpft diese Aufklärung an die interessanten | 
Erscheinungen an, die von der neueren Chemie unter dem Namen der | 
„Lautomerie“ zusammengefasst werden. — 


Aus dem Eisengehalte (= 0-336 Procent) des Rinderhämoglobins war | 
unter der Annahme, dass das Hämoglobinmolecül nur 1 Atom Eisen ent- 
hält, berechnet worden, dass das Moleculargewicht desselben 16 669 beträgt, 


und weiter, dass, wenn ein Molecül Hämoglobin sich mit einem Molecül | 


Die FRAGE NACH D. „SAUERSTOFFCAPACITÄT D. BLUTFARBSTOFFES“. 223 


Kohlenoxyd verbindet, das Verhältniss der Verbindungsgewichte, in Grammen 
ausgedrückt, wie 16669:28 oder wie 1:0-001 679 sein muss. Da nun 
0.001 679 sm Kohlenoxydgas das Volumen 1.34 (redueirt auf 0° und 
760 == Druck) einnehmen, und da es Kohlenoxydmolecüle von kleinerem 
Moleculargewicht als 28 nun einmal nicht giebt und geben kann, so kann 
natürlich 1 3” Hämoglobin, dessen Eisengehalt = 0.336 Procent, -— wenn 
es überhaupt solches aufnimmt —, gar nicht weniger als 1.34 em Kohlen- 
oxydgas binden. 

Wie mit der Kohlenoxydverbindung des Hämoglobins ist es aber auch 
mit dessen Sauerstoffverbindung, dem Oxyhämoglobin. Das Oxyhämoglobin 
gehört — darauf deuten mancherlei Erscheinungen, die wir an ihm wahr- 
nehmen — ähnlich dem Wasserstofisuperoxyd oder dem Baryumsuperoxyd, 
zur Olasse der sogenannten Peroxyde. Mit dem Baryumhyperoxyd theilt es 
die Fähigkeit, in gelöstem Zustande mit Ferriceyankalium zusammengebracht, 
seinen lose gebundenen Sauerstoff gasförmig als O,-Gruppe abzugeben, ebenso 
wie das Kohlenoxydhämoglobin die Gruppe CO. 

Sollte nun freilich Jemand die Ansicht hegen, dass in unserem Blute 
überhaupt verschiedene Arten von Oxyhämoglobin oder verschieden grosse 
Molecüle davon vorkämen und dass in Folge hiervon das Verhältniss der Ver- 
bindungsgewichte von Hämoglobin und Sauerstoff, bezw. Kohlenoxyd, ein 
ebenso verschiedenartiges sein müsse, so ist darauf einfach zu erwidern, dass 
einer solchen Ansicht alle genauen Bestimmungen des Eisengehaltes im 
Blutfarbstoff, die in neuerer Zeit gemacht worden sind!, entschieden wider- 
sprechen, und zwar dass nicht bloss das Hämoglobin desselben Individuums 
und derselben Art, ja dass sogar das Hämoglobin verschiedenartiger Thiere 
stets den gleichen Eisengehalt — etwa 0335 Procent — aufweist. 

Dieser auf Thatsachen gegründete Einwand ist nun zwar allein aus- 
reichend, jene Meinung zu widerlegen;? indessen sei hier zum Schlusse 
noch eine kurze Betrachtung allgemeinerer Art angefügt, — eine Betrach- 
tung, die allerdings nur mehr teleologischer Natur, aber deswegen doch 
nicht ohne Berechtigung ist, und die nun in der That die Existenz einer 


! Vgl. die Zusammenstellung bei Jaquet in dessen Aufsatz: Beiträge zur Kennt- 
niss des Blutfarbstoffes. Zeitschrift für physiolog. Chemie. Bd. XIV. 8.289; ferner 
dies Archiv. 1894. Physiol. Abthlg. 8. 175. 

° Ein zweiter Beweis dagegen lässt sich der Speetrophotometrie des Blutes ent- 
nehmen. Bei gleichem Procentgehalte verschiedener Blutlösungen an Oxyhämoglobin 
sind nämlich auch die Extinctionscoöfficienten in bestimmten Gegenden ihrer Spectren 
und damit die Quotienten e/s die gleichen; wo e die Gewiehtsmenge festen Hämo- 


‚ globins in 1m und & den Extinctionscoöffieienten bezeichnet. Das ist nur möglich, 


wenn gleicher Procentgehalt identisch ist mit dem Vorhandensein einer gleichen Anzahl 


‚ gleich schwerer Moleeüle, nicht aber identisch mit dem Vorhandensein gleicher Gewichts- 
mengen eines Gemenges von ungleich schweren Molecülen. 


224 G. HürnErR: ‚„SAUERSTOFFCAPACITÄT DES BLUTFARBSTOFFES“. 


Vielheit von Hämoglobinen im Blute nieht bloss als überflüssig, sondern 
sogar als zweckwidrig erscheinen lässt. 

Jeder höhere thierische Organismus, jedenfalls jeder Warmblüter, be- 
darf, wie wir wissen, zur Erbaltung seines Lebens täglich ein bestimmtes 
(Juantum Sauerstoffgas, das ihm allmählich, auf die regelmässige Folge der 
einzelnen Inspirationen ziemlich gleichmässig vertheilt, aus der äusseren 
Luft zugeführt wird. Die durch dieses Sauerstoffguantum im Inneren des 
Leibes bewirkten und unterhaltenen Oxydationsvorgänge liefern theils ebenso 
stetig, wie die Aufnahme des Gases erfolgte, eine bestimmte Menge Wärıne, 
die zur Erhaltung der Körpertemperatur auf bestimmter Höhe dient, theils 
vermitteln sie die mannigfachen mechanischen Leistungen, als: regelmässige 
Herzarbeit, Athem- und Darmbewegung, vielleicht auch Drüsenthätigkeit 
u.s. w., ohne welche der ununterbrochene Ablauf des Lebens auch beim 
ruhenden Organismus nun einmal unmöglich ist. 

Man sieht klar, dass die ganze Stetigkeit dieses Ablaufes wesentlich 
durch das Einhalten gewisser Maasse sowohl bei der Aufnahme, wie beim 
Verbrauche des unentbehrlichen Stoffes bedingt ist. 

Da daıf man denn fragen: Wann ist wohl für den Organismus ge- 
sründetere Aussicht vorhanden, unter sonst gleichen Bedingungen stets 
wieder der gleichen oder nahezu gleichen Sauerstoffmenge habhaft zu werden? 
etwa dann, wenn das Blut ein unbestimmtes und wechselndes Gemenge 
von Stoffen verschiedener Sauerstoffeapacität enthält? oder umgekehrt in 
dem Falle, wo mit dem Blute eine abgemessene Menge eines einzigen 
Stoffes kreist, dessen Sauerstoffcapacität ein für alle Male fest bestimmt 
und dessen Verbindung mit, wie dessen Trennung vom lose gebundenen 
Sauerstoff durch ein einfaches Gesetz geregelt ist? 

Die Antwort auf diese Frage kann, meine ich, keinen Augenblick 
zweifelhaft sein. 


Ueber die Wirkung des Carpains auf die Herzthätigkeit. 


Von 


N. H. Aleock und Hans Meyer. 


(Aus dem pharmakologischen Institut zu Marburg.) 


(Hierzu Taf. III.) 


Carpain ist ein zuerst von Greshoff aus den Blättern von Carica 
papaya dargestelltes, später von van Ryn! chemisch und zum Theil auch 
pharmakologisch untersuchtes Alkaloid. Es krystallisirt in farblosen Pris- 
men, die bei 121° schmelzen, hat einen sehr bittern Geschmack, löst sich 
nicht in Wasser, bildet aber mit H,SO, ein sehr leicht, mit HCl ein weniger 
leicht lösliches Salz. Seine Zusammensetzung entspricht der Formel 
C,,B,;N0,. Das zu den folgenden Versuchen benutzte chemisch reine 
Präparat war von van Ryn dargestellt und uns von Herrn Prof. E. Schmidt 
freundlichst zur Verfügung gestellt worden. 

Schon Greshoff hatte die Beobachtung gemacht, dass das Carpain 
hauptsächlich auf das Herz wirkt, van Ryn hat diesin Plugge’s Labora- 
torium bestätigt. und v. OVefele glaubt das Alkaloid als bequem zu appli- 
cirendes Ersatzmittel der Dieitalis empfehlen zu können. Diese Angaben 
veranlassten uns zu einer näheren Untersuchung. 

Die am blosgelegten Froschherzen beobachteten Erscheinungen ergiebt 
das folgende Versuchsprotokoll, das aus mehreren ähnlichen herausge- 
griffen ist. 


ı Arch. der Pharmacie. 1893. 8.184. Daselbst auch die übrige Litteratur 
über Carpain. 
Archiv f. A. n. Ph. 1903. Physiol. AbtLlg, 15 


226 N. H. Aucock un Hans MEYER: 


Rana temporaria &. 


Datum | Zeit | Pulse in 1 Minute Bemerkungen 


26.V, 1902 | Nachm. | Ventr. | Atrien 


6-32 24 24 
6-40 24 24 
6-41 0-002 Carpain. hydrochl. in den rechten Bein- 


Iymphsack injieirt. 
6-43 22-5 22.5 
6-48 20 20 Diastolen anscheinend ausgiebiger, Systolen 
etwas weniger vollständig. 


6-58 17 17 
7-10 8 16 
7-21 6-5 13 
7.24 6-5 13 
7-26 6 12 
27. V.1902 | Vorm. 
9-45 6 12 Beobachtung abgebrochen. 


Der erste Erfolg der Giftinjection äussert sich in einem Anwachsen 
der Diastole, dann folgt eine zunehmende Verlangsamung der ganzen Herz- 
action und eine allmählich deutlicher werdende Abnahme der systolischen 
Contractionen. Es ziehen nun nicht selten peristaltische Wellen von der 
Basis zur Spitze, und nach einiger Zeit antwortet der Ventrikel nicht mehr 
auf jede Vorhofscontraction; ab und zu in kurzen Perioden fällt eine Ven- 
trikelsystole aus, bis schliesslich immer nur auf jede zweite Vorhofs- 
contraction eine Ventrikelsystole folgt. 

Dies Phänomen wird bekanntlich in ähnlicher Art bei einer grossen 
Reihe von Eingriffen am Herzen beobachtet und ist kurz als Halbirung 
bezeichnet worden. 

Alle genannten Erscheinungen kommen unabhängig vom Üentral- 
nervensystem und von den extracardialen Nerven zu Stande, da 
sie am ausgeschnittenen und künstlich durchspülten Froschherzen ebenso 
wie in situ auftreten. 

Zur Untersuchung des isolirten Herzens über die Carpainwirkung und 
insbesondere zur gleichzeitigen Registrirung der entsprechenden Druck- und 
Volumänderungen diente ein zweckmässig modifieirter Williams- Apparat, 
der mit einem sehr weich bespannten Hürthle’schen Tonometer (zur Druck- 
aufzeichnung) verbunden, und an dem andererseits das Herz in einem von 
Dr. Alcock construirten sehr empfindlichen Plethysmographen eingeschlossen 
war. Passend eingeschaltete Dreiweghähne erlaubten nach Belieben nor- 
male oder vergiftete Nährflüssigkeit (Ringer’s Solution) durch das Herz zu 
leiten. Die Feder des Volumschreibers gab für 0.5 °® Volumschwankung 
einen Ausschlag von etwa 30 mm, 


ÜBER DIE WIRKUNG DES (ARPAINS AUF DIE HERZTHÄTIGKEIT.. 227 


Bei starker Vergiftung, d. hı. bei einer Durchströmung des Herzens 
mit einer 0.003 Procent Carpain enthaltenden Ringerlösung tritt sehr schnell 
eine zunehmende Verkleinerung der Systolen bis zum vollständigen 
Schwinden ein; das anhaltende Steigen des Volumschreibers zeichnet gleich- 
zeitig die diastolische Erschlaffung des Herzens; wird dann die vergiftete 
durch normale Ringer’sche Lösung ersetzt, so beginnen alsbald wieder die 
Pulsationen des Ventrikels, erst langsam und zwar im „Halbirungs“rhyth- 
mus unter zunchmender Energie der Systole bei zunächst noch bleibender 
diastolischer Erschlaffung, um nach einiger Zeit zu annähernd normalen 
Werthen zurückzukehren. (Vgl. Taf. III, Fig. 1.) 

Wird die Vergiftung vorsichtiger (mit 0-001 Procent Carpain) ein- 
geleitet, so ist die Abnahme der systolischen Energie geringer, kann 
auch noch ganz fehlen, während sich bald die Aenderung des Rhythmus, 
die „Halbirung“ einstellt; öfter ist dies Phänomen aber nicht vollständig aus- 
gebildet, sondern nur durch periodisch wechselnde, mehr oder weniger regel- 
mässig abnehmende Höhe jeder zweiten Systole angedeutet: pulsus alternans. 
Wird dann das Gift ausgespült, so beginnt nun das Herz fast momentan im 
„Halbirungstact“ unter Wachsen der systolischen Erhebungen zu schlagen, 
um dann später wieder ganz normal zu werden. (Taf. III, Figge. 2 und 3.) 

Die Ausschaltung der nervösen Hemmungsapparate im Herzen 
ist auf den Ablauf der Erscheinungen ohne Einfluss, sie kommen am 
atropinisirten Herzen in der sonst beobachteten Weise zu Stande. Die 
Fig. 3 in Taf. III ist das Resultat eines solchen Versuches; das normal 
schlagende Herz ward erst mit Muscarin vergiftet: es erfolste Stillstand 
in Diastole, der dann durch Zuleiten von 0004 Procent atropinhaltiger 
Nährlösung aufgehoben wurde; dann ward ohne vorhergehende Auswaschung 
des Atropins die 0.001 procent. Carpainlösung hindurchgetrieben, und der 
Erfolg war der gewöhnliche, d. h. Abnahme der Systolen und typische 
Halbirung — nach Ausspülung des Giftes mit reiner Ringerlösung voll- 
ständige Erholung. Auch die Betheiligung der im Sinus venosus ge- 
legenen Apparate ist für das Zustandekommen der Vergiftungsphänomene 
ohne wesentliche Bedeutung. Nach exacter, mit Hilfe der Westien’- 
schen Lupe controlirter Anlegung der ersten Stannius’schen Ligatur stand 
das ausgeschnittene Herz still; wurde es nun am Williams-Apparat an- 
gebracht, und ein mässiger Innendruck hergestellt, so begann es wieder zu 
schlagen, erst langsam, nach kurzer Zeit rascher. Wurde nun in diesem 


Stadium Carpain gegeben, so war in der Regel die Schwächung der ganzen 


| 


| 
| 
| 
| 


Herzaction stärker als sonst, und die Halbirung trat erst spät, mitunter 
erst nach wiederholter Carpainapplication ein; in manchen Fällen blieb sie 


| ganz aus. Nichts desto weniger sind hier doch die positiv ausgefallenen 


Versuche entscheidend für den Schluss, dass der Nervmuskelapparat des 
15* 


228 N. H. Atcock unp Hans MEYER: 


Sinus venosus für das Zustandekommen des Halbirungsrhythmus des Ven- 
trikels ohne Bedeutung ist. Werden auch die Atrien und ihre Ganglien 
entfernt, indem die Canüle des Williams-Apparates in die Atrioventrieular- 
srenze eingebunden wird, so schlägt der Ventrikel nicht mehr spontan, 
antwortet aber auf einen zureichenden elektrischen oder mechanischen Einzel- 
reiz regelmässig mit einer Contraction. Nach der Carpainvergiftung werden 
diese durch Reize ausgelösten Contractionen kleiner, und es bedarf nach 
einiger Zeit verstärkter oder zwei- bis dreimal hinter einander wiederholter 
Reize, um eine Systole auszulösen: die Erreebarkeit des Ventrikels hat 
also abgenommen, und zwar sowohl in Hinsicht der Anspruchsfähigkeit 
als auch der Contractionsenergie. Ob auch die Reizfortleitung in den 
Muskelzellen gleichsinnig beeinflusst wird, ist von uns nicht besonders 
untersucht worden. Doch wird sich finden, dass aus den nach der Engel- 
mann’schen Methode gewonnenen gleichzeitig aufgenommenen Curven der 
Vorhofs- und Ventrikelcontractionen unzweifelhaft auch auf eine Verzöge- 
rung der Reizleitung im Herzmuskel geschlossen werden muss. Wir 
kommen darauf weiter unten zurück. 

Zur genauen Feststellung des durch Carpain veränderten Rhythmus 
wurde das Froschherz in situ nach dem Engelmann’schen Verfahren mit 
Häkchen am Vorhof und am Ventrikel versehen; die Schreibfedern wurden 
genau senkrecht über einander gestellt, so dass sie in der gleichen Ordinate 
schrieben. Zur Fixirung des Herzens ward dicht unter der Atrioventrieular- 
grenze eine sehr feine Nadel quer durch das Herz gestossen oder leicht 
auf die Atrioventriculargrenze angedrückt und beiderseits durch Klemmen 
festgestellt; diese Eingriffe hatten keine Störung der Herzthätigkeit zur 
Folge. 

Nach einiger Zeit normaler Herzaction wurde der Frosch durch sub- 
cutane Injection von 2 ”® Carpain vergiftet. Die Doppelcurve zeigt dann 
zunächst eine Verkleinerung sowohl der Ventrikel- wie der Vorhofs- 
contractionen; auch sinkt in der. Regel die Gesammtfrequenz ein wenig, 
z. B. von 23 P. in 30 Sec. auf 20 und 18 P. Nach kurzer Zeit stellen 
sich aber Unregelmässigkeiten ein: die Vorhofscontractionen werden 
periodisch ungleich, indem sie erst in Sätzen von 5, dann 4 und 3 Pulsen 
successive abnehmen, dann wohl auch bei jedem zweiten Pulse kleiner 
werden (pulsus alternans). Doch pflegt diese Unregelmässigkeit der Vorhofs- 
action bald wieder ganz zu schwinden. Nahezu gleichzeitig mit den Vor- 
höfen beginnt auch der Ventrikel periodische Störungen zu zeigen, die 
aber nicht sowohl die Höhen der Systolen wesentlich betreffen, als vielmehr 
ihren Rhythmus: Zunächst bilden sich Gruppen, in denen die 5. oder 
4., dann die 3. Pulsation ausfällt, bis schliesslich sich der regelmässige 
Halbirungstakt einstellt. (Taf. III, Figg. 4 und 5a.) 


ÜBER DIE WIRKUNG DES (ARPAINS AUF DIE HerzruÄnieker. 229 


Die Wirksamkeit der auslösenden Vorhofspulsationen hängt aber nicht 
von ihrer periodisch wechselnden Grösse ab; denn bald ist es die grössere, 
bald die kleinere, die auslösend wirkt, und oft sind alle Vorhofscontraetionen 
einander ganz gleich. 

Wurde durch einen Schnitt der Sinus ven. entfernt, so schlug das 
vom Frosch nun losgelöste und blutleere Herz entweder nach einer längeren 
Pause oder auch gleich weiter und zwar zunächst in unverändertem Tempo 
und Rhythmus; bald aber traten in den Vorhofscontractionen periodische 
Unregelmässigkeiten ein, die sich in entsprechender Weise auch auf die 
Ventrikelsystolen übertrugen. Dies zeigt Fig. 5b, Taf. III, welche eine 
directe Fortsetzung der Fig. 5a nach Abtrennung des Sinus ven. darstellt. 

Während am Frosch die Carpain-Herzwirkung sehr lange, oft mehr als 
24 Stunden anhält, ohne dass sonst erhebliche Vergiftungserscheinungen 
sich geltend machen, ist die entsprechende Wirkung, die Frequenzhalbirung, 
beim Kaninchen nach kleinen Gaben (2 bis 3”®) nur sehr vorübergehend; 
ebenso die von ihr unabhängig auftretende Senkung des Blutdruckes (Fig. 6, 
Taf. III). 

Nach grösseren Gaben tritt sehr rasch und nahezu gleichzeitig Still- 
stand der Respiration und des Herzens ein. Das Gleiche gilt für die Car- 
painvergiftung von Katzen; nach Gaben von 4”s intravenös sinkt der 
Blutdruck plötzlich tief hinunter, um sich schon nach wenigen Minuten 
wieder fast zur Norm zu erheben; die Pulse sind dabei kleiner geworden 
und zeigen zeitweise die Form des pulsus alternans ohne Frequenzhalbirung. 
Geht man zu Gaben von 6 bis Ss über, so werden fast augenblicklich 
Athmung und Herz gelähmt. 

Die Empfehlung des Carpains zu therapeutischen Zwecken findet in 
den Resultaten der Thierversuche keine Begründung. 

Nach den beschriebenen Erscheinungen stellt sich die Wirkung des 
Carpains auf das Herz dar als eine allgemeine Abschwächung seiner Re- 
actionsfähigkeit, in dem Sinne, wie letztere von Hering! definirt worden 
ist. Eine Betheiligung nervöser Apparate des Herzens an der Vergiftung 
hat sich nicht nachweisen lassen, und es können alle Erscheinungen auf 
myogene Störungen bezogen werden. 

Es bleibt aber zu erörtern, wie im Einzelnen die Phänomene der Ver- 
giftung, die Halbirung, die Gruppenbildung, das treppenartige 
Fallen jedes zweiten Pulses zu erklären seien, und wie weit sie ein Ur- 
theil darüber gestatten, ob die Anspruchsfähigkeit, die Contraetilität 
und das Leitungsvermögen als nur verschiedene Seiten jener einen 
Reactionsfähigkeit des Herzmuskels stets gleichzeitig und congruent 


! Pflüger’s Archiv. 1901. Bd. LXXXVI  S. 537. 


230 N. H. Aucock und Hans MEYER: 


durch das Gift beeinflusst werden, oder jeweils in verschiedener Weise, 
d. h. unabhängig von einander. 

Wir werden uns dabei auch auf die Ergebnisse anderer Autoren stützen 
können, die mit anderen Mitteln zum Theil die gleichen Erscheinungen 
am Froschherzen hervorgerufen und ihre Beobachtungen discutirt haben. 


Die Halbirunse. 


Der Process der Frequenzhalbirung ist erst vor Kurzem eingehend 
erörtert worden von Straub! und von v. Kries.” — Straub beobachtete 
die Erscheinung bei der Antiarinvergiftung und erklärt sie als Folge der 
durch das Gift bewirkten Verlängerung der refractären Phase des 
Herzens; als welche von ihm durch entsprechende Versuche mit künst- 
lichen, abgestuften Reizen an dem vergifteten, nicht spontan schlagenden 
Herzen nachgewiesen war. Ein Beispiel solcher Herabsetzung der Anspruchs- 
fähigkeit durch Carpain giebt Fig. 7, Taf. III, wo die Vorhofssystole stets 
wie normal in die sonst erregbare Ventrikelphase fällt, trotzdem aber der 
Erfolg erst nach jeder zweiten Vorhofscontraction eintritt. — Straub’s 
Erklärung ist ohne weiteres einleuchtend und sachlich unanfechtbar. Der 
Ausdruck „Verlängerung der refractären Phase“ scheint uns aber den 
Thatbestand nicht recht durchsichtig darzustellen: es handelt sich doch 
nicht so sehr um eine Verlängerung, als um eine Vertiefung der re- 
fractären Phase?, d.h. um eine allgemein in allen Momenten der normal 
langen excitabeln Phase geminderten Anspruchsfähigkeit. Denn auch in 
dem Moment seiner grössten Erregbarkeit — will sagen in allen Phasen 
ohne Ausnahme — ist das Herz für jeweils unterschwellige Reize „refractär“; 
wenn also auch für den Moment grösster Empfindlichkeit eine Abschwächung 


! Ärch. f. exp. Path. u. Pharmakol. 1901. Bd. XLV. S. 346. 

? Dies Archiv. 1902. Physiol. Abthlg. 8. 477. 

® Zur Definition der refractären Phase meint Hering (Plüger’s Arch. 
1901. Bd. LXXXVI. S. 541), dass beide refractären Stadien 1. während der Contraction 
bis zum Maximum, 2. nach dem Maximum im Laufe der Diastole Ausdrücke desselben 
Processes, der „Erschöpfung“ seien. Dann wäre es aber unseres Erachtens nicht leicht 
zu verstehen, dass im Beginn des ersten Stadiums — Anfang der Systole — der Muskel 
ganz refractär ist, obschon seine Entladung doch erst einsetzt; im Beginn des zweiten 
aber, wo die Erschöpfung das Maximum erreicht haben muss, er nur relativ refractär 
ist. Vielmehr wird doch daran festgehalten werden müssen, dass — wie Hering es 
selbst zuerst aus einander hält — die erste, absolut refractäre Phase nur der Ausdruck 
ist der Eigenschaft des Herzmuskels seine jeweilig disponible Energie immer gleich 
vollständig zu entladen; dass aber die andere relative und abklingende refractäre 
Phase wirklich Ausdruck ist der Erschöpfung und der bei beginnender Diastole ein- 
setzenden und dann zunehmenden Erholung. 


ÜBER DIE WIRKUNG DES CARPAINS AUF DIE HERZTHÄTIGKEIT. 231 


der normalen Anspruchsfähigkeit eintritt, so ist streng genommen die 
refractäre Periode nicht verlängert — weil sie ja schon in allen Phasen 
vorhanden ist —, sondern vertieft, verstärkt. Straub scheint übrigens 
im Wesentlichen auch dieser Meinung zu sein, da er S8. 366 schreibt: 

„Ich glaube behaupten zu dürfen, dass die Verlängerung der refrac- 
tären Phase als ein besonderer... Ausdruck der durch das Gift bewirkten 
allgemein absteigenden Aenderung der Erregbarkeit dieser Zellen anzu- 
sehen ist.“ 

Wir glauben uns daher mit Straub in Uebereinstimmung, wenn wir 
vorziehen, bei der Wirkung der in Rede stehenden Gifte von einer all- 
gemeinen Herabsetzung der Anspruchsfähigkeit des Herzmuskels zu 
sprechen. 

Eine andere Ursache der Frequenzhalbirung hat v. Kries einer ein- 
gehenden Untersuchung unterzogen, die Verzögerung des Leitungs- 
vorganges im Herzmuskel; durch sie wird die jenseits des Widerstandes 
einsetzende Contractionswelle verzögert und damit auch die refractäre Phase 
etwas verschoben und gedehnt, so dass nun der nächste sonst wirksame 
Reiz nicht mehr die ihm adäquate Phasenstelle trifft und erfolglos bleibt. 
Denselben Vorgang hat Wenckebach! eingehend erörtert bei dem Zu- 
standekommen der Unregelmässigkeiten des Herzschlages beim Menschen, 
und auch bei der Antiarinvergiftung spielt dies Moment mit, wie Straub 
durch Messung der Ueberleitungszeit nachgewiesen hat. Das Gleiche gilt 
nun auch von der Carpainvergiftung, wo bei gleichzeitiger Aufzeichnung 
der Vorhofs- und Ventrikelcontractionen die Verlängerung der Zeitdifferenz 
V,—-4A, und, worauf es besonders ankommt, die ungünstige Verschiebung 
der /, zu der Ventrikelphase sich in den meisten Fällen deutlich zu er- 
kennen giebt. (Vgl. Figg. 8, u. 8,, Taf. III.) Durch diese Verzögerung 
des Leitungsvorganges wird als erstes Symptom in der Regel hervor- 
geruien die 


Gruppenbildung. 


Bei seinen Versuchen über künstliche Verzögerung der Leitung im 
Herzmuskel durch partielles Abkühlen fand v. Kries unter Umständen, 
im Beginn der Wirkung, eine eigentümliche Periodenbildung, indem erst 
immer nur etwa die 6., dann die 5., später die 4. Systole ausblieb und so 
fort bis zur Halbirung. v. Kries erklärt die” Erscheinung in sehr plau- 
sibler Weise durch die Annahme, „dass die dem Ventrikel Seitens des Vor- 
hofes zugehenden Antriebe jedes Mal nicht auf einen Augenblick eoncentrirt, 
sondern über eine gewisse, wenn auch kleine Zeit erstreckt sind“. 


1 Zeitschrift f. klin. Mediein. 1899. Bd. XXXVIL 8.479. 


232 N. H. Atrcock unp Hans MEYER: 


In seinem hier wiedergegebenen Schema „bedeutet « jedes Mal den 
Punkt, von dem ab der Ventrikel für einen neuen Anstoss zugänglich ist; 
die schraffirten Felder $ stellen die vom Vorhof ankommenden Reize dar. 
Unmittelbar nach einer Pause reagirt der Ventrikel auf die frühesten, 
durch die linke Begrenzung des Feldes 5 dargestellten. Arbeitet der Ven- 
trikel relativ langsam, so kann es nun kommen, dass bei der nächsten 
Contraetion der Anfang von 5 schon in das refractäre Stadium fällt, jedoch 
können die etwas später eintreffenden Anstösse noch eine Ventrikelsystole 
auslösen; successive rücken dann aber die Vorhofsantriebe mehr und mehr 
in das unwirksame Stadium, bis schliesslich, wenn dies vollständig der 
Fall ist, eine Ventrikelsystole ausfällt und die ganze Periode von Neuem 
beginnt.“ 


ß ß % ß ß ß ß ß 


Die gleiche Gruppenbildung zeigen nun auch unsere Curven (Fieg. 4 
und 5a, Taf. III) und dienen somit ebenfalls zum Beweise, dass die 
Ventrikelcontractionen den Intervallen der zugehenden Reize gegenüber 
mehr und mehr verzögert sind; so dass dadurch Perioden erst von 6, von 
5, 4, 3, schliesslich 2 Pulsrhythmen entstehen. Zweifellos also concurriren am 
Zustandekommen der Halbirung auch bei der Carpainvergiftung negativ dro- 
motrope und bathmotrope Wirkungen. Bei der Verzögerung der Herz- bezw. 
Ventrikelaction bleibt es übrigens unentschieden, ob dafür in den Muskeln 
eine langsamere Reizleitung von Zelle zu Zelle oder ein langsamerer Ablauf 
der Contraction und Erschlaffung oder beides verantwortlich zu machen ist. 


Der Reizüberschuss. 


Der von v. Kries für besondere Umstände seiner Versuche gemachten 
Annahme einer zeitlichen Ausdehnung der den Ventrikel treffenden Reize 
kommt unseres Erachtens eine viel allgemeinere Bedeutung zu, was viel- 
leicht noch besser einleuchtet, wenn die Ausdrucksweise verändert, und an 
Stelle des Mehr an Dauer ein Mehr an Intensität gesetzt wird. Die 
folgende Ueberlesung wird dies klar machen. 

Sowohl in Straub’s wie in unseren Versuchen kann bemerkt werden, 
dass die Vereiftung des Herzmuskels schon oft erkennbar ist, bevor es zu 
ler charakteristischen Halbirung kommt: bei vorsichtiger Vergiftung erkennt 
man deutlich, wie sie sich allmählich einschleicht, wie die Curvenhöhen 


ÜBER DIE WIRKUNG DES (CARPAINS AUF DIE HerzrmÄrigkeır. 233 


langsam abnehmen, kleine Unregelmässigkeiten oder Periodenbildungen in 
der Curve auftreten und dann erst, oft nach ziemlich geraumer Zeit die 
Halbirung erfolgt (vgl. Figg. 2, 3, 4, Taf. II). Wenn man nun zunächst 
und vorläufig annimmt, dass der normale, richtig eintreffende, momentane 
Reiz mehr als zureichend sei zur Auslösung der Ventrikelsystole, so 
kann bei allmählicher Vergiftung die Anspruchsfähigkeit des Ventrikels 


‚bereits abnehmen, ohne es gleich in der Halbirung merken zu lassen; 


denn der vorher mehr als zureichende Reiz ist dann auch bei absolut 
oder relativ etwas herabgestimmter Anspruchsfähigkeit in der coincidiren- 
den Herzphase eben noch zureichend; erst wenn die Vergiftung weiter 
zunimmt, wird die im Moment geforderte Anspruchsfähigkeit zu klein sein, 
und nun erst jede zweite Vorhofssystole eine wieder ausreichend anspruchs- 
fähige Phase des Ventrikels treffen: Halbirung. Dass die Vergiftung aber 
in der Regel allmählich eintritt, d. h. mehr oder weniger langsam bis 
zu ihrem Maximum wächst, ist a priori anzunehmen und wird in unserem 
Falle geradezu anschaulich gemacht durch die Gruppenbildung oder die 
allmähliche Abnahme der Contractionen im Ganzen und jeder zweiten Puls- 
erhebung — lange vor Eintritt der Halbirung. Dass in diesem Vorstadium 
die Anspruchsfähigkeit absolut schon gemindert sein werde, ist zwar nicht 
direet nachgewiesen, aber doch kaum zu bezweifeln, da die Wirkung des 
Giftes auf die Herzmuskelzellen sich schon durch die übrigen Symptome 
zu erkennen giebt; dass sie aber zum mindesten relativ, in Folge der 
negativ dromotropen Wirkung, der Phasenverschiebung, bereits vorhanden 
ist, geht aus unseren Ourven Figg. 8, und 8,, Taf. III ohne Weiteres hervor. 
Wenn daher unter diesen Umständen das Herz noch weiter in ungestörtem 
Rhythmus schlägt, so scheint uns damit die Eingangs gemachte vorläufige 
Annahme, dass die vom Sinus und Vorhof dem Ventrikel in der 
Norm zufliessenden Reize merklich stärker sein müssen, als 
sie zur Auslösung der Ventrikelsystole zu sein brauchten, be- 
wiesen. 

Diese Ueberlegung gilt wie gesagt ebenso für jede allmählich negativ 
bathmotrop wie negativ dromotrop wirkende Schädigung. Denn in beiden 
Fällen erhöhen sich die den constant gebliebenen Erregungsanstössen ent- 
sprechenden Reizschwellen — im ersteren Falle direct (absolute Minde- 
rung der Anspruchsfähigkeit), im anderen Falle indirect (relative 
Minderung der Anspruchsfähigkeit durch zeitliche Verschiebung der Erreg- 
barkeitsphase); im ersteren Falle wird bei langsamer Vergiftung erst nor- 
maler Rhythmus, dann plötzlich die Halbirung einsetzen müssen, im andern 
Falle wird der normale Rhythmus nur wenige Schläge dauern, dann können 
Perioden auftreten, die mit zunehmender Verzögerung der Systolen immer 
kleiner werden, bis auch sie zur Halbirung führen; schreitet die Störung 


234 N. H. Atcock unp Hans MEYER: 


rascher vorwärts, so wird die Periodenbildung übersprungen werden und 
gleich Halbirung erfolgen. 

Die folgenden Schemata, in denen die schraffirten Ordinaten die ad- 
äquaten Schwellenwerthe in der erregbaren Phase darstellen mögen, und 
die normal überschwelligen Reize als Pfeile von entsprechender Höhe an- 
gedeutet sind, sollen dies erläutern: wo der Pfeil (Reizgrösse) die Schwellen- 
ordinaten überragt, ist der Reiz wirksam, wo er unter der Schwellenhöhe 
bleibt, unwirksam. 


———————mn mm 
verminderte Anspruchstählgkeit 


NOTIMaler, kalbirter RhyUmus 


schwache Verzögerung der Leitung: Gruppenbildung. 
—— 


oree Feregerung der Leitung: Halbirung. 
— 


Man erkennt, wie es auf eins herauskommt, ob man mit v. Kries 
von einem zeitlichen oder, wie hier geschehen, von einem energetischen 
Reizüberschuss spricht.! Wesentlich scheint uns aber zu sein, dass sich, 


! Thatsächlich ist auch in der v. Kries’schen Annahme der energetische Reiz- 
überschuss mit eingeschlossen; denn der in den Feldern $ währende Reiz ist in allen 
Punkten zwar absolut gleich, relativ aber ungleich: der durch die linke Be- 
grenzung von ß dargestellte Reiz ist vielleicht gerade zureichend; der ganz gleich 
starke Reiz an der rechten Begrenzung fällt aber in eine anspruchsfähigere Phase, 
ist für sie also überschwellig. 


ÜBER DIE WIRKUNG DES (ARPAINS AUF DIE HERZTHÄTIGKEIT. 235 


wie oben gezeigt wurde, dieser Reizüberschuss nichtals ein nur gelegentlich 
auftretendes, von zufälligen Umständen bedingtes Phänomen darstellt, son- 
dern als eine physiologische Einrichtung, deren Zweckmässigkeit mit 
Rücksicht auf gelegentliche Schwankungen der Erregbarkeit des Herzens 
ohne Weiteres einleuchtet. 

Uebrigens hat auch Wenckebach unbewusst oder stillschweigend von 
diesem Princip Gebrauch gemacht in seiner Erklärung der Gruppenbildung, ! 
wo auch er annimmt, dass der Vorhofsreiz zunächst noch wirksam bleibt, 
obschon er wegen Verzögerung der Leitung nothwendig in eine minder an- 
spruchsfähige Ventrikelphase fällt, und dass erst, wenn die Verschiebung zu 
sehr vorrückt, eine V, ausbleibt. 


Anspruchsfähigkeit und Contractilität. 


Ob in den hier besprochenen Vergiftungen die Störungen der An- 
spruchsfähigkeit und der Reizleitung immer gleichmässig Hand in 
Hand gehen, ist nicht festgestellt und dürfte sich auch schwer feststellen 
lassen. Aus dem Umstande freilich, dass in vielen Fällen die Gruppen- 
bildung trotz sehr allmählicher Vergiftung fehlt, könnte wohl auf ein Vor- 
wiegen der ersteren Störung geschlossen werden. Sicherer scheint uns die 
Entscheidung über die entsprechende Betheiligung der Contractilität 
zu sein. 

Straub schliesst aus seinen Versuchen. dass „Verlängerung der re- 
fractären Phase und Minderung der jeweils gebildeten potentiellen Energie 
innerhalb der Erregungsintervalle Ausdruck ein und desselben Vorganges 
sind; dass also Verlängerung der refractären Phase (nach unserer Ausdrucks- 
weise „Schwächung der Anspruchsfähigkeit“) zur Abschwächung der Systolen- 
höhe führt.“ Die gleiche Anschauung wird bekanntlich von Hering ver- 
treten. Uns scheint aber mit dieser Auffassung nicht vereinbar, dass 
vergiftete Herzen dauernd normal grosse Pulsationen ausführen können bei 
nachweislich herabgesetzter Anspruchsfähigkeit. Straub selbst giebt einen 
solchen unzweideutigen Versuch (Taf. III, Fig. 7 seiner Abhandl.): Künst- 
liche Reizung des nicht spontan schlagenden Herzens vor und während der 
_ Antiarinvergiftung; die Anspruchsfähigkeit zeigte sich im allerersten 
Stadium der Vergiftung erhöht, dann mehr und mehr herabgesetzt, das 
Schlagvolum aber blieb lange Zeit unverändert. — Umgekehrt zeisen 
unsere Curven, namentlich bei rapider Vergiftung, oft eine negativ inotrope 
Wirkung ohne wenigstens merkbare Herabsetzung der Anspruchsfähigkeit 
WOrzImHies. 2 u. 58). 


!A.2.0. 8.480.u. 481. 


236 N. H. AuLcock und Hans MEyeErR: 


Streng beweisend sind diese letzten Versuche allerdings nicht; denn es 
könnte in ihnen die Anspruchsfähigkeit auch schon abgenommen haben, 
aber wegen des „Reizüberschusses“ nicht bis zum sichtbaren Halbirungs- 
erfolge. Auch kommt als complicirendes und das Urtheil erschwerendes 
Moment der Umstand hinzu, dass die Anspruchsfähigkeit sich zu er- 
höhen scheint, wenn die vorangehenden Energieentladungen 
sich verringern, dass mit anderen Worten kleinere Systolen das Herz an- 
spruchsfähiger. hinterlassen als grössere. Wenigstens beobachteten wir in 
den Fällen, wo durch grössere Carpaingaben sofort und zunehmend die 
Systolen stark sanken, d. h. die volle Energieentladung gehindert 
wurde, keine oder nur vorübergehend angedeutete Halbirung (Figg. 1 u. 2, 
Taf. III); da aber, wo schwach vereiftet und die Systolen kaum oder gar 
nicht kleiner wurden, trat Halbirung ein (Figg. 3 u.7, Taf. III). Vor kurzem 
hat Engelmann! bei Vagusreizung das gleiche Phänomen, Wachsen der 
Anspruchsfähiskeit bei Abnahme der Contraction, beobachtet und ebenso 
aufgefasst. Vielleicht liessen sich dadurch zwei Beobachtungen erklären, 
die wir bei unseren Versuchen machten: 


1. Wenn durch relativ starke Carpainvergiftung die Systolengrösse sehr, 
eventuell bis zum Verschwinden herabgesetzt war ohne Halbirung, und 
dann die Giftlösung durch reine Ringer’sche Lösung verdrängt ward, so 
trat fast sofort unter starker Zunahme der Contractionsgrösse Halbirung 
ein, die erst nach längerer Auswaschung verschwand und normaler Herz- 
action Platz machte (Figg. 1 und 2, Taf. III). Es scheint somit, als sei 
hier, in Folge der gehemmten Energieentladungen die Anspruchsfähigkeit 
des Herzens — obschon auch "bereits durch das Gift geschwächt — doch 
noch für die reguläre Schlagauslösung eben ausreichend geblieben, sei aber, 
sobald mit der Entgiftung die Entladungen wieder freier, die Systolen grösser 
wurden, ‘nun unzureichend geworden (Halbirung), um schliesslich erst bei 
gänzlicher Restitution des Herzens auch wieder den normalen Werth zu 
erlangen. Unzweifelhaft aber ergeben diese Beobachtungen ein 
incongruentes.und gegensätzliches Verhalten der Contraetilität 
einerseits, der Anspruchsfähigkeit und Reizleitung andererseits 
vor und während der Entgiftung; überwiegt zuerst die Schwächung 
der Contractionen und verdeckt die der Anspruchsfähigkeit und des Leit- 
vermögens, so ist es nachher gerade umgekehrt. 

2. Wenn das Froschherz mit Chloralhydrat vergiftet wird, so werden 
die systolischen Erhebungen kleiner, und bei stärkerer Vergiftung tritt 
öfters ebenfalls Halbirung ein; dies ist schon von Harnack und Wit- 


! Dies Archiv. 1902. Physiol. Abthlg. Suppl. 8. 16. 


ÜBER DIE WIRKUNG DES ÜARPAINS AUF. DIE HERZTHÄTIGKEIT. 237 


kowski! beobachtet worden. Wird nun ein Herz erst mit Chloral soweit 
vergiftet, dass nur die. systolische Schwächung ohne Halbirung zu Stande 
kommt, und darauf Carpain hinzugefügt, so bleibt die sonst zu erwartende 
Halbirung aus. Dies wurde sowohl am isolirten Froschherzen wie am 
Kaninchenherzen in situ festgestellt. 

Nach allem glauben wir schliessen zu müssen, dass Anspruchsfähig- 
keit und Contractilität von den hier besprochenen Giften zwar meist in 
gleichem Sinne, aber der Zeit und Stärke nach jeweilig verschieden und 
von einander unabhängig beeinflusst werden, und dass daher auch die ge- 
nannten Eigenschaften selbst als von einander getrennte und mehr 
oder weniger unabhängige anzusehen seien. 


Die Treppenbildung. 


In vielen Fällen sieht man bei allmählicher Vergiftung des Frosch- 
herzens mit Carpain, dass zunächst jede zweite Systole successive kleiner 
wird, bis sie ganz verschwindet, und nun die Halbirung rein erscheint, 
wofern sie nicht durch zu starke Abnahme aller Systolen verhindert wird 
(vgl. oben). Ein Beispiel giebt Fig. 2, Taf. III. Besonders elegant konnte 
diese Treppenbildung bei der Vergiftung mit Corydalin beobachtet werden, 
einem Alkaloid, das nebenher untersucht wurde und ähnliche Herzwirkungen 
wie Carpain zeigte. Es sei deshalb in Fig. 9, Taf. III, eine charakteristische 
Curve dargestellt. 

Auch in Straub’s Versuchen findet sich gelegentlich eine ähnliche 
Erscheinung, wenn auch nicht in so regelmässiger Form. Straub hält die 
irresuläre Abnahme der Systolenhöhen, die anscheinend dem Gesetz von 
Bowditsch widersprechen, für die Folgen einer unregelmässigen Inter- 
ferenz zwischen Verlängerung der refractären Phase, die nach ihm eo ipso 
zur Systolenabnahme führen soll, und der durch gleichzeitige Verzöge- 
rung der Leitung mittelbar verursachten Zunahme der Systolenhöhen. 

Abgesehen von dem Zweifel, den wir betreffs des gegenseitig bedingen- 
den und congruenten Verhältnisses zwischen refractärer Phase (Anspruchs- 
fähigkeit) und Systolenhöhe (Contraetilität) vorher begründet haben, würde 
diese Erklärung für das Verständniss der hier beobachteten regelmässigen 
Treppenform nicht ausreichen. Es ist aber die Annahme einer durch Inter- 
ferenz oder sonstwie periodisch erfolgenden Schwächung der Contractilität 
überhaupt entbehrlich, wenn man nur annimmt, dass die Vergiftung (hier 
speciell ihre negativ bathmotrope Wirkung) nicht alle Ventrikeltheile gleich- 
zeitig, sondern nach einander ergreift. Ist im Anfang erst ein kleiner 


1 Arch. f. exp. Path. u. Pharmakol. 1879. Bd. XI. 8.5. 


938: N. H. Arcock ump Hans MEYER: ÜBER DIE WIRKUNG Uv. S. w. 


Theil der Ventrikelmuseulatur vergiftet, so wird nur dieser in halber, der 
übrige Theil in ganzer, normaler Frequenz schlagen; da aber die Thätiekeit 
aller Theile summarisch registrirt wird, so ergiebt sich ein periodischer 
Wechsel der Systolenhöhen, dessen Differenzen in dem Maasse wachsen 
müssen, als die Vergiftung mehr und mehr Muskelfasern erfasst und zur 
Halbirung zwingt, bis schliesslich der ganze Ventrikel in halber Frequenz 
schlägt. Diese Betrachtungsweise, auf die uns eine Aeusserung des Herrn 
v. Kries gelenkt hat, erklärt das Phänomen in einfacher und ungezwungener 
Weise; sie entspricht übrigens den von Engelmann! entwickelten An- 
schauungen über das Zustandekommen sonstiger allorhythmischer Störungen 
der Herzbewegung. 


! Pilüger’s Archiv. 1896. Bd. LXI. 


Ein Beitrag zur Lehre von den Pilomotoren. 


Von 
Dr. Richard Hans Kahn, 


Assistenten am Institute, 


(Aus dem physiologischen Institut der deutschen Universität in Prag.) 


(Hierzu Taf. IV.) 


Versetzt man einen Ziesel (Spermophilus eitillus) in seinem 
Käfig in plötzliche Erregung, so sieht man die langen, dem Schwanze 
glatt anliegenden Schwanzhaare sich sträuben, sich wieder anlegen und bei 
jeder erneuten Schreckbewegung des T'hieres wiederum in heftige Bewegung 
gerathen. Dabei kann der Schwanz bewegt werden oder in Ruhe bleiben, 
auch verharren öfters die gesträubten Haare durch kurze Zeit in auf- 
gerichtetem Zustande. Während die Haare in der Ruhe unter ganz spitzem 
Winkel dem Schwanze anliegen, stehen sie bei maximaler Aufrichtung senk- 
recht auf der Axe des Schwanzes und geben diesem das Aussehen einer 
Eprouvettenbürste. Die Augenfälligkeit dieser Erscheinung ist viel grösser als 
die der pilomotorischen Erscheinungen bei anderen Thieren (Katze, Affe u. s.w.), 
und daher eignet sich dieses Object sehr gut zur Nachprüfung der über 
unseren Gegenstand festgestellten Thatsachen und wegen der Grösse der in 
Betracht kommenden Organe auch besonders zu histologischer Untersuchung. 

In Folgendem sei also in Kürze mitgetheilt, was meine Untersuchungen, 
welche am Ende und zu Beginn des Winterschlafes dieser Thiere angestellt 
wurden, ergeben haben. 


“ 


Histologischer Theil. 


Der Schwanz ist durchschnittlich 7" lang, 4 bis 5"" diek und ver- 
schmälert sich gegen sein freies Ende beträchtlich. Er ist mit 10 bis 15 wm 
langen, starken und straffen Haaren bewachsen, welche vollkommen der 


240 Rıcnarp Hans Kann: 


Haut anliegen, mit ihren freien Enden gegen das Schwanzende sehen und 
scheinbar gleichmässig über die Hautoberfläche vertheilt sind. Auf diese 
Weise erscheint der Schwanz als drehrunder, bis zu 12 ”” dicker, am Ende 
schwach zugespitzter Körper. 

Um die Haare und deren Anhangsgebilde in möglichst günstige Schnitt- 
richtung zu bekommen, wurde folgendes Verfahren eingeschlagen. Kleine 
Stückchen der Haut und des Unterhautzellgewebes wurden vorsichtig ab- 
präparirt, mit Igelstacheln auf Kork ausgespannt und in dieser Lage in 
die Fixierungsflüssigkeit gebracht. Diese Stücke wurden in Paraffin über- 
führt, nachdem vorher die Haare möglichst knapp an der Hautoberfläche 
abgeschnitten worden waren. 

Legt man einen Schnitt senkrecht zur Oberfläche, aber in der Axe 
des Schwanzes, dann erhält man etwa folgendes Bild. Das Haar steht 
unter ziemlich spitzem Winkel geneigt und reicht tief in das subcutane 
Gewebe hinein. An einer oder zu beiden Seiten des Haarbalges liegen 
ganz kleine Talgdrüschen, welche an Grösse im Verhältniss zu ersterem 
bedeutend zurücktreten. Die Haare stehen in der Richtung der Schwanz- 
axe in ziemlicher Entfernung von einander. Ihre Dicke schwankt an jener 
Stelle, wo der Haarbalg beginnt, innerhalb nicht zu weiter Grenzen um 
0-03 bis 0-05 "m, In bekannter Weise ziehen Bündel glatter Muskel- 
fasern, die Arrectores pilorum auf der Seite des spitzen Winkels vom 
Grunde des Haarbalges gegen die Oberfläche der Haut. Diese Muskel- 
bündel sind bei unserem Object ungemein stark entwickelt, ihre Länge 
beträgt bis zu einem Millimeter und darüber, ihre Dicke ist sehr ver- 
schieden, sie schwankt innerhalb weiter Grenzen um 0-.03"",. Sie sind 
vielfach verästelt, sowohl an dem einem Haare zugewendeten, als auch an 
ihrem freien Ende, und sie liegen in der Richtung vom freien Ende des 
Schwanzes zu dessen Körperende, von der Oberfläche der Haut in die Tiefe 
des Gewebes ziehend (Taf. IV, Fig. 5). Häufig löst sich ein Bündel glatter 
Muskelfasern in mehrere Abtheilungen auf, welche sich wieder an je einem 
Haarbalge inseriren (Taf. IV, Figg. 4 und 7). 

Jedes Haar besitzt eine Anzahl von pilomotorischen Muskel- 
bündeln, deren Enden sich unter einander am Haarbalg an- 
setzen, und welche in immer flacheren Bogen zur Hautober- 
fläche ziehen. Das am tiefsten inserirende Muskelbündel zieht 
meistens bis in den Winkel zwischen dem nächsten Haare und 
dem Epithel und setzt sich auch häufig dem obersten Theile des 
Balges des ersteren an (Taf. IV, Fige. 5 und 6). 

Die Menge der glatten Musculatur in der Schwanzhaut ist eine ganz 
imposante. Davon, sowie von der Vertheilung der Haare auf der Ober- 
lläche gewinnt man die beste Anschauung an Schnitten, welche senkrecht 


Em BEITRAG ZUR LEHRE VON DEN PILOMOTOREN. 241 


zur Axe des Schwanzes, aber annähernd parallel zur Axe der Haare, also 
sehr schief zur Oberfläche der ausgespannten Haut geführt sind (Taf. IV, 
Fig. 4). Da sieht man zunächst, dass die Haare nicht gleichmässig über 
die Hautfläche vertheilt sind, sondern dass sie in Büscheln bei einander 
stehen, und zwar werden von einer senkrecht zur Schwanzaxe gelegten 
Ebene eine ganze Anzahl solcher Büschel getroffen, wobei hervorzuheben 
ist, dass die an den seitlichen Partien des Schwanzes stehenden ganz be- 
sonders starke und dichte Haare zu enthalten scheinen. Daraus erklärt 
sich wohl die scheinbar zweizeilige Anordnung der Haare bei makrosko- 
pischer Betrachtung. 

Das Gewebe zwischen diesen Haarbüscheln ist nahezu vollständig aus- 
gefüllt mit Bündeln glatter Museulatur, welche im Schiefschnitt erscheinen. 
Das sind nämlich jene Arrectores pilorum, welche zu den proximal von den 
ersteren gelegenen Haarbüscheln zwischen den Haarbälgen der distalen 
Büschel hindurchziehen (Taf. IV, Fig. 4, m). 

Endlich ist die Vertheilung des elastischen Gewebes in unserem Ob- 
jecte von ziemlichem Interesse. An Schnitten, welche nach Weigert ge- 
färbt und mit Pikrinsäure nachbehandelt sind, erkennt man zunächst, dass 
die ganze Haut reichlich von starken, vielfach verästelten elastischen Fasern 
durchsetzt ist. Die Bälge der einzelnen Muskelbündel stecken theilweise 
in einem dichten Gewebe solcher Fasern. Noch bemerkenswerther aber ist 
die ausnahmslos nachzuweisende Thatsache, dass die Bündel glatter 
Muskelfasern sowohl an ihren freien, als auch an den den Haar- 
bälgen zugewendeten Enden elastische Sehnen besitzen. 

Ich möchte auch an dieser Stelle wieder hervorheben, wie sehr die 
Weigert’sche Methode der Darstellung elastischer Fasern auch an dickeren 
Schnitten (15 u und darüber) an Raschheit, Schönheit der Bilder und nicht 
zuletzt an möglichst vollkommener Ausfärbung aller Details neben anderen 
auch der Orceinmethode überlegen ist. 


Die Muskelbündel sind nicht nur nebst ihren Sehnen von elastischen 
Fasern umsponnen, sondern sie haben an beiden Enden echte elastische 
Sehnen!, welche sich an den Haarbalg ansetzen und an dem freien Ende 
des Bündels sich ‘unter der Hautoberfläche im Bindegewebe verlieren, in 
welch’ letzterem Falle einzelne an der Epithelseite des Hauptbündels 
sich ablösende Muskelfasern eigene elastische Sehnchen in das 
Bindegewebe senden (Taf. IV Fig. 3). 

Hierbei weisen einzelne zwischen den elastischen Fasern sichtbare 
Kerne sowie geringe Rothfärbung der Sehnen bei Behandlung des Schnittes 


! Nach Kölliker (Gewebelehre. 1889. Bd. I.) finden sich solche Sehnen an den 


Muskelehen der Contourfedern der Vögel. 
Archiv f. A. u. Ph. 1903. Physiol. Abthlg. 16 


242 Rıcuarp Hans Kann: 


nach Hansen’s electiver Bindegewebsfärbung auf einen aus Bindegewebe 
bestehenden Grundstock der Sehnen hin, wie ich! ihn an den 
elastischen Sehnen gewisser quergestreifter Muskeln nachgewiesen habe. 

Wir haben also hier wiederum die merkwürdige Verbindung von 
Muskelgewebe mit elastischen Fasern, eine Erscheinung, welche für quer- 
gestreifte Muskelfasern von Podwyssotzki,? Smirnow,?’ Ranvier,* 
Martinotti,’ mir® u. A. beschrieben worden ist. 


Physiologischer Theil. 


Die Literatur über unseren Gegenstand ist nicht allzugross. Als Erster 
hat H. Müller” die Innervation der Pilomotoren (der Ausdruck stammt 
von Langley aus dem Jahre 1891) durch den Sympathieus nachgewiesen. 
Die erste ausführliche Behandlung dieser Verhältnisse stammt von Schiff®, 
welcher das Sträuben der Schwanzhaare bei der Katze im Affeet durch 
Durchschneidung beider Bauchstränge des Sympathieus vernichtete und aus 
der Wirkungslosiekeit der Ausrottung des Lendenmarkes schloss, dass die 
pilomotorischen Fasern aus dem Brustmark in den Sympathicus gelangen. 

In einer ganzen Reihe von Mittheilungen hat Langley’ (theilweise 
mit Sherrington und Anderson) die Innervation der Pilomotoren, den 
genauen Verlauf der pilomotorischen Fasern und pilomotorische Reflex- 
erscheinungen bei der Katze (theilweise auch beim Affen) erörtert, auf deren 
Einzelheiten ich, soweit sie auf unseren Gegenstand Bezug haben, noch 
zurückkommen werde. Von verwandten Erscheinungen wäre schliesslich 
noch zu erwähnen, dass Jegorow!? Angaben über Bewegung der Federn 
am Halse des Truthahnes bei Reizung des Halssympathicus gelegentlich 
seiner Untersuchungen über Gefässinnervation gemacht hat, sowie dass Lang- 
ley!! und gleichzeitig Sherrington beim Igel nach Reizung verschiedener 


! R. H. Kahn, Ueber die in den Sehnen u.s. w. Archiv für mikroskopische 
Anatomie. 1900. Bd. LVI. i 

® W. Podwyssotzki jun., Ebenda. 1887. Bd. XXX. 

® A. E. Smirnow, Anatomischer Anzeiger. Bd. XV. Nr. 23. 

* L. Ranvier, Journal de Micrographie. 1890. XIV. annee. Nr. 7. 

5 G. Martinotti, Anatomischer Anzeiger. Bd. XVI. S. 201. 

®A.2.0. | 

" Würzburger Verhandlungen. 1861. Bd. II. 8. 54. 

® M. Schiff, De !’autonomie du sympathique. (I/mparziale. 1870. T.X.) Ges. 
Beiträge zur Physiologie. Bd. III. S. 141. 

% v. Saalfeld (Dies Archiv. 1901. Physiol. Abthlg.) bestätigt. 

10 J. Jegorow, Ueber das Verhältniss des Sympathicus zur Kopfverzierung einiger 
Vögel. Dies Archiv. 1890. Physiol. Abthlg. Suppl. 

ıı J. N. Langley, Erection of quills in the hedgehog. Proc. physiol. Soc. 1893. 
Vol. IV. Journ. of Physiol. Vol. IV. 


Eın BEITRAG ZUR LEHRE VON DEN PILOMOTOREN. 243 


Absehnitte des Grenzstranges Erection der Stacheln an entsprechenden Be- 
zirken der Haut gesehen haben. Endlich hat Langley! bei Reizung des 
peripheren Abschnittes des durchschnittenen Cervicalmarkes bei Vögeln Be- 
wegung der Contourfedern (Anziehen an den Körper) beobachtet. Die Er- 
regungsleitung hierfür erfolgt durch Vermittelung sympathischer Ganglien. 


Wird unser Thier auf dem Operationsbrette befestigt, so gerathen die 
Pilomotoren des Schwanzes in heftige tonische Erregung. Die Haare stellen 
sich unter einem Winkel von etwa 45° auf und bleiben Stunden lang in 
dieser Stellung, trotzdem das Thier allmählich in den auch alle anderen 
Thiere in solcher Stellung überfallenden „hypnotischen‘“ Zustand geräth. 
Reizung der Haut oder starke Erschütterung des Thieres lässt sogleich die 
Contraction der Pilomotoren zunehmen, und der Haarwinkel erreicht für 
einige Secunden 90°, während heftige reflectorische Abwehrbewegungen er- 
folgen. Um diese letzteren, welche jede ruhige Beobachtung der Schwanz- 
haare verhindern, auszuschliessen, zeigte sich keine der gebräuchlichen 
Inhalationsnarkosen geeignet. Der Ziesel verträgt ebenso wie die Ratte am 
besten die Aethernarkose. Bei einigermaassen vorsichtigem Vorgehen erfährt 
man niemals einen störenden Zwischenfall. Aber bereits in geringem 
Stadium der Betäubung sind die Pilomotoren erschlafft und antworten auch 
auf die stärksten Reize nicht mehr durch reflectorische Gontraetion. Wie 
es scheint, wirkt hier die Narkose weitaus rascher und in höherem 
Maasse als auf die in vielen Beziehungen verwandte glatte 
Musculatur der Gefässe. 

Wie schon Schiff? zeigte, wirkt das Curare dem Sträuben der Haare 
des Katzenschwanzes nicht entgegen. Auch in unserem Falle erweist sich 
dieses Mittel für gewisse Zwecke als sehr geeignet, nur scheint es doch mit 
der Zeit eine geringe Schädigung der für unser Object in Betracht kom- 
menden Centren zu verursachen. Der Ziesel verträgt gut !/, bis 1!/, 
einer 0-25 procent. wässerigen Lösung von Curarinum hydrochloricum intra- 
peritoneal. Diese Art der Application ist der intravenösen vorzuziehen, 
weil die Dosis keine zu kleine zu sein braucht, die Wirkung langsamer 
eintritt, und weil die durch die Feinheit und Zerreisslichkeit der Venen- 
wände bei diesem kleinen Thier erforderliehe Mühe und Umständlichkeit 
bei der intravenösen Injection zu den geringen Vortheilen derselben für 
unseren Fall in keinem Verhältniss steht. z 

In dem Stadium der Vergiftung nun, in welchem alle spontanen Be- 
wegungen erloschen sind, und das Leben des Thieres durch künstliche 


1 J. N. Langley, Preliminary note on the sympathetie system of the bird. 
Journ. of Physiol. Vol. XXV1. 
®A.20, 
16* 


244 Rıcamarp Hans Kann: 


Athmung gefristet werden muss, befinden sich die Pilomotoren in geringem 
Tonus. Starkes Klopfen auf den Arbeitstisch oder leichtes Kneifen der 
Haut bewirken reflectorisches Aufrichten der Schwanzhaare, Reizung des 
centralen Stumpfes des Nervus ischiadicus in noch höherem Maasse. Setzt 
man die künstliche Athmung aus, so beginnen nach Verschwinden der 
meistens vorhandenen Apnoe bereits in den ersten Stadien der Dys- 
pnoe starke Contractionen der Pilomotoren, welche sich wiederholen 
und manchmal geradezu rhythmisch in Erscheinung treten können. Wir 
sehen also grosse Analogie dieser Erscheinungen mit entsprechenden an den 
glatten Muskelfasern der Blutgefässe. 

Die Anordnung der einzelnen Aufrichtungsorgane an den Haaren 
unseres Objectes deutet auf einen bestimmten Mechanismus bei der 
Arrection der Haare hin. Aus einer Serie auf einander folgender Schnitte, 
welche parallel zur Schwanzaxe durch die Haut geführt werden, ergiebt 
sich ein Bild, welches auf Taf. IV, Fig. 1 schematisch dargestellt ist. 
Die Contraction der glatten Muskelbündel a, 5, c bewirkt zunächst eine 
Bewegung des Haarbalges I in der Richtung zum freien Ende des Schwanzes, 
und dadurch eine Aufrichtung des Haares I. Die freien Enden der Bündel 
a und 5 üben gleichzeitig einen relativ starken Zug auf die zwischen den 
Haaren I und II liegende Hautoberfläche, welche dadurch leicht nach innen 
sewölbt werden muss. In der That sieht man auch während: der Arrection 
der Haare an diesen Stellen kleine senkrecht zur Schwanzaxe liegende 
Mulden. Das freie Ende des am tiefsten am Haarbalge I inserirenden 
Bündels ce zieht stets bis in die Nähe des nächst unteren Haares II und 
endet mit seinen Ausläufern unter dem Epithel und vielfach auch an dem 
obersten Theil des Haarbalges II. Die Contraction dieses Bündels muss 
also die Arrection des Haares II erheblich unterstützen, indem es der Zug- 
richtung des Bündels e entgegenwirkt. Ebenso wird die Arrection des 
Haares I durch das Bündel d gefördert. Dabei drehen sich die Haare etwa 
um eine durch + gehende Axe. Durch diese Anordnung, sowie durch die 
grosse Länge der Muskelbündel, welche eine bedeutende Verkürzung der- 
selben ermöglicht, wird, trotz des in Folge der Länge des im Gewebe be- 
findlichen Haartheiles beträchtlich langen Hebelarmes eine einen rechten 
Winkel gar nicht selten überschreitende Arrection zu Wege gebracht. 

Eröffnet man die Bauchhöhle eines mit Aether narkotisirten Thieres, 
um die Bauchstränge des Sympathicus zu präpariren, so empfiehlt es sich, 
die grossen auf der Wirbelsäule liegenden Gefässe stark nach links zu 
schieben und zu comprimiren, bevor das hintere Peritoneum gespalten wird. 
Auf diese Weise lässt es sich vermeiden, auch nur einen Tropfen Blutes 
auf die Fläche der Wirbelkörper zu vergiessen, und dies ist wohl die einzige 
Möglichkeit, den Grenzstrang überhaupt zu finden, bevor er leitungs- und 


Eın BEITRAG ZUR LEHRE VON DEN PILOMOTOREN. 245 


erregungsunfähig geworden ist. Abgesehen von seiner grossen Feinheit 
unterscheidet er sich nämlich am lebenden Thier kaum durch die Farbe 
von dem darunter liegenden Gewebe. 

Die beiden Grenzstränge ziehen relativ weit aus einander liegend bis 
zum oberen Rande des 7. Lendenwirbels.. Auf diesem nähern sie sich bis 
zu ihren mit einander in enger Verbindung stehenden 7. Lendenganglien, 
um über das Promontorium und die ventrale Kreuzbeinfläche bis zu den 
ersten ebenfalls mit den oberen Polen mit einander verbundenen Kreuzbein- 
ganglien in einer gemeinschaftlichen, bei manchen Thieren verhältnissmässig 
starken Bindegewebsscheide zu verlaufen (Taf. IV, Fig. 9). Unterhalb 
letzterer Ganglien ziehen sie von einander getrennt als äusserst feine Fäden 
durch die Schwanzmusculatur. Auf dem unteren Drittel der ventralen 
Fläche des 7. Lendenwirbels liest die Theilung der Bauchaorta, so dass die 
Freilegung der Grenzstränge ohne Zerstörung des Blutkreislaufes vom 


7. Lendenganglion nach abwärts nicht möglich ist. 


Reizung eines Bauchsympathicus mit Induetionsströmen von 
geringer Stärke bewirkt beiderseitige vollkommene Arrection der 
Schwanzhaare. Dasselbe wurde von Langley und Sherrington! an 
der Katze nachgewiesen. Diese Autoren fanden, dass die pilomotorischen 
Fasern für den Katzenschwanz aus der zweiten und dritten vorderen Lenden- 
wurzel (manchmal auch aus der ersten) durch deren Rami communicantes 
in den Bauchstrang des Sympathicus treten. 

Die Reizung des Grenzstranges bei unserem Thier ist nur dann wirk- 
sam, wenn das 5. Lendenganglion nach oben nicht überschritten 
wird. Die Fasern für den Zieselschwanz verlaufen in den Ram. comm. des 
5. und 6. Lendenganglions. Reizt man diese Aeste einzeln, dann erhält 
man nicht immer dasselbe Resultat. In den meisten Fällen ist die Ar- 
rection der Schwanzhaare eine beiderseitige mit geringerem oder grösserem 
Vorwiegen der gleichseitigen Contraction der Pilomotoren, selten eine gleich- 
seitig einseitige. Auch die obere und untere Schwanzhälite ist fast niemals 
scharf getrennt, und häufig bewirkt die Reizung eines Ramus communicans 
Arrection sämmtlicher Schwanzhaare. Hier ist also eine genaue territoriale 
Abgrenzung der motorisch versorgten Hautbezirke, wie sie Langley bei 
der Katze gefunden und als Kriterium für noch zu erwähnende specielle 
Untersuchungen benutzt hat, nicht oder nur in geringem Maasse vorhanden. 

Die Durehschneidung beider Grenzstränge unter dem 6. Lendenganglion 
vernichtet jede pilomotorische Erscheinung am Schwanze des überlebenden 
Thiers. Langley und Sherrington? haben beim Affen gefunden, dass 

1 J. N. Langley and C. 8. Sherrington, On pilo-motor nerves. Journ. of 


Physiol. Vol. XII. 
2 Ebenda. Vol. XII. 


246 RıcHArpd Hans Kann: 


die Haare nach der Durchschneidung des Sympathicus flacher der Haut 
anliegen. Eine solche Erscheinung, deren Nachweisbarkeit wohl an spär- 
liche Behaarung gebunden ist, hat sich bei unserem Objecte nicht con- 
statiren lassen, es ist aber wohl anzunehmen, dass sie, wenn auch in ge- 
ringem Grade, vorhanden ist. Die Reizbarkeit der Pilomotoren vom Sym- 
pathicus aus überdauert weitaus die Erregbarkeit der quergestreiften 
Musculatur. 1!/, Stunden nach Erlöschen des Herzschlages und der Ath- 
mung ist die Arrection noch ebenso stark wie am lebenden Thier, und 
nach 3!/, Stunden, nachdem die Stammesmusculatur längst todtenstarr 
geworden war, zeigten die Arrectores pilorum mitunter noch schwache 
Contraction. 

Die pilomotorischen Fasern verlassen das Rückenmark durch die 3. 
und 4. vordere Lendenwurzel. Reizung dieser Wurzeln einzeln durch 
schwache Inductionsströome hat fast ausnahmslos Arreetion sämmtlicher 
Schwanzhaare zur Folge Reizung der 2. vorderen Lendenwurzel zeigt 
recht constant einseitige Arrection der kurzen Haare an der Schwanzwurzel 
und der untersten Rückenhaut. Langley und Sherrington haben, wie 
schon erwähnt, nicht genau denselben Weg für unsere Fasern bei der 
Katze gefunden. Dagegen stimmt der Reizerfolg der 2. Lendenwurzel 
mit Langley’s! Angabe überein, dass die Arrection der Haare des Rumpfes 
im Gegensatz zu der der Schwanzhaare nach Sympathicusreizung stets eine 
einseitige sei. Die Reizbarkeit und Leitungsfähigkeit des Sympathicus und 
seiner Ganglien leidet unter Curarinisirung nicht, jedoch sind diese Ver- 
suche deshalb vortheilhafter am ätherisirten Thiere vorzunehmen, weil hier 
die Pilomotoren reflectorisch nicht in Anspruch genommen werden. Aus 
dem Voranstehenden geht also in Analogie mit den Befunden Langley’s 
an anderen Thieren hervor, dass die Leitung der Erregung vom Rücken- 
marke zu den Arrectores pilorum sowie die Vertheilung der Fasern auf 
verschiedene Territorien der Haut durch den Grenzstrang des Sympathicus 
und dessen Ganglien besorgt wird, Endlich sei noch erwähnt, dass dieser 
Autor genaue Angaben über die Beziehungen der einzelnen Hautbezirke 
beim Affen und bei der Katze zu den Rückenmarkswurzeln und einzelnen 
Abschnitten des Sympathicus in den genannten Untersuchungen sowie in 
einer vorläufigen Mittheilung? gemacht hat. 

Durchschneidet man einem Ziesel das. Rückenmark zwischen 
Hals- und Brusttheil vollständig, so erschlaffen die Pilomotoren des 
Sohmunzer und sind auf keine Weise mehr reflectorisch zur 


ıJ. N. Langley, The arrangement of the sympathetic nerv. syst., based chiefly 
on observations upon pilomotor nerves. Journ. of Physiol. Vol. XV. 

° Derselbe, Preliminary account of the sympathetie nervous system, based 
chiefly on observations upon pilo-motor nerves. Proceed. Roy. Soc. Vol. ull. 


Eın BEITRAG ZUR LEHRE VON DEN PILOMOTOREN. 247 


Contraction zu bringen. Hart über der Schwanzwurzel liegt eine 
Hautstelle, deren Reizung mit einer Pincette oder Nadel besonders nach 
totaler Rückenmarksdurchschneidung charakteristische Schwanzbewegungen 
auslöst, deren Reflexcentrum im oberen Lendenmarke sich befindet. Diese 
Bewegungen bestehen aus einem raschen Hinaufschlagen des Schwanzes auf 
den Rücken und gleichzeitigen pendelnden Bewegungen der Schwanzspitze. 
Sie finden sich häufig, wenn man das normale Thier plötzlich mit einer 
Zange fasst und aus dem Käfig hebt, und sind in diesem Falle stets mit 
vollständiger Arrection der Schwanzhaare verbunden. Letztere Erscheinung 
war nun niemals mehr hervorzurufen, wenn das Rückenmark in der an- 
gegebenen Weise durchschnitten war. Auch die centrale Reizung des 
Nervus ischiadicus war vollkommen wirkungslos, wo immer auch das Rücken- 
mark durehschnitten sein mochte. Solche Thiere habe ich durch viele Tage 
am Leben erhalten und habe neben der stets leicht auszulösenden Schwanz- 
bewegung niemals einen Reflex auf die Pilomotoren gesehen. Dennoch 
.geht es wohl nicht an, Reflexcentren im Rückenmark für letztere in Abrede 
zu stellen, da ja auch von den nahe verwandten glatten Muskelfasern der 
Gefässe bekannt ist, dass die reflectorische Erregbarkeit ihrer Rückenmarks- 
centren eine recht geringe ist. Es ist wohl möglich, dass bei geeigneter 
Reizung doch ein, wenn auch schwacher Reflex zu erzielen wäre. 

Bei seinen dahin gerichteten Versuchen, das Vorkommen peripherer 
Reflexe in sympathischen Ganglien nachzuweisen, hat Langley! auch- die 
reflectorische Erregbarkeit der Pilomotoren von den Ganglien des Lenden- 
sympathicus nach Ausrottung des Rückenmarkes und der Spinalganglien 
und deren Vernichtung durch Nicotin bei der Katze gefunden. Derartige 
Untersuchungen scheiterten bei unserem Object stets an der Kleinheit und 
Zartheit der betreffenden Organe, sowie an der grossen Neigung dieser 
Thiere, schon bei geringer Abkühlung und Reizung in Folge der Eröffnung 
der Buchhöhle ihre Lebensfunctionen auf ein Minimum herabzusetzen. 
Ausserdem endet Entfernung einer grösseren Rückenmarksstrecke wegen 
der relativen Menge des verloren gehenden Blutes bei so kleinen Thieren 
nach kurzer Zeit mit dem Tode. 

Die Pilomotoren haben ein Centrum höherer Ordnung in der 
Medulla oblongata. Nach Unterbindung beider Carotiden am Halse, 
einem Eingriff, welchen der Ziesel gleich einer Reihe anderer Thiere gut 
verträgt, gelingt es bei einiger Uebung und rascher Operation am curarini- 
sirten Thier, ohne zu starke Blutung die Grosshirnhemisphären von den 
Vierhügeln zurückzuschlagen und das Kleinhirn im Wurme zu spalten. 

1J. N. Langley and H. K. Anderson, On reflex action from sympathetic 


ganglia. Journ. of Physiol. Vol. XVI. — J. N. Langley, On axon-reflexes in the 
preganglionic fibres of the sympathetic system. Journ. of Physiol. Vol. XXV. 


248 RıcaArp Hans Kann: 


Geht man genügend rasch vor, dann ist es möglich, die nun freiliegende 
Rautengrube mit feinen Nadeleleetroden zu reizen, bevor der hauptsächlich 
auf Rechnung der eröffneten Sinus kommende Blutverlust eine bedrohliche 
Höhe erreicht hat. Da gelingt es in der Regel durch Reizung des vorde- 
ren Theiles des Rautengrubenbodens neben der Medianlinie nicht zu 
tief unter der Oberfläche vollständige, fast immer beiderseitige Arrection 
der Schwanzhaare zu erhalten. Noch einfacher, aber nicht durch das Auge 
geleitet, ist folgende Methode. Der Ziesel besitzt eine sehr weite von der 
Membrana obturatoria ant. gedeckte Lücke zwischen dem Hinterhauptsbein 
und dem Atlas. Nach Unterbindung beider Carotiden lässt sich diese am 
curarinisirten, tracheotomirten Thier ohne nennenswerthen Blutverlust frei- 
legen. Nach Durchtrennung der Membran liest die ventrale Fläche der 
distalen Medulla oblongata frei und in der Mitte des Gesichtsfeldes die 
Vereinigung der beiden Art. vertebrales zur Art. basilaris. Dieser Punkt 
auf der ventralen Fläche entspricht der Spitze des Calamus scriptorius auf 
der dorsalen. Ein neben der Medianlinie bleibender dorsal- und oralwärts 
gerichteter Stich mit feinen bis auf die Spitze lackirten Elektroden trifft 
in der Entfernung von 3 bis 5 = das Centrum der Pilomotoren in der 
Medulla oblongata. Eine genaue Lage dieser Stelle angeben zu können, 
ist wegen der Kleinheit der räumlichen Verhältnisse nicht möglich. 

Es wurde oben erwähnt, dass Reizung des centralen Ischiadieusstumpfes 
am vorsichtig curarinisirten Thier prompte reflectorische Arrection der in 
geringem Maasse tonisch arrigirten Haare zur Folge hat. Nach Durch- 
schneidung der Medulla oblongata in der Ebene der Spitze des 
Calamus seriptorius verschwindet dieser Tonus und die Reizung des 
Nerven bleibt wirkungslos. 

Die pilomotorischen Fasern verlaufen, wie Langley! angiebt, bei der 
Katze in den Seitensträngen des Rückenmarkes. Ich habe immer wieder 
versucht, durch Rückenmarksreizung Arrection des Zieselschwanzes hervor- 
zurufen, aber es ist mir nur selten (und zwar bei Reizung seitlicher Rücken- 
markspartien) gelungen. Da es bekannt ist, dass Reizung eines Rücken- 
marksabschnittes stets die darunter gelegenen Arterien verengt, scheinen 
die pilomotorischen Fasern die Eigenschaft leichter Reizbarkeit 
im Rückenmark mit den Gefässfasern nicht zu theilen. 

Endlich sei erwähnt, dass unter zahlreichen Reizversuchen der 
Grosshirnrinde es nur zwei Mal gelungen ist, eine pilomotorische Wir- 
kung zu erhalten. Dieselbe war beiderseitig und vollkommen, die gereizten 
Bezirke lagen an der vorderen Aussenfläche der Hemisphäre etwa 
in jener Gegend, welche den locomotorischen Rindenbezirken des Kaninchen- 


! Journ. of Physiol. Vol.XV. 


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Emm BEITRAG zuUR LEHRE VON DEN PILOMOTOREN. 249 


gehirnes entspricht. An dem vielfachen Misslingen dieser letzteren Ver- 
suche kann wohl eine durch die leider kaum zu umgehende Curarinisirung 
verursachte Schädigung der Gehirnrinde schuld sein. 


Anhang. 


Die an den Gefässen bereits genauer studirte Wirkung des Neben- 
nierenextractes auf die glatte Museulatur wurde von Lewandowsky!, 
sowie von Langley? für die Pilomotoren ebenfalls an der Katze unter- 
sucht. Die Wirkung bestand in Contraction der Arrectores pilorum auch 
nach Degeneration der von den Ganglien zu den Organen ziehenden Fasern. 

Injection des wässerigen Extractes der chromaffinen Sub- 
stanz der Pferdenebenniere in die Vena jugularis oder in die 
Aorta bewirkt beim Ziesel schon in ganz geringer Dosis voll- 
kommene, etwa 5 Minuten andauernde Arrection der Schwanz- 
haare. Die Contraction der Pilomotoren löste sich rasch nach Ausspritzung 
der Gefässe mit erwärmter physiologischer Kochsalzlösung von der Aorta 


‚ her und erschien bei neuerlicher Injection von Nebennierenextract wieder. 
‚Auch Injection des Extraetes unter geringem Druck in das Ge- 


webe des Schwanzes, sowie Benetzung der abpräparirten Haut 
mit demselben erwiesen sich wirksam. 

Weitere Versuche, der Frage nach der direeten Wirkung des Extractes 
auf die glatten Muskelfasern der Pilomotoren näher zu treten, mussten, da 
die Jahreszeit zu weit vorgeschritten war, wegen Mangel an Thiermaterial 
abgebrochen werden. Jedenfalls eignet sich unser Object besonders zur 
anschaulichen Demonstration der Extractwirkung. 


! M.Lewandowsky, Wirkung des Nebennierenextractes auf die glatten Muskeln 
der Haut. Centralblatt für Physiologie. Bd. XIV. Nr. 17. 

® J. N. Langley, Observations on the physiological action of extracts of the 
suprarenal bodies. Journ. of Physiol. Vol. XXVL. 3. 


250 R. H. Kann: Em BEITRAG ZUR LEHRE VON DEN PILOMOTOREN. 


\ 


Erklärung der Abbildungen. 
(Taf. IV.) 


Fig. 1. Schema der topographischen Verhältnisse zwischen Haarbalg und Pilo- 
motoren. 


Fig. 2. Der Zieselschwanz während der Aethernarkose. (Nach einer Photo- 
graphie.) 


Fig. 3. Der Zieselschwanz bei maximaler Contraetion der Pilomotoren (Reizung 
der vorderen Lendenwurzeln). (Nach einer Photographie.) 


Fig. 4. Schnitt durch die Schwanzhaut, senkrecht zur Schwanzaxe und an- 
nähernd in der Axe der Haare, also schief zur Hautoberfläche. 
hh, = Zwei benachbarte Haarbüschel. 
m = Die zu einem nächst proximalen Haarbüschel ziehenden Pilomotoren 
im Schiefschnitt. 
Zenker’sche Fixirungsflüssigkeit, Bindegewebsfärbung nach Hansen. Zeiss, 
Apochrom. Obj. von 16 == Brennweite, Comp.-Oc. Nr. 4. 


Fig. 5. Schnitt in der Schwanzaxe und annähernd in der Axe der Haare. 

Haarbalg mit Pilomotoren (m), welche sich vermittelst elastischer Sehnen ansetzen. 

Zenker’sche Fixirungsflüssigkeit, elastische Fasern nach Weigert, Pikrinsäure. 
Zeiss, Apochrom. Obj. von 8"=m Brennweite, Comp.-Oc. Nr. 4. 


Fig. 6. Schnitt in der Schwanzaxe und annähernd in der Axe der Haare. 

Haarbalg mit Pilomotoren (m), welche am Balge und unter dem Epithel elastische 
Sehnen besitzen. 

Zenker’sche Fixirungsflüssigkeit, elastische Fasern nach Weigert, Pikrinsäure. 
Zeiss, Apochrom. Obj. von 8== Brennweite, Comp.-Oc. Nr. 4. 


Fig. 7. Schnitt senkrecht zur Haaraxe, also schief zur Hautoberfläche. 
m = Ein sich theilendes Muskelbündel, welches sich mittels elastischer 
Sehnen an zwei Haarbälgen (h) festsetzt. 
Zenker’sche Fixirungsflüssigkeit, elastische Fasern nach Weigert, Pikrinsäure. 
Zeiss, Apochrom. Obj. von 3=m Brennweite, Comp.-Oc. Nr. 4. 


Fig. 8. Schnitt in der Schwanzaxe. 

Das Ende eines Muskelbündels (») unter dem Epithel. 

Zenker’sche Fixirungsflüssigkeit, elastische Fasern nach Weigert, Pikrinsäure. 
Zeiss, Apochrom. Obj. von 3=m Brennweite, Comp.-Oc. Nr. 4. 


Fig. 9. Topographisches Verhältniss der Ganglien der Bauchstränge des Sym- 
pathieus zu einander und zur T'heilungsstelle der Aorta. (Halbschematisch.) 
V. bis VII. = Lendenganglien. 
]J. = Erstes Kreuzbeinganglion. 
ao = Theilung der Aorta. 
pr = Promontorium. 


— _ 


Ueber Chromatolyse in den Vorderhornzellen des 
Rückenmarkes. 


Von 


Karl Braeunig. 


(Aus der mikroskopisch-biologischen Abtheilung des physiologischen Institutes zu Berlin.) 


Wenn man die Nervenfaser eines Neurons durchschneidet, so fällt der 
von der Nervenzelle abgetrennte Theil derselben der Waller’schen Dege- 
neration (1)! anheim, d. h. es geht unter Zerfall der Markscheide und des 
Axeneylinders die Nervenfaser zu Grunde, und an die Stelle eines Nerven 
tritt ein aus Narbengewebe bestehender Strang. Indessen erleidet auch der 
Theil des Neurons, welcher die Nervenzelle enthält, — im Gegensatz zu 
dem bekannten Gesetz von Waller — gewisse Veränderungen, von denen 
sowohl die Nervenzelle als auch der mit ihr zusammenhängende Theil der 
Nervenfaser betroffen wird. 

Zuerst wurde diese Erscheinung von Berard im Jahre 1829 nach 
der Amputation menschlicher Gliedmaassen beobachtet und zwar unter der 
Gestalt von Atrophie der zugehörigen vorderen Wurzeln (2); später, bis in 
die neueste Zeit hinein, sind seine Angaben von vielen Untersuchern be- 
stätigt worden (3—14). 

Dazu kommen aus neuerer Zeit zahlreiche Arbeiten, welche die Ver- 
änderungen im centralen Theile der Nervenfaser nicht nur nach Amputation, 
sondern auch nach den mannigfaltigsten anderen — theils durch das 
Experiment, theils durch pathologische Processe hervorgerufenen — Leitungs- 
unterbrechungen beschrieben haben. 

Je nach den Bedingungen, unter denen diese Veränderungen zu Stande 
gekommen sind, scheinen dieselben sich verschieden zu verhalten: einige 


1 Die Zahlen beziehen sich auf das Litteraturverzeichniss am Schluss der Arbeit, 


252 KARL BRAEUNIG: 


Forscher beschreiben degenerätive Processe (11; 15—19), welche ihrem 
Wesen nach den im abgetrennten Theil des Nerven auftretenden Ver- 
änderungen gleich sein, aber einen anderen — langsameren — Verlauf 
nehmen sollen (Marinesco a. a. O.), während andere Beobachter hier nur 
von einer einfachen Atrophie gesprochen wissen wollen (20—24). Einen 
wesentlichen Unterschied scheint das Alter des Versuchsthieres und die 
Art der betreffenden Schädigung auszumachen, in dem Sinne, dass jugend- 
liches Alter des Individuums und schwerere Schädigungen (wie Ausreissung 
des Nerven), Neigung zum Auftreten echter Degenerationen hervorbringen, 
während bei älteren Thieren und nach schonenderen Eingriffen nur einfache 
Atrophie aufzutreten pflegt (25). 

Grössere Congruenz als über die Veränderungen der Nervenfasern 
herrscht in Bezug auf die Frage, welchen Einfluss auf die zugehörige Nerven- 
zelle eine Läsion des Axencylinderfortsatzes ausübt. Diesbezügliche Arbeiten 
finden sich aus älterer Zeit nur ganz vereinzelt (20; 26, 27). Erst die 
bekannte Entdeckung von Nissl hat die Aufmerksamkeit auf diese Frage 
gelenkt und zu einer grossen Zahl von Untersuchungen Veranlassung ge- 
geben. Nach den übereinstimmenden Beschreibungen der Autoren macht 
sich zunächst ein Anschwellen des Zellkörpers bemerkbar, gleichzeitig werden 
die Protoplasmafortsätze kürzer und spärlicher, der Kern rückt an die 
Peripherie der Zelle. An den Nissl’schen Zellkörperchen werden die als 
„Ohromatolyse“ bezeiehneten Erscheinungen wahrgenommen. Sie bestehen 
darin, dass die grossen Chromatinschollen zu pulverartig aussehenden Massen 
zerfallen, so dass im gefärbten Präparat die Zelle wie völlig gleichmässig 
mit feinem, hellblauen Staub bestreut erscheint, während derselben im nor- 
malen Zustand die dunkelblauen, regelmässig angeordneten chromatophilen 
Granula ein sehr charakteristisches Aussehen verleihen (28—50). 

Wenn nun die durchschnittenen Nervenfasern zur Heilung kommen, 
so kehrt die Zelle unter den von Marinesco genauer beschriebenen Resti- 
tutionsvorgängen allmählich zum normalen Verhalten zurück. Wird hin- 
gegen die Heilung des Nerven verhindert, so folgt auf das beschriebene 
erste Stadium, — das der „Reaction“, (Marinesco), — keine Wieder- 
herstellung, sondern die Zellen schrumpfen, werden atrophisch und ver- 
schwinden wohl auch völlig (34, 37, 45). 

Mutatis mutandis gilt diese Be eihıng, die sich zunächst und un- 
mittelbar nur auf motorische Zellen bezieht, auch für die Zellen der Spinal- 
ganglien und der sensiblen Hirnnervenkerne, sowie für die sympathischen 
Nervenzellen (51—55). 

Während nun über das eigentliche Wesen dieser in den Neuronen 
sich abspielenden Vorgänge Sicheres noch nicht feststeht und — bei der 
Schwierigkeit des Gegenstandes und der Unwegsamkeit des Gebietes für die 


ÜBER CHROMATOLYSE IN D. VORDERHÖRNZELLEN D. RÜCKENMARKES. 253 


experimentelle Forschung — vorläufig auch noch nicht festgestellt werden 
kann, scheint die Frage nach den Ursachen für ihr Zustandekommen mit 
Hülfe der heutigen Methoden vielleicht beantwortet werden zu können, 
wenigstens für gewisse, der experimentellen wie morphologischen Unter- 
suchung besonders zugängliche Zellgruppen, — so vor allem die motorischen 
Vorderhornzellen. 

‚Einige Autoren (16, 42) nehmen an, dass der Durchschneidung des 
Axencylinderfortsatzes zunächst die Alteration der Ganglienzelle folge, und 
dass die Degeneration des centralen Abschnittes der durchschnittenen Nerven- 
faser secundär, als Folge der Entartung der Zelle, eintrete und absteigend 
verlaufe. Hiermit würde die Angabe derjenigen (5) gut übereinstimmen, 
von denen im Anschluss an Amputationen nur im mehr centralwärts ge- 
legenen Theile des Nervenstumpfes veränderte Nervenfasern gefunden wurden, 
während je weiter peripherwärts um so weniger atrophische Fasern zu 
finden waren; dicht über dem Amputationsneurom war der Querschnitt des 
Nerven frei von alterirten Fasern. Darnach hätte man also die eigentliche 
Ursache für die Alterationen, welchen der die Nervenzelle enthaltende Theil 
eines Neurons unterliegt, in Einflüssen zu suchen, welche die Nervenzelle 
selbst treffen. 

Goldscheider und Flatau (56) lassen bezüglich der motorischen 
Nervenzellen drei Antworten auf die Frage nach solchen Einflüssen zu. 

Einerseits könnte die Läsion des Nerven zu directer Fortpflanzung 
irgend einer Schädlichkeit von der Stelle der Durchschneidung aus auf- 
wärts bis zur Ganglienzelle hin Veranlassung geben. Auf diesem Wege 
kommen indessen, wie Elzholz (22) wahrscheinlich gemacht hat, nur ver- 


einzelte Nervenfasern zur Degeneration. 


Sodann kann die motorische Nervenzelle, von ihrem Endorgan abge- 
trennt, die Reize, die ihr durch die psychomotorischen und die Reflexbahnen 
zugeführt werden, nicht in der normalen Weise verarbeiten. Diese Un- 
möglichkeit, Bewegungsinnervationen zu ertheilen, dieser Mangel der nor- 
malen Function, soll schädigend auf die Zelle einwirken können. 


Drittens wird von den genannten Autoren die geringere Anzahl von 
Reizen, die die Zelle unter den fraglichen Umständen erhält, zur Erklärung 
der Zellalterationen herangezogen. Augenscheinlich empfängt eine durch 

_ Läsion ihres motorischen Nerven activ unbeweglich gewordene Extremität, 
da sie seltener als ein gesundes, frei bewegliches Glied ihre Beziehungen 
zur Umgebung ändert, auch weniger sensible Reize als ein solches. Um 
ebensoviel weniger Impulse erhält dann die motorische Vorderhornzelle auf 
dem Wege der Reflexbahnen. Im gleichen Sinne — d.h. also die Zahl 
der die Zelle treffenden Reize vermindernd —, wirkt der Umstand, dass 


254 Kıru BRAEUNIG: 


bei einseitiger Läsion eines paarigen Organs die unverletzte Seite die 
Function der beschädigten Seite mit übernimmt. In unserem Falle wird 
dies — den Gesetzen der Bahnung und Hemmung im Nervensystem zufolge 
(57) — dazu führen, dass sowohl Willensimpulse als auch refleetorische 
Erregungen nicht mehr der kranken Seite, sondern statt dessen den 
functionsfähigen Vorderhornzellen der gesunden Körperhälfte zugesandt werden. 


Zur Klärung der Frage, ob die zuletzt erwähnte Verminderung der 
Anzahl der die Zelle treffenden Reize oder die Unmöglichkeit, in normaler 
Weise thätig zu sein, die Hauptursache für die Degeneration der Vorder- 
hornzellen ist, scheinen die Durchschneidungsversuche, welche von Gold- 
scheider und Flatau (a. a. O. S. 45) als wünschenswerth bezeichnet werden 
allerdings durchaus geeignet zu sein. Denn es sind die motorischen Vorder- 
hornzellen einerseits von allen Willensimpulsen — nach Durchschneidung 
der Pyramidenbahnen, andererseits von allen Reflexerregungen — nach 
Durchschneidung der hinteren Wurzeln abgetrennt. 


Bei progressiver Paralyse sind nun Veränderungen der beschriebenen 
Art an den Vorderhornzellen wahrgenommen worden (60, 61). Da jedoch 
bei Dementia paralytica fast stets neben der Erkrankung der Hirnrinde 
auch graue Degeneration der hinteren Wurzeln vorkommt, da ferner bei 
einer so schweren Erkrankung des Nervensystems stets auch an eine directe 
Fortpflanzung pathologischer Processe gedacht werden muss, so glaubte ich 
doch, dass die Durchschneidungsversuche nicht überflüssig seien, dass viel- 
mehr sie allein ein einwandfreies Resultat liefern könnten. 


Eine Gelegenheit, diese Versuche auszuführen, wurde mir durch das 
liebenswürdige Entgegenkommen des Herrn Geh. Medicinalrath Professor 
Dr. Engelmann im physiologischen Institut zu Berlin geboten. Die noth- 
wendigen Operationen durfte ich in der speciell-physiologischen Abtheilung 
mit Hülfe und unter Aufsicht der Herren Professor Dr. J. Munk und Privat- 
docent Dr. P. Schultz, die mikroskopischen Arbeiten in der mikroskopisch- 
biologischen Abtheilung unter Leitung des Herrn Geh. Medicinalrath Prof. 
Dr. Fritsch und mit besonderer Beihülfe von Seiten des Herrn Dr. L. Brühl 
ausführen. Es sei mir gestattet, den genannten Herren, die stets in liebens- 
würdigster Weise mich mit Rath und That unterstützt haben, an dieser 
Stelle meinen Dank auszusprechen. 


Die mikroskopischen Präparate wurden nach folgendem Verfahren her- 
gestellt: 
1. Fixiren in 10 procent. Formalin. 
2. Härten in Alkohol von steigender Concentration. 
3. Einbetten in Paraffin. 
4. Schneiden (Schnittdicke 5 «). 


ÜBER CHROMATOLYSE IN D. VORDERHORNZELLEN D. RÜCKENMARKES. 255 


5. Färben: 
eine Minute in !/, procent. alkoholischer Eosinlösung, 
Abspülen, 
zwei Minuten in concentrirter wässeriger Toluidinblaulösung, 
Abspülen, 


Differeneiren in Anilinölalkohol, bis die Schnitte mikroskopisch 
wieder vollständig roth aussehen, 
6. Kurz entwässern in absolutem Alkohol. 
7. Aufhellen in Xylol. 
8. Einbetten in Canadabalsam. 


Die nach dieser Methode behandelten Präparate erscheinen in allen 
Theilen durch Eosin intensiv roth gefärbt; nur die Gliakerne, die färbbaren 
Bestandtheile des Kerns der Nervenzellen und die Nissl’schen Zellkörperchen 
sind tief blau. 


Zuerst kam zur Untersuchung das Rückenmark eines Hundes, welchem 
die motorische Region der Grosshirnrinde auf einer Seite exstirpirt worden 
war, um von seinen Vorderhornzellen die Willensreize fern zu halten. 
16 Tage nach der Operation wurde das Thier getödtet, und etwa 900 in 
der oben angegebenen Weise vorbehandelte Schnitte aus dem Rückenmark 
desselben untersucht. Das Resultat war ein gänzlich negatives: weder im 
Lumbal-, noch im Cervicalmark, noch auch bei den kleineren und spär- 
licheren Vorderhornzellen des Dorsalmarkes liessen sich irgend welche 
Degenerationserscheinungen nachweisen. 

Da nun wohl als sicher angenommen werden muss, dass die Nissl’sche 
Färbungsmethode viel leichter Degenerationen vortäuscht, wo keine vor- 
handen sind, als umgekehrt, da man also ein nach diesem Verfahren erzieltes 
negatives Resultat stets als einen ziemlich sicheren Beweis dafür ansehen 
darf, dass unter den durch den Versuch gegebenen Bedingungen thatsächlich 
keine Degenerationen zu Stande kommen, wurden die Versuche in dieser 
Richtung damit einstweilen abgebrochen. 


Die andere Reihe der geplanten Untersuchungen wurde in folgender 
Weise vorgenommen: Bei zwei Fröschen und mehreren Hunden, von welch’ 
letzteren indessen nur drei die Operation in einwandfreier Weise über- 
standen, wurden hintere Wurzeln der Rückenmarksnerven durchschnitten, 
und zwar in allen Fällen im Lumbalmark. 

Bei den Fröschen wurden die beiden untersten, besonders grossen 
Wurzeln des Nervus ischiadieus zu den Versuchen gewählt. In einem Falle 
wurde das ganze Rückenmark, im anderen nur die untere Hälfte in 5 u 
dieke Schnitte zerlegt. Das Ergebniss der Untersuchung war folgendes: 


256 Kıru BRAEUNIG:, 


Frosch Nr. I; r 48 Stunden nach der Operation: 

Im unteren Theile des Lumbalmarkes auf der Seite der Operation zahl- 
reiche veränderte Zellen; vereinzelt finden sich solche auch auf der unver- 
letzten Seite. 


Unverletzte Seite Operirte Seite 
Normale Alterirte Normale Alterirte 
Zellen Zellen | Zellen Zellen 
234 8 = 3:3 Proc. | 205 52 = 20-2 Proc. 
von der von der 
Gesammtzahl Gesammtzahl 


Die Veränderungen waren in diesem Falle nicht eben hochgradige, 
aber doch vollkommen deutlich; meist kam das Anfangsstadium der be- 


Fig. 1. i 
1 und 2 Normale Zellen vom Frosch. 
3a bisd Veränderte Zelle von Frosch Nr. ]. 
4, 5 und 6 Veränderte Zellen von Frosch Nr. 11. 


kannten und eingangs geschilderten Erscheinungen zur Beobachtung, wie 
es auch die Abbildungen (Fig. 1, 3a bis d) zeigen: Der Kern ist wandständig, 
im Centrum der Zelle sind die Nissl’schen Granula geschwunden, während 
an der Peripherie noch einige Chromatinschollen erhalten sind. 


ÜBER CHROMATOLYSE IN D. VORDERHORNZELLEN D. RÜCKENMARKES. 257 


Frosch Nr. I; F 6 Tage nach der Operation. 

Die Zahl der alterirten Zellen ist auf beiden Seiten des Rückenmarkes, 
sowohl auf der operirten, wie auf der gesunden Seite, im Verhältniss zu den 
normalen ungefähr doppelt so gross wie bei Erosch Nr. I. 


Unverletzte Seite Operirte Seite 
Normale Alterirte Normale Alterirte 
Zellen Zellen Zellen Zellen 
297 20 = 6-3 Proc. 187 123 = 39-7 Proc. 
von der | von der 
Gesammtzahl Gesammtzahl 


Entsprechend der.erheblich längeren Zeit, um welche dieser zweite 
Frosch die Operation überlebt hatte, waren die Zellveränderungen bei ihm 
stärker ausgeprägt als bei dem ersten Versuchsthier (Fig. I, 4—6). 

Nachdem durch diese Versuche an Fröschen festgestellt war, dass im 
Gefolge der Durchschneidung der hinteren Wurzeln in den grossen Vorder- 


Fig. 2. 
1 Normale Zelle vom Hund. 
2 bis 6 Veränderte Zellen vom.Hund. 


hornzellen Veränderungen überhaupt zu Stande kommen, wurde die Unter- 
suchung. auch auf Säugethiere, speciell Hunde, ausgedehnt. Bei den Ver- 
suchen wurde im Lumbalmark der Wirbelcanal eröffnet und das Rücken- 
mark durch Spaltung der Dura freigelegt. Alsdann wurden die in der 


Operationswunde zu Tage tretenden hinteren Wurzeln, soweit sie als solche 
Archiv f, A. u. Ph. 1903. Physiol, Abthlg. 17 


958 KARL BRAEUNIG: 


deutlich kenntlich waren, unter sorgfältiger Schonung der vorderen Wurzeln, 
dicht bei ihrer Eintrittstelle in das Mark durchschnitten. 

Wenn sich nach dem Tode des Thieres das Rückenmark bei der Heraus- 
nahme ganz überblicken liess, wurde durch genaues Abzählen festgestellt, 
welche von den postthoracalen Wurzeln durchschnitten worden waren. Bei 
der Zählung wurde ausgegangen vom ersten Lumbalnerven, welcher zwischen 
dem ersten und zweiten Lendenwirbel den Rückenmarkscanal verlässt. — 
Jedes der zu einem Nervenpaar gehörigen Rückenmarkssegmente wurde für 
sich in zahlreichen Schnitten untersucht, und zwar wurden sämmtliche 
postthoracale Segmente bis zum neunten der Untersuchung unterworfen. 


Das Ergebniss war nun bei meinen drei Hunden, welche verschieden 
lange Zeit nach der Operation getödtet worden waren, nur insofern ein über- 
einstimmendes, als in allen Fällen deutlich veränderte Zellen, vorwiegend 
auf der Seite der Durchschneidung, vorhanden waren. Sehr verschieden 
dagegen war die Ausbreitung der Alterationen. Merkwürdiger Weise 
wies nämlich das Rückenmark des Hundes Nr. I, welcher bereits nach 
5 Tagen getödtet worden war, weitaus die meisten alterirten Zellen auf: 


Hund Nr. I; + 5 Tage nach der Operation. 


Durchschnitten sind die fünfte bis neunte postthoracale hintere Wurzel 
linkerseits. 


Laterale Laterale Mediale Mediale Centrale 
hint. Gruppe | vord. Gruppe | vord. Gruppe | hint. Gruppe Gruppe 


=. 2: 2: Ealern 2. Eremerıer 
52 853 |5= | #52 | 38 | 52 | 33 | #33 | 33 | 323 
es las os las loser sS Kos les as 
ar ie ae einen e> = 
Unverletzte Seite: 
V.Segment 26 24 104 26 70 11 100 032 135 31 
NIT... 28 13 133 46 61 18 121 13 139 53 
vll. a. 40 36 37 32 70 0 69 2 147 10 
VII. ss 208 106 196 4 204 0 106 0 245 52 


IX. 73 0 133 1 117 0 104 0 | 239 0 


375 | 179 | 603 | 109 | 522 | 29 |507 | 47 | 905 | 146 
Gesunde Zellen 2912. Alterirte Zellen 510. 


Summas: 


Operirte Seite: 


V.Segment| 16 #6] ss | al 5 | s| | s| 5 | 
vs 22 9a 28142 29.1 389310, 14 1 1 pr: 
vun) 14), \Pyo2 2 10 SA 040% | 00 ne REN oe re 
VI oo, a|ı65| 86 | za | 116 | 101 | 96 | 4 | 154 | 108 
CR 54 17 |: 95 | 87 | ıs0 | 2a | ılıs | 35 
Summa: | 183 | 239 | 295 | 337 | 353 | 229 | 408 | 63 | 563 | 329 


Gesunde Zellen 1802. Alterirte Zellen 1197. 


ÜBER ÜHROMATOLYSE IN D. VORDERHORNZELLEN D. RÜCKENMARKES. 259 


Erstes bis drities Segment: frei von veränderten Zellen; im vierten 
Segment auf der Seite der Durchschneidung in allen Zellgruppen des Vorder- 
horns einige Zellen im Zustand der Chromatolyse, auf der unverletzten Seite 
ganz vereinzelte alterirte Zellen. Vom fünften bis zum achten Segment 
finden sich auf der Seite der Durchschneidung sehr zahlreiche veränderte 
Zellen, besonders in den mehr dorsal gelegenen Theilen des Vorderhornes; 
auch auf der gegenüberliegenden Seite ist ein grosser Theil der Zellen im 
Zustand der Reaction. Im neunten Segment sind die Alterationen fast aus- 
schliesslich auf der Seite, wo der Eingriff geschehen ist, localisirt. 

In allen Theilen herrschen die frühesten Stadien der chromatolytischen 
Veränderungen vor. 


Hund Nr. I; + 8 Tage nach der Operation. 

Durchschnitten sind die fünfte bis achte postthoracale hintere Wurzel 
rechterseits. 

Vom ersten bis zum dritten Segment sind die Vorderhornzellen frei von 
Alterationen; vom vierten bis zum sechsten Segment finden sich in allen 
Gruppen auf beiden Seiten des Rückenmarkes, der operirten sowohl wie der 
gesunden, einige veränderte Zellen. Zahlreichere Zellen zeigen ein abnormes 
Aussehen im siebenten und achten Segment; die meisten derselben liegen 
an der Grenze zwischen dem siebenten und achten Segment. Das neunte 
Segment ist fast frei von chromatolytischen Zellen. 


| Laterale Laterale Mediale Mediale Centrale 
hint. Gruppe | vord. Gruppe | vord. Gruppe | hint. Gruppe Gruppe 
= = 8 =) 3 = £ Ss 3 =) = =] 3 {= 2 =} 3 = $ a 
= 8 818 =© | 2 ® ao 35 so = = =) 
se ae Sees ne Seile SEN 
ass ss 25 |23 =3|:8 2828 Ss 
CZ Bi (da) REIN: >57 AIBDEL > IA ORI 
Unverletzte Seite 
VII.Segment) 140 0) 84 0 209 0 109 0 200 0 
VTIT 76 0 58 0 95 0 61 01 69 | 
Summa: || 216 0 | 142 0 | 304 o | 170 o|29 | 0 


Gesunde Zellen 1101. Alterirte Zellen 0. 
Operirte Seite: 


VILSegment| 109 | 28 | 5 | 8 | 1m | 10 | 109003 | 154 | 9 
NR N; | aa eo 5r | 1 Pe Ba elle 
Summa: |ıss | as |12 | 9 |2as | 11 |o | 3|239| 


Gesunde Zellen 947. Alterirte Zellen 88. 


Hund Nr. III; + 15 Tage nach der Operation. 
Durchschnitten sind die postthoracalen hinteren Wurzeln von der 


sechsten bis zur neunten. 

Die vier ersten postthoracalen Segmente sind fast frei von alterirten 
Zellen, im fünften finden sich einige solche in allen Zellgruppen auf beiden 
Seiten; im sechsten und den folgenden Segmenten befinden sich zahlreichere 


Zellen im Zustand der Reaction. Die Mehrzahl der veränderten Zellen ist 
gli 


260 KARL BRAEUNIG: 


in den lateralwärts und nach hinten gelegenen Theilen des Vorderhornes 
localisirt; auch auf der unverletzten Seite des Rückenmarkes sind die alterirten 
Zellen ziemlich häufig anzutreffen. — 


Laterale Laterale Mediale Mediale Centrale 

hint. Gruppe | vord. Gruppe | vord. Gruppe | hint. Gruppe Gruppe 

SEEN ea eo ee eene 
SR Es ee nee Wera zen er | Selle 
Jeae lei Ba Verl Baer een Beilselı Be 
SR A Ebene los VEsSsz rose een 

(de) < (de) < & < 5 « ide) ER 
Unverletzte Seite 
VI.Segment| 14 0 68 2 46 3 39 2 94 7 
VI.“ Di 3 99 13 107 3 63 6 137 5 
VIII 9, 127 12 89 1 99 4 33 1 90 4 
IX; 123 | 6 119 4 97 6 58 | 3 139 3 
Summa: | 321 | 21 | 375 | 20 | 349 | ı6 |193 | ı2 |460 | 9 
Gesunde Zellen 1698. Alterirte Zellen 88. 
Operirte Seite. 

VI. Segment 0 0 78 8 29 7 42 5 74 12 
VII. 5 39 24 65 47 50 12 51 0 112 27 
VII. ” 105 23 51 49 68 12 30 6 76 4 _ 
ER 100 | 21 9 15 85 | 12 63 4 10 es 

Summa: || 244 | 68 |285 | 119 | 232 | 43 Jıs6 | 15 | 337 | 56 


Gesunde Zellen 1284. Alterirte Zellen 301. 


Für die abweichende Stellung, die Hund Nr. I einnimmt, eine ein- 
wandfreie Deutung zu finden, halte ich für ausserordentlich schwierig. 
Folgende Erklärungsversuche scheinen mir jedoch zulässig zu sein, und ich 
glaube, dass der eine oder der andere oder mehrere von ihnen vereint 
wohl im Stande sein dürften, eine befriedigende Lösung zu erbringen. 

Einmal könnte das Thier noch unter dem Einfluss der Operation, der 
Schädigung durch die Narkose u. s. w. gestanden haben. Es sollen ja 
grössere Eingriffe häufig eine so starke Wirkung auf das Nervensystem 
ausüben, dass dieselbe in Veränderungen an den Nervenzellen zum Aus- 
druck kommt (62, 63, 64). Doch scheint mir diese Erklärung nicht allzu 
viel Wahrscheinlichkeit für sich zu haben, da einerseits nach 5 Tagen sich 
diese Veränderungen doch wohl ausgeglichen haben sollten — nach Wright 
(63) ist dies für die durch die Narcotica hervorgerufenen Zellalterationen 
bereits nach 48 Stunden der Fall —, andererseits durch diese Annahme 
keine Erklärung fände das starke Vorherrschen der Alteration der Nerven- 
zellen auf der Seite der Durchschneidung. 

Andererseits könnte an einen Fehler bei der Operation gedacht werden, 
vor allem an eine versehentliche Verletzung vorderer Wurzeln. Aber — 
abgesehen davon, dass ich mir bewusst bin, auf die Vermeidung gerade 


ÜBER CHROMATOLYSE IN D. VORDERHORNZELLEN D. RÜCKENMARKES. 261 


dieses Fehlers bei meinen Operationen aus naheliegenden Gründen besondere 
Sorgfalt verwandt zu haben —, würde dadurch zwar die Stärke der Ver- 
änderungen auf der Seite der Operation vielleicht erklärt werden können, 
keinesfalls jedoch die immerhin nicht unerheblichen Veränderungen auf der 
anderen Seite. Auch spricht dagegen das Fehlen irgend welcher Lähmungen 
bei dem operirten Thiere: das Erhaltensein der willkürlichen Bewegungen 
war mir stets das Zeichen für das Gelungensein der Operation; die Moti- 
lität ist aus diesem Grunde bei allen Versuchsthieren nach der Operation 
geprüft worden. 

Dagegen ist vielleicht die Grösse des vorgenommenen Eingriffs schuld 
an der grösseren Ausdehnung der Veränderungen. Es gelang mir in diesem 
einen Falle sämmtliche hintere Wurzeln von der fünften bis zur neunten 
zu durchschneiden; möglicher Weise ist dieser Umstand von Bedeutung. 

Ferner könnte man sich vorstellen, dass unmittelbar nach der 
Durchschneidung gar keine oder fast gar keine Reize die motorischen 
Vorderhornzellen treffen, dass aber, nachdem dieser Zustand eine gewisse 
Zeit gedauert hat, nach den Gesetzen der Bahnung und Hemmung (Gold- 
scheider) (57) auf Umwegen Impulse zu den Vorderhornzellen gelangen, 
welche die gewöhnlichen Reflexreize ersetzen und ausreichend sind, um 
einen grossen Theil der Zellen vor dem Fortschreiten des Processes zu be- 
wahren, ja ihnen die Möglichkeit der Restitution zu gewähren. Es ist ja 


_ bekannt, dass schon unter physiologischen Verhältnissen ein sehr starker 


sensibler Reiz, welcher z. B. eine Hinterextremität trifft, eine Reflexbewegung 
beider Beine hervorruft. Bei diesem Versuche ist die Mitbewegung der 
nieht direet gereizten Extremität hervorgerufen durch einen Impuls, 
der zu den betreffenden motorischen Centren auf dem Wege der sensiblen 
Nerven und hinteren Wurzeln der gereizten Seite gelangt ist, — ein Bei- 
spiel dafür, dass die Vorderhornzellen der einen Körperhälfte von Reflex- 
erregungen getroffen werden können, die nicht durch die hinteren Wurzeln 
derselben Seite zu ihnen gelangt sind. Ferner haben Beobachtungen an 
Hunden gezeigt, dass nach der Durchschneidung der sensiblen Rücken- 
markswurzeln die Anfangs vorhandene Ataxie sich theilweise zurückbildet, 
ohne dass die durchschnittenen Nervenfasern zur Heilung kämen. Auch 
diese Erscheinung spricht dafür, dass für den Ausfall an Reflexreizen, wie 
er durch die Läsion der hinteren Wurzeln bedingt wird, bis zu einem 
gewissen Grade durch Impulse Ersatz geschaffen wird, die durch andere 
Nervenbahnen zu den Vorderhornzellen gelangen. Erwähnen will ich hier 
noch, dass ich bei Hund Nr. II und Nr. III eine Anzahl von Zellen getroffen 
habe, welche vielleicht als solche in Restitution begriffene Elemente angesehen 
werden dürfen. In ihnen war der Zellleib intensiver gefärbt, die Nissl’- 
schen Granula waren vorhanden, aber nur schwach tingirt, so dass die 


262 KARL BRAEUNIG: 


Zellen durch ihre dunkle Rothfärbung auffielen; sie unterschieden sich 
wesentlich sowohl von den normalen als auch von den alterirten Zellen; 
von letzteren, die im Allgemeinen ein etwas gequollenes Aussehen haben, 
auch durch ihre geringere Grösse In allen Fällen wurden sie unter den 
normalen Elementen mitgezählt. Da sie nur bei den Versuchsthieren zu 
finden waren, die längere Zeit nach der Operation gelebt hatten, so scheint 
mir die Vermuthung nicht unzulässig, dass sie in Regeneration begriffene 
Zellen seien. Mehr als eine Vermuthung kann ich freilich nicht aus- 
sprechen. Ihre Zahl betrug bei Hund Nr. III, wo sie gezählt wurden, 
ungefähr die Hälfte von derjenigen der typisch veränderten Zellen. 

Und endlich könnte, wem die vorstehenden Auseinandersetzungen nicht 
überzeugend zu sein scheinen, noch den — allerdings wenig aussichtsreichen 
— Versuch machen, die so verschiedene Ausbreitung der Erscheinungen 
bei den einzelnen Versuchsthieren auf individuelle Unterschiede in der 
Empfindlichkeit oder der Intensität der Reflexthätigkeit der betreffenden 
Nervensysteme zurückzuführen. 

Noch erübrigt mir die Localisation der alterirten Zellen zu erörtern. 
Es ist dies ein Punkt, in dem meine Befunde nicht ganz mit denen von 
W.B. Warrington (58, 59), übereinstimmen, dessen Untersuchungen mir 
leider erst zu Gesicht kamen, als ich mit meinen Versuchen schon be- 
schäftigt war. 

Vorausschieken muss ich aber zunächst einige Bemerkungen über die 
Topographie der Vorderhornzellen im Lumbalmark. Man kann (nach 
BEdinger) zweckmässiger Weise fünf Gruppen von diesen unterscheiden: 


mediale vordere Gruppe 
(anteriore) 


laterale vordere Gruppe j mediale hintere Gruppe 
fürtermediäre) =. .- (aniero - interne) 


centrale Gruppe ua 
fcentrale ) Ri rn 


laterale hintere Gruppe" 
(Hintere ) | 


Uebersicht über die Zellgruppen des Vorderhornes im Lumbalmark vom Hunde. 
(Die in Klammern gesetzten Bezeichnungen sind diejenigen von Parhon u. @ oldstein.) 


zwei seitliche, von denen die eine mehr nach hinten liest, laterale hintere 
Gruppe, die andere mehr nach vorn, laterale vordere Gruppe; ferner zwei 
mediale: eine mediale vordere, welche die am meisten nach vorn weisende 
Ecke des Hornes einnimmt, und nach medial und hinten von dieser, die 
mediale hintere Gruppe. Den mittleren Theil des Vorderhornes nimmt, von 
den vier ersten Gruppen rings umgeben, die centrale Gruppe ein. Die 


ÜBER ÜHROMATOLYSE IN D. VORDERHORNZELLEN D. RÜCKENMARKES. 263 


beiden seitlichen Gruppen sind häufig nicht scharf zu trennen; in den 
oberen Theilen des Lumbalmarkes wird die hintere von ihnen kleiner, zell- 
ärmer und verschwindet schliesslich völlig, während die vordere sich aus- 
dehnt und endlich den grössten Theil des Raumes erfüllt, den in den 
tieferen Partieen die beiden Gruppen zusammen einnehmen. In derselben 
Weise, aber unter anderen Bezeichnungen finde ich diese Anordnung der 
Vorderhornzellen beschrieben bei Parhon und Goldstein in einer Arbeit, 
deren ich weiterhin noch öfter Erwähnung thun muss (67). Diese Autoren 
führen die mediale hintere Gruppe als antero-interne auf, die mediale vordere 
als anteriore und die centrale unter dem gleichen Namen; sie bezeichnen 
die laterale vordere als intermediäre, die laterale hintere als hintere Gruppe 
und geben an, dass diese letztere in den tieferen Theilen des Lumbalmarkes 
in zwei Theile zerfällt. 

Warrington unterscheidet nur drei Gruppen: eine postero-laterale, 
eine anteriore und eine mediale. Wahrscheinlich fasst er die beiden von 
den Autoren gesonderten seitlichen Gruppen als eine einzige postero-laterale 
zusammen, bezeichnet die centrale Gruppe als mediale und die mediale 
vordere als anteriore Gruppe, während er die etwas abseits liegende, kleine 
und ungleich ausgebildete mediale hintere Gruppe unbeachtet lässt. 

Er stellt nun die Behauptung auf, die nach Durchschneidung der 
hinteren Wurzeln auftretenden Veränderungen seien ausschliesslich oder 
fast ausschliesslich in der postero-lateralen Gruppe des siebenten und achten 
postthoracalen Segments localisirt und verbreiteten sich auch dann nicht 
wesentlich weiter, wenn noch andere hintere Wurzeln als die siebente und 
achte (von der fünften bis zur neunten) durchschnitten seien. 

Meine Befunde stimmen mit diesen Angaben überein insofern, als ich 
ebenfalls die stärksten Veränderungen und relativ die meisten alterirten 
Zellen in diesen Partieen gefunden habe, — falls nämlich die beiden lateralen 
Gruppen zu einer postero-lateralen Gruppe zusammengefasst werden. Dass 
aber nur oder fast nur in diesen Gruppen jene Vorgänge sich abspielen 
sollen, kann ich nicht bestätigen. So habe ich in zwei Fällen, in denen 
die neunte hintere Wurzel mit durchschnitten war, im neunten Segment 
ganz intensive Alterationen gefunden, ebenso im sechsten Segment; indessen 
wurden in diesem Abschnitt doch schon erheblich weniger chromatolytische 
Zellen gezählt als im siebenten Segment. Dagegen war im sechsten und 
mehr noch im fünften und vierten Segment wahrzunehmen, dass die er- 
krankten Zellen über alle Gruppen vertheilt waren, während ihre Anzahl 
je weiter nach oben desto kleiner war. 

In den tiefer gelegenen Segmenten war die Zahl der veränderten Zellen 
stets sehr zahlreich und hielt sich an die Gegend der (nach Warrington) 
postero-lateralen Gruppe, aber nicht an diese Gruppe allein, vielmehr er- 


264 KARL BRAEUNIG: 


streckte sich ihre Ausbreitung. auch auf die anteriore Gruppe und den 
hinteren, der lateralen hinteren Gruppe anliegenden Theil der centralen 
Gruppe. 

Ein Uebergreifen der Zellveränderungen auch auf die unyerletzte Seite 
habe ich in Uebereinstimmung mit Warrington constatiren können; 
letzterer hatte in einigen Fällen nicht unerhebliche Befunde auf der nicht 
operirten Seite und zwar im sechsten und siebenten Segment. 

Alle diese Verhältnisse finden ihren exacteren Ausdruck in den Tabellen 
des Protocolls auf Seite 258 bis 260. 

Die Frage nach der Ausbreitung dieser Veränderungen hat nun ein 
tieferes Interesse gewonnen durch einige neuere Arbeiten, die sich mit der 
Localisation der motorischen Functionen im Rückenmark beschäftigen. Ueber- 
einstimmend lauten die Angaben von van Gehuchten (65, 66), Mari- 
nesco (37) und dessen Schülern Parhon und Goldstein (67) dahin, dass 
die Zellen der beiden lateralen Gruppe in den untersten Segmenten des 
lumbo-sacralen Markes das spinale Centrum für die Bewegungen des Fusses 
und der Zehen seien, während die Innervation des Ober- und Unterschenkels 
in den höheren Regionen des Lumbalmarkes und in den übrigen Zellgruppen 
localisirt sei. Auch bei Edinger (12) finde ich eine Angabe gleichen In- 
halts. Zwischen ‚den zuerst genannten Autoren, besonders zwischen van 
Gehuchten einerseits und Marinesco und seiner Schule andererseits, 
besteht zwar eine Controverse hinsichtlich der Deutung der Befunde; — 
diese ist indessen für unsere Frage ohne Belang. 

Auch Warrington erblickt in den Zellen seiner postero-lateralen 
Gruppe in den tieferen postthoracalen Segmenten (siebentem und achtem) 
das Bewegungscentrum für die Muskeln des Unterschenkels und Fusses; 
und nach Sherrington (68, 69) führt er an, dass die entsprechenden 
hinteren Wurzeln (sechste, siebente und achte) sensible Nervenfasern zur 
Haut und den übrigen Weichtheilen der Sohle senden. Er weist darauf 
hin, dass dies der Bezirk ist, in welchem bei seinen Versuchen fast aus- 
schliesslich die alterirten Zellen gefunden wurden. Zugleich macht er 
darauf aufmerksam, welche immense Bedeutung für die Bewegungen des 
Fusses die von der Haut der Sohle ausgehende Reflexthätigkeit hat. Zur 
Erhärtung seiner Ansicht führt er folgenden Versuch von Sherrington 
an: es wurden einem Versuchsthiere sämmtliche postdorsale hintere Wurzeln 
durchschnitten, ausser der sechsten, siebenten und achten, einem anderen 
diese allein. Die Unsicherheit der Bewegungen waren im zweiten Fall 
wesentlich grösser als im ersten, wenn auch nicht so bedeutend wie nach 
einer Anästhesirung des ganzen Beines. 

Gegen eine solche Auffassung sprechen auch meine Befunde nicht. 
Wenn auch bei meinen Versuchsthieren die Veränderungen sich weiter 


ÜBER ÜHROMATOLYSE IN D. VORDERHORNZELLEN D. RÜCKENMARKES. 265 


ausgedehnt haben als anf jenen engen Bezirk im hinteren Theile des Vorder- 
hornes in der bestimmten Höhe, so waren sie doch an dieser Stelle in allen 
Fällen besonders stark ausgeprägt, wie dies dem besonderen Abhängigkeits- 
verhältniss entspricht, in welchem die hier localisirten Bewegungscentra zur 
Reflexthätigkeit stehen. Aber schliesslich geht ja diese nicht nur von der 
Haut der Fusssohle aus und erstreckt sich nicht nur auf die Bewegungen 
der Zehen und des Fusses; vielmehr lassen sich von jeder Hautstelle aus 
Reflexbewegungen auslösen und schon ein mässig starker Reiz hat eine Be- 
wegung des ganzen Beines zur Folge; ferner stehen Functionen, an denen 
sogar noch mehr als nur die ganze Extremität betheiligt ist, wie z. B. der 
Gang, in sehr hohem Maasse unter der Einwirkung der Reflexthätigkeit, 
wie dies die Erscheinungen der Tabes dorsalis darthun. Und endlich, wie 
schon erwähnt, giebt Sherrington an, dass die Bewegungsanomalien des 
Versuchsthieres dessen Fusssohle anästhetisch gemacht war, doch erheblich 
geringere waren als desjenigen, bei welchem die Sensibilität der ganzen 
Extremität aufgehoben war. 

Diese Verhältnisse, meine ich, haben ihr anatomisches Substrat in der 
eigenthümlichen Ausbreitung der Zellveränderungen nach der Durchschneidung 
der hinteren Wurzeln: da, wo die Haut der Sohle ihre sensiblen Nerven 
hinsendet, und wo die Fuss- und Unterschenkelmuseulatur ihr spinales 
Bewegungscentrum hat, ebenda haben die meisten Zellen unter dem Aus- 
fall der Reflexe gelitten. In den übrigen Theilen des Lumbalmarkes, von 
denen aus andere Muskeleruppen (die des Oberschenkels und des Beckens) 
innervirt werden, deren Verhältniss zur Reflexthätigkeit ein weniger inniges 
ist, die aber doch keineswegs ganz unabhängig von ihr sind, finden sich 
die alterirten Zellen entsprechend weniger zahlreich. Und wie wir schliess- 
lich beobachten können, dass ein starker sensibler Reiz auch auf der gegen- 
überliegenden Körperseite eine Bewegung auslöst (s. S. 261), so finden wir, 
dass in Folge der Aufhebung der Reflexthätigkeit der einen Körperhälfte 
auch die motorischen Zellen der gegenüberliegenden Seite alterirt werden, 
wenn auch nur in geringerem Maasse. 

Die Ursache für die Verschiedenheit der Befunde Warrington’s und 
der meinigen ist wahrscheinlich darin zu suchen, dass Warrington in der 
Regel nur drei, höchstens vier hintere Wurzeln durchschnitten hat, während 
bei meinen Versuchen in zwei Fällen vier und ein Mal fünf derselben 
durchtrennt worden sind. (Vergl. auch 8. 261.) 

Erwähnt soll noch folgender Einwand werden, der von Cohnstamm 
gegen die Befunde Warrington’s erhoben worden ist. Cohnstamm be- 
hauptet nämlich, die Zellen der postero-lateralen Gruppe hätten nicht 
motorische, sondern sensible Function und dies sei der Grund, weshalb sie 
durch die Durchschneidung der hinteren Wurzeln alterirt würden. Nach- 


266 KARL BRARUNIG: 

\ 
dem nun aber durch die auf S. 264 angegebenen Untersuchungen in ein- 
wandfreier Weise festgestellt worden ist, dass diese Zelleruppen motorische 
Centren sind, darf dieser Einwand wohl als widerlegt angesehen werden. 

