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Full text of "Archiv für Physiologie"

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HARVARD UNIVERSITY. 


LIBRARY 


OF THE 


MUSEUM OF ee ZOOLOGY 
8 


Pougkt 
| ee IH, 2 


JAN 14 1924 


ARCHIV 


FÜR 


ANATOMIE UND PHYSIOLOGIE. 


FORTSETZUNG DESVONREIL, REILV. AUTENRIETH, J.F.MECKEL, JOH. MÜLLER, 
REICHERT v. DU BOIS-REYMOND HERAUSGEGEBENEN ARCHIVES. 


nen 


HERAUSGEGEBEN 
VON 


Dr. WILHELM von WALDEYER-HARTZ, 


PROFESSOR DER ANATOMIE AN DER UNIVERSITÄT BERLIN 
UND 


Dr. MAX RUBNER, 


PROFESSOR DER PHYSIOLOGIE AN DER UNIVERSITÄT BERLIN, 


JAHRGANG 1917. 


PHYSIOLOGISCHE ABTEILUNG. 


LEIPZIG, | 
VERLAG VON VEIT & COMP. 
1918 


JAN 14 1924 


ARCHIV 


FÜR 


PHYSIOLOGIE 


PHYSIOLOGISCHE ABTEILUNG DES 
ARCHIVES FÜR ANATOMIE UND PHYSIOLOGIE. 
UNTER MITWIRKUNG MEHRERER GELEHRTEN 
HERAUSGEGEBEN 


VON 


Dr. MAX RUBNER, 


PROFESSOR DER PHYSIOLOGIE AN DER UNIVERSITÄT BERLIN. 
JAHRGANG 1917. 


MIT ABBILDUNGEN IM TEXT UND EINER TAFEL. 


LEIPZIG, 
VERLAG VON VEIT & COMP. 


> 
YERnE 


IE. 
DLIREI AD. 


inhalt 


Max Rubner, Der Nährwert der Vogelwieken und Wicken . 

_ Max Rubner, Über die Verwertung wir Nebenprodukte der Stärke- 
industrie fi die Ernährung ß 

Max Rubner, Weitere Uflefuchänen zur Tedkuntehacnt des nit Säuren 
aufgeschlossenen Holzmehles c DR 

R. du Bois-Reymond, Über das N rnllien von rohen gegen er 
schwingungen (Mit 2 Figuren im Text) . 5 3 

Rene du Bois-Reymond, Über den Gang; mit Künstlighen) Beinen: (Mit 
3 Figuren im Text) 

Max Rubner, Nährwert des EN Aa DE eehlobsenen rohen Dein 
Hunde . 

Max Rubner, Die Verwertung Vanikeschlenseten rohen für die Bee khrune 
des Menschen. . . 3 

Augustus D. Waller, Ale el Neceh Be ii BIeH es kardtogranin. 

Lothar Tirala, Die physiologischen Vorgänge in der Netzhaut und ihre 
Deutung en Grund neuer Methoden. (Hierzu Taf. I.). Lie 

Hans Virchow, Krümmung und Rippenpfannen der Brustwirbelsäule. (Mit 
10 Figuren im Text.) . - 

Wilh. Filehne, Der absolute Crößeneindeuek beim Seheh. der dschen 
Gegenstände und der Gestirne SR < 

Rene du Bois-Reymond, Über den Gang mit Keinsikielen Beinen ; 

Max Rubner, Untersuchungen über Vollkornbrote 


Seite 


Physiologische Abteilung. 1917. I. und II. Heft. 


ANATOMIE UND PHYSIOLOGIE. 


FORTSETZUNG DESVONREIL, REILv. AUTENRIETH, J. F.MECKEL, JOH. MÜLLER, 
REICHERT v. DU BOIS-REYMOND HERAUSGEGEBENEN ARCHIVES. 


HERAUSGEGEBEN 
VON 


Dr. WILHELM von WALDEYER-HARTZ, 


PROFESSOR DER ANATOMIE AN DER UNIVERSITÄT BERLIN 
UND 


Dr. MAX RUBNER, 


PROFESSOR DER PHYSIOLOGIE AN DER UNIVERSITÄT BERLIN. 


JAHRGANG 1917, 


—— PHYSIOLOGISCHE ABTEILUNG. —= 
ERSTES UND ZWEITES HEFT. 


MIT ACHTZEHN FIGUREN IM TEXT. 


| LEIPZIG, 
VERLAG VON VEIT&COMP. 


k n ) 


Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandes. 


Inhalt. 


Seite 


Max Rusner, Der Nährwert der Vogelwicken und Wicken ._ . . . - i! 
Max Rusner, Über die Verwer tung einiger en der Stärkeindustrie 
für die Ernährung . . . ; 7 
Max Rusner, Weitere Untersuekumgen zur Verdaulichkeit de ya, Sauren 
aan Holzmehles . . .. . ; ; A) 
R. ou Boıs-Reymono, Über das Verhalten von Fischen gegen as 
schwingungen. (Mit 2 Figuren im Text). . . . et) 
Rent ou Bois-Revmonn, Über den Gang mit Eihstlichen Beinen (Mit 
3 Figuren im Text.) . . . 37 


Max Rusner, Nährwert des durch Alkali feeschlossehen Str sh beim runde 50 
Max Rüsner, Die Verwertung aufgeschlossenen Strohes für die ee 


des Menschen . . . Bi! 
Avscustus D. WaArzer, Altes und Neler ber das Hlektkokasdtoetaen. (Mit 
13;Piguten am Text.) 22. 12. m m ee ee ee re a a 


Die Herrez Mitarbeiter erhalten werzig Separat-Abzüge ihrer Bektasn Sale 
und 30 .%4 Honorar für den Druckbogen zu 16 Seiten. 


Beiträge für die anatomisehe Abteilung sind an 


Professor Dr. Wilhelm v. Waldeyer-Hartz oder an Professor Dr. H. 
Virehow oder an Dr. P. Röthig, sämtlich in Berlin N.W., Luisenstr. 56, 


Beiträge für die physiologische Abteilung an 
Professor Dr. Max Rubner ın Berlin W., Kurfürstendamm 241" 


portofrei einzusenden. — Zeichnungen zu Tafeln oder zu Holzsehnitten sind 
auf vom Manuskript getrennten Blättern beizulegen. Bestehen die Zeichnungen 
zu Tafeln aus einzelnen Abschnitten, so ist, unter Berücksichtigung der Format- 
verhältnisse des Archives, eine Zusammenstellung, die dem een als 
Vorlage für die Anordnung dienen kann, beizulegen. 


JAN 14 1994 


Der Nährwert der Vogelwicken und Wicken. 
Von 


Geheimrat Max Rubner. 


Die Fälschung des Mehles mit Unkrautsamen hat wohl stets statt- 
gefunden. Die bei der Reinigung des Getreides vor dessen Mahlen als 
Abfall in großer Menge sich ergebenden wertlosen Sämereien werden als 
Handelsartikel in zwei Sorten, Raden und Wicken, bezogen.! Die 
Raden bestehen der Hauptsache nach aus dem Samen der Kornrade 
neben lokal wechselnden anderen Beimengungen (Delphinium consolida 
Polygonum convolvulus und arvensis usw.). Die Wicken bestehen aus 
Samen verschiedener Leguminosen (Vieia, Lathyrus, Ervum, Medicago usw.) 
und Cruciferen (Sinapis, Brassica, Camelina usw.), auch Früchten von 
Laubkrautarten (Galium); die Samenschalen werden ausgemahlen und 
sehen in die Kleie über. Von den hier aufgeführten Materialien ist in 
der ersten Knappheit des Mehles im Jahre 1915 vieles letzterem bei- 
gemengt worden, worüber ich schon früher berichtet habe.? 

Die Wicken sind übrigens auch mit Roggen gemischt ein Handels- 
artikel von erheblichem Umfang. So werden Vogelwicken mit Roggen- 
besatz benutzt, um Roggen als Futtermittel für Tiere unter Umgehung 
der Ernährungsverordnungen in den Handel zu bringen. Vor kurzem ist 
mir die Frage vorgelegt worden, wie sich die Vogelwicke etwa als Mittel 
zur Streckung des Brotgetreides verhalte. Geheimrat Prof. Dr. Wittmack 
hatte die Güte, eine Bestimmung des Samengemenges vorzunehmen; die 
hellen gesprenkelten Samen des Gemenges waren Vicia hirsuta (Ervum hirsu- 
tum), d.h. die rauhhaarige Wicke oder Zitterlinse, die kleinen schwarzen Samen 
sind Vieia tetrasperma (Ervum tetraspermum, die viersamige Wicke); 
außerdem befand sich darunter wenig Rapssamen, Kornblumensamen, 
etwas Lolium und Galiumarten. Von der Vicia augustifolia ist nach- 


! Siehe Rubner, Lehrbuch der Hygiene. 7. Aufl. S. 581. 
® Dies Archiv. 1915. Physiol. Abtlg. S. 148. 
Archivf.A.u.Ph. 1917. Physiol. Abtle. 1 


2 Max RUBNER: 


gewiesen, daß sie, mit Wasser verrührt, etwas Blausäure bildet; das war 
bei diesem Gemenge der Vogelwieke nicht zu erweisen. 

Ein Grund, Mehl aus diesen Vogelwicken für ungesund zu erklären, 
liegt nach den bisherigen Erfahrungen nieht vor. 

Als Gemisch einer Leguminosenart kann es wohl zur Verwendung 
kommen. Nach älteren Beobachtungen machen Leguminosenmehle ein 
Brot nicht gut backbar, doch verträgt Brot wenigstens Zusätze bis 
10 Prozent der Mehlmenge, wie mir von erfahrener Seite mitgeteilt wurde. 
Natürlich kommen auch andere Verwendungsweisen der Mehle in Betracht, 
vorausgesetzt, daß der Geschmack nicht unangenehm empfunden wird. 
Wie die Vermahlung und ob eine teilweise Ausscheidung der Samen- 
schalen bewirkt wurde, ist nicht bekannt, aber unwahrscheinlich; makro- 
skopisch war eine Scheidung von Mehl und Schalenanteilen nicht zu sehen. 


A. Vogelwicke. 


Von dem Mehl wurden 708 lufttrocken mit der gleichen Menge 
Wasser bei 100° behandelt und diese verkleisterte Masse den 1000 & 
Pferdefleisch, welche der Hund pro Tag erhielt, beigemenst. Irgendwelche 
Veränderungen im Verhalten des Tieres wurden nicht bemerkt. Die Ab- 
srenzung war nicht sehr scharf, so daß noch etwas Knochenkot der 
Sicherheit wegen mit dem Versuchskot vermengt wurde. 

Das Vogelwickenmehl ist ziemlich aschereich, reich an N, es hat einen 
mittleren Zellmembrangehalt; die Zellmembran ist reich an Pentosan, aber 
sie erreicht darin die Zerealienkleie nicht. 


In 100g In 70 g = 62-.6g 
Trockensubstanz Trockensubstanz pro Tag 
Aschern Bm Re 5-64 3-15 
Orsanıschiigr 2 27 ns 94-56 58-4 
INIE RP N ERLERNEN. DER 00 3:72 —=23-25 Protein 2-35 = 14-55 Protein 
Bentosanı un War: 5-09 3-18 
Zellmembraner m 6-26 3-92 
mitwBentosann ar 1-41 0-88 
„zellulose%. . veruaı 3-17 1:98 
„ Restsubstanz 1-68 1-05 
IN RE 1-00 0-63 
Kalonfen un ee 460-5 288-2 
In 100 Teilen Zellmembran 
Zeilulosem ut. a: 50-63 
Pentosaws.. . urn. 22-50 


Best. An ae 26-87 


DER NÄHRWERT DER VOGELWICKEN UND WICKEN. 3 


In 100 Teilen Kot In 26-68 Kot 
Ascher. yanlauln: 52-99 jan] 
Organische yn-luneis 47-01 12-5 
INP® 5 20, 2ER A 3-55 0-94 
IBentosan a ame nn 2-68 0-71 
Zellmembran. .*. .. .. 7-30 1-94 
nut, Pentosanı s,. .o. ... 1-33 0-35 
nat Zelluloser 0.0. ri. 5-19 1-38 
mit Restsubstanz .... 0.2 0-19 
DIRT LEGE SE N a 1-5 0-40 
IKalonienkume- u Au 2 226-2 60-7 
In 100 Teilen Zellmembran 

Zelluloses 2 mr. a. 71-09 

Pentosans um Ela. 18-29 

IRestsubstanz sn a 2 10-62 


In.ihrem Zellulosegehalt übertrifft die Vogelwicke die Kleiearten. Hierin 
liest also ein prinzipilleer Unterschied vor. Die Ausscheidungen waren 
nicht reichlich, aber sie übertrafen die Menge des sonst bei reiner Fleisch- 
kost entstehenden Kotes. Berechnet man kurzerhand den Kalorienverlust, 
so sieht man einen Verlust im Kot um 60-7 Kalorien pro Tag, während 
sonst etwa 67-7 Kalorien bei reiner Fleischkost erscheinen. Hierzu ist 
aber zu bemerken, daß die Ausscheidung von HRleischkot nicht von der 
Zufuhr allein, sondern auch von dem Eiweißumsatz abhängig ist; die 
Zugabe von Stärke, die einen wesentlichen Teil der Wicke ausmacht, 
kann also eine Minderung der Kotbildung durch Minderung des Umsatzes 
hervorgerufen haben. Zur Feststellung wirklichen Verlustes der Vogel- 
wicken muß man den Weg einschlagen, die nachgewiesenen Verluste im 
Kot im einzelnen zu betrachten. Dieses sind: 


No ‚StärkeszxgAs ini... in uelerdeit 1-6 Kalorien 
1-94 g Zellmembran x 42 ...... 8-15 N 
Dass Bentosanz 3: Zu 2 0-8 a 
Zelroteinzn DE88  rr 10-0 ze 


20-5 Kalorien 


Die Zufuhr war 288-2, Verlust 20-5 = 7-11 Prozent. 


1 0.71 g Pentosan, abzüglich 0-13 aus Fleisch = 0-58, in Zellmembran allein 
0.35 = 0:58 — 0-35 = 0.2. 


2 0.27g N waren in der Zellmembran = 1.7 Protein. 
ı* 


4 Max RUBNER: 


Im ganzen ist der Verlust also nicht so groß; er würde ohne die 
Zellmembran sich fast auf die Hälfte reduzieren. Das Stärkemehl ist 
ausgezeichnet resorbiert worden. In der Einnahme war (98-4 — 19-3) 
— 39-3 g, im Kot 0-4, direkt bestimmt = 1-02 Prozent Verlust. 

Die N-Ausscheidung war 0-94g N pro Tag; davon gehen ab als 
nicht resorbierbares Protein 0-27 g N, die in der Zellmembran blieben, 
— 0.67 g als Fleischkot, während sonst 1-03g N kam. Berechnet man 
als Eiweißverlust die 0-23g N in der Zellmembran, so macht dies, auf 
die Zufuhr bezogen, 11-5 Prozent aus (wobei die N-Stoffwechselprodukte 
außer Betracht bleiben). 

Der Hauptverlust der näher bestimmten Stoffe betrifft die Zell- 
membran. Die zugeführte Zellmembran zeigt eine Zusammensetzung, 
welehe von der Kleie der Zerealien abweicht, sie ist zellüulosereicher. 
Die Resorption zeigt aber ähnliche Verhältnisse wie bei der Kleie, sie ist 
also besser wie die von Holz und Nußschalen usw. 


Der Verlust an Pentosan und Zellmembran war folgender: 


An Gesamtpentosan . ... 2.2... 22-3 Prozent 


Be, ellmembranee ae SrrEKErNENEE: . 49-4 
„, Pentosen der Zellmembran . .... 39-5 4 
„„ Zellulose der Bau RE I A ET 3 69-6 


„ Restsubstanz der 


Von der Pentosan des Kotes kommen pro Tag rund 0-15g auf 
Fleischkot, also 0-71 — 0-13 =0-58g aui die Vogelwicke; in der Zell- 
membran waren 0-35g, demnach 0-58 — 0-35 =0-23g nicht in Zell- 
membran enthaltene Pentosen, in der Zufuhr 3-18 — 0-88 = 2-30 g Pen- 
tosan nicht in der Zellmembran, so daß sich der Verlust des letzteren 
auf 10 Prozent stellt. 


Im ganzen betrachtet, wäre also das Vogelwickenmehl obiger Her- 
kunft ein durchaus zu beachtendes eiweißreiches Nahrungsmittel von 
günstiger Resorption, das die ausnahmsweise Verwendung für Ernährungs- 
zwecke wohl rechtfertigen würde. Bei der Zubereitung müsste die für 
Leguminosen wichtige Verwendung weichen Wassers auch bedacht werden. 
Die Verwendung von Vogelwicken wird dadurch rationell, daß diese nur 
einen mäßigen Gehalt von Zellmembran besitzen, etwa wie Korn von 
etwas über 70. Prozent Ausmahlung. Stoffwechselprodukte N-haltiger 
Natur wie andere sind hier in die Berechnung nicht einbezogen, weil die 


Resorption des Fleisches nebenbei auch die Verdauung der Wicke be- 
sorgt hat. j 


DER NÄHRWERT DER VOGELWICKEN UND WICKEN. 5 


B. Die Wieke (Vicia sativa). 


Die Wicken sind im allgemeinen auch früher schon zur Mischung mit 
anderem Mehl als Brot verbacken worden, doch wird dem Wiekenbrot 
nachgesagt, daß es schwer verdaulich sei. Worauf sich dieses Urteil 
gründet, ist mir nicht bekannt. Die Wicke als Leguminose ist reich an 
Protein. Soweit mir bekannt, ergeben sich für die Entschälung der 
Wicken, auch bei der größeren Art Vicia sativa, große Schwierigkeiten, 
so daß an eine einfache Trennung zwischen Schalen und Mehl meist 
nicht zu denken ist. Die Wicken werden daher dort, wo sie ver- 
abreicht wurden, meist wie die Erbsen im ganzen mit den’ Schalen ver- 
kocht und so verzehrt. Die Wicken entwickeln mit Wasser angerührt 
Blausäure; beim Verkochen kommt das nicht in Frage, weil das Ferment 
durch die Hitze rasch zerstört wird. Sie enthalten als hauptsächlichsten 
Eiweißstoif neben anderen Legumin und stehen in mancher Beziehung 
den Lupinen nahe. 

Der Versuch wurde am Hunde ausgeführt, die Wicken 250 g luft- 
trocken gekocht und zerquetscht und direkt ohne Fleisch als Beifutter 
verabreicht. Zusammensetzung und Ausscheidung enthält nachfolgende 
Tabelle. 


In 100 Teilen sind In 225.5g pro Tag 

INSCHEA EN ah 7-98 
Orcanısch 2... 96-46 217-1 
INT. ol u a 4-02 — 25-12 Protein 9.05 
Bentosan. .. 2... 9:49 12-35 
Zellmembran . . . . 10-96 24-80 
mit Zellulose . ... . 5-28 11-88 
Verbrennungswärme . 441-6 995-7 

In 100 Teilen Kot sind In 325.6g Kot=108-5g pro Tag 
SChesp am 2. 31-28 393-9 
Organisch . . . . . 68-72 74-56 
N se 4-69 5-14 
Bentosan!. . . .. 5-35 5-80 
Zellmembran . . . 18-12 19-57 
Zellulose . . . . . 10-70 11-60 
Verbrennungswärme 373-3 405-1 


Das Tier erhielt fast genau so viel Kalorien in Wicken wie sonst in 
Fleisch. Die Resorption war sehr dürftig, von 100 Kalorien der Einfuhr 
wurden 40-6 Prozent verloren; da die Vieia sativa nicht viel anders 
| zusammengesetzt ist wie die Vogelwicke, nur etwas mehr Zellmembran 


6 MıAıx RUBNER: DER NÄHRWERT DER VOGELWICKEN UND WICKEN. 


enthält, so ist die schlechte Verdaulichkeit eine Wirkung der schlechten 
Zubereitung. 

Die Zellmembran der Wicke ist schlechter verdaulich als jene der 
Vogelwicke, besonders schlecht wurde die Zellulose verdaut mit 97-64 Pro- 
zent Verlust. Die harten, groben Hülsen reizen offenbar den Darm und 
hindern die Resorption aller Bestandteile. Vom N gehen nicht weniger 
als 56-8 Prozent verloren, obschon, wie gesagt, die Eiweißstoffe an sich, 
nach dem Ergebnis bei Vogelwieken beurteilt, sich nicht ungünstig ver- 
halten müßten. An Protein war im Kot im Tag 1-75 N entsprechend, 
was einem Verlust von 19-05 Prozent entspricht, woraus weiter folst, daß, 
34-0 Prozent des ausgeschiedenen N Proteinverlust und 66-0 Prozent 
Verlust aus Stoffwechselprodukten war. 

Die Zellmembran selbst erklärt den hohen Kalorienverlust im Kot 
nicht, denn sie macht nur 87-3 Kalorien aus; die Hauptmasse besteht 
neben den Stoffwechselprodukten und Proteinverlust aus unresorbierter 
Stärke. Es ist anzunehmen, daß das Wickenmehl fein zermahlen sich 
wohl wesentlich günstiger verhält. Jedenfalls muß der Versuch zur Ab- 
scheidung der Wickenschalen durch Sieben gemacht werden, da nur dann 
die wertvollen Nährstoffe entsprechend verwertet werden können. 


Über die Verwertung einiger Nebenprodukte der 
Stärkeindustrie für die Ernährung, 


Von 


Geheimrat Max Rubner. 


Die Kartoifel gehört zu den gut aufnehmbaren Nahrungsmitteln, 
allerdings ereicht sie, was Resorptionsfähigkeit anlangt, nicht die Gebäcke 
und Speisen aus feinem Weizen- oder Reismehl, aber mit 5-61 Prozent 
Verlust an Kalorien stellt sie sich doch nach meinen Versuchen günstig. 
Allerdings gilt dies nur für mäßige Zufuhr von 2000 bis 2500 Kalorien, 
während nach meinen älteren Untersuchungen bei 3300 Kalorien Zufuhr die 
Grenze der guten Verdaulichkeit (rund etwa 14 Prozent Verlust der Kalorien) 
schon erheblich überschritten sein kann, während gleichgroße Mengen Weizen- 
mehles noch ausgezeichnet resorbiert werden. Diese ungünstige Stellung 
gegenüber dem Weizen ist nicht wohl in der Verschiedenheit des Zellmem- 
brangehaltes, als wahrscheinlich zum Teil in der Eigenart der Stärke gelegen, 
da man bei Aufnahme von Mischungen von Kartoffel- und Weizenstärke 
häufig die erstere im Kote unverändert findet, während die Weizenstärke 
glatt verdaut ist. Ihr Vorzug in der Verdaulichkeit der Brotarten aus 
mittlerem Vollkornmehl gegenüber kommt keineswegs immer voll zum 
Ausdruck. Nach Versuchen von mir und Thomas eignet sich die Kartoffel 
nur als Beimengung zu kleiearmen Mehlen, während bei stark ausge- 
mahlenen die Verdaulichkeit des Gemisches herabgesetzt wird. Das trifft 
namentlich auf die Kriegsbrote zu. Es mögen auf diese Weise durch die 
unzweckmäßige Kombination von Brot und Kartoffeln Zehntausende von 
Tonnen an Zerealien gewissermaßen verloren gegangen sein. 

Die Kartoffel verdankt ihre gute Resorbierbarkeit zum erheblichen 
Teil dem geringen Zellmembrangehalt der entschälten Frucht; auch 


8 Max RUBNER: 


scheint annehmbar, daß die feinen Zellhüllen des Parenchyms in Analogie 
zu anderen Fällen zu den leichter resorbierbaren gehören, doch liegen 
Versuche darüber nicht vor. 

Es ist zweifellos vielfach die Schale der Kartoffel mit zu Brot ver- 
backen worden, besonders da, wo Kartoffelwalzmehl zur Streckung aus- 
gegeben wurde. Die Mengen der Schale im Verhältnis zum übrigen ist 
nicht genau bekannt, auch nach Größe, Art der Kartoffel und dem Ver- 
korkungsgrade wechselnd, immerhin mag die Masse der Zellmembranen 
in der Schale mitunter etwa fast so viel ausmachen, als die Zellmembran 
im übrigen Teil. Der hohe Zellulosegehalt und die weitgehende Ver- 
korkung läßt die Kartoffelhaut als etwas Minderwertiges erscheinen. 

Man denkt in neuester Zeit an eine ausgedehnte Verwertung der 
Trockenkartoffel als Konserve der täglichen Küche. An und für sich 
stehen dem keine Bedenken entgegen — außer der Beschränktheit der 
Verwendung der Trockenpräparate —, falls das Trocknen in geeigneter 
Weise geschieht. Das zurzeit im Handel befindliche Material von Trocken- 
kartoffeln entspricht aber nicht immer nach Aussehen, Geschmack und 
Geruch dem an ein menschliches Nahrungsmittel zu stellenden Anforde- 
rungen. Offenbar wird manchmal nachlässig oder ungeschickt bei der 
Trocknung verfahren und bei der Hast, mit der die Herstellung dieser 
Waren betrieben worden ist, können schlechte Ergebnisse, die unterlaufen, 
nicht in Erstaunen setzen. Es ist auch geradezu widersinnig, schlecht 
gewordene Kartoffeln, wie empfohlen wurde, mit zu trocknen, da hier- 
durch die Ware für den menschlichen Gebrauch geradezu ungenießbar, 
also nar verschleudert wird. - 

Bei der technischen Verarbeitung der Kartoffel entstehen eine Reihe 
von Produkten, so bei der Spiritusbereitung, auch bei der Stärkedar- 
stellung und bei der Fabrikation der Preßkartoifel. Da auch solche 
Nebenprodukte, die früher zur tierischen Ernährung verwendet wurden, 
in mehr oder minder unverblümter Form für menschliche Zwecke in Er- 
wägung gezogen werden, sollen in nachstehendem einige dieser Produkte 
näher untersucht werden, zumal sich dabei Fragen von allgemeiner Be- 
deutung haben beantworten lassen. 


Die Kartoffelpülpe. 


Zu den Nebenprodukten der Kartoffelindustrie gehört die Kartoffel- 
pülpe. Das mir zur Untersuchung überwiesene Material stammte aus 
einer Stärkefabrik; die Pülpe entsteht dabei aus den Resten der Kartoffel, 
die bei dem Abschwemmen der Kartoffelstärke aus dem zerkleinerten 


VERWERTUNG EINIGER NEBENPRODUKTE DER STÄRKEINDUSTRIE. 9 


Material zurückbleiben. Die Pülpe war ein ungefärbtes, geschmack- und 
geruchloses Pulver, reich an Stärke. Diese läßt sich bei einfachem Zusatz 
von Jod nieht immer gleich erkennen. Ihrer Natur nach müßte die Pülpe 
auch reich an Zellmembran sein: das bot die Möglichkeit, die letztere 
auf ihre Resorbierbarkeit mit zu prüfen, ohne sie erst mühsam eigen- 
händig herstellen zu müssen. 


Die Pülpe hat gegenwärtig, da so wenig Kartoffeln zur Stärke- 
fabrikation verwendet werden, kaum als Nährmittel eines Volkes wirt- 
schaftliche Bedeutung; in Friedenszeit wird sie aber als Nährmittel nicht 
verwendet, weil dann genügend anderes Material, das sich für die Er- 
nährung besser eignet, vorhanden ist. 


Die Pülpe dürfte wohl eine schwankende Zusammensetzung haben, da 
Ausgangsmaterial und Betriebsart nicht ohne Einfluß bleiben werden. 


Nach einer Angabe bei König (Bd. IT) berechne ich für 100 Teile 
Trockensubstanz: 


NeSubstanz . 2.02 2.0.00. 6-35 Prozent 

TDEKHE de RE ES /EO= TUN 08 

N-freie Extraktstoffe . . . . 79-30  ,. (exkl. Rohfaser) 
Role a 10-00  , 

ENSCHTER TEE U ONE 3:35 


Mein Präparat war folgendermaßen zusammengestellt: 


Kartoffelpülpe. 
In 100 Teilen In 100 lufttr. = 90-7g 
Trockensubstanz trocken pro Tag 
Bschesmlallern.. m’. 2-90 2-65 
Örganisches . . . . 97-10 88-02 
Ns... 0-62 0-56 
Bentosanıl. 1... %. 8-81 793 
Zellmembran . . . 43-92 mit 6-50g Pentosan 39-83 mit 5-89g Pentosan 
Zellulose ..: ... OS 18-06 
Kesiweßelliin. 17-51 15-88 
SIATKERER N. 1 44-7 40-54 
Ders VABARRLL NK. 0-13 0-12 


Verbrennungswärme 407-6 369-6 


10 Mıx RUBNER: 


Zusammensetzung des Kotes. 


In 100 Teilen tr. Kot In 73-4 g tr. Kot pro Tag 
INSCHeRER SEN Auen 22-01 16-15 
Organisches . . . . 71:9 57-25 
IN 52 a a BE 3-36 2-46 
Bentosansa rn 4-64. 3-41 
Zellmembran . . . 24-02 mit 2-78g Pentosan 17-63 mit 2-06g Pentosan 
Zellulose . . . . . 14-79 10-84 
Rest; yet. 6-75 4-73 
Hettsracnit asll..% 0-80 0-56 
Stärke mie Le 20-90 15-34 
Verbrennungswärme 368-2 270-2 


In 100 Teilen Zellmembran 


Zellulogermeur res 61-53 
Pentosan 2 ee 
Best ee 26-88 


Es war N-ärmer, als die oben angegebene Analyse im Durchschnitt 
angibt, sehr fettarm, ziemlich reich an Pentosan, von welchem der größte 
Teil in der Zellmembran sich befindet. 43-9 Prozent waren Zellmembran, 
die sogenannten N-freien Extraktstoffe waren srößtenteils Membranen. 
Zieht man alle näher bestimmten Stoffe von der organischen Substanz 
ab, so bleiben nur 44-7 Prozent als eigentliche N-freie Extrakte, die hier 
aus Stärkemehl bestehen. 

Das Präparat enthielt in diesen also ein wohl verwertbares Nähr- 
material, dagegen ist, von der Verdaulichkeit vorläufig abgesehen, der 
Zellmembrangehalt so hoch, daß er alle sonst pflanzlichen Nahrungsmittel, 
die etwa als menschliche Nahrungsmittel benutzbar sind, erheblich über- 
BIRLLUND, | 
Die Zellmembranen haben die Eigenschaft, bei dem Aufweichen in 
Wasser und nach dem Auswaschen usw. zu einer sehr voluminösen Masse 
aufzuquellen. Ihre Zusammensetzung geht aus den Zahlen der Tabelle 
hervor. In der Zellmembran der Kartoffel und in den Kartoffelschalen 
haben sich früher gefunden: 


Zellmembran Kartoffel- Kartoffel- 
des Parenchyms schale pülpe 
Zelluloseseeee ee 40-72 51-87 45-32 
Pentosan 12 3... "2 5-55 8:59) er RAS 


Rest. th, 53-70 39-58 39-88 


VERWERTUNG EINIGER NEBENPRODUKTE DER STÄRKEINDUSTRIE. 11 


Auffallend groß ist der Unterschied in der Zusammensetzung mit 
Bezug auf die Menge der Zellulose; es wäre denkbar, daß etwa stark 
verkorkte Schalen beigemengt waren, worüber ich Näheres festzustellen 
nicht in der Lage war. 


a) Verdaulichkeit der rohen Pülpe. 


Zunächst habe ich die Pülpe als ‚Mehl‘ (100 & pro Tag lufttrocken) 
mit dem Fleisch gemengt und dem Versuchshunde zu 1000 g Fleisch 
gefüttert. Sie feuchtete sich aus dem Fleisch mit Wasser an und in 
diesem Zustand nahm der Hund das Material auf. 

Im ganzen betrug die Aufnahme 

der Kartoifelpülpe (s. Tab. S.9)369-6Kal., die Ausscheidung 270.2 Kal. 
Davon gehen ab: | 
17-63 Zellmembran x 4-1Kal. 72-2 „, 


1-35 fr. Pentosan x 3-9 ,, 5.26 ,, 

4-8 Protein Dre ae ou 

19833004718 Stärke... . el, Nas, 
bleiber U raaaR BIN SS KEN RE FREE 94-8 Kal. 
Der Fleischkot liefert im Durchschnitt. . . 677 „ 
SO REN Er ee ee 17-1 Kal. 


Es kommt also etwas mehr, als sonst an Fleischkotkalorien geliefert 
wird, aber der Unterschied ist so unbedeutend, daß man nicht sagen 
darf, er beweise eine Darmreizung mit vermehrter Bildung von Kot. 
Von den 369-6 Kalorien der Einfuhr waren 175-4 Kalorien in den näher 
angegebenen Produkten wieder entleert worden, also sicher 47-43 Prozent 
der Kalorien wieder verloren gegangen — wozu bei alleiniger Verfütterung 
von Pülpe noch Stoffwechselprodukte zu rechnen wären. 

Die Menge der Stoffwechselprodukte der Tardannnssie 
wurden hier ausschließlich in der Form des Fleischkotes ge: 
liefert; das Fleisch war also in der Lage, noch 396-6 Kalorien der 
Kartofielpülpe mit zu verarbeiten und zur Resorption zu bringen. 

Erheblich ist die Gesamt-N-Ausscheidung im Kot; im Durchschnitt 
liefern 1000 8 Fleisch 1-03g N im Kot, bei Pülpe treten 2-46& N aus. 
In der Zellmembran ist N eingeschlossen und durch kein Lösungsmittel 
zu entiernen, aus Kot dargestellt 0-77, so daß immer noch 0-66g N 
außerdem mehr ausgeschieden wurden, die als Mehrung der N-haltigen 
Stoffwechselprodukte verbleiben. 

Was die Zellmembran selbst anlangt, so ist diese zwar nicht sehr gut, 
aber doch nicht unter großem Verlust aufgenommen worden. 


12 Max RUBNER: 


Es wurde verloren: 


von Zellmembran . . . . . ...... 44-26 Prozent 
Zellulose ! 2.0.7... ner: 460206 
Pentosan  . ..... .. „sespag 2 
Restsubstanz . . . 29-8 


Die Zellmembran entspricht in ihrer Verdaulichkeit zwar nicht den 
leicht resorbierbaren, wohl aber auch wieder nicht den schwer resorbier- 
baren Arten. Da wir sie im wesentlichen als Kartoffelzellmembran an- 
sehen dürfen, so wird es auch erlaubt sein. diese Ergebnisse als Hinweis 
auf die Verdaulichkeit der Kartoffel zu betrachten. Geschälte Kartoffeln 
enthalten nach meinen Bestimmungen 5-59 Prozent Zellmembran, was 
einem Mehl mittleren Kleiengehaltes entspricht. 

Die Verdaulichkeit der eigentlichen Kartoffelzellmembran nach Aus- 
schluß der Schalen dürfte vielleicht günstiger sein, als die vorstehenden 
Versuche ergeben, weil dabei nur feine, zarte Zellmembranen in Frage 
kommen, ähnlich wie für den Mehlkern der Getreidearten. 

Der Hund hat im Tag rund 22 & Zellmembran resorbiert, 
was etwa 9 Prozent seines Tagesumsatzes an Kalorien ausmacht. Ähnliche 
Größen habe ich auch bei Verfütterung anderer Zellmembranen gefunden. 
Man kann also auch in quantitativer Hinsicht nicht behaupten, daß der 
Darm des Hundes nur wenig leistungsfähig sei hinsichtlich der Resorption 
der Zellmembranen. Der Unterschied zwischen Fleisch- und Pflanzen- 
fresser scheint mir kein prinzipieller zu sein. Auch der Fleischfresser 
resorbiert, wie ich in zahlreichen Einzelbeispielen gezeigt habe, Zell- 
membranen verschiedener Art bis zu reiner Zellulose, nur die quanti- 
tative Leistung ist begrenzt. Über ein gewisses Maß kommt der Hunde- 
darm in der Resorption nicht hinaus, und diese Menge spielt in seinem 
Ernährungshaushalt keine bedeutende Rolle. um so weniger, als ja der 
volle Nährwert der resorbierten Kalorien für den Kraftverbrauch nicht ' 
in Anschlag gebracht werden darf. Ähnlich liegt die Sache auch für den 
Menschen. 

Der letzte Nährstoff, den wir zu’ betrachten haben, ist die Stärke; 
ihre Resorption war sehr ungünstig. Frühere Versuche haben bewiesen, 
dab man bei der Resorption der Stärke unter Umständen mit einem 
Eifekt von 99-5 Prozent rechnen kann. Hier wurden 37-83 Prozent ver- 
loren, von der Zellmembran 55-7 Prozent. Demnach ist die Resorption 
der Stärke nicht viel größer gewesen wie die der Zellmembran. Das kann 
unter allen Umständen nur auf die Anwendung der Pülpe in ungekochtem 
Zustande zurückgeführt werden, da sonst kaum ein anderer Grund für 
die mangelhafte Aufnahme zu finden sein dürfte. Zwar käme vielleicht: 


VERWERTUNG EINIGER NEBENPRODUKTE DER STÄRKEINDUSTRIE. 13 


noch der Umstand in Betracht, dab ein Teil der Stärke in schwer lös- 
liche Zellmembran eingebettet ist. Die Frage wird durch den nach- 
folgenden Versuch mit gekochter Pülpe entschieden. 


b) Gekochte Pülpe. 


Zu dem folgenden Versuch waren 1000 g Fleisch 70 g Pülpe gekocht 
zugesetzt worden; im übrigen bleibt die Ausführung der Versuche genau 
dieselbe wie vorher. 

Die näheren Angaben der Zufuhr und Ausfuhr enthält die nach- 


stehende Tabelle. 
In 63.52 tr. Kartoffelpülpe ist enthalten 


ASCHE TEN TEN NE . 1-84 
Örganisches 61-68 
INSMRRIENEE EERIEER SRE BELLE, 0-39 
Benbosanı 200 EEE, 5-59 
Zellmembrane "nn. 27-89 
Zeilulosett Anm NEN EN 12-62 
Bentosankdanına a 4-12 
INES IRB NE REIS ER 5 BRENNEN) 
Stünke Ba N I TEN 28-38 
nette ie I 0-08 
Kalonienge au SL ı tun 258-8 
In 100 Teilen Kot sind In 40 Teilen Kot sind im Tag 
‚Auclhar EA Fe 14-78 5-91 
Örganisches . . . . 85-22 34-09 
IN. 1 dr Se 3-94 1-58 
Bentosan . .... 6-47 2-59 
Zellmembran . . . 34-44 mit 4-57g Pentosan 13-78 mit 1-83g Pentosan 
Zelulose . ... . 22-36 8-94 
Bes... 7-51 3.01 
Seankern., 0. u 15-09 6-0 
Verbrennungswärme 412-7 165-1 
In 100 Teilen Zellmembran 
Zelluloser 0 u 64-92 
Bentosan Vi. nr. 13-26 
BROS. .0cn ee 21-82 


Das Hauptinteresse konzentriert sich zunächst auf die Verbesserung 
der Gesamtausnutzung des Präparates, wie sie durch die Kalorien an- 
gezeigt wird. 


14 Max RUBNER: 


Von den gefütterten 258-0 Kalorien pro Tag kamen im Kot 165-1 Kal. 
Davon gehen ab: 


13378 <A KalenerZellmembran 7.2 ZrErsseeer 56-5 
DROR23-9 nn ralssBentosan.... . „ 3-0 
228002 0=88 „ als,Protein.. 2... 2 222 seggEr 16-5 
GEORASE NR als Starker m. 2. Per 24-5 =100-5 „, 
bleibt... .. . 64-6KRal. 
während&m Mitteln Rleischkotlieieri er EEE Oel; 


Hier fehlt jede Steigerung der Stoffwechselprodukte, während sie im 
vorhergehenden Versuch in allerdings geringem Maße nachweisbar war. 

Von den gefütterten 258-0 Kalorien waren also unverdaulich 100-5 
— 38.9 Prozent. Das ist wieder ein Minimalwert, weil die Verdauung 
durch die Fütterung des Fleisches mit besorgt wurde, also bei ausschließ- 
licher Pülpefütterung noch besonders die Bildung von Stoffwechsel- 
produkten eintreten müßte. Ob diese dann nur die Höhe von 67-7 Kal. der 
Fleischstoffwechselprodukte erreichen würden, muß dahingestellt bleiben, weil 
methodische Prüfungen in Nahrungsgemischen bis jetzt nicht bekannt sind. 

Von der Stärke (= 28-38 & der Zufuhr) gingen 6-0 g = 21-16 Prozent 
verloren. Es ist danach durch das vorhergehende Kochen der Gesamt- 
verlust der Kalorien von 47-4 auf 38-8 Prozent und der Verlust an 
Stärke von 37-83 auf 21-16 Prozent herabgegangen. Das Resultat ist 
für die Beurteilung der Pülpe als Nährmaterial entscheidend. Die Stärke 
hätte, wenn sie wirklich frei läge, nach dem Kochen mindestens nur mit 
einem Verlust von nur wenigen Prozenten verdaut werden müssen, wie 
aus den zahlreichen Untersuchungen an Brot hervorgeht. Das geschah 
aber nicht, die Verbesserung ist nur gering; also muß es sich um Stärke 
handeln, welche den Verdauungssäften nur schwer zugänglich ist, d. h. 
um Reste, die in Zellmembran eingeschlossen sind. 

Zu gleicher Zeit läßt sich die Frage beantworten, ob die Zell- 
membran durch das Kochen und eventuell dadurch bedingte Quellen 
leichter verdaulich wird. 

Die Verluste an Pentosan und Zellmembran stellen sich wie folgt: 


Troekenpräparat Gekochte Mittel 
(voriger Versuch) Pülpe 
Bentosana a. wen 42-70 46-33 44-51 
Zellimembranse. 44.26 49.44 46-85 
Pentosan in Zellmembran . . 34-90 44-40 39.65 
Restsubstanz  erepe 29-80 26-90 28 


Zellnlose; 2.0004 60-06 70-8 65-07 


VERWERTUNG EINIGER NEBENPRODUKTE DER STÄRKEINDUSTRIE. 15 


Die Unterschiede der Resorption sind also in beiden Fällen unbe- 
deutend, am größten noch hinsichtlich der Zellulose, was aber nicht viel 
besagen will. Die Gesamtpentosane kommen sich auch in der Aufnahme 
in beiden Fällen sehr nahe. Im Mittel genommen erinnert die Verdau- 
lichkeit der Kartoffelzellmembran etwas an die Kleie. 

Das Fütterungsoptimum für die Zellmembran war im ersten Versuch 
nicht überschritten. Diesmal wurden im ganzen nur 14-1 g Zellmembran 
pro Tag resorbiert, ohne daß deshalb eine prozentig günstigere Aufnahme 
erfolgt wäre. Das Ergebnis steht aber mit den bei Birkenholzfütterungen 
mit wechselnden Mengen ganz im Einklang, d. h. die Resorption ist bei 
wechselnden Mengen prozentisch dieselbe innerhalb der optimalen Grenzen. 

Der N-Verlust pro Tag war 1-58 g; in 100 Teilen Kot waren 7-05 8 
Protein an Zellmembran gebunden = 1-13g N, d.h. für die Tages- 
menge 0-452 &; dieser Wert von 1-58g N abgezogen, gibt 1-13g N 
für die Stoffwechselprodukte des Fleischkotes, was etwa den normalen 
Verhältnissen entspricht. Das gequollene Material hat also keinen störenden 
Einfluß ausgeübt und sich als günstiger erwiesen als das trocken ver- 
fütterte. Trotzdem bleibt es für den Hundedarm ein minderwertiges 
Material, während der Pflanzenfresser einen höheren Gewinn aus diesem 
Futter ziehen kann. 

Nach den Angaben Kellners könnte man für die Kartofielpülpe 
etwa eine Verdaulichkeit der Kalorien von rund 73 Prozent berechnen 
— 27 Prozent Verlust, während der Hund 38-8 Prozent bei gekochter 
Pülpe, bei nicht gekochter 47-3 Prozent verloren hat. 

In der Zeit der Hochflut der Brotsurrogate hat man auch Kartofiel- 
pülpe als Zusatz empfohlen, vielleicht wäre ohne den Kartofielmangel der 
Vorschlag wieder aufgetaucht. 

Die Kartoffelpülpe eignet sich als Zusatz zu Brot nicht. Bei dem 
hohen Gehalt der Pülpe an Zellmembran würde auch ein mäßiger Zusatz 
bereits den Gehalt an Zellmembran in einem Mehl-Pülpegemische stark 
anschwellen lassen und selbst bei einer Menge von 10 Teilen Pülpe zu 
90 Teilen Mehl würde in diesem Gemische, wenn ein Mehl von 80 Prozent 
Ausmahlung vorausgesetzt wird, der Zellmembrangehalt so steigen, daB 
es dem Gehalt eines Vollkornbrotes gleichkäme. 

Pülpe wäre minderwertiger als Kleie, zwar entspricht die Ausnutzung 
der Zellmembran in der Pülpe etwa jener der Kleie, aber die Stärke 
wird aus der letzteren, wie man selbst bei Vollkornbroten sieht, gut 
resorbiert, aus der Pülpe kann aber die vorhandene Stärke nur unvoll- 
kommen gelöst werden. 


16 Max RUBNER: 


Außerdem ließe sich aber gar nicht sagen, daß Mischungen von 
Mehl und Pülpe in arithmetischem Verhältnisse ihre Eigenschaften der 
Verdaulichkeit vereinigen, und noch unbestimmter bleibt das Urteil über 
die Bekömmlichkeit für den Menschen; es steht nach meiner Erfahrung 
fest, daß fremde halbverdauliche Zusätze sehr leicht vom Magen aus 
Störungen der Gesundheit erzeugen. 


e) Vergleichende Untersuchung über die Resorption reiner 
Stärke in verschiedener Zubereitung. 


Es ist eine bekannte Tatsache, daß rohe Stärke vom Speichel schlecht 
selöst wird, die gequollene aber gut. Diese verschiedene Verdaulichkeit 
haben beide Stärkezubereitungen auch beim Durchgang durch den ganzen 
Darm. Genaue quantitative Versuche hierüber hat zuerst K. Thomas an 
der Banane angestellt.‘ Die vorhergehenden Versuche am Hunde zeigen 
das gleiche. Es läßt sich aber ein quantitatives Urteil nicht fällen. Zu 
einer ausgezeichneten Verdauung der Stärke genügt nach meinen Ver- 
suchen das Kochen der Stärke oder die Zubereitung als Brot. Die Quel- 
lung der Stärke ist die Voraussetzung der besseren Verdaulichkeit. Wie- 
viel Wasser die Stärke aufgenommen haben muß, um leicht verdaulich 
zu sein, ist nicht bekannt. Die ersten Quellungserscheinungen zeigen sich 
bei Kartoffelstärke schon bei 50° durch die festere Bindung von Wasser. 
Es kann auch die andere Frage aufgeworfen werden, ob gequollene Stärke, 
wenn sie ihr Wasser verloren hat, genau so schwer verdaulich wird wie 
rohe Stärke. Bedeutung kann dieser Umstand erlangen für die Verdau- 
lichkeit stark ausgetrockneter Backwaren, die nur mehr hygroskopisches 
Wasser enthalten. Zur Lösung des Problems wurde die Ausnutzung von 
je 70g Stärke mit 1000 g Fleisch als Beifutter wie in den früheren Ver- 
suchen durchgeführt und die Stärke im Kote direkt analytisch festgestellt. 

Die Stärke wurde entweder roh oder frisch verkleistert angewandt. 
Für die dritte Reihe wurde verkleisterte Stärke in dünner Lage im 
warmen Luftstrom wieder getrocknet, gepulvert und so dem Fleisch 
beigemischt. Die Ergebnisse waren folgende: 


Verdaulichkeit der Stärke bei verschiedener Zubereitung. 
Kot pro Tag org. N Pentosan Stärke Kal. 


Rohe Stärke . . .........2»4 7 1.20 720-297 
Gequollene frische Stärke .. . 179 1-06 0.26 0-82 84-7 
Gequollene und wieder getrock- 

nete Stärke . .'. . 2... ...7 12464 70.70 770.26 Dt 


! Dies Archiv. 1910. Physiol. Abtig. S. 29. 
? Ebenda. 1915. Physiol. Abtlg. S. 202. 


VERWERTUNG EINIGER NEBENPRODUKTE DER STÄRKEINDUSTRIE. 17 


Verlust an Stärke in Prozenten. 


Boheewstärketitrr Mn... 16-12 
Stärkekleister eu. a ET a er 
Getrockneter Kleister . 22 0 2 78327 


Von der rohen Stärke werden 16-12 Prozent verloren, von der ge- 
quollenen nur 1-35 Prozent, die früher gequollene und wieder getrocknete 
wird nicht so gut verdaut wie die rohe, aber schlechter wie die gequollene. 
Man darf also annehmen, daß ein Teil der Stärke bei dem Trocknen eine 
Veränderung erfährt, die sie für die diastatischen Fermente leichter an- 
greifbar macht. Stark ausgetrocknetes Material sinkt also bedeutend im 
Nährwert. Damit steht im Einklang, daß man besonders häufig bei 
Genuß alten harten Brotes gerade Reste der Kruste noch in den Aus- 
scheidungen auffinden kann. 


Das Kartoffelalbumin. 


Als Kartoffelalbumin wurde ein Produkt geliefert, das im wesent- 
lichen durch Eindampfen des Preßsaftes der Kartoffel erhalten ist; durch 
die Oxydasen wird dieser Saft bekanntlich braun bis schwarz. Über 
den Übergang von N-haltigen Produkten in den Preßsaft habe ich bereits 
früher Angaben gemacht, vor allem gehen die Amidsubstanzen in den 
Preßsaft über, weniger Eiweiß. Das Präparat sieht aus wie etwa Torf 
und hat einen sehr scharfen Geruch, so daß seine unmittelbare Ver- 
wendung zur menschlichen Ernährung ausgeschlossen war: außerdem er- 
scheint es auch für die Mischung mit anderem Nährmaterial nicht ver- 
wendbar. Es zur menschlichen Ernährung zu verwerten, scheiterte völlig; 
es war keine Zubereitungsweise zu finden, die eine Aufnahme bei meinen 
Versuchspersonen ermöglichte. 

Die Zusammensetzung war von wesentlich anderer Beschaffenheit 
als die bei König! angeführte Analyse sie aufführt. 

Der Hund nahm nach kurzer Weigerung 100 des Präparates; es 
wurde vorher gekocht und dann in 1000 & Fleisch verteilt, es konnte 
daher ein dreitägiger Versuch durchgeführt werden. (Siehe Tabelle S. 18.) 

Das Präparat enthielt 5-44 Prozent N; jedenfalls bestand nur ein 
Teil aus Albumin, etwa 36-2 Prozent des N war weder in kochendem 
Wasser, noch in Alkohol oder Chloralhydrat zu lösen? und kann auf 


1 König, Nahrungsmittel. Bd. Il. S. 855. 

” Von den Stoffen, welehe nicht Protein waren, sind etwa die Hälfte durch 
Phosphorwolframsäure fällbar. Im kochenden Wasser waren 43.16 Prozent des 
Gesamt-N unlöslich. 

Archivf. A.u.Ph. 1917. Physiol. Abtlg. 9 


18 Max RUBNER: 


Kartoffelalbumin. e 
In 100 g Trocken- 88-45g Trockensubstanz 
substanz sind pro Tag 
ABchen a. RA. ne also 22-36 
Örganisches@u gun. 74-74 66:09. 
IN INNERE SSR ins. 0 Lan niigee 5-44 4-85 
IRentosan a. SE 0-62 0-55 
Zeillulosene 0-42 0-36 
Stärken 127.70. Beil 2-79 
Kalorien... we ee 342-9 203-0 
Kot. 
In 100g Trocken- In 33-0g pro Tag 
 substanz sind sind 
Asche ap vaı ee el; 14-33 
ÖOrsanisches,. eier 56-89 18-67 
N. na Aa en 5-49 1lasıl 
Pentosan. .. See 0-81 0-26 
Zellulose udn. sn Sr R 1-47 0:49 
Stärken. 2 rk. ee 0-60 0-20 
Protein. . u. 0 Sue 8-45 2-9 
Kalorien ".... 2 re 301-9 99.62 


Albumin bezogen werden. Etwas faserige Substanz, welche Furfurol 
lieferte (0-30 & Pentosan), konnte abgeschieden werden; sie deckt nicht 
ganz den geringen Pentosangehalt des Präparates. Der Stärkegehalt war 
gering. Im Kot waren 1-81 N pro Tag, der Fleischkot lieferte sonst 
1-05g N; es fand sich aber im Kot ein in den üblichen Lösungsmitteln 
unlöslicher Rückstand mit 7-47 Prozent N, der pro Tag 0-4688 N aus- 
machte und wohl auf unresorbiertes Protein und Stärke bezogen werden 
muß. Nach Abzug vom Kot N 1-81 — 0-47 bleiben 1-34 N, welche 
dafür sprechen, daß eine geringe Vermehrung der N-Ausscheidung viel- 
leicht durch Darmreiz vorliest. 

Von 303-0 eingeführten Kalorien erschienen im Kot . 99-62 Kal. 

wovon fürÖBleischkot abgehen 2.2 re OIamER, 

somitz'bleiben nunmehr. Se 31:9 Kal. 
Außerdem wurden aber im Kot festgestellt: Zellulose, Stärke, Albumin. 
Die Zellmembran von der Zusammensetzung der Kartoffelmembranen 
muß bei 0-49 Zellulose 1-08 betragen haben. Wir haben also als 
unresorbierte Kalorienmenge dann folgende Berechnung: 


VERWERTUNG EINIGER NEBENPRODUKTE DER STÄRKEINDUSTRIE. 19 


Hür'Zellmembrausl-08 x A-2327. 2... 4-54 Kal. 
Stan. 0.2 „ 
SEELEN DEDEE en ee 16-93 .,, 

22-29 Kal. 


während 31-9 Kalorien als Überschuß über den Fleischkotkalorien ge- 
“ funden wurden, =+9-6 Kalorien. Dieser Wert liegt innerhalb ' der 
Fehlerquellen solcher Experimente. 

Der gesamte Energieverlust des Präparates betrug 10-53 Prozent der 
Kalorien, der N-Verlust, wenn nur das Protein des Kotes in Besracht 
gezogen wird, 9-69 Prozent. Zur Verfütterung an Tiere wird das Albumin- 
'präparat eine Beachtung verdienen. 

Es hat also eine Mehrung von Stoffwechselprodukten nicht stattge- 
funden; der Gesamtverlust an Kalorien abzüglich des Fleischkotes macht 
10-5 Prozent aus. Von den N-haltigen Bestandteilen sind die Nicht- 
proteinstoffe sicher ohne Verlust aufgenommen worden; allerdings kamen 
im Kot noch 0-47 g N als Protein zu Verlust, die aus den gleichartigen 
Produkten der Einfuhr stammen. Sieht man von solchen Differenzierungen 
ab, so war der Gesamt-N-Verlust rund 9-7 Prozent (4-83& Zufuhr 
gegenüber 0-47 & Ausfuhr). Von den Stoffen des Kartoffelalbumins ist 
ein erheblicher Teil unbekannt und N-freier Natur. Im Harn wurden auf- 
fällige Veränderungen nicht wahrgenommen. 

Man kommt nach dem vorstehenden zu folgenden Schlüssen: Die 
reine Kartofielstärke ist sehr gut resorbierbar, wenn sie in gequollenem 
Zustande aufgenommen wird, steht aber anscheinend nach anderen Er- 
fahrungen der Weizenstärke in geringem Grade nach. Wird gequollene 
Stärke getrocknet, so verliert sie größtenteils ihre gute Resorbierbarkeit. 

Die Kartoffelpülpe enthält überreichlich Zellmembranen, welche ihre 
Verwendung zur menschlichen Ernährung ausschließt; die Stärke, welche 
in der Pülpe vorhanden ist, kann auch gut gequollen nur schlecht verdaut 
werden, mehr als doppelt so schlecht wie rohe Stärke. Die Kartoffel- 
zellmembranen werden etwa wie Kleie verdaut, trocken oder befeuchtet 
bedingt bei der Zellmembran keinen Unterschied. Die Kartoffelalbumin- 
präparate der Technik sind für die menschliche Ernährung wegen Ge- 
schmack und Aussehen unverwendbar, im übrigen ist ihre Verdaulichkeit 
nicht ungünstig. Ihr N-Gehalt entspricht zu etwas mehr als einem Drittel 
Albuminstoffen, der Rest entfällt auf Amide. Das Albumin wird aber 
nicht vollkommen, aber doch sehr weitgehend verdaut. 

Die gekochte Pülpe und das Kartoffelalbumin haben keinen störenden 
Einfluß auf die gleichzeitige Verdauung des Fleisches ausgeübt. 


93% 


Weitere Untersuchungen zur Verdaulichkeit des mit 
Säuren aufgeschlossenen Holzmehles. 


Von 
Geheimrat Max Rubner. 


IE, 


Von den verschiedenen Möglichkeiten, Holz mit Säuren aufzu- 
schließen, mag noch ein Verfahren, bei welchem das Material mit dem 
1!/,fachen einer t/,n-Salzsäure 30 Stunden bei 100° behandelt wird 
(Pauly), auf seinen Friolg geprüft werden. Da meine früheren Ver- 
suche! mit Birkenholzschliff ausgeführt worden sind, so habe ich das- 
selbe Material wieder verwendet, um einen möglichst guten Vergleich zu 
gewinnen. Das Holz färbt sich bei der Behandlung etwas gelb und behielt 
die Farbe auch nach dem Trocknen. Nach der Behandlung ist nur ein 
kurzes Zermahlen nötig, um ein ganz feines Pulver zu erhalten. Die CIH 
war der Vorschrift gemäß nicht ausgewaschen worden, sondern einfach 
durch Trocknen bei 50 bis 60° größtenteils entfernt. Beim Trocknen 
entstand ein ziemlich scharfer Geruch, darunter sicher Essigsäure. 

Ein Vergleich mit dem ursprünglichen Birkenholz zeigt folgendes 
Resultat: 

In 100 Teilen Trockensubstanz sind: 

Birkenholz mit verd. 


Birkenhola CIH behandelt 

Asche 9 0 RE 0-64 2.73 
Orcanischesper Pa 99.36 97-26 
Pentosan ar. aonaRnn 28-21 25-74 
Zellmembransp nm 91-07 68-17 
Darin Zellulose . .. : . 41-26 A 
Ra Bentosamı nr To un 24-15 10-86 

EU HRESENER = K Melde 25-66 17-19 
Lösliche Stoffe . .... 2 259 DTM 
Verbrennungswärme . . . . 458-20 443.60 


1 Dies Archiv. 1916. Physiol. Abtlg. S. 49. 


MAx RUBNER: VERDAULICHKEIT USW. >21 


Der Versuch zeigt, daß man mit Unrecht von einer Aufschließung 
der Zellulose spricht, wenigstens ist die Menge der Zellulose unver- 
ändert geblieben. Verändert wurde aber die Masse der Zellmembran, 
was nur dadurch möglich war, daß Bestandteile, die nicht Zellulose 
sind, in lösliche Verbindungen übergegangen sind. Dadurch ist auch die 
Zusammensetzung der Zellmembran im ursprünglichen Birkenholz und in 
dem mit CIH behandelten Präparat eine andere geworden. 


In 100 Teilen Zellmembran sind: 


In reinem In dem mit verd. CIH 
Birkenholz behandelten Präparat 
ZRSIT SC LEE EEE A 45-4 58-8 
Bentosan N 26-5 15-9 
Tees a a BE Ne 1 112 SE Er re 28-1 25-2 


Die Zellmembran wird relativ reicher an Zellulose. Eine Veränderung 
des Holzes unter Einwirkung der verdünnten CIH findet also statt. 
Welehen biologischen Wert diese Änderung hat, kann nur direkt durch 
den Versuch entschieden werden. Von dem getrockneten Präparat wurden 
dem Hund täglich 70 g lufttrocken unter 1000 g Pferdefleisch gereicht. 
Die Übersicht über Aufnahme und Ausscheidungen enthält folgende Tabelle. 


In 100 Teilen Trockensubstanz 


In 68.8g pro Tag 


ASelne , DS 2.74 1-90 
Organisches . 97-26 66-90 
IN 2 0-22 mit 1-37g Protein 0-15 mit 0-93g Protein 
BZEMWSan. . .. . .. 25-74 lo zäl 
Zellmembran 68-17 46-90 
Zellulose der Zellm. 40-12 27-60 
Pentosan ,, 21V 7-47 
Rest 3 aß) 11-83 
Verbrennungswärme 443-6 305-2 


Lösliches rund 27-72 Prozent. 


In 100g Kot In 75-.2g pro Tag 
ae ne a 16-72 1-26 
Örganisches . 83-28 62-6 
INEIESERRENEN ER... 2.56 1-82 
Bentosan en... \ 9.43 6-39 
Zellmembran 51-64 49-51 


22 MıAx RUBNER: 


In 100g Kot In 75-25 pro Tag 
Zellulose der Zellm. 30-95 23-27 
Pentosan „, ., 7-81 5-87 
Rest EN 12-88 13237 
Verbrennungswärme 407-6 306-5 


Als äußerlich sichtbarer Erfolg der Aufschließung wurde erreicht, 
daß der Kot nicht zu harten Massen verfilzt, sondern mehr bröckelig 
blieb. Die weiche Beschaffenheit der Birkenholzfaser verlor sich also 
infolge der Herauslösung bestimmter Stoffe, die den Pentosanen und 
Ligninen zugehören müssen, wenn nicht die Zellulose nebenbei, obschon 
chemisch für die Reagenzien zur quantitativen Darstellung unverändert, 
doch eine Veränderung der physikalischen Eigenschaften angenommen hat. 

Die allgemeinen Ergebnisse der Verdaulichkeit mögen kurz ange- 
reiht sein. 

Die Ausnützung der Kalorien ist folgende: 


Verlust "im Kot PP IINEERTE Er 306-5 Kal. 
abrfür' Pleischko#? IRRE er. 
also trifft auf das CIH-Präparat allein . . . 238-8 Kal. 


Die Zufuhr war 305-2 Kalorien = 78-2 Prozent Verlust im ganzen. 
Pentosen waren auch im Harn vorhanden: 


am 1. Tag = 0:90 g Pentosan 
a ENDE 
a el, 


Sie waren noch nicht völlig ausgeschieden, denn an dem auf die Fütterung 
folgenden Tag kamen noch 0-14 g, somit treffen pro Tag 1-05 g Pentosan 
als Verlust im Harn. Es ist wahrscheinlich, daß auch noch andere Stoffe 
des Holzmehles, wenigstens in kleinen Mengen, neben Pentosen im Harn 
austraten. Der Verlust im Harn erhöht den Kalorienverlust um 
(1-05 x 3-9) 4-09 Kalorien täglich, wodurch der Gesamtverlust auf 
79-6 Prozent der Kalorien sich steigert. Im Gesamtverlust ist auch eine 
etwaige Steigerung der Stoffwechselprodukte mit inbegriffen. Um letztere 
besonders festzustellen, kann man folgende Rechnung zugrunde legen: 


Eintleerte Kalorien . . . 2 „u... me el 

Zellmembranen des Kotes (42-51 x 4-25)! . 180-8 

für gelöstes Pentosan (0-5 x 3-9) . 2... 1-97 Vase 
bleiben u = 77: 123-8 Kal. 


1 Direkte Bestimmung der Verbrennungswärme. 


VERDAULICHKEIT DES MIT SÄUREN AUFGESCHLOSSENEN HOLZMEHLES, 23 


Es hat also eine Mehrung der Stoffwechselprodukte stattgefunden, da 
sonst bei Fleisch allein nur 67:7 Kalorien entleert wurden, also mehr 
um 56-1 Kalorien pro Tag. Damit steht im Einklang die N-Ausscheidung 
von 1-82 pro Tag, während bei Fleisch allein nur rund 1-03g& N ent- 
leert wird. 

Da rund 20-4 Prozent vom CIH-Präparat resorbiert wurden, 
— 90-6 Kalorien, so entsteht die Frage, aus welchem Anteil der Zell- 
membran oder den löslich gewordenen Produkten dieser Gewinn stammt. 

Für die Verluste aus der Zellmembran und ihren Bestandteilen 
ergibt sich: 

für 100 Teile 


Zellmembran . . ......90-6 
Zellulose der Zellmembran . . 84-4 
Pentosan ,, IN N rkealeı 
Rest Rn 22 (13:0) 


Die Restsubstanz war in der Zellmembran im Kote etwas reichlicher 
vorhanden als in der Zufuhr; diese läßt sich nur so erklären, daß die 
Zellmembran durch die Verdauung eine Veränderung erfahren hat. Diese 
könnte sich auf eine Umwandlung eines Teiles der Zellulose beziehen, der 
dann für die Reagenzien zur Zellulosebestimmung löslich geworden ist. 
Von der Zellmembran werden im ganzen nur 4-4 Kalorien pro Tag resor- 
biert; die Aufnahmefähigkeit ist eine sehr geringe. Der Hauptanteil des 
Resorbierten muß daher aus der Aufnahme freier Pentosen aus den lös- 
lichen Produkten des Präparates überhaupt stammen. 

Von den Kalorien für 100 Teile Zufuhr des Präparates = 443-6 Kalorien 
kann man die Kalorien der vorhandenen Zellmembranen (62-2 x 4-251) 
— 289-8 abziehen, dann bleiben 153-8 Kalorien für den gesamten übrigen 
organischen Rest = 29-1 Teile (darunter 1-37 Protein), Verbrennungswärme 
pro 1g = 5-284 Kalorien, d. h. höher als die der Zellmembran. 

Auf den Tag treffen 105-7 Kalorien von diesem Substanzgemisch 
(20-0 x 5-284) als Zufuhr. 

Im Kot sind nach Abzug von 67-7 Kalorien für Fleischkot aus- 
geführt 238-8 Kalorien, davon gehen weiter ab 42-51 & Zellmembran mit 
180-8 Kalorien u. 1-9 Kalorien pro Pentosan, also Rest 56-1 Kalorien, 
welehe sich auf die Steigerung der Stoffwechselprodukte über das Maß 
des normalen Fleischkotes hinaus beziehen, von diesen kann nur die Menge 
der Kalorien für freie Pentosane (0-5 x 3-9) = 1-9, auf die 105-7 Ka- 
lorien, Zufuhr in Form von löslichen Produkten allenfalls bezogen werden 
— 1-8 Prozent Verlust. 


24 Max RUBNER: 


Die löslichen Produkte sind also leicht resorbierbar und bedingen 
eine anscheinend bessere Gesamtresorption. Je weiter eine Aufschließung 
in diesem Sinne sich vollzieht, desto resorbierbarer wird auch das u 
im ganzen werden. 

Naheliegend ist die Frage, ob denn durch die AufschlieBes die 
eigentliche Zellmembran des ursprünglichen Birkenholzes selbst eine 
Erhöhung der Verdaulichkeit erfahren hat. Es findet sich als Verlust: 


Bei der Birke Bei dem Präparat Pauly 


Zellmembranee rer 55-84 90-6 
Zeiluloser 2 60-78 84-4 
Bentoram 2 46-31 78-6 
Rest, 2 ee 98-5 (113-0) 


Die sogenannte Aufschließung hat sonach zwar durch Bildung 
löslicher Produkte ein Material geschaffen, das leicht resorbierbar ist, 
die eigentliche Zellmembran ist aber beim ursprünglichen Birkenholz viel 
leichter resorbierbar als bei dem aufgeschlossenen Präparat. Auch wenn 
man nur den Kalorienverlust bei Birkenholz und dem mit CIH aufge- 
schlossenen Präparat vergleicht, sieht man, daß das unveränderte Holz 
leichter verdaulich ist als das letztere: 

Bei Birke werden verloren an Kalorien 63-4 Prozent, bei Präparat 
Pauly 79-6 Prozent. 

Die Aufschließung der Zellmembran ist also im gegebenen Falle völlig 
zwecklos, da sie keinen Erfole erzielt und die Zellmembran schwerer ver- 
daulich macht. 

Die in Wasser löslichen Produkte halten in alkalischer Lösung fast 
kein Kupferoxydhydrat in Lösung. Es bildet sich beim Kochen auch 
wenig Kupferoxydul, mit Phlorogluein-CIH in der Kälte färbt sich die 
Lösung und wird nach dem Abblassen in der Wärme nochmals rot. 

Nach diesen allgemeinen Erfahrungen über die neue Modifikation der 
sogenannten Aufschließung von Holz hätte es keine Berechtigung, weiter 
auf die Prüfung des Präparates zur Ernährung des Menschen einzugehen. 
Doch habe ich Anlaß genommen, persönlich im Mai 1917 mehrere Tage 
das Kriegsbrot in meiner Kost durch solches Brot mit aufgeschlossenem 
Holzmehl zu ersetzen, obschon solche Experimente nicht immer spurlos 
an meinem Magen vorübergegangen sind. Das Brot, durch Mischung 
von Mehl mit 60 Prozent Ausmahlung unter Zusatz von 20 Prozent auf-- 
geschlossenem Holzmehl hergestellt, war viel dunkler wie solches aus 
Mehl gleicher Ausmahlung ohne Holzmehlzusatz; es war kleinblasig, aber 
nicht feucht oder speckig. An manchen Stellen waren kleine Holz- 


VERDAULICHKEIT DES MIT SÄUREN AUFGESCHLOSSENEN HOLZMEHLES. 3 


fäserchen mit bloßem Auge zu sehen. Auffallend schneller trocknete es 
aus, wobei es so hart wurde, daß das Messer schwer hindurchdrang. 
Beim gründlichen Kauen schmeckte weder Kruste noch Rinde wirklich 
gut, wie es bei Mehl von 60 Prozent Ausmahlung sein müßte. Beim 
Essen und nach demselben hat man ein kratziges Gefühl im Halse. 
Es bläht nicht weniger als das schlechte Kriegsbrot und gibt einen 
äußerst trockenen festen Kot. 

Von einer besonderen Sättigung ist keine Rede, wenn man nicht 
etwa den Begriff Sättigung damit verwechselt, daß man wegen der Härte 
und Zähigkeit des Brotes keine Neigung haben wird, viel davon zu essen. 
Auch beim Eintauchen des Brotes in Flüssigkeiten (Kaffee, Tee, Fleisch- 
brühe) fehlt der würzige Geschmack und Geruch. Ähnliche Beobachtungen 
habe ich auch bei anderen Zusätzen zu Brot gemacht, von denen man 
hätte annehmen sollen, daß sie sich wenigstens nur indifferent verhalten. 


Il. 


Unter Bezugnahme auf die Untersuchungen, die in diesem Archiv, 
Jahrgang 1916, S. 40, bereits die Einwirkung der Salzsäure auf das 
Holz zum Gegenstand gehabt haben, ist es jetzt möglich, sich eine 
nähere Vorstellung von der Wirksamkeit derartiger Aufschlußverfahren, 
insoweit sie Salzsäure in wässeriger Anwendung oder in Dampfform be- 
nutzen, zu machen. Bei der Behandlung mit Salzsäuredampf in der 
Kälte hatte ich festgestellt, dab dabei eine allmähliche Verfärbung des 
Birkenholzmehles eintritt, erst wird es gelblich, dann werden verschiedene 
braune Töne bis zu schwarzer Färbung, ähnlich wie Tierkohle, erhalten. 


Die Farbe gibt einen annähernden Anhaltspunkt für den Grad der 
Einwirkung, zwei Prozesse hat man zu unterscheiden. 


Läßt man die Salzsäure nur bis zu schwacher Einwirkung gehen, so 
bleibt die Zellulose selbst unberührt, von einer Aufschließung der 
Zellulose kann dabei nicht die Rede sein. Daneben entstehen aber in 
Wasser und Alkohol lösliche Produkte mit brauner Färbung, welche, von 
Säure befreit und eingedickt, eine schwarze Masse darstellen, vielleicht 
also nichts anderes sind, als jene schwarzen Produkte, welche bei langer 
Einwirkung der Salzsäure die ganze Holzmasse in Kohle zu verwandeln 
scheinen. Zieht man das Holz vorher mit Ammoniak in der Wärme aus, 
so verfärbt es sich nachträglich mit CIH-Dampf nicht mehr. Da die 
Lignine dabei in Lösung gehen, so könnten letztere das zuerst ange- 
griffene Material darstellen, doch werden auch Pentosane durch NH, in 
Lösung gebracht. Als Produkt einer solchen schwachen Einwirkung von 


26 Max RUBNER: 


Wasserdampf und Salzsäuredampf ist das Schwalbesche Holzmehl zu 
betrachten. Das unveränderte Material hierzu kam nicht in meine Hände. 
Die Zusammensetzung des aufgeschlossenen Materials entspricht aber ganz 
den oben gegebenen Schilderungen. 

In diesem Präparat treten auch in erheblicher Menge in Wasser und 
Alkohol lösliche Produkte auf, die in dem ursprünglichen Holz wenigstens 
nieht in gleichem Umfang vorhanden gewesen sein können. Sie betragen 
35-4 bis 25-1 Prozent, also nicht weniger als ein Viertel der ganzen Masse.. 
Damit wird der Verdaulichkeitscharakter des Produktes wesentlich ver- 
ändert. Sie erklären auch hier, wie schon oben S. 24 näher zahlen- 
mäßig dargelegt ist, die Resorbierbarkeit, während die Zellmembran selbst 
geradezu recht ungünstig verwertet wird. Der Verlust war 67-3 Prozent 
für die Gesamtkalorien, zum Teil bedingt durch Mehrung der Stofi- 
wechselprodukte, welche die sonst begünstigste Resorption durch die in 
Wasser löslichen Produkte wieder etwas ausgleichen. Der Verlust der 
Zellmembran selbst war 67-7 Prozent, während z. B. unverändertes 
Birkenholz nur 55-8 Prozent Verlust gibt. | 

Wie die Spaltung des Holzes im einzelnen verläuft, läßt sich 
genau bei dem Präparat Pauly verfolgen, bei welchem ich das Aus- 
sangsmaterial und die Endprodukte nach denselben Methoden unter- 
sucht habe. 


Im Präparat 
Birkenmehl In 100 Teilen aa: 


i N Birkenmehl Differenz 
In 100 Teilen organisch nach Pauly 
NSCHernE PR 0-64 — — — 
Örganisches . . . . 99-34 100 100 = 
IN ER RR 0-11 0-12 0-27 + 0-52 (Prot.) 
IDertosan 28-21 28-44 26-45 —99 
Zellmembran . . . 91-07 91-64 70-07 — 21-61 
Zelluloses a ME E26 41-54 41-23 40-5 
Pentosan . . .. 24-35 24-31 11-16 — 13-19 
Preste MI MEERE DEGG 25-83 17-68 — 8-15 
Verbrennungswärme 458-2 461-2 455-9 — 5-3 
Iboslichun2 0. Amer _ 7-58 28-56 +20-98 


Die Zahlen sind auf organische Substanz umgerechnet, weil kleine 
Differenzen im Aschegehalt vorlagen. Faßt man das Gesamtresultat der 
Veränderungen zusammen, wie es in der Verbrennungswärme sich aus- 
drückt, so sind diese äußerst gering, denn 


VERDAULICHKEIT DES MIT SÄUREN AUFGESCHLOSSENEN HOLZMEHLES. 27 


WesBirkenkolzaltelerule 7... ..,.0.0. 020. 4.612 kg-cal. 
1 g aufgeschlossenes Holz liefert .. . . . 4.559 kg-cal. 


Verloren ging etwas Pentosan, letzteres wird durch Säuren leicht 
verändert und über Furfurol weiter gespalten; einer solchen Spaltung 
entspricht auch ungefähr. der hier gefundene Verlust an Verbrennungs- 
wärme. Im übrigen treten kaum Stoffe aus. Von der Zellmembran wird 
erheblich viel löslich und liefert die in Wasser und Alkohol aufnehmbaren 
Produkte. Die Zellulose wird aber nicht aufgeschlossen, wenigstens nicht 
im Sinne einer Veränderung ihrer wesentlichen Eigenschaften, die 
Pentosane wurden zu mehr als zur Hälfte aus der Zellmembran heraus- 
genommen, dazu noch Substanzen, die vielleicht Hexosane und Lignin- 
substanzen sind, denn sie entstammen dem „Rest“, d. h. hauptsächlich 
in Ammoniak löslichen Gruppen. Dies Verhalten zeigt, dab Pentosane 
und Restsubstanzen zum erheblichen Teile so in der Zellmembran verteilt 
sein müssen, daß sie für die benetzende verdünnte Säure leicht zugäng- 
lich sind. 


Über die Zusammensetzung der löslichen Substanzen besagt der Ver- 
such mit verdünnter CIH folgendes: Ursprünglich waren im Birkenholz 
7-58 Teile Lösliches mit 4-13 g Pentosan, d. h. mit 54-5 Prozent von 
letzterem. Durch Salzsäure wurden gelöst 28-56 Teile, wozu noch 
1-99 Teile Pentosan kommen, welche zerstört wurden = 30-55 Teile. 
In diesen waren gelöst inklusive des zerstörten Pentosan 17-28 g, ab 
7-58 ursprünglich Gelöstes und 4-13 g Pentosan, bleiben 22-97 g gelöst 
durch Säurewirkung mit 13-15 g Pentosan = 57:1 Prozent Pentosan. 


Die aufgelöste Substanzmischung ist also ganz ähnlich der schon vor- 
her in Wasser und Alkohol löslichen Substanz und besteht aus etwa mehr 
als der Hälfte Pentosan. Dies Gemisch ist, wie oben gezeigt wurde, leicht 
resorbierbar. 


Wahrscheinlich entfalten diese Spaltungsprodukte aber nebenbei teils 
einen nachteiligen Reiz auf den Darm, teils auch eine desinfizierende 
Wirkung, denn die starke Verminderung der Zelluloseverdaulichkeit und 
der Zellmembranverdaulichkeit überhaupt weist auf eine Schädigung der 
Bakterienflora hin. Da stets Pentosane durch Säuren angegriffen werden, 
so ist die Bildung von Furfurol möglich, dieses aber bekanntlich eine 
Substanz, die schon in kleinen Mengen reizend auf die Schleimhaut wirkt. 

Läßt man Salzsäuredampf sehr lange einwirken, so kommt es zu 
‚einer weitgehenden Zerstörung der Zellulose und Pentosane. Die Substanz 
sieht jetzt aus wie Ruß. Ein Vergleich des Ausgangsmaterials und der 
Endprodukte ergibt für 100 Teile: 


28 Max RUBNER: 


Mit CIH-Dampf 
Birkenholz behandelt 


Asche@ ee: 220 2-62 — 
Orsanisches 3 97-4 97-38 — 
Bentosaumerr rer 31-9 9.61 —22-3 
Zellmembran . . .. 94-4 70-66 | 
Zellulose der Zellm. 35-2 24-35 m) 
Pentosan ,, in 25-0 3-43 — 21:6 
Rest in st 34-2 49.88 + 8-7 
Verbrennungswärme . 400-9 398-5 — 
osliches er 2-8 26-72 +23-9 


Die Zerstörung betraf Pentosane, aber auch die Zellmembran, und 
daraus entstanden Produkte, welche die Restsubstanz der Zellmembran 
und vor allem die löslichen Produkte vermehren, die aber nur etwa 
33 Prozent Pentosan enthalten. 

Ein Vergleich der Zusammensetzung der Zellmembran ergibt für 
100 Teile: 


Im Holz Im CIH-Präparat 
Tiellulosem u Se 37-29 34-46 
Bentosan an 26-48 4-86 
Rest 1 30 TR 36-23 60-68 


Die Produkte, welche die Restsubstanzen ausmachen, haben bei dem 
CIH-Präparat eine weit höhere Verbrennungswärme als Zellulose und 
Pentosane und sind verdaulicher wie jene nach schwacher Einwirkung 
der CIH (1 g Organisches = 4-765 Kalorien). 


Verluste. 
Bei Birke Bei Aufschluß in CIH-Dampf 
An Zellmembran . . 55-8 67-7 
Zelluloses ne 60 100-0 
Pentosan .... 46-3 86-6 
Restsubstanz . . 98-5 40-4 


Hier kann man zwar bis zu einem gewissen Grad von einer Auf- 
schließung der Zellmembran sprechen, wobei sicher Zellulose auch ver- 
dauliche Spaltprodukte geliefert hat, aber die Zellulose selbst ist noch 


* Auf gleichen Aschegehalt gerechnet; einzelne Proben des anscheinend 
gleichen Materials hatten schwankenden Aschegehalt. 
® Organisches abzüglich Zellmembran. 


VERDAULICHKEIT DES MIT SÄUREN AUFGESCHLOSSENEN HOLZMEHLES. 29 


unverdaulicher wie bei reinem Birkenholz oder bei wenig mit Säure auf- 
geschlossenem Holz (nach Pauly). Der Gesamteffekt der Aufschließung 
ist, obschon reichlich wasserlösliche Produkte entstanden sind, ge- 
ringer als im ursprünglichen Holz (73-0 Prozent Kalorienverlust gegen- 
über 63-4). 

Die Versuche, Holz durch Säurebehandlung zu einem verwertbaren 
Nährstoff zu machen, sind demnach ohne Erfolg gewesen. Die auftretenden 
Spaltprodukte rühren bei den gebräuchlichen Verfahren nicht aus der 
Zellulose, sondern von ihren Begleitsubstanzen her und benachteiligen die 
Resorption in mäßigem Grade durch Vermehrung der Stoffwechselprodukte 
und behindern die Auflösung der Zellulose im Darm wahrscheinlich durch 
Störung der bakteriellen Prozesse. Daß die Präparate nicht noch un- 
günstiger verwertet werden, verdanken sie dem in Wasser und Alkohol 
löslichen Anteil, der ihnen durch Spaltung der Begleitsubstanzen der 
Zellulose, bei starker Säureeinwirkung allerdings auch aus den Produkten 
der Zellulosezerstörung, zufließt. Man könnte bei diesem Verfahren der 
Aufschließung mit voller Berechtigung nur die löslichen Produkte 
als das Entscheidende ins Auge fassen, denn sie sind offenbar 
wichtiger als ungelöste Anteile der Zellmembran. Dies würde dann weiter 
zu dem Gedanken der Isolierung dieser Produkte führen, ein Verfahren, 
das wegen der Umständlichkeit und den geringen Erträgnissen, auch wohl 
der äußeren Beschaffenheit der Produkte wegen nicht wohl als aussichts- 
reich angesehen werden kann. 


Über das Verhalten von Fischen gegen Wasserschwingungen. 
Von 


Prof. R. du Bois-Reymond 


in Berlin. 


Die Frage, ob die Fische hören, ist bekanntlich viel umstritten. Die 
Entscheidung ist dadurch erschwert, daß erstens keine scharfe Scheidung 
zwischen Schallschwingungen und anderen Erschütterungen besteht, und 
daß zweitens aus dem Verhalten der Fische nicht immer mit Sicherheit 
zu erkennen ist, ob sie einen Reiz wahrgenommen haben oder nicht. 

Den zweiten Fall hat namentlich Yerkes bei seinen Untersuchungen 
über das Hören der Frösche hervorgehoben. Er sagt: „Auf die Frage 
nach dem Hörvermögen der Frösche bin ich erst dadurch gekommen, daß 
es mir gelegentlich einer Arbeit über die Reflexzeit des Wasserirosches 
durchaus nieht gelingen wollte, eine Reaktion auf Schallreiz zu erhalten.“ 

Yerkes bezweifelt dabei keinen Augenblick, daß die Frösche vor- 
trefflich hören, denn er führt als Beweis dafür an, daß sie sich, wie 
jedermann weiß, beim Quaken nacheinander richten. Ferner erwähnt er 
auch, was jeder, der mit Fröschen in ihrer natürlichen Umgebung zu tun 
gehabt hat, bestätigen wird, daß sie, wenn erst einer ins Wasser gesprungen 
ist, nicht mehr am Ufer sitzend zu überraschen sind. Da dies auch in 
solchen Fällen geschieht, wo einer den anderen nicht sehen kann, muß 
geschlossen werden, daß sie das Plumpsen gehört haben. 

Die Untersuchung von Yerkes gilt daher überhaupt nieht der Frage, 
ob die Frösche hören, sondern ob die Frösche auf Schall reagieren. Hier 
kommt er zu folgendem Ergebnis: 

„Mit einer ganzen Reihe verschiedener Geräusche, die der Höhe nach 
von einem tiefen Ton, wie das Quaken eines Ochsenfrosches, bis zu einem 
schrillen Pfiff, und der Stärke nach vom Fallen eines Steinchens bis zum 
Knall einer Pistole abgestuft waren, wurden Versuche gemacht, die Ein- 
wirkung auf Frösche in ihrer natürlichen Umgebung festzustellen. Auf 
keinen einzigen Schallreiz habe ich je eine Bewegung erfolgen sehen.‘ 


_R. ou Boıs-ReyMoND: ÜBER DAS VERHALTEN VON FISCHEN USW. 3l 


Im weiteren Verlauf seiner Abhandlung beschreibt dann Yerkes! eine 
Reaktion auf Schallreiz, die nicht in Bewegung, sondern im Gegenteil in 
Bewegungshemmung besteht, und deutet an, daß der Schalleindruck nach 
Art eines Warnungszeichens das Tier in einen regungslosen ‚‚Bereitschafts- 
zustand“ versetzen Könne. 

Dieselben Anschauungen spricht Puetter? aus, wenn er sagt: 


„Wir schließen auf den Eintrit eines Erregungszustandes in Sinnes- 
organen meist aus der motorischen Reaktion, die derselbe auslöst. 


Im positiven Fall ist dies Kriterium ja ohne weiteres brauchbar, bei 
negativem Ausfall wird aber die Frage zu erörtern sein, ob das Aus- 
bleiben des Erfolges wirklich auf einer Unfähigkeit beruhte, den Reiz in 
einem Sinnesorgan zu rezipieren oder ob in dem zentralen oder motorischen 
Teile des Reflexbogens Bedingungen gegeben waren, die einen äußerlich 
sichtbaren Effekt nicht zustande kommen ließen, bzw. ob sich der 
motorische Apparat in einem besonderen Zustand befinden muß, um die 
motorische Reaktion zu ermöglichen.‘ 


Demnach ließe sich sehr wohl annehmen, daß bei den Versuchen über 
das Hören der Fische derselbe Fall vorliege wie bei den Versuchen, über 
die Yerkes berichtet hat; daß nämlich, um mit Puetter zu reden, die 
Fische den Schallreiz zwar rezipieren, ihr motorischer Apparat sich aber 
nicht in dem Zustande befindet, der eine motorische Reaktion ermöglicht. 
Dabei wäre nach meiner Auffassung noch hervorzuheben, daß weder 
Yerkes noch Puetter einen Unterschied zwischen motorischer Reaktion 
und Reflex machen, obwohl doch nicht jede Bewegung auf Schalleindruck 
notwendig eine Reflexbewegung zu sein braucht. Ich möchte glauben, 
ein eigentlicher Reflex auf Schallreiz werde sich bei den Fischen schon 
deswegen nicht haben ausbilden können, weil die Schalleindrücke ihnen 
nur in seltenen Fällen unmittelbar drohende Gefahr anzeigen dürften. Es 
kommt für die Fische ganz auf die Bedeutung des Geräusches an. 


Ähnlich äußert sich Edinger?® dahin, daß bei diesen Versuchen 
hauptsächlich auf die Wahl des Schallreizes Gewicht gelegt werden müsse: 
„no scheint mir heute die Frage nicht mehr: Hören die Fische?, sondern: 
Was hören die Fische? Zu ihrer Beantwortung muß man biologische und 
nicht fremdartige physikalische Reize anwenden.“ 


Die Beobachtung, über die ich berichten will, entspricht zwar durch- 


1 Yerkes, The Sense of Hearing in Frogs. Journ. of Comp. Neurol. and 
Psychol. 1905. Vol. XV. p. 279. 

2 Puetter, Vergl. Physiol. Jena 1911. S. 605. 

3 Rdinger, Über das Hören der Fische usw. Zentralbl. f. Physiol. 1908. 8.1. 


32 R. pu Bois-REyMonND: 


aus nicht dieser Forderung, sie zeigt aber sehr deutlich, daß nicht jeder 
Schallreiz geeignet ist, erkennbare Reaktionen hervorzurufen. 

Zu technischen Zwecken, die hier nicht in Betracht kommen. werden 
Vorrichtungen gebaut, in denen Stahlplatten von 6 mm Dicke und etwa 
45 cm Durchmesser durch einen Elektromagneten, der mit dem Strom 
einer dynamoelektrischen Maschine betrieben wird, in Schwingungen von 
ungefähr 0-1 mm Amplitude versetzt werden. Die Frequenz der Schwin- 
eungen betrug in unserem Falle gegen 1000. Die Amplitude war, da die 
Maschine nicht den vollen Strom gab, nur einige Hundertstel Millimeter. 
Die Schwingungen der Platte in Luft sind dem menschlichen Ohr weithin 
als ein hoher Ton vernehmbar. Der Klang ist dem einer ziemlich hohen 
Dampfpfeife oder dem Quietschen der Straßenbahn in der Kurve sehr 
ähnlich. Dasselbe Geräusch, nur etwas weniger laut, entsteht, wenn die 
Stahlplatte unter Wasser schwingt. In diesem Falle pflanzt sich der 
Schall unter Wasser fort und geht auch in die Luft über. 

Zufällig bot sich mir die Gelegenheit, das Verhalten von Fischen zu 
beobachten, die sich in einem See freiwillig in der Nähe der schwingenden 
Stahlplatte aufhielten. 

Die Platte war mit ihrer Außenfläche nach oben durch eine brunnen- 
schachtartige Öffnung unter den Boden eines Schiffes herabgelassen 
worden, so dab sie sich etwa 0-8 m unter dem Wasserspiegel und 0-2 m 
unter dem Schiffsboden befand. Die Klarheit des Wassers und seitlich 
einfallendes Sonnenlicht gestatteten, selbst auf dem Grunde in 2m Tiefe 
deutlich zu sehen. Unter dem Schiffsboden standen immer kleine Barsche 
in großer Zahl, die fortwährend die Lücke im Schifisboden durchkreuzten. 

Jedem, der eine Weile zusah, mußte auffallen, daß die Fische sich 
gar nicht darum zu kümmern schienen, ob die Stahlplatte in tönender 
Schwingung war oder nicht. Da aber schon einige Monate lang die Vor- 
richtung an derselben Stelle wiederholt in Tätigkeit gewesen war, durfte 
man annehmen, die Fische seien völlig daran gewöhnt. 

Trotzdem war zu erwarten, daß sie nicht ganz unerregt bleiben 
könnten, wenn der durchdringende Schall unmittelbar in ihrer nächsten 
Nähe plötzlich losbräche. Um dies erproben zu können, wurde ein Schalter 
unmittelbar neben dem Schacht auf dem Schiffe angebracht, so dab man 
die Fische beobachten und im geeigneten Augenblick den Strom ein- 
schalten konnte, der die Platte zum Tönen brachte. Um die Fische an- 
zulocken, wurden einige Regenwürmer auf der Platte selbst ausgestreut. 

Selbst unter diesen Bedingungen blieb aber das Ergebnis der Beob- 
achtungen völlig negativ. Wenige Zentimeter über der Platte schwammen 
die Fische ruhig und langsam hin, obgleich der Strom plötzlich eingeschaltet 


ÜBER DAS VERHALTEN VON FISCHEN GEGEN WASSERSCHWINGUNGEN. 33 


wurde und der Schall, wie der einer Dampfpfeife, einen Kilometer in der 
Runde zu hören war. 

Der Gesamteindruck aus meinen Beobachtungen, wie er an Ort und 
Stelle niedergeschrieben wurde, war folgender: 

„Gruppen und einzelne Fische, die unten herumschwimmen, verhalten 
sich ganz gleichgültig. Die, die höher schwimmen, scheinen allmählich zu 
reagieren, in der Weise, als sei ihnen der Eindruck unheimlich. Da sie 
aber an dieser Stelle überhaupt vorsichtiger sind. ist das nicht maß- 
sebend. Auch unmittelbar über der Platte fliehen sie nicht reflektorisch, 
wenn eingeschaltet wird.“ 

Man könnte fragen, was hieran Auffallendes sei, da doch schon des 
öfteren die Fische überhaupt für taub erklärt worden seien. Das Auf- 
fällige liest darin, daß es sich in diesem Falle um einen Reiz von ganz 
überwältigender Stärke gehandelt hat. Frühere Untersucher waren meist 
ängstlich darauf bedacht, jede Erschütterung des Wassers durch die Schall- 
quelle zu vermeiden. In unserem Fall war der Schall so stark, daß er, 
wie gleich berichtet werden wird, eine sehr merkliche Erschütterung des 
Wassers verursachte, und trotzdem waren die Fische anscheinend ganz 
gleichgültig dagegen. 

Wenn man beim Schwimmen, 5m und weiter von der Schallquelle 
entfernt, die Ohren unter Wasser brachte, war der Ton so laut, daß es 
unangenehm war, ihn länger als einige Sekunden zu ertragen. Schon 
daraus ließ sich ermessen, daß in unmittelbarer Nähe der Platte ein 
außerordentlich starker Eindruck entstehen müsse. Tatsächlich fühlte ich 
mich, als ich nahe an der tönenden Vorrichtung den Kopf unter Wasser 
steckte, sogleich genötigt, wieder aufzutauchen. Die Empfindungen, die 
mich dazu zwangen, sind schwer zu beschreiben: ein dröhnendes und zu- 
gleich schneidendes Geräusch machte den ganzen Kopf erzittern und 
erweckte die Vorstellung, als würden Teile des Schädels gewaltsam gegen- 
einander verschoben und insbesondere die Zähne des Oberkiefers aus ihren 
Alveolen herausgeschütteltl. Da unter diesen Umständen ersprießliche 
Selbstbeobachtung nicht möglich war, gab ich diese nach einigen Proben auf. 

Dab bei diesem Eindruck nicht nur die Schallempfindung, sondern 
auch die Erschütterung durch Wasserwellen mitwirkte, ergibt sich aus 
folgenden weiteren Beobachtungen: wenn man die Hände etwa 30 cm 
über der inzwischen der Wasseroberfläche auf etwa 50.cm genäherten 
schwingenden Platte ins Wasser brachte, fühlte man ein starkes Prickeln 
wie von Faradischem Strom. Es handelte sich aber nicht etwa um 
vagabundierende Ströme, denn die ganze Vorrichtung war äußerst sorg- 


fältig isoliert und in wochenlangem Gebrauch genau geprüft. Die Emp- 
Archivf, A,u: Ph. 1917. Physiol. Abtlg. 3 


34 R. pu Boıs-ReyMmonp: 


findung rührte vielmehr davon her, daß beim Eintauchen die Hände 
nicht vollständig benetzt waren und daß an allen Stellen, wo eine Luft- 
schicht an der Haut haftete, die Schallschwingungen des Wassers Ver- 
schiebungen der Grenzfläche zwischen Luft und Wasser bewirkten, die 
dann die prickelnde Empfindung hervorriefen. 

Stellte ich mich im Wasser mit bloßen Füßen auf die schwingende 
Platte, so fühlte ich erstens die Schwingungen der Platte selbst und 
außerdem entstanden alsbald in dem zwischen Fußsohlen und Platte ein- 
seschlossenen Wasser Luftblasen, die die beschriebene Empfindung, ähn- 
lich dem Prickeln eines Faradischen Stromes, hervorbrachten. 

Sobald durch längeres Eintauchen die Haut vollständig benetzt war, 
war von der Erschütterung des Wassers nichts mehr wahrzunehmen. 

Bestünde der Körper der Fische, ebenso wie die Hand des Menschen, 
ausschließlich aus wasserhaltigem Gewebe, so könnte man annehmen, daß 
die Fische von den Schallwellen ebensowenig fühlen wie die benetzte 
Hand. Da aber der Fisch eine Schwimmblase enthält, so müssen so 
starke Schallwellen, wie die in unserem Fall, sich dem Fisch ebenso 
bemerkbar machen wie dem Menschen, der Luftblasen an der Hand hat. 
Dies ist nicht bloß eine theoretische Spekulation, sondern die Vorgänge 
an der Grenzfläche von den Luftblasen im schwingenden Wasser sind an 
mehreren höchst überraschenden Erscheinungen überaus deutlich zu be- 
merken. 

Kleine Luftblasen, von Erbsen- oder Kirschkerngröße, verhielten sich 
in dem schwingenden Wasser ganz anders als gewöhnliche Luftblasen. 
Sie sahen nicht glänzend durchsichtig aus, sondern neblig oder milchig 
trübe, und sie perlten nicht zur Oberfläche hinauf, sondern strebten an 
feste Gegenstände, wie die schwingende Platte unter ihnen oder die 
Hände und andere Körperteile des Beobachters, heranzustrudeln, an denen 
sie dann festklebten. Man konnte infolge dieses sonderbaren Verhaltens 
die Luftblasen wie Stücke einer schleimigen Masse zwischen den Fingern 
halten und aus einer Hand in die andere nehmen. Die Druckempfindung, 
die eine kirschkernsroße milchweiße Luftblase auf der darunter befind- 
lichen Handfläche hervorrief, war etwa der zu vergleichen, die ein gleich 
grober Tropfen Quecksilber verursachen würde. 

Alle diese Erscheinungen sind darauf zurückzuführen, daß die Schall- 
schwinsüngen des Wassers beträchtliche Volumschwankungen und Form- 
änderungen an den Luftblasen hervorbringen, indem sie sie gleichsam 
„pulsieren“‘ machen. Bei dieser fortwährenden schnellen Verschiebung 
kann natürlich die Grenzfläche zwischen Wasser und Luft nicht scharf 
gesehen werden, und die Luftblase muß daher neblig oder trübe erscheinen. 


ÜBER: DAS VERHALTEN VON FISCHEN GEGEN WASSERSCHWINGUNGEN. 35 


Hierbei. sind übrigens sicher noch andere Bewegungen im Spiele als bloße 
Pressung und Entlastung. Wenn nämlich die schwingende Platte nahe 
an die Oberfläche des Wassers gebracht wird, entstehen auf der Ober- 
fläche Kräuselungen, die augenscheinlich größere Amplituden haben als 
die Platte selbst. Ähnliches mag bei den Luftblasen stattfinden, so daß 
ihre -Oberfläche in verhältnismäßig sehr starke Bewegung kommt. 

Der Umstand, daß die Luftblasen nicht aufsteigen, sondern sich an 
feste Oberflächen anzudrücken streben, beruht offenbar auch auf der 
„„Pulsation“ der Luftblasen und bildet ein Seitenstück zu den Erschei- 
nungen, die vor 18 Jahren Hensen! entdeckt hat. Hensen zeiste, daß 
schwingende Flächen in Wasser oder Luft feste Körper, die sich in ihrer 
Nähe befinden, selbst gegen beträchtliche Widerstände an sich heran- 
ziehen. Diese Angabe paßt nur auf einen Teil der im vorstehenden be- 
schriebenen Vorgänge. Die von Hensen entdeckte Anziehung der 
schwingenden Platte kann dem Auftrieb der Luftblasen das Gleichgewicht 
halten und verhindern, daß sie zur Oberfläche emporsteigen. Das würde 
auch der Fall sein können, wenn die Luftblasen nicht pulsierten. Durch 
das Pulsieren aber erhalten, wie mir scheint, die Luftblasen außerdem 
die Eigenschaft, sich festen Flächen gegenüber so zu verhalten, wie in 
Hensens Versuchen der feste Körper gegen die schwingende. Platte 
(vgl. beistehendes Schema). Nach dieser Hypothese wäre die ‚Klebrig- 


A. Fester Körper und schwingende Platte. B. Pulsierender Körper und feste Platte. 


keit“ der Luftblasen im schwingenden Wasser ein weiterer Beweis für 
ihre Pulsation. 

 Nachzutragen wäre noch, daß die beschriebenen Erscheinungen nur 
an Luftblasen von etwa der angegebenen Größe zu beobachten waren. 
Drückte man mit der hohlen Hand größere Luftmengen unter Wasser, 
so entwich der größte Teil in der gewöhnlichen Weise an die Oberfläche, 
und es blieb nur ein kleiner Teil in ‚‚milchiger‘“ Form zurück. 


! Hensen, Über die akustische Bewegung in dem Labyrinthwasser. Münchener 
med. Wochenschr. 1899. S. 444. 
3* 


36 R. ou Boıs-REyMoND: ÜBER DAS VERHALTEN VON FISCHEN USW. 


Wenn an der Grenzfläche von schwingendem Wasser und Luft so 
deutlich merkbare Verschiebungen auftreten, ist es unverständlich, daß 
die Fische davon keine Wahrnehmung haben sollten. Um mir darüber 
ein Urteil zu bilden, machte ich den Versuch, mich selbst mit dem ganzen 
Körper der stärksten Einwirkung der Schallwellen auszusetzen, um zu 
erfahren, ob sich die grob mechanische Wirkung der Schwingungen be- 
merkbar mache. Ich legte mich in rückwärts geneigter Stellung über der 
schwingenden Platte ins Wasser und empfand sogleich eine eigentümlich 
zusammenschnürende Erschütterung im unteren Teil der Wirbelsäule. 
Beim Ausschalten des Stromes verschwand sie sogleich und kehrte beim 
Einschalten wieder. Bei Wiederholung dieser Probe glaubte ich zu spüren, 
daß die Empfindung von einer Erschütterung der Baucheingeweide, ins- 
besondere des untersten Teiles des Colon, herrühre, die, nachdem mir 
einmal diese Lokalisation bewußt geworden war, immer deutlicher wurde. 
Die Empfindung entsprach ganz der bei dem sogenannten ‚„‚Gurren“ des 
Darmes. Sie entstand und verschwand regelmäßig mit dem Einschalten 
und Ausschalten des Stromes, der die Stahlplatte in Schwingungen ver- 
setzte. Offenbar wurde also durch die Schwingungen des umgebenden 
Wassers eine ‚„‚Pulsation‘“ der im Darm eingeschlossenen Gasblasen herbei- 
geführt. 
Entsprechende Einwirkungen auf den Luftraum in den Lungen konnte 
ich nieht wahrnehmen, doch mag dies daran liegen, daß ich die Brust 
der schwingenden Platte nicht so nahebringen konnte wie den unteren 
Teil des Leibes. 

Sehr auffällig war nun, daß selbst bei den Versuchen, in denen der 
Schalter wiederholt geöffnet und geschlossen wurde und dementsprechend 
das Gefühl des ‚‚Gurrens im Leibe“ wiederholt hervorgerufen wurde, jedes. 
sinnliche Gefühl für den Zusammenhang so gänzlich fehlte, daß die Er- 
schütterung durchaus nur als ein innerer Vorgang zum Bewußtsein kam. 
Die ‚exzentrische Projektion“, die sonst eine so große Rolle in der 
subjektiven Deutung von Sinneseindrücken spielt, versagte hier ganz 
und gar. 

Darin scheint mir ein Fingerzeig zu liegen, wie die Unerregbarkeit 
der Fische gegen so mächtige Einwirkungen wie die der beschriebenen. 
Schallwellen zu erklären sein mag. Ganz in Wasser eingeschlossen, machen 
sie dessen Schwingungen gewissermaßen ganz mit, und nehmen die daraus 
entstehenden Sinneseindrücke nur als innere Vorgänge wahr. Daß ein 
innerer Vorgang keine Reaktion, keine Fluchtbewegungen auslöst, ist klar. 


Über den Gang mit künstlichen Beinen. 
Von 
Prof. Renö du Bois-Reymond 


in Berlin. 


Erster Abschnitt: 


Beschreibung des Untersuchungsverfahrens 
nebst einer Bemerkung zur Lehre von dem normalen Gange. 


1. Zweck der Untersuchung. 


. Man kann darüber streiten, ob die Gangbewegung von Amputierten 
mit künstlichen Prothesen ein Gegenstand pathologischer oder physio- 
logischer Forschung ist. Es wird dabei darauf ankommen, in welchem 
Maße die künstlichen Beine die natürlichen ersetzen können. Je voll- 
kommener das geschieht, desto mehr wird sich der ganze Vorgang dem 
normalen physiologischen Gehen annähern. Die Untersuchung lehrt nun 
zwar, daß sich diese Annäherung in gewissen Grenzen hält, aber sie 
führt zugleich auf einige Tatsachen, die unstreitig ins Gebiet der Physio- 
logie fallen und die ganze Untersuchung als eine physiologische kenn- 
zeichnen. 

Um den Gang der Kunstbeinträger zu beurteilen, hat man sich bis- 
her im allgemeinen nur des einfachen Anschauens befleißist. Es kann 
aber kein Zweifel darüber sein, daß dies Verfahren sehr wenig geeignet 
ist, die Gehbewegungen so zu erkennen, wie sie wirklich sind. Dies hat 
sich in der Geschichte der Forschung wiederholt unverkennbar erwiesen. 
Ausgezeichnete Beobachter, wie Colin, H. Munk und andere, haben sich, 
sogar mit Zuhilfenahme von allerhand Kunstgriffen, bemüht, die Reihen- 
folge zu bestimmen, in der das Pferd beim Galoppieren die Beine bewegt, 
und sind nicht zum Ziel gekommen. Die Gebrüder Weber, die mit 
bewundernswertem Eifer und Fleiß die Gehbewegungen des Menschen zu 
erforschen trachteten, haben in wesentlichen Punkten den wahren Tat- 
bestand verkannt. Als die Augenblieksphotographie zuerst die wirklichen 


38 R. pu Bois-REyMonD: 


Stellungen galoppierender Pferde und gehender Menschen enthüllte, 
herrschte allgemeines Erstaunen. Noch heute fallen die Stellungen der 
gehenden Menschen etwa auf Augenblieksaufnahmen belebter Straßen 
jedem Beschauer auf. Was von der Untersucdung des normalen Ganges 
gilt, betrifft natürlich auch den Gang der Kunstbeinträger. Dies wird 
auch allgemein zugestanden. Gocht führt z. B. das Urteil Astley 
Coopers an, daß es unmöglich sei, bei gewöhnlichem Gange zu unter- 
scheiden, ob sich das Fußgelenk bewege oder nicht. Man wird also die 
Abweichungen des Kunstbeinganges vom normalen Gang, die Unter- 
schiede, die durch verschiedenen Bau der Kunstbeine bedinst werden, 
und die individuellen Eigentümlichkeiten des Ganges nur durch besondere 
Hilfsmittel für die Beobachtung, am besten durch ein potogrammetrisches 
Verfahren feststellen können. 


2. Der „dynamometrische Steg“ von Amar. 


In Frankreich, wo, ebenso wie hier, wegen der großen Zahl der 
Kriegsverletzten zurzeit zahlreiche Techniker und Ärzte sich mit der Ver- 
besserung der künstlichen Glieder beschäftigen, hat man dies anscheinend 
früher als in Deutschland erkannt, denn schon im Juli 1916 ist in den 
„Comptes rendus“ der Parier Akademie die Beschreibung einer Vor- 
richtung erschienen, die der bekannte Forscher auf dem Gebiete der 
Arbeitsphysiologie, Amar, erfunden hat, um die Gehbewegungen Ampu- 
tierter mit Ersatzbeinen zu untersuchen.” In einer deutschen Bericht- 
erstattung heißt es darüber: ‚Die Vorrichtung gestattet einerseits das 
Studium des sogenannten pathologischen Ganges und eine Kontrolle der 
Fortschritte beim Verwenden der verschiedenen Ersatzmethoden, sowie 
andererseits ganz unzweideutig die Vorteile oder auch Nachteile der ver- 
schiedenen vorgeschlagenen Stelzfüße oder auch künstlichen Füße einwand- 
frei festzustellen.“ Die Vorrichtung besteht aus zwei schmalen Laui- 
brettern, die nebeneinander so angebracht sind, daß beim Hinübergehen 
der eine Fuß nur das eine, der andere nur das andere Brett betritt. 
Beide Bretter sind, ähnlich wie die Lastbrücke einer Brückenwage, jedes 
in einem Hebelwerk aufgehangen, das nach den drei Dimensionen des 
Raumes mit starker Federung nachgibt. Die Bewegung der Bretter wird 
durch acht Luftschlauchleitungen auf ein Schreibwerk übertragen, das die 
Größe des von den Füßen nach unten, nach vor- oder rückwärts und 
nach rechts oder links ausgeübten Druckes in Kurveniorm aufzeichnet. 


! H. Gocht, Künstliche Glieder. Stuttgart 1907. S. 28. 
® Compt. rend. T. CLXV. No. 5. p. 130. - 


ÜBER DEN GANG MIT KÜNSTLICHEN BEINEN. 39 


Es leuchtet ein, daß man mit dieser Vorrichtung alle Unregelmäßigkeiten 
des Ganges, insbesondere auch die seitlichen Schwankungen, überaus 
deutlich erkennen muß und daß sie, wenn sie nur einigermaßen zuver- 
lässig und fein arbeitet, den mit ihrem Bau beabsichtigten Zweck in 
befriedigendem Maße erfüllen muß. Die Kurven, die das ‚‚Trottoir 
dynamometrique“ liefert, wären ein Mittel, die Vergleichung zwischen 
verschiedenen Gangbewegungen viel sicherer und feiner zu gestalten, als 
die bloße Beobachtung es vermag. (Vgl. Fig. 1.) 


Fig. 1. 


Leider sind, soweit mir bekannt, Ergebnisse dieses Verfahrens oder 
auch nur Proben von den Kurven bisher nicht veröffentlicht worden. 

Einen Nachteil des Verfahrens kann man darin sehen, daß es die 
Form der Bewegungen nicht erkennen läßt. Dem steht aber der Vorzug 
gegenüber, daß man die wirksamen Kräfte, die man aus der Bewegungs- 
form erst mühsam ableiten muß, unmittelbar aufgezeichnet erhält. 


3. Vorzüge des photogrammetrischen Verfahrens von Fischer. 


Von der Erfindung Amars bekam ich erst im November 1916 Nach- 
richt, als ich mit photographischen Aufnahmen des Kunstbeinganges schon 
begonnen hatte. 

Die Augenblicksphotographie ist unstreitig das einfachste und leistungs- 
fähigste Hilfsmittel zur Untersuchung von Bewegungen. Bei weitem die 
vollkommenste Analyse der Gangbewegung sowohl in bezug auf die Form 
wie auf das Spiel der Kräfte hat bekanntlich der jüngst verstorbene 
Leipziger Professor Otto Fischer ausgeführt. Seine gemeinsam mit dem 


40 R. pu Boıs-REyMmonD: 


Anatomen Braune begonnene und leider unvollendet gebliebene Arbeit 
„Der Gang des Menschen‘ beruht auf einer außerordentlich genauen 
kinematographischen Aufnahme der Bewegungen aller einzelnen Abschnitte 
des gehenden Körpers, die es gestattet, die Geschwindigkeit, die jeder 
einzelne Körperteil in jedem gegebenen Augenblick hat, und mithin auch 
die Beschleunigung oder Verzögerung seiner Geschwindigkeit zu bestimmen. 
Diese Beschleunigungen und Verzögerungen sind aber der Ausdruck der 
auf die Körperteile wirkenden Kräfte, und so gelangt Fischer zu einer 
genauen Berechnung der Kräfte, die während des Gehens auf jeden 
Körperteil wirken. Diese Kräfte sind zum Teil äußere, wie die Schwere, 
der Widerstand des Bodens und der Luft, zum Teil innere, wie die 
Muskelkräfte. Wenn die äußeren Kräfte bekannt sind, wie das von der 
Schwere gilt, oder den inneren gleich, wie das von den Bodenkräften 
gilt, kann die Größe der Muskelkräfte aus der Form der Bewegung ab- 
geleitet werden.* In der Bestimmung der Bewegungen hat Fischer einen 
Grad von Genauiekeit erreicht, der geradezu als vollkommen gelten, 
weil er über das Maß dessen, was von einer solchen Messung vernünftiger- 
weise gefordert werden kann, ein gutes Stück hinausgeht. Diese erstaun- 
liche Genauigkeit beruht auf folgenden Einzelheiten des Verfahrens: 
1. Anstatt den ganzen Körper in den verschiedenen aufeinander folgenden 
Stellungen auf verschiedene Platten zu photographieren, wie es bei kine- 
matographischen Aufnahmen geschieht, wird der ganze Ablauf der Be- 
wegung auf einer und derselben Platte aufgenommen. Dies hatte schon 
Marey getan und dabei die Aufnahme auf einzelne, durch glänzende 
Bänder hervorgehobene Stellen des Körpers beschränkt. So hatte er eine 
sehr übersichtliche Darstellung von Bewegungsvorgängen erreicht. Auf 
die Übersichtlichkeit kam es zwar für Fischer nicht an, aber er nahm 
Mareys Verfahren an, weil man auf einer einzigen Platte sehr viel 
genauer mesen kann als beim Vergleich mehrerer Platten untereinander. 
2. Während Marey die wiederholte Exposition durch einen Revolver- 
verschluß an der Kamera bewirkte, verlegte Fischer gleichsam den Ver- 
schluß in das: Objekt selbst, indem er statt der Mareyschen Bänder an 
den Gliedmaßen seiner Versuchsperson gerade Geisslersche Röhren be- 
festigte, die durch eine Folge von Induktionsschlägen etwa 20mal in der 
Sekunde leuchtend gemacht wurden und dazwischen dunkel blieben. 
Die ganze Aufnahme ging in halbdunklem Raume vor sich, so daß nur 
die Abbildungen der Röhren in den Stellungen, die sie jeweils während 


! W. Braune und O. Fischer, Der Gang des Menschen. Abhandl. d. Kgl. 
Sächs. Ges. d. Wiss. Math.-Phys. Kl. 1895. Bd. XXI. Nr. 4. S: 153. 


ÜBER DEN GANG MIT KÜNSTLICHEN BEINEN. 41 


eines Funkendurchganges gehabt hatten, auf der Platte erschienen. 3. Da- 
durch war es sehr einfach ermöglicht, genau dieselben Stellungen zu genau 
denselben Zeitpunkten auch von einer oder mehreren anderen Stellen auf- 
nehmen zu können. Nur durch die gleichzeitige Aufnahme von mehr 
als einer Stelle aus ist die genaue Bestimmung der Lage eines photo- 
eraphierten Punktes im Raume möglich. Fischer wendete sogar vier 
Kameras gleichzeitig an und konnte so die Ortsbestimmung von je zwei‘ 
Aufnahmen desselben Punktes miteinander vergleichen. Es fand sich, 
daß sie im allgemeinen nur um Zehntelmillimeter voneinander abwichen. 
4. Ein wesentliches Hilfsmittel für den Erfolg der Messungen Fischers 
war endlich auch die von ihm angegebene Meßmaschine, mit der die 
"Abstände der Linienbilder auf der Platte bis auf Tausendstel Millimeter 
gemessen werden konnten. 


4. Begründung eines vereinfachten Verfahrens. 


Leider ist der Hauptvorzug des Fischerschen Verfahrens, nämlich 
die genaue Ortsbestimmung durch gleichzeitige Aufnahme von zwei ver- 
schiedenen Punkten aus, nur für die Untersuchung vereinzelter Aufnahmen 
erreichbar, denn um ihn auszunutzen, muß man für jeden Punkt des 
Bildes erst die Berechnung seiner Lage aus den Standorten der beiden 
Kameras ausführen. Ein Verfahren, das zur vergleichenden Untersuchung 
zahlreicher Fälle dienen soll, muß auf diese äußerst mühsame Arbeit und 
damit zugleich auf die genaue Ortsbestimmung überhaupt verzichten. 
Es empfiehlt sich aber trotzdem, für ein vereinfachtes und vergröbertes 
Untersuchungsverfahren die Aufnahme im Dunkeln mit Hilfe aufleuchtender 
Geisslerscher Röhren beizubehalten. Hierdurch erreicht man, daß die 
Aufnahme übersichtlich auf einer einzigen Platte steht, daß man nur 
einen Stromunterbrecher und ein Induktorium, aber keinen chrono- 
graphischen Verschluß der Kamera braucht, und daß man zwei oder 
mehr Aufnahmen derselben Stellungen zugleich erhalten kann. Die An- 
wendung von zwei Kameras zugleich muß nämlich ebenfalls von Fischer 
übernommen werden, wenngleich aus einem ganz anderen Grunde als der, 
wegen dessen er sie brauchte. Für jede auch noch so grobe Aufnahme 
des Ganges ist es wichtig, die Bewegung der rechten und linken Körper- 
hälfte miteinander vergleichen zu können, und dieser Vergleich ist nur 
dann maßgebend, wenn die beiden Körperhälften wirklich in den zu- 
sammengehörisen Stellungen aufgenommen sind. Dies läßt sich aber nur 
mit Hilfe gleichzeitiger Aufnahmen mit zwei Kameras von beiden Seiten 
bewerkstelligen. | ’ 


42 R. pu Bois-REyMmonD: 


Fischer hatte seine Versuchsperson mit einem eng anliegenden 
schwarzen Gewand bekleidet, auf dem die Geisslerschen Röhren, durch 
Kautschukstreifen isoliert, mit Schnallgurten befestigt wurden. Zur Zu- 
leitung des Stromes diente ein an den Schultern befestigter Querstab, 
der die Kabel trug, die ebenfalls mit Kautschuk isoliert waren. Um die 
Vorrichtungen schneller an verschiedenen Personen nacheinander anbringen 
zu können, fand ich es zweckmäßiger, die Röhren an Holzträgern zu 
befestigen, die aus einer länglichen Fußplatte bestanden, die an Ober- 
oder Unterschenkel angeschnallt wird, und die auf einem etwa 2 cm 
hohen Klotz die Röhre trägt, so daß diese frei in der Luft steht und 
dadurch isoliert ist. (Vel. Fig. 2.) Die Zuleitung führte ich durch dünne, 
nicht isolierte Kupferdrähte zu den Füßen, von da durch die Röhren zu 
den Hüften hinauf, und verband die Enden der Röhren an den Hüften 


Fig. 2. 


durch einen Querdraht, der hinter dem Rücken im Bogen durch die Luft 
ging, wo er durch einen Faden vom Rücken her schwebend erhalten 
wurde. Bei der hohen Spannung muß vermieden werden, daß der Leitungs- 
draht auf dem Boden schleift. Die Drähte wurden daher durch Porzellan- 
ringe gelührt, die an Fäden hingen, die an gespannten Drähten über der 
Gangstrecke an Ringen glitten. Dadurch wurde erreicht, daß die Leitung 
ohne fühlbaren Widerstand allen Bewegungen der gehenden Versuchs- 
person folgte und dabei ganz frei in der Luft isoliert hing. 

Aus dem städtischen Netz wurde ein Strom von etwa 7 Ampere 
entnommen, der, durch einen Wagnerschen Hammer mit Quecksilber- 
kontakt unterbrochen, in dem Ruhmkorffschen Induktor eine Funken- 
länge von etwa 25 mm erzeugte. _ 

Das vereinfachte Untersuchungsverfahren verlief dann folgender- 
maßen: Die Versuchsperson mußte einen Teil der Kleidung, in der 


ÜBER DEN GANG MIT KÜNSTLICHEN BEINEN. 43 


Regel nur den Waffenrock, ablegen. Dann wurden die Holzgestelle mit 
den Geisslerschen Röhren an Ober- und Unterschenkeln angeschnallt 
und im ‚Gehen und Stehen darauf nachgesehen, ob sie parallel zu den 
Gliedachsen säßen. Dann stellte sich die Veısuchsperson an das Ende der 
Gangstrecke, die durch einen Kreidestrich auf dem Fußboden bezeichnet 
war, die beiden photographischen Kameras rechts und links von der 
Gangstrecke wurden mit Platten versehen, der Raum verdunkelt, die 
Kameras geöffnet der Strom angestellt, und die Versuchsperson ging die 
Gangstrecke entlang. Darauf wurden die Kassetten geschlossen, der Raum 
erhellt und nochmals die Lage der Röhren zu den Gliedachsen nachgemessen 
und zusammen mit den übrigen Einzelheiten des Falles anfgezeichnet 

Zur Ausführung des Verfahrens bedarf man demnach folgender Ein- 
richtung: 1. Es muß ein verdunkelbarer Raum vorhanden sein, der so 
eroß: ist, daß darin senkrecht zu einer mindestens 5m langen Gang- 
strecke die beiden Kameras in je etwa ö m Abstand von der Gangstrecke 
aufgestellt werden können. 2. Man braucht zwei Kameras mit licht- 
starken Objektiven (1:7) und großer Brennweite (40 bis 50 em). Damit 
der Maßstab der Aufnahmen nicht zu klein wird, verwendet man am 
besten die Plattengröße 18:24 und macht dann je zwei Aufnahmen auf 
jede Platte, indem man nur die obere Hälfte der Platte für die Aufnahme 
benutzt und dann die Platte umdreht, so daß die zweite Aufnahme auf 
die andere Hälfte der Platte kommt. 3. Induktor und Unterbrecher. 
Diese können natürlich nach Bedarf durch eine andere Art Stromquelle 
ersetzt werden, z. B. habe ich mit Wechselstrom, der durch einen 
Turbinenunterbrecher unterbrochen wurde, gearbeitet. 


Als Probe auf die klinische Verwendbarkeit des Verfahrens möchte 
ich anführen, daß ich die gesamte Einrichtung vorübergehend im Reserve- 
lazarett in G. aufstellen und bei wöchentlichen Besuchen von Berlin aus 
mit bestem Erfolge dort Aufnahmen machen konnte, die erst in Berlin 
entwickelt und verwertet wurden. 


5. Die Deutung der Aufnahmen. 


Die Aufnahmen, die man auf die beschriebene Weise erhält, stellen 
eine Reihe von Strichen dar, die der Lage der Geisslerschen Röhren in 
den Augenblicken der Funkendurchgänge entsprechen. ‘Wenn die Röhren 
den Gliedachsen genau parallel befestist worden sind, braucht man, um 
eine Darstellung der bewegten Glieder zu erhalten, nur die Striche so 
weit zu verlängern, wie der Länge der Glieder entspricht. Dies ist am 
schnellsten und einfachsten zu machen, indem man die Platte von unten 


44 R. pu Bois-REeyMmonp: 


durchleuchtet und die Striche auf ein darübergelegtes Blatt Papier 
durchzeichnet. Auf dem Papier kann man dann die Ergänzung der 
Röhrenbilder zu dem Bilde der Gliedmaßen ausführen und zugleich die 
etwa erforderlichen Berichtigungen anbringen. Wenn nämlich aus irgend- 
einem Grunde die Röhren nicht parallel zu den Gliedachsen gesessen 
haben, so sind deswegen die Aufnahmen noch nicht unbrauchbar. Wenn 
man nur die Lage der Röhren zu den Gliedachsen kennt, so genügt das, 
um eine richtige Darstellung von der Bewegung herzustellen. Will man 
in dieser Beziehung ganz sicher gehen, so empfiehlt es sich, unmittelbar 
vor oder nach (noch besser vor und nach) der Aufnahme, die mit den 
Röhren geschienten Glieder bei vollem Lichte zu photographieren. Auf 
diesem Lichtbilde kann man dann die Stellung der Röhren zu den Längs- 
achsen der Glieder genau bestimmen und diese Bestimmung bei der 
Zeichnung des Bewegungsbildes benutzen. Wäre z. B. bei einer Gang- 
aufnahme die am Oberschenkel befestigte Röhre am oberen Ende 3 em 
zu weit ventralwärts angeschnallt gewesen, so würde man das auf dem 
Lichtielde deutlich erkennen und müßte dann beim Durchzeichnen der 
Bewegungsaufnahme die Längsachse des Oberschenkels immer um eine 
3em entsprechende Strecke dorsalwärts von dem Bilde der Röhre angeben. 

Wenn man nicht besonderen Wert darauf lest, einen Beweis für die 
Zuverlässigkeit der Aufnahme in Händen zu haben, braucht man nicht 
erst ein Lichtbild aufzunehmen, um die Lage der Röhren zu den Gliedern 
zu bestimmen, sondern man kann sie einfach mit dem Maßstab abmessen. 

In der Ausführung des Verfahrens kommt es darauf an, die Grenzen 
der Zuverlässigkeit der Zeichnung richtig einzuschätzen. Man könnte 
z. B. fürchten, dab die Genauigkeit der Aufnahme sehr darunter leiden 
würde, wenn statt der Messung auf der Platte selbst oder wenigstens an 
einer photographischen Kopie einfach eine Pause gemacht wird. Da aber 
eine einfache Seitenansicht, wie sie hier in Frage kommt, doch kein ganz 
getreues Bild der Bewegung geben kann, hat es keinen Sinn, das Ver- 
fahren im übrigen besonders exakt gestalten zu wollen. 

Wenn die Gehbewegungen genau in der Ebene verliefen, auf die die 
Kamera eingestellt ist, würde das Objektiv ein getreues Abbild der 
einzelnen Stellungen liefern. Weder der Ober- noch der Unterschenkel 
bewegen sich aber in einer Ebene, sondern nach Fischers Aufnahme 
befinden sich Hüfte und Fußgelenk in einigen Stellungen bis zu 6 cm 
medial vom Kniegelenk. 

In dem Augenblick, in dem der Gehende sich gerade vor der Kamera 
befindet, wird das keinen Einfluß auf die Abbildung haben. Vorher und 
nachher aber, wenn er sich rechts oder links vor der Kamera befindet, 


ÜBER DEN GANG MIT KÜNSTLICHEN BEINEN. 45 


wird das Bild der Röhre, je weiter sie sich vor der betreffenden Ebene 
befindet, desto mehr nach dem Rande der Platte zu, je weiter dahinter 
sie sich befindet, desto mehr nach der Mitte zu verschoben werden. 
Dies Verhältnis veranschaulicht vorstehendes Schema, das wie ein Grund- 
riß der Versuchsanordnung zu betrachten ist. (Vgl. Fig. 3.) 


Pa 


Fig. 3. 


S bezeichnet den Ober- oder Unterschenkel (von oben im Querschnitt 
gesehen) mit der daran befestigten Röhre R. G@ ist die Gangebene, auf 
die die Kamera, KK, eingestellt ist. @'G’ und G”@” sind Parallelebenen 
zu GG, die die Grenze für die Abweichung von R aus der Ebene GG 
angeben. O ist das Objektiv, P die Platte, MOP der Mittelstrahl. 
Befindet sich R gerade vor O auf der Geraden OM, so ist es gleich, ob 
es. auf GG, G’G’ oder @” @ liest, die Abbildung fällt immer genau auf 
die Mitte der Platte P. Befindet sich R aber seitlich von OM, wie es 


46 R. pu Bois-REyMmonp: 


bei II dargestellt ist, so fällt sein Bild auf den Punkt B der Platte 
und wenn nun R vor die Ebene GG in die Ebene @’G’ vorgeschoben 
oder hinter sie nach @”@” zurückgestellt wird, fällt sein Bild auf B’ 
oder B”. Die Möglichkeit der Abweichung von R aus der Ebene GG 
nach @’@’ oder @”G@’' zu, bedingt also eine Unsicherheit in der Bestimmung 
der Entfernung von P nach B, die man für die Ausmessung der Bewegung 
von M nach R gebraucht. | 

‘ Es fragt sich nun, unter welchen Bedingungen dieser Mangel der 
einfachen Seitenaufnahme so groß wird, daß er den Wert des Verfahrens 
beeinträchtigt. 

Zwischen der Größe der möglichen Verschiebung von R, nämlich 

von R bis RG’, und der daraus hervorgehenden Verschiebung des Bildes 
von R, BB’ oder RR besteht, wie die Figur zeigt, die Proportion 


EBur= yo: Daher: RR-EM. TG. 

Je größer also der Abstand der Kamera von der Objektebene im 
Verhältnis zum seitlichen Abstand MR, desto kleiner ist der mögliche 
Fehler in der Lage der Abbildung von R. Nun ist RRG’ nach Fiseher 
höchstens 0-06 m, RM muß ungefähr 1-5 m groß sein, damit die ganee 
Gangstrecke, die aufgenommen wird, etwa 3 m lang ist, so daß sie sicher 
einen vollen Doppelschritt einschließt. An diesen beiden Werten kann 
man nichts ändern; es bleibt nur übrig, MO möglichst groß zu nehmen. 

Man muß also die Kamera möglichst weit von der Gangstrecke 
stellen. Dies findet daran seine Grenze, daß aus der Entfernung auf- 
genommen, das Bild unter sonst gleichen Bedingungen immer kleiner aus- 
fällt. Um aber kleine Unterschiede auf der Platte noch bequem wahr- 
nehmen und vergleichen zu können, empfiehlt es sich, die Aufnahme 
etwa im Maßstab 1:10 zu halten, so daß ein Zentimeter in Wirklichkeit 
auf der Platte einen Millimeter mißt. Dazu bedarf es, wenn man zugleich 
aus möglichst großer Entfernung photographieren will, eines Objektives 
von großer Brennweite. Die Firmen Busch in Rathenow und Zeiss in 
Jena haben mir mit dem größten Entgegenkommen vorzügliche Objektive 
dieser Art für die Vorversuche geliehen, wofür ich nicht verfehlen möchte, 
hier den gebührenden Dank auszusprechen. Diese Objektive hatten mehr 
Lichtstärke und zeichneten ein größeres Feld scharf aus, als für den vor- 
liegenden Zweck erforderlich war. Es waren Buschs Omnar-Anastigmat, 
1:5-.5, £=45, und Zeiss’ Tessar, 1:6-3, 5 = 49. Ich habe gefunden, 
daß schon die Lichtstärke 1:7 bis 1:8 ausreichend ist. 

Bei der Brennweite von fast 50 cm erhält man eine Aufnahme im 
Maßstab 1:10 in rund 5m Abstand. Unter diesen Bedingungen würde 


u 


ÜBER DEN GANG MIT KÜNSTLICHEN BEINEN. 47 


sich der Fehler dureh die seitlichen Bewegungen beim normalen Gange 
folgendermaßen berechnen. 
Es war oben gefunden: 
Terlogın 
ORE 


kR= RM: 


RR’ ist die Verschiebung des Bildes infolge der Annäherung oder Ent- 
fernung von R, RM ist im ungünstigsten Falle, das heißt am Anfang 
und am Ende der Gangstrecke = 1-5m. RR@ ist nach Fischer im 
äußersten Fall = 0-06 m, mithin 


a 1.5.2 


oder 
RR —— — 0.018 m. 


Da nach der Figur die Abbildung auf der Platte die Verhältnisse der 
Wirklichkeit im Maßstab MO:OR wiedergibt, und dies im vorliesenden 
Falle dem Maßstab 1:10 entspricht, würde unter den ungünstigsten 
Umständen, das heißt bei der größten vorkommenden seitlichen Ab- 
weichung von R und am Anfang oder Ende der Gangstrecke, der Fehler 
auf der Zeichnung 1:5 mn betragen. 

Außerdem hat man aber mit noch größeren Fehlern derselben Art 
zu rechnen, weil die Versuchsperson die Gangrichtung nicht immer richtig 
_ innehält, sondern etwas schräg oder gar im Ziekzack geht. Man muß 
sich diese Möglichkeit vor Augen halten und sich nur so weit auf die 
Richtigkeit der Zeichnung verlassen, als nach obigen Berechnungen zu- 
lässig erscheint, das heißt z. B. nur bis zu einer gewissen Entfernung 
von der Plattenmitte. 

Wenn man auf diese Weise die Gangbewegungen auf dem Papiere 
dargestellt hat, gilt es, die Zeichnung mit Rücksicht auf die Mechanik 
des Ganges auszudeuten. Hier tritt eine im ersten Augenblick über- 
raschende Schwierigkeit auf, daß man nämlich auf der Zeichnung mancher- 
lei Einzelheiten bemerkt, die man bei Betrachtung des Ganges mit bloßem 
Auge nicht sieht, während man umgekehrt die Dinge, die man mit dem 
Auge wahrgenommen hat, auf der Zeichnung nicht wiedererkennt. 

Es besteht sogar geradezu ein Gegensatz zwischen den beiden Unter- 
suchungsarten insofern, als das Auge diejenigen Stellungen am sichersten 
auffaßt, in denen die Gliedmaßen am längsten verweilen, während auf 
den Augenblieksbildern sich diejenigen Stellungen am deutlichsten ab- 
heben, in denen die Gliedmaßen sich am schnellsten bewegen, weil da 
die Einzelbilder am weitesten voneinander entfernt erscheinen. 


48 R. pu Boıs-Reymonxp: 


Um die ganz verschiedenen Eindrücke, die man durch die beiden 
Arten der Untersuchung erhält, zu vereinigen, bedarf es recht ein- 
gehender Durchmusterung der Aufnahmen und entsprechender Erfahrung 
im Beobachten der Gehbewegung. 