Auf die Frage, deren Beantwortung Eingangs als Aufgabe dieser Arbeit 
bezeichnet wurde, nämlich die nach der Ursache für die Degeneration einer 
motorischen Vorderhornzelle in Folge der Durchschneidung ihres Nerven- 
fortsatzes, lässt sich nun Folgendes sagen: eine ganz unzweideutige Antwort 
ist durch die gemachten Versuche nicht gewonnen worden. Soviel aber 
steht fest: nicht betheiligt an diesen Vorgängen ist die verminderte Zahl 
der Willensimpulse, die ein gelähmtes Glied trifft. Von Bedeutung ist 
jedenfalls die Verminderung der Zahl der Reflexreize, die eine solche Ex- 
tremität aufnimmt, — ein Resultat, über das man sich weniger wundern 
wird, wenn man sich die bekannte Thatsache vergegenwärtigt, dass ein 
pathologischer Process, welcher die psychomotorische Bahn zerstört, ohne 
den kurzen Reflexbogen zu alteriren, eine spastische Lähmung zur Folge 
hat, dass hingegen eine schlaffe Lähmung entsteht, wenn die betreffende 
Schädlichkeit im Bereiche dieses kurzen Reflexbogens liegt. Ferner ist 
bekannt und von mir auch nach meinen Operationen beobachtet worden, 
dass eine Durchschneidung der hinteren Wurzeln ein Verschwinden des 
Tonus der Musculatur zur Folge hat, so dass eine Extremität, deren Sen- 
sibilität ausgeschaltet ist, gewöhnlich daliegt fast wie ein gelähmtes Glied; 
während sie durch Willensakte wohl in zweckmässiger Weise bewegt werden 
kann. Wie Brondgeest (70) gezeigt hat, beruht eben der sogenannte 
Muskeltonus auf den zahllosen leisesten Reflexerregungen, die den Vorder- 
hornzellen durch die hinteren Wurzeln zugeführt werden. 

Es sind dies zwei Thatsachen, welehe im Verein mit den schon vorher 
in ähnlichem Zusammenhange erwähnten Bewegungsstörungen bei der Tabes 
die Lebenswichtigkeit der Reflexe für die motorische Nervenzelle in ein 
besonders helles Licht setzen. Allerdings ist nicht entschieden und gegen- 
wärtig auch noch nicht zu entscheiden, ob dieser Ausfall der Reflexe die 
einzige Ursache für das Zustandekommen der fraglichen Veränderungen ist, 
und hierin liegt die Unzulänglichkeit des gefundenen Resultates. 

Von hohem Interesse wäre es nunmehr, zu untersuchen, ob die 
Alterationen der Nervenzellen, wie sie unter den durch unsere Versuchs- 
anordnung gegebenen Verhältnissen auftreten, einen wesentlichen Einfluss 
auf die Nervenfaser ausüben. Es müssten, um dies festzustellen, nach 
Durchschneidung der hinteren Wurzeln die entsprechenden vorderen Wurzeln 
freipräparirt und nach geeigneten Methoden untersucht werden, eine Arbeit 
die ich gegenwärtig äusserer Umstände halber nicht ausführen kann, zu 
der ich aber demnächst zu kommen hoffe. 


ÜBER CHROMATOLYSE IN D, VORDERHORNZELLEN D, RÜCKENMARKES. 267 


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70 Kırı BrAnunıG: ÜBER (HROMATOLYSE U. 8 W. 


\ 

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Untersuchungen über das Verhalten des Herzmuskels 
bei rhythmischer elektrischer Reizung. 


Von 


Dr. Wilhelm Trendelenburg, 


Assistent am Institute, 


(Aus dem physiologischen Institute zu Freiburg i. B.) 


(Hierzu Taf, V u. VI.) 


I. Einleitung. 
Litteratur. 


Im Vergleich zur Zahl der Arbeiten über die !Einwirkung „tetani- 
sirender‘‘ Reize auf das Herz liegen nur wenige systematische Unter- 
suchungen über rhythmische Reizung bei weniger hoher Frequenz der 
elektrischen Reize vor. Und doch erscheint eine derartige Untersuchung 
schon deshalb nicht unlohnend, weil dadurch vielleicht auch auf die zum 
Theil noch wenig verständlichen Erscheinungen bei Anwendung tetani- 
sirender Reize einiges Licht geworfen wird. 

Von früheren Untersuchungen über rhythmische elektrische Reizung 
des ruhenden Herzmuskels soll nur das für die vorliegenden Versuche 
Wichtigste angeführt werden. Zunächst ist die grundlegende Arbeit von 
Bowditch (4) zu nennen. Bei Reizung der am Manometer aufgebundenen 
Herzspitze ergiebt sich, dass die Zahl der Herzcontractionen gleich oder 
kleiner wie diejenige der Reize ist, wenn wir von dem Fall absehen, dass 
die Contractionszahl die Reizzahl übertrifft, ein Fall, welcher in Folge un- 
zureichender Absperrung der natürlichen Reize eintrat. Die aussetzende 
und die regelmässige Pulsfolge können „nach Belieben erzeugt werden 
durch blosse Aenderungen in der Stärke oder Reihenfolge der Inductions- 
schläge.“ Lässt: man also die Stärke der zunächst noch unwirksamen In- 
ductionsschiäge anwachsen, so treten bald Contractionen ein, deren Anzahl 
aber noch bedeutend kleiner, wie die der Reize ist (hinreichende Reize). Bei 
weiter wachsender Reizstärke nimmt die Zahl der Pulse immer mehr zu, 


912 WILHELM TRENDELENBURG: 

bis sie schliesslich der Reizzahl gleich werden kann (unfehlbare Reize). 
Aber auch bei gleicher Reizstärke kann die „aussetzende Pulsfolge“ da- 
durch in eine „regelmässige“ verwandelt werden, dass man das Reizintervall 
vergrössert. Auch ohne dies kann in Folge längerer Reizung bei gleicher 
Stärke und Intervall der Reize die Anzahl der Contractionen allmählich 
zunehmen, „so dass ein Reiz, dessen Stärke ursprünglich nicht genügte, 
um eine regelmässige Pulsfolge hervorzurufen, allmählich zur Erzeugung 
dieser letzteren ausreicht.“ Die Empfänglichkeit der Herzspitze für Reize 
werde also durch die ausgeführten Zuckungen gesteigert. 

Von den Ergebnissen Bowditch’s ausgehend fand Kronecker (14) 
unter Anwendung gleichmässiger Reize (Spülcontact), dass jedem Reiz ent- 
weder ein Puls folgt, oder die Reize gänzlich effectlos bleiben. In der 
Sprache Bowditch’s sind also hinreichende Reize gleich unfehlbar. Wenn 
der Reiz nur um ein Minimum unter den unfehlbaren sinkt, so verschwinden 
die Pulse ohne Uebergang durch aussetzende sogleich gänzlich. Anders 
bei Abkühlung des Herzens; bei etwa 10° verlieren schwache Reize ihre 
Unfehlbarkeit, der Herzschlag wird regelmässig aussetzend. Es entsteht 
die Frage, „ob das abgekühlte Herz deshalb erst nach jedem zweiten Reize 
eine Contraction ausführe, weil es zweier summirten Anstösse bedürfe, oder 
ob der erste Reiz nur darum spurlos vorübergehe, weil er das träge 
Organ noch nicht pulsbereit finde, der zweite aber für sich wirksam sei.“ 
Für die zweite Möglichkeit entschieden folgende Beobachtungen am abge- 
kühlten Herzen: „Werden die Contractionen vom Herzen in Zeitintervallen 
verlangt, welche grösser sind, als die seinem jeweiligen Beweglichkeits- 
zustande entsprechenden Pulsperioden, so lösen verhältnissmässig schwache 
Reize unfehlbar Zusammenziehungen aus; treffen mässige Antriebe das 
Herz vor Beendigung seiner Pulsperiode, so bleiben sie effectlos.“ Deshalb 
ist anzunehmen, „dass das abgekühlte Herz nicht sogleich nach vollbrachter 
Zuckung wieder contractionsfähig ist.“ 

Nach v. Basch (2) kann abweichend von Kronecker und in Ueber- 
einstimmung mit Bowditch an jedem Herzen ausnahmslos das Ueber- 
springen eines oder mehrerer Reize erhalten werden. Wird das abge- 
bundene Herz oder die Herzspitze in einem Intervall von !/,” mässig stark 
oereizt, so wird nur jeder zweite Reiz beantwortet und allmählich werden 
«die Contractionen bei unveränderter Reizung immer seltener. Wird nun 
die Intensität der Reize gesteigert, so steigert sich zuerst die Frequenz der 
Contractionen, um bald wieder abzunehmen. Wird im Stadium der ab- 
uechmenden Contractionsanzahl das Reizintervall vergrössert, so wird eben- 
falls jeder Reiz mit einer Contraction beantwortet; wird hingegen im gleichen 
Stadium der Reiz etwas geschwächt, so wird das Herztempo langsamer. 
Durch Controlversuche konnte v. Basch sich überzeugen, dass die 


VERHALTEN D. HERZMUSKELS BEI RHYTHMISCHER ELEKTR. REIZUNG. 273 


Aenderung der Schlagfolge nicht durch Unregelmässigkeiten des Reiz- 
apparates bedingt sei. Seine Befunde glaubte v. Basch dahin deuten zu 
müssen, dass der Herzmuskel die an sich unwirksamen Reize summirt; die 
Summationstheorie wird besonders daraus gefolgert, dass bei Reizung des 
Herzens in längeren Intervallen grössere Stromstärken nöthig sind, als bei 
kleineren Intervallen. 

Dagegen machte Kronecker (15) folgenden Versuch geltend. Reizte 
er die mit verdünntem Kaninchenblut gefüllte Froschherzspitze einmal im 
Intervall von 5—10”, das andere Mal von 0-5”, so war in beiden Fällen 
die Reizung bei einem Abstand der secundären Spirale von 13.5” un- 
wirksam, und erst bei 13-3 wirksam; hierdurch ist gezeigt, „dass die Vor- 
gänge, welche bei häufiger Reizung des Herzens den Schlag erleichtern, 
nicht ‚Summationsvorgänge‘ im Sinne der Reflexreize sind.“ Nach Kro- 
necker kommt; vielmehr die Abhängigkeit der Erregbarkeit in Betracht, 


indem eine Herzcontraction für einige Zeit das Entstehen der nächsten er- 


leichtert. v. Basch (3) fand zwar, dass auch dann, wenn die Einwirkung 
von Herzcontractionen ausgeschlossen ist, unwirksame Reize bei Wieder- 
holung wirksam werden, giebt aber zu, dass eine Erklärung ebensowohl 
durch Steigerung der Erregbarkeit, wie durch Summation der Reize möglich 
sei. Hervorzuheben ist, dass unwirksame Reize nur dann bei Wiederholung 
eine Contraction auslösen konnten, wenn sie nahe der Schwelle lagen. 
Wie für die ganze Herzphysiologie, so war auch für die künstlichen 
Reizungen am Herzen die Entdeckung Marey’s (20, 21) von grösster Be- 
deutung. Marey sprach das der Herzthätigkeit eigenthümliche Gesetz 
allgemein gültig dahin aus, dass das Herz während der Systole unerregbar 
ist, sich in einer ‚‚periode refractaire“ befindet, welche durch Reizverstärkung 
und Temperaturerhöhung verkürzt, bezw. gänzlich aufgehoben wird. Marey 
selbst hebt hervor, wie nahe schon Bowditch an der Erkenntniss der 
periodischen Erregbarkeitsveränderungen des Herzens gewesen ist; Kro- 
necker fand wohl die richtige Deutung, beschränkte sie aber offenbar auf 
die Erscheinungen am abgekühlten Herzen. Die Bedeutung der refrac- 
tären Periode für das Verhalten des Herzens bei rhythmischer elektrischer 
Reizung wurde auch schon von Marey richtig dahin erkannt, dass sie 
alle Reize unwirksam macht, welche während ihres Bestehens das Herz 
treffen. So fand Marey, dass bei gleicher Reizstärke die Reizanzahl in 
der Secunde keinen wesentlichen Einfluss auf die Zahl der Herzeontractionen 
hat, während bei gleicher Reizfrequenz die Zahl der Herzschläge in hohem 
Maasse von der Reizstärke abhängt, weil diese in der erwähnten Weise die 


 refractäre Periode in ihrer Dauer verändert. 


Entgegen der Meinung Marey’s, dass die refractäre Periode bei 


starken Strömen vollständig wegfallen könne, stellte Engelmann (7) fest, 
Archiv f. A. u. Ph. 1903. Physiol. Abthlg. 18 


274 WILHELM TRENDELENBURG: 

dass bei Vermeidung von indirecter Erregung das Herz sich auch gegen 
starke Reize zwischen Anfang des Latenzstadiums und etwa 0-1” vor dem 
Gipfel einer Systole refractär verhält. Andererseits steigt die Anspruchs- 
fähigkeit des Ventrikels auch nach vollendeter Diastole noch an. Bei 
minimalen Reizen hat mithin die refractäre Periode wesentlich längere 
Dauer, als Marey sowie Lauder Brunton und Cash (19) fanden. 
Dass die refractäre Periode auch der abgeschnittenen Herzspitze zukommt, 
wurde zuerst von Dastre (6) nachgewiesen und damit gezeigt, dass die 
periodische Unerregbarkeit jedenfalls keine Eigenschaft ist, welche durch 
die Ganglienzellen des Herzens vermittelt wird. 


Aufgabe. 


Die vorliegende Untersuchung unternahm ich auf Anregung von Herrn 
Prof. v. Kries, welchem ich auch für vielfache gütige Berathung bei ihrer 
Ausführung meinen verbindlichsten Dank abstatten möchte. 

Während der Skeletmuskel sowohl Superposition wie auch Verschmelzung 
der einzelnen Contractionen stets ausführt, wenn die Reize eine gewisse 
Frequenz erreichen, ist bekannt, dass der Herzmuskel nur unter besonderen. 
eng begrenzten Bedingungen superponirt. Der Grad aber, bis zu welchem 
eine Verschmelzung der einzelnen Contractionen bei künstlicher Reizung 
eintreten kann, und die Abhängigkeit der Verschmelzung von verschiedenen 
Bedingungen war bisher nicht systematisch messend untersucht worden 
und sollte deshalb das nächste Ziel dieser Arbeit bilden. Da der Herz- 
muskel einer steigenden Reizfrequenz nur bis zu einer gewissen Grenze zu 
folgen vermag, von welcher an er nur jeden zweiten Reiz beantwortet, so 
wird auch die Verschmelzung der einzelnen Contractionen durch diese 
Halbirung abgebrochen. Dabei zeigte sich, dass eine um so grössere Ver- 
schmelzung der Contractionen erzielt werden konnte, je höher die 
vom Herzmuskel befolgte Reizfrequenz war, und dass weiter die Höhe der 
erreichbaren Reizfreqguenz von der Art der Frequenzvermehrung wesentlich 
abhing. Da nun die Grenze, bis zu welcher der Herzmuskel einer steigen- 
den Reizfrequenz zu folgen vermag, von der refractären Periode bedingt 
ist, waren weitere Untersuchungen über das Verhalten der refractären Periode 
von „Verschmelzungssystolen“, im einfachsten Falle also von sogenannten 
Extrasystolen, nöthig. Ferner wurden im Stadium der grössten Verschmelzung 
(Uebergangsstadium) mehrere Abweichungen im Verhalten des Herzmuskels 
gefunden, welche eine gesonderte Untersuchung erforderten. Demnach sind 
im Abschnitt II Untersuchungen über die refractäre Periode enthalten, im 
Absehnitt III die Erscheinungen bei der zur Verschmelzung führenden 
Frequenzvermehrung, sowie die Verschmelzungswerthe, welche zu erzielen 
waren, ehe der Herzmuskel den Rhythmus halbirte; im Abschnitt IV sind 


VERHALTEN D. HERZMUSKELS BEI RHYTHMISCHER ELEKTR. Reizung. 275 


die Abweichungen besprochen, welche bei diesem Rhythmuswechsel auf- 
treten können und die gleichmässige Verschmelzung verhindern. Der Ab- 
schnitt V giebt mehr anhangsweise einige Bemerkungen über weitere 
Rhythmustheilungen. 


Methode. 


Die Untersuchungen wurden an Rana esculenta vorwiegend mit der 
Suspensionsmethode an der ausgeschnittenen Herzspitze angestellt, nach- 
dem sich die Verwendung des nach der ersten Stannius’schen Ligatur 
stillstehenden Herzens als weniger zweckmässig erwiesen hatte, weil häufig 
nach Aufhören der Reizung überzählige Contractionen eintraten. Zur 
Ergänzung und Vervollständigung wurde später die Anwendung des Frosch- 
herzmanometers für den dritten und vierten Theil der Arbeit hinzugezogen. 
Wenn im Folgenden keine näheren Angaben gemacht sind, so beziehen 
sich die Erörterungen auf die Suspensionsmethode. Bei dieser wurde die 
abgeschnittene Herzspitze an der neuen Basis mittels zweier Nadelelek- 
troden auf einer Korkunterlage festgesteckt und in der von Engelmann (8) 
angegebenen Weise durch einen Wall von feuchter Watte umgeben, welcher 
auch oben möglichst zugedeckt wurde. Dadurch waren Wasserverlust und 
Temperaturänderungen nach Möglichkeit vermieden und eine grössere Aus- 
dauer des Präparates erzielt. Die Curven wurden mit dem Engelmann’- 
schen Hebel verzeichnet. Der Reiz wurde dem Herzmuskel durch die 
Nadelelektroden von der secundären Spirale eines Zimmermann’schen 
Inductionsapparates zugeführt. Dessen primärer Kreis war mit einem 
Accumulator, sowie mit dem rhythmischen Unterbrecher verbunden. 
Während im zweiten Theil als solcher das v. Frey’sche Differentialrheotom 
diente (s. u.), fand im Uebrigen ein rotirender Doppelcontact von Platin- 
spitzen, welche in Quecksilber mit Spülvorrichtung tauchten, Verwendung. 
Die beiden Contacte waren durch Excenter an der rotirenden Axe um 
!/, Phase gegen einander verstellt, der eine derselben diente zur Abblendung 
der Schliessungsinductionsschläge vom Präparat. Die Unterbrecheraxe 
wurde durch einen Elektromotor in Rotation versetzt, in dessen Stromkreis 
zwei Drahtrheostaten mit verschieblichem Schleifcontact eingeschaltet waren. 
(Der Centrifugalregulator war meist fest angezogen, so dass die Schnellig- 
keit des Elektromotorganges nur von der leicht und gleichmässig ver- 
änderlichen Stärke des zugeführten Stromes abhing; wo es auf ganz 
genaue Gleichheit der Reizintervalle besonders ankam, wurde zur Sicherheit 
der Centrifugalregulator eingeschaltet.) Man hat es mit dieser Einrichtung 
ganz in der Hand, die Elektromotorbewegung nur sehr allmählich zu be- 
schleunigen oder zu verlangsamen und somit die Reizfrequenz langsam 
und stetig zu erhöhen oder zu vermindern. Auf diese Weise sind manche 

18* 


276 WILHELM TRENDELENBURG: 


Eigenthümlichkeiten im Verhalten des Herzmuskels bei elektrischer Reizung 
zu zeigen, welche bei mehr sprungweiser Veränderung der Reizintervalle 
nicht hervortreten würden. 

In den Kreis der primären Spirale war ein Pfeil’sches Signal zur 
Reizmarkirung eingeschaltet; unter der Reizlinie wurde die Zeit mit dem 
Chronographen in !/,” markirt. 

Am Froschherzmanometer wurde die Herzspitze an der Kroneeker’- 
schen Canüle aufgebunden und mit einer Blutmischung aus !/, frischem 
Hammelblut und ?/, physiologischer Kochsalzlösung gespeist. Die Mischung 
wurde vor dem Versuch gut mit Luft durchgeschüttelt. Die eine Elektrode 
war der Dorn an der Canüle, als zweite wurde der von der secundären 
Spirale hergeleitete Draht in die Blutmischung getaucht, welche in einem 
kleinen Glasgefäss das Herz umspülte. 


II. Refractäre Periode der Nebensystole.! 
BReizeinrichtung. 


Zur Untersuchung der refractären Periode einer Nebensystole ist es 
nöthig, drei Reize in variablem Abstand nach einander wirken zu lassen, - 
deren erster eine Oontraction des vorher ruhenden Herzmuskels auslöst 
(Hauptsystole), deren zweiter unmittelbar am Ende der refractären Periode 
der Hauptsystole eine Nebensystole (Verschmelzungssystole, Extrasystole, 
Abortivsystole), hervorruft, während durch den dritten Reiz das Ende der 
refractären Periode dieser letzteren Systole bestimmt wird. Bei dieser 
Methode lässt sich der Werth der refractären Periode der zweiten Systole 
auf den der ersten, welcher mitbestimmt wird, beziehen, und durch Auf- 
stellung eines Quotienten aus beiden Zahlen erhält man einen Werth, welcher 
die Länge der refractären Periode der Nebensystole angiebt, wenn die der 
Hauptsystole gleich 1 gesetzt ist. Durch Vergleich derartiger Quotienten 
wird ersichtlich, wie sich durch eine unmittelbar voraufgegangene Systole 
die Nebensystole in Bezug auf die refractäre Periode verhält, wenn ver- 
schiedene Versuchsbedingungen variirt werden. Die absoluten Werthe der 
refractären Perioden der Nebensystolen würden keine vergleichbaren Maasse 
angeben, weil ja auch die der Hauptsystolen bei verschiedenen Versuchs- 
bedingungen verschieden sind und deshalb Besonderheiten im Verhalten 
der Nebensystolen ohne Vergleich der Quotienten nicht hervortreten können. 

In den Kreis der primären Spirale wurden die drei Federcontacte des 
v. Frey’schen Rheotoms so eingeschaltet, dass die rotirenden KRöllchen 
den primären Strom öffneten, sobald sie die Stahlfedern von ihrem An- 


! Da die Bezeichnung „Extrasystole“ für eine bei spontan schlagendem Herzen 
künstlich hervorgerufene Systole gebräuchlich ist, so soll hier die ihr entsprechende 
Systole als Nebensystole, die vorhergehende als Hauptsystole bezeichnet werden. 


VERHALTEN D. HERZMUSKELS BEI RHYTHMISCHER ELEKTR. REIZUNG. 277 


schlag abhoben. Da kurz nach jeder Oeffinung die Feder wieder anschlägt, 
der Strom also wieder geschlossen wird, würden sechs Reize bei Vorhanden- 
sein von nur drei Contacten gegeben werden, wenn sowohl die Oeffnungs- 
wie auch die Schliessungsschläge wirksam sind. Beim Schwellenwerth der 
Oeffnungsreize sind aber die Schliessungsreize noch unter der Schwelle; 
zwischen ihrem Schwellenwerth und dem der Oeffnungsreize hat man einen 
genügenden Spielraum, um den Einfluss verschiedener Reizstärke zu unter- 
suchen, ohne durch Wirksamwerden der Schliessungsreize gestört zu werden. 
Dieser Ausweg musste eingeschlagen werden, da eine Abblendung der 
Schliessungen an diesem Apparat nicht herzustellen war. Das Rheotom 
wurde, wie beschrieben, durch einen Elektromotor getrieben, dessen Ge- 
schwindigkeit gleichmässig veränderlich war. Da ausserdem die drei Contacte 
an der Kreisperipherie des Apparates in beliebigem Abstand von einander 
festgestellt werden konnten, liessen sich in jedem Fall schnell die Intervalle 
finden, bei denen jeder folgende Reiz gerade am Ende der Refractärperiode 
der vom vorigen Reiz ausgelösten Systole einfi. Durch Hin- und Her- 
rücken der Contacte wurden die Intervalle möglichst genau eingegrenzt 
und nur sichere Grenzintervalle ausgemessen. 


Einfluss der Reizstärke auf das Verhältniss der refractären 
Perioden. 


Wegen des bekannten Einflusses der Reizstärke auf die Länge der 
refractären Periode, und, wie sich weiterhin zeigen wird, auf den Grad 
der Verschmelzung der Herzcontractivnen bei höherer Reizfrequenz, war es 
von Interesse, zu fragen, wie sich Haupt- und Nebensystole bei verschiedener 
Reizstärke unter sonst möglichst gleichen Bedingungen in Bezug auf ihre 
refractäre Periode verhalten. Es erscheint vortheilhaft, im Folgenden der 
Kürze halber die refractäre Periode der Hauptsystole mit ZA,, die der 
Nebensystole mit A, zu bezeichnen. Dass bei grösserer Reizstärke die 
absoluten Werthe von %,„ ebenso gut abnehmen würden, wie die von Zr, 
ist von vornherein zu erwarten. Besonders zu untersuchen war, in welcher 
Weise sich die Werthe %, relativ zu denen von %, genommen änderten, 
also ob der oben erwähnte Quotient A,/A, bei Veränderung der Reizstärke 
gleich bleibt, oder nicht. Ueber die Grösse dieses Quotienten ist zunächst 
zu bemerken, dass er immer kleiner wie 1 ist, sobald die zweite Systole nur 
kleiner und kürzer ist wie die erste, sobald sie also den Charakter der 
Nebensystole aufweist. Es ist dann mithin R,„< 2%,, wonach sich der 
Satz aufstellen lässt: Die refractäre Periode einer Nebensystole 
(Extrasystole) ist stets kürzer wie die der vorangehenden Haupt- 
systole Es wird sich zeigen, dass die Contractionsdauer der Nebensystole 
hierfür von wesentlicher Bedeutung ist. 


278 WILHELM TRENDELENBURG: 


Bei Veränderung der Reizstärke ergiebt sich, dass der Quotient R,/R, 
mit steigender Reizstärke abnimmt. Als Beispiel hierfür diene folgende 
Tabelle I. 
Versuch vom 12. VII. 1902. 


Blatt Reizstärke | Quotient R,: R, 
104, 1a Starker Reiz 0:72 
Rolle 13-5 
104, 2 Schw ellenreiz 0:93 
Rolle 22-0 
104, 3a Starker Reiz 0-63 
Rolle 14:0 
104, 4& Schwellenreiz 0-80 
Rolle 21-0. | 


In diesem Versuch wurde abwechselnd mit starken und mit schwachen 
Reizen (Schwellenreizen) die Grösse von A, (bezogen auf R, = 1) bestimmt 
und dadurch andere Einflüsse, besonders die der Versuchsdauer (s. u.) aus- 
geschaltet. Auf dem ersten Trommelumgang wurde mit starkem Reiz der 
Quotient 0-72 gefunden, auf dem zweiten mit Schwellenreiz aber 0-93 
u. s. f. Im letzteren Fall näherte sich der Quotient dem Werth 1, hier ist 
R,„ nur wenig kürzer wie An. 

Auf etwas andere Art lässt sich diese Abhängigkeit ebenfalls mit 
Sicherheit nachweisen. Man stellt zunächst bei starkem Reiz und gleich- 
mässiger Geschwindigkeit des Elektromotors das Verhältniss der drei Reiz- 
intervalle auf dem Rheotom her, bei welchem der zweite Reiz gerade nach 
Beendigung von %,, der dritte ebenso am Ende von A, einfallen, beide 
also eben eine Contraction auslösen. Gleich darauf untersucht man bei 
Schwellenreiz mit demselben Intervallverhältniss, verlangsamt aber den 
Gang des Elektromotors so weit, dass nun der zweite Reiz eben wirksam 
ist. Dass er bei dem schnelleren Gang nicht wirksam sein kann, geht ja 
aus der bekannten Verlängerung der refractären Periode bei abnehmender 
Reizstärke hervor. Man findet nun, dass bei Schwellenwerthen der dritte 
Reiz unwirksam bleibt, noch in die refraetäre Periode der Nebensystole 
hineinfällt, während bei starkem Reiz und gleichem Intervallverhältniss auch 
der dritte Reiz wirksam war (Fig. 1 Taf. V). Auch in diesem Versuch können 
durch öftere Wiederholung Fehler ausgeschlossen werden, und es geht aus 
ihm hervor, dass bei schwachem Reiz das Verhältniss des zweiten zum 
ersten Reizintervall sich dem Werth 1 mehr nähern muss, wenn Reiz zwei 
und drei eben wirksam werden sollen, als bei starkem Reiz; dies zeigt aber 
wieder, dass das Verhältniss der refraetären Perioden bei aeimmahen Reiz 
dem Werth 1 näher liegt, wie bei starkem. 


VERHALTEN D. HERZMUSKELS BEI RHYTHMISCHER ELEKTR. REIZUnG. 279 


Einfluss der Versuchsdauer auf das Verhältniss der refractären 
Perioden. 

Im Laufe der Untersuchung ergaben sich Anhaltspunkte dafür, dass 
bei sonst gleichbleibenden Bedingungen die refractäre Periode nach längerer 
Versuchsdauer weniger weit in den absteigenden Schenkel der Contractions- 
curve hinabreichen müsse, wie am Anfang der Reihe, also im Laufe des 
Versuches eine wahre Verkürzung erleidet. Man würde Täuschungen aus- 
gesetzt sein, wenn man mit derselben Reizstärke experimentirend von Zeit 
zu Zeit die Dauer der refractären Periode bestimmen würde, denn der 
physiologische Werth eines Reizes richtet sich nach dem Schwellenreiz und 
kann nur dann als gleichbleibend angesehen werden, wenn letzterer sich 
nicht ändert. Dies ist aber meist nicht der Fall. Schon aus den erwähnten 
Bowditch’schen Untersuchungen (4) geht dies hervor; er sagt, dass 
häufig „nach einer längern Zuckungsreihe ein schwächerer Reiz, als vor 
derselben zur Auslösung einer regelmässigen Pulsfolge genügt“. Ferner 
findet auch Kronecker (14), „dass die Herzkammer im Verlaufe ihrer 
Arbeit leichter erregbar wird“. Bei vielen Schwellenbestimmungen zeigte 
sich mir, dass die Höhe des Schwellenwerthes mehr oder weniger regel- 
mässigen und allmählichen Veränderungen unterliegen kann. Oft nimmt 
während einer Versuchsreihe die Stärke des Schwellenreizes bis zu einem 
bestimmten Minimum ab (um dann eventuell wieder zu steigen. Würde 
in einer derartigen Reihe mit physikalisch gleichen Reizen gereizt werden, 
so wären diese keineswegs „physiologisch gleichwerthig“, sie wären am 
Anfang der Versuchsreihe relativ schwächer, wie in der Mitte. Um 
mit „physiologisch gleichwerthigen“ Reizen zu arbeiten, muss man, 
wie nach Burdon-Sanderson und Page (5) besonders Walther (28) 
ausführte, nur Schwellenreize benutzen, welche von Zeit zu Zeit 
erneut zu bestimmen sind. Auf diese Weise fand ich z. B. am 
Anfang einer Versuchsreihe (zweiter Trommelumgang) einen zweiten 
Reiz erst nach Ablauf der ganzen Contraction wirksam; nach längerer 
rhythmischer Reizung war (im elften Umgang) ein zweiter Reiz von 
Schwellenwerth schon hoch im oberen Drittel des absteigenden Schenkels 
der Contractionscurve wirksam, ja schliesslich (zwanzigster Umgang) schon 
fast auf dem Gipfel der Contraction. Dies dürfte ein extremer Fall sein; 
in einem anderen Versuch waren die Unterschiede weniger erheblich, die 
refractäre Periode betrug zu Beginn das 3fache der Contractionsdauer, 
nach längerem Versuch nur das 1-2fache, reichte also nur noch bis kurz 
hinter das Ende des absteigenden Curvenastes. Man könnte bei diesem 
Verhalten zunächst an verschiedene Täuschungsmöglichkeiten denken. Dass 
die Einwirkung der Reizstärke auf die refractäre Periode mitspielt, ist durch 
die stete Verwendung von Schwellenreizen ausgeschlossen; da ferner die 


280 WILHELM TRENDELENBURG: 


Herzspitze in der oben beschriebenen Weise vor Wasserverlust und Tempe- 
raturänderung nach Möglichkeit geschützt war, können diese Einflüsse 
nicht zur Erklärung herangezogen werden. Es müssen vielmehr andere im 
Laufe des Versuches eintretende Bedingungen sein, welche nicht näher an- 
gegeben werden können. Ringer und Sainsbury (25) fanden ebenfalls 
den Einfluss der Versuchsdauer auf die refractäre Periode. Sie reizten 
durch ein in den primären Kreis eingeschaltetes Metronom; war am An- 
fang ein zweiter Reiz bei grossem Intervall eben wirksam, so konnte nach 
längerer Reizung das Intervall verkleinert werden, ohne dass der zweite 
Reiz in die refractäre Periode fiel. Da hierbei aber eine eventuelle Aende- 
rung des Schwellenwerthes nicht berücksichtigt wird, habe ich meine Beob- 
achtungen etwas ausführlicher behandelt. Allerdings könnte eine Aenderung: 
der Schwellenwerthe während des Versuches den sehr greifbaren Einfluss, 
den Ringer und Sainsbury bei der Versuchsdauer constatirten, nicht 
wohl allein erklären. In mancher Hinsicht sind die Feststellungen der ge- 
nannten Autoren weiter von Interesse. Man könnte geneigt sein anzu- 
nehmen, dass etwa Stoffe, welche bei dem die Contraction begleitenden 
Stoffwechsel entstehen, angehäuft und bei der fehlenden Circulation zurück- 
gehalten werden und nun durch ihre Einwirkung die refractäre Periode 
verkürzen. Diese Möglichkeit würde aber bei den Versuchen von Ringer 
und Sainsbury nicht in Betracht kommen, da sie am Roy’schen Tonometer 
das Herz mit einem Gemenge von Kochsalzlösung und wässerigem Auszug 
von getrocknetem Blut speisten. Man könnte weiterhin vermuthen, dass 
die Reizung des Herzmuskels mit den inadäquaten elektrischen Reizen 
irgendwie die Abkürzung der refractären Periode bedinge, etwa eine Art 
Anpassung an dieselben einträte, so schwierig diese auch des Näheren vor- 
stellbar wäre. Ringer und Sainsbury fanden aber auch nach spontanen 
Contractionsgruppen, die bei weniger gut gelungener Abbindung eintraten, 
in der darauf folgenden Pause die gleiche Veränderung. 

Ringer und Sainsbury erklären die Abkürzung der refractären 
Periode einfach durch die gleichzeitig vorhandene Abkürzung der Latenzzeit, 
die sie constatiren konnten, sowie der Contractionsdauer. Von der Latenz- 
zeit und der Contractionsdauer sei die Dauer der refractären Periode ab- 
hängig, müsse also mit diesen gleichzeitig sich verkürzen. Hiernach würde 
die Verkürzung der refractären Periode bloss eine zeitlich absolute sein, 
nach meinen Beobachtungen ist sie aber ausserdem eine relative, d. h. 
relativ zur Contractionsphase, derart, dass sie mit gleichwerthigem Reiz ge- 
messen im Anfang tiefer in den absteigenden Contractionsschenkel hinab- 
reicht, wie nach längerem Versuch. Es dürfte also die Erklärung der ge- 
nannten Autoren nicht ausreichend sein, und einstweilen die bestimmenden 
Momente unbekannt bleiben. 


VERHALTEN D. HERZMUSKELS BEI RHYTHMISCHER ELEKTR. REIZuUnG. 281 


Schliesslich berichtet Walther (28): „Auch! ich babe mich davon 
überzeugen können, dass eine längere Zeit fortgesetzte rhythmische Reizung 
des Ventrikels mit einer auffälligen Verkürzung der refractären Phase 
verbunden ist.“ 

Zunächst scheinen diese Beobachtungen mit Ergebnissen Engelmann’s(7) 
im Widerspruch zu stehen. Reizte er die abgeschnittene Herzspitze in regel- 
mässigen Intervallen von 5”, so war im Anfang des Versuchs der schwächste 
Extrareiz schon nach 1-10” nach Anfang einer Systole wirksam, 15 Min. später 
aber erst nach 1-40”. Ich habe nun aber die Reizungen in wesentlich 
kürzeren Intervallen ausgeführt, da mich die Erscheinungen beim Rhythmus- 
wechsel besonders beschäftigten, und ich glaube, dass die Reizung mit Inter- 
vallen, welche sich stets an der Grenze der refractären Periode bewegen; 
für ihre Abkürzung während des Versuchs eine Rolle spielten. Die wesent- 
lich anderen Bedingungen dürften also die Verschiedenheiten erklären. 

Bei der Uebereinstimmung der Wirkung von Reizstärke und Ver- 
suchsdauer auf die refractäre Periode ist zu erwarten, dass auch die Ein- 
wirkung auf die Nebensystole und den Quotienten die entsprechende ist. 
Es ist hier wieder so zu verfahren, dass bei Verwendung von stets neu zu 
bestimmenden Schwellenreizen in längerer Versuchsreihe die Reizintervalle 
zur Bestimmung der refractären Perioden aufgesucht werden. Folgende 
Beispiele zeigen, dass der Quotient der refractären Perioden mit zunehmen- 
der Versuchsdauer kleiner wird. 


Tabellell. 
Reizstärke Trommel- : 
(Schwelle) umgang Quotient R, | Ar 
16-5 4 0-65 | N 
17-5 6 0-61 | Ein Präparat Bl. 94—95 
17-5 8 0-59 (Versuch vom 2. VII. 1902) 
19-0 2 0-71 
19:0 | 4 0-65 Ein Präparat Bi. 97—98 
18-0 5 0-58 (Versuch vom 3. VII. 1902) 
16 1 | 0-82 Ein Präparat Bl. 117—118 
19-5 | 7 | 0-64 (Versuch vom 16. VII. 1902) 
16 | 1 | 0-99 . 
h 
i a | Ein Präparat Bl. 119-121 
i N nn | | (Versuch vom 21. VIT. 1902) 
| 
19 | 11 | 


| 0-78 | 


! Anm. d. Verf.: D.h. wie,Burdon-Sanderson und Page: Walther schreibt 
die Ergebnisse von Ringer und Sainsbury versehentlich jenen beiden Autoren zu. 


282 WILHELM TRENDELENBURG: 

Im Ganzen ist ersichtlich, dass hier die Unterschiede weniger gross 
sind, wie bei Variirung der Reizstärke; in jeder der vier mitgetheilten Reihen 
ist aber zu constatiren, dass der Quotient mit der Versuchsdauer (Zahl der 
Trommelumgänge) abnimmt. Die Zeit der Einzelbestimmungen wurde 
meist nieht notirt; die Dauer des Trommelumganges betrug etwa 2!/, Min. 
Hierzu kommt der Aufenthalt bei Trommelwechsel und Einstellung auf 
andere Höhe, bei welchen die Reizung meist fortgesetzt wurde Im Ganzen 
dürften die absoluten Zeitverhältnisse hier von weniger Werth sein; viel- 
leicht kommt es auch ganz auf die Art der zwischen die Einzelbestim- 
mungen eingeschobenen Reizungen an, wie schnell der Quotient ver- 
kleinert wird. - : 

Es hat sich also im Vorhergehenden gezeigt, dass sowohl Reizver- 
stärkung, als auch Verlängerung der Versuchsdauer bei gleich- 
werthigen Reizen die refractäre Periode der Nebensystole ver- 
hältnissmässig stärker verkürzt, wie die der Hauptsystole, und 
es ist nöthig, nach einer Erklärung hierfür zu suchen. Denn es erscheint 
zunächst verständlicher zu sein, wenn die refractären Perioden der beiden 
sich unmittelbar folgenden Systolen in gleicher Weise verändert würden, - 
ihr Quotient also derselbe bliebe. Man muss aber beachten, dass die 
beiden Systolen, welche sich im Abstand der jeweiligen refractären Periode 
der Hauptsystole folgen, nicht unter denselben Bedingungen eintreten, 
sondern dass für die zweite Systole ein Moment in Betracht kommt, 
welches für die erste ohne Belang ist. Es ist ein innerhalb gewisser 
Grenzen als gültig bekanntes Gesetz, dass die Contractionsdauer ebenso wie 
die Contractionshöhe des Herzmuskels um so kürzer ausfällt, je kürzer die 
vorangehende Pause war. So ist eine Extrasystole, welche bald nach dem 
Gipfel der vorangehenden Contraction eintritt, kürzer, als eine solche, welche 
etwa nach vollständigem Ablauf der anderen hervorgerufen wird. Im 
letzteren Fall kann sie von gleicher Dauer werden, wenn die Pause eine 
gewisse Länge erreicht. Dieses Gesetz der Pause findet nun lediglich auf 
die zweite Systole Anwendung und es ist klar, dass diese um so kürzer 
ausfallen wird, je früher sie der ersten folgen kann, je kürzer also die 
refractäre Periode der Hauptsystole ist. Auf diese wirkt also nur die 
Veränderung der Reizstärke (bezw. Versuchsdauer) verkürzend ein, auf die 
refractäre Periode der Nebensystole aber ausserdem der Einfluss der Pausen- 
verkürzung, und es erscheint so verständlich, dass bei Reizverstärkung Zr, 
relativ mehr verkürzt wird, wie A%,, dass der Quotient mithin abnimmt. 

Ist diese Erklärung richtig, so muss auch eine Annahme im Grossen 
und Ganzen zutreffen, welche hierbei zu machen ist, nämlich die, dass bei 
Verkürzung der Contractionsdauer durch irgend welche Umstände (bei 
gleichbleibenden sonstigen Bedingungen) die refractäre Periode absolut ver- 


VERHALTEN D. HERZMUSKELS BEI RHYTHMISCHER ELEKTR. REIZUNG. 283 


kürzt wir. Man könnte dies Verhalten auch dahin formuliren, dass die 
refractäre Periode in festliegender Beziehung zur Contractionsphase steht, 
so dass sie, wenn lediglich die Contractionsdauer verändert wird, immer am 
entsprechenden Punkt der Contractionscurve ihr Ende erreicht, also relativ 
zur Contractionsphase gleich bleibt. Diese Annahme liegt schon der er- 
wähnten Anschauung von Ringer und Sainsbury über den Einfluss der 
Versuchsdauer auf die refractäre Periode zu Grunde. Wenn schon allein 
dadurch, dass (Latenz und) Contractionsdauer verkürzt werden, auch die 
refraetäre Periode verkürzt wird, so müssen eben bei sonst gleichbleibenden 
Bedingungen Refractärperiode und Contractionsdauer in fester Beziehung zu 
einander stehen. Weiterhin nimmt Walther (28) offenbar eine derartige 
Beziehung an. Er schloss aus hier nicht näher zu erörternden Beob- 
achtungen, dass Muscarin die refractäre Periode des Herzens verkürze. 
„Andererseits ist aber bekannt,“ heisst es dort, „dass das Muscarin die 
Höhe und die Dauer der Einzelzuckung des Herzens stark herabsetzt, und 
deshalb fragte es sich ..... ,‚ ob die für das Muscarinherz aus theoretischen 
Gründen geforderte Reduction der refractären Phase lediglich eine Folge 
der Abschwächung der Contractionen ist, oder ob auch unabhängig hiervon 
bei der Muscarinversiftung eine Verkürzung der refractären Phase statthat.“ 
Wie ersichtlich, liest auch hier die Anschauung zu Grunde, dass schon 
allein die Aenderung der Grösse und Dauer der Contraction ihre refractäre 
Periode mit verkürze. Auch für das normal schlagende Herz dürfte die 
gleiche Abhängigkeit bestehen. H. E. Hering (11) folgerte auf Grund 
klinischer Beobachtungen, dass sich die refractäre Phase am menschlichen 
Herzen gleichsinnig mit der Schlagfrequenz ändere Hering misst bei 
unregelmässigen Pulsen die Pulsfreguenz pro Minute und stellt darnach 
unter Annahme eines regelmässigen Pulses die Periodendauer fest. Mit 
dieser Normalperiode werden die einzelnen an Curven gemessenen Perioden 
verglichen. Dabei findet sich, dass die gemessenen kürzesten Perioden um 
so kürzer sind, je höher die Pulsfrequenz ist, und dass das Verhältniss der 
kürzesten Periode zur berechneten Periode ein nahezu constantes ist. Unter 
der Annahme, dass die abnormen kurzen Perioden auf Extrareize zurück- 
zuführen seien, die bei den kürzesten Perioden am Ende der refractären 
Phase eintreten, ergiebt sich die erwähnte Folgerung Hering’s. Dieses 
Verhalten würde nun ohne Weiteres verständlich, wenn die refractäre 
Periode zur Contractionsphase in constantem Verhältniss steht. Da die 
Contraetionsdauer bei höherer Frequenz verkürzt wird, müsste damit der 
absolute Zeitwerth der refractären Periode thatsächlich mit höherer Frequenz 
kleiner werden. (Ob ausserdem die refractäre Periode durch Frequenz- 
erhöhung eine wahre Verkürzung erfährt, d. I. relativ zur Contractionsphase 
abgekürzt wird, sei dahingestellt.) 


284 WILHELM TRENDELENBURG: 


N 


Jedenfalls aber erscheint diese Annahme der Beziehung zwischen 
Refractärperiode und Contraetionsphase bei ausschliesslicher Aenderung der 
Contractionshöhe und -dauer nothwendig zur Erklärung der Ergebnisse des 
vorstehenden Abschnittes. ! 


III. Frequenzvermehrung bis zur Halbirung des Rhythmus. 


Aus den Bowditch’schen Versuchen geht schon hervor, dass für jede 
Reizstärke, welche den Schwellenwerth überschreitet, ein Reizintervall ge- 
funden werden kann, bei welchem jeder Reiz mit einer Contraction beant- 
wortet wird. Beschleunigt man nun die Reizfolge, so wird der Herzmuskel 
noch kürzere oder längere Zeit mit Contractionen von entsprechend höherer 
Frequenz auf jeden Reiz. antworten, bis der Muskel nur noch auf jeden 
zweiten Reiz reagirt und damit den Rhythmus „halbirt“, ganz entsprechend 
dem Verhalten, welches Gaskell (9) bei Beschleunigung der natürlichen 
Impulse durch isolirte Erhitzung des Sinus fand. 

Zunächst sollen die Erscheinungen besprochen werden, welche bei 
stetiger und allmählicher Frequenzerhöhung bis zum Uebergang in den 
Halbrhythmus erfolgen. Es wird sich weiter zeigen, dass dieser Uebergang 
durchaus nicht immer ein so plötzlicher ist, wie es bei schneller oder 
sprungweiser Vermehrung der Reizfreqguenz scheint, so dass man ein 
besonderes Uebergangsstadium des Herzmuskels erhalten kann. Die bei 
diesem Uebergang eintretenden Unregelmässigkeiten bilden den Gegenstand 
eines nächsten Kapitels. 

Wählt man zur Reizung eben wirksame Reize in entsprechend grossen 
Intervallen, so ist der Erfolg ausserordentlich wechselnd. Manchmal tritt 
nach wenigen Contractionen im Ganzrhythmus plötzlich Halbirung ein, 
trotzdem das Reizintervall nicht verändert wird. Durch Vergrösserung 
desselben kann wieder Ganzrhythmus erzielt werden, welcher nach wenigen 
Contractionen von Neuem in Halbrhythmus umschlagen kann, ähnlich wie 
v. Basch dies fand. Auch kann die Reizung plötzlich gänzlich unwirksam 
werden, indem die Erregbarkeit abnimmt und der Reiz unter die Schwelle 
sinkt. Diese inkonstanten Resultate bieten schon dem Aufsuchen des 
Schwellenwerthes Schwierigkeiten, um so mehr, da andererseits ein nach Ruhe 
unwirksamer Reiz nach einigen durch etwas stärkeren Reiz hervorgerufenen 
Contractionen Wirksamkeit gewinnen kann. Die Erregbarkeitsverhältnisse 


! Nachtrag: Engelmann hält (in seiner letzten Untersuchung: Ueber bie bathmo- 
tropen Wirkungen der Herznerven. Dies Archiv. 1902. Suppl. 1—26. S. 17) die An- 
nahme für nothwendig, dass die negativ-bathmotrope Wirkung der systolischen Erregung 
(refractäre Phase) um so kleiner und von um so kürzerer Dauer sein muss, je schwächer 
die Systole war. 


VERHALTEN!D. HERZMUSKELS BEI RHYTHMISCHER ELEKTR. REIZunG. 285 


des Herzmuskels sind eben — und dies gilt auch bei der künstlichen 
Ernährung am Froschherzmanometer — ganz schwachen Reizen gegenüber 
unübersehbar schwankende. Bei Verwendung der eben wirksamen Reize 
konnte gelegentlich ein Wechsel zwischen !/,, !/3, "/, /, und !/,-Rhythmus 
beobachtet werden, ohne dass in der Art der Reizung eine Aenderung 
eintrat. Schon wegen dieser wechselnden Erregbarkeit ist die Unter- 
scheidung Bowditch’s zwischen hinreichenden und unfehlbaren Reizen 
entgegen Kronecker aufrecht zu erhalten; es ist ja auch bekannt, und 
wird sich weiter noch zeigen, dass es lediglich auf das Verhältniss zwischen 
Reizstärke und Reizintervall ankommt, um den „unfehlbaren“ Reiz (Ganz- 
rhythmus) zum bloss „hinreichenden“ (Halbrhythmus) zu machen. Weiter 
zeigte sich, dass durch eine vorausgehende stärkere Reizung die Erregbar- 
keit für kurze Zeit herabgesetzt werden konnte, so dass vorher wirksame 
minimale Reize nun unwirksam waren; kurze Zeit nach Aufhören der 
stärkeren Reizung konnte die frühere Erregbarkeit wieder hergestellt sein. 
Wurde nun nach einer Reizung mit stärkeren Reizen (z. B. Rollabstand 10, 
Intervall etwa 3-5”) von etwa 2 Min. Dauer mit nunmehr subminimalen 
Reizen (Rollabstand 15-5) im gleichen Reizintervall fortgereizt, so waren 
die ersten der schwachen Reize unwirksam und erst der fünfte rief eine 
Contraction hervor. Dies zeigt, wie sehr bei Anwendung unwirksamer, der 
Schwelle nahe stehende Reize eine Summation durch Erregbarkeitsverän- 
derungen vorgetäuscht werden kann. In der That dürfte die Summations- 
hypothese heute verlassen sein. 

Wegen der wechselnden Erfolge der eben wirksamen Reize werden 
diese im Folgenden, wie schon im vorigen Abschnitt, nicht verwendet und 
als „Schwellenreize“ etwas stärkere gewählt. Aehnlich verfuhren schon 
Burdon-Sanderson und Page (5), welche es zur Erzielung befriedigender 
Resultate nothwendig fanden, als Schwellenreiz einen Reiz zu verwenden, 
welcher bei 6maliger Anwendung in hinreichenden Zeitintervallen ohne 
Ausfall beantwortet wurden. So ist es nicht zu vermeiden, dass die Be- 
stimmung der Schwellenreize einer gewissen Willkür unterworfen ist, so- 
bald es darauf ankommt, mit ihnen in längerer Folge zu experimentiren. 
Ich ging deshalb auch bei „Schwellenreizen“, soweit es für einen constanten 
Reizerfolg bei grösserem Reizintervall nöthig war, über die eben wirksame 
Reizstärke ein wenig hinaus. 

Beginnt man nun die rhythmische Reizung mit „Schwellenreizen“ in 


einem Intervall, welches jedem Reiz den Erfolg ermöglicht, so lässt sich 


das Intervall allmählich verkleinern, bis an einer gewissen Grenze die 
Rhythmushalbirung eintritt, indem der Herzmuskel nur noch jeden zweiten 
Reiz beantwortet. Je langsamer die Reizintervalle verkleinert werden, um 
so später tritt dabei die Halbirung ein. Lässt man das Reizintervall, 


286 WILHELM TRENDELENBURG: 


welches nach ganz allmählicher Intervallverkürzung noch im Ganzrhythmus 
beantwortet wurde, von vornherein auf den Herzmuskel einwirken, so findet 
man regelmässig, dass es unter diesen Umständen zu kurz ist, um Ganz- 
rhythmus hervorzurufen; dieser kann erst bei grösserem Reizintervall 
eintreten. Hieraus ergiebt sich, dass durch allmähliche Intervall- 
verkürzung ohne Auftreten von halbirtem Rhythmus ein Inter- 
vall eingeschlichen werden kann, welches vorher zur Erzielung 
von Ganzrhythmus nicht genügte. Erstrecken sich die Versuche 
unter häufiger neuer Aufsuchung des Schwellenreizes über etwas längere 
Zeit, so findet man, dass allmählich eine immer höhere Reizfrequenz er- 
reicht werden kann ohne Eintritt der Halbirung. Wird der ganze Versuch 
mit stärkeren Reizen ausgeführt, so zeigt sich, dass nun eine wesentlich 
höhere Frequenz erreicht werden kann, wie mit Schwellenreizen, und zwar 
ebenfalls wieder eine um so höhere Frequenz, je länger der Versuch 
dauerte. Jener zweckmässig als „Einschleichen“ einer höheren Reizfrequenz 
zu bezeichnende Vorgang, der sich als eine Art Anpassung des Herzens 
an eine wachsende Reizfrequenz darstellt, möge an einigen Beispielen 
gezeigt werden. Fig. 2, Taf. V, zeigt bei Schwellenreizen im Beginn. 
halbirten Rhythmus, dieser geht bei Vergrösserung des Intervalls in Ganz- 
rhythmus über, welcher bei nun eintretender Intervallverkürzung noch 
vollkommen regelmässig besteht, als schon ein Reizabstand erreicht ist, 
welcher kleiner als der Abstand der kurz vorher im Halbrhythmus beant- 
worteten Reize ist (vgl. d mita). Zu wie hoher Reizfrequenz durch längere 
Versuchsdauer bei steter Verwendung von Schwellenreizen eingeschlichen 
werden kann, ist aus Fig. 4, Taf. V, im Vergleich zu Fig. 3, Taf. V er- 
sichtlich. Der Rhythmuswechsel bei verschiedener Reizstärke ist in 
Fig. 5 a und 5, Taf. V, enthalten. 

Eine weitere Eigenthümlichkeit eigiebt sich andererseits, wenn man 
die Frequenz der Reize nach eingetretenem Halbrhythmus wieder langsam 
herabsetz. Dabei zeigt sich mit grosser Regelmässigkeit, be- 
sonders wenn vorher eine hohe Frequenz durch Einschleichen 
erzielt werden konnte, dass nun der Wechsel in den Ganz- 
rhythmus nicht dann eintritt, wenn die Grenze des Reizinter- 
valls, bei welchem vorher noch Ganzrhythmus bestand, erreicht 
ist, sondern erst bei grösserem Reizintervall. Die schon erwähnte 
Fig. 2, Taf. V enthält diese Thatsache im weiteren Verlauf des theilweise 
schon erörterten  Versuchstückes (vgl. e mit d). Weniger deutlich ist 
die Erscheinung, wenn eine nur geringe Frequenz eingeschlichen werden 
konnte. 

Wirkt nach einer Pause ohne vorhergehendes Einschleichen eine Reiz- 
folge ein, welche eben noch im Ganzrhythmus beantwortet werden kann, 


VERHALTEN D. HERZMUSKELS BEI RHYTHMISCHER ELEKTR. Reizung. 287 


so ist die erste Contraction der Ruhepause entsprechend grösser und länger, 
die zweite, welche bei mittlerer Reizstärke etwa im oberen Drittel des 
vorigen absteigenden Curvenastes einsetze, ist wegen der wesentlich kleineren 
Ruhepause kleiner und von kürzerer Dauer; dadurch hat die dritte Con- 
traction unter Voraussetzung gleicher Reizintervalle eine grössere Pause 
wie die zweite, sie fällt also grösser und länger aus wie diese. Auf diese 
Weise kann, wie schon Hofmann (12) beschrieb, für einige Contractionen 
ein Pulsus alternans entstehen, welcher sich schnell ausgleicht. Am länger 
benutzten Herzen fand ich, dass diese abwechselnde Höhe der Contractionen 
bestehen bleiben konntee Hofmann sah gelegentlich das Gleiche bei 
Kaltfröschen. Es wird sich weiter unten zeigen, dass sich aus einem 
regelmässigen Ganzrhythmus bei Beschleunigung der Reizfrequenz Pulsus 
alternans als Uebergang zum Halbrhythmus entwickeln kann; in dem Fall 
kann natürlich ein verschiedener Einfluss der Pause in der beschriebenen 
Weise gar nicht zu Stande kommen, da die alternirende Contractionsweise 
aus einer regelmässigen Oontractionsfolge ganz allmählich und ohne plötz- 
liche Frequenzänderungen entsteht. Es wird sich ergeben, dass Partial- 
contractionen dort die Ursache sein müssen. Kann nun die bei plötzlicher 
Einwirkung einer höheren Reizfrequenz für einige Schläge vorhandene 
alternirende Höhe länger bestehen bleiben, so muss hier ebenfalls die 
Frage aufgeworfen werden, wie weit nicht von vornherein Partialcontrac- 
tionen auch diese alternirende Folge verursachen. Dies erscheint für die 
Fälle, in welchen der Pulsus alternans länger besteht, nicht unwahrschein- 
lich. Man könnte annehmen, dass der zweite der Reize, welche auf den 
vorher ruhenden Herzmuskel einwirken, nur einen Theil der Musculatur 
contractionsbereit antrifft, während der erste von der ganzen Museulatur 
beantwortet wird, so dass der grössere Theil derselben nur auf jeden zweiten 
Reiz hin sich contrahirt. Gerade bei der länger gereizten Musculatur 
kommen unter anderen Bedingungen Verschiedenheiten des Verhaltens 
gegen schnellere Reize, wie sich unten ergeben wird, vor. Ausgeschlossen 
aber ist es nicht, dass auch die fragliche länger bestehende alternirende 
Contractionsform nur durch den Einfluss der verschiedenen Pausen (trotz 
gleicher Reizintervalle) entsteht. Dass bei den wenigen, oft nur zwei alter- 
nirenden Contractionen, welche bei plötzlich einwirkender schneller Reiz- 
folge entstehen, ebenfalls Partialeontractionen im Spiele sind, ist hingegen 
sehr unwahrscheinlich. Abgesehen davon, dass sie in der von Hofmann 
angegebenen Weise hinreichend erklärt erscheinen, müssten dann die 
„Extrasystolen“ in grosser Mehrzahl Partialcontraetionen der Musculatur 
sein. Nun wird aber z. B. die compensatorische Pause nach Engel- 
mann (7) gerade dadurch erklärt, dass nach einem Extrareiz die ganze 
Museculatur sich gegen den nächsten natürlichen Impuls refractär verhält, 


288 WILHELM TRENDELENBURG: 


was eben nur möglich ist, wenn die ganze Musculatur an der Extrasystole 
theilnahm. Auch der schnelle Ausgleich der Unregelmässigkeit macht 
die Annahme unwahrscheinlich. 

Was die Erklärung des Verhaltens beim Einschleichen, sowie bei 
Verminderung der Reizfrequenz angeht, so ist zunächst klar, dass die 
Rhythmushalbirung dann eintreten muss, wenn das Reizintervall kleiner 
wird, wie die jeweilige refractäre Periode. Deshalb tritt die Halbirung um 
so später ein, je stärker der Reiz und je länger die Versuchsdauer. Im 
vorigen Abschnitt wurde der einfachste Fall, die Einwirkung von zwei 
bezw. drei Reizen behandelt, und gezeigt, dass schon der dritte Reiz um 
so günstigere Bedingungen für eine frühere Wirksamkeit findet, je kürzer 
die refractäre Periode ist. In der Grösse des Quotienten kam dieses Ver- 
halten zum Ausdruck. Der ganze Vorgang des Einschleichens spielt sich 
also etwa folgendermaassen ab. Das Intervall der Reize, welches zunächst 
grösser wie die refractäre Periode sei, wird langsam verkürzt; dadurch 
werden die Contractionen, die sich nun in kürzeren Intervallen folgen, in 
ihrer Dauer verkürzt, womit gleichzeitig auch die absolute Dauer der 


refractären Periode abnimmt. Bei langsamer Ausführung des Einschleichens - 


kommt noch hinzu, dass die Versuchsdauer auf die relative Grösse der 
Refractärperiode verkürzend wirkt, also wiederum eine zunehmende Ver- 
kleinerung der Reizintervalle gestattet. Schliesslich wird ein von den 
äusseren und inneren Bedingungen abhängiges Maximum erreicht, bei 
welchem dann der Frequenzwechsel eintritt. Nun werden die Contractionen 
wegen der grösseren vorangehenden Pause von zwei Reizintervallen grösser 
und länger, so dass gleichzeitig die absolute Dauer ihrer refractären Periode 
zunimmt. Deshalb fällt jetzt jeder zweite Reiz viel früher in die refraetäre 
Periode hinein, als kurz vorher bei der letzten viel kürzeren Contraction 
des Ganzrhythmus. Daher muss das Reizintervall bis zum Wiedereintritt 
des Ganzrhythmus mehr vergrössert werden, als es bei Auftreten des Halb- 
rhythmus betrug. 

Da bei höherer Reizfreguenz die näher an einander gerückten Con- 
tractionen auch .in ihrem Umfang verringert werden, wird eine um so 
grössere Verschmelzung der Contractionen eintreten, je grösser die ein- 
geschlichene Reizfrequenz war. Um eine Anschauung von den erreichten 
Verschmelzungen zu geben, wurde in einer Reihe von Versuchen die 
Contractionshöhe vor und nach Eintritt der Halbirung gemessen, und das 
Verhältniss beider festgestellt, um dadurch von den absoluten Werthen 
unabhängige Grössen zu bekommen, welche in den folgenden Tabellen ent- 
halten sind. Da sich bei längerem Versuch oft Unregelmässigkeiten ein- 
mischten (s. u.), wurden in solchen Fällen nur die noch regelmässigen 
Contractionen vor dem Uebergang berücksichtigt. 


VERHALTEN D. HERZMUSKELS BüI RHYTHMISCHER ELEKTR. REIZUNG. 289 


v Tabelle II. 


Verschmelzungsgrade, welche durch Einschleichen bei dem Rhythmus- 
wechsel erreicht wurden. Suspensionsmethode. 


Verhältniss der Con- 
Blatt tractionshöhen vorund| Nähere Versuchsbedingungen 
nach der Halbirung 


23,1 12-6:16-6 = 0-75 Schwellenreize. 
(9. V. 1902) Frisches Präparat 
32,1 9-8:13-0 = 0-75 Ueberschwellenreize. 
(12. V.1902) (Rollabst. 13-0; Schwelle 16-5) 
Längere Versuchsdauer 
40,2 5:3: 8:8 = 0-60 Ueberschwellenreize. 
(15. V. 1902) (Rollabst. 11-0; Schwelle 16-5) 
Längere Versuchsdauer 
; " 28,1 19-2:21-0 = 0-91 Schwellenreize. 
Ein Präparat Frisches Präparat 
12. V.1902 
28, 3 10-32 17-9 = 0=61 Ueberschwellenreize. 


(Rollabst. 13; Schwelle 16-5) 
Längere Versuchsdauer 


37,3 11-5:12-5 = 0-92 Ueberschwellenreize. 
(Rollabst. 14; Schwelle 16) 


Frisches Präparat 
Ein Präparat ka 2 » 
14. V. 1902 38,1 712592972072 Etwas stärkere Reize 


(Rollabst. 10) 
bei längerer Versuchsdauer 


38, 3 27 210=0,— 0-27 Noch stärkere Reize 
(Rollabst. 7) 
|im weiteren Verlauf des Versuchs 


108, 4a 13-9:14-1 = 0-98 Schwellenreize. 
Ein Präparat Anfang der Versuchsreihe 
221902 112,33 3-9: 6-2= 0.63 | Schwellenreize. 


| Längere Versuchsdauer 
(Diese Versuche wurden im Sommer bei Zimmertemperatur ausgeführt.) 


Die grösste erhaltene Verschmelzung beträgt also !/,.,. Im Uebrigen 
ist ersichtlich, wie die Verschmelzung mit der Reizstärke, und mit der 
Versuchsdauer bei gleichem Reizwerth (s. die beiden letzten Horizontal- 
reihen) zunimmt. 


Von Messungen an Herzmanometerversuchen seien folgende angeführt: 


Tabelle IV. - 
Verschmelzungsgrade bei Schwellenreizen. 


Bl. 143. Verhältniss der Contractionshöhen vor 
Jmgang und nach der Halbirung | 
1 5-7:5-9 = 0-96 | Inmeeaten d. Blutmischung 
3 de 318027091 | 15-5°C. 
5 6-0:7-5 = 0-80 | | (Versuch vom 13. XI. 1902) 
Archiv f. A. u. Ph. 1903. Physiol. Abthlg. 19 


290 WIEHELM TRENDELENBURG: 

Auch hieraus geht hervor, dass bei längerer Versuchsdauer und gleich- 
bleibendem Reizwerth eine höhere Verschmelzung erzielt werden kann. 
Die mit der Versuchsdauer zunehmende Möglichkeit des Einschleichens 
einer höheren Frequenz ist hiernach auch an der gut durchspülten und 
genährten Herzspitze vorhanden, woraus weiter zu entnehmen ist, dass auch 
bei dieser die refractäre Periode durch die Versuchsdauer abgekürzt werden 
kann. Immerhin zeigt sich schon in dieser Versuchsreihe, dass bei Mano- 
meterversuchen die Verschiedenheiten der Verschmelzung unter dem Einfluss 
der Versuchsdauer nicht so gross sind, wie bei der Suspensionsmethode. 
In einem anderen Versuch trat dies noch deutlicher hervor. Hier war 
trotz mehrstündiger Dauer des Versuches kein constanter Einfluss auf die 
Verschmelzungsgrade zu erkennen. Auch wies die Grösse der einschleich- 
baren Reizintervalle während der Versuchsdauer keine constante Abnahme 
auf. So schien hier keine Verkürzung der refractären Periode eingetreten 
zu sein. Genauere Ueberlegung zeigte aber, dass hieraus nicht ohne 
Weiteres auf eine fehlende relative Abkürzung der Refractionsperiode 
geschlossen werden konnte. Es ist klar, dass beim Uebergang in den 
Halbrhythmus das letzte Reizintervall des Ganzrhythmus grösser, das erste 
des Halbrhythmus kleiner sein muss, wie die refractäre Periode der letzten 
Contraction vor dem Uebergang. Die Dauer dieser Contraction lässt sich 
an der Manometercurve wegen ihres steilen Abfalles und des scharfen 
Winkels gegen die Abseissenrichtung genau messen, besonders wenn der 
Rhythmuswechsel, wie in diesem Falle, bei einem Reizintervall erfolgt, 
welches wesentlich länger wie die Contractionsdauer ist, so dass diese 
grössere Werthe besitzt. Bestimmt man nun die Dauer der Contraetion 
vor dem Rhythmuswechsel, sowie die Grösse des eben noch ausreichenden 
bezw. eben schon zu kleinen Reizintervalls, so braucht man weiter nur 
diese Maximal- und Minimalwerthe der refractären Perioden für die 
Contractionsdauer 1 umzurechnen (durch Division), um vergleichbare Werthe 
zu erhalten. Dies ist in der folgenden Tabelle geschehen: 


Tabelle V. 


Einwirkung der Versuchsdauer auf Verschmelzungsgrade u. refractäre Periode 
bei Schwellenreizen. Temp. 14:5°C. Ein Präparat. Vers. v. 19. XI. 1902. 


| 


an | ERREICHEN ER 0 < Dar = | 
3,2830 2738 STaS 9 h | 
ES lssanı Sssalezeil € Ext 
Blatt vo 805 .:.5| ;,2 RA za 
ze Ber SaS523|+£55 3| bezw. refr. bezw. refr. | 
s 035248 REIFE Periode <£ nl 
149,42 (0.98 770 41850 15-9 2.34 2-06 |] Früheres Ver- 
149, 5a 0-9 | 8-6 21-0 17-5 2-4 | 2-08 j suchsstadium 
151,1a 0-9) 6-6 11-2 | 10-9 1-69 1-65 | Späteres Ver- 
151, 2a ‚0-98 7-6 loss 108) 1-48 , 1-35 |) suchsstadium 


VERHALTEN D. HERZMUSKELS BEI RHYTHMISCHER ELEKTR. REIZUNnG. 291 


Absichtlich wurden aus der langen Versuchsserie diese Fälle heraus 
gegriffen, in welchen die im Uebergang erreichte Verschmelzung un- 
verändert erscheint. Während aber im Anfang die refractäre Periode 
sicher grösser als das zweifache (2-06 fache) der Contractionsdauer ist, ist sie 
nach längerem Experiment, wie ersichtlich, sicher kleiner als nur das 
1!/,fache (1-4Sfache) derselben. Bei gleichbleibendem Reizwerth ist mit- 
hin auch hier die refractäre Periode gegen die Contractionsphase verkürzt. 
Die in den einzelnen Versuchsstadien unregelmässig wechselnde Dauer der 
Contraction vor der Halbirung ist der Grund, weshalb die Beziehung hier 
nicht unmittelbar ersichtlich ist. Zu erwähnen ist noch, dass die Tem- 
peratur der im Laufe des Versuches erneuerten Durchspülungsflüssigkeit 
während des Versuches constant blieb (zu Beginn 14:5 ° C., nachher 
14-4 ° Q). 

Die mit der Manometermethode bei verschiedener Reizstärke erhaltenen 
Verschmelzungsgrade liegen innerhalb der bei Suspension gefundenen 
Grenzen, wie folgende Messungen zeigen mögen: 


Tabelle VI. 


Blatt Verschmelzung Reizstärke 


151,38 | 11-3:11-5 = 0-98 | Schwellenreize (Rollabst. 15-2) 
151, 43 4-7: 9-9 = 0-47 Stärkere Reize 


' (Rollabst. 10-0; Schwelle 15.2) || Versuch vom 
19. XI. 1902 


153, 1a 11-1:11-3 = 0-98 | Schwellenreize (Rollabst. 14-1) 
153, 4b 3-4: 8-0 = 0-42 Stärkere Reize 
(Rollabst. 7; Schwelle 13-6) 


161, 1a 6-3: 6-5 = 0-97 | Schwellenreize (Rollabst. 20-8) 

161, 2a 1.8: 4-7 — 0-38 Stärkere Reize (Rollabst. 10) 

161, 3a 5-1: 5-3 = 0:96 | Schwellenreize (Rollabst. 21-9) Versuch vom 
161, 4a 4-6:-6-0°= 0-77 | Stärkere Reize (Rollabst. 17) || -6- X1.1902 
161, 4b 2-7: 5-7 = 0-47 Noch stärkere Reize 


(Rollabst. 13-0) 


1V. Allorhythmieen im Uebergangsstadium. 


Während der Herzmuskel, wie schon erwähnt, meist unmittelbar vom 
Ganzrhythmus in die Halbirung übergeht, ein Verhalten, welches besonders 
bei etwas schnellerer oder sprungweiser Vermehrung der Reizfrequenz die 
Regel ist, treten unter Umständen Abweichungen ein, die sich bei ge- 
eigneter Reizung über längere Zeit erstrecken können, und so ein besonderes 

_ Uebergangsstadium zwischen Ganzrhythmus und Halbrhythmus darstellen. 
‚ Bei langsamer Ve"mehrung der Reizfrequenz lassen sich die Erscheinungen 
in den meisten Fällen so leicht erzielen, dass sie dann eher als Regel, wie 


als Ausnahme anzusehen sind. 
19* 


292 WILHELM TRENDELENBURG: 

Von den Unregelmässigkeiten ist zunächst der Ausfall von Con- 
tractionen wichtig, durch welchen Gruppen von verschiedener Länge 
gebildet werden. Der Ausfall kann sowohl bei grösserer, als auch geringerer 
Reizstärke eintreten; auch am ganz frischen Präparat ist die Gruppen- 
bildung schon mit Schwellenreizen meist ohne Schwierigkeit zu erzielen. 
Hierdurch ist schon ausgeschlossen, dass irgend welche Schädigungen des 
Präparates durch lange Reizung nothwendige Bedingung wäre. Wurden an 
Stelle der. Nadelelektroden unpolarisirbare Pinselelektroden verwendet, so 
trat in gleicher Weise bei Schwellenreizen am frischen Präparat ein Aus- 
fall von 'Systolen ein, vorausgesetzt immer, dass sich der Herzmuskel im 
Uebergang zwischen Ganz- und Halbrhythmus befindet. Die Anzahl der 
zu. einer Gruppe gehörenden Contractionen kann sehr verschieden sein und 
es können Gruppen von verschiedener Öontractionsanzahl nach einander 
auftreten, auch können zwischendurch einige Contractionen im Halbrhythmus 
sich einschieben. Die Dauer dieser Uebergangserscheinung richtet sich ganz 
nach der Art der Reizung.  Vermehrt man die Reizfrequenz sehr langsam, 
bis die ersten Ausfallerscheinungen eintreten, so können diese, falls man 
die Reizfrequenz nicht weiter vermehrt, längere Zeit anhalten, bis der 
Uebergang in den Halbrhythmus oder auch Rückkehr zum normalen Ganz- 
rhythmus erfolgt. In den Figg. 6 bis 13, Taf. V u. VI sind einige Beispiele 
dargestellt. Fig. 6, Taf. V zeigt den Uebergang vom Ganzrhythmus zur 
Gruppenbildung und weiter zum halbirten Rhythmus. Gruppen von 
5 bis 2 Contractionen wechseln ziemlich unregelmässig ab; vor dem end- 
gültigen Halbrhythmus treten noch einmal zwei Gruppen von je zwei 
Contractionen ein. In Fig. 7, Taf. V erstreckt sich der Ausfall einzelner 
Contractionen über längere Zeit, da nach erstem Eintritt von Gruppen die 
Reizfrequenz auf gleicher Höhe gelassen wurde. Einen ähnlichen Fall zeigt 
Fig. 8, Taf. V. Hier wechseln kürzere Gruppen als im vorigen Fall mit 
einander ab, und zwar auch wieder eine längere Zeit hindurch. Hier 
waren unpolarisirbare Elektroden und den Schwellenwert nur wenig über- 
treffiende Reize angewendet. 

Im Allgemeinen war .die Gruppenbildung leichter zu erhalten, wenn 
der Rhythmuswechsel schon bei niedriger Reizfrequenz eintrat, was bei 
Schwellenreizen im Anfang des Versuches der Fall zu sein pflegt, Hier 
reicht die refractäre Periode bis in die Zeit nach vollendeter Contraction 
hinein; ist nun das Reizintervall, bei dem der zweite Reiz unwirksam wird, 
so gross, dass die Pause zwischen zwei Contractionen keinen nennens- 
werthen Einfluss auf ihre Dauer haben kann, so wird zwischen den 
Contractionen, welche im Ganzrhythmus erfolgen, und denen, durch welche 
der Rhythmus halbirt wird, kein grosser Unterschied hinsichtlich ihrer 
Dauer bestehen (Figg. 3 u. 5 a, Taf. V). Hat aber die refractäre Periode eine 


VERHALTEN D. HERZMUSKELS BEI RHYTHMISCHER ELEKTR. REIZUNG. 295 


feste Beziehung zur Contractionsphase, so folgt weiter für diesen Fall, dass 
die refractäre Periode bei den halbirenden Contractionen die gleiche Dauer 
hat, wie bei den nicht halbirenden. Ganz anders müssen die Verhältnisse 
liegen, wenn eine höhere Reizfrequenz eingeschlichen werden kann. Dann 
kann das Reizintervall so klein werden, dass sich der Einfluss der Pause 
stärker bemerkbar macht; die Contractionen, welchen ein Reizintervall als 
Pause voranging (Ganzrhythmus), werden erheblich kürzer dauern, wie die- 
jenigen, welche sich im Abstand von zwei Reizintervallen folgen (Halb- 
rhythmus) (Figg. 4 u. 5 d, Taf. V). Bei den letzteren wird also die refractäre 
Periode die Länge eines Reizintervalls eventuell bedeutender übertreffen, 
so dass jeder zweite Reiz nach einmal eingetretener Halbirung nun so früh 
in die refractäre Periode hinein fällt, dass ein gelegentliches Erfolgreich- 
werden, welches zur Gruppenbildung führt, ausgeschlossen ist. Sind aber 
im anderen Falle die Contractionen des Halbrhythmus von denen des Ganz- 
rhythmus nicht verschieden, so wird im Halbrhythmus jeder zweite Reiz 
eben so gut: gerade am Ende der refractären Periode einfallen, also eben so 
gut gelegentlich wieder wirksam werden können, wie er es im Ganz- 
rhythmus war. 

Was nun näher die Ursache der Gruppenbildung im Uebergangs- 
stadium angeht, so wurde im Vorigen schon als selbstverständlich an- 
genommen, dass ein Reiz dann erfolglos bleibt, wenn er in die refractäre 
Periode der vorigen Contraction hinein fällt. Dies könnte zunächst durch 
die verschiedensten Versuchsfehler bedingt sein. Dass auch bei. Ver- 
wendung von unpolarisirbaren Elektroden und ganz frischen Präparaten 
ein Ausfall einzelner Systolen eintritt, also nicht eine Schädigung der 
Musculatur durch die Art und Dauer der Reizung ausschlaggebend ist, 
wurde schon erwähnt. Durch die Untersuchungen von Oehrwall (23, 24) 
sowie Straub (27) ist bekannt, dass ein Aussetzen einzelner Pulse bei Er- 
stickung und Kohlensäurevergiftung des isolirten Froschherzens, sowie auch 
der künstlich gereizten Herzspitze eintritt. Allmählich bilden sich durch 
Ausfall mehrerer Contractionen Pausen aus, welche Gruppen von gewöhn- 


‚ lieher Frequenz trennen. Zuweilen tritt auch plötzliche Frequenzhalbirung 


| 


ein. Es könnte nun auch in unserem Falle die Gruppenbildung einfach 
ein Symptom der Erstickung der abgeschnittenen und nicht eireulirten 
Herzspitze sein. Wird diese Erklärung schon -dadurch unwahrscheinlich, 
dass der Ausfall schon am eben hergestellten Präparat zu erzielen ist, 
wenn nur die Frequenzvermehrung nicht zu schnell erfolgt, so ist weiter 
dagegen anzuführen, dass sich am Ende langer Versuchsreihen nie Pausen 


' ausbildeten, die mehr als einen unwirksamen Reiz iu sich schlossen. Und 


dies hätte bei der im Laufe fortschreitenden „Erstickung“ eintreten müssen. 


, Ein weiterer Punkt, welcher diese Erklärung als unzulässig erscheinen lässt, 


294 WILHELM TRENDELENBURG: 


ist der, dass bei noch so geringer Verminderung der Reizfreguenz die 
Gruppenbildung sofort wieder dem regelmässigen Ganzrhythmus Platz 
macht; es hängt also ganz von der Reizfrequenz ab, ob ein regelmässiger 
(ranz- bezw. Halbrhythmus oder Gruppenbildung als Uebergang zwischen 
beiden eintritt. Ein Sauerstoffmangel kann hieran nicht betheiligt sein. 
Damit stimmt weiter überein, dass auch an der am Froschherzmanometer 
aufgebundenen Herzspitze Gruppenbildung im Uebergang zu erhalten war, 
wenn die Blutflüssigkeit gut mit Luft durchgeschüttelt war und hellroth 
aussah. Hierbei wurde besonders darauf geachtet, dass in der Herzhöhle 
kein verbrauchtes Blut sich befand und deshalb eine häufige Durchspülung 
vorgenommen. Im Ganzen schien jedoch bei der Suspensionsmethode die 
Gruppenbildung leichter erhalten zu werden. 

Wenn man bedenkt, dass im Uebergangsstadium das Reizintervall 
nur ganz wenig grösser ist, wie die refractäre Periode der jeweiligen 
Contractionen, so ist ersichtlich, dass Verschiedenheiten der Reizintervalle 
und der Reizstärke leicht Gruppen hervorbringen könnten. Ist ein Intervall 
nur um ein Weniges kleiner, so fällt der Reiz in die refractäre Periode 
und erst der folgende ist wieder wirksam. Bringt der Zufall nach einigen 
wirksamen Reizen wieder ein zu kurzes Reizintervall, so fällt wieder eine 
Contraction aus und die Gruppenbildung ist gegeben. Um diese Fehler 
möglichst zu vermeiden, schaltete ich bei diesen Versuchen den Centrifugal- 
regulator des Motors ein, um diesem einen möglichst gleichmässigen Gang 
zu sichern. Trotzdem ist hiermit noch nicht die nöthige Gewissheit ge- 
geben, und es wurden Messungen bei schnellem Trommelgang gemacht. 
Es zeigte sich, dass auch bei völlig gleichen Reizintervallen Gruppenbildung 
eintritt, ja gelegentlich blieb auch ein Reiz dann unbeantwortet, wenn er 
ein wenig zu spät eintrat; dies zeigt besonders deutlich, dass verfrühtes 
Eintreffen eines Reizes zum Mindesten nicht alleinige Ursache der Gruppen- 
bildung sein kann. Fig. 9, Taf. VI zeigt einen Fall von Contractionsausfall 
(bei x). trotz gleicher Reizintervalle, Fig. 10, Taf. VI dasselbe, trotzdem das 
zweite Reizintervall. etwa 0.13” länger ist, wie das erste. Sicher müssen 
also andere Ursachen vorliegen. An eine zufällige Aenderung der Reiz- 
stärke ist weiter zu denken; denn wenn ein Reiz etwas schwächer ausfällt, 
so fällt er ebenfalls in die refractäre Periode, weil diese für einen 
schwächeren Reiz relativ länger ist, wie für den starken. Treten ab und zu 
solche schwächeren Reize auf, so ist wieder eine Gruppenbildung gegeben. 
Gerade das oft unregelmässige Abwechseln zwischen längeren und kürzeren 
Gruppen scheint auf diese Fehlerquelle hinzuweisen. Eine Verschiedenheit 
der Reizstärke könnte durch Störungen, Oxydation u. s. w. am Quecksilber- 
contact bedingt sein; ständige Wasserspülung und öftere Reinigung der 
Quecksilberoberfläche, welche von vornherein immer angewendet wurden, 


VERHALTEN D. HERZMUSKELS BEI RHYTHMISCHER ELEKTR. REIZUNG, 295 


genügen vielleicht doch nicht, um völlige Gleichheit der Reize zu erreichen. 
Auch ‚könnten kleine Verschiebungen der sich contrahirenden Herzspitze 
gegen die Elektroden eine Aenderung des Reizwerthes bedingen. So kann 
auch hier nur gezeigt werden, dass sicher Gruppenbildungen vorkommen, 
bei denen diese Versuchsfehler keine Rolle spielen. Hauptsächlich sind die 
häufigen Fälle anzuführen, in denen die Gruppen einige Zeit hindurch die 
gleiche Anzahl von Contractionen enthalten, z. B. zwei, so dass also jeder 
dritte Reiz unbeantwortet bleibt; da ist nicht daran zu denken, dass zufällig 
jeder dritte Reiz schwächer wäre, sondern diese Fälle deuten darauf hin, 
dass der Zustand des Präparates die Gruppenbildung bedingt. In Fig. 11, 
Taf. V ist der Halbrhythmus durch Gruppen von je zwei Contractionen 
unterbrochen, grössere Gruppen fehlen vorher und nachher. Ein weiterer 
Beweis wird weiter unten gegeben (Fig. 14, Taf. VI). 

Ist mithin sicher, dass der Ausfall einzelner Contractionen im Ueber- 
sangsstadium unabhängig von Fehlern der Versuchstechnik auf Grund der 
im Herzmuskel selbst gegebenen Bedingungen eintreten kann, so ist weiter 
nach diesen letzteren zu fragen. Zwei Hauptmöglichkeiten liegen vor: es 
kann die Zeit zwischen Reiz und Beginn der ihm zugehörigen Contraction 
verlängert sein und dadurch ein nächster Reiz in die refractäre Periode 
fallen, und zweitens kann die refractäre Periode selbst, bei gleichen 
sonstigen Verhältnissen, geringe Schwankungen ihrer Dauer haben, so dass 
dadurch ein Reiz unwirksam bleiben kann. Das erste Moment würde 
man kurz als eine Verlängerung der Latenzzeit bezeichnen können, wenn 
nicht auch Aenderungen der Leitung die gleiche Verzögerung hervor- 
bringen könnten. Der Einfachheit wegen soll im Folgenden trotzdem von 
Verlängerung der Latenzzeit, unter dieser Einschränkung, gesprochen 
werden. Solche längere „Latenzen“ sind häufig bei der Gruppenbildung 
zu finden, nach längerer Versuchsdauer wesentlich häufiger als bei frischen 
Präparaten. Doch kommen sie auch bei diesen vor. In zahlreichen Aus- 
messungen ergab sich, dass die „Latenz“ vor einem Contractionsausfall 
oft wesentlich grösser ist; findet Gruppenbildung von je zwei Contractionen 
statt, so sind die Latenzen abwechselnd kleiner und grösser. In Fig. 12, 
Taf. VI ist ein soleher Versuch bei schnellerem Gang des Ludwig’schen 
Kymographen aufgenommen worden. Bei der Ausmessung der Latenzen 
musste für den hohen Fusspunkt der zweiten Contractionen berücksichtigt 
werden, dass die bogenförmige Ordinate nach links etwas überhängt. Die 
„Latenzen“ betragen dann, ausgehend von a: 

0.11(6)”; 0-22(0)”; Ausfall; O-11(6)”; 0-21(1)”; Ausfall; 
0-11(6)’; 0-21(4)’; Ausfall; 0.11(6)’; 0-21(1)"; Ausfall. 

Auch bei längeren Gruppen ist die gleiche Erscheinung häufig fest- 

zustellen. Ob nun diese „Latenzverlängerung‘“ mehr auf Verlängerung der 


296 WILHELM TRENDELENBURG: 


Leitungszeit oder der eigentlichen Latenz beruht, dürfte im Einzelfall nicht 
leicht zu entscheiden sein. Engelmann (8) wies nach, dass die motorische 
Leitungsgeschwindigkeit innerhalb der Muskelsubstanz des Ventrikels durch 
eine Contraction herabgesetzt wird und zeigte, wie dadurch ein Contractions- 
ausfall bei der indirect gereizten Kammerhälfte entstehen kann, wenn man 
nach längerer Pause gleiche Reize in constanten Intervallen einwirken 
lässt. Eine Veränderung der Leitungsgeschwindigkeit in der Musculatur 
könnte nun auch hier die Verzögerung der Contraction und den Ausfall 
verursachen. Betrachtet man aber Fig. 13, Taf. VI, so findet man, dass die 
zweite dem Ausfall vorangehende Contraction, obschon verzögert eintretend, 
von kürzerer Dauer ist, wie die vorhergehende, und daraus ist zu schliessen, 
dass keine wesentliche Leitungsverzögerung vorhanden sein kann. Eine 
Verkürzung der Contractionsdauer muss allerdings durch den Einfluss der 
kürzeren Pause, welche vorangeht, erfolgen und könnte nur theilweise durch 
die Leitungsverzögerung compensirt sein. Die Latenzen betragen: 
0.15, 0-24”; Ausfall; 0-15”; 0.24”; Ausfall; 0-15”; 0-24”; Ausfall. 

Der Unterschied der Contractionsdauer beträgt 0-18°. So erscheint es 


sehr wahrscheinlich, dass hier, wie in anderen ähnlichen Fällen, eine. 


Verlängerung der eigentlichen Latenzzeit vorliegt. Dass sich auch 
Aenderungen der Leitungsgeschwindigkeit häufig einmischen können, soll 
damit nicht geleugnet werden. Man könnte auch geneigt sein, anzu- 
nehmen, dass die verschiedene Länge der Pause, welche den Contractionen 
vorausgeht, unabhängig von den speciellen Verhältnissen im Uebergang, 
diese Latenzverschiedenheiten hervorruft. Nach Hofmann (12) ist bei 
kleinen Reizintervallen, bei denen der Reiz in den ersten steilen Abfall 
der vorhergehenden Contraction hinein fällt, die Latenzzeit (Zeit vom 
Momente der Reizung bis zur deutlichen Wiedererhebung der Curve) um 
so grösser, je früher der Reiz in die vorhergehende Contraction fällt. 
Hierbei bleibe aber unsicher, wie weit eine wirkliche Latenzverlängerung 
vorliege, weil die neu einsetzende Contraction im Anfange nur ein lang- 
sameres Absinken des vorangehenden Curvenabfalles bewirken könne. So 
sicher diese Beziehungen auf die Gruppenbildung bei höherer Frequenz 
Anwendung finden, können sie im vorigen Falle nieht in Betracht kommen, 
hier fällt der zweite Reiz erst nach Beendigung der ersten Contraction ein, 
wie in Fig. 13, Taf. VI ersichtlich ist. Hier wäre eher die längere Latenz 
für die der längeren Pause folgende Contraction zu erwarten. — Eine 
eigenthümliche Art von Gruppenbildung beobachtete von Kries (13) bei 
ungleicher Temperirung von Vorhöfen und Kammer. „Es kann vor- 
kommen, dass der Ventrikel in Folge eines Temperaturunterschiedes nicht 
im Stande ist, auf jeden Vorhofsschlag zu antworten, sich aber dabei nicht 
sogleich auf Halbfrequenz einstellt; er schlägt vielmehr anscheinend 


| 


VERHALTEN D. HERZMUSKELS BEI RHYTHMISCHER ELEKTR. REIZUNG. 297 


isorhythmisch, lässt aber etwa jeden 3. oder 4. u. s. w. Schlag ausfallen.“ 
Dabei waren die Ventrikelsystolen etwas weiter auseinander gerückt, als 
die Vorhofssystolen und die Erscheinung konnte unter der Annahme, dass 
sich die vom Vorhof kommenden Antriebe auf eine kleine Zeit erstrecken, 
dahin erklärt werden, dass die Vorhofsantriebe nach und nach in das un- 
wirksame Stadium der Ventrikelsystole fallen. Auch hier erfolgte eine 
Verlängerung der Zeit zwischen Beginn der Vorhofsantriebe und der 
Kammersystole, eine Latenzverlängerung. 

Als zweite der im Herzmuskel gelegenen möglichen Ursachen der 
Gruppenbildung wurden oben Schwankungen in der Dauer der refractären 
Periode im Uebergangsstadium bezeichnet. Schon in Fig. 12 u. 13, Taf. VI 
muss die refractäre Periode bei jeder zweiten Contraction der Gruppen 
relativ zur Contractionscurve länger sein, wie bei den ersten Contractionen; 
in Fig. 12, Taf. VI ist bei diesen ein Reiz noch auf dem absteigenden 
Schenkel wirksam, bei jenen nach vollendeter Erschlaffung noch unwirksam. 
In den Fällen der Figg. 9 u. 10, Taf. VI fallen Contraetionen ohne Latenz- 
änderungen oder Verkürzungen des Reizintervalls, ja trotz geringer Ver- 
längerung desselben (Fig. 10, Taf. VI) aus. Eine Latenzverlängerung kann 
hiernach für den Ausfall von Systolen nicht unumgängliche Bedingung 
sein, sondern es ist anzunehmen, dass die Wiederherstellung der Erregbar- 
keit durch eine vorhergegangene Systole bei den Bedingungen des Ueber- 
ganges eine Verzögerung erleiden kann. Aus einem Versuche, welcher mit 
der im zweiten Abschnitt beschriebenen Einrichtung angestellt wurde, geht 
dies Verhalten sehr deutlich hervor (Fig. 14, Taf. VI. Von den drei 
Contaeten des von Frey’schen Rheotoms wurden hier nur zwei zur Be- 
stimmung der refractären Periode verwendet. Fiel nun der zweite Reiz 
gerade am Ende der refractären Periode ein, so war er abwechselnd ein- 
mal erfolgreich, einmal nicht. Dabei ist die dem erfolglosen Reiz 2 voran- 
gehende Systole in Folge geringerer Pause etwas kürzer, als die dem erfolg- 
reichen Reiz 2 vorangehende, mithin wären die Bedingungen für Wirksamkeit 
gerade bei dem erfolglosen Reiz eher günstiger. Unter dem Einfluss der 
vorhergehenden Contractionen vermag sich aber offenbar die Erregbarkeit 
nicht so schnell wieder herzustellen, wie dies nach der längeren Pause in 
Folge des Contractionsausfalls möglich ist. Auch hier befindet sich nun 
der Herzmuskel im Uebergangszustand, weil der Reizabstand der refractären 
Periode gleich wird; die Ergebnisse lassen sich also ohne Weiteres auf das 
Vorherige anwenden. Im Uebergangsstadium können unter dem Einfluss 
vorhergehender Contractionen geringe Verlängerungen der refractären 
Periode eintreten, welche einen Contractionsausfall bedingen; durch den 
erholenden Einfluss der so entstehenden Pause treten die früheren Ver- 
hältnisse wieder ein u, s.w. Zu erwähnen ist noch, dass die Regelmässig- 


298 WILHELM TRENDELENBURG: 
keit, mit welcher in Fig. 14, Taf. VI der zweite Reiz einmal wirksam ist, 
einmal nicht, mit Sicherheit einen Einfluss von zufälligen Veränderungen 
von Reizstärke und Reizintervall ausschliessen lässt. 

Eine weitere häufige Unregelmässigkeit im Uebergangsstadium zwischen 
Ganz- und Halbrhythmus bilden Contractionen von abwechselnder 
Höhe, der Form des Pulsus alternans entsprechend. Diese Abweichung 
tritt leichter bei etwas längerer Versuchsdauer und Ueberschwellenreizen 
ein, konnte aber auch bei frischen Präparaten mit Schwellenreizen und 
unpolarisirbaren Elektroden erhalten werden (Fig. 15, Taf. VI) und wurde 
auch bei Anwendung der Manometermethode gefunden. Es sind also 
wieder die speciellen Versuchsbedingungen nicht von ausschlaggebender 
Bedeutung. Die Erscheinung beginnt bei langsamer Vermehrung der 
Reizfrequenz mit einem geringen Höhenunterschied zweier sich auf ein- 
ander folgenden Contractionen, indem eine niedrigere der höheren folst. 
Der Höhenunterschied pflegt zuerst gering zu sein und vergrössert sich 
mit der Frequenzvermehrung; die niedrigeren Contractionen nehmen mehr 
und mehr an Höhe ab und verschwinden endlich gänzlich, wodurch der 


regelmässige Halbrhythmus hergestellt ist. Dies zeigt deutlich, dass die. 


Regelmässigkeit eine Uebergangserscheinung ist. Wird nach eingetretenem 
Halbrhythmus die Frequenz wieder langsam herabgesetzt, so gelingt es 
manchmal, vor Eintritt des Ganzrhythmus wieder Contractionen von ab- 
wechselnd ungleicher Höhe zu erhalten, jedoch weniger leicht, als wie beim 
Einschleichen der höheren Frequenz. Wird nach eingetretenem Pulsus 
alternans die Frequenz der Reize auf gleicher Höhe gelassen, so kann 
ersterer einige Zeit hindurch anhalten. 

Bei der Eigenschaft des Herzmuskels, schon minimale Reize mit 
Contractionen maximaler Höhe zu beantworten, erscheint es ausgeschlossen, 
dass eine ungleiche Höhe von ungleicher Reizstärke herrühre. Das 
Bowditch’sche Gesetz wurde unter den verschiedensten Bedingungen 
bestätigt und wohl nur eine und auch nur scheinbare Ausnahme gefunden. 
Kronecker (16) sah bei Ermüdung des Herzens unter Anwendung ver- 
schiedener Speisungsfiüssigkeiten, „dass zuweilen kleine Reize kleine Pulse, 
grosse Reize grosse Pulse bewirkten.“ Von den Erklärungsmöglichkeiten, 
welche Kronecker anführt, erscheint aber am  wahrscheinlichsten, „dass 
das Herz partiell seine Erreebarkeit mindern möchte, derart, dass jeder 
Theil nur maximal schlage, der andere Theil aber erst bei anderen Strom- 
stärken überhaupt zu schlagen beginne, so dass also bei kleinen Strom- 


stärken nur der erregbarere Ventrikeltheil, bei grösseren der ganze Ventrikel 


sich zusammenziehe. In der That sahen wir Herzen, bei denen schwache 
Reize deutlich nur die äusserste Spitze des Ventrikels zur Contraction 
brachten, stärkere Reize den gesammten Ventrikel.“ So ist der Pulsus 


VERHALTEN D. HERZMUSKELS BEI RHYTHMISCHER ELEKTR. REIZUNG. 299 


alternans am Froschherzen unter Annahme der steten Gültigkeit des 
Bowditch’schen Gesetzes von den maximalen Contraetionen zu erklären, 
wie es von Gaskell (9) geschehen ist. Bei unseren speciellen Versuchs- 
bedingungen ist es ausserdem ganz ausgeschlossen, dass die Contractionen 
ungleicher Höhe durch Reize von abwechselnd ungleicher Stärke hervor- 
gerufen seien. 

Wie alternirende Ungleicheiten der Reizintervalle zu Pulsus alternans 
führen, konnte Hofmann (12) beobachten. Er führte in dem Versuche 
die Reizung mit der Baltzar’schen Reizuhr aus, welche sich leicht auf 
geringe Ungleichheit der Reizintervalle einstellen lässt. Es entstehen so 
Contraetionen von abwechselnd grösserer und geringerer Höhe und Dauer, 
eine Folge der Verschiedenheit der vorangehenden Pausen. Derartige Ver- 
hältnisse können hier natürlich nicht vorliegen, eine solche alternirende 
Ungleichheit der Reizintervalle ist ebenso wie die der Reizstärke aus- 
geschlossen. ! 

Es ist also für den bestehenden Pulsus alternans, für die abwechselnd 
ungleich hohe Contractionsform nur die Erklärung möglich, dass an den 
höheren Contractionen sich mehr Muskelfasern betheiligen, als an den 
niedrigeren und dass die Contractionen um so niedriger ausfallen, je weniger 
Muskelfasern sich daran betheiligen. Gaskell leitet Letzteres sehr an- 
schaulich aus der Erscheinung her, dass die hohen Contractionen um so 
höher ausfallen, je niedriger die niedrigen sind, und dass die Mitte zwischen 
hohen und niedrigen Contractionen der Contractionshöhe der regelmässigen 
Pulse gleich ist. Die Erklärung Gaskell’s geht dahin, dass gewisse 
Kammertheile nur bei jedem zweiten Impuls sich contrahiren, während 
andere jedem Impuls antworten. Dann wird jede zweite Contraction höher 


ausfallen, wie die dazwischen liegenden, weil sich mehr Museulatur an ihr 
betheilist. 


Um das Auftreten solcher Partialeontractionen im Uebergangs- 
zustand weiter zu untersuchen und eventuell direete Beweise für diese Er- 
klärung beizubringen, verfuhr ich zunächst so, dass ich an der Herzspitze 
zwei Zipfel von der Kuppe an einschneidend herstellte, und diese getrennt 
am Engelmann’schen Doppelhebel suspendirte. Es erschien aber besser, 
keine schädigende Trennung der Musculatur vorzunehmen, und deshalb 
suspendirte ich zwei Stellen der ausgeschnittenen Herzspitze. Zwischen 


! Auch kann keine Pausenverschiedenheit trotz gleicher Reizintervalle, wie in den 
schon im vorigen Abschnitt besprochenen Fällen vorliegen; hier entwickelt sich der 
Pulsus alternans aus vollkommen gleichmässigen Contractionen, bei welchen zur Aus- 
bildung von alternirenden Pausenlängen gar keine Möglichkeit vorliegt. Der manch- 
mal bei plötzlicher Einwirkung hoher Reizfrequenz vorhandene Pulsus alternans ist von 
dem des Uebergangsstadiums vollständig zu treunen, 


300 WILHELM TRENDELENBURG: 


beiden Herzpincetten wurde Anfangs noch ein fixirender Faden übergelegt; 
es zeigte sich aber, dass auch dieser entbehrlich war, und auch ohne ihn 
sehr gut getrennte Curven erhalten werden konnten. Eine der kleinen 
Herzpincetten wurde mehr basalwärts, die andere mehr kuppenwärts an- 
gebracht, oder die eine mehr an .der rechten, die andere mehr an der 
linken Seite. Beruhten nun die niedrigen der alternirend hohen Contrac- 
tionen auf Partialcontractionen, so war zu erwarten, dass beide Curven ver- 
schiedenes Aussehen im Uebergangsstadium zeigen würden; denn auf beide 
Hebel wirkten wesentlich verschiedene Muskelantheile ein. Zugleich war 
dies Verfahren ein möglichst schonendes, und es war nach Möglichkeit 
vermieden, dass einer der Muskeltheile mehr geschädigt wurde, als der 
andere, wie es bei Herstellung zweier Zipfel (mit gemeinsamer Basis) durch 
Einschnitt möglich war. Ist der eine Antheil dem anderen in seiner 
Leistungsfähigkeit nicht gleichwerthig, so wären Ungleichheiten in beiden 
Curven nicht beweisend gewesen. Bei der Suspension an zwei Stellen 
der Oberfläche kommt es häufig vor, dass der eine Muskeltheil im Ganz- 
rhythmus, der andere im Halbrhythmus sich contrahirt, wenn das Ueber- 
gangsstadium eintritt; solche Curven würden also combinirt schon Pulsus 
alternans ergeben. Es ist aber hierbei immer noch möglich, dass doch 
durch die Art der Suspension, z. B. grösseren Zug durch einen Hebel, der 
eine Muskelantheil unter weniger günstigen Bedingungen arbeitet, und 
deswegen früher halbirt, als der andere. Die Gleichwerthigkeit beider Theile 
ist aber in solchen Versuchen sicher, in denen sich bald der eine, bald der 
andere Muskelantheil leistungsfähiger zeigt. So tritt m Fig. 16, Taf. VI zu- 
nächst in der oberen Curve früher der Halbrhythmus ein, während die 
untere Pulsus alternans zeigt; weiter treten oben Gruppen zu drei Con- 
traetionen ein bei unten vorhandener ungleicher Contractionshöhe ohne 
Contractionsausfall. Zum Schluss geht die der oberen Curve entsprechende 
Muskelpartie bei Frequenzverminderung eher in den regelmässigen Ganz- 
rhythmus über. Fig. 17, Taf. VI zeigt besonders, dass der eine Muskel- 
antheil hohe Contractionen giebt, wenn der andere niedrige ausführt, dass 
also in beiden ganz unabhängiger Pulsus alterans im Uebergang eintreten 
kann. In Fig. 18, Taf. VI setzt bei a die obere Curve länger den Ganz- 
ıhythmus fort, bei ö die untere, während bei ce sich aus einem beiderseitig 
einfachen Rhythmus eine abwechselnde Schlagfolge, einer Art systolia 
alternans, entwickelt; der eine Muskelantheil eontrahirt sich während der 
Ruhe des anderen. Gelegentlich konnte durch Beobachtung der Spiegel- 
reflexe an der Oberfläche der Herzspitze das Vorkommen von Partial- 
contractionen bei bestehendem Pulsus alterans dadurch bestätigt werden, 
dass bei kleinen Contractionen eine Aenderung der Spiegelreflexe nur 
an begrenzter Stelle auftrat, bei grossen auch an anderen, an denen 


VERHALTEN D. HERZMUSKELS BEI RHYTHMISCHER ELEKTR. REIZUNG. 301 


sie bei den kleineren Contractionen fehlte. Diese Beispiele dürften zur Genüge 
zeigen, dass der Pulsus alternans durch Partialcontractionen entsteht. 

Die Frage, wie es kommt, dass ein Theil der Musculatur sich nicht 
an jeder Contraction betheiligt, kann wie die nach der Ursache des Con- 
tractionsausfalles wieder verschieden beantwortet werden. Engelmann (8) 
konnte den Pulsus alterans des spontan schlagenden Herzens durch Ver- 
änderungen des Leitungsvermögens erklären, weist aber auch auf weitere 
Möglichkeiten hin. Ich fand häufig bei meinen Versuchen, dass bei Pulsus 
alternans die niedrigeren Contractionen längere „Latenzen“ zeigen, wie die 
höheren, und es könnte dies zum Theil oder ganz auf die veränderte 
Leitungsgeschwindigkeit bei den sich auf jeden Reiz contrahirenden 
Muskelfasern zurückzuführen sein. Wie weit auch die eigentliche Latenz 
dabei eine Verlängerung erfährt, ist wieder schwer zu sagen. Auch 
muss berücksichtigt werden, dass bei den kleinen Contractionen sich der 
Hebel vielleicht schon deshalb später von der Abseisse erhebt, weil weniger 
Museulatur bei ihnen angreift, die Zuckung also eventuell länger isometrisch 
verläuft, besonders wenn die Contractionen nach längerem Versuch weniger 
steil ansetzen. Deshalb soll auf diese „Latenz“unterschiede nicht näher 
eingegangen werden. Wichtiger erscheint es, dass im Uebergangszustand 
der Herzspitze Pulsus alternans ohne jede Latenzänderung eintritt. In 
Fis. 19, Taf. VI sind die Latenzen beider Contractionen gleich 0.28”; 
die Dauer .der höheren Contraetion a beträgt 0-68”, die der niedrigeren 
0.63”. Auch wegen dieses Unterschiedes kann nicht angenommen werden, 
dass hier einzelne Fasern deshalb nicht an jeder Contraction theilnehmen, 
weil die Leitung vermindert ist. Es giebt mithin Fälle, in denen der 
Pulsus alternans dadurch erklärt werden muss, dass die Erregbarkeit der 
einzelnen Muskelfasern sich im Uebergang zwischen Ganz- und Halbrhythmus 
verschieden verhält. Bei der steigenden Reizfrequenz wird das erreichbare 
Minimum der refractären Periode, welches für jede Muskelfaser den Ueber- 
gang zum Halbrhythmus bestimmt, für verschiedene Muskeltheile bei ver- 
schiedener Reizfrequenz eintreten, so dass die einzelnen Muskelelemente 
nicht gleichzeitig in den Halbrhythmus übergehen, sondern einige noch 
länger im Ganzrhythmus sich contrahiren können, während andere schon 
halbiren. Da der Pulsus alternans am leichtesten, wenn auch nicht aus- 
schliesslich, nach längerem Versuch eintrat, so ist anzunehmen, dass solche 
Differenzen am leichtesten unter dem Einfluss irgend welcher Ermüdung 
entstehen. Daraus, dass der Pulsus alternans auch bei Uebergang vom 
Halbrhytlimus in den Ganzrhythmus eintreten kann, würde gleichfalls wieder 
hervorgehen, dass einige Muskeltheile erst eine geringere Reizfrequenz im 
Ganzrhythmus zu beantworten vermögen, wie andere. Offenbar können 
räumlich nahe aneinander liegende Muskeltheile im Uebergangszustand sich 


302 WILHELM TRENDELENBURG: 


verschieden verhalten, denn auch kleine gesondert suspendirte Theile, sowie 
ausgeschnittene Streifen können alternirend hohe Contractionen aufweisen. 

In nächster Beziehung zum Pulsus alternans stehen als dritte Er- 
scheinung bei Uebergang zwischen Ganz- und Halbrhythmus die völlig un- 
regelmässigen Contractionen, ein „Wühlen“ oder „Wogen“ der gereizten 
Herzspitze, welches durch vollständige Regellosigkeit der Contractionshöhen 
gekennzeichnet ist (Figg. 20—23, Taf. V u. VI). Trotzdem aber lässt sich 
erkennen, dass jedem Reiz eine Erhebung entspricht, jedenfalls nicht mehr 
Contractionen ausgeführt werden, als Reize gegeben wurden. Diese Un- 
regelmässigkeit wurde am häufigsten bei starken Reizen und längerer Ver- 
suchsdauer beobachtet, wenn die Einschleichung einer hohen Reizfrequenz 
möglich geworden war, also bei Umständen, welche stark verkürzend auf 
die refractäre Periode wirken. Auch bei Rückkehr aus dem Halbrhythmus 
zum Ganzrhythmus kann Wühlen eintreten (Fig. 21, Taf. VI. Nur ein- 
mal wurde auch mit Schwellenreizen am länger benutzten Präparat Wogen 
erhalten, welches sich aus dem Ganzrhythmus entwickelte und in regel- 
mässigen Halbrhythmus überging (Fig. 22, Taf. VI). Also auch diese Er- 
scheinung ist typische Uebergangserscheinung. Nach dem Vorigen bieten 
sich der Erklärung der Unregelmässigkeit keine weiteren Schwierigkeiten 
dar; die einzelnen Muskelelemente beginnen bei ganz verschiedenem Reiz- 
intervall den Halbrhythmus, weil sie bei verschiedenem Reizintervall das 
Minimum der refractären Periode erreichen. Denkt man sich die Curven 
der getrennten Suspension wieder combinirt, so entstehen vielfach ähnliche 
Bilder, wie die des Wühlens und Wogens. Ausserdem mag vielfach Con- 
tractionsausfall bei einzelnen Muskeltheilen hinzukommen, wodurch die 
Regellosigkeit des Aussehens erhöht wird. 


Die beschriebenen Unregelmässigkeiten, welche bei rhythmischer Reizung 
der Herzspitze im Uebergangsstadium auftreten können, zeigen grosse 
Aehnlichkeit mit bekannten Arhythmieen des spontan schlagenden Herzens. 
Es sollen im Folgenden nur einige wichtigere Punkte hervorgehoben und 
nur die Möglichkeit einer weiteren Erklärung erörtert werden. Wie im 
speciellen Falle eine Arhythmie zu erklären ist, das kann ja doch nur die 
genaue experimentelle Analyse entscheiden. 

Zunächst könnte der Ausfall einzelner Systolen am spontan schlagenden 
Ventrikel dadurch erklärt werden, dass dieser sich in einem dem beschrie- 
benen entsprechenden Uebergangsstadium befindet, in welchem Verände- 
rungen in der Schnelligkeit der Erregbarkeitswiederherstellung zum Contrac- 
tionsausfall führen. Bekanntlich kann am absterbenden Herzen ein Ausfall 
einzelner Kammercontractionen stattfinden, wenn der Vorhof noch regel- 


VERHALTEN D. HERZMUSKELS BEI RHYTHMISCHER ELEKTR. REIZUNG. 303 


mässig pulsirt. Da die Kammer zuerst abstirbt, also eine schnellere Herab- 
setzung auch der Erregbarkeit erfährt, wie die anderen Herztheile, so muss 
sie im Verlauf des Absterbeprocesses in ein Uebergangsstadium gerathen, 
in welchem die Frequenz der natürlichen Impulse relativ für die Kammer- 
musculatur zu schnell wird. Es bestehen mithin dieselben Verhältnisse, 
wie bei langsamer Frequenzvermehrung der künstlich gereizten Herzspitze 
vor der Halbirung, die ja auch am absterbenden Herzen einzutreten pflegt. 
H. E. Hering (10) fand auch bei der Strychninvergiftung mit stärkeren 
Dosen am Kaninchenherz einen Ausfall einzelner Ventrikelsystolen. Gleich- 
zeitig verlängert sich das Intervall zwischen Vorhof- und Ventrikelsystole 
(As—V,), hat aber zur Zeit des ersten Ausfalles noch nicht sein Maximum er- 
reicht. Nach Hering spricht diese Thatsache gegen die Annahme, dass 
der zeitweilige Ausfall von Kammersystolen auf einem zeitweiligen Ver- 
sagen der Verbindungsfasern beruht. Die Reizbarkeit nimmt nach der 
Stryehninvergiftung absolut (Schwellenwerth) und relativ (refr. Periode) ab; 
auf dieser „pathologischen Verzögerung des Restitutionsprocesses“ beruht nach 
Hering der Ausfall von Ventrikelsystolen. Mir scheint, dass auch hier 
Veränderungen in der Schnelligkeit der Erregbarkeitswiederherstellung an 
der Kammer anzunehmen sind, wenn thatsächlich in der Ventrikelmusculatur 
die Ursache des Ausfalles zu suchen ist. Bei ihrer wachsenden Dauer wird 
die refractäre Periode der Kammern allmählich dem Abstand der Vorhofs- 
reize gleich werden (Uebergangszustand), und eine geringe Verzögerung der 
Herstellung der Erregbarkeit in der Kammermuseulatur genügt, um den 
Ausfall einer Kammersystole herbeizuführen. Nach diesem kann ein 
folgender Reiz wieder wirksam sein und eine neue Gruppe entstehen. 

Bekanntlich tritt vor der Frequenzhalbirung des absterbenden Frosch- 
herzens häufig Pulsus alternans ein. Auch hier befindet sich die Kammer- 
musculatur im Uebergangsstadium und es könnten einzelne Muskeltheile 
wegen weniger schneller Verschlechterung der Erregbarkeitsverhältnisse, 
mithin auch langsamerer Verlängerung der refractären Periode, noch im 
Ganzrhythmus sich contrahiren, während andere schon halbiren.! Selbst- 
verständlich soll damit, wie gesagt, nur eine weitere Erklärungsmöglich- 
keit berührt und andere nicht ausgeschlossen werden. 

Für die Erklärung der bekannten Erscheinung des „Wühlens und 
Wogens“ oder „Flimmerns“, die besonders bei starkem Tetanisiren des 
Herzens eintritt, dürften die vorliegenden Ergebnisse auch einiges Interesse 
haben. Es erscheint nicht unmöglich, auch diese Arythmie auf rein muscu- 
lärem Wege zu erklären, um so mehr, als Langendorff (18) fand, dass 


1 Vielleicht kommt Aehnliches auch bei der Antiarinvergiftung des Froschherzens 
in Betracht, bei welcher nach Straub (26) bei dem Uebergang vom Ganzrhythmus 
zum Halbrhythmus Contractionen von ungleicher Höhe auftraten. 


304 WILHELM TRENDELENBURG: 


auch die isolirte Herzspitze warmblütiger Thiere durch Tetanisiren zu 
echtem Wogen gebracht werden kann. Am erwärmten Froschherzen tritt 
nach Bätke (1) bei Tetanisiren ebenfalls „Flimmern“ ein, und zwar auch 
an der abgeklemmten Herzspitze; ebenso ist durch galvanische Durch- 
strömung Flimmern zu erzielen. _ Auch Neumann (22) beobachtete am 
Säugethier- wie am Froschherzen Flimmern bezw. Wogen bei starker con- 
stanter Durchströmung. Was nun besonders das Flimmern und Wogen 
bei stärkerem Tetanisiren angeht, so wäre es wohl möglich, dies ähnlich 
als einen Ausdruck verschiedener Contractionsfreguenz zu deuten. Durch 
das starke Tetanisiren wird die refractäre Periode der Muskelzellen maximal 
verkürzt; sie vermögen deshalb den sehr frequenten Reizen mit sehr 
frequenten Contractionen zu folgen, die einen mehr, die anderen weniger. 
Eine Verschiedenheit im Verhalten ist um so eher verständlich, als die 
tiefer gelegenen Elemente sowie die von der Reizstelle an der Oberfläche 
entfernteren von schwächeren Reizen getroffen werden, als die nahe ge- 
legenen. Ueberdauert das Flimmern die Reizung, so ist dies vielleicht da- 
durch bedingt, dass Stromschleifen die venösen Ostien erreichten und von 
diesen nun dauernd Reize von so hoher Frequenz ausgehen. Durch con- 
stante Durchströmung aber wird der Herzmuskel in Eigenrhythmus versetzt, 
welcher bei starkem Strom hohe Frequenzen erreicht, welche für die ein- 
zelnen Muskeltheile wieder nicht genau die gleichen sein werden, so dass 
ein Bild vollkommenster Unregelmässigkeit entsteht. Auch das nach 
Langendorff (17) am ausgeschnittenen überlebenden Säugerherzen bei 
Ueberwärmung (bis 52°) auftretende Flimmern könnte durch äusserste 
Frequenzvermehrung der natürlichen Iınpulse mit maximaler Verkürzung 
der Contractionsdauer (und refractären Periode) durch die Wärme erklärt 
werden. Da auch bei Schwellenreizen an der Herzspitze, wenn auch nur 
ausnahmsweise, Flimmern erzielt werden konnte, erscheint es nicht un- 
möglich, dass dies auch bei hoher Frequenz der schwachen physiologischen 
Reize eintreten kann. 

Ob andere, besonders die spontanen Formen des Flimmerns auf ähn- 
lichen Verhältnissen beruhen können, bleibt dahin gestellt. 

Schliesslich möchte ich noch darauf hinweisen, dass die bei rhythmischer 
Reizung des Herzmuskels gefundenen Allorhythmieen für pharmakologische 
Untersuchungen, die mit gleicher Methode an der Herzspitze angestellt 
werden, gelegentlich von Wichtigkeit sein könnten. 


V. Verhalten bei Frequenzvermehrung nach eingetretener 
Halbirung. 


Hierüber sind nur einige wenige Bemerkungen zu machen, um so 
mehr als die Versuche, welche sich mehr beiläufig hierauf erstreckten, 


VERHALTEN D. HERZMUSKELS BEI RIIYTHMISCHER ELEKTR. REIZUNG. 305 


gegen das Vorige nichts principiell Neues ergaben. Von Interesse erscheint 
die Frage, in welcher Art eine neue Aenderung in der Beziehung zwischen 
Frequenz der Reize und der Contractionen eintritt, wenn die Reizfrequenz 
zu schnell wird, als dass der Herzmuskel auch nur jeden zweiten Reiz be- 
antworten könnte. Durch die Untersuchungen von v. Kries (13) ist 
bekannt, dass der Kammermuskel unter besonderen Bedingungen die 
Frequenz der Vorkammercontractionen nach ganzen Potenzen von 2 theilt. 
Es war von vorn herein zu erwarten, dass bei der directen elektrischen 
Reizung die Frequenztheilung nach ganzen Zahlen fortschreitend vor sich ginge 
und keine Bevorzugung einzelner Theilungsweisen vorhanden sei. In der 
That folgt auf den Halbrhythmus der Drittel-, Viertel-, Fünftelrhythmus; 
wird der Abstand von zwei Reizintervallen grösser wie die refractäre 
Periode, so wird der von dreien zunächst noch kleiner sein, also der Drittel- 
rhythmus eintreten, bis dieser in entsprechender Weise dem Viertelrhythmus 
weicht. Das Verhalten bei Frequenzvermehrung künstlicher Reize ist in 
dieser Hinsicht also das gleiche, wie bei der Beschleunigung der natürlichen 
Impulse, bei der nach Gaskell (9) die gleiche Art der Frequenztheilung 
eintritt. 

Auch im Uebergang vom Halbrhythmus zu weiterer Rhythmustheilung 
konnte am Herzmanometer Pulsus alternans beobachtet werden; jedem 
vierten Reiz entsprach eine höhere Contraction, welcher nach je zwei Reizen 
eine niedrigere folgte. Hier scheint ein Theil der Musculatur im Halb- 
rhythmus, ein Theil schon im Viertelrbythmus sich contrahirt zu haben. 


Archiv f. A. u. Ph. 1903. Physiol. Abthlg. 20 


306 WILHELM TRENDELENBURG: 


Litteraturverzeichniss. 


1. H. Bätke, Ueber das Flimmern des Kaltblüterherzens.. Pflüger’s Archiv. 
1898. Bd. LXXI. S. 412—419. 

2. v. Basch, Ueber die Summation von Reizen durch das Herz. Ber. der Kais. 
Oestr. Akad. der Wissensch. 1879. Bd. LXXIX. Abth. 3. 8. 37—75. 

3. Derselbe, Ueber die Erhöhung der Erregbarkeit des Herzens durch wieder- 
holte”elektrische Reize. Dies Archiv. 1880. Physiol. Abthlg. S. 283—285. 

4. H. P. Bowditch, Ueber die Eigenthümlichkeiten der Reizbarkeit, welche die 
Muskelfasern des Herzens zeigen. Ber. der sächs. Ges. der Wiss. 1871. Bd. XXI. 
S. 652—689. 

5. J. Burdon-Sanderson and F. J. M. Page, On the time-relations of the 
exeitory process in the ventricle of the heart of the frog. Journ. of physiol. 1819—-1880. 
Vol. II. p. 384—435. 


6. A.Dastre, Recherches sur les lois de l’activite du coeur. Journ. de l’anat. 


et de la physiol. 1882. T. XVIII. p. 433—466. 

7. Th. W. Engelmann, Beobachtungen und Versuche am suspendirten Herzen. 
Dritte Abhandlung. Refractäre Pbase und compensatorische Ruhe in ihrer Bedeutung 
für den Herzrhythmus. Pflüger’s Archiv. 1895. Bd. LIX. 8. 309—349. 

8. Derselbe, Ueber den Einfluss der Systole auf die motorische Leitung in der 
Herzkammer, mit Bemerkungen zur Theorie allorhythmischer Herzstörungen. Zbenda. 
1896. Bd. LXII. S. 543—566. 

9. W.H. Gaskell, On the rhythm of the heart of the frog, and on the nature 
of the action of the vagus nerve. Philos. Transactions. 1832. Vol. CLXXII. 
Part. II. p. 993. 

10. H. E. Hering, Ueber den zeitweiligen oder dauernden Ausfall von Ventrikel- 
systolen bei bestehenden Vorhofsystolen. Centralblatt für Physiol. 1901. Bd. XV. 
S. 193—199. 

11. Derselbe, Ueber die gleichsinnige Aenderung der Schlagfrequenz und der 
refractären Phase des menschlichen Herzens. Pflüger’s Archiv. 1902. Bd. LXXXIX. 
8. 283— 288. ' 

12. F.B. Hofmann, Ueber die Aenderung des Contractionsablaufes am Ventrikel 
und Vorhofe des Froschherzens bei Frequenzänderung und im hypodynamen Zustande. 
Ebenda. 1901. Bd. LXXXIV. 8. 130—172. 

13. J. v. Kries, Ueber eine Art polyrhytbmischer Herzthätigkeit. Dies Archiv. 
1902. Physiol. Abthlg. S. 477—491. 

14. H. Kronecker, Das charakteristische Merkmal der Herzmuskelbewegung. 
Beitr. zur Anat. und Physiol. Festgabe für C. Ludwig. 1874. Heft I, S. 173. 

15. Derselbe, Die Unfähigkeit der Froschherzspitze, elektrische Reize zu 
summiren. Dies Archiv. 1879. Physiol. Abthlg. S. 379—382. 

16. Derselbe, Ueber die Aenderungen der Leitungsfähigkeit und der Erregbarkeit 
des ermüdenden Froschherzens. Fbenda. 1883. 8. 263—268, 


VERHALTEN D. HERZMUSKELS BET RHYTHMISCHER ELEKTR. Reizung. 30% 


17. O0. Langendorff, Untersuchungen am überlebenden Säugethierherzen. 
II. Abhdlg. Ueber den Einfluss von Wärme und Kälte auf das Herz der warmblütigen 
Thiere. Pflüger’s Archiv. 1897. Bd. LXVI. 8. 355—400. 

18. Derselbe, Ueber das Wogen oder Flimmern des Herzens. Zbenda. 1898. 
Bd. LXX. S. 281—296. 

19. T. Lauder Brunton and Th. Cash, On the effect of electrical stimulation 
of the frog’s Heart, and its modification by heat, cold, and the action of drugs. 
Proc. of the Royal Soc. of London. 1883. Vol. XXXV. p. 455—495. 

20. M. Marey, Recherches sur les exeitations &lectriques du coeur. Journ. de 
V’anat. et de la physiol. 1877. T. XIII. p. 60-83. 

21. Derselbe, Sur l’effet des exeitations &lectriques appliquees au tissu 
musculaire du coeur. Comptes rendus de 1’Acad. d. Sciences. 1879. T. LXXXIX. 
p. 203— 206. 

22. R. Neumann, Untersuchungen über die Wirkung galvanischer Ströme auf 
das Frosch- und Säugethierherz. Pflüger’s Archiv. 1886. Bd. XXXIX. S. 403—413, 

23. H. Oehrwall, Erstickung und Wiedererweckung des isolirten Froschherzens. 
Skand. Archiv für Physiol. 1896. Bd. VII. S. 222—320. 

24. Derselbe, Ueber die periodische Function des Herzens. Zbenda. 1898. 
Bd. VIH. 8. 1—84. 

25. S. Ringer and H. Sainsbury, Of the influence of certain drugs on the 
period of diminished exeitability. Journ. of physiol. 1884. Vol. IV. p. 350—364. 

26. W.Straub, Ueber die Wirkung des Antiarins am ausgeschnittenen suspen- 
dirten Froschherzen. Arch. f. exper. Pathol. u. Pharmakol. Bd. XLV. S. 346 — 379. 

271. Derselbe, Ueber die Wirkung der Kohlensäure am ausgeschnittenen suspen- 
dirten Froschherzen. Ebenda. Bd. XLV. S.380—388. 

28. A. Walther, Zur Lehre vom Tetanus des Herzens. Pflüger’s Archiv. 1899. 
Bd. LXXVHI. S. 597 —636. 


308 WILHELM TRENDELENBURG: 


Erklärung der Abbildungen, 
(Taf. V u. VI) 


Die untere Horizontallinie giebt die Zeit in '/, Secunden an. Die mittlere giebt 
bei allen Figuren durch Abwärtsgehen (wenn ınan die Trepppenlinie von links her 
verfolgt) den Reiz an. Die dem Hinaufgehen der Linie entsprechende Schliessung des 
primären Kreises war mit Ausnahme von Figg. 1 u. 14 abgeblendet. In Figg. 1 u. 14 
lagen die Schliessungen (Aufwärtsbewegung des Reizmarkirers) unterhalb der Schwelle, 
kommen also ebenfalls nicht in Betracht. Alle wiedergegebenen Curven sind mit der 
Suspensionsmethode gewonnen. Wo besondere Angaben fehlen, wurden die Reize durch 
Nadelelektroden zugeführt. 


Fig. 1. (Taf. V.) Drei Reize, im ersten Fall (a) bei Rollabstand 13, im zweiten (b) 


bei 21-5 (Schwellenreiz). Das Verhältniss der Reizintervalle ist ın beiden Fällen- 


gleich. In a ist der 3. Reiz wirksam, in 5b nicht. Versuch vom 9, VII. 1902. 


Fig. 2. (Taf. V.) Unpolarisirbare Elektroden, Schwellenreiz (Rollabstand 14-0); 
Correetion + 0-4" (d.h. der Reizmarkirer stand 0-4”=" zu weit nach rechts). Ein- 
schleichen einer Reizfrequenz (b), welche grösser ist, als die, welche im Anfang bei 
plötzlicher Einwirkung schon halbirt wurde (a). Bei weiterer Vermehrung der Reiz- 
frequenz tritt Halbirung des Rhythmus ein. Bei Frequenzverminderung tritt der 
Rhythmuswechsel (bei c) erst bei längerem Reizintervall ein, wie bei Frequenzver- 
mehrung der Reize. Versuch vom 30. VII. 1902. 


Figg. 3 u. 4. (Taf. V.) Schwellenreize. Fig. 3 im Anfang der Versuchsreihe, 
Fig. 4 nach längerer Reizung. Im zweiten Fall tritt die Halbirung erst bei wesentlich 
höherer Reizfrequenz ein. In Fig. 3 Rollabstand 16-5, in Fig. 4 Rollabstand 17. Ver- 
such vom 14. VII. 1902. 


Fig. 5. (Taf. V.) In a Halbirung bei Schwellenreiz (Rollabst. 13), in db bei 
stärkerem Reiz (Rollabst. 10). Versuch vom 20. XI. 1902. 


Fig. 6. (Taf. V.) Gruppenbildung im Uebergangsstadium zur Halbirung, welche 
am Ende der Reihe eintritt. Schwellenreize. Versuch vom 14. VII. 1902. 


Fig. 7. (Taf. V.) Langanhaltende Gruppenbildung im Uebergangsstadium bei 
unverändertem Reizintervall. Ueberschwellenreize. Versuch vom 21. VII. 1902. 


Fig. S. (Taf. V.) Langanhaltende Gruppenbildung im Uebergangsstadium. 
Frisches Präparat. Schwellenreize (Rollabst. 18), unpolarisirbare Pinselelektroden. 
Versuch vom 31. VII. 1902. 


Fig. 9. (Taf. VI.) Gruppenbildung im Uebergangsstadium; Reiz bei x bleibt 
unbeantwortet. Grössere Trommelgeschwindigkeit. Correetion = 0. Latenzen = 0-15” 
bei beiden Contraetionen. Reizintervalle gleich, Reize etwas über den Schwellenreizen. 
Versuch vom 23. VII. 1902. 


a Fu 


D 


VERHALTEN D. HERZMUSKELS BEI RHYTHMISCHEE ELEKTR. REIZUNG. 309 


Fig. 10. (Taf. VL) Gruppenbildung im Uebergangsstadium. Reiz bei X bleibt 
unbeantwortet, trotzdem das zweite Reizintervall zufällig um 0-13” länger ist, wie 
das erste. Latenzen 0-15’. Die Curve wurde kurz nach derjenigen der Fig. 9 ge- 
wonnen. Correction = 0. 


Fig. 11. (Taf. V.) Gruppen von je zwei Contractionen im Uebergangsstadium 
zum Halbrhythmus, welcher am Ende der Reihe eintritt. Vier Mal hinter einander 
bleibt jeder dritte Reiz unbeantwortet. Tuatenzverschiedenheiten nicht nachweisbar. 
Schwellenreize. Versuch vom 14. VII. 1902, 


Fig. 12. (Taf. VI.) Gruppenbildung im Uebergangsstadium. Ueberschwellenreize 
(Rollabst. 13-5; Schwelle 16-5). Die vor dem Ausfall stattfindenden Contractionen 
haben längere „Latenz“, 

Latenzen: 

0-11(6)"; 0-22(0)’; —; 0-11(6)"; 0211)"; —; 
0-11(6)"; 0-21(4)"; —; 0-.11(6)"; 0-21)"; —. 


Für den höheren Fusspunkt der kleineren Contractionen wurde die Bogenform 
der Ordinate bei der Messung entsprechend berücksichtigt. Versuch vom 24. VII. 1902. 


Fig. 13. (Taf. VI.) Gruppenbildung im Uebergangsstadium, je zwei Contractionen, 
von denen jede zweite längere „Latenz‘“ hat. Latenzen abwechselnd 0-15" und 0:24", 
dann Ausfall, 0-15”, 0-24" ete. Länger benutztes Präparat. (Rollabst. 14, Schwelle 19). 
Versuch vom 23. VII. 1902. 


Fig. 14. (Taf. VI.) Von zwei Reizen (1 und 2), welche in gleichbleibendem Ab- 
stand einwirken, wird der zweite, welcher an der Grenze der refractären Periode ein- 
trifft, einmal beantwortet, einmal nicht; die refractäre Periode ist abwechselnd etwas 
kleiner und etwas grösser wie das Reizintervall. Schwellenreiz bei länger gebrauchtem 
Präparat. Versuch vom 12. VII. 02. 


Fig. 15. (Taf. VI.) Pulsus alternans am frischen Präparat bei Schwellenreizen 
(Rollabst. 14) und unpolarisirbaren Elektroden, im Uebergang zum Halbrhythmus. 
Versuch vom 30. VII. 1902. 


Fig. 16. (Taf. VI.) Doppelsuspension an der durch einen Täängsfaden in der 
Mitte leieht fixirten Herzspitze. Rechte Seite der Spitze schreibt die untere Curve, 
linke die obere. Im Beginn der Reihe zeigen beide Curven Halbrhythmus. Bei ge- 
ringer Verminderung der Reizfrequenz tritt oben Gruppenbildung, unten Pulsus alternans, 
zum Theil auch unregelmässige Abwechselung von hohen und niedrigen Contractionen 
ein. Zum Schluss gehen beide Theile bei Reizverlangsamung in normalen Ganzrhyth- 
mus über. Starker Reiz (Rollabst. 9; Schwelle 15), Präparat kurze Zeit benutzt. 
Reizung an der Basis. Versuch vom 4. VI. 1902. 


Fig. 17. (Taf. VI) Doppelsuspension an der durch Querfaden leicht fixirten 
Herzspitze. Basaltheil schreibt oben, Kuppe unten. Völlige Incongruenz beider Curven. 
Mehrfach bei Pulsus alternans oben eine hohe Contraction, wenn unten die niedrige 
und umgekehrt. Am Schluss bei Reizverlangsamung Uebergang in regelmässigen 
Ganzrhythmus. Einige Zeit benutztes Präparat. Reizung an der Basis (Rollabst. 15, 
Schwelle 17.5). Versuch vom 5. V. 1902. 


Fig. 18. (Taf. VI.) Doppelsuspension an der Herzspitze ohne Quer- oder Längs- 
faden. Basaltheil schreibt oben, Spitzentheil unten. Im Anfang an beiden Curven 
regelmässiger Ganzrhythmus, welcher bei a von der oberen Curve länger eingehalten 


310 WILHELM TRENDELENBURG: VERHALTEN D. HERZMUSKELS UT. S. w. 


wird, bei 5 hingegen von der unteren. Bei c entsteht aus beiderseitigem Ganzrhythmus 
eine regelmässig alternirende Contractionsfolge, indem jede Spitzenhälfte den Reiz 
unbeantwortet lässt, den die andere beantwortet (eine Art Systolia alternans). Reizung 
an der Basis. Versuch vom 9. VI. 1902. 


Fig. 19. (Taf. VI.) Pulsus alternans bei schnellerem Trommelgang. Beide 
Contraetionen haben eine Latenz von 0.28”. Correction = 0. Länger benutztes 
Präparat. Rollabst. 13-5 (Schwelle 16-5). Versuch vom 24. V II. 1902. 


Fig. 20. (Taf. V.) Aus regelmässigem Halbrhythmus entwickelt sich Pulsus 
alternans und weiterhin unregelmässig wühlende Bewegung. Länger benutztes Präparat. 
Versuch vom 3. V. 1902. 


Fig. 21 (Taf. VI) zeigt besonders, wie die wogenden Bewegungen bei Ver- 
ringerung der Reizfrequenz in ganz regelmässigen Ganzrhythmus übergehen. Starker 
Reiz. (Rollabst. 10, Schwelle 16) bei länger benutzten Präparat. Versuch vom 
16. V. 1902. 


Fig. 22. (Taf. VI.) Wühlen und Wogen bei Schwellenreizen am einige Zeit 
benutzten Präparat. Zunächst Ganzrhythmus, der durch unregelmässige Bewegungen 
in Halbrhythmus übergeht;. dieser geht bei Frequenzverlangsamung in Ganzrhythmus 
zurück. Versuch vom 15. VII. 1902. 


Fig. 25. (Taf. VI.) Uebergang von Ganzrhythmus in Pulsus alternans, weiter 
in Wogen und schliesslich in Halbrhythmus. (Rollabst. 15; Schwelle 17). Versuch vom 
26. V. 1902. 


Ueber den Wegfall der compensatorischen Ruhe am 
spontan schlagenden Froschherzen. 


Von 


Dr. Wilhelm Trendelenburg, 


Assistent am Institute. 


(Aus dem physiologischen Institute zu Freiburg i. B.) 


Lässt man auf die Kammer des spontan schlagenden Froschherzens 
einen künstlichen „Extrareiz‘“ einwirken, so führt der Muskel eine Extra- 
systole aus, welche den spontanen Rhythmus gewissermaassen stört; auf 
sie folgt die sogenannte compensatorische Ruhe, eine mehr oder weniger 
lange Pause, nach welcher der Herztheil den alten regelmässigen Rhythmus 
wieder aufnimmt. Marey (7), welcher dies Verhalten wohi zuerst gesehen 
hat, sah hierin ein Bestreben des Herzens, seine Arbeit, welche durch die 
Extrareizung zunächst vermehrt wurde, constant zu erhalten, eine Ansicht, 
welche schon in dem von Marey der Erscheinung gegebenen Namen der 
„repos compensateur“ zum Ausdruck kommt. Es liegt auf der Hand, dass 
eine weitere Erklärung dann nur unter Voraussetzung eines complicirten 
nervösen Mechanismus im Herzen möglich wäre, zu dessen Annahme die 
Forscher, wie bekannt, früher mehr neigten, wie jetzt. Auch Dastre (1) 
glaubte, die compensatorische Ruhe als Eigenschaft der ganglienhaltigen 
Theile des Herzens ansprechen zu müssen, da sie an der durch frequente 
Inductionsströme in Thätigkeit versetzten Herzspitze fehle. Diesen von 
Kaiser (5) aufgenommenen Versuchen gegenüber wies aber Engel- 
mann (2) nach, dass auch an ganglienlosen, Theilen die compensatorische 
Ruhe zu erzielen ist, wenn sie durch rhythmische Einzelreize bei grösserem 
Reizintervall in Thätigkeit versetzt werden, dass hingegen auch am ganglien- 
haltigen Herzen die compensatorische Ruhe fehlt, wenn das Herz durch 
kontinuirliche Reizung in rhythmische Contractionen versetzt wird. Auf 


3114 WILHELM TRENDELENBURG: 


Grund dieser und anderer Feststellungen, auf die hier nicht näher ein- 
gegangen zu werden braucht, kommt Engelmann zu einer ganz ab- 
weichenden Auffassung der compensatorischen Ruhe. Da der Herzmuskel 
während seiner Systole, sowie zum Theil auch noch im Verlauf der Diastole 
unerregbar ist, werden die ihn während dieser Zeit treffenden Reize ohne 
Wirkung bleiben. Dies gilt auch für die Extrasystole; der Muskel zeigt 
nach derselben eine längere Pause, weil der nächste vom Sinus kommende 
natürliche Antrieb in das refractäre Stadium der Extrasystole hineinfällt. 

Aus dieser Anschauung schien mir zu folgen, dass es möglich sein 
müsse, am spontan schlagenden Herzen die compensatorische Pause an 
Kammer oder Vorhof zum Wegfall zu bringen, wenn es gelänge, die 
Frequenz der natürlichen an den Venenmündungen entstehenden Antriebe 
zu verlangsamen, ohne im Uebrigen den Zustand des Herzens zu ver- 
ändern. Da das ganze Herz innerhalb gewisser (besonders oberer) Grenzen 
der Frequenz der Sinuscontractionen folgt, wird bei Verlangsamung der- 
selben mehr Zeit zwischen zwei Kammercontractionen liegen, wie vorher, 
und zwar unter Umständen so viel Zeit, dass zwischen sie eine Extra- 
contraction eingeschaltet werden kann, deren refractäres Stadium schon 
abgelaufen ist, wenn der nächste Sinusantrieb die Kammer erreicht. 
Dann ist dieser natürlich wirksam, und die compensatorische Ruhe würde 
fehlen müssen. Hierüber habe ich einige Versuche angestellt, über die ich 
im Folgenden berichten möchte. 

Das einfachste und wenigst eingreifende Mittel, den natürlichen 
Rhythmus des spontan schlagenden Herzens ohne Veränderung des übrigen 
Zustandes des Präparates zu verlangsamen, schien mir die isolirte Ab- 
kühlung des Sinus zu sein. Bei Abkühlung des ganzen Herzens würde 
zwar auch die Frequenz der Sinusantriebe herabgesetzt, aber gleichzeitig 
die Oontractionsdauer und refractäre Periode an Vorhof und Kammer ver- 
längert werden, so dass die Bedingungen für den Wegfall der compen- 
satorischen Ruhe bei Einschieben eines Extrareizes nicht günstiger würden. 
Anders bei isolirter Abkühlung des Sinus. Wenn auch nicht zu vermeiden 
sein wird, dass die arterienwärts gelegenen Herztheile durch Leitung eine 
Temperaturherabsetzung erfahren, so werden doch die Temperaturunter- 
schiede für den vorliegenden Zweck ausreichend sein. Das Verfahren war 
darnach folgendes. Am getödteten Frosch wurde das Herz in der üblichen 
Weise freigelegt, das Gefässbändehen durchschnitten, die Kammerspitze 
und der linke Vorhof getrennt suspendirt (Engelmann’scher Doppelhebel). 
An den hierbei freiliegenden, für gewöhnlich von der Kammer bedeckten 
unteren Sinustheil (ventrale Fläche) nebst unterer Hohlvene wurde ein 
passend gebogenes dünnes Glasröhrchen angelegt, durch welches Wasser 
von veränderlicher Temperatur geleitet wurde. Dieses ging vorher durch 


WEGFALL DER COMPENSATORISCHEN RUHE. 31183 


ein kleines mit Thermometer versehenes Mischgefäss, an welchem die Sinus- 
temperatur abgelesen wurde. Dass damit nicht die eigentliche Sinus- 
temperatur, sondern eine etwas tiefere angegeben ist, sei nur nebenbei 
bemerkt, weil es auf die genaue Kenntniss der Sinustemperatur nicht an- 
kommt. Es ist ja doch so wie so nicht möglich, den ganzen Sinus nebst 
Venenmündungen isolirt abzukühlen, sondern vorwiegend den nach der 
unteren Hohlvene zu gelegenen Theil nebst der Vene selbst. Es werden 
dann weniger abgekühlte Stellen diejenigen sein, welche den Rhythmus des 
ganzen Herzens bestimmen. Zur Reizung waren Platinelektroden der 
Kammer- bezw. Vorhofswand angegelegt. Die Schliessungsschläge waren 
stets unterhalb der Schwelle, so dass nur die Oeffnungsreize in Betracht 
kommen, welche in der Reizlinie durch Abwärtsgehen (wenn man der 
Linie von links nach rechts folgt) gekennzeichnet sind. Im Uebrigen 
bestand die Reizeinrichtung aus einem Aceumulator, Schlittenapparat und 
Quecksilberschlüssel. 

Die Erwartung, dass nun nach einer Extrasystole an der Kammer, 
hinreichende Verlangsamung der Schlagfolge vorausgesetzt, die compen- 
satorische Ruhe fehlen würde, weil der nach der Bun eintretende 
natürliche Impuls die Kammer schon con- 
tractionsbereit antrifit, bestätigte sich aber 
nicht ohne Weiteres und in jedem Falle, 
sondern es traten Erscheinungen ein, welche 
einer kurzen Erörterung bedürfen. 

Bekanntlich nimmt für gewöhnlich 
nur der vom Extrareiz direct getroffene 
Herzabschnitt, sowie die arterienwärts von 
ihm gelegenen Abschnitte an der Extra- 
contraction Theil. Bei Extrareizung an 
der Kammer schlägt also der Vorhof in 
unverändertem Rhythmus weiter. Fig. 1 Fig. 1. | 
lässt dieses Verhalten erkennen.! Bei Es folgen sich von oben nach unten: 
Abkühlung des Sinus zeigte sich nun Vorhofseurve, Kammercurve, Reiz- 

a : 3 schreibung, Zeitschreibung ('/; '). — 
aber überraschender Weise, dass in den na end Srstempe 
meisten Fällen diese Contraction rück- zatur 15°C. Extrareiz an Kammer- 
läufig auf den Vorhof überging, so dass .. spitze. 4. X1]. 1902. 
dieser nach der gesetzmässigen Zeit nach 
der Kammer ebenfalls die Extracontraction ausführte (Fig. 2). Die Zeit 
zwischen Vorhof- und Kammercontraction beträgt hier bei spontaner 


! Nur bei einem Präparat wurde eine Ausnahme davon beobachtet, indem die 
Extrasystole von vornherein auch ohne Sinusabkühlung (8. u.) rückläufig zum Vorhof ging. 


314 WILHELM TRENDELENBURG: 


Contractionsfolge 0-27”, desgleichen aber auch bei der rückläufigen Extra- 
systole; es liegt also keine directe Reizung auch des Vorhofs durch Strom- 
schleifen vor, wobei die beiden Herzabschnitte die Extrasystole gleichzeitig 
hätten ausführen müssen. Das Gleiche konnte zwischen Vorhof und 
Sinus beobachtet werden. Auch hier kann die Extrasystole des Vorhofs 
rückläufig zum Sinus übergeleitet werden, wenn dessen Schlagfrequenz 
durch Abkühlung vermindert wird. Bei Wiedererwärmung des Sinus treten 


Fig. 2. 
Gleiches Präparat wie Fig. 1; Sinustemperatur 7° C. Sonst wie bei Fig. 1. 


wieder die früheren Verhältnisse ein. Es hat also zunächst den Anschein, 
als ob unter gewöhnlichen Verhältnissen die rückläufige Erregungsleitung 
ım Herzen in irgend einer Weise erschwert sei, so dass eine an der 
Kammer hervorgerufene Extracontraction sich nicht dem Vorhof mitzutheilen 
vermag, während durch die Sinusabkühlung irgendwie eine Erleichterung 
der rückläufigen Leitung einträte Eine geringe Abkühlung auch der 
Verbindungsfasern könnte als Ursache für das Eintreten der rückläufigen 
Reizleitung angesehen werden. Die Verhältnisse dürften wohl aber wesent- 
lich anders liegen. Sucht man die Frage zu beantworten, warum unter 
gewöhnlichen Verhältnissen die Extracontraction an der Kammer nicht 
rückläufig auf den Vorhof übergeht, so dürfte folgende die einfachste und 
wahrscheinlichste Erklärung sein: Die durch den Extrareiz bewirkte Er- 
regung wird zwar durch die Verbindungsfasern zur Vorhofsmusculatur 
geleitet, kann aber in dieser keine Contraction hervorrufen, weil die refractäre 
Periode der inzwischen eingetretenen natürlichen Vorhofscontraetion noch 
nicht abgelaufen ist. So ist dann ohne Weiteres erklärlich, dass bei Ver- 
langsamung der natürlichen Antriebe ein Extrareiz an der Kammer gesetzt 
werden kann, welcher durch rückläufige Ueberleitung den Vorhof noch vor 
Eintritt jener nächsten natürlichen Contraction erreicht, so dass der Vorhof 


N 


WEGFALL DER COMPENSATORISCHEN RUHE. 315 


nach der gesetzmässigen Leitungszeit ebenfalls eine Extrasystole ausführt. 
Ein Wahrscheiniichkeitsbeweis lässt sich für diese Auffassung dadurch geben, 
dass man z. B. an der Curve der Fig. 1 feststellt, in welcher Phase der 
Vorhofsthätigkeit die Extraerregung den Vorhof durch rückläufige Leitung 
erreichen wird. Dieser Zeitpunkt liegt m der oberen Hälfte des ab- 
steigenden Schenkels, etwa an der mit <« bezeichneten Stelle. Auch wenn 
die Kammerextrasystole später einsetzt, der Extrareiz den Vorhof also in 
späterer Phase der Öontraction erreicht, tritt keine Vorhofsextracontraction 
ein. Dies ist verständlich, wenn man berücksichtigt, dass die physiologischen 
Reize der Schwelle nahestehen und auch am Vorhof die refractäre Phase 
für Schwellenreize bis nach vollendeter Diastole dauert. Bei Verlangsamung 
der Sinusantriebe trifft aber die Extraerregung am Vorhof schon ein, ehe 
eine spontane Vorhofscontraction begonnen hat; der Vorhof ist also nicht 
refractär und nimmt an der Extrasystole Theil. Für den darauf eintreffenden 
natürlichen Antrieb ist er hingegen durch die Extrasystole wieder un- 
empfänglich, er weist also eine compensatorische Ruhe auf, an der nun 
selbstverständlich die Kammer auch Theil nimmt. Ob auch der Sinus an 
solehen rückläufigen Extracontractionen Antheil hat, lässt sich graphisch 
weniger leicht verfolgen, weil die Sinuscontractionen durch das anliegende 
Glasröhrchen behindert werden. Es liess sich aber doch in einigen Fällen 
graphisch, sowie durch genaue Besichtigung feststellen, dass dies Verhalten 
sowohl stattfinden als auch fehlen kann. Indirect lässt sich das Verhalten 
des Sinus (bezw. der Ursprungsorte der natürlichen Antriebe) rückläufigen 
Extrareizen gegenüber aber auch mit Sicherheit aus der Vorhofseurve er- 
mitteln, und zwar nach dem Eintreten der ersten auf die compensatorische 
Ruhe folgende Vorhofscontraction. Ist der Abstand derselben von der der 
Extrasystole vorangehenden Systole gleich dem Intervall von zwei regel- 
mässigen Contractionen, so ging die Extrasystole nicht auf den Sinus über, 
ist der Abstand kleiner, so fand dies hingegen statt. Im Fig. 2 ist ersteres 
der Fall, hier kann also am Sinus keine Störung des natürlichen Rhythmus 
eingetreten sein. Wahrscheinlich war der Sinus beim Eintreten der rück- 
läufigen Erregungswelle schon im refractären Zustand. Ist hingegen eine 
grössere Verlangsamung des spontanen Rhythmus erzielt worden, so trifft 
die rückläufige Erregungswelle vor dem refractären Zustand am Sinus ein, 
dieser kann also an der Extrasystole Theil nehmen. Auf diese Weise ist 
ersichtlich, dass bei verschiedener Frequenz des spontanen Rhythmus das 
Verhalten der einzelnen Herzabschnitte einem rückläufigen Extrareiz gegen- 
über ein so verschiedenes sein muss. 

Wie schon angedeutet, geht in anderen Fällen auch bei Sinus- 
abkühlung die Kammerextrasystole nicht auf den Vorhof über, und diese 
Fälle sind es, bei welchen sich in der gewünschten Weise das Fehlen der 


316 WILHELM TRENDELENBURG: 


compensatorischen Ruhe am spontan schlagenden Herzen erzielen lässt. 
Es wird nicht leicht zu entscheiden sein, ob dabei eine irreciproke Reiz- 
leitung anzunehmen ist, oder ob trotz Verlangsamung der Impulse die 
rückläufige Erregungswelle den Vorhof im refractären Zustand antrifft. 
Denn man ist nicht über die Stärke des rückläufigen Reizes, die wohl als 
unabhängig von der Stärke des künstlichen Extrareizes zu denken ist, 
orientirt und wird deshalb nicht mit Sicherheit die Länge der refractären 
Periode für diesen rückläufigen Reiz angeben können. Wenn aber ein an 
der Kammer gegebener Extrareiz den Vorhof kurz vor der nächsten spontanen 
Contraction erreicht, so müssten auch unter der Voraussetzung, dass der 
Extrareiz als ein schwacher zum Vorhof geleitet wird, die günstigsten 
Bedingungen zur Beantwortung dieses Reizes vorhanden sein. Trotzdem 
nahm auch dann der Vorhof in diesen Fällen nicht an der Extrasystole 
rückläufig Theil. Es ist deshalb wohl der Schluss nothwendig, dass der 
Extrareiz hier gar nicht zum Vorhof geleitet wird, dass eine irreciproke 
Reizleitung vorhanden sein kann, für deren Verständniss nach den Er- 
örterungen und Untersuchungen Engelmann’s (3, 4) keine besonderen 
Schwierigkeiten bestehen. Für gewöhnlich war an einem Präparat bei Sinus- 
abkühlung entweder die Extrasystole immer rückläufig, oder nicht, es scheinen 
also vorwiegend individuelle Eigenschaften das verschiedene Verhalten zu 
erklären. Auch bei starker Sinusabkühlung (etwa 0°) konnte das Rück- 
laufen der Extrasystole zum Vorhof stets vorhanden sein, es ist also die 
Anschauung nicht zulässig, dass die irreciproke Form der Leitung allein 
durch die Temperaturverschiedenheiten, welche auch zwischen Vorhof und 
Kammer unvermeidlich sein werden, hervorgerufen ist. Denn unter den 
gleichen Temperaturbedingungen, bei denen an einem Präparat die 
Kammerextrasystole nicht rückwärts geleitet wurde, war dies am anderen 
Präparate der Fall. Andererseits genügen aber individuelle Unterschiede 
nicht immer zur Erklärung. Zum Beispiel trat bei dem Herzen einer 
Rana temporaria bei Sinusabkühlung bis auf 0-5° längere Zeit keine 
rückläufige Extrasystole ein (vergl. Figg.4und5). Darauf war der Sinus auf 
Zimmertemperatur gebracht, und abermals abgekühlt. Schon bei 5° ging 
nunmehr die Kammerextrasystole rückwärts zum Vorhof über; bei 1° 
nahm der Vorhof einmal an der Extrasystole nicht Theil, während un- 
mittelbar darauf wieder das rückläufige Verhalten eintrat (Fig. 3). Hier 
ist also bemerkenswerther Weise im Verlaufe des Versuches die Kammer- 
extrasystole zu einer rückläufigen geworden, wohl in Folge Herstellung 
des doppelsinnigen Leitungsvermögens. Der Grund des wechselnden Ver- 
haltens entzieht sich hier der näheren Feststellung. Der umgekehrte 
Fall, dass eine bei Sinusabkühlung rückläufige Extrasystole im Laufe des 
Versuches nicht auf den Vorhof überging, wurde nur bei einer einzigen 


” 


WEGFALL DER COMPENSATORISCHEN RUHE. 317 


Reizung beobachtet. Sowohl bei Raua esculenta als auch bei Rana 
temporaria wurde das Fehlen der rückläufigen Extrasystole bei Sinus- 
abkühlung gefunden; zwischen beiden bestehen darnach in dieser Beziehung 
keine prineipiellen Unterschiede. 


Fig. 3. 
R. temporaria. Curvenfolge wie in Fig. 1; Zimmertemperatur 16-4° C.; Sinustempe- 
ratur 1°; Extrareize an der Kammerspitze. 19. XII. 1902. 


Es seien nun einige Beispiele von fehlender compensatorischer Ruhe 
unter den besprochenen Bedingungen mitgetheilt. In Fig. 4 zeigt die 
obere Curve die in gleichmässigen Abständen erfolgenden Vorhofcontrac- 
tionen bei Sinusabkühlung auf 7° C. (Zimmertemperatur 16-4°C). Die 
Kammer wurde von Extrareizen getroffen, welchen je eine Kammerextra- 
systole folgt, die nicht auf den Vorhof übergeht; eine compensatorische 


Gleiches Präparat wie Fig. 3; Curvenfolge wie in Fig. 1; Sinustemperatur 7° C.; 
Extrareize an der Kammerspitze. 


Ruhe fehlt nach der ersten und dritten Extrasystole, welche beide etwas 
früher nach Beginn der Spontancontraction einsetzen, wie die zweite Extra- 
systole. Letzterer folgt wie bei nichtgekühltem Sinus die gesetzmässige 
compensatorische Pause; hier fällt der nächste natürliche Antrieb deshalb 
in das refractäre Stadium der Extrasystole, weil diese erst relativ spät 
einsetzt. Dies Verhalten zeigt besonders deutlich, wie das Auftreten der 
compensatorischen Ruhe nur an den Abstand zwischen dem Extrareiz und 


318 WILHELM TRENDELENBURG: 


dem nächsten natürlichen Antrieb gebunden ist; auch bei Verlangsamung 
des natürlichen Rhythmus tritt deshalb die compensatorische Ruhe so- 
gleich auf, wenn jener Abstand durch späteres Eintreten der Extrasystole 
zu klein wird und der natürliche Reiz in die refractäre Periode fällt. Diese 
Verhältnisse schliessen weiter den möglichen Einwand aus, dass durch die 
Abkühlung des Sinus und die dadurch ° hervorgerufenen Temperatur- 
differenzen irgend welehe Coordinationscentren in ihrer normalen Function 
gestört seien, so dass die compensatorische Ruhe fehle. 

Aus dem Gesagten ergibt sich eine einfache Methode, um die Dauer 
der refractären Periode an der Kammer für die vom abgekühlten Sinus 
herkommenden Antriebe festzustellen. Man lässt in einem Versuch, welcher 
dem der Fig. 4 entspricht, den Extrareiz zu verschiedener Zeit nach 
Beginn der vorigen spontanen Kammercontraction einwirken und erhält 
so Extrasystolen, welchen theils eine compensatorische Pause folgt, theils 
nicht. Man stellt nun einerseits den minimalen Abstand zwischen 
Extrasystole und nachfolgender Systole fest, bei welchem eben noch keine 
compensatorische Pause eintrat, und andererseits bei den Fällen, bei 
welchen compensatorische Pause vorhanden war, den maximalen Abstand 
zwischen Extrasystole und dem Punkt, an welchem die nächste Spontan- 
contraction hätte einsetzen miüssen (nach der mitverzeichneten Vorhofs- 
curve bestimmt). Beide Werthe grenzen die refractäre Periode der Extra- 
systole ein. So fand sich z. B. die Refractärperiode der Kammer den vom 
abgekühlten Sinus (1° C.) herkommenden Antrieben gegenüber 1-3 Mal so 
gross, als die ganze Contractionsdauer (bis zum Ende der Diastole gemessen), 
reichte also über das Ende der Diastole in die Pause hinein. Natürlich ist 
hierdurch über die Verhältnisse bei nicht 
sekühltem Sinus nichts auszusagen, -da 
man die Einwirkung der Abkühlung auf 
die Stärke der natürlichen Antriebe nicht 


schieden starken Reizen gegenüber ver- 
schiedene Dauer hat. Sicher aber sind 
die vom abgekühlten Sinus ausgehenden 
Antriebe zu den schwachen, der Schwelle 
nahestehenden zu rechnen, was nach an- 
deren Untersuchungen auch für gewöhn- 
liche Verhältnisse zutrifft.! 

Vom gleichen Präparat, wie vorige Figur, stammt Fig. 5. Hier war 
der Sinus auf 0.5° abgekühlt und dadurch eine stärkere Rhythmusverlang- 


ee en a en 


Fig. 5. 
Gleiches Präparat wie Figg. 3 u. 4; 
Curvenfolge wie in Fig. 1; Sinustemp. 
0-5°C.; Extrareize and. Kammerspitze. 


! Vgl. Engelmann (4), 8.330; auch Oehrwall, Skand. Archiv für Physiol. 
1898. Ba. VIll. S. 71. 


kennt, und die refractäre Periode ver- - 


WEGFALL DER COMPENSATORISCHEN RUHE. 


319 


samung erzielt. Es liessen sich nun an der Kammer zwei wirksame 
Extrareize bei starker Reizung einschieben, ohne dass eine compensatorische 


Pause eingetreten wäre. Bei nicht ge- 
kühltem Sinus entsprachen die Verhält- 
nisse genau denen der Fig. 1. Bei Fig. 6 
wurden die Extrareize am Vorhof bei Sinus- 
abkühlung ausgeführt, Fehlen und Vor- 
handensein der compensatorischen Ruhe 
je nach früherem oder späterem Eintritt 
der Extracontraction ist leicht ersichtlich. 
Die Sinuscontractionen sind, wenn auch 
nur schwach, mit verzeichnet; immerhin 
lässt sich erkennen, dass der Sinus an 
den Extracontractionen nicht Theil nimmt, 
obwohl: der rückläufige Reiz ziemlich in 
der Mitte zwischen zwei spontanen Con- 
tractionen des Sinus eintreffen würde. 
Lov&n (6) beobachtete, dass am ab- 
getrennten Vorhof eine Extrasystole, welche 
so früh wie möglich einsetzt, „von einer 
Pause, welche nicht länger als die ge- 
wöhnliche ist, gefolgt wird.“ Seine Fig. 3 
zeigt, dass sich die spontanen Vorhofs- 
contractionen trotz eingeschobener Extra- 
systole in gleichen Intervallen folgten, dass 
also die compensatorische Ruhe fehlte. Der 
Spontanrhythmus, welcher von dem Sinus- 
rest ausging, der am sonst isolirten Vorhof 
blieb, war sehr langsam (vier Contrac- 
tionen auf 9”), so dass wohl entsprechende 
Bedingungen für Fehlen der compensato- 
rischen Ruhe vorlagen, wie sie oben für 
das spontan schlagende Herz hergestellt 
wurden. Am Vorhof des unverletzten und 
nicht am Sinus gekühlten Herzens konnte 
ich kein Fehlen der compensatorischen 
Ruhe erzielen. Trotz der verhältnissmässig 
rasch verlaufenden Vorhofscontractionen 


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Fig. 6. 
Curvenfolge: Vorhof, Reiz-, Zeitschreibung. In der Vorhofscurve sind die Sinuscontraetionen schwach mitverzeichnet (8). 


Linker Vorhof suspendirt, Extrareize am Vorhof. Gleiches Präparat wie Fig. 1; Zimmertemperatur 15-5° C.; Sinus- 


temperatur 8° ©. 


ist also auch hier unter normalen Verhältnissen zwischen zwei spontanen 
Contraetionen nicht genügend Zeit, um eine Extrasystole so einzuschieben, 


dass auch der nächste natürliche Antrieb wirksam bleibt. 


320 W. TRENDELENBURG: WEGFALL DER COMPENSATORISCHEN RUHr, 

Es sei noch hinzugesetzt, dass sich der Versuch gewissermaassen im 
Schema anstellen lässt, wenn man Vorhof und Kammer durch Sehnitt an 
der Vorhofsinusgrenze zum Stillstand bringt, den Vorhof an der Schnitt- 
grenze mit Einzelreizen passender Intervalle, etwa mittels Metronoms, 
rhythmisch reizt, und Extrareize an der Kammerspitze anbringt. Ist das 
Intervall der rhythmischen Reizung dem natürlichen Rhythmus ent- 
sprechend, so ist die compensatorische Ruhe vorhanden, ist das Intervall 
etwas grösser, so fehlt sie. Ebenso kann an der abgeschnittenen Herz- 
spitze bei rhythmischer Reizung mit Einzelreizen die compensatorische 
Ruhe vorhanden sein, wie Engelmann zeigte; sie fehlt hingegen wieder, 
wenn der künstliche Rhythmus verlangsamt wird, so dass eine Extrasystole 
ablaufen kann, ehe der nächste rhythmische Reiz eintritt. 

Auf die Verwendung der Vagusreizung zur Verlangsamung des 
spontanen Rhythmus des unversehrten Herzens wurde verzichtet, weil da- 
durch schwer eine Frequenzverminderung von gleichbleibender Grösse zu 
erzielen ist, und die hinzukommenden inotropen und besonders dromotropen 
Wirkungen die Verhältnisse complieirt haben würden. 


Litteraturverzeichniss. 


1. A. Dastre, Recherches sur les lois de l’activit6 du coeur. Journ. de l’anat. 
et de la physiol. 1882. T. XVJII. p. 433—466. 

2. Th. W. Engelmann, Beobachtungen und Versuche am suspendirten Herzen. 
Dritte Abhandlung. Refraetäre Phase und compensatorische Ruhe in ihrer Bedeutung 
für den Herzrhythmus. Pflüger’s Archiv. 1895. Bd. LIX. S. 309— 349. 

3. Derselbe, Ueber reeiproke und irreciproke Reizleitung mit besonderer Be- 
ziehung auf das Herz. Ebenda. 1895. Bd. LXI. S. 275— 284. 

4. Derselbe, Versuche über irreeiproke Reizleitung in Muskelfasern. Zbenda. 
1896. Bd. LXII. S. 400—414. 

5. K. Kaiser, Untersuchungen über die Ursache der Rhythmieität der Herz- 
bewegungen. Zeitschrift für Biol. 1894. Bd. XXX. S. 279—316. 

6. Chr. Loven, Ueber die Einwirkung von einzelnen Inductionsschlägen auf 
den Vorhof des Froschherzens, Mittheil. aus dem Physiol. Lab. des Car. med.-chir. 
Instituts in Stockholm. 1882—1886. Bd. 1. 

7. M.Marey, Recherches sur les exeitations &lectrigues du coeur. Journ. de 
l’anat. et de la physiol. 1877. T. XIII. p. 60-83. 


Schwingungszahlen und Schwellenwerthe. 


Von 


Paul Ostmann 
in Marburg. 


Die Auffindung eines objectiven, einheitlichen Hörmaasses' hatte mich 
vor die Aufgabe gestellt, die Abschwingungscurven der Edelmann’schen 
unbelasteten C- und G-Gabeln von der grossen. bis zur viergestrichenen 
Octave zu bestimmen. 

Diese Aufgabe konnte für die vier Gabeln C, @, c, y in vollem Umfange 
experimentell gelöst werden, da es möglich war, unter Benutzung von 
Obj. 7, Ocular 2, Leitz, auch noch die Grösse derjenigen Amplitude zu 
bau bei ei die Gabel g für das normale Ohr verklang. 

Für die höheren Gabeln konnte jedoch, und zwar je höher in ii 
Tonreihe hinauf, ein verhältnissmässig um so grösseres Stück der Ab- 
schwingungscurve wegen der Kleinheit der Amplituden nicht mehr direet 
gemessen werden, und es entstand die Frage, wie die Amplituden dieses 
nicht gemessenen Stückes gefunden werden konnten. 

Der Verlauf der Curven deutete darauf hin, dass man es mit Exponen- 
tialeurven zu thun habe, welche durch Extrapolation vervollständigt werden 
konnten. Vor der Berechnung der Werthe aus den Exponentialeurven hatte 
ich jedoch eigenartige, anscheinend :gesetzmässige Beziehungen zwischen 
den vier festgelegten Schwellenwerthen der Gabeln C, G, c, g zu erkennen 
seglaubt, welche dazu aufforderten, zu prüfen, ob aus den gefundenen 
Schwellenwerthen vielleicht die weiteren, noch fehlenden Werthe durch ein- 
fachere Rechnung bestimmt werden konnten. 

Die Untersuchung der Abschwingungsceurven der unbelasteten Gabeln 
wie auch die fernere Bestimmung der Schwellenwerthe der belasteten Gabeln 
der Subeontra-, Contra- und grossen Octave erfolgte mit Hülfe einer von 


v. Helmholtz angewandten Methode. Auf die fest. eingespannten Gabeln 
Archiv f. A. u. Ph. 1903. Physiol. Abthlg. 2 


3223 PAUL OsTMmaAnKN: 


wurde Mehlstaub in feinster Vertheilung aufgeblasen, und der Weg, welchen 
ein kleinstes Körnchen während des Abschwingens der Gabel zurücklegte, 
beobachtet und in gewissen Zeitabständen mittels Lupe, Obj. 1, 3, 4, 5,7 
und Ocular 2 im Ocularmikrometer gemessen. Von Object 4 an war die 
gleichzeitige Benutzung eines Vertical-Illuminators (Leitz) erforderlich. Ich 
will auf die Beschreibung dieser Methode, welche ich in meiner demnächst 
erscheinenden Abhandlung „Ein objectives Hörmaass“! geben werde, an 
dieser Stelle nicht näher eingehen, sondern mich auf die Darlegung der 
gesetzmässigen Beziehungen, welche einerseits zwischen den normalen 
Schwellenwerthen, andererseits zwischen diesen und den Schwingungszahlen 
der Stimmgabeln gefunden sind, beschränken. 


Als Schwellenwerthe, ausgedrückt durch die Grösse der Amplitude, bei 
der der Ton für das normale Ohr verklingt, hatte ich für die unbelasteten 
Gabeln C, c, @, g der Bezold-Edelmann’schen continuirlichen Tonreihe 
gefunden: 


Ch(grosseu0ctaye)i 2 ne 200 
Ge» ON Een RO 
clalkleine nayt)ansınmantierdesiä Ab. 1104004585 
9 „ano, 2b. oT ‘0009 


Die Schwellenwerthe sowohl von C zu @ wie von ce zu g sanken auf 
rund !/,; dagegen von Czuc wie @ zug auf rund !/,, (15°0 und 1333). 

Dieses gleichmässige oder nahezu gleichmässige Absinken der Schwellen- 
werthe im Intervall je einer Octave war so auffallend, dass ich eine weitere 
Prüfung der hier möglicher Weise vorliegenden Gesetzmässigkeit beschloss. 
Eine experimentelle Feststellung des Schwellenwerthes höherer Gabeln als y 
war nicht möglich, weil schon die Bestimmung des Schwellenwerthes für q 
0.0009 m die äusserste Grenze der Leistungsfähigkeit von Obj. 7, Ocular 2 
erreichte; wohl aber konnten die Schwellenwerthe der belasteten C- und G- 
Gabeln der Subcontra- und Contraoctave bestimmt werden. Es ergaben 
sieh für die vier C- und vier G-Gabeln nachstehende Schwellenwerthe: 


C, (belastete Gabel 1 der Bez.-Edelm. Reihe) 14.50 wm 
leer, „ 2, unbelastet C „ „)bis 15080 8 
C (unbelastete Gabel 2 n len „ta 0- 067 
el „ Do: » ) »„.) 0.0045 „ 
@, (belastete Gabel 2, unbel. © d. Bez.-Edelm. cont. Reihe) 2-8 N, 
G, ( Hi) „ 3, re „ ” „ „) 0.169 ” 
@ (unbelastete Gabel 3 a e 5; »a)a1n 0 Ole 
IC „ „9 „ „ „ »„.). 00009 „ 


ıJ. F. Bergmann, Wiesbaden 1903. 


SCHWINGUNGSZAHLEN UND SCHWELLENWERTHE. 323 


Die Division des Schwellenwerthes jeder nächst höheren Octave in 
den der nächst tieferen ergab für die C- und @-Gabeln folgende Quotienten: 


C-Gabeln. G-Gabeln. 
13-4 16-6 
16-1 | Mittel 14-8 14-1, Mittel 14-7 
14.9 13-3 


Für je vier Octaven der C- wie @-Töne hatte sich somit ein Absinken 
der Schwellenwerthe für je eine Octave auf rund !/,, des Werthes der 
tieferen Gabel herausgestellt. 


Eine eventuelle Gesetzmässigkeit anderer Art konnte aus den ge- 
wonnenen Quotienten nicht gefolgert werden; die Schwankungen der Einzel- 
werthe um 15 waren durch die Messungs- und akustischen Fehler leicht 
zu erklären, die bei der Bestimmung der Schwellenwerthe vorgekommen 
waren. 


Ich hielt deshalb daran fest, dass die Schwellenwerthe der C- und 
G-Gabeln in Octavenintervallen in der fallenden geometrischen Reihe 1, 15, 
152, 15% u. s. w. abnehmen und konnte nach diesem Gesetz, von dem letzten 
experimentell bestimmten Schwellenwerth ausgehend, die Grösse der Ampli- 
tude, bei der für die Gabeln c!y! bis c*y* der Schwellenwerth erreicht 
wurde, berechnen. | 

Eine weitere Bestätigung dieses gesetzmässigen Absinkens der Schwellen- 
werthe schien jedoch sehr erwünscht, und ich untersuchte demgemäss das 
Verhältniss der experimentell gefundenen Schwellenwerthe zu den 
Schwingungszahlen der zugehörigen C- und @-Gabeln. 


Hierbei ergab sich folgendes überraschendes Ergebniss: 


Wurden die Sehwingungszahlen für @,, @,, @, g u.s.w. durch die 
steigende geometrische Reihe 9, 9 x 30, 9 x 302, 9 x 30° u. s. w. dividirt, 
so erhielt man Zahlen, welche nur so weit von der Grösse der für die 
@-Gabeln experimentell gefundenen Schwellenwerthe sich entfernten, dass 
die Differenzen ohne Weiteres als Fehlerquellen betrachtet werden konnten 
und mussten, und welche weiter mit den Zahlen fast genau zusammenfielen, 
welche man unter Benutzung der fallenden geometrischen Reihe 1, 15, 
15°, 15° u.s. w. als Schwellenwerthe für die” G@-Gabeln von g! aufwärts 
aus den experimentell bestimmten Werthen für die tieferen G-Gabeln ent- 
wickelt hatte. 


Die nachstehende Tabelle I bringt diese Vergleiche: 


21* 


PAUL OSTMANN 


324 


‚Tabelle I. Schwingungszahlen und Schwellenwerthe der G-Gabeln. 
an an em u lu u mu 


a |» Aus den eometr. |n: o 8 Bruchtheil, um Mittler 
sale 3 E @ | Schwingungs- Reihe, in Bi Gabel n beob: 22 A| welchen die baon: Bruchtheil um - 
a a5 5.3.2 zahlen berechnete) der die | 2° us ‚de wellen: SS 305 achteten Schwel- welchen die Die Schwellenwerthe 
8 E88 8 BZ Schwellenwerthe | Schwellen- BR sn nun ©8380 lenwerthe in | Schwellenw. [wurden bestimmt mit 
2 = 2| 9 '& |der Gabeln i.mm| werthe ‚9 0 aus 553-+ |d.nächst höheren i. d. 4 unterst. 

sel Quotient absinken berechnet = & _ |Oetavenabsinken Octav. absink. 
G, 24 9x1 2-66 1 2-8 +0.14 Lupe 3fache Vergr. 
Gr 48 19x80 | 0-177 15 0169 — 0.008 16-6 14-7 Obj. 3, Oe.2. Leitz 
G 96 |9x30°| 0-0118 152 0-012 +.0:0002 14-1 Obj.3, Oc.2. Leitz 
g 192 9x 303, 0-00079 153 0:0009 +0:00011 13-3 O0bj.7,0e.2. Vert. Illum. 
9% 384 19x 30*| 0-000053 15 0:00006 
0 768 | 9x 305 0.000003 53 15 0-000004 
9° | 1536 | 9x 30° 0-0000002358 15® 0:0000003 
9* , 3072 |9x 8307| 0-0000000157 15° 000000002 


@G, = Gabel 2; unbelastet ©.  G, = belastete Gabel 3. G= unbelastete Gabel 3. g = unbelastete Gabel 5. 


Tabelle II. Schwingungszahlen und Schwellenwerthe der C-Gabeln. 
er BE Fr Ba TE Re Re a Bar Be 


ES Aus den Geometr. | n: 2, 8 Bruchtheil, um | Mittlerer 
e | <|8 8 | Schwingungs- | Reihe, in | Bis Gabel o beob- | 3.2 31 | welchendie beob-'Bruchtheil,um| 
= |ba2!'E:3.a zahlenberechnete| ger die | tete Dehwelten 508 &0,@ |achteten Schwel-| welchen die Die Schwellenwerthe 
© 3583| 38:3 Schwellenwerthe Schwellen- vl: rom 8,58% | lenwerthe in | Schwellenw. | wurden bestimmt mit: 
SO = B= 3 & |der Gabeln i.mm werthe |° * 2 ne Ye 3523 -+ |d.nächst höheren i. d, 4 unterst. 
D 25 (Quotient) absinken Bi = & _ |Oetavenabsinken/Octav. absink. : —  . In 
0% 16 |1. 16 1 14:50 — 1.5 Lupe 3fache Vergr. 
C, 32 |1x30 1:0666 15 1:080 + 0.014 .13°4 - 14.8 O©bj.1, Oc.2. Leitz 
© 64 |1x30? 1:0711 155 0.067 — 0.004 16-1 ne Obj. Lu.3, Oe.2. Leitz 
e 128 11x30?) 0.00474 op 0:0045 — 0:0002 17008 A - /0bj.4, Oe.2. Vert. Illum. 
e! 256 |1x30* 0.000316 15 | 2202000987 Re 
„ec? | 512 |1x30°) 0-00002117 158 0:00002 
c® ı 1024 |1x30°) 000000141 15® 0+0000015 
c* | 2048 |1x 30° 0:000000094 _ 15° -0°0000001 


0, = belastete Gabel 1. C, = belastete Gabel 2. (= unbelastete Gabel 2. c = unbelastete Gabel 4. 


SCHWINGUNGSZAHLEN UND SCHWELLENWERTHE. 325 


Die hohe Uebereinstimmung der aus den Schwingungszahlen gefundenen 
Schwellenwerthe mit den für die vier tiefsten Gabeln experimentell fest- 
gestellten, sowie das Absinken auch der ersteren in der geometrischen Reihe 
1, 15, 15°, 15° und ihr Zusammenfallen mit den Schwellenwerthen, wie 
sie für g! bis g* aus dem experimentell festgestellten Schwellenwerth für y 
0.0009" unter Zugrundelesung eben dieser geometrischen Reihe 1, 15, 
15° u. s. w. gefunden waren, dürfte es zur Gewissheit erheben, dass die für 
die G-Gabeln gefundenen Gesetzmässigkeiten der Wahrheit entsprechen. 


Somit können wir als erstes Gesetz aufstellen: 


Die Schwellenwerthe der @-Gabeln werden gefunden, wenn 
man die Schwingungszahlen, von der Schwingungszahl für 
„= 24 ausgehend, durch die steigende geometrische Reihe 9; 
9x30, 9x 30°, 9x 30° u.s.w. dividirt, oder indem man den 
Schwellenwerth für @, = 2-.66“® in fallender geometrischer 
Reihe 1, 15, 152, 15°, 15* u. s. w. entwickelt. 


Was nun für die @-Tonfolge entwickelt werden konnte, musste sich 
auch für die übrigen Tonfolgen entwickeln lassen. Ich untersuchte zu- 
nächst die Verhältnisse der C-Gabeln, weil mir für diese gleichfalls vier beob- 
achtete Schwellenwerthe zur Verfügung standen. 


_ Bei dieser Untersuchung ergab sich Folgendes: 


Wurden die Schwingungszahlen der. C-Tonfolge durch die steigende 
geometrische Reihe 1, 30, 30°, 30° u. s. w. dividirt, so erhielt ich Zahlen, 
welche den für die vier tiefsten C-Gabeln festgestellten Schwellenwerthen in 
so weit völlig entsprachen, als bei der experimentellen Feststellung der 
Schwellenwerthe mit gewissen Fehlern nothwendiger Weise gerechnet 
werden musste, die nach Maassgabe der anwendbaren Vergrösserungen und 
unter Berücksichtigung von subjectiven Täuschungen, welche bei den tiefsten 
Gabeln C, und C, durch die gleichzeitige Einwirkung eines Gehörs- und 
Gefühlseindruckes, bei den höheren (© und c) durch das akustische Nach- 
bild entstehen, fast unvermeidbar erscheinen. 


In Tabelle II sind für die C-Gabeln sämmtliche Werthe zusammen- 
gestellt. 

Dieselben Gründe, welche die Annahme gerechtfertigt erscheinen 
liessen, dass die für die Auffindung der Schwellenwerthe der @-Gabeln 
gefundenen Gesetze der Wahrheit entsprechen, lassen sich für die C-Gabeln 
anführen und ergeben sich ohne Weiteres aus der vergleichsweisen Be- 
trachtung der Zahlen der Tabelle II. 


- Wir können demnach das Gesetz, nach dem die Schwellenwerthe für 
die C-Gabeln gefunden werden, formuliren; 


Die Schwellenwerthe der C-Gabeln werden gefunden, wenn 
man die Schwingungszahlen, von derjenigen für (,=16 aus- 
gehend, durch die steigende geometrische Reihe 1, 30, 30°, 30° 
u.s. w. dividirt, oder indem man die Zahl 16 in fallender geo- 
metrischer Reihe 1, 15, 152, 15°? u. s. w. fortentwickelt. 


I 

| 

Was aber für die C- und @-Tonfolge Geltung besass, musste vermuth- | 

lich auch für die D-, E-, F-, A-, H-Gabeln sinngemässe Anwendung finden, | 
und da diese Frage mir wesentlich genug erschien, um sie in ganzem Umfange 
zu prüfen, so bestimmte ich auch für die D-, &, F-, A- und H-Gabeln 
der Subcontra-, Contra- und zum Theil auch dergrossen Octave auf demselben 
experimentellen Wege, wie es für die C- und @-Gabeln geschehen war, die 
Schwellenwerthe. Hierbei kamen nur belastete Edelmann’sche Gabeln zur 
Untersuchung; da nun schon die belasteten Gabeln der grossen Octave in 
Folge ihrer starken Belastung relativ sehr schnell abschwingen, somit bei 
dem steilen Abfall der Abschwingungscurve jeder Messungs- oder akustische 
Fehler bei Bestimmung des Augenblickes, wo der Ton verklingt, wesentlich 
falsche Werthe bedingen muss, so habe ich die Untersuchung bei der @G- 
Gabel der grossen Octave abgebrochen. 


326 PAUL OsTMmAnnN: | 


An sich würden die zwei oder drei für jede Gabel gewonnenen Schwellen- 
werthe und die aus ihrer Division sich ergebenden Quotienten nicht ge- 
nügen, um die Gesetze zu finden, weil das zwischen zwei Zahlen bestehende 
Verhältniss gar nicht, das zwischen drei Zahlen obwaltende nur genügt, um 
mit einiger Wahrscheinlichkeit ein gesetzmässiges Verhältniss weiterer 
Zahlen zu einander zu construiren; wo aber aus je vier Werthen eine Gesetz- 
mässigkeit für zwei Gabelreihen schon erkannt war, gaben auch die wenigen 
Schwellenwerthe schätzbare Anhaltspunkte für die Fortentwickelung der auch 
für die anderen Gabelreihen bestehenden Gesetze. 


Es ergaben sich als Schwellenwerthe für die: 


D-Gabeln: 
D, (Gabel 1 der Bez.-Edelm. cont. Tonreihe) . . . . „ 6.2 m 
Dial or % en „ ; unbelastet @) 0.352 „ 
DE, „ „ „ 3 „ c) 0.019 , 
die Quotienten waren: 17-6; 17-9; im Mittel 17-7. 
E-Gabeln: 
E, (Gabel 1 der Bez.-Edelm. cont. Tonreihe) ie E42 u 
Be Ro Jens N: 55 »„ ; unbelastet @) 0.248 „, 
Ei Glos elen „ „ ” 3 » c) 0.0135 „ 


die Quotienten waren: 17-1; 18-3; im Mittel 17-7. 


SCHWINGUNGSZAHLEN UND SCHWELLENWERTHE. 327 


F-Gabeln: 
F, (Gabel 1 der Bez.-Edelm. cont. Tonreihe) . . . . . 3.00 m 
lien ) ” » ; unbelastet @) 0-160 
2 ra „ D » ; ) c) 0.0105 „ 


’ 
die Quotienten waren: 18-7; 15-2; im Mittel 16-9. 


A-Gabeln: 
A, (Gabel 2 der Bez.-Kdelm. cont. Tonreihe; unbelastet C) 2.268 m 
ee „ : „ c) 0.162 „ 


28 


„ ” $) 
der Quotient war 14°0. 


H-Gabeln: 
H, (Gabel 2 der Bez.-Edelm. cont. Tonreihe; unbelastet 0) 2.430 m 
H, Ge „ „ „ ; „ ec) 02162, 
der Quotient war 150. 


Der für 2, gefundene Schwellenwerth 6.2" ergab für die 
Schwingungszahl dieser Gabel „18“ als Divisor „3“, wenn man aus der 
Schwingungszahl den Schwellenwerth berechnen wollte. Die Division der 
Schwingungszahlen für D, und D durch 3x 30, 3x 30? führte dann 
weiter auf Werthe, welche den experimentell für diese Gabeln gefundenen 
Schwellenwerthen so nahe lagen, dass die kleinen, sich auf Tausendstel 
Millimeter beschränkenden Differenzen zwanglos durch die bei der Beob- 
achtung gemachten Fehler erklärt werden konnten. Ebenso fielen die 
Schwellenwerthe für d bis d‘, welche man von dem experimentell bestimmten 
Werth für D — 0-.0198"= _— ausgehend durch die fallende geometrische 
Reihe 1, 15, 15°, 153 entwickelte, mit den aus den Schwingungszahlen 
durch die geometrische Reihe 3, 3 x 30, 3 x 30? u. s. w. gefundenen so 
dieht zusammen, dass auch für die D-Gabeln kein Zweifel bestehen konnte, 
dass einerseits die Schwellenwerthe aus den Schwingungszahlen durch 
Division derselben mit der steigenden geometrischen Reihe 3, 3 x 30, 
3x 830°, 3x 30° u.s.w. gefunden werden können, andererseits die 
Schwellenwerthe selbst in der geometrischen Reihe 1, 15, 152, 15° u. s. w. 
abfallen. Aus Tabelle III sind die Zahlenwerthe ersichtlich. (S. Tabelle III.) 

Wir können demnach als Gesetz für die D-Gabeln aufstellen: 


Die Schwellenwerthe der D-Gabeln werden sefunden, wenn 
man die Schwingungszahlen, von derjenigen für D, ausgehend, 
durch die steigende geometrische Reihe 3, 3 x 30, 3 x 30%, 3 x 30° 
u. s. w. dividirt, oder den Schwellenwerth für D,=6"m in 
fallender geometrischer Reihe 1, 15, 152, 15% u. s. w, fortent- 
wickelt, 


PAUL OSTMANN 


328 


Tabelle Ill. Schwingungszahlen und Schwellenwerthe der D-Gabeln. 


I iGabeleir 


E, = Gabel 3; unbelastet @. 


E = Gabel 4; unbelastet c. 


an ® Aus den Geometr. | Bis Gabel Dbe- 9, : Bruchtheil, um Mittlerer 
e |5 = 20% | Schwingungs- | Reihe, in rechnete Schwellen-| SS = | [welchen die beob- Bruchtheil,um 
: ©3585 55.2 zahlen berechnete der die |werthe in mm; von| 56% '%» jachteten Schwel-| welchen die | Die Schwellenwerthe 
Be SE 2%. Schwellenwerthe | Schwellen- | Dab von 0-0198”"=| &,, 5% |lenwerthe in der | Schwellenw. 'wurden bestimmt mit: 
a 383 @ |der Gabeln inmm) werthe ausgehend, be- ©%53+ | nächst höheren |i. d. 3 unteren 
ae TE (Quotient) absinken Srechneisee EEE Octave absinken |Octav. absink. 
DE ea 6 1 6-2 +0:2 | Lupe 3fache Vergr.. 
DE 36 13x30 | 0°4 15 0356 — 0.044 17-6  Obj. 3; Oeul. 2. Leitz. 
D 72 3x30?| 0-0266 15° 0-0198 —0:0068 EOR) 17-75 Obj.4;0e.2. Vert.Illum. 
d 144  3x30°), 0:00177 152 0:0013 
a! 283 3x30*| 0.000118 15€ 0-0001 
d? ı 576 '3x30°1| 0-000008 15° 0000007 
d® | 1152 |3x30°| 0-000000533 158 0-0000005 
d* 2304  3x30°| 0-00000003553 11527 000000003 
D,= Gabel 1. D, = Gabel 3; unbelastet @. D = Gabel 4; unbelastet c. 
Tabelle IV. Schwingungszahlen und Schwelleuwerthe der Z-Gabeln. 
ale Aus den Geometr. |n: eo, 8 Bruchtheil, um Mittlerer : : 
in 3 2lcd { 2 2 D N 0° R 
o |8 = 3.5 | Sehwingungs- | Reihe, in 5 a  ubeeh: 2 SS 5 | [welchen die beob- Bruchtheil,um 
3 e0z 252.2 zahlen berechnete] der die Wertheim mm: won Er in S achteten Schwel-| welchen die | Die Schwellenwerthe 
SE SE ee Schwellenwerthe| Schwellen- eabiausi0.Olssral Ser 55 |lenwerthe in der | Schwellenw. |wurden bestimmt mit: 
Sal 2 |der@abelninmm) werthe Boreshnet 5233+ | nächst höheren ji.d.3untersten 
na | (Quotient) absinken BR 38 Octave absinken | Octav. sinken 
E, 20 5 4 1 4.25 +0°25 Lupe 3 fache Vergr. 
E, 40 15x30 | 0:266 15 0.248 — 0.018 17-1 Obj. 3; Oecul. 2. Leitz. 
E 80 15x30? 0-0177 15? 0:0135 —0:004 18-3 17.7 Obj.4; 0e.2. Vert.Illum. 
e 160 15x 80°) 0-00118 | 15° 00009 
e! | 320 5x30*| 0-00008 ese 0-00006 | | 
e? 640  5x30°| 0-00000533 | 15° 0:000004 | 
e? | 1280 15x30° 0:0000008553  ° 15° 0:00000083 
e: | 2560 ‚5x 30°| 0-0000000237 157 0-00000002 | 
» 


SCHWINGUNGSZAHLEN UND SCHWELLENWERTHE. 329 


Der für #, gefundene Schwellenwerth 4-25 "= führte für die 
Schwingungszahl von EZ, „20“ auf den Divisor 5, wenn man aus der 
Schwingungszahl den Schwellenwerth berechnen wollte. Den Schwellen- 
werth 4-25 "m als einen absolut richtigen anzusehen, erschien nicht an- 
gängig, weil es selbst bei grosser Uebung, wie ich sie mir durch jahrelange 
Beschäftigung mit der Analyse von Hörstörungen mittels der Bezold- 
Edelmann’schen Tonreihe erworben habe, kaum möglich ist, den Zeit- 
punkt ganz scharf zu bestimmen, in dem der Ton der tiefsten Gabeln 
definitiv verklingt. 

Die tiefen belasteten Gabeln erzeugen neben dem Ton ein deutliches 
Gefühl des „Flatterns“, wenn man das Ohr der Gabel ad maximum nähert. 
Dies aber musste zur Bestimmung des Schwellenwerthes geschehen, und 
damit bei allen Versuchen das Ohr genau gleich weit von der schwingen- 
den Gabel gehalten wurde, und doch bei maximaler Annäherung keine 
Berührung beider stattfand, wurde ein Ring zu Seiten der Gabeln in einem 
Stativ befestigt, in welchen das Ohr von Zeit zu Zeit zur Beobachtung des 
Abklingens hineingelegt wurde Das Ohr der Einwirkung des Tones 
dauernd auszusetzen, verbietet die dann nothwendiger Weise eintretende 
Ermüdung, die ihrerseits ein verkürztes Hören des Tones zur Folge haben 
würde. 

Trotz dieser Maassnahmen fielen in den einzelnen Versuchen die 
Schwellenwerthe doch ein wenig aus einander, so dass nur Mittelwerthe 
möglichste Sicherheit richtiger Bestimmung boten. Diese völlig richtige 
Bestimmung des Schwellenwerthes wird bei den tiefsten belasteten Gabeln, 
wie gesagt, durch die bei maximaler Annäherung neben der Gehörswahr- 
nehmung auftretende Gefühlswahrnehmung des „Flatterns‘“ gestört; je leiser 
der Ton wird, um so deutlicher tritt dieses Flattern hervor und ist wohl 
geeignet, das letzte Abklingen zu verdecken; es besteht demnach die Gefahr, 
die Amplitude des Schwellenwerthes der tiefen Gabeln im Allgemeinen zu 
gross zu bestimmen, wie es thatsächlich ganz überwiegend geschehen ist. 

Die Einsicht in diese Fehlerquelle benahm der Wahl des Divisors „5“ 
das Willkürliche. 

Die weitere Rechnung ergab bei der Division der Schwingungszahlen 
von E, und E durch die zweiten Glieder der steigenden geometrischen 
Reihe 5, 5 x 30, 5 x 30? Quotienten, die .ihrerseits von den für diese 
Töne gefundenen Schwellenwerthen nur im Bereich der durchaus zulässigen 
Fehler abwichen, so dass auch für die Z-Gabeln die zuvor gefundenen Ge- 
setze um so mehr sinngemässe Anwendung finden durften, als wieder so- 
wohl die aus den Schwingungszahlen wie aus dem letzten, experimentell 
bestimmten Schwellenwerth sich ergebenden weiteren Schwellenwerthe der 
fallenden geometrischen Reihe 1, 15, 15°, 15° u. s, w. folgten. In der 


330 PAUL ÖsTMmAnNKN: 


Tabelle IV sind die sämmtlichen Zahlenwerthe zusammen und einander 
gegenüber gestellt. Siehe Tabelle IV: 


Das Gesetz für die #-Gabeln können wir demnach dahin formuliren: 


Die Schwellenwerthe für die Z-Gabeln werden gefunden, 
wenn man die Schwingungszahlen, von derjenigen für EZ, = 20 
ausgehend, durch die steigende geometrische Reihe 5, 5 x 30, 
5x 30%, 5x 30° u. s. w. dividirt, oder indem man den Schwellen- 
werth für Z, = 4"” in fallender geometrischer Reihe 1, 15, 153, 
15°? fortentwickelt. 

In genau gleicher Weise wurden auf Grund der experimentell be- 
stimmten Schwellenwerthe die für die #-, A- und H-Gabeln gültigen Ge- 
setze gefunden, indem für die #-Gabeln — 7, Schwingungszahl 21; ge- 
fundener Schwellenwerth 3.0 wm _ der Divisor ‚7° und demgemäss die 


steigende geometrische Reihe 7, 7 x 30, 7 x 30°, 7 x 30° u. s. w.; für 


die A-Gabeln — A, Schwingungszahl ‚26-5‘; gefundener Schwellenwerth 
‚2.268‘ mm — der Divisor 11 und demgemäss die steigende geometrische 
Reihe 11, 11 x 30, 11 x 302, 11 x 30% u. s. w.; für die Z-Gabeln endlich 


— AH, Schwingungszahl 30, gefundener Schwellenwerth „2-430 mm“ — der 


Divisor 13 und demgemäss die steigende geometrische Reihe 13, 13 x 30, 
13 x 30? u. s. w. gefunden wurde. Die Tabellen V, VI und VII bringen 
die beobachteten und berechneten Schwellenwerthe, welche wiederum für 
sich der fallenden geometrischen Reihe 1, 15, 15° u. s. w. folgen. (Siehe 
Tabellen V, VI und VII.) 

Wir können demnach für die #-, A- und H-Gabeln weitere drei Ge- 
setze formuliren: 

Die Schwellenwerthe für die /-Gabeln werden gefunden, 
wenn man die Schwirgungszahlen, von derjenigen für #, = 21 
ausgehend, durch die steigende geometrische Reihe 7, 7 x 30, 
7x 302, 7 x 30% u. s. w. dividirt, oder indem man den Schwellen- 
werth von F,= 3 "" in fallender geometrischer Reihe 1, 15, 153, 
153 u. s. w. fortentwickelt. 

- Die Schwellenwerthe für die A-Gabeln werden gefunden, 
wenn man die Schwingungszahlen, von derjenigen für 4, = 265 
ausgehend, durch die steigende geometrische Reihe 11, 11 x 30, 
11 x 30°, 11 x 30° u. s. w. dividirt, oderindem man den Schwellen- 
werth für A,=2-40 "" in der fallenden geometrischen Reihe 
1, 15, 152, 15° u. s. w. fortentwickelt. 

Die Schwellenwerthe für die Z-Gabeln werden gefunden, 
wenn man die Schwingungszahlen, von derjenigen für 4, = 30 
ausgehend, durch die steigende geometrische Reihe 13, 13 x 30, 


331 


‘9 gaysejogun !F 


pay ='pF 


‘D Jogseppqun ‘zZ ppgey) ='y 


SCHWINGUNGSZAHLEN UND SCHWELLENWERTHE. 


| 10000000-0 ‚el TF10000000-0 |,0EX IT FIrEl ;o 
| 3000000-0 Cl 113000000-0 908XIL, LOL] 5» 
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2000-0 A 6000-0 |s0ex28-011 | £ 
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332 Paun OstmaAnx: 


13 x 30°? u. s. w. dividirt, oder indem man den Schwellenwerth 
für Z, = 2-30 "= in fallender geometrischer Reihe 1, 15, 152, 153 
u. 8. w. fortentwickelt. 

Bevor ich auf die interessanten Beziehungen, welche zwischen den 
Schwellenwerthen von 0, bis %A® zu Tage treten, eingehe, sei es mir ge- 
stattet, einen Blick auf die bei der experimentellen Bestimmung der 
Schwellenwerthe gemachten Fehler einzugehen. In der Tabelle VIII habe 
ich die Fehler sämmtlicher Schwellenwerthe zusammengestellt und zwar be- 
zeichnet z. B. + 0-2, dass der Schwellenwerth um 0-2 "m zu gross; 
— 1.5 m, dass er 1-5 "@ zu klein gemessen wurde; + bedeutet, dass der 
Werth fehlerlos bestimmt wurde. (Siehe Tabelle VILI.) 

Es ergiebtt sich aus der Tabelle, dass in der Subcontraoctave 
4 Schwellenwerthe zu gross, 2 zu klein; in der Contraoctave 3 zu gross, 
4 zu klein; in der grossen Octave 1 zu gross, 4 zu klein gemessen wurden; 
während von den beiden Werthen der kleinen Octave 1 zu gross, 1 zu 
klein bestimmt wurde, doch betragen beide Fehler 2 bezw. 1 Zehntausendstel 
Millimeter, also Grössen, die sich nicht annähernd mehr mit Obj. 7, 


Ocular 2 messen lassen. Diese Vertheilung der + und — Fehler auf die 


einzelnen Octaven ist in so weit interessant, als sich zunächst deutlich die 
Ursache der Fehler erkennen lässt. 

Die Töne der Subcontraoctave wurden vorwiegend zu kurz gehört 
und zwar deshalb, weil, wie schon zuvor erwähnt, die bei maximaler An- 
näherung des Ohres an die Gabel gleichzeitig auftretende Gefühlsempfindung 
den letzten Rest der an sich äusserst schwachen Gehörsempfindung auslöscht. 
Bei der relativ schnellen Veränderung der Amplitudengrösse bedeutet 
aber jeder kleinste akustische Fehler einen relativ grossen Messungsfehler. 

In der Contraoctave ist die Zahl der zu gross und zu klein gemessenen 
Amplitudenschwellenwerthe fast gleich; die zu kleinen Werthe überwiegen 
um einen; in der grossen Octave wird aber die Zahl der zu kleinen Werthe 
ganz überwiegend, und zwar beruht dies darauf, dass diese höheren Gabeln 
keine Gefühlsempfindung des „Flatterns“ mehr hervorrufen, dagegen ihr auf 
das Ohr viel kräftiger einwirkender Ton leicht ein akustisches Nachbild, 
wenn auch nur für ganz kurze Zeit, erzeugt, welches die Fortdauer des 
Tones noch zu einer Zeit vortäuscht, zu der er thatsächlich schon nicht 
mehr hörbar ist. 

Aus der Eigenart der Fehler lässt sich nun aber auch eine weitere 
Stütze für die Richtigkeit der geometrischen Reihe 1, 15, 15°, 153 gewinnen. 

Als mittlere Quotienten, welche wir bei der Division des Schwellen- 
werthes jeder nächst höheren Gabel in den der nächst tieferen gefunden 
hatten, hatten sich für die C-Gabeln 14-8 und für die G-Gabeln 14-7 er- 
geben. Diese Werthe sind, wie sich nunmehr nachweisen lässt, zu klein, 


a = = 


333 


SCHWINGUNGSZAHLEN UND SCHWELLENWERTHE. 


—:1 | 
| 000: + ! Ale . . . . . ° . 9ula 
+1 | 11 0 | 8000-0 | bi 
Er | | 
an “ | 8000-0 + 1800 .0= 700.0 8900 :.0— 300.0 A ea Fe assorh 
| 
—: | 
&E 2 8800-0+ F100.0+ 800-0—- 870-0 87T0.0— 770-.0— r10-.0+ u HE arte 140), 
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‘9 yajseppgun ‘7 pqeg ='g7 °9 Yayseppqun !z ppgeg =! 
10000000-0 ET | 8810090000:0 ,08XEL OF8E +4 
8000. 000:0 ST 0000000 g0EXEI O86I | +% 
800000-0 sGl 800000:0 |s08%&1| 096 5% 
870000-0 »GL L3°70000-0 08% ET) 087 14 
°L000-0 el GG 889000-0 808% EL 0F8 % 
8010-0 zT 88630100 z0EXET| 061 H 
zy9] 3 mo *T 'lqo 0-C1 0-61 2800-0+ 391-0 <ı BECL-O | 08XEIL 09 'H 
"zyo] 3 'mO :T 'lqo 821-0+ 087°7 I L08+% g1 08 Ha 
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So MmaBMgag aid | Sıp uayop4a |-TolAyg usage = E38 | nofamyog agaygpe ID Zap yaumparaq usrgez| 25:5, 3 Za S 
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ray | un “Togggonıg BE 8 ‘4 -mawmoan) ‚uop sny Ber 


ufoge9-77 Iop aygıomuallomyos pun wolyezsdundurmmgog IIA alToqeyL 


334 Pauu OSTMANR: 


weil gerade bei diesen Gabeln die Dividenden nicht in entsprechendem 
Maasse zu gross sind, als die Divisoren es sind, demnach der mittlere 
Quotient etwas zu klein wird. 
| Wenn man nun auch für alle weiteren Tonfolgen, die D-, E-, F, 
A- und H-Gabeln, in gleicher Weise bestimmt, welchen Bruchtheil der 
Schwellenwerth jeder nächst höheren Gabel von demjenigen jeder nächst 
tieferen Gabel ausmacht, so erhält man als Mittel aller Werthe den 
Quotient 15-8. Es würde demnach der Schwellenwerth im Intervall je 
einer Octave auf Yj,,., fallen. Die Zahl 15-8 ist aber zu gross, wie 
folgende Ueberlegung ergiebt. 

Da der Schwellenwerth jeder nächst tieferen Gabel den Dividendus, 
der Schwellenwerth jeder nächst höheren Gabel den Divisor darstellt; der 
Divisor aber, wie sich aus Tabelle VIII ergiebt, vorwiegend zu klein, der Divi- 
dendus dagegen zu gross gemessen wurde, so muss der Quotient 15-8 zu 
gross sein. Der wirkliche Werth, um den die Schwellenwerthe von Octave 
zu Octave abfallen, liegt demnach zwischen !/,,; und !/,.s; er wurde 
zu !/, angenommen, weil sich die mittleren Quotienten der C- und G- 
Gabeln, für welche je vier Schwellenwerthe experimentell bestimmt wurden, 
dieser Zahl am meisten näherten. 


Die Richtigkeit der fallenden geometrischen Reihe 1, 15, 152, 153 
dürfte sich weiter daraus ergeben, dass es möglich geworden ist, aus den 
Schwingungszahlen die Schwellenwerthe zu entwickeln, welche gleich- 
falls dieser geometrischen Reihe folgen. Schliesslich aber dürften für die 
Richtigkeit der gesammten Entwickelung die zahlreichen harmonischen 
Beziehungen sprechen, welche sich nach der Berechnung der Schwellen- 
werthe für die Töne C, bis h® ergeben haben, sowie die Uebereinstimmung 
der Schlussfolgerungen aus diesen Untersuchungen mit den Fest- 
stellungen von Wien! bezüglich der Empfindlichkeit unseres Öhres für 
Töne verschiedener Höhe und bezüglich der Schwellenwerthe zu einander. 


In der Tabelle IX habe ich sämmtliche Schwellenwerthe zusammen- 
gestellt. (Siehe Tabelle IX.) 


Die Durchsicht der Tabelle ergiebt: 


Das Intervall der Schwellenwerthe wird, von ©, ausgehend, 
von Ton zu Ton kleiner, so zwar, dass, während das Intervall 
zwischen C, und D, 10 "= beträgt, es zwischen a°® und 4° bis zur 
14. Decimalstelle verschwunden ist. Die Grösse, um welche 
es von Ton zu Ton sinkt, nimmtin der Subcontraoctave zunächst 


sehr schnell, mit jeder folgenden Octave immer langsamer al, 


! Physikalische Zeitschrift. 1902. 4. Jahrg. NY. 1b. 10. October, 


SCHWINGUNGSZAHLEN UND SCHWELLENWERTHE. 335 
Tabelle IX. 
Schwellenwerthe in mm. 
Octave C D E F 
Subeontra |16 '6 4 E i 
Contra |1-0666 0-4 0-266 0-203 
Grosse |0-0711 0.0266 0-0177 0-0136 
Kleine |0-00474 0-00177 0-00118 '0-0009 
1 gestr. \0-000316 0-000118 0-00008 '0-00006 
2 „ . /0-0000211 0-000.008 0:000005 33 0-000 004 
3 „0.000 00141 0-000000533 0-0000003553 .0-000 000 266 
A 0-0000000 94 0-00000003553 |0-0000000237 00000000177 
5». .-)0-000000006 0-0000000023 0-0000000016 0-0000000012 
64, .;; 0:0000000004 '0:00000000015 [0:0000000001 '0-000.000 000.08 
T „....0-000000000024 0-00000000001 |0-000000.000006 0.000 000 000005 3 
8 „___ 0-000000.000 001 6.0:000.000 000 000 6/0000 000 000 0004 0000000000000 35 
Octave G 4A H 
Subcontra 2-66 2.409 2:307 
Contra 0-177 0-1606 0-1538 
Grosse 0:0118 0:0107 0:0102533 
Kleine 0-00079 0-00071 0-00068355 
1 gestr. 0-000 053 0-0000474 0-000 0455 
De 0:000 00353 0:000 00316 0:000 003 
I 0:000000 2353 0:000000211 0:0000002 
ER 0-0000000157 0-0000000141 0-0000000138 
SRH 0-0000000010 0-000000 00094 0:0000000009 
bh 3 0-000 000000066 0-000 000.000 0602 0-000.000 00006 
1% 0-000000 000 0044 0-000000000004018 | 0-000. 000000004 
8 165 0:00000000000029 0:000 00000000026 0:00000000000026 


so dass zwischen f?® und g® nur noch in der 14. Decimalstelle 
ein Intervall von 6 zu berechnen ist. 


Sehr interessant sind weiter die Beziehungen, welche die Schwellen- 
werthe der einzelnen Tonfolgen zu einander besitzen. 


Betrachten wir die Schwellenwerthe der je 1'!/, Ton von einander 
entfernten Tonfolgen: die #- und G-; D- und #-; A- und C-Gabeln in 
ihren Beziehungen zu einander, so ergiebt sich: 


1. Der Schwellenwerth jeder @-Gabel ist 10 Mal so gross 
als der Schwellenwerth jeder Z-Gabel der nächst höheren 


336 PAUL OSTMANKN: 


Octave; denn @, hat den Schwellenwerth 2-66 um: EB den 
Schwellenwerth 0-266 == und so fort. 


2, Der Schwellenwerth jeder O-Gabel von der Subcontra- bis 
zur 7 gestrichenen Octave ist 100 Mal so gross als der Schwellen- 
werth jeder A-Gabel der nächst höheren Octave. 


3. Der Schwellenwerth jeder D-Gabel von der Subcontra- 
bis zur 4 gestrichenen Octave ist 100000 Mal so gross als der 
Schwellenwerth jeder #-Gabel von der 1- bis zur 8 gestrichenen 
Octave. | 


Weiter ergiebt sich: 


Der Schwellenwerth jeder #-Gabel von der Subcontra bis 
zur 3 gestrichenen Octave ist 1 Million Mal so gross als der 
Schwellenwerth jeder Z-Gabel in der 2- bis 8 gestrichenen 
Octave. 


Die Schwellenwerthe der D-Gabeln der drei tiefsten Oetaven 


sind hunderttausend Millionen Mal grösser als die Schwellen- 


werthe der Z-Gabeln der drei höchsten Oectaven. 


Alle diese entwickelten Gesetzmässigkeiten würden nicht so klar und 
deutlich zu Tage treten, wenn nicht die aus den experimentell festgestellten 
Schwellenwerthen gefolgerten Gesetze richtig wären; die volle Einheitlichkeit 
der Entwickelung und die überraschende (resetzmässigkeit ihrer Endergeb- 
nisse dürften der beste Beweis für ihre Richtigkeit selbst sein. 


Für die C- und G-Gabeln, deren Abschwingungscurven experimentell 
festgestellt wurden, lässt sich nun aus den gemessenen Werthen der Curven 
selbst noch ein weiterer Beleg erbringen, dass die durch Rechnung aus den 
Schwingungszahlen und gemessenen Schwellenwerthen für die höheren 
Gabeln bestimmten Schwellenwerthe richtige Grössen darstellen. 


Die Rechnung hat ergeben, dass die Abschwingungscurven der unbe- 
lasteten C- und G-Gabeln Exponentialeurven sind, wenngleich die aus ver- 
schiedenen, experimentell gemessenen Amplitudenwerthen gefundene Constante 
in Folge der bei der Messung der Amplituden  unvermeidlichen kleinen 
Fehler nicht immer die gleiche Grösse. darstellt. 


Wenn man nun von der berechtigten Annahme ausgeht, dass die 
Gleichung der. Curven eine einfache Exponentialfunction ist und unter Ein- 
setzung der aus gemessenen Amplituden gefundenen Constanten die Grösse 
derjenigen Ordinate bestimmt, welche der normalen Perceptionsdauer als 
Abscisse entspricht, so. ergiebt sich folgende Zusammenstellung der 
Schwellenwerthe für die Gabeln c!, g!, cd, ec’, c*: 


a 


SCHWINGUNGSZAHLEN UND SCHWELLENWERTHE. Bol 


Aus d. gemessenen Als Ordinate der Exponentialeurve berechnet 
=:5| Aus den Schwellenwerth für "7 Zu Grunde 
om . 

Su Schwingungs- Gabel cu. g nach der gelegt wurden 

Eee) zahlen fallend. geom. Reihe) Finzelwerthe | Mittel d. gemessenen 

=8| berechnet | 1, 15, 15? u.s. w. Amplituden d. 
nr bestimmt | ... Sec..der 
mm mm \ mm mm Schwingung 

(| 0-0008 | 130.” u. 164.” 

ce! |0-000316 0:0003 \ 0:000124 0-000423 164. ,„ 200.” 
' 0-000344 164.” „ 205.” 

9 | 0-000053 000006 0.000.064 0:000064 8: 1,,0.65% 
' 0-00007393 Bau. 38 

ce? |0-0000211 0:00002 | 0:00001645 0:000046 6 10:2. .16.% 
0°00004953 ERDERNERERT 

c® |0-00000141 | 0-0000015 | IE onen | 
0:00000263 Sb: 5 Be 

c* |0-000000094 0-0000001 0°0000003461!10-0000003461| 3.” „ 9.” 


Wenn man bedenkt, dass die Gabeln gegen das Ende ihrer Schwingung 
von Secunde zu Secunde eine so minimale Verkleinerung ihrer Amplitude 
erfahren, dass selbst bei Benutzung von Obj. 5 und 7 sich die Verände- 
rung der Amplitude 5 selbst 10 Secunden der Beobachtung entzieht, diese 
unvermeidbaren Fehler aber bei der Berechnung der Ordinate für die 
Secunde, in der die Gabel verklang, sehr wesentlich mitsprechen, so wird 
die Differenz der berechneten Einzelwerthe nicht auffallend sein können. 
Hinsichtlich der Mittelwerthe können wir aber wohl mit Recht von einer 
hohen Uebereinstimmung mit den aus den Schwingungszahlen und für die 
tieferen C- und G-Gabeln gemessenen Schwellenwerthen gefolgerten Werthen 
sprechen, so dass die Richtigkeit der Gesetze wenigstens für die C- und 
G-Gabeln noch eine weitere Stütze erhält. 


! Die aus der 3. und 5. Secunde berechnete Ordinate ist kleiner; die aus der 5. 
und 9. Secunde berechnete grösser als der für die 3. und 9. Secunde berechnete Werth. 
Weitere Messungen der Amplituden haben für die Gabel c* nicht stattfinden können. 


Archiv f. A. u. Ph, 1903. Physiol. Abthlg. 32 


.- 


Zur Physiologie des Plexus coeliacus. 
(Experimentelle Untersuchung.) 


Von 


Dr. L. Popielski, 


Privatdocent an der Militärmedieinischen Akademie zu Petersburg. 


(Aus dem physiologischen Laboratorium der Kaiserlichen militär-medicinischen Akademie 
zu Petersburg und dem physiologischen Laboratorium des Militärhospitals zu Moskau.) 


1. 

Die tiefe Lage des Plexus coeliacus in der Bauchhöhle liefert eine ge- 
nügende Erklärung für die Schwierigkeiten, mit denen man beim Studium 
der Functionen dieses Organs zu kämpfen hat. Aber trotz dieser Schwierig- 
keiten waren viele Forscher eifrig bestrebt, die geheimnissvolle Bedeutung 
des Plexus coeliacus zu ergründen. Die Hauptschwierigkeit der bezüglichen 
Experimente besteht darin, dass in Folge des zur Freilegung des Plexus 
coeliacus erforderlichen tiefen Eindringens in die Bauchhöhle, nämlich 
zwischen Darmschlingen und anderen Organen die Gefahr einer Infection 
selbst bei der grössten Sorgfalt sehr nahe liegt. Noch schwieriger war 
natürlich, eine Infection der Bauchhöhle in der noch nicht besonders weit 
zurückliegenden Zeit, als man in den physiologischen Laboratorien mit der 
Technik der aseptischen Operationsführung noch nicht vertraut war, zu 
vermeiden. Diese Eventualität einer Verunreinigung der Bauchhöhle ist 
auch die Ursache der unbestimmten und verworrenen Resultate, welche von 
den verschiedenen Forschern, die sich mit der Physiologie des Plexus 
coeliacus beschäftigt haben, erzielt worden sind. Sämmtliche Forscher geben 
fast einstimmig folgende Charakteristik der Thiere, denen der Plexus coe- 
liacus exstirpirt worden ist: hochgradige Abmagerung, Fehlen der Fresslust 
und Tod in Folge von Inanition. Zu dieser Charakteristik fügen viele hinzu: 
Uebelkeit, Erbrechen, Herabsetzung der Temperatur u. s. w. Alle diese 


! Diese Arbeit ist im Wratsch (1900. Nr. 51—52), sowie in der Gazeta 
Lekarska (Mai 1901) erschienen, ist aber jetzt durch meine in den Jahren 1901 
und 1902 ausgeführten Untersuchungen ergänzt. 


L. PopıELsk1: Zur PHYSIOLOGIE DES PLEXUS COELIACUS. 339 


Erscheinungen werden aber auch bei Peritonitis, acuter sowohl wie chronischer, 
beobachtet, und es ist in Folge dessen klar. dass man bei den betreffenden 
Thieren diese Erscheinungen nicht ohne Weiteres einzig und allein auf das 
Fehlen des Plexus coeliacus zurückführen darf, da die Eventualität einer 
Peritonitis mit absoluter Sicherheit nicht ausgeschlossen werden kann. 

Hieraus ergab sich von selbst die Weisung, wie man bei weiteren 
Untersuchungen in dieser Richtung zu verfahren habe, nämlich dass man, 
um unzweideutige Resultate zu erzielen, vor Allem die Eventualität einer 
Entzündung des Bauchfells ausschliessen müsse. Diesem Punkte habe ich 
nun bei meinen zur Erforschung der Physiologie des Plexus coeliacus vor- 
senommenen Untersuchungen ganz besondere Aufmerksamkeit entgegen 
gebracht und mich nach Möglichkeit aller aseptischer und antiseptischer 
Maassregeln bedient. 

Vor der Operation bekam der Hund ein warmes Bad, in dem er 
gründlich mit Wasser und Seife gewaschen wurde. Das Operationsfeld 
wurde sorgfältig rasirt, mit Wasser und Seife gewaschen, dann mit Terpentin 
und Spiritus übergossen und schliesslich mit Sublimatlösung abgespült. Die 
Ineisionsstelle wurde mittels steriler Handtücher von den umgebenden 
Theilen isolirt. Erst nach allen diesen Vorbereitungen schritt ich zur 
Operation, wobei die zu verschiebenden Darmschlingen und die übrigen 
Organe nicht mit der blossen Hand, sondern mit steriler Gaze gefasst wurden. 

Wenn also meine erste Aufgabe darin bestand, der Eventualität einer 
Infection, dieser häufigsten Ursache des Misserfolges bei langdauernden 
Experimenten, vorzubeugen, so war meine zweite Aufgabe, genau festzu- 
stellen, welche Theile des umfangreichen Plexus coeliacus zu entfernen 
wären. Manche Forscher, wie Adrian, Lewin und Boer, beschränkten 
sich auf die Resection eines Theiles des Plexus; andere dagegen, wie Pinkus, 
M. Schiff, Budge, Lamanski, Lustig, Peiper, Soldaini, Viola, 
Bonome, Klecki und Korolenko, suchten den Plexus coeliacus ganz zu 
entfernen. Der Plexus coeliacus nimmt einen grossen Raum zwischen der 
A. coeliaca und der A. mesenterica superior ein. Das Ganglion coeliacum 
nimmt seiner Grösse nach die dominirende Lage in diesem Plexus ein, und 
zwar liegt dasselbe zwischen den oben erwähnten Arterien, unmittelbar ober- 


- halb der Nebenniere. In enger Verbindung mit dem Ganglion coeliacum 


| 
| 
| 


| 
| 
} 
N 


) 
’ 


| 


befinden sich zwei kleinere Ganglien, die in der Nähe der A. mesenterica 
superior liegen: es sind dies das Ganglion mesentericum superius et inferius. 
Alle diese Ganglien sind durch zahlreiche Nervenfasern eng mit einander 
verbunden und bilden ein ausgedehntes Geflecht, welches von vielen Autoren 
als „Cerebrum abdominis“ genannt wird. Der Plexus coeliacus ist fest 
mittels Nervenfasern mit den beiden Nebennieren, der rechten sowohl wie 
auch der linken, und locker mittels Zellgewebes mit der Vena cava inferior 


222 


340 L. POoPIELSKI: 


verbunden. Vom Plexus coeliacus gehen zahlreiche, dicht verflochtene 
Nervenfäden ab, welche sowohl die beiden oben genannten Arterien, nämlich 
die A. coeliaca und die A. mesenterica, wie auch die von denselben ab- 
gehenden Aeste von allen Seiten umgeben. Bei meinen an Hunden aus- 
geführten Untersuchungen entfernte ich total die gesammte zwischen der 
A. coeliaca und der A. mesenterica eingeschlossene Nervenmasse, reinigte 
sorgfältig von Nerven sowohl diese beiden Arterien, wie auch die von den- 
selben abgehenden Aeste, schnitt die Nervenfasern dicht an den Neben- 
nieren ab und löste den Plexus von der Vena cava inferior ab. Ich bekam 
auf diese Weise zwischen der A. coeliaca und der A. mesenterica, sowie 
der Vena cava inferior einen ausgedehnten, von Nervengewebe vollständig 
freien Raum. Bisweilen gelang es mir, den ganzen Plexus in einem Stück 
zu exstirpiren, wobei ich sehr schöne Präparate des Plexus coeliacus erhielt. 

Die geschilderte Exstirpation des Plexus coeliacus habe ich im Ganzen 
an 22 Hunden ausgeführt, von denen einige nach einem gewissen Zeitraume 
anderen Operationen unterzogen worden sind. Die von mir angegebene 
Lebensdauer dieser Hunde beweist in Folge dessen noch keineswegs, dass 
die Thiere ohne den Plexus coeliacus auch nicht länger hätten leben können. 
Gegenwärtig habe ich keinen einzigen Hund ohne Plexus coeliacus mehr, 
sie sind alle zu Grunde gegangen, wobei der erste 12 Monate und 20 Tage 
(nach 11 Monaten und 13 Tagen wurde an diesem Thiere eine pankreatische 
Fistel angelegt), der zweite 10 Monate und 8 Tage (an diesem Thiere wurde 
nach 7 Monaten und 15 Tagen eine Magenfistel angelegt und die Oeso- 
phagotomie gemacht), der dritte 7 Monate und 3 Tage, der vierte 5 Monate, 
der fünfte blieb unter Beobachtung 3 Monate und 20 Tage und entlief 
hierauf, der sechste 31/, Monate, der siebente 25 Tage, der achte 9 Tage, 
der neunte 6 Tage (wurde getödtet), der zehnte 2 Tage, der elfte, zwölfte, 
dreizehnte, vierzehnte, fünfzehnte, sechzehnte, siebzehnte und achtzehnte 
24 Stunden nach der Operation gelebt haben. Beim neunzehnten Hunde 
wurde eine partielle Resection des Plexus coeliacus ausgeführt, und zwar - 
das Ganglion coeliacum exstirpirt. Dieser Hund lebte 14 Monate und 4 Tage, 
wobei er nach 12 Monaten für andere experimentelle Zwecke verwendet 
wurde. Der zwanzigste Hund befand sich 10 Tage, der einundzwanzigste 
3, der zweiundzwanzigste 2 Tage unter Beobachtung; diese letzteren drei 
Thiere wurden dann zu anderen Experimenten verwendet. 


I. 


| Nun möchte ich eine gedrängte Beschreibung derjenigen Erscheinungen 
geben, die ich bei sämmtlichen Hunden, bei denen der Plexus coeliacus 
exstirpirt worden war, stets beobachtet habe. Vor Allem muss ich bemerken, 
dass ich bei keinem meiner Hunde eine Depression des Allgemeinzustandes, 


ZUR PHYSIOLOGIE DES PLEXUS COELIACUS. 34l 


wie sie so häufig in den von anderen Autoren herrührenden Beschreibungen 
angetroffen wird, wahrgenommen habe. Im Gegentheil, alle meine Hunde 
fühlten sich wohl: waren munter, spielten, frassen gut, kurz, sie schienen 
dem äusseren Aussehen nach vollständig normal zu sein und sich in keiner 
Weise von gewöhnlichen gesunden Hunden zu unterscheiden. Bei auf- 
merksamerer Beobachtung konnte man von Seiten der Verdauungswege aller- 
dings ziemlich stark ausgesprochene Abweichungen von der Norm wahr- 
nehmen. Bei allen Hunden waren die Fäces verflüssigt oder direct dünn- 
flüssige, und ausserdem waren in den ersten 7 bis 10 Tagen die Fäces mit 
Blut untermischt, und zwar in der Weise, dass die Fäces entweder ganz 
blutig gefärbt waren, oder man fand neben den mehr oder minder schwärzlich 
gefärbten Kotschichten auch solche, welche die Farbe arteriellen Blutes 
aufwiesen. Nach etwa 10 Tagen, bei manchen Hunden schon nach 3 bis 
4 Tagen, wurden die Fäces compacter und die Defäcation seltener. Nach 
2 bis 3 weiteren Tagen, manchmal auch nach längerer Zeit, wurden die 
Fäcalmassen vollständig weiss und erinnerten durch ihre Farbe an Rahm, 
oder richtiger an weissen Lehm. Es. kam aber häufig vor, dass die Thiere 
an demselben oder am nächsten Tage statt dieser weissen Fäcalmassen 
stahlfarbene entleerten, die zunächst flüssig, nach einiger Zeit compacter 
wurden und dann durch ihre Farbe an grau-weisslichen Lehm erinnerten. 
Zuweilen waren die Stühle vollständig wässerig, wobei in den Fäces kleinere 
weisse, oder gelb-weissliche Flocken schwammen. Solche Stühle wurden zu 
verschiedener Zeit, gewöhnlich in der zweiten bis dritten Woche nach der 
Operation beobachtet. 

Bei drei Hunden nahmen die Fäces bisweilen die Form einer compacten, 
zähen, geleeartigen, weisslichen Masse an. Legte man diese Fäces in Wasser, 
so konnte man im letzteren grosse, 8 bis 10° lange und 2 bis 4°“ breite 
Scheiben sehen, die Vertiefungen und Falten hatten, welche einen genauen 
Absuss der Darmschleimhaut darstellten. Diese Gebilde liessen sich zwischen 
den Fingern oder zwischen zwei Glasplatten in eine dünne, blassgelbe 
Schicht zerreiben. 

Bei der mikroskopischen Untersuchung der in den Fäces gefundenen 
Scheiben waren nur Zellkerne deutlich zu sehen. Ab und zu fanden sich 
weisse und nur selten rothe Blutkörperchen vor; die Contouren der Epithel- 
zellen selbst waren undeutlich, augenscheinlich- in Folge vollständigen Zer- 
falls des Protoplasmas derselben. Diese Scheiben dürften somit nichts 
Anderes gewesen sein, als die abgelöste Epithelschicht der Darmschleimhaut. 
Nach der Defäcation pflegte sich bei den Hunden heftiger Drang einzu- 
stellen, wobei häufig Blut in einer Quantität von etwa einem Esslöffel voll 
entleert wurde. Gewöhnlich fand '/, bis 1/, Stunde nach reichlicher 
Nahrungsaufnahme eine flüssige Entleerung statt. Gegen Ende des ersten 


342 L. PoPIELskt: 


oder zu Beginn des zweiten Monats liessen die Erscheinungen von Seiten 
der Verdauungswege nach: die Fäcalmassen wurden mehr oder minder 
compact und bekamen normale Farbe. Zeitweise wurden die Entleerungen 
jedoch wieder flüssig, oder sie blieben zwar compact, boten aber die Farbe 
von dunklem Stahl dar, die an die Farbe von zu einer teigartigen Masse 
vermengtem Stahlstaub erinnerte. Zeitweise wurden 3 bis 4 Tage lang 
halbflüssige, grau-weissliche, an Roggenteig erinnernde Fäcalmassen ent- 
leert. Die Entleerungen waren im Allgemeinen reichlich und äusserst übel- 
riechend, besonders dann, wenn sie lehm- oder stahlfarben waren; im 
letzteren Falle war der Geruch der Fäces direct unerträglich. Trotz aller 
soeben erwähnten Erscheinungen von Seiten der Verdauungswege blieb die 
Fresslust der Thiere in vollem Maasse erhalten. Nichts desto weniger wurde 
für manche der Versuchsthiere der eintretende Durchfall verhängnissvoll. 
So ging ein junger, 3 Monate alter Hund trotz der vorzüglichen Fresslust, 
die beinahe an krankhafte Polyphagie grenzte, und trotzdem das Thier sich 
allem Anscheine nach wohl fühlte und munter spielte, in Folge des Durch- 
falles am 9. Tage unter Erscheinungen von hochgradigem Marasmus zu 
Grunde. Bei der Section fand man keine Spur von Peritonitis, sondern 
nur stark ausgesprochene Anämie. 

Ein zweiter Hund, mit Namen „Plugawka“, hatte am 8. Tage nach 
der Operation sein ursprüngliches Körpergewicht erreicht, dann aber unter 
dem Einflusse des stetig zunehmenden Durchfalles an Körpergewicht zu 
verlieren begonnen und ging am 25. Tage nach der Operation an Inanition 
zu Grunde Bis zuletzt hatte das Thier vorzügliche Fresslust: selbst am 
Tage vor dem Tode, wo es bereits in Folge von Erschöpfung sich nicht zu 
halten vermochte, griff es gierig aus der Hand das dargebotene Fleisch. 
Bei diesem Hunde waren die Entleerungen selten dicht, gewöhnlich flüssig, 
von schwarzer Farbe mit einem Stich in’s Stahlfarbene, häufig mit Bei- 
mischung von arteriellem Blut. In den letzten 5 bis 6 Tagen vor dem 
Tode hatte die Diarrhöe eine Frequenz von 15 bis 20 Entleerungen täglich 
erreicht. Die Section ergab auch in diesem Falle nicht die geringste 
Spur von Peritonitis. Das Sectionsprotokoll wird im Nachstehenden aus- 
führlich wiedergegeben. Die übrigen Hunde wurden mit der Diarrhöe gut 
fertig; bei guter, an krankhafte Polyphagie grenzender Fresslust nahmen 
sie an Körpergewicht entweder wenig, oder garnicht ab, während einige 
sogar an Körpergewicht zunahmen. So wog z. B. der Hund „Piostri“ vor 
der Operation 10%, am 11. Tage nach der Operation 11's; dieser Hund 
frass trotz der Diarrhöe sehr viel. Am 35. Tage nach der Operation wog 
er 11%/,®, die Fäces waren mehr oder minder flüssig, jedoch etwas com- 
pacter, als in den ersten 10 bis 15 Tagen nach der Operation. Die Hündin 
„Milka“ wog am 15. Tage nach der Operation 13*®, während sie vor der 


ZUR PHuYsIioLOGIE DES PLEXUS COELIACUS. 343 


Operation nur 12% gewogen hatte. Dasselbe gilt auch für die übrigen 
Hunde, die sämmtlich dureh nichts von normalen Hunden zu unterscheiden 
waren; im Gegentheil, es war eine Lust, sie in ihrem munteren Treiben zu 
beobachten. Meine Hunde erinnerten also in dieser Beziehung auch nicht 
im Geringsten an den am Leben gebliebenen Hund von Lamanski, der 
in den ersten 3 Wochen hochgradig abmagerte, ohne dass irgend welche 
Abnormitäten von Seiten der Verdauungswege bestanden hätten. Der Hund 
von Lamanski hat erst nach 3 Wochen sich zu erholen und an Körper- 
gewicht zuzunehmen begonnen; er wurde in der 8. Woche nach der Operation 
getödtet, nachdem er sein ursprüngliches Gewicht wieder erreicht hatte. 

Ich erwähnte bereits, dass die Diarrhöe bei den Versuchsthieren nach- 
lässt und die Fäces mehr oder minder compact werden. Bei der Hündin 
„Milka“ waren die Fäces schon einige Tage compact und von einer, an 
diejenige des Bildhauerlehms erinnernden Farbe, und man konnte annehmen 
dass Blut in den Fäces nicht ımehr auftreten würde; dies war jedoch der 
Fall, und zwar hatte sich das Blut am 43. Tage nach der Operation wieder 
in den Fäces gezeigt; es verschwand aber schon am folgenden Tage wieder, 
und die Fäces wurden mehr oder minder normal. Während der nach- 
folgenden Monate (der Hund ist bereits etwa 7!/, Monate am Leben) 
zeigten die Fäces bei der Hündin „Milka“ normale Consistenz und Farbe. 
Auch blieben die Entleerungen normal, als „Milka“ von dem oben erwähnten 
Hunde „Piostri“ schwanger wurde Nur in den ersten Tagen nach dem 
Werfen kamen pechschwarze, halbflüssige und ausserordentlich übelriechende 
Entleerungen zum Vorschein. Nach 7 bis 8 Tagen wurden die Stühle 
wieder normal. Die Hündin „Milka“ fühlte sich so wohl, dass ich mich 
entschlossen habe, an ihr auch anderweitige Experimente vorzunehmen. Am 
13. April 1901 (der Plexus coeliacus war am 29. April 1900 entfernt worden) 
legte ich bei diesem Thiere eine Pankreasfistel an und nahm am 12. Mai 1901 
eine Exstirpation der Milz vor. Der aus der Pankreasfistel heraustretende 
Saft usurirte in hohem Maasse die Hautdecke des Abdomens, und der Saft 
sing trotz sorgsamer Pflege in Fäulniss über, einen in hohem Grade un- 
angenehmen Geruch verbreitend. Das Thier begann wenig zu fressen und 
an Körpergewicht zu verlieren. Zwei Tage vor dem Tode war es, trotzdem 
es ziemlich munter war, nicht im Stande, den hinteren Körpertheil fort- 
zubewegen: das Thier vermochte sich nur mit Mühe auf den hinteren 
Extremitäten zu halten. Am 17. Mai 1901 ging das Thier unter diesen 
Erscheinungen zu Grunde, nachdem es seit der Exstirpation des Plexus 
coeliacus 12 Monate und 20 Tage gelebt hatte. Das Sectionsprotokoll theile 
ich unten mit. 

Das Schicksal des Hundes „Piostri“ ist sehr interessant. Ungefähr 
6 Monate und 20 Tage nach der Operation begann der Hund geringe Fres:- 


344 L. PoPIELsKt: an 


lust zu zeigen, so dass sogar von seiner gewöhnlichen Tagesration Reste 
zurück blieben. Von einer Abmagerung war jedoch wenig zu sehen: man 
konnte nur eine unbedeutende Körpergewichtsabnahme constatiren. Zu 
dieser Zeit waren die entleerten Fäces ausgesprochen pechschwarz, wenn 
auch die Consistenz eine mehr oder minder normale war. Im Allgemeinen 
blieb die Fresslust erhalten, und das Thier war munter und guter Dinge; 
selbst am Tage vor dem Tode frass es noch gut. In der Nacht vom 15. | 
zum 16. December 1900 ging der Hund zu Grunde. Da bei dem Hunde | 
„Piostri“ der Plexus eoeliacus am 16. Mai 1900 entfernt worden war, so | 
hatte er somit die Operation 7 Monate und 3 Tage überlebt. Nach dem 
Tode wog das Thier 10!/,*®. Das ausführliche Sectionsprotokoll führe ich 
unten an; hier sei nur gesagt, dass die pathologisch-anatomischen Ver- 
änderungen von Seiten des Magendarmcanals so stark ausgesprochen waren, 
dass ich die betreffenden Präparate im medicinischen Conseil des Militär- 
hospitals zu Moskau demonstrirt habe. Ich erlaube mir die Bemerkung, 
dass die Präparate die allgemeine Aufmerksamkeit der anwesenden Collegen 
erregt haben. 

Was die mikroskopische Untersuchung der Fäces betrifft, so konnte 
man in den Entleerungen, die Beimischungen von arteriellem Blut auf- | 
wiesen, beinahe unveränderte rothe sowohl, wie auch weisse Blutkörperchen | 
auffinden, in den hell gefärbten Fäces fettsaure Krystalle, in den stahl- 
farbenen Hämatoidinkrystalle nachweisen. 


III. i 
Sämmtliche oben geschilderten klinischen Erscheinungen, welche Hunde | 
mit exstirpirtem Plexus coeliacus darbieten, stehen in vollständiger Ueber- | 
einstimmung mit den bei der Section erhobenen Befunden. Bei der Section | 
fällt vor Allem das Vorhandensein einer grossen Quantität Flüssigkeit im 
Magen und Darm in die Augen. Dieser Umstand klärt die Ursache der | 
flüssigen und blutigen Entleerungen, die in den ersten 7 bis 10 Tagen 
nach der Operation stattfinden, vollständig auf. Nach Auswaschung des | 
Magendarmeanals mit Wasser findet man hochgradige Hyperämie, sowie 
Ecchymosen in der Schleimhaut des Magens, des oberen und unteren Theiles | 
des Dünndarmes und des oberen Theiles des Diekdarmes. Der mittlere Theil 
des Dünndarmes und der Mastdarm bieten weder Ecchymosen, noch Hyperämie 
dar: die Schleimhaut dieses Darmabschnittes ist vielmehr normal gefärbt. 
Hyperämie und Ecehymosen in der Schleimhaut des Magendarmtractus bei 
Hunden mit exstirpirtem Plexus coeliacus wurden auch von den Autoren 
Pincus, Samuel und Budge vermerkt. 
Beim Hunde „Tschorny“, welcher am 6. Tage getödtet wurde, fiel die 
dunkelrothe Färbung der Schleimhaut des Darmes auf; gleichzeitig waren 


Zur PHYsioLoOGIE DES PLEXUS COELIACUS. 345 


die Därme mit blutig gefärbter Flüssigkeit gefüllt. Die Mesenterialgefässe 
erwiesen sich als stark erweitert. In der Schleimhaut des Magens und des 
Dünndarmes sah man Hyperämie und zahlreiche Ecchymosen. 

Es fragt sich nun: Warum nehmen in den späteren Tagen nach der 
Operation die hellgefärbten Fäces plötzlich eine dunkle oder Stahlfärbung 
an? Eine Antwort darauf ertheilt uns die Section des Hundes „Plugawka“, 
der von Seiten der Verdauungsorgane dieselben klinischen Erscheinungen 
aufwies, wie die anderen Hunde. Bei diesem Thiere fand sich eine grosse 
Reihe kreisrunder Geschwüre im Bereiche des Magens und des Zwölffinger- 
darmes, sowie im oberen Theile des Dünndarmes. Einige von diesen Ge- 
schwüren waren frischen Ursprungs, andere im Vernarben begriffen. Ihre 
Grösse schwankte von Stecknadelkopfgrösse bis zur Grösse eines Einpfennig- 
geldstückes. Bei den Hunden „Tschorny“ und „Worona“ (letzterer starb 
2 Tage nach der Operation) wurden gleichfalls Geschwüre gefunden, aber 
nur im Magen. Es ist in Folge dessen klar, dass beim späteren Auftreten 
von Blut in den Ausleerungen dasselbe aus den Geschwüren herstammte. 
Die dunkle oder stahlähnliche Färbung des entleerten Blutes wies darauf 
hin, dass dasselbe aus den oberen Abschnitten des Verdauungstractus 
stammen musste, indem es durch Einwirkung der Verdauungssäfte chemische 
Veränderungen eingegangen und die bekannte schwarze Färbung angenommen 
hatte. In diesen Fällen liess sich mikrokopisch Hämaturie nachweisen. 

Es fällt ferner bei der Section bedeutende Atrophie der Peyer’schen 
Plaques auf, deren Oberfläche tiefer als das Niveau der umgebenden Schleim- 
haut lag. Bei den Hunden, die bereits in den ersten 24 Stunden nach 
der Operation zur Section kamen, konnte dagegen Schwellung und hellrothe, 
arterielle Färbung der Peyer’schen Plaques festgestellt werden. 


IV. 


Der Harn der Hunde mit exstirpirtem Plexus coeliacus wurde sorg- 
fältig auf Eiweiss, Zucker und Aceton untersucht. Das Aceton bestimmte 
ich im Harndestillat durch die Jodoformprobe nach LeNobel und Kunning. 
Ich habe nicht ein Mal Spuren der erwähnten Substanzen gefunden. Auf 
das Vorkommen von Zucker haben besonders Munk und Klebs hin- 
gewiesen, welche Autoren sogar eine besondere Theorie des Diabetes auf- 
stellen, indem sie annehmen, dass in Folge von Degeneration der Nerven- 
‚ zellen des Plexus coeliacus sich eine Atrophie der Bauchspeicheldrüse ent- 
' wickele und Zucker im Harn auftrete; andere Autoren haben jedoch die 
Angaben von Munk und Klebs nicht bestätigen können. Die Mehrzahl 
der Autoren fasst das Auftreten von Zucker im Harn nach Exstirpation des 
Plexus coeliacus als ein rasch vorüber gehendes, temporäres Symptom auf. 

Einzelne Autoren leugnen überhaupt das Auftreten von Zucker. Was das 


N 


1 Fe er u u u 1 2 A ee I EEE 


& 


346 L. PoPIELSKT: 
\ 


Aceton anlangt, so hat auf dasselbe zuerst Lustig hingewiesen, welcher 
sogar das Erscheinen von Aceton im Harn als ein charakteristisches und 
beständiges Symptom nach Exstirpation des Plexus coeliacus bei Hunden 
hinstellte. Aber schon Viola und Klecki konnten trotz sorgfältiger Unter- 
suchungen kein Aceton nachweisen. Bei vielen meiner Hunde fiel die 
intensiv gelbe, gesättigte Farbe des Harns auf; doch konnte ich keine 
Gallenpigmente nachweisen. 

Es wurden also bei Hunden nach Entfernung des Plexus coeliacus 
folgende Erscheinungen beobachtet: 

I. Bei Lebzeiten: 1. flüssige Fäces, Anfangs von blutiger und später 
von weisslicher oder grauweisslicher Farbe (in dieser Zeit sind die Fäces 
auch häufig von schwarzer oder stahlähnlicher. Färbung); 2. Fäces mit Bei- 
mengung von grossen Fetzen desquamirten Darmepithels; häufig auch ganz 
flüssige wässerige Fäces mit weissen oder gelblich-weissen Flocken; 3. schon 
stinkende Fäces; 4. eine periodische Abwechslung von flüssigen und con- 
sistenten Ausleerungen. 

II. Bei der Section: 1. starke Hyperämie und Ecehymosen im Magen, 
Duodenum, im oberen und unteren Theil des Dünndarmes, und im oberen 
Theile des Diekdarmes; im Magen und Dünndarm grosse Mengen blutig 
gefärbter Flüssigkeit; 2. runde Geschwüre im Magen, Duodenum und im 
oberen Theile des Dünndarmes; 3. Atrophie der Peyer’schen Plaques. 

Trotz des Durchfalls und der oben beschriebenen anatomischen Ver- 
änderungen des Verdauungstractus geht die Verdauung in normaler Weise 
vor sich. Unter dem Mikroskop konnten in den Fäces nur höchst selten 
quergestreifte Muskelfasern gefunden werden, obgleich die Hunde haupt- 
sächlich Fleischnahrung erhielten. Wie ich bereits in einer meiner Arbeiten 
gezeigt habe, hängt die Ausscheidung des pankreatischen Saftes nicht vom 
Plexus coeliacus ab.! Die an der Hündin „Milka“, bei der ich eine Pankreas- 
fistel angelegt hatte, ausgeführten Untersuchungen haben gezeigt, dass die 
Absonderung von Pankreassaft bei derselben in gleicher Weise vor sich ging, 
wie bei normalen Hunden. Dasselbe kann man auch in Bezug auf die 
Magendrüsen sagen. Es haben nämlich meine Experimente? gezeigt, dass 
die Verdauung auch nach Exstirpation des Plexus coeliacus regelmässig 
vor sich geht und dass der gewonnene Saft normale Acidität und normale 
Verdauungskraft besitzt. Bei Scheinfütterung findet eine Absonderung 
von typischem Magensaft ebenso statt, wie bei Hunden, bei denen der 
Plexus coeliacus erhalten ist. 

Nachdem ich in Kürze die hauptsächlichsten klinischen Symptome bei 


ı Bolnitschnaja Gazetta Botkina. 1900. — Gazeta lekarska. 1900. — Pflüger’s 
Archiv und Archiv von Podwysotzki (russisch). 1901. 
? Centralblatt für Physiologie. 1902. Heft 5 und Przeglgd lekarski. 1902. 


ZuR PHYsioLoGIE DRS PLEXUS COELIACUTS. 347 


Hunden mit exstirpirtem Plexus coeliacus beschrieben habe, möchte ich 
noch zur besseren Einsicht das Sectionsprotokoll des Hundes „Plugawka“, 
„Milka“ und „Piostri“ anführen. Die Section wurde von Hrn. Privatdocent 
Tsehistowitsch, dem ich an dieser Stelle meinen besten Dank sage, aus- 
geführt. 

Sectionsprotokoll: Bauchfell durchaus normal. Die Wunde von 
Seiten der Bauchhöhle vollständig verheilt, von Seiten der Haut ist dieselbe 
mit schlaffen Granulationen bedeckt und noch nicht durchweg mit Epithel 
überkleidet. Bei der Besichtigung fällt hochgradige Anämie des Dünn- und 
Diekdarmes auf. Die Serosa ist überall glänzend. Magen leer, mit Schleim 
überzogen, die Schleimhaut schwach rosa gefärbt. Stellenweise finden sich 
in der Magenschleimhaut zerstreute schwarze Flecke, von denen einzelne die 
Grösse eines Einpfennigstückes erreichen; an einer Stelle, ungefähr der 
grossen Curvatur entsprechend, findet sich ein Geschwür von etwa Pfennig- 
stückgrösse mit etwas unterminirten Rändern, der Geschwürsboden prominirt 
in geringem Grade, um das Geschwür, den Rändern entsprechend, verläuft 
ein dunkler Gürtel; im Centrum einiger dunkler Flecke findet sich eine 
Vertiefung von röthlieber Färbung als Hinweis auf beginnende Geschwürs- 
bildung; in der Längsaxe des Duodenums, in der Nähe seines Ursprungs 
aus dem Magen, finden sich vier im Vernarben begriffene Geschwüre, 
gleichfalls mit unterminirten, wallartigen Rändern und prominirendem Ge- 
schwürsboden. Letzterer weist eine Punktirung (von den Papillen) auf; im 
weiteren Verlaufe des Dünndarmes finden sich Spuren vernarbter Geschwüre. 
Die Peyer’schen Plaques stark verdünnt und mit hervortretenden Rändern; 
auf dem Boden dieser Plaques ist eine Netzzeichnung wahrzunehmen. Ent- 
sprechend den Geschwüren ist auf der Serosa Pigmentirung vorhanden. 
Im unteren Dünndarmabschnitt finden sich in der Schleimhaut Pigmentirungen 
als Folge alter Blutergüsse. Im unteren Abschnitte des Diekdarmes sieht 
man frische Schleimhauteecchymosen. An den Stellen der Geschwüre ist 
die Darmschleimhaut diffus verdickt und geschwollen. Die Milz ist offenbar 
verkleinert und blutarm. Leber normal; der linke Lappen ist mit der 
Bauchwand verwachsen, löst sich aber leicht ab. Eechymosen im Endo- 
cardium. Herz offenbar hypertrophisch. Nieren normal. Pankreas gleich- 
falls normal. Die Därme sind mit blutig gefärbter Flüssigkeit gefüllt. An 
Stelle der Operation ist alles verheilt und nichts Abnormes vorhanden.! 

Sectionsprotokoll der Hündin „Milka“. Die Section wurde im 
Beisein der Aerzte Orlowski, Sliwinski und des stud. med. Jastrzembski 
ausgeführt. Magere Leiche. An Stelle der Incision in der Linea alba 
vollständige Heilung; an Stelle der Incision unten links sind die aus einander 
gegangenen händer der Hautwunde zu sehen; von Seiten des Peritoneums 


ı Sämmtliche Präparate befinden sich noch jetzt in meinem Besitz, 


348 L. PoPIEuskt: 


ist die Wunde gut verheilt. Das Peritoneum ist überall glänzend. Ent- 


zündungserscheinungen sind nirgends vorhanden. Die Magenwandungen 
erscheinen stark verdünnt am Boden, auf dem die Falten vollständig fehlen; 
solche sind in Form von saftigen prominenten Vorsprüngen nur in der Pars 
pylorica ventrieuli zu sehen. Die Schleimhaut des Magengrundes ist mit 
einer ganzen Menge kleiner Narben in Form von weisslichen Flecken be- 
deckt, die ein wenig vertieft und linsenkorngross sind. In der Pars pylorica 
ventrieuli sind einige runde erbsengrosse Vertiefungen zu sehen, die Conti- 
nuitätstrennungen der Schleimhaut darstellen. Es sind auch Spuren von 
Geschwüren in Form von Narben zu sehen. Im Duodenum sind einige 
erbsengrosse Geschwüre vorhanden; neben den Geschwüren sieht man stark 
begrenzte schwarze Flecke von deutlich runder Form, die erbsengrosse 
Eechymosen darstellen. 

Die Wandungen des Dünndarmes sind verdünnt, deren Schleimhaut 
ist mit grau-gelbem Belag bedeckt, der mit dem Messer leicht abzukratzen 
ist. Die Peyer’schen Plaques sind vertieft und von Wülsten umgeben; 
an deren Stelle ist die Darmwand sehr dünn; an manchen Stellen sind 


Ecchymosen zu sehen. Im Dickdarm sind die Falten deutlich ausgesprochen; 


an deren freiem Rande sind Eechymosen zu sehen. Die Milz ist dem Aus- 
sehen nach verkleinert und blutarm. Die Leber ist gleichfalls verkleinert 
und erscheint auf dem Querschnitt dunkelroth. Die Nieren bieten nichts 
Abnormes, sind aber dem Aussehen nach anscheinend verkleinert. Das 
Herz bietet keine Abweichungen von der Norm, desgleichen die Lungen. 

Sectionsprotokoll des”"Hundes „Piostri“. Peritoneum überall 
glänzend, glatt, an der Incisionsstelle vollständig Verheilung, und zwar so- 
wohl von Seiten der Haut, wie auch von Seiten des Peritoneums. Die 
convexe Oberfläche der Leber zeigt an einer Stelle Spuren von Entzündung 
in Form einer weisslichen, aber glatten Verdickung des Peritonealüberzuges; 
dasselbe weist auch die convexe Oberfläche der Milz auf. Auf der Schnitt- 
fläche erscheint die Leber normal, von roth-schwarzer Farbe. Gallenblase 
mässig gefüllt. Ductus choledochus markirt sich in Form eines gelben 
Streifens im Ligamentum hepato-gastro-duodenale. 

Der Magen ist mit Fleisch und Brod vollständig gefüllt. Auf der 
Oberfläche der Magenschleimhaut sieht man an der der Curvatura major 


entsprechenden Stelle, namentlich in der Pars pyloriea, zahlreiche Flecke 


von der Grösse eines grösseren Stecknadelkopfes und von rother oder 
schwarzer Farbe; im Centrum dieser Flecke sind vollständig deutlich aus- 
gesprochene Vertiefungen zu sehen. Der Curvatura major entsprechend, 
ungefähr in der Mitte ihrer Länge ist eine erbsengrosse starke Vertiefung 
zu sehen, die von einem schwarzen Ring umgeben ist; neben dieser Ver- 
tiefung bemerkt man einen über erbsengrossen, oberflächlichen Substanz- 


ZUR PHYsIoLOGIE DES PLEXES COELIACUS. 349 


verlust. In der Nähe des Pylorus sind linsengrosse Vertiefungen zu sehen, 
die blasser gefärbt sind als die umgebende Schleimhaut; es sind dies Spuren, 
die von verheilten Geschwüren herrühren. Gleiche Vertiefungen sieht man 
auch an anderen Stellen der Magenschleimhaut, jedoch in geringerer An- 
zahl. Die Schleimhaut des Duodenums und des oberen Abschnittes des 
Dünndarmes ist verdickt und mit weisslichem, caseösem Belag bedeckt, der 
sich leicht abschaben lässt. 

Der Dünndarm erscheint dünn, schwarz gefärbt, namentlich von Seiten 
der Schleimhaut. An Stelle der Peyer’schen Plaques sind Vertiefungen 
mit unterminirten, wulstiörmigen Rändern zu sehen. Die Plaques selbst 
sind dünn, und diese Verdünnung ist im unteren Abschnitte des Dünn- 
darmes besonders scharf ausgesprochen: von Seiten der Schleimhaut er- 
scheinen sie von schiefergrauer Marmorfarbe und zeigen Spuren von Ecchy- 
mosen in Form von schwarzen, linsengrossen Punkten. Im unteren Drittel 
des Dickdarmes, in der Nähe des Rectum, sind Ecchymosen in Form von 
rothen Streifchen zu sehen. Im mittleren Abschnitte des Dünndarmes sind 
an manchen Stellen in der Schleimhaut blutig-rothe Flecke zu sehen. Im 
Allgemeinen ist der mittlere Abschnitt des Dünndarmes mehr oder minder 
normal. Vom mittleren Abschnitte des Dünndarmes bestand der Darm- 
inhalt aus einer flüssigen schaumigen Masse, welche in der Richtung nach 
unten immer dichter und dichter wurde, um im untersten Abschnitte als 
vollständig dichte und wiederum schwarze Masse zu erscheinen. Der Inhalt 
des Dickdarmes stellte eine gleichartige, stark verdichtete Masse dar. 


V. 


Es fragt sich nun, ob alle beschriebenen Symptome nicht davon ab- 
hängen, dass ich bei meinen Hunden bei der Exstirpation des Plexus 
coeliacus gleichzeitig die Nervi splanchniei durchtrennte Da nach Durch- 
trennung dieser Nerven eine Erweiterung der Gefässe der Bauchhöhle auf- 
tritt, so könnte man annehmen, dass die Gegenwart blutiger Flüssigkeit in 
den Därmen und der Durchfall eine Folge dieser Gefässerweiterung seien. 
Was den Durchfall anlangt, so könnte derselbe auch darin seine Erklärung 
finden, dass mit der Durchtrennung der Nervi splanchniei der hemmende 
Einfluss auf die motorische Function des Magendarmcanals von Seiten des 
Nervensystems in Wegfall kam, denn es erfolgt, wie Pflüger nachgewiesen 
hat, diese Hemmung durch Vermittelung der Nervi splanchnici. Um diese 
Frage zu entscheiden, exstirpirte ich bei zwei Hunden ungefähr 2°® der 
beiden Nervi splanchnici. Bei dem einen Hunde, welcher 24 Stunden nach 
der Operation zur Section kam, fand sich im Darm keine Spur blutiger 
Flüssigkeit. Der andere Hund, welcher 3!/, Monate lebte, hatte niemals 
Durchfall, und die Fäces waren stets von normaler Farbe und Consistenz, 


350 1%. PoPIELsKt: 


Dieser Hund fühlte sich die ganze Zeit wohl und wurde erst kürzlich zu 
anderen Experimenten verwendet. 

Da der Eingriff der Exstirpation des Plexus coeliacus, der tief in der 
Bauchhöhle ausgeführt wird, mit Seitwärtsverschiebung des Magens und 
Darmes verknüpft ist, so dürfte sich einem eventuell die Vermuthung auf- 
drängen, dass die von mir an den Versuchsthieren beobachteten Erscheinungen 
durch den mechanischen Druck bedingt sind, welche die Viscera der Bauch- 
höhle während der Operation erleiden. Diese Vermuthung wird aber da- 
durch entkräftet, dass bei Durchschneidung der Nn. splanchnici auf beiden 
Seiten der mechanische Druck auf den Darm keineswegs ein geringerer ist, 
und von Seiten des Darmes doch gar keine Erscheinungen eintreten. Gegen 
die bezeichnete Vermuthung sprechen auch die Experimente, die ich an 
Hunden angestellt habe, bei denen ich an beiden Seiten der Wirbelsäule 
die Bauchäste des Sympathicus vom Zwerchfell bis zum Kreuz exstirpirt hatte. 
Einen mechanischen Druck erleidet der Darm fast an seiner ganzen Länge, 
und der Druck ist von ziemlich langer Dauer; und doch werden von Seiten 
des Darmtractus auch nicht die geringsten Oedemerscheinungen beobachtet. 

Um die Frage zu lösen, in welchen Theilen des Plexus coeliacus die- 
jenigen Nervencentren liegen, deren Entfernung die oben geschilderten Er- 
scheinungen von Seiten des Verdauungstractus hervorrufen, habe ich bei 
einem Hunde (Nr. 19) das centrale Ganglion dieses Plexus, und zwar das 
Ganglion coeliacum exstirpirt und die übrigen Ganelien in situ belassen. 
Im Verlaufe von 20 Tagen waren von Seiten des Darmcanals keine Ab- 
weichungen von der Norm zu sehen, und erst nach dieser Zeit stellte sich 
flüssiger, wässeriger, weisser Stuhl ein, der häufig mit Blut untermischt 
war u.S. w.; mit einem Worte, es stellten sich dieselben Folgen ein, wie 
bei den übrigen Hunden. Es kommt somit eine gewisse Selbstständigkeit 
der Function auch den kleineren Ganglien zu, welche das Ganglion eoeliacum 
umgeben, und so lange deren Nervenelemente intact und nicht degenerirt 
sind, vermag der Verdauungstractus regelmässig zu functioniren. Daraus 
geht hervor, dass das Ganglion coeliacum auch die Rolle eines trophischen 
Centrums für die aus demselben auslaufenden Nerven und die mit dem- 
selben eommunicirenden Zellen spielt. 

Nun würde sich aber die ganz natürliche Frage einem von selbst auf- 
drängen, ob nicht das Ganglion coeliacum in dieser Richtung keine selbst- 
ständige Rolle spiele und nur diejenige Stelle abgebe, durch welche von 
den Nervenzellen des Rückenmarkes solche Impulse ihren Weg nehmen, 
deren Unterbrechung durch Exeision des Ganglion coeliacum Degenerations- 
erscheinungen in den dasselbe umgebenden Ganglien hervorruft. Zur Lösung 
dieser Frage habe ich folgende Experimente angestellt: Das Rückenmark 
tritt mit den Organen der Bauchhöhle in Verbindung: 1. mittels der Nn. 