Zur Erforschung der Augenblicksbilder bieten sich zwei Wege dar. 
Man kann entweder damit beginnen, irgendeine Einzelheit, die einem 
zuerst auffällt, messend festzustellen, und sich dann von den dabei 
gewissermaßen zufällig gemachten Bemerkungen weiter leiten lassen, oder 
man kann von vornherein nach einem festgesetzten Plan möglichst alle 
Einzelheiten der Bewegung, die überhaupt von Bedeutung sein können, 
genau ausmessen und verzeichnen, um so einen Überblick über die ganze 
Bewegung zu bekommen, der zugleich zuverlässig ist. Das letzte ist der 
Hauptvorzug dieses Verfahrens. Bei der Betrachtung der Bewegungs- 
bilder glaubt man nämlich nicht selten allerlei Auffälliges wahrzunehmen, 
das sich aber beim Nachmessen als bloße Urteilstäuschung erweist. Das 
Augenmaß wird nämlich durch die Reihen von Strichen und Linien, die 
in verschiedenen Winkeln gegeneinander geneigt sind, geradezu in ähn- 
licher Weise irregeführt wie durch die Zoellnersche Täuschungsfigur. 


6. Bemerkung zur Lehre von der normalen Gangbewegung. 


Nachdem das Untersuchungsverfahren in allen den erwähnten Einzel- 
heiten ausgebildet worden war und schon eine Reihe von Beobachtungen 
über die Gehbewegung beim Gebrauch künstlicher Beine vorlag, ergab 
sich die Notwendigkeit, die Unterschiede zwischen den Bewegungen bei 
schnellem und bei langsamem Gange genauer, als bisher geschehen, fest- 
zustellen. Hierüber soll im zweiten Abschnitt dieser Mitteilung berichtet 
werden. Zum Schlusse des ersten aber möge eine Beobachtung über den 
normalen Gang angeführt werden, die, so selbstverständlich sie unter 
gewissen Voraussetzungen erscheinen mag, als allgemeingültiger Satz Be- 
achtung verdient: Bei der normalen Gangbewesung kommt nicht die 
seringste Rückwärtsbewegung im Raum vor. Die Gliedmaßen bewegen 
sich in der Riehtung der Gesamtbewegung oder sie stehen still, aber sie 
bewegen sich nie rückwärts. | 

Dies erscheint selbstverständlich, wenn man als selbstverständlich 
annimmt, daß der normale Gang keine unzweckmäßigen Bewegungen 
einschließt. Jede Rückwärtsbewesung im Raum bedingt eine unnütze 
Arbeitsleistung, weil der betreffende Körperteil entweder vor der Rück- 
wärtsbewegung weiter, als nötig war, vorgerückt gewesen sein muß oder 
schneller, als sonst nötig gewesen wäre, nachträglich vorgerückt werden 


ÜBER DEN GANG MIT KÜNSTLICHEN BEINEN. 49 


muß, um die Rückwärtsbewegung auszugleichen. Jede Rückwärtsbewegung 
im Raum ist also Arbeitsverschwendung, und unter der Voraussetzung, 
daß die Gangbewegung zur größten möglichen Zweckmäßiskeit ausgebildet 
sei, versteht es sich allerdings von selbt, daß keine Rückwärtsbewegungen 
dabei stattfinden. 

Daher mag es dann auch wohl kommen, daß frühere Untersucher es 
nicht der Mühe wert geachtet haben, die Tatsache besonders hervorzu- 
heben, daß beim normalen Gehen wohl relative, aber niemals absolute 
Rückwärtsbewegung beobachtet wird. Bedenkt man aber, wie starke 
relative Rückwärtsbewegungen beim Gehen gemacht werden, daß sie die 
Geschwindigkeit nach vorwärts bis auf Null herabsetzen und daß daher 
jede noch so geringe Verstärkung sie in absolute Rückwärtsbewegung 
verwandeln muß, so kann es im Gegenteil wundernehmen, daß dieser 
Fall nicht eintritt. 

Diese Auffassung drängt sich dem Beobachter auf, wenn er sieht, 
daß beim Gehen mit einem künstlichen Bein das gesunde Bein gar nicht 
selten Rückwärtsbewegungen im Raum ausführt. 


Archivf.A.u.Ph. 1917. Physiol, Abtlg. 4 


Nährwert des durch Alkali aufgeschlossenen Strohes 
beim Hunde. 


Von 


Geheimrat Max Rubner. 


Zu den Bemühungen, welche auf künstlichem Wege sonst schwer 
verdauliche pflanzliche Nahrung in eine leichter verdauliche Form über- 
führen wollen, gehört die Behandlung von Raufutter oder Stroh mit Al- 
kali bei hoher Temperatur mit oder ohne Steigerung des Atmosphären- 
drucks. Es eignen sich dazu Stoffe, die von Haus aus weder Stärke, Zucker 
oder N-haltige Nährstoffe in erheblichen Mengen enthalten. Dahin kann 
man in erster Linie das Stroh der verschiedenen Bodenfrüchte rechnen, 
zwar wird ihm ein erheblicher Teil von ‚‚N-freiem Extrakt‘ in den Ana- 
lysen zugeschrieben, tatsächlich macht, wie besonders auch die nachfolgenden 
Untersuchungen zeigen, die Zellmembran den größten Teil dieser N-freien 
Extrakte aus. 

Die Aufschließung von Stroh mit Natron oder Kalilauge in der Wärme 
ist eine Behandlung, welche schon vor dem Kriege bekannt war. Beson- 
ders hat Lehmann in Göttingen sich mit derartigen Produkten für 
Fütterungszwecke bei Pflanzenfressern beschäftigt. Anfänglich wurde das 
Material wie es war, ohne Auswaschen der Lauge verfüttert, wobei sich 
gelegentlich Nachteile gezeigt haben sollen, dann ist man zum Auswaschen 
des Strohes übergegangen. Das allgemeine Ergebnis läßt sich nach Ver- 
suchen von Lehmann, Fingerling, Zuntz dahin zusammenfassen, dab 
solches Stroh mit einem Nutzeffekt bis 90 Prozent verdaut werden kann, 
wodurch der Vorteil entsteht, daß für geeignete Tiere eine erheblich größere 
Masse als von Rohstroh verfüttert werden darf. Für Rindvieh, Pferde ist 
solches aufgeschlossene Stroh ein gutes Futter, ein Kohlehydrat; unbrauchbar 
ist es für Schweine, deren einfacher gebauter Darmkanal sich für hoch- 
wertige Ausnützung nicht eignet. Bei der großen Schwierigkeit, die sich 


Max RUBNER: NÄHRWERT USW. 51 


jetzt auch für die Erhaltung von Versuchstieren ergeben, konnte es von 
Wichtigkeit sein, ein Ersatzfutter für Hunde zu erhalten, es schien mir 
deshalb schon von diesem Gesichtspunkte aus wünschenswert, einen Ver- 
such am Fleischfresser anzustellen. Ein prinzipielles Bedenken besteht ja 
nicht mehr, seitdem ich gezeigt habe, daß der Hund in seinem Darm viele 
Arten von Zellmembranen nicht allzu schlecht, manche sogar weitgehend 
verwertet. 

Die rein wissenschaftlichen Fragen konnten aber auch Interesse er- 
wecken, da die Verwendung des aufgeschlossenen Strohes mehr auf rein 
praktischer Grundlage aufgebaut wurde; der nähere Vorgang der Ver- 
daulichkeit bei diesem veränderten Stroh, ja, seine nähere Zusammensetzung 
ist bisher nicht geprüft worden, da man sich wesentlich auf Roh- 
faserbestimmungen in der Einnahme und Ausgabe beschränkt hat. Es 
mußte von Wichtigkeit sein, die Gesichtspunkte und Methoden, die von 
mir neuerdings für Fragen dieser Art Verwendung gefunden hatten, auch 
hier in Anwendung zu bringen. 

Dem Prinzip nach wären bei dem Studium der Aufschließung des 
Strohes oder ähnlicher Produkte eine Reihe von Zubereitungsarten und 
Verwendungsarten zu prüfen. Grundsätzlich verschieden sind sicher alle 
Präparate, je nachdem man das Material nach der Alkalibehandlung aus- 
wäscht oder nicht. Ist letzteres der Fall, so besteht das Nährende aus Ge- 
löstem und Ungelöstem, im ersten hinterbleibt — wenigstens nach üblicher 
Annahme — nur Ungelöstes. Die Verdaulichkeit von Präparaten so verschie- 
dener Zusammensetzung müßte selbstverständlich sehr ungleich sein. 

Da man aber wegen der Gefahr, welche stark alkalische Flüssigkeiten 
und Substanzen für den Darmkanal haben, auf die Verwendung solcher 
Präparate verzichtet hat, bleibt für die weitere Betrachtung nur das aus- 
gewaschene Material verschiedener Herstellung Objekt der Untersuchung. 


Vorversuche mit Stroh, das durch Kochen mit Natron 
aufgeschlossen war. 


Das erste Material stammte aus D., es war Strohhäcksel, das nach 
dem Alkaliverfahren zubereitet war. Die näheren Versuchsbedingungen 
der Zubereitung sind nicht mitgeteilt worden (Dez. 1916). Das feuchte Mate- 
rial wurde von mir in dem Faustschen Apparat getrocknet und in einer 
elektrisch betriebenen Laboratoriumsmühle sründlich zu mehlartiger 
Beschaffenheit zerkleinert. Von diesem Pulver erhält der Hund 3 Tage 
je 70 g lufttrocken zu je 1000 & Fleisch zugesetzt. Die Entleerungen waren 
sehr umfangreich, aber fest. 

4* 


52 MAx RUBNER: 


Es wird notwendig sein, zunächst einen Überblick über die Zusam- 
mensetzung von Stroh überhaupt zu geben, damit man von vornherein 
ein Maß für die Veränderungen erhält, die sich bei der Natronbehandlung 
vollziehen. Ich benützte dazu eine Analyse, die später in Zusammen- 
hang mit systematischen Versuchen der Aufschließung besondere Ver- 
wendung finden soll. 

In 100 Teilen Trockensubstanz sind bei Winterhalmstroh (nach An- 
saben des landwirtschaftlichen Kalenders): 


N.ı: . KEea 0-48 
Bett... Su as NO. 
N-freie Extrakte . . . . 40-3 
Rohfasersg 20 4 gr 49-2 
Nach meiner Untersuchung enthält Strohhäcksel in .100 Teilen: 
Asche... „u... A A 4-32 
Organische 95-68 
IN LE Ne en ee N 0-54 (3-37 Rohprotein) 
Pentosam er En 26-43 
Zellmembran . ..... 77-32 
darin Zellulose ...... 35-20 
„. „bentosanw ss more: 22-35 
as = REST. AR 19-77 
Rohfett Y.>.2 2 Kr (1-51) 
Verbrennungswärme . . . 448-6 


Die eingehende Analyse zeigt uns ein ziemlich kompliziertes Bild des 
Aufbaues des Strohes, vor allem schrumpfen die bisher üblichen N-freien 
Extrakte von 40-3 Prozent auf 13-5 Prozent zusammen und zwar sind 
letztere die von Wasser und anderen Lösungsmitteln (Alkohol, Chloral- 
hydrat) aufnehmbaren Anteile; also offenbar Reste verschiedener Sub- 
stanzen, die sich noch in den Strohzellen befinden. Die größte Masse des 
Strohes besteht aus der Zellmembran, die sich aus Zellulose, Pentosanen 
und einem Rest nicht weiter bestimmbarer Verbindungen, wohl Hemi- 
zellulosen, Lignine usw. zusammensetzt. Vom Pentosan sind 84-6 Prozent 
in der Zellmembran, mit der Zellulose und ihren übrigen Bestandteilen 
innig verbunden. 
Von der Zellmembran selbst sind in 100 Teilen: 


Zellulose 2 2 mm 45-6 
Bentosan, Me 28-9 
Restä,.i... 2 m 25-49 


NÄHRWERT DES DURCH ALKALI AUFGESCHL,. STROHES BEIM HUNDE. 53 


Etwa !/, aller Substanzen läßt sich vorläufig in die besonderen Be- 
standteile noch nicht scheiden; die Gruppe dieser Stoffe hat, wie ich aus 
anderen Untersuchungen entnehme, eine höhere Verbrennungswärme wie 
Zellulose und Pentosane. 

In vielen Richtungen erinnert die Zusammensetzung des Strohes 
an jene des Holzes überhaupt. 

Nach dieser Darlegung kann an die Besprechung der Versuchsergebnisse 
am Hund, die in nachstehender Tabelle zusammengefaßt sind, herangetreten 
werden. 


In 100 Teilen aufgeschlossenen In 70 g lufttrocken 
Strohes sind: = 67.13 g trocken: 

Eaene. A 3-28 2-19 
Organisch ... . . . 96-72 64-90 

NO Safe TR 0-18 (1-12 Rohprot.) 0-12 
Bentosan . ..... 31-80 21-33 
Zellmembran . . . . 80-00 53-65 
Zellulose der Zellm. . 53-70 36-02 
Pentosan e: Alla) 14-45 
Restsubstanz . .. 47 3-18 

[Dann Wa A 1-15 0-77 
Kalorien , =... 438-2 294-0 

In 100 Teilen Zellmembran sind: 

Zellmlose ... . ..,:. 67-12 

BENtOsan 0.0. 2; 26-94 

Restsubstanz . . ... 5-94 

In 100 Teilen Kot sind: In 90:45 Trockenkot sind: 

Asalnet oa 26-86 24-27 
Orsanisch ”. . . .. 13-14 66-13 
N 1-66 1-50 
Bentosan '. . ...v. 14-29 12-92 
Zellmembran . . . . 41-34 37-37 
Zellulose der Zellm. . 26-79 24-21 
Pentosan F 2.69 11-43 
Restsubstanz .. ee‘ 1-73 

Bene 2... 1-64 1-50 
Kalmen‘ .. . ....... 318-8 288-2 

In 100 Teilen Zellmembran sind: 
Zellulose . ..... 64-80 
Pentosan . . ...... 30-63 


ee a ara AT 


54 Max RUBNER: 


Die Zusammensetzung des aufgeschlossenen Strohes kann nicht mit 
der Strohzusammensetzung Zahl für Zahl verglichen werden, weil ja das 
eigentliche Ausgangsmaterial nicht untersucht worden ist. Man erkennt 
aber die Gesamtwirkung der Natronaufschließung recht gut. Zunächst 
haben wir wieder ‚„lösliche Substanzen‘ 14-45 Prozent, dies sind aber 
nicht die ursprünglichen des Strohes, sondern die unausgewaschenen Reste 
der Aufschließungsprodukte, außerdem sehen wir die Zellmembran ver- 
ändert, sie hat die Gruppe von Stoffen größtenteils eingebüßt, welche das 
Lignin enthielten, die Verbrennungswärme ist gesunken. In der Zell- 
membran überwiegt jetzt stark die Zellulose. Sie ist entweder gar nicht 
oder nur unbedeutend in der Menge, vielleicht nicht einmal in ihrer Ver- 
daulichkeit beeinflußt. Darüber hat eben der Versuch zu entscheiden. 

Nach den über das Verfahren bekannt gewordenen Nachrichten geht 
bei der Behandlung des Strohes durch Kochen mit Lauge nahezu die Hälfte 
der organischen Substanz in Lösung. Man beabsichtigte damals, durch 
Eindampfen der Laugen eine Wiedergewinnung der Soda zu erzielen; wenn 
dies nicht möglich wäre, sollen die Laugen als Abwasser in die Flußläufe 
gelassen werden oder das eingediekte Material konnte auch, der trocknen 
Destillation unterworfen, auf Aceton, Methylalkohol, Schmieröl usw. ver- 
arbeitet werden. Hier interessiert, daß das Produkt zur Ernährung nur 
etwas mehr als die Hälfte des Ausgangsmaterials darstellt. 

Der Kot besteht zu */,, aus Zellmembran, die Pentosane sind nahezu 
ausschließlich in dieser vorhanden, nur ein kleiner Teil von Restsubstanz 
(Lignine usw.) findet sich noch vor. Der Rest des Kotes besteht aus Stofi- 
wechselprodukten. 

Vergleicht man die Ein- und Ausfuhr der Zellmembranen, so hat man: 


Verlust an Pentosan überhaupt. . . 60-6 Prozent 
.. Zellmembran . . . . . . 69-65 M 
„ Zelluloses rare 020 r 
.. Pentosan der Zellmembran 79-10 
“ SER estsubsianv 54-40 * 
an freien Pentosanen . . . ..... 21-66 


Die Zellmembran des mit Natron behandelten Strohes ist also für 
den Hundedarm verdaulich, aber nicht in höherem Grade als etwa Birken- 
holzmehl — ohne weitere Zubereitung —, die Pentosane der Zellmembran 
sind etwas schlechter resorbierbar als diese selbst im ganzen betrachtet, 
die freien, nicht an Zellmembran gebundenen Pentosane scheinen schlecht 
resorbiert zu werden, daher ist es wahrscheinlich richtiger, die freien 
Pentosane im Kot als Abkömmlinge der verdauten Zellmembran und ihrer 


NÄHRWERT DES DURCH ALKALI AUFGESCHL. STROHES BEIM HUNDE. 55 


Pentosane anzusehen, die also erst bei dem Einsetzen der Zellulosever- 
dauung entstehen, dann ungelöst im Dickdarm bleiben. 

Außer der Zellmembran und den anderweitig bestimmten Substanzen 
findet sich im Strohmehl nur wenig anderes. Wir haben: 


Örcanıschessee ne wa 0 me... 96-7 Teile 
Aellmembrane 2. men. 2 0 80-00 Teile 

Kentosankren) 2 0. le 

Nosubstanz 0. un. en. VEN. 

IERE e len uf — 93-8 Teile 


bleiben 2-9 Teile 


Als „lösliche“ Substanz wird man nur die 11-6 Pentosan + 2-9 Teile 
nicht näher zu definierenden Zwischenprodukte der Strohaufschließung 
ansehen können —= 14-5 Prozent, wovon also 80-5 Prozent Pentosan sind. 
Damit soll nichts weiter gesagt sein, als daß die Furfurol liefernden Stoffe 
in den angegebenen Verhältnissen sich finden. Der lösliche Anteil wird 
unzweifelhaft leichter verdaut wie die Zellmembran. 


Fuseenouamen wurde... 2.2 ne: 294-0 Kal. 
im ganzen im Kot abgegeben . . .288-2 Kal. 
auleischkot trifft ....... Bo a 0EHKall 


welche als Gesamtverlust der Zufuhr anzuesehen sind = 74-9 Prozent Verlust. 
Wie groß die Menge der Stoffwechselprodukte in diesem Falle ist, 
läßt sich in folgender Weise berechnen: 


ausdenentleert"..0..7... 00 02. Ne. 288-2 Kal. p. Tg. 
für 37-37 g Zellmembran & 4-2 Kal.! .161-3 

an freiem Pentosan 1-5 x 39 .... 58 

aus Prot. in der Zellmembr. 3-6 x 5-8 . 21-0 — 188-1 


bleibt: 100-1 Kal.p.Te. 


Der normale Fleischkot soll nur 67-7 Kalorien liefern, es ist also ein 
Überschuß vorhanden, der auf Kosten der gefütterten Substanz ent- 
fällt = 32-4 Kalorien per Tag. 

Eine Mehrung der N-Ausscheidung im Kote ist nicht zu erweisen. 
Die aus dem Kot dargestellte Zellmembran enthielt etwa eben soviel N wie 
das verfütterte Material pro Tag 0-58 & N. Dieser Wert von der Gesamt-N- 
Ausscheidung 1-50 abgezogen, bleibt 0-92 N, was der durchschnittlich 
bei Fleischfütterung kommenden N-Ausscheidung im Kot der Hunde an- 
nähernd entspricht. Würde man das aufgeschlossene Stroh für sich allein 


* Nach späteren Untersuchungen von aufgeschlossenem Stroh. 


56 Max RUBNER: 


füttern können, so würde der Ausnutzungseffekt geringer werden, wie 
oben angegeben, weil dort die dabei auftretenden Stoffwechselprodukte 
in ihrer Gesamtheit auf den Nährwert des Strohes zu verrechnen wären. 

Die ganze Menge der vom Hunde resorbierten Kalorien beträgt für 
den Tag 294 — 220 = 74 Kalorien, was rund 7-4 Prozent des gesamten 
Stoffwechsels des Versuchstieres ausmachen würde, vorausgesetzt, daß die 
bei der bakteriellen Aufschließung der Zellmembran freiwerdenden Pro- 
dukte restlos dem Stoffwechsel dienen, was sicher nicht der Fall ist. Auch 
bei dieser maximalsten Leistung stellt also aufgeschlossenes Stroh für den 
Hund kein Nährmittel von Bedeutung dar. 

Im Anschluß an diese Vorversuche wurden im Sommer 1917 nach 
mannigfachen anderen Vorarbeiten die Experimente nochmals aufge- 
nommen, um unter möglichst vergleichbaren Verhältnissen die Wirkung 
der sogenannten Aufschließung nach verschiedenen Methoden, wie sie in 
der Praxis eingeführt worden sind, in ihrem Erfolg auf die Verdaulichkeit 
der Produkte zu untersuchen. 

Ausgegangen wurde von der Untersuchung des verwendeten Stroh- 
häcksels und damit verglichen ein Präparat, das unter Druck und ein 
zweites, das in nicht geschlossenen Gefäßen, mit derselben Konzentration 
von Alkali aufgeschlossen war. 

Da auch die Fabrikation überwacht war, so läßt sich auch die Aus- 
beute an aufgeschlossenem Stroh zu weiteren Schlüssen mit verwerten. 


Vergleichende Reihe. 
I. Gepulvertes Stroh. 


Das in Häckselform gelieferte Stroh wurde in einer elektrisch be- 
triebenen Laboratoriumsmühle zu einem feinen Pulver zermahlen, und 
diente unter der Bezeichnung Urstroh zu den nachstehend berichteten 
Versuchen. Der Hund erhielt neben 1000 g Fleisch je 70 g der lufttrockenen 
Masse, beides innig gemischt. 

Diese Menge wurde gewählt, weil in Versuchen mit Birkenholz ge- 
nauer erwiesen wurde, daß 70 bis 75 & Zellmembranen! das Optimum der 
Ausnützung bei meinem Tiere darstellt. Die Kotbildung war außerordent- 
lich gesteigert, der Kot aber nicht zusammenbackend, sondern locker und 
erdig. Über die Zusammensetzung der Ein- und Ausfuhr geben nachfolgende 
Tabellen Aufschluß. 


Strohhäcksel. 
In 100 Teilen In 66-.22g pro Tag 
INSCHENS. IE U OR N 4-32 2-87 


Orsanisch „u... 2. 95-68 63-35 


NÄHRWERT DES DURCH ÄLKALI AUFGESCHL. STROHES BEIM HUNDE. 57 


In 100 Teilen In 66-22g pro Tag 
TVo een 0-54 (3-37 Rohprotein) 0-37 
Bentosan.. .... 2... 26-43 17-49 
Zellmembran . ... 7732 51:20 
Pentosan der Zellm. . 22-35 14-79 
Zellulose Bell 529320 23-30 
Rest = NIT 13-11 
Be ne. (1-51) 0-99 
Verbrennungswärme . 448-6 297-0 
eh. 2... 13-46 9.98 
mit Pentosan ..... 4-18 = (31:05 Prozent Pentosan) 
In 100 Teilen Kot In 64-.1g pro Tag 

aselnet e 10-55 6-76 
Mroanisch. . .... . 89-45 57-24 
Dem... 5%, 2-49 1-59 
Bentosan . . . ce... 20-28 13-00 
Zellmembran . . . .. 48-77 31-26 
Zellulose der Zellm. . 26-13 16-75 
Pentosan N . 20-51 13-15 
Rest 5 2 1-36 
Verbrennungswärme . 423-4 971-4 


Zur Darstellung der Zellmembran wurde wie üblich verfahren, zu- 
erst, um die Verhältnisse zur Behandlung des Kotes gleich zu machen mit 
schwach saurem Alkohol extrahiert, dann getrocknet, mit Wasser in der 
Wärme extrahiert, mit: Alkohol entwässert, der Alkohol mit Äther ent- 
fernt, wieder getrocknet, 24 Stunden in der Kälte mit konzentriertem 
Chloralhydrat stehen gelassen, !/, Stunde gekocht und heiß nachgewaschen, 
mit Äther und Alkohol behandelt. Ich hebe dies besonders hervor, weil 
sich bei diesem Verfahren zeigt, daß eine nicht unerhebliche Menge von 
löslichen Produkten abgeschieden werden kann, die Zellmembran macht 
77-32 Prozent der Trockensubstanz aus, zu den löslichen Produkten ge- 
hört auch etwas Pentosan (26-43 — 22-35) 4-08. 

Ein Teil des N ist unlöslich = 0-32 g, er bleibt mit der Zellmembran 
fest verbunden. 82-21 Teile sind unlöslich, daher (95-68 — 82-2) 13-46 Teile 
organisch löslich. 


1 177.32 Zellmembran 
1:51 Fett 
3.37 Protein 
rem 


58 Max RUBNER: 


Der Kot war reich an Pentosan, bestand überhaupt fast aus der 
Hälfte, d. h. zu 48-77 Prozent aus Zellmembran. Mit dieser waren 0-69 N 
ausgeschieden worden, etwas mehr als die Zellmembran von Anfang an 
enthalten hatte, so daß sich Bestandteile des Fleischkotes fest eingelagert 
haben müssen (= 0-69 — 0-32) 0-37 g N entsprechend. 

Nimmt man die Gesamtausnützung in Kalorien ausgedrückt, so hat 
man 297-0 Kalorien als Zufuhr und 271-4 Kalorien als Ausfuhr, wovon 
67-7 mindestens als Fleischkot abgehen —= 203-7 Kalorien als Verlust 
— 68-58 Prozent. Der Verlust betrifft die Zellmembranen, wie die löslichen 
Produkte. Die Verluste der Zellmembran lassen sich nach den Analysen 
kurz nachstehend angeben: 


Zellmembran im ganzen... . .. 61-05 Prozent 
Zellulose der Zellmembran . . .. . 74-46 M 
Pentosan .,, Eu u 36-64 
Restsubstanz Be AR 10-37 


Die Zellmembran ist also nicht unerheblich auflösbar, wobei wie immer 
die Zellulose etwas ungünstig abschneidet. Die Pentosane gehen schwer 
in Lösung, auffallend gut aber die Restsubstanzen, deren Natur wir zur- 
zeit nicht näher bezeichnen können. Im Kot sind nur mehr Pentosane 
der Zellmembran vorhanden. 

Was die löslichen Produkte anlangt, so läßt sich darüber folgendes 
sagen: 1 g organische Zellmembran inkl. des N-Anteiles hatte 4-497 Kalorien. 

Zellmembran + Rohprotein machen 80-69 Teile aus, und entsprechen 
(80-7 x 4.497) 361-2 Kalorien. 


Dass ÜrStroRghabten gr 448-6 Kalorien 
in obigem Unlöslichen . . . . . 361-2 

Rest 87-4 Kalorien 
ab. fur LH Heiss ne 14-0 he 


63-4 Kalorien Weisen für 
den löslichen Rest des Urstrohes = 13-48 Teile. 


1 g dieser organischen Substanz liefert 4- 703 "Kalorien, also mehr 
wie reine Zellulose, was auf die Beimengung von Lignin bezogen werden 
mag. Der Wasserextrakt und der Alkoholextrakt aus dem Stroh sind von 
srüngelber Farbe. Ersterer löst etwas Kupferoxydhydrat in alkalischer 
Lösung, gibt aber keine Fällung von Kupferoxydul beim Erhitzen, wird 
mit Phloroglueinsalzsäure in der Kälte rot, blaßt ab, um beim Erhitzen wieder 
gelbrot zu werden. Mit 0-5 Prozent Salzsäure bei längerem Kochen gibt 
der Wasserauszug deutlich unter Fällung eines Niederschlages Zucker, 
der die Trommersche Probe liefert. 


NÄHRWERT DES DURCH ALKALI AUFGESCHL. STROHES BEIM HUNDE. 59 


Von den löslichen Substanzen gehen furfurolbildende Anteile in den 
Harn über. 


el ac Eee Rentosamn 

BONEH DIESE ELN ı KAMERSEN EU)": 

a lea or 

Kuochentag 0) 
ime Kor wurden täglich ausgeschieden . N. ...... 271-4 Kal. 
davon gehen ab für die unlösliche Zellmembran inkl. Protein 201-7 „, 

bleiben 69-7 Kal. 

im normalen Fleischkot sind enthalten . ......... Ötleth 


Eine nennenswerte Mehrung der N-Ausscheidung im Kot über das 
Maß der N-Ausscheidung nach reiner Fleischkost ist nicht nachzuweisen. 
Die N-Menge pro Tag im Kot beträgt 1-59& N, außerdem wurde gefunden 
0-32 & N in der Zellmembran, verbleiben also 1-27 & N, während bei reiner 
Fleischkost 1-03g N im Mittel abgegeben werden. Man kann daher an- 
nehmen, daß die oben aufgeführten löslichen Stoffe des Ur- 
strohes ohne Rest zur Resorption gelangt sind, durch diesen 
Umstand wird die Gesamtausnützung natürlich etwas günstiger, als oline 
die Beimischung solcher löslichen Substanzen. 

Die Verdaulichkeit des Strohes hat offenbar, was die eigentliche Zell- 
masse anlangt, große Ähnlichkeit mit dem Spelzmehl; zum Vergleich 
seien die beiden Ergebnisse nebeneinander gestellt: 


Feines Spelzmehl Gepulvertes Stroh 


Verlust in Prozenten Birkenholz 
für Zellmembran . .... 61-88 61-65 55-84 
Pellulosenät. . 2... 13-54 74-46 60-78 
Pentosan der Zellmembran 63-54 86-64 55-4 


Restsubstanz . . : ..: .. 21-03 10-37 — 


II. Stroh bei 4 Atmosphären Druck mit 10 prozentigem Natron 
aufgeschlossen. 


Nach den Angaben der fabrikmäßigen Darstellung lieferten 420 Kilo 
trockenes Urstroh 271-2 Kilo = 64-02 Prozent fertige Produkte, die da- 
bei auftretenden löslichem Produkte wurden mit 6500 Liter warmen und 
25000 Liter kalten Wasser ausgewaschen, das Material dann getrocknet, 
gemahlen und fein gesiebt. Ob bei letzterem Verfahren eine qualitativ 


60 Max RUBNER: 


ungleiche Scheidung eintritt, ist nicht festgestellt. Das Pulver hat eine 

mehr graue Farbe gegenüber der gelben des Urstrohes. Über Zusammen- 

setzung und Ausnützung geben die nachstehenden Tabellen Aufschluß. 
Strohmehl aufgeschlossen mit Alkali bei Druck (Nr. 4a). 


In 100 Teilen Trockensubstanz 


INSCHEBAF ER 3-07 
Orgamisch. 0 2 0.% 96-93 
IN ra. 0-08 
Bentosan. .. naar 27-43 
Zellmembran . .. 2 2 77250 
davon Zellulose . . 56-43 
Pentosan . . 19-00 
Kl AMBRESTA 2-07 
Verbrennungswärme . 416-0 
loslich eu ra 19-43 
davon Pentosan ... 84 (=43-23 Prozent) 
In 100 Teilen Zellmembran 
ellulose 2 2 ae 72-81 
Bentosanı cr ea 24-52 
Restwert 8. ee 1-67 


INSChe re 8-07 
Organische 91-9 
IN REN a... 2-32 
Bentosans ee 020 19-33 
Zellmembran . ... 61-21 
darin Zelulose ... 41-21 

Pentosan. .. . 14-24 
a NESEA ee 5-76 


Verbrennungswärme . 407-9 


In 67.3g pro Tag 
2-67 
65-23 
0-05 
18-46 
52-15 
37-96 
12-79 
1-39 
: 279-9 
13-08 


In 64:7g pro Tag 
5-22 
59-48 
1-50 
12-51 
39-60 
26-71 
9-21 
3-68 
263-9 


Durch das Kochen mit Natronlauge ist das Stroh so ziemlich N-frei 
geworden. Das Auswaschen hat aber kein Produkt geliefert, welches ganz 
von wasser- und alkohollöslichen Stoffen frei wäre, denn es fanden sich von 
letzteren (96-93 — 77-5) 19-43 Prozent. Hiervon wären etwa noch 1-1g 
als Rohfett in Abzug zu bringen. Die Verbrennungswärme des aufge- 
schlossenen Strohes ist erheblich geringer wie jene des Urstrohes. Wenn 


NÄHRWERT DES DURCH ÄALKALI AUFGESCHL. STROHES BEIM HUNDE. 61 


man nach den Ergebnissen der Fabrikation im großen rechnen darf, so 
kommen auf 448-6 Kalorien im Urstroh 268-7 Kalorien von aufgeschlossenen 
— 60-3 Prozent, der Rest 39-7 Prozent geht beim Aufschließen und Aus- 
waschen verloren. Der lösliche Anteil enthält 8-4 g Pentosan, auf 18-33 Teile 
Gelöstes (abzüglich Fett gerechnet), also 45-8 Prozent. Das Lösliche hier 
ist natürlich nicht mit den löslichen Substanzen des Urstrohes identisch, 
sondern nur der Rest der durch Natron löslich gewordenen Substanz, die 
sich, weil in allen Zellen von Stroh eingeschlossen, nicht ganz hat aus- 
waschen lassen. Die Zellmembran selbst hat hauptsächlich Pentosane 
und die Restsubstanzen eingebüßt, wie ein Vergleich mit dem Urstroh 


zeigt: 
100 Teile Zellmembran enthalten: 
Urstroh Aufgeschlossenes Stroh 
Zellulose . . . . 45-60 72-81 
Bentosan . : . .. 28-91 24-52 
Inesisent | uaısla 25-49 1-67 


Zellulose selbst scheint nicht zerstört zu sein, das Urstroh hatte 35-2 Proz. 
64-6 Teile aufgeschlossenes Stroh hatten 36-4. Die Verdaulichkeit der 
Produkte setzt sich also wieder aus zwei Faktoren zusammen, aus der der 
Zellmembran und aus jenen der noch vorhandenen nicht ausgewaschenen 
löslichen Substanz. Nimmt man das ganze Präparat und berechnet den 
kalorischen Verlust, so hat man 


2.5 Zune JRR 279-9 Kalorien 
„. NEST NE GAS a u ee 263-9 5, 
‚„, normalen Verlust des Hbisehen VENOTET 


Verlust durch das aufgeschlossene Stroh 196-2 Kalorien = 70-9 Prozent. 


Der Verlust des aufgeschlossenen Strohes, d. h. der Zellmembranen 
ist folgender: | 


Zellnembranse wu. vn eek en 75-93 Prozent 
ellulosen 24 PUHD DRNANIER SEN! 70-3 ., 
Pentosan der Zellmembran . . . . 2-01 ,, 


Die Restsubstanzen spielen in der ganzen Bilanz keine Rolle, es werden 
pro Tag nur 1-39& dieser unter dem Sammelnamen zusammengefaßten 
Materie aufgenommen, aber es ist auffällig, in den Ausscheidungen mehr 
davon, d. h. 3-68 g, wiederzufinden. Da die analytischen Ergebnisse nicht 
zu bezweifeln sind, muß es sich wohl um folgendes handeln. Bei der Ver- 
dauung werden aus der Zellmembran offenbar aus der Zellulose Zwischen- 


62 Max RUBNER: 


produkte gebildet, die zwar noch in den gewöhnlichen Reagenzien, wie 
Alkohol, Wasser, Chloralhydrat, wie sie zur Darstellung der Zellmembranen 
aus Kot dienen, unlöslich sind, aber den Charakter als Zellulose verloren 
haben. 

Die löslichen Produkte lassen sich nach ihrer Verbrennungswärme 
wie folgt berechnen: | 


das aufgeschlossene Präparat hat ........... 416-0 Kalorien 
77-5 Zellmembran x 4:294 liefern . . 332-7 Kalorien 
IE Bo Acherextraktu 0 10-DR ER. — 342-9 Kalorien 

18-3 & Lösliches 73-1 Kalorien 


also rund per 1g 399, was sich mit dem reichlichen Gehalt an Pento- 
sanen in dieser Mischung deckt. 


Im Rob sınd pro@aczenthalltenn oe ee 263-8 Kalorien 
davon gehen aber nach direkter Bestim- 
mung in die Zellmembran des Kotes 181-6 Kalorien 


weiter für gelöstes Pentosan (3:3 x 3-9) 12-8 Be — 194-4 Kalorien 
79-5 Kalorien 
ab für Fleischkot 67-7 


11-8 Kalorien 

Dieser kleine Überschuß ist nebensächlich, er könnte eine geringe 
Mehrung von Stoffwechselprodukten sein, oder etwa Substanz, die von den 
an sich löslichen Produkten herrührt. 

Eine Mehrung der N-Ausscheidung im Kot.läßt sich nicht nachweisen, 
die N-Abgabe betrug 1-50 8; in der Zellmembran waren 0-45 g, die viel- 
leicht von Produkten des gefütterten Fleisches herrühren können, an 
den Membranen fest hafteten und nicht löslich waren, diese in Abzug ge- 
bracht, liefert der Tageskot 1-05& N, während bei reiner Fleischkost 1-03 g N 
zu kommen pflegen. 


III. Strohaufschließung ohne Druck. 


Das Produkt, gleichfalls von mehr grauer Farbe als das Urstroh, war 
sehr fein gepulvert und gesiebt. Das Urstroh war 6 Stunden bei 100° ge- 
halten, dann mit 6500 warmem und 25000 Liter kaltem Wasser ausgewaschen 
worden, wobei 72-3 Prozent an Ausbeute an Trockensubstanz gewonnen 
wurden. 

Zusammensetzung der Ein- und Ausfuhr beim Ausnützungsversuch 
ergeben nachstehende Tabellen: 


NÄHRWERT DES DURCH ALKALI AUFGESCHL. STROHES BEIM HUNDE. 63 


Aufgeschlossenes Strohmehl Probe 2, Sieb 0. 
In 100 Teilen trocken In 66-9g pro Tag 


ee ee las 2-76 1-85 
Bsanisch Wa ch 97-24 65-05 
nen arns ge 0-11 0-07 
siagaie Sa Me ne 29.36 19-64 
Zellmembral .......: NEL TSRELL N 53-11 
Zellulose der Zellmembran . . ... 52-72 35-26 
Pentosan .. KORAN Naht, 20-94 14-00 
Rest # Nu WIR Hex, PESONERFER 5-73 3-85 
Werbrennungswärme: . . ... ...... 418-6 279-9 
alle 2 0 NE Ba N 17-85 11-94 
In 100 Teilen tr. Kot In 67-0g 
austlae "0. 2 Bea BE N 14-23 9.53 
eamischwe a: anae  E 83-77 57-47 
in. 2-02 1535 
Pain oe a 19-77 13-24 
Zellmembran. 2... 2,2. .2.. 0202: 56-11 37-58 
Zellulose der Zellmembran . . . . . 35-24 23-61 
Pentosan .,. EEE SEN 14-25 9.55 
Ne N we. 6-62 4-42 
Werbrennungswärme .'. ...... 31-2 262-1 


Der N war etwas weniger vollkommen ausgezogen, der Eingriff über- 
haupt nicht so weitgehend, wie in der Probe unter Druck. Es war noch 
etwas mehr Pentosan in der Zellmembran vorhanden. In der Zellmem- 
bran war auch mehr Restsubstanz, wie in dem vorigen Präparat. Die Zell- 
membran der Versuche nebeneinander geben die beste Übersicht. 


Urstroh Stroh unter Druck Stroh ohne Druck Dahlemer Stroh 


Zellulose . 45-60 12-81 66-40 67-12 
Pentosan 28-91 24-52 25. 70 26-94 
Rest . . 25-49 1-67 7-85 5.94 


Stroh ohne Druck und das Stroh aus Dahlem stimmen fast völlig 
untereinander überein. Der lösliche Anteil 17-85 Prozent, oder nach Ab- 
zug von 1-1 Prozent Fett, = 16-75 enthält 8-42 g Pentosan = 50-2 Prozent 
von letzteren. Die Verbrennungswärme ist geringer wie beim Urstroh, 
aber etwas größer wie beim Stroh unter Druck aufgeschlossen. Urstroh 
enthielt 35-2 Prozent Zellulose, bei dem Verfahren ohne Druck wurden 


64 Max RUBNER: 


72-3 Teile Aufgeschlossenes mit 52-73 Prozent Zellulose erhalten, was 
38-1 & Zellulose pro 100 Teile Urstroh berechnen läßt. Hier liegt ein Wider- 
spruch vor, denn mehr Zellulose als im Urstroh kann doch nicht erhalten 
werden. Vielleicht erklärt sich das Ergebnis daraus, daß bei den großen 
‚Mengen verarbeiteter Substanz die entnommenen kleineren Proben nicht alle 
absolut gleicher Zusammensetzung sind. Von 100 Kalorien im Urstroh 
werden bei dem Verfahren ohne Druck 62-24 Prozent wieder erhalten, 
bei dem Druckverfahren 60-3, der Unterschied ist also unbedeutend. 
Die Verdaulichkeit setzt sich wieder aus den jetzt bekannten zwei 
Komponenten zusammen, jener der Zellmembranen und jener der lösliehen 
Produkte. Der Gesamtverlust an Kalorien war: 


intdersZ uU hu ER 279-9 Kal. 
im) Kot. Sea 262-1 Kal. | 
abzüglich für Fleischkot .. 67.7 „ = 19-4 Ral. 
Verlust = 69-4 Prozent. 
Der Verlust der unlöslichen Teile war: 
Verlust an Zellmembranen . . . 70-76 
„sZelluloser sr Wr 66-96 
bentosan rege 68-14 


Bezüglich der Restsubstanz ergaben sich die gleichen Verhältnisse 
wie im vorigen Versuch; statt 3-85 in der Zufuhr kamen 4-42 in der Aus- 
fuhr, also etwas mehr, doch sind die Unterschiede geringer wie im vorigen 
Versuch. Die Ursachen für dies Verhalten sehe ich in der Einwirkung der 
Verdauung und Umformung eines Teiles der Zellulose. 

Die Natur der löslichen Produkte läßt sich nur nach der Verbrennungs- 
wärme fassen: 


in dem aufgeschlossenen Präparat waren . 418-6 Kal. 

79.39 Zellmembran x 41-94—=332-9 Kal. 

In lelsornhett, Per 1072 ,, = ads 
75-5 Kal. 


für 16-75g (abzüglich Rohfett) Lösliches, 1g — 4502 Kalorien. Die lös- 
lichen Produkte besitzen hier etwas mehr an Brennwert wie im vorigen 
Versuch. 

Im Harn wurde etwas Pentosan ausgeschieden: 


aml. Tag . 0.109 g 
en a VO 0-168 g 
23 A 0-120 g 


R Knochentag . . 0-08 g 


NÄHRWERT DES DURCH ÄLKALI AUFGESCHL. STROHES BEIM HUNDE. 65 


In dieser Hinsicht steht dieser Versuch also zwischen dem Urstroh 
und dem vorhergehenden Versuch. Für die weitere Berechnung kommen 
diese Werte nicht in Betracht, denn 0-135g Pentosan entsprechen nur 
0-53 Kalorien pro Tag an Verlust. 


Ba Kot; wurden. pro Tag verloren . - . . .......... 262-1 Kal. 

davon kommen in Abzug für die Zellmembran 

= nach direkter Bestimmung ...... 22. 169-8 Kal. 

für gelöstes Pentosan 3-69 x 3-9 = u 0. = leo 
78-3 Kal. 

Fuonseehtgab. für Rleischkat; ... . „2a. Mm. Se der 9 


bleibt 10-6 Kal. 


eine Differenz ohne Belang, welche auf geringe Mehrung von Stoffwechsel- 
produkten oder auf Stoffe unbekannter Art aus der Nahrung herrührend 
bezogen werden kann. 

Die N-Ausscheidung im Kot war 1-35; da in der Zellmembran 0-45 g 
N pro Tag vorhanden waren, so bleiben nur 0-90 N für die Stoffwechsel- 
produkte des Fleisches, was annähernd mit dem Durchschnitt überein- 
stimmt. Die Verhältnisse decken sich also mit dem vorigen Experiment. 

Über die Eigenschaften der im Wasser löslichen Substanz aus dem 
zweiten und dritten Präparat kann zusammengenommen gesagt werden, 
daß die Lösungen ziemlich farblos waren. Das ohne Druck aufgeschlossene 
Präparat gab eine Lösung, die etwas Kupferoxydhydrat in alkalischer 
Lösung aufnahm, aber kaum reduzierte, mit kalter Phlorogluzinsalzsäure 
gaben beide Präparate keine Reaktion, wohl aber — mit einer nach 
bläulichrot neigenden Färbung in der Hitze. Nach dem Aufschließen mit 
Salzsäure war erst nach mehrstündigem Erhitzen die Trommersche Probe 
deutlich. 


Zusammenfassung. 


‚Zusammenfassend läßt sich über die warme Aufschließung mittels 
Natronlauge bei hoher Temperatur folgendes sagen: Die Aufschließung 
verändert den eigentlichen Zellulosegehalt nicht, beseitigt einen Teil der 
Pentosane, das Lignin und einige andere Bestandteile der Zellmembran. 
Das aufgeschlossene Material hat pro g Trockensubstanz weniger Brenn- 
wert, als das Urstroh. Die Aufschließung unter Druck macht nur um weniges 
mehr Produkte auflöslich, d.h. auswaschbar, wie die Methode ohne Druck. 


Von 100 Kalorien im Urstroh werden als verfütterbare Produkte ge- 
wonnen: 
Archivf.A.u.Ph. 1917. Physiol, Abtig. e 5 


66 Max RUBNER: 


bei Aufschließen unter Druck . . . 60-3 Kalorien 
en R ohne a (ec... 
Der Unterschied erscheint praktisch nebensächlich. Der gleichheitlich 
berechnete Verlust bei der Verfütterung am Hunde war: 
angegeben in Kalorien der Zufuhr 


beim@Ulrstrohon gen 2 nr 68-6 Prozent, also verdaut 31-4 Prozent 
bei Aufschluß unter Druck . 70:9 ,, " 2 
Mr A ohne 3 Sal, Ki st BOSSE 


Für den Hund ist es also gleichgültig, ob man fein gepulvertes Urstroh 
oder aufgeschlossenes Material gibt. 

Das Urstroh wie auch die aufgeschlossenen Präparate bestehen stets 
aus den eigentlichen Pflanzenzellmembranen und einem mehr oder minder 
reichlichen Teil löslicher Produkte. Die Zellmembranen des Urstrohes 
und des behandelten Strohes unterschieden sich wie folgt: 

100 Teile Zellmembran enthalten: 


Urstroh Mit Druckaufschluß Ohne Druck 
Zellulosensn Be ur 45-60 72-81 66-4 
Bentosane ante 28-91 24-52 25-75 
Best A 25-49 1-67 1-85 


Die Zellmembran nach Aufschließung unter Druck besteht fast nur 
noch aus Zellulose und Pentosan, dagegen sind Lignine, Hemizellulosen 
und ähnliches beseitigt.. Aus welchen Substanzen der Rest der Zellmem- 
bran, abzüglich Zellulose und Pentosane bei dem aufgeschlossenen Material 
besteht. steht offen. Die nächstliegende Annahme weist auf ein Zurück- 
bleiben eines schwerer durch Alkali angreifbaren Anteils von Restsubstanzen 
des Urstrohes hin. 

Die wasser- und alkohollöslichen Produkte werden erst beim Kochen 
mit verdünnten Säuren in Zucker übergeführt, welche die Trommersche 
Probe gaben. Urstroh gibt in der Kälte die Phloroglueinprobe, die lös- 
lichen Produkte aus aufgeschlossenem Material erst beim Erwärmen. Die 
löslichen Produkte des Urstrohes enthalten prozentig weit weniger Pento- 
sane wie jene der aufgeschlossenen Produkte. 

Die Verdaulichkeit der Strohproben wird bedinst 

a) durch die Verdaulichkeit der Zellmembran und 

b) jener der löslichen Produkte, welch letztere offenbar sehr weit- 

gehend resorbierbar sind. 

Bei einem Hund, der 1000 Kalorien zur Ernährung im Normalzustand 
brauchte, wurde folgende Menge aus der Zellmembran und in löslichen 
Produkten, für den Tag berechnet, nach den Experimenten verdaut: 


NÄHRWERT DES DURCH ALKALI AUFGESCHL. STROHES BEIM HUNDE. 67 


Unter Druck Ohne Druck 


Sa UERLUR aufgeschlossen aufgeschlossen 
Kalorien insgesamt . . . . 9-1 83-7 85-6 
Kalorien aus Zellmembran . 89-6 53-9 65-1 
also aus löslichen Produkten . 3-5 29-8 20-5 


Die verdauten Kalorien bestehen bei aufgeschlossenem Material zu 
einem nicht unerheblichen Teil aus gelösten Produkten, die mit Wasser 
schwer auswaschbar und zum Teil vielleicht nur in Alkohol löslich sind. 
Der höchste Nutzeffekt der Resorption macht beim Hunde 8 bis 9 Prozent 
der Gesamtnahrung aus, der aus Zellmembran selbst stammende Teil 
bei aufgeschlossenem Material nur 5 bis 6 Prozent, die als aufgenommen 
berechneten Stoffe sind zu hoch in Anschlag gebracht, weil der Nutzeffekt 
der Zellmembran durch Gärung im Darme Verluste erleidet. Die Verluste 
im Harne sind nicht wesentlicher Natur. 

Aus Vorstehendem läßt sich berechnen, ob durch die Überführung des 
Strohes in aufgeschlossenen Material ein Mehrgewinn an Verdaulichem 


erzielt wird. 
Kal. insgesamt Kal. in Zellmembr. 


100 Teile Urstroh liefern verdaulich 140-6 135-4 

—= 64-6 „, unter Druck aufgeschlossenes 
Stroh 78-2 52-4 
ders 3., .. ohne Druck ı. „ur. 0... 92-5 70-1 


Für den Darm des Hundes wäre die Aufschließung ein Verfahren, 
das keinen Gewinn an Nährstoffen bedeutet. 


Behandeln der Zellmembranen mit Alkali bei Zimmertemperatur. 
a) Birkenhola. 


Im Zusammenhang mit den vorhergehenden Versuchen der Aufschlie 
schließung von Stroh bei hoher Temperatur mag noch der Einfluß von 
Alkali bei gewöhnlicher Temperatur erwähnt sein. Der Ausgangspunkt 
meiner Untersuchungen hatte keinerlei Beziehung zu den Bestrebungen 
das Stroh für den Wiederkäuer aufzuschließen, diese Frage lag mir fern, 
vielmehr habe ich! an eine ältere Angabe W. Hoffmeisters angeknüpft. 
Er war der Ansicht, die Zellulose könne man mit 5 Prozent Alkali in zwei 
Teile, eine leicht und eine schwerverdauliche Substanz zerlegen, wofür 
er auch sonst nicht weiter beschriebene Versuche anführt. Ich habe diese 
Angabe nachgeprüft, indem ich Birkenholz mit 5 Prozent Kalilauge 


ı Dies Archiv. 1915. Physiol. Abtlg. 8.83. 
5* 


68 MıAx RUBNER: 


24 Stunden behandelte, dabei wurden 28-6 Prozent des Holzes aufgelöst; 
das löslich Gewordene war nicht Zellulose, sondern zu ?/,, Pentosan. Das 
extrahierte Birkenholz selbst habe ich mit kaltem, dann kochendem Wasser 
gründlich ausgewaschen, getrocknet und verfüttert. Das mit Kali extra- 
hierte Material stellte dann die nach Hoffmeisters Annahme schwerer 
verdaulichen Komponente dar. Einen solchen Unterschied der Verdau- 
lichkeit habe ich nicht gefunden, der Verlust der Zellmembran war: 


a) ohne Kalibehandlung . . ..2.....69-79 Prozent 
b) nach ano a A RED 


Sie zeigte nach Behandlung mit Kali Quellungsvorgänge, aber trotz- 
dem keine wesentlich verschiedene Verdaulichkeit. Die Behauptung 
Hoffmeisters, daß das in Kali Lösliche aber verdaulicher sei, ist trotz- 
dem richtig. Das Kalilösliche sind jene Substanzen, auf welche ich schon 
oben bei dem aufgeschlossenen Stroh hingewiesen habe, wo sie als nicht 
ausgewaschene Reste der Alkaliauflösung auftraten. Auch wenn man nur 
die Zellulose ins Auge faßt, fand sich keine nennenswerte Verschieden- 
heit der Verluste, nämlich: 


a) ohne Kalibehandung ..... 59-5 Prozent 
b) nach RL LE BET 07 SR), 


Das sind bei den oft großen Schwankungen der Zelluloseauflösung 
geradezu übereinstimmende Werte. Wie wir jetzt zu sagen hätten, würde 
also die Aufschließung keine Bedeutung gehabt haben, sicher wenigstens 
nicht, insoweit die unlöslichen Produkte in Frage kommen. 

Die vorhergehenden Versuche mit Strohaufschließung haben in dieser 
Richtung ganz genau das gleiche Resultat gegeben, wie das schon früher 
für die Birke erwiesen wurde. 


b) Mit Alkali bei gewöhnlicher Temperatur aufgeschlossenes 
Stroh. 


Im April 1917 sind mir zwei Präparate dieser Art von Geheimrat 
B. zugegangen, die unter Anwendung verschiedener Konzentrationen von 
Lauge gewonnen worden waren. 

Ich gebe zunächst deren Zusammensetzung wieder. Das Ausgangs- 
material selbst habe ich nicht untersucht, es darf hinsichtlich dieses Umstandes 
auf die 5. 52 gegebenen Analysen verwiesen sein. Die beiden aufgeschlos- 
senen Strohsorten waren sehr ähnlich zusammengesetzt, sie enthielten etwa 
dieselbe Menge Zellmembran überhaupt, daneben aber reichlich lösliche 
Produkte, jedoch von verschiedener Zusammensetzung. Präparat I hatte 


NÄHRWERT DES DURCH ALKALI AUFGESCHL. STROHES BEIM HUNDE. 69 


im löslichen Anteil 38-66, Präparat II aber 61-03 Prozent Pentosane und 
dementsprechend war auch der Gesamtpentosangehalt verschieden. In 
vielen Richtungen sind übrigens hier ähnliche Verhältnisse, wie bei dem 
100° aufgeschlossenen Stroh, die Zellmembran besteht in überwiegender 
Masse aus Zellulose. 


In 100 Teilen Trockensubstanz: 


Stroh I! | Stroh II! 

AUG 0 2.23 2-15 
Breanisch .../.0. 97-77 97-85 - 
Be nn. en. 0-11 = 0-69 Protein 0-18 = 1-12 Protein 
Bentosan . ...... 20-26 27-25 
Zellmembran 217220 73-05 
darin Zellulose . . . . 56-41 55-26 

ebentosan .'.'. 112070. 13-47 

„„  Restsubstanz 4-94 4-32 
Kalorien... ... ..": 2). 433-3 440-4 
Bosch”... run, 23-43 Prozent 22-58 Prozent 
mit 9-06 Pentosan = S3Sl000 mit 13-78 g Pentosan = 


61-03 Prozent. 


In 100 Teilen Zellmembran sind: 


Stroh I Stroh II 
Zellmlose». + pi. 17-75 15-64 
Pentosanr 210) mia, 15-60 18-44 
Restsubstanz . . . . . 6-65 5-92 


Der Hauptunterschied liegt also nicht im Verhalten der Zellmembran, 
sondern in dem der löslichen Substanzen. 

Frisch dargestellt und verfüttert war das Ergebnis ein recht ungün- 
stiges, was die Resorbierbarkeit anlangt. Ich habe an dem Versuchshund 
täglich mit 1000 & Fleisch je 70g des lufttrockenen Präparates fein ge- 
mahlen verlüttert. | 

Strohhäcksel I war mit 30 Prozent Natronlauge behandelt, dann gründ- 
lich ausgewaschen worden. Vor der Fütterung wurde es in einer Labora- 
toriumsmühle fein gemahlen. 

Was die Zusammensetzung der Zufuhr und Ausfuhr anlangt, so 
geben darüber folgende Tabellen Aufschluß. 


1 etwa 1:1 Prozent Ätherextrakt. 


70 MaAx RUBNER: 


Strohl. 
In 70 Teilen Zufuhr = 67:98 trocken 
Isll 
66-4 
0-07 
13-72 
49.25 
38-28 
7-69 
3:28 
294-2 
In 100 Teilen Kot: tür 80-0 8 pre iz 
Ascher OU ae 1:16 0-93 
Organische 98-84 79-07 
Nische: 1 3-21 27 
Pentosan Baur 72 13-70 
Zellmembran . . . . 59-83 47-86 
Zellulosem se 46-95 37-56 
Pentosanti.a 9, ı 7-16 5-72 
Resta Dez: 4-57 
Verbrennungswärme . 4-803 384-0 


Das Stroh war sehr arm an N, ziemlich reich an Pentosan, aber ärmer 
als natürliches Stroh im Durchschnitt davon enthält. Zieht man die Zell- 
membran, Ätherextrakt + Rohprotein von der organischen Substanz ab, 
so bleiben 23-43 Prozent, also etwa !/, an Bestandteilen, die als lösliche 
angesehen werden müssen, auf diese treffen (20-26 — 11-20) 9-06 g Pento- 
san = 38-66 Prozent Pentosan. 

Von einem unveränderten Stroh unterscheidet sich dieses Präparat 
durch den hohen Zellulosegehalt (s. oben S. 52). 

Der Gesamtkalorienverlust ergibt sich aus der Zufuhr = 294-2 Kalorien 
und den Ausscheidungen von denen 67-7 Kalorien als normaler Verlust 
bei Hleischfütterung in Abzug kommen, bleiben 316-5, Kal., d. h. 
es ist ein Gewinn an Nährstoffen überhaupt nicht eingetreten, 
sondern ein Verlust, der auf verminderte Resorption des gefütterten 
Fleisches bzw. Mehrung der Kotbildung zurückzuführen ist. Dies schließt 
nicht aus, daß von dem eingeführten Präparat ein Anteil zur Resorption 
gekommen ist. Betrachtet man nun die Verhältnisse der Zellmembran und 
ihrer Bestandteile, so läßt sich das Nähere leicht feststellen. 


NÄHRWERT DES DURCH ALKALI AUFGESCHL. STROHES BEIM HUNDE. yai 


Es wird verloren von 100 Teilen: 


Zellnemloramnen ara a ya 97-19 
Zelluloserder Zellmembran I. 2u.20.2.5. 98-12 
Pentosan „, mathe nahe Sin 74-51 


Von dem Pentosan wurde aber nichts resorbiert, obschon doch freie 
Pentosane in dem löslichen Anteil des Präparates vorhanden waren, jeden- 
falls blieb auch das Wenige, was an Pentosan aus der Zellmembran frei- 
gemacht worden war, unresorbiert liegen. Alles dies weist also auch auf 
eine besondere Störung hin, die wahrscheinlich im Alkaligehalt des Stroh- 
präparates gelegen haben dürfte. 

Ganz ähnlich verhielt es sich im Versuch II, wie nachstehende Zahlen 
kurz ergeben. 


StrohtII. 
In ”0g = Zufuhr 66-5 g trocken 
1-42 
65-08 
0-12 
18-00 
48-57 
36-73 
293-4 
In 100 Teilen Kot: pro 83-2 g pro Tag 
sche 9. A... 13-12 10-90 
Örganisches . . . 86-88 72-30 
IN Aelas yi 1-95 1-62 
Bentosansı 40.7...1.4433 14-42 
Zellmembran . . 57-55 47-89 
Zellulose . . . . 40-50 33-69 
Kalorien ... . . 420-9 390-1 


Eine eingehende Besprechung erübrigt sich, nur mag erwähnt sein, 
dab der N-Verlust hier nicht so stark gesteigert war und vom Pentosan 
wenigstens ein Teil zur Resorption kam. Von 283-4 Kalorien im Stroh 
kamen mit dem Kote 350-1 — 67:71 = 282-4 zu Verlust, hier ist der 
letztere wesentlich geringer, einige Prozente sind also zur Resorption 
gelangt. 

Nachdem ich inzwischen die Untersuchungen an anderem aufgeschlos- 
senen Material gemacht hatte, schien es mir durchaus bewiesen, daß diese 
kalt aufgeschlossenen Präparate nur einem nebensächlichen Umstand ihre 


72 - Max RUBNER: 


schlechte Resorbierbarkeit zuzuschreiben hatten. Ich habe daher nach 
vier Monaten wenigstens mit Präparat I eine neue Versuchsreihe ange- 
stellt. Wenn nur das freie Alkali an der schlechten Ertragbarkeit die 
Schuld trug, so war inzwischen ausreichend Zeit verflossen, um aus dem 
freien Alkali die an sich unschädlichen Karbonate in allen Schichten des 
Strohes herzustellen. In der Tat verhielt sich jetzt die Sache völlig anders. 

Gefüttert wurden wieder 70 lufttrockenes Präparat und 10008 
Fleisch pro Tag. Das Ergebnis enthält folgende Tabelle: 


Stroh I. 2. Versuch. 


In 100 Teilen Kot: in 70-5 g pro Tag 
‚Asche: 42 Wr aaa 20-25 14-27 
Örganisch Ir 56-23 
Ne. lg 1-19 
Pentosanz 2 m ala 9.58 
Zellmembran . . 48-45 34-17 
Zellulose 27a 22-50 
Pentosan .... al 5-02 
Restun. ee 9.41 6-65 
Verbrennungswärme 370-0 237-6 

100 Zellmembran enthalten: 
Zellunlosesn.. Seas 65-86 
Bentosan’ . Kiser u. 14-72 
BREst. 1.0.0003, 8, er 19-42 


Daraus folgt, daß sich dieses Präparat in seiner Resorption durch- 
aus nicht so ungünstig stellt. Von den Kalorien gingen im ganzen von 
294-2 der Zufuhr (237-6 — 67-7) = 169-9 oder in Prozent 57-74 verloren. 
Irgendeine Störung des Darmes lag jetzt nicht mehr vor, der Kot ent- 
hielt 1-19g N pro Tag, in der Zellmembran des Kotes waren aber 0-28 
N, so daß nur 0-91& N für den Fleischkot treffen, während im Durch- 
schnitt 1:03 zur Ausscheidung kommen. 


Von 100 Teilen wurden verloren: 


bei der’ Zellmembran "Eve 69-37 
Zellulose :.,.... ws nern, 58-78 
Pentosan der Zellmembran . ..... 65-28 


Das erinnert ganz an die früher mitgeteilten Resultate bei Stroh mit 
Aufschluß bei hoher Temperatur. Ein näherer Vergleich ist ausgeschlossen, 
weil ja das Ausgangsmaterial hier nicht bekannt war. Das Pentosan, auch 
das nicht in der Zellmembran gebundene, wird schwer resorbiert, das ist 


NÄHRWERT DES DURCH ALKALI AUFGESCHL. STROHES BEIM HUNDE. 73 


aber auch bei anderen ähnlichen Präparaten ebenso. In dem Harn sind nur 
Spuren von Pentosanen nachweisbar gewesen. Den Beweis völliger Reiz- 
losigkeit des Präparates für den Darm kann man leicht durch folgende 
Betrachtung erbringen: 


Iekor wurden ausgeschieden . . . : .... 0... 237-6 Kal. 

in 34-2 & Zellmembran des Kotes sind (x 4-2 Kal.) 143-6 

melncdco Protemmı (9:88), .ls. “U lELUlenN. 10-4 

BezyjoniweiemuPpentosan (329) . . 2.2... IMS = lls® 
bleibt Rest für Fleischkot 65-8 Kal. 
für Fleischkot wurde sonst erhalten Do er 


Die Differenz liegt innerhalb der Fehlerquellen, es hat keine Steigerung 
der Stoffwechselprodukte, also keine Reizung des Darmes stattgefunden. 
Im Kot erscheint etwas mehr Restsubstanz wie in der Einnahme, dies 
ist ein Vorkommnis, das auch bei den durch Wärmeaufschluß behandelten 
Stroh schon beobachtet und dort erklärt wurde. 

Die Aufschließung bei Zimmertemperatur liefert also ein Material 
das in seiner Resorptionsfähigkeit, wenn es frei von Ätzalkali ist, auch 
den anderweitigen Aufschließungsmethoden kaum nachsteht. 


Die Verwertung aufgeschlossenen Strohes 
für die Ernährung des Menschen. 


Von 
Geheimrat Max Rubner. 


Mit Rücksicht auf die zahlreichen Methoden und Versuche der Stroh- 
aufschließung und die Bedeutung, welche diese Produkte für die Tier- 
haltung erlangt haben, schien es angemessen, die Verhältnisse auch beim 
Menschen einer Durchprüfung zu unterziehen. Dies um so mehr, als tat- 
sächlich gleich bei der Propaganda im Winter 1916/17 für die Strohauf- 
schließung mit Alkalien die Empfehlung, damit auch das Brot des Men- 
schen zu strecken — um Nährmittel für die Tierhaltung frei zu machen — 
auftauchte. 

Das Ergebnis an Hunden zeigte mit Bestimmtheit, daß die aufge- 
schlossenen Präparate dieser Art heute in einer Weise hergestellt sein 
können, welche innerhalb der allerdings engen Grenzen der optimalen 
Resorptionsfähigkeit der Zellmembran eine Störung der normalen Ver- 
dauung nicht herbeiführen, wenigstens nicht in kurzer Zeit; wie eine lang- 
dauernde, monatelange Belastung des Darmes sich verhalten würde, steht 
dahin, bietet aber kein besonderes Interesse. 

Die Versuche zeigten, daß man in der alkalischen Aufschließung kein 
Mittel besitzt, um für den einfacher gebauten Darm des Fleischfressers 
die gefütterte Zellmembran grundsätzlich so zu ändern, daß sie in erhöhtem 
Maße auflösbar würde, obschon der Darm des Hundes bestimmten Zell- 
membranen gegenüber eine solche Fähigkeit starker Auflösung besitzt. 

Daß sich die Verhältnisse der Resorption aufgeschlossenen Strohes 
beim Menschen prinzipiell ganz anders gestalten sollten, wie beim Hunde, 
ist unwahrscheinlich, aber es läßt sich a priori der etwaige Grad einer Ab- 
weichung nicht voraussagen, zumal dieses auch von der Nahrungsart ab- 
hängt, in deren Verband die Verfütterung der Zellmembran erfolgt. 
Bestimmt zum Brotzusatz kann das Strohmehl quantitativ anders wirken, 
wie etwa im Fleisch. Immerhin ist folgendes sicher: Das aufgeschlossene 
Stroh hat manche Ähnlichkeit mit Spelzmehl, daher darf man auch ver- 


Mıx RUBNER: VERWERTUNG AUFGESCHL. STROHES USW. 79 


muten, daß es sich in den Resorptionsverhältnissen beim Menschen diesem 
gleich oder sehr ähnlich verhält. Auch in allgemeiner Richtung wird der 
Wert des Strohmehls in Analogie zu dem Spelzmehl in die gleiche Formel 
zu bringen sein. Der Zusatz von Spelzmehl bedeutete eine vom Stand- 
punkt des Stofifwechsels und der Nährstoffbeschaffung zwecklose Maß- 
reeel, die in diätetischer Hinsicht die Qualität des Brotes herabdrückte, 
in hygienischer Hinsicht beim Gesunden durch die Kotmasse und Gärung 
belästigt und den Kreis der Personen, die derartiges Brot ohne Schädigung 
für den Darm ertragen können, sehr einschränkt. 

Da es sich aber bei der Aufschließung des Strohes um eine Maßregel 
handelt, von der man in manchen Kreisen ein die Brotversorgung 
umwälzendes Ereignis erwartet, so kann dieser Umstand vielleicht es 
rechtfertigen, beim Menschen eine solche besondere Prüfung vorzunehmen, 
obschon der Wert der Belehrung durch objektive Befunde bei der herr- 
schenden Bewegung ziemlich gering einzuschätzen ist. 

Für einen solchen Versuchszweck habe ich tunlichst optimale Ver- 
hältnisse gewählt, eine Mischung des aufgeschlossenen, Materials mit 
feinstem- Weizenmehl, weil dabei die Aufnahme der aufgeschlossenen Zell- 
membranen nicht durch gleichzeitig verzehrte andere Zellmassen, wie sie 
im Kriegsbrot sind, gestört oder durch Überlastung des Darmes mit Unver- 
daulichem die Grenzen der günstigen Resorptionsfähigkeit überschritten wird. 

Der Verwendung von halbverdaulichem Material wie Spelzen und 
Stroh, sind bestimmte diätetische Grenzen gezogen, die Brotqualität 
sinkt sehr rasch, selbst bei nur mäßigen Zusätzen, und höher wie auf 
10 Prozent wird man schon aus diesen Gründen nicht gehen können, 
die Zähigkeit des Brotes nimmt zu, die Austrocknung wird begünstigt. 

So verhielt es sich in der Tat auch für das Brot, das aus einer Mischung 
von 90 Teilen feinstem Weizenmehl mit 10 Prozent Strohmehl (bei 4 Atm. 
und 10 Prozent Natron aufgeschlossen) gemengt war. Das Brot wird durch 
den Zusatz bräunlich, etwa wie Brot aus voll ausgemahlenem Roggen, 
ferner verliert das Weizenbrot seinen guten würzigen Geruch, es hat keinen 
ausgeprägten Geschmack, auch nicht bei starkem Durchkauen. Gebacken 
war das Brot ausgezeichnet, gleichmäßig, feinblasig, zeigte aber auch eine 
übermäßige Härte beim Trocknen; die kleinen Brotteilchen lösen sich 
langsamer im Speichel, bleiben daher leicht an der hinteren Rachenwand 
lange hängen. Der Kot ist sehr massig, aber nicht allzu fest, Gasbildung 
stark. Der -Kot ist von Gasblasen auf dem ganzen Durchschnitt durch- 
setzt. Nach diesem allgemeinen Urteil mögen die näheren Ergebnisse der 
Versuche berichtet werden. Ausgeführt wurde eine sechstägige Reihe 
an zwei Soldaten, die früheren Versuchspersonen waren einberufen, es 


16 Max RUBNER: 


mußte daher ein Personalwechsel eintreten. Die beiden Leute M. und K. 
aßen nach Bedürfnis, d. h. freier Wahl; neben Brot erhielten sie kleine 
Mengen Zucker und Fett. Das Nähere enthält die Tabelle. 


Woche. Strohbrot 4a. Münch. 


Nahrung Brot Harn 
8 |23 - 3 
ä nz | >| BE Eee N 
9) | =) 
m kg g g|g |Literi g cem| g 
5. VL| 1. |70-01352| — | — | — 1352-0 
6. „| 2. 168-411145 | 35 | 34 | %, 1151-5 
71. „| 3. |68-4|1150| 5 | 34 | !/, ||1163+0 
Bu, nA Rs re lsrzeo 
9,15 En en | — | — |1153-4 
1007 u|8le® 1117| — | 30 | — [1128-7 
N, 7136-5 
pro Tag g || 1189-4 
| | trocken = | 1734 +3 
Woche. Strohbrot 4a. 
5. VL] 1. |62-5|l1060 | 50 | 80 | — [1060-0 
6. „| 2. |61-0|| 995 | 55 | 54 | — 1006-7 2100 | 9-4 
T. „» | 3. 159-4 || 920 | 55 | 54 | — 924.9 ||1340 | 7-4 
Se EA 830 | 50 | — | — 839.5 || 1660 | T-1 
es: 965 | — | 50 | — || 975-9) 1200 |7-6 
0A 7125| 50 | 50 | — || 735-5 | 920 |7-1 
en 5542-5|11480 7-5 
pro Tag g | 923-5 
trocken —= || 570.3 


Zeit 


frisch 
oa trocken | 


10F15v. | 295 | 128 
9 


9 
9 
9 


„| 285 | 120 
‚| 310 | 185 
„| 210 | 50 
„| 200 | 4# 

463 


Brot 1490 g frisch = 920 g trocken = 61,74 Prozent Trockensubstanz. 


Person K. (rund 60 Kilo) verzehrt pro Er in Brot 
in Fett 48 g 
in Zucker 43-38 . 


im ganzen 


Person M. (70 Kilo) verzehrt pro II in Brot. 
in Fett 16-38 
in Zucker 6- 6 g. 


im ganzen 


2372-9 Kalorien 
446-4 „, 
Ina s.. 


2992-5 Kalorien! 


3055-0 Kalorien 
1a) 
26: Are 


3232-9 Kalorien! 


2 Die Reinkalorien ergeben sich aus dem Umsatz der Kalorien abzüglich der 
Kalorien im Harn (1 N = 8-02) und des Kotes für Kurgas = 2584. 2 — 43.07 pro Kilo, 


für Münch = 2824-6 = 40:35 pro Kilo. 


VERWERTUNG AUFGESCHL. STROHES FÜR DIE ERNÄHRUNG usw. 77 


Die eine Person war etwas verwöhnter und konnte sich nicht ent- 
schließen, das Brot zu genießen wie es war, Person M. hat nur ausnahms- 
weise kleine Zusätze von Zucker und Fett genommen. Beide Personen 
kamen ungefähr auf die gleiche Kalorienmenge pro Kilo. Was die Ei- 
weißbilanz anlanst, so zeigte sich folgendes: 


Summe der 


N-Aufnahme N imHarn N im Kot Ausscheidung Differenz 
Münch 12-27 7-6 1le7iS) 9.4 + 2-9 
10-50 9.5 he 111108 — 0-8 
10-80 8-8 N 10-6 — 0-2 
11-00 9-0 A 10-8 — 0-2 
10-70 Sal! " 10-9 — 0.2 
10-50 9.6 E 11-4 — 0-9 
Mittel: 10-7 
Kurgas 9.85 8-3 1SCT 10-27 — 0-42 
9.36 9-4 8 1 5@% — 2-01 
8-59 7.4 In 9-37 — 0-78 
7-80 7-1 £ 9-07 ar 
9.07 7-6 IE ST — 0-50 
6-83 an! a) 9.07 — 2-24 
1-5 Mittel: 9-8 


Das Brot hatte 61-74 Prozent Trockensubstanz und 0-93 Prozent N. 
M. war annähernd im Gleichgewicht, K. gab dauernd noch vom Körper 
an N nicht unerheblich ab. 


Über die Zusammensetzung des Brotes und die Ausscheidungen geben 
nachfolgende Tabellen Aufschluß. 


Münch. 

In 100 g Brot: in 734-3 g pro Tag 
INSchespt a 0.00... 1:75 12-86 
Oreamischlk> 2... 02. 18-25 721-44 
De et. 1-53 11-23 
BEnosane 2. er 13-04 47-87 
#ellmembran  ... „ass. . 7-99 58-66 
Zellulose der Zellmembran . . 4-97 36-47 
Pentosan „‚, 2% al NED 13-36 
Rest er Ki lee 8-83 
Sea ei 74-401 546-20 
Verbrennungswärme 416-1 3055-3 


1 Direkt bestimmt. 


78 MAx RUBNER: 

In 100g Kot sind: in 79-1g pro Tas 
NSCHENEEF EN BR SWRETE MU NE 4-54 3-59 
Organs chen: 95-46 75-51 
INA En a ad EEE Da 1-79 
Bentosanas nr... ee 17-44 13-79 
Zellmembrameen 62-85 49.71 
Zellulose der Zellmembran . . 40-41 31-96 
Pentosan _.. n I Nanlz 11-96 
Rest Me EN Mean 7292 5-79 
Stärke .- Mike 9.561 4-40 
Kälonienz ae er . 423-3 3934-82 

Kurgas. 

In 100 & Brot: in 870-3 g 
INSCHE 1 SE ER, MR 07 9.98 
Orcanıschaespe . 2a 98-25 560.30 
Near NETTER 1-53 8-72 
Bentosan IL. 2 Pa 6-52 Did) Sn 
Zellmembrane Zr 7-99 45-56 
Zellulose der Zellmembran . . 4:97 28-34 
Pentosan .. Mr Ro 10-37 
Rest n u Bat) 6-84 
Stärke .; :....%.. NZ 74-40 424.30 
Verbrennungswärme ... . 416-1 2672-9 

In 100 Teilen trockenem Kot: in 73-7 g Kot 
Asche... 2 es Sr all 5-26 
ÖOrsanısel., 15), Mes 92-89 68-44 
Na Ein. EEE er 2-68 1:97 
Pentosaniba.. 4, 20 22 ..19209 11-06 
Zellmembrane 0 56-95 41-97 | 
Zellulose der Zellmembran . . 37.30 27-48 | 
Pentosan ., r > 9.56 | 
Rest 5; Y, ER 4-93 
Stärke. Nie 4.391 3-23 
Kalorien 0. 2. RE 454-7 339 


Um die Art des Brotes näher zu schildern, wird es zweckmäßig sein, 
auch die Zusammensetzung des feinen Weizenmehls, des aufgeschlossenen 


1 Direkt bestimmt. 


VERWERTUNG AUFGESCHL. STROHES FÜR DIE ERNÄHRUNG usw. 79 


Strohmehls und des mit Strohmehl gemischten Brotes nach den wesent- 
lichen Punkten nebeneinander zu stellen: 
In 100 Teilen Trockensubstanz sind: 


Feinstes Aufgeschlossenes Brot mit Strohmehl 


Weizenmehl! Stroh aufgeschlossen 

erche . : .,. ee 2-30 3:07 1-75 
Mreamnisch. 2: . ...'. . 97-70 96-95 98-25 
ST 2 ee 1283 0-08 1-53 
Bemosanı 2. ae) "4.52 27-43 6-52 
Zellmembran: .:...% -.. 1-26 77-50 78 
Bellnlose@ . .*... =... ... (0-53) 54-45 4-97 
Verbrennungswärme . . . 423-8 416-0 416-1 


Was die Ausscheidungen anlangt, so war der Kot sehr reichlich, 
relativ von hoher Trockensubstanz, die Verluste betragen: 


Kurgas Münch Mittel 
Gesamt-Kalorien , . -: .... ... 14-62 10-95 12-78 
IT a A 22-47 15-90 19-18 
Stine Ne ER 0-76 0-80 0-78 
Felmenmbran  ........: 92-12 84-70 88-41 
Zellulose der Zellmembran . . 96-90 87-60 92-27 
Pentosan „, N; 2 ale 89.52 90-85 
Restsubstanz “ a ee 65-57 68-82 
Pentosan im ganzen . . . . 29-8 27-58 28-70 


Die beiden Personen stimmen in der Ausnutzung nicht ganz überein, 
Kurgas hat, obschon er weniger aß als Münch eine etwas geringere Ver- 
daulichkeit, die sich bei allen Stoffen gleichmäßig bemerkbar macht. 
Wenn man die Gesamtausnützung nach Kalorien mit Roggenmehl von 
82 bis 95 Prozent Ausmahlung vergleicht, so ist da der Verlust 13-5 bis 
14-8 Prozent, bei einem Weizenmehl von 80 Prozent Ausmahlung hatte 
ich 11-12 Prozent gefunden. Wie sich aus der prozentigen Beimengung 
der Zellmembran schon ergab, hatte das mit aufgeschlossenem Stroh 
vermengte Brot in seiner Zusammensetzung sich einem weit ausgemahlenen 


! Das Weizenmehl war nicht genau das ‘zum Verbacken des Strohmehls 
benützte, aber doch von möglichst gleicher Beschaffenheit. 
Das Brot mit Strohmehl versetzt, ist also pentosanreicher und so reich an 
Zellmembran, als etwa 90 bis 95 prozentiger Ausmahlung eines durchschnittlichen 
Roggens entsprechen würde. 


80 MıAx RUBNER: 


Korn nähern sollen, das ist auch geschehen. Die eine Person verdaute 
so gut, als man es bei einem Weizenbrot von etwa 80 Prozent hätte ver- 
langen können, also außergewöhnlich gut, Person K. entspricht etwa den 
durchschnittlichen Verhältnissen. Die Zellmembran ist auch beim Men- 
schen schlecht aufgenommen worden, weit schlechter als z. B. die Kleie- 
zellmembranen resorbiert werden. Ein Vergleich zwischen der Verdaulich- 
keit verschiedener Zellmembranen beim Menschen zeigt folgendes: 


Es wird verloren von 100 Teilen: 


Aufgeschlossenes Weizenbrot Roggenbrot Spelzmehl 


Stroh (Kleie) (Kleie) (fein) 
Zellmembran . . . . 8841 53-04 55-5 66-0 
Zellulosen 0 2 BET 97-58 61-40 59-5 
Bentosanes 90-85 38-73 59.10 66-1 
Beste Re En 68-82 44-18 52-1 59-5 


Von allen aufgeführten ähnlichen Zellmembranen wird also das auf- 
geschlossene Stroh am wenigsten gut verwertet. 

Ein Vorzug einer Aufschließung ist beim Menschen also ebensowenig 
wie beim Hunde nachzuweisen. Die Aufschließung durch Säuren, wie durch 
Alkali, kann demnach eine Erhöhung der Verdaulichkeit nicht erreichen, 
doch erweist sich der Menschendarm als befähigt, bestimmte Zellmem- 
branen hochgradigst aufzulösen, wie das für Wirsing und gelbe Rüben 
bewiesen worden ist. Bildet aber eine schwer verdauliche Zell- 
membran das Objekt der Aufschließung, so bringt diese selbst keinen 
weiteren Nutzen für die Verdaulichkeit zustande. 

Das kann als sicheres Ergebnis und als Richtlinie für die Zukunft 
festgehalten werden. An dieser Stelle mag auch nochmals daran erinnert 
sein, daß man der weitgehenden Zerkleinerung keine allgemein gültige 
Bedeutung für die Auflöslichkeit der Zellmembranen zuzuerkennen ver- 
mag. Hat durch Zermahlung die Masse etwa mehlartigen Charakter er- 
reicht, so habe ich oft beobachtet, daß die weitere Zerkleinerung und 
Trennung durch feinste Siebe keinen besseren Erfolg erzielt. Die beliebige 
Vergrößerung der Angriffsflächen bemißt man rein theoretisch für diese 
Fälle als zu wesentlich, in Wirklichkeit kommt ihr diese Bedeutung nicht 
immer zu. Ich habe das bei den Versuchen am Hunde mit aufgeschlossenem 
Stroh und auch beim Säugling bei Spinatzugabe usw. nachgewisen.. 

Wie ich schon bei den Versuchen mit Spelzmehl zeigen konnte, ist 
ein wirklicher Nutzeffekt, der sich in beachtenswerter Größe in der Resorp- 
tion an Zellmembran ausdrückt, nicht vorhanden. 


VERWERTUNG AUFGESCHL. STROHES FÜR DIE ERNÄHRUNG usw. 81 


Man könnte aber meinen, die Bedingungen der Resorption wären viel- 
leicht bei aufgeschlossenem Stroh günstiger, weil es zusammen mit feinem 
Weizenmehl zum Genuß kam, wobei die Gesamtmassen der täglich zu 
verdauenden Zellmembranen natürlich klein sind. Eine solche Annahme 
bestätigt sich nicht. Die maximalste Größe der im Tag in der Zellmem- 
bran zur Auflösung gekommenen Substanzen beträgt 


bei M. 8-95 g x 4-109 = 36-77 Kalorien pro Tag 
a Ka 3,0907 22258, 3153 5 RN 


I 


Auch davon käme noch wegen Vergärung usw. ein Teil in Abzug. Die 
zu gewinnenden Nährwerte durch eine Beimengung von 10 Prozent auf- 
geschlossenes Stroh zur Tagesnahrnng bei ausschließlichem Brotgenuß 
beträgt also sicher weniger als 0-5 bis 1 Prozent der Gesamtnahrung. 

Außer der Zellmembran sind die löslichen Stoffe des Strohmehles 
jedenfalls größtenteils, wenn nicht ganz, zur Resorption gelangt. Hier- 
über kann ich vorläufig keine näheren Angaben machen, zur Beantwor- 
tung dieser Frage müßte man wissen, wie das verfütterte Brot ohne das 
auigeschlossene Stroh sich verhalten hätte, weil dann bewiesen werden 
könnte, welche Mengen in Kalorien das reine Mehl geliefert hat. Ich komme 
auf diese Frage am Schlusse zurück. Es erübrigt noch, die N-Ausscheidung 
und die Bildung der Stoffwechselprodukte näher zu betrachten. 

Der Verlust an N war sehr ungleich. Es läßt sich feststellen, auf welche 
Unterschiede das zurückzuführen ist. Bei Person K. waren 1-97 & N pro 
Tag entleert worden. Im Kot befand sich wie stets, wenn Eiweißstoffe 
verfüttert werden, eine gewisse Menge Protein, an die Zellmembran ge- 
bunden. In diesem Fall bei K. 0-797 & N, bei Person M. 0-608. Zieht man 
diesen Wert von der Gesamt-N-Ausscheidung ab, so bleibt 


welche als Stoffwechselprodukte anzusehen sind und bestens übereinstimmen. 
Unresorbiert bleiben bei M. (von 11-23 N 0-608) = 5-41 Prozent, bei K. 
(von 8-72 N 0:797) = 9-14 Prozent des aufgenommenen Eiweißes. Hier 
liest also ein individueller Unterschied in der Eiweißresorption vor. 
Von dem entleerten N sind bei M. 65-92, bei K. 59-39 Prozent Stoff- 
wechselprodukte. 


Die Gesamtmenge der Stofiwechselprodukte, so weit sie kalorimetrisch 


erfaßt werden können, ergeben sich aus nachfolgenden Tabellen. 
Archivf. A.u.Ph. 1917. Physiol. Abtlg. 6 


82 Max RUBNER: 


Unresorbierbares und Stoffwechselprodukte im Kot. 


(| — 

| _ . a . = =) . 

Verlust an Kalorien im Tag S 33 “= 2 Sea 

Mi a = = Er Kölle 

am angenommen ee er re NREIRE a as (ee 

#8 88 |85 |se3lg83 

Person =| o | g® „ Aa e- 

Ze Ss | 2822| s5 | 85 >22|2,3 

Stärke = ss | 88 E E02 TElaro ee 

membran | 5 3 a _ S Su) = 

nn 5 22 = 2 Er 

A - Ma I male 1:7 

Münch |18-04| 204-25 7:13 | 229.44 | 334.82 | 105-38 | 3055-3 3.440], | 31.440], 
Kurgas || 13.24 178.83? | 5-85 197.22 335:10 | 137-13 | 2672-9 | 4.12 40-93 


Mittel: | 3.78°/, | 36-18°/, 


Die Menge der Stoffwechselprodukte macht im Durchschnitt 3-78 Proz. 
der in dem Brot verzehrten Kalorien aus. Da der Gesamtverlust der Ka- 
lorien im Mittel 12-78 Prozent betrug, so entfallen 9 Prozent der Zufuhr 
auf Unverdautes. Das relative Verhältnis der Stoffwechselprodukte zum 
Gesamtverlust im Kot ist niedriger, als ich es in manchen anderen Ex- 
perimenten bisher beobachtet habe. Dies Ergebnis würde mit der Anschauung 
‘wohl in Einklang zu bringen sein, daß die Stoffwechselprodukte zwar von 
mechanischer Reizung des Darmes abhängig sein können, aber nicht ab- 
hängig sein müssen, daß vielmehr ihre Bildung mit spezifischen Bestand- 
teilen einer Nahrung im Zusammenhang stehen kann. 

Im vorliegenden Falle konnte aber auch der Umstand mitwirken, daß 
diese Zellmembran viel schlechter verdaulich ist wie manche andere, wo- 
durch dann mehr Unverdauliches ausgeschieden und die Relation zu den 
eigentlichen Stoffwechselprodukten verschoben wurde; diese Annahme 
trifft nicht zu, weil die Person K., welche die Zellmembran schlechter 
resorbierte, im Gegenteil auch relativ mehr Stoffwechselprodukte bildete, 
es bleibt also wohl nur die Möglichkeit, einen gewissen Reiz auf die Darm- 
wand bei der einen Person anzunehmen. 


Ausnützung von Brot aus feinstem Weizenmehl. 


Ein Vergleich der Veränderung, welche die Zugabe von aufge- 
schlossenem Stroh zu feinem Weizenmehl in der Ausnützung hervorruft, 
sollte durch Parallelversuche an den gleichen Versuchspersonen durch- 
geführt werden, durch Abkommandierung der Person M. kann sich dieser 
Vergleich nur auf die Person K. erstrecken. Leider war von derselben 
Probe des Mehles, die verbacken wurde, nicht ausreichend zurückbehalten 


14.109 Kal. direkt bestimmt. 
2 4.258. 


VERWERTUNG AUFGESCHL. STROHES FÜR DIE ERNÄHRUNG usw. 83 


worden, es konnte aber noch Mehl von gleicher Ausmahlung erhalten 
werden, mögen dadurch kleine Differenzen auch nicht ausgeschlossen sein, 
so wird doch die allgemeine Übersicht über die Wirkung des Zusatzes von 
aufgeschlossenem Stroh nicht unmöglich gemacht. 

Bei der Brotbereitung wurde die zuerst von mir bei Kleiebrot gemachte 
Erfahrung, daß dieses unlösliche Beimengungen enthaltende Brot wasser- 
haltiger ist als anderes, die sich inzwischen in Dutzenden analogen Fällen 
bestätigt hat, wieder gemacht. Brot mit aufgeschlossenem Stroh hatte 
nur 61 Prozent, reines Brot 67 Prozent Trockensubstanz unter vergleich- 
baren Verhältnissen. 

Der Versuch dauerte 6 Tage, seit dem vorhergehenden Experimente 
hatte K. von der üblichen rationierten Kost, die in dieser Zeit völlig unge- 
nügend war, gelebt und und wohl einige weitere Zuschüsse erhalten, sein 
Körpergewicht war aber in fortwährendem Absinken. Frei nach Wahl 

 verzehrte er während des Versuchs an den ersten Tagen etwas mehr und 

stellte sich erst dann auf etwas geringere Nahrungsmenge ein. Im Durch- 
schnitt verzehrte er 
654-2 Trockensubstanz im Brot — 2772-4 Kal. (2372 im früh. Versuch.) 
12 Zucker \ WW 200 “ 
in Neth a 279 hs 

im ganzen 3251 Kal. (2992 im vorigen Versuch) 


bei 59 Kilo Gewicht. 
Die N-Bilanz war folgende: 


N aufgenommen! N im Ham N im Kot Summe Differenz 
il: 12-66 8-5 Iea® 9-88 + 2.78 
2. sohil 6 ia 3:9 —+ 4-98 
3 12-85 ST a 10-03 + 2:32 
4. 12-48 320 En 10-83 21269 
9. 10-73 9-0 " 10-33 + 0-44 
6. 11-28 6-2 ” 7-53 + 3-7 


Am Tage vor dem Versuch waren 10-9g N, am Tage nach dem Ver- 
such gleichfalls 10-98 N im Harn ausgeschieden worden. 

Im ganzen fand ein dauernder N-Ansatz statt, trotzdem N-Überschuß 
aber keine Steigerung des N-Umsatzes. Im Durchschnitt wurden 9-60 N 
umgesetzt — 0:164g N pro Kilo und 55-5 Kalorien pro Kilo.2 Eine 
Körpergewichtszunahme war nicht nachweisbar. Feines Weizenbrot ge- 

1 1008 Brot = 1-23 N. 

®2 Der wirkliche Nahrungsumsatz dieser Reihe, der einiges Interesse be- 


sitzt, läßt sich in folgender Weise ableiten: 
6* 


84 


Mıx RUBNER: 


hört zu den bestverdaulichen Nahrungsmitteln vegetabilischer Herkunft, 
im einzelnen sei auf diese Zeitschrift 1916 S. 85 verwien. 
Was die Ausnutzung hier anlangt, so zeigt sich folgendes: 


Kurgas. Weißbrot. 
a Nahrung Brot Harn Kot 
=] g 38 » ea E|& © E = | al. 
s |2 53 2 E38/2)53 | e 3/2 
Ss |E Ba 9 BRSlAlER |“ N | Zet |#|8 
® > oe) 
r 
kg | 8 | g|s|8l 8 |glgjem| 8 gs|8 
26. VI. 1740 | 10-9 
27. „ | 1.159-0||1030 | 30 |50| — 10380 |50 1920 | 8-5 — —_—|ı — 
28. „| 2. 1125| 30 |50 |— | 1132 |50 1820 | 7-6| 10% v. |120| 30 
29. „| 8. 1035 | 30 |30 — |1045 ||50 1040| 8-7| 10 „ |120| 30 
Sp || € 940 | 30 |50 |30| 951 50/30) 880| 9-5 9°, 118040730 
1.VIL.| 5. 850 | 30 |50 | 30 | 874 ||50|30 111240 | 9-0 9 „ |130| 20 
2. „| e.|58-0|| sso| so |50|— | 918 |50 1090| 6.2) 9 „ |120| 20 
3.5, Gemischte Kost || 5950 2260 | 10-9 8 „ |125| 25 
pro Tag g | 975 155 
lufttrocken = g || 654-2 


In 100 Teilen feinstem Weizenbrot: 


Asche 


Organisch 


Ne 


Pentosan 
Zellmembran 


Stärke! 


Kalorien . 


N-Zufuhr 
im Kot 


sollten 


angesetzt 


Zufuhr im ganzen 


ab 


2-30 15-0 
97-70 639-2 
1-83 11-97 
4-52 29-57 
1-26 8-23 
74-80 490-0 
493-8 9779-4 
12.32 
1.33 


10-99 im Harn sein. 
Ausscheidung 8-25 
2.74 


3251 
200 


in 554-2 g p. Te. 


bleibt als Umsatz = Reinkalorien 3051 = 51-7 Kal. pro 1 Kilo. 
Von der Zufuhr gehen ab im Harn 66-2 Kal. 


2.74 x 5-88 Kal. als Ansatz 16, 
im Kot 117-4 „ 
Se. 199.7 Kal. 


1 Direkt bestimmt. 


VERWERTUNG AUFGESCHL. STROHES FÜR DIE ERNÄHRUNG USW. 85 


_ In 100 Teilen Kot sind: in 23-1g Kot p. Te. 
Ascheg 2 a RR. 9-68 2.23 
Orsanischg m aa. : 90-32 20-87 
Net N ne. .h 25516 1.33 
Bentosanser. „ua un; 7.29 1-68 
Zellmembran em. 21-78 5-03 
Dränkere ge sie. 7.451 1072 
Rai Are elle 7-50 1°73 
Ilorien 4:1... 2.5080 117-4 


Die Menge des Verlustes an organischer Substanz war 3-26 Prozent, 
die der Kalorien — 4-23 Prozent, dies deckt sich zwar nicht mit der 
Ausnützung bei Kohlrausch?, wobei nur 3-70 Prozent der Kalorien 
verloren werden, aber doch sehr nahe. Der N-Verlust betrug im ganzen 
10-89 Prozent, dies war mehr als in analogen Versuchen bei Kohlrausch 
und Thomas. Es dürfte sich dieser Unterschied dadurch erklären, daß 
die Zellmembran zum Teil aus wirklicher Kleie bestand, was sich auch 
aus der relativ geringen Resorbierbarkeit mit 60-4 Prozent Verlust er- 
gibt, während reine Zellmembran des Mehlkernes nach meinen Versuchen 
nur 24-6 Prozent Verlust liefert. In der Zellmembran im Kot war 0-855 g 
N Protein vorhanden, pro Tag traf also an Stoffwechsel-N 0-48, der 
Eiweißverlust selbst war 7-1 Prozent, was auch auf die Anwesenheit 
von Kleberzellen hinweist, da sonst nur rund 6 Prozent N bei feinem 
Mehl überhaupt verloren werden. 

Gesamt-N-Verlust verhält sich zum N-Verlust durch Stoffwechsel- 
produkte wie 100: 36-09, eine Zahl, die für Person K. wesentlich kleiner 
ist, als die bei den Versuchen mit Strohbrot. Von der Zufuhr des N treffen 
also rund 4 Prozent auf Verlust durch Stoffwechselprodukte, im allgemeinen 
ein niedriger Wert. In der Reihe mit Strohbrot trafen 13-42 Prozent 
der Zufuhr bei K. auf N-haltige Stoffwechselprodukte, man kann daher 
schon hieraus entnehmen, daß die Beigabe des Strohmehles nicht ohne 
Einfluß auf den Ablauf des Verdauungsprozesses war. 

Über die Gesamtmenge aller Stoffwechselprodukte gibt nachstehende 
Tabelle Aufschluß (siehe Tabelle nächste Seite): 

Die Gesamtmenge beträgt also bei feinstem Weizenbrot nur 2-04 Proz. 
aller Kalorien der Nahrungsaufnahme. 

Es läßt sich jetzt leicht die Frage beantworten, ob die Hinzufügung 
von aufgeschlossenem Stroh als ein Anreiz zur Mehrung der Stoffwechsel- 


! Direkt bestimmt. 
° Dies Archiv. 1916. Physiol. Abtlg. S. 85. 


86 Max RUBNER: 


Verlust an Kalorien im Tag 


Person 
Zell- 


membran! 


im Brot 


Stärke 


insgesamt 

entstehen 
Stoffwechselprod. | 
Von 100 Kalorien 

treffen auf | 
Stoffwechselprod. 


Kal. im Kot aus 


Kalorien im Kot 
Stoffwechselprod. 
Verzehrte Kalorien 
Vom Verzehrten 


Pentosan? 
Summe 


60-56 |117-a0| 56-8 |2772.0 | 2.040), |a8-380/, 


Kurgas | 7-05 | 53-51 


oO 


produkte zu betrachten ist, d. h. ob dieses Material eine Mehrtätigkeit 
des Darmes erfordert und weiter wird ein Vergleich mit einem Brot aus 
Weizenmehl, das annähernd eine ähnliche Menge von Kleiezellmembran 
enthielt (5-09 Prozent), als das Strohbrot mit aufgeschlossenem Stroh 
(7-99 Prozent) von Interesse sein. 

Auf 100 Kalorien Zufuhr treffen Stoffwechselprodukte: 


bei feinstem \Weizenbrot 020.22 2302.22.222304 
.,.10trohhbEotz,. en re N 
‚„„ Weizenbrot (80 Prozent Ausmahlung)? . . 7-30 

Strohbrot steigert tatsächlich den Verlust an Stoffwechselprodukten 
von 2,04 auf 4-14 Prozent der Gesamtzufuhr an Kalorien, kleiehaltiges 
Brot zeigt allerdings eine weit erheblichere Steigerung, ein Hinweis, daß 
‚nicht das ‚‚Unlösliche“ an sich ausschließlich eine Steigerung der Darm- 
tätigkeit bedeutet, sondern die Eigenart der Nahrungsmittel, wie ich schon 
oben bemerkte. Damit mögen die Betrachtungen dieser Ver- 
suchsreihe geschlossen sein. 

Welche Ergebnisse zeigen sich bei einem Vergleich der beiden Brot- 
sorten des reinen Weizenbrotes und des mit Strohmehl versetzten ? 

Das Brot aus aufgeschlossenem Stroh sollte aus neun Teilen Trocken- 
substanz Weizenmehl und einem Teil aufgeschlossenem Stroh bestehen. Geht 
man von den Werten der Zellmembran des Brotes mit Strohzellulose aus, 
so findet man eine Mischung von 91 g trockenem Mehl und neun Teilen 
trocknen aufgeschlossenen Strohes, mit dieser Zahl ist in nachfolgendem 
gerechnet worden; bei dem Versuche von K. mit 570-3 täglich aufge- 
nommenem Brot mit aufgeschlossenem Stroh wären nach diesem Ver- 
hältnis also 519g feines Weizenmehl vorhanden. 

Die Ausnützungsverluste des letzteren werden nun von den Versuchs- 
ergebnissen mit Strohmehl abzuziehen sein. 


1 5.03 reine Zellmembran = 22.12 Kal., dazu 5-34 Protein = 31-39 Kal. 
* Pentosan nur in der Zellmembran. 
® Siehe dies Archiv. 1916. Physiol. Abtlg. 8. 89. 


VERWERTUNG AUFGESCHL. STROHES FÜR DIE ERNÄHRUNG USW. 87 


Zell- | Stoff- 
Asche | Organ. N Stärke | mem- | wechsel- Kal 
bran | prod. es 

ee TRRER SILBER 8 8 550 8 
In den Ausscheidungen | 

bei Strohbrot täglich || 5-26 | 58-44 | 1.97 3.23 | 41-97 | 137:18 | 335-1 
519g Mehl liefern . 1:77 | 16-95 | 1-03 | 1-36 | 4-13 44.83 93-0 
Also mehr im Tag. . || 3-49 | 41.49 | 0.94 | 1.87 | 37.79 | 92.35 | 242-1 


‚Die Zufügung von Zellmembran, welche aus dem feinen Mehl gewisser- 
maßen ein Vollkornmehl gemacht hat, hat eine allgemeine Vermehrung 
der Ausscheidungen hervorgerufen, die sich auf Zunahme der Asche, der 
organischen Substanz, des N, der Stärke, der Zellmembran und der Ka- 
lorien erstreckt. 


Im Strohbrot der Zufuhr waren p. Tag 45-56 & Zellmembran überhaupt 
auum Weizenmehl .. ..........6:ö538 


bleibt mehr bei Strohbrot: 39-05 8 


diese Zellmenbranen müssen auf aufgeschlossenes Stroh überhaupt um- 
gerechnet werden; sie entsprechen (& 4-16 Kal.) = 209-2 Kalorien im ganzen 
pro Tag. Diese 209-2 Kalorien hatten aber keinen Nutzeifekt, weil 
pro Tag 242-1 Kalorien aus Anlaß der Zugabe von aufgeschlossenem 
Stroh mehr in den Ausscheidungen kamen. Das Stroh bringt an 
sich keinen N als Nahrung mit sich, erzeugte aber eine Mehrausscheidung 
von N im Betrage von 0-94 pro Tag, die teils als Stoffwechselprodukte, 
teils als Proteinverlust aufzufassen ist. Außerdem kamen (242-1 — 209-235) 
32-9 Kalorien als Mehrverlust überhaupt. 

Da außerdem aber doch von der Zellmembran wirklich kleine Anteile, 
wie nachgewiesen, und außerdem auch noch die wasserlöslichen Stoffe 
des aufgeschlossenen Strohes zur Resorption gelangt sind, so muß dieser 
Resorption entsprechend eine Mehrausscheidung von anderen Stoffen 
stattgefunden haben, die hier nur rechnerisch verdeckt sind. Die obige 
Zusammenstellung ergibt auch hierfür die Antwort; der Resorption der 
in Wasser löslichen Stoffe, dem aufgeschlossenen Stroh steht anderer- 
seits die Mehrung der Stoffwechselprodukte gegenüber. 

Zusammenfassend kann man also folgendes über die Wirkung aufge- 
schlossenen Strohes in der Nahrung des Menschen sagen. Der Zusatz von 
aufgeschlossenem Stroh vermindert die Qualität des Brotes gegenüber 
dem reinen Brot aus gleichem Mehl, Wohlgeruch und Wohlgeschmack 
des ursprünglichen Gebäckes nehmen ab. Das Brot trocknet rasch aus 
und wird dann sehr zäh. Die Auflösung durch den Speichel scheint herab- 


88 Max RUBNER: VERWERTUNG AUFGESCHL. STROHES USW. 


gesetzt, das Brot nimmt einen stärkeren Wassergehalt an. Im Darm 
steigert sich die Entwicklung von Gasen, die Ausscheidungen werden sehr 
stark vermehrt, der Kot ist wasserarm, doch verfilzen die Strohfasern 
nicht. 

Die Zellmembranen des aufgeschlossenen Strohes werden im Darm 
des Menschen wenig angegriffen, weniger wie Kleie und Spelzmehl. Die 
aus der Zerlegung und Verdauung der Zellmembran selbst frei 
werdenden Nahrungswerte betragen auch bei ausschließlicher Brotkost 
weniger als 0-5 bis 1-0 Prozent des gesamten Brennwertes der Kost. 

Bei einem Vergleich mit Brot aus reinem Mehl derselben 
Herkunft liefert das Strohbrot einen Mehrverlust an allen 
wiehtigen Bestandteilen, der durch den gesamten Brenn- 
wert des zugesetzten Strohes nicht gedeckt wird, vielmehr 
erhöht sich unter dem Einfluß des letzteren die tägliche 
N-Ausscheidung und der Verlust an Kalorien. Demnach ist 
von einer Sparung an Nährstoff nicht die Rede, sondern es steigt der Ver- 
lust im ganzen an. Es empfiehlt sich daher, von derartigen Zusätzen zu 
Brot abzusehen, da durch sie nicht nur kein Nutzen, sondern eine meß- 
bare Benachteiligung der sonstigen Nährstoffverwertung die Folge ist. 

Die bei gesunden Männern angestellten Versuche erlauben keine 
Übertragung der Resultate auf die ganze Bevölkerung und etwa auch auf 
Leute mit schwächerem Magen, alte Personen usw., eine allgemeine 
Verwendung von Strohbrot kann sicher nicht darauf rechnen, günstigere 
Ergebnisse wie hier zu erzielen. Auch wenn man statt feinen Weizenmehls 
kleiereiche Mehle hochgradiger Ausmahlung verwendet, können die Er- 
gebnisse nicht günstiger, Sondern nur schlechter werden. 


Altes und Neues über das Elektrokardiogramm. 


Von 


Professor Augustus D. Waller. 


Beim Lesen der Schriften, die in den letzten Jahren in Pflügers 
Archiv und in anderen Zeitschriften über das Elektrokardiogramm er- 
schienen sind, die die Entdeckung der Herzströme, die Grundbedingungen 
für deren graphische Aufnahme und ihre klinische Bedeutung behandeln, 
hat sich mir die Überzeugung aufgedrängt, daß es von Nutzen sein 
- könnte, wenn ich dem deutschen Leserkreis einen kurzen Abriß meiner 
eigenen Anschauungen über diesen Gegenstand vorlegte. Der gegebene 
Ort für diese Mitteilung ist das Archiv, das fast 40 Jahre lang (1858 bis 
1895) von du Bois-Reymond herausgegeben worden ist. Ist es mir 
doch seinerzeit durch das gütige Entgegenkommen dieses Altmeisters und 
unermüdlichen Forschers auf dem Gebiete der tierischen Elektrizität ver- 
eönnt gewesen, der Berliner Physiologischen Gesellschaft die grundlegenden 
Versuche über die elektromotorische Tätigkeit des Herzens vorzuführen, 
die dann in den Verhandlungen der Gesellschaft beschrieben worden sind. 
Mein Besuch in Berlin im Jahre 1839 ist mir in Erinnerung, als ob es 
gestern gewesen wäre. Mit welch lebhafter Aufmerksamkeit beobachtete 
du Bois-Reymond die Stromstöße seines eigenen Herzens und prüfte 
dureh den Vergleich zwischen ‚‚wirksamen“ und „unwirksamen“ Anord- 
nungen die Bedeutung der schrägen Lage der Achse CO und des 


ı W. Einthoven, G. Fahr und A. de Waart. Über die Richtung und die 
manifeste Größe der Potentialschwankungen im menschlichen Herzen und über 
den Einfluß der Herzlage auf die Form des Elektrokardiogramms. Pflügers Archiv. 
1913. S.275. — A. Samojloff, Vorzüge der mehrfachen Ableitung der Herz- 
ströome bei Elektrokardiogrammaufnahmen. Ebenda.1913. S.195. — F.Kraus, 
G.F. Nieolai und F. Meyer, Prinzipielles und Experimentelles über das Elektro- 
kardiogramm. Ebenda. 1913. Bd. CLV. 8.97. — R.H.Kahn, Das Elektro- 
kardiogramm. Ergebnisse der Physiologie. 1914. B. XIV. — A. Hoffmann, Die 
Blektrographie als Untersuchungsmethode des Herzens und ihre Ergebnisse. : 


90 Aucustus D. WALLER: 


Äquators OO der Spannungslinien, und wie sorglich war er darum be- 
müht, daß mein ‚großer gelber Hund‘ und mein ‚‚mittelgroßer brauner 
Hund“ ihr Kunststück, mit den Pfoten in Zuleitungsgefäßen stillzustehen, 
recht gut machen sollten, als ich auf seinen Wunsch unternahm, die 
Versuche in der Physiologischen Gesellschaft zu zeigen und den Beweis 
zu liefern, daß die Achse der Spannungsfigur beim Menschen eine andere 
Lage hat als beim Vierfüßer, dessen Herz weniger schräg steht. ‚Von 
diesen Strömen,“ sagte du Bois-Reymond, ‚‚wird niemand behaupten 
können, daß es ‚Demarkationsströme‘ sind.“ 

Obgleich zu dieser ersten Untersuchung nur ein verhältnismäßig un- 
empfindliches Instrument angewendet werden konnte, nämlich das Lipp- 
mannsche Kapillarefektrometer, traten doch schon alle wesentlichen Züge 
des Phänomens hervor. Der grundlegende Unterschied zwischen ‚schwachen 
und starken“ oder ‚‚wirksamen und unwirksamen“ Ableitungen wurde 
nachgewiesen und seine Bedeutung klar gemacht, indem bei Individuen 
mit Situs inversus der entgegengesetzte Befund erhoben wurde. ‚Es 
handelte sich dabei nicht um theoretische Klügelei oder Auskramen 
belangloser Einzelfälle, sondern um die Feststellung einer Tatsache, die 
mit wohlüberlegter Absicht als Korollar zu einer sorgsam durchdachten 
Kette von Schlüssen aufgesucht worden war. 

Sechs Jahre später nahm Einthoven mit Hilfe des viel feineren 
Apparates, den er eigens zu diesem Zwecke erfunden hatte, das Gebiet 
von neuem in Angriff. Indem er die wahre Stromkurve für bestimmte 
Ableitungen angab, wies er der Forschung den Weg, von der Unter- 
suchung des normalen Herzens zu der der pathologisch veränderten Herz- 
tätigkeit fortzuschreiten. Ein weiterer großer Fortschritt wurde erreicht, 
als fast gleichzeitig Stanley Kent in England und His (der Sohn) in 
Deutschland das nach His benannte Muskelbündel im Herzen entdeekten.! 
Doch das sind allbekannte Dinge. 

Trotz dieser eroßen Fortschritte aber glaube ich durch das, was ich 
im folgenden von ‚Altem und Neuem“ aus diesem jetzt schon so weit 
angebauten Gebiet berichten will, zeigen zu können, daß die neueren 
pathologischen Untersuchungen auf Abwege geraten sind, weil man den 
Unterschied zwischen wirksamer und unwirksamer Anordnung nicht 
hinlänglich beachtet, und weil Einthoven schon bei seinem ersten 
Auftreten meiner vollkommen richtigen Angabe widersprochen hat, 
daß die Ableitung von der linken Hand eine „unwirksame“ ist und sie 
ddaraufhin leider auch als dritte unter seine klassisch gewordenen drei 


! Kent, Journ. of Physiol. Proc. Physiol. Soc. 12. Nov. 1892. Vol. XIV. 
p. 23. — His, Arbeiten aus der Medizinischen Klinik zu Leipzig. 1893. 


ALTES UND NEUES ÜBER DAS ELEKTROKARDIOGRAMM. 91 


Ableitungen I, II und III aufgenommen hat. Allerdings muß ich zu- 
gestehen, daß ich selbst in gewissem Grade daran mitschuldig bin, daß 
jetzt so viele durch die falschen Wegweiser P, @, R, 8, T, U nebst den 
drei Ableitungen I, II und III vom rechten Wege abgebracht werden. 

Ich betrachtete nämlich die ganze Sache schon im Jahre 1890 als ab- 
geschlossen und habe daher auch mehr als 20 Jahre lang nichts darüber 
veröffentlicht, abgesehen von meinen Vorlesungen, in denen ich Jahr für 
Jahr dies Kapitel mit immer einfacher werdenden schematischen Dar- 
stellungen auf der Tafel behandelte. Ich habe mir eben du Bois-Rey- 
mond nicht nur auf dem Gebiete der tierischen Elektrizität, sondern 
auch in bezug auf das Druckenlassen zum Muster genommen, und das 

„nonum prematur in annum‘“, das für ihn vierfach galt, ist in meinem 
Falle kaum mehr als zweifach. 

Inzwischen hatte ich für die im Archiv von 1890 a S. 187 abge- 
druckte Spannunesfigur eine einfachere Form gefunden, indem ich die 
Linien, die Orte gleichen Potentials bezeichnen sollten, durch ein System 
von Äquidistanten zum Äquator ersetzte, deren Abstand gleiche Bruch- 
teile von 1 Volt bedeutete, und auf denen ich an der Tafel die Zeichen 
M. R. L. ankreidete, um die Potentialspannungen und Potentialdifferenzen 
bei den Ableitungen von Mund und Rechter Hand und Mund und Linker 
Hand zu bezeichnen. Dadurch tritt anschaulich hervor, daß die Potential- 
spannung bei der rechten oberen (unwirksamen) Ableitung und der linken 
oberen (wirksamen) Ableitung verschieden ist, und daß die Größe des 
Unterschiedes davon abhängt, ob das Herz steiler oder flacher nach links 
geneigt ist. Ebenso machte ich es für die linke oder rechte untere Ab- 
leitung, da ja die beiden Füße in bezug auf die Herzströme als isoelektrisch 
angesehen werden können. Es versteht sich von selbst, daß ich in der 
Vorlesung auch die drei Zacken des typischen Elektrokardiogrammes be- 
sprach, von denen ich eine als Vorhofzacke, die beiden anderen als erste 
und zweite Ventrikelzacke unterschied. Ferner hatte ich, bloß der be- 
quemeren Bezeichnung wegen, die verschiedenen Ableitungen als trans- 
versale, axiale, äquatoriale, rechte und linke, obere und untere benannt. 
Da ich aber in diesem Ausbau der Lehre keine neuen Entdeckungen sah, 
fühlte ich keine Veranlassung, besondere Mitteilungen darüber zu ver- 
öffentlichen. Jetzt aber, da ich sehe wie die Klinik es als ein Dogma 
hinstellt, daß die Hypertrophie des linken Herzens sich im Elektro- 
kardiogramm durch Vergrößerung von R;, (also kleines R,,) und Ver- 
kleinerung von R;77r ausspricht, während die Hypertrophie des rechten 
Herzens sich durch kleines R, (großes R,,) und großes R,,, anzeigt und 
daß dies Doema allgemein als eine bloße Frfahrungstatsache ohne jede 


92 Aucustus D. WALLER: 


theoretische Begründung aufgestellt wird, jetzt, dünkt es mir, tut es not, 
daß man einmal wieder auf den Anfang dieser jetzt ja schon recht alten 
Geschichte zurückgeht, um sie noch einmal von vorn an zu erzählen, 
aber diesmal vom Standpunkte der Unterscheidung von Rechts und 
Links! Ich bin fest überzeugt, daß der Leser, der sich an diese Betrach- 
tungsweise gewöhnt und sich die einfache Berechnungsweise zu eigen macht, 
nach der sich die Spannungshöhe für rechte und linke Ableitung bemißt, 
bald verstehen wird, woher es kommt, daß man Leitungsstörungen im 
rechten Schenkel des His’schen Bündels als die klassische Form der 
Herzstörung betrachtet, seitdem man ausschließlich mit den drei Ab- 
leitungen I, II, III arbeitet. Genau dieselben elektrischen Symptome 
müssen nämlich nach meiner Auffassung häufig bei ganz normalen Herzen 
vorhanden sein. Auf diese Dinge soll weiter unten ausführlicher ein- 
gegangen werden. 

Was die Bezeichnungen betrifft, so freut es mich, mit Kraus und 
Nicolai darin durchaus übereinzustimmen, daß, wie sie auf S. 215 er- 
klären: die geschichtliche Entwicklung, die Beobachtungen und die Ein- 
fachheit ebensoviel Gründe sind, nur drei Zacken im Elektrokardiogramm 
des Menschen anzuerkennen. Ich selbst habe mich seit nunmehr über 
20 Jahren im Unterricht immer nur dieser Bezeichnungsweise bedient, 
nur daß ich dabei nicht gerade die von Kraus und Nicolai vorge- 
schlagenen Buchstaben benutzte, weil ich zufällig eine andere Sprache 
rede. Ich unterschied eine Vorhofszacke A, eine erste Ventrikelzacke V, 
und eine zweite Ventrikelzacke V,,. Ich gebrauchte die Wörter ‚‚erste“ 
und ‚zweite‘, weil diese Zacken mit dem ersten und zweiten Herzton 
zeitlich zusammenfallen oder ihnen nur um sehr wenig vorausgehen. In 
den Vorlesungen nenne ich häufig V,, auch die „systolische“ Zacke. 
Die neuere (oder wie Kraus und Nicolai sie nennen, die ältere) 
Nomenklatur PQRST, die Einthoven 1895 zur Beschreibung seiner 
Kurven eingeführt hat!, halte ich für unbequem und obendrein irre- 
führend, obschon sie von vielen Klinikern angenommen worden ist. 
Gegen die Bezeichnung AJF, die den Vorteil bietet, für die deutsche, 
französische und englische Sprache gleich gut zu passen, habe ich nichts 
einzuwenden, aber ich gebe doch der Bezeichnung V, und V7,, (oder bloß 
I und II) für die erste und zweite Ventrikelzacke den Vorzug, vielleicht 
hauptsächlich deswegen, weil ich eben daran gewöhnt bin, aber auch weil 
ich finde, daß es gut zu der althergebrachten Bezeichnung der Herztöne 
als erster und zweiter paßt. 

Was die Benennung der Ableitungen betrifft, so ist natürlich kein 
1 Pflügers Archiv. 1885. Bd. LX. 8. 105. 


ÄLTES UND NEUES ÜBER DAS ELEKTROKARDIOGRAMM. 093 


Anlaß vorhanden besondere Namen einzuführen, wenn man sich wie 
Kraus und Nicolai es tun, mit bewußter Absicht auf die einzige Ab- 
leitung von den Händen aus beschränkt. Ich bin aber in diesem Punkte 
derselben Ansicht wie Samojloff, nämlich daß man mit Hilfe. von drei 
Ableitungen Aufschlüsse erlangen kann, die eine Ableitung nicht gibt. 
Ja, ich meine sogar daß es sich verlohnt, die Kurve mit fünf verschiedenen 
Ableitungen aufzunehmen. 


vs E We Va 


Rip 1. 

Gleichzeitige Aufnahme des Elektrokardiogramms und der Herztöne von L. Bull. 
E elektrokardiographische Kurve. S mikrophonische Kurve der Herztöne. 
V7; und Vzrerste und zweite Ventrikelzacke, gehen dem ersten und zweiten Herzton, 
die durch die Stromschwankungen bei S7 und 877; angezeigt werden, um einen 
kurzen Zeitraum voraus. Die Abszissen sind Fünftelsekunden. 


1887 bis 1889, bei meinen ersten Untersuchungen, hatte ich es für 
zweckmäßig gehalten, zunächst so viele verschiedene Ableitungen wie nur 
möglich in Betracht zu ziehen, und habe daher sogar die Ergebnisse 
von zehn verschiedenen Ableitungen mitgeteilt, also keineswegs, wie 
Kraus und Nicolai irrtümlicherweise angeben, bloß die der Anordnung 
„Mund und linker Fuß“. Tatsächlich war sogar die erste Ableitung, die 
ich untersuchte, die von rechter Hand und linkem Fuß, das heißt also 
die axiale Ableitung von B und A. Als ich dann fand, daß Mund und 
rechte Hand eine ‚unwirksame Anordnung“ bilden, das heißt nahezu 
isoelektrisch sind, nahm ich die Elektrode, die von B abgeleitet hatte, 
in den Mund, um die rechte Hand zum Gebrauch frei zu haben.! 

1 Übrigens auch, weil sich diese Ableitung als die günstigste erwies. Ich 
habe die Ableitung vom Mund zum After nur einmal probiert, und als ich mich 
überzeugt hatte, daß sie der vom Mund zu den Füßen entspreche, behielt ich sie 
den Versuchen an Katzen, Hunden und Kaninchen vor. Sie gibt natürlich eine 


einfache longitudinale Ableitung und kommt der rechten oberen und unteren oder 
der linken oberen und unteren gleich. 


94 Aucustus D. WALLER: 


Die fünf Ableitungen, die ich als maßgebend betrachte, sind: 


. Rechte obere (Mund — rechte Hand). 

. Linke obere (Mund — linke Hand). 

. Transversale (rechte Hand — linke Hand). 

. Linke untere Links-laterale (linke Hand — linker Fuß) 
Äquatoriale (linke Hand — rechter Fuß). 

5. Rechte untere Rechts-laterale (rechte Hand — rechter Fuß) 

Axiale (rechte Hand — linker Fuß). 
Zu diesen kann noch eine sechste Ableitung hinzugefügt werden: 
6. Loneitudinale (Mund — rechter oder linker Fuß). 


kom - 


Diese fünf Ableitungen muß man sämtlich anwenden, wenn man sich 
ein Bild von der Verteilung der Ströme rings um das arbeitende Herz 
machen will. Es ist nach meiner Auffassung für die Untersuchung eines 
klinischen Falles unerläßlich, von allen diesen fünf Ableitungen Kurven 
aufzunehmen, weil es oft sehr nützlich ist, diejenigen Größen bestimmt 
zu haben, aus denen sich die Neigung der Potentialachse, kopfwärts oder 
fußwärts vom Herzen aus, nach folgenden einfachen Formeln berechnet: 


R-'L 


Obere Halbaxe: tang« = 2 = ER  Tntere lee tange = 2 SI REr' 


In -2R° 


Ich hatte den Vergleich angestellt zwischen den einander entgegen- 
gesetzten Wirkungen auf beiden Seiten, beispielsweise zwischen rechter 
und linker oberer oder rechter und linker unterer Ableitung. (Da ich 
finde, daß die beiden Füße sich, was die Herzströme betrifft, so gut wie 
gleich verhalten, betrachte ich sie als isoelektrisch. Zwischen links-lateraler 
und äquatorialer, wie zwischen rechts-lateraler und axialer Ableitung ist 
also praktisch kein Unterschied.) In den Jahren 1887 bis 1889 stellte 
ich fest, daß die linke obere und die rechte untere Ableitung ‚‚wirksam“, 
die rechte obere und die linke untere „unwirksam“ sind, und ich brachte 
diesen normalerweise stets vorhandenen Unterschied mit der normalen 
Schräglage der Symmetrieachse des Herzens in Zusammenhang. In dem 
Schema, in dem ich ‚diese Ergebnisse zusammenfaßte, nahm ich die 
Neigung des Herzens zu 45° an und erklärte, dab. die Ableitung von 
zwei Punkten, die auf entgegengesetzten Seiten des ‚„Äquators“ gelegen 
seien, wirksam, die Ableitung von zwei Punkten auf derselben Seite des 
Äquators dagegen unwirksam sei. Man hat später behauptet, ich hätte 
darin unrecht gehabt. Imsbesondere hat Einthoven, der durch sein 
herrliches Saitengalvanometer erst erreicht hat, daß es möglich wurde, 
den Verlauf der Herzströme getreu abzubilden, geäußert, ich hätte damit 
einen Fehler gemacht, daß ich die links-laterale Ableitung als unwirksam 


ÄLTES UND NEUES ÜBER DAS ELEKTROKARDIOGRAMM. 95 


bezeichnet hätte!, und hat dann diese Ableitung als die dritte seiner drei 
Hauptableitungen I, II, III angenommen. Ich erkenne aber auch heute 
(1914) noch nicht an, daß das ein Fehler war, und bleibe auch heute 
(1914), wo ich das Gebiet vielleicht noch etwas besser überblicken kann, 
dabei, daß Ableitungen von Punkten, die auf derselben Seite des Äquators 
gelegen sind, unwirksam oder nur schwach wirksam sind. Die links- 
laterale Ableitung, von der linken Hand und dem linken Fuß, also 
Einthovens Ableitung II, ist hier einbegriffen. 


— 
—— 
| SE 

ESA 

=> 

zENl= 

EB H 

Fig. 2a. Fig. 2b2. 
Die Lage der Symmetrieachse der Schema der Ableitungen. M Mund; 
Potentialspannungen CC und des Äqua- R rechte, ZL linke Hand; F Füße; 
tors der Spannungsfigur0O0 am mensch- OO Äquator; C'C' Achse der Spannungs- 

lichen Körper. figur. 


Um mich dem Sprachgebrauch, wie er durch Einthovens Vorgang 
festgelegt ist, anzupassen, will ich die Reihenfolge meiner fünf Ableitungen 
umstellen, so daß die ersten drei mit Einthovens I, II, III überein- 
stimmen: 

I. 1. Transversale. 
II. 2. Rechte untere (und axiale). 
III. 3. Linke untere (und links-laterale). 
4. Rechte obere. 
5. Linke obere. 


1 Pflügers Archiv. 1908. Bd. CXXLI. S. 551. 
2 Die Figur ist so gezeichnet, daß der Winkel bei M = 80°, bei F — 52-5°, 


96 Ausustus D. WALLER: 


Man findet nun z. B. bei einer Versuchsperson (T. G.), daß der 
Spannungswert der systolischen Zacke V, bei den fünf Ableitungen, in 
Dezimillivolt gerechnet, beträgt:! 


de 2, 3 4. 5. 
Tr. =8 Ruk-ß ki=d Ro 0 Lo. =8 


Die Potentialdifferenz zwischen Mund und linker Hand ist 8, zwischen 
Mund und rechter Hand 0. Der Neigungswinkel der Potentialachse gegen 
die Senkrechte berechnet sich nach der Formel 


mithin & = 45%. Ferner ist die Potentialdifferenz zwischen Fuß und 
linker Hand gleich 3, zwischen Fuß und rechter Hand gleich 9, woraus 


9-3 12 
a ur — = MM) == 0 
9-3 12 2 a0. 


tangae —=2. 


An dieser Stelle will ich aber nicht etwa 
diese einfache Berechnung erklären, sondern nur 
an einem Beispiel zeigen, daß es gleich ist, ob 
der fundamentale Gegensatz zwischen wirksamen 
und unwirksamen Ableitungen durch Potential- 
unterschiede oder durch Stromstärken ausge- 
drückt wird. In den Jahren 1887 bis 1889 
habe ich angegeben, daß Ableitungen von zwei 

FE Punkten, die auf entgegengesetzten Seiten des 

ig3. Äquators gelegen sind, „wirksam“ sind, Ab- 

Schema der Ableitungen. leitungen von zwei Punkten, die auf derselben 
ML gibt die Spannung 8; Seite des Äquators gelegen sind, „unwirksam“. 
EE die Spannung 9; Jetzt sage ich: Ableitungen von zwei Punkten, 
MR und LF geben die die auf oder nahe an der Potentialachse gelegen 
Spannung 0. h ; b ß c 

Der Pfeil deutet die Rich- Sind, sind wirksam, Ableitungen von zwei Punk- 
tung der Potentialachse an. ten, die in der Richtung quer auf die Potential- 


so daß cot M/2=1 und cot F/2 = 2. Über die geometrische Konstruktion vgl. 
Proc. Roy. Soc. B. 1913. Vol. LXXXVI. p. 513. 

1 Die Zahlen dieses Falles (T. G.) sind genau nach der Ablesung N, 
Es kann auffallen, daß sie der Gleichung: Rechte obere Ableitung + rechte untere 
Ableitung — linke obere Ableitung + linke untere Ableitung nicht genügen. Das 
mag auf mangelnden Synchronismus oder auf Messungsfehler zurückzuführen sein, 
Die Zahlen würden der Gleichung genügen, wenn sie lauteten: R. ob. = ]. 
R. unt. = 10. Dann würde der obere Winkel zu 38°, der untere zu 47° gefunden 
werden. Der Ausschlag bei longitudinaler AbIEIDUNE betrug für diese Versuchs- 
person 11. 


ALTES UND NEUES ÜBER DAS ELEKTROKARDIOGRAMM. 97 


achse gelegen sind, sind unwirksam. Welcher Fassung man den Vor- 
zug gibt, ändert nichts an der Tatsache, daß die linke obere und rechte 
untere Ableitung stark wirken, die rechte obere und linke untere 
schwach. Ich habe die Wörter ‚linke untere‘ unterstrichen, um so 
scharf wie möglich hervorzuheben, daß ich die Berechtigung von 
Einthovens Korrektur meines angeblichen Fehlers nicht anerkenne. 
Ganz im Gegenteil, ich sehe in dieser angeblichen Korrektur einen Beweis 
dafür, dab in jener Zeit Einthovens Anschauungen, trotz seines Scharf- 
blickes in physikalischen und mathematischen Dingen und trotz des herr- 
lichen Apparates, den er zur Nachprüfung und Erweiterung meiner 
Beobachtungen erfunden hatte, dennoch weniger umfassend und weniger 
zutreffend waren als die, zu denen ich früher mit Hilfe eines viel 
unempfindlicheren Instrumentes gelangt war, das in meinen Händen nur 
eine viel schlechtere Darstellung des Elektrokardiogrammes gewährte, als 
sie nachmals Bayliss und Starling, Einthoven, Kraus und Nicolai, 
Samojloff und endlich alle späteren Untersucher erhalten haben. In 
gewisser Beziehung hat es sich glücklich gefügt, daß in der Zeit, als es 
galt, die Genossen meiner Forschungen von der Grundtatsache des Gegen- 
satzes zwischen ‚wirksamen‘ und ‚unwirksamen‘ Ableitungen zu über- 
zeugen, das Kapillarelektrometer, dessen ich mich bediente, so unempfind- 
lich war, daß es bei „unwirksamen“ Anordnungen mitunter gar nicht 
ausschlug, so daß überhaupt nur bei ‚wirksamer‘ Anordnung die Strom- 
schwankungen sichtbar wurden. Unglücklicherweise aber gaben die photo- 
graphischen Kurven, die ich damals aufnahm, den Stromverlauf nicht 
getreu wieder. Kraus und Nicolai sind daher ganz im Recht, wenn 
sie bemerken (8. 105): ‚In seinen verschiedenen Arbeiten neigt er bald 
dazu, die Normalform als diphasisch, bald als triphasisch anzunehmen.“ 
Ich bekenne mich schuldig, in den Jahren 1887 bis 1889 in dieser Be- 
ziehung schwankend gewesen zu sein. Aber ich möchte doch auch zwei 
mildernde Umstände anführen: Erstens stand ich damals stark unter dem 
Einflusse der Lehre von Marchand, von Engelmann und von Burdon 
Sanderson, nach der die diphasische Schwankung eine Ziekzackkurve 
darstellte, indem ein positiver Ausschlag auf einen negativen folgt oder 
umgekehrt (wie es Kraus und Nicolai in ihrer Fig. 4a auf S.121 an- 
geben). Daher konnte ich mir den doppelten positiven Ausschlag nicht 
recht erklären, als ich ihn zuerst in ganz derselben Form erkannte und 
beschrieb, die Kraus und Nicolai in ihrer Fig. 4b veranschaulichen. 
Zweitens fand ich später bei vielen Versuchspersonen, unter anderen auch 
bei mir selbst, die erste Ventrikelzacke V, bei der linkslateralen Ableitung 


negativ und nur bei tiefer Inspiration positiv, während bei anderen die 
Archivf,A.u.Ph. 1917. Physiol. Abtlg. 7 


98 Aucustus D. WALLER: 


Ausatmung bei linkslateraler Ableitung vorübergehend einen Umschlag 
von positiv zu negativ hervorrufen kann. 

Da diese beiden Tatsachen, soweit mir bekannt, bisher von keinem 
anderen Untersucher angegeben worden sind, will ich sie hier durch 
Kurven belegen, obwohl dies eigentlich nicht zur Sache gehört. Diese 
Angaben mögen zugleich als Rechtfertigung für die Wörter ‚und Neues“ 
in der Überschrift der vorliegenden Abhandlung angenommen werden. 


4.D.W 
/inks Jaterg]. 


ar, Zalı 


TCW 
/inks lateral, 


Fig. 4. 

Oben das Elektrokardiogramm und die Atemkurve von A. D. W. 
Bei Inspiration wird die negative Ventrikelzacke positiv. 
Unten das Elektrokardiogramm und die Atemkurve von J.C.W. 
Bei Exspiration wird die positive Ventrikelzacke negativ. 
Beide bei linkslateraler Ableitung aufgenommen. 