Zur PHYsSIoLoGIE DES PLEXUS COELIACUS. 351 


splanchniei und 2. mittels der Rami communicantes; die Exstirpation dieser 
Nerven musste also die Frage beantworten, inwiefern die Unterbrechung 
der Communication mit dem Rückenmark die geschilderten Erscheinungen 
mitverschulde. Wie ich bereits erwähnt habe, bewirkte die Exstirpation der 
Nn. splanchniei auf beiden Seiten bei den Hunden keine Erscheinungen 
von Seiten des Verdauungstraetus. 

Bei zwei anderen Hunden habe ich die sympathischen Nerven in der 
Bauchhöhle vom Zwerchfell bis zum Kreuz exstirpirt, wobei natürlich auch 
sämmtliche Rami communicantes, sowie auch die Nn. splanchnici durchschnitten 
worden sind. Der eine dieser Hunde blieb 4 Monate lang unter meiner 
Beobachtung, bis er schliesslich für andere Experimente verwendet wurde; 
der andere nur einen Monat (dieser Hund entlief), wobei von Seiten des 
Verdauungstractus gar keine Veränderungen wahrgenommen worden sind. 

Es ergiebt sich also, dass erstens das Ganglion coeliacum ein selbst- 
ständiges Centrum ist, und dass zweitens sämmtliche geschilderten Er- 
scheinungen, die ich an meinen Hunden wahrgenommen habe, auf die 
Exstirpation des Plexus coeliacus zurückzuführen sind. Ist es aber wirklich 
so, so müsste schon die Durchschneidung der von den Ganglien des Plexus 
coeliacus auslaufenden Nerven ebensolche Erscheinungen von Seiten der 
Verdauungsorgane herbeiführen, wie die Exstirpation des Plexus coeliacus 
selbst. Ich selbst habe in dieser Richtung noch keine Experimente vor- 
genommen, wohl aber sind solche zu einem Theil von Vedowa! ausgeführt 
worden, der nach Durchsehneidung der vom Plexus coeliacus zum Magen 
verlaufenden Nerven im Magen Ulcera beobachtet hat. 

Ich möchte noch auf eine Erscheinung aufmerksam machen, welche 
ich in ausserordentlich stark ausgesprochenem Grade an meinen beiden 
Hunden „Milka“ und „Piostri“ beobachtet habe. Bei der Hündin „Milka“ 
ist, wie ich schon erwähnt habe, der Plexus coeliacus am 29. April 1900 
exstirpirt worden. Ende August desselben Jahres begann das Thier die 
Behaarung zu verlieren und hatte ungefähr um den 10. September herum 
buchstäblich kein einziges Haar mehr; selbst am Schwanz und an den 
Ohren waren die Haare ausgefallen. Nur an der Spitze der Schnauze waren 
noch einige Haare zu sehen. Kurz, das Thier war in vollem Sinne des 
Wortes nackt. Die Haut selbst war vollkommen rein und zeigte auch nicht 
die geringste Spur einer Erkrankung. In den ersten Tagen des October 
begannen die Haare wieder zu wachsen, und ungefähr Mitte November war 
das Thier schon wiederum mit einem guten, ziemlich dichten Fell bedeckt. 
Mitte October hat die Hündin übrigens geworfen. Der Hund „Piostri“ (der 
Plexus coeliacus wurde bei diesem Hunde am 6. Mai 1900 exstirpirt) begann 


ı Centralblatt für Stoffwechsel- und Verdauungskrankheiten. 1900. Nr. 12. 
‚8. 285 (refer). 


352 J. POPIELSKI: 

seine Behaarung Anfang October zu verlieren und hatte gegen Ende des- 
selben Monats nur noch ein spärliches Haarkleid, durch welches man 
deutlich die vollständig reine Haut sehen konnte. Jedoch hat der Haar- 
verlust bei diesem Thiere ein so hohes Maass, d. h. bis zum vollständigen 
Nacktwerden, wie bei der Hündin „Milka“ nicht erreicht. Im Verlaufe des 
Novembers begannen die Haare wiederum zu wachsen, und Anfang December 
war das Thier schon mit einem ziemlich dichten Fell bedeckt. Dabei muss 
ich bemerken, dass bei anderen normalen Thieren, die mit den soeben 
besprochenen Versuchsthieren zusammen hausten, nichts Derartiges wahr- 
genommen werden konnte. Wäre die Hauterkrankung bei der „Milka“ und 
bei dem „Piostri‘“ eine infectiöse gewesen, so hätte es kaum der Fall sein 
können, dass die in nächster Nähe hausenden Thiere einer Infection ent- 
gangen wären. 

Mögen aber die von mir an den Thieren „Milka“ und „Piostri“ wahr- 
genommenen Erscheinungen noch so interessant sein, so muss man doch 
in Bezug auf das ätiologische Moment sehr vorsichtig sein. Wenn auch 
bei anderen normalen Thieren von Seiten der Haut derartige Erscheinungen. 
nicht aufgetreten sind, so muss man nämlich doch berücksichtigen 
1. den Umstand, dass beide Hunde, die ihr Fell verloren, aus ein und 
demselben Orte stammten, und zwar habe ich beide aus Petersburg mit- 
gebracht, und 2. dass ich bei den anderen Hunden mit exstirpirtem Plexus 
coeliacus einen Haarausfall nicht beobachtet habe. Es ist in Folge dessen 
nicht von der Hand zu weisen, dass diese beiden Hunde eventuell noch in 
Petersburg irgend eine Hautkrankheit mit verschlepptem und latentem 
Verlauf acquirirt hatten, die den eingetretenen Haarausfall verursachte. 


mb 
Ich wende mich zur Analyse der von mir gefundenen Thatsachen, 
um auf diesem Wege die Functionen des Plexus coeliacus besser zu er- 
gründen. 


1. Die blutige Flüssigkeit im Magen und Darm ist als Transsudat 
aus den ad maximum erweiterten Gefässen aufzufassen. Da wir eine der- 
artige Transsudation nach Exstirpation der Nervi splanchnici nicht beob- 
achten, so folgt hieraus, dass im Plexus coeliacus selbstständige vaso- 
motorische Centren, welche das Strombett der Darmgefässe reguliren, 
ihren Sitz haben müssen. Diese Centren stehen durch Vermittelung der 
Nervi splanchnici in Verbindung mit den vasomotorischen Centren der 
Medulla. 

Die vasomotorischen Öentren der Medulla dirigiren die Thätigkeit 
eben solcher Centren im Plexus coeliacus in der einen oder anderen Rich- 
tung, gemäss den Bedürfnissen des Körpers. Durch Durchtrennung oder 


ZUR PHYSIOLOGIE DES PLEXUS COELIACUS. 353 


Exstirpation der Nervi splanchnieci wird die Verbindung zwischen 'Medulla 
und Plexus coeliacus unterbrochen; die Folge ist eine starke Erweiterung 
der Gefässe im Stromgebiet des Verdauungstractus; aber sehr bald, schon 
im Verlaufe einiger Stunden, erholen sich die vasomotorischen Centren im 
Plexus coeliacus und übernehmen die Führung über die Gefässe des Magen- 
darmtractus, indem sie das Lumen der Gefässe bis zur Norm verengern. 
Die vasomotorischen Centren des Plexus coeliacus befinden sich in einem 
tonischen Erregungszustande: das ist daraus ersichtlich, dass nach ihrer 
Exstirpation die blutige Flüssigkeit in den Därmen bereits nach 1: bis 
2 Stunden gefunden wird. Im Plexus coeliacus haben also selbstständige 
vasomotorische Centren ihren Sitz. 

2. Aus den oben angeführten Experimenten folgt ferner, dass nach Exstir- 
pation der Nervi splanchniei die Motilität der Därme nicht sichtbar beeinflusst 
wird; die Darmperistaltik ist nicht erhöht. — Dagegen wird nach Exstirpation 
des Plexus coeliacus die Function des Sphincters des Ductus chole- 
dochus gestört, — deswegen sind bei solchen Thieren die Ausleerungen 
zuweilen weisslich gefärbt und sehr stinkend; solche Ausleerungen werden 
aber gerade dann beobachtet, wenn keine Galle in den Darm gelangt. Im 
gegebenen Falle kann keine Rede von einer Verminderung der Gallen- 
production sein, denn bei der Section erwies sich die Gallenblase mit Galle 
gefüllt und das Lebergewebe normal. Ferner muss man annehmen, dass 
der Durchfall bei meinen Hunden, wenigstens theilweise, von einer erhöhten 
Darmperistaltik abhängig war. Alle diese Erwägungen führen zu der An- 
nahme, dass im Plexus coeliacus selbstständige CGentren ihren Sitz 
haben, welche die Darmbewegung beeinflussen. 

3. Jetzt fragt es sich, wie man sich die Entstehung von Geschwüren 
im Magen und Darm erklären soll? Eine trophische Beeinflussung der 
Darmwandungen von Seiten des Plexus coeliacus lässt sich nur schwer 
voraussetzen. Hier muss vor Allem die enorme Erweiterung der Gefässe 
»der Bauchhöhle nach Exstirpation des Plexus coeliacus berücksichtigt werden. 
Hand in Hand mit der Erweiterung der Gefässe geht eine Erhöhung des 
Blutdruckes im betroffenen Gebiet. In Folge dieser Druckerhöhung werden 
die Gefässwände, namentlich in denjenigen Abschnitten, welche kein Muskel- 
oder elastisches Gewebe besitzen, stark in Anspruch genommen, und es 
können Gefässzerreissungen entstehen. Auf diese Weise kann eine ganze 
Reihe von Ecchymosen zu Stande kommen. An der Stelle dieser Ecchy- 
mosen stirbt dann das Gewebe ab und unter dem Einfluss der Verdauungs- 
säfte (des Magen- bezw. Pankreassaftes) kommt es zu Ulcerationen. 

Das Mikroskop bestätigt diese Erklärung. Blutaustritte wurden nur 
in der Schleimhaut beobachtet, wo der Druck der umliegenden Gewebe 


auf die Gefässwände kein hoher ist — ein Umstand, welcher Gefäss- 
Archiv £, A. u, Ph, 1903. Physiol, Abthlg, 23 


354 L. POoPIELSKI: 


zerreissungen begünstigt. Mikroskopisch lässt sich feststellen, dass die (re- 
websnekrose nur bis zur Submucosa reicht und dabei die ganze Drüsen- 
schicht zerstört. An den Geschwürsrändern findet man nekrotische Zellen 
und viel gelblich-braunes Blutpigment, aber wiederum nur in der Mucosa. 
Die makro- und mikroskopischen Bilder der Magengeschwüre zeigen deutlich, 
dass die Gewebsnekrose im Centrum begann und nach der Peripherie zu fort- 
schritt. Dieser Umstand, sowie die Thatsache, dass unter dem Mikroskop 
keine Thromben in den Gefässen gefunden wurden, weisen darauf hin, dass 
wir es hier mit Blutaustritten und nicht mit Infareten zu thun haben. 

Angenommen, dass beim Menschen das runde Magengeschwür auf 
Veränderungen des Plexus coeliacus, und zwar auf den Theil des Plexus, 
welcher in Beziehung zu den Magengefässen steht, zurückzuführen ist, er- 
scheint das Auftreten von Blutaustritten in der Schleimhaut leicht ver- 
ständlich, weil bei einer solchen partiellen Gefässerweiterung (als Folge 
partieller Veränderungen des Plexus) der Blutdruck im betroffenen Gebiet 
sehr stark steigen muss: es genügt dann ein geringer Anlass oder eine 
geringe Anstrengung, damit die erweiterten Gefässe reissen und ein Blut- 
austritt erfolge. In Anbetracht dieser Umstände ist es von grossem 
Interesse, dass Prof. Gluzinsky (Lemberg)! auf Grund des grossen patho- 
logisch-anatomischen Materials von Prof. Browicz (Krakau) die Ueber- 
zeugung ausspricht, dass das runde Magengeschwür beim Menschen sich aus 
Ecchymosen entwickele. Es dürfte sehr lehrreich sein, beim Vorkommen von 
runden Magengeschwüren den Zustand des Plexus coeliacus zu untersuchen. 

Wir haben gesehen, dass mit den Fäces zuweilen grosse Epithelfetzen 
entleert wurden. Auch in diesem Falle lässt sich eine trophische Be- 
einflussung der Darmwandung von Seiten des Plexus coeliacus nur schwer 
voraussetzen. Ebenso kann die Atrophie der Peyer’schen Plaques nicht 
als trophische Veränderung aufgefasst werden. Die meiste Wahrschein- 
lichkeit würde die Annahme haben, dass der Grund für die starke Ab- 
lösung des Epithels und die Atrophie der Peyer’schen Plaques in den 
ausgedehnten Schleimhautblutungen zu suchen ist. In Folge dieser Blu- 
tungen erfolgt eine Nekrobiose und Ablösung der oberflächlichen Schleim- 
hautschichten. Im Magen entwickeln sich unter dem Einfluss des Magen- 
saftes Geschwüre, im Darm desquamative Processe. Was die feinen Flocken 
von weisslicher oder weisslich-gelber Farbe anlangt, welche häufig in den 
flüssigen Ausleerungen gefunden wurden, so muss angenommen werden, 
dass dieselben gleichfalls desquamirte Epithelfetzen darstellten, welche aber 
unter dem Einfluss des pankreatischen Saftes zum Theil verdaut und in 
kleine Stücke umgewandelt wurden. 


I! Wratsch. 1900 (refer.) 


ZuR PHYsioLoGIE DES PLEXUS COELIACUS. 355 


| VI. 

Der klinische Symptomencomplex bei Hunden mit exstirpirtem Plexus 
coeliacus erinnert stark an den Symptomencomplex bei einigen pathologischen 
Zuständen des Menschen. 

1. Sehen wir uns z.B. die Cholera an. Das rapide Auftreten der 
Durchfälle weist auf den nervösen Ursprung dieser Durchfälle hin und legt 
die Vermuthung nahe, dass wir es hier mit Veränderungen im Plexus 
coeliacus zu thun haben. 

Der so häufig letale Ausgang dieser Krankheit kann nicht von der 
Veränderungen in der Schleimhaut des Verdauungscanales abhängen, da 
nach Exstirpation des Plexus coeliacus diese Veränderungen viel hoch- 
gradiger sind, ohne dass der Tod eintritt. 

Die Cholerainfection bedingt ganz gewiss die Bildung von Giften 
innerhalb der Verdauungswege, welche in den Kreislauf gelangen und 
dann den ganzen Körper und in erster Linie das Nervensystem vergiften. 
In der That werden auffällige pathologische Veränderungen des Nerven- 
systems bei Cholera auch gefunden, und zwar im Gehirn (Tschistowitsch) 
und im Plexus coeliacus (Iwanowsky, Stomma). 

2. Der Abdominaltyphus zeigt in seinem Verlauf grosse Aehn- 
lichkeit mit dem, was ich bei meinen Hunden beobachtet habe. Auch 
hier nimmt die Affection des Nervensystems die erste Stelle ein. Die 
Bakterien bilden, nachdem sie sich in der Schleimhaut der Verdauungs- 
wege angesiedelt haben, Toxine, und zwar allmählich, im Verlaufe 
mehrerer Tage; und nur dann, wenn die Toxine in grösserer Menge in 
das Blut gelangt sind, sehen wir Gefahr drohende Vergiftungserscheinungen 
von Seiten des ganzen Körpers und vor Allem von Seiten des Nerven- 
systems Platz greifen; um dieselbe, Zeit sind auch die Erscheinungen von 
Seiten der Verdauungswege, nämlich der Durchfall, am stärksten ausgeprägt. 


Ich hebe nur nebenbei hervor, von welch’ hoher Bedeutung für die 
pathologische Anatomie des Abdominaltyphus die von mir an den Peyer’- 
schen Plaques beobachteten Veränderungen sein müssen. Die Verände- 
rungen des Plexus coeliacus beim Abdominaltyphus sind schon von vielen 
Autoren (Kalatarjanz, Semenoff, Kwieinski) untersucht und be- 
schrieben worden. 

3. Bei ausgedehnten Verbrennungen der Haut tritt häufig blutiger 
Durchfall auf, und die Section ergiebt beinahe stets Geschwüre im Magen 
und im oberen Abschnitt des Dünndarmes (Scherning, E. Welti). Koro- 
lenko hat durch seine Versuche nachgewiesen, dass schon eine sehr kurz- 
dauernde Verbrennung der Haut im Verlaufe von 5 bis 10 Secunden 


genügt, um prägnante pathologische Veränderungen im Plexus coeliacus 
23* 


356 L. POPIELSKT: 


hervorzurufen. Das wurde auch bei Menschen nach Hautverbrennungen 
beobachtet. Viele Untersucher sehen die Todesursache nach Verbrennungen 
in einer „nervösen Erschütterung‘ — im Shock. Experimentelle Unter- 
suchungen an Thieren lehren uns, dass selbst eine sehr begrenzte Ver- 
brennung der Haut degenerative und atrophische Veränderungen des Plexus 
coeliacus zur Folge hat. Diese Veränderungen bedingen eine Erweiterung 
der Gefässe der Bauchhöhle, welche aber auch nicht zum Tode führen, wie 
es meine Untersuchungen über Entfernung des Plexus coeliacus gezeigt 
haben. Falls übrigens die Hautverbrennungen sehr ausgedehnt sind und 
mehr als !/, der Körperoberfläche einnehmen, so ist der Tod unvermeidlich. 
In diesem Falle kommt zu. der Erweiterung der Gefässe im Gebiete der 
Verbrennung in Folge der Veränderungen des Plexus coeliacus eine Er- 
weiterung der Gefässe der Bauchhöhle hinzu. Die Folge ist eine so starke 
Herabsetzung des Blutdruckes, dass das Herz stillstehen muss. Es ist 
daher gar nicht wunderbar, dass die Todesursache bei Verbrennungen durch 
chemische Untersuchungen nicht erwiesen werden kann, dass es nicht ge- 
lingt, ein bestimmtes Toxin zu finden, ebenso, dass diese Ursache nicht in 
den inneren Organen, in einer Degeneration derselben gefunden wird, da 
dieselbe in diesem Falle eine Folge des enorm herabgesetzten Blutdruckes 
ist. Aus diesen Gründen muss unsere Therapie bei Verbrennungen auf 
eine Erhöhung des Blutdruckes gerichtet sein, und zwar erscheint es 
rationeller, keine Transfusion physiologischer Kochsalzlösung vorzunehmen, 
sondern darauf hin zu wirken, dass die peripheren Gefässe verengert werden. 


VII. 

Die Sensibilität des Plexus coeliacus hat schon lange die Aufmerk- 
samkeit der Autoren auf sich gelenkt. In der That genügt nach Durch- 
trennung des Rückenmarkes unterhalb der Medulla eine blosse Berührung 
des Plexus, um allgemeine Krämpfe des Leibes hervorzurufen. Diese 
Thatsache lässt vermuthen, dass das Nervengeflecht des Plexus coeliacus 
eine Centralstation darstellt, welche alle Reize, welche die Schleimhaut oder 
die Serosa der Bauchhöhle treffen, dem Rückenmark und weiterhin auch 
den höheren Centren übermittelt. Unter normalen Verhältnissen werden 
von der Bauchhöhle keinerlei Empfindungen wahrgenommen, aber dieses 
beweist noch nicht, dass in derselben keinerlei Empfindungen entstehen. 
Meiner Ansicht nach werden alle centripetalen Erregungen von beliebigen 
Punkten der Bauchhöhle zunächst dem Plexus coeliacus übermittelt, und 
derselbe setzt diese centripetalen Erregungen in centrifugale um. So ist 
es unter normalen Verhältnissen oder richtiger bei normalen Zuständen 
der Bauchorgane und ihrer Hüllen. Wenn aber die Nervenendigungen 
stark gereizt werden, wie z. B, bei Peritonitis, so vermag der Plexus 


Zur PHYsIoLoGIE DES PLEXUS COELIACTS. 357 


coeliacus nicht mehr diese gewaltige Summe von Reizen aufzuspeichern. 
Ein Theil überspringt die Nervenzellen, wird direct zu den höheren Gehirn- 
centren fortgeleitet und ruft eine Schmerzempfindung hervor. Unter nor- 
malen Verhältnissen erhalten wir keinerlei Schmerzempfindungen von Seiten 
der Bauchhöhle. Deswegen verdient jeder innerhalb der Bauchhöhle auf- 
tretender Schmerz eine besondere Beachtung. Ein solcher Schmerz beweist 
jedes Mal, dass entweder eine grosse Oberfläche der Bauchhöhle gereizt 
wurde, oder dass die Intensität des Reizes eine sehr grosse war. Der 
Goltz’sche Klopfversuch bestätigt diese Annahme. Unter normalen Um- 
ständen müssen die Schläge auf den Bauch recht lange und stark erfolgen, 
um einen reflectorischen Herzstillstand hervorzurufen. Wird dagegen zuerst 
eine Entzündung des Bauchfelles erzeugt, wie solches Prof. Tarchanoff 
gethan, so genügt schon ein leises Anziehen des Mesenteriums oder ein 
leichter Schlag auf den Bauch, um das Herz zum Stillstand zu bringen. 
Ich bemerke hier, dass der Goltz’sche Versuch bei Entfernung des Plexus 
coeliacus misslingt — ein Beweis, dass gerade durch den Plexus coeliacus 
die Erregungen der Bauchhöhle den Centren in der Medulla übermittelt 
werden. 

Es ist bemerkenswerth, dass der Weg für die sensiblen Erregungen 
kein ununterbrochener ist, sondern durch eine Reihe von Neuronen unter- 
brochen wird. Von den beiden Rückenmarkswurzeln weist gerade die 
hintere, nämlich die sensible das Ganglion intervertebrale auf. 

Nach Passirung des Ganglion intervertebrale treten die sensiblen Er- 
regungen in das Rückenmark ein. Hier erreichen sie die höheren Centren 
auch nicht direct, d.h. auch nicht auf ununterbrochenem Wege, sondern 
auf unterbrochenem Wege, indem sie eine ganze Reihe von Neuronen 
durchlaufen. Es fragt sich, warum gerade die sensiblen Erregungen so 
häufig unterbrochen werden, während die motorischen nur ein Mal an den 
grossen Zellen der Vorderhörner einen Aufenthalt erfahren. Höchst wahr- 
scheinlich erreichen die sensiblen Erregungen, in Folge dieser vielfachen 
Unterbrechungen, die höheren Uentren in mässiger abgeschwächter Inten- 
sität, so dass sie in den Zellen dieser Centren keinerlei unerwünschte Ver- 
änderungen hervorrufen können. Diese Einrichtung ist auch von hoher 
Bedeutung; denn sonst würden die Endungen der sensiblen Nerven so 
zahlreichen äusseren Reizen unterworfen sein, dass das Centralnervensystem 
stets den heftigsten Erschütterungen ausgesetzt und eine regelmässige 
Function des Organismus unmöglich sein würde. Die sensiblen Erregungen 
erreichen aber zunächst die Ganglia intervertebralia, wo sie einen Theil 
ihrer Reizgrösse einbüssen, falls die Erregungsspannung eine sehr grosse 
war; dann können diese Erregungen noch eine Abschwächung erfahren 
durch die Vertheilung auf die vielfachen Bahnen des Rückenmarkes und 


358 U. POPIHESEn: 


schliesslich beim Uebergang von einem Neuron zum anderen. Eine that- 
sächliche Grundlage für diese meine Voraussetzungen bildet die Beob- 
achtung von Uschinsky, welcher gezeigt hat, dass eine mehr oder weniger 
länger anhaltende (1 bis 1!/, Minute) Reizung der sensiblen Nerven keine 
Ablenkung der Magnetnadel im Galvanometer, welcher zwei Punkte des 
Rückenmarkes verbindet, anzeigt. Diese Ablenkung ist doch jedenfalls der 
beste und genaueste Beweis für den Erregungszustand des Nervengewebes. 
Die Versuche von Uschinsky, Cybulsky und Kirkor zeigen, dass die 
Erregung längs den ‚sensiblen Nervenfasern zum Rückenmark verläuft, im 
Verlaufe des Rückenmarkes aber nicht mehr festgestellt werden kann. Es 
ist klar, dass bei starker und anhaltender Reizung der sensiblen Nerven- 
fasern die Dendrite derartig beeinflusst werden, dass sie sich von den 
Zellen der benachbarten Neurone entfernen und auf diese Weise den Ueber- 
sang der Erregung von einem Neuron zum anderen erschweren. 

Wenn wir uns jetzt dem sympathischen Nervensystem zuwenden, be- 
gegnen wir im Verlaufe beider „Grenzstränge“ einer ganzen Reihe von 
Verflechtungen und Knoten. Es ist bemerkenswerth, dass diese Knoten 
ihr Maximum an Grösse und Zahl gerade in den grossen Körperhöhlen, 
der Brust und Bauchhöhle erreichen. Gleich beim Eingang in die Brust- 
höhle liegen zu beiden Seiten der Wirbelsäule grosse sternähnliche Gebilde — 
Ganglia stellata —, welche als Hauptvermittelungsstationen für Erregungen 
zwischen dem Rückenmark einerseits und den Organen der Brusthöhle, 
sowie des Halses andererseits betrachtet werden müssen. Die Knoten des 
sympathischen Nervensystems fangen z. B. die Erregungen von Seiten der 
kolossalen Oberfläche der Bauchhöhle auf. Man kann sagen, dass das 
sympathische Nervensystem den Ort darstellt, in dem sich der jeweilige 
Zustand aller inneren Organe und ihrer Hüllen wiederspiegelt. That- 
sächlich sind auch die Sensibilitätsflächen der inneren Organe so eross und 
die von diesen Oberflächen ausgehenden Erregungen so zahlreich, dass das 
Centralnervensystem, falls es alle diese Erregungen hätte verarbeiten müssen, 
ausschliesslich mit den „inneren Angelegenheiten“ des Körpers beschäftigt 
wäre. Aber Dank dem sympathischen Nervensystem gewinnt eben die 
Aussenwelt mit ihrer Fülle von Erregungen Zutritt zum Centralnerven- 
system und findet dasselbe frei und zur Aufnahme von Eindrücken voll- 
kommen bereit. Factisch haben auch die an der Oberfläche unseres Körpers 
auftretenden Impulse directen Zutritt zum Gehirn: die anatomische Ver- 
bindung zwischen den Gefühlsorganen (einschliesslich der Haut) und dem 
Gehirn ist eine höchst einfache. Nur an einzelnen wenigen Stellen finden 
wir Nervenknoten und auch da wiederum im Verlaufe von fast ausschliess- 
lich sensiblen Nervenfasern, wie z. B. Ganglion Gasseri am Trigeminus oder 
die Ganglia intervertebralia an den hinteren Rückenmarkswurzeln. 


ZUR PHYSIOLOGIE DES PLEXUS COELIACUS. 359 


Das soeben Gesagte in Verbindung mit meinen früheren Auseinander- 
setzungen zeigt klar, eine wie grosse Rolle der Plexus coeliacus und das 
sympathische Nervensystem überhaupt in unserem Organismus spielen. 
Meine Versuche beweisen zwar, dass Hunde auch ohne den Plexus coeliacus 
ieben können und dies sogar bei verhältnissmässigem Wohlbefinden. Wird 
jedoch dadurch die Nutzlosigkeit des Plexus eoeliacus und des sympathischen 
Nervensystems für den Organismus bewiesen? Gewiss nicht! Die Ent- 
‚jernung gewisser Organe dient in der Physiologie dazu, die oft dunkle Be- 
deutung dieses oder jenes Organs zu ergründen. Kein Physiologe wird die 
Behauptung aufstellen, dass ein Organ unnöthig sei, weil das Thier auch 
ohne dieses Organ leben kann. 

Goltz hat durch Versuche dargethan, dass Thiere (Hunde) ohne den 
grössten Theil des Rückenmarkes leben können. Bei meinen bezüglichen 
Versuchen habe ich das ganze Rückenmark (bei Hunden und Katzen) ent- 
fernt und dadurch die Thätigkeit der Organe ausserhalb jeglichen Einflusses 
Seitens. des centralen Nervensystems gestellt, und doch konnte ich bei An- 
wendung künstlicher Athmung das Leben der Versuchsthiere über eine 
beliebige Anzahl von Stunden erhalten und die Thätigkeit gewisser Organe 
studiren. Darf man denn hieraus den Schluss ziehen, dass der Organismus 
das Rückenmark entbehren kann? 

Also: Wenn wir Organe entfernen, so wollen wir keineswegs dadurch 
ihre Nutzlosigkeit beweisen! Eine normale physiologische Existenz ist viel- 
mehr nur möglich bei normaler Function aller Organe und aller Zellen. 
Gewiss ist es in der Physiologie gebräuchlich, dass man einem Thiere ab- 
sichtlich eine Verletzung beibringt und dann die entstandene Lebensgefahr 
durch verschiedene Maassnahmen beseitigt. Aber der Zweck dieses Ver- 
fahrens ist nur, die Richtigkeit früher gezogener Schlüsse zu beweisen, um 
sich bei weiteren Studien auf streng festgestellte Thatsachen stützen zu 
können. Der Physiologe zerlegt den menschlichen Organismus, diese so 
complicirte Maschine, in ihre Theile, studirt jeden Theil einzeln und benutzt 
die gewonnenen Kenntnisse dann, wenn am Organismus im Falle einer 
Verletzung desselben irgend ein reparatorischer Eingriff erforderlich ist. 

Ein grosser Theil der im Vorstehenden geschilderten Untersuchungen 
ist im physiologischen Laboratorium der Kaiserlichen militär-medicinischen 
Akademie ausgeführt und hierauf im physiologischen Laboratorium des 
Militärhospitals zu Moskau abgeschlossen und ergänzt worden. 


Zum Schluss ist es mir eine angenehme Pflicht, meinen Freunden, 
den Herren Dr. P. F. Dalecki und Dr. A. W. Tschitschkin, für den 
mir bei meinen Experimenten geleisteten thätigen Beistand an dieser Stelle 
meinen wärmsten Dank zu sagen. 


360 NL. PorıkEsskt: Zur PHysioßocIk DES PLEXUS COELIACTS. 


Litteraturverzeichniss. 


1. Physiologie des Plexus coeliacus: A. W. Volkmann, Müller’s Archiv. 
1842 u. 1845. — J. Müller, Lehrbuch der Physiologie. 1844. — Pineus, Experi- 
menta de vi nervi vagi et sympathici ad vasa, secretionem, nutritionem tractus 
intestinalis et renum. Dissertatio inauguralis. Vratislaviae 1856. — M. Schiff, 
Sammlung seiner Werke. — Budge (vgl. Lamanski). — A. Adrian, Eckhard’s 
Beiträge zur Anatomie und Physiologie. 1858. Bd. I. Heft IV. — Lamanski, 
Zeitschrift für rationelle Medicin. 1866. — Samuel (vgl. Lamanski). — Munk 
und Klebs, Handbuch der pathologischen Anatomie. 1870. — A. Lustig, Archivio 
per le scienze mediche. Vol. XIII. Nr. 5. — Peiper, Zeitschrift für klinische Medicin. 
Bd. XVII. — A. Lustig, Zo Sperimentale. 1891. (Cit. nacı Koslenko.) — Roddi, 
Ebenda. 1891. (Cit. nach Korolenko.) — Viola, Rivista generale italiana di clinica 
medica. 1891. Nr. 12 u.13. — Bonome, Archives italiennes de biologie. Vol. XVII 
und Archivio per le scienze mediche. Vol. XIV. Nr. 17. — Lewin und Boer, Archiv 


für die gesammte Physiologie. 1894. Bd. LVII. — Soldaini, Archivio italiano di 


celinica medica. 1897. Bd. XXXVI. — Klecki, Centralblatt f. Physiologie. 1897. — 
Koslenko, Ueber die Veränderungen im Plexus solaris bei Verbrennungen. Disser- 
tation. St. Petersburg. (Bei diesem Autor ist die Litteratur bezüglich der Physiologie 
des Plexus coeliacus sorgfältig gesammelt.) 


2. Veränderungen im Plexus coeliacus bei Cholera: Iwanowski, 
Journal normalnoji pathologitscheskoj histologü i klinitscheskoj mediciny. 1873. Bd. VII. 
— Stomma:. Ueber die histologisch-anatomischen Veränderungen in den Herzganglien 
und im Plexus solaris bei Cholera. Dissertation. St. Petersburg 1893. 


3. Veränderungen des Plexus coeliacus bei Abdominaltyphus: 
Semenow, Beitrag zur Pathologie des sympathischen Nervensystems bei einfachen 
und gemischten kormen von Abdominaltyphus. Dissertation. St. Petersburg 1873. 
— Kwieinski, Plexus coeliacus bei Abdominaltyphus. Dissertation. St. Petersburg 1900. 

4. Zur Physiologie der Neurone: Uschinski, Centralblatt f. Physiologie. 
1899. — Cybulski und Kirkor, Bulletin international de l’Academie des sciences 
de Cracovie. März 1899. 

5. Ueber das Goltz’sche Experiment: Tarchan-Mourawow, Archives de 
physiologie. 1875. 

6. Veränderungen des Darmcanals bei Verbrennungen: Scherning 
und E. Welti (vgl. Korolenko). 


a 


Verhandlungen der physiologischen Gesellschaft 
zu Berlin. 
Jahrgang 1902—1903. 


IIl. Sitzung am 21. November 1902. 


Hr. W. Consstein: „Ueber fermentative Fettspaltung.“ 


Da eine ausführliche Arbeit des Vortr. über den gleichen Gegenstand 
in den Berichten der Deutschen chemischen Gesellschaft (Bd. XXXV. S. 3988) 
erschienen ist, so seien an dieser Stelle nur kurz die wichtigsten Gesichts- 
punkte erwähnt, welche der Vortr. gemeinsam mit den Herren Dr. Hoyer 
und Wartenberg in der vorliegenden Arbeit verfolgt hat. 

Die Existenz fettspaltender Fermente im Pflanzenreich ist bereits von 
Schützenberger vermuthet und von Green und Sigmund sicher gestellt 
worden. Bei der Nachprüfung der diesbezüglichen Versuche stellte sich 
jedoch heraus, dass man nach der von den betreffenden Autoren angegebenen 
Versuchsanordnung nur sehr schwankende und insbesondere quantitativ höchst 
unbefriedigende Ergebnisse erzielt. Es gelang festzustellen, dass man 
diese schlechten Ausbeuten wesentlich verbessern kann, wenn man die fett- 
spaltenden Fermente auf das betreffende Neutralfett in Gegenwart einer Säure 
oder eines sauren Salzes einwirken liess. Eine ganz besonders energische 
fettspaltende Wirkung lässt sich unter diesen Umständen beim Rieinus- 
samen feststellen. Die fettspaltende Wirkung erstreckt sich auf alle Fett- 
säureglyceride, doch spalten sich die niedrigen Fettsäureester (z. B. Triacetin) 
schwerer als die Ester der höheren Säuren (z. B. Triolein). Die Feststellung 
der für den Vorgang geeignetsten Versuchsbedingungen bildete den Gegen- 
stand einer weiteren Gruppe von Versuchen. Es wurde hierbei z. B. das 
Optimum der Säuremenge und Concentration, das Optimum der Temperatur 
festgestellt, die Einwirkung von Giften u. s. w. untersucht. 

Zum Schluss wurde kurz auf die technische Bedeutung des Vor- 
getragenen eingegangen und darauf hingewiesen, dass die Fettspaltung an 
und für sich ein sehr aussichtsreiches Feld für chemisch-technische Unter- 
suchungen darstellt, dass aber andererseits gerade die fermentative Fettspaltung 
möglicher Weise eine sehr grosse Zukunft haben kann, wegen der Billigkeit 
des Verfahrens und der Schönheit der dabei gewonnenen Endproducte. 


IV. Sitzung am 5. December 1902. 


1. Hr. Hans VırcHhow: „Gefrierskelet-Präparat der Hand und 
Henke’sche Axen.“ 

Obwohl erwiesen ist, dass die beiden „festen“ Axen, auf welche Henke 
die Bewegungen im Carpus bezog, nicht existiren, so ist doch das Stück von 
Wahrheit, welches der Auffassung dieses Autors zu Grunde lag, so bedeutungs- 


362 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


voll für das Verständniss der Hand, dass jeder, der sich mit diesem com- 
plieirten Problem beschäftigt, in erster Linie bestrebt sein wird, das Richtige 
an der Henke’schen Lehre zu begreifen. Es ist überhaupt Angesichts der 
ausserordentlichen Schwierigkeit und Complieirtheit des Problemes der Hand- 
bewegungen zweckmässig, sich nach einander in die verschiedenen zum 
Teil von einander abweichenden und sich widersprechenden Theorien so 
hinein zu denken, als wolle man jedes Mal dem betreffenden Autor Recht 
geben; so kann man z. B. die Verbindung des Mondbeines mit dem Kopf- 
beine mit Henke als Abschnitt eines Kugelgelenkes betrachten und doch 
im nächsten Moment die gleiche Verbindung mit H. v. Meyer als Abschnitt 
eines Ginglymus ansehen. Die Henke’sche Theorie hat aber auch, historisch 
betrachtet, in der Litteratur eine so grosse Bedeutung erlangt, dass man 
schon um dessentwillen lebhaft wünschen muss, sich dieselbe jederzeit an- 
schaulich vor Augen stellen zu können. 

Ich habe nun an mir selbst in den Anfängen meiner Beschäftigung 
mit dem Handgelenk die Erfahrung gemacht, dass ich mir die Lage dieser 
Axen schwer vorstellen konnte, und dass die Schwierigkeit des Verstehens 
sich wiederholte, wenn ich nach längerer Unterbrechung auf die Sache 
zurückkam. Ich habe auch gesehen, dass es anderen, nicht nur Studirenden, 
sondern auch Anatomen. von Fach, nicht besser ging. Ich habe deswegen 
gestrebt, ein Präparat herzustellen, an welchem die beiden Axen in 
materieller Wiedergabe gezeigt werden könnten, um durch einen einzigen 
Blick verständlich zu machen, was durch Worte nur unter Zeitverlust und 
auch dann nicht zuverlässig erreichbar ist. Eine schnelle Demonstration 
ist aber um so nöthiger, wenn man bei der Besprechung der genannten 
Theorie den Zusatz macht, dass dieselbe nur eine partielle Berechtigung 
hat; denn der Zuhörende, der vielleicht eben anfängt, die Henke’sche 
Theorie zu begreifen, bezw. die Lage der Henke’schen Axen aufzufassen, 
wird sofort seine Gedankenarbeit abbrechen, sobald er hört, dass das Gesagte 
doch nur halbe Wahrheit ist. Ich hatte für meinen Zweck nicht eine 
Zeiehnung im Auge oder ein Modell aus Klötzen, welches so zurecht 
gemacht ist, dass es der Theorie entsprechen muss, sondern ein richtig 
aufgestelltes mit den Henke’schen Axen versehenes Handskelett. Ich 
hatte auf der anderen Seite nicht die Absicht, auf diesem Wege die ge- 
nannte Theorie von neuem zu prüfen oder zu kritisiren, sondern ich wollte 
nur ein Präparat haben, an dem die Lage der beiden Axen ganz objectiv, 
historisch durch Drähte gezeigt werden konnte; und zwar ein fest auf- 
gestelltes Skelet, wie es durch das von mir seit vielen Jahren benutzte 
Gefrierskelet-Verfahren gewonnen werden kann. 

Ich wählte dafür eine kräftige Hand von einem musculösen Individuum, 
welche, wie man es an Leichen häufig trifft, eine durchaus natürliche Haltung 
hatte. Uebrigens müsste ja, wenn die Hand wirklich „feste“, d. h. durch 
den Gelenkbau bestimmte Axen besässe, die Leichenhand diese ganz ebenso 
wie die des Lebenden aufweisen. Beim Frieren war die Hand mit dem Arm 
in Verbindung. Nachdem das Präparat (bei natürlicher Winterkälte) durch- 
gefroren war, wurden zunächst nur diejenigen Stellen des Skelets durch 
Abschneiden der Weichtheile und Schaben freigelegt, welche für die nöthigen 
zwei Bohrungen in Betracht kamen, d. h. Spitze des Processus styloideus 
radii, volare und ulnare Seite des Pisiforme, Tuberositas des Navieulare und 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — HANS VIRCHOWw. 363 


Dorsalseite des Hamatum. Dann wurden unter genauer Visirung die beiden 
Axenlager gebohrt. Hierauf wurde die (im gefrorenen Zustande erhaltene) 
Hand nebst Radius und Ulna in gewöhnlicher Weise an der dorsalen Seite 


364 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


von Weichtheilen, Periost und den erreichbaren Knorpelabschnitten befreit 
und der Gypsabguss der freigelegten Knochen genommen. 

Nachdem nun später, nach dem Ausmaceriren der Knochen das Skelet 
zusammengesetzt und die beiden Axen eingelegt waren, machte ich die 
gleiche Erfahrung, die ich bei früheren Gefrierskelet-Präparaten schon zur 
Sprache gebracht habe; das Präparat, welches nur als Demonstrationsobjeet 
ohne jede kritische oder theoretische Nebenabsicht gedacht war, stellte selbst 
Fragen, gab Antwort auf Fragen, die ich selber gar nicht im Sinne gehabt 
hatte, zu erörtern. 

Zunächst musste ich mir selbst angesichts des Präparates, und kann sich 
der Leser angesichts der beigegebenen Figur die Frage vorlegen, ob die beiden 
Axen den Henke’schen Angaben entsprechend gelegt sind. Betrachten wir 
dabei zunächst nur die beiden Punktpaare, an welchen die Axen die Hand- 
ränder treffen, ohne uns vorerst um die Handmitte zu bekümmern, so sind 
die beiden radialen Endpunkte durch Henke scharf bestimmt: die Spitze 
des Processus styloideus radii und die Tuberositas des Navieulare. Nicht 
ebenso präcise sind Henke’s Angaben hinsichtlich des ulnaren Randes. 
Hier soll die proximale Axe durch das Erbsenbein austreten. Da aber das 
letztere eine nicht unerhebliche Ausdehnung sowohl in proximo-distaler als 
in dorso-volarer Richtung besitzt, so kann man, ohne der Beschreibung 
Henke’s untreu zu werden, die Axe sehr verschieden legen. Von Henke 
(Anatomie und Mechanik der Gelenke) sind hier heranzuziehen S. 166, 
Textfigg. 38 und 41 sowie die Fig. 1 der Taf. IV. Daraus ist jedoch ein 
klares Bild über die Ansicht des Autors nicht zu gewinnen, da diese An- 
gaben, wie schon Rudolf Fick hervorgehoben hat!, sich erheblich wider- 
sprechen. Von dem ulnaren Ende der distalen Axe heisst es bei Henke, 
„dass sie auf dem Rücken des Hakenbeines austritt* (S. 172), was an sich 
wenig "bestimmt ist, da der „Rücken“ des Hamatum eine bedeutende Aus- 
dehnung hat und überdies schief steht; doch scheint die Fig. 40 die Be- 
schreibung dahin ergänzen zu sollen, dass das Ende der Axe die proximo- 
ulnare Ecke des Knochens trifft. Dazu passen auch die Worte (8. 174), 
dass „das ulnare Ende der Spalte nahezu mit dem Austritt der Axe zu- 
sammenfällt“. Auch diese Angabe wird dann allerdings im Nachfolgenden 
wieder modifieirt und bedingt dargestellt, so dass Niemand recht wissen 
kann, was in letzter Linie die Meinung Henke’s ist. 

Auf meinem Präparat müsste die distale Axe, um das ulnare Ende des 
intercarpalen Spaltes zu treffen, am Kleinfingerrande etwas mehr proximal 
gelegen sein; die proximale Axe könnte, ohne das Pisiforme zu verlassen, 
erheblich variirt werden. Ich habe jedoch keinen Versuch gemacht, die 
Lage der Axen im Sinne einer proximalen oder distalen Verschiebung zu 
ändern, weil sich bei der erwähnten Unbestimmtheit der Henke’schen An- 
gaben nicht erkennen lässt, ob mit einer „Correcetion“ eine Annäherung oder 
Entfernung der Henke’schen Meinung gegenüber erreicht wird. Es ist auch 
nicht so sehr der höhere oder geringere Grad von Schieflage gegenüber 
der Querebene der Hand, worin das Belehrende des Präparates liegt, sondern 
die Beziehungen auf die Handmitte. 

In dieser Hinsicht enthüllte unser Präparat mit überraschender Deutlich- 


! Bewegungen in den Handgelenken. 8. 453. 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — HANS VIRCHOW. 365 


keit die Thatsache einer volaren Lage der Axen und lenkte damit die 
Aufmerksamkeit auf einen Punkt in der Henke’schen Theorie, welcher 
ohnedies durch Reflexion hätte klar sein sollen, der aber für mich erst durch 
das Präparat sinnfällig wurde. Die Axe für die Flexionsbewegung im inter- 
carpalen Gelenk muss nothwendiger Weise die Handmittelebene (d. h. die 
durch den Kopf des Capitatum gehende dorso-volare Längsebene) gleich 
weit von der dorsalen wie von der volaren Seite entfernt (in der Mitte 
des Kopfes des Capitatum) treffen, sonst würde das Gelenk zwischen 
Capitatum und Lunatum klemmen. Eine solche Lage nehmen auch alle 
Autoren, beginnend mit H. v. Meyer, Braune und Fischer, Forssell, 
Rud. Fiek, an; und auch Henke hat ein derartiges Schema. D. h. mit 
anderen Worten: die beiden „festen“ Henke’schen Axen sind nicht 
durch zwei Punkte, sondern durch drei Punkte bestimmt, indem 
sie ausser ihren Endpunkten noch einen dritten bestimmt gelagerten Punkt 
in der Handmitte enthalten. Es entsteht also die ganz bestimmte Frage, 
ob es möglich ist, dass diese drei Punkte auf einer Linie liegen. 

Hierauf antwortetnun mein Präparat in folgender Weise: dieproximale 
Axe trifft zwar (am Präparat) die Handmittelebene zu weit volar, indem sie das 
Lunatum dicht unter seiner volaren Oberfläche durchbohrt; aber da — wie 
oben gesagt — das ulnare Ende der Axe eine Verlagerung verträgt, so 
kann die Axe so weit zurückgedrückt werden, dass sie in die gewünschte 
Lage kommt. Die distale Axe dagegen müsste, um die Handmittelebene 
in der dorso-volaren Mitte zu treffen, d. h. um durch den Mittelpunkt des 
Kopfes des Capitatum zu gehen, eine so stark geänderte Lage erhalten; wie 
es im Rahmen der Henke’schen Angaben nicht möglich ist. Soll dieser 
Axe ihr radialer Endpunkt in der Tuberositas des Naviceulare gewahrt 
werden, so bekommt sie eine so steile Richtung, dass sie das Hamatum 
überhaupt nicht mehr trifft oder höchstens an der dorso-radialen Kante, 
in welcher es mit dem Capitatum zusammenstösst. 

Hiermit wäre aber auch wieder die proximale Axe erschüttert, 
mit der wir uns schon zufrieden gegeben hatten. Denn da nach der 
Henke’schen Theorie beide Axen den gleichen Grad von Steilheit 
gegen die Handebene (d. h. die der Volarfläche parallele Ebene) haben sollen, 
so müsste mit einer Lageänderung der distalen Axe die proximale in 
gleichem Grade geändert werden. 

Was also mein Präparat zeigt, was es ungefragt gelehrt hat, ist — 
nicht: dass die Henke’sche Lehre von den beiden „festen“ Axen des Carpus 
falsch ist (das wussten wir ohnedies schon) sondern: dass die Henke’sche 
Lehre ihren Widerspruch in sich selbst trägt, indem sie die distale 
Axe durch drei Punkte gehen lässt, die nicht auf der gleichen Linie 
liegen können. Will man die Tuberositas des Naviculare als den radialen 
Endpunkt festhalten und von da durch den Mittelpurkt des Capitatum gehen, 
so giebt das eine andere Linie, als wenn man die Richtung auf die proximo- 
ulnare Ecke des Hamatum wählt. Ich habe an einem Naviculare die beiden 
Linien gebohrt und Drähte eingeführt; der Winkel, den sie bilden, betrug 23°. 
‘Wenn auch eine solche Bestimmung selbstverständlich nicht auf den Grad genau 
sein kann, sowohl aus technischen Gründen als wegen der individuellen 
Variation, so zeigt doch diese Winkelbestimmung an, um was es sich handelt. 

Man könnte vielleicht versucht sein, die Henke’sche Theorie dahin 


366 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


abzuändern, dass man die durch die Tuberositas navieularis und durch die 
Mitte des Capitatumkopfes gehende Linie für die distale Axe erklärt und auf 
die Austrittstelle an der proximo-ulnaren Ecke des Hamatum verzichtet. Aber 
mit dieser „Correetion* würde man etwas Anderes sagen, als was Henke 
sagen wollte. Denn diese „Axe“ ist nicht eine Axe des ganzen inter- 
carpalen Gelenkes, sondern nur eine solche der radialen Hälfte desselben. 
Es ist die schon von mir besprochene „Naviculareaxe“ oder die Axe 
des gekoppelten Doppel-Ellipsoidgelenkes der Handwurzel“. Es ist die gleiche 
Axe, die schon Meyer als „Naviculareaxe‘“ eingeführt und verwertet hat, 
nur dass er sie fälschlich durch die Mitte der Pfanne des Naviculare gehen 
liess, während sie thatsächlich an der volaren Kante der Pfanne passirt. Es 
ist dies eine wohlcharakterisirte Axe für ein Partialgelenk des Handgelenkes. 

Damit gewinnen die vorstehenden Bemerkungen Anschluss an Be- 
trachtungen, die schon früher von mir und Anderen angestellt sind, nämlich 
Betrachtungen über die Bedeutung der Partialbewegungen innerhalb der 
Gesammtbewegungen der Hand. Während diese Partialbewegungen an- 
fänglich mehr als ein störendes Element empfunden wurden und in der Er- 
örterung bei Seite standen, sind sie allmählich mehr an den Mittelpunkt 
der Frage herangezogen worden. Ich selber habe versucht, durch eine 
schärfere Charakterisirung der „Einzelmechanismen am Handgelenk“ die 
anatomischen Grundlagen genauer festzustellen. 

2. Hr. ABELSDORFF: „Ueber entoptische Sichtbarkeit der Netz- 
hauteireulation.“ 

Die beim Anblicke heller Flächen im Gesichtsfelde auftauchenden, schon 
oft beschriebenen rundlichen Gebilde, die sich schnell in geraden oder ge- 
krümmten, aber bestimmten Bahnen fortbewegen, sind ein Ausdruck der 
Netzhauteireulation: sie gleiten nie durch den Fixirpunkt, und ein leichter 
Druck auf den äusseren Augenwinkel genügt, ihnen eine mit dem Puls- 
schlage synchron pulsirende und stagnirende Bewegung zu erteilen, die beim 
Nachlassen des Druckes einer beschleunigten Platz macht. 

Das Phänomen lässt sich bei Einwirkung homogener Strahlungen zwar 
in verschiedenen Theilen des Spectrums mit Ausnahme des Rot andeutungs- 
weise sehen, in voller Deutlichkeit mit allen Einzelheiten aber nur in dem 
brechbarsten Theile des Blau und im Violett beobachten. Der Einfluss der 
Wellenlänge des in’s Auge dringenden Lichtes, der gegenüber die Helligkeit 
innerhalb gewisser Grenzen bedeutungslos ist, wird in folgender Weise 
demonstrirt: Man blickt nach einem durch elektrisches Bogenlicht erleuchteten 
Mattglase durch eine Oeffnung, welche zur Hälfte sog. Cyanblau, zur Hälfte 
Dunkelblau und Violett mittels Vorsetzen Nagel’scher Farbenfilter hindurch- 
lässt. Nur durch den letzteren Theil der Oeffnung ist das Phänomen 
wahrnehmbar, obwohl durch geeignete Concentration der Farblösungen beide 
Hälften auf gleiche Helligkeit eingestellt sind. 

Diese Thatsache lässt sich mit der Erklärung einer Schattenbildung 
durch die roten Blutkörperchen, zumal da die hellen Körperchen nie in der 
Contrastfarbe der Beleuchtung erscheinen, nicht vereinigen, sondern legt die 
Annahme einer dioptrischen Wirkung der roten Blutkörperchen nahe. 

3. Hr. AuskBacn und Hr. FRIEDENTHAL: „Ueber die Reaction des 
Harnes bei verschiedenen Ernährungsverhältnissen.“ (Ref, Hr. 
Friedenthal.) 


PHYSIOL. GES. — AUERBACH U. FRIEDENTHAL. — M. LEwAnDowsKY. 367 


Die Harnreaction des Menschen und der Omnivoren soll eine wechselnde 
sein je nach der Ernährung; in Wahrheit reagirt aber der Harn des 
Menschen bei jeder Nahrung, wie das Blut und die meisten Secrete und 
Excerete mit Ausnahme von Magensaft und Pankreassecret annähernd neutral 
oder spurenhaft sauer. 

Zur Prüfung der wahren Reaction einer Körperflüssigkeit ohne Gleich- 
gewichtsverschiebung können dienen die Messung der Inversionsgeschwindig- 
keit von Rohrzucker und der Verseifungsgeschwindigkeit von Aethylacetat, 
die Messung des Potentiales von Gasketten und schliesslich am bequemsten 
und zuverlässigsten der einfache Zusatz eines genügend empfindlichen Indi- 
eators, wie Phenolphtalein. Alle diese Methoden ergeben übereinstimmend, 
dass der menschliche Urin stets neutral oder schwach sauer reagirt, selbst 
wenn Lackmus alkalische Reaction anzeigt. Bei Gegenwart von CO, ist 
Lackmus als Indicator nieht zu verwenden, ebensowenig Methylorange. 

Jeder normale menschliche Urin reagirt sauer oder neutral gegen 
Phenolphtalein, ergiebt Phenolphtalein in N/,,o-Lösung Rosafärbung, so ist 
das ein pathognomonisches Merkmal, dass der Urin zersetzt ist. 

Bei mehrwöchentlicher ausschliesslicher Kohlnahrung zeigt der Urin aus 
der Blase von Kaninchen keine Rosafärbung mit Phenolphtalein, reagirt also 
annähernd neutral. Die Stärke der Alkalescenz bezw. Acidität kann colori- 
metrisch ohne Gleichgewichtsverschiebung quantitativ bestimmt werden. Da 
der Urin schwache Säuren — Kohlensäure und Phosphorsäure — enthält, 
ergiebt die Titration zur Bestimmung des gesammten Basenbindungsvermögens 
mit jedem Indicator einen anderen Werth; maassgebend zur Bestimmung 
des Basenbindungsvermögens ist nur Phenolphtalein als schwächste Säure. 

Pflüger’s Befund von alkalischem Dünndarminhalt beim Hund ist nur 
auf die Verwendung von Lackmuspapier zurückzuführen, welches fehlerhafte 
Werthe ergiebt, der Dünndarminhalt reagirt stets neutral oder spurenhaft 
sauer. Die annähernd neutrale Reaction des Blutserums wird durch alle 
oben erwähnten physikalisch-chemischen Methoden sicher gestellt.! 

In die Zone der annähernden Neutralität fällt auch der bisher nach 
dem Ausweis von Lackmuspapier „alkalische“ menschliche Urin, wobei mit 
„annähernd neutral“ eine Lösung bezeichnet wird, deren Gehalt an OH-Ionen 
den einer !/,go0000 Normallösung nicht übersteigt. 


V. Sitzung am 15. December 1902. 


1. Hr. M. LewAannpowsky: „Ueber das Verhalten der glatten 
Augenmuskeln nach Sympathicusdurchschneidung.“ 


Der Innervation der Dilatator pupillae durch den Sympathicus entspricht 
die der Sympathicusdurchschneidung folgende Miosis. Eine besondere Er- 
klärung erfordert aber 1. die allmählich erfolgende Restitution einer Pupillen- 
weite, die Verminderung der anfänglichen Miosis nach Sympathicusdurch- 
schneidung, 2. die Abhängigkeit dieser Restitution von der Erhaltung der 
Gangl. supremum, 3. die Thatsache, dass unter Umständen z. B. in der 
Nareose die Pupille der operirten Seite weiter werden kann als die der 


! Siehe auch: Friedenthal, Zeitschrift für allgemeine Physiologie. 1901. 
Bd. I. 1. S. 56. 


368 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


normalen (paradoxe Pupillenreaetion Langendorff). Budge erklärt diese 
Restitution durch eine Erschlaffung des Sphineter in Folge des fehlenden 
Gegenzuges des Dilatator, und diese Theorie muss also zur Erklärung von 2) 
und 3) entsprechende Hülfsannahmen betreffend das Maass dieser Erschlaffung 
machen. Diese Theorie ist schon von Langendorff bekämpft worden. 
Langendorff seinerseits nimmt eine starre Contractur des Dilatator durch 
den Reiz der Degeneration in den Nervenendigungen an. Diese Theorie 
kann die auch nach Sympathieusdurchschneidung central vom Ganglion ein- 
tretende Restitution der Pupille nicht erklären, sie macht aber ebenso wie 
die Budge’sche alle Aenderungen der Pupillenweite, welche nach Sympathieus- 
durchschneidung noch zu Stande kommen können, insbesondere die paradoxe 
Pupillenerweiterung, abhängig von einer Veränderung des Contractionszu- 
standes des Sphincter, der allerdings im Gegensatz zu der Budge’schen 
Annahme nicht erschlafft, sondern übermässig contrahirt sein soll. 
Versuche an den glatten Muskeln der Augenhöhle, insbesondere der 
Membrana tertia der Katze, über deren Ergebnisse schon früher berichtet 
wurde!, haben den Vortheil, dass wir durch Curarisirung des Thieres jeden 
Antagonismus, der nur durch quergestreifte Muskeln (M. retractor bulbi u. s. w.) 
geleistet wird, beseitigen können. Der hiergegen von Levinsohn? erhobene 
Einwand der Existenz eines glatten M. protrusor membranae nictitantis, 
welcher vom Oculomotorius innervirt würde, ist aus der Luft gegriffen. Ein 
solcher Muskel existirt erstens anatomisch nicht und die Wirkungslosigkeit 
der Oculomotoriusreizung nach Curarisirung® (was die Bewegung der Membrana 
nietitans betrifft) beweist auch experimentell, dass er nicht existiren kann. 
Diese Versuche an den glatten Lidmuskeln zeigen in Analogie mit der 
Langendorff’schen Annahme für den Dilatator, dass eine Reizung dieser 
Muskeln vorliegt. Im Unterschiede von der Langendorff’schen Annahme 
zeigen Versuche mit Reizmitteln verschiedener Art jedoch, dass es sich nicht 
um eine starre Contractur handelt, sondern dass die glatten Augenmuskeln 
auch nach Sympathicusdurchschneidung noch selbst der Contraction, der 
Reaction auf Reize (am bequemsten erwies sich der Reiz des dyspnoischen 
Blutes) fähig sind, und es zeigt sich z. B., dass die paradoxe Lidreaction 
nicht, wie Langendorff will, auf eine Erschlaffung des Antagonisten, sondern 
auf eine active Oontraction der vom Sympathicus innervirten glatten 
Lidmuskeln selbst zurückzuführen ist, deren Erregbarkeit nicht nur durch 
Abtrennung vom Centralnervensystem im engeren Sinne, sondern auch vom 
Ganglion supremum in eigentümlicher Weise abhängig ist, wie das (l. e.) 
bereits berichtet wurde. Man wird einerseits die an den glatten Lidmuskeln 
gewonnenen Resultate auf den Dilatator pupillae anwenden können, da, wie 
noch an anderer Stelle gezeigt werden soll, keine Thatsache vorliegt, welche 
einer solchen Analogisirung widerspricht, und man wird zweitens die spontane 
Restitution der Pupille auf die Wirkung von natürlichen Reizen zurück- 
führen dürfen, welche nach Maassgabe desjenigen Grades der Erregbarkeit 
wirksam sind, der nach den Operationen am Sympathicus durch unsere 
künstlichen Reize festgestellt wurde. Die Bezeichnung der Automatie 
für diese Erscheinungen ist zulässig und schon von J. Müller nicht nur 


1 Berichte der Berliner Akad. der Wissensch. 1900. 
2? Graefe’s Archiw. 1902. 
® Langley, Journ. of Physiol, Vol, XII, 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — E. Rost. 369 


für rhythmische Bewegungen, sondern auch für continuirliche Spannungs- 
zustände angewandt worden. 


2. Hr. E. Rost: „Zur pharmakologischen Beurtheilung der Bor- 
säure unter besonderer Berücksichtigung ihrer Ausscheidung.“ 


Auf Grund der neueren Untersuchungen Anderer und meiner eigenen 
Versuche über die Wirkungen der Borsäure und des Borax auf den Orga- 
nismus habe ich die Anschauung vertreten, dass die Borpräparate phar- 
makologisch-differente Stoffe sind. 

„Die Borsäure und der Borax gehören, — sofern sie Mengen von 
einigen Bruchtheilen eines Grammes übersteigen — zu den keineswegs 
wirkungs- und gefahrlosen Stoffen. 

Schon das Verhalten derselben bei mehr als einmaliger Einführung 
in den Körper, die Erzeugung einer nicht unbeträchtlichen Harnvermehrung, 
die langsame endgültige Entfernung aus Geweben und Säften, die bei 
Erkrankung der Hauptausfuhrstätte, der Niere, sich erheblich steigern kann, 
und das Entstehen von Hautausschlägen bei innerlicher Anwendung, bei 
Einläufen in den Mastdarm, Ausspülung des Magens, kurz in allen Fällen, 
wo die Aufsaugung und der Uebertritt in die Säfte des Körpers gegeben 
ist, sprechen für die Wirksamkeit dieser Substanzen. 

Die Möglichkeit der Erzeugung von diarrhoischen Zuständen, die 
Herabsetzung der Aufsaugungsgrösse im Darm und damit die mangelhafte 
Ausnutzung der mit Borpräparaten versetzten eiweiss- und fetthaltigen 
Nahrungsmittel, die in Form von Fettverlust entstehende Gewichts- 
abnahme und die Beeinflussung der Nieren (Eiweissausscheidung mit 
dem Harn) zwingen zur Einreihung der Borpräparate unter die pharma- 
kologisch-differenten Stoffe.“ 

Diese zusammenfassenden Sätze! sind auf Grund meiner und der in der 
Litteratur vorliegenden Versuche aufgestellt worden. Insbesondere sind 
hierbei auch die Ergebnisse der Stoffwechselversuche Rubner’s an zwei 
Personen mit Darreichung von 33” Borsäure zu den Mahlzeiten für die 
Beurtheilung maassgebend gewesen. Rubner’s Versuchsergebnisse waren 
folgende: „In beiden Fällen hatte der Koth eine dünnere Beschaffenheit an- 
senommen ... und führte mehr Trockensubstauz, reichlicher Stickstoff und 
Kohlenstoff aus. An Stickstoff kam in dem einen Falle + 24°5 Procent, 
im zweiten + 9-7 Procent, an Kohlenstoff + 18°9 und 10.2 Procent 
mehr.“? Die beiden Personen zeigten im Respirationsapparat in Folge Weg- 
falls der gewohnten Arbeit in der Vorperiode Gewichtszunahme. Bei der 
einen Person „hat die Borsäure den in der Vorperiode bestehenden Ansatz 
von Eiweiss und Fett um 45.4 Procent herabgemindert, im zweiten Fall 
um 12-5 Procent, das ist eine ungemein bedeutende Wirkung“.” Die Bor- 
säure führte „zu einem Mehrverbrauch an Energie von 22 Procent“ und 
erhöhte „den Umsatz der stiekstofffreien Stoffe um fast 30 Procent“.* Das 


! E. Rost, Ueber die Wirkungen der Borsäure und des Borax auf den thierischen 
und menschlichen Körper, mit besonderer Berücksichtigung ihrer Verwendung zum 
Conserviren von Nahrungsmitteln. Arbeiten a. d. Kaiserl. Gesundheitsamte. 1902. 
Bd. XIX. S. 57. 

2 Rubner, Ueber die Wirkung der Borsäure auf den Stoffwechsel des Menschen. 
Ebenda. S. 80. 

8® Rubner, a.a.0. S. 83. * Rubner, a..a.0. S. 88. 

Archiv f. A. u. Ph. 1903. Physiol. Abthlg. 24 


370 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


Körpergewicht änderte sich bei beiden Versuchspersonen folgendermaassen: 
Die eine Versuchsperson nahm in den drei Vorversuchstagen täglich 101 &"” 
zu, in der 5tägigen Borsäureperiode täglich 18 8”% ab; die zweite Ver- 
suchsperson nahm in den drei Vorversuchstagen täglich 297 8”%, in der 
5tägigen Borsäureperiode nur noch täglich 98”% zu. Rubner weist aus- 
drücklich darauf hin, dass die wirklichen Gewichtsänderungen den aus 
den gefundenen Zahlen von Kohlensäure und Wasser berechneten Gewichts- 
abnahmen nicht zu entsprechen brauchen!, dass das Entscheidende die 
Steigerung der Kohlensäure- und der Wasserdampfausscheidung in 
beiden Fällen, wenn sie auch nicht bei beiden in gleichmässiger Höhe ein- 
trat, sei. „Bis jetzt ist nichts Näheres darüber bekannt, ob und in welchem 
Maasse etwa andere Medicamente auf die Wasserdampfausscheidung ein- 
wirken.“ ? 

Für einen Stoff, dem die besprochenen Wirkungen zugeschrieben werden, 
ist die Kenntniss seiner Ausscheidungsverhältnisse von erhöhtem Interesse. 


Nach den Angaben in der Litteratur wird die Borsäure in der Haupt- 
sache mit dem Harn wieder abgeschieden. Schon Binswanger hat in 
Selbstversuchen feststellen können, dass mit dem Koth Borsäure nur dann 
den Körper verlässt, wenn Diarrhöen eintreten. Die bei Einspritzung von 
Borsäure unter die Haut und in die Blutbahn von Kaninchen? beschriebene 
Ausscheidung auf den Dünndarm und den Magen kann demnach für die 
endgültige Entfernung aus dem Körper des Menschen eine Rolle nicht 
spielen. Auch eine Ausscheidung der Borsäure mit dem Speichel und dem 
Schweiss kommt nicht in Betracht (Binswanger, Johnson). Der Beweis 
für die vollständige Ausscheidung der innerlich eingenommenen Borsäure 
beim Menschen auf dem einzigen Ausfuhrweg, durch die Niere, ist durch 
Sonntag* geführt worden, der drei quantitative Versuche an sich selbst, an 
Weitzel und Rost anstellte (im Nachfolgenden mit S., W. und R. be- 
zeichnet). Eingeführt wurden je ein Mal 33’% Borsäure. 

S. gab innerhalb 775 Stunden 2-679 m = 89.30 Procent ab, 
Ra 0 96 > 2931, — Il > = 
WAL » 1108 3:048 „ = 101.59 &n m. 

Die mit dem Morgenkaffee genommene Borsäure (32'”) war nach 
12 Stunden bei S. zu 40.97 Procent, bei R. zu 57.47 Procent und bei 
W. zu 49°17 Procent, d. h. etwa zur Hälfte, aus dem Körper heraus. Zur 


! Rubner, a. a. 0. S.79. 

? Rubner, Hygienische Rundschau. 1902. Bd. XII. S. 168 (vorläufige Mit- 
theilung). 

® E. Rost, Notiz zur Kenntniss der Ausscheidung des Borax. Dies Archiv. 
1899. Physiol. Abthlg. Suppl. 8. 568. 

* Sonntag, Ueber die quantitative Untersuchung des Ablaufes der Borsäure- 
ausscheidung aus dem menschlichen Körper. Arbeiten a. d. Kaiserl. Gesundheitsamte. 
1902. Bd. XIX. S. 110; hier auch Litteraturangaben, Beschreibung der Nachweis- 
methode u. s. w. 


5 Dieser erste Versuch war nur orientirend; es wurde nur der Harn von 77 Std. 


untersucht. 

° Die im Harn der 97. bis 108. Stunde gefundene Borsäuremenge von 0-034 &" 
war bereits derartig niedrig, dass die Mengen der Borsäure in den folgenden Halbtages- 
harnen als so gering angenommen werden durfte, dass sie sich des Nachweises mit 
der angewendeten Bestimmungsmethode entzogen. 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — FE. Rost. 371 


Abscheidung der anderen Hälfte brauchte der Körper — soweit sich dies 
ziffernmässig verfolgen liess — die 7- bis Sfache Zeit. 


Von einer einmaligen Gabe von 38% waren ausgeschieden: 


Bei S. Bei R. Bei W. 

grm grm grm 
Nach 12 Stunden 1-229 1°724 1.475 
ss 24 = 1-835 2-278 2-181 

cB 48 5 2485 2-712 2560 

* 12 ", 2656 2:869 2-837 

ER) 96 „ Ban 2-931 3-014 

£} 108 3 En = 3:048 


Stellt man die Werthe für die in den einzelnen Stunden ausgeschiedenen 
Mengen Borsäure graphisch dar (vergl. Sonntag’s Abhandlung), so er- 
giebt sich: 

Die Kurve stieg bei R. von einem niedrigen Werth in der ersten 
Stunde steil in der zweiten Stunde an, erreichte den Gipfel in der dritten 
Stunde; bei W. erhob sie sich von einem etwas höheren Werth (als bei R.) 
in der ersten Stunde, während der nächsten Stunde auf ihren höchsten 
Punkt, blieb in der dritten Stunde fast auf derselben Höhe und fiel dann 
mit einzelnen Schwankungen ganz allmählich ab. 

Ausscheidung der Borsäure im Harn, in Procenten der eingeführten 


Menge ausgedrückt: 


IR. W. 
1. Stunde | 1-83 Procent 4-23 Procent 
2. r 6:73 Ar 6:40 1 
8, FE 9-27 55 6°17 > 
4. PR 7-50 ss 4-33 a 
Summa in 4 Stunden 25-33 Procent 21-13 Procent 


Wiederholungen und Erweiterungen dieser Versuche bestätigten zunächst 
die bisher geschilderten Befunde. Die Analysen wurden von den Herren 
Dr. Sonntag und Weitzel im pharmakologischen Laboratorium des 
kaiserlichen Gesundheitsamtes ausgeführt. Die Untersuchungsmethode ! 
war dieselbe wie bei den ersten drei Versuchen; die Versuchsbedingungen 
blieben ebenfalls unverändert. Es wurde wiederum 3 2"% Borsäure im Morgen- 
kaffee gelöst auf einmal genommen. Während innerhalb der ersten 8 Stunden 
nur zu bestimmten Zeiten die gleiche Flüssigkeitsmenge genossen und eine 
annähernd gleiche (aber nicht analysirte) Nahrung aufgenommen wurde, blieb 
nach der achten Stunde die Ernährung die für die betreffende Person ge- 
wohnte. Stickstoffbestimmungen im Harn, die in der zweiten Reihe aus- 
geführt wurden, zeigten, dass die äusseren Bedingungen für den vorliegenden 
Zweck als genügend gleichmässig gelten dürfen. 


Es wurden nämlich mit dem Harn Stiekstoff in Grammen ab- 
gegeben: 


! Titriren der Borsäure in dem phosphorsäurefreien Aschenauszuge mit Natron- 
lauge bei Gegenwart von Mannit. Neutralisiren mit Kaliumjodid und Kaliumjodat. 
24* 


N 


372 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 
5 uch Stickstoff 
hs- hs- innerhalb innerhalb 
Versuchs. | Veranans Datum 12 Stunden 24 Stunden 
Pen 2ummer im Harn im Harn 
grm | grm 
W. Iv | 28. April 1902 8.558 I 16:49 
W. V 30. Mai 1902 8:837 16:278 
W. VI 16. Juni 1902 9:036 15-525 
W. VII 23. September 1902 8-229 nicht bestimmt 
R. VII 33. Juni 1902 9:292 5 es 
S. IX. Juni 1902 8:098 er Es 


In diesen neueren Versuchen wurde die Ausscheidung der Borsäure nur 
48, 24 oder 12 Stunden lang untersucht. 


Die Versuchsperson W. schied von 3 8’"" Borsäure mit dem Harn aus: 


| In 12 Stunden | In 24 Stunden | In 48 Stunden 
| 1.475 erm 49.17 Proc. 
1-548 „ =51-60 „ 
1438 =, =47:-93 ER) 


2.181 8m = 172-70Proe. 
2-153 9 =71.77 ER) 
2:065 „=68-83 „ 


2560" = 85-33 Proc. 
2.657 „=88-57 „- 


Im Versuch IH 
cn sloV 
>} 3 V 


Von einer weiteren Ausdehnung der quantitativen Versuche auf die 
folgenden Tage durfte bei dem übereinstimmenden Befund der neuen Ver-. 
suche IV und V mit dem einige Monate früher angestellten Versuche III 
abgesehen werden. 

Die qualitativen Untersuchungen ergaben auch hier wie früher ein 
allmähliches Schwächerwerden der Reaction auf Borsäure, bis schliesslich 
selbst der eingeengte Aschenauszug die Borsäurereaction nicht mehr gab. 
Dieser negative Ausfall trat an den 5. bis 7. Tagen ein. 

Die Ausscheidung verlief auch hier langsam, nachdem in den ersten 
12 Stunden etwa 50 Procent der auf einmal eingenommenen Borsäure ent- 
fernt worden waren. Desgleichen zeigten sich auch kleine Schwankungen 
in dem Borsäuregehalt des Harns, so dass die Kurve im absteigenden 
Schenkel unbedeutende Zacken zeigt. In einem weiter unten des Näheren 
zu besprechenden Versuche hat Sonntag 7-0 &® Borsäure im Morgen- 
kaffee genommen; die Kurve des Borsäuregehalts im Harn zeigte dieselbe 
Form wie die auf 8. 371 für R. und W. nach Aufnahme von 3=m Bor- 
säure angegebene. Bei Betrachtung der procentischen Werthe ergiebt sich, 
dass S. auch in diesem Versuch in 4 Stunden etwas weniger ausschied als die 
Personen W. und R., wie dies schon für die Menge der innerhalb 12 Stunden 
ausgeschiedenen Borsäure im Versuch I festgestellt worden ist (8. 371). 


Versuch IX 
1. Stunde 1:1 Procent 
2. bs 5:2 9 
38 &H 6-9 PR) 
Ar Er | 4A ” 
Summa in 4 Stunden 17:6 Procent 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — E. Rost. 373 


Da in den Versuchen I bis III das Curvenbild dem der Wasser- und 
der Stickstoffausscheidung sehr ähnelte, war vermuthet worden, es möchten 
die Unregelmässigkeiten in den Ausscheidungswerthen mit dem wechselnden 
Flüssigkeitsstrom im Körper, mit den Schwankungen der Harnmenge, zu- 
sammenhängen. In drei zur Entscheidung dieser Frage angestellten Ver- 
suchen konnte jedoch mit Bestimmtheit nachgewiesen werden, dass die Bor- 
säure den Wasserschwankungen im Körper nicht folgt, wie in denselben 
Versuchen der Stickstoff. Dabei erwies es sich als gleichgültig, ob während 
der 7. Stunde 1 Liter Flüssigkeit oder bei Beginn der 4. und der 7. Stunde 
je 1 Liter, oder zugleich mit dem Frühstück und der Borsäure während 
25 Minuten 2 Liter Flüssigkeit genossen wurden. Versuchspersonen waren 
W. und R. 


Im Versuch VIII schied W. nach Aufnahme von 2 Liter Flüssigkeit _ 
in der 2. Versuchsstunde 1140 °® Harn aus; trotzdem stieg die Menge der 
ausgeschiedenen Borsäure nicht an. Stellt man zum Vergleich Harnzahlen 
und Borsäuregehalt derselben Stunde aus anderen Versuchen zusammen, so 
ergiebt sich wohl einwandfrei, dass die Borsäure unabhängig von den 
Schwankungen des Wassers bei Organismusdurchspülung ausgeschieden wird. 


In der 2. Versuchsstunde wurden von W. ausgeschieden: 


Harnmengen Borsäure im Harn £ 
com in grm in Proc. 
Versuch III 18 0-193 6-40 
3 IV 84 0:206 6°87 
En V 70 0.187 6-23 
m VI 90 0:192 6-40 
n VIII 1140 0:206 6-87 


Auch in den Zwölfstundenwerthen wurden keine höheren Zahlen als 
ohne gesteigerte Flüssigkeitszufuhr erhalten. 


In 12 Stunden wurden von R. und W. ausgeschieden: 


Harnmenge | Borsäure im Harn 
ccm in grm | in Proc. 
Von Rost: 
Versuch IR ereawerchrsnulasır: 1012 1.724 57-47 
> VII (1 Liter Flüssigkeit extra) 1960 1.729 97:63 
Von Weitzel: 
cd De Pa ER u 786 1°475 49:17 
” DVG PAD ER ER }; 1028 1:548 51:60 
5 Va en ernten 7120 1°438 | 41:93 
55 VI (2 Liter Flüssigkeit extra) 2624 1-496 49-87 
3 VIII (2 Liter Flüssigkeit bei Be- 
ginn des Versuchs) . . 2671 1-444 48:13 


Nachstehend folge je eine Zusammenstellung der Einzelwerthe für R. 
und W, mit und ohne gesteigerte Wasseraufnahme. 


374 


Versuche an Rost: 


VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


Versuch 1. 5 Versuch vo. 3 
Stunden Harnmenge Borsäure Harnmenge Borsäure Stickstoff 
ccm grm ccm grm grm 
1. 50 0:055 46 0:085 0-703 
22 85 0°202 52 0:230 0-770 
3. 115 0°278 so 0:233 0:850 
4. 150 0:225 116 0:206 0-938 
5. 12,90 0-160 91 0146 0-725 
6. | 90 | 0.160 91 0146 0-725 
%s \ 51 | 010, 370! 0:150 1-001 
8. f 51 0:120 670 0:107 0-770 
9. 82-5 0°101 76 0:102 0-584 
10. 82-5 0°101 82 0: 105 0-616 
als 82-5 0°101 140 0:107 0.763 
12% 82-5 0°101 146 0:112 0°.847 
1012 1724 | 1960 1-729 9.292 
Versuche an Weitzel: i 
Versuch III Versuch VI Versuch VII 
Stunden Harn- Harn- Harn»- 
menge |Borsäure | menge | Borsäure |Stickstoff| menge | Borsäure Stickstoff 
ccm ccm ccm 
1% 63 0°127 85 0-151 | 0-787 190° | 0-122 | 0-805 
23 78 0:192 90 0:192 | 0-868 1140 |0:-206 | 1:057 
33 100 0:185 116 0:173 | 0-882 550 10-189 | 0-71 
4, 76 0:130 375? 0:-157 | 1:001 190 0°155 0.763 
5. 70 0°125 602 0:128 | 0-SS2 9 0°118 0-581 
6. 86 0:150 114 0°:117 0.682 54 0°:110 0-588 
7“ 44 0:085 | 480? 0-120\ 0-882 80 0105 0-570 
S. 46 0:098 440 0-103| v-721 50 0:083 0.462 
9. 55 |.0-101 90 0:085 0:525 100 0°110 0-812 
10. 60 0°:091 80 0:099 0:630 68 0:091 0-578 
11. 54 0:094 74 0°:090 | 0-:581 64 0:086 0630 
125 54 0°:094 18 '0°:081 0:595 60 0:069 0665 
786 | 1.475 | 2624 | 1.496 | 9-0386 | 2671 | 1-444 | 8-229 


Die im Versuch an R. auftretende Zunahme von 0-004 8% und diejenige 
von 0-0038"” bei W. (Versuch VI) von der 6. zur 7. Stunde sind weit 
niedriger als die Schwankungen in den Einzelstundenwerthen ohne gesteigerte 


Flüssigkeitszufuhr. 


In dem Versuch VII stellt sieh — entsprechend den 


Erfahrungen der Physiologie, dass der Stickstoff ausspülbar ist — nach der 
Aufnahme eines Liters Flüssigkeit ein Ansteigen des Harnstickstoffs von 


0-725 auf 1-0018", 


ein. 
suchen. 


! 1 Liter Flüssigkeit (Bier) getrunken. 
® Je 1 Liter Flüssigkeit (Bier). 
® 2 Liter Flüssigkeit (einschl. Kaffee). 


in dem Versuch VI von 0.882 ebenfalls auf 1.0018” 
Diese beiden Werthe sind die höchsten Werthe in den ganzen Ver- 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — E. Rost. 375 


Aus den beschriebenen Versuchen, bei denen die Ausscheidung einer 
einmaligen Gabe von 38% Borsäure bis zu Ende im Harn innerhalb einiger 
Tage verfolgt werden konnte, ergiebt sich, dass anfänglich ein Rest im 
Körper verbleiben muss; bei den drei Personen betrug dieser Rest: 


IE ll. II. 
Sonntag Rost Weitzel 

grm grm grm 

Nach 24 Stunden 1-165 0.722 0-819 
„ 48 a 0-515 0:288 0-440 
ea = 0344 0-131 0°163 


Je nachdem nach 1, 2 oder 3 Tagen eine neue Gabe aufgenommen 
wird, muss eine mehr oder weniger grosse Anhäufung stattfinden, indem zu 
dem von der ersten Gabe kommenden Rest ein neuer Antheil der darauf 
folgenden sich addirt. 

In drei Versuchen (an S. und zwei anderen De ei) wurde die Aus- 
scheidung mehrerer Gaben festgestellt. 

S., der innerhalb 13 Stunden 68'% Borsäure nahm, schied während 
24 Stunden 2-9358"”, also etwa die Hälfte der eingeführten Gesammtmenge 
mit dem Harn aus. Die Gaben wurden bei Beginn der 1., 5., 9., 11., 13. 
und 14. Stunde eingenommen. 


Die im Harn zur Ausscheidung gelangten Mengen Borsäure betrugen: 


Nach der ersten Gabe Nach der zweiten Gabe Nach der dritten Gabe 
von 12’ von 1% von. 1 em 


In der 1. Stunde 0-O011®" |In der 5. Stunde 0-091 "= In der 9. Stunde 0.087 em 


5 
£+} >] 2. er] 0-052 er} 3 er) 6 Er) 0:102 Er) Er +7 10. „ 0-142 3 
er} er] 3. 3 0:069 » Er) &r) de Er) 0°085 >) 
3 br} 4 39 0-044 E2) LE 9 8 49 0-085 9 
Nach dr vierten Gabe Nach der fünften und sechsten Gabe 
von 1m von 1. 
In der 11. Stunde 0.153 sm In der 13. Stunde 0-175 s" 
>) + 12. ” 0.125 Br] >) Er] 14. ” 0-163 62) 
3 Er] 15. Er} 0-177 Er) 
Er} 2} 16. 9 0260 3 


Man sieht hieraus, dass die Ausscheidungskurve nach der zweiten Gabe 
von 13’M Borsäure annähernd dieselbe Form hat wie diejenige nach der 
ersten Gabe, nur dass sie entsprechend höher steht (Superposition). Das 
Maximum der Ausscheidung liegt in der 16. Stunde (in der dritten Stunde 
nach der letzten Borsäureaufnahme); diese Menge von 0.2608" Borsäure 
kommt noch nicht einmal derjenigen gleich, die R. im Versuch II nach ein- 
maliger Dosis von 38% Borsäure in der dritten Stunde ausschied (0.2788). 
Dabei betrugen die nicht ausgeschiedenen, also im Körper noch zurück- 
gehaltenen Mengen Borsäure 4.616 3%, 4.439 und 4.179 8” in der 14. 
15. und 16. Stunde. 


376 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


Ebenso wurden noch die Harne der Personen Brakelmann und 
Albrecht in den Stoffwechselversuchen V und VI! während ihres Aufent- 
halts im Respirationsapparat Rubner’s? und bei Versuch V in den sich 
anschliessenden Tagen ausserhalb des Apparats untersucht. Sie ergaben 
folgende Zahlen: 


Im Harn !Im Körper Im Harn |Im Körper 


me ausge- | zurück- n2 Es ausge- | zurück- 
Datum | no N er schiedene | gehaltene| Datum on ön schiedene | gehaltene 
Borsäure |Borsäure ® Borsäure Borsäure’ 
grm grm grm grm grm grm 
1901 
Versuch X (Brakelmann). TOENcERE EN, 0064 1.637 
1901 1.0 3 1.081 3.556 
29. Octbr. 3 1.869 ES lo 3 9.411 4-145 
BUrEER:, 3 2.279 ESS2 5 3 9.712 4.433 
lo 3 2.692 2°160 |14, > 3 9.608 4:825 
1. Novbr. 3 2.733 2-427 
3 3 2.842 2.585 Versuch XI (Albrecht). 
30 3 2.138 | 3-447 | 8. Novbr. 3 1.849 | 1-151 
Ass 3 3.055 3.392 Hin ee 3 2.522 | 1.629 
0 eo DIS A247 100; 3 3-026 | 1-608 
> Fr 0.318 2.156 |11. „ 3 2-920 1-683 
Le? = 0,156 1,2:000 Ha. 5.210023 2.644 | 2-039 
3.0 Er 0.178 1-8227,| 18.11.0.,024un 4 2.232 2-807 
I. Fr Ei een: 2.219 | 83-588 


Am Ende des siebenten Borsäuretages waren also von 218'’” auf- 
genommener Borsäure nicht ausgeschieden 3-4 bezw. 3-68"" Borsäure. 
Dieser Rest von 3°48’" wurde nun ganz allmählich abgestossen, so dass 
am Ende des sechsten Zwischentages noch 1.68% zurückgehalten waren. 
Wie schon der voraufgehende Versuch IX an S. ergab, so scheint auch 
nach diesem Versuch X die Ausscheidung der im Körper zurückgehaltenen 
Borsäure wesentlich längere Zeit zu beanspruchen, als die Elimination einer 
einmaligen Dosis von 38”. Während diese (38%) in etwa 12 Stunden zu 
rund 50 Procent den Körper verliess, wurden von 3-48”% innerhalb 
6 Tagen 1-88", also etwas mehr als die Hälfte mit dem Harn entfernt. 
Da die Harne der Person. Albrecht im Versuch XI nicht aufgehoben 
worden waren, konnte diese Beobachtung zunächst nicht an einer anderen 
Person nachgeprüft werden. Ueber die endgültige Entfernung der gesammten 
im Körper zurückgehaltenen Borsäure im Versuch X ist nur bekannt, dass 
noch 15 Tage nach der letzten Borsäureeinnahme Borsäure im Harn quali- 
tativ nachgewiesen werden konnte.* 


! Rost, a.a. 0. 8. 39. 

* Rubner, a.a. O0. 8. 70. 

® Bei diesen Versuchen wurden auch die zugehörigen Kothe quantitativ auf Bor- 
säure untersucht; die Mengen schwankten im Tageskoth zwischen 0-0000 und 0-0089; 
nur einmal betrug sie 0-0183, d. h. 0 bis 9 bis 18 ”® bei einer täglichen Zufuhr von 
3000 ®8 Borsäure. 

* Sonntag, a. a. OÖ. S. 113. Hier heisst es versehentlich 19. November statt 
29. November. 


| 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — E. Rost. 377 


Die Borsäure verhält sich also wesentlich anders als das Kochsalz, 
das ebenfalls vollständig durch die Nieren mit dem Harn abgegeben wird, 
das aber sehr schnell den Körper verlässt und das in Folge der Fähigkeit 
des Körpers, den normalen Kochsalzgehalt zu erhalten, bei Zufuhr eines 
gewisse Grenzen nicht übersteigenden Ueberschusses sofort abgegeben wird, 
wie C. Voit!, Falck? und Röhmann? durch Versuche gezeigt haben, 
und das den Wasserschwankungen im Harn folgt, wie neuerdings wieder 
durch H. Meyer* bestätigt worden ist.? 

Somit gehört die Borsäure zu denjenigen Stoffen, deren Ausscheidung 
durch Diurese nicht beeinflusst wird, wie Harnsäure, Phosphate, Zucker bei 
Phloridzindiabetes (H. Meyer). Für diese nimmt H. Meyer auf Grund 
ausgedehnter Versuche als Ursache dieser Unabhängigkeit in der Aus- 
scheidung von der Diurese das Vorhandensein in colloidaiem Zustand an. 
In welcher Weise die Borsäure im Körper zurückgehalten wird, ob in den 
Geweben fixirt, in Fett oder fettähnlichen Stoffen gelöst oder ob sie in 
colloidalem Zustand kreist, darüber können sichere Angaben nicht gemacht 
werden. 

Die hier auszugsweise besprochenen 11 Versuche an fünf verschiedenen 
Personen haben zu folgenden Ergebnissen geführt: 


1) Die innerlich eingenommene Borsäure wird ohne Verlust 
mit dem Harn vom Organismus wieder abgegeben. 


2) Die Borsäure wird langsam ausgeschieden. Es wird zwar 
die Hälfte einer einmaligen Gabe innerhalb von etwa 12 Stun- 
den entfernt; die andere Hälfte bedarf aber zu ihrer Ausschei- 
dung die mehr- bis achtfache Zeit. 


3) Die Borsäure wird unbeeinflusst von grossen getrunkenen 
Wassermengen, welche mit dem Harn zur Ausscheidung gelangen, 
im Harn ausgeschieden; die Borsäure ist nicht ausspülbar. 


4) Die Borsäure häuft sich bei Einführung mehrerer Gaben 
hinter einander im Körper an. 


1 C. Voit, Untersuchungen über den Einfluss des Kochsalzes.... auf den Stoff- 
wechsel. München 1860. S. 46. 

® Falck, Ein Beitrag zur Physiologie des Chlornatriums. Arch. f. pathol. Anat. 
u. Physiol. 1812. Bd. LVI. S. 315. 

» Röhmann, Ueber die Ausscheidung der Chloride im Fieber. Zeitschr. f. klin. 
Medicin. 1880. Bd. I. S. 513. 

* H. Meyer, Ueber Diurese. Sitzungsber. d. Ges. z. Beförderung der ges. Natur- 
wiss. zu Marburg. 1902. Nr. 6 (Juli). Vgl. hierzu Loewi, Archiv f. exp. Pathol. 
u. Pharmakol. 1902. Bd. XLVIIl. S. 10 (29. December) 

5 Im Heft 6 des XLVIII. Bandes des Archivs für exp. Path. u. Pharmakol. 8.331 
(29. December 1902) sind die unter A. Heffter’s Leitung von Anten ausgeführten 
Versuche über die Ausscheidung von Jodkalium veröffentlicht. An verschiedenen ge- 
sunden Personen wurde die Ausscheidung einer ein- oder mehrmaligen Gabe von Jod- 
kalium stundenweise quantitativ untersucht. Das Jodkalium wird nur zu rund 75 Proc. 
mit dem Harn ausgeschieden, während der übrige Theil mit dem Speichel und mit 
anderen Ausscheidungen den Körper verlässt. 0-5 =” Jodkalium wurden ausgeschieden 
in etwa 40 Stunden, zwei solcher Gaben in etwa 56 Stunden, drei solcher Gaben in 
etwa 77 Stunden ausgeschieden. In allen Fällen war der Speichel früher frei von Jod- 
kalium als der Harn. Sowohl die Curvenform, als auch die Curvenhöhe ähnelt sehr 
derjenigen bei der Borsäure. Das Maximum der Ausscheidung im Harn fiel in die 
dritte Stunde. 


IN 
378 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


3. Hr. A. Loewr! macht im Anschluss an den Vortrag des Hrn. Rost 
folgende Bemerkungen zur Wirkung der Borpräparate auf den 
Stoffwechsel. 


Rost hatte in seinen Versuchen an Hunden und am Menschen, eben- 
so wie Neumann in einem Selbstversuche, bei Einführung von Borpräparaten 
eine so erhebliche Gewichtsabnahme gefunden, dass er daraus auf einen ge- 
steigerten Fettzerfall schloss. In zwei grösseren Stoffwechselversuchsreihen 
hat Rubner dann den Fettumsatz direct bestimmt und bei Darreichung von 
38m Borsäure täglich Steigerungen gefunden, die nicht nur beide weit ge- 
ringer waren als die aus den Rost’schen Versuchen sich ergebenden, sondern 
auch unter einander erheblich differirten. In dem ersten Falle war die 
Steigerung etwa 29 Procent, in dem zweiten nur etwa 10 Procent. 

Ich habe nun an zwei Hunden neue Fütterungsversuche mit Borax 
ausgeführt und nach einer anderen Methode als Rubner, nach der Zuntz- 
Geppert’schen, dessen Einfluss auf den Ruhegaswechsel an den nüchternen 
Thieren untersucht. Der Ausschluss der Verdauungsarbeit und der Muskel- 
bewegungen liess etwaige während der Borperiode zu beobachtenden Wirkungen 
um so sicherer als eine Wirkung des Borpräparates erscheinen. — Gefüttert 
wurden täglich 3 8""” Borax, der mit der Nahrung vermischt wurde, bei dem 
einen Thiere (eastrirte Hündin) 17 Tage lang, bei dem zweiten (normaler 
männlicher Hund) 11 Tage lang. Letzterer erhielt übrigens an einem 
Tage vor dem Respirationsversuche 68% Borax. Das erste Thier wog zwischen 
16 und 178, das zweite zwischen 13 und 14%. Die gefütterten Borax- 
dosen sind also erhebliche, wenn man bedenkt, dass in den Versuchen an 
Menschen gleichfalls nur 38% gegeben wurden. 

Irgend welche Krankheitserscheinungen zeigten sich nie. Die Thiere 
frassen ihr Futter mit dem gleichen Appetite mit wie ohne Boraxzusatz, 
Diarrhöen traten nie ein, auch kein Eiweiss im Harn bei dem einen Thier, 
bei dem darauf untersucht wurde. 

Die Wirkung auf den Stoffwechsel war die, dass bei dem erstgenannten 
(castrirten) Thiere allmählich eine erhebliche Steigerung des Ruheum- 
satzes zu Stande kam. Nach einer Aufnahme von 21 8"" an 7 auf einander 
folgenden Tagen war dieser um etwa 40 Procent gestiegen. Als der Borax 
2 Tage nicht gegeben wurde, ging der Stoffumsatz alsbald fast zur Norm 
zurück, um nach neuer Zufuhr von Borax wieder anzusteigen, wobei die 
Steigerung um so höher war, je länger ohne Unterbrechung der Borax ge- 
geben wurde. 

Ganz anders war es bei dem zweiten Thiere. Hier war der Stoff- 
wechsel selbst nach 368% Borax, die auf 11 Tage vertheilt waren, 
absolut nicht gegen vorher geändert. — 

Geht aus den Versuchen am Menschen schon hervor, dass die Intensität 
der Wirkung individuell ganz verschieden ist, so zeigen die beiden Versuchs- 
reihen an meinen Hunden überhaupt keine constante und gesetzmässige 
Wirkung auf den Stoffwechsel. Ich werde die Versuche an einer grösseren 
Zahl von Thieren fortsetzen und festzustellen versuchen, worauf die Differenz 
in der Wirkung zurückzuführen ist. 


! Die Ergebnisse sind, da der Verf. von Berlin abwesend war, von Hrn. N. Zuntz 


mitgetheilt worden. 


hi 


EEE EERERELIERZENUNEN 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — A. LoOEwY. — SAu1. 379 


Ich habe dann noch die Wirkung anderer Salze auf den Stoffwechsel 
untersucht. Die Versuche mit Kochsalz und Salpeter, in der Mischung, wie 
sie zum Pökeln des Fleisches benutzt werden, sind noch nicht abgeschlossen. 
Dagegen aber eine längere Versuchsreihe mit Soda. 

Von dieser erhielt die obengenannte castrirte Hündin, deren Stoffwechsel 
eine so bedeutende Steigerung durch Borax zeigte, 12 Tage lang 3 sn täg- 
lich, d.h. im Ganzen 368°”, und dabei ergab sich, dass auch die Soda eine 
Steigerung des Umsatzes zu Wege gebracht hatte, die hinter der 
des Borax nicht viel zurückstand, nämlich um etwa 30 Procent! 
Dabei bestand eine ziemlich lange Nachwirkung. Erst ganz allmählich ging 
der Stoffumsatz wieder zu den normalen niedrigen Werthen zurück. 

Dass Alkalisalze bei Darreichung per os eine solche Wirkung auf den 
Stoffwechsel haben, ist bisher nicht bekannt gewesen. Auch diese Ver- 
suche sollen weiter fortgeführt werden, ebenso wie Versuche mit Borsäure; 
aber das bisherige Ergebniss der Sodafütterung dürfte schon geeignet sein, 
der gleichartigen Wirkung des Borax manches von ihrer anscheinenden 
Besonderheit zu nehmen. 


VI. Sitzung am 9. Januar 1903. 


1. Hr. Dr. Saur: „Beiträge zur Morphologie der pathogenen 
Bakterien: Cholerabacillus und Vibrio Metschnikoff.“ (Mit De- 
monstrationen am Projectionsapparat.) 


Die Versuche, von denen vor einem Jahre der physiologischen Gesell- 
schaft berichtet wurde,! hat der Vortr. fortgesetzt. 

Es ergab sich, dass bei Verwerthung von Principien, die auf anderen 
Gebieten der Biologie für die Differenzirung der Arten angewendet werden, 
in der Bakteriologie so nahe verwandte Mikroorganismen, wie Cholera- 
bacillus und Vibrio Metschnikoff, morphologisch unterschieden werden können. 
‘Wie in der Botanik und in der Zoologie, so können auch in der Bakteriologie 
feinere Artdifferenzen nur erkannt werden, wenn die Morphologie in erster 
Linie bezogen wird auf die Zellstaaten und nicht ausschliesslich auf die sie 
zusammensetzenden Zellen. Nach altem Herkommen werden die Zellstaaten 
in der Bakteriologie als Colonien bezeichnet. Nachdem der Vortr. durch 
Schnittserien nachweisen konnte, dass die Colonien in ihrer Totalität ein- 
heitlich aufgebaute Gebilde darstellen, die in der Anordnung, der sie zu- 
sammensetzenden Zellen charakteristische Gesetzmässigkeiten erkennen lassen, 
so können sie als Organismen bezeichnet werden; dieselben werden unter 
den Versuchsbedingungen von Zellen produeirt, die im System am tiefsten 
stehen und völlig autonom sind. Ob der Anordnung der Zellen zum Zellen- 
staate in dem vorliegenden Falle eine Zelldifferenzirung folgt, kann mit den 
vorhandenen Methoden nicht entschieden werden. 


! Beiträge zur Morphologie des Typhusbacillus und des Bacterium coli commune. 
Berliner klin. Wochenschr. 1901. Nr. 50. 


\ 


380 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


VII. Sitzung am 23. Januar 1903. 


1. Hr. N. Zunzz: „Ueber Beziehung zwischen Körpergrösse 
und Stoffverbrauch beim Gehen.“ Zum Theil nach Versuchen von 
Hrn. Slowtzoff. 


Frühere Untersuchungen des Vortr. hatten ergeben, dass der Stoffver- 
brauch beim horizontalen Gang der Thiere nicht in gleichem Maasse, wie 
das Körpergewicht zunimmt, dass derselbe vielmehr sehr annähernd der 
Grösse der Körperoberfläche, d. h. dem Quadrate der 3. Wurzel des Körper- 
gewichts entsprechend sich verhält. Diese aus Beobachtungen am Pferd, 
Mensch und Hund abgeleitete Gesetzmässigkeit ist jetzt von Hrn. Slowtzoff! 
genauer an Hunden verschiedener Körpergrösse geprüft worden. Das 
kleinste Versuchsthier wog 5'E”, das grösste 36 kW. Das vorstehend formu- 
lirte Gesetz bestätigte sich und zwar war hier, wie bei der Gleichmässigkeit 
des Baues zu erwarten, die Regelmässigkeit viel grösser als beim Vergleich 
der verschiedenen Thierarten. Es zeigte sich sogar, dass die Beziehung 
zwischen Körperoberfläche und Stoffverbrauch beim Gehen eine noch ge- 
nauere war, als das entsprechende Verhältnis beim ruhenden Thier. Da 
sich, wie Hoesslin zuerst genauer dargethan hat, diese Gesetzmässigkeit 
aus den mechanischen Verhältnissen des Gehens befriedigend ableiten lässt, 
ist Vortragender geneigt, sie als das primäre und das entsprechende Ver- 
halten des Ruhestoffwechsels als das secundäre anzusehen. Man kann 
nämlich leicht darthun, dass die gewöhnlich gelehrte Ableitung der Grösse 
des Ruhestoffwechsels aus den Bedürfnissen der Wärmeregulation nicht 
durchführbar ist, weil die Gesetzmässigkeit auch unter solchen Verhältnissen, 
wo die Wärmeregulation wenig oder gar nicht in Betracht kommt (z. B. beim 
Kaltblüter oder beim Menschen, der durch seine Kleidung die Wärme- 
regulation vermittelt), sich bewährt. Es ist schon von Hoesslin und später 
von Rubner darauf hingewiesen worden, dass der Ruhestoffwechsel in ge- 
setzmässiger Beziehung zur durchschnittlichen Grösse der Beanspruchung 
der Muskeln stehe; und so liegt es nahe, aus dem relativ grösseren Arbeits- 
verbrauch der kleineren Thiere bei der Locomotion, deren gesteigerten 
Ruhestoffwechsel abzuleiten. 

Es hat sich ferner bei den Versuchen herausgestellt, dass die Uebung 
den einer bestimmten Leistung entsprechenden Stoffaufwand nicht für die 
Muskelthätigkeit im Allgemeinen, sondern speciell für die intensiv ge- 
übte Bewegungsform herabsetzt, so dass z. B. bei demselben Hunde 
zu einer Zeit, wo er regelmässig auf horizontaler Strasse ging, der Stofl- 
verbrauch für die Horizontalbewegung, als er regelmässig längere Zeit berg- 
aufstieg, derjenige für die Hebung des Körpers herabgesetzt war. 


2. Hr. Dr. F. HırscHreuo (a. G.): „Die Ernährung der Soldaten 
vom physiologischen und volkswirthschaftlichen Standpunkt. 


Bei der Ernährung der Soldaten war bisher, wie überall in Deutsch- 
land, der Voit’sche Grundsatz maassgebend, wonach ein Mann bei mittel- 
schwerer Arbeit, und als solche wurde der Garnisonsdienst der Soldaten 
angesehen, 


! Die Arbeit wird in nächster Zeit in Pflüger’s Archiv erscheinen. 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — F. HirscHFELD. 381 


1188"% Biweiss, 568% Fett und 500 8"% Kohlehydrate 
bedürfe. Mehrere Untersuchungen ergaben, dass nach 


Studemund! 101°” Eiweiss, 208% Fett und 5228”% Kohlehydrate 
Schmidt? 105 \ BON IE AUMEA Han) 1 


nöthig waren. 


Man entnahm aus diesen Zahlen, dass der thatsächlich vorhandene 
Eiweissgehalt der Kost den Anforderungen Voit’s wohl entspräche, nur für 
das Fett nahmen die meisten Autoren? ein Defiecit an, das aber meist von 
den Soldaten aus ihrer Löhnung durch Zukauf von Schmalz und fettreicher 
Wurst ergänzt würde. Der Kohlehydratgehalt der Kost überstieg zumeist die 
von Voit für notwendig erachteten 500 8%. Der gesammte Nährwerth der 
Kost übertraf also die zumeist geforderten 3000 Calorien. 

Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass nur der gesammte Stick- 
stoffgehalt der Nahrungsmittel in Anrechnung gebracht wurde. v. Voit 
hatte bei der Aufstellung seines Satzes ausdrücklich betont, dass von 
den 1188”® Eiweiss 105 3”% resorbirbar sein sollten. Eine derartig günstige 
Ausnutzung der Speisen ist aber nur dann zu erwarten, wenn eine fleisch- 
reiche Kost, viel Weizenbrot oder doch wenigstens ein aus kleiearmem 
Roggenmehl hergestelltes Brot genossen wird. Schon bei der experimentellen 
Untersuchung der Kost in einem Berliner Zuchthaus, der Strafanstalt Moabit, 
fand der Vortr.‘, dass etwa 728” verdauliches Eiweiss einem Verluste von 
etwa 25 8”M Hiweiss (bezw. N-haltige Stoffe) gegenüberstehen. Bei der Soldaten- 
ernährung ist aber in Folge des reichlichen Verbrauchs an dem kleiereichen 
Commissbrote ein besonders hoher Stickstoffverlust zu erwarten, nachdem 
die von Plagge und Lebbin im Jahre 1897 veröffentlichten Unter- 
suchungen? einen überaus niedrigen Gehalt an verdaulichem Eiweiss ergeben 
haben. 

Die Zusammensetzung des Commissbrotes ist nach diesen Untersuchungen 
im Mittel aus 10 Analysen: 

5-9 Procent Eiweiss, 0-4 Procent Fett, 52°8 Procent Kohle- 
hydrate, 1-2 Proc. Asche (ohne Kochsalz), 39-1 Proc. Wasser. 


Da jedoch von dem Eiweiss des Commissbrotes über 40 Procent im 
Koth entleert werden, stellt sich der Gehalt an verdaulichem Eiweiss auf 
nur 3:34 Procent. Die gesammte Kost der Soldaten enthält an Eiweiss 


Gesammteiweiss Verdauliches Eiweiss 


BO Brob,,. west: Mason, ne en, AA DET 25.05 8m 
Gemüse (1500 ®”® Kartoffeln oder 230 sm 
Hülsenfrüchte oder 120 2" Graupen A 
oderas0,2 2 Beis)e er 2 200..04.0206,8 IE TAN, 
BSEnleisch a re a 2 27 Hr 
98 grm 71.75 gxm 


! Studemund, Pflüger’s Archw. Bd. XLVII. S 584. 

?2 Schmidt, D. militäraztl. Zeitschr. 1901. S. 622. 

® M. Kirchner, Klin. Jahrbuch. Jena 1902. S.13 u. Schumburg, D. militar- 
ärztl. Zeitschr. 1901. 8. 522. 

* F, Hirschfeld, Zeitschr. f. physikal. u. diätet. Therapie. Bd. IV. 

5 Veröffentlichungen aus dem Gebiete des Militärsanitätswesens, herausgegeben 
von der Medicinalabtheilung des k. pr. Kriegsministeriums. 12. Heft. Berlin 1897, 


\ 


382 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


Es würden sich hiernach in der gesammten Kost nur etwa 95:3" 
Eiweiss, von denen 728% verdaulich sind, finden. Dabei ist.der Eiweiss- 
gehalt des Fleisches mit einem hohen Werth, den eine bayrische Commission ! 
angenommen hatte, in Ansatz gebracht. In Wahrheit ist nach allen Er- 
fahrungen bei der Ernährung in Anstalten, in denen nur geringe Mengen 
von Fleisch verabreicht werden, zu erwarten, dass viel beträchtlichere Ver- 
luste auch bei der Fleischportion des Soldaten auf Knochen und Abfälle zu 
rechnen sind. Mag man nun auch annehmen, dass durch einzelne Nahrungs- 
mittel, wie Caffee, Cacao, Gurken, Obst u. s. w. noch geringe Mengen von 
Eiweiss hinzukommen, die zum Teil die Verluste bei dem Fleisch ausgleichen, 
so ist doch kaum zu erwarten, dass der Gehalt der Tageskost an ver- 
daulichem Eiweiss 75 &" im Durchschnitt übersteigt, er bleibt also beträcht- 
lich hinter dem von v. Voit verlangten 105 8% verdaulichen Eiweiss zurück. 
Bei einer solchen Ernährung ist aber nicht nur die Mortalität und Morbidität 
der deutschen Soldaten beträchtlich gesunken, sondern diese nehmen auch 
durchschnittlich während ihrer Dienstzeit an Gewicht zu. Allerdings er- 
gänzen sie durch Zukauf und Sendungen von Hause etwas ihre Kost, nament- 
lich was den Fetigehalt angeht. Um den Eiweissgehalt auf die Höhe von 
105 ®"% (verdaulichem Eiweiss) zu bringen, wäre jedoch etwa täglich 250 =” 
von den ihnen zur Verfügung stehenden billigen Wurstsorten erforderlich. 

Schliesslich ist auch darauf hinzuweisen, dass Voit’s Forderung von 
1188”® Eiweiss für den erwachsenen Mann bei mittelschwerer Arbeit nach 
allen volkswirthschaftlichen Erfahrungen in Deutschland von dem grössten 
Theil der Bevölkerung nicht erfüllt werden kann und namentlich in der 
Vergangenheit sich mit der thatsächlichen Ernährung in vollsten Wider- 
spruch setzte. Damit die Kost jene Eiweissmenge enthalten sollte, müsste 
nach Voit 1913” reines Muskelfleisch (230 °”% Fleisch mit Abfällen ge- 
rechnet) genossen werden. Für den Kleinhandel trifft auf ein Pfund Fleisch 
aber wohl mindestens !/, Pfund Knochen, so dass 250®m Fleisch mit Ab- 
fällen gerechnet werden müssten. 

Der Fleischverbrauch beträgt gegenwärtig nach Lichtenfeldt? in 
Deutschland etwa 408, also 110% täglich für die Person, früher war es 
wesentlich geringer und betrug nach Schmoller? für Preussen auf den Kopf 


1812 = 17&8 Fleisch 


1816 = 11, ” 
jsaone 10, , 
Ne. 


Vor 35 Jahren konnte man auf den Kopf der Bevölkerung, also noch 
im Durchschnitt für Preussen einen täglichen Fleischverbrauch von etwa 
502" rechnen! Da nach Lichtenfeld das Durchschnittsgewicht eines Be- 
wohners in Deutschland mit etwa 45'% zu veranschlagen ist, was dem 


\ Ernährung der Soldaten im Frieden und im Kriege. Bericht der über die 
Ernährungsfrage des Soldaten niedergesetzten Specialcommission. München 1880. 8.5. 

® Liehtenfeldt, Centralblatt für allgemeine Gesundheitspflege. Bd. XVII, 
XVIH u. XIX. 

® Citirt nach: Handwörterbuch der Staatswissenschaften von J. Conrad, 
L. Elster, W. Lexis und E. Loening. II. Aufl. Bd. III. 8.1098. — L. Elster, 
Wörterbuch der Volkswirthschaft. Bd. I. 8. 727. — K. Apelt, Die Consumtion. 
Berlin 1899. 8. 47, 


PHYSIOLOG. GESELLSCHAFT. — F. HIRSCHFELD. — LEO LAnGstEin. 383 


Gewicht eines etwa 16 jährigen Knaben entsprechen würde, kamen auf den 
erwachsenen Mann täglich 


1867 in Preussen etwa 75 sm Fleisch 
1900 „ Deutschland ,‚ 160 „, " 


Die den Soldaten verabreichten 150 8"% entsprechen also genau dem 
Durchschnitt des Fleischverbrauchs der Bevölkerung. Da die Kost der wohl- 
habenden Classen erfahrungsgemäss bedeutend fleischreicher ist und täglich 
etwa 2—30058'”% enthält, müssen also in vielen Kreisen auch bedeutend 
geringere Mengen von Eiweiss verzehrt werden. Dies trifft besonders bei 
den landwirthschaftlichen Arbeiten zu. Der Verdienst ist bei diesen Arbeiter- 
kategorien geringer als bei vielen andern Klassen, trotzdem müssen sie, 
namentlich zur Zeit der Ernte, schwere Körperarbeit leisten. Diese An- 
strengungen sind zum Theil so bedeutend, dass sie die Leistungen der 
Soldaten im Garnisonsdienst übersteigen und diese Arbeiter eigentlich zu 
den Personen gehören, für die Voit 135 bis 145% Eiweiss gefordert 
hatte. In Wahrheit stellte sich bei diesen Personen nach den Untersuchungen 
von Meinert, Hultgren und Lagergren sowie dem Vortr. der Gehalt 
an verdaulichem Eiweiss täglich auf 70 bis 772”, die Fleisch- 
menge auf 20 bis 742%. Dass dies von den meisten Forschern bisher über- 
sehen worden und die Voit’schen Normen als durch die Erfahrung bestätigt 
beibehalten werden konnten, liegt u. A. wohl daran, dass man einfach die 
Kost von irgend welchen gut bezahlten Arbeitern untersuchte und dann 
diese als Norm der Arbeiterkost annahm. Das Fortbestehen eines Irrthums 
auf diesem Gebiete muss aber immer weitere Irrthümer zur Folge haben. 
So werden politische und nationalökonomische Schriftsteller wie Wurm und 
Grotjahn! auf Grund der Voit’schen Lehrsätze zu der Annahme gedrängt, 
dass in weiten Kreisen der deutschen Bevölkerung eine ungenügende 
Ernährung stattfinde, und in Folge dessen eine Degeneration zu befürchten sei. 


VII. Sitzung am 6. Februar 1903. 


1. Hr. Dr. Leo Langstein (a. G., zugleich für Erich Meyer): „Zur 
Kenntniss der Alkaptonurie.“ 


Gestatten Sie mir, Ihnen über einen Fall von Alkaptonurie zu berichten 
den ich gemeinschaftlich mit Collegen Erich Meyer an der medicinischen 
Klinik des Hrn. Prof. Friedrich Müller in Basel zu beobachten Gelegen- 
heit hatte. Es handelte sich um einen ungefähr 50 Jahre alten Bauer, der 
wegen rheumatischer Beschwerden viele Wochen lang in der Klinik behandelt, 
und bei dem die seltene Anomalie des Stoffwechsels anlässlich der Harn- 
untersuchung bemerkt wurde. Auf Anregung unseres Chefs haben wir eine 
systematische Stoffwechseluntersuchung vorgenommen, die uns durch den 


' guten Willen und das Einverständniss des Patienten ausserordentlich er- 
 leiehtert wurde. Es ist auf diese Weise das erste Mal gelungen, in den 


Stickstoffhaushalt eines Falles von Alkaptonurie genauen Einblick zu ge- 


ı! E. Wurm, Die Lebenshaltung der deutschen Arbeiter. Dresden 1892. — 
A. Grotjahn, Ueber Wandlungen in der Volksernährung. Leipzig 1902. 


384 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


winnen und manche zur Discussion stehende Fragen ihrer Beantwortung 
zuzuführen. 

Es dürfte sich vielleicht, bevor ich auf die Besprechung unserer Unter- 
suchungen eingehe, empfehlen, Ihnen die zur Erkennung des Alkaptonharnes 
dienenden Reactionen zu zeigen und eine kurze Uebersicht über den gegen- 
wärtigen Stand der Frage zu geben. Der Name Alkapton stammt von 
Bödeker. Er hat mit ihm eine im Harn eines Diabetikers aufgefundene 
Substanz bezeichnet, die stark reducirte und dem Urin die Eigenschaft ver- 
lieh, sich nach Zusatz von Alkali braunschwarz zu färben (Alkali zonzew = 
begierig verschlucken). 


Ebstein und Müller sprachen diese Substanz als Brenzkatechin an, 
und eine Reihe von Forschern war geneigt, sich dieser Auffassung anzu- 
schliessen. So sah man eine Zeit lang die Alkaptonurie als eine äusserst 
vermehrte Ausscheidung eines normalen Harnbestandtheiles an. 

Erst eingehende Untersuchungen von Baumann und Wolkow, wie 
auch von Kirk klärten die chemische Natur des Alkaptons, dieses inter- 
essanten Stoffwechselproduktes, auf. Es handelt sich um eine aromatische 
Dioxysäure, die Baumann als die nächst höhere Homologe der schon vor- 
her bekannten Gentisinsäure Homogentisinsäure genannt hat 


OH 


| — Homogentisinsäure. 


Diese Säure wurde bisher in sämmtlichen daraufhin untersuchten Alkapton- 
harnen gefunden. 

Kirk und Huppert haben in einem Falle ausser dieser Säure noch 
eine andere Dioxysäure gefunden, die sogenannte Uroleueinsäure, der wir 
auf Grund der Untersuchung Huppert’s folgende Constitution zuschreiben. 


OH 
A 


Lo. onon.coon 
ÖH 


Die Stellung der Hydroxylgruppe in der Seitenkette ist allerdings noch nicht 
bewiesen. 
Die Quantität, in der die Homogentisinsäure bei den bisher bekannt 


gewordenen Fällen ausgeschieden wurde, schwankt von 1 bis ungefähr 


5.52% bei gemischter Kost. Durch Hungern wird sie geringer. 

Meist wurde diese interessante Stoffwechselanomalie zufällig entdeckt. 
Daraus geht schon hervor, dass sie ohne Einwirkung auf das Allgemein- 
befinden ist, dass sie nicht krank macht. In der Mehrzahl der Fälle bestand 
sie seit der Geburt unverändert; allerdings giebt es einige bemerkenswerthe 
Angaben in der Litteratur, nach welchen sie ganz vorübergehend auftrat, 
nur wenige Tage andauernd. 

Durch die Erforschung der chemischen Struetur des Alkaptons als einer 


aromatischen Verbindung war zugleich erwiesen, dass es ein Produet des 


Eiweissstoffwechsels sein müsse. Es ist zuerst Baumann gelungen zu zeigen, 


TE An 


| 
| 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — LEO LANGSTEIN. 385 


dass dem Alkaptonproducenten per os zugeführtes Tyrosin fast quantitativ 
in Homogentisinsäure übergehe, eine Thhatsache, die durch sämmtliche Nach- 
untersucher, Embden, Erich Meyer, Mittelbach u. s. w., ihre Bestäti- 
sung fand. Diese Thatsache zu erklären setzte in Verlegenheit. Das Tyrosin 
ist Paraoxyphenylaminopropionsäure, also eine Paraverbindung, die Homo- 
gentisinsäure gehört einer ganz anderen Reihe an, wie Ihnen die Neben- 
einanderstellung der beiden Formeln zeigt. 


OH OH 
| | cr 
CH,.COOH 
> ev. 2 
CH,.CHNH,.COOH OH 
Tyrosin Homogentisinsäure 


Es müsste also eine Wanderung bezw. Umlagerung der Atomgruppen statt- 
sefunden haben. Baumann weist die Vorstellung, dass eine solche Um- 
wandlung in den Organen und Geweben des Körpers möglich sei, mit 
folgenden Worten zurück: 


„Würde in den Organen und Geweben des Körpers als solchen die 
Umwandlung des Tyrosins zur Homogentisinsäure bewirkt, so wäre damit 
bewiesen, dass aus einem Benzolderivat von bestimmter Constitution jede 
andere aromatische Verbindung, welche in keinerlei chemischem Zusammen- 
hang mit ersterem steht, gebildet werden kann.“ 

Baumann nimmt daher an, dass nicht die Gewebe des Körpers diese 
Umlagerung bewirken, sondern eigenthümliche, im obersten Darmabschnitt 
des Alkaptonproducenten hausende Mikroorganismen. Der Nachweis solcher 
ist ihm allerdings nicht gelungen; ihm ebenso wenig, wie späteren Forschern, 
die sich darum bemüht haben. Dass eine gründliche Desinfection des 
Darmes die Ausscheidung der Homogentisinsäure nicht herabzudrücken ver- 
mag, dass im Darminhalt, auch wenn derselbe zu einer schnellen Passage 
durch Abführmitiel veranlasst wurde, niemals bisher Homogentisinsäure nach- 
weisbar war, kann die Baumann’sche Hypothese nicht stützen. 

Huppert hat eine andere Hypothese aufgestellt; er hält es für mög- 
lich, dass die dem Organismus zugeführte Tyrosinmenge dadurch zu einer 
Steigerung der Homogentisinsäureausscheidung führt, dass sie einen sonst 
zerstörten Theil von Homogentisinsäure vor der Zersetzung schützt. 

M. H. Sie sehen, wir stehen in der Alkaptonfrage, insbesondere was 
Muttersubstanz und Bildungsstätte der Homogentisinsäure betrifft, immer 
noch nicht auf festem Boden; dies mag Ihnen die Mittheilung unserer Unter- 
suchungen, die zusammengehalten mit botanischen Forschungen aus aller- 
jüngster Zeit diese Fragen zu beantworten gestatten, berechtigt erscheinen 
lassen. z 

Bemerkenswerth machte unseren Fall vor allem die grosse Quantität 
der pro Tag ausgeschiedenen, ammoniakalisches Silber reducirenden Säure. 
Bei gemischter Kost, einer Zufuhr von 15 bis 168"” Stickstoff in der Nah- 
rung, wurden täglich 6 bis 72”% im Harn gefunden, also eine Menge, wie 
sie bei Alkaptonurie bisher noch nicht, beobachtet wurde. Die Darstellung 
der Homogentisinsäure als Bleisalz, das ich Ihnen hier zeige, gelang leicht. 
Ausser dieser Säure haben wir an manchen Tagen auch Uroleueinsäure, die 

Archiy f. A. u. Ph. 1903. Physiol. Abthlg. 25 


386 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


N 

bisher, wie ich Ihnen mittheilte, nur in dem Falle von Kirk nachgewiesen 
wurde, gefunden. Der Nachweis von Uroleueinsäure gelang nicht an jedem 
Tage. Während sie an einigen Tagen in ziemlich grosser Menge ausge- 
schieden wurde, so dass ihre Identification nach Huppert’s Methode leicht 
gelang, war sie zu Zeiten nur spurenweise vorhanden oder fehlte selbst 
gänzlich. Dieses intermittirende Auftreten der Uroleueinsäure zu erklären, 
fallt schwer. Ein nachweislicher Zusammenhang mit der Qualität des zu- 
geführten Eiweisses bestand nicht. 

Noch eine dritte aromatische Säure konnten wir in einigen Harnportionen 
nachweisen. Diese wurde durch basisch essigsaures Blei gefällt, zeigte ein 
von dem der beiden bekannten Dioxysäuren verschiedenes Verhalten gegen 
Eisenchlorid und Millon’s Reagens, konnte jedoch aus dem syrupösen Zu- 
stand bisher nicht in einen krystallinischen Zustand überführt werden, so 
dass wir bisher auf die chemische Identifieirung verzichten mussten. Sie 
sehen daraus, m. H., dass ausser der Homogentisinsäure noch andere bisher 
unbekannte Substanzen bei Alkaptonurie mit dem Harn zur Ausscheidung 
gelangen, deren genaue Kenntniss einen interessanten Einblick in die Vor- 
gänge des intermediären Stoffwechsels verspricht. 

Da wir in den bei Alkaptonurie ausgeschiedenen aromatischen Säuren 
nur Producte des Eiweissstoffwechsels vor uns haben, durften wir von dem 
Studium ihres quantitativen Verhaltens unter den verschiedenartigsten Er- 
nährungsbedingungen eine Vertiefung unseres Wissens im Gebiet des Stick-- 
stoffkreislaufes erhoffen. Wir sind ja bei der Alkaptonurie in dieser 
Beziehung in einer glücklicheren Lage als beim Diabetes, wo der bei 
kohlehydratfreier Diät ausgeschiedene Zucker nicht nothwendig im Eiweiss, 
sondern auch im Glycerin des Fettes seine Muttersubstanz haben kann. 

An fünf auf einander folgenden Tagen schied unser Patient bei ge- 
mischter Kost folgende Menge Homogentisinsäure aus: 6°3 8%, 5.89 5m, 
6.7880, 6.708m, 6.748M, Die Stickstoffausscheidung betrug an diesen 
Tagen 14-229, 14-009 8%, 16-088%, 15-518%, 14.468%. Das Verhält- 
niss der ausgeschiedenen Homogentisinsäure zum ausgeschiedenen Stickstoff, 
H:N, in dem wir wenigstens annähernd ein Maass zu erblicken haben, in 
welchem Umfang die Alkaptonbildung aus Eiweiss im Organismus vor sich 
geht, war an diesen Tagen auf 100 N bezogen: 


44:100 42:100 42:100 43:100 46:100. 


Sie sehen eine auffallende Constanz des Verhältnisses H:N, die bei ge- 
mischter Kost während der viele Wochen währenden Versuchsperiode vor- 
handen war. Es würden demnach bei unserer Versuchsperson aus ungefähr 
650 Sm Eiweiss 44 8"m Homogentisinsäure entstehen. Legen wir der Be- 
rechnung weiter die durch Baumann und Andere erhärtete Thatsache 
zu Grunde, dass ungefähr 75 Procent des zugeführten Tyrosins als Homogen- 
tisinsäure ausgeschieden werden — auch wir haben bei einem Fütterungs- 
versuch mit Tyrosin ein ähnliches Verhältniss gefunden —, so kommen wir 
zu dem Schlusse, dass das zugeführte aus Eiern und und Fleisch bestehende 
Eiweiss fast 10 Procent Tyrosin enthalten haben muss. Wenn wir weiter 
im Sinne Baumann’s annehmen, dass nur das im Darm gebildete Tyrosin 
eine Umwandlung zu Homogentisinsäure erfährt, so kommen wir zu dem 
Schluss, dass durch die Fermente des Darmcanals viel grössere Mengen 


| 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — LEO LANGSTEIN. 387 


Tyrosin aus Eiweiss gebildet werden, als es bisher in vitro gelungen ist. 
Das ist aber ganz und gar unwahrscheinlich, und gerade das Gegentheil 
ist plausibel. Denn wenn auch Kutscher und Seemann, wie auch Cohn- 
heim gezeigt haben, dass im Darmeanal wirklich eine Aufspaltung des 
Eiweisses bis zu krystallinischen Endprodueten erfolgt, so ist dadurch noch 
nieht bewiesen, dass diese Aufspaltung quantitativ geschieht; letztere That- 
sache ist sugar mit Rücksicht auf Erfahrungen der Hofmeister’schen 
Schule von der Hand zu weisen. 

Es ergiebt sich also bereits aus dem einfachen Vergleich der Homogen- 
tisinsäure- und Stickstoffausscheidung bei gemischter Kost, dass das Tyrosin 
nicht die allein in Betracht kommende Muttersubstanz der Homogentisin- 
säure sein kann, ebenso wenig als der oberste Abschnitt des Darmcanals 
deren Bildungsstätte. 

Zur weiteren Klärung wurde von uns vor allem der Einfluss der Ver- 
fütterung tyrosinreicher und tyrosinarmer Eiweisskörper auf die Menge der 
ausgeschiedenen Homogentisinsäure untersucht, und als Repräsentant ersterer 
das Casein, als Vertreter letzterer Eieralbumin gewählt. Casein enthält 
auf Grund der bisherigen Untersuchungen fast 5 Procent Tyrosin, Eier- 
albumin kaum 1 Procent davon. Bei Zufuhr von 2008” Casein wurden 
12.329829 redueirender Säure, bei Zufuhr der gleichen Menge Stickstoffs 
als Bieralbumin nur 9-.188”" davon im Harn entleert. Die Ernährung mit 
ersterem bewirkt eine Steigerung des Quotienten H:N auf 71:100, die mit 
letzterem auf 54:100. Diese Thatsache ist in mehrfacher Hinsicht be- 
merkenswerth. Wir finden nämlich in der That, dass ein tyrosinreicher 
Kiweisskörper zur Bildung von mehr Homogentisinsäure führt als ein tyrosin- 
armer, dass also freies Tyrosin sich ebenso verhält, wie das im Eiweiss- 
molecül verankerte; andererseits ist die Steigerung des Quotienten eine viel 
zu bedeutende, um die Menge des ausgeschiedenen Alkaptons nur in Be- 
ziehung zum Tyrosin zu setzen. Das zwingt uns, auch unter anderen 
Eiweissspaltungsprodueten aromatischer Natur die Muttersubstanz des Alkap- 
tons zu suchen, und der directe Beweis dafür war zu erbringen. Wenn 
wir von den heterocyelischen Kernen im Eiweissmolecül absehen, so kommt 
von den der armomatischen Reihe angehörenden Kernen ausser dem Tyrosin 
nur noch das Phenylalanin in Betracht. 


© 
A.CHNH,.CO0H 


Das Phenylalanin ist zuerst von E. Schulze und E. Bosshard unter den 
Spaltungsproducten pflanzlicher Eiweisskörper nachgewiesen worden, aber 
erst durch die Untersuchungen Emil Fischer’s und seiner Schüler haben 
wir von seinem wohl constanten Vorkommen unter den Spaltungsprodueten 
thierischer Eiweisskörper Kenntniss erhalten. Im Eieralbumin und Casein 
fand Emil Fischer ungefähr 2 Procent Phenylalanin, im Leim nicht ganz 
1 Procent, im Hämoglobin fanden E. Fischer und Abderhalden fast 
4 Procent, mir gelang der Nachweis des Phenylalanins im krystallisirten 
Eieralbumin; nach alledem scheint das Vorkommen des Phenylalanins im 
Eiweissmolecül verbreiteter als das des Tyrosins. Bei seiner nahen chemischen 

2 


388 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


\ 

Verwandtschaft mit dem Tyrosin — dies unterscheidet sich ja vom Phenyl- 
alanin nur durch die in Parastellung befindliche Hydroxylgruppe am Benzol- 
ring — war der Gedanke naheliegend, dass wir in ihm die zweite durch das 
Ergebniss des Stoffwechselversuches postulirte Muttersubstanz des Alkaptons 
zu suchen haben. Gemeinschaftlich mit Collegen Falta, Assistenten an 
der medieinischen Klinik des Herrn Prof. His in Basel, bin ich an die 
experimentelle Prüfung dieser Voraussetzung herangetreten. Das Ergebniss 
des Versuches fiel positiv aus. Von 5 8”” per os verabreichten Phenylalanins, 
das ich durch Hydrolyse von Blutglobulin im Laboratorium E. Fischer’s 
erhalten hatte, wurden 48'% als Alkapton ausgeschieden. Gestatten Sie mir, 
m. H., dazu eine kurze Bemerkung. Durch den Uebergang des Phenyl- 
alanins in Homogentisinsäure im Organismus des Alkaptonproducenten ist 
zum ersten Mal die Möglichkeit gegeben, das Verhalten stereoisomerer 
Aminosäuren im thierischen Organismus zu untersuchen. Ich habe gegen- 
wärtig auch Phenylalanin und die racem. Verbindung hergestellt und bin 
eben daran, auch das Verhalten dieser Substanzen mit Collegen Falta zu 
untersuchen. Ich verspreche mir davon recht interessante Aufschlüsse. 
Denn es will mir scheinen, dass man bisher bei Stoffwechselversuchen der 
sterischen Configuration der Aminosäuren zu wenig Beachtung geschenkt hat 
— ich meine speciell jene Untersuchungen, die sich mit der experimentellen 
Prüfung der Zuckerbildung aus Eiweiss befassen. 

Es erübrigt noch die Besprechung der wichtigen Frage, wo der Ueber- 
sang des Tyrosins in Homogentisinsäure im Organimus statthat, wie wir 
diese Stoffwechselanomalie aufzufassen haben. Wie erwähnt, hat uns das 
Verhalten des Homogentisinsäure- Stickstoffquotienten bei gemischter Kost aus 
theoretischen Gründen gegen die Bildung des Alkaptons im Darme ge- 
sprochen; der Beweis, dass wir diesen Process in die Gewebe des Körpers 
zu verlegen haben, ist erbracht durch einen von uns angestellten, durch 
längere Zeit fortgesetzten Stoffwechselversuch bei Kohlehydrat - Fettkost. 
Wir konnten dabei ein Steigen des Quotienten H:N beobachten bis zu 
58:100, was nicht möglich wäre, wenn nur im Darmcanal aus dem mit 
der Nahrung zugeführten Eiweiss die Homogentisinsäure sich bilden würde. 

Verdankt die Alkaptonurie einer Hemmung des Stoffwechsels ihre Ent- 
stehung, oder ist sie vielmehr, sit venia verbo, als Stoffwechselmissbildung 
aufzufassen? Ist die Bildung der. Homogentisinsäure aus Tyrosin ein enzy- 
matischer Process? M. H.! Die Beantwortung der hier aufgeworfenen Fragen 
ist durch das Studium der Alkaptonurie allein nicht möglich, wäre es auch 
nicht, wenn wir über das Verhalten der per os zugeführten Homogentisin- 
säure beim normalen Menschen sowohl als beim Alkaptonproducenten besser 
orientirt wären, als wir es durch bisherige spärliche Versuche sind. Aber 
eine vergleichend pflanzenphysiologische Betrachtung eröffnet uns meiner 
Meinung nach die Aussicht zum Verständniss dieser Stoffwechselanomalie. 
Höchst lehrreiche Beobachtungen Bertel’s, eines Schülers Czapek’s, sind 
es, die ich Ihnen zu diesem Zwecke mittheilen möchte. 

Bertel hat an durch Chloroform narkotisirten Lupinenwurzeln das 
Auftreten charakteristischer Krystalle beobachtet, die er als Tyrosin identi- 
fieiren konnte. Dieses Tyrosin wird in den chloroformirten Wurzeln durch 
ein proteolytisches Enzym ebenso wie im normalen Stoffwechsel gebildet. 
Da jedoch die Weiterverwendung des Tyrosins durch die Narkose gestört ist, 


PHYSIOL. GESELLSCHAFT. — LEO LANGSTEIN. — KARL GLAESSNER. 389 


krystallisirt es durch die Uebersättigung der Zelle aus. Bei fortgesetzter 
Narkose verschwindet das Tyrosin unter Bildung einer silberredueirenden 
Substanz. Ich kann auf die interessanten Mittheilungen Bertel’s, die sich 
auf vergleichende Studien der Intensität und des Sitzes dieses Processes bei 
narkotisirten und nicht narkotisirten Würzelchen beziehen, nicht genauer 
eingehen. Als den wichtigsten Befund theile ich Ihnen nur mit, dass es 
Bertel gelungen ist, nachzuweisen, dass die reducirende Substanz Homo- 
gentisinsäure ist, und dass der Process der Umwandlung des Tyrosins in 
Homogentisinsäure, da er in aseptischer Autolyse verläuft, wohl auf die 
Wirkung eines Enzyms bezogen werden muss. 

Wir kennen ja pflanzliche oxydirende Fermente schon lange. Ich er- 
innere Sie an die von Bertrand und Bourquelot gefundene Thatsache, 
dass die sogenannte Laccase, welche aus dem Rindensaft des Lackbaumes 
den schwarzen Firnis macht, befähigt ist, aromatische Substanzen mit einer 
Hydroxyl- oder Amidgruppe im Kern zu oxydiren. Ich erinnere Sie ferner 
an die weite Verbreitung der Tyrosinasen, die Dunkelfärbung von Pflanzen- 
säften bewirken. 

M. H.! Sie sehen, die Umwandlung des Tyrosins in Homogentisinsäure 
und deren weitere Oxydation zu noch nicht genauer erforschten Stoffwechsel- 
producten ist für die Pflanze ein physiologischer Process, ein Athmungs- 
process im eigentlichen Sinne des Wortes, da er unter Sauerstoffaufnahme 
und Kohlensäureabgabe verläuft. 

So ist die Annahme sehr verlockend, dass die Homogentisinsäureaus- 
scheidung des Alkaptonproducenten durch eine Hemmung des Stoffwechsels 
zu Stande kommt, indem der Organismus die Fähigkeit verloren hat, die 
im intermediären Stoffwechsel entstehende Homogentisinsäure weiter zu 
oxydiren. 

Wenn ich mich mit dieser letzten Annahme auch wieder auf das 
Gebiet der Hypothese begeben habe, für die der striete Beweis noch zu 
erbringen sein wird, so hoffe ich doch, dass es mir gelungen ist, Ihnen zu 
zeigen, dass die Alkaptonurie verdient, „aus dem Rahmen eines einfachen 
Curiosums* herauszutreten. 


2. Hr. Dr. KAru GLAEsSSNER (a. G.): „Ueber die antitryptische 
Wirkung des Blutes.“ 


John Hunter hat vor über hundert Jahren die Frage aufgeworfen, 
warum sich der menschliche Magen nicht selbst verdaut. Damals blieb man 
ihm die Antwort schuldig und noch heute ist der Schleier, der über dieser 
eigenthümlichen Erscheinung des Selbstschutzes des Organismus gegen seine 
eigenen Fermente liegt, nicht gelüftet worden. Die erwähnte Frage ist 
lange discutirt worden, ich brauche Sie nur an die Versuche Claude 
Bernard’s, Pary’s, Frenzel’s, Matthes’ und Weinland’s! zu erinnern. 
Mir scheint es, als ob dem Blute bei dieser schützenden Kraft des Orga- 
nismus eine nicht unwichtige Rolle beschieden sei, denn die Fermente werden 
bekanntlich auch resorbirt, kommen somit in’s Blut und werden in Spuren 
im Urin ausgeschieden; es liegt deshalb nahe, an eine wichtige antifermen- 
tative Kraft des Blutes in diesem Sinne zu denken, dass es die Fähigkeit 
besitzt, die Fermente zu neutralisiren bezw. zu inactiviren. 


\ Zeitschrift für Biologie. 1902. Bd. XXVI. 8.1. 


390 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


Die Bakteriologie hat uns gelehrt, dass schon im normalen Blute Stoffe 
enthalten sind, die gegen Bakterienleiber bakteriolytisch oder agglutinirend, 
gegen Bakterientoxine antitoxisch wirken. Ebendasselbe ist gegenüber den 
körpereigenen Fermenten der Fall. Es ist gelungen, im Blute eine anti- 
labende, eine antipeptische und eine antitryptische Wirkung nachzuweisen. 
Das Antilab hat zuerst Hammarsten, später sein Schüler Röden be- 
obachtet, in neuerer Zeit liegen darüber Untersuchungen von Morgenroth,! 
sowie von Fuld und Spiro? vor. Die antipeptische Fähigkeit des Blutes 
ist Sachs® nachzuweisen gelungen. Ueber die antitryptische Wirkung des 
Blutes liegt eine ganze Reihe von Arbeiten vor. Fermi und Pernossi® 
haben diese zuerst in Organsäften zu erkennen geglaubt, später hat Hahn’ 
die antitryptische Wirkung dieser Säfte dem Blut und zwar dem Blutserum 
zugeschrieben. Landsteiner® glaubt, dass die Antitrypsine in der Fraetion 
des Serumalbumins enthalten seien, neuerdings hat noch Achalme’”’ eine 
künstlich gesteigerte Antitrypsinwirkung bei jungen Thieren hervorzurufen 
gesucht. 

Meine eigenen Versuche betreffen die antitryptische Wirkung nur des 
normalen Blutes, von der Voraussetzung ausgehend, dass im Blute Schutz- 
stoffe gegen die körpereigenen Fermente vorhanden sein müssen. 

Zuerst wurde nachgeprüft, ob Serum oder Blutzellen die hemmende 
Wirkung zukomme. In Bestätigung der früheren Resultate konnte ich 
finden, dass die Antitrypsine lediglich im Blutserum enthalten seien. Es 
ergab sich nun die Frage, ob entsprechend den in letzter Zeit so vielfach 
bearbeiteten Antikörpern gegen chemische Stoffe eine strenge Speeifität der 
Trypsine verschiedener Thierarten gegenüber dem Serum dieser Thierarten 
bestehe, d.h. ob das Serum einer Thiergattung stärker hemmend wirke 
gegen das Trypsin derselben Thierspecies, als gegen die Trypsine anderer 
Thierarten. Ich prüfte in dieser Richtung die Sera vom Pferd, Rind, 
Schwein, Hund, Kaninchen und von der Gans. Die Versuche wurden so 
angestellt, dass das Pankreas des betreffenden Thieres nach der alten Methode 
von Kühne getrocknet und ein Pankreasinfus hergestellt wurde. Abge- 
messene Mengen des Trypsins wurden mit Mett’schen Röhrchen beschickt 
bezw. in mit Gelatinelösung gefüllte Röhrchen gebracht und nun das 
Serum verschiedener Thierarten hinzugefügt und die Grösse der verdauten 
Strecke des Eiweiss- bezw. Gelatineröhrchens bestimmt. Derselbe Versuch 
wurde nun mit einem Blutserum und verschiedenen Trypsinlösungen aus- 
geführt. Das Resultat dieser Versuchsreihen war durchaus positiv, es konnte 
eine regelmässige und strenge Specifität der antitryptischen Wirkung des 
Blutserums gegen die bezüglichen Trypsine der betreffenden Thierarten fest- 
gestellt werden. 

In weiterer Folge wurde nachzuweisen gesucht, welcher Eiweissfraetion 
des Blutserums die antitryptische Wirkung desselben zukomme. Land- 


1 Centralhl. für Bakteriologie. XXVI. S. 11, 12. 

” Zeitschrift für physiol. Chemie. 1900. Bd. XXXI 
® Fortschr. der Med. 1902. 

* Zeitschrift für Hygiene. XVII. 

° Berliner klin. Wochenschr. 1897. 

° Centralbl. für Bakteriologie. 1900. 

” Ann. de U’ Inst. Pasteur. 1901. p. 737. 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — KAkL GLAESSNER. 391 


steiner hat dieselbe, wie oben erwähnt, in der Albuminfraetion gefunden. 
Ich bin zur Lösung der Frage nach dem Vorgange von Fuld und Spiro 
verfahren, die die Antikörper des Labs mit dem Globulin ausfällen konnten. 
Es wurde deshalb Blutserum vom Pferde durch Ammonsulfatfällung fractio- 
nirt. Das Globulin und Albumin bis zur Salzfreiheit dialysirt, nochmals 
gefällt und die dialysirten Lösungen untersucht. Es zeigte sich, dass das 
Albumin ganz unwirksam war, während das Globulin stark antitryptische 
Eigenschaften zeigte. Weiters wurde die Globulinfraetion in die drei Unter- 
fractionen geschieden, die die Hofmeister’sche Schule annimmt: in das 
bei geringer Ammonsulfatsättigung (bis 25 Procent) ausfallende Fibrino- 
globulin, in das Euglobulin, das bei 33 Procent ausfällt und bei der Dialyse 
löslich bleibt, endlich in das bei 38 Procent fallende Pseudoglobulin, das 
sich bei der Dialyse als unlöslich erweist. In jüngster Zeit sind wir in der 
glücklichen Lage, über drei weitere Globuline zu verfügen, deren Vorhanden- 
sein Freund und Joachim! annehmen. Zur Zeit der Untersuchungen 
meines Materials war jene Publication noch nicht erschienen und konnte 
deshalb nicht berücksichtigt werden. Es stellte sich heraus, dass die 
Euglobulinfraction der Träger der antitryptischen Wirkung des Blut- 
serums ist, dass somit die Antitrypsine bei dieser Sättigung mit Ammon- 
sulfat fallen, ein Befund, bei welchem ich mich Landsteiner gegenüber 
im Widerspruch befinde. 

Endlich interessirte mich zu erfahren, ob die antitryptische Wirkung 
des Blutes von den Schwankungen in der Trypsinbereitung und Absonderung 
des Körpers abhängig sei, und ich ging daran, die Stärke dieser Wirkung 
beim nüchternen und verdauenden Zustande des Organismus zu untersuchen. 
Diese Versuche wurden beim Menschen und beim Hunde angestellt. Es 
wurde das Blut den Thieren in nüchternem Zustande entnommen und zu 
verschiedenen Stunden der Verdauung. Es ergab sich ein deutliches An- 
steigen der antitryptischen Wirkung auf der Höhe der Verdauung, i. e. in 
der 4. bis 5. Stunde derselben. Versuche beim Menschen schlugen deshalb 
fehl, weil die Infuse aus Leichenpankreas fast wirkungslos waren und mensch- 
liehes Blutserum gegen Thiertrypsin fast unwirksam ist, da, wie ich aus- 
geführt habe, die Wirkung streng speeifisch ist. Ein glücklicher Zufall 
fügte es, auch dieser Schwierigkeit Herr zu werden. Ich bin in der Lage, 
gegenwärtig über menschliches Pankreassecret verfügen zu können, das aus 
einer Pankreasgangfistel gewonnen ist und vollständig normalem Pankreas 
entstammt. Ich vermochte dieses an sich unwirksame Secret zu activiren 
und den Versuch in der oben geschilderten Weise auszuführen. Er führte 
zu demselben Ergebniss wie der erste Versuch am Hunde. 

M. H.! Ich fasse die Resultate meiner Untersuchungen in folgende 
Sätze zusammen: 

1) Die antitryptische Wirkung des, Blutes ist eine streng 
specifische. 

2) Sie ist an das Globulin des Blutserums bezw. an das Eu- 
globulin der Hofmeister’schen Schule gebunden. 

3) Sie ist grösser zur Zeit der Verdauung als im nüchternen 
Zustande. 


\ Zeitschrift für physiol. Chemie. 1902. Bd. XXXVL S, 407, 


392 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


M. H.! Heute fiel mir die letzte Nummer der Comptes rendus des 
söances de la Soeiete de Biologie in die Hände, in der eine Arbeit 
von Delezenne! betitelt: „Sur l’aection antikinasigque du serum sanguin“ 
enthalten ist. Diese Arbeit zeigt, dass die Ueberschrift, die ich meinen 
Untersuchungen gegeben habe, unrichtig ist; Delezenne sucht nämlich 
nachzuweisen, dass das Blutserum keine hemmende Wirkung auf das Trypsin 
ausübe, sondern nur auf die das Trypsin activirenden Stoffe: die Kinasen. 
Ich hätte also meine Versuche lieber betiteln sollen: „Ueber die Antikinasen- 
wirkung des Blutes.“ Doch stellt Delezenne selbst erst weitere Beweise 
seiner Theorie in Aussicht und es bleibt der Zukunft vorbehalten, die Frage 
endgültig zu entscheiden, ob wir durch das Blutserum nur die Kinasen zer- 
stören oder das Trypsin selbst. Meiner Meinung nach könnte ein, wenn 
auch nur indirecter Beweis dadurch geliefert werden, wenn man nach Ein- 
spritzung inactiven Pankreassaftes keine Vermehrung des Antitrypsin im 
Blute feststellen sollte. 


IX. Sitzung am 20. Februar 1903. 


Hr. H. Kronecker theilt die Ergebnisse von Versuchen mit, welche 
Frl. Dr. S. Poliakoff im Hallerianum zu Bern über die Erregbarkeit 
von Nerv und Muskel perfundirter Frösche angestellt hat. 


1) 0-7 procentige Kochsalzlösung während etwa 1 Stunde durch den 
Unterkörper des Frosches geleitet, lässt stärkste elektrische Einzelreize des 
Plexus sacralis nicht mehr auf die Muskeln wirken (Carslaw, Locke, 
Cushing). Die Erregbarkeit (durch Minimalreize geprüft) sinkt nach langer 
Ausspülung plötzlich. 

2) Nach längerer Salzwasserperfusion gerathen die Muskeln häufig in 
fibrilläre Zuekungen, kurz bevor die Nerven unerregbar werden (Kühne, 
Ringer, Carslaw u. A... Dann aber hören die Zuckungen auf, sind also 
neurogen. 

3) Auch die Muskeln werden für directe Reize weniger empfänglich 
und verfallen leicht in den Zustand der Contraetur (Carslaw u. A.). 

4) Ringers Lösung, etwa 1 Stunde lang durch das frische Präparat 
geleitet, mindert ebenfalls etwas .die ursprüngliche Erregbarkeit von Nerv 
und Muskel. 

5) Ringer’s Lösung verbessert die Erregbarkeit der durch Kochsalz- 
lösung geschwächten Nerven und Muskeln (Locke). 

6) Gummilösung ist nicht völlig kalkfrei zu machen. 

{d) Gummilösung durch das fr ische para geleitet, mindert die Er- 
regbarkeit von Nerv und Muskel. 

8) Gummilösung (kalkhaltig) erhöht die Erregbarkeit des durch Koch- 
salzlösung geschwächten Nervs und Muskels und beseitigt die Neigung des 
Kochsalzmuskels zur Contractur. 

9) Kochsalzlösung vermag die mit Gummilösung imprägnirten Blut- 
gefässe des Froschpräparates auch während dreistündiger Durchleitung nicht 
so weit auszuwaschen, dass die Nerven völlig unerregbar werden. 


! Oompt. rend. de la Soc. de Biologie. 1903. 30. Januar. 


PHYSIOL. GES. — H. KRONECKER. — A. LoEgwYy U. Franz MÜLLER. 393 


10) Blut (vom Kalb), sowohl mit erhaltenen als mit zerstörten Blut- 
zellen, sowohl mit CO gesättigt, als auch durch Diffusion von den wesent- 
lichen Salzen befreit, sodann auf normalen Kochsalzgehalt (0.7 Procent) 
gebracht, kann die durch Kochsalzlösung aufgehobene Nervenerregbarkeit 
und geminderte Muskelerregbarkeit vollständig wieder herstellen, ebenso den 
normalen Zuckungsverlauf. 

11) Hundeserum wirkt ebenso günstig wie Blut. 


12) Auch entkalktes und sogar durch Kochsalzlösung um das Zehnfache 
verdünntes Hundeserum vermag während einiger Stunden die Erregbarkeit 
von Nerv und Muskel auf ziemlich hohem Grade zu erhalten. 


13) Entkalkte Hunde- wie Kaninchensera vermochten die durch Koch- 
salzlösung unerregbar gemachten Nerven beinahe wieder auf den ursprüng- 
lichen Grad ihrer Erregbarkeit zu bringen. 


14) Entkalktes Pferdeserum, durch das frisch auf seine Erregbarkeit 
und seine Leistungsfähigkeit geprüfte Froschpräparat geleitet, erhöhte 
die Erregbarkeit der Nerven, verminderte ein wenig die Muskelerregbarkeit. 


15) Normales Pferdeserum nützte nichts mehr, wenn zuvor Gummi- 
lösung durch das Präparat geleitet war. 


16) Curare (2 Procent in Kochsalzlösung) ist durch Ringer’s Lösung 
leichter auszuwaschen als durch Blut. 


17) Frequente Reize (!/,, “ Intervall), dem Kochsalzmuskel direct zu- 
geleitet, verursachten steil ansteigende Tetani, welche Contracturen hinter- 
liessen. 


18) Der tetanisirte Nerv veranlasste den Kochsalzmuskel zu tetanischer 
Contraetion, selbst dann, wenn Einzelreize keinen Fffeect mehr hatten 
(Carslaw, Locke). 


19) Der neurogene Tetanus des Kochsalzmuskels stieg langsam an und 
erreichte — im Gegensatze zum normal schnell aufsteigenden myogenen — 
erst nach 5 bis 24 Seeunden sein Höhemaximum, fiel mit Ende des Reizes 
steil ab, hinterliess aber eine schwächere, mehrere Secunden dauernde 
Contractur. 


20) Ein starker constanter Strom (von etwa 8 Volt Spannung) durch 
den Nerven des Salzmuskels geschickt, verursachte ähnlich verlaufenden 
Tetanus wie intermittirende Reizung. 


21) Die Dauereontraetionen von Kochsalzmuskeln, deren Nerven tetani- 
sirt werden, verursachen keinen secundären Tetanus, während derselbe vom 
nicht durchspülten Muskel auf schwache intermittirende Reizung seines 
Nerven sehr merklich ist. 


2. Hr. A. Loswy und Hr. Franz MüLLerR: „Zur Kenntniss der 
anästhesirenden Wirkung des Yohimbin-Spiegel. 


Auf Grund einer Beobachtung Magnani’s (Turin) haben die Vor- 
tragenden zunächst am Menschen die local anästhesirende Wirkung 
!/,- bis Iprocent. Yohimbinlösungen auf die Augenbindehaut und Hornhaut, 
sowie auf die Zunge untersucht. Das Mittel wirkt ähnlich dem Cocain, 
indem es vollkommene Anästhesie erzeugt und die Geschmacksqualitäten 
aufhebt. Dabei macht es aber keine Anämie und Pupillenerweiterung, 


394 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


N 
vielmehr in den meisten Fällen Hyperämie und lässt die Pupille in der 
Regel unbeeinflusst. ; 

Versuche an Thieren (Hunden und Kaninchen) sollten über die Wirkung 
des Mittels zunächst auf die Nasenschleimhaut, dann auf die Nervenfasern 
bei direeter Application auf diese Aufschluss geben. Es zeigte sich, dass 
die Nasenschleimhaut völlig unempfindlich wurde, so dass der sonst prompt 
eintretende Trigeminusreflex auf die Atmung nicht mehr zu Stande kam. 
Aus den Versuchen am isolirten Nervenstamm ging hervor, dass sowohl die 
sensiblen wie die motorischen Fasern in ihrer Erregbarkeit und Leitungs- 
fähigkeit geschwächt bezw. gänzlich gelähmt wurden, und zwar war die 
Leitungsfähigkeit nicht nur für den elektrischen Reiz, sondern auch für den 
natürlichen gänzlich aufgehoben, wie Versuche am N. vagus bez. des 
Hering-Breuer’schen Athemreflexes ergaben. Die Resultate wurden durch 
eine grössere Zahl von Curven demonstrirt. 


3. Hr. A. Loewy und Hr. H. v. Schrörter (Wien): „Ein Verfahren 
zur Bestimmung der Blutgasspannungen, der Kreislaufgeschwin- 
digkeit und des Herzschlagvolumens am Menschen.“ 


Wie die Zusammensetzung der Luft in den an der Respiration sich 
betheiligenden Lungenalveolen einen Maassstab abgiebt für die Gasspan- 
nungen des arteriellen Blutes, so stellt die in einem genügend lange abge- 
schlossenen und aus der Athmung ausgeschalteten Lungenabschnitte ent- 
haltene Luftmasse einen Ausdruck dar für die Gasspannungen des venösen 
Blutes. Das in die Lungencapillaren venös eintretende Lungenarterien- 
blut gleicht sich, indem es sich arterialisirt, gegen die Sauerstoff- und 
Kohlensäurespannungen der respirirenden Lungenalveolen aus, das in einen 
abgeschlossenen Lungenlappen eintretende venöse Blut gleicht die Span- 
nungen seiner Gase gegen die in diesem enthaltene Gasmasse aus, die 
schliesslich mit denen des venösen Blutes in Spannungsausgleich kommt. 
Die Gasspannungen des arteriellen Blutes sind auf Grund der Zusammen- 
setzung der Exspirationsluft zu bestimmen, da man aus dieser die Be- 
schaffenheit der Lungenalveolenluft berechnen kann. Die Spannung der 
Gase des venösen Blutes lässt sich bestimmen, wenn es gelingt, einen 
Lungentheil zu verschliessen und nach genügend langem Verschlusse eine 
zur Analyse ausreichende Luftmenge aus ihm zu entnehmen. 

Da nun aber die Spannung der Gase des Blutes zu ihrer Menge 
im Blute in bestimmter Beziehung steht, jeder Spannung der Kohlensäure 
oder des Sauerstoffes des Blutes ein bestimmter Gehalt des Blutes an ihnen 
entspricht, Beziehungen, die sich experimentell ermitteln lassen, so kann 
man aus der Spannung der Gase des Blutes ihre Menge in ihm erfahren. 
Hat man gleichzeitig die Gasmengen im arterialisirten und venösen Blute er- 
mittelt, so kennt man die Sauerstoffmenge, die in den Körpercapillaren 
vom arteriellen Blute abgegeben, die Kohlensäuremenge, die in dieselben auf- 
genommen wurde. 

Diese Kenntniss kann als Grundlage für weitere Bestimmungen dienen, 
wenn man zugleich den gesammten Sauerstoffverbrauch und die gesammte 
Kohlensäurebildung pro Minute durch einen Respirationsversuch feststellt. 
Man kann dann in einfacher Weise die Blutmenge berechnen, die in der 
Minute durch die Körpercapillaren bezw. durch die Lungencapillaren 


| 


| 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — A. LOEwY U. H. v. SCHRÖTTER. 395 


gehen müsste, um den gesammten Gaswechsel zu ermöglichen. Sei z. B. 
der Gehalt des arteriellen Blutes an Sauerstoff zu 20 Procent ermittelt 
worden, der des venösen zu 14 Procent, so ist der Sauerstoffverlust, den 
100 «m Blut in den Geweben erfahren, 6°®. Sind in der Minute 250 em 
Sauerstoff im Ganzen verbraucht worden, so hätten nach der Gleichung 
6:100=250:, —_ 100 4.n. 4-17 Liter Blut pro Minute durch die Capillaren 
gehen müssen, um die 250°” Sauerstoff abzugeben. 

Bestimmen wir zugleich das Körpergewicht, so beträgt die Gesammt- 
blutmenge !/,, desselben, und, wenn wir wissen, dass 4-17 Liter in einer 
Minute durch die Capillaren gingen, so können wir berechnen, wieviel Zeit 
erforderlich war, damit die Gesammtblutmenge des Körpers einen Kreislauf 
vollendete, d. h. die Dauer eines Blutumlaufes. Sei das Körper- 
gewicht = 50%%, so wäre die Blutmenge !/,, von 50 =3-85 Liter, und 


nach der Gleichung 4-17:1=3'85:x würde der Kreislauf 0.9 Minuten 
d. h. also 54 Secunden dauern. 

Und wenn pro Minute 80 Pulse gezählt waren, so fördern diese 4-17 Liter 
Blut, d.h. jede Systole !/,,, d.h. 52°® Blut, die das sog. Herzschlag- 
volumen darstellen. 

Weiter wäre man, wenn das specifische Gewicht des Blutes bekannt 
und der Blutdruck exact ermittelt werden se in der Lage, die Herz- 
‚arbeit zu berechnen. — 

Die nach den vorstehenden Ueberlegungen an bisher sieben Menschen 
ausgeführten Untersuchungen hatten, wie erwähnt, zur Voraussetzug, dass 
es gelingt, einen grösseren Lungentheil abzusperren, und nach geschehenem 


‚ Spannungsausgleich seiner Gase mit denen des venösen Blutes ihm Gas 
zur Analyse zu entnehmen. Das gelang unter Zuhülfenahme des Broncho- 
'skopes. Das Bronchoskop wurde in einen Bronchus zweiter oder dritter Ord- 


nung eingeführt, was unter Leitung des Auges sowohl an tracheotomirten 


396 VERHANDL. D. BERL. puys. Ges. — A. Loswy v. H. v. SCHRÖTTER. 


wie an normalen Menschen gelang, und durch das Bronchoskop ein Tampon- 
katheter hindurchgeführt, dessen Tampon bis zum Verschluss des Bronchus 
aufgeblasen wurde. Darauf wurde das Bronchoskop über den Katheter 
zurückgezogen und der Katheter an Ort und Stelle belassen. Der Katheter 
war mit einer Spritze und einem Gassammelrohr verbunden. Die Spritze 
diente theils zu einem vollkommenen Durchmischen der Luft in dem ab- 
gesperrten Lungenstück, theils zur Beseitigung etwaiger Schleimtheilchen, 
die das Katheterauge verlegt hatten. Endlich wurde auch die der Analyse 
dienende Luft aus der Lunge mit der Spritze angesogen und in das Gas- 
sammelrohr hineingedrückt. 

Wurden so die Gasspannungen am venösen Blute ermittelt, so die am 
arteriellen und zugleich der Gesammtgaswechsel durch einen Respirations- 
versuch, der zur gleichen Zeit nach dem Zuntz-Geppert’schen Prineip 
ausgeführt wurde. Die gesammte Exspirationsluft wurde durch eine Gasuhr 
geleitet, hier gemessen, eine Durchschnittsprobe zur Analyse aufgefangen; 
zugleich die Athemfrequenz gezählt, um die Tiefe der Athemzüge, deren 
Kenntniss zur Berechnung der Zusammensetzung der Alveolenluft noth- 
wendig ist, festzustellen. Zu diesem Zwecke war das Mundstück, durch 
welches die Exspirationsluft aus dem Körper in die Schlauchleitung zur 
Gasuhr passiren muss, entsprechend modificirt, um zugleich den Katheter 
durchzulassen. Vorstehende Skizze giebt eine schematische Darstellung der 
Versuchsanordnung und ist wohl ohne besondere Erläuterung verständlich. 

Durch diese Versuchsanordnung kann man die Spannung der Gase des 
arteriellen und venösen Blutes, sowie den Gesammtgaswechsel ermitteln. 

Die Beziehungen der gefundenen Blutgasspannungen zu der ihnen 
entsprechenden Menge an Blutgas wurden in besonderen Versuchen er- 
mittelt, bei welchen das betreffende Blut in einem diekwandigen Glasgefäss 
mit einem Sauerstoff-Kohlensäuregemisch, das den im arteriellen und venösen 
Blut gefundenen Spannungen entsprach, geschüttelt wurde bis zum Span- 
nungsausgleich. Dann wurde eine Probe dieses Gasgemisches analysirt und 
ferner ein Quantum des Blutes entgast und seine Sauerstoff- und Kohlen- 
säuremengen ermittelt. Die Analyse des Gasgemisches gab die Spannung, 
die des Blutes die ihr zukommende Menge an Sauerstoff und Kohlen- 
säure. — 

Das vorstehend geschilderte Verfahren ist in seinen einzelnen Theilen 
nicht neu; neu aber ist deren Combination zu einem Ganzen und seine Ver- 
werthung am Menschen. Wir haben seine Verwendung auch für das 
Studium pathologischer Zustände begonnen, insbesondere für das Studium 
von Cireulationsstörungen, da man auf diese Weise einen präciseren Einblick 
in die funetionellen Störungen der Herzthätigkeit gewinnen kann, als dies 
bisher durch andere Maassnahmen möglich war. Der Lungenkatheterismus 
bot keine besonderen Schwierigkeiten und es gelang, ihn an Persionen ver- 
schiedensten Alters auszuführen, zum Theil ohne vorhergehende Vorbereitung, 
und das Instrument bis zu ?/, Stunden in situ zu belassen. 

Ueber die gewonnenen Ergebnisse soll später berichtet werden. 


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: Die Verlagsbuchhandlung: 


Veit & Comp. in Leipzig. 


"Druck von Metzger & Wittig in Leipzig. 


a 


- Physiologische Abtheilung. 1903. Y. u. VI. Heft. 


Se 
ARCHIV 


F ÄNATONIE UND PINSIOLOCIE 


FORTSETZUNG DES von REIL, REIL ı U. AUTENRIETH, T F. MECKEL, JOH. MÜLLER, 
REICHERT v. DU Eu REYMOND HERAUSGEGEBENEN ARCHIVES. 


HERAUSGEGEBEN 
VON 


Dr. WILHELM HIS, 


PROFESSOR DER ANATOMIE AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG, 
UND 


De. TH. W. ENGELMANN, 


PROFESSOR DER PHYSIOLOGIE AN DER UNIVERSITÄT BERLIN. 
JAHRGANG 1908. 


—— PHYSIOLOGISCHE ABTHEILUNG. — 
FÜNFTES UND SECHSTES HEFT. 


MIT EINUNDFÜNFZIG ABBILDUNGEN IM TEXT. 


LEIPZIG, 
VERLAG VON VEIT & COMP. 
1908. 


Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandes. 
(Ausgegeben am 27. November 1903.) 


Inhalt 


Seite 

ALEXANDER AUERBACH und Hans FRIEDENTHAL, Ueber die Reaction des mensch- 

lichen Harnes unter verschiedenen Ernährungsbedingungen und ihre quanti- 

tative Bestimmung . - I N BOT 
Aueustus D. WALLER, Ueber die len Biröne ae Kiystalllinse ENT . 412 
S. Dontas, Ueber einige Einwirkungen auf die Dehnungscurve des Muskels. ..,419 
J. SEEGEn, Der Process der Zuekerbildung in.der Leber. . . . 425 
GEORG LEVINSOKN, Ueber das Verhalten des Ganglion cervicale une rad 

Durchschneidung seiner pra@- bezw. postcellulären Fasern . . . 438 


JOHANNES FRENTZEL und MAX SCHREUER, Verbrennungswärme und Sys ologieher 
 Nutzwerth der Nährstoffe IV. Abhandlung: Die Zusammensetzung und 


der Energiewerth des Fleischkothes . . . 460 
Kart Brasunıg, Ueber Degenerationsvorgänge im Inalorischen Heine ron Sn 

Durchschneidung der hinteren Rückenmarkswurzeln. . . . ..2.......480 
W. Sterrine, Hirnrinde und Augenbewegungen. . . ; . 487 
Hans Sacns, Ueber die im en bei Ja Transfuston‘ Fremdı 

artigen Blutes . .. 494 


Ta. W. EnGELMAnnN, Der Verinch. von an eine, seine a Balken u as: Dehtuag 505 
Rıcuarv Hans Kann, Beobachtungen über die Wirkung des Nebennierenextractes 522 
Verhandlungen der physiologischen Gesellschaft zu Berlin 1902—19038 ‘. „ . 538 


WILHELM .STERNBERG, Beiträge zur Physiologie des süssen Geschmackes. — 
Mosse, Zur Histogenese der Iymphatischen Leukämie. — G. WETzEL, Die 
colloidalen Hohlkörper der Eiweisssubstanzen des Zellkernes. — K. Wesseuy, 
Ueber die Fluoresceinerscheinungen am Auge und die Ausscheidung des 
Fluoresceins aus dem Körper. — Heinrich PorL und ALFRED SOMMER, Ueber 
phaeochrome Zellen im Centralnervensystein des Blutegels. — Hans FRIEDEN- 
«e: THAL, Ueber Reactionsbestimmungen im natürlichen Serum und über Her- 
stellung einer zum Ersatz. des natürlichen Serums geeigneten Salzlösung. 


Die Herren Mitarbeiter erhalten vierzig Separat-Abzüge ihrer Bei- 
träge gratis und 30 c# Honorar für den Druckbogen. 


Beiträge für die anatomische Abtheilung sind an 
Professor Dr. Wilhelm His in Leipzig, 
während der Monate März, April, August und September jedoch an die 
Verlagsbuchhandlung Veit & Comp. in Leipzig, 
Beiträge für die physiologische Abtheilung an 
Professor Dr. Th. W. Engelmann in Berlin N.W., Dorotheenstr. 35 

- portofrei einzusenden. — Zeichnungen zu Tafeln oder zu Holzschnitten sind 
auf vom Manuscript getrennten Blättern beizulegen. Bestehen die Zeich- 
nungen zu Tafeln aus einzelnen Abschnitten, so ist, unter Berücksichtigung 


der Formatverhältnisse des Archives, eine Zusammenstellung, die dem 
Lithographen als Vorlage dienen kann, beizufügen. 


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u AIRETTÄN ENEN. FAUL 


ty, dr 


EN Litterarischer Anzeiger. 
Beilage zu 
Archiv für Anatomie u. Physiologie | 
Zeitschrift für Hygiene und Infectionskrankheiten 


- Skandinavisches Archiv für Physiologie. 
1903. an) von Veit 23 Comp. in an Nr. 3. 


R Verlag von VEIT & COMP. in Leipzig is 
& Soeben erschien: Re 
& IK 
| SOGEESTION UND HYPNOTISMDS |: 
& D |» 
& y > 
& IN DER VÖLKERPSYCHOLOGIE. 16» 
o | | Von 
& Rz 
& Dr. med. Otto Stoll | 13 
& o. Professor der Geographie und Ethnologie an der Universität Zürich. > 
=) Zweite, umgearbeitete und vermehrte Auflage. > 
| R | gr. 8. 1904. geh. 16 .#, geb. in Halbfranz 18 .% 50 2. 2 
& ÜBER DEN \ 

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| EINFLDNS DER NATORWISSENSCHARTEN a 


| AU DIE WELBANSGHADUNG. |: 


Vortrag, gehalten in der allgemeinen Sitzung der 75. Versammlung 68 
Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Cassel am 21. September 1903 os 
Wo ‚x 
von x | Kr 
. | 0$ 
Albert Ladenburg, Rs 
0. ö, Professor der Chemie an der Universität Breslau. nr 
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x 
8. 1903. geh. 1 #. i 
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ETET = verevwevuyesveovevewen 


S | | } 


Verlag von August Hirschwald in Berlin. | 
Soeben erschien: % 
Die Periodizität der Diphtherie und ihre Ursachen. Epidemiologische 


Untersuchung von Dr. Ad. Gottstein. gr. 8. Mit 10 Curven im Text. 
1908. 1M 20 8. | 


Die traumatische SRETENORE SE von Prof. Dr. Robert Langerhans. 
er. 8 1908. 2 M. 


Das Problem der Syphilis und die Legende von der speecifischen 
Wirkung des Quecksilbers und Jods von Prof. Dr. 0. Rosenbach. 
er 8. 1909..202002 


'Aux Fapricants darticles sanitaires 


On demande ‘des prospectus, eatalogues, et modeles pour le musde de hygiene de 
VInstitut central de Hygiene de l’Etat, qu’on vient de creer & Lisbonne. 


Adresse — LISBONNE — 25 Rua Cruz de Santa Apothonia. 


Verlag von August Hirschwald in Berlin. 


Soeben erschien: 


Das Trachom 
als Volks- und Heereskrankheit 
von 
Ober-Stabsarzt Dr. J. Boldt. 
1903. gr. 8. Preis 5 .#. (Bibliothek von Coler-Schjerning. 19. Band.) 


Verlag von VEIT & COMP. in Leipzig. 
DIE SEHNENÜBERPFLANZUNG 


und ihre Verwertung in der Behandlung der Lähmungen 
von 
Dr. med. Oscar Vulpius, 


Professor der Chirurgie an der Universität Heidelberg. 


Mit zahlreichen Figuren und Abbildungen im Text. 
gr. 8. 1902. geh. 6 #. 


Verlag von August Hirschwald in Berlin. 


Soeben erschien: 


Die Theorie des Augenspiegels 
und die Photographie des Augenhintergrundes 


von 
Dr. W. Thorner. | 
1903. gr. 8. Mit 64 Textfiguren und 3 Tafeln. 6 A. 


2 


\ es . August Hirsenwaldn ‚Berlin.‘ 
2) Soeben erschien: i Br 
5 Physiologische und klinische 
‚Untersuchungen über das Gehirn. 


Gesammelte Abhandlungen 


von 


Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Ed. Hitzig. 
1904. gr. 8. Mit 1 Tafel und 320 Textfiguren. 27 #. 


Verlag von VEIT & 00MP. in Leipzig. 
VORLESUNGEN 


\ ÜBER 


_NATURPHILOSOPHIE. 


GEHALTEN 
| -IM SOMMER 1901 AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG 


VON 
WILHELM OSTWALD. 
ZWEITE AUFLAGE. 


Lex. 8. 1902. Geh. 11 ©%, geb. in Halbfr. 13 c# 50 2. 


Verlag von August Hirschwald in Berlin. 


Soeben erschien die erste Abteilung: 


Jahresbericht | 
über die Leistungen und Fortschritte 
in der gesammten Medicin. 
(Fortsetzung ‚von Voren Syhrosbericht) 


Unter Mitwirkung zahlreicher Gelehrten. 


Herausgegeben von 
W. Waldeyer und C. Posner. 


37. Jahrgang. Bericht für das Jahr 1902. 2 Bände (6 Abtheilungen). 
Preis des Jahrganges 37 .#. 


3 


I 


Verlag von VEIT & COMP. in Leipzig. 


Neuigkeiten: 
KLINISCHE STUDIEN 


ÜBER DIE 


KRANKHEITEN DER RETINALGEFASSE 


Dr. med. Ole Bull. 
Mit 41 Sehfeldschemata und 30 Tafeln. 
4. 1903. kart. 24 %. 


ÜBER 


AKUTE BRONCHIEKTASIE 


UND KASUISTISCHE STUDIEN 
ÜBER ENTZÜNDLICHE BRONCHIEKTASIE ÜBERHAUPT. 


Mit besonderer Berücksichtigung der akuten Zustände bei derselben 


von 
Dr. med. T. L. von Criezern., | 
Privatdozent für innere Medizin an der Universität Leipzig. \ 


Mit Figuren im Text und drei Tafeln. 
Lex./8.  1903./ geh. 7 .% 502. 


ÜBER AKUTE EXANTHENE. | | 


NEUE METHODE IHRER PROPHYLAXE. 


j Von | 
Dr. med. Jaroslav Elgart, i 
| Arzt am Brünner Krankenhause, \ } 
| Lex. 8. 1903. geh. 5 A. ä 
| 3 

Verlag von August Hirschwald in Berlin. k 
Soeben erschien: RA t 
Die { 


chemische Pathologie der Tubereulose, ' 


Bearbeitet von 
Docent Dr. Clemens, Docent Dr. Jolles, Prof. Dr. R. May, Dr. von Moraczewski, 
‘ Dr. Ott, Dr. H. von Schroetter, Docent Dr. A. von Weismayr. 
Herausgegeben von Dr. A. Ott. 
1908. gr.8&. 14M. 


Druck von Metzger & Wittig in Leipzig. 


2.) 


Ueber die Reaction des menschlichen Harnes 
unter verschiedenen Ernährungsbedingungen und ihre 
quantitative Bestimmung. 


Von 


Dr. Alexander Auerbach und Dr. Hans Friedenthal 
in Berlin. 


Die Bestimmung der Reaction einer dem Thierkörper entstammenden 
Flüssigkeit war eine ausserordentlich einfache Operation, solange man sich 
auf die Angaben von Lackmuspapier zur Erkennung der Reaction be- 
schränkte, wie es sogar heute noch vielfach üblich ist. Sehr bald bemerkte 
man aber, dass sich nicht in allen Fällen die Entscheidung treffen liess, 
ob man eine saure oder alkalische Flüssigkeit vor sich habe, da gerade 
die thierischen Flüssigkeiten häufig amphoter reagirten, das heisst das 
rothe Lackmuspapier bläuten, das blaue gleichzeitig rötheten. Abgesehen 
davon, dass den Chemikern längst bekannt ist, dass Lackmus als (soge- 
nannter) kohlensäureunempfindlicher Indieator nicht zur Titrirung von 
Lösungen kohlensaurer Salze benutzt werden soll, beschrieb Zuntz in seiner 
Doctordissertation bereits die allmähliche Nachbläuung von rothem Lackmus- 
papier, bewirkt durch Austreiben der Kohlensäure aus ihren Salzen durch 
den Lackmusfarbstoff, wenn die Reaction des Blutserums mit Lackmus- 
papier geprüft wird. Noch einfacher und überzeugender lässt sich demon- 
striren, dass in gewissen Fällen und zwar gerade bei Prüfung der thierischen 
Flüssigkeiten und Gewebe Lackmuspapier fälschlicher Weise Alkalescenz, 
d.h. Bläuung ergiebt, obwohl die Reaction in Wahrheit eine saure ist, in- 
dem man eine schwache Lösung (0-4 Procent) von Natriumhicarbonat, die 
mit einigen Tropfen Lackmustinetur versetzt ist (wobei schöne Blaufärbung 
eintritt) durch Kohlensäuredurchleitung sauer macht. Nach kurzer Kohlen- 
säuredurchleitung schlägt die Reaction in sauer um, indem die Färbung 
der Lösung aus Blau in Roth übergeht. Trotzdem Lackmus kohlensäure- 
unempfindlich genannt wird, vermag die Kohlensäure durch Massenwirkung 


398 ALEXANDER AUERBACH UND HANS FRIEDENTHAL: 


den Farbstoff aus seinen Salzen zu verdrängen. Taucht man ein rothes 
oder violett gefärbtes Lackmuspapier in die durch CO, angesäuerte, gegen 
den gelösten Lackmusfarbstoff sauer reagirende Lösung, so färbt das Papier 
sich allmählich an der Luft rein blau, wie wenn es in eine starke Lauge ge- 
taucht wäre. Die Kohlensäure entweicht beim Trocknen des Papieres an der 
Luft und ermöglicht so die Bildung des Natriumsalzes der Lackmussäure, 
welches eine blaue Farbe besitzt. 

Alle gebräuchlicheren Indicatoren besitzen sauren Charakter, bedingt 
durch die Anwesenheit von einem oder mehreren Wasserstoffatomen, die 
durch Metall ersetzbar sind. Der leicht anzustellende oben beschriebene 
Versuch zeigt also, dass eine sauer reagirende Lösung bei Prüfung mit 
Lackmuspapier als stark alkalisch angegeben wird, wenn die saure Reaction 
auf der Anwesenheit freier Kohlensäure beruht. Bei menschlichem Harn ist 
in sehr vielen Fällen durch freie Kohlensäure bedingte schwach saure Reaction 
vorhanden, bei gleichzeitiger Anwesenheit von Salzen schwacher Säuren, so 
dass, mit Lackmustinetur geprüft, der Harn sauer, mit Lackmuspapier ge- 
prüft, stark alkalisch erscheint. In einer früheren Arbeit! war darauf hin- 
gewiesen worden, dass alle thierischen und pflanzlichen Gewebe nicht 
alkalisch, sondern neutral oder schwach sauer reagiren, und dass auch das Blut- 
serum unter die neutralen Flüssigkeiten zu rechnen sei, da seine Alkalescenz 
nicht einmal die einer 0-00001 Normalalkalilösung erreicht. Der normale 
Harn bietet der Untersuchung der wahren Reaction insofern weit weniger 
Schwierigkeiten als die übrigen organischen Flüssigkeiten, weil er eiweissfrei 
ist und alle die dem Blutserum eigenthümlichen Reactionsverhältnisse 
ebenfalls aufweist, so dass nicht etwa allein auf die Anwesenheit von Ei- 
weissstoffen die beim Blutserum beobachteten Reactionserscheinungen zu be- 
ziehen sind. Der Harn zeigt dieselben anscheinend verwickelten und doch 
in ihrer Gesammtheit erklärbaren Reactionsverhältnisse wie ein Gemisch 
von Salzen schwacher Säuren bei gleichzeitiger Anwesenheit eines Ueber- 
schusses schwacher Säure. 

Der menschliche Urin, in der richtigen Weise geprüft, ergab in allen 
untersuchten Fällen schwach saure oder neutrale Reaction, niemals aber 
eine alkalische, selbt dann nicht, wenn zu rein vegetabilischer Diät grosse 
Mengen von Natriumbicarbonat hinzugefügt wurden. Es giebt also 
keinen normalen menschlichen Urin, der ausgesprochen. 
alkalisch reagirt. In allen Fällen, in denen menschlicher Urin eine 
durch Phenolphtaleinzusatz nachweisbare wahre Alkalescenz aufwies, handelte 
es sich um gefaulten, durch Mikroorganismen zersetzten Urin, so dass wir 


1 Friedenthal, Ueber die Reaction des Blutserums der Wirbelthiere u. s. w. 
Verworn’s Zeitschrift für allgemeine Physiologie. 1901. Bd.I (1). 


ÜBER DIE REACTION DES MENSCHLICHEN HARNES. 399 


in dem Zusatz von Phenolphtaleinlösung ein einfaches diagnostisches Mittel 
zum Nachweis der bakteriellen Harnzersetzung besitzen. Ein Urin, der auf 
Zusatz von 1 bis 2 Tropfen einer 1 procent. alkoholischen Phenolphtalein- 
lösung zu 10 °® sich rosa färbt, ist ein bakteriell zersetzter Urin. Das Aus- 
bleiben der Rosafärbung dagegen beweist nicht die Abwesenheit von 
Bakterien, sondern nur die Abwesenheit von tiefgreifender bakterieller 
Harnstoffspaltung. Durch das Thierexperiment können die bei Untersuchung 
des menschlichen Urins gewonnenen Ergebnisse gestützt und dahin er- 
weitert werden, dass es überhaupt keinen ausgesprochen alkalischen Urin 
zu geben scheint. Versetzt man den Urin von Kaninchen, welche 14 Tage 
lang nur Kohl als einziges Futter erhalten haben, mit Phenolphtalein in 
der oben angegebenen Menge, so bleibt die Rosafärbung aus, trotzdem der 
Harn ganz undurchsichtig erscheint von ausgeschiedenen Phosphaten. Selbst 
bei 14tägiger ausschliesslicher Kohlnahrung ist also kein ausgesprochen 
alkalischer, sondern nur ein annähernd neutraler Urin zu erzielen; wir 
werden daher schliessen dürfen, dass man auch beim Menschen bei keiner 
Art der Ernährung die Abscheidung eines alkalischen Urines wird beob- 
achten können. Der Niederschlag von Phosphaten im Urin ausschliesslich 
mit Kohl ernährter Kaninchen ist kein Beweis für alkalische Reaction, da 
Ca,HPO, nicht nur in Alkalien, sondern auch in Wasser so gut wie un- 
löslieh ist. Dei übermässigem! Zusatz von Phenolphtalein zu neutralem 
Urin tritt Rosafärbung ein, weil Phenolphtalein durch Massenwirkung aus 
einer Lösung sehr schwacher Säuren einen kleinen Theil des Alkalis an 
sich reisst und so durch Dissociation des Phenolphtaleinnatriums das rothe 
Ion des Phenolphtaleins in sehr geringen Mengen auftreten muss. 
Phenolphtalein ist zwar eine äusserst schwache, aber keine unendlich schwache 
Säure, es darf daher der Zusatz von Indicatorflüssigkeit ein gewisses Maass 
nicht überschreiten. Bei Gegenwart schwacher Säuren giebt nur derjenige 
Indieator die wahre Reaction einer Flüssigkeit an, dessen Säurecharakter 
gegenüber der schwächsten der vorhandenen Säuren völlig vernachlässigt 
werden kann. 


Um die neutrale Reaction des Kaninchenharnes bei Phenolphtalein- 
zusatz zu beobachten, ist es unumgängliche Voraussetzung, dass nur aus 
der Blase der Thiere entnommener Urin verwendet wird. Steht der Urin 
der Thiere einige Zeit offen an der Luft, so düunstet ein Theil der Kohlen- 


! Es sei hier bereits darauf hingewiesen, dass die zu den Versuchen benutzten 
Indieatormengen das übliche Maass an Indicatorzusatz überschreiten, so dass eine 
weitere Vermehrung des Zusatzes nicht nur überflüssig, sondern sogar schädlich erscheint. 
Eine moleculare Concentration an Indicator von 1 x 10-5 ist ausreichend, die oben 
angegebene Menge ist etwa das Fünffache. 


+00 ALEXANDER AUERBACH UND Hans FRIEDENTHAL: 


säure ab, und durch bakterielle Zersetzung tritt rasch Ammoniakbildung und 
damit alkalische Reaction auf. 

Bei rein vegetabilischer Ernährung nähert sich der normaler Weise 
spurweise sauer reagirende menschliche Urin immer mehr der Neutralität, 
ohne dass es jemals zur Absonderung eines ausgesprochen alkalischen 
Urines käme. Selbst bei reiner Fleischnahrung und bei absolutem Hunger 
entfernt sich der alsdann bei Titration stark saure Urin nicht erheblich 
von der Neutralitätszone. 

Untersucht man die Reaction eines beliebigen Harnes nicht mit 
Lackmuspapier, sondern durch Zusatz der verschiedenen Indicatorflüssig- 
keiten, so merkt man, dass es nicht einmal möglich ist, die Art der 
Reaction anzugeben, das heisst zu entscheiden, ob der untersuchte Urin 
sauer oder alkalisch reagir. Wählt man Phenolphtalein, Lackmus und 
Methylorange als Vertreter dreier Typen von Indicatoren, nämlich eine 
sehr schwache, eine mittelstarke und eine verhältnissmässig starke Säure, 
so findet man, dass jeder unzersetzte Urin des Menschen oder irgend eines 
 Thieres gegen Phenolphtalein neutral oder sauer reagirt, Lackmustinetur 
entweder röthet oder bläut, dagegen durch Methylorange als ausgesprochen 
alkalisch angegeben wird. Jeder unzersetzte Harn reagirt nit Phenol- 
phtalein geprüft neutral oder sauer, mit Methylorange alkalisch. 

Wenn uns schon die qualitative Prüfung mit verschiedenen Indicatoren 
so im Stiche lässt, dass wır ohne weitere Ueberlegungen nicht einmal an- 
geben können, ob ein Harn sauer oder alkalisch reagirt, so lässt sich er- 
rathen, dass die quantitative Bestimmung, d. h. die Titration unter Zusatz 
verschiedener Indicatoren zu keinem befriedigenden Ergebniss führen kann. 
Müssen wir doch in jedem Falle bei Verwendung von Phenolphtalein als 
Indicator Lauge hinzugeben, um einen Umschlag in alkalisch herbeizuführen, 
bei Zusatz von Methylorange dagegen erhebliche Säuremengen, bis deutlich 
saure Reaction durch Rothfärbung der Lösung sich bemerklich macht. In 
vielen Fällen entsprechen sich die bis zum Umschlag der Reaction hinzu- 
zufügenden Säuren bezw. Laugenmengen, so dass der Harn gegen Phenol- 
phtalein als eine Säure von bestimmter Stärke, gegen Methylorange als eine 
gleich starke Lauge erscheint. 

Einige Beispiele werden die Grösse der Titrirdifferenzen bei Verwöldens 
verschiedener Indicatoren klar machen. Die Unterschiede können bis zu 
450 Procent der gefundenen Werthe ansteigen. 

1. Der Harn eines gesunden Mannes entsprach gegen Phenolphtalein 
in der Hitze titrirt 

mit N/,, NaOH einer N/,,, Säure, 
gegen Lackmus einer N/,,., Lauge, 
gegen Methylorange einer N/,,., Lauge. 


ÜBER DIE REACTION DES MENSCHLICHEN HARNES, 401 


2. 5.0°® Harn eines Mannes verbrauchten: 

4.8°mN/., NaOH gegen Phenolphtalein, 
30 „ N/,, NaOH gegen Alkanna, 

1.2 „N/,, NaOH gegen Lackmus, 

4-1 „N/,, H,SO, gegen Methylorange. 

In diesem Beispiel verbrauchte der Harn annähernd so viel Lauge 
gegen Phenolphtalein als Säure gegen Methylorange. 

3. Menschenharn nach Einnahme rein vegetabilischer Nahrung. (Blumen- 
kohlsuppe. Maccaroni, Semmel mit Zugabe von 7m NaHCO,). 5m ver- 
brauchten, auf 50 Wasser aufgefüllt: 

1.2 m N/., NaOH gegen Phenolphtalein, 
0.7 „ N/s. NaOH gegen Lackmus, 
4-9 „ N/,, H,S0, gegen Methylorange. 

Es erscheint unnöthig, die Zahl dieser Beispiele zu vermehren, es mag 
aber hinzugefügt werden, dass es nicht etwa gelingt, durch steigende Ver- 
dünnung des Harnes mit Wasser gleichmässigere Werthe zu erlangen. 
Lässt man Urin faulen, so reagirt er zwar gegen alle Indicatoren alkalisch, 
aber auch dann weichen die durch Titration erhaltenen Werthe in gleichem 
Maasse von einander ab wie bei physiologischem Urin. Selbst wenn die 
Alkalescenz gegen Phenolphtalein bereits die einer N/,, Lauge überschritten 
hat, ist ein Parallelismus in den Titrirwerthen nicht zu erzielen. Titrirt man 
dagegen eine N/,, Natronlauge oder Kalilauge gegen N/,, Säure mit verschie- 
denen Indicatoren, so erhält man für alle Indicatoren genau den gleichen Werth. 

Der Grund für die Unmöglichkeit, bei Titrirung des Harnes zu gleich- 
mässigen Resultaten zu gelangen, liegt in der Anwesenheit schwacher 
Säuren im Urin, nämlich der Kohlensäure und der Phosphorsäure, welche 
letztere in Bezug auf ihr drittes, durch Metall ersetzbares H-Atom als be- 
deutend schwächere Säure aufzufassen ist als selbst die Kohlensäure. 

Bei Gegenwart schwacher Säuren vermag man die Säuremenge nur zu 
bestimmen mit Hülfe eines Indicators, der eine noch schwächere Säure 
darstellt als die schwächste der vorhandenen Säuren; bei Gegenwart schwacher 
Basen vermag man die Basenmenge nur zu bestimmen mit Hülfe einer 
etwas stärkeren Säure wie zum Beispiel der Methylorange, so lautet; Ost- 
wald’sIndicatorenregel. Welcher Indicator muss nun bei der Harntitrirung 
Verwendung finden, wenn wir wissen, dass der Harn sowohl schwache Säuren 
wie CO, und H,PO, in erheblichen Mengen, als auch eine ziemlich schwache 
Base, nämlich Ammoniak, wenn auch in sehr geringen Mengen, enthält? 

Welcher der Indicatoren, die selbst für die qualitative Ermittelung 
der Reaction so widersprechende Angaben liefern, zeigt die wahre Reaction 
des Harnes an. Welcher der durch Titration erhaltenen Werthe ergiebt 


das wahre Säuren- bezw. Basenbindungsvermögen ? 
Archiv f. A. u. Ph, 1903. Physiol. Abthlg. 36 


402 ALEXANDER AUERBACH UND HANS FRIEDENTHAL: 


Auf jede der obigen Fragen lässt sich eine exacte und befriedigende 
Antwort geben, nur muss man sich vor Augen halten, dass die Frage nach 
der wahren Reaction des Harnes (die Frage nach der Concentration der 
OH--Ionen bezw. H+-Ionen) scharf unterschieden werden muss von der Frage 
nach dem Säurebindungsvermögen des Harnes, von der Frage nach der 
Anzahl der Alkalimolen, welche nicht durch starke Säuren neutralisirt sind, 
sowie von der Frage nach dem Basenbindungsvermögen des Harnes, der 
Frage nach der Zahl der Säuremolen, welche nicht durch starke Basen 
neutralisirt sind. Jede dieser Fragen betrifft eine gesonderte, von den 
beiden anderen Fragen völlig unabhängige Function des Harnes. 

Um das Säurebindungsvermögen des Harnes zu bestimmen, versetzt 
man eine bestimmte Anzahl Cubikcentimeter Harn mit einem Ueberschuss 
einer N/,, Salzsäure, kocht zur Austreibung der Kohlensäure und titrirt mit 
N/, Kalilauge den Säureüberschuss zurück unter Verwendung von Methyl- 
orange als Indicator. Durch den Ueberschuss an zugesetzter starker Säure 
werden alle im Harn vorhandenen Basen, auch die schwachen Basen an 
starke Säure gebunden. Beim Zurücktitriren mit N/,,„ KOH wird zuerst 
die freie Säure neutralisirt, nach Absättigung aller vorhandenen freien Säure 
aber werden schwache Basen aus ihrer Verbindung mit der Salzsäure ver- 
drängt und in Freiheit gesetzt. Beim Auftreten der ersten Spur freier 
schwacher Basen im Harn zeigt das Methylorange den Umschlag in Gelb, 
während eine schwache Säure, wie Phenolphtalein, mit der schwachen Base 
Ammoniak nur schwer eine Verbindung eingehen und ganz allmählichen Ueber- 
gang in Roth statt scharfen Farbenumschlages zeigen würde. Bei merklicher 
Anwesenheit schwacher Basen im Urin empfiehlt sich also die Titration 
des mit HC] angesäuerten Urines bei Verwendung von Methylorange als 
Indicator. Bestimmt wird bei diesem Verfahren weder die Reaction des 
Harnes noch die gesammte im Harn vorhandene Basenmenge, sondern nur 
derjenige Antheil der Basen, welcher im Harn nicht durch starke Säuren 
neutralisirt war, unabhängig davon, ob diese Basen frei oder an schwache 
Säuren gebunden im Harn vorhanden waren. Dieser Werth bezeichnet das 
maximale Säurebindungsvermögen des Harnes. 

Zur Bestimmung des maximalen Basenbindungsvermögens des Urines 
muss derselbe mit einem gemessenen Quantum N/, Natronhydratlösung 
versetzt werden, wodurch die schwachen Säuren, wie Kohlensäure und Phos- 
phorsäure, quantitativ gebunden werden. Titrirt man nach Verjagung des 
Ammoniaks durch Kochen den Ueberschuss vom Natronhydrat mit N/,, HÜl 
zurück unter Verwendung von Phenolphtalein als Indicator, so tritt ein 
scharfer Umschlag in farblos ein, sowie der Ueberschuss an Natronlauge 
durch die Salzsäure neutralisirt worden ist. Dies Verfahren ermöglicht ohne 
Schwierigkeit die im Harn vorhandene Gesammtmenge von 'Säuren zu be- 


ÜBER DIE REACTION DES MENSCHLICHEN HARNES. 403 


stimmen, welche nicht an starkes Alkali gebunden war, unabhängig davon, 
ob diese an schwache Basen gebunden oder frei im Harn vorhanden waren. 

Die Schwierigkeiten, die sich der einfachen Titration im Harn ent- 
gegenstellen, sind in der gleichzeitigen Anwesenheit schwacher Säuren und 
schwacher Basen gelegen und fallen fort, sowie einer dieser Bestandtheile 
aus der Lösung entfernt wird. Im normalen unzersetzten Harn findet sich 
entweder genau die gleiche Menge schwacher Säure und schwacher Base, 
dann ist der Harn genau neutral, früher fälschlich alkalisch genannt, oder, 
wie es meistens beim Menschen der Fall ist, es überwiegt die Menge an 
schwacher Säure, so dass dem Harn eine ganz geringe wahre Acidität, be- 
dingt durch schwache Säure, zukommt. 

Versetzt man Harn mit einer gemessenen Menge N/,, Natronlauge, 
ohne zu kochen, und titrirt gegen Phenolphtalein bis zur Farblosiekeit, so 
hat man, wie oben beschrieben, die Gesammtmenge an Säure bestimmt, 
welche nicht an starkes Alkali gebunden war. Versetzt man die farblos 
gewordene Lösung mit Methylorange, so zeigt die Lösung bei Anwesenheit 
von Ammoniak Gelbfärbung, also alkalische Reaction, bedingt durch die 
Anwesenheit von schwachem Alkali. Fährt man jetzt mit dem Säurezusatz 
fort, bis Methylorange den Umschlag in Roth anzeigt, so hat man die 
Menge schwachen Alkalis, welche im Harn vorhanden gewesen war, be- 
stimmt. An derselben Harnmenge kann also nach einander die Gesammtmenge 
schwacher Säuren und die Gesammtmenge schwacher Basen durch Titration 
gegen Phenolphtalein und darauf gegen Methylorange bestimmt werden. 

Voraussetzung für die Ermöglichung der Anwendung dieses Verfahrens 
der Doppeltitration ist allerdings, dass weder starke freie Säuren, noch er- 
hebliche Mengen freier Basen im Harn vorhanden seien. Beide Voraus- 
setzungen sind im normalen Harn erfüllt. Die saure Reaction des Harnes 
beruht auf der Anwesenheit schwacher Säuren, und freie Basen kommen 
bei unzersetztem Urin nicht zur Beobachtung. Handelt es sich im Harn 
nicht um die gleichzeitige Anwesenheit schwacher Säuren und schwacher 
Basen, so kann man das Säurebindungsvermögen auch durch einfache 
Titration des Harnes mit N/,, Salzsäure gegen Methylorange ausführen, die 
Bestimmung des Basenbindungsvermögens durch Titration gegen N/,, Natron- 
lauge unter Verwendung von Phenolphtalein als Indicator. 

‘Die oben beschriebenen Methoden ermöglichen zwar das Säure- 
bindungsvermögen und das Basenbindungsvermögen des Harnes exact zu 
bestimmen, geben aber keinen Anhalt zur Lösung der Frage, welches 
denn die wahre Reaction des Harnes sei. Den Titrirmethoden ist mit Recht 
von mehreren Seiten bereits der Vorwurf gemacht worden, dass sie über 
die wahre Reaction einer Flüssigkeit keinen Aufschluss geben können, da 


jeder Tropfen von zugesetzter Säure, bezw. Lauge, das bestehende Gleich- 
26* 


404 ALEXANDER AUERBACH UND Hans FRIEDENTHAL: 

gewicht verschiebt und schwache Säuren, bezw. Basen, durch die Titrir- 
flüssigkeit aus ihren Verbindungen verdrängt werden. Man bestimmt da- 
her durch Titration, die in der oben angegebenen Weise ausgeführt werden 
muss, wenn brauchbare Resultate erhalten werden sollen, die Gesammt- 
menge an schwachen Basen und an schwachen Säuren. Sind die ge- 
fundenen Mengen von schwachen Basen und schwachen Säuren gleich, wie 
es oft der Fall ist, so reagirt der. Harn absolut neutral, überwiegt, wie bei 
Fleischnahrung und bei Hunger, die Menge der schwachen Säuren, so ist 
der Harn nur spurweise sauer, denn durch schwache Säuren kann keine 
erhebliche Vermehrung der wahren Acidität stattfinden. Auf indirectem 
Wege ergiebt sich also das Resultat, dass die wahre Reaction des Harnes 
neutral oder sehr schwach sauer sein muss. Wir werden uns aber nach 
Methoden umsehen müssen, welche dies Resultat direct zu. beobachten ge- 
statten, ohne dass das Gleichgewicht zwischen Basen und Säuren im Harn 
eine Veränderung erleidet. Da die absoluten Mengen der Wasserstoff- und 
Hydroxylionen in reinstem Wasser so klein sind, dass sie in den meisten Fällen 
vernachlässigt werden können, versteht man unter der wahren Reaction einer 
Flüssigkeit, die in der Volumeinheit (Liter) vorhandene absolute Menge an 
Wasserstoff- oder Hydroxylion unter Angabe der Concentration desjenigen Ions, 
welches an Menge in der Flüssigkeit überwiegt. Sind in einer Lösung die 
Mengen an OH-- und H+-Ionen gleich, wie in reinstem Wasser, so reagirt 
die Lösung neutral, überwiegt die Zahl der OH--Ionen, so reagirt die Lösung 
alkalisch, überwiegt die Zahl der H+-Ionen, so spricht man von saurer 
Reaction der Lösung. Im Wasser ist die Concentration der H+- bezw. 
OH--Ionen nach Arrhenius, Wys und Kohlrausch 1:05 bis 
1:2 x 1077.12 Wasser stellt also gleichsam sowohl eine Zehnmillionstel- 
normallauge wie eine Zehnmillionstelnormalsäure dar. Nun steht die Zahl 
der H+- bezw. OH--Ionen in jeder beliebigen wässerigen Lösung in der 
zahlenmässigen Beziehung, dass stets das Product aus der Concentration 
von H+- und OH--Ionen den Werth 1-2 x 10-1: ergeben muss. Jede 
wässerige Lösung ist also gewissermaassen sowohl sauer, denn sie enthält 
stets freie H+-Ionen, als auch alkalisch, denn sie enthält stets freie OH-- 
Ionen. Von wahrer Acidität müssen wir dann sprechen, wenn die Zahl 
der H+-Ionen die der OH--Ionen übertrifft von: wahrer Alkalescenz, wenn 
das Umgekehrte der Fall ist. Weil nun alle Methoden zur Bestimmung 
der Concentratiin an OH-- bezw. H+-Ionen nothwendig mit gewissen 
Fehlern behaftet sein müssen, wird es sich empfehlen, ein bestimmtes 
Mengenverhältniss zwischen H+- und OH--Ionen als „Neutralität“ zu be- 


! van’t Hoff, Vorlesungen über theoretische und physikalische Chemie. 1898. 
Bd.I. 8.126. 


ÜBER DIE REACTION DES MENSCHLICHEN HARNES. 405 


zeichnen, und wir schlagen deshalb vor, solche Lösungen als neutrale zu 
bezeichnen, bei welchen die Mengen an H+- oder OH--Ionen im Liter 
1 x 10-8 nieht überschreiten. Führt man diese neutrale Zone nicht ein, 
so ist man gezwungen, auch das Wasser bald als alkalisch, bald als sauer 
zu bezeichnen, weil wegen der Bestimmungsfehler niemals die ideale völlige 
Gleichheit der Concentration von H+- und OH--Ion experimentell ge- 
funden werden kann. Als in Wahrheit sauer sind Lösungen zu bezeichnen, 
deren Gehalt an H+-Ionen 1 x 10 überschreitet, als wirklich alkalische 
Lösungen solche, deren Gehalt an OH--Ionen 1 x 10° übertrifft. Unter 
einer Normalsäurelösung müssen wir eine Lösung verstehen, welche ein 
Grammmbolecül H+-Ion im Liter gelöst enthält, unter einer Normallauge 
eine solche, welche ein Grammmolecül OH--Ion im Liter enthält. 

Da schwache Säuren nicht vollständig in den üblichen Verdünnungen 
dissociren, weisen sie auch nicht die von Normalsäurelösungen zu fordernde 
Concentration an H*-Ionen auf, indem in ihnen ein Theil der durch ein 
Metall ersetzbaren Wasserstoffatome an den Säurerest gebunden bleibt. 
Wir können nicht eine Normalessigsäure oder Normalweinsäure als Normal- 
säurelösung zur Bestimmung der H+-Ionenconcentration benutzen. In sehr 
verdünnten Lösungen starker Säuren sind dagegen alle durch ein Metall 
ersetzbaren Wasserstoffatome bereits im Ionenzustand in der Lösung vor- 
handen, so dass wir eine N/,ooo HCl-Lösung zugleich als eine N/, oo Normal- 
säurelösung auffassen können. Sie enthält im Liter !/,... Grammmolecül 
H+-Ion. Für schwache Laugen gilt dasselbe, was eben für schwache 
Säuren beschrieben wurde. Eine Ammoniaklösung, welche ein Molecül im 
Liter gelöst enthält, enthält noch nicht ein Molecül OH --Ion im Liter, ist also 
nicht zur Bestimmung der OH--Concentration einer Flüssigkeit zu ver- 
wenden, wohl aber entspricht eine N/,oo. Barytlauge sehr genau einer 
Lösung, welche !/ 00°” OH--Ion im Liter gelöst enthält. In einer solchen 
Barytlösung kann die Dissociation als quantitativ angesehen werden. 

Wir messen die wahre Acidität einer zu prüfenden Flüssigkeit durch 
die Zahl, welche angiebt, wie viele Mal die Concentration der Flüssigkeit 
an H+-Ion die einer Normalsäurelösung übertrifft, wir messen die Alkalescenz 
einer Flüssigkeit durch die Zahl, welche angiebt, wie viele Mal die Concentration 
der Flüssigkeit an OH--Ion die einer Normallaugenlösung übertrifft. Be- 
stimmen wir die Acidität oder Alkalescenz einer Flüssigkeit zu weniger als 
1 x 10° Normal, so haben” wir es mit einer neutralen Flüssigkeit zu thun. 

Eine Lösung, deren Concentratiin an H+- oder OH--Ion 1 x 10-8 
nicht übersteigt, reagirt auch in dem bisher üblichen Sinne neutral, indem 
keine der für saure oder alkalische Lösungen charakteristischen Fällungen 
von einer solchen gegeben wird. 

Besitzen wir nun eine einfache Methode, um ohne Gleichgewichtsver- 


406 ALEXANDER AUERBACH UND HANns FRIEDENTHAL: 


schiebung zu erkennen, ob eine Flüssigkeit sauer oder alkalisch reagirt, zu 
erkennen, ob ihr Gehalt an H+- oder OH--Ion im Liter 1 x 10=% über- 
schreitet? Wir haben oben erwähnt, dass alle unzersetzten Urine gegen 
Phenolphtalein als Indicator sauer reagiren, von Methylorange als alkalisch 
angegeben werden. Welcher Indicator ergiebt den wahren Werth? Dass 
Lackmuspapier zur Erkennung der wahren Reaction einer kohlensäurehaltigen 
Flüssigkeit nicht benutzt werden darf, ist bereits oben erläutert worden. 


Zur Entscheidung der Frage, welcher der Indicatoren die wahre 
Reaction einer Flüssigkeit ergiebt, genügt die übliche Darstellung von Ost- 
wald’s Theorie der Indicatoren nicht, da diese Darstellung nur die auf 
Titration, also auf Gleichgewichtsverschiebung bezüglichen Punkte, in’s Auge 
fasst, dagegen die Hydrolyse und die Erkennung der wahren Reaction 
bei einfachem Indicatorzusatz nicht berücksichtigt. 


Fügen wir zu Wasser!, also einer neutralen Flüssigkeit die verschiedenen 
gebräuchlichen Indicatoren, so sehen wir, dass wie beim Harn Phenol- 
phtalein neutrale? Reaction anzeigt, dass dagegen Methylorange Wasser mit 
gelber Farbe färbt wie eine alkalische Flüssigkeit. Lackmus löst sich ın 
reinem Wasser mit rein rother Farbe auf, zeigt also keine violette Ueber- 
gangsfarbe, die als Kennzeichen der neutralen Reaction angesehen wird. 
Phenolphtalein und Lackmus sind so schwache Säuren, dass sie in reinem 
Wasser nur die Farbe der nichtdissocirten Verbindung zeigen, die bei 
Phenolphtalein farblos, bei Lackmus roth gefärbt ist, während Methylorange 
der Uulöslichkeit der Säure in Wasser und Alkohol wegen nur als Salz 
verwendet wird, welches im Wasser dissocürt und die gelbe Farbe des 
Säureanions sichtbar werden lässt. Die Dissociation eines sauren Indicators 
dient als Kennzeichen der eingetretenen alkalischen Reaction, indem die 
empfindlicheren Indicatoren erst als Alkalisalze dissociiren und erst dann 
den Farbenumschlag zeigen, wenn ihnen durch freies OH--Ion ihr ersetz- 
bares Wasserstoffatom entzogen worden ist. Methylorange zeigt das 
neutrale Wasser fälschlich als alkalische Lösung an. 


Da Methylorange sich durch schwache Säuren nicht quantitativ aus 
seiner Alkaliverbindung verdrängen lässt, so braucht die gelbe Methylorange- 
lösung trotz ihrer auf alkalische Reaction deutenden Farbe nicht einmal 
neutral zu reagiren, sondern sie kann bereits wirklich sauer reagiren. 

Saure Lösungen können also durch die Verwendung eines Indicators, 


! Als Wasser wurde Leitfähigkeitswasser, von Kahlbaum bezogen, zu allen Ver- 
suchen benutzt. A]90= 6 x 10%. 

® Neutrale und saure Reaction kann bei Phenolpthalein nicht unterschieden 
werden, dieser Farbstoff giebt eine präcise Antwort nur auf die Fragen: alkalisch? 
oder nicht alkalisch? 


ÜBER DIE REACTION DES MENSCHLICHEN HARNES. 407 


der eine mittelstarke Säure darstellt, fälschlich als alkalisch angegeben 
werden; beweiskräftig für die wahre Reaction einer Lösung (ihren Gehalt 
an H+- bezw. OH--Ion) ist ein Indicator nur, wenn er schwach saure 
Eigenschaften besitzt.! Die gelbe Farbe des Harnes bei Zusatz von 
Methylorange beweist also nicht alkalische Reaction des Harnes. Noch 
ausgesprochener wird die Bedeutung des Satzes, dass nur eine schwache 
Säure als Indicator die wahre Reaction anzeigt, wenn wir Lösungen kohlen- 
saurer Salze mit verschiedenen Indicatoren prüfen. Lösen wir ein kohlen- 
saures oder doppelt kohlensaures Alkali in Wasser, so zeigen alle Indicatoren 
alkalische Reaction, in Folge der Hydrolyse dieses Salzes. Lösen wir ein 
Salz, welches wie Natriumcarbonat oder Natriumbicarbonat aus einer starken 
Base und einer schwachen Säure besteht, in Wasser, so bildet sich sowohl 
Kohlensäure H,CO, wie Natronlauge durch Wechselwirkung der Ionen des 
Salzes mit den in jedem Wasser vorhandenen H+- und OH--Ionen zurück. 
Da Natronlauge als starke Base stark dissociirt, Kohlensäure H,CO, als 
schwache Säure schwach dissocürt, tritt ein Ueberschuss von OH--Ionen 
gegenüber der Menge der H+-Ionen auf, die Lösung wird also durch Hin- 
zufügen‘ eines im chemischen Sinne neutralen, ja sogar (NaHCO,) 
sauren Salzes, im wahren Sinne alkalisch. Fügt man zu einer 0-4 procent. 
NaHCO,-Lösung in reinem Wasser Phenolphtalein, so tritt schwache Roth- 
färbung ein, fügt man Lackmustinetur hinzu, so beobachtet man ein reines 
Blau. Beide Indicatoren zeigen also die wirklich alkalische Reaction 
der Flüssigkeit richtig an. Leitet man durch eine concentrirte NaHCQ,- 
oder Na,CO,-Lösung ‚Kohlensäure im Ueberschuss, so entfärbt sich die mit 
Phenolphtalein versetzte Lösung allmählich, die mit Lackmus versetzte 
Lösung behält eine violette Farbe, während die mit Methylorange versetzte 
Lösung ihr reines Gelb beibehält. Bei Durchleiten von Kohlensäure durch 
Na,CO,- und NaHCO,-Lösung verschwindet der Hydroxylionenüberschuss, 
indem die Kohlensäure die Dissociation und die Hydrolyse des kohlen- 
sauren Salzes zurückdrängt. Die wahre Reaction der Lösung eines kohlen- 
sauren Salzes bei Anwesenheit eines Ueberschusses an freier Kohlensäure 
ist neutral oder sauer. Nur Phenolphtalein zeigt diese Reaction durch 
völlige Entfärbung richtig an, während Lackmus und Methylorange als 
stärkere Säuren sich von der Kohlensäure nicht quantitativ aus ihren 
Salzen drängen lassen. Sie behalten die Farbe der alkalischen Flüssigkeiten 
in einer Lösung, die keinen Ueberschuss an OH--Ionen besitzt. 

Nicht nur in reinem Wasser, sondern auch in Lösungen von Salzen, 


! Ist der Indicator eine so schwache Säure, dass er bei Anwesenheit geringer 
Mengen von Basen keine Verbindung eingeht, wie Poirrier’s Blau, so ist er zur Er- 
kennung der wahren Reaction ebenfalls nicht zu verwenden. 


4083 ALEXANDER AUERBACH UND HANS FRIEDENTHAL: 


bestehend aus starker Base und schwacher Säure, zeigt eine schwache 
Säure als Indicator die wahre Reaction der Lösung an. 

Bei Prüfung des Harnes! von Kaninchen, welche ausschliesslich 
Wochen lang mit Kohl gefüttert wurden, mit 1procent. alkoholischer Phenol- 
phtaleinlösung beobachteten wir, dass der Harn bei Zusatz von 1 “® Indicator- 
lösung zu 200°" Harn farblos blieb, dass aber bei weiterem Zusatz von 
Phenolphtalein allmählich schwache Rosafarbung auftrat. Beweist diese 
Rosafärbung bei Zusatz von sehr viel Indicatorflüssigkeit (Phenolphtalein) 
wahre Alkalesceenz? Bei Beurtheilung dieser Frage müssen wir uns vor 
Augen halten, dass nur ein solcher Indicator absolut richtige Werthe er- 
geben könnte, dessen Säurecharakter der schwächsten der vorhandenen 
Säuren gegenüber vernachlässigt werden könnte. Ist der Säurecharakter 
des benutzten Indicators auch nur annähernd von derselben Grössenordnung 
wie eine der vorhandenen Säuren, so tritt eine Theilung des Alkalis 
zwischen schwacher Säure und Indicator ein, so dass bei Massenwirkung 
seitens des Indicators die Farbe des dissociirten Indicatorsalzes, die Farbe der 
alkalischen Flüssigkeiten, auftritt bei neutraler Reaction des Gemisches. In 
Poirrier’s Blau und «-Naphtolbenzein besitzen wir Indicatoren von noch 
schwächerem Säurecharakter als das Phenolphtalein, durch diese wird die neu- 
trale wahre Reaction richtig angezeigt in Lösungen, welche bei übermässigem 
Phenolphtaleinzusatz schwache Rosafärbung ergeben.” Immerhin ist der 
Säurecharakter des Phenolphtaleins schon so schwach, dass bei Vermeidung 
übermässiger Mengen von Indicatorlösung die neutrale Reaction von Kohlen- 
säure und Phosphorsäure enthaltenden Lösungen bei Gegenwart starker 
Alkalien unzweideutig angezeigt wird. Bei Beachtung der Ostwald’schen 
Indicatorenregel zur Titration schwacher Basen sich des Methyloranges, 
also einer stärkeren Säure, zu bedienen, könnte man auf den Gedanken 
kommen, dass in Lösungen, welche schwache Basen enthalten, wie es im 
Harn der Fall sein kann, Methylorange als Indicator die wahre Reaction 
anzeige. Selbst bei Gegenwart schwacher Basen giebt aber nur eine 
schwache Säure die wahre Reaction, den Gehalt an H+- und OH--Ion 
richtig an. Fügt man zu Wasser eine geringe Menge schwacher Base 
(Ammoniak) und Phenolphtalein, so bemerkt man eine schwache Rosafärbung 
der Flüssigkeit, die bei steigendem Zusatz der Base in Dunkelviolett über- 
geht. Durch den Zusatz einer sehr geringen Menge einer schwachen Base 
wird der Hydroxylionengehalt einer Lösung nur sehr wenig gesteigert, 
die von Phenolphtalein angegebene schwache Rosafärbung entspricht also 
der wahren Reaction, nämlich einer sehr geringen Alkalescenz. 


! Frisch der Blase entnommen. 
® Auf das allzu geringe Basenbindungsvermögen dieser Indicatoren ist oben 
bereits hingewiesen worden. 


ÜBER DIE REACTION DES MENSCHLICHEN HARNES. 409 


Sowie der Hydroxylionengehalt des Wassers einen gewissen sehr 
geringen Werth überschreitet bei weiterem Zusatz der schwachen Base, 
tritt auch die dunkelrothe Färbung des Säurerestes des Phenolphtaleins 
auf. Der steigende Gehalt des Wassers an Hydroxylionen wird also durch 
die Intensität der Rothfärbung bei Verwendung von Phenolphtalein als 
Indicator richtig angegeben. Bei Methylorangezusatz zu einem schwach 
ammoniakhaltigen Wasser ist die sehr schwach alkalische Reaction der 
Lösung überhaupt nicht zu erkennen, da Methylorange selbst in neutralem 
oder ganz schwach saurem Wasser schon völlig dissocürt ist, also die Farbe 
stark alkalischer Flüssigkeiten angenommen hat. Selbst bei Gegenwart 
schwacher Basen ist Methylorange zur Erkennung der wahren Reaction 
einer Lösung nicht zu verwenden. Wir müssen also die Frage „welcher 
Indicator zeigt die wahre Reaction einer Flüssigkeit an?“ dahin beant- 
worten, dass in allen Fällen derjenige Indicator richtige Werthe ergiebt, 
welcher bei genügendem Salzbildungsvermögen geringe Eigendissociation 
besitzt. Eine schwache Säure zeigt die wahre Reaction einer Lösun® am 
Getreuesten an.! 


Für die Beurtheilung der Reaction des Harnes folgt aus den obigen 
Betrachtungen, dass der Harn, abgesehen von pathologischen Fällen, niemals 
eine wahre Alkalescenz besitzt, auch dann nicht, wenn Lackmus als Tinctur 
oder als Papier verwendet Blaufärbung giebt. Nur durch Bakterienwirkung 
zersetzter Harn besitzt einen merklichen Ueberschuss an Hydroxylionen. 

Um dies Resultat sicher zu stellen, erschien es gerathen, ausser der 
colorimetrischen Betrachtung bei Indicatorzusatz noch durch eine andere 
Methode ohne Gleichgewichtsverschiebung den Gehalt des Harnes an 
Hydroxylionen bei den verschiedensten Ernährungsverhältnissen zu prüfen. 
Von L. von Rhorer war die Methode der Messung des Potentiales von 
Gasketten? mit Erfolg zur Bestimmung der Acidität von Harnen ange- 
wandt worden und hatte ergeben, dass der menschliche Urin im Mittel 
eine Wasserstoffionenconcentration von 3 x 10-5 besitzt. Der menschliche 
Urin® entspricht also einer äusserst schwachen Säure, vergleichbar dem 
Säuregehalt von Wasser, in welchem etwas Kohlensäure gelöst ist. Bei 
Anwendung und Nachprüfung dieser Methode stellten sich aber so viele 
Schwierigkeiten der Messung in den Weg, dass wir vorzogen, die Ver- 
seifungsgeschwindigkeit von Aethylacetat zur Messung der Concentration 
an OH--Ionen zu benutzen. Bei der complicirten Zusammensetzung des 


1 Bei Verwendung von Indicatoren, in denen eine Base das färbende Prineip 
darstellt, würde eine schwache Base die wahre Reaction anzeigen. 

® Rhorer, Pflüger’s Archiv. Bd. LXXXVI. S. 586. 

3 Bei vorwiegend vegetabilischer Kost nähert sich der Urin noch viel bedeutender 
der absoluten Neutralität. 


419 ALEXANDER AUERBACH UND HANS FRIEDENTHAL: 


Urines erschien es uns fast unmöglich, das Auftreten von Contactpoten- 
tialen zu vermeiden, da das in der physikalischen Chemie übliche Aushülfs- 
mittel bei der Messung von Gasketten (Zusatz einer erheblichen Menge von 
KNO,) wegen Beeinflussung der Dissociation und Austreibung von CO, 
nicht anwendbar erschien. 

Dagegen versprach die Methode der Messung der Verseifungsgeschwindig- 
keit von Aethylacetat um so eher zum Ziel zu führen, als die colori- 
metrische Methode schon die Abwesenheit merklicher Mengen an freien 
Hydroxylionen ergeben hatte; es brauchte also bloss festgestellt zu werden, 
dass bei wechselnder Ernährung der Harn niemals eine spaltende Wirkung 
auf Aethylacetat ausübt. Damit die Spaltung des Aethylacetats durch ganz 
geringe Hydroxylmengen noch messbar gemacht werde, wurde die Spaltung 
nicht, wie üblich, bei 25° sondern bei 38° vorgenommen und nach 
48 Stunden auf etwaige Spaltung untersucht. Das Princip der Methode, 
welche hier nicht ausführlich mitgetheilt werden soll, da in jedem Punkte, 
mit Ausnahme der benutzten Temperatur, nach den von Cohen! ausführlich 
angegebenen Vorschriften verfahren wurde, beruht darin, dass Aethylacetat 
in alkalischer Lösung durch die Anwesenheit von OH--Ionen in Alkohol 
und Essigsäure zerfällt, wobei die Geschwindigkeit der Spaltung eine Function 
der Zahl der freien Hydroxylionen ist. Durch Titration der Lösungen vor 
und nach der Spaltung des Aethylacetats lässt sich die Bindung des ver- 
fügbaren Alkalis an die aus der Spaltung entstehende Essigsäure nach- 
weisen und messen. Für die Untersuchung des Harnes wurde eine ge- 
messene Harnmenge mit einer gemessenen Menge Aethylacetat versetzt und 
mit Benutzung von Phenolphtalein, Lackmus und Methylorange als In- 
dieatoren titrir.” Um Spaltung des Aethylacetats zu beobachten, wurde 
das Gemenge 48 Stunden lang auf 38° erwärmt und alsdann mit Be- 
nutzung derselben Indicatoren von Neuem titrirt. War Spaltung eingetreten, 
so ergab die Titration kleinere Werthe für das Säurebindungsvermögen als 
bei Beginn des Versuches. Um die Wirkung etwaiger Fermente im Urin 
auszuschliessen, welche eine Spaltung des Aethylacetats auch bei Abwesen- 
heit freier Hydroxylionen bewirken könnten, wurde die Hälfte des zu 
untersuchenden Harnes 5 Minuten gekocht und in abgekühltem Zustand 
zu dem Versuche verwendet. 

In keinem Versuche, bei welchem unzersetzter Urin ver- 
wendet wurde, konnte eine Spaltung des Aethylacetats nach- 
gewiesen werden. Selbst der vom Kaninchen bei ausschliesslicher 


! Cohen, Vorträge für Aerzte über physikalische Chemie. leipzig 1901. S. 10. 
® Reagirte der Harn gegen den benutzten Indicator sauer, so wurde die zur 
Erzielung des Farbenumschlages nöthige Menge an N/,„-Lauge ermittelt. 


ÜBER DIE REACTION DES MENSCHLICHEN HARNES. 411 


Kohlnahrung abgesonderte, von ausgeschiedenen Phosphaten milchig getrübte 
und bei Zusatz von übermässig viel Phenolphtalein sich schwach rosa 
färbende Harn zeigte auch bei 48 stündigem Verweilen bei 38° keine nach- 
weisbare Spaltung von Aethylacetat. Jeder gefaulte Urin dagegen, welcher 
bei Zusatz normaler Mengen von Phenolphtalein deutliche Rosafärbung 
zeigte, bewirkte merkliche Aethylacetatspaltung schon innerhalb zweier 
Stunden. Um im Urin eine merkliche Alkalescenz hervorzurufen, ist oft 
Tage langes Verweilen im Brütschrank erforderlich, besonders bei stark phos- 
phathaltigen Urinen. Sowie Phenolphtalein in einer Lösung Alkalescenz 
durch Rothfärbung anzeigt, kann auch durch die Aethylacetatverseifung 
die Anwesenheit der OH--Ionen nachgewiesen und ihre Concentration ge- 
messen werden. Da mit Methylorange zersetztes Wasser bereits Rosafärbung 
zeigt, wenn die Concentration an H+-Ionen etwa 1 x 10-* erreicht, so 
folgt aus den oben angegebenen Versuchen, dass die Concentration des Wasser- 
stoffions im unzersetzten Harn bei wechselnder Ernährung nur schwankt 
zwischen 1 x 10-7 bis 1x 10-* Dies Resultat bedeutet, dass der Harn 
in allen Fällen entweder neutral reagirt oder schwächer sauer ist als ein 
1/0000 Normalsäurelösung. In Bezug auf Basenbindungsvermögen dagegen 
kann der Harn einer N/,. Säure, in Bezug auf Säurebindungsvermögen 
einer N/,, Lauge entsprechen. 

Die oben beschriebenen Versuche bilden einen erneuten Beweis dafür, 
dass der Harn unabhängig von der Art der Ernährung stets neutral oder 
spurweise sauer reagirt, und dass durch den einfachen Zusatz von Phenol- 
phtalein als Indicator in den richtigen Mengenverhältnissen (1 °® ] procent. 
Lösung zu 200 °°® Flüssigkeit) die wahre Reaction selbst bei gleichzeitiger 
Anwesenheit von schwachen Säuren und schwachen Basen qualitativ er- 
mittelt werden kann. Zur quantitativen Bestimmung der H+- bezw. ÖOH-- 
Ionen bedarf die Colorimetrie mit Hülfe von Indicatoren noch einer sorg- 
fältigen Durcharbeitung. 

Es mag von Wichtigkeit erscheinen, dass dem Harn keine andere 
Reaction zukommt als allen Geweben und den meisten Secreten, unter 
welchen nur Magen- und Pankreassecret eine Ausnahmestellung einzunehmen 
scheinen, während die übrigen neutral oder spurweise sauer reagiren. 


Ueber die „blaze“-Ströme der Krystalllinse. 


Von 


Augustus D. Waller. 


(Aus dem physiologischen Institut der Universität London, S. W.) 


In früheren Experimenten an verschiedenen thierischen und pflanz- 
lichen Geweben — besonders an der Haut und an dem Augapfel — 
habe ich gezeigt, dass ein einziger starker Inductionsschlag eine elektrische 
Antwort auslöst, eine homodrome oder antidrome, in Bezug auf den vorher- 
gegangenen reizenden Strom. 

Beide Antworten, antidrome sowohl wie homodrome, sind physiologische 
Wirkungen, welche plötzlich und dauernd vernichtet sind bei einer Tempe- 
ratur der Umgebung von über + 50° und unter — 5°. Ausserdem, beide 
Antworten, antidrome so gut wie homodrome, können einen postkathodischen 
oder postanodischen Ursprung haben, d. h. sie können positiv-anodisch oder 
negativ-anodisch, positiv-kathodisch oder negativ-kathodisch sein. 

Alle diese Punkte sind ausführlich beschrieben in meinen englischen 
und französischen Aufsätzen! und denke ich nicht die Beschreibung der 
dort gegebenen Resultate hier zu wiederholen. 

Ich will mich jetzt nur auf die Beschreibung der Resultate einiger 
Experimente beschränken, welche mit derselben Methode ausgeführt wurden 
an einem Gewebe, welches a priori nicht ein günstiges Object zu sein ver- 
sprach, welches aber trotzdem eine ganz bestimmte und leicht zu wieder- 
holende Serie von Antworten hervorbringt — das ist die Krystalllinse des 
Fischauges. Und ich hoffe, dass die Beschreibung deutlich machen wird, 
was in einigen deutschen Laboratorien? betrefis der in meinen englischen 


1 Siehe das Litteraturverzeichniss am Schluss dieses Artikels. 


° Halle, Königsberg. Botan. Beihefte 1902. 8. 99. — Hermaun’s Jahres- 
berichte. 1901. Bd.IX. 8. 22. 


N 


| 


A. D. WALLER: ÜBER DIE „BLAZE“-STRÖME DER KRYSTALLLINSE. 413 


Beschreibungen enthaltenen Angaben über Art und Richtung der reizenden 
Ströme nicht verständlich geworden zu sein scheint. 

Das Auge eines frischen Fisches! (Stockfisch, Weissfisch, Makrele) wird 
mit Messer oder Scheere geöffnet, die Haut, Hornhaut und Regenbogenhaut 
werden schonend entfernt, ohne den kleinsten Druck, um Schaden oder 
Störung der Linse zu vermeiden. Die sphärische Linse wird jetzt von dem 
Glaskörper abgetrennt und mit einem Stückchen Glas auf die Elektrode 3 
übertragen, ihr vorderer Pol (vorläufig markirt mit einem Thonfleck, um 
ihre Position bei einer zufälligen Umdrehung der sphärischen Linse nicht zu 
verlieren) nach oben zur Verbindung mit der Thonspitze der Elektrode A. 
Der Schlüssel X, controlirt die Elektroden A, 2. 


Inductorium . 


Galranometer. 


Fig. 1. 


Die Verbindung mit dem Galvanometer wird hergestellt und der etwa 
vorhandene Ruhestrom compensirt, so dass der Schlüssel K, geöffnet und 
zugemacht werden kann, ohne die kleinste Schwankung hervorzurufen. 
Die secundäre Rolle eines Inductoriums (Berner Modell, empfohlen vom 
internationalen Comit& der physiologischen Instrumente) kann in den Reiz- 
kreis durch den Schlüssel X, aus- oder eingeführt werden; die Richtung des 
Stromes wird bestimmt durch einen Commutator (ein schwacher Oeffnungs- 
inductionsstrom durch den Galvanometer zeigt vorläufig die Lagen des 
Commutators an, welche die Richtungen 2 zu A uud 4 zu B durch die 
Elektroden geben), 


! Die Antwort kann 24 Stunden und länger dauern, es empfiehlt Sich Er, für 
einen ersten Versuch einen frisch gefangenen Fisch zu nehmen. 


414 Ausustus D. WALLER: 


Nach hergestellter Compensation wird bei kurz geschlossenem Galvano- 
meter ein sehr starker einziger Oeffnungsinductionsschlag (1000 bis zu 5000 
Einheiten des Berner Inductoriums mit zwei Leclanche-Elementen 
in dem primären Kreise) durch die Elektroden A, B und die zwischenliegende 
Linse geschickt. (Ein einfacher Contactschlüssel in dem primären Kreis 
ermöglicht es, dass der Schliessungsstrom durch X, geschlossen ist, bevor 
man den primären Kreis zumacht; dann wird X, geöffnet vor Defnnns 
des Contactschlüssels im primären eis) 

Sofort nachdem der Oeffnungsstrom durch die Linse gegangen ist, 
verbindet man das Galvanometer mit der Linse durch Oefinung des kurz- 
schliessenden Schlüssels £,. 

Folgendes sind die Resultate des Reizes in einer und dann in der 
anderen Richtung. 


Reizung durch einen einzelnen Inductionsschlag 
1. von B nach A giebt Antwort von A nach 2, 
2. ” 4 ” B „ ” ” 4A ” B. 


Die erste oder antidrome Antwort ist kleiner als die zweite oder 
homodrome. 

Die Hauptsache ist, dass die Linse nicht zusammengedrückt sei. Druck, 
ausgeübt durch Herabschieben der Elektrode A, vernichtet beide Antworten. 
Bei geringem Druck mag eine oder beide Antworten wechseln. Hohe und 
niedrige Temperatur vernichtet beide Antworten. Durch die Wirkung des 
Druckes ist es möglich, dass ein Beobachter die typischen Effecte bei einem 
ersten Versuche nicht bekommt; es ist deshalb rathsam, dass ein Beob- 
achter vor dem Versuch an der Linse eines Fischauges einen ähnlichen 
Versuch an einem Froschauge oder einem Stückchen Froschhaut (Rana 
temporaria), Gegenstände, die bequemer zugänglich sind, anstelle, um sich 
mit dem Kreis vorläufig vertraut zu machen. Falls diese vor der Präpa- 
ration nicht beschädigt, werden sie eine Antwort geben vom Fundus nach 
der Cornea (im Falle des Auges), bezüglich von der inneren zu der äusseren 
Oberfläche (im Falle der Haut), d.h. 


Reizung durch einen einzelnen Oeffnungsinductionsstrom 


von Fundus B nach Cornea A giebt Antwort von B nach A 
„ Cormnea A „ Fundus 3 ss R BD at 
„ innerer Fläche 3 , äusserer Fläche 4 „ Rn 5 Dissen Al 
„  äusserer „ A .„ innerer DB un; „ El 


Schliesslich gebe ich das Protokoll und die photographischen Aufzeich- 
nungen eines typischen Experimentes; die am Anfang und Ende jedes 
Versuches verzeichnete, durch !/,oon Volt erzeugte Schwankung zeigt, ob in 
der Zeit des Versuches eine Aenderung des Widerstandes stattgefunden hat. 


ÜBER DIE „BLAZE“-STRÖME DER KRYSTALLLINSE. 415 


Krystalllinse eines Stockfisches einen Tag nachdem der Fisch 
gefangen war. 
Reizung durch einzelne Inductionsschläge eines Berner Schlittenapparates, versorgt 


mit zwei Leclanche&-Elementen. Die A-Elektrode am vorderen Pol, die B-Elektrode 
am hinteren Pol der Linse, wie Fig. 1 es zeigt. 


BO A Kraft und Richtung | Schwankung durch 
| des reizenden Stromes | d. Antwort d. Linse 


(hrooo Volt = 7-5 mm) 


+ 5000 B nach A, 5-5"m A nach B 
antidrom 


— 5000 3 „ 4A \25-.5am"A nach B 
homodrom 


+10000 B „ 4110: 0=®2 A nach B 
antidrom 


homodrom 


—10000 A „ B|40.0== A nach B 
homodrom 


+10000 B „ 4|11-5== A nach B 
antidrom 


— 5000 A „ DB 29-0=m A nach B 
homodrom 


+ 500 B „ 4 7:o=mm A nach 3 
antidrom 


\ 000 Volt giebt eine Schwankung gleich 
7.5um, d.h. dass in der Zeit des Versuches 
der Widerstand sich nicht geändert hat.) 


Beide Antworten wurden durch ‚‚mecha- 
Fie. 2. nisches“ Zusammendrücken der Linse gänz- 
lich vernichtet. 


416 Ausustus D. WALLER: 

Krystalllinse eines Stockfisches am ersten oder zweiten Tage, 
nachdem der Fisch gefangen war. 

Reizung durch einzelne Inductionsschläge eines Berner Schlittenapparates, versorgt 

mit zwei Leelanche&-Elementen. Die A-Elektrode am vorderen, die B-Elektrode am 
hinteren Pol der Linse, wie es Fig. 1 zeigt. 


Kraft und Richtung 
des reizenden Stromes 


Werth des 


Schwankung durch die Antwort der Linse 4... Volt 
1000 


5000 B nach A | 23mm 4 nach B 10026 mm 
Die Antwort ist antidrom zur Reizung 
50005 A725 65mm A nach B 


Die Antwort ist homodrom zur Reizung. Beide 

Antworten in der Linse sind vom vorderen zum 

hinteren Pol gerichtet, d.h. der vordere Pol ist 

gegenüber dem hinteren Pole „negativ“. Beide 

Antworten werden durch Eintauchen der Linse 
in heisses Wasser (60. bis 70°) vernichtet 


Der Versuch kann auch an einem Säugethierauge gemacht werden — 
mit einem gleichartigen Resultat, jedoch nach meiner Erfahrung nicht mit der- 
selben Gewissheit. Ich finde es bequemer, ein Auge von erheblicher Grösse zu 
benutzen, z.B. ein Schafsauge. Man darf aber nicht mit einem vom Schlacht- 
hause her gebrachten Auge arbeiten, da in solchem Fall die Kugel fast 
unfehlbar Zusammendrückung erlitten hat und dann keine Antwort giebt. 

Ich ziehe es vor, einen ganzen Schafskopf vom Schlachthause zu nehmen 
und die Cornea mit einem v. Graefe’schen Messer — wie bei der gewöhn- 
lichen Operation der Katarakte — durchzustechen; Cornea und Iris werden 
dann weggeworfen und die Linse ohne den kleinsten Druck herausgenommen. 
Dem, der im Binnenlande eine Wiederholung dieser Beobachtungen anzu- 
stellen wünscht, würde ich deswegen vorschlagen, die Augen eines Schafes 
zu benutzen, die ohne Zweifel viel leichter als die eines grossen Seefisches 
in einem vom Meere entfernten Laboratorium in brauchbarem Zustande zu 
bekommen sind. Ich hatte noch nicht Gelegenheit, einen Versuch an der 
Linse eines frischen Süsswasserfisches zu machen; solche Fische waren in 
London meistens gefroren, und die Linse giebt dann keine Antwort. 


Zwei Linsen aus demselben Schafskopfe. 


Reizun Erste Linse | Erste Linse Zweite Linse 
5 | 4 Std. nach dem Tode | 18 Std.nach dem Tode 18 Std. nach dem Tode 

+ 5000 Einheiten — 0.0006 Volts — 0:0004 Volts | — 0.0005 Volts 
— 5000 3 | — 0:00383 , — 0:0007 ,„ | — 0.0012 , 
50000 Sn nil | 
9000, £.%, |». — 0.0020: " „ | | 
+ heisst Stromrichtung B (hinterer Pol der Linse [posterior]) nach A (vorderer Pol 
der Linse [anterior)); — heisst Stromrichtung A (vorderer Pol der Linse [anterior]) 


nach B (hinterer Pol der Linse [posterior)). 


ÜBER DIE „BLAZE“-STRÖME DER KRYSTALLLINSE. 417 


bei weiteren Versuchen an den Augen anderer Thiere (Litteratur 15) 
fand ich, dass mit grosser Sorgfalt das Experiment an der Linse einfacher 
Laboratoriumsthiere vorgenommen werden kann, z.B. an der Katze, an 
dem Hasen und ebenso an dem Frosch. Beim Frosch ist es aber ein nicht 
sehr leichter Versuch. 

- Die typischen „blaze“-Ströme sind in jedem Fall ähnlich den be- 
schriebenen Befunden beim Fisch und dem Schaf, d.h. von A (anterior) 
nach 2 (posterior) für beide Richtungen des Reizes durch einzelne In- 
ductionsschläge. Die Linse eines Vogels, der Eule, gab auch dieselben 
Befunde. 

Dr. Durig’s letzte Beobachtungen (Litteratur 16) bestätigen in einigen 
Punkten ganz meine Resultate, speciell was die Cornea betrifft, welche, in 
seinen Beobachtungen ebenso wie in den meinen, einen „ausgehenden“ 
Strom in beiden Richtungen der Reizung angezeigt hat. 


Archiv f. A. u. Ph. 1903. Physiol. Abthlg. 37 


418 A.D. WALLER: ÜBER DIE „BLAzE“-STRÖME DER KRYSTALLLINSE. 


Litteraturverzeichniss. 


1. On the retinal currents of the frog’s eye exeited by light and exeited electri- 
cally. Proceedings Royal Society. Vol. LXVI. p. 327. Ausführlich in Phil. Trans. 
B. Vol. CXCHI. p. 123. 

2. The electrical effects of light upon green leaves. Prouceed. Royal Society. 
Vol. LXVII. p. 129. 

3. Dernier signe de vie. Comptes rendus de l’Academie des Sciences. 1900. 
3. September. 

4. The eyeball as an electrical organ. Proceedings Physiological Society. 1900. 
10. November. 

5. The blaze-currents of the frog’s eyeball. Proceed. Royal Society. Vol. LXVI. 
p- 440. Ausführlich in Phel. Trans. B. Vol. CXCIV. p. 183. 

6. Frog’s skin as an electrical organ. Proceedings Physiological Society. 1900. 
8. December. 

7. Premier signe de vie. Comptes rendus de l’Academie des Sciences. 1900. 
24. December. 

8. An attempt to estimate (he vitality of seeds by an electrical method. Proc. 
Royal Society. Vol. LXVIII. p. 79. 

9. Dernier sisne de vie: son application & ’homme. Comptes rendus de 1’ Acad. 
des Sciences. 1901. 6. Mai. 

10. Electrical response of surviving human skin. Proceed Physiological Society. 
1901. 20. Juli. 

11. On skin-currents. Part I. Frog’s skin. Proceed. Royal Society. Vol. LXVII. 
p- 480. 

12. Dasselbe. Part II. Observations on cats. Zbenda. Vol. LXIX. p. 171. 

13. Dasselbe. Part III. Human skin. Zbenda. Vol. LXX. p. 374. 

14. On the blaze-currents of the incubated hen’s egg. Ebenda. 1902. 4. Dee. 

15. On the blaze-currents of the erystalline lens. Zbenda 1902. 4. Deecinber. 

16. A. Durig, A contribution to the question of blaze currents. Ebenda. 1902. 
4. December. 


Ueber 
einige Einwirkungen auf die Dehnungscurve des Muskels. 


Von 


Dr. S. Dontas, 


Assistenten am physiologischen Institut. 


(Aus dem physiologischen Institut der Universität zu Athen.) 


Die Methode, die wir zum Studium über die Wirkung verschiedener 
Agentien auf die Dehnungscurve des Muskels benutzt haben, ist kurz folgende: 

Wir haben die Dehnungscurve des Muskels zeichnen lassen durch die 
von Prof. Nicolaides! zur Darstellung derselben angegebene Vorrichtung, 
welche folgende Modification erfahren hat. 

An den einen Hebelarm (Fig. 1a) wird eine kleine Mariotte’sche 
Flasche (7), welche mit Wasser gefüllt ist, und an den anderen Hebelarm 
(5) ein Gewicht (G) angehängt, womit die Flasche äquilibrirt wird. Der 
Hebel hat dann eine horizontale Lage, was der Zeiger (z) des Goniometers 
(w) anzeigt. 

Da es sehr wichtig ist, dass die Dehnung des Muskels vor dem 
Experiment möglichst klein und bei vergleichenden Untersuchungen die- 
selbe ist, haben wir folgende Einrichtung an dem Hebel angebracht: 

Auf der kugelförmigen Verdickung, durch welche die Axe (x) des 
Hebels (7) hindurchgeht, erhebt sich unbeweglich mit ihr verbunden ein 
kleiner Stift, dessen oberes Ende (o) gelenklich verbunden ist mit einem 
kleinen Hebel (A), welcher rechts einen nach unten gerichteten Haken (») 
trägt und an welchem links das untere Ende des Muskels befestigt ist. 

So lange der aufgehängte Muskel noch nicht genügend ausgespannt 
ist, bleibt der kleine Hebel (%) nach unten gerichtet, durch Drehung der 
Schraube (s) aber erhebt sich der Hebel (%) und der Haken (p) erfasst den 


U R. Nicolaides, Ueber eine Vorrichtung, die Dehnungsceurve des Muskels dar- 
zustellen. Dies Archiv. 1896. 
277 


420 S. Dontas: 
Hebel (7), welcher aber die horizontale Lage zu behalten fortfahren muss. 
Auf diese Weise erleidet der Muskel von dem leichten Hebel (7) eine kleine 
Dehnung, welche aber verschieden ist, je nach der Entfernung des Be- 
festigungspunktes von der Axe (o). 

Wenn diese Entfernung dieselbe bleibt bei allen vergleichenden Unter- 
suchungen, so wird die Dehnung des Muskels vor dem Experiment die- 
selbe sein. 


DIDI mROT" 


u CH saooss no Er Derrerrer f} 


H = N 


Mt 


IN 


2 


= N 
N 


32 


Fig. 1. 


Wird nun der Hahn der Mariotte’schen Flasche geöffnet, so fliesst 
das Wasser mit constanter Kraft heraus, in Folge dessen wird das Gleich- 
gewicht gestört und das den Muskel ausdehnende Gewicht wächst gleich- 
mässig. 

Einfluss der Ermüdung. Nach Durchschneidung des N. Ischiadicus 
des einen Beines haben wir den peripherischen Theil desselben durch 
Inductionsströme tetanisch gereizt und nachdem die Ermüdung des 


ÜBER EINIGE EINWIRKUNGEN AUF DIE DEHNUNGSCURVE D. MuskeELs. 421 


-Gastroenemius sich eingestellt hat, haben wir mit dem beschriebenen 
Apparate die Dehnungscurve desselben, sowie die des Gastroenemius des 
anderen Schenkels, dessen Ischiadieus nicht durchschnitten war, ermittelt. 


Fig. 2. 


Aus der Vergleichung der erhaltenen Curven (Fig. 2) stellt sich heraus, 
dass der ermüdete Muskel (7) weniger sich ausdehnt, als der nicht 
ermüdete (P). 


Der Unterschied ist noch grösser, wenn der Muskel mit Belastung 
sich ermüdet. 


Fig. 3. 


Einfluss von Curare. Zu dem Zwecke wurde den Thieren Curare 
injieirt, nachdem der eine Schenkel abgebunden war. Dieser diente als 
normaler zur Vergleichung. 


422 S. Dontas: 


Nach der Wirkung des Curare wurde die Dehnungscurve des Gastro- 
cnemius des nicht unterbundenen Schenkels dargestellt und mit der des 
unterbundenen Schenkels verglichen. 

Wie aus der Fig. 3 ersichtlich, ist der curarisirte Muskel, ebenso wie 
der ermüdete, weniger dehnbar (C) als der nicht eurarisirte (P). 


Fig. 4. 


Fig. 5. 


Einfluss des Veratrins. Es wurde den Thieren Veratrin in ver- 
schiedener Verdünnung injieirt, nachdem der eine Schenkel abgebunden 
war. Nach einigen Minuten wurde das Thier getödtet und die Dehnungs- 
curve beider Gastrocnemien untersucht. 


Das Veratrin hat folgenden merkwürdigen Einfluss auf die Elastieität 
des Muskels. Wenn nämlich die Untersuchung gleich nach dem Erscheinen 


ÜBER EINIGE EINWIRKUNGEN AUF DIE DEHNUNGSCURVE D. MuskEis. 423 


der Zuckungen geschieht (welche, wenn die Lösung des injieirten Veratrins 
1:200 ist, gewöhnlich 2 bis 3 Minuten nach der Injection auftreten), so 
dehnt sich der veratrinisirte Muskel mehr (Fig. 4 7) als der nicht veratrini- 
sirte (P). 

Wenn aber die Untersuchung lange nach der Injection geschieht, so 


Fig. 6. 


Fig. 7. 


bemerken wir, dass der veratrinisirte Muskel weniger sich ausdehnt 
(Fig. 5 7) als der nicht veratrinisirte (PP). 

Dazwischen existirt ein Stadium (Fig. 6), in welchem beide Curven 
zusammenfallen. 

Es scheint also, dass das Veratrin die Elastieität des Muskels zuerst 
vermindert und dann vermehrt. 


424 S.DontAs: ÜBER EINWIRKUNGEN AUF DIE DEHNUNGSCURVE T.S.W. 


Diese Erscheinungen treten auf auch nach Durchschneidung des Nerven 
des veratrinisirten Schenkels vor der Injection. 

Einfluss des Strychnins. Die Untersuchung geschieht nach der- 
selben Weise, d. h. der eine Schenkel wird abgebunden kurz vor der Injec- 
tion des Strychnins. 

Wenn nun nicht gleichzeitig der Nerv des anderen Schenkels durch- 
schnitten ist, so bemerkt man einen Unterschied zwischen den Dehnungs- 


Fig. 8. 


curven beider Gastrocnemien. Dieser Unterschied (Fig. 7) aber rührt von 
der Ermüdung her, welche von den Zuckungen hervorgerufen wird. 

Dass dem so ist, geht daraus hervor, dass, wenn der Nerv kurz vor 
der Injeetion durchschnitten wird, kein Unterschied zwischen den Dehnungs- 
curven beider Gastrocnemien bemerkbar ist (Fig. 8). 


Das Strychnin also hat gar keinen Einfluss auf die Rlastieität des 
Muskels. 


Tr 


ME 


Der Process der Zuckerbildung in der Leber. 


Von 


J. Seegen 
in Wien. 


Ueber das „Wie‘ der Zuckerbildung in der Leber gehen die Ansichten 
weit aus einander. Cl. Bernard, der Entdecker der glykogenen Function, 
glaubte, dass die Zuckerbildung auf die Wirkung eines Enzyms zurück- 
zuführen sei und sehr viele Physiologen haben sich dieser Anschauung 
angeschlossen; nur über die Natur des Enzyms und über seine Bildungs- 
stätte sind die Anschauungen getheil. Die Einen verlegen dieselbe in 
die Leber, während von einzelnen Forschern Blut und Lymphe als der Sitz 
des Fermentes angesehen wird. Für andere Physiologen ist die Zucker- 
bildung kein fermentativer Vorgang, sie ist vielmehr die specifische Lebens- 
äusserung der Leberzelle und der Vorgang ist an das Leben der Zelle 
geknüpft. Beide Anschauungen, die so weit aus einander liegen, stimmen 
in einem Punkte überein, nämlich in Bezug auf das Bildungsmaterial für 
den Zucker: dasselbe ist das gleichfalls von Cl. Bernard entdeckte Leber- 
glykogen. Die Thatsache, dass das Glykogen auch ausserhalb des Körpers 
durch ein diastatisches Ferment in Zucker umgewandelt wird, war der 
Ausgangspunkt für die Anschauung, dass auch in der Leber diese Um- 
wandlung auf einem fermentativen Process beruhe. Aber ein Leberferment 
wurde bis jetzt nicht gefunden und somit fehlt dieser Anschauung die 
wichtigste Stütze. 

Die Anhänger der einen wie der anderen Hypothese suchen diese 
dadurch zu erhärten, dass sie die aus dem Thierkörper geschnittene Leber, 
die bekanntlich noch durch einige Tage die Fähigkeit, Zucker zu bilden, 
bewahrt, unter Verhältnisse brachten, welche die Enzymwirkung unberührt 
liessen, während sie das Leben der Zelle vernichteten und umgekehrt. 
E. Salkowski! hat gefunden, dass Chloroform die Enzyme in ihrer 


ı E. Salkowski: Kleinere Mittheilungen physiologisch - chemischen Inhalts. 
Pflüger’s Archiv. Bd. LVI. 


426 J. SEEGEN: 


Wirkung nicht hemmt, während jede Zellenthätigkeit unter dem Einflusse 
des Chloroforms vernichtet wird. Auf diese Thatsache gestützt, hat er 
nachgewiesen, dass die Zuckerbildung in der Leber auf Enzymwirkung 
beruhe. Er gab ein gewogenes Stück zerhackter Kaninchenleber in Chloro- 
formwasser und liess es in demselben 68 Stunden digeriren; das Filtrat 
war sehr reich an Zucker, enthielt aber kein Glykogen, während der Aus- 
zug aus einem anderen Stück derselben Leber, welches in siedendes Wasser 
eingetragen war, nur Spuren Zucker und reichlich Glykogen enthielt. 


Arthus und Huber! haben zum Nachweis der Enzymwirkung 
Fluornatrium benutzt. Dieses tödtet in einer Iprocent. Lösung das Leben 
der Zelle, während es die Wirkungsfähigkeit der Enzyme unbeeinflusst lässt. 
Von einer mit Fluorwasser von der Pfortader aus wohl gewaschenen Leber 
wurde ein Stück zerhackt, in eine 1 procent. Fluornatriumlösung gelegt und 
die Abwesenheit von Zucker constatirt; der Brei wurde dann durch 
24 Stunden auf 40° erwärmt und die Macerirungsflüssigkeit enthielt reich- 
lich Zucker („une enorme quantit& de sucre“). Dieses macerirte Leber- 
gewebe bewahrte Wochen und Monate die Fähigkeit, Glykogen in Zucker 
umzuwandeln. 

Dastre” hat nachgewiesen, dass hohe Kältegrade, wie höhere Wärme- 
grade die Leberzelle tödten, während sie auf Enzyme keinen die Wirkung 
schädigenden Einfluss üben. Er machte nun Experimente mit Kaninchen- 
lebern, die er von der Vena porta aus mit Salzwasser ausgewaschen hatte; 
die so gewaschene Leber enthielt keinen Zucker, aber reichlich Glykogen. 
Stücke dieser Leber brachte er in einen Eiskasten oder in eine Temperatur 
von 40° Wärme und liess sie durch längere Zeit diesen Temperatur- 
einflüssen ausgesetzt. Es hatte sich in der grösseren Zahl der Versuche 
kein Zucker gebildet. Auf diese Versuche gestützt, kommt Dastre zu dem 
Schlusse, dass die Umwandlung des Glykogens in der Leber streng an 
das Leben der Zelle geknüpft sei (‚‚c’est une action vitale“). Aehnlich wie 
Dastre glaubt auch Cavazzani, dass die Zuckerbildung in der Leber 
auf die Thätigkeit der lebenden Zelle zu beziehen sei; er sucht das dadurch 
zu beweisen, dass er in einem Leberstück einer mit Methylviolett injieirten 
Hundeleber keinen Zucker nachweisen konnte. Methylviolett tödtet die 
Zelle und lässt die Enzyme unverändert. 

Die Anhänger der einen wie der anderen Anschauung sind in Bezug 
auf das Material, aus welchem der Zucker entsteht, der gleichen Meinung; 
es ist, wie bereits erwähnt, das Leberglykogen. 

Ich kam auf Grundlage meiner zahlreichen Arbeiten zu der Anschauung, 


! Ferments solubles et ferments figures. Archive de Physiol. T. XXIV. 
” Recherches sur les ferments hepatiques. Zbenda. 1888. 


DER PROCESS DER ZUCKERBILDUNG IN DER LEBER. 427 


dass das Glykogen an der Zuckerbildung ganz unbetheiliet sei, dass der 
Zucker vielmehr vorwaltend aus Eiweisskörpern und auch aus Fett gebildet 
werde. Diastatische Enzyme sind an der Bildung ganz unbetheilist. Da 
aber diese Umwandlung von Fett und Eiweisskörpern nur in der Leber 
zu Stande kommt, galt es mir als ausgemacht, dass es sich bei der Zucker- 
bildung um eine specifische Thätigkeit der Leberzelle handle und dass die 
in der ausgeschnittenen Leber noch durch einige Tage fortdauernde Zucker- 
bildung auf ein Ueberleben der Leberzelle zu beziehen sei. Meine zahl- 
reichen Arbeiten bringen verschieden varürte Belege für diese Theorie; und 
während dieselbe bei ihrem Entstehen und noch lange nachher für ketzerisch 
salt, stimmen heute die meisten Physiologen darin mit mir überein, dass 
das Hauptbildungsmaterial für den Leberzucker die Eiweisskörper sind, und 
selbst: jene Forscher, welche der Umwandlung des Glykogens bei der Zucker- 
bildung eine Rolle zuweisen, geben zu, dass die Eiweisskörper sich an der 
Zuckerbildung betheiligen. (Butte.) 


Während in Bezug auf das Material der Zuckerbildung mindestens 
ein gewisser Eklekticismus Platz greift, stehen über das Wie der Zucker- 
bildung die Anschauungen unvermittelt einander gegenüber; Enzymwirkung 
von der einen Seite, Lebenskraft von der anderen ist das Losungswort der 
beiden Parteien. 


Eine Reihe von Beobachtungen, die ich in der letzten Zeit zu machen 
Gelegenheit hatte, scheinen geeignet zu sein, den Boden, auf welchem diese 
beiden Anschauungen fussen, zum Wanken zu bringen und sowohl Enzym- 
wirkung wie Lebenskraft als an der Zuckerbildung unbetheiligt erscheinen 
zu lassen. 


Diese Thatsachen sind so verblüffender Art und die Folgerungen, die 
sieh an dieselben knüpfen, reichen so weit über die uns hier beschäftigende 
Frage hinaus, dass ich sie nachstehend den Fachgenossen in gedrängter 
Kürze mittheilen will. 


Ich suchte, um bestimmte für forensische Fragen wichtige Beob- 
achtungen möglich zu machen, nach einem Mittel, um den Bestand der 
Leber an Zucker und Glykogen, wie er zur Zeit der Obduction einer Leiche 
ermittelt wurde, zu conserviren, und es lag nahe, die Leber zu diesem 
Zwecke in Weingeist aufzubewahren. Ich machte den Versuch mit einer 
Hundeleber. Es wurde die dem Thiere nach der Tödtung entnommene 
Leber in der Fleischschneidemaschine sehr fein zu einem Brei zertheilt und 
ungefähr !/, Stunde nach der Tödtung zwei gewogene Portionen von je 
30®m in zwei Blechgefässe, in welchen Wasser siedete, eingetragen. 
Gleichzeitig wurden zwei gleich grosse Leberportionen in Glasflaschen 
(Pulvergläser) mit eingeschliffenem Stöpsel gegeben und je mit 20 m abso- 


428 J. SEEGEN: 


lutem Alkohol oder mit solchem von 95 Procent überschichtet und durch 
längere Zeit aufbewahrt. Die Analyse der zwei in kochendes Wasser ge- 
gebenen Stücke wurde sogleich, die andere nach längerem Verweilen der 
Leberportionen im Alkohol ausgeführt. Durch die Analyse wurde Zucker, 
Glykogen und Gesammtzucker nach der von mir ausgebildeten und durch 
viele Jahre geübten Methode bestimmt. ! 


Die Resultate dieser Analysen waren folgende: 


Zucker in Procent Glykogen in Procent 
!/, Stunde nach dem Tode . . . 1.27 3-46 
3 Wochen in Alkohol .  . .. 1083 0.14. 