Unter diesen Umständen bin ich also längere Zeit hindurch im 
Zweifel darüber geblieben, welche Richtung dem Doppelschlage V, Vır 
zukäme, den ich damals, je nachdem der Meniskus im Gesichtsfelde auf- 
oder abstieg, mit NN oder SS zu bezeichnen pflegte und von dem ich 
durch gleichzeitige Aufnahme des Spitzenstoßes festgestellt hatte, daß er 
vom Ventrikel herrühre. 1888 hielt ich NN oder $8 für die normale 
Form, aber mitunter beobachtete und verzeichnete ich auch sN und n& 
und nahm daher auf Grund der damals herrschenden Lehre ven der 
diphasischen Schwankung des Herzstromes eine Zeitlang an, daß dies die 
normale Form sei. Aber diese Ansicht berichtigte ich bald wieder, teils 
infolge eigener Beobachtungen und Überlegungen, teils infolge der von 


ALTES UND NEUES ÜBER DAS ELEKTROKARDIOGRAMM. 99 


Bayliss und Starling! mitgeteilten Kurven. Ich kam nun zu dem 
Schluß, daß die normale Form NN (oder 85) sei und daß dies die 
Bedeutung haben müsse, daß die Herzbasis tatsächlich zweimal negativ 
werde, so daß die Zusammenziehung der Reihenfolge BAB entspreche. 
Die Sache schien mir aber damals nicht so wichtig, daß ich sie einer 
besonderen Mitteilung für wert gehalten hätte. Ich erwähnte sie also nur 
in meinen Vorlesungen und in einer kurzen Bemerkung auf S. 389 der 
ersten Auflage (1891) meines Lehrbuches ‚‚An introduction to Human 
Physiology“, in der ich angab, daß die Zusammenziehung des Herzens 
nieht einfach nach der Reihenfolge BA, auch nicht nach der entgegen- 
gesetzten, AB, sondern nach der Reihenfolge BAB (Basis, Apax, Basis) 
verläuft. 


Fig. 5. 
Kontraktionswelle des spontan schlagenden Froschherzens, mit zwei Kardiographen 
gleichzeitig an der Spitze und an der Basis aufgenommen. 

Oben: Kurve von der Herzspitze. — Unten: Kurve von der Herzbasis. Die Kon- 
traktion beginnt an der Basis früher als an der Spitze und hält länger an. 
(Kurve 15 aus: Waller und Reid, The action of the exeised mammalien heart. 
Philos. Transact. Roy. Soc. 1887. B. Vol. CLXXVII. p. 215. 


Ich möchte nochmals betonen, daß die Wandlung meiner Auffassung 
der normalen Kurvenform, von sN zu NN, nicht erst durch die Befunde 
von Bayliss und Starling vom Jahre 1892 herbeigeführt wurde, sondern 
schon früher durch meine eigenen unveröffentlichten Untersuchungen mit 
besseren Kapillaren und durch Erwägungen, die an die Kurve 15 auf S. 228 
einer meiner früheren Arbeiten anknüpften, an der deutlich zu ersehen 
ist, daß die normale Kontraktion des Ventrikels beim Frosch an der Basis 
beginnt und auch an der Basis endet.” Ich erinnere mich noch genau, 


! Monthly International Journal of Anatomy and Physiology. 1892. S. 256. 
2 Waller und Reid, Action of the exeised mammalian heart. Phil. Transact. 
Roy. Soc. B. 1887. Vol. CLXXVIN. p. 215— 256. 
mie 


100 AuGusTus D. WALLER: 


bald nach dem Erscheinen jener Abhandlung diesen Punkt Herrn Prof. 
Starling gegenüber erwähnt und ihm gesagt zu haben, daß ich als 
normale Form der Schwankung BB ansehe, das heißt, daß die Basis 
zweimal negativ werde, weil die Kontraktion, die an der Basis beginnt, 
auch am längsten von der Basis ausgeht. Bayliss und Starling er- 
lielten, mit dem noch besseren Kapillarelektrometer von Burch, vor- 
treffliche Kurven dieser Art, wie Kraus und Nicolai ganz richtig an- 
geben, und wie ich selbst in der ersten Auflage meines Lehrbuches auf 
S.389 gebührend anerkannt habe, und zwar noch vor der Veröffent- 
lichung der Arbeit von Bayliss und Starling. Also haben diese Kurven 
eigentlich nur den von mir schon vorher festgestellten Befund bestätigt, 
und daher ist auch das Schema, das Kraus und Nicolai auf S. 132 
ihres Berichtes bringen, im wesentlichen identisch mit der Figur, durch 
die ich meinen Zuhörern die zweimalige Negativität der Herzbasis an der 
Tafel zu veranschaulichen pflegte. Übrigens muß sich diese Erklärung 
jedem aufdrängen, der den Kurvenverlauf BB beobachtet, und sie hat 
sich tatsächlich auch einer ganzen Reihe unabhängis von einander 
arbeitender Beobachter außer mir und Bayliss und Starling darge- 
boten, z. B. erst vor kurzem Mines!, Samojloff? und Boruttau?. 
Trotzdem aber möchte ich auch heute die Sache noch nicht für ganz 
ausgemacht erklären, obschon ich die angegebene Theorie für die wahr- 
scheinlichste halte. 

Ich pflegte mich damals in meinen Vorlesungen auf die erwähnte 
Kurve zu beziehen, um einleuchtend zu machen, daß man die Strom- 
kurve BAB des ausgebildeten Herzens als die der peristaltischen Kon- 
traktion eines einfachen Gefäßschlauches, die vom venösen Teile aus zum 
arteriellen verläuft, ansehen könne. 

Nach alledem muß ich aber zugestehen, daß ich den Verlauf BAB 
der Stromkurve doch noch nicht als endgültig abschließenden Befund 
gelten lassen kann. Schon in den Jahren 1896 bis 1897 sah ich mich 
genötigt, von der Annahme abzugehen, daß man den Ventrikel als eine 
gleichförmige Muskelmasse, etwa wie den Sartorius vom Frosch auffassen 
dürfe, in der dann die Kontraktionswelle verhältnismäßig langsam von 
der Basis zur Spitze und wieder von der Spitze zur Basis ablaufen sollte. 

Ich bemerkte nämlich schon sehr frühzeitig bei den Untersuchungen, 
die ich in Gemeinschaft mit Prof. Reid ausführte, daß das erste Zeichen 
der Kammerkontraktion an der Herzspitze auftreten könne. Dies würde 


ı Journ. of Physiol. 1913. Vol. XLVI. p. 188. 
2 Zentralbl. f. Physiol. Bd. XXVI. 
® Dies Archiv. Physiol. Abtlg. 1913. S. 519. 


ALTES UND NEUES ÜBER DAS ELEKTROKARDIOGRAMM. 101 


beweisen, daß es besondere reizleitende Bahnen vom Vorhof zur Herz- 
spitze gebe. Ich stellte sie mir damals als nervöse Bahnen vor, obschon 
ich, wie Kraus und Nicolai erwähnen, etwas später allerdings die Mög- 
lichkeit angedeutet habe, daß die Erregung durch die Musculi papillares 
vom Vorhof zur Spitze geleitet werden könnte. Auf diese Vermutung 
legte ich aber keinen Wert und dachte auch gar nicht daran, sie anatomisch 
zu prüfen. Es las mir damals nur daran, festgestellt zu wissen, dab über- 
haupt auf irgendeine Weise, wahrscheinlich auf nervösem Wege, die Vor- 
höfe in funktioneller Beziehung zum Spitzenteil der Kammer stünden. 
Man schrieb damals 1887, das heißt es war sechs Jahre, bevor Kent und 
His entdeckten, daß sich ein System von reizleitenden Muskelfasern von 
den Vorhöfen aus in alle Teile der Kammermuskulatur hinein ausbreitet. 
Diese Entdeckung erklärt in sehr vollkommenem Maße, warum sich der 
sesamte Ventrikel beinahe im gleichen Augenblick zusammenzieht, und 
daneben auch noch die rätselhafte Erscheinung, daß am selbsttätig 
schlagenden, ausgeschnittenen Herzen die Zusammenziehung manchmal 
an der Spitze etwas früher als an der Basis auftritt. Man kann eben jetzt 
die Herzkammer als eine Art neuromuskuläres Organ betrachten, in dem 
die vom Vorhof in die Kammer ausstrahlenden Verzweigungen dieselbe 
Rolle spielen wie sonst nervöse Leitungsbahnen. 

Eine Bestätigung für meine Anschauung fand ich nun in dem zeit- 
lichen Verlauf der ersten Ventrikelzacke V,. Ihre Gipfelzeit, die man als 
die Leitungszeit der Anfangserresung für die Strecke von der Basis zur 
Spitze ansehen darf, beträgt etwa 0-02 Sekunden, was bei einer Strecke 
von 10 cm die Leitungsgeschwindigkeit von 5m in der Sekunde bedingt, 
also eine größere Geschwindigkeit, als bei gewöhnlicher Muskelleitung 
vorkommt. 

Ferner findet sich nicht selten, daß die erste Zacke V,, statt eine 
einzige schmale Spitze zu bilden, wie sie der diphasischen Schwankung 
BA entsprechen würde, zweigipfelig ist, was eine triphasische Schwankung 
BAB anzeigt. Ihr folgt dann eine ganz normale zweite Ventrikelzacke, 
die das Vorwiegen der Erregung an der Basis andeutet. Es kann auch 
der ersten Ventrikelzacke, mag sie nun einfach oder zweigipfelig sein, 
erst eine kleine Erhebung vorausgehen, die Einthoven als die Zacke Q 
bezeichnet und die einen diphasischen Stromverlauf anzeigt. Endlich 
kann noch die erste Zacke V, ganz zersplittert erscheinen, als sei die 
Saite oder der Spiegel des Galvanometers von einer Anzahl entgegen- 
gesetzter Stromstöße hin- und hergerüttelt worden. Ich deute alle diese 
verschiedenen Formen der Ventrikelzacke im Sinne der neuen anatomischen 
Lehre von einem verzweigten Reizleitungssystem. Die Kammerkontraktion 


102 Ausustus D. WALLER: 


ist eben eine koordinierte Tätigkeit vieler einzelner Gruppen von Muskel- 
fasern und die Muskelströme überwiegen nach dieser oder jener Richtung, 
je nachdem die Muskelfasergruppen vorwiegend an dieser oder jener Stelle 
tätig werden. Diese Deutung ist im Einklang mit der Theorie von 
Kraus und Nicolai, die besagt, dab die Anfangszacke von dem Reiz- 
leitungssystem und die Endzacke vom Conus arteriosus herrührt. Ich 
stimme mit ihnen auch darin überein, die Vorstellung zu verwerfen, als 
könne die Zacke auf bloßer Erregung, unabhängig von mechanischer 
Zusammenziehung, beruhen oder als könnte sie durch die Zustands- 
änderung entstehen, die in den dünnen Leitungssträngen vom Vorhof zur 
Kammer fortschreitet. 


Ein weiterer bemerkenswerter Punkt in bezug auf die Reizleitung 
im ausgeschnittenen Herzen, auf den ich kurz eingehen möchte, wird von 
Kraus und Nicolai auf S. 108 erwähnt. Reid und ich haben im Jahre 
1888 am ausgeschnittenen Säugetierherzen Beobachtungen nach dieser 
Richtung sowohl mit künstlicher Reizung wie bei spontaner Tätigkeit 
angestellt. Wir fanden, daß an dem ruhenden überlebenden Herzen die 
künstliche Reizung eine Zusammenziehung hervorruft, die an der Basis 
beginnt und zur Spitze fortgeleitet wird, wenn der Reiz die Basis trift, 
und umgekehrt, von der Spitze zur Basis, wenn der Reiz auf die Spitze 
einwirkt. Die Leitungsgeschwindiskeit schwankte je nach der Temperatur 
zwischen 40 und 1200 mm in der Sekunde. Beim spontanen Schlage 
schien die Zusammenziehung an der Basis und an der Spitze gleichzeitig, 
oder ein wenig (0-005 Sekunden) früher an der Spitze einzutreten. Dieser 
auf mechanischem Wege gewonnene Befund wurde durch die elektrische 
Untersuchung bestätigt. Der spontane Herzschlag beim überlebenden, 
aber absterbenden Herzen, dessen Vorhof- und Kammertätigkeit schon 
völlig dissoziiert waren, ergab spontane Kammerkontraktionen, deren 
Stromkurven zeigten, daß die Tätigkeit normalerweise an der Spitze und 
nur in seltenen Fällen an der Basis einsetzt. Wir haben z. B. von einem 
Schafherz 4 Minuten nach der Exzision eine Leitungsgeschwindigkeit von 
8m in der Sekunde angegeben, aber! wir sind doch zu dem Schluß ge- 
kommen, daß die Herzkammer bei ihrem normalen Schlage sich in ihrer 
sanzen Ausdehnung nahezu im gleichen Augenblick zusammenzieht, so 
daß sich die Fortpflanzung einer Erregungswelle nicht nachweisen läßt. 
Wir mußten also schließen, daß die mit der Erregung verbundene Zustands- 
änderung in allen Teilen der Kammer gleichzeitig stattfinde, und diese 
Gleichzeitigkeit bedingte die Annahme nervöser Verbindungen. In diesem 


I Ara. 10.78: 239. 


ALTES UND NEUES ÜBER DAS ELEKTROKARDIOGRAMM. 103 


Sinne haben wir uns denn auch im Jahre 1886 geäußert. Jetzt (1914) 
würde ich mich dahin aussprechen, daß die Gleichzeitigkeit auf dem 
Vorhandensein der neuromuskulären Fasern von Kent und His beruhe. 


Fig. 6a. 
Konstruktion des Neigungswinkels & der Potentialachse an dem Schema der 
Ableitungen. Das obere Dreieck. 


£E 
Fig. 6b. 
Das untere Dreieck. 


In dem Dreieck M RL bedeuten die Seiten MR und ML die rechte 
und linke obere Ableitung, indem M den Mund, R die rechte und Z die 
linke Hand bezeichnet. In ihrer wirklichen Beziehung zum Herzen stellen 
_ die Eekpunkte eigentlich Querschnitte durch Hals und Oberarm vor. 
Um bequemer zu rechnen, mag der Winkel bei M = 90° angenommen 
werden, so dß MV=1,RL=RV. Ist nun z. B. die Zacke von der 


104 Aucustus D. WALLER: 


rechten Hand = 1 und die Zacke von der linken Hand = 3, so hat man 
in M das Potential 0, in R das Potential 1, in Z das Potential 3. 
Projiziert man das Potential von M auf die Verlängerung der Horizontalen 
LR nach O und wählt die Lage des Punktes 0 so, daß die Strecke OR 
die Potentialdifferenz zwischen M und R, die Strecke OL die Potential- 
differenz zwischn M und L angibt, so stellt MO die Nulllinie der 


Ä X 


7——N 


Fig. 7a. 


Konstruktion der Spannungswerte für die verschiedenen Neigungswinkel der 
Potentialachse und die verschiedenen Ableitungen. 


Potentialspannung dar. Die Gerade V P, senkrecht auf die Nulllinie MO 
gezogen, stellt die Lage der Potentialachse dar, die mit der Vertikalen MV 
einen Winkel bildet, der mit «a bezeichnet werden mag. 

Da Winkel MOV =.a, so ist 


tanga = tang MOV = ni —, 020 


folglich «a = 26° 36’. 


ÄLTES UND NEUES ÜBER DAS ELEKTROKARDIOGRAMM. 105 


Oder wiederum: da MV=&(L— R) und OV=4(L+R), kann 
man schreiben: 

Der 

DE 19° 

das heißt in Worten: der gesuchte Winkel ist der Winkel, dessen Tangente 
der Bruch ist, der zum Zähler die Differenz zwischen dem Ausschlage bei 


wirksamer und dem bei unwirksamer Anordnung, zum Nenner deren. 
Summe hat. 


tanga = 


Fig. 7b. 
Das elektrokardiometrische Kreuz. M Mund; Z linke, Rrechte Hand; F Füße; 
l linker, r rechter Fuß. 


Diese Formel gilt auch für negative Werte der unwirksamen Ab- 
leitung, wie sich leicht durch geometrische Konstruktion beweisen läßt. 
Es wird genügen, ein Beispiel herzusetzen: Es sei der Wert, den man 
von der unwirksamen Anordnung erhält, R = —1, und der für die wirk- 
same Anordnung L = 3, so hat man 
DR a 
Ib Sp 18 3—1 
a = 64°. 


tanga — =) 


106 AuGustus D. WALLER: 


In der Figur, die das untere Dreieck darstellt, ist die Strecke VF 
der Strecke RL gleich angenommen worden, also doppelt so groß wie RV. 
Die Formel lautet hier: 

Ban 

Ne Rem: 

wo R und L die Ausschläge bei rechtslateraler und linkslateraler Ab- 
leitung darstellen. Wie im vorhergehenden Falle ist die Tangente von a 
gleich dem Quotienten der Differenz R —L, dividiert durch die Summe 
R-+L, und multipliziert mit FV/RV, der Kotangente des halben 
Winkels RFL. Für das obere Dreieck wurde MV/RV = 1 angenommen, 
für das untere FV/RV =2, das heißt der Winkel RFL wird gleich 53° 
gesetzt. 

Die allgemeine Formel für den Wert des Winkels bei M oder # ist: 
a 
BE‘ 
worin a die Gradzahl des halben Winkels ist. Wenn wir also mit 
Einthoven das Dreieck RLF als ein gleichseitiges Dreieck annehmen, 
ist der Winkel bei F = 60° und der Wert für cot a ist 1:73. Die Formel 
lautet dann: 


tanga — 2 


tang a = cot a 


een 
Tor le 

Ich bediene mich folgender Darstellung an der Taiel, um in der 
Vorlesung klar zu machen, wie sich theoretisch der Ausschlag bei unwirk- 
samer und wirksamer Anordnung mit größerer oder geringerer Schräg- 
lage des Herzens in der Brusthöhle ändern muß oder, genauer genommen, 
mit höherem oder niedrigerem Werte des Neigungswinkels « der Potential- 
achse, wobei natürlich vorausgesetzt wird, was dem wirklichen Tat- 
bestande allerdings nicht genau entspricht, daß der Gipfel des Ausschlages 
bei allen Ableitungen auf den gleichen Zeitpunkt fällt.! 


tanz a — 1213 


1 Im Jahre 1908 hat Einthoven zuerst den Satz ausgesprochen, der jetzt 
als „Einthovensche Regel‘ bekannt ist, nämlich II — I= III (Pflügers Archiv. 
Bd. CXXLI. S. 558), das heißt: die algebraische Summe von drei oder mehr be- 
liebigen Potentialdifferenzen innerhalb eines geschlossenen Stromkreises ist gleich 
Null. Später hat er erkannt, daß die Gleichung nicht zutrifft, weil die Gipfel der 
Zacken nicht synchron sind, indem der von ARj etwa 0-01 Sekunden früher fällt 
als der von Ryr und Krrır, die er als gleichzeitig gelten läßt. Für solche Punkte 
der drei Wellen, die im Zeitverhältnis übereinstimmen, ist der Satz selbstverständ- 
lich gültig, wie Einthoven dann auch geometriseh gezeigt hat. Ich habe mich 
nicht darauf eingelassen, die Gültigkeit der Einthovenschen Regel für die drei 
Ableitungen zu untersuchen, sondern habe mich damit begnügt, anzunehmen, 
daß die Gipfel der Zacken von R und ZL annähernd als synchron betrachtet 


ALTES UND NEUES ÜBER DAS ELEKTROKARDIOGRAMM. 107 


h transversale Ableitung 


NA 
W% 


R untere Ableitung 
L obere Ableitung 


Long. Ableitung 


L untere Ableitung 
R obere Ableitung 


Fig. 8. 
Spannungskurven für die verschiedenen Ableitungen bei verschiedener Neigung der 
Potentialachse. 
Die Abszissen sind die Werte des Neigungswinkels «a, in den Ordinaten die 
Spannungen: 100 mm — !/ooo Volt. Theoretisch, das heißt bei vollkommener zeit- 
licher Übereinstimmung der Zackenzipfel, müßten die Gleichungen bestehen: 
R. unt. — L. wt. = L. ob. — R. ob. = transversale R. unt. + R. ob. = 
L. unt. + L. ob. = longitudinale. 


108 Aucustus D. WALLER: 


Quer über die Tafel werden gleichlaufende Linien mit etwa 1 cm 
Abstand gezogen, die Äquipotentialen darstellen, und mit den Ziffern 
1, 2, 3 usw. bezeichnet sind, die so viele Volt, Millivolt oder Mikrovolt 
bedeuten. Ein romanisches Kreuz, also ein Kreuz mit drei gleichen 
kürzeren oberen Armen und einem unteren, der die doppelte Länge hat, 
wird mit seinem Kreuzungspunkt in der Mitte der Tafel durch einen 
Nagel drehbar befestigt. (Ich habe übrigens auch ein Modell, an dem 
das Kreuz feststeht, während die Tafel drehbar ist, was manchem eine 
klarere Anschauung gewährt als das drehbare Kreuz auf feststehender 
Tafel.) Durch die Stellung des Kreuzes auf dem Liniensystem können 
die wirksamen und unwirksamen Ableitungen, ihre Veränderung bei ver- 
schiedenem Winkel a, die verschiedene Neigung der Potentialachse bei 
verschiedener Potentialspannung in R und L, u.a. m. dargestellt werden. 
Ich zeige damit meinen Medizinern, daß die unwirksamen Anordnungen 
(rechte obere und linke untere) negativ werden, wenn das Herz flach 
auf dem Zwerchfell ruht, und auf welche Weise es mir möglich ist, durch 
tiefe Einatmung bei mir selbst den Ausschlag der linken unteren Ableitung 
aus einem negativen in einen positiven zu verwandeln, und auf welche 
Weise es vielen unter ihnen möglich ist, an ihrer Kurve die umgekehrte 
Veränderung hervorzurufen, das heißt, durch eine tiefe Einatmung den 
Ausschlag von der linken unteren Ableitung aus einen positiven zu einem 
negativen zu machen. Nie versäume ich hinzuzufügen, daB man aus 
dieser Umkehrung nicht auf eine vorübergehende Unterbrechung der Er- 
regungsleitung im rechten Arm des Hisschen Bündels zu schließen braucht. 
Übrigens komme ich auch nicht gern meinen medizinischen Hörern mit 
Sinus und Cosinus, wage aber doch zu Nutz und Frommen derer, die sich noch 
einige Überbleibsel von Trigonometrie aus ihrer Schulzeit bewahrt haben, 
zu erwähnen, daß die Verminderung des Ausschlages bei transversaler Ab- 
leitung, die bei tiefer Einatmung ausnahmslos an allen Herzen auftritt, dem 
Sinus des Neigungswinkels der Potentialachse proportional ist. 

Um bestimmte Beispiele von der Benutzung des elektrokardio- 
metrischen Kreuzes beim Unterricht zu geben, möge zunächst einmal 


werden dürfen. In der Tat habe ich in einem Falle geschätzt, daß der Gipfel der 
linken Seite etwa 0-005 Sekunden vor den der rechten Seite fiel. In anderen 
Fällen konnte ich überhaupt keine Ungleichzeitigkeit finden. Daraus schloß ich, 
daß die Formel tang & = 2 == m mit gutem Erfolg verwendet werden könne, 
wo man annehmen will, daß die Gipfel zeitlich übereinstimmen, obgleich ich zu- 
geben muß, daß es in solchen Fällen, in denen der Ausschlag von der linken 
unteren Ableitung klein und positiv ist und ihm ein großer negativer folgt, 
zweifelhaft bleibt, welcher Wert für Z in die Rechnung eingesetzt werden soll. 


4 


ÄLTES UND NEUES ÜBER DAS ELEKTROKARDIOGRAMM. 109 


angenommen werden, das Kreuz sei senkrecht gestellt. Dann ist offenbar 
zwischen R und ZL kein Potentialunterschied. Der Winkel « muß Null 
sein, wenn die Ausschläge von Rß und Z gleich sind, und das sind sie in 
diesem Fall, wo sie 5 dm (entsprechend 5 Dezimillivolt) für die oberen, 
10 dm (entsprechend 10 Dezimillivolt) für die unteren Ableitungen be- 
tragen. 

Wird das Kreuz gedreht, so daß R um einen Dezimeter gehoben 
und ZL um ebensoviel gesenkt wird, so sieht man, daß nunmehr folgende 
Potentialdifferenzen bestehen: 


Obere Ableitung: 

Bei transversaler Ableitung... .... 2 ana = m 80 
Bosmeehter oberer Ableitung . .. 2... 4 ä 
"linker oberer Ableitung... .... fast 6 aan, Niletmmes 
‚„„ rechter unterer Ableitung. . . . fast 11 1 Zi 
„,„ linker unterer Ableitung ...... g)| tanga—=2 ergg: 0:2 

a ad. 


Nun möge das Kreuz gedreht werden, bis sein längerer Arm mit der 
Vertikalen einen Winkel « = 80° bildet. Man liest die Höhen ab, in 
denen nunmehr die Punkte M RLF stehen, und erhält: 


Für die transversale Ableitung. . . . fast 10 (9-8) 
ma rechte oberer Ableitung; 2... —4 (4-05) 
» „ linke obere Ableitung... . fast 6 (5-79) 
»  „ rechte untere Ableitung . . . fast 6-5 (6-65) 
»  „ linke untere Ableitung . . . über —3 (-3-17) 


Nun berechne man nach der Formel den Winkel «a (unter Berück- 
sichtigung der Fehler bei so grober Ablesung), so ergibt sich für die 


obere Ableitung: 
De 


Eier - 5 
a — 80° 
und für die untere Ableitung: 
tanga=2. zu 
= 


Das Modell ist aber auch noch etwas mehr als ein bloßes Kinder- 
gartenspielzeug. Es ist tatsächlich ein Meßinstrument, mit Hilfe dessen 
man in einigen Augenblicken das Wertverhältnis für alle fünf Ableitungen 
für verschiedene Neigungswinkel der Potentialachse bestimmen und deren 


110 Aucustus D. WALLER: 


Kurve aufzeichnen kann, sogar erheblich schneller, als es möglich ist, die 
Gleichungen für beliebigen Winkel anzusetzen und auszurechnen. 


obere transversale Abl. 


axiale Ableitung 


rechtslaterale Ableitung 


untere transv. Ableitung 


rechte long. Ableitung 
linke long. Ableitung 


| linkslaterale Ableitung 


Äquatoriale Ableitung 


10° 20° 30° 40° 50° 60° 70° 80° 


Fig. 9. 
Spannungskurven für verschiedene Ableitungen bei verschiedener Neigung der 
Potentialachse. Angaben wie in Fig. 8. 


ALTES UND NEUES ÜBER DAS ELEKTROKARDIOGRAMM. all 


Die Anwendung des Modells im Vergleich zur Rechnung wird aus 
der Fig. 7 ersehen werden können. Wenn das Kreuz RMLF, das die 
Ableitungspunkte darstellt, mit dem Kreuzungspunkt auf der Mitte der 
Spannungstafel befestigt und in beliebige Winkelstellungen von 10°, 20°, 
30° usw. gedreht wird, kann man die Werte für die verschiedenen Ab- 
leitungen sofort festlegen, indem man mit einer Nadel durch die Punkte 
RMLEF durchsticht und so die entsprechenden Stellen auf der Spannungs- 
tafel bezeichnet. Die elektromotorische Kraft jeder Ableitung bei jedem 
Neisungswinkel der Potentialachse ergibt sich dann aus dem Höhen- 
unterschied zwischen den Stichmarken der betreffenden Ableitungspunkte. 
Z. B.: wie groß ist theoretisch für die Achsenneisung 30° der Wert für 
die linke untere Ableitung? Am Modell durch Einstechen gemessen, 
beträgt er 87 — 25 =62. Die Berechnung ergibt 61-7. Wie groß wird 
der Wert für die Achsenneigung 70°? Die Stichlöcher zeigen 17 — 49 
—= —92. Die Berechnung ergibt —31 7. Man sieht gleich, daß der Aus- 
schlag für die linke untere Ableitung negativ sein muß, wem die Lage 
des Herzens sich der Horizontalen nähert, und man kann leicht ver- 
stehen, wie es kommt, daß bei solcher Stellung des Herzens eine tiefe 
Einatmung den normalen negativen Ausschlag in einen positiven um- 
wandelt. 


Der Leser wird an der Fig. 9, auf der dieses Zahlenbeispiel dargestellt 
ist, ersehen können, daß, wenn bei linker unterer Ableitung die Zacke 
positiv und größer ausfällt als bei rechter unterer, wenn mithin die 
Potentialachse nach rechts abweicht, der Ausschlag bei transversaler 
Ableitung negativ sein muß. 


Sind das neue oder alte Lehren? Ich weiß es wahrhaftig nicht. 
In ihrer Form ist diese geometrische Darstellung jedenfalls neu, in 
ihrer inneren Bedeutung ist sie aber alt, denn sie ist nur die Fort- 
entwicklung des Prinzips der „unwirksamen“ und „wirksamen“ An- 
ordnungen, das schon 1887 mit aller Bestimmtheit und Ausführlichkeit 
erkannt (und in du Bois-Reymonds Archiv, Jahrg. 1899, veröffentlicht) 
worden ist. 


Ich möchte hier noch einmal hervorheben, wie tief ich’ mich 
Einthoven für das hervorragende Verdienst zu Dank verpflichtet fühle, 
das er sich um die Wissenschaft durch die Erfindung seines herrlichen 
Apparates erworben hat. Nur durch diesen ist es möglich gewesen, die 
Beobachtungen zu machen, auf die sich die geschilderte Fortentwicklung 
der Lehre vom Elektrokardiogramm aufbaut. 


112 


Ausustus D. WALLER: 


Tabelle I. 


Werte von V, bei den verschiedenen Ableitungen, 
am Modell abgelesen: 


IV. V. 1a), Melk II. VL 
se Rechts oben | Links ob. | Transy. | R. unt. |Linksunt. | Long, 
00 50 50 0 8700 100 150 
10° 40-5 58 17 | 107 90 148 
20° 30 64 ar Kool 77 141 
30° 18 68 SO ie 62 130 
40° 6 70 64 109 45 115 
500 — 6 70 76 102 26 96 
60° — 15 68 86 93 7 75 
700 — 30 64 94 81 — 13 51 
80° — 40-5 58 Sn 66 — 32 26 
900 — 50 50 O0 50 — 50 0 
Werke von V, bei den verschiedenen Ableitungen 
nach der Formel berechnet: 
IV. V. 1E 1I. III. VI. 
a \ cos (26-5 — eo) | cos (26-5 +«) 
c08 (45 +0)cos45| c0s(45—)Cc08 45 | sin « DE cos 2655 1-5 cos« 
0° 500 500 000 1000 1000 1500 
10° 405 579 174 1071 | 898 | 1477 
200 299 641 342 1110 | 769 1409 
300 183 683 500 1115 | 617 1299 
400 62 701 643 | 1086 445 | 1149 
50° — 62 701 766 1024 | 261 | 964 
600 — 183 683 866 932 68 750 
700 — 299 641 940 811 —16 | 513 
80° — 405 579 985 665 — 317 260 
900 — 500 500 1000 | 500 — 500 0 
Tabelle II. 
Vom Modell abgelesen: 
% L. Lat. | Aequat. R. Lat. Axial. R. long L. long 
mm mm mm mm mm mm 
0° 90 90 90 90 140 140 
10° 81 79 96 98 136 134 
200 69 66 100 103 130 127 
300 55 50 100 105 121 116 
40° 40 33 98 104 107 101 
50° 23 15 92 100 91 63-5 
60° 6 u 84 93 72 63-5 
700 — 1 — 21 713 83 50 41 
80° —3 — 38-5 60 70 27 18 
90° — 4.5 — 55 45 55 3-5 — 3-5 


ALTES UND NEUES ÜBER DAS ELEKTROKARDIOGRAMM. 113 


Tabelle II (Fortsetzung). 
Nach der Formel berechnet: 


a | L Lat. | Aequat. | R. Lat. | Axial. R.long. | L. long. 
0° 8: ‚999 8.999 83-999 | 8.999 13. 71 13. 71 
10° | 8.083 7-905 9.640 9-819 13. 58 13. 41 
200 |: 6915 | 6.569 - 10-010 |. 10. 34 13.02 12269 
30° Il 5-550 | 5.036 10: 038 10- 54 12: 07 11. 58 
40° 4.010 3.349 I-TTT 10- 43 10: 74 ı 10. 13 
50° | 2.346 1.524 9.221 10- 01 9.099 8.358 
60° | 0.614 — 0.276 | 8:385 9.274 7.174 6-340 
70° | — 1.139 | — 2-104 | 71-295 | 8.258 53-032 4.129 
80° | — 2:856 | — 3.864 | 5.981 6:993 2.738 1-793 
90° | — 4-486 | — 5.514 4.486 5.514 0.359 — 0.359 


In dieser Zahlenübersicht habe ich noch einen sechsten Stab zugefügt, 
der die Werte für die longitudinale Ableitung (Mund und Füße) angibt, 
die natürlich der Summe der Werte für die obere und untere Ableitung 
jederseits gleich sein müssen. Der allgemeine Wert dieser Ableitung ist 
1-5cosa. Das Verhältnis zwischen transversaler und longitudinaler Ab- 


leitung: ist hier sina: 1-5 cosa oder =; tanga. Die Größe des Winkels a 


kann also auch aus den Werten der Ausschläge bei transversaler und 
longitudinaler Ableitung abgeschätzt werden, und zwar nach der Formel: 


tanga = 1-5 = 


Ich habe aber diese Formel nicht systematisch angewendet, weil die 
Gipfelpunkte der Zacken T und L asynehron sind, und habe zur Be- 


stimmung von a der Formel 
ge 
"RH+L 


a) 


tanga = 
den Vorzug gegeben. 

Man kann das Modell auch benutzen, um angenäherte Werte für die 
Ausschläge bei der äquatorialen, axialen, rechts- und linkslateralen Ab- 
leitung zu erhalten. 

In der zweiten Zahlenübersicht ist wie zuvor für 1 Millivolt der 
Wert 100 angesetzt. Beachtet man die geringfügige Potentialdifferenz, 
die zwischen beiden Füßen besteht, und stellt sie mit 0-1 Millivolt in 
Rechnungs, so sieht man, daß von dem unteren Dreieck die Spitze durch 
die Gerade Ir abgetrennt werden muß (Fig. 7b). Man hat dann 


Lhlf entsprechend der linkslateralen Ableitung 


Lhrf a „  äquatorialen u 
‚Rhrf % ‚„„  rechtslateralen ,, 
Rhif # ER axialen En 


Archivf.A.u.Ph. 1917. Physiol. Abtig. 8 


114 Aucustus D. WALLER: 


und kann die Werte für den Ausschlag bei diesen Ableitungen für beliebige 
Größen des Winkels « durch Nadelstiche in den Punkten r und I ab- 
stecken. Die so gefundenen Zahlen sind in der zweiten Zahlenübersicht 
' zusammengestellt, deren untere Hälfte die entsprechenden berechneten 
Zahlen enthält. Die Verringerung der Höhe des Dreiecks und die kleine 
Veränderung des Winkels infolge der Abtrennung der Spitze hätten zwar 
vernachlässigt werden dürfen, sie sind aber bei der Rechnung in Betracht 
gezogen worden. Die Figur zeigt sehr schön, daß die axiale Ableitung 
die rechtslaterale ein wenig an Wirksamkeit übertrifft und ebenso die 
linkslaterale die äquatoriale. Sie zeigt ferner, daß bei äquatorialer Ab- 
leitung der Ausschlag etwas größer wird als bei linkslateraler, wenn die 
Ausschläge negativ sind. Der Wendepunkt, in dem die Kurven die Null- 
linie schneiden, liest für die äquatoriale Ableitung bei der Achsenneignng 
58°, für die linkslaterale bei 64°. Daher empfiehlt es sich, wenn man 
den Versuch mit der Umkehrung des Ausschlages machen will, die 


linkslaterale Ableitung zu wählen, wenn der Umschlag von negativ zu 


positiv durch tiefe Einatmung gezeigt werden soll, und die äquatoriale 
Ableitung, wenn der Umschlag von positiv zu negativ durch Ausatmung 
gezeist werden soll. Infolge der geringfügigen Potentialdifferenz, die 
zwischen beiden Füßen besteht, ist: theoretisch ein gewisser Unterschied 
zwischen den Ausschlägen bei rechter und linker longitudinaler Ableitung. 
und der bei linkslongitudinaler Ableitung kann negativ sein. 


Der Einfluß der Atembewegungen auf das Elektrokardiogramm ist 
beträchtlich, schwankt aber je nach der Wahl der Ableitungsstellen und 
nach persönlichen Verschiedenheiten. Bei mir selbst (das Herz liest bei 
mir horizontal) ist er bei sämtlichen Ableitungen sehr bedeutend. So 
kann ich z. B. durch angestrengte Einatmung den Ausschlag bei der 
linken unteren Ableitung, der normalerweise negativ ist, umkehren. Bei 
einem meiner Söhne (J. C. W.), mit einer Neigung der Herzachse von 30°, 
ist der Einfluß der Atembewegungen auch sehr groß. So vermag er z. B. 
durch angestrengte Ausatmung den Ausschlag bei der linken unteren 
Ableitung, der normalerweise bei ihm positiv ist, negativ zu machen. 
Dagegen ist in diesen beiden Fällen die Einwirkung der Atembewesungen 
auf den Ausschlag bei rechter unterer Ableitung verhältnismäßig gering. 

Bei meinen ersten Untersuchungen im Jahre 1887, die ich an mir 
selbst vornahm, wurde ich durch diese respiratorischen Schwankungen 
gestört, und gewöhnte mich, um sie zu vermeiden und die transversale 
Ableitung in voller Stärke zu beobachten, den Atem in Exspirations- 
stellung anzuhalten. Ich bildete mir damals ein, daß die Ableitung vom 


ÄLTES UND NEUES ÜBER DAS ELEKTROKARDIOGRAMM. 115 


Herzen zur Peripherie durch den Verengungszustand des Brustkorbes 
begünstigt werde, habe aber diese Ansicht später meinen weiteren Be- 
obachtungen gemäß verändert. 

Die respiratorischen Schwankungen der Gipfelhöhen des Elektrokardio- 
grammes sind in den letzten Jahren von Einthoven, von Samojloff 
und von Kraus und Nicolai verzeichnet und untersucht worden. Ich 
habe ihnen erst letzthin eingehende Beachtung geschenkt und sie syste- 
matischer Beobachtung unterworfen. In den Proc. of the Physiol. Soc. 
vom Juni 1913 habe ich kurz über den Einfluß verschiedener Ableitungen 
bei verschiedener Neigung des Herzens (vertikale und horizontale Herz- 
lage) berichtet. Die Zacke V, nimmt bei Inspiration zu, am meisten die 
große positive V,-Zacke, die sich bei horizontaler Herzlage findet. Bei 
dieser Herzlage nimmt der Ausschlag bei Inspiration auch bei der rechts- 
lateralen. Ableitung zu, während bei linkslateraler, wo der Ausschlag 
negativ ist, eine Verkleinerung eintritt. Bei vertikaler Herzlage sind die 
Einwirkungen der Atmung weniger deutlich. Bei Inspiration nimmt der 
Ausschlag zu bei transversaler und bei linker unterer Ableitung, und nimmt 
meist ein wenig ab (manchmal aber auch etwas zu) bei der rechten 
unteren Ableitung. Der Ausschlag bei linker oberer Ableitung nimmt bei 
Inspiration ein wenig ab bei horizontaler Herzlage und bei vertikaler 
Herzlage. Der Ausschlag bei rechter oberer Ableitung, der bei vertikaler 
Herzlage positiv ist, nimmt zu, aber bei horizontaler Herzlage, bei der 
er negativ ist, ab. Diese etwas verwirrende Reihe von Einzelangaben 
wird verständlicher und faßlicher, wenn man das Schema der Fig. 9 zu 
Hilfe nimmt, das die theoretischen Werte der Spannungen für die fünf 
Ableitungen bei verschiedenen Neigungen der Potentialachse von 0° bis 
90° angibt. Es leuchtet ein, daß mit dem Absteigen des Zwerchfells bei 
der Einatmung die Herzachse der vertikalen Lage näher kommt, so das 
2. B. bei transversaler Ableitung der Ausschlag abnehmen muß in dem 
Verhältnis, in dem der Sinus des Achsenwinkels kleiner wird. So muß 
2. B., wenn es sich um horizontale Herzlage handelt nnd mithin die 
Achse des Herzens bei Exspirationsstellung mit der Vertikalen einen 
Winkel von 90° einschließt, bei tiefster Inspiration einen Winkel von 
45°, die Größe von V, bei 90° zu der bei 45° sich verhalten wie sin 90° 
zu sin 45°, das heißt wenn der Wert von V, bei Exspiration 1 Millivolt 
beträgt, wird er bei Inspiration auf 0-7 Millivolt herabgehen. Und für 
dasselbe horizontal gelagerte Herz ist auf dem Schema zu ersehen, daß 
die verkehrte Zacke bei linker unterer Ableitung, deren Wert —0-5 Milli- 
volt ist, bei Inspiration zu dem Wert -+0-3 Millivolt umschlägt, was 
bedeutet, daß durch das Absteigen des Zwerchfells der Winkel zwischen 

8* 


116 ÄUGUSTUS D. WALLER: 


Herzachse und Vertikallinie auf 48° herabgegangen ist. Solche Betrach- 
tungen führten mich dazu, die beiden Aufnahmen zu machen, die in der 
Fig. 4 wiedergegeben sind. A. D. W. hat ein horizontal gestelltes Herz 


A.D.W. 
ANnk3 siepal. 


u eK 


/inks lateral, 


Fig. 4. 

Oben das Elektrokardiogramm und die Atemkurve von A. D. W. 
Bei Inspiration wird die negative Ventrikelzacke positiv. 
Unten das Elektrokardiogramm und die Atemkurve von J.C.W. 
Bei Exspiration wird die positive Ventrikelzacke negativ. 
Beide bei linkslateraler Ableitung aufgenommen. 


und gibt bei linker unterer Ableitung bei ruhiger Atmung negative Aus- 
schläge. Bei tiefster Inspiration schlägt die negative Zacke um und wird 
positiv. J. C. W. hat bei ruhiger Atmung eine mittlere Schräglage des 
Herzens (die Potentialachse ist um 39° bis 48° geneigt) und der Aus- 
schlag von der linken Ableitung ist bei ihm positiv. Bei tiefster Aus- 
atmung schlägt die positive Zacke um und wird negativ. Der Leser, der 
die Grundtatsachen richtig aufgefaßt hat, wird keine besondere Erklärung 
mehr dafür verlangen, daß während bei A. D. W. die Ausschläge bei 
rechter unterer und linker oberer Ableitung, die beide positiv sind, durch 
tiefe Einatmung vergrößert werden, bei J. C. W., dessen Kurve eben- 
falls positive Zacken aufweist, durch tiefe Einatmung im Gegenteil die 
Höhe der Zacken ein wenig vermindert wird. 


Sehr viel Gewicht ist in den letzten Jahren auf die Untersuchung 
von Fällen von Situs viscerum inversus gelegt worden. Ganz kürz- 


ÄLTES UND NEUES ÜBER DAS ELEKTROKARDIOGRAMM. lat 


lich sind solche Fälle ausführlich von Samojloff! und von Kraus und 
Nicolai? beschrieben worden. 

Es versteht sich von selbst, was aus dieser Umkehrung für die 
Stromverteilung folgen muß. Die gegenseitige Lage der unwirksamen 
und wirksamen Ableitungen wird ins Entgegengesetzte verkehrt, aber 
nur für einen einzigen Fall, nämlich für die transversale Ableitung, be- 
kommt die Stromrichtung selbst die entgegengesetzte Richtung. Das 
Schema, das diesen Sachverhalt ausdrückt, ist einfach das Spiegelbild 
des Schemas für den Normalfall. Alles dies ist schon in meinen ersten 
Schriften aus den Jahren 1887 bis 1889 klar ausgesprochen worden. Das 
ist doch ein unzweifelhafter Beweis, daß ich auch damals schon genau 
gewußt haben muß, was es damit auf sich hatte, als ich den Unterschied 
zwischen rechter und linker Ableitung auf verschiedene Neigungswinkel 
der Herzachse zurückführte. Aber so selbstverständlich der Tatbestand 
jetzt auch erscheint, in jener ersten Zeit hat er erst mühsam erforscht 
werden müssen, und es galt damals zunächst den grundlegenden Unter- 
schied zwischen wirksamer und unwirksamer Anordnung nachzuweisen. 
Die elektromotorische Wirksamkeit des Herzens bei Situs inversus war 
für meine Lehren vom Jahre 1889 von ausschlaggebender Bedeutung. 
Es war nicht etwa zufällig, daß ich 1887 Fälle von Situs inversus auf 
die Herzströme hin untersuchte, im Gegenteil, ich bedurfte solcher Fälle 
zur Bestätigung meiner Ansicht über das elektrische Verhalten des normal 
gelagerten Herzens, und ich erinnere mich noch recht wohl, wie ich zwei 
Tage lang ganz London wie eine Art Detektivbeamter durchsuchen 
mußte, um zweier Individuen habhaft zu werden, die in den Büchern 
der Krankenhäuser als Fälle von Situs inversus verzeichnet gestanden 
hatten. Der eine wurde sogar zufällig gerade von den Gerichten gesucht, 
und es war also nicht ganz leicht, ihn an das Elektrometer heranzubringen. 
Ich besinne mich auch noch deutlich auf die Genugtuung, die ich empfand, 
als ich diese beiden Fälle mit Hilfe einer Silberelektrode vom Munde zum 
Elektrometer untersuchte und beim Eintauchen der rechten Hand in ein 
Gefäß mit Kochsalzlösung, das an den anderen Pol des Elektrometers 
angeschlossen war, der Meniskus ‚ja‘ sagte, ‚nein‘ dagegen, sobald die 
linke Hand an Stelle der rechten trat. (Vielleicht noch lebhaiter ist aller- 
dinss meine Erinnerung an die abscheuliche Enttäuschung, die ich mit 
dem ersten mühsam erbeuteten Fall erlitt, als ich ihn, der ganz normalen 
Situs hatte, ans Elektrometer stellte und seine linke Hand ‚,ja“ sagte, 
während die rechte verneinte, wie bei jedem gewöhnlichen Menschen.) 


1 A.a. 0. S. 197. 
2A. 8.0. 


118 AUGUSTUS D. WALLER: 


Die Umständlichkeit, mit der ich über diese Erinnerungen berichte, 
möge damit entschuldigt werden, daß sie dazu dienen, die grundlegende 
Unterscheidung zwischen ‚wirksamer‘ und ‚‚unwirksamer“ Ableitung ins 
rechte Licht zu stellen, die auch jetzt durchaus noch nicht gebührend 
gewürdigt wird. 

Man bedenke nur, was gewöhnlich in der Klinik über die elektrische 
Diagnose der Hypertrophie oder der Hyperdynamie der (linken) Kammer 
durch Leitungsstörung in einem (dem rechten) Schenkel des Hisschen 
Bündels gelehrt wird. Man lehrt klinisch und empirisch, daß die elektrischen 
Kennzeichen von Hypertrophie der rechten Kammer in einer verhältnis- 
mäßig großen R,-Zacke und einer verhältnismäßig kleinen R,-Zacke be- 
stehen oder, nach meiner Bezeichnungsweise ausgedrückt, daß die Zacke V; 
bei transversaler Ableitung klein, bei linkslateraler groß ist. Ich deute 
das so, dab die elektromotorische Kraft auf der linken Körperhälfte 
nahezu ebenso groß ist wie auf der rechten und daß sie daher bei trans- 
versaler Ableitung natürlich entsprechend ‚gering sein muß. Dies ist aber 
meiner Auffassung nach das Kennzeichen der vertikalen Herzlage, also 
eines ganz normalen Zustandes. Ich will allerdings gern zugeben, daß 
diese Zeichen auch bei Herzleidenden vorkommen und daß sie auch bei 
rechtsseitiger Hypertrophie oder Dilatation oder bei relativer Schwäche 
der linken Kammer bestehen können.! 

Ferner lehrt die Klinik, daß die elektrischen Kennzeichen linksseitiger 
Kammerhypertrophie in verhältnismäßig großer R,-Zacke und verhältnis- 
mäßig kleiner oder sogar verkehrter R,;rZacke bestehen oder, nach meiner 
Bezeichnungsweise ausgedrückt, daß dabei die Zacke V, bei transversaler 
Ableitung groß, bei linkslateraler Ableitung klein ist. Ich deute dies so, 
daß zwischen beiden Körperhälften eine beträchtliche elektrische Asym- 
metrie besteht, das heißt daß die Potentialachse weit von der Vertikalen 
abweicht. Dies ist nach meiner Auffassung einfach das Kennzeichen der 
horizontalen Herzlage, also eines wiederum ganz gewöhnlichen normalen 


! In obigem beziehen sich die Ausdrücke vertikal, horizontal, schräg auf die 
Richtung der Potentialachse, nicht auf die anatomische Längsachse des Herzens 
Die Richtungen der elektrischen und der anatomischen Achse fallen durchaus 
nicht genau zusammen und weichen in vielen Fällen erheblich voneinander ab. 
So findet man nicht selten, daß die elektrische Achse, nach rechts geneigt ist, 
während die anatomische, wie das Orthodiagramm beweist, unzweifelhaft nach 
links abweicht. Wiederum bleibt die anatomische Achse, selbst wenn das Herz 
schlaff auf dem Zwerchfell anliegt, so daß eine sehr große Abweichung von der 
Vertikalen besteht, doch immer noch unter der Horizontalen, während der elek- 
trische Befund eine Achsenneigung von über 90° anzeigt, also der Achse eine Lage 
über der Horizontalen zuweist. 


ÄLTES UND NEUES ÜBER DAS ELEKTROKARDIOGRAMM. 119 


Zustandes. Ich will aber durchaus nicht bestreiten, daß dies Zeichen auch 
bei Hypertrophie der linken Kammer oder bei einer bestimmten Störung 
im rechten Schenkel des Hisschen Bündels vorkommen kann. 

Ich bin mit größter Aufmerksamkeit der erstaunlicken Entwicklung 
der klinischen Lehre vom Elektrokardiogramm gefolet. Eigentlich gegen 
meine Erwartung habe ich die Überzeusung gewonnen, daß die elektrische 
Untersuchung des menschlichen Herzens zu praktischen Erfolgen führen 
kann. Es scheint mir, daß das größte Verdienst um diesen Fortschritt 
Einthoven zugeschrieben werden muß, erstens wegen seines vortrefflichen 
Galvanometers und seiner systematischen Methodik, dann aber auch, weil 
er der erste gewesen ist, der die elektrischen Symptome der Dissoziation, 
der Arythmie und der Extrasystolen bestimmt hat. Ohne sein Galvano- 
meter hätten diese pathologischen Verhältnisse überhaupt nicht untersucht 
werden können, und auch das Verhalten des normalen menschlichen 
Herzens hätte nicht so genau erforscht werden können, wie es jetzt 
möglich ist. Dennoch aber kommt es mir so vor, als gingen die Forscher 
von heute, indem sie sich so eng an Einthovens drei Ableitungen I, II 
und II und an Einthovens Satz IT—I=III und an seine Zacken 
P,@. R, S, T und U in ihren verschiedenen Gestalten klammern, einen 
Weg, der schwerlich zu viel neuen Erkenntnissen führen wird und der 
schon ganz erhebliche Verirrungen verursacht hat. Man denke beispiels- 
weise an die klinische Lehre von den Störungen im Hisschen Bündel. 
Ich möchte nicht geradezu behaupten, daß sie ein bloßes Hirngespinst 
ist, aber ich muß bekennen, daß ich nicht im mindesten von der Richtig- 
keit der aus dem Elektrokardiogramm erhobenen Befunde von Leitungs- 
störung in den Tawaraschen Fasern überzeust bin. Soweit meine 
Literaturkenntnis reicht, ist die gewöhnlich angegebene Störung. Leitungs- 
unterbrechung (infolge von Gumma oder Sklerose) im rechten: Schenkel 
des Bündels, und das elektrische Kennzeichen, auf das sich die Diagnose 
stützt, ist eine negative Zacke bei linker Ableitung (R;,;). Man scheint 
gar nicht zu beachten, daß eine solche negative Zacke auf ganz normalen, 
von der linken Hand aufgenommenen Kurven vorkommt. Man denke 
ferner an einen anderen Fall, nämlich an die elektrischen Symptome von 
rechts- und linksseitiger Hypertrophie. Im ersten Fall handelt es sich um 
kleine R,-Zacke und große Ry;r-Zacke, im anderen um große R,-Zacke 
und kleine oder verkehrte R,;rZacke. Theoretisch kann sehr wohl ein 
soleher Zusammenhang bestehen, aber leider wird immer nur die Tat- 
sache als unerklärter und rein erfahrungsmäßig festgestellter Befund an- 
gegeben. Ich möchte die Frage aufwerfen, ob unter diesen Umständen 
diese Lehre viel nützen kann und ob sie nicht vielmehr irreleitend wirkt. 


120 Aucustus D. WALLER: ALTES UND NEUES USW. 


Die elektrischen Symptome müßten, soweit sie überhaupt eine Störung 
des Gleichgewichtes beider Herzhälften anzeigen, in der Weise beurteilt 
werden, wie ich es zuerst im Jahre 1889 getan habe und die ich in vor- 
liegender Abhandlung auseinanderzusetzen versucht habe, das heißt man 
sollte aus ihnen zunächst nur auf eine Veränderung der normalerweise 
vorhandenen elektrischen Ungleichheit zwischen den beiden Körperhälften 
schließen. Es ist sehr gut möglich, daß Vergrößerung der rechten Herz- 
hälfte den Ausschlag der linken Hand verstärken und so die Ungleich- 
heit zwischen rechts und links und mithin den Ausschlag bei transversaler 
Ableitung herabsetzen kann, und daß Vergrößerung der linken Herzhälfte 
den Ausschlag der linken Hand verringern und die Ungleichheit zwischen 
rechts und links vergrößern und damit den Ausschlag bei transversaler 
Ableitung erhöhen kann. Eben darum aber wird es sich empfehlen, 
weitere Beobachtungen zu machen, die Veränderung der Achsenneigung 
unter verschiedenen physiologischen Verhältnissen zu untersuchen, den 
Wert des Winkels oberhalb so gut wie unterhalb des Herzens zu be- 
stimmen. Eben darum meine ich, daß der klinische Forscher gut tun 
würde, der grundlegenden Anschauung von den wirksamen und unwirk- 
samen Ableitungen mehr Aufmerksamkeit zu schenken, die bei meinen 
ersten Untersuchungen 1887 bis 1889 das Leitmotiv war und noch jetzt 
das Leitmotiv meiner Beobachtungen und Berechnungen ist. Diese „alte 
Geschichte‘ bleibt eben ‚‚ewig neu“. 


Zeitschriften aus dem Verlage von VEIT & COMP. in LEIPZIG. 
Skandinavisches Archiv für Physiologie. 


Herausgegeben von 
Dr. Robert Tigerstedt, 
o. ö. Professor der Physiologie an der Universität Helsingfors. 


Das „Skandinavische Archiv für Physiologie“ erscheint in Heften von 3 bis 
5 Bogen mit Abbildungen im Text und Tafeln. 6 Hefte bilden einen Band. Der 
Preis des Bandes beträgt 22 #. 


Centralblatt 
für praktische 


AUGENHEILKUNDE. 


Herausgegeben von 
\ Prof. Dr. J. Hirschberg in Berlin. 
"Preis des‘ Jahrganges (12 Hefte) 12 4; bei Zusendung unter Streifband direkt von 
; der Verlagsbuchhandlung 12 # 80 2. 


Das „Centralblatt für praktische Augenheilkunde‘ vertritt auf das Nachdrück- 
lichste alle Interessen des Augenarztes in Wissenschaft, Lehre und Praxis, vermittelt 
den Zusammenhang mit der allgemeinen Medizin und deren Hilfswissenschaften und 
gibt jedem praktischen Arzte Gelegenheit, stets auf der Höhe der rüstig fortschrei- 
« tenden Disziplin sich zu erhalten. 


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AUF DEM GEBIETE DER HAUT- UND GESCHLECHTSKRANKHEITEN. 
Herausgegeben von 
Prof. Dr. Max Joseph in Berlin. 
Monatlich erscheint eine Nummer. Preis des Jahrganges, der vom Oktober des 
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Prof. Dr. C. Flügge, und Prof. Dr. G. Gaffky, 


Geh. Medizinalrat und Direktor = ABER 
des Hygienischen Instituts der Universität Berlin, Wirkl. Geh. Obermedizinalrat. 


Die „Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankhevten“ erscheint in zwanglosen 
Heften. Die Verpflichtung zur Abnahme erstreckt sich auf einen Band im durchschnitt- 
- liehen Umfang von 30-35 Druckbogen mit Tafeln; einzelne Hefte sind nicht käuflich. 


Das 


ARCHIV 


für 


ANATOMIE UND PHYSIOLOGIE. 


Fortsetzung des von Reil, Reil und Autenrieth, J. F. Meckel, Joh. Müller, 
Reichert und du Bois-Beymond herausgegebenen Archives, 


erscheint jährlich in 12 Heften (bezw. in Doppelheften) mit Figuren im Text 
und zahlreichen Tafeln, 


6 Hefte entfallen auf die anatomische Abteilung und 6 auf die physiologische 
Abteilung. | 


Der Preis des Jahrganges beträgt 54 #. 


Auf die anatomische Abteilung (Archiv für Anatomie, herausgegeben von 
Dr. Wilhelm v. Waldeyer-Hartz, Dr. Hans Virchow und Dr. Paul Röthig in Berlin) 
sowie auf die physiologische Abteilung (Archiv für Physiologie, herausgegeben 
von Dr. Max Rubner) kann besonders abonniert werden, und es beträgt bei Einzel- 
bezug der Preis der anatomischen Abteilung 40 .#, der Preis der physiologischen 
Abteilung 26 .4. ur 


Bestellungen auf das vollständige Archiv, wie auf die einzelnen Abteilungen a 
nehmen alle Buchhandlungen des In- und Auslandes entgegen. 2 


Die Verlagsbuchhandlung: 


Veit & Comp. in Leipzig. _ 


N: 


Metzger & Wittig, Leipzig. 


_ Physiologische Abteilung. 1917. TIL. und IV. Heft. 


r 7973 
u . ARCHIV 


FÜR 


ANATOMIE UND PHYSIOLOGIE, 


. FORTSETZUNG DESVoNREIL, REILv: AUTENRIETH, J.F.MECKEL, J OH.MÜLLER, 
REICHERT v. DU BOIS-REYMOND HERAUSGEGEBENEN ARCHIVES. 


HERAUSGEGEBEN 
VON 


Dr. WILHELM von WALDEYER-HARTZ, 


PROFESSOR DER ANATOMIE AN DER UNIVERSITÄT BERLIN 
UND 


Dr. MAX RUBNER, 


PROFESSOR DER PHYSIOLOGIE AN DER UNIVERSITÄT BERLIN. 


JAHRGANG 1917, 


—— PHYSIOLOGISCHE ABTEILUNG. —— 
DRITTES UND VIERTES HEFT. 


MIT FÜNFUNDVIERZIG FIGUREN IM TEXT UND EINER TAFEL. 


LEIPZIG, 
VERLAG VON VEIT &COMP. 


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Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandes. 


Inhalt. 


{ Seite 
Loruar Tırara, Die physiologischen Vorgänge in der Netzhaut und ihre Be 
Deutung auf Grund neuer Methoden. (Hierzu Ta£.L). . . . ... 121 
Hans Vırosow, Krümmung und Rippenpfannen der Brustwirbelsäule . . . 170 
Wırn. Fisense, Der absolute Größeneindruck beim Sehen der irdischen 
Gegenstände und der Gestirme . . . a TEE 
Ren& nu Bois-Rermono, Über den Gang mit künstlichen Beineh Er 0 02 


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portofrei einzusenden. — Zeichnungen zu Tafeln oder zu Holzsehnitten sind 

auf vom Manuskript getrennten Blättern beizulegen. Bestehen die Zeichnungen u 
zu Tafeln aus einzelnen Abschnitten, so ist, unter Berücksichtigung der Format- 
verhältnisse des Archives, eine Zusammenstellung, die dem Tailor als \ { 
Vorlage für die Anordnung dienen kann, beizulegen. ie 


JAN 14 1924 


Die physiologischen Vorgänge in der Netzhaut und ihre 
Deutung auf Grund neuer Methoden. 


Von 
Dr. phil. et med. Lothar Tirala, 


Assistenten am physiologischen Institut der Wiener Universität, dz. im Felde. 


(Hierzu Taf. I.) 


Inhaltsübersicht. 


I. Die früheren Arbeiten über den Netzhautstrom und die Probleme. 1. Verlauf 
des Netzhautstromes S. 121. — 2. Latenzzeit S. 133. — 3. Zerlegung in Teilströme 
S. 136. — 4. Chemische Beeinflussung S. 141. — 5. Deutung des Aktionsstromes 
S. 143. — 6. Zusammenhang von Empfindung und Aktionsstrom 8. 150. — 
U. Eigene Versuche. 1. Versuchsanordnung $. 152. — 2. Die Wirkung chemischer 
Substanzen, insbesondere der Narkotika auf den Netzhautstrom S. 155. — 3. Ver- 
such einer neuen physiologischen Deutung der Netzhautströme S. 161. — II. Lite- 
ratur 8. 166. — IV. Tafelerklärung S. 169. 


I. Die früheren Arbeiten über den Netzhautstrom und die 
Probleme. 


1. Verlauf des Netzhautstromes. 


Wenn man das Auge eines Frosches aus der Orbita herauspräpariert, 
ohne es dabei stark durch Druck oder Zug zu schädigen, so kann 
man dadurch, daß man zwei Elektroden an verschiedenen Stellen des 
Bulbus anlegt, durch ein Galvanometer einen elektrischen Strom nach- 
weisen. Diesen Strom nennen wir den Bestandstrom. Wir können dabei 
eine Elektrode an den Querschnitt des Nervus opticus, die andere an die 
Cornea anlegen, dann fließt bei allen Wirbeltieren dieser Strom im äußeren 
Stromkreis von der Cornea zum Öpticusquerschnitt. Dieser Ruhestrom 
oder Bestandstrom wurde von duBois-Reymond entdeckt und von 
allen Nachuntersuchern bestätigt. Der Bestandstrom ist am größten, wenn 
die Elektrode nicht den Querschnitt des Nervus opticus berührt, sondern 
den Funduspol des Auges, wie aus den Arbeiten von Westerlund hervor- 
geht. Hermann versuchte zwar diesen Strom auch als einen Alterations- 
strom hinzustellen, es hat sich aber herausgestellt, daß dieser Strom in 
vollem Umfange bestehen bleibt, wenn man auch von einem Auge ab- 
leitet, welches ungeschädigt in der Orbita belassen wird. Holmgren war 
nun der erste, welcher Schwankungen dieses Bestandstromes, die bei Be- 


122 LOTHAR TIRALA: ; 


licehtung des Auges sich einstellen, entdeckte. Als nun 10 Jahre nach seiner 
Entdeckung Dewar und M’Kendrick die Retinaströme neu entdeckten, 
denn die schwedische Abhandlung Holmgrens war in weiteren wissen- 
schaftlichen Kreisen nicht bekannt geworden, wandte sich das Interesse 
zahlreicher Forscher diesen Fragen zu, was schon aus der großen Zahl 
von Arbeiten hervorgeht, welche über diesen Gegenstand veröffentlicht 
wurden. In diesen 30 Jahren haben die elektrischen Meßinstrumente aber 
auch eine Steigerung ihrer Leistungsfähigkeit erfahren und man braucht 
nur darauf hinzuweisen, daß die ersten Untersucher wie Kühne und 
Steiner in den 80er Jahren mit dem Galvanometer (Bussole nach 
Wiedemann) arbeiteten, Goteh um 1900 mit dem Kapillarelektrometer, 
Ishihara um 1906 mit dem Galvanometer nach Deprez d’Arsonval, 
v. Brücke und Garten um 1907 mit dem Kapillarelektrometer, Ein- 
thoven und Jolly, Waller, Westerlund, Piper in den Jahren 1908 
bis 1912 bereits mit dem Saitengalvanometer, um zu verstehen, dab die 
Autoren den verschiedenen Instrumenten entsprechend, auch verschiedene 
Angaben über den Verlauf der Ströme machten. 

Holmgren sah sowohl bei Belichtung als bei Verdunkelung eines 
Auges je eine positive Schwankung des Bestandstromes. 

Ich gebe hier ein schematisches Bild des Ablaufes der Retinaströme 
nach Holmgren: 


B V 


Dunkel Lieht Dunkel 
Fig. 1. 
(Nach Holmgren.) 


Dewar und M’Kendrick geben einen ganz ähnlichen Stromverlauf 
an, wie dies Schema zeist: 


3 4 


Dunkel Lieht Dunkel 
Fig. 2, El 
(Nach Dewar und M'’Kendrick.) 


DIE PHYSIOLOGISCHEN VORGÄNGE IN DER NETZHAUT USW. 123 


Also bei Belichtung ein rasches Ansteigen und bald darauf ein Ab- 
sinken des Stromes, bis dann bei Verdunkelung ein neuer jäher Anstieg 


des Stromes Kunde gibt von einer neuerlichen Veränderung der Um- 
gebung. 


Wir wollen diese beiden positiven Schwankungen bei Belichtung 
und Verdunkelung einem Vorschlage Exners gemäß als Belichtungs- 
und Verdunkelungsschwankung bezeichnen. Doch berichten die beiden 
Forseker auch von einem Stromverlauf, der sich im Bilde so darstellt: 


B | v 


AM 
Dunkel Licht _ Dunkel 
Fig. 3. 
(Nach Dewar und M’Kendrick.) 


Es kommt also nach der positiven Belichtungsschwankung zu einer 
negativen Schwankung während der Dauer der Lichteinwirkung. Diese 
Schwankung wollen wir ebenfalls nach Exner-Ishihara Helligkeits- 
schwankung nennen. 


Kühne und Steiner, welche nicht nur am Bulbus, sondern auch 
an der herauspräparierten Retina arbeiteten, fanden, daß der Stromver- 
lauf an der isolierten Netzhaut ähnlich dem ist, wie ihn Dewar und 
M’Kendrick beschreiben und nur bei ganz frisch isolierten Netzhäuten fehlt 
diese negative Helligkeitsschwankung;; 


8 


Dunkel - Licht Dunkel 
Fig. 4. 
(Nach Kühne und Steiner.) 


hingegen fanden sie bei Ableitung vom Augapfel eine Kurve von ungefähr 
folgender Form: 


124 LOTHAR TIRALA: 


Dunkel Licht Dunkel 
Fig. 5. 
(Nach Kühne und Steiner.) 


Hier fehlt also jeder negative Ausschlag während der Dauer der Be- 
licehtung und Kühne und Steiner verleihen ihrer Überzeugung Aus- 
druck, daß nur durch die Verwendung absterbender oder schon geschä- 
digter Augen diese negativen Ausschläge zu erhalten seien. Waller hat 
diese Anschauung bestätigt und gezeigt, daß bei einem unversehrten Frosch- 
bulbus der Verlauf der Kurve fast identisch ist mit der Kurve Kühnes 
und Steiners. Man erkennt, daß die Kurve Fig. 6 während der Be- 
lichtung fast parallel mit der Abszisse verläuft, daß aber bei langsamem 
Absterben des Auges (Fig. 7) der Abstieg nach der positiven Belichtungs- 
schwankung immer deutlicher wird, ja daß ein Teil der Kurve negativ 
wird, schließlich aber die ganze Belichtungsschwankung negativ wird. $ 


074 v 


Dunkel Licht Dunkel 


Dunkel Licht Dunkel 
Fig. 1. 
(Nach Waller.) 


Wenn man also an einer Kurve negative Schwankungen sieht, so wird man 
daher zuerst den Verdacht beheben müssen, es mit einer Absterbenser- 
scheinung zu tun zu haben. 


Ki % 
er = 


DIE PHYSIOLOGISCHEN VORGÄNGE IN DER NETZHAUT USW. 125 


Noch im Jahre 1902 waren Himstedt und Nagel der Meinung, 
daß die Netzhautströme der Kalt- und Warmblüter voneinander voll- 
ständig verschieden seien, weil man bei den Augen der Vögel infolge 
des raschen Absterbens häufig negative Schwankungen, z.B. Verdunke- 
lungssehwankungen, erhielt und erst v. Brücke und Garten waren 
_ mit verbesserten Methoden im Jahre 1906 imstande, zu zeigen, daß 
der Verlauf der Netzhautströme in der Reihe der Wirbeltiere, wenn 
man von kleinen Unterschieden absieht, ein prinzipiell gleichartiger sei. 
In ähnlicher Weise beschreibt Ishihara den Verlauf der Retinaströme. 
Bei Belichtung eines Auges erschien zuerst eine mehr oder weniger deut- 
liche positive Beliehtungsschwankung, auf welche etwas weniger steil, 
- mehr langsam ansteigend, die sogenannte Helligkeitsschwankung_ folst, 
welche je nach der Dauer der Belichtung verschiedene Form aufweist, 
schließlich kommt es bei der Verdunkelung zu einem positiven Ausschlag, 
dem Verdunkelungsausschlag. Zu einer ganz ähnlichen Kurve war schon 
Gotch im Jahre 1903 gekommen, doch-hat er an einem empfindlichen 
Kapillarelektrometer zum ersten Male nachweisen können, daß es vor 
der positiven Belichtungsschwankung einen kurzen, negativen Vorschlag 
gibt, so daß das Bild der Kurve jetzt nach Gotch sich wie folgt darbietet: 


Ye 


A L 
Dunkel Licht Dunkel 


Fig. 8. 
(Nach Gotch.) 


Gotch nennt unsere Belichtungsschwankung den On-Effekt, die positive 
Verdunkelungsschwankung den Off-Effekt, die Helligkeitsschwankung den 
Continous-Effekt, für den negativen Vorschlag hat er keinen Namen. Ihm 
sind hierin Einthoven, Jolly und Waller gefolgt, obwohl v. Brücke und 
Garten hervorgehoben haben, daß dieses Wort Effekt zweideutig ist. 

Alle Untersucher, die seither mit, dem Saitengalvanometer arbeiteten, 
wie Brücke, Garten, Einthoven, Jolly, Piper, haben diese negative 
Schwankung. gesehen und ich schlage vor, diese Schwankung A(ende- 
rungs)schwankung zu nennen. 

Einthoven und Jolly, welche zum ersten Male nur mit dem Saiten- 
salvanometer arbeiteten, konnten ebenso wie Brücke und Garten diese 


126 LOTHAR TIRALA: 


negative Änderungsschwankung im Froschauge sowohl bei Dunkel- als 
Helltieren einwandfrei nachweisen, so daß eine schematische Wiedergabe 
der Kurve, wie sie nach dem derzeitigen Stande unserer Methodik von 
dem Dunkelauge eines Frosches mit dem Saitengalvanometer erhalten 
werden kann, folgendes Aussehen hat: 


4 HA 


Dunkel Licht Dunkel 
| Fig. 9. 


Wie wir sehen, ist bei dieser Kurve aber auch zum ersten Male nach 
der Verdunkelungsschwankung noch ein sanft ansteigendes Kurvenstück, 
der Continouseffekt, unsere positive Helliskeitsschwankung, welche Ishi- 
hara auch schon abgebildet, aber dadurch, daß er meist ziemlich lange 
belichtete, 10 bis 60”, fiel sie mit dem breiten Gipfel gewöhnlich noch in 
die Belichtungsdauer, so daß nach der positiven Verdunkelungsschwankung 
ein Ansteigen der Kurve von ihm nicht mehr beobachtet wurde, wie wir 
dies an dem Dunkelauge des Frosches auch bei kurzer, aber intensiver 
Belichtung sehen können. 


a a tn 


r 


Diese Netzhautstromkurve ist aber unter verschiedenen Bedingungen 
verschieden. i 

Am ausführlichsten haben noch Kühne und Steiner, Einthoven 
und Jolly die äußeren und inneren Bedingungen variiert. Wir wollen \ 
unterscheiden zwischen den Erscheinungen, die durch Veränderungen 
des Auges und solche, die durch Veränderung der Belichtung hervor- 
serufen werden. 


Veränderungen am Auge. 


ad 1. Die einfachste Änderung im Zustand des Auges wird bewirkt 
durch den Aufenthalt des Tieres im Hellen oder im Dunkeln, den Adap- 
tationsvorgang, und je nach dem Adaptationszustand des Auges verläuft & 
auch die Netzhautstromkurve. x 3 

Kühne und Steiner haben schon deutlich den Unterschied zwischen 
Hell- und Dunkelfröschen und einen quantitativen und qualitativen Unter- 
schied zwischen den Kurven von einer purpurreichen und purpurlosen j 


DIE PHYSIOLOGISCHEN VORGÄNGE IN DER NETZHAUT USW. 127 


Netzhaut behauptet. Schematisch ausgedrückt, würde das Netzhautstrom- 
bild des Dunkelauges « und Hellauges b sich so darstellen: 


8 (4 


H 
Junkel Licht Dunkel Dunkel Lieht Dunkel 
Fig. 10a. Fig. 10b. 


Zu einem anderen Bild des Ablaufes der Netzhautströme gelangten 
Brücke und Garten, ebenso wie Einthoven und Jolly. | 
Schon Fig. 9, die Kurve von einem Dunkelauge, läßt diesen Unter- 
schied zwischen Fig. 9 und 10 a deutlich erkennen, womöglich noch größer aber 
wird der Unterschied, wenn wir den Netzhautstrom von einem Licht- 
- auge betrachten. 

| v. Brücke und Garten fanden auch beim Hellauge eine positive 
 Beliehtungsschwankung, allein nach dieser sinkt der Strom allmählich 
ab, um sieh nur zu Beginn der Verdunke- 

lung in einer positiven Verdunkelungs- 5 D 

schwankung wieder zu heben. 

Ob die kleine negative Änderungs- 
schwankung auf ihrer als typisch an- 
gegebenen Kurve (Tafel V, Fig. 2 ihrer C 

Bere) zu sehen ist, wgeichnicht u —D—5—4—D— 1 


entscheiden, beschrieben wurde sie beim Suse en Licht Dunkel 
Hellauge von ihnen jedenfalls nicht. Feel: 
5 I r (Nach Einthoven und Jolly.) 
Wir sehen aber, Fig. 11 aus der Ar- ellaree, 


beit von Einthoven und Jolly, daß zu 
Besinn der Belichtung unsere negative Änderunssschwankung sich einstellt, 
‚aber außerordentlich viel größer, als wir sonst diese Schwankung zu sehen ge- 
wöhnt sind, dann erkennen wir in der Zacke beim Punkt B unsere positive 
Belichtungsschwankung, die Helliekeitsschwankung fehlt überhaupt, dagegen 
ist die positive Verdunkelungsschwankung OD von außerordentlicher Höhe. 
Wir kommen also zu dem Schlusse, daß die photoelektrischen Kurven eines 
Hellauges und eines Dunkelauges voneinander wesentlich verschieden sind. 
Die sich aufdrängenden Fragen über die Wirkung des Sehpurpurs 
oder einzelner Netzhautelemente unterdrücken wir jetzt und wollen sie 
in einem späteren Kapitel zu beantworten suchen. 


128 LOTHAR TIRALA: 


Kühne und Steiner haben aber auch den Stromverlauf bei der 
Belichtung der herauspräparierten Netzhaut untersucht. ® 

Die Resultate unterscheiden sich im Prinzip nicht von den Strömen, 
die bei Ableitung vom Bulbus gewonnen wurden, deshalb hat diese 
schwierige Methode keinen Anklang gefunden. Kühne und Steiner haben, 
um den Stromverlauf zu studieren, an Teilen der Bulbus gearbeitet, die 
Cornea entfernt, ebenso die Linse, die Iris, den Glaskörper, die Retina vom 
Pigmentepithel abgelöst, schließlich sogar nur einzelne Stückchen der Netz- 
haut belichtet, die Retinaströme bleiben dieselben. Die beiden Forscher 
haben auch vom Nervus optieus abgeleitet und zwar direkt die eine Elektrode 
an den Längsschnitt, die andere an den Querschnitt angelegt und so den 
Bulbus selbst ganz aus dem Stromkreis entierntt. 


[4 
Dunkel Licht Dunkel 


Fig. 12. 
(Nach Kühne und Steiner.) 


Der Nervus opticus zeigt einen deutlichen Ruhestrom und bei Be- 
lichtung, Fig. 12, kann man eine negative Stromschwankung nachweisen, 
welche während der ganzen Belichtung anhält, zu Beginn der Verdunke- 
lung aber eine starke negative Schwankung. Solange also Licht auf das 
Sinnesepithel fällt, solange ist der Nervus opticus in Erregung. Kühne 
und Steiner berichten zwar, daß diese Ströme mit den vom Bulbus oder 
von der Retina abgeleiteten elektrischen Strömen keine Ähnlichkeit besitzen. 
Dagegen spricht aber ihr eigenes Schema und die Angabe von Ishihara, 
nach welcher Belichtungs- und Verdunkelungsschwankungen bei Ableitung 
des Nervus opticus auftreten. Ishihara befreite den Nervus opticus von 
seiner bindegewebigen Scheide und vermied sorgfältig bei der Anlegung 
der Elektroden die Berührung des Bulbus, um die Wirkung desselben 
auszuschalten. Der Aktionsstrom ist vou geringerer Intensität als bei 
normaler Ableitung, obwohl der Ruhestrom sehr bedeutend ist. Die am 
Nervus optieus gewonnenen Kurven sind im großen und ganzen ein 
Spiegelbild der am Bulbus gewonnenen. Ich gebe hier ein Schema der 
Kurven Ishiharas bei der Belichtungsdauer von 60”, wobei oberhalb 


der Abszisse gleichzeitig das Bild der vom Bulbus abgeleiteten Netzhaut- 
stromkurve wiedergegeben ist. | 


4 


DIE PHYSIOLOGISCHEN VORGÄNGE IN DER NETZHAUT USW. 129 


[A 


2 H V 
Dunkel Lieht Dunkel 
Fig. 13. 


(Nach Ishihara.) 


Eine bedeutende Helligkeits- und Änderungsschwankung ist von ihm 
bei dieser Ableitung vom Nervus opticus nicht beobachtet worden. Sehr 
sonderbar ist es, daß der Belichtungsausschlag bei Ishihara deutlicher 
bei der Opticuskurve, als bei der Bulbuskurve, scheint. Eine gewisse 
negative Helliskeitsschwankung hat Ishihara auch bei Ableitung vom 
Nervus opticus gefunden. Bei absterbendem Präparat soll die Belichtungs- 
und Verdunkelungsschwankung früher aufhören als eine träg absinkende, 

sehr geringe negative Hellickeitsschwankung. Im übrigen sind die Ver- 
_ suche mit intermittierendem Licht bei der Ableitung vom Nervus optieus 
ganz analog ausgefallen, denen bei der Ableitung vom Bulbus. Jeden- 

falls wird es bei der nächsten Saitengalvanometerarbeit notwendig sein, 
- bei allen Versuchen aueh immer wieder die Ableitung vom Nervus optieus 
in Betracht zu ziehen. 


Es muß aber prinzipiell vorausgesetzt werden, daß alle Schwankungen 
der Netzhautstromkurve auch vom Nervus opticus, wenn auch nur spiegel- 
bildlich, abgeleitet werden können, wenn die Netzhautstromkurve mit der 
Gesichtsempfindung zeitlich in irgendeine feste Beziehung gebracht 
werden soll. 


_ Denn es ist klar, daß, wenn in der Netzhaut, sagen wir in der Stäb- 
chen- und Zapfenschicht, irgendwelche Lebensvorgänge sich bei Belich- 
tung und Verdunkelung abspielen, von denen wir durch die elektrischen 
Ströme Kunde erhalten, diese elektrischen Ströme aber nieht durch den 
Nervus opticus zum Zentralorgan weitergeleitet werden, daß diese Lebens- 
vorgänge dann mit der Gesichtsempfindung in keiner Beziehung stehen, 
solange wir natürlich die übrigens wohlbegründete Meinung hegen, daß 
das Zentralnervensystem mit der Empfindung in einem innigeren Zu- 


sammenhang steht, als die nervösen Organe an der Peripherie. 
Archivf. A.u. Ph. 1917. Physiol. Abtlg. 9 


130 LOTHAR TIRATA: 


ad 2. Wir haben jetzt den Stromverlauf besprochen, der zutage tritt, 
wenn der Zustand des Auges verändert wird. Der Stromverlauf ist aber 
auch verschieden, wenn die Lichtreize verändert werden. Die schema- 
tischen Darstellungen des Stromverlaufes, die ich bisher gab, beziehen 
sich meist auf konstante Belichtung, während einiger Sekunden. Anders 
bei ganz kurzer Belichtung. Schon Kühne und Steiner haben vor dem 
Froschbulbus einen elektrischen Funken aufblitzen lassen und dabei nur 
eine Belichtungsschwankung erhalten, nach welcher der Strom unter die 
Abszisse absinkt. 

Bei der isolierten Retina sind die Ergebnisse dieser Forscher nicht 
eindeutig, einmal fast übereinstimmend mit dem Schema Fig. 20 (2), ein 
anderes Mal zeigt sich eine bedeutende negative Schwankung als einzige 
Wirkung. 

Die Wirkung der Lichtblitze auf das Froschauge haben dann be- 
sonders Einthoven und Jolly genau untersucht. Sie bilden nach einer 
kleinen negativen Änderunssschwankung einen steilen, ziemlich hohen 
Belichtungsausschlag ab, der nach einem sanften Abstieg in die langsam 
und träg aufsteigende Helligkeitsschwankung übergeht, welche dann nach 
etwa 20 bis 30” wieder zur Abszisse zurückkehrt. Ein Schema wird es 
verdeutlichen. 


A 


Belichtungsdauer: !/,o. Sekunde. 
Fig. 14. 
(Nach Einthoven und Jolly.) 


Was uns an der Kurve auffällt, ist das Fehlen des positiven Ver- 
dunkelungsausschlages. 

Bei einem Lichtauge hingegen ist es vor allem ein kurzer Ver- 
dunkelungsreiz, der uns interessiert. Eine hohe, steil aufsteigende 
Verdunkelungsschwankung, welche immer wieder fast zur gleichen Höhe 
aufsteigt, ist seine Folge, sooft auch das Experiment wiederholt wird. 
Denn das Lichtauge wird natürlich durch einen kurzen Verdunkelungs- 
reiz in seinem Adaptationszustand nicht geändert, wohl aber kann ein 
Dunkelauge durch ein oft wiederholtes Belichten ‚‚ermüdet‘‘ werden. 


Wie wir sehen, überragt die Verdunkelungsschwankung die positive | 


Belichtungsschwankung fast um das Doppelte. ar Eloliekuus u 4 
nun fehlt vollkommen. 


DIE PHYSIOLOGISCHEN VORGÄNGE IN DER NETZHAUT USW. tal 


Dunkel Licht Dunkel 


Fig. 15. 
(Nach Einthoven und Jolly.) 


Wie schwankt nun der Netzhautstrom, wenn man ein Dunkelauge 
mit intermittierendem Licht reizt? Ishihara hat diese Frage aus- 
führlieh zu beantworten gesucht. Die Kurve war im Grunde genommen 
dieselbe, nur stieg die positive Belichtungsschwankung höher an, als bei 
konstantem Licht. Ganz ähnlich berichten auch Kühne und Steiner. 
Weil diese Autoren noch nicht mit dem Saitengalvanometer arbeiten konnten, 
blieb es den späteren Forschern, z. B. Piper, vorbehalten, die Verhältnisse 
aufzuklären. Wenn die einzelnen Lichtreize auf das Dunkelauge des Frosches 
nicht öfter als 15 mal in der Sekunde fallen, so erhält man eine Kurve, in 
welcher man die einzelnen Änderunes-, Belichtungs- und Verdunkelungs- 
schwankungen noch unterscheiden kann; wird diese Zahl der Lichtreize 
überschritten, oder, anders ausgedrückt, die Verschmelzungsfrequenz erreicht, 
so wird in der Kurve nur mehr eine große Belichtungs- und Helligkeits- 
schwankung ersichtlich, als ob mit einer stetigen Lichtquelle gereizt 
worden wäre. Die Tagvögel besitzen eine Verschmelzungsfrequenz von 
40 Reizen in der Sekunde, Nachtvögel von etwa 20 Reizen, Säuger von 
etwa 25, stehen also physiologisch den Nachttieren näher, was übrigens 
um so weniger zu verwundern ist, weil auch vergleichend anatomisch das 
Auge der höheren Säuger auf eine nächtliche Lebensweise hinweist. Die 
stetige Kurve der Netzhautströme bei einer gewissen Reizzahl findet 
eine Entsprechung in dem Stetigwerden der Empfindung, welches der 
Mensch bei 15, spätestens bei 50 Reizen in der Sekunde angibt. 

Siehe auch meine Kurve Fig.5. Bei einer Anzahl von Lichtreizen, 
welche die Verschmelzungsfrequenz noch nicht erreicht, merkt man deut- 
lich die Oszillationen des Netzhautstromes und kein Ansteigen bzw. 
keine Summation der Belichtungsschwankungen. 

Wie wirkt die Größe des leuchtenden Objektes, das zur Reizung des 
Auges dient? Diese Frage hat Ishihara beantwortet, indem er das 
Maximum der Helliskeitsschwankung an ein und demselben Auge verglich, 
je nachdem vor dem untersuchten Auge 1, 2, 3,.4, 5 oder 6 Lampen 

9* 


132 LOTHAR TIRALA: 


aufleuchteten. Mit der Zahl der Lampen stieg im allgemeinen auch die 
Größe des Ausschlages, doch konnte man eine strenge Abhängigkeit nicht 
nachweisen. Die Größe der photoelektrischen Schwankung ist nicht an- 
nähernd proportional der Größe des leuchtenden Objektes. 

Die Stärke (Intensität) des Reizlichtes kann aber von bedeutender 
Wirkung sein. Wir haben schon hervorgehoben, daß die früheren Forscher 
die Helligkeitsschwankung nicht gesehen haben, das dürfte wohl mit der 
Intensität ihrer Reizlichter zusammenhängen. Wenn aber die Intensität 
eine gewisse Größe erreicht hat, so daß eine deutliche Helligkeitsschwankung 
vorhanden ist, dann bringt die weitere Steigerung der Intensität fast 
keine Veränderung der Kurven zustande. Das berichten sowohl Ishi- 
hara als auch Einthoven und Jolly. Dewar und M’Kendrick haben 
zwar behauptet, daß das Weber-Fechnersche Gesetz gelte, wir wissen 
aber heute durch die Arbeiten von Waller, de Haas, Ishihara, 
Einthoven und Jolly, daß das Gesetz nicht gilt. Ich weise vor allem 
darauf hin, daß bei schwachen Reizen die Helliekeitsschwankung fehlt, 
bei stärkeren Reizen aber diese neu hinzutritt und wächst, während 
Änderungs-, Belichtungs- und Verdunkelungsschwankung bei starken 
Reizen unverändert bleiben. Jolly gibt in seiner Arbeit einige genaue 
Tabellen hierüber. . 

Das leuchtende Objekt kann ruhen, es kann aber auch in Bewegung 
sesetzt werden. Wenn es sehr rasch bewegt wird, kann man nach dem 
früher Gesagten voraussetzen, daß das bewegte Objekt wirken wird, wie 
ein ruhendes bedeutend größeres Objekt. 

Ishihara fand diesen Gedanken auch bestätigt. 

Er ließ durch einen Spiegel ein Bild einer Lampe in das untersuchte 
Auge werfen und verglich die Kurve bei rotierendem Spiegel und bei 
ruhendem Spiegel. Die Belichtungs- 
und Helliskeitsschwankung ist bei 
der ersten Anordnung bedeutend 


sekehrte aber zeigt sich bei der Ver- 
dunkelungsschwankung; diese ist bei 
ruhendem Objekt viel größer als bei 
beweglichem. Siehe das Schema 16: 


Dunkel Licht Dunkel Alle angewendeten Lichtreize 
Fig. 16. blieben während der Dauer der Ver- 
(Nach Ishihara.) suche, von denen bisher immer be- 


Ausgezogene Linie: Lichtreiz bewegt. tichtet wurde, in ihrer Intensität 
Gestrichelte Linie: Lichtreiz ruht. konstant. 


erößer als bei der zweiten, das Um- | 


DIE PHYSIOLOGISCHEN VORGÄNGE IN DER NETZHAUT USW. 133 


Kühne und Steiner haben schon versucht, den Lichtreiz ein- 
schleichen zu lassen, so daß man mit sehr geringen Lichtstärken beginnt 
und allmählich bis zur gewünschten Stärke steigert. Ebenso hat Ishi- 
hara mit Hilfe eines Rheostaten gefunden, daß bei einschleichendem Reiz 
— er begann mit 0-01 Normalkerze — die Belichtunsschwankung aus- 
bleibt, hat aber nach 60’ bei Lichtstärke 7-2 N.-K. eine sehr deutliche 
Verdunkelungsschwankung bekommen. Wenn er aber mit der vollen Licht- 
stärke begann, allmählich aber bis auf 0-01 N.-K. herabstieg, so erhielt 
er eine deutlich kleinere Verdunkeluugsschwankung, so daß man die Regel 
aussprechen kann: Die Größe der  Belichtungs- und Verdunke- 
lungsschwankung ist eine Funktion der jeweils herrschenden 
Lichtstärke. 

Wir haben bisher nur von Versuchen mit weißem Licht berichtet 
und wollen nun die Frage beantworten, ob die Netzhautstromkurve sich 
verändert, je nach den einzelnen Spektralfarben, die man als Reiz- 
lichter verwendet. 

Die Frage kann man nicht schlechthin bejahen oder verneinen. Ishi- 
hara konnte zeigen, daß die Größe des Belichtungsausschlages verschieden 
ist, je nachdem man mit rotem oder grünem Licht reizt. Wenn man mit 
srünem Lichte reizt, ist die Schwankung größer als bei rotem Licht — 
natürlich sind beide Lichter zuvor photometrisch gleich hell &emacht . 
worden, doch sind sie bolometrisch natürlich nicht gleich. 

Wenn man zuerst mit grünem, dann mit rotem Licht reizt, bekommt 
_ man eine positive Schwankung, die ich als eine Art positiver Verdunke- 
lungsschwankung deuten möchte, keine dagegen bei Übergang von Rot 
zu Grün. Jolly hat mit grünem und blauem Licht bestimmter Wellen- 
länge gearbeitet und auch keinen anderen Unterschied in den Kurven 
sefunden. Die positive Belichtungsschwankung ist im Grün speziell bei 
geringer Intensität das 4- und das 3-fache von der im Blau, bei größerer 
Intensität vermischen sich diese Unterschiede — ähnlich ist es auch 
bei der Helliskeitsschwankung. Es wären also eigentlich gar keine bemer- 
kenswerten Unterschiede, wenn nicht zu jeder Wellenlänge eine bestimmte 
latente Periode zugeordnet wäre. 

Da wir aber hierüber noch gar nicht gesprochen haben, so wollen 
wir diese zuerst einmal in den Kreis unserer Betrachtung ziehen. 


2%. Die latente Periode, 


Beginnt die Netzhautstromkurve gleichzeitig mit der Belichtung oder 
vergeht eine gewisse Zeit, bis der Bestandstrom eine Änderung zeigt? 


134 LoTHAR TIRALA: 


Der erste, der versuchte, mit Hilfe eines Rheotoms die Latenz des 
Netzhautstromes zu bestimmen, war S. Fuchs. Doch kam er zu solch 
niedrigen Werten, daß man annehmen muß, die Methodik sei unzureichend 
gewesen. Gotch gelang es dann, etwa 10 Jahre später, mit Hilfe des Kapillar- 
elektrometers die Latenz der Belichtungs- und Verdunkelungsschwankung 
zu bestimmen. Diese Latenzzeit wird bei höherer Temperatur geringer. 

Die Latenz der Belichtungsschwankung beträgt nach ihm durch- 
schnittlich 0-2”, die der Verdunkelungsschwankung ist um 0-02” kürzer 
— mit anderen Worten, die Verdunkelungsschwankung tritt etwas rascher 
ein, als die Belichtungsschwankung. Gotch hat nun gefunden, daß bei 
Reizung eines Froschauges mit verschiedenen Spektraltarben verschieden 
lange Latenzperioden der Belichtungsschwankung vorhergehen. Die kürzeste 
Latenzperiode geben Reize mit weißem und grünem Licht (0-16 bis 
0-23”). Mit rotem Licht die längste 0-3”, mit violettem Licht etwa 0-25”. 
Man kann daher sagen, die Latenz verschiedener homogener Lichter des 
Spektrums ist verschieden, am kürzesten im Grün, am längsten im Rot, 
auch gegen das Violett nimmt die Latenz langsam zu. Auf ein Koordinaten- 
system bezogen, würden wir etwa diese Kurve bekommen, wenn wir auf 
der Abszisse ein Spektrum und = den Ordinaten gleichzeitig die Latenz- 
zeiten auftragen. 


Rot _ Grün Violett 
Fig. 17. 
Kurve der Latenzzeiten. 


Wie Einthoven und Jolly fanden, verkleinern sich die Latenzzeiten 
bei zunehmender Lichtstärke bis zu ‚einem gewissen Grade, so daß man 
bei Kenntnis der angewandten Lichtintensität, wenn homogenes Licht 
als Reiz dient, prinzipiell von jeder Kurve sagen könnte, welche a: 
die als Reiz dienende Lichtquelle hatte. 

Durch den Nachweis von Einthoven und Jolly, daß die Größe der 
atenten Periode im umgekehrten Verhältnis zu der Stärke des Reiz- 
lichtes steht ist müssig, die verschiedenen Werte, welche Piper, Ein- 
thoven, Jolly, v. Brücke, Garten, fanden, eingehend’ zu erörtern. 
Piper hat kürzere Werte als Gotch, v. Brücke und Garten bekommen, 


DIE PHYSIOLOGISCHEN VORGÄNGE IN DER NETZHAUT USW. 135 


Einthoven und Jolly geben Werte an, welche die von v. Brücke und 
Garten gefundenen einschließen. 

Mit Hilfe des Saitengalvanometers ist es auch möglich geworden, die 
Latenzzeit der Änderungsschwankung zu bestimmen. Sie beträgt nach 
v. Brücke und Garten 0-078’ bis 0-099” (Einthoven und Jolly). 
Piper fand sie nur halb so groß, 0-045’' und dürfte damit auch recht 
haben, denn es hat sich herausgestellt, daß, je frischer das untersuchte 
Auge ist, desto kleiner die latenten Perioden sind, man kommt so dem 
normalen Ablauf am nächsten. 

Die Latenz der Beihakumnesseh.eialnne beträgt nach v. Brücke und 
Garten 0-108” bis 0.244”. Piper gibt diese mit 0-07” bis 0-136’ an. 

Schließlich wurde auch die Latenz der Verdunkelungsschwankung 
genau bestimmt. Einthoven und Jolly geben sie mit 0-01’ bis 0-04 
an, bei sehr schwacher Belichtung kann sie den Wert 0-2’ erhalten. 
Hinzufügen will ich, daß die Lichtintensität bei der Latenzbestimmung 
der Belichtungsschwankung nicht beliebig vergrößert werden kann, weil 
bei Auftreten der negativen Änderungsschwankung von einer exakten 
Latenzbestimmung der Belichtungsschwankung keine Rede mehr sein kann; 
_ denn es wäre möglich, daß wir nur die Resultierenden der Änderungs- 
und Belichtungsschwankung untersuchten. Piper gibt die Latenz der 
positiven Verdunkelungsschwankung mit 0-031” bis 0-093” an. 

Eine Bestimmung der Latenz der träge aufsteigenden Helligkeits- 
schwankung ist zurzeit unmöglich, weil ihr Beginn in die Belichtungsschwan- 
kung fällt und daher verdeckt ist. Waller, der mit einem trägen Thomson- 
galvanometer arbeitete, spricht von Latenzperioden von 3”, 5’ und 7”, 
die er aber selbst als unphysiologisch bezeichnet. Ich gebe hier eine Über- 
sicht über die Angaben der Autoren: 


Latenz der 


| Änderungs- Belichtnngs- | Verdunkelungs- 
schwanknng schwankung schwankung _ 

lol NA | — 0.17” 0-15” 

v. Brücke-Garten. . . | 0.078” 0.108” — 

Einthoven- N || 0.02 0.24” 0-.01—2” 

Eiupler) u... Beate | 0.03” 0-07” 0.031” 


Frosceh-Dunkelauge. 


Wenn wir nun dieses Resultat überb ieken, so fällt uns vor a em auf 
daß die Latenzperioden der Änderungs- und Verdunkelungsschwankung 
von gleicher Größe sind, daß die Latenz der Belichtungsschwankung ein 


136 LOTHAR TIRALA: 


Vielfaches der beiden anderen Zeiten ist. Dies soll uns bei der Analyse 
des Stromverlaufes einen wertvollen Fingerzeig geben, der bisher von 
niemanden beachtet wurde, obwohl alle Forscher übereinstimmen, daß 
die Auffassung des Netzhautstromes als einer Resultierenden verschieden 
ablaufender Teilströme durch die verschiedenen Latenzzeiten der einzel- 
nen Schwankungen gestützt werde. Hinzufügen will ich noch, daß auch 
an allen anderen untersuchten Tieren, also an Cephalopoden, Fischen, 
Urodelen, Reptilien, Vögeln und Säugern ähnliche Werte gefunden wurden, 
z. B. am Affen — Angabe nach Piper. 
Latenz der Änderungsschwankung: 0-018 bis 0-02 Sek. 

Latenz der Belichtungsschwankung: 0-038 ‚„,„ 0:047 „, 

Latenz der Verdunkelungsschwankung: 0-024 ‚, 0-034 „, 

Es beweist dies nur von neuem, daß das Auge der Wirbeltiere, wel- 
ches im großen und ganzen in seinem Sinnesepithel sehr einheitlich gebaut 
ist, auch physiologisch nur geringe Unterschiede zeigt, ja, daß sogar das 
Auge der Gephalopoden, dessen Stäbchen nicht so wie bei den Wirbeltieren 
vom Reize abgewandt, sondern den Lichtreizen zugewendet ist, eine ähn- 
liche Aktionsstromkurve aufweisen, weil eben das Sinnesepithel überall 
die gleiche Funktion aufweist. So ist es gewiß auch merkwürdig, daß der 
Bestandstrom #m Cephalopodenauge die umgekehrte Richtung,. wie im 
Wirbeltierauge hat und wir werden später bei der Bestimmung der Schicht, 
in welcher sich der Netzhautstrom entwickeln dürfte, nochmals auf diese 
Tatsache hinweisen. 


3. Zerlegung des Netzhautstromes in Teilströme. 


Rein mathematisch ausgedrückt, läßt sich jede Kurve als die Resul- 
tierende mehrere Kräfte auffassen und es ist lediglich eine Frage der 
Brauchbarkeit und der Wahrscheinlichkeit, wieviel hypothetische Vektoren 
man zu diesen Zwecke einführt. Wir wollen daher diesen Gesichtspunkt 
bei der Analyse der Netzhautstromkurve nicht aus dem Auge verlieren, 
erst aber die Frage beantworten: 

Können wir aus der Netzhautstromkurve selbst irgendwelche Anhalts- 
punkte gewinnen, daß verschiedene Prozesse sich abspielen, wodurch ver- 
schiedene elektrische Teilströme erzeugt werden, die sich dann in Kun 
Wirkung summieren ? 


Ich glaube diese Frage bejahen zu Rinde und will zuerst ein BE 


historisch darüber berichten. Schon Kühne und Steiner haben die Frage 
erörtert, ob nicht in der Netzhautstromkurve sieh die Tätigkeit der Stäb- 
chen und Zapfen ersehen ließe, konnten aber damals diese Frage nicht 
beantworten. 


DIE PHYSIOLOGISCHEN VORGÄNGE IN DER NETZHAUT USW. 137 


Dagegen hat Waller die Meinung vertreten, dab die Aktionsstrom- 
kurve durch die Übereinanderlagerung zweier verschiedener Prozesse ent- 
stünde, eines anabolischen und eines katabolischen, indem er von rein 
theoretischen Erwägungen über den Lebensvorgang ausging, dessen Haupt- 
phasen Assimilation und Dissimilation anabolische und katabolische Tätig- 
keit sind. So betrachtete er die positive Verdunkelungsschwankung als 
die Summe zweier Komponenten. Der Unterbrechung einer negativen 
und des Beginnes einer positiven Komponente. Man sieht, daß in diesem 
- Falle da Studium der zeitlichen Beziehungen durch so eine Erklärung aus- 
geschlossen wird. Waller unterscheidet nicht die positive Helliekeits- 
schwankung, um nicht gezwungen zu sein, einen dritten Prozess anzu- 
nehmen, obwohl bei der Analyse der Netzhautstromkurve diese langsam 
aufsteigende Schwankung mit breitem Gipfel sich jedenfalls als ein 
Vorgangs; eigener Art darstellt. 

Eine ähnliche Vorstellung hat Gotch entwickelt, welcher annimmt, daß 
im Auge zwei verschiedene Substanzen vorhanden sind, eine, welche auf 
Licht, eine andere, welche’ auf Dunkelheit reagiert. Er macht aufmerksam, 
daß die positive Verdunkelunss- und Belichtungsschwankung niemals die 
Äußerungen einer und. derselben chemischen Veränderung sein können, weil 
die Latenzzeiten bei der Reaktion voneinander deutlich verschieden sind. 

Diesen Gedanken werden wir später als einen fruchtbringenden 
nochmals aufgreifen. Zwar hat er die Meinung, daß die latente Periode 
der Verdunkelunsgsschwankung von vollkommener Beständigkeit sei, eine 
Meinung, welche sich später nach den Untersuchungen von Einthoven und 
Jolly nicht bestätigt hat, aber dadurch wird seiner Hypothese kein Ab- 
bruch getan. Alle Veränderungen in diesen chemischen Substanzen sind 
nach ihm monophasisch, d. h. die Abnahme bei einer Schwankung stellt 
nieht den Ausdruck eines entgegengesetzt gerichteten photoelektrischen 
Prozesses dar, sondern gehört zur Natur derselben Substanz. So stellt 
er die negative Veränderungsschwankung und die positive Verdunkelungs- 
schwankung als Wirkung der Dunkelsubstanz hin, welche auf Belichtung 
in ihrer Tätigkeit gehemmt wird und bei Verdunkelung in ihrer Tätigkeit 
gefördert wird — die positive Belichtungsschwankung hingegen als Aus- 
druck der Förderung der Lichtsubstanz. Jedoch fehlt uns hier ein deut- 
liches Zeichen. der Hemmung der Lichtsubstanz durch Dunkel, es sei denn, 
daß man das. langsame und träge Absinken .der Belichtungsschwankung 
für diesen Prozeß in Anspruch nehmen würde. Eine Erklärung, die meiner 
Ansicht nach ziemlich gezwungen wäre. Gotch gibt übrigens auch an, 
bei längerer Belichtung eine Serie von Perturbationen oder Oszillationen 
in der Netzhautstromkurve gesehen zu haben und wollte diese auf eine 


138 LOTHAR TIRATA: 


antagonistische Beeinflussung beider Substanzen beziehen, so hätte einen 
Moment die eine Lichtsubstanz die Oberhand — es entstünde eine posi- 
tive Stufe — und dann die gehemmte Dunkelsubstanz das Übergewicht — 
und es entstünde eine negative Stufe. Doch waren Brücke und Garten, 
die gerade auf diesen Punkt ihr Augenmerk richteten, nicht imstande, 
solche Oszillationen nachzuweisen und ich glaube nicht fehl zu gehen, 
wenn ich die Meinung äußere, dab diese Oszillationen durch den Einbruch 
irgendwelcher fremder elektrischer Ströme hervorgerufen wurden. 

Weitaus exakter haben Einthofen und Jolly die Zerlegung des 
Aktionsstroms in verschiedene Teilströme versucht. Obwohl sie gerade 
an gewissen entscheidenden Stellen es an der nötigen Deutlichkeit ver- 
missen.lassen, so daß es möglich ist, daß Piper in einer Darstellung ihres 
Gedankenganges ihnen eine Meinung zuschreibt, die sie, wie ich glaube, 
nicht als die ihre anerkennen würden. Piper stellt es nämlich so. dar, 
als ob sie der Meinung wären, daß die Netzhautstromkurve drei Prozesse 
in sich schließe, welche während der ganzen Dauer der Belichtung 
sich abspielen würden, jeder Prozeß würde sich auf eine eigene Substanz 
beziehen, es wäre eine positive Stromkurve der Ausdruck einer Substanz, 
welche auf die Belichtung reagiert. Eine zweite negative, welche bei der 
Belichtung langsam absinkend, bei der Verdunkelung zur Abszisse zurück- 
kehrte und drittens eine Substanz, welche für die reine träg ansteigende 
und :absinkende Helligkeitskurve verantwortlich wäre. Auf diese Weise 
gelangt Piper zu einer Kurvenform, welche es in Wirklichkeit gar nicht 
gibt und er hat dann leicht, aus diesem Grunde die Ansicht Eintho vens 
und Jollys zurückzuweisen. Zum Schlusse der Darstellung gibt er aber 
zu, daßser möglicherweise die Hypothese von Einthoven und Jolly 
falsch verstanden hätte und daß ihre Meinung eine andere sei. Diese will 
ich jetzt vortragen. Gewiß sprechen Einthoven und Jolly auch von 
drei verschiedenen Substanzen. Allein die beiden ersten Substanzen be- 


teiligen sich nur bei Beginn und bei Beendigung der Belichtung an 


der Kurve. Nur die dritte Substanz würde während der dauernden Be- 
lichtung in Tätigkeit geraten. 

Die erste Substanz wirkt am schnellsten, sie hat die kürzeste 
Latenzperiode und bewirkt in einem Dunkelauge die neeative Änderungs- 
schwankung bei Belichtung und in einem Lichtauge eine steile Verdunke- 
lungsschwankung. ‘Will man diese Ausschläge deutlich bekommen, so 
muß man, um den Charakter des Lichtauges nicht zu verändern, nur mit 
sehr kurzen Verdunkelungsreizen arbeiten und in einem Liehtauge mit 
sehr starkem weißen Licht reizen, um eine deutliche Änderungsschwankung 
zu erzielen. Auf diese Weise gelinst es, bei einem Lichtauge eine größere 


ee 


DIE PHYSIOLOGISCHEN VORGÄNGE IN DER NETZHAUT USW. 139 


Änderungsschwankung als Belichtungsschwankung zu erzielen, obwohl wir 
sonst das gerade Gegenteil zu sehen gewohnt sind. Ein Schema mag dies 
Verhalten verdeutlichen: 


EG V V 
23 
A 
a NT Te 
Dunkel Licht Dunkel Dunkel Licht Dunkel 
Fig. 18. Fig. 18b. 


Einthoven und Jolly meinen, bei ganz kurzen Verdunkelungsreizen, 
welche von sehr starken kurzen Lichtreizen gefolgt sind, die Reaktions- 
weise der ersten Substanz rein. zum Ausdruck zu bringen. (Schema b). Die 
zweite Substanz wirkt weniger rasch als ß 

die erste, sie ist Ursache der positiven Be- 
lichtungsschwankung und verliert bei Ver- 
_dunkelung lanesaman elektromotorischer Kraft. 
Sie entwickelt Potentialdifferenzen, welche Dunkel Licht 
entgegengesetzt sind denen der ersten Sub- Fig. 19. 
 stanz, und hat ihre eigene wohl charakterisierte Latenzperiode. Am 
deutlichsten wirkt sie bei einem Dunkelauge, welches für kurze Zeit durch 
mäßiges Licht beleuchtet wird. In diesem Falle erscheint sie fast isoliert 
in einer einfachen Belichtungsschwankung. Siehe Fig. 19., 
Wenn die Intensität der Beleuchtung gesteigert wird, nimmt ihre 
_ elektromotorische Kraft zu, wir erhalten eine höhere Belichtungsschwankung, 
_ aber wir bekommen auch schon Andeutungen der anderen Schwankungen. 
Wieder gebe ich ein Schema: 


1. Substanz: Ba en 
2. Substanz: ... =. 
3. Substanz: 


Fig. 20. 


Schließlich wirkt die dritte Substanz in derselben Richtung wie 

die zweite, nur noch langsamer. Sie ist charakerisiert durch eine Kurve 
von sanftem Aufstieg und Abfall mit einem breiten Gipfel. Wir können 

ihre Wirkung am deutlichsten an einem Dunkelauge sehen, welches für 

wenige Sekunden mäßiger oder starker Belichtung ausgesetzt wird. Ihre 


140 LOTHAR TIRALA: 


Wirkung fällt aus, bei einem vollständigen Hellauge und bei einem Dunkel- 
auge, welches durch sehr schwaches Licht gereizt wird. b? 
Eine Latenzperiode der dritten Substanz kann nicht bestimmt werden. 
Wir sehen, daß bei der Bestimmung der beiden ersten Substanzen neben 
den sichtbaren Zacken der Nezthautstromkurve, auf welche die eine oder 
die andere bezogen wurde, vor allem die Latenzperiode eine wichtige 
Rolle spielt und daß die beiden Forscher versuchen, die alleinige 

Wirkung jeder einzelnen Substanz uns vor Augen zu führen. 

Anders Piper. Obwohl er und auch Trendelenburg ausdrücklich 
die Wichtigkeit der latenten Periode bei der Analyse der Kurve hervor- 
hebt, werde ich zeigen können, daß gerade bei ihnen die latente Periode 
jede tifere Bedeutung verliert. 

Er geht, wie Trendelenburg lobend hervorhebt, von dem Aktions- 
strom des Cephalopodenauges aus. Dieses hat bekanntlich eine sehr ein- 
fach gebaute Netzhaut — die Ganglienzellschicht liest außerhalb der 
Retina — und nur einerlei Elemente des Sinnesepithels — eine Art Stäb- 
chen. Bei Belichtung steigt der Aktionsstrom langsam an, bleibt auf der 
erreichten Höhe und fällt bei Verdunkelung wieder ab. Piper macht diesen 
Stromverlauf zum Urbild der elektromotorischen Wirkung einer jeden ein- h 
fachen Netzhautsubstanz. Er unterscheidet deren drei (Fig. 21). Die erste, ' 


deren Kurvenanstieg dem Steilanstieg der Belichtungsschwankung entspricht, 
dann parallel der Abszissenachse während der Belichtung weiterwirkt, nach 
der Belichtung etwas sanfter abfällt. Dieser ersten Kurve schreibt er die 
latente Periode der Belichtungsschwankung zu. Mit einer kleineren Latenz 
beginnt die Wirkung der zweiten Substanz, der zweite Teilstrom, welcher 
für sich betrachtet, ein sanftes negatives Absinken der Kurve unter die 
Abszissenachse die zur Folge hat, während der weiteren Belichtung dann 
parallel zur Abszissenachse die Saite bewegen würde und bei Verdunke- 

lung dann ziemlich steil zur Abszissenachse zurückkehrt. Diese beiden 
Teilströme würden, übereinander gelegt, eine Kurve geben, welche der 
Aktionsstromkurve eines gut helladaptierten Auges entsprechen würde. Wir 
haben derart eine negative Veränderungsschwankung, eine positive Be- 
licehtungsschwankung, ein Konstantbleiben des Stromes während der Be- 
lichtung und eine positive Verdunkelungsschwankung, die nichts anderes 
sind, als das Interferenzergebnis beider Teilströme. Die Latenz der Än- 
derungsschwankung kann ohne weiteres verändert werden durch ein 
steileres Absinken des zweiten Teilstromes oder ein sanfteres Aufsteigen 
des ersten Teilstromes. Ebenso die Latenz jedes anderen Kurvengipiels, 
die dann nichts Charakteristisches dieser bestimmten Schwankung aus- 
drücken würde. Ein dritter Teilstrom mit viel größerer Latenz und 


DIE PHYSIOLOGISCHEN VORGÄNGE IN DER NETZHAUT USw. 141 


j sanftem Aufstieg und Abfall kommt dann dazu, er entspricht ganz der 
dritten Substanz Einthovens und Jollys und ist die Ursache für die 
Helligkeitsschwankung. Der Unterschied zwischen den Substanzen Pipers 
einerseits und Einthoven und Jollys andererseits ist der, daß Pipers 
hypothetische Netzhautsubstanzen einen einfachen Teilstrom verursachen, 
weleher aufsteigt, während der der Belichtung konstant bleibt und bei 
Verdunkelung absinkt, eine Vorstellung, die manches für sich hat, wogegen 
Einthoven und Jolly imstande sind, ihre Teilströme als Ausdruck der 
Tätigkeit der von ihnen postulierten Netzhautstromsubstanzen rein in den 
Aktionsstromkurven selbst aufzuzeigen, dafür aber wenigstens von der 
ersten Substanz einen komplizierteren Ablauf voraussetzen müssen. Ich 
gebe hier ein Schema der drei Teilströme Pipers. 


a n N OD NVA A RE EEE ERERUNN, De nn id 
De & 2 z 2 Be 
Dunkel Lieht Dunkel 
Fig. 21. 


Gegen die Anschauung Pipers spricht, daß bei Reizung eines Dunkel- 
auges durch Licht zwar eine negative Änderungsschwankung und eine posi- 
tive Beliehtungsschwankung eintritt, dagegen eine positive Verdunkelungs- 
schwankung bei mäßigen Lichtreizen nicht eintritt, siehe Schema Fig. 14, 
obwohl nach seiner Vorstellung die erste Substanz wirksam wäre und 
eine positive Verdunkelunsgsschwankung erzeugen müßte. Ferner ist für 
Pipers Anschauung bezeichnend, daß Zacken der Netzhautstromkurve In- 
terferenzerscheinungen sind, die in Wirklichkeit gar nichts Charakter- 
istisches haben und ich habe den Eindruck, daß sich seine hypothetischen 
Teilströme dadurch noch mehr von der wirklich beobachteten Kurve 
entfernen. 

Man muß aber zugeben, daß sowohl die Hypothese Einthovens und 
Jollys, als auch die Pipers imstande ist, die vorhandenen Resultate 
auf relativ einfache Grundprozesse zurückzuführen. 


4. Die chemische Beeinflussung der Netzhautströme. 


_ Wenn ich nun daran gehe, die chemische Beeinflussung der Netzhaut- 
ströme zu schildern, so will ich hervorheben, daß die vereinzelten Forscher 


142 | LOTHAR TIRALA: 


welche diese Versuche anstellten, nicht von einem einheitlichen Gesichts- - | 
punkte dabei ausgingen. Holmgren z. B. wollte zeigen, daß der Seh- ) 
purpur nichts mit dem Aktionsstrome zu tun habe. Zu- diesem Behufe A 
legte er purpurhaltige Augen vom Kaninchen und Frosch in Alaun und u 
weil von diesen abgetöteten Augen, deren Retina noch rot gefärbt war, 0} 
keine Aktionsströme zu erhalten waren, glaubte er den Schlub ziehen zu 
können, daß der Sehpurpur mit dem Netzhautstrom nichts zu tun habe. 

Eine Kritik dieser Meinung ist nicht notwendig. — Kühne und 
Steiner wollten die Widerstandsfähigkeit der isolierten Retina gegen 
Gewebsgifte prüfen und fanden, daß eine halbprozentige Kaliümehlorid- 
lösung, tropfenweise der Retina zugesetzt, diese in 5 bis 10 Minuten licht- 
unempfindlich macht, daß ebenso Chloroform wirkt — wie es angewendet 
wurde, ist aus ihren Angaben nicht zu ersehen —, wenn man aber die reak- "| 
tionslose chloroformierte Retina 2 Stunden in reiner feuchter Luft liegen 
ließe, so kehrte die Lichtempfindlichkeit wieder. 

Auch Pilokarpin und salizylsaures Natron erwiesen sich als wirksam. 
Allerdings wurden außerordentlich große Mengen zugesetzt, 0-1g Pilo- 
karpin muriat oder 0-5g salizylsaures Natrium; Atropin dagegen erwies 4 
sich als unwirksam. } 

v. Brücke und Garten wiederum wollten entscheiden, ob die Ab- | 
nahme der Belichtungsschwankung bei wiederholter Belichtung auf einer 
Erschöpfung der lichtempfindlichen Elemente beruhe, oder ob während 4 
der Erregung sich vielleicht Kohlensäure oder andere Produkte des Stoff- | 
wechsels ansammeln, welche die photoelektrische Reaktion hemmten. 

Zu diesem Zwecke brachten sie einzelne hintere Bulbushälften von 
Fröschen in eine Kammer, in welche ein Kohlensäurestrom geleitet wurde 
und konnten sehr deutlich zeigen, daß bei Einwirkung der Kohlensäure 
während einiger Minuten der Belichtungs- und Verdunkelungsausschlag - 
gleichmäßig abnimmt; wenn das Auge dann aber durch 10 Minuten wieder 
der Luft ausgesetzt wird, so steigen Belichtungs- und Verdunkelungs- 
ausschlag ziemlich gleichmäßig wieder an. Trotzdem also tatsächlich durch 
die Kohlensäure die photoelektrische Reaktion ziemlich rasch gehemmt 
wird, vermeinen die beiden Forscher, daß wärend der Tätigkeit der licht- 
empfindlichen Elemente Kohlensäure nicht in einer derartigen Konzen- 
tration gebildet würde, so daß sie ausreichen könnte, diese Elemente zu 
hemmen und nehmen schließlich trotz der nachgewiesenen Wirkung der 7 
Kohlensäure dennoch an, daß die lichtempfindlichen Elemente ermüden. ze 

Außerdem hat noch Waller angegeben, daß Kohlensäure, Chloroform 
und Äther auch am uneröffneten Bulbus wirksam sind und daß speziell 
die Kohlensäure merkwürdigerweise zuerst eine Abnahme, dann eine Ver- 


re TEN $ 


Te 


DIE PHYSIOLOGISCHEN VORGÄNGE IN DER NETZHAUT USW. 143 


stärkung der Lichtreaktion hervorıufe. Diese Verstärkung konnten 
vw. Brücke und Garten nicht nachweisen. 


5. Deutung des Aktionsstromes. 


Wir sprachen früher die ganze Zeit von Substanzen und Teilströmen, 
welche der Ausdruck der Tätigkeit dieser Netzhautsubstanzen seien und 
müssen uns aber gestehen, daß wir von diesen Substanzen gar nichts wissen. 
Daß sie vielmehr Annahmen sind, um der Zerlegung des Netzhautstromes 
in Teilströme eine bildhafte Unterlage zu geben und glauben nicht fehl- 
zugehen, wenn wir annehmen, daß diese Substanzen oder Sehstoife be- 
wußt oder unbewußt auf Grund der Heringschen Theorie. postuliert 
wurden. Überlegen wir uns aber unbefangen, was für Prozesse in dem 
Ause während der Belichtung vor sich gehen könnten, so müssen wir sagen, 
daß ‚die elektrischen Ströme der Ausdruck sein könnten einer Sinnes- 
tätigkeit der lichtempfindlichen Elemente, also der Stäbchen und Zapfen. 
Ferner der Ganglienzellen, der gereizten Opticusfasern, der Verscheibung 
_ des Pigmentepithels, der Verlängerung der Stäbchen und Zapfen, der Zer- 
setzung des Sehpurpurs, schließlich der Irisbewegung. Schon Kühne und 
Steiner, in deren Arbeit wirklich eine unerschöpfliche Anregung gefunden 
wird, und Holmgren haben versucht, wenigstens einige dieser Fragen zu 
beantworten. Deshalb arbeiteten sie nur zum Teil am uneröfineten Bulbus, 
sehr oft aber am eröffneten Bulbus, an welchem der vordere Teil des 
Auges, nähmlich Cornea, Iris, Linse und Ciliarkörper entfernt worden 
war. Wie wir schon früher ‚hervorgehoben, verändern sich die Netzhaut- 
ströme an einem solchen Präparat eigentlich nicht. Nichtsdestoweniger 
hat noch Piper fast 30 Jahre später, vielleicht in Unkenntnis dieser Unter- 
suchungen behaupten können, daß unsere Helliskeitsschwankung der Aus- 
druck der Iriskontraktion sei, weil er an einem atropinisierten Säugerauge 
diese Helligkeitsschwankung vermißte. v. Brücke und Garten konnten 
‚aber zeigen, daß auch am atropinisierten Säugetier (Katze) die Hellig- 
keitsschwankung auftritt und mithin ist der Hypothese Pipers der Boden 
ein für allemal entzogen; die Iriskontraktion ist nicht Ursache 
irgendeiner elektromotorischen Schwankung während der Be- 
lichtung. Kühne und Steiner gaben sich aber nicht zufrieden, den 
Stromverlauf an der isolierten : Retina festzustellen, sondern versuchten 
auch, die Retina in ihre einzelnen Schichten zu zerlegen, und von den 
isolierten Schichten Aktionsströme zu erhalten. 

Die beiden Forscher versuchten in der Froschretina einen solchen 
Nachweis zu führen, indem sie Netzhäute in der Zone der Zwischen- 


144 LOTHAR TIRALA: 


körnerschicht spalteten durch Pressung der Retina zwischen zwei Seiden- 
papieren, von der man das eine Seidenpapier dann wie ein Abzugpflaster 
herunterzog. Dieses eine Papier enthielt dann Sehpurpur und Stäbechen- 
außenglieder, das andere die Zapfen, Ganglien- und Nervenfaserschicht. 
Die zwischen den beiden Seidenpapieren liegende Retina ergab, obwohl 
gepfeßt dennoch eine deutliche photoelektrische Schwankung. Die isolierten 
Stäbehenaußenglieder mit dem Sehpurpur dagegen keine. Kühne und 
Steiner aber gingen noch weiter, sie versuchten, Stäbchen und Zapfen 
voneinander zu isolieren und waren es tatsächlich imstande, indem sie, 
das Pigmentepithel von der Retina abzogen, so daß die abgerissenen Fort. 
sätze der Pigmentzellen, mit Fuscin gefüllt, die Zapfen noch bedeekten 
und so den Zugang des Lichtes zu den Zapfen hinderten, während die Stäb- 
chenendglieder frei herausschauten. Sie konnten jedenfalls nachweisen, 
obwohl diese Versuche infolge der großen Schwierigkeiten der Präpa- 
ration nur selten den Anforderungen ganz entsprachen, daß die Stäbchen ohne 
die Zapfen imstande sind, photoelektrische Schwankungen zu erzeugen; 
doch waren sie leider nicht imstande, den Teilstrom der Stäbchen rein 
darzustellen. Niemand hat es bisher versucht, mit den neuen Instru- 
menten diese Versuche zu wiederholen und es besteht kein Zweifel, daß 
die Frage der Stäbchen und Zapfen durch eine derartige Neuuntersuchtung 
sehr gefördert werden könnte. 

Ferner suchten die beiden Forscher nach einer Netzhaut, von welcher 
man behaupten könnte, daß die verschiedenen Schichten verschieden lang 
überlebten; wenn dann entweder die ganze photoelektrische Reaktion 
erhalten bliebe und man mit Sicherheit annehmen könnte, daß nur noch 
eine Schicht der Retina lebendig wäre, so könnte man den ganzen Netzhaut- 
strom auf diese Schicht beziehen. Kühne und Steiner haben nun ge- 
funden, daß die isolierte Taubennetzhaut noch 3/, Stunden nach dem 
Herauspräparieren die normale photoelektrische Reaktion zeigte und 
nahmen daher an, daß nach °/, Stunden die Ganglienzellen und Nerven- 
faserschicht der Retina abgestorben sei, denn damals glaubte man, daß 
jede Ganglienzelle nach kurzer Zeit ersticken müßte. Wir werden diesem 
Versuch zwar nicht unbedingte Beweiskraft zuschreiben, aber doch zu- 
geben, daß die Wahrscheinlichkeit sehr für die Annahme der beiden Forscher 
spricht. Es käme sonach nur die eigentliche Sinnesepithelschicht für die 
Entstehung der Netzhautströme in Betracht. 

Auch Pipers neuere Untersuchungen gehen dahin, daß die elektrischen 
Vorgänge vor allem in der Schicht der Stäbchen und Zapfen ihren Ur- 
sprung hätten, außer der Helliskeitsschwankung, weil er, wie ich schon 
erwähnte, für die Helligkeitsschwankung zuerst die Iriskontraktion, sodann 


DIE PHYSIOLOGISCHEN VORGÄNGE IN DER NETZHAUT USW. 145 


den Adaptationsvorgang verantwortlich macht. Auf die Frage, warum 
aber gerade bei Hellaugen und starken Lichtreizen diese Schwankung 
fehlt, konnte man auf dem Boden dieser Hypothese keine Antwort finden. 
Eine Anzahl anderer Forscher will aber von dieser Einschränkung des 
Netzhautstromes auf bestimmte Schichten nichts wissen. Engelmann z. B. 
meint, daß sämtliche Schichten der Retina an der Entstehung des Netz- 
hautstromes beteiligt seien, allerdings versucht er gar nicht seine Meinung 
zu begründen. Auch Gotch vertritt ganz allgemein den Standpunkt, 
daß die Retinaströme im hinteren Abschnitt des Augapfels entstünden, 
sowohl in der Retina als auch in der Pigmentepithelschicht, ohne tiefer in 
das Problem einzudringen. Waller, welcher berichtet, daß photoelek- 
trische Schwankungen noch im Auge beobachtet werden, dessen Retina 
durch Induktionsschläge zerstört worden ist, glaubt, daß die Pigment- 
schicht des Auges Ursprungsstätte der Netzhautströme ist. Ich begreife 
dann erst recht nicht, daß Waller trotz dieser Anschauung bemüht ist, 
- den Netzhautstrom in einem anabolischen und katabolischen Teilstrom 
aufzulösen, wobei die anabolische und katabolische Tätigkeit bei Licht- 
. reiz doch jedenfalls vor allem auf die Tätigkeit der Sinnesepithel- 
schicht zu beziehen ist. In anderer Weise versuchte eine Gruppe von 
Forschern festzustellen, in welchen Schichten der Augen der Aktionsstrom 
entsteht. Holmgren durchschnitt an einem Kaninchenauge den Nervus 
opticus und fand, daß das elektromotorische Verhalten der Augen dieser 
- Tiere trotzdem normal geblieben war. Gesetzt den Fall, daß er bei der 
- histologischen Untersuchung eine Degeneration der Stäbchen und Zapfen- 
schicht gefunden hätte, dann wäre die Annahme wohl begründet, daß der 
Netzhautstrom nicht in der Stäbchen- und Zapfenschicht seinen Ursprung 
hätte. Hamburger, welcher den Nervus opticus von Fröschen und Kanin- 
chen unblutig von der Mundhöhle aus durchschnitten hat, fand an der 
Netzhaut selbst nicht die kleinste histologische Veränderung. Die photo- 
mechanischen Prozesse, also Umlagerung des Pigments und Adaptations- 
 vorgang, hatten infolge der Durchschneidung nicht gelitten. Ishihara 
durchschnitt bei Fröschen intrakraniell den Nervus opticus und fand 
2 bis 6 Monate hernach das photoelektrische Verhalten der Augen voll- 
' kommen normal, war aber auch bei der histologischen Nachuntersuchung 
nicht imstande, irgendwelehe Veränderungen an der Retina nachzuweisen. 
Wir sehen also, daß dieser Weg auch nicht gangbar ist, weil die Degenera- 
tion der Opticusfasern nur zentralwärts nicht aber peripheriewärts fort- 
schreitet und es daher nicht gelingt, eine Schicht der Retina, wir denken 
natürlich zuerst an die Nervenfaserschicht, auszuschalten. Ein anderer 
Weg wäre der vergleichend-physiologische. Ich glaube zwar nicht, 
Archivf.A.u.Ph. 1917. Physiol. Abtlg. 10 


146 LOTHAR TIRALA: 


daß Kühne und Steiner, die zuerst solche Versuche anstellten, schon 
die Frage der Deutung des Retinastromes damit beantworten wollten, 
ebensowenig wie v. Brücke und Garten, welche vor allem den Ablauf 
des Retinastromes bei verschiedenen Tieren beschreiben wollten. Uns 
aber sei es hier gestattet, aus den Ergebnissen dieser Forscher die Schlüsse 
zu ziehen und vielleicht eine oder die andere Frage zu beantworten. 

Schon die Richtung des Bestandstromes gibt uns einen Fingerzeig 
über den Ursprung dieses Stromes. Wie bekannt, geben die verschiedensten 
Epithelien auch in ihrer Ruhe ihre Lebenstätigkeit zu erkennen durch 
elektrische Potentiadifferenzen, so zwar, daß die Basis der Zelle positiv 
geladen ist im Vergleiche zu der z. B. in ein Lumen ragenden Oberfläche. Im 
Auge der Wirbeltiere ist die Richtung des Bestandstromes eine derartige, als 
ob ein freies Epithel mit starken Spannungsdifferenzen sich im’ Auge be- 
finde, dessen Basis in das Innere des Auges gerichtet sei und dessen Ober- 
fläche skleralwärts schaute. Wir werden nicht fehlgehen, die Schicht der 
Stäbchen und Zapfen als dieses Epithel anzusprechen. Tatsächlich ver- 
läuft der Bestandstrom im äußeren Stromkreis von der Cornea zur Sklera, 
wie er auch nach den vergleichend elektrophysiologischen Erwägungen 
verlaufen müßte. Als nun Piper das Auge eines Gephalopoden (Eledone 
moschata) untersuchte, fand er die Richtung des Bestandstromes umge- 
kehrt. Die gegenteilige Angabe Becks, der vor ihm auch dasselbe Objekt 
untersuchte, erwies sich als Irrtum. Nun wissen wir schon lange, daß die 
Stäbchen der Cephalopodenretina mit ihrem freien Ende gegen das Augen- 
innere gerichtet sind, also gerade entgegengesetzt gerichtet sind wie die 
Stäbchen der Wirbeltiernetzhaut. 

Der Bestandstrom hat mithin nur scheinbar die umgekehrte Richtung, 
denn die Sinnesepithelschicht der Gephalopodenretina ist ja auch um 
180° gedreht. Es wird also die Wahrscheinlichkeit um so größer, dab der 
Bestandstrom, der nach der Lage der lichtempfindlichen Elemente seine 
Richtung wechselt, im wesentlichen von dieser Schicht ausgeht. Außer- 
dem fehlt in der Cephalopodennetzhaut die Ganglienzellenschicht; sie 
liest in einem besonderen Ganglion außerhalb des Auges. Trotzdem ist 
der Bestandstrom vorhanden, wir schließen daraus, daß die Ganglienzellen- 
schicht auch bei dem Wirbeltierauge mit der Entstehung des Bestand- 
stromes nichts Wesentliches zu tun habe. Schließlich glauben wir in 
Übereinstimmung mit Kühne und Steiner damit auch erklären zu können, 
warum der Bestandstrom einer absterbenden Wirbeltiernetzhaut die Rich- 
tung wechselt. Die empfindlichste Schicht in der Retina dürfte wohl die 
Ganglienzellenschicht sein. Wenn diese zuerst abstirbt, liegen die Stäb- 


chen und Zäpichen mit ihrer Basis an den absterbenden Ganglien, welche 


TRREER 


DIE PHYSIOLOGISCHEN VORGÄNGE IN DER NETZHAUT USW. 147 


eine Art chemischen Querschnitt darstellen würden, dieser ist stärker 
negativ als die normale polare Spannung zwischen Basis und Endglied 
von Stäbchen und Zapfen, der Bestandstrom muß die Richtung wechseln. 
Auch das Gesetz von Kühne und Steiner von der konstanten 
Spannungsänderung will ich heranziehen, um den Beweis vorläufig zu 
Ende zu führen, daß die Retinaströme ihren Ursprung in der Sinnesepithel- 
schicht nehmen. Dieses Gesetz besagt, daß die Belichtungs- und Ver- 
dunkelungsschwankung gleiche Richtung behalten, auch wenn der Bestand- 
strom seine Richtung ändert oder, anders ausdrückt, die Retinastromkurve 
bleibt immer gleich, nur die Abszissenachse muß paralell zu sich selbst 
verschoben werden. Wären an den Netzhautströmen andere Schichten 
als die Stäbchen- und Zapfenschicht beteiligt, so würde bei der Veränderung 
des Bestandstromes, welche doch sicherlich durch Veränderung in den 
Netzhautschichten zustande kommt, auch eine Veränderung der Belich- 
tungs- und Verdunkelungsschwankung eintreten; da diese aber nicht ein- 
tritt, so ist an dem Zustandekommen der Netzhautströme nur die Stäb- 
chen- und Zapfenschicht beteiligt. Ich werde dann später noch zeigen, 
daß dieser Satz auch durch meine Experimente gestützt wird. 