Statt also, wie ich erwartet hatte, im besten Fall den Zucker- und 
Glykogengehalt conservirt, also unverändert zu finden, war der Zucker- 
gehalt auf eine Höhe angewachsen, die ich bis dahin in der ausgeschnittenen 
Leber nie beobachtet hatte. Ich musste nun ermitteln, ob es sich nicht 
um einen zufälligen Befund handle, und ich habe zu diesem Zwecke eine 
grosse Reihe von Versuchen angestellt. 


Die Bedingungen wurden vielfach modificirt. Ich verglich die aus 
der Leber unmittelbar nach dem Tode in kochendes Wasser eingetragenen 
Stücke mit jenen, die gleichzeitig mit Alkohol überschichtet wurden und 
in diesem durch längere Zeit aufbewahrt blieben. Ich verglich ferner 
Leberstücke, welche 2 bis 3 Tage an der Luft gelegen, mit solchen, die 
nach Ablauf dieser Zeit in Alkohol eingetragen worden waren und in dem- 
selben durch längere Zeit gelegen hatien. Ich verglich ferner Leberstücke, 
welche gleich lange Zeit, 4 bis 8 bis 10 Tage, an der Luft und in Alkohol 
gelegen hatten. 


Indem ich in Bezug auf die Details dieser Versuche auf meine diese 
Frage betreffende Abhandlung in den Akademieberichten verweise ?, möchte 
ich hier einen oder den anderen der frappantesten Versuche mittheilen. 


Versuch XII. Hund. 


Zeit der Untersuchung | Zucker in Procent [Glykogen i. Procent: Gesammtzucker 


sogleich, u 085 | 4:8 9 
an der Luft mit Formol | | 

Dalage nme an | 4-8 2-3 10:3 
Alkohol 5 Tage . . . | 7.9 0-3 10-7 


! Seegen, Die Zuckerbildung im Thierkörper. 1900. 2. Aufl. 
” Derselbe, Ueber Zuckerbildung in der in Alkohol aufbewahrten Leber. Sitzungs- 
berichte der Kaiserl. Akad. der Wissensch. Bd. CXI. Abth. 3. 


DER PROCESS DER ZUCKERBILDUNG IN DER LEBER. 429 


Versuch XIV. Hund. 


Zeit der Untersuchung 


enden Tode Glykogen i. Procent Gesammtzucker 


Zucker in Procent 


Stundei.,.2 0-1...) 1-1 | 8-7 | 16 

48 Stunden . FE OS 3-5 | 6-3 | 16-6 
aus Alkohol nach 48 Std. 6-3 | 2-3 | 19-2 
Luft 7 Tage 5-8 | 3-9 | 18-2 
Alkohol 7 Tage 7-4 | 4-0 20-9 


Die wichtigsten Ergebnisse meiner Versuche lassen sich in folgende 
Punkte zusammenfassen: 


1. In den unter Alkohol aufbewahrten Leberstücken 
schreitet die Zuckerbildung fort. 


2. Der Zuckergehalt in Alkoholstücken ist sehr häufig bedeutend 
grösser als in Stücken derselben Leber, die bis zum Aufhören der Zucker- 
bildung an der Luft gelegen haben. Aus zahlreichen Untersuchungen vieler 
Beobachter ist bekannt, dass der Zuckergehalt der Leber im Momente 
des Todes 0-5 bis 0-6 beträgt, dass der Zucker in der aus dem Körper 
ausgeschnittenen Leber sehr rasch anwächst, dass die grösste Zuckerzunahme 
auf die ersten 24 Stunden trifft, dass diese noch 3 bis 4 Tage anhält und 
ihr Maximum gewöhnlich nach 3 bis 4 Tagen erreicht hat. Dieses Maxi- 
mum beträgt in der Regel 3 bis 4 Procent, ist nur sehr selten 4 Procent 
und nur ganz ausnahmsweise etwas darüber. Nach 3 Tagen ist die 
Zuckerzunahme sehr gering und zumeist nach 4 Tagen eine Zuckerabnahme 
zu constatiren. Bei den unter Alkohol aufbewahrten Leberstücken habe 
ich mehrere Male 7 Procent und ziemlich häufig 5 Procent und darüber 
Zucker gefunden. Diese grosse Zuckersteigerung wurde constatirt, a) wenn 
Leberstücke mit einander verglichen wurden, von denen das eine vom 
Momente des Todes bis zur Zeit, wo im Allgemeinen das Maximum des 
Zuckers erreicht war, an der Luft gelegen hatte, während das andere vom 
Momente des Todes durch 2 bis 3 Wochen unter Alkohol gestanden hat; 
b) wenn an der Luft gelegene, auf der Höhe der Zuckerbildung befindliche 
Leberstücke in ihrem Zuckergehalte mit solchen Leberstücken verglichen 
wurden, die in diesem Momente in Alkohol gelest und daselbst durch 
längere Zeit gehalten wurden. Diese Thatsache würde so zu deuten sein, 
dass, wenn die Zuckerbildung in der an der Luft liegenden Leber nahezu 
oder völlig abgeschlossen ist, durch das Einlegen in Alkohol die Zucker- 
bildung von Neuem angeregt wird; c) in einer dritten Versuchsanordnung 
wurden Leberstücke an der Luft wie unter Alkohol durch gleich lange Zeit 
aufbewahrt und, um Fäulniss zu verhüten, wurden den an der Luft 


430 J. SEEGEN: 


liegenden Stücken einige Tropfen Formol zugesetzt. Der Zuckergehalt war 
in den Alkoholstücken wesentlich grösser. 

Die Zuckervermehrung ist nicht ausnahmslos in allen Versuchen bei 
den Alkoholstücken gefunden worden, aber doch in der Mehrzahl derselben. 
Erst eine sehr grosse Reihe von Versuchen wird vielleicht darüber Auf- 
schluss geben, wodurch diese Differenz in der Wirkung des Alkohols ver- 
anlasst ist. Die negativ ausgefallenen Analysen betreffen solche Lebern, 
bei welchen überhaupt verhältnissmässig wenig Zucker und wenig Glykogen 
vorhanden war, so bei Ochsenlebern, wie bei den Lebern jener Hunde, 
welche mit Fett gefüttert waren. 


3. Die Glykogenabnahme schreitet in den unter Alkohol befindlichen 
Leberstücken fort und ist bei Aufnahme der Analyse gewöhnlich ganz ver- 
schwunden. Eine mit der Zuckerzunahme parallel gehende Abnahme ist nur 
sehr selten nachzuweisen. In den einzelnen Versuchen ist die Zuckerzunahme 
grösser als der Glykogenverlust, und zuweilen beträgt dieselbe mehr, als 
überhaupt Glykogen vorhanden ist; so ist in dem citirten Versuche XIV der 
Zucker von 1-1 auf 7.4 gestiegen und das Glykogen von 8.7 auf 4-0 ge- 
sunken, während nach weiteren 7 Tagen Alkohol die Zuckerzunahme nur 0-2 
beträgt und der Glykogengehalt von 4-0 auf 2-7 gesunken war. In 14 
Versuchen, bei denen überhaupt eine Zuckerbildung unter Alkohol constatirt 
wurde, verhielt es sich so, dass 7 Mal die Zuckerzunahme grösser war, als 
die Glykogenabnahme; während in den anderen sieben Versuchen die 
Zuckerzunahme von der Glykogenabnahme an Grösse übertroffen wurde. 


4. In den mit Alkohol behandelten Stücken ist auch der Gesammt- 
zucker beträchtlich grösser als in den an der Luft gelegenen Stücken, d.h. 
es ist nicht blos der Leberzucker angewachsen, sondern auch jenes Kohle- 
hydrat, aus welchem bei der Behandlung mit Säure in der Hitze das Zucker- 
plus entstanden ist. 


Man konnte denken, dass der unter Alkohol gebildete Zucker anderer 
Natur sei als der in der lebenden oder ausgeschnittenen Leber gebildete. 
Ich suchte durch einige Versuche darüber in’s Klare zu kommen. In dem 
einen Versuche wurde der Zuckergehalt der Zuckerlösung in gewöhnlicher 
Weise durch Titrirung bestimmt; ein gemessenes Quantum der Zucker- 
lösung wurde dann mit 10 procent. Salzsäure in der zugeschmolzenen Röhre 
erhitzt und der Zuckergehalt dieser Lösung abermals durch Titrirung ıait 
Fehling’scher Lösung festgestellt Die beiden Bestimmungen gaben 
nahezu das gleiche Resultat. Die ursprüngliche Zuckerlösung wies einen 
Zuckergehalt von 2.3 auf und die aus der Röhre entnommene Flüssigkeit 
ergab einen solchen von 2.2; Differenzen, welche noch innerhalb der 
Fehlergrenzen liegen. In einem anderen Versuche wurde der Zucker 


DER PROCESS DER ZUCKERBILDUNG IN DER LEBER. 431 


des Alkoholstückes mittels essigsaurem Phenylhydrazin in ein Osazon umge- 
wandelt und dasselbe unter dem Mikroskope wie durch den Schinelzpunkt 
als Glykosazon festgestellt. Beide Versuche gaben die Bestätigung, dass der 
unter Alkohol gebildete Zucker, wie der Leberzucker Traubenzucker war. 

Es lag nun noch der Einwand nahe, dass die Zuckerbildung in der 
mit Alkohol überschichteten Leber vor sich gegangen war, ehe die Leber 
von Alkohol durchtränkt war. Ich suchte diesem Einwande in doppelter 
Weise zu begegnen. Ich ermittelte in einigen Versuchen den Alkoholgehalt 
der Conservirungsflüssigkeit zu verschiedenen Zeiten nach der Ueber- 
schichtung der Leber mit derselben. 

In einem Versuche, in welchem 3 Mal 30 :”% mit je 20 «m absolutem 
Alkohol überschichtet waren, war der Alkoholgehalt der Conservirungs- 
flüssigkeit: 


nach 9 Stunden . . .„ 84-4 
SlOH2AtA. ein. 28.80,4 
„. 48 n red, 


Der Wassergehalt der Leber, vor dem Einlegen in Alkohol bestimmt, betrug 
68-5 Procent. 


In einem zweiten Versuche wurden 2 Mal je 30 8m mit 150 cm 


‚Alkohol absolut (A) und je 2 Mal 30 8”% mit 20 m absolutem Alkohol (B) 


überschichtet, die Bestimmung des Alkohols in der Conservirungsflüssigkeit 
ergab: 


A nach 3 Tagen . . . 93-0 
Ba A LE oa) 
AS zn IE 80 
BEENS, ,; a wol 


Die Verdünnung geht also langsam von Statten und es kann wohl 
kaum bezweifelt werden, dass nach 24 Stunden das in einen Brei ver- 
wandelte Leberstück von Alkohol durchtränkt war. 

In einer zweiten Versuchsanordnung suchte ich zu ermitteln, ob und 
wie weit die Zuckervermehrung anwachse mit der Dauer der Einwirkung 
des Alkohols. Es wurde von einer Hundeleber der Zuckergehalt sogleich 
nach Tödtung bestimmt; er betrug 0-74. Es wurden gleichzeitig zwei 
Stücke von 308" mit 20°” Alkohol (a) und je 30 Em mit 150 «m Alkohol 
(b) überschüttet, überdies zur besonderen Vorsicht Leber und Alkohol 
mittels eines Glasstabes durch einander gemischt. Der Zuckergehalt war: 


a:nach' 3 Tagen. .... 1.25 
„. 14 n N EP Ne 

Der a Aruhsaersniiai 
ie Sul » 37 


432 J. SEEGEN: 


Es hatte also zweifellos eine Zuckerbildung stattgefunden, lange nachdem 
die Leber von Alkohol durchtränkt war. 


Ich habe schliesslich einige Versuche angestellt, bei welchen ich den 
Alkoholgehalt der Conservirungsflüssigkeit vor der Analyse bestimmt habe, 
und lasse zwei derselben folgen: 


1. Hund, mit Brod und Zucker gefüttert. Leber sogleich in kochendes 
Wasser eingetragen: 
Zucker. Gilykogen. 
0-7 5.3, 
aus Alkohol nach 48 Stunden: 208" Leber, 20m Alk. abs. 
3.0 3.4 Alkoholgehalt 68-4 Procent, 
nach 8 Tagen 3.1 3-4 ;s 64-8 
308m Leber, 150 °°® Alk. abs. 
„ 48 Stunden . 1-25 4.5 Alkoholgehalt 87.6 
„ 14 Tagen 2-17 Null “ 54 


” 


2. Hund, mit Brod und Zucker gefüttert. 
Zucker Gilykogen 

sogleich 1-1 2 

aus Alkohol nach 48 Stunden: 208"” Leber, 20 °® Alkohol (95 procentig) 

2.2 0.68 Alkoholgehalt 65 Procent, 

nach 8 Tagen 2-7 0-56 hs 56 r 

„ 3 Wochen 3-8 0.45 “ 45 5 

305m Leber, 150°® Alkohol (95 procentig) 
nach 10 Tagen 1-2 2-0 Alkoholgehalt 87 Procent. 
U a 1-4 . 3.9. a 85 S 


Eine sehr interessante Erscheinung bietet dieses letzte Stück, der Zucker 
ist nahezu gleich geblieben, aber der Glykogenbestand von 2 auf 3°9 Procent 
angewachsen! Ich befürchtete, dass ein Irrthum unterlaufen wäre. Da keine 
Leber mehr vorhanden war, benutzte ich das vorhandene Decoct für die 
Glykogenbestimmung und erhielt noch 3 Procent, was, da das Decoct nicht 
das gesammte Glykogen enthält, mit dem anderen Befunde übereinstimmte. 

Wie verhalten sich nun die Eingangs angeführten Anschauungen über 
den Zuckerbildungsprocess zu den neu gewonnenen Thatsachen? Ist es 
möglich, dieselben oder eine derselben mit diesen Thatsachen in Einklang 
zu bringen? Wir geben der alten klassischen Theorie, die von Cl. Bernard 
inaugurirt wurde, den Vorrang. Nach dieser Theorie ist die Zuckerbildung 
in der Leber eine Enzymwirkung. Wir hätten die neu gewonnenen That- 
sachen so zu deuten, dass die Enzyme durch den Alkohol ihre hydrolytische 
Wirkung nicht nur nicht einbüssen, dass vielmehr dieselbe erhöht sei. 


DER PROCESS DER ZUCKERBILDUNG IN DER LEBER. 433 


Aber diese Annahme steht mit zahlreichen, von vielen Forschern gemachten 
Erfahrungen und auch mit meinen ad hoc angestellten Versuchen in vollem 
Widerspruch. 

Bis vor nicht langer Zeit galt es als ausgemacht, dass Enzyme in 
Alkohol unlöslich sind, und auf diese Eigenschaft gestützt, versuchte man 
es auch, Enzyme rein darzustellen. Die neuere Forschung hat gelehrt, 
dass diese Unlöslichkeit keine absolute sei. Nach Kjeldahl ist Ptyalin in 
einer wässerigen Lösung, welche 9.3 Procent Alkohol enthält, löslich; aber 
die diastatische Wirkung dieser Lösung ist nur halb so stark wie die einer 
wässerigen Lösung. Pankreasdiastase soll nach Danilewski noch in 
40 procent. Alkohol löslich sein, während Trypsin bei diesem Alkoholgehalt 
unlöslich sein soll. Eingehende Untersuchungen über die Löslichkeit der 
Enzyme hat Dastre! angestellt. Er fand, dass das amylolytische Ferment 
des Pankreas noch in 65 procent. Alkohol in geringem Grade löslich sei. 
Eine amylolytische Wirkung kann mit Pankreasextract vom Schweine bei 
15 procent. Alkohol erzielt werden; und mit Extracten von Hundepankreas 
auch noch bei etwas höherem Alkoholgehalt. Dagegen sind nach Dastre 
andere Fermente, speciell Blutfermente, sehr empfindlich gegen Alkohol 
und schon in 5procent. Alkohol unlöslich., Grützner? theilt mit, dass 
nach Versuchen von Wachsmann Alkohol schon in den schwächsten 
Lösungen von 1:5000 auf die Thätigkeit des Pankreasferments hemmend 
wirke A. Bial?® hat gefunden, dass durch die Einwirkung von Alkohol 
auf Blutserum eine Schwächung der Fermentationskraft des aus dem Blut- 
serum gewonnenen Fermentes veranlasst werde, die um so grösser wird, je 
länger der Alkohol einwirkt, dass ferner durch die Einwirkung des Alkohols 
jenes Ferment vernichtet werde, welches aus Stärke und Glykogen Trauben- 
zucker zu bilden vermag. 

Ich habe eine grosse Reihe von Versuchen * über die Wirkung von 
Speichel- und Pankreasferment auf Glykogen bei Anwesenheit von Alkohol 
gemacht und gefunden, dass die diastatische Wirkung derselben sich noch 
bei 75 Procent Alkoholgehalt nachweisen lässt; aber diese Wirkung ist bei 
hohen Alkoholgraden nur eine minimale und kam erst zur Erscheinung, 
wenn die Glykogenlösung, mit dem Ferment versetzt, durch mehrere Tage 


! Dastre, Sulubilite relative des ferments solubles dans l’aleool. Compt. rend. 
d. 2. Soc. biol. T. XLVIl. 

® Pflüger’s Archiv. Bd. XClI. 

> M. Bial, Ein weiterer Beitrag zum Chemismus des Zucker bildenden Blut- 
ferments. Zbenda. Bd. LIV. 

* J. Seegen, Ueber den Einfluss von Alkohol auf die diastatische Wirkung von 
Speichel- und Pankreasferment. Sitzungsberichte der Kaiserl. Akad. der Wissensch. 
Ba. CXI. 

Archiv f. A. u. Ph. 1903. Physiol. Abthlg. 8 


434 J. SEEGEN: 

bei höberer Temperatur (33°) im DBrutschranke gestanden hatte. Ich 
habe ferner in quantitativen Versuchen, die gleichfalls bei einer Temperatur 
von 38° angestellt wurden, ermittelt, dass die amylolytische Wirkung von 
Pankreasextract bei 66-5 Procent um !/, vermindert war und die amylo- 
Iytische Wirkung des Speichelferments bei diesem Alkoholgehalt auf die 
Hälfte gesunken war. In allen unseren Versuchen wurde die Leber mit 
95 bis 98 procent. Alkohol überschichtet; und der Alkoholgehalt der Con- 
servirungsflüssigkeit war noch nach mehreren Tagen über 70 Procent, 
wenn kleine Mengen Alkohol angewendet wurden, und schwankte zwischen 
80 und 90 Procent bei Anwendung grosser Mengen. Wenn wir selbst an- 
nehmen, dass das hypothetische Leberferment in seiner amylolytischen 
Wirkung sich gegen Alkohol in eben dem Maasse resistent verhalte, wie 
Speichel- und Pankreasferment, müsste doch sein amylolytisches Vermögen 
bedeutend gesunken sein. Es soll dabei unberücksichtigt bleiben, ob nicht 
die Wirkungsfähiekeit der Enzyme schon vernichtet ist, ehe der Alkohol 
durch das Leberwasser verdünnt ist. 

Ich habe im Gegensatze zu der von Ol. Bernard inaugurirten und 
auch heute noch viele Anhänger zählenden Hypothese, dass der Zucker 
aus Glykogen durch Enzymwirkung entstehe, zuerst die Ansicht vertreten, 
dass das Eiweiss das Material für den Leberzucker bilde, und dass der 
Bildungsprocess eine Function der lebenden Leberzelle sei. Ich stand mit 
der Anschauung über das Bildungsmaterial, die von der klinischen 
Erfahrung, dass im schweren Diabetes auch bei ausschliesslicher Fleischkost 
Zucker ausgeschieden werde, ihren Ausgangspunkt nahm, sehr lange allein. 
Heute ist bereits die Zahl der Physiologen und Chemiker sehr gross, welche 
in den Eiweisskörpern das Material für den Leberzucker sehen. Als wichtige 
Stütze für diese allmählich zum Durchbruche gelangende Anschauung wird 
die grosse Zuckermenge angeführt, welche beim schweren Diabetes, sowie 
beim Phloridzindiabetes ausgeschieden werde; diese Menge sei so gross, dass 
sie nicht aus dem Kohlehydrateomplex stammen könne, welcher in einzelnen 
Eiweisskörpern vorhanden ist; es müssen vielmehr alle Eiweisskörper zu 
diesem Bildungsprocesse beitragen. Zahlreiche Chemiker sind heute an 
der Arbeit, zu ermitteln, in welcher Form die Umbildung der Eiweiss- 
körper in Zucker von Statten gehe; und es ist wohl kein Zweifel, dass 
diese Bemühungen schliesslich von Erfolg begleitet sein werden. 

Ich habe vor einer langen Reihe von Jahren auf experimentellem 
\Wege aus der Differenz zwischen dem Zuckergehalt des Pfortader- und des 
Lebervenenblutes und auf Grundlage der mindestens annähernd festgestellten 
Blutmenge, welche in einer Zeiteinheit die Leber durchströmt, es festgestellt, 
dass die Zuckerbildung eine Function von grossem Umfange sei; dass z. B. 
bei einem Hunde, der ausschliesslich mit Fleisch gefüttert wurde, nahezu 


DER PROCESS DER ZUCKERBILDUNG IN DER LEBER. 435 


der grösste Theil des in der Nahrung zugeführten Kohlenstoffes für die Zucker- 
bildung verbraucht werden müsse. An diesen directen Versuchen wurde ge- 
mäkelt und die auf experimentellem Wege gewonnenen Ziffern für die Grösse 
der Zuekerbildung als Ausnahmeziffern auf Rechnung des operativen Eingriffs 
gesetzt; und heute wird auf die grosse Zuckerausfuhr bei schwerem Diabetes 
und Phloridzindiabetes als Beweis für den grossen Umfang der Zuckerbildung 
hingewiesen. Diese grosse Zuckerbildung, so wird angenommen, sei durch die 
Krankheit veranlasst, so z. B. beim schweren Diabetes durch einen über- 
mässigen Eiweisszerfall. Diesem muss ich auf’s Entschiedenste widersprechen. 
Für die Annahme eines grossen Eiweisszerfalls bei Diabetes liegen durchaus 
keine einwandfreien Beobachtungen vor; im Gegentheile haben z. B. die 
sehr werthwollen Untersuchungen von Pettenkofer und Voit! über den 
Stoffumsatz eines gesunden Menschen und eines Diabetikers bei gleicher 
Ernährung nachgewiesen, dass die Stickstoffausfuhr beim Diabetiker nicht 
grösser sei, und nur in Hungerversuchen war die Harnstoffausfuhr beim 
Diabetiker um etwa 8 Procent grösser als beim Gesunden. Luethje? hat 
während längerer Zeit einen Diabetiker mit den verschiedensten Albumi- 
naten ernährt und nahezu ausnahmslos gefunden, dass weit weniger 
Stickstoff ausgeschieden als eingeführt wurde. Ich habe zahlreiche Harn- 
sfoffbestimmungen während längerer Zeit bei vielen Diabetikern ausgeführt.® 
Die Stickstoffeinfahr wurde zwar nicht ziffernmässig festgestellt, aber das 
Gleichbleiben der Nahrung war bei vielen verlässlichen Diabetikern con- 
statirt, und das Ergebniss der Untersuchungen war, dass 1. die Harnstoff- 
ausfuhr auch in der schweren Form nur eine sehr mässig vergrösserte war 
im Vergleiche zu Gesunden, die annähernd gleiche Nahrung genossen, und 
dass 2. kein Verhältniss zwischen Zucker- und Harnstoffausfuhr nachzuweisen 
war; dass z. B. bei einem und demselben Diabetiker die Zuckerausscheidung 
sehr beträchtlich sank, während die Harnstoffausfuhr gleich blieb oder sogar 
anstieg. 

Nur die Ausfuhr sehr grosser Zuckermengen beim schweren 
Diabetes, wie bei Phloridzindiabetes kommt auf Rechnung des anormalen 
Processes, und zwar beim schweren Diabetes auf die durch die Krankheit 
gehemmte Umsetzung des Zuckers und beim Phloridzindiabetes auf die 
die Nieren lähmende Wirkung des Giftes. Auf die Zuckerbildung sind 
Krankheit und Gift ohne Einfluss, es kommt eben nur normal gebildeter 
Zucker zur Ausfuhr. Von der Erwägung ausgehend, dass für die über 
jeden Zweifel festgestellte grosse Zuckerbildung in der Leber das der Leber 


1 Zeitschrift für Biologie. Bd. II. Heft 4 und Bd. III. Heft 4. 
® Luethje, Stoffwechselversuche an einem Diabetiker. Zeitschrift f. klinische 
Medicin. Bd. XXXIX. 


® Seegen, Der Diabetes mellitus. 3. Aufl. 8. 150 u. s.f. 
28* 


436 J. SEEGEN: 


für diese Bildung zu Gebote gestellte Material in Form von Eiweisskörpern 
ein grosses sein müsse, hatte ich gemeint, dass das wichtigste Verdauungs- 
product aller Eiweisskörper, das Pepton, das Material für die Zuckerbildung 
in der Leber sei; und diese Anschauung fand ihre Stütze in Ernährungs- 
versuchen, in Versuchen mit Peptoninjection in eine Mesenterialvene und 
in Versuchen, bei welchen lebend erhaltenes Blut mit Pepton zusammen- 
gebracht wurde. In allen drei Versuchsformen konnte eine Steigerung der 
Zuckerbildung in der Leber oder in dem Leberpeptongemische nachgewiesen 
werden. Aber die Schlüsse aus diesen Versuchen würden hinfällig, und ich 
habe das selbst hervorgehoben !, wenn es bewiesen ist, dass das Pepton als 
solches nicht in die Leber gelangt. Die Forschung müsste an andere aus 
der weiteren Eiweissverdauung hervorgehende Producte als Quelle für die 
Zuckerbildung anknüpfen. 

Von grosser Bedeutung für die Zuckereiweissfrage ist es, dass ich, wie 
Eingangs erwähnt, aus dem Leberdecoct durch Erhitzen mit 10 procent. 
Salzsäure ein grösseres Zuckerquantum erhielt, als dem Leberzucker und dem 
aus der Verzuckerung des Glykogens hervorgehenden Zucker entspricht. Durch 
diese Entdeckung ist zum ersten Mal eine Zuckerbildung aus Eiweisskörpern 
nachgewiesen, und hier handelt es sich nicht um Kohlehydrate, wie 
Chitosamin oder Albamin, welche aus dem Kohlehydrateomplex einiger 
Eiweisskörper entstehen, sondern um Substanzen, die durch die Einwirkung 
schwacher Säuren direct in Traubenzucker umgewandelt werden. Ich 
konnte einen Theil jener Substanz als stickstoffhaltiges Kohlehydrat rein 
darstellen, aber sie bildet nur einen kleinen Bruchtheil jener grossen 
Zuckermenge, welche aus dem Leberdecoct durch Säure gewonnen wird. 
Es ist auffallend, das diese Beobachtung, die ich vor einigen Jahren ver- 
öffentlichte, bisher von Physiologen und Chemikern so wenig berücksichtigt 
wurde; die Controle auf deren Richtigkeit ist so einfach: wenn man in zwei 
Leberstückeu den Zucker- und Glykogengehalt quantitativ bestimmt und 
dann eine gemessene Menge des Decocts des einen Stückes mit Säure in 
der Hitze behandelt, wie ich es gethan und wiederholt mitgetheilt habe.” 

Dieses durch Säure in Zucker umwandelbare Kohlehydrat wird nur 
aus Leberdecoct gewonnen. Ich habe aus vielen anderen Körperorganen, 
wie aus Muskel, Milz, Hirn, Lunge und Thymus, in gleicher Weise wie 
aus Leber, Decocte dargestellt und sie ebenso wie das Leberdecoet behandelt; 
ich erhielt auch nicht die Spur Zucker; und diese Thatsache bestimmte 
mich, an eine specifische Wirkung der Leberzelle zu denken. Alle meine 
Versuche wurden, wie natürlich, mit Leberstücken frisch getödteter Thiere 
angestellt und ich dachte mir, dass die Leberzelle noch durch einige Tage 
1 geegen, Die Zuckerbildung im Thierkörper. 1890. 1. Aufl. 

? Die Vorstufen der Zuckerbildung in der Leber. Dies Archiv. 1900. Phys. Abthlg. 


DER PROCESS DER ZUCKERBILDUNG IN DER LEBER. 437 


ihre Leistungsfähigkeit bewahre und sprach darum von „überlebender 
Leber“, In gleichem Sinne meinte auch Dastre, dass die Zuckerbildung, 
die er sich als Umwandlung des Glykogens dachte, die Wirkung der 
lebenden Leberzelle sei. „Elle est le fait de l’activite vitale des cellules 
hepatiques.“ 

Die Erfahrung, dass auch in der mit Alkohlol übergossenen Leber die 
Zuckerbildung fortdauere, ist mit dieser Auffassung nicht in Einklang zu 
bringen. Der Alkohol entzieht den Geweben Wasser, bringt das Eiweiss 
zur Gerinnung und vernichtet unzweifelhaft das Leben der Zelle. Inter- 
essante Versuche nach dieser Richtung hat Bokorny ! mitgetheilt. Er hat 
beobachtet, dass bei 2tägigem Aufenthalt in 5-, in 10- und 20 procent. 
Alkohol das Assimilationsvermögen der Hefe geschädigt bezw. vernichtet 
wird. Dieselbe Beobachtung machte er in Bezug auf die Vernichtung der 
Assimilationsfähigkeit bestimmter Algen durch Alkohol. 

Die Fortsetzung der Zuckerbildung in dem mit Alkohol übergossenen 
Leberbrei kann nur so gedeutet werden, dass diese Zuckerbildung ein rein 
chemischer, vom Leben der Zelle unabhängiger Process sei. Die Natur 
dieses Processes ist uns noch unbekannt; aber da er sich nur in der Leber 
abspielt, müssen es zweifellos Stoffe sein, die nur in der Leber vorhanden 
sind, die diesem Processe als Grundlage dienen. Ob, wie Friedrich 
Müller meint, Leucin das Bildungsmaterial für diesen Process sei, oder 
ob andere aus der Verdauung bezw. aus der Umwandlung der Peptone 
hervorgehende und der Leber zugeführte Stoffe das Material für diesen sich 
in der Leber abspielenden chemischen Process sind, ist Gegenstand weiterer 
Forschung. 

Alle die Folgerungen, zu welchen uns die Thatsache der Zuckerbildung 
unter Alkohol führten, beziehen sich nur auf den Zuckerbildungsprocess in 
der aus dem Körper ausgeschnittenen Leber; Rückschlüsse auf die Function 
in der lebenden Leber sind natürlich nur mit Vorsicht gestattet. Wenn 
der Vorgang auch in der lebenden Leber rein chemischer Natur sein 
dürfte, weist doch schon der Umfang der Function im Vergleich zu jener, 
welche in der ausgeschnittenen Leber selbst auf der Höhe der postmortalen 
Zuckerbildung stattfindet, darauf hin, dass dort mindestens in Bezug auf 
die Energie des Processes noch andere Kräfte wirksam sind. 


ı Th. Bokorny, Nochmals über Protoplasma und Enzyme. Pflüger’s Archiv. 
Bd. XCII. 


Ueber das Verhalten des Ganglion cervicale supremum 
nach Durchschneidung seiner prae- bezw. postcellulären 
Fasern. 


Von 


Dr. Georg Levinsohn. 


(Aus der mikroskopisch-biologischen Abtheilung des Physiologischen Instituts zu Berlin.) 


Bei meinen Untersuchungen über den Einfluss des Sympathicus auf 
das Auge!w? erschien es nothwendig, um das Verhalten des obersten sympa- 
{hischen Ganglions in seinen Beziehungen zu den ein- und austretenden 
Nerven kennen zu lernen, diese Frage einer experimentell-histologischen 
Prüfung zu unterziehen. Es stand zu erwarten, dass diese Prüfung über 
die Physiologie des Sympathicus nicht unwichtige Aufschlüsse erbringen 
konnte, und zwar um so mehr, als eine diesbezügliche Untersuchung schon 
von anderer Seite ausgeführt worden war und zum Theil höchst auffallende 
Resultate erzielt hatte. Roebroeck°® fand nämlich, dass, wenn er den 
Sympathicus central oder peripher vom Ganglion cervicale supremum durch- 
schnitt, die Nervenzellen an verschiedenen Stellen des Ganglions zu Grunde 
singen. Durchschnitt er die capitalen Ausläufer, so waren die Zellen in 
der oberen Hälfte des Ganglions schon nach neun Tagen zum grossen Theil 
vollständig geschwunden, durchschnitt er die seitlichen Ausläufer des Gang- 


! Kurzer Beitrag zu den physiologischen und anatomischen Veränderungen des 
Kaninchenauges nach Entfernung des obersten sympathischen Halsganglions von Georg 
Levinsohn. Zeitschrift für Augenheilkunde... Bd. V. Heft 5. 

® Ueber den Einfluss des Halssympathicus auf das Auge von Georg Levinsohn. 
v. Gräfe’s Archiv für Ophthalmologie. Bd. LV. Heft 1. 

®M. H.M. Roebroeck, Het Ganglion supremum colli nervi sympathiei. 
Utrecht 1895. 


GEORG LEVINSOHN: ÜBER DAS VERHALTEN DES GANGLION CERVICALE. 439 


lions, so machte sich in gleicher Weise und in demselben Zeitraum in der 
unteren Hälfte der Zellenschwund bemerkbar, und durchschnitt er den 
Nervus sympathicus selbst, so blieb das Ganglion im Ganzen normal, nur 
dass es in Folge Verlustes von Nervenfasern schmäler wurde, während 
relativ wenige Ganglienzellen dort, wo die seitlichen Ausläufer entspringen, 
atrophirten. Auf diesen Befund, der sich auf die Untersuchung weniger 
Kanincehenganglien erstreckte, baute Roebroeck eine kühne Hypothese auf. 
Von der Voraussetzung ausgehend, dass die Zellen stets nur da zu Grunde 
gehen, wo vorher die cellulifugalen Aeste durchschnitten waren, sah er im 
obersten sympathischen Halsganglion den Sammelpunkt für eine Anzahl 
nach ganz verschiedenen Richtungen hin ausstrahlender Neurone: einmal 
nämlich die Endneurone für den Dilatator pupillae, dessen Zellen in der 
oberen Hälfte des Ganglions liegen, während ihre Fasern sich in den capi- 
talen Ausläufern sammeln; zweitens Neurone, deren Zellen in der unteren 
Hälfte des Ganglions gelegen sind, während die von diesen auslaufenden 
Fasern durch die seitlichen Aeste dahinziehen und die Gefässversorgung des 
Auges übernehmen; drittens Neurone, deren Ganglienzellen die Seitentheile 
des Ganglions einnehmen, deren Axencylinder hingegen rückwärts durch 
den Sympathicus in das Rückenmark hineinziehen; diese letzteren sollen 
Beziehungen zum Dilatator pupillae des entgegengesetzten Auges unter- 
halten. Ausser den genannten Neuronen durchsetzen noch nach Roebroeck 
zahlreiche sympathische Nervenfasern das Ganglion, ohne überhaupt an irgend 
einer Stelle desselben in Zellen zu endigen. 

Die Untersuchungen Roebroeck’s und seine Schlüsse sind mit grosser 
Vorsicht aufzunehmen. Denn einerseits ist das Versuchsmaterial etwas 
dürftig, ferner ist der Zeitraum, der zwischen der Operation und der histo- 
logischen Untersuchung liegt, immer nur ein relativ kurzer, und schliesslich 
lässt auch die Technik der Untersuchung zu wünschen übrig, was übrigens 
Roebroeck selbst hervorhebt. 

Ausser den Roebroeck’schen existieren über die hier interessirende Frage 
noch die Untersuchungen von Bruckner!, Dieser Autor, der die Arbeit 
Roebroeck’s anscheinend nicht kannte, untersuchte gleichfalls das oberste 
sympathische Halsganglion bei der Katze nach Durchschneidung des Sym- 
pathieus sowohl, als der capitalen Ausläufer. Die Untersuchungen sind im 
Gegensatz zu denjenigen Roebroeck’s wesentlich exacter ausgeführt; zur 
Färbung wurde das von Held modifieirte Nissl’sche Verfahren angewandt; 
doch fehlt jede Angabe darüber, auf wieviel Fälle die Untersuchung sich 
ausdehnt. Die Resultate dieser Untersuchung sind folgende: 


1.J. Bruckner, Sur les Phenomenes de Reactions dans le Systeme Sympathique. 
Compt. rend. Hebdomadaires des Seances et l’histoires de la Societe de Biol. 1901. 


440 GEORG LEVINSOHN: 


Nach Durchschneidung des Halssympathieus konnte Bruckner nur 
äusserst geringfügige Veränderungen des Ganglions feststellen. Diese be- 
trafen vereinzelte Zellen desselben und bestanden in einer centralen Chromo- 
lyse der Zelle; die überaus grosse Mehrzahl der Zellen blieb intact. Nach 
Durchschneidung der capitalen Ausläufer hingegen war schon nach 4 Tagen 
eine deutliche Reaction des Eingriffes wahrnehmbar, doch war die Reaction 
in voller Ausbildung erst 9 Tage nach dem Angriff nachweisbar. An dieser 
Reaction waren fast alle Zellen des Ganglions, besonders aber diejenigen 
in der Nähe des oberen Endes betheiligt. Als Erscheinungen der Reaction 
beschreibt Bruckner Schwellung der Zelle, Chromoiyse derselben, und 
zwar vom Centrum nach der Peripherie fortschreitend, Deformation des an 
die Peripherie gerückten, selbst die Zellgrenzen überschreitenden Kernes, 
Deformation des letzteren, Fältelung der Kernmembran, in vorgerückten 
Fällen Verschwinden derselben. Als besonders auffallenden Befund weist 
aber Bruckner auf die starke Schwellung des Kernkörperchens hin, das 
ausschliesslich basophil geworden ist, sich also tiefblau färbt, während die 
homogene und glasige Zelle durch Eosin ein rosa bis rothes Aussehen erhält.. 
Bruckner hat nur bis zu diesem Zeitpunkte, also bis zu 9 Tagen nach 
der Durchschneidung der capitalen Ausläufer das Verhalten des Ganglions 
beobachtet. Es fehlt jede Mittheilung darüber, wie der weitere Verlauf der 
Zellenveränderung sich gestaltet. 

Wenn ich jetzt zu meinen eigenen Untersuchungen übergehe, so möchte 
ich zunächst die Schwierigkeiten hervorheben, welche sich der Ausführung 
derselben entgegenstellen und bei der Beurtheilung des Endresultates zur 
Vorsicht mahnen. Schon bezüglich des operativen Eingriffes zeigte sich die 
Unmöglichkeit, stets einwandsfreie Vorbedingungen zu schaffen. Zwar gelang 
es immer ohne weiteres den Sympathicus zu reseciren und durch Abbinden 
der Schnittenden die Wiedervereinigung hintanzuhalten, dahingegen war 
letzteres nicht der Fall bei der Durchschneidung der vom Ganglion aus- 
gehenden capitalen Ausläufer, bezw. seitlichen Verbindungsfäden. Die Opera- 
tion bietet in den letzten beiden Fällen an und für sich nicht unbeträcht- 
liche Schwierigkeiten. Denn es kommt darauf an, ohne dass der Sympathi- 
cus bezw. das dicht unterhalb der knöchernen Schädelbasis sitzende Ganglion 
selbst berührt wird, die capitalen bezw. seitlichen Ausläufer zu durchtrennen, 
was indess bei genügender Ausdauer und Vorsicht wohl möglich ist. 
Roebroeck und Bruckner haben schon auf diese Schwierigkeit hinge- 
deutet. Dann aber muss mit der starken Tendenz zur Wiedervereinigung 
Seitens der durchschnittenen Nerven gerechnet werden, einer Tendenz, die 
so gross ist, dass selbst bei grösseren Resectionen des Halssympathicus nach 
relativ kurzer Zeit der Sympathicusstamm sich öfters wieder in seiner ganzen 
Continuität zeigt und nur durch leichte Anschwellungen die Stellen der 


ÜBER DAS VERHALTEN DES GANGLION CERVICALE. 441 


Resection erkennen lässt. Aus diesem Grunde beschloss ich, auf die Durch- 
schneidung der seitlichen Ausläufer und nachherige Beobachtung des Gang- 
lions ganz zu verzichten und ebenso die Versuche bezüglich der alleinigen 
Durchschneidung der capitalen Ausläufer nur auf wenige Fälle zu be- 
schränken. Meine Untersuchungen sind daher vorzugsweise an solchen 
Ganglien angestellt, bei denen einerseits der Sympathicus resecirt und unter- 
bunden war, oder die von allen ihren seitlichen und capitalen Ausläufern 
vollständig losgelöst waren. Dadurch dass das Ganglion ganz frei präparirt 
und nur im Zusammenhang mit dem Nervus sympathicus belassen wird, 
wird es möglich, indem man es vorsichtig nach unten umlegt, die Wieder- 
vereinigung der durchschnittenen Nerven für längere Zeit zu verhindern. 

Eine weitere Schwierigkeit für die Beurtheilung des pathologischen 
Materiales liest in dem Verhalten der normalen Ganglien. Die Zellen, aus 
denen sich diese zusammensetzen, besitzen nämlich nicht durchweg ein 
normales Aussehen, sondern lassen Veränderungen erkennen, welche wir 
als pathologisch zu bezeichnen gewöhnt sind. H. White! nimmt sogar an, 
dass das Ganglion cervicale supremum beim erwachsenen Menschen nur 
aus degenerirten Zellen besteht, bei Thieren zum grossen Theile aus solchen 
und zwar derart, dass der Procentsatz bei den einzelnen Thiergattungen an 
degenerirten Zellen um so mehr zunimmt, je näher die Thiergattung im Baue 
ihres Organismus dem Menschen kommt. Beim Affen fand er so 85 Procent 
aller Zellen in Degeneration begriffen, und zwar erblickt er letztere in einer 
mehr oder weniger stark ausgesprochenen Pigmentalteration. Diese Angaben 
fand ich in meinen Untersuchungen, welche sich auf die normalen Ganglien 
von Affe, Hund und Kaninchen erstrecken, nicht bestätigt. Denn die über- 
wiegend grosse Mehrzahl aller Ganglienzellen war bei diesen Thieren eine nor- 
male, und die geringe Anzahl derjenigen Zellen, welche ein abnormes Aussehen 
boten, war bei allen drei Thierclassen ungefähr die gleiche. Zwar zeigten 
die Ganglienzellen, besonders diejenigen des Affen, relativ häufig einen mehr 
oder weniger starken Pigmentreichthum, doch dürfte es kaum angehen, in 
solchen Fällen von einer Pigmentatrophie zu sprechen von Zellen, die in 
Bezug auf Umgrenzung, Tinction des Protoplasmas und Kern ein durchaus 
normales Verhalten aufweisen. Vielleicht ist der Unterschied, der zwischen 
den White’schen und meinen Untersuchungen besteht, durch das Alter 
der Thiere bedingt, indem H. White seine Beobachtungen an älteren 
Thieren gemacht hat, während die meinen fast durchweg von jüngeren 
gewonnen sind, 

Die Veränderungen, die sich aber hin und wieder im gesunden Gang- 
lion erkennen lassen, haben entweder den Charakter der Chromatolyse oder 


' Hale White, Journal of physiology. Vol. VIII. p. 66. 


442 GEORG LEVINSOHN: 


denjenigen der Zellsklerose. In ersterem Falle zeigt die Zelle ein fast voll- 
ständiges Verschwinden aller chromatischen Substanz, die Zellconturen 
werden mehr oder weniger undeutlich, der Kern ist entweder ganz ex- 
centrisch gelegen, oft auch gar nicht sichtbar, und es resultirt dann ein 
blasser undeutlich begrenzter, theilweise von einem zarten Netzwerk durch- 
setzter Protoplasmaklumpen. Hin und wieder sieht man solche Klümpehen 
von ganz geringem Umfang. Ob es sich hier um ein weiter vorgeschritte- 
nes Stadium der Zellauflösung handelt, soll dahingestellt bleiben. Der 
Typus der Zellsklerose doeumentirt sich an Zellen, die klein und sehr stark 
tingirt sind und einen kleinen intensiv gefärbten Kern besitzen, der sich 
von dem umgebenden Protoplasma nur wenig abhebt. 

Aber wie schon oben betont ist, erscheinen die eben beschriebenen ab- 
normen Zellformen in der grossen Minderzahl, während die allermeisten 
Zellen ein völlig normales Verhalten aufweisen. 

Zwischen dem Kaninchen, dem Hund und der Katze bestehen nun 
bezüglich dieser Zellen bemerkenswerthe Unterschiede. Zunächst ist näm- 
lich die Grösse der Zellen bei diesen Thieren eine durchaus ungleiche: das 
Kaninchen besitzt die grössten, der Hund weniger grosse und der Affe die 
kleinsten Zellen. Dieser Unterschied besteht aber nur, wenn man die Ge- 
sammtheit der Zellen in’s Auge fasst, da die Zellen des einzelnen Ganglions 
in Bezug auf ihre Grösse sehr variiren. Beim Kaninchen besitzen die Zellen 
meist eine Grösse von 33 bis 49 u, doch giebt es auch solche bis zu 66 u 
und kleinere bis zu 164; beim Hund schwankt die Zellgrösse zwischen 16 
und 41 «; der Macacus rhesus besitzt gewöhnlich Zellen, die 16 bis 20 « 
lang sind, doch kommen auch kleinere bis zu Su und grössere bis zu 40 « 
vor; etwas grösser sind die Zellen beim Cynocephalus hamadryas; sie betragen 
gewöhnlich 21 bis 29 u, relativ selten sind hier kleinere Zellen bis zu 12 « 
und grössere bis zu 41 u. Bei allen Thieren sind die grossen Zellen ge- 
wöhnlich länglich, während die kleinen Zellen eine mehr runde, ovoide oder 
ungleichmässig polygonale Form besitzen. 
| Ferner unterscheidet sich das Kaninchen vom Hunde und Affen da- 
durch, dass die Mehrzahl seiner Zellen zweikernig (zuerst von Guye be- 
schrieben) ist (Figg. 1 und 2), während die zweikernigen Zellen beim Hund 
nur in der Minderzahl anzutreffen sind und beim Affen (Fig. 3) sehr selten 
vorkommen. Bei den zweikernigen Zellen lagern die Kerne gewöhnlich in 
den beiden Polen der Zelle, während bei den Zellen mit einem Kern dieser 
in oder nahe der Mitte gelegen ist, oder was auch sehr häufig vorkommt, 
eine excentrische Lage einnimmt. Der meist grosse Kern besitzt bei allen 
drei Thiergattungen eine bläschenartige Form und ist mit ein oder zwei 
Kernkörperchen versehen. Bei Anwendung einer Niss]’schen Farbreaetion 
färbt er sich nicht mit oder nur schwach blau und lässt gewöhnlich neben 


- schollen (Fig. 15) dagegen kommt bei den Zellen des 


ÜBER DAS VERHALTEN DES GANGLION CERVICALE. 443 


dem intensiv blaugefärbten. Kernkörperchen in seinem Inneren eine sehr 
zarte Punktirung erkennen. 

Durch die eben genannte Behandlung der Schnitte macht sich auch 
im Inneren der Zelle ein relativ grosser Mangel an chromatischer Substanz 


Fig. 1. Fig. 2. 
Normale Ganglienzellen aus einem Kaninchen- Desgleichen. (600fache Vergr.) 
ganglion. (600 fache Vergr.) 

bemerkbar. Die häufigste Form, in welcher sich diese documentiert, ist ein 
am Rande der Zelle aufgehäufter unregelmässig schmaler Kranz von dunkel- 
blauen, ungleichmässigen Schollen, die einen leicht violetten Farbton besitzen. 
Dieser Kranz ist gewöhnlich nicht geschlossen, sondern an einer oder 
mehreren Stellen mehr oder weniger offen; oft beschränkt er sich nur auf 
einen schmalen Saum von Farbschollen an einem oder beiden Polen der 
Zelle. Neben dieser Randstellung der Farbschollen 
zeigen sich diese noch relativ häufig concentrisch um 
den Kern angeordnet, doch ist auch hier der Kreis 
derselben durchaus nicht immer geschlossen. Nicht 
selten erblickt man eine stärkere Anhäufung der 
Nisslkörper zwischen die beiden Kerne gelagert (Fig.1a). 
Die gleichmässige Ausfüllung der Zellen mit Farb- 


obersten sympathischen Ganglions nur selten vor. Da- 
durch, dass sich nur ein Theil der Zelle intensiv zu Fig. 3. 
färben pflegt, bekommt; diese ein blasses Aussehen. In Normale Ganglienzellen 
3 | 3 5 I aus dem obersten syımpa- 
ihrem Inneren ist nun fast immer ein unregelmässiges thischen Ganglion eines 
Netzwerk aus hellblauen zarten Fäserchen sichtbar, das Macacus rhesus. 

< i % Ä R T (400fache Vergr.) 
ungefärbte Zwischenräume einschliesst. Die Knoten- 
punkte dieses Netzwerkes erscheinen mitunter etwas stärker tingirt. Oft 
ist das letztere gleichmässig ausgebildet, so dass die Zelle ein rein facettirtes 


Aussehen erhält. Diese eben gemachten Angaben stimmen zum wesentlichen 


444 GEORG LEYINSOHRN: 


überein mit den Beschreibungen der sympathischen Ganglienzelle von 
Bruckner!, Veratti? und Marinesco.° 

Die sorgfältige Beobachtung des normalen Ganglion cervicale supremum 
und genaue Berücksichtigung der auch normaler Weise in ihm vorkommen- 
den pathologischen Erscheinungen setzt uns in Stand, die Veränderungen 
festzustellen, welchen das Ganglion nach Resection seiner prä- und post- 
cellulären Fasern unterliegt. Die diesbezüglichen Untersuchungen sind, 
wenn wir von denjenigen Versuchen absehen, bei denen die Resultate durch 
Fehler in der Versuchsanordnung bezw. der Technik getrübt erscheinen, an 
10 Kaninchen, 4 Affen und 2 Hunden angestellt. Von diesen wurden nach 
Durchschneidung der capitalen Ausläufer bei Erhaltensein der seitlichen 
Verbindungsfäden untersucht ein Kaninchen- und ein Affenganglion je fünf 
Wochen nach der Operation; nach Loslösung des Ganglions von allen seit- 
lichen Verbindungsaesten, sowie der capitalen Ausläufer ein Kaninchen- 
ganglion 3 Tage nach dem operativen Eingriff, ein solches 4 Tage nachher, 
ein anderes 6 Tage, eins 10 Tage, eins 4 Wochen und eins 5 Wochen 
darnach; nach Resection und Unterbindung des Sympathicus ein Kaninchen- 
ganglion 4 Tage, eins vier Wochen, eins 10 Wochen, ein Affenganglion 
16 Tage, ein anderes 25 Tage und ein drittes 5 Monate nach der. Operation, 
ferner zwei Hundeganglien 3 und 5 Wochen nach demselben Eingriff. 

Die Ganglien wurden sofort nach der Tödtung des Thieres für einen 
Tag in 10 procentiger Formollösung fixirt, kamen dann einen Tag in 95- 
procentigen, einen Tag in absoluten Alkohol und wurden dann nach mehr- 
stündigem Verweilen in Chloroform in Paraffin eingebettet. Fast alle 
Ganglien wurden der Länge nach in Serien zerlegt, und zwar wurde der 
besseren Uebersicht wegen immer nur die eine Hälfte des Objectträgers für 
die fortlaufende Serie benutzt, während auf die andere Seite desselben das 
in gleicher Weise behandelte normale Ganglion desselben Thieres übertragen 
wurde. So wurde die Vergleichung zwischen normalem und erkranktem 
Ganglion sehr erleichtert. Zur Färbung wurde in den meisten Fällen eine 
in Wasser gelöste concentrirte Thioninlösung, nur in wenigen Toluidinblau 
benutzt, zur Differenzirung diente 10 procentiger Anilinölalkohol. In der 
Mehrzahl der Fälle wurde von einer Contrastfärbung mit Eosin abgesehen. 
Dahingegen bediente ich mich öfters noch nach Vorbehandlung mit dem 


! Bruckner, Sur la strieture fine de la allule sympathique such. des sciences 
nedic. Zevue neurol. 1898. Nr. 27. 

?® Veratti, Ueber die feinere Structur der Ganglienzellen. Anat. Anzeiger. 1898. 
Bd. XV. 

3 Marinesco, Recherches sur l’histol. fine des allules du septime sympath. 
Revue neurol. 1898. Nr. 8. 


ÜBER DAS VERHALTEN DES GANGLION CERVICALE. 445 


Benda’schen Beizverfahren der v. Giesonfärbung, die mir zur Erkennung 
gröberer pathologischer Zellveränderungen recht brauchbar nn, 

Betrachten wir zunächst diejenigen Ganglien, 5 
bei denen die umfangreichsten Veränderungen be- 
obachtet wurden. Es sind das die Ganglien, die 
von allen Verbindungszweigen losgelöst mehr oder 
weniger lange Zeit nur in Verbindung mit dem 
Sympathicus verblieben waren. 

1. Kaninchenganglion 3 Tage nach der Opera- 
tion (Fig. 4): Das ganze Ganglion (Thionin) ist 
bedeutend heller gefärbt, als das in gleicher Weise 
behandelte normale Ganglion der anderen Seite. 
An dieser Ablassung sind indess wesentlich nur die 
Ganglienzellen betheiligt, während die Zellen des 
Zwischengewebes meistens ihre normale blaue 
Farbe behalten haben. Ganz besonders ist die ge- 
ringere Färbung im oberen Theile des Ganglions 
sichtbar. Hier erscheinen die Zellen fast durchweg 
farblos oder nur ganz leicht blau gefärbt, während 
sie im unteren Theile ebenfalls abgeblasst, zum Theil 
aber etwas deutlicher die blaue Färbung erkennen 
lassen. Die Zellen haben ein formloses glasiges 
Aussehen (Fig. 5), ohne dass in ihnen das geringste 
Zeichen einer Structur sichtbar wird. Die blasse Fig. 

Färbung oder die Farblosigkeit ist in allen Theilen Lingeschni Aeh op 
der Zelle eine gleichmässige, nur selten zeigen sich nach Loslösung der capi- 
die Randschichten etwas stärker tingirt. Der Kern en a 
ist auffallend verkleinert, etwas stärker als das um- je 

gebende Protoplasma gefärbt, häufig ist er aber auch Fe = S / 
gar nicht sichtbar. Mit Eosin färben sich die Zellen Hr a; N 
mehr oder weniger rosa, und nur der Kern mit er 2 
Kernkörperchen hält mitunter den blauen Farbstoff 3 N 4 
zurück. Bei dem Verfahren von Benda und ie =a@/ 


v. Gieson nehmen die Zellen eine intensiv gelb, &€ #4 5 
zum Theil leicht braune oder röthliche Farbe an, N 
während sich der kleine Kern in gleicher Weise Den 


wie die Zelle, nur noch etwas dunkler färbt. Die Pathologisch nee 
nach Benda und v. Gieson gefärbten normalen ne Y 
Zellen lassen hingegen eine helle, graugrünliche oder (600fache Vergr.) 

graublaue Färbung erkennen, in welcher sich der bläschenartige ungefärbte 


Kern deutlich abhebt. Ausser der grossen Mehrzahl von pathologischen 


446 GEORG LEVINSOHN: 


Zellen finden sich im Ganglion auch Zellen von normalem Aussehen. Diese 
sind in grösserer Anzahl im untersten Theile des Ganglions und ferner am 
Rande desselben bis zum Austritt der capitalen Ausläufer gelagert; ver- 
einzelt trifft man diese Zellen auch im Inneren des Ganglions an. 

2. Kaninchenganglion 4 Tage nach der Operation: Der obere grössere Theil 
des Ganglions steht in einem auffallenden Gegensatz zum unteren kleineren 
desselben. Während letzterer nämlich ein normales Aussehen zeigt, ist ersterer 
vollkommen abgeblasst. Die Zellen (Thionin) sind hier wie im vorliegenden 
Falle vollständig farb- und structurlos und lassen entweder gar keinen oder 
einen verkleinerten Kern erkennen; letzterer ist öfters von einem hellen Ring 
umgeben (Fig. 6). Normale Zellen finden sich ferner ausser in der unteren 
Hälfte in den Randpartien des Ganglions, das von diesem bis zum Austritt der 
capitalen Ausläufer vollständig umsäumt ist. Mit Eosin färben sich die farb- 
losen Zellen sehr schnell mehr oder weniger rosa, mit Benda und v.Gieson 


Fig. 6. io. 
Pathologisch veränderte Zellen aus dem Pathologisch veränderte Zellen aus dem 
Kaninchenganglion 2. (500fache Vergr.) Kaninchenganglion 4. (500fache Vergr.) 


gelbbraun. Der Kern ist bei letzterer Färbung gar nicht sichtbar oder zeigt 
sich noch etwas dunkler gefärbt als seine Umgebung. Ferner sieht man in 
den pathologisch veränderten Theilen des Ganglions zahlreiche runde Lücken, 
die sich unschwer auf den Ausfall von Ganglienzellen zurückführen lassen. 
Einmal entsprechen nämlich diese Lücken an Grösse den Ganglienzellen 
und dann sind dieselben von bindegewebigen Kapseln umschlossen, an deren 
Innenseite typische flache Kapselzellen sitzen. Mitunter ist in dieser Lücke 
noch ein leicht krümeliger Inhalt, manchmal nur der Kern erkennbar (Fig. 69), 
als Ueberrest der zu Grunde gegangenen Ganglienzelle; mitunter ist nur ein 
Theil der Zelle krümelig zerfallen, während der Rest noch eine gleichmässige 
zusammenhängende formlose Masse bildet. Diese zerfallenen Zellen erhalten 
gewöhnlich bei der Thioninfärbung einen schwach grünlichen Farbton, während 
der Kern sich gar nicht oder leicht blau färbt. In den Lücken sieht man des 
öfteren in den leeren Kapselraum gewucherte Kapselzellen vordringen (Fig. Te). 


ÜBER DAS VERHALTEN DES GANGLION CERVICALE. 447 


Das Zwischengewebe des Ganglions erscheint im Ganzen normal; nur da, wo 
sich die normalen Partien von den pathologischen abgrenzen, ist es etwas ver- 


dichtet und der Reichthum an Kernen hier vermehrt. 

3. Kaninchenganglion 6 Tage nach der Operation 
(Fig. 8): Der obere Theil des Ganglions hebt sich durch 
seine helle Farbe von dem unteren ab; als Ursache 
hierfür dürfte ein sehr auffallender Zellmangel an- 
zusprechen sein. Die Zellen im oberen Theile des 
Ganglions sind nämlich fast ganz geschwunden bis 
auf die Randpartieen desselben, die von normalen 
Zellen, in der obersten Ecke am Austritt eines capi- 
talen Ausläufers sogar reichlich mit solchen durch- 
setzt sind. Im Inneren des Ganglions sieht man 
einige stark tingirte, geschrumpfte Zellen, die ent- 
weder keinen oder einen ebenfalls stark gefärbten 
sehr verkleinerten Kern besitzen. Vereinzelt finden 
sich auch wie bei den Ganglien 1 und 2 leere Zell- 
kapseln mit mehr oder weniger ungefärbten und 
zerbröckelten homogenen Massen angefüllt als die 
Ueberreste zu Grunde gegangener Ganglienzellen. 
Mitunter sieht man dann ferner Gebilde, die fast 
aussehen wie Riesenzellen (Fig. 9); es sind das 
grössere Protoplasmahaufen, mit zahlreichen Kernen, 
die sich jedoch bei schärferem Zusehen in eine An- 
zahl kleinerer und dicht an einander gelagerter 
Bindegewebszellen auflösen. Es handelt sich hier 
um eine Wucherung von Zellen, die von Kapsel- 
zellen oder von den Zellen des Zwischengewebes 
ihren Ausgang genommen und auf diese Weise die 
Kapsellücken vollständig ausgefüllt hat. 

4. Kaninchenganglion 10 Tage nach der Operation. 
Das Ganglion hat sowohl auf der normalen wie ge- 
sunden Seite einen ausgesprochen zweitheiligen Cha- 
rakter. Der untere Theil dieses Ganglions bietet ein 
durchaus normales Aussehen. Der obere Theil ist 
sehr zellarm, grosse Strecken desselben erscheinen 
völlig zellfrei; doch ist der Zellenreichthum in diesem 
Ganglion relativ grösser als in den oberen Theilen 
des Ganglion 3. Von den vorhandenen Zellen zeigen 


Fig. 8. 
Längsschnitt durch ein Ka- 
ninchenganglion 6 Tage 
nach Loslösung der capi- 
talen und seitlichen Aus- 
läufer. (10fache Vergr.) 


RN 
ee Bi 
} 


x de 


a RER; 
ve 


Fig. 9. 
Gewucherte Bindegewebs- 
zellen aus dem Kaninchen- 
ganglion 3 (vgl. Fig. 8). 

(600fache Vergr.) 


indess nur die Randzellen ein normales Aussehen. Die anderen sind alle patho- 


logisch verändert und zwar in der schon oben beschriebenen Weise (Fig. 6 u.7) 


448 (FE0RG LEVINSOHN: 


Einige dieser abgeblassten Zellen erweisen sich deutlich als gebläht; man 
erkennt dies hauptsächlich daran, dass die Kapselzellen, die sonst leicht 
convex in das Kapselinnere vorspringen, vollständig plattgedrückt erscheinen 
(Fig.7f). Die meisten der farblosen Zellen sind aber wesentlich verkleinert, 
färben sich mit Eosin rot, nach Benda und v. Gieson braungelb und 
sind entweder kernlos oder besitzen einen stark verkleinerten Kern. Auch 


Fig. 10. Fig. 11. Fig. 12. 
Längsschnitt durch ein nor- Längsschnitt durchdieMitte Längsschnitt durch die Peri- 
males Kaninchenganglion. eines Kaninchenganglions pherie desselben Kaninchen- 
(10fache Vergr.) 4 Wochen nach Loslösung ganglions. (10fache Vergr.) 
der capitalen und seitlichen 
Ausläufer. (10fache Vergr.) 


zerfallende Zellen, wie in den oben beschriebenen Fällen, die sich mit Thionin 
leicht grünlich färben, kommen im oberen Theile des Ganglions vor. Des- 
gleichen erblickt man an einzelnen Stellen gewucherte Haufen bindegewebiger 
Zellen (Fig. 9), wie sie in den vorhergehenden Fällen beschrieben sind. 

5. Kaninchenganglion 5 Wochen nach der Operation. Das ganze Ganglion 
ist wesentlich zellärmer als das gesunde. Fig. 10 zeigt einen Längsschnitt 


ÜBER DAS VERHALTEN DES GANGLION CERVICALE. 449 


durch die Mitte des normalen Ganglion, Fig. 11 denselben Schnitt durch 
das kranke, Fig. 12 stellt einen peripheren Schnitt dar, auf dem die oberen 
Partien vollständig zellfrei sind. In diesem Falle ist also der Zellschwund 
nur in den peripheren Schichten des Ganglions hauptsächlich auf den oberen 
Theil desselben beschränkt, während er in anderen Theilen desselben sich 
in gleichmässiger Weise auf das ganze Ganglion ausdehnt. Man erblickt 
ferner in diesem Ganglion neben völlig intacten Zellen nicht selten Ganglien- 
zellen, von denen es zweifelhaft ist, ob es sich um pathologische Verände- 
rungen handelt, oder ob die letzteren einem Kunstfehler in der Behandlung 
zugeschrieben werden müssen (Fig. 13). Der Zellleib zeigt sich nämlich 
vollständig zurückgezogen und lässt so in der Zellkapsel eine grosse Lücke 
offen. Diese Schrumpfung, die bekanntlich bei 
Ganglienzellen in Folge fehlerhafter Behandlung 
nicht selten normaler Weise beobachtet wird, 
dürfte indess hier oft pathologischer Natur sein. 
Denn abgesehen davon, dass die grosse Mehr- 
zahl der . umliegenden Zellen eine derartige 
Schrumpfung nicht erkennen lässt, zeigt der Kern 
bei den in Frage kommenden Zellen auffallende 
Veränderungen. Derselbe ist verkleinert, manch- P 
mal auffallend geschrumpft, färbt sich mit Thionin 27 

mehr oder wenigerblau; des öfteren ist er bei diesen Pie 13. 

Zellen gar nicht sichtbar, und es resultirt dann re 1 nlenie 
ein kleiner blaugefärbter Protoplasmaklumpen im ganglion 5 (600fache Verer, 
Inneren einer grossen Kapsellücke. Das Binde- vgl. Fig. 11). 
sewebe des Ganglions ist im grossen Ganzen normal, der Reichthum an 
Kernen vielleicht etwas vermehrt. 

6. Kaninchenganglion, 5 Wochen nach der Operation (Fig. 14). Das 
Ganglion ist ausserordentlich zellarn. Ganglienzellen von normalem Aussehen 
findet man nur unten in einer Ecke etwas reichlicher angehäuft, am Rande 
des Ganglions spärlich vertreten; auch am oberen Rande desselben, am 
Austritt der capitalen Ausläufer, sind noch einige normale Ganglienzellen 
vorhanden. Ausser diesen sich völlig normal verhaltenden Ganglienzellen 
sieht man über das ganze Ganglion zahlreiche grüne kleine Schollen ver- 
breitet, die bei starker Vergrösserung in ihrem Inneren oft einen kleinen 
geschrumpften Kern mit Kernkörperchen erkennen lassen (Fig. 15). Die 
Grösse dieser Schollen beträgt 8 bis 16 u. Das Zwischengewebe erscheint 
im Allgemeinen etwas dichter, macht aber sonst einen normalen Eindruck. 

Wenn wir die obigen Protokolle kurz überblicken und das Facit aus 
denselben ziehen, so ergiebt sich die Thatsache, dass das oberste sym- 


pathische Ganglion, nachdem es von allen seinen Verbindungszweigen mit 
Archiv f. A. u. Ph. 1903. Physiol. Abthlg. 29 


450 


GEORG LEVINSOHN: 


Ausnahme des Nervus sympathicus losgelöst ist, sehr eingreifende Ver- 
änderungen erfährt. Diese machen sich nach kurzer Zeit in einem auf- 


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as, eb 
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7 DR = SER 
% 5, 
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Fig. 14. 


Längsschnitt durch ein Ka- 
ninchenganglion5 Wochen 
nach Loslösung der capi- 
talen und seitlichen Aus- 
läufer (10fache Vergr.). 


fallenden Schwund von Ganglienzellen bemerkbar. 
Die Beispiele 3, 5 und 6 sind so charakteristisch, 
dass an der starken Verringerung der Zellen ein 
Zweifel nicht bestehen kann. Aber auch die anderen 
Beispiele stehen mit dieser Erscheinung in gutem 
Einklang. Denn sie zeigen, dass wir es hier noch 
nicht mit zu Grunde gegangenen Zellen zu thun 
haben, sondern dass der Zellschwund erst in der 
Entwickelung begriffen ist. Ob von den so ver- 
änderten Zellen einige noch zur Norm zurückkehren, 
erscheint fraglich; der grössere Reichthum an Zellen 
in Fall 4 gegenüber 3 lässt diese Vermutung in- 
dess nicht ganz unberechtigt erscheinen. Jedenfalls 
seht die grosse Mehrzahl derselben später zu 
Grunde. 

Die Zellveränderung nach der Operation docu- 
mentirt sich zunächst durch eine starke Chromato- 
lyse, die bis zur vollständigen Achromatose übergeht 
und schon 3 Tage nach der Durchschneidung sehr 
stark ausgesprochen ist. Die völlig blasse oder nur 
wenig gefärbte Zelle bildet häufig nur eine form- 
lose Masse, ohne Zeichen irgend einer Structur und 
ohne dass ein Kern in ihr sichtbar ist. Mitunter 
aber nimmt man doch einen Kern in ihr wahr, der 
dann aber immer verkleinert erscheint, sich gewöhn- 
lich stärker färbt als seine Umgebung und zuweilen 
einen bezw. noch zwei dunkler gefärbte Nucleoli 
enthält. Der Kern ist so verkleinert, dass man im 


ersten Moment glaubt, das Kernkörperchen vor sich zu haben; in dieser An- 
sicht wird man noch dadurch bestärkt, dass das in Frage kommende Gebilde oft 


Fig. 15. 
Geschrumpfte Zellen aus 
dem Kaninchenganglion 6 

(600fache Vergr., 
vgl. Fig. 14.). 


von einem schmalen hellen Hof umgeben wird (Fig. 6). 
Das Ganze macht so den Eindruck eines stark ver- 
grösserten Kernkörperchens, das von einem in das 
Protoplasma der Zelle übergehenden Kernrest um- 
geben ist. Diese Auffassung erweist sich bei näherer 
Prüfung als unrichtig, indem, wie schon bemerkt, 
sich im verkleinerten Kern nicht selten ein oder 


zwei Kernkörperchen nachweisen lassen, als ein sicheres Zeichen dafür, 
dass das anscheinend vergrösserte Kernkörperchen in der That den wirk- 


ÜBER DAS VERHALTEN DES GANGLION CERVICALE. 451 


lichen Kern darstellt. Bruckner! beschreibt bei den Zellen des Ganglion 
cerv. sup. als auffallendstes Symptom nach Durchschneidung der capitalen 
Ausläufer (9 Tage), wie wir gesehen haben, eine sehr starke Vergrösserung 
des Kernkörperchens, während die Kernmembran gefaltet ist und in vor- 
gerücktem Zustande völlig verschwindet. Es scheint, als ob hier derselbe 
Befund vorliegt. Das dürfte vielleicht um so eher der Fall sein, als auch 
die Schwellung der Ganglienzelle, die Chromatolyse, das glasige Aussehen, 
die Rothfärbung durch Eosin, die Bruckner nach der Durchschneidung 
findet, mit den von mir beschriebenen Veränderungen im Anfange nach der 
Durchschneidung übereinstimmen. 

Ebenso wie die zu Grunde gehenden Zellen sich mit Eosin relativ gut 
färben lassen, erhalten sie nach dem Verfahren von Benda und v. Gieson 
behandelt vorzugsweise durch die Pikrinsäure ein intensiv gelbes, bezw. 
gelbbraunes Aussehen,. während die normalen Zellen eine hellgraue oder 
leicht blaue bezw. erünliche Farbe annehmen. In letzterem Falle bleibt 
der Kern, abgesehen von einer in ihm auftretenden feinen Punktirung, un- 
gefärbt, im Gegensatz zur erkrankten Zelle, in welcher er noch dunkler 
als seine Umgebung erscheint. Dieses eigenthümliche Verhalten gegen die 
genannten Farbstoffe ist in den ersten Tagen am stärksten ausgesprochen. 
Am 6. Tage ist schon ein deutlicher Zellschwund vorhanden, während 
wieder am 10. Tage neben stärkerem Zellschwund auch noch zahlreiche 
Zellen vorhanden sind, deren Verhalten demjenigen in den ersten Tagen 
nach der Operation mehr oder weniger identisch ist. Worauf diese Er- 
scheinung beruht, und ob es sich in diesem Falle nur um individuelle 
Verschiedenheiten handelt, soll hier nicht weiter untersucht werden. Jeden- 
falls ist nach einigen Wochen der Zellschwund meist definitiv. An Stelle 
der zu Grunde gegangenen Zelle ist im Anfange des Processes öfters eine 
Lücke vorhanden, die sich aber später durch eine Wucherung entweder 
Seitens der Kapselzellen oder der Zellen des Zwischengewebes ausfüllt. Man 
findet dann solche Conglomerate von Zellen, die den Eindruck von Riesen- 
zellen hervorrufen, sich aber bei schärferen Hinsehen in eine Anzahl von 
Bindegewebszellen auflösen. Ausser dem Zerfall und vollständiger Resorption 
sehen wir ferner Ganglienzellen durch Schrumpfung zu Grunde gehen. 
Es resultirt dann ein formloses Klümpchen, das sich bei der Thioninfärbung 
intensiv grünlich färbt und bei starker Vergrösserung eventuell noch einen 
Kern erkennen lässt. Die Schrumpfung dürfte sich gewöhnlich im Gefolge 
des Ganglienzerfalles einstellen, es scheint aber, dass sie auch langsam und 
allmählich ohne vorhergehende tiefgreifende Veränderung des Zellleibes zu 
Stande kommt. 


nA Bo ÖL 
29° 


452 (GEORG LEVINSOHN: 


Was nun besonders auffällt, ist der Umstand, dass die Zellen nicht 
in allen Theilen des Ganglions zu Grunde gehen, sondern dass es vielmehr 
Stellen giebt, in denen sie sich der Loslösung des Ganglions gegenüber 
völlig refractär verhalten und selbst längere Zeit nach der Operation ein 
normales Aussehen besitzen. Solche Stellen sind: 1. der untere Pol des 
Ganglions, wobei zu bemerken ist, dass sich das Gebiet der normalen Zellen 
mitunter recht weit nach oben erstrecken kann, wenngleich der grössere 
Theil gewöhnlich stets pathologisch verändert ist; 2. die Randpartien des 
Ganglions, die bis zum oberen Pole von mehr oder weniger vereinzelt da- 
stehenden völlig gesunden Zellen durchsetzt sind. Schliesslich trifft man 
auch hin und wieder im Inneren des Ganglions Zellen von normalem Aus- 
sehen an. Bei Ganglien, die einen ausgesprochen zweitheiligen Charakter 
haben, verfallen hauptsächlich die Zellen des oberen Theiles dem Verfall, 
während diejenigen des unteren Theiles nur in geringer Anzahl patho- 
logischen Veränderungen unterliegen. 

Was ist nun der Grund dafür, dass nach Lösung des Ganglions von 
seinen capitalen und seitlichen Ausläufern nur ein Theil, wenn auch ge- 
wöhnlich die grosse Mehrzahl der Zellen zu Grunde geht? Zunächst wird 
man daran denken, die Vernichtung der Ganglienzellen auf eine ungenügende 
Ernährung des Ganglions zurückzuführen, und in der That drängt sich in 
Anbetracht des ausserordentlich einschneidenden Eingriffes, durch den 
mehrere das Ganglion versorgende Blutgefässe vernichtet werden, vor allem 
dieser Gedanke auf. Derselbe erscheint um so plausibler, als die zurück- 
bleibenden normalen Zellen zu allen Zeiten sich als vollständig intact er- 
weisen und selbst vorübergehend keine Veränderungen erfahren. Indess, 
wenn auch ein Einfluss in Folge Mangels an Ernährung auf die Zellen des 
Ganglions nach der genannten Operation nicht zu verkennen ist, so muss 
bei näherer Ueberlegung die Auffassung, dass das zu Grundegehen der 
Zellen nur von diesem allein abhängt, als unrichtig zurückgewiesen werden. 
Denn es wäre nicht zu verstehen, warum immer die unteren, insbesondere 
aber die am Rande des Ganglions befindlichen Zellen intact bleiben. Diese 
Erscheinung etwa auf die Anordnung von unten aulsteigender Gefässe zu 
beziehen, wäre zu gesucht. Aber selbst diese höchst unwahrscheinliche 
Annahme als möglich vorausgesetzt, so würde sie doch nicht im Stande 
sein, die Persistenz der im Inneren des Ganglions hin und wieder vor- 
kommenden normalen Zellen zu erklären. Auch die Intactheit des inter- 
cellulären Zwischengewebes wäre mit der Annahme, dass durch das Ab- 
schneiden der Blutzufuhr die Ganglienzellen einer Necrobiose unterliegen, 
nicht gut vereinbar. 

Müssen wir daher annehmen, dass selbst nach Loslösung des Ganglions 
von seinen capitalen und seitlichen Ausläufern die Blutversorgung noch 


ÜBER DAS VERHALTEN DES GANGLION CERVICALE. 453 


eine relativ gute, vielleicht sogar genügende ist, so bleibt die Frage nach 
dem Zerfall der Ganglienzellen nach wie vor offen. Dass dieser Zerfall etwa 
auf rein mechanische Weise zu Stande kommen könnte, indem bei der 
Operation das Ganglion direct verletzt worden wäre, ist ebenfalls nicht zu- 
treffend. Denn abgesehen davon, dass bei der Operation stets die Berührung 
des Ganglions auf’s peinlichste vermieden worden ist, müsste ja eine solche 
unbewusste vorgekommene Verletzung in erster Linie die Randpartien ge- 
troffen haben, die gerade die relativ intactesten Theile des Ganglions dar- 
stellen. Viel eher verdient schon die Annahme Beachtung, dass nach der 
Operation diejenigen Zellen zu Grunde gehen, deren Axencylinder möglichst 
nahe ihrem Austritt durchschnitten sind. Denn wir wissen durch Forel, 
dass die Widerstandsfähigkeit einer Zelle um so mehr zunimmt, je weiter 
die Schnittfläche des Axencylinders von der Zelle entfernt liegt. Immerhin 
bereitet auch dieser Erklärung das Erhaltensein der Zellen in den Rand- 
partien gewisse Schwierigkeiten. Wir müssen daher nothgedrungen zu der 
Annahme unsere Zuflucht nehmen, den Zerfall und die Persistenz der 
Ganglienzelle zum Theil von einer gewissen individuellen Veranlagung der 
letzteren abhängig zu machen, wenn auch die anderen Factoren, das Ab- 
schneiden der Blutzufuhr und vor Allem die grosse Nähe der Schnittfläche 
seitens des Axencylinders gegenüber der Zelle bei dem Zerfall derselben 
.eine grosse Rolle spielen dürften. Schliesslich bleibt auch noch die Mög- 
lichkeit offen, in den erhaltenen Ganglienzellen die Endstationen solcher 
Neurone zu erblicken, deren Axencylinder nicht nach oben oder nach der 
Seite, sondern vielmehr rückwärts durch den Sympathicus dahinziehen. 

Es ist schon oben hervorgehoben worden, warum mit der Durch- 
schneidung der capitalen Ausläufer gewöhnlich auch diejenige aller Seiten- 
äste verbunden wurde Zum Vergleich wurde indess in zwei Fällen die 
Durchschneidung der capitalen Auläufer allein vorgenommen. Die Ganglien 
gehören einem Kaninchen und einem Oynocephalus an und kamen 5 Wochen 
nach der Operation zur Beobachtung. Die Veränderungen, welche diese 
beiden Ganglien bieten, sind im Verhältniss zu denjengen, welche wir eben 
kennen gelernt haben, nur wenig auffallend und beschränken sich auf den 
oberen Theil des Ganglions. In beiden Fällen erscheinen die oberen Theile 
verschmälert, welche Verschmälerung namentlich im Affenganglion auffällt. 
Das Zwischengewebe erscheint in den oberen Theilen des Ganglions dichter 
und von zahlreicheren Kernen durchsetzt, als in der unteren Hälfte, wo es 
sich vollständig normal verhält. Die Zellen in der oberen Hälfte haben 
zum grossen Theil ein normales Aussehen, erscheinen aher durchsehnittlich 
alle etwas kleiner, als in der unteren. Trotzdem die Ganglien in der 
oberen Hälfte verschmälert sind, ist der Reichthum an Zellen hier nicht 
so gross, als in der unteren, bezw. in den Ganglien der anderen Seite. Man 


454 GEORG LEVINSOHN: 


sieht in beiden Ganglien Strecken, allerdings nur von geringer Ausdehnung, 
die ganz zellfrei sind. Ferner erblickt man in den Ganglien, besonders 
in ihrer oberen Hälfte, relativ etwas häufiger pathologisch veränderte Zellen, 
als man sie sonst in gesunden Ganglien auzutreffen pflegt. Neben vielen 
sich auflösenden Zellen, wie sie im normalen Ganglion vereinzelt vorkommen, 
finden sich kleine unregelmässige Protoplasmaklümpchen, die intensiv blau, 
zum Theil grünlich gefärbt, endweder kernlos sind, oder einen verkleinerten 
Kern erkennen lassen und ganz den Eindruck von Ueberresten zu Grunde 
gegangener Ganglienzellen hervorrufen. 

Wir sehen also nach der Durchschneidung der capitalen Ausläufer im 
grossen Ganzen Veränderungen im Ganglion auftreten, wie sie nach Los- 
lösung der capitalen Ausläufer inclusive der Seitenäste angetroffen wurden, 
nur dass sie in letzterem Falle wesentlich intensiver ausgesprochen sind. 
Berücksichtigt man den Umstand, dass bei der Durchtrennung sämmtlicher 
seitlicher Verbindungszweige noch eine ganze Anzahl centrifugaler Nerven 
von ihren Ganglienzellen getrennt werden, so ist von vornherein verständ- 
lich, dass der Zellschwund in einem solchen Falle ausgedehnter sein wird, 
als wenn die letzteren Neurone unversehrt geblieben sind. In Anbetracht 
aber, dass die Mehrzahl aller postcellulären Fasern durch die capitalen Aus- 
läufer ihren Weg nimmt, wird die relativ geringe Zahl von zu Grunde 
gegangenen Zellen nicht genügend erklärt. 

Man muss ferner daran denken, dass bei der alleinigen Durchtrennung 
der capitalen Ausläufer das Ganglion eine wesentlich bessere Blutzufuhr 
erhält, und dass somit dieser Factor zur Integrität des Ganglions nicht 
unwesentlich beiträgt. Doch dürfte auch letzterer Umstand nicht ganz im 
Stande sein, den geringen Ausfall von Ganglienzellen aufzuhellen. Denn 
oben war gezeigt worden, dass für den Verlust von sympathischen Ganglien- 
zellen im obersten sympathischen Ganglion die Durchtrennung der Blut- 
gefässe nicht von ausschlaggebender Bedeutung sein kann. Andererseits 
trifft das für das Zugrundegehen von Ganglienzellen wichtige Moment, die 
Nähe der Schnittfläche Seitens der Axencylinder gegenüber den Ganglien- 
zellen für beide Arten der Operation in gleicher Weise zu. 

Vielleicht liegt das Verhältniss ähnlich, hier aber umgekehrt, wie bei der 
Durchschneidung der präcellulären Fasern. Langley ! stellte nämlich durch 
Versuche fest, dass, wenn er den Sympathicus nur theilweise durchschnitt, 
die zurückbleibenden präcellulären Fasern zum grossen Theil in Beziehung zu 
denjenigen Ganglienzellen treten, welche in Folge der Durchschneidung zu- 
nächst ausser Function gesetzt waren. Dieser Versuch giebt allerdings nur 
Aufschluss über das physiologische Verhalten des Ganglions nach Durch- 


! Langley, Regeneration in Sympathetie nerves. Journ. of physiology. 1900. 


ÜBER DAS VERHALTEN DES GANGLION OGERVICALE. 455 


schneidung von präcellulären Fasern, ohne die anatomischen Veränderungen 
desselben zu berücksichtigen. Immerhin lässt die relativ geringe Verlust- 
zitter an Ganglienzellen nach der Durchschneidung der capitalen Ausläufer 
in Analogie des Langley’schen Versuches vermuthen, dass in Folge der 
theilweisen Durchschneidung der postcellu- 
lären Fasern die zugehörigen Ganglienzellen 
nicht sämmtlich zu Grunde gehen, sondern 
zum Theil, etwa auf dem Wege von Anasto- 
mosen, unter den Einfluss der noch restiren- 
den centrifugalen Fasern geraten und in 
Folge dessen erhalten bleiben. Ob diese 
Vermuthung zutrifft, mag dahingestellt 
bleiben. Jedenfalls bleibt die Thatsache 
bestehen, dass, wenn die Durchschneidung 
auf die capitalen Ausläufer allein beschränkt 
wird, nur ein kleiner Procentsatz an Zellen zu 
Grunde geht, während die restirenden Zellen 
im oberen Theile des Ganglions sich etwas 
zu verkleinern scheinen. 

Ist die Loslösung der capitalen und 
seitlichen Ausläufer von sehr schweren 
Folgen für das Ganglion begleitet, so hat 
umgekehrt die Durchschneidung des Sym- 
pathicus verhältnissmässig nur geringe Ver- 
änderungen im Gefolge. Diese betreffen 
hauptsächlich das Zwischengewebe, während 
die Ganglienzellen selbst intact bleiben oder 
nur in geringer Weise afficirt werden. Das 
Ergebniss der an den drei Kaninchen, drei 
Affen und zwei Hunden vorgenommenen 
diesbezüglichen Versuche ist folgendes: Be 

Bei allen Thieren zeigte sich das der Fig. 16. 

Resection entsprechende Ganglion gegenüber a 
dem normalen leicht verschmälert. Mit der Resection und Unterbindung 
dieser Verschmälerung verband sich nach des Sympathieus (Sfache Vergr.). 
einiger Zeit eine Verdichtung des Zwischengewebes und eine Vermehrung 
seiner Kerne. Doch zeigten sich die letzteren Veränderungen nur in 
den unteren Partien des Ganglions, während der obere Theil ständig nor- 
mal blieb. Bei dem ersten Kaninchen (4 Tage nach der Resection), einem 
Affen (16 Tage) und einem Hunde (3 Wochen) hatte das Bindegewebe 
durchweg ein normales Aussehen. Die Ganglienzellen waren, wenn wir 


456 GEORG LEVINSOHN: 


von dem Ganglion des letzteren Affen absehen, in allen Fällen normal. 
Nur in der unteren Hälfte standen sie gewöhnlich etwas dichter, es schien 
ferner, als ob hier vielleicht mehr sklerotisch veränderte Zellen vorhanden 
waren, als in dem entsprechenden normalen Ganglion der anderen Seite. 
Auch eine allerdings nur unbedeutende Verkleinerung der Ganglienzellen 
in den Unterpartien gegenüber denjenigen des oberen Theiles liess sich bei 
den Ganglien, die länger als 3 Wochen nach der Resection zur Unter- 
suchung kamen, nachweisen. 

Auffallend war nun der Befund bei dem Ganglion des Affen, der die 
Resection 5 Monate überlebt hatte (Fig. 16). Hier machte sich nämlich 
zwischen den Zellen des oberen äusseren Drittels und den übrigen Partien 
des Ganglions ein sehr erheblicher Unterschied in der Zellgrösse bemerkbar. 
Während die letzteren Zellen alle etwas ver- 
kleinert erschienen, gewöhnlich 12 bis 21 u 
maassen und die Länge von 25 u nicht über- 
schritten, waren sie im oberen Drittel durchweg 
vergrössert (Fig. 17). Ihre Länge betrug hier 
gewöhnlich 37 bis 41 u, einige erreichten sogar 
die Grösse bis zu 54 u, nur wenige dagegen 
waren kleiner bis zu 21 u. Die Zellen des oberen 
Drittels übertrafen demnach diejenigen in den 
unteren Partien um das Doppelte an Grösse. 
Ferner war der Kernreichthum in den unteren 
a zwei Dritteln des Zwischengewebes nicht un- 

Fir. 17. wesentlich vermehrt. Das obere Drittel erhob 
Vergrösserte Ganglienzellen sich in Folge dessen von seiner Umgebung scharf 
Fig. ae ab und war auch noch dadurch ausgezeichnet, 

Sympathicusresection dass ein kräftiger aus marklosen Nervenfasern 

OB ): (kenntlich an den gleichmässig angeordneten 
zarten Fibrillen und langgestreckten parallel angeordneten blauen Kernen) 
in dasselbe eintrat. 

Schon in meiner Arbeit über den Einfluss des Halssympathicus auf 
das Auge! war ich auf diesen Befund kurz eingegangen. Er diente gewisser- 
maassen als anatomische Stütze für den Nachweis, dass das Ganglion 
cervicale supremum so lange einen eigenen Tonus besitzt, als es unter dem 
Einfluss von Cerebrospinalnerven steht. Physiologisch wurde dieser Nach- 
weis hauptsächlich dadurch geführt, dass nach der Durchschneidung des 
Sympathicus einmal die Ausfallserscheinungen zunehmen, sobald zu dieser 
noch die Ausräumung des Ganglions hinzukommt, und dass ferner schon 


ı A.2a.0. 


ÜBER DAS VERHALTEN DES GANGLION CERVICALE. 457 


kurze Zeit nach der Resection der Sympathicus sowohl als der untere Theil 
des Ganglions für den elektrischen Strom unerregbar sind, während eine solche 
Reizung des oberen Theiles die prompten Symptome der Sympathicusreizung 
herbeiführt. Im Einklang hiermit steht das anatomische Verhalten des letzten 
Falles. Denn es zeigt, dass die Zellen, soweit sie unter dem Einflusse der 
von oben einmündenden Nerven also höchst wahrscheinlich eines zuleitenden 
Gehirn- bezw. Spinalnerven stehen, auffallend vergrössert erscheinen, gegen- 
über denjenigen Zellen, die dem Einflusse des durchschnittenen Sympathicus- 
stammes unterliegen und verkleinert sind. Wenn die letzteren Zellen auch 
nicht direct als atrophische angesprochen werden können, so muss mit der 
Verkleinerung der Zellen immerhin gerechnet werden, und so ergiebt sich 
an diesem Beispiel, dass für die Zellen der sympathischen Endneurone eine 
mehrmonatliche Unterbrechung der übergeordneten Neurone nicht ohne 
Einfluss ist. Mit dieser Auffassung stimmt auch der Befund der meisten 
anderen nach Sympathicusresection untersuchten Ganglien überein; denn 
mit Ausnahme eines Kaninchen-, eines Affen- und eines Hundeganglion, 
welche kürzere Zeit (bis zu 3 Wochen) nach der Sympathieusdurchschneidung 
untersucht wurden, lassen die anderen vier Ganglien eine, wenn auch nicht 
direct auffallende, so doch immerhin sichtbare Verkleinerung ihrer Zellen in 
der unteren Hälfte erkennen.! Eine Vergrösserung der Zellen im oberen Theile 
des Ganglions, wie bei dem letzteren Affen, ist dagegen bei ihnen nicht er- 
sichtlich. Dementsprechend kann die von mir früher geäusserte Vermuthung, 
dass gegenüber den vom cerebrospinalen Nervensystem abgeschnittenen, sich 
verkleinernden sympathischen Ganglienzellen eine Hypertrophie der anderen, 
dem Einflusse des ersteren unterliegenden Zellen stattfindet, nicht ver- 
allgemeinert werden. Ob die grössere Länge der Zeit, die nach der Sym- 
pathicusresection bei dem letzten Ganglion bis zur histologischen Untersuchung 
verstrichen ist, ob andere nicht gekannte und berücksichtigte Factoren für 
die Erklärung des Befundes in Frage kommen, mag dahingestellt bleiben. 

Neben der geringen Zellverkleinerung in der unteren Hälfte des 
Ganglions findet sich nach der Sympathicusresection noch eine leichte Ver- 
schimälerung des Ganglions in allen Fällen, eine Vermehrung der Kerne 
des Zwischengewebes und ein dichteres Zusammenstehen der Ganglienzellen 
in der unteren Hälfte bei den meisten Ganglien. Alle diese geringen Ver- 
änderungen des Ganglions lassen sich unschwer auf das Zugrundegehen von 
sympathischen Nervenfasern zurückführen, die Verschmälerung des Ganglions 


! Eine functionelle Beeinflussung der nach totaler Sympathicusdurchschneidung 
ausser Thätigkeit gesetzten Zellen durch die erhaltenen oberen präcellulären Fasern in 
dem Sinne, wie dies Langley nach der theilweisen Sympathicusresection für das 
Ganglion festgestellt hat, findet also in diesem Falle nicht statt. 

ZI. a. ©. 


458 (GEORG LEVINSOHN: 


und das nähere Zusammenrücken der Zellen als directe Folge des Ausfalles, 
der grössere Kernreichthum, bedingt durch Reizung Seitens der absterben- 
den Fasern. Ein Zugrundegehen von Ganglienzellen findet nicht oder nur 
in untergeordnetem Maasse statt, da die Anzahl von sklerotisch veränderten 
Zellen gegenüber solchen normalerweise im Ganglion vorkommenden etwas 
vergrössert zu sein schien. | 

Eine kurze Zusammenfassung der in dieser Arbeit gemachten Aus- 
führungen ergiebt daher folgendes Resultat: Nach Loslösung des Ganglions 
von seinen capitalen und seitlichen Ausläufern findet in demselben ein auf- 
fallender und schneller Zerfall von Ganglienzellen statt, der gewöhnlich 
schon nach kurzer Zeit zum vollständigen Schwinden derselben führt. Doch 
bleiben die Zellen in dem unteren und viele auch in den Randpartien des 
Ganglions vollständig intact. Werden die capitalen Ausläufer durchschnitten, 
die seitlichen Verbindungszweige dagegen stehen gelassen, so sind die Ver- 
änderungen zwar ähnliche, indess der Zellschwund wesentlich geringfügiger, 
als in ersterem Falle. Die Sympathicusdurchschneidung hat auf das Zu- 
grundegehen von Ganglienzellen gar keinen oder nur einen geringen Ein- 
fuss. Die Folgen derselben machen sich in einer Verschmälerung des 
Ganglions, in einer geringen Verkleinerung der in der unteren Hälfte ge- 
legenen Zellen, vielleicht auch, namentlich wenn die Durchschneidung schon 
lange bestanden hat, in einer Vergrösserung der Zellen des oberen Ganglion- 
theiles bemerkbar. 

Die Zellveränderungen, die sich nach der Durchschneidung der capitalen 
Ausläufer einstellen, sind zum grossen Theile identisch mit denjenigen, die 
Bruckner nach diesem Eingriff beschrieben hat.! Desgleichen ist auch 
der auffallende Zellschwund in der oberen Hälfte des Ganglions schon von 
Roebroeck”? nach Durchschneidung der capitalen Ausläufer beobachtet 
worden. Steht also unser Befund gewissermaassen in der Mitte zwischen 
den Feststellungen von Bruckner und Roebroeck, so weicht er von 
letzteren vorzugsweise insofern ab, als diese nach Angabe der Autoren schon 
nach Durchschneidung der capitalen Ausläufer gewonnen sind, während für 
das Zustandekommen der in Frage kummenden auffallenden Veränderungen 
nach unseren Mittheilungen ausser der Durchschneidung der capitalen Aus- 
läufer noch diejenige der seitlichen Verbindungszweige nothwendig erscheint. 

Auch die geringen Veränderungen, die sich nach der Resection des 
Sympathicus einstellen, decken sich im Wesentlichen mit den Befunden 
von Roebroeck und Bruckner nach diesem Eingriff. Immerhin dürfte 
es kaum gestattet sein, aus unseren Untersuchungen derartig weitgehende 
Schlüsse zu ziehen, wie sie Roebroeck aus den seinen gezogen hat. Wenn 


AN a0. her (0% 


ÜBER DAS VERHALTEN DES GANGLION CERVICALE. 459 


auch die Möglichkeit zugegeben werden muss, dass das Ganglion die 
Sammelstelle verschiedener Neurone bildet, deren Axencylinder theils durch 
die capitalen Ausläufer, theils durch die Carotisfäden, theils in den Sympa- 
thicusstamm hineinziehen, so sprechen unsere Untersuchungen direct dagegen, 
die Localisirung dieser einzelnen Nervenendzellen auf ganz bestimmte 
Distriete des Ganglions zu beschränken. Auch können solche Neurone, 
deren Axencylinder in den Sympathicus hineinziehen, wenn überhaupt, so 
doch nur in sehr geringer Anzahl im Ganglion cervicale supremum vor- 
kommen. Der Umstand hingegen, dass nach Loslösung des Ganglions von 
den capitalen, sowie allen seitlichen Verbindungsfäden gewöhnlich die grosse 
Mehrzahl aller Ganglienzellen alterirt wird, bezw. verschwindet, während 
nach der Sympathicusdurchschneidung gar keine oder wenige Zellen zu 
Grunde gehen, liefert das anatomische Substrat für die herrschende Auf- 
fassung, dass der Sympathicus im Ganglion cervicale supremum endigt, und 
nur indirect ein von ihm ausgehendes neues sympathisches Neuron beeinflusst. 
Hiermit steht auch die Beobachtung, dass längere Zeit nach der Sympathicus- 
durchschneidung eine Verkleinerung der unter der Herrschaft des Sympathi- 
cus stehenden Zellen stattfindet, in gutem Einklang. Es ist aber auch höchst 
wahrscheinlich, dass von den obersten Spinal-, bezw. letzten Gehirnnerven 
eine Beeinflussung der Ganglienzellen und zwar der im oberen Theile des 
Ganglions gelegenen Nervenzellen stattfindet. Diese zuleitenden Spinal- bezw. 
Gehirnnerven müssen daher als Endausläufer eines Neurons betrachtet 
werden, welches dem vom Ganglion ausgehenden sympathischen Neuron 
übergeordnet ist; sie übernehmen also für einen kleineren Theil des Gang- 
lions dieselbe Rolle, welche für den grösseren Theil des letzteren dem Sym- 
pathicus zukommt. 

Herrn Geh.-Rath Fritsch spreche ich für das grosse Interesse, das 
er dieser Arbeit entgegengebracht hat, meinen ergebensten Dank aus. 


Verbrennungswärme und physiologischer Nutzwerth 
der Nährstoffe. 


IV. Abhandlung: Die Zusammensetzung und der Energiewerth 
des Fleischkothes. 


Von 


weil. Prof. Dr. Johannes Frentzel und Dr. Max Schreuer. 
(Mitgetheilt von Dr. Max Schreuer.) 


(Aus dem thierphysiologischen Institute der landwirtbschaftlichen Hochschule zu Berlin.) 


Eine exacte Bilanzberechnung des Stoffumsatzes bei ausschliesslicher 
Fleischkost hat in erster Linie zur Voraussetzung die Kenntniss von der 
Zusammensetzung des als Nahrung aufgenommenen Fleisches und der als 
Urin und Kot ausgeschiedenen Abfallstoffe. Was zunächst die Zusammen- 
setzung des Fleisches anbetrifit, so mussten die vorliegenden elementar- 
analytischen Daten einer Reihe von Autoren Bedenken erregen, seitdem 
Pflüger und Dormeyer! im Jahre 1897 auf die grosse Schwierigkeit 
einer völligen Entfettung des Fleisches hingewiesen haben. Dormeyer 
konnte aus sogen. entfetteten Fleischpulver durch Monate lang fortgesetztes 
Extrahiren noch ®?/, und mehr Procente Extract gewinnen. Nachdem man 
sich nun dieser Fehlerquelle bewusst und bemüht war, sie nach Möglichkeit 
zu vermeiden, zeigen die neuesten Untersuchungen über die elementare 
Zusammensetzung des Ochsenfleisches von Köhler? und von uns? so 
präcis die Grenzen, bis zu denen eine Uebereinstimmung möglich ist, dass 
man diese Frage als erledigt nach dem heutigen Stande unseres Wissens 


! Dormeyer, Pfüger’s Archiw. Bd. LXV. 
® Köhler, Hoppe-Seyler’s Zeitschrift für physiol. Chemie. Bd. XXXI. 
® Frentzel und Schreuer, Dies Archiv. 1902. Physiol. Abthlg. S. 311. 


JOHANNES FRENTZEL U. MAX SCHREUER: VERBRENNUNGSWÄRMEU.S.w. 461 


betrachten kann. Auch die zeitlich vor der Dormeyer’schen Veröffent- 
lichung liegende Arbeit Argutinsky’s!, welcher nach den besten Methoden 
Ochsenfleisch elementaranalytisch untersuchte, bringt Daten, die mit den 
oben erwähnten gut übereinstimmen: 

Es enthalten 100e”” fett- und aschefreies Ochsenfleisch nach 


C H N sro = 

Procent Procent Procent Procent ; 

Aroutinsky . .:. . .„ (1894) 52.35 7.50 16.15 24-22 3.24 
Kohle 22.°2 2... ..(1900052.547 7.14% 16-67 723.64: 3.15 
Frentzel und Schreuer (1902) 52.26 7.37 16.22 24.15 3-22 
3.20 


Köhler benutzte im Gegensatz zu den anderen Untersuchern einzelne 
Muskelgruppen zur Analyse. Nun ist daran zu erinnern, dass der Gehalt 
des Fleisches sowohl an leimgebenden Substanzen wie an Extractivstoffen 
in den Muskeln der verschiedenen Körpertheile nicht constant ist. Wir 
haben selbst? die erheblichen Schwankungen im Extractgehalt dargethan 
und gezeigt, dass nach ihrer Ausschaltung, d.h. wenn man extractfreies 
Fleisch untersuchte, die Verbrennungswerthe sehr viel übereinstimmender 
werden; das Gleiche dürfte für die elementare Zusammensetzung gelten. 
Es sei ferner darauf hingewiesen, dass zwar in neuerer Zeit der wechselnde 
Glykogengehalt des Fleisches berücksichtigt worden ist, dass aber im All- 
gemeinen und so auch von uns nicht lebensfrisches, sondern bereits einige 
Zeit lang aufbewahrtes Fleisch zur Untersuchung verwendet wurde. In 
diesem aber ist das Glykogen als solches geschwunden und an seine Stelle 
sind im wesentlichen organische Säuren getreten, deren Menge in demselben 
Verhältniss wie der Glykogengehalt im frischen Fleische schwanken kann. 

Auch in der Erkenntniss der elementaren Zusamınensetzung des 
Fleischharnes sind wir in neuester Zeit weiter gekommen. Die ersten 
Untersuchungen stammen von Carl v. Voit. Abgesehen davon, dass die 
damalige Methodik eine unzuverlässige war, konnte Pflüger gegen Voit 
den berechtigten Einwand erheben, dass die untersuchten Objecte keinen 
Fleischharn sensu strietiore darstellten: die Versuchsthiere hätten nicht 
genügende Mengen Fleisch als Futter erhalten und zur Bestreitung ihres 
Bedarfes stickstofffreie Bestandtheile der Nahrung bezw. ihres Körpers 
angegriffen. Alsdann hat Franz Meyer? diese Fehlerquelle ausgeschaltet 
und einen Hund mit ausreichenden Mengen Pferdefleisch gefüttert. Dass 


! Argutinsky, Pflüger’s Archw. Bd.LV. S. 212. 
2 Frentzel und Schreuer, Dies Archiv. 1902. Physiol. Abthlg. S. 285 u. 308. 
® Franz Meyer, Pflüger’s Archiv. Bd. LV. S. 347. 


462 JOHANNES FRENTZEL UND MAX SCHREUER: 


auch seine Zahlen nicht einwandsfrei sind, haben wir an anderer Stelle ! 
dargethan. Dagegen glauben wir, dass sich gegen die von uns gewählte 
Methodik der Fleischharnanalyse kaum ein Einwand erheben lassen kann. 
An jedem Versuchstage wurde 1 °°® des 24 stündigen Harnes auf Bleichromat 
gebracht, im Vacuumexsiccator über Schwefelsaure bei Zimmertemperatur 
getrocknet und verbrannt. 

Die Elementaranalyse ergab für 1008” aschefreien Trockenharn: 
23.05 Procent C, 6.53 Procent H, 38-88 Procent N, 31.54 Procent 0. 

Ein späterer Parallelversuch ergab: 


22-93 Procent C, 6-48 Procent H, 40.69 Procent N, 29.90 Procent 0. 


Es ist beim Vergleich dieser Ergebnisse zu berücksichtigen, dass die 
beiden Versuche zwar an demselben Thier angestellt wurden, dass aber bei 
dem zweiten Versuche eine grössere Menge Fleischsubstanz zur Verfütterung 
kam. Der tägliche Stickstoffansatz bei Versuch I war 2.738 N, während 
er bei Versuch II etwa doppelt so gross, nämlich 5-51 = war. Es ist 
aber klar, dass beim Ansatz wohl nicht immer die ganze Menge der Extractiv- 
stoffe zur Verwendung kommt und dass auch kleine Unterschiede in der 
Zusammensetzung des angesetzten gegenüber dem verfütterten Fleische vor- 
kommen können. 


Die Aufgabe dieser Arbeit war zunächst die, auch in die Zusammen- 
setzung des Fleischkothes in derselben Weise Einblick zu erhalten, wie 
es bereits beim Fleisch und beim Fleischharn erreicht ist. | 

Wir wissen, dass der Koth, welcher nach ausschliesslicher Fütterung 
eines Hundes mit Fleisch entleert wird, grosse Aehnlichkeit mit dem 
Hungerkoth hat und dass derselbe ebenso wie der Hungerkoth — voraus- 
gesetzt, dass die Menge des verfütterten Fleisches die Grenze der Resorptions- 
möglichkeit nicht überschreitet — im wesentlichen als ein Stoffwechsel- 
product anzusehen ist. Diese jetzt allgemein herrschende Lehre wurde 
gegenüber der älteren, dass der Fleischkoth durch die nicht resorbirten 
Bestandtheile des Fleisches gebildet werde, schon vor längerer Zeit von 
Bischof, Voit, Müller, Rieder und Anderen festgelegt. 

Begründet wurde diese Anschauung in erster Linie damit, dass die 
elementare Zusammensetzung des aschefreien Fleischkothes gänzlich abweiche 
von der des aschefreien Fleisches. Der N-Gehalt des Fleisches ist, auf 
aschefreie Trockensubstanz bezogen, wesentlich grösser als der des Fleisch- 
kothes. 


‘ Frentzel und Schreuer, Dies Archiv. 1902. Physiol. Abthlg. 8. 314. 


VERBRENNUNGSWÄRME UND PHYSIOL. NUTZWERTH DER NÄHRSTOFFE. 463 


In unserer schon mehrfach erwähnten Arbeit „Ueber den Nutzwerth 
des Fleisches“ haben sich gerade bei der Untersuchung des Fleischkothes 
in manchen Punkten nennenswerthe Differenzen ergeben, so dass wir schon 
beim Abschluss dieser Arbeit eine nochmalige gründliche Bearbeitung dieser 
Specialfrage in’s Auge fassten, um mit Hülfe eines neuen Materiales diese 
Differenzen zu klären. Herr Prof. Frentzel hatte bereits zu diesem Zwecke 
das Material gesammelt und einige Analysen gemacht, als ein früher Tod 
seiner Arbeit ein Ziel steckte. Hr. Prof. Zuntz forderte mich alsdann auf, 
die begonnene Arbeit aufzunehmen und zu Ende zu führen. Für die 
Förderung, die er durch seinen Rath dieser Arbeit angedeihen liess, sei es 
mir gestattet, ihm auch an dieser Stelle meinen herzlichsten Dank auszu- 
sprechen. 


Das Versuchsmaterial. 


Das Material wurde gewonnen dadurch, dass drei Hunde mit Fleisch- 
mengen gefüttert wurden, durch die sie ihren Bedarf zu decken im Stande 
waren. Die Hunde zeigten beim Fressen ein verschiedenes Verhalten. 

Die Hündin A (Gewicht etwa 12.3) frass während einer Woche ihre 
tägliche Ration von 11002" mageren Rindfleisches in drei Portionen mit 
grosser Regelmässigkeit und setzte in Folge dessen einen Koth ab, der als 
Normalfleischkoth betrachtet werden kann. 

Die Hündin 2 (Gewicht etwa 17.0*s) war castrirt, ihr Stoffverbrauch 
war in Folge dessen — nach den an diesem Thiere angestellten Versuchen 
von Loewy und Richter! — etwa gegen 12 Procent vermindert gefunden 
worden. Diese Hündin frass 6 Tage lang zwar ihre für sie ausreichende, 
tägliche Ration von 1200 8” Pferdefleisch, machte aber hierbei oft grössere 
Pausen und zeigte eine herabgesetzte Fressluf. Man merkte, dass sie an 
der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit war. 

Im Gegensatz zu ihr war der Hund € (Gewicht etwa 13-5%) ein 
leidenschaftlicher Fleischfresser. Er frass weit mehr Pferdefleisch (900 bis 
1500 8” pro die) als seinem Bedarf entsprach und zeigte in Folge dessen 
schon nach 5Stägiger Fütterung eine Gewichtszunahme von über 2®8. Es 
wird später gezeigt werden, dass sich der Koth dieses Hundes von dem 
Normalfleischkoth wesentlich unterscheidet. 

Während die Hunde 3 und C sich in der Versuchszeit völlig ruhig 
verhielten, leistete der Hund A täglich einmal während der letzten 3 Tage 
des Versuches eine kurze, etwa 1/, stündige, nicht sehr anstrengende Arbeit 
auf der Tretbahn, worauf natürlich bei Berechnung seines Verbrauches 
Rücksicht genommen wurde. 


! Loewy und Richter, Dies Archiv. 1899. Physiol. Abthlg. Suppl. 8. 174. 


464 JOHANNES FRENTZEL UND MAx SCHREUER: 


Der Koth wurde bei allen drei Thieren mit Kieselsäure abgegrenzt, und 
alles, was eventuell noch mit dem Abgrenzungsmaterial vermischt sein 
konnte, auf’s Sorgsamste entfernt. Der so gewonnene Fleischkoth wurde 
bei 50° im Vacuumtrockenapparate getrocknet, gepulvert und in gut- 
schliessenden Wägegläschen verwahrt. 


Die Zusammensetzung des Fleischkothes. 
Die Analysen des Fleischtrockenkothes ergaben: 


N Fett ! Asche 
bei Hund A: S:.59 Procent 13-18 Procent 19.24 Procent 
> „BE OrSDe loan 2 22.09 „ 
= „1, 0:5410-56, 3, 10-12 2, 14-14 „ 


Während die N-Zahlen des Kothes 4 und B annähernd gleich sind, 
ist die Stickstoffzahl des Kothes C wesentlich höher. Wie vorher erwähnt, 
war dieser Befund vorauszusehen und ist auf Rechnung des nicht zur 
Resorption gelangten Fleisches zu setzen. Mit dieser Annahme stimmt 
auch der niedrige Asche- und Fettgehalt des Kothes C’ überein. 

Um annähernd zu bestimmen, wie gross dieser der Resorption ent- 
gangene Fleischrest x ist, muss folgende kleine Rechnung ausgeführt werden. 
Der Koth C' besteht aus einem grösseren Theil wirklichen Fleischkothes 
(etwa von der Zusammensetzung des Normalfleischkothes A mit dem 
N-Gehalt von 8-6 Procent) und einem kleineren Theil nicht resorbirten 
Fleisches (mit dem N-Gehalt von 15-4 Procent). Die N-Zahl des Kothes C 
10.56 wird also gebildet von dem Fleischrest x (mit dem N-Gehalt von 
15-4 Procent) und dem wirklichen Fleischkoth 100 — x (mit dem N-Gehalt 
von 8.6 Procent). 


Es ist also: 15.4 
x = 28.8. 


Es enthält nach dieser Rechnung der Koth C 28.8 Theile nicht resor- 
birten Fleisches und 71-2 Theile eigentlichen Fleischkothes. Dass diese 
Zahlen der Wahrheit sehr nahekommen, geht aus dem Asche- und Fett- 
gehalt des Kothes C’ hervor. Es ist auf rs dieser Zahlen zu berechnen: 


Aschegeh. d. Koth.C=71:2- Zr + 28.8. nn ° (Aschegeh. d. Trockenfleisches) 


= 13:70 + 1:44 = 15-14 Procent; 
gefunden wurde 14.14 ,„ 
ı3-1s (das Fett des Fleischrestes darf als mini- 
Sees EN lt 100 mal vernachlässigt werden) 
— 9.38 Procent; gefunden wurde 10.12 Procent. 


! Nach mehrtägiger Extraction im Soxhlet’schen Apparat wurde der Koth mit 
salzsaurem Alkohol behandelt und abermals mehrere Tage extrahirt. 


VERBRENNUNGSWÄRME UND PHYSIOL. NUTZWERTH DER NÄHRSTOFFE. 465 


Da die durch Rechnung ermittelten Zahlen mit den gefundenen gute 
Uebereinstimmung zeigen, ist der Rückschluss gestattet, dass der Fleisch- 
koth A in der That als „Normalfleischkoth“ anzusehen ist. Diese 
Bezeichnung schliesst sich an die Normirung des Begriffes „Norınalkoth“ 
durch Praussnitz an. Unter Normalkoth versteht Praussnitz! einen 
Koth, der von der Nahrung so gut wie nichts enthält, also fast vollständig 
von den Darmsäften gebildet wird. Die Speisen, die einen solchen Koth 
liefern, müssen also sowohl ihrer Beschaffenheit, als auch ihrer Menge nach 
so gewählt sein, dass sie keine unverdaulichen oder unresorbirten Bestand- 
theile im Kothe zurücklassen. Die Nahrung kann hierbei sowohl eine 
animalische, wie eine vegetabilische sein. Praussnitz hat einer Reihe von 
Versuchspersonen verschiedenartig gemischte, völlig ausnutzbare Nahrungs- 
mittel gegeben und gefunden, dass bei einer derartigen Ernährung ein 
Koth gebildet wird, der eine sehr constante Zusammensetzung zeigt. Der 
Normalkoth hat einen nur innerhalb der engen Grenzen von 8 bis 9 Procent 
schwankenden Stickstoffgehalt. 

Der als Normalfleischkoth bezeichnete Koth A entspricht nun mit 
dem N-Gehalt von 8:59 Procent diesen Anforderungen. Auch der Koth 
des Hundes 5, der, wie aus dem Protokoll ersichtlich, nur mit Mühe seine 
tägliche Futterration zu fressen vermochte, kann vermöge seines Stickstoff- 
gehaltes von 8-85 Procent dieser Gruppe angereiht werden. 

Pflüger hat nun in seiner Arbeit „Ueber Fleisch- und Fettmästung“? 
die Ergebnisse seiner Untersuchungen über den Fleischkoth denen des 
Münchener Laboratoriums gegenübergestellt. Während der N-Gehalt des 
trockenen Fleichkothes von Voit zu 6-46 Procent, von Rubner zu 6-92 
Procent angegeben wird, fand Pflüger bei seinen an Arbeit gewöhnten 
Ziehhunden im Mittel seiner Versuche 13-0 Procent N in der Ruhe und 
13.6 Procent N bei Arbeit, also etwa die doppelte Menge. Mit Recht. 
erklärt Pflüger diese Differenzen aus den verschiedenen Lebensbedingungen 
der Versuchsthiere. Die Körpermusculatur seiner Hunde, auch die glatte 
Darmmusculatur dst an raschere Arbeit gewöhnt; deshalb haben diese Thiere 
— auch wenn sie während des Versuches ruhen — täglich mindestens eine 
Kothentleerung, während unthätige Thiere, wie wir dies auch bei unseren 
Versuchen beobachten konnten, bei reiner Fleischfütterung eine sehr ver- 
langsamte Darmthätigkeit haben. 

Hieran schliesst sich aber sofort die Frage: sind die Arbeitsthiere, mit 
denen Pflüger arbeitete, im Stande, ihre Fleischnahrung völlig auszunutzen ? 
Diese Frage muss auf Grund unserer analytischen Befunde verneint werden. 


! Praussnitz, Zeitschrift f. Biologie. Bd. XXXV. 8.335. 
? Pflüger, sein Archiv. Bd. LI. 8.1. 
Archiv f. A. u. Ph. 1903. Physiol. Abthlg. 30 


466 JOHANNES FRENTZEL UND MAX SCHREUER: 


Es ist von uns berechnet worden, dass der Koth des Hundes C mit dem 
Stiekstoffgehalt von 10-56 Procent nur zu etwa °/, aus wirklichem 
Fleischkoth, zu etwa !/, aus unresorbirtem Fleisch besteht. Dieser Hund C, 
der keine Arbeit verrichtete und an grosse Arbeit auch nicht gewöhnt war, 
hatte einen hohen N-Gehalt seines Kothes, weil er überreichliche Mengen 
Fleisch frass, die Pflüger’schen Hunde, weil sie die ihrem Bedarf genau 
entsprechenden Fleischmengen zu rasch, d. h. nicht völlig ausgenutzt 
aus dem Körper herausbeförderten. Jedenfalls lassen sich diese so hohen 
N-Zahlen, welche die etwa zwischen 8 bis 9 Procent liegende Stickstoffzahl 
des „Nor malfleischkothes“ so wesentlich übertreffen, am leichtesten 
durch der Resorption entgangene Fleischmengen erklären. 

Zudem befindet sich auch der niedrige Fettgehalt des Kothes der 
Pflüger’schen Hunde mit dieser Deutung im Einklang. 

Dadurch, dass das aufgenommene Fleisch zum Theil der Resorption 
entgeht, mischt sich Fleischsubstanz zu dem Fleischkoth. Der Koth ent- 
hält nunmehr procentualiter geringere Mengen von Verdauungssäften und 
da diese fast ausschliesslich das Aetherextract des Kothes bilden, auch 
geringere Mengen von Aetherextract. Deshalb muss bei schlechter Fleisch- 
resorption die Aetherextractmenge des Kothes vermindert sein. Dies ist 
nun bei den Pfiüger’schen Versuchen durchgehends der Fall. Pflüger 
fand als Fettgehalt des Fleischkothes seiner Ziehhunde im Mittel seiner 
Analysen etwa 5 Procent. 

Den Pflüger’schen Fettzahlen sind die Befunde dieser Arbeit und 
unserer früheren Veröffentlichungen gegenüberzustellen. Zunächst ist der 
Fettgehalt des „Normalfleischkothes“ A 13.18 Procent. Da der 
N-Gehalt des Kothes 3 (8-85 Procent) dafür spricht, dass auch der Koth 
B noch als Normalkoth anzusehen ist, so muss auch die Fettzahl des 
Kothes B (11-46 Procent) als ein dem Normalfleischkoth zukommender 
Werth angesprochen werden, obgleich das Thier sein Futter nur mit Mühe 
bewältigte und geringe Mengen desselben wohl der Resorption entgangen 
sind. Die entsprechenden Zahlen der Fleischfütterung$versuche aus der 
Arbeit „Ueber den Nutzwerth des Fleisches‘“ ‚ala. III) kommen derjenigen 
des Normalfleischkothes A sehr nahe: 

Der Versuch I ergab einen Fettgehalt des Trockenkothes von 13-27 
Procent (lufttr. 12.50 Procent). ! 

Der Versuch II ergab einen Fettgehalt des Trockenkothes von 12.97 
Procent (lufttr. 12.20 Procent). ? 


! Frentzel und Schreuer, Dies Archiw. 1902. Physiol. Abthle. 8. 301. 
2 Dieselben, Abenda. S. 305. 


VERBRENNUNGSWÄRME UND PHYSIOL. NUTZWERTH DER NÄHRSTOFFE. 467 


Mit unserer Auffassung, dass ein geringerer Fettgehalt im Kothe bedingt 
sei durch schlechtere Ausnutzung des Fleisches, stimmt auch der in unserer 
I. Abhandlung beschriebene Versuch, bei dem Fleisch und Fleischmehl ver- 
füttert wurde, überein. Es ist an anderer Stelle! begründet worden, dass 
in der That bei diesem Versuche das Futter nicht genügend ausgenutzt 
wurde. Der Fettgehalt des trockenen Kothes war analog den Pflüger’schen 
Befunden gering, nämlich 5-8 Procent (luftt. 5.36 Procent). ? 

Hiernach kann es als erwiesen gelten, dass der Fettgehalt des 
„Normalfleischkothes“, d. h. des Fleischkothes, bei dem das auf- 
genommene Fleisch so gut wie völlig vom Darm resorbirt wird, sich um 
die Werthe 11-5 und 13-3 Procent bewegt. 

Die analytischen Befunde Voit’s und Müller’s mit ihrem so auf- 
fallend hohen Fettgehalt von 20 und mehr Procenten haben bereits durch 
die Pflüger’sche Kritik ? ihre Würdigung gefunden. Es unterliegt keinem 
Zweifel, dass wir es bei fast allen diesen Versuchen, da die Versuchsthiere 
nicht genügende Fleischmengen erhielten, nicht mit wirklichem Fleischkoth 
zu thun haben, sondern mit einem Koth, der den Uebergang zwischen 
Fleischkoth und Hungerkoth bildet. Je unzureichender die Fleischnahrung 
ist, desto länger wird der Koth zurückgehalten, an dessen Bildung und 
Vermehrung fast nur die Darmsecrete Antheil haben. Diese sind es aber, 
die das Aetherextract liefern. So erklärt es sich, dass der Hungerkoth 
procentualiter die grössten Fettmengen aufzuweisen hat: in’einem Versuche 
von Franz Hofmann‘, der sein Versuchsthier 28 Tage hungern liess, 
ergab der Trockenkoth 47-92 Procent Aetherextract. 


Das sogen. „Kothfett“. 


Die elementare Zusammensetzung des aschefreien Kothes nach Fleisch- 
nahrung wurde zuerst von Bischof und Voit?® ermittelt; es wurden 
folgende Zahlen festgestellt: 

62-05 Procent ©, 9.24 Procent H, 9-26 Procent N, 19.45 Procent O. 

Hierbei ist zu bemerken, dass diese Zahlen sich auf organische Trocken- 
.substanz, also mit Einschluss des sogen. Kothfettes beziehen. Dieses 
Kothfett, d. h. der in Aether lösliche Theil der Fäces, setzt sich nun 
1. aus dem nicht resorbirten Theil des Nahrungsfettes und 2. aus Stoff- 
wechselprodueten, besonders Bestandtheilen der Galle zusammen. Beide 


! Frentzel und Schreuer, Dies Archiv. 1902. Physiol. Abthlg. 8.326. 

? Dieselben, Zbenda. 1901. Physiol. Abthlg. S. 293. 

® Pflüger, sein Archiw. Bd. LII. 8. 17 ff. 

* Cit. bei Friedr. Müller, Zeitschrift für Biologie. Bd. XX. 8. 334. 

5 Bischof und Voit, Gesstze der Ernährung des Fleischfressers. 1860. 
30” 


468 JOHANNES FRENTZEL UND MAx SCHREUER: 


Antheile von einander zu trennen, ist bisher noch nicht gelungen; doch 
beträgt das nicht resorbirte Nahrungsfett nur einen minimalen Theil des 
Aetherextractes, so lange nicht übermässig grosse Mengen von Fett auf- 
genommen werden. Der Hauptsache nach werden also Cholesterin, Lecithin, 
Cholalsäure, Gallenfette, flüchtige Fettsäuren, Scatol und Indol in das 
Aetherextract übergehen. Die Gesammtmenge dieser Substanzen ist nun 
eine sehr wechselnde Wir besitzen aus dem Laboratorium Voit’s und 
Pflüger’s Zahlen, die dieses beweisen. Von den Voit’schen Versuchen 
können hier drei aus dem März 1863 stammende Analysen. verwerthet 
werden; ein 33% schwerer Hund erhielt 15008" Fleisch (mit 30, bezw. 
60, bezw. 100 8m Fett). Es ergab sich: 


Nahrung Absolute Menge Aetherextract im Koth 
Fleisch Fett des Kothes absolut | in Proc. 
1500 gm 30 sm 10.3 sm 1-42 em | 13-85 Proc. 
1500 ,, 60 „ OR 9 2.098 ,, 19-48 
1500 „ 100 OL IWEL3500,: 27-11 


Ob die grossen Aetherextractmengen durch das der Resorption etwa 
entgangene Fett erklärt werden können, erscheint zweifelhaft angesichts 
der Versuche von Müller.! Dieser fütterte einen etwa 18%8 schweren Hund 
13 Tage lang mit 592.5 8”” reinen ausgeschnittenen Fleisches: der Trocken- 
koth dieses Hundes enthielt 24-9 Procent Aetherextract. Man muss jedoch 
berücksichtigen, dass diese Zahlen des Münchener Laboratoriums für unsere 
Frage nur bedingten Werth haben, insofern Voit einerseits neben Fleisch 
noch geringe Mengen Fett verfütterte, andererseits Müller seinem Hunde 
ein für seinen Bedarf unzureichendes Quantum Fleisch gab. 

Im Gegensatz hierzu ist nach den Untersuchungen Pflüger’s? der 
Fettgehalt des Kothes nach ausschliessliicher und ausreichender Fleisch- 
nahrung kein grosser. Pflüger fand im Trockenkoth Aetherextractmengen 
von 3-0 bis 9.6 Procent, im Mittel seiner Analysen etwa 5 Procent. 
Pflüger’s Erklärung der so bedeutenden Differenzen zwischen seinen Be- 
funden und denen von Voit und Müller war die, dass er selbst mit Zieh- 
hunden, die an starke Arbeit gewöhnt waren und eine lebhaftere Darm- 
thätigkeit hatten, experimentirte, während die Hunde Voit’s und seiner 
Schüler keine Arbeit zu verrichten gewohnt waren. 

Unsere früheren und die in dieser Arbeit beschriebenen Fleischfütterungs- 
versuche, welche gleichfalls an meist unthätigen, jedenfalls an starke Arbeit 
nicht gewöhnten Hunden angestellt wurden, ergaben Zahlen, die auf 

! Müller, Zeitschrift für Biologie. Bd. XX. S8. 349. 

? Pflüger, sein Archiv. Bd. LIl. S. 22. 


VERBRENNUNGSWÄRME UND PHYSIOL. NUTZWERTH DER NÄHRSTOFFE. 469 


Trockenkoth bezogen zwischen 10-1 und 13.3 Procent (auf aschefreie 
Trockensubstanz bezogen zwischen 11.8 und 17.5 Procent) schwankten. In 
einem Fütterungsversuch mit Fleisch und Fleischmehl ! lieferte der Trocken- 
koth 5.8 Procent, der aschefreie Trockenkoth 7.8 Procent Aetherextract. 
Wir haben bereits im vorigen Capitel eine Erklärung für die so 
wechselnden Befunde der Aetherextractanalysen gegeben. Jedenfalls lassen 
sie das Vorgehen Pflüger’s! als berechtigt erscheinen, diesen so stark 
differirenden Factor des Aetherextractes in der Rechnung in Abzug zu 
bringen, da der sogen. „fettfreie“ Koth besser vergleichbare Zahlen liefert. 
Pflüger’s Rechnung konnte jedoch nur eine ganz approximative sein, da 
er für den Fettgehalt des von Rubner untersuchten Fleischkothes Durck- 
schnittszahlen aus den Analysen der Münchener Schule zu Grunde legte. 
Ferner ist man genöthigt, wenn man Pflüger folgt, das Aetherlösliche, 
da uns ja die Mengenverhältnisse der einzelnen Bestandtheile desselben 
unbekannt sind, mit der elementaren Zusammensetzung des Neutralfettes 
(76.50 Procent C und 11.91 Procent H) in Rechnung zu setzen. Wie 
bereits oben bemerkt wurde, liefert vorzüglich die Galle bei ausschliesslicher 
Fütterung mit nicht zu fettem Fleische die Componenten des Aetherextractes 
des Kothes. Zieht man nun in Betracht, dass bei dieser Ernährung und 
ruhigem Verhalten der Hund einen Koth zu bilden pflegt, der meist Tage 
lang in dem Darm verweilt, so ist nicht anzunehmen, dass sich irgendwie 
nennenswerthe Mengen unveränderter Gallensäuren im Fleischkoth vorfinden 
werden. Vielmehr dürften die Abbauproducte der Gallensäuren, die Cholal- 
säure und das Dyslysin neben dem Cholesterin und Leeithin vorherrschen. 
Die elementare Zusammensetzung dieser Stoffe ist nun folgende: 
Elementare Zusammensetzung der ätherlöslichen Gallenbestandtheile: 


Cholalsäure: 70.6 Procent C und 9-8 Procent H, 
Dyslysin: 77.4 ,„ a Aal); Mi 
Cholesterin: 83-9 „, Sta ls SHaN,;; 5 
Leeithin: 65-4 ,„ larklarl ken] 5; yg 


Diese Factoren zeigen in ihrer Zusammensetzung nicht gerade be- 
deutende Differenzen, und es wird von dem Verhältniss, in dem diese 
Substanzen gemischt sind, abhängen, in wie weit das sogen. Kothfett von 
dem Neutralfett in seiner elementaren Zusammensetzung abweicht. Bei einer 
gewissen Mischung der Componenten kann der Fehler sehr gering werden. 