Trotzdem im Cephalopodenauge nur Stäbehen vorhanden sind, wollen 
wir doch diese Gebilde nicht den Stäbchen der Wirbeltierretina gleich- 
setzen, denn es kann sehr wohl zutreffen, daß die Stäbchen der Cepha- 
lopodennetzhaut die Funktionen der Stäbchen und Zapfen der Wirbel- 
tierretina ausüben. Es ist immerhin verlockend, darauf hinzuweisen, daß 
diese reine Stäbehennetzhaut nur eine positive Belichtungsschwankung 
zeigt, während der Belichtung läuft der Aktionsstrom der Abszisse fast 
parallel, und nach der Belichtung sinkt er ohne besondere Schwankung 
ab. Ich möchte fast sagen, leider, verläuft der Netzhautstrom bei dem nur 
zapfenhaltigen Auge der Schildkröte nicht dementsprechend einfach, 
denn dann hätten wir hier eine Zapfenkurve, dort eine Stäbchenkurve 
und wären dann imstande, den komplizierten Netzhautstrom auf zwei Teil- 
ströme, einen Stäbchen- und einen Zapfenstrom zu beziehen. Am Netz- 
hautstrom des zapfenhaltigen Schildkrötenauges können wir eine einfache 
Belichtungs- und eine Verdunkelungsschwankung feststellen; es fehlt 
dagegen die Helligkeitsschwankung. Der Aktionsstrom des Schildkröten- 
auges ist mithin in seinem Verlaufe sehr ähnlich dem des helladaptierten 
Froschauges und ich werde in meinem Versuch, den Aktionsstrom zu 
deuten, gerade darauf nochmals zurückkommen. Piper hat versucht, 
den Netzhautstrom der Stäbchen- und Zapfenvögel miteinander zu ver- 
gleichen und auf diese Weise vielleicht den Teilstrom der Zapfen und den 
der Stäbchen isoliert darzustellen. Bekanntlich haben die Tagvögel, wie 

10* 


148 LOTHAR TIRALA: 


Hühner und Tauben, eine Sinnesepithelschicht, in der die Zapfen, die 
Nachtvögel, wie z. B. Eule und Kautz, eine solche, in der die Stäbchen 
überwiegen. Während die Retinaströme der Taube und des Mäusebussard 
nur eine schwache Belichtungs- und eine Verdunkelungsschwankung auf- 
weisen, zeichnen sich die Netzhautströme der Nachtvögel durch kräftige 
Schwankungen aus. Wir unterscheiden nach den Untersuchungen von 
v. Brücke und Garten nicht nur eine deutliche Beliehtungs- und Ver- 
dunkelungsschwankung, sondern auch eine hohe Helligkeitsschwankung. 

Ich gebe ein Schema nach den Kurven von v. Brücke und Garten: 


| £B V 
_—— mm — 


Dunkel Dunkel 
Mäusebussard, 


V 


8 


m 
Dunkel Lieht Dunkel 


Auch hier sind wir also nicht imstande, durch Vergleiehung die hypo- 
thetischen Teilströme zu isolieren. Piper, der sich am eingehendsten gerade 
mit dieser Frage beschäftigt hat, kommt zu dem Schlusse, daß eine Isolierung 
der Teilströme auf vergleichend physiologischem Wege nicht möglich sei. 

Einige andere Tatsachen bestärken ihn in der Meinung, daß die Zapfen 
der Retina Ursache des einen und zwar des negativen Teilstroms seien. 
Der eine positive Teilstrom hätte die längere Latenz und würde dadurch 
besser der relativen Trägheit der Stäbchen entsprechen, während der negative 
Teilstrom die Tätigkeit der Zapfen darstellen würde. Als Beweis dafür führt 
er an, daß bei Reizung eines Hellauges mit starken Lichtblitzen nur eine 
negative Schwankung auftrete — das wäre der Typus der Zapfentätigkeit. 

Nun ist aber das Argument unrichtig, weil ein solches Hellauge auf 


solche Reize nicht nur mit einer negativen Änderungsschwankung, sondern 
auch mit einer positiven Belichtungsschwankung antwortet. — Ich ver- 


weise auf Schema Fig. 18a. 
Haben wir aber außerdem noch aus der Analyse der Netzhaut- 


ströme Beweise dafür, daß Stäbchen- und Zapfennetzhaut auf verschie- 


a RE ET TE En 


DIE PHYSIOLOGISCHEN VORGÄNGE IN DER NETZHAUT USW. 149 


dene Bedingungen des Sehens eingestellt sind, erstere auf die Bedingung 
des Dunkelsehens, letztere auf die des Hellsehens. 

Diese Frage kann man nach den Untersuchungen Himstedts, Nagels, 
Pipers und Trendelenburgs bejahend beantworten; die beiden ersten 
Forscher haben eine neue Methode eingeführt, um die Frage zu beantworten. 
Sie haben die Höhe des Nezthautstromes, d. h. seine Erhebung über die 
Abszissenachse, bei Licht verschiedener Wellenlänge gemessen und ge- 
funden, daß es zwei Maxima für den Netzhautstrom des Froschauges 
gibt, ein Maximum für das Hellauge im Gelb (589 u Wellenlänge) und 
ein Maximum für das Dunkelauge im Grün (bei etwa 544 Wellen- 
länge). Diese beiden Maxima entsprechen fast genau dem Maximum des 
Dämmerungswertes und dem des Helligkeitswertes für das jeweils adap- 
tierte Auge des Menschen. Wir konstatieren somit eine auffallende Parall- 
elität psychophysischen Geschehens. Doch gewinnt diese Tatsache noch 
größere Bedeutung durch die objektiven Methoden, welche Hess zur Be- 
stimmung der Dämmerungswerte und Helliekeitswerte bei den verschie- 
denen Tierklassen ausgearbeitet hat. 

Wir können, wie Hess zeigte, feststellen, wann für einen Tagvogel 
oder Nachtvogel das Spektrum die größte Helligkeit hat, indem man auf 
die Futterkörner, welche in einer Reihe liegen, ein Spektrum fallen läßt. 
Die Tiere beginnen das Futter dort aufzupicken, wo es am hellsten ist. 
Wir erkennen daraus, daß das Maximum der Helligkeit für Tagvögel mit 
der Zapfennetzhaut im Gelb, das Maximum der Nachtvögel mit der 
Stäbchennetzhaut im Grün liegt. 

Ebenso aber konnte Piper zeigen, daß das Maximum der Netzhaut- 
stromkurve bei Tagvögeln im Gelb, ihr Maximum bei Nachtvögeln im 
Grün liegt, und daß außerdem die Form der Kurve, welche bestimmt 
wird durch die jeweilige Höhe der Netzhautstromkurve, genauer 
gesagt der Belichtungs- oder Helligkeitsschwankung, bei Reizlichtern 
verschiedener Wellensänge sehr gut übereinstimmt mit der Kurve der 
menschlichen Dämmerungswerte und außerdem mit der Kurve der Energie- 
absorption des Sehpurpurs — mit anderen Worten, an der Stelle des 
Spektrums, wo es für das dunkeladaptierte Menschenauge am hellsten ist, 
absorbiert auch der Sehpurpur (von Säugeties, Vogel und Amphibium) 
am meisten Energie und dort ist auch die Helligkeitsschwankung der 
Stäbchenretina eines Nachtvogels am höchsten. 

Wir sind bei der Erörterung dieser Frage bereits zu einem psycho- 
physischen Problem angelangt und wollen daher nun den Versuch be- 
sprechen, den Netzhautstrom mit dem Ablauf der Gesichtsempfindung 
in Parallele zu setzen. 


150 LOTHAR TIRALA: 


6. Zusammenhang von Empfindung und Aktionsstrom. 


Wir können die Frage so formulieren: Entspricht dem Netzhautstrom 
der Ablauf der Gesichtsempfindung ? Es ist gar kein Zweifel, daß diese Frage 
überhaupt nur auf dem Boden des psychophysischen Parallelismus gestellt 
werden kann, einer Hypothese, welche bündig so gekennzeichnet werden 
mag: Jedem Vorgang im Zentralnervensystem läuft gleichzeitig ein psychi- 
scher Vorgang parallel, so daß jeder Änderung der Nervenerregung eine 
Änderung im Psychischen entspricht und umgekehrt jede Veränderung 
im Psychische sich in einer Änderung der nervösen Prozesse zu erkennen gibt. 
Exner hat nun schon in seinem, ‚Entwurf zu einer physiologischen Erklärung 
der psychischen Erscheinungen‘ darauf hingewiesen, daß in dem Ablauf des 
'Netzhautstromes gewisse Schwankungen vorkommen, die nicht vereinbar sind 
mit derAnnahme,daß essich bei der Belichtung lediglichum die Zersetzungeiner 
Sehsubstanz handle. Die rein: energetische Kurve der Zersetzung einer 
lichtempfindlichen Substanz ist wie Exner in seinem Werke ausführt, 
deutlich unterschieden von der Kurve des Verlaufes der Liehtempfindung; 
die letztere Kurve ist aber auch deutlich unterschieden von der Kurve 
des Netzhautstromes. Daher hat auch Piper im Jahre 1912 die Meinung 
geäußert, daß z. B. Belichtungs- und Verdunkelungsschwankung in der 
Netzhautstromkurve nicht das physiologische Korrelat einer Empfindung 
sei, weil wir bei Ablauf der Lichtempfindung selbst weder zu Beginn 
noch am Ende eine solche Besonderheit wahrnehmen würden. 

Dem wollen wir auch zustimmen, nur hinzufügen, daß das Auge eben 
nicht nur Lichtempfindungen, sondern auch spezifische Empfindung für 
die Veränderung vermittle, welche am auffallendsten in den Bewegungs- 
empfindungen deutlich werden. Diese entstehen durch den Anblick be- 
wegter Objekte; die vergleichende Physiologie lehrt uns, daß diese Be- 
wegungsempfindungen nicht nur beim Menschen nachzuweisen sind, 
sondern auch z. B. bei den Libellen eine wohl charakterisierte Reaktion 
auslösen; denn eine Libelle, welche auf ein fliesendes Papierschnitzel 
ganz beliebiger Form losstürzt, zeigt uns, daß der Motorreflex ausgelöst 
wird durch den Reiz des sich bewegenden Objektes, nicht aber durch den 
Form- oder Farbenreiz des Beuteltieres. Wir können sagen, daß die Emp- 
findung der Bewegung auch biologisch von hoher Bedeutung ist. 

Ishihara versuchte nun, in seiner Arbeit die Beliehtungs- und Ver- 
dunkelungsschwankung als physiologischen Ausdruck der Veränderungs- 
empfindung nachzuweisen und richtete seine Versuche so ein, daß er bei 
der Belichtung hauptsächlich die Bedingungen herstellte, unter denen 
Exner beim Menschen das Auftreten von‘ Veränderungsempfindungen 


. DIE PHYSIOLOGISCHEN VORGÄNGE IN DER NETZHAUT USW. 151 


nachweisen konnte. Er vermochte zu zeigen, dab man unter diesen Be- 
dingungen, welche sind: Bewegungen der Lichtquelle, Intermittenz der 
Lichtreize, Wechsel der Intensität und schließlich der Farben der Reiz- 
lichter, immer wieder deutliche positive Schwankungen des Aktionsstromes 
bekommt, welche man wohl als objektiven Ausdruck der Veränderungs- 
_ empfindungen deuten kann, denn wenn wir auch nicht wissen, wann 
und wo diese Empfindungen sich diesen speziellen nervösen Erre- 
gungen hinzugesellen, eine Schwierigkeit, die übrigens jeden psychophy- 
sischen Parallelismus trifft, so wissen wir doch gerade durch die Unter- 
suchungen Ishiharas, daß die positive Belichtungs- und Verdunkelungs- 
schwankung vom Nervus opticus zum Zentralorgan weiter geleitet wird 
und dort dementsprechend imstande sein wird, eine eigene Erregung zu 
veranlassen. Bei kurzen Lichtreizen tritt nach Ishihara nur eine posi- 
tive Schwankung ein und dieser Forscher will diese Erscheinung damit 
begründen, daß unter solehen Umständen auch nur eine Veränderungs- 
empfindung auftritt. Das ist wohl richtig, doch muß hinzugefügt werden, 
- daß auch die negative Änderungsschwankung auftritt, und wir daher so- 
_ wohl für die Lichtempfindung als für die Veränderungsempfindung ein 
physiologisches Korrelat haben. 

Auf eine wichtige Tatsache hat Ishihara ferner aufmerksam gemacht, 
als er zeigen konnte, daß die Netzhautstromkurve des Frosches stetig 
wird, d. h. keinerlei Oszillationen mehr aufweist bei derselben Reizfre- 
quenz, bei welcher auch unsere Liehtempfindung stetig wird. Die Stetig- 
keit der Lichtempfindung ist abhängig von der Stetigkeit des Netzhaut- 
‚stromes. Scheternikoff und v. Kries konnten zeigen, daß das menschliche 
Auge, wenn es dunkeladaptiert ist, eine Verschmelzungsfrequenz aufweist 
von ungefähr 20 Reizen in der Sekunde, d. h. die Empfindung wird stetig, 
und eine solche von 40 bis 50 Reizen, wenn das Auge helladaptiert ist. 
Dem läuft auffallenderweise parallel das Verhalten der Zapfennetzhaut 
der Tagvögel und Stäbchennetzhaut der Nachtvögel. Denn von dem Auge 
der Tagvögel (Huhn, Bussard, Taube) erhält man eine stetige Netzhaut- 
stromkurve bei einer Frequenz von 40 Lichtreizen in der Sekunde, von 
dem Auge der Nachtvögel (Eule) eine stetige Kurve ohne Oszillationen 
bereits bei einer Frequenz von 20 Lichtreizen. Wir können mithin den 
theoretisch wichtigen Satz aussprechen: Die Stetigkeit unserer Licht- 
empfindung ist nicht etwa auf die integrierende Tätigkeit des Zentral - 
nervensystems zurückzuführen, sondern in der Tätigkeit unserer 
Netzhaut begründet. Je nachdem die Netzhaut der Reizfrequenz folgen 
kann oder nicht, ist unsere Lichtempfindung unterbrochen oder stetig. 

Dagegen erhebt sich eine andere Schwierigkeit, die meiner Ansicht 


152 LOTHAR TIRALA: 


nach noch nicht gelöst ist. Und das ist die Frage der Latenzzeit. Die 
Latenzzeiten der Belichtungs- und Verdunkelungsschwankung unterscheiden 
sich so sehr voneinander, daß die beiden Schwankungen kaum ein und die- 
selbe Empfindung vermitteln können, da nach den Grundsätzen des 
pyschophysischen Parallelismus für dieselbe Empfindung auch der gleiche 
Nervenvorgang gefordert werden muß. Außerdem aber ist die Latenz- 
zeit der Belichtungsschwankung nach den neuen Untersuchungen so groß 
(0-2 Sek.), daß die Empfindung längst zum Bewußtsein gekommen wäre, 
bevor überhaupt die Erregung der Netzhaut begonnen hätte. Auf diese 
und einige ähnliche Fragen will ich aber erst am Schlusse meiner eigenen 
Untersuchungen, bei dem Versuche einer neuen Deutung der Netzhaut- 
ströme eingehen. 


II. Eigene Versuche. 
1. Versuchsanordnung. 


Die Fragestellung, mit der ich ursprünglich an die Arbeit herantrat, 
lautet: Sind die chemischen Substanzen, welche als Narkotika bekannt 
sind, imstande, die Netzhautströme zu beeinflussen, und wenn dies der 
Fall ist, wie verändern sie das Bild derselben? Nun wird mancher im vor- 
hinein geneigt sein, folgenden Standpunkt zu vertreten: Die Netzhaut- 
ströme sind der physiologische Ausdruck der Lebensvorgänge in der Netz- 


haut während der Belichtung. Wir wissen, daß alle Lebensvorgänge des 


Protoplasmas, wie Bewegung, Sekretion, Reizleitung durch die Narkose 
zeitweise aufgehoben werden, warum sollten die Lebensvorgänge der 
Netzhaut eine Ausnahme machen ? 

Sind aber die Netzhautströme auch wirklich der Ausdruck der Lebens- 
vorgänge in der Retina? Ist nicht etwa die Zersetzung einiger Sehstoffe, 
z. B. der drei Substanzen Eintkovens und Jollys durch das Lieht Ur- 
sache der elektrischen Potentialdifferenzen, welche sich in den Schwan- 
kungen der Saite offenbart ? 

Wenn die Hypothese richtig wäre, so könnten tatsächlich die Retina- 
ströme trotz Einwirkung der Narkotika erhalten bleiben. 

Vielleicht sind aber alle Schichten der Retina an dem Aktionsstrome, 
der bei der Belichtung oder Verdunkelung einsetit, beteiligt, sind aber alle 
Schichten gegen Narkotika gleich widerstandsfähig? Vielleicht hätten 


Wrede 


a Ms; 


wir in der Narkose ein Mittel, die Wirkung der einzelnen Schichten zu N 


isolieren; und anstatt der komplizierten Versuche Kühnes, die einzelnen 


Schichten anatomisch zu trennen, hätten wir ein Mittel, sie chemisch zu 
isolieren. 


fees 


KAREEN 


Zn) 


DIE PHYSIOLOGISCHEN VORGÄNGE IN DER NETZHAUT USW. 153 


Man sieht, daß, wenn einer imstande wäre, auch nur einen Teil dieser 
Fragen zu beantworten, die aufgewandte Mühe reichlich belohnt wäre. 
Meine Versuche habe ich in dem Winter der Jahre 1912 und 1913 
angestellt. Das Saitengalvanometer des Wiener physiologischen Institutes 
war eben erst aufgestellt worden; da in die Saite immer wieder elektrische 
Ströme unbekannter Herkunft einbrachen und das Arbeiten unmöglich 
machten, sah ich mich gezwungen, den elektrischen Strom aus dem ganzen 
Nordtrakt des Institutes auszuschalten, was für gewöhnlich nur in der 
Zeit von 6 bis 10 Uhr abends möglich war. Außerdem hatte ich, um das 
Präparat vollständig zu isolieren, den ganzen Tisch mit: der Versuchsan- 
ordnung in einem Zimmer auf eine Paraffinplatte gestellt, das Saiten- 
galvanometer selbst befand sich in einem Nebenzimmer. Eine Drahtleitung, 
durch die Mauer gezogen, verband die Elektroden mit dem Galvanometer. 
Ich arbeitete meistens an Fröschen, Rana esculenta, aber auch an Kanin- 
chen. Die Methodik bei beiden ist verschieden. 
Die Frösche setzte ich gewöhnlich in der Frühe in ein grobes Stand. 
 gefäß, das in einen geräumigen, verschlossenen Kasten gestellt wurde, 
arbeitete also fast stets mit Dunkel-Fröschen. Die Elektroden waren 
die unpolarisierbaren Quecksilber-Kalomelelektroden, wie sie Ostwald- 
Luther angegeben haben, hie und da auch Tonstiefelelektroden, welche 
aber im Vergleiche zum obengenannten einen viel größeren Widerstand 
boten. Da bekanntlich bei den erwähnten Quecksilber-Kalomelelektroden 
mit Hilfe eines mit Ringer befeuchteten Dochtes abgeleitet wird, so legte 
ich meist das herauspräparierte Froschauge auf den Docht der einen Elek- 
trode, unterstützt durch einen gläsernen Objektträger, den Docht der anderen 
Elektrode, zu einer leichten Spitze zusammengedreht, brachte ich mit der 
Cornea in Berührung. 
\ Das Präparat befand sich in der feuchten Kammer, um gegen Aus- 
trocknen geschützt zu sein. Dem Auge gegenüber, etwa 20 bis 30cm von 
ihm entfernt, befand sich eine Glühlampe, die ich mit Hilfe eines Schlüssels 
zum Leuchten brachte, den ich im Nebenzimmer betätigen konnte, ohne 
das Auge vom Bilde der Saite abwenden zu müssen. Denn ich konnte und 
_ wollte nicht bei jedem Versuch die Saite photographieren und begnügte 
mich oft, die gefundenen Werte zu verzeichnen. Zu diesem Behufe pro- 
jizierte ich das Bild der Saite mit Hilfe eines Projektionsokulars auf einen 
mit einer Skala versehenen weißen Schirm. Trotz aller Vorsichtsmaßregeln 
brachen dennoch infolge der vielen elektrischen Leitungen in und neben 
dem Institut ab und zu fremde Ströme ein, so daß ich manchmal nach 
stundenlangem Bemühen, ein ruhiges Saitenbild zu erhalten an dem be- 
treffenden Abend die Arbeit einstellen mußte. 


154 LOTHAR TIRALA: 


Wenn ich die Saite photographierte, so ließ ich die Dauer des Licht- 
reizes durch einen Elektromasneten verzeichnen, der bei Aufleuchten der 
Lampe automatisch in Tätigkeit geriet; die Zeit wird auf die Abszissen- 


achse durch eine Uhr geschrieben, welche !/, Sekunden verzeichnete. — 


War eine Kurve Dura ur so wurde sie meist noch am Abend ent- 
wickelt und fixiert. 


Wurde das sorgsam herauspräparierte Auge mit den Elektroden ver-. 


bunden, so mußte natürlich zuerst der Bestandstrom kompensiert werden, 
was mit Hilfe der ‚Brücke‘ nach Du Bois Reymond bewerkstelligt 
wurde. Gewöhnlich blieb der Bestandstrom während der nächsten Stunde 
so weit konstant, daß nur ganz kleine Änderungen des Bo - 
Stromes notwendig waren. 

Nachdem ich mich gewöhnlich überzeugt hatte, daß an did Abend, 
an dem ich gerade arbeiten wollte, die Saite ruhig sei und das Auge eines 
normalen Dunkelfrosches die bekannten Belichtungs- und Verdunkelungs- 
ausschläge gab, stülpte ich z. B. über einen Frosch eine Glasglocke, unter 
die ich auch eine mit Äther oder Chloroform getränkte Watte brachte, 
wenn ich einen Versuch über eine dieser Substanzen machen wollte. Nach 
einer Zeit, die bei verschiedenen Versuchen verschieden bemessen wurde, 
nahm ich das Tier heraus, dekapitierte es, um leichter arbeiten zu können 
und präparierte dann das Auge mit Hohlschere aus der Orbita so schonend 
wie möglich heraus. Dies geschah immer bei einer roten Dunkelkammer- 
lampe. Die Rollläden waren auch heruntergelassen, obwohl ich weiß, 
daß diese Vorsichtsmaßregeln von vielen vielleicht als zu weitgehend be- 


zeichnet werden. Diese Präparation dauerte etwa 5 Minuten, doch könnte 


man mir bei meiner Fragestellung einwerfen, daß in dieser Zeit ein Teil 
des gasförmigen Narkotikums entwichen sei; diesem Einwand hätte man 
am besten begegnen können, wenn, ähnlich wie bei einer Sauerbruch- 
schen Kammer, in diesem Falle das Tier und die Arme des Operateurs in 
Äther- oder Chloroformatmosphäre eingeschlossen gewesen wären. Ich 
aber zog es vor, diese wenigen Minuten des Aufenthaltes in normaler Luft 
in Kauf zu nehmen und das Auge gleich darauf in die feuchte Kammer zu 
bringen, in welcher ein offenes Schälchen, z. B. Äther oder Chloroform, 
gestellt wurde. So befand sich das Auge dann in einer Atmosphäre, deren 
Zusammensetzung ich jeweils bestimmen konnte. 

Ich arbeitete in zwei Jahren leider hauptsächlich in der Winterzeit 
an der Beantwortung dieser Frage. Die Retinaströme der untersuchten 
Frösche sind in dieser Zeit viel schwächer, auch ist der Anstieg der Schwan- 
kungen in der Winterzeit bedeutend träger als im Sommer; am schwächsten 
sind aber die Retinaströme im Februar und März, also vor der Brunstzeit. 


= 


DIE PHYSIOLOGISCHEN VORGÄNGE IN DER NETZHAUT USW. 155 


Sollte dieser Herabsetzung der nervösen Erregbarkeit vor der Brunst- 
periode nicht eine biologische: Bedeutung zukommen? Es wäre nicht un- 


- möglich, daß veränderte Zirkulationsvorgänge mit Ursache der ange- 


führten Verhältnisse wären. 


2. Die Wirkung von chemischen Substanzen, insbesonders der Narkotika 
auf den Netzhautstrom. 


Bevor ich meine eigentlichen Versuche bespreche, will ich bemerken, 
daß die Netzhautströme bei demselben Tier im Winter und Sommer von- 
einander verschieden sind. Als Beispiel bringe ich hier zwei Kurven, die 
unter denselben technischen Bedingungen gewonnen wurden, d. h. also 
dieselbe Beleuchtung, gleiche Elektroden, gleiche Empfindlichkeit der 


Saite des Galvanometers. Die eine Kurve Nr. 2 ist aber vom Januar, 


die anderen Nr. 1 und 4 sind vom Juni. Die Schwankungen der Saite, 
die auch während völliger Dunkelheit sich bemerkbar machen, sind, wie 
ich schon erwähnte, verursacht durch fremde Ströme, deren Einwirkung 
ich oft nicht ganz ausschalten konnte. Auf Kurve Nr. 4 sehen wir den 


idealen Verlauf eines Netzhautstromes an einem Dunkelauge bei mäßiger 
- Beleuchtung. Die negative Änderungsschwankung als zarten Strich nach 
abwärts angedeutet — durch die Unruhe der Saite zum Teil gedeckt — 


die steil aufsteigende Belichtungsschwankung; nach einem Absinken, sanft 


- aufsteigend und fast parallel zur Abszisse weitergehend die Helligkeitsschwan- 


schwankung, bei der Verdunkelung (Kurve 1) sinkt der Strom steil ab, 


_ um sogar etwas tieier zu sinken, als er vor der Belichtung war und noch- 


mals sanft anzusteigen, ein Ausdruck der noch wirkenden Helligkeits- 
schwankung, bei der Kurve 4 erkennen wir wieder eine steile Verdunkelungs- 
schwankung, welche höher als die Belichtungsschwankung auch zu einem 
Absinken unter die Abszisse führt, worauf dann der Strom wieder lang- 


sam ansteist — die bekannte Helliskeitsschwankung. 


Ganz anders die Winterkurve Nr. 2. Die Belichtungsschwankung 
steigt träger auf, hat eine Latenz, die gleich um ein Vielfaches größer ist 
als die der Sommerkurve, die Helliskeitsschwankung ist kaum an- 
gedeutet, während der 3 Sekunden der Belichtung sinkt die Kurve fast 
zur Abszisse, ohne sie zu erreichen und hebt sich dann gleich träge in eine 
mäßig hohe Verdunkelungsschwankung, nach welcher sie weiter absinkt. 


Der Unterschied zwischen beiden Kurven ist so auffallend, daß ich 


dabei nicht lange zu verweilen brauche. 
Besprechen wir nun die reinen Narkoseversuche. Ein Dunkelfrosch 
wird unter die Glocke gesetzt, ein Wattebausch, mit Äther getränkt, dazu 


156 LOTHAR TIRALA: 


gelegt. Nach etwa einer Viertesltunde ist das Tier narkotisiert und das 
Auge wird an die Elektroden gebracht. Der Netzhautstrom besteht im 
vollen Maße weiter. Wir ersehen daraus, daß die zur Narkose des Nerven- 
systems notwendige Menge nicht ausreicht, den Aktionsstrom zum Ver- 
schwinden zu bringen. Ich stellte daher in die feuchte Kammer ein offenes 
Schälehen mit Äther und beobachtete von 5 zu 5 Minuten die weitere Ein- 


wirkung des Narkotikums. Zuerst fällt uns auf, dab bei zwei- oder drei- 


maliger Reizung des Auges durch Licht die Verdunkelungs- und Beliehtungs- 
ausschläge kleiner werden, das Auge mithin leichter ermüdet, ferner nimmt 
die Latenzzeit der Belichtungsschwankung zu, sie kann schließlich mehr als 
1/, Sekunde betragen, nach einer Stunde, manchmal noch nach längerer 
Zeit geben, ganz geringe Schwankungen der Saite sozusagen die Stelle 
an, wo die beiden Schwankungen auftreten und verschwinden (Kurve Nr. 3). 
Oft kam gerade bei der Äthernarkose dazu, daß, wenn die Belichtungs- 
schwankung des normalen Auges deutlich größer war als die Verdunkelungs- 


schwankung, letztere zuerst verschwand. Doch möchte ich darauf kein 


besonderes Gewicht legen, weil die Äthernarkose beide Schwankungen 
vermindert und wenn die Verdunkelungsschwankung zu Beginn des Ver- 


suches schon kleiner ist, sie natürlich auch zuerst verschwinden muß. Als 


Beispiel dient die Kurve Nr. 7. Wenn ich nun den Äther aus der feuchten 


Kammer entfernte, so kann man ein allmäliches Rückkehren der beiden 


Schwankungen feststellen, doch sah ich niemals, daß die Schwankungen 
die ursprüngliche Höhe erreichten. Es wird wohl die Narkose nicht ohne 
eine leichte Schädigung der Funktion vor sich gehen, worauf auch die 


lange Latenzperiode der Belichtungsschwankung hindeutet. Auch die 


Latenzzeit der Verdunkelungsschwankung nimmt während der Narkose 
zu, erreicht aber die der Belichtungsschwankung bei weitem nicht, son- 
dern beansprucht iu besten Fall die halbe Zeit; wenn also die letztere fast 


den Wert von 2/, Sekunden hat, beträgt die Latenz der Verdunkelungs- 


schwankung kaum /, Sekunde. 


Ganz ähnlich verlief die Chloroformwirkung. Auch da gelang es regel- 
mäßig von einem zur vollständigen Reflexlosigkeit narkotisierten Tier 


normale Netzhautströme zu erhalten, Kurve Nr. 2 ist der Netzhautstrom 
von dem Auge eines chloroformierten Tieres. 


Das Auge selbst ist ebenfalls, wenn auch erst kurze Zeit, in der Chloro- Ra 


formatmosphäre. Wenn nun das Chloroform länger auf das Auge ein- 


wirkte, so begann der Beliehtungsausschlag deutlich kleiner zu 


a & 
VRR 


werden, wenn man zwei Lichtreize, durch die Zeit von einigen Sekunden 
getrennt, aufeinander folgen ließ, als ob der Belichtungsausschlag zuerst 
ermüdete (Kurve Nr. 6). Im weiteren Verlauf tritt tatsächlich eine Zeit 


. 


2 TE Me 


DIE PHYSIOLOGISCHEN VORGÄNGE IN DER NETZHAUT USW. 157 


ein, wo der Belichtungsausschlag fehlt und nur der Verdunkelungsaus- 
schlag vorhanden ist. 
Ich gebe hier einen Auszug aus meinem Versuchsprotokoll zur Probe. 


25. I. 7 Uhr 25 Min. abends Dunkelfrosch unter eine Glasglocke. Chloro- 


formnarkose. 

Et „„ Das Auge wird herauspräpariert, das Tier 
hat keine Reflexe mehr. 

Bu, Auge in Chloroformatmosphäre der feuch- 


ten Kammer gebracht, deutliche Belichtungs- 
und Verdunkelungsschwankung. 

SAL)" „ Fast keine Belichtungsschwankung. Ver- 
dunkelungsschwankung 4 mm. 


R Nach einer weiteren halben Stunde verschwindet auch diese. Aus 
_ dem Versuchsprotokoll entnehmen wir, daß die Belichtungsschschwan- 
- kung mithin früher verschwindet als die Verdunkelungsschwankung, 
_ eine Tatsache, die ich deutlich bei der Narkose mit Chlorroform erweisen 
konnte, aber auch bei der Äthernarkose konnte ich sie aufzeichnen, 
j wenn Belichtungs- und Verdunkelunesschwankung zu Beginn der Unter- 
suchung bei einer Reizdauer von 2 bis 4 Sekunden gleich hoch waren. 
"Ich werde auf diese Tatsache bei Besprechung der Ergebnisse noch 
- zurückkommen. Chloroform dem Auge in Tropfenform erweist sich als 
ein sehr starkes Gift, denn die Belichtungs- und Verdunkelunsgsschwankung 
£ verschwinden wenige Minuten, nachdem man zwei Tropfen zu dem Auge 
zugesetzt hat. 
Wird nun das Auge etwa eine Stunde frischer Luft ausgesetzt, so 
kehrt der Aktionsstrom langsam wieder zurück, die Belichtungsschwankung 
erreicht die Höhe von 3 mm. 


Ich habe auch am Kaninchen im Jahre 1913 einzelne Versuche mit 
‚Chloroform gemacht. Das Kaninchen wurde einige Stunden vor dem Ver- 
suche im Dunkeln gehalten. Das Auge läßt sich leicht luxieren, so daß die 
zweite Elektrode ohne blutigen Eingriff an die hintere Seite des Auges 
angelegt werden konnte. Um störende Bewegungen auszuschalten, wurden 
die Tiere kurarisiert. 

Um auch von den Atembewegungen ganz ungestört zu sein, führte 
ich dem Kaninchen eine Trachealkanüle ein und erhielt das Tier durch 
Sauerstoffinsufflation am Leben. Die Schwankungen des Bestandstromes 
auf Belichtung und ‚Verdunkelung waren nicht groß, etwa 2 mm. Wenn 
ich dann anstatt des Sauerstoffes eine Chloroformatmosphäre insufflieren 

_ ließ, so verschwand der Retinastrom nach etwa 15 Minuten; wurde dann 


158 LOTHAR TIRALA: 


wieder reiner Sauerstoff eingeblasen, so’ stellten sich auf Belichtung und 
Verdunkelung die so geringen Schwankungen des Retinastromes wieder 
ein. Also auch bei Säugetieren werden die Netzhautströme durch 
die Narkose zum Verschwinden gebracht und zwar im Vergleiche 
zu den Kaltblütern in einer geringeren Zeit, da die Retina bei Säugetieren 
empfindlicher ist als die der Kaltblüter. Auch hier tritt die Narkose des 
Zentralnervensystems sicher früher ein als das Verschwinden des Aktions- 
stromes. 5 

Ich suchte denn im Verlaufe der Untersuchungen noch festzustellen, 
ob es gelingt, an dem Auge eines Frosches, der durch die Narkose getötet 


worden ist, Netzhautströme im normalen Umfange zu erhalten und habe | 


eine Anzahl positiver Versuche in dieser Richtung gemacht. Auf diese 


Weise ist dem Einwand der Boden entzogen, daß die Ganglienzellen der | 


Retina, welche entwicklungsgeschichtlich doch ein Teil des Gehirns ist, 
etwa an den Aktionsströmen beteiligt wären. 

Im weiteren Fortgang der Arbeit untersuchte ich die Wirkung des 
Äthylalkohols und zu diesem Behufe injizierte ich Fröschen subkutan 
je 1 cem 96 prozentigen Alkohol. Obwohl ein solcher Frosch nach wenigen 
Minuten reflexlos war, erhielt ich von dem enukleierten Auge deutliche 
Retinaströme. Dagegen zeigte das Auge eines Frosches, dem 1/, cem Alko- 
hol subkutan, 1 cem intraperitoneal, und !/,ccm in den Rücken-Iymph- 
seits injiziert worden war, keine photoelektrischen Schwankungen des 
Bestandstromes mehr. 

Ich war also imstande, durch relativ große Mengen von Alkohol die 
Retinaströme zum Verschwinden zu bringen. Um den Versuch ein wenig 
zu verändern, wurde zu dem Auge eines normalen Dunkelfrosches, welches 
ein normales photoelektrisches Verhalten zeigte, 4 Tropfen Alkohol.(75 proz.) 
zugesetzt. Nach der ersten Minute trat nun eine bedeutende Steigerung 
der photoelektrischen Reaktion ein, welche aber meist so rasch verging, 
daß die wenigen Minuten, welche ich brauchte, um eine photographische 
Aufnahme vorzubereiten, schon ausreichten, um die Steigerung ver- 
schwinden zu lassen. Nach 10 bis 15 Minuten waren die Retinaströme: 
gewöhnlich endgültig entschwunden. Es ist klar, daß man den Moment. 
der Steigerung der photoelektrischen Reaktion bei Versuchen mit sub- 
kutaner oder intraperitonealer Injektionen nur schwer sehen wird, weil 
er eben nur wenige Minuten anhält. Dieses Verschwinden der Retina- 
ströme kann eben aus dem Grunde nicht mehr als Narkose bezeichnet 
werden, weil wir bei direktem Zusatz von Alkohol eben nicht imstande 
sind, die Schädigung des Gewebes zu vermeiden, so daß eine Wiederkehr 
der Belichtungs- und Verdunkelungsschwankung nicht zu erzielen ist. 


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DIE PHYSIOLOGISCHEN VORGÄNGE IN DER NETZHAUT USW. 159 


Vom salzsauren Morphin kann ich berichten, daß ich deutliche 
Retinaströme bekommen habe, wenn ich es Fröschen subkutan injizierte 
- (0-01 g bis 0-03 g). Ob die ganz großen Dosen nicht doch auch die photo- 
elektrischen Schwankungen beseitigen, kann ich nicht behaupten. Doch 
darf man nie vergessen, daß alle diese Experimente bei ganz großen oder 
sanz geringen Mengen anders verlaufen und daß wir uns bei diesen Ver- 
suchen immer innerhalb der Grenzen der auch auf andere Organe oder Ge- 
webe wirksamen Mengen halten wollen. Morphin ist also auf die Retina- 
ströme ohne Wirkung. r 

Nicht das gleiche kann ich von der Blausäure behaupten. Wenn ich 
1ccm einer 0-5 prozentigen Blausäurelösung einem Frosche subkutan 
injizierte, so fand ich dann am herauspräparierten Auge die photoelek- 
trischen Schwankungen bedeutend stärker als bei einem normalen Auge. 
- Es werden also geringe Mengen der Blausäure imstande sein, die Licht- 
empfindlichkeit der Retina zu steigern. Wenn ich aber 2 bis 3 Tropfen 
Blausäure direkt aufs Auge brachte, so verschwanden Belichtungs- und 
- Verdunkelungsschwankung binnen drei Minuten. Man wird nicht fehl- 
sehen, diese Er-scheinung als eine Gewebserstieckung zu deuten. 

Wenn ich einen Dunkelfrosch mit Strychnin subkutan vergiftete 
- und wartete, bis er absolut reflexlos war, so konnte ich bei einer Reizdauer 
von 1 bis 2 Sekunden feststellen, daß die Verdunkelungsschwankung 
- doppelt so groß als normal war, die Belichtungsschwankung sich dagegen 
- nicht verändert hatte. Auch da mußte man gerade die richtige Zeit nach 
der Injektion treffen, wenn man gerade das Verhalten treifen wollte. 

Wenn ich dagegen ein normales Auge zwischen den Elektroden hatte, 
das auf der Skala photoelektrische Schwankungen bis zu lcm aufwies, 
und diesen 4 Tropfen einer Strychninlösung 1:1000 zusetzte, so waren 
Belichtungs- und Verdunkelungsausschläge nach fünf Minuten kaum mehr 
1!/,mm. So stark wirkte das Gift auf die Retina! Bei direktem Zusatz 
des Giftes zum Auge konnte ich also eine Empfindlichkeitssteigerung 
nicht nachweisen. 

Wir kommen nun zu der Besprechung der Wirkung von Pilokar pin 
und Atropin. 

Ich injizierte einem Frosch subkutan 5 bis 10 mg Pilokarpin. Wenn 
ich etwa 20 bis 30 Minuten hernach das Auge frei präparierte und in die 
feuchte Kammer brachte, so konnte ich deutliche Belichtungs- und Ver- 
dunkelungsschwankungen nachweisen. 

Wenn ich dagegen einem normalen frei präparierten Auge 8 Tropfen 
einer Pilokarpinlösung (1 :1000) zusetzte, so verschwanden auch da die 
photoelektrischen Schwankungen binnen 3 Minuten. Setzte ich aber nur 


160 LOTHAR TIRALA: 


3 bis 4 Tropfen dieser Lösung dem Auge zu, so trat nach etwa 5 Minuten 
eine deutliche Vergrößerung der photoelektrischen Reaktion ein. 


Der Antagonismus, der zwischen Pilokarpin und Atropin besteht, 


erfuhr durch weitere Versuche eine Bestätigung. Atropinzusatz (1 : 1000) 
direkt zum Auge verändert die Retinaströme nicht. Dagegen gelang es 
zu zeigen, daß Belichtungs- und Verdunkelungsschwankung wieder auf- 
. treten bei Zusatz von Atropin, wenn diese in einem enukleierten Bulbus 
bereits durch Zusatz von Pilokarpin zum Verschwinden gebracht worden 
waren. Die neu auftretende Belichtungs- und Verdunkelungsschwankung 
erreichten zwar nicht die ursprüngliche Höhe vor Zusatz des Pilokar- 
pins, “ sich aber dennoch zu ihnen, wie meine Messungen er- 
gaben, wie 3: 
Auch die Umkehr dieses Versuches habe ich geprüft. Ich setzte einem 
Dunkelauge ‚welches sich zwischen der Elektrode befand und dessen nor- 
males photoelektrisches Verhalten bereits festgestellt worden war, einige 
Tropfen Atropin zu, die Netzhautströme blieben unverändert. Wenn ich 
nun einige Tropfen Pilokarpin zusetzte, so dauerte es fast !/, Stunde, bis 
die Verminderung der photoelektrischen Schwankungen deutlich wurden, 
die doch sonst in wenigen Minuten eintrat. Es hat also tatsächlich den An- 


schein, als ob die beiden Substanzen sich gegenseitig aus ihren Angrifis- 


punkten verdrängen würden. 
Wenn ich diese Ergebnisse zusammenfasse, so kann ich feststellen? 
1. Eine Beeinflussung der Netzhaut ist durch verschiedene Substanzen 
möglich. 
2. Die Narkotika bringen die Netzhautströme zum Verschwinden. 


3. Selbst der Tod des Frosches durch Narkotika tritt lange vor dem 


Momente ein, in welchem: der Netzhautstrom erlischt. k 

4. Zuerst verschwindet die Belichtungsschwankung, später die Ver- 
dunkelungsschwankung. 

5. Belichtungs- und ont nk messen werden nicht nur 
kleiner, sondern auch ihre Latenzzeiten nehmen zu. Die Latenzzeit der 


Verdunkelungsschwankung beträgt knapp vor dem Erlöschen etwa die 


Hälfte der Latenzzeit der Belichtungsschwankung. 

6. Die photoelektrischen Schwankungen können nach der Entfernung 
des gasförmigen Narkotikums wiederkehren, doch erreichen sie nie mehr 
die ursprüngliche Höhe. | 

7. Die anderen Gifte, Alkohol, Blausäure, Strychnin, Pilokarpin 


schädigen die Netzhaut nach einer kurzen Steigerung ihrer Erregbarkeit, 


so daß die Netzhautströme nach einer kurzen ‚Periode stärkerer Schwan- 
kungen verschwinden. 


DIE PHYSIOLOGISCHEN VORGÄNGE IN DER NETZHAUT USW. 161 


‚8. Strychnin bewirkt für kurze Zeit eine elektive Vergrößerung der 
Verdunkelungsschwankung. 

9. Morphin und Atropin erwiesen sich als unwirksam. 

10. Atropin vermag jedoch den durch Pilokarpin zum Verschwinden 
gebrachten Netzhautstrom wieder in Erscheinung treten zu lassen. 


3. Versuch einer neuen physiologischen Deutung der Netzhautströme. 


Aus den Ergebnissen meiner Arbeit möchte ich vorerst einige Fol- 
gerungen ziehen. Ich hebe erstens hervor: Wenn auch die Ganglien- 
zellen und Nervenfaserschicht an der Entstehung der Netzhautströme 
beteiligt wären, so müßten bei der tiefen Narkose eines Frosches, in welcher 
sämtliche Nerventätigkeit bereits unterbrochen ist, auch diese beiden Schich- 
ten ausgeschaltet worden sein. Die Netzhautströme bestehen weiter, daher 
haben.diese beiden Schichten keine Beziehungen zu ihnen. 

Dazu kommt noch, daß bei der Ableitung vom Nervus opticus der 
_ Netzhautstrom viel früher erlischt, als bei Ableitung vom Bulbus. Der 
Nervus opticus ist aber selbst noch erregbar, ein Beweis dafür, daß eine 
Schieht zwischen Nervus opticus und Sinnesepithelschicht bereits abge- 
storben ist. Diese früher absterbende Schicht bewirkt also keinerlei 
Schwankung des Netzhautstromes; denn wenn sie auch fehlt, ist der Netz- 
hautstrom bei Ableitung vom Bulbus unverändert. 

Aus den Untersuchungen Kühnes und. Steiners wissen wir, dab 
die Pigmentepithelschicht keine photoelektrische Reaktion aufweist, daher 
können wir sagen: Die Netzhautströme entstehen in der Schicht 
der Stäbchen und Zapfen. 

Die Netzhautströme sind aber nicht bewirkt durch die Zersetzung 
irgendwelcher Sehsubstanzen. Denn es ist höchst unwahrscheinlich, daß 
irgendwelche chemische Substanzen, durch Narkose zur Ruhe und nach 


- Aufhebung derselben wieder zur Tätigkeit gebracht werden könnten und 


auch durch Pilokarpin und Atropin in ähnlicher Weise beeinflußt werden 
könnten. Viel eher werden wir den Netzhautstrom als Ausdruck der 
Lebenstätigkeit des Protoplasmas der Sinneszellen auffassen. Dafür, daß 
der Netzhautstrom nicht einheitlicher Natur ist, sprechen auch meine 
Versuche. Chloroform und Äther bringen zuerst die Belichtungsschwan- 
kung zum Verschwinden. Die Latenzzeit der Belichtungs- und Ver- 
dunkelungsschwankung vergrößert sich ungleichmäßig. Strychnin ver- 
doppelt elektiv die Verdunkelungsschwankung. 

Belichtungs- und Verdunkelungsschwankung sind mithin nicht Aus- 


druck der Reizung ein und deselben Elementes, sondern der verschiedenen 
Archivf.A u.Ph. 1917. Physiol. Abtlg. Sur 11 


162 LOTHAR TIRALA: ' 


Elemente. Es geht also nicht nur aus den Untersuchungen Einthovens, 
Jollys und Pipers, sondern auch aus meinen Versuchen hervor, daß Be- 
lichtungs- und Verdunkelungsschwankung nicht zusammengehören, wohl 
aber, daß die Verdunkelungsschwankung und die negative Änderungs- 
schwankung Ausdruck der Reizung eines Netzhautelementes seien, und 
ich zögere nicht gerade mit Rücksicht auf die Untersuchungen Ishiharas 
diese beiden Schwankungen als Ausdruck der Erregung der Stäbchen 


aufzufassen. Es ist klar, daß ich dann die Erregung der Zapfen in der » 


sogenannten Belichtungsschwankung wiedererkenne. 

Auch die Verdunkelungsschwankung ist dann wieder sozusagen in 
ihre alte Würde eingesetzt, sie stellt sich nicht als ein zufälliges Ergebnis 
der Interferenz zweier Teilströme dar, sondern erscheint als das, was sie 
sowohl der Form als auch der Latenz nach ist: als positive Ergänzung zu 
dem negativen Vorschlag, den ich als Änderungsschwankung zu bezeichnen 
vorschlug; mit dem Buchstaben A wird sie auch bereits von Einthoven 
und Jolly bezeichnet. Wenn die Verdunkelungsschwankung nur das 
wäre, was Piper behauptet, wäre es auch ganz unmöglich, daß sie wäh- 
rend der Narkose, eine Zeitlang wenigstens, allein sichtbar ist. Man be- 
trachte nur einmal den hypothetischen Entwurf Pipers, um zu sehen, 
daß eine Ausschaltung der Belichtungsschwankung, sagen wir durch Ver- 
kleinerung des hypothetischen Teilstroms I, ohne gleichzeitiges Verschwin- 
den der Verdunkelungsschwankung unmöglich ist. 


Wir wissen ferner, daß die Verdunkelungsschwankung an jeder Stelle 


ihres Aufstiegs unterbrochen werden kann, die Belichtungsschwankung 


dagegen, einmal im Aufstieg begriffen, nicht mehr gestört werden kann. j 


Auch das stimmt mit der Tätigkeit der Zapfen als Vermittler unserer 


Lichtempfindung gut überein, da wir wissen, daß das positive Nachbild # 
Exners (das metaphotische Bild Stiglers) einen sehr kurzen Licht- 


reiz überdauert und in der Intensität noch im Anstieg begriffen ist, wenn 
der Lichtblitz längst vorüber ist. Dafür wird uns die Hypothese Pipers, 
welche in der kurzen und spitzen Änderungsschwankung die Zapfen- 
erregung zu erkennen glaubt, keinen Anhaltspunkt geben, wohl aber unsere 
Anschauung, welche in der steil aufsteigenden B(elichtungs)schwankung 
das physiologische Korrelat der einfachen Lichtempfindung sehen will. 


So fällt denn auch die Schwierigkeit für Ishihara hinweg, die große 


Latenz der Belichtungsschwankung (0-2 Sek.) mit der Veränderungs- 
empfindung zusammenzubringen. Denn eine der ersten psychophysischen 
Fragen ist wohl die: Ist die Latenz der Lichtempfindung (Veränderungs- 
empfindung) wohl größer als die der ersten Schwankung des Netzhaut- 
stromes? Denn, wenn dies nicht der Fall wäre, müßten wir darauf ver- 


DIE PHYSIOLOGISCHEN VORGÄNGE IN DER NETZHAUT USW. 163 


zichten, die Lichtempfindung und den Netzhautstrom überhaupt in eine Be- 
ziehung zu setzen. Wir wissen aber, daß die Latenz der Änderungsschwankung 
(0-01 Sek.) sehr gut zusammenstimmt mit der Latenz der Empfindung, so 
daß auch dieses Bedenken beseitigt werden kann. Darauf hinweisen will ich, 
daß auch die Untersuchungen der Astronomen über Reaktionszeit — Ein- 
thoven und Jolly berichten davon — damit recht gut übereinstimmen. 

Von einer Schwankung habe ich bisher nicht gesprochen, das ist 
die Helligkeitsschwankung. 

Die Tatsache, daß sie bei schwachen Reizen, welche aber sicher eine 

„ Licehtempfindung erregen, nicht auftritt, beweist, daß sie mit der Licht- 

empfindung selbst nichts zu tun hat. Diese Anschauung wird unterstützt 
durch die Tatsache, daß die Helligkeitsschwankung langsam und träge 
abläuft und viele Sekunden, nachdem der Lichtreiz längst erloschen ist, 
noch andauert, zu einer Zeit, in der auch die primäre Empfindung (das 
metaphotische Bild) längst abgeklungen ist. 
Da diese Schwankung ferner bei Tieren fehlt, welche nur Zapfen in 
der Netzhaut haben, ferner bei helladaptierten Fröschen auch vermißt 
wird, stelle ich die Hypothese auf, daß es die Zersetzung und Regene- 
ration des Sehpurpurs ist, deren photoelektrisches Korrelat 
wir in der Helliskeitsschwankung nachweisen können. 

Gerade bei den Tieren, welche keine Stäbchen in ihrer Retina haben — 
der Sehpurpur befindet sich in den Außengliedern der Stäbchen —, z. B. 
bei Schildkröten, fehlt diese Schwankung ganz. Aber nicht nur bei Fröschen, 
welche gut hell adaptiert sind, fehlt bei Lichtreizen die Helligkeitsschwan- 
kung, auch bei den Vögeln kann man Ähnliches bemerken. 

Die Helligkeitsschwankung, auf welche sich bei den Nachtvögeln 
recht deutlich Belichtungs- und Verdunkelungsschwankung aufsetzen, 
fehlt bei den Tagvögeln, bei denen in der Retina vor allem Zapfen vor- 
kommen, fast vollständig. Man sieht also, daß die Helligkeitsschwankung 
nur dort vorkommt, wo auch die Stäbchen und zwar die nicht ausgebleich- 
ten Stäbchen in Tätigkeit geraten. 

Wir meinen nachgewiesen zu haben, daß die Sinnes- 
tätigkeit der Stäbchen sich in der Änderungs- und Ver- 
dunkelungsschwankung zu erkennen geben. Es kommt also 
vor allem ein Prozeß in den Stäbehen in Betracht, welcher nicht direkt 
mit der Sinnestätigkeit in Beziehung steht. 

Außerdem liest das Maximum der Helligkeitsschwankung je nach den 
verschiedenen Wellenlängen des Reizlichtes fast genau an derselben Stelle, 
an der das Maximum der Energieabsorption des Sehpurpurs liegt. Es 
muß sich also ein Prozeß abspielen in den nicht ausge- 

11 


164 LOTHAR TIRALA: 


bleichten Stäbchen, der nicht direkt mit der Sinnestätig- 
keit zusammenhängt. 

Ich glaube daher ein hypothesis bene fundata auszusprechen mit den 
Worten: Die Helligkeitsschwankung ist der physiologische 


Ausdruck der Zersetzung des Sehpurpurs durch das Licht 


und seiner Wiederneubildung im Dunkeln. 

Wir kommen zum Schlusse. 

Ich gebe ein Schema des Netzhautstromes, den man nach meiner 
Untersuchung vielleicht richtiger mit dem Worte Sinnesepithelstrom 
bezeichnen könnte. 


Zapfen Stäbchen 
B 4A V A= Änderungsschwankung 
B = Belichtungsschwankung 
V = Verdunkelungsschwankung 
4 H=Helligkeitsschwankung 
Dunkel Stäbchen Licht Dunkel 
Fig. 23. 


Die Tätigkeit der Stäbchen wird sich also in einer kurzen negativen 
Schwankung bei Belichtung und einer positiven bei Verdunkelung kund 
tun und beim Menschen die Bewegungs- und Veränderunssempfindung 
vermitteln und beim Dämmerungssehen einen großen Teil der Lei- 
stung, wenn nicht alle übernehmen. Isoliert würde diese Schwankung im 
Schema sich so darstellen: 


Reaktion der Stäbehen: Auf 


BE ER Lichtreiz 
ea Dunkelreiz Lieht 


Fig. 242. Fig. 24b. 


) 
Reaktion der Zapfen auf Licht. 


Die Tätigkeit der Zapfen würde sich in einem Teilstrom kundtun, 
wie wir es hier auf Schema B wiedergeben und würde uns die Licht- 
empfindung vermitteln. 


= 


Dunkel Licht Dunkel 
Fig. 24c. 


DIE PHYSIOLOGISCHEN VORGÄNGE IN DER NETZHAUT USW. 165 


Die Zersetzung des Sehpurpurs durch Licht und seine Regeneration 
würde isoliert sich in der Kurve C wiederspiegeln. 

Die Deutung des Netzhautstromes als einer Resultierenden ver- 
schiedener Teilströme ist also auch bei meiner Hypothese beibehalten, 
nur versuchte ich an Stelle der hypothetischen Sehsubstanzen die wohl- 
charakterisierten Strukturelemente der Sinnesepithelschicht als Erreger 
der Teilströme hinzustellen, nachdem ich nachgewiesen zu haben vermeine, 
daß der Netzhautstrom nur in dieser Schicht entsteht. 

Bei meinen Versuchen habe ich nicht den Gedanken aus dem Auge 
verloren, vielleicht eine ungleichmäßise Empfindlichkeit der Stäbchen und 
Zapfen gegen chemische Substanzen zu finden und dadurch auf chemischem 
Wege die Leistung der Stäbehen und Zrpfen auseinander zu halten und 
konnte tatsächlich zeigen, daß bei der Chloroformnarkose zuerst die 
Belichtungsschwankung verschwindet; die Zapfen, deren Tätigkeit ich 
für diese Schwankung in Anspruch nehme, würden also zuerst der Nar- 
kose erliegen, erst dann würden die Stäbchen ausgeschaltet. Eine 
ganz geringe Verschiedenheit in dem chemischen Aufbau der Stäbchen 
- und Zapfen könnte die Ursache davon sein. 

In ähnlicher Weise wäre die Wirkung des Strychnins zu deuten. Diese 
- Substanz, welche die Verdunkelungsschwankung vergrößert, würde mithin 

-elektiv die Empfindlichkeit der Stäbchen steigern. 

Ich bin mir wohl bewußt, hier auf einem Boden zu stehen, wo be- 
‚obachtete Tatsachen und hypothetische Annahmen ineinander verschränkt 
sind. 

Vielleicht gelingt es auch hier, durch neue Beobachtungen und Tat- 
sachen diesen’ Boden zu stützen. 


Zum Schlusse ist es mir eine angenehme Pflicht, meinen ergebenen 
Dank abzustatten Herrn Hofrat Sigm. Exner für die Anregung und das 
Interesse, das er meiner Arbeit stets entgegenbrachte und Herrn o. ö. 
Professor Dr. C. Schwarz, dem damaligen Assistenten des Institutes, 
welcher mir in allen technischen Fragen stets mit Rat und Tat beige- 
standen ist. 


166 LOTHAR TIRALA: 


Literaturverzeichnis. k 


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DIE PHYSIOLOGISCHEN VORGÄNGE IN DER NETZHAUT USW. 167 


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168 LOTHAR TIRALA: 


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Derselbe, Chronophotische Studien über den Umgebungskontrast. Ebenda. 
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Derselbe, Quantitative Untersuchungen über die Bleichung, des Sehpurpurs 
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Derselbe, Über das Vorkommen von Sehpurpur und Netzhautstäbchen. 
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Derselbe, Die Kennzeichen des Lebens vom Standpunkt elektrischer aa R 


suchungen. Übers. Berlin 1905. 
Derselbe, Note on the latency of the Photoelectrical Response of the F'rogs F | 
Retina before and after massage of the eyeball. With two figures in the text. 5 
A. Westerlund, Eine Modifikation der unpolarisierbaren Blektroden für Ver-- 
suche mit dem Aktionsstrom des Auges. = 
Derselbe, Einige Beobachtungen über die photoelektrische PotentiaWverteilung 
an der Oberfläche eines isolierten Froschauges. 


DIE PHYSIOLOGISCHEN VORGÄNGE IN DER NETZHAUT usw. 169 


| Erklärung der Abbildungen. 
(Tafel I.) 


Fig.1. Netzhautstrom eines enukleierten Auges auf Lichtreiz. Ohne positive 
Verdunkelungsschwankung. Zeitschreiber markiert je !/, Sekunde. Dunkelfrosch 
im Juni. Reizdauer markiert durch Verschiebung der weißen Linie. Von linke 
nach rechts lesen. ; 


Fig.2. Netzhautstrom eines enukleierten Auges, welches sich bereits einige 
Minuten in Chloroformatmosphäre befindet. Noch keine Abschwächung der photo- 
elektrischen Reaktion. Dunkelfrosch im Winter. Von rechts nach links zu lesen. 


Fig.3. Netzhautstrom. Auge eines narkotisierten Dunkelfrosches. Etwa 
!/, Stunde in Ätheratmosphäre. Verlängerung der Latenzzeit der Belichtungs- 
schwankung etwa ?/, Sekunden. Die Latenz der Verdunkelungsschwankung sehr 
gering. Dunkelfrosch im Winter. Von rechts nach links lesen. 


Fig.4. Netzhautstrom eines enukleierten a normal. Dunkelfrosch im, 
Juni. Von links nach rechts lesen. 


Fig: 5. Netzhautstrom eines enukleierten Auges bei intermittierender Reizung. 
Die Verschmelzungsfrequenz ist nicht erreicht, jeder Belichtung entspricht eine 
positive Stufe. Dunkelfrosch im Winter. Von rechts nach links lesen. 


Fig.6. Netzhautstrom eines enukleierten Auges bei zweimaliger Reizung je 
1 Sekunde. 15 Minuten in Chloroformatmosphäre. Bei der zweiten Reizung deut- 
liche Verkleinerung der Belichtungsschwankung, Verdunkelungsschwankung unver- 
‚ändert. Dunkelfrosch im Winter. Von links nach rechts lesen. 


Fig.7. Netzhautstromkurve eines enukleierten Auges in Ätheratmosphäre. 
Die Belichtungsschwankung ist allein übrig geblieben. Dunkelfrosch im Sommer. 
Von rechts nach links zu lesen. 


Zeichenerklärung. 
Es bedeuten überall: 
A = Änderungsschwankung. 
B = Belichtungsschwankung. 
H = Helligkeitsschwankung. 
V = Verdunkelungsschwankung. 


‚Alle schematischen Kurven sind von links nach rechts zu lesen. 


Krümmung und Rippenpfannen der Brustwirbelsäule. 
Von 


Hans Virchow 
in Berlin, 


(Mit 10 Figuren im Text.) 


Einleitung. — Eines Tages lagen zufällig, als Reste von Präpara- 


tionen des Situs thoracis, zwei Brustwirbelsäulen, noch verbunden mit 


den hinteren Abschnitten der Rippen, nebeneinander, die eine sehr wenig 


‘gekrümmt, die andere ziemlich stark, aber doch nicht über die Grenzen 
des „„Normalen‘‘ hinaus, gebogen. Keine von ihnen bot an sich etwas Be- 


sonderes, etwas, was man nicht im Präpariersaalbetriebe häufig zu sehen ° 
bekäme; aber indem sie so nebeneinander liegend durch den Gegensatz - 
wirkten, belebten sie bei mir gewisse Vorstellungen, die mir schon längst - 


seläufig waren, und gaben diesen bestimmtere Form. 
Seitdem ich mich mit der Wirbelsäule beschäftige, habe ich immer 


wieder den Wunsch gefühlt, neben dem positiven Neuen, was ich etwa 
zur Kenntnis derselben beitragen könnte, die Frage der Wirbelsäule und - 
der Wirbelsäulenform von den Fesseln der Dogmatik, des Schematismus 


und der ‚Deduktion befreit zu sehen, in welche sie durch die Anatomen, 
welche sich vor 50, 70 Jahren mit ihr beschäftigten, geschlagen worden 
ist, und welche ihr noch immer anhängen. 


Der Grundfehler, welcher damals gemacht wurde, bestand darin, daß 


das Problem der Wirbelsäule ausschließlich als ein statisches Problem 


ee 


behandelt wurde. Nun ist es zweifellos eine bemerkenswerte Tatsache, 
daß der Mensch seinen Körper aufrecht, seine Wirbelsäule senkrecht 


trägt, und es ist gewiß, daß ebenso wie in anderen Verhältnissen seiner 


Organisation auch in der Wirbelsäule sich Bezüge auf die aufrechte Hal- 


tung finden. Aber die in wissenschaftlichen und auch sonstigen Dingen 


notwendige und selbstverständliche Kritik verlangt doch, daß man sich, 


| 


Pal En Se 


5 


KRÜMMUNG UND RIPPENPFANNEN DER BRUSTWIRBELSÄULE, 171 


sobald irgend ein Merkmal auf die aufrechte Haltung bezogen wird, frage, 
ob nicht dieses selbe Merkmal auch ganz anders erklärt werden könne. 
Wenn also ganz allgemein die eigentümlicke Krümmung der Wirbelsäule 
mit dem nach hinten konkaven Halsteil, nach hinten konvexen Brust- 
teil und wieder nach hinten konkaven Lendenteil aus der aufrechten Hal- 
tung erklärt wird, so läßt sich doch dagegen sofort einwenden, daß auch 
die vierfübigen Säugetiere, obwohl sie ihre Wirbelsäulen horizontal tragen, 
also eine ganz andere Statik haben, die gleiche Krümmung zeigen; nicht 
genau so wie der Mensch, wie sie sich ja auch untereinander nicht völlig 
gleichen; aber sie zeigen sie doch. Ist es da nicht natürlich, nach einer 
Begründung zu suchen, die für den Menschen und für die vierfüßigen 
Tiere in gleicher Weise gelten kann? Niemand, der nicht durch Gewohn- 
heit ganz in der einseitigen statischen Auffassung erstarrt und auf die- 
selbe eingeschworen ist, wird die Berechtigung dieser anderen Betrach- 
tung bestreiten. 

Ich nun finde einen Grund für die nach hinten gerichtete Konkavität 
der Lendengegend darin, daß die hier dickere Muskulatur günstigere Be- 
 dinsungen für die Wirkung findet, wenn sie in einer ausgehöklten Form 
liegt; und für die nach hinten gerichtete Konvexität der Brustgegend 

_ darin, daß die Wirbelsäule an der gewölbten Gestalt des Thorax Anteil 
nimmt. 

Das Letztere wird aufs klarste belegt durch die folgende anatomische 
Tatsache: die Querfortsätze sind an dem nach hinten ausgebogenen Teil 
der Brustwirbelsäule nicht einfach nach der Seite, sondern zugleich rück- 
wärts gerichtet, so daß, wie Henle es ausdrückt, eine Linie, welche die 
Spitzen der Querfortsätze verbindet, die Krümmung der Wirbelsäule über- 
treibt. Das heißt doch klar, daß die auf der Anwesenheit der Lungen 
beruhende Neigung zu kugeliger Abrundung auf die Rippen wirkt, daß 
diese die Querfortsätze rückwärts drücken, und daß die Wirbelkörper-- 
säule dem gleichen Einflusse zwar folgt, aber doch widerwillig folgt, woraus 
sich denn als logischer Schluß ergibt, daß die Wirbelsäule, wenn sie nicht 
durch den genannten Einfluß, indirekt also durch die Lungen, zur Aus- 
biesung genötigt wäre, gerade sein würde. 

Man sieht daraus, wenn es auf Logik ankommt, wenn man die Auf- 
gabe auf deduktivem Wege lösen will, daß man mit derselben Logik und 

Konsequenz bei ganz verschiedenen Schlüssen anlangen kann, je nach- 
- dem man die eine oder eine andere Hypothesis wählt. 
In dem anregenden und an feinen Beobachtungen reichen Buche von 


1 J. Henle, Handb. d. system. Anat. d, Menschen. 1. Bd. Knochenlehre, 
3. Aufl. 1871, 8.45. 


172 “ = Hans VIRCHOW: 


F. Treves und A. Keith (Deutsch von Mülberger)! heißt es: ,‚Die 
Wirbelsäule vereinigt in einer merkwürdigen Weise sehr verschiedene 
und komplizierte Funktionen. Sie dient dem Körper als der zentrale 
Pfeiler, welcher das Gewicht des Schädels trägt; sie vereinigt die oberen 
Sesmente des Körpers mit den unteren; an ihr setzen die Rippen an. 
Sie hat die Fähigkeit, Shockwirkungen, welehe von den verschiedensten 
Stellen des Körpers auf sie übertragen werden, abzuschwächen. Sie er- 
möglicht in einer wundervollen Art und Weise eine Anzahl der kompli- 
ziertesten Bewegungen und bildet schließlich ein solides Rohr, in vu 
das Rückenmark sich findet‘ (a. a. O. S. 448). 

Wieviel frischer, vielgestaltiger, der Wirklichkeit näher klingt dies, 
wie die Darstellung unserer älteren Anatomen, in welchen nur von der 
statischen Aufgabe die Rede ist! Und doch ist auch in den Ausführungen 


Er 


der genannten Autoren einiges zu beanstanden, namentlich das, was sie 


über die Entstehungen der Krümmungen der Wirbelsäule in Überein- 
stimmung mit früheren Auffassungen behaupten. 

Seit langem gibt es zwei „Erklärungen“ für die Form der mensch- 
lichen Wirbelsäule, eine teleologisch-mechanische und eine kausal-mecha- 
nische. Die teleologisck-mechaniscre vergleicht die Wirbelsäule mit einer 
Feder und sagt, daß sie als solche geeignet sei, die in senkrechter Rich- 
tung wirkenden Stöße und Erschütterungen elastisch aufzunehmen. Die 
kausal-mechanische Erklärung behauptet, daß die Wirbelsäule ihre Krüm- 
mungen durch die Belastung erhalte, welche die aufrechte Haltung mit 
sich bringt. 

Mechanische Erklärungen sind nicht immer sehr tiefsinnig — einer 
der Gründe für ihre Beliebtheit. Diejenigen aber, welche die beiden vor- 
benannten Erklärungen nebeneinander im Munde führen, haben sich wohl 
niemals gesagt, daß sie damit etwas Entgegengesetztes, ja sich geradezu 


' Ausschließendes behaupten, denn auf der einen Seite wird gesagt, dab 


die Wirbelsäule eine Gestalt habe, welche sie befähist, der Belastung in 
zweckmäßiger Weise zu widerstehen, und auf der andern Seite, daß sie 
gerade diese Gestalt durch die Belastung erhalte. 


Ich verschließe mich an sich keiner der beiden Betrachtungen. Ich 


gebe auf der einen Seite zu, daß die Federform, da sie einmal da ist, ge- 


eignet sein mag, Erschütterungen zu dämpfen, aber ich sehe in diesem 
Nutzen nicht die Ursache für die Form; und ich räume auf der andem 


EREEEHLLTT ER ZT Be 


1) 


EEE ZELL 


a 


Seite ein, daß die Belastung einen gewissen Einfluß auf die individuelle 


Gestalt haben kann; aber ich kann doch nicht an der allen Ärzten bekannten | 


1 Berlin 1914, 


KRÜMMUNG UND RIPPENPFANNEN DER BRUSTWIRBELSÄULE. 173 


Tatsache vorübergehen, daß gerade in solchen Fällen, in welchen dieser 
Einfluß am wenigsten gehemmt zur Geltung gelangt, schwere Störungen 
- der Form entstehen, daß also jedenfalls die Belastung allein nicht die 
normale Gestalt herbeiführen kann. 

Ich gebe in Figg. 1 und 2 zwei Wirbelsäulen in Eigenform, die eine 
die eines dreijährigen Kindes, die andere die eines Dreiundzwanzigjährigen. 
Dieselben sind, um sie vergleichbar zu macken, in verschiedenem Maße 
verkleinert, so daß sie auf dieselbe Länge gebracht sind. Man wird sich 
vergeblich bemühen, einen Unterschied in ihrer. Krümmung aufzufinden. 
Dabei stellen sie nichts Ungewöhnliches dar; weder ist die des Kindes 
besonders stark, noch die des Erwachsenen besonders wenig gekrümmt. 
Ich halte mich wenigstens nach den in meinen Händen befindlichen nach 
Eisenform aufgestellten Wirbelsäulen jugendlicher Erwachsener für be- 
reehtist, zu behaupten, daß eine so geringe Krümmung bei diesen nicht 
aus dem Typus herausfällt. 

Dagegen trifft man auf der anderen Seite an den Wirbelsäulen Er- 
wachsener, insbesondere am Brustteil derselben, sehr erhebliche Ver- 
_ schiedenheiten im Grade der Krümmung, neben gestreckten von der Art 
der eben vorgeführten, erheblich gebogene, äuch bei solchen Menschen, 
die nie an einer Krankheit der Knochen oder der Muskeln oder der Nerven 
selitten haben. 

Am häufigsten sind diese stark gebogenen Formen bei alten Leuten, 
ja sie sind hier geradezu als typisch zu bezeichnen. Daher müssen auch 
diese „„Alterskyphosen‘“ in die Untersuchung einbezogen werden, um letz- 
terer ihre natürliche Abrundung zu geben; und ich habe demgemäß auch 
die Wirbelsäule eines Greises in Figenform zusammensetzen lassen.! 

Sammelstellen derartiger runder Rücken sind die Altersheime und 
Pfründenanstalten, und dort kann man sich auch durch die Beobachtung 
der Lebenden eine ‘anschauliche Vorstellung von der Kausalität dieser 
Wirbelsäulenform verschaffen. Der alte Mensch, insbesondere wenn er 
_ von beschränkter Bildung, von beschränktem Intellekt ist, hat nur noch 

ein schwaches Interesse an der umgebenden Welt; er hat so vieles gesehen, 
‘oder richtiger, dasselbe so oft wiedergesehen, daß es ihn nicht mehr an- 
zieht; er dämmert dahin, den Blick vor sich auf den Boden gerichtet, 
“wozu ihn auch der Wunsch, bei der Unsicherheit seiner Bewegungen den 
Weg mit den Augen zu suchen, veranlaßt. Die Schwäche seiner Musku- 
latur ist nieht der einzige Grund, oft nicht einmal der Hauptgrund für 
seine fehlerhafte Haltung, sondern sein runder Rücken ist wesentlich 
durch seelische Momente bedingt. 


Ben, 
1 Berl. klin. Wochenschr. 1907. Nr. 39 u. 40. Fig. 2. 


HANS VIRCHOW: 


Fig. 1. Fig. 2. 
Halbierte Wirbelsäule eines dreijährigen Halbierte Wirbelsäule eines 23 jährigen 
Mädchens in Eigenform. Mannes in Eigenform, 


KRÜMMUNG UND RIPPENPFANNEN DER BRUSTWIRBELSÄULE. 175 


"Was uns beim Greisenrücken in typischer Weise entgegentritt, kommt 
nun aber auch bei Leuten, welche ihrem Lebensalter nach noch weit vom 
Greisenzustand entfernt sind, außerordentlich häufig vor, ja nimmt seinen 
Anfang oft schon bei Jugendlichen, sogar bei Kindern. Diese Form kann 


als „Nachlässickeitskyphose‘“ bezeichnet werden. Lebensweise und Be- 
sehäftigung begünstigen dieselbe (‚Beschäftigungskyphose‘‘). Für den 


Anatomen kommt besonders der ‚„Mikroskopikerrücken‘ in Betracht, für 
welchen ich mehrere charakteristische Beispiele aus meiner persönlichen 
Bekanntschaft anführen kann. 


Aus den vorausgehenden, Betrachtungen ergibt sich die wichtige Be- 


- merkung, daß die Eigenform der jugendlichen Wirbelsäule, obwohl letztere 
- weicher, biegsamer ist, doch eine mehr gerade ist, daß dagegen die Eigen- 
form der älteren Wirbelsäule, obwohl diese steifer, starrer und daher besser 


geeignet ist, von sich aus der Belastung. zu widerstehen, doch stärker 
gekrümmt ist. 

Übrigens äußert sich das Verständnis für diese anatomische Tatsache 
durchaus im praktischen Leben. Wenn Eltern und Erzieher den ihnen 


 anvertrauten Kindern zurufen: „‚Haltet euch gerade!“, so bekunden sie 


‚damit ein Verständnis dafür, daß die noch nachgiebige und daher den 
Verunstaltungen durch Belastung besonders ausgesetzte Wirbelsäule des 
Kindes in verstärktem Maße einer Überwachung durch die Muskeln be- 
darf. Was der Anatom hinzuzutun hat, ist, daß er durch Feststellung 


der Eigenform der Wirbelsäule und ihrer mechanischen Eigenschaften 


der Betrachtung einen festen und klaren Kern verschafft. Die Anatomen 


haben jedoch diese Aufgabe nicht erfüllt. Anstatt von Hunderten von 


Wirbelsäulen Jugendlicher und Erwachsener die Eigenform festzustellen 
und sie der Analyse zu unterwerfen, haben sie, im Kielwasser Hermann 


von Meyers weitersegelnd, den kraftlosen Phantomen einer ‚„Normal- 
haltung‘ und „natürlichen Haltung‘ nachgejagt und sind in der Ver- 
wirrung, welche schon von Anfang an durch diese Begriffe herbeigeführt 


_ worden war, verstrickt geblieben. 


- Von den Abschnitten der Wirbelsäule hat der Brustteil noch ein be- 
sonderes Interesse wegen der Beziehung zu den Rippen. Wenn zwei Brust- 
wirbelsäulen erheblich verschiedene Krümmungen haben, so kann dies 


- nicht ohne Einfluß bleiben auf das Verhältnis zu den Rippen. Rein logisch 


betrachtet ist zweierlei möglich: Entweder bleibt der Ansatz der Rippen 
an die Wirbelsäule der gleiche, dann müssen die vorderen Enden der 
Rippen bei der geraden Wirbelsäule auseinander gespreizt, bei der ge- 
bogenen zusammengedrängt sein, oder die Beziehungen der Rippen zu- 


176 Hans VIRCHoW: 


einander bleiben die gleichen; dann müssen diese an die gerade Wirbel- 


säule anders wie an die gebogene ansetzen. 

Tatsachen, Betrachtungen und Fragen der im vorausechenden er- 
wähnten Art und noch andere, auf welche ich hier nieht eingehe, um 
nicht die Einleitung zu dehnen, steckten mir schon lange im Sinne und 
verlangten Gestaltung und Verknüpfung. Die Aufforderung dazu trat 
mir besonders lebhaft entgegen, als zufällig die beiden oben erwähnten 
Brustwirbelsäulen nebeneinander lagen. ke 

Indem ich dieser Aufforderung folge, kann es sich aber. doch nur 
darum handeln, die in Betracht kommenden Probleme zu klären und 
voneinander abzugrenzen. Von einer endgültigen Lösung der Aufgaben 
kann noch lange nicht die Rede sein; dazu sind dieselben viel zu aus- 
sedehnt und viel zu verwickelt. 

Aufgaben. — Ich habe es in vorliegender Arbeit hauptsächlich mit 
zwei Aufgaben zu tun, die sich in folgender Weise bezeichnen lassen: 
erstens Beziehungen zwischen der Form der Wirbelkörper und der Ge- 
stalt der Wirbelsäule, und zweitens Beziehungen zwischen den u 
pfannen und der Gestalt der Wirbelsäule. 

Material. — Die beiden Wirbelsäulen, welche die Grundlage meiner 


Besprechung bilden, sind in Figg. 3 und 4 dargescellt. Es sind hier die 
Wirbelhälften nach der Mazeration in Eigenform vereinigt. Das Charak- 


teristische der Gestalt tritt noch schärfer hervor, wenn man nur die Vorder- 
seiten auf Papier überträgt und von der oberen Kante von t.1 zur unteren 
Kante von t:12 eine Gerade als Sehne zum Bogen zieht (Figg. 5 u. 6). 
Wesentlich gesteigert wird das Verständnis dieser Figur dadurch, daß man 
von der Sehne ein Lot zu der Bandscheibe zwischen 6. und 7. Brustwirbel 
zieht. Die Sehne mißt an der geraden Säule 257 mm (die Summe der 
vorderen Höhen der Wirbelkörper 227,5 mm), an der gebogenen Säule 
244 mm (die Summe der vorderen Höhen der Wirbelkörper 236 mm); 
das Lot bei der geraden Säule 18 mm, bei der gebogenen 42 mm; der 
Index von Sehne und Lot, wobei die Sehne gleich 100 mm gesetzt ist, 
bei der geraden Säule 7, bei der gebogenen 17-2 

Gegenüber diesen Unterschieden beider Säulen gibt es hen auch 


Übereinstimmungen. Setzt man die Sehne in beiden Fällen gleich 100° 


und rechnet den oberhalb und den unterhalb des Lotes gelegenen Abschnitt 
daraufhin um, so ergibt sich Gleichheit, wie folgende Zahlen zeigen: 


Rohzahlen. 
Gerade Säule Gebogene Säule 
Oberes Stück der Sehne 113mm 109 mm 


Unteres „, {4 5 144 „, 135 % 


KRÜMMUNG UND RIPPENPFANNEN DER BRUSTWIRBELSÄULE. 


177 


Umpgerechnete Zahlen. 


Oberes Stück der Sehne 
Unteres ,, En ia 


Fig. 3. 
Die wenig gekrümmte Brustwirbel- 
säule (nebst 7. Halswirbel und den 
3ersten Lendenwirb.)in Eigenform. 


Archivf.A.u.Ph. 1917. 


Physiol. Abtle. 


Gerade Säule Gebogene Säule 
44 45 
56 Kahn 55 


Fig. 4. 

Die stark gekrümmte Brustwirbelsäule 
(nebst den 2 letzten Hals- und 3 ersten 
: Lendenwirbeln) in Eigenform. 

12 


178 Hans VIRCHoW: 


Die Sehne wird also durch das Lo; in beiden Fällen gleich geteilt. Ferner 
trifft in beiden Fällen das Lot den Scheitel des Bogens, und in beiden 
Fällen unterscheiden sich der obere und der untere Abschnitt des Bogens 
in gleicher Weise dadurch, daß das obere Bogenstück stärker und das 
untere flacher gekrümmt ist. 


L 


=. 


| 

l 
| I 
| | 
| | 
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} 
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Sı 4 gl 
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9. 
{ | 
| | 
6. | | 
18 Mm \ 6. 
SU ee] 42 Mm | 


; S 
> 
735 Mm 


} 
nu mm — m — m -— - - - — zoo. oo oo _o 


I0, 
| nm, 
72. 72. 
} 
Fig. 5. Fig. 6. 


Vorderseite der in Fig. 3 dargestellten Vorderseite der in Fig. 4 dargestellten 
Brustwirbelsäule nebst Sehne zu dem Brustwirbelsäule nebst Sehne und Lot 
durch dieselbe gebildeten Bogen und Lot wie in Fig. 5. 

vom Scheitel des Bogens auf die Sehne. 


KRÜMMUNG UND RIPPENPFANNEN DER BRUSTWIRBELSÄULE. 179 


Daß es sich so in allen Fällen verhalte, soll damit nicht gesagt werden; 
aber es kommt ja hier nicht darauf an, auf Grund einer festgestellten 
Methodik Untersuchungen an einem Material zu machen, über welches 
wir etwas Bestimmtes erfahren wollen, sondern vielmehr, die Methodik 
zu finden und zu prüfen, welche uns in den Stand setzen soll, das Mateıial 
zu sammeln und zu analysieren. 

Ich werde die beiden Säulen, wie es schon im Vorausgehenden ge- 
schehen ist, der Kürze halber als „gerade Säule“ und als „gebogene Säule‘ 
bezeichnen und hoffe, daß daraus keine Mißverständnisse hervorgehen 
werden. Insbesondere bemerke ich, dab die zweite Säule nicht etwa für 
die Untersuchung künstlich gebogen wurde, sondern daß sie sich so ver- 
fand, wie sie in der Fig. 2 dargestellt ist. 

Das Material ist kein gutes, insofern als es nicht von frischen Leichen 
senommen wurde. Die letzteren waren vorher injiziert und aufbewahrt, 
also in einem gewissen Grade der Härtung. Außerdem ist der Situs tho- 
racis beim Präpariersaalbetriebe immer das letzte, was an die Reihe 
kommt, und er ist, da die Studierenden ihren Gewohnheiten gemäß mit 
dem Material nicht sehr achtungsvoll umzugehen pflegen, der Gefahr der 


Trocknung ausgesetzt. Die ‚.Eigenform“, welche bei einer strengeren 
4 o 


Untersuchung zugrunde gelegt werden müßte, ist also in diesen Fällen 


nicht voll gewährleistet. Ich will auch noch hinzufügen, daß ich nichts 


über Lebensalter, Konstitution und Todesursache anzugeben weiß. Ahker 


"alle diese Mängel verringern nicht den Wert der beiden Wirbelsäulen für 


_ meine Zwecke, wie sie im vorausgehenden gekennzeichnet sind. 


Methode. — Ich habe die Methode zur Hilfe herangezogen, welche 


"ich schon oft für Wirbeluntersuchungen angewendet habe, die Aufstellung 


“ nach Form. Obwohl ich diese Methode schon beschrieben habe, so muß 


durch Stifte vereinigt; 


ich es doch hier wieder tun, um damit dem Leser die nötigen Grundlagen 
für die Kritik zu bieten Die Methode besteht in Kürze aus folgenden 
Bestandteilen: 

a) Die Knochen werden so weit sauber geschabt, daß man eine scharie 
RBorm gewinnen kann, jedoch unter sorgfältiger Schonung der Bänder; 

b) es wird Gipsform genommen; 

e) die Knochen werden durch Mazeration getrennt und gesäubert; 

d) an den isolierten Wirbeln werden die nötigen en und 
Messungen gemacht und verzeichnet; 

e) die einzelnen Wirbel werden mit der Laubsäge beiden 

f) je eine Wirbelhälfte wird in die Form eingelegt und mit den übrigen 


12* 


180 Hans VIRCHow: 


g) falls es für den besonderen Zweck der Untersuchung erforderlich 
ist, auf den Schnittflächen Orientierungslinien oder Meßmarken anzu- 
bringen, so werden die Schnittflächen mit einem Überzuge versehen, auf 
welchem man mit scharfem Strich schreiben kann, Zu diesem Zwecke 
werden zuerst die Räumchen der Spongiosa mit einem Gemisch von Gips 
und Leim ausgeschmiert und dann die Fläche mit Zinkweiß über- 
strichen. 

Mängel der Bildung. — Bevor ich an meine Aufgabe herangehe, 
muß ich noch eine Angelegenheit besprechen, welche für die kritische 
Beurteilung von Messungen an der Wirbelsäule von der größten Bedeutung 
ist. Schon vor Jahrzehnten, sobald man überhaupt anfing, genauere, 
d.h. messende Untersuchungen an der Wirbelsäule zu machen, hat man 
es mißbilligend vermerkt, daß vielfach an den Wirbeln kleinere und 


größere „Fehler de” Ausführung“ vorkommen, durch welche die Zuver- = 


lässigkeit der Maße beeinträchtigt wird. Solche Fehler trifft man in der Tat 
überreichlich. Kein Teil der Wirbel ist von ihnen frei; sie finden sich an 


Körpern, Bogen, Dornfortsätzen, Querfortsätzen, Gelenkfortsätzen, Rippen- 


pfannen. Bedenkt man, daß die Unterschiede von Wirbel zu Wirbel sich 
z. T. nur in Bruchteilen von Millimetern bewegen, und daß die Fehler 1 
oder 2 oder selbst mehr Millimeter betragen können, so wird begreiflich, 


daß durch die hierdurch hervorgerufene Unsicherheit die Einsicht in manche 


feinere Verhältnisse verhindert wird, und daß man wohl schon tiefer in 


das Verständnis der Wirbelsäule eingedrungen wäre, wenn solehe Fehler 


nicht beständen. Ich werde von diesen Unvollkommenheiten im folgenden 


so weit sprechen, als es durch die Absichten der vorliegenden Arbeit ge- 
boten ist. Ich bemerke nur noch das Eine, daß, wenn man von Fehlern 
der Ausführung spricht, damit nicht gesagt sein soll, dab es sich um an- = 
geborene Fehler handelt oder solche, welche durch die Anlage gegeben 
sind. Solche mögen wohl auch gelegentlich vorkommen; die meisten aber 


sind erworben, im späteren Leben entstanden. Das geht schon daraus 


hervor, daß sie an jugendlichen Wirbelsäulen seltener sind, während wohl a 


keine etwas ältere Wirbelsäule davon gänzlich frei ist. 


A. Beziehung zwischen Höhen der Wirbelkörper und Gestalt — 


der Brustwirbelsäule. 


Man wird es für selbstverständlich halten, wenn man die vorderen © 
und hinteren Höhen an den einzelnen Wirbelkörpern mißt, die Differenzen 


der vorderen und hinteren Höhen ausrechnet und alle Differenzen zu- 


sammenzählt, daß dann die Summe der letzteren bei der gebogenen Säule 


KRÜMMUNG UND RIPPENPFANNEN DER BRUSTWIRBELSÄULE. 181 


größer ist wie bei der geraden. Wir werden sehen, wie es damit in unserem 
Falle steht. 


Gerade Wirbelsäule Gebogene Wirbelsäule 
vordere | Mater | Dierens | maräbre | Matere | Diteren 

mm mm mm mm mm mm 

t.1 14 16 | 2 | 16 17-5 | 1-5 
2 17 17 0 17 18 1 

3 15-5 18 2° 18 17-5 —0°5 

4 17.5 13-5 1 19 18-5 — 0.5 
5 18 19 1 18-5 | 20-5 2 
6 18 20 2 20 20 0 
7 19 21 2 18-5 21-5 3 

8 20 21 1 16 21-5 5.5 
9 21 20 —1 22 19 —3 

10 22 21 —ı 24-5 21 —3:5 
11 22.5 22-5 0 | 24 22 —2 
ı2 | 28 24.5 1-5 | 22-5 26-5 4 

Summen der Differenzen 11 7-5 


Die Summe der Differenzen ist also an der gebogenen Säule geringer 
als an der geraden. Dieses paradoxe Ergebnis ist der Hauptsache nach 
durch einen Umstand bedingt, welcher schon beim Messen an den nicht 
halbierten, also auch noch nicht in Form zusammengesetzten Wirbeln 
bemerkt wurde, nämlich durch mediane senkrechte Einkerbungen an 
den hinteren oberen Rändern der Wirbelkörper der acht ersten Wirbel; 
außerdem durch Erhebungen an den vorderen Kanten. 

Ein solcher Befund müßte niederschlagend wirken, wenn man auf 
denselben bestimmte Schlüsse begründen wollte. Man denke nur, daß 
nieht vorher die Formen genommen wären, und daß man aus den Diffe- 
renzen der Höhen die Krümmung der Säule berechnen oder konstruieren 
wollte; man würde doch unfehlbar die gerade. Säule für die stärker ge- 
bogene und die gebogene für die weniger gekrümmte halten müssen. Für 
die vorliegende Untersuchung aber, welche kritische Zwecke verfolgt, ist 
der Befund nicht unerwünscht, sondern im Gegenteil mit Freude zu be- 
srüßen, weil er zur Vorsicht mahnt und daraufhin führt, die Beziehungen 
zwischen den Höhen und der Gestalt der Säule schärfer ins Auge zu fassen. 

'R. Martin hat in seinem Lehrbuche der Anthropologie darauf auf- 
merksam gemacht, daß durch Knochenwucherungen an den vorderen 
Kanten der Wirbelkörper die sagittalen Maße vergrößert werden können.! 


I R. Martin, Lehrbuch der Anthropologie. Jena 1914. S. 897. 


182 Hans VIRCHow:. 


Dies ist aber nur einer von den Punkten, die zu beachten sind, und nur 
der gröbste. Was hier zu erwähnen ist, ist viel mannigfaltiger: die Auf- 
lagerungen auf die vorderen Kanten ragen nicht nur vorwärts, sondern 
auch aufwärts, vergrößern also nicht nur die Dieke, sondern auch die 
Höhe; es werden nicht nur Erhöhungen der vorderen Ränder, sondern 
auch Erniedrigungen derselben getroffen, wie z. B. die „„Abwetzung‘“, auf 
welche ich bei früheren Gelegenheiten die Aufmerksamkeit gelenkt habe; 
es kommen nicht nur Veränderungen an den vorderen Rändern, sondern 
auch solche an den hinteren Rändern vor, wie soeben von unserer ge- 
bogenen Säule mitgeteilt wurde; die Veränderungen betreffen nicht nur 
die Ränder, sondern auch die Wirbelkörper in ihrer ganzen Höhe bzw. 
die mittleren Abschnitte derselben. Daraufhin müssen wir unser Material 
noch etwas genauer mustern. 

An der Abbildung unserer ze him Säule (Fig. 4) ist leicht zu sehen, 
daß die Keilform der Wirbelkörper am stärksten an t. 8 und 2.1 hervor- 
tritt. Dies spricht sich scharf in den Maßen aus. 


Sch 
Vordere Höhe Hintere Höhe Differenz 
Gerade Säule 20 mm 21 mm 1 mm 
Gebogene Säule 16 „, DIDI HD 
\ 
Lidl: 
Vordere Höhe Hintere Höhe Differenz 
Gerade Säule 25mm 25:5 mm 0:5mm 
Gebogene Säule 20 „, 21, 31025 Ti 


Dabei ist zu bemerken, daß, wie oben gesagt, an i. 8 der gebogenen »äule 
der hintere Rand eingekerbt- ist, ohne welchen Umstand die Differenz 
noch größer wie 5-5 sein würde. Hier liegen also anscheinend Abnahmen 
der vorderen Höhen vor im Körper selbst, welche durch Erniedrisung 
infolge fehlerhafter Haltung zustande gekommen sind. Ob nun gerade 
die beiden genannten Wirbel, 2.8 und 2.1, häufiger von solchen Ver- 


änderungen betroffen sind wie andere Wirbel, müßte durch den Vergleich 


mit anderen Fällen entschieden werden. 
Was die Veränderung der sagittalen Durchmesser der Wirbelkörper 
durch die Haltung der Wirbelsäule betrifft, so ziehe ich hier eigene frühere 


- 


RR 


ae ” Bun sc A De 
EENELUUTWRT REN DE WERT LTERE IE 


= nn Sr 


22 


a zB 


Mitteilungen heran: einerseits die senilkyphotische Brustwirbelsäule, bei 


1 ‚Über den Lumbar-Index“ in Zeitschr. f. Ethnol. 1914. S. 146—154; vgl. 
dort 8.151; und ‚‚Abwetzung an den Endflächen der Wirbelkörper“. Berl. klin. 
Wochenschr. 1916. Nr. 38. 


zz 


KRÜMMUNG UND RIPPENPFANNEN DER BRUSTWIRBELSÄULE. 185 


welcher der sagittale Durchmesser vergrößert ist (a. a. O.), andrerseits 
die lordotische Brustwirbelsäule, bei welcher die sagittalen Durchmesser 
der Wirbelkörper verkleinert sind (a. a. O.). Namentlich das letztere ist 
so ungemein auffallend, daß sich darin eine starke Abhängigkeit der Maße 
von den Belastungsbedingungen ausspricht. Ich habe deswegen auch im 
vorliegenden Falle auf diesen Umstand geachtet, habe aber keinen sicheren, 
wenn auch möglichen Einfluß der Belastung auf den sagittalen Durch- 
messer feststellen können. Das zeigen die folgenden Angaben. Ich habe 
mich dabei auf drei Wirbel beschränkt, je einen vom oberen Ende, vom 
unteren Ende und aus der Mitte der Reihe, welche auch an der gebogenen 
Säule frei von Verdiekungen der vorderen Ränder und dadurch für ge- 
naue Messung geeignet waren. Die Bestimmungen sind an den oberen 
Endflächen gemacht. 


4 


Sagittaler Durchmesser. 
Gerade Säule Gebogene Säule 


a2 185 mm 20:5 mm 
lneı 2debr 30 cn 
1.2 3l°5 38 5 


Rechnet man dies um auf Indizes und setzt man dabei jedesmal die 
Dicke des Wirbels der geraden Säule gleich 100, so beträgt die der Wirbel 
der gebogenen Säule bei 


t. 2 113-9 
IT 117-6 
l.2 120-6 


Das sieht ja allerdings so aus, als nehme der sagittale Durchmesser 
nach unten hin, also mit zunehmender Belastung, bei der gebogenen Säule 
zu; aber es sind hier auch die Breitenmaße zu berücksichtigen. Diese 
betragen für die gleichen Wirbel, ebenfalls an den oberen Endflächen 
gemessen, bei der | 
ur geraden Säule gebogenen Säule 


für 2. 2 26-0 mm 25:5 mm 
| 28 > 32 „ 
1. 2 40-5 „, Alu, 


Hieraus ergeben sich die Indexzahlen, wenn man wieder die Maße der 
Wirbel der geraden Säule gleich 100 setzt, für die Wirbel der gebogenen 
Säule | 


184 Hans VIRCHow: 


Das ist zwar nicht ganz genau das gleiche wie vorher, aber doch etwas 
Ähnliches insofern, als der Index bei {.2 der Zahl 100 näher steht und 
sich bei den unteren Wirbeln weiter davon entfernt. Damit tritt die Er- 
wägung auf, ob es sich nicht um einen von vornherein anderen Typus 
handle, bei welchem die unteren Wirbel kräftiger sind wie bei der ge- 


raden Säule, die oberen aber in den Maßen mehr übereinstimmen; und 


damit wäre in unsere Betrachtung ein neuer Faktor eingeführt, der doch 
"auch, jedenfalls als Möglichkeit, Beachtung verdient und die schon so 
schwierige und so wenig durchsichtige SraE der DR noch 
weiter kompliziert. ‘ 

Und damit wende ich mich an die Adresse der Anthr cn. w irbel- 
körper messen ist leicht, und wenn man die Maße der einzelnen Wirbel 
zusammenschreibt, so erhält man schöne Tabellen. Aber diese Tabellen 
haben so lange ‚keinen Wert, als sie nicht kritisch gesichtet sind. Es ist 
jedoch sehr schwierig zu wissen, welche verschiedenen Umstände jedes- 
mal auf die Maße Einfluß haben, wie viele solcher Umstände es gibt und 
wie stark ihre Einwirkung in jedem Falle ist. Das Schlimmste aber ist, 
daß wir es gar nicht in der Hand haben, diese Einsicht durch scharfes 
Nachdenken zu erzwingen, sondern wir dürfen nur hoffen, daß uns bei 
fortgesetzter Beschäftigung mit dem Gegenstande allmählich die einzelnen 
Umstände beifallen werden. 


Höhen der Zwischenwirbelscheiben. — Wirbelkörper und 
Zwischenwirbelscheiben bilden zusammen die Wirbelkörpersäule. Daher 
verlangt die vorausgehende Betrachtung zu ihrer Ergänzung eine solche 
der Höhen der Scheiben, welche an unseren Präparaten wiedergegeben 
sind durch die Abstände zwischen den Wirbelkörpern. 

Messungen von Zwischenwirbelscheiben sind nur von wenigen Ana- 
tomen gemacht worden, und diese wenigen haben immer nur wenige Fälle, 
meistens deren nur einen untersucht. Daher kommt es, daß über Art 
und Zuverlässigkeit von Messungen an Zwischenwirbelscheiben keine klaren, 
gesichteten Vorstellungen bestehen. Mit dieser kritischen Aufgabe werde 


ich mich im folgenden beschäftigen, da die von mir geübte, im voraus- 


gehenden beschriebene Methode die Möglichkeit einer klaren Einsicht in 
die in Betracht kommenden Verhältnisse bietet, welche ohne dieselbe 
nicht besteht. 


Fehlermöglichkeiten. — Es gibt bei meiner Methode zwei Mög- 
lichkeiten zu Fehlern oder doch kleinen Ungenauigkeiten: 

a) es kann vorkommen, daß die Lager für die einzelnen Knock 
nicht hinreichend scharf und umfassend sind; 


. KRÜMMUNG UND RIPPENPFANNEN DER BRUSTWIRBELSÄULE. 185 


b) es kann sich ereignen, daß beim Zusammenstiften der Wirbel in 
der Form eine leichte Verschiebung durch Druck oder Schlag stattfindet. 

Solche kleinen Ungenauigkeiten sind zwar dann nicht störend, wenn 
man nur etwas über die Summe der Höhen aller Bandscheiben wissen 
will; denn wenn sich der Abstand eines Wirbels von dem einen Nachbarn 
vergrößert, so verkleinert er sich um ebensoviel von dem anderen. Die 
Fehler gleichen sich also vollkommen aus. Will man jedoch etwas Zu- 
verlässiges über die Höhen der einzelnen Zwischenwirbelscheiben wissen, 
so müssen Fehlermöglichkeiten ausgeschlossen werden, und das läßt sich 
auch in folgender Weise erreichen: nach dem Schaben, aber vor dem 
Formen, werden mittels des Drillbohrers durch jeden Wirbel zwei Boh- 
rungen in voneinander abweichenden Richtungen gemacht; dann, während 
die Wirbelsäule in dem Gips liegt und dieser bereits steif, aber noch nicht 
starr ist, werden die Bohrungen in die Form hinein fortgesetzt. Diese 
Bohrungen kann man dann benutzen, um nach dem Ausmazerieren die 
Knochen vollkommen sicher in ihrer Lage festzumachen. Nach dieser 
Verbesserung wird man sich hoffentlich um so mehr mit der Methode 
befreunden, wenn man sich von ihrer Unerläßlichkeit überzeugt hat. 

Die letztere zu erweisen ist meine nächste Aufgabe. 

An der frischen Säule lassen sich nur die vorderen Höhen der Zwischen- 
_ wirbelscheiben messen, aber nicht die hinteren, denn an diese kann man 
_ wegen der Bogen nicht herankommen; und auch die vorderen Höhen 
lassen sich nieht einwandfrei bestimmen aus zwei Gründen. Der eine 
derselben besteht darin, daß die Zwischenwirbelscheiben mit der Knochen- 
haut und mit dem vorderen gemeinsamen Längsband zusammenhängen, 
so daß es nicht möglich ist, die Grenzen so genau zu bestimmen, um auf 
Bruchteile von Millimetern messen zu können. Der zweite Grund läßt 
sich erst an den nach meiner Methode hergerichteten Präparaten mit 
völliger Klarheit erkennen, bzw. drängt sich erst dann mit solcher Deut- 
lichkeit hervor, daß man nicht an ihm vorbeikommen’ kann. Ich gebe 
in Fig. 7, um die Deutlichkeit noch zu steigern, die einander zugewendeten 
Abschnitte der Körper von t. 11 und t. 12 der geraden Säule in doppelter 
Vergrößerung. Die beiden schwarzen Marken zeigen die Stellen an, bis 
zu welehen an der Oberfläche die Zwischenwirbelscheibe reicht, und man 
wird nun sofort die schwierige Lage erkennen, in welcher sich derjenige 
befindet, der die vordere Höhe der Bandscheibe zu messen wünscht. 

Wären die Endflächen der Wirbelkörper eben und stießen dieselben 
mit der Mantelfläche in scharfen Kanten zusammen, so wäre über die 
Meßpunkte kein Zweifel. Aber beide Bedingungen sind nicht erfüllt: die 
Endflächen sind nicht eben, und der Übergang derselben in die Mantel- 


186 Hans VIRCHOW: 


fläche vollzieht sich in sanfter Rundung. Daher ergeben sich für die Mes- 
sung zwei Möglichkeiten: entweder man mißt an der Oberfläche, also in 
unserem Falle zwischen den beiden schwarzen Marken (Fig. 7), oder man 
'mißt etwas hinter der Oberfläche, dort, wo die Knochen sich am meisten 
annähern. In unserem Falle würde das eine Maß 7-5 mm und das andere 
3mm betragen. Man sieht wohl ein, daß es sich bei der Entscheidung 
nur um Vereinbarung handeln kann. Am richtigsten, d.h. am meisten 


logisch würde es wohl sein, sowohl die eine wie die andere Höhe zu messen , 


und das Mittel zwischen beiden zu nehmen, also in unserem Falle 5,25 mm. 


Fig. 7. 
Zwischenraum zwischen den Körpern des 11. und 12. Brustwirbels der in Fig. 3 
dargestellten Säule auf dem Medianschnitt, aufs Doppelte vergrößert. Die Schnitt- 
flächen sind mit einem Überzuge von Leim und Gips versehen, auf dem sich schreiben 
läßt. Die beiden schwarzen Marken bezeichnen die Grenze der Zwischenwirbel- ; 
scheibe an der Oberfläche. } 


Doch scheint mir, daß die folgende Erwägung den Ausschlag geben muß: 
wenn man, wie es ganz allgemein geschieht, zur Bestimmung der Höhen 


N 


a 


der Wirbelkörper die am weitesten nach oben bzw. nach unten vorsprin- 


senden Punkte der Knochen (der Epiphysenringe) wählt, so muß man 


auch dieselben Punkte zur Bestimmung der Höhen der Zwischenwirbel- F 
scheiben benutzen, denn sonst würde die Summe der Höhen der Wirbel- | 


körper und der Zwischenwirbelscheiben beträchtlicher sein als die Höke 
der ganzen Wirbelsäule. Nach diesem Verfahren sind daher auch die 
Maße in der gleich mitzuteilenden Tabelle gewonnen. 


- Nun über die hinteren Höhen. 


Wie schon bemerkt, ist an dieselben an der frischen Säule nicht heran- 
zukommen. Es gäbe dazu nur zwei Wege: entweder die Entfernung der 
Bogen und Zwischenbogenbänder, um von hinten her die Zwischenwirbel- 
scheiben zugänglich zu machen, oder die mediane Durchsägung der Säule. 
Beide Wege sind jedoch nieht gangbar. | 


KRÜMMUNG UND RIPPENPFANNEN DER BRUSTWIRBELSÄULE. 


a) Sägt man die Bogen ab und ent- 
fernt damit die elastischen Zwischenbogen- 
'bänder, so nimmt man eine Kraft fort, 
welche die Wirbelsäule nach hinten zieht. 
Ich benutze seit mehr als dreißig Jahren 
Pappschablonen, um die Veränderungen 
in der Gestalt der Wirbelsäule zu zeigen, 
welche eintreten, wenn man nacheinander 
die Bogen, das hintere gemeinsame Längs- 
band und das vordere gemeinsame Längs- 
band entfernt.* Von diesen benutze ich in 
Fig. 8 die beiden, welche die Gestalt der 
unbeeinflußten. Säule und diejenige nach 
Entfernung der Bogen zeigen. 

b) Durchsägt man eine frische Säule 
median, so treten, wie jeder Anatom weiß, 
auf der Schnittfläche die Kerne der Zwi- 
schenwirbelscheiben hervor. Damit ist ge- 
sagt, daß nun, indem die Kerne, von der 
-Umschließung, . befreit, die Wirbelkörper 
nicht mehr in gewohnter Weise auseinander- 
drängen können, die letzteren einander ge- 
nähert werden. Und es ist nicht einmal 
zu erwarten, daß dies vorn und hinten 
eleichmäßig geschieht, da die Faserringe 
vorn dicker sind als hinten. Es müßte 
jedenfalls, um über diesen Punkt und da- 
mit über die Formänderung der Säule ins 
Reine zu kommen, erst einmal eine sehr 
sorgfältige kritische Untersuchung statt- 
finden, an welche meines Wissens bisher 
noch niemand gedacht hat. 

Ich will, um zwei weitere falsche Wege 
zu verbauen, auf welche sich vielleicht ein 
Untersucher verirren könnte, noch folgen- 
des bemerken: 

a) Man darf nicht etwa, um das Vor- 
quellen der Kerne der Zwischenwirbel- 


1 Erwähnt in Berl. klin. Wochenschr. 1907. 
Nr. 39 u. 40. 


Fig. 8. 


Vorderseite einer frischen Wirbelsäule, erst mit Bogen (m), dann ohne Bogen (0). 


Durch 


Die Vorderseite ist nach rechts gewendet. 


187 


‚ 1 Grenze von Brustteil und Lendenteil. 


Entfernung der Bogen wird die Krümmung vergrößert. i Grenze von Halsteil und Brustteil 


188 HANS VIRCHOw: 


scheiben zu verhüten, die frische Wirbelsäule vor dem medianen Durch- 


sägen mit einer Fixierungsflüssigkeit, beispielsweise Alkohol, behandeln. 
Dichte bindegewebige Formationen sind gegen Alkohol sehr empfindlich; 
sie schrumpfen selbst noch in solchem von 60°/,, wie man sehr deutlich 
beispielsweise an der fibrösen Lippe der Hüftgelenkspfanne sehen kann. 


Besteht nun gar ein Gebilde aus Bestandteilen verschiedener Dichtigkeit 
bzw. Quellbarkeit, wie es bei den Zwischenwirbelscheiben der Fall ist, so 


kann es sich ereignen, daß die gleiche Flüssigkeit auf den einen Bestandteil 
schrumpfend und auf den anderen quellend einwirkt und daß ein gar 
nicht mehr nachzurechnendes Gesamtergebnis entsteht. 

b) Noch verwerflicher ist es, die Gestalt und Krümmung der Wirbel- 
säule und die Dieken der Zwischenwirbelscheiben bestimmen zu wollen 
an median durchsägten ganzen Körpern, ein Verfahren, welches auch 


mehrfach angewendet worden ist. Denn hier haben wir nicht die Eigen- ° 


form der Wirbelsäule vor uns, sondern eine Beeinflussung derselben durch 
die Schwere, welche je nach der Lage, welche der Körper beim Fixieren 
hatte, nach Art und Richtung verschieden einwirkte. 

Man wird sich jetzt, wie ich hoffe, überzeugt haben, daß wir es mit 
einer sehr schwierigen und mit äußerster Kritik zu behandelnden Frage 
zu tun haben, wenn es darauf ankommt, die Höhen der Zwischenwirbel- 
scheiben zu bestimmen, und daß nur der von mir vorgeschlagene Wee 
zum Ziele führen kann. 

Ich gebe nun die Zahlen für die vorderen und hinteren Höhen der 
Scheiben der beiden von mir untersuchten Brustwirbelsäulen. 


Gerade Säule Gebogene Säule 
vordere | Mntsre | Diinens | Yraere | Hintere | Dimren 

Be: | mm mm mm mm‘; |- mm Er 
t.1/t.2 | 5 2 —3 3:5 3 —0-5 
t. 2/t.3 2-7 2:8 0-1 2 3 1 

1. 31.4 2 2 () 2-5 5 2.5 
t. 4/t.5 1-5 2:2 0-7 1 2-5 1-5 
1. 5/1. 6 1-5 2.2 0.7 0-5 3 2-5 
2. 6/1. 7 2:8 2-7 —0.1 1-5 2 0-5 
1. 1/t.8 2 2-7 0-7 3 2 21 
t. 8/1. 9 3 3-5 0-5 3 3 0 

t. 9/t. 10 4.5 4 0-5 3 3 0 

t. 10/8. 11 4 5-3 \ 1.3 1-4 5 3-6 
2 612 2-5 ne 6 8 2 

Summen der Differenzen 0-7 12-1 


KRÜMMUNG UND RIPPENPFANNEN DER BRUSTWIRBELSÄULE. 189 


Die beiden Schlußzahlen entsprechen mehr, als es bei den Höhen der 
- Körper der Fall war (vgl. S. 181), den Erwartungen und stellen ein natür- 
licheres Gesamtergebnis her, wie die folgende Zusammenrechnung zeist. 


Summen der Differenzen. 
Gerade Säule Gebogene Säule 


Körper 11 7-5 
Scheiben 0-7 12.1 
Summe 11-7 19-6 


Die Gesamtsumme für die hinteren Höhen ist also an der gebogenen 

Säule um 7,9 mm größer wie an der geraden. 
Daraus lernen wir jedoch wenig, oder im Grunde genommen nichts. 
- Es ist nämlich bei der Beurteilung dieser Zahlen zunächst etwas in Be- 
tracht zu ziehen, was man sich von Anfang an auf Grund der Unter- 
suchung der Knochen allein hätte sagen müssen: die Endflächen der 
Wirbelkörper und die Zwischenwirbelscheiben entsprechen einander wie 
Matrize und Ausguß; die einen sind genau das Negativ der anderen; 
daher muß jeder Erhebung einer Endfläche eine Erniedrigung der Band- 
‚scheibe an dieser Stelle und jeder Einsenkung der Endfläche eine Er- 
- höhung der Zwischenwirbelscheibe entsprechen. Es wäre z. B. ganz falsch, 
_ wenn wir aus unserem Einzelfalle, denselben verallgemeinernd, schließen 
wollten, daß stärkere Biegung der Wirbelsäule auf Zunahme der hinteren 
- Höhen der Scheiben beruhe. Es wurde ja weiter oben mitgeteilt, daß in 
unserem Falle die verhältnismäßige Niedriskeit der Rückseiten der Wirbel- 
körper der gebogenen Säule auf medianen Einkerbungen der hinteren 
- Ränder beruhe; durch denselben Umstand müssen die Rückseiten der 
Zwischenwirbelscheiben verhältnismäßig hoch erscheinen. Die durch die 
„Ungenauigkeit der Ausführung‘ bedingten Übelstände fallen bei den 
Wirbeln, d.h bei den Knochen, nicht so sehr ins Gewicht; denn hier, 
wo man ein reichliches Material zur Verfügung hat, kann man entweder 
diejenigen Säulen, die mit offenkundisen Fehlern behaftet sind, von der 
Untersuchung ausschließen, oder man kann darauf rechnen, daß die Un- 
regelmäßiskeiten des einen Falles in den aus einem großen Material ge- 
_ wonnenen Mittelzahlen unschädlich werden. Über die Zwischenwirbel- 
scheiben aber wird man wegen der Schwierigkeit der Methode nur ein 
sehr beschränktes Material beschaffen können, und es ist entmutigend, 
wenn man sich dabei von vornherein sagen muß, daß die Verwertung 
desselben durch Fehlermöglichkeiten so sehr in Frage gestellt wird. Trotz- 
dem ist es besser, von Anfang an mit klarer Kritik an die Untersuchungen 
der Höhen der Zwischenwirbelscheiben, die wegen ihrer großen Wichtig- 
keit doch einmal gemacht werden müssen, heran zu gehen, anstatt sich 


190 | Hans VIRCHoOw: 


einem blinden Vertrauen hinzugeben und Ergebnisse aufzuhäufen, welche 


zwar exakt erscheinen, weil sie sich in das Gewand der Zahlen kleiden, 
sich aber nachträglich doch als unzuverlässig erweisen. 


B. Beziehungen zwischen den Rippenpfannen und der Gestalt 
der Wirbelsäule. 


Der Gesichtspunkt für die nachfolgende Betrachtung wurde schon 
früher angegeben (vgl. 5.175). Ich wiederhole denselben hier. Wenn 
von zwei Wirbelsäulen die eine stärker gebogen ist wie die andere, so muB 
entweder die Stellung der Rippen gegeneinander oder die Stellung der 
Rippen gegen die Wirbelsäule verschieden sein. Diese Betrachtung kreuzt 
sich jedoch mit einer zweiten, welche ich deswegen auch, um Verwechs- 
lungen zu verhüten, vorführen will. 

Die zweite Betrachtung ist diese: auch bei ein und derselben Wirbel- 
säule muß, wenn der Träger derselben Bewegungen ausführt, die Stellung 
der Rippen entweder zueinander oder zu der Wirbelsäule geändert werden, 
wenn nicht zu beiden. 

Von Bewegungen der Brustwirbelsäule sprechen nun allerdings die 
Anatomen und Physiologen nicht gern oder gar nicht wegen der Erschwe- 
rung, welche dadurch das Problem der Thoraxmechanik (und Respiration) 
erfährt. Bezeichnend für diese Ablehnung ist eine Äußerung von Henke, 


welche ich schon bei anderer Gelegenheit angeführt habe!, die aber immer 


wieder angeführt werden muß und nicht oft genug angeführt werden kann. 
Henke sagt nämlich, ‚daß die Brustwirbelsäule so gut wie ganz un- 
biegsam“ sei.2 Noch wirksamer tritt dies in der folgenden Mitteilung 
hervor: Als ich auf der Versammlung der Anatomischen Gesellschaft in 
Leipzig 1911 über die sagittalen Bewegungen der menschlichen Wirbel- 
säule berichtet hatte (a. a. 0. 8.176), erzählte von Ebner, er sei als 
junger Mensch zu Henke gekommen und habe es übernommen, unter 
dessen Leitung über die Rippenbewegungen zu arbeiten; da habe Henke 
gesagt: „Nun wollen wir zuerst einmal eine eiserne Stange durch die 
Wirbelsäule stecken, um diese unbeweglich zu machen‘. 

Ich habe nichts gegen diese Henkesche Stange, d. h. ich habe nichts 
dagegen, daß man, um eine komplizierte Frage in ihre Teile zu zerlegen, 
erst einmal eine vereinfachende Annahme mache. Man darf jedoch nicht 

' vergessen, daß diese Annahme eine Annahme war, und daß es sich in 
Wirklichkeit anders verhält. Und hier verhält es sich tatsächlich anders 
1 Verhdl. d.anat.Ges. auf d.25. Vers. in Leipzig. 1911. S.186. u. Vortrag v. 1907. 


2 Henke, Wilh., Handb. d. Anatomie u. Mechanik der Gelenke. Leipzig und 
Heidelberg. 1863. S. 76. 


ae pe 
VI en 


KRÜMMUNG UND RiPPENPFANNEN DER BRUSTWIRBELSÄULE. 191 


Man braucht noch gar nicht an Bewegungskünstler wie die Schlangen- 
‚menschen oder Kautschukkünstler zu denken; man braucht sich nur den 
Fischer zu vergegenwärtigen, der seine Netze aufzieht, oder den Bauern 
aut dem Kartoffelacker, oder den Gärtner, der das Land umgräbt, oder 
den Rinekämpfer, oder den Feldgrauen, der im Schützengraben zusammen- 
sekauert ist oder hinter einer niederen Deckung Schutz sucht, oder tausend 
andere, um sich klar zu machen, daß der lebende Mensch seine Wirbel- 
säule, auch die Brustwirbelsäule, in der mannisfaltigsten Weise bewegt 
und dennoch dabei atmet. Ja, es ist den Ärzten bekannt, daß ein Kranker, 
der an einer Stelle des Thorax Schmerzen empfindet, ganz von selber 
diesen Abschnitt ruhigstellt und mit dem übrigen. Teil des Brustkorbes 
- Atembewegungen ausführt; und es ist den Gesangstechnikern bekannt, 
daß es verschiedene und verschieden wirksame Respirationstypen gibt, 
bei welchen bald mehr der obere, bald mehr der untere Abschnitt des 
Brustkorbes in Betrieb gesetzt wird. 
Ich habe an der Wirbelsäule, welche dem oben erwähnten Leipziger 

Vortrage zugrunde lag, die Erfahrung gemacht, daß, wenn man die sagit- 
tale Biegsamkeit an den einzelnen Wirbelverbindungen bestimmt, und 
zwar nicht so, daß man einen Wirbel festhält und den nächsten gegen ihn 
bewegt, sondern so, daß man die Säule im ganzen biest und innerhalb 
- dieser Gesamtbiegung dann die Einzelbeträge feststellt, daß dann auf die 
- einzelne Halswirbelverbindung (von extremer Ventralflexion bis zu extremer 
Dorsalflexion) im Durchschnitt 22-2°, auf die einzelne Brus;wirbelverbin- 
dung 9-1° und auf die einzelne Lendenwirbelverbindung 13-9° kommen. 
Teilen wir, um eine anschaulichere Vorstellung von dem Verhältnis dieser 
Zahlen zueinander zu bekommen, jede derselben durch 9, so stellt sich 
die Biessamkeit. der Brustwirbelsäule zu der der Lendenwirbelsäule und 
zu der der Halswirbelsäule wie 1:1-5:2-5. Da kann man doch nicht 
davon sprechen, daß die Biegsamkeit des Brustteiles gegenüber der der 
anderen Abschnitte zu vernachlässigen sei. 
Auch die seitliche Biegsamkeit der Brustwirbelsäule ist nicht gering, 
_ wovon man sich ja am eigenen Körper jederzeit leicht überzeugen kann. 
Dazu kommt. als eine spezielle Bewegungsmöglichkeit gerade des Brust- 
abschnittes die Drehfähigkeit 

Vergegenwärtist man sich diese reichen Erfahrungen der Anatomie 

und des täglichen Lebens, so ist Klar, daß das vereinfachte Schema der 
Thoraxmechanik, wie es von Anatomen und Physiologen gelehrt wird, 
in Wahrheit gar nicht bestehen kann, sondern daß Einrichtungen vor- 
handen sein müssen, um die Erhaltung und Verwendbarkeit des Thorax 
bei wechselnden Haltungen der Wirbelsäule zu sichern. 


192 Hans VIRCHOw: 


Solche findet man auch, wenn man die Vorderseite des Brustkorbes 
und die vorderen Enden der Rippen zunächst ins Auge faßt, in Fülle: die 
Kürze und freie Endigang der beiden letzten Rippen, die Beschränkung 
der Verbindung mit dem Brustbein auf die sieben ersten Rippen, die ver- 


schiedene Länge der Rippenknorpel, die Beschränkung der gelenklosen 
Verbindung des Knorpels mit dem Sternum auf die erste Rippe, die Fuge 
im Brustbein. Alle diese Einrichtungen zusammen erweisen, daß der 
Mechanismus in dem oberen Abschnitte des Thorax ein strengerer ist wie in 
dem unteren, und daß insbesondere der ersten Rippe eine führende Rolle zu- 
kommt, was sich ja auch in den Vorstellungen der Praktiker festgesetzt hat. 


Von diesen Dingen wili ich indessen nicht sprechen; ich führe sie nur 


an, um den Leser der Erwäzrung geneigt zu machen, daß doch wohl auch 
an den hinteren Enden der Rippen, an den Verbindungen derselben mi: 
der Wirbelsäule Einriehtungen vorhanden sein mögen, welche dem gleichen 
Zwecke dienen, ein Weiterfunktionieren des Thorax bei gleichzeitigen Be- 
wegungen der Wirbelsäule zu ermöglichen, und daß dabei am unteren 
Abschnitt des Thorax eine größere Freiheit und am oberen eine größere 
Beschränkung herrschen wird. 

Von Unterschieden in den Verbindungen der Rippen mit der Wirbel- 
säule sind zwei bekannt: 

a) daß die 1., 11. und 12. Rippe sich nur mit je einem WER 
und nicht wie die übrigen Rippen mit deren zwei verbinden; 

b) dab die 12. Rippe und sehr häufig auch die 11. keine Gele 
verbindung mit dem Querfortsatz, sondern nur eine solche mit dem 
Körper haben. 

Die mechanische Bedeutung der zweiten dieser Einrichtungen ist 
leicht verständlich; es wird dadurch die Freiheit der Bewegungen ver- 
größert. Der mechanische Wert der ersten der beiden Einriehtungen ist 
dagegen nicht so unmittelbar einleuchtend und ist mir auch bis jetzt 
nicht klar; vorhanden ist er aber ohne Frage, und es ist dabei besonders 
zu betonen, daß diese Einrichtung am Anfange und am Ende der Reihe 
besteht, obwohl doch die erste Rippe die strengste und die beiden letzten 
die freieste Mechanik haben. 

Es muß aber doch noch feinere Unterschiede zwischen den einzelnen 
Rippenpfannen geben. Solche bestehen allerdings nicht an den Piannen, 
welche sich an den Wirbelkörpern befinden (Foveae costales corporum 
vertebralium), wohl aber an denen an den Querfortsätzen (Foveae costales 
processum transversariorum). Allerdings sind an diesen Pfannen gerade 


= 


BI SE 
Da 


BEEHEBER 


die ‚Fehler der Ausführung‘‘ besonders häufig, was wohl auch die Er- 


kenntnis der betreffenden Verhältnisse erschwert hat; ja es mag sein, 


KRÜMMUNG UND RIPPENPFANNEN DER BRUSTWIRBELSÄULE. 193 


daß manche Beobachter überhaupt alle Unterschiede auf solche ‚‚Fehler‘“ 
geschoben haben. Wenn man jedoch häufig Wirbelsäulen betrachtet, be- 
sonders jugendliche, wenn man ernsthaft darauf aus ist, Unterschiede zu 
finden, und wenn man auch Säugetiere, bei welchen die Formen schärfer 


und die Unterschiede stärker sind, in Betracht zieht, so tritt doch mit 


der Zeit eine Klärung ein. 

Die Unterschiede beziehen sich auf die Krümmung der Oberfläche, 
auf Größe und auf Neigung zum Horizont. 

a) Oberfläche. — Die zylindrische Gestalt, welche von der Theorie 
sefordert wird, findet sich nur an den oberen Wirbeln, und zwar an deren 
dreien. Sie ist zwar auch nicht streng zylindrisch, indem die Flächen 
sowohl in senkrechter wie in horizontaler Richtung konkav sind; aber es 
besteht doch eine starke Annäherung an die_ Zylinderform, indem der 
vordere (mediale) und hintere (laterale) Rand ausgeschnitten sind, der 


- obere und untere Rand überstehen. Die Pfanne am 4. Wirbel ist kugelig, 


dabei flach. Nach unten -hin nimmt die Flachheit zu; an den unteren 


_ Wirbeln sind die Flächen eben. Hierin präst sich eine größere Strenge 


des Mechanismus an den oberen Wirbeln, eine größere Freiheit an den 


x er 


unteren aus. 
b) Größe. — Der senkrechte (kranio-kaudale) Durchmesser ist ge- 
ringer an dem ersten Wirbel, erheblich größer an dem zweiten und den 


_ folgenden; an den letzten nimmt er wieder ab. — Auffallend ist dabei 


ah >72 


besonders die geringe Größe beim ersten Wirbel, wofür ich keine Er- 


klärung weiß. Bei vierfüßigen Säugetieren ist es anders; hier ist die erste 


- Pfanne mindestens ebenso groß wie die zweite, meist aber größer, was 
ja auch der Vorstellung besser entspricht, daß die erste Rippe in der 
- Thoraxmechanik eine führende Rolle spielt. 


e) Neigung. — Es kommt hier die Neigung gegen den Horizont in 


Betracht. An den ersten Wirbeln stehen die Gelenkflächen senkrecht, 


 seitwärts (und dabei ein kleines wenig ventralwärts) gewendet. Von dem 


4. oder 5. Wirbel an stellt sich bereits eine leichte Neigung der Gelenk- 
fläche ein, indem diese etwas kranialwärts schaut; an den unteren Wirbeln 


nimmt diese Neigung zu. 


An meiner geraden Säule sind die beschriebenen Merkmale sehr klar 


ausgeprägt. Ich habe deshalb von dieser den 1., 2., 6 und 10. Wirbel in 
der Fig. 9 vereinigt. Die genannten Merkmale sind mir seit langem be- 


kannt; ich habe sie aber bisher nicht mitgeteilt, weil ich sie immer von 


neuem nachprüfen wollte und weil ich keine Veranlassung zu einer Mit- 


teilung hatte. Hier aber, wo es darauf ankam, Unterschiede zwischen 
Archivf. A.u.Ph. 1917. Physiol. Abtilg. 13 


“ 


194 - Hans VIRCHoWw: 


der geraden und der gebogenen Säule festzustellen, mußten auch die 
Rippenpfannen besprochen werden. 

Unterschiede zwischen den Rippenpfannen "a seraden 
und der gebogenen Säule. — Solche fanden sich mit Rücksicht auf 
die Neigung zum Horizont. Allerdings 
nicht an den ersten drei Wirbeln. Am 
4. Wirbel dagegen ist bei der geraden 
Säule die Pfanne bereits schwach kranial- 
wärts gewendet, was bei der gebogenen 
Säule noch nicht der Fall ist. Bei £.5 
ist die Fläche auch an der gebogenen 
Säule leicht kranialwärts gewendet, an 
der geraden aber ist sie es mehr; und 
dieser Unterschied erhält sich nun bei 
allen folgenden Wirbeln. Ich habe, um 
dies zur Anschauung zu bringen, an den 


wiedergegeben sind, auf der rechten und 
linken Seite Nadeln anbringen lassen, 
welche die Neigung der Flächen zum 
Horizont wiedergeben. Durch diese läßt 
sich auch der Winkel ermitteln, welchen 


bel der geraden Säule 87°, für den der 
gebogenen Säule D0°. 


genau das, was man auch deduktiv er- 
warten muß unter der Voraussetzung, 


Fig. 9. Säule die Rippen nicht sklavisch der 
Rippenpfannen des 1.,2., 6. und 10. [etzteren folgen; sondern eine gewisse Un- 


Wirbels der in Fig. 3 dargestellten 
a IE | N abhängigkeit ihr gegenüber bewahren. 


daß bei der Zunahme der Biegung der 


beiden 10. Wirbeln, welche in Fie. 10 


die rechte und linke Fläche miteinander 
bilden. Derselbe beträgt für den 10. Wir- 


Dieser empirisch gefundene Unter- 
schied zwischen den beiden Säulen ist 


Obwohl diese Übereinstimmung zwischen 


dem tatsächlich Gefundenen und dem theoretisch zu Erwartenden für die 
Richtigkeit des Befundes spricht, so mag man doch den letzteren, da er 
sich auf nur je eine Wirbelsäule stützt, ruhig für noch nicht hinreichend 


begründet halten und weitere Bestätigung verlangen. Die Berechtigung 
dieser Forderung gebe ich zu; ich möchte aber doch hier zum Schluß noch 


ey 
av 


KRÜMMUNG UND RIPPENPFANNEN DER BRUSTWIRBELSÄULE.- 195 


zwei Betrachtungen anreihen, welche aus dem Vorhergehenden sich ergeben 
und auf alle Fälle Beachtung beanspruchen. Die eine bezieht sich auf 
die gestaltenden Kräfte des Brustkorbes, die andere auf die anthropo- 
logische Untersuchung der Wirbel. 


Fig. 10. 
Zehnte Brustwirbel der in den Figg. 3 und 4 dargestellten Säulen von hinten mit 
auf die Querfortsatzpfannen aufgeklebten Nadeln zur Bezeichnung der Neigung 
der letzteren gegen den Horizont, der Wirbel der geraden Säule oben, der der ge- 
bogenen unten. 


a) Wenn es richtig ist, wie es nach dem Vorausgehenden scheint, daß 
an der gebogenen Wirbelsäule die Stellung der Querfortsatzpfannen eine 
andere ist wie an der geraden Säule, und wenn, wie ich weiter oben als 
wahrscheinlich hingestellt habe, die jugendliche Wirbelsäule eine mehr 
gerade Gestalt hat und die gebogene aus ihr durch den Einfluß der Be- 
lastung hervorgeht, so heißt das, daß gleichzeitig mit der Änderung der 
Gestalt der Wirbelsäule auch eine solche der Querfortsatzpfannen durch 

ge 


Form beeinflußt wird. Wenn man sich nun fragt, was den Rippen die 
Fähigkeit, die Kraft verleiht, sich nicht nur der veränderten Gestalt der 
Wirbelsäule gegenüber mit einer gewissen Unabhängigkeit in ihrer Lage 4 
zu behaupten, sondern auch ihrerseits umformend auf die Wirbel einzu- 
wirken, so können es nicht allein die ventralen Verbindungen der Rippen 
sein, denn die Rippen der unteren Thoraxhälfte, die ja hier in Betrackt 5 
kommen, sind mit langen und gebogenen Knorpeln versehen und von 
der 8. an. gar nicht auf das Sternum gestützt. Es müssen vielmehr andere * 
Einflüsse sein, welche den Rippen in ihrem Kampfe um Behauptung 
ihrer Lage und Form zu Hilfe kommen: Eingeweide, Zwerchiell und 
Muskeln der Rumpfwand. Hier greife ich nun zurück auf früher Gesagtes. ° 
Ich habe, als ich die nach Form aufgestellten Rumpiskelette Skoliotiscker 
besprach, darauf hingewiesen, mit wie großer Beharrlichkeit, trotz enormer 
Verkrümmung der Wirbelsäule, die Rippen bestrebt und befähist sind, 
die ihnen zukommende Lage festzuhalten (a. a. 0. S. 272). E 

b) Die zweite Bemerkung betrifft die anthropologische Unter- 
suchung der Wirbelsäule. Sollte es dahin kommen, daß die Anthropologie 
sich bei der Untersuchung der Wirbelsäule auch um die genaueren Merk- x 
male der Rippenpfannen bekümmert, was ja bis jetzt nicht der Fall ist, 
so könnte es sich ereignen, daß man bei der Untersuchung einzelner” 
Rassenwirbelsäulen eine bestimmte Neigung der Rippenpfannen gegen 
den Horizont für charakteristisch hält. In diesem Falle möge man sich 
erinnern, daß diese Neigung abhängig ist von der Krümmung der Wirbel- 
säule, und daß man über diese Krümmung nichts Bestimmtes wissen kann, 
wenn man nicht Wirbelsäulen nach der Art der in dieser Arbeit besprochenen 
zur Verfügung hat, d.h. Wirbelsäulen, welche nach Form aufgestellt sind. 


1 „Über drei nach Form zusammengesetete skoliotische Rümpfe‘“. Zeitschr. | 
7. orthopäd. Chirurgie. Bd. 29. S. 263— 2%. 


Der absolute Größeneindruck beim Sehen der irdischen 
Gegenstände und der Gestirne. 


Von 
Wilh. Filehne. 


| Die im folgenden zu besprechenden Beobachtungen wurden auch bei 

Naheversuchen unter Vermeidung von Akkommodation (für die Nähe) und 
_ von Konvergenz der Sehachsen angestellt, da diese beiden Aktionen ver- 
‚kleinernd auf einen bestehenden Größeneindruck wirken. Und weil es 
mir um die Untersuchung eben dieses Größeneindrucks in seiner Ur- 
"sprünglichkeit zu tun war, so schloß ich die modifizierenden Einflüsse 
aus. Gleichviel, ob diese Einflüsse mittelbar, z. B. etwa bei der Akkom- 
_ modation durch Beseitigung von Zerstreuungskreisen usw., oder unmittel- 
bar durch die Innervation als solche stattfinden — so interessant die 
_ Zergliederung dieser Vorgänge auch an sich sein würde —, handelt es sich 
hierbei doch nur um Neben- und Unterfragen. Wenn jene Einflüsse ver- 
 hütet werden sollten, durften wir die Betrachtung der Objekte auch nur 
mit einem Auge vornehmen lassen. An und für sich würde sonst das 
zweiäugig-stereoskopische Sehen wegen der besseren Wahrnehmung der 
Entfernung uns erwünscht sein. Aber auch bei einäugigem Sehen wird 
— unter voller Benutzung aller Erfahrungsmotive und unter Bewegungen 
des Auges, die ausreichende parallaktische Verschiebungen veranlaßt, und 
zumal durch seitliche Bewegungen des Kopfes usw. — die Entfernung 
‚genügend erkannt. 