Im Einklang hiermit standen die Ergebnisse der calorimetrischen 
Bestimmungen bei unseren früheren Versuchen. Es wurde das I. Aether- 
extract aus dem Fleischkoth, verbunden mit dem II. Aetherextract (nach 


! Frentzel und Schreuer, Dies Archiv. 1901. Physiol. Abthlg. S. 293. 
® Pflüger, sein Archiv. Bd. LI. 


470 JOHANNES FRENTZEL UND MAX SCHRFUER: 


Behandlung des Fleischkothes mit salzsauerem Alkohol) verbrannt und es 
fanden sich folgende Werthe: 


Versuch I. Versuch I. 
9536-2 cal 
9562-8 „ 
15m Aetherextract = 9549-5 cal = 9617-2 cal 


Nach diesen Ergebnissen ist der Brennwerth des Aetherextractes des 
Kothes um weniges höher, als der Brennwerth des Neutralfettes, der rach 
Stohmann 9500 cal pro 1 8m Substanz beträgt. 

Nun hat in jüngster Zeit Rubner! Zahlen veröffentlicht, nach denen 
im Gegensatz zu unseren früheren Befunden dem Aetherextract des Kothes 
eine weit unter dem Werthe des Neutralfettes liegende Verbrennungswärme 
zukommen soll. 12er” des „Mischfettes“ hat nach Rubner einen Brenn- 
werth von nur 8430 cal. Diese niedrige Verbrennungszahl sieht Rubner 
als einen neuen Beweis dafür an, dass das Aetherextract des Fleischkothes 
nichts mit dem Neutralfett zu thun habe. Die Anschauung, dass der 
ätherische Auszug des Fleischkothes bei nicht zu fetthaltiger Fleischnahrung- 
keine oder minimale Mengen von Fett enthält, ist auch in dieser Arbeit 
vertreten worden und dürfte wohl kaum auf Widerspruch stossen. Da 
jedoch auch abgesehen hiervon die Feststellung des Brennwerthes des 
Aetherextractes von Bedeutung ist, so gaben uns die starken Differenzen 
Veranlassung, unsere früheren Befunde einer Nachprüfung zu unterziehen. 

Um über genügendes Material zu verfügen, wurde ein 12.38 schwerer 
Hund 5 Tage lang mit ausreichenden Mengen von magerem Pferdefleisch 
(2 Mal am Tage je 5503”) gefüttert, der Fleischkoth gesammelt und in 
der üblichen Weise getrocknet. Der so gewonnene Fleisehkoth wurde in 
zwei Portionen getheilt und extrahirt. | 

Die Portion 4 wurde zunächst einer 12stündigen Extraction unter- 
worfen; nach dieser Zeit ist die Hauptmenge des Extractes in den Aether 
übergegangen. Das leicht schmelzbare Extract wurde auf dem Platin- 
schälchen der Berthelot’schen Bombe direct gewogen und verbrannte 
stets vollständig, ohne dass eine Zündsubstanz zugesetzt zu werden brauchte. 
Die calorimetrischen Bestimmungen ergaben 9821-0 cal 

9790-2 „ 
im Mittel: 9805-6 cal für 1 s”® Substanz. 
Die Kothportion 4 wurde dann weitere 8 Tage extrahirt: die so erlangte 
Extraetmenge war sehr gering, so dass nur etwa 0.18 Substanz für die 
Verbrennung benutzt werden konnte. Dieses Aetherextract unterschied sich 


! M. Rubner, Die Gesetze des Energiewerthes bei der Ernährung. Leipzig und 
Wien 1902. S. 26. 


VERBRENNUNGSWÄRME UND PHYSIOL. NUTZWERTH DER NÄHRSTOFFE. 471 


von dem ersten dadurch, dass es bei 100° nicht schmolz. Sein Ver- 
brennungswerth war 9196.6 cal. pro 18" Substanz. 

Von der Portion 5 wurde das Aetherextract nach 8 Tage langem 
Extrahiren verbrannt; es wurde gefunden: 9612.8 cal. 

9636-5 „ 
im Mittel: 9624-7 cal. für 1 sm Substanz. 

Nunmehr wurden beide Portionen des Kothes mit salzsauerem Alkohol 
behandelt und einer weiteren Stägigen Extraction unterzogen. Die Extract- 
mengen waren gering. Das Extract selbst war eine klebrige, fadenziehende, 
schwer schmelzbare Masse. Durch Zusammenfügen der Portionen A und B 
konnten etwas mehr als 0-2s'm für die Verbrennung verwerthet werden. 
Der Brennwerth war für 12 Substanz 8527 cal. 

Die Hauptmenge des Extractes geht schon in den ersten Stunden in 
den Aether über und zeigt einen hohen Brennwerth (etwa 9800 cal.); setzt 
man die Aetherextraction fort, so wird dadurch, dass geringe Mengen von 
Substanzen mit niedrigerer Verbrennungswärme in den Aether übergehen, 
der Brennwerth des Extractes etwas herabgedrückt (9625 cal.). Die Be- 
handlung des Fleischkothes mit salzsauerem Alkohol führt nochmals Sub- 
stanzen von geringerer Verbrennungswärme dem Aetherextraet zu; da jedoch 
die Menge dieses Extractes im Vergleich zu der früher gewonnenen nur 
gering ist, so wird die Verbrennungszahl des Gesammtätherextractes des 
Fieischkothes, des „Mischfettes“, nicht wesentlich verringert werden: die 
zu erwartenden Werthe dürften also den bereits früher für das „Mischfett“ 
gefundenen Werthen von 9549.5 cal. und 9617-2 cal. entsprechen. Wir 
werden also keinen nennenswerthen Fehler begehen, wenn wir bei unseren 
späteren Berechnungen des Brennwerthes für 1” fett- und aschefreien 
Fleischkoth als Verbrennungszahl für 1®m Aetherextract 9500 cal. in 
Rechnung setzen. 

Die neuen Versuche haben also abermals eine sehr viel höhere Ver- 
brennungszahl für das Kothfett ergeben, als sie Rubner gefunden hat. 
Es kann uns gar nicht beikommen, die Exactheit der Arbeit Rubner’s 
bemängeln zu wollen, vielmehr glauben wir, dass es weiteren Untersuchungen 
vorbehalten sein wird, festzustellen, unter welchen Bedingungen Aether- 
extracte von der Zusammensetzung der Rubner’schen im Kothe sich 
finden. Selbstverständlich können wir für die weiteren Betrachtungen nur 
unsere Ergebnisse zu Grunde legen. 

Es ist übrigens bemerkenswerth, dass auch der Schmelzpunkt des 
Gesammtätherextractes aus dem Fleischkoth, obgleich es kein Fett ist, nielıt 
wesentlich von dem Schmelzpunkt des Rindfleischfettes abweicht. Vergleichs- 
bestimmungen ergaben als Schmelzpunkt des Rindfleischfettes 39-5 bis 40 °C., 
als Schmelzpunkt des Fleischkothextractes 42.0 bis 42:.5°C. Es ist selhst- 


472 JOHANNES FRENTZEL UND MAX SCHREUER: 


verständlich, dass die Schmelzpunktzahlen des Fleischfettes und des Koth- 
fettes in dem Maasse sich nähern werden, in dem die Resorption des 
Fettes im Körper sich verschlechtert, ein Punkt, auf den schon Müller! 
gelegentlich seiner Untersuchungen über den „Ikterus“ hingewiesen hat. 

Da das Aetherextract des Fleischkothes zum grössten Theil sich zu- 
sammensetzt aus Bestandtheilen der Verdauungssecrete, also aus z. Th. nicht 
verseifbaren Substanzen, so war zu erwarten, dass die Verseifungszahl 
des „Kothfettes‘“ sehr klein sein würde im Vergleich zur Verseifungszahl des 
neutralen Rindertalges, welche nach König? 196-5, nach zwei von uns 
gemachten Bestimmungen 182.8 und 180.5, im Mittel 181-6 beträgt. 
Zur Ermittelung der Verseifungszahl des Aetherextractes des mit Säure 
behandelten Fleischkothes stand uns nur eine geringe Menge Substanz, 
nämlich 0.3238”%, zur Verfügung. Diese Substanz verbrauchte zunächst 
zur Neutralisation eine Laugenmenge, äquivalent 0.132 sm Oelsäure, so 
dass die freien Fettsäuren, auf Oelsäure berechnet, 40.9 Procent des Koth- 
fettes betragen würden. Bei der Verseifung wurden weitere 4-93 Procent 
des ursprünglichen Gewichtes an KOH verbraucht: die Verseifungszahl 
betrug also für das ursprüngliche Gewicht der Substanz 49-3, für den 
Gehalt derselben an neutralen Substanzen 83-4, d.i. weniger als die Hälfte 
der Verseifungszahl des Rindertalges. (Bezieht man die ermittelte Säure- 
menge des Kothfettes nicht auf Oelsäure, sondern auf Cholalsäure, so beträgt 
die übrig bleibende Menge der neutralen Substanzen 0.1322" und ent- 
sprechend dieser geringeren Menge steigt die Verseifungszahl auf 120-6.) 

Die Stickstoffmenge des Kothfettes ist nicht unbeträchtlich. 
Gefunden wurde pro 1=’m Kothfett 5-65 ®s N, der wohl grösstentheils aus 
Leeithin stammen dürfte. 

In dem Vorangegangenen ist bereits auf die Differenzen in den An- 
schauungen Rubner’s und Pflüger’s über die Bedeutung des Kothfettes 
wiederholt Bezug genommen worden. Zweifellos vertritt Rubner insofern 
einen berechtigten Standpunkt, als er erklärt, dass das Kothfett nicht als 
ein Residuum des Nahrungsfettes aufzufassen sei, sondern als gleichwerthiges 
Product der Fleischverdauung von dem ätherunlöslichen Theil des Fleisch- 
kothes nicht getrennt werden dürfte; Pflüger begehe deshalb einen Fehler, 
wenn er bei der Festlegung irgend welcher Standardzahlen des Fleisch- 
kothes von dem Aetherextract abstrahire. 

Pflüger dagegen hat, als er versuchte, die Calorienzahl festzustellen, 
die auf 18”® N im Fleischkoth zu beziehen sei, das Aetherextraet vorher 
in Abzug gebracht. Auch dieses Vorgehen hat, wie die vorstehenden Er- 


! Müller, Zeitschrift für klin. Mediein. 1887. Bd. XII. 8.45. 
® J. König, Die Untersuchung landwirthschaftlich nnd gewerblich wichtiger 
Stoffe. 1891. 8.413. 


VERBRENNUNGSWÄRME UND PHYSIOL. NUTZWERTH DER NÄHRSTOFFE. 473 


örterungen beweisen, insofern seine Berechtigung, als der Gehalt des 
Fleischkothes an Aetherextract innerhalb weiter Grenzen schwankt. Es 
muss deshalb, wenn man darnach strebt, vergleichbare Zahlen zu erhalten, 
von Vortheil sein, diesen schwankenden Factor zu eliminiren. Da nach 
unseren Untersuchungen (im Gegensatz zu denen Rubner’s) die Calorien- 
zahl des Kothfettes von dem Brennwerth des Neutralfettes, obgleich es mit 
diesem nichts zu thun hat, nicht wesentlich abweicht, und da nach den 
vorstehenden Betrachtungen die elementare Zusammensetzung des Koth- 
fettes und des Neutralfettes gleichfalls Keine nennenswerthen Differenzen 
aufweisen dürfte, so wird die Fehlerquelle eine minimale sein, die etwa 
daraus resultirt, dass man als Calorienzahl die Zahl 9500 und für die 
elementare Zusammensetzung 76-50 Procent C und 11.91 Procent H der 
Rechnung zu Grunde legt. Sofern man sich nur darüber klar ist, dass 
das Aetherextract des Fleischkothes kein Fett ist, auch wenn Calorienzahl 
und elementare Zusammensetzung annähernd übereinstimmen, dürfte nichts 
dagegen einzuwenden sein, dass man im Interesse einer besseren Vergleich- 
barkeit der Resultate mit sogen. fettfreien Fleischkoth rechnet. 

Unseres Erachtens haben deshalb die,Anschauungen beider Autoren ihre 
Berechtigung. In Folge dessen werden wir in den späteren Capiteln über 
die elementare Zusammensetzung und über den Energiewerth des Fleisch- 
kothes die Daten sowohl des fetthaltigen wie des fettfreien Kothes bringen. 


Die elementare Zusammensetzung des Fleischkothes. 


Alle Verbrennungen fanden im offenen Rohre im Luft- bezw. Sauer- 
stoffstrome statt. Die Substanz wurde auf dem Porzellanschiffchen im luft- 
trockenen Zustande und fetthaltig verbrannt, eine Trockenbestimmung sofort 
angeschlossen. Da der Asche- und Fettgehalt vorher ermittelt war, so 
konnte durch Rechnung die elementare Zusammensetzung des aschefreien 
bezw. des fett- und aschefreien Trockenkothes festgestellt werden. Es 
wurden mindestens zwei übereinstimmende Analysen von jeder der drei 
Kothsorten gemacht. 

Die Ergebnisse sind folgende: 

Koth I: 
1) 0.3064sm Jufttr. Subst. = 0.4676: CO, u. 0.1817 sm H,O 
0.127538m C u. 0-02019sm H 
— 41.62 Proc. C u.6-59Proc. H 
2) 0.2983 8m ]Jufttr. Subst. = 0-45938” CO, u. 0.182680 H,O 
= 0.125262% C u. 0-02029em H 
41.99 Proc. Cu.6.80 Proc. H 


im Mittel: 100sm Jufttr. Substanz = 41-81 Proc. Cu. 6-70 Proc. H 


474 JOHANNES FRENTZEL UND MAx SCHREUER: 


Der Feuchtigkeitsgehalt der lufttr. Substanz ist 7-21 Proc. 
In der Trockensubstanz sind 13.18 Proc. Aetherextract und 19.24 Proc. 
Asche. 
100 sm aschefreier Trockenkoth = 55-79 Proc. © und 7.87 Proc. H 
100 8m fett- und aschefreier Trockenkoth = 5175 Proc. C und 
7.08 Proc. H. 
| Koth I: 
1) 0.34428m ]ufttr. Subst. = 0.520458" CO, u. 0.197722 H,O 
= 0.141938 c u. 0: 02197 = H 
41:23Proc. Cu. 6-38 Proc. H 
2) 0.2946 8” Jufttr. See 2, 44918m CO, u. 0-.16292= H,O 
= 0. 122485m GC u. 0-.01812m H 
41-56 Proe. Cu. 6-14Proc.H 
im Mittel: 1008" ]ufttr. Substanz = 41-40 Proc. C u. 6-26 Proc. H 
Der Feuchtigkeitsgehalt der lufttr. Substanz ist 6-57 Proe. 
In der Trockensubstanz sind 11-46 Proc. Aetherextract und 22-09 Proc. 
Asche. 
10088 aschefreier Trockenkoth = 56-88 Proc. C und 7.60 Proc. H, 
1008 m fett- und aschefreier Trockenkoth = 53-50 Proc. C und 
6-85 Proc. H. 


Koth II: 
1) 0.3596" ]ufttr. Subst. = 0.583458" 00, u. 0-21212= H,O 
= 0.159138" C u. 0-.02357 ern H 
44.25. Proc. Cu.6.55 Proe. Hi 
2) 0.3042 2 Jufttr. Subst. En 49928 00, u. 0-17708% H,O 
= 0.13615&7 © u. 0. 01967: m H 
44.74 Proc. Cu. 6-47 Proc. H 
3) 0.29168” Jufttr. Subst. — Zn. aan CO, u. 0:16178n H,O 
— 0.130172 C u. 0-01797em H 
— 44.64 Proc. Cu. 6.16 Proc. H 
4) 0.2662 2% Jufttr. Subst. = 0.437187 CO, u. 0-15798% H,O 
= (0.119218 C u.0. 01754em H 
_ 44.78 Proc. Cu. 6° 59 Proc, H 


im Mittel: 100 sm lufttr. Substanz = 44.60 Proc. C u. 6-44Proc. H! 


! Die Einzelanalysen dieses Fleischkothes, sowie auch der beiden anderen zeigen 
eine zwar genügende, aber wohl nicht besonders gute Uebereinstimmung. Es ist jedoch 
zu berücksichtigen, dass wir in dem trockenen Kothpulver keinen einheitlichen Stoff, 
sondern eine aus verschiedenen, nicht leicht mischbaren Stoffpartikelchen zusammen- 
gesetzte Substanz vor uns haben. Wir werden deshalb durch Mittelung, selbst von 
Zahlen, die auf den ersten Anblick etwas different erscheinen, der Wahrheit am nächsten 
kommen. 


VERBRENNUNGSWÄRME UND PHYSIOL, NUTZWERTH DER NÄHRSTOFFE. 475 


Der Feuchtigkeitsgehalt der lufttr. Substanz ist 4°66 Proc. 

In der Trockensubstanz sind 10-12 Proc. Aetherextract und 14-14 Proc 
Asche. 

100s8'm aschefreier Trockenkoth = 54-48 Proc. C und 7.23 Proc. H. 

1008m fett- und aschefreier Trockenkoth = 51-54 Proc. C und 
6-61 Proc. H. 


Elementare Zusammensetzung des trockenen Fleischkothes. 


| | C 
| C H N (0) N 
| fett- | fett-u. |fett-u. fett- u.| fett- u. 
jasche- asche- asche- asche- asche- asche- asche- asche- asche- asche- 
frei frei frei : frei frei 
frei frei | frei frei | frei 


Proc. | Proc. || Proc. | Proc. || Proc. | Proe. || Proe. | Proc. | Proe. | Proc. 
Koth I 55-79 51-75 7-87 7-08 | 10-64 | 12-71 25-70 28-46 | 5-25 | 4-07 
Koth II \56-88 53-50 7:60 6-85 | 11-36 13-32 || 24-16 | 26-33 | 5-01 | 4:02 
Koth III || 94-48 51-54 7:23 | 6:61 | 12:30 13-94 125.99 27:91|| 4:43 | 3.70 


| | | 
| 
I I I ı j 


Der Vergleich der elementaren Zusammensetzung des fett- und asche- 
freien Kothes und Fleisches (s. o. S. 461) zeigt, dass wir in dem Fleischkoth 
eine Substanz vor uns haben, die bezüglich ihres C-Gehaltes von dem des 
Fleisches nicht sehr abweicht: das fett- und aschefreie Trockenfleisch hat 
im Mittel 52.38 Procent C, der fett- und aschefreie Trockenkoth hat im 
Mittel der oben angeführten Analysen 52-26 Procent ©. Der H-Gehalt 
ist nur um weniges, der N-Gehalt dagegen um etwa !/, geringer als der 
des Fleisches. 

Da der Versuch I als Normalversuch anzusehen ist, so wird der Be- 
fund, den der Koth I bietet, am maassgebendsten zur Beurtheilung der 
Frage nach der elementaren Zusammensetzung des Fleischkothes sein. 
Derselbe enthält 0-63 Procent C, 0.15 Procent H und 3-64 Procent N 
weniger als das fett- und aschefreie Fleisch. 


Der Factor - des fett- und aschefreien Trockenfleischkothes ist 4-07. 


Je mehr sich dieser Factor dem des Fleisches (3.20) nähert, als desto 
schlechter ist im Allgemeinen die Ausnutzung des Fleisches anzusehen. So 
z. B. ist bei Koth III, bei dem berechnet wurde, dass etwa !/, seiner Menge 
als nicht resorbirtes Fleisch zu betrachten ist, dieser Factor (3-70) schon 
wesentlich kleiner, als bei dem Normalfleischkoth I (4-07) und kommt dem 
des Fleisches (3-20) schon näher. 

Ausser den bereits auf S. 467 dieser Arbeit erwähnten elementaranaly- 
tischen Daten fetthaltigen Trockenfleischkothes von Bischof und Voit 


476 JOHANNES FRENTZEL UND MAx SCHREUER: 


liegen ferner noch Untersuchungen von Rubner! vor; dieselben beziehen 
sich gleichfalls auf fetthaltiges Material. Rubner’s Hund lieferte einen 
Koth, der bei einem Aschegehalt von 16-50 Procent 46:92 Procent C und 
7.02 Procent N enthielt, d. i. auf aschefreie (fetthaltige) Substanz bezogen: 
56.19 Procent C und 8-41 Procent N. 
Es enthält also: 
Der aschefreie fetthaltige Fleischkoth nach Bischof und Voit: 
62.05 Procent C und 9.26 Procent N. 
Der aschefreie fetthaltige Fleischeiweisskoth nach Rubner: 
56.19 Procent C und 8-41 Procent N. 
Diese älteren Untersuchungen differiren also sehr bedeutend. 
Auch Pflüger hat den Koth eines seiner Ziehhunde elementaranalytisch 
untersucht und fand: 


Fleischkoth nach Pflüger aschefrei Da der Fettgehalt 4-8 Proe. ist, so enthält 


und fetthaltig: ? der fett- und aschefreie Fleischkoth: 
C 51.75 Procent C 50.50 Procent 
E00 Hr 16-960 
N 15-00 ,„ NealsTosser 
0726.05, 72% Ve 


Bei der Beurtheilung der Befunde dieser Autoren müssen die oben 
gegen das Material gemachten Einwände berücksichtigt werden. Jedoch 
weichen Rubner’s Ergebnisse relativ am wenigsten von den unserigen ab. 


Der Energiewerth des Fleischkothes. 


Die Verbrennungswärme des in Pastillenform gebrachten Fleischkothes 
wurde in der üblichen Weise mit Hülfe der Berthelot-Mahler’schen 
Bombe bestimmt. Da bei der Herstellung der Pastillen die Substanz in 
ihrem Wassergehalt eine Aenderung erfahren kann, wurde der Feuchtigkeits- 
gehalt dieser Pastillen nochmals festgestellt. 

18% Trockenkoth lieferte folgende Wärmewerthe bei 


Koth I Koth II Koth III 
(Aetherextraet 13-18 Proc, (Aetherextract 11-46 Proc, (Aetherextract 10-12 Proc., 
Asche 19-24 Proc.) Asche 22-09 Proc.) Asche 14-14 Proc.) 
5254-0 cal. 5286-3 cal. 
5242.1 „ 5027-5 cal. 5268-4 „ 

5228-8 „ 5005-9 „ 5269-8 „ 
5241-6 cal. 5016-7 cal. 5274.8 cal. 


! Rubner, Zeitschrift für Biologie. Bd. XXI. S. 306. Rubner verfütterte 
allerdings kein frisches, sondern znit Wasser völlig ausgelaugtes Muskelfleisch. 
® Pflüger, sein Archiv. Bd. LII. 8.26. 


VERBRENNUNGSWÄRME UND PHYSIOL. NUTZWERTH DER NÄHRSTOFFE. 477 


1 stm aschefreier Trockenkoth lieferte demnach folgende Werthe: 


Koth I Koth II Koth III 
6490-3 cal. 6439.1 cal. 6143.4 cal. 
18m fett- und aschefreier Trockenkoth:! 
Koth I Koth II Koth III 
5903-4 cal. 5911-3 cal. 5695-0 eal. 


Wenn wir den Koth III mit seinem stark abweichenden calorischen 
Werthe eliminiren, wozu uns die schon öfters angeführten Gründe be- 
rechtigen, so kann auf Grund der gut übereinstimmenden Daten von Koth I 
und II als Verbrennungswärme für 18% aschefreien Fleischtrockenkoth 
der Werth 6465 cal., für 18” fett- und aschefreien Fleischtrockenkoth 
der Werth 5907 cal. festgelegt werden. 

Mit dieser letzteren Zahl sei nun der Brennwerth von 1 == fett- und 
aschefreien Fleisches verglichen. Wie die neueren Untersuchungen 
ergeben haben, ist derselbe kein constanter: er schwankt etwa zwischen 
5550 bis 5730 cal. für das Rindfleisch. Der Grund für diese Differenzen 
liest in der Verschiedenheit des Gehaltes an Extractivstoffen.” Das Pferde- 
fleisch hat, auf fett- und aschefreie Substanz bezogen, einen Verbrennungs- 
werth von 5599 cal.? Der Brennwerth des Kothes III, der kein reiner 
Fleischkoth, sondern ein Gemisch von Fleischkoth und nicht resorbirtem 
Pferdefleisch darstellt, muss also zwischen 5599 cal. und 5907 cal. liegen: 
gefunden wurden 5695 cal. 

Es würde nun jede Bilanzrechnung wesentlich vereinfachen, wenn es 
gelänge, für 13% N im Fleischkoth eine constante calorische Zahl festzu- 
stellen. Für den Fleischharn ist eine solche Standardzahl nunmehr ermittelt. 
In zwei einwandsfreien Fleischfütterungsversuchen wurde für 18m N im 
Fleischharn 6.994 Cal. und 

6.974 „, 
im Mittel: 6°98 Cal.“ gefunden. 

Die für den Fleischkoth berechnete Grösse erweist sich nicht in diesem 
Maasse constant. Pflüger? hat zuerst allerdings auf Grund anfechtbarer 
Daten diese Rechnung ausgeführt und hierbei, wie dies schon oben erwähnt 
wurde, das Aetherextract in Abzug gebracht. Da es sich ja darum handelt, 
eine möglichst constante Zahl zu finden, so ist das Vorgehen Pflüger’s 
im Hinblick darauf, dass der Gehalt des Fleischkothes an Aetherextract nicht 


! Mit der Verbrennungswärme des Fettes (1 = = 9500 cal.) berechnet. 

® Frentzel und Schreuer, Dies Archiv. 1902. Physiol. Abthlg. S. 306—308. 
3 Köhler, Zeitschrift für physiol. Chemie. Bd. XXXI. 3. 499. 

* Frentzel und Schreuer, Dies Archiv. 1902. Physiol. Abthlg. S. 326. 

> Pflüger, a.a. 0. 


478 JOHANNES FRENTZEL UND MAx SCHREUER: 


unbeträchtlich varürt, gerechtfertigt. Wie sehr gerade dieser Factor bei 
der Berechnung in’s Gewicht fällt, lehrt eine Gegenüberstellung unserer 
Zahlen, obgleich bei dem von uns untersuchten Material der Fettgehalt 
des Fleischkothes nicht allzu grosse Differenzen aufweist. Es ist: 


1gm N bezogen auf lem N bezogen auf 
aschefreie, aber fetthaltige Substanz aschefreie und fettfreie Substanz 
bei Koth I : 61.00 Gal., bei Koth I : 46.45 Cal., 
h „ »1182156.168.7 ‚, „ „ 11244.33:05 
neo, SORNSIPILENAO.8SE ‚ah 


Rechnen wir also mit der asche- und fettfreien Substanz, so kommen 
bei dieser auf 18" N im Mittel 45-4 Cal., analog der Zahl 45-22 Cal. bei 
dem zweiten Versuch unserer früheren Arbeit.” Gemäss der schlechten 
Ausnutzung der Nahrung wurde bei Koth III ein kleinerer Werth (40.85 Cal.) 
für 18% N berechnet. Diese Zahl nähert sich der für 1&e® N im ent- 
fetteteten Fleische gefundenen Calorienzahl. Dieselbe ist erheblich 
niedriger. Sie ist vermöge des schwankenden Gehaltes des Fleisches an 
Extractivstoffen keine constante. Von uns wurden in den früheren Arbeiten 
für 12” N des entfetteten Fleisches die Zahlen 35-75, 34-09 und 32-55 
Cal., von Pflüger die Zahl 34:59 Cal. berechnet. 

Da nach den Mittheilungen von Praussnitz? dem Koth dann eine 
constante Zusammensetzung zukommt, wenn die dem Bedarf des Körpers 
entsprechende Nahrung keine unverdaulichen Bestandtheile enthält, so 
können hier auch die schon an anderer Stelle * citirten Versuche des Zuntz’- 
schen Laboratoriums herangezogen werden, bei denen die gereichte Nahrung 
einigermaassen den Anforderungen zur Bildung eines Normalkothes ent- 
sprach. Die Nahrung bestand nämlich bei diesen Selbstversuchen in 
Rindfleisch, Schinken, Reis, Cakes, Weissbrod und Butter. Es wurde 
berechnet: 


18m N im fettfreien Koth bei Dr. Caspari = 48.38 Cal. 


„ „ 9 „ „ „ = 48.64 „ 
„ „ „ 0, Bor. oewys  AQUd3,,, 
” „ Ei) „ ” „ Zuntz — 48.52 „ 

AND, 


„ ” 277 ” ” ” ” 


Hiernach scheint der Beweis erbracht zu sein, dass das Verhältniss 


des Kothstickstoffes zur Verbrennungswärme seiner fettfreien Substanz für 


! Koth III ist bei dem Vergleich der Resultate auszuschalten, s. S. 464. 

® Frentzel und Schreuer, Dies Archiv. 1902. Phys. Abthlg. S. 305. 

3 Praussnitz, a.a. 0. 

* Frentzel und Schreuer, Dies Archiv. 1901. Physiol. Abthlg. S. 295. 


VERBRENNUNGSWÄRME UND PHYSIOL. NUTZWERTH DER NÄHRSTOFFE. 479 


den Normalkoth, mithin auch für den Normalfleischkoth, eine wenn auch 
nicht constante, so doch innerhalb nicht sehr weiter Grenzen schwankende 
Zahl darstellt. Dieselbe liegt nach den Berechnungen dieser Arbeit zwischen 
44.4 bis 46-4 Cal. (im Mittel 45.4 Cal... Die von Pflüger berechnete 
Wärmezahl für 1 sm N des fettfreien Fleischkothes = 28.2 Wärmeeinheiten ! 
kann nicht als richtig anerkannt werden, da sie auf ungenügenden Grund- 
lagen basirt. 

Dem Brennwerth des Aetherextractes des Fleischkothes entspricht eine 
Calorienzahl von etwa 9550 pro 1 =. Der von Rubner gefundene, 
bedeutend niedriger liegende Werth (8430 cal.) kann nicht als allgemein zu 
Recht bestehend erklärt werden, da er sowohl mit den Ergebnissen dieser 
Arbeit, wie auch unserer früheren in Widerspruch steht. 


ı Pflüger, sein Archiv. Bd.LII. S. 30. 


Ueber Degenerationsvorgänge im motorischen Teleneuron 
nach Durchschneidung der hinteren Rückenmarkswurzeln. 


Von 


Karl Braeunig. 


(Aus der mikroskopisch-biologischen Abtheilung des physiologischen Institutes zu Berlin.) 


Vor einiger Zeit habe ich über Versuche berichtet, welche von der 
Frage nach den Ursachen der auf die Durchschneidung des Axencylinders 
folgenden Degeneration der Nervenzellen ausgingen.! Diese Frage wurde 
zuerst von Goldscheider und Flatau (1)? aufgeworfen, vorläufig aber offen 
gelassen. Die genannten Autoren nahmen an, dass die Veränderungen, die 
der centrale, d. h. der die Nervenzelle enthaltende Theil des durchschnittenen 
Neurons eingeht, auf einer Schädigung der Nervenzelle beruhen. (Wenn 
hier und an anderen Stellen noch in dem bisher üblichen Sinne von Nerven- 
zelle und Nervenfasern gesprochen wird, so geschieht dies absichtlich aus 
Zweckmässigkeitsgründen, obwohl sich diese Begriffe in letzter Zeit wesent- 
lich zu verschieben beginnen. Bis aber die neuen Auffassungen über die- 
selben sich geklärt und allgemeinere Anerkennung gefunden haben, dürfte 
es berechtigt sein, diese Bezeichnungen im Sinne der alten übersichtlichen 
„Neuronlehre“ zu gebrauchen.) | 

Für das Zustandekommen der erwähnten Schädigung nun liessen 
Goldscheider und Flatau die folgenden beiden Erklärungsversuche als 
möglich und wahrscheinlich zu: 

1. Die (motorische) Nervenzelle ist an der Ausübung ihrer normalen 
Function — motorische Innervationen zu ertheilen — gehindert und ver- 
fällt einer Art von Inactivitätsatrophie. 


1 Dies Archiv. Physiol. Abthlg. 1903. 8. 251. 
? Die Zahlen beziehen sich auf das Litteraturverzeichnis am Schlusse ler Arbeit. 


Kırı BRAEUNIG: ÜBER DEGENERATIONSVORGÄNGE U.s,w. 481 


2. Die Nervenzelle, deren Axencylinderfortsatz durchschnitten ist, 
empfängt weniger Reflex- und Willensreize; denn einerseits nimmt der 
durch die Durchschneidung seiner motorischen Nerven activ unbeweglich ge- 
wordene Körpertheil weniger sensible Reize auf als ein gesundes Glied, da 
er seine Beziehungen zur Aussenwelt seltener wechselt, andererseits besteht 
die Möglichkeit, dass durch natürliche Regulation der symmetrische Körper- 
theil der gesunden Seite die Function des lädirten theilweise mit übernimmt, 
so dass auf diese Weise nach den Gesetzen der Bahnung und Hemmung 
im Nervensystem (2) die Reflexreize und die Willensimpulse auf die Zellen 
der gesunden Seite hinübergeleitet werden, wodurch dann wiederum die 
motorischen Centra, deren Wurzelfasern durchschnitten sind, Mangel an 
Reizen leiden würden. | 

Ich sehe gegenwärtig keine Möglichkeit, den ersten Erklärungsversuch 
direct experimentell nachzuprüfen. Nur per exelusionem, indem man 
nachwiese, dass der Mangel an Reizen keine Bedeutung hat, könnte man 
zeigen, dass derselbe zu Recht besteht. Die zweite Hypothese dagegen ist 
einer exacten Prüfung wohl zugängig, indem man 

a) durch Exstirpation eines motorischen Rindenfeldes eine Gruppe von 
Vorderhornzellen des Rückenmarkes aller Willensimpulse beraubte, 

b) dureh Durchschneidung der hinteren Wurzeln Zellen dieser Art von 
den Reflexreizen abschnitte. 

Diese Versuche sind von mir ausgeführt worden und haben ergeben, 
dass der Ausfall der psychomotorischen Bahnen keinen wesentlichen Einfluss 
auf die motorischen Vorderhornzellen ausübt, während nach Durchschnei- 
dung der sensiblen Rückenmarkswurzeln schon wenige Tage nach der 
Operation recht erhebliche Veränderungen zur Beobachtung kamen. 

Dies Ergebniss kam nicht überraschend, da zahlreiche physiologische 
und pathologische Beobachtungen die enorme Wichtigkeit der Reflexreize 
für das Leben und die Function der motorischen Zellen beweisen, wie dies 
(a. a. O.) bei der Discussion meiner Befunde mehrfach hervorgehoben wurde. 

Bei der gleichen Gelegenheit wurde darauf hingewiesen, dass es ein 
gewisses Interesse haben würde, festzustellen, ob die durch den Ausfall der 
Refleximpulse in den motorischen Zellen hervorgerufenen Veränderungen 
so tiefgreifender Natur seien, dass sie einen merklichen Einfluss auf die von 
diesen Zellen ausgehenden Fasern auszuüben im Stande wären. 

Die Möglichkeit, diese Versuche auszuführen, wurde mir, ebenso wie 
bei den vorangegangenen, durch das liebenswürdige Entgegenkommen der 
Herren Geh. Medieinalrath Prof. Dr. Engelmann, Geh. Medicinalrath 
Prof. Dr. Fritsch und Prof. Dr. J. Munk im physiologischen Institut zu 
Berlin geboten. Bei der Anfertigung der mikroskopischen Präparate hat 


mich wiederum Hr. Dr. L. Brühl in der dankenswerthesten Weise unter- 
Archiv f. A. u. Ph. 1903. Physiol. Abthlg. 31 


482 KARL BRAEUNIG: 


stützt. Es sei mir gestattet, den genannten Herren an dieser Stelle meinen 
aufrichtigen Dank auszusprechen. 

Bei den Versuchsthieren, in diesem Falle ausschliesslich Hunden, wurde 
unter aseptischen Cautelen der Rückenmarkscanal im Lumbaltheil eröffnet; 
nach Spaltung des Duralsackes wurden die vorliegenden hinteren Wurzeln 
dicht bei ihrem Eintritt in das Mark, wo sie von den vorderen Wurzeln 
am weitesten entfernt sind, durchschnitten. Wenn die Thiere getödtet 
waren und sich bei der Herausnahme das Rückenmark mit den austretenden 
Wurzeln völlig überblicken liess, wurde festgestellt, welche von den post- 
dorsalen hinteren Wurzeln durchschnitten waren. Alsdann wurde das 
Lumbalmark im Zusammenhang mit den austretenden Wurzeln in Müller’- 
scher Flüssigkeit so weit fixirt, dass die Präparation der vorderen Wurzeln 
ohne Schwierigkeiten möglich war. Die vorderen Wurzeln mussten gewählt 
werden, da nur sie, und zwar vor ihrer Vereinigung und Durchflechtung 
mit den sensiblen Wurzeln annähernd rein die Wurzelfasern der moto- 
rischen Vorderhornzellen repräsentirern. Die lumbosacralen vorderen 
Wurzeln wurden also sorgfältig freipräparirt und in der Weise vom Rücken- 
mark abgetrennt, dass rechte und linke durch ein kleines Stück Marksub- 
stanz im Zusammenhang blieben, um später eine Orientirung zu ermöglichen. 

Diese kleinen Präparate wurden mit Igelstacheln in ihrer natürlichen 
Reihenfolge auf ein Korkplättehen aufgeheftet, noch etwa 8 Tage in 
Müller’scher Flüssigkeit gelassen und lagen schliesslich im Brütschrank 
bei 26 bis 30°C. in mehrmals gewechselter Marchiflüssigkeit (1 procent 
Osmiumsäure, Müller’sche Flüssigkeit &&) noch einmal 8 Tage. Darauf 
wurden sie durch Alkohol von steigender Concentration und Aetheralkohol 
in Celloidin gebracht. ! Nunmehr wurden die rechten und linken vorderen 
Wurzeln aus einander geschnitten und neben einander so eingebettet, dass 
durch einen Längsschnitt beide getroffen werden konnten. Aus jedem 
dieser, je ein Wurzelpaar enthaltenden Celloidinblöcke wurde eine Serie von 
12 bis 20 Schnitten angefertigt. Jedes einzelne Präparat enthält neben 
einander liegend je einen Schnitt aus der gesunden und aus der fraglichen 
vorderen Wurzel. Auf diese Weise lassen sich beide Seiten bequem mit 
einander vergleichen, häufig in demselben Gesichtsfeld (Fig. 1). Degenerirte 
Fasern zeigen in so behandelten Präparaten einen Zerfall der Markscheiden 
in Körner und Schollen, die durch Osmiumsäure schwarz gefärbt sind. 
während die normale Nervensubstanz hellbraun erscheint. 

Untersucht wurden die postthoracalen Wurzeln von der zweiten bis zur 
neunten. Die Durchmusterung der Präparate ergab Folgendes: 


ı Bei der Behandlung der Präparate wurde die von Apolant für das Ganglion 
eiliare angewandte und als brauchbar empfohlene Modification der Marchimethode in 
Anwendung gebracht. 


| 


ÜBER DEGENERATIONSVORGÄNGE IM MOTORISCHEN TELENEURON. 483 


Hund Nr. I: + 15 Tage nach der Operation. 

Durchschnitten: sechste, siebente und achte hintere Wurzel des Lumbal- 
markes links. 

Zweites bis viertes postthoracales Segment: Die Wurzeln der gesunden 
sowohl wie der operirten Seite zeigen ein normales Aussehen. 

Fünftes Segment: Die Wurzel der gesunden Seite ist frei von verän- 

derten Fasern, die der operirten Seite zeigt in ihrem centralen Theil einige 
wenige Markscheiden mit schwarzen Schollen. 
\ Sechstes bis neuntes Segment: Auf der Seite der Durchschneidung ist 
eine erhebliche Anzahl von Fasern im Zustand der frischen Degeneration 
(schwarze Schollen); solche Elemente finden sich vereinzelt auch in den 
Wurzeln der gesunden Seite. Von denjenigen der operirten Seite weisen 
die siebente und achte eine nicht unbeträchtlich grössere Zahl von alterirten 
Fasern auf, als die sechste und neunte Wurzel. 


Hund Nr. ID, + 18 Tage nach der Operation. 

Durehsehnitten: Fünfte und sechste hintere Wurzel des Lumbalmarkes 
links. 

Zweites bis viertes Segment: Die Wurzeln der operirten sowohl wie der 
gesunden Seite zeigen ein völlig normales Aussehen. 

Fünftes und sechstes Segment: Die operirte Seite weist in beiden Seg- 
menten recht erhebliche Veränderungen auf, die gesunde nur geringfügige. 

Siebentes Segment: Eine ziemlich beträchtliche Anzahl von Fasern zeigt 
auf der operirten, einzelne auf der gesunden Seite eine mit schwarzen 
Schollen erfüllte Markscheide. 

Achtes und neuntes Segment: Die Veränderungen sind auf beiden Seiten 
unbedeutend, wenn auch auf der Seite der Durchschneidung etwas aus- 
gesprochener. 


Hund Nr. III, + 22 Tage nach der Operation. 

Durchschnitten: Sechste bis achte hintere Wurzel des Lumbalmarkes 
links. 

Zweites bis viertes Segment: Die Wurzeln der operirten sowohl wie der 
gesunden Seite zeigen ein normales Aussehen. 

Fünftes Segment: Die Wurzel der operirten Seite zeigt leichte Ver- 
änderungen in ihrem nach dem Mark zu gelegenen Theil. Die Wurzel der 
gesunden Seite weist keine degenerirten Fasern auf. 

Sechstes bis achtes Segment: Ziemlich starke Veränderungen finden 
sich in den vorderen Wurzeln derjenigen Seite, auf der die hinteren Wurzeln 
durchschnitten sind. Die Wurzeln der unverletzten Körperhälfte weisen 
einige wenige veränderte Fasern auf. 

Neuntes Segment: Die Wurzel der operirten Seite ist fast, die der ge- 
sunden Seite völlig frei von veränderten Fasern. 


Fig. 1 zeigt einen Schnitt aus dem 8. Wurzelpaar von Hund Nr. III 
in etwa 80facher Vergrösserung, gezeichnet mit Hülfe des Leitz’schen Ob- 
jeetives III und Oculares I. Im Gesichtsfelde rechts nimmt man einen 
Theil des Schnittes aus der gesunden, links einen solchen aus der dazu 
gehörigen Wurzel der operirten Seite wahr. Der Unterschied ist in die 
Augen fallend, erscheint aber im natürlichen Präparat fast noch aus- 
gesprochener als in der Zeichnung. 

sız 


484 KARL BRAEUNIG: 


Fig. 2 zeigt das centrale Ende eines Schnittes aus der 5. Wurzel von 
Hund Nr. II. In diesem Präparate ist recht gut die vom Rückenmarke 
ans beginnende, sich in der Richtung nach der Peripherie weiter verbreitende 
Degeneration zu sehen. 


Aus diesen Befunden geht mit grosser Klarheit hervor, dass der Aus- 
fall der Reflexreize thatsächlich für die motorischen Vorderhornzellen eine 
Schädigung bedeutet, die tiefgreifend und nachhaltig genug ist, um sich in 
deutlich nachweisbaren Veränderungen in den von diesen Zellen ausgehenden 
Fasern kund zu geben. 


Die Vertheilung der Veränderungen bietet nichts wesentlich Anderes 
als eine Bestätigung der Ergebnisse der vorigen. Arbeit. Auch bei diesen 
drei Versuchsthieren finden wir in Uebereinstimmung mit Warrington (3) 
die stärksten Veränderungen in den vom siebenten und achten postthora- 
calen Segment ausgehenden Wurzeln, besonders in den beiden Fällen, ın 
denen die sechste bis achte hintere Wurzel durchschnitten sind, welche die 
wichtigsten sensiblen Nerven, nämlich die des ganzen Fusses führen. 
Andererseits sehen wir auch hier eine über diese Grenzen hinausgehende 
Verbreitung der fraglichen Vorgänge, selbst bis in die Wurzeln der 
gegenüber liegenden Seite. 


ÜBER DEGENERATIONSVORGÄNGE IM MOTORISCHEN TELENEURON. 485 


Besonders deutlich ist diese Abweichung von den Befunden 
Warrington’s in dem Falle, wo nur die fünfte und sechste hintere 
Wurzel durchschnitten sind. Hier findet man in der fünften und sechsten 
vorderen Wurzel erheblich mehr schwarzschollige Markscheiden als in 
der siebenten und achten Wurzel, obwohl letztere auch nicht unversehrt 
sind, da ja auch die wichtige sechste sensible Wurzel durchschnitten ist, die 
nach Sherrington (4) die sensiblen Fasern der Fusssohle enthält. 

Es ist schon in der früheren Arbeit (a. a. ©.) die Vermuthung aus- 
gesprochen worden, dass die Verschiedenheit der Warrington’schen Be- 


funde und der meinigen auf der verschiedenen Ausdehnung unserer Durch- 
schneidungen beruhe. Es sind deshalb mit Absicht bei dieser Versuchsreihe 
jedes Mal nur zwei bis drei hintere Wurzeln durchschnitten worden, während 
bei den früheren Versuchen je vier bis fünf derselben durchtrennt waren. 
Der beträchtliche Unterschied in der Localisation und Vertheilung der 
Veränderungen, je nachdem die fünfte und sechste oder die sechste bis 
achte hintere Wurzel zu den Versuchen verwendet waren, spricht sehr für 
die Auffassung, dass keineswegs allein, oder fast allein die Zellen des 
siebenten und achten Segmentes einerseits, die sechste und siebente hintere 
- Wurzel andererseits die in Rede stehenden Erscheinungen darbieten. 


486 Karı BraruniG: ÜBER DEGENERATIONSVORGÄNGE U. S. W. 


Ueber die Zahl der veränderten Fasern im Verhältniss zu den normalen 
lassen sich bei der angewandten Art der Präparation keine genaueren An- 
gaben machen. Ueber diesen Punkt ist gelegentlich der in der vorigen 
Arbeit (a. a. O.) gegebenen Zählungen und Tabellen ausführlicher verhandelt 
worden. 

Somit wäre diese Versuchsreihe vorläufig abgeschlossen. 

Wie weit man die Ergebnisse derselben zur Beantwortung der Frage, 
von der diese Untersuchungen ausgingen — nämlich der Frage, ob die 
bekannten, von Nissl zuerst beschriebenen Degenerationsvorgänge mehr eine 
Folge der Inactivität oder mehr eine solche des Mangels an Leben erhaltenden 
Reizen sind —, verwenden will, bleibt füglich einem Jeden anheim gestellt. 
Uns muss vorläufig genügen, wenigstens dafür den Nachweis erbracht zu 
haben, dass man den Mangel an Reflexreizen in dieser wichtigen Frage zur 
Erklärung heranziehen kann. 


Litteraturverzeichniss. 


1. Goldscheider und Flatau, Normale und pathologische Anatomie der 
Nervenzelle. Berlin 1898. Fischer. 

2. Goldscheider, Die Bedeutung der Reize für Pathologie und Therapie im 
Lichte der Neuronlehre. Leipzig 1898. 

3. Warrington, On the structural alterations observed in nerve cells. Journal 
of physiology. Vol. XXIII. p. 112. — Further observations on the structural alteration 
in the cells of spinal cord following various lesions. Zbenda. Vol. XXV. p. 462. 

4. C.8. Sherrington, Experiments in examination of the peripheral distribution 
of the fibres of the posterior roots of some spinal nerves. Philosophical transactions 
of the Royal Society of London. Vol. CLXXXIVB. p. 641. 


Hirnrinde und Augenbewegungen. 
Von 


Dr. W. Sterling 


aus Warschau, 


Von vier verschiedenen Stellen der Grosshirnrinde des Hundes erhält 
man bei elektrischer Reizung Augenbewegungen, nämlich erstens von der 
Sehsphäre, zweitens nach Baginsky’s Angabe von einer Stelle im unteren 
Theile des Schläfenlappens, drittens von einer Stelle am Rande des „Faecialis- 
gebietes“ und endlich viertens von einer Stelle im Bereich der „Nacken- 
region“. Es entsteht die Frage, warum für die Augenbewegungen so viele 
verschiedene Reizpunkte auf der Hirnrinde vorhanden sind, während andere 
Bewegungen im Allgemeinen nur von je einer Rindenstelle aus hervor- 
gerufen werden. Diese Frage ist zunächst dahin zu beantworten, dass die 
verschiedenen Rindenstellen zu den Augenbewegungen in verschiedener 
Beziehung stehen. Für die Sehsphäre ist anzunehmen, dass die Augen- 
bewegungen als Reflexe auf den durch die Reizung hervorgerufenen optischen 
Eindruck entstehen. Sie sind daher auch conjugirte Bewegungen beider 
Augen, und es können sich Bewegungen anderer Körpertheile anschliessen, 
die ebenfalls als Reflexe auf einen optischen Eindruck zu deuten sind. 
Ganz ähnlich ist es bei Reizung der Stelle des Schläfenlappens, indem, wie 
man annehmen darf, auf den entstehenden Gehörseindruck hin Bewegungen 
des Ohres, der Augen und des Kopfes reflectorisch erfolgen. In diesen 
beiden Fällen ist also die Einwirkung des Reizes nicht eine unmittelbar 
motorische, sondern sie löst erst durch Vermittelung eines sensibelen Ein- 
druckes den Bewegungsantrieb aus. Man kann nun weiter fragen, welche 
Stelle der Hirnrinde es denn ist, die eigentlich und unmittelbar auf die 
Bewegung der Augen wirkt, in dem Sinne, wie etwa ein Punkt der 
„Extremitätenregion“ die Bewegung der Extremität vermittelt. 


488 W. STERLING: 


Bei Reizung in der „Nackenregion“ tritt zugleich mit der Bewegung 
der Augen eine Wendung des Kopfes ein. Hier ist es also denkbar und 
sogar wahrscheinlich, dass wiederum die Augenbewegung nicht unmittelbar 
von der Reizung abhängt, sondern nur als Associationsbewegung im Zu- 
sammenhang mit der Bewegung des Kopfes zu Stande kommt. Demnach 
bliebe nur die Stelle im Facialisgebiet übrig, die als unmittelbares Rinden- 
centrum für die Augenbewegung zu betrachten wäre. Wie man sieht, ist 
es für diesen Schluss von Bedeutung, ob man die Augenbewegungen bei 
Reizung in der „Nackenregion“ als unmittelbare Folge des Reizes oder 
nur als Associationsbewegung ansehen will. Auf Anregung des Hrn. Geh.- 
Rath Munk habe ich unternommen, zwischen diesen beiden Möglichkeiten 
eine Entscheidung durch Versuche anzubahnen. Man darf voraussetzen, 
dass sich die primäre Bewegung von der Associationsbewegung dadurch 
unterscheiden wird, dass sie bei geringerer Reizstärke oder in einem 
grösseren Umkreise hervorgerufen werden kann, während die Associations- 
bewegung erst bei stärkeren Reizen oder nur von vereinzelten Stellen des 
betreffenden Gebietes aus zu erhalten sein wird.’ Ganz allgemein erhält 
man ja bei Reizung von motorischen Rindengebieten je nach der Stärke 
des Reizes verschiedene Bewegungen, indem bei schwächster Reizung nur 
eine primäre Bewegung erfolgt, zu der sich bei stärkerer Reizung andere 
Bewegungen hinzugesellen. Auf diese Erwägung gründete sich meine erste 
Versuchsreihe. 

Die Versuche wurden an Hunden angestellt, denen auf die gewöhnliche 
Weise unter Morphium- und Aethernarkose die Hirnrinde in dem erforder- 
lichen Umfange freigelegt worden war. Zur Reizung dienten Platinknopf- 
elektroden, die an ein Schlitteninductorium mit einem Daniell angeschlossen 
waren. Die Versuche betrafen denjenigen Theil der Rindenoberfläche, der 
nach medialwärts durch die Fissura sagittalis, nach hinten durch die Fissura 
cruciata, nach vorn durch die Fissura praesylvia und deren angenommene 
Verlängerung bis zur Fissura sagittalis begrenzt wird. Dies Gebiet mag 
zum Zwecke der genaueren Bezeichnung in neun gleiche Felder eingetheilt 
und diese auf der linken Hemisphäre von links vorn an, auf der rechten 
in symmetrischer Ordnung mit den Zahlen von eins bis neun bezeichnet 
werden. Mitunter wurden zum Vergleich auch andere Rindenstellen gereizt. 
Meist wurden die Versuche erst an der einen, dann an der anderen 
Hemisphäre ausgeführt. 


! Von der Exstirpationsmethode, die bei ähnlichen Fragen zweckmässig anzu- 
wenden ist, durfte in unserem Falle keine Auskunft erwartet werden, da gerade in 
Folge der mannigfachen Beziehungen der Augenbewegung Ausfallserscheinungen nach 
Exstirpation der einzelnen Rindengebiete nicht zu erkennen sind. 


HIRNRINDE UND AUGENBEWEGUNGEN. 489 


Schon bei dem ersten Versuche stellte sich heraus, was bisher nicht 
beachtet worden ist, dass es im Bereiche der sogenannten „Nackenregion“ 
ein Gebiet giebt, dessen Reizung Bewegung der Augen ohne Erregung der 
Nackenmuskeln hervorruft. Die Localisation dieses Gebietes ist constant, 
es befindet sich im medialen Theile des hinteren Abschnittes der Nacken- 
region, also im Felde 6 der obigen Eintheilung. Was die Form der Be- 
wegungen betrifft, so sind es conjugirte Bewegungen beider Bulbi nach 
der der gereizten Hemisphäre entgegengesetzten Seite. 

Manchmal machten allerdings die beiden Augen Bewegungen von un- 
eleichem Umfang, und manchmal kann man auch sehen, dass sich die 
Bewegungen nicht streng in der horizontalen Ebene abspielen, sondern 
dass die Bulbi nach der Gegenseite und zugleich nach oben oder unten 
gedreht werden, ja es kann sich der eine Bulbus nach der Gegenseite und 
nach oben, der andere nach der gleichen Seite und nach unten drehen. 
Doch ist das Auftreten dieser Abweichun- 
gen durchaus inconstant, und es liess sich 
auch keine Abhängigkeit vom Reizpunkt 
nachweisen, die zu feinerer Eintheilung 
des Reizgebietes hätte führen können. Da- 
gegen ergiebt die Prüfung mit wachsenden 
Reizstärken Folgendes: 

Wenn man mit dem Rollenabstand 
100" den Versuch beginnt, so bekommt 
man zwar meist noch gar keine Wirkung, 
manchmal sieht man aber schon eine deut- 
liche Lidöffnung eintreten. Von derselben 
Stelle aus erhält man dann etwa bei dem Rollenabstand 70 "® Bewegungen 
der Augen, so dass also die Lidöffnung gewissermaassen als Vorläufer zur 
Bulbusbewegung zu betrachten ist. Bei weiterem Verstärken der Reizung, 
ohne dass die Elektroden aus ihrer anfänglichen Lage entfernt werden, 
gesellen sich nun zu den Augenbewegungen immer Contractionen der 
Nackenmuskeln, die den Kopf nach der der Reizung entgegengesetzten 
Seite wenden. In allen Versuchen war ganz regelmässig von allen Punkten, 
von denen man Augenbewegung erhielt, auch Nackenbewegung zu erhalten, 
nur bedurfte es einer gewissen Verstärkung des Reizes. 

Während man also von einem Theile der „Nackenregion“ Nacken- 
bewegungen allein erhält, erhält man von einem anderen Theile bei 
schwacher Reizung Augenbewegung, bei stärkerer Reizung Bewegung der 
Augen und des Nackens. 

Dies Ergebniss schliesst sich den Beobachtungen an, die von anderen 
Untersuchern bei Reizung der entsprechenden Rindenstellen des Affen ge- 


490 W. STERLING: 


macht worden sind. Schäfer bezeichnet auf seinem Schema des Affenhirns 
eine Stelle 86 als Punkt, dessen Reizung associirte Bewegung der Augen 
und des Kopfes nach der Gegenseite hervorruft. 


Nach den Angaben Ferrier’s erhält man vom Lobus praefrontalis, der 
vor der Linie gelegen ist, die man sich senkrecht auf das vordere Ende 
des Sulcus praecentralis gezogen denken kann, auf Reiz keinerlei Be- 
wegungserscheinungen. Dies wird in der Folge von Horsley, Beevor 
und anderen Autoren bestätigt. Zwischen dieser Stelle einerseits und dem 
Sulcus praecentralis und seiner Verlängerung zum Sulcus longitudinalis 
andererseits befindet sich eine Region, deren Reizung nach Ferrier Oefi- 
nung der Augen, Pupillenerweiterung und Bewegung der Augen und des 
Kopfes nach der entgegengesetzten Seite auslöst. Beevor und Horsley 
haben durch Anwendung schwacher und minimaler Reize diese Region in 
drei verschiedene Centra eingetheilt. Das am meisten medianwärts gelegene 
ruft Bewegung des Kopfes nach der Gegenseite hervor, das mittlere Be- 
wegung des Kopfes und der Augen nach der Gegenseite, das lateralste Be- 
wegung der Augen allein nach der Gegenseite. Mott befürwortet eine 
noch detaillirtere Eintheilung dieses Rindengebietes. Nach seinen Be- 
funden löst die Reizung dieser Stelle beim Affen folgende Bewegungen aus: 
a) Drehung des Auges in horizontaler Richtung. b) Drehung des Auges 
nach der entgegengesetzten Seite und nach oben. c) Drehung des Auges 
nach der entgegengesetzten Seite und nach unten. Diese Centra liegen 
in der Richtung von medial nach lateral so geordnet, dass das 
Centrum für Drehung der Augen nach der Gegenseite und nach unten 
am meisten medialwärts liegt, unmittelbar lateralwärts das Centrum für 
die horizontale Drehung folgt, und am weitesten lateral das Centrum für 
Drehung der Bulbi nach der Gegenseite und nach oben gelegen ist. Eine 
ganz ähnliche Eintheilung stellt derselbe Autor für das Centrum der Kopf- 
bewegungen auf. 


Beevor und Horsley haben auch beim Orang in der hinteren Ab- 
theilung des Stirnlappens ein Centrum für Augenbewegungen nachgewiesen. 
Ausserdem fanden sie, dass Reizung des mittleren Abschnittes der vorderen 
Centralwindung associrte Bewegungen der Augen und des Kopfes nach 
der Gegenseite zur Folge hat. 


Bechterew’s Reizversuche am Affen erwiesen, dass die Wendung von 
Kopf und Augen und das Oeffnen der Lidspalte von einem ziemlich umfang- 
reichen Rindengebiete aus ausgelöst werden kann. Man erhält aber von 
bestimmten Punkten die eine, von anderen die andere Bewegung. So 
können von dem medialsten Theile dieses Rindenfeldes Bewegungen des 
Kopfes, von dem lateralen Theile Bewegungen der Augen nach der Gegen- 


HIRNRINDE UND AUGENBEWEGUNGEN. 491 


seite hervorgerufen werden. Reizung des mittleren Theils ergiebt Be- 
wegungen des Kopfes und der Augen. 


Die Uebereinstimmung dieser Angaben mit den oben dargestellten 
Versuchsergebnissen liegt auf der Hand. Im Sinne der Eingangs an- 
gestellten Betrachtung könnte man aus allem dem zu dem Schluss kommen, 
dass von einem Theil der sogenannten „Nackenregion“, der sich entweder 
durch Localisation des Reizes oder durch passende Wahl der Reizstärke 
abgrenzen lässt, unmittelbar als primäre Wirkung Bewegung der Augen 
zu erhalten wäre. Denn man erhält die Augenbewegungen bei viel 
schwächeren Strömen, als die Bewegungen des Kopfes. Es ist aber ein- 
zuwenden, dass sich die Bewegung der Augen ungleich schärfer erkennen 
lässt, als die des Kopfes. Es wäre denkbar, dass die Reizung zwar die 
Nackenmusculatur primär erregt, dass aber die Bewegung wegen der vor- 
handenen Widerstände, oder weil sie durch gleichzeitige Erregung anta- 
gonistischer Muskeln compensirt wird, der Beobachtung entgeht, während 
die durch Association gleichzeitig stattfindende Bewegung der Augen deutlich 
wahrgenommen wird. Wenn man die Nackenmusculatur blosslegt, lässt 
sich dieser Einwand insofern bestätigen, als man durch Palpation feststellen 
kann, dass wenigstens einzelne Muskelbündel sich contrahiren, wenn der 
Reiz noch lange nicht stark genug ist, um sichtbare Bewegungen des 
Kopfes hervorzubringen. 


Da also auf diesem Wege eine unzweideutige Entscheidung der Frage 
nach den Beziehungen der „Nackenregion® zu der Augenbewegung nicht 
zu erreichen war, wurde auf den Vorschlag des Hrn. Geh.-Rath Munk 
eine zweite Reihe von Versuchen nach folgendem Plane unternommen: 
Wenn die eine der beiden Bewegungen, entweder die des Kopfes oder die 
der Augen, von der betreffenden Stelle der Hirnrinde aus primär und 
unmittelbar, die andere nur durch Association ausgelöst wird, so muss es, 
da sich die Association erst im Laufe der Zeit ausbildet, ein Stadium der 
Entwickelung geben, in dem die Association noch nicht besteht, wo also die 
primäre Bewegung allein eintritt. Es kommt also nur darauf an, bei Thieren 
in hinlänglich jugendlichem Alter die Reizung vorzunehmen, um auf diese 
Weise die Grundbeweguug von der Associationsbewegung zu unterscheiden. 


Da die Erregbarkeit der Hirnrinde beim Hunde erst gegen den 
10. Lebenstag auftritt, begann ich, um ganz sicher zu gehen, meine 
Versuchsreihe mit einem 8 Tage alten Hündchen. Die Narkose wurde. mit 
Aether allein ohne Morphium ausgeführt, die Schädelkapsel, die an den 
Näthen noch nicht schloss, mit dem Scalpell angeschnitten und mit einer 
feinen Knochenzange weiter eröffnet. Die Entfernung der Dura war durch 
das starke Vordrängen der Gehirnsubstanz besonders erschwert. 


492 W. STERLING: 


Unter allmäblichem Aufschieben der Rolle wurde dann eine Stelle des 
betreffenden Rindengebietes nach der anderen geprüft. Zum Vergleich wurde 
nicht nur in der „Nackenregion“, sondern jedes Mal auch von der Stelle 
des Facialisgebietes aus gereizt. In nachfolgender Uebersicht über die 
Versuche ist im ersten Stabe die laufende Nummer des Versuches, im 
zweiten das Lebensalter in Tagen angegeben. Das Pluszeichen im dritten 
Stabe bedeutet Eintreten von Augenbewegung beim Reizen der Nackenregion, 
das Pluszeichen im vierten Stabe Lidschluss bei Reizung der Stelle des 
Facialisgebietes. Das Minuszeichen im dritten bedeutet, dass selbst die 
stärkste Reizung nur Nackenbewegung ergab, im vierten, dass aus irgend 
welchem Grunde die Reizung im Facialisgebiet erfolglos war. 


[0 0) 
| 
| 


» 

» 

| 
I++J| 


Pure 
PwDme+ oo @ AI UT PR WVOD m 
DD 
- 


FH ++ | +++ | 


Es zeigte sich, dass schon vom 8. Lebenstage an Nackenbewegungen auf 
Reiz der Nackenregion zu erkennen waren, während die Augen, die ja in 
diesem Alter beim Hunde noch geschlossen sind, erst vom 21. Tage an 
auf die Reizung reagirten. Um dies als zahlenmässig sicheres Ergebniss 
hinzustellen, ist die Anzahl der Versuche allerdings nicht hinreichend. 
Wohl aber gewährt diese Versuchsreihe einen neuen sehr einleuchtenden 
Wahrscheinlichkeitsgrund für die Annahme, dass die Bewegung der Augen 
bei Reizung der Nackenregion bloss durch Association zu Stande komme. 

Diese Annahme hat a priori Verschiedenes für sich. Erstens ist es 
unwahrscheinlich, dass die Augenmuskeln auf der Hirnrinde mitten zwischen 
den Nackenmuskeln vertreten sein sollten, weil die Anordnung der Rinden- 
gebiete im Allgemeinen der topographischen Anordnung der Muskeln folgt. 
Ist doch sogar das Centrum für die Kehlkopfmuskeln, die doch physiologisch 
zur Halsmusculatur sehr wenig Beziehung haben, in der „Halsregion‘ ge- 
legen. Daher ist es an und für sich viel wahrscheinlicher, dass die Augen- 
muskeln ihr eigentliches Centrum im „Facialisgebiet“ haben, als in der 
„Nackenregion“. 


HIRNRINDE UND AUGENBEWEGUNGEN. 4953 


Zweitens aber erfolgt bei Reizung der Nackenregion conjugirte Be- 
wegung beider Augen, während von der Stelle des Facialisgebietes aus 
einseitige Augenbewegungen erzeugt werden. Dieser Umstand zeigt sehr 
deutlich, dass die Erregung bei Reizung der Nackenregion mindestens ein 
Centrum für conjugirte Augenbewegungen zu durchlaufen hat, ehe sie die 
Ursprungsstelle der Innervation der Muskeln des einzelnen Auges erreicht, 
während die Reizung von der Stelle des Facialisgebietes aus, da sie nur die 
Muskeln eines Auges erregt, mit grösserer Wahrscheinlichkeit als das eigent- 
liche primäre Centrum der Augenbewegung anzusehen ist, 


Die beschriebenen Versuche wurden im physiologischen Laboratorium 
der thierärztlichen Hochschule in Berlin unter der Leitung des Hrn. Geh.- 
Rath Munk ausgeführt, dem ich zum Schlusse meinen verbindlichsten 
Dank für das liebenswürdige unermüdete Interesse für meine Arbeit aus- 
sprechen möchte. 

Ebenso danke ich herzlich dem Hrn. Privatdoc. Dr. R. du Bois 
Reymond, der mich stets bei meiner Arbeit mit Rath und That unter- 
stützt hat. 


Ueber die Vorgänge im Organismus bei der Transfusion 
fremdartigen Blutes. 


Von 


Dr. Hans Sachs, 


Assistent am Institute, 


(Aus dem Königl. Institut für experimentelle Therapie in Frankfurt a. M. 
Director: Geh. Medieinalrath Professor Dr. P. Ehrlich.) 


Ueber das Verhalten und die Lebensdauer der in die Blutbahn einer 
fremden Thierart eingeführten rothen Blutkörperchen liegen nur wenige 
Erfahrungen vor. Da man früher zur Differenzirung der verschiedenartigen 
Blutzellen auf die mikroskopische Beobachtung angewiesen war, so war die 
Aufgabe von vornherein sehr schwierig, wenn man nicht sehr weit entfernt 
stehende Thierarten, deren Blutkörperchen sich durch das Vorhandensein 
oder Fehlen von Kernen leicht unterscheiden lassen, zur Blutübertraeung 
wählte. Marfels und Moleschott! wollen Hammelblutkörperchen im 
Herzblut des Frosches mindestens 14 Tage lang (event. bis zu 4 Wochen) 
nachgewiesen haben und gelangten daher zu der schon von Kölliker? 
vertretenen Auffassung, dass die rothen Blutkörperchen keine so sehr vergäng- 
lichen Gebilde sind. Indess ist das Verhalten der Erythrocyten in der fremden 
Blutbahn nicht nur von ihrer natürlichen Lebensdauer abhängig, sondern 
es wird in hohem Maasse beeinflusst durch die hämolytischen Eigenschaften 
des fremden Serums. Landois?, der bei seinen Transfusionsstudien früh- 
zeitig diese Verhältnisse würdigte, beobachtete bei Transfusionsversuchen 
mit Hammelblut den Verbleib von Hammelerythrocyten im Hundeblut, 


! F. Marfels und J. Moleschott, Ueber die Lebensdauer der Blutkörperchen. 
Moleschott’s Untersuchungen zur Naturlehre des Menschen und der Thiere. 1856. 
Ba. 1. 

®2 Kölliker, Mikroskopische Anatomie. Bd.Il. 2. Abthlg. 

® Landois, Die Transfusion des Blutes. Leipzig 1875. 


Hans SacHas: TRANSFUSION FREMDARTIGEN BLUTES. 495 


wobei er allerdings nur die geringe Grössendifferenz von Hammel- und 
Hundeblutzellen als Criterium verwenden konnte. Landois fand, dass 
auch bei reichlicher Transfusion die Hammelblutkörperchen in wenigen 
Minuten verschwunden sind. Ebenso waren im Kaninchenblut 3 Stunden 
nach der Transfusion von Hammelerythrocyten letztere nicht mehr nach- 
zuweisen. Dagegen konnte Landois im Katzenblut noch 2 Tage nach 
der Injection Hundeblutzellen beobachten. Bei Transfusionen am Frosch 
sah Landois die fremden Blutkörperchen innerhalb weniger Minuten oder 
Stunden verschwinden, was im Gegensatz zu den Beobachtungen von 
Marfels und Moleschott steht. 

Der Zerfall der Erythrocyten innerhalb eines fremden Blutes ist 
natürlich, wie schon Landois betont hat, in erster Linie abhängig von 
der Fähigkeit des fremdartigen Serums, die injieirten Blutkörperchen auf- 
zulösen. Wenn aber das Serum des Blutempfängers auf die injieirten 
Erythrocyten nicht hämolytisch wirkt, so wird man nach unserer neueren 
Kenntnis noch ein zweites Moment für das Verschwinden der fremden 
Blutzellen in Betracht ziehen müssen, nämlich die immunisatorisch hervor- 
gerufene Bildung von Hämolysinen. Da bekanntlich der Organismus auf 
die Injection fremden Blutes ganz allgemein mit der Production specifischer 
Hämolysine antwortet!, so wird das Fortbestehen der fremden Blut- 
körperchen schon dadurch ein nur relativ beschränktes sein können und 
in keinem Falle für die Erkennung der wirklichen Lebensdauer der Blut- 
zellen verwerthet werden dürfen. Bei niederen Thieren und Kaltblütern 
allerdings besteht hierin vielleicht insofern eine Ausnahme, als bei ihnen 
nach den Untersuchungen von Metschnikoff?, Mesnil?, v. Dungern‘, 
die Fähigkeit der Antikörperbildung durchaus nicht allgemein in der 
'Thierreihe verbreitet ist, während andererseits durch die Beobachtungen 
Noguchis® auch für gewisse Kaltblüter (Schildkröten) die Möglichkeit, 
specifische Hämolysine zu erzeugen, sicher erwiesen ist. 


iR 


Es erschien mir nun von Interesse, das Verhalten von Blutkörper- 
chen im fremden Organismus gerade in Bezug auf die Amboceptoren- 
erzeugung näher zu untersuchen. Ist doch auch heute, wo wir nicht mehr auf 


1 Siehe Bordet, Annales de UInstitut Pasteur. 1898—1901. — Ehrlich und 
Morgenroth, Berliner klinische Wochenschrift. 1899—1901. 

2 Annales de U’Institut Pasteur. 1897. 

3 Ebenda. 1901. 

* von Dungern, Die Antikörper. Jena 1903. 

5 Tiniversity of Pennsylvania, medical Bulletin. 1902. 


496 Hans SAcHs: 


die Messung von geringfügigen Grössenunterschieden zur Differenzirung von 
Säugethierblutkörperechen angewiesen sind, der Nachweis fremder Blutzellen 
im Blute erheblich exacter und einfacher geworden. Die Anwendung der 
specifisch hämolytischen Sera gestattet es, in einer Mischung von empfind- 
lichen und unempfindlichen Erythrocyten durch die Auflösung der ersteren 
diese mit Leichtigkeit von andersartigen zu unterscheiden. 

Ueber das Verhalten fremdartigen Serumeiweisses im Blute liegen 
bereits die analogen Versuche von Dungern’s! vor, der das Verbleiben 
der präcipitablen Substanz des Kaninchen intravenös injieirten Plasmas von 
Maja squinado mittels specifischer Präcipitine verfolgte. 

Die entsprechende Frage über das Schieksal fremder Blutkörperchen 
hat vorläufig noch keine Bearbeitung gefunden, und ich suchte diese Lücke 
auszufüllen, indem ich das Verhalten des Ochsenblutes im Kaninchen- 
organismus zum Gegenstand meiner Untersuchungen machte. ? 


Das Ochsenblut wurde von Serum befreit und gewaschen, in einer 
Menge von 30 bis 35 “” in die Ohrvene der Kaninchen gespritzt; diese 
relativ grossen Quantitäten serumfreien Blutes werden stets gut vertragen. 
Die Prüfung des Blutes dieser Kaninchen geschah in folgender Weise: Die 
abgelassenen Blutproben wurden gründlich gewaschen und, auf das ursprüng- 
liche Niveau aufgefüllt, in fallenden Mengen (tropfenweise) in einer Reihe 
von Reagensgläsern vertheilt. Dazu kam überall eine reichliche Menge 
(0.1 °®) inaetiven, für Ochsenblut specifischen Serums (vom Kaninchen 
dnreh Vorbehandeln mit Ochsenblut gewonnen), und ein sicher ausreichender 
Complementüberschuss (0 -3 “® actives normales Kaninchenserum). Kaninchen- 
blutkörperchen bleiben in dieser nur aus Kaninchenserum zusammengesetzten, 
für Ochsenblut specifisch hämolytischen Mischung natürlich völlig intaet.? 

Die einzelnen Röhrchen wurden mit Kochsalzlösung auf ein constantes 
Volum (2-5 oder 3.0 °®) gebracht und blieben dann wie immer, 2 Stunden 
im Brutschrank, über Nacht im Eisschrank. Am nächsten Tage haben sich 
die ungelöst gebliebenen Kaninchenblutkörperchen gesenkt, und die über- 
stehende Flüssigkeit ist, wenn noch Ochsenblutkörperchen vorhanden waren, 
durch deren Hämolyse mehr oder weniger stark geröthet. Durch colori- 
metrischen Vergleich der einzelnen Röhrchen mit einer Lösung einer ge- 
messenen Menge nativen Ochsenblutes kann man auch ein ungefähres Ur- 
theil über die in der Kaninchenblutbahn noch kreisende Ochsenblutmenge 
erhalten. 


! von Dungern, 2.2.0. 

? Ochsenblut wird durch normales Kaninchenserum nicht gelöst. 

® Man kann sich von der Anwesenheit von Ochsenblutkörperchen im Kaninchen- 
blute auch durch eine Versuchsanordnung überzeugen, die sich zu dem beschriebenen 
Verfahren wie das Negativ zum Positiv verhält. Man bringt nämlich die Kaninchen- 
erythrocythen durch ein Hämolysin, am besten das Ochsenblut ja sicher nicht an- 
greifende, aber Kaninchenblutkörperchen lösende Ochsenserum zur Auflösung; so lange 
Öchsenblutkörperchen vorhanden sind, bleibt dann ein Blutrest ungelöst. 


TRANSFUSION FREMDARTIGEN BLUTES. 497 


Die intravenös injieirten Ochsenblutkörperchen waren nun in meinen 
Versuchen stets mehrere Tage lang im Kaninchenblute nachzuweisen, und 
zwar meist in annähernd vollständiger Menge. In folgender Tabelle lasse 
ich die Zeiten des letzten Nachweises und des ersten Fehlens des Ochsen- 
blutes folgen. 


Tabelle I. 
Ochsenblut Ochsenblut 

Kaninchen nachzuweisen fehlt 

nach Stunden nach Stunden 
IL | 41 68 
I. 92 116 
Il. 70 94 
10% | 70 94 
V. — 46 
VI. | 46 62 
vll. 46 62 
vIl. 48 72 
IDG 48 72 
X. | 51 66 
sXall 51 66 
XH. 46 52 
XII. | 69 76 
XIV. 50 65 
XV. 65 74 


Wie die Tabelle zeigt, bleibt das Ochsenblut bei den einzelnen Kanin- 
chen verschieden lange erhalten. Während es in einem Falle (Kaninchen V) 
schon nach 46 Stunden vollständig verschwunden war, blieb es in anderen 
Fällen mindestens 70 bis 92 Stunden lang nachweisbar. Auf die Be- 
ziehung dieser zeitlichen Differenzen zur Amboceptorenbildung werden wir 
später zurückkommen. Jedenfalls ergiebt sich aus den Versuchen, dass das 
Ochsenblut auch im fremden Organismus eine relativ lange Zeit, durch- 
schnittlich wohl 2 bis 3 Tage, erhalten bleibt. Das Verschwinden des Ochsen- 
blutes erfolgt, wie ich mich speciell an Kaninchen XII und XIII, bei denen 
die Blutprüfungen in geringen Zeitintervallen vorgenommen wurden, über- 
zeugen konnte, für die Hauptmasse der Blutmenge kritisch. Denn bei 
Kaninchen XII entsprach nach 46 Stunden der lackfarben gewordene Blut- 
antheil nach colorimetrischer Schätzung noch !/, der Gesammtblutmenge. 
Rechnet man das Blutvolumen = !/,, bis !/,, des Körpergewichtes, so kreisten 
also von den injieirten 35 °m Ochsenblut noch ungefähr 30 “® im Kaninchen- 
organismus (das Kaninchen wog etwa 2 *e), während 6 Stunden später das 
Ochsenblut restlos entfernt war. Auch das Blut von Kaninchen XIII ent- 


hielt noch 7 Stunden vor dem völligen Fehlen etwa 16 “m; 14 Stunden 
Archiv f. A. u. Ph. 1903. Physiol. Abthlg. 32 


498 Hans SacaHs: 


vorher 22 «= und 28 Stunden vorher noch 30 «= Ochsenblut. Geringe 
Mengen Ochsenblutes werden allmählich schon vorher entfernt, wie das leicht 
geröthete Serum und die geringe Hämoglobinurie zeigten. Mit der plötz- 
lichen massenhaften Entfernung der Hauptblutmenge geht aber auch ein 
ganz colossaler Anstieg des Hämoglobingehaltes des Harns einher; nach 
kurzer Zeit bereits ist die Hämoglobinurie vollständig erloschen. 


I. 


Wie verhält sich nun die Amboceptorenbildung in den 
ersten Tagen nach der Blutinjection? Schon Bulloch! hat in 
seinen Untersuchungen der Incubationsdauer bei der immunisatorischen 
Hämolysinerzeugung besondere Aufmerksamkeit geschenkt. 

Er fand, dass die Latenzperiode zwischen der Einführung des Ochsen- 
blutes und dem ersten Auftreten von Hämolysin im Kaninchenserum bei 
subeutaner Injection etwa 7 Tage, bei intravenöser oder peritonealer In- 
jection dagegen nur 3 Tage betrug. Meine eigenen Versuche bestätigen 
die letztere Angabe im Allgemeinen, wenngleich auch hierbei eine nicht 
unerhebliche individuelle Verschiedenheit innerhalb gewisser Grenzen zu 
beobachten ist. 


Der Nachweis des Amboceptors im Kaninchenserum geschah in der 
Weise, dass 1 °% einer 5 procent. Aufschwemmung von Öchsenblut mit 
0.3 °m normalen Kaninchenserums als Complement und fallenden Mengen 
des zu prüfenden Serums gemischt wurde. 


Es hat sich nun gezeigt, dass der Zeitpunkt des ersten Auftretens von 
freiem Amboceptor im Serum mit dem Verschwinden des injieirten Ochsen- 
blutes in engem Zusammenhange steht. Zu den in der ersten Oolonne der 
Tabelle I angegebenen Zeiten war nämlich Amboceptor im Serum noch 
nicht nachweisbar oder in einzelnen Versuchen höchstens in minimalen 
Spuren vorhanden; als aber das Ochsenblut aus dem Kreislauf verschwunden 
war (vgl. Colonne 2), wirkte. das Serum stets deutlich hämolytisch (gewöhn- 
lich bewirkte dann schon 0.5 «m complete Hämolyse). Die Incubationszeit 
schwankte also in meinen Versuchen von 46 Stunden (Kaninchen V)? bis 


ı W. Bulloch, On the nature of Hämolysis and its relation to Bacteriolysis. 
Transactions of the Pathological Society of London. 1901. Bd. LII. — Auch; Central- 
blatt für Bakteriologie. 1901. Bd. XXIX. I. Abthlg. 

° In diesem Falle waren 5 °® der injieirten Blutmenge vorher durch Wasser 
lackfarben gemacht worden, in der Erwartung, dass so die Resorption erleichtert und 
die Amboceptorenbildung beschleunigt werden würde. Entsprach auch in diesem Ver- 
suche das Resultat dieser Annahme, so konnte ich in späteren Versuchen bei gleichem 
Vorgehen keinen wesentlich begünstigenden Einfluss beobachten. 


mn 


TRANSFUSION FREMDARTIGEN BLUTES. 499 


höchstens 116 Stunden (Kaninchen II); in der Regel waren nach 2!/, bis 
3 Tagen bereits deutlich nachweisbare Mengen Amboceptors gebildet.! Nicht 
ohne Hinweis möchte ich es lassen, dass bei einigen Kaninchen, wie schon 
erwähnt, Amboceptor, allerdings nur in Spuren, zu einer Zeit zu bemerken 
war, in der noch Ochsenblutkörperchen in der Blutbahn kreisten. Wir 
werden wohl nicht fehlgehen, wenn wir den ganzen Vorgang in der Weise 
auffassen, dass zunächst die empfindlichsten Ochsenblutkörperchen zur Re- 
sorption gelangen, sei es, dass sie durch normale, im Kaninchenblute in 
äusserst geringer Concentration vorhandene Hämolysine gelöst werden, sei 
es, dass sie irgend welchen andersartigen Schädlichkeiten unterliegen. Die 
resorbirten Blutzellen gelangen dann zu den passenden Receptoren und be- 
wirken deren Abstossung als Amboceptoren. Die in der Blutbahn kreisenden 
Amboceptoren werden natürlich von den empfindlichen Ochsenerythrocyten 
gebunden und bringen letztere zur Auflösung. Freier Amboceptor wird 
also in der Regel im Blute erst dann kreisen können, wenn alles Ochsen- 
blut entfernt ist. Dies scheint zwar, wie oben erörtert wurde, ziemlich 
schnell zu geschehen, immerhin aber verliert der Begriff der Incubationszeit 
etwas an Bestimmtheit. Denn die erste Amboceptorensecretion kann und 
muss schon eine gewisse Zeit vor dem Nachweise im Serum erfolgt sein, 
nur wurde der Amboceptor, kaum in die Blutbahn gelangt, zur Hämolyse 
des Ochsenblutes verbraucht und entging dadurch der Beobachtung. Ge- 
legentlich aber wird man vielleicht bei der Blutentnahme einen Zeitpunkt 
treffen können, wo die Verankerung der eben gebildeten Amboceptoren an 
die Ochsenblutkörperchen noch nicht vollständig erfolgt ist, und so dürfte 
das von uns zuweilen beobachtete Vorhandensein von Amboceptorenspuren 
im Serum bei gleichzeitiger Anwesenheit von Ochsenblut seine einfachste 
Erklärung finden. 

Man wird sich auch nicht wundern können, wenn man einmal bei 
einer Blutentziehung sensibilisirte Ochsenblutkörperchen findet, die sich 
schon im normalen Kaninchenserum (Complement) lösen. Während der 
Periode der Ochsenblutausscheidung muss ja ein erheblicher Complement- 
verbrauch stattfinden, und so kann es temporär leicht zu einem Comple- 
mentmangel kommen, so dass ein Theil amboceptorenbeladener Blut- 


1 Die Menge des injieirten Blutes scheint übrigens ohne wesentlichen Einfluss 
auf die Incubationszeit zu sein. So konnte ich in einer Serie von Kaninchen, bei der 
ich mit der intravenös eingeführten Blutmenge bis 0-125 °“® herabging, stets am 4. Tage 
Amboceptor im Serum nachweisen. Jedoch scheint 1 °® Blut der Schwellenwerth zu 
sein, der noch hochwerthige Sera (0-°025 bis 0.01 complet lösende Dosis) entstehen 
lässt. Bei Injection geringerer Blutmengen erreichte der Aboceptorentitre nie eine 
nennenswerthe Höhe (Maximum: 0-25 complet) und schien auch schneller wieder zu 
fallen. 


O,YT 
Üss 


500 Hans SAcHs: 

körperchen eben noch der Auflösung entgeht.! Indess habe ich nur ein 
einziges Mal eine Andeutung eines derartigen Stadiums beobachten können- 
Im Allgemeinen scheint die ganze Reaction der Hämolyse eben auch in 
der Blutbahn sehr rasch zu verlaufen und die Regeneration? der Comple- 
mente!schnell zu erfolgen, so dass man bei den relativ langen Intervallen 
der Blutentnahmen nur ganz zufälliger Weise einmal Zwischenstufen zu 
sehen bekommt. 


JUNE 


Die schnell erfolgende Auflösung des Ochsenblutes im Kaninchen- 
organismus, mit der doch ein grosser Verbrauch des Complementes einher- 
gehen musste, forderte dazu auf, den Schwankungen des Complement- 
gehaltes bei dieser Versuchsanordnung besondere Aufmerksamkeit zu 
schenken. Zwar ergaben die Untersuchungen von Dungerns? und Bul- 
loch’s,* dass die Complemente bei der immunisatorischen Hämolysin- 
erzeugung nicht oder nicht wesentlich beeinflusst werden. Allein bei beiden 
Autoren beziehen sich diese Feststellungen entweder auf den Endpunkt 
der Reaction, oder die Intervalle der Complementbestimmungen sind relativ 
grosse (24 Stunden), so dass bei der schnellen Regenerationsfähigkeit der 
Complemente kritische Zeitpunkte leicht übersehen sein konnten. 

In der That habe ich auch in meinen Versuchen gesehen, dass bei 
nur gelegentlicher Prüfung der Complementgehalt constant zu bleiben 
scheint; stellt man aber systematisch in kürzeren Zwischenräumen die 
jeweilige activirende Fähigkeit des Blutserums fest, so ergeben sich nieht 
unerhebliche quantitative Aenderungen dieser Function. 

Als Maassstab für die Complementmenge diente die minimale Dosis des 
zu prüfenden Serums, die, 1 °” 5procent. Ochsenblut + 0.1 °” eines be- 
stimmten stark wirkenden Serums eines mit Öchsenblut vorbehandelten 
Kaninchens zugefügt, noch zur vollständigen Hämolyse führte. 

Bei Kaninchen X bis XV habe ich das Serum speciell auf seine comple- 
mentirende Fähigkeit untersucht und lasse in der folgenden Tabelle die zu 
verschiedenen Zeiten nach der Injection festgestellten complet lösenden Dosen 
folgen. 


! Die später mitgetheilten Beobachtungen über die Schwankungen des Complement- 
gehaltes sprechen für diese Anschauung. 

® Vgl. Schütze und Scheller, Zeitschrift für Hygiene. 1901. Bd. XXXVL. 

® von Dungern, Beiträge zur Immunitätslehre. Münchener med. Wochenschrift. 
1900. Nr. 20. 

* Bulloch, a..a.O. 

5 Wahrscheinlich spielt wohl auch der Modus der Immunisirung (ob intravenöse 
oder intraperitoneale Blutinjection) bei den Complementschwankungen eine Rolle. 


TRANSFUSION FREMDARTIGEN BLUTES. 501 
Tabelle I. 
Stunden Kaninchen Stunden Kaninchen Stunden Kaninchen 
nach der || nache der) mem Nmachnder. "mmaseune 
Injection | X XI Injection | XI XIII | Injection | XIV XV 
24 0-1 0-1 46 0-35 | 0-15 | vorher || 0-15 | 0-15 
44 0-1 0-25 52 0-25 0:025 50 0-05 — 
51 0°25 0-025 69 0-1 0-05 65 0-15 0:3 
| massıg 7s —— 0-1 74 | 0:025 0:06 
Bo 7070250715 96 0-15 | 0-1 3 |0.05| — 
90 | MOSE EOLIT 120 0-15 | 0-15 116 0-15 | 0-2 


Die Tabelle zeigt, dass man im Allgemeinen drei Phasen beobachten kann: 
1. ein Sinken des Complementgehaltes, 
2. eine Complementsteigerung und 
3. die Rückkehr des Complementgehaltes zur Norm. 


Das erste Stadium des Complementmangels hat nichts Wunderbares, 
wenn man bedenkt, dass bei der Ausscheidung des Ochsenblutes ein grosser 
Complementverbrauch stattfindet. Es ist weiterhin leicht verständlich, wenn 
der Organismus diesen Defeet durch eine über das Normale hinausgehende 
Complementproduction zu ersetzen sucht, und so ist es bezeichnend, dass 
der Periode des Complementverbrauches eine bei allen Kaninchen (mit Aus- 
nahme von Kaninchen XII) besonders markant in Erscheinung tretende 
Phase der Complementsteigerung folgt. Die Complementmenge kann die 
vor der Injeetion festgestellte (vgl. Kan. X1V) um das sechsfache übertreffen 
und zeigt innerhalb kurzer Zeitintervalle noch grössere Schwankungen, die, 
wie bei Kaninchen X und XI, innerhalb 15 Stunden ein zehnfaches Multi- 
plum betragen können. Ein Vergleich der Zeitpunkte der Untersuchung 
in Tabelle I und II lehrt, dass der Complementanstieg in die letzte Zeit 
der Anwesenheit des Ochsenblutes fällt oder dessen Entfernung unmittelbar 
folgt, wie es der Genese dieser Complementvermehrung entspricht. Aus 
der ziemlich schnellen Aufeinanderfolge der Stadien des Complementver- 
brauches und der Complementüberregeneration ergiebt sich schon, dass die 
Variationen des Complementgehaltes dem Nachweise leicht entgehen können, 
wenn die Blutabnahmen zu ungünstigen Zeiten stattfinden. 

Bei Kaninchen XII haben wir es offenbar nicht gut getroffen. 
46 Stunden nach der Injection enthielt das Serum ziemlich wenig Com- 
plement, wesentliche Complementvermehrung war indessen später nicht 
wahrzunehmen, in einer Zwischenzeit vielleicht aber vorhanden. Bei den 
übrigen Kaninchen müssen wir es als einen glücklichen Zufall betrachten, 
dass gerade zu den Zeiten der Untersuchung die Complementmenge be- 
sonders charakteristische Differenzen aufwies. Am 4. bis 5. Tage nach 
der Blutinjection hat sich der Complementgehalt jedenfalls in allen Ver- 


502 . Hans Sacas: 


suchen auf seinen ursprünglichen Titre wieder eingestellt und bleibt dann 
in Uebereinstimmung mit den Angaben von Dungern’s trotz des starken 
Anstieges der Amboceptorenbildung dauernd constant. 

Als Zusammenfassung der bisherigen Versuchsergebnisse stelle ich 
in folgenden Curven das Verhalten des injieirten Ochsenblutes, des er- 
zeugten Amboceptors und des Complementes schematisch dar. 

Besonders hervor- 
heben möchte ich /noch, 
dass die hier mitgetheilten 
Versuchein hohem Maasse 
Menge des kreisen - dafür zu sprechen schei- 
BORN ES nen,dass dieComplemente 
frei im Plasma circulieren. 
Die hier herangezogene 
Versuchsanordnung ver- 
meidet eine etwa in Be- 
tracht kommende Fehler- 
quelle, über die viel:discu- 
tirt worden ist." Rehns! 
hatte beobachtet, dass 
fremde sensibilisirte Ery- 
throcythen in der Blut- 
bahn desnormalen Tieres 
oe enge oder native Blutkörper- 
chen in der Blutbahn 
des specifisch immunisir- 
ten Thieres rasch gelöst 


Amboceptorntenge 


a b 


a Ochsenblutinjection . 
Db Ochsenblut vollständig entfernt. werden, und hatte daraus 
auf die Freiheit der 
Complemente im Plasma 
geschlossen. Aber von Levaditi? ist dagegen mit Recht eingewandt worden, 
dass durch die Injection beträchtlicher Blutmengen eine Schädigung auf die 
Leukocyten ausgeübt wird, die zur Phagolyse im Sinne Metchnikoft’s 
führt und die Complemente in Freiheit setzt. Nun liegt aber in den hier 
mitgetheilten Versuchen zwischen Injection und der Hauptperiode der Hämo- 
lyse und Ausscheidung ein Zeitraum von 3 bis 4 Tagen, und es kann 
daher von einer auf den Phagocytenapparat wirkenden Noxe kaum mehr 
gesprochen werden. Blutkörperchen und Complement circuliren eben frei 
neben einander, bis genügend Amboceptor zur Hämolyse gebildet ist. 


! Comptes rendus de la Societe de Biologie. 1901. 
? Annales de U’ Institut Pasteur. 1901, 


Fig. 1. 


TRANSFUSION FREMDARTIGEN BLUTES. 503 


IV. 


Gegen die Annahme, dass die Complemente in Plasma und Serum 
erst durch Phagolyse frei werden, sprieht übrigens auch der Umstand, dass 
die Complementsteigerung, über die wir berichtet haben, eine specifische ist, 
während man bei einem Freiwerden der Complemente aus den Leukocyten 
ein gleichsinniges Steigen und Fallen wenigstens der hämolytischen Comple- 
mente erwarten müsste. 

Man muss es ja heute als eine wohl fundirte Thatsache betrachten, 
dass in einem bestimmten Serum nicht eine einzige Substanz, sondern zahl- 
reiche differente Körper die verschiedenen Complementfunctionen versehen. 
Es war daher von vornherein in hohem Maasse wahrscheinlich, dass die 
Complemente für andere Combinationen, als die amboceptorenbeladenen 
Ochsenblutkörperchen in unserem Falle unbeeinflusst geblieben sind. In 
diesem Sinne steht die Versuchsanordnung übrigens in engem Zusammen- 
hange mit derjenigen, welcher sich Ehrlich und Sachs! in früheren 
Untersuchungen zum Nachweise der Vielheit der Complemente bedienten. 
Sie konnten damals feststellen, dass im Kaninchenserum nach intravenöser 
Ziegenblutinjection das Complement des normalen Hämolysins für Ziegen- 
blut verschwunden, dasjenige für den ÖOchsenblut sensibilisirenden Ambo- 
ceptor aber vollständig erhalten ist. 

In ganz analoger Weise zog ich bei Kaninchen XIV und XV auch 
das Complement für den speeifischen Amboceptor einer mit Hammelblut 
immunisirten Ziege in den Bereich meiner Untersuchungen, und das Re- 
sultat entsprach, wie Tabelle III zeigt, den gehegten Erwartungen. 


Tabelle Il. 


Minimale complet lösende Serummengen von: 


Stunden nach der 


Dehsenbluk Bun Kaninchen AV Kaninchen XV N 
injection Ochsenblut Hammelblut | Ochsenblut Hammelblut 

+0-1 0.-K.-8.2 | +0-01 H.-2.-8.2| +0-1 O.-K.-8.? | +0-01H.-2.-8.3 

Vorher 0-15 | 0-25 0-15 | 0-15 

50 0-05 | 0-15 en _ 

65 0-15 | 0-25 0-3 | 0-15 

74 0-025 0-15 0-06 | 0-25 

89 0-075 0-25 | — 

116 0-15 0-25 0+2 | 0-25 


! Ehrlich und Sachs, Berliner klin. Wochenschrift. 1902. Nr. 14/15. 
® Inactives Serum eines mit Ochsenblut vorbehandelten Kaninchens. 
® Inactives Serum einer mit Hammelblut vorbehandelten Ziege. 


504 Hans SıcHas: TRANSFUSION FREMDARTIGEN BLUTES. 


Während also das Complement für den Ochsenblutambo- 
ceptor erheblichen Schwankungen unterworfen ist, behält das- 
jenige für den Hammelblutamboceptor im Wesentlichen seine 
ursprüngliche Stärke, und so zeigen auch diese Versuche, dass die 
einzelnen Complementfunctionen eines Serums unabhängig von einander 
sind, und stützen auf’s Neue den sich experimentell stets bestätigenden 
pluralistischen Standpunkt in der Complementfrage. 


Wenn wir nun zum Schlusse noch einmal zum Ausgangspunkte 
unserer Untersuchungen zurückkehren, so hat sich gezeigt, dass dem Ochsen- 
blut, obwohl es durch Kaninchenserum nicht zerstört wird, doch nur ein 
relativ kurzdauernder Aufenthalt in der Blutbahn des Kaninchens beschieden 
ist. Der Schluss, dass die Ochsenblutkörperchen nur eine so kurze Lebens- 
dauer haben, wäre nicht gerechtfertigt; denn das Verschwinden des Ochsen- 
blutes steht eben, wie wir gesehen haben, mit der Amboceptorenauslösung 
im engsten Zusammenhange. Vom Standpunkte unserer heutigen Kenntniss 
aus müssen daher die früheren Transfusionsversuche mit fremdartigem Blute, 
auch wenn das Blutplasma des Empfängers für dieses ein indifferentes 
Medium ist, schon a priori wenig aussichtsreich, ja sogar nicht ungefährlich 
erscheinen. 

Es bestand nun aber die Möglichkeit, dass bei Blutübertragungen 
zwischen nahe verwandten Thierarten das fremde Blut vielleicht länger er- 
halten bleiben würde. Hammel und Ziege sind, wie wir wissen, Thierarten, 
die nicht nur in der zoologischen Reihe, sondern auch in der Beschaffenheit 
ihres Receptorenapparates sich sehr nahe stehen. Ich injicirte daher einer 
Ziege 250 °” Hammelblut intravenös. Auch hier liessen sich Hammel- 
blutkörperchen im Ziegenblut mittels des Serums einer mit Hammelblut 
vorbehandelten Ziege nur bis 68 Stunden nach der Injection nachweisen, 
nach 92 Stunden war das Hammelblut vollständig verschwunden, dagegen 
die ersten Spuren specifischen Amboceptors im Ziegenserum nachweisbar. 
Es zeigt also auch dieser Versuch, dass für das Erhalten fremdartiger Blut- 
körperchen im Kreislaufe nicht die nahe Verwandtschaft in der Thierreihe!, 
sondern lediglich die Fähigkeit der Amboceptorenbildung maassgebend ist, 
die eben auch bei Injection der Blutkörperchen einer nahestehenden Art, 
ja sogar, wie wir durch die Isolysinversuche von Ehrlich und Morgen- 
roth? wissen, bei Injection des Blutes derselben Thierspecies erfolgt. 


! Es wäre in gewissen Fällen vielleicht eine praktisch wichtige Frage, ob beim 
Menschen Affenbluttransfusionen von Nutzen sein könnten. Aber nach unseren Er- 
örterungen dürften auch solche therapeutische Versuche wenig Aussicht auf Erfolg haben. 

® Ehrlich und Morgenroth, Berliner klin. Wochenschrift. 1900. Nr. 21. 


Der Versuch von Stannius, seine Folgen und deren 
Deutung. 


Von 


Th. W. Engelmann. 


Das Ergebniss des berühmten Stannius’schen Versuches — Stillstand 
des Froschherzens nach Unterbindung an der Sinus-Vorhofsgrenze — hat 
bekanntlich bis in die neueste Zeit eine verschiedene Deutung erfahren. 
Viele Physiologen betrachten den Stillstand im Anschluss an C. Eckhard 
als eine Ausfallserscheinung, als Folge der Aufhebung der motorischen 
Reizleitung von dem die Bewegungsreize erzeugenden Sinus zu Vorkammern 
und Kammer. Andere fassen ihn in Nachfolge von R. Heidenhain als 
eine Reizwirkung auf, als den Ausdruck einer Erregung der intracardialen 
nervösen Hemmungsapparate durch die Quetschunge. Die Anhänger der 
ersteren Meinung berufen sich vor Allem darauf, dass das oberhalb der 
Ligatur befindliche Sinusgebiet, das doch auch dem hemmenden Einfluss 
des Vagus unterliegt, nach der Abquetschung ruhig weiterklopft; ferner auf 
die häufie sehr lange, unter Umständen bis zum Tode währende Dauer 
des Stillstandes, die um so weniger Folge einer mechanischen Reizung sein 
könne, als der Stillstand nicht bloss nach Abquetschung, sondern auch nach 
Durchschneiden mit schärfster Scheere erfolge. Zudem werde der Stillstand 
auch am atropinisirten Herzen beobachtet. Die Anhänger der Reizhypothese 
andererseits betonen, dass der Stillstand in der Regel kein dauernder sei, 
das Herz vielmehr oft schon innerhalb einer oder weniger Minuten spontan 
und regelmässig wieder zu klopfen beginne und dann häufig ein neuer 
Schnitt neuen Stillstand veranlasse. 

Obschon, wie ich glaube, die bis jetzt vorliegenden Thatsachen ent- 
schieden zu Gunsten der Ausfallshypothese sprechen, die denn auch wohl 
die meisten Anhänger zählt, schien es mir doch aus verschiedenen Gründen 
erwünscht, die Frage nochmals experimentell in Angriff zu nehmen. Die 


506 Ta, W. ENGELMANN: 


neueren Forschungen haben gezeigt, dass der Einfluss des Nervensystems 
auf das Herz ein viel mannigfaltigerer ist, als man bis noch vor Kurzem 
meinte, dass im Besonderen ein Stillstand der Vorkammern und Kammern 
nicht bloss durch Unterdrückung der Reizerzeugung im Sinusgebiet hervor- 
gebracht werden kann, sondern auch bei regelmässigem Fortklopfen des 
Sinus durch negativ inotrope, bathmotrope oder dromotrope Nervenwirkungen, 
also durch Aufhebung der Contractilität oder der Anspruchsfähiskeit oder 
des Reizleitungsvermögens der Herzwand. 

Ob und welche der letztgenannten Wirkungen beim ersten Stannius’- 
schen Versuch etwa im Spiele sind, ist bisher nicht geprüft, und war auch 
mit den älteren Untersuchungsmethoden nicht oder doch nur unvollkommen 
zu ermitteln. Meist hat man sich auf die blosse Inspeetion des Herzens 
beschränkt, deren Ergebnisse ja immer mit einem schwer zu schätzenden 
subjectiven Factor behaftet sind. Die graphische Untersuchung mittels 
der Suspensionsmethode, welche für diesen Zweck noch nicht Verwendung 
gefunden zu haben scheint, versprach auch hier über einige wichtige Punkte 
Licht zu verbreiten und objective Beweise zu liefern. Dies galt noch im 
Besonderen für die Frage nach dem Ursprung der in der Regel einige 
Zeit nach der Ligatur wieder anhebenden spontanen Pulsationen der Vor- 
kammern und der Kammer, worüber, soviel mir bekannt, noch gar keine 
Untersuchungen vorliegen. 

Ehe ich zur Beschreibung der erhaltenen Resultate übergehe, sei es 
zunächst gestattet, über die Art der Ausführung des ersten Stannius’schen 
Versuches ein Wort vorauszuschicken, da es scheint, als ob nicht allgemeines 
Einverständniss über die Frage bestehe, welche Theile des Herzens denn 
eigentlich hierbei von einander abgeschnürt werden. Insbesondere hat der 
um die Physiologie des Herzens so hochverdiente Langendorff! unlängst 
auf Grund einer von der meinigen abweichenden Auffassung dieses Punktes 
sich dahin geäussert, dass nach meiner Vorstellung vom Ursprungsort der 
motorischen Reize im Sinusgebiet der Stannius’sche Stillstand als eine 
Reizwirkung zu betrachten sein würde, was ich nicht zugeben kann. 

Ich war durch verschiedene, hier nicht näher zu discutirende Versuche 
zum Ergebniss gekommen, dass dem ganzen Sinusgebiete, einschliesslich 
der drei grossen Hohlvenen und der Lungenvenen automatische Reizbarkeit 
zukommt und von allen diesen Theilen aus durch die daselbst produeirten 
Reize das gesammte Herz zum Schlagen gebracht werden kann. Nun be- 
hauptet Langendorff, dass beim ersten Stannius’schen Versuche die 
Lungenvenen „unversehrt“ bleiben. „Steht also,“ sagt er, „das Herz still, 


‘0. Langendorff, Herzmuskel und intracardiale Innervation. In: Zrgebnisse 
der Physiologie. 1902. II. Abthlg. S. 340. 


DER VERSUCH VON STANNIUS, SEINE FOLGEN UND DEREN DEUTUNG. 507 


so ist dies nicht deshalb der Fall, weil man ihm den Angriffspunkt des 
Herzreizes genommen, sondern weil der Eingriff nicht nur trennend, sondern 
auch reizend (auf hemmende Elemente) gewirkt hat.“ 

Ich kann die Angabe, dass die Lungenvenen beim Stannius’schen 
Versuch „unversehrt“ bleiben, hiernach nur so verstehen, dass sie dabei 
nicht vom übrigen Herzen abgetrennt werden, sondern mit dem linken 
Vorhof und durch diesen mit dem rechten und mit der Kammer in organi- 
schem, reizleitenden Zusammenhang bleiben. Dies ist aber bei der Art 
und Weise wie der Stannius’sche Versuch von mir, und soviel ich weiss, 
allgemein, ausgeführt wird, nicht richtig, ja es ist überhaupt nicht wohl 
möglich, die Unterbindung so auszuführen, dass nur der Sinus und die 
grossen Körpervenen von der rechten Vorkammer vollständig abgeklemmt 
werden. Wenn man in der üblichen Weise nach Blosslegen des Herzens, 
Wegschneiden des Pericardiums bis möglichst weit nach der Umschlagstelle 
an der Herzwurzel hinauf, einen Faden zwischen Herz und den beiden 
Aortenstämmen durchführt, die Herzkammer nach Trennung des Frenulum 
mit der Spitze oralwärts umlegt, so dass die Grenze von Sinus und Vor- 
kammer (als graue Linie kenntlich) sichtbar wird, und nun nach Schürzung 
eines Knotens den Faden auf dieser Grenze zusammenschnürt, so wird 
nothwendig dabei auch die Vena pulmonalis communis mit ihren beiden 


Wurzeln und ein Theil der linken Vorkammer mit vom Herzen abgeklemmt. 


Schnürt man etwas mehr nach der Lungenwurzel hin ab, so dass der 
Stamm der Lungenvenen nicht vom übrigen Herzen abgetrennt wird, so 
bleibt das Herz niemals stehen, sondern klopft ununterbrochen, und zwar 
nicht in gleichen oder nahezu gleichem Tempo wie zuvor, weiter. Freilich 
sind dann auch immer Theile des Sinus venosus, eventuell der beiden 
oberen Hohlvenen noch im Zusammenhang mit dem rechten Atrium und 
dadurch mit dem übrigen Herzen geblieben. Das lässt sich aber in diesem 
Falle nicht vermeiden. Ich kann also nicht zugeben, dass der Stannius’sche 
Stillstand von meinem Standpunkt aus nothwendig als eine Reizerscheinung 
betrachtet oder andernfalls die Automatie der Lungenvenen geleugnet 
werden müsse. 

Meine neueren Versuche über den Erfolg der Sinusligatur sind grossen- 


' theils im Laufe des vergangenen Winters und Frühlings an grossen bis 
, mittelgrossen ungarischen und Berliner Esculenten angestellt worden. Ein 
| Einfluss der Herkunft oder der Jahreszeit auf die Ergebnisse liess sich 
‚ nicht erkennen. In der Regel wurden Gehirn und Rückenmark mittels 
| einer vom Schädeldach aus eingeführten starken Nadel schnell und gründlich 
 zermalmt, das Herz bloss gelest und in der oben angegebenen Weise für 

die Abklemmung: vorbereitet und dann Vorkammer und Kammer an den 
 Hebeln des Doppelcardiographen suspendirt. Wo es nicht auf Mitregistriren 


508 Tu, W. ENGELMANN: 


der Sinusbewegungen ankam, benutzte ich häufig statt des unterbindenden 
Fadens eine stark federnde vernickelte Stahlklemme, deren elfenbeinerne, 
etwa ] =m breite, an den einander zugekehrten Flächen keilförmig zu- 
geschärfte, 15 "® lange Spitzen mittels einer Schraube in ihrer ganzen 
Länge so fest an einander gepresst werden konnten, dass die Leitung an 
der gequetschten Stelle völlig und dauernd unterbrochen wurde. Die eine 
Klemmenspitze wurde zwischen den Aortenstämmen und dem rechten 
Atrium durchgesteckt, die andere auf die Sinus-Vorhofgrenze eingestellt. 
Die Klemme war am Stativ des Cardiographen mittels Westien’scher 
Klemme in beliebiger Lage fixirbar. 

Es wurden nun zunächst die Herzeontraetionen wiederholt für einige 
Zeit auf der berussten Trommel des Pantokymographion bei verschiedenen, 
durch Stimmgabelchronograph gemessenen Geschwindigkeiten registrirt, bis 
alle etwaigen Nachwirkungen der Präparation verschwunden waren. Dann 
wurde während andauernden Registrirens plötzlich der Faden zugezogen, 
bezw. die Klemme zugeschraubt. 


Wirkung der Ligatur auf das Sinusgebiet. 


In allen Fällen klopfte der Sinus mit den grossen Venen ununter- 
brochen weiter, während Vorkammern und Kammer entweder sofort oder 
nach einem oder wenigen Pulsen stillstanden. Da die Zahl meiner Ver- 
suche sich auf mehrere Hunderte beläuft, darf dies Ergebniss wohl strenge 
Gültigkeit beanspruchen. Es ist denn auch die Thatsache längst beobachtet 
und soviel ich weiss sind Ausnahmen nicht beschrieben. 

Dies ausnahmslose regelmässige Weiterschlagen des Sinusgebietes beweist, 
dass die Abquetschung jedenfalls eine nennenswerthe negativ chronotrope 
Wirkung auf das Sinusgebiet, d. h. eine nennenswerthe hemmende Wirkung 
auf die Erzeugung der normalen Herzreize nicht hat. Erst bei genauer 
Ausmessung der Curven ergiebt sich, dass in den meisten Fällen doch ein 
Einfluss der Ligatur auf die Frequenz des Sinuspulses besteht. Er ist aber 
immer gering, geht bald vorüber und ist in der Mehrzahl der Fälle zwar 
negativ chronotroper, häufig aber auch positiv chronotroper Natur. Zuweilen 
auch folgte auf eine rasch vorübergehende Beschleunigung eine ebenfalls 
vorübergehende geringe Frequenzabnahme. 

In 30 genau ausgemessenen graphischen Versuchen war unmittelbar 
nach der Ligatur 14 Mal eine geringfügige Verzögerung, in 8 Fällen eine 
geringe Beschleunigung, in anderen 8 Fällen keine merkliche Aenderung 
des Sinustempo vorhanden. Es wurde hierbei jedes Mal die Periodendauer 
für die letzten fünf der Abklemmung vorausgehenden und für die ersten 
fünf darauffolgenden, eine Messung gestattenden Pulsationen des Sinus be- 


DER VERSUCH VON STANNIUS, SEINE FOLGEN UND DEREN DEUTUNG. 509 


stimmt. Da das Abbinden wegen der damit fast unvermeidlich verbundenen 
Verschiebungen der Schreibhebelspitzen die Curven vorübergehend ver- 
unstaltet, entgehen meist eine oder einige Perioden der Messung. In der 
Regel waren aber nach 1 bis 3 Secunden die Sinuspulse auf der Curve 
wieder deutlich und der Messung zugänglich. 

Näheres giebt die folgende Tabelle I, in welcher die mittlere Dauer 
(7 8:), berechnet aus je fünf Sinusperioden, unmittelbar vor und gleich nach 
der Ligatur in Secunden angegeben ist. 


Tabelle I. 
TSi Differenz 
Art der Wirkung in Procenten 
vor Ligatur gleich nach Ligatur | der anfänglichen 73 
Negativ-chronotrop | Mittel: 2-27 2-85 +25-6 
« (14 Versuche) Minimum: 1-40 1-44 + 2-8 
Maximum: 3-80 6-50 +71-0 
Positiv-chronotrop Mittel: 2-50 2-17 — 13.2 
(8 Versuche) ı Minimum: 1-84 1-70 25-0 
ı Maximum: 3-20 2.70 — 7:6 
Nicht merklich Mittel: 2-35 2-35 —— 
(8 Versuche) Minimum: 1-47 1-47 | — 
| Maximum: 3-10 3-10 = 


Alle Versuche sind an unvergifteten F'röschen angestellt, deren intra- 
cardiale Nervenapparate noch erregbar waren. 


Ebensowenig wie chronotrope Effekte von Belang machten sich im 
Sinusgebiet inotrope, bathmotrope oder dromotrope Wirkungen deutlich be- 
merklich. Genauere Messungen hierüber habe ich aber nicht angestellt, 
da sie für unsere Frage entbehrlich schienen und zudem nur sehr schwierig 
in exacter Weise ausführbar sind, jedenfalls einen unverhältnissmässigen 
Aufwand an Zeit und lebendem Material gekostet haben würden. Schon 
auf Grund der blossen Inspection des Sinusgebietes bezüglich der Curven 
darf zudem mit Sicherheit behauptet werden, dass inotrope und dromotrope 
Wirkungen, wenn sie überhaupt als Folgen der Ligatur auftreten, jedenfalls 
nur ganz unbedeutender und vorübergehender Art sein können. Keinesfalls 
darf aus dem Verhalten des Sinusgebietes nach der Ligatur ein Argument 
zu Gunsten der Erklärung des Stannius’schen Stillstandes als eine Reiz- 
erscheinung geschöpft werden. 


510 Ta. W. EnGELMAnNKN: 


Wirkung der Sinusligatur, auf Vorkammern und Kammer. 

Schon hiernach ist es offenbar sehr unwahrscheinlich, dass die Wirkung 
der Sinusligatur auf die unterhalb gelegenen Herztkeile, Vorkammern 
und Kammer, eine wesentlich andere, nämlich die eines starken, lang an- 
haltenden Hemmungsreizes sein sollte. Denn es werden ja bei dieser 
Ligatur auch viele zum Sinusgebiet ziehende Vagusäste mitgequetscht. 
Meine Bemühungen, primäre bathmotrope, dromotrope und inotrope Folgen 
der Abklemmung mit Doppelsuspension an Vorkammern und Kammer 
direct nachzuweisen, führten denn auch zu keinem anderen Ergebniss. 

Die längst bekannte Thatsache, dass jede genügend starke, künstliche 
locale Reizung der Vorkammern oder der Kammer während des Stannius’- 
schen Stillstandes eine vollständige Herzrevolution auslöst, beweist bereits, 
dass es sich, wenn überhaupt, auch bei diesen Theilen doch höchstens nur 
um schwache hemmende Wirkungen der Ligatur handeln kann. 

Am ehesten wäre noch daran zu denken, dass eine negativ-bath- 
motrope Wirkung am Stillstand betheiligt sein könnte. Da die spontanen 
Herzreize, wie die Prüfung der Anspruchsfähigkeit für künstliche Reize im 
Stadium der Diastole und Pause bewiesen jhat, jedenfalls vergleichsweise 
schwache Reize sind, wäre es immerhin möglich, dass eine auch nur geringe 
Abnahme der Anspruchsfähigkeit den Stillstand von Atrien und Ventrikel 
bedingte. Zur Prüfung dieser Frage habe ich deshalb nach dem früher ! 
genau beschriebenen Verfahren die Anspruchsfähigkeit dieser Herztheile für 
einen elektrischen Reiz (Oefinungsinductionsstrom) vor und;nach der Ligatur 
in einer grösseren Reihe von Versuchen gemessen. Dabei zeigte sich zu- 
nächst, dass zu keiner Zeit nach der Unterbindung, auch nicht in den 
ersten Secunden des Stillstandes die Anspruchsfähigkeit aufgehoben ist. 
Aber nicht einmal eine unzweifelhafte Erhöhung der Reizschwelle war nach- 
weisbar. Im Gegentheile wuchs meist in der ersten Zeit nach der Ligatur 
die Anspruchsfähigkeit für den künstlichen Reiz merklich. Diese positiv 
bathmotrope Aenderung war im Allgemeinen zu beträchtlich, als dass sie 
auf zufälligen Nebenumständen hätte beruhen können. Wenn beispielsweise 
künstliche Vorkammerreize, die sich in Intervallen von je 1 Secunde folgten, 
unmittelbar vor der Ligatur erst bei einer Stärke von 32 Einheiten? unfehlbar 
wirkten, erwiesen sie sich eleich nach der Ligatur, in der ersten Minute des 
Stillstandes, bereits bei,Stärke 25 als unfehlbar. Aehnlich in anderen Fällen. 

Diese anfängliche Steigerung der Anspruchsfähigkeit erklärt sich zur 
Genüge aus dem Wegfallen der negativ-bathmotropen Wirkung der Systolen. 
Wenn der Stillstand länger anhält, sinkt, wie schon aus früheren Beob- 

! Ueber die batımotropen Wirkungen der Herznerven. Dies Archiv. 1902. Physiol. 


Abthlg. Suppl. 8.5 u. fig. 
° Die Stärke bei ganz über einander geschobenen Rollen = 100 gesetzt. 


DER VERSUCH VON STANNIUS, SEINE FOLGEN UND DEREN Deutung. 511 


achtungen bekannt, weiterhin die Anspruchsfähigkeit merklich, unter Um- 
ständen — wenn keine Contractionen mehr kommen — bis auf Null. Es 
dauerte jedoch meist viele Minuten, ehe ein unzweifelhaftes Sinken nach- 
weisbar war. Durch periodisches Erregen von Pulsationen konnte dann 
die Anspruchsfähiekeit wieder gehoben werden, ohne dass nach Aufhören 
der künstlichen Reizung spontane Pulsationen aufgetreten wären. Letztere 
pflegen nur zu folgen, wenn man an der Kammer-Vorkammergrenze und 
nicht zu schwach gereizt hatte. 

So wenig wie die Anspruchsfähigkeit für elektrische Reize, zeigte sich 
in meinen Versuchen die Leitungsfähigkeit für die Erregung irgendwo 
im Herzen durch die Ligatur merklich beeinträchtigt. Insbesondere leicht 
liess sich das für die Leitung zwischen Vorkammern und Kammern nach- 
weisen, die ja ihrer Langsamkeit wegen der Messung besonders leicht zu- 
gänglich ist. In keinem einzigen Falle kam es zur Blockirung dieser 
Leitung durch die Abklemmung an der Sinusgrenze, auch nicht innerhalb 
der ersten Seecunden des Stillstandes. Stets war Leitung in normaler, wie 
in entgegengesetzter Richtung möglich. Für beide Fälle ergab die genaue 
Ausmessung des Intervalls 4, V, bezüglich /, A, unmittelbar vor und 
gleich nach der Ligatur dieselben Werthe (meist 0-.35—0-45”, s. a. weiter 
unten Tabelle II. Da die Dauer dieser Intervalle nach meinen früheren 
Ermittelungen durch die Schlagfrequenz sehr erheblich beeinflusst werden 
kann, mussten beide Messungen natürlich bei gleicher Frequenz der Pulsa- 
tionen ausgeführt werden. Da es nicht wohl möglich ist, das vor der 
Ligatur bestehende spontane Tempo nach der Ligatur durch Abstufung der 
künstlichen Reizfrequenz absolut genau herzustellen, wurde schon vor der 
Ligatur mit künstlicher (elektrischer) Reizung, unter Verwendung der 
Baltzer-Ludwig’schen Uhr, dem Herzen eine Schlagfolge von gleicher 
Frequenz wie nachher (meist 60 in 1 Minute) aufgezwungen. 

Negativ-inotrope Wirkungen der Ligatur machten sich in meinen Ver- 
suchen nur gelegentlich und nur bei den Vorkammern vorübergehend bemerk- 
lieh. Sie treten hier ja auch bei anderen Arten der Vagusreizung ausserhalb 
oder innerhalb der Herzwand besonders leicht ‘auf, können aber selbstver- 
ständlich zur Erklärung des Stannius’schen Stillstandes nicht beitragen. 

Als völlig beweisend gegen die Natur des Stillstandes als einer Reiz- 
wirkung muss schliesslich die auch von mir häufig bestätigte Thatsache gelten, 
dass die Ligatur beim atropinisirten (wie auch beim stark curaresirten) 
Herzen den Stillstand ebenso sicher zur Folge hat, wie beim unvergifteten 
Thier. Wenn Langendorff bei Gelegenheit seiner ausführlichen Diseussion 
des Stannius’schen Versuches! das Gewicht dieser auch von ihm in ihrer 


* Dies Archiv. 1884. Physiol. Abthlg. Suppl. 8.89 u. fig. 


512 Te. W. ENGELMANKN: 


Bedeutung voll anerkannten Thatsache durch den Hinweis darauf ab- 
‘ sehwächen zu können gemeint hat, „dass nach den Untersuchungen von 
Gaskell und Luchsinger die Bezold’sche Theorie der Atropinwirkung 
keineswegs mehr als ein felsenfestes Gebäude angesehen werden kann“, so 
ist dagegen zu bemerken, dass es ganz gleichgültig ist, welche theoretische 
Vorstellung man sich von der Atropinwirkung auf’s Herz macht. That- 
sache bleibt, dass nach Vergiftung mit Atropin kein einziger Reiz, gleich- 
viel welcher Art und Stärke, gleichviel auch wo er den Vagus trifft, noch 
eine hemmende Wirkung ausübt. Man hat also kein Recht, der Sinus- 
ligatur die Fähigkeit zu wirksamer Reizung der Hemmungsfasern zuzu- 
schreiben. Im Gegentheil!' Der andere bei derselben Gelegenheit (S. 101) 
angedeutete Ausweg, auf den Langendorff durch R. Heidenhain’s 
Beobachtungen über Erregung und Hemmung nervöser Centralorgane ge- 
führt wurde, und der in der Frage gipfelt: „sollten vielleicht dieselben 
Ganglienzellen, die einen Theil des motorischen Herzcentrums darstellen, in 
Folge mechanischer Beeinflussung die Herzthätigkeit unterdrücken können ?%, 
trägt doch zu sehr das Gepräge einer Hypothese ad hoc, und zwar einer 
a priori höchst unwahrscheinlichen, als dass er ernstlich in Betracht zu 
kommen verdiente Langendorff ist denn auch bei seiner neuesten Be- 
sprechung des Stannius’schen Versuches nicht weiter auf die Befunde 
am atropinisirten Herzen und ihre Deutung zurückgekommen. Gleichwohl 
hält er es auch jetzt! „noch immer für wahrscheinlich, dass der Erfolg des 
ersten Stannius’schen Schnittes auf einer Reizung hemmender Apparate 
beruht.“ Dafür zu sprechen scheint ihm nicht nur der von Heidenhain 
zuerst betonte Umstand, dass der Stillstand fast immer nur ein zeitweiliger 
ist, sondern auch die von ihm gemachte Beobachtung, dass, wenn er ge- 
wichen, ein weiterer Schnitt durch die Vorhöfe das Herz auf’s Neue zum 
Stillstand bringen kann. Dass auch diesen Thatsachen keine Beweiskraft 
innewohnt, werden, wie ich hoffe, überzeugend die Beobachtungen darthun, 
zu deren Beschreibung ich jetzt übergehe. 


Ueber den Ursprungsort der nach dem Stannius’schen Still- 
stand auftretenden spontanen Herzpulse. 


Meine Versuche mit gleichzeitiger Registrirung der Vorkammer- 
systolen (4,) und Kammersystolen (W,) ergeben, dass die nach kürzerer 
oder längerer Dauer des Stillstandes ohne nachweisliche äussere Ursache 
wieder anhebenden Pulsationen des abgebundenen Herzens wesentlich in 
zwei durch ihren Ursprung verschiedene Classen zerfallen. In der einen 
geht A, voraus und folgt V, nach dem gewöhnlichen Intervall, in der 


1 Ergebnisse der Physiologie. 1902. II. Abthlg. S. 330. 


DER VERSUCH VON STANNIUS, SEINE FOLGEN UND DEREN DEUTUNG. 513 


anderen ist die Reihenfolge umgekehrt: erst /,, dann A, oder auch, was aber 
sehr selten, 4, und V, beginnen gleichzeitig oder 4, eine Spur früher als 7. 

Die Pulsationen der ersten Kategorie treten nie nach langer Dauer 
des Stillstandes auf, sondern immer sehr bald, wenige Secunden bis Minuten 
nach Beginn desselben. Sie zerfallen wieder in zwei Gruppen: in der einen 
sind feste zeitliche Beziehungen zu den Pulsationen des oberhalb der Ligatur 
gelegenen Sinusgebietes vorhanden, in den anderen nicht. 

Die festen zeitlichen Beziehungen in den Fällen der ersten Gruppe der 
ersten Kategorie bestehen darin, dass die Frequenz der A, und V, ent- 
weder genau dieselbe oder um ein ganzes Vielfaches kleiner ist 
als die des oberhalb der Ligatur klopfenden Sinusgebietes. Es geht also 
jeder A, immer eine &, voraus, und zwar um dasselbe oder häufiger um 
ein, namentlich Anfangs etwas grösseres Zeitintervall als vor der Ligatur. 
Häufig folgt Anfangs nur jeder zweiten oder dritten &:, eine 4, (nebst 7,), 
bald aber jeder einzelnen. Schnürt man oder schraubt man jetzt fester 
zu, so hören die 4, und V, sofort auf, während die &:, ungestört weiter 
gehen. Offenbar handelt es sich also beim ersten Stillstand um eine un- 
vollkommene, nur zeitweilige Unterbrechung der Leitung von & nach 4A. 
Es ist beiläufig bemerkenswerth, dass es meist ganz erheblicher Kraft be- 
darf, um eine dauernde Leitungsunterbrechung zu erzwingen. Bei Ver- 
wendung der Schraubenklemme kann man durch passende Abstufung des 
Druckes ziemlich nach Belieben kürzeren oder längeren Stillstand erzeugen 
und bewirken, dass die darnach wieder beginnenden A, und V, sogleich 
im Tempo von & folgen (bei schwachem Druck), oder in um ein ganzes 
Vielfaches kleinerer Frequenz. Je schwächer der Druck war und je kürzer 
er — und damit auch der Stillstand — anhielt, um so länger hält darnach 
das spontane Pulsiren an, unter Umständen viele Stunden, und um so 
grösser ist dabei die Frequenz. 