I. Absoluter Größen- und Entfernungseindruck. 


Um optisch einen relativen Größeneindruck zu gewinnen, um bei- 
spielsweise zu erkennen, daß das Ganze größer als seine Teile, ist der 
Besitz des räumlichen Sehens nicht erforderlich. Dagegen kann der 
Eindruck einer absoluten Größe, nach Zahlen z. B. des Metermaßes, 


198 WILH. FILEHNE: 


erst entstehen, wenn das räumliche Sehen bis zu einem gewissen Grade 
sich entwickelt hat. Der Betreffiende muß aus Erfahrung wissen, wie grob 
beispielsweise 25 em in den verschiedenen Entfernungen optisch erscheinen. 
Ein blind geborener Erwachsener hat diese Länge zwar sehr wohl im 
Bewußtsein: er vermag auf einer Tischkante von der Ecke ab recht genau 
abzugreifen oder durch Ausspannen der Hand anzugeben, wie lang 25 cm 
sind. Erhält er aber durch eine Operation das Sehvermögen, so hat er 
in den ersten Tagen und Wochen wohl relative Größeneindrücke, nicht 
aber erkennt er an einem Zentimetermaße, daß 25 cm gleich seiner Hand- 
spanne sind, wenn nicht mit dem Maße seine Handspanne gemessen 


wird. Ja, wenn ihm zwei Stäbchen von 25cm Länge in sonst gleicher 


Lage, das eine aber in 35 cm, das andere in 70 cm Entfernung vorgezeigt 
werden, hält er das erstere für doppelt so lang wie das andere. 


Sobald aber sich bei ihm — oder dem normal sehenden Kinde — 


das räumliche Sehen entwickelt hat, sobald in der Tiefendimension 
gelegene Strecken, d.h. Entfernungen, gesehen werden, wird für die ge- 


nannten Fälle und überhaupt für die nächste Umgebung ein absoluter 
Größeneindruck, und zwar ein „richtiger“ gewonnen, der jetzt überein- 


stimmt mit dem durch Abtasten und Messen erhaltenen. 


Meist wird das Zustandekommen dieses richtigen absoluten Größen- 
eindrucks so dargestellt: aus der wahrgenommenen Entfernung des 7 
Gegenstandes und aus der Größe des Gesichtswinkels, unter dem der 
Gegenstand gesehen wird, bzw. aus der Größe des Objektbildes auf der 
Netzhaut, entstehe zwangsmäßig auf Grund der Erfahrung der Eindruck 


seiner wirklichen Größe. Aber nicht Gesichtswinkel werden empfunden - 


oder wahrgenommen. Auch die Größe des Objektbildes in uns auf der 
Netzhaut wird nicht empfunden und nicht wahrgenommen, sondern das 4 


Objekt mit seiner Umgebung draußen wird wahrgenommen. Und 
ebenso steht <s mit dem Worte ‚Entfernung‘. Nicht die Abstraktion 
„Entfernung“ wird wahrgenommen, sondern die ans des Objektesäg 
im wahrgenommenen Außenbilde. Diese besteht aus analogen „Größen“ 


N 


ÄP 
13 


wie die des „Objektes — es sind genau ebensolche Objekte: .z. B. die u 


Fußbodenstrecke, die zwischen unserem Fußpunkte und dem u 
liegt, oder der Tisch, auf dem der betrachtete Gegenstand sich befindet, 


4 


oder in einem Korridore (außer dem Fußboden) die Wände rechts und“ 2 


links, oder die Länge meines Armes und der Hand, mit der ich einen 


Gegenstand halte, um ihn zu betrachten usw. Am einfachsten und klarsten i 
liegt die Sache, wenn beispielsweise das „Objekt“ eine sagittale, in unserer 
Blickrichtung liegende Fußbodenstrecke von 2m ist, die vor uns in einer 


„Entfernung“ von 3m beginnt. Dann nehmen wir zwei Strecken wahr: 


ÄBSOLUTER GRÖSSENEINDRUCK BEIM SEHEN. 199 


1. die von unserem Fußpunkte bis zu 3m und 2. die dort beginnende 
Strecke von 2m. Aus diesen zwei Faktoren entsteht das Produkt: der 
‚absolute Größeneindruck der zweiten Strecke. 

Solange der Gegenstand oder die Höhe, Breite oder Tiefe, deren 
Größeneindruck in Frage stehen, nicht unter eine gewisse noch zu 
präzisierende Größe gehen, oder solange sie und diejenigen Gegenstände 
der Umgebung, die das Entfernungsmoment liefern, nicht über eine 
gewisse Grenze hinausgehen, ist auf Grund der Erfahrungsmotive der 
absolute Größeneindruck ‚„riehtig‘‘ — nämlich übereinstimmend mit der 
durch Betasten, Messen usw. zu gewinnenden Vorstellung von der Größe 
des Objektes. Wenn dieses aber, das wir uns als weiße Kugel oder weiße 
kreisförmige Scheibe denken wollen, so klein ist, daß es selbst im Nah - 
punkt gesehen in dem unbewaffneten Auge ein Netzhautbildchen von 
weniger als 50” Durchmesser entstehen läßt, so erscheint es ausdehnungs- 
los und kann keinen absoluten Größeneindruck machen. Und wenn die 
Objekte, ‘die das Entfernungsmoment bedingen, so groß sind, dab das 
betrachtete Objekt selbst bei erheblicher objektiven Größe ein Netzhaut- 
bildehen von weniger als 50” Durchmesser entwirft, so sehen wir es eben- 
falls ausdehnungslos. Ferner können wir auch an einem Objekte beispiels- 
_ weise von der Größe des Mondes keinen richtigen Größeneindruck er- 
halten: entweder ist es zu fern, dann ist es ‚„‚verkleinert“, oder es ist uns 
ganz nahe, und dann fehlt der Überblick. 

Die im folgenden gebrauchten Ausdrücke ‚‚mittlere Größe“ und 
„mittlere Entfernung‘ werden hiernach nicht mißverständen werden. 

Nun muß dieselbe Entfernung, die beispielsweise für ein Objekt von 
20 cm Durchmesser als mittlere zu bezeichnen ist, für ein Objekt von 
5mm bereits als eine große angesehen werden. Sobald die Entfernung 
eines bestimmten Objektes anfängt eine ‚„‚große“ (im genannten Sinne) 
zu werden, so sehen wir das Objekt nicht mehr ‚richtig‘, vielmehr zeigt 
sich eine mit Zunahme der Entfernung allmählich einsetzende und an- 
nähernd proportional der Entfernung zunehmende (scheinbare) Ver- 
‚kleinerung. Die Region, in der diese ganz allmählich beginnende Ver- 
kleinerung sich geltend macht, wollen wir die für diese Objektgröße 
„kritische Region“ nennen. Sicherlich gibt es ja einen kritischen Punkt, 
aber im praktischen Versuche läßt sich nur eine kritische Region fest- 
stellen, — so allmählich findet die Änderung des Größeneindrucks statt. 
Bei zunehmender Entfernung wird also von kleineren Objekten die 
kritische Region früher erreicht als von mittleren. Jenseits der kritischen 
Region ist die Abnahme des Größeneindrucks annähernd proportional der 
Entfernung — aber nur annähernd. Denn die Verkleinerung geht nicht 


200 Wırn. FILEHNE: 


etwa ins Unendliche weiter, d.h. es ist keine asymptotische Abnahme, 


sondern der Eindruck der Größe wird plötzlich ein bleibendes Minimum 
— ein ausdehnungsloses Fleckehen, dessen Siehtbarkeit — wie bei einem 
Himmelsstern — nur von der Intensität des von ihm ausgestrahlten oder 
reflektierten Lichtes abhängt. Und dies tritt ein, sobald das Netzhaut- 
bildehen kleiner als 50” wird. Solange jedoch das Bildchen größer als 50” 
ist, entsteht ein bestimmter, ein absoluter Größeneindruck, der aber vom 
Erreichen der kritischen Region an bei zunehmender Entfernung hinter 
der Wirklichkeit mehr und mehr zurückbleibt. 

Zur Gewinnung eines absoluten Größeneindrucks genügt also das 
Gegebensein irgendeines Entfernungseindrucks und eines unter mehr als 
50” gesehenen Objektes am Ende dieser Strecke. Ob dieser Eindruck 
richtig oder zu klein ist, hängt bei kleineren und mittleren Objekten 
davon ab, ob das Objekt diesseits oder jenseits der kritischen Region 
sich befindet. 

Hieraus folgt: wenn wir am Horizontrande ein Objekt erblicken, 
dessen Durchmesser sich auf unserer Netz>aut größer als 50” abbildet, 
so müssen wir von ihm einen absoluten, d.h. im Metermaß ausdrück- 
baren, sei es richtigen, sei es zu kleinen Größeneindruck haben. Und 
daher muß z. B. der aufgehende Vollmond, dessen Netzhautbildchen einen 
Durchmesser von etwa 31’ hat, auf uns schlechterdings einen absoluten 
Größeneindruck machen. Und das gleiche gilt für den Mond, gleichviel 
an welcher Stelle er am Himmel steht, da er stets unter einem Gesichts- 
winkel von etwa 31’ gesehen wird und da wir ihn am „Himmel“ in einer 


bestimmten, aber je nach der Himmelsstelle wechselnden Entfernung 


wahrnehmen. In der Tat ist im naiven natürlichen Publikum von jeher 
z. B. gesagt worden: hoch am Himmel hat der Vollmond die Größe eines 
Kompotttellers, in der Mitte des Himmelsquadranten die eines Dessert- 
tellers und nahe am Horizont ist er noch größer als ein großer Teller. 


Von wissenschaftlicher Seite wurde ein solcher absoluter Größeneindruck 


abgelehnt, z. B. etwa mit folgender Kritik: da könnte man ebensogut 


statt „groß wie ein Teller‘ sagen: ‚‚wie ein Mühlrad“, es komme eben 


darauf an, aus welcher Entfernung man Teller und Mühlrad betrachte. 
Aus dem weiter oben ausgeführten geht hervor, daß diese Ablehnung und 
Kritik irrig ist: freilich erscheinen Teller und Mühlrad aus gewissen 
— nicht ‚mittleren‘, sondern größeren — Entfernungen, d. h. wenn sie 


sich jenseits des kritischen Punktes befinden, verkleinert, und es läßt 


sich leicht für den Teller eine Entfernung jenseits jenes Punktes angeben, 


in der er ebenso klein oder groß aussieht, wie ein Mühlrad in einer 


anderen — und selbstverständlich größeren — Entfernung, wo dann aber 


N 


wu + 


ÄABSOLUTER GRÖSSENEINDRUCK BEIM SEHEN. 201 


auch das Mühlrad jenseits des kritischen Punktes liegt. Aber wenn man 
vom Eindruck ‚‚Tellergröße“ oder „Mühlradgröße“ spricht, meint man 
den Größeneindruck an Teller und Mühlrad diesseits des kritischen 
Punktes. Und hier macht es keinen Unterschied, an welchem Punkte 
zwischen Auge und kritischem Punkte das Objekt sich befindet, sofern 
es nur so weit vom Auge entfernt ist, daß ein Überblick ermöglicht ist. 
Aber ein Teller in 35 em Entfernung sieht keineswegs doppelt so groß 
aus wie aus 70 cm, sondern ebenso groß, denn das Entiernungsmoment 
“und die unterschiedliche Sehwinkelgröße werden unmittelbar zwangsmäßig 
so verschmolzen, daß der Teller unter halbem Sehwinkel, aber aus doppelter 
Entfernung gesehen, genau denselben absoluten Größeneindruck macht, 
_ wie unter vollem Sehwinkel, aber aus einfacher Entfernung gesehen. 
Jedoch gilt dies nur so lange, als das Objekt, hier der Teller, diesseits 
des kritischen Punktes sich befindet. Jenseits des kritischen Punktes 
liefert das Objekt einen mehr und mehr sich verringernden absoluten 
"Größeneindruck nach dem bereits besprochenen Modus (annähernd pro- 
portional der Entfernung). 
Wir haben erkannt, daß am Monde ein absoluter Größeneindruck 
gewonnen werden muß, und haben festgestellt, daß er von unbefangenen 
Erwachsenen tatsächlich von jeher gewonnen oder doch angegeben wird. 
- Um hierin eine etwas schärfere Prüfung anzustellen, verfahre man wie 
- folgt. Zu einer Zeit, wann der Vollmond in der scheinbaren Mitte des 
Himmelsquadranten zu sehen ist (er ist dann bekanntlich nur etwa 23° 
über dem Horizonte), lege man einen Satz kreisrunder (zylindrischer) weißer 
Papierscheiben mit Durehmessern von 1 mm, 1 cm, 5 em, 20 cm, 50 und 
75cm beliebigen sehenden Erwachsenen mit der Aufforderung vor, die- 
jenige auszuwählen, die ihrer Auffassung zufolge am meisten der Größe 
des Vollmondbildes entspricht. Mag der eine oder andere gegen eine solche 
Ausmessungsmethode der Mondgröße Protest erheben — auch dieser und 
alle anderen wählen ohne eine einzige Ausnahme die 20-cm-Scheibe, 
_ während sie die kleineren Scheiben für viel zu klein, die größeren für zu 
groß erklären. Ich legte dann Scheiben von 16cm, 16-5, 17 us. bis 
24 cm Durchmesser, also mit Unterschieden von je 0-5 em, zur genaueren 
„Bestimmung“ vor. Die Angaben schwankten zwischen 19 und 21 cm. 
Wir dürfen also als annähernden Eindruck den Wert 20 em nehmen. 
Diese Vergleichsscheiben wurden in einer Entfernung von 3m in guter 
Beleuchtung gezeigt, und zwar in einer Stellung, die der unmittelbaren 
Vergleichung mit dem Vollmonde möglichst günstig war. Ich nehme vor- 
weg, daß der kritische Punkt für eine 16-cem-Scheibe 18-3m vom Auge 
entfernt liest, für 20 cm 22-5 m usw., so daß also die Scheiben dies- 


202 WILH. FILEHNE: 


seits des kritischen Punktes in ihrer wirklichen Größe gesehen wurden 
und — einäugig — ohne Akkommodation betrachtet werden konnten. 
Für den hoch (40° Zenitdistanz) stehenden Vollmond erhielt ich auf diese 
Weise einen Durchmesser von 10 bis 12 em, für den tief stehenden manch- 
mal 40, meist 35 cm. 


Der Gedanke, die scheinbare Größe der Gestime durch Vergleiche 
mit weißen Karton- oder Papierscheiben zu bestimmen, ist nicht neu. 
Eug. Reimann? hat solche im Jahre 1894 an der Sonne, sowohl um 
12 Uhr mittags als bei ihren Untergängen, angestellt. Er benutzte hierzu 
zwei Scheiben aus weißem Karton. Die eine hatte — rein zufällig — 
einen Durchmesser von 34 cm; diese bewährte sich — begreiflicherweise — 
für den Sonnenuntergang. Die andere wurde für die Mittagssonne halb 
so groß — 17cm — gewählt. Mittags wurde die Sonne durch ein 
Blendglas betrachtet. Die Beobachter traten von der Vergleichsscheibe 
so weit zurück, bis diese an Größe der Sonne gleich erschien. Aus der 
Größe des Abstandes von der Scheibe wurde die scheinbare Größe der 
Scheibe berechnet. Reimann konnte ja von der Existenz eines kritischen 
Punktes noch niehts wissen. Und da er für den Sonnenuntergang rein 
zufällig die richtige Scheibengröße zur Hand hatte, so stimmt selbst- 
verständlich die Größe bei Abständen von 9 bis 13m mit dem überein, 
was wir auf Grund-unserer Kenntnis vom kritischen Punkte am Monde, 
der fast dieselbe Bogengröße wie die Sonne hat, ermittelt haben. Dagegen 
war die 17-cm-Scheibe, die für die Mittagssonne benutzt wurde, für 
Colberg und Hochsommer, d.h. für 55° über dem Horizonte, zu groß. 
Nach meinen Versuchen liest ihr kritischer Punkt bei etwa 20m. Da 
diese Scheibe zu groß wär, mußte sie über den kritischen Punkt binaus- 
seführt werden und erschien also verkleinert. Außerdem zwang die Hellig- 
keit der Mittagssonne zur Anwendung von Rauchglas, was alles die dort 
gewonnenen Abstandszahlen nicht ohne weiteres für uns benutzbar macht. 
Immerhin stimmen Reimanns Zahlen mit seinen übrigen Versuchsergeb- 


nissen für seine damaligen Zwecke zenügend überein, für unsere jetzige 
Fragestellung sind sie aber nicht verwendbar. Aber die Priorität des 


Vorgehens sei Reimann gewahrt. 


ee 


Unsere Zahlen, z. B. 20 em Durchmesser für den Vollmond in schein- 
barer Mitte des Himmelsquadranten und 35 cm für den tief stehenden, 


1 Programm des Kgl. Gymnasiums zw Hirschberg i. Schl. 1901. S. 26. 


3 


ABSOLUTER GRÖSSENEINDRUCK BEIM SEHEN. 203 


bilden eine Bestätigung der vor 8 Jahren gemachten beiläufigen Schätzung, 
die v. Kries! mitteilte. Seine Worte sind: 

„Auch bei dem viel umstrittenen Problem über die scheinbare Größe 
der Himmelskörper sind, wie ich glaube, diese Verhältnisse bisher nicht 
genügend gewürdigt worden. Mir erscheint als vorzugsweise merkwürdig 
und als der notwendige Ausgangspunkt aller speziellen Erklärungsversuche 
die Tatsache, daß die Himmelskörper, ich weiß nicht, ob von allen, aber 
jedenfalls von sehr vielen Personen in einer ganz bestimmten absoluten 
Größe wahrgenommen werden, und zwar in einer solchen, die zu ihrer 
Winkelgröße und zu der Entfernung, in der sie gesehen werden, in einem 
auffälligen Mißverhältnis steht. Mir z. B. (und viele Personen haben mir 
ähnliches bestätigt) gibt die Scheibe des Vollmondes in durchaus zwingender 
Weise einen Eindruck, den ich, so sehr ich mir der Unsinnigkeit einer 
solchen Schätzung bewußt bin, sehr wohl als absolute Größe angeben 
kann. Ich kann sie auf etwa 20 cm taxieren, wenn der Mond hoch am 
Himmel steht, während sie bis auf 30 bis 35 em wächst, wenn er über 
dem Horizonte aufgeht. Um bei dieser absoluten Größe unter dem Winkel 
zu erscheinen, in dem wir den Mond tatsächlich sehen, müßte ein Gegen- 
stand in der Entfernung von 25m sich befinden. Dem entspricht aber 
der wirkliche Entfernungseindruck in keiner Weise. Steht der Mond’ so, 
daß die Gleichheit seiner Winkelgröße mit der irgendeines irdischen 
Objektes unmittelbar anschaulich ist (z. B. wenn er mit seiner oberen 
Hälfte gerade einen Kamin überragt), so kommt jener Größeneindruck 
wohl ins Wanken. Sobald es aber an einem so unmittelbaren Vergleiche 
fehlt, ist er zwingend gegeben. Diese absoluten Größeneindrücke sind es 
nun»doch wohl, die auch den Gegenstand der viel umstrittenen Täuschung 
bilden. Und es wird, wie mir scheint, nicht möglich sein, zu einer sicheren 
Erklärung zu gelangen, ehe wir darüber ins Klare gekommen sind, wie es 
eigentlich zugeht, daß ein absoluter Größeneindruck, und zwar in solcher 
Diskrepanz mit dem Entfernungseindruck zustande kommt.“ 

Auf Grund der Erkenntnis von der Entstehung eines absoluten Größen- 
eindrucks sind wir nun sehr wohl in der Lage, Klarheit darüber zu schaffen, 
wie es zugeht, daß am Monde ein absoluter Größeneindruck, und zwar in 
jener vermeintlichen Diskrepanz mit dem Entfernungseindruck, zustande 
kommt. 

Wenn wir am Meeresstrande so stehen, daß wir einen Horizontradius 
von 5km vor uns haben, und sichten am Horizonte einen rechtwinklig 


1 Handbuch der Physiol. Optik von H.v. Helmholtz. Dritte Aufl. Bd. III. 
1910. 8. 492 u. 493. 


204 WırH. FILEHNE: 


zu unserer Blickrichtung fahrenden Dampfer, dessen Länge von uns unter 
31’ gesehen wird, so wissen wir — nehmen es optisch aber nicht wahr —, 
dab seine objektive Länge gleich etwa 45 m ist. (Trigonometrisch berechnet 
sich diese =2x5xtg31’/2 km.) Wir sehen aber seine Länge wegen der 
eroßen Entfernung stark — um mehr als das Hundertfache — verkleinert: 
das Schiff erscheint fast wie ein Spielzeug. Nach der oben besprochenen 
Methode können wir diese scheinbare Länge messen. Mit einem 50-cm- 
Maße, das wir in einer bequemen Entfernung diesseits des kritischen 
Punktes, der über 30 m vom Auge entfernt liegt, in der Hand halten, 
finden wir diese Größe durch Vergleichung als 35 cm. Jetzt gehe am 
Horizonte der Vollmond auf, dessen Durchmesser ebenfalls unter (etwa) 
31’ gesehen wird. Also sehen wir auch diesen in der scheinbaren Länge 
von 35 cm, was die Messung bestätigt. 

Für den Dampfer, den wir in einer scheinbaren Länge von 35 cm 
sehen, müßten wir mit v. Kries sagen: ‚‚Um bei dieser Größe von 35 em. 
unter dem Winkel von 31’ zu erscheinen, müßte ein Gegenstand in der 
Entfernung von 38-8 m (diesen Wert ergibt die Rechnung) sich befinden. 
Dem entspricht aber der wirkliche Entfernungseindruck in keiner Weise.“ 
Dann hätten wir ja die Diskrepanz auch für die entfernteren irdischen 
Gegenstände. Denn in 38-8 m Entfernung sehen wir den Dampfer, der 
5km entfernt am Horizont fährt, ganz sicherlich nicht. _ Und so hätte 
der Mond vor irdischen Objekten nichts Besonderes mehr voraus. Wenn 
wir so bezüglich des Dampfers schlössen, würde der Fehlschluß darin 
liegen, daß einerseits der „wirkliche Entfernungseindruck“, d.h. die 
scheinbare Entfernung, andererseits die objektive Größe von 35 cm 
in Beziehung gesetzt werden, denn es heißt: ‚um bei dieser Größe von 
3 cm“ statt: bei diesem Größeneindrucke. Wollen wir für den 
Dampfer die Sache richtig ausdrücken, so müssen wir sagen: damit ein 
unter einem Winkel von 31’ gesehener Gegenstand den Größeneindruck 
von 35cm mache, darf er beliebig verschiedene objektive Größe, von 
35 em aufwärts, haben, wobei einer jeden objektiven Größe eine besondere 
von ihr abhängig variable Entfernung zugehört. Bei einer wirklichen 
Gegenstandsgröße von 35cm — die der Dampfer ja nicht besitzt — 
muß der unter 31’ gesehene Gegenstand sich in nicht mehr als 38-8 m 
Entfernung befinden, um den Größeneindruck von 35 cm, also jetzt den 
„richtigen“ Größeneindruck zu machen. Das ist eben die Entfernung 
des kritischen Punktes. Dann — aber nur dann — ist die scheinbare Größe, 
d.i. der absolute Größeneindruck, genau gleich der objektiven Größe. 

Der Gegenstand kann aber beispielsweise — statt 55cm — 45m 
lang sein und muß dann in 5km Entfernung gesehen sein — und dies 


ÄBSOLUTER GRÖSSENEINDRUCK BEIM SEHEN. 205 


ist der Fall unseres Dampfers; er könnte aber auch jede beliebige, 
zwischen 35 cm und 45m gelegene Länge — oder auch eine Länge von 
wesentlich mehr als 45m haben; dann entspricht jeder dieser Längen eine 
leicht ausrechenbare Entfernung.. Und gleichviel welche objektive Länge 
der unter 31’ gesehene Gegenstand hätte und welche Entfernung dieser 
Länge zugehörig ist, macht der ee überall den optischen Größen- 
eindruck von 35cm. 

' Für den Mond gilt nme, dasselbe. Aus der unendlich großen 
Zahl von Möglichkeiten seien nur drei herausgegriffen: rein logisch ge- 
nommen könnte der Mond, wenn wir von unserer sonstigen optischen 
Erfahrung und unserem Wissen absehen — analog jenem Dampfer — 
erstens ein Gegenstand von objektiv 35 cm Dürchmesser sein; dann müßte 
er in 38-8m Entfernung liegen. Kann er aber in 38-8 m Entfernung 
nach unserer sonstigen Erfahrung usw. nicht liegen, dann ist sein Durch- 
messer eben objektiv größer als 35cm. An und für sich könnte der 
Mond zweitens einen Durchmesser von 45 m haben; dann würde er 5 km 
von uns entfernt liegen. Dem widerspricht unsere optische Erfahrung 
nicht. Drittens könnte der Mond einen Durchmesser von 3470 km haben; 
dann muß er sich in 384400 km Entfernung befinden. Auch dies steht 
mit unserer sonstigen optischen Erfahrung, steht aber auch mit unserem 
auf ausgebildeter optischer Erfahrung beruhenden Wissen in Überein- 
stimmung. In welcher Entfernung auch immer der Mond stehen und 
welchen zugehörigen Durchmesser er auch haben möge — solange er 
am Horizonte, d.h. tiefstehend unter 31’ gesehen wird, würde er überall 
den Größeneindruck von 35 cm Durchmesser machen. Aber nur, wenn 
er tief steht. Von einer „Diskrepanz“ zwischen absolutem Größen- und 
Entfernungseindrucke kann also nunmehr, d.h. nachdem wir uns über 
cie Bedeutung des kritischen Punktes (für kleinere und mittlere Gegen- 
stände) und das Wesen des absoluten „‚Größeneindrucks‘“ klarer geworden 
sind, nicht gesprochen werden — weder in bezug auf den Dampier, noch 
einen irdischen Ballon, noch den Mond. 

Was das anbetrifft, daß man gelegentlich an der Zuverlässigkeit des 
am Monde gewonnenen Größeneindrucks irre werden kann, so sei folgendes 
angeführt. 

Wenn wir eine an unseren Füßen beginnende sagittale — also in 
der Tiefendimension liegende und perspektivisch verkürzt gesehene — 
Strecke von 35m betrachten, so erscheint ihre Länge uns zwar noch 
einigermaßen „richtig“, aber doch schon etwas zu klein; denn wenn ein 
Merkzeichen vor unseren Füßen das Ende der ersten 5m angibt, so erscheint 
das Bild der 35 m keineswegs siebenmal so groß wie das der 5m, sondern 


206 WıLH. FILEHNE: 


etwas kleiner. Und wenn wir uns in die Mitte der 35m stellen, macht 
die Strecke einen etwas größeren Eindruck als von ihrem einen Ende aus. 
Betrachten wir dann aus 35m Entfernung einen 35m hohen Fabrik- 
schornstein, so erscheint er uns wiederum etwas kleiner als die 55 m Fuß- 
bodenstrecke, aber immerhin noch einigermaßen richtig. Wenn dann über 
dem Horizonte der Vollmond aufgeht und sein Durchmesser gleich 35 cm 
erscheint, so bedeutet dieser Größeneindruck: es erscheint uns die Höhe 
des Kamins beinahe 100mal größer als der Monddurchmesser. Und wenn 
fernab in der Richtung zum Monde ein zweiter, objektiv ebenfalls 35m 


hoher Schornstein in solcher Entfernung und Richtung gesehen wird, dab 


er den Durchmesser des Mondes genau deckt, so bedeutet dies, daß der 


erstgenannte, 35m von uns entfernte Schornstein gleichermaßen fast 


100ma] höher erscheint als der fernliegende. Dann erscheint also der 


Mond nicht etwa in gleicher Größe wie ein 35 m hoher Kamin an und 


für sich, sondern wie ein solcher Kamin, der wegen seiner großen Ent- 
fernung nur ein Hundertstel der Größe des uns nahen Kamins zu haben 
scheint. Wird also ein denkender Erwachsener bei dieser Gelegenheit irre 


an der Zuverlässigkeit semes Größeneindrucks vom Monde, so liegt dies 


daran, daß er die Verkleinerung fern stehender irdischer Objekte zwar als 
selbstverständlich hinnimmt, dagegen nicht im gleichen Maße über Er- 
fahrungen an Monden verfügt. 


Wir fassen kurz zusammen: solange ein flächenhaft erblickter, 
nicht in der Tiefendimension und nicht perspektivisch verkürzt gesehener 
Gegenstand — sei es ein Dampier, sei es ein (irdischer) Ballon, sei es der 
Mond — in ein und derselben, z. B. horizontalen, Richtung unter 
31’ bis heran zu 38-8 m Entfernung geschaut wird, ist der absolute 
Größeneindruck unter allen Umständen der gleiche, z. B. für horizontale 
Richtung gleich 35 cm. Hieraus folgt, daß für diesen Größeneindruck 
der auf Tiefendimensionwahrnehmung begründete Entfernungseindruck, 
gleichviel wie und aus welchen Motiven auch immer er zustande kommen 
mag, überhaupt nicht in Betracht kommt — weder an irdischen Objekten 
noch am Monde. 

Wenn hinter jenem 45m langen Dampfer — ebentalls am Hori- 
zonte — ein objektiv halb so langer Dampfer führe, würden wir ıhn 
unter etwa 31’/2 =15’30” sehen und von ihm den Größeneindruck von 


35/2 cm —=1?7-5em haben. Und diesen Eindruck würde jeder Dampfer 


machen, den wir unter 15’30° in horizontaler Richtung sehen, 
gleichviel wie groß er objektiv ist und wie groß die zugehörige Ent- 
fernung ist. j ; 


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ÄBSOLUTER GRÖSSENEINDRUCK BEIM SEHEN. 207 


Wir können uns jetzt den unter dem fest gegebenen Winkel o in ein 
und derselben Richtung gesehenen Dampfer in der Art bezüglich seiner 
Größe und seiner Entfernung als variabel vorstellen, daß er zwischen den 
Schenkeln ces Sehwinkels @ verschiebbar sei und sich genau ent- 
sprechend verkürze, je näher er dem Auge kommt, und sich ent- 
sprechend verlängere, je weiter er vom Auge zwischen den Schenkel ab- 
- geschoben werde. So würde er stets unter dem Winkel @ gesehen werden. 
. Solange die Richtung der Blicklinie die gleiche bleibt, bleibt auch der 
“ Größeneindruck — bis heran zum kritischen Punkte — der gleiche. 

Unter dieser Voraussetzung gilt auch folgendes. Wenn wir am 
Horizonte neben dem Vollmonde einen (irdischen) Ballon sichten, den wir 
unter ctwa 31'/2 = 15’ 50” zu sehen bekommen, so muß sein Durchmesser 
uns unter allen Umständen gleich 17-5 cm zu sein scheinen. Der kritische 
"Punkt eines objektiv 17-5 cm im Durchmesser haltenden Ballons ist etwa 
bei 20m. Wie groß der Durchmesser auch in Wirklichkeit wäre und welches 
auch die zugehörige Entfernung ist, —er erscheint stets halb so groß 
wie der des Mondes. Ist der Ballon so weit von uns entfernt, daß wir ihn 
nicht mehr dreidimensional, sondern nur noch flächenhaft sehen, während er 
aber optisch dem Horizonte aufsitzt, so könnten wir ihm nach Gut- 
dünken einen Entfernungseindruck beilegen: entweder berührt er den 
Horizont, oder wir lassen ihn diesseits des Horizontes in einiger Höhe 
schweben, oder wir verlegen ihn jenseits des Horizontes, und zwar in 
um so größere Höhe, je größer die Entfernung ist, die wir ihm zuweisen 
wollen. Der unbefangene Beschauer wird ihn in Horizontradiusferne ver- 
legen. Daß aber derartige absolute Entfernungseindrücke keinen Einfluß 
auf den absoluten Größeneindruck ausüben können, liegt auf der Hand. 
Und ebensowenig kann umgekehrt der Größeneindruck, den der Ballon 
macht, den Entfernungseindruck bestimmen, da dieser hier in unser Be- 
lieben gestellt ist. Auch wenn wir den Horizontradius als das Maß nehmen 
für die Entfernung, kann doch die zufällige Größe des Ballons, die bei - 
gegebener objektiver Entfernung den . Sehwinkel bestimmt, nicht be- 
stimmend auf die scheinbare Länge des Horizontradius wirken und um- 
gekehrt. ' 

Wodurch wird denn nun aber der absolute Entfernungseindruck be- 
stimmt? Auch hier muß daran festgehalten werden, daß das hierüber zu 
Sagende nur für ein und dieselbe Richtung gilt. Wir wählen zunächst 
die horizontale Richtung. Hier wird für uns die scheinbare Entfernung 
gewonnen je nach dem Orte, den der Gegenstand auf der Horizontfläche, 
z.B. auf der Meeresfläche, einnimmt. Sehen wir den Dampfer, Ballon 
oder Mond auf dem Horizontkreise aufsitzen, so ist die scheinbare Ent- 


208 .  WıEH. FILEHNE: . 


fernung eben durch die scheinbare Länge des Horizontradius — nicht 
durch die 5 km — gegeben. Der Eindruck, den diese 5km Horizontradius 


machen, ist geringer, als man denken möchte. Von diesen 5 km bilden 
sich die fernsten 2km auf der Netzhaut unter weniger als 50” ab, werden 
also nicht als ausgedehnt wahrgenommen. Die uns zunächst liegenden 
2 bis 5m werden bei 1-6m Augenhöhe ja „richtig“ gesehen, aber hinter 
ihnen beginnt die erhebliche perspektivische Verkürzung und bald auch 
die Verkürzung für die Wahrnehmung. 


Bei Ausblick von größerer Aussichtshöhe erweitert sich der Horizont 


zwar objektiv beträchtlick, subjektiv aber nur um etwas, um bei (nicht 


erreichbaren) Höhen von über 10000 m wieder abzunehmen (vgl. meine * 
Horizontflächenarbeit 1912). Hierüber jedoch im nächsten (Il) Ab- 


schnitt. 


Handelt es sich um Gegenstände, z. B. Dampfer, die auf der Meeres- 


fläche wahrgenommen werden, die optisch also unterhalb des Horizontes, 
für die Vorstellung also innerhalb des Horizontkreises, liegen, so wird 


der absolute Entfernungseindruck durch den Winkel bestimmt, unter dem 


die Meeresstrecke zwischen unserem Fußpunkt und dem Gegenstande 
(Dampfer) gesehen wird. Für den Mond kann nur eine scheinbare Ent- 


fernung in Betracht kommen, nämlich der Horizontradius; näher kann 
der aufgehende Vollmond nicht zu stehen scheinen, da er sonst optisch 
unter dem Horizonte liegen und auf der Wasserfläche schwimmen 
müßte; und weiter ab als am Horizonte kann er nicht zu liegen scheinen, 
weil die Weltenstrecke vom Horizonte zum Monde nicht zur Abbildung 


auf der Netzhaut kommen kann. 


In der Richtung nach dem Zenite oder anderen über dem Horizonte jr 


gelegenen Himmelspunkten ist die äußerste Grenze für einen absoluten 


Entfernungseindruck früher erreicht als für die horizontale Richtung. = 
Unser räumliches Fernsehen ist, je mehr unser Blick von der. Horizontlläche 
aufwärts gerichtet ist, weniger entwickelt, da wir für größere Ent- 


fernungen nur auf der Horizontfläche das räumliche Sehen zu erlernen 


Gelegenheit hatten. Für größere Entfernungen aufwärts fehlt es an den % 
erforderlichen perspektivischen Maßen. Es genügt, daran zu erinnern, dab 
im Zenite selbst der fernste leuchtende Stern (oder auch schon eine 
Zirruswolke) nur ?/,.,, der Entiernung zu haben scheint, die dem Eindrucke B 
nach zwischen uns und dem Horizonte liest. Daher kann der Mond im 
Zenite (in tropischen Gegenden) nicht mehr als Y/,,, derjenigen Ent- E 


fernung zu haben scheinen, die er am Horizonte für uns hat. Zu erklären 


bleibt aber, weshalb er uns dort nicht noch näher zu liegen scheint. Da E 
der Zenithimmel und die zwischen Zenit und Horizont gelegenen Himmels-. 


EEE 


ÄBSOLUTER GRÖSSENEINDRUCK BEIM SEHEN. 209 


teile mitsamt dem Monde offensichtlich höher als die höchsten Spitzen 
der Bäume, Bauten und Berge sind, da ferner, wenn wir in der Land- 
schaft dahinschreiten, Wegstrecken, Hecken, Bäume, Häuserreihen und 
Bersketten hinter uns zurückbleiben und kleiner zu werden scheinen, 
während der Mond in gleicher Höhe, Richtung und Größe an seiner Stelle 
bleibt, muß uns Mond und Himmel höher als alle irdischen Dinge er- 
scheinen, und daher können wir den Mond und den Himmel nicht näher 
zu uns sehen als es jetzt der Fall ist. Sehen wir den Mond aber im Zenite 
nur 1/s,,, so fern wie am Horizonte, während wir ihn beide Male unter 
(etwa) dem gleichen Winkel von 31’ erblicken, so muß er im Zenite im 
1/7, der Größe erscheinen, in der man ihn am Horizonte zu sehen 
glaubt. 

Verwickeln wir aber uns hier nicht in einen Widerspruch ? Wir hatten 
doch kurz vorher in einem bestimmten Zusammenhange mit aller Schärfe 
hervorgehoben, daß der Größeneindruck ausschließlich durch den Winkel 
bestimmt wird, unter dem wir den Gegenstand sehen, und gänzlich un- 
abhängig ist von der Entfernung, in der er sich scheinbar befindet. 
Das galt aber für beliebig viele in derselben, z. B. in der horizontalen, 
Richtung gelegene verschieden große Körper. Hier jedoch handelt es 
sich um ein und denselben in zwei verschiedenen Richtungen ge- 
sehenen Körper. Dort wird der Größeneindruck lediglich von dem objektiv 
gegebenen Gesichtswinkel bestimmt. Im jetzigen Falle dagegen wird der 
Unterschied im Größeneindruck, den derselbe Körper an zwei ver- 
schiedenen Stellen bei gleichem Gesichtswinkel macht, ausschließlich durch 
den Unterschied der beiden scheinbaren Entfernungen bedingt. Daher 
- stehen im letzteren Falle die scheinbaren Durchmesser desselben Körpers 
an den beiden verschiedenen Himmelsstellen in demselben Größen- 
_ verhältnisse zueinander wie die beiden scheinbaren Entfernungen. 


Was für den absoluten Größeneindruck am Monde gesagt wurde, läßt 
sich — mit passenden Einschränkungen — auch auf Sternenabstände 
übertragen. Wir wollen 1. nur Sternenpaare zulassen, die gleiche Höhe 
über dem Horizonte für beide Sterne aufweisen, und 2. uns ausbedingen, 
daß der Abstand zwischen beiden nicht über 10° betrage. Dann gilt alles 
für den Mond Gesagte auch hier. So ist nahe dem Horizonte ein Sternen- - 
abstand von 5° in scheinbarer Größe von etwa 3-5m gesehen; in der 
scheinbaren Mitte des Himmelsquadranten, also in 22%, 33 über dem 
"Horizonte, macht ein solcher Abstand .den Eindruck von etwa 2m usw. 

Archivf.A.u.Ph. 1917. Physiol. Abtle. . 14 


210 WILH. FILEHNE: 


II. Absolute Größeneindrücke am Horizontradius. E: 


Während wir beispielsweise die ersten, zu uns nächsten 3m des 
Horizontradius richtig sehen, verkleinern sich seine ferneren Strecken so 
sehr, daß er im ganzen einen im Vergleiche zu seiner objektiven Länge E 
nur sehr bescheidenen absoluten Größeneindruck machen kann. Wir wollen 4 
versuchen, auch für diese scheinbare Größe einen Zahlenausdruck zu ge- ü 
winnen. % 

In meiner Horizontflächenarbeit hatte ich die relativen Größen 
naher und fernerer Strecken auf abgeteiltem Gelände bestimmt. Jetzt 
soll der absolute Größeneindruck der Gesamtstrecke Horizontradius “ 
durch Vergleich gemessen werden. Aber mehr noch als damals soll alles 
Intellektuelle, alles was auf bewußter Erfahrung, auf Wissen und 
Urteil beruht, möglichst ausgeschieden werden und nur dasjenige wirk- 
sam bleiben, was völlig zwangsmäßig als Folge des räumlichen physie- 
logischen Sehens in unsere unmittelbare Wahrnehmung eingeht. Wir 1 
benutzen deshalb eine Horizontfläche, die keinerlei Hilfsmittel für unser 
Urteil über Entfernungen enthält — keine Bäume, keine Häuser, keine 
Sehlagschatten, keine Ackerfurchen, keine Meereswogen, keine Menschen £ 
usw. Am besten erfüllt diese Anforderungen eine ganz glatte Wasser-. 
fläche, die durch den Horizont begrenzt ist. Der Himmel muß ganz 1. 
wolkenfrei sein, damit nicht durch die sich spiegelnden Wolken, durch 
ungleiche Reflexe, durch Schatten usw. perspektivische Merkzeichen auf 
der Wasserfläche liegen. Wir treten bis unmittelbar an das Wasser 
heran. Bei aufrechter Stellung, bei 1-5 m Augenhöhe, haben wir dann 
einen Horizontradius von objektiv etwa 4-5 km vor uns. 

Um den absoluten Größeneindruck zu bestimmen, den jetzt die Länge 7 
des Horizontradius macht, benutzen wir, wie in der Horizontflächenarbeit 
(1912), die Halbierungsmethode. Es soll nicht der ‘ Horizontradius, 
sondern das Bild des Horizontradius halbiert, sein scheinbarer Mittel- 
punkt bestimmt werden. Zu diesem Zwecke stellt sich der Beobachter ” 
unmittelbar mit seinen Füßen an das Wasser, während ein Badelustiger 
mit dem Ende einer Meßschnur oder eines Bandmaßes, dessen Rolle den F 
Beobachter in der Hand behält, in der Blickrichtung des letzteren so lange 5 
und weit in das Wasser geht, bis dieser den „Mittelpunkt“ des Radius- 
bildes für erreicht hält und halt gebietet. Wie sehr unser Fernsehen sonst 3 
durch bewußte Erfahrung, durch Wissen und Urteil bedingt ist, zeigt 
sich jetzt. Der scheinbare Mittelpunkt des Horizontradius, d.h. die” a 
Mitte des Bildes liest etwa bei 20 m Entfernung — eher bei weniger Ri 
als jenseits von 20 m. Dies bedeutet, daß ‘die Bildlänge des ganzen 5 


Se 
Ss 


ÄBSOLUTER GRÖSSENEINDRUCK BEIM SEHEN. Dalai! 


Horizontradius uns knapp wie 40 m erscheint — gemessen an den „richtig“ 
gesehenen ersten paar Metern des Radius. Und dabei ist er objektiv 
4500 m lang. 

Jetzt fahre am Horizonte rechtwinklig zu unserer Blicklinie ein 
Dampfer, dessen Länge von uns unter 31’ gesehen wird. Wir denken uns 
den Knotenpunkt unseres Auges mit der Mitte der scheinbaren Länge 
- des Schiffes und ebenso mit dem einen Ende der Schiffslänge geradlinig 
verbunden. Dann bilden diese beiden geraden Linien zusammen mit der 
halben Schiffslänge ein rechtwinkliges Dreieck, in dem außer dem rechten 
Winkel noch der am Auge gelegene spitze Winkel gleich 31’/2 und die 
-srößere Kathete, d.i. der scheinbare Horizontradius, gleich 40 m be- 
kannt sind. Daher läßt sich die Länge der kleineren Kathete, d.i. die 
scheinbare Größe der halben Schiffslänge, berechnen. Man erhält für 
- diese den Wert von etwa 0-18 m, also für die ganze scheinbare Schiffs- 
"länge 36cm. Hätten wir die Länge des scheinbaren Horizontradius 
mit 38-8m eingesetzt — was vielleicht noch richtiger als 40m sein 
- würde —, so würden wir genau 85 em für den rein physiologischen Größen- 
eindruck einer am Horizonte unter 31’ gesehenen Bootslänge erhalten 
haben — gerade so, wie wir sie im vorigen Kapitel durch Messung 
gewonnen hatten. 

Sollte unsere Messung des scheinbaren Horizontradius völlig zu- 
verlässig sein, so würde unsere vorige Messung der scheinbaren Boots- 
‚länge nicht völlig zuverlässig sein und statt der 35 cm würde etwa 36 cm 
zu setzen sein. Wenn aber diese vorige Messung mehr Zutrauen verdient 
als unser Halbierungsversuch am Horizontradius, dann ist eben statt 40 m 
die Länge von 38-8 m für den rein physiologisch-optischen Größeneinaruck 
des Horizontradius hinzustellen. 

Man wird sich an den Gedanken gewöhnen müssen, daß bewußte 
Erfahrung und Urteil mehr Anteil an der Vorstellung der Ferne des 
Horizontes haben, als dem physiologischen räumlichen Sehen unmittelbar 
zukommt. 

Es darf mit Sicherheit vorausgesetzt werden, daß bei einem etwa 
dreijährigen Kinde der Horizontradius einen noch geringeren Größen- 
‘eindruck als 40 m unmittelbar hervorruft, und daß auch dieser Teil des 
"unbedingt zwangsmäßigen räumlichen Fernsehens in den nächsten Jahren 
eine weitere Entwicklung, eine „„Dehnung‘“ bis zu 40 m, erfährt. Bewußte 
Erfahrung und Urteil dehnen den Horizontradius später noch weiter, aber 
doch nur so weit, daß er immer noch hinter der objektiven Länge zurück- 
bleibt. Diese letztere Dehnung betrifft aber ausschließlich die Tiefen- 


dimension und wirkt nicht verlängernd auf den am Horizont gesehenen 
14* 


212 Wırn. FILEHNE: | : 


Dampfer und also auch nicht vergrößernd auf den dort erbliekten Voll- 
mond, dessen Entfernungseindruck übrigens nicht über die Länge des 
scheinbaren Horizontradius hinauskommen kann. / 
Nun könnte jemand sagen: da hier ein Horizontradius rein intellektuell 
sedehnt wird, ohne daß gleichzeitig die Länge des auf dem Horizont- 
kreise fahrenden Dampfers, die doch ein integrierendes Stück der 
Horizontperipherie ist, verlängert wird, so haben wir die für geo- 
metrische Betrachtung höchst paradoxe Tatsache, daß psychisch an 
einem Kreise der Radius verlängert werden kann, ohne daß die Peripherie 
srößer wird. 
Aber auch hier liegt nur scheinbar ein Paradoxon, eine Disko | 
vor. Zwar die Schiffslänge wird nicht sedehnt, aber die Peripherie, d.h. 
der Horizontkreis wird erweitert. Im rein physiologischen Sehen maßen 
wir für den Horizontradius vorher 40 m, während wir ihn psychisch wesent- f 
lich dehnten, wenn auch nicht bis zum objektiven Maße von 4-5 km. 
Zu dem Radius von 49m würde eine Peripherie, ein Horizontkreis von 
etwa 251-3 m gehören. Schauen wir uns aber von 1-5m Augenhöhe den R 
Horizont rings um uns an, so erscheint er uns keineswegs so klein, 
sondern wird auf 6000 m, mindestens auf 3000 m und höchstens auf N 
18000 m geschätzt, je nachdem ob der Radius auf 1000, 500 oder 3000 m i 
taxiert wird. Sonach wird die Peripherie genau So wie # 
der Radius. Jenes Paradoxon liest also nieht vor. Trotzdem bleibt 
aber selbstverständlich die Tatsache bestehen, daß die Länge eines recht- 
winklig zu unserer Blickrichtung fahrenden Dampfers, die beispielsweise 
unter einem Winkel von 1° gesehen wird — was für den Dampfer eine 
objektive Länge von 87-2 m bedeutet —, in einer scheinbaren Größe von 
etwa 70 cm gesehen wird, gleichviel ob man sich den Horizontradius 
von 40m im rein physiologischen Sehen erzeugt oder ob man im un- 
befangenen, von bewußter Erfahrung modifizierten Hinschauen den Horizont- 
radius bis zu — beispielsweise — 1000 m und mehr dehnt. # 
Wenn dagegen ein Dampier direkt auf uns zufährt, wenn also seine 72 
Länge mit dem Horizontradius zusammen- und in die Tiefendimension %& 
fällt, dann wird, vorausgesetzt, daß die Länge unter mehr als 507 
gesehen wird, auch sie gedehnt. Dies sind die Konsequenzen unseres s 
räumlichen Sehens. Nur die Tiefendimension wird — und zwar am 
stärksten in horizontaler Richtung — gedehnt. ä 
Wie kommt es aber, daß die Peripherie gedehnt wird, während der a 
einzelne, unter 1° gesehene oder selbst eine Reihe auf dem Horizont- 
kreise dicht hintereinander fahrender Dampfer gleicher Größe an Zahl 
von 100 oder 135, von denen jeder unter 1° gesehen wird, nicht gedehnt 


a 


ÄABSOLUTER GRÖSSENEINDRUCK BEIM SEHEN. 213 


werden, obwohl doch z. B. diese 100 oder 135 Dampfer ein Drittel der 
Peripherie bilden und identisch mit dem von uns gesehenen Teile 
der Peripherie sind? Auch hier ist der Widerspruch nur scheinbar. Jene 
Kette von 100 bis 155 Dampfern wird, ebenso wie der Horizont über- 
haupt, wenn wir uns nicht im Kreise um unsere Achse drehend uns 
ringsherum umschauen, nicht etwa als ein Kreisbogen von 100 bis 135° 
gesehen, sondern, wie ich früher gezeigt habe!, als eine gerade Linie 
bzw. Kette. Diese gerade Linie, die rechtwinklig zur Blicklinie — also 
auch zur Tiefendimension — steht und also keine Tiefenkomponente 
in sich birgt, wird nicht gedehnt, wohl aber der die Tiefendimension 
repräsentierende Horizontradius. 

Bleibt unsere Blickrichtung ungeändert, z. B. horizontal, so hängt 
der Größeneindruck jener nicht tiefendimensionalen geraden Linie des 
Horizontteiles bzw. ihrer Teilstrecken, wie im ersten Abschnitte dieser 
Arbeit gezeigt wurde, ausschließlich von dem Sehwinkel ab, und dieser 
ist objektiv gegeben, kann also durch die bewußte Erfahrung nicht 
verändert werden. Der Horizontradius aber liegt in der Tiefendimension; 
er unterliegt also im räumlichen Sehen der Ausdeutung, er ist variabel 
und wird gedehnt. 

Der Horizontkreis dagegen ist eine sekundäre Vorstellung, ge- 
wonnen durch sukzessive Wahrnehmungen, die beim Umdrehen und 
"Umherschauen gemacht werden. Die Peripherie dieses Kreises wird ent- 
sprechend dem Horizontradius r so gedehnt, daß sie wie bei jedem 
Kreise gleich 2er ist. Das Paradoxon existiert also nicht. 


III. Der kritische Punkt. 


Um einen ‚‚richtigen“ absoluten optischen Eindruck von der Größe 
eines Objektes zu gewinnen, bedarf es eines zwischen bestimmten Grenzen 
liegenden, je nach der Größe des Objektes verschiedenen Abstandes des 
Auges vom Objekte. Den minimalen — geradezu selbstverständlichen — 
Abstand vom Auge bis zum „Nahepunkte‘‘ woilen wir nicht besprechen, 
_ wohl aber ist folgendes hervorzuheben: bei ‚größeren‘ Objekten, z. B. 
dem Kölner Dom, ist es unmöglich, einen ‚‚richtigen‘‘ Größeneindruck zu 
gewinnen. Um überhaupt einen Größeneindruck von dem Dome zu haben, 
darf das Auge nicht etwa nur 1 bis 10m vom Objekte entfernt sein. 
Wir müssen beispielsweise 160 m zurücktreten, um den 160 m hohen Turm 
überblicken zu können. Alsdann sehe ich den in Augenhöhe liegenden Teil 


 t Dies Archiw. 1912. S. 469 u. S. 6. 


N 


aut WıLH. FILEHNE: 


zwar nicht mehr ganz richtig, sondern wegen der schon recht erhcblichen 
Entfernung etwas verkleinert, aber immerhin viel ‘richtiger als alles andere, 
zumal als die höher und vertikal gelegenen, unter schiefem Aufblicke 
perspektivisch verkürzt gesehenen und überdies noch entfernteren Teile. 
Einigermaßen gilt dieses Unrichtigsehen auch noch für weniger große und 
selbst für mittlere und kleinere Objekte. Indes darf dies für ‚„‚mittlere“ | 
‚und „kleinere‘‘ Objekte vernachlässigt werden. Einen in diesem Sinne 
„richtigen“ Größeneindruck kann es also nicht bei großen, sondern nur 
bei mittleren und kleinen Objekten in kleinen und mittleren Entfernungen 
— diesseits des kritischen Punktes — geben. Aber wenn ein Größen- 
eindruck auch nicht riehtig ist, so bleibt er doch „absolut“, d. h. er läßt 
sich in Maßen zahlenmäßig ausdrücken, wozu es nur richtiger Vergleichs- 
objekte bedarf. Und so ist man auch bei a Objekten imstande, 
den Größeneindruck zu bestimmen. 

Um möglichst einfache Versuchsbedingungen zu gewinnen, wählen 
wir als Objekte und als Vergleichsobjekte zunächst weiße kreisrunde 
(zylindrische) Papierscheiben verschiedener Größe. Sie werden so auf- 
gestellt, daß ihr Mittelpunkt in Augenhöhe liegt, und daß unsere Blick- 
linie rechtwinklig zu ihrer (Vorder-)Ebene steht. Unmittelbar neben sie 
wird die Vergleichsscheibe in gleiche Stellung gebracht. Diese bleibt fest u 
an ihrem Orte, die andere kann in beliebige meßbare Entfernung N 
wandern. 5 
Zunächst hat die Versuchsperson sich von den beiden nebeneinander 1 
stehenden Scheiben so weit zu entfernen, daß sie eben gerade einen hi 
bequemen Überblick über die Scheiben hat. Dieser erforderliche Abstand. a 
nimmt mit der Scheibengröße selbstverständlich zu. Dann wandert die 
Versuchsscheibe in horizontaler Richtung rückwärts, bis die er 
person, die ihren Platz beibehält, erklärt, daß die Versuchsscheibe kleiner 
als die stehengebliebene Vergleichsscheibe erscheine. Durch kleinere Hin“ 
und Herwanderungen der Scheibe wird dieser ‚kritische‘ Punkt zahlen- 
_ mäßig festgestellt; diese Zahlen sind selbstverständlich nur Annäherungen. h 

In folgender Tabelle sind einige Versuchsresultate wiedergegeben. Es ” 
bedeutet D den Scheibendurchmesser, A den erforderlichen Abstand, 
‚E die gefundene Entfernung des kritischen Punktes vom 
des Auges, 8, die Größe des Winkels, unter dem der Scheibendurehmesser 
im kritischen Punkte gesehen wird. 4 

Je größer das Objekt, um so ferner vom Auge der kritische Punkt, 
desto größer auch der erforderliche Abstand des Auges vom Objekte. | 
Der Winkel $,, unter dem gesehen das Objekt eben noch den richtigen 
Größeneindruck macht, nimmt mit wachsendem D (Objektgröße) zu, "bez | 


Bar nz 


ÄBSOLUTER GRÖSSENEINDRUCK BEIM SEHEN. 215 


D A E S E 
in m in m in m j D 
0-0005 0-18 0.7, 02027 1400-0 
0004 0-2 1-3 0° 107 32” 325-0 
0.04 0.25 ; 5.5 0° 257 0” 137-5 
0-1 . 0-35 11-5 0° 29° 115-0 
0-16 0-5 18-3 09 30’ 114.3 
0:2 0-65 22-5 0032 112-5 
0-35 0-7 383-8 0° 31’ 0” 110.0 


diese Zunahme verlangsamt sich bald — schon bei D=4 bis 10 cm — 
sehr erheblich und wird zwischen D =16 bis 20 cm minimal. Der Quo- 
tient E/D ist bei kleinen Objekten sehr groß, verkleinert sich bald, 
beginnt bei mittleren Objekten (D = 10 em) sich nur geringfügig zu ändern, 
nimmt aber später schneller ab. Es muß also bei großen Objekten 
schließlich der Fall eintreten, daß der mit D wachsende erforderliche 
Abstand A gleich E wird, d.h. daß das Objekt sofort kleiner wird, 
sobald man sich von ihm über den erforderlichen Abstand hinaus entfernt. 
„Große“ Objekte haben eben keinen ‚‚kritischen“ Punkt und können 
keinen richtigen Größeneindruck machen, wie schon oben betont wurde. 
Dies tritt schon bei einer Objekthöhe von annähernd der doppelten 
Augenhöhe ein, also bei etwa 5m Höhe. Denn wegen der schnell, bei 
wachsender Objektsröße, zunehmenden Entfernung zwischen Auge einer- 
seits und andererseits dem oberen und dem unteren Ende der Objekthöhe 
und hauptsächlich wegen des schieferen Aufblickes auf die von der Mitte 
fernsten Teile des Objektes usw. wird dann der Zustand herbeigeführt, 
daß bei einer über den erforderlichen Abstand hinausgehenden weiteren 
Entfernung das Objekt sich sofort zu verkleinern scheint. 


Wenn man ermitteln will, wie sich der Größeneindruck gestaltet, den 
Scheiben jenseits des kritischen Punktes machen, empfiehlt es sich, 
quadratische Scheiben zu benutzen. Es wurden alsdann zu jedem Ver- 
suche fünf gleiche Quadrate verwendet; das eine als Vergleichsobjekt, 
die vier anderen in folgender Weise. Sobald das eine Versuchsquadrat 
- über den kritischen Punkt hinaus so weit fortgewandert war, daß dieses 
der Versuchsperson etwa halb so hoch wie das Vergleichsquadrat er- 
schien, wurde aus dem beweglichen und den drei Reservequadraten ein 
doppelt so hohes (und doppelt so breites), also viermal so großes Quadrat 
sebildet.. Nunmehr wurde festgestellt, bei welchem Abstande dieses neue 
Versuchsquadrat gleich dem Vergleichsquadrat erschien. Bei den kleinen 
und mittleren Quadraten war die hierzu erforderliche Entfernung etwa 


216 WiLH. FILEHNE: 


— aber nicht genau — gleich 2E, d.h. dem doppelten des Abstandes 
des kritischen Punktes bis zum Auge. 


Bei Benutzung quadratischer Scheiben sieht man noch einiges Be- 
sondere. Läßt man eine quadratische Scheibe über ihren kritischen Punkt 
hinauswandern, so erscheinen sehr bald ihre Ecken abgerundet und bei 
zunehmender Entfernung wird dann die Scheibe anscheinend kreisrund. 
Dieser ‚‚Kreis‘“ verkleinert sich dann bei weiterem Wandern wie bei einer 
objektiv runden Scheibe, wird ausdehnungslos usw. Läßt man zwei 
Quadrate wandern, von denen das eine doppelt so hoch (und so breit) 
wie das andere ist, so erscheinen sie diesseits der beiden kritischen 
Punkte in ihrer richtigen Größe. Sobald sie den für das kleinere Quadrat 
gültigen kritischen Punkt überschritten haben, behält das größere seine 
richtige Größe bis zu seinem kritischen Punkte, während das kleinere 
sich bereits verkleinert: alsdann ändert sich das scheinbare Größen- 
verhältnis zuungunsten des kleineren, und zwar auch dann noch, wenn 
das größere jenseits seines kritischen Punktes sich zu verkleinern beginnt. 
Und sobald das kleinere ‚„‚ausdehnungslos“, d.h. ein Sternfleckehen ge- 


worden ist, ist das Größenverhältnis = ©, so klein und kreisrund auch - 


das größere geworden sein mag. 


Diese Beobachtungen liefern das Verständnis für eine Alltagserscheinung. 
Wenn man mit unbewaffnetem Auge aus größerer Entfernung eine 
Gruppe wohlbekannter Personen (und Tiere) sehr verschiedener Größe * 
sieht, so erscheinen zwar alle verkleinert, aber die kleineren im Vergleiche ° 


zu den größeren unverhältnismäßig klein, winzig. 


Neben anderen sachlichen Einflüssen spielt dieser Einfluß mit, “ 
wenn aus einer Entfernung, die uns die Häuser einer Stadt bereits sehr 
klein erscheinen läßt, die Kirchtürme uns mehr, als den Tatsachen ent- ° 


spricht, hochragend erscheinen. 


Je größer das Objekt wird, um so weiter rückt — wie schon ge- 


meldet — sowohl der kritische Punkt vom Auge ab als auch nimmt der 


zur Betrachtung erforderliche Abstand zu. Aber letzterer nimmt später 
bei Wahl immer größerer Objekte stärker zu als die Entfernung des 


kritischen Punktes, so daß bei einer Objekthöhe von etwa 3m (s. oben) 


beide Werte zusammenfallen. Für diese und noch größere Objekte gibt es 


— wie erwähnt — keinen kritischen Punkt mehr, sondern sie erscheinen 
von vornherein verkleinert und verkleinern sich bei weiterer Entfernung 


noch mehr. 


ee 
a & 


ÄBSOLUTER GRÖSSENEINDRUCK BEIM SEHEN. ZN 


Zu diesen „großen“ Objekten gehören selbstverständlich auch Mond 
und Sonne. Könnten wir uns beliebig noch weiter von ihnen entfernen, 
so würden sie sich weiter verkleinern und schließlich ausdehnungslos, 
d.h. Sterne werden mit der Ausdehnung Null. Wenn aber eine lineare 
Größe wie der Monddurchmesser scheinbar kleiner und kleiner und schließ- 
lich Null wird, so muß sie vorher auch beispielsweise die Werte 35 cm, 
20 cm usw. angenommen haben. Und es konnte sich nur um die Frage 
handeln, wie man die ‚Messung‘ vorzunehmen habe. Durch die Fest- 
setzung des „kritischen Punktes“ ist jetzt diese Messung auf dem Wege 
der Vergleichung gegeben, während die früheren Vergleichungen dieser 
Grundlage entbehrten. 


Wir haben oben geschildert, daß das Größenverhältnis zwischen einem 
sroßen und einem kleinen Quadrate diesseits des kriiischen Punktes des 
kleineren optisch richtig wahrgenommen wird, daß aber jenseits dieses 
Punktes das scheinbare Größenverhältnis sich zuungunsten des kleineren 
- Quadrates mehr und mehr ändert. Selbstverständlich findet man das 

gleiche, wenn man statt der Quadrate zanz schmale rechteckige Streifen 
benutzt. Diese Änderung zeigt sich im gleichen Sinne auch dann, 
wenn man nur den kleineren Streifen wandern läßt und ihn mit der 
Größe der zwischen unserem und seinem Fußpunkte befindlichen Fuß- 
bodenstrecke vergleicht. Denn obgleich bei zunehmender Größe dieser 
Strecke die neuen Zuwachse sich mehr und mehr verkleinern, so ver- 
kleinert sich doch für das Auge die Gesamtstrecke nicht nur nicht, 
sondern nimmt — wenn auch in abnehmendem Maße — sogar an Länge 
zu. Dagegen verkleinert sich die Länge jenes wandernden schmalen Papier- 
streifens — scheinbar —, sobald er auf seiner Wanderung für unser Auge 
jenseits des kritischen Punktes gelangt ist. Von diesem Zeitpunkte der 
Entiernungszunahme an ändert sich in steigendem Maße das von uns 
wahrgenommene Größenverhältnis zwischen Länge des Streifens und 
sonstiger flächenhaft (nicht in die Tiefe) wahrgenommener Gegenstände 
einerseits und andererseits der zwischen uns und dem Streifen bzw. den 
flächenhaft gesehenen Gegenständen gelegene Fußboden- bzw. Horizont- 
flächenstrecke, und zwar zuungunsten des Streifens und der flächenhaft 
erscheinenden Gegenstände. Hierbei ist es gänzlich belanglos, ob der 
Entfernungseindruck richtig oder zu klein ist. Nur muß der Größen- 
eindruck des flächenhaft gesehenen Objektes zu klein sein im Vergleich 
zur objektiven Größe, das Objekt muß jenseits des kritischen Punktes 
sich befinden. | 


218 WıLH. FILEHNE: 


IV. Das Weltbild. 


In meiner Horizontflächenarbeit! hatte ich nachgewiesen, daß wir die 
Meeresfläche konkav sehen, und hatte die Entstehung dieser Aushöhlung 


sowie ihre Abhängigkeit von der Aussichtshöhe aufgeklärt. Ich sagte dort: 4 


„Wenn rings um uns der Fußboden nach allen Richtungen ... sich zu 
heben scheint, so müssen wir beim Umherschauen in einer Vertiefung 
zu sein vermeinen. Und da beim Blicke in die nächste Nähe der Fuß- 
boden horizontal bzw. nur schwach ansteigend erscheint, so kann uns der 
gesamte Fußboden — die Meeresfläche — nicht etwa wie ein Trichter 
(Kegel), sondern nur: wie ein Uhrglasschälchen, d. h. als nach oben offene 
Kugelkalotte erscheinen.“ Heute wünschte ich, ich hätte diesen Gedanken 
— wozu damals allerdings kein Anlaß vorlag — schon damals zu Ende 
gedacht. Dann würde ich bezüglich des Wortes „Kugelkalotte‘ sofort 
eine einschränkende Bedingung hinzugefügt haben, die im vorliegenden 


Falle nicht erfüllt ist. Nach dem, was wir jetzt vom physiologischen Bilde 


erkannt haben, drängt sich diese Berichtigung ohne weiteres auf. Es 
bätte dort heißen müssen: jene Aushöhlung würde eine Kugelkalotte sein, 
wenn objektiv gleiche Stücke des Horizontradius allenthalben gleich 
lang erschienen. Da aber diese Stücke um so kleiner erscheinen, je ferner 


sie dem Auge liegen, so muß aus der Kugelkalotte ein halbes, in der 


Äquatorialebene geteiltes Rotationsellipsoid werden, dessen ganze langen 
Achsen die Horizontdurchmesser und dessen halbe kleine Achse die 
Augenhöhe sind. Ich vnterlasse den Nachweis hierfür, da ich bei früheren 


Gelegenheiten für den Übergang eines Kreises in eine Ellipse die erforder- 
lichen theoretischen Unterlagen beigebracht habe. Nur das eine möchte 
ich betonen: das scheinbare Himmelsgewölbe und die scheinbar ausgehöhlte 


Meeresfläche liefern zusammen jetzt eine einheitliche Form. Die neue 


Erkenntnis erlaubt außerdem, die Gestalt des scheinbaren Himmelsgewölbes 


an der scheinbaren Gestalt der Meeresfläche zu studieren. Endlich ‘aber 


gibt der erzielte Fortschritt uns das volle Recht, folgendes hinzustellen: 
als Kinder von etwa drei Jahren haben wir den „„Himmel‘ in einer Form 


und Größe gesehen, die kongruent der war, die damals die Meeresfläche 
— auf offener See — für uns hatte. Beide zusammen bildeten damals, 


Pe ne 
el 


re DE Dane 


BES 0 207 
Re 


= 


2 ; B 


E WE Mai 


indem sie sich ihre Konkavitäten zukehrten und sich an ihren kreisrunden 
(äquatorialen) Rändern berührten, d.h. indem sie den Horizont gemein- 
sam hatten, ein einheitliches, ganzes Rotationsellipsoid. Erst in gr 
den darauffolgenden Jahren, unter zunehmender bewußter Erfahrung, 


1 Dies Archiv. 1912. Physiol. Abtlg. S. 461, spez. S. 476. 


ÄBSOLUTER GRÖSSENEINDRUCK BEIM SEHEN. 219 


wich der Himmel aus den früher besprochenen Gründen über und vor 
uns zu größter Höhe und F.rne zurück; der Horizontradius dehnte sich 
am meisten, die Zenithöhe am wenigsten. Und weil sich der Horizont- 
radıus dehnte, vergrößerte und erweiterte sich auch die Meeresfläche, 
während der Horizont beiden Hohlräumen gemeinsam blieb. Aber im 
Gegensatze zur Zenithöhe, die sich dehnte, blieb die Augenhöhe, da sie 
in ihrer Größe „richtig“ gesehen wurde, im wesentlichen unverändert, 
und die Aushöhlung der Meeresfläche vertiefte sich nicht. So mußte 
sich die Inkongruenz von Himmelsgewölbe und Meeresflächenaushöhlung 
herausbilden. , 

Das Weltbild des Erwachsenen gestaltete sich also wie folgt: Oben, 
mit Konkavität nach unten, das hohe halbe Sphäroid des Himmels-. 
sewölbes, in dem sich die großen Halbachsen zur kleinen Halbachse 
(Rotationsachse) wie 3-77: 1 verhalten. Unten, mit Konkavität nach oben, 
das minder hohe halbe Sphäroid, das mit jenem oberen den Horizont- 
kreis, also auch die großen Achsen, gemeinsam hat. Die kleine Halbachse 
ist hier aber im Vergleiche zur Zenithöhe sehr klein — nämlich die 
Augenhöhe. Daher ist das Größenverhältnis der großen Halbachsen zur 
kleinen hier viel größer. Mit zunehmender Aussichtshöhe wächst zwar 
die kleine Halbachse- des unteren Halbsphäroids bis zur Höhe von etwa 
10000 m, nimmt dann aber wieder progressiv ab. Bis 10 km Höhe bleibt 
der Horizont — scheinbar — in Augenhöhe; von da an, wenn wir größere 
Höhen erreichen könnten, würde der Horizont unter uns bleiben und 
das Weltbild würde entstellt erscheinen. | 
| Wie groß das Verhältnis zwischen großer und kleiner Achse an dem 
unteren Halbsphäroid für die verschiedenen Augen- bzw. Aussichtshöhen 
sich gestaltet, sei kurz angedeutet. Objektiv wachsen mit zunehmender 
Aussichtshöhe beide Achsen, das Verhältnis dieser objektiven Achsen- 
srößen nimmt aber bis zu 10 km Höhe ab, von da an wieder zu. Dieses 
Verhältnis ist bei Augenhöhe 1-6m gleich 2812:1, bei 10 km Höhe ist 
das Minimum erreicht mit 35-7:1. Dieses Verhältnis darf man auch für 
die scheinbaren Größen gelten lassen; jedenfalls wird es nicht kleiner 
werden. Und da nun am Himmelsgewölbe dieses Verhältnis gleich 3-77:1 
ist, so kann beim Erwachsenen nie und nirgends die Kongruenz der beiden 
Halbsphäroide zustande kommen, während wir für das etwa dreijährige 
Kind das Bestehen einer solchen Kongruenz behaupten durften. 

Jetzt ist klar, wie das Weltbild des Erwachsenen entstanden ist. 
Als zwei- und dreijährige Kinder hatten wir das räumliche Sehen für die 
nächste Umgebung bereits entwickelt. Die Entfernung zwischen unserem 
Auge und unserem Fußboden wurde richtig gesehen. Auch bis etwas 


220 Wırn. FILEHNE: 


oberhalb unserer Augen sahen wir richtig, wie auch sonst nach allen 
Seiten; zumal in horizontaler Richtung war das richtige räumliche 
Sehen auf etwas weitere Strecken erlernt. Aber der Horizontradius war 
noch sehr kurz, es fehlte die intellektuell bedingte Dehnung, die Ver- 
tiefung noch. Je ferner die Strecken, um so verkürzter erschienen sie 


— schon damals wie heute — nach allen Richtungen. Daher das rotations- n 


ellipsoidische Weltbild des Kindes. Bewußte Erfahrung dehnten allmäh- 
lich den Horizontradius und dehnte so das Himmelsgewölbe und zugleich 
die Horizontfläche in horizontaler Richtung. Gleichzeitig wurde der Himmel 
durch die bewußte Erfahrung in vertikaler Riehtung mehr und mehr ab- 
gedrängt. Nur die „richtig“ erkannte Augenhöhe blieb ungeändert. Daher 
unser jetziges Weltbild. | 


V. Der absolute Größeneindruck der durch ein Rohr hindurch 
betrachteten Gegenstände. 


In einer 1910 veröffentlicenten Arbeit! hatte ich mitgeteilt: wenn man 
durch ein enges Rohr, z. B. durch die zum Rohr sekrümmte Hand, einen 
nahe dem Horizonte befindlichen Gegenstand betrachtet, so erscheint 
er weniger als halb so groß im Vergleiche zu dem bei gewöhnlichem Hin- 
schauen gewonnenen Größeneindrucke. Dies gilt sowohl für irdische 
Gegenstände und Wegstrecken, als auch für den Mond und Sternabstände. 
Je weiter vom Horizonte entfernt das Objekt liegt, je näher es also auf 
der Horizontfläche unserem Fußpunkte oder am Himmel zum Zenite sich 
befindet, um so geringer ist die Verkleinerung, die bei etwa 35 bis 40% 
(vom Horizonte) fast unmerklich und bei 45° bis heran zum Fußpunkte 
bzw. Zenite gleich Null wird. Durch diese Tatsachen war das „Dehnen“ 
der sagittal-horizontalen Komponente durch die bewußte Erfahrung 
erwiesen. Indem das Rohr dem Auge das Material für die Aus- 
deutung der Entfernung entzieht, ohne den Gesichtswinkel zu ändern, 
muß der unter ungeändertem Winkel in anscheinend seriu un Ent- 
fernung gesehene Gegenstand kleiner erscheinen. 

Diese Verkleinerung kommt also nur durch die Ausschaltung der. 


mehr oder weniger bewußten Erfahrung zustande, nicht aber wird die 2 


völlig mechanisierte, aus der ersten Kindheit stammende Erfahrung, 
auf der das erste räumliche Sehen beruht, von diesem Einflusse 


betroffen. Denn Gegenstände und Strecken, die auf der Horizontfläche 3 j 


nur 3m von unserem Fußpunkte entfernt sind, werden durch das Rohr a. 


1 Dies Archiv. 1910. Physiol. Abtlg. S. 395ff., spez. S. 399. 


ÄBSOLUTER GRÖSSENEINDRUCK BEIM SEHEN. 221 


nicht verkleinert — ebensowenig wie Mond und Sternenabstände hoch 
am Himmel. 
Haben wir bei freiem Ausblicke — d.h. ohne Rohr — dem eben 


aufgegangenen Vollmonde durch Vergleichung mit einer in etwa 5m Ent- 
fernung befindlichen gut beleuchteten Vergleichsscheibe einen Durchmesser 
von 35 cm zusprechen müssen, so bestimmt sich bei Betrachtung mittels 
des Rohres der Monddurchmesser auf l1dcm. Er ist also nur noch 
5/,.— :/, =0-428 des frei gesehenen. Mit 15 cm Durchmesser zeist sich 
der Mond aber ohne Rohr bei 40 bis 45° Zenitabstand bzw. 50 bis 45° 
über dem Horizonte — also etwa in der astronomischen Mitte des 
Himmelsquadranten. Im Zenite erscheint der Durchmesser gleich etwa 
9cm. Demnach ist in allmählich wachsendem Maße für den Fußboden 
die Strecke von etwa 3m bis zu unserem Fußpunkte, für den Himmel 
der Bogen von 40 oder 45° bis zum Zenite in bezug auf absoluten Größen- 
eindruck das Wirkungsgebiet der völlig mechanisierten Erfahrung und 
des zwangsmäßigen räumlichen Sehens. Dagegen ist am Fußboden von 
_ etwa 5m Entfernung an bis zum Horizonte und am Himmel etwa von 
der Mitte des Quadranten an bis zum Horizonte in allmählich abnehmendem 
Maße die bewußte Erfahrung bestimmend für das räumliche Sehen und 
für die absoluten Größeneindrücke. Dort, im Wirkungsgebiete der völlig 
mechanisierten Erfahrung, wirkt das Rohr nicht verkleinernd. Dort sehen 
wir sowohl den Fußboden, als auch, nach seinem Muster, den Himmel 
ım wesentlichen als horizontal liegende (ganz schwach sphäroidisch ge- 
krümmte) Ebene — ersteren, weil er, der mechanisierten Erfahrung nach, 
es wirklich ist, letzteren, weil keine Erfahrung dagegen spricht und weil 
unser Sehorgan unendliche Räume in der Tiefendimension nicht wahr- 
zunehmen vermag. Daher muß uns der Zenit näher erscheinen als ein 
40° von ihm abstehender Himmelspunkt. Daher erscheint uns der Mond 
im Zenite näher und also kleiner als in 40° Zenitabstand, nicht obwohl, 
sondern weil er an beiden Punkten unter gleichem Gesichtswinkel ge- 
sehen wird. 


Über den Gang mit künstlichen Beinen. 


Von 
Prof. Ren& du Bois-Reymond 


in Berlin. 


Zweiter Abschnitt. 


Vergleiehung der Bewegung beim schnellen und langsamen 
Gehen. 


I. Angaben von den Gebrüdern Weber und von Marey. 


Wenn man mehrere Aufnahmen vom Gang desselben Menschen oder 
auch Aufnahmen vom Gang verschiedener Menschen miteinander ver- 
gleichen will, so stört dabei der Umstand, daß die Ganggeschwindigkeit 
in der Regel verschieden ist. Wenn man dann zwischen den Bewegungen, 
die bei schnellerem und bei langsamerem Gehen gemacht worden sind, 
Unterschiede findet, weiß man nicht, ob diese bloß auf die verschiedene 


Geschwindigkeit des Ganges oder auf andere Unterschiede zurückzu- 3 


führen sind. | 4 
Insbesondere ist der Gang mit Kunstbeinen meist beträchtlich lang- 


samer als der des Gesunden, namentlich, wenn es sich um ungeübte Kunst- 


beingeher handelt, und es ist daher unmöglich, zwischen normalem Gang 
und Kunstbeingang einen Vergleich anzustellen, wenn man nicht zuvor 
die Unterschiede zwischen den Gehbewesungen bei langsamem und bei 
schnellem Gang kennengelernt hat. 

Schon die Gebrüder Weber! und später E. J. Man haben Ver- 
eleichungen zwischen schnellem und langsamem Gehen angestellt, aber 
nur in bezug auf das Verhältnis von Schrittdauer und Schrittlänge. Man 
darf sagen, daß über die Unterschiede der Bewegungsform bei schnellem 
und langsamem Gange, deren Kenntnis eine Vorbedingung für die Ver- 


1 Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge. Dritter Teil. Göttingen 1836. 
2 Vgl. Weiss, Physique biologique. Paris 1901. Vol. I. p. 167. 


REnk ou Bois-REyMoND: ÜBER DEN GANG MIT KÜNSTLICHEN BEINEN. 223 


sleichung des Ganges verschiedener Menschen ist, bisher überhaupt nichts 
bekannt ist. 

| Allerdings liegen die Unterschiede in Dauer und Länge der Schritte 
den Unterschieden in der Form der Bewegung zugrunde. Es wird daher 
nützlich sein, in Kürze auf die Ergebnisse der Untersuchungen der Ge- 
brüder Weber und E. J. Mareys einzugehen. 

Die Gebrüder Weber haben gefunden, daß bei schnellerem Gehen 
die Länge der Schritte zunimmt, während zugleich die Dauer abnimmt. 
Dies Ergebnis ist in ihrem Werke in $106 in der Tab. 19 mitgeteilt. 
In den Erörterungen, die sie daran knüpfen, fußen sie durchaus auf der 
Vorstellung, daß das Bein beim Vorschwingen unbeeinflußt von Muskel- 
kräften eine halbe Pendelschwingung ausführe. Da beide Voraussetzungen, 
auf denen diese Anschauung ruhte, nämlich, daß das Bein nur bis in die 
senkrechte Lage schwinge und daß dies ohne Einwirkung von Muskeln 

 geschähe, sich als irrig erwiesen haben, sollen hier nur die Beobachtungen 

- der Gebrüder Weber in Betracht gezogen und ihre Folgerungen unbe- 

- rücksichtigt gelassen werden. Auch auf ihre weiteren Beobachtungen über 

schnellen und langsamen Gang soll nicht eingegangen werden, weil dabei 
teils auf den Ballen gegangen wurde, teils die Länge oder die Dauer der 
Schritte vorgeschrieben wurde, so daß es sich nieht mehr um natürlichen 
Gang handelt. 

Das letzte gilt auch von einem Teil der Untersuchungen Mareys, 
in denen außerdem die Zahlenangaben so beschränkt sind, daß sie nur den 
von den Veriassern gezogenen Schlüssen zur Grundlage dienen können. 

Demnach sind für den vorliegenden Zweck nur die Angaben der 

_ Gebrüder Weber in ihrer Tab. 19 zu gebrauchen. Diese umfaßt die 
Schrittzahl über 43-43 m, die dazu gehörige Zeit und, daraus berechnet, 
Schrittdauer, Schrittlänge und Ganggeschwindigkeit. Diese Werte sind 
für 20 verschiedene Ganggeschwindigkeiten gegeben. Es mögen hier die 
20., 11. und 1. Zeile folgen: 


| Zahl Zeit Dauer | Länge | Geschwind. 
sec sec m m/sec 

20. lea 1". 114.40 1-050 0-298 0-379 

Il. 59 | 45-72 0.663 0-629 0:949 

ib Sue 2 12 0-335 0-851 2-397 


Die Betrachtung dieser Zahlen ergibt, daß, während die Geschwindig- 
keit im Verhältnis von mehr als 1:6 zunimmt, die Schrittlänge im Ver- 
hältnis von wenig mehr als 1:2 wächst und die Schrittdauer im Ver- 


224 RENE Du Boıs-REyMonND: 


hältnis von mehr als 3:1 abnimmt. Wenn man also sagt, daß, um die 
Geschwindigkeit des Ganges zu erhöhen, zugleich die Schrittlänge erhöht 
und die Schrittdauer vermindert wird, so ist wohl zu beachten, daß 
„zugleich“ nicht auch ‚in gleichem Maße‘ bedeutet. In größter Ännähe- 
rung wäre es sogar richtiger, zu sagen, daß die Geschwindigkeit des Gehens 
nur. durch Verkürzung der Schrittdauer vermehrt werde, da die Ver- 
srößerung der Schrittlänge viel weniger ausmacht. 


II. Durchmusterung der Aufnahmen von schnellem und langsamem Gang. 


Aus äußeren Gründen habe ich mich zunächst darauf beschränkt, die 
Bewegungen von Ober- und Unterschenkel allein aufzunehmen. 

Von zwei Versuchspersonen, R. und K., wurden je zwei Proben lang- 
samen und schnellen Ganges aufgenommen, die folgende Zahlen ergaben: 


R.: Beinlänge (mit Stiefel vom Boden zum Trochanter gemessen) = 95 em. 
K. (ebenso) = 100 cm. 


Länge eines | Dauer eines ae 
Re Geschwindig- 


t einfachen Doppel- : 
Name Nr Schrittes schrittes ze 
en R sec m/sec 
R. n 53 1 . 3l (0E sl 
9, 64 £ 1 . 44 0) ” 83 
3; 95 1 . 34 2 a 26 
A. 98 1 . 34 2 g. 36 
K 1 5 63 1:96 l- 36 
9, 72 1- 93 l- 56 
3 89 1: 75 2 g 37 
A 97 1 . 75 2 R 39 


Von jeder dieser Proben war gleichzeitig die rechte und linke Ansicht 
aufgenommen worden, so daß im ganzen 16 Bilder zur Untersuchung vor- 
lagen. 

Die planmäßige Durchmusterung der Aufnahmen ergab über die 
Stellungen des Oberschenkels folgendes (vgl. die Zahlenübersicht ]). 

Im dritten Stabe ist vermerkt, wie groß die Vorneisung während 
der Stützung ist, das heißt der Winkel, den der Oberschenkel mit der 
Senkrechten einschließt in dem Augenblick, in dem die Ferse sich vom 
Boden zu heben beginnt. Der vierte Stab gibt an, an welcher Stelle der 


” 
er Sr ee 
ET PETE NE uni One en en 


Oberschenkel durch sein Vorwärtsschwingen aus der geneigten Lage in 


die senkrechte übergegangen ist. Hierdurch soll über die Geschwindigkeit, 


mit der sich der Oberschenkel gegen den er bewegt, Rechenschaft 
gegeben werden. 


ÜBER DEN GANG MIT KÜNSTLICHEN BEINEN. 225 


0 05 7 75m 
Die k 
. Langsamer Gang. Stellungen des Ober- “und Unterschenkels während eines Doppel- 
schrittes, von senkrechter Stützung bis zu senkrechter Stützung. Länge des Doppel- 
schrittes 1-26 m, Dauer 1-16 sec, Geschwindigkeit 1-lm. 


0 | 05 7 75 % 2m 
r Fig. 2. 
Schneller Gang. Wie Fig.1. Länge des Doppelschrittes 1:90 m, Dauer 0-8 sec, 
Geschwindigkeit 2-3 m. 
Archivf.A.u.Ph. 1917. Physiol. Abtlg. 15 


£ 
226 RENE DU Bois-REyMonD: 
Zahlenübersicht 1. 
Stellungen des Oberschenkels. ? 
Il, 2. 3. 4. 5. 6. U: 8. 
Auf Neigungs-| Senkrecht Ort Winkel Ob Winkel 
nahme Saite winkel |i.einfach. | größter | größter | zurückge-Jam Ende 
Nr. a. Anfang | Schritt | Beugung | Beugung | nommen |des Schr. 
Langsam: 
R.ı1 links wenig vor ?/, 2a 32 + 17 
rechts |s wenig vor ?/, Se, 22 -- 12 
2. links wenig als m 26 —_ 24 
rechts 11 = 25 32 _ 23 
K. 5 links 14 als, ER 14 - 17 
rechts 14 nach ?/, la 14 _ 13 
6 links 10 vor ?/s ar 21 (27) _ 20 
rechts 17 (18) = En 14 f+! 12 
Schnell: 
BB links 17 2, 1), 31 ae 30 
rechts 13 2); als 27 iiS= 30 
4. links 11 2), 1), 21 £ 33 
rechts 15,97 = am Ende 24 _ 33 i 
x 7 links 135% 2, |amEnde| 25 - 25 
rechts 13 Se am Ende 15 —_ 15 a 
8. ‚|| links wenig vor 2); 3 34 f- 30 x 
rechts 11 2, am Ende 27 _ 24 


R 
An fünfter und sechster Stelle ist angegeben, an welcher Stelle des \ 


einfachen Schrittes die stärkste Vorwärtshebung des Oberschenkels liest » 
und wie groß der Winkel zur Senkrechten an dieser Stelle ist. Ä 

An siebenter Stelle ist ein +-Zeichen gesetzt, wenn der Oberschenkel 
relativ zum Körper sich wieder dorsalwärts streckt, ein —-Zeichen, wenn 


der Oberschenkel seine Beugung beibehält. 


Im achten und letzten Stabe ist angegeben, wie zroß der Winkel ist, 
den der Oberschenkel mit der Senkrechten einschließt im Augenblick, in 


dem die Ferse auf den Boden gesetzt wird. 


Von Einzelheiten in der Bewegungsform des Unterschenkels wurden 
ausgemessen die in der Zahlenübersicht II enthaltenen Angaben: 
Im ersten und zweiten Stabe stehen Aufnahmenummer und Körper- 


N DE anne 


seite, im dritten der Neigungswinkel des Unterschenkels gegen die Senk- 
rechte während des Stützens, im vierten der Winkel gegen die Senkrechte 
bei stärkster Beugung während des Vorschwingens, im fünften der Ort 
dieser stärksten Beugung nach der Reihenzahl der aufgenommenen Einzel- 
stellungen im Laufe eines Doppelschrittes, im sechsten der Winkel, um 
den sich der Unterschenkel zwischen zwei Einzelstellungen am Ende des 


1 f bedeutet ‚‚fast gar nicht‘‘. 


Br 


ÜBER DEN GANG MIT KÜNSTLICHEN BEINEN. 227 


2a hlenübersicht 11. 


Stellungen des Unterschenkels. 


ll: 2. 3. 4. > 6. ze 
Auf- i Neigungs- | Größte Schleude- | Neigung 
nahme Seite winkel Beugung Ort rung beim 
Nr. i. Stützen Aufsetzen 
Langsam: { 
V. links 17 (22) 54 5 30 9 (7) 
rechts 14 (21) 50 5 30 19 
2: links 19 (25) 45 5 30 14 
rechts 25 56 5 30 14 
5. links Ir 50 5 35 14 
Il rechts 14 56 5 28 (28) 9 
6. links 17 47 6 26 12 
rechts 14 — 6 27 (21) 18 
Schnell: 
3. links 29 57 4 52 10 
rechts 15 65 4 54 22 
4. links 29 66 4 ‘55 16 
rechts 20 66 4 56 18 
7% links 17 59 4 48 25 
| rechts 21 — — 40 19 
8. links 17 53 4 41 11 
| rechts 20 57 4 34 14 


Vorsehwingens bewegt, und endlich im siebenten die Neigung gegen die 
Senkrechte beim Niedersetzen des Fußes. 

Weiter wurden ausgemessen und in einer dritten Übersicht vereinigt: 
Im dritten Stabe die stärkste Beugung des Knies beim Vorschwung, der 
Beugungswinkel des Knies während des Stützens und die Winkel, die die 
Verbindungslinie von Hüft- und Fußgelenk, sozusagen die Längsachse des 
Beines, beim Abstoßen des Fußes vom Boden und beim Niedersetzen der 
Ferse mit der Senkrechten macht (vgl. Zahlenübersicht III). 

Endlich wurden noch die Formen der Wellenlinien verglichen, die das 
Hüftgelenk bei jedem Schritte beschreibt (vgl. Zahlenübersicht IV). 

An den Zahlenreihen wird auffallen, daß sie geringere Übereinstimmung 
zeigen, als bei der bekannten Gleichförmigkeit der Gehbewegung zu erwarten 
wäre. So finden sich für rechte und linke Seite desselben Doppelschrittes 
erhebliche Abweichungen. Man könnte dies auf Mängel der Versuchs- 
anordnung zurückführen wollen, wie etwa auf den Umstand, daß die 
Versuchsperson nur wenige Schritte zu machen hatte, wobei es schwer ist, 
unbefangen und gleichförmig auszuschreiten. Diese Art Fehler sind aber 

1 Die in Klammern beigefügten Zahlen beziehen sich auf einen anderen Schritt 


derselben Aufnahme. 
15* 


28 RENE Du Bois-REYMoND: 


Zahlenübersicht IL. 


Stellungen des Knies und Beines. 


1,80 2. a 4. 5. I), ao 
Auf- Größte Knie- Bein Bein 
nahme Seite Beugung | winkel beim . beim 
Nr. ' \ des Knies | i. Stützen | Aufsetzen | Abstoßen 
Langsam: 
ll; links 115 14 74 72 
rechts 120 12 75 RZ 
DR links 109 25 75 el 
rechts 110 18 80 70 
5. links N 8 4 70 8 71 
rechts 125 7 79 zul 
6. links 124 7 74 ze 
rechts _ RT sl 63 
Schnell: ; 
3. links . 100 26 67 70 
rechts 107 22 72 "63 
4. links 96 31 65 7 
rechts 110 30 73 1.276 
a links 118 17 65 7 
rechts — 25 69 762 
8. links 114 113 TO 77 


rechts 120) 7 7: 11 72 61 


| Zahlenübersicht IV. 
Wellenlinie des Hüftgelenkes. 


Auf- Gipfel zu Anfang, Mitte Schwinghügel 
hahme Seite : oder Ende vom größer oder 
N La kleiner als 
& Schwinghügel Stützhügel || Stützhügel 
Langsam: 

1. links Anfang Mitte 
rechts ‘ Mitte Ende — 

2. links Mitte . Mitte + 
rechts Mitte Mitte = 

5. links Ende Ende + 
rechts Anfang Ende + 

6. links Ende Mitte — 
rechts Mitte Mitte + 

Schnell: 

SHE links Ende _ Anfang — 
rechts Anfang Anfang — 

4. links Ende Anfang — 
rechts Mitte Anfang _ 

ze links Mitte Anfang — 
rechts Mitte, Anfang = 

8. links Anfang Anfang = 
rechts Mitte © Anfang — 


ÜBER DEN GANG MIT KÜNSTLICHEN BEINEN. 229 


an der Ungleichförmigkeit der Zahlenreihen nur zum kleinsten Teile schuld. 
Der Grund, weshalb die Zahlen nicht besser stimmen, liegt vielmehr darin, 
daß die bei den Aufnahmen abgebildeten Stellungen nur eine kleine Aus- 
wahl aus der Gesamtheit der durchlaufenen Stellungen ausmachen, so daß 
bei der Messung etwa eines Maximums nicht das Maximum selbst, sondern 
nur die Stellung, die dem Maximum am nächsten kommt, zugrunde gelegt 
werden kann. Da bei den verschiedenen Aufnahmen die abgebildeten 
Stellungen auf verschiedene Zeitpunkte im Verlauf des Schrittes fallen, 
werden die gem«ssenen Zahlen daher im allgemeinen auch keine genaue 
Übereinstimmung zeigen können. Die Zahl der Einzelaufnahmen in der 
Zeiteinheit so weit zu erhöhen, daß dieser Hehler verschwindet, oder die 
gesuchten Stellungen durch Interpolation genau zu bestimmen, wie es 
Fischer getan hat, würde die Untersuchung so umständlich und mühsam 
machen, daß sie, wie das Fischersche Verfahren, nur auf einzelne Fälle 
angewendet werden könnte. 


A. Bewegung des Oberschenkels. 


Betrachtet man die einzelnen Zahlenübersichten, so ergibt sich 
folgendes: In der Bewegung des Oberschenkels zeigt sich nur die etwas 
lebhaftere Tätigkeit beim schnelleren Gehen, ohne wesentliche Unter- 
schiede in der Form der Bewegung. Der Neigungswinkel am Anfang 
des Schwingens, also gleich nach dem Abstoßen der Fußspitze vom Boden, 
ist nach dem dritten Stabe der Übersicht im Durchschnitt um 4% größer 
als beim langsamen Gehen. Das bedeutet, daß der Oberschenkel zu An- 
fang des Schwingens entsprechend der breiteren Spreizung der Beine 
- infolge der größeren Länge der Schritte stärker nach vorn übergelegt 
wird. Die senkrechte Lage wird beim schnellen und beim langsamen 
Gehen an derselben Stelle im Verhältnis zur Schrittlänge erreicht, wie 
der vierte Stab ausweist. Im fünften Stab findet sich für den schnelleren 
Gang im Gegensatz zum langsameren wiederholt als Ort der größten 
- Beugung, das heißt Ventralflexion des Oberschenkels, das Ende der 
Schwingung angegeben. Der Unterschied ist aber ganz geringfüsie, weil 
gegen Ende des Schwingens der Oberschenkel sich annähernd parallel mit 
sich selbst bewegt. Der Beugungswinkel bleibt also im allgemeinen gleich 
oder er nimmt in den im siebenten Stabe mit + bezeichneten Fällen 
etwas ab. In einzelnen Fällen, in denen die Kniebeugung während des 
Stützens besonders groß ist, nimmt sie dagegen ein klein wenig zu. Die 
Bedeutung dieser Bewegung liegt darin, daß beim Vorschwingen des Ober- 
schenkels der Unterschenkel anfänglich zurückbleibt, so daß das Knie 


230 RENE Du Boıs-REeyMmonD: 


einknickt. Wenn am Ende des Vorschwingens die Bewegung des Ober- 


schenkels verlangsamt wird, beharrt der Unterschenkel in seiner Bewegung, 


so daß das Knie sich wieder streckt. Die Verlangsamung kann so stark 
sein, daß der Oberschenkel eine relative Rückwärtsbewegung macht, wie 


das in den mit + bezeichneten Fällen eingetreten ist. Beim Gehen mit 
Kunstbeinen spielt diese Bewegung, die als „Zurücknehmen“ des’ Ober- 
schenkels bezeichnet werden mag, eine wichtige Rolle, und es ist deshalb 
beachtenswert, daß sie bei schnellem und langsamem Gehen in gleicher 
Weise auftritt. In der achten, letzten Spalte steht der Neigungswinkel 
des Oberschenkels beim Aufsetzen des Fußes, der bei dem schnelleren 
Gang durchschnittlich um 10° größer ist als bei langsamem. Ebenso wie 


der Neigungswinkel des Oberschenkels beim Abstoßen (dritter Stab), hängt 
auch dieser Winkel mit der Spreizung der Beine beim Ausschreiten zu- 


sammen. Es ist aber wohl zu beachten, daß es sich hier nur um die 


Neigung des Oberschenkels handelt, die durchaus nicht mit der des ganzen > 
Beines gleichzusetzen ist. Diese hängt nämlich ebensosehr von der 
Neigung des Unterschenkels ab und kann also je nach dem Beugungs- 
winkel des Knies von dem Neigungswinkel des Oberschenkels ab- 


weichen. 


/ 


B. Bewegung des Unterschenkels. 


Die zweite, den Unterschenkel betreffende Zahlenübersicht läßt 


erkennen, daß nach dem dritten Stab der Neigungswinkel des Unter-, 


schenkels gegen die Senkrechte, während der Körper vom Bein unter- 
stützt wird, beim schnellen Gehen merklich größer ist als beim langsamen. 
Dies hängt mit stärkerer Beugung des Knies zusammen und soll weiter 
unten besprochen werden. Der vierte Stab zeigt die schon bei der Be- 


wegung des Oberschenkels erwähnte Tatsache, daß der Unterschenkel 


während des Schwingens gegen den Oberschenkel zurückbleibt, sich also 
im Knie beugt und daß dies bei schnellem Gehen in merklich höherem 
Grade geschieht als bei langsamem Gang. Die Durchschnittswerte sind 


520 und 60°, der Unterschied also 8°. Daß der Unterschenkel beim Gehen 
so hoch schwingt, fällt schon beim Betrachten beliebiger Augenblicks- 


aufnahmen von gehenden Menschen stark auf. Noch überraschender ist 
es, daß diese Bewegung mit der Beschleunigung des Ganges so stark zu- 
nimmt. Nach dem bloßen Augenschein würde man nicht glauben, dab % 
bei langsamem Gange der Unterschenkel sich der Wagerechten bis: auf 


40° nähert und gar bei schnellem auf 30°. Nach dem fünften Stab fällt 
die größte Beugung während eines Schrittes bei langsamem Gehen am 


4 


- ÜBER DEN GANG MIT KÜNSTLICHEN BEINEN. 231 


nächsten an die 5. oder 6. Aufnahme, bei schnellem Gehen am nächsten 
an die 4. Dieser Unterschied ist aber Jange nicht so bedeutend, wie es 


nach den Zahlen scheinen könnte. Auf einen Doppelschritt entfallen näm- 


lich beim langsamen Gehen etwa 10, beim schnellen Gehen etwa 7 Auf- 
nahmen. Demnach ist der wirkliche Zeitunterschied nicht 5:4, sondern 
8:7. Immerhin sieht man, daß bei der schnelleren Bewegung die größte 
Beugung schneller erreicht wird. 


Daß auch die Streckung zugleich größer und schneller ist, je 


- schneller der Gang, soll der sechste Stab zeigen, der den Winkel angibt, 


um den sich der Unterschenkel in dem Zeitraum zwischen zwei Auf- 
nahmen dreht. Die geringe Übereinstimmung der Zahlen des siebenten, 


letzten Stabes verbietet, andere Schlüsse daraus zu ziehen, als daß im 


allgemeinen der Unterschenkel bei schnellerem Gehen mit größerer Neigung 
gegen die Senkrechte auf den Boden gesetzt wird als bei langsamem 
Gehen, was mit der schon wiederholt erwähnten weiteren Spreizung der 
Beine infolge der größeren Länge der‘ Schritte zusammenhängt. 


C. Bewegung des Knies beim Schwingen und beim Stützen. 


In der dritten Übersicht zeigt der dritte Stab abermals, daß die 
Beugung des Knies beim Schwingen für schnellen Gang stärker ist 
als für langsamen. Das bedeutet, daß der Unterschenkel beim Vor- 
schwingen des Oberschenkels stärker zurückbleibt, wie schon bei der Be- 
wegung des Oberschenkels und des Unterschenkels hervorgehoben wurde. 
Ausgedrückt durch den Winkel, den Oberschenkel und Unterschenkel im 
Knie einschließen, wird diese Tatsache wohl am anschaulichsten. Wer 
würde nach dem bloßen Anblick eines gehenden Menschen schätzen, daß 


_ das Knie bei langsamem Gehen 117°, bei schnellem Gehen sogar nur 110° 


einschließt? Daß also der Unterschenkel zuzeiten fast rechtwinklig auf 
dem Oberschenkel steht? Der vierte Stab lehrt, daß das Knie auch 
während der Zeit, in der das Bein die Last des Körpers unterstützt, 
sebeugt ist. Bei langsamem Gehen ist diese Beugung gering, im Durch- 
schnitt der vorliegenden Zahlen 12°, bei schnellem Gehen aber merklich, 
im Durchschnitt 22%. Schon die Gebrüder Weber haben angegeben, daß 
bei schnellem Gehen die Hüftgelenke und mit ihnen der ganze Rumpf 
niedriger über dem Erdboden hingetragen werden als bei langsamem 
Gehen. Das ist nur.ein anderer Ausdruck für die stärkere Beugung der 
Knie während der Stützung, das heißt kurz vor und nach dem Augen- 
blick, in dem das Hüftgelenk sich senkrecht über dem Fußgelenk (streng- 


232 | RENE pu Boıs-REyMonDp: 


genommen über dem Mittelpunkt des Bodendruckes gegen die Fußsohle) 


befindet. Durch diese Beugung des Knies wird die schematische Dar- 
stellung der Gehbewegung in dem Punkte änderungsbedürftig, daß eigent- 


lich nieht gesagt werden darf, daß der Rumpf bei seiner Bewegung nach 


vorn einen Kreisbogen um den auf dem Boden stehenden Fuß beschreibe. 
Da das Knie gebeugt und mithin die Länge des Beines veränderlich ist, 
kann die Kurve, die das Hüftgelenk beschreibt, von der Kreiskurve be- 
liebig abweichen. Auf die mechanische Bedeutung dieses Umstandes soll 
weiter unten eingegangen werden. 


Es, 


D. Verhältnis von Abstoß- und Aufsetzwinkel zur Schrittlänge, | 


Der fünfte und sechste Stab geben die Winkel an, die das ganze 
Bein mit der Wagerechten bildet in dem Augenblick, in dem der Fuß auf 
den Boden gesetzt wird, und in dem Augenblick, in dem er den Boden 


verläßt. Der Winkel ist bestimmt durch die Lage der Verbindungslinie ° 


von Hüftgelenk und Fußgelenk, ist also verschieden von den oben er- 


wähnten Neigungswinkeln von Oberschenkel und Unterschenkel. Die hier 


betrachteten Winkel, „Aufsetz- und Abstoßwinkel des Beines“, ge- 
währen offenbar einen Maßstab für das Ausspreizen der Beine bei Ver- 
größerung der Schritte. Man sollte daher meinen, daß die beiden Winkel 


mit der Änderung der Schrittlänge sehr wesentliche Änderung zeigen 
würden, und daß darin sogar der Hauptunterschied zwischen langsamem 
und schnellem Gehen gelegen sein würde. Annähernd kann man sagen, 
daß zu der Zeit, während der eine Fuß noch abstößt und der andere schon 


auf dem Boden. steht, beide Beine die Schenkel eines gleichschenkligen - 


Dreiecks bilden, dessen Basis gleich der Schrittlänge ist. Je größer unter 


sonst gleichen Bedingungen die Schrittlänge, desto größer muß auch der 


Winkel an der Spitze des gleichschenkligen Dreiecks sein und desto kleiner 


m 


De Fe Pe Ne ep EEE 


ei 


Beh 
BR 


die Basiswinkel. Nun sind aber nach den Messungen die Aufsetz- und 


Abstoßwinkel, das ist die Basiswinkel des ‚‚Beindreiecks‘“, bei langsamem 
Gehen sehr wenig größer als bei schnellem Gehen. Der Durchschnitt für 


sämtliche Aufnahmen ist bei langsamem Gehen 74°, bei schnellem Gehen 
68°. Selbst wenn man die Beinlänge nach oben abgerundet zu 100 cm 


annimmt, erhält man für die gemessenen Größen der Basiswinkel nur eine 


Dreiecksbasis oder Schrittlänge von 56 cm für den langsamen und 75cm 


für den schnellen Gang. In Wirklichkeit waren aber, wie aus den oben 
angegebenen Zahlen ersichtlich ist, die durchschnittlichen Schrittlängen 


0-63 m bei dem langsamen und 0-95 m bei dem schnellen Gang. Um 2 


ÜBER DEN GANG MIT KÜNSTLICHEN BEINEN. 5 28338 


diesen Werten bei einer Beinlänge von Im zu genügen, müßten die 
Basiswinkel des Beindreiecks zu 71° für den langsamen und 62° für den 
schnellen Gang gefunden worden sein. Also in dem Merkmal, in dem 
man erwarten sollte, den größten Unterschied zwischen schnellem und 
langsamem Gange zu finden, findet man nur einen ganz geringen. Das 
ist natürlich auch der Grund, weshalb im ganzen die Stellungen der Beine 
beim schnellen und langsamen Gehen so wenig Verschiedenheit zeigen. 
Wie ist es aber möglich, daß bei dem großen gemessenen Unterschied in 
der Schrittlänge, 0-63 m und 0-95 m, die Basiswinkel des Schrittdreiecks 
so geringe Unterschiede aufweisen? Der Widerspruch, der zu dieser Frage 
führt, lehrt, daß zwischen der wirklichen Gehbewegung und der schema- 
tischen Auffassung, nach der die Beine beim Schreiten als Dreiecksseiten 
betrachtet werden, wesentliche Unterschiede bestehen. Die Auffassung 
des Schrittes als einer reinen Winkelbewegung der Beine trifit eben nur 
in grober Annäherung zu. In Wirklichkeit ist der Vorgang durch mehrere 
Umstände beeinflußt, die bewirken, daß bei verhältnismäßig geringer 


-_ Winkelbewesung der Beine dennoch eine verhältnismäßig große Schritt- 


länge erreicht wird. Erstens hebt sich beim Abstoß der Fuß auf den 
Ballen und das Fußgelenk beschreibt dabei um den Ballen einen Kreis- 


bogen, durch den es sich nach oben und zugleich nach vorn bewest. 


ME 


- Zweitens wird durch die Streckung des Fußgelenkes die Beinlänge ver- 
 größert, wodurch bei gleichem Abstoßwinkel das Hüftgelenk weiter nach 


vorn gelangt. Drittens bildet in dieser vorgeschobenen Stellung das Hüft- 
selenk nicht die Spitze eines Dreiecks, das die Schrittlänge zur Basis hat, 


sondern weil das Becken beim Ausschreiten um die senkrechte Mittelachse 


gedreht wird, kann das Hüftgelenk der anderen Seite um mehrere Zenti- 


meter vorgeschoben sein, wodurch aus dem Beindreieck ein Trapez wird. 


Aus diesen Verhältnissen erklärt sich zur Genüge, daß die Schrittlänge 
nieht in einfacher Beziehung zu Beinlänge und Abstoß- und Aufsetzwinkel 
steht. Diese Tatsache ist deswegen bemerkenswert, weil die Auffassung 


der Gebrüder Weber über den Unterschied zwischen schnellem und lang- 


' samem Gehen wesentlich darauf beruhte, daß sie die Bewegung der Beine 


als eine reine Winkelbewegung nach dem Schema eines Dreiecks mit der 


- Sehrittlänge als Basig behandelten. Für den tatsächlichen Unterschied 


zwischen schnellem und langsamem Gehen hat die vorstehende Betrach- 


tung vor allem die Bedeutung, daß sie erklärt, weshalb die Stellungen 


der Beine verhältnismäßig so geringe Unterschiede zeigen. Außerdem ist 
daraus zu entnehmen, daß die erwähnten Umstände: Streckung des Fubß- 
gelenkes und Drehung des Beckens, bei schnellem Gehen viel stärker 


- hervortreten als bei langsamem, denn der Abstand zwischen der schema- 


234 Ren£ Du Bois-REyMmonD: 


tisch aus Abstoß- und Aufsetzwinkel berechneten und der in Wirklichkeit : 


vorhandenen Schrittlänge ist bei schnellem Gehen viel größer als bei 


langsamem: 0-75 m berechnet, 0-95 m gemessen bei schnellem, 0:55m 


berechnet, 0-63 m gemessen bei langsamem Gehen. Vergleicht man endlich 


noch die Zahlendurchschnitte für die ganzen Reihen der Abstoßwinkel 


mit denen der Aufsetzwinkel, so zeigt sich, daß bei langsamem Gehen 
kein Unterschied zu bemerken ist: das Beindreieck stellt sich als ein 


gleichschenkliges dar. Bei schnellem Gehen sind dagegen die Abstob- 


winkel im Durchschnitt kleiner als die Aufsetzwinkel. Dies hängt mit der 
stärkeren Streekung des Fußgelenkes und dies wieder mit der Notwendig- 


keit zusammen, für den längeren Schritt einen stärkeren Abstoß zu geben. 


E., Die Bahn des Hüftgelenkes. 


In der vierten Zahlenübersicht ist weiter eine Zusammenstellung 
darüber gegeben, wie sich die Wellenlinie verhält, die das Hüftgelenk 
beim Gehen beschreibt. Nach Fischers Messungen darf man annehmen, 
daß die Hebungen und Senkungen dieser Linie ziemlich genau denen des 
Körperschwerpunktes entsprechen. Die Bahn des Hüftgelenkes zeigt 
zwei Erhebungen, von denen die eine nahe an der Stellung liest, in der H 
das Bein in senkrechter Lage den Körper unterstützt, die andere nahe an id 


der Stellung, in der sich das andere Bein in dieser Lage befindet. Der a 


Kürze wegen sei die erste als „Stützhügel“, die zweite, während der 
das beobachtete Bein schwingt, als „Schwinghügel“ bezeichnet. Nach 
Fischer ist die Wellenlinie des Hüftgelenkes bei normalem Gange regel- 


mäßig, denn die geringen Unterschiede, die seine Messungen erkennen 
lassen, heben einander nahezu auf. Ebenso verhalten sich, wie man er “ 


# 


2 


ng 


die Angaben im ersten Stabe der vierten Übersicht. Dagegen fällt auf, 


daß beim zweiten Stab der Gipfel des Stützhügels für den schnellen Ger 
ausnahmslos am Anfang des Hügels liegen soll, während beim langsamen 


Gang die Angaben verschieden lauten. Das würde bedeuten, daß der 
Stützhügel bei schnellem Gehen aus einem steilen aufsteigenden und einem 


u rn = 


flacher abfallenden Schenkel besteht. Die Hebung des Schwerpunktes 


würde demnach nicht nur höher, sondern auch steiler sein. Da es sich 


aber nur um eine Steigung von im Mittel 1:25 handelt, ist dieser Unter 


schied nur gering. 


Mit Rücksicht auf Erfahrungen, die bei der Untersuchung des Gehens 
mit künstlichen Beinen gemacht worden waren, ist in dem dritten Stabe 
angegeben, ob der Schwinghügel und der Stützhügel gleich oder ver- 


ÜBER DEN GANG MIT KÜNSTLICHEN BEINEN. 235 


schieden hoch ausfallen. Der Fall, daß der Schwinghügel der größere 
ist, ist mit +, das Gegenteil mit —, Gleichheit mit = bezeichnet. In 
Fischers Aufnahme ist bald das eine, bald das andere zu finden, woraus 
man schließen darf, daß normalerweise Gleichheit besteht. Aus der vor- 
liegenden Beobachtungsreihe könnte abgeleitet werden, daß das Verhältnis 
sich bei schnellem Gehen etwas zugunsten des Stützhügels verschiebt, 
weil dieser bei langsamem Gehen viermal, bei schnellem keinmal kleiner 
gefunden wird als der Schwinghügel. Doch dürfte weder die Zahl, noch 
die Genauigkeit der Beobachtungen für diesen Schluß groß genug sein. 


Beide Hügel sind aber, und dies ist wohl der bedeutendste Unter- 
schied zwischen den Bewegungsformen des schnellen und langsamen Gehens, 
beträchtlich höher beim schnellen Gehen als beim langsamen. Die Höhe 
ist leider an den Aufnahmen nicht genau zu messen, weil die Entfernung 
des Gehenden vom Objektiv unbestimmt ist. Vergleichung der ganzen 
Reihe der Aufnahmen zeigt aber, daß die Hebungen bei schnellem 
‚Gehen wohl doppelt so hoch werden als bei langsamem. Die Be- 
deutung dieses Unterschiedes liegt darin, daß von der gesamten Geharbeit 
ein großer Anteil ausschließlich auf die Hebungen des Körpers entfällt. 
Der Umstand, daß die Hebungen bei schnellem Gehen größer sind, erklärt 
also einen großen Teil der Mehrarbeit beim schnellen Gehen. 


F. Die seitlichen Schwankungen des Körpers. 


Dieser große Unterschied in den senkrechten Schwankungen des 
Körpers lest es nahe, auch die Schwankungen in der Querrichtung zu 
untersuchen. Aus den Seitenansichten, von denen bisher die Rede ge- 
wesen ist, sind diese natürlich nicht zu ermitteln. Es mußten also zu 
diesem Zweck besondere Aufnahmen gemacht werden, wobei noch eine 
besondere. Schwierigkeit zu überwinden war. Um die Schwankungen in 
der Querrichtung aufzunehmen, ist es nämlich das Naheliegendste, die 
Kamera senkrecht zu den Querschwankungen, also in der Gangrichtung 
aufzustellen, oder mit anderen Worten: die Gehbewegung gerade von vorn 
oder von hinten aufzunehmen. Das geht aber nicht an, weil dabei die 
Einzelabbildungen von jedem Schritte mit denen des folgenden Schrittes 
zusammenfallen, so daß eine Aufnahme die andere deckt. Um dies zu 
vermeiden, könnte man freilich die Aufnahmen statt von vorn oder hinten 
auch gerade von oben machen. Das würde sich in einem hinreichend 
hohen (?”m) Raum, der womöglich noch mit einer Galerie versehen wäre, 
auf der man die Kamera anbringen könnte, ganz gut tun lassen. Solch 


RP 


236 REnE Du Bois-REYMmonD: = 


ein Raum ist aber nicht überall zu finden, und insbesondere stand mir : 
zurzeit keiner zur Verfügung. Dieselbe Schwierigkeit war auch schon bei 
Fischers Untersuchung hervorgetreten, war aber für ihn nur neben- 
sächlich, weil er von vornherein beabsichtigte, die Bewegung von vier 

Stellen gleichzeitig aufzunehmen und die verschiedenen Aufnahmen 

rechnerisch zu dem genauen Gesamtbild der Bewegung zu verarbeiten. ’ 
Auch dafür wäre es zwar das einfachste gewesen, als die vier Richtungen 


“ 


die von rechts, von links, von vorn und von hinten zu wählen, aber da 
die Aufnahmen von vorn und von hinten nicht brauchbar gewesen wären, 
machte es für ihn wenig aus, statt dessen Aufnahmen schräg von vom 
und schräg von hinten (unter 30°) zu machen. Dabei schreitet die Ab- 


bildung der aufeinander: folsenden Stellungen auf der Platte seitlich um | 


H 
Fig. 3. j 
Anordnung zur Aufnahme der seitlichen Schwankungen. Die Kamera ( steht m 
gerader Verlängerung der Gangstrecke GG! auf dem Fußbceden, eingestellt auf den K 
Visierpunkt VY. Wenn die Versuchsperson mit der Geißlerschen Röhre die Strecke 
GG: durchgeht, durchläuft die Geißlersche Röhre die punktierte Bahn 881, die N 
in Form der Fig. 4 oder 5 auf der Platte abgebildet wird. Bei der gleichen Rin- 
stellung werden vorher oder nachher die Meßpunkte M und M!in den drei Ent- “ 


fernungen I, II und III auf derselben Platte aufgenommen. 


so viel fort, daß sie einander nur zum Teil überdecken und man für die 


Messungen mit leichter Mühe die zueinander gehörenden Striche und 
Punkte zusammenfinden kann. Die Berechnung wird nur wenig unbe- % 
quemer, wenn man an Stelle des rechten Winkels den Winkel von 30% 
zu setzen hat. Etwas anderes ist es aber, wenn man Aufnahmen haben 
will, die ohne Messung und Rechnung auf den ersten Blick eine An- 7 
schauung von der Bewegungsform gewähren. An einer Reihe von Auf- 

nahmen von Amputierten mit Kunstbeinen, unter verschiedenen Winkeln 
schräg von hinten gesehen, überzeugte ich mich, daß man aus der seit- 
lichen Projektion der Bewegung keinen anschaulichen Eindruck von den 


Querschwankungen des Körpers gewinnt. Endlich kam ich auf den Aus- 


r 


ÜBER DEN GANG MIT KÜNSTLICHEN BEINEN. 237 


weg, die Kamera zwar in der Gangrichtung selbst, nämlich gerade hinten 
aufzustellen, aber die Aufnahme schräg von unten zu machen, was ein- 
fach dadurch zu erreichen ist, daß die Kamera ohne Stativ auf den Fuß- 
boden gesetzt wird. Wenn zu der Aufnahme ein Objektiv von großer 
Brennweite benutzt wird und die Kamera auf 7m eingestellt ist, erhält 


man von einer Gangstrecke von Am (also 5 bis 9m Entfernung von der 


Kamera) hinreichend scharfe Abbildung. Wenn die Versuchsperson am 
Anfang der Gangstrecke, also 5m vor der Kamera steht, bildet sich ihr 
Kopf nahe am unteren Rand der Platte ab. Je weiter die Versuchs- 
person auf der Gangstrecke sich von der Kamera entfernt, um so höher 


auf der Platte fällt die Abbildung des Kopfes. Ein Lichtpunkt, den die 


Versuchsperson am Kopfe trüge, würde also, wenn sich die Versuchs- 


person genau in gerader Linie vorwärts bewegte, sich als eine gerade senk- 
rechte Linie in der Mitte der Platte vom unteren zum oberen Rande 
abbilden. Finden bei der Bewegung seitliche Schwankungen statt, so muß 
an Stelle der geraden Linie eine Schlangenlinie treten. Diese Schlangen- 


ye 
A 


linie gewährt eine verhältnismäßig anschauliche Darstellung von den seit- 


lichen Schwankungen beim Gehen (vgl. Fig. 3). | 
Die im ersten Abschnitt erwähnten Objektive von Busch und von 


x Zeiss mit 45cm und 49cm Brennweite genügten den angegebenen Be- 
dingungen. Der Versuchsperson wurde ein Holzstab an dem Kreuz und 
- zwischen den Schultern durch Schnallgurte befestigt, an dessen oberem 
Ende sich eine Geißlersche Röhre befand, die mit schwarzem Papier 
- bis auf ein Stückchen von 1cm Länge verhüllt war. Die Röhre wurde 


durch das Induktorium 7- bis 10mal in der Sekunde zum Aufleuchten 


gebracht. Die Versuchsperson trat Im vor der Gangstrecke an. Die 
- Kamera stand 4m hinter ihr auf dem Boden und war auf die Mitte der 


Gangstrecke, das heißt auf einen Punkt in 7m Entfernung von der 


Kamera und 1-5 m über dem Boden eingestellt. Die Bahn des Lieht- 


punktes in der Mitte der Gangstrecke wurde demnach von der optischen 
Achse der Kamera unter einem Winkel von 14° getroffen. Die 4m lange 
Gangstrecke nahm auf der Platte eine senkrechte Strecke von 4 cm ein. 
Die Bewegung des Lichtpunktes beim Gehen bildete sich bei der Auf- 
nalıme als eine punktierte Schlangenlinie ab, deren Wellen den seitlichen 


Schwankungen des Lichtpunktes entsprachen. 


Um das Maß der seitlichen Schwankungen aus der Aufnahme ab- 
leiten zu können, sind noch zwei Umstände zu beachten. Da sich die 
Versuchsperson während der Aufnahme immer mehr von der Kamera ent- 
fernt, wird der Maßstab der Aufnahme immer kleiner. Das zeigt sich 
daran, daß die Schlängelungen der punktierten Linie am unteren Rand 


238 | Ren& ou Boıs-Reymonp: 


| D//A N once. o 


Fig. 4. ‘ 
Langsamer Gang. Aufnahme der seitlichen Schwankungen. Die 8 Wellen der 
punktierten Schlangenlinie entsprechen 8 Schritten. Der Abstand zwischen je 
zwei Punkten entspricht 0-1 sec. Die Meßpunkte M! und M haben 95 cm Quer- 
abstand. 


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Fig. 5. ii 
_ Schneller Gang. Wie Fig. 4. Die Gangstrecke ist in 4 bis 5 Schritten zurückgelegt. | 
Infolge der hohen senkrechten Schwankungen beim schnellen Gehen sind Eckenz 

in der Wellenlinie aufgetreten. 


ÜBER DEN GANG MIT KÜNSTLICHEN BEINEN. 239 


der Wellen dar. Die Höhe der Wellen muß also in einem im Verhältnis 
zur Entfernung von der Kamera zunehmenden Maßstab gemessen werden. 
Um diesen herzustellen, wurden bei jeder Aufnahme noch zwei Licht- 
punkte in bekanntem Querabstand (95 cm) am Anfang, in der Mitte und 
am Ende der Gangstrecke in derselben Höhe über dem Boden wie der 
von der Versuchsperson getragene Lichtpunkt auf dieselbe Platte photo- 


 graphiert. Dadurch wurde die Platte gleichsam mit einer Reihe zu- 


nehmender Maßstäbe für die Breitenausdehnung der Wellenlinie versehen. 


Indem diese Meßpunkte durch gerade Linien verbunden wurden, ergaben 


die Punkte der Verbindungslinien auch für jede beliebige Stelle der 
Schlangenlinie den richtigen Breitenmaßstab. Bei dem wirklichen Abstand 
der Lichtpunkte von 95 cm war die Breite der Abbildung am Eingang 
der Gangstrecke 9 cm, in der Mitte 6 cm, am Ende 5 cm. Für die Messung 
ist wesentlich, daß die Lichtpunkte, die den Breitenmaßstab bilden, in 


- derselben Höhe über dem Boden stehen wie der bewegte Lichtpunkt. 


Da aber der bewegte Liehtpunkt die Hebungen und Senkungen des Körpers 


_ beim Gehen mitmacht, so ist diese Bedingung nicht genav innezuhalten. 
- Der Einfluß der senkrechten Schwankungen zeigt sich an den Aufnahmen 
sehr deutlich darin, daß die Wellen der Schlangenlinie nicht annähernd 
gleichförmig an- und absteigen, sondern an den Stellen, die den Hebungen 
entsprechen, Ecken aufweisen. Die Aufnahme von hinten und unten kann 

_ daher (ebensowenig wie jede andere Aufnahme von einem Punkte aus) 


Le 220 


Fr. re 


nicht zu genauer Messung der Querschwankungen dienen, wohl aber 
läßt sie Vergleichung der Größe der Querschwankungen bei schnellem und 
langsamem Gehen zu. 

Im Gegensatz zu den senkrechten Schwankungen zeigt sich, daß die 
seitlichen Schwankungen beim langsamen Gange. viel größer sind als beim 
schnellen. In beiden Fällen waren sie auf den bisher untersuchten Auf- 
nahmen, die sämtlich von mir selbst herrühren, bedeutend größer, als ich 


_ erwartet hatte. Nach Fischer beträgt die Querschwankung der ‚‚Schulter- 
- Jinienmitte“, das heißt des Mittelpunktes der Verbindungslinie der Schulter- 


gelenkmitten, nur etwa 16 mm nach jeder Seite, also etwa 3-5 cm im 


- ganzen. Bei den vorliegenden Aufnahmen von schnellem Gange entspricht 


dagegen die Höhe der Wellenlinie Schwankungsbreiten von mehr als 5 cm, 


_ beim langsamen Gang sogar fast von 20 cm. Dabei ist allerdings in Rech- 


nung zu bringen, daß sich der Lichtpunkt nicht in Schulterhöhe, sondern 
ein Stück höher, etwa in der Höhe des Hinterhauptes befand, wodurch 
die Ausschläge etwas vergrößert abgebildet werden mußten. Außerdem 
kommt in Betracht, daß bei dieser Art Aufnahme die Versuchsperson nur 


' wenige Schritte vorwärts gehen darf, weil der Bereich der deutlichen 


240 RENE ou Bois-REyMmonD: S 


” 


Abbildung ja ziemlich eng begrenzt ist. Die 4 bis 7 Schritte, die dabei 
herauskommen, können kaum so gleichmäßig und ruhig gemacht werden 
wie bei dauerndem Gehen. Trotz dieser Mängel dürften die Aufnahmen 
das sichere Ergebnis liefern, daß die Seitenschwankungen bei langsamem 
Gehen größer sind als bei schnellem. 


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Dieser Befund, der allerdings paradox erscheint, erklärt sich sehr 
einfach. Fragt man nach der Ursache der seitlichen Schwankungen, so 
wird man zunächst an die einseitige Unterstützung des Körpers zu denken 
haben. Dies wird auch in den Lehrbüchern angegeben, insbesondere in 
Beziehung auf den Gang der Pferde, bei dem die „diagonale‘“ und die 
„rein seitliche‘ Stützung unterschieden wird. Der Körper fällt, weil er 
einseitig unterstützt ist, nach der anderen Seite, wird von dem inzwischen ® 
auf den Boden aufgesetzten anderen Bein aufgefangen und fällt, da er 
nunmehr von der anderen Seite einseitig gestützt wird, wieder zurück. % 
Die treibende Kraft ist hier allein die Schwerkraft, und die Schwankuncen 
verlaufen daker gesetzmäßig, ähnlich wie Pendelschwingungen. Die Ge- 
schwindigkeit des Ganges wirkt auf den Vorgang gar nicht ein, sondern 
der Unterschied in der Größe der Schwankungen entsteht einfach durch 
die längere Dauer der Schritte beim langsamen Gehen. Diese Betrachtung 
läßt sich durch Rechnung bestätigen. Es sind dabei allerdings noch mehrere 
Umstände zu berücksichtigen, durch die die Bewegungsbedingungen sich 
etwas verwickelter gestalten. Erstens nämlich muß man, um die Ge- 
schwindigkeit der Fallbewegung zu finden, das Trägheitsmoment des 
Körpers, bezogen auf den unterstützenden Fuß als Drehpunkt, in Rechnung 
ziehen, denn dieses Trägheitsmoment hat die im Schwerpunkt angreifende 
Schwerkraft zu überwinden. Zweitens kann die Wirkung der Schwerkraft 
vorübergehend verstärkt erscheinen durch die Streckkraft des stützenden 
Beines, indem der Körper gewissermaßen schräg vorwärts gehoben wird, 
statt bloß zu fallen. Dies spielt indessen nur eine nebensächliche Rolle. 
Dagegen ist endlich drittens die Schwingung der Arme zu bedenken, die 
die Querschwankungen erheblich einschränken kann. Die Tätigkeit der 
Arme ist unzweifelhaft beim schnellen Gehen lebhafter als beim lang- 
samen und trägt wahrscheinlich wesentlich dazu bei, daß die seitlichen 
Schwankungen beim schnellen Gehen kleiner ausfallen als beim langsamen. 


45. Beschleunigung und Verzögerung. 


Einen weiteren Unterschied zwischen schnellem und langsamem Gehen 
haben schon die Gebrüder Weber in der Haltung des Rumpfes gefunden, 
der bei schnellem Gehen stärker vorwärts geneigt sei. Fischer hat ge- 


2 


ÜBER DEN GANG MIT KÜNSTLICHEN BEINEN. 2341 


zeiot, daß der Rumpf beim Gehen keine feste Haltung bewahrt, sondern 
Schwankungen nach vorwärts und rückwärts ausführt, also bald mehr, 


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Langsamer Gang. 
zu senkrechter 


bald: weniger vorwärts geneigt ist. Die Vorwärtsneigung nimmt mit jeder 

Senkung der Hüfte zu und“nimmt vor einsetzender Hebung wieder ab, 

so daß ihr Maximum ungefähr mit dem Minimum der Hüftenkurve zu- 

sammentrifft, ihr Minimum etwas vor jedem Maximum der Hüftenkurve 
Archivf. A.u.Ph. 1917. Physiol. Abtlg. f 16 


242 RENE Du Boıs-REeyMmonp: 


gelegen ist. Nach Fischer handelt es sich dabei um abwechselnde Vor- 
wärts- und Rückwärtsneigungen des Rumpfes, doch ist wohl kein Zweilel, 
daß hierin die Haltung verschiedener Menschen sehr verschieden sein 
kann. Auf meinen Aufnahmen finde ich nur Vorwärtsneisung von ver- 
schiedenem Grade. Das Minimum tritt erst nach dem Maximum der 
Hüfthebung ein. Die Neigungen sind bei schnellem Gehen merklich größer 
als bei langsamem; sie betragen bei gegen 2m Ganggeschwindiskeit bis 
zu 10° während bei gegen 0-75 m Ganggeschwindigkeit kaum 5° erreicht 
werden. 


Es blieb noeh die größere oder geringere Ungleichförmiekeit der 


Geschwindigkeit des Gesamtkörpers in der Gangrichtung zu untersuchen. 


Dazu konnten dieselben Aufnahmen dienen, die die Neigungen der Rücken- 


linie zeigten, denn die Vorrückung der Rückenlinie darf der Vorrückung 
des Gesamtkörpers gleich geachtet werden. 

Die Wege, die der Körper beim schnellen Gange in 0-1 Sekunden 
Zeitabstand zurückgelegt hatte, schwanken etwa zwischen 22 em und 18 cm. 
Die größten verhielten sich also zu den kleinsten wie 5:4. Beim lang- 
samen Gang kamen auf 0-1 Sekunden nur etwa 4cm bis 6cm. Das Ver- 
hältnis der größten Abstände zu den kleinsten war also hier 3:2. Dem- 
nach könnte man sagen, die Ungleichförmigkeit der Bewegung sei bei 
langsamem Gehen größer. Drückt man aber die Beschleunigung oder 


Verlangsamung der Bewegung, die zu diesen Ungleichförmiskeiten führt, 
dadurch aus, daß man die Bewegung des Körpers auf einen mit derselben 
mittleren Geschwindigkeit gleichförmig vorwärts bewegten Punkt bezieht, ” 
so kommt man zu der entgegengesetzten Auffassung: Bei schnellem Gehen ° 
bleibt der Körper gegen den mit der mittleren Geschwindigkeit (20 cm 


in 0-1 Sekunden) vorrückenden Punkt bald um 2 cm zurück, bald.eilt er 
um 2 cm vor, während bei dem langsamen Gang die Unterschiede nur je 


1cm ausmachen. In der Beschleunigung und Verlangsamung der Be 
weeung besteht ein wesentlicher Teil der Arbeitsleistung beim Gehen. Die ° 


erhöhte Ungleichförmiekeit der Bewegung ist eine: der Ursachen, weshalb 


das schnelle Gehen unverhältnismäßig anstrengender ist als das langsame. ° 


III. Zusammenfassung. 


Für die Untersuchung des Ganges mit Kunstbeimen ist es eine un- 
erläßliche Vorbereitung, daß man die Unterschiede in der Bewegung bei 
schnellem und langsamem Gehen kennen lerht, weil der Gang mit künst- 


lichen Beinen im allgemeinen langsamer ist als der normale Gang. Bisher 


liegen Untersuchungen dieser Art nur nach der Richtung vor, daß die’ 


ÜBER DEN GANG MIT KÜNSTLICHEN BEINEN. 243 


Verhältnisse von Schrittdauer und Schrittlänge von den Gebrüdern Weber 
und von Marey festgestellt worden sind. Die Unterschiede der Bewegungs- 
form im einzelnen sind noch nicht untersucht. 

An zwei Versuchspersonen wurden je zwei Aufnahmen von schnellem 
_ und von langsamem Gange von beiden Seiten gemacht, so daß im ganzen 
- 16 Aufnahmen zur Vergleichung vorlagen. Schrittlänge, Schrittdauer und 
Geschwindigkeit schwankten in diesen Aufnahmen zwischen 53 em, 0-72 see, 
0-81m und 98 cm, 0-45 sec, 2-39 m. 

Beim Vergleich der Aufnahmen von schnellem und langsamem Gang 
ergab sich: Bei schnellem Gang wird der Oberschenkel stärker bewegt 
als bei langsamem. Beim Abstoß hat er durchschnittlich 4°, beim Auf- 
setzen 10° mehr Neigung gegen die Senkreehte. Im übrigen ist die Be- 
 wegung dieselbe wie bei langsamem Gehen, insbesondere ist die Verlang- 
samung der Vorwärtsbewegung, durch die der Unterschenkel vor dem 
Aufsetzen gestreckt wird, in beiden Fällen dieselbe. 

Der Unterschenkel wird ebenfalls beim schnellen Gehen heftiger bewegt: 
Er wird beim Schwingen des Beines im Durchschnitt um 8° mehr gebeugt, 
so daß das Knie bei schnellem Gang durchschnittlich nur 110% ein- 
schließt. 

Auch während das Bein den Körper stützt, ist das Knie bei schnellem 
Gang bedeutend stärker gebeugt als bei langsamem (22° zu 129). 

Der Winkel, um den die Beine beim Ausschreiten auseinander ge- 
spreizt werden, gemessen nach der Verbindungslinie von Hüftgelenk und 
Fußgelenk, unterscheidet sich bei schnellem und langsamem Gang weit 
weniger als die zugehörige Schrittlänge, und die Abweichung der aus den 
Winkeln berechneten von der wirklichen Schrittlänge ist bei schnellem 
- Gang bedeutend größer als bei langsamem, ein Zeichen, daß die Streekung 
der Fußgelenke und die Drehung des Bacon bei schnellerem Gehen 
größere Bedeutung gewinnen. 

In der Form der Bahn des Hüftgelenkes, die der des Körperschwer- 
punktes nahezu gleichgesetzt werden darf, ist kein Unterschied zwischen 
schnellem und langsamem Gang zu finden, wohl aber sind die senkrechten 
- Schwankungen bei schnellem Gang beträchtlich, um mehr als das Doppelte 
höher. 

Die seitlichen Schwankungen des -Körpers sind bequem aus Aui- 
nahmen zu ersehen, die gewonnen werden, indem man die Kamera gerade 
- hinter der Versuchsperson auf den Boden setzt, so daß sie die Bahn eines 
von der Versuchsperson getragenen Lichtpunktes schräg von unten auf 
nimmt. Die seitlichen Schwankungen sind bei schnellem Gehen um mehr 
- als die Hälfte kleiner als bei langsamem. 

16* 


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244 REnE DU Bo1s-REYMOND: ÜBER DEN GANG MIT KÜNSTLICHEN BEINEN. 


Die Beschleunigung und Verzögerung der Geschwindigkeit des Gesamt- 
körpers sind bei schnellem Gang zwar relativ kleiner, aber absolut etwa 
doppelt so groß wie bei langsamem. 

Im ganzen geht aus der Vergleichung hervor, dab der Unterschied 
zwischen schnellem und langsamem Gang weniger auf der Form der Be- 
wegungen als auf ihrer Geschwindigkeit beruht. Dies lehrt auch schon ° 
der Befund der Gebrüder Weber, daß, wenn die Geschwindigkeit des 
Ganges sich versechsfacht, die Länge der Schritte sich nur verdoppelt, 
während die Dauer der Schritte auf ein Drittel verkürzt wird. 


Archiv INT II. 


Archio f Anat. u. Phys. 1917. Physiolog. Abtig. 
Taf. I. 


Ka erema ae un amt ae am um a au a a am am ame aa 


Verlag von VEIT & COMP. in Leipzig. 


f Teitschriften aus dem Verlage von VEIT & COMP. in LEIPZIG. 


-  Skandinavisches Archiv für Physiologie. 
| \ Herausgegeben von 
Dr. Robert Tieerstedt, 


o, ö. Professor der Physiologie an der Universität Helsingfors. 


Das „Skandinavische Archiv für Physiologie‘ erscheint in Heften von 3 bis 
5Bogen mit Abbildungen im Text und Tafeln. 6 Hefte bilden einen Band. Der 
Preis des Bandes beträgt 22 #. 


Centralblatt 
für praktische 


AUGENHEILKUNDE. 


Herausgegeben von 
Prof. Dr. J. Hirschberg in Berlin. 
_ Preis des Jahrganges (12 Hefte) 12 .%4; bei Zusendung unter Streifband direkt von 
der Verlagsbuchhandlung 12 .# 80 9. 
Das „Centralblatt für praktische Augenheilkunde‘ vertritt auf das Nachdrück- 
lichste alle Interessen des Augenarztes in Wissenschaft, Lehre und Praxis, vermittelt 
den Zusammenhang mit der allgemeinen Medizin und deren Hilfswissenschaften und 
gibt jedem praktischen Arzte Gelegenheit, stets auf der Höhe der rüstig fortschrei- 
tenden Disziplin sich zu erhalten. ; 


DERMATOLOGISCHES CENTRALBLATT. 


INTERNATIONALE RUNDSCHAU 
AUF DEM GEBIETE DER HAUT- UND GESCHLECHTSKRANKHEITEN. 
Herausgegeben von 
Prof. Dr. Max Joseph in Berlin. 
Monatlich erscheint eine Nummer. Preis des Jahrganges, der vom Oktober des 
einen bis zum September des folgenden Jahres läuft, 12 %#. Zu beziehen durch alle 
Buchhandlungen des In- und Auslandes, sowie direkt von der Verlagsbuchhandlung. 


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Therapie des Nervensystems einschließlich der Geisteskrankheiten. 
| Begründet von Prof. E. Mendel. 
Herausgegeben von 


Dr. Kurt Mendel. 


Monatlich erscheinen zwei Hefte zum Preise von 16 % halbjährig. Gegen 
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_ Hygiene und Infektionskrankheiten. 
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Prof. Dr. C. Flügge, und Prof. Dr. G. Gaffky, 


Ä Geh. Medizinalrat und Direktor a 19 
des Hygienischen Instituts der Universität Berlin, Wirkl, Geh. Obermedizinalrat. 


Die „Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten“ erscheint in zwanglosen 
Heften. Die Verpflichtung zur Abnahme erstreckt sich auf einen Band im durchschnitt- 
 liehen Umfang von 30—35 Druckbogen mit Tafeln; einzelne Hefte sind nicht käuflich. 


— 


° Gesamtteuerungszuschlag bis auf weiteres 25 °/,. 


ARCHIV 


für 


ANATOMIE UND PHYSIOLOGIE, 


Fortsetzung des von Reil, Beil und Aula J. F. Meckel, Joh. Miller, 
Reichert und du Bois Beyond ahnen Archives, 


erscheint jährlich in 12 Heften (bezw. in Doppelheften) mit Figuren im Text 


und zahlreichen Tafeln. 


6 Hefte entfallen auf die anatomische Abteilung und 6 auf die physiologische 


Abteilung. 


Der Preis des Jahrganges beträgt 54 %. Gesamtteuerungszuschlag bis auf 
weiteres 25 °/,- 


Auf die anatomische Abteilung (Archiv für Anatomie, herausgegeben von 


Dr. Wilhelm v. Waldeyer-Hartz, Dr. Hans Virchow und Dr. Paul Röthig in Berlin) 
sowie auf die physiologische Abteilung (Archiv für Physiologie, Dee 


von Dr. Max Rubner) kann besonders abonniert werden, und es beträgt bei Einzel- 


bezug der Preis der anatomischen Abteilung 40 .#%, der Preis der PhyeiolpEAe BEN 
Abteilung 26 #. 


Bestellungen auf das vollständige Archiv, wie auf die einzelnen Abteilungen 4 


—- alle Buchhandlungen des In- und Auslandes entgegen. 


Die Verlagsbuchhandlung: 


Veit & Comp. in Leipzig. 


Metzger & Wittig, Leipzig. 


Be. 


) 


ee. BE JAN 14 1924 


x 


Physiologische Abteilung. 191%. V. und VI. Heft. 


4 


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Te ae 
| AILHlN .... 


FUR 


ANATOMIE UND PHYSIOLOGIE, 


| | 
FORTSETZUNG DESVONn REIL, REILv. AUTENRIETH, J.F.MECKEL, JOH. MÜLLER, 
REICHERT v. DU BOIS-REYMOND HERAUSGEGEBENEN ARCHIVER. 


HERAUSGEGEBEN 
VON 


Dr. WILHELM von WALDEYER-HARTZ, 


PROFESSOR DER ANATOMIE AN DER UNIVERSITÄT BERLIN 
UND 


Dr. MAX RUÜBNER, 


PROFESSOR DER PHYSIOLOGIE AN DER UNIVERSITÄT BERLIN. 


JAHRGANG 1917, 


_ = PHYSIOLOGISCHE ABTEILUNG. — 
FÜNFTES UND SECHSTES HEFT. 


MIT DREI FIGUREN IM TEXT: 


LEIPZIG, 
VERLAG VON VEIT&COMP. 


Er 1918 
7 ® & 


Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandes. 


Inhalt. 


Max Rusxer, Untersuchungen über Vollkornbrote . » » 2. 2.2 2.020. 245 


Die Herren Mitarbeiter echten dreißig Separat-Abzüge ihrer Beiträge gratis 
und 30 .# Honorar für den Druckbogen zu 16 Seiten. : 


Beiträge für die anatomische Abteilung sind an 


“ Professor Dr. Wilhelm v. Waldeyer-Hartz oder an Professor Dr. H. 
Virchow oder an Dr. P. Röthig, sämtlich in Berlin N.W., Luisenstr. 56, 


Beiträge für die physiologische Abteilung an 
Professor Dr. Max Rubner in Berlin W, Kurfürstendamm 2u 4 


portofrei einzusenden. — Zeichnungen zu Tafeln oder zu, Ho Sind 4 
auf vom Manuskript getrennten Blättern beizulegen. Bestehen die Zeichnungen N 
zu Tafeln aus einzelnen Abschnitten, so ist, unter ‚Berücksichtigung der Format- 
verhältnisse des Archives, eine Zusammenstellung, die dem Be als. Ri 
Vorlage für die Anordnung dienen kann, beizulegen. Hu 


JAN 14 1924 


Untersuchungen über Vollkornbrote. 
Von 


Geheimrat Max Rubner. 


Übersicht. 


Einleitung: Entwicklung der Vollkormfrage. — Vitamin- und Aschegehalt 
als Motive für Vollkornbrot. — Verteilung der Kleie bei der Ausmahlung. 

Neue Untersuchungen: Kriegsbrot. — Abfallprodukte verschiedener Aus- 
mahlung. — Roggenbrote hoher Ausmahlung. — Klopferbrot. — Hindhedes 
Untersuchungen über Klopferbrot und Kleie. — Das Finklerbrot. 

Schlußergebnisse: Allgemeine Beurteilung der Vollkornfrage. — Die 
Vitaminlehre. — Einheitsbrot und Differenzierung der Backware. — Beziehungen 


. zwischen Zellmembrangehalt und Verdaulichkeit. — Die einzelnen Faktoren der 


Kotbildung. — Der physiologische Nutzeffekt. — Vergleich mit den Unter- 
suchungen von Plagge und Lebbin. — Roggen und Weizen. — Ergebnisse der 
Ascheausscheidung. 


Einleitung. 


Die Zerealien nehmen unter den Nahrungsmitteln der großen Kultur- 
völker eine wichtige, manchmal quantitativ die wichtigste Stelle ein. 
Auf dem europäischen Kontinent, weiterhin in Amerika und Australien 
sind Weizen und Roggen die Hauptvertreter der Zerealien, neben ihnen 
greifen die Gerste, der Hafer, Reis und Mais ergänzend ein. In Deutsch- 
land kann man für die Volksernährung annehmen, daß fast vier Zehntel 


- des Nahrungsbedaris der Friedenszeit durch Zerealien gedeckt werden. 


Der Verbrauch betrug pro Kopf und Tag etwa 382 & Korn für Brot und 
628 Korn für Mehl und die daraus hergestellten Speisen. Dabei war 
das Verhältnis des Weizens zum Verbrauch an Roggen etwa wie 100: 125. 
Die einheimischen Produkte liefern aber ein Verhältnis von Weizen zu 
Roggen etwa wie 1:2. In anderen Ländern tritt der Roggen ganz 


1 Rubner, Deuische med. Wochenschr. 1915. S. 21. 


246 Max RUBNER: \ 


zurück. Wo wahlweise die Verwendung möglich ist, wird der Weizen 
wegen mancher günstiger Eigenschaften dem Roggen vorgezogen. 

In der Friedenszeit findet durch die Müllerei eine Differenzierung der 
Mehlprodukte statt. Nur in ganz beschränktem Maße unterbleibt diese 
für das Brotgetreide, wie in manchen ländlichen Bezirken, wo aus alter 
Gewohnheit an der totalen Zermahlung des Kornes festgehalten wird. 
Im übrigen tritt die Scheidung von Mehl und Kleie ein oder es werden 
seschälte Produkte hergestellt, wie Gerstengraupen. Das feinste Mehl 
(Weizen) wird zu Kuchen und feinen Mehlspeisen und feinsten Gebäcken, 
die darauf folgenden Ausmahlungen zu Brot, das spätere zu Braunmehl 
usw. verarbeitet. Die Kleie dient zur Viehfütterung. Diese Grundzüge 
des Gebrauchs des Mehles sind so ziemlich in allen Kulturstaaten mit 
Weizen- und Roggenverbrauch dieselben. Das feinste Mehl erhält in den 
Mehlspeisen Zutaten von Milch, Butter und Eiern und die feinsten Back- 
waren eine Beimischung von Milch. Der weitgehenden Differenzierung 
wird nur das Weizenkorn unterworfen, nicht aber das Roggenkorn. In 
der allgemeinen Entwicklung der Volksernährung gewinnt der Weizen 
allmählich das Übergewicht und das Weizenkleinbrot das Übergewicht 
über das Roggenschwarzbrot und das Großbrot. 

Die Umwertungen in der Vermahlung des Getreides fallen bei uns in 
die Zeit der allgemeinen Besserung der Gesundheit, und vergleichende 
physiologische Tatsachen, welche irgendwie einen allgemeinen nachteiligen 
Einfluß der geänderten Ernährungsweise erkennen ließen, haben wir trotz 
der vielen Behauptungen über die Abnahme der Leistungsfähiskeit der 
„Kulturmenschen‘“ nicht zu verzeichnen. 

Die Gründe für den zunehmenden Weizenkonsum und das Klein- 
gebäck lagen bei uns zum Teil begründet in dem sich hebenden Wohl- 
stand, in der Zunahme der Stadtbevölkerung, der Aufsaugung der kleinen 
Mühlen durch die Großindustrie, in der Ausbreitung des Bäckereigewerbes, 


andererseits aber auch in manchen fühlbaren Annehmlichkeiten der besseren 
Gebäcke und dem Drang nach kulturellem Fortschritt, der auch in der 


Entwicklung einer besseren kulinarischen Erziehung seinen Ausdruck findet. 


Neben dieser allgemeinen Entwieklung im Gebrauch der Zerealien 


sind Bemühungen hervorgetreten, die, wie man sagt, der Verfeinerung 
des Lebensgenusses entgegentreten oder, wie in Notständen, eine vermehrte 
Ausmahlung erzielen wollen. Derartige Bestrebungen gehen viele Jahr- 


zehnte zurück. Rein empirisch war man auf die Ausscheidung der Kleie, 


als einem Verbesserungsprozeß des Mehles, gekommen, Jahrhunderte hin- 
durch hat man auch auf dem Wege der Gesetzgebung auf einen in dieser 
Hinsicht zeitgemäßen Betrieb der Mühlen gedrungen. Erst Mitte des 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 247 


vorigen Jahrhunderts haben Millon und Meges-Mourries wieder das 
Hinzubacken der Kleie zu Brot geradezu empfohlen, um die Brotmenge 
zu vermehren, ohne aber irgendeinen praktischen Erfolg mit diesem Vor- 
schlag erzielt zu haben. Zur Zeit der Not in Ostpreußen hat Liebig 1868 
die Kleie gleichfalls als Zusatz, d.h. Vollkornmehl, empfohlen, und 
zwar als ungegorenes Schrotbrot aus Mehl von 9 Prozent Ausmahlung. 
Seine Argumente waren einmal volkswirtschaftliche, dann aber glaubte 
er, solches Brot sei außerordentlich gut verdaulich; von dem groben Aus- 
sehen, welches das Brot habe, wisse der Magen nichts und seine unschätz- 
bare Wirkung auf die Leute mit träger Verdauung sei den Ärzten wohl- 
bekannt. Er führte auch die Erfahrung aus dem Krimkriege an, daß 
nämlich die russischen Soldaten bei der nämlichen Brotkost wie die 
französischen Soldaten (d. h. bei kleiearmem Brot) nicht ausreichten, d.h. 
Hunger hatten, so daß man genötigt war, zum französischen Weißbrot 
ein Supplement zu bewilligen. Liebig war auch der Meinung, daß Brot 
durch die Beseitigung der Kleie ‚unverdaulicher‘“ würde, weil die Nähr- 
salze der Kleie verloren gingen. 

Mit dem Verschwinden der Hungersnot und dem Brotmangel war 
auch im öffentlichen Leben das Interesse einer Brotreform zu Grabe 
getragen worden, wenigstens bei uns in Deutschland. Anders in England. 
Hier hatte die reiche Fleischnahrung, zusammen mit dem Weißbrotsenuß 
und dem Vermeiden von Gemüsen, eine Kostform geschaffen, welche 
mancherlei hygienische oder auch krankhafte Störungen in den besser 
situierten Kreisen zeitigte. Das Grahambrot und die Asgitation zum 
Zwecke der Rückkehr zu einem kleiehaltigen Brot verbreitete sich. Doch 
ist es trotzdem zu einer allgemeinen Einbürgerung dieser Bewegung, die 
zum Teil durch die ‚Whole meal reform league“ geführt wurde, nicht 
gekommen. Die Empfehlung der Whole meal geschah auf Grund empi- 
rischer Beobachtungen. 

Schon 1878 hatte ich zeigen können, daß die Liebigsche Behauptung, 
Brot aus feinem Mehl würde wegen seines geringen Salzgehaltes nur 
schlecht verdaut, nicht richtig sei, daß vielmehr gerade das kleiereiche 
Schwarzbrot große Verluste bei der Verdauung erfahre. Im Jahre 1882 
habe ich dann auf Betreiben der englischen ‚Bread reform 
League“! die ersten eingehenden Versuche über den Einfluß 
der Ausmahlung des Weizens auf die Verdaulichkeit beim 
Menschen durchgeführt. Das Wort ‚Vollkornbrot‘ war damals noch 
nicht so zum Schlagwort geworden wie heute, die englischen Bestrebungen 
waren aber tatsächlich nichts anderes als eine Vollkornbrotasitation. 


1 Vgl. Zeitschr. f. Biol. 1883. 


248 MAx RUBNER: 


Ich habe damals für dieses aus dekortiziertem Weizen hergestellte 
Brot folgende Tatsachen festgestellt: 


1. Es besteht ein Zusammenhang zwischen schlechter Ausnutzung und. 


der Zunahme der Kleie im Brot. 

2. Die kleiehaltigen Mehle enthalten zwar mehr N als die kleie- 
ärmeren, die Verdaulichkeit der N-haltigen Bestandteile nimmt aber mit 
der stärkeren Ausmahlung relativ ab. 

3. Die Kleberzellen enthalten zwar Eiweiß, dieses wird aber nur 
verdaut, wenn die Zellen zerstört sind, weil deren unversehrten Wände 
für Fermente nicht zugänglich sind. 

4. Von der Kleie, die nach einer 7Oprozentigen Ausmahlung bis zur 
Gewinnung von Vollkornbrot obiger Art erhalten wird, sind allerdings 
unter erheblichem Verlust Nährstoffe verdaulich. 

5. Eine die übrigen Nährstoffe schädigende FihwaEuns hinsichtlich 
der Resorption hat diese Kleie nicht. 


6. Die Kleieverwertung ist nach landwirtschaftlicher Eitahee bei 


den Nutztieren sehr günstig. Daher ist die Verwertung der Kleie vom 
volkswirtschaftlichen Standpunkt je nach den Kleiepreisen bald mehr oder 
weniger vorteilhaft. 


In Ergänzung dieser Versuche habe ich einige Jahre später solche 
an einem Brot ausführen lassen, das wirklich aus ganzem Roggen her- 
sestellt war, und damit ein Brot verglichen, das zwar aus Mehl von 
sleichem, aber vorher dekortiziertem Getreide hergestellt war. Zwischen 
beiden Brotarten war ein wesentlicher Unterschied in der Verdaulichkeit, 
das Beibacken aller Kleie eines nicht weiter gereinigten Getreides hatte 
die Folge, daß auch die sonst verdaulichen Bestandteile mit in die 
schlechte Ausnützung hineingerissen wurden.! 

Vom Standpunkt einer sparsamen Wirtschaft ist es also möglich, 
durch Steigerung des Ausmahlungsverhältnisses mehr verdauliche Nähr- 
werte zu gewinnen, jedoch zeigte eine eigentliche Vollvermahlung erheb- 
liche Minderung des Gesamtnährwertes. Verschwendungen dieser Art be- 
dingt auch der Genuß manches Landbrotes, des Pumpernickels usw. 

Der Gedanke, die Ausmahlung zu vermehren unter Gewinnung eines 
sut verdaulichen Brotes, hat eine ganze Reihe von Erfindern nicht ruhen 
lassen; zweifellos hat man, veranlaßt durch meinen Hinweis auf die 
Unverdaulichkeit des in Zellen eingeschlossenen Klebereiweißes, sich be- 
müht, auch feinere Vermahlungen herzustellen, was gewiß nur von Vorteil 
war. Zwar wurde von verschiedenen Erfindern behauptet, sie hätten das 


1 Vgl. Wicke, Arch. f. Hyg. 1890. Bd. XI. 8. 333. 


_ 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE.\ 249 


Problem einer nutzbringenden Ausmahlung gelöst, man kann aber, ohne 
deshalb das Streben dieser Art als nutzlos hinzustellen, sagen, daß die 
‘Nachprüfung auf experimentellem Wege ein solches Ergebnis nicht an- 
zuerkennen vermocht hat. Dabei wurden teils feuchte, teils trockene Mahl- 
verfahren angewandt. Untersuchungen von €. B. Lehmann, Praussnitz, 
Plagge und Lebbin u. a. haben wichtige Grundlagen zur Beurteilung 
solcher neuen Mahlverfahren gegeben. 

Natürlich hat jedes neu erfundene Brot einige Zeitlang aus der Reihe 
der Überänestlichen, stets nur auf ihre Gesundheit Bedachten, Liebhaber 
gefunden, die vorübergehend der neuen Mode sich zuwandten. In den 
allgemeinen Volksgewohnheiten hat sich keine Änderung vollzogen. 

Die Militärverwaltung ist auf Grund der Versuche von Plagge und 
 Lebbin zu einer 75prozentigen Ausmahlung übergegangen. Die ärztlichen 
* Kreise haben von den Vollkornbroten in diätetischer Hinsieht Gebrauch 
gemacht in jenen vielen Fällen, wo eine angebliche Obstipation nur in 
der mangelnden Kotbildung durch vollkommene Resorption der gewählten 
Nahrungsmittel besteht. 

Eine Laiengemeinde, welche das Vollkornbrot als wesentliches Mittel 
‚der Gesundung ansah, hatte sich auch allmählich eingebürgert; sie war 
teils aus dem Vegetariertum herausgewachsen, teils entstammte sie den 
Anhängern des Naturheilverfahrens, teils beruht sie auf den schon er- 
wähnten, wirklich gesundheitlichen Bedürfnissen bei Personen mit zu ein- 
seitiger Kost. 

Das Vollkornbrot ist jetzt nicht mehr ein Nahrungsmittel geworden, 
um dessen Verdaulichkeitsgrad man debattiert, im Gegenteil, man fußt 
wieder auf der elementaren Vorstellung, daß die Zusammensetzung eines 
Nahrungsmittels an sich seinen Wert bedinst, das Vollkornbrot wurde 
wieder als Quelle reichlicher Eiweißzufuhr und reichlicher Nährasche, die 
Kleie als notwendiger Darmballast betrachtet, wie als Nährmittel zur 
Hebung der ‚Volkskraft“ und gesunden Lebens überhaupt. Eine Fülle 
von Beispielen über plötzliche Gesundungen als Folge des Verzehrens von 
Vollkornbrot sind berichtet worden. Zur Begründung dieser Seite des 
Problems hat man einen Weg eingeschlagen, welcher den Kreis des wissen- 
schaftlichen Erfassens überschreitet. Die praktische Erfahrung des einzelnen 
über die Mehrung der Gesundheit nach Genuß von Vollkornbrot soll 
beweisen, daß nur dieses zur Volksernährung verwendet werden solle. 
Da Artikel dieses Inhalts auch in medizinische Zeitschriften übergegangen 
sind und ihre Angaben als wichtiges Material in die Literatur eingeführt 
werden, muß über diese Art der Beweisführung ein warnendes Wort 
gesagt werden. Sie fußt auf dem Prinzip des posthocpropterhoc- 


350 Mıx RUENER: 


Verfahrens, das, wie die Geschichte der Medizin lehrt, gelegentlich nütz- 
lich war, noch öfter aber viel Unfug angerichtet hat. Es gibt fast kein 
Nahrungsmittel, das man nicht zeitweilig und oft durch Jahrhunderte 
mit einer ganz besonderen Wirkung belegt und ausgestattet hätte. Gläubig 
schworen Volk und Ärzte auf die Wirkung von Dingen, die heutzutage 
als völlig wirkungslos erkannt sind. Von zahllosen Beispielen sei nur an 
folgendes erinnert. Die Hülsenfrüchte haben den Ruf genossen, die Tob- 
sucht mit Erfolg zu heilen, die Gurken hat man als Mittel von hart- 
näckigem Aussatz zu heilen angewandt, auch mit ‚‚herrlichem Erfolg“ bei 
Blutsturz und Phthise, der Rettich war ein anerkanntes Mittel gegen 
Wassersucht, Steinbeschwerden und Bandwürmer, die Gartenkresse ein 
Mittel gegen Furunkel. Die Äpfel heilten Melancholie, Ohnmachten und 
Herzklopfen, Spargel diente zur Behandlung verschiedener Erkrankungen 
der Harnorgane usw. 

Was man also in manchen Kreisen dem Vollkornbrot zuschreibt, 
gehört auch in die Kategorie dieser Beobachtungen, die ich eben durch 
ein paar kurz herausgegriffene Beispiele aus der älteren Ernährungs- 
wissenschaft geschildert habe. Mit Argumenten und Beweisführungen 
dieser Art kann sich die Wissenschaft nicht weiter beschäftigen, sie muß 
versuchen, ihren Weg zu gehen, den das Experiment weist. 

Will 'man die Vollkornbrotfrage nicht im engen Rahmen der Verdau- 
lichkeit wie bisher, sondern auf breiterer Basis vom allgemein gesundheit- 
lichen Standpunkt betrachten, so sind eine Reihe von Vorgängen zu 
beachten. Es gehört dann hierher die Erörterung der Ertragbarkeit, 
worunter man die Erscheinungen und Gefühle und Empfindungen versteht, 
die sich schon beim Genuß des Brotes selbst geltend machen; Geruch, 
Geschmack, Haltbarkeit des Brotes gehören hierher, ferner die Kauarbeit, 
die Vorteile der Differenzierung der Gebäcke gegenüber dem Einheitsbrot. 
Die Volksmasse entscheidet darüber. Wie erwähnt, hat praktisch die 
Differenzierung des Brotes und Gebäckes ganz und gar die Oberhand 
behalten. 

Mit der Aufnahme in den Magen tritt die so oft gehörte Frage der 
Sättigung, der man freilich heute eine ganz irrige Bedeutung zuschreibt, 
in die Erscheinung. Aus meinen Erfahrungen mag darauf hingewiesen 
werden, daß gerade solche Brote, die Sättigung und das Gefühl der Fülle 
erzeugen, Surrogatbrote waren, die bei reichlichem Genuß direkt Magen- 
störungen verursachten. Im Darm drückt sich der Grad der Bekömm- 
lichkeit in den Gefühlen aus, welche durch die Gasbildung hervorgerufen 
werden. Es bedarf für uns heute keiner besonderen Messung, um zu 
wissen, daß alle kleiehaltigen Brote reichlich, oft schwer belästigende Gas- 


“ 


euer un. 


a > 


- 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 251 


bildung hervorrufen. Im weiteren sind Unterschiede in der Füllung des 
Diekdarmes und des Rektums und S. romanums gegeben. Man hat das 
die Ballastbildung genannt, über diese habe ich an der Hand der Ver- 
suche über aufgeschlossenes Stroh schon das Nähere gesast.! Ballast- 
bildung bedingt schon bei mäßigen Mengen von Brot eine zweimalige Kot- 
entleerung am Tage. Die Rückwirkung des Ballastes auf die Erweiterung 
des Darmes hat vor kurzem v. Hansemann beschrieben. Starke Ballast- 
bildung greift auch schon auf die Ausnützung über. Die Ausnützung 
ist für sich ein Objekt, das experimentell zu fassen ist. Ihre Resultate 
klären über die Vorgänge der Resorption auf und über die Grenzen der 
Leistunssfähigkeit des Darmes als individuelle Faktoren, über die chemische 
Beschaffenheit des Stuhles und seine Rückwirkung auf den Darm. 

Ein Nahrungsmittel kann bezüglich der Qualität der Nährstoffe eine 
besondere Beurteilung erfahren. Hierher gehört die Beurteilung der Art 
der Eiweißstoffe, d.h. der biologischen ' Wertigkeit, die Beziehung zur 
Nährstoffbildung und Wachstum. 

Vielfach wird in neuerer Zeit auf die Ascheverhältnisse im all- 
gemeinen Rücksicht genommen, ohne daß man immer die kritische Sich- 
tung gehörig berücksichtigt. 

Es wird behauptet, daß das Vollkornbrot alle „Salze“ des Getreides 
dem Körper zuführe und deshalb besser sei als Getreide geringerer Aus- 
mahlune. Auch für andere Nahrungsmittel stellt man ähnliche Betrach- 
tungen an, indem man, losgelöst von der praktischen Ernährung, den 
Aschereichtum oder die Aschearmut und die Qualität der Asche erörtert. 
Man vergißt dabei zumeist, daß wir zurzeit über die Bedürfnisse des 
Menschen hinsichtlich der Größe der Zufuhr einzelner Salze gar keine 
sichere Angabe machen können, da nur für einzelne Aschebestandteile 
ungefähr der Minimalbedarf feststeht, keineswegs für alle; auch weiß man 
nicht, ob es angezeigt wäre, eine Aschezufuhr auf das ‚Minimum‘ des 
Bedarfes einzustellen oder um wieviel das Minimalbedürfnis überschritten 
werden muß. Wahrscheinlich ist das ebensowenig zulässig, wie die Er- 
nährung auf einem Stiekstofiminimum. 

Ohne Kenntnis des wirklichen Bedürfnisses an bestimmten Salzen 
wird man doch nicht behaupten wollen, daß alle Salze einer Frucht 
a priori den Menschen erforderlich wären, sie sind wohl den Pflanzen 
für ihre bestimmten Zwecke und Lebensvorgänge unerläßlich, werden aber 
in dieser Menge und Art für das Wachstum oder den Erhaltungsstofi- 
wechsel des Menschen weder erforderlich noch auch zweckdienlich sein. 

Vielleicht ist auch zu wenig bekannt, daß gerade die pflanzlichen 


1 Dies Archiv. 1917. Physiol. Abtlg. S. 86 und 1916. S. 44. 


252 MAX RUBNER: 


v 


Nahrungsmittel außerordentlich großen Schwankungen auch in ihrem 
Salzgehalt unterliegen; das Weizenkorn kann im Aschesehalt zwischen 
0-51 bis 3-25 Prozent, d.h. um mehr als 600 Prozent, schwanken, der 
Roggen vor 0-51 bis 4-18 Prozent, also um mehr als 800 Prozent. Dies 
läßt schon vermuten, daß ein gleichmäßiger Aschegehalt also nicht zu 
den biologischen Voraussetzungen des Wachstums und Gedeihens gehört. 

Man muß sich auch klar machen, ob das Brot an sich nach seinem 
Aschegehalt die Aschezufuhr maßgebend beeinflußt. Wenn man für den 
mittleren Verbrauch an Nahrungsmitteln, wie es bei freier Wahl vor dem 
Kriege in der deutschen Nation bestand, die Salze (ausschließlich Koch- 
salz als Würzmittel) berechnet, so schätze ich diesen Verbrauch auf 
14-30 g pro Kopf und Tag, wozu noch in Wasser und Getränken 1-30 8 
hinzukommen mögen = 15-60 g im ganzen.! 

Selbst wenn man das Korn völlige vermahlen würde, wäre der Zu- 
wachs an Salz nur 1-4. pro Tag, wobei aber unterstellt wird, daß diese 
Salze wirklich resorbiert werden, was aber nicht der Fall ist. In den 
Animalien werden etwa 4-07, in den Vegetabilien 10-23 © Asche auf- 
genommen (mit Bier eingerechnet 11-13 8), die Vegetabilien liefern dem- 
nach den wesentlichen Aschenanteil der nationalen Konsumwerte, die 
Animalien dagegen die Hauptmenge des Kalks.? 


Verbranekr, 3479, Milch m 0:67°/, Asche 2-32g 
Sie aKäserne AR 2-4 0-19 
VHro Ener 1212 0-17 
ABS SHBrotd. Nee 0-8 3.48 
44 Mehl»... „wu. 1-2 0-53 
35h % Kartoitel, .. 2... 1-09 3.82 
IST Butten Sie. un. 0-2 0.04 
19,0, Meta ou aan — _ 
Ban, Zucker ur a: —_ _ 
16195, Rleischn ne 22.0. 1-12 1-35 
Gemüse arm. — 2-50 
14-30 
Wasser zum Kochen usw. ........ 0-40 
U NISBIer TE ER SR. 0-90 
Summe pro Tag: 15-60 
Für Vollkorn bei 1-13 Prozent Asche = 4-93 g pro Tag. 
= Pro Tag und Kopf Alkalien Kalk Magnesia 
In Milchprodukten ... 0:837g8 0-571g 0-066g8 
Bier: 74..,. Teer Ar 0-068 0-018 0-002 
Brot und Mehl. 2.0.22. 1:280 0-252 0-442 
Kartotiel 0m we 2-406 0-100 0-188 
Hleischör. 2.0. Ir R25 1.903656 0:033 0-043 
Gemüse Eat le 1:087 0-320 0-175 
6-314, 1-194 0-916 
Massery ut enen ine — 0-400 _ 
u Ken 0-393 0:025 0-055 


6-707 1-619 0:971 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 253 

Die starke Ausmahlung liefert mit der Kleie zwar mehr Salze in das 
Brot, jedoch hauptsächlich mehr Magnesia, die ohnedies in der gemischten 
Kost überreichlich vertreten ist.! Trotz der relativ geringen Beteiligung 
des Gemüses an der täglichen Kost nehmen sie in der Aschezufuhr eine 
wichtige Stellung ein, viel wichtiger als die Zerealien. Am übersichtlichsten 
werden diese Beziehungen, wenn man sich gewöhnen wollte, die Asche 
auf eine Kalorieneinheit zu berechnen, weil man dann sofort den Effekt 
der Nahrungsmischungen klar übersehen könnte. Eine solche Zusammen- 
stellung, aus der die Rolle der Gemüse klar ersichtlich ist, habe ich schon 
vor vielen Jahren gegeben.? Auf die volle Kost eines Arbeiters berechnet, 
wird aufgenommen: 


Bei ausschließlichem Asche Kalk Magnesia 
Genuß von in Gramm 
MWerbbrot 4. u. ud 6-9 0-5 0-5 
Weibkrausen... 22... 104-5 9-8 3:6 
DPImarbal 198-6 a 
Saat ade eine 187-1 27.4 11-6 


Man erkennt daraus den starken Einfluß der Gemüse auf die Salz- 
anreicherung, neben der die Unterschiede dieser oder jener Ausmahlunges- 
srade fast nicht mehr in Betracht kommen. Die Bedeutung der Aus- 
mahlung für die Ascheversorgung wird also vielfach völlig unrichtig und 
viel zu hoch bemessen. 

Wer also die Gesamternährung eines Menschen oder einer Bevölkerung 
nicht kennt, darf auch nicht behaupten, daß etwa ein weniger asche- 
haltiges Brot einen Nachteil gebracht hat. Man muß auch wohl beachten, 
daß Brot im allgemeinen ein aschearmes Nahrungsmittel ist und daß die 
Unterschiede zwischen dem Aschegehalt eines früheren Durchschnittsbrotes 
und einem Vollkornbrot überhaupt keine erheblichen sind. 

Die Ascheernährung ist übrigens nicht nur als ein Bilanzvorgang 
zwischen einem einmal gegebenen ‚„Salzbedarf‘“ der Organismen und der 
Salzzufuhr im Nahrungsmittel aufzufassen, wie das heute noch ganz all- 
gemein geschieht. Der Vorgang ist verwickelt. Ich habe bewiesen, daß 
ein erheblicher Teil des Kotes, oft zwei Drittel, als Stoffwechselprodukt 
aufzufassen ist, wesentlich wohl als Rest der Verdauungssäfte. Dieser 


5: In 100 Teilen Asche Alkalien Kalk Magnesia 
sind in Gramm 
Bei teinem Mehlu.r 2m. 785.18 7.48 7-70 
Bei gsröberem Mehl . 31-96 6-35 11-22 
Bender Klee N: 28-47 2-97 16-95 
(König, Die Nahrungsmittel. Bd. II. S. 830.) 


2 Hyg. Rundschau. 1905. 8. 8. 


354 ü Max RuBner: 


Rest ist aber nicht etwa nur organischer Natur, sondern auch anorganischer 
Herkunft. Es werden an den Darm von den verschiedenen Nahrungs- 
mitteln ganz verschiedene Ansprüche gestellt. Es ist eine Eigenart des 
Brotes, wie wir noch näher sehen werden, daß die Steigerung des Kleie- 
gehaltes zu gleicher Zeit auch die Mengen dieser Stoffwechselprodukte 
anregt, also auch die Aschebedürfnisse selbst vermehrt, auch jedenfalls 
qualitativ ändert, so daß wohl erwogen werden muß, ob nicht die Zufuhr 
der Aschebestandteile in.der Nahrung, z. B.. durch diese Nebenwirkung 
der Kleie, überkompensiert wird. Zurzeit besitzen wir keine Grundlagen 
zar weiteren Einsicht in diese Verhältnisse, es mag aber auf die Asche- 
analysen des Kotes verwiesen sein, welche sich bei Albu und Neubergt 
zusammengestellt finden. Die Unterschiede zwischen den Ausscheidungen 
bei Hunger und der Aschezusammensetzung bei gemischter Kost und 
Milch weisen auf solche Besonderheiten hin, die einem näheren Studium 
vorbehalten werden müssen. 

In einigen Fällen habe ich die dem Stoffwechselanteil zugehörigen 
Aschebestandteile zu isolieren versucht und beobachtet, daß dieser Asche- 
anteil von wesentlich anderer Beschaffenheit ist wie der übrige Rest. 
Näheres kann ich vorläufig nicht angeben. 

Die Behauptung, Kleie habe im Brote zu bleiben, weil dadurch mehr 
Nährsalze gewonnen werden, gründet sich also auf die falsche Voraus 
setzung, daß die Zusammensetzung eines Nahrungsmittels für die Beurteilung 
seines Nährwertes maßgebend sei ; entscheidend ist stets nur der Resorptions- 
vorgang, der seinerseits niemals eine bloße Aufsaugung darstellt, vielmehr 
durch funktionelle Änderungen der Darmtätiekeit kompliziert erscheint. 

Im Gegensatz zu dem Gedanken des tunlichsten Aschegewinnes durch 
geringe Kleieausmahlung oder volle Vermahlung des Kornes wird von 
anderer Seite auf die Qualität der Asche besonderes Gewicht gelest und 
hervorgehoben, daß durch sie geradezu eine unerwünschte Vermehrung 
der Magnesiasalze eintritt, indem die Kleie besonders reich an diesen Ver- 
bindngen ist (vgl. oben S. 253). 

Mit der Kriegsernährung haben sich die Verhältnisse der freien Kost 
des Friedens mit ihrer beliebigen Auswahl der Nahrungsmittel allerdings 
vollkommen geändert, auch haben sich wirklich recht fühlbare Mängel 
herausgestellt, seitdem die Rationierung weiter um sich gegriffen hat; es 
könnte in der Tat auch zweifelhaft erscheinen, ob nicht doch manche 
Störungen der Gesundheit weniger auf den Mangel an organischen Nähr- 
stoffen als vielleicht auf den Mangel an anorganischen Bestandteilen, wobei 


1 Der Mineralsioffwechsel. S. 46. 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 255 


man an die Kalkversoreung denken könnte, zurückzuführen sind. Aber 
auch in dieser Hinsicht sorgt die Selbsthilfe der freien Bevölkerung für die 
Mängel der ungezähmten Verteilungswirtschaft. 

Ich will aber hier nur auf die Verhältnisse der Brotversorgung ein- 
gehen. 

Mit dem Krieg erfuhr die Brotversorgung eine besondere Bedeutung, 
mit dem Abschluß der Grenzen waren wir auf die eigene Produktion an- 
gewiesen. Der Roggen trat mehr in den Vordergrund, und die ver- 
schwenderische Verfütterung des Brotgetreides führte schon nach etwa 
einem halben Jahre zur Rationierung des Brotes, zum Einheitsbrot über- 
haupt, zum Einheitsmehl und zur Beschränkung des Mehlverbrauches, 
zur Ausmahlung auf 80 Prozent und seit mehr als einem Jahre zum so- 
genannten Vollkornbrot und Vollkornmehl, wenn man von der geringen 
Menge des noch erbackenen Krankenbrotes absieht. 

In den ersten Jahren war das Brot das beliebteste Angriffsobjekt für 
Streekungen, d.h. für größtenteils Fälschungsmittel. Nicht nur wurden in 
der Literatur alle in früheren Hungersnöten ausgeführten und empfohlenen 
Zusätze zum Brot wieder empfohlen, sondern auch neue unverdauliche 
Objekte hergestellt, fremde Nahrungsmittel verschiedener Herkunft als 
Brotzusatz geeignet erklärt. 

Daneben meldeten sich fast alle seit vielen Jahrzehnten bekannten 
besonderen Mahlverfahren aufs neue und verlangten schon zur Zeit der 
_ Ausmahlung auf 80 Prozent ihre Verwertung für den Staat. 

Schließlich gab man dem Drängen der Vertreter des Vollkornbrotes 
auch nach; wer. diesen ausschlaggebenden Einfluß ausgeübt hat, ist nicht 
bekannt, jedenfalls wurde eines Tages amtlich die volle Ausmahlung des 
Kornes beschlossen. 

Als Argument für die Notwendiskeit, ein Vollkornbrot zu genießen, 
hat man auch die sogenannte Vitaminlehre herangezogen. Es zeigt sich 
auch in dieser Hinsicht, daß die popularisierende Richtung der wissen- 
schaftlichen Durcharbeitung einer Frage vorauseilt und sie schließlich in 
Mißkredit bringt, weil sie die Zusammenhänge der wissenschaftlichen Tat- 
sachen nicht zu erfassen vermag. 

Die bisher erhaltenen objektiven Befunde rechtfertigen die Behaup- 
_ tung, daß nur ein Vollkornbrot gesund sei, absolut nicht. Im Gegenteil, 
man könnte mit demselben Recht behaupten, daß die größten Fein- 
schmecker und Schlemmer auf diesem Gebiete, diejenigen, die wesentlich 
nur Milchbrötehen genießen, ebenso vor den Folgen des Vitaminmangels 
geschützt sind wie die Vollkornbrotesser. Man muß nur auf die Tatsachen 
zurückgehen, wie sie wirklich nachgewiesen worden sind. 


256 MAx RUBNER: 


F. Hofmeister! hat auf die Vitaminfrage mit Bezug auf das Brot 
hingewiesen. Feines Weizenbrot konnte die Tiere nicht am Leben er- 
halten, wohl aber Rogsen- und Kommißbrot oder Weizenbrot mit 20 bis 
25 Prozent Weizenkleie oder das Weizenmilchbrot; auch Zusatz von 
10 Prozent Preßhefe erwies sich als lebensrettend für die Mäuse. Sonach 
liegen ähnliche Verhältnisse wie bei den Versuchen mit poliertem Reis vor, 
dessen Insuffizienz der Nährwirkung durch Reiskleie, Weizenkleie, Erbsen, 
Bohnen, Preßhefe usw. beseitigt werden konnte. F. Hofmeister: hat 
selbst darauf hingewiesen, daß bei der Abwechslung, welche die normale 
Kost bietet, solehe Wirkungen, welche aus dem Mangel an akzessorischen 
Nährstoffen entstehen können, kaum zur Beobachtung kommen dürften, 
Es fehlt in der Tat jeder Nachweis, daß im Rahmen der normalen durch- 
schnittlichen Ernährung die Gefahr eines solchen Mangels an diesen Stoffen 
im allgemeinen oder wegen des Genusses von ‚„‚Weißbrot‘‘ entsteht. Selbst 
wenn man die Ergebnisse an weißen Mäusen unmittelbar und nach jeder 
Richtung einfach auf den Menschen übertragen wollte, was ganz und gar 
unzulässig ist, wäre zu beachten, daß der Genuß des feinen Brotes ohne 
jeden Schaden wäre, da es ja mit Milch gemischt ist. Aber auch sonst 
blieben da mancherlei andere Einwände, auch wenn man davon absieht, 
daß die ganze übrige Kost die Möglichkeit bietet, die akzessorischen Nähr- 
stoffe zu schaffen. 


Der Mangel an akzessorischen Nährstoffen wird vor allem dann leichter 


eintreten und zur Wahrnehmung kommen, wenn eine einförmige, einseitige 
Art der Ernährung innegehalten wird. % 

So könnte also von einem gewissen Abschluß der Brotfrage gesprochen 
werden, wenn nicht sofort wieder die Zweifel auftauchen müßten, was 
denn Vollkornbrot eigentlich sei. Es unterliest für mich gar keinem 
Zweifel, daß man unter diesem anscheinend sich selbst erläuternden Aus- 
druck sehr verschiedenartige Dinge zusammenfaßt und in scharfen Gegen- 
satz zu anderen Brotarten zu bringen versucht, wo innerlich solche Unter- 
schiede gar nicht vorliegen. Von Vollkornbrot habe ich sowohl Roggen- 
wie Weizenbrot vor einiger Zeit näher untersucht?, aber auch da zeigte 
sich, daß dem wahren Sinn des Wortes entsprechend keine echten Voll- 
kornbrote vorliegen. Außer dem ‚amtlichen‘ Vollkornbrot liegen weitere 
„Vollkornbrote“ vor, von denen behauptet wird, daß sie von außer- 
sewöhnlich günstiger Verdauungsfähigkeit seien. Insbesondere hat Hind- 


hede in einer ausführlichen Abhandlung behauptet, daß das Klopfer- 


1 Straßburger med. Zeitung. 1915. Heft 4, 
2 Vgl. dies Archiv. 1916. S. 61 und 165. 


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UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 257 


‚Vollkornbrot ein außergewöhnlich gut verdauliches Material sei, und von 
anderer Seite wird wieder das Finklerbrot als das Brot der Zukunft be- 
zeichnet. Daneben melden sich auch wieder eine Reihe anderer Mahl- 
verfahren ‚‚mit verbesserter Methode“. Eine wahre -Danaidenarbeit, da 
für eine erledigte Erfinduns sofort wieder mehrere neue auf der ‘Bildfläche 
erscheinen. Trotzdem will ich versuchen, in nachfolgendem an ein paar 
Beispielen zu zeigen, wie die Untersuchung derartigen Materials durch- 
zuführen ist und wo der Fehler der bisherigen Untersuchungen und Er- 
gebnisse liegt. 

Ehe ich aber an die Versuche selbst herantrete, wird es zweckmäßig 
sein, über die Vermahlung des Kornes und die Verteilung der Kleie noch- 
mals einige wichtige Tatsachen in Erinnerung zu bringen. Zunächst steht 
sicher, daß die in der Literatur aufgeführten Beobachtungen von Ärzten 
und Laien über die günstigen gesundheitlichen Wirkungen und die ganze 
Individualbeobachtung insofern keinen Wert besitzt, als die Gewährs- 
männer solcher Behauptungen zumeist gar nicht nachweisen könren, daß 
sie wirklich ein Vollkornbrot genossen haben. Wie schon erwähnt, müßten 
selbst aus voll vermahlenem Getreide hergestellte Brote schon deshalb 
sanz verschieden sein, weil das Getreide bald viel, bald wenig Kleie ent- 
hält und diese natürlichen Schwankungen außerordentlich große sind. 

Der Konsument hat nicht den geringsten Einblick in die Mahl- 
verhältnisse der Mühlen, und die Müller selbst legen auf manche Vor- 
kommnisse, die für die Art der Produkte vom hygienischen Standpunkt 
wesentlich sind, oft keinen Wert. Die Vermaxlung selbst hängt auch viel- 
fach von der kaufmännischen Konjunktur ab, wie auch die Bezeichnungs- 
weise der Mehlsorten.! 

Vielfach scheint die Meinung verbreitet zu sein, daß nur ein Voll- 
kornbrot. die Kleie in ausreiehendem Maße enthalte, obschon es Nicht-. 
Vollkornbrote gibt, die mehr Kleie enthalten als das ganze Korn. 

Das Mahleut, welches zur Herstellung von Mehl dient, ist von bio- 
loeischem und hygienischem Standpunkt oft ein grundverschiedenes Ding, 
Zunächst kann das Getreide vermahlen werden, wie es von der Tenne 
kommt, also mit allen Unkrautsamen, siftigen wie ungiftigen, mit 
Steinehen, Glassplitterehen, Eisenteilen, Bodenschmutz und Mäusekot. 
K.B. Lehmann hat sich besonders mit den Unreinheiten des Mehles 
und Brotes verschiedener Herstellung beschäftigt und wichtige Mitteilungen 
hierüber gemacht, aus denen hier nur das Wesentlichste angeführt werden 
mas. Besonders übel steht es nach K. B. Lehmann mit den ländlichen 


1 BRubner und Thomas, dies Archiv. 1916. S. 166, 
Archivf. A.u.Ph. 1917. Physiol. Abtlg. 17 


258 Max RUBNER: 


Schrotbroten; er sagt: „Es geht für mich aus diesen beim Schrotbrot 
und -mehl erhaltenen Zahlen durchaus hervor, daß in den ländlichen 
Schrotbrotgegenden die Reinigung des Getreides fast durchweg sehr 
flüchtig, vielfach, wie es scheint, absichtlich gar nicht vorgenommen wird.“ 
Besser waren die Verhältnisse bei den untersuchten Proben in den Städten. 
Dies wird meiner Meinung nach wohl auch mit den Preisen des Brotes 


in Zusammenhang stehen. Für die städtischen‘ Schrotbrotesser liegt ge-- 


wöhnlich mehr eine Luxusware vor, die für den kleinen Bedarf wohl auch 
im Durchschnitt besser zubereitet wird. 

Die Verunreinigungen des Schrotbrotes waren vielfach derart, daß 
Lehmann eine staatliche Aufsicht über das Brot in den schrotbrotessenden 
Gegenden für zweckmäßig erklärte.! In diesen Fällen liegt also allerdings 
eine Zermahlung des ganzen Kornes vor, aber zugleich eine Mitvermahlung 
von Unkrautsamen und Unrat. 

Auch die Quelle des Getreides spielt für solche Vermahlungsprodukte 
eine wichtige Rolle. Von ausländischem Getreide hat den schlechtesten 
Ruf das russische Getreide mit 6 bis 7 Prozent Zutaten für Weizen und 
Rogsen, bis 16 Prozent bei der Gerste.” Die Reinigung des Getreides ist 
daher die erste Anforderung, die man für die Mehlbereitung.zu stellen 
hat. Nach Bienert wird bei Weizen und Roggen etwa 5 bis 4 Prozent 
solchen Abfalls im Durchschnitt erhalten, wobei die Hälfte bis zu einem 
Sechstel durch den Trieur ausgelesen (davon sind z. B. bei Weizen 65 Prozent 
zerbrochene Körner, 5 Prozent Steinchen und Spreu;- 30 Prozent fremde 
Samen), der Rest durch Gebläse und Siebe abgeschieden wird. 

In der Krieeszeit ist diese. Reinigung vielfach bei uns ganz unter- 
blieben, ja es sind zum Teil auch noch, soweit erhältlich, Unkrautsamen 
selesentlich besonders zermahlen und zugesetzt worden. Unter Reinigung 
‚des Getreides darf man sich aber nicht eine absolut quantitative Trennung 
der Körner von den Unkrautsamen u. del. Schmutz vorstellen.® 

Für einheimisches Getreide fand Lehmann in'100e Körnern in mg: 


Ungereinist | Gereinigt 
Minimum Minimum |Maximum 
Unkraut und Schmutz im ganzen . . | 685 3504 
DavonE Schmutz 20 2918 
Uneiftige Unkräuter . ........ 401 312 
Giftige- Unkräuter ;.. u... Jun... | 264 272 


1 Reform auf dem Gebiete der Brotbereitung. Vierteljahrsschrift f. ollemlaz 
Ge 1893. Bd. XXVI. 
2 Maurizio, Nahrungsmittel aus Getreide. 1917. IL. Bd. S. 129. 
3 Vgl. K.B. Lehmann, Arch. f. Hyg. 1908. Bd. XIX. 


> 
en 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 259 


Der Reinheitserad ist also als relatives Maß zu nehmen. 

Das Korn selbst besteht aus drei ernährungsphysiolosisch und bio- 
logisch ungleichwertigen Komponenten, dem Mehlkern, dem Keim und den 
Hülsen. Erheblichen Schwankungen unterliest das Vorkommen der Keim- 
linge. Im Verhältnis zur ganzen Frucht findet sich nach Hay! 


beim Weizen 2—3 Prozent Hafer 3—4 Prozent 
„ Roggen 2-.5—4 Fr Maishirs' 5—6 35 
Gerste 2—3-.5 ,, Mais 10—14 


Girard?2 hat das Korn in einer kleinen Laboratoriumsmühle in seine 
Bestandteile zerlest und gibt für Weizenmehl: 


Mehlkern Keim Hülse 
85:98 Prozent 1-50 Prozent 12-52 Prozent 
84-69 An 1-41 u. 13-90 u 
33:04 “ 1-35 RN 15-61 & 
34-72 EN 1-16 % 14-12 en 


Ähnliche Untersuchungen hat Fleurent 1899 gemacht mit ähnlichen 
Resultaten: 


Minimum Maximum 
IRernes, Aula nk 82-48 84.18 Prozent 
IS ma a2 u Bea: 1.34 1:57 5 
Schalen. m Moumae 16-18 14-25 N 


Diese Trennungen sind namentlich, was die Hülsen anlangt, jedenfalls 
mit erheblichen Fehlern, die aber konstant sein mögen, behaftet; jeden- 
falls sieht man die schwankenden Verhältnisse der drei Komponenten. 
Die Unterschiede zwischen Mehlkern und Hülse sind auch, wie sich schon 
aus dem Rohfasergehalt ergibt, recht wechselnd, auch mit der Größe der 
Körner. 

Nach Kick enthält das lufttrockene Weizenkorn 82 Prozent Mehl- 
körper und 18 Prozent Kleie; in der Mühle wird bei bester Arbeit erhalten 
82 Prozent Mehl und 16-4 Prozent Kleie, Fußmehl und Schälstaub 1-5 Pro- 
. zent Verlust. 

Die im ganz vermahlenen Korn befindlichen Teile rühren also aus 
drei Quellen, die bei den einzelnen Zerealien sehr ungleichen Anteil am 
ganzen Korn haben und auch bei einzelnen Früchten, wie Rogsen und 
Weizen, je nach den Spezies und der Ernte verschiedene Werte annehmen. 
Wenn man selbst annehmen wollte, daß Vitamine nicht in dem Mehlkern 


1 Vel. Maurizio, Bd. I. S. 155. 
2 Hbenda. S. 156. 
im“ 


260 MAX RUBNER: 


sind, so wüßte man immer noch nicht, wo sie sonst enthalten sind, ob in 
dem Keimling oder in der Kleberzellenschicht oder in einem anderen Teile 
der Frucht und Samenschale.. Beim Mahlprozeß abfallende Teile heißt 
man zwar Kleie; diese stellt aber ein Gemenge von den allerverschiedensten 
Dinsen dar, und ebenso das Mehl, wie ich gleich nachweisen werde. 

Der Ausdruck Vollkornmehl ist übrigens nicht nur für Mehl in Ge- 
brauch, welches aus dem ganzen Korn hergestellt wurde, sondern für ein 


Mehl, das in einer ganz anderen Weise gewonnen wird. Ich werde noch 


experimentell. nachweisen, daß das Vollkornbrot, über welches Hindhede 
und andere und die populäre Literatur so Vortreffliches berichten, über- 
haupt kein Vollkorngebäck ist. Der Mißbrauch des Wortes Vollkorn liest 
weit zurück; er war mir schon bekannt zu der Zeit, als ich meine ersten 
Untersuchungen an diesen Brotarten machte. 

Vollkornmehl, Mehi aus ganzem Korn, wird auch solches Material 
benannt, welches aus dekortiziertem Getreide hergestellt ist. Ausgehend 
von der Absicht, daß es wichtig sei, die Kleberschicht im Korn zu erhalten, 
um den Eiweißgehalt zu erhöhen, und unter der Voraussetzung, daß alle 
Schichten der Frucht- und Sarmenschale wertlos seien, das Endosperm und 
die Kleberschicht das ‚„‚Nährende‘ darstellen, hat man das Getreide ge- 
schält. Diese Schälverfahren sind sehr mannigfacher Art, sie entfernen 
keineswegs nur die Frucht- und Samenschale, sondern auch noch den 
Keimling und häufig Teile der Kleberschicht und der anhängenden eiweiß- 
reichen Schicht des Mehlkernes. Die Annahme einer völligen Nährstoff- 
freiheit der Frucht- und Samenschale ist übrigens keineswegs zutreffend, 
und mit der Beseitigung der Keimlinge wird, wenigstens für den, der 
„alle Teile‘‘ des Getreides verzehren möchte, ein wichtiger Teil weg- 
genommen. 

Im Gegensatz zu der Vermahlung des „Vollkornes‘‘ — sei es mit 
oder ohne Frucht- und Samenschale — setzt man gewöhnlich die Produkte 
der Hochmüillerei, von denen sehr verschiedene in den Handel kommen; 
die einzelnen Sorten von Mehl dienen verschiedenen Zwecken. Feine Brote 
entsprechen wohl den Ausmahlungssrenzen mit 30 Prozent und etwas 
darüber. Zu Brot findet aber auch Mehl Verwendung, dem die feinen 
Sorten vorweg entzogen sind. Solche Brotsorten enthalten dann mehr 


Hülsenbestandteile als selbst das wirkliche Vollkornbrot. In neuerer Zeit 


sind nochmals systematische Versuche über die Zusammensetzung bei ver- 
schiedenen Ausmahlungsgraden gemacht worden. 


Aus den Untersuchungen von Kosutany? läßt.sich eine kombinierte 


1 Chemische Untersuchungen der ungarischen Exportmühlen. 1912. 8. 14. 


a ae 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 261 


Tabelle ableiten, welche für die Beurteilung von Mehlen in ihren Schwan- 
kungen in der Zusammensetzung, von Bedeutung ist!: 


E; Ausmahlung Asche Fett Rohfasergehalt 
nung | 1 Prozenten | mind. |höchst. Mittel| mind. |höchst.| Mittel] mind. |höchst.|Mittel 
0 36 0:40 | 0-50 | 0-45 | 0-91 | 1-22 | 1:06 | 0:26 | 0-53 | 0-43 
it a 51-4 0-44 | 0-55 | 0:50 | 0:99 | 1-71 | 1:18 | 0-26 | 0-66 | 0-51 
2 7:0 0-51 | 0-62 | 0-58 | 1-12 | 1-51 | 1-28 | 0-21 | 0-96 | 0-57 
3 2-8 15-8 | 0-55 | 0-82 | 0-69 | 1-09 | 2-04 | 1-45 | 0-23 | 0-90 | 0-63 
4 4:01 67-2 | 0-57 0-88 | 0:78 | 1-34 | 2-10. | 1:63 | 0-41 | 0-79 | 0-71 
5 4-8S[ im 0-72 | 1-12 | 0-92 | 1-55 | 2-22 | 1-80 | 0-38 | 1-63 | 0-80 
6 4.2) ganzen| 0:96 | 1-35 | 1-15 | 1-68 | 2-51 | 2-09 | 0-52 | 1-34 | 0-97 
7 3-8 6-67. |E-T08 7 1-74 | 1.47 2-13 | 2-96%| 2-44 | 0-72 | 1-63. 1728 
lb 2 73-8 | 1:23 | 2-47 | 1-82 | 2-31 | 3-16 | 2-76 | 0-89 | 2-06 | 1-64 
2476297 11-67 |, 3:92 2.36.) 2-57, 3-52 1,3:06 | 1.02 | 2:84 | 2-09 
8 5 . =381-2 | 2-30 | 4-42 | 3-63 | 3:63 | 483 |)403| — _ = 
Kleie |17 98 —_ — _ _ — — 
Verlust | 2:0 100 — — — — 


Es ist ein Irrtum, anzunehmen, daß die Brote, welche aus Mehl der 
Hochmüllerei herrühren, alle hülsenarm sein würden. Die Zusammen- 
setzung der Brotmehle hängt überhaupt ziemlich eng von der Preislage 
der Körner ab, wie ich an anderer Stelle schon auseinandergesetzt habe.? 
Ist das Getreide teuer, so werden auch die späteren Fraktionen der Aus- 
mahluns noch zum Brot verwendet, der Konsument erhält also unter 
demselben Titel Schwarzbrot je nach den Ernten und. Getreidepreisen eine 
ganz verschiedene Ware. Nur solche Leute, die ausschließlich feinstes 
Weißbrot genießen, nehmen wenig von den Hülsenteilen auf. Wenn man 
aber annehmen wollte, die feinsten Mehle der Hochmüllerei seien völlig 
frei von der Zellmembran der Frucht- und Samenschale, so ist auch das 
ein Irrtum. Wer in letzteren die Träger der Vitamine sieht, wird zugeben 
müssen, daß die Hochmüllerei ein wirklich kleiefreies Mehl gar nicht her- 
zustellen vermag. 


Inwieweit aber Splitter der einzelnen Zellmembranen sich im Mehl 
verschiedenen Ausmahlungssrades verteilen, hat durch mikroskopische 
Auszählung Girard? festgestellt. Er fand in 1g- Weizenmehl folgende 
Mengen von Kleiebruchstücken: 


1 Vgl. auch Maurizio, S. 173 u. 181. 
2 Dies Archiv. 1917. Physiol. Abtlg. S. 166. 
3 (ompt. rend. 1895. S. 121 u. 858. 


262 MAx RUBNER: 


Herkunft Ausmahlungsgrad 
der Teilchen 40 60 70 75 80 Prozent 

Rruchtschalem gr 3000 3700 4700 4900 3900 
Samensehale ı „2. nn. 1000 2700 2700 3200 600 
Aus dem Haarschopf .. . 400 400 1000 1800 3600 

Summe 4400 6000 8400 9900 8160 
Reste der ganzen Kleie . . —_ 1800 1400 1300 6000 
Schalen mit Kleberschicht . 1400 2600 3100 3800 8100 
Kemnuberrestep en. 2% 1 100 1700 3300 4600 . 6900 


Summe 2500 6100 7800 9700 21600 
Im ganzen 6900 12900 16200 19600 29600 


Alle Teile des Kornes ‘sind auch im feinsten Mehl vorhanden, wenn 
auch in kleinen Mengen. Es ist gar nicht berechtigt, das Mehl feiner 
Ausmahlung als einseitige Entmischung des Kornes aufzufassen; jedenfalls 
enthält solches Mehl qualitativ alle Bestandteile des Kernes, während das 
entschälte Korn bei manchem Schälverfahren nur Kleiezellen und Mehl- 
kern enthält, den Keimling und die Frucht- und Samenschalen aber ein- 
sebüßt hat. Man könnte sagen, daß manches sogenanntes Vollkornbrot 
ein viel einseitigeres Mahlprodukt darstellt, wie es das Hochmüllereiverfahren 
liefert. Sieht man in der Getreidehülse die Träger von Vitaminen, so 
sind diese zweifellos auch im feinen Mehl vorhanden. £ 


Neue Untersuchungen. 


Über Kriegsbrot. 
(Sommer 1917.) 


Das Brot in der Kriegszeit ist schon seit Frühjahr 1915 nach amt- 
lichen Rezepten hergestellt und das st in anderer Weise wie im 
Frieden vermahlen worden. 

In den ersten Kriegsjahren bis 1917 bestand die Hauptgefahr für 
dieses Nahrungsmittel darin, daß der Verbrauch an Getreide für die 
tierische Ernährung niemals wirksam unterbunden war, die Brotration 
knapp aufrecht erhalten und bei dieser Sachlage fortwährend nach Surro- 
gaten zur Streckung des Brotes gesucht wurde. Die abenteuerlichsten Vor- 


schläge wurden gemacht und auch auf dem Gebiete der Fälschung das Un- 


glaublichste geleistet. ( 


Zu den Vollkornbroten gehört unbedingt das Kriegsbrot des Sommers 


1917. Mit der Ausmahlung bis zu 80 Prozent war gebrochen worden, 


zumal ein Streckungsmittel wie die Kartoffel nicht zur Verfügung stand 
und auf die Gewinnung anderweitigen Materials, wie z.B. von Mais, nicht 


a 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 263 


- mit genügendem Nachdruck hingewirkt wurde. Ein merkwürdiges Prämien- 
system für möglichst weitgehende Ausmahlung brachte es mit sich, daß 
alles das, was eine reinliche und hygienisch einwandfreie Müllerei aus dem 
Brote fernhalten sollte, mit verbacken wurde. Vermutlich war auch der 
Rogsen selbst nicht selten von schlechter, mitunter verdorbener Beschaffen- 
heit. Einer Zurückweisung schlechten Mehles von seiten der Stadtverwal- 
tungen wurde keine Folge gegeben, vielmehr verlangt, das beanstandete Mehl 
mit anderem, besserem zu mischen. Es konnte daher auch nicht wunder- 
nehmen, wenn das Brot von schlechtem Geschmack und Geruch war, 
auch durch die Backweise nicht befriedigte. Inwieweit sonst unerlaubte 
Zusätze etwa von Unkrautsamen in größerem Umfang vorkamen, ist nicht 
oder nur ausnahmsweise in die Öffentlichkeit gedrungen. 

Wenn man bedenkt, wie lange unser Volk gezwungen ist, das Einheits- 
brot zu essen und wie häufig eine berechtigte Kritik daran geübt worden 
ist, muß es wundernehmen, wie spärlich die Versuche über die näheren 
physiologischen Eigenschaften dieser Brote sind, nur R. Ö. Neumann hat 
eine Reihe von Brottypen untersucht.! 

Die Herstellung der Kriessbrote war keineswegs immer gleich. 
Von der Erfahrung, besonders des Jahres 1917, wird man .sagen können, 
daß die Brotbereitung in weitestem Umfange im Volke eine Ablehnung 
erfahren hat. Ob die Brotbeschaffenheit etwa mit den damals weit- 
verbreiteten Verdauungsstörungen im Zusammenhang stand, kann hier 
nicht weiter untersucht werden. 

Es schien mir (Sommer 1917) wünschenswert, die Verdaulichkeit des 
Kriessbrotes im Zusammenhalt mit den anderweitigen Untersuchungen, 
die von mir ausgeführt worden sind, eingehender zu prüfen, namentlich 
nach den Richtungen hin, die von anderer Seite keine Bearbeitung ge- 
funden hatten. Die Minderwertiekeit eines wie oben angegeben her- 
gestellten Brotes gegenüber einem Brot von 80prozentigem Mehl ist für den 
Unterrichteten selbstverständlich; unverständlich bleibt, daß die Behörden 
mit Begründungen für die Zweckmäßigkeit eines solchen Brotes an die 
Öffentlichkeit treten, für welche alle Unterlagen fehlen. 

Zur Ausführung des Versuches wurde das Brot von verschiedenen 
Bäckereien im Norden Berlins eingekauft. Zum Versuche dienten zwei 
Personen mit gesunden Verdauungsorganen, denen freigestellt worden war, 
so viel zu essen, als zur Befriedigung ihres Nahrungsbedürfnisses diente. 
An einigen Tagen konnte etwas Butter, im übrigen etwas Zucker als 
Zugabe verabreicht werden. Die nachstehenden Tabellen geben die näheren 
‚Einzelheiten an. 


1 Vierteljahrsschrift f. gerichtl. Medizin. Dritte Folge. Bd. LI. Heft 2. 


264 Mıx RUBNER: 


Roolfs. 


Versuch mit Bäckerbrot. Getränk 21 Kaffee aus 30 g Malz täglich. 


Ge- Une 
Datum | wicht Nahrung Zeit Kot “a ; N 
i in ko frisch | trocken ccm ın g 
Ars NANDE Gemischte Kost. . . — —_ 2860 | 9-4 
28. VIII. | 56-5 | Brot 1135 g, Butter 308, 
: Zucker >0e ara — —_ _ 1760 | 10-0 
29. VIII. — Brot 1160 g, Butter 30 g, 
Zuckers300.. 2. er. 1a 247 | 55 | 1720| 79 
30. VIII. | 56-75] Brot 1097 g, Butter 30 g, 
Auckers0e, 22.0.2 NEUaNy? 531: | 113 | 1500| — 
31. VIL.| — Brot 1085 g, Zucker 758 | 8 V. 375 ) 83 | 111073839 
ID 56-5 | Brot 1105 g, Zucker 75 & GzoNe 613 113 | 1570 | 10-2 
2. 1X. — Brot 1148 g, Zucker 758 | 700 V. 245 | 55: | 1540|. 8:9 
3. 1XE _ Gemischte, Rost . 2... | ey: 510 | 110 | 2000 | 9-4 


frisch 2501 =529 lufttrocken 


Brot pro Tag 1116-69 = 727.19 Trockensubstanz. 


Kurgas. 
Versuch mit Bäckerbrot. Getränk 21 Kaffee aus 30 & Malz täglich. 
er Kot | Urm| N 
Datum || wicht Nahrung Zeit \ 
in kg | frisch | trocken el 22 
27. VIIL| — Gemischte Kost. . . _ — —_ 2060 | 5-4 
28. VIIL.| 55-5 | Brot 940g, Butter 30 g, 
Zucker 508 .. _ —— _ 1670| 77.8 
29. VIIIL.| — Brot 1063 g, Zucker 308 OS? 245 55 1710 | 6-3 
30. VIIL.|| 55-5 | Brot 1087 &, Butter 20g, 
Zucker 30 Er: SAVE 320 | 98 | 1580 | 6-3 
31. VII. — Brot 1030 8, Butter 30 & ; 
Zucker 308. 3 002 380 s0 1840 | 7-6 
ID — Brot 1255 g, Butter 30 8, 
Zucker 308... SEE, 340 70 |:1620 | 6-3 
2, DR — Brot 1025 g, Butter 30 e, 
Aucker ler ur sauV. 200 | 45 1450 | 9-5 
3% 10 55-5 | Gemischte Kost. .. .| 70V. 360.| 75 1800 | 6-0 


frisch 1845 = 423 lufttrocken 
Brot pro Tag 1066-6 = 694-6 9 Trockensubstanz. 


Die Brotmengen sind auf Brot von dem Wassergehalt zu Beginn der 


un 


Reihe berechnet. Die beiden Soldaten kamen im ganzen auf die nötige 
Kalorienmenge, zwar nicht mit dem Brot allein, aber mit den Zugaben. 
Die Analyse des Brotes und des Kotes enthält die nachfolgende Tabelle. 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 265 


Herbst 1917. 


| In In 
In 100 Teilen Brot 694-6 Teilen | 727-1 Teilen 

| Kurgas Roolfs 
BNSche m. N. MN 2-59 17-62 18-90 
Breanischs. ..,,. Ins 97-41 677-00 708-20 
N nn, ee 1-65! 11-46 12:00 
Gesamtpentosan . . . .. . 10-77 74-80 78-20 
ZHellmemibran una... 9-74 67:65 70-82 
Zellulese: ı. 0... 2... 3-02 20-97 21:95 
Pentosan der Zellmembran . 3-07 21:29 ° 22-32 
Restsubstanz d. Zellmembran 3-65 25-39 26-55 
Iren Sn 0-60 4-17 4-36 
Stankesf.. ea. een 69-062 479.68  -502-12 
ISSIOLIEN!.....:2 ee 422-1 2931:7 3069-0 


1110-31 Protein. 
2 Berechnet. 


In 100 Teilen Zellmembran sind: 


Zellulosetwarn na nee 
Pentosan N EEE NEEHEN 31-51 
Bestsubstanze sa 37-49 
In 70g |In 87-58 
In 100 Teilen Kot Kurgas | Roolts Kot Kot 
Kurgas Rool#s 
Nschese se sn ae 8-78 9-21 6-15 3-06 
Dreanıschec.ir., een 91-22 90-79 63-85 79-49 
IN LER. BEE nf 3-44 4-40 3-41 3-85 
IBentosans ne es a 21-36 19-29 14-95 16-88 
Zelmembram .-.. . 2... 36:88 38-27 | 25-82 33-31 
zelluloservnre „var. 13-57% | 13-36 9-50 11-67 
Pentosan der Zellmembran . 11-94 13-78 8-36 11-04 
Bestsubstanz d. Zellmembran 11-37 11-13 7:96 9-74 
IRlsikih a re 5-98 7:27 4-19 6-36 
Sianka ln a 8-41 5-15 5-88. 4-50 
ISalorien® man nn. 480-1 477-4 336-07 417-71 


In 100 Teilen Zellmembran 


des Kotes 
Roolfs Kurgas Mittel 
Zellulose, 44. 36-79 34-88 35-83 
Pentosan 32-37 35:98 34-17 
30-84 29-14 30:00 


Typus eines Vollkornbrotes liefern werde. 


EEE 


Rest 


erwarten, daß das Brot den 
Dem entspricht auch der hohe 
Gehalt an Zellmembran, und auffallend hoch ist der Pentosangehalt, der 
den bei 96 Prozent Ausmahlung in einem anderen Falle erhaltenen Wert 
(9-77 Prozent) noch übersteigt. Gewisse Schwieriekeiten waren auch bei 


Nach der Kriegsverordnung war zu 


266 MıAx RUBNER: 


der Darstellung der Zellmembranen zu überwinden; zweifellos war ein 
Teil’ derselben durch Diastase löslich, nicht die Zellulose und nicht die 
Pentosane, wohl aber ein Teil der Restsubstanz. Ich mußte daher von 
der Anwendung der Diastase zur Stärkelösung absehen und habe hierzu 
nur Chloralhydrat verwendet, ein umständliches und zeitraubendes Ver- 
fahren. Ein Grund für dieses Verhalten läßt sich nur schwer angeben, 
da es bis jetzt an genügender Erfahrung fehlt. Man könnte daran 
denken, dab etwa ausgekeimtes Getreide mit verwendet worden ist. 
Durch das Auswachsen kommt ein Stoffverlust zustande, der bei mäßigem 
Auswachsen einige Prozente beträgt, aber sich weiter erheblich steigern 


kann, dadurch werden die Zellmembranen angereichert. Die Umwand- 


lungen sind leider nach der Richtung hin, welche hier interessieren, nicht 
näher bekannt. 


Nach Maurizio gibt es beim Roggen durch Diastase lösliche Pentosane, 


während die des Weizens nicht verändert werden sollen. Bei der Keimung 
soll sich besonders neue Diastase bilden, die möglicherweise etwas andere 
Eigenschaften hat wie die präformierte. Zahlenmäßige Belege für den 
Umfang, in welchem bei Roggen während der Keimung Pentosane in 
Lösung gehen, habe ich nicht finden können. 

Die von mir dargestellten Zellmembranen gaben bei der Behandlung 
mit Diastase keine Pentosane in Lösung. Man könnte annehmen, daß 
bereits eine solche Abtrennung stattgefunden hatte und demgemäß die 
nochmalige Einwirkung von Diastase ohne Erfole blieb. Es wäre aber 
denkbar, daß die Restsubstanz verändert werden kann und ihre Löslich- 
keit in Diastase erhöht wird. Ich möchte aber damit, keine definitive 
Erklärung geben und weitere Untersuchungsergebnisse abwarten. 

Der Umstand eines so außergewöhnlich hohen Zellmembrangehaltes, 
wie ich ihn sonst auch bei ungereinigtem Roggen nicht beobachtet habe, 
muß entweder zu dem Schluß führen, daß Roggensorten vorkommen, die 
außergewöhnlich reich an Zellmembran sind oder daß eben doch eine 
anderweitige Beimengung zum Brote eingetreten war. Überlegt man sich 


die Vorgänge der Ernährungsperiode des Frühjahrs und Sommers 1917, 


so war dies die sogenannte Kohlrübenzeit. Besonders eifrige Vertreter 
der Kohlrüben konnten sich in der Ausbeutung dieses fraglichen Nahrungs- 


mittels nicht genug tun. Die Kohlrübe war Kartoffelersatz, sie erstand 
im Trockengemüse und den Marmeladen und wurde außerdem in manchen 


Gegenden in hohem Prozentsatz dem Brote beigemenst. Aus getrockneten 
Kohlrüben wurde auch eine Art Mehl hergestellt, das im Verlauf des 
Jahres 1917 um hohen Preis ausgeboten wurde und als Beimischung zu 
Brotmehl empfohlen, ja gewissermaßen aufgedrängt wurde. 


Eis 


Nr ey n NEE 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 267 


Betrachtet man die untersuchten Kriegsbrote von diesem Gesichts- 
punkte als eine Mischung hochgradig ausgemahlenen Roggens mit Zugabe 
von Kohlrübenmehl, so ist die eigenartige Zusammensetzung gut zu er- 
klären, auch manches Verhalten in diätetischer Hinsicht. 

Das Brot hatte im Mittel 65-12 Prozent Trockensubstanz. Die bei 
einzelnen Bäckern festgestellten Schwankungen des Trockengehaltes waren: 


64-29 Prozent 64-70 Prozent 
65-78  ,„ 63233, 
109-0005 2, BanLban 


Recht gering war der Proteingehalt für ein Vollkornbrot. Der Kot war 
stets geformt mit 21-1 Prozent Trockensubstanz bei R. und 22-9 Prozent 
bei K. | 

Einen sehr großen Teil des Kotes machten die Zellmembranen aus 
(36-9 bis 38-2 Prozent); an Pentosanen ist im Kot viel mehr als an 
Stärke, freilich ist von ersteren ein guter Teil in der Zellmembran noch 
‚gebunden. 

Als Gesamtresultat des Verlustes bei Ernährung mit Kriegsbrot (1917) 
wurde erhalten für 100 Teile: 


Person K.| Person R.|) Mittel 

oh A Ne | 21-02 | 32.09 | 26-55 
AmelXalorien- ee 11-46 13-61 12-53 
Aellmembrane ae gen 38-16 47-03 42.50 
ellnloser Ar vr: 45-32 53-16 49-24 
Pentosan der Zellmembran . . 39:25 49.45 44-35 
Restsubstanz der Zellmembran 31:35 36-69 34-02 

An Pentosan im ganzen ... 20-00 20-14 20-07 

An freien Pentosanen.. .... 12-31 10-45 11-38 

An Svarken. a ee 1-23 0-89 1-05 


Eben erwähnte ich die Unterschiede in der Ausnützung der beiden 
Personen, in der Zusammenstellung tritt das noch schärfer hervor. 
K. verdaut die N-haltigen Stoffe weit besser als R., auch die Zell- 
membran löst sich in seinem Darm viel leichter, und wie wir sehen werden, 
ergeben sich auch hinsichtlich der Stoffwechselprodukte ähnliche Unter- 
schiede. 

Ich betone das insbesonders im Hinweis auf Hindhede, der bei 
Resultaten, die von denen anderer Autoren abweichen, stets mit der 
Erklärung zur Hand ist, daß seine Ergebnisse genauer und maßgebender 
seien als die aller übrigen Experimentatoren. Wenn Hindhede da und 
dort günstigere Resultate erhalten hat, so liest das ganz an dem Zufall, 


268 Max RUBNER: 


der ihm ein paar Menschen in die Hand gespielt hat, welche Zell- 
membranen gut verdauen, wie oben Person K. Und wenn Hindhede 
namentlich mit Vorliebe darauf hinweist, daß die „älteren“ Versuche von 
Plagge und Lebbin so viel schlechtere Ausnützung gezeigt hätten, so 
hat er offenbar diese Versuche nie genauer durchgesehen, sonst hätte er 
herausfinden müssen, daß sich bei Plagge und Lebbin sehr große Ver- 
schiedenheiten zwischen den Versuchspersonen finden, einerseits Leute mit 
sehr guter Resorption, andererseits besonders die Person Pl., deren Ver- 
suche oft rechnerisch ausschlaggebend sind, die sich aber für die gröbere 
Pflanzenkost nicht eignete, wahrscheinlich deshalb, weil ihr Darm dafür 
nicht geeignet war. In gewissem Sinne haben gerade solche Versuche mit 
Personen von verschiedenem Verdaulichkeitsvermögen besonderen Wert, 
weil sie bessere Mittelwerte für die praktische Verwertung geben als 
Zahlen mit nur optimalen Verhältnissen. Natürlich ist es unstatthaft, 
für bestimmte Fragen bei schwer verdaulichem Material die Ergebnisse 
beliebiger Personen miteinander zu vergleichen, ohne die Möglichkeiten 
individueller Unterschiede in Erwägung zu ziehen. Bei leicht resorbier- 
barem Material treten allerdings diese individuellen Schwankungen ganz 
zurück. 

Mit Rücksicht auf das Gesagte ist folgender Vergleich mit anderen 
von mir ausgeführten Versuchsreihen an Roggenbrot verschiedener Aus- 
mahlung zu deuten. Ich fand: 


| Bei 6-69 Prozent | Bei 8:75 Prozent | Bei 9:74 rem 


Zellmembrangehalt | Zellmembrangehalt | Zellmembrangehalt 
(Kriegsbrot) 
Prozent Prozent Prozent 
N-Verust ... . . 40-3 | 35-1 21-0 bis 32-1 
Kalorien. .... . 13-5 14-8 11-5bis oo 
Zellmembrauverlust 55-7 | 47-0 38-2 bis 47-0 


Die eine Person stimmt also im Ergebnis sehr nahe in der Aus- 
nützung mit dem Brot von 96 Prozent‘ Ausmahlung (8-75 Prozent Zell- 
membranen) überein, die andere aber zeigt wesentlich günstigere Verhält- 
nisse. Man kann also sagen, dieses Kriegsbrot hat sich in seiner Aus- 
nützung jedenfalls nicht wesentlich verschieden verhalten von einem Brot, 
das aus fast völlig ausgemahlenem Roggen hergestellt worden ist. 

Aber es sind doch Unterschiede vorhanden, die nicht übergangen 
werden können. Bei einem Gehalt von 9-74 Prozent Zellmembran wäre, 
wenn diese aus Roggen stammten, unbedingt zu erwarten, daß gerade 
die schwer resorbierbaren Substanzen erheblich zunehmen müßten. Hier 
ist aber gerade das Gegenteil der Fall, die Resorption der Zellmembran 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 269 


ist günstiger als erwartet werden sollte. Diese günstige Resorption er- 
streckt sich auch auf die, Zellulose, die bei wirklichem Vollkornbrot stets 
schwer resorbierbar gefunden wird. Für eine Kombination Roggen und 
Kohlrüben liegt die Sache anders. Die Kohlrübenzellmembran gehört wie 
die anderer Wurzelgewächse nach meinen Versuchen zu den leicht resorbier- 
baren Zellmembranen. 

Mit einem hohen Zellmembrangehalt aus ‚Kleie“ hätte auch der 
N-Verlust zunehmen müssen, was gleichfalls nicht eingetreten ist. Bei 
relativ zu günstigen Resorption der Zellmembran durch den Kohlrüben- 
anteil nimmt selbstredend auch der Kalorienverlust ab, was bei der erheb- 
lichen Menge von Zellmembran überhaupt sehr in die Wagschale fällt. 

Eine nähere Betrachtung der Verluste und ihre Zergliederung in 
Unverdautes und Stoffwechselprodukte gibt noch zu einigen Bemerkungen 
Anlaß. Bezüglich der N-Ausscheidung enthält die nachfolgende Tabelle 
die zahlenmäßigen Angaben. 


ae ee Re ee 
Person |sF2| SF | $ = en ek ea el N 
Dee ee 

= 8, Kal s TER Z 5308 5|05 
2 a | 
R. 12-44 | 87-5 |10-88| 1-75 | 3-85 | 2-10 |12:.00| 14-6 | 54-6 | 17-50 
K. 10-76| 70-0 | 7:53) 1:20 | 2-41 | 1-21 |11-46| 10-5 | 50-2 | 10-56 
Mittel | 12-6 | 52-4 | 14-03 
ven i ae Mersapss 
$ Verlust an Kalorien mn 2298 RR: 25 8 gs® DS 
° = = 285.283 e8uSmAsEHn£ 52 
= © =: S a= & aynsSslszersgalsg os ,> 525 
Far ee og 2 & = @) 2 | snal02.3 8105 - So. org 
el SH En = = le soll. Baal es 
man zeis es | 2 )BMFagsıee Essen 
Sa Bsere Saalsalrse 

18-45 | 145-6 | 22-77 | 63-70 | 250-5 417-71| 1672| 3069 | 5-44. 140-05| 8-17 
K. ||24-10| 113-6 | 25-70 | 54-27 | 217-7 )336-10| 118-4 | 2932 | 4-04 | 35-23 | 7-42 
37-64| 7-79 


Mittel | 4-74 | 


Von dem ausgeschiedenen N sind 52-4 Prozent in Stofiwechsel- 
produkten vorhanden; sehr günstig ist die Verwertung des Proteins, die, 
auf 12-6 Prozent berechnet, fast nur halb so hoch ist, als ich sonst bei 
Roggen der verschiedensten Ausmahlung gefunden hatte. 

Auch dieses abnorme Verhalten findet seine Erklärung, wenn ein 
Kohlrübenzusatz stattgefunden hat, denn die durchschnittliche Resorptions- 
fähigkeit bei der Kohlrübe ist durch die Bildung von abnorm viel Stoff- 
wechselprodukten herabgedrückt. Es ist aber fraglich, ob bei der Kom- 


270 Max RUBNER: 


bination von Nahrungsmitteln und dem Überwiesen von Roggenbrot die 
Möglichkeit eines Darmreizes, der zur Bildung von Stoffwechselprodukten 
führt, überhaupt zustande kommt, und möglicherweise verliert die Kohl- 
rübe beim Trocknen etwas von ihren spezifischen Eigenschaften, weil sie 
sich bei der Trocknung zum Teil zersetzt. 

Im Einklang mit dieser Darlegung steht auch das, was die Bestimmung 
der Stoifwechselprodukte im ganzen (Kalorien) ergeben hat. 

Die Stoffwechselprodukte im ganzen (Kalorien) verhalten sich auch 
günstiger, als man bei reinem Roggenmehl erwarten durfte. Bei Roggen- 
mehl von 80 Prozent und 95 Prozent Ausmahlung hatte ich früher ge- 
funden 7-07 und 7-47 Prozent des Verzehrten an Stoifwechselkalorien, 
hier nur 4-74 Prozent, und von 100 Kalorien im Kot waren bei 80 Prozent 


55-7 und bei 94 Prozent Ausmahlung 50-7 Prozent Stoffwechselprodukte, 


hier aber nur 37-64 Prozent. 


Person K. verdaut das Protein besser, weil sie auch die Zellmembranen 
besser auflöst; sie bildet auch weniger N als Stoffwechselprodukte, während 
in der Gesamtmenge der Stofiwechselprodukte ein wesentlicher Unterschied 
nicht zu finden ist. 


Dem ganzen Verhalten nach kann nach dem, was ich gesagt habe, 
kein reines Vollkornbrot vorgelegen haben, sondern Brot aus Mehl, welches 
anderweitige Zusätze erhalten hat. Die Ergebnisse sprechen für die Bei- 
sabe von Kohlrübenmehl, weil nur so das Mißverhältnis zwischen großen 
Mengen von Zellmembran und relativ nicht ungünstiger Verdauung der- 
selben zu erklären ist. Auch die mindere Qualität des, Gebäckes ent- 
spricht einer solchen Beimischung. Ob nicht außerdem auch zum Teil 


verdorbenes Getreide vorlag, läßt sich analytisch nicht feststellen. Anhalts- 


punkte für einen überreichlichen Raden- und Wickengehalt haben sich 
nicht ergeben. Insofern die Bevölkerung mit der Beschaffenheit des Brotes 
unzufrieden war, können solche Beschwerden jedenfalls nieht ohne weiteres 
auf weitest ausgemahlenen Roggen an sich geschoben werden. 

Die beiden Männer blieben bei der Brotkost mit den näher auf- 
geführten Zugaben auf ihrem Körpergewicht. 


Bei K.! war das Gewicht zu Anfang des Versuches . . 55-5 kg 


zu Ende des Versuches . . . 55-5 ke 
Bei R.? war das Gewicht zu Anfang des Versuches . . 56-5 ke 
zu Ende des Versuches . . . 56-5 kg 


.1 Körpergröße 168 cm. 
‘2 Körpergröße 172 cm. 


REEL ET EEE TEN 


a 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. Bar 


Die Summe der verzehrten Kalorien war für K. brutto 3232-9 Kal., 
im Tag = 2842-9 Reinkalorien. 

Die Summe der verzehrten Kalorien war für-R. brutto 3436-0 Kal., 
im Tag — 2953-0 Reinkalorien (Harn- und Kotkalorien abgezogen). 
für K. = 53-0 Kal. pro Kilo 
für R. = 52-2 Kal. pro Kilo 


Die Ernährung vor dem Versuche war die übliche Kriegskost; 
K. hatte eine sehr niedrige N-Ausscheidung, 5-4, R. 9-4& N. K. deckte 
seinen Eiweißbedarf und setzte 1-92 N pro Tag an. R. reichte nicht 
ganz aus. Bei dem großen Eiweißmangel, unter dem K. litt, setzte er N 
an, ohne daß der N-Umsatz an den späteren Tagen in die Höhe ging. 


Die N-Bilanz. 


Kurgas. 

2 N auf- N im Harn | N im Kot | Gesamt-N | Bilanz 
genommen ; 

Hs | 10-26 7-30 ° 2-41 | 9-71 20-55 
9. 11-55 6-30 = 8-71 19.84 
SS 12-55 6-30 art 8-71 13.84 
A. 11-00 7-60 iR 10-01 11-00 
5. 13-17 6-30 >R 8-71 4-46 
6. 10-76 9-50 ze 11-91 2 515 
Mittel 6-90 | = Bes +1:92 

Roolfs 
1. 13-04 10-00 3-85 13-85 as 
2. 12-59 7-90 = 11-77 10-82 

a 12-65 a dn = =» 

4. 11-58 8-90 = 12-35 20477 
5. 11-55 10-20 Br 14-05 2-50 
6. 12-05 8-90 = 13-75 0-70 


Mittel 9-18 a | 20 | -09 


Gemischte Kriegskost 
Kurgas Roolfs 


vor dem Versuch . . 5:4g N pro Tag | vor dem Versuch . . 9-4g N pro Tag 
nach dem Versuch . 6:0g N pro Tag nach dem Versuch . 9-4 n pro Tag 


Über die einzelnen Produkte bei einer hochgradigen Ausmahlung. 


Das eben untersuchte Kriessbrot war leider kein Vollkornbrot, wie 
anfänglich vermutet werden konnte, sondern ein Gemisch von Roggen 
mit anderweitigem Material, wahrscheinlich mit Kohlrüben. Ich hatte 
deswegen in Aussicht genommen, bei geeigneter Gelegenheit nochmals auf 


272 MaAx RUBNER: 


wirkliches Vollkornbrot zurückzugreifen; hierzu bot sich erst im Frühjahr 
1918 eine geeignete Gelegenheit. 

Die Wege, auf denen man zu einer hochgradigen Ausmahlung kommen 
kann, sind sehr verschiedene, und die Produkte, welche man ausscheiden 
kann, sehr mannigfaltige, und außerdem kann bei der Brotgewinnung ja 
auch noch die Fälschung und Unterschiebung anderweitiger zu mehlartiger 
Feinheit zermahlenen Substanzen in Frage kommen. 

Zur Beurteilung über den Wert und Unwert verschiedener Ver- 
mahlungsweisen ist es notwendig, die einzelnen Produkte bei der Aus- 
mahlung quantitativ festzustellen und der Untersuchung zu unterwerfen. 
Ich habe schon erwähnt, daß systematische Ausmahlungsversuche bisher 
nur von Plagge und Lebbin in militärischem Auftrag unternommen 
worden sind, sie konnten aber mangels geeigneter Methoden der Unter- 
suchung damals nicht so ausgewertet werden, wie es heute möglich wäre. 

Die Bearbeitung der berührten Fragen hat nicht für die heutige 
Kriegswirtschaft allein Bedeutung, sondern für die Frage der Vollkorn- 
brotherstellung überhaupt. | 

Gewöhnlich wird behauptet, die Ausmahlung des Getreides gehe jetzt 
bis auf 94 Prozent des Getreidekornes bzw. des geernteten Kornes. Hier 
stoßen wir schon auf einen Punkt, der bisher in der Literatur aus guten 
Gründen gar nicht berührt worden ist. Bisher hat man bei Angabe des 
Ausmahlungsgrades in der wissenschaftlichen Literatur nicht immer aus- 
einander gehalten, ob sich dieser auf reines Getreide, d.h. solches, das 
von Spelzen, Stroh, Unrat und Unkrautsamen befreit ist, bezieht, oder 
ob er sich auf gereinistes Getreide bezieht. Das bedeutet, wie man schon 
ohne weiteres sagen kann, einen erheblichen Unterschied. 

Die Reichsverordnungen, das muß zunächst festgestellt werden, gehen 
stets von dem Getreide aus, wie es ungereinigt in den Handel kommt. 
Die Ausmahlung von 94 Prozent bezieht sich also nicht auf eine Beseitigung 
der Kleie aus dem gereinisten Korn bis zur Höhe dieses Ausmahlungs- 
grades, sondern auf alle Vorreinigungsprozesse zusammengenommen. 

Das, abgelieferte Mehl beträgt aber nicht etwa 94 Prozent, sondern, 
wie von sachverständiger Seite berichtet wird, noch mehr, nämlich 9% 
bis 97 Prozent. Es ist nach den bekannten Betriebsergebnissen der Müllerei 
unmöglich, so viel Mehl zu erhalten, wenn nicht unbedingt Bestandteile 
des Rohgetreides mit vermahlen werden, die vom hygienischen Standpunkt 
aus von der Vermahlung ausgeschlossen werden müssen. Die Herstellung 
des Mehles geschieht also in einer Weise, welche sonst zu beanstanden 
und gerichtlich zu bestrafen wäre. Hierin liegt das schwerwiegende Be- 
denken gegen dieses Vorgehen überhaupt, denn die Durchbrechung der 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 2173 


- Verordnungen und Gesetze, die mit Recht zur Wahrung der Gesundheit 
erlassen worden sind, untergräbt selbstverständlich das Rechtsbewußtsein 
und verleitet zu betrügerischen Manipulationen im Müllereigewerbe selbst. 

“Welche Bestandteile unbedingt aus dem Mehl wegbleiben, ergibt sich 
zunächst schon aus der Herkunft der Bestandteile. Dem Getreide haftet 
stets Erde vom Acker oder aus den Lagerstätten oder der Tenne an und 
das, was bei der Lagerung noch an fremdem Material hinzukommt, 
Mäusekot, Reste von Ungeziefer aller Art, Puppenhüllen u. dgl., Sand, 
Eisenteile. 

Eine zweite Gruppe betrifft die Beimengung der fremden Gewächse, 
die sich zwischen dem Getreide finden, Raden, Wicken oder krankes 
Getreide u. dgl.! 

Die nähere Bestimmung der Reinigungs- und Ausmahlungsprodukte 
wurde an Getreide der Ernte 1917/18 vorgenommen, die Vermahluns 
geschah in einer modernen Mühle unter fachmännischer Aufsicht. 

Als Gesamtresultate wurden aus 100 Teilen ungereinigten Kornes 
etwa 94 Prozent Mehl gewonnen, wie im einzelnen belest worden ist. 

Bei der Vermahlung zu 94 Prozent sind abgefallen (in „ulllimae une 
Substanz): 


Anlspreun. .ı.0. a 0-17 Prozent 
2 nadenabiällen ws auuın. Va 
PR Keimen a le ee. ET 
‚„ Putzmaschinenüberschlägen . 0-29 ,, 
* Schälklue a 3 2.061 
4-59 Prozent 
Mahlverlust war etwa ..... 129,2, 
Summe... . 5-84 Prozent 


| Der Verlust war nur rund 6 Prozent, die Menge des Mehles also 
94 Prozent des angewendeten Kornes. 

Keime und Putzmaschinenüberschläge sind mir nicht zugestellt worden, 
doch ist aus anderen, eigenen Untersuchungen die Zusammensetzung von 
Rogsenkeimlingen mir wohl bekannt, so daß man gewissermaßen synthe- 
tisch den durchschnittlichen Verlust bei der Reinigung des Kornes aus 

- den Einzelergebnissen der Abfallprodukte ableiten kann. 

Wenn, wie oben bemerkt, in dieser Zeit die Müller 96 bis 97 Prozent 
Mehl abliefern, so werden jetzt noch sogenannte „gute Reinigungsabfälle“ 
im Mehl belassen. Als solche werden angesehen: 


1 Vgl. Rubner, Lehrbuch der Hygiene. S. 578. 
Ä Archivf.A.u.Ph. 1917. Physiol, Abtlg. 18 


274 Max RUBNER: 


1. Die Hälfte der Radenabfälle . 0-28 Prozent 
2. Die Putzmaschinenüberschläge 0-29 
Se Dier schälklerer lea. u 2elol 


Zusammen . . 3-18 Prozent 


2 


2 


Das würde dann einer 97prozentigen Ausbeute entsprechen können, 
d.h. nur die Spreu und der Mahlverlust und etwa die Raden als Abzug 
zu verzeichnen sein. Die Keimlinge werden nicht ins Mehl gebracht, 
sondern zur Herstellung von Fett und anderweitisen Nährpräparaten 
gesammelt. | 


Die Zusammensetzung des Mehles und der Abeänge sind in nach- 


folgender Tabelle zusammengestellt. 


In 100 Teilen Trockensubstanz sind: 


94 proz. Schäl- Spreu- | Roggen- | Trieur- 

Mehl kleie mehl | keimling | mehl 

INSCher ey N. EN een 1225102 5-74 18-54 6:76 6:83 
Orsansscha re ar 97-98 94-26 81-46 93-24 93-17 
INT ET Dee 1-691 23-252 2-10? 6-574 1-85> 
Bentosaniaer er 1L110 119 23.24 14-25 1:33 8:94 
Zellmembrane 5-98 47:94 23-80 7:98 6-60 
Zellulosere. .. an zu oe 2-54 11-50 9-58 3-13 2-15 
Pentosan der Zellmembran . 2-21 19-60 11-44 2-55 2-15 
Bestsubstanz . .». ». 2... 1-23 16-84 11-40 2-31 2-30 
TEN N EN a 7T 1-91 3-70 2-17 14-44 3:62 
Stanken Some nd ee 70-63 24-92 39-52 24:99 64-60 
Kalorien en. ale. Ta 440-8 458-1 380-5 487-8 412-50 

In 100 Teilen Zellmembran sina: 

N Zelluloser ar mn. 2 | 42:33 23:98 | 40-25 39-22 31-51. 
Pentosana are a. | 36-83 40-88 35-27 | 32-02 32-59 
Reste ee EEE EN NETZADERSES 35-14 24-27 28-76 35-56 


1 — 10-55 Protein. .— 14-06 Protein. ? = 13:12 Protein. * = 41-05 Protein. 


5 — 11-56 Protein. 


Da der Roggen sonst in Friedenszeiten kaum höher als auf etwa a 
70 Prozent ausgemahlen wurde, werden hier rund 24 Prozent mehr an 
Ausmahlung gewonnen. Das Mehl zu 94 Prozent ist nieht gerade N-reich ° 


und liefert bei seinem hohen Kleiegehalt nur dunkles Brot. Das unreinste 
Produkt der Abscheidung ist das Spreumehl; die Bestandteile Strohfaser, 
Spelzen, etwas Unkraut, zerbrochene Körner, Schmutzbestandteile ver- 
schiedener Art, lassen sich leicht erkennen. Der Aschegehalt — darunter 
viel Sand — ist enorm hoch. 


Wenn man die wesentlichsten Bestandteile auf aschefreie - e 


rechnet, so hat man in 100 Teilen: 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 27 


5 
IN ee slaktal 30. 202208 Prozent 
Rohproteme nen kusos as: 16-12 
Pentosanakspäielinahs 17-48 
Zellmembramns sea an In: 2 
Sbärke Dr ae en 48-8 5 
Kalorien. Kress las: 466-2 


Wenn man sich zur Nährwertberechnung dieser Ausmahlungsprodukte, 

wie das heute die Regel ist, des üblichen Analysenschemas bedient, so 
wird namentlich der Gehalt an N-freien Extrakten ganz erheblich über- 
schätzt; der hohe Proteingehalt kann unter Umständen zum Teil auf 
"N-haltigem Unrat beruhen, besonders bei schlecht gelagertem Korn. 
Die Trieurabfälle bestehen aus Wicken, Raden, zerbrochenen Körnern 
verschiedener Herkunft, enthalten weniger N als die übrigen Produkte, 
aber nur einen mittleren Gehalt an Zellmembran und wenig Pentosan, 
deren Hauptmasse nicht in der Zellmembran liest, an Stärke fast zwei 
Drittel der Masse; das Mehl ist dunkelgrau. 


Das wertvollste Material der Abscheidung sind die Keimlinge. Über 
den Nährwert für Mensch und Tier ist bereits auf Grund von Versuchen 
das Nähere angegeben. Technisch sind sie natürlich weder quantitativ 
‚aus dem Roggen zu entfernen, noch auch besteht das, was als Keimling 
gewonnen wird, überhaupt nur aus Keimlingsgeweben. Immerhin ist die 
Abtrennung der Roggenkeimlinge besser als die des Weizens und Maises; 
bei dem sonst üblichen Schälverfahren enthält die Schälkleie zugleich 
auch den Keimling. Insofern also bei der 94prozentigen Ausmahlung des 
vorliegenden Falles der Keimling noch als Nebenprodukt erhalten wird 
‚und dieser anderweitig benutzt werden kann, wäre der gesamte Nährwert 
also einer Yöprozentigen Ausbeute gleichzusetzen. Der Proteingehalt von 
41 Prozent und der Fettgehalt von 14-44 Prozent machen das Keimlings- 
 mehl zu einem sehr wichtigen Nahrungsmittel, das freilich bei der un- 
bedeutenden Menge der Abscheidung überhaupt nicht  allzusehr ins 
Gewicht fällt. 

‚Zu den Roggenkeimlingen möchte ich bemerken, daß, wie erwähnt, 
selbstverständlich nicht alle Keimlinge bei den angewandten Methoden 
der ‚ Vermahlung sewonnen werden und daß andererseits das gesammelte 
Material nicht nur aus Keimlingen, sondern aus beigemensten Kleiehüllen 
und Stärke besteht, wie die Analysen zeigen. Ich habe schon anderenorts 
darauf aufmerksam gemacht, daß die Zellmembranen der Keimlinge von 
anderer Natur als die Kleiezellen sein müssen, was auch ihre leichte Ver- 
daulichkeit beweist. Wenn man die Zellmembran bei Gemüsen, Obst und 

18* 


276 Max RUBNER: 


bei den Kartoffeln betrachtet, so schwankt der Zellulosegehalt zwischen 
45 und 50 Prozent bei geringem oder mittlerem Pentosangehalt. Mit 
Berücksichtigung dieser Umstände kann man etwa eine Beimengung von 


einem Viertel bis einem Fünftel zu den sonstigen Zellmembranen der 


Keimlinge annehmen. Das reine Keimlingsgewebe würde demnach (asche- 
frei betrachtet) etwa zu drei Vierteln aus Eiweiß, fast zu einem Viertel 
(etwa 23 Prozent) aus Fett und zu einem Zehntel aus Zellmembran be- 
stehen, ein Nahrungsgemenge, das von dem eigentlichen Mehlkern grund- 
verschieden ist. 

Unter dem geringen Abfall macht die Schälkleie die Hauptmasse der 


Abscheidung aus. Sie enthält noch weit mehr Zellmembran als das Spreu- 


mehl, etwa 50 Prozent aller organischen Bestandteile treffen auf Zell- 
membran. Die Frucht- und Samenschale wird jedoch nicht allein ab- 
geschieden, sondern noch anderes hinzu, nämlich erhebliches vom Mehl- 
kern, der also beim Auslesen der Keimlinge und der Trennung der Samen- 
schale verletzt wird. Über den Proteingehalt der Schälkleie kann man 
sagen, daß er sowohl durch Reste der Kleberzellenschicht wie durch Reste 
der Keimlinge bedingt oder wenigstens über seinen natürlichen Gehalt 
hinaus erhöht sein wird. 

Der Schälprozeß ist ein wesentlicher, die Verdaulichkeit des Mehles 
erhöhender Vorgang‘, weil er so weitgehend wirklich Zellmembranen ab- 
scheidet. Der Vorschlag, gerade die Schälkleie beim Mehl zu lassen, und 
die Tendenz, ihren Nährwert auszunützen, basiert auch auf der falschen 
Voraussetzung eines hohen Gehaltes an N-freiem Extrakt. Nach üblicher 
Auffassung würde man der Schälkleie einen Gehalt von 64-98 Prozent 
N-freien Extraktes zuschreiben müssen, tatsächlich enthält sie nur 
24-92 Prozent Stärke + 3-64 Prozent freie Pentosen = 28-56 Teile. 
Jedes Gramm Schälkleie bedeutet eine Verschlechterung des Mehles um 
0-5g Zellmembran. Eine gute Schälung ist der Haupteingriff zur Her- 
stellung eines zellmembranarmen Mehles. Die Schälung ist dem gewöhn- 
lichen Mahlverfahren zur Beseitigung der Kleie wesentlich überlegen. 

Über das Verhältnis der Zusammensetzung der Schälkleie und der 


Kleie nach Zertriümmerung des Kornes mögen folgende Zusammenstellungen 


eigener Analysen Auskunft geben. 


N TEEN 


BT 


Die Kleien bei 90prozentiger und 70prozentiger Ausmahlung zeigen 


gesetzmäßige Unterschiede, der Aschegehalt bleibt etwa derselbe, also 
nimmt mit jeder weiteren Ausmahlung der Aschengehalt des Mehles ab, 
was bekannt ist. Der N-Gehalt nimmt mit Ausmahlung von zunehmender 
Kleie als Abfall zu, weil mehr Kleiezellen in der Kleie entfallen; die Menge 
der Substanzen aus dem Mehlkern nimmt zu. Daher die Abnahme der 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. Rhein 


Pentosane, der Zellmembran, der Zellulose und der Restsubstanz. Der 
Pentosangehalt der Zellmembran nimmt ab, weil die Zellmembran geringer 
wird, dagegen nimmt in der Zellmembran selbst der Pentosangehalt zu. 
Es müssen also auch die Kleberzellen in ihren Wänden relativ viel 
Pentosan enthalten. Der Stärkegehalt wächst sehr an, aber doch nur 
langsam. Mehrt sich die Kleie von etwa 3 Prozent auf fast das Zehn- 
fache, so steigt der Stärkegehalt doch nur von 25 auf 378. 


In 100 Teilen Kleie sind: 


| 1/, Schälkleie! 

, Reine Schäl- Ri Mahlkleie a neun 

kleie — 90 Prozent ozend 

Ausmahluns? 

| Ausmahluns = 
kacle ee 3-80 5-89 
Onemischii: 23.0. 0.07% 5. : 94.26 94-20 94-11 
DT a 23-253 2-47: 2-663 
Bentosane re ea ae 23-24 24-27 22-65 
Zellmembran 2. ..... „2... 47:94 37-97 25-94 
Zellmlosen an nee, 11-50 9-64 7:20 
Pentosan der Zellmembran . . 19-60 16-88 11-78 
Restsubstanz der Zellmembran 16-84 11-45 6:96 
IE, 3-70 5.70 3-70 
Stärke... ee u 24-92 29-70 36-98 
Kalosen he en air. 458-10 452.20 |  445-10 

In 100 Teilen Zellmembran sind: 

Rellüloser ı \v..... ar a 23.98 25:10 21216 
Bentosan wi ann. 6, ER 40-88 44-42 45-41 
Bestsubstanz =... 2.0.0. 1% 35-14 30-48 26-83 


Hier tritt das, was ich bereits ohne nähere systematische Unter- 
suchung schon mehrfach betont habe, mit aller Sicherheit entgegen: die 
Kleie ist eine Handelsware, entspricht aber nicht einem einheitlichen 
Produkt. 

Ich möchte aber noch folgendes anfügen. Die Ausmahlung bei 
90 Prozent und 70 Prozent ist nicht völlig gleichartig gehandhabt worden. 
Bei 90 Prozent wurde erst gereinigt und geschält und dann erst weiter 
vermahlen. Für das Mehl mit 7Oprozentiger Ausmahlung ist nicht sicher- 
zustellen, ob eine Schälung vorgenommen oder ob das nach üblicher 
Reinigung behandelte Korn gleich dem Mahlprozeß zugeführt wurde. Es 
_ wäre möglich, daß die Schälung oder das Unterlassen derselben sich noch 


17 Prozent Kleie vom Vollkorn. 

2 Etwa 27 Prozent Kleie vom Vollkorn. 
3 — 14:06 Protein. 

4 15-43 Protein. 

5 16-62 Protein. 


I 


278 Max RUBNER: 


in der Zusammensetzung der Kleie fühlbar macht, auch wenn bis 70 Prozent 

aussemahlen wird. Doch dürfte dieser Einfluß nicht mehr erheblich sein. 

An der Hand der Ausmahlungswerte und der Analysen läßt sich jetzt 
zeigen, wie sich der Charakter eines Vollkornmehles gegen Ende der Ver- 
mahlung des Kornes allmählich ändert, wenn die näher aufgeführten 
Bestandteile abgetrennt werden. Unter den Verlusten ist auch aufgeführt 
der Wasserverlust und der Verlust durch Verstäubung. Für eine Rech- 
nung ist es nicht angängig, von der lufttrockenen Substanz auszugehen, 
da der Wassergehalt der verschiedenen Proben der Reinigung ungleich ist. 
Ich habe daher alle Produkte, Mehl wie Schälkleie, und auf Trocken- 
"substanz berechnet. Den Verlust durch Verstäubung habe ich beim Mehl 
zugezählt, den Putzabfall zur Spreu und nach den Analysen berechnet. 


So ist nachstehende Tabelle entstanden. 


Zusammensetzung der Reinigungsabgänge für 100 Teile 
ungereinigtes Korn. | 


2a ®) = = | eb) t = E 

Be De a aa 

ss| « Ele se 

HS er =) e 4 5 

Mehl + Staubverlust . | 95-25] 1-920| 1-606 10-140 5-10! 67-211laı9.60 
Spreu + Putzabfall ... . . | 0-44| 0-051|0-009| 0.060) 0:145| 0-.174| 1:70 7 
Mrieurabrall u nee 0-56 | 0-038|0-010| 0-050| 0-037| 0-361| 2-31 
Keime ann 0-99 | 0-067|0-065| 0-072| 0-079| 0-247) 4-80 
Sehälkleieg 2. 0 nun | 2:76| 0-158|0:062| 0-640| 1-323]| 0-660| 12:30 
Summe . . |100:00 | 2:234| 1-752|10-962] 7-294 | 68-653]440-71 


Zusammensetzung der heute im Mehl verbleibenden Anteile 


w le: s = 
a © < & {cb} e) 
E3 a BE | .— 
een | > 
3 < © | No = 
zu et 3 "M 
Mehl Staubtal Dun. AD% 95-20) 1-920| 1-606| 10-140) 5-710\67-211| 419- 
1), Trieurabfall, 2... - 0-28| 0-019| 0-005| 0-025| 0-018| 0-150| 1-1 
neilällle sale: 0-22| 0-041|0-004| 0-030| 0-072| 0-087) 0: 
Schall lan al u 2-76| 0-158| 0-062| 0-640| 1-323) 0-660| 12- 
Summe... || 98-46| 2-138 | 1-677 | 10-835| 7- 123 |68- 138] 433- 
Summe der Abfälle . . . . | 3-26| 0-218| 0-071| 0-695| 1- aus" % ‚897 14-8: 


Von den Abfällen ist wesentlich der Menge nach die Schälkleie allein u 
srößer als alle anderen Abfälle zusammengenommen. r | 
Das ursprüngliche Korn entsteht rechnerisch anıs der Summierung des 
Mehles und der Abfälle. Bemerkenswert erscheint der geringe N-Gehalt 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 2379 


und vor allem der geringe Gehalt an Zellmembranen. Noch liest kein 
vergleichendes Material vor, aus dem man in größeren Reihen den Zell- 
membrangehalt bestimmt hätte. Mir scheint der Zellmembrangehalt von 
7:3 Prozent ein sehr geringer zu sein, wenn ich damit die Erfahrungen 
‚an anderem Roggenmehl vergleiche, die bei weitgehender Ausmahlung fast 
ebensoviel enthalten haben wie dieses Vollkorn. 


Vom Mehl enthält man folgendes weniger als vom Vollkorn: 


SBeirder Ascher. ran are — le Prozent 
N See a San: 
I Pentosana a ee. ee) . 
heölmembraneer Son: ae 
RISK R  F e e — 2-1 
den Kalorien, a el ir 2,78 


Der Reimigungsprozeb trifft also die Verminderung an Zellmembran 
in erster Linie; fügt man dem Mehl, wie es jetzt geschieht, die Hälfte der 
Rade, die Putzmaschinenüberschläge und die Schälkleie noch hinzu, so 
findet die Vermehrung des Mehles wesentlich auf Kosten der letzteren 
und deren Zellmembran statt. Das Unzw eckmäbige eines solchen Gebarens 
bedarf keiner weiteren Erläuterung, es kommt wesentlich der ‚Pameusuns 
der Zellmembran gleich. 


Oben wurde erwähnt, ‘daß heute von den ante - Schäl- 
abfall zum größten Teil doch in das Mehl hinein gelangt. In der Tabelle 
auf S. 278 habe ich nach meinen Analysen die Zusammensetzung einer 
solchen Mischung von Mehl und Abfällen berechnet. Man sieht, die 
Hauptmasse der dem Mehl in unzulässiger Weise zugemischten Abfälle ist 
die Schälkleie. Der ganze Gewinn an Nährenden ist auch, analytisch 
betrachtet, nur sehr gering. Die Hauptmasse der Nährstoffmehrung be- 
steht aus der .schwer resorbierbaren Zellmembran. Nimmt man diese 
3-26 Prozent Abfälle und berechnet ihre Zusammensetzung, so versteht 
sich von selbst, daß wesentlich die Schälkleie dominiert. Für Pflanzen- 
fresser ist sie jedenfalls ein gutes Nahrungsmittel. Für den Menschen 
sicher nieht. Daller ist die Mindestforderung, daß mit dem heutigen, 
öffentlich allerdings sanktionierten Bruch mit der hygienischen und physio- 
logischen Forderung der Reinheit des Mehles und Beseitigung von Un- 
verdaulichem und Unkrautsamen ein Ende gemacht wird. Was dann noch 
erhalten wird, ist der Hauptsache nach ein mehr oder minder vollständig 
dekortiziertes Getreide. 


280 Max: RUBNER: 


Versuche über die Verdaulichkeit im Roggenbrot aus Mehl 
bei 94 prozentiger Ausbeute. 


Mit dem Mehl, dessen Herstellung eben beschrieben wurde, ist Brot 
gebacken und zu Versuchen über die Verdaulichkeit benützt worden. Die 
Gärung geschah mit Sauerteig. Das Brot war dunkel, aber von gleich- 
mäßiger Beschaffenheit. Zur Ausführung standen zwei Versuchspersonen 
zu Gebote, von denen die eine schon zu den Versuchen mit Kriegsbrot ‘ 
1917 gedient hatte, was von einiger Bedeutung ist. Die Versuchsreihe 
dauerte eine Woche; wie immer war es der Versuchsperson überlassen 
bis zur Sättigung Brot aufzunehmen. Daneben erhielten sie noch kleine 
Zulagen. Das Nähere enthalten die beiden nachfolgenden Tabellen. 


Roolfs. 
94 Prozent Roggenmehl. 


Ss. | 22. |64-10| 1150 | 50 30 


2. , 1150 | 1660 | 7-0 — —_ - 

9. | 23. | — | 1115 | 50 30 172, °1, 11.182,72.9007) 6-9) ON 45 0 
10. , 24. 64-50] 1115 | 50 30 | 2. | 423) 1600 | 7-1 | 800 vw. | »25 se 
11, 25.5, 2,01175,|7780 30 |2: |.11785,711007)7-5°0 19202510250 55 

N 8°° N. | 680 | 130 
122012627, | 1020 50 | 30 I 2. | 1040 | 1500 | 7-3 | 103 N. | 770 
13.0.2721 2 | 1120.50 30. | 2. | 1151 | 1440 | 7-9 | 12°° N. | 320 6 
14. | 28. 63-00). 940 | 50 30 | 2. 979) 1180 |6-8)) 720 Vz 290 95 
BE a7 Kartoffel, Spinat| 7739| — — 1 EISEN | 220 | 

im Tag | 1106 | — = TAUEVES 2807] 

2) 


Abgrenzung 630 =665 g im Tag 
Brot I 7008 frisch = 435 g lufttrocken. 
Brot II 690 g frisch = 435 g lufttrocken. 


Kollmann. 
94 Prozent Ausmahlung. 


8. 128. |57-001 1085| so| 2. j1os|luso)ırs| - "Fe 
9. 24. — | 1070 | 30 2. 1078 | 1360 | 6-9 800 V. |. 350) Team 
10. 25. — 1050 | 30 2. 1071 | 1500 | 7-0 3007. 17.405 75 
4° N. | 220 45 
11. 26. |57-00| 1065 30 2. 1086 | 1660 | 6-4 800 V. | 415 +) 80 
12. 27. _ 1045 _ 2. 1063 | 1420 | 6-4 Suuayz 345 103 
50 N. | 285 60 
13. 28. — - | 1015 _ _ 1032 | 1640 | 7-2 SO 315 60 
14. 29. |56-50| 1125 = _ 1152 | 1580 | 5-8 so V. | 420 85 
4° N. | 310 3 
Kartoffel, Spinat | 7550| — 8 VE 40 
im Tag) 1076 | — 49 .N.,.| 170 ga 
Abgrenzung 665 
= 715g gepulvert e:: 
—41028 
Brot I 700g frisch = 435 g lufttrocken. 
Brot 11 690g frisch = 435 g lufttrocken. 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. . 281 
Die Zusammensetzung der Einnahmen und Ausgaben sind wie folgt 
zusammengestellt. 


Brot von 94 Prozent Ausmahlung. 
In 100 Teilen Trockensubstanz sind: 


Roolfs Kollmann 
690-1 g Brot| 671:45 Brot 
Asclie  Jelv Pi 2-60 17-94 17-44 
Orsgmischn.10.. 0. 2.12 N 2029. 97-40 672-16 653-96 
2 EN a tl AS 1-651 11-39 11-08 
BENBOSANE N N. 9:98 68-86 67:00 
Zellmembran 2... 0. 6:51 44-9] 43-69 
Zellllosers 40... 2, 4u50% Wet 2-27 15:66 15-23 
Pentosan der Zellmembran 2-37 16-35 15-89 
BRestsubstanz. . -... 2... 1-87 21-90 12-59 
Reis: De A 1-91 13-18 12-83 
Stärke Ne Ren 71-06 490: 38 477.09 
Kalorien on ee 4926-30 2941-80 2862-10 
IVO 
In 100 Teilen Zellmembran sind: 
Zelluloser. 0. da ao. ... 34:87 
Bentosanes En aer: 2.8640 
Bestsubstanz a A 28-72 
In 100 Teilen Trockensubstanz sind: 
| Roolfs |Kollmann 
Roolfs |Kollmann| in 89-61 | in 97-10 
Teilen Teilen 
INSCHERE Te Un Le 8-27 7-68 7-41 7-46 
Weranischn un. 2. en 91-73 93-32 | 82-20 89-64 
RT... a RE RR ER NEE BR N NT 4-90 4-06 4-39 3:94 
Denise 3 WR a En 16-04 16-42 14-37 15:95 
Kellmemibran: al... 2100 num ann 35-12 34-46 31-46 33-46 
Zellniloss a Ne RR 14-75 13-07 13-21 12-69 
Pentosan der Zellmembran . . . .\. 11-68 10-64 10-46 10:33 
Bestsubstanzy. m al .. A: 8-69 10-75 7.79 10-44 
Ba... 2 a 7-15 4-91 6-40 4-77 
Kiake en A ER, 38-882 12-99 7:97 12-61 
ISalOrem 498-5 48710 446-70 472- 70 
In 100 Teilen Zellmembran sind: 
Roolfs Kollmann Mittel 
Zellulosera samen MRS 41-85 37:92 39-88 
Betosangy. a eat 33:25 30-88 32-06 
Bestsubstanze. n 0. .2 0% 24-90 31:20 28-06 


Die Analyse des Brotes stimmte nicht genau mit der des Mehles 
zusammen; der Grund lag darin, daß Sauerteig unbekannter Zusammen- 
setzung Verwendung gefunden hatte, was mir erst später mitgeteilt worden 


ie len! 
2 Direkt bestimmt. 


age: 


282 Max RUBNER: 


war. Das Brot kann aber als ein Beispiel eines schwach dekortizierten 
Materials angesehen werden, wie es etwa bei hygienisch nicht zu be- 
anstandender Verarbeitung des Getreides und gleichzeitiger Entkeimung 
gewonnen werden konnte. Da das Korn selbst arm an Zellmembran war, 
ist auch der Gehalt des Brotes an soleher recht mäßig. Ich habe früher! 
im Rogsenbrot von 82 Prozent Ausmahlung etwa ebensoviel Zellmembran 
beobachtet wie hier bei 94 Prozent Ausmahlung, wieder ein Beispiel, daß 
die Ausmahlungsprozente noch nichts über die Beschaffenheit des Mehles 
besagen; auch die Art der Zellmembran kann in ihrer Zusammensetzung 
bei gleichem Zellmembrangehalt in gewissen Grenzen schwanken. a 

Die Ausscheidungen waren bei diesem Versuch ähnlich jenen bei etwa 
gleichem Zellmembrangehalt des Brotes: über ein. Drittel der Trocken- 
substanz des Kotes war Zellmembran. 

In der Zellmembran der Ausscheidung war die Zellulose reichlicher 
enthalten als in jener der Zufuhr. 

Über den Verlust der einzelnen Nahrungsbestandteile in Prozenten 
gibt nachstehende Tabelle Aufschluß. 

Der Verlust betıug bei Ernährung mit Brot von 94prozent. Ausmahlung: 


| Bei Bei N 7 

| Roolts |Kollmann) tel ; | 

a RE ee 38-54 | 35-56 | 37-05 | | 
1 Kallorienrzarn 1.020 Me! 15-19 16-52 15-85 i 
„ hellmembrane See 70:05 76-58 Tool ; ir 
IS Zellulosent. ns ae. en. S4-29 83-30 83-79 ” 
‚. Pentosan der Zellmembran 63-97 65-01 64-49 ha 
N Bestsubstanz Era 60-39 82-92 71-6& Su 
„ f£reren Pentosanen . . ... 7:45 10-99 9-22 % 
Set 0 We 1-63 2-65 2-14 » 
» Gesamtpentosan . .... 20-87 20-81 20-84 % 
In. 

Die zwei Versuchspersonen K. und R. wichen in allen wesentlichen 


Punkten nur sehr wenig voneinander ab; der N-Verlust entsprach den 
durchschnittlichen Werten der Ausnützung des Roggen-N überhaupt. Der 


Re! 


u 


Kalorienverlust war nur wenig höher, !als ich früher bei einem ähnlichen a 
Zellmembrangehalt gefunden hatte. Die Zellmembran war etwas ungünstiger # 
verdaut, auch die Stärke um einige Zehntel Prozent weniger gut auf- 
genommen worden. Am einflußreichsten auf das ganze Ergebnis ist stets $ 
das Verhalten der Zellmembran, da von ihr sowohl Einfluß auf de 


Kalorienausnützung als auch auf die Resorption des N, insbesondere auch » 
auf die Proteinresorption ausgeübt wird. 


1a.a. 0. S. 193. 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 233 


Zur näheren Erklärung der Verhältnisse der Verluste ist es nötig, 
die N-Ausscheidung im Kot sowie die Menge des Unverdauten in den 
Stoffwechselprodukten näher kennen zu lernen. Die nachfolgenden Tabellen 
_ geben darüber Aufschlub. 


94 Prozent Ausmahlune. 


= ee BE: SE 
3 eh) 50 le. 8.3 SI. |: l&s$ 
ee ıneı las «Seile |sa.z: 
So aı 8 za. a 3a lelee 
EN = | | ke |jeMs 
R. 17-29 | 89-6 | 15-48 | 2-47 | 4-39 | 1-92 | 11-39 | 21-68 | 43-73 
K. 15-19 | 97-1 | 14:74 | 2-36 | 3:94 | 1-58>| 11-08 | 21-29 | 40-10 
Mittel | 21-48 | 41-91 

94 Prozent Ausmahlunse. 
« R a I Puh S 1 SE 
Verlust an Kalorien pro ms durch| 3 > 383 ee es 3 ES 
a eine 2 en else Saar See 
Person Ex oo 2 =! Oase e5tlo2.:o.. 
E iss 3 Ss Massai n - PIE +85 
>= |S82 5 = |E BEBS Ed ı3283[205 
02) 55H ©) an = Selr o=3|10oM43 
S = EMe Seascn 
R. 32-67 | 218-741) 16-03 | 267-44 | 446-7 |179-2| 2941-8 | 6-09 | 39-67 
K. 51-70) 222-90?| 23-04 | 297-660 472-7 | 175-1 | 2862-1| 6-11 | 36-11 
Mittel | 6-10 |37-89 
Der N-Verlust an Protein hält sich bei diesen Versuchen genau inner- 


halb der Grenzen, wie ich sie früher bei Roggenmehl hochgradiser Aus- 
mahlung gefunden habe; an Stoffwechsel-N ist gleichfalls der Befund dem 
Erwarteten entsprechend. Die Menge der Stoffwechselkalorien innerhalb 
seringer Schwankungen steht im Einklang mit dem Kriegsbrot und dem 
Roggenbrot hoher Ausmahlung überhaupt. 

Was die N-Bilanz betrifft, so waren die beiden Personen (wenn man 
von der N-Ausscheidung im Schweiße absieht) etwa im Gleichgewicht. 


94 Prozent Ausmahlung. 


Roolfs: 
| N N N auf- f 

Tag ı im Harn | im Kot mus | genomm | Bilanz 
8. 10 4-39 11-39 11-82 —+0:.43 
a «6-9 — 11-29 11-50 +0-21 
10. Zell — 11-49 11-55 —-0-.06 
JR 725 | — 11-89 | 12-11 +0:22 
12. 73 | _ 11-69 ! 10-70 -—- 0-99 
13. 7=$) | — 12-29 11-84 — 0-45 
14. 6:8 11-19 | 10-07 0:92 

Ba 220) Eco 1 ee ee 


1128-98 Zellmembran -- 89-76 = 
2 137:18 Zellmembran + 85-72 = 222-90. 


284 Max RUBNER: 


Kollmann: 
5 N N : N anfge- { 

Tag im Harn im Kot Dumme nommen Bilanz 
8. 7-5 3:94 11-44 10-78 — 0:66 
9. 6-9 — 10-84 11-08 10-24 
10. 7:0 — 10:94 11-01 —0-17 
Il, 6-4 =, 10-34 11-16 0-82 
12, 6-4 — 10-34 10-93 0-59 
13. 7:2 — 11-14 10-61 — 0-53 
14. 5-8 _ | 9-74 11-85 ol 
7 6:77 eB- sa oa PIE eng 


Mischung von Roggenmehl (94 prozent. Ausmahlung) mit Maismehl im 
Verhältnis von 9:1. 


Aus dem Mehl des vorigen Versuches wurde durch Mischung mit 
10 Prozent feinem Maismehl als Streckungsmittel ein Brot hergestellt, 
wobei gleichfalls Sauerteig beigefügt wurde. Das Aussehen des Brotes 
war nicht wesentlich anders als das vorige. Jedenfalls war auch keine 
ungünstige Rückwirkung zu konstatieren, wie das z. B. bei dem Kartoffel- 
zusatz der Fall ist. Das Maismehl hatte folgende Zusammensetzung. 


In 100 Teilen Trockensubstanz: 


scher? 21 a Re a TEN 
Organische . „u Mae a er ee 
Ne u, 0 ER See RE a7 a 
PEnkosan.ı ca rl N za 7 re 
Zellmembran en... 2 a RU De 
Pentosan der Zellmembran . . ..... 0.66 
Kalorien al. a . Bee orten) 


Die Versuche wurden an denselben Personen ausgeführt wie die Ver- 
suche mit Brot von 94 Prozent Ausmahlung und gleichfalls je eine Woche. 
-Bei der geringen Verschiedenheit der Zusammensetzung sind besondere 
Verschiedenheiten der Verdaulichkeit nicht zu erwarten, wenn nur die 
_Mischungsverhältnisse allein in Betracht kämen. Für Kartoffel- und 
Roggenmischungen hatte sich die aprioristische Annahme allerdings nicht 
bestätigt. Die nachfolgenden Tabellen enthalten das Nähere über Aus- 
führung und Verlauf des Versuches. 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 285 


94 Prozent ausgemahlenen Roggen. 90 Teile + 10 Teile Maismehl 
‚Roolfs. I. Periode. 


Ge- | Harn Kot 
ZU Ras = Nahrun 
A| | wieht a cem | N |) Zeit |frischltrock. 
14. IV. | 2240| 5-9 
1. 15. 1IV.| 65-10, 940 & Brot, 50& Zucker, | 940 920| 10-1 
30 g Butter, 21 Kaffee | 
2. 16.IV. 1010 g Brot, 50 8 Zucker, | 1017 | 1220, 8-4|| 93° V.| 110 | 20 
30 g& Butter, 21 Kaffee 11°0N.| 295 | 60 
3. 17. IV.!65-00| 1140 g Brot, 30 & Butter, 1178 1260 %-5]10%° V.| 100 | 20 
508 Zucker, 21 Kaffee 9SIN.| 5007795 
4. 118. IV. 1060 & Brot, 50 g Zucker, || 1076 1540| 7-2 || 93°N.) 250 | 50 
30 8 Butter, 21 Kaffee 
5. | 12,0%, 1090 & Brot, 50 & Zucker, 1114| 1440| 6-1| 1:°N. 390 | 75 
| 30 8 Butter, 21 Kaffee 
6. 20. IV. 1150 & Brot, 50 9 Zucker, | 1175| 1840| 6-4 |123°N.| 330 | 70 
| 30 g Butter, 21 Kaffee | | 103° N. 375 | 65 


7. 21. IV.| 64-10 980 Brot, 508g Zucker, ‚1009| 1440| 6-3 6°°N.| 230 | 50 
308 Butter, 21 Kaffee | 
8. 22. IV. Summe | 7479 6°°N.| 385 | 75 


Im Tag 1068 = 659-0 Trockens. 580 = 600 
Im Tag 85:68 


Kollmann. I. Periode. 


= Ge- Harn Kot 

el 5 Nahr 

A ° | wicht Pu eem | N Zeit frischltrock. 