In der zweiten Gruppe von Fällen der ersten Kategorie besteht im 
Gegensatz zur ersten Gruppe keine feste zeitliche Beziehung zwischen den 
Si, oberhalb der Ligatur und den spontanen A, und /,, doch beginnt Y, 
in der normalen Zeit nach A, Das Tempo von A und Y ist in diesen 
Fällen nicht nur dauernd ganz unabhängig von dem des 8 oberhalb der 
Abklemmung, sondern auch immer und dauernd langsamer als letzteres. 
Anfangs am langsamsten, beschleunigt es sich meist bald, ohne jedoch das 
des $ zu erreichen. Auch in diesen Fällen können die Pulsationen Stunden 
lang anhalten, obschon sie im Ganzen früher als in der ersten zur Ruhe 
kommen. Nicht selten kommen auch Gruppenbildungen vor, nach Art der 
von Luciani beschriebenen, die übrigens auch bei den Fällen der ersten Art 
beobachtet werden. Festeres Zuschnüren oder stärkeres Abklemmen an der 


gleichen Stelle führt häufig, aber nicht immer, einen neuen Stillstand her- 
Archiv f. A. u. Ph. 1908, Physiol. Abthlg. 38 


Tu. W. EnGELMAnNN: 


bei, sicher aber und. sofort Abklemmen unter- 
halb der alten. Stelle, etwas weiter. weg. von der 
Herzwurzel, innerhalb: A. Ebenso wirkt: Durch- 
schneiden der Vorkammern unterhalb der Ligatur. 

Das: sind die Fälle; die besonders auffällig den 
Schein: erwecken, als ob der Stillstand ‚Folge einer 
Reizung von Hemmungsapparaten sei: Aber. ihre 
Erklärung bietet vom entgegengesetzten Standpunkt 
aus nicht die geringste Schwierigkeit. Es genügt 
offenbar die durchaus plausible Annahme, dass bei 
der ersten Ligatur ein kleiner Rest des spontan er- 
regbaren Gebietes (Sinus, Ven. pulmonalis z. B.) 
von dem übrigen: Sinusgebiet abquetscht und mit 
der Vorkammer in Zusammenhang gebliebeu war. 
Durch die Quetschung vorübergehend beschädigt — 
sei: es in der. Reizerzeugung; sei es im: Leitungs- 
vermögen oder in ‚beiden — löste es:zunächst keine 
Herzpulse aus.: Allmählich. erholte es sieh.und ver- 
mochte nun A: und 7. zum. Klopfen: zu bringen. 
Die Unabhängigkeit des Tempos dieser neuen Pulse 
von: den: Sinusperioden oberhalb der Ligatur, die 
regelmässige Aufeinanderfolge von A, und. 7, im 
normalen Intervall sind. hiernach selbstverständlich. 

Noch. weit. grösseres Interesse erregen aber 
die, zudem weitaus die Mehrzahl. bildenden Fälle 
jener zweiten Kategorie, welche dadurch _cha- 
rakterisirt ist, dass die nach dem Stillstand auf- 
tretenden Pulsationen in umgekehrter Folge, erst: Y,, 
dann A,, oder doch A, und TV, gleichzeitig. oder 
nahezu isochron, stattfinden. Es gehören zu dieser 
Kategorie in meinen Versuchen ohne. Ausnahme 
alle nach langem Stillstand beeinnenden Pulse. 
Doch wurden auch vereinzelte Fälle beobachtet, 
wo schon nach einem weniger. als. 1 Minute 
währenden Stillstand Pulse in der umgekehrten 
Ordnung 7, A,, anhoben. Ein Beispiel letzterer Art 
zeigt nebenstehende Figur (Vers. vom. 21. V. 03), 
wo die Abklemmung an der. Sinusgrenze mittels 
Schraube bei » stattfand. Die obere Curve ist vom 
Ventrikel, die mittlere von den Vorkammern gezeich- 
net, die unterste giebt die Zeit in’ganzen Seeunden. 


DER VERSUCH VON STANNIUS, SEINE FOLGEN UND DEREN DEUTUNG. 515 


Der Frosch, eine unvergiftete, überwinterte, mittelgrosse ungarische Eseulente, 
war um 9% 45° in früher besehriebener \Weise hergerichtet, die Klemme 
auf die S-A-Grenze eingestellt und bis auf etwa 1/, "m Weite geschlossen 
worden. Dies hatte keinen Einfluss weder auf das Tempo noch auf. die 
Leitung von Si nach A. Die Dauer der Perioden betrug gleich nach der 
Präparation 4-2”, unmittelbar vor dem vollständigen Abklemmen' 4-0”. 
4A, ging V/, jedes Mal um 0.41” voraus. Bei « (9% 52°) wurde die Klemme 
fest zugeschraubt: es folgt noch eine, etwas verfrühte, A, und dieser nach 
normaler Zeit eine /,, dann Stillstand von A und /, der etwa 21 Secunden 
anhält. Is beginnen nun spontane Pulsationen in der umgekehrten Reihen- 
folge: 7, 4A,, die in gleicher Weise sich lange Zeit wiederholen in Inter- 
vallen von 12-5, 12.0, 12.0, 11.2, 10-4, 10-4, 10-4 u.s. w. Secunden. 
Das Intervall 7, A,, bei einer Oylindergeschwindigkeit von. 15 bis 30m 
innerhalb der nächsten 5 Minuten wiederholt gemessen, ergab sich zu 
0.26, 0.26, 0-26, 0.25, 0-26, 0-25, 0-26 Secunden. 

Dem "hier näher beschriebenen ähnlich verhält sich die grosse Mehrzahl 
der Fälle. Um Weitläufigkeiten zu vermeiden, genüge es, in Tabelle Il 
die wichtigsten Zahlen aus einer Reihe von Versuchen zusammenzustellen, 
bei welchen eine bis auf etwa 0-01” genaue Bestimmung der Intervalle 
A,;,V, bezw. V, A; möglich war. 


Tabelle II. 


[7 b e d e jr 
1 31407 | 0-41" 358 | 0.24" 18' 
2 Ba u 0 10.46 8 40 0:25 | 40' 
5 11.25: | 0-40 | 212=50 0-45 | 1095’ 
4 432 | 03 | 4 40 0-24 | 28 
5 716 0-42 7 45 0-40 | 39 
6 9005717 70-50 1 45° | 0-% 2440 
7 | 2.52 0-31 30.028 7.2.20020 | 10 
8 5 38 0-49 Usa 1190:37 | 1022 
9 | 9 11 0-32 op 20055 49 
10 | 4 45 0-45 | 456. | 0-18 | 1 
11 9 50 0-41 DB | OR > 
12 | Ama 0 7720°25 8, VO | 25° 
13 122419 2070-32 12 42 0-46 | ” 
za 0-42 7 57 0-20 32° 
15 12 20 0-46 12 29 0-05 | 9 
16 | 3 30 0-26 3 40 0-18 | 10’ 
17 3 40 0-40 BA Me I Bones, 
18 8 30 0-60 8s4a0 | 0.38 | 10' 
19 11 48 0-32 I 1246 0-40 I ang: 
20 350: 01 9.0-34 5 35 0-30 2A 


516 Ta. W. ENGELMANnN: 


Spalte a enthält die Versuchsnummer, Spalte 5 die Zeit, zu welcher 
das in Spalte ce verzeichnete Intervall A,/,, Spalte d die Zeit, zu welcher 
das in Spalte e verzeichnete Intervall 7, A, gemessen wurde. Da die 
Messungen von A,V, unmittelbar vor dem Abklemmen, die von W,4, 
möglichst bald nach dem Ende des Stillstandes angestellt wurden, ergiebt 
die Differenz der Zeiten von Spalte 5 und Spalte d nahezu die Dauer des 
auf die Ligatur folgenden Stillstandes. Diese Dauer ist in Spalte f noch 
besonders verzeichnet. Vergleichung der Zahlen in Spalte ce und e ergiebt 
zunächst, dass mit wenigen Ausnahmen (Nr. 3, 9, 13, 17, 19) die Inter- 
valle A, /, der spontanen Pulse vor der Ligatur merklich grösser sind als 
die Intervalle V, 4, der spontanen Pulse nach Beendigung des Stillstandes 
Die ersteren betragen im Mittel 0.398”, die letzteren 0-302”, also ein 
Unterschied von durchschnittlich fast 0-1”. 

Weiter zeigt sich, dass die Einzelwerthe für A, 7, durchschnittlich viel 
weniger vom Mittelwerth abweichen, als die für V, A, gefundenen. Dem- 
entsprechend liegen auch im letzteren Falle die Maxima und Minima 
erheblich weiter aus einander als im ersteren. Es beträgt nämlich 


das Minimum.» 2... 0... für A, 0.25%. Mr 72 42 020550 
daseMaxmumse ns Wa. 0 20260. 202,, 00 
die durchschnittliche Abweichung 

vom Mittela a 3 3. 2.002 0. „8 20-057, 2000, 08 


Eine Beziehung der für V, A, gefundenen Einzelwerthe zur Dauer 
des vorangegangenen Stillstandes ist nicht deutlich. Doch mag es immer- 
hin kein Zufall sein, dass unter den sechs Fällen sehr langer Dauer des 
Stillstandes (Nr. 3, 6, 8, 17, 19, 20) drei Mal für Y,A, absolut grössere 
Werthe gemessen wurden, als für die zugehörigen Intervalle 4,7, vor dem 
Stillstand. Nehmen doch auch, wie frühere Messungen gezeigt haben und 
oben schon berührt wurde, die A, /,-Werthe bei langer Dauer der Versuche, 
und ganz besonders nach Aufhören der Cireulation, in der Regel bedeutend 
zu. Beim allmählichen Absterben des Herzens sah ich sie früher bei 
R. temporaria, wo sie cet. paribus kleiner sind, als bei R. esculenta, gelegent- 
lich bis auf mehr als 2-5”, neuerdings bei R. esculenta in einem Falle 
sogar bis auf 7”, wachsen. Hier war allerdings die Atrioventriculargrenze, 
zum Zwecke besser isolirter Registrirung der 4- und V/- Bewegungen, durch 
einen darüber gespannten Faden ein wenig comprimirt. 

Die eben beschriebenen Beziehungen zwischen dem zeitlichen Auftreten 
der 7, und A, beweisen, dass die Orte, von denen die spontanen Reize 
nach Ablauf des Stannius’schen Stillstandes in den Fällen der zweiten 
Kategorie ausgehen, jedenfalls nicht das Sinusgebiet und die Vorhöfe sein 
können, da ja sonst immer erst die A, und dann die V, kommen müssten. 


DER VERSUCH VON STANNIUS, SEINE FOLGEN UND DEREN DEUTUNG. 517 


Sie müssen vielmehr in dem Uebergangsgebiet zwischen Vorkammern und 
Kammern, in den Muskelbrücken, welche das Myocard beider verbinden, 
also in dem von His jr. so genannten Atrioventrieulartrichter gelegen sein. 
Im Ventrikel können sie, trotz des scheinbar antiperistaltischen Charakters 
der Pulsationen nicht liegen, weil bei ihnen die Dauer des Intervalls Y, A, 
zu kurz ist. Diese Dauer ist ja, wie die Zahlen der Tabelle II zeigen, fast 
immer erheblich kleiner, als die für die Leitung A,V,. Wie ich früher 
gefunden habe, braucht die Leitung der motorischen Impulse von 7 nach A 
zwar gelegentlich etwas weniger Zeit, als cet. paribus die normale von A 
nach Y, aber im Ganzen erfolgt sie ungefähr gleich schnell, oder auch 
schneller in der normalen, wie in der entgegengesetzten Richtung. Und 
edenfalls kommen so niedrige Werthe für Y, A, und namentlich so be- 
deutende Unterschiede zu Gunsten der Leitungsgeschwindigkeit von V7 
nach A, wie in den Versuchen 1, 2, 6, 7, 10, 12, 14, 15 (!), 16, bei Reizung 
der Ventrikelbasis, bezw. der Vorkammer bei R. esculenta nicht vor. 

Um jeden Zweifel in dieser Hinsicht auszuschliessen, habe ich das 
Intervall V, A, bei Reizung der Kammerbasis noch besonders bestimmt in 
einer Reihe von Fällen der Tabelle II, wie auch in mehreren anderen zu 
verschiedenen Zeiten während und nach Aufhören des Stannius’schen 
Stillstandes, mitunter ausserdem auch zu denselben Zeiten durch künstliche 
Reizung der Atrien das Intervall 4,Y7,. In der Tabelle III sind eine grössere 
Zahl solcher Messungen zusammengestellt, die möglichst gleichzeitig — etwa 
innerhalb 2 bis 6 Minuten — beim selben Herzen gewonnen wurden. In 
so kurzer Zeit änderten sich die Werthe A,Y, bezüglich V, A, nicht 
merkbar. (Siehe Tabelle III.) 

Spalte a enthält die Versuchsnummer, 5 die Dauer des Intervalls V, A, 
bei spontaner Pulsation (nach Ablauf des Stillstandes), ce dasselbe Intervall 
bei Reizung der Kammerbasis mit einem Oefinungsinductionsstrom, d die 
Dauer von A,V, bei gleicher elektrischer Reizung der Vorkammer, etwa 
in der Mitte der Höhe, e die aus 5 und c berechnete Lage des Ausgangs- 
punktes der spontanen Pulse (s. unten). 

Die unter den Spalten 5, c, d angegebenen Mittelwerthe zeigen, dass 
duzchschnitilich A, bei den spontanen Pulsen um 0-121” (= 0-477! —0-356) 
früher nach Anfang von V, einsetzte, als sie eingesetzt haben würde, wenn 
der Ursprungsort der spontanen Reize in der Kammerwänd, an der 
Ventrikelbasis gelegen hätte. Weitere Vergleichung der Zahlen in den 
Spalten 5 und c ergiebt, dass auch in allen einzelnen Fällen, mit Ausnahme 
von Nr. 11, die Werthe in Spalte 5 kleiner, als die zugehörigen in Spalte c 


! Bei Berechnung dieses Mittelwerthes mussten die Versuche Nr. 5 und 10 ausser 
Betracht bleiben, da hier die Werthe für 5 nicht bestimmt wurden. 


518 Ta. W. ENGELMARNN: 


Tabelle Ill. 


a b | e d e 
10:0 0-48” = 0-78] 
2 0-38 0-65 an 0-79 
} 0-18 0-42 0-33 0-71 
4 0-45 0.48 0-42 0-97 
5 — 0-50 0-41 — 
6 0-10 0-40 0-40 0:62 
7 0-44 0-46 0-40 0:96 
8 0-20 0-42 8 0-74 
9 0-58 0-66 0-70 0-94 
Ko 0-66 0-66 — 
110 00 40-26 0:26 — 1-00 
1207 270:40 Va 0-98 
13 0-40 0.4 | — 0-95 
14 0-34, 0-58 — 0-80 
1000 1010254 7.0256 — 0-99 
16 | 0-30 0-36 — 0-92 
17 |. 050 | 0-54 us 0-97 
Mittel | 0-356” | 0.4938” | 0474" 0-872 
\ (0-477) | 


sind. In Versuch 11 ist kein Unterschied da, gingen also die spontanen 
Reize vermuthlich von einer unmittelbar am Ventrikel gelegenen Stelle 
(möglicher Weise auch vom Bulbus cordis) aus. Niemals wurde das Inter- 
vall 7, A, für die spontanen Pulsationen grösser als bei directer Reizung 
der Kammer oder des Bulbus cordis gefunden. 


Vergleiehung der Werthe in Spalte c und d bestätigt, dass die Leitung 
von Y nach A durchschnittlich etwa eben so schnell, wie die von A nach V/ 
erfolgt, jedenfalls nicht schneller, eher langsamer. 


Die sehr beträchtlichen Abweichungen, welche die Werthe in Spalte b 
unter einander und von den zugehörigen der Spalte c aufweisen, führen zu 
dem Schlusse, dass die spontanen Pulsationen auch in den Fällen unserer 
zweiten Kategorie nicht bei allen Herzen von derselben beschränkten Stelle 
(etwa, wie die Anhänger der alten Theorie vermuthen könnten, der Gegend 


der Bidder’schen Ganglien) ausgehen, sondern von verschiedenen, bald 


näher an A, bald näher an Y gelegenen Punkten, meistens allerdings 
näher der Kammer. Dabei sei aber hervorgehoben, dass für jedes bestimmte 
Herz das Intervall V, A, (von der mit der Zeit allmählich eintretenden 
Zunahme abgesehen) bei den spontanen Pulsen sehr constant war, also wohl 
auch der Ursprungsort der spontanen Pulse derselbe blieb. Ich habe nur 
ganz vereinzelte Ausnahmen hiervon bemerkt, und zwar nur in den relativ 


DER VERSUCH VON STANNIUS, SEINE FOLGEN UND DEREN DEUTUNG. 519 


- seltenen Fällen, in denen spontane Pulse in durch längere Pausen ge- 
trennten Gruppen auftraten. 

Da die A, um so früher, Y, aber um so später einsetzen muss, je 
näher nach A zu die Quelle der spontanen Reize liegt, so nimmt es denn 
auch nicht Wunder, dass Fälle vorkommen, wo die A, und V, gleichzeitig 
oder A, sogar etwas vor Y, beginnt. Sie sind aber sehr selten. Dass A, 
früher kam, beobachtete ich bisher nur zwei Mal. Der Unterschied betrug 
etwa 0-1”, während A,V, bei directer Reizung von A rund 0°4” maass. 

Die Stelle, von welcher die spontanen Contractionen ausgehen, lässt 
sich annähernd ‚aus den für das Intervall V, A, in Spalte 5 und c verzeich- 
neten Werthen berechnen, wenn man voraussetzt, dass die Leitungsgeschwin- 
digkeit in der ganzen Länge der Bahn zwischen Y und 4 annähernd die 
gleiche ist und dieselbe für beide Richtungen. Die letztere Voraussetzung 
wird durch die Thatsache gerechtfertigt, ja geboten, dass für das Intervall 
AsV, bei Reizung von A cet. paribus im Allgemeinen der gleiche Zeitwerth 
gefunden wurde, wie für das Intervall Y,A, bei Reizung der Kammer 
(s. oben)'bezw. des Bulbus. Die erstere Annahme ist freilich zunächst will- 
kürlich, auch wohl kaum experimentell zu prüfen, aber doch wohl eben so zu- 
lässig wie die gegentheilige. Bezeichnen wir die ganze Länge der Leitungsbahn 
zwischen 4 und Y mit /, mit ß den Werth von Y,A, für die spontanen 
- Pulse (Tabelle III, Spalte 3), mit 7 den zugehörigen Werth Y, A, bei direeter 
Reizung der Kammerbasis (Tabelle III, Spalte c), so wird der Ort x, von 
dem die spontanen Reize ausgehen, in einer Entfernung Ar = Aa, vom 
Vorkammerende der Bahn / liegen.! Es ist nämlich i 

Ba, A, or), 
yarsdAstaV, 
also 2,4; = EL 
Da nun nach Voraussetzung x, 4,:y = Ar:l, 
ydae 
l 3 
Az +Y 
also 77° = Aa 


so.ist.auch 2,4, = 


und An en, 


2y 
Beispielsweise wird für #= y der Abstand Az = |, 
„ =1 „ „ „ = ?),l, 
„ = 0 „ „ „ — al. 


! Die Dauer des Latenzstadiums ist für A und V der Einfachheit halber als gleich 
angenommen. Sie ist für A etwas kürzer als für Y, die für Ax hier berechneten 
Werthe sind also noch etwas zu klein. 


520 : Ta. W. EnGELMAnNN: 


Wird der Abstand Ax kleiner als !/,, so wird # negative Werthe an- 
nehmen, d. h. A, früher als V, kommen müssen. Da dies mit einer 
einzigen Ausnahme in meinen Versuchen nicht der Fall war, muss die 
Stelle, von welcher die spontanen Pulse ausgingen, im Allgemeinen auf der 
der Kammer näheren Hälfte der Brückenbahn gelegen haben und zwar, da 
der Mittelwerth für # = 0.356, für y = 0-477 betrug, durchschnittlich in 
0.8732 Entfernung vom Vorkammerende der Bahn, also sehr nahe an der 
Kammerbasis. In Spalte e der Tabelle III ist die Lage dieser Stelle auch 
für die einzelnen Versuche nach obiger Formel berechnet. Die Einzel- 
werthe weichen durchschnittlich nicht viel vom Mittelwerth ab. 


Alle diese unsere Ergebnisse sind nun in sehr schöner Ueberein- 
stimmung mit einer Reihe schon bekannter Thatsachen, die beweisen, dass 
nahe dem Ventrikel in der Atrioventrieulargegend Stellen liegen, welche 
auch bei directer künstlicher Erregung besonders leicht in rhythmische 
Thätigkeit gerathen und Reihen von Herzpulsen auslösen können. Ich 
erinnere zunächst an den regelmässig zu heobachtenden Erfolg von 
Stannius sogen. „zweitem Versuch“: Wiedererwachen von Pulsationen bei 
Anlegen einer zweiten Ligatur an der AV-Grenze; dann an das von vielen 
Beobachtern bemerkte und auch von mir oft constatirte plötzliche Erlöschen 
der durch Abschneiden der Kammer an der AV-Grenze hervorgerufenen 
Ventrikelpulsationen beim Wegschneiden kleiner Stückchen Kammermuseu- 
latur unmittelbar unterhalb oder doch dicht an den venösen Ostien des 
Ventrikels.? Weiter an die Versuche von H. Munk, welcher fand, „dass eine 
einfache mechanische Reizung“, beispielsweise ein Nadelstich, an der Mitte 
des oberen Ventrikelrandes und einigen benachbarten Stellen ganze Reihen 
von Pulsationen des Herzens mit zunehmenden Intervallen herbeiführt, 
„während sonst der gleichen Reizung nur eine Pulsation folgt“. Wie 
Munk bereits hervorhob, ist auch bei diesem Versuch die zeitliche Auf- 
einanderfolge der Zusammenziehungen von A und V die umgekehrte, ausser 
bei Reizung etwas oberhalb der AV-Grenze, „in etwa !/, der Vorhofshöhe‘“. 
Die sorgfältigen Wiederholungen der Munk’schen Versuche, welche 
Walther Ewald? unlängst in J. Bernstein’s Laboratorium ausführte, 
und durch genaue mikroskopische Untersuchung der durch einen Nadelstich 
in die Gegend der AV-Grenze zum Pulsiren gebrachten Herzen vervoll- 


! Bei mikroskopischer Untersuchung erwiesen sich diese Stückchen zwar immer 
nervenhaltig, aber sehr häufig ganz sicher frei von Ganglienzellen. 

° H. Munk, Zur Mechanik der Herzthätigkeit. Sötzungsberichte der physiol. Ges. 
zu Berlin vom 25. Februar 1876. — Dies Archiv. 1878. Physiol. Abthlg. S. 569. 

® Walther Ewald, Ein Beitrag zur Lehre von der Erregungsleitung zwischen 
Vorhof und Ventrikel des Froschherzens. Pflüger’s Archiv. 1902. Bd. IXC. 8. 2T. 


DER VERSUCH VON STANNIUS, SEINE FOLGEN UND DEREN DEUTUNG. 521 


ständigte, haben gezeigt, dass diese Pulsreihen immer dann ausgelöst werden, 
wenn der Stichcanal die Musculatur des Atrioventrieulartrichters durchsetzte, 
und zwar auch wenn die an der AV-Grenze gelegenen Ganglien und 
Nervenstämme nicht berührt worden waren. Letztere waren nur in zwei 
von 29 erfolgreichen Versuchen, die Scheidewandnerven sogar nur in einem 
Falle mitgetroffen. In den meisten Fällen war der Stich dicht unterhalb 
des Knickungswinkels des Trichters, also etwa auf der Höhe des Ursprunges 
der AV-Klappen oder noch etwas tiefer, in einigen Fällen sogar an der 
Grenze des Ueberganges in die Kammermusculatur, selten etwas oberhalb 
des Knickungswinkels hindurchgegangen. Der Schluss von Ewald, „dass 
die Ursache des Munk’schen Phänomens in der Verletzung und damit 
wohl der Reizung des Atrioventriculartrichters zu suchen ist“, wird durch 
die Ergebnisse unserer zeitmessenden graphischen Versuche durchaus befür- 
wortet. Handelt es sich bei unseren Versuchen auch nicht, wie bei der 
zweiten Ligatur von Stannius, oder in Munk’s und Ewald’s Experi- 
- menten um die Folgen mechanischer Reizung, so liegt darin doch kein 
Grund, zu bezweifeln, dass es in beiden Fällen dieselben Partien der Herz- 
wand waren, von denen die Pulsationen ausgingen. Es ist ja nur wahr- 
scheinlich, dass dieselben Elemente, welche auf mechanische Erregung mit 
Reihen von Pulsationen antworten, in dieser Weise auch reagiren werlen, 
wenn sie durch andere Reize in Thätigkeit versetzt werden. Und solche 
Reize werden sehr wohl durch die chemischen Veränderungen gesetzt werden 
können, welche in ihnen nach der Sinusligatur schon in Folge des Auf- 
hörens der Circulation eintreten müssen. Dass die histologischen Elemente, 
von denen diese Reize ausgehen, nicht Ganglienzellen sind, dafür liefern 
auch unsere zeitmessenden Versuche neuen Grund. Nach den oben an- 
gestellten Berechnungen gehen die Reize in der.Regel von Stellen aus, 
welche unterhalb des Ursprunges der Atrioventricularklappen liegen. Hier 
aber finden sich, wie man an guten Schnittserien vom Froschherzen con- 
statiren kann, fast niemals Ganglienzellen. Dies möge noch ausdrücklich 
betont werden, weil selbst W. H. Gaskell, der zuerst die meiner Ueber- 
zeugung nach richtige Erklärung gab, neuerdings die Frage als noch nicht 
ganz sicher entschieden bezeichnet hat. ! 


ı W. H. Gaskell, Artikel The contraction of cardiac musele in E. A. Schäfer, 
Text-book of Physiology. 1900. Vol. II. p. 179. 


Beobachtungen über die Wirkung des 
Nebennierenextractes. 


Von 


Dr. Richard Hans Kahn, 


Assistenten am Institute. 


(Aus dem physiologischen Institut der deutschen Universität in Prag.) 


I. Ueber die angebliche Lähmung des Herzvaguscentrums. 


Neben der Wirkung des Nebennierenextractes auf die glatte Museulatur 
des Körpers ist auch ein Einfluss der Extractinjection auf die Funetionen 
einer ganzen Reihe von Organen festgestellt worden. So wurde fast von 
allen Untersuchern Verlangsamung und Vergrösserung des Herzschlages 
beschrieben. Langley! hat die Anregung der Speichel-, Thränen- und 
Schweisssecretion als mehr oder minder sicher zu erzielende Extractwirkung 
dargestellt. Aber auch das Centralnervensystem soll nach den Angaben 
mehrerer Autoren einer bestimmten Einwirkung unterliegen. So haben 
Biedl und Reiner? dem Extracte der Nebenniere eine erregende Wirkung 
auf das Herzvaguscentrum zugeschrieben. Dem gegenüber sah Verworn? 
„Vaguspulse“ nach intravenöser Injection von Nebennierenextract noch auf- 
treten, auch nachdem er beide Vagi am Halse durchschnitten hatte. Er 
schliesst seine Auseinandersetzungen über diesen Gegenstand mit den 


ıJ. N. Langley, Observations on the physiological action of extracts of the 
supra-renal bodies. Journ. of physiol. 1901—1902. Vol. XXVII. p. 237. 

2A. Biedl und M. Reiner, Studien über Hirneireulation und Hirnödem. 
Pflüger’s Archiv. Bd. LXXIII. S. 385. ; 

® M. Verworn, Zur Analyse der dyspnoischen Vagusreizung. Dies Archiv, 
1903. Phys. Abthlg. S. 65. 


Rıcaarp Hans KAun: BEOBACHTUNGEN U. S. w. 523 


Worten: „Wenn aber das Nebennierenextract auch nach Durchschneidung 
der Vagi durch periphere Wirkung auf das Herz Pulse erzeugen kann, die 
den Vaguspulsen täuschend ähnlich sehen, dann muss es höchst zweifelhaft 
erscheinen, ob die anscheinenden Vaguspulse, die nach Nebennierenextract- 
Injection bei intacten Vagis auftreten, überhaupt in irgend einem Fall 
als wirkliche Wirkungen vom Vaguscentrum her angesprochen werden 
dürfen.‘ 

Da ich mich seit längerer Zeit mit der Wirkung des Nebennieren- 
extractes auf verschiedene Organe beschäftigt habe, so sei es mir gestattet, 
zu dieser und noch zu einer anderen wichtigen Behauptung Verworn’s 
Stellung zu nehmen. Es sei vorausgeschickt, dass ich mich derselben 
Substanz bediente, welche Verworn benützt hat, und welche, wie mir 
scheint, wegen ihrer vielseitigen Vorzüge zur Zeit das beste der verschiedenen 
zur Extractdarstellung benützten Präparate ist, nämlich der Tabletten von 
Borroughs und Wellcome. Dieselben wurden im Verhältniss von 1:30 
mit destillirtem Wasser durch 12 bis 15 Stunden extrahirt. Sie zerfallen 
in der Flüssigkeit sehr rasch, und die aus ihnen gewonnenen Extracte sind 
bei sonst gleicher Behandlung stets gleich wirksam, woraus hervorgeht, dass 
in diesen Tabletten die Rindensubstanz der Nebenniere mit dem bekannt- 
lich allein wirksamen chromaffinen Gewebe der letzteren gleichmässig ge- 
mischt ist. 

Von diesem Extracte wurden !/, bis 5 °% intravenös injieirt. Die 'Thiere 
(Kaninchen) erhielten ausserdem soviel Curarin, als eben nothwendig war, 
um die Lähmung der Körpermusculatur zu erzielen. Die Injection des 
Extractes ruft sehr häufig (das erste Mal immer) jene gut charakterisirten 
Druckschwankungen auf der Höhe des Druckanstieges hervor, welche die 
Autoren mit dem Namen der „Vaguspulse‘“ bezeichnen. Bei Anwendung des 
Hg-Manometers als registrirenden Apparates bestehen sie in einem jähen 
Abfall des schwimmertragenden Hg-Schenkels und raschem Aufsteigen des- 
selben stets über jene Linie, welche zu Beginn des Druckabfalles erreicht 
war. Diese letztere Erscheinung ist jedenfalls in den Trägheitsschwankungen 
des Quecksilbers begründet. Eine bessere Anschauung dieser Erscheinung 
erhält man mit einem der gebräuchlichen Blutwellenzeichner. Im Folgenden 
sollen einige Curven dargestellt werden, welche mit dem Cowl-Gad’schen 
Blutwellenzeichner aufgenommen wurden. Hier sind Trägheitsschleuderungen 
weniger störend, und die Aufzeichnung des ganzen Vorganges des Druck- 
anstieges und der Pulsänderungen lässt sich im Interesse grösserer Ueber- 
sichtlichkeit auf einen kleineren Raum zusammendrängen. Selbstverständ- 
lich muss der Apparat durch Vergleichung mit dem Hg-Manometer in 
Bezug auf den Druckwerth der Ordinatenhöhen graduirt sein, um so mehr, 
als sich in Folge der elastischen Durchbiegung der Metallmembran die 


524 RıcHmArpd Hans Kann: 


Ordinaten nicht einfach proportional mit dem Drucke ändern, wenn auch 
nach einfachem Gesetze, stetig und ganz regelmässig. 

Fig. 1 zeigt die Vaguspulse auf der Höhe der Blutdrucksteigerung nach 
erstmaliger Injection von 1/,°” des Extractes mit dem Blutwellenzeichner 
aufgenommen. Die obere der beiden Linien unter der Druckeurve ent- 
spricht einem Drucke von 60 "m Hg. Der mittlere Blutdruck beträgt 
100m Hg, die Blutdruckschwankungen im Maximum 30 == Hg. 


Nun hat Verworn in solchen Fällen beide Vagi durchtrennt und bei 
stärkeren Extractdosen gefunden, dass die Vaguspulse nicht seltener als 
bei Thieren mit erhaltenen Vagis auftreten. Ich hatte vielfach Gelegenheit, 
mich von der Richtigkeit dieser Behauptung zu überzeugen, aber nur nach 
einer Injection von 3 bis 5°" des Extractes, also bei einer im muskel- 
physiologischen Sinne weitaus übermaximalen Dosis. Nach einer Injection 
von 1 bis 2 «m sind die „Vaguspulse“ nach beiderseitiger Vagusdurch- 
schneidung recht selten und von kurzer Dauer. Bei jenen kleineren 


Fig. 1. 


Extractmengen jedoch, welche hinreichen, um schon bei der erstmaligen 
Injection den Blutdruck mächtig in die Höhe zu treiben, sowie fast immer 
und sehr andauernd die in Rede stehende Form des Herzschlages in Er- 
scheinung treten zu lassen — !/,°® und darunter —, sind die „Vagus- 
pulse“ nach durchschnittenen Vagis eine ausserordentliche Seltenheit. Daher 
scheint es mir nicht erlaubt zu sein, aus dem von Verworn angeführten 
Grunde an der Möglichkeit einer centralen Auslösung dieser Erscheinung 
zu zweifeln, sondern es folgt aus diesen Versuchen nur, dass bei starken 
Dosen auch durch directe Herzwirkung. eine derartige Ver- 
änderung des Herzschlages eintreten kann. 

Verworn hat nicht nur das Fortfallen der durch kleine Gaben von 
Nebennierenextract hervorzurufenden „Vaguspulse“ nach beiderseitiger Vago- 
tomie übersehen, welcher Fortfall die nächstliegende und von Biedl und 
Reiner vertretene Ansicht der Zurückführung dieser Form des Herzschlages 
auf Erregung des Herzvaguscentrums zu stützen geeignet ist, sondern er 
hat auch geglaubt, eine Lähmung dieses Centrums durch das Extraet nach- 
weisen zu können. 


BEOBACHTUNGEN ÜBER DIE WIRKUNG DES NEBENNIERENEXTRACTES. 525 


Um einen Aufschluss über die Erregbarkeit dieses Centrums während 
der Wirkung des Nebennierenextractes zu erhalten, benützte Verworn den 
Depressorreflex. Es stellte sich heraus, dass die Reizung des Depressor 
während der Drucksteigerung unwirksam war. Das Fehlen einer Blut- 
drucksenkung erklärt er folgendermaassen:! „Hier konnte man allenfalls 
die Ursache darin suchen, dass die periphere Erregung der Gefässmusculatur 
unter dem Einfluss des Nebennierenextractes zu stark sei, als dass das 
Nachlassen des centralen Gefässtonus unter dem Einfluss der Depressor- 
reizung zum Ausdruck kommen könnte“. Diese Erklärung ist gewiss ein- 
leuchtend. Viel weniger ist dies bei der Erklärung des Ausbleibens des 
auf den Vagus entfallenden Theiles des Depressorreflexes, der Pulsverlang- 
samung der Fall: „Für das Verhalten des Vagusreflexes bei Depressor- 
reizung gilt indessen der analoge Einwand, dass das Nebennierenextract das 
Herz selbst für Impulse vom Vagus her unerregbar mache, bei den von 
mir benutzten Dosen nicht, da ich bei Reizung des Vagusstammes auch 
auf der Höhe der Nebennierenextractwirkung stets deutliche Vaguswirkungen 
erhalten konnte. Eine periphere Vaguswirkung des Nebennierenextractes 
ist zwar durch die Untersuchungen von Cybulski und Langley bekannt 
geworden, doch tritt die Lähmung der peripheren Theile erst bei sehr 
grossen Dosen ein, während in meinen Versuchen schon der Depressorreflex 
längst ausblieb, wenn die directe Vaguszeizung noch sehr starke Herz- 
wirkungen ergab. Das Nebennierenextract muss also den Depressorreflex 
auf den Herzvagus im Centrum unterdrücken. Wenn daher nicht etwa 
andere in den Reflexbogen eingeschaltete Stationen unwegsam werden, so 
bleibt nichts übrig, als die Annahme einer Lähmung des Herzvagus- 
centrums durch das Nebennierenextract.“ 


Die Versuche über diesen Punkt, welche ich in grosser Anzahl angestellt 
habe, ergaben zunächst eine Bestätigung der schädigenden Wirkung des 
Nebennierenextractes auf den Depressorreflex. Curarisirt man ein Kaninchen 
leicht, leitet künstliche Athmung ein, durchschneidet beide Depressoren und 
reizt den centralen Stumpf des einen derselben, so lässt sich leicht jene 
Reizstärke bestimmen, bei welcher die Vaguswirkung auf das Herz deutlich 
hervortritt. Injieirt man nun 1° des Nebennierenextractes und reizt auf 
der Höhe der Blutdrucksteigerung mit derselben Reizstärke das centrale 
Depressorende wieder, so ist kein Erfolg in der Curve des Blutdruckes, 
weder Verminderung des mittleren Druckes noch Pulsverlangsamung wahr- 
zunehmen. Im Folgenden seien einige Curvenbeispiele, welche diese Ver- 
hältnisse illustriren, erörtert. 


ı A. a. 0.S. 69. 


526 RıczsArp Hans Kann: 


Fig. 2 stellt den Erfolg einer Reizung des Depressor mit jener Reiz- 
stärke dar, welche eine deutliche Verlangsamung des Heızschlages zur Folge 
hatte, Diese, sowie alle folgenden Blutdruckeurven sind mit dem Cowl- 
Gad’schen Blutwellenschreiber aufgenommen. In der Fig. 2 entspricht die 
horizontale Linie einem Drucke von 60m Hg. Der mittlere Blutdruck 
beträgt SO"" Hg‘, die Druckschwankungen etwa 20". Die Herzschläge 


Fig. 2. 


erfulgten vor der Depressorreizung 33 Mal in 10 Secunden, während der- 
selben nur 20 Mal, während der Blutdruck auf etwa 50 "m Hg absank. 

Unmittelbar darauf (Fig. 3 bei *) erfolgte die Injection von 1 “m Extraet 
in die Vena jug. externa. Der Blutdruck stieg um etwa 30 mm, die Druck- 
werthe der Blutwellen blieben annähernd dieselben, am Anfange der Druck- 
erhöhung zeigt die Curve eine leichte Vaguswirkung an, welche indessen 
rasch verschwindet. Die nun folgende Reizung des Depressor ist ganz 


Fig. 3. 


erfulglos, erst zur Zeit, wo der Blutdruck wieder seine ursprüngliche Höhe 
eingenommen hat, erscheint eine leichte Vaguswirkung und Drucksenkung, 
welche nach Aufhören des Reizes rasch vorübergeht. Diese Thatsachen 
lassen sich noch anschaulicher durch das umgekehrte Verfahren dar- 
stellen. 

Fig. 4 zeigt eine Blutdruckcurve, auf welcher in Folge der Reizung 
des Depressor der Blutdruck eben unter Pulsverlangsamung abzusinken im 
Begriff ist. Nach Injection von 1m Nebennierenextract verschwindet die 


_ BEOBACHTUNGEN ÜBER DIE WIRKUNG DES NEBENNIERENEXTRACTES. 527 


Pulsverlangsamung zur Zeit des Auftretens der Blutdrucksteigerung voll- 
ständig. 

Die Dosis von 1°® ist bei dem von mir verwendeten Extracte die 
minimale, zur Vernichtung des Depressorreflexes erforderliche. Geringere 
Mengen verhinderten wohl die Blutdrucksenkung, nicht aber die Verlang- 
samung des Herzschlages. 

Wie ist nun das Ausbleiben der Pulsverlangsamung bei Dosen von 1 °m 
aufwärts zu erklären? Verworn hat eine Lähmung des Herzvaguscentrums 


Fig. 4. 


angenommen. Indessen scheint es mir angezeigt, in Anbetracht des Um- 
standes, dass das Extract der Nebenniere, wie verschiedene Untersucher 
zeigten, auf mannigfache Organfunctionen, und wie ich noch zeigen werde, 
auf einige Functionen des Vaguscentrums sowie physiologisch verwandter 
Nervencentren eine anregende Wirkung ausübt, nur im Falle dringender 
| Nothwendiskeit Verworn’s Erklärung anzunehmen. Ich habe also den 


ULLA fg LU We NR AR RAR, I A EN een ; 


' Versuch gemacht, die in Rede stehende Erscheinung anders zu erklären 
und das gelang ohne grosse Schwierigkeit. 

Die Angaben Cybulski’s! und Langley’s?, dass hohe Dosen von 
Nebennierenextract die Herzendigungen des Vagus lähmen, kann ich nur 
bestätigen. Ebenso die Angabe Verworn’s, dass die directe Vagusreizung 


! L.Szymonowicz, Die Function der Nebenniere. Pflüger’s Archiv. Bd. LXIV. 
| DA9N. 
A aRO. 


528 Rıc#arp Hans Kann: 


auf der Höhe der Blutdrucksteigerung durch Nebennierenextract noch „sehr 
starke Herzwirkungen“ ergiebt, auch wenn die Dosis hinreichend gross ist, 
um den Depressorreflex zu unterdrücken. Sucht man jedoch sorgfältig jene 
Reizstärke auf, bei welcher die periphere Vagusreizung eine, einem gut aus- 
gebildeten Depressorreflex entsprechende Verlangsamung des Herzschlages 
ergiebt und prüft das Verhalten des Herzens zur Zeit des vollendeten 
Blutdruckanstieges nach Injection von Nebennierenextract, so zeigt siclı 
stets das Fehlen jeder Einwirkung der Vagusreizung auf die Zahl der 
Herzschläge. Auch diese Thatsache mögen einige Curvenbeispiele erläutern. 


MIRANDA AMMRNUNTNTNTINTANIRTTTT| HERNTAANINTHTHUNTERRHNNN NN UNTEN INT IE EDER 


Fig. 6. 


Fig. 5 zeigt die Blutdruckcurve eines leicht curarisirten Kaninchens 
während der künstlichen Athmung. Beide Vagi sind durchschnitten, der 
periphere Stumpf des einen liegt auf den Elektroden. Es erfolgen in 
10 Secunden 39 Herzschläge, der mittlere Blutdruck beträgt 82 wm Hg, 
die Druckschwankung der Blutwellen etwa 10m. Während der Reizung 
des Vagus mit sehr geringer Reizstärke schlägt das Herz 19 Mal in 


. BET VETERAN ee 3 BA \ 
ER PR Br TNTEETRRNEHRAFARRERMINR AH aan \ 


a ATEM er 


Fig. 7. 


10 Secunden. Nun wird 1.5 °°® Nebennierenextract intravenös injieirt. Der 
mittlere Blutdruck steigt zur Höhe von 115"" Hg, und es tritt eine Reihe 
von „Vaguspulsen“ durch directe Herzwirkung auf, welche aber rasch vor- 
übergehen. Unterdessen ist der Vagus gereizt worden, jedoch kann wegen 
der Herzwirkung des Extractes über die Wirkung der Reizung nichts aus- 
gesagt werden. Die zweite und ebenso die dritte Reizung des Vagus sind 
gänzlich wirkungslos, während der Blutdruck langsam absinkt. Fig. 6 ist 
die Fortsetzung der eben besprochenen Curve. Auch die vierte, fünfte und 


sechste Vagusreizung sind wirkungslos, bis endlich bei der siebenten wieder 


BEOBACHTUNGEN ÜBER DIE WIRKUNG DES NEBENNIERENEXTRACTES. 599 


eine Verlangsamung des Herzschlages eintritt zur Zeit, wo der Blutdruck 
seine frühere Höhe wieder erreicht hat. 

Auch dieser Versuch ist umgekehrt angestellt noch anschaulicher. 

Der Vorgang, den Fig. 7 erläutern soll, ist foleender: Während der 
durch schwache Vagusreizung erzielten Verlangsamung des Herzschlages 
wird 1°® Extraet injieirt. Zugleich mit der Steigerung des Blutdruckes 
verschwindet die Pulsverlangsamung trotz andauernder Vagusreizung, tritt 
auch bei erneuter Reizung auf der Höhe des Druckanstieges nicht mehr 
auf und erscheint erst wieder zur Zeit, wo der Blutdruck seine frühere 
Höhe erreicht hat. 

Aus einer grossen Anzahl von Versuchen solcher Art geht nun hervor, 
dass das Extract der Nebenniere in geeigneter Dosis im Stande 
ist, durch directe Einwirkung auf das Herz die Reizschwelle 
für die periphere Herzvagusreizung zu erhöhen. Nachdem nun 
der zur Erzielung einer Verlangsamung des Herzschlages als eines Theiles 
des Depressorreflexes nothwendige Erregungszustand des Vagus wohl nur 
wenig über der Schwelle seiner Hemmungswirkung auf das Herz liegt, ist 
die Erklärung der oben aus einander gesetzten und von Verworn be- 
schriebenen Erscheinung nicht mehr schwer. Der Vagusantheil des 
Depressorreflexes fehlt deshalb, weil das Herz nach der Injection 
des Nebennierenextractes auf schwache Vagusreizung nicht an- 
spricht. Es ist also die von Verworn gemachte Annahme einer 
Lähmung des Herzvaguscentrums durch das Extract auf Grund 
der vonihm mitgetheilten und der vorliegenden Versuche durch- 
aus nicht nothwendig. Das Herzvaguscentrum kann durch Nebennieren- 
extract erregt (Vaguspulse), ja für centripetal durch den Depressor zugeleitete 
Einwirkungen erregbarer geworden sein, ohne dass — wegen der gleich- 
zeitig nachweislich eintretenden Steigerung des Schwellenwerthes für die 
peripherische Vaguswirkung auf das Herz — die reflectorisch vom Herz- 
vaguscentrum ausgesendeten stärkeren Erregungen zur Verlangsamung des 
Herzschlages führen. Die nach Injection kleinerer Gaben von Nebennieren- 
extract beobachteten Vaguspulse, deren Eintreten durch Vagotomie ver- 
hindert wird, dürfen mit Biedl und Reiner als auf Erregung des Herz- 
vaguscentrums beruhend angesehen werden. Die diesen Vaguspulsen 
ähnelnde Aenderung der Herzthätigkeit, welche durch stärkere Extractgaben 
hervorgerufen wird, die auch nach Vagotomie noch beobachtet wird, und . 
auf welche Verworn seine Schlüsse gegründet hat, tritt ein trotz der 
gleichzeitigen Erhöhung des Schwellenwerthes für die Vaguswirkung auf 
das Herz und verdient als directe Herzwirkung nicht den Namen der 
Vaguspulse. 

_ Archiv £. A. u. Ph. 1903. Physiol. Abthlg, 34 


530 ‚Rıcharnp Hans Kann: 


II. Ueber die Veränderung der Athmung. 


Die Angaben über Veränderungen der Athmung nach Injeetion von 
Nebennierenextract sind sehr spärlich. Hier und da findet sich ein Satz 
über die bezüglichen Erscheinungen. Von etwas ausführlicheren Mit- 
theilungen hierüber sind mir nur die folgenden bekannt geworden. Oliver 
und Schäfer!, die Entdecker der blutdrucksteigernden Wirkung des 
Extractes, theilen mit: We have investigated the effects on the respiration in 
the rabbit and in the dog. Similar results are obtained in both, but the 
effeet is most part soon after the administration. of the drug, and may 
result in arrest of respiratory movements for a short time. More commonly 
however, there is produced a shallowing of the respirations, which persists 
for a certain period and then gradually passes of. In the dog no stoppage 
of respiration was ever obtained, but the respirations although proceeding 
with an ordinary rhythm were for a few times slightly shallower.“ Langley? 
lässt sich in seiner ausführlichen Abhandlung über die Wirkung des 
Extractes auf die verschiedensten Functionen folgendermassen vernehmen: 
„As described by Oliver and Schäfer, and by subsequent observers®, supra- 
renal extract causes temporary shallowing or cessation of the respiration. 
The effeet is nearly always most marked with the first injection; with 
repeated injections the effeet as a rule soon becomes trivial, and always 
becomes so if the injections are repeated a sufficient number of times.“ 
Salvioli und Pezzolini* haben die vielfach festgestellte alleinige Wirksam- 
keit des Markextractes auf den Blutdruck auch für die Athmung nach- 
gewiesen. Die letztere wird durch Markextraet häufiger und oberflächlicher, 
während das Rindenextract auch hier keine Wirkung ausübt. 

Bei der Beobachtung des athmenden Thieres war mir schon früher 
aufgefallen, dass nach Injection von Nebennierenextract die Athmung nicht 
nur schwächer wurde, sondern dass die bei der Athmung sich bewegenden 
Theile während der Injectionswirkung niemals in eine so tiefe Inspirations- 
stellung kamen wie vorher. Ich habe es also unternommen, die Athmung 
in exacter Weise zu registriren. Die Thiere erhielten, um die jede ruhige 
Beobachtung ausschliessenden Aufregungserscheinungen zu mildern, !/, bis 
1m einer 50 procentigen Lösung von Chloralhydrat subcutan. Wie 


1 G. Oliver and E. A. Schäfer, The physiological effects of extracts of the 
suprarenal capsules. Journ. of physiol. Vol. XVIII. p. 263. 

27.22.20, S2 253, 

® Ganz besonders hat H. Boruttau (Pflüger’s Archiv. 1899. S. 114) die 
Verkleinerung der inspiratorischen Zacken in der Athemeurve beschrieben. 

* J. Salvioli und P. Pezzolini, Sur le different mode d’agir des extraits me- 
dullaire et cortical descapsules surr@nales. Arch. Ital. de Biol. Tom. XXXVII. p. 380, 


BEOBACHTUNGEN ÜBER DIE WIRKUNG DES NEBENNIERENEXTRACTES. 531 


Gottlieb! gezeigt hat, bleibt die Wirkung des Extraetes auf Herz und 
Gefässe auch nach hohen Chloraldosen bestehen. Die Athmung wurde mit 
Gad’s Athemvolumschreiber, welchem eine etwa 15 Liter fassende Vorlage 
vorgeschaltet war, aufgenommen. 

Fig. 8 zeigt die Athmung eines kleinen Kaninchens, welches bei * 
1 em Nebennierenextract erhielt. Nach einer Anzahl von Athemzügen des 
bisherigen Typus erfolgt eine bedeutende Verflachung der Athmung. Die 
Exspirationen sind sehr gedehnt, ihre Gipfel liegen in gleicher Höhe mit 


Fig. 8. 


den Exspirationsgipfeln vor der Injection. In der Curve zeigen sich deut- 
lich eardiopneumatische Wellen auf den Linien der Exspirationsbewegungen. 
Die Inspirationen haben an Tiefe abgenommen, im Anfang sehr bedeutend, 
später ist die Tiefe wieder zunehmend. Die Frequenz der Athmung ist 
bedeutend geringer. Während früher in 10 Secunden 10 Mal geathmet 
wurde, finden jetzt nur etwa 3 Athemzüge in der gleichen Zeit statt. 
Nachdem ’diese Erscheinung einige Zeit gedauert hat, werden die Inspirationen 


Fig. 9. 


kürzer, und bald stellt sich wieder die normale Athmung ein. Das Resultat 
einer solchen erstmaligen Injection von Nebennierenextract ist also — und 
zwar constant — eine ausgesprochene Beeinflussung der Athmung in 
exspiratorischem Sinne, nämlich eine Verkleinerung der Inspi- 
ration und eine Verlängerung der ‚Exspiration bei erhaltener 
Athemlage. 

Bei wiederholten Injectionen ist die Veränderung der Athmung eine 
andere, aber eine bei der gleichen Dosis fortan ganz constante (Fig. 9). 


ı R. Gottlieb, Ueber die Wirkung des Nebennierenextractes auf Herz und Ge- 


fässe. Archiv für experimentelle Pathologie. 1900. Bd. XLIII. S. 286. 
34* 


532 Rıcnarpd Hans Kann: 


Die Inspirationen nehmen an Tiefe bedeutend ab (Boruttau), aber es 
fehlt die Dehnung der Exspirationen, und die Athmung ist in geringem 
Maasse beschleunigt. Dabei stehen die Exspirationsgipfel genau oder fast genau 
auf der früheren Gipfellinie. Im weiteren Verlaufe nehmen die Inspirations- 
tiefen wieder zu und die Frequenz wenig ab, bis die Athmung ebenso ver- 
läuft, wie vor der Injection. Die Athemlage bleibt erhalten, die Gesammt- 
wirkung ist auch hier eine exspiratorische. Während der Wirksamkeit 
des Extractes im Körper werden häufig einige Schluckbewegungen ausgelöst, 
welche”in der Athemeurve (Fig. 9, bei s) als Zacken der „Schluckathmung“ 
in Erscheinung treten. 


Fig. 10. 


Erhöht man die Dosis des injieirten Extractes, so erscheinen im Anfange 
der Athmungshemmung zunächst kurze exspiratorische Pausen (Fig. 10), 
und bei weiterer Erhöhung längere oder küjrzere exspiratorische 
Stillstände (Fig. 11). 


Fig. 11. 


Dabei sind die Inspirationen um vieles leichter, während die Athem- 
lage meistens erhalten bleibt. Hier und da wird wieder ein Schluck 
(Fig. 11 bei s) oder ein Seufzer (Fig. 11 bei s,) ausgelöst. Diese exspi- 
ratorische Wirkung des Nebennierenextractes auf die Athmung 
verläuft in der geschilderten Weise bei beliebig oftmaliger 
Wiederholung der Injection immer ganz gleich und muss also 
als eine durch die Injection mittelbar oder unmittelbar hervor- 
gerufene typische Erscheinung betrachtet werden. Es wäre ja 
verlockend, diese Wirkung als eine directe Einwirkung ‘auf das Athem- 


BEOBACHTUNGEN ÜBER DIE WIRKUNG DES NEBENNIERENEXTRACTES. 533 


centrum zu bezeichnen. Einen solchen hemmenden Einfluss glaubt H. Bo- 
ruttau auf Grund gewisser Erscheinungen bei der Vagusreizung während der 
Extraetwirkung annehmen zu müssen. Aber dem stehen eine Reihe von Be- 
denken im Wege. Zunächst wird ja die Form der Athmung neben der grossen 
Zahl von aussen einwirkender Einflüsse auch durch Veränderungen von Organ- 
functionen sicher refleetorisch beeinflusst. Da nun als Nebennierenextract- 
wirkung eine ganze Reihe theilweise mächtiger Veränderungen solcher 
Functionen bereits bekannt, eine Reihe anderer vielleicht noch unbekannt 
ist, so ist natürlich vorläufig nicht abzusehen, auf welchem Wege das 
Athemcentrum durch anderweitige Einwirkungen des Nebennierenextractes 
centripetal beeinflusst werden könnte. Angrifispunkte für eine indirecte 
Beeinflussung desselben durch die bekannten Wirkungen des Extractes sind 
ja scheinbar vorhanden. Der Vagusweg kommt hier zwar nicht in Betracht, 
denn eine beiderseitige Durchschneidung dieses Nerven ändert nichts an 
den beschriebenen Erscheinungen der Athmung: Aber aus dem Herzen 
selbst oder aus der Aorta kann ja nach Francois-Franck! eine reflec- 
torische Beeinflussung der Athmung angeregt werden. Dasselbe gilt nach 
Graham? von der centripetalen Reizung des Splanchnicus. 

Ich möchte daher vorläufig die Frage, ob das Extract der Nebenniere 
das Athemcentrum direct beinflusst, offen lassen. 


III. Ueber die Veränderung der Auslösbarkeit 
einiger wichtiger Athemreflexe, 


Gelegentlich seiner Mittheilungen über die Regulirung der normalen 
Athmung hat Gad? jene Erscheinungen der Athmung geschildert, welche 
auftreten, wenn die Athemwege eines Kaninchens nicht durch ein grösseres 
Luftreservoir, sondern durch ein enges, entsprechend langes Rohr mit dem 
Athemvolumschreiber in Verbindung stehen. „Es zeigte sich nun, dass 
bei der so (Verunreinigung der Einathmungsluft durch die Ausathmungs- 
luft) hervorgerufenen Dyspnoe regelmässig nicht nur die Frequenz und 
Tiefe der Athmung, sondern auch die mittlere Entfernung des Thorax aus 
der Gleichgewichtslage beträchtlich zunahm.“ Durch geeignete Hähne am 
Athemvolumschreiber, sowie an der Canülenöffnung des Luftreservoirs lässt 
sich die Einrichtung treffen, durch eine einzige Hahndrehung ohne Belästigung 
des Thieres von der „Reservoirathmung“ zur „Rohrathmung“ überzugehen. 


! Francois-Franck, Recherches experimentales sur les dyspnees reflexes d’origine 
cardio-aortique. Arch. d. physiol. norm. et path. 1890. p. 508 und 546. 

?2 J. C. Graham, Ein neues specifisches regulatorisches Nervensystem des Ath- 
mungscentrums. Pflüger’s Archiv. Bd. XXV. S. 379. 

® J. Gad, Die Regulirung der normalen Athuung. Dies Archiv. 1880. 8. 1. 


534 RıcHhArnp Hans Kann: 


Fig. 12 veranschaulicht die bei einer solchen Anordnung sich ent- 
wickelnde „Rohrdyspnoe“. Bei r beginnt das Thier durch das Rohr zu 
athmen.. Die Athemlage verschiebt sich beträchtlich in inspiratorischem 
Sinne, es tritt auch, wie in diesem Falle häufig, ein Seufzer auf. Bei * 
erfolgt die intravenöse Injection von 1 °® Nebennierenextract. Sogleich 
machte sich eine exspiratorische Wirkung geltend, die Athemlage stieg. 


” 


ES 


BEE ALU TTT 


Fig. 12, 


Zugleich sistirte für die IDauer der Wirksamkeit des Extractes das Fort- 
schreiten der rohrdyspnoischen Erscheinungen und fand erst nach Aufhören 
der Extractwirkung seine Fortsetzung. Auch diese Erscheinung ist ganz 
constant zu finden und stets mindestens in dieser Stärke. ausgebildet. 


Fig. 13. 


Nicht selten aber verstärkt auch die oben beschriebene Verkürzung 
der Inspirationen die exspiratorische Wirkung, während die Weiterent- 
wickelung der Rohrdyspnoe aufhört. Welches die directe oder indirecte 
Beeinflussung der Centren wohl sein könnte, ist wohl ebenfalls vorläufig 
nicht zu entscheiden. 

Weiter mögen hier einige Beispiele angeführt werden, welche zeigen, 
dass die durch die centripetale Reizung einiger Nerven hervor- 
rufbaren Athemreflexe eine recht bedeutende Steigerung ihrer 
Intensität erleiden. 

Der Effect der Reizung des centralen Vagusstumpfes auf die Athmung 
ist bekanntlich in den einzelnen Fällen nicht mit Sicherheit vorherzusagen. 
Jedoch pflegt die baldige Wiederholung der Reizung mit derselben Reiz- 
stärke unter sonst gleichen Umständen die gleiche Wirkung hervorzurufen. 

Bei Anwendung ganz schwacher Inductionsströme erhält man häufig 
eine geringe Abflachung und Beschleunigung der Athemzüge (Fig. 14). 


BEOBACHTUNGEN ÜBER DIE WIRKUNG DES NEBENNIERENEXTRACTES. 535 


Injieirt man nun etwa 1° Nebennierenextract und reizt nach Erscheinen 
der Extractwirkung mit derselben Reizstärke, so ist die Wirkung stets eine 


viel intensivere. Hier kommt eine starke Aenderung der Athmung im 
Sinne der Exspiration zu Stande. In anderen Fällen (Fisg. 15 und 16) 


Fig. 15. 


erhält man unbestimmte oder inspiratorische Athemstillstände, stets ist aber 
die Reflexwirkung nach der Injection eine viel stärkere als vor 
derselben. 


Fig. 16. 


Rosenthal’s! Entdeckung hat uns gelehrt, dass der N. laryngeus 


! J. Rosenthal, Amtlicher Bericht der deutschen Naturforscherversammlung. 
Königsberg 1860. 


536 % RıchArp Hans Kann: 


sup. ein Hemmungsnerv für die Athmung ist. Seine Reizung ergiebt je 
nach der Reizstärke Verlangsamung und Verflachung der Athmung, sowie 
Stillstand derselben in Exspiration. 

Sucht man jene Reizstärke auf, bei welcher eben eine deutliche Ver- 
langsamung und eventuell auch Verflachung der Athemzüge eintritt, so 
erhält man nach Injection von Nebennierenextract immer eine bedeutend 
stärkere Wirkung, welche sich oft bis zu anhaltendem Exspirationsstillstand 
steigert (Fig. 17). 


DL 


Fig. 17. 


Und endlich ist auch jenes Verharren der Athmung in Exspirations- 
stellung nach Einblasen eines irrespirablen Gases (2: B. Ammoniak), welches 
Kratschmer! zuerst des genaueren untersuchte, durch die Injection des 
Extractes einer Steigerung fähig. 


Fig. 18. 


Es liegt nämlich bei Verzeichnung der Athmung mit dem Athemvolum- 
schreiber das Niveau des Athemstillstandes stets noch über den Gipfeln der 
früheren Exspirationen (Fig. 18). 

Aus diesen Untersuchungen geht also hervor, dass die Erregbarkeit 
wichtiger Athemreflexcentren;nach der Einwirkung des Neben- 
nierenextractes bedeutend gesteigert ist. Welchen Antheil an dieser 


! Kratschmer, Sitzungsberichte der Wiener Akademie. 1870, 


BEOBACHTUNGEN ÜBER DIE WIRKUNG DES NEBENNIERENEXTRACTES. 937 


Steigerung der unmittelbaren Einwirkung des Extractes, und welcher der 
Veränderung anderer Organfunctionen zuzuschreiben sei, ist wohl vorläufig 
nicht zu entscheiden. Für das Herzvaguscentrum behauptet ja Verworn! 
eine Erregbarkeitssteigerung während der Blutdrucksteigerung durch Ab- 
klemmung der Aorta auf Grund der Depressorreizung. Jedenfalls würde 
aber, falls man das Gleiche für andere Nervencentren annehmen wollte, 
dadurch die Möglichkeit der direeten Erregbarkeitssteigerung durch das 
Extract der Nebenniere nicht ausgeschlossen sein. 


IN a0. S:370. 


Verhandlungen der physiologischen Gesellschaft 
zu Berlin. 
Jahrgang 1902—1903. 


Nachtrag zur IV. Sitzung vom 5. December 1902. 


Hr. Dr. WILHELM STERNBERG (a. G.): „Beiträge zur Physiologie 
des süssen Geschmackes.“ 

Bei der grossen Bedeutung, welche der Geschmacksinn ehedem für die 
Pathologie, bei der dauernden Bedeutung, den dieser Sinn noch für die 
chemische Forschung hat, darf es auffallend erscheinen, wenn sich in der 
Wissenschaft der Physiologie dieses Sinnesorganes noch so lange zwei 
Sätze erhalten können, welche schon längst der endgültigen Widerlegung 
bedürfen. 

Man begegnet in der Litteratur oft noch der Anschauung, dass der 
Geschmack einer bestimmten chemischen Verbindung keine einheitliche, be- 
stimmte und unabänderliche objeetive Qualität dieser Substanz sei, sondern, 
dass das Urtheil mehr die subjecetive Geschmackssache jedes Einzelnen sei, 
wie sich das in den Sätzen ausdrückt „Der Geschmack ist verschieden“ oder 
„De gustibus non est disputandum“, in einem Satze, der sich sogar noch in 
dem ersten Lehrbuche der Physiologie erhält. 

Nun ist es aber von vornherein gar nicht einzusehen, nicht einmal 
wahrscheinlich, dass die Qualität des Geschmackes nicht ebenso wie jede 
andere, etwa die Qualität der Farbe eine bestimmte, unabänderliche Grösse 
darstellt. Sodann aber muss doch nach allgemein wissenschaftlichen Grund- 
sätzen, zunächst wenigstens ein Mal, zur Vertiefung und Lösung der Fragen 
angenommen werden, dass der Geschmack ein und derselben Substanz sehr 
wohl für den einen genau der nämliche ist wie für den anderen. Wie der 
Mathematiker bei Lösung einer Aufgabe gerade in dem fruchtbarsten Theile, 
in der Analysis, im Gegentheil annimmt, dass er bereits die zu lösende Auf- 
gabe gelöst hätte, um daraus den Weg zur Lösung erst zu ersehen, so muss 
auch, so lange wenigstens bis das Gegentheil erwiesen ist, die Lösung dieser 
Aufgabe für möglich gehalten und eben zunächst ein Mal angenommen werden, 
dass die Qualität des Geschmackes, wenn auch noch gar kein Beweis für 
die Richtigkeit der Behauptung erbracht ist, ebenso wie jede andere Qualität 
eine unabänderliche Grösse ist. Freilich muss vorausgesetzt werden, dass 
nicht etwa zwingende Gründe bereits zur Annahme der Unlösbarkeit dieser 
Probleme drängen, wie denn eben die Lösung mancher Probleme in der 
Erkenntniss der Unmöglichkeit ihrer Lösung liegt. Dieselben liegen hier 
aber thatsächlich nicht vor. Ebenso wenig wie man also ehedem behaupten 
konnte, „De coloribus non est disputandum“, ebenso wenig darf heute 
noch der Satz anerkannt werden: „De gustibus non est disputandum“. 

Ist nun aber der Satz richtig „De gustibus est disputandum“ oder 
wenigstens aus tactischen Gründen als richtig anzunehmen, so ist nichts 


VERHANDLUNGEN D. BERLINER PHYSIOL. GESELLSCH. — W.STERNBERG. 539 


natürlicher, als sämmtliche durch den gleichen Geschmack ausgezeichneten 
Verbindungen zu sammeln und mit einander zu vergleichen. 

Freilich auch hierüber herrscht eine vorgefasste Ansicht, und dies ist 
der zweite zu widerlegende Satz, der mit derselben Regelmässigkeit wieder- 
kehrt, mit der jeglicher Versuch eines Beweises zu vermissen ist, nämlich 
dass es gar nicht einheitlich-chemische Gruppen sind, welche sich durch 
dieselben nämlichen Geschmacksqualitäten auszeichnen, dass also die ver- 
schiedenen Geschmacksqualitäten gar nicht im Chemismus der Materie 
begründet seien. Die bisher unüberwindliche Schwierigkeit, die einzelnen 
Gruppen nach ihren entsprechenden Geschmacksqualitäten zu sondern, mag 
zur Aufstellung einer solehen Annahme wohl beigetragen haben. Die bis- 
herige Unkenntniss der schmeckenden Principien mag wohl die Schwierig- 
keiten des Vorwurfes beweisen, allein sie kann doch keinesfalls ausreichend 
sein, etwa die Unmöglichkeit, dass die Qualität des Geschmackes, das 
schmeckende Prineip im Chemismus beruht, zu begründen oder auch nur 
wahrscheinlich zu machen. 

Die Unmöglichkeit der Lösung eines Problemes aus der Schwierigkeit 
herzuleiten, ist schon deshalb nicht angängig, weil es überhaupt jede weitere 
Forschung erübrigen würde. Das ganze Problem besteht eben darin, das allen 
Verbindungen gemeinsame Commensurable zu finden, um es als Ursache 
der einzelnen Geschmacksqualitäten anzusehen. Es gilt z. B., die ausser- 
ordentlich zahlreichen süss schmeckenden Glieder heterologer Gruppen wie 
Saccharin, Bleizucker, Leimsüss unter ein einheitliches Princip zusammen- 
zufassen, um dasselbe als das süssende Princip anzuerkennen. Umgekehrt 
gilt es, das noch weit grössere Gebiet der Salze in dieser Hinsicht zu be- 
trachten, es einzuschränken und ihnen nur die salzig schmeckenden zu 
entnehmen. Nun ist aber bisher überhaupt noch nirgends und noch niemals 
der Versuch gemacht worden, die Substanzen, die durch gleiche Geschmacks- 
qualitäten verbunden sind, zu sammeln, zusammenzustellen und zu ver- 
gleichen, um ihnen so das Gemeinsame, Commensurable zu entnehmen. 
Gerade diese Art der Betrachtung scheint mir aber nicht nur die allererste 
und allerwichtigste auf dem gesammten Gebiete der Physiologie dieses Sinnes 
zu sein, sondern auch den einzig richtigen Weg zur Lösung der Fragen 
darzustellen. 

Es sind nämlich zu allernächst doch die Fragen aufzuwerfen und zu 
beantworten: 

I. Welchen Verbindungen ist überhaupt der süsse Geschmack zu eigen? 

Il. Welchen Verbindungen ist überhaupt der bittere Geschmack 
zu eigen? 

II. Welchen Verbindungen ist überhaupt der salzige Geschmack 
zu eigen? 

IV. Welchen Verbindungen ist überhaupt der sauere Geschmack 
zu eigen? 

So gross auch die Litteratur über den Geschmack ist, so ist diese 
prineipielle Frage überhaupt noch nicht einmal aufgeworfen, geschweige 
denn in umfassender Weise gelöst worden. Zur Vervollständigung 
ihrer Beantwortung dürfte ein Aufruf, eine Sammelforschung in 
der Physiologie, ebenso geeignet erscheinen, wie ein derartiger 
in der Pathologie bezüglich der Influenza und des Krebses 


540 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


nicht ohne Einfluss geblieben ist. Jedenfalls wäre man erst nach 
Erledigung, und zwar nach einer negativen Beantwortung dieser Fragen zu 
der Annahme berechtigt, dass die chemischen Verbindungen nicht nach 
dem Geschmacke zu gruppiren seien. 

Allein diesem scheinbar natürlichen und sich ganz von selbst ergeben- 
den Wege der Betrachtung stellen sich sämmtliche Autoren entgegen, wie 
Ziehen, Oehrwall, Höber, Kiesow. Letztere erwarten von derartigen 
Studien keine Resultate, da sich zuviel Ausnahmen in den einzelnen Gruppen 
fänden, und sie begründen ihre Ansicht vorzugsweise mit der Thatsache, 
dass sie sogar einen echten Zucker kennen, der, wiewohl er zu den Süss- 
stoffen zo &Soynv gehört, doch als echter Zucker nicht einmal süss, sondern 
im Gegentheil bitter schmeckt. Dieser Zucker, der sich durch seinen bitteren 
Geschmack vor allen anderen Concurrenten der chemischen Gruppe aus- 
zeichnet, ist d-Mannose. Sie schliessen daraus, dass sich die Qualität des 
„Süssen“ bisher noch nicht einmal durch den Chemismus ergründen lässt. 
Ein natürlicher Zucker, ein Süssstoff par excellence, von bitterem Geschmack, 
das klingt freilich als ein in sich selbst begründeter Widerspruch. Die 
Chemie kann zwar den Zucker als „Säure“ auffassen, ohne dass der saure 
Geschmack irgend einem Zucker eigen wäre; als Salz, als „süsses Salz“ hatte 
den Rohrzucker der Chemiker angesprochen, wie er am süssen Geschmack 
seine Anwesenheit in der heimischen Rübe, in Berlin Dorotheenstrasse 10, 
erkannt hatte, als „süsses Salz“, ohne dass von den unendlich zahlreichen 
Zuckern — thatsächlich im mathematischen Sinne unendlich 00 -—- irgend ein 
einziger den salzigenGeschmack besässe. Kommt nun noch hinzu, dass unter 
den Süssstoffen, mit denen wir täglich zu süssen gewohnt sind, auch gar der 
bittere Geschmack jetzt noch vertreten ist, so würden sämmtliche Geschmacks- 
qualitäten: süss, sauer, salzig, bitter, vertreten sein, zumal in derjenigen Gruppe, 
die sich dadurch vor allen übrigen auszeichnete, dass sie bisher wenigstens 
ausnahmslos nur einen einzigen Geschmack und zwar den süssen besass. 
Wurde doch aus diesem Grunde die bisher ausnahmslose Eigenschaft des 
süssen Geschmackes, welche alle Zucker mit einander verband, ebenso wie 
der bittere Geschmack der Galle als vorbildliche Qualität, ja sogar vergleichs- 
weise gewählt. Bezeichnet man doch gerade wegen des süssen Geschmackes 
das Bleisalz als „Bleizucker“, spricht doch der Volksmund von der Zuckersüsse 
genau so wie vom Gallebitteren, spricht doch der Zuckerbauer sogar vom 
„Nichtzucker“, den Beimengungen, die durch die Raffinade erst entfernt 
werden müssen, da sie „nichtsüssen“. Die Nichtexistenz eines „geschmack- 
losen Zuckers“ im Harn hatte erst genauer Untersuchungen bedurft. 

Dass es also unter den natürlichen Süssstoffen der Zucker ein Glied sogar 
von bitterem Geschmack giebt, ist für die Physiologie wie für die Chemie 
eine gleichermaassen so auffallende Thatsache, dass dieselbe der Aufklärung 
bedarf. So gewählt, so gesucht dieser Vorwurf erscheinen mag, den bitteren 
Geschmack eines einzigen Zuckers zum Gegenstand einer Betrachtung zu 
machen, so entbehrt eine eingehende wissenschaftliche Erörterung darüber 
nicht einer gewissen Berechtigung, aus dem einfachen Grunde, weil dieselbe 
von hervorragender priucipieller Bedeutung ist. Theilt nämlich mit der 
Physiologie noch die Chemie das Interesse an der Kenntnis eines bitter 
schmeekenden Zuckers, so ergiebt sich für die Physiologie besonders hier die 
Frage, ob der nun einmal von mir vorgeschlagene Weg, die Geschmacks- 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — WILHELM STERNBERG. 541 


qualitäten nach chemichen Prineipien zu ordnen, fernerhin noch aussichts- 
voll, ja überhaupt möglich ist oder nicht. Die eine einzige Thatsache der 
Bitterkeit eines Zuckers kann ausreichen, um die von mir gegebene Annahme 
des süssenden Prineipes zu erschüttern. Hier muss es sich also entscheiden, 
ob die gegebene Vorstellung des süssenden Prineipes zutreffend ist oder nicht. 
Derjenige aber, der bisher geglaubt hat und trotzdem noch glaubt oder gar 
glauben machen will, dass die Qualität des Geschmackes, insbesondere die 
des süssen Geschmackes im Ohemismus seine Erklärung finde, hat jedenfalls 
die Verpflichtung, diese Thatsache zu bedenken und die gegebenen An- 
schauungen über das den süssen Geschmack bedingende chemische Prineip 
zu rechtfertigen, modificiren oder umzustossen. 

Sämmtliche Angaben in der Litteratur stimmen darin überein, dass der 
Geschmack der d-Mannose ein süsser ist. Emil Fischer und Josef Hirsch- 
berger, die d-Mannose zuerst dargestellt haben, charakterisiren die d-Mannose 
als „süss und durch alle ihre Eigenschaften der Dextrose so nahe verwandt, 
dass sie wohl damit verwechselt werden kann.“ Einer persönlicher Auskunft 
von Hrn. Geheimrath Emil Fischer (6. I. 1899) verdanke ich überdies die 
Nachricht, dass d-Mannose süss schmecke, und der gütigen Erlaubniss des 
Hrn. Geheimrath Fischer habe ich einen Schmeckversuch zu danken. Der 
Syrup schmeckt süss. 

Freilich ist erst neuerdings die d-Mannose im krystallisirten Zustande, 
also ganz rein, erhalten worden. Da hat sich ergeben, dass sie einen ziem- 
lieh bitteren Geschmack besitzt. (Sur la d-Mannose erystallisee, par Alberda 
van Ekenstein; „le sucre a un goüt assez amer“.) 

Es entstehen daher nun drei Fragen: 

I. Wie ist denn nun der wirkliche Geschmack der d-Mannose über- 
haupt? Wie ist der Widerspruch in der Ansicht der Autoren über den 
Geschmack dieses Zuckers zu erklären? 

II. Wie ist der bittere Geschmack dieses natürlichen Zuckers zu erklären? 

III. Welche allgemeinen Schlüsse sind aus dem Geschmacke dieses 
Krystallzuckers zu ziehen? 

Ist damit ein für alle Mal bewiesen, dass, da nicht einmal die gewöhn- 
lichen Süssstoffe ein einheitlicher Geschmack verbindet, es unmöglich ist, 
chemische Gruppen nach ihren Geschmacksqualitäten zusammenzufassen ? 
Genügt die eine Thatsache, die bisherige Annahme der Begründung des 
Geschmackes im Chemismus, die Ansicht vom schmeckenden, vom süssenden 
Prineip umzustossen? 

Ich konnte mich so wenig bescheiden und von der vorgefassten Ansicht, 
dass auch dieser Zucker süssen müsse, den ich niemals von Angesicht zu 
Angesicht mit dem Auge, geschweige denn mit der Zunge geprüft hatte, 
auch jetzt noch nicht trennen, dass ich mich brieflich an Ekenstein wandte, 
um mich über den Geschmack zu informiren. Ekenstein antwortete mir, 
dass, wie er es in der Litteratur angegeben hätte, der Geschmack ein bitterer 
wäre. Trotzdem wandte ich mich nochmals in einem längeren Briefe, in 
dem ich meine theoretischen Gründe aus einander zu setzen versuchte, an 
Ekenstein. Derselbe hatte die grosse Liebenswürdigkeit, für die ich auch 
hier Gelegenheit nehme zu danken, mir eine Probe der d-Mannose zu senden, 
mit der Aufforderung, die Geschmacksprüfung selber vorzunehmen, und mich 
von der Thatsache zu überzeugen. 


542 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


Mit einer ganzen Reihe von Versuchspersonen stellte ich nun unter allen 
Cautelen die Schmeckversuche an. Sämmtliche stimmten ausnahmslos darin 
überein: der Geschmack der d-Mannose ist ein süsser, unverkennbar, intensiv 
süss, aber auch ein bitterer und zwar erst zum Schluss und dafür anhaltend bitter. 

Aus dieser Thatsache der gleichzeitigen Anwesenheit des süssen Ge- 
schmackes geht zunächst hervor, dass wir diesen Zucker bezüglich seines 
Geschmackes nicht als einen Ausfall aus der Reihe, welehe sämmtliche 
Zucker als Süssstoffe verbindet, zu betrachten haben, die d-Mannose also 
nicht als eine anormale Ausnahme anzusehen brauchen und auch nicht ge- 
nöthigt sind, unsere Theorie des süssen Principes deswegen umzustossen. 

Wie die ersten Darsteller der d-Mannose den Geschmack als einen 
süssen charakterisiren, in der Annahme, dass die gleichzeitige Bitter- 
keit nicht der d-Mannose, sondern den sie begleitenden Verunreinigungen 
zukomme, so unterlässt umgekehrt Ekenstein den gleichzeitigen süssen 
Geschmack zu registriren, wohl in der Annahme, dass er der d-Mannose 
als einem reinen Zucker ganz selbstverständlich zukomme, und bezeichnet 
ihn als bitteren Geschmack. 

Freilich erübrigt es nun noch, die gleichzeitige Bitterkeit der d-Mannose 
zu erklären. Besondere Bedeutung ist überdies diesem bitteren Geschmack 
auch deshalb noch beizumessen, als derselbe einer optisch activen Ver- 
bindung eigen ist. 

Nach den bisherigen Erfahrungen schaffte die stereogeometrische 
Configuration keine Aenderung im Geschmack, mit der einzigen Aus- 
nahme des Asparagins, welche zudem, lange zuvor, nur ein einziges Mal 
constatirt ist. Freilich für den zweiten chemischen Sinn, den Geruch, hat 
die stereogeometrische Anordnung einige Bedeutung. Das ist das Inter- 
essante, dass die chemischen Sinne, Geruch und Geschmack, sich in diesem — 
wenn der Ausdruck einmal gestattet sei — sinnehemischen Bezuge ganz 
anders zu verhalten scheinen, und sich gegenseitig, wie so vielfach, auch 
hierin zu ergänzen scheinen. Die optisch activen Formen wirken nämlich 
stärker auf die Geruchsnerven als die racemischen Verbindungen. Somit 
wäre der Geruch, aber nicht der Geschmack, als stereognostischer Sinn zu 
betrachten. Es ist dies um so auffallender, als die Zunge, mathematisch so 
ausgezeichnet unterrichtet, vermöge des Geschmackes sehr wohl die höheren 
von den niederen Gliedern homologer Reihen zu unterscheiden im Stande 
ist, und noch viel mehr als arithmetisch auch geometrisch zu trennen ver- 
mag, freilich nur in planimetrischem Sinne, was die Ortsbestimmung in einer 
Ebene, nach zwei Dimensionen also nur, anbetrifft, während sie für die Geo- 
metrie im Raume, für die Stereogeometrie, also nach der dritten Dimension 
hin, absolut nieht Unterschiede zu finden, die Befähigung hat. 

Dementsprechend schmeckt auch l-Mannose süss. Der Liebenswürdigkeit 
des Hrn. Geheimrath Emil Fischer habe ich einen Schmeckversuch (3. VI. 
1902) zu verdanken. Freilich ist l-Mannose auch ein Syrup; krystallisirt 
ist 1-Mannose überhaupt noch nicht erhalten worden. 

Die künstlichen Zucker schmecken sämmtlich ohne Ausnahme zuerst 
nieht süss, sind aber auch nicht etwa geschmacklos oder weniger süss, wie 
man doch vielleicht annehmen sollte, sondern sie verbinden zugleich mit 
dem süssen Geschmack den diametral entgegengesetzten bitteren Geschmack, 
welcher von den Verunreinigungen stammt. Das hat eben seinen Grund 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — Mossr. 543 


in der Thatsache, auf die wir schon oft hingewiesen haben, dass, soweit 
auch die subjeetiven Empfindungen der zwei diametral entgegen- 
gesetzten Geschmäcke von süss und bitter aus einander zu liegen scheinen, 
so nahe bei einander die objeetiven schmeckenden Prineipien liegen. 
Daher dient die physiologische Zungen-Probe des bitteren Geschmackes 
eines synthetisch bereiteten Zuckers dem Chemiker als diagnostisches Mittel 
dafür, ob der Zucker schon vollkommen rein und frei von Zersetzungsproducten 
sei, wie ja auch der bittere Geschmack, der den süssen Geschmack der 
Praseodym- und Neodymsalze begleitet, die Frage aufgeworfen hat, ob diese 
Verbindungen reine einheitliche Individuen sind. 

Freilich schmeckt doch nun aber d-Mannose im reinsten Zustande, 
krystallisirt, auch bitter. Es bleibt also nichts anderes übrig als den Grund 
in einer besonderen chemischen Constitution zu suchen. 

Ziehen also die Autoren aus der einen einzigen, unbestritten nicht 
ganz zutreffenden, Thatsache den Schluss, dass nicht einmal die Süssstoffe 
par excellence ein einheitlicher Geschmack verbindet, und mithin die An- 
nahme zu verwerfen sei, dass im Chemismus die Geschmacksmodalität zu 
suchen ist, so darf diese Schlussfolgerung angefochten werden. Die Süss- 
stoffe zer &&0y1jv, die Zucker, verbindet sehr wohl ein Geschmack, der süsse, 
und überdies kann ein besonderer Beigeschmack möglicher Weise auf etwas 
Specielles, ein Besonderes hinweisen, ohne deshalb eine Ausnahme zu bedingen. 


X. Sitzung am 6. März 1903. 


1. Hr. Mosse: „Zur Histogenese der lymphatischen Leukämie.“ 


Nach Ehrlich und seinen Schülern kommt die lymphatische Leukämie 
so zu Stande, dass von den Lymphocyten bildenden Geweben des Körpers 
diese in die Circulation passiv hineingeschwemmt werden. Nun ist aber 
bisher noch nicht der Nachweis der Lymphocyten in der nicht veränderten 
Gefässwand bei dieser Erkrankung gelungen. Es füllt deshalb der mitzu- 
theilende Befund eine Lücke hinsichtlich der Histogenese der Iymphatischen 
Leukämie aus. 

Bei einer in der medicinischen Poliklinik des Hrn. Geheimrath Senator 
beobachteten Patientin mit chronischer Iymphatischer Leukämie wurde ein 
Stückchen der im Uebrigen normalen, d. h. nicht vergrösserten Tonsille 
mikroskopisch untersucht. Es fanden sich nun nicht nur innerhalb und 
ausserhalb der Gefässe die Lymphocyten liegen, sondern auch in der Wand 
der kleinen und kleinsten Gefässe, der Venen und Capillaren, selbst. Die 
Lymphocyten waren vollkommen deutlich von den Endothelkernen zu unter- 
scheiden; die Gefässwände zeigten sonst keinerlei Veränderungen. 

Dieser Befund bildet eine Bestätigung und eine Erweiterung von Beob- 
achtungen anderer Autoren. Benda fand (1897) bei Fällen von acuten 
und chronischen Iymphatischen Leukämieen das Hereinwuchern von Lym- 
phomen in die Venen — so zwar, dass die Endothelien abgehoben waren und 
die Lymphome in die Lumina der Venen hineinragten. F. Pinkus fand 
(1899) bei der Untersuchung von Lymphomen der Haut in der Umgebung 
dieser Bildungen die Lymphgefässe mit Lymphocyten ausgestopft; er sieht 


544 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


hierin den Beweis, dass die Lymphocyten aus den Lymphomen in der 
Richtung des Lymphstromes herausgepresst sein müssen. 

Von besonderem Interesse sind fernerhin die Untersuchungen von 
v. Schuhmacher und von Herbert. Der erstere machte die Beobachtung 
(1899), dass in den Lymphdrüsen auch die Venen mit Lymphocyten gefüllt 
waren und schliesst aus vergleichenden Bestimmungen der in der Lymph- 
vene und in einer benachbarten Arterie gezählten Lymphoecyten, die zu 
Gunsten der ersteren ausfielen, dass die Lymphoeyten in die Venen gelangen 
und nicht umgekehrt aus den Venen in das Gewebe. Herbert fand (1900) 
bei der Untersuchung normaler und chronisch entzündeten Conjunctiven in 
den Wandungen der Venenwurzeln Lymphocyten liegen. 

Die von Herbert gemachte Ueberlegung, dass die Lymphocyten in die 
Venen hinein gelangen deshalb, weil die Lymphocytenansammlungen auch 
an Stellen des Gewebes seien, die keine Venen führen, ist auch für die 
Erklärung des hier mitgetheilten Befundes gültig. 

Was die Frage anbelangt, ob die Lymphoeyten passiv oder activ in 
die Venenwand kommen, so ist dieselbe an der Hand der Präparate nicht 
zu entscheiden. Zum Mindesten ist zu sagen, dass eine active Locomotion 
zur Deutung des beschriebenen Befundes keineswegs nothwendig erscheint. 

Es werden Blut- und Gewebspräparate demonstrirt; das eine Präparat 
zeigt in einer Venenwand auf der einen Seite das Hereinwuchern eines 
Lymphomes in das Lumen, auf der anderen Lymphocyten in dem normal 
erhaltenen Endothel. Färbung mit Ehrlich’s Triacid und mit Eosin- 
Methylenblau nach May-Grünwald. (Es wird an anderer Stelle eine 
ausführlichere Mittheilung erfolgen.) 

2. Hr. G. Werzen: „Die colloidalen Hohlkörper der Eiweiss- 
substanzen des Zellkernes.“ 

Den Structuren der Fällungsformen, welche die künstlichen Verbindungen 
von Protaminen und Nucleinsäuren zeigen, hat schon Miescher vorüber- 
gehend seine Beachtung geschenkt. Seine Beobachtungen werden indess, 
so weit mir bekannt ist, in derjenigen Litteratur nicht erwähnt, welche 
sich neuerdings mit der Structur der gefällten Proteide beschäftigt. 

Im Verlauf einer Arbeit über die Theorie der histologischen Fixirungs- 
methoden, welche Hr. Berg mit meiner Beihülfe ausgeführt hat, wurden 
wir beide auf diese eigenartigen Erscheinungen von Neuem aufmerksam, 
ohne die Miescher’schen Angaben vorher zu kennen. 

Ich beschreibe hier nur die Verbindungen zwischen Clupein und Herings- 
milchnucleinsäure. Diese Stoffe geben je nach dem Mengenverhältniss, in 
dem sie zusammentreten, sehr verschiedenartige Fällungsformen. Man bringt 
diese am besten zur Anschauung, wenn man ein durch Glassplitter gestütztes 
Deckglas so auf einen Tropfen z. B. von Nucleinsäurelösung legt, dass dieser 
den Raum zur Hälfte ausfüll. Man lässt dann von der anderen Seite her 
Clupeinlösung hinzufliessen und stellt auf die Grenze beider Flüssigkeiten 
ein. Von der Clupeinseite zur Nucleinsäureseite gehend, trifft man nun 
nach einander folgende Formen. Breite flache Massen von unregelmässiger 
Begrenzung und Vollgranula verschiedener Grösse, sodann den ebengenannten 
ähnliche gefällte Massen, welche jedoch einige bis zu zahlreichen Hohl- 
räumen enthalten, schliesslich Hohlkugeln, welche sich zu zwei oder mehreren 
an einander gelagert haben und einzelne grosse, sowie ganz kleine Hohlkugeln, 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — G. WETZEL. 545 


Bei einer anderen Versuchsanordnung lassen sich die obigen Waben- 
werke, also die mit zahlreichen Hohlräumen erfüllten Massen, direct in 
solide Gebilde überführen und umgekehrt. Man erzeugt zunächst durch 
Misehung geeigneter Mengenverhältnisse beider Lösungen die Wabenwerke. 
Saugt man nun Protaminlösung unter dem Deckglase hindurch, so platzen die 
Alveolen und es entstehen solide Massen. Lässt man jetzt wieder Nuclein- 
säure hindurchfliessen, so treten erst sehr feine, zahlreiche, punktförmige Tropfen 
auf, die sich rasch unter theilweisem Zusammenfliessen vergrössern, bis wieder 
ein, dem anfänglichen völlig entsprechendes Wabenwerk entstanden ist. 


relikuläre 
Struktur 


/h ösung 


Um die Zahl aller Gebilde, die beobachtet werden, zu vervollständigen, 
führe ich noch die Vereinigung von Granulis zu Längsreihen und zu reti- 
culären Bildungen an, sowie ihre Zusammenlagerung zu Zwickelwaben. 
Lagern sich Hohlkugeln zur Bildung von Zwickelwaben zusammen, so ent- 
steht ein gemischtes Waben- und Zwickelwabenwerk. Die Reihen- oder 
netzförmigen Anordnungen werden besser durch Einwirkung von Fällungs- 
mitteln auf nur eine der beiden Lösungen erhalten. 

Wir können also an unserem Präparate eine grosse, ja vielleicht eine 
erschöpfende Mannigfaltigkeit aller derjenigen Structurformen erzeugen, 
welehe die stickstoffhaltigen Colloide bei ihrer Fällung geben. Eine gleiche 
Mannigfaltigkeit von Structurformen existirt auch für die lebende Zellsub- 
stanz (Protoplasma + Kern), falls wir uns auf den Boden der Polymorphie 
des Protoplasma stellen, und nicht etwa annehmen, dass es durchweg nur 

Archiv f. A. u. Ph. 1903. Physiol. Abthlg. 35 


546 _ VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


nach einem einzigen Structurschema gebaut sei. Es lässt sich somit ein 
gemeinsames Formenschema entwerfen, welches sowohl die unbelebten, 
wie die belebten colloidalen Bildungen umfasst. Zu diesem Schema bemerke 
ich, dass der einzelne Hohlkörper, in Analogie zum einzelnen soliden Körper, 
dem Granulum, als Cavulum bezeichnet worden ist. 

Die Pfeile bedeuten die gegenseitige Verwandelbarkeit der Formen in 
einander. Das hierdurch ausgedrückte Verhalten ist ganz schematisch durch- 
geführt worden. Abänderungen des Schemas sowohl in dieser Hinsicht, 
wie auch in Bezug auf die Zahl und Anordnung der darin aufgenommenen 
Strukturen müssen vorbehalten werden. Die Mittel zur Ausführung der 
Umwandlung können natürlich. sehr verschieden sein. Ferner wird das 
Schema natürlich nicht ausschliesslich durch die Verbindungen der Nuclein- 
säure mit Protamin gestützt, sondern beruht auch auf entsprechenden Be- 
obachtungen an anderen Eiweisskörpern. Speciell fädige und reticuläre 
Bildungen sind besser mit anderen Körpern (den Gerinnselbildnern Fischer’s) 
zu erhalten. Specielle Zellstrueturen, z. B. Querstreifung oder Fibrillen, 
sind nieht berücksichtigt. 

Meine Stellung zu den an unbelebten Colloiden erzeugten Structuren 
ist übrigens eine von der A. Fischer’s völlig abweichende. Wenn ich 
die von Fischer vertretenen Anschauungen ganz auf die Spitze treiben 
darf, so würden sie etwa so zu formuliren sein: 

Wenn ich künstlich irgend ein structurirtes Gebilde aus Proteiden 
darstellen kann, so folgt daraus, dass alle Gebilde derartiger Structur, 
welche ich in fixirten Präparaten vorfinde, Kunstproducte sind. 

Der Schluss nun, der meiner Meinung nach daraus zu ziehen ist, ist 
folgender: Die an unbelebten Proteiden erzeugten Structuren beweisen die 
allgemeine Möglichkeit derartiger Structuren auch an belebtem Proteid- 
material. Zeigen die Gebilde eines bestimmten Zellorganes gewisse Formen 
besonders häufig, so findet dieser Umstand eine besondere Erläuterung, 
wenn sich zeigen lässt, dass die jenes Organ in erster Linie zusammen- 
setzenden Stoffe auch auf dem Öbjectträger eine überwiegende Neigung zur 
Bildung derselben Formen besitzen. 

In diesem Sinne ist für unsere Stoffe auf den eigenthümlichen Bau 
vieler Spermatozoönköpfe hinzuweisen, welche, wie zuerst von Miescher 
für das Lachssperma gezeigt worden ist, ein Hohlgebilde aus Protamin + 
Nucleinsäure darstellen, welches eine wässerige Lösung verschiedener Stoffe 
einschliesst. Ferner wird das vorzugsweise Vorkommen ceavulaartiger Ge- 
bilde im Kern durch die überwiegende Cavulabildung aus den nucleinsäure- 
reichen Verbindungen verständlich. 

Schliesslieh mögen noch einige Bemerkungen folgen: 

1) Aus der Litteratur, welche sich mit den Structuren unbelebter 
Colloide beschäftigt, mögen die Namen Bütschli, Fischer und Krafft 
genannt sein. Vollständigkeit ist an dieser Stelle unmöglich. Die Arbeit 
von Krafft über Hohlkörper aus Seifen und aus Fettsäuren ist im Juni 1902 
ausgegeben worden, ebenso die von Krafft und Funcke!. Unsere Unter- 
suchung begann im Frühjahr 1901 mit der Darstellung des Clupeins und die 
hier geschilderten Ergebnisse sind in der ersten Hälfte des Winters 1901/1902 


! Zeitschrift f. physiol. Chem. Bd. XXXV. 1902. 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — G. WETZEL. 547 


gewonnen worden. Die Publication ist aus äusseren Gründen bis jetzt unter- 
blieben. Die Färbbarkeit der Hohlkörper ist auch bei unseren Gebilden zu con- 
statiren. Krafft und Funcke haben die Seifen und damit einen Theil der 
nicht stiekstoffhaltigen Colloide den Studien über Structuren unbelebter Col- 
loide von Neuem wieder zugänglich gemacht. Die vorliegenden Mittheilungen 
erschliessen dafür eine andere, bisher fast unberücksichtigte Körperclasse. 

2) Der Aggregatzustand unserer Gebilde mag vorläuße als ein zäh- 
flüssiger im Wesentlichen gekennzeichnet sein. Da Fischer An die Fällungs- 
formen, welche er hat, fast durchweg festen Aggregatzustand anzu- 
nehmen scheint, so muss dies besonders betont werden. Leicht zu beob- 
achten ist die zähflüssige Beschaffenheit beim Zusammenfliessen zweier 
Hohlgebilde in Eines mit einem einzigen Hohlraum. Ferner stimmen diese 
Fällungen in einer bestimmten Eigenschaft mit der lebenden Spermatozoen- 
kopfhülle überein. Von dieser Hülle hat Miescher (Lachs) gezeigt, dass 
sie im Stande ist, sich mit Protamin aus einer umgebenden Lösung zu be- 
laden. Dieselbe Eigenthümlichkeit zeigen die schwach protaminhaltigen 
wabenartigen Fällungen beim Zuführen von Protaminlösung, wie oben bemerkt. 

3) Diese Wabenbildung muss im Anschluss hieran noch besprochen 
werden. Die Erscheinung ist als Entmischung aufzufassen. Des Näheren 
kommt sie dadurch zu Stande, dass der sehr wasserhaltige und protamin- 
reiche Niederschlag sich mit Nucleinsäure belädt. Die dadurch entstandene 
Verbindung enthält nun im Augenblick ihrer Entstehung mehr Wasser, als 
sie zu halten vermag, daher die tropfige Entmischung. — Fischer hat für 
die Entstehung von Waben aus Albumosefällungen eine abweichende Er- 
klärung.! Die Wabenbildung kommt hier bei Wasserzufuhr zu Stande. 
Er nimmt nun an, dass die inneren Theile der Fällung, welche zuerst ge- 
fällt worden sind, auch zuerst wieder in Lösung gehen. Dann würden wir 
allerdings auch Waben erhalten. Die Erfahrung zeigt aber, dass alle 
Fällungen um so schwerer löslich werden, und um so mehr in den festen 
Aggregatzustand übergehen, je länger sie bestehen. Darnach müssten sich 
die Fischer’schen Gebilde gerade von der Peripherie her lösen. Für 
unsern Fall, dessen von den Fischer’schen etwas abweichende Bedingungen 
ich im Uebrigen nicht übersehe, ist die Annahme einer Lösung auch schon 
dadurch ausgeschlossen, dass in besonderen, darauf gerichteten Versuchen 
sich gezeigt hat, dass die von der Fällung abfiltrirte Flüssigkeit überhaupt 
kein Nuclein oder Protamin mehr in Lösung enthielt. 

4) Die oben als Cavulum bezeichnete Fällungsform ist nicht auf 
Nucleinsäureprotaminverbindungen beschränkt, sondern ist auch aus den 
Lösungen beider gesonderten Substanzen zu erikeiliem. Dem Cavulum kommt 
vielleicht eine ziemlich weite Verbreitung neben dem Granulum zu. Auch 
die Krafft-Funcke’schen Gebilde sind ja als Cavula zyı bezeichnen. 

5) Schliesslich möchte ich darauf hinweisen, dass diese leicht herzu- 
stellenden Fällungsformen sich auch für den Unterricht in den einleitenden 
histologischen Cursen verwerthen liessen, um zu zeigen, dass auch unbelebte 
Colloide dieselben oder entsprechende Structuren aufweisen, wie belebte in 
der Zellsubstanz und um die allgemeine Fähigkeit der Oolloide zur Bildung 
von Cavulis und Wabenwerken darzuthun. 

! Diese kritisirt auch Bütschli im Arch. f. Entwickelungsmech. Bd. XI. S. 559. 

35* 


548 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


3. Hr. K. Wessery: „Ueber die Fluoreszeinerscheinungen am 
Auge und die Ausscheidung des Fluoreszeins aus dem Körper.“ 
Vortr. hat Versuche darüber angestellt, wie sich nach Einführung von 
Fluoreszein in die Blutbahn quantitativ der Fluoreszeingehalt des Kammer- 
wassers zu dem anderer Körpersecrete verhält. Es hat sich dabei (vergl. 
Tabelle) herausgestellt, dass der Farbstoff in Urin und Galle in viel stärkerer 


Tabelle. 


Fluoreszeingehalt 
(nach intravenöser Injection von 0-0258'”% Fluoreszeinkalium pro kg Thier.) 


Thier I | Thier II | Thier III | Thier IV 


2 "8 Pjlo- | »2iue/Pilo- 
carpin |  earpin 
intravenös  intravenös 
Blut: gr a i 
a) Anfangsgehalt (berechnet) & 1: 2000 109 2000 1 e 2000 ME 2000 
b) Gehalt nach 1 Stunde (bestimmt) 1 


:20000 ı1:40000 11:13000 ,1:20000 


Urin am Schlusse des Versuches, 


d.h. nach 1 Stunde. . .. |1:400 1: 200 1: 100 1: 100 
Galle Pr D “ NE 11:500 |1:300 
Dymphe), su a 1:10000 |1:20000 
Speichel... a LE: 0! | 0! 
ae I en| 0! | 0! 
Kammerwasser | | 


a) normales (nach !/, bis 1 Stunde) 
b) nach Punction neu abgesondertes | 
(nach Y/, Stunde) . . . . .. /1:20000 1:50000 ı1:20000 1:30000 


Ehrlich’sche Linie . . . . . |1:50000 |1:50000 |1:20000 1:20000 


pr 


:1000000 1: 100000011 : 1000000 1: 800000 


Concentration ausgeschieden wird, als er gleichzeitig im Blute kreist, dass 
dagegen in Speichel und Thränenflüssigkeit auch nicht die geringste Spur 
von ihm zu Tage tritt. Es ist das ein für die Kenntniss der Secretions- 
vorgänge im Allgemeinen interessantes Factum, dass selbst einem so über- 
aus leicht diffundirenden Stoff gegenüber einzelne Drüsen die Fähigkeit 
haben, ihn gänzlich vom Secrete fernzuhalten, während andere ihn sogar 
gewissermaassen in eingediekter Form ausscheiden. 

Was das Kammerwasser anbelangt, so tritt normaler Weise das 
Fluoreszein nur in Spuren in dasselbe ein, und auch diese Spuren beruhen 
eigentlich nur auf einer Verunreinigung durch die sogen. „Ehrlich’sche 
Linie“. Denn, wie Vortr. an der Hand einer genaueren Analyse dieses 
seltsamen Phänomens zeigen kann, handelt es sich dabei aller Wahrschein- 
lichkeit nach nur um einen reinen Diffusionsvorgang, der mit der eigent- 
lichen Absonderung des Kammerwassers nichts zu thun hat. Ja es ergiebt 
sich sogar gerade aus der Messung der Fluoreszeinintensität der Ehrlich’- 
schen Linie im Vergleich zu der des gesammten Kammerwassers, dass 
dauernd ungefärbte Flüssigkeit in die vordere Kammer einströmen muss. 
Das den humor aqueus produeirende Organ hat also im normalen Zustande 


PHYSIOL. GES. — K. WesserLy. — Heımr. POLL U. ALFR. SOMMER. 549 


des Auges die Fähigkeit, das Fluoreszein fast vollständig zurückzuhalten. 
Hierin tritt erst eine Aenderung ein, wenn die Gefässe des Ciliarkörpers 
und der Iris zur Hyperämie gebracht werden, sei es durch einen Reiz oder 
Druckentlastung (Punktion der vorderen Kammer). Dann tritt je nach dem 
Grade der Hyperämie das Fluoreszein in grösserer oder geringerer Menge 
aus den Gefässen aus. Aber dann findet sich ausser dem vermehrten 
Fluoreszeingehalt auch stets ein vermehrter Eiweissgehalt des Kammer- 
wassers und zwar gehen die beiden Erscheinungen einander stets völlig 
parallel. 
Aus dem Gesasten zieht Vortr. den Schluss, dass wir in der Kammer- 
wasserproduetion einen Secretionsvorgang ganz eigener Art vor uns haben, 
keineswegs etwa vergleichbar der Lymphbildung, da die Lymphe ja nicht 
nur Eiweiss, sondern auch Fluoreszein stets in reichlicher Menge enthält. 
Aber andererseits ist die Bildung der intraoculären Flüssigkeit auch nicht 
einem der anderen Secretionsvorgänge ganz an die Seite zu stellen. Denn 
nirgends finden wir sonst eine ähnlich starke Abhängigkeit der Beschaffen- 
heit des Secrets vom jeweiligen Zustand der Gefässe, wie sie hier zu Tage 
tritt. Gerade hierin liegt das besondere Interesse der intraocularen Secretion. 
Im Uebrigen richten sich die Ausführungen des Vortr. gegen Schluss- 
folgerungen, die Hamburger aus den Fluoreszeinerscheinungen am Auge zu 
Gunsten der von ihm vertretenen Lehre vom physiologischen Pupillar- 
verschluss gezogen hat. Bezüglich derselben sei, da sie sich für ein kurzes 
Referat nicht eignen, auf die später erfolgende ausführliche Publication 
verwiesen. 


XI. Sitzung am 20. März 1903. 


1. Hr.Dr. Hrınrıcr Por (a.G.) und Hr.Dr. ALrken Sommer (a.G.): „Ueber 
phaeochrome Zellen im Centralnervensystem des Blutegels.“ 

Im Jahre 1857 hat Leydig in seinem „Lehrbuch der Histologie 
des Menschen und der Thiere“ (8. 190) auf eigenartige Gebilde im Central- 
nervensystem von Paludina, Pontobdella und Mermis hingewiesen, die er 
für Analoga der Nebennieren der Wirbelthiere zu halten geneigt ist. Auf 
das Vorkommen solcher Zellen haben wir Vertreter der verschiedenen 
Classen der Wirbellosen untersucht, müssen uns aber aus äusseren Gründen 
auf die Mittheilung der bei Hirudo medicinalis erhaltenen Befunde be- 
schränken. 

Bei diesem Anneliden haben wir die Elemente, die Leydig beschrieben 
und von Pontobdella abgebildet hat, nicht gefunden. Dagegen stiessen 
wir auf eigenartige Zellen, die anscheinend einen regelmässigen Bestandtheil 
des Centralnervensystems dieses Thieres ausmachen. Nach Behandlung mit 
Müller’scher Flüssigkeit und Formol (im Verhältniss 100:6) lassen sich 
nämlich in jedem Ganglion des Bauchmarkes eine geringe Anzahl von 
Zellen mit intensiv hellbraungelb gefärbtem Protoplasmaleib nachweisen. 
Sie pflegen an der Peripherie des Ganglions zu liegen und gehören zu den 
kleinen, hier vorkommenden Elementen. Ihr Zellkörper ist oft grobkörnig; 
ihr Kern hat eine kugelige, bläschenförmige Gestalt und besitzt ein grosses, 
rundes Kernkörperchen; er nimmt an. der Färbung nicht Theil. Nur ein 
Mal kam an einer dieser Zellen ein Fortsatz zur Beobachtung. 


590 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


Da bei der Untersuchung in frischem Zustande oder nach Anwendung 
anderer Fixationsmittel niemals derartig gefärbte Zellen aufzufinden waren, 
muss die beobachtete Färbung durch die Einwirkung der chromsalzhaltigen 
Müller’schen Flüssigkeit entstanden sein: es handelt sich demnach um 
phaeochrome (chromaffine, chromophile) Zellen. Freilich zeigen 
die phaeochromen Zellen des Blutegels, soweit die Beobachtungen reichen, 
sowohl im Farbenton als auch in den Reactionsbedingungen manche Ab- 
weichungen von denen der Vertebraten. 

Durch die Untersuchungen der letzten Jahre (Stilling, Kohn) sind 
die phaeochromen Zellen als integrirender Bestandtheil des Sympathicus der 
Wirbelthiere erkannt worden. Ueber ihr Vorkommen bei Wirbellosen haben 
wir in der Litteratur keine Angaben gefunden. 

Weiter ausgedehnte Beobachtungen lassen uns bereits heute vermuthen, 
dass der phaeochromen Zelle eine weite Verbreitung unter den Avertebraten 
zukommt. 


2. Hr. Hans FRIEDENTHAL referirte über zwei in seinem Privatlabo- 
ratorium ausgeführte Untersuchungen des Hrn. v.Szily und Hrn. Schipp über 
Reactionsbestimmungen im natürlichen Serum und über Her- 
stellung einer zum Ersatz des natürlichen Serums geeigneteu 
Salzlösung. | 

Hr. v. Szily prüfte colorimetrisch den Gehalt an OH-Ionen im Blut- 
serum mit verschiedenen Indieatoren und stellte fest, dass der OH-Ionen- 
gehalt geringer sein muss, als der einer 5 x 10 °(OH) enthaltenden Flüssig- 
keit. Die Abweichung der wahren Blutserumreaction vom Punkte der 
absoluten Neutralität ist selbst für einen so empfindlichen Indicator wie 
Phenolphtalein unmessbar klein. Blutserum reagirt gegen Phenolphtalein 
sauer (d. h. es muss Natronlauge zugegeben werden, damit Rothfärbung ein- 
tritt), gegen Lackmus neutral bis alkalisch, gegen Rosolsäure und Methyl- 
orange ausgesprochen alkalisch. Genau die gleiche Reaction wie Blutserum 
gegen alle benutzten Indicatoren zeigte das Berliner Wasserleitungswasser, 
welches Spuren von Kalk neutralisirt durch mehr als äquivalente Mengen 
von CO, enthält. Im beiden Fällen beruht das Verhalten gegen die Indi- 
catoren auf der Anwesenheit starker Basen, welche durch schwache Säuren 
neutralisirt sind. Die gleiche Reaction gegen die Indicatoren wie das Blut 
zeigten alle untersuchten thierischen Gewebe und Flüssigkeiten mit Aus- 
nahme einiger Secrete, wie Harn, Magen- und Pankreassecret, so dass wir 
annehmen müssen, dass der Innehaltung der Neutralitätszone in allen leben- 
den Geweben eine wichtige physiologische Rolle zukommen muss. 

Namentlich für das Blutserum kann gezeigt werden, dass die Natur 
bestimmte Vorkehrungen getroffen hat, um eine stärkere Abweichung vom 
Punkte der Neutralität zu verhindern, indem das Serum eine hohe Resistenz 
gegen Reactionsverschiebung aufweist und nur mit grossem chemischen Auf- 
wande ausgesprochen sauer oder ausgesprochen alkalisch gemacht werden kann. 

Mit Hülfe der Indicatoren lässt sich diese Resistenz gegen Reactions- 
verschiebung messen und wir dürfen annehmen, dass die leicht ausführbare 
Resistenzmessung einen besseren Ersatz für die allzuschwer ausführbare 
Messung der OH-Concentration bieten wird als die bisher übliche Messung 
des titrierbaren Alkalis, 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — HANS FRIEDENTHAL. 551 


Um in Leitfähigkeitswasser, in welchem alle Indicatoren die Farben von 
sauren Lösungen zeigen (mit Ausnahme von Methylorange) einen Umschlag 
in alkalische Reaction hervorzurufen, braucht man je nach der Alkali- 
empfindlichkeit des benutzten Indicators wechselnde Mengen von Alkali, wie 
die folgende Tabelle beweist. Es zeigten deutlich alkalische Reaction: 


Poiriers- #-Naphtol- Phenolphtalein Lackmus Rosolsäure 

Blau benzoin 
(BE) 1 1072 1,32 Se X UOTE 
Na,CO, 60) Sl 15 0 el 105 1,9. 10 
NaHCO, (66) [0 0) 3X 19< 1025 733x104 


Diese Zahlen zeigen, dass für Lösungen von starken Alkalien im 
reinsten Wasser die gebräuchlichen Indicatoren wie Phenolphtalein, Lackmus 
und Rosolsäure die gleiche Empfindlichkeit zeigen, dass dagegen die Differenzen 
der Alkaliempfindlichkeit stark hervortreten in Lösungen von Salzen, welche 
wie Soda und Natriumbicarbonat nur durch Hydrolyse OH-Ionen entstehen 
lassen. Phenolphtalein zeigt Lösungen von gleichem OH-Gehalt mit gleicher 
Färbung an, während Rosolsäure und Methylorange wie im Blutserum so 
auch in den einfachsten Salzlösungen übertriebene Alkaliwerthe ergiebt. 

Hr. v.Szily fand für Phenolphtalein folgende Werthe für die Con- 
centration an der Substanz (Cs) und Concentration an OH-Ionen C(OH), 
wenn er letztere nach Shields aus der Hydrolysenconstante berechnete: 


Cs C(OH) 
Bach 54x 10-5 6x 10-5 
Na,00, 1-5 x 10-* 5.2 x 103 
NH,OH 3-4x 10-4 1 E10? 
NaH00, 3x 107° 11 I 105} 


In Anbetracht der recht unsicheren Berechnung der Hydrolysencon- 
stanten ist die Uebereinstimmung der durch gleiche Rothfärbung mit Phenol- 
phtalein verglichenen OH-Concentrationen eine sehr befriedigende und es 
könnte durch exacte Colorimetrie in einem genauen Colorimeter eine noch 
grössere Uebereinstimmung leicht erzielt werden. 

Da Pankreassecret des Kaninchens eine Rothfärbung mit Phenolphtalein 
zeigt, welche einer OH-Concentration von nur 5 X 10° entspricht, so ist 
damit festgestellt, dass das am stärksten alkalisch reagirende Secret des 
Organismus der höheren Thiere einer 0.003 procent. Natriumbicarbonat- 
lösung an Alkalescens etwa gleichkommt, während die des Blutserums noch 
bedeutend geringer sein muss. 

Selbst die stärksten Abweichungen vom Neutralpunkte, die wir in den 
Organismen beobachten können, sind über alle Erwartung hinaus gering- 
fügig. Ueberraschend gross sind dagegen die Zahlen, welche die Resistenz 
des Blutserums gegen Verschiebung nach der alkalischen oder nach der 
sauren Reaction hin angeben. Wasser zeigt mit Phenolphtalein deutliche 
Rothfärbung, wenn durch Zusatz von Natronlauge deren Concentration auf 
5 x 107° gebracht wird. Um im Rinderserum dieselbe Rothfärbung zu er- 
zwingen, muss man die 70Ofache Menge Natronlauge hinzufügen. Die Re- 


552 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 


sistenz des Rinderserums gegen Erhöhung der OH-Concentration 
auf den verschwindend kleinen Werth von 5x 1075 ist also 
70 Mal grösser als die des Wassers. Es kann kaum einem Zweifel 
unterliegen, dass den Eiweisskörpern des Blutserums die wichtige Funetion 
zukommt, durch Bindung der ins Blut gelangenden OH-Ionen eine merk- 
liche Abweichung vom Neutralpunkte zu verhindern, wissen wir doch, dass 
jede schwach alkalisch reagirende Lösung nach anfänglicher Reizung die 
Erregbarkeit des Centralnervensystems in kurzer Zeit völlig vernichtet. 
Viel bedeutender noch als die Resistenz gegen OH-Ionenvermehrung ist der 
Widerstand des Blutserums gegen Vermehrung der H-Ionen. Rinderserum 
mit Methylorange versetzt und mit N/10 Salzsäure bis zur beginnenden Roth- 
färbung titrirt, entsprach einer 0-1960 Normallauge, Wasser einer 0-0006 Nor- 
mallauge. Die Resistenz des Rinderserums gegen Vermehrung 
960 


der H-Ionen betrug also das 327fache von der des Wassers En 


Ein anderes Rinderserum zeigte eine Alkaliresistenz von 40, eine Säure- 
resistenz von 387. Die an schwache Säuren gebundenen Alkalien des Blut- 
serums verhindern durch Neutralisation ein Ansteigen der H-Ionenconcen- 
tration im Blutserum. 

In Folge ihres hohen Eiweissgehaltes kommt allen Geweben, den meisten 
Körperflüssigkeiten und vielen Secreten eine ähnlich hohe Resistenz gegen 
Reactionsverschiebung zu wie dem Blutserum. 

Um im Blutserum den Gehalt an titrirbarem Alkali zu bestimmen, 
d.h. den Gehalt an Alkali, welches nicht an starke Säuren gebunden ist, 
empfiehlt es sich, einen Ueberschuss an Salzsäure zuzusetzen, die Kohlen- 
säure durch Kochen zu verjagen und den Säureüberschuss mit kohlensäure- 
freier Natronlauge gegen Phenolphtalein zurückzutitriren. Benutzung der 
Ausfällung der Eiweisskörper nach Limbeck zur Feststellung des End- 
punktes der Reaction oder einfache Titration mit Salzsäure in der Kälte 
unter Benutzung von Methylorange führt nicht zu genauen Resultaten. 
Methylorange ist durchaus nicht absolut kohlensäureunempfindlich. 

In Gemeinschaft mit Hrn. Schipp versuchte Referent eine Salzlösung 
herzustellen, welche bei Abwesenheit aller Colloide einen möglichst voll- 
werthigen Ersatz des Blutserums darstellen sollte Zu diesem Zwecke galt 
es nicht nur eine Salzlösung herzustellen, die in Bezug auf osmotischen 
Druck und elektrischer Leitfähigkeit dem Blutserum gleichkam, die den, 
nach den Untersuchungen von Rusch in Langendorff’s Laboratorium und 
von Ringer, unentbehrlichen Kalk in den nöthigen Mengen enthielt, sondern 
es galt auch eine Lösung zu finden, die sowohl in Bezug auf die neutrale 
Reaction wie in Bezug auf Resistenz gegen Reactionsverschiebung dem 
Blutserum, genauer ausgedrückt dem Blutplasma, möglichst gleichen sollte. 

Eine Lösung, welche im Liter 62% Kochsalz, 42”® Nitriumbiearbonat, 
0.38”% Chlorkalium, 0:38” Ca(H,PO,), und 9 sm Traubenzucker enthielt, 
entsprach allen Anforderungen, welche man an eine solche Salzlösung stellen 
kann. Der Gefrierpunkt dieses künstlichen Serums war — 0’ 560 die 
elektrische Leitfähigkeit betrug Ayro = 118-610*, während natürliches Kalber 
serum bei 18-5°C. eine Leitfähigkeit von 117.95 — 10% aufwies. 

Die Hauptschwierigkeit in der Herstellung des künstlichen Serums be- 
stand in der Anforderung, Kalksalze und Nitriumbiearbonat zugleich in 


L 


PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — Hans FRIEDENTHAL. 553 


wässeriger Lösung zu erhalten, während in jedem schwach alkalischen 
Medium der kohlensaure Kalk ausfällt. Durch Verwendung von Ca(H,PO,), 
gelang es, sowohl die Dosirung der zerfliesslichen und schwer genau ab- 
zuwägenden Kalksalze zu erleichtern, wie auch eine Ausfällung der Kalk- 
salze zu verhindern. Durch die Phosphorsäure wird die Kohlensäure aus- 
getrieben und dadurch die ganze Lösung mit freier Kohlensäure gesättigt. 
Die Kalksalze bleiben in Lösung und die Reaction ist zugleich der des 
natürlichen Serums gleich geworden, d.h. die Lösung reagirt neutral oder 
höchstens kaum merklich alkalisch. Tritt mit Phenolphtalein Rothfärbung 
ein, so muss die Lösung noch nachträglich mit Kohlensäure gesättigt und 
dadurch genau neutralisirt werden, da die Rothfärbung mit Phenolphtalein 
ein Zeichen dafür ist, dass der nothwendige Kohlensäureüberschuss ver- 
flüchtigt ist. Beim Kochen im offenen Gefässe nimmt die Salzlösung durch 
Verjagen der freien Kohlensäure in kurzer Zeit alkalische Reaction an und 
ist alsdann für Durchspülungsversuche unbrauchbar geworden, da alkalische 
Lösungen einen Reiz für alles lebende Protoplasma darstellen. 

Die künstliche Salzlösung besitzt durch ihren hohen Gehalt an Natrium- 
biearbonat eine Resistenz gegen Erhöhung des H-Ionengehaltes, welche der 
Resistenz des natürlichen Blutserums annähernd gleichkommt, dagegen be- 
sitzt sie wegen Fehlens der Eiweisskörper keine sehr merkliche Alkali- 
resistenz. 

Bei Durchspülungsversuchen ist nur das Vorhandensein der Säure- 
resistenz wichtig, da die neutralen Gewebe niemals OH-Ionen abgeben, wohl 
aber bei ihrer Thätigkeit schwache und sogar mittelstarke Säuren, deren 
Neutralisation nothwendig ist. 

Die Uebereinstimmung einer Salzlösung mit einer Körperflüssigkeit in 
Bezug auf osmotischen Druck, elektrische Leitfähigkeit, Reaction und Reactions- 
resistenz genügt noch nicht, um ein gleichartiges physiologisches Verhalten 
wahrscheinlich zu machen. Jede Ionenart, welche im natürlichen Blutserum 
vorkommt, besitzt ihre ganz speciellen physiologischen Aufgaben und Eigen- 
heiten und das relative Verhältniss der verschiedenen Ionenarten ist oft 
noch wichtiger als ihre absolute Concentration. Die Arbeiten von Loeb 
haben die Wichtigkeit der Innehaltung bestimmter Concentrationsverhältnisse 
zwischen einwerthigen und zweiwerthigen Kationen klargelegt; die Inne- 
haltung des Neutralpunktes fordert ein bestimmtes Verhältniss von Anionen 
und Kationen, das durch das Gesetz von der Gleichheit der Zahl der positiven 
und negativen Ladungen der Ionen nicht eindeutig bestimmt wird wegen 
der Hydrolyse vieler Salze. Für eine Reihe nothwendiger Concentrationsver- 
hältnisse sind, die Ursachen noch nicht klar gelegt. 

Die oben beschriebene Salzlösung besitzt auch in Bezug auf die Zahl 
der einzelnen Ionen eine möglichst grosse Annäherung an die lIonenconcen- 
trationen des natürlichen Blutserums, während eine völlige Gleichheit bei 
Ausschluss der Eiweisskörper nicht zu erreichen ist. Die alkalibindende 
Kraft der Eiweissmoleküle musste durch Hinzufügen von Kohlensäure er- 
setzt werden, um die neutrale Reaction innehalten zu können. Die Zahl der 
im natürlichen Rinderserum vorkommenden Molen und Ionen wurde nach einer 
von Hamburger mitgetheilten chemischen Analyse von Rinderserum be- 
rechnet. Die für 1000 Gewichtstheile Serum angegebenen Zahlen sind auf 
die Volumeneinheit (Liter) umgerechnet. 


554 VERHANDL. DER BERLINER PHYSIOL. Ges. — Hans FRIEDENTHAL. 


Rinderserum enthält im Liter 
937:9400 Wasser 


1:0780 Traubenzucker 0-00599 Mol. 
4.4267 Na,O0 Nat 0.142527, ,, 
0.2618 K,O K+ 0.00555 , 
0-1226 (ao Cal 0-00219 „ 
0.0458 MgO Mgt 0-00113 „ 
3.7881 Cl CI= 0-10680 „ 
0.04825 P,O, 0, 020006 6907 
0.39304 CO, CO,= 0-00893 ,, 
172100 Leeithin 0-00222 
1.2709 Cholesterin 000325 ,„ 
1.0266 Harnstoff (org. Mol.) Vila; 

74.429 Eiweiss 0-.00744 „ (Mol.-Gew. 10000). 
Von Anionen sind vorhanden: Von Kationen sind vorhanden: 
Cl= 0-10680 Nat 0.14252 
C0,= 0-.00893 Kt 0.00555 
PO,= 0-00066 Ca 0-00219 

Mg. 0-00113 
Die Summe der Elektrolytmolen beträgt 0-26778 
n „ Anelektrolytmolen beträgt 0-03601 


Die Gesammtmoleoncentration 0:30379 


Aus dem Gefrierpunkte berechnet sich die Moleoncentration zu 0:3027. 
Die obige Analyse zeigt, dass noch verschiedene Punkte der chemischen 
Analyse einer Ergänzung und Richtigstellung bedürfen, es fehlen noch ver- 
schiedene Molen, wenn der theoretische Gefrierpunkt unter Berücksichtigung 
der nicht quantitativen Dissociation mit dem wirklich gefundenen völlig überein- 
stimmen soll. In obiger Analyse wurden alle Salze als restlos in Ionen ge- 
spalten angenommen. Die Analyse des künstlichen Serums zeigt folgende Zahlen: 


Anionen Kationen 
C1l7 = 0-.10742 Nas 0-15 
CO, = 0:.04760 K+ = 0.0040 
PO, = 0:0036 Caf = 0-0013 
Mol. 0°15762 Mol. 0-1563 


Weil ein Theil des Kalkes an Eiweiss gebunden im Serum vorkommt, 
braucht die Zahl der Caleiumionen in eiweissfreier Lösung nicht demselben Kalk- 


gehalt zu entsprechen. Die Anwesenheit von Mg; -Ionen hat sich in Durch- 
spülungsversuchen nicht als nothwendig ergeben. Die Erhaltung der rothen 
Blutkörperchen in obiger Salzlösung gleicht völlig der im natürlichen Serum, 
auch nach 48 Stunden ist noch kein Hämoglobinaustritt zu bemerken. Um 
für physiologische Zwecke stets das künstliche Serum ohne Zeitaufwand her- 
stellen zu können, wurden aus obiger Mischung Tabletten für je 1000 «" 
Serum hergestellt.! 


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giebt jedem praktischen Arzte Gelegenheit, stets auf der Höhe der rüstig fortschrei- 
tenden Disziplin sich zu erhalten. 


DERMATOLOGISCHES CENTRALBLATT. 


INTERNATIONALE RUNDSCHAU 
AUF DEM GEBIETE DER HAUT- UND GESCHLECHTSKRANKHEITEN. 
Herausgegeben von 
Dr. Max Joseph in Berlin. 


Monatlich erscheint eine Nummer. Preis des Jahrganges, der vom October des 
. einen bis zum September des folgenden Jahres läuft, 12 #. Zu beziehen dureh alle 
2 ann des In- und ch OD sowie direct von der Verlagsbuchhandlung. 


Nenrologisches Centralblatt. 


_ Übersicht der Leistungen auf dem Gebiete der Anatomie, Physiologie, Pathologie und 
Therapie des Nervensystems einschliesslich der Geisteskrankheiten. 


Herausgegeben von 


Professor Dr. E. Mendel 


in Berlin, 


Monatlich erscheinen zwei Hefte. Preis des Jahrganges 24 M. Gegen Einsen- 
dung des Abounnementspreises von 24 4% direkt an die Verlagsbuchhandlung erfolgt 
| regelmäßige Zusendung unter Streifband nach dem In- und Auslande. 


Zeit SC hrift 
- Hygiene und Infectionskrankheiten. 


Herausgegeben von 


Dr. R. Koch, und Dr. C. Flügge, 


Director des Instituts 0. ö. Professor und Director 
far Infectionskrankheiten des hygienischen Instituts der 
zu Berlin, Universität Breslau, 


. ‚Die „Zeitschrift für Hygiene und Infectionskrankheiten‘‘ erscheint in zwanglosen 
Heften. Die Verpflichtung zur Abnahme erstreckt sich auf einen Band im durchschnitt- 
‚lichen Umfang von 30—35 Druckbogen mit Tafeln; einzelne Hefte sind nicht käuflich. 


Das 


ARCHIV 


für 


ANATOMIE UND PHYSIOLOGIE, 


Fortsetzung des von Reil, Reil und Autenrieth, J. F. Meckel, Joh. Müller, 
Reichert und du Bois-Reymond herausgegebenen ANNE» 


erscheint jährlich in 12 Heften (bezw. in DErBe mit Abbildungen im 
Text und zahlreichen Tafeln. 


6 Hofte entfallen auf den anatomischen Theil und 6 auf den physiolo- 


gischen Theil. 
Der Preis des ee beträgt 54 M. 


Aufdie anatomische Abtheilung (Archiv für Anatomie und Entwickelungs- 
geschichte, herausgegeben von W.His), sowie auf die physiologische Abtheilung ı 
(Archiv für Physiologie, herausgegeben von Th, W. Engelmann) kann separat | 
abonnirt werden, und es beträgt bei Einzelbezug der Preis der anatomischen | 


Abtheilung 40 c#, der Preis der physiologischen Abtheilung 26 #. 


Bestellungen auf das vollständige Archiv, wie auf die einzelnen Ab- \ 


theilungen nehmen alle Buchhandlungen des In- und Auslandes entgegen. 


Die Verlagsbuchhandlung: 


Veit & Comp. in Leipzig. 


Druck von Metzger & Wittig in Leipzig. 


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