. 1640 | 7-73 

1. 16. IV.| 57-80 | 1070 g Brot, 30 g Butter, | 1077 | 1220 | 7-2 

21 Kaffee 
\ 

2 ITEOTV.. 1090 & Brot, 30 & Butter, 1098 | 1420 | 7-8 || 8% V.| 360 | 60 
21 Kaffee 

3. 18. IV.| 57:60 | 1140 & Brot, 30 & Butter, || 1156 | 1600| 7-8 ||8%° V.| 315 | 60 
21 Kaffee 6% N.| 305 | 60 

4. 19. IV. 1200 g Brot, 30 g Butter, || 1221| 1740 | 7:8 8° V.| 345 | 65 
21 Kaftee 

5. 120.IV. 1160 & Brot, 30 g Butter, || 1184 | 1540 | 7-7 |80° V.| 380 | 70 
21 Kaffee 7° N.| 300 | 55 

6. 21. IV. 1020 & Brot, 30 g Butter, || 1042 | 1420 | 7:2 ||8%° V.| 295 | 60 
21 Kaffee ; 

7. 22. IV.|57:-50| 1085 g Brot, 30 g Butter, || 1117|) 8300| 6-0 ||8°° V.| 280 | 55 
21 Kaffee 6%°°N.| 295 | 60 

8. 123. IV. Summe || 7895 800V| 305 | 60 

Im Tag || 1128 6% N. | 240 | 50 
— 696-1 Trockensubstanz 655 


—= 700 8 gepulvert 
im Tag — 1000 8 


286 MAx RUBNER: 


Über die Zusammensetzung des Brotes und über die Ausscheidungen 
bringt das nachfolgende die nähere Auskunft. _ 


Bros: 
In 100 Teilen Brot (trocken) sind: 


In 659-08 | In696-1g 
Roolfs Kollmann 


Ascher Rh 


2-16 14-22 14-92 
Organische en a a 97:34 644-78 681-18 
IN SR RR 13. 2 SEE ER 1-591 10-47 11-06 
Bentosame a lb eu 8:56 56-40 59-57 
Zellimembram 4 en 6-46 42-44 44.97 
Danny Zelliuleser: sy 1-75 11-62 12-18 
Darına Bentosanupr 2-04 13-44 14-19 
INesitsuloSttanvee ee 2-67 17:38 18-60 
Beitbem: 2a: ER Sn 50 — _ 
STärkemn A ee ae 73-43 483.89 511-13 
Kaloriens: 2 U Meweh Susan 42480 2799-40 2956-90 
In 100 Teilen Zellmembran sind: 
Zelluloseke sn war 285 
Bentosanı say cuih a anciee  e 37-67 
Best, me 2 ehe 39-47 


Kot. 


In 100 Teilen Trockensubstanz sind: . 


In 79-7 & | In 93-6 
| Roolis | Kollmann Rolls” Kolacn 
ON 

Ascher Ah we LS 7-66 7-27 6-10 6-79 ı 
Orgamisch 1... 0 Mala ne 92-34 92-73 73-60 36-80 
INN HEN ee: URBAN LS = SR 1.0. 5-50 4-42 . 4-38 4-41 
Pentosanen kai 1. UN RN 15-94 15-28 12-60 14-30 - 
Zellmembrane Mıf ...r aan Kane 28-75 32-66 22-91 30-56 
Darin Zellulose.. . ..... ES: 072 10-49 10-39 8:36 9-72 
Darm! Pentosan” ie. . So hr. se 8-88 32 TO 8-53 
Bestsubstanz ea. vr Se Lana: 9.38 13-15 7-48 12231E 
Dett ke. Seren PL Cene 3-19 4-68 — _ 
Stärke a 3a ren 3-99 13-89 7-26 13-00 


Kalorien nal 2 ur 2... || 4834-30 488-830 3386-00 : | 457-40 


In 100 Teilen Zellmembran sind: 
Roolis Kollmann Mittel 


Zellulosesirssin. 3: Sek 36:49 31-81 34-15 | 
Pentosan u. 1, Kurse 2:30:95 27-95 29-45 3 
VRR Le ER > 32-56 AD A 36:30 ® 


1 — 9.93 Protein. 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 287 


Die Ausscheidungen waren nur wenig geringer wie früher. Der Zell- 
membrangehalt derselben war wesentlich geringer. Die Ergebnisse ent- 
halten folgende Tabelle. 


Roolfs | Kollmann | Mittel 
N lee 37-43 | 39-68 
NSalorien.: =... 14-50 15-50 15-00 
» Aellmembran 2 22 72772 0053-98 67:94 60-94 
rZzellulosen:.e,.. Ser. 71:94 79-80 15:86 
» Pentosan der Zellmembran 52-60 60-11 56-35 
sıBRestsubstianzı 21. . nu. 2. 43-03 66-15 54-59 
„ freien Pentosanen . .... 12-87 12-71 12-79 
Starken Een er! 2-59 2-54 2-56° 
»» Gesamtpentesan . ....|| 22-16 | 24-00 23-08 


Der Verlust an N, auch an Kalorien, bewegt sich in denselben Grenzen 
wie beireinem Roggenbrot. Die beiden Personen unterscheiden sich auch nicht 
wesentlich. Nur die Zellmembranen sind etwas besser verdaut. Im ganzen 
sind die Unterschiede gegenüber dem Mehl von 94 Prozent gering. Man darf 
wohl vermuten, daß Brot vielleicht schon an sich wegen geringer Differenzen 
in der Backweise (stärkere Erhitzung des Bodens des Brotes, Unterschiede 
in der Erhitzung der Kruste u. dgl.) zu kleinen Differenzen Anlaß gibt. 

Die Stoffwechselprodukte N-haltiger Natur verteilen sich ebenso wie 
bei reinem Roggenbrot, auch die Stofifwechselkalorien lassen besondere 
Eigentümlichkeiten nicht erkennen. 


Roesen und Mais. 


El En rn As |d=sy, 
® ar ie: an om = eg2 |HS2 
elss |. za| a | a la38| SE 855 en 
he ae ee see 
le zalzraıa (Heads 
FEAR: | | | er je 
R. | 17:18 | 79-7 | 13-67 | 2-10 | 4-38 2-19 10-47 | 20-91 50-00 
K. || 15:58 | 93-6 | 14-58 | 2-33 | 4-14 1-81 11-06 | 21-07 43-72 


1) 
& 
(do) 
[No] 
Pr 
[oP) 
[6,0] 
{er} 


Roggen und Mais. 


Verlust an Kalorien pro Tag| 3 N ss E le = a: Be ERS 
= = E 28 |l2582 E32 SW STH K$acdE 
S © & = oe 5538| 5228 SseAP 2829.04 
| =ı8 Ze S se2l8203|820 58830938 sHM52s 
Bl 2 |sSE| E | 3 jegalasEs sgasane3.385 

z . = oO, 2208 8 
| an = ® 1e7) nd ER aD ee Sen 
R. 29-80 173-211 22-67 |225-68| 386-0 | 160-3 |2799-4| 5-72 41-50 
K. || 53-30 209-852] 23-65 |286-80| 475-4 | 170-6 |2956-9| 5-77 37-29 

; 5-74 39-39 


1 93-93 Kalorien in Zellmembran -+ 79-28 als Protein. 
2 125-29 Kalorien in Zellmembran -- 84-56 als Protein. 


288 


MAx RUBNER: 


Die Versuchsperson R. zeigte deutlich durchschnittlich, was 


N-Bilanz anlangt, einen geringen Verlust, kam aber gegen das Ende der 


Reihe etwa ins Gleichgewicht. Person K. verlor wenig an N. 


Roggen und Mais. 


Roolfs: 

N N : N auf- 
m im Harn im Kot Sean genommen Ailkız 
1. 10-10 4-38 14-48 9-21 -5-27 
2 8-40 — 12.78 10-08 -2-70 
3. 7:50 —i, 11-88 11-25 -0.63 
4. 7:20 — 11-58 10-55  -1.03 
3. 6-10 —_ 10-48 16-92 +0-.44 
6. 6-40 — 10-78 11-52 -+0-.74 
De 6-30 "3,1068 9:33  -0-59 
7:43 4-38 lan 10.47 —-1-.34 

Vor Beginn des Versuches 5-9g N im Harn. 

Kollmann: 

1 7-20 4.14 11-34 10.56  -0-78 
2 7:80 = 11-94 10.772 TR 
3 7:80 —_ 11-94 11-34 —-0:60 
4 7-80 — 11-94 11-97 . +0-07 
5 7:70 = 11-84 11-65 -0-.21 
6 7-20 _ 11-34 10-52 -.1:52 
7 6-00 _ 10-14 10-59 -+0-45 
7-36 4-14 11-50 11-06  —0-44 


Vor Beginn des Versuches 7:72 N im Harn. 


die 


Zum Vergleich stehen mir zwei ausgeführte Versuchsreihen zu Gebote; 
eine Gegenüberstellung der Resultate zeigt folgendes: 


Frühere Reihe Neue Reihe 


in Prozenten 


Zellmembransehalt' . . 2... 22%. 7-75 6-69 6-51 6-46 


N-Verlust 


a a in ah 3 er ER ee 39-302 40-30 37-05 39-68 
TE ONE 3 25-90 21-60 21-48 20-99 


EEE N 13-40 18-70 15-57 18-69 


ERNEST 14-80 13-50 15-19 15.00 


Verlust an Stoffwechselkalorien . . . 7-47 7-07 6-10 5.74 


Verlust an Unverdautem 


Verlust an Zellmembran 


2 a RER 1-30 6-40 9.09 9-26 
REN REN 47-00 55-70 73-00 60-94 


Von diesen Versuchen ist der erste mit Mehl bei feuchter Vermahlung 
ausgeführt, also in der Technik des Mahlens verschieden; die drei anderen 


2 In der Veröffentlichung 1916, S. 174, muß es bei Person Sch. unter N-Aus- 
scheidung 4-20 statt 3-44 heißen, der N-Verlus5 wird dann 41-82 Prozent und 
das Mittel 39-3 wie oben; ebenso ist statt 10-2 dann 13-4 bei Stoffwechsel-N zu 
setzen. Die Übereinstimmung der Werte wird dadurch besser. 


_ UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 289 


sind bei trockener Vermahlung des Kornes ausgeführt. ‘Die Resultate 
stimmen bei gleichem Zellmembrangehalt sehr nahe überein. Nur hin- 
sichtlich der Zellmembran bestehen Unterschiede. Bei 6-51 Prozent Zell- 
membran war die Verdauung am schlechtesten, wodurch sich auch der 
Kalorienverlust etwas erhöhte. Am. wechselndsten ist der Verlust an 
Stoffwechsel-N; es ist auch bekannt, daß gerade der N-Verlust im Darm 
zu allererst dann beeinflußt wird, wenn es sich um geringfügige Störungen 
der Verdauung handelt. 


Das Klopferbrot nach Herstellung und Zusammensetzung. 
7 
A. 


Die experimentelle Untersuchung des Klopferbrotes hat nicht das 
Ziel, einen bestimmten Handelsartikel auf seine Verdaulichkeit zu prüfen, 
das würde an sich eine Besprechung an dieser Stelle kaum rechtfertigen, 
vielmehr liegt das Ziel darin, in einem sozusagen Schulfalle auseinander- 
zusetzen, wie die Bearbeitung des Kornes durchgeführt wird, um dieses 
„Vollkornbrot‘‘ zu erreichen. Zu diesem Zwecke mußte nicht nur die 
eingehende Untersuchung der Verdaulichkeit des Brotes, sondern vor allem 
auch die Art der Vermahlung und die Überwachung des Mahlbetriebes 
durch eine fachwissenschaftliche Aufsicht sichergestellt werden. Ohne diese 
Garantie hat jedwede Bearbeitung solcher Fragen gar keinen Wert. Den 
technischen Teil der Untersuchung hat Professor Buchwald ausgeführt. 

Die eingehende Beschreibung des Mahlversuches findet sich am 
Schluß der Arbeit anhangsweise im Original des Berichtes wiedergegeben. 
Die Vermahlung erfolgte mit 32 Sack Roggen = 2468-5 kg Reingewicht 
mit 14-7 Prozent Wassergehalt und 1-85 Prozent Asche der Trocken- 
substanz. Dieses Getreide war aber bereits von den üblichen Unreinheiten 
befreit, also geputzt, wie dies vor jeder Vermahlung ee soll, in 
Kriegszeiten aber leider nicht geschehen ist. 

Nun erfolgte eine Schälung, d.h. Dekortikation, mit 5-5 Prozent 
Abfall. Der geschälte Roggen hatte 14-66 Prozent Feuchtigkeit und 
1-73 Prozent Asche der Trockensubstanz. Die Keimlinge, welche bei der 
Schälung mit abfallen,“ werden isoliert, entbittert und später dem Mehl 
zugefügt; dieser Zusatz beträgt 1 Prozent des ursprünglichen Roggens, 
so daß im ganzen aus 100 Teilen gereinistem Roggen 94 Prozent Aus- 
beute an fertigem Mehl erhalten werden. 

Ich gebe in nachfolgendem die stufenweise Veränderung des Mahlgutes 
wieder; zunächst mag das Ausgangsmaterial und der. geschälte Roggen 


(3-5 Prozent Abfall) miteinander verglichen werden. 
Archivfi.A.u.Ph. 1917. Physiol. Abtlg. 19 


I) 


290 Mıx RUBNER: 


Ursprüngliches Dekortiziertes 


Korn Korn 
in 100 Teilen Trockensubstanz 

INSChEL ER. ER 2a RT 1-82 1-70 
Orsanısch FE 2. ve Ser 98-18 9498730 
INTER ER RI ORTEN are 1-67! 1-582 
DPentosan ta). kan interna 10-64 9-03 
Zellmembran I ne 9.09 6-40 
Zellulose der Zellmembran . . 2.25 1:71 
Pentosan der Zellmembran . . 3:97 3-01 
Restsubstanz der Zellmembran 4-51 2-54 
Stärken N ER 70-57 74-40 
Tetiant an EN AOTER 1-42 1-66 
Kalorien Se 430: 60 429.70 


Aus dem gereinigten, d.h. dekortizierten Korn wurde das eigentliche 
„Vollkornmehl‘“ hergestellt und noch 1 Prozent Roggenkeimlinge hinzu- 
sefügt; außerdem wurde ein Mehl entnommen, das nur einer Ausmahlung 


von 75 Prozent entspricht. Beide Mehle wurden dann zur Herstellung 


von Brot verwendet. Zwar ist nicht anzunehmen, daß bei der Brot- 
bereitung wesentliche Verschiebungen in der Zusammensetzung auftreten, 
immerhin wurde aber doch das Mehl wie Brot getrennt untersucht. Über 
die Zusammensetzung der Mehle gibt folgende Tabelle Aufschluß. 


In 100 Teilen trocken: 


94 Prozent 75 Prozent 
Ausmahlung Ausmahlung 
das Mehl das Brot das Mehl das Brot 
ASCHE EN ee dene 10. SEA 1-82 2-81 1-44 2-05 
Organisch ame REIT: 98-18 97.19 93-56 97-95 
IN HE a ee Te ee le Fil® 1-674 1-485 1-556 
Pentoraniair en N en 9-16 8:15 8-35 7-82 
Zellmemibran Se 6-32 6-23 4:96 4-54 
Telluloseh ne N 1-90 2-01 1-65 ..1-.64 
Pentosan der Zellmembran ..... 9.59 2-57 1-67 1-45 
Bestsubstanz der Zellmembran ... 1-83 "1-65 1-64 1-45 
Bette ne NEN 3-04 (2-04) 1-66 (1-66) 
STALlec N a N a ar 72-57 72-71 76-21 75-70 


Die Zahlen für die Zusammensetzung des Brotes sind beigefügt. Von 2 


dem dekortizierten Mehl wurden 94-5 Prozent des ursprünglichen Kornes 
erhalten. Das Ergebnis zeigt folgendes: 


1 = 10.43 Protein. 
2 — 9.87 Protein. 
3 — 10-68 Protein. 
2 — 10-43 Protein. 
© 9.25 Protein. 
6 — 9.68 Protein. 


I 


er a re 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. el 


Das verwendete Korn war an sich nicht reich an. Zellmembran, soweit 
ich nach meinen bisherigen Analysen ein Urteil zu fällen vermag. 


Bei der Dekortikation sinkt der Zellmembrangehalt auf 70-4 Prozent 
des früheren, also nahezu um ein Drittel, was sehr erheblich ist, weil ja 
‚der Gewichtsverlust im ganzen nur 5-5 ‚Prozent ausmacht. Die einzelnen 
Bestandteile des Kornes nehmen also in verschiedenem Maße bei der Schä- 
lung ab; am besten geht das aus der Gesenüberstellung der Zahlen des 
ursprünglichen Kornes und des geschälten Produktes hervor, wenn wir zu 
diesem Vergleich die Werte des dekortizierten Kornes auf 94-5 Teile, d.h. 
den Schälungsgrad, umrechnen. 


Ursprüng- 94-5 Teile 


liches dekort. Verlust 
& Korn Korn Prozent 
AS Chem a ee: 1-82 1-61 — 11-54 
Orsanisch 2: 0.0... 98-18 94-00 — 4-26 
N a 1-67 1-49 — 10:78 
IBentosanı rear. a are 10-64 8:53 — 19.84 
Zellmembran og. a.sı, 9.09 6-05 — 29-50 
Darm Zelluloset ey. ltr 2-25 1-61 — 28-45 
- Darin Pentosan . . .... . 3-97 2.84 — 28:46 
Dtärkes nn NR un 70-47 70-31 — 0:21- 
ifey SR N 1-52 1-56 — 
Igalorienu..e ee ar ee 430- 60 4096-00 — 5-71 


Der Schälprozeß nimmt also verhältnismäßig viel Eiweiß und Asche 
fort, ferner einen erheblichen Teil der Pentosane, der jedoch auf die 
Rechnung ‘der Beseitigung der Zellmembran zu beziehen ist. Er läßt das 
Stärkemehl intakt, insofern muß dieses Schälverfahren als gut gelungen 
bezeichnet werden. Bei Untersuchung anderer Schälverfahreri habe ich 
gelegentlich beobachtet, daß die abgeschiedene Kleie weniger N-haltig ist 
als die nach dem Klopferverfahren erhaltene. Es ist also möglich, daß 
hier der Keimling vollkommen zur Kleie fällt; ein Angreifen der Kleber- 
schicht ist weniger wahrscheinlich, da sonst auch ein Verlust von Stärke- 
mehl unvermeidlich wäre. Wer alle Teile des Kornes für unentbehrlich 
zur Ernährung hält, kann sonach das entschälte Korn nicht mehr als 
Vollkorn betrachten, da Salze und Eiweiß in nicht unerheblichem Maße 
abfallen. 

Für tierische Zwecke kann man sagen, daß solche Schälkleie immer 
noch wertvoll sein muß, da sie reich an Eiweiß ist. Man könnte ja ver- 
suchen, hierüber aus den oben gegebenen Zahlen eine Berechnung der 
Zusammensetzung durch Kleie zu machen; man muß nur bedenken, daß 

192 


292 MıAx RUBNER: 


man nicht exakte Zahlen erhalten wird, weil sich ja alle ana Yu 
Fehler auf die 5-5 Teile Kleieabfall häufen.! 


B. 


Aus dem gereinisten, d.h. geschälten Korn wurde, wie erwähnt, 
zweierlei Mehl hergestellt: 

a) Mehl, welches aus 100 Teilen Korn 75 Teile lieferte, 

b) Mehl, welches aus 100 Teilen Korn 94 Teile lieferte. 


Bei letzterem waren die entfetteten Keimlinge wieder hinzugemengt 
worden; bei dieser Prozedur haben sich also bei a 25 Teile Kleie ergeben 
bei b nur der oben genannte Schälabfall nach Auslese des Keimlines. 
Aus den beiden Mehlsorten wurden die Versuchsbrote hergestellt. Tabelle 
S. 290 gibt die analytischen Werte für das Mehl und das daraus her- 
sestellte Brot. 

Die analytischen Ergebnisse an zwischen Mehl und Brot nur 
Unterschiede, die innerhalb zufälliger Abweichungen der Proben gelegen 
sind, mit Ausnahme des Fettes. Es ist bekannt, daß die Ätherextrakt- 
menge aus Brot stets zu klein ausfällt, während Mehl leicht zu extrahieren 
ist. Man wird daher für das Brot richtiger die Menge des Ätherextraktes 
des Mehles benutzen, falls es nötig sein sollte. Übrigens spielt das ‚Bett‘ 
hier ja eigentlich keine Rolle. 

Die Kleie, welche abfällt, wenn man statt auf 94 Prozent nur auf 
75 Prozent ausmahlt, ist natürlich ganz anders zusammengesetzt wie die 


Schälkleie, die in dem Abschnitt A näher betrachtet wurde. Ihre Be- 


rechnung wird später durchgeführt werden. Wir werden sehen, daß diese 
Kleie bis 61-6 Prozent Stärke einschließt, während die Schälkleie, praktisch 
betrachtet, stärkefrei war. Daraus ergibt sich, was ich schon öfter betont 
habe, daß es sinnlos ist, von einer Verdaulichkeit der Kleie beim Menschen 
zu reden, wenn man nicht den konkreten Fall genauer kennt. Bisher hat 
man fast ausnahmslos die Beschaffenheit der Kleie hinsichtlich ihres Nähr- 
wertes ganz unbeachtet gelassen. 

Auch der Prozentsatz der Ausmahlung genügt nicht zur Charakteri- 


1 Man erhält für diese Schälkleie etwa: 
3-82 Prozent Asche 
Bill Wen N 
38-30 a Pentosan 
55-20 2 Zellmembran 
447:30 Kalorien. 
Vgl. auch die Analysen der Schälkleie $. 277 nach direkter Untersuchung dieses 
Abitalles. x 


& 
4 
T 
‘ 
B: 
& 
Er 


ns: 


RS Bere ri 
ERDE ER ZIEENE 5 


er 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 


293 


sierung der Kleie; es ist einleuchtend, daß eine Kleie, welche bei einer 
Ausmahlung auf 90 Prozent entsteht, anders zusammengesetzt ist wie eine 
Kleie, welche aus 5 Prozent Schälabfall und 5 Prozent Mehlkleie sich bildet. 
Für eine zutreffende Beurteilung eines Brotes kann man sich in Zu- 
kunft nur an die direkte Analyse mit Feststellung der Zellmembranmenge 
und ihrer Eigenschaften verlassen. 


A. Brot aus Mehl von 75 Prozent Ausmahlunse. 


Die Ausnützung des Brotes. 


Eine Ausmahlung, welche im allgemeinen recht häufig durchgeführt 
wurde, ist die, welche 70 bis 75 Prozent Mehl aus dem Korn liefert, 


Roolfs. 


Ge- 
wicht 


Nahrung 


Klopfer-Roggen O0 bis 75. 


Brot 
frisch | N 


Harn 
ecm | N 


Zeit 


Kot 
frisch | trocken 


13. 


14. 


15 


16. 


XI. 
XL. 


; XII. 


XI. 


63-5 


63-0 


62-5 


1385 & Brot frisch 


Gemischte Kost 
1233 g Brot 
205 Kaffee 
21 Wasser 
Brot 
Kaffee 
Wasser 
Brot 
Kaffee 
Wasser 
Brot 
Zucker 
Kaffee 
Wasser 
* Brot 
Zucker 
Kaffee 
Wasser 
Brot 


302 Kaffee 
2] Wasser 
1240 8 Brot 
308 Zucker 
30 g Kaffee 
31 Wasser 


Mittel = 


I All 


g Zucker 


1233 | 11-82 


1259 | 12-11 


1389 
1445 | 13-87 
1399 | 13-43 


11-87 


12-06 


13-33 


1260 | 9-6 


2140 | 7-4 


1520 | 6-6 


1600 | 6-7 
1660 | 4-4 
1960 


1620 | 4-7 


— 836-7 8 lufttrocken 


— 816-2 g Trockensubstanz 


33 N. 


220 N. 


4° N. 


SOORVz 


mal)V. 


4°° N. 


N. 
SaınV., 


200 50 


400 | 105 


110 
535 130 
560 | 125 
370 95 


490 
410 


105 
50 


635 8 


gepulvert 650g 


—= 92-558 pro Tag 
— 84:9 5 Trockensubstanz 


880 5 lufttrocken zur Analyse 
63-53 Prozent Trockensubstanz 
61:97 & Trockensubstanz. 


294 MAx RUBNER: 


Kollmann. Klopfer-Roggen. Roggen O bis 75. 


Datum | Ge Nahrung \ zus! Slam : Kot 
wicht frisch| N || cem | N || Zeit |frisch |trocken 7 
8. XII. Gemischte Kost 800 V.| 157 32 
9. XII. | 53-5 | 1183 g Brot 
| 30 Kaffee x 
21 Wasser || 1183 |11-36|| 940 | 8-2 | 32° N.| 120 30 
TOT 1163 g Brot 
30 8 Kaffee 
21 Wasser || 1164 \11-17|| 960 |.7-7 || 73° V.| 360 75 
uk UNE 1265 & Brot 
308 Kaffee \ 
21 Wasser || 1274 |12-23|| 1860 | 7:9 || 73° V.| 350 | 65 
12. 057] 12308 Brot a 
| 308g Zucker . 


308 Kaffee 
| %1 Wasser || 1249 |12-02|] 1680:| 7-3 || 73° V.| 330 65 
13. X 1350 g Brot 
IR 308g Zucker | 
30 & Kaffee | ET 
2] Wasser | 1373 \13-18|| 1380 | 7-0 || 73° V.| 330 70 
4° N.| 250.) 50 


14. XIT. || 1170 g Brot 
| 308 Zucker 
30 8 Kaffee | | 

| 21] Wasser | 1189 |11-41|| 1580 | 7-7 || 730 V.| 305.| 60 a 
53-5 | 1110 & Brot 
308 Zucker 
308 Kaffee 

21 Wasser || 1119 |10:84|| 1560 | 7-6 || 730 V.| 235 | 55 | 
730 V.| 255!| 60 « 


8 530 


15. XI. 


Mittel = 1221 
— 769-7 g lufttrocken = 560 8 
— 749-8g Trockensubstanz gepulvert = 808 


pro Tag lufttrocken 
— 75:7 g Trockensubstanz lufttrocken { 
— 71-65 trocken. 


! 

Die eine Vergleichsreihe wurde daher mit Mehl von 75 Prozent Ausmahlung 
ausgeführt. Solches Mehl liefert ein ausgezeichnetes Brot. Die Versuche 
wurden an zwei Personen ausgeführt; leider waren die früher ver- 
wendeten Soldaten wieder eingezogen worden, so daß eben diese Ver- 
gleichsreihe mit Brot zu 75 Prozent Ausmahlung notwendig wurde, um 
den Unterschied des Brotes mit 94 Prozent usmahlung einwandhrei be- - 
urteilen zu können. Bm 

Als Getränke wurde ein leichter Surrogatkaffee mit etwas Zucker 
gegeben; die Nährwerte des Kaffees waren so minimal, daß sie ganz ” 
außer Betracht gelassen werden. Die Menge des Brotes wurde dm 
Sättigungsbedürfnis überlassen (s. vorstehende Tabellen). | 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 295 


Man sieht, daß die Nahrungsaufnahme eine sehr gleichmäßige gewesen 
ist; die eine Person R. nahm etwas an Gewicht ab, die etwas kleinere 
Versuchsperson K. hielt sich auf dem Gewicht. Vor der Versuchsperiode 
hatten sich die Personen mit dem erhalten, was sie durch die Kartenkost 
bekamen, mit einigen Zusätzen, ohne welche ein Auskommen ja unmöglich 
wäre, obschon es sich um Leute von recht mäßiger Körperbeschaffenheit 
handelt. Die Gewöhnung an eine einfache vegetabilische Kost war also 
ausreichend verbürgt. Das Brot ist wenig blähend und gegenüber dem 
Kriessbrot von bester Beschaffenheit. 


Die analytischen Ergebnisse enthält folgende Tabelle. 


Brot. Ausmahlung 0 bis 75 Prozent. 


In 100 Teilen Brot ist enthalten: Kollmann Roolts 
in 749-80 g in 816-20 g 

BÄSCHeABERN es NS RE N RR 2-05 15-37 16-73 

Orsanisch; -.. 4. ,:{7a. arten 94:95 734-41 799-47 

IN te 3 en Se SE, 1-551 11-62 12-65 

Bentosam‘ : wor 2 NEST, EBEN 7-82 58-65 63-83 

Hellmembran au... ver. 4-54 34-04 37-06 

Darin Zellulose.. . .. . een 1-64 12-30 13-38 

Darin Pentosan ....... 1-45 10-87 11-85 

Darin Restsubstanz. . ... . 1-45 10-87 11-85 

IS. N 1-66 12-45 13-54 

StärkesunsT .. erlanmaei. 75-702 567.70 623-90 

Kalorienss.n.. san 4138-40 3138: 00 3414-80 

In 100 Teilen Kot sind: { 
Kollmann Roolfs Kollmann Roolfs 
in 71-68 in 94-9 g 

INSCHeWe EB T 7-19 7:32 5-15 6-21 
Orbanische nn Vase UN Er, 92-81 92-68 66:45 78-69 
INES it ae ei eadee 4-75 4-75 3:40 4-03 
IBentosana nr: 0 an ae Dale 15-91 17-72 11-39 15-05 
Hellmembran . +2...» 10 288, 31-86 29:63 22-81 25-15 
Darın»Zelluloses =... 4. ler. 14-36 11-16 10:28 9-47 
Darnebentosanı u San... 8-4] 7-51 6:73 6-39 
Darin Restsubstanz. . . .. 2... 7-09 10-96 5-80 9-29 
Bett ee en N 5-07 5-49 3-63 . 4-66 
Sika. EDEN ENRR 9-43 11-39 6:75 8-15 
Kalorien mar, FH ELSE aetl.y 492-30 507-30 352-50 430-70 


Der Trockengehalt des Brotes war 61-97 Prozent. Im ganzen haben 
die Männer zwischen 3138 und 3415 Kalorien (unberechnet den Zucker) 
aufgenommen, was sicher zur Deckung des Nahrungsbedürfnisses aus- 
gereicht hat. 


1 — 9.68 Protein, 
2 Berechnet. 


296 Max RuBnek: 


Der Kot war im allgemeinen wasserarm, über 20 Prozent Trocken- 
substanz bei Person R.; nur waren die beiden letzten Stühle merklich 
wasserhaltiger ‘wie die früheren; etwa 30 Prozent des trockenen Kotes 
bestehen aus unverdauten Zellmembranen. 

Die Verluste waren für das Mehl von 75 Prozent Ausmahlung: 


Bei Bei Im 

Kollmann Rooltfs . „Mittel 
AN. 12 RR PRBE IR DEREN San 29-25 Proz. 31:85 Proz. 30-52 Proz. 
1 Bentosamparnk Sen 19-41, , 23:57 u 21SA9E 
» , ZJellmembran 2 een GIE00 67-86 °,, 67.45 „ 
„„ "Zelluloseh a a sehn: Saal. 10-78, N, 18070 
„ Pentosan der Zellmembran SO, 54-01 ,„ 57:96 ,„, 
Sun Bestsubsbanz Ze Se 53-36, NSS GDRSI 
„Stärken. ee lalSar, 1.30% 1:24), 
„ trejesuBenhosam ke ae TS 1626900), 132207, 
»; ‚Kalorien. ee u.D8 RE 10-86 „, 18H 11:85 7,5 


Von anderen mit Roggenmehl von mir ausgeführten Versuchen stimmt 


im Zellmembrangehalt keiner genau mit dem vorliegenden überein, wohl 
aber das Mittel aus Versuch I und III Bd. 1916 S. 193 mit 4-37 Prozent 
Zellmembran; die Versuchspersonen waren aber andere als die in obigem 
Versuch. Die Verluste der wichtigen Stoffe waren: 


- Frühere _ Vorliesender 


Versuche Versuch 
ANNE 38-70 Proz. 30-52 Proz. 
Pakalerien?\..,. ee VS IS 
>. Yellmembran, 222 232: 9lnSs0, 67-43 ,„ 
ESTATE ask 1-24 „ 


Demnach ist die Resorption des N im vorliegenden Fall etwas 
günstiger, der Verlust an Zellmembran aber etwas größer, woraus sich 


auch der geringe Zuwachs an Kalorienverlust erklärt. Von älteren: Ver- 


suchen mit Roggenmehl mit 25 Prozent Kleieauszug, bei welchen eine 
fachmännische Mühlenaufsicht ausgeübt wurde, können nur die Experimente 
von Plagge und Lebbin erwähnt werden. Nach meinen zahlreichen 
Erfahrungen ist es möglich, aus deren Originalzahlen durch Einsetzen des 
kalorischen , Wertes den Kalorienverlust bei Plagge und Lebbin nach- 
träglich zu berechnen. Es findet sich dann für drei Versuchsreihen 


11-80 Prozent im Mittel 31:92 Prozent im Mittel 
ala ln 11-5 Prozent und 36-66 _., 33-75 Prozent 
al 707.7 Kal.-Verlust Be, N-Verlust, 


was mit den oben angegebenen Werten sehr nahe übereinstimmt. Ob 
sich der Zellmembrangehalt mit meinen Brotsorten ganz deckte, läßt sich 
freilich nicht sagen. 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE, 297 


Der Kot meiner Versuchspersonen bestand zu einem großen Teil aus 
nachweislichen Resten der zugeführten Nahrung, darunter aber auch aus 
den Stoffwechselprodukten. Das Nähere bringt für die Kalorienberechnung 
der Stoffwechselprodukte nachstehende Tabelle. 


Brot aus Mehl von 75 Prozent Ausmahlung. 


Verlust an Kalorien pro Tag a ea ‚2uTe ne 

| P mn oe E 2314235 

Versuche | 5 | &, | 3 | 8 |382:|8°8 1253 7 e23 2524 
erson =) = 5 ö = RS) oO |SEe3 | SZ |issumrın 2 
i 3 \22 |: | 2 |a888> 884542502885 
— 5) Hal fen! = Be = (<=! o =! 

7) S. & e7) 8217 as2alscee 

Kollmann || 27-67 |155-921| 19-10 | 202-69 | 352-5 | 149-8 | 3138-0 4-77 42-38 
Roolfs | 33° 44 1199-972 | 33-38 | 266.79 || 430-7 | 203-9 3414-8 | 3-97 47.34 
| ‚5-37 | 4:86 


Die zwei Versuchspersonen verhielten sich recht übereinstimmend. 
5-37 Prozent waren im Mittel an Stoffwechselprodukten erschienen, also 
(11-35 —5-37) 5-98 Prozent der Nahrung Unverdauliches. Rund 45 Prozent 
des Kotes waren Stollwechselprodukte. Diese Werte weichen nicht erheb- 
lich von den anderen Versuchen ab, die man wegen des gleichen Zell- 
membrangehaltes zum Vergleich heranziehen könnte. Ich habe damals 
6-69 Prozent Stoffwechselprodukteverlust gefunden, und da die Aus- 
nützung im ganzen etwas besser war, so machten die St offwechselprodukte 
auch relativ etwas mehr aus, nämlich 61-8 Prozent. 

Hinsichtlich der Ausscheidung des N und seiner Bedeutung als 
Stoffwechsel-N und unverdaulichem N-Material gibt nachstehende Tabelle 
Auskunft. 


Brot aus Mehl von 75 Prozent Ausmahlune. 


In der Zellmembran 3 He x = Ai ae 
. R eg tel) ori (eb) 0 > - 0) SH © 
Versuchs- |E 3 a Mere Hs ns 3 ERS 833 
se8| £& oH = Shaun ee SE ano, 
person > © =. z salleneı © S.oH |2 23 
eo) s ) 3 ae — a m sSsE 
nel zu le Bosalar ® 
PR ee N 5. & 
Kollmann || 15-03| 71-6 |10-76| 1:72 3:40 1:68 11-62 14-86 49-41 
Roolfs 19-68| 84-9 |16-70| 2-66 4:03 1:37 12-65 21:03 33:99 
Mittel | 17:74 | 41:70 
1 Aus Zellmembran 93-52 
». Protein 62-40 
155-92 
2 Aus Zellmembran 103-18 
»» Protein 96:86 


199.97 


298 MıAx RUBNER: 


Von N waren also rund 42. Prozent als Stofiwechselprodukte vor- 
handen, der Verlust an Eiweiß betrug 17-7 Prozent; auch diese Werte 
nähern sich den früheren, bei Roggen gefundenen (21-4 Prozent Protein- 
verlust, 44-3 Prozent des Gesamtkot-N als Stoffwechsel-N). 


Die N-Bilanz zeigt uns folgendes: 


Roggenbrot von 75 Prozent Ausmahlung. 


Kollmann: 


Harn Kot Gesamt-N Einfuhr Bilanz 
8-2 3-40 11-60 11-36 — 0:24 
zer — 11-10 11-17 0-07 
7-9 — 11-30 12-23 0-93 
7-3 — 10-70 12-02 1:32 
7-0 — 10-40 13:18 42-78 
el — 11-10 11-41 40-31 
7-6 — 11-00 10-84 — 0:16 


Die letzten 4 Tage 10:82 N = 67:62 Protein 
bei 54 Kilo = 1:252 pro Kilo. 


Roolfs: 
Harn Kot Gesamt-N Einfuhr Bilanz 
9-6 4-03 13:63 11-82 — 1-81 
7-4 — 11:43 12-11 0:68 
6-6 — 10-63 13-33 42:70 
6-7 _ 10-73 13-87 43-14 
4-4 _ 8-43 13-43 5-00 
6:6 — 10-63 11-87 1-24 
4-7 — 8-73 12-06 +3:33 


9-63 N = 60-18 Protein, Harn + Kot 
bei 63 Kilo = 0-958 pro Kilo. 


Beide Versuchspersonen setzten im Durchschnitt N an, wenn auch 
nicht erheblich, mehr Person R. als K.; das zeigt, dab sie außerhalb der 
Versuchszeit keine Möglichkeit besaßen, reichlicher N sich zu verschaffen, 
Sie traten mit relativ geringem N-Bestand in den Versuch ein. 


B. Brot aus Mehl von 94 Prozent Ausmahlung (Klopferbrot) 


Das Brot sollte man nie ausschließlich nach seiner Zusammensetzung, 


sondern auch nach seiner Qualität in diätetischer Hinsicht betrachten. 


Diese Gesichtspunkte sind fast nie in Betracht gezogen worden. Das in 
der staatlichen Versuchsbäckerei mit dem Mehlnach Klopfers Vermahlungs- 
„art hergestellte Brot war ganz ausgezeichnet. Es hat den Wohlseruch und 
Geschmack reines Roggengebäckes. Man hat dabei nicht den Eindruck, 
ein Brot mit nicht allzu wenig Zellmembrangehalt zu genießen, es ist 
gleichartig, die Farbe lichtbraun. Eine stärkere Gasentwicklung als 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 299 


sonst habe ich nicht beobachtet; es hält sich gut. Als Gebäck ist es 
also tadellos. Dies ist um so befremdender, als die Kriessbrote von- 
sleicher "Ausmahlung aller dieser angenehmen Eigenschaften entbehren, 
- man muß daher zugeben, daß man mit demselben Ausgangsmaterial ein 
_ viel besseres Brot erhalten kann, als es uns gegenwärtig allgemein geliefert 
wird. Das Klopferbrot ist schon mehrfach von anderer Seite untersucht 
worden, so von Boruttau, von R. 0. Neumann, von Hindhede. Auf 
diese Versuche wird später einzugeben sein. | 


Den Verlauf des Stägigen Versuches geben die chenden Tabellen: 


| 


Kollmann. Klopferbrot. 


Nakrunb- Brot |) Harn Kot 
frisch | N cem N Zeit | frisch trocken 


16. XII. | 53-5 | 1145 g Brot 
30 8 Butter 
30 g Kaffee 
| 2] Wasser 1145 |11-45 | 1460 | 7-2 
IX IE. 1280 g Brot 
| 30 g Butter 
30 & Kaffee | 
21 Wasser || 1299 |12-99 | 1540 | 8-0 || 730'V.| 380 90 . 
18. XI. ' 1.1305 g Brot | 
| | 30 g Zucker 
30 g Butter 
30 Kaffee 
; 2] Wasser | 1328 |13.28 | 1380 | 7-0 || 73° V.| 380 90 
19. XII. | 54-5 | 1310 g Brot " 
308 Zucker 
30 g: Butter 
308 Kaffee 
21 Wasser | 1333 | 13-33 || 1040 | 6-2 | 73° V.| 345 85 
20. XI. 1060 g Brot 
308 Zucker 
30 g Butter 
30 g Kaffee 
2] Wasser | 1082 |10-82|| 1720 | 5-2 | 70° V.| 320 80 
21. XII. 890 & Brot 
; 30 8 Zucker 
308 Butter - 
30 Kaffee 
21 Wasser 918 | 9-18 || 1780 | 5-4 || 715 V.| 350 85 


22. x% Gemischte Kost |1184-1 NG ? 0 
im Mittel = 727-0 trocken 480 & 


475-00 gepulvert 
80-00 & lufttrocken 
76-92 g trocken 
lufttrocken 
trocken 


er 


1425 g Brot — 875-0 & Trockensubstanz 


ve | ll ll 


61- 
60- 


II 


8 
8 


300 Max RUBNER: 


Roolfs. Klopferbrot. 


Ge- 


Brot Harn Zeit | Kot 
wicht 


Nahrung 


frisch| N cem | N | frisch | trocken 
R | . 
16. XII. || 62-5 | 1110 Brot 
30 & Butter 
30 g Kaffee | 
21 Wasser | 1110 |11-10, 1380 | 4-3 
17. XII. 1420 & Brot 
308 Zucker 
30 & Butter 
30 9 Kaffee 
21 Wasser || 1424 | 14-24 | 1580 | 6-2 | 80° V.| 460 95 
18. XII. 1435 g Brot 
30 & Zucker 
308 Butter | | SE 
30 g Kaffee ; 
21 Wasser | 1444 |.14-44| 1200 | 5-0 || 700 V.| 600 | 115 = 
19. XII. , 63-5 | 1385 g Brot 
30 g Zucker 
308 Butter 
308 Kaffee 
21 Wasser || 1404 |14-04| 1800 | 7-2 || 63° V.| 545 | 135 
20. XII., 1035 g Brot | 
30 Zucker | 
30 & Butter 
30 g Kaffee \ 
21 Wasser | 1071 |10-71|| 17200 | 4-5 | 700 V.| 575 | 115 
21. XII. | 62-5 | 9358 Brot 
308 Zucker 
30 & Butter 
30 g Kaffee 
21 Wasser || 957 | '9-57|| 2120| 5-2 || 70V. 355 15 e 
22.X1l. | Gemischte Kost |) | | all 50. ' | 


1235 im Mittel 625 a 
— 748-3 lufttrocken 635-0 8 gepulvert 
— 746-0 Trockensubst. 105-8 g lufttrocken 
101-7 & trocken 


II 


Das Brot hat 60-2 g Trockensubstanz, etwas weniger als das Brot 
bei 75 Prozent Ausmahlung, was den üblichen Verhältnissen entspricht. 
Der Trockengehalt des Kotes war bei Person K. 24-2 Prozent im Mittel, 
bei R. 22-6 Prozent. Offensichtlich haben die beiden Personen, die sich 
bei Brot geringerer Ausmahlung ganz gleich verhielten, hier sich unter- 
schieden. R. entleerte vom ersten Tage ab etwas mehr Kot als K., ob- 
schon die genossenen Mengen Brot nur wenig different waren. Die Nahrung 
war diesmal zumeist durch Zulagen von 30 & Butter verbessert worden. 
Die Kost war, was die Kalorien anlangt, sicher mehr als ausreichend. 


Die Einnahmen waren, wie nachfolgende "Tabelle zeigt, bei beide | 
Personen fast dieselben. 


BÄSChHeN a 
Organisch . . . 
INH. 

Pentosan ... 


Meinen sp 
Stärken u.a 


scheine: un: 
Orsanısch u... u. 
ar 


Nr. 2.0. 


Bentosaneyn wm... 
zellmembran . 7... . 
Darin Zellulose.. . . . 
Darin Pentosan ...: 
Darin Restsubstanz. . 
Net u le 
Stauke nn) un. . Eu 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 301 
Klopferbrot (Vollkorn). 
In 100 Teilen Trockensubstanz: 
Kollmann Roolfs 
== in 727-008 in 746-00 g 
Ba >72. La 2-81 20-43 20-96 
Et 97-19 7206-57 7125-04 
ae EL 1-671 12-14 12-45 
ale 2.2 0 Mi 8-35 60-70 62-28 
a RE Er: 6:23 45-28 46-47 
BL ERS 2-01 14-61 14-99 
EN ARE 2-57 18-68 19-17 
1:65 11-99 12-31 
EEE EEE 2-04 14-82 15-21 
a a a 71-74 521-50 555-00 
SEN EA 424.20 3085-20 3164-40 
In 100 Teilen Kot: 
Kollmann Roolfs Kollmann Roolfs 
= = in 76-90g in 101-70g 
eg St. 8.78 6-95 6-75 7-07 
TE 91-22 93-05 70-25 94-63 
RAIN NN. 4-92 5-32 3-80 5-40 
PN 15-43 14-95 11-86 15-20 
3 a er 30-23 30-66 23-24 31-18 
BAT 11-35 10-92 3:73 11-10 
RL SE 3-53 8-24 6:56 8-38 
BE) RR 10-35 11-50 1:95 11-68 
BEN BER Dean 7:28 6-12 5-76 4-54 
ER En BR 6:66 9-17 5-12 9-33 
EN DER TR. 496-10 521-20 381-50 530-00 


Reichlich sind Pentosane vertreten, die Zellmembranen machen 45 bis 
46 & pro Tag aus. In den Ausscheidungen stimmen die einzelnen Bestand- 
teile bei den beiden Personen prozentual recht nahe überein. Zwischen 
30 und 31 Prozent des trockenen Kotes machen die Zellmembranen aus. 
Die Verluste der einzelnen Nährstoffe waren folgende: 
Von 100 Teilen gingen bei Klopierbrot zu Verlust: 


ATMEN I en. 
„„ Pentosan. . 
„„ Aellmembran 
‚„ Zellulose . . 


Bei Bei 
Kollmann RBoolfs 
Re 31:30 43-37 
ER ee 19-54 24-45 
ee 1 2 51-32 68-40 
IR RE GE 59-75 74-04 


»» Pentosan der Zellmembran 35-12 43-71 


Makestsubstanzı. 2.0. 66-30 94-88 
KaStämken. ala: un el nude 0:98 1-68 
» freien Pentosanen.. . ... 12-61 15-82 


„ Kalorien . . 


\ 


I lien Leo 12-62 16-87 


Im 
Mittel 
37:33 
21:99 
59-86 
66:89 
39-41 
80:59 

1-33 
14-21 
14-74 


Person R. hatte demnach in allen Teilen eine weniger gute Aus- 


nützung als Person K., vor allem verdaute sie die Zellmembran weniger 


1 =.10.48 Protein. 


502 Max RuBNER: 


Be: 


gut, auch das Protein und die Stärke; auf der geringeren Verdauung # 


dieser drei Gruppen beruht der Unterschied der Ausnützung. Irgend eine 
Gesundheitsstörung lag nicht vor; die geringere Verdaulichkeit hatte schon 
am ersten Versuchstag eingesetzt. 

Ähnliche Verschiedenheiten finden sich auch in meinen früheren Ver- 
suchen, z. B. in jenem mit Roggenbrot!, als individuelle Unterschiede, die 
unter verschiedenen Bedingungen wiederkehren. Zahlreiche Beispiele dieser 
Art enthält auch das Buch von Plagge und Lebbin über die Ausnützung 


ö 


|’ 


H 


E 


des Soldatenbrotes. Es ist ein Zufall, wenn. einem Experimentator 
h 


Personen in die Hand gespielt werden, die sich völlig gleich in der Aus- 
nützung verhalten. Soweit ich die Ergebnisse übersehe, treten Differenzen 
am häufigsten hervor, wenn es sich um nicht leicht resorbierbare Nahrungs- 
mittel handelt, besonders also bei zellmembranreichen, wie das gerade bei 
Brotsorten der Fall ist. Der Vergleich der Ergebnisse zwischen ver- 
schiedenen Experimentatoren liegt in ihren Schwankungen zumeist nicht in 
der Methode, sondern in der zufälligen Eigentümlichkeit der Versuchsperson. 

Mit Rücksicht auf diese Einflüsse lassen sich allgemeingültige Angaben 
nur machen, falls eine größere Anzahl von Personen gewählt werden kann 


oder wenn die Unterschiede so bedeutend sind, daß sie die allenfallsigen 


individuellen Schwankungen übertreffen. 

Der Kalorienverlust war bei K. bei Klopferbrot gegenüber dem Brot 
bei 75 Prozent Ausmahlung nur um 1-1 Prozent gestiegen (10-86: 11-96), 
bei R. von 11-85 auf 16-87, also um 5 Prozent. 

Zum Vergleich steht ein früher ausgeführter Versuch mit Rogeen mit 
6-69 Prozent Zellmembran? zu Gebote; die Gegenüberstellung mit den 
vorliegenden Versuchen zeigt: 

: 6-69 Proz. 6-23 Prozent 


Zell- Zellmembran 
membran 'Kollmann Roolts Mittel 
Prozentverlustzan. N I. rn men: 40-30 32-40 43-40 37-90 
=> =. Kalorieng.. 2.0.05 13-50 12-00 16-90 14-40 
5 ‚ Zellmembran . .. 55-70 50.23 68-40 59.30 
“e EN DIALKEN ee 1-30 0-94 1:68 1-30 


Die Mittelwerte weichen nur um weniges voneinander ab; die. ‚Aus- 
mahlung bei 6-69 Prozent Zellmembran war damals 82 Prozent gewesen®, 
bei 6-23 Prozent des Klopferbrotes aber 94 Prozent. Man sieht daraus, 


daß die Ausmahlungszahlen allein kein Kriterium für die Beurteilung des ® 


Mehles geben. 


1 Dies Archiv. 1916. Physiol. Abtlg. 8. 165. 
? Ebenda. S. 193. 
® Kontrolliert durch das staatliche an für Getieideverarbeitung. 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 303 
e) 


Ein nennenswerter Unterschied zwischen den beiden Broten von ähn- 
lichem 'Zellmembrangehalt besteht also nicht, woraus sich ergibt, daß 
dem Klopferbrot spezifisch eigenartige Nett zings unse 
nisse eigentlich nicht zukommen. 

Was die Stoffwechselprodukte im Kot anlangt, so hat man für die 
Kalorien folgende Werte. 


Klopferbrot. 

| Verlust an Kalorien pro Tag er u 2 + ee Bi 
GE a ee 
Versuchs- | 2 S_ 3 S 34222512 5A ESS EIS IZESIE 
‚person = BE | & = BIERIERSE 38 BESSHllages 
ner FERaasMalsds Er 

0022 © & an | =98R r BR 

Kollmann |20- 13 | 168-841] 20-86 |209-83 366-1 |156-3!|3085-2]) 5-06 42-69 

Roolfs 38:25 |235-18?| 28-37 |301-80| 530-0 | 228-2 3164-4 7:21 43:05 

6:13 | 42-87 

Die Menge derselben beträgt 6:13 Prozent der Zufuhr und von der 


ganzen Masse des Kotes entfallen 42-9 Prozent auf die Stoffwechsel- 
produkte. 
Für die N-haltigen Bestandteile zeigt sich nachstehendes. 


Klopferbrot. 

In der Zellmembran ı» 2 A 
= m 5ulö.s|s,|28,|s7843 
Versuchs- SSH Se TE |n24|73 |5282|1527 93% 
5) 5 OH Ar ee ESTER ZI 
person „e| 9 Imersz Venors era als Eror | 9,2 8 ers 
Se8lMlolıSo U te ie „N ls5Alaeee 
Berl 515% | A En > ae 

Kollmann || 18-08| 73-8| 13-34 | 2-13 | 3-93 | 1-80 |12-14| 17-54 45.86 

‚Roolfs 18-21|101-7|18-51| 2-96 | 5-40 | 2-44 |12-45| 23-77 44:44 


20:65 | 45-12 
45-1 Prozent des Gesamt-N des Kotes entfallen auf Stoffwechsel- 
produkte; der Proteinverlust beträgt 20-65 Prozent. 
Nun würde noch ein Vergleich der beiden Brotsorten vorzunehmen sein: 


SERTEr EEE: 
a 2 ee 48 | H5% 
Sasn2|lsEs8 22288 0333 38 
szsasE I swor | SN2<S2 | 5 n<a5 |S NE 
” See Mo» Eu I Hg eg Be =." 
Bsara|lsdaa SSära STErA ES2 
NEAR Sa Se 
Klopferbrot . . ROT 43-87 17:04 45-12 | 20-65 
75 Prozent Ausmahlung . | 5-37 44-86 12-64 41-70 17:74 
1 Aus Zellmembran 91-47 2 Aus Zellmembran 127-83 
» Protein lat! »» Protein 107-35 


168.84 235:18 


304 Max RUBNER: 

Durch die Vermehrung der Zellmembran von 75 Prozent Ausmahlung 
(4-54 Prozent) auf 94 Prozent Ausmahlung (6-23 Prozent) ist an sich der 
Zuwachs an Zellmembran nicht wesentlich gewachsen. Daher sind auch 
die Ausschläge der Verdaulichkeitsänderung nicht groß. Im Klopferbrot 
ist die Menge der Stoffwechselprodukte etwas gestiegen, dagegen hat relativ 
die Menge des Unverdaulichen noch rascher zugenommen, daher ein Sinken 
des Anteils der Stoffwechselprodukte von 44-86 auf 42-87 Prozent; noch 


etwas ausgeprägter ist der Unterschied bei der N-Ausscheidung, so daß 


auch in der Relation (41-7: 45-12) ein Ansteigen sich findet. Die Protein- 
ausnützung sinkt, weil die N in der Zellmembran zugenommen hat. 
Somit steht das Ergebnis in wohlverständlichem Zusammenhang. 


Die vorliegenden Versuche ergeben auch die Möglichkeit, die Rück- 


wirkung des Zusatzes der „‚Kleie“ näher zu beleuchten. Da bei beiden 
Versuchspersonen sowohl die Ausnützung des Mehles von 75 Prozent Aus- 
mahlung wie des Klopferbrotes von 94 Prozent Ausmahlung festgestellt 
wurde, läßt sich der Einfluß der Kleie durch Rechnung annähernd finden. 
Unter Kleie ist hier nur der Anteil an Mehl gemeint, welcher in einem 
Brot aus 94 Prozent Ausmahlung mehr vorhanden ist als in einem solchen 
von 70 Prozent Ausmahlung. 


Zweck der Berechnung ist die Erledigung der Frage, in welchem 
Maße dieses Kleiemehl im allgemeinen ausgenützt wurde oder ob es ein- 
fach unausgenützt blieb oder etwa sogar die Ausnützung des Mehles von 
79 Prozent Ausmahlung gestört hat. Für die eine Person K. kann man 
auch ohne alle weitere Rechnung die Antwort geben, die Ausmahlunges- 
quote 75 Prozent bis 94 Prozent ist gut ausgenützt worden; für die 
Person R. läßt sich auch ohne weiteres sagen, eine Störung der Verdauung 
bis zu einem Schaden der Gesamtresorption liest sicher nicht vor. 


Eine Berechnung der Verdaulichkeit dieses Kleiemehles könnte man 


etwa in folgender Weise durchführen: 


Bei der Ausmahlung wurde geliefert 94- ee Mehl bzw. 


“Oprozentiges Mehl. In dem Mehl von 94 Prozent Ausmahlung sind 
enthalten 75 Teile = 79-4 Prozent Mehl von 75 Prozent Ausmahlung, 
20-6 Prozent sind also zu weiterer Behandlung abgeschieden worden und 
nachher wieder dem Vollkornbrot beigemischt worden. Man kann aus 
der Analyse des Brotes von 94 Prozent Ausmahlung und von 75 Prozent 
Ausmahlung also annähernd entnehmen, wie die Art des Mehles gewesen 
ist, welches für die Feinmahlung der Kleie gedient hat, vorausgesetzt, daß 
sich beim Backprozeß keine wesentlichen Veränderungen ergeben. Die 
Berechnung ergibt folgendes: 


$ 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 305 


79-4 Tle. Brot 
100 Teile aus Mehl von 5 
Vollkornbrot 75 Prozent Kleie 20-58 


; \ Ausmahlung 
Nschesis des a 2-81 1:63 T-18 
Brsanıschs 7.2 AR Sie) 77:80 19-39 
EN ER en 1-67! 1-252 0-44 
Bentosana.zs.rı a. ee: 3-38 6-31 2-07 
rellmembran.. v2. wesen: 6:23 3-60 2-63 
Aeliwlosen- hr so.) wa 2-01 1-36 0-72 
'Pentosan der Zellmembran 2-57 1:15 1-42 
Bestsubstanz. ma, 2 1-65 1-06 0-50 
lei. Ve Se ET 2-02 1-31 0-71 
Starkes TEN ao: ARSBEnN 71-74 61-10 11-16 
ISaloniemrss rn ee eu en 424.20 332-20 92-00 


Aus Stab 3 kann man mit dem Vorbehalt eines Näherungswertes die 
Zusammensetzung des Mehles“zwischen 94 und 74 Prozent Ausmahlung 
wie folet annehmen: 


In 100 Teilen: 


AScheBmrse, ah 5-72 
Orsanıschge.e end. ae. 94.28 
EIN en RE I ET 2-133 
IPentosamı Mare u he mas er, 10-95 
Zellmenbrans ae: 12-76 
Zellulose. Ss an a, 3:45 
Pentosan der Zellmembran 6-89 
Debut ae le SSAE, 3-45 
Starker nn a 61-61 
Kalorien Na 44660 


Das Klopfermehl enthält also ein Mehl von 75 Prozent Ausmahlung, 
aber nicht einen Zusatz von Kleie, sondern ein Mehl, das in seinem - 
Zellmembrangehalt etwas über den Wert eines richtigen Vollkorns, in dem 
ich bis 11 Prozent Zellmembran in einem anderen Falle gefunden "habe, 
hinausgeht. 


Gehen wir zunächst auf das Ergebnis bei der Versuchsperson K. ein, 
so nahm diese 727 g Brot (trocken) im Tag auf, nach den oben gegebenen 
Verhältnissen ‘bestehen diese 727 g aus 577-3. Brot von 75 Prozent Aus- 
mahlung und 150 Teilen eines Mehles oben stehender Zusammensetzung. 
Berechnet man den Verlust im Kot für 577-3 g Brot von 75 Prozent Aus- 
mahlung und zieht diesen Wert von dem wirklich beobachteten Kotabfall 
‚bei 727 & Klopferbrotaufnahme ab, so bleibt als Differenz ein Zuwachs, 
der aus den 150 g Brot aus dem Mehl erhöhter Ausmahlung besteht. 


1 — 10-46 Protein. 
z 7:69 Protein. 
3 — 13-30 Protein. 
Archivf. A.u. Ph, 1917. Physiol. Abtlg. 20 


306 MAx RUBNER: 


Die Gesamtkotausscheidung bei Klopferbrot war 71-68 pro Tag 
Für 577-3 1 Brot von 75 Prozent Ausmahlung 
aa RN NE EDEL NE Ba. le ae 


Also für 150 g Mehl der Ausmahlung 75 bis 94 Proz. 16:6 g pro Tag 


Es ist also der überwiegende Teil dieses Mehles resorbiert worden. 


mare Klopierbrot 2.0.0 wen 2. 7280892 Kalumen 
577 g Brot von 75 Prozent Ausmahlung . . . 2415-0 “ 


150 & Mehl von 75 bis 94 Prozent Ausmahlung 672-2 Kalorien 
1 dieses Mehles bzw. Brotes = 4-48 Kalorien. 


In den Ausscheidungen sind pro Tag: 


E | Pen- | Zel- | zei. K 
Ascheı N mem- Stärke| Kalorien 
| tosan b lose “ 
| ran 
für 727 g Klopfermehl 6:75 | 3-SO |11-86 | 23-24 | 8-73 | 5-12 | 381-5 
» 577 8 Mehl 75 prozentiger 
Ausmahlung ER N SEN 3:96 | 2-61 | 8-74 | 17-52 | 7-89 | 5:18 | 270-7 
Differenz: | 2-79 | 1-29 | 3-12| 5-72| 0-s2 | — | 110-8 
Daraus würden sich ergeben als Verlust des Mehles von 75 bis 


94 Prozent Ausmahlung: | 
32-5 Prozent für Asche 


WO. .„„ Kalorien 
AU UN 
210 a ‚„„. Zellmembran 


Ale „„ Zellulose 

; 0 „. Stärke 

Diese Werte sind zweifellos zu günstig, wie man besonders aus dem 
Verhalten der Zellmembran und Zellulose ersieht, denn diese Substanzen 
können in dem Mehl zwischen 75 und 94 Prozent unmöglich besser ver- 
daulich sein wie im Brot aus Mehl von 75 Prozent Ausmahlung. Das 
Ergebnis zeigt nur, daß die Verdaulichkeit in beiden Versuchen durch die 
unvermeidlichen Schwankungen solcher Experimente das Resultat etwas 
verschoben haben. Ein geringer Unterschied von 1 bis 2 Prozent der 
Gesamtverdaulichkeit übt in dieser Differenzrechnung einen wesentlichen 
Einfluß aus. | 

Die zweite Versuchsperson R. verhielt sich etwas anders, sie nützt 
das Klopferbrot um mehrere Prozente schlechter aus wie Person K. Wie 


1 Verlust 9-54 Prozent der Trockensubstanz. 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 307 


verhalten sich bei dieser Person die Ausscheidungen, welche auf die Kleie 

entfallen? Die Versuchsperson hatte 746 & Brot (Klopfer) aufgenommen, 

in welchen 592 Teile Brot von 75 Prozent Ausmahlung vorhanden sind. 

Die direkt beobachteten Ausscheidungen bei Vollkorn und die berechneten 
' für 592 g 75prozentiges Brot sind nachstehend zusammengestellt. 


Asche N Pentosan u Ziel | Stärke | Kalorien 
membran lose 

7.07 | 5-40 | 15-20 31-18 | 11-10 | 9-33 530 | 75 Proz. 
4-51 2-92 10-91 18-25 Bel dl 312 Kleie 
BD aa 1233" 2.32 Biel — 

Die Gesamtkotmenge bei Vollkorn betrug... ..:.. 101-7 g 

Die berechnete für 592 g Töprozentiges Brot ... . . . 61-68 

Rest... . 40-18 


Die Menge der Kleie im Vollkornbrot war 154g (3-27 N, 691 Kal., 
19-68 Zellmembran); es ergeben sich folgende Zahlen für die Verluste: 


NN De a N nn. 75-8 Prozent 
Kalorien 43. ...48.. 2. .2..,3134 

= zellmembran ® 2.0 0 2...265-9 
SEAL ke. ren, Dia 


In diesem Falle hat sich also die Zugabe der Kleie als nicht so ertrag- 
reich ergeben, vor allem nicht mit Bezug auf den N, auch nicht mit Bezug 
auf die Zellmembran; man darf annehmen, daß die höheren Verluste an N 
jedenfalls mit der geringen Aufschließung der Zellmembran in 
einigem Zusammenhang stand. Im ganzen genommen zeigt sich aber, 
daß das Mehl von 75 Prozent Ausmahlung bis 94 Prozent immerhin noch 
erhebliche Nährwerte geliefert hat, jedenfalls aber keine Störung der 

. sonstigen Verdauung des Mehles von 75 Prozent Ausmahlung herbeiführte. 

Aus beiden Versuchen würde sich demnach als Verlust dieser Kleie 

ableiten lassen: ia 


Ankalorreni N. 2 23.9 Prozent 
N RO ie «ae se a 
Rellmenailoran.: Same re en ce 

EUSTATKE. ra ee! oaloer 


Der Mehlanteil von 75 Prozent bis 94 Prozent Ausmahlung dieser Art 
bringt also noch 19 Prozent mehr an Nährstoff, und wenn auch ein 
mittlerer Verlust dieser Kleie von 23-9 Prozent der Kalorien nicht gerade 

20* 


308 Max RuBNER: 


einen günstigen Nährstoff bedeutet, so ist der Gewinn, im allgemeinen 
betrachtet, immer noch beachtenswert, allerdings muß man, wie die Un- 
gleichheiten beider Personen zeigen, auch mit einem minderen Erträgnis 
der Ausnützung rechnen. Immer wieder kehrt in den populären Schriften 
die Behauptung wieder, hohe Ausmahlung sei schon wegen des steigenden 
N-Gehaltes des Mehles erwünscht, die Antwort des Experimentes zeigt, 


daß trotz feiner Vermahlung ein Verlust von 58-6 Prozent entstanden ist. 


Wenn man daneben Ausnützungsverluste für Eiweiß von 2-5 Prozent bei 


anderen Nahrungsmitteln sieht, so bedarf es keiner weiteren Begründung, 


einen Verlust von fast 60 Prozent als außerordentlich groß zu bezeichnen. 


Die Zellmembran wurde dabei sogar noch relativ gut resorbiert, also viele ' 


Kleiezellen aufgeschlossen; trotzdem bleibt die Resorption so ungünstig, 
es liegt das eben in der Natur der Zellmembranumhüllung des Kleie- 
eiweißes, neben der Mehrung der Stoffwechselprodukte. 


Kurz zusammengefaßt ist also das Klopferbrot in seiner Herstellung 
tadellos, sowohl was die Art der Vermahlung anlangt, wie auch hin- 
sichtlich der Backweise, aber es ist kein Vollkornbrot im wahren Sinne 
des Wortes, sondern weitgehend dekortiziert. Es entspricht in seinem 
Zellmembrangehalt etwa einem auf 80 Prozent ausgemahlenen Mehl der 
sonst üblichen Herstellung. Durch die geschickte Ausmahlung wird eine 


Ausbeute an Mehl, wie ich näher ausgeführt habe, von 94 Prozent erreicht. 


Es liegt mir fern, zu behaupten, daß allemal der Gewinn an Mehl gegen- 
über der einfachen Vermahlung gleichgroß sein müßte wie gefunden wurde. 


Offensichtlich ist aber, falls das mittlere Ergebnis der 94prozentigen Aus- 


mahlung immer dasselbe bleibt, damit ein wesentlicher Vorteil im Gewinn 
an Nährstoffen zu erreichen. Für die Anhänger der wirklichen Vollkorn- 
brote allerdings würde es als vollwertig nicht gelten können. Die viel- 


fach schon bemerkte, von R. ©. Neumann besonders hervorgehobene 


Sonderstellung des Klopferbrotes hat damit seine Erklärung gefunden. 


1 
Protokolle über die Probevermahlung in der Vollkornmühle 
Dr. Volkmar Klopfer, Dresden-Leubnitz. 


In der Dr. Klopferschen Vollkornmühle dienen der Reinigung des 
Getreides ein Tarar mit Masnet, ein Trieur mit Nachtrieur, sowie zwei 
Schäl- und Bürstmaschinen, also die üblichen Vorrichtungen, die in jeder 
neuzeitlichen Mühle zu finden sind. Zur Ausführung des Mahlprozesses 
werden zwecks Zerkleinerung des Mahlgutes acht Schlagmühlen verwendet, 
und zwar vom Typ der Holzhausenschen ‘Aufschleßmaschine ‚Rekord‘. 
Die Sondereigenschaften, welche das Dr. Klopfersche Vollkornmehl anderen 


Mehlen gegenüber hat, soll u.a. durch die Benutzung von Schlagmühlen E3 


sa 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 309 


erzielt werden. Zwecks Sichtung des Mahlgutes folgt jeder der genannten 
Schlagmühlen eine Zentrifugalsichtmaschine. Die Art der Bespannung dieser 
Sichter ist so gewählt, daß sie der Verleihung der Sondereigenschaften des 
Dr. Klopferschen Vollkornmehles dienlich sind. Die Bespannungen laufen 
parallel mit den feiner werdenden Schlitzlochungen der Schlagmühlen. 

Das Dr. Klopfersche Ziel bei der Herstellung seines Vollkornmehles 
ist folgendes: 

1. Der Mehlkern des Getreidekornes soll dem Mahlprozeß möglichst schnell 
entzogen werden, um eine Schädigung der Backfähiskeit durch Schliffig- 
mahlen zu verhindern. Er soll daher in möglichst griffiger Form und frei 
von Schalenteilen am Beginn des Mahlprozesses fallen. 

2. Die Schalenteile des Getreidekornes sollen im Mahlprozeß bis zum 

Schluß zurückgehalten werden. Sie werden dabei möglichst fein zermahlen, 
‘so daß sie in dem endsültigen Vollkornmehl sich in mehlfeiner bzw. fein- 
dunstiger Form finden. 
Die Sondereigenschaften des Dr. Klopferschen Vollkornmehles sind 
mithin ein als Vollkornmehl verhältnismäßig fein gemahlenes Mehl mit 
griffiser Beschaffenheit des Mehlkörpers und feiner Mahlung der Schalen- 
teile. 

Die Schlagmühlen sind mit Rosten versehen, welche siebartig gelocht 
sind. Das Mahlsut bleibt den Mahlscheiben so lange ausgesetzt, bis es den 
Zerkleinerungsgrad erreicht hat, der ein Entweichen durch die Rosten er- 
möslicht. In jeder Passage wird nun der weichere Mehlkörper des Getreide- 
kornes stärker zerkleinert als die zäheren Schalenteile. In jeder Stufe des 
Mahlprozesses sind daher auch die Schalenteile, welche die Rosten passieren, 
gröber als der größte Anteil der Mehlkörperteile. Durch geeignete Sichtung 
mittels Sichtmaschinen lassen sich daher die Schalenteile von den feineren 
Mehlkörperteilen trennen. . 

Durch die anfangs grobe Schlitzlochung der Schlagmühlrosten und 
durch die andennenlhatdken, ebenfalls anfangs groben Bespannungen der 
Sichtmaschinen wird gleich zu Anfang der größte Teil des Mehlkörpers in 
sriffiges Mehl verwandelt und dem weiteren Prozeß entzogen. Der immer 
schalenhaltiger werdende Rest muß in den folgenden Passagen feinere 
Rosten und Sichterbespannungen passieren, so daß es tatsächlich erreicht 
wird, daß die Hauptmenge der Schalenteile des Getreidekornes am feinsten 
zermahlen wird. 

Die große Wichtigkeit der Bespannung der Sichtmaschinen tritt enter 
„zutage. Die gewählte Sichterbespannung ist für das Dr. Klopfersche Voll- 
kornmehl wesentlich ; sie gewährleistet, verglichen mit den üblichen Handels- 
vollkornmehlen, ein Produkt feinerer Mahlung. 

Die Vermahlung erfolgt in sechs Passagen in der Weise, daß der 
1. Passage drei Mühlen und den folgenden Passagen je eine Mühle dient. 
Der Sichtübergang der 6. Passage läuft zur 4. Passage zurück, so daß da- 
‚durch ein Kreislauf erfolgt zwischen der 4., 5. und 6. Passage, welche das 
restlose Vermahlen des gereinisten Roggens verbürgen soll. Die Rosten der 
1. Passage sind mit 1-5 mm Schlitzlochung am gröbsten. Es folgen die 
mittleren Passagen mit 0:75 mm, während die Rosten der letzten Passagen 
- 0-5mm Schlitzlochung aufweisen. Hierzu parallel sind die Sichterbespan- 


310 Maıx RUBNER: 


nungen am Anfang Seidengaze Nr. 4 in den mittleren Passagen Nr. #, 5, 6 
Ba zum Schluß Nr. 6 al ur 

Die im dortigen 'Auftrage durchgeführte Vermahlung erkolkte ie 
32 Sack Roggen, welche 2468-5 kg an enthielten. Der Roggen war von 
normaler gesunder Eschen und besaß ein Hektolitergewicht von 
74-6kg bei einem Feuchtigkeitsgehalt von 14:70 Prozent. Der Aschen- 
gehalt des Roggens betrug 1-83 Prozent in Trockensubstanz. Der fertig 
gereinigte Roggen hatte ein Hektolitergewicht von 79-40 kg bei 14-66 Prozent 
Feuchtigkeitsgehalt, der Aschengehalt war auf 1-73 Prozent gesunken. 
Dieser gereinigte Roggen wurde im nachfolgenden Mahlprozeß restlos in Mehl 
verwandelt, so daß dieses Mehl ea ebenfalls einen Aschengehalt von 
1-73 Prozent haben müßte. 

Der Reinigungsabfall betrug 5-5 Prozent. Es ist zu berücksichtigen) 2 
daß die in dem Reinigungsabfall enthaltenen Keime durch Putzen und 
Sichten für sich gewonnen werden und nach erfolgter Entbitterung im fen 
semahlenen Zustande dem Vollkornmehl wieder zugesetzt werden. Die 
Menge der gewonnenen Keime beträgt nach Angabe der Mühle im Durch- 
sch) 1 Prozent, auf den ungereinigten Roggen gerechnet, so daß infolge- 
dessen der Reimigunssabfall nur auf 4:5 Prozent zu bewerten ist. Bei der 
Vermahlung des Roggens zu Mehl wurden die fertigen Produkte jeder 
Passage für sich abgefangen. Die technischen Einrichtungen der Mühle 
bedingen es, daß, da die fertigen Erzeugnisse der 1. und 2. Passage infolge 
nachträglicher Änderung in eine gemeinsame Sammelschnecke laufen, diese 
beiden Passagen gemeinsam mittels eines Absackstutzens angefangen werden 
müssen. Tin Messen wurden getrennt abgesackt aus den sechs Passagen 
nachfolgende fünf Mehle: \ 


ee Asche Prozent- 
Mehl der S Th mengen Ausbeutegrenzen 
kg Prozent Prozent 
1 mmol 2. ass | mens 1-19 | 65-15 0 bis 65-15 
415-8 2-23 | 16-85 65-15 ‚, 82.00 
4. b5 228-3 3:78 9.25 82:00 ,„, 912g 
5. Kr See 4-71 2:34 91-25 „ 93:59 75 
6. Br 20-3 5-48 0-83 93-59 „ 94:42 
94-42 
Dazu gemahlene Keime 1:99 . 1-00 
Etwa . 95-42 


j) 


Durch Mischen der sechs Passagen ergibt sich also eine Ausbeute von 
94-32 Prozent. Rechnerisch besitzt ses Gesamtmehl einen Aschengehalt 
in der Trockensubstanz von 1-76 Prozent. Es sollte, da es ja gereinigtem 
Roggen entspricht, einen Aschengehalt von 1-73 Prozent besitzen. Mithn 
ist genügende Übereinstimmung vorhanden und das Mehl als restlos ver- 
mahlenes Dr. Klopfersches Vollkornmehl anzuerkennen. Dem Mehl wurden 
noch fein gemahlene entbitterte Roggenkeime wie üblich im Verhältnis 1:99 
aisenmnach, wodurch der Aschengehalt dieser Mischung etwas erhöht und 
durch Analyse auf 1:77 Prozent ermittelt wurde. | 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. Sa! 


Der Verlust durch Verdunstung und Verstaubung konnte nicht zu- 
verlässig ermittelt werden. Ein Versuch in dieser Beziehung führte zu 
keinem normalen Ergebnis. Der endgültige Versuch wurde in der Weise 
durchgeführt, daß die Mühle zunächst von der Roggenpost, aus der der 
Versuchsroggen entnommen worden ist, 12 Stunden hintereinander ver- 
mahlte, dann setzte der Versuch ohne Unterbrechung ein. Es ist mit 
einem mittleren Verlust von 2 Prozent zu rechnen, der sich aus !/, Prozent 
Reinigungsverlust und 1!/, Prozent Mahlverlust zusammensetzen dürfte. 
Unter dieser Voraussetzung ergibt sich für das fertig gemischte Dr. Klopfersche 
Vollkornmehl eine Ausbeute von rund 94 Prozent. 

Es folgen anbei Muster: 

1. des Roggens ungereinigt, 

2. des Roggens gereinist, 

3. des Dr. Klopferschen Vollkornmehles O bis 94 Prozent, 

4. des Vordermehles O0 bis 75 Prozent, h 

5. der Roggenkeime, entbittert und gemahlen. 

Von den Mehlen unter 3 und 4 stehen für Ausnützungsversuche je 
etwa 30 kg zur Verfügung. 

gez. Buchwald. 


Hindhedes Untersuchungen über Klopferbrot und Kleie. 


In einem Artikel! hat Hindhede sich auch über das Klopferbrot 
ausgesprochen. Schon 1913 hatte Boruttau? Versuche über das Klopfer- 
brot ausgeführt, wobei auf die feine Vermahlung der Kleie bei dieser 
Brotart hingewiesen wurde, und er hat Hindhede ersucht, das gleiche 
- Brot auch zu prüfen. 

Bei solchen Vergleichen muß man aber bedenken, daß sie in Über- 
einstimmung und Verschiedenheit nicht allzu viel beweisen, weil man bei 
einer Handelsware natürlich nie sagen kann, ob die Ware jedesmal gleich 
beschaffen war. Der an zwei Personen von Hindhede ausgeführte Aus- 
nützungsversuch bietet an und für sich dasselbe Interesse wie der Versuch 
von Boruttau, ohne daß das eine oder das andere Experiment als ein 
allgemein entscheidendes anzusehen wäre. 

Hindhede verfütterte an seine beiden Versuchspersonen, die seit 
Jahren dieselben geblieben sind, in einem Falle etwa 1016, im anderen 
766 5 Brot täglich unter Zugabe von 158g und 9-83 g Margarine täglich, 
im ersten Falle also ungemein viel Fett, d.h. an einem Tage so viel als 
jetzt eine Person in 14 Tagen verzehrt. Hindhede sast, das Ergebnis 
sei außerordentlich günstig gewesen, weit besser als mit geschrotetem Voll- 
kornbrot, etwa so gut wie bei halbgesiebtem Roggenmehlbrot. Da Hind- 


1 Das Ganzkornbrot. Zeitschr. f. phys. u. diät. Therapie. 1914. 8. 287. 
?2 Ebenda. 1913. 


312 MıAx RuBNeEr: 


hede in die Ausnützung auch das Fett der Nahrung mit hineinrechnet, 
was unzulässig ist, werden die Versuche etwas unübersichtlich. Ich will 
auch, da Hindhede noch nicht zur Kalorienberechnung übergegangen 
war, die Ergebnisse seiner Versuche auf Grund meiner Versuchswerte um- 
rechnen; dann wäre unter Beiseitelassung des Fettes der Verlust bei 
Hindhede: 


Person F. M. 10-94 Prozent der Kalorien und 24- >0 Prozent des 5 
H.N#10-2077% Br > el 54 


bei meinem Versuch wurde erhalten: 


Person K. 11-96 Prozent der Kalorien und 32-37 Prozent des N 
e) N. 16-87 ” > 2 ” 43-37 


Meine Person K. stimmt also — unter der Voraussetzung, daß die Mehle 
gleich beschaffen waren — mit der einen Person H.M. bei Hindhede 
überein. Etwas ganz Auffallendes aber ist der geringe N-Verlust bei F. M. 
Hindhedes, wie er nie bei so hochgradig ausgemahlenem Roggenmehl 
sonst beobachtet worden ist. Meine Person R. ertrug das Brot, aber 
keineswegs so gut wie K., vor allem weil die Zellmembranverdauung ver- 
sagte, ein Vorkommnis, für das sich auch andere Beispiele finden lassen, 
wenn man mehrere Personen in den Kreis der Versuche zieht. 
Hindhede nennt den unmittelbaren errechneten Verlust den ‚‚schein- 
baren“. Gegen dieses Wort muß Verwahrung eingelegt werden. Man kann 


2? 77 2» 


hier nicht von scheinbaren und wirklichen Verlusten reden. Wenn man 


den Verlust der Zellmembran, den der Stärke, den des Pentosans, den 
der Zellulose usw. bestimmt, so sind das keine scheinbaren, sondern 
ganz reale Größen; bei der Zellmembran und der Zellulose kann man ja 
die Objekte, wie sie sind, direkt darstellen. Wieso das aber nur schein- 
bare Dinge sein sollen, ist völlig unverständlich. Hindhede berücksichtigt 
dies also nicht, er will aber das Unverdaute von den Stoffwechselprodukten 
in der Art trennen, wie ich das 1877 versucht hatte, indem ich eine gut 
resorbierbare Pflanzenkost, die N-frei war, verabreichte, um zu sehen 
wieviel N auf die Verdauungssäfte kämen. Für die’neuen Versuche habe 
ich ja einen anderen Weg eingeschlagen. Hindhede rechnet also 
approximatiy eine gewisse, aber nicht begründete Menge von Substanzen 
als Stoffwechselprodukt, d.h. 18 g Trockensubstanz, 18 N und 5 g ‚‚Rest“, 
was eine Willkür ist, da in den verschiedenen Versuchen die Verhältnisse 
sanz verschieden liegen. Er sagt „‚‚rechnen wir wie vorher“, wo dies 
vorher aber gewesen ist, läßt sich nicht feststellen. Für den Ersatz von 
Kalorien oder des N hat dieser Verlust erst recht Bedeutung; was ver- 
loren ist, muß in der Ernährung ersetzt werden. Das Wort ‚scheinbar‘ 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 313 


ist also fallen zu lassen, man kann aber in jedem einzelnen Falle den 
Verlust der einzelnen Nährstoffe und der Stoffwechselprodukte für sich 
_ feststellen, wie ich gezeigt habe. Der ‚wirkliche‘ Verlust Hindhedes 
hat also keine ‚‚wirklichen“ Unterlagen und die darauf sich gründenden 
Angaben haben heute keine Berechtigung mehr. 

Im Zusammenhang mit dieser Arbeit ist unter dem Titel „Die Ver- 
daulichkeit der Kleie‘‘! eine weitere gefolgt, in der das Klopferbrot noch- 
mals erscheint und mit zwei anderen Versuchen einen Ausnützungsversuch 
mit einem Vollkornmehl und einer 75prozentigen Aussiebung desselben 
Mehles die Unterlage zu vielen Berechnungen gibt. 

Zur Richtigestellung möchte ich bemerken, daß von mir? ein Artikel 
_ über Pentosan und Zellhüllen des Brotgetreides veröffentlicht wurde, der 
die nähere Zusammensetzung der Kleiezellmembran selbst, das Verhältnis 
der Pentosanverbindung, Beschaffenheit des Mehles, und ein zweiter Artikel 
über die Ausnützbarkeit der Zellmembran der Kleie erschienen ist, der 
die Verdauung der Zellmembran schildert, denn darum handelt es sich 
'im wesentlichen. Die Kleiezellmembran erwies sich als ‚wesentlich leichter 
verdaulich als Birkenholz. Am schlechtesten wird die Zellulose resorbiert, 
etwas besser die Pentosane der Zellmembran. Eine stärkere Mehrung der 
Stoffwechselprodukte war nicht nachzuweisen. In den Harn gehen nur 
kleine Mengen Pentosan über, obschon durch Kleie enorme Mengen zu- 
geführt werden können. Jenach dem Ausmahlungsgrad sind sehr wechselnde 
Mengen von Kleiezellmembranen in der sogenannten Kleie, dem Gemische 
von Mehl und Zellmembran. Als Maximum fand ich in einem Vollkorn- 
mehl bis 11 Prozent (reine) Zellmembran. 

In seiner Zusammenstellung erwähnt Hindhede nur die Versuche 
von Plagge und Lebbin (1897), die allerdings die einzigen sind, bei 
welchen ein aus Kleie direkt hergestelltes Brot vom Menschen verzehrt 
wurde; die beiden Autoren werden zumeist durch Hindhedes Kritik hart 
vorgenommen. 

„Den Grund zu den schlechten Resultaten,‘ sagt Hindhede ven 
den Versuchen von. Plagge und Lebbin?, ‚‚bei sozusagen allen Brot- 
versuchen dieser Verfasser habe ich früher zu erklären versucht durch 
den gleichzeitigen Bierverbrauch (2 Liter), die ungünstige Abgrenzung und 
die kurzen Versuche.‘ Was den ersten Punkt anlangt, so rührt dieser 
Gedanke gar nicht von Hindhede her, sondern von Bunge; seine Un- 
richtigkeit ist längst abgetan. Auch meinen Personen, die ich seinerzeit 


[4 


1 Skand. Archiv. 1916. S. 59. 
2 Dies Archiv. 1915. S. 120ff. 
3 Skand. Archiv. 1916. S. 68. 


314 Max RuBnERr:' 2 
s| 
in München untersucht hatte, mußte ich die lokale Konzession eines N 
mäßigen Biergenusses gestatten, es hat sich aber bei Wiederholung mancher E 
Versuche auch ohne jeden Alkoholgenuß herausgestellt, daß dadurch die f: 
Ausnützung nicht im geringsten geändert wurde. Ebenso unrichtig ist, 4 
daß mit der Länge der Dauer die Ausnützungsergebnisse besser werden. RN 
Bei ordnungsgemäßer Abgrenzung sind störende Fehler nicht zu erwarten. E 
Die Dauer der Versuche hängt eben von dem Einzelfalle ab, die 5 
Aberenzung von der richtigen Technik. An und für sich hat man also 5 
gar keinen Grund, die Versuche von Plagge und Lebbin, wenn sie etwa 4 
einmal von Hindhedes anderweitigen Versuchen abweichen sollten, als 
unverwertbar zu bezeichnen. Ob und inwieweit die Versuche von Plagge 
und Lebbin wirklich in den Resultaten von anderen abweichend sind, 
will ich später besprechen und hier mich nur auf die Bemerkung be- 4 


schränken, daß die Gründe von Übereinstimmung und Abweichung ganz 
andere sind, als Hindhede gemeint hat. i 

Plagge und Lebbin haben also ihre Versuche mit Handelskleie ge- 
macht, ob Weizen- oder Rosgenkleie, ist nicht angegeben, vielleicht lag 
eine Mischung beider vor. Im allgemeinen wird die Kleie der Kornrest 
nach einer 70- bis 75prozentigen Ausmahlung gewesen sein. 

Diese Versuche hat Hindhede nicht nachgemacht, sondern er hat 
die Verdaulichkeit so festgestellt, wie ich es früher getan hatte. Er ver- 
glich einen Versuch mit Vollkornbrot mit einem zweiten Versuch mit 
halbgesiebtem Mehl aus demselben Vollkorn, also etwa 98 Prozent Aus- 
mahlung gegen 70 Prozent Ausmahlung. Durch Subtraktion erhält er 
dann die betreffenden Werte für seine Kleie. 

Auch dieses Verfahren ist wieder nicht neu, denn ich habe es schon 
1883 in einer Abhandlung über den Wert der Weizenkleie angewandt. 
Ich habe damals neben eingehenden Angaben über die Resorption der 
Kleieanteile festgestellt, daß sowohl vom N der Kleie wie von den Kohle- 
hydraten resorbiert worden war, daß die Zellmembran zerfällt und eine 
Störung der Resorption der übrigen Brotbestandteile nicht einzutreten 
braucht. Dies ist durch die neuen Versuche des Jahres 1915 im einzelnen 
von mir bestätigt worden. ' 

Hindhede erwähnt von alledem nichts. Ich habe schon bei ver- 
schiedener Veranlassung diese literarischen Unterlassungssünden Hind- 
hedes gebührend in die Öffentlichkeit gebracht. 

Aus seinem Versuchspaar Vollkorn geschrotet und halbgesiebt be- 
rechnet er für seine beiden Versuchspersonen einen Verlust an Trocken- 
substanz 45 Prozent, an N 60 Prozent, während Plagge und Lebbin 
42-35 und 56-2 Prozent fanden. | 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER \VOLLKORNBROTE. 315 


Diese Übereinstimmung verdient insofern Beachtung, als hier durch 
Hindhede vollkommen bestätigt wird, was Plagge und Lebbin schon 
1897 angegeben haben. Es darf auch nicht vergessen werden, daß 
Poggiale schon 1850 die Menge der nicht verwertbaren Stoffe der Kleie 
auf 56 Prozent angegeben hat. Aber die Werte schwanken wie die Aus- 
mahlung. Ich verweise da auch auf meine Ergebnisse bei dem Klopfer- 
brot, auf die Versuche mit 94 Prozent Ausmahlung usw. Hindhede hatte 
erwartet, daß die Kleieversuche von Plagge und Lebbin eine bessere 
Ausnützung zeigten, weil ihre Kleie feinst vermahlen war. Im Grunde 
genommen sind die beiden Versuchsarten grundverschieden; Plagge und 

 Lebbin haben wirklich nur Kleiebrot verzehrt. Hindhede hat aber die 
Kleie als Bestandteil. seines Vollkornbrotes gehabt und, wie man bei 
Durchsicht der Originalzahlen sieht, überhaupt weniger Kleie pro Tag 
verzehrt als bei Plagge und Lebbin, wo 327 bis 440 & Trockensubstanz 
im Tag aufgenommen wurden. Es will aber Hindhede nicht in den 
Kopf, daß die Feinvermahlung der Kleie bei Plagge und Lebbin so- 
gar keine Erleichterung der Resorption geschaffen haben sollte. Dabei 
kommt er wieder auf das Klopferbrot, das er jetzt mit seinem Vollkorm- 
/scehrotbrot vergleicht. Er weist nach, daß letzteres viel mehr Kot liefert, 
also ist der Beweis für die Wirkung der feinen Ausmahlung fertig. Ich 
habe in der vorhergehenden Abhandlung bewiesen, daß Klopferbrot gar 
kein Vollkornbrot ist, vielmehr recht mäßige Mengen Zellmembran ent- 
hält, daher die gute Ausnützung. Hindhede nimmt also ohne weiteres 
an, er habe ein Klopferbrot, das feinst vermahlene Vollkombrot vor sich, 
„er habe auch in Deutschland Gelegenheit gehabt, sich in die Herstellung 
hineinzuversetzen“. 

Daß Hindhede die ganze Fabrikation gesehen hat und es trotz- 
dem für ein Vollkornbrot hielt, beweist, wie wenig er die sich ab- 
spielenden Prozesse richtig zu beurteilen verstand. Da es sich also über- 
haupt um kein Vollkornbrot handelt, so sind die von Hindhede an- 
gestellten Berechnungen und die daraus gezogenen Schlußfolserungen völlig 
gegenstandslos, nämlich dahingehend, daß das Klopferbrot die Beweise 
bringe, daß fein verteilte Kleie leicht resorbierbar sei. Als Ergebnis der 
Versuche Hindhedes bleibt wesentlich das schon erwähnte Ergebnis, daß 
‚sein Kleieversuch eine etwas schlechtere Ausnützung liefert wie der von 
Plagge und Lebbin. Der Versuch von letzteren bedeutet einen Energie- 
verlust von 52-44 Prozent und einen N-Verlust von 56-32 Prozent. 
Dabei ist aber nicht möglich anzugeben, wieviel resorbierbare Substanz 
auf verdaute Zellmembran trifft, ebensowenig wie bei Hindhede; die 
verdaute Zellmembran ist aber kein ‚„‚vollwertiger‘‘ Nährstoff,.da ja der 


316 Mıx RUBNER: 


Gärverlust noch in Abrechnung zu stellen wäre. Der Nutzeffekt ist also 
noch geringer. Wenn Plagge und Lebbin sagen, der angeblich hohe 
Nährwert der Kleie ist eine Fabel, die aus der Ernährungslehre schwinden 
muß, so sagt Hindhede, obschon er noch etwas weniger Verdaulichkeit 
gefunden hat als Plagge und Lebbin, das Umgekehrte: ‚Der angeblich 
geringe Nährwert der Kleie ist eine Fabel, die aus der Ernährungslehre 
schwinden muß.“ Da Hindhede selbst gar keine weitere Tatsache ge- 
funden hat, als lange vor ihm bekannt war, so bleibt es jedem über- 
lassen, wie er über ein Nahrungsgemenge urteilen will, das zu mehr als 
der Hälfte unverdaulich ist. Hindhede zitiert am Schluß seiner Ab- 
handlung eine Äußerung, die ich in einem Artikel! über die Verwertung 
der Kleie gemacht habe. Abgesehen davon, daß ich mich darüber, ob 
man die Kleie im Brot lassen oder verfüttern soll, schon 1883 geäußert 
habe, sind die nur Deutschland interessierenden Probleme ausführlich 


in dem Buch von Eltzbacher?, an dem ich nicht unwesentlich beteiligt 


bin, besprochen. Man muß zur Beurteilung dieser Fragen die ganze Sach- 
lage kennen, um ein Urteil fällen zu wollen, wann es zweckmäßig, erlaubt 
oder notwendig ist, die Kleie als Viehfutter zu benutzen. Darüber mich 
mit .Herrn Hindhede auseinanderzusetzen, dem die Einsicht in unsere 
Verhältnisse fehlt, habe ich keinen Anlaß. 


Das Finklerbrot. 


In neuester Zeit ist in der Literatur mehrfach von einem Mahlverfahren 
die Rede gewesen, das vor längerer Zeit von Finkler angegeben worden 
ist. Dieses Brot wird geradezu als ‚‚das Brot der Zukunft‘ bezeichnet.? 
Anlaß zu dieser erneuten Empfehlung des Finklerbrotes, das ja schon seit 


8 Jahren bekannt ist, ohne bisher in der Praxis sich eingeführt zu haben, 


scheinen Versuche gegeben zu haben, welche -v. Delcastello in der 
II. Medizinischen Klinik in Wien an einer Reihe von Patienten ausgeführt 
und mitgeteilt sind.* 

Finklers Angaben rühren aus dem Jahre 1910° her. Er knüpft an 


1 Deuische med. Wochenschr. 1915. 

2 Die deutsche Volksernährung. 1914. S. 115. Das Erträgnis einer Verfütterung 
an Tiere ist ganz ungleich, je nachdem man es mit Schwein oder Rind, und ungleich 
je nachdem man es mit Fleisch- und Fett- oder Milchproduktion zu tun hat, 
ungleich auch, je nachdem man das Erträgnis auf Gesamtfutter oder Zusatzfutter 
rechnet. Das scheint Hindhede nicht ganz klar zu sein. 

3 Stocklasa, Das Brot der Zukunft. Jena 1917. 

4 Zeitschr. f. phys. u. diät. Therapie. 1917. Bd. XXI. 8. 73. 

5 Zentralblait f. allgemeine Gesundheitspflege. 1910. Bd. XXIX. 8, 241. 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 517 


meine Beobachtungen über die Ursachen der schlechten Ausnützung des 
Eiweißes in den Kleiezellen an, welche erwiesen hatten, daß es die Ein- 
schließung dieses Eiweißes in die für Fermente offenbar schwer oder nicht 
durchgängigen Zellen ist, wodurch die Resorption dieses Eiweißes unmög- 
lich gemacht wird. Auch durch künstliche Verdauung konnte ich nur 
einen Teil des Kleieeiweißes lösen.! Später haben Plagge und Lebbin 
die Vermahlung von Kleie möglichst weit getrieben, ohne aber eine 
günstige Ausnützung des N zu erreichen. Ob ihre Versuche aber als 
entscheidend für die Frage der Löslichkeit oder Unlöslichkeit des Kleie- 
eiweißes in vollem Umfange anzusehen sind, scheint mir nicht ganz sicher 
zu sein; sie haben wohl bewiesen, daß eine nutzbringende Verwertung 
des N nicht möglich war, doch wäre es denkbar, daß erhebliche Teile des 
im Kot nachgewiesenen N von Stoffwechselprodukten herrühren. _ 
Jedenfalls hat Finkler, hieran weiter anknüpfend, geglaubt, ein 
anderes Verfahren als die trockene Zerreibung der Zellmembran anwenden 
zu müssen, und ist zur feuchten Vermahlung übergegangen, was allerdings 
kein neuer Gedanke war, da die feuchte Zertrümmerung des Kornes schon 
vor ihm in dem sogenannten Gelinkverfahren — ohne Erfolg — an- 
gewendet worden war. Finkler glaubt in der feuchten Zermahlung der 
Kleie den Weg gefunden zu haben, die Zellmembran der Kleie frei von 
dem Kleieeiweib zu machen, stützt sich auf den mikroskopischen Befund, 
der bei seiner Art der Vermahlung leere Kleberzellen zeigt, und auf die 
künstlichen Verdauungsversuche, welche die weitgehendste Auflösung des 
Eiweißes dieses aufgeschlossenen Kleieeiweißes erkennen ließen, und endlich 
auf Ausnützungsversuche, bei welchen Brot aus Mehl und aufgeschlossener 
Kleie (Finklermehl) eine ebenso günstige N-Ausnützung wie bei anderem 
Brot, das aus Mehl z. B. von 75 Prozent Ausmahlung hergestellt sei. 
Wenn man so den Plan Finklers, zur Verbesserung der Resorption des 
Eiweißes zu gelangen, wohl billigen kann, so ist das freilich nicht die 
Erledigung des ganzen Problems, da man ja immer noch mit einer Störung 
der Resorption durch die Zellmembran im allgemeinen vielleicht rechnen 
muß. Ich habe aber zuerst nachgewiesen, daß die vor meinen Unter- 
suchungen allgemein verbreitete Annahme, unverdauliche Beimengungen 
zur Nahrung bedingten stets eine allgemeine Verschlechterung der Aus- 
nützung, nicht richtig ist; ferner habe ich gezeigt, daß von dem, was man 
Kleie heißt, ein erheblicher Anteil resorbierbar ist, aber immerhin ist das, 
was die Kleie in sich vereint, schlechter resorbierbar, auch die sonst 
1 Delcastello behauptet, daß mir die befriedigende Zerkleinerung der Kleie 


nicht gelungen sei. Ich habe mich mit Zerkleinerungen der Kleie nie beschäftigt. 
Delcastello scheint die Originalarbeiten wohl nicht gelesen zu haben. 


318 Max RUBNER: 


p 


leichter aufnehmbaren Nährstoffe, z. B. Stärke. Diese grundsätzlich ver- 
schiedene Rolle der ‚‚Kleie‘“‘ verwechselt man zumeist miteinander. 


Ich konnte wahrscheinlich machen, daß eine Kleie, die aus den letzten 


8-98 Prozent einer Ausmahlung abfällt, 31-3 Prozent Resorption zeigt, 
und zwar 61-1 Prozent des N und 26-55 Prozent der N-freien Stoffe.! 

Von einer Resorption der Kleie im allgemeinen zu reden, hat keinen 
Sinn, weil Kleie nur ein Handelswort ist und gar keiner einheitlichen 


chemischen Zusammensetzung entspricht; trotzdem wird bis in die neueste - 


Zeit immer wieder versucht, von der ‚Resorption der Kleie“ zu reden. 

Die Ausnützungsversuche, welche Finkler zum Beweise seiner An- 
schauungen ausgeführt hat, sind der am wenigsten befriedigende Teil 
seiner Untersuchungen; die Versuche (S. 267) sind von zu kurzer Dauer 
und tragen in dem Ergebnis, daß bei Finalbrot 7-8 Prozent der Trocken- 
substanz zu Verlust gehen, bei Weißbrot aber 5-2 Prozent, den Stempel 
der Unwahrscheinlichkeit. Wir werden ja bald sehen, wie das Finalmehl 
zusammengesetzt ist; daß ein Vollkornbrot mit allen Zellmembranen, wie 
es das Finalmehl sein soll, nur um 2-6 Prozent schlechter verdaut worden 


wäre wie das Weißbrot, ist bei dem großen Unterschied des Zellmembran- 


sehaltes unmöglich. Sonach wird man ein Urteil etwas zurückhalten 
müssen. 

Das Finalmehl Finklers erfährt allerdings eine besondere Verarbeitung: 
die Kleie wird mit dem fünffachen Volumen verdünnter Kochsalzlösung in 
hartem Wasser zerrieben und dann wieder auf heißen Walzen getrocknet; 
das Mehl wird braun. Ob hierbei noch chemische Veränderungen der Kleie 
vor sich gehen, ist bislang nicht bekannt und nicht untersucht. Von der 
nassen Quetschung darf man sich, was die Aufschließung der Zellen an- 
langt, nicht zuviel erwarten; bei meinen Untersuchungen über Growitt- 
brot? findet man Näheres darüber angegeben. 

Damit soll aber dem Urteil über das Finklerverfahren nicht vor- 
segriffen werden. Somit wäre das Wesentliche vom Finklerverfahren die 
Herstellung eines Zellmembranmehles aus den Bestandteilen der Kleie 
bestimmter Ausmahlung, wozu gewöhnlich die 2öprozentige Ausmahlung 
gedient zu haben scheint; eine solche Ausmahlung bringt noch eine Menge 
Stärkemehl zum Anfall und ist schon deshalb noch ein Nahrungsstoff. 

Von einer Einführung des Finklerbrotes ist bislang nichts bekannt 
geworden; auch R. OÖ. Neumann berichtet, daß in Bonn das Verfahren 
nicht mehr ausgeübt wird. Wie ich eingangs erwähnte, sind erst die 


% 


1 Zeitschr. f. Biol. Bd. XIX. 8. 67. 
? Dies Archiv. 1916. Physiol. Abtig. 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKÖRNBROTE. 319 


Versuche von Delcastello es gewesen, die wieder das der Vergessenheit 
anheimgefallene Finklerbrot erneut empfehlen. Delcastello kommt zu 
dem Schluß, „‚„daß Kornbrot mit einem Zusatz von 20 Prozent Finalmehl 
im menschlichen Darm ebensogut ausgenützt wird wie das gewöhnliche 
Kornbrot, daß also durch das Finklersche feuchte Mahlverfahren die 
Verdaulichkeit der Kleie der des Mehles sleichgemacht wird‘. 

Delcastellö hat Versuche mit Brot von Mehl mit 80 Prozent Aus- 
mahlung verglichen mit demselben Mehl mit 20 Prozent Zusatz von Final- 
mehl, wobei er im Gesamtmittel fand: 


"Bei Roggen Für 
80 prozentiger Ausmahluns! Finklerbrot 
Verlust an Trockensubstanz . .. 9.69%, 10-6,%, 
KNerlusbe an Nee.n Sa. re est. she 29-9 29-2 


Das wäre, praktisch genommen, dasselbe, obschon das Finklerbrot mehr - 
Kleie im Brot eingeführt hat. Richtiger wäre die Rechnung, wenn 
Deleastello nur die gleichen Versuchspersonen verglichen hätte, dann 
findet man: R 


Aufnahme Kot N- Trockens.- 
täglich trocken Verlust in Prozent 
Roscenhrot I... ie, 377 8 3378 28-0 8-94 
Kialalerbrat;. 22... x 367 38:8 21:1 10:57 


Eine Untersuchung über die Zusammensetzung des Roggenbrotes und 
des Finklerbrotes ist nicht ausgeführt worden. So läßt sich nicht erkennen, 
wie denn das SOprozentige Roggenbrot beschaffen war und wieviel das 
Finklermehl an Zellmembran hinzugefügt hat. Rechnet man diese Zahlen 
nach ihrer Mischung um, so waren von 367 & Finklerbrot 294 Teile Brot 
aus Mehl von 80 Prozent Ausmahlung und 73 Teilen Finalmehl, erstere 
geben rund 26-39 Kot, für Finalmehl bleibt also 38-8 —26-3=12-5 g, 
was (73:12-5) einem Verlust von 17-1 Prozent entspricht. 

Jedenfalls sieht man also aus diesen Versuchen, daß man das Final- 
mehl Finklers in der Ausnützung doch nicht glattweg dem Mehl von 
&0 Prozent Ausmahlung gleichstellen wird, sondern daß es doppelt so 
schlecht wie ersteres ausgenützt wird. Ob das viel oder wenig ist, läßt 
sich, weil man die Natur des Finalmehles nicht kennt, nieht sagen, jeden- 
falls kommt der Zusatz von 20 Prozent Finalmehl zu dem gewählten 
Roggenmehl kaum auf die Mischung eines Vollkornmehles hinaus. Del- 
eastello gibt auch den Aschegehalt der Ausscheidungen nicht an, was 
die weitere Verrechnung erschwert. Es bliebe also nur die N-Ausnützung 


1 An anderer Stelle gibt Delcastello für dasselbe Brot 75 Prozent Aus- 
mahlung an. 


320 MıAx RUBNER: 
\ 


als Maßstab einer nicht ungünstigen Resorption. Überlest man also alle 
Zweifel, die sich hier entgegenstellen, so ist eine Klärung, wie sich Finkler- 
brot verhält, durch diese Experimente nicht gegeben und bei der Bedeutung, 


welche die Aufschließung nach Finkler haben könnte, eine eingehende e: 


Untersuchung nicht zu umgehen. 

Wir sehen also, daß wir gleich zu Beginn der Betrachtung schon auf 
entscheidende Abweichungen von der Zubereitung eines echten Vollkorn- 
brotes stoßen, die wahrscheinlich dent Hersteller unbedenklich erschienen, 
aber von großer physiologischer Bedeutung sein können. So tritt bei 
jeder Frage, die man auf diesem Gebiete anschneidet, immer klarer hervor, 
daß ohne genaue Analyse der Produkte gar kein Urteil über die experi- 
mentellen Ergebnisse zu gewinnen ist. Noch immer sehen wir auf diesem 
Gebiet, daß man Material zu Experimenten benützt, welches irgendeine 
‘ der üblichen Bezeichnungsweisen trägt; man experimentiert mit Weiß- 
brot, Schwarzbrot, Graubrot, als wenn das irgendwelche Einheiten wären. 
Schon in meinen Versuchen über die Ernährung mit Weißbrot habe ich 
Gelegenheit gehabt, mich auf zuverlässige mühlentechnische Angaben zu 
stützen; Plagge und Lebbin haben dies Verfahren zur Grundlage ihrer 
Untersuchungen gemacht. Aber auch die mühlentechnische Überwachung 
kann allein keine Unterlagen für die Beurteilung des Materials geben, da 
anscheinend bei dem gleichen prozentualen Verhältnis der Ausmahluns 
trotzdem Unterschiede der Zusammensetzung des Mehles in bezug auf den 
Zellmembrangehalt im allgemeinen und die Zusammensetzung der Zell- 
membran im besonderen vorhanden sein können. 


Die Finklanisierung der Kleie (Finalmehl). . 


Der Weg, welcher dazu eingeschlagen wird, ist oben auseinander- 
sesetzt. Ob das kalkhaltige Wasser eine Rolle spielt, ist nicht bekannt. 
Von einer Firma ist mir. sowohl die ursprüngliche Kleie wie auch die 
finklanisierte übermittelt worden. Eine Einsicht in den Gang der Her- 
stellung besitze ich nicht, daher muß die Analyse über die Art der Ver- 
änderungen ein Urteil erlauben. Die ursprüngliche Kleie war sehr stärke- 
reich und weiß, die finklanisierte braun und außerordentlich fein zermahlen. 

Eine Analyse des Finalmehles ist vor kurzem von Stocklasa gegeben 
worden!; es finden sich in 100 Teilen Trockensubstanz: | 


Prozent 
KRobpreteins.). mar A 16-70 bis 17-00 
„Beinprotein.. Wer 15.72. ,, 16.1008 


In Pepsin-CIH verdauliche Substanz 15-75 
ı A. a. O. 8. 116. | 


’ 
UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE, 321 


Prozent 
Bezithin aa Ne Yale 0-71 
Bes N ne RR 5-66 7-65 
Phytin wem Nee RER NE 1:28 
Stärke: 0 le SIE url. 50-32 
Glucose: N. 2. a en NEE 1922 
Bentosanen Na AR Ine a 4-18 
Zellulose-. a Bao Ne ee he 9-50 
Reinaschet la Sim en: 9-16 


Das vorliegende Material unterscheidet sich in einem so wesentlichen 
Punkte von dem Finalmehl, welches ich untersucht habe, daß es nicht 
weiter in Betracht gezogen werden kann. Es hatte nur 4-18 Prozent 
Pentosan bei 9-50 Prozent Zellulose. Ein so niedriger Pentosangehalt ist 
unmöglich für irgendeine Getreidefrucht, denn die Hüllen der Getreide- 
sorten sind gerade durch ihren enorm hohen Pentosangehalt gekennzeichnet. 
Um einen Druckfehler kann es sich in obigen Angaben Stocklasas nicht 
handeln, da alle analytischen Werte zusammengenommen 98-99 Prozent 
ergeben. 

Ich habe Finalmehl aus Roggen hergestellt erhalten, das folgende 

 prozentige Zusammensetzung hatte und einen Vergleich mit der ursprüng- 
lichen Kleie erlaubt. 

Zusammensetzung von Roggenkleie. 
Finklani- 


Normal : Differenz 
siert 
INSCHEME NA 5-89 5-94 0-05 
Orsanusehel el ih. grall 94-06 — 0:05 
IN en a re es 2-661 2.632 — 0:03 
Bentosaner. cas. ae 22-65 21-60 — 1:05 
Zellmembran:. + ren ns. 25-94 24-85 —+1:09 
Darin Zellulose . . .. ... 7-20 7-17 — 0-03 
Darın Bentosan ...... 11-78 12-56 —+0-78 
Beste Ban sr N, ASPIRE 6-96 5-12 — 1:34 
Better EN ne 3-70 2-39 — 1:35 
Starkespilte ut. se ne 36-98 41-56 
. Verbrennungswärme . .... 445.1. 456-1 


Die zwei Proben von Roggenkleie, normale und finklanisierte, stimmen 
fast völlig überein. Die kleinen Differenzen mögen in unvermeidlichen 
Schwankungen der Probeentnahme, mit denen man rechnen muß, ihre Er- 
klärung finden. Das Finalmehl besteht also zu vier Zehnteln aus leicht 
resorbierbarem Stärkemehl, wozu noch Pentosen zu rechnen sind. 

Für die Herstellung der Finklerkleie ist zu bemerken, daß dieselbe 
ohne vorherige Schälung des Kornes gewonnen wird; sie wird so wenig 
wie das Korn selbst eine gleichartige Zusammensetzung haben, gerade im 


1 — 16-62 Protein. 
®2 — 16-43 Protein. 
Archivf. A.u.Ph, 1917. Physiol. Abtlg. 21 


322 Max RuBNEr: 


Zellmembrangehalt schwanken die Ernten erheblich. Bei der Ausmahlung 
entfallen die natürlichen Differenzen des Zellmembrangehaltes alle auf die 
„Kleiezusammensetzung“. Ein wesentlicher Unterschied in der Menge der 
in kaltem Wasser löslichen Bestandteile der Kleie und des Finalmehles 
habe ich in meinen Proben nicht nachweisen können. 


Versuche mit Finklerbrot. 


Die Aufgabe war, vor allem die Resorptionsverhältnisse des Final- 
mehles festzustellen. Zu diesem Behufe darf man nicht von einer be- 
liebigen Mehlsorte ausgehen, die man dem Finalmehl beimengt, vielmehr 
hat man, wie ich das an anderer Stelle schon gezeigt habe, den Träger 
der zu untersuchenden Substanz so zu wählen, daß er selbst die analytische 
Feststellung am Finalmehlanteil tunlichst scharf hervortreten läßt; also 
ein feines Mehl ist hierzu erforderlich. Mir standen noch Reste des Mehl- 
vorrates zur Verfügung, mit dem die Versuche über die Verdaulichkeit 
aufgeschlossenen Strohest durchgeführt worden sind, also Weizenmehl. 


Zu diesem wurde so viel Finalmehl aus Roggen gegeben, daß eine 


30prozentige Mischung entstand. Das Finalmehl war von der Fabrik so 
hergestellt, daß sie es als tadellos bezeichnete. Gebacken wurde in der 
staatlichen Versuchsbäckerei, so daß technisch ein vollkommen einwand- 
freies Brot erhalten wurde. Es war von tiefbrauner Farbe, gleichmäßig 
gegangen, ausreichend locker. Was seine sonstigen Eigenschaften anlangt, 
so kann es den Vergleich an Aroma und Geschmack mit einem reinen 
Rossenbrot von 80 Prozent Ausmahlung oder auch dem Klopferbrot nicht 


aushalten. Alle Personen, die bei dem Versuch beteilist waren, hatten 3 


den Eindruck, daß die spezifisch angenehmen Geschmackseigenschaften 
und der Geruch des Brotes mit Finalmehl leidet. Die Kotbildung war 
entschieden vermehrt, doch habe ich nicht feststellen können, daß es, 


was Gasentwicklung anlangt, sich von anderen ähnlichen Brotsorten unter- 


scheidet. Der Kot ist nicht hart, sondern bleibt plastisch und weich. 
Hinsichtlich der Austrocknung verhielt das Brot sich günstig, auch nach 
einer Woche hatte es seine Weichheit nieht ganz eingebüßt. Die Ver- 
suche wurden an denselben Soldaten ausgeführt wie die vorhergehenden 
Versuche mit Klopfermehl. 

Das Finalmehl zur Brotbereitung wurde nach Angabe der Fabrik aus 


Roggen hergestellt und hinter 80 Prozent Mehl gewonnen unter Aus- 


mahlung des Kornes bis 94 Prozent; daraus folgt, daß die Mischung des 


1 Dies Archiv. 1917. Physiol. Abtlg. S. 318. 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 323 


Finalmehles etwa mit Mehl zu 80 Prozent Ausmahlung nicht ein Voll- 
kornbrot liefert, sondern eine geringere Menge von Zellmembran wie. 
diese enthalten muß, denn die letzten 6 Prozent der Vermahlung (94 bis 
100 Prozent) hätten ein Mehl von noch stärkerem Zellmembrangehalt 
liefern müssen. Welche Anteile dabei fehlen, läßt sich gar nicht sagen, 
weil bei der Vermahlung mühlentechnisch recht verschiedene Bedingungen 
vorhanden sein können. ; 

Das Finalmehl, welches zu den Versuchen benutzt wurde, hatte 
folgende Zusammensetzung; in 100 g Trockensubstanz Finalmehl war: 


Prozent 

INSCchese N. a as 6:62 
Orcamischre ae ee: 93-38 
INTRO RNIT EERERENE  2E80 2, 2.771 
Pentosanc.ere Raten ne. 19-94 
Zellmembran . .. .. 2... 22-87 
Darin Zellulose . . ..... €-78 
Darin Pentosan ...... 10-15 
RESDIAN TE THE, Ale 5-96 
IE De 2-13 
STATKERm a Re I N a re nl 41-262 
Kalokeny.s are AN ESTER 449.80 


Es ist aschereich, reich an Protein, an Pentosan, Zellmembran; der 
Stärkegehalt ist aber keineswegs klein, er beträgt noch immer 41-3 Prozent. 
Wenn hier eine Vermahlung zwischen 80 bis 94 Prozent vorliegt, kann man 
nicht behaupten, daß der Zellmembrangehalt sehr groß wäre. Gereinigte 
Kleie enthält nach meiner Analyse: 


36-67 Prozent Pentosan, 
69-14. Zellmembran 

BB. 5 N = 14-56 Prozent Rohprotein 
2-00. ER Zelluiose.? 


Das Finalmehl entsprach etwa dem früher als Roggenfinalmehl mir 
übermittelten Material. Im Finalmehl waren auf 100 Teile 0-51 N fest 
mit der Zellmembran verbunden — 18-4 Prozent des gesamten N im 
Finalmehl; die Hauptmasse des N scheint also freier, zugängiger zu sein, 
er rührt von dem beigemengten Mehl und wohl aus den geöffneten Kleie- 
zellen her. Die Vermahlung der Kleiezellmembran im Finalmehl ist sehr 
weit getrieben, so daß mit bloßem Auge die einzelnen Teilchen kaum 
unterschieden werden können. Diese gute Vermahlung der Kleiezellen hat 
sicher ihre Bedeutung, weil das freie Kleieeiweiß natürlich schon beim 


1 = 17-31 Rohprotein. 
2 Berechnet. 
3 Dies Archiv. 1915. Physiol. Abtlg. S. 139. 


324 Max RUBNER: 


Durchgang ‚durch den Darm resorbiert werden kann, während jener Anteil, 
der erst frei wird, wenn die Zellmembran verdaut wird, schlecht zur 
Resorption gelangt, offenbar deshalb, weil er an einer Stelle des Darmes 
liegt, an welcher die Aufsaugung vermindert und schlecht wird. Ähnliches 
sieht man häufig auch bei den Pentosanen.* Dieses Finalmehl wurde für 


meine Versuche mit feinem Weizenmehl gemischt im Verhältnis von 70:30 k | 


des lufttrockenen Mehles, dessen Zusammensetzung aus den später auf- 
geführten Analysen des reinen Weizenbrotes entnommen werden kann. 
Das Finalmehl bringt also viele Aschebestandteile in das Mischbrot, 
außerdem viel Protein, dafür aber reichlich Zellmembran. Das Protein 
haftet in dem Finalmehl nicht so fest an der Zellmembran wie in manchen 
anderen Kleiearten, was ich als bemerkenswert finde und im Sinne einer 
besseren Zerkleinerung der Kleie gedeutet werden kann. 


Das zubereitete Brot entsprach nach den Analysen sowohl wie nach 
der Wägung der gemischten Substanz: 70 Prozent feinem Weizenmehl 
und 30 Prozent Finalmehl. Man darf dieses Brot aus mehreren Gründen 
vielleicht nicht einem Finklerbrot anderer Herstellung an die Seite stellen 
— bis jetzt gibt es noch keine einheitlichen Normen für solches Brot, , 
wenn auch dem Gedanken des Erfinders gemäß ein Vollkornbrot vorliegen 
soll, also Finalmehl und Restmehl gleich dem ursprünglichen Korn sein 
sollen. Das Versuchsbrot hatte als Träger für das Finalmehl feines 
Weizenmehl, nicht aber Roggenmehl mittlerer Ausmahlung. Bis jetzt 
haben Vergleiche von Weizen- und Roggenmehl stets eine bessere Aus- 
nützung der Eiweißstoffe beim Weizen gegenüber dem Roggen ergeben, 
zum Ausgleich für das feine Weizenmehl habe ich einen größeren Prozent- 
satz Finalmehl, d.h. 30 Prozent statt 25 Prozent zugegeben, was indes 
— abgesehen von der Natur des Weizenmehles — im ganzen die Ver- 
hältnisse des Handels-Finklerbrotes annähernd herstellen wird. 


Von den Eigenschaften des Brotes habe ich schon gesprochen; die 
Versuchspersonen hatten dieselben Empfindungen, das Brot ist nicht so 
schmackhaft und deshalb war das Verlangen nach Brot auch nicht so 
ausgeprägt, eine Erscheinung, die man heutzutage mit dem ganz miß- 
brauchten und vieldeutigen Wort „es sättigt“ zu benennen pfleet. Nach“ 
dieser schiefen Auffassung würde alles, was nicht schmeckt, ‚besonders 
sättigen. Über den Verbrauch der beiden Versuchspersonen gibt nach- 
stehende Zusammenstellung Auskunft. F 


1 Dies Archiv. 1916. Physiol. Abtlg. S. 77. 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 


Roolfs. 


Datum 


Weizenauszugmehl + 30 Prozent Finkler-Roggenkleie. 


Nahrung 


Brot 
frisch | 


Harn 
ecem 


Zeit 


Kot 
| frisch | tr. 


17. IE 
18. I. 
IST: 


20.11. 


22. 1m 


23.1. 


63:35 


64:00 


1130 g Brot 
508 Zucker 
30 8 Kaffee 

21 Wasser 

1180 g Brot 
50 g Zucker 
30 g Kaffee 

21 Wasser 

1130 g Brot 
50 g Zucker 
30 8 Kaffee 

21 Wasser 

1180 g Brot 
508 Zucker 
308 Kaffee 

21 Wasser 

1155 g Brot 
50 g Zucker 
30 8 Kaffee 

21 Wasser 

1145 g Brot 
508 Zucker 
30 g, Kaffee 

21 Wasser 


950 & Brot 
508 Zucker 
30 8 Kaffee 

21 Wasser 


1130 


1087 


1141 


1199 


1175 


1176 


7884 


1660 


1740 


2100 


1580 


2180 


1920 


1700 


10.0 


8-7 


9.8 


6:9 


5-8 


| | 


Harn vollständig 
für 24 Stunden 


Ya 


1.0202 V: 


Say. 


mes V. 


So N! 


| 180 | 50 
2060 | 550 


1126-39 pro Tag 


— — 555g vermahlen 
— 692-2 5 lufttrocken = 79-3 


g lufttrocken pro Tag 


Das Brot hatte 61-5g Trockensubstanz, als Getränke wurde ein 
gehaltloses Kaffeesurrogat mit etwas Zucker gegeben, die eine Person 
erhielt auch etwas Fett. Die genossenen Brotmengen wurden auf der 
Höhe von 1100 bis 1200 & täglich gehalten, eine Menge, die von einem 
gesunden Manne leicht verzehrt wird. Die Zusammensetzung des Brotes, 
die Mengen der Einnahmen und Ausscheidungen finden sich in der 
Tabelle S. 327. 

Das Brot hatte einen Ze der einem Vollkorngehalt 
entspricht oder wenig hinter ihm zurücksteht; insofern war also die 
Mischung richtig getroffen. Es war eiweißreich, unterschied sich, das mag 


326 MıAx RUBNER: 


Kollmann. 


Weizenauszugmehl + 30 Prozent Finkler-Roggenkleie. 


Brot Harn Kot 


Datum 
frisch| N | ‚cm | N Ä Zeit | frisch | ke 


Nahrung 


17.1l. [56-00 895 & Brot 
30 g Kaffee 
2] Wasser | 895 |10.82 Harn nicht vollständig 
18. II. 1090 g Brot 
30 & Butter 
30 g Zucker 
30 8 Kaffee e 
21 Wasser |, 1094 1640 |, 9-7 Saoayz 285 | 70 
19.II. |56-00|) 1155g Brot 
30 & Butter 
30 g Zucker 
30 8 Kaffee 
2 ] Wasser | 1175 2120 | 8-2 SUN, 260 | 65 
20. II. 1230 8 Brot 
30 & Butter 
30 g Zucker 
30 g Kaffee 
21 Wasser 1256 1540 | 10-1 || 8 V. 430 | 105° 
21. 1. 1165 g Brot | | 
30 g Butter | 
30 g Zucker 
30 5 Kaffee 
21 Wasser | 1198 1740 | 10-5 ge vV. 250 | 65 
22.11. 1155 g Brot 
30 8 Butter x 
30 g Zucker 
30 & Kaffee 4 
21 Wasser | 1191 1600 | 9-6 as0aV2 405 | 105 
23.11. 55-50 830 g Brot 
30 g Butter 
30 g Zucker 
30 5 Kaffee 
21 Wasser | 865 1320 | 10-0 SnyE 2355 | 75 
24.11. Weißbrot 1680 | 9-7 400 N. 170 ? 
- T2L0EN? 115 | 25° 


2150 


1674 


[} 


= 566 lufttr. S0-0 g pro Tag 


1440 Broi frisch = 885g trocken vermahlen — 61-46 Prozent lufttrocken 
— 60-0 Prozent Trockensubstanz. > 


gesagt sein, um Übertreibungen in dieser Hinsicht entgegenzutreten, nur 
um wenig vom Proteingehalt der Weizenvergleichsproben. Der Zellulose- 
gehalt war natürlich auch bedeutend; groß ist der Pentosangehalt. 3 


Die Ausscheidungen waren ziemlich trocken (26 bis 26-7 Prozent 
Trockengehalt), dabei nicht sehr hart, was auf die feine Zerreibung der 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 327 


Finklerbrot. 
In 659.38 In 675-6g 
In 100 Teilen Trockensubstanz sind: pro Tag pro Tag 
Kollmann Roolfs 
INScherte wa ee ee 3:48 22-83 23:50 
Oneanisch ,.. .... 2 ee 95-52 636-47 652-10 
INNE RESTE LE 2-031 13-38 13-71 
IBentosan. Hr. EN an 9-45 62-30 63-87 
Mellmembraneı 2... ana 8-72 59.49 58-89 
Darin Zellulose . . . ..... 2-70 17:79 18:23 
Darin: Bentosany, „22... 4-08 26-90 27-56 
Restsubstanz. .: ... 1-94 14-80 13-10 
Titan nn ee EL Wr se N 1-65 10-88 11-14 
Dänen rl 0.04.1068 1.02 448-97 466-07 
RAlorienen 2 Riesa, 421:70 2780-10 2848-80 
In 76-105 In75-44g 
In 100 Teilen Kot sind: pro Tag pro Tag 
s Kollmann Roolfs Kollmann Roolts 
Aselne: In A a: ER SR RT 11-83 9-03 8-92 
Wranscht ee nen 88-13 88:17 67:09 66-52 
INGE ES NE RE 3-93 4-11 2-99 3-10 
Bemiosen I SEN ER N ER 18-10 18-49 13-77 13:95 
Aellmemibran. a vw. 26:76 35:50 27:98 26:77 
Darın? Zellulose ... .. 2... 12% 11-99 13:07 9.13 9-86 
DarınmBentosan vu. zu al een 13:35 9.43 10-16 7-1] 
Bestsubstanz 2.2.0.0 N nn 11-42 13-10 3-69 9-80 
Rot N a DREHEN EN 5-60 5-38 4-25 4-06 
Star se a RE Rt: 5-90 5:36 4-49 4-04 
Ralorenm N ae 460.60 462-50 350-60 343.90 


Kleie zurückgeführt werden muß. Ungemein reich war der Kot an Pento- 
sanen, die Zusammensetzung des Kotes beider Männer wie auch die Menge 
der Ausscheidungen stimmten sehr gut überein. Über ein Drittel des 
ganzen Kotes waren Zellmembranen, in denen auch der größte Teil der 
Pentosane gebunden war. 


Aus den analytischen Ergebnissen lassen sich folgende Werte der 
Verluste ableiten: 


Kollmann Roolfs Mittel 
Verlustkane Nee 22-34 22-51 23-42 
Kalorien ua ae Nana: 12-61 12-24 12-42 
Bentosanı.... men 22-60 21-91 22-00 
Zellmembran 2 2. eo. 47:02 45-46 46-23 
helliulosen. 2... Bene Se 51:32 54-11 52-71 
Pentosan der Zellmembran . . 37-77 25-76 31:75 
Restsubstanz . . . ..... 68-85 74-81 71-83 
Stärke... Nr Be 1:00 0:86 0-93 


1 — 12-68 Protein. 
2 Berechnet. 


328 Max Rusner: 

Die Ausnützung des N war für ein Brot von so hohem Zellmembran- 
gehalt sehr günstig, doch muß man im Gedächtnis behalten, daß 57-2 Pro- 
zent des N in Weizeneiweißstoffen vorhanden waren, die recht gut aus- 
genützt zu werden pilesen. Die Gesamtausnützung war günstig, denn 
12-42 Prozent für ein zellmembranreiches Brot ist nicht viel Verlust, 
doch ist die Ausnützung der Zellmembran nicht besser, als ich sie bei 
dem Growitt-Vollkornbrot auch nachgewiesen habe (47 Prozent Verlust); 
der Unterschied im Kalorienverlust bei diesem Brot (Growitt 14-8 Prozent 
Verlust, Finkler 12-42 Prozent) ist auch nicht bedeutend genug, um von 
einer wesentlich erhöhten Auifschließung zu reden, zumal nicht dieselbe 
Person zur Verwendung kam. Es bleibt also fraglich, wie. man den Haupt- 
punkt, d.h. die bessere N-Ausnützung, bewerten und ob man sie im Sinne 
Finklers deuten will und darf. 


Das Weißbrot. 


Um einen sicheren Anhaltspunkt zur Beurteilung der Verdaulichkeit 
des Finklerbrotes zu gewinnen, mußte auch noch an den gleichen Personen 
ein Versuch mit dem feinen Weizenmehl ausgeführt werden, das zur 


Mischung mit dem Finalmehl gedient hatte. Das Brot war ausgezeichnet, 


aber im Geschmack und Geruch weniger anregend als z. B. Roggenbrot 
aus Mehl von 80 Prozent Ausmahlung, nur fällt sofort die geringere 
Belästigung durch Darmgase auf. Die Trockensubstanz des Brotes war 
66-9 Prozent. Die verzehrten Brotmengen waren, da das Brot den Leuten 
besser mundete, etwas größer und wurden absichtlich nicht auf der gleichen 
Höhe belassen wie bei Finklerbrot. Das Nähere über den Verlauf der 
Experimente geben nachfolgende Tabellen. 


Weizenbrot. 


In771-5g In736-3g 


In 100 Teilen Trockensubstanz sind: pro Tag pro Tag 
Kollmann Roolfs 

Aschenfageen., .. Sir Pas ee 1-50 8-86 8-47 
Organıschr., ANA or 98-50 762-64 127-853 
N TR a ee 1.661 12-81 12-22 
Pentosans, al. a uU A ELE 3-29 25-37 24-21 
Zellmempran.. „a... le 1-27 979 9-35 
Stärkerb Ara. N) 566-90 550-60 
Kalorten new... 0. 415.40 3198-60 3058-50 


1 — 10:37 Prozent Rohprotein. 


a Se Fe DRST SE Tree ee 


620 & Brot frisch 


II II 


1147 & frisch 
765-6 & trocken 
415 & trocken vermahlen 

66:93 Prozent trockne Substanz 
_— 66:73 Prozent trocken. 


—= 160-0 g gepulvert 
— 26-68 lufttrocken pro Tag 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 329 
In 100 Teilen Kot sind: In 25-878 In 26-788 
pro Tag pro Tag 
Kollmann Roclfs Kollmann‘ Roolfs 
ASeln Pr RE. =: RS" 2 HR 10-30 10-72 2.66 2-86 
Moaumsch, 20.36 ie tel genen. 89-70 89-28 23-21 23-92 
INES. SE AAN RT cn 7-10 7-47 1-84 23-00 
Berbosama ins ner en 5-11 5-62 1:32 1-50 
Zellmembran.. . ... . 0... 13-08 10-72 3-38 2-85 
DarmeZellulose. .. . .ı.. 2.82... 5-21 4.33 = — 
Bemabentosan.... geile ne 2-46 2-87 — — 
Hash yo ER, Ce 6-41 3-52 —_ —_ 
EIS EA LEE N 10-41 11-88 | 2.69 3-18 
DESK ee  R 7:19 5-45 1-85 1-46 
\Kallomen, Io 5537-50 531-00 139- 34 142.19 
Kollmann. Weißbrot. 
Ge- Brot Harn Kot 
2 hr 
Datum || wicht N Ne frisch| N cem |. N Zeit |frisch | tr. 
23. II. |55-50| Finklerbrot 1320 | 10-0 
24. II. 1090 & Brot 
30 g8 Butter 
30 g Zucker 
30 Kaffee 
| 21 Wasser | 1090 |11-55|| 1680 | 9-7 
25.11. |55-30| 1190 Brot 
30 g Butter 
30 g Zucker 
308 Kaffee 5 
21 Wasser | 1194 |12-65|| 1960 | 8-6 | so Y, 140 25 
26. II. 1155 g Brot i 
30 & Butter 
308 Zucker 
308g Kaffee 
21 Wasser | 1171 |12-41|| 1940 | 11-7 SULENT: 125 25 
#27. 2; °155-50| 12305 Brot 
30 g Butter 
30 5 Zucker 
30 & Kaffee 
21 Wasser | 1261 |13-36|| 1600 | 9-5 gr 130 20 
28. II. 1045 & Brot 
30 & Butter 
30 g Zucker 
308 Kaffee 
2] Wasser | 1078 | 11-42 ? 10-4 gu V. 115 25 
1. III. 56-20 | 1050 Brot 
30 g Butter 
30g£ Zucker 
30 Kaffee v 
2] Wasser | 1088 | 11-53 || 1560 904 21000. 100 20 
22. II. Gemischte Kost 1840 | 9-7 
SON 285 50 
6882 895 1658 


330 MıAx RUBNER: 


Roolfs. 
Weizenauszugmehl. Kontrolle zur Finklerkleie. 

| I 

| @e- Brot Harn Kot 
Dat Nahr 

u wicht ws frisch| N cem | N | Zeit | frisch | tr. 

23. II. |64-00| Finklerbrot | 1700 | 5-8 | 
DA, 11.2 1160 & Brot 


30 5 Zucker | 
30 & Kaffee i 
2] Wasser | 1160 |12-29 || 1920 | 6-2 DOEN. 85 25 
25. 1. ||63-30| 1200 g Brot 
| 30 g Zucker 
30 & Kaffee : 
| 2] Wasser | 1208 |12-80|| 1920 | 5:9 230,0, 40 | 15 
26:07) 1130 g Brot 
| 30 8 Zucker 
30 8 Kaffee 
| 21 Wasser | 1142 |12-10|| 1680 | 10-5 73V. | 145 | 40 
27.11. |63-50| 1050 8 Brot | 
| 30 g Zucker 
| 30 g Kaffee 
| 21 Wasser | 1072 |11-36|| 1960 | 7-1 DENE 55 15 
28. II. | 1160 g Brot 
| 30 g Zucker 
| 30 & Kaffee 


"21 Wasser | 1194 |12-65 | 1540 | 9-8 soo V. | 235 45 


| 
1. III. ‚64:00 | 11208 Brot 
a | 30 & Zucker 
| 30 8 Kaffee | ® 
21 Wasser | 1161 |12-30| 1540 | 9-6 2EIN. 95 205 
2. 11: Gemischte Kost 1960 | 7.6 | 40°0N. | 150 308 
6937 805 190 
—= 1156:1g pro Tag gewogen und vermahlen 
= 771-2g trocken —= 165 g = 27-5 pro Tag 


Die Ausscheidungen waren weicher und mehr breiig (18-4 Prozent 
bis-20-5 Prozent Trockensubstanz). Zusammensetzung der Einnahme und 
Ausgabe siehe vorstehend. - | 

Das Brot ist außerordentlich aschearm; der Zellmembrangehalt ist 
verschwindend klein. Trotzdem sieht man, daß im Kot sich Zellmembran- 
reste häufen und 11 bis 13 Prozent der ganzen Masse ausmachen. Der 
Pentosangehalt ist stark im Sinken. Diese Ergebnisse sind übrigens schon 
aus anderen meiner Versuche genügend bekannt. 

Die Verluste im ganzen waren folgende: 


' | Kollmann Roolfs Mittel 
NVerlustnane Nee 11-27 16-37 13:82 


Kalorien... 2 4.35 4-65 4-50 
Pentosanittum. 1. Ma 5-20 6-19 5:69 
ellmemipranaa EEE 34-52 30-48 32-50 
Starken RS NE IE 0-32 0-26 0-29 f 
Aschewr ee 2.0: N 1 56:70 52-70 54-70 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE, 331 


Das Ergebnis stimmt mit früheren überein, indem sonst von mir 
‚3-70 Prozent und 4-23 Prozent Kalorienverlust für Mehl dieser Art ge- 
funden wurden. Der N-Verlust ist, nicht unbedeutend, wenigstens habe 
ich auch bessere Resorptionen gesehen. Der Verlust an Zellmembran war 
bei diesen Versuchspersonen recht gering, doch läßt sich bei den großen 
Schwankungen in der Verdaulichkeit der Zellmembran eine größere Kon- 
stanz dieser Werte bei verschiedenen Personen nicht erwarten.! 

Im Finklerbrotversuch rührt also nur ein Teil der Ausscheidungen 
von dem Finalmehl her, ein anderer von diesem Weißbrotanteil. 

Es ist von Bedeutung, jetzt die Zusammensetzung der Ausscheidungen 
näher zu vergleichen und die Stoffwechselprodukte von dem Unverdau- 
lichen zu scheiden. Die Berechnung, welche analog zu den früheren Ver- 
suchen durchgeführt wurde, ergab folgendes für Finklerbrot und Weißbrot. 


Kalori | Zn ee 
Versuchs | 3 | 55 | 5 | 3 |ämülsgersse Seälsiee 
wa EEE kEBERSS EEE 
- alias A 
Finklerbrot: } 
I, 18-40| 157-52| 18-0 | 193-9) 350-6 | 156-7 | 2780 | 5-63 ! 44-77 
R. <)16-56| 173-3%| 28-2 348-9| 130-8 | 2849 4:58 | 37:49 
Mittel | 5-15 | 41-13 
Weißbkrot: 
K. 7:58| 43:25?) 4-1 | 54-93 ||139-34| 84-41 | 3199 2.64 60-59 
R. 5-68| 43:14°| 4-1 | 52-92 || 142-19| 59-27 | 3058 2.92 62-78 
Mittel | 2:78 | 61-68 
2858| ® ul EI Beer 
se|a | s® Sm gu2|8. 2°: |Ha88 
person | S = 2 © I =® os, 38 |Sss2 |F457 
_ > 5 -.- S005 Sn) ao 
„89 ah Zu Lena eseiasnk, 
Be ee a, 
Finklerbrot 
K. 12-18 | 76-1 9-26 | 1-47 | 2:99 | 1.52 |13-38| 11-3% 50.2 
B. 1467| 75-4 | 11-00 | 1-77. | 3-10 [1:33 |13:71| 9- 42-9 
Mittel | 10-53 | 46-8 
N 
K. | 19-60 0-7 Uiaekä ı 05 |12-81| - 6-16 42.9 
R. 19-56 | 26-8 |” > 25 | 0- h 2-00 I. 16 |12-22| 6-87 42-0 


Mittel | 6-51 | 42-4 
1 Dies Archiv. 1917. Physiol. Abtlg. S. 85. 


2 114-8 Zellmembran 4113-85 Zellmembran 
42-1 Protein 29-40 Protein 
157-5 | 43-25 

3 108-6 Zellmembran 5 11-68 Zellmembran 


64-7 Protein 31:46 Protein 
173-3 43-14 


332 Max RuBnER: 


Wie schon früher gefunden wurde, gibt das Weißbrot eine sehr ge- 
'inge Menge von Stofiwechselprodukten, nur 2-78 Prozent der Kalorien; 
bei dem Finalbrot ist dieser Anteil größer geworden. Der Zusatz des 
Finalmehles bedingt also auch Mehrung der Stoffwechselprodukte. Im 
Weißbrot sind die Stoffwechselprodukte sehr reichlich (61-7 Prozent), dies 
rührt von der guten Resorption der Zellmembran durch meine beiden 
Versuchspersonen her. 

Bei den N-haltigen Stofiwechselprodukten ist die Menge auch bei 
Weißbrot geringer als bei Finklerbrot, und die Relation zwischen Gesamt- 
N-Ausscheidung und Stofiwechsel-N ist nicht sehr verschieden bei Finkler- 
brot und Weibßbrot. 

Noch läßt sich ein voller Einblick in en Grad des Nutzens, den das 
Finalmehl bringt, nicht gewinnen; es gelingt dies durch andere Gruppierung 
der Zahlen. Unter der zutreffenden Annahme, daß innerhalb einiger 
Grenzen die Kotmengen der Nahrung proportional sind, läßt sich folgender 
Weg einschlagen: Von den Ausscheidungen bei Finklerbrot wird jener 
Anteil an Kotbestandteilen in Abzug gebracht, welcher auf den Weißbrot- 
anteil zu rechnen ist. Der Zuwachs an Finalmehl im Finklerbrot gegen- 
über dem Weißbrot ist auch bekannt, also läßt sich berechnen, welche 
Stoffe im Kot dadurch vermehrt wurden, daß man eine gewisse Menge 
Finalmehl zugebacken hat. Eine solche Berechnung hat folgendes Ergebnis 
geliefert: 


- 


Kollmann. 
\ Ta = 
3 rt & 
Bea 
2 ee = 
= M 1382| 5 re & 
l ja l@ 8 | 
659-3 g Finklerbrot . .|76-12| 2-99 | 1-52 350-6| 156-7 |27-98| 4-49 | 1-47 
461-582 Weißbrot ... .|15-47| 1-10 | 0-63 | 85-1) 50-4| 2-07| 1-11 | 0-47 
197-8 Finalmehl. . . 60-65| 1-89 | 0-89 | 267-5 | 106-3| 25-96 | 3-38 | 1-0 
— 890-1 Kalorien 
Roolfs. 
| o = © E E zZ 
3 ee & 
> » & 
[SR uk BT SMS | 
675-6 Finklerbrot : .|75-44| 3-10 | 1-33 |348-9| 130-8 | 26-77 | 4-04 | 1-77 
472:9 8 Weißbrot . . .\15-86| 1-18 | 0-68 | 84-2| 57-2, 11-70| 0:94 | 0-54 
202-7 g Finalmehl. . .59-58| 1-92 | 0-65 |264-7| 73-6|25-07| 3-10 | 1-23 


— 912-1 Kalorien 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 333 


Für beide Männer ist die Rechnung getrennt durchgeführt. 
Aus diesen Zusammenstellungen läßt sich ohne weiteres die Aus- 
nützung des Finalmehles ableiten: 


Zugabe an Finalmehl| Verluste pro Tag Mittel 

in absoluten Werten in Prozent in 

| Kollmann| BRoolfs Kollmann| Roolfs Prozent 
sn ee | 197-80 | 202-70 & a = 
N on. | 5-48 5-60 34-50 34:30 34-40 
IRaloriemi zo. dena | 890-10 912-20 30:00 29:00 29-50 
Zellmembran ...... al ee) 46:30 57-40 53-90 55:60 
SURTHRSN Ge Al ee ER 81:40 83-70 | 4-10 3-70 3-90 
Stoffwechselverlust an N. . | » — — I 11-94 8-07 10-00 
IEROGEMSN AU IE. 0 | — — 18-24 21:96 20:10 


Daraus lassen sich folgende Mittelwerte ziehen und mit den beiden 


Brotarten vergleichen: 
Finalmehl __Finklerbrot Weißbrot 


VerluspraneNne wen. 55, 34-40 22-42 13-82 
= MibrotemaNn. na er 20-10 10-53 6-51 
5 iRßalorien ...2:....7229750 12-42 4-50 
# „ Stoffwechselkalorien 10-00 5-15 2-78 
m „ Zellmembran . .. 55:60 46-23 32-50 
iM Stärke, te ame 3-90 0-93 0-29 


Hieraus ergeben sich folgende Schlüsse: 

Das Finalmehl meiner Versuche zeigt einen relativ niedrigen N-Verlust, 
denn Vollkornroggenmehl, das ja nur einen Teil solcher Zellmembranen 
enthält wie das Finalmehl, wird viel schlechter im N-Anteil ausgenützt; 
der Kalorienverlust ist freilich sehr groß, aber ein erheblicher Teil rührt 
von der ausgeschiedenen Zellmembran her. Betrachtet man den Verlust 
an Protein-N, so sehen wir bei dem feinen Mehl einen Verlust, der nahe 
an den Verlust reinen Klebers heranreicht, im Finklerbrot wird aber der 
N-Verlust schon bedeutend erhöht, im Finalmehl ist er am größten. 

Die Behauptung, daß alle Zellen aufgeschlossen seien und 
das Eiweiß des Finalmehles gleich verdaulich sei mit Mehl 
ohne diesen Kleiezusatz, beruht auf einer Selbsttäuschung der 
bisherigen Experimentatoren. Man kann in meinen Versuchen 
stufenweise die zunehmende Erschwerung der N-Resorption sehen. Alles 
weist darauf hin, daß eine allgemeine Aufschließung der Zellen nicht ein- 
getreten ist. 

Dies ergibt sich noch aus einer anderen Überlegung. In möglichst 
mit Wasser und unter Verdauung mit Diastase gereinigter Kleie fand ich 
früher! für 100 Teile Zellmembran immer noch 21-0 g Protein = 3-36 g N, 


1 Dies Archiw. 1916. Physiol. Abtlg. S. 76. 


3341 Max RUBNER: 


im Finalmehl finde ich auf 100 Teile Zellmembran immer noch 2-23g N, 
so daß also nur ein Drittel des N, der fester fixiert ist, auf- 
geschlossen wäre, Nur der kleinere Teil des N in jeder Kleieart ist solcher 
in den Zellen eingeschlossener N. Durch das Beibacken des Finalmehles 
steigert sich nicht nur das unverdauliche in den Ausscheidungen, sondern 
es mehren sioh auch die Stoffwechselprodukte, und zwar erheblich. Auch 
die Zellmembran des Finalmehles ist schwerer verdaulich wie die des feinen 
Mehles. | 
Ich habe bei dem Klopferbrot Gelegenheit gehabt, die Resorption 


jenen Anteils des Mehles zu bestimmen, der über 75 Prozent Ausmahlung | 


hinaus bis zu 94 Prozent Ausmahlung reichte. Hier bei dem Finklerbrot 
kommt in der finklanisierten Kleie ein fast übereinstimmender Anteil der 
Ausmahlung des Kornes zur Verwendung. Eine Vergleichung zwischen ; 
der Verdaulichkeit bei den „Kleien‘“‘ kann von Interesse sein. Die Ver- 5: 
luste waren für die Ausmahlungen über 70 bis 75 Prozent: 


Bei Klopfer Bei Finkler 


AnZKalorrenner BE 23:90 29-50 
ENDE er ar SAALE: en EN Era: 58-10 34-40 
2 Zellmenbrane a 47:70 55-60 
IS LATKC A N 1:16 3:90 


Man kann aus diesen Zahlen schließen, daß der N in dem Kleieanteil 
bei Finkler leichter resorbierbar war, obschon der große Verlust von 
58-1 Prozent bei Klopferbrot etwas durch die ungünstige Verdauung einer 
Versuchsperson beeinflußt ist. Im allgemeinen muß man sich aber daran 
erinnern, daß das Finalmehl fast doppelt so viel Zellmembran enthielt als 
der Kleieanteil beim Klopfermehl, so daß durch letzteren die Resorptions- 
bedingung im allgemeinen und für den N im besonderen ungünstiger 
sich stellt. Ist demnach im Gesamteffekt die Rückwirkung der Finklani- 
sierung nicht derart, daß eine sehr ausschlaggebende Beeinflussung im 
Nährstoffgewinn zum Ausdruck kommt, ist ferner auch zuzugeben, daß 
die ganze Vermahlungsweise dieser Art irgend eine Umwälzung auf dem 
Gebiete der Brotbereitung nicht herbeiführen wird, so kann andererseits 
doch gesagt werden, die bessere Vermahlung der Kleie sei nicht ohne 
allen Effekt gewesen. Es will mir scheinen, daß für eine Verdoppelung 
der Zellmembranmengen ein Zuwachs des Kalorienverlustes von 23-9 Pro- 
zent auf 29-5 Prozent mäßig ist. Immerhin deutet sich im allgemeinen 
eine Erschwerung der Resorption im „„Kleieanteil“ damit an, .daß die { 
Stärke schlechter verdaut wird. Sie ist im Finalmehl schon zehnmal 
schlechter verdaulich geworden als in den feinen Mehlen. 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 335 


Zusammenfassung. 


Der Ausgang dieser Untersuchungen betraf die Feststellung der 
Ausnützungsverhältnisse der hochprozentigen Ausmahlungen des Rogsens, 
die zum Teil nach patentiertem Verfahren vorgenommen und, oft mit 
reklamehaften Ankündigungen verbrämt durch allerlei wissenschaftliche 
Zutaten, in den Handel gebracht werden. Im Grunde genommen kann 
man mehr erstaunt sein, daß so vielerlei Verfahren, wie sie angewandt 
werden, letzten Endes dasselbe Resultat geben und dab man auf. die 
entscheidenden Verhältnisse so wenig oder gar nicht zu achten pflest. 
Jahrzehntelang bewegen sich die papierenen Diskussionen weiter, wo das 
Experiment ohne weiteres der Führer für das technische Verhalten sein 
könnte. In nachstehender Tabelle sind nochmals die Ergebnisse kurz 
zusammengefaßt und mit den Roggenbroten auch der Versuch mit Finkler- 
brot zusammengestellt; dabei muß beachtet werden, daß hier eine Mischung 
von Weizenmehl und finklanisierter Roggenkleie vorliest, da sich in 
anderer Weise nicht der Effekt der Finklanisierung deutlich zeigen läßt. 
Für die Schlußfolgerungen muß auf diese Verschiedenheit besonders ge- 
achtet werden, weil sie in den Rohzahlen erheblich zugunsten des Finkler- 
brotes verwertet werden könnte. 


£ SE UN Se u = 

s=.<5 Sn =) [o) i ® (eb) (RE) o—_ 305 [eb) 

else ade ma Sex 

sa ja230 632 85|7|45 
8. ee ee een 
Zellmembrangehalt ey 8-75 6:69 6-48 | 6:23 | 8-72 22-9 
Verlust an No u.) 2-22 0! 39-3 40-5 38-4 | 37:9 | 22-4 34-4 
a8 „ Protein . . 2 2539 21:6 21:2 | 20-6 | 10-5 20-1 
2 ” SrotwechselN 13-4 18:7 17:1 | 17-2 | 11-9 14-3 
“ » Kalorren . .. . ..ı 14-8 13-5 15-1 | 14-4 | 12-4 29-5 
'Stoffwechselkalorien 7-5 7-1 5-9 6-1 5-1 10-0 
Terkan RE EEE RUN 7-3 6-4 9-2 8-3 7-3 19-5 
Zellmembranverlust.. . .. . . || 47-6 55-7 66:9 | 59-3 | 46-2 55-6 


. Das Growittverfahren, über das ich mit Thomas schon früher be- 
richtet habe, stand damals etwas vereinzelt, so daß seine Charakterisierung 
und sein Vorteil nur kurz gestreift werden konnte. Hier läßt sich im Ver- 
gleich mit den übrigen Brotverbesserungsverfahren seine eurieiling besser 
durchführen. 

\ Das Growittverfahren ist im Grundgedanken nicht neu. Seine Vor. 
sänger sind das Gelinkverfahren, das von Lehmann und von Plagge 
und Lebbin ungünstig beurteilt wurde, das Averdick- und Simonsverfahren, 
über welche experimentelle Angaben nicht vorliegen, ferner das Schiller- 
verfahren, das auch nach Lebbin keine gute Ausnützung garantiert. 


336 Max RUBNER: 


Über Growittbrot sind von N. Zuntz Mitteilungen gemacht worden 
über den N-Verlust, wobei in einem Falle 35-92 Prozent gefunden wurden 
und in einem anderen 25-95 Prozent, bei von der Heide 36-44 und 
42-46 Prozent, im Mittel 41:15 Prozent, und bei Brahm 53-47 und 
50-36 Prozent. Die Differenzen sind so groß und unaufgeklärt, daß man 
sich eines Urteils enthalten muß. R.O. Neumann fand bei einer ge- 
mischten Kost, die etwa die Hälfte des N in gut resorbierbaren Animalien 


enthielt: 
Als Verlust an Trockensubstanz Als N-Verlust 


12-14 Prozent 21-05 Prozent 
le, 20-19 3% 
12a In, 93:5 


P> 


Das würde, wenn man den N der Animalien in der Einnahme abzieht 
und einen Verlust im Kot von 3 Prozent annimmt, etwa rund 33-4, 
37-1, 47-0 Prozent Verlust (Mittel 39-2 Prozent) ausmachen. Der letztere 
Wert wäre immerhin groß, die beiden ersten kämen’ den von mir er- 
haltenen Zahlen nahe. Vielleicht darf man annehmen, daß die Schwan- 
kungen in der Zusammensetzung des Kornes oder im Zermahlungsverfahren 
eher die Ursache liefern werden als die schwankende Verdauung, zumal bei 
R. OÖ. Neumann die gleichmäßigen Versuchszahlen in anderen Reihen eine 
sehr gleichartige Verdauung bezeugen. 

Die Zahlen über die Verwertung des N gehen in ala Versuchen 
ziemlich weit auseinander. Begnügt man sich aber mit den Mittelzahlen, 
so würde der N-Verlust zwischen 41-15 und 39-2 Prozent betragen. 
Nach meinen Versuchen ist der Verlust 39-3 Prozent. Will man auf die 
Versuche mit anderen Ausmahlungen zurückgreifen, so sieht mant!, daß 
Roggen bis 15 Prozent Ausmahlung keine bessere und keine schlechtere 
Ausnützung gibt, auch wenn die Experimente mindestens je eime Woche 
dauern und die Versuchsreihe überhaupt sich über die Zeit von 6 Wochen 
erstreckt, was mit Rücksicht auf die sogenannte „Akkommodation“ gesagt 


sein mag, falls solch ein Argument in der Zeit, wo seit Jahren mit seltenen 


Ausnahmen vegetabilische Kost genossen wird, noch nötig wäre. 

Alle anderen in der Tabelle aufgeführten Versuche zeigen Werte, die 
fast völlig übereinstimmen, mit Ausnahme des Finklerbrotes aus den an- 
sedeuteten Gründen. Weder die einfache Vermahlung, noch die übliche 
Schälung, noch das Klopferverfahren gibt auch nur eine die Fehlerquelle 
überschreitende Verschiedenheit. Ausgenommen ist aber in allem dieser 
Versuch einer einfachen Schrotung des Kornes. Stets ist die Kleie ent- 


1 Dies Archiv. 1916. Physiol. Abtlg. S. 193. 


4 


en a 


ie Fe er, 


x 
UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. I 


weder fein zermahlen oder zerquetscht. - Daraus kann man schließen, daß 
kein Verfahren bei Roggen eine Vermehrung der N-Ausbeute erzielt hat, 
so viel auch über Aufschließung der Kleiezellen geredet werden mag. 
Auch keine der Versuchspersonen war mit einer besonderen Eigenschaft 
der Auflösung der Zellmembran behaftet. Ich verweise aber auf die 
näheren Angaben beim Abschnitt Finklerbrot, wo die finklanisierte Kleie 
vielleicht etwas besser ausgelaugt wurde, als man hätte erwarten dürfen, 
mit 34-4 Prozent Verlust. Hier liest aber eine Kombination zweier 
Nahrungsmittel vor, der Kleie und des Weizenmehles, so daß geringe 
Differenzen in der Berechnung möglicherweise eine Besserung um ein paar. 
Prozente vortäuschen. 


Betrachtet man die Angaben über den Proteinverlust, der nur in 
senäherten Zahlen gegeben werden kann, so bleibt er bei den Broten mit 
gleichem Zellmembrangehalt derselbe und steigt nur bei dem Growittbrot 
‚um einige Einheiten. Er ist aber in der Roggenkleie selbst — mit den 
obigen Vorbehalten — kaum abweichend von den übrigen Beobachtungen. 
Die Menge des Stoffwechsel-N ist, auf den N der Zufuhr bezogen, nur 
wenig schwankend, nimmt aber natürlich bei Kleiezuwachs wegen der 
höheren N-Zahlen, wie wir später sehen werden, zu. 


Im Kalorienverlust sind die äußersten Abweichungen bei dem Roggen- 
versuch 1-6 Prozent; gleichgültig wie die Vermahlungsweise ist, es wird 
derselbe Prozentsatz verloren, die Menge des wirklich Unverdauten und 
der Stoffwechselkalorien ändern sich (von der Kleie abgesehen) kaum, 


Die Zellmembranverdauung schwankt, aber innerhalb von Grenzen, 
die für diesen Nährstoffanteil recht unbedeutend sind. Zwischen der 
Verdaulichkeit bei Quetschung der Kleie und bei feinster Vermahlung 
und Finklanisierung ist kaum ein Unterschied vorhanden. Mit anderen 
Worten für den Darm sind hinsichtlich der Verdaulichkeit der Zell- 
membran alle diese aufgeführten besonderen Verfahren belanglos. Viel- 
leicht könnte man sagen, daß die gewöhnliche Schälung eine etwas 
geringere Ausnützung zeigt, zumal es sich hier doch immerhin um das 
Ergebnis aus 4 Wochen Versuchszeit handelt. Es ist also praktisch 
gleichgültig, wie man im einzelnen verfahren will, wenn es sich im all- 
gemeinen um feine Zermahlung handelt. Den Gegenversuch mit grober 
Ausmahlung habe ich nicht gemacht, darüber wird später noch etwas zu 
sagen sein; alle die speziellen Methoden, deren Prüfung erwünscht war, 
legen mit Recht Wert auf die gute Vermahlung. Dies ist nicht nur aus 
Gründen der Resorption, sondern auch mit Rücksicht auf die Kot- 
ausscheidung und die Verhütung der Härtung des Kotes angebracht. 

Archivf.A.u.Ph. 1917. Physiol. Abtlg, 99% 


338 MıAx RuBner: 


R.O. Neumann hat nach seiner Methode, die, wie erwähnt, die 
Resultate nicht unmittelbar mit meinen vergleichen läßt, folgende Ver- 
luste gefunden: 


Trocken- a Boh- NS: 
substanz faser 

Für Growittmehl fein vermahlen .. 12-14 21-0 52-9 51-9 
Re = Ai Ku 11:78 20-5 56-6 47-3 
rn 1 srob ; pe 13-55 23-5 53-1 ° 56-3 
Klopferbrot nen a0. 2 2a Ne 11-29 21-5 71-0 23-8 


Diese Angaben stimmen mit den meinen in dem Sinne überein, daß 
zwischen Klopfervermahlung und Growittverfahren nur in der Richtung 
ein Unterschied besteht, daß die Rohfaser und Zellmembran bei letzterem 
Verfahren etwas besser verdaut wird, was praktisch ohne besonderen 
Belang ist und höchstens eine gewisse Mehrung der Kotmenge bei dem 
Klopferbrot bringen würde, die von den Konsumenten kaum wahrgenommen 
wird. ! 

Für gesunde Leute im kräftigsten Mannesalter ist also eine Aus- 
mahlung des Brotes von 6-2 bis 8-7 Prozent Gehalt an Zellmembran 
erträglich, und innerhalb dieser Grenzen sind die Verluste bei den 
einzelnen Bestandteilen etwa proportional ihrer Menge in der Nahrung. 

Mit diesem Ergebnis muß man die Versuche mit Zubacken von auf- 
geschlossenem Stroh in einer Menge, welche die Werte von Finklerbrot 
und Growittbrot im Zellmembrangehalt nicht überschritt (8-9 Prozent) 
vergleichen, wobei sich ergeben hatte, daß diese Art von Zellmembran 
sehr ungünstig auf die Ausnützung wirkt, indem sie die Ausnützung aller 
wesentlichen Substanzen im Darm merklich herabdrückt. Dies stand im 
Zusammenhang mit der schlechten Verdaulichkeit dieser Zellmembran aus 
Stroh, von welcher 88-4 Prozent zu Verlust gingen. Ähnliches sieht man 
auch bei den Versuchen mit Spelzmehlzusatz?, ein Gemenge mit 9-6 Prozent 
Zellmembran steigert den allgemeinen Kalorienverlust um 2-9 Prozent, 
ein Gemenge mit 10-5 Prozent Zellmembran um 5-3 Prozent über den 
Durchschnitt des Brotes, welchem die Spelze beigemischt waren (13-8 Pro- 
zent Verlust). Da die täglich zugeführte Nahrungsmenge sehr viel kleiner 
war als in den oben angeführten Brotversuchen, kann eine einfache Über- 
lastung des Darmes nicht vorgelegen haben, sondern die Art des ver- 
fütterten Materials, die Spelzen, verhielten sich so, daß man bei ihrer Ver- 


1 Dies Archiv. 1917. Physiol. Abtle. S. 88. 
?2 Ebenda. 1916. S. 114. 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 339 


wendung noch einen zum Teil erheblichen Schaden an wahren Nährstoffen 
zu verzeichnen hatte. Da die Spelzen selbst nicht unverdaulich waren, so 
muß man eine besondere Wirkung auf den Darm annehmen. Die’ Kleie 
der Zerealien gegenüber den Wurzelgemüsen, Blattgemüsen und Obst, eine 
relativ schwer verdauliche Zellmembran, ist doch wieder günstiger in 
ihrer Rückwirkung auf den Darm, insofern sie innerhalb der besprochenen 
Grenzen, wie in den einzelnen Abschnitten erwähnt wurde, keine deutliche 
Schädigung der Resorption wichtiger Nahrungsstoffe herbeigeführt zu 
haben scheint. Auf eine nähere Begründung dieser Behauptung werde 
ich später einzugehen haben. 

An die vorstehende, mehr konkrete Betrachtung der Verdaulichkeit 
der verschiedenen Brottypen habe ich noch eine eingehende Betrachtung 
‚anzuschließen, welche die Vollkornfrage nach ihrer physiologischen und 
volkswirtschaftlichen Bedeutung näher ins Auge fassen soll. Es wird heut- 
zutage in denkfähigen Kreisen natürlich der Verdaulichkeit eines Nahrungs- 
mittels ein Wert zugesprochen, man will wenigstens einen objektiven 
Führer, der die Vergeudung von Nahrungsmaterial hindert, haben. Diese 
Gesichtspunkte sind, wie man mit Bedauern feststellen muß, von jenen 
Kreisen, deren Entscheidung über das Sachverständigenurteil so gerne 
hinwesschreitet, nicht beachtet worden. | 

Ich muß. hier betonen, daß man die Ergebnisse im Ausnützungs- 
versuch für die allgemeine Beurteilung nicht überschätzen oder als allein 
maßgebend betrachten darf, nicht hinsichtlich der Verallgemeinerung auf 
alle Personen,/gleichen Berufs und Alters, noch weniger auf alle Alters- 
klassen. Ich erinnere in dieser Hinsicht an das Unvermögen 6 bis 7 Monate 
alter Kinder, die Zellmembranen des Spinats zu verdauen, obschon dieser 
zu den leicht resorbierbaren Blattgemüsen gehört. Die Ausnützungs- 
versuche, meist oder fast ausschließlich an jungen, gesunden, kräftigen 
Männern ausgeführt, geben uns die optimalen Leistungen; für die Ver- 
allgemeinerung auf eine ganze Bevölkerung, als Richtlinien für die Volks- 
ernährung können wir uns darauf nicht verlassen. Entscheidend hierfür 
wäre nur der Massenversuch, der als messender Versuch nicht so durch- 
geführt werden könnte, wie es wünschenswert ist. Man könnte sich nur 
im allgemeinen auf jene Angaben stützen, die man über die Bekömmlich- 
keit solcher Brotarten erhält, wenn nicht hier das subjektive Urteil allzu 
schwerwiegend wäre; immerhin haben die Erfahrungen doch so viel er- 
kennen lassen, daß wir mit den weitgehenden Ausmahlungen und dem 
dabei auf der Masse liegenden Zwang, der eine andere Beköstigung aus- 
schließt, die Grenzen der Brotsoren, welche wir unbeschadet der gesundheit- 
lichen Verhältnisse dauernd genießen können, weit überschritten haben. Die 

292 


340 Max RüBNER: 

bei vielen außergewöhnlich stark vermehrte Kotbildung nach Masse und 
Häufigkeit läßt auch die Grenzen für die ungenügende Ausnützung ver- 
mutlich sehr viel weiter ziehen, als die direkten Klagen reichen. 

Das ist auch verständlich, zumal die Zahl derer, die in Friedens- 
zeiten aus eigener Wahl ein Bedürfnis nach Brot aus Mehl hoher Aus- 
mahlung haben, eine verschwindend kleine ist. Sodann wird die Kleie- 
menge im Brot so hoch gesteigert sein, daß relativ geringe weitere Ver- 
mehrung der Zellmembranen zu nachweislichen Abnahmen der Ausnützung 
bei optimalen Versuchsbedingungen führen, und dadurch ist die Wirkung 
auf die Massen dementsprechend ungünstiger geworden. 

Der Nutzeffekt für die Verwertung zur öffentlichen Nahrunss- 
versorgung für die Zwecke der Ernährung wird dadurch in Frage gestellt. 
Um es nochmals zu betonen, Ziel und Aufgabe der Ermährungsfürsorge 
kann nicht darin bestehen, mit der Kleieanreicherung erst kurz vor jenen 
Grenzen haltzumachen, wo in nächster Nähe die Leistung des Darmes 
unter optimalen Verhältnissen versagt. Bei der Bewertung eines Nahrungs- 
mittels nach den Ausnützungsverhältnissen muß auch die ganze Stellung 
einer solchen Substanz zu den anderen, zur durchschnittlichen Leistung 
des Darmes in Erwägung gezogen und kritisch beurteilt werden, wobei 
auch die Bedeutung eines Nahrungsmittels als Teil unserer Gesamt- 
ernährung wohl im Auge zu behalten ist. Ein Volksnahrungsmittel, 
welches über vier Zehntel unseres Bedarfes deckt, ist anders zu beurteilen 
als Dinge, die gelegentlich oder nur in relativ kleinen Mengen in der Kost 
enthalten sind. 

Eine gute Resorption ist aber auch möglich, ohne daß deswegen alle 
aus physiologischen und hygienischen Gründen zu fordernden Eigen- 
schaften eimer Nahrung vorhanden sind. Daher wird auch diese Seite 
der Frage notwendigerweise ergiebig zu erörtern sein. Ein wichtiger Faktor 
ist nach meinen Untersuchungen die Kombination der Nahrungsmittel, 
das vermag, wie in einer späteren Abhandlung gezeigt wird, die Ergebnisse 
wesentlich zu modifizieren, auch hinsichtlich der Resorption, wobei unter 
Kombination die einfache Speisenfolge oder das Zusammenverarbeiten 
getrennt werden muß. Auf diesen Gesichtspunkt muß ich hinweisen, um 
nicht die eben angeführten Resultate %ls ein abschließendes Urteil zu 
betrachten. | 

Der Roggen hat in der Kriegszeit eine größere Bedeutung erlangt, 
weil er das Hauptmaterial unserer Broternährung darstellt. In einer 
früheren Abhandlung haben Thomas und ich bereits die Bedeutung ver- 
schiedener Ausmahlungssrade näher untersucht und zugleich die Einwirkung 
des Kartoffelzusatzes bei verschiedenem Ausmahlungsgrad festgestellt. 


Dt 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBEROTE. 341 


Da inzwischen neue Brotverordnungen die Basis der Ausmahlung 
verändert haben und verschiedene abweichende Mahlverfahren dringend 
empfohlen werden, war diese neue Untersuchung notwendig geworden, bei 
der es sich im allgemeinen um die Prüfung von Brotarten handelt, die in 
ihrem Kleiegehalt auch für völlig Gesunde an die Grenzen des Frträg- 
lichen hart heranzukommen scheinen. 

Die vorliegenden Untersuchungen, zusammengenommen mit den ander- 
weitigen, in dieser Zeitschrift! veröffentlichten, geben uns ein zutrefiendes 
Bild über den Wert und Unwert einer hochgradigen Ausmahlungsweise, 
über die Ursache dieser Verschiedenheit und über die Verdaulichkeit. 

Aus den von mir ausgeführten Analysen kann man ersehen, welche 
Zusammensetzung, welchen Nährwert und welche Verwertbarkeit den 
einzelnen Produkten der Vermahlung zukommt, Schälkleie und Mahlkleie, 
Kleie verschiedener Ausmahlung, Produkte der Reinigung des Kornes, 
Produkte einer späteren Ausmahlung sind vorläufig genau festgestellt. 

Vielleicht wird man finden, daß noch lange nicht alle ‚‚Vollkornbrote‘“ ? 
untersucht sind; dazu liegt allerdings kein Anlaß vor. Man braucht nur 
die verschiedenen Patente der Getreidevermahlung durchzusehen, um zu 
empfinden, daß hier kein Ende für die physiologischen Prüfungen zu finden 
wäre. Massenuntersuchungen dieser Art, falls sie beliebt würden, können 
für die Beurteilung von technischen Erfindungen gewiß noch ihren Wert 
erlangen und werden im Zusammenhang mit solchen angestellt werden 
müssen; für die physiologischen Teile glaubte ich mich auf die vorliegenden 
beschränken zu müssen, zumal die Gewinnung von Korn für die Experi- 
mente doch recht erheblichen Schwierigkeiten begegneten und schließlich 
völlig geeignetes Material nicht mehr zu erlangen war. 

Eine Lehre möchte ich allen denen, die auf diesem Gebiete mit 
bekanntem Ausgangsmaterial arbeiten wollen?, auf den Weg geben, näm- 


1 Dies Archiv. 1916. Physiol. Abtlg. S. 6 u. 165. 

2 Eine außerordentlich eingehende experimentelle Prüfung über das Vollkorn- 
brot ist von R. O0. Neumann ausgeführt worden (Vierieljahrsschrift f. gerichtliche 
Medizin u. öffentliches Sanitätswesen. Dritte Folge. Bd. LIII. Heft 1). Wenn ich 
nicht in allen Fällen auf die Ergebnisse näher vergleichend eingehen kann, so liegt 
das darin begründet, daß die Versuchsanordnung bei Neumann das Brot als 
Zulage zu einer einfachen gleichbleibenden animalischen Grundnahrung gegeben 
hat, um die Verzehrung des Brotes tunlichst dem praktischen Gebrauch anzupassen, 
während bei meinen Experimenten in erster Linie auf möglichst einfache Versuchs- 
bedingungen Wert gelegt werden mußte. 

3 Angaben über Ausmahlungseffekt und wirkliche Ausbeute gehen oft weit 
auseinander. So z. B. beim Steinmetzverfahren, bei dem bei 5 Prozent Verlust 
alle Kleie bis auf die Schlauchzellen weggenommen werden sollte, tatsächlich 


342 Max RUBNER: 


lich die sorgsamste Überwachung des Mühlenbetriebes und der Probe- 
entnahme durch wissenschaftlich und technisch geschulte Kräfte. Bei 
einem Vergleich verschiedener Mahlsysteme muß man mit ganz anderer 
Sorgfalt in der Auswahl der Rohmaterialien und mit viel: eingehenderen 
Methoden der Untersuchung der Mahlprodukte vorgehen, als es früher 
und in neuester Zeit noch geschehen ist. ‘Gerade die ausgedehnten Unter- 
suchungen der letzten Jahre zeigen, daß es zwecklos ist, einen experi- 
mentellen Aufwand an Produkte zu verschwenden, deren Zusammensetzung 
dem Experimentator nicht bekannt ist. | 

Man wird alle Brotarten, die ich in dieser Abhandlung untersucht 
habe, im gewöhnlichen Sprachgebrauch als Vollkornbrote bezeichnen. 
Dies geschieht aber zu Unrecht. Es ist notwendig, sich über diese 
Bezeichnungsweise näher auszulassen, wenn sie nicht ein bloßer Handels- 
begriff sein soll, wie etwa das Wort Kleie, welches auch Produkte von 
höchst schwankender Zusammensetzung bezeichnet. Für den Wert als 
Nahrungsmittel vom Standpunkt des Stoffersatzes oder hinsichtlich der 
hygienischen Bedeutung der Brotarten überhaupt kann man es bei dem 
bisherigen vagen Begriff „‚Vollkornbrot‘ nicht bewenden lassen. Das Voll- 
kornbrot kann ganz verschieden bewertet werden, je nach seiner Her- 
kunft. Man hat bis jetzt, meine ich, immer übersehen, daß Dekortikation 
und Grade der üblichen Ausmahlung nicht verglichen werden können. 
So ist meines Erachtens ein Verlust bei der Dekortikation von 6 Prozent 
z. B. etwas anderes als eine Ausmahlung des Vollkorns auf 94 Prozent, 
weil die ‚‚Kleien‘“, welche beseitigt werden, ganz verschieden sind. Durch 
die Dekortikation läßt sich die Zellmembran eher ohne nennenswerten 
Mehlverlust abscheiden als bei der sonst üblichen Ausmahlung. 

Kleie enthält nach meinen Analysen etwa 26-36 Prozent Zellmembran, 
bei 20 Prozent Ausmahlung hat man also im Mehl 5-2 bis 7-2 Teile Zell- 
membran. Man bringt im ersten Falle z. B. ein Mehl von einem Vollmehl 
mit 11 Prozent Zellmembranen auf 5-8 Prozent. Dasselbe Ergebnis kann 
aber eine gute Schälung des Kornes auch erreichen. Ausmahlung und 
Veränderungen durch Dekortikation sind demnach verschiedene Dinge. 
Weil man diese Besonderheiten nicht beachtet, haben sich in der Literatur 
eine ganze Reihe widersprechender Angaben über die ‚„Ausnützung‘ gehäuft. 

Nach dem Wortlaut kann Vollkornmehl nur solches Material sein, 
das alle Teile des gereinigten Kornes ohne Ausnahme umfaßt, wobei nur 
der unvermeidliche Verlust beim Reinigen und Mahlen gegeben ist, der 
aber nur 75 bis 82 Prozent Mehlausbeute gefunden wurden. Praussnitz und 


Menicantı haben für solche Proben 10-43 Prozent ‚Verlust der Trockensubstanz 
und 29-2 Prozent N-Verlust gefunden. 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 34a : 


auf 4 bis 5 Prozent zu bemessen sein wird. Solche Vollkornbrote gibt es. 
Mit demselben Namen werden aber auch Brote bezeichnet, die gereinigt 
und dekortiziert sind, wobei man angeblich nur die Fruchtschale abtrennt. 
Außerdem kommen aber auch wieder Vollkornbrote vor, die nach meinen 
Untersuchungen so stark geschält und ausgemahlen worden sind, daß sie 
kaum einer sonst üblichen Ausmahlung von 80 Prozent entsprechen. Auch 
im Auslande sind die Bezeichnungen ebenso unklar wie bei uns. Angeblich 
versteht man unter „Whole meal flour‘ in England ein Mehl aus ganzem 
Korn, man nennt es in Amerika Grahammehl. Tatsächlich wird aber auch 
Mehl aus dekortiziertem Getreide mit dem gleichen Namen belegt. Dafür 
wird umgekehrt ein aus dekortiziertem Getreide hergestelltes Mehl in 
Amerika auch ‚„‚Antire wheal flour‘“ genannt, was zu einem Mißverständnis 
herausfordert. 

Die einzelnen Abstufungen der Ausmahlung sind auch so verschieden, 
daß es einer besonderen Erfindung bedürfte, um alle Prozesse mit be- 
sonderen Namen zu belegen. Ich habe gezeigt, daß die Vermahlung alles 
umfassen kann, was das vom Acker:kommende Getreide enthält, Korn, 
Unkrautsamen und Schmutz, es kann sich weiter handeln um gereinigtes 
und völlig zermahlenes Getreide, ferner um gereinigtes Korn, welchem nur 
ein Teil der Schalen genommen ist (Growittbrot oder wirklich entschältes 
Brot mit nachherigem Keimlinsszusatz) oder einfach entschältes oder um 
die Vermahlung von gereinistem ungeschälten Korn unter Beseitigung der 
Kleie nach dem Hochmüllereiverfahren. Aus allen diesen Gruppen einiges 
als Vollkorn zusammenzufassen, geht gar nicht an, weil man dabei höchst 
ungleichwertige Produkte unter einen Hut zu bringen gezwungen 
würde. 

Bei dieser Sachlage berührt es einen eigenartig, wenn in der halb- 
populären, aber auch in der medizinischen Literatur, und zwar von 
Personen, die sich als einzige Kenner des Vollkornbrotes aufspielen, alle 
möglichen gesundheitlichen Vorteile des Vollkornbrotes gepriesen werden 
oder wenn von Kunert eine Asitationsschrift in Tausenden von Exem- 
plaren in die große Masse geschleudert wird, obsehon nachweislich manche 
Vertreter dieser Richtung sogar recht wenig kleiearme Brote, ohne es zu 
ahnen, für echte Vollkornbrote halten und empfehlen. Wenn wirklich nur 
echtes Vollkornbrot ganz besondere gesundheitlichen Wirkungen erzielt, 
so sind die besonderen Wirkungen vielfach nur eingebildete gewesen, weil 
das Verzehrte eben kein Vollkornbrot war, und wenn die Vollwertigkeit 
in einem hohen Kleiegehalt besteht, so sind viele Sorten Schwarzbrot, 
wie sie auch vielfach schon bisher als Hausbrot genossen wurden, ohne 
daß man ihnen bisher eine besondere Bedeutung beilegte, dem Vollkorn 


344 MAx RUBNER: 


gleichwertig, oder sie enthalten sicher bisweilen sogar noch mehr Kleie- 
bestandteile als dieses.! 

Ich brauche nicht weiter zu betonen, daß heutzutage, um eine objektive 
Handhabe zur Bevorzugung von ‚Vollkornbrot‘ zu haben, der sogenannte 
Vitamingehalt herhalten muß, obschon die Vitaminlehre gerade mit Hin- 
sicht auf das Brot weit mehr Zurückhaltung erfordert, als mancher glaubt. 
Wenn ich dazu, und zwar zum Teil in etwas kritischer Weise, Stellung 
nehme, so geschieht das nicht als eine Ablehnung dieser sehr bedeutsamen 
Fragen, vielmehr nur um die willkürlichen Behauptungen da auszuschalten, 
wo der ganzen Sachlage nach eine Vitaminwirkung als Krankheitsursache 
bei Brotgenuß nicht vorhanden sein kann. Die Wirkungen feinsten Weizen- 
brotes in ausschließlicher Fütterung sind mir wohlbekannt, da diese 
Experimente in meinem Laboratorium von demselben Autor, der sie bei 
Hofmeister ausgeführt hat, fortgeführt worden sind. Nur bin ich nicht 
in der Lage, Näheres mitzuteilen, weil der Kriee den Autor und sein 
Material mir unzugänglich gemacht hat. 

Ich habe aber schon auseinandergesetzt, daß es irrig wäre, von einer 
Kleiefreiheit auch der feinsten Mehle zu reden, überallhin wird die Kleie 
versprengt; über Grad und Menge der erforderlichen Zumischung ist uns 
zurzeit nichts Sicheres bekannt. Ebensowenig steht fest, ob nur ein 
bestimmter Teil der Kleiezellen wirksam ist und welcher. 

Man hat dabei an die verschiedene Natur der Eiweißstoffe gedacht. 
Die Eiweißstoffe des Endosperms enthalten bekanntlich die zwei Eiweiß- 
stoffe Glutelin und Gliadin, welch letzteres in mäßig konzentriertem 
Alkohol löslich ist. ; 8 

Versuche von C. Thomas haben zuerst nachgewiesen, daß der bio- 
logische Wert dieses Eiweißes kein vollkommener ist. Th. B. Osborne 
und Mendel haben später durch Fütterungsversuche mit reinem Gliadin 
gezeigt, daß Tiere auch damit nicht wachsen, sondern erst, wenn man 
Lysin und Tryptophan zugibt. Röhmann? glaubt annehmen zu dürfen, 
daß die fehlenden Atomgruppen des Gliadins in den Kleiezellen sich 
finden, da doch bei der Entwicklung des Embryos neues Eiweiß entstehen 
muß. Durch die Untersuchungen von Haberlandt ist erwiesen, daß die 
Kleiezellen sekretorische Organe sind und Diastase liefern. Ihr Inhalt ist 
aber noch vorhanden, auch wenn das Wachstum der Keimlinge schon weit 


1 Dies gilt sicher für Schwarzbrot vom Lande, von dem 17:66 Prozent der 
Kalorien nach meiner Untersuchung zu Verlust gehen. Ähnliches gilt ferner für 
manches Kleinbrot in Süddeutschland, das aus den späteren Ausmahlquoten des 
Weizens hergestellt wird. 

2 Berliner klin. Wochenschr. 1916. Nr. 5. 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 345 


vorgeschritten ist. Erst dann zerfallen diese sekretorischen Zellen. Dem- 
nach kann die Annahme, daß die Pflanze dieser Zufuhr als besonderer 
Ersänzungsstoffe für ihr Wachstum bedarf, nicht als erwiesen angesehen 
werden. Für das Tier könnten die Verhältnisse ja anders liegen. 

Verfolgt man aber die im vorliegenden begründeten Gedanken weiter, 
so käme man eher zur Annahme einer Einwirkung etwa des Keimlings- 
eiweißes auf die Gesamtvollwertigkeit. Da die Kleie bei der üblichen Ver- 
mahlung auch den Keimling einschließt, so wäre dann erst zu entscheiden, 
wo eine solche wirksame Substanz sitzt, und bei der Wahl zwischen Kleie- 
‚zelleneiweiß oder Keimlingseiweiß wäre es möglich, dab das letztere als 
das biologisch wichtigere auch funktionell für den Eiweißersatz bedeutungs- 
' voller wäre. Daraus würden sich dann besondere Aufgaben für die Art 
der Ausmahlung ergeben. Eine Reihe von Vollkornbroten mit Entschälung 
würden dann minderwertig sein müssen, und Vermahlungen ohne Ent- 
schälung und Entkeimung wären dann die rationellsten. 

Man sieht, selbst unter der Annahme eines besonderen Bedaries an 
Ersatzstoffen ist die Frage nicht geschlossen, sondern noch eine voll- 
kommen offene. 

Versuche aus der neuesten Zeit! geben für die Wirkung der Vitamine 
(des Orypans) wieder eine andere Richtung, insofern sie denselben eine 
Wirkung auf die Sekretion aller untersuchten Drüsen des Verdauungs- 
kanales zuschreiben, sie wären also Drüsenreizstoffe, die zu den Verdauungs- 
prozessen in enger Beziehung ständen. Dann würde allerdings die Beob- 
achtung, daß die einseitig ernährten Tiere, wie ich mich selbst überzeugt 
habe, schließlich genau das Bild des Verhungerns zeigen können und ent- 
sprechend an Gewicht abnehmen, nicht unverständlich. Die Rolle dieser 
Stoffe würde dann allerdings eine ganz andere sein, als man bisher an- 
genommen hat, der vikariierende Ersatz von Kleie durch Bier, Fleisch, 
Käse würde eine allerdings einfache Erklärung finden. 

Auch in dieser Hinsicht bleibt die Frage offen. Jedenfalls sind wir 
heute nicht in der Lage, aus der Vitaminlehre heraus bestimmte Schluß- 
folgerungen für eine anderweitige Herstellung unserer Brote zu ziehen. 

Ebensowenig läßt sich irgend ein Grund angeben für die Wahl zwischen 
Roggen und Weizen aus gesundheitlichen Gründen, eher läßt sich, was 
Ausnützung und Nahrungsstoffgehalt, Backfähigkeit usw. anlangt, vieles 
"zugunsten des Weizens sagen. Wie sehr hier die Gewohnheit entscheidet, 
sehen wir bei den Kriegsgefangenen, die ihr heimatliches Brot zu erhalten 
trachten. Aus der Vitaminlehre kann man nicht einmal die Notwendigkeit 


1 Uhlmann, Zeitschr. f. Biol. Bd. LXVIIL. S. 425. 


346 Mıx RUBNER: | 


eines Einheitsbrotes ableiten, es würde ihr vollkommen entsprechen, wenn 
man, wie das ja tatsächlich geschieht, feines Mehl zu kleinen Gebäcken 
und Mehlspeisen verwendet und der Rest zu Brot verbacken wird, denn 
es würde vollkommen einwandfrei sein, die Kleie auf einzelne Mahlprodukte 
zu verteilen, vorausgesetzt, daß alle Produkte der Ausmahlung von den 
einzelnen aufgezehrt werden. So entscheidend nach mancher Richtung der 
Zellmembrangehalt für das ganze Verhalten der Brotarten ist, so läßt sich 
vorläufig noch nicht bestimmt sagen, ob man Vollkornbrot nach Maßgabe 
des Zellmembrangehaltes definieren könnte. Bisher ist das mir zur Ver- 
fügung stehende Material nicht ergiebig genug, um den Einfluß der natür- 
lichen Schwankung des Rogsgens an Zellmembran auf die Ausmahlungs- 
produkte bestimmen zu können. Meine Werte weisen darauf hin, daß 
wohl rund 9 Prozent Zellmembran sich finden können. Was darunter lag, 
gehört nicht zum Begriff Vollkorn. 

Meine Werte für den Zellmembrangehalt der Brote sind nie so hoch, 
wie sie vielleicht erwartet werden konnten. Wenn man die Zahlen über 
den Zellmembrangehalt der einzelnen Brotsorten und die Zellmembran aus 
ganzem Korn! betrachtet, so sind die Werte viel geringer als die Angaben 
über die Schalenmenge nach Fleurent u.a. 14 bis 16 Prozent „Schalen“ 


werden bei exakter Analyse nie erhalten. Dies hängt natürlich damit 


zusammen, daß die älteren Angaben sich nur auf möglichst auf mecha- 
nischem Wege gesäuberte Kleieanteile beziehen, diese aber noch immer 
eine erhebliche Menge von Asche, Stärke und Eiweiß einschließen. 

Demgemäß ist auch die Ausbeute an verdaulichem Material 
von Roggen in meinen Versuchen viel größer, als man auf 
Grund der älteren Annahmen von Fleurent hätte erwarten 
sollen; die vermehrte Ausbeute hat aber, wie noch auseinanderzusetzen 
sein wird, ihre gewissen Übelstände und Nachteile. 

Immerhin wurde schon früher von mühletechnischen Seiten anerkannt, 
daß man allenfalls die übliche Ausmahlung überschreiten könne. Die 
übliche Ausbeute bei Weizen pflegt 75 Prozent, die des Roggens 65 Prozent 
des verwendeten Kornes zu sein; bei Weizen folgen bei weiterer Ausmahlung 
noch 6 bis 12 Prozent eines dunklen Mehles (Nachmehl), von dem an- 
genommen wird, es könnte helfen, die Ausbeute an Mehl noch erhöhen.? Aus 
meinen Ergebnissen, welche zeigen, daß gereinigtes und geschältes Korn 
weitgehender Ausmahlung besser sein kann als Mehl bei anderweitiger 
geringerer Ausmahlung, scheint hervorzugehen, daß die Schälung, besonders 


1 Dies Archiv. 1915. Physiol. Abtlg. S. 130. 
2 Vgl. bei Maurizio, a.a. O. S. 157. 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 347 


mit Wiederverwendung des Keimlings, eine bessere Scheidung zwischen 
Kleie und Mehl gibt und die leichter verdaulichen Materialien vollkommen 
von den schwer und halbverdaulichen scheidet. Es liest aber die Gefahr 
nahe, daß die Kleberschieht erheblich verletzt wird. Meine Versuche 
können nicht beanspruchen, in einer solchen mühlentechnischen Frage 
entscheidend zu sein, jedenfalls aber sollten die hier gegebenen Gesichts- 
punkte einer geeigneten weiteren Prüfung unterzogen werden. 

Es gibt eine Not an Nahrungsmitteln, die gebieterisch die höchste 
Ausbeute an verdaulichen Nahrungsstoffen erfordert; die erste und 
wichtigste Maßregel in Notzuständen ist vom ernährungsphysiologischen 
Standpunkt die Deckung der Kalorienbedürfnisse, also die Hilfe in der 
srößten Ausnützung der Nahrung. Erst in zweiter Linie steht die 
Befriedigung des Eiweißbedürfnisses. Ich habe auf diese Notgesetze in 
diesen Kriegszeiten oft hingewiesen, ohne richtig verstanden worden zu 
sein. Es wird später Gelegenheit sein, diese Richtlinien ernährungsphysio- 
logisch zu begründen. Sie als allgemeine Grundsätze der Volksernährung 
hinzustellen, wäre aber ein’ grober Irrtum, was vorübergehend zu ı billigen 
ist, kann recht wohl auf die Dauer unerlaubt sein. 

So wird auch der Gedanke des Einheitsbrotes aus maximalster Aus- 
mahlung usw. wieder von der Bildfläche verschwinden. Das Einheits- 
brot ist aber bekanntlich eine Brotform, die allgemein gar nicht zur 
Anwendung kommen kann, weil seine Wirkungen auf die Menschen viel- 
fach so nachteilig sind, daß auch jetzt noch nebenbei Brot von geringerer 
Ausmahlung bereitgestellt werden muß, weil ohne diese Hilfe sehr bedenk- 
liche Folgen gesundheitlicher Art sich ergeben. 

Dies wird noch auffälliger, wenn das Einheitsbrot den höchsten Aus- 
. mahlungsgrad besitzt, wie es jetzt der Fall ist; wir wissen aus der Kriegs- 
zeit, daß das Bedürfnis nach Vollkornbrot in der Bevölkerung sehr gering 
war. Der Verbrauch für die Befriedigung solcher Sonderwünsche hat, wie 
mir berichtet wird, etwa 1000 Tonnen Getreide pro Monat nur wenig 
“ überschritten. Das sind also, wenn die Angabe richtig ist, verschwindende 
Mengen im Verhältnis zur Gesamternährung. Es ist daher der ganz 
überwiegende Teil der Bevölkerung unter neue Ernährungs- oder Verdauungs- 
bedingungen gestellt “worden, um mit den Kornmengen auszukommen. 
Man ist auf Kosten der Verdaulichkeit zu einer Gleicherhaltung der Brot- 
menge übergegangen, also unter Einbuße von Nährwert. Der Gesichts- 
punkt Vermehrung der Nahrung ist also nur beschränkt bei diesen Kriegs- 
maßnahmen anzuerkennen. Vom reinen Quantitätsstandpunkt und der 
Deckung der Kalorienbedürfnisse kann man sich nicht in allen Fragen 
ausschließlich leiten lassen. Auch für die Ausmahlungsfrage können noch 


348 MAx RUBNER: 


andere Gesichtspunkte zu ihrer Beurteilung herangezogen werden. Wenn 
man in Notzuständen auch sagen muß, Vermehrung der verdaulichen 
Nahrung ist das erste Ziel, so ist doch, wir wissen das recht wohl, dieser 
Satz nur bedingt richtig, denn die allgemeine oder Volksernährung ist 
ebensowenig wie die Individualernährung ein reines ausschließliches Stoff- 
wechselproblem. Mit einer gesunden Nahrung muß zwar das Stoffwechsel- 
problem gelöst sein, aber die Ernährung muß stets ihre diätetischen Auf- 
saben lösen durch Gewinnung von verschiedenen Nahrungsmitteln und 
ihrer richtigen Darbietung. Wenn es auch möglich ist, viele Nahrungs- 
mittel durch andere zu ersetzen, wenn man auch im Notfall dazu greifen 
wird, so ist doch der Ausfall bestimmter Nahrungsmittel keineswegs so 
ohne jede Rückwirkung auf die allgemeine Gesundheit. Es lassen sich 
z.B. auf die Dauer nicht die fetthaltigen Nahrungsmittel ganz durch 
stärkereiche ersetzen, ohne zu Mißständen, Störungen und Schäden zu 
führen. Und ebenso kann die Erwägung Platz greifen, ob es nicht not- 
wendig ist, entgegen dem allgemeinen Sparprinzip, doch beschränkte An- 
teile menschlicher Nahrung der Tierzucht zu überweisen, um dadurch eine 
Umwertung der Produkte, wenn auch mit Verlusten, zu erzielen. 

Diese Umwertung wird zwar als ein unerlaubter Verlust angesehen 
und als ein Luxus; als allgemeines Prinzip, die Umwertung pflanzlicher 
menschlicher Nahrung in Tierprodukte zuzugestehen, habe ich dies Vor- 
sehen stets bestritten, doch lassen sich Tatsachen anführen, welche 
wenigstens in beschränktem Maße gelegentlich eine Lockerung des Prinzips 
richtig erscheinen lassen. Ein Beispiel hierfür ist die Milchproduktion. 
In der Bevölkerung gibt es zahlreiche Individuen, die unter dem Verzicht 
eines Nahrungsmittels, wie die Milch z. B., leiden und bei Deckung der 


Nahrung auf anderem Wege Schaden nehmen. Unter diesem Gesichts- 


punkt kann die Abgabe eines Teiles menschlicher Nahrung zur Milch- 
produktion gerechtfertigt sein. Solch ein Fall liegt bei der Verwendungs- 
möglichkeit der Kleie vor, welche, als Kraftiutter anderem Futter zu- 
gesetzt, in der Lage ist, erhöhte Beträge an Milch zu liefern. “Hierbei 
kann sogar unter Umständen das ökonomische Prinzip gewahrt bleiben, 
falls z. B. das Einheitsbrot nicht nutzbringend, d.h. genügend verdaut, 
verwertet wird, während die Abgabe der Kleie die Milchproduktion erhöht 
und resorbierbarere Werte liefert. Der kriegswirtschaftliche Begriff formt 
sich hier zur gesundheitlichen Notwendigkeit um. 

Die tatsächliche Lage der Versorgung mit Brotgetreide antontlent aber 
nicht einmal eine so minutiöse Auswertung der letzten Kalorien für die 
menschliche Ernährung, denn es ist erwiesen, daß in allen Jahren des 


Krieges niemals das Getreide für den Menschen so weit zur Ernährung 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 349 


herangezogen worden ist, wie es den Ernten gemäß möglich war. Gerade 
das Vollkorneinheitsbrot hat mit der Sperre aller Kleie für die Landwirt- 
schaft notgedrungen der Verfütterung des Kornes Vorschub geleistet, also 
Nahrung dem Menschen entzogen. Der Landwirtschaft würde durch 
Lieferung von Kleie das entsprechende Äquivalent von Korn entbehrlich 
sein, den Menschen aber würde ein besser assimilierbares, und immer- 
hin keineswegs überverfeinertes Mehl zur Verfügung gestellt werden 
können. 

Die übertriebene Einengung des menschlichen Getreidekonsums hat 
zur Verschlechterung des Brotes, so auch zu einer Reduktion der resorbier- 
baren Nahrung geführt; ein zielbewußtes Vorgehen mußte eine zweck- 
mäßige Scheidung der Produkte für Mensch und Tier zu erreichen in der 
Lage sein. 

Neben der Quantitätsfrage kommen aber noch andere wichtige 
Gesichtspunkte in Betracht. 

Über die Wohlbekömmlichkeit sind die Meinungen der Konsumenten 
selbstredend sehr verschieden. Es fragt sich aber, ob man unter diesen 
‚Worten nicht einige faßbare Eigenschaften finden kann. Wohlbekömm- 
lichkeit ist ein Begriff, der, namentlich aus der Laiensprache entlehnt, 
allen möglichen Vorstellungen über Wert und Unwert des Brotes sich 
anpassen kann. Näher umschrieben, bedeutet das wohl auch gesundheits- 
mehrend, d.h. er betrifft, angewandt auf das Brot, das ganze Füllhorn 
besonderer Eigenschaften, die in der halbpopulären Literatur dem Brote 
zugeschrieben sind. Beschränkt man sich auf die im Laufe der Verdauung 
vorkommenden Erscheinungen, so mag der Ausdruck als gleichbedeutend 
mit Ertragbarkeit gebraucht werden. Unter dieser Voraussetzung kann 
man sagen, daß bei ausschließlicher Broternährung mit der Zunahme 
der Kleie im Brot das fälschlich als Sättigung bezeichnete Gefühl 
. zunimmt, von dem schon erwähnt wurde, daß es mit steigendem Reich- 
tum an Zellmembranen bis zu Magenbeschwerden und Störungen sich 
steigern kann. 

Objektiv feststellbar ist weiter die Zunahme der Gasbildung; daß 
erhöhte Gasbildung zu der Steigerung der Wohlbekömmlichkeit zu rechnen 
wäre, hat man bis jetzt noch nicht allgemein anerkannt und wird es auch 
nicht anerkennen. 

Die dritte objektiv feststellbare Veränderung bei dem Einheitsbrot 
ist die starke Zunahme der Kotmasse, die den durchschnittlichen Bedarf 
einer täglich mehrmaligen Defäkation erforderlich zu machen pflegt. Auch 
diese Erscheinung kann nicht als Wohlbekömmlichkeit oder deren Steige- 
rung bezeichnet werden. 


350 Max RUBNER: 


Bei der allgemein üblichen Ernährung des Volkes kann man sagen, 
daß namentlich die Beschaffenheit des Brotes, d. h. sein Kleiegehalt, zum 
ausschlaggebenden Faktor der Kotbildung wird, wenn man von den 
Ausnahmefällen der Aufnahme der Hülsenfrüchte oder des Obstes mit 
Kern und Schalen einmal absieht. Auch bei der relativ kleinen Brotmenge 
der Kriegszeit ist dieser Einfluß auf die Kotentleerung sehr bemerkbar 
und steigert sich bei den Brotzulagen noch mehr. Für den menschlichen 
Darm sind die Gemenge von Mehl und Kleie, wie sie jetzt verzehrt werden, 
über das Maß des üblichen Füllungsraumes des Darmes hinausgehend und 
dadurch also belästigend und unbequem, besonders für den Städter, der 
im üblichen Leben diese Funktionen einzuschränken wünscht. 

Die vierte Veränderung betrifft endlich die starke Eindiekung des 
Kotes, welche die. Kotentleerung schwieriger machen und die Kraft der 
Bauchpresse mehr zu beanspruchen in der Lage ist. Es hängt das mit 
der außerordentlich großen Anreicherung des Kotes mit Zellmembran 
zusammen, die bis zu 35 bis 38 Prozent der Trockensubstanz der ganzen 
Kotmasse nach meinen Analysen ausmachen kann. 

Von einer Akkommodation und Änderung der Bekömmlichkeit mit, 
der Dauer der Brotkostperiode habe ich nichts nachweisen können, auch 
ist von anderer Seite ein solcher Beweis weder erbracht noch einwandfrei 
konstatiert worden. Auch R. OÖ. Neumann hat bei seinen langdauernden 
Versuchen derartiges nicht beobachtet. 

Die Verarbeitung des Kornes in der Mühle muß auch vom Stand- 
punkt der Herstellung eines schmackhaften Brotes betrachtet werden. 
Eine solche Herstellung gelingt nicht in allen Fällen der Vermahlune, im 
besonderen ist der Verbleib des Unrates und Schmutzes im engeren Sinne 
nachteilig für den Genußwert des Brotes. Beim Kauen macht sich die. 
Beimengung relativ geringer Mengen von Schmutz bemerkbar. Der Wohl- 


geschmack ist für die Befriedigung des Appetits von Bedeutung und für 


die Zufriedenheit, die auch ein einfaches Mahl bieten kann. 

Der Geschmackswert, auf den von der Zentralstelle der Getreide- 
versorgung gar kein Wert gelegt wird, muß für jede hygienische Bewertung 
wohl beachtet werden; für die Gesundheitslehre kann auf diese wichtigsten 
Zusammenhänge für die Zukunft kein anderer Maßstab wie bisher an- 
gelegt werden. Verringerung des Geschmackswertes ist eine Unkultur, die 
auch vom Standpunkt des allgemeinen Ernährungswesens zu bekämpfen 
ist. Sie nötigt zu dem bedauerlichen Gebrauch von Aufstrichmitteln für 
Brot und zu dem Zurückdrängen des einfachen Brotgenusses überhaupt. 
Durch die schlechte Beschaffenheit des Kriegsbrotes hat sich der Gebrauch 
der Marmelade über ganz Deutschland ausgebreitet, der Kriegsaufstrich 


» 


mrsgr. 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 351 


wird später höchstwahrscheinlich .durch Fett ersetzt, ein Vorgang, der 
nicht als günstige Entwicklung der Volksernährung betrachtet werden 
kann. Ich habe schon vor dem Krieg auf das Unzweckmäßige hingewiesen, 
das in der Verstärkung der Zwischenmahlzeiten zuungunsten der Haupt- 
mahlzeit liegt. Der Geschmack des Brotes kann sehr leicht durch die 
Zubereitung und Zusätze gestört und werschlechtert werden. Wenn man 
Roggenbrote, aus Mehl verschiedener Ausmahlung hergestellt, betrachtet, 
so geben sie Brot von ganz verschiedenem Geschmack. Am würzigsten 
schien mir bei Roggen stets eine Ausmahlung bis etwa 80 Prozent, 
während die geringere von z. B. 65 Prozent zwar viel weißeres, aber 
zweifellos nicht so wohlschmeckendes Brot liefert. Zusätze anderer Sub- 
stanzen ändern leicht den Geschmack, besonders auffallend war diese Ver- 
schlechterung des Geschmackes bei Zusatz von gepulverten Spelzen und 
aufgeschlossenem Stroh. Auch die Finklerkleie vermindert den Wohl- 
geschmack. Sehr günstig stellte sich das Klopferbrot. Wahrscheinlich 
verdankt es gerade diesen Eigenschaften seinen erheblichen Kundenkreis. 
Das’ Kriegsbrot entbehrt dieser Vorzüge. Auf die Backweise hier ein- 
zugehen, ist nicht beabsichtigt. 

Die Brotirage ist aber kein Reservat für den Roggen, weder aus 
Gründen besonderer Vorzüge dieser Frucht, noch auch mit Rücksicht auf 
die Erträge der Landwirtschaft an Weizen. Der letztere wird daher ebenso- 
gut seine Berücksichtigung finden müssen. Wenn man die Verhältnisse 
nicht mit einer unberechtigten Voreingenommenheit betrachten will, so 
wird man erwarten müssen, daß man im Frieden bei freier Brotversorgung 
wieder zur alten Backweise, d.h. zur Differenzierung des Gebäckes, 
kommen wird, ob in dem gleichen Maße wie früher, das mag der Zukunft 
vorbehalten bleiben. Diese Sitte hat bei steigendem Wohlstand auch der 
Arbeiterklasse dahin geführt, daß in diesen Kreisen der Verbrauch von 
Kleinbrot sich ganz besonders und über Gebühr eingebürgert hat. Als 
man noch glaubte, durch Predigen von Vernunft gegen den übermäßigen 
Konsum von Weißbrot ankämpfen zu können, ist man gerade in diesen 
Kreisen der sogenannten Minderbemittelten auf den größten Widerstand 
gestoßen. Im übrigen hatte die Differenzierung des Brotes auch seine 
soziale Seite. Bei der Teilung der Ausmahlung in feine Luxusbrote und 
in das Schwarzbrot war der Preis des ersteren sehr hoch, so daß bei dem 
Schwarzbrot auf Kosten des Weißbrotes eine Verbillisung eintreten Konnte. . 
Diese Selbstbesteuerung der Konsumenten fällt zweifellos für die wirklich 
Minderbemittelten wohl ins Gewicht. Ob wir uns auf die einheimische 
Produktion mit überwiegend Roggen beschränken werden oder die 
Handelsbedürfnisse sich anders gestalten, steht hier nicht zur Besprechung. 


352 MAx RUBNER: 


Keinesfalls sollte man aber vergessen, daß die stark ausgemahlenen Mehle 
an sich und der Roggen im besonderen zurzeit eine wichtige Ernährungs- 
weise unterbinden, die Herstellung der Mehlspeisen und Teigwaren u. dgl., 
und daß es durchaus unerwünscht wäre, die Ergänzung unserer Kost in 
dieser Hinsicht hemmen und unterbinden zu wollen. 


Wenn auch durch die vorstehenden Untersuchungen über das Rosgen- 
brot die Ausnützungsirage jetzt auf eine bessere Basis gestellt und das 
angeblich verschiedene Verhalten des Brotes verschiedener Herstellung 
geklärt worden ist, so möchte ich doch die Beziehungen zwischen Roggen 
und Weizen nicht ganz außer acht lassen, weil diese Seite des Problems 
gerade für die Volksernährung und speziell für die Ernährung auf dem 
Lande in vielen Teilen Deutschlands von großer Bedeutung ist. Außer- 
dem habe ich auf meine übrigen hierher gehörigen, auch älteren Versuche 
vergleichsweise einzugehen. Ich habe dann später auch nach Möglichkeit 
die Versuche anderer Autoren, soweit sie noch keine Berücksichtigung 
haben finden können, nach geeigneter Kritik und Umformung zum Ver- 
gleich herangezogen. 

In nachfolgender Tabelle 8.109 habe ich zunächst die Resultate meiner 
Untersuchungen über Weizen- und Roggenmehl verschiedener Ausmahlung 
zusammengestellt und zu den neuen Ergebnissen auch noch meine früheren 
gefügt. 

Die Aufrechnung der älteren Versuche nach Kalorien fußt auf meiner 
Beobachtung, daß die Verbrennungswärme der organischen Substanz der 
Brotarten außerordentlich nahe übereinstimmend war und daß auch für 
die organische Substanz des Kotes sich aus meinen so zahlreichen direkten 
Bestimmungen der Verbrennungswärme Mittelwerte einführen lassen, 
welche einen durchaus zureichenden Grad der Genauigkeit besitzen. So- 
weit bekannt, habe ich die Ausmahlung und in den meisten Fällen den 
Zellmembrangehalt angeführt. Einige Versuche, die vollkommen mit auf- 
geführten Beispielen übereinstimmen, habe ich beiseite gelassen. Die 
Tabelle ergänzt sich durch die Weizenversuche und einen Versuch über 
Gerste. | 

Das Gesamtresultat läßt ersehen, daß der Prozentverlust an Kalorien 
bei Weizen- und Roggenbrot, vorausgesetzt daß der Zellmembrangehalt 
‚des Brotes 8-75 Prozent nicht übersteigt, höchstenfalls 15 bis 16 Prozent 
erreicht; bei Roggenbrot war bei der geringsten Ausmahlung, das heißt 
65 Prozent, wie sie gewöhnlich geschieht, der Verlust 9-8 Prozent, noch 
feineres Roggenmehl habe ich nicht erhalten können. Die Mehrung des 
Verlustes wird man zunächst in dem Bestandteil des Mehles suchen 


Er E NE I Den 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 353 


‚alEr£| _ = ® a else 
a8 322 5, syals 23 en. 32 [E88 
133 jasel 23 8528.38, |23 28 183 
Ba ee a8 Be 5 ia dal,es 
ES [o) © = Sr en 
en, , © Ks As 
Weizen 95 — /12:20| — — 30-50) — = = 
ee ae a 
So oe ano 
Weizen .......| 80% | 5-09 |11-10) 7-30 | 4-80 | 21-10) 11-90 | 53-04 [29-31 
| / 30: | 1-27 | 4-58| 2-78 | 1:72 |13-82| 6-51 |32-50|11-90 
ee»... — 15:79 | 9-53| 3-78 | 5-75 |32-49 | 19-01 | 38-97 | 26-04 
Born. .... OD re ee 
Se. Neal ee 
Growitt” 2.2... 95 | 8-75 \14-80| 7-50 | 7-30 |39-30|25-90|47-00 | 33-80 
82 |(6-69 |13-80) 7-10 | 6:70 \40-30| 21-10 |55-70 | 31-80 
Roggen mit 10%, Mais | 94 6-46 |15-00| 5-75 | 9-35 | 39-68 | 20-99 | 57-10 | 30-75 
94 16-51 |15-85| 6-10 | 9-75 |37-05 | 21-48 | 73-31 | 34-79 
Klopfer .......| 94 16-23 |14-41| 6-13 | 8-28 37-87 |20-65 |59-31 | 30-49 
Mittel . . 6-58 | 14-56 | 6:27 | 8-52 |38-72 | 21-05 | 63-85 | 31-96 
758 | 4-54 |11-35| 5-37 | 5-98 |30-52| 17-74 |67-43 | 30-74 
65° | 3-14 | 9-80] 5-68 | 4-12 |37-80| 19-50 148-10| 19-62 


müssen, der der am schwersten verdauliche ist in der Zellmembran, zumal 
er sich als Bestandteil in solchen Mengen im Mehle befindet, daß er die 
Steigerung der Verluste etwa decken könnte. Aber das Unverdaute ist 
mit zunehmendem Zellmembrangehalt nicht dem ersteren direkt ent- 
sprechend gewachsen, weil die Zellmembran ja doch bis etwas mehr als 
zu einem Drittel verdaulich ist, andererseits aber kann ja nur das Gemenge 
der Zellmembran an sich die Ursache für die Mehrung des Stoffwechsel- 
produktes sein. Nur steigt der Verlust an Stoffwechselprodukten über- 
haupt, weil ja jede Nahrung, auch die zellmembranfreie, solche liefert, 
nieht proportional der Zellmembran, sondern in abnehmenden Verhält- 
nissen. 


1 Ältere Versuche vgl. Zeitschr. f. Biol. Bd. XIX. 8. 48. 

®2 Damit stimmen auch die anderweitigen Versuche mit Weizenmehl vom 
Jahre 1877 überein. . 

3 Versuch mit Karamehl vgl. dies Archiv. 1916. Physiol. Abtlg. S. 61. 

* Versuche mit feinem Weizenmehl vgl. ebenda. ' 

5 Ebenda. 1916. S. 329. 

6 Wicke, Arch. j. Hyg. 1890. S. 335. 

2222028, 1916. 8.170. 

88.0. 8.29. 

9 Ebenda. 1916. S. 180. 

Archivf.A.u.Ph. 1917. Physiol, Abtig. 93 


N 


354 MAx RuBNER: 


Der Zellmembranverlust ist relativ gering bei geringerer Ausmahlung © 
des, Mehles, sofern die Zellmembran des Mehlkernes überwiegt, und wird 
größer mit der Zunahme an Kleie aus der’ Frucht- und Damenschale, 


Dem Verständnis der Wirkung des zunehmenden Gehaltes an Zell- 
membran, d.h. höherer Ausmahlung, wird folgende Darstellung noch _ E 
näherkommen. Ich habe für die verschiedenen hier in Frage kommenden 4 
Versuche berechnet, wieviel von 100g Trockensubstanz der Zufuhr in 
absoluten Zahlen zu Verlust geht, wobei 4 Versuchsreihen bei Roggen, 
die sehr nahe im Zellmembrangehalt übereinstimmen, zusammengelest 
worden sind. 


Berechnet für 100g Trockensubstanz: 


Einnahme: 


N Kalorien | Stärke Zell- Asche 
a 

1.03 Au 0-85 

1-55 418-4 75-7 4-54 2-05 

1.632, 027.0 0 se 

1.56: =] aissa | ae 7875772 
Ausgabe: 

Kot Stoft- Stoff- | Kalorien } Zell 
Trocken- N wechsel- | wechsel- ins- Stärke Asche in 
substanz produkte | kalorien | gesamt menDien 

7-6 0-389 | 0-238 | 25-80 | 38-71 | 1-100 | 0.439 | 1-51 
10-0 0-472 | 0-197 | 21-30 | 47-47 | 0:938 | 0:720 | 3-06. 
12-6 0:625 | 0-280 | 26:76 | 63-01 | 1-350 | 0-890 | 3-94 
12:1 | 0-547 | 0.198 | 30-93 | 61-03 | 1-030 | 0.884 | 4-1, 


Gewisse Ungleichheiten sind natürlich nicht auszuscheiden, weil die 
Versuche zum Teil an verschiedenen Personen, an Material verschiedener 
Herkunft und auch in einem Falle (Brot mit 8-75 Prozent Zellmemhran, 
Growittbrot) bei feuchter Vermahlung gewonnen sind., In jedem Falle 
sind aber mindestens zwei Reihen von einer Woche Dauer an zwei Personen. 


1 Mittel aus folgenden Versuchen: 


1-61|432-3| 84-2 | 6-69 | 2-08 | 11-6 | 0-628 | 0-273 | 30-27 | 59-72] 1-10|1:000 
1-59/424-8| 73-4 | 6-46 | 2-10 | 13-1 | 0-630 | 0-307 | 25-01 | 63:72 | 1-87 | 0-954 
1-65 1426-3 | 71-1 | 6-51 | 2-60 | 13-7 |0-610 | 0-255 | 25-61 | 67-56 | 1-51 0-689 
1-67 |424-2| 71-7 | 6:23 | 2-81 | 11-9 |0-632| 0:-285 |26-18 | 61-05 | 0-94 | 0-918 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 355 


zugrunde gelegt. Die einzelnen Ergebnisse mögen für sich erörtert werden. 
Die Zunahme. des Trockenkotes und der Kalorien des Kotes mit zu- 
nehmendem Kleiegehalt ist nach allem, was darüber schon anderweitig 
gesagt wurde, selbstverständlich. Nur ist bemerkenswert, daß die feuchte 
Vermahlung eine weitere Steigerung gegenüber Brot mit 6-47 Prozent. 
Zellmembran nicht erkennen läßt. Ähnlich verhält es sich mit der 
N-Ausscheidung. Auch hier ist die feuchte Vermahlung deutlich etwas 
"günstiger als die trockene Vermahlung in den anderen Versuchen; die 
Hauptursache liegt, wie Stab 3 der Ausgabe zeigt, darin, daß der Anteil 
des Stoffwechsel-N bei feuchter Vermahlung gering ist. Die Stoffwechsel- 
kalorien zeigen einige Schwankungen, doch ist unverkennbar eine Zunahme 
mit dem Anwachsen der Kleie und zwar auch bei dem nassen Mahlverfahren 
vorhanden. Zu dem gleichen Resultat kommt man, wenn von dem Ver- 
lust an Gesamtkalorien nur der Kalorienwert der Zellmembran abgezogen 
wird. Man erhält dann in derselben Reihenfolge, wie die Tabelle geordnet: 


32-54 Kalorien 
34-65 In 
46-86 .E 
44.20 


22 


Auch hier bei der feuchten Vermahlung trotz hohen Zellmembrangehaltes 
keine weitere Steigerung, demnach kann man annehmen, daß die Zer- 
quetschung der Zellmasse durch die feuchte Vermahlung einen geringeren 
Einfluß auf den Darm ausgeübt hat als die übrigen Arten der trockenen 
Vermahlung, sei es mit oder ohne Schälung. Dagegen ist, wie aus der 
Tabelle S. 353 hervorgeht, keineswegs anzunehmen, daß das Protein selbst 
erheblich besser verdaut wird. Die Zellmembran des Roggens, der bei 
Growittbrot Verwendung fand, war bei trockener Vermahlung von anderem 
Roggen nicht verschieden, auch nicht der Stoliwechsel-N!; die bessere 
Lösung der Zellmembran ist also nicht in Anschlag zu bringen, auch nicht 
sroß genug; dagegen scheint mehr ein mechanisches Moment wirksam, 
das in der Art des Zerreibens der feuchten Masse zwischen den Walzen 
seiunden werden könnte. 

Bei dem hohen Gehalt an Stärkemehl — 76 bis 84 Prozent der Brot- 
art — würde bei einer Störung der Resorption durch die Zellmembran 
die Verdaulichkeit der Stärke am ehesten diese zum Ausdruck bringen, 
wie man aber auch aus der Tabelle S. 354 sieht, ist die Verdaulichkeit 
der Stärke in allen Fällen fast genau dieselbe. Daraus folgt also, daß 


1 Dies Archiv. 1916. Physiol. Abtle. S. 193. - 


356 MıAx RUBNER: 


innerhalb des Rahmens der angewandten Ausmahlung, welche bis etwa 
95 bis 96 Prozent nach üblicher Ausdrucksweise ging, ein Einfluß auf die 
Störung der Stärkeverdauung nicht ausgeübt, also die mit der erhöhten 
Ausmahlung dem Mehl zufließende Stärke vollkommen tadellos verdaut 
wird. Daraus muß auch geschlossen werden, daß die feinen Zellwände 
des Endosperms bei der Zermahlung entweder ganz zerrissen werden oder 
überhaupt leicht auflöslich sind; das letztere glaube ich durch meine 
Versuche bereits früher erwiesen zu haben. 

Als Nachteil der starken Ausmahlung innerhalb der gegebenen Grenzen 
bleibt also, abgesehen von den Momenten, die bei der Bekömmlichkeit 
schon erwähnt worden sind, die zunehmende Erschwerung der Eiweiß- 
resorption durch das relative Überwiegen des N, der in den Kleberzellen 
gebunden ist. Von diesem Zellinhalt hat auch die Modifikation der feuchten 
Vermahlung, wie schon gesagt, keinen größeren Anteil zur Resorption 
bringen können. Der Vollständigkeit halber mag noch der Ascheverlust 
erwähnt sein. Mit der geringen Ausmahlung steigt der Aschegehalt der 
Mehle, das prägt sich in den Zahlen der Tabelle S. 354 nicht weiter aus, 
weil im Brote ja auch noch Kochsalz vorhanden ist. Aus den Aus- 
scheidungen aber sieht man deutlich, daß mit Zunahme der Zellmembran 
auch der Ascheverlust erheblich zunimmt. Nur in der höchsten Stufe 
des Zellmembrangehaltes wächst die Aschemenge nicht weiter, weil offen- 
bar auch das Brot selbst ascheärmer gewesen ist. 

Zu einer allgemeinen Formulierung des Verlustes bei der Verdauung 
zellmembranhaltiger Brotnahrung geben die vorliegenden Werte noch keine 
Unterlagen. Dazu bewegen sich die Versuche noch in zu engen Grenzen 
der Variation der Zellmembran, und die zufälligen Momente, welche auf 
die Resultate einwirken, sind noch zu mächtig. 

Es wäre sehr erwünscht im Interesse einer allgemeinen Formulierung, 
die Verluste mit Bezug auf den Gehalt an Zellmembran einerseits mit 
Brot geringen Zellmembrangehaltes und andererseits mit: Brot weit höheren 
Kleiegehaltes durchzuführen. 


Da Roggen sehr geringer Ausmahlung, also etwa 30 Prozent, nicht 


zu erhalten ist, glaube ich ergänzend die Versuche mit Weizen von 
30 Prozent Ausmahlung verwenden zu sollen. Als Versuch für Mehle 
hohen Kleiegehaltes können nur die Kleiemehle herangezogen werden. 
Diese Mehle sind aber nicht für sich verbacken, sondern in ihrer Wirkung 
nur aus der Differenz zweier Versuche errechnet worden. Das bedinst 
insofern einen Fehler, als die von der Nahrung unabhängigen Stoffwechsel- 
anteile hier keine Berücksichtigung für die Kleie finden, man kann aber 
bei den an sich sehr großen Verlusten solcher Mehle darüber hinweg- 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 357 


sehen. Zum Vergleich für das Extrem sehr starken Zellmembrangehaltes 
kann am besten der Versuch mit Finklerbrot gewählt werden, wenn auch 
dabei zu .bedenken ist, daß die vorbehandelte Kleie etwas günstigere 
Resultate zeigte, namentlich bezüglich der N-Verwertung, wie die in den 
anderen Broten. Ich stelle nachfolgend diese ergänzenden Versuche zu- 
sammen. W. ist der Versuch mit Weizenmehl, R. jener mit Kleie aus 
Finklerbrot berechnet. 
Für 100 & Trockensubstanz ist zu berechnen: 


Einnahme: 
a 
N | Kalorien | Stärke Zelle | Asche 
| membran | 
1:33 | 423-8 | 74-8 1-26 2-30 
Sa as | 4s,| >00|. 66 
Ausgabe: 
-58 = De | us = E 2. 
Zleen Zi SS EDE co = 5 o<g 
028 56 Se Ge = < NS 
= gs en ge E = 
u) a ! | | | 
4-16 0:241 0-087 12-6 26-1 0:26 0:406 0-91 
30:0 0:950 0-380 45-1 183: 0 1:62 3-630 12-75 


Aus den Zahlen ist ohne weiteres ersichtlich, daß nur die Beimengung 
von Zellmembran die Veränderung in den Verlusten an Material bedingt 
und sich nicht allein auf die Mehrung der Ausscheidung der Kleie, sondern 
auf N, Stärke und auf Stoffwechselprodukte ausdehnt. Die Zellmembran 
selbst wird in nicht wesentlich wechselndem Prozentsatz verdaut, ob nur 
ein paar Gramm den Tag aufgenommen werden oder ob große Mengen 
in der Nahrung enthalten sind. Am übersichtlichsten zeigt die nach- 
stehende graphische Darstellung die Beziehungen der Verluste mit fort- 
schreitenden Zunahmen der Zellmembran. 

Die Figur umfaßt innerhalb eines Intervalles von 1 bis 23 Prozent 
Zellmembran die Variation der Ausscheidung. Die Schwankungen sind, 
wie erwähnt, oft erheblich, denn nichts ändert sich oder kommt als Aus- 
druck individueller Schwankung so in die Erscheinung wie die Zell- 
membranverdauung. 

Die Menge der Kalorienverluste minimal bei reinen Stärkegaben oder 
den feinen Mehlen erreicht, wie man sieht, mit der Zellmembranzunahme 
innerhalb der in der Figur eingetragenen Gebiete einen Unterschied um 
das Sechsfache. Bestimmend hierfür ist aber nicht das Unresorbiert- 


‚358 


| Max RUBNER: 


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UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 359 


bleiben der Zellmembran, sondern die Beteiligung der Stoffwechselprodukte, 
welche nicht in konstanter Größe, sondern in zunehmender Menge bei 
Wachstum der Zellmembranbeigabe zu Verlust gehen. Der Verlust an 
Kalorien im. Kot kann natürlich nicht auf Null absinken, wenn auch keine 
Zellmembran vorhanden ist, sondern er wird auf die Stufe der Stoff- 
wechselprodukte schließlich anlangen. Wie man sich diesen Verlauf der 
Kurven etwa zu denken hat, ist mit den punktierten Linien angedeutet. 
Sie werden sich an einem bestimmten Punkt treffen, von diesem wird die 
Ausscheidung bei feinstem Weizenmehl nicht mehr weit abstehen. Ich 
bemerke, daß der Nullpunkt für die Menge der Stoffwechselprodukte aber 
keine Konstante sein kann, weil er von der Eiweißzersetzung abhängig 
ist. Um hier eine größere Zuverlässigkeit der Kurve zu erreichen, müßte 
die Zahl der Bestimmungen und die Zahl der verwendeten Versuchs- 
personen eine außerordentlich große sein, was vorläufig zu erreichen nicht 
möglich ist, auch vielleicht den Aufwand an Zeit für ein Problem, das sehr 
von zufälligen Einflüssen getroffen wird, kaum lohnt, zumal sogar Mahlweise 
und Backart als Varianten noch in Frage kommen könnten. 

Bei dem N-Verlust im Kot steigt der Verlust anfänglich rascher mit 
der Zellmembranzugabe als später, aber die ganze Zunahme erweist sich 
eben von letzterer abhängig. Sie führt immer mehr schwer verdaulichen N 
zu, daneben hat aber in den gegebenen Beispielen die Mehrung des Stoif- 
wechsel-N nicht im selben Maße sich gesteigert. Für den N gilt dasselbe 
wie für die Kalorien. Die N-Ausscheidung muß bei Ausschaltung der 
Kleie auf den reinen „‚Stoffwechsel-N“ abfallen; wo die beiden Linien, 
die gestrichelt angedeutet sind, sich treffen, wird einerseits von den 
Stoffwechselprodukten bei zellmembranfreier Nahrung dieser Art abhängen 
und weiteres von der Höhe der Eiweißzersetzung. 

Abweichend von den Werten der trockenen Vermahlung zeigt die 
Versuchsreihe über feuchte Vermahlung ein langsames Steigen des N- 
Verlustes, sowohl bei der Gesamtausscheidung als auch bei dem Stoff- 
wechsel-N. Aus der Zusammenstellung des vorläufig verfügbaren Materials 
läßt sich also der Gang der Ausnützung in Abhängigkeit von der Masse 
der Zellmembran wohl übersehen, wenn auch nur in allgemeinen Zügen. 

Ein Fall, bei welchem die Resorption der Zellmembran die Gesamt- 
resorption benachteiligt, ist nicht mit beobachtet worden, er kommt, wie 
einzelne Beispiele zeigen, aber bei der vollen Vermahlung des Kornes zur 
Beobachtung. Immerhin bedingt die Zunahme der Zellmembrän allmählich 
eine Steigerung des Verlustes an Stärke um das Zehnfache. Dieser Verlust 
wird dann so groß, daß er immerhin im Gesamtresultat die Ausnützung 
um 3 bis 3!/, Prozent mindert. 


60 Max RuBnNeEr: 


os 


Die Ausscheidung an Asche sinkt nicht unter 0-406g pro 100 & 
Trockensubstanz (abgeleitet aus Brotmengen, die den Bedarf an Kalorien 
fast decken) und nimmt mit der weiteren Zufuhr auch erheblich zu bis 
3:63 g bei reiner Kleie. Wie man sieht, erscheint die Asche als ein die 
Bedürfnisansprüche stark überschreitender oder unresorbierbarer Nahrungs- 
anteil. 

Eine allgemeine Bemerkung über die Möglichkeit der Bestimmung 
des Anteils, welchen ein Teil eines Nahrungsmittels an der Gesamt- 
verdaulichkeit nimmt, mag hier noch angefügt sein. Wenn man z. B. 
im konkreten Falle bei einer Ausmahlung von 94 Prozent noch einen 
Kontrollversuch mit einer Ausmahlung von 74 Prozent macht, so zeigt 
der Unterschied zwischen 94 und 74 Prozent Ausmahlung uns wohl an, 
um wieviel sich die Gesamtausnützung, auch die der einzelnen Bestand- 
teile, verschlechtert hat. In Wirklichkeit liegt aber die Sache so, daß 
die Beimengung der kleiereichen Anteile auch auf die Resorption aller 
übrigen Bestandteile eingewirkt hat. 


Aus den Einzeltabellen läßt sich nunmehr auch noch der physio- 
logische Nutzeffekt des Brotes verschiedener Ausmahlung berechnen; zu 
einer kurzen Übersicht genügt im allgemeinen der prozentuale Kalorien- 
verlust, zu einem genaueren und allgemeinen Vergleich wird man von 
dem physiologischen Nutzeliekt ausgehen, bei welchem von den Brutto- 
kalorien der Einnahme der Harn- und Kotverlust in Abzug gebracht 
worden ist. Für den Harn (Gesamt-N, Kot-N) rechne ich als kalorischen 
Wert 1g N = 8-0 Kalorien. Man erhält so die nachfolgenden Werte. 

Für 100% Trockensubstanz ist der physiologische Nutzeffekt des 
Brotes bei verschiedener Ausmahlung: 


Zell- Darunter re- 
membran- Kalorien ns 
Fekalt ellmembran 
2 in Gramm 
30 Prozent Ausmahlung . .  1:261 385-0 0-35 
65 * " he are 369-5 1-63 
75 a RN 0. 4-54 362-3 1-48 
Sogenanntes Vollkornmehl . 6-47 3598 2:54 
8-75 344-2 4-64 
Kleinen... 2 se 22-90 802-1 10-15 


Wie man sieht, nimmt der Nutzeffekt des Brotes mit zunehmendem 
Zellmembrangehalt immer weiter ab und erreicht etwa bei hoher Aus- 


1 Weizenmehl. 
2 In gut resorbierbarem Brot, nicht als Kleiebrot verzehrt. 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 361 


mahlung, die aber noch nicht wirkliches Vollkorn ist, einen Abfall von 
335 Kalorien auf 344 Kalorien. Bei einer solchen Berechnung begeht man 
aber noch eine Überschätzung, denn unter den ausgenützten Kalorien 
findet man, steigend mit geringer Ausmahlung, immer mehr Zellmembran, 
was etwa bei Vollkorn schon 5-5 Prozent der gesamten aufgenommenen 
Kalorien ausmacht, und auch kleine Verluste von Pentosan im Harn. 
Ein wirkliches Vollkornbrot ist mir nicht erhältlich gewesen, denn ein 
solches wird noch mehr Zellmembran als 8-7 Prozent enthalten. Man 
findet aber in der Tabelle auf S. 353 ein Beispiel bei einem Versuch von 
Wicke dafür, daß die rohe Vermahlung des ganzen Kornes für die dort 
aufgeführte Person über das Maß der erträglichen Resorptionsgrenze hinaus- 
sing und starke Verluste von einem Viertel aller Kalorien herbeiführte, 
d. h. weit größeren -Gesamtverlust zeigt, als wenn man schwach ausge - 
mahlenes Getreide verbäckt und die Kleie restlos anderweiti® verwendet. 

Das Mitverbacken der Kleie mehrt die Kotsubstanz auch da, wo 
noch keine Störung der allgemeinen Resorption vorliest, um ein Nahrungs- 
gemenge, das erheblich ärmer an physiologischem Wert ist, zumal die 
Zellmembran, welche ja kein vollwertiger Nährstoff ist, 13-7 Prozent aller 
resorbierbaren Teile ausmacht. Die Bewertung hoch ausgemählenen Brotes 
hänst ganz von dem individuellen Vermögen des Ertragens der Zell- 
membranen ab; die Erfahrung der Kriegszeit lehrt, daß man allgemein 
auf ein so weitgehendes Resorptionsvermögen nicht rechnen kann. 


Die vorliegenden Ergebnisse veranlassen mich, ein paar Worte noch 
über die Behauptungen von Horace Fletscher dahingehend, daß das 
systematische und von ihm streng organisierte Kauen die Ausnützbarkeit 
der Nahrungsmittel wesentlich erhöhe, anzufügen, eine Behauptung, die 
' in ihrer Alleemeinheit längst bekannt ist und für Geisteskranke oder 
Leute wie Neurastheniker, Leute mit weitgehendem Zahnmangel, welche 
alles möglichst rasch herunterschlingen, ihre Bedeutung hat. Ein gesunder 
und vernünftiger Mensch mit leidlich gut erhaltenen Zähnen verliert mit 
der Fletscherschen Regel nur unnötig Zeit. Die Versuche bei Brot 
zeigen, daß auch durch das Kauen in verstärktem Maße hier nichts mehr 
zu gewinnen ist. Was die beste Mühle nieht. zermahlen kann, zermahlt 
auch nicht unser Gebiß. Eine erhöhte Verdaulichkeit könnte also nur 
noch durch die Zerkleinerung der Zellmembran gewonnen werden, diese 
ist aber bei den Zcrealien eben eine vollkommen andere wie bei Obst und 
Gemüse und ihrer Natur nach in unserem Darm nicht weiter löslich, als 
es die vorliegenden Versuche zeigen. Viel wichtiger als die feinste Ver- 
teilung ist der bakterielle Eingriff, und diesen können wir nicht beein- 


362 Max RuBNER: 


flussen, auch erfolet er in Bro Umfange erst dort, wo im Darm die 
Stellen ausgiebiger Resorption schon überschritten sind. 


Eine außerordentlich auffallende Tatsache scheint mir der Unter- 
schied in der Verdaulichkeit der Eiweißstoffe zwischen Roggen und 
Weizen zu sein; ich habe darauf schon früher vermutungsweise aulmerk- 
sam gemacht, ein abschließendes Urteil war aber nicht möglich. Die 
Zahl der Weizenversuche ist allerdings auch jetzt nicht so groß wie die 
der mit Roggen ausgeführten. Immerhin lassen die Vergleiche keine 
andere Deutung zu. 

Diejenigen Brote, welche man als Vollkornbrote bezeichnen kann, 
reichern den Kot außerordentlich stark mit den Resten unverdauter 
Zellmembranen an. Den höchsten Grad erreicht die Zellmembran als 
Kotbestandteil bei dem Kriegsbrot des Jahres 1917, seitdem die volle 
Ausmahlung zum Prinzip erhoben worden und sogar die Reimigung 
des Kornes weggefallen ist, mit 37 Prozent Zellmembran der Trocken- 
substanz. Bemerkenswert ist, daß schon allein kleine Mengen, wie sie in 
den feinsten Mehlen vorkommen, erheblich für die Art der Zusammen- 
setzung des Kotes sind. Die Zunahme der Zellmembran im Kot geht 
aber nicht proportional der Masse in dem Nahrungsmittel, weil auch die 
Menge der Stoffwechselprodukte eine Steigerung erfährt; bei einem An- 
wachsen der Zellmembran um das Achtfache nimmt die Zellmembran im 
Kot von etwa 12 Prozent auf 37 Prozent, also rund um das Dreifache zu. 

Beachtenswert scheint mir auch der Umstand, (daß ich bei den vielen 
Versuchen, die ich mit Bezug auf die Kriegsernährung ausgeführt habe, 
und bei den zahlreichen Versuchspersonen bei dem kleiehaltigen Brote in 
voller Übereinstimmung mit den Experimenten des Jahres 1883 niemals 
dünnflüssigen Stuhl gesehen habe, vielmehr das Gegenteil, trockene Stühle, 
die zum großen Teil recht schwer durch die Bauchpresse zu entleeren waren. 

Die ältere Beobachtung, daß Schwarzbrot stark saure, dünnflüssige 
Stühle macht, bezog sich auf Versuche mit Münchener Schwarzbrot, 
dessen Kleiegehalt nicht näher bekannt war. Doch kamen auch bei 
Plagge und Lebbin offenbar ähnliche dünne Stuhlentleerungen zur 
Beobachtung. Es wird in Zukunft darauf zu achten sein, unter weleken 
Umständen als Begleiterscheinung dünner Stühle solche starke aus 
bildung und Gasbildung auftritt. 

Die Verwendung des zellmembranreichen Brotes zur Bekämpfung der 


Obstipation beruht also nicht auf einer Volumvermehrung durch Wasser- 


anreicherung des Kotes, sondern nur auf dem rein mechanischen Moment 
umfangreicher Darmfüllüng durch die Reste der Zellmembran. 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 363 


Die Entstehung von Stoffwechselprodukten im Kot wird durch die Er- 
gebnisse der Versuche klargestellt. Betrachtet man die Experimente mit 
feinstem Weizenmehl, so sind in ihm alle Bestandteile, die auch im Voll- 
kornbrot vorhanden sind, Eiweißstoffe, Stärke, Pentosen und Pentosane, 
auch Zellmembran, dabei aber nur ein verschwindend kleiner Teil von 
Stoffwechselprodukten; es ist also die Resorption großer Mengen von 
‚ vegetabilischem Eiweiß und Stärke möglich, ohne daß deshalb eine starke 
Inanspruchnahme der Darmsekretion unter Bildung von Stoffwechsel- 
rückstand eintritt. Bei den Versuchen mit Brot, das .aber reichlich Zell- 
membranen enthält und dementsprechend weniger an Stärke enthält, tritt 
überall die Zunahme der Stoffwechselprodukte deutlich in die Erscheinung, 
auch da, wo es nicht bis zur Bildung eines weichen dünnen Stuhles kommt. 
Es bleibt somit gar- kein anderer Schluß übrig; als eine Beziehung zwischen 
Zellmembrangehalt und Mehrung von Stoffwechselprodukten anzunehmen. 
Diese Beziehung ist aber keine einfache, etwa proportional der Zell- 
membranmasse, bei ungleichem Zellmembrangehalt kann eine nur mäßig 
verschiedene Ausscheidung von Stoffwechselprodukten eintreten. Da wir 
die bei der Resorption der Zellmembran ablaufenden Prozesse nicht direkt 
beobachten können, so läßt sich auch vorläufig keine Erklärung für die 
Abweichungen im einzelnen geben. Man kann aber wohl annehmen, 
wenn auch nicht direkt aus den Versuchen beweisen, daß gleiche Mengen 
Zelimembran manchmal verschiedene Qualitäten der letzteren darstellen 
können, einmal was den Vermahlungsgrad der Partikelchen anlangt, dann 
was die Natur der Zellmembranen betrifft, die außer der Zellmembran 
des Endosperms bald den Keimling einschließen, bald frei von Keimlingen 
sind, bald die eigentliche Schicht der Kleberzellen enthalten oder auch 
mehr von der Fruchthaut und deren äußeren Zelllagen einschließen. Auch 
das Verhältnis von Rinde und Krume könnte von Bedeutung sein. Weiter 
ins einzelne zu gehen, bietet vom physiologischen Standpunkt kaum ein 
besonderes Interesse. 


Von älteren Versuchen über die Verdaulichkeit des Brotes sind recht 
umfangreiche Ausmahlungen verschiedenen Getreides verbunden mit Aus- 
nützungsversuchen von Plagge und Lebbin ausgeführt worden, die ich 
schon mehrfach erwähnt habe. In neuerer Zeit hat Hindhede des 
öfteren auf sie Bezug genommen, zumeist um an ihnen seine übliche 
nörgelnde Kritik zu üben, ohne aber festzustellen, warum sich da und 
dort Abweichungen zwischen seinen Ausnützungsversuchen und jenen von 
Plagge und Lebbin ergeben. Im Bedarfsfalle muß bei Hindhede stets 
seine Methodik als die bessere herhalten, die sich aber, insoweit Fragen 


364 MıAx RUBNER: 


der Ausnützung in Betracht kommen, in keinem wesentlichen Punkt von 
dem unterscheiden, was die deutsche Literatur länest vor ihm ent- 
halten hat. | 

Wenn man die Versuche von Plagge und Lebbin mit anderen 
Ergebnissen vergleichen will, muß man die Originalzahlen etwas näher 
betrachten und die rohe Angabe über Ausnützung der Trockensubstanz 
auf den Kalorienwert umrechnen. Dies läßt sich mit großer Genauigkeit 
ausführen, da, wie ich zeigen werde, für Brotversuche sowohl für die 
Einfuhr wie für die Kotverluste sich die Kalorienwerte auf Grund der 
zahlreichen direkten kalorimetrischen Bestimmungen, die ich ausgeführt 
habe, berechnen lassen. Das Grundmaterial der Umrechnung der Versuche 
von Plagge und Lebbin findet sich im Anhang. Bei der Durchsicht 
der Versuche fällt dem kritischen Beobachter sofort auf, daß die Versuchs- 
person Pl., welche sich an den meisten Versuchen beteiligt hat, einen 
individuellen Ausnahmefall — solche findet man übrigens nicht so selten — 
darstellt, insofern sie die verschiedensten Brotsorten so schlecht ausnützt, 
daß dadurch die Gesamtresultate und Mittelzahlen sehr wesentlich und 
ungleich beeinflußt werden. Das Material von Plagge und Lebbin ist 
gerade in dieser Hinsicht, daß so verschiedene Personen gewählt worden 
sind, interessant für den Beweis, daß bei der schwer verdaulichen Zell- 
membran des Brotes individuelle Unterschiede der Verdaulichkeit sehr 
groß sind. Hindhedes fortwährende Beteuerungen, daß nur in seimem 
Laboratorium günstige Ausnützungswerte gefunden werden, haben gar 
keinen. weiteren Wert, sind ihm auch nicht als Verdienst anzurechnen 
und beruhen überhaupt nur darauf, daß ihm der Zufall zwei Versuchs- 
personen in die Hand gespielt hat, die wahrscheinlich einen entsprechenden 
Darm und eine geeignete Darmflora haben, um die Zerealienzellmembran 
meist gut zu verdauen. Die Verallgemeinerung aber solcher Ergebnisse 
auf eine ganze Bevölkerung und als Ausdruck durchschnittlicher Aus- 
nützungswerte ist absolut unzulässig. Gerade die Versuche von Plagge 
und Lebbin enthalten aber auch Versuche an Personen, die neben den 
ungünstigen Resultaten andere ausgezeichnete Verdauungswerte zeigen. 
So kommen bei ein und demselben Brote individuelle Differenzen von 
12-89 bis 19-94 Prozent Kalorienverlust vor. In einer anderen Reihe 
11-1 bis 19-2 Prozent usw. Scheidet man Pl. aus den Resultaten aus, 
so werden die Resultate wesentlich anders, so daß sie größere Abweichungen 
auch von meinen Versuchen nieht mehr erkennen lassen. Es muß aber. 
betont werden, das Ziel der Ausnützungsversuche wird meist sein, ein 
Vergleich zweier Nahrungsmittel an derselben Person. Absolute Mittel- 
werte lassen sich nur bilden, wenn man an einer groß>n Anzahl von 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER V OLLKORNBROTE. 365 


Versuchspersonen Experimente ausführen könnte. Das wird in wichtigen 
Fällen angestrebt werden müssen. 

Ich ordne die Versuche von Plagge und Lebbin nachstehend in 
zwei Tabellen. 


Geschälter Roggen. 


&0 les es 
Autor Se 8 mo Sa 5 ma Se Bemerkung 
35 ze N88l=:| 5 [SEE ES \ 
one RZ E Ess 
= BER a 
Bubner.. . =. | fein 94 6-51 |15-85 |37-05 73-31 | 34-79 
Blaese . . . . || grob 93 — 15-58 |)51-830| — — 
Rubner. . . . fein 94 8-75 | 14-80 |39-30 | 47:00 | 33-80 | Growittbrot 
er Mur vake, Ivtein 94 6-23 |14-41 37-87 | 59-30 | 30-49 | Klopferbrot 
Plagse u.L.. . \ fen | 89 | — |12-78/)29.600| — SE | 
ee larop | 85,1, = 7112-36 37591 | — a 
near | 111.52 |35.70| > = 
Ungeschälter Roggen. 
=" 3 I  eevee 
lu = 7Zl 5 — er 
Autor le aes|l 55H 5 SE °sE Bemerkung 
Se le 
end ee 
en | S=5| 
Wicke .. 2 oo laesst 
Plagge u. 1 _ 100 —  1|25-31 50-30 — — Gelinkbrot 
i — 84 — 15-28 | 39-30 — = 
en fein 94 6-89 !15-00 | 39-68 | 57-10 | 30-75 
Piagge u. B) grob | 85 — /14-80)40.94| — _ 
Rubner . ‚fein 82 6:96 | 13-80 |40-30 | 55-70 | 31-80 
S fein 15 4-54 |11-35 1130-52 | 67-43 | 30-74 
| 


fein | 65 | 3-14 | 9-80|37-80| 48-10 | 19-62 | 


9 


Die eine enthält die Versuche über geschälten, die andere Versuche 
über ungeschälten Roggen. Für einen Vergleich kann man sich nur an die 
Angaben über die Ausmahlungsprozente halten, was nach meinen oben 
gemachten Mitteilungen mit einiger Vorsicht aufzunehmen ist. Die Ver- 
suche sind absteigend nach dem Kalorienverlust geordnet. 

Bei Betrachtung.der Gruppe der Brote aus geschältem Roggen sieht 
man, daß die Versuche von Plagge und Lebbin recht weitgehend mit 
meinen Ergebnissen übereinstimmen. In der ganzen Gruppe findet sich 
kein Versuch, der über einen Verlust von 15-85 Prozent der Kalorien 
hinausgeht. Die Unterschiede der Ausnützung sind, praktisch betrachtet, 
für die Ausmahlung von 94 Prozent verschwindend klein. Die grobe Ver- 
mahlung, welche Plagge und Lebbin in einzelnen Versuchen absichtlich 


366 Max Rußner: 


angewandt haben, hat nicht den sroßen Einfluß, den man ihr vielleicht 
a priori zuschreiben möchte, aber sie hat doch Einfluß. In dem einen 
Fall zeigt der N-Verlust eine erhebliche Steigerung und ähnlich in dem 
‘zweiten Fall, auch wesentlich für den N-Verlust, aber doch nicht sehr 
bedeutend. / 

In der zweiten Gruppe des Brotes aus ungeschältem Roggen finden 
sich die ungünstigsten Ausnützungszahlen bei einem Versuch von Wicke, 
der in meinem Laboratorium ausgeführt worden ist, und bei Plagges 
Untersuchung des Gelinkbrotes. Hier reicht die schlechte Ausnützung in 
das Gebiet hinein, indem durch die Kleiemasse auch sonst wertvolle 
Nährstoffe mit zu Verlust gehen; der. Kalorienverlust und der N-Verlust 
sind außerordentlich gesteigert. Somit darf’ man wohl sagen, daß 
das dekortizierte Brot die äußerste Grenze der guten oder befriedigenden 
Ausnützung ohne Schädigung der resorbierbaren Kohlehydrate bedeutet. 
Auch in dieser Gruppe kann die Art der Vermahlung, ob grob oder fein, 
nochmals auf ihre Wirkung untersucht werden. Der Unterschied ist wohl 
angedeutet, quantitativ aber ganz belanglos. Dem Grade der Zermahlung 
kann man also eine so ausschlaggebende Bedeutung, wie man vermuten 
möchte, nicht zubilligen, was mit Rücksicht auf das über das Fletscher- 
system oben schon Gesagte wohl zu beachten ist. 

Zurückgreifend auf die Generaltabelle S. 353, scheint es mir an- 
gemessen, noch etwas über Unterschiede in der Verdaulichkeit von Weizen 
und Roggen zu sagen. | 

Vom Roggen ist bekannt, daß er nicht in dem Maße zu Gebäcken 
verwertbar ist wie der Weizen. Es ist schwer verständlich, daß man dieser 
Erfahrungstatsache gegenüber glaubt, durch allgemein gehaltene Redens- 
arten dem Roggen einen Vorzug vor dem Weizen. zu verschaffen. Ich 
habe schon an anderer Stelle! 1915 darauf hingewiesen, daß die damals 
vorliegenden Versuche auf eine bessere Ausnützung des Weizens hinzu- 
deuten scheinen, die sich sowohl auf die Gesamtausnützung wie auch auf 
den Eiweißverlust bezieht. Damals standen aber noch keine Versuche 
zu Gebote, welche bei bekanntem Zellmembrangehalt der Brote angestellt 
waren. Nach der Tabelle S. 353 ergibt sich doch zweifellos auch hier das 
Resultat, daß unter vergleichbaren Verhältnissen das Weizenmehl gleichen 
Zellmembrangehaltes besser ausnützbar ist als das Roggenmehl. Der 
Hauptunterschied scheint in der Verwertbarkeit der Eiweißstoffe zu liegen. 
Ich stelle die vergleichbaren älteren und neuen Versuche nochmals sich 
gegenüber. | r 


EN O5, 8, 1% 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 367 


Verlust an Kalorien an N 


Dekort. Weizenmehl (94 Prozent) . . 12-20 30-50 

Dekort. Roggen (95 Prozent) . . . . 14:60 38:70 

Weizen ‘(70 Prozent) 72 27. „un. 6-91 13:68 Aus den Versuchen 

Bossen. (79 Prozent) masse 33:75 von Plagge und 
= Lebbin berechnet 

Weizen (5-09 Prozent Zellmembran) . 11:10 21:10 Neue 

Roggen (4:54 Prozent Zellmembran) . 11-35 30-52 Versuche 


In der letzten Reihe werden zwar nicht Brote absolut gleichen Zell- 
"membrangehaltes verglichen, aber sie stehen sich doch nahe. Der Ver- 
gleich der Kalorien ergibt dieselben Werte. Trotzdem bleibt die Aus- 
nützbarkeit von N viel geringer als bei Weizen; es ist anzunehmen, daß 
bei gleichem Zellmembrangehalt auch die Gesamtausnützung sich un- 
günstiger gestellt hätte, wie es zwischen Weizen und Roggen in den anderen 
Fällen eingetreten ist. Eine genauere Untersuchung durch besonders auf 
diese Frage gerichteten Versuche scheint mir wünschenswert zu sein. 

In der großen Zahl meiner Untersuchungen wurde die Ausscheidung 
auch direkt auf Stärkemehl untersucht, sie bieten daher eine gute Über- 
sicht über die Verdaulichkeit dieses wichtigen Nährstoffes. Bei meinen 
älteren Versuchen hatte ich mangels geeigneter Untersuchungsmethoden 
die,Kohlehydrate im Kot in analoger Weise berechnet, wie dies bei den 
Nahrunesmitteln noch heute geschieht. Die Gesamtergebnisse haben im 
allgemeinen ein zutrefiendes Bild vorliegender Unterschiede in der Ver- 
daulichkeit der ‚‚Kohlehydrate‘“ (inklusive Zellmembran) wohl gegeben. 
Man kann aber heute Zellmembran und Stärke*jedes für. sich bestimmen 
und so exaktere Angaben machen. 

Von 100 Teilen Stärke sind: 


Nahrung Verloren Prozent 


Remes; Weizenbrot Zi ame An 0-34 
ISarbotte li. JE NR Rene 9 SUR 0-53 
Weizen (70 Prozent Ausmahlung) . ... . 0-70 
Gerste (62-5 Prozent Ausmahlung) . . . . . 70 
Kitiklerprot wa. 2. 12... 02 oe a Sr ope 93 
Kriegsbrot 1917 (mit Kohlrüben) ..... 05 
IKUopTerbroggm te Bea .ne le. 2727 ee 24 


Mischmehl (Roggen, Mais, Kartoffeln) 
Roggen (65 Prozent Ausmahlung) .... . 
R mit, Kartotfel. 0.0. ta ne: 


En (82 Prozent Ausmahlung) . . .”. . 30 
„> (95 55 ns Era 40 
». (a 5 N). 70 
f „> (94 > hs RENTE 91 
ee E RR 09 


DB DH [HH © 
D&D 
[e>) 


EAN 55 5 ) u. Kartoffel 


368 MaAx RuBneEr: 


Roggenbrot zeigt durchweg etwas weniger gute Stärkeverdauung als 
Weizen und Gerste. Die ungünstigste Kombination war gröberes Mehl 
und Kartoffelzusatz. Nach Konstantinidi! wird das Stärkemehl der 
Kartoffel mit 0-38 Prozent Verlust resorbiert. Im ganzen ist die 
Resorption der Stärke auch im Brote selbst hoher Ausmahlung vorzüglich. 
Anders liegt die Sache, wenn wirklich Schalen, z. B. der Hülsenfrüchte 
wie bei der Linse und Bohne mitverzehrt werden; die Verschlechterung 
nimmt dann gewaltig zu. Fälle dieser Art habe ich bei den Menschen 
nicht weiter untersucht. So bewegen sich die Resorptionszahlen der 
Stärke in sehr engen Grenzen. Interessant ist nur, daß niemals nach 
Stärkeaufnahme die Stärke im Kote ganz gefehlt hat. 

Die hier in Betracht gezogenen Brote waren sämtlich aus fein ver- 
mahlenem Mehl hergestellt, nicht etwa aus geschrotetem Mehl; sie sind 
auch sämtlich durch Gärung mit Hefe oder Sauerteig wohlgelockerte 
Gebäcke gewesen.: 

Andere Arten der Zubereitung hierbei noch in den Kreis der Unter- 
suchung zu ziehen, war unnötig, da es sich wesentlich um die Aufklärung 
handelt, ob die Vollkornbrote wirklich alle Teile des Kornes enthalten 
und inwieweit Abweichungen vorliegen. Diese Frage ist gelöst. Alle 
Varianten solcher Bestrebungen hier zu erörtern, kann unterbleiben, das 
mag den weiteren Prüfungen mit mehr technischen Zielen überlassen sein. 
Ein näheres Zusammenarbeiten zwischen Wissenschaft und Technik wäre 
auf diesem Gebiete allerdings für rein praktische Ziele von Bedeutung. 

In manchen Fällen kommen auch brotartige Gebäcke, die ziemlich 


wasserfrei oder hart sind, zur Verwendung; sie sind schon wegen der 


Kauschwierigkeiten nur einer beschränkten Zahl von Menschen zugängig. 
Auch das übermäßig altbackene Brot gehört hierher. | 

Es ist widersinnig — von dem Zwieback und ähnlichen Konserven 
abgesehen —, eine Speise so herzustellen, daß sie der Zerkleinerung 
maximalste Schwierigkeiten entgegensetzt, wie das Hindhede neuerdings 
versucht. Die Kochkunst geht im allgemeinen darauf aus, die Speisen 
so zuzubereiten, daß sie weicher werden, nicht aber daß sie möglichst 
hart sind. Auf dem Gebiete der vegetabilischen Nahrungsmittel wird 
allgemein dieser Grundsatz verfolet, und das ist zweifellos gut. Bei dem 


Fleisch müssen wir eine gewisse Härtung durch das Erhitzen mit in den 


Kauf nehmen, um die Extraktivstoffe zu spalten. Es liegt kein Grund 
vor, beim Brote anders zu verfahren; man pflegt auch keine Trocken- 
kartoffel zu kauen, obschon man dies ja auch einführen könnte. Starke 


1 Zeitschr. f. Biol. Bd. XXIH. S. 449. 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 369 


mehlartige Substanzen sehr wasserarm zu genießen, bringt denselben 
Nachteil, als wenn man rohe Stärke aufnehmen würde, das habe ich an 
anderer Stelle experimentell belegt, denn auch das beste Kauen würde 
diesen Mangel nicht wieder beseitigen können. Mag auch dieses Extrem 
der Austrocknung, das zur Hemmung der Quellung. wird, nur teilweise 
erreicht werden, so muß man doch damit rechnen, wenn eben der mittlere 
Trockenheitsgrad eine hohe Stufe erreicht hat. 

Wie wenis; vorteilhaft die Schrotung des Mehles für die Brotbereitung 
ist, geht auch aus einer Beobachtung Hindhedes hervor, die schon er- 
wähnt wurde (vgl. oben über Kleie). Er berechnet aus dem Vergleiche 
von Schrotbrot mit einem Brot aus demselben Mehl, von dem aber die 
sröberen Teile abgesiebt sind, den Grad der Verdaulichkeit der Kleie- 
anteile, welche. das Schrotbrot gewissermaßen gegenüber dem feineren 
Mehlanteil einschließt, wobei dieselbe Verdaulichkeit herauskommt wie bei 
Plagge und Lebbin, als diese aus reiner Kleie Brot backen ließen und 
es verzehrten. Die Ausnützung ist enorm verschlechtert für den Kleie- 
anteil und viel ungünstiger als in meinen Versuchen über finklanisierte 
Kleie. Ganz das gleiche Ergebnis hat man bei einem Vergleich zwischen 
Schrotbrot und Klopferbrot bei dem Versuch von Hindhede. Freilich 
nieht allein wegen der Schrotung, sondern wegen dieser und dem Über- 
maß an Zellmembran, das solche Brote einschließen. 

Zur Frage der so oft gehörten besseren Ascheversorgung des Körpers 
bei stärkerer Ausmahlung des Kornes habe ich schon in der Einleitung 
zu dieser Arbeit Stellung genommen und darauf verwiesen, daß dem Brot 
in der Aschezufuhr in der normalen gemischten Kost gar nicht die Be- 
deutung zukommt, die man ihm zuschreibt, jedenfalls auch nicht dem 
Vollkornbrot, insofern als ja mit stärkerer Ausmahlung die Magnesiasalze 
erheblich zunehmen, an welchen ‚ohnedies kein Mangel ist. Die Salze des 
Brotes haben auch in ihrer Zusammensetzung nichts mit unserem Organis- 
mus gemein. Viel ausschlaggebender sind die Gemüse. Aus diesen all- 
gemeinen Bedenken und Erwägungen schloß sich bestätigend an, was ich 
auf S. 360 über die‘ Ascheverluste im Kot bei verschiedener Ausmahlung 
auf Grund der Versuche mitgetilt habe. Die Verluste nehmen in enormem 
Maße mit der Zufuhr-von Aschebestandteilen im Kote zu. Erhöhte Zufuhr 
bedeutet also, wie man immer wieder betonen muß, nicht Steigerung der 
Resorption, sondern Steigerung der Verluste; dies ist in hohem Maße 
bemerkenswert. Da man doch annehmen muß, daß die Salze des Brotes 
sich zwischen Harn und Kot in den Ausscheidungen verteilen; sie sollten 
eine Steigerung der Zufuhr durch die Resorptionszahlen zum Ausdruck 


bringen. 
Archivf. A.u. ‚Ph. 1917. Physiol. Abtlg. 34 


370 Max RuüsBner: 


Zur Klarlegung der Verhältnisse kann noch folgende kleine Tabelle 
dienen, welche die Zufuhr an kochsalzfreier Asche dem Ascheverlust durch 
den Kot gegenüberstellt. Um zum Ausdruck zu bringen, daß wir auf 
diesem Gebiete in dem Verhalten des Roggenbrotes nichts Neues sehen, 
habe ich auch eine Auslese aus meinen älteren Versuchen, die diese Tat- 
sachen enthält, gegeben. 


Aus- g Brot |Kochsalz-| Asche 
Nahrung mahlung | im Tag freie im 
etwa verzehrt | Asche Kot 
Weizen! ir. 30 934 2-95 2-95 Neuer Versuch 
ee 30 898 2:39 2-3 Alterer Versuch 
LER 70 832 2:85 3:90 Alterer Versuch 
BNLU SSAEREID. 129... 9 s0 637 6:60 7-06 Neuer Versuch 
Se ae 1 Eee 94 989 8-54 8-34 Neuer Versuch . 
Roggen er 94 1091 6-13 7-43 Neuer Versuch 
. Kriegsbrot . . . . 100 1166 1289| 2721 Neuer Versuch 
Kirnklerbros 0 1.2100 1112 9-40 8-97 Neuer Versuch 


Mit zunehmender Aschenmenge ergibt sich bei Weizen nicht eine 
Deckung des Verlustes im Kot, sondern eine Steigerung der Kotsalze, die 
bei 80 Prozent Ausmahlung nicht nur die ganze Menge der erhöhten Salz- 
zufuhr verschlingt, sondern noch darüber hinausgeht und selbst bei 
94 Prozent Ausmahlung reichte die Zufuhr knapp für die Deckung der 
Kotasche und lieferte aber nichts für den Harn. 

In so einfacher Weise spielt sich die Sache allerdings nicht ab, weil 
ja unbedingt ein Teil der Brotasche in den Harn übertritt, also die 
Deekung der Ascheverluste in den Ausscheidungen noch viel weniger 
selingt, als es den Anschein hat. 

Nicht anders wie beim Weizenbrot ist es beim Roggen. Die auf- 
geführten Beispiele zeigen, wie trotz der erheblichen hohen Aschezufuhr 


diese für die körperlichen Bedürfnisse nicht hingereicht hat, weil sie ja 


nicht einmal so viel ausmachte, daß die Verluste im Kot — rechnerisch — 
gedeckt werden. 

Die drei aufgeführten Versuche repräsentieren” 6 Wochen Brot- 
ernährung; nimmt man ihre ganzen Ergebnisse in einem Mittel zu- 
sammen, so sind | | 

eingeführt in 6 Wochen ....... . 327-8 valze 

im Kot allein abgegeben .. .. . . 328-9 9 
Die Zufuhr deckt die Ausfuhr durch den Kot allerdings fast ganz, läßt 
aber die Asche, welche im Harn verloren wird, ganz ungedeckt. Die 


1 Mittel aus zwei Reihen mit 115lg bzw. 718g Brotaufnahme.' 


| 
| 


UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 37 


Bedürfnisse an Salzen werden durch. die Mehrzufuhr also nicht einfach 
abgeglichen oder die Verluste wenigstens gemindert, die Ansprüche nach 
Salzen werden erhöht, weil die Ausscheidungsgeröße im Kot zunimmt. 
Wir sind also auch mit dem Vollkornbrot nicht im entferntesten in der 
Lage, unsere Aschebedürfnisse abzugleichen. Wie sich die einzelnen Asche- 
bestandteile verhalten, kann hier ununtersucht bleiben. An der Steigerung 
der Ascheausscheidung ist nicht allein das Fehlen der Resorption beteiligt, 
sondern vor allem die Steigerung des Salzbedarfes durch die mit der Zell- 
membran zunehmenden Mengen der Stoffwechselprodukte. Die weitere Prü- 
fung dieser Fragen muß vorbehalten bleiben. Warum uns also die vermehrte 
Zufuhr an Asche in der Kleie keinen Nutzen bringt und bringen kann, ist 
damit klargelegt; ein Motiv, Vollkornbrot aus Gründen des Aschereichtums 
in den Vordergrund zu stellen oder ein Einheitsbrot dieser Art als notwendig 
und zweckmäßig erscheinen zu lassen, kann nicht zugegeben werden. 


Anhanse. 


Umrechnung sämtlicher Versuche von Plagge und Lebbin. 


1g organ. Brotsubstanz —= 4-282 Kalorien. 1g organ. Kot = 5-478 Kalorien. 
Nach meinen Versuchen vom Jahre 1917. 


Prozent- N- | 
Verlust Verlust | 


Kalorien 
ım Brot 


Kalorien 


Autor im Kot 


Mittel Mittel 


Soldatenbrot, Roggenmehl, ungeschältes Korn, 15 Prozent Kleie, 
grobes Mehl: 


ae | 6126 1221 19-94 49.92 

I av. ; 6124 876 14-34 89-18 
N 6133 1064 17:34 47-00 
are 6273 1114 17-75 - 45-05 

nl MR 6273 809 12.89 |( 16:13 | 38.88 |( 43:35 
I nen... > | 4120 631 15-31 40-61 

SCHABsE N ea. 3342 529 15-83 43-68 

VB a... 6760 1058 15-65 42-43 

Grobes Roggenmehl geschält, Korn (3-5 Prozent Verlust und 39 Prozent Kleie- 

verlust = 7:4 Prozent im ganzen) 

ent a‘, 76275 1320 21-42 } 61-50 I 
Da... | 6275 | 978 | 15-58 \ a | 51-80 h 20369 


Grobes Mehl, geschältes Korn, 3-15 Prozent Schälkleie, 11-85 Prozent Mahlkleie 
— 15 Prozent im ganzen: 


DU RE | 6200 | 10a | 17.30 15-09 |) 
vo | 5755 110 | 12-33 14-02 | 37:83 |\ 40-28 
e. . || 5533 689 | 12-40 37:9 |] 


24* 


372 MAx RUBNER: UNTERSUCHUNGEN ÜBER VOLLKORNBROTE. 


Prozent- 
Verlust 


Kalorien 
im Kot 


Kalorien . NER 
Autor meet Mittel Mittel 


N- 
Verlust 


Fein vermahlenes Mehl, geschälter Roggen, 3-08 Prozent Schälkleie + 7:76 Prozent 
Mahlkleie = 10-84 Prozent Ausmahlung: 


DINO SEEN a 6779 978 14-43 33-20 
Pawiniale. al | „5312 1020 19-19 | 45-00 

Sch | 3312 686 12-91 |% 14-39 | 29-80 | 33-38 
ER | 5420 776 14-32 | 31-50 | 

sche iso, sur 5420 602 1180 27-50 


Feines Mehl, ungeschälter Roggen, 84 Prozent Ausmahlung (10-94 Prozent Kleie 
— 1:74 Prozent Spitzabfall): 


DAS De | 6277 913 14-54 R 38-80 | 
ee I Non | 1006 | 16-02 h 12 A000 h on 
Mehl nach 73-5 Prozent Ausbeute bis S4 Prozent: . | 
DRITTE URERE 5566 Kr. 50:85 | 
N. | 5566 | 1682 | 30-22 92:12 5, aa7Q h 2) | 
Fein vermahlener Roggen, 25 Prozent Kleieauszug: | 
BERN DR Me RGR ee 6378, 0. 753, 1 11280, 31-92 | 
Me. | 16378 © oe non | 11:53 | 36-66 | 33-75 
ME "96378, |, 750.2 | 1.760) 32-67 
Weizenmehl, 30 Prozent Kleieauszug: 
Be He | 5545 458 Ba: 22-18 | 
Se 310 5-56 A en-23 h 12,02 | 
Nur Kleie: 
akt ar | 3597 1872 52-04 a1 | 59-08 j 
ER | 2638 | 1394 | 52-84 h I mul Be h oz 
Pumpernickel: 
RR EN TEN. 258 6183. | usa ET lie233 52-04 
Gelinkbrot: 
ER EEE 5655 1465 25-96 | 51-26 
el 1112 ao 49-89 | 
Be 4286 1205 | 2811 1 | 55507 |g 5081 
EN rer 4954 1189 | 23-99 45-02 


Zeitschriften aus dem Verlage von VEIT & COMP. in LEIPZIG. 
Dkandinavisches Archiv für Physiologie. 


Herausgegeben von 
Dr. Robert Tigerstedt, 
0, ö. Professor der Physiologie an der Universität Helsingfors. 
Das „Skandinavische Archiv für Physiologie‘‘ erscheint in Heften von 3 bis 
5 Bogen mit Abbildungen im Text und Tafeln. 6 Hefte bilden einen Band. Der 
Preis des Bandes beträgt 22 4. 


Centralblatt 
für praktische 


AUGENHEILKUNDE. 


Herausgegeben von 
‚Prof. Dr. J. Hirschberg in Berlin. 
Preis des Jahrganges (12 Hefte) 12 „4; bei Zusendung unter Streifband direkt von 
der Verlagsbuchhandlung 12 % 80 2. 

Das „Centralblatt für praktische Augenheilkunde“ vertritt auf das Nachdrück- 
liehste alle Interessen des Augenarztes in Wissenschaft, Lehre und Praxis, vermittelt 
den Zusammenhang mit der allgemeinen Medizin und deren Hilfswissenschaften und 
gibt jedem praktischen Arzte Gelegenheit, stets auf der Höhe der rüstig fortschrei- 
‚tenden Disziplin sich zu erhalten. 


DERMATOLOGISCHES CENTRALBLATT. 


INTERNATIONALE RUNDSCHAU 
AUF DEM GEBIETE DER HAUT- UND GESCHLECHTSKRANKHEITEN. 
Herausgegeben von 
Prof. Dr. Max Joseph in Berlin. 
Monatlich erscheint eine Nummer. Preis des Jahrganges, der vom Oktober des 
einen bis zum September des folgenden Jahres läuft, 12 %. Zu beziehen durch alle 
Buchhandlungen des In- und Auslandes, sowie direkt von der Verlagsbuchhandlung. 


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 — Neurologisches ÜGentralblatt. 
Übersicht der Leistungen auf dem Gebiete der Anatomie. Physiologie. Pathologie und 
Therapie des Nervensystems einschließlich der Geisteskrankheiten. 
Begründet von Prof. E. Mendel. 
Herausgegeben von - 
Dr. Kurt Mendel. 
Monatlich erscheinen zwei Hefte zum Preise von 16 .% halbjährig. Gegen 


Einsendung des Betrages direkt an die Verlagsbuchhandlung erfolgt regelmäßige 
Zusendung unter Streifband nach dem In- und Auslande. 


Zeitschrift 
für 


Hygiene und Infektionskrankheiten. 


Herausgegeben von 


Prof. Dr. C. Flügge, und Prof. Dr. F. Neufeld, 
Geh. Med.-Rat und Direktor Geh. Med.-Rat und Direktor des Instituts 
des Hygienischen Instituts der Universität für Infektionskrankheiten ‚‚Robert Koch‘‘ 


x in Berlin. 
Die „Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten‘ erscheint in zwanglosen 
Heften. Die Verpflichtung zur Abnahme erstreckt sich auf einen Band im durchschnitt- 
_ lichen Umfang von 30—35 Druckbogen mit Tafeln; einzelne Hefte sind nicht käuflich. 


Gesamtteuerungszuschlag bis auf weiteres 25 ',,. 


Das 


ARCHIV 


für 


ANATOMIE UND PHYSIOLOGIE, 


Fortsetzung des von Reil, Keil und Autenrieth, J. F. Meckel, Joh. Müller, 
Reichert und du Bois-Reymond herausgegebenen Archives, 


erscheint jährlich in 12 Heften (bezw. in Doppelheften) mit Figuren im Text 
und zahlreichen Tafeln. 


6 Hefte entfallen auf die anatomische Abteilung und 6 auf die physiologische 
Abteilung. 


Der Preis des Jahrganges beträgt 54 4. Gesamtteuerungszuschlag bis auf 
weiteres 25 °/o. 


Auf die anatomische Abteilung (Archiv für Anatomie, herausgegeben von 


Dr. Wilhelm v. Waldeyer-Hartz, Dr. Hans Virchow und Dr. Paul Röthig in Berlin) 
sowie auf die physiologische Abteilung (Archiv für Physiologie, herausgegeben. 


von Dr. Max Rubner) kann besonders abonniert werden, und es beträgt bei Einzel- 


bezug der Preis der anatomisehen Abteilung 40 .%, der Preis der physiologischen 


Abteilung 26 4. 


Bestellungen auf das vollständige Archiv, wie auf die einzelnen Abteilungen 


nehmen alle Buchhandlungen des In- und Auslandes entgegen. 


Die Verlagsbuchhandlung: 


Metzger & Wittig, Leipzig. 


Veit & Comp. in Leipzig. 


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